George R. Stewart Leben ohne Ende

ERSTER TEIL

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… und die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika wird hiermit ihres Amtes enthoben, ausgenommen ist der Distrikt Columbia, als außerhalb des Notstandsgebietes gelegen. Die Bundesbeamten und -offiziere, einschließlich derjenigen der bewaffneten Streitkräfte, unterstellen sich der Befehlsgewalt der einzelnen Staaten oder den noch amtierenden örtlichen Regierungs- und Verwaltungsstellen. Auf Befehl des Regierenden Präsidenten. Gott schütze die Bevölkerung der Vereinigten Staaten …

Hier eine soeben vom Obersten Rat der Notstandsgebiete eingetroffene Nachricht: Das Lazarett-Lager West-Oakland ist aufgegeben worden. Seine Funktionen, einschließlich der Bestattungen im Meere, werden jetzt vom Berkeley-Lager übernommen und durchgeführt. Das ist alles …

Lassen Sie diesen Sender eingeschaltet; er ist der einzige jetzt noch in Betrieb befindliche im nördlichen Kalifornien. Wir werden Sie so lange wie möglich über die weitere Entwicklung informieren.


Gerade als er den Felsrand erklomm, hörte er ein plötzliches Rascheln und leises Klappern und verspürte den scharfen Stich der Giftzähne. Mechanisch riß er die rechte Hand zurück; als er den Kopf wandte, erblickte er die Schlange, die zusammengerollt und drohend dalag. Sie war nur klein, stellte er im gleichen Augenblick fest, da er die Hand an die Lippen hob und heftig am unteren Teil des Zeigefingers sog, wo ein winziger Blutstropfen hervorquoll.

»Keine Zeit mit dem Totschlagen der Schlange verlieren!« dachte er.

Immerfort saugend glitt er vom Felsen herunter. Unten sah er den Hammer an der Stelle, wo er ihn hingelegt hatte. Er hob ihn mit der linken Hand auf und stieg dann den schmalen, holprigen Pfad hinab.

Er hastete nicht. Dabei kam nichts heraus. Hast beschleunigte lediglich den Herzschlag, und das Gift zirkulierte schneller. Doch sein Herz pochte so rasch, sei es der Aufregung wegen oder aus Angst, daß es sich, so meinte er, völlig gleich blieb, ob er schneller ging oder nicht. Als er bei einer Baumgruppe angelangt war, nahm er sein Taschentuch und knotete es sich um das rechte Handgelenk. Mittels eines Zweigstückes drehte er das Tuch so fest, daß der Blutkreislauf abgestaut wurde.

Im Weitergehen spürte er, wie Schreck und Bestürzung von ihm wichen. Allmählich schlug sein Herz wieder langsamer. Beim Erwägen des Geschehenen empfand er kaum Furcht. Er war jung, kräftig und gesund. Solch ein Biß hatte schwerlich üble Folgen, obwohl er ganz allein war und ohne die richtigen Gegenmittel.

Jetzt sah er die Hütte daliegen. Seine Hand fühlte sich steif an. Bevor er in die Hütte ging, blieb er stehen und lockerte den Knebel an seinem Handgelenk; er hatte irgendwo gelesen, daß man das tun solle, damit das Blut zirkulieren könne. Dann drehte er ihn wieder fest.

Er stieß die Tür auf und ließ dabei den Hammer zu Boden fallen. Mit dem Stiel nach oben fiel das Werkzeug auf sein schweres Ende, wackelte einen Augenblick und blieb dann stehen, den Stiel in der Luft.

Er sah in der Tischschublade nach und fand seine Schlangenbiß-Ausrüstung, die er an diesem vertrackten Tage eigentlich hätte bei sich haben müssen. Schnell befolgte er die Gebrauchsanweisung, ritzte mit der Rasierklinge ein sauberes kleines Kreuz über die Bißstelle und setzte die Gummisaugpumpe an. Dann legte er sich auf seine Pritsche und sah zu, wie die Gummibirne sich langsam ausdehnte, indem sie das Blut aufsog.

Er empfand keinerlei Todesahnungen. Die ganze Geschichte erschien ihm lediglich als ein lästiger Zwischenfall. Immerfort war ihm gesagt worden, er solle nicht ohne Begleitung in die Berge gehen — »und ja nicht ohne Hund!« hatte man gewöhnlich hinzugefügt. Aber er hatte die Warner dann stets ausgelacht. Ein Hund machte einem unausgesetzt Ungelegenheiten und spürte Stachelschweinen oder Stinktieren nach; und überdies machte er sich nichts aus Hunden, im Gegenteil! Nun würde es natürlich heißen: »Na ja, wir hatten Sie ja gewarnt.«

Im halben Fieber warf er sich herum; ihm war, als baue er sich eine Verteidigungsrede zusammen. »Vielleicht«, so könnte er etwa sagen, »hat gerade das Gefährliche dabei mich gelockt!« Es würde der Wahrheit näherkommen, wenn er sagte: »Ich mag nun eben manchmal gern allein sein; ich muß einfach dann und wann dem Fragwürdigen den Rücken kehren, das der Umgang mit andern Leuten mit sich bringt.« Indessen würde es seine beste Verteidigung sein, wenn er bloß sagte, er sei, zumindest während des letzten Jahres, aus beruflichen Gründen allein in die Berge gegangen: schließlich war er Doktorand und schrieb an einer Dissertation: »Die Ökologie des Black-Creek-Gebietes.« Er hatte die vergangenen und gegenwärtigen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Menschen, Pflanzen und Tieren jener Gegend zu erforschen. Da war es doch klar, daß er nicht warten konnte, bis ihm ein geeigneter Kamerad über den Weg lief. Überdies war es ihm nie in den Sinn gekommen, daß er sich irgendwie einer ernstlichen Gefahr aussetzte. Obwohl kein Mensch im Umkreis von fünf Meilen rings um seine Hütte wohnte, war während des Sommers kaum ein Tag hingegangen, ohne daß ein Angler vorbeigekommen wäre, der in seinem Wagen die felsige Straße entlangfuhr oder einfach dem Bachlauf folgte.

Als ihm das einfiel, überlegte er, wann er eigentlich den letzten Angler gesehen hatte. In der letzten Woche schwerlich. Er konnte sich tatsächlich nicht erinnern, ob er während der beiden Wochen, die er ganz allein in der Hütte verbracht, überhaupt einen gesehen hatte. Eines Abends war nach Einbruch der Dunkelheit ein Wagen vorbeigefahren. Es war ihm seltsam vorgekommen, daß bei Dunkelheit ein Auto gerade diese Straße entlangfuhr, und er vermochte den Grund dafür nicht einzusehen; denn für gewöhnlich zelteten die Leute unten, ehe die Nacht hereinbrach, und kamen erst morgens herauf. Aber vielleicht, dachte er, hatten sie zu ihrem Lieblingsbach hinauffahren und in aller Frühe fischen wollen.

Nein, wahrhaftig, während der letzten beiden Wochen hatte er mit keiner Menschenseele ein Wort gewechselt, und er konnte sich nicht einmal erinnern, jemanden gesehen zu haben.

Ein zuckender Schmerz machte ihm wieder bewußt, was gegenwärtig geschah. Die Hand fing an zu schwellen. Er lockerte den Knebel, damit das Blut wieder zirkulieren konnte.

Er wandte sich wiederum seinen Gedanken zu. Ja, jetzt wurde ihm deutlich, daß er gänzlich außerhalb aller Verbindungen mit der Außenwelt stand. Er hatte kein Radio. Vielleicht hatte es einen Börsenkrach oder ein zweites Pearl Harbour gegeben; dergleichen hätte das Ausbleiben der Angler erklärt. Jedenfalls bestand allem Anschein nach nur geringe Aussicht, daß jemand kommen und ihm helfen würde. Er mußte eben sehen, wie er auf eigene Faust zurechtkam.

Der Nachmittag schleppte sich hin. Er verspürte nicht die mindeste Eßlust als die Stunde des Abendessens heranrückte; aber er bereitete sich auf dem Gasolin-Kocher eine Kanne Kaffee und trank mehrere Tassen. Er hatte heftige Schmerzen; doch trotz der Schmerzen und trotz des Kaffees wurde er müde …

Plötzlich wachte er im Zwielicht auf und merkte sogleich, daß jemand die Hüttentür aufgestoßen hatte. Unvermittelt empfand er eine Erleichterung in der Gewißheit, daß er jetzt Hilfe habe. Zwei Männer in städtischer Kleidung standen dort, sehr anständig wirkende Männer, obwohl sie auf eine befremdliche Weise hierhin und dorthin starrten, als ob sie Furcht hätten. »Ich bin krank«, sagte er auf seiner Pritsche, und jäh sah er, wie die Furcht auf ihren Gesichtern sich in wildes Entsetzen wandelte. Sie machten schleunigst kehrt, ohne auch nur die Tür zu schließen, und rannten davon. Einen Augenblick später scholl das Geräusch eines anspringenden Motors herüber. Es wurde schwächer und schwächer, als sich der Wagen auf der Straße entfernte.

Nun erschrak er zum erstenmal, richtete sich auf der Pritsche auf und schaute aus dem Fenster. Das Auto war bereits hinter der Kurve verschwunden. Er begriff von alledem nichts. Warum waren die beiden so plötzlich in wildem Entsetzen davongelaufen, ohne ihm wenigstens ihre Hilfe anzubieten?

Er stand auf. Im Osten dämmerte es; so hatte er also bis zum andern Morgen geschlafen. Seine rechte Hand war geschwollen und schmerzte. Abgesehen davon fühlte er sich nicht allzu schlecht. Er wärmte sich den Kaffee auf, kochte sich einen Haferbrei und legte sich wieder auf die Pritsche, in der Hoffnung, daß er sich über kurz oder lang kräftig genug fühlen würde, um die Fahrt zu Johnsons, dem nächstgelegenen Bauernhof, wagen zu können — nur dann freilich, wenn in der Zwischenzeit niemand vorbeikommen, anhalten, ihm helfen und nicht wie die beiden andern, die verrückt gewesen sein mußten, beim Anblick eines Kranken davonlaufen würde.

Bald jedoch fühlte er sich sehr viel schlechter; er meinte, es müsse eine Art Rückfall sein. Er lag auf seiner Pritsche und schrieb ein paar Zeilen; denn er glaubte, er müsse einen kurzen Bericht über das Geschehene hinterlassen. Natürlich würde es nicht allzulange dauern, bis ihn jemand fand; sicherlich würden seine Eltern in ein paar Tagen bei Johnsons anrufen, wenn sie nichts von ihm hörten. Er brachte es fertig, mit der linken Hand die Worte aufs Papier zu kritzeln. Er unterschrieb lediglich: »Ish.« Es war zu beschwerlich, den vollen Namen Isherwood Williams hinzuschreiben, und es kannte ihn jeder unter seinem Spitznamen.

Am Nachmittag fühlte er sich wie ein schiffbrüchiger Seemann, der von seinem Floß aus einen Dampfer am Horizont entlanggleiten sieht, als er die Geräusche von zwei Autos hörte, die die steile Straße hinauffuhren. Sie kamen näher, und dann fuhren sie vorüber, ohne anzuhalten. Er rief; doch er war jetzt geschwächt und ganz sicher, daß seine Stimme nicht über die hundert Schritte bis zur Straßenbiegung drang, wo die Wagen vorbeifuhren.

Obwohl sein Befinden sich nicht besserte, stand er strauchelnd und taumelnd auf ehe es dunkel wurde, und steckte die Kerosin-Lampe an. Er wollte nicht im Dunkeln liegenbleiben.

Schlimmer Befürchtungen voll, beugte er seinen schmächtigen Körper nieder und warf einen Blick in den kleinen Spiegel, der des schrägen Hüttendachs wegen unter Augenhöhe hing. Sein längliches Gesicht war stets hager gewesen und kam ihm jetzt kaum hagerer vor; doch durch die Sonnenbräune seiner Wangen glühte es rötlich. Seine großen blauen Augen waren blutunterlaufen und starrten ihn fieberglänzend an. Sein immer wirres, hellbraunes Haar stand ihm jetzt in allen Richtungen vom Kopfe und vervollständigte das Spiegelbild eines schwerkranken jungen Mannes.

Er legte sich wieder auf seine Pritsche. Allzu ängstlich war ihm nicht zumute, obwohl er jetzt nahezu fest überzeugt war, daß er sterben müsse. Plötzlich überfiel ihn ein heftiger Schüttelfrost; dann glitt er ins Fieber hinein. Auf dem Tisch brannte die Lampe ruhig fort, und er konnte in der Hütte Umschau halten. Der Hammer, den er hatte zu Boden fallen lassen, stand nach wie vor dort, mit dem Stiel steif nach oben, sicher ausbalanciert. Da er ihn stets vor Augen hatte, beanspruchte der Hammer einen unziemlich großen Teil seines Bewußtseins — er dachte ein wenig regellos darüber nach, als sei er dabei, sein Testament zu machen, ein altmodisches Testament, in dem er genau das Hab und Gut beschrieb, das er hinterließ. »Ein Hammer, genannt Ein-Hans, Eisengewicht vier Pfund, Stiel ein Fuß lang, leicht angekratzt, etwas verwittert, Hammerkopf leicht angerostet, noch verwendbar.« Es hatte ihm mächtig Spaß gemacht, als er den Hammer gefunden hatte. Er hielt ihn für das einzige Verbindungsglied zur Vergangenheit. Irgendein Bergmann hatte ihn wohl in jenen alten Zeiten benutzt. Im Fieber dachte er, daß er vielleicht gar seiner Dissertation ein Bild des Hammers einfügen könne.

Die meisten dieser umdunkelten Stunden verbrachte er in einer Art leichten Alpdrucks; Husten plagte ihn; manchmal glaubte er zu ersticken; es überkam ihn Schüttelfrost, und dann glühte er wieder im Fieber. Ein hellroter Ausschlag, wie Masern, begann sich zu zeigen. Bei Tagesanbruch spürte er deutlich, wie er abermals in einen tiefen Schlaf sank.


»Es hat sich nie ereignet«, kann keinesfalls bedeuten: »Es kann sich nie ereignen!« Das käme der Behauptung gleich: »Da ich mir nie das Bein gebrochen habe, ist mein Bein unzerbrechlich«, oder: »Da ich nie gestorben bin, bin ich unsterblich.« Zunächst denkt man an eine große Insektenplage — an Heuschrecken —, wenn die Art sich urplötzlich über alle Maßen vermehrt und dann genauso unvermutet wieder zu der geringen Zahl wie kurz zuvor absinkt. Genauso fluktuieren auch die höheren Tiere. Die Lemminge vermehren sich und schwinden hin. Die Schneeschuhkaninchen nehmen eine Reihe von Jahren hindurch zu, bis sie eine Klimax erreichen, daß sie überall zu sein scheinen; dann überfällt sie mit dramatischer Plötzlichkeit ihre Pest. Einige Zoologen vermuten darin sogar ein biologisches Gesetz: die Zahl der Individuen innerhalb einer Spezies bleibe nie konstant, sondern sei in stetem Steigen und Fallen begriffen — je höher das Tier stehe und je länger die Aufzucht seiner Nachkommen dauere, desto länger sei auch die Fluktuierungsperiode.

Was nun den Menschen betrifft, so besteht wenig Grund zu der Annahme, daß er auf die Dauer dem Schicksal der übrigen Geschöpfe entgehen kann, und wenn es tatsächlich ein biologisches Gesetz von Ebbe und Flut gibt, so ist seine gegenwärtige Situation recht gefährlich. Zehntausend Jahre lang war seine Zahl in stetem Ansteigen begriffen, trotz aller Kriege, Seuchen und Hungersnöte. Immer schneller hat das Anwachsen der Bevölkerung sich vollzogen. Biologisch betrachtet hat der Mensch bereits viel zu lange eine ununterbrochene Folge von »sieben guten Jahren« durchlebt.


Als er gegen Mittag erwachte, empfand er unvermittelt ein wohliges Gefühl. Am Nachmittag war sein Kopf klar …

Er aß etwas und beschloß dann, den Versuch einer Fahrt hinunter zu Johnsons zu wagen. Er hielt sich nicht damit auf, alles einzupacken. Nur seine kostbaren Notizbücher und den Fotoapparat nahm er mit. Im letzten Augenblick hob er wie aus einer Art Zwangsvorstellung heraus den Hammer auf, trug ihn zum Wagen und warf ihn vor seinem Sitz auf den Boden. Langsam fuhr er los und bediente sich der rechten Hand so wenig wie möglich.

Bei Johnsons war alles still. Er ließ den Wagen bis zur Gasolin-Pumpe rollen, wo er anhielt. Niemand kam heraus, um ihm den Tank zu füllen; das war nichts Besonderes, da Johnsons Pumpe gleich den meisten im Gebirge jedermann auf eigene Faust zur Verfügung stand. Er hupte und wartete ein Weilchen. Dann stieg er aus und ging die wackeligen Stufen hinauf, die nach dem Raum hinführten, der als Laden diente, wo die Zeltbewohner Zigaretten und Konserven aller Art erstehen konnten. Er ging hinein; aber es war niemand da.

Sein Tank war nahezu leer. Die Pumpe war nicht abgeschlossen, und so griff er zur Selbsthilfe und tankte vierzig Liter Brennstoff; mühsam kritzelte er mit der linken Hand einen Scheck, den er auf dem Zahlbrett hinterließ, zusammen mit der Notiz: »Ihr wart alle weg. Habe vierzig Liter getankt. Ish.«

Als er die Straße hinabfuhr, hatte er plötzlich eine schwache Empfindung des Unbehagens. Die Johnsons an einem Werktag auf und davon, die Tür unverschlossen, weit und breit kein Angler — das während der Nacht vorüberfahrende Auto und die beiden Männer, die davongerannt waren, als sie einen andern Mann krank auf der Pritsche einer einsamen Gebirgshütte hatten liegen sehen! Doch das Wetter war prächtig, und seine Hand schmerzte ihn nicht allzu sehr; und überdies schien er jene zweite seltsame Infektion überstanden zu haben, wenn es sich überhaupt um dergleichen und nicht einzig um den Schlangenbiß gehandelt hatte. Sein körperliches Befinden war jetzt beinahe wieder normal. Die Straße wand sich geruhsam zwischen lichten Fichtenhainen neben einem kleinen, schnell strömenden Fluß dahin. Als er beim Black-Creek-Kraftwerk anlangte, fühlte er sich auch geistig und seelisch wieder völlig normal.

Das Kraftwerk sah von oben bis unten aus wie gewöhnlich. Er hörte das Summen der großen Generatoren und sah Ströme dampfenden Wassers unten heraustosen. Auf der Brücke brannte eine Laterne. Er dachte: »Vermutlich macht sich niemals jemand die Mühe, das Licht auszuschalten. Sie haben so viel Strom, daß sie nicht damit zu sparen brauchen.«

Er spielte mit dem Gedanken, über die Brücke in das Kraftwerk hineinzugehen, nur um jemand zu sehen und die sonderbaren Ängste zu beschwichtigen, die in ihm aufzusteigen begonnen hatten. Doch der Anblick und die Geräusche, die ankündigten, daß alles seinen normalen Gang ging, waren beruhigende Anzeichen, daß schließlich das Kraftwerk arbeite wie sonst auch, obwohl er keine Menschenseele sah. Aber selbst dabei war nichts Auffälliges. Der Arbeitsvorgang verlief so automatisch, daß dort nur ein paar Leute beschäftigt waren, und die hielten sich zumeist drinnen auf.

Gerade als er an dem Kraftwerk vorüber war, kam ein großer Collie aus einem der Hintergebäude gelaufen. Vom andern Ufer des Flusses her bellte er Ish laut und ungestüm an. Aufgeregt rannte er hin und her.

»Verrückter Köter!« dachte Ish. »Warum ist er wohl so aufgeregt? Ob er mir zu sagen versucht, ich dürfe das Kraftwerk nicht stehlen?«

Er durchfuhr die Kurve, und das Bellen blieb hinter ihm zurück. Doch der Anblick des Hundes hatte ihn abermals davon überzeugt, daß sich alles im Normalzustand befand. Ish begann zufrieden vor sich hin zu pfeifen. Jetzt hatte er nur noch fünfzehn Kilometer zurückzulegen, bis er zur ersten Stadt kam, einem kleinen Ort namens Hutsonville.


Man vergegenwärtige sich den Fall der »Captain-Maclear-Ratte«. Dieses interessante Nagetier lebte auf der Weihnachtsinsel, einem winzigen Fleckchen tropischen Grüns etwa zweihundert Meilen südlich von Java. Die Art war 1887 zum erstenmal wissenschaftlich beschrieben worden: sie sei groß und kräftig, habe höckrige Jochbögen, und das Vorderende der Jochbeinplatte trete auffällig hervor.

Ein Naturwissenschaftler beobachtete, daß die Ratten die Insel »in Schwärmen« bewohnten und sich von Früchten und jungen Sprossen nährten. Für die Ratten bedeutete die Insel eine ganze Welt, ein irdisches Paradies. Der Beobachter notierte: »Sie scheinen sich das ganze Jahr hindurch zu vermehren.« Aber das Übermaß an tropischem Wachstum war derart, daß die Ratten nicht so zahlreich geworden wären, wenn sie nicht in stetem Wettbewerb mit andern Angehörigen der Spezies gestanden hätten. Die einzelnen Ratten waren außerordentlich gut genährt und selbst unmäßig fett.

Im Jahre 1903 brach eine neue Seuche aus. Infolge ihres massenhaften Vorhandenseins und wahrscheinlich wohl auch infolge der verweichlichten Konstitution der Einzeltiere erkrankten die Ratten sämtlich und starben bald zu Tausenden. Trotz ihrer großen Zahl, trotz einer verschwenderischen Fülle an Nahrung, trotz ihrer schnellen Vermehrung ist die Spezies ausgestorben.


Er fuhr über eine Bodenwelle und sah Hutsonville in etwa drei Kilometer Entfernung vor sich liegen. Gerade als er sich anschickte, bergab zu fahren, gewahrte er seitlich etwas, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Mechanisch trat er hart auf die Bremse. Er ging zurück; er zweifelte, daß er es tatsächlich gesehen habe. Am Straßenrande lag, deutlich sichtbar, die Leiche eines völlig bekleideten Mannes, über dessen Gesicht Ameisen krochen. Die Leiche mußte schon mindestens zwei Tage dort gelegen haben. Warum war sie noch nicht entdeckt worden? Er beugte sich nieder und stellte keine großen Nachforschungen an; denn selbstverständlich kam es jetzt darauf an, nach Hutsonville hineinzufahren und so schnell wie möglich der Polizei Meldung zu erstatten. Er hastete zu seinem Wagen zurück.

Doch als er wieder anfuhr, hatte er tief im Innern die sonderbare Empfindung, daß dies kein Fall für die Polizei sei und daß es womöglich gar keine Polizei mehr gebe. Weder bei Johnsons noch beim Kraftwerk hatte er jemanden gesehen, und auf der Landstraße war ihm kein einziger Wagen begegnet. Das, was ihm vom früheren Leben her als wirklich erschienen war, das waren die brennende Laterne beim Kraftwerk und das ruhige Summen der großen Generatoren im Innern gewesen, die weiterarbeiteten.

Als er dann an die ersten Häuser kam, atmete er plötzlich leichter; denn auf einer freien Stelle scharrte eine Henne in aller Ruhe im Staube, ein halbes Dutzend Küken um sich herum, und etwas weiter vorn überquerte eine schwarz-weiße Katze so unbeteiligt den Bürgersteig, wie sie es an jedem andern Junitage ebenfalls getan hätte.

Die Nachmittagshitze lag schwer in der Straße, und er sah niemanden. »Faul wie eine mexikanische Stadt«, dachte er. »Alles hält Siesta.« Da plötzlich merkte er, daß er es zu laut gesagt hatte, wie einer, der pfeift, um sich Mut zu machen. Er kam ins Geschäftszentrum, hielt am Bordstein an und stieg aus. Es war niemand da.

Er drückte auf die Klinke der Tür eines kleinen Restaurants. Sie war offen. Er ging hinein.

»Hallo!« rief er.

Es kam niemand. Nicht einmal ein Echo antwortete und beruhigte ihn.

Die Tür der Bank war geschlossen, obwohl noch längst nicht Geschäftsschluß war.

Die Tür der Eisenwarenhandlung hinter der Bank war offen. Er ging hinein; abermals rief er, und wiederum erscholl nicht einmal ein Echo als Antwort. Er schaute in eine Bäckerei; dort hörte er nur ein winziges Geräusch, wie von einer flüchtenden Maus.

Waren die Leute samt und sonders zum Baseball-Spiel gegangen? Aber dann hätten sie doch wohl ihre Läden geschlossen. Er ging zurück zu seinem Wagen, setzte sich hinein und hielt Umschau. War er im Fieberwahn und lag in Wirklichkeit noch auf seiner Pritsche? Halb und halb neigte er dazu, zu machen, daß er fortkam, in ihm erstand Entsetzen. Da sah er, daß mehrere Wagen längs der Straße parkten, gerade wie sie es an einem nicht allzu belebten Nachmittag getan hätten. Er konnte nicht einfach davonfahren, sah er ein, weil er Bericht über den Toten erstatten mußte. So drückte er den Hupenknopf. Er hupte zweimal und wartete, und hupte wieder zweimal. Wieder und wieder, in wachsendem Entsetzen drückte er den Knopf. Dabei schaute er umher, in der Hoffnung, zu sehen, daß jemand aus einer Tür herauskomme oder daß sich wenigstens an einem Fenster ein Kopf zeige. Er hörte damit auf, und nun war abermals nichts da als die Stille.

Ein dicker Hund bog wedelnd um die Ecke und trottete den Bürgersteig entlang. Ish stieg aus dem Wagen und trat dem Hund entgegen. Der Hund knurrte ihn an und hielt Abstand; dann lief er die Straße hinab. Ish machte sich nicht die Mühe, ihn heranzulocken oder ihm nachzugehen; denn schließlich konnte der Hund ihm nichts erzählen.

»Eigentlich könnte ich Detektiv spielen, in ein paar von diesen Läden hineingehen und Umschau halten«, dachte er. Dann kam ihm ein besserer Gedanke.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag eine kleine Billard-Stube, wo er oftmals angehalten und sich eine Zeitung gekauft hatte. Er ging hinüber. Die Tür war verschlossen. Er schaute durch die Fensterscheibe und sah Zeitungen auf dem Gestell. Er starrte durch den Lichtwiderschein auf der Scheibe hindurch, und plötzlich sah er, daß die Schlagzeilen größer waren als damals diejenigen für Pearl Harbour. Er las:


Akute Krisis


Was für eine Krisis? Mit jähem Entschluß ging er rasch zu seinem Wagen hinüber und holte den Hammer. Einen Augenblick später stand er mit dem schweren Werkzeug vor der Tür.

Dann brachten ihn die Hemmungen des gewohnten Anstands zum Innehalten. Als gesetzestreuer Staatsbürger konnte man nicht einfach auf solcherlei Weise in ein Haus einbrechen. Er spähte die Straße hinauf und hinab, als könne sich jeden Augenblick ein Polizist oder ein Mann der städtischen Miliz auf ihn stürzen.

Aber die Leere der Straße machte ihn anderen Sinnes, und das Entsetzen schwemmte alle Hemmungen hinweg. »Zum Teufel!« dachte er, »schließlich kann ich ja die Tür bezahlen, wenn es sein muß!«

Mit der wilden Empfindung, als verbrenne er die Brücken und lasse die Zivilisation hinter sich, schwang er den schweren Hammer mit aller Kraft gegen das Türschloß. Das Holz splitterte, die Tür flog auf, er stolperte hinein.

Der erste Schreck durchzuckte ihn, als er nach der Zeitung griff. Die »Chronicle«, die einzige, deren er sich erinnerte, war dick — mindestens zwanzig oder dreißig Seiten stark. Die Zeitung jedoch, die er in der Hand hielt, war wie ein kleines Dorfblatt, eine einzige zusammengefaltete Seite. Sie trug das Datum des Mittwochs der vergangenen Woche.

Die Schlagzeilen sagten ihm das Wesentlichste. Die Vereinigten Staaten wurden von Ozean zu Ozean von einer neuen, unbekannten Seuche von beispielloser Schnelligkeit der Ausbreitung und der tödlichen Wirkung heimgesucht. In verschiedenen Städten angestellte Schätzungen, die kaum mehr als Vermutungen waren, gaben an, daß zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Prozent der Bevölkerung bereits gestorben seien. Er las, daß aus Boston, Atlanta und New Orleans keine Berichte zu bekommen seien, was darauf schließen lasse, daß der Nachrichtendienst in diesen Städten bereits zusammengebrochen sei. Indem er hastig den übrigen Inhalt der Zeitung überflog, hatte er eine Fülle von Eindrücken — ein Durcheinander, in das er kaum einen logischen Zusammenhang zu bringen vermochte. Die Symptome der Seuche waren diejenigen einer Art Über-Masern. Keiner konnte mit Sicherheit angeben, in welchem Teil der Welt die Seuche zuerst ausgebrochen war; durch Flugzeugreisende verbreitet, war sie fast gleichzeitig in jedem Zivilisationszentrum aufgetreten und hatte alle Versuche zu einer Quarantäne überrannt.

In einem Interview wies ein Bakteriologe von Rang auf drei Möglichkeiten hin. Die Seuche könne sich von irgendeinem tierischen Krankheitsherd aus verbreitet haben; sie könne durch irgendeinen neuen Mikro-Organismus verursacht worden sein, wahrscheinlich ein durch Mutation entstandenes Virus; sie könne einem Laboratorium für Bakterienkrieg entstammen, aus dem der Erreger ausgebrochen oder möglicherweise gar aus Rachsucht absichtlich verbreitet worden sei. Augenscheinlich hatte die Volksmeinung sich für die letzte Annahme entschieden. Es hieß, die Seuche entstehe in der Luft, wahrscheinlich auf Staubpartikeln. Ein seltsamer Umstand war, daß die Isolierung der Einzelmenschen keinerlei Abhilfe zu schaffen schien.

Die Herren von der Presse hatten nicht versäumt, auch in ihre, wie sie vermutlich wußten, letzte Ausgabe, ein paar von ihren geliebten Sensationsberichten einzustreuen. In Omaha war ein religiöser Fanatiker nackt durch die Straßen gelaufen und hatte schallend das Ende der Welt verkündet. In Sacramento hatte eine übergeschnappte Frau die Käfige einer Zirkusmenagerie geöffnet, aus Furcht, die Tiere könnten Hungers sterben, und war von einer Löwin zerrissen worden. Von größerem wissenschaftlichen Interesse war die Meldung des Zoo-Direktors von San Diego, seine Menschenaffen und Meerkatzen gingen rasch nacheinander ein, während die übrigen Tiere frei von Ansteckung seien.

Indem er las, empfand Ish eine sich immerfort steigernde Schwäche angesichts dieser geballten Anhäufung von Schrecken, und zugleich übermannte ihn ein Gefühl der Einsamkeit. Dennoch las er wie gebannt weiter.

Wenigstens war die Zivilisation, die menschliche Rasse, so schien es, tapfer zugrunde gegangen. Von manchen Völkern wurde berichtet, sie seien aus den Städten geflohen — doch die Zurückgebliebenen waren, soweit man das den eine Woche alten Zeitungen zu entnehmen vermochte, keiner schmählichen Panik verfallen. Die Zivilisation war zurückgewichen; aber sie hatte ihre Verwundeten mit sich genommen und dem Feind ins Antlitz geschaut. Ärzte und Krankenpflegerinnen waren auf ihren Posten verblieben, und Tausende hatten sich als Helfer zur Verfügung gestellt. Ganze Stadtgebiete waren zu Lazarettlagern und Sammelstellen erklärt worden. Das gesamte Geschäftsleben hatte aufgehört; Lebensmittel wurden indessen auf Grund von Notstandsmaßnahmen weiter verkauft. Obwohl ein Drittel der Bevölkerung tot war, blieben Fernsprechwesen und Versorgung mit Wasser, Licht und Kraftstrom in den meisten Städten in Betrieb. Um unerträgliche Zustände zu vermeiden, die zu einem völligen Zusammenbruch der Moral geführt hätten, setzten die Behörden strenge Verordnungen für Massenbestattungen durch, die augenblicklich zu erfolgen hatten.

Er las die Zeitung, und dann las er sie sorgfältiger ein zweites Mal. Als er mit der zweiten Lesung zu Ende gekommen war, ging er hinaus und setzte sich in seinen Wagen. Lange Zeit saß er da und dachte nach; vielmehr dachte er nicht eigentlich, sondern sein Geist glitt ziellos über die Dinge hin.

Die Sonne war beinahe untergegangen, als er sich aufraffte. Er ließ den Motor anlaufen und fuhr die Straße hinab, dann und wann hielt er an und hupte. Er bog in eine Seitenstraße ein und durchfuhr nach und nach die ganze Stadt, in unregelmäßigen Abständen hupend. Die Stadt war klein, und so gelangte er innerhalb einer Viertelstunde an seinen Ausgangspunkt zurück. Er hatte niemand gesehen und keinerlei Antwort vernommen. Er hatte vier Hunde, mehrere Katzen, eine beträchtliche Zahl ratlos herumlaufender Hühner und auf einem Stückchen Wiese eine weidende Kuh gesehen. Am Torweg eines sehr gepflegt aussehenden Hauses hatte eine dicke Ratte herumgeschnuppert.

Diesmal hielt er nicht nochmals in dem Geschäftsviertel an, sondern fuhr weiter, bis zu dem Hause, das er als das beste der Stadt erkannt hatte. Er stieg aus dem Wagen und nahm den Hammer mit. Diesmal brach er die Tür ohne Zögern und Hemmungen auf; dreimal mußte er kräftig zuschlagen, dann flog sie nach innen. Wie er erwartet hatte, stand im Wohnzimmer ein großer Radioapparat.

Er unternahm, treppauf und treppab, einen raschen Erkundungsgang. »Kein Mensch da!« sagte er sich. Dann traf ihn der unerbittliche Sinn seiner Worte wie ein Keulenschlag: »Kein Mensch! Keine Menschenseele!«

Er spürte, wie die beiden Ausdrücke in seinem Denken zusammenschmolzen und eins wurden. Er ging wieder in das Wohnzimmer. Er schaltete das Radio ein und stellte fest, daß das Elektrizitätswerk noch arbeitete. Er ließ die Röhren warm werden und suchte sorgfältig. Nur ein schwaches Knacken von atmosphärischen Störungen drang an sein gespannt lauschendes Ohr; es wurde nirgendwo ein Programm gesendet. Er schaltete auf Kurzwelle; aber auch dort herrschte Schweigen. Systematisch prüfte er nochmals beide Wellenbereiche durch. Natürlich, dachte er, sind noch ein paar Sender in Betrieb; wahrscheinlich senden sie aber kein Vierundzwanzig-Stunden-Programm.

Er stellte auf einen Sender ein, von dem er wußte, daß er besonders stark war, oder gewesen war, und ging von dem Radio weg. Wenn der Sender kam, würde er ihn hören. Er legte sich auf die Couch.

Der Abend war warm. Von seiner Krankheit körperlich erschöpft, schlief Ish bald ein.


Hoch über ihm schwangen Mond, Planeten und Sterne in ihren langen, weiten Bahnen. Sie hatten keine Augen; sie konnten nicht sehen; noch von den Zeiten an, da sich im Menschen die Phantasie gebildet hatte, war er überzeugt gewesen, daß sie auf die Erde hinabschauten.

Und wenn wir noch immer diesem Glauben anhingen, und wenn sie tatsächlich in jener Nacht zur Erde hinabschauten: was sahen sie dann?

Wir müssen gestehen, daß sie keinerlei Veränderung sahen. Obwohl der Rauch von Schloten und Schornsteinen nicht mehr aufstieg und die Atmosphäre verdüsterte, erhob sich nach wie vor der Rauch der Vulkane und der Waldbrände. Selbst vom Monde aus betrachtet muß der Planet in jener Nacht geschimmert haben wie gewöhnlich — weder strahlender noch düsterer.


Er erwachte im hellen Tageslicht. Als er seine Hand untersuchte, stellte er fest, daß der Schmerz von dem Schlangenbiß her sich bis auf eine örtliche Empfindlichkeit verflüchtigt hatte. Auch sein Kopf war klar, und er spürte, daß die andere Krankheit, sofern es eine andere Krankheit und nicht eine der Folgen des Schlangenbisses gewesen war, sich gleichfalls gebessert hatte. Dann stutzte er plötzlich, als ihm etwas einfiel, das er zuvor nicht bedacht hatte. Der Gedanke lag nahe, daß auch er von der neuen Seuche ergriffen gewesen war und daß sie gegen das Schlangengift in seinem Blute angekämpft hatte, in der Weise, daß das eine das andere neutralisierte. Zumindest stellte das die einfachste Erklärung dafür dar, daß er noch am Leben war.

Während er ausgestreckt auf der Couch lag, empfand er eine große Ruhe. Die einzelnen Teile des Puzzlespiels fingen jetzt an, auf die Stellen zu rücken, auf die sie gehörten. Die beiden Männer, die, von panischem Entsetzen gepackt, davongelaufen waren, als sie in der Hütte einen Kranken hatten liegen sehen — sie waren lediglich arme Flüchtlinge gewesen, voller Furcht, daß die Seuche sie bereits überholt habe. Das Auto, das in der Dunkelheit auf der Straße vorübergesaust war, hatte weitere Flüchtlinge befördert; vielleicht waren es gar die Johnsons gewesen. Der aufgeregte Collie hatte versucht, ihm zu sagen, im Kraftwerk seien seltsame Dinge geschehen.

Doch als er so dalag, schuf ihm nicht einmal der Gedanke allzu große Unruhe, daß er vielleicht der einzige lebende Mensch sei, der auf der Erde zurückgeblieben war. Möglicherweise rührte das daher, daß er während der letzten Zeit nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen hatte, so daß das Erschreckende dieser neuen Vorstellung ihn weniger hart traf als jemand, der seine Mitgeschöpfe ringsum hatte sterben sehen. Überdies aber konnte er letztlich nicht glauben, und er hatte auch keinen überzeugenden Grund für diese Annahme, daß er der einzige überlebende Mensch auf der Erde sei. Der letzte Zeitungsbericht gab an, daß die Bevölkerung sich bloß um ein Drittel vermindert habe. Die Evakuierung einer kleinen Stadt wie Hutsonville bewies lediglich, daß die Bevölkerung nach irgendeinem andern Zentrum abgewandert war. Bevor er über die Vernichtung der Zivilisation und das Aussterben der Menschheit auch nur eine Träne vergoß, mußte er herauszubekommen suchen, ob die Zivilisation tatsächlich vernichtet und die Menschheit ausgestorben war. Das erste, was zu tun ihm als seine Aufgabe erschien, war, in das Haus zurückzukehren, wo seine Eltern gelebt hatten — oder, wie er hoffte, wohl noch immer lebten. Nachdem er auf diese Weise einen festen Tagesplan entworfen hatte, überkam ihn eine ruhige Genugtuung, wie stets, wenn er aus wirren Gedanken zu einer zeitweiligen Gewißheit gelangt war.

Er stand auf, suchte nochmals beide Wellenbereiche des Radios durch, und abermals ohne Ergebnis.

Er ging in die Küche; als er die Tür des Kühlschranks öffnete, merkte er, daß er noch in Tätigkeit war. In den Fächern stand eine hübsche Auswahl von Nahrungsmitteln, obwohl nicht in der Menge, wie er es erwartet hatte. Augenscheinlich waren die Vorräte schon ein bißchen knapp geworden, als die Bewohner das Haus verließen, die Speisekammer war verhältnismäßig kümmerlich ausgestattet. Doch fanden sich ein halbes Dutzend Eier, fast ein Pfund Butter, ein bißchen Speck, ein paar Salatköpfe, eine kleine Sellerieknolle und ein paar Reste. Als er im Schrank nachschaute, fand er eine Dose Grapefruit-Saft; in der Brottrommel lag ein Laib Brot, das zwar trocken, aber nicht ungenießbar war. Er schätzte, daß es seit fünf Tagen da gelegen hatte, und so bekam er eine deutliche Vorstellung von dem Zeitpunkt, zu dem die Stadt wahrscheinlich verlassen worden war. Mit solcherlei Vorräten hätte er als erfahrener Zeltwanderer draußen über einem offenen Feuer eine vortreffliche Mahlzeit bereiten können; doch er schaltete den Elektro-Herd ein und spürte, daß die Platten Hitze auszustrahlen begannen. Wie stets, wenn er vom Gebirge herunterkam, hatte er Hunger auf frisches Grün, und so fügte er denn dem gewohnten Frühstück, Eier auf Speck und Kaffee, einen gehörigen Salatkopf hinzu.

Dann ging er wieder zur Couch, bediente sich aus der roten Lackdose auf dem danebenstehenden Tischchen und rauchte als Nachtisch eine Zigarette. Bis jetzt, so überlegte er, bot die Fristung des Lebens keinerlei Schwierigkeiten.

Die Zigarette war nicht einmal ausgetrocknet. Nach einem guten Frühstück und bei einer guten Zigarette ging es einem nicht eben übel. Bis jetzt war ihm die Ungewißheit eine Qual gewesen, und er beschloß, ihr nicht nachzugeben, solange er nicht genau wußte, welche Notwendigkeit dazu bestand.

Als er die Zigarette zu Ende geraucht hatte, fiel ihm ein, daß nicht einmal die Notwendigkeit bestand, das Geschirr abzuwaschen; aber da er von Natur ordnungsliebend war, ging er in die Küche und überzeugte sich, daß die Kühlschranktür geschlossen und der Elektro-Herd abgeschaltet war. Dann nahm er den Hammer, der sich bereits als nützlich erwiesen hatte, und ging durch die zertrümmerte Haustür hinaus. Er stieg in seinen Wagen und begann die Heimfahrt.

Ein paar Kilometer hinter der Stadt kam der Friedhof in Sicht. Es fiel Ish ein, daß ihm während des vorhergegangenen Tages der Friedhof nicht in den Sinn gekommen war. Ohne den Wagen zu verlassen, stellte er eine lange Reihe neuer Einzelgräber fest, und er bemerkte auch einen Bagger neben einem großen Erdhaufen. Wahrscheinlich, so schloß er daraus, waren nicht allzu viele Menschen übriggeblieben, die Hutsonville schließlich hatten verlassen können.

Hinter dem Friedhof senkte sich die Straße hinab in flaches Gelände. Das Bedrückende der Leere überkam ihn wieder; er wünschte, es möchte doch wenigstens ein einziger ratternder Lastwagen über die vor ihm liegende Bodenwelle kommen; doch es kam kein Lastwagen.

Zusammen mit einigen Pferden standen ein paar junge Ochsen auf einem Felde. Sie wehrten mit den Schwänzen die Fliegen ab, wie an jedem beliebigen heißen Sommermorgen. Über ihnen drehten sich die Flügel einer Windmühle langsam im leichten Wind, und um den Wassertrog herum wuchs ein Fleckchen Grün, und der schlammige Boden war zertrampelt; es war, wie es von je gewesen war — und nichts sonst.

Doch auf der Straße, die von Hutsonville wegführt, hatte niemals viel Verkehr geherrscht, und er hätte auch an jedem anderen Morgen viele Kilometer fahren können, ohne jemandem zu begegnen. Anders war es, als er auf die große Hauptstraße kam. An der Kreuzung brannten noch die Lichter, und mechanisch schickte er sich zum Anhalten an, als er sah, daß das Licht rot war.

Aber wo auf den vier Fahrbahnen Lastwagen und Autobusse und Personenwagen hätten in großer Zahl dahinsausen müssen, war nichts als Leere. Nachdem er einen kurzen Augenblick angesichts des roten Lichts gehalten hatte, fuhr er unter ihm hindurch, wobei ihn ein leises Gefühl des Unrechttuns beschlich.

Doch dahinter war auf der Hauptstraße, auf der er alle vier Fahrbahnen für sich hatte, alles noch geisterhafter denn zuvor. Ihm war, als fahre er in einer Art halber Betäubung, aus der ihn nur dann und wann ein besonderes Geschehnis auftauchen ließ das in sein Bewußtsein eindrang …

Etwas lief auf der inneren Fahrbahn vor ihm her. Fast genau von hinten fuhr er darauf los. Ein Hund? Nein, er sah die spitzen Ohren und die hellen, mageren Beine, die graugelblich waren. So sah kein Bauernköter aus. Es war ein Kojote, ein Präriewolf, der in aller Ruhe und im vollen Tageslicht die Hauptstraße entlanglief. Sonderbar, wie rasch er erkannt hatte, daß die Welt anders geworden war und daß er sich nach Belieben der neuen Freiheit bedienen konnte! Er fuhr näher an das Tier heran und hupte, und der Wolf lief ein bißchen schneller, wechselte auf die andre Fahrbahn und verschwand dann über die Felder, ohne daß ihm irgendwelche Unruhe anzumerken gewesen wäre …

Zwei Wagen lagen in einem seltsamen Winkel zueinander und blockierten beide Fahrbahnen. Hier hatte sich ein schwerer Unfall ereignet. Er bog sich bis zur Schulter hinaus und stoppte. Die verkrümmte Leiche eines Mannes lag unter dem einen Wagen. Ish stieg aus und hielt Umschau. Es war keine andre Leiche zu sehen, obwohl sich Blutflecken auf dem Pflaster fanden. Selbst wenn er einen besonderen Grund für den Versuch gehabt hätte, so hätte er den Wagen nicht von der Leiche des Mannes heben und sie bestatten können. Er fuhr weiter …

Er machte sich nicht einmal die Mühe, den Namen der Stadt festzustellen, in der er anhielt, um zu tanken, obwohl es eine große Stadt war. Das Elektrizitätswerk war noch in Betrieb; auf einer großen Tankstelle nahm er Schlauch und Mundstück von der Pumpe herunter und füllte den Tank. Da sein Wagen so lange im Gebirge gewesen war, überprüfte er Beleuchtungsanlage und Batterie und goß ein Viertel Öl nach. Er stellte fest, daß ein Reifen mehr Luft brauchte, und preßte die Luftzuführung gegen das Ventil und hörte den Motor anspringen, der den nötigen Luftdruck wieder herstellte. Ja, mit dem Menschen war es aus, aber erst seit so kurzer Zeit, daß alle seine wohldurchdachten technischen Vorrichtungen nach wie vor auch ohne seine Wartung funktionierten …

In der Hauptstraße irgendeiner andern Stadt stoppte er und ließ die Hupe lange ertönen. Im Grunde erwartete er nicht, daß er Antwort erhalten würde; doch irgend etwas im Aussehen dieser Straße erweckte den Anschein, als sei sie normaler als diejenigen anderer Städte. Viele Wagen parkten an den bezeichneten Stellen, und jeder zeigte die rote Notflagge. Es sah aus, als sei es ein Sonntagmorgen und zahlreiche Wagen hätten über Nacht geparkt, die Läden seien noch nicht offen und der Straßenverkehr habe noch nicht eingesetzt. Dabei war es gar nicht früher Morgen; denn die Sonne stand jetzt fast in Scheitelhöhe. Dann erkannte er, was ihn hatte innehalten lassen und was dieser Straße den Anschein des Lebens gab. An der Fassade eines Restaurants, das »Zum Derby« hieß, war die Neon-Reklame noch in voller Tätigkeit — ein kleines, wild galoppierendes Pferd, das die Beine bewegte wie sonst auch.

Er sah auch Rauch gen Himmel steigen. Sein Herz tat einen Sprung, und er bog rasch in eine Seitenstraße ein und fuhr in Richtung des Rauches. Doch noch ehe er hingelangt war, wußte er, daß er dort niemand finden würde, und es wurde ihm wieder trübsinnig zumute. Er fuhr auf den Rauch zu, und dann sah er, daß es sich um ein kleines Bauernhaus handelte, das in aller Ruhe abzubrennen begann. Es gab vielerlei Gründe, so überlegte er, warum in Abwesenheit von Menschen Feuer ausbrechen konnte. Ein Haufen ölgetränkter Lumpen konnte sich selbst entzündet haben, oder es war ein elektrisches Gerät vergessen worden, oder ein Kühlschrankmotor hatte sich heißgelaufen und zu brennen angefangen. Augenscheinlich war das kleine Haus dem Untergang geweiht. Er konnte nicht helfen, und eigentlich gab es auch keinerlei Grund zur Hilfe, auch wenn er hätte helfen können. Er wendete und fuhr wieder auf die große Landstraße zurück …

Er fuhr nicht schnell, und oft stoppte er, um Nachforschungen anzustellen. Hier und dort erblickte er Leichen, aber im allgemeinen gewahrte er nichts als Leere. Es schien, als habe der Ausbruch der Seuche sich langsam vollzogen, so daß die Leute nur in seltenen Fällen einfach auf der Straße umgefallen waren.

Am späten Nachmittag kam er über den Hügelkranz und sah die Meeresbucht schimmernd im Licht der sich nach Westen neigenden Sonne liegen. Hier und dort entstiegen der weit ausgedehnten Stadt Rauchwolken; aber sie sahen nicht aus, als entquöllen sie Schornsteinen. Er fuhr zu dem Hause hin, wo er mit seinen Eltern gewohnt hatte. Er hegte keinerlei Hoffnung.

Er bog vom Boulevard in die San-Lupo-Promenade ein. Alles sah fast aus wie sonst, nur daß die Fußwege nicht so sauber gefegt waren, wie es sich für die vornehme San-Lupo-Promenade geziemte. Sie war stets eine Straße gewesen, die in allerhöchstem Ansehen gestanden hatte, und selbst jetzt, dachte Ish, bewahrte sie ihr Dekorum. Es lag keine Leiche auf der Straße; das wäre bei der San-Lupo-Promenade unvorstellbar gewesen. Er sah die alte graue Katze der Hatfields auf der Treppe der Säulenvorhalle in der Sonne schlafen, genauso, wie er sie früher Hunderte von Malen gesehen hatte. Das Geräusch des vorbeifahrenden Wagens störte sie; sie stand auf und reckte sich wohlig.

Gegenüber dem Hause, in dem er so lange gewohnt hatte, stoppte er. Er hupte zweimal und wartete. Nichts! Er stieg aus und stieg die Stufen der Vortreppe hinauf. Erst als er im Hause war, kam es ihm ein bißchen seltsam vor, daß die Tür nicht einmal verschlossen war.

Im Innern war alles recht gut in Ordnung. Voll dumpfer Ahnungen spähte er umher; aber er gewahrte nichts, was anzuschauen ein Mensch zögern würde. Er durchsuchte das ganze Wohnzimmer nach einem Zettel, den sie hinterlassen haben mußten, um ihm mitzuteilen, wo sie sich befanden. Doch er fand keinen Zettel.

Auch oben sah alles fast so aus wie sonst; nur im Schlafzimmer der Eltern waren beide Betten ungemacht. Vielleicht war es diese Tatsache, die in ihm ein Gefühl des Schwindels und des Krankseins erregte. Er verließ das Zimmer schwankenden Schrittes.

Sich am Geländer haltend, ging er wieder nach unten. »Die Küche!« fiel ihm ein, und bei dem Gedanken, daß er etwas Bestimmtes tun wolle, wurde ihm der Kopf etwas klarer.

Als er die Schwingtür öffnete, machte es ihn betroffen, daß sich in dem Raum etwas bewegte. Dann sah er, daß es nur die elektrische Uhr war, die über dem Ausguß hing und deren großer Zeiger sich der Sechs entgegendrehte. Im gleichen Augenblick zuckte er bei einem unvermuteten Geräusch erschrocken zusammen, bis er erkannte, daß es der Motor des Elektro-Kühlschrankes war, der bei der geringen Erschütterung durch sein Kommen zu laufen angefangen hatte. Seine Reaktion darauf war eine abscheuliche Übelkeit; er erbrach in den Ausguß.

Nachdem er sich leidlich erholt hatte, ging er wieder hinaus und setzte sich in den Wagen. Ihm war nicht mehr übel; eher fühlte er sich schwach und äußerst mutlos.

Sollte er ins Haus zurückkehren oder anderswo hingehen? Anfangs dachte er, er könne nicht nochmals hineingehen. Dann aber meinte er, daß sein Vater und seine Mutter, sofern sie noch lebten, genauso zurückgehen und nach ihm sehen würden, wie er jetzt zurückgehen würde. Im Verlauf einer halben Stunde überwand er sein Widerstreben und ging abermals in das Haus.

Wiederum durchschritt er die leeren Räume. Es sprach aus ihnen das trauervoll Schmerzliche einer von den Menschen verlassenen Wohnung.

Nach einer Weile setzte er sich ins Wohnzimmer. Angesichts der vertrauten Möbel, Bilder und Bücher begann seine Mutlosigkeit nach und nach zu weichen.

Als es dämmerte, fiel ihm ein, daß er seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte. Er verspürte keinen Hunger; aber seine Schwäche rührte wohl zum Teil vom Nahrungsmangel her. Er stöberte ein bißchen herum und machte dann eine Dose mit Suppe auf. Er fand lediglich einen Brotrest vor, und der war verschimmelt. Der Kühlschrank lieferte Butter und viel zu alten Käse. In einem Schrank entdeckte er Keks. Der Gasdruck in der Küche war sehr gering; doch es gelang ihm, sich die Suppe aufzuwärmen.

Danach setzte er sich im Dunkeln unter die Eingangssäulen. Trotz der genossenen Mahlzeit fühlte er Schwäche in den Beinen, und er meinte, das sei eine Folge des Schocks.

Die San-Lupo-Promenade lag so hoch am Hügelhang, daß sie stolz auf die Aussicht sein konnte, die man von dort aus hatte. Als Ish dasaß und Ausschau hielt, kam ihm alles vor wie früher. Anscheinend vollzog sich der zur Erzeugung von Elektrizität führende Prozeß völlig automatisch. In den Turbinenanlagen betätigte das durchströmende Wasser nach wie vor die Generatoren. Als alles zusammenbrach, mußte irgend jemand angeordnet haben, daß die Straßenbeleuchtung eingeschaltet blieb. Nun sah er unter sich das verworrene Lichtermuster der Städte an der Ostbucht und darüber die gelben Lichterketten der großen Buchtbrücke und in weiterer Ferne durch den schwachen Abendnebel den Lichtschimmer von San Francisco und die matteren Ketten der Goldenen-Tor-Brücke. Selbst die Verkehrszeichen waren noch in Tätigkeit und wechselten zwischen Rot und Grün. Hoch oben auf den Brückentürmen sandten die Blinklichter stumm ihr Warnzeichen zu Flugzeugen empor, die wohl nie wieder fliegen würden. Sogar die Reklameschilder, wenigstens manche, hatte man brennen lassen. Eindringlich flammte ihre Aufforderung zum Kaufen, obwohl es keine Käufer und Verkäufer mehr gab. Eine große Lichtreklame, deren unterer Teil von einem nahen Gebäude verdeckt wurde, sandte nach wie vor ihre Botschaft aus: »Trink«, obwohl Ish nicht sehen konnte, was zu trinken ihm da angeraten wurde.


Immerfort sah er hin, beinahe hypnotisiert. »Trink« — Dunkel. »Trink« — Dunkel. »Trink.« — »Ja, warum eigentlich nicht?« dachte er, ging hinein und kam mit einer Flasche des väterlichen Whiskys wieder heraus.

Aber der Whisky schmeckte ein bißchen zu scharf und brachte keinen Trost. Wie lange die Lichter wohl noch brennen würden? Wodurch würden sie schließlich erlöschen? Was würde dann werden? Was würde mit allem geschehen, was der Mensch im Laufe von Jahrhunderten aufgebaut und nun zurückgelassen hatte?

»Meiner Meinung nach«, so dachte er, »sollte ich mich auf den Freitod einstellen. Nein, dazu ist es noch zu früh. Ich lebe, und so leben möglicherweise auch noch andre. Wir sind wie Gas-Moleküle im annähernd luftleeren Raum; wir kreisen und können keinen Kontakt miteinander finden.«

Dann versank er langsam in eine Stumpfheit, die an Verzweiflung grenzte. Was kam dabei heraus, wenn er weiterlebte und sich wie ein Straßenräuber von den riesigen Nahrungsmittelvorräten nährte, die in allen Läden aufgestapelt lagen? Was kam dabei heraus, wenn er gut leben und vielleicht gar ein paar andre Überlebende zusammenbringen konnte? Wohin sollte das führen? Freilich wäre es etwas andres gewesen, wenn er sich ein halbes Dutzend Freunde hätte auswählen können, die mit ihm weiterlebten; so aber würde er wohl nur dumme und stumpfsinnige Leute finden, oder vielleicht gar lasterhafte oder Verbrecher. Er blickte auf und sah in der Ferne noch immer die große Lichtreklame aufstrahlen. »Trink« — Dunkel. »Trink« — Dunkel. »Trink.« Immer wieder überlegte er, wie lange sie wohl noch aufflammen würde, während es doch keine Automaten oder Verkäufer mehr gab, die das betreffende Getränk feilboten; und dann glitt sein Denken zurück zu dem übrigen, was er tagsüber gesehen hatte, und er überlegte, was wohl aus dem Kojoten werden würde, den er die große Fahrbahn hatte entlanglaufen sehen, und aus der Herde und den Pferden an der Tränke unter den langsam kreisenden Windmühlenflügeln.

Dann gab er sich plötzlich einen Ruck und erkannte, daß noch Wille zum Leben in ihm war! Und wenn er nicht länger tätigen Anteil nehmen konnte, so wollte er eben Zuschauer sein, und ein Zuschauer war darauf bedacht, alles wahrzunehmen, was geschah. Selbst wenn der Vorhang vor allem, was Mensch hieß, gefallen war, so bot sich hier für einen Studenten gleich ihm der Blick auf die größte aller Tragödien. Tausende von Jahren hindurch hatte der Mensch der Welt das Gepräge gegeben. Nun war der Mensch dahingegangen, sicherlich für geraume Zeit, vielleicht für immer. Wenn sich auch ein paar Überlebende fanden, so würde es doch sehr lange dauern, bis sie wieder die Oberherrschaft errungen hatten. Was würde aus der Welt und ihren Geschöpfen ohne den Menschen werden? Das war es, was zu sehen übrigblieb!

2

Doch als er im Bett lag, konnte er nicht schlafen. Als die kühlen Arme des Sommernebels in der Dunkelheit das Haus umschlangen, fühlte er anfangs eine Einsamkeit, und dann Furcht, und schließlich panisches Entsetzen. Er warf einen Bademantel um, setzte sich vor den Radioapparat und suchte in wahnwitziger Erregung die Wellenbereiche ab. Doch er hörte nur in weiter Ferne das Raspeln und Knacken atmosphärischer Störungen; es wurde nicht gesendet.

In einem jähen Einfall versuchte er es mit dem Telefon. Als er den Hörer abhob, hörte er das Zeichen, daß die Leitung frei sei. Außer sich wählte er eine Nummer — irgendeine! In einem fernen Hause hörte er den Telefonwecker klingeln, immer wieder. Er wartete; er stellte sich das Geräusch vor, wie es durch die leeren Räume hallte. Nach dem zehnten Male legte er den Hörer auf. Er versuchte es mit einer zweiten Nummer, mit einer dritten — und dann mit keiner mehr.

Es kam ihm ein neuer Gedanke; er nahm eine Taschenlampe mit Scheinwerfer, stellte sich in die Haustür hoch oberhalb der Stadt und sandte die Strahlen in die Nacht: kurz-kurz-kurz, lang-lang-lang, kurz-kurz-kurz. Den alten Ruf SOS, der so oft von verzweifelten Menschen ausgesandt worden war. Doch so weit die Stadt sich auch erstreckte: es erfolgte keine Antwort. Nach einer Weile erkannte er, daß in Anbetracht der gesamten noch brennenden Straßenbeleuchtung allzuviel Licht herrschte; schwerlich war sein Scheinwerfer zu sehen.

So ging er denn wieder ins Haus. Die Nebelnacht machte ihn frösteln. Er schaltete den Thermostaten ein, und im gleichen Augenblick hörte er das Summen der Ölheizung. Solange die Stromversorgung intakt blieb und im Tank Heizöl war, gab es nichts zu befürchten. Er saß da, und nach einer Weile schaltete er alles Licht im Hause aus, da ihm auf eine seltsame Weise bewußt wurde, daß es zu auffällig sei. Er ließ sich von Nebel und Dunkelheit umhüllen und abschließen. Noch immer empfand er das Beängstigende des Alleinseins, und wie er so dasaß, legte er den Hammer griffbereit, für den Fall, daß er seiner bedürfen sollte.

Ein schrecklicher Schrei gellte durch die Finsternis! Er zitterte heftig, und dann erkannte er, daß es nur der Schrei einer brünstigen Katze war, ein Geräusch, wie es allnächtlich hier und dort zu hören gewesen war, selbst in der schmucken San-Lupo-Promenade. Das Katzengeschrei stieg bis zur höchsten Höhe an; dann fuhr das Geknurr und Gekläff eines streunenden Köters dazwischen, und die Nacht war wieder still.


Für sie war die zwanzigtausend Jahre alte Welt ausgelöscht. In den Zwingern lagen sie mit geschwollenen Zungen tot und verdurstet: Pointers, Collies, Pudel, winzige Pekinesen, große Hunde. Die Glücklicheren, die nicht eingesperrt gewesen waren, irrten verloren durch die Stadt und die ländlichen Bezirke; sie tranken aus Bächen, aus Brunnen, aus Goldfischgläsern; hier und dort jagten sie etwas Eßbarem nach, rannten hinter einem Huhn her, schnappten sich im Park ein Eichhörnchen. Und allmählich ließen Hungerqualen die langen Jahrhunderte der Zivilisation zusammenbrechen, und sie umkreisten immer enger die Stätten, wo unbestattete Leichen lagen.

Jetzt wurde nicht mehr der Beste des Wurfs seiner Haltung, seiner Kopfform, seiner Zeichnung wegen bewundert. Jetzt galt ein Preisgekrönter nicht mehr einem Fixköter als unendlich überlegen. Der Preis, der das Leben an sich war, fiel dem kühnsten Hirn anheim, den kräftigsten Beinen, dem stärksten Kiefer, dem, der sich am besten den neuen Daseinsbedingungen anpassen und durch einen Rückfall in den wilden Zustand Mittel und Wege zur Lebensfristung gewinnen konnte.

Ein honigfarbener Spaniel saß mißmutig da, wurde vor Hunger immer schwächer und war zu dumm, um durch List und Geschicklichkeit sich am Leben zu erhalten, zu kurzbeinig, um eine Beute zu verfolgen … Ein Fixköter, das Lieblingstier von ein paar Kindern, hatte das Glück, ein Gelege Küken aufzustöbern, die er totbiß: nicht in halbem Spiel, sondern um sie zu fressen … Ein Drahthaarterrier, der von Natur einzelgängerisch veranlagt und ein Herumtreiber war, brachte sich prächtig durch … Ein roter Setter zitterte und bebte und heulte dann und wann schwach auf, so daß es wie ein Stöhnen klang; er war zu edel geartet, als daß er den Willen zum Leben in einer Welt aufgebracht hätte, wo es keinen Herrn und keine Herrin gab, die er lieben konnte.


Am nächsten Morgen arbeitete er einen Plan aus. Er war fest davon überzeugt, daß in einem Stadtdistrikt von zwei Millionen Einwohnern noch andre am Leben geblieben sein mußten. Der Schluß lag nahe; er mußte jemanden, irgend jemanden finden. Es handelte sich einzig um die Art und Weise, die Verbindung herzustellen.

Er begann damit, daß er in der Nachbarschaft umherging, in der Hoffnung, einem Bekannten zu begegnen. Aber an den wohlbekannten Häusern ringsum nahm er keine Zeichen wahr, daß sie bewohnt seien. Die Rasenflächen waren verdorrt; die Blumen verwelkt.

Auf dem Heimweg durchschritt er den kleinen Park, in dem er als Junge häufig gespielt und dessen Felsgruppen er erklettert hatte. Zwei Felsblöcke lehnten mit den Spitzen aneinander, so daß sie eine Art hoher, enger Höhle bildeten. Ish hatte dort oftmals Verstecken gespielt. Die Höhle sah aus wie eine natürliche, primitive Zufluchtsstätte, und er schaute hinein. Es war niemand darin.

Er klomm eine breite, sanft zugleich mit dem Hügel ansteigende Felsfläche hinan. Sie war mit kleinen, runden Löchern übersät, den Stellen, wo dereinst die Indianerfrauen mit Steinstößeln Körner zerstampft hatten.

»Die Welt jener Indianer ist untergegangen«, dachte er. »Und mit unserer Welt, die auf die ihrige folgte, ist es nun auch aus. Bin ich wirklich der Letzte?«

Nachdem er wieder bei dem Hause angelangt war, stieg er in seinen Wagen und arbeitete im Kopfe eine Rundfahrt durch die Stadt aus, bei der nur ganz wenige Bezirke außerhalb der Reichweite seiner Hupe bleiben sollten. Er fuhr los, ließ ungefähr jede Minute die Hupe ertönen, stoppte dann und horchte auf eine Antwort. Im Fahlen hielt er neugierig Umschau.

Die Straßen boten einen frühmorgendlichen Anblick. Es parkten zahlreiche Wagen, und es herrschte keine Unordnung. Hier und dort brannte es, wie er an den Rauchsäulen erkennen konnte. Hier und dort lagen einzelne Leichen, und bei der einen sah er zwei Hunde. An einer Straßenecke hing eine Männerleiche am Querträger eines Telefonmastes; daran war ein auffälliges Schild mit der Inschrift »Plünderer«. Als er vorüber war, gelangte er in ein elegantes Geschäftsviertel, und dort stellte er fest, daß es bis zu einem gewissen Grade zu Ausschreitungen gekommen sein mußte. Das große Schaufenster einer Weinhandlung war zertrümmert.

Nachdem er das Geschäftsviertel durchfahren hatte, ließ er wieder in regelmäßigen Abständen die Hupe ertönen, und eine halbe Minute später zuckte er zusammen, weil er aus der Ferne einen schwachen Hupenruf zu vernehmen meinte. Für einen Augenblick glaubte er, seine Ohren spielten ihm einen Streich.

Rasch hupte er abermals, und diesmal erhielt er sogleich Antwort. Das Herz wurde ihm schwer. »Ein Echo!« dachte er. Doch dann hupte er wiederum lang und kurz, und als er angespannt lauschte, kam als Antwort lediglich ein Lang.

Er wendete und fuhr auf den Hupenruf zu, der, wie er schätzte, ungefähr einen Kilometer entfernt ertönt war. Als er drei Hausblocklängen gefahren war, hupte er wieder und wartete. Diesmal antwortete es weiter rechts! Er wendete. Er wand sich durch die Straßen, kam in eine Sackgasse, machte kehrt und suchte einen andern Weg. Er hupte, und die Antwort klang näher. Diesmal fuhr er geradeaus weiter, in aller Hast, und die nächste Antwort hörte er rechts hinter sich. Er schlug einen andern Weg ein und gelangte in einen kleinen Geschäftsbezirk. Längs der Straße parkten Wagen; doch er sah niemanden. Es kam ihm seltsam vor, daß derjenige — wer es auch sein mochte —, der ihm geantwortet hatte, nicht irgendwo auf der Straße stand und winkte. Er hupte, und plötzlich ertönte die Antwort in seiner unmittelbaren Nähe. Er stoppte, sprang hinaus und hastete den Bürgersteig entlang. Auf dem Führersitz eines an der Straßenbiegung parkenden Wagens sah er einen Mann. Gerade als er ihn erblickt hatte, schwankte der Mann und fiel vornüber auf den Volant. Der niedergedrückte Hupenknopf ließ ein langes Geheul entstehen, worauf der Körper seitwärts auf den Sitz glitt. Im Nähertreten witterte Ish Whiskydunst. Er sah, daß der Mann einen langen, wuchernden Bart hatte, sein Gesicht war blutig und rot; augenscheinlich befand er sich im letzten Stadium. Ish wandte sich um und sah, daß die Tür eines unmittelbar daneben gelegenen Schnapsladens weit offenstand.

In jäher Angst schüttelte Ish den schlaffen Körper. Der Mann kam ein bißchen zu sich, öffnete die Augen und stieß eine Art Grunzen aus, das wohl bedeuten sollte: »Was ist denn los?« Ish brachte den haltlosen Körper in eine sitzende Stellung; dabei tastete die Hand des Mannes nach der halbgeleerten Whiskyflasche, die in der Ecke des Sitzes steckte. Ish bekam sie zu fassen, warf sie hinaus und hörte, wie sie auf dem Straßenpflaster zerschellte. In ihm war nichts als tiefer, bitterer Zorn und ein Anflug von furchtbarer Ironie. Von allen Überlebenden, die er hätte finden können, war er ausgerechnet an einen armen alten Trunkenbold geraten, der weder in dieser noch in jener Welt zu irgend etwas nütze war. Doch als der Mann die Augen aufschlug und Ish hineinschaute, empfand er plötzlich keinen Zorn mehr, sondern nur noch tiefes Mitleid.

Diese Augen hatten zu viel gesehen. Unaussprechliche Angst und wildes Entsetzen waren darin. So sternhagelvoll der blutige Körper des Trunkenbolds auch sein mochte: irgendwo in dem allem lagen ein empfänglicher Geist, eine Seele, und jener Geist und jene Seele hatten mehr aufgenommen, als sie ertragen konnten. Ihnen blieb nichts als Flucht ins Vergessen.

Sie saßen nebeneinander. Dann und wann glänzten die Augen des Trunkenen auf, aber schwerlich hing das mit seinem Bewußtsein zusammen. Das Tragische in ihnen schien sich lediglich zu vertiefen. Er atmete röchelnd. In einer plötzlichen Eingebung ergriff Ish die schlaffe Hand und fühlte den Puls. Er war schwach und unregelmäßig. Zweifellos hatte der Mann die ganze Woche nichts getan als getrunken. Ob er es überstehen würde, war höchst fraglich.

»Das ist nun dabei herausgekommen!« dachte Ish. Es hätte ja ein hübsches Mädchen verschont bleiben können, oder ein feiner, intelligenter Mann. Und nun war er auf diesen Trunkenbold gestoßen, der wohl schon jenseits aller Hilfe stand.

Nach einer Weile stieg Ish aus dem Wagen. Aus Neugierde ging er in den Schnapsladen. Eine tote Katze, so schien es, lag auf dem Schanktisch; aber als er sich über sie beugte, erwachte sie zum Leben, und er erkannte, daß sie, wie alle Katzen, einfach dagelegen hatte, in einer Stellung, daß es aussah, als wäre sie tot. Kalt und hochmütig sah die Katze ihn an, wie eine Herzogin ihre Zofe. Ish hatte ein unbehagliches Gefühl, bis ihm einfiel, daß dies von je die Art aller Katzen gewesen sei. Die Katze sah zufrieden und wohlgenährt aus.

Indem er den Blick über die Regale schweifen ließ, stellte Ish fest, worauf er begierig gewesen war. Der Mann hatte sich nicht erst die Mühe gemacht, eine möglichst gute Whiskymarke herauszusuchen. Der erstbeste hatte ihm vollauf genügt.

Beim Herauskommen sah Ish, daß der Mann es irgendwie fertiggebracht hatte, eine weitere Flasche zu ergattern; er tat gerade einen langen Zug. Ish sah ein, daß er nichts dagegen unternehmen konnte. Doch er wollte noch einen letzten Versuch machen.

Er schaute zum Wagenfenster hinein. Vielleicht hatte der letzte Schluck den Mann etwas belebt; wenigstens war er, wie es schien, ein bißchen klarer. Er sah zu Ish hin, er schien dazu imstande, seinem Blick Stetigkeit zu geben, und er lächelte schmerzlich.

»Ach — ja!« sagte er und rülpste dabei.

»Wie geht's?« fragte Ish.

»Ah — bar — el — low!« sagte der Mann.

Ish versuchte, herauszubekommen, was diese Laute bedeuten sollten. Wiederum lächelte der Mann sein schmerzliches Kinderlächeln und wiederholte, diesmal etwas deutlicher:

»Ah — nein bar'l — low!«

Ish glaubte halbwegs zu verstehen.

»Sie heißen Barello?« fragte er. »Oder Barlow?«

Bei dem zweiten Namen nickte der Mann, lächelte wiederum, und ehe Ish ihn daran hindern konnte, nahm er nochmals einen Schluck. Ish fühlte sich den Tränen nahe, jenseits aller Wut. Was kam es jetzt darauf an, wie ein Mensch hieß! Und dennoch machte Mister Barlow in seinem zerrütteten Geisteszustand den Versuch zu dem, was in der zivilisierten Welt als eine erste Bekundung des Wohlgesinntseins gegolten hätte.

Dann sank Mister Barlow ganz sanft in sich zusammen und verlor abermals das Bewußtsein, und der Whisky gluckerte aus der unverschlossenen Flasche auf den Wagenboden.

Ish zögerte. Sollte er Mister Barlow in sein Schicksal einbeziehen, sollte er warten, bis er wieder nüchtern war, und ihn bekehren? Was er von Alkoholikern wußte, ließ ihm seine Aussichten als gering erscheinen. Und wenn er länger hierblieb, ging er vielleicht der Möglichkeit verlustig, jemanden zu treffen, der sympathischer war.

»Du bleibst hier«, sagte er zu dem zusammengesunkenen Körper, für den Fall, daß Mister Barlow dennoch imstande war, ihn zu verstehen. »Ich verspreche dir, daß ich wiederkomme.«

Nach diesen Worten hatte Ish die Empfindung, doch die mindeste Pflicht erfüllt zu haben. Im Grunde hegte er keinerlei Hoffnung. Mister Barlows Augen ließen erkennen, daß er zu viel gesehen hatte; der Pulsschlag, daß es schon zu weit mit ihm gekommen war. Ish fuhr weiter; indessen merkte er sich die Stelle.


Was nun die Katzen betrifft, so waren sie erst wenig mehr als fünftausend Jahre Haustiere des Menschen und hatten sich seit je nur unter Vorbehalt darein geschickt. Die Unglücklichen, die im Innern der Häuser eingesperrt waren, gingen bald an Durst zugrunde. Aber diejenigen, die sich im Freien befanden, brachten es besser als die Hunde fertig, sich auf die eine oder andre Weise durchzuschlagen. Das Mäusefangen war nicht länger ein Spiel, sondern wurde mit Fleiß und Geschicklichkeit betrieben. Jetzt stellten sie den Vögeln nach, um den peinigenden Hunger zu stillen. Sie lauerten an den Maulwurfslöchern der ungemähten Rasenflächen und vor den Bauten der Beutelratten. Sie durchschlichen die Straßen und Alleen und entdeckten hier und dort Abfalleimer, die die Ratten noch nicht ausgeplündert hatten. Sie verstreuten sich außerhalb der Stadtgrenzen und brachen in die Erdlöcher der Wachteln und der Kaninchen ein. Dort begegneten sie der echten Wildkatze, und das Ende war schnell und unerwartet, da der stärkere Waldbewohner die Hauskatzen in Stücke riß.


Die nächste Hupe klang munterer. Tut tut, tut, sagte sie, tut-tatut, tut, tut! So hupte kein Betrunkener. Als er an die betreffende Stelle kam, sah er einen Mann und eine Frau beieinander stehen. Sie lachten und winkten ihm zu. Er fuhr hin und stieg aus dem Wagen. Der Mann war ein stämmiger Kerl und trug schreiend buntes Sportzeug. Die Frau war ziemlich jung und hübsch, auf eine etwas zweideutige Weise. Ihr Mund war eine kleine, runde Lippenstiftmasse. An ihren Fingern glitzerten zahlreiche Ringe.

Ish tat zwei Schritte vorwärts; dann hielt er plötzlich inne. »Zwei sind ein Paar, drei eine Schar!« Der Mann schaute ganz entschieden feindlich drein. Und jetzt merkte Ish überdies, daß jener die rechte Hand in der gebauschten Tasche seines Sportsakkos hielt.

»Oh, uns geht's großartig«, sagte der Mann. Die Frau kicherte bloß, aber Ish konnte sehen, daß ihr Lächeln ein einladendes Zwinkern war, und stärker denn zuvor empfand er das Gefährliche seiner Lage. »Ja«, redete der Mann weiter, »uns geht's großartig. Haufen zu essen, Haufen zu trinken, Haufen zu …« Er vollführte eine unanständige Geste und sah grinsend nach der Frau hin. Wieder kicherte sie.

Er überlegte, was die Frau in ihrem früheren Leben gewesen sein könne. Jetzt sah sie lediglich wie eine vielbeschäftigte Prostituierte aus. An den Fingern trug sie so viele Brillantringe, daß ein ganzer Juwelierladen damit hätte ausgestattet werden können.

»Ist hier sonst noch wer am Leben?«

Sie sahen einander an. Wieder kicherte die Frau; das schien ihre einzige Antwort zu sein.

»Nein«, sagte der Mann. »Hier herum nicht, soviel ich weiß.« Er hielt inne und zwinkerte der Frau zu. »Wenigstens jetzt nicht mehr.«

Ish blickte auf die Hand, die der Mann nach wie vor in der Seitentasche seines Sakkos hielt. Er sah, wie die Frau herausfordernd die Lippen bewegte und wie ihre Augen schmaler wurden. In den Augen dieses Paars war kein Leid wie in denen des Betrunkenen. Sie schienen weder Geist noch Seele zu haben, und dennoch hatten sie beide vielleicht mehr durchlitten, als Männer und Frauen ertragen können, und waren auf die ihnen gemäße Weise schlecht geworden. Unvermittelt fiel es Ish ein, daß er vielleicht dem Tode näher war als je zuvor.

»Was haben Sie vor?« fragte der Mann, und es war nur zu offensichtlich, was er meinte.

»Oh, ich will bloß ein bißchen in der Gegend herumfahren«, sagte Ish, und die Frau kicherte.

Ish drehte sich um und ging auf seinen Wagen zu, so gut wie überzeugt davon, einen Schuß in den Rücken zu bekommen. Er kam hin, stieg ein und fuhr davon …

Diesmal hörte er keine Hupenrufe; doch als er um die Ecke bog, da stand mitten auf der Straße ein hochbeiniges noch nicht zwanzig Jahre altes Mädchen mit gelöstem blondem Haar. Sie stand wie angewurzelt, wie ein erschrockenes Reh in einer Waldschneise. Mit der raschen Bewegung eines gewitzten, gehetzten Wesens beugte sie sich vorwärts, schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne und versuchte zu erkennen, wer da sei. Dann drehte sie sich um und eilte behend davon, abermals wie ein Reh. Sie schlüpfte durch ein Loch in einem Straßenzaun und war verschwunden.

Er fuhr an das Zaunloch heran, sah hindurch, rief, und rief nochmals. Er bekam keine Antwort. Halb und halb erwartete er, er würde wenigstens von einem der Fenster her ein spöttisches Gelächter vernehmen oder einen Rockzipfel um die Ecke flitzen sehen; und wenn er auch nur die mindeste Ermunterung dazu erhalten hätte, so würde er die Verfolgung aufgenommen haben. Aber ihr war wohl nicht nach einem Flirt zumute gewesen. Vielleicht hatte sie bereits ihre Erfahrungen gemacht und wußte, daß in solchen Zeiten für ein junges Mädchen die einzige Sicherheit darin besteht, sich schnell und endgültig aus dem Staube zu machen. Er wartete noch ein paar Minuten; doch da nichts geschah, fuhr er weiter …

Dann und wann hörte er Hupensignale; doch sie setzten aus, bevor Ish hingelangen konnte. Ein paar Minuten fuhr er in der Nähe umher, und schließlich sah er einen alten Mann aus einem Krämerladen kommen; er schob einen Kinderwagen, der mit Konservendosen und Kartons vollgepackt war. Als Ish näher heran war, sah er, daß der alte Mann möglicherweise gar nicht so alt war. Wenn sein struppiger weißer Bart sauber abrasiert war, hätte er vielleicht wie ein kräftiger Sechziger ausgesehen. Jetzt aber war er verwahrlost und schmutzig, und seine Kleider sahen aus, als habe er darin geschlafen.

Von den paar Menschen, denen Ish an diesem Tag begegnet war, dünkte ihn der alte Mann noch am umgänglichsten, und dennoch war auch er in sich selbst verstrickt. Er nahm Ish mit in sein nahegelegenes Haus, in dem er Vorratslager von allen möglichen Dingen angelegt hatte, nützlichen und völlig überflüssigen. Der nackte Besitztrieb hatte Gewalt über ihn gewonnen, und der alte Mann war ohne alle Hemmungen auf dem besten Wege dazu, ein typischer Eigenbrötler und Hamsterer zu werden. Im früheren Dasein, so erfuhr Ish, war der alte Mann verheiratet und Angestellter in einer Eisenwarenhandlung gewesen. Doch wahrscheinlich hatte er von jeher zur Einzelgängerei geneigt, bei großer Zurückhaltung in seinen Beziehungen zu andern Menschen. Es schien, als sei er jetzt glücklicher denn zuvor, weil ihm jetzt niemand mehr dazwischenreden und er in aller Ruhe materielle Güter um sich aufstapeln konnte. Er besaß Konserven, manche in einzelnen Dosen, manche in Stapeln und Haufen. Doch er hatte sich auch Dutzende von Kisten mit Apfelsinen geholt, weit mehr, als er essen konnte ehe sie verdorben waren. Auch Bohnen in Cellophansäcken standen da, und einer der Säcke war schon geplatzt, und die Bohnen rannen auf den Fußboden.

Außer den Nahrungsmitteln hatte er sich haufenweise Schachteln mit Glühbirnen und Radioröhren geholt, ein Cello (obwohl er nicht spielen konnte), einen ganzen Stapel der gleichen Nummer einer Zeitschrift, ein Dutzend Weckuhren und eine Fülle mannigfacher anderer Dinge, die er nicht aus dem Gedanken heraus, daß sie ihm nützlich sein konnten, zusammengetragen hatte, sondern nur um des tröstlichen Gefühls der Sicherheit willen, das für ihn von dem unterschiedlichen Besitz ausging, mit dem er sich umgab. Der alte Mann war zwar ziemlich vergnügt; aber Ish war es, als sei er im Grunde schon tot. Der Schock hatte sich auf seinen an sich schon eigenbrötlerischen Charakter so ausgewirkt, daß er jetzt der Geistesgestörtheit nahe war. Er würde fortan nichts tun als alle möglichen Dinge um sich aufstapeln, für sich leben und sich immer mehr in sich selbst verkriechen.

Doch als Ish aufbrechen wollte, packte ihn der alte Mann entsetzt am Arm.

»Warum ist das alles geschehen?« fragte er verstört. »Warum bin ich verschont geblieben?«

Ish schaute voll Widerwillen in das plötzlich schreckverzerrte Gesicht.

»Ja — warum sind Sie verschont worden, und so viele bessere Menschen haben sterben müssen?« sagte Ish zornig.

Der alte Mann starrte ihn an. Jetzt war seine Angst verächtlich und unmenschlich.

»Davor habe ich mich nämlich gefürchtet!« flüsterte der Alte.

In Ish stieg Mitleid auf.

»Ach, lassen Sie nur«, sagte er. »Sie brauchen sich nicht zu fürchten. Warum Sie noch leben, das weiß niemand. Nicht wahr, Sie sind nie von einer Klapperschlange gebissen worden?«

»Nein …«

»Na ja, das schadet nichts. Wie es kommt, daß jemand von Natur immun ist — das weiß kein Mensch. Aber selbst bei den schlimmsten Seuchen erkranken nicht alle.«

Doch der andre schüttelte den Kopf. »Ich muß wohl ein großer Sünder gewesen sein«, sagte er.

»In diesem Falle müßten Sie tot sein.«

»ER …« der alte Mann unterbrach sich und schaute umher, »ER hat mich wohl für einen besonderen Zweck aufgespart.« Und ihn schauderte …

Als er an den Stadtzoll-Schlagbaum kam, überlegte Ish völlig mechanisch, ob er wohl einen Vierteldollar für den Zoll griffbereit habe. In einer verstörten Sekunde malte er sich eine unsinnige Szene aus, in der er langsamer fuhr und eine imaginäre Münze in eine ausgestreckte imaginäre Hand fallen ließ. Doch obwohl er etwas langsamer fahren mußte, um glatt durch die enge Durchfahrt zu kommen, streckte er die Hand nicht aus.

Er hatte sich vorgenommen, durch San Francisco zu fahren und nachzuschauen, wie es dort stünde. Aber als er auf der Brücke war, merkte er, daß vor allem die Brücke ihn angezogen hatte. Es war das größte und kühnste Menschenwerk des ganzen Zeitalters. Gleich allen Brücken war sie das Sinnbild der Vereinigung und der Sicherheit. Der Gedanke, nach San Francisco zu fahren, hatte ihm nur als Vorwand dienen müssen. Im Grunde hatte er nichts gewünscht, als auf irgendeine Weise wieder in Beziehung zu dem Sinnbild der Brücke zu kommen.

Nun lag sie leer. Wo sechs Reihen von Wagen eilfertig in westlicher oder östlicher Richtung gerollt waren, erstreckten sich jetzt die weißen Linien auf dem Pflaster ungebrochen jener Unendlichkeit entgegen, wo sie einander schnitten. Eine Möwe, die sich auf dem Geländer niedergelassen hatte, flatterte beim Geräusch des näherkommenden Wagens lässig auf und schwebte davon.

Weil es ihm gerade in den Sinn kam, bog er nach links ab und fuhr ungehindert auf der falschen Fahrbahn. Er durchfuhr den Tunnel, und die hohen Türme und gestreckten Kurven der Hängebrücke boten sich seinen Blicken in großartiger Verkürzung. Wie gewöhnlich wurde an einer Stelle der Anstrich erneuert; im Gegensatz zu dem vorherrschenden Silbergrau wies das eine Kabel orangerote Flecken auf.

Dann plötzlich erblickte er etwas Sonderbares. Ein Wagen, ein kleiner, grüner, geschlossener Zweisitzer, parkte am Geländer, mit dem Kühler nach der Ost-Bucht zu.

Ish fuhr hin und betrachtete ihn neugierig. Dann gab er der Neugierde nach, machte die Tür auf und schaute hinein. Nichts! Hatte der Fahrer, als er sich voller Verzweiflung von der Seuche ergriffen fühlte, hier angehalten und war über das Geländer gesprungen? Oder hatte er, oder sie, nur eine Panne gehabt, auf einen andern Wagen gewartet oder war davongegangen? Am Armaturenbrett hingen Schlüssel; der Zulassungsschein war an der Steuersäule befestigt — John S. Robertson, Vierundfünfzigste Straße Nummer soundso, Oakland. Ein gleichgültiger Name und eine gleichgültige Adresse. Nun beherrschte Mister Robertsons Wagen die ganze Brücke!

Erst als er wieder in den Tunnel einfuhr, fiel Ish ein, daß er wenigstens hätte feststellen müssen, ob eine Panne vorlag oder nicht: er hätte versuchen müssen, ob der Motor ansprang. Aber im Grunde kam es darauf nicht an, genausowenig wie darauf, daß er jetzt wieder in Richtung Ost-Bucht fuhr. Es war ihm klargeworden, daß es zu nichts nütze sei, nach San Francisco zu fahren …

Bald danach kam Ish, wie er es versprochen, wieder in die Straße; wo er am Morgen mit dem Betrunkenen gesprochen hatte, sofern man das »sprechen« nennen konnte.

Er fand die Leiche auf dem Bürgersteig vor dem Schnapsladen liegen. »Schließlich«, dachte Ish, »hat die menschliche Aufnahmefähigkeit für Alkohol ihre Grenzen.«

Einstweilen waren keine Hunde in der Nähe; doch Ish mochte die Leiche nicht einfach liegenlassen. Denn er hatte Mister Barlow ja doch gekannt und mit ihm gesprochen. Er konnte sich nicht vorstellen, wo oder wie er ein Begräbnis vornehmen sollte. So hoffte er denn aus einem in der Nähe gelegenen Wäschegeschäft ein paar Bettlaken und wickelte die Leiche sorglich hinein. Dann hob er Mister Barlow in dessen Wagen und schloß die Fenster. Das war eine abgeschlossene Grabstätte auf lange Zeit.

Er sagte kein Wort; das wäre fehl am Platze gewesen. Aber er blickte durch das Fenster auf die saubere Lakenrolle und dachte an Mister Barlow, der sicherlich ein guter Kerl gewesen war, der indessen eine Welt, die rings um ihn zugrunde ging, nicht hatte überleben können. Und dann nahm Ish, weil es ihn ziemlich dünkte, den Hut ab und stand ein paar Sekunden mit entblößtem Kopf da …


Wie in alten Zeiten, wenn ein großer König gestorben war und die Überlebenden der besiegten Völker jubelten — so freuten sich an jenem Tage die Fichten und Zedern und riefen: »Nun es mit euch zu Ende ist, rührt uns kein Holzfäller mehr an!« Und die Rehe und Füchse und Wachteln triumphierten: »Bist du nun ebenso schwach geworden wie wir? Bist du nun unsresgleichen geworden? Und ehedem hat vor dem Menschen die Erde gezittert!«

(»Dein Prunk ist zu Grabe gebracht und der Schall deiner Lauten; der Wurm ist unter dir, und Würmer bedecken dich.«)

Nein, keiner spricht solcherlei Worte, und keiner ist übrig, der sie denken kann, und das Buch des Propheten Jesaias modert ungelesen. Nur der Hirsch äst in größerer Entfernung vom Dickicht und weiß nicht, warum, und die Jungfüchse spielen beim ausgetrockneten Brunnen auf dem Stadtplatz, und die Wachtel legt ihre Eier in das hohe Gras bei der Sonnenuhr.


Gegen Abend fuhr Ish wieder nach dem Hause in der San-Lupo-Promenade.

Er hatte viel gelernt. Das Große Unheil, wie er es nun nannte, hatte manche nicht getroffen.

Darum brauchte er seine Zukunft nicht sogleich an das erste Wesen zu knüpfen, dem er begegnete. Er tat besser, wenn er Versuche anstellte und eine Auswahl traf, zumal jeder, soweit er hatte sehen können, irgendwie unter der Nachwirkung des Schockes stand.

Ein neuer Gedanke nahm in seinem Geiste Gestalt an und damit zugleich ein neues Wort: der Zweite Tod. Von denjenigen, die das Große Unheil verschont hatte, würden viele einer Verwirrung zum Opfer fallen, vor der die Zivilisation sie bewahrt hatte. Mit unbeschränkten Mengen von Alkohol würden sie sich zu Tode trinken. Es waren, so vermutete er, Morde begangen worden, und sicherlich Selbstmorde. Manche, wie der alte Mann, der unter normalen Umständen ein recht unauffälliges Leben gelebt hätte würden durch den Schock über die Grenzen des Wahnsinns getrieben werden und nicht zurückfinden können; wahrscheinlich würden sie nicht sehr lange am Leben bleiben. Manche würden Unfälle erleiden, und da ihnen niemand half, würden sie sterben. Manche würden an Krankheiten zugrunde gehen, da niemand sie pflegte. Er wußte, daß es, biologisch gesprochen, einen kritischen Punkt in der Anzahl jeder Spezies gibt — wenn die Anzahl unter diesen Punkt sinkt, so kann die Spezies nicht überdauern.

Würde die Menschheit weiterleben? Das war eine der interessantesten Fragen, die seinen Willen zum Leben anfachten. Freilich gab ihm das Ergebnis seiner Nachforschungen dieses Tages nur geringe Zuversicht. Wenn, was er an Überlebenden gesehen hatte, als typisch anzusprechen war, dann konnte man nicht eben wünschen, daß die Menschheit fortbestehe.

Er war an diesem Morgen mit der Robinson-Crusoe-Empfindung aufgebrochen, daß er jeden menschlichen Gefährten willkommen heißen würde. Er war heimgekehrt mit der Gewißheit, daß er lieber allein bleiben wolle, bis er jemanden gefunden hatte, der besser zu ihm paßte als diejenigen, die der Tag ihm dargeboten hatte.

Nein, das Große Unheil hatte keinerlei Neigung bezeigt, nette Leute aufzusparen, und die Überlebenden waren durch das Gottesgericht, durch das sie hindurchgegangen waren, nicht sympathischer geworden.

Er bereitete sich eine Abendmahlzeit und aß ohne Appetit. Danach versuchte er zu lesen, aber die Worte boten ihm so wenig Anreiz wie das Essen. Nochmals dachte er an Mister Barlow und die andern; auf die eine oder andre Weise, jeder auf die ihm wesensgemäße, würden alle, denen er begegnet war, zugrunde gehen. Von sich selbst glaubte er das nicht. Aber war er denn noch heil und gesund? Litt auch er vielleicht noch unter dem Schock? In ruhiger Selbstprüfung dachte er darüber nach. Nach einer Weile nahm er Federhalter und Papier, in dem Entschluß, niederzuschreiben welche Eigenschaften und Fähigkeiten er hatte, warum er weiterleben wolle, selbst bis zu einem gewissen Grade glücklich, während die andern es nicht waren.

Zunächst schrieb er, ohne zu zögern:


»1. Habe Willen zum Leben. Möchte sehen, was auf der Erde ohne den Menschen geschieht, und wie es geschieht. Geograph.«


Darunter schrieb er andere Notizen:


»2. War immer Einzelgänger. Brauche nicht mit andern Leuten zu reden.

3. Mein Blinddarm ist 'raus.

4. Mäßig praktisch begabt, technisch ahnungslos. Zeltwanderer.

5. Habe bei der ganzen Sache keine verheerenden Erlebnisse gehabt, habe Familie und andre Leute nicht sterben sehen. Also dem schlimmsten Schock entgangen.«


Er hielt inne und überlas die letzte Notiz. Er wollte wenigstens hoffen, daß sie stimmte.

Noch immer saß er da, starrte vor sich hin und dachte nach. Er konnte noch andre seiner Eigenschaften und Fähigkeiten dazuschreiben, so etwa, daß er geistig wach sei und sich deshalb, wie er glaubte, neuen Lebensumständen anpassen könne. Er konnte aufschreiben, daß er gern las und daß ihm auf diese Weise ein wichtiges Mittel zur Verfügung stand, sich abzulenken und der Gegenwart zu entfliehen. Gleichzeitig aber war er mehr als ein bloßer Bücherwurm, weil er sich darauf verstand, Bücher als Mittel der Forschung zu benutzen: auf diese Weise besaß er ein mächtiges Rüstzeug für den Wiederaufbau.

Seine Finger umschlossen abermals für einen Augenblick den Füllhalter. Während er erwog, ob er niederschreiben solle, daß er nicht abergläubisch sei. Das konnte von Wichtigkeit sein. Denn sonst würde er vielleicht jetzt schon, wie der alte Mann, gegen die Furcht anringen, das Große Unheil sei das Werk eines zornigen Gottes, der jetzt Sein Volk durch eine Pestilenz ausgerottet hatte wie ehedem durch die Sintflut, wobei Ish (obwohl ohne Weib und Kind) als ein neuer Noah übriggeblieben war, um die Leere wieder zu bevölkern. Doch solcherlei Gedanken leiteten auf den Weg zum Wahnsinn. Ja, er meinte, wenn ein Mensch erst anfinge, sich für einen von Gott Erkorenen zu halten, so war er nicht weit davon entfernt, sich selbst als Gott zu betrachten — und eben das war Wahnwitz.

»Nein«, dachte er. »Was auch immer geschehen möge: wenigstens will ich niemals glauben, ich sei ein Gott. Nein, ich darf nie ein Gott werden!«

Dann fuhr er von ungefähr mit seinen Gedanken fort, und er erkannte, daß seltsamerweise irgendwie ein neues Gefühl der Sicherheit und selbst der Genugtuung in ihm sei, wenn er sein einsames Leben betrachtete. Alle Widerwärtigkeiten früherer Zeit waren in der Hauptsache durch andre Menschen entstanden. Die Notwendigkeit, auf ein Tanzfest zu gehen, hatte ihn mehrmals in kalten Schweiß gebracht; er war nie ein guter Mixer gewesen; niemand hatte ihm je Bruderschaft angeboten. Früher war dergleichen sehr lästig gewesen. Jetzt, so meinte er, gereichte es ihm zum Vorteil. Weil er sich stets als das fünfte Rad am Wagen gefühlt hatte, kaum fähig, sich an einer Unterhaltung zu beteiligen, immer nur zuhörend, objektiv beobachtend, konnte er es jetzt ertragen, daß er keine Möglichkeit hatte, sich zu unterhalten; wieder konnte er dasitzen, beobachten und aufschreiben, was geschah. Seine Schwäche war zur Stärke geworden. Es war, als sei er ein Blinder in einer plötzlich des Lichtes beraubten Welt. In dieser Welt konnten die mit sehenden Augen Begabten lediglich umhertappen; doch ein Blinder fühlte sich heimisch, und anstatt einer zu sein, den andre führen mußten, war er jetzt der einzige, an den die andern sich klammerten, damit er sie führe.

Als er aber wieder in seinem Bett lag und die kalten Finger des Nebels von der Meeresbucht her durch die Dunkelheit tasteten und das Haus an der San-Lupo-Promenade einhüllten, mutete ihn das einsame Leben, das sich vor ihm dehnte, nichtsdestoweniger nicht eben einfach an und schien ihm der Sicherheit und den Annehmlichkeiten entrückt zu sein. Wieder überkam ihn große Angst, und er krümmte sich in unbestimmter Furcht zusammen und lauschte in die Finsternis hinein auf Geräusche. Ein wildes Verlangen nach Flucht und Entkommen kam in ihm auf. Er hatte das Gefühl, als müsse er so schnell wie möglich weit wegfahren. Dann gab er diesem Gefühl einen vernünftigen Unterbau, indem er dachte daß die Seuche schwerlich die gesamten Vereinigten Staaten heimgesucht haben könne, daß irgendwo noch eine Gemeinschaft übriggeblieben sein müsse, die es aufzufinden galt.

3

Am Morgen hatte das wilde Entsetzen sich verflüchtigt; aber tief in seinem Innern kauerte noch die Angst. Behutsam verließ er das Bett und machte Schluckbewegungen, weil er fürchtete, er habe eine Halsentzündung. Er ging mit sich um wie ein bejahrter Hypochonder. Als er die Treppe hinunterging, überlegte er pedantisch jeden Schritt, weil er meinte, ein verstauchtes Fußgelenk bedeute bereits den Tod.

Sogleich begann er mit den Vorbereitungen für seine Flucht, und wie stets, wenn er nach einem wohldurchdachten Plan zu handeln begann, selbst wenn jener Plan an sich wenig Sinn hatte, empfand er Ruhe und Genugtuung. Darum hielt er zunächst erst einmal Umschau nach einem besseren unter den Hunderten von Wagen, die in den Straßen parkten. Bei den meisten fehlten die Schlüssel; aber schließlich entdeckte er in einer Garage einen schweren Wagen, der seiner Vorstellung entsprach und in dem der Schlüssel steckte. Er drückte den Startknopf, und sogleich sprang der Motor an. Er ließ ihn eine Minute laufen, überprüfte ihn und stellte fest, daß er gut war. Er fuhr los, um seine Habseligkeiten zu holen, und hielt dann plötzlich in einem Gefühl des Unbehagens an. Es tat ihm nicht weiter leid, seinen alten Wagen im Stich zu lassen; aber irgend etwas gefiel ihm nicht. Im nächsten Augenblick wußte er es. Er kehrte zu seinem alten Wagen zurück und nahm den Hammer heraus. Er trug ihn zu dem schweren Wagen hinüber und legte ihn sich zu Füßen. Dann fuhr er zum Garagentor hinaus.

In einem Lebensmittelgeschäft versah er sich mit Vorräten, wobei er als Mittagessen ein paar Kekse und etwas Käse aß, während er umherging und seine Auswahl unter den Konserven traf. Es würde sich empfehlen, einen gewissen Reservevorrat bei sich im Wagen zu haben. Aus andern Läden holte er sich einen Schlafsack, eine Axt, eine Schaufel, einen Regenmantel, Zigaretten, Nahrungsmittel für eine Reihe von Tagen, eine kleine Flasche guten Whisky. An seine Erfahrungen des Vortages denkend, ging er in ein Sportgeschäft und suchte sich mehrere Waffen aus: eine leichte Flinte, ein Repetiergewehr mittleren Kalibers, eine kleine Mehrladepistole, die bequem in die Seitentasche ging, und ein Jagdmesser.

Als er mit der Beladung seines neuen Wagens fertig und zur Abfahrt bereit war, schaute er noch einmal um sich und gewahrte einen Hund. Er hatte während der beiden letzten Tage viele Hunde gesehen und versucht, sie zu vergessen. Sie taten ihm leid, und das Geschehene schien ihnen durchaus nicht zu behagen. Manche sahen halb verhungert aus, manche viel zu vollgefressen. Manche waren unsicher und kriecherisch; andere knurrten und waren äußerst selbstbewußt. Dieser Hund aber war klein, hatte lange Hängeohren und war weiß und rötlichbraun gezeichnet; vielleicht war es ein Dackel; Ish kannte sich in Hunderassen nicht aus.

Der Hund hielt sich in der sicheren Entfernung von zehn Schritten, sah ihn an, wedelte und fiepte vernehmlich.

»Scher dich weg!« sagte er roh; denn in seinem Herzen stieg jähe Bitterkeit auf, und er fühlte, wie sich in ihm eine Mauer gegen alle Zuneigungen bildete, die doch nur mit dem Tode enden würden. »Scher dich weg!« sagte er noch einmal. Statt dessen kam der Hund ein paar Schritte näher heran, legte die Vorderpfoten flach auf den Boden, den Kopf darauf und blickte ihn mit seltsam flehenden Augen an, die nach oben hin verdreht waren. Die langen Hängeohren gaben dem Hundegesicht einen Ausdruck von unendlicher Traurigkeit. Es war, als wolle der Hund sagen: »Nun hast du mir das Herz gebrochen!« Ohne groß nachzudenken, lächelte Ish unvermittelt, und es fiel ihm ein, daß es vielleicht sein erstes Lächeln nach dem Schlangenbiß war, abgesehen von ironischem Grinsen.


Er fand sich sogleich wieder, und als er merkte, daß der Hund sich an seinem Fuße rieb, wurde er schnell andern Sinnes. Als er sich niederbeugte, hastete der Hund ängstlich davon, oder er tat wenigstens so; dann vollführte er in einem kleinen Kreise einen Tanz um Ish herum, den er durch zwei behende Seitensprünge abwechslungsreicher gestaltete. Und schließlich kauerte er sich wieder nieder, den Kopf auf den Pfoten, worauf er fröhlich bellte und gleich darauf zu heulen anfing. Abermals lächelte Ish, und diesmal war es ein richtiges, breites Lächeln, so daß der Hund die Sinnesänderung spürte. Wieder sprang er in einem schnellen Kreis um ihn herum, mit jähem Wechsel der Richtung, als führe er vor, wie er ein Kaninchen jagen würde. Er beendete seine kleine Darbietung, indem er an Ishs Beinen emporsprang, sich an ihnen scheuerte und den Kopf an sie schmiegte, als wollte er sagen: »Habe ich das nicht gut gemacht?« Ish merkte, was von ihm erwartet wurde; er legte dem Hund die Hand auf den Kopf und streichelte die schmale Stirn. Der Hund fiepte leise und zufrieden.

Sein Schwanz wedelte so heftig, daß der ganze Körper bis zu den Ohren mitzuwedeln schien. Er verdrehte die lichtbraunen Augen, bis das Weiße zu sehen war. Es war der Inbegriff der Anbetung. Die langen Ohren baumelten seitlich, und auf der Stirn bildeten sich Fältchen. Sicherlich war der Hund auf den ersten Blick verliebt gewesen. Sein Gehaben besagte: »Dies ist das einzige Herrchen auf der ganzen Welt für mich!«

Ish kniete nieder. Ohne sich zu schämen, liebkoste er den Hund. »Na ja«, dachte er, »nun habe ich mir einen Hund zugelegt, ob ich ihn brauche oder nicht.« Und dann dachte er: »Oder vielmehr: ich bin es, den der Hund sich zugelegt hat.«

Er machte die Wagentür auf, der Hund sprang hinein und setzte sich auf den zweiten Vordersitz, sogleich völlig daheim.

In einem Lebensmittelgeschäft fand Ish eine Büchse Hundekuchen; er gab dem Hund einen aus der Hand. Das Tier nahm ihn ohne ein besonderes Zeichen der Freude oder des Dankes. Offensichtlich war der Mensch zu so etwas da. Nun er sich einmal einen Menschen angeschafft hatte, brauchte er ihm nicht weiter dankbar zu sein. Indem er ihn zum erstenmal genauer ansah, stellte Ish fest, daß es kein Hund im eigentlichen Sinne, sondern eine Hündin war. »Na ja«, sagte er, »unzweideutiger Fall von Verführung.«

Er fuhr zu seinem Elternhaus und holte ein paar persönliche Dinge, Garderobe, seinen Feldstecher, einige Bücher. Er überlegte kurze Zeit, ob er noch etwas für eine Reise brauche, die ihn über den ganzen Kontinent führen würde. Dann zuckte er mit den Achseln.

Er zog seine Brieftasche heraus und stellte fest, daß er neunzehn Dollar in Fünf- und Eindollarscheinen besaß. Wahrscheinlich würde er nie wieder Geld brauchen. Er überlegte sogar, ob er nicht die ganze Brieftasche einfach wegwerfen sollte; aber schließlich behielt er sie doch. Er war es so sehr gewohnt, sie in der Brusttasche stecken zu haben, daß er sich ohne sie unbehaglich fühlte. Sicherlich würde das Geld ihm keine Ungelegenheiten bereiten.

Obwohl er keinerlei wirkliche Hoffnung hegte, schrieb er einen Zettel und legte ihn auffällig auf den Eßzimmertisch. Wenn sie zurückkamen, während er fort war, so wußten sie wenigstens, daß sie auf seine Rückkehr warten oder ihrerseits einen Zettel für ihn hinterlassen sollten.

Als er neben seinem Wagen stand, schaute er noch einmal die San-Lupo-Promenade hinauf und hinab. Natürlich war niemand zu sehen. Die Häuser und Bäume sahen genauso aus wie zuvor; doch er stellte fest, daß die Rasenflächen und Gärten bereits den Mangel an Pflege erkennen ließen, zumal was das Begießen betraf.

Inzwischen war es Nachmittag geworden. Dennoch entschloß er sich zu sofortiger Abfahrt. Er war begierig darauf, wegzukommen, und die Nacht über konnte er ja in einer der Städte der Umgebung bleiben.


Wie mit den Hunden und Katzen, so ging es auch mit dem Gras und den Blumen, die der Mensch so lange betreut hatte. Klee und Riedgras verdorrten auf den Rasenflächen, und der Löwenzahn schoß auf. Die wasserliebenden Astern auf den Blumenbeeten welkten und ließen die Köpfe hängen, und das Unkraut wucherte. Den Kamelien fehlte es an Saft; sie würden im nächsten Frühling keine Blütenknospen tragen. Die Blätter der Glyzinien und Rosen rollten sich zusammen, wie zum Schutz gegen die lange Trockenheit. Überall, Fuß für Fuß, streckten die wilden Gurken schnell ihre langen Ranken über Rasen, Blumenbeete und Terrassen. Wie ehedem, als die Heere des Römischen Reichs geschlagen waren und die strarken Barbaren sich über die blühenden Provinzen ergossen, so brach der Wildwuchs über die verhätschelten Lieblinge des Menschen herein.


Der Motor summte regelmäßig. Ish fuhr am Morgen dieses zweiten Tages übertrieben vorsichtig, weil er an alle möglichen Pannen und Hindernisse denken mußte, an plötzlich versagende Bremsen, an über die Landstraße hinwegziehende Kühe. Er versuchte die Tachometernadel auf vierzig zu halten.

Doch dieser Motor war nicht entwickelt worden, daß der Wagen so langsam fuhr, und ehe es ihm recht bewußt wurde, war er auf fünfzig oder sechzig.

Schon allein die Tatsache, daß er sich fortbewegte, hielt ihm das Gefühl des Bedrücktseins fern. Die bloße Ortsveränderung war tröstlich, die Flucht an sich schon eine Erquickung. Im tiefsten Innern wußte er, daß er all dies einzig unternahm, um für einige Zeit der Notwendigkeit der Entscheidung aus dem Wege zu gehen. Solange er den Vorhang einer Landschaft hinter sich fallen lassen und den der vor ihm liegenden aufziehen konnte, solange er nur zu fahren brauchte, erübrigte es sich, Zukunftspläne zu machen, sich zu entscheiden, wie er leben, oder sogar, ob er leben solle. Jetzt kam es nur darauf an, die nächste Kurve richtig zu nehmen.

Die Dackelhündin lag neben ihm. Dann und wann schmiegte sie den Kopf in seinen Schoß; aber zumeist schlief sie ruhig, und ihr Nahesein war ebenfalls tröstlich. Niemals sah er im Rückspiegel einen Wagen hinter sich; dennoch schaute er aus alter Gewohnheit manchmal hinein. Er sah darin die Flinte und das Gewehr mitten auf dem Rücksitz und den hohen Stapel, den sein Schlafsack und die Kartons mit den Lebensmitteln bildeten.

Er folgte der großen Staatsstraße Nr. 99 südlich durch das Joaquin-Tal. Obwohl er nicht schnell fuhr, kam er großartig voran. Er brauchte nicht langsam hinter einer Lastwagenkolonne herzufahren oder bei Verkehrslichtern zu stoppen (obwohl die meisten immer noch funktionierten) oder in den Städten die Geschwindigkeit herabzusetzen. Trotz aller trüben Ahnungen mußte er sich gestehen, daß es unter den gegenwärtigen Umständen sehr viel leichter war, die große Straße Nr. 99 entlangzufahren, als inmitten des dichten, irrsinnig schnellen Verkehrs.

Er sah keinen Menschen. Wenn er bei der Fahrt durch die Städte nachgesucht hätte, so würde er vielleicht einen entdeckt haben; aber dabei wäre nichts herausgekommen. Vielleicht hätte er hier und dort einen einsamen Wanderer auflesen können. Doch er war jetzt auf der Suche danach, ob irgendwo eine größere Ansammlung von Menschen übriggeblieben war.

Bis weit in die Ferne erstreckte sich das Flachland, Weingärten, Obstgärten, Melonenfelder, Baumwollfelder. Eines Landmanns Auge hätte vielleicht entdeckt, daß überall bereits sich Spuren der Vernachlässigung zeigten, das Fehlen der Hand des Menschen; doch für Ish sah alles aus wie früher.

Bei Bakersfield verließ er die Straße Nr. 99 und bog in die kurvenreiche Nebenstraße über den Tehachapi-Paß ein. Die Felder wichen verstreuten Eichenwäldchen, und in noch größerer Höhe kamen lichte, parkähnliche Bestände von dünnkronigen Pflugschar-Kiefern. Auch hier war niemand. Doch hier fiel die Abwesenheit von Menschen weniger auf, da dieses von je ein dünn besiedeltes Gebiet gewesen war. Er fuhr auf der andern Seite des Passes talwärts und hielt über die weiten Landstrecken Ausschau, mit denen die Wüste begann. Stärker denn je lastete eine dumpfe Ahnung auf ihm. Obwohl die Sonne noch recht hoch über dem Horizont stand, hielt er in der kleinen Stadt Mojave und begann mit seinen Vorbereitungen.

Um die gut dreihundert Kilometer Wüste zu durchqueren, hatten die Menschen auch schon vor sehr langer Zeit in ihren Wagen Wasser mitgeführt. Es gab Strecken, wo man einen ganzen Tag gehen mußte, um wenigstens an eine behelfsmäßige Reparaturwerkstatt zu kommen, wenn der Wagen schlecht lief. Das konnte er jetzt nicht riskieren, nun niemand ihm zu Hilfe kommen würde.

Er entdeckte ein Eisenwarengeschäft. Die Tür war fest und gut verschlossen; so schlug er mit dem Hammer eine Fensterscheibe ein, durch die er kletterte. Er nahm sich drei große Kanister und füllte sie an einem Hahn, aus dem noch Wasser lief, wenngleich schwach. Außerdem holte er sich aus einer Lebensmittelhandlung eine große Korbflasche Rotwein.

Aber damit war er noch nicht zufrieden, und der Gedanke an die Wüste bedrückte ihn. Noch einmal durchfuhr er die Hauptstraße, ohne recht zu wissen, was er eigentlich suchte, bis sein Blick auf ein Motorrad fiel. Es war schwarzweiß lackiert, so wie die Räder der Landstraßenstreifen. Trotz aller Niedergeschlagenheit und Angst empfand er Gewissensqualen, ein Motorrad zu stehlen, das der Polizei gehörte. Das war der Höhepunkt des Unglaublichen!

Doch eine Minute später hatte er es geschafft. Er probierte das Motorrad aus, fand es brauchbar und fuhr dann langsam die Straße hinab und zurück.

Nach einer Stunde Arbeit in der drückenden Spätnachmittagshitze, nachdem er aus Brettern und Balken eine Art Rampe gebaut hatte, gelang es ihm, das Motorrad aufzuladen und hinten auf seinem Wagen festzubinden.

Die Sonne ging unter, und er war müde. Er bereitete sich eine kalte, unbefriedigende Mahlzeit und aß sie ohne Appetit. Noch immer war die Angst in ihm. Er überlegte sogar, was er tun würde, wenn das Essen ihm eine Magenverstimmung verursachte. Als er fertig war, entdeckte er in einem Laden eine Dose Hundefutter und gab es dem Dackel zu fressen. Die Hündin nahm es als selbstverständlich entgegen. Danach rollte sie sich auf dem Vordersitz zusammen. Er fuhr nach dem bestaussehenden Gasthof der Stadt, fand eine der Zimmertüren unverschlossen und ging hinein; der Hund lief ihm nach. Aus den Wasserhähnen tröpfelte es nur noch. Augenscheinlich hatte diese kleine Stadt keine automatische Wasserversorgung wie die großen Städte. Er wusch sich, so gut es ging; dann legte er sich zu Bett. Der Hund lag zusammengerollt auf dem Fußboden.

Die Angst machte ihm schwer zu schaffen; er konnte nicht schlafen. Der Hund fiepte im Traum, wobei Ish heftig zusammenfuhr. Immer größer wurde seine Angst. Er stand auf und drückte die Klinke nieder, um sich zu vergewissern, daß er auch die Tür abgeschlossen hatte, obwohl er nicht wußte, wen oder was er fürchten oder warum er die Tür abschließen sollte. Er dachte daran, in einem Drugstore nach Schlaftabletten zu suchen; doch allein schon der Gedanke daran schreckte ihn. Er überlegte, ob er Whisky trinken sollte; aber auch das war mit düsteren Nebengedanken verbunden. Schließlich schlief er ein; aber er schlief äußerst unruhig.

Am Morgen hatte er einen schweren Kopf, und in Anbetracht der zu erwartenden trockenen Hitze des Wüstenvormittags zögerte er, in die dürre Öde hinauszufahren. Er überlegte, ob er nicht umkehren, er überlegte, ob er nicht südwärts nach Los Angeles fahren sollte, wobei er sich einredete, es sei ein guter Gedanke, nachzuschauen, was dort geschehen sei. Doch alle diese Erwägungen waren nur Ausflüchte, wie er nur zu gut wußte, waren nur ein Hinauszögern seines ursprünglichen Vorhabens, und er besaß noch genügend Stolz, um von einer nutzlosen Umkehr oder von einem Abweichen von der geplanten Fahrstrecke Abstand zu nehmen. Dennoch gab er sich so weit nach, daß er beschloß, erst gegen Sonnenuntergang abzufahren. Er begründete das damit, daß es sich um eine ganz gewöhnliche Vorsichtsmaßregel handele. Selbst in normalen Zeiten fuhren viele Leute bei Nacht durch die Wüste, um die Tageshitze zu vermeiden.

Er verbrachte einen ruhelosen Tag in Mojave, bedrückt von Ängsten und immerfort darauf bedacht, noch mehr für seine Sicherheit zu tun. Als die Sonne fast schon die westlichen Hügel berührte, fuhr er ab; der Hund lag neben ihm auf dem Sitz.

Kaum hatte er ein paar Kilometer zurückgelegt, als er wahrnahm, daß die Wüste ihn rings umschloß. Die niedrige Sonne ließ die Judasbäume sonderbare, lange Schatten werfen. Dann loschen die Schatten aus, und es herrschte Dämmerung. Er schaltete die Scheinwerfer ein, und die starken Strahlen beleuchteten die vor ihm sich erstreckende Straße; sie war leer, leer wie stets. Nicht einmal erblickte er im Rückspiegel die fernen Zwillingslichter, die bedeuten konnten, daß ein Wagen ihn überholen wollte.

Dann herrschte völlige Dunkelheit, und seine Angst wuchs und wuchs. Er dachte an alles, was ihm geschehen konnte, obwohl der Motor regelmäßig lief. Er fuhr langsamer und immer langsamer; er dachte an Reifenpannen, an ein Heißlaufen des Motors, an ein Auslaufen des Öls — dann würde er am Wege liegenbleiben, allein in weiter Runde. Er verlor sogar das Zutrauen zu dem Motorrad, das er zur Sicherheit mitgenommen hatte. Nach langer Zeit — er fuhr ja langsam — kam er an einer der kleinen Wüstentankstellen vorüber, wo man zumindest Brennstoff oder einen Ersatzreifen oder etwas zu trinken bekommen konnte. Nun lag sie dunkel, und er wußte: dort war keine Hilfe. Er fuhr weiter, und die weißen Scheinwerferstrahlen ließen die Straße vor ihm klar hervortreten; der Motor arbeitete regelmäßig; doch er überlegte, was er tun sollte, wenn er aussetzte.

Er hatte eine große Strecke zurückgelegt. Schließlich fing der Hund neben ihm an zu fiepen und unruhig zu werden. »Sei still!« fuhr er ihn an; aber der Dackel fuhr fort, zu fiepen und zu zappeln. »Ach so!« sagte er und brachte den Wagen zum Halten, wobei er sich nicht die Mühe machte, rechts heranzufahren.

Er stieg aus und hielt dem Hunde die Tür auf. Sogleich sprang der Dackel hinaus, immer fiepend; dann erleichterte er sich, hob plötzlich die Nase in die Luft, kläffte erst ziemlich laut für solch ein kleines Tier und stob, so schnell er konnte, davon, in die Wüste hinein. »Komm! Komm her!« rief er; aber der Hund kümmerte sich nicht darum; sein Bellen entfernte sich immer mehr.

Es trat tiefe Stille ein, als der Hund aufhörte, Laut zu geben, und in dieser Stille stutzte Ish, weil ihm bewußt wurde, daß auch ein anderes Geräusch aufgehört hatte. Der leerlaufende Motor war stehengeblieben. Entsetzt sprang er in den Wagen und drückte den Startknopf. Sogleich fing der Motor wieder an zu arbeiten. Aber Ish durchschüttelte es. Ihm war, als wirke er auffällig, als werde er gesehen, ohne seinerseits jemanden zu sehen; so schaltete er denn die Scheinwerfer ab und saß im Finstern.

Schwach und in großer Entfernung hörte er wieder den Dackel bellen. Das Geräusch nahm zu und ab je nach dem Kreise, in dem der Hund hinter seiner Beute her war. Anfangs hatte Ish das Tier überhaupt nicht haben wollen. Wenn ihm der Dackel jetzt entlief, hinter dem ersten albernen Kaninchen her in die Wüste hinein, so war das seine Sache. Er schaltete den Gang ein und fuhr an. Doch schon nach ein paar Metern stoppte er. Dies sah nach Fahnenflucht aus. Wahrscheinlich würde der Hund in der Wüste kein Wasser finden und elend zugrunde gehen. In gewisser Beziehung hatte er dem Dackel gegenüber schon Verpflichtungen übernommen, obwohl der Hund ihn einzig für seine Zwecke auszunutzen schien. Ish erschauerte vor Einsamkeit und seelischer Not.

Nach einer Weile wurde er plötzlich gewahr, daß der Dackel wieder da war. Er hatte ihn nicht gehört, und nun war er einfach da, keuchend, mit heraushängender Zunge. In Ish stieg plötzlich eine unbezähmbare Wut gegen das Tier auf. Er malte sich in überstürztem Ablauf alle möglichen Gefahren aus, denen die Verrücktheit des Dackels ihn auszusetzen schien. Wenn er das Tier auch nicht gut in der Wüste verdursten lassen konnte, so konnte er ihm doch wenigstens zu einem schnellen Ende verhelfen. Er nahm die Flinte und stieg aus dem Wagen.

Doch als er dann niederschaute, sah er den Hund mit dem Kopf auf den Vorderpfoten daliegen; er keuchte noch immer von dem schnellen Lauf. Der Dackel bewegte sich nicht; aber Ish konnte seine großen Augen erkennen, die etwas verdreht zu ihm aufgeschlagen waren, so daß man das Weiße sah. Das Tier hatte bei der Kaninchenjagd seinen Spaß gehabt, und nun war es zu seinem Herrchen zurückgekehrt, das es sich erwählt und das sich als Spender schmackhafter Nahrung aus Konservendosen als so nützlich erwiesen hatte und es nach einem schönen Lande fahren würde, wo es richtige Kaninchen gab, die man jagen konnte. Ish wurde schnell anderen Sinnes und lachte.

Mit diesem Lachen zerbrach etwas in ihm; es war, als sei eine Last von ihm genommen. »Wovor fürchte ich mich eigentlich?« dachte er. »Ärgeres als der Tod kann mir schließlich nicht widerfahren. Den haben die meisten Menschen schon überstanden. Warum sollte ich Angst davor haben? Er ist das Schlimmste, was mir zustoßen kann.«

Er fühlte sich unendlich erleichtert. Er lief ein paar Dutzend Schritte die Straße entlang; er hüpfte beinahe; er gab seinem Körper Gelegenheit, das auszudrücken, was seine Seele empfand.

Und sicherlich war dies mehr als das Abfallen einer Last, die er eine Zeitlang hatte schleppen müssen. Er fühlte und zeigte seine Unabhängigkeit. Er war dem Schicksal kühn entgegengetreten; er hatte dem Schicksal mitten ins Gesicht geschlagen; er hatte es gewagt, dem Schicksal zu verstehen zu geben, es habe unrecht.

Daraufhin entschloß er sich, wenn er schon lebte, ohne Furcht zu leben. Denn schließlich war er einer Katastrophe von universalen Ausmaßen entgangen.

In raschem Entschluß trat er hinter seinen Wagen, löste die Verschnürungen und ließ das Motorrad hinunterfallen. Schwerlich gab es ein Schicksal, das es den Menschen zugestand, ein allzu sicheres Spiel zu spielen. Aber auch wenn es überhaupt kein Schicksal gab, behagte ihm ein solches Spiel nicht länger. Er wollte fortan seine eigenen Möglichkeiten nützen und wenigstens sich furchtlos des Lebens freuen, solange er lebte. Lebte man denn nicht, wie es hieß, auf gewährte Zeit?

»Komm her, Prinzeß!« sagte er ironisch. »Wir wollen weiter!«

Und als er das sagte, merkte er, daß er nun endlich dem Hunde einen Namen gegeben hatte. Es war ein guter Name; gerade daß er so alltäglich war, schien eine Verbindung zum Vergangenen herzustellen, und schließlich war die Hündin ja auch eine Prinzessin, die stets erwartete, bestens bedient zu werden, und die ihm das nur beiläufig vergalt, indem sie seine Gedanken von ihm selbst ablenkte.

Nach kurzem Überlegen beschloß er, in dieser Nacht nicht weiterzufahren. In seinem neugewonnenen Bewußtsein der Freiheit wollte er alles nehmen, wie es gerade kam. Er packte seinen Schlafsack aus. Im spärlichen Schutz eines Mezquite-Busches legte er ihn in den Sand. Prinzeß kuschelte sich neben ihn und schlief auf der Stelle ein. Einmal wachte er mitten in der Nacht auf und lag ruhig da. Er hatte viel durchgemacht; doch jetzt schien ihm eine Ruhe zuteil geworden zu sein, die nie von ihm weichen würde. Einmal fiepte Prinzeß im Schlaf, und er sah, wie sie die Beine bewegte als liefe sie noch immer hinter dem Kaninchen her. Dann lag sie wieder ruhig da; auch er schlief wieder ein.


Dies ist die Wüste, die Wildnis. Sie begann vor unendlich langer Zeit. Nach einer Weile kamen die Menschen. Sie rasteten an den Quellen und hinterließen dort Steinhaufen im Sande; sie bahnten schmale Pfade durch das Mezquite-Buschwerk; doch man konnte kaum wahrnehmen, daß sie dagewesen seien. Noch später legten sie Schienen und spannten Drähte und bauten lange, gerade Straßen. Doch im Vergleich zur Ausdehnung der Wüste konnte man kaum sagen, daß die Menschen dagewesen seien, und zehn Schritte jenseits der Eisenschienen und der Betonstraßen war alles wie früher. Nach einer Weile verschwanden die Menschen und hinterließen ihre Werke.

In der Wüste hat alles viel Zeit. Tausend Jahre sind wie ein Tag. Der Sand treibt, und bei Stürmen rückt selbst der Kies von der Stelle; doch all das vollzieht sich sehr langsam. Dann und wann, vielleicht einmal in jedem Jahrhundert, ereignet sich ein Wolkenbruch, und die seit langem ausgetrockneten Bachbetten füllen sich mit rauschendem Wasser und rollen große Steine. Vielleicht alle zehn Jahrhunderte klaffen Erdspalten auf, und schwarze Lava quillt hervor.

Aber wie die Wüste nur langsam vor dem Menschen zurückgewichen ist, so dauert es auch lange, bis sie seine Spuren ausgelöscht hat. Komm in tausend Jahren wieder: dann siehst du immer noch die Steinhaufen im Sande und die langen Straßen, die sich nach den Einschnitten der sich messerscharf vom Horizont abhebenden Hügel hin erstrecken. Kann sein, daß sie ein bißchen verkommen sind. Sogar die Schienenstränge sind wohl noch da. Dagegen die Kupferdrähte sind wohl vergangen. Dies ist die Wüste — langsam im Geben, langsam in Nehmen.


Eine Zeitlang stand die Tachometernadel auf achtzig, und er fuhr in dem wilden, freudigen Gefühl der Freiheit, und der Gedanke an eine Reifenpanne machte ihm keine Sorge. Später fuhr er etwas langsamer und begann mit neu erwachter Anteilnahme Umschau zu halten; sein geschultes Geographengehirn stellte sich auf die Tragödie vom Untergang des Menschen ein. In dieser Gegend freilich merkte man den Unterschied kaum.

Als er nach Needles kam, war sein Brennstoff beinahe verbraucht. Die Stromversorgung hatte ausgesetzt, und die Tankstellen wurden schwerlich funktionieren. Nach kurzem Suchen fand er ein Treibstofflager am Stadteingang und füllte seinen Tank aus einer der Tonnen. Er fuhr weiter.

Er überquerte den Colorado-Fluß; er durchfuhr Arizona, und die Straße begann zwischen scharfzackigem Felsgeklipp anzusteigen. Hier sah er endlich Vieh. Ein halbes Dutzend Ochsen und zwei Kühe mit ihren Kälbern standen am Straßenrand. Sie hoben träge die Köpfe, als er anhielt und zu ihnen hinschaute. Die einsame Herde bekam, wenn sie nicht gerade unmittelbar am Straßenrand graste, kaum alle Monate einmal einen Menschen zu sehen. Zweimal im Jahr kamen die Cowboys und trieben sie zusammen. Das Hinschwinden des Menschen verursachte hier keine Änderung, außer daß die Herden sich wohl schneller vermehren würden. Nach einer gewissen Zeit gab es vielleicht Schwierigkeiten wegen des Mangels an Gras auf den Gebirgshängen; aber dann würde das langgezogene Geheul der Lobo-Wölfe die Schluchten erfüllen, und die waren dann ein neues Mittel, die Zahl einzudämmen. Schließlich, Ish zweifelte nicht daran, würde sich ein gewisser Gleichstand zwischen dem Vieh und den Wölfen herstellen, und auch ohne den Menschen wurde das Vieh weiter gedeihen.

Auf der Weiterfahrt sah er in der Nähe der alten Bergwerkstadt Oatman zwei Burros. Ob sie sich zur Zeit der Katastrophe in der Umgebung der Stadt herumgetrieben oder ob sie schon früher verwildert waren, wußte er nicht; aber sie sahen ganz zufrieden aus. Er stieg aus dem Wagen und versuchte an sie heranzukommen; aber sie trabten davon und hielten sich in sicherer Entfernung. Er ging wieder zum Wagen und ließ Prinzeß los, die eine wilde Jagd auf die beiden sonderbaren Tiere vollführte. Das eine legte die Ohren zurück; zog die Lippen von den Zähnen und stampfte mit den Vorderbeinen. Prinzeß machte kehrt, lief zum Wagen und tat, als wolle sie ihr Herrchen schützen. Solch ein Burro dachte Ish, könnte den Kampf mit jedem Wolf aufnehmen und wäre wohl gar dem Berglöwen gewachsen.

Er fuhr die Bergkette hinter Oatman hinauf, und auf der andern Seite gelangte er zum erstenmal an eine größere schadhafte Stelle der Landstraße. Im Laufe der letzten Tage mußte ein heftiges Wüstengewitter über diesen Teil des Gebirges niedergegangen sein. Die Wassermassen hatten die Fassungskraft der Durchlässe überstiegen, die Straße überschwemmt und Sand mitgeführt. Er stieg aus und sah sich die Sache an. In normalen Zeiten wären rasch Straßenarbeiter zur Stelle gewesen. Sie hätten den Sand von der Straße weggeschaufelt und die Abflüsse gereinigt, und alles wäre gewesen wie zuvor. Jetzt aber blieben die Abflüsse verstopft, der Sand blieb fußhoch auf der Straße liegen, und er stellte fest, daß ein beträchtliches Stück der Betonlage unterspült war. Beim nächsten Unwetter würde das alles sich steigern; innerhalb weniger Jahre würde die Betonlage Risse und Sprünge bekommen und an den unterspülten Stellen einbrechen, und Sand und Geröll würden sich auf der Straße immer höher häufen. Einstweilen jedoch war sie noch passierbar. Er lenkte den Wagen durch den Sand.

»Eine Straße hat die Dauer ihrer schwächsten Stelle«, dachte er und überlegte, wie lange es wohl noch möglich sei, zu reisen, wie er jetzt reiste. In dieser Nacht schlief er wieder in einem Bett zu dem er sich im besten Hotel von Kingman verhalf.


Die Rinder, die Pferde, die Esel — sie hatten Tausende von Jahrhunderten ihr eigenes Leben gelebt und waren ihre eigenen Wege in Wald, Steppe und Ödland gegangen. Der Mensch erstarkte, und für eine Weile bediente er sich der Rinder, der Pferde und der Esel zu seinen Zwecken. Aber als es mit dem Menschen zu Ende war, gingen sie wieder ihre eigenen Wege.

Eine Weile muhten die in den langen Ställen angebundenen Milchkühe durstig; dann lagen sie tot und stumm da. In ihren Boxen starben langsam die hochbeinigen Vollblutpferde.

Aber die weißblessigen Herefordpferde auf den Koppeln sorgten für sich selbst, und auf den Bauernhöfen durchbrachen die Kühe die Zäune und liefen frei herum. Das gleiche taten die Pferde und Esel …

Die Esel suchen das Ödland auf. Sie schnuppern den trockenen Ostwind ein, galoppieren über die sandigen Seeufer und stapfen die unkrautüberwucherten Hänge hinauf; mit ihren harten Mäulern könnten sie sogar Dorngesträuch fressen. Ihre Gefährten sind großgehörnte Schafe.

Die Pferde wählen sich trockene, offene Flächen. Sie fressen das grüne Gras des Frühlings, des Sommers und das vertrocknete des Herbstes, und im Winter scharren sie, die Flanken eingefallen, im Schnee nach dem dürren. Mit ihnen gemeinsam weiden die Herden der Gabelantilopen.

Die Rinder und Kühe suchen die grüneren Landstriche und die Wälder auf. Im Unterholz verbergen die Kühe die neugeborenen Kälber, bis sie den Muttertieren folgen können. Ihr Gefährte ist der Bison, und auch ihr Rivale. Die großen Bullen kämpfen miteinander, und am Ende siegt vielleicht der schwerere Bison, und dann breitet der Bison sich über sein altes Herrschaftsgebiet aus. Dann werden die Rinder tiefer in das Waldland zurückgedrängt und finden dort ihre Heimstatt.


Auch in Kingman hatte die Stromversorgung ausgesetzt; aber das Wasser lief noch. Der Herd in der Hotelküche wurde von einem Tank mit flüssigem Gas gespeist, und der Druck war normal. Seit es keine elektrischen Kühlanlagen mehr gab, fielen für ihn Eier, Butter und Milch aus. Aber er nahm sich Zeit, und nach einem Einbruch in einen Laden bereitete er sich ein vortreffliches Frühstück — eingemachte Grapefruits, Wurstkonserven, Pfannkuchen, Sirup. Er kochte sich eine große Kanne Kaffee und trank ihn mit Zucker und Kondensmilch. Prinzeß labte sich an einer Büchse Pferdefleisch. Nach dem Frühstück verschaffte er sich Brennstoff, indem er mit Hammer und Meißel ein Loch in den Tank eines Lastwagens schlug. Er setzte einen Kanister darunter, ließ ihn vollaufen und füllte das Gasolin dann in seinen eigenen Tank, der nicht mehr viel enthielt.

Hinter Kingman gelangte er bald in eine Gegend, wo die gedrungenen, kleinen Pinon-Kiefern in regelmäßigen Abständen über das dürre Hügelgelände verteilt waren. Abgesehen von der großen Landstraße hatte der Mensch hier nur geringe Spuren hinterlassen. Keine Fernsprechmasten begleiteten diese Straße, und häufig fehlten auch Hecken und Umzäunungen; einzig gewelltes Land erstreckte sich zu beiden Seiten, das infolge der Sommerregen grün war, und darauf standen die kleinen Bäume. Er wußte jetzt, daß die Umwandlung in Weideland in der ganzen Gegend den Graswuchs und das Buschland verändert hatte, und daß durch das Verschwinden des Menschen weitere Veränderungen eintreten würden.

An den beiden ersten Tagen hatte ihn die Angst gefangengehalten; am dritten war er, als das Freiheitsgefühl ihn überkam, wild dahingerast. Nachdem heute abermals eine Reaktion eingesetzt hatte, verspürte er nun eine große Ruhe.

Allmählich rückte der Nachmittag heran; er war in eine höher gelegene Gegend gekommen, wo hagere Kiefern wuchsen; im Norden schimmerte ein schneebedeckter Berggipfel. In Williams stand ein schimmernder Stromlinienzug im Bahnhof, so wie ihn der Zugführer verlassen hatte; er sah niemanden. In Flagstaff lag der größere Teil der Stadt in Schutt und Asche; er sah niemanden.

Hinter Flagstaff beschrieb die Straße eine Kurve, und in einiger Entfernung vor sich sah er zwei Krähen von etwas auffliegen, das auf der Straße lag, und schwerfällig davonrudern. Er empfand beim Näherfahren eine gewisse Scheu vor dem Anblick dessen, was sie gefressen hatten; doch es war nur ein Schaf. Als er Umschau hielt, nahm er wahr, daß auf der Straße noch weitere tote Schafe lagen, und andere fanden sich zu beiden Seiten. Er ging die Straße ein Stückchen entlang und zählte sechsundzwanzig.

Aus bloßer Laune bog er bald danach in die kleine Straße ein, die zum Walnuß-Cañon-Nationaldenkmal führte. Er gelangte zu dem schmucken Aufseherhaus, das in den tiefen Cañon mit den zerstörten Wohnstätten der Klippenbewohner hinabschaut. Es blieb ihm noch eine Tagesstunde, und er empfand ein grimmiges Vergnügen dabei, auf dem schmalen Pfade entlangzugehen und sich anzusehen, was aus den Wohnstätten jenes alten Volkes geworden war. Er kehrte um und verbrachte die Nacht in dem Haus am Rand des Cañons. Hier war bereits ein Sommergewitter niedergegangen, und das Wasser war unter der Tür hindurch eingedrungen. Da niemand es aufgewischt hatte, war eine Pfütze entstanden und hatte den Fußboden beschädigt. Es würden andere Regengüsse kommen, sie würden sich auswirken, und bald würde das schmucke Haus am Rande des Cañons in Trümmer sinken und sich kaum noch von den alten Wohnstätten in den Klippen unterscheiden. Hier würden die Ruinen der einen Zivilisation sich über den Ruinen einer anderen erheben.


Eine Zeitlang würden die Herden noch bestehen. Obwohl die Raubtiere einzig aus Blutdurst töten, lassen sich Millionen von Schafen nicht an einem einzigen Tage auslöschen, oder in einem Monat, und es werden Tausende von Lämmern geboren werden. Was bedeuten fünfzig oder hundert Getötete unter Millionen! Doch nicht ohne tieferen Sinn haben die Menschen von einem aussterbenden Volke sinnbildlich gesagt: »Schafe ohne Hirten!« Schließlich werden sie untergehen …

Hilflos ziehen sie durch winterliche Schneestürme, und im Sommer streifen sie vom Wasser weg und sind zu dumm, wieder hinzufinden, sie werden von Springfluten überfallen, und Hunderte werden hinweggespült; sie flüchten in stumpfsinniger Panik über Klippen und liegen in Massen verwesend auf dem Grunde der Schluchten; und es werden immer mehr Raubtiere — die verwilderten Hunde, die Wölfe, die Kojoten, die Berglöwen, die Bären. Schnell sind aus den großen Herden ein paar schreckhafte, trippelnde Häuflein geworden; und schließlich gibt es keine Schafe mehr.

Vor Jahrtausenden haben sie sich dem Schutz des Hirten unterstellt und ihre Behendigkeit und das Gefühl der Unabhängigkeit eingebüßt. Nun der Hirt abgetreten ist, müssen auch sie abtreten …


Am folgenden Tage überquerte er die weite Hochfläche der »Kontinent-Scheide«. Es war ein schafreiches Gebiet, und immer wieder stieß er auf Kadaver, wo die Kojoten in eine Herde eingefallen waren. Einmal sah er auf einem fernen Hügelhang ein versprengtes Schaf wild umherrennen; doch er konnte es nicht genau erkennen.

Dann wieder wurde ihm ein noch seltsamerer Anblick zuteil. Auf einer üppigen Wiese am Flußufer sah er eine Schafherde friedlich weiden. Er hielt Ausschau, halb und halb gewärtig, auch den Hirtenkarren und den Schäfer selbst zu sehen; aber statt dessen sah er nur zwei Hunde. Der Hirt war dahin, doch aus langer Gewohnheit taten die Hunde weiter ihre Pflicht, hielten die Schafe beieinander, hielten sie auf der grünen Weide am Flußufer und kämpften sicherlich auch mit den Räubern, die nachts herankamen. Ish hielt und beobachtete, wobei er Prinzeß neben sich auf dem Sitz festhielt, damit sie die Szene nicht störte. Die beiden Schäferhunde wurden aufgeregt, als sie das Auto sahen; sie bellten wütend und trieben ein paar Einzelgänger zur Herde zurück. Sie hielten auf Abstand und schienen sehr feindlich. Gerade wie in den Städten der elektrische Strom auch nach dem Dahinschwinden des Menschen noch durch die Drähte lief, so bewachten hier die Hunde ihre Schafe in dem weiten Wiesengebiet noch ein Weilchen. Allzu lange konnte es nicht mehr dauern, dachte Ish.

Die Straße lief durch weite Räume dahin; sie war mit U.S. 66 bezeichnet. Sie war schon in alten Zeiten, wie er sich erinnerte, ein wichtiger Verkehrsweg gewesen, die Straße von den Okies nach Kalifornien; sogar in einem Volksliede wurde sie besungen; jetzt lag sie leer.

Er bog in das Tal des Rio Grande ein, überquerte die Brücke und fuhr die lange Straße nach Albuquerque hinab. Das war die größte Stadt, in die er kam, seit er Kalifornien verlassen hatte. Er hupte und wartete auf Antwort. Er hörte nichts, und er wartete nicht lange.

In dieser Nacht schlief er in einem Hotel am Ostrande von Albuquerque, von wo aus er die große Steigung nach der Stadt hin überschauen konnte. Sie lag völlig dunkel da; hier hatte die Stromversorgung bereits ausgesetzt.

Am nächsten Morgen fuhr er weiter durchs Gebirge und gelangte auf der anderen Seite in eine Gegend mit verstreuten Hügelkuppen, zwischen denen weite Ebenen lagen. Wiederum überkam ihn der Geschwindigkeitsrausch, und er ließ den Wagen auf den geraden Straßen bis zur letzten Möglichkeit auslaufen. Die Hügelkuppen versanken hinter ihm; er überfuhr die Staatengrenze und war nun in Texas, im platten Lande des Bettlertums. Es war plötzlich glühend heiß, und ringsum breiteten sich endlose Stoppelfelder, deren Weizen schon gemäht gewesen war, als der Tod die Schnitter überfiel. Diese Nacht schlief er in einer Vorstadt von Oklahoma City.

Am Morgen umfuhr er die Stadt auf einem Umgehungswege und raste weiter. Er folgte der Straße Nr. 66 in Richtung Chicago; aber nach ein paar Kilometern war die Straße durch einen Baum blockiert. Er stieg aus, um die Lage zu untersuchen. Eine hohe Pappel, die vor einem Bauernhaus gestanden hatte, war vom Sturm geknickt worden und umgefallen; die ganze Straße lag unter einem Gewirr von Zweigen und Laubwerk begraben. Es hätte der Arbeit eines halben Tages bedurft, um sich durch dieses Durcheinander einen Weg zu bahnen.

Ish gedachte einen Umweg quer durch die Felder zu fahren; aber der Boden war nach den letzten Regengüssen weich und lehmig. Er sah auf der Karte nach, wenn er etwa fünfzehn Kilometer nach Süden fuhr, konnte er eine andre betonierte Straße nehmen, die ihn auf die große Staatsstraße zurückführte. Er wendete und fuhr zurück.

Doch als er auf jener andern Straße war, überlegte er, daß kein zwingender Grund bestand, auf die 66 zurückzukehren. Diese neue Straße, eine zweiter Ordnung, führte stracks nach Osten, und schließlich war diese Richtung genauso gut wie irgendeine andre. »Vielleicht«, dachte er, »hat jener umgefallene Baum den gesamten künftigen Ablauf der Menschheitsgeschichte in andre Bahnen gelenkt. Ich wäre wohl nach Chicago gefahren, und möglicherweise wäre dort etwas geschehen. Nun geschieht eben etwas anderes.«

So fuhr er ostwärts durch Oklahoma, und überall war das Land leer. Auf den vorübergleitenden Hügeln sahen die struppigen Eichenwäldchen noch genauso aus, wie sie vorher ausgesehen hatten. Auf den ebenen, bebauten Strecken wuchsen Mais und Baumwolle. Der Mais stand hoch; es würde eine gute Ernte geben. Aber die Baumwolle wurde schnell vom Unkraut erstickt.

Jetzt herrschte die volle Sommerhitze, und sie brachte mehrere schöne Zivilisationsreste zu Fall. Zwar rasierte er sich noch täglich, mehr weil es angenehmer war, denn weil er Wert auf seine äußere Erscheinung legte; aber sein Haar war nicht geschnitten. Er ging ihm mit einer Schere zu Leibe. Er trug nur noch blaue Baumwollhosen und ein am Halse offenes Hemd. Jeden Morgen warf er das Hemd weg und zog ein neues an. Irgendwo hatte er seinen grauen Filzhut liegenlassen, und so holte er sich aus einem Warenhaus in Oklahoma einen schlichten Strohhut.

An jenem Nachmittag wechselte er nach Arkansas hinüber, und obwohl er wußte, daß Staatengrenzen nur in der Phantasie bestehen, merkte er plötzlich, daß alles anders aussah. Hier gab es kein trockenes Flachland; das Wetter war heiß und feucht. Die Folge war, daß überall auf den Landstraßen und den Gebäuden etwas wuchs.

Die Ranken des wilden Weins und der Kletterrosen umschlangen bereits die Fenster und hingen schwingend von Dachtraufen und Vorhallendächern. Die kleineren Häuser sahen aus, als wichen sie schüchtern zurück und seien im Begriff, sich in den Wäldern zu verstecken. Auch die Mauern und Zäune waren überwuchert. Es gab keine scharfe Trennungslinie zwischen der Straße und dem Lande mehr, durch das sie führte. Gras und Unkraut sproßten grün aus jedem geringsten Riß im Beton; über die Brüstungen schossen Brombeerranken und überwucherten die hellen, weißen Linien. An einer Stelle waren ein paar Weinranken bereits bis an die weiße Linie in der Straßenmitte gelangt, und von der anderen Seite her wuchsen andere.

Die Pfirsiche waren reif, und er schaffte sich ein bißchen Abwechslung in seiner Konservennahrung, indem er einen Obstgarten plünderte. Beim Hineingehen scheuchte er ein paar Schweine auf, die die abgefallenen Früchte fraßen. Diese Nacht schlief er in North Little Rock.


Die preisgekrönten Eber sterben in ihren gutgehaltenen Koben, und die dicken Zuchtsäue wandern umher und grunzen und quieken kläglich nach ihren männlichen Gefährten; doch auf manchen Bauernhöfen läuft das Borstenvieh davon, ohne daß Zäune es hindern. Es bedarf des Menschen nicht. Wenn es heiß ist, suhlen sie sich am Flußufer, werden dort heimisch, liegen im Schlamm und grunzen behaglich. Wenn die Luft kalt wird, ziehen sie in die Eichenwälder und nähren sich von Eicheln. Nach ein paar Generationen bekommen sie dünnere Beine und werden schlanker, und ihre Hauer werden länger. Vor der Wut der Eber fliehen selbst der Wolf und der Bär. Gleich dem Menschen nähren sie sich von Fleisch oder Vögeln oder Knollen oder Nüssen oder Früchten. Sie leben weiter.


Nachdem er am nächsten Morgen eine Stunde unterwegs gewesen war, stutzte er bei der Ausfahrt aus einer kleinen Stadt, als sich seinen Augen der ungewohnte Anblick eines gut gejäteten und gepflegten Gartens bot. Er hielt an, um Nachforschungen anzustellen, und entdeckte zum erstenmal, was bei großzügiger Auslegung als eine »soziale Gruppe« bezeichnet werden konnte. Es waren Neger: ein Mann, eine Frau mittleren Alters und ein kleiner Junge. Die Frau sah aus, als ob sich bald ein viertes Familienmitglied ein stellen würde.

Sie waren scheu. Der Junge hielt sich im Hintergrund, neugierig, aber ängstlich, und kratzte sich den Kopf auf eine Weise, die die Vermutung nahelegte, daß er Läuse habe.

Die Frau stand gleichgültig und stumm da, als würde sie nur auf unmittelbare Anrede antworten. Der Mann nahm den Strohhut ab und fingerte nervös an dem schadhaften Rand herum; dicke Schweißtropfen rannen ihm über die blanke schwarze Stirn.

Ish konnte den breiten Dialekt kaum verstehen. Aber er hörte so viel heraus, daß sie von niemandem in der Nachbarschaft wußten; daß sie überhaupt nur sehr wenig von dem wußten, was geschehen war, da sie sich seit der Katastrophe kaum von der Stelle bewegt hatten. Sie waren nicht miteinander verwandt, sondern lediglich der Zufall vereinigte Überlebende, drei, die allen Gesetzen des Zufalls zum Trotz in einer einzigen kleinen Stadt übriggeblieben waren.

Ish konnte bemerken, daß sie nicht nur unter dem von der Katastrophe verursachten Schock litten, sondern auch unter den Verboten und Tabus aus der Zeit vorher. Sie sprachen mit dem weißen Manne ohne alles Selbstvertrauen und schlugen die Augen nieder.

Trotz ihres augenscheinlichen Widerwillens hielt Ish in ihrer Wohnstätte Umschau. Obwohl alle Häuser der Stadt ihnen offengestanden hätten, wohnten sie nach wie vor in der schäbigen Hütte, wo die Frau vor dem Ausbruch der Seuche gewohnt hatte. Ish ging nicht hinein, aber durch die offene Tür sah er das wackelige Bett und Stühle und den Kanonenofen, den mit einer Wachstuchdecke bedeckten Tisch, auf dem die Fliegen die unbedeckten Speisen umsummten. Draußen sah alles besser aus. Sie hatten einen überraschend großen Garten und ein ansehnliches Stück Land, auf dem Mais stand, und gegenwärtig waren sie dabei, ein kleines Feld mit Baumwolle zu bestellen, obwohl es über Ishs Phantasie ging, was in aller Welt sie mit der Baumwolle anfangen wollten. Dem Anschein nach hatten sie einfach weiter das getan, was sie in ihrer Welt gewohnt waren, und daraus gewannen sie ein Gefühl der Sicherheit.

In einem Verschlag hatten sie Hühner, und ein paar Schweine waren auch da. Ihre naive, übermäßige Verlegenheit, als Ish die Schweine gewahrte, ließ nur zu deutlich erkennen, daß sie sie sich aus irgendeinem Bauernkoben angeeignet hatten und nun meinten, der weiße Mann wisse ganz genau, daß sie Diebe seien.

Ish fragte nach ein paar frischen Eiern, und für ein Dutzend gab er ihnen einen seiner Dollarscheine. Sie schienen begeistert über diesen Tausch zu sein. Als er nach einer Viertelstunde alle Möglichkeiten der Situation in sich aufgenommen hatte, stieg Ish in seinen Wagen, sehr zur Erleichterung der Neger.

Einen Augenblick saß er da und überlegte. »Hier«, dachte er, »könnte ich ein bißchen König spielen, wenn ich dabliebe. Es würde ihnen nicht gefallen; aber aus langer Gewohnheit würden sie sich wohl darein schicken; sie würden Gemüse und Hühner und Schweine für mich züchten, und bald könnte ich auch eine Kuh oder zwei haben. Sie würden alle Arbeit übernehmen, die ich eigentlich tun müßte. So könnte ich gewissermaßen König spielen.«

Doch das war nur eine flüchtige Erwägung, und als er weiterfuhr kam ihm die Einsicht, daß die Neger im Grunde besser Herren der Lage geworden waren als er. Er lebte als ein Straßenräuber von dem, was von der Zivilisation übriggeblieben war; sie aber lebten wenigstens noch schaffend, dem Boden verbunden, Vieh züchtend und ernteten selbst das meiste von dem, was sie brauchten.


Von einer halben Million Insektenarten wurden schätzungsweise nur ein paar Dutzend vom Untergang des Menschen betroffen, und die einzigen tatsächlich vom Aussterben bedrohten waren die drei Arten der auf dem Menschen schmarotzenden Läuse. So alt, wenn auch nicht eben ehrenvoll, war diese Gemeinschaft, daß gerade sie als Argument für den einheitlichen Ursprung des Menschen hatten herhalten müssen, indem die Anthropologen feststellten, daß alle noch so fern voneinander lebenden Stämme sich der gleichen Parasiten wegen kratzten und sie ablasen und daraus schlossen, daß der Affen-Urmensch schon von den Vorfahren dieser Insekten bevölkert gewesen sein müsse, von dem Zeitpunkt an, da sie anfingen, sich zu verbreiten und in Spezies aufzuteilen.

Von da an hatten die Läuse durch Hunderte von Jahrtausenden hindurch ihr Leben auf ihre Welt eingestellt, die der Körper des Menschen war. Als sie sich aber so völlig dem Menschen anbefohlen hatten, verloren sie die Fähigkeit, auf einem andern Wirt zu existieren.

Darum bedeutete die Vernichtung des Menschen auch ihre Vernichtung. Als sie merkten, daß ihre Welt alt wurde, krabbelten sie davon und machten sich auf die Suche nach einer neuen warmen Welt, auf der sie wohnen könnten, fanden keine und starben.


Er kam an die lange Brücke über den breiten, braunen, strömenden Fluß, und dort stand ein Lastwagen und versperrte die enge Einbahnstraße nach Memphis.

Ihm war zumute wie einem bösen Jungen, der etwas Verbotenes tut und weiß, daß er dafür bestraft werden wird; aber er fuhr gegen alle Verkehrszeichen an, bog in die schmale Einbahnstraße links von der großen Hauptstrecke ein und fuhr dann gegen Tennessee auf der Straße nach Arkansas.

Doch er traf niemanden, und bald gelangte er auf das Tennessee-Ufer, und als Ausfahrt wählte er wieder die »falsche« Richtung. Memphis war genauso leer wie die andern Städte, wo er gewesen war; aber es wehte Südwind, und der trug einen üblen Gestank von den dicht besiedelten Stadtteilen um die Beale Street mit sich. Wenn das eine Andeutung dessen war, was seiner in den Städten des Südens wartete, so trug Ish wenig Verlangen nach ihnen. Schnell fuhr er wieder ins freie Land hinaus.

Aber er war noch nicht allzuweit gekommen, als der Südwind unaufhörlichen Regen heranführte. Da auf diese Weise das Fahren stumpfsinnig und beschwerlich wurde und da er nicht im mindesten Eile hatte, irgendwohin zu gelangen, machte er Rast in einem Hotel, das an der Einfahrtstraße einer kleinen Stadt lag, deren Namen festzustellen er sich gar nicht bemühte. Im Küchenherd dauerte der Gasdruck noch an, und er bereitete sich als Abendessen eine Mahlzeit aus den frischen Eiern. Sie war wirklich ein Festmahl, und dennoch war er auf irgendeine Weise unzufrieden. »Es fragt sich«, überlegte er, »ob ich auch alles zu mir nehme, was ich eigentlich essen müßte.« Vielleicht sollte er in einen Drugstore einbrechen und sich ein paar Vitamin-Tabletten holen.

Später ließ er Prinzeß hinaus, und der Hund verschwand plötzlich im Regen mit einem langgezogenen Gejaul, das in Gebell überging, als er auf die Spur irgendeines Tiers geraten war. Es behagte ihm wenig, da er wußte, daß er jetzt eine gute halbe Stunde würde warten müssen, bis es Prinzeß gefiel, wiederzukommen. Jedoch war sie schneller wieder da und roch entsetzlich nach einem Stinktier. Er schloß sie in die Garage ein, und sie beklagte sich durch Geheul bitterlich über die Art, wie sie behandelt wurde.

Ish ging zu Bett; er fühlte sich noch immer unzufrieden. »Der Schock muß tiefer in mir sitzen, als mir bewußt ist«, dachte er.

Am Morgen fühlte er sich noch immer unzufrieden und ruhelos. Das schlechte Wetter war noch nicht vorbei; doch es regnete nicht mehr. Abfahren wollte er noch nicht; aber er entschloß sich zu einem Spaziergang die Landstraße entlang. Ehe er ging, tat er einen Blick in seinen Wagen und sah auf dem Rücksitz die Flinte liegen. Seit er Kalifornien verlassen, hatte er sie kaum angerührt; jetzt ergriff er sie ohne bestimmte Absicht, nahm sie unter den Arm und wanderte die Straße entlang.

Prinzeß lief ihm ein paar Schritte nach, entdeckte dann eine neue Spur, und trotz der Erfahrungen des Vorabends nahm sie sie auf und verschwand entzückt fiepend und bellend über die Hügel. »Hoffentlich hast du diesmal mehr Glück!« rief er ihr nach.

Ish wanderte ohne ein bestimmtes Ziel dahin; er wollte lediglich seinen Gliedern ein bißchen Bewegung verschaffen oder vielleicht einen Baum mit reifen Früchten suchen. Er schritt gedankenlos weiter, als er auf einem Felde eine Kuh und ein Kalb erblickte. Das war nichts Auffälliges; auf nahezu jedem Felde in Tennessee konnte man Kühe und Kälber sehen. Das einzig Bemerkenswerte dabei war, daß er eine geladene Flinte unterm Arm trug, und plötzlich wußte er, daß er irgend etwas im Sinn gehabt hatte.

Er legte den Flintenlauf auf einen Zaunpfahl auf, zielte und sah Kimme und Korn eine Linie mit dem roten Fleck auf der Schulter des Kalbes bilden. Er zog durch, es knallte, und er empfing den Rückstoß. Als das Echo verhallte, hörte er das Kalb ein langes, gequältes Winseln ausstoßen; es stand mit steifen Beinen und zitterte; aus den Nüstern tropfte Blut. Dann zuckte es zusammen und fiel.

Die Kuh war bei dem Knall ein paar Schritte weggelaufen, und jetzt stand sie da und wandte unsicher den Kopf. Ish wußte nicht, was sie zur Verteidigung des Kalbes unternehmen würde. Er legte wieder an und jagte ihr eine Kugel in die Schulter. Als sie taumelte, gab er ihr den Gnadenschuß.

Er mußte in seine Unterkunft zurück und das Jagdmesser holen. Er lud seine Flinte wieder. Er empfand es als sonderbar, wie er reagierte. Früher hatte er kaum je über den Gebrauch von Waffen nachgedacht; doch jetzt war es, als hätte er der Schöpfung den Krieg erklärt und müßte gewärtig sein, daß sie es ihm vergelte. Doch als er zu der Stelle kam, wo die Kuh und das Kalb lagen, stieß er weder auf Widerstand noch auf Gegnerschaft.

Als er wieder in dem Hause war, reinigte er sich, so gut es ging; und horchte teilnahmslos nach draußen; denn es hatte wieder angefangen zu regnen. Prinzeß kam zurück und bat um Einlaß. Da sie inzwischen den Stinktiergeruch so gut wie gänzlich losgeworden war, erlaubte er es ihr. Sie war naß, zerschrammt und schmutzig. Sie legte sich auf den Boden und brachte sich mit der Zunge wieder in Ordnung; er selbst lag auf dem Bett, erschöpft, aber doch irgendwie befriedigt. Draußen regnete es gleichmäßig weiter, und nach einer Stunde merkte Ish, daß ihm zum erstenmal nach all diesem Geschehen ein weiteres Unbekanntes widerfuhr: er langweilte sich; das war es.

Er blickte in dem Raum umher und fand eine sechs Monate alte Zeitschrift; er setzte sich hin und begann zu lesen.

Gegen Mittag wurde er hungrig. Er briet sich ein saftiges Stück von der Leber und aß mit großem Genuß. Ein bißchen frisches Fleisch, so schloß er daraus, war alles, was ihm gefehlt hatte. Auch Prinzeß bekam ein Stück.

Als er nach dem Essen geruhsam dasaß, fühlte er sich wieder ganz wohl und behaglich.


Ein Zaun war eine Tatsache, und ein Zaun war zugleich ein Sinnbild. Zwischen den Herden und den Feldern stand der Zaun als eine Tatsache; aber zwischen dem Roggen und dem Hafer stand er nur als ein Sinnbild; denn Roggen und Hafer vermischten sich nicht miteinander. Durch Zäune war das Land in Stücke und Parzellen eingeteilt, und auf der andern Seite des beackerten Bodens, jenseits der Linie des Zaunes, verlief die Landstraße, und jenseits der Landstraße kam der Obstgarten, und dann kam wieder ein Zaun, der Weideflächen einfriedete, und dann kam das Haus, und dann wieder ein Zaun, und dann der Wirtschaftshof. Wenn die Zäune als Tatsachen und Sinnbilder niedergebrochen sind, dann gibt es keine Landstücke und Parzellen und augenfällige Unterschiede mehr; sondern alles geht ineinander über und ist verschwommen und unklar, wie es zu Anbeginn war.


Nach und nach verlor er immer mehr das Gefühl für die Zeit. Die täglich zurückgelegte Strecke war nicht groß, weil es häufig regnete, und die Straßen waren nicht so glatt und gerade wie im Westen. Er fuhr in nordöstlicher Richtung durch das Hügelland von Kentucky; dann gelangte er an die Ohio-Ebene und fuhr nach Pennsylvania hinein.

Er war in stärkerem Maße auf die Beschaffung von Nahrungsmitteln bedacht. Er holte sich grüne Maiskolben von den Feldern.

Es gab reife Beeren und Früchte. Dann und wann fand er in einem Garten ein paar nicht von Schnecken zerfressene Salatköpfe. Häufig rupfte er Karotten aus und aß sie roh, denn rohe Karotten mochte er sehr gern. Er schoß ein Jungschwein. Er erlegte zwei Rebhühner. Dann wieder schloß er die laut Einspruch erhebende Prinzeß in den Wagen ein und verbrachte zwei glückliche Stunden damit, ein Volk Truthühner zu beschleichen, die aber stets davonstoben, ehe er in Schußweite kam. Schließlich jedoch brachte er es fertig, nahe genug heranzukommen und einen Hahn zu erlegen.

Zwischen den Regenschauern war es warm, und wenn ihm danach zumute war, zog er sich aus und schwamm in einem Bach oder kleinen Flüsse, der ihm geeignet dazu schien. Seit das Wasser aus den Leitungshähnen angefangen hatte, brackig zu werden, trank er aus Quellen und Brunnen, obwohl jetzt, wie er schätzte, auch die größeren Flüsse frei von Abwässern aus Städten und Fabriken sein mußten.

Er bekam Übung im Beurteilen der Städte und konnte im allgemeinen im voraus sagen, ob sie gänzlich leer seien oder ob er nach einigem Suchen einen oder mehrere Überlebende aufzustöbern vermochte. Oft waren die Alkoholläden geplündert. Die andern Gebäude waren für gewöhnlich unzerstört, obwohl hier und dort in die Banken eingebrochen worden war; augenscheinlich hatten die Leute noch Zutrauen zum Geld. In den Straßen sah man gelegentlich ein Schwein oder einen Hund, seltener eine Katze.

Selbst in dieser ehedem dichtbevölkerten Gegend fand er verhältnismäßig wenig Tote, und der Leichengeruch war weniger spürbar, als er gefürchtet hatte. Die meisten Bauernhöfe und viele der kleineren Städte waren augenscheinlich sich selbst überlassen worden, als die letzten Einwohner um der ärztlichen Hilfe willen in die größeren Zentren oder aber in die Berge geflohen waren, wo sie der Ansteckung zu entgehen hofften.

Die Überlebenden, so stellte er fest, lebten im allgemeinen als Einzelgänger und gelegentlich paarweise. Sie blieben unbeirrt in ihren eigenen Häusern. Manchmal schienen sie zu wünschen, daß er bei ihnen bliebe; niemals aber wünschten sie, mit ihm zu fahren. Nach wie vor gewahrte er unter ihnen niemanden, mit dem er seine Zukunft zu teilen gewünscht hätte. Wenn es nicht anders ging, meinte er, könne er ja heimfahren.

Irgendwie zeigte sich das offene Land in stärkerem Maße verändert als die Städte, obwohl man kaum vermuten konnte, daß die Entwicklung so verlaufen würde. Aber auf dem Lande wucherte auf den Äckern das Unkraut. In dieser Gegend war zur Zeit des Ausbruchs der Seuche der Weizen noch nicht gemäht worden, und nun stand er mit schweren Ähren da, und hier und dort fingen schon die Körner an herauszufallen.

Dann überquerte er eines Morgens den Delaware-Strom, fuhr nach New Jersey hinein und meinte, daß er am frühen Nachmittag in New York sein könne.

4

Gegen Mittag kam er auf den Pulaski Skyway. Früher, als Fünfzehnjähriger, war er hier einmal mit seinen Eltern entlanggefahren. Damals hatte der strömende Verkehr ihn erschreckt; Last- und Personenwagen waren aus allen Richtungen, wie es schien, geräuschvoll herangekommen und dann plötzlich dem Blicke entschwunden, wenn sie in die Zubringerstraßen eingebogen waren. Er wußte noch, daß sein Vater ängstlich nach dieser und jener Richtung hin Ausschau gehalten hatte, der Verkehrszeichen wegen, während seine Mutter nervös dazwischenredete. Jetzt indessen schlief Prinzeß neben ihm auf dem freien Sitz, und er fuhr ganz allein den Skyway hinab.

In weiter Ferne vor sich sah er die hohen Türme der Wolkenkratzer, die sich perlgrau vom bewölkten Himmel abhoben; es hatte geregnet, und für die Mittsommerzeit war der Tag kühl.

Beim Anblick jener Türme wurde ihm seltsam zumute. Jetzt wußte er, was er vorher nicht hinreichend deutlich hätte erklären können, nämlich warum es ihn unbewußt nach New York getrieben hatte. Für jeden Amerikaner war diese Stadt der Mittelpunkt der Welt. Was in New York geschehen war, das mußte über kurz oder lang überall geschehen, dachte er. »Fällt Rom, so fällt die Welt.«

Als er an die Kleeblatt-Kreuzung oberhalb von Jersey City kam, hielt er mitten auf dem Skyway an, um die Wegbezeichnungen zu lesen. Keine Bremsen kreischten jäh hinter ihm auf; keine Hupen quäkten; keine Lastwagenführer brüllten ihm Schimpfworte zu, weil er die Straße versperrte; kein Polizist rief ihn durch Lautsprecher an.

»Wenigstens«, dachte er, »ist das Leben ruhiger geworden.«

In einiger Entfernung, so daß er es gerade noch hören konnte, rief zweimal ein Vogel, vielleicht eine Möwe. Das einzige andere Geräusch war das nahezu lautlose Brummen seines leerlaufenden Motors, das einschläfernd war wie Bienengesumm.

Im letzten Augenblick schreckte er vor der Einfahrt in einen der Tunnels zurück. Sie wurden nicht mehr in Ordnung gehalten und waren vielleicht allmählich voll Wasser gelaufen, und er hatte eine unbestimmte Furcht, in eine Falle zu geraten. So bog er denn nach Norden ab, überquerte die leere George-Washington-Brücke und gelangte nach Manhattan.


Hingedehnt zwischen ihren Strömen wird die Stadt lange überdauern. Stein und Ziegel, Beton und Asphalt, Glas — damit geht die Zeit behutsam um. Wasser hinterläßt schwarze Flecken, Moos grünt, ein bißchen Gras sprießt in den Ritzen. (Das ist nur die Oberfläche.) Ein Fensterrahmen lockert sich, wackelt, ein kräftiger Windstoß reißt ihn los. Der Blitz fährt nieder und lockert die Backsteine eines Gesimses. Eine Mauer neigt sich, wenn lange Regengüsse die Fundamente unterwühlen; Jahre vergehen; sie stürzt um und streut Ziegel über die Straße. Der Frost wirkt sich aus, und im Märztauwetter bröckeln Steinflocken ab. (All das vollzieht sich sehr langsam.) Der Regen fließt ruhig durch die Rinnen in die Abflußröhren, und wenn die Abflußröhren sich verstopfen, fließt der Regen über die Rinnen in die Abzugskanäle. Der Schnee türmt sich an den Straßenecken; niemand schafft ihn weg. Im Frühling schmilzt er und fließt ebenfalls in die Abzugskanäle. Wie in der Wüste ist ein Jahr gleich einer Nachtstunde, ein Jahrhundert gleich einem Tage.

Ja, die Stadt ähnelt in vielem der Wüste. Von der Straße rinnt der Regen nach beiden Seiten in die Abzugskanäle. Hier und dort wächst in einem schmalen Riß feines Gras oder kräftiges Unkraut; aber weder Baum noch Rebe noch größere Grasarten schlagen Wurzeln. Die schattenspendenden Bäume an den Promenaden, denen die Pflege durch den Menschen mangelt, sterben in ihren zu kleinen Erdgruben. Rehe und Kaninchen meiden die leeren Straßen; nach einer Weile verziehen sich sogar die Ratten. Einzig die geflügelten Geschöpfe finden hier Zuflucht; die Vögel nisten in dem hohen Gebälk, und morgens und abends flattern die Fledermäuse durch die zerbrochenen Fensterscheiben ein und aus. So wird die Stadt lange, sehr lange Zeit hindurch überdauern.


Er fuhr den Broadway in südlicher Richtung hinab; er beabsichtigte, geradeaus bis Battery zu fahren. Indessen kam er bei der 170. Straße an ein sehr amtlich aussehendes Schild »Gesperrt!« mit einem Pfeil, der ihm einen östlichen Umgehungsweg wies. Er hätte einfach, trotz der Zeichen, geradeaus weiterfahren können; aber er machte sich einen Spaß daraus, gehorsam der Weisung zu folgen. So fuhr er denn zur Amsterdam Avenue hinüber, und dann wieder südwärts.

Auch die Amsterdam Avenue war völlig leer. Irgendwo in diesen weitläufigen Anhäufungen von Beton und Backstein und Mörtel und Stuck, irgendwo in all diesen höhlenähnlichen Löchern, die der Mensch Wohnräume nannte, irgendwo mußten wohl noch ein paar Leute wohnen. Die Katastrophe hatte nahezu alles erfaßt, und in dem übervölkerten Manhattan hatte sie wahrscheinlich noch heftiger gewütet als anderswo. Das, was er den Zweiten Tod genannt hatte, mußte sich unter einer völlig verstädterten Bevölkerung noch weit schrecklicher ausgewirkt haben. Nichtsdestoweniger hatte er die Erfahrung gemacht, daß überall ein paar Leute übriggeblieben waren, und so würde es sich auch bei der Millionenbevölkerung von Manhattan verhalten. Aber er ließ seine Hupe nicht ertönen; Herumtreiber, die er hier und dort gesehen, waren für ihn von wenig Interesse.

Er fuhr weiter.

Am Lewisohn-Stadion endlich waren zwei am Eingang herumschnuppernde magere Hunde das erste Zeichen des Lebens. Beim nächsten Block sah er ein paar Tauben umherflattern; viele waren es nicht.

Er fuhr weiter, an den roten Backsteingebäuden der Columbia-Universität vorüber, und hielt vor der mächtigen, noch unvollendeten Kathedrale. Sie war unvollendet und würde es bleiben.

Er rüttelte an der Tür; sie sprang auf; er trat ein. Er ging in das Seitenschiff und durchschritt die kleinen Kapellen der Apsis, eine nach der andern — alle jene Kapellen, die die Engländer und die Franzosen und die Italiener und alle die andren der vielsprachigen Stadt zu Gebet und Gottesdienst eingeladen hatten. Das Sonnenlicht strömte durch die bunten Glasfenster; es war alles genauso schön, wie er es von früher her in der Erinnerung trug.

Er ging zurück in das Hauptschiff. Er schaute empor und ließ sich von der Größe dieses Kircheninnern erschüttern. Er hatte ein würgendes Gefühl in der Kehle. Dies also war das Ende des höchsten Strebens und Verlangens der Menschheit … Er ging hinaus in die leere Straße und stieg wieder in seinen Wagen.

Am Cathedral Parkway bog er nach Osten ab, fuhr, allen Verkehrszeichen zum Hohn, in den Central Park ein und dann südlich die Ost-Promenade hinab, in der Meinung, daß an einem Sommertage die Leute wohl in den Park gehen würden, wie sie es von jeher getan hatten. Doch er sah niemanden. Von seinem damaligen Besuch als Junge her erinnerte er sich der Eichhörnchen; aber jetzt sah er kein einziges; hungernde Hunde und Katzen hatten sie wohl gefressen. Auf einer Rasenfläche sah er einen Bisonbullen weiden, und nicht weit von ihm ein Pferd. Er fuhr an der Rückfront des Metropolitan-Museums vorüber und sah die »Nadel der Kleopatra«, die nun doppelt verwaist dastand. Beim Sherman-Denkmal bog er in die Fünfte Avenue ein, und es glitt ihm ein Vers durch den Sinn:

»Jetzt sind vergebens alle eure Siege.«


Das grüne Rechteck des Parks wird eine Insel auf einer Insel bleiben. Er ist freies Land, in das der Regen hineinsickern kann. Die Sonne scheint darauf. Im ersten Sommer schießt das Gras hoch, die Samen fallen von Busch und Baum, die Vögel tragen andern Samen heran. Laß zwei Sommer vorübergehen, und es sprießen überall junge Schößlinge. Laß zwei Jahrzehnte vorübergehen, und der Park ist ein Dschungel von nachgewachsenen Gewächsen, darin jeder Baum sich über die Nachbarn zu erheben trachtet, um zum Licht zu gelangen, und die zähen Einheimischen, die rasch wachsenden Eschen und Ahornbäume, überwuchern die zarten Exoten, die der Mensch hier vormals angepflanzt hatte. Man kann den Reitweg kaum noch sehen; auf den schmalen Pfaden liegt dick moderndes Laub. Laß ein Jahrhundert vorübergehen, und du durchwanderst einen dichten, üppigen Wald und merkst kaum noch, daß der Mensch je hier gewesen ist, abgesehen von dem steinernen Bogen, der nach wie vor die Unterführung überspannt und jetzt ein seltsames Gewölbe bildet. Das Reh zieht durch den Wald, und die Wildkatze lauert den Kaninchen auf, und im See schnellt der Barsch hoch.


In den großen Schaufenstern der Modehäuser vollführen nach wie vor die Gliederpuppen in heiterer Gewandung und mit blitzendem Schmuck eine absonderliche Gestik. Aber die Fünfte Avenue dehnte sich leer vor ihm, so still wie die Hauptstraße von Podunk an einem Sonntagmorgen. Die Schaufenster eines großen Juweliergeschäftes waren zertrümmert.

Ein paar Tauben flatterten beim Rockefeller Centre auf; das Geräusch des einsamen Motors hatte sie aufgestört. Bei der Zweiundvierzigsten Straße fiel es ihm ein, mitten auf der Fünften Avenue anzuhalten und auszusteigen; Prinzeß ließ er im Wagen.

Er ging die Zweiundvierzigste Straße in östlicher Richtung hinab; der leere Bürgersteig kam ihm lächerlich breit vor. Er ging in den Grand-Central-Bahnhof hinein und schaute in die weitläufige Empfangshalle hinein.

»Wau!« rief er laut und empfand kindische Freude, als das Echo durch die Leere von der hohen Wölbung widerhallte.

Er kehrte auf die Straße zurück und erblickte eine Drehtür. Gedankenlos durchschritt er sie und befand sich in der Vorhalle eines großen Hotels. Rechts und links standen behäbige Sessel und Sofas; hinten war das Empfangsbüro.

Auf allen Sesseln und Sofas und Zigarettenvitrinen und Marmorfliesen lag deutlich wahrnehmbar eine Schicht grauen Staubes, und von jetzt an würde Staub ein Teil seines Lebens sein.

Als er wieder in seinem Wagen saß, schaltete er den Gang ein, überquerte die Zweiundvierzigste Straße und fuhr weiter nach Süden. Auf den Stufen der Bibliothek sah er eine große graue Katze kauern.

Beim Flatiron Building bog er in den Broadway ein und folgte ihm geradeaus bis zur Wall Street. Dort stiegen sie beide aus, und Prinzeß bezeigte Interesse an einer Art Spur, die den Bürgersteig entlanglief. Wall Street! Es machte ihm Spaß, ihre leere Länge hinabzugehen. Bei einiger Aufmerksamkeit entdeckte er etwas Gras, oder richtiges Unkraut, das hier und dort in den Ritzen des Rinnsteins grünte.

Er ging zu seinem Wagen zurück und fuhr den Broadway weiter in südlicher Richtung hinab, das kleine Stück bis Battery. Dort hielt er über die untere Bucht Ausschau nach dem Ozean hin. Dies war das Ende seiner Reise.

Vielleicht bestanden noch Verbindungen nach Europa oder Südamerika oder einigen der Inseln; aber er nahm keine Spur davon wahr. An dieser Stelle war sicherlich sein holländischer Vorfahr vor drei Jahrhunderten an Land gestiegen. Jetzt stand er, Ish, hier, und der Kreis hatte sich geschlossen.

Er gewahrte die Freiheitsstatue. »Freiheit!« dachte er ironisch. »Die wenigstens habe ich!«

Dicht am Ufer von Governors Island war ein großer Dampfer gestrandet. Er mußte bei Hochflut auf Grund geraten sein, und jetzt, bei tiefer Ebbe, ragte er hoch aus dem Wasser und lag absonderlich schief. Bevor das Schiff Europa verließ, mußte die Infektion heimlich gewirkt haben; Passagiere und Mannschaft waren in gleicher Weise krank oder tot gewesen, als der Dampfer verzweifelt in den Hafen zu gelangen suchte — den Hafen, der seltsamerweise keine Signale mehr aussandte. Es kamen dem Schiff keine Schlepper entgegen. Vielleicht hatte ein sterbender Bootsmann auf der Brücke gar versäumt, den Befehl zum Fallenlassen des Ankers zu geben und nur mit verschwimmenden Augen auf die Sandbank gestarrt. Dort würde das Schiff Ruhe finden, und die Wellen würden Sand und Schlamm gegen das den Verkehr hindernde Wrack werfen, und in einem Jahrhundert würde es kaum noch kenntlich sein — nur die rostbedeckte Mitte einer kleinen Insel, und darum herum würden Bäume wachsen.

Im Weiterfahren bog Ish nach East Side ein, kam an ein unangenehm riechendes Viertel in der Nähe des großen Komplexes des Bellevue-Krankenhauses, wandte sich westwärts und stieß auf den gleichen Geruch rings um den Pennsylvania-Bahnhof und die benachbarten Hotels, und schließlich fuhr er nordwärts durch die Elfte Avenue. Er bog in die Riverside-Promenade ein und gewahrte, daß die Sonne niedrig über den rauchlosen Schornsteinen des Jersey-Ufers stand. Er überlegte gerade, wo er die Nacht verbringen solle, als er einen Ruf hörte: »He! Hierher!«

Prinzeß fing wütend an zu bellen. Er stoppte, schaute zurück und sah einen Mann aus dem Eingang eines Mietshauses herauskommen. Ish stieg aus und ging ihm entgegen; die bellende Prinzeß ließ er im Wagen.

Der Mann kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. Er sah kein bißchen ungewöhnlich aus, war gut rasiert und trug einen Tropenanzug; sogar den Rock hatte er an. Halb und halb war Ish darauf gefaßt, daß er jetzt die konventionelle Ladeninhaberbegrüßung hören würde: »Guten Tag, der Herr, womit kann ich dienen?«

»Abrams ist mein Name«, sagte er. »Milt Abrams.«

Ish stotterte seinen eigenen Namen — es war recht lange her, daß er daran gedacht hatte, wie er eigentlich heiße. Nach den Begrüßungsworten nahm Milt Abrams ihn mit ins Haus. Sie gingen in eine hübsche Wohnung des zweiten Stockwerks. Eine blondhaarige, etwa vierzigjährige, gut gekleidete Frau saß an einem Cocktailtisch, und vor ihr stand ein Cocktailshaker. »Habe die Dame — getroffen«, sagte Milt Abrams, und bei seinem Zögern konnte Ish sich sein Teil denken. Schwerlich würde die Katastrophe Mann und Frau verschont haben, und für eine feierliche Trauung war seither keine Gelegenheit gewesen. Augenscheinlich steckte Milt Abrams noch immer so tief im Überlieferten, daß er sich das sogar unter den gegebenen Umständen zu Herzen nahm.

Die Dame sah Ish lächelnd an. »Sagen Sie Ann zu mir«, sagte sie. »Kommen Sie, trinken Sie etwas! — Leider kann ich Ihnen nur warmen Martini anbieten! In New York City ist kein bißchen Eis aufzutreiben!« Auf ihre Art war sie eine genauso typische New Yorkerin, wie Milt ein typischer New Yorker war.

»Hier«, sagte Milt, »ich kann Ihnen etwas Besseres anbieten.« Er machte einen Schrank auf, und man erblickte eine schöne Sammlung von Amontillado, altem Kognak und erlesenen Likören. »Und«, fügte er hinzu, »die kann man auch ohne Eis trinken.«

Augenscheinlich war Milt ein Kenner. Die Flasche Chateau Margaux, die er zum Abendessen hervorzauberte, war erstklassig.

Chateau Margaux zu einer aus kaltem Corned beef bestehenden Mahlzeit war vielleicht nicht alles, was man sich hätte wünschen können, doch der Wein war kräftig genug, um in Ish eine leichte, glückliche Bezechtheit zu erregen. Ann war um jene Zeit schon ziemlich angeheitert.

Der Abend verlief recht angenehm. Sie spielten bei Kerzenlicht Karten — Bridge zu dritt. Sie tranken Liköre. Sie hörten Schallplatten, auf einem dünnstimmigen Koffergrammophon, das den großen Vorteil hatte, vom elektrischen Strom unabhängig zu sein, aber mit der Hand aufgezogen werden mußte. Sie plauderten — wie man an jedem beliebigen Abend geplaudert hätte. »Die Platte kratzt … Ich habe gar nicht geschnitten … Schenk mir noch mal ein!«

Man tat, als gebe es draußen vor den Fenstern eine Welt; man spielte bei Kerzenlicht Karten, weil das hübsch ist; man dachte und sprach nichts, als was unter solcherlei Umständen eben gedacht und gesprochen wurde. Und Ish meinte, das sei nur billig und recht. Normale Menschen, und Milt und Ann schienen durchaus normal zu sein, kümmerten sich nicht allzuviel um Zurückliegendes oder Künftiges. Glücklicherweise lebten sie in der Gegenwart.

Doch während des Spieles konnte Ish aus gelegentlichen Nebenbemerkungen bis zu einem gewissen Grade die Situation erkennen. Milt war Mitinhaber eines kleinen Juweliergeschäfts gewesen und Ann die Frau eines gewissen Harry, und sie waren so wohlhabend gewesen, daß sie die Sommer an der Küste von Maine hatten verbringen können. Die einzige bezahlte Arbeit, die Ann je hatte leisten müssen, war der Verkauf von Parfüm in einem der exklusiven Geschäfte gewesen; das hatte sie mehr zum Spaß in der Weihnachtszeit getan. Nun lebten die beiden in einer hübschen Wohnung, die sehr viel besser war, als Harry sie sich hatte leisten können. Der elektrische Strom hatte sofort ausgesetzt, da die Dynamos, die New York versorgten, Dampfantrieb hatten; die Wasserversorgung blieb einstweilen normal, und so gab es noch keine sanitären Schwierigkeiten.

Gegenwärtig wohnten sie in der Riverside-Promenade. Da sie gewöhnliche New Yorker waren, hatten sie nie ein Auto besessen, und so konnten sie beide nicht fahren. Autos waren für sie etwas Geheimnisvolles. Seit alle öffentlichen Verkehrsmitte; ausgefallen waren, waren sie völlig auf ihre Beine angewiesen, und beide waren, was Alter, Temperament und Körperbeschaffenheit betraf, nicht gerade freudige Fußwanderer. Der Broadway mit seinen noch wohlversehenen Lebensmittel- und Alkoholgeschäften bildete für sie die Ostgrenze; im Westen lag der Strom; sie wanderten die Promenade auf und ab, etwa eine halbe Meile nördlich und südlich. Das war ihre Welt.

Sie glaubten nicht, daß innerhalb dieses kleinen Bereichs noch jemand am Leben war. Was in den übrigen Teilen der Stadt vor sich ging, wußten sie genausowenig wie Ish. Für sie war es nach East Side genauso weit wie nach Philadelphia; Brooklyn hätte auch Saudi-Arabien sein können.

Einmal indessen hatten sie Autos die Riverside-Promenade entlangfahren hören, und dann und wann, wenngleich sehr selten, hatten sie auch eins gesehen. Doch hatten sie sich gehütet, einem der Autos ein Zeichen zu geben, denn in ihrer Einsamkeit und im Gefühl ihrer Hilflosigkeit waren sie in ständiger Angst; sie lebten in einer Art Kinderschreck-Furcht vor räubernden Gangstern.

»Aber alles blieb so ruhig, daß mich tatsächlich verlangte, mal jemand zu treffen. Sie fuhren nicht allzu schnell«, sagte Milt beinahe schüchtern, »ich sah, daß Sie allein waren und nicht bösartig, und außerdem war Ihr Nummernschild nicht von hier.«

Ish hätte beinahe vorgeschlagen, ihnen seine Pistole dazulassen; doch er tat es nicht. Schußwaffen waren stets die Ursache von Schwierigkeiten. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Milt nie im Leben einen Schuß abgefeuert, und er sah, was das betraf, nicht gerade gelehrig aus. Und Ann sah aus, als sei sie eine jener reizbaren Frauen, die als Freundin wie als Feindin gleich gefährlich waren, wenn sie eine Pistole in der Hand hatten.

Obwohl sie kein Heimkino und kein Radio hatten und obwohl sie den Anblick der vorüberflutenden Menge in der großen Stadt entbehren mußten, schienen Milt und Ann nicht weiter bedrückt zu sein. Sie spielten zu zweit Karten, bei hohen, aber natürlich nur fingierten Einsätzen. Das Ergebnis war, daß Ann jetzt Milt mehrere Millionen Dollar schuldete. Sie spielten endlos Schallplatten — Jazz, Volkslieder, Tänze — auf dem kleinen Grammophon. Sie lasen ungezählte Bände geheimnisvoller Geschichten, die sie sich aus den Leihbüchereien am Broadway holten und dann in der Wohnung herumliegen ließen.

Aber obwohl sie nicht bedrückt waren, schien beiden das Leben nicht allzuviel Freude zu machen. Nach dem Schock schienen sie in einer Art Dumpfheit umherzugehen. Sie waren Menschen ohne Hoffnung. New York, ihre Welt, war dahin; zu ihren Lebzeiten würde es nicht wieder auferstehen. Sie bezeigten keinerlei Anteilnahme, als Ish ihnen zu erzählen versuchte, was in den übrigen Teilen der Vereinigten Staaten geschehen sei. »Fällt Rom, so fällt die Welt!«

Am nächsten Morgen trank Ann wieder einen warmen Martini zum Frühstück und jammerte abermals, daß es in New York-City kein einziges Stückchen Eis gebe. Sie baten ihn inständig, er möge noch länger bei ihnen bleiben; sie baten ihn sogar, er möge für immer dableiben. Sie waren die reizendsten Leute, denen er seit der Katastrophe begegnet war. Doch er empfand keinerlei Verlangen, bei ihnen zu bleiben. Nein, er war entschlossen, wieder gen Westen zu fahren.

Doch als er davonfuhr und die beiden in der Tür des Mietshauses standen und ihm nachwinkten, hätte er beinahe kehrtgemacht und wäre noch ein Weilchen dageblieben. Er mochte die beiden gern, und sie taten ihm leid. Ihm graute bei dem Gedanken, was geschehen würde, wenn es Winter wurde, wenn der Schnee hoch zwischen den Schluchten der Häuser lag und der Nordwind den Broadway entlangpfiff. In diesem Winter würde die Zentralheizung in New York-City nicht in Betrieb sein; aber es würde sehr viel Eis geben, und man brauchte keinen warmen Martini zu trinken.

Er bezweifelte, daß die beiden den Winter überleben würden, selbst wenn sie zertrümmerte Möbelstücke im Kamin verheizten. Irgendein Unfall würde sie hinwegraffen oder eine Lungenentzündung. Sie waren wie die überzüchteten Spaniels oder Pekinesen, die an der Leine über die Straßen der Stadt geführt worden waren. Auch Milt und Ann waren Stadtbewohner, und wenn die Stadt starb, würden sie schwerlich ohne sie leben können. Sie würden die Strafe zahlen, die in der Weltgeschichte, wie Ish wußte, stets allen zu einseitig entwickelten Organismen auferlegt wird. Milt und Ann, der Juwelierladenbesitzer und die Parfümverkäuferin, hatten sich so einseitig entwickelt, daß sie sich keinen neuen Daseinsbedingungen anpassen konnten. Sie befanden sich sozusagen am andern Ende der Stufenleiter wie jene Neger in Arkansas, die sich ohne weiteres darein schickten, auf primitive Weise auf dem Lande zu leben.

Die Promenade machte eine Biegung, und er wußte, daß sie ihn jetzt nicht mehr sehen konnten, auch wenn er zurückschauen würde. Er spürte Tränen in seinen Augen — lebt wohl, Milt und Ann!

5

Sein Kühler war westwärts gerichtet; er fuhr heim, wie er es bei sich noch immer nannte; und es war ihm bisweilen dabei zumute als befinde er sich auf einer müßiggängerischen Wanderfahrt. Ein Mann und ein Hund saßen in einem Auto, und die Tage glitten ereignislos vorüber.

Er durchquerte das reiche Bauernland des östlichen Pennsylvania, wo der reife, ungemähte Weizen goldbraun, wo der Mais mannshoch stand. Als er durch das leere Turnpike kam, gab er kräftig Gas und steuerte wie ein Irrsinniger durch die überhöhten Kurven, berauscht von der Freude an der Geschwindigkeit. Er brauste nach Ohio hinein.

Inzwischen hatte der Gasdruck fast überall ausgesetzt, aber er verschaffte sich einen Gasolin-Kocher mit Doppelbrenner, der großartig funktionierte. Bei gutem Wetter kampierte er einfach im Walde und machte sich ein offenes Feuer. Konserven, die er aus den Läden geborgen hatte, bildeten nach wie vor den Hauptbestandteil seiner Ernährung; aber er holte sich auch Maiskolben und nahm Gemüse, wo er es fand.

Er hätte dann und wann gern ein paar Eier genossen; aber die Hühner schienen gänzlich verschwunden zu sein. Auch Enten sah er nicht. Wiesel, Katzen und Ratten, so meinte er, hatten unter dem kleineren Geflügel aufgeräumt, das während der langen Haustierzeit zu stumpfsinnig geworden war, um ohne Schutz leben zu können. Einmal indessen hörte er den heiseren Ruf eines Perlhuhns, und zweimal sah er Gänse, die ruhig im Tümpel eines Bauernhofs schwammen. Er schoß die eine, aber dann merkte er, daß er leider einen alten Ganter erwischt hatte, der zu zäh war, um, am Lagerfeuer gebraten, eine genießbare Mahlzeit zu ergeben. Oft sah er Truthühner in den Wäldern, und gelegentlich schoß er eins. Wenn Prinzeß für die Geflügeljagd abgerichtet gewesen wäre, hätte er es mit Rebhühnern und Fasanen versuchen können. Zwar stürzte sie sich wie wild auf jede Kaninchenfährte, trieb ihm aber nie eins vor die Flinte.

Er vermied die großen Städte und fuhr westwärts.

Jetzt stieß er gewöhnlich auf zwei oder drei Menschen. Gewöhnlich klammerten sich diese Leute an eine kleine Örtlichkeit, die sie bereits vor dem Unheil gekannt hatten. Wie schon früher bezeigte kein einziger das Verlangen, mit ihm wegzufahren; aber bisweilen forderten sie ihn auf, bei ihnen zu bleiben. Das Angebot barg nichts Verlockendes für ihn. Diese Menschen waren körperlich am Leben, aber mehr und mehr kam er zu der Überzeugung, daß sie in einer Art Abgestorbenheit allen Gefühls einherwandelten. Einmal sah er eine Frau, deren Verstand gelitten hatte. Ihre Kleidung wies darauf hin, daß sie einmal wohlhabend gewesen war; doch jetzt war sie kaum imstande, für sich selbst zu sorgen, und sie konnte schwerlich den Winter überleben. Mehrere Überlebende erzählten ihm von anderen, die Selbstmord begangen hatten.

Obwohl er sich manchmal daraufhin prüfte, war er sich nach wie vor keines großen seelischen Schadens bewußt, weder durch den Schock noch durch das Alleinsein. Er schrieb das der Aufrechterhaltung eines Interesses am Verlauf der Ereignisse zu und seinem persönlichen Temperament. Häufig dachte er über seine Begabung und Fähigkeiten für das neue Leben nach, die er damals notiert hatte.

Wenn er fuhr oder am Feuer saß, durchglitten manchmal erotische Vorstellungen seinen Geist. Er dachte an Ann auf der Riverside-Promenade, die in ihrer Blondheit verlockend und schmuck gewesen war. Doch sie bildete eine Ausnahme. Die meisten Frauen waren schlecht frisiert und sogar schmutzig; sie hatten flache Gesichter vor geistiger Teilnahmslosigkeit, wenn sie nicht gerade hysterisch lachten oder kicherten. An manche wäre heranzukommen gewesen; aber stets fühlte er, wie sein Verlangen sogleich hinschwand. Das, so meinte er, war wohl die besondere Form, die der Schock in ihm angenommen hatte. Aber es bestand keinerlei Notwendigkeit, etwas zu erzwingen; es würde schon wieder anders mit ihm werden.

Nirgends in den flammenden Ebenen von Nebraska war der Weizen gemäht worden. Nun stand er da, und seine Goldfarbe wandelte sich in Braun. Die Körner fielen bereits aus den Ähren. Nächstes Jahr würde er üppig wachsen, aber überall würden zugleich andere Grasarten aufsprießen, Gras, das besser wuchs, wenn der Boden unberührt blieb. Ish wußte, daß diese heimischen Gräser bald Soden bilden und den Weizen überwuchern würden.

Estes Park bot gute Rast nach den sonnenheißen Ebenen. Er blieb eine Woche lang dort. Es waren während des ganzen Sommers keine Forellen geangelt worden, und so war das Fischen eine wahre Freude.

Dann kam das Hochgebirge, dann wieder die Wüste und die Salbeibüsche, und er drückte den Fuß fest auf den Gashebel und durchbrauste die Kurven der Staatsstraße 40 dem Donner-Paß zu.

Auf der andern Seite des Passes nahm er plötzlich wahr, daß die ganze Gegend vor ihm rauchverhüllt war. »Welchen Monat haben wir eigentlich?« dachte er. »August? Wahrscheinlich eher Anfang September. Die beste Jahreszeit für Waldbrände.« Und es fiel ihm ein, daß jetzt niemand mehr da war, der gegen die durch Blitzschlag entstandenen Feuersbrünste ankämpfen konnte.

Bei Yuba Gap kam er plötzlich an das Feuer heran. Es brannte mit niedriger Flamme zu beiden Seiten der Straße, und er wagte es, hindurchzufahren. Die Straße war breit, und die Hitze war nicht allzu groß, bis er beim Durchfahren einer Kurve unvermittelt an einen Baumstamm kam, der umgefallen war und die Straße völlig versperrte; er flammte in seiner ganzen Länge und war glühend heiß. Da verspürte er wieder die alte Furcht, die ihn (das lag Jahre zurück, so meinte er) an jenem Morgen in der Wüste geschüttelt hatte — die äußerste Verlassenheit in der Gefahr nach einem Unfall.

Es blieb ihm nichts übrig, als auf der großen Straße zu wenden. Er fuhr zweimal zurück und vor, und in seiner panischen Hast würgte er den Motor ab. Er startete und raste auf dem gleichen Weg, den er gekommen war, aus den Flammen hinaus.

Als er sich in Sicherheit wußte fand er seine Ruhe wieder. Er fuhr bis zur Abzweigung der California 20 zurück und beschloß, einen weiteren Versuch zu wagen. Auch an den Rändern dieser Straße brannte es hier und dort; aber im allgemeinen war das Feuer schon erloschen. Er fuhr behutsam, bog umgefallenen Bäumen aus, die auf der Straße lagen, und kam tatsächlich durch. Indessen war er sehr betroffen, als er von dem Höhenzuge aus rückblickend überall Feuer sah. Er hatte Glück gehabt, daß er es geschafft hatte.

Es war seine Absicht gewesen, diese Nacht in den kühlen Bergen zu kampieren; aber nun wollte er es nicht riskieren, vom Feuer eingeschlossen zu werden, und so fuhr er weiter und wickelte seinen Schlafsack erst im Park einer kleinen Stadt am Fuße der Bergkette auseinander. Es brannte kein Licht. Er war enttäuscht, denn er hatte gehofft, daß in Kalifornien die Beleuchtung noch funktionierte. Sicherlich hatte der Waldbrand die Überlandleitungen zerstört, wenigstens in gewissen Bezirken.

Als er dalag und zu schlafen versuchte, heiß und unbequem, und den trockenen Rauch atmete, hatte er die Empfindung, daß er jetzt in der Falle sitze. Obwohl die Brände von selbst erlöschen würden, waren die Straßen durch die Sierra wohl durch zahlreiche umgestürzte Bäume immer wieder versperrt oder durch Erdrutsche und Unterspülungen von den jetzt kahlen Hängen.

Wie gewöhnlich war ihm am Morgen zuversichtlicher zumute. Wenn er schon in der Falle saß, so war Kalifornien eine höchst geräumige und angenehme Falle, und obgleich die Sierra wohl unpassierbar war, mochte doch die südliche Straße durch die Wüste noch für längere Zeit befahrbar bleiben. Er war zur Abfahrt bereit; aber Prinzeß in ihrem gewohnten Eigensinn gab plötzlich Laut und verschwand auf einer Fährte. Wütend wartete er auf sie, und als sie nicht wiederkam, änderte er seinen Plan und verbrachte den größten Teil des Tages geruhsam halbnackt im Schatten einiger Bäume. Am späten Nachmittag brach er auf.

In der Dämmerung gelangte er auf den Gebirgskamm und hielt Ausschau über die weithin sich dehnenden Städte an der Meeresbucht. Mit jäher Freude sah er, daß der größte Teil der Straßenbeleuchtung noch brannte.

Im Augenblick konnte er beinahe meinen, alles sei eine wilde Wucherung seiner Phantasie gewesen, und nun sei er in einen normal sich vollziehenden Stadtbetrieb zurückgekehrt.

Die lange, leer vor ihm liegende Landstraße strafte dergleichen Erwägungen Lügen. Er sah aufmerksam hin. Ein paar Bezirke, so stellte er fest, lagen dunkel da, weil während seines Fortseins der örtliche Kraftstrom ausgefallen war. Die Lichter der Goldenen-Tor-Brücke waren entweder erloschen, oder er konnte sie des Rauchs wegen nicht sehen, der über der Bucht hintrieb.

Er bog in die San-Lupo-Promenade ein. Soweit er es im Licht der Straßenbeleuchtung und seiner Scheinwerfer erkennen konnte, sah alles genauso aus, wie er es verlassen hatte. »Hier wird immer und ewig eine San-Lupo-Promenade sein!« dachte er, und dann fiel ihm ein, daß er wenigstens darin allen übrigen Überlebenden ähnlich sei, daß er sich eine besonders vertraute Stätte aussuchte. Obwohl er weggefahren war, kehrte er heim wie eine Taube in ihren Schlag.

Er machte die Haustür auf, schaltete das Licht ein und hielt Umschau. Nichts hatte sich verändert. Er hatte gewußt, daß es so sein würde, und dennoch hatte er sich stets in Hoffnungen gewiegt. Er empfand keinen wirklichen Kummer, nur Stumpfheit.

Prinzeß tat in der Küche einen Satz, rutschte über das Linoleum, glitt aus, fiepte komisch und kam wieder auf die Beine. Er war ihr dankbar, daß sie den Bann gebrochen hatte, und er ging ihr nach. Sie schnüffelte an einem Wandschrank herum; aber er konnte nicht entdecken, was sie so aufregte.

»Naja«, dachte er, als er wieder ins Wohnzimmer ging, »wenn kein Gefühl mehr in mir ist, so ist das vielleicht seltsam; aber es ist wenigstens niemand da, dem ich Gefühl vorspielen müßte.«

Der Zettel, den er auf dem Tisch hinterlassen hatte, lag noch dort unberührt, und sah merkwürdig frisch aus. Er nahm ihn, zerknüllte ihn, warf ihn in den Kamin und zündete ein Streichholz an. Einen Augenblick zögerte er. Dann hielt er das Streichholz an das Papier und wartete, bis die Flamme aufzüngelte. Auch das war vorüber!


In jener Generation wird weder Vater noch Mutter sein, noch Weib, noch Kind, noch Freund. Doch es wird sein wie in den alten Sagen, als die Götter ein neues Volk aus Steinen oder Drachenzähnen erstehen ließen, und alle waren Fremde mit fremden Gesichtern, und kein Mensch kannte seines Gefährten Gesicht.


Am nächsten Morgen begann er, sich sein Leben einzurichten. Die Ernährung bereitete, wie er bereits wußte, nicht die mindesten Schwierigkeiten. Im nächstgelegenen Geschäftsbezirk fing er an, in die Ladenfenster zu schauen. Ratten und Mäuse hatten bereits mancherlei Wirrwarr angerichtet, und der Boden war bedeckt mit angenagten Kartons und verschütteten Nahrungsmitteln. Zu seiner Verwunderung sah er indessen durch ein Fenster die bunten Stapel von Früchten und Gemüsen so frisch und verlockend wie je daliegen. Ungläubig spähte er durch das staubbedeckte Glas. Dann aber merkte er, anfangs wütend und dann verblüfft, daß die leuchtenden Farben lediglich von Orangen, Äpfeln, Tomaten und Avocados aus Pappmache herrührten, deren sich das Geschäft früher als Schaufensterdekoration bedient hatte.

Nach einer Weile entdeckte er eine Lebensmittelhandlung, die nicht in Unordnung geraten war. Augenscheinlich hatte sie sich gegen Nagetiere gesichert. Vorsichtig stemmte er ein Fenster auf und stieg hinein.

Das Brot war ungenießbar, und selbst in einigen der sorgfältig verschlossenen Kekspackungen war das Ungeziefer am Werk. Aber die getrockneten Früchte und der Inhalt von Konservendosen und Gläsern waren nach wie vor gut. Als er ein paar Dosen Oliven wegnahm, hörte er einen Elektromotor anspringen. Neugierig öffnete er den Kühlschrank und entdeckte, daß die Butter noch tadellos war. Dann untersuchte er die Tiefkühlanlage und fand frisches Fleisch, gefrorenes Gemüse, Fruchteis und selbst grünen Salat. Als er mit seiner Beute fortging, schloß er sorgfältig das Fenster hinter sich, damit wenigstens dieser eine Laden von Ratten verschont blieb.

Als er wieder daheim war, dachte er nochmals über seine Lage nach und kam zu dem Ergebnis, daß fortan die Beschaffung von Nahrung und Kleidung für lange Zeit leicht sein würde — die Läden waren voll davon, und er hatte ja nur für sich zu sorgen! Das Wasser strömte noch mit vollem Druck aus den Hähnen. Gas gab es nicht mehr, und wenn es sich um ein Land mit bitterkalten Wintern gehandelt hätte, so hätte er sich einen Vorrat von Heizöl zulegen können. Sein Gasolin-Kocher reichte für die Bereitung der Mahlzeiten völlig aus; wenn der Kamin im Winter nicht genügen sollte, konnte er eine Batterie solcher Kocher aufbauen und sich auf diese Weise die Wärme verschaffen, deren er bedurfte. Nur zu bald begann er eine solche Selbstzufriedenheit zu empfinden, daß er fürchtete, er werde zu einem Eigenbrötler wie der alte Mann, dem er einmal begegnet war.


In jenen Tagen, da jeder Atemzug Tod bedeutete und die Zivilisation ihrem Ende entgegen wankte — in jenen Tagen sahen die Menschen, die die Wasserversorgungsanlagen betreuten, einander an und sagten: »Auch wenn wir erkranken und sterben, müssen die Menschen Wasser haben.« Und sie gedachten der Pläne, die sie in jenen Zeiten sorglich ausgearbeitet hatten, da die Menschen fürchteten, es möchten Bomben fallen. Sie setzten Schleusen und öffneten Kanäle, so daß das Wasser ungehindert von den großen Staubecken im Gebirge durch die langen Zuleitungen in die Tunnels und schließlich in die Reservoire fließen konnte, von wo aus es, wo immer ein Hahn aufgedreht wurde, ausströmen konnte. »Nun wird das Wasser weiterfließen«, sagten sie, »auch wenn wir dahin sind — bis die Röhren rosten, und dazu bedarf es eines Menschenalters!« Dann starben sie. Aber sie starben als Männer, die ihr Werk vollbracht haben und in allen Ehren ausruhen.

So waltete auch beim Ende der Segen des Wassers, und es verdurstete niemand. Und wenn auch nur wenige Wanderer die Straßen der Stadt durchschritten: das Wasser floß.


Anfangs hatte Ish gefürchtet, er würde unter Langeweile zu leiden haben; aber bald merkte er, daß es so viel zu tun gab, wie er sich nur immer wünschen konnte. Das Verlangen nach Tätigkeit, das sich in seiner Reise gen Osten ausgedrückt hatte, war jetzt schwächer geworden. Er schlief viel. Auch überraschte er sich dabei, daß er lange Zeit dasaß, seiner selbst zwar bewußt, aber einigermaßen teilnahmslos. Dergleichen Anfälle des Versagens flößten ihm Angst ein, und so versuchte er immerfort, sich zu irgendeiner Tätigkeit zu zwingen.

Obwohl es ihm nicht schwerfiel, für sein äußeres Dasein zu sorgen, kostete es ihn glücklicherweise eine beträchtliche Menge seiner Zeit.

Er mußte sich sein Essen kochen, und bald merkte er, daß, wenn er sein Geschirr nicht auf der Stelle aufwusch, ein Strom von Ameisen kam und alles doppelt schwierig machte. Aus dem gleichen Grunde war er gezwungen, die Abfälle zu sammeln und sie vom Hause wegzutragen. Er mußte Prinzeß füttern; seit sie angefangen hatte zu stinken, badete er sie sogar, trotz ihrer lauten Einwände.

Um sich aus seiner Stumpfheit aufzurütteln, ging er eines Tages zur öffentlichen Bibliothek, verschaffte sich mit dem Hammer Einlaß und fand nach einigem Stöbern (zu seinem heimlichen Schmunzeln) »Robinson Crusoe« und den »Schweizerischen Robinson«, die er mit nach Hause nahm.

Indessen gewann er den Büchern kein allzu großes Interesse ab. Crusoes religiöse Voreingenommenheit erschien ihm langweilig und ziemlich dumm. Und was die Robinsonfamilie betraf, so meinte er (was er auch schon als Junge gemeint hatte), daß das zurückgebliebene Schiff für die Familie eine Art unerschöpflicher Vorratskammer bedeutete, der sie alles entnehmen konnte, dessen sie bedurfte.

Zwar war das Radio verstummt; aber er besaß ja das Grammophon seiner Eltern und die Schallplattensammlung. Nach einiger Zeit entdeckte er in einer Musikalienhandlung ein besseres Grammophon. Es war schwer; aber auf dem Kofferträger seines Autos brachte er es dennoch nach Haus und stellte es im Wohnzimmer auf. Ebenso nahm er alle Schallplatten mit, die er haben wollte. Um ein übriges zu tun, verschaffte er sich ein schönes Akkordeon. Mit Hilfe eines Lehrbuches brachte er es fertig, damit ein paar seelentröstende Geräusche hervorzubringen, obwohl Prinzeß sich bisweilen durch lautes Geheul widersetzte. Auch versah er sich mit Zeichenmaterial; aber er kam nie gut damit zurecht.

Sein Hauptinteresse galt nach wie vor der sorgfältigen Beobachtung alles dessen, was auf der Welt geschah, nachdem der Mensch aufgehört hatte, sie zu betreuen. Er fuhr durch alle Bezirke der Stadt und in die Umgebung. Dann wieder hängte er sich seinen Feldstecher um und unternahm ausgedehnte Wanderungen durch das Hügelland; Prinzeß trottete bald hinter ihm her, bald stob sie in wilder Verfolgung des unsichtbaren Kaninchens davon.

Einmal forschte er nach dem alten Mann, der dabei gewesen war, sich mit großen Vorräten an allen erdenklichen Dingen zu umgeben. Nach einiger Mühe fand er das Haus wieder: in den aufgestapelten Vorräten hatten die Ratten sich eingenistet. Aber der alte Mann war nicht in dem Hause, und es fanden sich keinerlei Anzeichen, wohin er gegangen und ob er überhaupt noch am Leben sei. Abgesehen von diesem einen Falle bemühte Ish sich nicht, Menschen aufzustöbern.

Nach und nach änderte sich das Aussehen der Straßen ein wenig. Die Sommerdürre herrschte noch ungebrochen; der Wind hatte Staub, Laub und Reisig hergeweht und hier und dort zu kleinen Haufen aufgeschichtet. In den meisten Teilen der Stadt erblickte er überhaupt keine Tiere, weder Hunde noch Katzen noch Ratten. In gewissen Bezirken jedoch, zumal in der Nähe des Wassers, sah er Scharen von Hunden, und zwar sämtlich von einer bestimmten Art. Sie waren klein und behend, Terriers oder terrierähnliche Bastarde. Indem er sie beobachtete, erkannte er, daß sich in ihnen ein neuer Lebensrhythmus anbahnte. Sie räuberten in den Vorräten, die sie in den Läden fanden, was sie vielleicht von den Ratten gelernt hatten. Wenn die Ratten einen Kekskarton aufgenagt hatten, kamen die Hunde und fraßen den Inhalt. Überdies nährten die Hunde sich, wie es schien, weidlich von den Ratten. Dem entsprach ihr häufiges Vorkommen in den Bezirken, wo es auch vor der Katastrophe schon von Ratten gewimmelt hatte. Auch hatten die Hunde wohl die Katzen vertrieben oder getötet.

Jene Hunde machten Ish Spaß. Sie schienen immerfort zu renommieren und nach wie vor frech zu sein, wie eben Terrier sind. Obwohl schmutzig und mager, bezeigten sie Kraft und Selbstvertrauen, als wüßten sie ganz genau, daß sie das Lebensproblem gelöst hatten. Ihrem Temperament nach repräsentierten sie Individuen, die von jeher mehr oder weniger ihre eigenen Wege gegangen waren und getan hatten, was sie wollten, ohne den Menschen groß zu beachten. Sie bezeigten keinerlei Interesse an Ish, bewahrten Abstand und versuchten weder sich anzubiedern noch davonzulaufen. Nachdem Prinzeß einmal in eine wilde Beißerei mit einem der Köter verwickelt worden war, führte Ish sie vorsichtigerweise an der Leine oder ließ sie im Wagen, wenn er durch solche Gebiete fuhr.

In den Parks oder den Außenbezirken der Stadt, wo Buschwerk wuchs, sah er gelegentlich eine Katze. Meist kauerten sie im Geäst, wohl aus Furcht vor den Hunden und gleichzeitig bereit zur Vogeljagd.

Auf seinen Gängen in den Bergen hatte er nie irgendwelche Hunde zu Gesicht bekommen, bis er eines Tages zu seiner Überraschung ein Gemisch aus Gejaul und tieferem Bellen hörte. Er bestieg eine Stelle, von wo er Ausschau halten konnte, und sah ein halbes Dutzend Kühe auf der Fläche, die ehedem der Golfplatz gewesen war, verfolgt und bedrängt von acht oder zehn Hunden. Er nahm den Feldstecher an die Augen und bemerkte, daß es Hunde verschiedenster Rassen waren, aber kein kurzbeiniger Rattenfänger war unter ihnen. Augenscheinlich bildeten sie eine Meute, die sich durch Zufall zusammengefunden hatte und schon ihre Erfahrungen besaß. Sie versuchten, eines der Kälber abzuschneiden. Aber die Herde kämpfte ihrerseits heftig mit den Hörnern gegen die Köter oder keilte hinten aus. Allmählich bahnte sie sich einen Weg zu den freieren Grasflächen. Als sie Zuflucht im Gebüsch an der Grenze des Golfplatzes fand, schien sie im Vorteil zu sein, und die Hunde ließen von ihr ab.

Nun das Schauspiel vorüber war, rief Ish Prinzeß, und sie gingen die anderthalb Kilometer bis zu der Stelle, wo er den Wagen hatte stehen lassen. Nach ein paar Minuten hörte er das Gebell der Meute hinter sich. Und plötzlich wußte er, daß sie ihm auf der Spur war.

Entsetzen packte ihn. Er fing an zu laufen. Doch nach ein paar Schritten fiel ihm ein, daß das nutzlos sei, vielmehr die Hunde reizte. Er zwang sich zur Ruhe, sammelte ein paar Steine auf und ergriff einen abgefallenen Ast, der ihm als Keule dienen konnte. Das Gebell kam näher. Jetzt kam einer der Hunde, ein häßlicher, schwarzer Fixköter, auf dem Wege gerade auf ihn zu. In fünfzig Schritt Entfernung blieb er stehen, setzte sich hin und sah Ish an. Ish hob den Arm und tat, als werfe er einen Stein. Aus uralter Gewohnheit sprang der Hund beiseite. Er trottete vom Weg und verschwand im Gebüsch. Überall im Buschwerk bewegte sich etwas, wie Ish hören konnte; es war, als kreisten die Hunde ihn ein. Prinzeß benahm sich wie gewöhnlich unbeherrscht und unsicher. Bald drängte sie sich, den Schwanz zwischen den Beinen, an ihn; bald bellte sie kurz und aufreizend laut in dieser Richtung, als fordere sie alle und jeden zum Kampfe heraus.

Jetzt konnte er den Wagen in der Ferne sehen; er ging darauf zu, sorglich auf seine Steine bedacht, und sah sich nur dann und wann um, wobei er auf Prinzeß achtete, die ihn warnen würde, wenn ein plötzlicher Angriff von hinten erfolgte. Er erblickte eine dänische Dogge, die zwischen den Büschen stand, schwer wie ein Mann. Mit lautem Aufheulen vollführte Prinzeß einen selbstmörderischen Angriff auf das große Tier. Ish sprang ihr nach, und gleichzeitig brach ein Collie aus dem Gebüsch zur Linken. Aber Prinzeß schlug mit der Geschicklichkeit eines Kaninchens Haken, und die beiden größeren Hunde stießen bei der Verfolgung zusammen und drehten sich knurrend umeinander. Prinzeß drängte sich wieder mit wedelndem Schwanze an Ishs Beine. Nun trat ein Dalmatiner auf den Parkweg und stand dort mit rot heraushängender Zunge. Ish ging ruhig weiter. Als er auf zwanzig Schritte heran war, hob Ish drohend den Arm. Der Dalmatiner kniff den Schwanz ein und trottete davon. Nun war der Wagen nahe, und Ish atmete auf.

Er trat an den Wagen heran, machte die Tür auf, damit Prinzeß hineinspringen konnte, rang ein letztes, panisches Zittern nieder und stieg würdevoll hinter Prinzeß ein. Als die Tür zuklickte, hatte er sogleich das Gefühl der Sicherheit. Er umschloß mit den Fingern den festen, handgerechten Stiel des zu seinen Füßen liegenden Hammers. Nun die Gefahr überstanden war, war ihm elend zumute.

Als er vom Wagen aus Umschau hielt, sah er nur den hübschen Dalmatiner am Wegrand sitzen. Nun er sich in Sicherheit wußte, wandelte Ishs Stimmung sich rasch. Die Hunde hatten ihm schließlich nichts getan, und eigentlich hatten sie ihn nicht einmal bedroht. Noch vor ein paar Minuten hatte er sie für wilde, blutdürstige Geschöpfe gehalten. Jetzt kamen sie ihm ein bißchen jämmerlich vor, gleich als hätten sie nur die Kameradschaft des Menschen gesucht. Als er davonfuhr, wünschte er ihnen nichts Schlechtes, hoffte vielmehr, es werde ihnen dann und wann gelingen, ein Kaninchen zu schnappen oder ein Kalb zu reißen.

Am folgenden Morgen kam ihm das ganze Erlebnis eher komisch vor, zumal als er merkte, daß Prinzeß läufig war. Da er keine jungen Hunde wollte, schloß er sie ein.

Doch er war seiner Sache nicht sicher, und wenn er schon einmal auf die eine oder andre Weise sterben mußte, dann wenigstens nicht, indem er von Hundezähnen zerfleischt wurde. Überdies machte er es sich zur Regel, nie wieder ohne eine Pistole in der Tasche in die Berge zu gehen, oder ohne seine Flinte …

Zwei Tage später erschien das Problem der Hunde ihm als harmlos, verglichen mit dem, das die Ameisen darstellten. Auch früher schon hatten sie ihn belästigt; jetzt aber schienen sie gleichzeitig von überallher zu kommen und alles zu bedecken. Innerhalb weniger Monate hatten sie sich in unglaublicher Weise vermehrt. Wahrscheinlich hatten auch sie irgendwo große Nahrungsvorräte gefunden.

Überall krabbelten sie umher.

Überall wimmelten ihre Kundschafter. Er mußte jetzt ein wütend gewissenhafter Haushaltungsvorstand werden; denn das geringste Nahrungsrestchen lockte sogleich einen zollbreiten Ameisenstrom herbei, der die geringe Beute überschwemmte. Er sah, wie sie auf Prinzeß' Decke in Scharen krochen wie Flöhe, obwohl sie, wie es schien, nicht bissen. Er fand sie in seiner eigenen Kleidung. Einmal, am frühen Morgen, erwachte er aus einem gräßlichen Traum, weil ein Strom von Ameisen ihm über die Wange lief.

Das Haus war für sie wohl nur ein fremdes Gebiet, in das sie Streifzüge unternahmen. Ihr eigentlicher Bereich lag draußen. Überall sah man jetzt ihre Haufen. Man konnte keine Erdscholle anwenden, ohne daß Tausende von Ameisen aus winzigen Erdlöchern hervorgekommen wären. Sie mußten alle übrigen Insekten verdrängt haben. Er holte sich ganze Flaschen von Vernichtungsmitteln und Spritzmitteln aus dem Drugstore und versuchte, das Haus in eine feindliche Insel zu verwandeln; aber die Zahl der von außen her Kommenden war so groß, daß die Ameisen über seine Gegenmittel einfach hinwegströmten. Zweifellos starben viele, aber selbst der Tod von Millionen Ameisen spielte keine Rolle. Er versuchte zu schätzen, wie viele Ameisen einzig in diesem einen Stadtviertel hausen mochten; aber er gelangte zu einem unglaublichen Ergebnis, das in die Milliarden ging. Hatten sie keine natürlichen Feinde? Hatten sie alle Grenzen der Kontrolle überschritten? War es ihnen nach dem Erlöschen der Menschheit bestimmt, die Erde zu beherrschen?

Und dabei waren es nur kleine, eilfertige Ameisen, die die kalifornischen Hausfrauen geärgert und geplagt hatten. Auf Grund einiger Nachforschungen bekam er heraus, daß die Ameisenplage sich tatsächlich auf die Stadt beschränkte. Irgendwie waren diese Ameisen gleich Hunden, Katzen und Ratten zu Haustieren geworden, die vom Tun und Lassen des Menschen abhängig waren. Das gab ihm eine gewisse Hoffnung. Wenn er nur auf die eigene Behaglichkeit bedacht gewesen wäre, hätte er die Stadt verlassen; aber selbst unter Inkaufnahme einiger Unbequemlichkeit wollte er auch weiterhin beobachten, was geschah.

Dann merkte er eines Morgens plötzlich, daß da keine Ameisen mehr waren. Sorgfältig hielt er Umschau; doch er konnte keinen ihrer Kundschafter mehr erblicken. Er warf ein paar Brocken Eßbares auf den Fußboden, ging dann weg und beschäftigte sich ein paar Minuten lang mit etwas anderem. Als er zu seinem Experimentierplatz zurückkehrte, lag, was er hingeworfen hatte, da, ohne daß eine einzige Ameise darauf gesessen hätte. Neugierig und überzeugt davon, daß sich etwas ereignet habe, ging er nach draußen.

Er wendete einen Erdklumpen um, aber es kamen keine Ameisen aus ihren Löchern. Sorgsam spürte er ihnen nach. Hier und dort sah er ein paar einzelne ziellos umherrennen; aber es waren so wenige, daß er sie hätte zählen können. Er spürte weiter. Er konnte keine toten Ameisen entdecken. Sie waren einfach verschwunden.

Eines Abends saß er und las, und nach einer Weile begann er Hunger zu verspüren. Er ging in die Küche und sah im Kühlschrank nach, ob noch etwas Käse da sei. Zufällig schaute er auf die elektrische Uhr, und er war überrascht, daß es erst sieben Uhr neununddreißig war. Er hatte gemeint, es sei später. Auf dem Wege zum Wohnzimmer aß er ein Stückchen Käse und sah dabei auf seine Armbanduhr. Die Zeiger standen auf zehn nach neun, und er wußte, daß er noch während der letzten vierundzwanzig Stunden seine Uhr nach der Küchenuhr gestellt hatte.

»Nun ist die alte Uhr kaputt«, dachte er. »Kein Wunder!«

Er setzte sich und fing wieder an zu lesen. Ein heftiger Nordwind, der schweren Brandgeruch mit sich führte, wehte so stark, daß dann und wann die Fenster klapperten. Er hatte sich inzwischen an den Brandgeruch gewöhnt und dachte nicht weiter darüber nach. Manchmal war durch den Rauch der brennenden Wälder sogar die Fernsicht getrübt. Nach einer Weile zwinkerte er mit den Augen und blickte angestrengt auf die Seite, deren Buchstaben seltsam undeutlich geworden zu sein schienen. »Wahrscheinlich tränen mir die Augen vom Rauch«, dachte er. »Ich kann gar nicht richtig sehen.« Doch als er sich tiefer beugte, schien nicht nur die Buchseite vor ihm zu verschwimmen, sondern der ganze Raum war dunkler geworden. Ish stutzte und sah nach der elektrischen Birne in der Stehlampe neben ihm.

Hastig, mit wild pochendem Herzen sprang er von seinem Stuhl auf, trat in die Haustür und blickte über die weiten Flächen der unter ihm liegenden Stadt. Die Straßenbeleuchtung brannte noch. Die gelben Perlenketten auf der großen Brücke leuchteten noch, und auf den Turmspitzen flammten die roten Lichter. Er sah genauer hin. Die Lichter schienen ein bißchen weniger hell zu sein, als sie eigentlich sein sollten; aber er konnte annehmen, der wehende Rauch verdunkle sie. Er ging wieder hinein, setzte sich und versuchte zu lesen und zu vergessen — zu vergessen, was er befürchtete.

Aber immer wieder mußte er zwinkern! Als er nach der neben ihm stehenden Lampe sah, war er betroffen. Und dann plötzlich fiel ihm die Küchenuhr ein!

»Es mußte ja einmal kommen!« dachte er.

Seine Armbanduhr zeigte jetzt zehn Uhr zweiundfünfzig. Er ging in die Küche und sah, daß die Uhr auf zehn Uhr vierzehn stand. Böser Ahnungen voll, rechnete er. Das Ergebnis war übel. Wenn er sich recht erinnerte, hatte die Uhr in drei Viertelstunden sechs Minuten verloren.

Wie er wußte, wurde die Uhr durch elektrische Impulse betrieben, von denen für gewöhnlich sechzig in der Minute erfolgten. Jetzt mußten sie weniger häufig sein. Ish hätte versuchen können, sich das auszurechnen, aber er sah nicht ein, wozu das dienen sollte, und fühlte sich plötzlich sehr niedergeschlagen. Jedenfalls vollzog sich der Niedergang, wenn die Stromversorgung aussetzte, sehr viel schneller.

Als er wieder im Wohnzimmer war, konnte er nicht daran zweifeln, daß das Licht noch schwächer geworden war. Tiefe Schatten schienen hinter den Stühlen und aus den Zimmerecken hervorgekrochen zu sein.

»Das Licht verlischt! Das Licht der Welt!« dachte er, und ihm war zumute wie einem Kind, das allein im Dunkel geht.

Prinzeß lag gemütlich auf dem Fußboden. Das Hinschwinden des Lichts konnte ihr nicht das mindeste bedeuten; doch sie spürte seine Nervosität und stand auf, ruhelos schnobernd und auch ein bißchen fiepend.

Er trat wieder vor die Haustür. Minute für Minute wurden die langen Ketten der Straßenbeleuchtung matter und matter. Der starke Wind, so dachte er, mußte dabei mitgeholfen haben, indem er hier ein Gestänge umgeblasen, dort eine Verbindung gelockert hatte. Das Feuer, das über die bewaldeten Höhen leckte und nicht vom Menschen eingedämmt wurde, hatte Überlandlinien und vielleicht gar Kraftwerke verbrannt.

Er ging wieder hinein und stellte eine zweite Stehlampe neben seinen Sessel. So konnte er bequem lesen. Prinzeß lag wieder da und schlief. Es war inzwischen spät geworden, aber er spürte keinerlei Verlangen nach Schlaf. Ihm war, als sitze er am Sterbebett seines liebsten und ältesten Freundes. Er gedachte der mächtigen Worte: »Es werde Licht! Und es ward Licht.« Was jetzt geschah, dünkte ihn das andere Ende der Geschichte.

Nach einer Weile schaute er abermals nach der Küchenuhr; er sah, daß sie mit symmetrisch hochstehenden Zeigern auf elf Uhr fünf stehengeblieben war.

Seine Armbanduhr sagte ihm, daß es jetzt weit nach Mitternacht sei. Die Beleuchtung mochte noch ein paar Stunden andauern oder vielleicht gar noch tagelang dämmerig weiterbrennen. Dennoch verlangte es ihn nicht, zu Bett zu gehen.


Die Stromversorgung war so vortrefflich durchkonstruiert, daß sie selbst bei der Katastrophe noch weiterlief. Die Menschen brachen krank zusammen, aber die Generatoren sandten ihre fein abgestimmtem Impulse auch weiterhin durch die Drähte. Als dann der kurze Todeskampf der Menschheit vorüber war, brannte das Licht dennoch weiter.

So ging es Wochen hindurch. Wenn ein Draht riß und eine ganze Stadt von der Stromversorgung abgeschnitten wurde, so stellte sich das System anders ein, noch ehe der gerissene Draht den Boden berührt hatte. Wenn ein Kraftwerk ausfiel, so glichen die übrigen, über viele Hunderte von Kilometern verteilten Kraftwerke des Systems den Ausfall aus und erzeugten desto mehr Strom, um den Bedürfnissen zu genügen.

Doch jedes System hat, wie eine Kette oder eine Landstraße, seine schwächste Stelle. (Das ist die verhängnisvolle Schwäche aller Systeme.) Das Wasser floß weiter; die großen Generatoren in ihren Öllagern konnten jahrelang weiterlaufen. Aber die Schwäche lag in den Kontrolleinrichtungen der Generatoren. Niemand hatte Einspruch erhoben, als auch sie sämtlich automatisch eingerichtet wurden. Früher waren sie alle zehn Tage auf ihren Ölbedarf hin untersucht worden; einmal monatlich war es vielleicht nötig, das Öl zu ergänzen. Nach zwei Monaten ohne Kontrolle wuchs langsam der Ölbedarf, und im Verlauf der Wochen begann eine Kontrolleinrichtung nach der andern ihre Tätigkeit einzustellen. Wenn eine aussetzte, schaltete sich die große Wasserdüse automatisch ab, und das Wasser floß durch, ohne die Turbine zu treiben. Dann stellte der Generator seine Drehungen ein und sandte keinen Strom mehr aus. Als ein Generator nach dem andern sich aus dem System ausschaltete, wurden die Ansprüche an die wenigen noch in Tätigkeit befindlichen größer und größer, und es ging immer schneller mit dem System zu Ende.


Als er erwachte, stellte er fest, daß das Licht noch schwächer geworden war. Die Drahtfäden in den elektrischen Birnen waren jetzt nur noch orangerot.

»Das Licht verlischt! Das Licht verlischt!«

Ein tiefer Schauder schüttelte ihn, aber er rang gegen das Entsetzen an. Schließlich, so dachte er, hat das große System der Stromversorgung eine erstaunlich lange Zeit durchgehalten; der gesamte automatische Prozeß hat auch nach dem Erlöschen der Menschheit noch funktioniert. Mit aller Klarheit dachte er zurück an den ersten Tag, da er vom Gebirge heruntergekommen und nicht einmal gewußt hatte, was geschehen war. Dann war er an dem Kraftwerk vorübergefahren und war in dem Glauben, alles sei wie sonst, dadurch bestärkt worden, daß er sah, wie das Wasser rauschend einströmte, daß er das dumpfe, unaufhörliche Brummen und Summen der Generatoren hörte. Er empfand einen seltsamen Lokalstolz in diesem Gedanken. Vielleicht hatte kein einziges anderes System so lange durchgehalten. Dies hier konnte sehr wohl das letzte auf der ganzen Welt noch brennende elektrische Licht sein, und wenn es erlosch, so war das Licht auf lange, lange Zeit dahin.

Alle Müdigkeit war von ihm gewichen; er saß da und spürte, daß er nicht schlafen gehen könne; schließlich wünschte er, das Ende möge schnell kommen und sich nicht gar zu lange hinzögern. Wieder spürte er, daß das Licht schwächer wurde, und er dachte: »Dies ist das Ende!« Aber noch glommen die Drähte in den Birnen.

Und wieder wurde das Licht schwächer. Für einen Sekundenbruchteil, so glaubte er, flackerte es heller auf — und dann war es dahin.

Prinzeß zuckte im Schlaf zusammen; dann plötzlich bellte sie, halblaut, wie im Traum. War das ein Grabgeläut?

Er ging hinaus. »Vielleicht«, dachte er, »ist nur eine örtliche Linie ausgefallen.« Doch im Grunde war er überzeugt, daß dem nicht so sei. Er spähte hinaus in die Dunkelheit, die durch den in der Luft hängenden Rauch noch dichter war; der Rauch verwandelte den Mond in einen orangenen Ball. Ish konnte kein Licht erblicken — weder in den Straßen noch irgendwo auf der Brücke. Dies also war das Ende. »Es soll kein Licht sein, und es ward kein Licht.«

»Es hat keinen Zweck, sentimental und pathetisch zu werden!« dachte er. Er ging wieder hinein und tastete umher, bis er das Schubfach gefunden hatte, wo seine Mutter Kerzen aufzubewahren pflegte. Er steckte eine in einen Leuchter und saß dann bei dem schwachen, aber stetigen und ausdauernden Licht. Dennoch empfand er unaufhörlich ein leichtes Frösteln.

6

Das Verlöschen des Lichts übte eine seltsam nachhaltige Wirkung auf Ish aus. Selbst bei vollem Tagesschein schien er die Schatten zu spüren, die aus den Winkeln auf ihn zukrochen. Das dunkle Zeitalter war hereingebrochen.

Er machte sich daran, Streichhölzer, elektrische Taschenlampen und Kerzen zu horten; wider seine eigene Überzeugung türmte er ganze Stapel davon auf, als eine Art seelischen Schutzmittels.

Aber nach kurzer Zeit wurde ihm klar, daß das Fehlen des elektrischen Lichts für ihn im Grunde nicht so folgenschwer war wie das Fehlen des elektrischen Kraftstroms, zumal für die Kühlanlagen. Sein Eisschrank arbeitete jetzt nicht mehr, und so verdarben seine Lebensmittel. In den Tiefkühlanlagen wurden frisches Fleisch Butter und Salatköpfe zu nichts als übelriechenden, faulenden Massen.

Nun kam der Jahreszeitenwechsel. Ish hatte völlig den Sinn für den Ablauf der Wochen und Monate eingebüßt; aber sein Geographenauge nahm, wenn er um sich schaute, doch wahr, in welcher Jahreszeit er sich befand. Seiner Vermutung nach mußte es jetzt Oktober sein, und das bestätigte ihm der erste Regen; aus der Art, wie er niederrauschte, war zu ersehen, daß er länger andauern würde, als der erste Sturm es hatte vermuten lassen.

Ish blieb daheim und versuchte, sich zu zerstreuen. Er spielte Akkordeon. Er las mehrere Bücher, solche, die er von jeher gern gelesen hätte und die zu lesen er jetzt hinlänglich Zeit hatte. Dann und wann schaute er in den Regen hinaus und nach den niedrig über die Hausdächer hinwegziehenden Wolken.

Am nächsten Tage verließ er das Haus, um festzustellen, was draußen geschah. Anfänglich schien es ihm, als habe sich nicht allzuviel ereignet. Doch nach einiger Zeit begann ihm dieses und jenes aufzufallen. In der San-Lupo-Promenade war die Kanalisation durch die vielen, nicht weggefegten Blätter, die im Rinnstein lagen, verstopft. Durch die Verstopfung des Abflusses war das Wasser über die Straße geflutet und abgeflossen, bergab, und hatte dabei den Bordstein überspült. Der Wasserstrom hatte sich seinen Weg durch das hohe Gras des ehemaligen Rasens der Harts gebahnt und war unter der Tür hindurch ins Haus gedrungen. Die Dielen und Teppiche mußten sich vollgesogen haben, und der Schlamm hatte wohl ein übriges getan. Unterhalb des Hauses war das Wasser herausgebrochen, war durch den Rosengarten geströmt und hatte eine schmale Rinne hinterlassen, und dann war es im Abzugskanal der tiefer gelegenen Straße verschwunden. Das war nur eine Kleinigkeit, und dennoch deutete sich darin an, was im ganzen Lande geschehen sein mußte.

Der Mensch hatte Straßen und Kanalisationsanlagen und Dämme und Tausende anderer Vorrichtungen geschaffen, die den natürlichen Fluß des Wassers regeln sollten. Diese konnten einzig funktionieren, weil immerfort der Mensch bei der Hand war und die Tausende kleiner Schäden beseitigte, die bei jeder Wetteränderung auftraten. Ish selbst hätte das verstopfte Abflußloch in zwei Minuten reinigen können; er hätte nur die welken Blätter davor wegzukratzen brauchen. Aber er konnte nicht einsehen, warum er die Hand rühren sollte. Es gab Tausende, Millionen von Stellen, wo sich das gleiche ereignet haben mußte. Die Straßen und Kanalisationsanlagen und Dämme waren einzig für menschliche Bedürfnisse angelegt worden, und nun der Mensch dahin war, waren sie überflüssig. Mochte doch das Wasser seinem natürlichen Lauf folgen und durch den Rosengarten abfließen! Die Teppiche der Familie Hart waren vollgesogen und verschlammt; mochten sie doch faulen, wo sie lagen! Was lag daran? Zu meinen, das sei vom Übel, hieß lediglich, in Begriffen von ehedem denken, die es jetzt nicht mehr gab.

Auf dem Heimweg erblickte er plötzlich eine große schwarze Ziege, die in aller Ruhe an der Hecke herumfraß, die Mister Osmar immer so sorgfältig beschnitten hatte. Neugierig und erheitert sah Ish der Ziege zu und überlegte, woher sie wohl stammen mochte. (Kein Mensch in der Nähe einer so vornehmen Straße wie der San-Lupo-Promenade hatte Ziegen gehalten.) Die Ziege hörte auf, an der Hecke herumzufressen, und schaute Ish an. Vielleicht, dachte Ish, schauen auch die Tiere dem Menschen erheitert und ein bißchen neugierig zu. Nachdem sie ihn ein paar Sekunden angesehen hatte, als sei er ihresgleichen, wandte sich die Ziege wieder ihrer nützlichen Beschäftigung zu, indem sie die langen Schößlinge fraß, die aus der Hecke herausgewachsen waren.

Plötzlich kam Prinzeß von einem Erkundungsgang zurück und stürzte unter wütendem Gebell auf das seltsame Tier los. Die Ziege senkte die Hörner und tat einen jähen Sprung gegen den Hund. Prinzeß, die nur selten zu Kämpfen aufgelegt war, schlug rasch ihren Kaninchenhaken und rannte zu ihrem Herrn zurück. Die Ziege fraß weiter.

Ein paar Minuten danach sah Ish die Ziege in aller Ruhe den Bürgersteig hinabtrotten, als sei er und die ganze San-Lupo-Promenade ihr Eigentum.

»Warum auch nicht!« dachte Ish.

Während dieser Zeit, als der Regen ihn zumeist am Ausgehen hinderte, wandten seine Gedanken sich ein wenig der Religion zu. Er fand im Bücherschrank eine dicke, mit Kommentaren versehene Bibel und versuchte diese und jene Stelle zu lesen.

Die Evangelien kamen ihm merkwürdig unbefriedigend vor, vielleicht, weil sie zumeist von den Problemen des einer sozialen Gruppe angehörenden Menschen handelten. »Gib dem Kaiser …« war ein recht nutzloser Text, wenn es keinen Kaiser mehr gab und nicht einmal ein Finanzamt.

»Verkaufe, was du hast, und gib es den Armen … Wie du willst, daß man dir tue … Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« -: all das setzte eine aus vielen Menschen bestehende, funktionierende Gesellschaft voraus. In der jetzigen Welt konnten Pharisäer und Sadduzäer vielleicht nach wie vor den Riten einer Form gewordenen Religion folgen; aber das eigentlich Menschliche der Lehren Christi war überholt.

Er blätterte zurück zum Alten Testament; er begann den »Ecclesiastes« zu lesen, und dort fühlte er sich plötzlich heimischer. Der alte Bursche, der »Prediger« — Koheleth, wie die Anmerkungen sagten, wer auch immer er gewesen sein mochte —, hatte eine seltsame Art, einen naturnahen Ton zu treffen und das Problem des dem Universum gegenüberstehenden Einzelmenschen zu wittern. Bisweilen war es, als hätte er in der Phantasie vorweggenommen, was Ish jetzt an Erfahrungen zuteil wurde: »Und wenn der Baum nach Süden fällt oder nach Norden: auf der Stelle, wohin er fällt, da soll er liegen.« Ish dachte an jenen Baum in Oklahoma, der umgefallen war und die Staatsstraße 66 gesperrt hatte. Und wieder las er: »Zwei sind besser als einer … denn wenn sie fallen, wird der eine seinem Gefährten aufhelfen; aber wehe dem, der allein ist, wenn er fällt.« Und Ish gedachte der großen Angst, als er nur zu lebhaft gefühlt hatte, daß niemand kommen und ihm helfen würde, wenn er fiel. Er las das Ganze, hingerissen von der klaren, unverfälschten Anschauung des Kosmos. Er fand sogar die Zeile: »Sicherlich wird die Schlange beißen ohne Bezauberung.«

Er gelangte an das Ende des letzten Kapitels, und seine Augen fielen auf die Zeilen, die auf dem unteren Teil der Seite begannen: »Das Lied der Lieder, das da ist Salomonis.« Er las: »Laß ihn mich küssen mit dem Kusse meines Mundes; denn deine Liebe ist besser als Wein.«

Ish stutzte; es wurde ihm unbehaglich zumute. In all diesen langen Monaten hatte er selten dergleichen Empfindungen gehabt. Jetzt wurde ihm wieder klar, wie stark der Schock von der Katastrophe her in ihm nachwirkte, weit stärker, als er es von Tag zu Tag hatte wahrhaben wollen. Es war wie in einer alten Zaubergeschichte, in der ein König dasaß und das Leben vorüberrauschen sah, ohne an ihm teilhaben zu können. Andere Menschen hatten es anders gehalten. Selbst diejenigen, die sich zu Tode getrunken, hatten in gewissem Sinne am Leben teilgehabt. Doch er, er hatte, indem er beobachtete, was geschah, das Leben von sich gestoßen.

Hier saß er, Isherwood Williams, ein seltsames Gemisch von Wirklichkeit und Phantasie und Antrieben und Reaktionen, und außerhalb seiner war nichts als eine weite, leere Stadt, in der Nebelregen auf lange, leere Straßen niederrieselte, und jetzt begann die Dämmerung immer tiefer zu werden. Zwischen diesen beiden Gegebenheiten, zwischen ihm und allem, was außerhalb seiner selbst war, bestand eine Art sonderbar festen Bandes: wenn der eine Teil sich änderte, so änderte sich auch der andre.

Es war, als sei hier eine große Gleichung mit vielen Gliedern auf jeder Seite aufgestellt, und dennoch mit zwei großen Unbekannten. Er selbst war auf der einen Seite; vielleicht konnte man ihn als x bezeichnen; und auf der andern Seite war y all das, was als die Welt bezeichnet wurde. Und die beiden Seiten der Gleichung waren immerfort bemüht, einander mehr oder weniger das Gleichgewicht zu halten, und sie kamen nie völlig damit zu Rande. Möglicherweise stellte sich das richtige Gleichgewicht erst mit dem Tode ein. (Vielleicht war es das, was Koheleth in seinem feinen, von allen Illusionen freien Geiste gedacht hatte, als er schrieb: »Alles, was lebt, weiß, daß es sterben muß; aber die Toten wissen nichts.«) Doch was den Tod betraf, so versuchten die beiden Hälften der Gleichung immerfort, das Gleichgewicht zu wahren. Wenn die x-Seite sich änderte und er, Ish, einen Schock erlitt, oder wenn er sich über irgendeine Kleinigkeit ärgerte, dann vollbrachte er etwas, und das änderte die andere Seite der Gleichung, wenn auch nur in geringem Maße, und dann herrschte eine Zeitlang wieder Gleichgewicht. Aber wenn andererseits die Außenwelt sich änderte, wenn dort eine Katastrophe die menschliche Rasse auslöschte, oder wenn nur der Regen aufhörte, dann mußte die x-Seite, also Ish, sich ebenfalls ändern, und das hieß wieder: Tätigkeit, und dann herrschte eine Zeitlang wieder Gleichgewicht. Und wer vermochte zu sagen ob auf die Dauer diese oder jene Seite der Gleichung mehr Tätigkeit enthalten würde?

Bevor er noch wußte, was er tat, war er auf die Füße gesprungen, und sein nächster Gedanke war, daß er es getan hatte, weil abermals ein begehrliches Gefühl über ihn gekommen war. Die Gleichung war aus dem Gleichgewicht geraten, und er war sogleich aufgesprungen, um das Gleichgewicht wiederherzustellen, und schon übte er eine Wirkung auf die Welt aus, weil Prinzeß zugleich mit ihm aufgesprungen war und mit ihm durchs Zimmer wanderte. Doch gleichzeitig hörte er den Regen etwas heftiger gegen das Fenster klopfen. Deshalb hatte er aufgeschaut, um zu sehen, was es gebe. Und so hatte die Welt auch auf ihn eingewirkt und ihn veranlaßt, etwas zu tun. Und danach nahm er sich vor, sich sein Abendessen zu bereiten.


Das nahezu gänzliche Hinschwinden des Menschen hatte nicht das mindeste in den Beziehungen der Erde zur Sonne verändert, oder die Form und Lage der Ozeane und Kontinente, oder einen der Faktoren, die das Wetter beeinflussen. Darum war der erste Herbststurm, der von den Aleuten her über die kalifornischen Küsten hereinbrach, etwas durchaus Gewöhnliches und oftmals Dagewesenes. Die ihn begleitenden Niederschläge löschten die Waldbrände; ihre Regentropfen reinigten die Atmosphäre von den Rauch- und Staubpartikelchen. Danach brachte ein frischer Wind kühle und kristallklare Luft vom Nordwesten. Die Temperatur sank rapide.


Ish fuhr im Schlaf zusammen, und allmählich kam er zu Bewußtsein. Ihn fror. »Die andere Seite hat sich geändert«, dachte er und wickelte sich in eine weitere Decke.

Am Morgen war das Haus eisig kalt. Er zog sich einen Pullover an, als er sich das Frühstück bereitete. Er erwog, im Kamin Feuer zu machen; doch das kühlere Wetter hatte seinen Tätigkeitsdrang angefacht, und so meinte er, er werde an diesem Tage schwerlich allzu lange im Hause bleiben.

Nach dem Frühstück trat er vor die Haustür. Wie stets nach einem dieser Stürme war die Luft klar. Der Wind hatte sich gelegt. Die meilenweit entfernten roten Türme der Goldenen-Tor-Brücke hoben sich so scharf vom blauen Himmel ab, daß man meinte, man könne sie berühren. Er wandte den Blick ein bißchen weiter nördlich, zum Gipfel des Tamalpais hin, und plötzlich stutzte er. Zwischen ihm und dem Berge, auf dieser Seite der Bucht, stieg eine dünne Rauchsäule steil in die ruhige Luft, eine Art Rauchsäule, wie sie von einem kleinen Feuer aufsteigt, das in einem Kamin brennt und dessen Rauch durch den Schornstein entweicht.

Freilich konnte es sich auch um ein Feuer handeln, das sich aus irgendeiner natürlichen Ursache entzündet hatte, ohne Zutun eines menschlichen Wesens. Doch das war jetzt unwahrscheinlich, weil der Regen dergleichen Feuer ausgelöscht haben würde.

Auf jeden Fall aber konnte es höchstens ein paar Kilometer entfernt brennen, und sein erster Gedanke war, in den Wagen zu steigen und nachzuforschen. Das würde ihn lediglich ein paar Minuten kosten, für die er daheim keine bessere Verwendung hatte. Aber dann ließ ihn etwas innehalten. Seine Versuche, Beziehungen zu andern Menschen herzustellen, hatten sich nicht gelohnt. Es überkam ihn wieder die alte Scheu, wie ehedem, wenn der Gedanke an ein bevorstehendes Tanzfest ihm den kalten Schweiß auf die Stirn getrieben hatte. Er wollte Zeit gewinnen, gerade wie er es früher mit der Behauptung getan hatte, er habe sehr viel zu tun: dann hatte er sich hinter einem Buch verschanzt, anstatt zum Tanzen zu gehen.

Trug Crusoe tatsächlich das Verlangen, von der Insel weggeholt zu werden, wo er alles beherrschte, was seine Augen sahen? Diese Frage hatten die Menschen sich oftmals gestellt. Doch selbst wenn Crusoe ein Mensch gewesen war, der gar nicht zu entkommen und seine Beziehungen zu andern Menschen wieder aufzunehmen wünschte, so hieß das noch lange nicht, daß er, Ish, ebenfalls solch ein Mensch sei. Vielleicht hing er sehr an seiner Insel. Vielleicht fürchtete er sich im Grund vor menschlichen Verstrickungen.

Fast entsetzt, als flöhe er vor einer Versucherin, rief er Prinzeß, stieg in den Wagen und brauste in entgegengesetzter Richtung davon.

Den größten Teil des Tages verbrachte er damit, daß er ruhelos durch das Hügelland wanderte. Dann und wann beobachtete er, was der Regen den Straßen angetan hatte. Allmählich war die feste Scheidelinie zwischen dem, was Straße, und dem, was nicht Straße war, hingeschwunden. Kälte, Herbst und heftige Winde hatten das Laub von den Bäumen fallen lassen. Kleine, dürre Zweige waren abgebrochen und auf das Pflaster gefallen. Hier und dort hatten überflutende Wasserströme deltaähnliche Anhäufungen von Schmutz und Kies hinterlassen. Einmal hörte er in weiter Ferne, oder er glaubte wenigstens, es zu hören, das Gebell einer Hundemeute. Doch er bekam sie nicht zu Gesicht, und ehe der Nachmittag um war, war er wieder daheim.

Wenn er jetzt zu den Bergen blickte, sah er keinen Rauch mehr aufsteigen. Das verursachte ihm eine gewisse Erleichterung und zugleich eine noch stärkere Enttäuschung, nun er darüber nachdachte.

So war es nun einmal mit ihm. Wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, so ließ er sie ungenützt. Wenn die Gelegenheit verpaßt war so dünkte sie ihn kostbar. Die andre Seite der Gleichung hatte sich verändert, und das hatte er ausgeglichen, indem er sich aus dem Staube gemacht hatte. Natürlich konnte er den Rauch am nächsten Morgen vielleicht wieder sehen. Vielleicht war jenes wie auch immer beschaffene menschliche Wesen dort nur von ungefähr vorbeigekommen und war nie wieder zu finden.

Er verspürte von neuem die Erregung angesichts der nochmals sich darbietenden Gelegenheit, als er nach dem Abendessen in der frühen Dunkelheit wieder Ausschau hielt und einen schwachen aber deutlichen Lichtschein gewahrte. Nun zögerte er nicht länger. Statt sich hinter Ausflüchten zu verschanzen, rief er Prinzeß, stieg in den Wagen und fuhr in der betreffenden Richtung los.

Es war ein langwieriges Unterfangen. Sobald er sein Haus verlassen hatte, konnte er das Licht nicht mehr sehen. Er fuhr eine halbe Stunde lang in den Straßen hin und her, endlich entdeckte er es wieder, fuhr langsam die richtige Straße hinunter und dann zu dem betreffenden Hause hin. Die Fensterläden waren geschlossen, aber das Licht schien hindurch und erhellte sogar die Straße ein bißchen.

Ish hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite an und wartete einen Augenblick. Anscheinend hatte der Bewohner des Hauses den Motor nicht gehört. Ish zögerte kurze Zeit, fest entschlossen, den Gang wieder einzuschalten und unentdeckt davonzufahren. Doch etwas in seinem Innern trieb ihn vorwärts, und er öffnete halb die Wagentür und schickte sich zum Aussteigen an. Plötzlich schlüpfte Prinzeß vor ihm hinaus und fuhr mit wütendem Gebell auf das Haus los. Sie mußte denjenigen, der darin war, gewittert haben. Er fluchte, stieg aus und wollte hinter ihr hergehen. Nochmals zögerte er, da ihm einfiel, daß er unbewaffnet sei. Aber umzukehren und eine Waffe zu holen: das wäre kein guter Anfang gewesen. Ohne sich allzuviel dabei zu denken, griff er in den Wagen und langte sich seinen alten Hammer. Er hielt ihn in der Hand, als er dem Hunde folgte. Hinter dem Fenster sah er einen sich bewegenden Schatten.

Als er auf dem Bürgersteig war, öffnete sich die Haustür ein paar Zoll breit, und plötzlich traf ihn der Lichtstrahl einer Taschenlampe. Ish konnte nichts mehr sehen. Er blieb stehen und wartete, ob der andere ihn ansprechen würde. Prinzeß trottete zurück und war jetzt ruhig. Ish hatte das unbehagliche Gefühl, daß derjenige, der ihn mit der Taschenlampe anblendete, in der anderen Hand eine schußbereite Pistole hielt. Verrückt, sich auf dieses Unternehmen einzulassen, dachte er; sich im Schutze der Dunkelheit an ein Haus heranzumachen, war immer verdächtig und machte die Leute nervös. Er war jedoch froh, daß er sich am Morgen wenigstens rasiert hatte und sein Anzug verhältnismäßig sauber war.

Es entstand eine lange Pause. Er stand und wartete auf die unvermeidliche Frage: »Wer sind Sie?« oder den knappen Befehl: »Hände hoch!« Deshalb riß er überrascht den Mund auf, als eine Frauenstimme mit ruhiger Anerkennung sagte: »Das ist aber mal ein hübscher Hund!«

Nun folgte ein Augenblick der Stille; die Stimme klang in ihm sanft und leise nach, ein wenig fremdartig hatte sie geklungen.

Da wich das Licht von seinen Augen und erhellte den Weg vor seinen Füßen und Prinzeß sprang durch den Lichtstrahl und wedelte freudig. Die Haustür tat sich weit auf, und in dem dämmerigen Licht sah er eine Frau knien und den Hund streicheln. Er ging auf sie zu, wobei er noch immer den Hammer auf eine lächerliche, aber bequeme Weise in der Hand schwang.

Dann tobte Prinzeß in einem jähen Erregungsanfall in das Haus hinein und lief fiepend herum. Die Frau erhob sich mit einem kleinen Schrei, der zur Hälfte ein Auflachen war, und stürzte hinter dem Hunde her. »Mein Gott, sie muß eine Katze haben!« dachte Ish und folgte ihr.

Doch als er das Wohnzimmer betrat, tobte Prinzeß nur um den Tisch herum und schnupperte an den Stühlen, und die Frau hielt die Gasolin-Lampe fest, damit sie von dem aufgeregten Hund nicht umgeworfen wurde.

Die Fremde war mittelgroß, brünett, nicht allzu jung — kein Mädchen, sondern eine voll entwickelte Frau.

Sie sah den Possen des schnuppernden Hundes zu und lachte, und der Klang ihres Lachens war wie etwas, das an das seit langem verlorene Paradies erinnerte. Sie wandte sich Ish zu, und er sah das Aufblitzen weißer Zähne in dem dunklen Gesicht. Da plötzlich barst ein Damm in ihm, und er lachte fröhlich.

Sie sprach wieder, aber es war weder Frage noch Bitte. »Es ist hübsch, mal jemand bei sich zu haben.« Diesmal antwortete Ish, aber es fiel ihm nichts Besseres ein als eine Verteidigungsrede des albernen Hammers wegen, den er noch immer in der Hand hielt. »Verzeihen Sie, daß ich das Ding mit hereingebracht habe«, sagte er und stellte ihn auf den Fußboden, auf das schwere Ende, so daß der Stiel nach oben stand.

»Macht nichts«, sagte sie. »Ich verstehe schon. Ich muß auch dergleichen haben — etwas Greifbares, damit man sich behaglicher fühlt. Einen Glücksheller, oder eine Kaninchenpfote, wissen Sie. Wir alle sind und bleiben nun mal dieselben!«

Er lachte, was ihn erleichterte, und dann fing er an zu zittern. Sein ganzer Körper schien zu versagen. Fast physisch spürte er, wie noch ein paar Dämme einbrachen, die notwendigen Dämme der Verteidigung, die er in sich während der Monate des Alleinseins und der Verzweiflung errichtet hatte. Er mußte ein anderes menschliches Wesen berühren, und so streckte er die Hand aus, in der altüberlieferten Geste des Händeschüttelns. Sie nahm seine Hand, und als sie merkte, daß er zitterte, zog sie ihn zu einem Sessel hin und stieß ihn fast hinein. Als er saß, legte sie ihm leise die Hand auf die Schulter.

Abermals sprach sie, und wiederum war es weder Frage noch Befehl: »Ich will Ihnen etwas zu essen holen.«

Er erhob keinen Einwand, obwohl er kurz zuvor wacker gegessen hatte. Aber er wußte, daß hinter ihrem ruhigen Anerbieten mehr lag als ein Appellieren an den Körper, weil er Nahrung brauche. Jetzt müßte eine symbolische gemeinsame Mahlzeit stattfinden, das Sitzen am gleichen Tisch, das Teilen von Brot und Salz.

Nun saßen sie einander gegenüber. Es gab frisches Brot. »Ich backe es selbst«, sagte sie. »Aber es ist schwierig, Mehl aufzutreiben, in dem keine Würmer sind.« Butter gab es nicht, aber Honig und Marmelade zum Brot, und eine Flasche Rotwein.

Und nun begann er zu reden wie ein Kind. Dies war ganz anders als damals, als er mit Milt und Ann auf der Riverside-Promenade zusammen gesessen hatte. Damals hatten die Dämme noch fest gestanden. Jetzt sprach er zum erstenmal von jenen Tagen. Er zeigte ihr sogar die kleinen Narben des Schlangenbisses und die größeren, wo er sich geschnitten hatte, um die Saugpumpe ansetzen zu können. Er erzählte von seiner Angst und seiner Flucht und der großen Einsamkeit, der er niemals voll ins Auge geschaut, die er sich niemals in ihrem vollen Umfang vorgestellt hatte. Und während er erzählte, sagte sie oftmals: »Ja, ich weiß. Ja, daran erinnere ich mich auch. Sprechen Sie weiter.«

Sie indessen hatte die Katastrophe mit eigenen Augen gesehen. Sie hatte mehr durchgemacht als er, und dennoch merkte er, daß sie es besser bewältigt hatte. Sie sprach wenig; sie schien das nicht nötig zu haben, aber sie brachte ihn zum Sprechen.

Als er mit ihr sprach, wußte er, daß dies endlich, wenigstens soweit es ihn betraf, kein gelegentliches Zusammentreffen oder etwas Flüchtiges und Vorübergehendes war. Hierin lag alle Zukunft beschlossen.

Plötzlich fiel ihnen ein, daß keiner des andern Namen wußte, obwohl sie beide den Hund Prinzeß genannt hatten.

»Isherwood«, sagte er. »Das war der Mädchenname meiner Mutter, und so hat sie ihn mir gegeben. Ziemlich schlimm, was? Alle Welt hat mich ›Ish‹ genannt.«

»Ich heiße Em!« sagte sie. »Das heißt natürlich Emma. Ish und Em! Wir wollen nicht so weit gehen, daß wir über diese Verbindung Gedichte schreiben!« Und sie lachte. Und sie lachten beide.

Lachen — das war wieder etwas Gemeinsames!

In einer wild aufflackernden Erwägung fiel ihm ein, sie sollten beide eine Art Heiratsgelöbnis sprechen. Quäker konnten sich selber trauen. Warum also nicht auch andere? Sie konnten zusammen aufstehen und nach Osten schauen, wo die Morgensonne aufging. Er merkte, daß er mindestens eine volle Minute geschwiegen hatte. Sie sah zu ihm aus offenen, ruhigen Augen hinüber, und er wußte, daß sie seine Gedanken las.

In seiner Verlegenheit sprang er plötzlich auf und stieß dabei den Stuhl um. Dann aber war der Tisch zwischen ihnen beiden nicht mehr das Sinnbild, das sie zugleich vereinigte und trennte. Er ging um ihn herum und trat zu ihr, als auch sie aufstand. Und dann fühlte er ihren Körper warm an dem seinen.


O Lied der Lieder! Deine Augen, meine Geliebte, sind sanft, und deine Lippen sind süß und fest. O Lied der Lieder!


Sie war in das andere Zimmer gegangen. Er saß da; sein Herz und sein Atem gingen schnell; er wartete voller Spannung. Jetzt hegte er nur noch eine Furcht. In einer Welt, wo keine Ärzte und nicht einmal andre Frauen waren: wie konnte er in einer solchen Welt das Wagnis auf sich nehmen? Doch sie war gegangen. Er meinte, daß auch sie, die Bejahende und Bestätigende, daran denken und Vorsorge treffen würde.

7

Nachdem sie neben ihm eingeschlafen war, lag er wach. Seine Gedanken stürmten so rasend schnell einher, daß er ihnen nicht wehren und nicht einschlafen konnte. Was hatte sie doch zuvor, am frühen Abend gesagt? Gleichgültig, was aus der Welt geworden war, der Einzelmensch wurde dadurch nicht geändert; er blieb, was er gewesen war. Ja, das war der Weg! Obwohl so viel geschehen und obwohl er durch dieses große Erlebnis aufs tiefste innerlich aufgewühlt worden war, so blieb er nach wie vor der Beobachter, der abseits Sitzende, der dem, was geschah, zusah und der sich nie völlig an das Geschehen verlor. Wie seltsam! Vielleicht wäre dergleichen in der alten Welt nicht möglich gewesen. Aus der Vernichtung war für ihn die Liebe erstanden.

Er schlief. Als er erwachte, war es heller Tag, und sie war fort. Besorgt schaute er im Zimmer umher.

Dann stand er auf und zog sich an. Beim Anziehen witterte er Kaffeeduft. Kaffee!

Sie hatte den Tisch in die Frühstücksecke geschoben, als er hereinkam. Er sah sie beinahe schamhaft an. Wieder sah er, und zwar deutlicher im Morgenlicht, ihre weit auseinanderstehenden schwarzen Augen im dunklen Gesicht und die vollen Lippen.

Er beugte sich nicht nieder, um sie zu küssen, und das schien sie auch gar nicht zu erwarten. Doch beide lächelten einander zu. »Wo ist Prinzeß?« fragte er.

»Ich habe sie auf die Straße gelassen.«

»Gut. Und ich glaube, es wird heute wieder schönes Wetter.«

»Ja, es sieht so aus. Eier sind leider nicht da.«

»Macht nichts. Was ist denn das? Speck?«

»Natürlich.«

Das waren leicht wiegende Worte ohne die mindeste Bedeutungsschwere, und dennoch schwang in ihnen große Freude. Es überkam ihn eine Zufriedenheit, die ihn ganz und gar erfüllte. Das hatte nichts mit dem dürftigen Mietszimmer zu tun. Sein Glück war in ihm! Er sah ihr in die offenen Augen und spürte, wie neue Sicherheit und neuer Mut ihn überkamen. Dies würde von Dauer sein!

Im Laufe des Tages fuhren sie zu dem Haus in der San-Lupo-Promenade, hauptsächlich, weil er mehr als sie zu besitzen schien.

Fortan vergingen die Tage schneller und angenehmer. Es gab viele Mittel und Wege zur Gemeinsamkeit.

Sie sprach nie von sich. Ein- oder zweimal versuchte er durch Fragen etwas aus ihr herauszubekommen, in der Meinung, es tue ihr gut, wenn sie sich ausspräche. Doch sie antwortete nur zögernd, und er schloß daraus, daß sie bereits auf ihre eigene Weise mit sich ins reine gekommen war. Sie hatte vor die Vergangenheit einen Vorhang gezogen und schaute nur vorwärts.

Dabei machte sie, wie es schien, keinerlei Versuche zur Geheimniskrämerei. Aus gelegentlichen Bemerkungen erfuhr er, daß sie verheiratet gewesen war (glücklich, wie er überzeugt war) und zwei kleine Kinder gehabt hatte. Sie hatte die Oberschule besucht, aber nicht studiert. Ihr weicher Akzent, der ihm bereits bei ihren ersten Worten aufgefallen war, klang ein wenig nach Kentucky oder Tennessee. Aber sie deutete niemals an, daß sie anderswo als in Kalifornien gelebt hatte.

Ihre soziale Stellung, so meinte Ish, mußte etwas tiefer als die seine gewesen sein. Aber jetzt gab es nichts Alberneres, als sich Gedanken über soziale Klassen zu machen.

»Erstaunlich, wie bedeutungslos dergleichen jetzt geworden ist!« Und die Tage gingen hurtig hin.

Eines Morgens, als sie neue Nahrungsmittelvorräte brauchte, ging er hinunter zu seinem Wagen. Er drückte den Daumen auf den Starterknopf. Es machte »Klick«, und weiter geschah nichts.

Noch einmal drückte er, und es klickte wieder. Weiter nichts.

Er hörte nicht das tröstliche Summen des laufenden Motors noch die vertrauten kleinen Knalle, wenn die kalten Zylinder sich erwärmten. Abermals überkam ihn Entsetzen. Noch einmal drückte er den Knopf, und dann noch einmal, und stets klickte es nur. »Die Batterie ist leer!« dachte er.

Er stieg aus, öffnete die Haube und starrte hoffnungslos auf das wohlgeordnete, aber komplizierte Gewirr von Drähten und Zubehörteilen. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam ihn; er ging wieder ins Haus.

»Der Wagen springt nicht an«, sagte er. »Die Batterie ist leer oder so etwas!« Er wußte, daß sein Gesicht noch jämmerlicher war als seine Stimme. Er hielt es nämlich für unglaublich, daß sie lachte. »Die Sache ist doch halb so schlimm«, sagte sie. »Wenn man dich ansieht, meint man, es wäre wer weiß was passiert!«

Da lachte auch er. Die ganze Welt sah anders aus, wenn man jemand hatte, mit dem man den Kummer teilen konnte; dann muteten alle Schwierigkeiten winzig an. Ein Wagen war bequem, wenn man zu den Läden fahren und das Fahrzeug mit allem vollpacken konnte, was man brauchte. Doch man konnte auch ohne Wagen auskommen. Sie hatte recht — die Sache war halb so schlimm!

An einem trüben Tage hatte er daran gedacht, sich einen neuen Wagen zu beschaffen oder den alten zu reparieren. Wie die Dinge lagen, machten sie sich einen Spaß daraus, obwohl es sie den größten Teil des Morgens kostete, ehe sie einen anderen ausfindig gemacht hatten. In den meisten Wagen befanden sich die Schlüssel nicht, und wenn er sie auch schließlich mit Hilfe eines Drahtes in Gang bekommen hätte, so stimmten beide darin überein, daß es lästig und ungehörig sei, einen Wagen ohne Schlüssel zu fahren. Und wenn sie einen mit Schlüssel fanden, so war die Batterie, die ein paar Monate hindurch unbenutzt gestanden hatte, verbraucht. Schließlich fanden sie einen Wagen mit Schlüssel, der auf einer Anhöhe geparkt war. Die Batterie war zu schwach, um den Wagen zu ziehen; aber die Scheinwerfer brannten matt, und Ish meinte, sie gebe noch genügend Strom für die Zündkerzen.

Sie ließen den Wagen die Anhöhe hinabrollen, und nach einer Minute begannen die Zylinder zu knallen. Ish und Em lachten glücklich über dieses Abenteuer. Endlich lief der Motor ruhig und regelmäßig. Nun lachten sie triumphierend und fuhren mit neunzig Kilometer Geschwindigkeit den leeren Boulevard hinunter, wobei Em sich an ihn lehnte und ihn küßte. Und so komisch es ihm vorkam: Ish stellte fest, daß er nie im Leben so glücklich gewesen war.

Jener Wagen war nicht so gut wie der alte. Darum benutzten sie ihn nur zu einer Rundfahrt durch den Warenhausdistrikt, nachdem sie im Branchenverzeichnis des Telefonbuches nachgesehen hatten, wo Batterienhändler zu finden waren. Schließlich erzwangen sie sich den Eintritt in das richtige Geschäft und fanden Dutzende von Batterien, aber sämtlich ohne Schwefelsäure. Es fanden sich jedoch auch Vorräte von Schwefelsäure, und sie füllten die Schwefelsäure in eine Batterie von geeigneter Größe. Sie nahmen sie mit und bauten sie in ihren alten Wagen ein. Gleich beim ersten Versuch klappte alles prächtig.

Schließlich brummte der Motor, und als Ish mit dem Fuß den Gashebel betätigte, meinte er, daß er an diesem Tage auf zwei Probleme gestoßen sei und sie gelöst habe. Erstens war ihm klargeworden, daß er viel tun konnte, damit sein Wagen lange lief. Aber noch sehr viel bedeutsamer war: er hatte der Möglichkeit ins Auge geschaut, daß eine Zeit kommen würde, in der es überhaupt keine Autos mehr gab, und daß er auch dann noch glücklich und ohne Furcht leben könnte.

Tatsächlich war anderntags die Batterie des schweren Wagens wieder verbraucht. Entweder war sie schadhaft, oder Ish hatte beim Einbauen einen Fehler gemacht. Diesmal packte ihn keinerlei Entsetzen. Während der nächsten paar Tage kümmerte er sich nicht einmal darum. Dann machte er sich abermals an die Arbeit. Entweder hatten sie Glück oder waren sorgsamer zu Werke gegangen: jedenfalls gelang es ihnen, die Batterie wieder funktionsfähig zu machen.


Lackglatt und chromschimmernd, mit präzis arbeitenden Motoren und Meßinstrumenten, die genau funktionierten wie Taschenuhren, waren sie der Stolz und das Symbol der Zivilisation gewesen.

Jetzt standen sie in Garagen oder auf Höfen, oder am Straßenrand. Welkes Laub sank auf sie nieder, wehender Staub und der Regen. Die Windschutzscheiben wurden so dick überkrustet, daß man kaum noch hindurchsehen konnte.

In Ihrem Innern änderte sich nur wenig. Hier und dort fraß der Rost; aber auf den eingefetteten und geölten Oberflächen konnte er nicht viel ausrichten. Die unbenutzten Spulen, Regulierer, Vergaser und Zündkerzen blieben so gut wie zuvor.

In den Batterien vollzogen sich Tag und Nacht langsam chemische Prozesse und bewirkten Zerfall. Ein paar Monate, und die unbenutzten Batterien waren tot. Solange Batterie und Schwefelsäure getrennt blieben, geschah nicht das mindeste, aber es würde stets eine Kleinigkeit sein, die Schwefelsäure hineinzugießen und mit einer neuen Batterie loszufahren; die Batterien waren nicht der schwächste Punkt.

Das waren weit eher die Reifen. Im Gummi vollzogen sich die Verfallsprozesse langsam. Die Reifen würden ein Jahr, fünf Jahre halten. Aber dennoch wurden auch sie schwach. Die Luft entwich, und nachdem der Wagen eine Zeitlang auf schlaffen Reifen gestanden hatte, waren sie zu nichts mehr nütze. Die aufgestapelten Reifen in den Vorratslagern würden zehn Jahre und vielleicht auch länger gut sein. Sie würden zwanzig Jahre überstehen, und vielleicht gar noch mehr. Vielleicht würden die Straßen unbefahrbar sein und der Mensch vergessen haben, wie man ein Auto steuert, und die Lust dazu verloren haben, ehe die Wagen selbst unbenutzbar wurden.


Ihr Kopf blieb in seinem Arm liegen, und er schaute in ihre schwarzen, feuchten Augen. Sie lagen auf dem Ruhebett im Wohnzimmer. Jetzt, im Zwielicht, sah ihr Gesicht noch dunkler aus als sonst.

Es handelte sich um eine Frage, die sie sich noch nicht gestellt hatten, und nun war die Zeit dafür gekommen.

»Es wäre schön«, sagte sie.

»Ich weiß nicht recht.«

»Doch.«

»Ich mag es nicht.«

»Du meinst, du magst es um meinetwillen nicht?«

»Ja. Es ist gefährlich. Außer mir ist niemand hier, und ich würde keine Hilfe sein.«

»Aber du könntest doch nachlesen — es gibt so viele Bücher.«

»Bücher!« Er lachte ein bißchen, als er weitersprach. »Die praktische Hebamme! Die Pathologie der Entbindung! Ich glaube, damit würde ich nicht fertig, selbst wenn ich es wollte.«

»Aber du könntest dir wirklich ein paar Bücher verschaffen und sie lesen. Dabei könntest du allerlei lernen. Und im Grunde brauche ich gar nicht viel Hilfe.« Sie machte eine kleine Pause. »Du weißt ja, daß ich es schon zweimal durchgemacht habe. Es war gar nicht so schlimm.«

»Vielleicht nicht. Aber diesmal, ohne Klinik und Ärzte und all das, ist es doch wohl etwas anderes. Und warum, warum machst du dir so viel Gedanken darüber?«

»Heißt das nicht Biologie oder so ähnlich? Vermutlich ist es ganz natürlich.«

»Du meinst, das Leben muß weitergehen, und wir haben Pflichten gegenüber der Zukunft? Und all so was?«

Sie machte eine minutenlange Pause.

»Ach, ich weiß so etwas nicht«, sagte sie. »Ich weiß nicht, ob das Leben weitergehen muß. Warum sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Ich bin eben selbstsüchtig. Ich brauche eben ein Baby. Ich meine, ach — ich kann mich nicht richtig ausdrücken.«

Dann streckte sie den Arm aus und nahm ein Streichholz aus der auf dem Tisch liegenden Schachtel. Sie rauchte oft und mehr als er, und so erwartete er, daß sie sich auch eine Zigarette nehme. Doch das tat sie nicht. Sie drehte das Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte nichts. Dann strich sie es an der Schachtel an.

Der Streichholzkopf flammte auf. Dann brannte das Holz ruhig mit gelber Flamme weiter. Plötzlich blies sie es aus.

Unbestimmt war ihm, als hätte sie, der es schwerfiel, Worte zu finden, vielleicht halb unbewußt versucht, etwas darzustellen, das sie nicht ausdrücken konnte. Nach und nach meinte er, er habe sie verstanden. Das Streichholz war nur dann lebendig, wenn es nicht in der Schachtel lag, sondern wenn es brannte — und ewig konnte es nicht brennen. So war es auch mit Mann und Frau. Wenn man das Leben leugnete, blieb es ungelebt.

Er gedachte seiner alten Furcht während der ersten Tage und der Zeit, da er sie überwunden und dem Tod und allen Mächten der Finsternis Trotz geboten hatte.

Er fühlte ihren Körper weich in seinen Armen.

»Gut«, sagte er. »Vermutlich hast du recht.«


Dein sei der Ruhm, weil die Liebe zum Leben vor deinem Antlitz heller war als die Furcht vor dem Tode dunkel. Du bist Demeter und Herta und Isis, Kybele mit den Löwen und die Berg-Mutter. Deinen Töchtern sollen Volksstämme entspringen, und deinen Enkeln Nationen! Dein Name ist »Mutter«, und alle sollen dich segnen.

Es werden wieder Lachen und Gesang erschallen. Mädchen werden über Wiesen schreiten, und junge Männer über Bäche springen.

Ihrer Kinder Kinder werden zahlreich sein wie die Pinienzapfen am Bergeshang. Sie sollen dich segnen, denn in Zeiten der Dunkelheit war dein Blick dem Lichte zugewandt.


Eines Morgens schaute Em hinaus und sagte: »Sieh, ein paar Ratten!«

Er schaute ebenfalls hinaus. Tatsächlich, da liefen zwei Ratten unten an der Hecke den Weg entlang und suchten sich Nahrung. Em zeigte Prinzeß die Ratten durchs Fenster, und dann machte sie die Tür auf. Aber da sie zu den Hunden gehörte, die dem Jäger das Wild durch Lautgeben zutreiben, lief Prinzeß bellend hinaus, und die Ratten verschwanden, als sie heran war.

Nachmittags sahen sie zu verschiedenen Zeiten mehrere Ratten, und zwar hier und dort, nahe dem Hause, auf der Straße oder in Gärten.

Am nächsten Morgen hatte die Woge sie überflutet. Überall waren Ratten.

Ish dachte daran, wie es vor einiger Zeit mit den Ameisen gewesen war, und er spürte, wie ihn ein kalter Schauer überrann.

Das einzige, was zu tun blieb, war, Nachforschungen anzustellen, um irgendwie die Rattenplage erträglicher zu machen.

Was sich, ganz allgemein betrachtet, ereignet hatte, war klar. Ish erinnerte sich, in einer Art Statistik gelesen zu haben, daß die Zahl der Ratten in einer Stadt ungefähr derjenigen der Bevölkerung entspreche.

»Also«, erklärte er Em, »nimm als Basis eine Million Ratten, und die Hälfte davon sind Weibchen. Manche der Geschäfte und Kaufhäuser sind gegen Ratten geschützt; aber dennoch hat es für sie während dieser ganzen Zeit sozusagen unbegrenzte Ernährungsmöglichkeiten gegeben.«

»Wie viele Ratten gibt es also jetzt?«

»Im Kopf kann ich das nicht ausrechnen. Ich will es später versuchen.«

Abends machte er sich darüber her wie über eine Mathematikaufgabe. Mit Hilfe des Lexikons seines Vaters brachte er heraus, daß die Ratten schätzungsweise allmonatlich werfen, und zwar ungefähr zehn Junge. Das bedeutete, daß innerhalb eines Monats ungehinderter Vermehrung dieses ganz bestimmte Gebiet von zehn Millionen Ratten bevölkert wurde. Die jungen Weibchen konnten sich wiederum vermehren, noch ehe sie zwei Monate alt waren.

Natürlich mußten zufällige Verluste berücksichtigt werden; aber Ish hatte keine Möglichkeit, sich auszurechnen, wie viele Ratten das Alter der Reife erreichten. Doch unter den gegenwärtigen Verhältnissen, so viel stand fest, mußten sie sich unglaublich vermehren.

Selbst wenn die Zahl der Ratten sich jeden Monat nur verdoppelte, so mußte ihre Zahl inzwischen auf fast fünfzig Millionen angewachsen sein. Wenn sie sich jeden Monat um das Dreifache vermehrte, eine Schätzung, die immer noch bescheiden blieb, so gab es in der Stadt jetzt vielleicht eine Milliarde Ratten.

Bei längerem Nachdenken darüber sah er nicht ein, warum die Zahl der Ratten bei der ihnen unbegrenzt zur Verfügung stehenden Nahrung sich nicht jeden Monat vervierfachen sollte. In den Alten Zeiten war der Mensch der einzige ernsthaft in Betracht kommende natürliche Feind der Ratten gewesen, und selbst er hatte unaufhörlich Krieg gegen sie führen müssen, um ihrer Zahl Herr zu bleiben. Nun der Mensch dahin war, bildeten ihre einzigen Feinde die wenigen Hunde, die der Instinkt zur Rattenjagd trieb, und die etwas zahlreicheren Katzen. Hier jedoch mußte ein weiterer Umstand die Lage zugunsten der Ratten beeinflußt haben. Wie er beobachtet hatte, konnten sich die Hunde einzig mit Unterstützung der Katzen gegen die Ratten behaupten. Wahrscheinlich hatten die Hunde genausoviel Katzen wie Ratten getötet und sich so des wichtigsten Helfers beraubt.

Ob es sich um eine Milliarde oder bloß um fünfzig Millionen Ratten handelte, machte nur einen sehr geringen Unterschied. Fest stand einzig, daß es zu viele Ratten gab, und Ish und Em fühlten sich von ihnen belagert. Sorgfältig bewachten sie alle Türen. Nichtsdestoweniger erschien auf unbekannte Weise eine Ratte in der Küche, und es gab eine tolle Hetzjagd, als Ish ihr mit dem Besen zu Leibe ging. In die Enge getrieben, biß sie heftig in den Besenstiel und hinterließ die Spuren ihrer Zähne in dem harten Holz, ehe er sie auf dem Fußboden totschlagen konnte.

Nach ein paar Tagen nahmen sie eine Veränderung wahr, und zwar im Aussehen und Verhalten der Ratten. Augenscheinlich waren die Nahrungsmittelbestände unter dem Zugriff der immerfort pyramidenhaft steigenden Zahl der Ratten knapp geworden. Die Ratten sahen jetzt magerer aus und rannten auf der Nahrungssuche fieberhaft hin und her. Sie begannen in der Erde zu wühlen. Zunächst fraßen sie die Tulpenzwiebeln, die sie sehr gern zu mögen schienen. Dann machten sie sich an weniger wohlschmeckende Zwiebeln und Wurzeln. Sie liefen an den Zweigen der Bäume entlang und fraßen wohl Insekten, die sie ergatterten, oder die noch daran verbliebenen Samen und Früchte. Schließlich fingen sie sogar an, die Rinde junger Bäume abzunagen, wie Kaninchen.

Ish fuhr jetzt mit seinem Wagen so dicht wie nur möglich an das Haus heran und sprang in hohen Stiefeln hinein und hinaus. Aber die Ratten versuchten nie, ihn anzugreifen. Prinzeß mußte zumeist daheim bleiben, obwohl die Ratten sie unbehelligt gelassen hatten.

Ish setzte seine Forschungsfahrten fort. Als er eines Tages langsam an einem Mauerwinkel vorbeifuhr, lenkte ein kleines, weißes Etwas seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hielt an, schaute aufmerksam hin und sah, daß es der Schädel eines kleinen Hundes war. Die langen, noch weiß schimmernden Zähne ließen darauf schließen, daß es wahrscheinlich ein Terrier gewesen war. In der Nähe gewahrte Ish auch die Schädel mehrerer Ratten; also war der Terrier kämpfend zugrunde gegangen. Er versuchte, sich das Geschehen auszumalen: die wimmelnden grauen Leiber, die sich an dem Hunde, der die an ihm hängenden Ratten nicht angreifen konnte, festbissen. Ish war ganz benommen, als er weiterfuhr; er war entschlossen, jetzt noch sorgsamer über Prinzeß zu wachen.

Voller Hoffnung dachte er daran, daß die Ameisen beinahe über Nacht verschwunden waren, und er erwartete, daß etwas Ähnliches auch mit den Ratten geschehen würde. Aber dafür gab es keinerlei Anzeichen.

»Übernehmen die Ratten jetzt die ganze Welt?« fragte Em. »Nun der Mensch dahin ist, treten da die Ratten seine Nachfolge an?«

»Natürlich kann ich dir keine sichere Auskunft geben«, antwortete Ish, »aber ich kann es nicht recht glauben. Sie haben einen guten Start gehabt, weil ihnen die in der Stadt aufgehäuften Nahrungsmittel zur Verfügung standen und weil sie sich rasch vermehren. Aber wenn sie aus der Stadt weichen, müssen sie auf eigene Faust für ihre Ernährung sorgen, und Füchse und Schlangen und Eulen werden sich ebenfalls vermehren, weil der Mensch dahin ist und weil sie große Mengen von Ratten fressen können.«

»Daran habe ich nie gedacht!« sagte sie. »Du meinst, Ratten leben gern in den Häusern, weil der Mensch sie, ohne zu wollen, mit Nahrung versieht und ihre Feinde tötet?«

»Sie leben mehr als Parasiten beim Menschen, vermute ich.«

Und um etwas zu sagen, das ihr Interesse wachhielt, fuhr er schnell fort: »Und da von Parasiten die Rede ist, so haben natürlich auch die Ratten welche. Genau wie die Ameisen! Wenn etwas zu zahlreich wird, so geht es meiner Meinung nach durch eine Seuche zugrunde …« (Bei dem Wort »Seuche« war plötzlich eine schreckliche Erkenntnis über ihn gekommen.) Er räusperte sich, um sein Stocken zu vertuschen, und fuhr dann rasch fort, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen: »Ja, wahrscheinlich gehen sie durch eine Pest zugrunde.«

Zu seiner Erleichterung schien Em nichts gemerkt zu haben.

»Alles, was wir dann tun können«, sagte sie, »ist vermutlich, dazusitzen und die Parasiten der Ratten hochleben zu lassen.«

Ish sagte ihr nicht, was ihn verstört hatte. Es war die Erinnerung, daß nicht eine Seuche im allgemeinen Sinne, sondern die Beulenpest unter den Ratten nur zu häufig epidemisch auftrat. Sie wurde, wie er wußte, durch Flöhe verbreitet, und diese erkrankten Flöhe hüpften bereitwillig von toten Ratten auf lebendige Menschen.

Er begann, das Haus sowie seine und Ems Kleidung mit Desinfektionsmitteln zu bespritzen. Da wurde sie natürlich argwöhnisch, und er mußte es ihr sagen.

Sie regte sich nicht groß darüber auf. Ihr natürlicher Mut war sogar stärker als die Furcht vor der Pest, und vielleicht war sie bis zu einem gewissen Grade Fatalistin.

Im Verlauf der Tage beobachtete er genau die einzelnen Ratten, um zu sehen, ob sie krank waren. Doch im Gegenteil: sie sahen kräftiger und lebendiger denn je aus.

Dann rief Em ihm eines Morgens vom Fenster zu: »Sieh nur, jetzt beißen sie sich!« Schnell, doch ohne allzu großes Interesse, trat er zu ihr. Wahrscheinlich, so dachte er, handelte es sich um ein bei den Ratten übliches Liebesspiel. Doch das war es nicht.

Er sah, wie eine große Ratte unmißverständlich eine kleinere angriff. Die kleine wehrte sich, sprang verzweifelt beiseite und schien fast durch ein Loch zu entkommen, das zu eng für die größere war. Da tauchte plötzlich eine dritte Ratte auf und sprang ebenfalls auf die kleine los. Ein kleiner Blutstrahl spritzte aus der zerbissenen Kehle hervor, und dann schleppte die größere Ratte die tote weg, und diejenige, die zuerst angegriffen hatte, lief dicht hinterher.

In hohen Stiefeln, dicken Handschuhen und mit einem Stock bewaffnet, unternahm Ish einen Forschungsgang durch das nächstgelegene Geschäftsviertel, um für seinen Haushalt neue Lebensmittel zu holen. Zu seiner Verwunderung fanden sich in den Läden nur sehr wenige Ratten, und als er sich näher umsah, stellte er fest, daß alles, was eine Ratte erreichen und fressen konnte, spurlos verschwunden war. In den Läden lagen große Haufen zerfetzten Pappiers, angenagte Kartons und Rattenexkremente. Sogar die Etiketten an Büchsen und Flaschen hatten sie angenagt, so daß es bisweilen schwierig war, zu erkennen, was darin war. Jetzt war er sicher, daß der Hunger und nicht eine Seuche den Horden den Garaus bereiten würde. Er überbrachte Em die Nachricht.

Tag für Tag nahm die Zahl der Ratten ab, und eines Morgens schienen sie gänzlich verschwunden zu sein.

Beide, Ish wie Em, brauchten einige Zeit, um sich von dem Schrecken zu erholen, den die Ratten ihnen eingejagt hatten. Prinzeß durfte wieder frei umherlaufen; das Leben wurde wieder normal, und sie vergaßen das unaufhörliche Gewimmel grauer Tierkörper.


Die Fabeln hatten unrecht. Nicht der Löwe, der Mensch war der König der Tiere. Seine Herrschaft war bedrückend und oftmals unerträglich hart gewesen.

Aber dennoch erhob sich ein Schrei: »Der König ist tot!« Und es konnte niemand fortfahren: »Lang lebe der König!«

Wie in alten Zeiten nach dem Tode eines Eroberers, der keinen ebenbürtigen Sohn hinterlassen hatte, die Hauptleute um Krone und Zepter in Streit gerieten und keiner sich als stark genug erwies und das Reich zerfiel, so war es auch jetzt; denn weder die Ameise noch die Ratte noch der Hund noch der Affe zeichnen sich so sehr durch Weisheit aus, daß sie sich über ihre Gefährten erheben könnten. Für eine kleine Weile wird ein kämpfendes Getümmel stattfinden, werden schnelle Aufstiege und plötzliche Stürze erfolgen; dann aber setzen Ruhe und Frieden ein, wie die Erde sie durch zwanzig Jahrtausende hindurch nicht gekannt hat.


Wieder lag ihr Kopf in seinem Arm, und er schaute ihr tief in die dunklen Augen. Sie sprach: »Du tätest gut, wenn du dich jetzt an die Bücher machtest. Ich glaube, es ist geschehen.«

Und plötzlich, noch ehe er hätte antworten können, fühlte er, daß sie zitterte; sie schluchzte. Dessen war er bei ihr nicht gewärtig gewesen. Was sollte werden, wenn sie einen Zusammenbruch erlitt?

»Oh, Liebling!« rief er. »Vielleicht können wir noch etwas dagegen tun! Es gibt doch Mittel und Wege. Du brauchst es nicht auf dich zu nehmen!«

»Ach, darum geht es ja gar nicht! Darum nicht!« rief sie und zitterte noch immer. »Ich habe gelogen. Nicht durch das, was ich gesagt, sondern durch das, was ich nicht gesagt habe! Aber es ist ja alles gleich. Du bist so gut zu mir. Du hast meine Hände angesehen und gesagt, sie wären hübsch. Aber nie hast du auf die blauen Halbmonde geachtet.«

Er erschrak tief, und er wußte, daß sie fühlte, wie er erschrak. Jetzt gingen ihm die Augen auf: die bräunliche Hautfarbe, die dunklen Augen, die vollen Lippen, die weißen Zähne, die warme Stimme, der anschmiegsame Charakter.

Dann sprach sie wieder, es war kaum mehr als ein Flüstern. »Anfangs hat es natürlich keine Rolle gespielt. Dann kümmert kein Mann sich um so etwas. Aber die Rassegenossen meiner Mutter haben nie viel Glück in der Welt gehabt. Vielleicht dürfen sie nicht daran beteiligt sein, wenn alles jetzt wieder von vorn anfängt. Aber was mich am meisten quält, das ist, daß ich vermutlich falsch an dir gehandelt habe.«

Da plötzlich hörte er nichts mehr, denn ihm enthüllte sich die ungeheure Komödie alles Geschehens, und er lachte, und alles, was er tun konnte, war, daß er lachte und immer schallender lachte, und dann sah er, daß auch sie wieder zu sich gekommen war und gleichfalls lachte und ihn nur noch fester umschlungen hielt.

»Oh, Liebling«, sagte er, »alles ist zerstört, und New York liegt öde und in Washington ist keine Regierung mehr. Die Senatoren und Richter und Gouverneure sind alle tot und verwest, und die Juden- und Negervernichter mit ihnen. Wir beide sind nichts als zwei arme Menschen, die sich aus den Überbleibseln der Zivilisation das Lebensnotwendige herauspicken und nicht wissen, ob sie nicht auch ausgetilgt werden von den Ameisen oder den Ratten oder von sonst etwas. Vielleicht können heute in tausend Jahren sich die Menschen den Luxus leisten, sich über dergleichen Dinge die Köpfe zu zerbrechen oder einander in die Haare zu geraten. Aber das bezweifle ich. Und einstweilen gibt es nur uns zwei, oder jetzt vielleicht uns drei.«

Er küßte sie, während sie noch immer leise fortweinte. Und er wußte, daß er dieses eine Mal klarer und tiefer als sie gesehen hatte und stärker als sie gewesen war.

8

Am folgenden Tage fuhr er zum Universitätsviertel und hielt vor dem Bibliotheksgebäude. Seit dem Großen Unheil war er nie dort gewesen, während er sich oft aus der Städtischen Bücherei Lesestoff geholt hatte. Das große Gebäude stand unzerstört da. In den wenigen Monaten waren die Büsche und Bäume, die vor und neben ihm standen, nur unmerklich größer geworden. Die Regenrinnen schienen gut zu funktionieren, und auf den weißen Granitmauern zeigten sich keine Wasserflecke. Man hatte nur einen allgemeinen Eindruck von Schmutz und Verkommenheit und Nichtbenutztsein.

Es widerstrebte ihm, sich den Eingang zu erzwingen, indem er ein Fenster einschlug, durch das dann Tiere oder auch der Regen eindringen konnten. Aber schließlich fand er keinen andern Weg. Er bediente sich des Hammers möglichst behutsam, und es gelang ihm, nur ein Stück einer Scheibe herauszubrechen; er langte hindurch und machte das Fenster auf. Schließlich, so sagte er sich, konnte er ja ein paar Bretter holen und das Fenster wieder zunageln, damit es gegen Ratten und Wetterunbill abgedichtet war.

Während seiner Universitätsjahre war er Hunderte von Malen in der Bibliothek gewesen. Aber unter den jetzigen Umständen empfand er eine seltsame Beklemmung. Hier war in langen Bücherreihen die Weisheit erhalten geblieben, mit deren Hilfe die Zivilisation aufgebaut worden war und neu aufgebaut werden konnte. Nun er wußte, daß er demnächst Vater werden würde, hatte er in eine neue Haltung hineingefunden, in die Sorge für die Zukunft. Das Kind sollte nicht als ein Parasit aufwachsen und nach Art der Straßenräuber leben. Und dazu bestand auch keinerlei Notwendigkeit. Denn hier war alles. Alles Wissen!

Er war hergekommen, um sich ein paar Bücher über Geburtshilfe zu holen; aber als er einen Blick in den großen Leseraum geworfen hatte und zwischen den Bücherreihen hindurchwanderte, regte ihn das dermaßen auf, daß er das Gebäude, von Phantasievorstellungen bedrängt, verließ. Heute brauchte er sich nicht um Geburtshilfe zu kümmern. Bis es soweit war, hatte er noch sehr viel Zeit.

In einer Art Traumzustand fuhr er heim. Bücher! Der Großteil des Wissens war in Büchern enthalten, und dennoch erkannte er bald, daß damit nicht alles getan war. Zunächst bedurfte es der Menschen, die lesen, die Nutzen aus den Büchern ziehen konnten.

Er mußte auch noch andre Dinge retten. Saatgut zum Beispiel. Er mußte dafür sorgen, daß die wichtigsten Kulturpflanzen nicht von der Erde verschwanden.

Plötzlich erkannte er, daß die Zivilisation nicht nur vom Menschen abhing, sondern auch von jenen andern Dingen, die mit ihm als Gefolgsleute, Freunde und Gefährten marschiert waren. Wenn der heilige Franziskus die Sonne als Bruder begrüßt hatte — konnten wir dann nicht ebenfalls sagen: »O Bruder Weizen! O Schwester Gerste!« Er lächelte vor sich hin. Ja, man konnte fortfahren: »O Großvater Rad! O Vetter Kompaß! O Freund Binomischer Lehrsatz!« Alle Errungenschaften der Wissenschaft und der Philosophie, so konnte man meinen, standen Schulter an Schulter mit dem Menschen, obwohl das, wenn er es in Worte umsetzte, vielleicht ein wenig lächerlich klang.

Er beeilte sich, noch immer glühend vor knabenhafter Begeisterung, das alles Em zu erzählen. Doch Em war nicht so begeistert, wie er gehofft hatte. »Zivilisation!« sagte sie. »Ach, du meinst, daß die Flugzeuge immer höher und höher steigen und immer schneller fliegen. So was meinst du.«

»Oh, allerdings. Aber auch die Kunst, weißt du. Musik, Literatur, Kultur.«

»Ja, und Gespenstergeschichten und die komischen Neger-Jazz-Bands, von denen mir die Ohren weh taten.«

Er war niedergeschlagen, obwohl er wußte, daß sie ihn ein bißchen neckte.

»Eine andere Frage«, sagte sie, »die ebenfalls zur Zivilisation gehört. Nämlich die Zeit. Wir wissen nicht einmal, in welchem Monat wir uns befinden. Wir müssen doch wissen, wann er Geburtstag hat, damit wir ihn feiern können, so in zwei Jahren etwa.«

Vielleicht, so empfand er, war das der Unterschied! Das war der Unterschied zwischen Frau und Mann. Sie fühlte nur, was in unmittelbarem Zusammenhang mit ihr stand, und war weit mehr daran interessiert, ihres Kindes Geburtstag festlegen zu können, als an der Zukunft der Zivilisation. Er fühlte sich ihr abermals überlegen.

»Aber wie dem auch sei: eins habe ich heute nicht getan«, sagte er. »Ich habe keinen einzigen Blick in die Geburtshilfe-Bücher geworfen. Es tut mir leid — aber damit ist es ja nicht so eilig, nicht wahr?«

»O nein. Vielleicht brauchen wir sie auch gar nicht. Erinnerst du dich nicht, daß sogar in den Alten Zeiten immerfort Babys in Autotaxen und Krankenwagen geboren wurden? Wenn sie zur Welt wollen, kann niemand sie daran hindern.«

Nachdem er später alles durchdacht hatte, mußte er sich gestehen, daß sie etwas Bedeutsames angeregt hatte. Je mehr er darüber nachdachte, von desto grundsätzlicherer Wichtigkeit wurde ihm ihr Gedanke, die Zeit zu bestimmen und festzulegen. Schließlich war Zeit Geschichte, und Geschichte war Tradition, und Tradition war Zivilisation. Wenn man die Kontinuität der Zeit einbüßte, verlor man etwas, das nie wieder eingeholt werden konnte. Wahrscheinlich war sie schon verlorengegangen, sofern nicht einer der andern Überlebenden in dieser Beziehung achtsamer gewesen war als er. Man brauchte sich beispielsweise nur die Sieben-Tage-Woche anzusehen. Auch wenn man nicht religiös war, mußte man zugeben, daß die Sieben-Tage-Woche mit ihrem einen Ruhetag eine schöne alte Menschheitsüberlieferung war. Sie war während der letzten fünf Jahrtausende in Kraft gewesen, sicherlich von den Zeiten der Babylonier an, und vielleicht gar, niemand wußte es, bereits seit noch längerer Zeit. Ob es ihm wohl gelingen würde, herauszubekommen, welcher Tag Sonntag war?

Was die Bestimmung des Jahrestages betraf, so mußte sie nicht allzu schwierig sein. Er verstand sich zur Genüge auf die Elemente der Astronomie, um das zuwege zu bringen; und wenn er den Zeitpunkt der Sonnenwende korrekt festlegen konnte, dann konnte er auch den Kalender des letzten Jahres rekonstruieren und vielleicht den Wochentag herausbekommen.

Die gegenwärtige Zeit war dazu angetan, sich eifrig mit diesen Problemen zu befassen. Obwohl er es nicht ganz genau wußte, konnte er aus der Witterung und auf Grund seiner allgemeinen Kenntnisse hinsichtlich der seit der Katastrophe vergangenen Zeit schließen, daß man sich in der Dezembermitte befinden müsse. Wenn die Sonnenwende in etwa einer Woche stattfand, so konnte er das unschwer feststellen, indem er den Sonnenuntergang beobachtete.

Am nächsten Tag stöberte er das Besteck eines Landmessers auf, und obwohl er nicht allzuviel über dessen Gebrauch wußte, montierte er es auf das Stativ und richtete es gegen Westen. Er schwärzte die Linsen mit Ruß, damit er die Sonne beobachten konnte, ohne daß ihn die Augen schmerzten. Bei seiner ersten Beobachtung stellte er fest, daß die Sonne hinter den Hügeln von San Francisco unterging, südlich des Goldenen Tors. Er erinnerte sich, daß dies beinahe der südlichste Punkt ihres Untergangs war. Er ließ das Gerät eingestellt und notierte den Winkel des Sonnenuntergangs.

Am nächsten Abend ging sie noch ein bißchen weiter südlich unter. Und dann geschah etwas, was die ganze Systematik über den Haufen warf. Es kam ein heftiger Sturm über den Ozean herüber, und eine ganze Woche lang konnte Ish nicht beobachten, wo die Sonne unterging. Als er sie wieder sehen konnte, ging sie schon wieder weiter nördlich unter.

»Jedenfalls aber«, sagte er, »müssen wir der Sonnenwende noch ganz nahe sein. Wenn wir einen Tag zu der Zeit hinzufügen, da wir die Sonne zum letztenmal gesehen haben, müssen wir unmittelbar an die Sonnenwende herankommen, und wenn wir dem zehn Tage hinzufügen, haben wir Neujahr.«

»Ist das nicht ziemlich dumm?« fragte sie.

»Warum?«

»Ja, ich meine, fängt das Jahr denn nicht wirklich an, wenn die Sonne sich wieder nach Norden wendet? Meinst du nicht, daß die Leute es früher so haben festlegen wollen, und dann ist auf diese oder jene Weise etwas dazwischengekommen, und man hat die zehn Tage hinzugefügt?«

»Ja, ich glaube auch, daß es so gewesen ist.«

»Na, und warum läßt du unser Neujahr dann nicht einfach mit — wie nennst du es? — mit der Sonnenwende zusammenfallen? Das wäre doch viel einfacher.«

»Allerdings. Aber du kannst doch nicht den ganzen Kalender durcheinanderbringen. Der ist schon seit sehr langer Zeit festgelegt. Den kannst du nicht einfach umstoßen.«

»Das hat doch aber einer namens Julian auch schon getan, und es hat deswegen großes Geschrei gegeben. Und dennoch haben sie damals einen anderen Kalender gemacht.«

»Sie haben ihn abgeändert. Ja, da hast du recht — und vermutlich können wir das ebenfalls tun, wenn wir es wollen. Sicherlich gibt einem das ein gewisses Machtgefühl!«

Dann stellten sie in der Ausgelassenheit ihrer schweifenden Phantasie fest, daß sie bei ihrer Art zu leben ein System ausarbeiten könnten, das sie von Monaten und dergleichen Dingen unabhängig machte; denn von ihrer Anhöhe aus konnten sie den ganzen Sonnenbogen verfolgen. Sie brauchten nur das Datum zu markieren, an dem die Sonne in der Mitte des Goldenen Tors unterging, oder die Zeit, da sie den ersten großen Bergbuckel im Norden erreicht hatte, oder die Zeit, da sie bei den mannigfachen Schroffen der langen Gebirgskette angelangt war. Was kam dabei heraus, wenn man Monate hatte?

»Oh!« rief sie plötzlich, »übrigens muß jetzt ungefähr Weihnachten sein. Das hatte ich völlig vergessen. Glaubst du, daß du unten in den Läden einen Schlips für dich auftreiben kannst?«

Er sah sie mit einem kleinen Lächeln an. »Ich glaube, wir hätten allen Grund, an diesem Weihnachtsfest recht bekümmert zu sein; und dennoch: irgendwie kann ich das nicht.«

»Nächstes Jahr«, sagte sie, »wird es lustiger. Dann bekommt er seinen ersten Weihnachtsbaum.«

»Ja, und eine Kinderklapper soll er auch haben, nicht wahr? Ich will auch sehen, daß ich eine elektrische Eisenbahn auftreibe und sie in Gang bekomme. Ach, vermutlich bekommt der arme Junge niemals eine elektrische Eisenbahn. Aber es könnte sein, daß in fünfundzwanzig Jahren, wenn wir Enkelkinder haben, die Elektrizitätswerke wieder arbeiten.«

»Fünfundzwanzig Jahre! Inzwischen bin ich eine ganz alte Frau geworden. Es ist jetzt ebenso sonderbar, in die Zukunft zu denken wie in die Vergangenheit. Eine Zeitlang habe ich immer nur zurückgedacht. Aber in die Zukunft zu denken, das ist doch etwas ganz anderes, auch wenn man an die Jahre denkt! Wir wollten die Jahre festlegen und festhalten. Schneiden die Leute auf einsamen Inseln nicht Kerben in die Bäume? Paß nur auf, eines Tages will er wissen, welches Jahr wir schreiben; dann kann er sich einen Paß ausstellen lassen oder Eintragungen in seine Geschäftsbücher machen. Aber vielleicht willst du dergleichen Dinge in unserer neuen Zivilisation gar nicht haben. Welches Jahr haben wir übrigens jetzt?«

Wiederum dachte er, wie weiblich es sei, daß sie etwas so unendlich Bedeutsames wie das richtige Datum und die Zeitrechnung sogleich in Beziehung zu ihrem noch nicht einmal geborenen Kinde setzte. Aber auch diesmal, wie so oft, leitete sie ein richtiger Instinkt — ein großes Bedauern, daß die historische Überlieferung an irgendeinem Punkte unterbrochen werden sollte! Sicherlich konnten im Laufe der Zeit Archäologen die Kontinuität durch Spezialforschungen und Dendrochronologie wiederherstellen; aber es würde sehr viel Arbeit und Mühe sparen, wenn jemand einfach die Tradition aufrechterhielte.

»Du hast recht«, sagte er, »und im Grunde ist es natürlich ganz einfach. Wir wissen, welches Jahr wir jetzt schreiben, und wenn wir festgelegt haben, wann Neujahr ist, brauchen wir die neue Jahreszahl nur in einen geeigneten Felsblock einzumeißeln, und das müssen wir dann jedes Jahr tun. Das Einmeißeln ist dann beinahe eine Aufgabe, ein Beruf, und dann wissen wir immer, ob unsere Zeitrechnung richtig ist oder nicht.«

»Ist das nicht ebenfalls ziemlich dumm?« fragte sie. »Ich meine: mit einer Jahreszahl anzufangen, die aus vier Ziffern besteht? Was mich betrifft …«, sie hielt einen Augenblick inne und schaute mit jener ruhigen Miene umher, die bisweilen so großen Eindruck auf ihn machte, »was mich betrifft, so könnte das vergangene Jahr ebensogut das Jahr Eins heißen.«

An jenem Abend regnete es nicht. Die Wolken hingen noch immer tief, aber die Luft war klar. Man hätte die Lichter von San Francisco sehen können, wenn dort noch welche gebrannt hätten.

Er stand vor der Haustür, sah nach dem dunklen Westen hin und atmete tief die kühle, feuchte Luft. Er befand sich nach wie vor in tief erregter Gemütsverfassung.

»Nun haben wir mit der Vergangenheit abgeschlossen«, dachte er. »Diese letzten paar Monate, das Jahresende — sie mögen der Vergangenheit angehören. Dies ist der Augenblick Null, und wir stehen zwischen zwei Zeitaltern. Jetzt beginnt das neue Leben. Jetzt beginnen wir das Jahr Eins. Das Jahr Eins!«

Nun lag nicht länger einzig das Drama einer menschenlosen Welt in einer ständigen, nur wenig veränderten Wiederholung vor ihm. Nicht länger war die Verbesserung seiner persönlichen Lage das vorherrschende Problem. Nun würde in den vor ihm sich dehnenden Jahren das Drama einer neuen Gesellschaft beginnen, die aus sich selbst erstand und sich weiter entwickelte. Und nun würde er nicht der einzige Zuschauer sein; zumindest war er nicht nur das. Er konnte lesen. Schon jetzt besaß er mancherlei Grundkenntnisse. Er wollte sie ausbauen, in technischer, psychologischer und politischer Hinsicht, sofern sich die Notwendigkeit dafür ergab.

Es mußte noch andere geben, die er auffinden und mit denen er sich zusammentun konnte — gute Menschen, die ihm beim Aufbau der neuen Welt helfen konnten. Er wollte eine Fahrt unternehmen und nochmals nach Menschen Ausschau halten. Er wollte sich wacker umtun und versuchen, allen aus dem Wege zu gehen, die allzusehr unter dem Schock gelitten hatten, deren Seele, Geist und Körper nicht dem entsprachen, was man für den Aufbau der neuen Gesellschaft verlangen mußte.

Irgendwo in seinem Innern lauerte noch immer die eine tiefe Furcht, sie würde die Geburt nicht überstehen, so daß alle Hoffnung auf die Zukunft hinschwände. Und dennoch hegte er im Allertiefsten diese Furcht nicht. Ihr Mut brannte mit zu heller Flamme. Sie war das Leben selbst. Er konnte sie nicht mit dem Tode in Verbindung bringen. Sie war das Licht der Zukunft; sie und alle, die von ihr ausgehen würden. »O Mutter von Nationen! Und ihre Kinder sollen sie segnen!«

Er selbst hätte höchstens den Mut zum Weiterleben aufgebracht in dem steten Gefühl, daß der Tod Jahr für Jahr näher an ihn heranschlich, wie einstmals die Dunkelheit aus den Zimmerwinkeln herangekrochen war, als das Licht erlosch. Ihre stärkere Seele hatte den Tod zurückgeschlagen, und schon erstand in ihr neues Leben. Aus ihren Tiefen schwang der Mut auf ihn über.

Es war seltsam, und zweifellos sogar unlogisch, daß der Gedanke an das künftige Kind alles in so durchaus anderem Licht erscheinen ließ. Doch er erkannte diesen Unterschied an. Er schaute vorwärts, voller Vertrauen auf die Zeit, da die Sonne wieder am südlichen Ende ihres langen Bogens untergehen und sie beide — sie drei — hingehen und in einen Felsblock die Gedächtniszahl des endenden Jahres Eins einmeißeln würden. Es war nicht zu Ende. Alles würde weitergehen.

Ein Satz fiel ihm ein.

»O Leben ohne Ende!« dachte er. Als er dort stand, über die leere, verödete Stadt nach Westen hin ins Dunkel schaute und tief die kühle, feuchte Luft atmete, durchklangen diese Worte seine Seele wie Gesang: »O Leben ohne Ende! Leben ohne Ende!«


Hier endet der Erste Teil. Es folgt das Zwischenkapitel, betitelt »Eilende Jahre«, das nach Ablauf eines Jahres einsetzt.

EILENDE JAHRE

Nicht weit von dem Haus in der San-Lupo-Promenade erstreckte sich das Gebiet, das ehemals ein kleiner öffentlicher Park gewesen war. Hohe Felsen stiegen malerisch auf, und an einer Stelle lehnten die Häupter von zwei dieser Felsen aneinander und bildeten eine schmale, hohe Höhle. Daneben fiel eine sanft geneigte Felsfläche, so groß wie der Fußboden eines kleinen Zimmers, zugleich mit dem Hügelhang ab; sie war indessen nicht allzu steil, und man konnte bequem auf ihr sitzen. In den älteren Zeiten, die denen vorangegangen waren, die wir fortan die Alten Zeiten nennen wollen, hatte ein Stamm einer primitiven Völkerschaft dort in der Gegend gehaust, und auf der sanft geneigten Felsfläche konnte man noch die kleinen Löcher sehen, die jene Menschen mit Steinstößeln gehöhlt hatten, als sie Körner zerstampften.

Eines Tages, als der Ablauf der Jahreszeiten sich vollendet hatte und die Sonne zum zweitenmal genau im Süden des Goldenen Tores sank, stiegen Ish und Em den Hügelhang empor zu den Felsen. Der Nachmittag war still und sonnig, und für einen Tag mitten im Winter recht warm. Em trug das Baby, das in ein weiches Tuch gewickelt war. (Sie war schon wieder guter Hoffnung; aber sie schritt noch leichtfüßig einher.) Ish trug seinen Hammer und einen Meißel. Prinzeß war mit ihnen gekommen, lief jedoch, wie stets, der Spur eines ihrer Kaninchen nach.

Als sie zu dem Felsen kamen, setzte Em sich in die Sonne und stillte das Baby, und Ish arbeitete mit Hammer und Meißel: er schlug in die geneigte Felsfläche die erste Jahreszahl ein. Der Felsgrund war hart; doch mit dem schweren Hammer und dem scharfen Meißel brachte er schnell eine senkrechte Linie zustande. Aber es trieb ihn, sein Werk ein bißchen zu verschönern. So meißelte Ish denn einen sauberen Querstrich unter die senkrechte Linie und oben daran einen kleinen Haken, so daß das Ganze einer korrekten 1 ähnelte, wie er sich ihrer aus den Zeiten erinnerte, da noch gedruckt wurde.

Als er fertig war, setzte er sich neben Em in die Sonne. Das Baby hatte getrunken und war glücklich und zufrieden. Sie spielte mit ihm.

»Ja«, sagte Ish. »Das war nun also das Jahr Eins!«

»Stimmt«, sagte Em. »Aber ich glaube, für mich ist es immer das ›Baby-Jahr‹. Namen kann man besser behalten als Zahlen.«

So geschah es von Anfang an, daß sie es sich angewöhnten, jedes Jahr seltener mit seiner Zahl als mit einem Namen zu bezeichnen, der sich auf irgend etwas bezog, das während jener Zeit geschehen war.


Im Frühling des zweiten Jahres pflanzte Ish seinen ersten Garten. Er hatte sich nie viel aus Gartenarbeit gemacht, und wahrscheinlich konnte das als Erklärung dafür dienen, daß er trotz löblicher Entschlüsse und zweier mit halbem Herzen unternommener Versuche während des ersten Jahres nichts geerntet hatte. Dennoch empfand er eine tiefe Befriedigung, es wieder mit urtümlichen Dingen zu tun zu haben, als er mit dem Spaten die dunkle, feuchte Erde umgrub.

Diese Befriedigung war das Bedeutsamste, was der Garten ihm eintrug. Das Saatgut, um damit zu beginnen (es hatte ihn große Mühe gekostet, überhaupt welches aufzutreiben), war mehrere Jahre alt, und vieles ging nicht auf. Alle möglichen Arten von Schnecken krochen nur zu bald herbei; aber er vertrieb sie, indem er eine Büchse »Schneckentod« ausstreute, und fühlte sich als Triumphator. Als dann gerade der Salat im besten Wachsen war, sprang ein Rehbock über den Zaun und richtete Verwüstungen an. Ish erhöhte den Zaun. Dann wühlten sich Kaninchen unter ihm durch, was abermals zu Verwüstungen und gesteigerter Arbeit führte. Eines Abends hörte er krachende Geräusche, stürzte hinaus und konnte gerade noch eine räuberische Kuh vertreiben, die durch den Zaun zu dringen versuchte. Abermals Arbeit!

Im Juni kamen dann die Insekten. Er streute und spritzte Gift, bis er zu fürchten anfing, er könnte es nicht wagen, den Salat zu essen, wenn auch sämtliche Schmarotzer vertilgt waren.

Als letzte entdeckten die Krähen den Garten. Ish hielt Wache und schoß ein paar ab. Aber sie schienen selber auch Wachtposten ausgestellt zu haben und kamen wieder herbeigeflattert, sobald er den Rücken gekehrt hatte, und den ganzen Tag konnte er beim besten Willen nicht Posten stehen. Seine Vogelscheuchen und sich bewegende Blinkspiegel hielten sie einen Tag fern; danach aber hatten sie keine Angst mehr davor.

Schließlich spannte er Fliegendraht über die paar Gemüsereihen, die der Rettung wert schienen, und erntete ein bißchen Salat und ein paar jämmerliche Tomaten und Zwiebeln. Aber gewissenhaft ließ er ein paar der Pflanzen Samen treiben, den er für die Zukunft aufbewahrte.

Er war so mutlos und enttäuscht, wie nur ein Liebhaber-Gärtner es sein konnte. Augenscheinlich war es etwas anderes, Gemüse zu züchten, wenn Tausende das gleiche taten, als wenn man es als einziger tat und aus Meilen in der Runde jedes auf frisches Grün erpichte Tier, jeder Vogel, jedes Weichtier, jedes Insekt herangaloppiert, geflogen, gekrochen oder gehüpft kam und wohl gar noch Signale an seinesgleichen aussandte: »Kommt! Hier gibt's was zu fressen!«

Gegen Ende des Sommers wurde das zweite Baby geboren. Sie nannten es Mary, gerade wie sie sich schließlich entschieden hatten, das erstgeborene John zu nennen, damit die alten Namen nicht von der Erde verschwänden.

Als das neue Baby erst ein paar Wochen alt war, geschah etwas Denkwürdiges …

Und das ging folgendermaßen zu: Obwohl Ish und Em sich während der ersten Jahre beständig im Hause oder ganz in seiner Nähe aufhielten, bekamen sie dann und wann Besuch von Wanderern, die den Rauch in der San-Lupo-Promenade gesehen und darauf zugehalten hatten. Diese Menschen schienen ausnahmslos noch unter dem Schock zu leiden. Sie waren Schafe ohne Herde. Inzwischen, schloß Ish daraus, mußten diejenigen, die sich anzupassen gewußt hatten, seßhaft geworden sein. So waren Ish und Em denn nur froh, wenn diese ruhelosen, unseligen Leute sich zum Weiterziehen entschlossen.

Eine Ausnahme bildete Ezra. Ish erinnerte sich deutlich, wie Ezra an einem heißen Septembertage die Straße entlanggetrottet kam, hochroten Gesichts, der halbkahle Schädel fast noch röter, mit eingefallenen Wangen; als er Ish erblickt hatte, war er stehengeblieben, hatte gelächelt und dabei seine schlechten Zähne gezeigt.

»Ja, ja, mein Junge!« hatte er gesagt, und obwohl das amerikanische Worte waren, stand dahinter etwas wie der Geist des im nördlichen England gesprochenen Akzents.

Er blieb, bis die ersten Regengüsse vorüber waren. Er war stets liebenswürdig, auch wenn er Zahnschmerzen hatte. Er hatte die große, unerklärliche Gabe, daß die Menschen sich in seiner Gesellschaft behaglich fühlten. Die Babys lächelten stets, wenn Ezra sich über sie beugte.

Ish und Em hätten ihn gern gebeten, für immer bei ihnen zu bleiben; aber sie fürchteten, die »Dreiecks-Situation«, auch wenn der Dritte so leicht zu behandeln und so einsichtig wie Ezra war. So schickten sie ihn eines Tages, als Ruhelosigkeit ihn quälte, davon; sie sagten ihm freundlich scherzend, er solle sich auch ein nettes Mädchen suchen und dann wieder zu ihnen kommen. Als er fort war, waren sie traurig.

Um die Zeit seines Abschieds stand die Sonne schon wieder weit im Süden. Als sie hingingen und in den flachen Felsen die Zahl 2 einmeißelten, trugen sie also Ezra noch in lebendiger Erinnerung, obwohl er fort war und sie nicht damit rechneten, ihn wiederzusehen. Er wäre, so meinten sie, ein guter Helfer gewesen und ein sympathischer Kamerad. Um seines Andenkens willen nannten sie das abgelaufene Jahr »das Ezra-Jahr«.


Das Jahr 3 war »das Jahr der Brände«. Gerade zur Mittsommerzeit trieben unvermittelt Rauchschwaden über Land und Stadt und verblieben, leichter oder schwerer, drei Monate lang. Manchmal wachten die Babys hustend und nach Luft ringend auf, und es tränten ihnen die Augen.

Ish konnte sich denken, was geschehen war. Die westlichen Forste waren nicht mehr große Wälder mit dicken Bäumen, zwischen denen das Feuer, ohne großen Schaden anzurichten, hindurchbrennen konnte. Durch unter Kontrolle gehaltene, von Menschen angelegte Brände hatten die Wälder aus dicken, beinahe unentzündbaren, hohen Bäumen bestanden, und dazwischen hatten geschlagene Stämme und Buschwaldgebiete gelegen. Der Mensch hatte diese Art Wald gezüchtet; der Wald war von ihm abhängig, und er überlebte den Menschen nur, weil er dem Feuer zu widerstehen vermochte. Jetzt aber lagen die Löschschläuche säuberlich aufgerollt; die Bagger und Feuerspritzen wurden rostrot, und in diesem überaus trockenen Sommer hatten im nördlichen Kalifornien, und sicherlich auch in Oregon und Washington, durch Blitzschlag entzündete Brände gewütet, ohne bekämpft zu werden; die zundertrockenen Stapel gefällten Holzes hatten lichterloh gebrannt, und schließlich auch die hohen, alten Bäume. Eine furchtbare Woche hindurch sahen Ish und Em die Brände hell die Nacht durchflackern, an der ganzen Nordseite der Bucht entlang, vom Fuße der Höhenzüge bis zu den Gipfeln; sie waren erst erloschen, als es nichts Brennbares mehr gab. Die breiten Arme der Meeresbucht hielten das Feuer glücklicherweise auf die Nordseite beschränkt, und an der Südseite gingen keine Gewitter nieder, die weitere Waldbrände hätten entfachen können. Als alles vorüber war, glaubte Ish, daß es in Kalifornien nur noch sehr wenige nicht vom Feuer betroffene Wälder gebe und daß es Jahrhunderte dauern würde, bis sie wieder grünten.

Auch begann Ish in diesem Jahr ernsthaft zu lesen — ein weiteres Zeichen, daß er sich endgültig den Gegebenheiten anpaßte. Er holte sich Bücher aus der Stadtbibliothek und ließ die Million Bände der Universitätsbibliothek unberührt als große Reserve, wenn die Zeit reif war. Obwohl er oft meinte, er sollte sich in der Medizin, der Landwirtschaft und der Technik und aus anderen Gebieten Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen, erkannte er, daß er sich vorerst über die Geschichte der Menschheit unterrichten mußte. Er durchstöberte unzählige Werke über Anthropologie und Geschichte und ging dann zur Philosophie, insbesondere zur Geschichtsphilosophie über. Er las auch Romane, Gedichte und Dramen, die ja auch ein Teil der Geschichte der Menschheit waren.

Manchmal, wenn er abends las und Em strickte und die Babys oben schliefen und Prinzeß faul am Kaminfeuer lag — dann schaute Ish auf und dachte daran, daß seine Eltern viele Abende auf genau die gleiche Weise verbracht hatten. Doch dann erblickte er die Gasolin-Lampe und wandte die Augen den toten Glühbirnen in den Deckenfassungen zu.


Das Jahr 4 war das »Jahr der Ankunft« … Eines Frühlingstages gegen Mittag sprang Prinzeß mit wildem Gebell auf und rannte auf die Straße, und dann hörten sie ein Hupensignal. Ezras Abschied lag mehr als ein Jahr zurück, und sie dachten kaum noch an ihn. Nun aber war er wieder da, in einem ziemlich schäbigen Wagen, der überquoll von Menschen und Hausgerät.

Außer Ezra entstiegen dem Wagen eine ungefähr fünfunddreißigjährige Frau, eine jüngere Frau, ein erschreckt dreinschauendes, halbwüchsiges Mädchen und ein kleiner Junge. Ezra stellte die ältere Frau als Molly, die jüngere als Jean vor, und nach jedem Namen sagte er in aller Gemütsruhe und ohne die mindeste Verlegenheit: »Meine Frau.«

Ish erschrak nur in gelindem Maße über diese Vielweiberei. Er hatte bereits eine Fülle von Erfahrungen hinter sich und reagierte sofort mit dem Gedanken, daß die Vielweiberei in vielen großen Kulturepochen der Vergangenheit üblich gewesen sei und es in Zukunft getrost wieder werden könne. Sicherlich war es praktisch, wenn zwei Frauen da waren und nur ein Mann, zumal wenn der Mann beschaffen war wie Ezra.

Der kleine Junge hieß Ralph und war Mollys Sohn. Er war erst ein paar Wochen vor dem Großen Unheil zur Welt gekommen und hatte wohl die Stumpfheit geerbt oder sie mit der Muttermilch eingesogen. Es war dies der einzige Fall, soweit sie wußten, daß zwei Mitglieder der gleichen Familie gerettet waren.

Das halbwüchsige Mädchen nannten sie Evie; aber ihren richtigen Namen wußte niemand. Als Ezra sie fand, hatte sie in Schmutz und Einsamkeit gelebt, Konservendosen geöffnet, um die notwendige Nahrung zu ergattern, und nach Würmern und Schnecken gesucht. Zur Zeit des Großen Unheils mußte sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Ob sie von je schwachsinnig gewesen oder es erst durch den Schock von Tod und Verlassenheit geworden war, wußte niemand. Sie verkroch sich und wimmerte, und selbst Ezra konnte ihr nur dann und wann ein Lächeln abgewinnen. Sie wußte ein paar Wörter, und nachdem alle ihr längere Zeit freundlich begegnet waren, kam sie allmählich dahin, mehr zu sprechen; doch normal wurde sie nie.

Später, im gleichen Jahr, fuhren Ish und Ezra in Ishs altem Wagen für ein paar Tage fort. Die Reise war alles andere als angenehm; sie hatten Reifenschäden und Motordefekte, und die Straßen waren schlecht. Dennoch führten sie durch, was sie sich vorgenommen hatten.

Sie suchten George und Maurine auf, denen Ezra bei einem seiner Wanderzüge begegnet war. George war ein dicker, watschelnder Kerl, grau an den Schläfen, gutartig, etwas ungeschickt in seiner Ausdrucksweise, aber höchst geschickt in seinem Handwerk: er war Zimmermann. (»Schade!« dachte Ish. »Ein Techniker oder ein Landwirt wäre besser für uns gewesen!«) Maurine war sein weibliches Gegenstück, nur war sie etwa zehn Jahre jünger, so um die Vierzig wahrscheinlich. Sie war versessen auf Hausarbeit wie George auf Zimmermannsarbeit. Was ihre geistigen Eigenschaften betraf, so war George schwer von Begriff, Maurine aber schlechthin dumm.

Ish und Ezra besprachen sich über George und Maurine und waren sich darin einig, daß es gute, zuverlässige Leute seien, die in der Nähe zu haben sicher angenehm war; die beiden waren eher eine Quelle der Kraft denn der Schwäche. (Es ist beinahe so, dachte Ish mit verzogenem Gesicht, als ob man überlegte, ob man jemand Bruderschaft anbieten soll oder nicht; und da die Auswahl nicht groß war, durfte man nicht wählerisch sein.) Überdies saßen George und Maurine nun einmal mit Ezra und ihm in dem schweren Wagen.

Ish und Maurine bekamen heraus, daß ihnen eine Erfahrung gemeinsam war. Sie war als kleines Mädchen in Süd-Dakota von einer Klapperschlange gebissen worden.

Gegen Jahresende gebar Em ihren zweiten Sohn, den sie Roger nannten. So war denn die Menschenschar, die in der San-Lupo-Promenade lebte, auf sieben Erwachsene und vier Kinder angewachsen, und außerdem war noch Evie da. Um jene Zeit fingen sie an, zunächst nur im Scherz, sich als der »Stamm« zu bezeichnen.


Im Jahre 5 geschah nichts allzu Aufregendes. Molly und Jean bekamen Babys, und Ezra war so stolz darauf, wie ein zweifacher Vater es nur sein kann. Schließlich nannten sie das Jahr »das Jahr der Bullen«. Das geschah, weil sie in jenem Jahr eine Rindviehplage heimsuchte, ähnlich den Ameisen- und Rattenplagen, deren sie sich von den ersten Monaten her erinnerten. Die Rindviehbestände waren allmählich immer größer geworden. Nur sehr selten bekam man ein Pferd zu sehen, und niemals ein Schaf. Aber es war eine für Rindvieh günstige und geeignete Gegend; die Bestände erreichten in diesem Jahr ihre größte Zahl und wurden eine Gefahr. Natürlich konnte man sich mit Leichtigkeit alles Rindfleisch verschaffen, dessen man bedurfte, obwohl es zäh war. Doch man geriet immerfort in Schwierigkeiten mit übelgelaunten Bullen, wenn man nur einen kleinen Spaziergang unternahm. Natürlich konnte man die Bullen niederschießen; aber wenn man einen Bullen in der Nähe des Hauses umlegte, so bedeutete das, daß man sich der Plackerei des Eingrabens des Kadavers oder des Hinwegschaffens unterziehen mußte; andernfalls hätte man unter dem Gestank gelitten. Sie erwarben alle eine geradezu artistische Geschicklichkeit im Beiseitespringen, wenn ein Bulle sie angriff, daß sie darin eine sportliche Betätigung erblickten, die sie »Bullen-Schlupf« nannten.


Das Jahr 6 war ereignisreich. In seinem Verlauf bekamen alle vier Frauen Kinder, selbst Maurine, die ausgesehen hatte, als sei sie dazu zu alt. Es bestand, nachdem Em den Anfang gemacht hatte, ein förmlicher Drang danach, viele Kinder zu haben. Jeder der Erwachsenen hatte eine Zeitlang allein gelebt und das durchgemacht und ausgekostet, was sie jetzt als »die Große Einsamkeit« bezeichneten, und auch die sonderbare Angst, die damit verbunden war. Selbst jetzt war ihre kleine Schar nichts als eine winzige Kerze inmitten der Finsternis ringsum. Jedes neugeborene Baby schien die spärliche Flamme zu verstärken und die Finsternis der Vernichtung ein wenig zurückzudrängen. Am Ende dieses Jahres betrug die Zahl der Kinder zehn und überstieg somit diejenige der Erwachsenen — und dann war selbstverständlich noch Evie da, die keiner der beiden Gruppen zugezählt werden konnte.

Aber auch aus anderen Gründen war es ein ereignisreiches Jahr. Es war ein Jahr der Dürre und des Grasmangels, und das allzu zahlreiche Vieh magerte ab und wandete auf der Nahrungssuche überall umher. Wahnsinnig vor Hunger, durchbrach es eines Nachts den starken Zaun um die kleine Gemüsepflanzung. Die Männer sprangen hastig auf und schossen aus kurzer Entfernung in die wimmelnde Herde hinein; doch bevor sie zurückgetrieben werden konnte, war der Garten völlig zerstört — ganz sinnlos war er zertrampelt worden; denn bei dem furchtbaren Durcheinander war kein einziges Tier zum Fressen gekommen.

Als Krönung dieses Unglücks kamen die Heuschrecken. Unvermutet brachen sie herein und fraßen alles, was das Vieh nicht hatte erreichen können. Sie fraßen die Blätter von den Bäumen und das Fleisch von den reifen Pfirsichen, so daß die nackten Kerne von den entblätterten Zweigen hingen. Dann krepierten die Heuschrecken, und es stank überall nach ihnen.

Nach einer Weile lag auch das Vieh zu Hunderten tot in den trockenen Bachbetten und den schlammigen Wasserlöchern, und der Gestank der Kadaver erfüllte die Luft. Fortan war das Land kahl, dürr und öde, und es sah aus, als würde es sich nie wieder erholen.

Die Menschen erschraken tief. Ish versuchte ihnen auseinanderzusetzen, das alles sei ein Teil des Ringens um ein neues Gleichgewicht, nachdem die menschliche Kontrolle aufgehört hatte. Es konnte beispielsweise gar nicht anders sein, als daß die Heuschreckenplage auftrat, nun die Umstände dazu günstig waren, weil die Brutplätze nicht durch den Ackerbau beeinträchtigt wurden. Aber bei dem Gestank in der Luft und angesichts der wie erstorben wirkenden Erde waren seine Ausführungen nicht eben überzeugend. Jean machte sich offen darüber lustig, indem sie sagte, die Geschehnisse der letzten paar Jahre gäben ihr wenig Hoffnung auf die Wiederherstellung von Ordnung und Gleichgewicht. Molly verfiel in trübe Stimmung und weinte manchmal laut. Trotz seiner vernünftigen Erklärungen war selbst Ish verzagt, wenn er an die Zukunft dachte. Von den Erwachsenen brachten einzig Ezra und Em die Seelenstärke auf, alles so zu nehmen, wie es kam.

Auf die älteren Kinder schien das, was geschah, kaum Einfluß zu haben. Auch beim tollsten Gestank tranken sie gierig ihre Kondensmilch. John, der bereits Jack genannt wurde, hielt vertrauensvoll des Vaters Hand fest und blickte mit dem einfältigen Interesse eines Sechsjährigen auf eine Kuh, die die Straße entlanggestrauchelt war und nun sterbend in der Sonne lag. Er nahm das alles augenscheinlich als zu seiner Welt gehörig hin.

Aber die Säuglinge, ausgenommen derjenige Ems, sogen durch die Muttermilch eine Art Empfindlichkeit gegen das Unheil ringsum ein. Sie weinten kläglich und gereizt. Doch gerade dadurch verstörten sie ihre Mütter, und alles wurde noch schlimmer.

Der Oktober war ein Schreckensmonat.

Dann kam das Wunder! Zwei Wochen nach dem ersten Regen schauten sie hinaus, und die Hügel waren mattgrün von sprossendem Gras. Plötzlich überkam sie alle ein Glücksgefühl, und Molly und Maurine weinten vor Freude. Selbst Ish fühlte sich erleichtert; denn während der letzten Wochen hatte die Verzweiflung der andern sein Vertrauen in die der Erholung fähigen Kräfte der Erde erschüttert, und er hatte bezweifelt, daß irgendwelcher Samen übrigbleiben würde.

Als zur Zeit der Wintersonnenwende die Menschen sich alle abermals bei dem sanft geneigten Felshang versammelten, um die Jahreszahl einzumeißeln und das Jahr zu benennen, schwankten sie, welcher Name ihm gegeben werden sollte. Als gutes Omen hätte man es als »das Jahr der vier Babys« bezeichnen können. Doch ebensogut war es »das Jahr des Viehsterbens« oder »das Jahr der Heuschrecken« gewesen. Schließlich gewannen die bösen Geschehnisse des Jahres in ihrer Erinnerung die Oberhand. So nannten sie es denn einfach »das Schlimme Jahr«.


Das Jahr 7 war ebenfalls sonderbar. Plötzlich tauchten überall Berglöwen auf. Kaum konnte man zwischen den Häusern spazierengehen, ohne ein Gewehr oder einen Hund bei sich zu haben, der warnen konnte, und für gewöhnlich hielt sich der Hund dicht neben einem. Die Löwen wagten niemals den Angriff auf einen Menschen, aber sie stürzten sich auf die Hunde, und man war nie ganz sicher, ob nicht plötzlich einer von einem Baum herabspringen würde. Die Kinder durften das Haus nicht verlassen. Ish war sich einigermaßen klar darüber, was geschehen war. Während der Jahre der starken Vermehrung des Viehbestandes mußten die Löwen sich ebenfalls schnell vermehrt haben, und nun das Vieh während der Dürre umgekommen war, mangelte es den Löwen an Nahrung, und sie unternahmen Raubzüge.

Zu allem Überfluß ereignete sich ein Unfall; denn Ish schoß fehl: anstatt den Löwen zu töten, streifte er ihn nur an der Schulter, und das Tier sprang ihn an und verletzte ihn gefährlich, ehe Ezra zum Schuß kam. Danach hinkte Ish ein bißchen und wurde sehr schnell müde, wenn er lange in der gleichen Stellung sitzen mußte, wie etwa beim Autofahren. (Freilich waren die Straßen mittlerweile in einen elend schlechten Zustand geraten; die Autos funktionierten kaum noch; und überdies: wohin hätte man fahren sollen? Infolgedessen wurden die Wagen nur noch sehr selten benutzt.) Natürlich bekam das Jahr den Namen »das Jahr der Löwen«.


Das Jahr 8 verlief verhältnismäßig ruhig. Sie nannten es »das Jahr unseres Kirchgangs«. (Der Name machte Ish Spaß, des stillschweigend einbegriffenen Nebensinns wegen, daß die Sache damit ein für allemal abgetan war.)

Das war folgendermaßen zugegangen: Da sie sieben Durchschnittsamerikaner waren, gehörten sie unterschiedlichen religiösen Sekten an, oder überhaupt keiner; aber keiner von ihnen, auch wenn er Mitglied einer Kirche war, hatte je ein ausgesprochen religiöses Gefühl gehabt. Ish war als Kind zur Sonntagsschule gegangen; doch als Maurine ihn fragte, welcher Kirche er angehöre blieb ihm nichts zu antworten, als daß er Skeptiker sei. Maurine kannte das Wort nicht, zog einen falschen Schluß daraus und sagte hinfort stets, Ish sei ein Mitglied der Skeptiker-Kirche gewesen.

Maurine selbst war Katholikin, und ebenso Molly. Nach wie vor konnten sie sich bekreuzigen und ein Ave Maria sprechen, aber in allem, was darüber hinausging, waren sie in einer üblen Lage, da sie keinen Beichtvater hatten und keine Messe besuchen konnten. Wie Ish nun feststellte, hatte die katholische Kirche nahezu alle Möglichkeiten in Betracht gezogen, nur nicht die eine, auf welche Weise sie neu geschaffen werden konnte, wenn die Nachfolge Petri unterbrochen war und es nur noch zwei Frauen gab, die der Kirche angehörten.

Von den andern war George Methodist gewesen, und zwar Gemeindehelfer. Aber er war zu ungeschickt im mündlichen Ausdruck als daß er hätte predigen können, und besaß zu wenig Führereigenschaften, um eine Gemeinde zu organisieren. Ezra verhielt sich tolerant gegenüber jedermanns Glauben, ließ sich jedoch auf keinen festlegen und besaß somit wahrscheinlich überhaupt keine religiösen Überzeugungen. Jean war Mitglied einer laut betenden modernen Sekte namens »Christi Eigentum« gewesen. Doch sie hatte es erlebt, daß die Gemeinde in der Zeit des Großen Unheils vergebens gebetet hatte, und nun war sie völlig antireligiös geworden. Em, die niemals Neigung verspürte, zurück in die Vergangenheit zu schauen, schwieg sich aus. Soweit Ish es beurteilen konnte, hatte sie nie gebetet. Dann und wann, sicherlich aber, ohne dabei an religiöse Dinge zu denken, sang sie mit ihrem vollen, etwas kehligen, tiefen Alt Choräle oder andere fromme Lieder.

George und Maurine hatten die Unterschiede zwischen Methodisten und Katholiken hintangestellt; sie waren es, die Gottesdienste anregten, »um des Seelenheils der Kinder willen«. Sie trugen ihre Bitte Ish vor, der so etwas wie ein Führer war, zumal in geistigen Dingen. Die wohlmeinende Maurine sagte ihm sogar, daß sie sich »dem Ritus der Skeptiker beim Gottesdienst« nicht widersetzen würde.

Ish fühlte sich versucht, darauf einzugehen. Mit Leichtigkeit konnte er ein paar harmlose religiöse Bruchstücke zusammenfügen und den Menschen Trost spenden und sie zum Vertrauen aufrufen, was beides ihnen wohl oft bitter gefehlt hatte; er konnte in der Gemeinschaft den Boden zu bereiten suchen, auf dem Wahrhaftigkeit und Einigkeit gedeihen konnten. George, Maurine und Molly würden das begrüßen; Jean würde keine Bedenken haben, wieder zur Religion zurückzukehren; Ezra würde keine Schwierigkeiten machen. Doch Ish haßte die Unaufrichtigkeit und wollte nicht in dieser Weise Religion und Moral zu neuem Leben verhelfen; und er wußte, daß Em alles durchschauen würde.

Schließlich wurde jeden Sonntag ein Gottesdienst abgehalten. George wußte noch, wann Sonntag war, oder er glaubte es wenigstens zu wissen. Sie sangen Choräle, lasen aus der Bibel vor und standen barhäuptig in stummem Gebet, jeder für sich.

Doch Ish betete niemals während dieser Minuten des Schweigens, und er glaubte auch nicht, daß Em oder Ezra es täten. Überdies verharrte Jean in ihrer Verstocktheit und nahm niemals an den Gottesdiensten teil. Ish hatte die Empfindung, daß er Jean hätte bekehren können, wenn er mehr Eifer oder mehr Heuchelei aufgebracht hätte. Nun aber war es so, daß die Gottesdienste mehr Uneinigkeit als Gemeinschaft des Empfindens zuwege brachten, und mehr trügerischen Schein als wahre Religiosität.

Eines Tages nahm Ish die Gelegenheit wahr und machte ihnen ein Ende. Er tat es, wie er meinte, ziemlich unumwunden, indem er seine Ansprache mit dem Gedanken schloß, sie wollten die Gottesdienste nicht völlig aufgeben, sondern lediglich die Minuten des stummen Gebets bis ins Unendliche ausdehnen: »Dann kann jeder von uns in seinem Herzen damit fortfahren, solange ihm der Sinn danach steht.«

Molly weinte ein bißchen; sie hatte die Gottesdienste so schön gefunden. Und so endete der Versuch mit der Kirche schließlich doch in eitel Harmonie.


Zu Beginn des Jahres 9 waren sie sieben Erwachsene, dazu kam Evie, und dreizehn Kinder, von den neugeborenen Babys bis hinauf zu Mollys Ralph, der neun, und zu Ishs und Ems Jack, der acht Jahre alt war.

Sie alle hatten das wohltuende Gefühl des Vertrauens und der Sicherheit, was das Wachstum der Gemeinschaft betraf, oder des »Stammes«, wie sie jetzt immer häufiger sagten. Die Geburt jedes Babys war eine Zeit der Freude, und die Schatten schienen abermals ein wenig vor dem stets größer werdenden Lichtkreis zurückgewichen zu sein.

Bald nach dem Beginn dieses Jahres kam eines Morgens ein anständig aussehender, ältlicher Mann zu Georges Haus. Es war einer jener Wanderer, wie sie nach wie vor, wenngleich immer seltener, vorbeikamen.

Er wurde gastfreundlich aufgenommen; doch es war wie bei den andern, was für ihn getan wurde, machte nur geringen Eindruck auf ihn. Er blieb nur eine Nacht da und zog dann weiter, ohne sich auch nur zu verabschieden; er ging den ziellosen Weg der vom Schock Verstörten.

Kaum war er fort, schien es, als gerieten die Menschen in einen gereizten Zustand. Alle Babys fingen an zu weinen. Dann hatten alle Halsentzündung; die Nasen liefen ihnen und sie litten unter Kopfschmerzen und geschwollenen Augen. Plötzlich zeigten sich im ganzen »Stamm« die Anzeichen einer Epidemie.

Das war um so auffälliger, als während der ganzen vorhergegangenen Jahre der Gesundheitszustand unglaublich gut gewesen war. Ezra und ein paar der andern hatten unter schlechten Zähnen gelitten; George, der Älteste, hatte über mancherlei Schmerzen geklagt, die er mit dem althergebrachten Ausdruck als »Rheumatismus« bezeichnete, dann und wann hatte eine Schramme zu Entzündungen geführt. Aber selbst die üblichen Erkältungen schienen gänzlich verschwunden zu sein. Nur zwei Krankheiten wirkten sich nach wie vor aus. Die eine befiel früher oder später sämtliche Kinder; sie war in ihren Symptomen den Masern ähnlich; sicherlich waren es auch die Masern, und sie nannten sie so, obwohl es keinen Arzt gab, der es ihnen bestätigen konnte. Die andere Krankheit begann mit heftigen Halsschmerzen, die indessen nach dem Einnehmen von Sulfa-Tabletten so schnell vergingen, daß niemand den eigentlichen Verlauf der Krankheit kannte. Solange es in den Drugstores hinlängliche Mengen von Sulfa-Tabletten gab, die trotz ihres Alters wirksam blieben, sah Ish nicht ein, weshalb er auf experimentellem Wege herausbekommen sollte, wohin jene Halsentzündungen sich entwickelten, wenn nichts dagegen unternommen wurde.

Warum nur so wenige Krankheiten übriggeblieben waren — das erschien Menschen wie George und Maurine als ein Wunder, und sie neigten, was das betraf, zu abergläubischen Vorstellungen. Sie meinten, Gott habe in einem furchtbaren Zornausbruch durch eine Seuche das Menschengeschlecht nahezu gänzlich ausgelöscht, und nun sei er zufrieden und lasse die kleinen Krankheiten als eine Art Ausgleich wirken, gerade wie er nach der Sintflut am Himmel den Regenbogen als ein Zeichen gespannt habe, daß nie wieder eine solche Flut sich ereignen solle.

Ish indessen war sich klar darüber, wie das zuging. Da ein so großer Teil der Menschen gestorben war, war die Kette der meisten Infektionen abgerissen, und man konnte sagen, viele individuelle Krankheiten seien »ausgestorben«, als die besonderen Bakterienarten erloschen. Natürlich würde es nach wie vor Krankheiten geben, die einzig der Entartung des menschlichen Körpers entsprangen, wie Herzkrankheiten und Krebs und Georges »Rheumatismus«, und sicherlich auch Infektionen, die ihren Ursprung von Tieren nahmen, wie etwa das Fleckfieber. Auch konnte es hier und dort Überlebende geben, die irgendeine Krankheit in ihrer chronischen Form bewahrten und sie auf andere übertrugen, gerade wie einige von ihnen wohl für das Fortdauern der »Masern« verantwortlich zu machen waren.

Der alte Mann hatte, wie alle sich zu spät erinnerten, sich häufig die Nase geputzt. Zweifellos hatte er sich in einem infektionsfähigen Stadium befunden und sie samt und sonders mit dem angesteckt, was man »eine gewöhnliche Erkältung« zu nennen pflegte, obwohl eine solche inzwischen so ungewöhnlich geworden war, daß sie als erloschen galt.

Auf jeden Fall lag etwas beinahe Komisches in der Art, wie dermaßen viele bis dahin so überaus gesunde Menschen nun plötzlich zu Niesern und Hustern und Räusperern und Naseputzern geworden waren.

Glücklicherweise nahm die Erkältung ihren Verlauf ohne alle Komplikationen, und nach ein paar Wochen waren alle wieder wohlauf. Den ganzen Rest des Jahres hindurch lebte Ish in steter Furcht vor einem neuen Ausbruch. Es bestand, wie er wußte, sehr wohl die Möglichkeit, daß die Infektion in einem von ihnen latent blieb und sich wieder auswirken würde, wenn die kurze Zeit der Immunität der anderen vorüber war. Doch zweifellos half der lange, trockene Sommer (es war in jenem Jahr besonders sonnig) allen die letzten Spuren der Infektion zu überwinden. Das war ein großes Glück! Ish war in den Alten Zeiten höchst empfänglich für dergleichen gewesen. Manchmal hatte er gesagt, und beileibe nicht lediglich im Scherz, der Verlust der »gewöhnlichen Erkältung« wiege den gleichzeitig erfolgten Verlust der Zivilisation auf.

Im Herbst nun aber war es mit dem großen Glück aus. Keiner wußte genau, wie es geschah: aber drei der Kinder erkrankten an heftigem Durchfall und starben. Das wahrscheinlichste war, daß sie beim Spielen in eins der unbewohnten Nachbarhäuser gegangen waren und Gift gefunden hatten — vielleicht Ameisengift. Neugierig hatten sie davon gekostet, hatten gemerkt, daß es süß schmeckte, und es gegessen.

Eines der Kinder war Ishs Sohn gewesen. Von je hatte er voller Angst einem solchen Geschehnis entgegengesehen, nicht um seinet—, sondern um Ems willen. Doch obwohl sie um das Kind trauerte, erkannte er, daß er ihre Stärke unterschätzt hatte. Sie war dem Leben so innig verbunden, daß sie paradoxerweise den Tod ebenfalls als einen Teil des Lebens hinnehmen konnte. Sowohl Molly als Jean, die beiden andern eines Kindes beraubten Mütter, wanden sich in hysterischem Schmerz und waren viel tiefer verstört.

In jenem Jahr wurden zwei Kinder geboren; aber dennoch war die Zahl des »Stammes« am Ende des Jahres kleiner als an seinem Beginn. Sie nannte es »das Jahr des Sterbens«.


Das Jahr 10 wies keine besonderen Ereignisse auf, und keiner wußte recht, wonach man es benennen sollte. Doch als sie auf der flachen Felsplatte saßen und Ish den Hammer schwang und die Jahreszahl einzumeißeln begann, taten zum erstenmal einige der Kinder ihre Meinung kund und sagten, es müsse »das Jahr des Fischens« genannt werden. Das geschah, weil sie während jenes Jahres in der Meeresbucht ganze Schwärme schöner, gestreifter Seebarsche entdeckt hatten, die zu fischen und zu fangen ihr Hauptvergnügen gebildet hatte. Abgesehen von der prächtigen Abwechslung in den Mahlzeiten war das Fischen für alle ein wahrer Quell des Vergnügens gewesen. Im allgemeinen freilich war Ish überrascht, wie gering für sie alle die Notwendigkeit war, sich Vergnügen zu verschaffen. Bei der Art ihrer Lebensführung gab es hinlänglich viel zu tun, wenn man für Nahrungsmittel und eine gewisse Behaglichkeit sorgte; schon darin lag sehr viel Befriedigung, so daß einem kaum der Sinn nach Vergnügungen im eigentlichen Sinne stand.


Im Jahre 11 gebaren Molly und Jean Kinder; aber das Mollys starb bei der Geburt. Das war eine große Enttäuschung; denn es war das erste, das sie bei der Geburt verloren, und im Lauf der Jahre hatten die Frauen große Geschicklichkeit darin erlangt, einander gegenseitig zu helfen. Sie waren der Ansicht, daß Mollys hohes Alter wahrscheinlich die Ursache dieses Todes sei.

Als es darum ging, das Jahr zu benennen, erhob sich ein Disput zwischen den Alten und den Jungen. Die Alten meinten, es sollte genannt werden: »Das Jahr, da Prinzeß starb« … Sie hatte, ein alter Hund schon, eine Zeitlang gekränkelt. Niemand wußte genau, wie alt sie eigentlich war; denn als Ish sie auflas, hätte sie ebensogut ein Jahr wie drei oder vier sein können. Sie war stets die gleiche geblieben — stets die Prinzeß, stets der besten Behandlung gewärtig, stets unzuverlässig, stets bereit, auf der Spur eines imaginären Kaninchens zu verschwinden, wenn sie gerade gebraucht wurde. Doch bei allem, was sich gegen sie sagen ließ, hatte sie stets Charakter bewiesen, und die älteren Leute konnten sich der Zeit erinnern, da sie auf der San-Lupo-Promenade etwas sehr Bedeutsames dargestellt hatte und fast eine weitere Persönlichkeit gewesen war.

Doch jetzt tobten Dutzende von Hunden herum. Sie mußten nahezu sämtlich Kinder und Enkelkinder oder Urenkelkinder von Prinzeß sein, die dann und wann auf einen oder zwei Tage verschwunden war, sich sicherlich mit einem alten Freund unter den wilden Hunden getroffen oder sich einen neuen gesucht hatte. Als Ergebnis dieser mannigfachen Mischungen und Kreuzungen und Inzuchten sahen die gegenwärtigen Hunde nur sehr wenig nach Dackeln aus, wichen aber erstaunlich voneinander in Gestalt, Farbe und Temperament ab.

Für die Kinder aber war Prinzeß ein alter und nicht sehr interessanter Hund von ungewissem Nutzen gewesen. Sie sagten, das Jahr solle »das Jahr des Holzschnitzens« genannt werden, und nach kurzem Zögern unterstützte Ish diesen Vorschlag, obwohl Prinzeß gerade ihm mehr als allen andern bedeutet hatte. Sie hatte ihn während der ersten schlimmen Tage aus seiner Ichverstrickung und von der Furcht befreit, und ihr Fortstürmen unter wildem Gebell hatte ihn in das Haus geführt, wo Em wohnte, während er sonst vielleicht gezaudert hätte und wieder davongefahren wäre. Andererseits aber, so meinte er, war Prinzeß überholt und abgetan, nur noch ein Bindeglied zur Vergangenheit hin, dessen nur Leute gedenken sollten, die jetzt älter und älter wurden. Bald würden die jüngeren Kinder sich ihrer überhaupt nicht mehr erinnern. Nach einer Weile würde sie völlig vergessen sein. (Dann durchglitt ihn der eisige Gedanke: »Genauso werde auch ich alt und älter und bin schließlich nur noch ein Bindeglied zur Vergangenheit hin, ein alter Trottel, den keiner beachtet; und dann sterbe ich und bin bald vergessen. Obwohl das genauso ist, wie es sein muß!«)

Dann aber, während die andern noch hin und her stritten, gedachte er des Holzschnitzens. Es war über sie gekommen wie eine Art Leidenschaft oder Manie, wie das Fliegenlassen von Seifenblasen oder das Mah-Jongg-Spiel in den Alten Zeiten. Plötzlich fingen sämtliche Kinder an, die Holzplätze und Sägewerke nach schönen Stücken und Brettern aus weichem Zuckerkiefernholz zu durchstöbern und dort hinein die Gestalten von Kühen, Hunden oder Menschen zu schnitzen. Anfangs arbeiteten sie unbeholfen, aber bald wurden einige recht geschickt. Obwohl, wie bei allen Leidenschaften, der Eifer schnell nachließ, fuhren die Kinder an Regentagen damit fort.

Ish hatte genug Anthropologie studiert, um zu wissen, daß jedes gesunde Volk künstlerische Regungen hat, und er war bekümmert, daß der »Stamm« sich nicht, was die Kunst betraf, weiterentwickelt hatte, sondern nach wie vor im Schatten der Vergangenheit lebte, auf dem Uhrwerkgrammophon alte Schallplatten anhörte und sich alte Bilderbücher anschaute. Darum hatte er sich über die Holzschnitz-Leidenschaft gefreut.

Als bei dem Hin und Her gerade eine Pause eintrat, ergriff er das Wort und unterstützte die Kinder. So geschah es denn, daß man es »das Jahr des Holzschnitzens« nannte, und für Ish hatte das Jahr 11 einen symbolischen Wert, da es mit der Vergangenheit gebrochen und sich der Zukunft zugewandt hatte. Freilich war die Benennung von untergeordneter Bedeutung, und er war sich nicht sicher, ob er ihr irgendwelchen Wert zuerkennen sollte.


Im Jahre 12 verlor Jean ein Kind bei der Geburt, aber Em schuf den Ausgleich, indem sie ihr erstes Zwillingspaar gebar, das sie Joseph und Josephine nannten, oder für gewöhnlich Joey und Josey. So war jenes Jahr »das Jahr der Zwillinge«.


Das Jahr 13 sah die Geburt zweier Kinder, die beide am Leben blieben. Es war ein ruhiges und angenehmes Jahr, ohne besondere Geschehnisse. Mangels einer besseren Bezeichnung nannten sie es einfach »das Gute Jahr«.


Das Jahr 14 verlief fast genauso, und so nannten sie es »das Zweite Gute Jahr«.


Das Jahr 15 war ebenso vortrefflich, und sie erwogen schon, es »das Dritte Gute Jahr« zu nennen; aber es bestand ein Unterschied. Ish und die älteren Leute empfanden wieder jene erste Einsamkeit und das Hereinbrechen der Dunkelheit. Sich nicht vermehren hieß im Grunde sich vermindern, und dies war seit dem Neubeginn das erste Jahr, in dem kein Kind geboren worden war. Alle Frauen, Em, Molly, Jean und Maurine, wurden nun allmählich alt, und die jungen Mädchen waren noch nicht alt genug zum Heiraten, ausgenommen Evie, die Schwachsinnige, die keinesfalls Kinder haben durfte. So mochten sie es nicht als »das Dritte Gute Jahr« bezeichnen, weil es nicht ganz und gar gut gewesen war. Allein die Kinder erinnerten sich, daß man das Jahr als bemerkenswert bezeichnen konnte, weil Ish sein altes Akkordeon hervorgeholt hatte, und sie zu dessen Gewinsel gemeinsam Lieder gesungen hatten, alte Lieder wie »Mein Herz ist im Hochland« oder »Wenn ich den Wandrer frage«; und so wurde denn das Jahr auf den Vorschlag der Kinder hin »das Singe-Jahr« genannt.


Das Jahr 16 indessen war bemerkenswert, weil darin die erste Hochzeit stattfand. Es heirateten nämlich Mary, Ishs und Ems älteste Tochter, und Ralph; Mollys kurz vor dem Großen Unheil geborener Sohn. Sie waren jünger, als es in den Alten Zeiten für ersprießlich oder gar schicklich für Hochzeitsleute gehalten worden wäre; aber auch in dieser Beziehung hatten die Normen und Regeln sich geändert. Als Ish und Em sich darüber aussprachen, waren sie nicht einmal sicher, ob Mary Ralph besonders gern hätte, oder Ralph Mary. Doch sie waren alle immer überzeugt gewesen die beiden würden einander heiraten, weil sonst niemand da war, den Ralph und Mary hätten nehmen können, genau wie es früher mit Prinzen und Prinzessinnen der Fall gewesen war. Vielleicht, so meinte Ish, war die romantische Liebe zwangsläufig ebenfalls ein Opfer des Großen Unheils geworden.

Maurine, Molly und Jean waren für eine »richtige Hochzeit«, wie sie es nannten. Sie stöberten eine Schallplatte mit dem Lohengrin-Brautmarsch auf und verfertigten ein weißes Brautkleid mit Schleier und allem, was sonst noch dazu gehört. Für Ish jedoch war das lediglich eine gräßliche Parodie auf Gewesenes; Em stimmte ihm auf ihre ruhige Weise bei. Da Mary ihrer beider Tochter war, übernahmen sie die Leitung der Hochzeit. Schließlich gab es überhaupt keine Feierlichkeit, abgesehen davon, daß Ralph und Mary vor Ezra hintraten, der ihnen sagte, jetzt seien sie verheiratet und damit erwüchse ihnen eine neue Verantwortung für die Gemeinschaft, der aufs beste nachzukommen sie versuchen müßten. Bevor das Jahr zu Ende ging, gebar Mary ein Kind, und aus diesem Grunde wurde das Jahr »das Jahr des Enkels« genannt.


Das Jahr 17 wurde hauptsächlich auf den Vorschlag der Kinder hin »das Jahr des Hauseinsturzes« genannt. Der Grund dafür war, daß eins der nahegelegenen Häuser plötzlich geschwankt hatte und dann unter gewaltigem Krachen in sich zusammengebrochen war; die Kinder, die bei dem ersten Krach hinausgelaufen waren, kamen gerade noch rechtzeitig, es zu sehen. Die angestellten Nachforschungen ergaben eine sehr einfache Ursache: Termiten hatten die Gelegenheit ausgenutzt, siebzehn Jahre in dem Hause ungestört tätig zu sein: sie hatten das gesamte Holzwerk aufgefressen. Doch das Geschehnis hatte auf die Kinder großen Eindruck gemacht, und so mußte es dazu herhalten, dem Jahr den Namen zu geben, obwohl es im Grunde kein sehr bedeutendes Ereignis war.


Im Jahre 18 bekam Jean noch ein Kind. Es war das letzte, das eine der älteren Generation Angehörende gebar; doch um jene Zeit fanden innerhalb der zweiten Generation zwei weitere Heiraten statt, und es wurden zwei weitere Enkelkinder geboren.

Das Jahr erhielt den Namen »das Jahr des Schulunterrichts«. Bereits als die ersten Kinder alt genug dazu gewesen waren, hatte Ish auf eine mehr oder weniger planlose Weise versucht, ihnen eine Art Unterricht zu erteilen, so daß sie wenigstens lesen und schreiben, ein bißchen rechnen konnten und ein paar Kenntnisse in der Geographie hatten. Doch es war immer recht schwierig gewesen, die Kinder zusammenzubekommen, und sie hatten allem Anschein nach stets so viel zu tun, sei es im Spiel oder im Ernst, daß bei dem Schulunterricht nicht allzuviel herausgekommen war, obwohl die meisten der älteren Kinder leidlich lesen konnten. Wenigstens hatten sie einmal lesen können; doch Ish bezweifelte, daß einige unter ihnen — beispielsweise Mary, die jetzt Mutter zweier Babys war — jetzt noch zu anderem imstande war, als mühsam einsilbige Wörter zu buchstabieren. (Obwohl sie seine älteste Tochter war und er sie sehr liebhatte, gestand er sich, daß Mary nicht intelligent — um nicht zu sagen: dumm war.)

In diesem Jahre 18 nun aber unternahm Ish den ernsthaften Versuch, alle Kinder im geeigneten Alter zusammenzutrommeln, damit sie nicht gänzlich ohne alle Kenntnisse aufwüchsen. Eine Zeitlang ging alles gut; dann aber schlief es nach und nach wieder ein, und man vermochte nicht zu sagen, ob er etwas erreicht hatte oder nicht. Er selbst hatte das Gefühl, es sei alles vergeblich gewesen.


Das Jahr 19 war »das Jahr des Elchs«, abermals wegen eines kleinen Zwischenfalles, der den Kindern Eindruck gemacht hatte. Eines Morgens hatten einige Evie erblickt, die inzwischen zur Frau herangewachsen war, wie sie nach etwas hinsah, mit dem Finger darauf zeigte und mit ihrer seltsamen Stimme durchdringende Schreie ausstieß; Wörter konnte sie kaum bilden. Als sie Ausschau hielten, gewahrten sie, daß Evie auf eine neue Art von Tier zeigte. Es ergab sich, daß es ein Elch war, der erste, den sie in all den Jahren zu Gesicht bekamen. Augenscheinlich hatten die Rudel sich jetzt so stark vermehrt, daß sie vom Norden her wieder in diese Gegend gekommen waren, wo sie vor der Ankunft des weißen Mannes gelebt hatten.


Über die Bezeichnung des Jahres 20 war man sich sogleich einig. Es war »das Jahr des Erdbebens«. Der alte San Leandro trat wieder in Tätigkeit, und eines Morgens früh gab es einen heftigen Erdstoß, und dann erscholl das Krachen niederstürzender Schornsteine. Die Häuser, in denen sie wohnten, hielten dem Stoß stand, weil George sie vortrefflich ausbesserte. Die Häuser aber, die von Termiten zernagt, vom Wasser unterspült oder durch Schwamm und Fäulnis beschädigt waren, brachen krachend zusammen. Danach gab es kaum noch eine Straße, auf der nicht hier und dort Haufen von Ziegelsteinen oder andere Trümmer lagen, und infolge des Erdbebens begann der Verfall rasche Fortschritte zu machen.


Ish hatte gemeint, sie würden das Jahr 21 als »das Jahr des Kommenden Zeitalters« bezeichnen. Sie waren jetzt sechsunddreißig: sieben, dazu Evie, die der älteren, einundzwanzig, die der zweiten, und sieben, die der dritten Generation angehörten.

Schließlich jedoch erhielt das Jahr, wie so viele voraufgegangene, seinen Namen durch einen kleinen Zwischenfall … Joey war einer der Zwillinge, also eins der jüngsten von den Ish und Em geborenen Kindern. Er war ein aufgeweckter Junge, obwohl klein für sein Alter und nicht so sehr dem Spiel und dem Sport zugetan wie manche andere, die jünger als er waren. Er wurde von seinen Eltern ein bißchen verwöhnt, weil er zusammen mit seiner Zwillingsschwester der Jüngste war. Im großen ganzen indessen hatte ihm keiner besondere Aufmerksamkeit gewidmet, wie es ja auch bei einer so großen Schar von Kindern nicht anders zu erwarten war, und jetzt war er neun Jahre alt. Gegen Ende dieses Jahres nun aber entdeckten sie zu ihrer größten Verblüffung, daß Joey lesen konnte — nicht langsam und stockend wie die andern Kinder, sondern geläufig, klar und nicht ohne Freude daran. Ish spürte, wie ihm angesichts seines jüngsten Sohnes das Herz warm wurde. Er war der einzige, in dem die Flamme des Geistes fortbrannte.

Auch den andern Kindern machte das großen Eindruck, und so riefen sie bei der Feierlichkeit alle, daß das Jahr heißen solle: »Das Jahr, da Joey las.«


Ende des Zwischenkapitels, betitelt »Eilende Jahre«.

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