Kapitel Zwei Familien: Du kannst nicht mit ihnen leben, Du kannst sie nicht alle in Säcke stecken und ertränken

Das Herrenhaus ist seit Generationen das Zuhause der Droods. Obwohl es, offiziell, gar nicht existiert. Sie werden es auf keiner Landkarte finden und Sie können es über keine normale Straße erreichen. Das Herrenhaus steht alleine da, abgesondert von der Welt, und so gefällt es ihm auch. Begeben Sie sich nicht auf die Suche nach uns, oder es wird Ihnen etwas wirklich Unangenehmes zustoßen; wir werden von Wissenschaften und Zaubereien beschützt, und von Albträumen, die noch schlimmer sind als das. Die Familie hat ihre Zurückgezogenheit und ihre Sicherheit immer sehr ernst genommen.

Besonders nachdem die Chinesen versuchten, uns mit Kernwaffen zu vernichten, damals in den Sechzigern. Dass wir die Welt beschützen, heißt noch lange nicht, dass die Welt uns immer dankbar dafür ist.

Jahrhundertelang hat das Herrenhaus Droods ernährt, großgezogen und indoktriniert. Uns unnachgiebig dazu ausgebildet, den guten Kampf zu kämpfen und uns alles gelehrt, was wir über die Welt wissen mussten, außer wie man darin lebt. Die meisten Droods verlassen das Herrenhaus ihr ganzes Leben lang nicht. Nur erprobte Frontagenten kommen dazu, in die Welt hinauszuziehen und in ihr hin und her zu gehen und unsere endlosen, geheimen, unsichtbaren Kriege zu führen und die Gottlosen heimzusuchen, bis sie wie die kleinen Kinder weinen. Das Herrenhaus ist uns allen Mutter und Vater; das Herrenhaus ist Familie. Ich war bei der ersten sich bietenden Gelegenheit ausgerissen und hatte nie zurückgeblickt. Und jetzt, zur Strafe für meine vielen Sünden, war ich wieder zu Hause. Angeblich, um die Familie in ihrer Stunde der Not zu führen und ihre Seele vor den üblen Gewohnheiten zu bewahren, denen sie über die langen Jahrhunderte hinweg verfallen war, seit wir uns von den Beschützern der Welt zu ihren Herrschern erhoben hatten.

Das Herrenhaus steht allein inmitten seiner weitläufigen Parkanlagen, eifersüchtig über seinem idyllischen Reich brütend. Ich lenkte den Bentley über den langen, gewundenen Kiesweg, und zu beiden Seiten stiegen Maschinengewehre geräuschlos aus ihren verborgenen Stellungen und folgten uns im Vorbeifahren, bevor sie sich widerwillig wieder unters Gras zurückzogen. Sprinkler breiteten ihre sanften Dunstschleier über die ausgedehnten Rasenflächen aus, und herumwandernde Pfauen schrien ihr Willkommen und ihre Warnungen hinaus. Greifen patrouillierten durch die Parkanlagen und hielten den Blick starr auf die nahe Zukunft gerichtet; sie waren die perfekten Wächter und Wachhunde - wenn sie nicht gerade auf der Suche nach etwas richtig Faulem und übel Riechendem waren, um sich darin zu wälzen. Ich konnte Kraftschilde und magische Schutzschirme spüren, die sich vor und hinter uns ein- und ausschalteten, als die Sicherheitssysteme des Herrenhauses Molly und mich erkannten und passieren ließen. Niemand kommt ungeladen herein.

Ich drosselte die Geschwindigkeit, damit Molly sich an den Heckenlabyrinthen, den Blumenbeeten und den Schwänen, die friedlich auf dem See schwammen, erfreuen konnte. Es gefiel mir, mit meinem Zuhause vor ihr anzugeben, auch wenn sie sich immer größte Mühe gab, unbeeindruckt zu wirken. Und außerdem hatte ich es ganz und gar nicht eilig, wieder zum Herrenhaus und der ganzen Arbeit und den Verpflichtungen, die dort auf mich warteten, zurückzukommen. Was glauben Sie denn, wieso ich damals überhaupt erst ausgerissen bin?

Das Herrenhaus ragte drohend vor uns auf und beherrschte den Horizont - der Wächter an den Toren der Realität: der seit langer Zeit bestehende Wohnsitz der Drood-Familie und das letzte Bollwerk der Menschheit gegen die Mächte der Finsternis. Um die Wahrheit zu sagen, ist es eine elende alte Bruchbude, zugig wie ein Kuhstall und gänzlich frei von modernen Neuerungen wie beispielsweise einer Zentralheizung. Ich wuchs in dem Glauben auf, von September bis April lange Unterwäsche zu tragen, sei normal. Das Herrenhaus ist ein riesiger, wuchernder alter Gebäudekomplex, der zu Tudorzeiten schnell zusammengezimmert und über die Jahrhunderte hinweg häufig erweitert wurde. Gegenwärtig ist es das Zuhause von ungefähr dreitausend Seelen, alles Droods. Man kann in die Familie einheiraten, aber nicht aus ihr heraus. Wir sind wie die Mafia: einmal drin, nie mehr raus. Es sei denn, man möchte mit einem Einhornkopf neben sich im Bett aufwachen.

Ich stieg auf die Bremse und parkte den Bentley in einem Sprühregen aus fliegendem Kies direkt vor der Vordertür des Herrenhauses, hauptsächlich, weil ich wusste, dass ich das eigentlich nicht sollte. Fang an, wie du vorhast weiterzumachen, sage ich immer. Molly sprang über die geschlossene Beifahrertür aus dem Wagen, während ich noch den Motor abstellte. Ich kletterte ihr schnell hinterher, bevor sie anfangen konnte, irgendwelche Scherereien zu machen. Wenn jemand anfing, Scherereien zu machen, dann wollte ich das sein. Erste Eindrücke sind sehr wichtig. Wir hatten es kaum durch den Haupteingang in die Vorhalle geschafft, als auch schon ein Mob aufgebrachter Familienmitglieder über uns herfiel. Es hatte den Anschein, als hätten sie einige Zeit darauf gewartet, ein entschlossenes Wörtchen mit mir zu reden, und sie waren nicht bereit, Nein oder Nicht jetzt und nicht einmal Fahr zur Hölle! als Antwort zu akzeptieren. Im selben Moment, in dem sie mich zu Gesicht bekamen, fingen alle an, mir Fragen und Forderungen entgegenzurufen, wobei sie ständig lauter wurden, um sich Gehör zu verschaffen, und einander in ihrem Eifer, zuerst zu mir zu gelangen, sogar schubsten und stießen.

Was beinahe beispiellos war in dem disziplinierten, streng strukturierten und fast feudalen System, dem unsere Familie seit Jahrhunderten folgte. Es sah so aus, als hätte ich, als ich die Autorität infrage gestellt hatte und damit davongekommen war, eine Flut von unterdrücktem Unmut entfesselt. Die Familie wollte Veränderungen und sie wollte sie jetzt, aber unglücklicherweise konnte sie sich nicht darüber einigen, was genau geändert werden sollte und wie. Molly und ich standen dicht zusammen, den Rücken gegen die geschlossene Eingangstür gepresst, während jeder in der Menge sein Bestes gab, um lauter zu schreien als die anderen. Der Lärm war entsetzlich und die Gesichter vor mir angespannt und hässlich vor Arger, Ungeduld und Entschlossenheit.

Ich gab mir die größte Mühe, mich zu konzentrieren und etwas von dem herauszufiltern, worüber sie unaufhörlich schwatzten. Manche hatten Fragen über die neue Familienpolitik, andere wollten wissen, wann sie die neuen silbernen Torques bekommen würden, und eine ganze Menge wollte andere Leute denunzieren, denen sie unterstellten, gegen den Fortschritt oder für die falsche Art von Fortschritt oder einfach nur schuldig der Sünde zu sein, nicht mit den Vorstellungen des Sprechers konform zu gehen. Manche der Fragen und Forderungen waren schlichtweg unmöglich umzusetzen und ohne Zweifel dazu gedacht, mich in Verlegenheit zu bringen und vor der Familie schwach aussehen zu lassen. Habe ich schon erwähnt, dass ich Feinde innerhalb der Familie habe? Traditionalisten vom harten Kern und überlebende Mitglieder der Null-Toleranz-Fraktion, die immer noch fuchsteufelswild waren, weil ihr kleiner Putsch misslungen war, und sich nun entschlossen erwiesen, mich zu sabotieren und zu unterminieren.

Die Hölle kennt keinen größeren Zorn als einen Drood mit einem Groll.

Ich versuchte, höflich zu sein und die Fragen derjenigen zu beantworten, die am nächsten standen, aber in dem allgemeinen Stimmenchaos konnte mich niemand hören, und niemand in der Menge war bereit, sich zugunsten eines anderen zu beruhigen. Es sind Momente wie dieser, wo ich mir wünschte, meine Rüstung wäre mit Pfefferspray ausgestattet. Oder mit einem Wasserwerfer. Am Ende sah ich Molly an, und sie grinste spitzbübisch. Sie murmelte ein paar Worte und vollführte eine scharfe Gebärde, und plötzlich war jeder in der ganzen Menge völlig nackt und wunderte sich, wo die kalte Brise herkam. Schnell wich das Stimmenchaos schockiertem Schweigen, dem ein paar Quiekser und Schreie folgten, als ungefähr hundert nackte Droods sich Mühe gaben, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken oder sich hintereinander zu verstecken. Molly feuerte funkelnde Blicke in die Menge ab, und ihr Lächeln war ganz und gar nicht freundlich.

»In Ordnung; jetzt hört ihr alle mal schön zu, oder ich werde euch dorthin schicken, wo ich eure Kleider hingeschickt habe! Und eure Kleider werden nicht zurückkommen - wenigstens nicht in einem Zustand, in dem ihr noch hoffen könnt, sie noch einmal zu tragen. Mein liebes Lottchen, schaut euch bloß mal an! Der lebendige Beweis dafür, dass die meisten Menschen besser aussehen, wenn sie Kleider anhaben. Nun seid brave kleine, nackte Leute und lauft furchtbar schnell weg, bevor ich noch auf die Idee komme, etwas wirklich Amüsantes mit euch anzustellen. Etwas, wobei wahrscheinlich Möbius-Bänder und eure Geschlechtsorgane eine Rolle spielen würden.«

Noch nie hatte ich so viele Leute so schnell verschwinden sehen - oder so viele völlig unattraktive Ärsche auf einmal. Ich schaute Molly an, und sie lächelte süß.

»Siehst du - man muss nur wissen, wie man mit den Leuten redet!«

»Von Diplomatie hast du auch noch nichts gehört, stimmt's?«

»Nö. Und, bist du nicht froh?«

»Naja, schon.«

Und das war der Moment, als der Seneschall endlich geruhte aufzutreten. Er hätte eigentlich die Vordertür bewachen müssen. Das war sein Job: Das erste und letzte Gesicht zu sein, das ein Außenstehender jemals zu sehen bekommt, falls er ungeladen durch die Vordertür käme. Der Seneschall ist für die Sicherheit und Familiendisziplin des Herrenhauses verantwortlich, was so viel heißt wie, dass er oft dazu kommt, Leute zu schlagen; und nie ist er glücklicher, als wenn er eine Entschuldigung dafür gefunden hat, jemandem neue Vorschriften zu machen. Er hatte mir das Leben zur Hölle gemacht, als ich ein Kind war, mich für den kleinsten Regelverstoß geschlagen, bis das Blut spritzte, und als ich schließlich ins Herrenhaus zurückkehrte, um die Familie in Ordnung zu bringen, war eine der ersten Dinge, die ich tat, ihm die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Und dann hatte er noch die Frechheit zu sagen, das alles habe er nur getan, um mich abzuhärten und auf die Welt draußen vorzubereiten. Sagte tatsächlich, er sei stolz auf mich, bevor er in Ohnmacht fiel. Das werde ich ihm nie verzeihen!

Der Seneschall war hochgewachsen und breit und hatte Muskeln an Stellen, wo Sie und ich nicht einmal Stellen haben. Und wenn er auch eine Vorliebe für die steife, schwarz-weiße Uniform eines viktorianischen Butlers hatte, ließ sich davon niemand auch nur einen Moment lang zum Narren halten. Der Mann war ein Schläger und Tyrann und stolz darauf - und deshalb perfekt geeignet für seinen Job. Er hatte jenes steifrückige, stahläugige militärische Aussehen, das einem für die Zukunft Blut, Schweiß und Tränen verspricht, und alles dein eigenes. Sein ausdrucksloses Gesicht wirkte immer, als sei es aus Stein gemeißelt, aber jetzt sah es aus, als hätte es jemand noch dazu mit dem Presslufthammer bearbeitet. Das letzte Mal, als wir Mann gegen Mann aneinander geraten waren, hatte Molly ihn mit einer Rattenplage geschlagen, und jetzt war eine seiner Gesichtshälften ein Narbenklumpen und ihm fehlte das linke Ohr. Ich warf ihm einen strengen Blick zu.

»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dein Gesicht in Ordnung bringen lassen! Die Schönheitszauberer könnten dich an einem Nachmittag wieder herrichten, und das weißt du.«

»Ich mag die Narben«, entgegnete der Seneschall ruhig. »Sie geben mir mehr Persönlichkeit. Und sie sind hervorragend geeignet, Leute einzuschüchtern.«

»Was ist mit dem Ohr?«

»Wie bitte?«

Ich blickte ihn finster an. »Wo zum Teufel hast du gesteckt, als uns dieser Mob aus dem Hinterhalt überfallen hat?«

»Genau!«, sagte Molly. »Hast's dir bestimmt in deiner Zelle mit der neuesten Ausgabe von Große Titten gut gehen lassen und die Tür abgesperrt, was?«

Der Seneschall ignorierte sie und hielt seinen kalten Blick auf mich gerichtet. »War Zeit, dass du zurückgekommen bist, Junge. Mit dem ganzen Haus geht es den Abort runter, seit du weg bist. Ohne die alten Gewissheiten, die sie bei der Stange gehalten haben, fällt die Disziplin der Familie auseinander. Sie brauchen dich hier, damit du ein Beispiel gibst; es hilft ihnen nicht, wenn du dich in Privatangelegenheiten in der Welt herumtreibst!«

»Weißt du, nur ein einziges Mal wäre es nett, ein Willkommen zu Hause! zu hören, wenn ich durch die Tür komme«, meinte ich sehnsüchtig. »Also hör auf, mir auf den Wecker zu fallen, Seneschall, oder ich werde dich von Molly in einen kleinen, dampfenden Haufen von irgendwas verwandeln lassen. Du willst mir doch nicht erzählen, dass der wütende Mob sich einfach so zusammengerottet hat. Ohne deine Mitarbeit hätten sie nicht mal in die Nähe der Vordertür kommen können!«

»Ich wollte nur, dass du siehst, wie schlimm die Dinge geworden sind«, antwortete der Seneschall gelassen. »Sobald es unschön geworden wäre, wäre ich eingeschritten.«

»Ich finde mich nur mit dir ab, damit du mir diese Nervensägen vom Hals halten kannst«, sagte ich rundheraus. »Es ist schon schlimm genug, dass ich gerade vor meiner alten Wohnung von einem Haufen MI5-Trottel angegriffen worden bin, auch ohne dass meine eigene Familie mich überfällt, kaum dass ich durch die Tür gekommen bin! Wenn du das noch einmal zulässt, werde ich dich gegen die nächste Wand klatschen, bis deine Augen die Farbe wechseln! Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Eins musste man dem Mann lassen: Obwohl es seit Jahrzehnten niemand mehr gewagt hatte, so mit ihm zu reden, und obwohl er wusste, dass ich jedes Wort so meinte, zuckte er nicht einmal mit der Wimper.

»Ich musste sehen, wer handeln würde, statt nur zu reden«, sagte er. »Jetzt, wo sie sich selbst als Unruhestifter entlarvt haben, kann ich mich hinter sie klemmen, und es wird Prügel setzen. Versuch nicht, mir meinen Job beizubringen, Junge! Du magst vielleicht jetzt die Familie leiten, aber ich leite das Herrenhaus! So, was war das jetzt mit dem MI5 und dem Angriff auf dich? Niemand greift uns an und kommt damit davon!«

»Glaub mir«, sagte ich, »das sind sie auch nicht. Aber sie haben genau gewusst, wo und wann sie mich finden können, was bedeutet, dass jemand aus der Familie mich an den Premierminister verpfiffen hat. Also mach dich nützlich und finde heraus wer!«

Seine kalten Augen leuchteten bei dem Gedanken an genehmigte Gewaltanwendung auf. »Irgendwelche Einschränkungen bei meinen Methoden?«

»Ich will Antworten, keine Leichen«, klärte ich ihn auf. »Ansonsten geht alles. Bring sie zum Weinen, bring sie zum Reden! Gerade im Augenblick kann es sich die Familie nicht leisten, gespalten zu sein.«

»Hardcore, Eddie!«, sagte Molly. »Was kommt als Nächstes - Treueschwüre und öffentliche Hinrichtungen?«

Der Seneschall neigte den Kopf leicht in meine Richtung. »Willkommen zu Hause, Sir. Willkommen zurück bei der Familie.«

»Ruf meinen Inneren Zirkel zusammen!«, wies ich ihn an. »Sie sollen im Sanktum auf mich warten. Wir haben dringende neue Angelegenheiten zu besprechen; ich werde da sein, so schnell ich kann. Zuerst muss ich aber mit der Matriarchin reden. Wie geht es ihr?«

»Immer noch in Trauer«, berichtete der Seneschall.

»Alistair ist nicht tot«, sagte ich.

»Könnte es aber ebenso gut sein.«

Der Seneschall verbeugte sich steif vor mir, ignorierte Molly, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand mit ausgreifenden Schritten in den labyrinthischen Tiefen des Herrenhauses. Er würde sich nie für mich erwärmen, und ich hätte auch gar nicht gewusst, was ich tun sollte, wäre es anders gewesen.

»Du hängst dich in diese Anführersache richtig rein, was?«, bemerkte Molly. »Befehle bellen und Prügel verteilen. Ich schätze, die Erziehung kommt eben irgendwann ans Licht. Du bist jeder Zoll ein Drood, Eddie!«

Ich zuckte entschuldigend die Achsel. »Ich schwöre, dass ich sehr viel ruhiger und gelassener war, bevor ich ins Herrenhaus zurückgekehrt bin. Mich mit meiner Familie befassen zu müssen, bewirkt bei mir einfach irgendwie, dass ich spucken und fluchen und mit Sachen um mich schmeißen will. Vorzugsweise mit Sprengkörpern. Aber man muss sehen, dass ich das Sagen habe, Molly. Ich muss hart mit der Familie umspringen und dafür sorgen, dass sie sich der neuen Linie unterwirft, oder ihre Mitglieder werden sich gegeneinander wenden und die Familie wird sich selbst vernichten. Ich habe ihnen alles genommen, worauf sie angewiesen waren; jetzt liegt es an mir, ihnen etwas anderes zu geben, wofür es sich zu leben lohnt. Eine neue Sache, der sie folgen können.« Ich seufzte müde. »Ich hasse all das, Molly - nicht zuletzt, weil ich den schrecklichen Verdacht habe, dass ich der Aufgabe nicht gewachsen bin. Aber ich muss es tun … weil sonst niemand da ist.«

Molly legte mir eine tröstende Hand auf die Schulter. »Ich kann jederzeit noch mehr Leute für dich in Tiere verwandeln.«

»Könntest du sie auch in vernünftige Menschen verwandeln?«

»Sei realistisch, Schatz; ich bin eine Hexe, keine Wundertäterin.«

Wir rangen uns beide ein kleines Lächeln ab. »Mir gefällt nicht, was ich tun muss«, sagte ich. »Mir gefällt nicht, was aus mir wird. Aber ich muss um jeden Zentimeter Fortschritt kämpfen. Es liegt nicht an mir; es liegt an ihnen. Meine Familie könnte Mutter Teresa in einer Woche dazu bringen, direkt aus der Flasche zu trinken und nach der Wiedereinführung der Hinrichtung durch den Strang zu verlangen. Hör zu, ich muss los und die Matriarchin sehen, und du kannst nicht mitkommen. Es wird für mich allein schon schwierig genug werden, zu ihr vorgelassen zu werden. Also schaust du auf einen Sprung im Sanktum vorbei und beschäftigst die anderen, bis ich nachkommen kann.«

»Ich verstehe«, sagte Molly süß und sehr gefährlich. »Ich bin jetzt also dein Hofnarr, richtig?«

»Entschuldige!«, lenkte ich ein. »Ich bin immer noch dabei, den Dreh mit diesem Beziehungskistending rauszukriegen. Ich meinte natürlich, nimm die Sache in die Hand, bis ich nachkommen kann. Wir sind schließlich gleichberechtigte Partner!«

»Nun«, meinte Molly, »damit kann ich mich vielleicht abfinden. Aber nur, weil ich dich so gern habe.«


Mit großen Schritten durchmaß ich die langen Gänge und Korridore, die großen, kreisrunden Versammlungsräume und weitläufigen, luftigen Zimmer und steuerte auf die Privatgemächer der Matriarchin im Westflügel zu. Leute hörten auf mit dem, was sie gerade taten, um mir hinterherzuschauen. Ich lächelte denjenigen zu, die mir zulächelten, und funkelte alle andern böse an, um dafür zu sorgen, dass sie Abstand hielten. Ich war nicht in der Stimmung, noch mehr Fragen zu beantworten, insbesondere nicht, da ich kaum Antworten hatte. Jahrhundertealte Holzvertäfelungen glänzten auf allen Seiten mit einer tröstlichen Patina aus Alter und Bienenwachs; Gemälde berühmter Maler hingen an jeder Wand. Wohin ich auch blickte standen uralte Statuen und Büsten und Ornamente von großem Wert - die angehäuften Tribute an die Droods, uns übereignet von den Regierungen der Welt; natürlich weil sie uns so dankbar waren und nicht etwa, weil sie uns so fürchteten.

Der ganze Flügel strahlte jene ruhige Zuversichtlichkeit aus, die entsteht, wenn er Generation um Generation seine Zimmer und Korridore bevölkern sieht. Diese leicht blasierte Gelassenheit, die sagt: Ich werde noch hier sein, wenn ihr schon lange tot seid. Von frühester Kindheit an wird jedem Drood eingebläut, dass wir nur hier sind, um der Familie bei ihrem unaufhörlichen Kampf gegen das Böse zu dienen. Soldaten in einem Krieg, der niemals endet. Unser Wahlspruch lautet: Alles für die Familie. Und ich glaubte daran. Wir hatten eine heilige Sache und eine heilige Pflicht, und unsere Feinde waren wahrlich finster und schrecklich. Auch nach all den Lügen, die ich im dunklen und verborgenen Herzen der Familie aufgedeckt hatte, glaube ich noch daran. Die Droods müssen weitermachen, weil die Menschheit ohne uns nicht überleben kann. Ich musste die Familie einfach wieder zu dem machen, was sie einmal war, was sie ursprünglich hatte sein sollen: Schamanen unseres Stammes, stehen zwischen den Menschen und den Mächten, die sie bedrohen. Schamanen, die für sie kämpfen, für sie sterben. Die Beschützer, nicht die Herrscher der Menschheit.


Die Matriarchin bewohnte natürlich die allerbesten Räumlichkeiten im Herrenhaus: eine ganze Zimmerflucht nur für sie und ihren Mann im obersten Stockwerk des Westflügels. Eine ganze Zimmerflucht, wo die meisten von uns mit nur einem Zimmer auskommen mussten und die jüngsten Familienmitglieder sogar in gemeinschaftlichen Räumen und Schlafsälen untergebracht waren. An einem Ort, der so vollgestopft war, dass er aus allen Nähten platzte, ist der einzige wirkliche Luxus Platz. Das Herrenhaus ist groß, aber die Familie ist noch größer.

Als neues Familienoberhaupt hätte ich die Matriarchin hinauswerfen und mir die Zimmerflucht für mich selbst und Molly nehmen können, aber das brachte ich nicht übers Herz. Nicht nach dem, was ich dem Mann der Matriarchin, Alistair, angetan hatte.

Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug und sich meine Kehle zuschnürte, als ich mich der Tür der Matriarchin näherte. Ich war vorher erst einmal hier gewesen, damals, mit gerade zwölf Jahren. Ich war von der Matriarchin höchstpersönlich für eine private Befragung zu ihr zitiert worden - ein beispielloser Vorfall. Der Seneschall hatte mich hingebracht, eine große Hand stets bereit, mir eine Ohrfeige zu geben, falls ich trödelte. Ich war halb von Sinnen vor Lampenfieber. Was hatte ich diesmal falsch gemacht? Alle möglichen Dinge schossen mir durch den Kopf, aber nichts davon war schlimm genug, um die persönliche Aufmerksamkeit der Matriarchin zu rechtfertigen. Der Seneschall klopfte an die Tür, öffnete sie und stieß mich hinein. Und da war sie, Martha Drood, und saß kerzengerade auf einem Stuhl und fixierte mich mit ihrem unnachgiebigen Blick.

Sie hatte mein letztes Schulzeugnis in der Hand, und sie war sehr enttäuscht von mir. Offenbar war es voller Bemerkungen wie Muss sich mehr Mühe geben, Könnte besser sein und, am vernichtendsten von allen, Intelligent, lässt es aber an Disziplin fehlen. Schon mit zwölf war meine Persönlichkeit fast fertig ausgebildet. Die Matriarchin schalt mich mit ihrer kältesten Stimme, während ich schmollend und starrsinnig vor ihr stand. Es war nicht mein Fehler, wenn ich Fragen stellte, die die Lehrer nicht beantworten konnten oder wollten. Wissen Sie, ich ließ mir eben nichts befehlen. Ich hätte alles getan, wenn man mich gefragt hätte, aber ich machte nichts, was man mir befahl, wenn ich keinen guten Grund dafür erkennen konnte. Und eine Familie, die auf Verantwortung und Pflicht aufgebaut ist, konnte eine derartige Haltung niemals akzeptieren. Sie hatten versucht, mir Respekt einzuprügeln, und als das nicht funktionierte, gaben sie der Matriarchin Nachricht, die mich jetzt als faul und widerspenstig tadelte und mir prophezeite, mit mir würde es ein schlimmes Ende nehmen.

Ich denke, sie war hauptsächlich aus dem Grund ärgerlich, dass wir so eng verwandt waren und mein Versagen ein schlechtes Licht auf sie warf: Es wurde mehr von mir erwartet. Schon mit zwölf war ich alt genug, um zu fühlen, dass das ausgesprochen unfair war, aber ich hatte noch nicht das Zeug dazu, es in Worte zu fassen. Also stand ich nur mürrisch vor ihr und sagte nichts, selbst als sie versuchte, mich zu befragen. Am Ende warf sie mich raus und lieferte mich wieder den Lehrern und dem Seneschall aus. Ich glaube, sie nahm es mir übel, Zeit von wichtigeren Angelegenheiten abziehen zu müssen, nur um sich mit mir abzugeben. Ich war ihr nie wichtig gewesen, und da fragte sie sich, warum sie mir nicht wichtig war.

Ich blieb vor der Tür der Suite stehen, atmete tief durch, stieß sie auf und ging ohne anzuklopfen hinein. Fang an, wie du vorhast weiterzumachen, oder du wirst untergebuttert. Das luxuriös eingerichtete Vorzimmer war voller Menschen, die auf einmal alle schwiegen und mich mit kalten und unfreundlichen Mienen anstarrten. Es sah so aus, als sei ich nicht der Einzige, der die Matriarchin sprechen wollte, nun, da sie sich in die Abgeschiedenheit ihrer Räume zurückgezogen hatte, um ihren verletzten Alistair zu pflegen. Niemand im Vorzimmer wirkte auch nur im Geringsten erfreut, mich zu sehen, aber daran gewöhnte ich mich allmählich. Ich blickte einfach finster zurück und schritt forsch vorwärts, als ob ich beabsichtigte, auf jedem herumzutrampeln, der mir nicht schnell genug aus dem Weg ging. Normalerweise funktioniert das, aber diesmal wich niemand auch nur einen Zentimeter zur Seite. Sie rührten sich einfach nicht von der Stelle und blockierten den Weg zwischen mir und der Tür zum Schlafzimmer der Matriarchin auf der anderen Seite des Vorzimmers. Sie trotzten mir, sodass ich nicht an ihnen vorbeikam. Manche waren ihre Freunde, manche ihre Verbündeten; die meisten waren einfach nur fest entschlossen, mir so viel zu verweigern, wie sie nur konnten. Sie waren alle Leute von Rang und Macht gewesen, bevor ich alles über den Haufen geworfen hatte. Ich blieb stehen - entweder das, oder ich hätte Zuflucht zu fliegenden Fäusten und Kopfnüssen nehmen müssen, und so weit war ich noch nicht. Noch nicht ganz.

»Nun sieh mal einer an, wer hier ist!«, sagte ich. »Die ganzen vollwertigen Mitglieder der Lass-uns-die-Uhr-zurückdrehen-und-so-tun-als-ob-nichts-geschehen-wäre-Gesellschaft! Es sind Momente wie dieser, wo ich mich frage, ob wir nicht ein bisschen zu lasch im Umgang mit den für die Inzucht maßgeblichen Bestimmungen geworden sind. Alle mal die Hand heben, die an ihren Zehen bis elf zählen können!«

Ein Frau unbestimmten Alters trat vor, um mich herauszufordern. Ich kannte sie nicht, aber ich erkannte die Sorte.

»Wie kannst du es wagen?«, fragte sie laut. »Nach allem, was du der Familie und Martha und Alistair angetan hast! Wie kannst du es wagen, dein Gesicht hier zu zeigen?«

»So ist's richtig, Liebes! Sag's ihm!«, sagte ein Mann direkt hinter ihr. Es musste sich um ihren Ehemann handeln; er hatte diesen gut dressierten Blick. »Hast du gar kein Schamgefühl, Edwin?«

»Tut mir leid, nein«, antwortete ich. »Ist im Moment aus. Da werde ich wohl jemand in den Laden schicken müssen, um welches zu besorgen. Und schafft euch mir verdammt noch mal aus dem Weg, oder …«

»Oder was?«, fauchte die Frau mich an und verschränkte die Arme vor ihrer imposanten Brust. »Du kannst uns nicht herumkommandieren!«

»Ich glaube, ihr werdet feststellen, dass ich genau das kann«, entgegnete ich. »Vergesst nicht, ich habe einen Torques und ihr nicht! Aber was ich eigentlich sagen wollte war: Schafft euch mir aus dem Weg, oder ich werde den Seneschall reinrufen, um eure Namen festzustellen und Schädel einzutreten.«

Es war ein Bluff, aber das wussten sie nicht. Alle blickten zu der Tür hinter mir, als ob sie damit rechneten, jeden Moment den Seneschall ins Zimmer platzen zu sehen, und man konnte beobachten, wie der Trotz ihnen langsam abhanden kam.

Dennoch empörte sich die Frau unbestimmten Alters noch einmal. »Na hör mal!« Aber sie war nicht mehr mit dem Herzen bei der Sache. Ihr Mann war schon im Begriff, sich hinter ihr zu verstecken. Ich schritt vorwärts, und die Menge teilte sich vor mir wie das Rote Meer. Ich hielt den Rücken gerade, den Kopf erhoben und den Blick geradeaus gerichtet. Wenn man durch eine Meute gefährlicher Tiere geht, darf man keinen Moment lang Schwäche zeigen, oder sie gehen einem an die Kehle. Ich öffnete die Tür zum Schlafzimmer, trat hindurch und schloss sie hinter mir ruhig, aber fest.

Ich seufzte innerlich. Es ärgerte mich, dass sie mich nicht so respektierten, wie sie den Seneschall respektierten. Daran würde ich arbeiten müssen.

Das Schlafzimmer der Matriarchin war überraschend freundlich und anheimelnd, trotz aller Größe. Behagliche Möbel, viel Licht von den großen Fenstern, überall Blumen. Karten und Briefe, die Unterstützung zusicherten, standen auf jeder Oberfläche. Eine Handvoll Leute hielt sich im Zimmer auf, um ihre Aufwartung zu machen und Trost zuzusprechen. Sie hatten nicht erwartet, mich hier zu sehen, aber keiner sagte etwas. Sie blickten Martha an, um einen Anhaltspunkt für ihr Verhalten zu bekommen, doch die schien von meiner Anwesenheit nicht einmal Notiz zu nehmen.

Alistair saß, von Kissen gestützt, in dem großen Himmelbett. Er sah nicht gut aus. Selbst jetzt noch, Wochen nach dem, was vorgefallen war, war er in Verbände eingepackt wie eine Mumie. Er hatte die Decken bis zur Brust hochgezogen, als ob ihm kalt sei, obwohl ein loderndes Kaminfeuer für Temperaturen wie in einer Sauna sorgte. Die Verbände, die ich sehen konnte, waren mit Blut und anderen Flüssigkeiten befleckt, die durch sie durchsickerten. Sein rechter Arm war verschwunden. Die Chirurgen hatten ihn nicht retten können, deshalb hatten sie ihn ganz oben am Schulteransatz amputiert. Sein komplettes Gesicht war in Gaze eingewickelt, nur dunkle Löcher für Mund und Augen waren freigelassen worden. Ich konnte seinen Mund oder seine Augen nicht sehen.

Das kommt dabei heraus, wenn man sich mit Höllenfeuer einlässt. Er hätte nie versuchen sollen, die Salem Special zu benutzen: Diese Waffe tat nie irgendwem gut. Und vielleicht hätte sein Zustand mir mehr Mitgefühl abgenötigt, hätte ich nicht gewusst, dass genau das es war, was er meiner Molly hatte antun wollen.

Martha saß auf der Bettkante neben ihrem Mann und fütterte ihn mit Suppe aus einer Schüssel, ein Löffel nach dem andern. Als ob er ein Kind sei. Ich konnte mich daran erinnern, dass sie das auch einmal für mich getan hatte, ein Mal, als ich sehr klein war und die Ärzte glaubten, das Fieber würde mich dahinraffen. Tag und Nacht hatte sie bei mir gesessen und mich mit Suppe gefüttert, und ich hatte überlebt. Vielleicht hatte Alistair auch so viel Glück. Martha war ganz in Schwarz gekleidet, als ob sie in Trauer sei. Normalerweise war sie groß, stolz, aristokratisch und beängstigend beherrscht. Jetzt wirkte sie irgendwie … kleiner, als sei etwas Wichtiges in ihr zerbrochen. Es gefiel mir nicht, sie so sehen zu müssen. Ihr langes graues Haar, das sie sonst auf dem Kopf aufgetürmt trug, durfte jetzt einfach hinfallen, wo es wollte, und verdeckte den größten Teil ihres Gesichts. Aber ihre Hand war ruhig, als sie Alistair seine Suppe zuführte, und der Rücken, den sie mir so entschieden zuwandte, war fast schmerzlich gerade.

Ich musste mit ihr reden, aber ich war noch nicht so weit. Also betrachtete ich die anderen Leute im Zimmer. Einige erkannte ich als bekannte oder mutmaßliche Anhänger der Null-Toleranz-Fraktion - schwerlich eine Überraschung, dass sie hier anzutreffen waren. Ihre einzige Chance, erneut Einfluss, wenn nicht sogar Kontrolle über die Familie zu gewinnen, bestand darin, die Matriarchin zu überreden, sich ihrer Sache anzuschließen. Ich nickte ein paar vertrauten Gesichtern ruhig zu und hielt dann jäh inne, als ich ein sehr vertrautes Gesicht sah.

»Penny?«, sagte ich.

»Eddie«, sagte sie mit ruhiger, kühler und völlig neutraler Stimme.

»Schön dich wiederzusehen, Penny!«

»Ich wünschte, ich könnte dasselbe sagen, Eddie.«

Was ganz normal war. Penny war meine offizielle Kontaktperson in der Familie gewesen, als ich noch Agent im Außendienst war. Nach jeder Mission lieferte ich ihr meinen Bericht ab, und sie leitete alle Instruktionen oder Informationen an mich weiter, die die Familie für nötig erachtete. Ich habe Penny immer gemocht. Sie hat mir nie etwas durchgehen lassen. Penny Drood war eine hochgewachsene, kühle Blonde in einem eng anliegenden weißen Pullover über ebenso eng anliegenden grauen Hosen. Mit ihren kühlen blauen Augen und ihren blassrosa Lippen war Penny süß, gescheit und sexy und kultiviert wie ein sehr trockener Martini. Sie war ungefähr in meinem Alter, aber ich hatte keine Erinnerung aus Schultagen an sie. Wir waren viele damals.

Auch nach zehn Jahren als meine Kontaktperson hätte ich Ihnen nicht sagen können, ob sie mich mochte oder nicht. Derartige Informationen teilte Penny nie mit jemandem.

»In Ordnung, Leute!«, sagte ich laut. »Nett, dass ihr reingeschaut habt, aber, Mensch, seht nur, wie spät es geworden ist - ihr müsst jetzt gehen! Die Besuchszeit ist vorbei, bis ich hier fertig bin. Hoffentlich seid ihr intelligenter als die Menge draußen, sodass wir auf die üblichen Drohungen verzichten können. Schön, schön. Begebt euch zur Tür, Einerreihe, kein Schieben oder Schubsen, oder es werden vor der Schlafenszeit noch Tränen fließen!«

Mit erhobenen Häuptern und in die Luft gereckten Nasen verließen sie das Zimmer, wobei sie mich so gründlich ignorierten, wie sie konnten. Penny machte Anstalten, ihnen zu folgen, aber ich hielt sie mit einer Gebärde auf.

»Bleib noch einen Augenblick da, Penny! Ich will mit dir reden.«

»Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich mit dir reden will?«

»Weil du, anders als die meisten in diesem Verein, tatsächlich ein Gehirn in deinem Kopf hast. Weil dir immer das Wohl der Familie am Herzen gelegen hat. Und weil das, was ich zu sagen habe, direkt mit dem Fortbestand der Drood-Familie zu tun hat. Interessiert?«

»Möglicherweise. Du hast immer den Klang deiner eigenen Stimme zu sehr gemocht, Eddie.«

»Du verletzt mich zutiefst!«

»Ich stelle fest, dass du es nicht leugnest.«

»Wie geht es der Matriarchin?«, wechselte ich schnell und geschickt das Thema.

»Den Umständen entsprechend gut.«

»Und Alistair?«

»Was glaubst du denn?«

Es war offensichtlich, dass sie nicht einen Zentimeter nachgeben würde, deshalb bedeutete ich ihr zu bleiben, wo sie war, während ich hinüberging und mich neben die Matriarchin stellte. Ich wartete darauf, dass sie mir wenigstens einen flüchtigen Blick zuwürfe, aber sie löffelte einfach weiter Suppe in die dunkle Öffnung in Alistairs Verbänden. Ich konnte kein Anzeichen dafür erkennen, dass er sie schluckte. Wäre nicht das leichte, aber unverkennbare Heben und Senken seines Brustkorbs gewesen, ich hätte mich gefragt, ob er nicht vielleicht tot sei und niemand es übers Herz gebracht hatte, Martha das zu sagen.

»Hallo, Großmutter«, sagte ich schließlich. »Ich wäre schon früher gekommen, aber ich hatte sehr viel zu tun. Arbeit für die Familie. Wie geht es ihm?«

»Was glaubst du denn?«, entgegnete Martha Drood mit ausdrucksloser Stimme und drehte sich immer noch nicht um. Sie klang müde, aber immer noch kalt wie Stahl, scharf wie eine Rasierklinge. »Sieh ihn dir an! Verstümmelt. Verkrüppelt. Entstellt. Mein wunderschöner Alistair! Und das hat er alles dir zu verdanken, Edwin.«

»Wie hat er bloß die Salem Special in die Finger gekriegt?«, fragte ich. »Eine schreckliche Waffe; wir hätten sie schon längst zerstören sollen. Und Alistair hat nie etwas von Waffen verstanden; also muss sie ihm jemand gegeben haben. Hast du ihm die Pistole gegeben, Großmutter, damit er sie gegen meine Molly gebraucht?«

Zum ersten Mal sah sie mich an, und ihre Miene war kalt und unnachgiebig wie Stein. »Natürlich nicht! Alistair war nie ein Kämpfer; er hat Feuerwaffen immer verabscheut. Das war eines der Dinge, die ich am meisten an ihm liebte. Nein, er wollte mich einfach nur beschützen. Also hat er Initiative gezeigt, zum ersten Mal in seinem Leben. Er muss gewusst haben, wie gefährlich die Salem Special war, aber sein einziger Gedanke war … dass ich in Gefahr schwebte.«

»So hat sich letzten Endes herausgestellt, dass du doch recht gehabt hast, was ihn betrifft, Großmutter«, sagte ich. »Er war ein guter Mann und treu, wenn's darauf ankam. Aus diesem Grund hast du ihm auch nie das Geheimnis der goldenen Torques eröffnet. Hast ihm nie von den Generationen von Drood-Babys erzählt, die dem Herzen geopfert wurden, damit wir die goldene Rüstung tragen konnten. Du hast es ihm nie erzählt, weil du wusstest, ein guter Mann wie er hätte eine solche Abscheulichkeit niemals geduldet!«

»Er brauchte es nicht zu wissen! Es war meine Bürde, nicht seine! Und ich tat, was getan werden musste, um die Familie stark zu halten. Stärker als alle Feinde, die uns in einem einzigen Moment heruntergezogen hätten, wenn wir je gestolpert wären!«

»Martha?«

Alistairs bandagierter Kopf drehte sich langsam, blindlings, hin und her, aufgeschreckt von ihrer gehobenen Stimme, oder vielleicht auch nur, weil die Suppenzufuhr aufgehört hatte. Seine Stimme war nur ein leichter Hauch. »Ist jemand hier, Martha?«

»Es ist alles in Ordnung, Liebling!«, sagte Martha rasch. Sie schickte sich an, ihm die Schulter zu tätscheln, und hielt dann inne, aus Angst ihm wehzutun. »Sei jetzt wieder ruhig, Schatz. Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«

»Mir ist kalt. Und mein Kopf tut weh. Ist jemand hier?«

»Es ist nur Edwin.«

»Er ist wieder da, um uns zu besuchen?«

»Ja, Liebling. Bleib du schön ruhig liegen, dann bekommst du gleich noch mehr gute Suppe.« Sie sah mich an. »Er erinnert sich an nichts mehr. Wahrscheinlich ist es am besten so. Außer … dass er sich überhaupt an kaum noch etwas zu erinnern scheint. Er weiß, wer er ist, und er weiß, wer ich bin, und das war es so ziemlich. Vielleicht wird er eines Tages sogar das vergessen haben, um zu vergessen, was du ihm angetan hast. Der Teufel soll dich holen, Edwin, was hast du hier verloren? Hast du nicht schon genug Unheil angerichtet? Du hast meinen Sohn James umgebracht! Den Allerbesten von uns - und ein besserer Mann, als du es je sein wirst! Du hast meinen Mann zugrunde gerichtet. Und du hast die Familie kastriert, indem du ihr die Torques weggenommen hast! Hast uns wehrlos im Angesicht unserer Feinde zurückgelassen und die ganze Menschheit ohne Verteidigung. Ich hätte meine Tochter nie diesen Mann heiraten lassen dürfen. Hätte dich nie von zu Hause fortgehen lassen dürfen. Und ich hätte dich schon vor langer Zeit töten sollen, Edwin!«

»Kann nicht behaupten, dass irgendwas davon besonders überraschend für mich kommt, Großmutter«, sagte ich nach einer Weile. »Ich wusste immer, dass du mir gegenüber mehr Verpflichtung als Liebe empfindest. Kinder merken so was.«

»Was willst du, Edwin?«

»Ich will deine Hilfe, Großmutter. Ja, dachte ich mir, dass das deine Aufmerksamkeit weckt. Ich brauche deine Hilfe und Mitarbeit, um die Familie wiederaufzubauen und wieder stark zu machen. Stark und einig. Eine geteilte Familie kann sich nicht behaupten, und die Geier versammeln sich bereits. Ich tue, was ich kann, um für Führung zu sorgen, aber wohin mein Blick auch fällt, entsteht eine neue Splittergruppe. Deine Billigung wäre ein großer Schritt auf dem Weg zu dem Ziel, die Familie hinter mir zu einen. Deshalb bitte ich dich, allen Groll und alle Kränkungen, alte und neue, zu vergessen und mir zu helfen. Um der Familie willen.«

»Nein«, sagte Martha völlig ruhig und genoss die Enttäuschung in meinem Gesicht. »Ich werde nicht gegen dich kämpfen, Edwin, aber ich werde dir auch nicht helfen. Ich werde dich diese Familie führen lassen, und wenn du alles vermasselt und die Familie zugrunde gerichtet hast, dann werden sie zu mir kommen und mich anbetteln, die Familie wieder zu führen - und ich werde ihnen ihren Wunsch erfüllen. Und ich werde alles rückgängig machen, was du getan hast, und wieder das aus der Familie machen, was sie vor dir war. Das, was sie sein soll.«

»Menschen werden sterben, Martha.«

»Sollen sie doch! Sollen sie den Preis für ihre Treulosigkeit zahlen!«

Penny trat vor; sie wirkte tatsächlich schockiert. »Aber … Matriarchin? Was ist mit alles für die Familie?«

»Lasst mich allein!«, sagte Martha Drood. »Ich bin müde.«


Penny und ich gingen zurück durch das Vorzimmer, Seite an Seite. Die wartenden Leute schienen verblüfft, uns beide zusammen zu sehen, hatten aber genug Verstand, um nichts zu sagen. Diejenigen, die ich aus dem Schlafzimmer geschmissen hatte, hatten nichts Eiligeres zu tun, als an mir vorbeizustürzen, begierig darauf, die Matriarchin zu fragen, was gerade vorgefallen war. Ich fragte mich, wie viel sie ihnen wohl erzählen würde. Wieder auf dem Gang, schloss ich die Tür zur Suite fest hinter mir und setzte an, mit Penny zu sprechen, hielt dann aber inne und führte sie ein Stück weiter den Korridor hinunter. Nur für den Fall, das jemand das Ohr an die Tür gedrückt haben sollte. Ich hätte es ihnen zugetraut - ich an ihrer Stelle hätte es auch getan.

»Penny«, begann ich, »du siehst ja, wie die Dinge liegen. Ich brauche deine Hilfe. Ich bitte dich aus demselben Grund darum, aus dem ich die Matriarchin gebeten habe: weil ich das nicht allein machen kann. Hilf mir, die Angelegenheiten zu führen - um der Familie willen!«

Penny betrachtete mich nachdenklich, und ihr kühler Blick war so unleserlich wie immer. »Was genau hast du dir da vorgestellt? Soll ich deine Sekretärin sein?«

»Tritt meinem Inneren Zirkel bei! Hilf, die Politik zu bestimmen! Hilf, Entscheidungen zu treffen, auf die es ankommt!«

Einen Moment lang wirkte sie richtig schockiert, und ich musste lächeln. Was sie auch zu hören erwartet hatte - das war es nicht gewesen. Eine Zugehörigkeit zum Inneren Zirkel würde ihr wirkliche Macht innerhalb der Familie geben und eine echte Chance, mich zu beeinflussen. Sie holte tief Luft, was interessante Sachen mit ihrem engen weißen Pullover anstellte, und war sofort wieder ihr altes, kühles und beherrschtes Selbst.

»Warum zum Teufel solltest du jemand wie mich wollen, eine Hardliner-Traditionalistin?«

»Um dafür zu sorgen, dass ich redlich bleibe«, sagte ich. »Um mir die Dinge zu erzählen, die ich wissen muss, ob ich sie hören will oder nicht. Um mich im Zaum zu halten, wenn ich zu weit gehe; wenn ich versuche, Änderungen zu rasch durchzusetzen. Oder um mich anzuspornen, wenn ich anfange zu zweifeln. Du warst immer die Vernünftige, Penny. Das hört sich schrecklich an, ich weiß, aber Fakten sind Fakten. Wenn ich dich nicht davon überzeugen kann, dass etwas richtig oder notwendig ist, dann ist es das möglicherweise nicht. Und … du weißt verdammt viel mehr über das Führen solcher Angelegenheiten und die Organisation von Menschen als ich.«

»So ziemlich jeder weiß mehr über diese Dinge als du«, bemerkte Penny. »Ich musste Stunden damit zubringen, deine Missionsberichte in Ordnung zu bringen, bevor ich sie weiterleiten konnte.«

»Also, was sagst du? Bist du dabei?«

»Hätte ich einen offiziellen Titel? Ich wollte schon immer einen offiziellen Titel!«

»Wie wäre es mit Mein Gewissen?«

»Ja«, meinte Penny, »damit könnte ich leben.«

»Aber zuerst«, fuhr ich fort, »muss ich dich etwas fragen, Penny: Warst du ein Teil der Null-Toleranz-Fraktion?«

»Nein«, antwortete Penny sofort. »Sie hatten ein paar gute Ideen, aber ich halte nichts von Splittergruppen innerhalb der Familie.«

»Noch ein guter Grund, weshalb ich dich auf meiner Seite haben will.«

»Was führt dich zu der Annahme, dass ich auf deiner Seite bin?«

Jetzt war die Reihe an mir, sie nachdenklich zu betrachten. »Du bist jahrelang meine Kontaktperson gewesen«, sagte ich endlich. »Du kennst mich besser als die meisten. Du kennst die Dinge, die ich für die Familie gemacht habe; die Aufträge, die sie mir gegeben haben, weil sie zu gefährlich oder zu schmutzig für jemand anders waren. Du weißt, dass ich immer an das geglaubt habe, wofür diese Familie ursprünglich stehen sollte. Ich will die Familie nach ihrem eigenen Leitbild wiederaufbauen, nicht nach meinem.«

»Wider bessere Einsicht denke ich, dass ich dir das glaube«, sagte Penny. »Ich bin mir aber nicht sicher, dass ich an dich glaube; wir werden abwarten müssen, was passiert. Aber ich bin … bereit, mich überzeugen zu lassen. Jemand muss diese Familie zusammenschweißen, und wenn die Matriarchin nicht will … Aber lass mich eins ganz klarstellen, Eddie: Ich mochte dich noch nie.«

»Natürlich nicht!«, sagte ich. »Du kennst mich besser als die meisten.«

Wir rangen uns beide ein schwaches Lächeln ab. Ich sah auf die Uhr und zuckte zusammen.

»Der Innere Zirkel wartet im Sanktum schon auf mich«, sagte ich. »Komm mit, und ich werde dich einführen.«

»Da gibt es einen anderen Ort, wo wir zuerst hinmüssen«, erklärte Penny bestimmt. »Vertrau mir, Eddie; du musst unbedingt sehen, was unten im Lageraum vor sich geht.«

»Oh, verflucht!«, sagte ich. »Das wird wieder einer von diesen Tagen, stimmt's?«


Also gingen wir nach unten in den Lageraum. Was so viel hieß wie, die ganze Strecke bis zum Nordflügel zu gehen, dann unter die Erde und an den ganzen Sicherheitsvorkehrungen und den Goblinwachhunden vorbei und schließlich in den gewaltigen, mit Stahl ausgekleideten Steinsaal zu gelangen, in dem der Lageraum der Familie untergebracht ist. Es ist jedes Mal ein Anblick, der einen fast aus den Latschen kippen lässt: das Nervenzentrum all unserer geheimen Kriege und der unsichtbaren Armeen, die am Tag und in der Nacht zusammenprallen. Riesige Bildschirme bedeckten die Wände und zeigten jedes Land und jede größere Stadt auf der Welt, dazu einen ganzen Haufen Orte, deren Wichtigkeit nur Leuten wie uns bekannt ist. Helle bunte Lichter zeigten Personen an, die wir beobachteten, und aktuelle Probleme, für die wir uns interessierten.

In langen Reihen saßen Familienmitglieder an ihren Bildschirmarbeitsplätzen und konzentrierten sich auf ihre Tätigkeit, um mich nicht ansehen zu müssen. Hellseher beobachteten potenzielle Unruheherde mit ihren Gedanken, während Techniker an Computern, die mehr als nur dem neuesten technischen Standard entsprachen, für den hypermodernen Nachrichtendienst arbeiteten. Die meisten unserer geheimen Kriege werden in diesem Raum aufgrund unserer überlegenen Planung und Kenntnisse gewonnen, bevor auch nur ein einziger Schuss abgegeben wird. Und dennoch war etwas entschieden nicht in Ordnung im Lageraum. Ich ging langsam um die Arbeitsplätze herum, guckte den Leuten über die Schulter und betrachtete mit finsterer Miene die Bildschirme an den Wänden. Penny schlenderte neben mir einher und sagte nichts, sondern ließ es mich selbst herausfinden.

»Es ist nichts los!«, stellte ich schließlich fest. »Die Karten an den Wänden müssten strahlen wie die Weihnachtsbäume und am Operationsplanungstisch müsste es summen wie in einem Bienenstock, aber es ist nichts los! Das … hat es noch nie gegeben!«

»Weshalb ich wollte, dass du es mit eigenen Augen siehst«, sagte Penny. »Damit du eine Vorstellung davon bekommst, wie die Welt zurechtkommt, wenn die Familie ihr nicht über die Schulter guckt. Die Monitore sind dunkel, weil alle zu verwirrt und zu verängstigt sind, um etwas zu unternehmen: Sie wissen nicht, wieso wir so ruhig geworden und wieso so viele unserer Frontagenten plötzlich von der Bildfläche verschwunden sind. Haben wir Schaden genommen, sind wir schwach - oder führen wir bloß eine unserer teuflisch komplizierten und ausgeklügelten Operationen durch, die dazu gedacht sind, die Leute hinters Licht zu führen und dann hart gegen sie vorzugehen, sobald sie törichterweise den Köder geschluckt haben? Es wäre schließlich nicht das erste Mal. Aber schau dich mal um, Eddie; siehst du, wie angespannt alle sind?«

»Ich dachte, das läge nur an meiner Anwesenheit.«

»Ach, bild dir nur nichts ein! Hier stehen alle unter heißem Tee und Adrenalin und warten darauf, dass die Bombe platzt. Sie warten ab, welches Land oder welche Organisation oder welches Individuum endlich etwas anfängt, einfach nur um herauszufinden, wie viel man sich erlauben kann.«

»Keins der Lichter zeigt Agenten im Außeneinsatz!«, bemerkte ich plötzlich. »Keine laufenden Operationen.«

»Weil es keine gibt«, erklärte Penny. »Nachdem du der Familie die goldenen Torques weggenommen hattest, blieb den Agenten im Außendienst nichts anderes übrig, als unterzutauchen; andernfalls wären sie ohne ihre Rüstung hilflos und verwundbar zurückgeblieben. Wir können uns nicht leisten, dass irgendeiner unserer Feinde davon Wind bekommt. Noch nicht. Bisher ist noch keiner getötet worden, aber es ist nur eine Frage der Zeit.«

Es kam mir zu Bewusstsein, dass die Leute rings um mich von ihren Arbeitsplätzen aufgeschaut hatten und mich anklagend anstarrten. Ich starrte wütend zurück, und sie widmeten sich schnell wieder ihrer Arbeit. Ich stand still da, blickte finster drein und dachte fieberhaft nach. Dies war alles meine Schuld; ich hatte es nicht durchdacht. Als ich entdeckt hatte, dass die goldene Rüstung der Familie von den gefangenen Seelen geopferter Kinder gespeist wurde, hatte ich keinen anderen Gedanken mehr gehabt, als dem ein Ende zu bereiten. Keinen Moment lang hatte ich innegehalten und berücksichtigt, dass ich damit anderer Leute Leben aufs Spiel setzte. Ich glaube zwar nicht, dass diese Erwägung mich aufgehalten hätte, aber ich hatte nicht nachgedacht. Und seitdem war ich zu sehr darin vertieft gewesen, das Herrenhaus zu leiten, als über das große Bild nachzudenken - dass die Welt auf Frontagenten angewiesen ist, um sie sicher zu halten, und dass die Agenten aufs Herrenhaus angewiesen sind.

»In Ordnung«, sagte ich zu Penny. »Lass die Order ergehen: Alle Frontagenten sollen nach Hause kommen!«

»Das könnte für manche gefährlich sein«, wandte Penny ein. »Außer Sicht zu bleiben ist das Einzige, was sie am Leben hält.«

»Nun, dann sag ihnen, sie sollen nach bestem Ermessen handeln!«, sagte ich ungeduldig. »Aber wenn sie nicht ins Herrenhaus zurückkommen, um sich auf Sicherheitsrisiken hin überprüfen zu lassen, werden sie bei der Vergabe der neuen Silbertorques nicht berücksichtigt. Sag ihnen, sie können die alten Schleichwege benutzen; ich genehmige die zusätzlichen Ausgaben.«

Ich ging zum Hauptoperationstisch hinüber, nahm ein Bündel der jüngsten Berichte in die Hand und blätterte sie schnell durch. Rings um den Tisch erntete ich entrüstete Blicke: Derartige Unterlagen waren ausschließlich für die Augen der Matriarchin bestimmt. Alle wussten, dass ich Martha als Oberhaupt der Familie ersetzt hatte, aber eine Menge Leute hatten sich offensichtlich noch nicht daran gewöhnt.

»Wo ist Truman?«, erkundigte ich mich schließlich. »Ich sehe hier nichts von ihm. Haben wir keine aktuellen Meldungen übers Manifeste Schicksal? Sie müssen inzwischen doch mit der Neugruppierung beschäftigt sein, wieso sehe ich also hier nichts über ihre neue Basis, ihr neues Operationszentrum? Kommt schon, Leute; ich würde mich ja schon mit einer guten Schätzung zufriedengeben! Eine Organisation dieser Größe kann nicht wieder anlaufen, ohne alle möglichen verräterischen Spuren zu hinterlassen. Folgt dem Anführer, folgt dem Geld, folgt den Threads in den Internetforen - aber findet sie! Sie können nicht einfach verschwunden sein!«

»Der Nachrichtendienst arbeitet daran«, sagte Penny ruhig. »Wir haben nicht vergessen, wie wir unsere Arbeit zu machen haben, nur weil du nicht hier warst und unser Händchen gehalten hast. Aber es deutet alles darauf hin, dass das Manifeste Schicksal in ein tiefes Loch gestiegen ist und es dann hinter sich zugezogen hat. Sie mögen geschwächt sein, nach dem, was du ihnen zugefügt hast, und das hast du auch gut gemacht, aber ihre Sicherheitsabteilung ist nach wie vor erstklassig. Und Truman, der war und ist ein Genie. Du hättest ihn töten sollen, als du die Gelegenheit dazu gehabt hast.«

»Diese Gelegenheit hatte ich nie«, brummte ich.

»Was meinst du, was er jetzt tun wird?«

»Schwer zu sagen. Er ist ein echter Fanatiker und engagierter Verfechter seiner Sache; er will die Welt so führen, wie sie seiner Ansicht nach geführt werden sollte, und alle, die in dieses Bild nicht hineinpassen, werden eliminiert. In der Vergangenheit hat ihn die Null-Toleranz-Fraktion im Zaum gehalten. Nachdem die inzwischen die Zügel aus der Hand gegeben hat, weiß Gott allein, welche Gräueltaten er jetzt plant.«

»Seine alte Basis unter dem U-Bahnnetz ist völlig verlassen«, sagte Penny. »Wir haben ein paar Leute dort, die sich umschauen, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zutage zu fördern.«

»Augenblick mal!«, fiel ich ihr ins Wort. »Es gab nur zwei Frontagenten in London: mich und Matthew. Ich bin hier, und er ist tot - wen habt ihr also unter London rumrennen?«

»Freiwillige«, versetzte Penny. »Die Arbeit muss weitergehen, auch wenn du … sagen wir, abgelenkt bist. Nicht jeder will sich hier im Herrenhaus verstecken, bis du dazu kommst, neue Torques auszugeben. Manche von uns wissen immer noch über Pflicht und Verantwortung Bescheid!«

»Halt mir keinen Vortrag!«, sagte ich. »Lass es einfach; dazu habe ich zu viel gesehen und getan. Aber du hast natürlich völlig recht: Die Arbeit hier muss wirklich weitergehen. Die Welt wird nicht stillstehen, nur weil wir gerade eine Krise in der Familie haben. Freiwillige, soso. Gut zu wissen, dass uns noch ein paar tapfere Seelen geblieben sind. Haben sie schon etwas Lohnendes ausgegraben?«

»Frag sie selbst«, antwortete Penny. »Wir haben einen direkten Videofeed eingerichtet. Völlig gesichert selbstverständlich.«

»Oh, selbstverständlich«, sagte ich. »In Ordnung, schalt mich zu!«

Penny nickte zur Kommunikationskonsole hin, und bemerkenswert schnell zeigten sich auf einem der großen Kontrollschirme Bilder eines dunklen, schattigen Raums, in dem hier und da im Schein hüpfender Taschenlampenstrahlen Einzelheiten zu erkennen waren. Als Silhouetten erkennbare Gestalten bewegten sich ruckartig zwischen Reihen stummer Apparaturen. Es dauerte einen langen Moment, bis ich die normalerweise hellen, glänzenden Stahlkorridore des Hightech-Hauptquartiers des Manifesten Schicksals wiedererkannte. Sämtliche elektrischen Lichter waren aus und alle Geräte abgeschaltet. Hier und da flatterten lose Papierblätter, zurückgelassen in der Eile des Aufbruchs. Es war wie der Blick in eine vor Kurzem geöffnete Gruft in einer Ausgrabungsstätte im Tal der Könige. Eine schattenhafte Gestalt näherte sich der Kamera.

»Würdet ihr bitte aufhören, mir auf den Wecker zu gehen?«, sagte eine schroffe Stimme. »Wir werden uns mit euch in Verbindung setzen, wenn wir etwas haben, das es wert ist gemeldet zu werden. Der ganze Ort ist ein Saustall. Wir müssen uns vorsichtig bewegen, weil die Dreckskerle noch Zeit gefunden haben, einen ganzen Haufen versteckter Sprengladungen zurückzulassen, bevor sie verduftet sind; Stolperdrähte und Granaten hauptsächlich. Wäre uns ja egal, wenn wir unsere Torques hätten, aber so … Wir dringen augenblicklich tiefer ins Herz des Bunkers vor, aber es sieht so aus, als ob sie alles von Wert mitgenommen und den Rest demoliert hätten. Ein örtlich beschränkter EMP hat alle ihre Computer erledigt; wir werden für alle Fälle die Festplatten mit zurückbringen, aber ich an eurer Stelle würde die Hoffnungen nicht zu hoch schrauben. Ach ja, und wir haben auch noch ein paar Leichen gefunden. Ohne DNA-Proben zu nehmen, sind sie nicht mehr zu identifizieren - sieht aus, als hätten sie gerade eine letzte Falle aufstellen wollen, als sie ihnen plötzlich um die Ohren flog.

Das wars; Ende des Berichts. Bliebe nur noch anzumerken, dass es kalt ist und feucht und ich mir sicher bin, dass ich mir was einfangen werde. Jetzt geht weg und belästigt jemand anders; wir haben zu tun. Ich will, dass wir fertig werden und von hier verschwinden, bevor irgendeine andere Organisation auf die glorreiche Idee kommt, hier runterzukommen und nachzuschauen, ob sich nicht noch was Verwertbares finden lässt.«

»Hier ist Eddie Drood«, sagte ich.

»Tja, welch eine Freude. Betrachte mich als beeindruckt. Du weißt nicht, wer ich bin, stimmt's?«

»Nein«, antwortete ich.

»Dann wollen wir's dabei belassen. Wir sind bald wieder zu Hause; setz schon mal das Teewasser auf.«

Und er beendete die Videoübertragung von seinem Ende aus. Alle sahen mich an, also achtete ich darauf, zu lächeln. »Ich weiß zwar nicht, wer er ist, aber sein Stil gefällt mir - erinnert mich an mich. Sorgt dafür, dass ich im dem Moment, wo er hier auftaucht, einen vollständigen Bericht von ihm erhalte. In der Zwischenzeit arbeitet weiter daran, Trumans neue Operationsbasis aufzuspüren. Er muss etwas Fieses planen, um sich wieder zu etablieren, und ich will ein gutes Stück im Voraus alles darüber wissen!«

»Siehst du?«, meinte Penny. »Du kannst doch so auftreten, als ob du das Sagen hättest, wenn du dich nur darauf konzentrierst!«


Alle Treffen meines Inneren Zirkels fanden im Sanktum statt, dem riesigen, freien Raum, der einst das verdammte Herz beherbergt hatte, bevor ich es zerstörte. Der Zirkel traf sich im Sanktum, weil das der einzige Ort im Herrenhaus war, wo ich sicher sein konnte, absolut ungestört zu sein. Das Sanktum war entworfen worden, um die gefährlichen andersdimensionalen Ausstrahlungen des Herzens zu isolieren, und nichts konnte die mächtigen Schilde des Sanktums durchdringen. Die andersdimensionale fremde Materie, die ich ins Herrenhaus gebracht hatte, nahm jetzt das Sanktum ein; sie manifestierte sich als warmes, zufriedenes, karmesinrotes Leuchten, das von einer einzigen silbernen Perle fremdartiger Materie ausging. Allein in dem Leuchten zu stehen, reichte schon, um sich gut zu fühlen. Ruhig und entspannt und sicher, mit Leib und Denken und Seele. Genaugenommen fühlte es sich so gut an, dass der Zutritt zum Sanktum streng hatte beschränkt werden müssen, aus Furcht, dass Leute abhängig werden könnten. Die fremde Materie schwor zwar, dass das nicht passieren konnte, aber ich hatte gelernt, nicht alles zu glauben, was man mir erzählt.

Der springende Punkt ist, dass dank der Abschirmung des Sanktums und der ungewöhnlichen Emissionen der fremden Materie niemand die Treffen des Inneren Zirkels belauschen kann. Und es gibt im Herrenhaus immer jemanden, der versucht, mitzuhören: Es ist die einzige Möglichkeit, jemals etwas von Bedeutung zu erfahren.

Penny kam mitten in der Tür zum Sanktum zum Stehen, als sie die volle Wirkung des roten Leuchtens aufnahm. Ihr Gesicht wurde sanfter, und sie lächelte mit einem echten Lächeln, ganz unähnlich ihrer üblichen, kühlen Erscheinung. Sie sah gelassen und zufrieden aus, mit sich selbst im Reinen. Es passte nicht zu ihr. Sie unternahm eine bewusste Anstrengung, den Effekt zu ignorieren, und erlangte etwas von ihrer normalen Fassung wieder.

»Bemerkenswert!«, sagte sie. »Erinnert mich daran, vor einem von Kleins famosen blauen Bildern im Louvre zu stehen.« Sie bemerkte meine Überraschung und hob eine herablassende Augenbraue. »Ich habe schon Kultur!«

»Dann solltest du Joghurt drauftun«, meinte Molly.

Penny und ich sahen uns um, und da war der Rest meines Inneren Zirkels und starrte uns argwöhnisch an. Das gute, von dem karmesinroten Leuchten ausgehende Gefühl verließ mich augenblicklich. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das hier einfach werden würde, aber die grimmigen Gesichter des versammelten Zirkels ließen keinen Zweifel daran bestehen, dass mir eine fiese Schlacht bevorstand. Ich nahm Penny am Arm und führte sie nach vorn, wobei ich die finsteren Blicke des Zirkels direkt erwiderte.

»Penny ist jetzt eine von uns«, erklärte ich mit Bestimmtheit. »Ein Vollmitglied des Inneren Zirkels. Und ich will keine Beleidigungen mehr hören. Ich vertraue ihr, und das solltet ihr auch.«

»Einfach so?«, fragte Molly gefährlich.

»Jawohl«, bekräftigte ich.

Molly sah den übrigen Zirkel an. »Ich schlage ihn nieder, und ihr legt ihm die Zwangsjacke an.«

»Ich brauche Berater aus allen Teilen der Familie«, sagte ich geduldig, »einschließlich der Traditionalisten.«

»Du meinst diejenigen, die deinen und meinen Tod wollten?«, hakte Molly nach. »Diejenigen, die dich für vogelfrei erklärt und unter dem Deckmantel der Null-Toleranz-Fraktion heimlich das Manifeste Schicksal geleitet haben?«

»Das sind sie«, bestätigte ich. »Außer dass Penny nie bei den Null-Toleranzlern war; das hat sie mir gesagt.«

»Und du hast ihr geglaubt?«, fragte Molly.

»Na klar«, sagte ich. »Sie gehört zur Familie.«

»So«, schaltete Penny sich ein, »das ist also der berüchtigte Innere Zirkel? Das ist das, was die Stelle des Rates der Matriarchin eingenommen hat, der durch jahrhundertelange Tradition geheiligt war?«

»Genau«, sagte ich. »Irgendwann einmal wird der Innere Zirkel einem neuen Rat weichen, welcher von der Familie zu wählen ist. Es wird allmählich Zeit, dass hier etwas Demokratie Einzug hält.«

»Demokratie?«, fragte Molly.

»Halt die Klappe, Schatz, jetzt rede ich!«, sagte ich. »Der alte Rat musste gehen, Penny; seine Mitglieder waren alle korrupt. Sie kannten die Wahrheit über die Torques und haben nie etwas dagegen unternommen. Sie kannten die Wahrheit über die wahre Rolle der Familie in der Welt, und sie waren einfach damit einverstanden.«

»Ein gewählter Rat …«, grübelte Penny. »Von der ganzen Familie oder nur von denjenigen, denen du am Ende neue Torques geben wirst?«

Ich grinste den Inneren Zirkel an. »Seht ihr? Deshalb ist sie hier - um die nötigen peinlichen Fragen zu stellen.«

Ich sah in die Runde, aber es schien sie nicht sonderlich beeindruckt zu haben. Mein Innerer Zirkel setzte sich zusammen aus Molly Metcalf, meinem Onkel Jack, dem Waffenmeister der Familie, dem Gespenst Jacob Drood, dem Seneschall und nun auch Penny. Ich hätte die Familie auch allein regieren und mich selbst zum Patriarchen oder so was ausrufen können, aber ich hatte gesehen, wohin das führte. Macht hat die Tendenz zu korrumpieren, und die Droods sind die mächtigste Familie auf der Welt. Also wählte ich Personen aus, um mich zu beraten; Personen, bei denen ich darauf vertrauen konnte, dass sie mir die Wahrheit sagten, ob ich sie hören wollte oder nicht; Leute, die es gegebenenfalls mit mir aufnehmen konnten, falls es einmal so aussah, als geriete ich außer Kontrolle. Penny nickte den anderen Familienmitgliedern des Zirkels steif zu, wenngleich sie sich nicht dazu bringen konnte, Jacob in die geisterhaften Augen zu sehen; für Molly jedoch hatte sie nur einen kalten, abweisenden Blick übrig.

»Ich hätte wissen sollen, dass du deine Freundin in eine Machtposition stecken würdest«, sagte sie süß. »Du warst schon immer ein rührseliger Romantiker, Eddie. Du musst wissen, dass man ihr keinen Einfluss auf die Familie gestatten darf; das geht einfach nicht. Ich meine, sie ist eine Außenseiterin.«

»Sie ist auf meiner Seite«, sagte ich kategorisch. »Akzeptiert das und macht weiter, oder es wird vorm Schlafengehen noch Tränen geben!«

Der Waffenmeister gab sein übliches gewichtiges Räuspern von sich, was bedeutete, dass er etwas Wichtiges zu sagen hatte und es auch sagen würde, egal was andere davon halten mochten. Er hatte seinen üblichen chemikalienbefleckten und leicht angekokelten Laborkittel an; ein spindeldürrer Mann mittleren Alters mit viel zu viel nervöser Energie und nicht annähernd genug Selbsterhaltungstrieb. Er entwarf und baute Waffen und Apparate für Agenten an der Front, wobei ihm ein scharfer, neugieriger Verstand und das völlige Fehlen jeglicher Skrupel zugute kamen. Unter seinem Kittel trug er ein schmuddeliges T-Shirt mit der Aufschrift Massenvernichtungswaffen - hier nachfragen. (Einmal hatte er eine Nuklearhandgranate konstruiert, konnte aber niemand finden, der sie weit genug werfen konnte.) Zwei große Büschel weißer Haare standen über seinen Ohren hervor, abgesehen von einem Paar buschiger weißer Augenbrauen die einzigen Haare auf seinem Kopf. Er hatte gelassene graue Augen, ein knappes, aber einnehmendes Lächeln und ein irgendwie zappeliges Auftreten. Dazu einen ausgeprägten Buckel von viel zu vielen Jahren, die er über das Reißbrett gebückt zugebracht hatte, um richtig gefährliche Sachen zu erfinden.

Er war mein Onkel Jack, und ich wäre lieber gestorben, als ihn zu enttäuschen.

»Ich kann nicht lang bleiben«, sagte er schroff und blickte in seiner gewohnten Art finster um sich. »Ich habe meine Praktikanten allein und unbeaufsichtigt in der Waffenkammer lassen müssen, und das ist immer gefährlich. Für sie und für ihre Umgebung genauso. Und natürlich sind sie dieser Tage viel verwundbarer, ohne ihre schützenden Torques. Allerdings scheint sie das in keiner Weise zu bremsen. Neulich musste ich einem von ihnen einen Superstring wegnehmen. Kein Respekt mehr vor den elementaren Kräften der Physik! Wie hat der Overdrive im Bentley gearbeitet, Eddie? Ich bin echt stolz darauf. Und ziemlich sicher, ihm inzwischen alle Mucken ausgetrieben zu haben.«

»Nur ziemlich sicher?«, fragte Molly. »Das sagt er uns jetzt …«

»Hat prima funktioniert«, antwortete ich. »Ich habe den Bentley für ein paar kleinere Reparaturen in die Waffenkammer gebracht.«

»Wie? Was?«, rief der Waffenmeister erzürnt. »Was meinst du damit, kleinere Reparaturen? Was hast du angestellt, Eddie? Was hast du mit meinem wunderschönen alten Bentley angestellt? Du hast einen Unfall gebaut, stimmt's? Du hast einen Unfall mit dem Bentley gehabt, nachdem ich dir gesagt habe, dass ich ihn dir nur leihe!«

»Nein, ich habe keinen Unfall gebaut«, entgegnete ich ruhig. Man lernt, in Unterhaltungen mit dem Waffenmeister ruhig zu bleiben, denn er kann sich aufregen für zwei. Also muss einer die Ruhe bewahren, und das ist mit Sicherheit nicht er. »Ich habe mir nur ein paar ganz unbedeutende Kratzer und Dellen eingefangen, während eines Abstechers durch die Nebendimensionen.«

»Ich gehe wieder in die Waffenkammer!«

»Nein, das tust du nicht!«, sagte ich schnell. »Wir haben wichtige Angelegenheiten zu besprechen!«

»Wichtige Angelegenheiten, ei!«, sagte der Geist des alten Jacob lebhaft. »Das hört sich wichtig an!«

Jacob gab sich alle Mühe, aber er war einfach nicht so konzentriert wie sonst. Als er noch im Exil in der alten Kapelle hinterm Herrenhaus gelebt - oder vielmehr existiert - hatte, hatte er immer ganz zufrieden in seiner Geisterunterwäsche herumgesessen und sich die Erinnerungen alter Fernsehprogramme in einem Fernseher ohne Innenleben angeschaut. Die meisten in der Familie sprachen nicht mit ihm, aber er und ich waren gute Freunde gewesen, seit ich ihn in meiner Kindheit ausfindig gemacht hatte. (Weil ich wusste, dass ich das nicht sollte.)

Jetzt, wo er offiziell wieder ein Teil der Familie und erneut ins Herrenhaus gezogen war, hatte Jacob gewisse Anstrengungen unternommen, sich herauszuputzen. Er sah immer noch älter als der Tod selbst aus, das Gesicht voller Runzeln und die Glatze mit nur wenigen flatternden Haaren geschmückt, aber er hatte sein Ektoplasma mit einem schicken Smoking veredelt, auch wenn der Stoff eher zu Marineblau als zu Schwarz tendierte und Jacob den Kragen ständig vergaß. Aber als seit Langem existierender Geist - oder zumindest als dickköpfige Weigerung, sich zur Ruhe zu legen - wurde er nur von seiner Konzentration zusammengehalten. Und seit einiger Zeit hatten seine Gedanken eine ausgeprägte Neigung zum Schweifen gezeigt. Weshalb er mitunter plötzlich ein Hawaii-T-Shirt über ausgebeulten Shorts und eine breite, rote Schärpe mit der Aufschrift tödlich behindert trug. Auch ließ er lange Spuren blassblauen Ektoplasmas in der Luft hinter sich zurück, wenn er plötzliche Bewegungen machte.

Jacob der Geist zerfiel, Leib und Seele, und er wusste es.

Der Seneschall starrte Jacob wütend an. Er missbilligte die Existenz des alten Gespensts, und er machte kein Hehl daraus.

»Warum suchst du dir nicht ein hübsches Grab und kommst zur Ruhe?«, fragte er bissig. »Du weißt, dass du nicht hier sein solltest. Die Familienrichtlinien bezüglich Geistern sind unmissverständlich: Jedes Gespenst, das hier aufkreuzt, wird fix wieder weggeschickt. Keine Ausnahmen! Ansonsten würden uns die Dinger inzwischen bis zur Hüfte reichen!«

»Ich bin davon ausgenommen«, erklärte Jacob bestimmt.

»Mit welcher Begründung?«, verlangte der Seneschall zu wissen.

»Weil ich es so sage, und das solltest du verdammt noch mal nicht vergessen! Ich bin von allem ausgenommen, wonach mir gerade zumute ist, mit der Begründung, dass ich jedem einen Arschtritt verpassen werde, der etwas anderes sagt. Tot zu sein ist sehr befreiend. Du solltest es mal versuchen, Seneschall - vorzugsweise bald.«

»Benimm dich, Jacob!«, forderte ich ihn auf. »Denk dran, ich habe immer noch die Telefonnummer des Exorzisten in der Kurzwahl!«

»Wir müssen über die Anwesenheit der Hexe hier sprechen«, sagte Penny störrisch.

»Nein, müssen wir nicht«, erwiderte ich.

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Molly. »Lasst uns über deine Anwesenheit hier sprechen, Penny-Schätzchen! Bist du eine von Eddies alten Flammen, so wie diese fürchterliche Kuh Alexandra?«

Penny schnaubte laut. »Das könnte ihm so passen.«

»Wirst du jetzt jeden, der dir gerade passt, in den Zirkel hineinbringen?«, fragte der Seneschall. »Haben wir in der Sache nicht ein Wort mitzureden?«

»Wenn ihr noch jemand im Sinn habt, schlagt ihn vor«, antwortete ich. »Ich nehme alle Hilfe, die ich kriegen kann. Ich führe die Geschäfte augenblicklich nur, weil ich sonst keinen finde, dem ich vertrauen kann. Ich bin der Einzige in dieser Familie ohne ein Eigeninteresse. Der ganze Sinn dieses Inneren Zirkels ist es, der Bildung eines neu gewählten Rats den Weg zu bereiten, damit dieser übernehmen kann und ich mich wieder einfach nur dem Dasein als Agent an der Front widmen kann, wo ich hingehöre. Wo ich glücklich war.«

»Willst du damit sagen, dass du nicht mehr glücklich warst, seit du mich kennengelernt hast?«, fragte Molly.

»Du bist das einzige Gute in meinem Leben, und das weißt du«, antwortete ich. »Also hör auf, nach Komplimenten zu fischen!«

»Wirf mir auf der Stelle eine Kusshand zu«, verlangte Molly, »oder ich verrate allen, wo du ein komisch geformtes Muttermal hast!«

»Wir müssen Jacobs Stellung in der Familie diskutieren!«, beharrte der Seneschall. »Er ist wieder in sein altes Zimmer im Herrenhaus eingezogen, das, in dem er gewohnt hat, als er noch lebte. Er hat dem eigentlichen Bewohner einen solchen Schrecken eingejagt, dass er schreiend rausgerannt ist und sich bis jetzt weigert, wieder hineinzugehen.«

»Ich weiß«, sagte der Waffenmeister. »Wir haben den armen Kerl unten auf der Krankenstube. Ich weiß nicht, was du mit ihm angestellt hast, Jacob, aber er hat immer noch nicht aufgehört zu zucken. Und er kann nicht einschlafen, wenn nicht jemand seine Hand hält.«

Jacob kicherte. »Er hätte nicht an sich herumspielen sollen, als ich erschienen bin. Und ich bin hier, weil ich hier sein sollte. Es gefällt mir, wieder im Herrenhaus zu sein, und wenn auch nur, weil es so viele von den feinen Leuten ärgert. Es hat sich eine Menge geändert, seit ich zum letzten Mal hier war! Ich kann nicht glauben, wie überfüllt das Herrenhaus dieser Tage ist. Die Familie hat sich wie die Karnickel vermehrt! Wir müssen mehr von den jungen Leuten in die Welt hinausschicken. Stoßt sie aus dem Nest! Fliegt, kleine Vögelchen! Ja, ich weiß, ich schwafele; das darf man, wenn man so lange tot gewesen ist wie ich.«

»Versteh mich nicht falsch«, sagte ich, »aber warum bist du noch hier, Jacob? Ich dachte, du hättest nur als Gespenst hier rumgehangen, um mir helfen zu können, als ich die Familie vor dem Herzen gerettet habe.«

»Das hatte ich eigentlich auch gedacht«, meinte Jacob mit finsterer Miene. Seine Augen verschwanden und hinterließen nur tiefe, dunkle Löcher in seinem Gesicht. »Aber etwas hält mich noch hier fest. Irgendeine Kraft … wie ein nicht eingelöstes Versprechen. Meine Aufgabe hier ist noch nicht erfüllt, verdammt! Etwas kommt auf uns zu, Eddie. Etwas Gutes, etwas Schlechtes … irgendetwas.«

Wir warteten alle, aber er hatte nichts mehr zu sagen. Ich fand, dass es ganz entschieden Zeit war, das Thema zu wechseln, und weil ich jeden daran erinnern wollte, dass ich das Sagen hatte, hielt ich mich an etwas, was mir schon eine ganze Weile lang auf die Nerven ging. Ich blickte den Seneschall streng an.

»Wie heißt du? Ich kann dich nicht ständig Seneschall nennen, und ich will verflucht sein, wenn ich dich wie als Kind wieder Sir nenne!«

»Nenn mich Seneschall; das ist mein Titel.«

»Ich könnte es dir von Molly aus deinem lebendigen Hirn reißen lassen!«, sagte ich. Es war ein Bluff, aber das wusste er nicht. Wenn der Seneschall so fest entschlossen war, mir seinen Namen nicht zu verraten, dann wollte ich ihn erst recht wissen: Es musste etwas Gutes sein. Der Seneschall seufzte, nur ein bisschen.

»Ich heiße Cyril.«

Manche Dinge sind einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich glaube, das Einzige, was den ganzen Zirkel davon abhielt, in stürmisches und hysterisches Gelächter auszubrechen, war unsere umfassende Kenntnis der Brutalität des Seneschalls und die Tatsache, dass er Waffen aus dem Nichts beschwören konnte, wenn ihm danach war.

»Cyril?«, wiederholte ich begeistert. »Scheiße nochmal, Cyril? Kein Wunder, dass du dich zu einem Schläger und Tyrannen entwickelt hast, bei so einem Namen! Du musst deine Eltern geliebt haben!«

»Sie waren feine, anständige Menschen«, erwiderte der Seneschall mit Nachdruck. »Wenn ich jetzt mit meinem Bericht betreffend der Überschreitungen des Gespensts Jacob fortfahren dürfte?«

»Oh, unbedingt!«, sagte ich. »Lass dich von mir nicht aufhalten, Cyril!«

»Es hat zahlreiche Meldungen gegeben, dass Jacob in den Duschräumen und Umkleidekabinen der Damen herumgegeistert ist.«

»Ich verlaufe mich ständig.«

»Das machst du keinem weis, Jacob«, warf ich ein.

»Und«, fuhr der Seneschall fort, »es hat sogar Meldungen gegeben, dass er den Geist der kopflosen Nonne durch die Katakomben gejagt hat!«

Jacob grinste. »Hey, sie ist das einzige andere Gespenst im Herrenhaus! Kann man mir einen Vorwurf machen, wenn ich mal ein bisschen Ektoplasma tauschen will? Netter Arsch, für eine Nonne. Verdammt, sie ist schnell unterwegs, besonders wenn man sich vor Augen hält, dass sie nicht sehen kann, wo sie hinläuft!«

»Du bist ein Mitglied des Inneren Zirkels!«, fuhr der Seneschall ihn an. »Du solltest mit gutem Beispiel vorangehen!«

»Aber wenn sie doch so flink ist …«

»Hört auf damit!«, sagte ich rasch. »Dein Ektoplasma fängt schon an zu zittern! Lasst uns weitermachen. Haben wir irgendwelche Fortschritte bei der Untersuchung der Frage gemacht, wer hinter den jüngsten Angriffen aufs Herrenhaus stand, kurz bevor ich hierher zitiert wurde? Gibt es irgendwelche neuen Informationen?«

»Nichts. Nicht ein Wort«, sagte der Waffenmeister.

»Vielleicht sollten wir die fremde Materie fragen«, schlug der Seneschall spitz vor. »Weil sie sich ja letzten Endes als verantwortlich für die Zerstörung des Herzens herausgestellt hat.«

»War ich nicht«, sagte eine ruhige und vernünftige Stimme aus dem Inneren des karmesinroten Leuchtens. »Zu diesem Zeitpunkt war ich immer noch auf der Suche nach dem Herzen und wusste nicht einmal, dass es sich in dieser Dimension aufhält. Ihr dürft nicht vergessen: Das Herz hatte sich viele Feinde gemacht, Feinde aus allen Welten und Rassen, die es versklavt hatte, bevor es hierher kam. Manche dieser Feinde haben fast so lang wie ich nach dem Herzen gesucht.«

Das klang ziemlich einleuchtend, aber wenngleich ich der fremden Materie für vieles zu danken hatte und sie immer das Richtige sagte, änderte das dennoch nichts an der Tatsache, dass sie nach wie vor ein nahezu gänzlich unbekannter Faktor war. Alles, was wir über sie wussten, war das, was sie uns zu erzählen beliebt hatte. Wenn sie hinter den anderen Angriffen gesteckt hätte, würde sie das zugeben? Wir hatten kein Mittel, sie zu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Ich rieb mir die Stirn, als ein langsamer, quälender Kopfschmerz einsetzte. Paranoid zu sein ist sehr ermüdend, aber wenn man ein Drood ist, ist es die einzige Möglichkeit, immer einen Schritt voraus zu bleiben.

»Fremde Materie …«, sagte ich.

»O bitte, nennt mich Ethel!«

»Wir werden dich nicht Ethel nennen!«, erklärte ich sehr bestimmt.

»Wieso nicht? Was ist an Ethel nicht in Ordnung? Das ist ein tadelloser Name. Ich mag ihn. Er ist ehrlich, bezaubernd, er ist … ich.«

»Wir werden dich nicht Ethel nennen!«

»Ist doch nichts verkehrt an Ethel«, meinte die fremde Materie. »Winston Churchill hatte einen zahmen Frosch, der Ethel hieß.«

»Nein, hatte er nicht!«

»Er könnte einen gehabt haben - das weißt du nicht.«

»Ich werde dich Seltsam nennen«, sagte ich. »Das ist der einzige Name, der passt.«

»Du hast keinen Sinn für Humor«, sagte Seltsam.

»Eigentlich …«, setzte Molly an.

»Scht!«, sagte ich schnell.

Der Waffenmeister produzierte einen weiteren seiner beeindruckenden Räusperer. »Wie bist du bei der Matriarchin vorangekommen, Eddie?«

»Nicht besonders«, gab ich zu. »Sie sagte mir, ich solle mich zum Teufel scheren. Sie würde lieber die ganze Familie zusammenbrechen als mit mir an der Spitze gedeihen sehen.«

Der Waffenmeister nickte widerwillig. »Mutter konnte schon immer sehr stur sein. Aber du musst es weiter bei ihr versuchen, Eddie. Du brauchst sie auf deiner Seite, wenn du die ganze Familie dazu bringen willst, an einem Strang zu ziehen. Sie repräsentiert die Vergangenheit und die Tradition und all die Dinge, die der Familie das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben.«

»Das wird nicht einfach werden«, prophezeite ich.

»Natürlich wird das nicht einfach werden, Eddie! Du hast ihren Lieblingssohn getötet, meinen Bruder James! Ich weiß, dass du keine andere Wahl hattest, und dennoch habe ich Schwierigkeiten, dir zu verzeihen. Der alte Graue Fuchs war der Beste von uns, so viele Jahre lang. Und vergiss nicht: Er hatte eine Menge Bewunderer auch außerhalb der Familie. Alte Freunde und alte Feinde, denen es ganz und gar nicht gefallen wird, zu hören, dass er durch deine Hand gefallen ist. Sie könnten jederzeit hier auftauchen, bereit und willig, ihrem außerordentlichen Missfallen Ausdruck zu verleihen. Und dann wirst du die ganze Familie zu deiner Unterstützung brauchen.«

»Wir könnten sagen, dass James zum Vogelfreien geworden ist«, schlug Penny zaghaft vor.

»Wer würde das glauben?«, fragte ich. »Der Graue Fuchs war immer der Beste von uns. Du solltest besser die Verteidigungsanlagen des Herrenhauses verstärken, Onkel Jack, für alle Fälle.«

Endlich kam ich zum wesentlichen Punkt des Treffens und berichtete ihnen vom Hinterhalt des MI5 vor meiner alten Wohnung. Der Waffenmeister und der Seneschall bestanden darauf, dass ich ihnen alles erzählte, jede Einzelheit, an die ich mich erinnern konnte. Molly mischte sich hier und da ein, manchmal hilfreich und manchmal nicht. Der Waffenmeister und der Seneschall reagierten beide ausgesprochen heftig, als ich ihnen mitteilte, wer hinter dem Angriff steckte.

»Der Premierminister?«, fragte der Seneschall ungläubig. »Was glaubt er, wer er ist, dass er sich mit den Droods anlegt? Der Mann hält sich wohl für etwas Besseres! Wir dürfen ihn nicht ungestraft davonkommen lassen, Edwin; die Leute könnten denken, dass wir weich werden.«

»Ich habe ihm bereits eine sehr eindeutige Botschaft übermitteln lassen«, entgegnete ich.

»Ein paar MI5-Agenten umzubringen wird ihn nicht stören«, sagte der Waffenmeister. »Soweit es ihn angeht, sind sie alle entbehrlich. Wir müssen ihn dort treffen, wo es wehtut!«

»Genau«, pflichtete der Seneschall ihm bei. »Wir können nicht zulassen, dass der Premierminister frech wird. Wir müssen ihm ordentlich eine verpassen, Edwin. Ein Exempel an ihm statuieren.«

Ich schüttelte bedächtig den Kopf. »Wir können es uns nicht leisten, die Karten jetzt schon aufzudecken, denn dabei würden wir riskieren zu verraten, wie schwach wir in Wahrheit sind. Und außer dem Minister scheint auch niemand anderen in einer Machtposition der Hafer zu stechen. Penny hat mich runter in den Lageraum mitgenommen; es war alles ganz ruhig.«

»Die Ruhe vor dem Sturm«, sagte Penny. »Unsere Forscher beobachten die Medien der ganzen Welt, offizielle und inoffizielle, um ein Gefühl für die Stimmung jeder Regierung zu bekommen. Und sämtliche unserer Telepathen, Wahrsager und Hellseher arbeiten ganztags.«

Ich musste lächeln. Politiker glauben nur, sie könnten vor den Droods Geheimnisse bewahren.

»Bisher verhalten sich alle sehr vorsichtig, weil sie das Boot nicht zum Schaukeln bringen wollen, bis sie wissen, ob Haie im Wasser sind oder nicht«, erklärte der Waffenmeister. »Ich denke nicht, dass sie es sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt erlauben können, ihren eigenen Berichten darüber, wie schwach und desorganisiert wir sind, Glauben zu schenken. Aber das kann nicht lange andauern. Sie wissen, dass all unsere Frontagenten untergetaucht sind, und die meisten wissen auch vom Verschwinden der goldenen Torques oder vermuten es zumindest. Also wird früher oder später jemand etwas unternehmen, nur um zu sehen, was passiert. Um zu sehen, wie viel sie sich leisten können. Es könnte sogar zu einem direkten Angriff auf das Herrenhaus selbst kommen. Wisst ihr noch, wie die Chinesen versucht haben, uns mit Kernwaffen auszuradieren, damals in den Sechzigern?«

»Wir müssen etwas wegen des Premierministers unternehmen«, sagte der Seneschall bestimmt. »Etwas ausreichend Unangenehmes, um allen übrigen Führern der Welt eine klare Botschaft zukommen zu lassen.«

»Also schön«, stimmte ich widerstrebend zu. »Tischt mir ein paar Optionen auf, und ich werde mir sie ansehen.«

»Ich dachte, einer der Gründe, weshalb du die Leitung der Droods übernommen hast, sei gewesen, die Welt von ihrer Kontrolle zu befreien«, meldete Molly sich zu Wort. »Ich erinnere mich genau daran, wie du etwas darüber sagtest, Politiker ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen.«

»Das habe ich tatsächlich«, gab ich zu. »Nur stellt sich heraus, dass die Dinge nicht so einfach liegen.«

»Ist das nicht immer die erste Antwort eines jeden Diktators?«

»Hör zu, an erster Stelle Überleben, an zweiter Politik, in Ordnung?«, sagte ich.

»Ich wollte nur, dass du dir darüber im Klaren bist, in was du dich da reinmanövrierst«, antwortete Molly liebenswürdig.

»Apropos Überleben«, warf Penny ein. »Wir müssen dafür sorgen, so viele Familienmitglieder wie möglich so schnell wie möglich in die neuen Silberrüstungen zu bekommen. So, wie die Dinge liegen, sind wir im Fall eines plötzlichen Angriffs einfach zu verwundbar.«

Ich nickte widerstrebend. »Also schön, ihr setzt euch zusammen und arbeitet eine Liste aus, die ich mir ansehen werde. Unterteilt sie in die Namen derjenigen, die ihre Torques sofort bekommen sollten, derjenigen, die sie zwar bekommen sollten, aber erst, nachdem sie bewiesen haben, dass sie ihrer würdig sind, und derjenigen, denen nie wieder ein Torques anvertraut werden sollte.«

»Wie zum Beispiel?«, wollte Penny wissen und blickte mich mit ihren kühlen Augen mit unverhohlener Herausforderung an.

»Jeder, der das Geheimnis der goldenen Torques kannte und es einfach hingenommen hat«, erklärte ich unnachgiebig. »Jeder reuelose Null-Toleranzler und jeder, bei dem es mehr als wahrscheinlich ist, dass er einen Torques benutzen würde, um einen Bruderkrieg innerhalb der Familie zu beginnen. Geht nach eurem eigenen besten Ermessen vor. Wir sprechen hier nur von einem kleinen Prozentsatz von Drecksäcken, hoffe ich. Seltsam, stellt es ein Problem für dich dar, so schnell so viel fremdartige Materie für die Torques und die Rüstungen zu produzieren?«

»Bitte, nenn mich Ethel!«

»Nicht, wenn man mir eine Waffe an den Kopf hielte!«

»Du kannst so viele silberne Torques haben, wie du willst, Eddie«, sagte Seltsam ungezwungen. »Es dreht sich nur darum, mehr von mir aus meiner Heimatdimension hierher durchzubringen. Ich bin großartig und grenzenlos, weise und wunderbar. Aber weißt du, ihr braucht nicht wirklich neue Torques. Ich könnte euch allen beibringen, übermenschlich zu sein. In euch Menschen steckt so viel Potenzial! Ihr könntet größer sein, als jeder Torques euch jemals machen könnte. Ihr könntet alle wie Sterne strahlen!«

Ich blickte den Inneren Zirkel an, und der Innere Zirkel blickte mich an.

»Wie lange würde das dauern?«, fragte ich.

»Jahre«, antwortete Seltsam. »Generationen vielleicht. Diese ganze Sache mit der aufeinanderfolgenden Zeit ist ein neues Konzept für mich.«

»Ich denke, wir werden fürs Erste bei dem bleiben, was wir kennen«, meinte ich. »Die Familie muss so schnell wie möglich stark sein. Aber denke auf alle Fälle über die Alternative nach, Seltsam, und lass mich wissen, wenn du etwas Konkreteres für mich hast.«

»Oh, klasse!«, sagte Seltsam. »Das wird ein Heidenspaß!«

»Noch irgendwelche andere Angelegenheiten?«, erkundigte ich mich schnell.

»Nur eine«, meldete sich der Waffenmeister. Er zog einen kleinen Gegenstand unter seinem Laborkittel hervor, der in einen schweren weißen, mit Gold durchwirkten Seidenstoff eingeschlagen war und reichte ihn mir. Ich nahm ihn entgegen und wickelte ihn mit äußerster Sorgfalt und Vorsicht aus. Gaben vom Waffenmeister haben eine Tendenz, ausgesprochen gefährlich zu sein, wenn nicht sogar regelrecht explosiv. Doch der Gegenstand entpuppte sich als schlichter Handspiegel mit Silbergriff und -rahmen. Ich wog ihn für alle Fälle ein paar Mal vorsichtig in der Hand, aber nichts geschah. Und das Gesicht im Spiegel war ganz entschieden meins. Ich blickte den Waffenmeister fragend an.

»Jacob und ich stöbern häufig in der alten Bibliothek«, berichtete der Waffenmeister. »Wenn ich ihn von seinen anderen, äh, Beschäftigungen losreißen kann. Und wir haben einige ganz bemerkenswerte Stücke ausgegraben. Eine Anzahl von Büchern, die schon seit Langem als verloren oder zerstört galten, eine Reihe alter Karten von zweifelhafter Herkunft, aber mit aufregenden Möglichkeiten. Und eine Handvoll verlorener und ganz legendärer Schätze. Das hier ist Merlins Spiegel. Er verschwand im späten achtzehnten Jahrhundert unter ziemlich schleierhaften Umständen aus dem Armageddon-Kodex. Jacob hat ihn in einem ausgehöhlten Buch über Wühlmäuse entdeckt.«

»Weiß nicht mal, was mich dazu gebracht hat, da nachzuschauen«, sagte Jacob vergnügt. »Ich war nur auf der Suche nach irgendwas mit schmutzigen Bildern.«

»Augenblick mal!«, sagte Molly. »Merlins Spiegel - sprechen wir etwa von dem Merlin?«

»O ja!«, bestätigte Jacob.

»Er war ein Drood?«, staunte Molly.

»Wohl kaum«, entgegnete der Waffenmeister. »Wir haben schon unsere Mindestanforderungen. Nein, er war Merlin Satansbrut, des Teufels eingeborener Sohn. Geboren, um der Antichrist zu sein, aber er lehnte die Ehre ab. Er musste ja immer seinen eigenen Weg gehen. Gemäß einiger, recht faszinierender Aufzeichnungen in der alten Bibliothek hat er allerdings tatsächlich gelegentlich mit der Familie zusammengearbeitet. Wenn es ihm in den Kram passte. Und offenbar schuldete er uns einen Gefallen und zeigte sich erkenntlich, indem er uns diesen Spiegel schenkte.«

Molly streckte die Hand danach aus und ich gab ihn ihr. Sie murmelte ein paar Worte über dem Spiegel, vollführte ein paar schnelle Gebärden, hielt ihn sogar mit dem Kopf nach unten und schüttelte ihn, in der Hoffnung, es könnte etwas herausfallen, doch nichts passierte. Molly rümpfte die Nase und gab mir den Spiegel zurück.

»Na schön«, meinte sie, »ich passe. Wofür soll er gut sein?«

»Man kann ihn benutzen, um Kontakt zu anderen Mitgliedern der Drood-Familie herzustellen, in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und sie um Rat oder Informationen zu bitten.«

Es entstand eine Pause, und dann sagte Molly: »Nichts für ungut, Leute, aber ich denke, bei dem Geschäft hat man euch beschissen. Ich meine, es ist nicht der nutzloseste magische Gegenstand, den ich jemals gesehen habe, aber es kommt ihm verdammt nahe.«

»Du bist eine Hexe«, sagte der Waffenmeister freundlich, »und deshalb daran gewöhnt, hauptsächlich in Kategorien des Hier und Jetzt zu denken. Der Spiegel hat viele Verwendungszwecke. Hochwichtige Informationen, die in dieser Zeit verloren sind, können in der Vergangenheit, als sie noch nicht verloren waren, gefunden werden. Oder in der Zukunft, nachdem sie wiederentdeckt worden sind. Die bedeutendsten Familienstrategen - der Vergangenheit und der Zukunft - stehen uns jetzt als Ratgeber zur Verfügung. Wir können uns sogar spezifischen Rat aus der Zukunft einholen, welche Angelegenheiten wir verfolgen und von welchen wir besser unbedingt die Finger lassen sollten.«

»Wenn dieser Spiegel so nützlich ist«, wunderte ich mich, »wie kommt es dann, dass er so lange verschollen war?«

»Ach«, sagte der Waffenmeister widerstrebend, »darüber existieren viele Geschichten. Die, der ich am ehesten Glauben schenken würde, weil ich sie am wenigsten mag, besagt, dass jemand dem Spiegel eine ganz bestimmte Frage gestellt und von ihm eine ganz bestimmte Antwort bekommen hat, die ihn völlig durcheinanderbrachte. Deshalb nahm er den Spiegel und versteckte ihn, um zu verhindern, dass irgendjemand anders die Frage ebenfalls stellte oder die Antwort erfuhr.«

»Ich kann nicht verstehen, wie diese Familie etwas so Nützliches so leichtfertig aufgeben konnte«, meinte Molly.

»Ich schon«, sagte ich. »Die Droods sind schon immer sehr vorsichtig gewesen bei allem, was mit Zeitreisen zu tun hat - seit dem Großen Zeitdesaster von 1217, als die Familie sich um ein Haar selbst ausgelöscht hätte, nachdem sie aus Versehen ein Möbiusband-Zeitparadoxon erzeugt hatte. Es gibt immer noch einige Zimmer im Herrenhaus, die wir nicht finden können, wegen dem, was wir machen mussten, um aus der Zeitschleife auszubrechen. Und was möglicherweise immer noch mit den armen Schweinen passiert, die wir in diesen Zimmern zurücklassen mussten, daran wollen wir gar nicht erst denken. Der menschliche Verstand hat schlichtweg nicht das nötige Rüstzeug, um sich mit allen denkbaren Komplikationen und ausgesprochen tückischen indirekten Folgen des Herumpfuschens an der Zeit zu beschäftigen.«

Und dann hielt ich jäh inne, denn mir kam eine Idee mit solcher Heftigkeit, dass es mir den Atem raubte, während eine knochige Hand sich um mein Herz krallte. Ich blickte in Merlins Spiegel, und mein Gesicht starrte mich zurück an, so kalt und hart und entschlossen, dass ich es kaum wiedererkannte.

»Kann ich mit jedem in der Vergangenheit Kontakt aufnehmen?«, fragte ich, und selbst ich konnte erkennen, dass die Stimme sich nicht wie meine anhörte. Sie klang rücksichtslos, sogar gefährlich. Alle schauten mich angespannt an. Ich glaube, Molly begriff zuerst, vielleicht weil ihr Verstand bereits begonnen hatte, sich auf ähnlichen Bahnen zu bewegen. Ich blickte den Waffenmeister an, und jeder andere wäre vermutlich zusammengezuckt beim Anblick dessen, was er in meinen Augen sah. »Ich weiß, dass es gefährlich ist, und es ist mir egal«, kam ich seinen Einwänden zuvor. »Sag mir, Onkel Jack, kann ich mithilfe dieses Spiegels mit meinen Eltern in der Vergangenheit reden, bevor sie ermordet wurden?«

»Es tut mir leid«, antwortete der Waffenmeister mit rauer Stimme, aber nicht unfreundlich. »Daran habe ich auch schon gedacht. Es gibt immer jemanden in der Vergangenheit, mit dem wir gerne sprechen würden: Freunde und Verwandte und geliebte Menschen, die zu früh von uns gegangen sind, bevor wir ihnen all die Dinge sagen konnten, die wir ihnen eigentlich immer sagen wollten. Die Dinge, die wir aufschoben, weil wir immer dachten, es sei noch Zeit dafür. Bis plötzlich keine mehr war. Aber der Spiegel lässt es nicht zu, dass jemand Fragen zu seinem persönlichen Nutzen stellt. Nur zum Wohle der Familie. Und der Spiegel erkennt den Unterschied immer. Ein eingebauter Sicherheitsfaktor vielleicht, um dem Missbrauch der Zeit vorzubeugen.«

»Vielleicht hatte der Zauberer Merlin Satansbrut aber auch nur eine fiese Ader«, sagte Molly.

»Oder das«, räumte der Waffenmeister ein.

»Ich muss wissen, was meinem Vater und meiner Mutter wirklich zugestoßen ist«, sagte ich. »Ich werde die Wahrheit herausfinden, egal, was ich dafür tun muss!«

»Ich habe Jahre vergeblich mit Versuchen zugebracht, es herauszufinden«, sagte der Waffenmeister. »Genau wie James. Sie war unsere Schwester, die arme, liebe Emily, und wir liebten sie innig. Wir waren sogar mit deinem Vater einverstanden, sonst hätten wir nie zugelassen, dass er sie heiratet. Aber die Wahrheit ist, dass niemand etwas zu wissen scheint. Wahrscheinlich war es nur ein dummer Fehler. Mangelhafte Informationen, ungenügende Einsatzbesprechung, zu viel, was gleichzeitig schiefgelaufen ist. So was kommt vor, auch bei den bestgeplanten Missionen.«

»Es gibt immer noch den Zeitzug!«, sagte Penny plötzlich.

»Nein, gibt es nicht!«, widersprach der Waffenmeister schnell.

»Was zum Teufel ist ein Zeitzug?«, wollte Molly wissen. »Und warum beschleicht mich das Gefühl, dass mir die Antwort nicht wirklich gefallen wird?«

»Das müssen deine Hexensinne sein, die Überstunden machen«, sagte ich. »Verdammt, an den Zeitzug habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht. Er ist ein Mittel, um durch die Zeit zu reisen, wenn auch vielleicht etwas seltsamer als die meisten. Seit Ewigkeiten hat ihn niemand mehr benutzt. Ich nehme an, er ist noch funktionsfähig. Oder, Waffenmeister?«

»Nun, technisch ja«, gab er zu. »Aber manche Dinge sind einfach zu gefährlich, um daran herumzupfuschen.«

Ich musste eine Augenbraue hochziehen. »Das von dem Mann, der von unseren besten Telepathen verlangte zu versuchen, sämtliche Atomsprengköpfe in China zur Explosion zu bringen, nur indem die Telepathen ›richtig fiese Gedanken zu ihnen denken‹?«

»Das hätte auch funktioniert, wenn die Matriarchin mich nicht aufgehalten hätte!«, wehrte sich der Waffenmeister schmollend. »Meine besten Ideen sind ihrer Zeit immer voraus!«

»Ich wechsle jetzt das Thema!«, erklärte ich bestimmt. »Eines muss uns allen klar sein: Die Familie muss etwas unternehmen, etwas Großes und Bedeutendes und Dramatisches, um der ganzen Welt zu beweisen, dass die Droods immer noch stark und gemein und eine Kraft sind, mit der man rechnen muss. Wir müssen uns ein Ziel aussuchen, einen wirklich wichtigen und unangenehmen Feind, und ihm dann einen richtig gewaltigen Präventivschlag versetzen. Ihn auslöschen, ein für alle Mal!«

»Jetzt redest du wie ein Mann, Junge!«, zollte der Seneschall meinen Worten Beifall.

»Hört sich gut an für mich«, meinte auch der Waffenmeister. »Unter der Matriarchin war die Familie jahrelang schrecklich reaktionär.«

»An wen hast du gedacht?«, erkundigte sich Molly. »Das Manifeste Schicksal?«

»Nein«, erwiderte ich. »Sie sind noch schwach; sie auszuradieren würde niemanden beeindrucken. Wir brauchen etwas … Größeres.«

»Es gibt zwei Hauptbedrohungen für die Menschheit«, sagte der Waffenmeister, wobei er in seinen langweiligen Dozentenmodus abglitt. »Ganz gleich, ob sie wissenschaftlich oder magisch in ihrem Ursprung sind, mythisch oder politisch oder biblisch - alle Feinde der Menschheit können in zwei verschiedene Arten unterteilt werden. Diejenigen, die uns Schaden zufügen, weil sie sich erhoffen, daraus einen irgendwie gearteten Nutzen zu ziehen; diese nennen wir Dämonen. Und diejenigen, die zu groß sind, um sich um uns zu kümmern, die uns aber möglicherweise Schaden zufügen, einfach weil wir im Weg sind; diese nennen wir in Ermangelung eines besseren Wortes Götter. Die Familie ist dazu ausgebildet und ausgerüstet, sich mit Dämonen zu befassen. Mit den Göttern geht man am besten feinfühlig um, aus sicherer Entfernung, und über so viele Vermittler wie möglich.«

»Ich habe bereits einen Gott getötet«, sagte ich. »Und das Herz schrie genau wie ein Mensch, als es starb.«

»Ich habe dir geholfen«, warf Seltsam ein. »Ohne mich hättest du das nicht tun können.«

»Kann sein«, erwiderte ich. »Aber andererseits musstest du das ja jetzt auch sagen, oder?«

»Können wir bitte die Anwandlungen von Größenwahn beiseite lassen, nur für den Moment, und uns darauf konzentrieren, eine Strategie zu entwerfen?«, mischte Penny sich ein.

»Keine Götter anzugreifen klingt für mich nach einer richtig guten Strategie«, meinte Molly. »Ich stimme für Dämonen!«

»Dämonen hört sich gut an für mich«, sagte auch der Waffenmeister. »Es gibt nie Mangel an Dämonen, die die Menschheit verarschen wollen.«

»Na schön«, fasste ich zusammen, »dann also Dämonen. Möchte jemand ein paar Namen ins Gespräch bringen, einfach um die Sache in Bewegung zu setzen?«

»Die Umgehenden Leichentücher?«, schlug der Seneschall vor.

»Die sind letztes Jahr so ziemlich ausgerottet worden«, wandte Penny ein. »Haben einen Revierkrieg mit dem Kalten Eidolon geführt, in den Seitengassen von Neapel. Beide Seiten erholen sich noch davon; es könnte ewig dauern, bis eine wieder eine anständige Bedrohung auf die Beine stellen kann.«

»Die Abscheulichen?«, bot ich an. »Ich hasse Seelenfresser!«

Penny runzelte die Stirn. »Es sind unlängst nachrichtendienstliche Informationen hereingekommen, dass sie sich in großer Zahl zusammenrotten, unten in Südamerika. Niemand scheint zu wissen warum, aber das ist nie ein gutes Zeichen.«

»Ich würde echt gern etwas gegen die Alraunenwiedervereinigung unternehmen«, sagte Molly. »Allein schon, weil sie mir eine Mordsgänsehaut verursachen.«

»Nicht wirklich ein stichhaltiger Grund, gegen jemand in den Krieg zu ziehen, oder?«, wandte der Waffenmeister ein.

»Der Kultus des Purpurnen Altars?«, schlug Jacob vor. »Satanisten der alten Schule, Ableger des ursprünglichen Höllenfeuer-Klubs. Hab sie noch nie gemocht. Sie haben mir die Mitgliedschaft verweigert, als ich noch am Leben war, die boykottverliebten Dreckskerle.«

»Sie machen gegenwärtig ein größeres Schisma durch«, berichtete Penny aufgeräumt. »Wegen irgendeines kleinen Dogmas, das so kompliziert und so trivial ist, dass niemand außerhalb des Kultus daraus schlau werden kann. Die Mitglieder des Kultus schlachten sich seit sechs Wochen gegenseitig ab, und bei dem Eifer, den sie dabei an den Tag legen, bezweifle ich, dass am Ende noch genug übrig sein werden, um eine Selbsthilfegruppe aufzumachen.«

»Das Traum-Mem?«, fragte der Seneschall hoffnungsvoll.

»Nein!«, lehnte der Waffenmeister ab. »Wir wissen immer noch nicht mit Gewissheit, wer oder was sie sind oder auch nur, was sie wollen. Und ja, Cyril, ich habe alle aktuellen Verschwörungstheorien gehört, und keine einzige davon überzeugt mich. Sie sind nur eine übernatürliche Neuzeitlegende, genau wie die Kulissenschieber.«

»Die Vril-Gesellschaft?«, machte Molly weiter. »Unser aller Lieblingsalbtraum aus dem Zweiten Weltkrieg?«

»Sind nach der Wiedervereinigung Deutschlands in die Politik gegangen«, berichtete Penny. »Von dieser Seite gibt es keine Überraschungen mehr.«

»Genug Namen!«, sagte ich. »Wir müssen der Welt eine Botschaft übermitteln. Eine aussagekräftige Botschaft. Deshalb sage ich, wir nehmen die Abscheulichen. Niemand mag Seelenfresser, also wird sich niemand mit ihnen verbünden, nicht einmal gegen uns. Ich sage, wir spüren diese neue Zusammenrottung in Südamerika auf, schicken eine gepanzerte Truppe hin und rotten sie entweder endgültig aus oder schicken sie wenigstens in die Hölle oder dorthin zurück, wo auch immer sie hergekommen sind. Das ist nur recht und billig, wenn man bedenkt, dass diese Familie die Verantwortung dafür trägt, dass sie überhaupt erst auf diese Welt gebracht wurden.«

Der Waffenmeister und der Seneschall blickten finster drein; für sie war das keine Neuigkeit. Für Penny und Jacob schon; sie wirkten schockiert. Die meisten in der Familie wussten nichts davon - nur ein weiteres jener schmutzigen, kleinen Geheimnisse, die die alte Garde gern für sich behalten hatte.

»Ich denke, ich werde meine alte Freundin Janitscharen Jane kontaktieren«, fuhr ich fort. »Sie weiß über den Kampf gegen Dämonen alles, was es zu wissen gibt. Wenn sie nüchtern ist. Penny, da all unsere Frontagenten auf dem Weg nach Hause sind, möchte ich, dass du auch an alle vogelfreien Droods die Aufforderung ergehen lässt, heimzukommen. Alle Sünden sind vergeben, wenn auch nicht vergessen. Sie haben auf die harte Tour gelernt, wie man ohne Unterstützung der Familie in der Welt überlebt, und besitzen Fertigkeiten, von deren Einsatz wir profitieren können.«

»Alle Vogelfreien?«, vergewisserte sich Penny.

»Na ja, die richtigen Arschlöcher, wie beispielsweise den verstorbenen und so gar nicht betrauerten Blutigen Mann Arnold Drood, wohl besser nicht«, präzisierte ich. »Aber von den richtig schwarzen Schafen sind sowieso nicht mehr viele übrig, oder?«

»Nur noch ein paar, Gott sei Dank!«, bestätigte der Waffenmeister. »Wir haben sie im Lauf der Jahre ausgesondert. Tiger Tim hält sich immer noch irgendwo im Regenwald des Amazonas verborgen, weil er weiß, dass jedes nur halbwegs zivilisierte Wesen ihn in dem Moment umbringen wird, in dem er sein Gesicht zeigt. Und der Alten Mutter Shipton gehen endgültig die Identitäten aus, hinter denen sie sich verstecken kann. Wir sind uns ziemlich sicher, dass sie gegenwärtig einen Säuglingsklondienst in Wien leitet. Unser Agent vor Ort hatte sich schon dicht an sie herangearbeitet. Vor den augenblicklichen Schwierigkeiten.«

»Und das sind die einzigen Monster, die noch übrig sind?«, fragte ich.

»Die Einzigen, von denen wir wissen«, sagte Penny. »Aber ehrlich, Eddie, die Vogelfreien heimrufen? Den Abschaum, den wir rausgeworfen haben, weil sie Gauner oder Feiglinge oder Umstürzler waren? Das wird der Familie nicht gefallen!«

»Es gefallen uns oft die Dinge nicht, die gut für uns sind«, entgegnete ich gelassen. »Wie bei so vielen Dingen den alten Rat betreffend, gilt auch hier: Auch die Vogelfreien waren nicht unbedingt das, was man uns über sie erzählt hat. Manche waren bloß Unruhestifter, die darauf bestanden, die Wahrheit zu sagen. Die Familie braucht neue Ratschläge, neue Tricks, neue Blickwinkel - die Vogelfreien können uns damit in Hülle und Fülle versorgen. Ich werde auch ein paar Freunde von außerhalb hinzuziehen, um uns als Gasttutoren auszuhelfen. Janitscharen Jane natürlich. Und ich dachte … vielleicht der Blaue Elf.«

»Den?«, mokierte sich Penny. »Das ist ein Säufer, ein Dieb und ein Wüstling! Er hat keine Prinzipien, keine Skrupel - und er ist ein Halbelb! Man kann ihm nicht trauen!«

»Er wird perfekt zu uns passen«, sagte ich. »Außerdem habe ich gehört, dass er seit seiner Nahtoderfahrung eine ganz neue Person ist.«

»Wenn du deine alten Freunde hinzuziehst, dann will ich auch ein paar von meinen!«, erklärte Molly. »Und sei es nur, damit ich mich nicht so in der Minderheit fühle.«

»In Ordnung«, stimmte ich zu. »Wen hast du im Sinn?«

»U-Bahn Ute und Mr. Stich«, antwortete Molly lieblich lächelnd.

»Bist du irre?«, rief ich. »Eine Vampirin, die den Menschen das Glück heraussaugt, und der ungefasste unsterbliche Serienmörder des alten London? Nur über meine Leiche!«

Vermutlich hätte es jetzt hitzige Worte und erhobene Stimmen gegeben, wären nicht in diesem Moment sämtliche Alarme auf einmal losgegangen. Das Herrenhaus wurde angegriffen.

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