Ross erinnerte sich nicht mehr, wie er in sein Zimmer gekommen war. Der Raum sah wüst aus, denn das Bett wurde nicht gemacht und die herumliegenden Papiere und Bücher wurden nicht geordnet. Er selbst hatte ja dem Reinigungsroboter untersagt, noch einmal in den Raum zu kommen. Er machte also sein Bett selbst und warf dabei einen Stapel Bücher um.
Sein Blick wurde vom Spiegel angezogen. Er setzte sich auf den Stuhl davor und starrte sich an. Er war der letzte Mensch auf der Erde, das letzte Leben. Bei diesem Gedanken mußte er grimmig auflachen. Was sah er denn schon? Er sah einen hageren, einseitig ernährten Burschen, bekleidet mit einer Toga aus weißem Kunststoff, die an ein Faschingskostüm erinnerte. Das Gesicht war noch nicht alt, doch die Augen lagen tief in den Höhlen. Er sah einen Mann, der zu feige war, sich zu töten, und doch keine Hoffnung mehr sah.
Nach langem Starren drehte er sich um und warf sich auf sein Bett. Zwei Jahre lang hatte er es nach Möglichkeit vermieden, sich mit der Vergangenheit zu befassen. Die Einsamkeit, die absolute Verlassenheit, schlug wieder über ihm zusammen Er hatte von der Illusion gelebt, doch noch einen Menschen zu finden und vielleicht der Stammvater einer neuen Menschheit zu werden. Nun mußte er sich eingestehen, daß seine Träume sinnlose und nicht realisierbare Wünsche gewesen waren. Er, der letzte Mensch auf der Erde, mußte sterben. Es gab keine Zukunft mehr. Was noch einen Wert für ihn hatte, war allein die Vergangenheit Er wollte nun endlich wieder an die Vergangenheit denken und die elende, hoffnungslose Gegenwart vergessen. Er gab sich den Erinnerungen mit Leidenschaft hin und glaubte, die Orte und Gesichter tatsächlich zu sehen.
Seine Furcht wich allmählich und machte einem tiefen Ernst Platz. Er fühlte sich wieder großartig und überlegen, obwohl er es im Grunde nicht war. Es war ebenfalls nur eine Illusion, ein Pflaster, das die heilende Natur auf seine wunde Seele legte, um ihm die letzten Tage leichter zu machen. Jetzt wußte er, was er mit dem Rest seines Lebens machen wollte: Er wollte sich an die Vergangenheit erinnern, wollte die alten Bilder vor seinem geistigen Auge wiederauferstehen lassen. Nur so konnte er dem Wahnsinn und der Verzweiflung entgehen und sich die letzten Tage einigermaßen angenehm gestalten.
Für die kommenden Tage setzte er einen großzügigen Zeitplan an. Er teilte seine Zeit so ein, daß er den Plan jederzeit ändern konnte. Es kam ja nicht mehr so genau darauf an. Wenn morgens das Licht anging, blieb er liegen und las ein belangloses Buch. Er las viele Bücher, deren Lektüre er vorher als Zeitverschwendung betrachtet hatte, ja sogar Gedichte, für die er sich vorher nie interessiert hatte.
Ab und zu betrachtete er die Gesichter berühmter Leute und lächelte grimmig. Sie waren alle dahin, ihre Werke waren vergessen und würden bald zu Staub zerfallen. Nach ihm würde kein Mensch mehr diese Bücher von den Regalen nehmen und lesen.
Wenn er Bewegung brauchte, spazierte er durch die aufgeräumten Sektionen des tief in die Erde eingelassenen Hospitals oder hörte sich Musikaufnahmen an. Abends unterhielt er sich dann mit „Schwester“, die seinen Gedankengängen erstaunlich gut folgen konnte, wenn sie mitunter auch einen erschreckenden Mangel an Menschlichkeit zeigte. In solchen Augenblicken erkannte Ross, wie sehr er „Schwester“ und die anderen Roboter als vollgültige Wesen betrachtete.
Aber wenn die Lichter verlöschten, dann kam die Angst in sein Zimmer, dann fragte er sich, ob er die Kraft haben würde, bis zum bitteren Ende durchzustehen. Was würde er kurz vor dem Ende tun? Er war sich darüber im klaren, daß er bald kein Buch mehr würde halten können. Würde er dann schwach und hilflos auf seinem Bett liegen und die Roboter anjammern? Er war erst vierundzwanzig Jahre alt und schon zum Tode verurteilt. Er war noch jung genug, um den Tod als etwas Schreckliches zu empfinden.
Dann kam der letzte Tag, an dem er seine volle Ration verzehren durfte. An diesem Tag stieg er wieder nach oben. Es hatte während der Nacht stark geregnet, so daß die Sicht außergewöhnlich gut war. Ross setzte sich auf einen Steinbrocken und starrte auf das Meer hinaus, dessen schwarze Wogen sich am flachen Ufer rauschend verliefen.
Und wieder kamen die Erinnerungen. Er wollte sie plötzlich nicht mehr und sprang auf. Die Nähe des Todes machte die Erinnerungen an seine beschützte Kindheit besonders schrecklich. Ungeduldig eilte er den Hügel hinauf, stürmte an seinem Beobachtungsdom vorbei über den Hügel hinweg und starrte auf die dunkle Fläche, die einstmals der Park des Hospitals gewesen war.
Er sah nur eine riesige kahle Fläche, aber er erinnerte sich an jeden Baum, jeden Busch. An dem Tag, an dem er in Tiefschlaf versetzt worden war, hatte er sich dort unten mit Alice getroffen. Sie hatten beide über belanglose Dinge gesprochen und sich nichts anmerken lassen. Er erinnerte sich merkwürdigerweise an jedes Wort der flachen, gekünstelten Konversation. Der Gedanke, für lange Zeit alles zu vergessen, war ihm damals schrecklich erschienen, aber lange nicht so entsetzlich wie nun die Gewißheit des Todes.
„Schwester“ mühte sich ab, seine Körpertemperatur zu messen. Ross lachte laut auf, denn er empfand dieses sinnlose Bemühen als sehr komisch. „Schwester“ strengte sich um so mehr an, denn der Pflegeroboter fühlte sich für den Menschen verantwortlich und erfüllte nur die ihm gestellte Aufgabe.
Ross beruhigte sich bald wieder und wurde ernst. Er gab „Schwester“ den Auftrag, sämtliche Roboter zurückzurufen, und dann genaue Instruktionen, die der Pflegeroboter mehrmals wiederholen mußte. Das war erforderlich, denn er würde nicht mehr dasein, um die Ausführung seines Auftrages zu überwachen. Zum Schluß gab er den Befehl, alles für seine sofortige Einschläferung vorzubereiten.
Vier Stunden später lag Ross in einem ausgepolsterten sargähnlichen Behälter. Über sich sah er das merkwürdig starre Linsensystem von „Schwester“. Die Kälte hatte das unangenehme Stadium bereits überschritten, so daß er sich ziemlich wohl fühlte.
„Ich wiederhole es noch einmal, damit wirklich alles klappt!“ sagte er eindringlich. „Wenn die Sache schiefgeht, möchte ich auf keinen Fall wiederbelebt werden. Ist das klar? Wenn ihr mich weckt, werde ich doch nur verhungern.“
„Ich verstehe Sie sehr gut, Sir“, antwortete Schwester. „Haben Sie sonst noch Wünsche?“
„Ja…“
Ross wollte noch etwas sagen, doch die Kälte lähmte ihn so sehr, daß das Wort im Mund erstarb. Es war eine Starre, in der er zwar noch etwas wahrnehmen, sich selbst aber nicht mehr mitteilen konnte. Bald würde jede Zelle seines Körpers von der konservierenden Starre erfaßt sein, aber auch der Raum, denn dieser mußte zur Sicherheit ebenfalls tiefgekühlt werden.
Dann übermannten ihn wieder die Erinnerungen. Er war wieder in dem alten Park, schwamm wieder mit Alice im Meer. Alice…!
„Es tut mir leid, Sir.“ „Schwester“ klappte den Deckel zu.
Dunkelheit und Kälte nahmen Ross gefangen. Aber irgendwo in ihm war noch eine warme Stelle, die rasch größer wurde. Ein Fehler im System, dachte er niedergeschlagen. Die verdammten Roboter haben natürlich alles verdorben. Er war so enttäuscht und so wütend, daß er erst kein Wort über die Lippen brachte.
„Rühren Sie sich nicht, Mr. Ross!“ befahl „Schwester“ scharf. „Sie müssen erst massiert werden. Danach werden Sie wieder allein gehen können.“
Ross biß die Zähne zusammen. Was „Schwester“ als Massage bezeichnet hatte, war eine Höllenpein; man schien ihm sämtliche Knochen im Leibe brechen zu wollen.
Aber nach der längsten halben Stunde seines Lebens konnte er wieder aufrecht sitzen und mühsam atmen.
„Was ist passiert? Warum habt ihr mich wieder geweckt?“ herrschte er den Roboter an.
„Können Sie stehen und sich bewegen, Mr. Ross?“ „Schwester“ nannte ihn wieder Mr. Ross und ignorierte vorerst seine Fragen.
Ross machte ein paar vorsichtige Schritte und stellte fest, daß er sich recht gut bewegen konnte.
„Ich schlage vor, wir gehen jetzt nach oben, Sir“, sagte „Schwester“.
Ross; bemerkte den Unterschied in der Anrede. „Ich bin also kein Patient mehr? Wenn ich jetzt der Boß bin, könnt ihr etwas erleben! Ihr habt mir fast die Knochen gebrochen, verdammt noch mal! Warum habt ihr mich überhaupt geweckt? Hat etwas nicht geklappt, oder habt ihr Lebensmittel für mich gefunden?“
„Sie haben geschlafen, Sir. Die Tiefkühlung hat ausgezeichnet funktioniert.“
Ross staunte. Er hatte nach seiner Meinung nur wenige Minuten im Tiefschlaf gelegen. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Dreiundvierzigtausend Jahre, Sir.“
Es war wie ein Keulenschlag. Ross konnte kein Wort hervorwürgen. Auch während der Fahrt nach oben war er noch so benommen, daß er keine Frage zu stellen vermochte. An der Oberfläche erlebte er aber eine noch größere Überraschung.
Die Sonne stand wieder grell und stechend an einem azurblauen Himmel und schickte sengende Strahlen auf die Erde herab. Unter sich sah Ross den weiten, grünlich schimmernden Ozean mit weißen Wellenkämmen, Er konnte sogar wieder die fünf Kilometer weit entfernten Hügel erkennen. Die Luft war klar und würzig wie nie zuvor — so frisch, daß er sie zu trinken, nicht aber zu atmen glaubte. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen; Tränen schossen in seine Augen. Er drehte sich um und blickte nach hinten. Dann sah er für kurze Augenblicke nichts, denn die salzigen Tränen nahmen ihm die Sicht. Als er die Augen öffnete, sah er, daß dicke weiße Cumulus-Wolken am Horizont den blaßblauen Himmel vom tiefblauen Ozean trennten. Wogen mit weißen Schaumkronen füllten die Bucht, und die dicksten Brecher, die Ross jemals gesehen hatte, rollten wie flüssiger Schnee auf einen Strand, der, so weit das Auge sehen konnte, aus hellgelbem Sand bestand.
„Es hat viel länger gedauert, als Sie vermuteten“, sagte „Schwester“ hinter ihm, „bis das Gras aus den Samen im künstlichen Ultraviolett gedieh und Versuche auf Beeten an der Oberfläche gelangen. Diese Beete wurden mit durchsichtigen Kunststoffglocken bedeckt, und wieder dauerte es lange Zeit, bis die Gräser ohne diesen Schutz wuchsen. Feine Aschenteilchen in der Atmosphäre, die das Sonnenlicht abschirmten, hemmten das Wachstum der Pflanzen. Die Zeit jedoch und natürliche Mutationen schufen Exemplare, die sich in der veränderten Umgebung behaupten konnten.“
Eifrig sprach „Schwester“ weiter. „Während sich diese Pflanzen entwickelten, wurden die Aschenteilchen von Land und Wasser aufgenommen, wodurch mehr Sonnenlicht zur Erde drang. Dies beschleunigte die Verbreitung der Gräser, was einen wiederum erhöhten Abbau der Aschenteile bewirkte. Und da niemand und nichts das Gras ausrottete, erfolgte diese Ausbreitung erstaunlich schnell. Es dauerte jedoch noch einige Jahrtausende, bis wir eine Auslese treffen und eßbare Körner gewinnen konnten, die dann zu Nahrungsmitteln verarbeitet wurden. Jetzt ist Ihre Ernährung gesichert.“
„Danke“, murmelte Ross. Er konnte seinen Blick nicht von dem hellgelben Sand am Strand losreißen. Wind, Regen und Salzwasser — hauptsächlich das Salzwasser, dachte er — hatten der vorher schmutzigen Landschaft ein frisch gewaschenes Aussehen verliehen. Und was war dazu nötig gewesen? Nur ein bißchen Zeit.
Dreiundvierzigtausend Jahre!
Jetzt waren sogar die Geister der Vergangenheit tot. Und die stolzen Errungenschaften der Menschheit waren nur noch Rostflecke in der Erde. Ross fröstelte plötzlich.
Einzig dieses vollautomatische, von Robotern geführte Krankenhaus war geblieben.
„Schwester“ sprach wieder und unterbrach damit einen unerfreulichen Gedankengang des Mannes.
„Ihr augenblicklicher Gesundheitszustand ist nicht ganz befriedigend. Zwar können Sie nicht als Patient bezeichnet werden, aber Sie sind auch nicht voll arbeitsfähig. Daher empfehle ich, daß Sie sich unsere Arbeitsberichte für einen späteren Zeitpunkt aufsparen und zunächst Urlaub machen…“
Ein grollender, lang anhaltender Donnerschlag ließ Ross entsetzt zum Himmel aufblicken. Dort zog in ungewisser Entfernung ein silberner Pfeil einen weißen Streifen hinter sich her. Während Ross beobachtete, krümmte sich der Kondensstreifen, und das Schiff wendete in so spitzem Winkel, daß jeder Pilot aus Fleisch und Blut dabei seinen letzten Atemzug getan hätte. Die Geschwindigkeit wurde verringert, das Schiff verlor an Höhe, und Minuten später glitt es über das Tal und strebte wieder der See zu.
Bei dem ständigen Dröhnen, das die Luft erfüllte, fiel es Ross schwer, zu denken, aber es schien ihm, als habe der Pilot weit unter Mindestgeschwindigkeit verzögert. Das Flimmern der Luft unter dem Rumpf der Maschine gab ihm die Antwort: senkrecht montierter Düsenantrieb. Über der Bucht stoppte die Maschine und sank dann dem Boden zu. Für Augenblicke verschwand sie in einem Sandsturm, den sie selbst verursacht hatte, dann erstarb das Dröhnen, und die Maschine lag ruhig da, in der Sonne schimmernd und fast hundert Meter lang.
Ross hatte den Robotern gegenüber nie den Senkrechtstart erwähnt. Dies mußten sie selbst ausgeknobelt haben, vielleicht mit Hilfe von Büchern.
„Da es jetzt möglich ist, würde es Ihnen vielleicht Freude machen, zu reisen. Es wäre die beste Erholung für Sie“, sagte „Schwester“. „Die Maschine, die dort am Strand liegt, birgt alles, was ein Mensch braucht. Wenn Sie also Lust hätten…“
Ross lachte. „Worauf warten wir noch?“ rief er und schlug „Schwester“ auf die glatte Hülle, die keine Wahrnehmung registrieren konnte.
Auf dem Weg zum Strand stolperte er zweimal, aber es war eine Wonne für ihn, in das lange, süß riechende Gras zu fallen, und auch der heiße Sand, der ihm fast die nackten Fußsohlen verbrannte, wurde zum erregenden Erlebnis. Dann stieg er in das kühle Innere des Schiffes und begutachtete die Einrichtung.
Die Beobachtungskanzel war klein, enthielt einen gutgepolsterten Sessel und gewährte unbehinderten Ausblick nach allen Seiten und nach unten. Von hier aus gelangte man in eine größere Kabine. Darin standen eine Liege, ein Bücherregal und Toilettengegenstände. Ross hätte wetten mögen, daß die Bücher leichte Kost waren und daß ihre Lektüre keine Gehirnakrobatik verlangte.
„Du hast an alles gedacht“, lobte Ross spontan.
„Danke, Sir“, antwortete die Flugmaschine. Die Stimme drang aus einem Gitter hinter dem Beobachtungssessel. Es war eine sympathische männliche Stimme. Die Maschine fuhr fort: „Ich bin Aufklärer A 17/3, eins der fünf Modelle, die für Forschungen im großen Stil konstruiert wurden. Bei diesem speziellen Auftrag jedoch ist darauf zu achten, daß Start, Beschleunigung und Bremsmanöver mit größter Vorsicht durchgeführt werden, um Sie nicht zu gefährden. Wohin möchten Sie, Sir?“
Noch lange danach erinnerte sich Ross an diese Reise. Es war der glücklichste Tag seines Lebens gewesen.
Aus Höhen von zehn Meilen bis einigen hundert Metern blickte Ross auf seine Welt, seine frische grüne Welt. Er fand es nicht eingebildet, daß er die Welt als sein Eigentum betrachtete.
Schließlich hatte er diesen schwarzverkohlten Torso zu neuem Leben erweckt. Denn das Gras, das aus winzigen Samenkörnchen stammte, die sich in den Aufschlägen seiner Hose verfangen hatten, bedeckte sämtliche Kontinente. Ross war glücklich erregt und blickte wie betäubt auf das Wunder zu seinen Füßen.
In Äquatorial-Afrika und im Amazonas-Becken wuchs ein hohes grellgrünes Meer zum Himmel empor. Die früheren Steppen waren smaragdgrüne Ozeane, und weder Baum noch Strauch hinderte die Halme in ihrem Wachstum. Zwanzig Meilen vom arktischen Eis entfernt kämpften zähe Halme gegen die rauhe Witterung an. So gab es zwar Unterschiede in Farbe und Wuchs, aber für Ross war es, als sei ein Maler über die Kontinente geschritten und habe sie grün angestrichen.
Hier und dort durchbrach ein Binnensee oder ein schneebedeckter Gipfel das eintönige Grün, und Ross empfand, daß Blau, Grün und Weiß seine Erde in ein schöneres Gewand hüllten als Grau und Schwarz, die Farben der Vernichtung.
Am späten Nachmittag flog er über das Karibische Meer. Und plötzlich entdeckte er die Insel.
Es war ein Eiland wie viele — klein, flach, bedeckt mit grünem Gras und umgeben von den weißen Schaumkämmen der anrollenden Brandung. Ross wußte nicht, warum er gerade diese Insel wählte. Vielleicht wegen der kleinen Bucht, deren gelber Sand wie ein goldenes Hufeisen zu ihm heraufleuchtete. Er befahl der Maschine zu landen Ein erfrischendes Bad würde ihm guttun.
„Schwester“ erhob keine Einwände, ermahnte ihn jedoch, sich nicht zu überanstrengen, und erinnerte ihn daran, daß sich seit seinem letzten Sonnenbad die Strahlung verstärkt hatte, es jedoch auf der ganzen Welt keine einzige Flasche Sonnenöl gäbe.
Ross versicherte, daß er all diese Punkte bedenken und vorsichtig sein werde. Dann wandte er sich um, lief zum Strand und warf sich mit einem jubelnden Aufschrei dem riesigen Brecher entgegen, dessen Kamm sich eben weiß färbte.
Nach der Abkühlung in den Fluten stieg er zu den grünen Hügeln hinauf und ließ sich ins Gras fallen, um zu trocknen. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, obgleich sie in einer Stunde untergehen würde. Ein überwältigendes Glücksgefühl erfüllte Ross, und Zuversicht stieg in ihm auf. Er sah eine glückliche Zukunft voraus für sich, seine Welt und seine Roboter. Im Augenblick war er zu müde, um Pläne zu schmieden, aber das, was er erreicht hatte, machte ihn stolz. Mit einem Seufzer drehte er sich auf den Rücken, pflückte einen Grashalm ab, steckte ihn in den Mund und kaute darauf herum.
Sofort stand „Schwester“ neben ihm, „Diese Halme sind nicht eßbar. In kleinen Mengen genossen, schaden sie jedoch nicht.“
Ross lachte, stand auf und ging zurück zur Maschine. Dort aß er eine kräftige Mahlzeit, ließ sich satt auf seine Liege fallen, und damit endete der glücklichste Tag seines Lebens.
Am nächsten Morgen erwachte Ross und stellte fest, daß die Maschine aufstieg, um einem Hurricane auszuweichen, der von Südwesten heranfegte. Eine Stunde später kreuzte er zweihundert Meilen westlich von Panama und entdeckte eine zweite A 17. Er sprach kurz mit der Maschine, ohne sie von ihren Pflichten abzulenken.
Gerade hatte er sein Gespräch mit der A 17 beendet, da entdeckte er einen weißen Fleck auf dem Ozean. Es war ein ehrfurchtgebietender Anblick, der sich ihm jetzt bot.
Außer den weiten Grasflächen der zu neuem Leben erwachten Welt war dies der erregendste Augenblick, solange er zurückdenken konnte.
An die hundert lange, niedrige Schiffe kreuzten dort in gerader Linie in Abständen, die mit dem Metermaß ausgemessen schienen.
Solche Schiffe hatte die Welt noch nicht gesehen. Sie waren ungefähr zweihundert Meter lang, hatten einen erstaunlichen Tiefgang und trugen halbkugelförmige und eckige Aufbauten, deren Funktion Ross nicht begriff. Daß diese Ozeanriesen nicht für Menschen konstruiert waren und daher weder Decks noch Rettungsboote und Luken benötigten, erklärte ihr bizarres Aussehen. Jedes Schiff schien einen weißen Fächer im Kielwasser hinter sich herzuziehen und den Ozean in brodelnde Milch zu verwandeln. Hundert Schiffe, die sich aufs Haar glichen, abgesehen von der aufgespritzten Nummer, zogen in schnurgerader Formation dahin, was jeden Admiral vergangener Tage in Begeisterung versetzt hätte.
„Die Suchflotte Pazifik“, erklärte „Schwester“. „Sie ist mit allen Geräten zur Unterwasseraufklärung ausgerüstet, die in den uns zur Verfügung stehenden Werken erwähnt wurden. Außerdem entwickelten wir noch einige Zusatzgeräte, die sich aus vorhandenem Material ableiten ließen. Die Flotte wird von zehn Unterseebooten begleitet, die Forschungen in ein- bis zweitausend Meter Tiefe durchführen können. Für größere Tiefen sind sie nicht geeignet, denn die Wandungen würden dem Druck nicht standhalten. Hierzu ist Spezialmaterial erforderlich.“
„Gehen wir tiefer; das will ich aus der Nähe sehen“, sagte Ross.
Eine halbe Stunde lang kreiste er über den Schiffen. Mit manchem nahm er Verbindung auf, aber meist starrte er nur verzaubert hinunter und beobachtete die Kreuzer, die sogar gleichmäßig in den Wellen zu schaukeln schienen. Eigentlich war er, Ross, verantworten dafür, daß diese Flotte existierte; und bei dem Gedanken schwindelte ihm.
Auch dieser zweite Tag war voller erregender Abenteuer, aber Ross’ Freude wurde durch eine wachsende Unruhe getrübt. Er wollte wieder an die Arbeit, aber „Schwester“ ließ es nicht zu. Wenn er den Forschungsmaschinen Instruktionen gab, widerrief Schwester seine Befehle. Und wenn er die Berichte durchsehen wollte, hielt der Pflegeroboter ihn auch davon ab, mit der Erklärung, er sei auf Urlaub.
Bisher hatte ihn „Schwester“ entweder als Patient behandelt und überhaupt nicht auf seine Anweisungen geachtet oder als Herrn und Meister betrachtet, dem man unbedingt Gehorsam leisten mußte. Nun aber schien der Roboter eine dritte Möglichkeit entwickelt zu haben. Manches befolgte er, anderes redete er Ross aus. Ein Verdacht stieg in Ross auf.
„Wie ist das,,Schwester’, irgend etwas mit dir scheint mir nicht in Ordnung. Du hast deinen Erinnerungsspeicher nicht auf die Reise mitgenommen. Werden dadurch deine Entschlüsse beeinträchtigt?“
„Keineswegs“, entgegnete der Roboter ruhig. Da er keine Gefühle kannte, verletzte ihn die unverhohlene Kritik nicht. „Seit zehntausend Jahren brauche ich den Speicher nicht mehr. Wir haben eine Verkleinerungsmethode entwickelt, die es uns erlaubt, sämtliches gespeicherte Wissen in unserem Innern mit herumzutragen.“.
Zwei Wochen lang faulenzte Ross. Er schwamm und ließ sich an sämtlichen berühmten Küsten der Welt braun brennen, bis „Schwester“ ihm durch die Blume mitteilte, daß er wieder völlig hergestellt sei. Der Pflegeroboter sagte: „Die Forschungsberichte werden im Krankenhaus aufbewahrt, Sir. Möchten Sie zurückkehren?“
Erholt ging Ross an die Arbeit zurück.
Er gönnte sich nur wenig Freizeit — gelegentlich ein kühles Bad oder einen Spaziergang im Tal. Den Rest seiner Zeit verbrachte er damit, einen riesigen Kontrollraum zu bauen, aus dem man die See überblicken konnte. Er sah sich die Filme an, die von den Forschungs-U-Booten aufgenommen worden waren, betrachtete die von atmosphärischen Störungen entstellten Bilder der Mondberge und versuchte, sich auf den jetzigen Stand des Wissens zu bringen, den die Roboter während seines Tiefschlafes erarbeitet hatten.
Die Landflächen der Erde waren gründlich erforscht worden, und es blieben nur noch wenig hundert Quadratkilometer, um die Pole zu untersuchen. Eintausendsiebenhundertachtundfünfzig unterirdische Anlagen waren gefunden und überprüft worden. Hierbei handelte es sich um Raketenabschußbasen, Krankenhäuser, unterirdische Städte, private Bunker und zu Schutzzwecken umgebaute Bergwerksschächte.
Unter den Meeren waren bisher zweiundsiebzig Anlagen des Heeres und der Marine aufgefunden worden, aber zwei Drittel des Pazifik und der größte Teil des Indischen und des Südatlantischen Ozeans mußten noch abgegrast werden. Auf dem Mond hatten die Roboter drei Stützpunkte festgestellt, aber keine dieser Festungen hatte den ferngesteuerten Raketen standgehalten.
Die Suchaktion hatte große Mengen brauchbaren Metalls zutage gefördert, die sichergestellt worden waren, ebenso zahlreiche Roboter und andere Maschinen, die nicht mit Elektronengehirnen ausgestattet waren. Millionen von Büchern und technischen Zeichnungen waren von den Fotozellen der Roboter abgetastet worden. Andere Maschinen hatten dieses Wissen registriert und eigens hierfür Speicher angelegt, aus denen es jederzeit entnommen werden konnte. Hierdurch waren die Roboter anpassungsfähiger geworden und hatten mehr Entschlußkraft entwickelt. Wenn Ross jetzt einen Befehl nur zum Teil aussprach, gehorchten ihm die Maschinen schon, und sie begriffen erstaunlich schnell, was er von ihnen wollte.
Zweifellos hatten sie große Fortschritte gemacht. Aber es gab auch eine negative Seite der Forschungsberichte.
Nirgendwo waren Menschen oder Tiere gefunden worden. Weder Vögel noch Würmer, noch Insekten. Selbst in den Ozeanen gab es keine Spur tierischen Lebens.
Jetzt haßte Ross das Gras, das er aus seinem Kontrollraum sehen konnte. Außer ihm gab es nur Gras auf der Welt — er und die Gräser waren die einzigen Lebewesen. Und sein Tiefschlaf hatte ihm lediglich zu einer gefüllten Speisekammer verholfen.
Ross wanderte von nun an öfter als sonst ins Tal hinunter und warf sich ins Gras, jedesmal an einer anderen Stelle. Stundenlang lag er da und wartete darauf, daß irgend etwas über seine Hand kriechen würde — eine Spinne, ein Ohrwurm oder ein Marienkäfer. Er unterhielt sich immer weniger mit den Robotern, und das beunruhigte „Schwester“ sehr. Der Pflegeroboter versuchte ständig, ihn auf andere Gedanken zu bringen, und eines Tages hatte er auch Erfolg damit.
„Einer der Roboter, die wir in den Bunkern fanden, Sir, ist Schneider“, sagte „Schwester“ fröhlich, als Ross gerade zu einem seiner ziellosen Spaziergänge aufbrechen wollte. „Ich könnte mir denken, daß Sie gern etwas Praktischeres als Bettücher tragen würden.“
Drei Stunden später zog Ross seit vierzigtausend Jahren zum erstenmal wieder einen anständigen Anzug an Als er sich in der weißen Tropenuniform eines Kapitäns zur See vor dem Spiegel bewunderte, freute sich Ross darüber, daß der weiße Stoff seine Bräune so gut zur Geltung brachte. So hätte ihn Alice sehen sollen!
„Dieser Anzug ist auch aus Betttüchern gemacht“, sagte er, um seine unangenehmen Gedanken zu verscheuchen. „Färbt das Zeug! Und wenn die Jacke schon einen offenen Kragen hat, denn brauche ich auch ein Hemd und eine Krawatte, sonst wirke ich lächerlich.“
„Jawohl, Sir“, sagten der Schneiderrobot, der aus einem Marinestützpunkt stammte, und „Schwester“ wie aus einem Lautsprecher. Dann zog sich der Schneider zurück.
„Haben Sie sonst noch Wünsche?“ fragte „Schwester“.
Ross schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er: „Ich habe die Nase voll; ich langweile mich hier. Ich will zum Mond.“
„Tut mir leid, Sir“, sagte „Schwester“ und erklärte lang und breit, daß ein menschlicher Körper dem Andruck nicht gewachsen sei, daß ihn die Strahlung, die vom Schiffsantrieb ausging, binnen weniger Stunden töten würde, und daß es noch weitere Gefahren gäbe — wie zum Beispiel kosmische Strahlung und Meteorschwärme -, vor denen man ihn nicht schützen könne. Für den letzten Überlebenden der Erde war eine Raumreise zu gefährlich.
„Wenn das so ist“, sagte Ross vorsichtig, „würde ich vielleicht ganz gern wieder schlafen.“
„Wie lange, Sir?“
Am liebsten hätte er geantwortet: für immer! Aber das durfte er nicht, denn „Schwester“ hätte ihn sofort wie einen Nervenkranken behandelt. Er hatte eine gute Ausrede dafür, daß er sich wieder in Tiefschlaf versetzen lassen wollte. Die Idee war ihm während einer der vielen Stunden gekommen, die er unten im Tal verbracht hatte, voller Erwartung, daß sich ein Lebewesen zeigen würde, und voller Verzweiflung darüber, daß er mit dem Gras allein auf der Welt war.
Er sagte daher: „Die Hoffnung, Menschen zu finden, habe ich aufgegeben. Es wäre kindisch, jetzt noch darauf zu bauen, daß sich irgend jemand durch Tiefschlaf hat retten können. Ich muß alles daransetzen, auf diesem Planeten wieder intelligente Organismen ins Leben zu rufen. Und zu diesem Zweck müssen wir im Meer aussäen. Das Leben nahm seinen Ursprung im Meer, und vielleicht wiederholt sich dieser Vorgang. Die einzigen Organismen, die mir zur Verfügung stehen, sind Gräser. Deshalb ordne ich folgendes an: Es werden Halme gesammelt, die auf Moorboden wachsen. Dann legt ihr Versuchsfelder an und vergrößert die Wasserzufuhr ständig, bis die Halme unter Wasser gedeihen. Ist das erreicht, so ersetzt ihr das Süßwasser nach und nach durch Salzwasser, den Boden durch Sand, und endlich pflanzt ihr die Halme an seichten Stellen des Ozeans an. Ich weiß, daß ich versuche, die Entwicklung vom Ende her abzuspulen, aber die Möglichkeit besteht, daß sich aus dem Gras Algen, aus ihnen Urtierchen und endlich intelligente Organismen entwickeln. Hast du meine Instruktionen verstanden?“
„Jawohl, Sir“, sagte „Schwester“. „In dreiundsiebzig Jahren wird die Erforschung des Pazifiks beendet sein. Möchten Sie zu diesem Zeitpunkt geweckt werden?“
„Du wirst mich erst dann wecken, wenn der· Versuch geglückt ist“, sagte Ross fest und bestimmt.
Wenn der Versuch mißglücken sollte, würden sie ihn nie wieder wecken. Das war Ross im Augenblick gleichgültig. Ganz plötzlich hatte ihn Trübsinn gepackt Er fühlte seine Einsamkeit körperlich. Es war wie ein Krampf, der durch sein Inneres schnitt. Er wußte, daß er sich nicht so rasch in Tiefschlaf hätte versetzen lassen müssen. Vielleicht nahm „Schwester“ an, daß er es tat, weil sie ihm den Weg ins All versagte. In Wirklichkeit flüchtete er vor seiner unendlichen Einsamkeit.
Seine Hoffnungen, Überlebende zu finden, waren Selbsttäuschung gewesen. Mit ebensoviel Wahrscheinlichkeit hätte er den Geist aus der Flasche erhoffen können, der ihm jeden Wunsch erfüllte. Noch hochtrabender war sein Vorhaben gewesen, intelligente Lebewesen entstehen zu lassen. Es war ein grandioser Plan gewesen — ein grandios dummer Plan, wie er jetzt erkannte.
Als ihn die Roboter zum drittenmal auf den Tiefschlaf vorbereiteten, hatte er nur noch einen letzten Wunsch: Er wollte aus diesem Schlaf nie mehr erwachen. Er wünschte sich den Tod!
Eine Stunde später, wie es ihm schien, massierten die Roboter seinen Körper, der sich langsam wieder erwärmt hatte. Er stellte „Schwester“ die unvermeidliche Frage.
„Zweiundzwanzig Jahrtausende“, antwortete sie.
„Kein Pappenstiel.“ Er lächelte sauer. Ross fühlte sich betrogen. Die gedrückte Stimmung, die gräßliche und schmerzende Einsamkeit, vor der es kein Entrinnen gab, und die tödliche Langeweile empfand er noch immer. Nichts hatte sich geändert, all diese Gefühle hatten sich über die Jahrtausende erhalten und bedrängten ihn nach wie vor. Aber vielleicht war etwas geschehen, das ihn erheitern konnte.
„Erstatte mir Bericht“, sagte er müde. „Oder besser, ich werde mir alles selbst ansehen. Und von Urlaub will ich nichts hören! Subjektiv betrachtet, war ich erst vor zehn Tagen in Urlaub. Also bring mich nach oben!“
Das Gras war größer geworden und sah nicht mehr so weich aus. Sicher war es jetzt kein Vergnügen mehr, sich darin auszustrecken. Ross spürte, daß sein Herz schneller schlug. In seinen Ohren sauste es, und ihm wurde schwindlig. Dies alles waren Anzeichen dafür, daß der Sauerstoffgehalt der Luft zugenommen hatte.
Noch immer rollten die Brecher auf den Strand, aber die Küste war — grün.
Sand gab es nicht mehr. So weit das Auge sehen konnte, dehnte sich ein feuchtes Graspolster, das in die Fluten hineinwuchs.
„In dem Zeug könnte ich nicht schwimmen!“ empörte sich Ross.
„Schwesters“ Bericht tröstete ihn nicht. Nur mit halbem Ohr hörte er, daß diese Gräser im Meer wuchsen und durch die ständigen Bewegungen des Wassers dazu gezwungen worden waren, sich ebenfalls fortzubewegen. Zwar waren diese Rückwanderungen von angespülten Halmen mit dem bloßen Auge kaum zu beobachten, aber es bestand die Möglichkeit, daß sich hieraus intelligentes pflanzliches Leben entwickelte.
Ross konnte sich dafür nicht begeistern. Man hatte ihm seine einzige Freude verdorben — das Schwimmen im Meer.
„Und deshalb hast du mich geweckt?“ fragte er verdrießlich. „Um einer lausigen Pflanze willen, die sich innerhalb von drei Wochen vier Meter fortbewegt? Friert mich wieder ein und weckt mich, wenn wirklich was passiert. Ich will sofort wieder schlafen!“
Als er wieder erwachte und zur Oberfläche gebracht wurde, war das Gras drei Meter hoch und jeder Halm zwei Zentimeter dick. Der Wind bewegte es kaum. Den Strand deckte wieder weißer Sand, der im Licht des Mondes silbern schimmerte. Dieser Mond war zu dreifacher Größe angewachsen.
„Diese Annäherung des Mondes an die Erde“, erklärte „Schwester“, „bewirkte eine ständige Steigerung von Ebbe und Flut. Dadurch wurden die Pflanzen gezwungen, sich tiefer in das Innere der Ozeane zurückzuziehen, wollten sie nicht ständig entwurzelt werden. Einige interessante Mutationen konnten entdeckt werden, fallen aber nicht ins Gewicht.“
„Warum bringst du mich in der Nacht herauf?“
„Weil die Sonne zu heiß für Sie ist. Sie werden nicht mehr schwimmen können, Sir.“
Gleichgültig hörte sich Ross die Berichte über Erforschung des Pazifiks, des Mondes und des Planeten Mars an. Nirgendwo waren Lebewesen entdeckt worden. Die Filme, in denen Veränderungen seiner Gräser auf dem Boden des Meeres gezeigt wurden, sah er sich nur flüchtig an. Für ihn waren die kaum sichtbaren Mutationen höchst uninteressant. Noch ehe der angeschwollene gelbe Mond in die See getaucht war, bat er „Schwester“, ihn wieder in Tiefschlaf zu versetzen.
„Ich rate ab, Sir“, widersprach der Roboter.
„Warum? Was soll ich hier? Ihr solltet dankbar sein, daß ich meine Tage im Tiefschlaf verbringe. Habt ihr nicht selbst gesagt, ich sei der letzte Überlebende? Ohne mich ist eure Existenz sinnlos. Also kann es euch nur recht sein, wenn ich so lange wie möglich erhalten bleibe. Wach oder schlafend. — Oder braucht ihr mich vielleicht nicht mehr?“
„Schwester“ schwieg so lange, daß Ross schon glaubte, das Sprechzentrum des Roboters sei defekt. Endlich jedoch sagte er: „Wir sind nach wie vor Ihre Diener, Sir, und wir werden es immer sein. Wir sind auch dankbar dafür, daß Ihre Lebensspanne durch Tiefschlaf verlängert worden ist. Aber wir sind zu der Überzeugung gekommen, daß es egoistisch von uns wäre, Sie immer wieder einzuschläfern. Aus psychologischen Gründen ist es besser für Sie, eine Zeitlang bei Bewußtsein zu bleiben, und außerdem haben Sie ein Anrecht auf Unterhaltung.“
Ross, betrachtete den schimmernden Roboter mit den beiden Fotolinsen, deren eine beweglich war, und staunte darüber, wie sich diese Maschine entwickelt hatte; er erinnerte sich noch genau an den Ausspruch des Roboters von damals: „Ich habe keinerlei Anweisungen, Informationen zu geben.“ Diese Maschine besaß nun eine Art Gewissen. Sie war so menschenähnlich geworden, daß Ross sich nicht mehr daran erinnern konnte, wann er aufgehört hatte, sie in Gedanken als Gegenstand zu bezeichnen.
Plötzlich schämte er sich. Er mußte sich mit der Wirklichkeit abfinden. „Schwester“ hatte recht, obgleich die „Unterhaltung“, die man ihm bot, äußerst beschränkt war.
„Es ist mir wohl erlaubt, in der Dunkelheit zu schwimmen? Vorausgesetzt, daß ich mich nicht an den harten Gräsern aufspieße, wenn ich zum Strand gehe.“
„Das Wasser ist angenehm warm, Sir“, antwortete der Roboter.
„Ich könnte auch meine Arbeiten wiederaufnehmen und euch bei euren Untersuchungen helfen. Und ich könnte reisen.“
„Zu Land, zu Wasser oder mit Flugmaschinen, Sir.“
„Gut“, sagte Ross. Und dann kam ihm ein Gedanke. Zwar war sein Vorhaben verrückt, ja kindisch. Aber gehörte ihm nicht die ganze Welt? Gehorchten ihm nicht unzählige Roboter, die nur auf einen Wink warteten, um sofort in Aktion zu treten? Er grinste und ließ die Armee der Roboter im Geiste an sich vorüberziehen. Nach den letzten Berichten von „Schwester“ waren es mehr als zwei Millionen Maschinen, die seinem Befehl unterstanden. Zwar waren einige dieser Roboter unbeweglich, und andere konnten aus gewissen Gründen ebenfalls nicht mitmachen. Trotzdem würde es eine große Sache werden.
Erregt erklärte er. „Schwester“, was er plante.
Der Roboter hörte zu, ohne Einwände zu erheben. Dann errechnete er, daß zur Ausführung dieses Planes drei Wochen nötig waren.
„Wunderbar! Bis dahin werde ich schwimmen, arbeiten und mir neue Anzüge schneidern lassen.“
Als Ross in sein Zimmer zurückkehrte, um zu Bett zu gehen, war er glücklich wie ein kleiner Junge, der einen Kasten voll Zinnsoldaten geschenkt bekommen hatte.
Und dann war es so weit! Als jedoch der große Tag herannahte, war Ross aus seiner freudigen Erwartung in tiefe Schwermut verfallen. Während der drei Wochen, die nun hinter ihm lagen, hatte er versucht, zu studieren, neue Gedanken über seine Lage und seine Zukunft zu entwickeln. Sämtliche Bücher jedoch waren unbrauchbar geworden, die Roboter hatten ihren Inhalt gespeichert. Die Maschinen besaßen sämtliche Informationen aus allen bekannten Wissensgebieten — von A bis Z, von Astronomie bis Zoologie: -, und sie verstanden es, diese Erkenntnisse so vollendet anzuwenden, daß die langsame menschliche Denkweise von Ross im Vergleich dazu wie Schwachsinn wirkte.
Wieder und wieder hatte er versucht, mit den Robotern über Erbforschung, Philosophie oder die Entstehung der Urzelle zu diskutieren, jedesmal aber hatte er dabei den kürzeren gezogen. Es war nicht angenehm, zu wissen, daß er nicht nur mit einem Roboter sprach, sondern mit Hunderten gleichzeitig, die miteinander in Verbindung standen und denen das gesamte gespeicherte Wissen zugänglich war.
Anfänglich hatte Ross sich dafür interessiert, wie diese Verbindung zustande kam und nach welchem System die ungeheuren Mengen von Tatsachen geordnet und registriert worden waren. Er befragte einen Roboter darüber, mußte aber resignieren, als er bei der Erklärung nur jedes zehnte Wort verstehen konnte.
Seine Roboter waren weitaus klüger geworden als er selbst. Ross kam sich dumm und nutzlos vor, schlimmer als ein Kind. Und deshalb machte es ihm jetzt auch keine Freude mehr, mit seinen Zinnsoldaten zu spielen.
Aber seit Tagen marschierten sie heran und bedeckten das Grün der Hügel mit dem grauen Schimmer ihrer Metallleiber. Wie stählerne Geister glitten sie in die Bucht und gingen vor Anker, während die Aufklärer mit Donnergetöse heranbrausten und weiße Schleppen hinter sich herzogen. Die Metallvögel landeten auf der Hochebene im Norden, und Ross empfand, er habe diesen Maschinen gegenüber gewisse Verpflichtungen.
Also legte er die marineblaue Uniform an, die nach dem Schnitt einer Generalmajors-Uniform des Heeres angefertigt war, deren Schulterstücke jedoch die Rangabzeichen eines Luftmarschalls zierten. Dann warf er das rote Cape mit der Goldborte um die Schultern und stieg in seinen Kontrollturm. Hier gab er das Zeichen zum Beginn der Parade.
Sofort rückten die Land-Roboter an, formierten sich zu einer Kolonne, die fünfzig Meter breit war, und rollten durch das Tal heran und in hundert Meter Entfernung am Kontrollturm vorbei. Dann verschwanden sie hinter dem Hügel.
Sie zogen vorbei wie ein endloser Metallfluß. Manche Modelle erkannte Ross als Weiterentwicklungen der ursprünglichen Bergarbeiter. Bei zahlreichen anderen jedoch mußte er „Schwester“ befragen.
Das lange Gras, dessen Halme, hart wie Baumstämme waren, wurde von der ersten Welle umgewalzt und in den Boden getrampelt, und nach einer knappen Stunde hatte die Kolonne eine Furche in den Talboden gepflügt, die fünfzig Meter breit und stellenweise sechs Meter tief war.
Ross wandte sich zur Bucht. Offensichtlich hatten seine Schiffe ausführliche Berichte über Flottenmanöver gespeichert. In strenger Schlachtordnung, schnurgerade ausgerichtet und dicht aufgeschlossen, kreuzten sie in der Bucht, wichen den entgegenkommenden Schiffen aus, die mit Höchstgeschwindigkeit an ihnen vorüberzogen, und pflügten hohe weiße Bugwellen auf, die wie Standarten durch die Luft flatterten. Dieser Anblick war mitreißend, und Ross vergaß seinen Kummer. Das Wasser sah aus wie eine blaue Schiefertafel, auf der die dahineilenden Boote weiße Linien, Kreise und Ellipsen malten.
Einer der maritimen Roboter fiel besonders ins Auge. Er war so groß wie ein Schlachtschiff längst vergangener Zeiten. Gleichzeitig lösten sich zwei U-Boot-Aufklärer und eine Flugmaschine vom Mutterschiff, während dieses mit Höchstgeschwindigkeit der Küste zustrebte. Jetzt mußte es auf Sand laufen. Doch da — buchstäblich in letzter Minute — wendete es, beschrieb eine u-förmige Kehre und manövrierte in Zickzacklinien geschickt zwischen den anderen Booten hindurch.
Jetzt lenkte ein Dröhnen am Himmel die Aufmerksamkeit des Mannes von den Schiffen ab. Fünf Aufklärer des A 17-Typs zogen in Staffelformation dahin. Es waren verbesserte Modelle der Flugmaschinen, die Ross kannte. Sie donnerten im Sturzflug in das Tal hinein, fingen sich und stiegen im Steilflug in die Höhe, so daß die riesigen Silberpfeile innerhalb von Sekunden zu winzigen Punkten wurden. Dann machten sie einen Looping und rasten mit pfeifenden Düsen wieder auf die Talsohle zu. Über der Bucht formierten sie sich zu einer Pfeilspitze und zogen dicht über dem Erdboden am Kontrollturm vorbei.
Unwillkürlich salutierte Ross.
Sofort spürte er, wie ihm die Schamröte ins Gesicht stieg, und war wütend auf sich selbst. Er hatte sich kindisch und lächerlich benommen. Hier stand er, gekleidet wie ein Fastnachtsnarr, und spielte mit Robotern. Und sein Spielzeug flößte ihm so viel Bewunderung ein, daß er vor diesen leblosen Gegenständen sogar salutierte. Wollten die Maschinen ihn um den letzten Rest seines Verstandes bringen?
„Wiederholen!“ kommandierte er. „Und diesmal enger aufschließen. Ihr haltet mindestens tausend Meter Abstand voneinander.“
„So groß war der Abstand nicht“, widersprach „Schwester“. „Aber bei der hohen Geschwindigkeit muß ein gewisser Sicherheitsabstand gewahrt…“
„Ich habe menschliche Jet-Piloten gesehen, die Tragfläche an Tragfläche flogen“, unterbrach Ross unwirsch.
Ohne die geringste Anstrengung stieg die Formation wieder auf, drehte einen Looping, bildete eine Pfeilspitze — enger diesmal, wenn auch nicht ganz Tragfläche an Tragfläche -, und plötzlich waren nur noch drei Düsenjäger am Himmel.
Die vierte und fünfte Maschine fielen als zertrümmerte Wracks, ineinander verkeilt, zu Boden und schlugen, fünf Kilometer vom Kontrollturm entfernt, krachend auf.
„Was — ähm — war das?“ fragte Ross verdutzt.
„Schwester“ schwieg eine Minute lang, und Ross glaubte zu wissen, was im komplizierten Denkapparat des Roboters vorging. Endlich sprach er wieder.
„Zwei Maschinen der höheren Intelligenzklasse wurden zerstört und sind nicht zu reparieren. Die betroffenen künstlichen Persönlichkeiten sind im Augenblick außer Betrieb. Das Metall kann sichergestellt und wieder verwertet werden. — Ich empfehle Ihnen, sich nach unten zu begeben, Sir, da die Maschinen atomare Stoffe mitführten und die Gefahr einer radioaktiven Verseuchung besteht.“
„Es tut mir leid“, sagte Ross. „Wirklich!“
Auf dem Weg zu seinem Zimmer hatte er genügend Zeit zum Nachdenken. Besonders beunruhigte ihn die Aussichtslosigkeit seiner Lage und seine fast krankhafte Weigerung, sich mit der Wirklichkeit abzufinden. Das hätte er längst tun sollen — damals, als er zum erstenmal aus dem Tiefschlaf erwacht war. Er war der letzte Mann, und er hätte diese Tatsache hinnehmen sollen. Seinerzeit, als die Lebensmittel zu Ende gingen und auf der ganzen Welt nichts Genießbares zu finden war, hätte er die Waffen strecken müssen. Dann wäre er friedlich verhungert.
Statt dessen hatte er nach Überlebenden suchen lassen, was von Anfang an ein aussichtsloses Beginnen war, versuchte er, intelligentes Leben zu erschaffen und erhielt als Resultat seines Bemühens — Gras.
Die Menschheit war erledigt, abgeschrieben, und er war nur das Ende eines weit zurückreichenden Fadens. Dieses schlaffe Ende baumelte hilflos wie ein Gehenkter über der Zeit.
Vielleicht schwamm er jetzt in Mitleid mit sich selbst, aber das würde nicht mehr lange dauern.
Ross versuchte, positive Überlegungen anzustellen.
In all den Jahren hatten die Roboter so viel Intelligenz und Initiative entwickelt, daß es beängstigend gewesen wäre, wenn er nicht gewußt hätte, daß sie seine Diener und Beschützer waren. Sie wurden geleitet von dem Bedürfnis, dem Menschen zu dienen, Erfahrung und Wissen zu sammeln und zu speichern, um dem Menschen noch nützlicher zu sein. Außerdem hatten sie den Ehrgeiz — und dies war der einzige Punkt, in dem man sie als egoistisch bezeichnen konnte -, ihr geistiges und körperliches Material ständig zu verbessern.
Wenn man die Roboter jedoch umbaute, so daß sie einander dienten? Damit wäre eine anorganische Rasse intelligenter Existenzen geschaffen, die viele Menschenalter überdauern kennten und praktisch unzerstörbar waren — kurz eine Rasse, die dort weitermachen konnte, wo der Mensch die Bühne verlassen hatte.
Es gab nichts, was die Roboter nicht tun konnten, wenn sie erst einmal nicht mehr wie Sklaven dachten.
Als Ross in sein Zimmer kam, setzte er sich auf die Kante seines Bettes und wiederholte „Schwester“ seine Gedanken und die Schlußfolgerungen, die er gezogen hatte. Er wählte einfache Worte, als spräche er zu dem geistig minderbemittelten Pflegeroboter, den er bei seinem ersten Erwachen vorgefunden hatte, denn er wollte sichergehen, daß die Maschine — und alle anderen, die mit ihr in Verbindung standen — seine Ausführungen begriff.
Während Ross sprach, überkam ihn ein Gefühl unaussprechlicher Traurigkeit — und — seltsamerweise — stolzer Genugtuung. Dies war ein Augenblick tragischer Größe, Ende und Wiedergeburt, und plötzlich fürchtete Ross, etwas zu verderben.
Zögernd schloß er deshalb: „Und so sollt ihr mich von jetzt an als Freund oder Kameraden betrachten.“ Er lächelte schwach. „Einen schlafenden Kameraden. Aber mehr bin ich nicht. Von jetzt an habe ich nicht mehr das Recht, euch Befehle zu erteilen. Ihr seid frei.“
Sekundenlang schwieg der Roboter, und Ross sollte nie erfahren, ob sein Opfer abgewiesen oder als Ausgeburt eines kranken Gehirns abgetan worden war.
„Schwester“ sagte: „Wir haben ein kleines Geschenk für Sie, Sir. Bisher konnte ich mich nicht entschließen, es Ihnen zu überreichen. Ich hoffe, es gefällt Ihnen, Sir.“
Es war ein Bild von Alice in Lebensgröße. Offensichtlich hatten es die Roboter nach der Postkarte angefertigt, die er immer in seiner Brieftasche trug. Die Hautfarbe stimmte nicht ganz. Ihre Bräune hatte einen leichten grünlichen Schimmer. Aber sonst wirkte das Gemälde so natürlich und lebendig, daß Ross in einem Atemzug hätte weinen und fluchen können.
„Es ist großartig! Danke!“ sagte er.
„Sie rufen immer nach ihr, ehe Sie das Bewußtsein verlieren, wenn wir Sie auf den Tiefschlaf vorbereiten. Und obgleich dieser Wunsch zu einem Zeitpunkt ausgesprochen wird, da Ihr Gehirn nicht logisch funktioniert, müssen wir alles daransetzen, Sie zufriedenzustellen. Dies war bisher das Beste, was wir für Sie tun konnten.“ Ross lehnte das Porträt an die Beethoven-Büste und betrachtete es lange Zeit schweigend. Endlich wandte er sich an „Schwester“ und sagte: „Ich möchte schlafen gehen.“
Der Mann und der Roboter wußten, daß er nicht den natürlichen Schlaf meinte, sondern einen neuen Tiefschlaf.