James White Jenseits des Todes

1. Kapitel

Das Erwachen war für Ross mehr wie ein allmähliches Auftauen aus einer körperlichen und geistigen Erstarrung. Irgendwo in seinem Bewußtsein begann es und breitete sich quälend langsam weiter aus, schmolz das Eis der Erstarrung und taute die Kanäle des Erkennens und der Erinnerungen wieder auf. Er wurde sich wieder seiner Existenz bewußt und empfand die unheimliche Kälte seiner Umgebung. Er erinnerte sich an andere Augenblicke dieser Art, an die Alpträume, die diesem Erwachen folgten. Irgend etwas stimmte nicht. Alpträume kamen normalerweise vor dem Erwachen und nicht erst danach. Und doch wußte er, daß die Reihenfolge jetzt umgekehrt war. Normalerweise wäre ihm der Angstschweiß ausgebrochen, doch er war noch zu starr; seine körperlichen Empfindungen waren noch gelähmt. Er begann wieder zu sehen; die weißen Nebel, die sein Bewußtsein umschwebten, hoben sich. Er sah ein Gesicht — das Gesicht Beethovens.

Irgend jemand hatte die Haare der Gipsbüste gefärbt und das Gesicht geschminkt, so daß es lebendig wirkte. Das mußte unweigerlich zu Schwierigkeiten führen, denn die Büste stand in Dr. Pellews Sprechzimmer. Dr. Pellew liebte solche Späße nicht und würde den Schuldigen zur Rechenschaft ziehen.

Ross’ Gedankenströme flossen schneller, die Kombinationen wurden komplizierter. Er verlangte Auskunft von seinem Gedächtnis, aber dieses Gedächtnis war noch blockiert und chaotisch. Ross seufzte und bekam gleich darauf einen Schreck. Beethoven sprach zu ihm!

„Wenn der Patient erwacht, darf er keine plötzlichen Bewegungen machen“, sagte eine Stimme, die wie die Dr. Pellews klang. „In seinem Zustand können heftige Bewegungen die Muskeln schädigen. Der Patient muß dazu gebracht werden, sieh nur langsam zu bewegen. Dabei muß auf die Gefühle des Patienten Rücksicht genommen werden. Er muß immer wieder hören, daß er geheilt worden ist — geheilt worden ist — geheilt worden ist — ge…“

Es klang wie eine fehlerhafte Schallplatte. Ross hörte sich die monotone Wiederholung sechs Minuten lang an und begehrte schließlich auf. „Halt’s Maul, verdammt noch mal! Ich glaube es ja schon.“

Die Stimme verstummte sofort. Ross spürte einen sanften Druck im Rücken, dann einen Schmerz im Kopf, im Genick und in den Beinen. Er begriff, daß seine Lage verändert wurde. Er lag offenbar auf einer Liege, die nun geknickt wurde, so daß sein Oberkörper aufgerichtet wurde. Auch die untere Hälfte knickte ab und zwang ihn, sich einen Halt zu suchen. Der Vorgang war außerordentlich schmerzhaft, obwohl die Sache mit unendlicher Geduld durchgeführt wurde. Ross hätte am liebsten laut geschrien, doch er unterließ es, denn er hätte seine Lungen plötzlich mit Luft füllen müssen, was weitere Schmerzen zur Folge gehabt hätte.

Er saß schließlich ziemlich aufrecht, fühlte Boden unter den Füßen und einen breiten Riemen, der ihn festhielt. Er konnte nicht viel sehen, denn die Schmerzen machten ihn rasend. Die Umgebung schien auch dunkel zu sein; nur das merkwürdige Gesicht leuchtete aus der Finsternis. Wieder hörte er die Stimme.

„Bei Dauerbehandlung kann es emotionelle Schwierigkeiten geben.“ Ross bemerkte, daß die Büste sprach, ohne die Lippen zu bewegen. „Der Patient erwacht in einer fremden Umgebung und empfindet naturgemäß Angst. Es muß jemand da sein, der seine Herkunft kennt, denn nur die Kenntnis der Vergangenheit des Patienten ermöglicht es dem Helfer, den Schock zu lindern Es hilft auch, den Patienten mit Dingen zu umgeben, die er kennt. Wertvoller persönlicher Besitz ist dabei vorrangig zu verwenden…“

Ross blinzelte. Er konnte nun besser sehen und seine Umgebung erkennen. Er befand sich auf einer merkwürdigen Bahre in der Mitte eines kleinen Raumes. Er sah ein Bett, mehrere Wandregale und den mit einer gummiartigen Schicht bedeckten Fußboden. Vor ihm stand ein Instrumentenwagen mit der Beethovenbüste, drei glänzenden Behältern und seiner Brieftasche. Die Brieftasche war geöffnet, so daß er das Bild von Alice sehen konnte.

„Der Patient muß Nahrung zu sich nehmen und mit Muskelübungen beginnen. Dazu muß er gleich nach der Wiederbelebung in eine sitzende Stellung aufgerichtet werden. Die flüssige Nahrung ist unbedingt erforderlich — unbedingt erforderlich…“

Wieder hörte Ross die unablässige Wiederholung eines Befehls, bis er schließlich nach einem der glänzenden Behälter griff. Er hatte keinen Hunger, aber er sah keine andere Möglichkeit, dem monoton wiederholten Befehl zu entgehen.

Die Büchse wurde sofort warm, der Deckel öffnete sich selbsttätig. Etwas von der Flüssigkeit schwappte über und kleckerte auf seine Oberschenkel. Der Inhalt der Büchse roch angenehm und schmeckte noch besser. Ross trank die Büchse leer und spürte eine wohlige Wärme durch seinen Körper rinnen. Er stellte die Büchse ab, doch die Stimme verstummte nicht. Sollte er etwa alle drei Büchsen leeren?

Der Inhalt der zweiten Büchse spritzte ihm ins Gesicht. Ross schrak instinktiv zurück, denn er wollte sich nicht das Gesicht verbrühen. Außerdem stank der Inhalt der Büchse widerlich.

Die plötzliche Bewegung verursachte einen Krampf; Ross sank kraftlos zusammen. Der breite Gürtel zerriß. Ross stürzte. Der Aufprall auf den gummigepolsterten Boden war schmerzhaft. Nie zuvor in seinem Leben hatte Ross einen derart durchdringenden Schmerz empfunden. Aber dieser alles durchdringende Schmerz löste die geistige Verkrampfung und ließ ihn die fremdartige Umgebung mit aller Klarheit erkennen.

Bis zu diesem Augenblick hatte er alles für einen furchtbaren Traum oder einen schlechten Scherz gehalten, nun aber… Oder war es doch ein grausamer Scherz? Er sah ein Kabel, das von der Beethovenbüste aus zur Wand führte. Nicht die Büste hatte gesprochen, sondern die Worte waren aus einem kleinen Lautsprecher gedrungen, den er erst jetzt sah. Die Stimme hatte ihm suggeriert, daß er geheilt sei. — Würde es ein Mensch wagen, damit Scherz zu treiben? Er konnte sich keinen vorstellen, der das tun würde.

Wenn es aber kein grausamer Scherz war…


* * *

Der erste Atomkrieg hatte fünfzig Jahre vor Ross’ Geburt stattgefunden. Er war infolge eines Fehlers der Warnanlagen ausgebrochen. Erst nach drei Wochen hatten die Verantwortlichen den Fehler erkannt und den Krieg abgeblasen. Nach weiteren drei Wochen wäre die gesamte Menschheit dem Krieg zum Opfer gefallen, so aber überlebte etwa ein Zehntel der Erdbevölkerung die entsetzliche Katastrophe. Der furchtbare Krieg beendete aber nicht die Zivilisation, er förderte sie vielmehr, denn die Überlebenden mußten nun neue Methoden ersinnen, wenn sie sich ein bequemes Leben sichern wollten. Die Fortschritte waren atemberaubend Die ehemaligen riesigen Arbeiterheere waren nicht mehr notwendig; automatische Fabriken produzierten weitaus mehr und Besseres. Die schnelle Entwicklung wurde bald zu einer förmlichen Zivilisationsexplosion.

Die Furcht ließ sich aber nicht überwinden; deshalb bauten die Menschen nicht wie vorher in den Himmel, sondern wühlten sich immer tiefer in die Sicherheit bietende Erde hinein. Es gab noch immer Parteien, Nationen, und dadurch bedingt Mißtrauen und Haß. Folglich wurde die Weiterentwicklung der Waffen keineswegs unterbrochen.

Ross hatte wie alle anderen keine Ahnung vom Krieg. Er hatte nie eine überbevölkerte Erde gekannt und konnte sich so etwas auch nicht vorstellen. Er war froh, daß er in einer anderen Zeit leben durfte. Sein Leben und das seiner Zeitgenossen war ein Leben des Genusses und der Bequemlichkeit gewesen. Aber schon in seinen Jugendjahren hatte er erkennen müssen, daß die Nachwehen des großen Krieges noch immer wirksam waren. Mehr als vierzig Prozent der Menschen waren steril; immer weniger Kinder wurden geboren. Wenn diese verhängnisvolle Entwicklung nicht aufgehalten werden konnte, würden die Spätfolgen des Krieges die Menschheit doch noch ausrotten.

Das menschliche Leben wurde immer seltener und dadurch immer kostbarer. Es wurden keine Mühen und Kosten gescheut, um den drohenden Untergang der Menschheit abzuwenden, nichts wurde als hoffnungslos betrachtet. Das betraf nicht nur die Forschung, sondern auch die lebenden Menschen. Kein Kranker wurde aufgegeben. Wenn die Mediziner noch keine Möglichkeit hatten, einen Kranken zu retten, versetzten sie ihn in einen Tiefschlaf und verlangsamten seine Lebensfunktionen, immer in der Hoffnung, daß später einmal die Lösung der Probleme gefunden würde.

Ross hatte sich um eine Stelle als Arzt im Hospital für unheilbar Kranke beworben. Er hatte sich besonders mit dem Problem des Tiefschlafes und der damit verbundenen Verlangsamung der Lebensfunktionen vertraut gemacht. Nach fünfjährigem Studium — er war erst zweiundzwanzig Jahre alt gewesen — hatte man seine besondere Eigenschaft entdeckt. Er litt an einer seltenen Blutkrankheit, die unweigerlich zum Tod führen mußte. Ein Heilmittel gab es noch nicht. Man teilte ihm mit, daß vorerst nicht an eine Heilung zu denken war. Die einzige Möglichkeit, ihn vor dem Tod zu bewahren, war der Tiefschlaf, der in seinem Fall besonders lange dauern sollte.

Wenn Patienten für sehr lange Zeit eingeschläfert wurden, übernahm Dr. Pellew die Oberaufsicht. Ross war der Meinung, daß nur Stunden vergangen waren, seit Dr. Pellew ihm einen guten Schlaf gewünscht hatte. Der merkwürdig ernste Klang der Stimme war ihm aufgefallen. Er hatte aber nicht lange darüber nachdenken können, denn eine Spritze hatte ihn vor dem Einfrieren bewußtlos gemacht.

War er wirklich geheilt?

Er begann vorsichtig zu kriechen. Der Boden war weich und erleichterte seine Bemühungen. Seine Wangenmuskeln schmerzten, denn er mußte unwillkürlich grinsen. Er fühlte sich trotz der Schmerzen großartig. Seine Lungen brannten bei jedem Atemzug, aber die Schmerzen wurden auch mit jedem Atemzug schwächer. Er begann, bewußter zu leben und seine Bemühungen zu planen. Erst mußte er sich langsam bewegen und übermäßige Anstrengungen vermeiden. Er wunderte sich über die Tatsache, daß man ihm in diesem kritischen Zustand allein ließ. Warum kam kein Psychotherapeut? Es machte ihm aber nichts aus, die ersten Übungen ohne Anleitung durchzuführen, ja, er war sogar stolz darauf. Die Starre löste sich allmählich. Ross lachte ab und zu. Er dachte an Alice, bemühte sich dann aber, diese Gedanken zu verscheuchen. Ross war nicht gerade prüde, aber er wollte sich ankleiden, weil sein hagerer, fleckiger Körper keinen schönen Anblick bot. Wenn Alice ihn so sehen würde…

Er tastete sich Schritt für Schritt zum Bett und setzte sich. Jetzt wurde er langsam ärgerlich, weil sich keiner um ihn kümmerte. Irgend jemand hätte kommen und ihn begrüßen müssen. Es war schließlich keine Kleinigkeit, nach langem Tiefschlaf geheilt zu erwachen. Er war wieder im Reich der Lebenden. Warum kam niemand und überzeugte sich von seinem Zustand? Normalerweise waren beim Erwachen eines Patienten mehrere Spezialisten und einige Schwestern zugegen, Die Hilfe eines Psychotherapeuten war in solchen Fällen besonders notwendig, um den Schock des Erwachens zu mildern. So war es immer gewesen. Ross konnte nicht einsehen, warum es nun anders sein sollte.

Er stand wieder auf und taumelte zur Tür. Seine Hand umklammerte den Türgriff. Er mußte eine Pause machen, denn die schnellen Bewegungen hatten ihn geschwächt. Die Tür ließ sich leicht öffnen. Ross stolperte auf den Gang hinaus und erkannte sofort, daß er sich in einem ihm unbekannten Teil des Hospitals befand. Offenbar handelte es sich um einen Erweiterungsbau, in den er nach dem Einschläfern gebracht worden war. Er sah einen kurzen, sehr hellen Korridor mit drei Türen an jeder Seite. An einer Seite des Korridors befand sich eine Tür mit Milchglasscheiben. Dahinter schien eine Rampe nach oben zu führen. Vor der Tür stand ein kleiner Schreibtisch; auf der Tischplatte lag ein blaßgrüner Aktendeckel.

Der Aktendeckel auf dem Schreibtisch erregte seine Aufmerksamkeit, denn der grüne Pappdeckel trug seinen Namen.

Der Aktendeckel befand sich in einem durchsichtigen Schutzumschlag, den er mit dem Fingernagel aufschlitzte Seine Fingernägel waren erschreckend lang; die Lebensfunktionen waren ja nur verlangsamt und nicht gestoppt worden. Warum hatte ihm niemand die Nägel geschnitten?

Ross schlug die Akte auf und erkannte die üblichen Formblätter. Er fand sieben Blätter mit angehefteten handschriftlichen Bemerkungen.

Das erste Blatt war ihm bekannt; er war beim Ausfüllen zugegen gewesen und befragt worden. Er las das Datum: 29. September 2047, seinen Namen und die genaue Diagnose seiner Krankheit. Das Blatt trug die Unterschrift Dr. Pellews und seines Assistenten. Das zweite Blatt war mit dem 4. Juni 2066 datiert und enthielt die Angaben über eine teilweise Wiederbelebung. Drei Wochen lang war er in bewußtlosem Zustand behandelt worden. Das Ergebnis der Behandlung war jedoch negativ ausgefallen, so daß man ihn wieder in Tiefschlaf versetzt hatte. Das dritte Blatt stammte auf dem Jahre 2125 und war von einem Dr. Hanson unterzeichnet. Eine Behandlung des Knochenmarks hatte zu dieser Zeit keine positiven Ergebnisse gebracht.

Ross starrte immer wieder ungläubig auf das Datum. 1. Mai 2125! Wenigstens ist Alice kein Problem mehr für mich, dachte er dumpf. Seit meiner Einschläferung sind achtundsiebzig Jahre vergangen. Alice war damals gerade zweiundzwanzig. Seine Augen begannen zu brennen, deshalb blätterte er rasch weiter. Die Angaben auf den Blättern bewiesen eindeutig, daß die medizinische Wissenschaft weitere Fortschritte gemacht hatte; sein eigenes Wissen war dadurch hoffnungslos hinter den neuen Erkenntnissen zurückgeblieben. Er war also mehrmals zum Leben erweckt, aber bewußtlos gehalten worden. Während dieser kurzen Perioden hatte man neue Heilmethoden ausprobiert.

Er blätterte gedankenvoll weiter und starrte entgeistert auf ein neues Datum. Es war unglaublich, aber das Blatt trug das Datum: 17. Mai 2263.

Ross hielt das erst für einen Fehler. Vielleicht war auch eine neue Zeitrechnung eingeführt worden. Dann las er aber den Bericht des verantwortlichen Arztes und faßte sich erschrocken an den Kopf. Er las komplizierte Formeln und Einzelheiten über eine Behandlung, die er nicht verstehen konnte. Wie zuvor war er aus der Erstarrung befreit aber bewußtlos gehalten worden. Ob er dann Injektionen erhalten hatte oder ob direkte Veränderungen an seinem Körper vorgenommen worden waren, konnte er aus den Papieren nicht ersehen. Offenbar handelte es sich aber um eine sehr lange dauernde Kur, denn der Bericht endete mit dem inhaltsschweren Satz: „Behandlung erfolgreich. Patient kann in fünfundsiebzig Jahren wiederbelebt werden.“

Ross las die Unterschriften, sah die Stempel unter den offiziellen Urkunden und kam nicht aus dem Staunen heraus. Vor allem Pellews Unterschrift versetzte ihn in Erstaunen. Dr. Pellew konnte doch nicht nach zweihundertsechzehn Jahren noch am Leben gewesen sein! Wahrscheinlich handelte es sich um einen Arzt gleichen Namens, vielleicht um einen Enkel oder Urenkel des Dr. Pellew, den er gekannt hatte. Jetzt erinnerte er sich an die Worte, die ihn geweckt hatten. Er hatte Dr. Pellews Stimme gehört. Ließen sich Bandaufzeichnungen über zweihundert Jahre lang aufbewahren? Ross wußte es nicht. Er wurde plötzlich unsicher.

Aber die Unterschrift stimmte, daran war nicht zu deuteln.

Das nächste Formblatt hatte eine grüne Farbe. „Patient wiederbelebt“, stand auf diesem Blatt, das mit dem Datum 7. Oktober 2338 versehen war. Die Schwester der Station 5 B hatte nur einen Stempel unter das Dokument gesetzt und ihre Unterschrift vergessen oder absichtlich weggelassen.


* * *

Ross war erschöpft, sehnte sich nach Ruhe und hätte sich am liebsten auf den Fußboden gelegt. Er hatte sich unvernünftig benommen, das wurde ihm nun klar. Statt sich geduldig mit kleinen Übungen zu beschäftigen, hatte er sich auf den Korridor gewagt und seinen Körper zu stark beansprucht.

Der Stuhl war nicht bequem, denn er sollte die Nachtschwestern am Einschlafen hindern. Die Daten wirbelten in Ross’ Gehirn durcheinander und verursachten ein Gedankenchaos. Ross beschloß, wieder in sein Zimmer zurückzugehen, um sich dort auszuruhen. Nach einem stärkenden Schlaf würde er die Dinge gewiß klarer sehen und vielleicht Hilfe von außen erhalten.

Fünf Minuten später lag er zwischen den vergilbten Bettüchern aus einem ihm unbekannten Plastikmaterial. Er wollte schlafen, doch die wirren Gedanken hielten ihn wach. Die Unterlagen hatten ihn verwirrt. Er hatte den grünen Aktendeckel mitgenommen und unter sein Kopfkissen geschoben. Er hatte noch nicht alle Blätter gelesen und fürchtete sich davor, es zu tun, denn nach den vorangegangenen Erlebnissen war anzunehmen, daß die auf diesen Blättern stehenden Angaben noch verwirrender sein würden. Ross wußte nicht, was er tun sollte. Er fürchtete sich vor der Wahrheit, wußte aber, daß er keine Ruhe finden konnte. Er mußte die übrigen Blätter lesen und sich vollständig informieren.

Stöhnend und zögernd richtete er sich auf und zog den grünen Aktendeckel hervor. Er stützte sich auf einen Ellenbogen, schlug ein neues Blatt auf und begann zu lesen. Es handelte sich um ein Blatt aus einem ihm unbekannten Material, auf dem die Versetzung verschiedener Pfleger und Ärzte beschrieben war. Zwei Ärzte und vier Schwestern waren namentlich aufgeführt. Infolge akuter Personalknappheit mußten diese Leute alle anderen Arbeiten, wie das Reinigen, ebenfalls übernehmen. Das Blatt war von Dr. Pellew unterzeichnet worden und trug das Datum März 2092.

Weitere Blätter beschrieben die immer stärker werdende Personalknappheit der folgenden zwanzig Jahre und die sich daraus ergebenden Änderungen der Organisation. Die gewöhnlichen Hilfskräfte waren immer wichtiger geworden und schließlich sogar zur Pflege der Patienten herangezogen worden.

Ross schüttelte den Kopf und las aufgeregt weiter. Immer mehr Fragen tauchten auf, die er unbedingt beantwortet haben wollte. Mehrere gesperrt geschriebene und unterstrichene Sätze sprangen ihm förmlich in die Augen:

„Während des Notstands müssen alle Abteilungen völlig unabhängig voneinander bestehen können; ein Austausch von Hilfsmitteln, Lebensmitteln und Personal darf nicht stattfinden! Zuwiderhandlungen werden mit sofortigem Ausschluß bestraft.

Alle in Tiefschlaf versetzten Patienten mit Aussicht auf Heilung müssen sofort in die Spezialabteilung für noch fruchtbare Mutanten transportiert werden.“

Ross las eine Reihe von Nummern, darunter seine eigene. Es hatte also einen Notstand gegeben. Das Wort gefiel ihm nicht und ließ ihn Böses ahnen.

Seine Hände zitterten vor Erschöpfung, aber er nahm sich ein neues Blatt vor, weil er genauere Angaben zu finden hoffte.

Er fand das Protokoll einer Konferenz, die am 6. Juli 2101 unter Vorsitz von Dr. Hanson stattgefunden hatte. Bei dieser Konferenz waren neue Heilmethoden besprochen worden, die auch bei Patienten im Tiefschlaf angewendet werden konnten. Der Nachteil dieser Behandlung bestand in der langen Verzögerung der Wirkung. Die Schwierigkeit lag darin, daß die meisten Ärzte schon im fortgeschrittenen Alter waren und die Wiederbelebung der Patienten nicht erleben würden. Allein Dr. Hanson war noch jung genug, um Zeuge der Wiederbelebung langfristig eingeschläferter Patienten werden zu können.

Die Ärzte waren übereingekommen, sich selbst in Tiefschlaf versetzen zu lassen. Nur einer mußte jeweils wach sein und die lebensnotwendigen Geräte überwachen. Es war vereinbart worden, jeweils zwanzig Jahre zu schlafen Der für eine Periode von drei Monaten wachende Arzt sollte gleichzeitig Forschungsaufgaben erledigen.

Dr. Hanson als der jüngste Arzt hatte um eine Frist von fünf Jahren gebeten. Er war jung genug, um sich das leisten zu können, und außerdem mit der Erforschung einer bestimmten Herzkrankheit beschäftigt. Der frühere Direktor war wegen dieser Krankheit in Tiefschlaf versetzt worden und konnte nur durch eine völlig neuartige Behandlung gerettet werden. Dr. Pellew war eine anerkannte Kapazität und mußte unbedingt gerettet werden. Dr. Hanson bat um eine angemessene Zeit für seine Forschungen und bekam sie zugebilligt.

Die verschiedenen Gefahren des geplanten Verfahrens waren in dem Protokoll erwähnt, ebenso die möglichen Schutzmaßnahmen. Als Ergebnis dieser Konferenz wurde auch den weniger kompetenten Leuten und Hilfskräften ein größerer Arbeitsbereich zugestanden. Hilfskräfte mit nur mäßiger Ausbildung sollten fortan Diagnosen stellen und kleinere Eingriffe vornehmen dürfen.


* * *

Ross starrte mit brennenden Augen auf die Papiere. Er begriff, daß sie für ihn bestimmt waren. Sie sollten eine Art Lektion sein und ihm das Zurechtfinden nach dem Erwachen erleichtern.

Er schluckte schwer und dachte dankbar an die alten Männer, die ihr Leben verlängert hatten, um ihr Wissen möglichst lange zu erhalten. Es war ein Kampf gegen die Zeit gewesen, denn nur die erwachenden und geheilten Patienten konnten dieses Wissen in sich aufnehmen und vor dem Untergang bewahren. Dr. Hanson schien erfolgreich gewesen zu sein, denn ein Blatt aus dem Jahre 2233 trug wieder Dr. Pellews Unterschrift.

Eine wilde Hoffnung sproß in Ross auf. Das Protokoll berichtete nur von der Einschläferung der Experten. Wenn nun auch das Hilfspersonal eingeschläfert worden war? Vielleicht gehörte Alice dazu?

Plötzlich ging das Licht aus.

Die absolute Finsternis war erschreckend. Sieben Kilometer unter der Erde zu liegen und keinen Lichtstrahl zu sehen — das ging an die Nerven. War er vergessen worden? Lag er in einem Verlies tief unter der Oberfläche, vielleicht als der letzte Überlebende? Er spürte sein Herz schlagen und hörte das Rauschen seines Blutes. Der Aktendeckel entglitt seinen Händen, die losen Blätter fielen auf den Boden. Er biß die Zähne zusammen, um sie so am unkontrollierbaren Klappern zu hindern.

Dann hörte er Geräusche, die das Brausen seines Blutes und das wilde Hämmern des Herzens übertönten. Es war ein regelmäßiges Dröhnen, begleitet von einem leisen Zischen. Irgend jemand stand einen Augenblick vor der Tür und kam dann herein. Ross bemühte sich vergebens, die Dunkelheit zu durchdringen, doch seine Augen nahmen nicht den geringsten Lichtschimmer wahr. Er hörte ein Wesen durch den Raum gehen, vernahm Atemgeräusche und leises Hantieren.

Das Wesen schien Gegenstände aufzuheben und an anderer Stelle abzulegen. Was immer der Fremde tat, er schien es zielbewußt zu tun. Offenbar bereitete ihm die Finsternis keine Schwierigkeiten, denn er stieß niemals irgendwo an und warf nichts um. Wenn das so war, mußte das Wesen ihn sehen können. Jeden Augenblick konnte es erkennen, daß er erwacht war. Würde es dann an sein Bett kommen? In Ross krampfte sich alles zusammen. Er wollte nicht so lange warten und entschloß sich, die nervenzermürbende Ungewißheit zu beenden.

„Wer ist da?“

„Die Krankenschwester“, antwortete eine unpersönlich klingende Stimme. „Sie erholen sich schnell, Mr. Ross. Jetzt müssen Sie aber unbedingt schlafen.“

Die Schwester ging wieder zur Tür und kam nicht an sein Bett. Ross hörte sie durch den Gang gehen und die Tür zur aufwärts führenden Rampe hinter sich zuschlagen. Wenige Sekunden darauf ging das Licht wieder an.

Ross hob die Hände vor die Augen, denn er mußte sich erst wieder an das gleißende Licht gewöhnen. Neben der Beethovenbüste standen vier neue Büchsen mit Nahrung für ihn. Sonst war nichts verändert worden. Er zog die Bettücher bis ans Kinn und entspannte sich. Die Müdigkeit verlangsamte zwar den Denkprozeß, doch er dachte klar und logisch. Warum war die Schwester in völliger Dunkelheit in sein Zimmer gekommen? Das mußte eine wichtige Bedeutung haben. Waren die Lampen nur ihretwegen ausgeschaltet worden?

Wie hatte sie sich trotz völliger Dunkelheit zurechtgefunden?

Fast auf allen Blättern seiner Akte hatte er Klagen über die immer schlimmer werdende Personalknappheit gelesen. Er hatte auch Hinweise auf Mutationen gefunden. Vielleicht war die Schwester eine Mutation, und er sollte sie nicht unvorbereitet sehen. Er war lange Zeit bewußtlos gewesen. Die Entwicklung war in dieser Zeit aber weitergegangen. Wahrscheinlich wurde seine Rekonvaleszenz aus der Ferne gesteuert, weil die unmittelbare Konfrontation mit der Gegenwart eventuell einen Schock auslösen würde.

Er fand das alles sehr logisch und überlegt. Nach seiner Meinung war er nun auf die Veränderungen vorbereitet; nichts würde ihn mehr erschrecken oder verwundern. Irgendwo mußten noch andere Patienten liegen, die bald erwachen und das Leben mit ihm teilen würden. Möglicherweise gehörte Alice zu diesen Leuten.

Es gab aber Dinge, die nicht ganz in seine Vermutungen paßten. Das waren die furchtbaren Alpträume. Er war überzeugt, daß er sie während des Erwachens geträumt hatte. Er spürte noch immer den unerträglichen Druck von Metallteilen, die sich auf seine Beine, seine Brust und die Arme gelegt hatten. Stählerne Hände hatten seine Arme bewegt, ihm die Brust eingedrückt und den Schädel massiert. Noch bei der Erinnerung an diese furchtbaren Träume brach ihm der Schweiß aus.

Dann kam ihm die Erkenntnis. Sie schockierte ihn nicht, denn die Papiere hatten ihn auf mannigfaltige Veränderungen vorbereitet — Roboter hatten ihn bearbeitet; die Schwester war ebenfalls ein eiserner Roboter. Wahrscheinlich würde sie ihn während des Schlafes behandeln und auf diese Weise wieder furchtbare Angstträume verursachen.


* * *

Nach dem Erwachen empfand er starken Hunger. Die flüssige Nahrung schmeckte ausgezeichnet. Der Lufterneuerer hatte den Gestank der verdorbenen Büchse abgesaugt und die Kleidung im nun offenen Schrank getrocknet.

Ross zog sich an und fühlte sich sofort wohler. Er war sich über seine nächsten Schritte im klaren. Er mußte hinausgehen und den leitenden Arzt oder wenigstens die Stationsschwester suchen, Seine Kleidung war aber nach der langen Lagerung in einem sehr schlechten Zustand und zerfiel förmlich. Ross kam sich schon nach wenigen Minuten wie ein Landstreicher vor Er konnte unmöglich so auf den Korridor hinaus, denn bei jedem Schritt riß der mürbe Stoff weiter in Fetzen.

In einem Kasten fand er Bettücher aus Kunststoff. Er faltete eins der Tücher auseinander, riß ein Loch in die Mitte und erweiterte die Öffnung. Auf diese Weise machte er sich eine Art Poncho. Dann riß er noch einen Streifen ab und band ihn sich als Gürtel um den Leib. Die Schuhe waren noch brauchbar, nur die Senkel rissen sofort entzwei. Ross betrachtete sich im Spiegel und wandte sich entsetzt ab. Schön sah er nicht aus, aber mehr war im Augenblick nicht zu erreichen. Er drehte sich entschlossen um und ging zur Tür.

Er konnte schon so sicher gehen, daß er sich nicht mehr an der Wand festzuhalten brauchte. Im Korridor ging alles gut, doch auf der nach oben führenden Rampe wurde er schon schwächer und mußte eine Pause machen. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Er erkannte seine Schwäche und beschloß, vorsichtiger zu werden. Wenn er etwas erreichen wollte, mußte er es geduldig anfangen und nichts übereilen. Er kroch langsam zur nächsten Etage hinauf, mitunter sogar auf Händen und Füßen, denn die Rampe war ziemlich steil.

Oben sah er sich in einem langen Korridor, der an einem Ende von einem anderen Gang gekreuzt wurde. Alles war peinlich sauber. Er sah aber keinen Menschen und hörte nur seinen eigenen, vor Anstrengung rasselnden Atem. Nach kurzem Zögern ging er weiter und öffnete die erste Tür.

Als er endlich die Kreuzung der beiden Gänge erreichte, war er völlig verwirrt. Alle Räume waren leer, auch die Küchen und die Aufenthaltsräume des Pflegepersonals. Nirgendwo fand er Anzeichen einer Benutzung der Räume, alle waren peinlich sauber. Aber irgend jemand mußte doch für die Sauberkeit dieser Räume und das Funktionieren der elektrischen Anlagen verantwortlich sein. Die Situation kam ihm eigenartig vor. Was hatte das zu bedeuten? Wollte man sich einen Spaß mit ihm erlauben? Er hatte keine Lust, an einem Versteckspiel teilzunehmen, sondern Wollte endlich einen Menschen sehen und mit ihm reden.

„Kommt heraus, wo immer ihr seid!’“ rief er, so laut er vermochte. „Kommt endlich heraus!“

Und sie kamen.

Ross sah zylindrische Körper, die auf vier Rädern rollten und jeweils mindestens zehn gelenkige Arme schwangen. All diese mehrgelenkigen Arme hatten offenbar bestimmte Punktionen zu erfüllen, denn sie waren eigens dafür konstruiert. Die Körper rollten langsam auf ihn zu. Ross drückte sich an die Wand und erkannte, daß seine Alpträume Wirklichkeit geworden waren, Jetzt hatte er es aber nicht mit einem dieser Monster, sondern mit mindestens zwanzig zu tun. Sie kamen aus dem Quergang und starrten ihn mit ihren merkwürdig glänzenden Linsen an; das glänzende Metall der vielen Arme reflektierte das gleißende Licht und ließ die zweckmäßig konstruierten, aber häßlichen Roboter noch unheimlicher erscheinen. Ross konnte nichts tun. Er stand still und schwitzte vor Angst.

„Nach unseren Anleitungen sollten wir uns verbergen. Sie sollten sich erst eine Weile in Dr. Pellews Zimmer aufhalten und sich informieren“, sagte eine weibliche Stimme. „Wir wurden dahingehend informiert, daß unser vorzeitiges Erscheinen schwere psychische Schäden verursachen könnte. Ihr letzter Befehl hat aber den ersten ungültig gemacht.“

Ross drehte sich um, denn die Stimme kam von hinten. Er erblickte einen großen ovalen Körper auf drei Rädern. Obenauf saß ein rotierendes Linsensystem, zwischen den Rädern war als Zusatzkonstruktion ein Kasten befestigt, von dem aus ein Kabel in den eiförmigen Körper führte. Am Körper des Robotern waren einige Klappen angebracht, die wohl Einblicke und Eingriffe in das Innere ermöglichen sollten.

Ross wollte davonlaufen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Es hatte, auch keinen Sinn, denn die Roboter näherten sich ihm nun von allen Seiten; glitzernde Linsen starrten ihn kalt an.

„Was soll das alles?“ murmelte er schwach.

In den Zylindern begann es leise zu ticken. „Die Frage ist nicht präzise gestellt und beinhaltet praktisch alles“, antwortete das Ei. „Wollen Sie Informationen über Astronomie, Anthropologie, Kybernetik, Kernphysik oder andere Wissensgebiete? Bitte stellen Sie die Fragen sehr genau und unmißverständlich, Sir. Es fällt einem Elektronengehirn schwer, bestimmte Komplexe voneinander zu trennen.“

„Roboter also!“ murmelte Ross unwillkürlich. Es handelte sich um Roboter, die Fragen beantworten und Befehle ausführen konnten Ross entspannte sich. Im ersten Impuls wollte er die Roboter alle zum Teufel schicken und sich von ihrem Anblick befreien, aber er sah sofort ein, daß sie nicht auf Gefühle reagieren würden. Er überlegte kurz und machte einen ersten Versuch.

„Geht zurück und haltet euch bereit!“ sagte er etwas schüchtern. Die Roboter rollten sofort davon, auch das eiförmige Gebilde. „Du nicht!“ rief Ross. „Warst du in meinem Zimmer? Ich glaube, ich erkenne deine Stimme.“

„Ja, Sir.“

„Was ist aus den anderen geworden?“

„Sie sind nicht mehr am Leben, Sir. Sie starben, bevor ich gebaut wurde.“

Ross starrte den Roboter an. Er hatte mit Mutanten, mit vielleicht schrecklich veränderten Lebewesen gerechnet, nicht aber mit seelenlosen Robotern. Und doch war die Überraschung nicht sehr groß. Schon zu seiner Zeit hatten sich die Wissenschaftler sehr intensiv mit der Entwicklung von Robotern beschäftigt, um die immer knapper werdenden menschlichen Arbeitskräfte zu entlasten. Schon damals hatte es vollautomatische Fabriken gegeben und Hilfsroboter für einfache Arbeiten. Allerdings hatte niemand daran gedacht, Roboter in einem Krankenhaus einzusetzen. Während seiner langen Ruhe mußte sich allerhand ereignet haben. Ross war mit dieser Entwicklung nicht ohne weiteres einverstanden, doch er wollte sich erst eingehend informieren und zunächst keine Kritik üben. Dazu mußte er Dr. Pellews Zimmer aufsuchen.

Der Roboter paßte sich Ross’ mäßiger Geschwindigkeit an und führte ihn durch mehrere Gänge und über zwei Rampen zwei Etagen höher. Diese Etage schien der Verwaltung und der Technik vorbehalten zu sein.

Ross paßte sich den Gegebenheiten überraschend schnell an. Er hatte eine kleine Armee von Robotern zur Verfügung, die alle seine Wünsche sofort erfüllten. Sie hatten ihn überrascht, aber nun betrachtete er sie nicht mehr als Monster, sondern als Freunde und Helfer. Er erkannte mehr und mehr die ungeheuren Möglichkeiten, die sich ihm boten, denn die Roboter waren zweifellos ausgezeichnet informiert. An den Verkehr mit ihnen mußte er sich allerdings erst gewöhnen. Eine klare Formulierung seiner Befehle und Fragen war notwendig, denn die Roboter konnten nur die Worte, nicht aber einen eventuell verborgenen Sinn deuten. Im Vorbeigehen befragte er den eiförmigen Roboter nach dem Sinn der Maschinenräume und bekam sehr präzise und detaillierte Angaben. Mitunter sagte der Roboter aber:

„Es tut mir leid, Sir, für dieses Gebiet bin ich nicht programmiert worden.“

Ross schüttelte verwundert den Kopf „Warum nennst du mich Sir, wenn du meinen Namen kennst?“

Er hörte ein leises Ticken, bekam aber keine Antwort. Er stellte die Frage noch einmal. Anscheinend war der Roboter überfragt.

Dann hörte das unruhige Ticken auf, und der Roboter antwortete: „Eine Stationsschwester hat zwei Möglichkeiten. Gegenüber Patienten müssen wir sehr freundlich, aber bestimmt auftreten, weil wir besser wissen, wie der Patient behandelt werden muß. In diesem Falle benutzen wir den Namen, Wenn ein Mensch aber beweglich ist und keine Anzeichen irgendwelcher Krankheiten erkennen läßt, müssen wir ihn als uns überlegen anerkennen. In Ihrem Falle ist die Entscheidung nicht leicht zu treffen, Sir.“

„Ihr müßt also zwischen einem selbständigen Boß und einem hilflosen Patienten unterscheiden können? Ich war ein Patient und bin jetzt wieder einigermaßen beweglich. Ihr seid mir also Untertan.“

„Deshalb darf ich Sie auch nicht wegen der mißbräuchlichen Benutzung der Bettücher zur Rechenschaft ziehen, Sir“, fuhr der Roboter fort.

Ross lachte auf. Schwestern waren anscheinend alle gleich, selbst als Roboter. Er lachte noch immer, als sie vor Dr. Pellews Zimmer standen.

Der Raum war klein und wie alle anderen eingerichtet. Ross vermißte nur die Beethovenbüste und den unvergeßlichen Direktor des Hospitals. Auf dem Schreibtisch lag ein dickes Journal, daneben stand ein Aschenbecher. Auch der Kalender stand genau am richtigen Platz. Dr. Pellew war aber ein außergewöhnlich unordentlicher Mann gewesen; die auffällige Ordnung war demnach von den Robotern geschaffen worden. Rosis setzte sich an den Schreibtisch und schlug das dicke Journal auf. Es war Dr. Pellews Tagebuch. Seine stark nach links fallende kleine Handschrift füllte fast die Hälfte der Seiten.

Als er saß, kamen Ross Bedenken. Er nahm den Platz des Direktors ein. „Wer ist im Augenblick der leitende Arzt?“ fragte er den Roboter.

„Sie, Sir.“

„Ich? Aber…“

Er wollte sagen, daß er sich nicht qualifiziert genug fühle und mindestens zwei Jahre brauche, um Anschluß an den neuen Stand der Wissenschaft zu finden; doch er tat es nicht. Bei dem akuten Personalmangel war er besser qualifiziert als die Roboter. Wahrscheinlich würde er auch bald erfahren, warum man ihm diesen verantwortungsvollen Posten übertragen hatte.

„Haben Sie irgendwelche Befehle, Sir?“ fragte der Roboter mit immer gleichbleibend unpersönlicher Stimme.

Ross gab sich Mühe, wie ein leitender Arzt zu denken. „Ich muß mich erst über den Zustand der Patienten informieren. Aber ich bin hungrig und möchte gern etwas essen.“

Der Roboter drehte sich sofort um und rollte aus dem Zimmer.

Загрузка...