II. Ankunft

10. Die Ankunft

Warum treffen wir uns auf der Brücke der Zeit, um einen Gruß auszutauschen und voneinander zu scheiden?

KASIDAH des HADSCHI ABDU ELJASDI


Zeit: Stunde Null

Militärtechniker hatten überall im Oval Office Fernsehempfänger angebracht, unter anderem auch am Arbeitstisch des Präsidenten. Die Bildschirme zeigten die Kommandozentrale der sowjetischen Raumstation Kosmograd. Zur Zeit geschah dort nichts.

So groß das Arbeitszimmer des Präsidenten war, es herrschte drangvolle Enge darin. Außer ihm selbst und Mrs. Coffey war der größte Teil des Kabinetts anwesend, Mitarbeiter, Diplomaten, Fernsehleute.

Jenny nahm im Hintergrund Platz, möglichst weit von den Fernsehkameras entfernt. Theoretisch war sie stellvertretend für Admiral Carrell anwesend, sie sollte den Präsidenten beraten, aber selbst wenn er etwas mit ihr hätte besprechen wollen, wäre in diesem Affenzirkus keine Möglichkeit dazu gewesen. Alle wanderten im Raum herum – mit Ausnahme der Männer, deren Aufgabe der Schutz des Präsidenten war.

Sie waren leicht aus der Menge zu erkennen, wenn man erst einmal wußte, worauf man zu achten hatte. Sie behielten nicht den Präsidenten im Auge, sondern die Menschen, die zu ihm hinsahen. Jenny gelang es, Jack Clybournes Blick auf sich zu lenken und zwinkerte ihm zu. Sinnlos – im Dienst reagierte er nicht.

Er sah nicht glücklich aus. Jenny konnte sich den Grund denken, denn sie war zufällig Zeugin eines Gesprächs zwischen einem Vorgesetzten und Präsident Coffey geworden. »Mr. Dimming«, hatte der Präsident gesagt, »ich weiß Ihre Beweggründe zu schätzen. Doch ich habe dem Land gesagt, daß ich vom Oval Office aus zuzusehen gedenke, also werde ich das tun. Schluß der Debatte.«

Da man zu dem Medienspektakel ausgewählte Vertreter von Presse, Rundfunk und Fernsehen eingeladen hatte, war auch die Anwesenheit von Sicherheitskräften erforderlich. Sie kannten jeden der Reporter und Kameraleute. Obwohl Jack sehr gelöst aussah, merkte Jenny, daß er sich Sorgen machte. Die Sicherheitsberater hatten dem Präsidenten empfohlen, einen bombensicheren Schutzraum aufzusuchen.

Und jetzt erwarten wir es hier, dachte Jenny, im berühmtesten Amtszimmer der Welt, aber nur als Zuschauer. Die Akteure sind die Sowjets. Alle Computerprojektionen zeigten deutlich, daß das Raumschiff der Außerirdischen auf Kosmograd zusteuerte. Lediglich der genaue Zeitpunkt seiner Ankunft dort war ungewiß.

Sie sah auf die Uhr. Es war schon weit nach Mitternacht. Die WeltraumReisenden waren überfällig. Draußen gab es Kaffee, aber wenn sie hinging, würde wahrscheinlich jemand ihren Stuhl besetzen. Besser also warten…

Die Fernsehschirme zeigten einen Augenblick lang nichts, dann erkannte man die Schwärze des Weltraums. Von fern zuckte und blitzte etwas.


* * *

Bisher war in den Teleskopen von der Erde und der Erdumlaufbahn aus lediglich ein langgezogener bläulichweißer Lichtschein und ein undeutlicher Schatten an dessen Spitze sichtbar gewesen. Als sich die riesige Masse nunmehr Kosmograd näherte, änderte sich etwas. Lichter blinkten in einem sich drehenden Ring um die Flamme wie Glühlampen bei einer Jahrmarktreklame.

In der Kommandozentrale von Kosmograd drängten sich acht der Besatzungsmitglieder, die vier anderen waren anderswo unabkömmlich. Wes Dawson betrachtete das vom Teleskop auf einen Bildschirm von halber Wandgröße geworfene Bild des Raumschiffs. Nur noch Minuten trennten sie von ihm. Er verdrängte die Vorstellung, was geschehen würde, wenn es ein wenig zu schnell herankam. Es bremste stark ab, bisher ohne seine Zusatztriebwerke einzusetzen: an die sechs Dutzend winzige Triebwerke, weit kleiner als der Hauptantrieb und wohl auch weniger leistungsfähig.

Symmetrisch angeordnet. Sechzehn pro Viertelkreis. Wes Dawson lächelte entzückt. Genau vierundsechzig: die Außerirdischen hatten ein Achtersystem! Es konnte natürlich auch ein Vierer- oder Zweiersystem sein…

Der von diesen Zusatztriebwerken ausgehenden Strahlung nach zu urteilen, arbeiteten sie mit Kernverschmelzung oder Kernspaltung. Warum hatte das Raumschiff der Außerirdischen nicht früher gebremst?

Es hatte auf keinen Kontaktversuch reagiert.

Jetzt füllte es fast das Gesichtsfeld des Teleskops aus. Es war riesig! Im grellen Licht verschwand das Heck: Wes sah lediglich die lange Flamme und den Ring aus aufblitzenden Düsen. Um den zylindrischen Mittelteil herum erkannte er Ausbuchtungen und winzige Flossen. Vermutlich waren um den Rumpf herum Landefahrzeuge verstaut. Am Ende eines langen Gelenkarms saß ein runder Knopf: was das sein mochte? Empfangsanlagen? Er war auf die Raumstation gerichtet.

»Dieser Strahlungsmenge«, sagte Arwid ungefragt, »hält unsere Abschirmung stand – allerdings nicht lange. Ich hoffe, sie haben zum Manövrieren chemische Raketen.«

Wes nickte. Du hast gewußt, daß die Aufgabe gefährlich war, als du sie übernommen hast, Fred. Laut sagte er: »Sonst wäre es ein Verstoß gegen die Genfer Konvention.«

Er erntete Gelächter. Arwid sagte: »Nikolai, schalten Sie mal vom Teleskop auf die Kamera, und zwar aus dem Winkel…« Er unterbrach sich und beugte sich angespannt vor.

Wes’ Hände schlossen sich fest um die Armlehnen seines Sitzes.

Das Raumschiff blitzte wie ein Feuerwerk. Vier der aufzukkenden Düsen fuhren nach außen, von der Antriebsflamme weg; dann vier weitere. Was er als Zusatztriebwerke angesehen hatte, waren die Triebwerke kleinerer Raumfahrzeuge! Funken stoben von ihrem den Blicken entzogenen Bug. Raketen? Tatsächlich, und zwar in ungeheurer Anzahl. Das sah nicht nach einem freundschaftlichen Kontakt aus, sondern nach Krieg im Weltraum.

Der Bildschirm wurde weiß, das Bild verschwand.

Arwid war aufgesprungen und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Wes prüfte gerade den festen Sitz seines Sicherheitsgurtes, als die ganze Raumstation dröhnend erbebte. Er schrie auf und schlug sich die Hände über die Ohren. Die anderen trieben aus ihren Sitzen – waren sie etwa schwerelos? Wes stieß einen Arm vor, um Giselle auf ihren Sitz zurückzudrücken, und sie umkrallte dessen Armlehnen. Außer ihr konnte er niemanden erreichen.

Schwereverlust – der Verbindungstunnel mußte zerstört sein! Nikolai schrie etwas in ein Mikrofon, hörte schlagartig auf. Er sah sich um, ratlos, mit aschfahlem Gesicht.

Die Wand hinter Wes wurde eingedrückt, beulte sich dann nach außen. Der Verschluß seines Sitzgurts barst. Instinktiv klammerte sich Wes mit aller Kraft an den Armlehnen seines Sitzes fest, noch bevor ihn die Druckwelle erreichte. Laut schreiend griff der Nigerianer nach Wes’ Gurt und hielt sich daran fest. Richtig, Schreien. Wes tat es ihm nach. Wer die Luft anhielt, dessen Lungen würden platzen.

Durch das zerfetzte Metall schimmerten die Sterne zu ihnen herein, die nach draußen zischende Luft riß alles mit sich, was nicht niet- und nagelfest war. Giselle Beaumont ruderte mit den Armen, als wolle sie fliegen. Ihr Blick traf den von Wes mit dem Ausdruck tiefsten Erstaunens – und sie flog hinaus in den schwarzen Himmel, war fort. Verdammt!

Luftleerer Raum! Dawsons Augäpfel schienen aus dem Kopf treten, seine Ohren platzen zu wollen. Giorges Griff lockerte sich, aber auch der Luftstrom wurde schwächer. Fast war alle Luft aus dem Raumschiff. Wie lange habe ich noch? Eine Minute, bevor mir das Blut in den Lungen kocht? An meinen eine Million teuren Raumanzug komme ich nicht heran. Wo, zum Teufel, sind bloß die PreßluftNotballons? Ich hab doch in jeder Abteilung als erstes danach gesehen. Wäre das hier von Amerikanern gebaut, kämen uns die Dinger aus den Wänden entgegengeflogen, dafür hätten die Sicherheitsfanatiker gesorgt.

Nichts kam aus den Wänden. Luft entwich Dawsons Verdauungstrakt an beiden Enden. Sein Blick suchte… Da war Rogatschow. Er klammerte sich an einer Wand fest. Dawson lenkte die Aufmerksamkeit des Schwarzen auf sich, indem er ihm auf die Schulter klopfte, und stieß sich zu Rogatschow hinüber ab. Giorge ließ nicht los, sei es aus nackter Panik oder aus antrainiertem Überlebensverhalten.

Wes prallte gegen eine Wand, fand keinen Halt, prallte wieder zurück. Ist das das Ende? Der Schwarze erfaßte etwas, ließ aber einen Arm um Wes’ Hüfte liegen. Rogatschow sah aus wie ein Kugelfisch. Er zerrte an einer Wandverkleidung aus Kunststoff. Endlich gab sie nach, und er trieb von der Wand fort.

Scheiben von über einem Meter Durchmesser erwiesen sich als flache Plastiksäcke. Wes warf einen zu Rogatschow hinüber, öffnete einen anderen, kroch hinein und zog den Schwarzen nach. Wo ist der Reißverschluß? Er zog den Verschluß von innen zu. So. An seinem Ende war eine Art Schleuse. Mit seinem Kinn an der Schulter des Schwarzen griff Wes um dessen Hals und schloß sie. Hoffentlich ist das Ding dicht.

Sofort strömte Luft ein.

Seine Trommelfelle schmerzten von dem Druck. Er atmete tief, ganz tief ein, brauchte überhaupt nicht auszuatmen. Sie würden weiterleben. Sie trieben frei, darauf hatten sie keinen Einfluß, weil die mit Druckluft gefüllten Inseln nichts anderes waren als Ballons mit einem Luftvorrat. Auch Rogatschows Ballon sprang herum wie ein Hopsball, aber immerhin war er drinnen.

Wes’ Gefährte strampelte wild um sich, es wurde unbehaglich. Wes wollte ihm etwas Tröstendes sagen oder ihn einfach auffordern, den verdammten Ball nicht aufzureißen. Aber so sehr er vorhin hatte husten wollen, ohne es zu können, so sehr mußte er es jetzt, da seine Kehle wieder Luft hatte. Er konnte überhaupt nicht wieder aufhören. Es klang, als pfeife er auf dem letzten Loch. Giorge ging es ebenso.

Eine Weile geschah überhaupt nichts. Als Giorge spürte, wie sich Blut in seinen Ohren sammelte, schrie er auf. Er wurstelte so lange, bis er sich umgedreht hatte und Wes ins Gesicht sehen konnte, dann schrie er erneut auf. Seine Augen waren blutunterlaufen, als sei er eine ganze Woche lang auf Sauftour gewesen. Wes’ Augen mußten ebenso schlimm aussehen. Seine Nase war voll Blut.

Wie lange die Luft in den Dingern wohl vorhält?

Irgend etwas wurde durch die geborstene Wand der Raumstation sichtbar, nur einen kurzen Augenblick: spiegelndes Glas, hinter dem Augen liegen mochten, und etwas, das vielleicht ein Tentakel war. Wahrhaftig, ein Tentakel!

Giorge jaulte auf und erstarrte. Auch Wes konnte es nicht glauben. Von klein auf hatte er diesem Augenblick entgegengefiebert.

Da waren die Pulsare gewesen: Signale, die in genauen Zeitabständen irgendwoher aus dem interstellaren Raum kamen. Ortungsstrahlen für kleine grüne Männchen? Als er studierte, hatte man sie als Radioquellen von periodisch schwankender Intensität entlarvt, in rascher Rotation befindliche Neutronensterne, eigentümlich, aber natürlich. Auch die Legende der Marskanäle war längst widerlegt, und die angeblich von gefahrvollen Bewohnern wimmelnden Sümpfe der Venus hatten sich als glühend heiß, ausgedörrt und unbelebt erwiesen.

Auch das Sternenschiff würde sich als etwas anderes herausstellen, irgendein natürliches Phänomen…

Das außerirdische Wesen näherte sich vorsichtig. Ein rascher Blick, ein Schritt zurück, vielleicht Bericht an einen Gefährten. Ein erneuter Blick, das spiegelnde Visier bewegte sich von einer Seite zur anderen, zusammen mit der Mündung von etwas, das wohl eine Waffe war.

Das Wesen kam durch die Öffnung in der Wand und achtete sorgfältig darauf, seinen Raumanzug nicht zu beschädigen.

Es war gedrungen und an die drei- bis viermal so groß wie ein Mensch. Ein mattschwarzer Druckanzug verbarg seinen Umriß zum größten Teil, aber man sah, daß es nicht im entferntesten menschenähnlich war. Vier Füße. Aus den Stiefeln stand etwas heraus. Klauen? Scheren? Es hatte einen Schwanz wie das Blatt eines Paddels. Wegen der Spiegelung waren unter dem durchsichtigen Schirm vorn am Helm keine Einzelheiten des Gesichts zu erkennen. Unmittelbar unterhalb seiner wurde jetzt ein gummiartig aussehendes Tentakel sichtbar. Er verzweigte sich: einmal, zweimal…

Kein Zweifel, dieses Tentakel hielt eine großkalibrige Schußwaffe. Der Kolben war kurz und grotesk breit, aber alles andere war unverkennbar: Magazin, Lauf und etwa in dessen Mitte der Abzug.

Aus seitlich am Raumanzug des Weltraumwesens befindlichen Behältern strömte Gas aus nach vorn und hinten weisenden Öffnungen. Das Wesen verlangsamte seine Bewegung und trieb auf Wes zu, den Lauf der Waffe und das spiegelnde Visier unverrückt auf ihn gerichtet.

Wes hob die Hand zum Gruß, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er winkte und klappte seinen Daumen in die Handfläche und zurück. Für den anderen unhörbar sagte er: »Auch ich benutze Werkzeuge… Bruder.« Das Wesen reagierte nicht darauf.

Auf eine Enttäuschung hatte sich Wes eingestellt, aber nicht auf Krieg. Trottel. Dennoch konnte er hoffen. Noch war er nicht tot, und vielleicht war es ja nur ein Grenzgeplänkel.

Der Tentakel des Geschöpfs fuhr nach hinten, schob die Waffe in eine Art Köcher auf dem Rücken, zog eine Leine aus einer Rückentasche und brachte etwas Klebriges daran an. Ja, er befestigte den Ball mit Hilfe einer Art Klebeband. Wes begann zu glauben, daß er nicht sofort umgebracht würde.

Botschafter im Reich der Galaxis… noch konnte er es schaffen. Vielleicht waren sie nur übervorsichtig, machten sich unnötige Sorgen. Auch er würde Umsicht walten lassen müssen. Als Diplomat war er darin geschult, Nahtstellen zwischen abweichenden Standpunkten zu finden. Wenn er diese Wesen erst einmal verstand, war er sicher imstande, den Vorteil herauszustreichen, den ihnen eine Freundschaft mit den Erdbewohnern bot.

Es sei denn, sie waren wirklich gekommen, um die Welt zu erobern. Das Gespenst von H. G. Wells erstand vor seinem inneren Auge.


* * *

Alles im Oval Office schrie durcheinander. Jenny sah verständnislos auf den Bildschirm.

»Major Crichton!«

Der Präsident. »Sir?«

»Bitte rufen Sie Admiral Carrell an! Und ihr anderen hier macht bitte Platz! Jack, helfen Sie ihr durch!«

»Ja, Sir.« Jack Clybourne bahnte sich mit den Schultern einen Weg durch die Menge und half ihr dann, an den Tisch des Präsidenten zu gelangen. Mit bleichem Gesicht saß Coffey an seinem Platz. Seine Frau Jeanne neben ihm konnte den Blick nicht vom Fernsehschirm lösen, obwohl kein Bild mehr zu sehen war.

»Ich glaube nicht, daß die Anwesenheit der Medienleute jetzt erforderlich ist«, sagte der Präsident. »Und auch nicht die der Mitarbeiter. Das Kabinett ist mit Ausnahme von Dr. Hart und Mr. Griffin ebenfalls entbehrlich.«

Außen- und Verteidigungsminister. Ja, die werden wir brauchen. Hap Aylesworth blieb ebenfalls. Fast hätte Jenny losgekichert. Der politische Berater. Wie würde sich ein Krieg mit den Außerirdischen auf die nächste Wahl auswirken?

Drei Telefone standen auf dem Gestell hinter dem Tisch des Präsidenten. Jenny nahm den Hörer des schwarzen Apparates und tippte die Nummer ein. Dann fiel ihr auf, daß sie keinen Wählton gehört hatte. »Tot«, sagte sie. Der Präsident sah zu ihr her, schien nicht zu begreifen. »Kann ich den hier benutzen?« fragte sie und wies auf das rote Telefon.

»Bitte.«

Auch dort hörte sie keinen Wählton, aber der im Keller des Weißen Hauses diensttuende Offizier der Luftstreitkräfte meldete sich. »Ja, Sir?«

»Vorrang«, sagte Jenny. »Hauptquartier NORAD.«

»Sehr wohl. Augenblick, da kommt gerade ein Gespräch herein – sie rufen selbst an. Ich verbinde.«

»Mr. President?« sagte eine Jenny vertraute Stimme.

»Major Crichton, Admiral. Der Präsident ist neben mir.« Sie hielt ihm den Hörer hin.

Mit seiner Gelassenheit ist es vorbei. Mrs. Coffey sieht entsetzlich aus, und…

»Was ist vorgefallen, Admiral?«

Den Geheimdienstleuten war es gelungen, nahezu alle Anwesenden hinauszubefördern. Jack Clybourne stand unentschlossen an der Tür.

Der Präsident drückte auf einen Knopf. Admiral Carrells Stimme füllte den Raum.

»… wenig übrig. Unmittelbar vor seiner Zerstörung hat der letzte noch funktionierende Beobachtungssatellit eine Anzahl von Raketenstarts in der Sowjetunion gemeldet.«

Der Präsident hob den Blick und sah den Außenminister an. »Arthur, versuchen Sie, über den heißen Draht festzustellen, was da los ist!«

»Sofort.« Dr. Hart lief zur Tür.

Der Verteidigungsminister Ted Griffin erbleichte. »Wenn die Wahnsinnskandidaten auf uns gefeuert haben, müssen wir unsere Vögel hochbringen, bevor die Dinger hier sind!«

»Nicht bevor wir sicher sind, ob sie uns angegriffen haben«, rief ihm der Präsident zu, »wir müssen erst mit ihnen reden!«

»Ich bezweifle, daß Sie durchkommen, Mr. President«, sagte Admiral Carrell. »Ich habe mir bereits erlaubt, es selbst zu versuchen. Eine starke atomare Ladung scheint in der sehr hohen Stratosphäre zur Detonation gebracht worden zu sein, viel zu hoch, um auf der Erde Schäden anzurichten – mit Ausnahme des EMP(ElektroMagnetischer Puls), der die Elektronik unserer Nachrichtensysteme schwer in Mitleidenschaft gezogen hat, vor allem an der Ostküste.«

»Wir müssen unbedingt durchkommen – Admiral, glauben Sie, daß die Sowjets uns angreifen?«

»Sir, ich weiß es nicht. Mit Sicherheit haben die Außerirdischen ihre Einrichtungen im Weltraum angegriffen…« Unvermittelt brach Admiral Carrells Stimme ab.

»Admiral!«

Ein langes Schweigen trat ein. »Mr. President, man hat mir soeben Berichte über Schäden an Bodenzielen vorgelegt. Eine schwere Explosion hat den HooverStaudamm zerstört.«

»Eine Atomwaffe?«

»Sir, ich wüßte nicht, was es sonst sein sollte. Einen Augenblick bitte…« Erneut trat Schweigen ein.

»Herrgott!« rief Ted Griffin. »Diese wahnsinnigen Russen haben es tatsächlich getan!«

Man hörte schwach die Stimme des Admirals. »Einer meiner Berater sagt, es könne sich um eine mechanisch wirkende kinetische Waffe handeln. Eine sowjetische Atomrakete sei es mit Sicherheit nicht, die könnten noch nicht hier sein.« Wieder eine Pause. »Hier laufen gerade weitere Berichte ein, aus Alaska, Colorado, Mississippi – Mr. President, wir werden bombardiert, aber offenbar aus dem Weltraum. Bekomme ich die Erlaubnis zurückzuschießen?«

David Coffey sah auf seine Frau. Sie erschauderte. »Auf wen?« wollte der Präsident wissen.

»Auf die Außerirdischen«, gab Admiral Carrell zur Antwort.

»Nicht die Sowjets?«

»Noch nicht.«

»Ted?« wandte sich David Coffey an den Verteidigungsminister.

»Sir?« Er sah zehn Jahre älter aus als noch vor wenigen Minuten.

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, Carrell zur Kriegsführung im Weltraum zu ermächtigen, ohne daß er gegen die Sowjetunion losschlagen kann?«

»Nein.«

»Aha. Jeanne, was meinst du?«

»Der Präsident bist du, David.«

Jenny hielt den Atem an.

»Ihnen bleibt keine Wahl«, sagte Hap Aylesworth. »Sollen die etwa unser Land angreifen dürfen, ohne daß wir uns zur Wehr setzen?«

»Vielen Dank«, sagte Coffey ruhig. »Admiral, ist Colonel Feinstein bei Ihnen?«

»Ja, Sir. Colonel…«

Eine andere Stimme wurde hörbar. »Ja, Mr. President.«

»Colonel, ich ermächtige Sie, den Behälter mit den Codes zu öffnen und seinen Inhalt Admiral Thorwald Carrell auszuhändigen. Der Satz, der die Echtheit des Befehls bestätigt, heißt ›Tauben im Gras, schade‹. Sie werden eine Bestätigung vom Verteidigungsminister und dem diensthabenden Offizier des Nationalen Sicherheitsrats bekommen. Ted!«

»Ja, Sir.« Ted Griffin nahm den Hörer, ließ ihn fast fallen und las etwas von einer Karte, die er seiner Brieftasche entnommen hatte. Dann wandte er sich an Jenny. »Major…«

»Hier Major Crichton«, sagte Jenny. »Ich bestätige, daß ich persönlich gehört habe, wie der Präsident angeordnet hat, Admiral Carrell die Codes bekanntzugeben. Mein eigener Erkennungscode heißt Tango. Xylophon. Alpha. Vier. Sieben. Neun. Vier.« Erledigt. Gott, ich hätte nie gedacht…

»Admiral«, sagte der Präsident. »Sie werden nichts gegen die Sowjetunion unternehmen, bis uns unwiderlegliche Beweise dafür vorliegen, daß sie uns angegriffen hat. Ich glaube nicht, daß sie damit zu tun hat, und die Welt hat auch ohne einen Atomkrieg genug Schwierigkeiten. Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir. Mr. President, ich schlage vor, daß Sie so rasch wie möglich herkommen. Major Crichton, unterstützen Sie den Präsidenten und bleiben Sie so lange bei ihm, wie er Sie braucht. Ich gebe Ihnen jetzt Colonel Hartley.«


* * *

Etwas dröhnte in Harry Reddingtons Kopf.

Er wurde wach, streckte die Hand aus, drückte den Knopf auf seinem Wecker: jetzt konnte er zehn Minuten weiterschlafen. Doch das Läuten hörte nicht auf. Im Zimmer war es pechschwarz, nicht der Wecker klingelte, sondern das Telefon. Harry nahm den Hörer ab. Seine Stimme klang betont freundlich: »Hallooo…«

Eine lockende Stimme sagte: »Harry? Geh mal vors Haus und sieh dir das an.«

»Ruby? Es ist schon spät. Ich muß früh wieder aus den Federn.«

Im Hintergrund hörte man Tanzmusik, und eine Frauenstimme protestierte laut kreischend. Rubys Stimme klang gequält. Wahrscheinlich war sie high: wenn die Party schon eine Weile dauerte, blieb das gar nicht aus. »Harry, ich wollte mir draußen eine reinziehen. Du kennst ja Julia und Gwen – bei denen darf niemand rauchen, nicht mal Tabak, von Gras ganz zu schweigen.«

»Ruby!«

»Ich bin also rausgegangen, und es ist, es ist… es sieht so echt aus, Harry! Geh mal und sieh dir den Himmel an. Es ist das Ende der Welt.«

Harry legte auf.

Er ließ sich von Dawsons Wasserbett herunterrollen und suchte nach seinen Kleidungsstücken.

Er war ohnehin zu lange aufgeblieben. Es wäre ein schöner Abend gewesen, wenn er sich mit seinen Freunden hätten betrinken können, aber nein – dein Ehrenwort haben wir zur Kenntnis genommen. Er war also heimgekommen und hatte sich mit einigen Drinks darüber hinweggetröstet, daß er allein war, während Kundschafter aus dem All erstmals Kontakt mit der Menschheit aufnahmen.

Die Uhr zeigte zehn Minuten nach zwei. Bis nach Mitternacht war er aufgeblieben, um die Übertragung im Fernsehen zu verfolgen. Es hatte allerdings keine Nachrichten gegeben. Was auch immer die Sowjets in Erfahrung gebracht haben mochten, sie hatten nichts darüber gesagt. Schließlich war er zu Bett gegangen. Und jetzt…

Seine Augen waren noch schlafverklebt. Die Krücke lehnte am Bett. Er gab den Versuch auf, seine Jacke zu finden, er würde nicht lange draußen bleiben.

Er schloß die Hintertür auf und trat unsicheren Schritts auf den Rasen hinaus.

Ruby rauchte seit Mitte der sechziger Jahre Marihuana und hatte die Wonnen des Rausches mit geradezu missionarischem Eifer verkündet. Was Harry veranlaßt hatte, ihrer Aufforderung zu folgen und in die kühle kalifornische Mainacht hinauszugehen, war die Erwägung: wer unter dem Einfluß von Drogen stand, mochte Dinge sehen, die es nicht gab, aber ebenso konnten es auch Dinge sein, die wirklich existierten.

Durch die nicht sehr dichte Wolkendecke schimmerten Sterne.

Etwas Helleres als ein Stern war gleichfalls zu erkennen, ein blendend heller Stecknadelkopf, der einen Schweif hinter sich herzog und im selben Augenblick auch schon wieder verschwand.

Eine lange, bläulichweiße Flamme entstand, war mehrere Sekunden lang sichtbar, während schmale Lichtstreifen von einem Ende wie Speere ausgingen. Weitere Lichter pulsierten langsam, wie Herzschläge.

Der Himmel war von seltsamen Lichtern erfüllt.

Harry ging wieder hinein, nahm das Fernglas aus einer Schublade, ertastete seine Windjacke auf einer Stuhllehne und stolperte erneut nach draußen. Der Himmel wirkte jetzt noch heller. Lichtbänder leuchteten im Westen und verschwanden wieder. Schmale grüne Striche stießen im Westen abwärts. Man sah phosphoreszierende Wölkchen, die sich träge ausdehnten.

Wäre es eine andere Nacht gewesen, hätte Harry das für einen Meteoritenschauer gehalten. Heute aber… Er hatte hundertfach von der Eroberung der Erde durch Außerirdische gelesen, und jede dieser Schilderungen hatte weit aufregender geklungen als dies Entstehen und Vergehen von Sternen und Lichtflecken. In einem Film wären noch die Klangeffekte hinzugekommen. Aber es sah tatsächlich echt aus.

Noch immer ohne Licht zu machen, tappte er ins Haus zurück, um ein Transistorradio zu suchen. Er nahm es mit nach draußen und stellte es auf einen Sender ein, der ausschließlich Nachrichten brachte.

»… haben die Raumstation der Sowjets ›Kosmograd‹ beschossen «, sagte der Sprecher. »Der Präsident hat alle Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzen lassen. Die Bevölkerung wird aufgefordert, in den Häusern zu bleiben. Wir können nicht bestätigen, ob unsere Luftstreitkräfte das Raumschiff beschossen haben. Sprecher des Pentagons äußern sich nicht dazu. Hören Sie jetzt Generalleutnant Arien Gregory, einen Offizier der Luftstreitkräfte im Ruhestand. General, meinen Sie, daß die Vereinigten Staaten zurückschlagen werden?«

»Sehen Sie zum Himmel, Sie seltsamer Vogel«, sagte eine knurrende Stimme. »Was, zum Teufel, glauben Sie, was die Lichter da sollen?«

Harry sah hin und überlegte, während ein Flammenschein um den westlichen Horizont herumfuhr, aufleuchtete und erstarb. Dann zwei weitere.Keine Frage, was das war. Und was mach ich jetzt?

Hierbleiben und das Haus hüten. Nur – großer Gott, Wes Dawson war in Kosmograd! Und seine Frau Carlotta dürfte inzwischen im westlichen Kansas sein, niemand wußte genau, wo. Hätte sie sich nur die Waffen mitgenommen… Aber sie war nicht der Mensch, eine Pistole vom Kaliber 11,43 mm mitzunehmen.

Im Radio ertönte das vertraute Pieppiep, das eine neu hereingekommene Nachricht ankündigte.

»Einem bisher unbestätigten Bericht zufolge soll eine schwere Explosion im Hafen von San Diego stattgefunden haben«, teilte der Ansager mit. Seine Stimme klang wie die eines Mannes, der am liebsten losgeheult hätte, aber all seine Gefühle schon verbraucht hatte.

Vielleicht sollte ich Carlotta helfen. Wes würde das bestimmt wollen. Aber wie?

Sein Motorrad war zerlegt. Er hatte bei weitem nicht genug Geld für alles Nötige gehabt. Zwar hatte er so viel selbst getan, wie ihm möglich war, aber den Motor konnte nur die Werkstatt überholen. Er hatte ihn hingebracht, und soweit er wußte, war er auch schon fertig. Schön wär’s.

Bestimmt sahen auch noch andere zu. Bis zum Morgen würden sie es todsicher alle wissen.

Während Harry weiter den Himmel beobachtete, überlegte er. Die lange blaue Flamme entstand erneut, und diesmal schien sie nicht wieder zu erlöschen. Sterne, die sich im Westen erhoben, schienen nach ihr zu greifen, bis die grünen Lichtfäden sie berührten; dann leuchteten sie auf und verschwanden. Die blaue Flamme kroch ostwärts und wurde schneller. Im Fernglas zeigte sich etwas an ihrer Spitze. Harrys Augen tränten bei seiner Bemühung, Einzelheiten zu erkennen.

Dann ging er hinein und wusch sich das Gesicht.

Carlotta mochte ihn nicht. Na und? Harry nahm eine Flasche teuren Cognac aus Dawsons Barschrank, sechzig Dollar kostete so etwas, aber sonst war nichts mehr da. Er goß sich großzügig ein, sah das Glas an, überlegte, ob er etwas zurückgießen sollte und trank dann die Hälfte.

Carlotta mag mich nicht. Das Land liegt im Krieg mit Außerirdischen. Wes hat mich gebeten, mich um seine Sachen zu kümmern. Hier kann ich nichts tun, und wenn ich lange bleibe, sitz ich hier fest.

Er ging ans Telefon und wählte die Nummer in Kansas, die Carlotta hinterlassen hatte. Es klingelte lange. Dann meldete sich eine Stimme, nicht verschlafen. Männlich. »Bitte Mrs. Carlotta Dawson«, sagte Harry. Er konnte seiner Stimme einen amtlichen Klang verleihen, wenn er wollte.

Es dauerte einen Augenblick. »Ja?«

»Harry Reddington, Mrs. Dawson. Gibt es etwas, das ich für Sie tun soll?«

»Harry – Harry, Sie wissen nicht, was da oben passiert ist.«

»Doch, Ma’am. Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich weiß nicht.«

Carlotta Dawsons Stimme ging in Störungen und Rauschen unter. Eine andere Stimme meldete sich. »Ist das ein Dienstgespräch?« wollte sie wissen. Dann war die Leitung tot.

Harry leerte das Glas. Wie weiter? Sie hat nichts gesagt. Wenn ich morgen noch hier bin, komm ich nie aus Los Angeles weg…

Er trank noch einen ordentlichen Schluck und schloß dann die Flasche mit Nachdruck.

Er verließ das Haus in einem sauberen Hemd und mit einem Sportjackett, das zwar recht alt, aber kaum getragen war. Bei sich hatte er Ausweispapiere, einen Schlafsack und den Brief des Abgeordneten Dawson. Um halb vier breitete er seinen Schlafsack auf der Treppe vor der Security Pacific National Bank aus.


* * *

Pawel Bondarew sah auf den Fernsehschirm, von dem das Bild verschwunden war. Um ihn herum begannen Offiziere und Ordonnanzen gleichzeitig zu sprechen. Das Geschnatter rief ihn in die Wirklichkeit zurück. »Oberst, ich wünsche, daß Ruhe eintritt!«

»Jawohl, Genosse Direktor.« Oberst Suworow schrie ziemlich laut in die Runde, und das Stimmengewirr erstarb.

Die Außerirdischen hatten Kosmograd angegriffen. Das hatte er mitbekommen, bevor die Verbindung abriß. Sie hatten grundlos und ohne vorherige Warnung gefeuert.

Ein orangefarbenes Licht blinkte beharrlich auf. Pawel nahm den Hörer des Codetelefons auf. »Ja, Genosse Vorsitzender.«

Erst hörte man leises Zischen, dann lautes, geradezu dröhnendes Rauschen. Die Offiziere an den Kontrolltischen der Nachrichteneinrichtungen redeten wieder laut durcheinander.

»Was ist geschehen?« wollte Bondarew wissen.

»Eine Atomexplosion in großer Höhe. Vielleicht mehrere. Ein EMP hat unser Fernmeldenetz lahmgelegt«, berichtete Suworow.

»Aha.« Und ohne Nachrichtenmittel – Bondarew merkte, wie Panik in ihm aufstieg. Das Codetelefon war tot. »Geben Sie mir Marschall Schawirin.«

»Wir kommen nicht durch«, sagte Suworow.

»Es ist äußerst wichtig. Versuchen Sie es auf eine andere Weise, wie, ist mir gleichgültig«, gebot Bondarew. Er bemühte sich, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. Steht der Vorsitzende mit irgend jemand in Verbindung? Vielleicht nicht. Vielleicht sind wir ja in Sicherheit.

»Hier Schawirin«, sagte Oberst Suworow.

»Vielen Dank.« Pawel setzte die Kopfhörer auf. »Genosse Marschall?«

»Genosse Direktor?«

»Haben Sie Raketen abfeuern lassen?«

»Nein, Genosse Direktor. Ich habe keine Anweisungen vom Verteidigungsrat empfangen.«

Bondarew merkte, daß er den Atem angehalten hatte. Jetzt stieß er ihn langsam aus. »Wissen Sie, daß die Außerirdischen Kosmograd beschossen haben?«

»Ja, Genosse Direktor. Zwei meiner Generäle halten es für eine Irreführung durch den Westen.«

»Unsinn, Genosse Marschall. Sie haben das Raumschiff doch gesehen. Weder wir noch die Vereinigten Staaten und nicht einmal beide Mächte gemeinsam hätten so etwas bauen können.«

Eine lange Pause trat ein. Pawel hörte, daß jemand etwas zum Marschall sagte, verstand aber nicht, was. »Marschall«, beharrte Bondarew, »das Raumschiff stammt nicht von unserem Planeten, und wir wissen, daß die Vereinigten Staaten im Weltraum über keine Möglichkeiten dieser Art verfügen. Falls doch, hätten sie uns schon längst geschlagen.«

Eine weitere lange Pause trat ein. Dann sagte Schawirin: »Vermutlichen haben Sie recht. Was sollen wir jetzt tun?«

Wenn ich das wüßte. »Unmittelbar vor der Zerstörung Kosmograds haben die Außerirdischen zahlreiche kleinere Raumschiffe abgesetzt – aber was heißt da klein? Jedes von ihnen ist größer als Kosmograd. Ist es Ihnen gelungen, denen auf der Fährte zu bleiben?«

»Nur zum Teil. Selbst unsere leistungsfähigsten Radaranlagen dringen kaum durch die elektronischen Stürme in der oberen Atmosphäre. Die Außerirdischen haben dort zahlreiche Waffen eingesetzt.«

»Ich weiß.«

»Außerdem haben sie Laserstrahlen auf drei unserer großen Radareinrichtungen abgefeuert«, sagte Marschall Schawirin, »und zwar leistungsfähigere, als wir je gesehen haben.«

»Schäden?«

»Die Radaranlage von Abalakowo ist zerstört. Die in Sari Schagan und Ljaki sind beschädigt, lassen sich aber wieder einsatzfähig machen. Das Radar in der Nähe von Moskau haben wir vorsichtshalber noch nicht aktiviert, weil wir befürchteten, daß es sonst das Feuer auf sich lenken würde.«

»Ich verstehe.« Sehr vernünftig. »Wir brauchen Informationen, aber nicht um den Preis. Jetzt sagen Sie mir, was Sie von den kleineren Schiffen wissen.«

»Sehr wenig. Wir haben zu den meisten unserer Radarstationen keine Verbindung mehr.«

»Sicher, aber Sie können doch sagen, was Sie in Erfahrung gebracht haben.«

»Die kleineren Raumschiffe haben sich verteilt. Die meisten befinden sich auf einer PolUmlaufbahn.«

»Versuchen Sie, sie aufzuspüren. Wenn sie in Reichweite der Ionenstrahlenwaffen geraten, schießen Sie. Halten Sie sich bereit, SS-20Raketen abzufeuern. Die Zündung muß vom Boden aus erfolgen. Inzwischen greifen Sie das große Raumschiff mit allen in Kamensk stationierten SS-18Waffen an.«

»Genosse Direktor, um diese Befehle auszuführen, brauche ich eine Ermächtigung des Vorsitzenden.«

»Genosse Marschall, der Vorsitzende hat mich angewiesen, diese Schlacht zu leiten. Wir haben keine Verbindung mit Moskau. Sie müssen Ihre Streitkräfte gegen die Außerirdischen einsetzen, vor allem gegen das große Mutterschiff. Wir müssen es unbedingt außer Gefecht setzen, wenn wir nicht wollen, daß es uns am Boden zerstört.«

»Genosse Direktor, es geht nicht!«

»Genosse Marschall, wir haben doch keine andere Wahl!«

»Wenn wir das Raumschiff angreifen, zerstören wir auch Kosmograd mitsamt allen, die da oben überlebt haben.«

Eine merkwürdige Regung für den Kommandanten der strategischen Raketenstreitkräfte. »Die Station ist bereits zerstört. Eventuell Überlebende können jetzt nicht mehr von Bedeutung sein.«

»Genosse Direktor«, meldete sich Oberst Suworow. »Ich habe den Vorsitzenden am Apparat.«

»Marschall, der Vorsitzende ruft gerade an. Bitte warten Sie!« Bondarew nahm den anderen Hörer.

Die belegte Stimme war nicht zu verkennen. »Bondarew, was sollen wir tun?«

»Das Raumschiff zerstören. Recht ist es mir zwar nicht, aber uns bleibt nichts anderes übrig.«

»Haben die Außerirdischen die USA angegriffen?«

»Genosse Vorsitzender, ich weiß es nicht.«

»Jedenfalls haben sie uns angegriffen«, sagte der Vorsitzende Petrowski. »Besteht Aussicht, daß wir sie besiegen? Was können wir überhaupt gegen das Raumschiff unternehmen?«

»Ich weiß nicht. Mit Sicherheit können wir es nicht in unseren Besitz bringen, sondern höchstens versuchen, es zu zerstören.«

»Gut. Versuchen Sie das! Wir werden inzwischen tun, was in unseren Kräften steht. Hier laufen Berichte von schweren Schäden in den Häfen ein. Der Eisenbahnknotenpunkt westlich Moskaus liegt in Trümmern wie auch BrestLitowsk.«

»Aber…« Bondarew sprach mit Entsetzen in der Stimme. »Die Deutschen…«

»Sicher. Vielleicht revoltieren sie, und die Polen gleich mit.« Die Stimme des Vorsitzenden wurde lauter. »Möglicherweise stehen alle WarschauerPakt Staaten gegen uns auf. Unsere Häfen und Eisenbahnknotenpunkte sind zerstört. Wir sehen uns möglicherweise einem neuen Bürgerkrieg gegenüber. Sollten die Vereinigten Staaten unbeschadet aus dieser Sache hervorgehen…«

»Genosse Vorsitzender, darüber weiß ich nichts. Ich weiß nur eins: das Raumschiff muß weg. Weisen Sie bitte Marschall Schawirin an, daß er meine Befehle befolgt, Raketen gegen das Raumschiff zu schicken.«

Eine lange Pause trat ein. »Wir müssen eine hinreichende Reserve behalten, um die Vereinigten Staaten an einem Angriff auf uns zu hindern, jetzt, da wir schwach sind«, sagte Petrowski.

»Dafür sorge ich«, sagte Bondarew. »Doch wenn wir nicht rasch handeln, haben wir gar keine Möglichkeit mehr, etwas zu tun.« So habe ich noch nie mit den Großen gesprochen, nicht einmal mit meinem Schwiegervater. Aber ich muß – »Genosse Vorsitzender, es ist keine Zeit zu verlieren!«

Eine weitere, lange Pause trat ein. Dann: »Einverstanden. Ich werde die Befehle geben. Aber – seien Sie vorsichtig, Pawel Alexandrowitsch! Seien Sie vorsichtig!«

11. Lichter am Himmel

Darum seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben.

MATTHÄUS 10, 16


Zeit: Eine Stunde nach der Stunde Null

Die Luft wurde beständig stickiger. Wes kam sich vor wie im Bauch eines Wals gefangen. Keuchend, hustend und gegen die nachgebende Wandung tretend und stoßend, hatte Giorge schließlich das Bewußtsein verloren. Der Sauerstoffvorrat in der großen Kugel war nicht für zwei Personen berechnet.

Es war schwierig, in einer solchen Situation gelassen zu bleiben, aber Wes bemühte sich: er atmete trotz des Hustenreizes langsam und gleichmäßig, schloß die Augen und machte sie rasch wieder auf: er mußte unbedingt die waffenstrotzende Großstadt am Himmel im Auge behalten, die auf ihn zukam! Fast wie ein Fötus zusammengekrümmt, entspannte er ganz bewußt seine Muskeln.

Der Ballon wurde von den riesigen Wesen weggeschleppt.

Hilflos wie ein Säugling fiel Wes auf das Raumschiff der Außerirdischen zu, das größer war als die Zwillingstürme des World Trade Center in New York. Im Näherkommen erkannte er Einzelheiten: eine große Schutzhülle auf einem Gelenkarm; schwarze Rechtecke, ein aus vielen blauen Kegeln zusammengesetzter Flammenstrahl. Die Luft war dick wie Suppe. Trocknendes Blut verstopfte ihm die Nase. Atme flach, paß gut auf, du darfst nichts verpassen… zwecklos. Seine Brust hob sich, ein Hustenanfall schien ihn zu zerreißen, alles verschwamm ihm vor den Augen.


* * *

Manches beeindruckte Arwid Rogatschow, und nicht vieles überraschte ihn. Ein Raumschiff so groß wie eine Stadt: natürlich, wenn die Außerirdischen damit einen Planeten zu erobern gedachten! Sie wirkten äußerst fremdartig. Der Angriff: warum nicht? Was auch immer sie sich vom Zusammentreffen mit der Menschheit versprachen, so war es für sie am sichersten.

Trotzdem war er wütend.

Wie sie wohl Gefangene behandeln würden? Aus der Geschichte war eine Vielzahl von Möglichkeiten bekannt… Würden die Angreifer die Erdenmenschen näher in Augenschein nehmen wollen? Die hatten keine Zeit gehabt, Haß auf ihren Feind zu entwickeln, noch nicht. Was ihnen lebend in die Hände fiel, würden sie wohl am Leben erhalten… es sei denn, sie waren von geradezu unvernünftiger Fremdenfeindlichkeit oder fanden das Aussehen der Erdbewohner von vornherein widerwärtig…

Vielleicht war ihnen ein gesunder Sowjetfunktionär lieber als eine durch schlagartigen Druck zerplatzte Leiche, die sich nicht in idealer Weise sezieren ließ?

Arwid schob diesen Gedanken beiseite. Wer lebte noch? Natürlich Dawson und Giorge. Auch Nikolai hatte eine Rettungsblase erreicht. Aljana? Der andere Amerikaner, Greeley?

Dem ersten Horrorwesen, wahrscheinlich ein Kundschafter, waren durch die geborstene Druckhülle von Kosmograd ein Dutzend weitere gefolgt. Sie hatten einen kurzen Blick auf die Raumfahrer geworfen und waren dann in andere Teile der zerstörten Station verschwunden. Die vier, die geblieben waren, hatten mit mehreren Feuerstößen den Riß noch vergrößert und beförderten jetzt die Blasen auf etwas zu, das wie eine endlose Metallwand aussah.

Arwid hätte sich das Heck des Raumschiffs gern gründlicher angesehen, vor allem den Antrieb; aber sie kamen von der Seite. Die Seitenwand wies dunkle Öffnungen mit dicht schließenden Türen auf. Luftschleusen oder Raketenabschußöffnungen? Dienten die ovalen Fenster zum Hinaussehen, oder wurden aus ihnen Laserstrahlen abgefeuert? Mit einemmal wurde ein feiner Strich aus blitzenden Punkten vor dem schwarzen Himmel sichtbar: Staubkörnchen, die einen Laserstrahl widerspiegelten? Offenbar in großer Ferne entstand ein neuer Stern und verging. Weit unten blitzten Lichter vor dem Nachthimmel der Erde auf. Irgend etwas breitete sich mit unglaublicher Helligkeit aus, und Arwid wandte den Kopf ab.

Eine Atomwaffe. Wessen? Und wie nahe war sie? Er versuchte, die in ihm aufsteigende Panik zu unterdrücken. Wie lange habe ich noch zu leben? Ich habe den Basilisken gesehen und lebe noch…

Weitere Lichter flammten in großer Entfernung auf, wohl nahe der Erde. Lichtstrahlen stießen durch den mit Staub und Abfall gefüllten Weltraum abwärts. Bondarew greift das Raumschiff an, und vielleicht Amerika auch. Noch nie hatte sich Arwid Rogatschow so hilflos gefühlt.

Inzwischen waren sie dem Raumschiff so nah, daß er Einzelheiten erkennen konnte. Nuten liefen an seiner Flanke entlang wie Eisenbahnschienen, aber mit weit größerem Abstand. Das konnten Halterungen für kleinere Raumschiffe sein… ›Kleiner‹ war natürlich relativ, sie mußten immer noch riesig sein, vielleicht waren sie so groß wie Kreuzer. Möglicherweise diente der Rumpf demselben Zweck wie das Flugdeck eines Flugzeugträgers. Oder…

Arwid kam mit seinen Vermutungen nicht weiter. Diese Art von Ratespiel war nichts für ihn – da mußte schon jemand teils Mechaniker und teils Stratege sein: ein Mechaniker mit Phantasie. Ob Nikolai oder Mitja noch lebten?

Etwas Rechteckiges am Raumschiff sah aus wie eine Pustel. Zu klein für eine Luftschleuse… Nein, doch nicht. Es war größer, als er gedacht hatte. Groß genug für die Weltraumwesen, wie er sah, als sich eins dagegenschob. Eine Vertiefung von der Größe eines Außerirdischen in einem Raumanzug. Eins der Wesen, die ihn gefangengenommen hatten, verschwand im Innern. Die Tür schloß sich.

Sie öffnete sich wieder. Weltraumwesen Nr. 2 schob Arwids Rettungsblase in die Schleuse. Sie stieß an die Seiten, paßte aber hinein. Die Außentür wurde geschlossen, die Blase sank allmählich in sich zusammen, und Arwids gequälte Ohren schienen zu platzen. Eine innere Tür öffnete sich. Einer der Außerirdischen zog die Blase in einen breiten Gang von rechteckigem Querschnitt, der sich vor ihm krümmte und in drei verschiedenen Grüntönen gestrichen war, wie zur Tarnung. Eine Art Teppichboden bedeckte beide Wände. Arwid wußte nicht – rotierte das Schiff, um Schwerkraft zu erzeugen, oder waren sie schwerelos?

Nachdem sie an vielen geschlossenen Türen vorbeigekommen waren, erreichten sie eine, die offen war. Sie wirkte massiv… wie ein Schott auf einem Kriegsschiff.

Das vordere Weltraumwesen blieb für einen Augenblick stehen, so daß Arwid zwischen den beiden eingekeilt war.

Sie handelten gleichzeitig. Eine Art Bajonett mit langem Griff schnitt die Überlebensblase auf, ein gegabelter Tentakel faßte herein und schloß sich um ihn. Arwid konnte nicht anders: er kreischte und schlug mit der Faust gegen das Visier des Wesens. Seine Faust schmerzte. Der Tentakel hob ihn wie einen Säugling aus der zusammengesunkenen Blase und schleuderte ihn in einen großen Raum. Ob die Gift atmen? Es drang bereits in seine Lunge!

Als er gegen die Wand schlug, blieb der Anprall aus, den er erwartet hatte. Die Wand war ebenso gepolstert wie Boden, Decke und Wände. Die Luft war feucht, roch gleichzeitig erdig und eigenartig, aber nicht so, als würde sie ihn umbringen.

Eine große, glasverkleidete Röhre ragte in einer Ecke des Raumes aus dem Polstermaterial hervor. Eine Kamera.

Die Weltraumwesen folgten ihm hinein. Arwid versuchte sich zu entspannen, als sie auf ihn zukamen. Einer hielt noch immer das Bajonett im Tentakel. Wollten sie ihn sezieren? Keinesfalls würde er noch einmal schreien.

Es fiel ihm schwer, nicht um sich zu schlagen. Einer der beiden hielt ihn fest – es fühlte sich an, als quetschten ihn Pythons zu Tode –, während der andere mit dem Bajonett seine Kleidung aufschlitzte: den Rücken hinab und an Armen und Beinen entlang. Sie entkleideten ihn vollständig, nahmen die zerschnittenen Kleidungsstücke und gingen vorsichtig rückwärts hinaus, als könnte er ihnen noch immer gefährlich werden.

Er war allein.

Aus seiner Angst wurde namenlose Wut.

Solange ihr mich für gefährlich haltet, bin ich harmlos. Aber irgendwann, in diesem oder im nächsten Jahr, wird eure Wachsamkeit nachlassen. Und bis dahin weiß ich mehr.


* * *

Wes hatte nichts von dem mitbekommen, was um ihn herum vor sich ging. Sein vom Sauerstoffmangel benebelter Geist erfaßte undeutlich außerirdische Wunder, während seine Lunge gegen die verbrauchte Luft ankämpfte… Von ihm nur zum Teil bewußt wahrgenommene Kräfte zerrten ihn durch eine Art Schranke, die ihn einquetschte, in atembare Luft. Während seine Lunge begierig die feuchte, kühle, süße, lebensspendende Luft einsog, fuhr ihm etwas Scharfes an Rumpf und Gliedmaßen entlang, und merkwürdige Hände schälten ihn wie eine Apfelsine.

Er war nackt. Er fiel. Flecken tanzten ihm vor den Augen.

Wo sind die anderen? Ist sonst niemand von uns übriggeblieben?

Andere Leiber waren zu sehen, alle unbekleidet. Rogatschow: weiße, schwarzbehaarte Haut, helle Augen, die ihn beobachteten. Giorge: schwarze Haut, fast haarlos, stumpfe Augen, die nichts sahen. Noch jemand fiel an ihm vorbei und prallte gegen die weiche Wand. Blasse Haut, eine bestürzend menschenunähnliche Gestalt… Beinstümpfe… Nikolai, auf seinem Unterleib große Narben. Muß es den erwischt haben!

Arwid Rogatschow und Nikolai sprachen auf russisch miteinander. Ihre Stimmen klangen geradezu unanständig gelassen.

Vier. Wo waren die anderen?

Giorge hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt. Sein Mund stand leicht offen. Wes packte ihn an der Schulter und drehte ihn herum, so daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. Die Augen des Schwarzen standen offen, schienen aber nichts zu erfassen. »Giorge? Jetzt ist alles in Ordnung, jedenfalls erst mal. Im Augenblick besteht keine Gefahr. Kannst du mich hören, Giorge?«

Er sagte ein Wort, wohl in seiner eigenen Sprache. Mehr brachte Wes nicht aus ihm heraus.

Er ist nahezu katatonisch. Wes konnte verstehen, daß seine Psyche dieser Verlockung nachgegeben hatte. Zwar war es einfach, sich in die fetale Position zusammenzurollen und die Augen zu schließen – aber nicht vernünftig.

Sie haben angegriffen. Ohne vorherige Warnung, wortlos. Großer Gott, Carlotta hat alles mit angesehen! Bestimmt hält sie mich für tot. Oder haben sie der Erde mitgeteilt, daß sie Gefangene gemacht haben?

Erneut öffnete sich die Tür. Dmitri Gruschin flog zwischen sie, fluchte lautstark mit erregter Stimme. Rogatschow blaffte ihm etwas entgegen. Vermutlich Befehle. Gruschin schloß die Augen und öffnete sie, dann verstummte er. Rogatschows Stimme wurde väterlich. Dmitri nickte.

Jetzt waren sie zu fünft. Sieben fehlten, darunter beide Frauen.

Arwid Rogatschow wandte sich um und sprach Wes auf englisch an. »Geht es Ihnen gut, Abgeordneter?«

Wes probierte, ob seine Kehle Töne hergab. »Dazu würde ich gern einen Arzt hören. Ich bin wie zerschlagen. Und Ihnen?«

»Ebenso. Wir wissen doch, was bei einem schlagartigen Druckverlust passiert. Wir werden es überleben, wenn auch mit geplatzten Venen im Gesicht und am ganzen Leibe…«

»Das wäre das Ende meiner politischen Karriere.«

Arwid lachte. »Präsident Reagan hat Makeup benutzt, und Nixon auch.«

»Wie tröstlich. Arwid, was geht hier vor sich? Ich hätte – ich habe mein Leben darauf verwettet, daß die Eroberung eines anderen Planeten durch den interstellaren Raum hindurch nicht kosteneffektiv ist. Sieht Ihnen das auch nach einem Krieg der Welten aus?«

»Dazu haben wir bisher zuwenig Informationen.«

»Ist sonst niemand von uns übriggeblieben?«

»Ich weiß nicht. Captain Greeley ist wohl tot. Dmitri hat beobachtet, wie ein Außerirdischer in Captain Greeleys Kabine gegangen ist, immerhin im Vakuum. Die Tür war zu eng für ihn, und während er sich durchquetschte, hat Greeley auf ihn gefeuert, wahrscheinlich aus seiner Rettungsblase heraus. Daraufhin haben die Außerirdischen die Kabine mit Explosivgeschossen bepflastert.«

Wes fiel nichts dazu ein als: »Das sieht ihm ähnlich.«

Ein Geräusch ertönte, fast unterhalb der Hörschwelle, als sei ein riesiger Gong angeschlagen worden. Wes sah eine Wand auf sich zukommen: er fiel! Er hielt schützend die Arme vor sich. Sie alle wurden gegen das Polstermaterial gepreßt… dann hörte der Schub auf, und sie trieben schwerelos.

»Na bitte, ganz wehrlos sind wir noch nicht«, sagte Arwid.

»Angriffssatelliten?«

»Wohl eher auf der Erde stationierte Strahlenwaffen. Die Außerirdischen werden es vor uns wissen. Zumindest sagt uns das, daß wir noch kämpfen können.«

»Wenn wir doch nur ein Fenster hätten«, sagte Wes.

Besser wäre eine übergroße Atombombe, dachte Arwid. Wünsche ich das wirklich? Auch mein Leben wäre dann zu Ende. Das wird noch früh genug kommen. Geduld.


* * *

Die B1B flog mit annähernder Schallgeschwindigkeit unmittelbar über den Baumwipfeln dahin. Eine Weile spähte Jenny aus den winzigen CockpitFenstern, aber es gab nur wenig Interessantes: Schatten huschten vorüber, von Zeit zu Zeit sah sie ein Licht. Der größte Teil der Vereinigten Staaten lag in Finsternis unter ihnen.

An Steuerbord blitzte es hell auf. Unwillkürlich schauderte es Jenny.

»Was ist?« fragte Jack. Er berührte ihre Hand und zog seine dann wieder fort. Sie nahm sie und hielt sie in beiden Händen fest.

»Das war schon wieder ein Donner«, sagte sie.

Sie hörte die künstlich gelassene Stimme aus Colorado Springs in ihren Kopfhörern. »Der Staudamm des Spring Lake in der Nähe von Peoria, Illinois«, sagte sie. »Die Mehrzahl der Dämme nördlich und westlich von dort ist getroffen. Flutwellen wandern die Flußläufe von Mississippi und Missouri entlang. Wir ordnen Evakuierung der betroffenen Gebiete an, werden damit aber zu spät kommen.«

»Sonst noch etwas?« Die Stimme des Präsidenten unterbrach den Sprecher der Luftstreitkräfte. »Schicken Sie Nationalgardisten mit Hubschraubern hin!«

»Sir, das versuchen wir, aber wir haben praktisch keine Verbindung. Die meisten Berichte, die ich Ihnen gebe, stammen aus unmittelbarer Beobachtung durch Piloten der Nationalgarde, die überall hinfliegen, wo sie einen Lichtblitz sehen.«

Auf diese Weise können wir eine Menge Piloten verlieren.

»Gibt es was Neues von den Russen?« wollte Jack wissen.

»Nein. Lediglich zahlreiche Schadensmeldungen«, sagte Jenny.

»Wir wissen also nicht mal, ob wir uns im Kriegszustand befinden?«

Sie lachte kurz auf. »Das schon, nur nicht, mit wem.«

»Könnten die Außerirdischen mit den Russen verbündet sein?«

»So recht kann ich mir das eigentlich nicht vorstellen«, sagte Jenny. »Wir hätten bestimmt gemerkt, wenn sie in Verbindung miteinander gestanden hätten. Irgendeinen Hinweis. Ich glaube…«

»Ja.« Er lehnte sich im Sitz des Bombenschützen zurück und schloß die Augen. Binnen Sekunden war er eingeschlafen.

Jenny schüttelte bewundernd den Kopf. Es gab für Jack Clybourne nichts zu tun, also ruhte er sich für den nächsten Auftrag aus. Das sollte der Präsident auch tun. Er hat nicht genug Informationen, um Entscheidungen zu treffen, nicht hier.

Wenn ich doch auch schlafen könnte.

Weitere Berichte liefen ein. Raketen waren gegen die kleineren Raumschiffe der Außerirdischen abgefeuert worden. Das große Raumschiff blieb hinter einer Abschirmung aus Störwellen, geladenen Teilchen und Düppel unauffindbar. Keine Bestätigung für Einschläge sowjetischer Raketen in den Vereinigten Staaten, keine Bestätigung über zerstörte Städte.

Jenny lehnte sich im Sitz des Elektronikschützen zurück und versuchte, die Augen zu schließen, aber die Versuchung, aus dem Fenster zu schauen, erwies sich als zu groß.

Der Bomber flog weiter, Kurs Colorado Springs.


* * *

Die Stufen vor dem Eingang der Bank waren kalt und feucht. Harry drückte sich möglichst nahe an das große Doppelportal und schaltete sein Transistorradio ein.

»In ganz Südkalifornien ist der Strom ausgefallen«, teilte der Ansager gerade sehr erregt, fast hysterisch mit. »Soeben gehen Berichte ein, denen zufolge die Sperrmauer des HooverStausees getroffen ist, vermutlich von Laserstrahlen!«

Die lange, blaue Flamme sank am Osthimmel. Harry setzte sich mit dem Rücken gegen einen der Türflügel. Was konnte er noch tun? Ein Auto oder ein Motorrad stehlen. In die Werkstatt einbrechen und sein eigenes Motorrad entwenden. Ach was, ich bin nicht mehr so schnell wie früher.

Er versuchte zu überlegen, wer ihm helfen konnte, aber wenn ihm jemand Glauben schenkte, würde er ihm entweder nicht von Nutzen sein oder bereits selbst etwas unternehmen. Nach einer Weile schloß er die Augen und dämmerte ein.

Er erwachte davon, daß sich jemand eine Stufe unter ihm niederließ. Das kleine, rundliche Männchen, das von der Anstrengung des Treppensteigens keuchte, fragte: »Darf ich?«

»Such dir den schönsten Platz aus«, sagte Harry mit einladender Handbewegung. »Weißt du was Neues?«

»Fernsehen gibt’s nicht mehr. Im Rundfunk sagt einer alle Naslang, daß alles ein großes Mißverständnis ist – ich frag mich, wieso ich dann nicht nach New York durchkomme.«

Und ich nicht nach Dighton in Kansas. Harry nickte. Der Rundliche fröstelte. Er hätte sich doch wärmer anziehen sollen.

»Ich muß immer an Krieg der Welten denken. Wer sind die, und was wollen die wohl?«

»Schlägt nicht in mein Fach«, sagte Harry und schloß die Augen erneut. Während er einschlummerte, war er dankbar für die kurze Zeit beim Militär. Da hatte er gelernt, zu jeder beliebigen Zeit zu schlafen. »Wofür halten sie sich selbst?« fragte Fistartihthaktan. »Vielleicht ist das noch wichtiger?«

Der Tag würde schlimm genug werden. »Eine interessante Frage«, sagte Rästapispmins leise.

Pastempihkeph dröhnte heraus: »Ich wünsche Antworten! Interessante Fragen habe ich genug. Rästapispmins, bringt sie alle her. Alle Gefangenen, hierher, sofort.«

Harry erwachte immer wieder und sah zum Himmel. »Da«, wies der Rundliche nach Süden. »Wie – was haben sie noch gesagt? Wie der Atombombentest in der Stratosphäre. Damals, in den Fünfzigern.« »Herr der Herde, ist das klug? Vielleicht sollten wir nur einen befragen. Ich möchte sie gern getrennt halten, während wir sie studieren.«

»Keine Ahnung, da war ich noch zu klein«, sagte Harry. Irgend etwas regte sich in seinem Gedächtnis. Hatte nicht damals die Zündung einer Atombombe in der Stratosphäre die Nachrichtenverbindungen auf der ganzen Welt zerstört, und hatte es nicht Monate gedauert, bis alles wieder im Lot war? Damals war das eine einzige Bombe gewesen… »Bringt sie her!«

Das Radio hatte nichts als Rauschen zu bieten, so sehr Harry den Tuner auch drehte. Manchmal bekam er Sender herein, aber so undeutlich, daß nichts zu verstehen war. Verdrossen suchte er weiter. »Wie Ihr befehlt, Herr der Herde.«

Im Norden, Süden und Westen stand eine Vielzahl leicht phosphoreszierender Flecken am Himmel. Da er sich im Osten allmählich rötete, konnte man nicht sagen, ob es auch dort zu Detonationen kam. Rästapispmins wartete. Das ist der Augenblick, falls es zu einer Kraftprobe kommt.

Krieg der Welten? In dem Film waren die Außerirdischen auf der Erde gelandet. Endlich bekam er einen Sender verständlich herein. Er hörte zu, erfuhr aber nicht viel Neues. Behördliche Durchsagen. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, bleiben Sie in den Häusern. Hysterisch kolportierten Ansager wilde Gerüchte. Gebrochene Staudämme, entgleiste Züge. Europa eine Wüste. Los Angeles war völlig unberührt davon, und vermutlichwußte der Ansager von keinem einzigen Verletzten. Nichts als Latrinenparolen. Es gab keine. Rästapispmins wandte sich dem Sprecher der Vermittlung an einer der Wände zu.

Als es hell wurde, bestand die Schlange vor der Bank aus zwölf Personen. Nur zwei hatten daran gedacht, Schlafsäcke mitzubringen. Ein Mann mit wettergegerbtem Gesicht war vollständig ausgerüstet: Rucksack, Schlafsack, Luftmatratze, aufblasbares Kissen, Campingkocher. Er richtete sich häuslich ein, machte Kaffee und schickte den Becher reihum. Er schien die Situation ebenso zu genießen wie die beiden Pfadfinder, die er bei sich hatte.

Sie sprachen leise miteinander. Eine Frauenstimme kreischte los, brach dann schlagartig ab. Harry döste. * * *

Andere Stimmen wurden hörbar. Harry sah sich um und erkannte zwei blaue Polizeiuniformen. Er zeigte seine leeren Hände, nahm betont langsam die Brieftasche aus dem Jackett und klappte sie auf. »Ich heiße Harry Reddington.« Er gab sich nicht die Mühe zu lächeln.

»Sir, was wollen Sie hier?« Gary und Melissa tollten durch die Zelle. Sie spielten auf eine komplizierte Weise Fangen, die unter normalen Schwerkraftbedingungen nicht möglich gewesen wäre.

Harry unterdrückte den Drang, zum Himmel zu zeigen und zu kichern. »Geld abheben.« Jeri Wilson lag auf der ›unteren‹ Wand und umklammerte ihre Knie. Sie wünschte, die Kinder würden aufhören, und war zugleich froh, daß sie beschäftigt waren. Ihnen ging es gut. Gefangen von Ungeheuern, weit von daheim, im endlosen freien Fall: Sie nahmen es gut auf.

»Der Notstand ist ausgerufen. Die Regierung hat angeordnet, daß alle Bürger in ihren Häusern bleiben sollen«, sagte der ältere der beiden. Hör auf, dir so leid zu tun! Zum Teufel, wenn Gary es erträgt, kannst du das doch bestimmt auch. Als nächstes fängst du noch an zu heulen. Jeri wandte den Kopf zur Seite. Nein. Ich will nicht, daß Melissa das hört.

»Klar«, gab Harry zurück. »Woher wollen die Jungs in Washington eigentlich wissen, wie man mit dieser Situation fertig wird? Aus Erfahrung?« Diesmal konnte er sein Grinsen nicht unterdrücken. John Woodward lag in ihrer Nähe. Er gibt sich Mühe, aber es geht wohl zu Ende mit ihm. Nur Carrie hält ihn noch am Leben.

»Sir…« Hätten wir doch wenigstens eine anständige Toilette! Wir sind es nicht gewohnt, uns vor aller Augen und Ohren an einem kleinen Teich zu erleichtern.

Der jüngere Beamte unterbrach seinen Kollegen. Sie flüsterten eine Weile miteinander. Harry nutzte die Gelegenheit, einen in einer Plastikhülle steckenden Brief herauszuholen. Er hielt ihn vor sich hin. Sie hörte das leise Summen, mit dem sich das Öffnen der Tür ankündigte. Die Kinder hörten sofort mit ihrem Spiel auf. Wie durch stillschweigende Übereinkunft befanden sich plötzlich alle Gefangenen gegenüber dem Eingang.

»Wenn Sie das mal anleuchten wollen«, sagte er. Tashajämp trat ein, gefolgt von einer Achtschaft bewaffneter Krieger.

Der ältere Beamte schob sich näher. Im Schein seiner Taschenlampe war das Briefpapier des Capitols deutlich zu erkennen. »Alle kommen!« wies sie die Gefangenen in der Sprache der Fithp an.

»… und ermächtige Mr. Harry Reddington, sich in meinem Hause aufzuhalten, meinen Besitz zu schützen und ganz allgemein meine Interessen zu wahren…« »Wohin?« wollte Wes Dawson wissen.

Hätten sie weitergelesen, wären sie bald an das unverbindliche Geschwafel gekommen, aber sie taten es nicht, und Harry seufzte im stillen erleichtert auf. »Nicht fragen, kommen.« Tashajämp wandte sich um. Offenbar erwartete sie, daß man ihr folgte.

»Ja, Sir?« sagte der Offizier. Diesmal klang das »Sir« aufrichtig. »Na schön«, sagte Jeri. Sie erhob sich und sagte zu Melissa: »Komm mit!«

»Ich hab Hunger, Mutti«, sagte Melissa vom Rücksitz.

»Iß von den Käsebroten«, antwortete Jeri.

»Die sind alle.«

»Großer Gott, das sollte eine ganze Weile vorhalten.«

»Es waren nicht besonders viele – was ist das?«

Am Himmel blitzten grüne und blaue Lichter auf, denen ein langer, roter Strich bis zur Erde herniederfolgte. »Ich weiß nicht«, sagte Jeri. Sie zitterte. Außerirdische. Die ganze Zeit haben sie da draußen gelauert, fünfzehn Jahre lang, und jetzt greifen sie uns an.

Einige in der Menge hinter ihnen murrten. Eine Stimme sagte: »Dämliche Bullen«, aber nicht besonders laut. Sie klang wie die eines gebildeten Mannes, keineswegs wie die eines Menschen, von dem man solche Ausdrücke erwartete.

Harry war versucht, die Situation auszunutzen, sagte aber statt dessen nur leise: »Ich halte gern für Sie oder ‘nen Angehörigen einen Platz frei.«

Der jüngere Polizeibeamte überlegte kurz und sagte dann: »Meine Frau Rosabell ist in einer Stunde da.«


* * *

Die Fernstraße 40 lag seit einer Stunde vollständig im Dunkeln. Gerade als Jeri versucht hatte, ein beleuchtetes Verkehrsschild zu lesen, war die Beleuchtung schlagartig erloschen. Im selben Augenblick war auch das Radio verstummt und gab nur noch Rauschen von sich. kamen herein. Einer von ihnen hatte keine Beine.

Durch ein tief eingeschnittenes Tal strebte sie über die ChuskaBerge im westlichen Neumexiko. »Die Russen an Bord. Arwid Rogatschow, Dmitri Dingskirchen, und den ohne Beine rufen die anderen immer nur Nikolai «, erläuterte Dawson.

»Wir müssen tanken.«

»Ich weiß. Gleich kommt Albuquerque. Da kriegen wir sicher Benzin.«

»Ich weiß nicht, Mutti«, sagte Melissa.

»Was?«

»Bist du sicher, daß wir jetzt in eine Stadt fahren sollen? Da wollen bestimmt viele abhauen, die Angst vor Außerirdischen haben, und es gibt Staus.«

»Vielleicht hast du recht.«

Im Licht ihrer Scheinwerfer reflektierte ein Schild.

»Da vorne gibt’s Benzin und was zu essen«, sagte Melissa.

Jeri suchte nach der Einfahrt. Da war sie. Alles war dunkel, dennoch fuhr sie auf die Zapfsäule zu. Sofern es in der Nähe eine Stadt gab, war nichts davon zu sehen.

»Da vorne ist jemand«, sagte Melissa. Jeri fuhr an die Säule.

»Sie wünschen, Ma’am?« ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. Der Tankwart knipste seine Taschenlampe an. Er war ein junger Mann, höchstens zwanzig.

»Äh – ich muß tanken.«

»Es gibt keinen Strom«, sagte der Tankwart. »Die Pumpen laufen nicht.«

»Ich hab’s aber noch weit und brauche wirklich dringend was. Können Sie da gar nichts machen?«

Er sah nachdenklich drein. »Ich hab ‘ne Handpumpe. Vielleicht könnte ich damit was in einen Kanister füllen. Es ist aber ein mühseliges Geschäft.«

»Bitte«, sagte Jeri. »Ich zahl es Ihnen gern.«

»Ob Geld jetzt noch was wert ist? Haben Sie die Nachrichten nicht gehört?«

»Doch…« Wenn du kein Geld willst, was dann?

»Wir werden uns schon einig.« Er ging hinein. Das Licht der Taschenlampe tanzte hinter den Fenstern.

Er macht eigentlich einen ganz netten Eindruck. Wovor hab ich bloß Angst? Sollte der Firnis der Zivilisation so dünn sein?

Irgendwo aus ihrem Inneren antwortete es: Ja!


* * *

Der Schein war durch die Ostfenster zu sehen. Im Fernseher flimmerte es weiß, aber das Radio berichtete von einer Explosion auf der Fernstraße 5 zwischen Everett und Marysville.

Ganz in der Nähe. Isadore stellte den Fernseher ab. Die Stimme des Ansagers überschlug sich. Das ist bestimmt der lange Fahrdamm, dachte Isadore. Wir haben es wohl gerade noch rechtzeitig geschafft…

Die Kinder schliefen. Vor einer Stunde war Vicki TateEvans davongewankt. Ihr Mann George schnarchte auf dem Sofa, Claras Füße lagen auf seinem Schoß. Sie kamen prächtig miteinander aus, jetzt, wo sie beide schliefen.

Isadore fühlte sich unruhig, als müsse er etwas tun. Krieg am Himmel… Gerade noch rechtzeitig! Clara hatte recht, weiter, nicht anhalten, irgend etwas könnte passieren. Hätten wir noch länger auf Jeri gewartet, wäre es zu spät gewesen.

Wo sie sein mag? Irgendwo auf der Straße, und ich kann nichts für sie tun.

Als wir in der Nacht angekommen sind, hätte es uns fast erwischt. Er mußte an die hellen Blitze auf der Straße hinter ihnen denken. Bestimmt war das der lange Fahrdamm. Nur eine Stunde später – verdammt knapp…

Zum Umfallen müde waren sie eingetroffen, und unheilvolles Schweigen hatte über den vor dem laufenden Fernseher Versammelten gelegen. Als das Bild ausblieb, waren alle hinausgegangen, um zum Himmel zu sehen.

Laut sagte er: »Verdammter Mist!«

»Ja«, bestätigte Shakes. Er kam mit einer Tasse Kaffee aus der Küche. »Hast recht gehabt.«

»Wir hatten recht«, lachte Isadore, für seinen eigenen Geschmack etwas zu schrill. »Siebzehn Jahre lang, zu einer Zeit, als es nicht malvernünftig aussah. Wir sollten die Läden vormachen. Wir hätten die Fenster zumauern sollen! Freiwillige?«

Niemand erhob sich, um die eisernen Klappläden vorzulegen. Shakes sagte: »Ich hätte nie gedacht, daß es tatsächlich mal soweit kommt.«

»Und was willst du dann hier?«

»Meine Familie macht hier Urlaub für dreißig Prozent dessen, was es sonst kosten würde. Ist für ‘n Ferienhaus doch verdammt günstig, geb ich gern zu. Aber wir haben ja auch was geleistet. Wir können hier alle überleben. Die meiste Arbeit haben meine Leute und ich schon getan. Warte nur, bis du den Schutzbunker siehst, Izzie.«

Mit einemmal saß Clara bolzengerade. »Lebensmittel. Wie steht es mit Vorräten?«

»Bestens«, sagte Shakes etwas verärgert.

»Gut. Ich könnte ein ganzes Pferd verdrücken. Ich mach jetzt Frühstück«, sagte Clara, erhob sich und ging auf unsicheren Beinen in die Küche. Dabei mußte sie einen Bogen um Jack und Harriet McCauley machen, die auf dem Teppich schliefen.


* * *

Um halb neun reichte die Schlange um die Ecke des Gebäudes. Die Polizisten waren zweimal abgelöst worden. Um zehn Uhr öffnete ein alter Mann in einer Portiersuniform die Tür. Die Schlange hinter Harry drängelte ungeduldig. Zwei Drängler schoben sich an ihm vorbei, bevor er loslassen und zur Kasse gehen konnte.

Die Bankangestellte sah nervös aus.

Wenigstens ist jemand da, dachte Harry. Er hatte sich schon Sorgen gemacht. Von den zwölf Schaltern waren nur vier besetzt.

»Ich möchte etwas abheben«, sagte Harry.

»Pro Auszahlung höchstens fünfhundert Dollar.« Die Bankangestellte sah zugleich trotzig und betrübt drein.

Die Banken an der Ostküste waren drei Stunden lang offen gewesen. Es war Harry gleichgültig, ob es einen Ansturm auf die Banken gab, interessant war, wie schlimm er war. Ihm gehörten nur achtundfünfzig Dollar. Er ließ sich sein Guthaben in kleinen Scheinen auszahlen und ging dann zu seinem Schließfach. Es enthielt einen mexikanischen GoldPeso und dreißig silberne ZehnCent Stücke. Nur wegen der symbolischen Zahl hatte er es fertiggebracht, die Silberlinge zu behalten. Hätte er auch nur einen davon ausgegeben, wären ihm die anderen alsbald gefolgt.

Er steckte sein Geld ein und verließ die Bank.

Wieder ertönte die Mahnung aus dem Radio: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

12. Der Überbringer der Botschaft

Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.

Auf, laßt uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, daß keiner des anderen Sprache verstehe!

I. BUCH MOSE 11, 6–7


Zeit: Sechs Stunden nach der Stunde Null

Der Herr der Herde Pastempihkeph bewohnte mit seiner Familie zwei Räume nahe der Mitte der Bote. Platz war knapp und kostbar. Der Schlafraum war nicht groß in Anbetracht dessen, daß zwei Erwachsene und drei Kinder ihn sich teilen mußten. Jetzt ging es etwas besser, denn der älteste Sohn befand sich an Bord eines der Grifflingsschiffe, die demnächst das Ziel ›Winterheim‹ angreifen würden.

Im noch kleineren privaten Schlammraum war man ungestört. Manche Gespräche durften die Kinder gern mithören, das hier aber war nicht für ihre Ohren bestimmt.

Pastempihkeph lag auf der Seite im Schlamm. »Die Sache ist wirklich interessant«, sagte er gelassen.

Seine Gefährtin K’tarfukeph wütete zuerst, sprach dann aber mit stiller Eindringlichkeit. »Hätten deine Wachen das gehört, würden sie denken, wir hätten den Verstand verloren – ganz wie dein Berater. Du mußt dich von ihm trennen, Keph!«

»Das geht nicht. Das macht die Sache ja so interessant. Die Schläfer hatten erwartet, als Herren des Schiffs aufzuwachen und sind daher nicht besonders friedlich. Wie du weißt, war Fathistihtalk früher ihr Herr der Herde. Sie werden nicht zulassen, daß ich ihn vollständig entmachte, nicht einmal wenn sie erfahren, daß er verrückt ist. Damit würden sie selbst zuviel Ansehen verlieren.«

K’tarfukeph sprengte warmes Wasser über den Rücken ihres Gefährten. Er räkelte sich voll Wonne, und hohe Wellen liefen zum Beckenrand. So nahe der Mitte des Schiffs war die Schwerkraft sehr gering.

»Was also kann man tun?« fragte sie.

»Wenig. Ich muß auf ihn hören, brauche aber seinem Rat nicht unbedingt zu folgen.« Der Herr der Herde überlegte. Der Krieg um Winterheim hatte endlich begonnen, und Zeit zum Entspannen fand er nur sehr selten. Es war ihm nicht recht, daß seine Gefährtin soviel von dieser Zeit beanspruchte. »Denk an etwas anderes, Mutter meiner Unsterblichkeit!«

»Keine Ausflüchte! Es dauert noch ein halbes Jahr bis zur Paarungszeit, und in unserem Alter bedarf es keiner beschwichtigenden Äußerungen mehr.«

Er besprengte sie von Kopf bis Fuß, so gründlich er konnte, bevor er wieder etwas sagte. »Deine Grifflinge haben das Problem erfaßt. Die Paarungszyklen für Schläfer und Raumgeborene sind gegeneinander verschoben. Dadurch wird aller Streit verschlimmert. Die Jahreszeiten auf Winterheim werden für beide Gruppen phasenverschoben sein. Sieh doch die Zusammenhänge. Die Schläfer haben nie etwas anderes gewollt, als eine neue Welt erobern, wir Raumgeborene hingegen haben mehr als achtmal acht Jahre im Weltraum verbracht. Unsere vorgeburtliche Erinnerung sagt uns, daß wir auch ohne Planeten überleben können. Wir wissen nichts von Welten. Die Abtrünnigen wollen Winterheim ganz und gar aufgeben.«

»Dann müßte man sie eben davon abbringen.«

»Das geht nicht, Keph«, sagte er und benutzte den Teil ihres Namens, den sie gemeinsam hatten – eine Anrede, die außer ihm niemand benutzen würde, »denn das könnte die Raumgeborenen spalten. Jeder vierte von uns dürfte zu den Abtrünnigen gehören – auch Fathistihtalk ist einer.«

»Tshaupintalk sollte besser auf ihn achten! Sie ist trächtig, das müßte ihm doch etwas bedeuten.«

»Manche Weiber haben nicht das Geschick, ihre Gefährten richtig zu lenken.«

War das Spott? Hatte sie ihn gekränkt? Sie besprengte ihn. Er schien eher belustigt als besänftigt. Wer so mächtig war wie der Herr der Herde, brauchte sich seiner Gefährtin gegenüber nicht durchzusetzen… Sie sagte: »So, wie die Lage ist, kann sie nicht bleiben.«

»Nein. Ich fürchte für Fathistihtalk, und ich mag seinen vorgesehenen Nachfolger nicht. Könntest du mit Tshaupintalk sprechen? Wird sie energisch genug sein, ihn zu beeinflussen?«

Sie wand sich unbehaglich, und Schlammwasser schlug Wellen. »Ich habe keine Ahnung.« Schläfer gehörten nicht zu ihrer Klasse, sie hatten miteinander nichts zu tun.

Ein Signalton wurde hörbar. Der Herr der Herde streckte sich und begann sich abzutrocknen. Es war Zeit, zu den Pflichten zurückzukehren.


* * *

Die Welt, die das Ziel ihrer Bemühungen war, trug in der Sprache der von ihnen als ›Vorlinge‹ bezeichneten Vorfahren bereits einen Namen.

Einst hatte die Gattung nomadisiert, und jetzt war die ziehende Herde wieder zum Nomadendasein zurückgekehrt. Doch zur Paarungszeit mußte sich auch ein Nomadentrupp irgendwo niederlassen, bis die Jungen zur Welt gekommen sind.

Dieser Ort sollte Winterheim sein.

Winterheim aber wehrte sich. Seine Beherrscher waren keine unbekannte Größe mehr. Trotz der Schäden und der Todesopfer war Pastempihkeph erleichtert.

Während der vielen Jahre des Herfluges vom mit Ringen umgebenen Planeten hatten sich die Beutewesen passiv verhalten. Der Herr der Herde und sein Berater sprachen miteinander darüber und überlegten: hatten die Erdbewohner das Raumschiff gesehen? Elektromagnetische Signale der ihnen bekannten Art drangen durch die Atmosphäre von Winterheim und wurden aufgezeichnet. Das meiste davon war unverständliches Gebrabbel. Einiges war recht wirr und zeigte Bilder riesiger Raumschiffe unrealistischer Konstruktion. Der Rest erwähnte mit keiner Silbe einwirkliches Sternenschiff, das sich näherte.

Unversehens dann empfing Thaktan Flishithy Botschaften, Aufforderungen zu antworten, Wörter, die von Frieden sprachen, bevor es Krieg gegeben hatte: erst wenige, dann mehr, schließlich ein unaufhörlicher Strom von Worten.

Was gab es da zu reden? Wie konnte man erwarten, daß sie verhandelten, bevor ihre Fähigkeiten auf die Probe gestellt worden waren? Doch die Beutewesen hatten weder Raketen noch Kriegsschiffe geschickt. Nichts als Botschaften.

Die Umerzieher überlegten. Ob die Beutewesen nicht wußten, wie man Krieg führt? Das lief allem zuwider, was der Herr der Herde von Evolution wußte. Doch selbst als der Angriff begann, unternahmen die Beutewesen nur wenig. Die auf einer Umlaufbahn befindlichen Satelliten verteidigten sich nicht, so daß die Hälfte von ihnen in der ersten halben Stunde außer Gefecht gesetzt war. Zum Kampf und Sterben bereite Krieger schwankten zwischen Erleichterung und auch Enttäuschung.

Doch besaßen die Bewohner Winterheims Waffen. Nicht viele, und sie setzten sie auch spät ein, aber… eine lange Narbe, geschmolzen und frisch zusammengefroren, zog sich an der Flanke der Bote entlang, quer über eine Tragfläche eines der TruppenLandeschiffe, GrifflingsschiffEinundvierzig. Es konnte möglicherweise noch im Weltraum operieren, aber die Erdatmosphäre würde es nie erreichen. Vier weitere Grifflingsschiffe waren im Weltraum zerstört worden.

Noch immer stiegen Raketen vom Planeten auf, und nach wie vor feuerten Strahlenwaffen und Raketen aus dem Weltraum. Einige Satelliten blieben auf der Erdumlaufbahn. Bote erbebte unter dem Aufprall eines Plasmastrahls und zitterte vom Rückstoß, als ein Geschoß dorthin abgefeuert wurde, woher der Strahl gekommen war.

O ja, das große Schiff hatte Schäden erlitten, aber sie waren unbedeutend. In gewisser Hinsicht war das sogar gut. Zumindest wußten die FithpKrieger jetzt, daß es einen Feind gab… wußten etwas über dessen Waffen wie auch über ihre eigene Kampfkraft. Überdies wußte der Herr der Herde jetzt, daß er sich auf die Schläfer verlassen konnte.

Insgeheim hatte er sich schon gefragt, ob diese Alten überhaupt kämpfen würden. Wie sich zeigte, schlugen sie sich sogar recht wacker. Ihrem Geburtsdatum nach mochten sie alt sein, acht bis sechzehn Jahre über die Geschlechtsreife hinaus waren sie gewesen und hatten das Schiff vier Jahre lang gesteuert, bevor ihre Körper eingefroren wurden. Sie kannten Gänge, Aufenthalts- und Lasträume im Schiff ebensogut wie die an Bord Geborenen.

»Erbitte Erlaubnis zum Bericht«, sagte der Herr des Angriffs Kuthfektilrasp.

»Nur zu!«

»Herr der Herde, ich glaube, wir haben alles von der Umlaufbahn beseitigt. Hinter Winterheim könnte sich noch etwas auf unserer Umlaufbahn bewegen. Wir müssen den Sektor im Auge behalten. Vier Raketen sind von Landmasse Drei aufgestiegen. Soll ich ihnen Bomben entgegenschicken?«

»Nein. Das wäre Verschwendung. Wir haben hier genug getan. Herr der Verteidigung, bringt uns fort, aus ihrer Reichweite.« Die meisten der Waffen, deren sich die Bewohner von Winterheim bedienten, dürften kaum die Umlaufbahn erreichen – als wären sie dazu gedacht, andere Teile des Planeten anzugreifen. Es genügte, die Abschußstelle zu kennen. Man konnte sie zerstören, unmittelbar bevor die Truppen landeten, um die eigentliche Kampfkraft der Beutewesen auf die Probe zu stellen.

Die Grifflingsschiffe konnten weniger bedeutende Ziele angreifen, bevor sie niedergingen: Staudämme und Straßen zerstören, alles, das aussah, als diene es der Verbindung oder der Energieerzeugung. Er hoffte, daß alles gutging. Die Achtschafthoch drei Krieger seines Sohnes und K’tarfukephs Sohn Fukertih würden zur ersten Angriffswelle gehören. Seine Mutter machte sich große Sorgen um ihn, obwohl ihr Stolz nie zuließe, daß sie das eingestünde…

»Befolgt den Plan, Herr der Verteidigung. Bringt uns auf einer Flugbahn im freien Fall hinter den großen, bunten Satelliten. Verbergt unser Schiff, Herr des Angriffs. Ich möchte, daß jedes Auge der Beutewesen auf dem Mond dort geblendet wird, bevor wir mit der zweiten Stufe unserer Beschleunigung beginnen.«

Der Herr der Herde wartete auf die Bestätigungen seiner Befehle und gebot dann: »UmerzieherZwei.«


* * *

UmerzieherZwei Takpassih hatte seinen Beruf bisher ohne festes Ziel ausgeübt. Man hatte ihn in jungen Jahren dazu ausersehen. Ließ man die Jahrzehnte unberücksichtigt, die er im Kälteschlaf verbracht hatte, wie auch die Schädigungen, die das hervorgerufen hatte, trat er erst in seine mittleren Jahre ein. Schon vor dem Aufbruch des Raumschiffs aus der Heimatwelt hatte er die Ausbildung für den Umgang mit anderen Wesen bekommen, doch war sie nahezu ausschließlich theoretischer Art gewesen.

Nahezu. Es hatte in der Heimatwelt eine weitere intelligente Gattung gegeben. Die Vorlinge waren schon ausgestorben, bevor Takpassihs Gattung ihr GreifAnhängsel und ein Großhirn entwickelt hatte. Sie gehörten nicht zu Takpassihs Aufgabengebiet, sondern zu dem Fistartihthaktans, Priester und Kenner der Geschichte.

Fistartihthaktan war ein Schläfer. Seit seinem Erwachen war er noch steifer und förmlicher geworden als zuvor, zog sich noch mehr in sich zurück. Seine im Weltraum geborenen Gehilfen sprachen mit niemandem außer ihm. Seine Kenntnis des Thaktanthp würde hier von Wert sein. Vielleicht konnte ihn UmerzieherEins Rästapispmins – mit der Autorität eines Raumgeborenen und dem ihm eigenen Takt – aus der Reserve locken…

Die Schläfer kannten das Leben auf Planeten mit ihrem Stammhirn, ihrem Rückenmark und bis in die Körperzellen hinein. Sie wußten, wie Planeten beschaffen waren. Die Raumgeborenen konnten nur Vermutungen anstellen. Und dennoch – es ging um mehr als diese künstliche Teilung in der Ziehenden Herde. Die Schläfer würden einer nach dem anderen sterben, die Ziehende Herde würde wieder eine Fithp sein. Dazu brauchte sie das von Fistartihthaktan angehäufte Wissen, das Wissen jener älteren und ihnen fremd gewordenen Gattung.

Vor dem Empfang der ersten von den Beutewesen ausgeschickten Bilder hatten sie endlos über die Frage debattiert. Würden die Eingeborenen von Winterheim den Vorlingen ähneln? Oder der Fithp?

Wohl keins von beiden.

UmerzieherZwei beobachtete die gefangenen Erdlinge durch eine nur in einer Richtung durchsichtige Scheibe, während sich sein Helfer und zwei Soldaten an den ihnen abgenommenen Gegenständen zu schaffen machten. »Sie sehen nicht besonders widerstandsfähig aus«, sagte er.

Das Schiff erbebte.

»Schon wieder ein Treffer«, sagte einer der Soldaten. »Möglich, daß sie nicht viel vertragen, aber sie wehren sich.«

»Ja, sie kämpfen. Einige waren schon tot, und andere haben sich ergeben«, sagte der Achtschaftführer. »Doch obwohl ihre Lage unhaltbar war, hat eins eine Waffe durch sein Lebensbewahrungssystem hindurch abgefeuert und zwei meiner Krieger getötet! Es hat sich selbst getötet, um töten zu können…«

»Eure Erklärung?«

»Vergißt du deine Stellung?«

»Verzeiht. Soll ich darum bitten, daß Eure Vorgesetzten Euch danach fragen? Soll ich den Herrn der Herde rufen und ihn bitten, daß er Euch den Auftrag gibt, meine Fragen zu beantworten?«

»Ich… ich habe keine Erklärung, Umerzieher. Das ist dein Thaktan, deine Aufgabe. Jedenfalls wäre sich ergeben einfach gewesen.«

»Habt ihr eine Theorie, Achtschaftführer?«

»Vielleicht hat es sich im Kampfrausch befunden. Oder war es krank? Lag ohnehin im Sterben? So etwas kommt vor.« Seine Grifflinge verschlangen sich ineinander öffneten sich, immer wieder, ein Zeichen der Ratlosigkeit.

So etwas kommt vor. Unsinn! Die Raumgeborenen wissen nur, was sie gelesen und studiert haben, und trotzdem – Diese Gedanken führten zu nichts. »Du warst an Bord des zerstörten RaumHabitats «, wandte sich Takpassih an ihn. »Ich möchte dir Fragen stellen.«

»Fragt, Umerzieher.«

Takpassih wußte noch nicht, wie man geschickt fragt. »Was haben wir genommen, Achtschaftführer… Prethitih?«

»Prethitihdämb… Herr. Wir haben ziemlich viel herausgeholt, hier war nicht genug Platz für alles.«

Die Stimmen der Fremden aus dem Arrestraum bildeten einen gedämpften Hintergrund. Takpassih hörte mit halbem Ohr zu, während er die Beute durchging, die Prethitihdämbs Leute an den Wänden gestapelt hatten. Fünfzehn Jahre lang hatte er die Sprache der Fremden gelernt, die mit Radiowellen den Weg von Winterheim zum vom Ringen umgebenen Riesen überbrückten. Bisweilen hatte es auch Bilder gegeben. Merkwürdige Bilder von einer Herde, die es eigentlich gar nicht geben konnte. Kisten, die auf zwei Beinen tanzten. Zweibeinige Lebewesen, deren Gestalt sich änderte. Ströme sehr ähnlicher Bilder folgten in Abständen von Sekundenbruchteilen aufeinander. Gegensätze: Städte mit hohen Gebäuden und Maschinen, Städte aus strohgedeckten Lehmhütten.

Der Empfang war scheußlich schlecht, und manches von dem, was sich auflösen ließ, ergab keinen Sinn. Solche Informationen waren verdächtig, waren womöglich gefälscht. Man verließ sich besser auf das, was man aus erster Hand erfuhr.

Eins aber hob sich deutlich ab. Die meisten Sendungen waren in einer bestimmten Sprache abgefaßt. Takpassih hörte diese Sprache jetzt, aber noch eine andere.

Die Gefangenen gehörten zwei oder mehr Herden an. Im Augenblick spielte das kaum eine Rolle, aber später würde es wichtig werden. Es würde die Aufgabe noch wichtiger machen, die schon jetzt die Aufnahmefähigkeit eines Fi’ stark beanspruchte.

Große Metallbehälter waren mit kleinen Päckchen angefüllt, von denen jedes die krakelige Aufschrift trug: IN GEFRORENEM ZUSTAND AUFGEFUNDEN. Stapel von Kleidungsstükken, die zu dünn waren, um als Rüstung zu dienen: Kälteschutz? Merkwürdig aussehende Maschinen hatte man mit Aufschriften versehen:

AUS DEM LEBENSMITTELZUBEREITUNGS BEREICH (?)

RECHENGERÄT(?)

TEIL DES ABFALLAUFBEREITUNGS SYSTEMS.

PROJEKTILE ABFEUERNDE WAFFE.

Vom Unterdruck aufgeblähte Leichen waren in eine große Druckhülle gezwängt worden, auf dem Weg zum Schiff waren sie halb gefroren und klebten jetzt aneinander. UmerzieherZwei Takpassih riß die Hülle auf und ließ, indem er ein Unwohlsein in seinem Verdauungstrakt unterdrückte, seine Augen auf einem fremdartigen Kopf ruhen. Den zugehörigen Rumpf hatten Geschosse halb zerfetzt. Takpassih bemerkte um einen mit abscheulich aussehenden Zähnen gefüllten Mund und eine aus ihm heraushängende, von Muskeln bewegte Klappe angeordnete Sinnesorgane. Zwei vorstehende, verletzbar wirkende Augen. Die Nase war ein völlig nutzloser Höcker, die nebeneinander angeordneten Nüstern hätten ebensogut flach auf dem Gesicht liegen können. Aber das Bild war vertraut, so ungewöhnlich waren sie nicht. Beidseitige Symmetrie… Er griff nach einem angetauten Vorderlauf und fand fünf mit Knochen verstärkte Greifglieder. Die Fremden benutzten diese weiterentwickelten Vorderläufe zur Herstellung und zum Gebrauch von Werkzeugen. Und dieser löchrige Höcker diente ihnen sicher zu nichts anderem als zum Riechen. All das war den Fithp von Bildern her bekannt – aber hier in der Wirklichkeit war es anders.

Die Waffe: winzig, ein kleiner, gebogener Griff. Konnte dieser stark zweckentfremdete Fuß sie tatsächlich ruhig halten und damit zielen?

»Ist das die Waffe, die es benutzt hat?«

»Ja, UmerzieherZwei. Sie hat Krieger getötet.«

»Danke.« Takpassih bewegte die Grifflinge an einem der fremdartigen Vorderläufe und überlegte, wieso sich der eine quer über die ebene Fläche hinter die anderen vier legen ließ. Und sie alle bogen sich nach innen…

Er vergeudete seine Zeit. »Als erstes müssen wir feststellen, wovon sie sich ernähren. Bestimmt brauchen sie Wasser, denn innen sind sie ziemlich naß. Dann Autopsien. Sehen wir mal nach, was in ihnen drin ist. Prethitihdämb, hast du die Dinger in Druckbehälter getan, nachdem sie dem Unterdruck ausgesetzt waren?«

»Umerzieher, sie mußten während eines Angriffs auf jeden Fall Schaden erleiden. Ihr hättet mitkommen und sie bewachen können.«

Takpassih war gekränkt. »Die Annahme ist falsch. Der Herr der Herde hat mir die Erlaubnis verweigert.« Weil er zu wertvoll war oder weil man einem Schläfer nicht trauen durfte: wer konnte das wissen?

Erneut warf er durch das Sichtglas einen Blick auf die Gefangenen. »Wir haben beobachtet, wie ihre Schiffe gestartet sind. Sie benutzen Wasserstoff und Sauerstoff, energiereich und schwer handhabbar, aber immerhin chemische Brennstoffe. Der materielle Aufwand dafür muß unermeßlich sein. Vermutlich gehören diese Gefangenen zu ihren besten Leuten; sonst wären sie die Kosten nicht wert, die es den WinterheimBewohnern verursacht, sie hier heraufzubringen.«

Seine Gehilfin ließ zustimmend ihre Ohren zucken. »Zuerst müssen wir ihnen unsere Sprache beibringen und sie zu Lehrern späterer Gefangener ausbilden.«

»Das sagst du so leicht dahin, Tashajämp. Es wird schwer sein. Vielleicht ist es unmöglich, wenn wir bedenken, daß der größte Teil unserer Gruppe beim Militäreinsatz verwendet wird.« UmerzieherZwei wandte sich den aufgestapelten Kleidungsstücken aus der Raumstation zu, dann den von den Gefangenen heruntergeschnittenen. Sie waren seltsam gebogen, hatten Verschlüsse an merkwürdigen Stellen. Vorgesehen für eine unregelmäßige Gestalt. Die versteiften Becher für die Hinterläufe waren dicker und gepolstert. Takpassih fand nichts, das die zerbrechlich wirkenden Greifglieder an den Vorderläufen schützen konnte.

»Prethitihdämb, hast du das Gerümpel hier nach Waffen durchsucht?«

»Ja. Es waren aber keine dabei, nicht einmal eine Keule.«

»Und die Gefangenen waren alle mit Tuch bedeckt, nicht wahr?«

»So ist es. Die Kadaver übrigens auch.«

»Es dient nicht als Rangabzeichen und enthält keine persönlichen Waffen. Sie befanden sich in einem RaumHabitat, dessen Temperatur sie regulieren konnten. Sollten sie so anfällig sein? Ich glaube, wir geben ihnen besser Tuch, damit sie ihre Haut bedecken können.« Er sah erneut in den ausgepolsterten Raum.

Konnte das Tuch zur Feuchtigkeitsregulierung dienen? Wenn sie nicht genug Feuchtigkeit ausdünsteten, um es angenehm zu haben… nun das ließ sich feststellen.

Der Instinkt riet ihm hinzuzufügen: »Und nimm den Kadavern das Tuch ab, Tashajämp. Fang mit dem hier an.«

»Der Herr der Herde für dich, UmerzieherZwei.«

Takpassih nahm den Anruf entgegen. Der Herr der Herde sah angegriffen aus und schien zu denen zu gehören, die unangenehm werden, wenn sie erschöpft sind. »Zeig sie mir, Umerzieher Zwei.«

Takpassih schwenkte die Kamera zur Einwegverglasung in der Wand hin. Der Herr der Herde schwieg zwei oder drei Atemzüge lang und sagte dann: »Und das soll in die Ziehende Herde eingegliedert werden? Ich neide dir deine Aufgabe nicht, UmerzieherZwei. Was hast du bisher erfahren?«

»Ihre Haut ist empfindlich. Sie brauchen Tuch zu ihrem Schutz.«

»Werden sie überleben?«

»Einer scheint dem Tode nahe… und es ist nicht der Beinlose. Er scheint sogar ziemlich aktiv zu sein. Bei den anderen müssen wir einfach aufpassen. Wir haben ihre Lebensmittelvorräte, darauf haben die Krieger geachtet, aber wir müssen das alles noch identifizieren.«

»Wie bald kann ich damit rechnen?«

»Wenn ich es Euch sage. Ihr habt die Geräusche gehört, die sie machen. Sie werden nie gut sprechen lernen. Noch etwas: Diese Wesen sind hier nicht repräsentativ vertreten. Vielleicht ist das gut, und sie sind lernfähiger als ihre schmutzfüßigen Vettern.« Takpassih warf einen Blick auf den kleinsten der halbgefrorenen entkleideten Kadaver. Hervorgetretene Augen, der Mund weit offen, Entsetzen auf dem Gesicht. Der geschützte Bereich zwischen den Beinen…

Er hatte richtig geraten. Eine seltsame Stelle für die Genitalien. Er versuchte sich auszumalen, wie sie einander begatten mochten. Das hier war ein Weibchen, das Gesäuge bestätigte ihm das. »Die Überlebenden sind lauter erwachsene Männchen. Um gesichertes Wissen über diese WinterheimEingeborenen zu erlangen, müssen wir sie näher untersuchen – Weibchen, Junge, Krüppel, geistig Kranke sowie Durchschnittliche.«

»Tu, was du kannst, UmerzieherZwei. Wir können dir in den nächsten Tagen keine weiteren Gefangenen liefern – es sei denn, du möchtest selbst mit den Grifflingsschiffen nach Winterheim.«

Takpassihs Ohren legten sich flach an den Kopf. Man hielt ihn für einen Feigling? »Befehlt, und ich gehorche, Herr der Herde.«

»Ich habe es nicht ernst gemeint, und auch dir ist es nicht ernst. Du wirst hier gebraucht.«

»Eine Achtschafthoch zwei wird gebraucht! Aber Ihr habt alle bis auf drei für die Grifflingsschiffe abkommandiert und erwartet…«

»Sie müssen der Schlacht nahe sein, um unsere Krieger über die Eigenarten der Beutewesen zu informieren und um zu lernen. Tu was du zu tun hast!« Das Gesicht des Herrn der Herde verschwand vom Bildschirm.

Die Gefangenen waren nicht sehr lebhaft. Der eine, der die ihnen bekannte Sprache sprach, durchforschte auf allen vieren den Absonderungspferch. Die übrigen unterhielten sich in ihrem eigenen Kauderwelsch. Vermutlich stammten sie von der Landmasse Eins, der größten zusammenhängenden Landfläche des Planeten, und gehörten nicht zu der Herde, die so freimütig Funksignale durch den Weltraum schickte… alle bis auf den, der jetzt durch den Raum kroch und möglicherweise den Dunkelhäutigen, der fast tot schien.

Litt der Dunkle an einer Krankheit, einem tödlich verlaufenden Hautleiden? War es für die anderen ansteckend? Dann wären die Umerzieher wieder ohne Aufgabe. Eine neue Sorge.

Takpassih argwöhnte, daß UmerzieherEins Rästapispmins über die Gegensprechanlage mithörte. Sie würden später miteinander reden. Bis dahin – »Prethitihdämb, Achtung.« Takpassih wies durch die EinwegSichtöffnung in der Wand. »Der da. Er redet jetzt. Siehst du, wie sich sein Mund bewegt?«

»Ich sehe es.«

»Nimm eine Achtschaft und hol ihn her!«

»UmerzieherZwei, ich würde es selbst tun, nur hätte ich Sorge, ihn aus Versehen zu zerdrücken.«

»Nimm deine Achtschaft.« Takpassih sah keine Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen. Bei unbekannten Wesen war Vorsicht nie falsch. Auf jeden Fall würde eine Machtdemonstration die Fremdlinge beeindrucken.

Sie sahen in der Tat äußerst zerbrechlich aus. Das versetzte ihn in Unruhe.

So durfte er nicht denken. Er war UmerzieherZwei, und diese fremden Wesen boten die einzige Berufsaussicht, die es für ihn geben konnte. Wir müssen einander gut kennenlernen. Ohne euch bin ich nichts.


* * *

Die quadratische Tür maß etwa drei mal drei Meter und war gepolstert. Als Wes mit den Fäusten dagegen schlug, hallte es eigentümlich. Es klang nicht wie Metall. Ausgeschäumtes Metall? Sie war so dick wie eine Geldschranktür. Halten die uns eigentlich für Monster? Die Tür öffnete sich nach innen, soviel wußte er noch, aber Bänder oder Scharniere waren nicht zu sehen und auch keine Klinke. Vielleicht hatten sie die Zelle vorbereitet, bevor sie wußten, wie Menschen aussahen. Vielleicht war sie für Rechtsbrecher aus den eigenen Reihen oder für geistesgestörte Außerirdische gebaut.

Man würde es sehen. Mit Muskelkraft kommen wir hier nicht raus.

RUCK Die Tür fuhr nach innen, und Wes sprang rasch beiseite.

Zuerst sah man blaßbräunliche Tentakeln, die ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett umklammerten. Ein Weltraumwesen kam herein, spähte vorsichtig um sich, hielt den Blick auf die in Schwerelosigkeit treibenden Raumfahrer gerichtet. Es sah aus wie – Wes mußte unwillkürlich grinsen. Das Wesen würde nicht wissen, was das Grinsen zu bedeuten hatte, und so gab er sich keine Mühe, es zu verbergen.

Wie ein Zwergelefant! Was er als Tentakeln angesehen hatte, war eine Art Rüssel, der sich auf etwa halbem Wege zwischen oben und unten teilte. An der Verzweigungsstelle saß eine Nüster, und kurz vor dem Ende teilte sich der Rüssel noch zweimal, so daß die Wesen über acht Greifglieder verfügten. Es paßte zu Wes’ bisherigen Beobachtungen: sie be›griffen‹ die Welt im Achtersystem.

Der Rumpf war mit etwas wie einem Geschirr aus Lederstreifen bedeckt, zwischen den Beinen befand sich eine Stoffklappe, und hinter dem Kopf eine Art Tasche.

Wes stieß an die der Tür gegenüberliegende Wand und vermochte den Aufprall zum größten Teil abzufangen.

Ein weiterer ›Zwergelefant‹ kam herein, ähnlich gekleidet, ähnlich bewaffnet. Die beiden bezogen links und rechts vom Eingang Posten und hielten sich mit Hilfe ihrer Krallen mühelos in dem dicken Polstermaterial. Ihre Waffen waren auf das Innere des Raumes gerichtet, auf niemanden speziell, aber feuerbereit. Ein dritter trat jetzt unbewaffnet in die Tür.

Giorge gab Lebenszeichen von sich und sah sich mit stieren Augen um, stieß mit schwachen Bewegungen in die Luft. Arwid zog den Schwarzen hinter sich. Der Rückstoß trieb ihn in das erste Weltraumwesen hinein. Es wich geschickt mit der Waffe aus, bevor sich Rogatschow selbst aufspießen konnte, dann stieß es ihn mit dem Kolben von sich. Die Bewegung wirkte durchaus behutsam.

Das Wesen, das in der Tür stand, zog Dawsons Aufmerksamkeit auf sich. Sein Geschirr war rot gefärbt und die Tasche auf seinem Rücken grün und golden gemustert. Die Krallen an seinen Füßen wirkten, von der Größe abgesehen, in keiner Weise elefantenähnlich, und der Schwanz war flach wie ein Paddel. Es hatte einen großen Kopf mit ausdrucksvollen Gesichtszügen. Muskelstränge, die dem Hauptrüssel entlang verliefen, lenkten die Aufmerksamkeit auf die orangengroßen Augen, deren Iris von Grau umgeben war. Sie sahen unverwandt auf Wes Dawson.

Das Wesen stieß sich langsam in die Zelle.

Es kam auf ihn zu. Wes wartete. Ein Fluchtversuch war sinnlos.

Der Sprung war geschickt ausgeführt. Mit den Füßen voran landete das Wesen an der Wand, unmittelbar neben Wes. Es wickelte seinen Rüssel um Wes’ Rumpf (zwei der acht Verästelungen hielten ihn am Nacken gepackt), sprang zurück, schob ihn durch die Tür vor sich her (ein viertes Weltraumwesen war beiseite getreten) und berührte den Türrahmen kaum, als es ihm folgte. Zweifellos hätte es Wes an der Gangwand zermalmt, wenn es sich nicht mit seinen Krallen am Türfutter gehalten hätte.

Wes hatte den Eindruck, gewürgt zu werden. Er zerrte an den Schlingen um seinen Hals, schlug dann dreimal mit der flachen Hand auf die Stelle, an der sich der Rüssel verzweigte. Würde das Wesen ihn verstehen? Ja: die Umschlingung lockerte sich.

Fünf weitere Weltraumwesen warteten auf dem Gang. Drei bewegten sich nach links, wie auch das Wesen, das Wes gepackt hielt. Die anderen folgten ihnen. Die scheinen uns ja für ziemlich wichtig zu halten. Vielleicht meinen sie, daß wir sehr stark sind. Möglicherweise setzen wir ihnen ja tatsächlich zu. Es kann aber auch sein… wie viele sind es eigentlich, daß sie acht solche Ungeheuer abstellen können, um einen einzigen schwachen Mann wegzuschleppen?

Wohin die mich wohl bringen?

In einen Sezierraum? Angesichts der Übermacht war Gegenwehr zwecklos.


* * *

Sie trieben den spiralig gewundenen Gang entlang. Ein Klang wie von einem Widderhorn hallte durch das Raumschiff. Dawsons Wächter drückten sich rasch an eine der Gangwände und krallten sich in der dicken Polsterung fest.

Was war das? Eine Warnung? Es machte nichts, daß sich Wes nirgendwo festhalten konnte – die Greifglieder hielten ihn eisern gepackt.

In der Luft vibrierte Überschallsummen. Was Wand gewesen war, wurde jetzt zum Fußboden. Nach wenigen Augenblicken schienen sich die Zwergelefanten an die veränderte Lage gewöhnt zu haben und lockerten ihren Griff. Sie gingen wieder den Gang entlang, eng um Wes geschart, ließen ihn aber nun selbst gehen.

Sie sahen ihn mit unverhohlener Neugierde an. Was sie wohl von ihm dachten?

Sie schoben ihn durch eine große Tür am Ende des Gangs. Einer folgte, die anderen warteten draußen.

Ein einzelnes Weltraumwesen saß an einem Tisch mit schräggestellter Platte, wie an einem Zeichenbrett. Es sah ihn an.

Dawson richtete den Blick fest auf das Geschöpf.

»Ich bin der Abgeordnete Wesley Dawson und vertrete die Vereinigten Staaten von Nordamerika.«

»Ich heiße Takpassih.«

Großer Gott, die sprechen ja Englisch! »Warum hat man mich auf diese Weise behandelt?«

»Ich verstehe nicht.«

Die Stimme des Geschöpfs klang tonlos, war voller Zischlaute und verriet keinerlei Bewegung. Ein undichter Luftballon hätte ebenso sprechen können.

»Ihr habt uns ohne Warnung angegriffen! Ihr habt unsere Frauen umgebracht!« Endlich konnte er protestieren, seinen Schmerzen Luft machen! Wes beugte sich über den schräggestellten Tisch, und seine Stimme überschlug sich. »Das war äußerst unpassend! Wir haben euch willkommen geheißen, sind euch eigens zur Begrüßung entgegengeflogen. Es gab keinen Anlaß zu feindseligen Handlungen.«

»Ich verstehe nicht alles, was du sagst. Sprich langsam und deutlich.«

Es war wie eine Ohrfeige. Wes hielt inne, begann dann erneut, artikulierte gepreßt Wort für Wort. »Wir wollten euch willkommen heißen, die Besucher von einem anderen Stern begrüßen. Wir wollten Freunde sein.«

Das Raumwesen sah Wes durchdringend an. »Du wirst lernen, mit uns zu sprechen.«

»Sicher. Gewiß.« Jetzt wird alles gut! Ein Mißverständnis, was sonst? Wenn ich lerne, mit ihnen zu sprechen – »Unsere Angehörigen machen sich Sorgen um uns. Habt ihr der Erde mitgeteilt, daß wir leben?«

»Ich verstehe nicht.«

»Sprecht ihr mit der Erde? Mit unserem Planeten?«

»Aha. Unser Wort für Erde ist…« Ein merkwürdiger Laut, kurz und zischend. »Wie sollen wir euren Familien sagen, daß ihr lebt?«

»Warum hält man uns gefangen?« Das hat er nicht verstanden. Vielleicht ist es zu abstrakt für ihn. »Die Tür zu unserem Raum. Laßt sie offen.«

Das Weltraumwesen sah erst auf Wes, dann zu einem Objektiv in der Wand. Schließlich ließ es den Blick wieder auf Wes ruhen und sagte: »Wir haben Tuch für euch. Wollt ihr das?«

Tuch? Seine Nacktheit kam Wes zu Bewußtsein. »Ja. Wir brauchen Kleidung. Etwas, um uns zu bedecken.«

»Das werdet ihr bekommen, auch Wasser.«

»Essen«, sagte Dawson.

»Ja. Essen.« Das Weltraumwesen machte Bewegungen mit seinem Rüssel. Einer der anderen hatte Behälter aus einem anderen Abteil herübergebracht.

Kleidung. Konserven. Sauerstoffflaschen. Eine Sprühdose mit Deodorant. Wem das wohl gehören mag? Seife.

Wes wies auf das, was er für eßbar hielt. Dann nahm er eine Dose mit Schinken und erklärte mit Gesten, wie man sie öffnete, um klarzumachen, daß er einen Dosenöffner brauchte.

Eins der Weltraumwesen zog ein Bajonett und schnitt einfach das Oberteil der Dose ab – vier Greifglieder für die Dose, vier für das Bajonett. Es gab Wes die Dose.

Teufel, haben die Kräfte! Hochentwickelte Metalle… aber das war zu erwarten. Man stellt ja ein interstellares Raumschiff nicht aus Gußeisen her. Wie geht’s jetzt weiter?

»Eßt ihr das?« fragte das Weltraumwesen hinter dem Zeichentisch.

»Ja.«

Das Wesen hob die Ohren, wie auch das andere, das die Pakete gebracht hatte. Was das wohl bedeutet? Sind sie Pflanzenfresser? Ekelt es sie?

Das Weltraumwesen sagte etwas Unverständliches und ein anderes brachte einen großen Bogen Wachspapier oder dergleichen. Es nahm den Schinken aus der Dose, wickelte ihn ein, gab ihn Wes und nahm die leere Dose mit.

»Ihr habt uns angegriffen. Dazu gab es keinen Anlaß.«

»Doch. Euer Volk ist stark«, sagte der Zwergelefant.

Eine flache Bildwand leuchtete auf und zeigte ein weiteres Weltraumwesen. Eine Stimme wurde hörbar. Sie plapperte mit den Zischlauten, die Wes schon vorher von ihnen gehört hatte.

»Du mußt zurück. Wir wenden jetzt.«

Es ergab keinen Sinn. »Würdet ihr nicht gegen uns kämpfen, wenn wir schwach wären?«

»Geh!«

»Aber was wollt ihr? Woher kommt ihr? Warum seid ihr hier? Welche Rolle spielt unsere Stärke?«

Erneut sah das Weltraumwesen ausdruckslos drein. »Geh!«

»Ich muß es wissen! Was wollt ihr hier?«

Das Geschöpf sprach mit Zischlauten.

Greifglieder umschlangen Wes’ Rumpf und Hals. Er wurde aus dem Raum geschleppt. Im Gang ertönte erneut das Widderhorn, und seine Bewacher drückten ihn gegen die Wand.

»Ihr braucht mich nicht zu halten«, sagte Wes.

Keine Antwort. Der Krieger roch warm, etwa wie im Zoo. Der Geruch an sich war nicht unangenehm, nur war er zu nah, wirkte auf die geringe Entfernung zu stark.

Wie viele von ihnen sprechen Englisch? Er… es… hat gesagt, daß ich ihre Sprache lernen soll. Sie werden sie mir beibringen. Er sah an sich hinab, nackt, von Greifgliedern umschlungen. Wie sie denken. Sie sind nicht verrückt – nehmen wir es jedenfalls einmal an! – nur anders. Sehen anders aus, haben sich anders entwickelt, empfinden anders. Wie ich für diesen… Soldaten wohl rieche, direkt unter seiner Nase?Sein Bewacher hielt ihn, als sei er ein Schlangennest, in seinen dunkelgrauen Augen war nicht zu erkennen, was er dachte.

Du hast gewußt, daß die Mission gefährlich war.

13. Am Morgen danach

Nun ist getan, was zu tun war, und alles war umsonst.

ROBERT BURNS

Alles für unseren rechtmäßigen König


Zeit: Sieben Stunden nach der Stunde Null

Dickkopf! Sergeant Ben Mailey führte seine Schützlinge vom Hubschrauber fort und sah zu, wie sie in das Dienstfahrzeug stiegen. Der Präsident! Ein Dickkopf! Er grinste breit, wurde dann wieder ernst. Erst mußte ein Krieg ausbrechen, um den Präsidenten nach drinnen zu kriegen. Und ich gehe nicht mit ihm.

Jenny führte den Präsidenten in die Kommandozentrale. Karten und Bildschirme zeigten, was im Lande vor sich ging. Alles war auf einen Blick zu überschauen. Ein Dutzend Offiziere des Heeres und der Luftstreitkräfte saßen an Sichtgeräten. Riesige Leuchtschirme an den Wänden zeigten Karten der Vereinigten Staaten. In der Luft befindliche Flugzeuge, Eisenbahnzüge auf Hauptstrecken und große Schiffe waren als Lichtpunkte auf den Karten zu erkennen.

Viele waren es allerdings nicht, und manche Häfen lagen im Dunkeln. Auch Eisenbahnknotenpunkte wie Omaha wiesen stecknadelkopfgroße dunkle Flecken auf.

Jack Clybourne folgte ihnen in den großen, höhlenartigen Raum. Er sah verwirrt drein und tat Jenny leid. Für den Leibwächter eines Präsidenten gab es hier in der Nationalen Kommandozentrale keine rechte Daseinsberechtigung. In dem Augenblick, als der Präsident im ›Loch‹ verschwand, war Jacks Aufgabe erledigt, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihm das zu sagen.

Und ich werde es bestimmt nicht tun.

Admiral Carrell salutierte beim Eintreten des Präsidenten. Die schnurrbärtigen Zivilisten, die neben ihm gesessen hatten, taten es ihm nach. Der Admiral sah trotz seines dunklen Zivilanzugs unverkennbar wie ein Offizier aus. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir.«

»Danke.«

Seine Stimme klingt unendlich alt. Auch ich fühl mich älter. Ich seh aus wie eine Hexe – sie unterdrückte den irrationalen Wunsch, loszukichern.

»Das Kabinett kommt später«, sagte Coffey. »Das heißt, der Außen- und der Innenminister. Wir verteilen uns ein bißchen, damit – ich kann Möglichkeiten und Fähigkeiten der Außerirdischen nicht richtig einschätzen.«

Admiral Carrell nickte. »Vielleicht kennen sie die Lage dieser Zentrale«, sagte er.

»Könnten sie in dem Fall etwas tun?«

»Ja, Sir. Sie haben die BoulderStaumauer mit einer äußerst wirksamen Waffe getroffen, die keine radioaktive Strahlung freisetzt. Mein Krisenstab hat berichtet, daß sie riesige Gesteinsbrocken abwerfen. Meteoriten. Ihre Laser können sich durch Schiffsrümpfe fressen. Mr. President, ich weiß nicht, was sie mit dem CheyenneBerg anstellen könnten.«

»Dann wollen wir hoffen, daß wir es nie erfahren. Wie ist die Lage? Was ist mit den Russen?«

»Sie sind schwer getroffen, kämpfen aber. Ich weiß nicht, über welche Kräfte sie noch verfügen.« Admiral Carrell schüttelte den Kopf. »Es ist ausgesprochen schwer, Berichte hereinzubekommen. Wir haben vergangene Nacht die Hälfte unserer Interkontinentalraketen nach oben geschickt und auf der Umlaufbahn gezündet. Es hat den Anschein, daß sie außer Staudämmen, Eisenbahnknotenpunkten und Häfen alle Stellen als Ziele betrachten, von denen Raketen abgefeuert wurden. Ich vermute, daß sie es bei den Sowjets genauso gehandhabt haben, aber wir wissen nichts darüber.«

»Können wir sie nicht fragen?«

»Von Zeit zu Zeit bekomme ich Verbindung mit Dr. Bondarew. Aber er weiß wenig über den Zustand seiner Streitkräfte. Die Binnenkommunikation dort ist schlimmer getroffen als bei uns, aber auch wir haben kaum noch Leitungen.« Carrell ließ eine Pause eintreten und lehnte sich gegen ein Computergehäuse.

Er ist ein alter Mann. Das habe ich früher nie richtig gesehen. Es macht mir angst…

»Wie sehen unsere Verluste aus?« wollte der Präsident wissen.

»Militärische nur sehr wenig – mit Ausnahme von F-15Piloten, die Abfangeinsätze gegen Satelliten geflogen sind. Bei ihnen betragen die Verluste hundert Prozent. Außerdem haben wir einige Raketenabschußmannschaften eingebüßt.

Bei der Zivilbevölkerung ist es ähnlich. Sehr hohe Verluste an Menschen, die unterhalb von Staudämmen oder im Einzugsbereich von Häfen wohnen, außerhalb solcher Gebiete sind sie praktisch Null.«

»Insgesamt?«

Carrell zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Ich schätze etwa hunderttausend, es können aber ohne weiteres doppelt so viele sein.«

Hunderttausend. Vietnam hat in zehn Jahren nur fünfzigtausend unserer Leute das Leben gekostet. Nirgendwo ist es seit dem Zweiten Weltkrieg zu solchen Verlusten gekommen.

»Warum wissen Sie das nicht?« wollte der Präsident wissen.

»Unser Nachrichtensystem ist stark auf Satelliten angewiesen «, sagte Carrell. »Steuerung, Erkundung, Einsatzbefehle, Nachrichten, alles hing vom Weltraum ab, aber dort haben wir nichts mehr.«

»Wir wissen also nichts?«

»Wissen?« Admiral Carrell schüttelte erneut den Kopf. »Nein, Sir, das nicht. Ich kann nur Vermutungen anstellen. Etwas scheint das große Raumschiff der Außerirdischen vertrieben zu haben, denn es hat sich zurückgezogen, vermutlich zum Mond. Die Sowjets haben es schwer beschossen. Bondarew meint, sie haben es beschädigt, aber falls er über genauere Angaben verfügt, hat er sie mir nicht weitergegeben.«

Jenny räusperte sich. »Ja?« fragte Carrell.

»Nichts, Sir. Wir alle wissen, was solche Aussagen wert sind. Ich als hoher Sowjetfunktionär, der gerade eine große Anzahl sehr teurer Raketen gestartet hat, würde bestimmt auch behaupten, daß es der Mühe wert war.«

Der Präsident nickte finster. »Nehmen wir also an, daß es unbeschädigt ist.«

»Ja, Sir«, sagte Carrell. »Es ist äußerst schwierig, etwas durch den ganzen Müll in der oberen Atmosphäre – und erst recht darüber – zu verfolgen. Die Außerirdischen haben da Tonnen von Düppel abgeworfen. Das Zeug narrt jedes Radar. Soweit wir sagen können, haben sie lediglich eine Anzahl kleinerer Kriegsraumschiffe dagelassen.«

Der Präsident sah mit jeder Minute älter aus. »Was wissen wir über sie?«

Carrell hob die Schultern. »Es sind mehrere Dutzend. Der Begriff ›klein‹ sollte übrigens mit Vorsicht verwendet werden, denn noch das kleinste davon ist so groß wie unser Flugzeugträger Enterprise. Ein paar haben wir runtergeholt. Von zweien weiß ich es genau, die haben wir mit einer MinutemanRakete vom Stützpunkt Minot aus vom Himmel geputzt. Anschließend haben die Außerirdischen Minot zugepflastert. Ich glaube, die Russen haben auch ein paar abgeschossen.«

»Das aber erklärt nicht, warum sich das Mutterschiff zurückgezogen hat«, sagte der Zivilist.

»Mr. President, das ist Mr. Ransom, von meinem Krisenstab «, sagte Admiral Carrell. »Er und seine Kollegen sind unsere einzigen Fachleute.«

»Inwiefern?«

»Sie schreiben Science FictionRomane.«

Der Präsident lacht nicht einmal

»Und warum hat es sich Ihrer Ansicht nach davongemacht, Mr. Ransom?«

»Sir, das wissen wir nicht, aber es gefällt uns nicht«, sagte dieser. »Die Ansichten darüber gehen im Roten Zimmer weit auseinander. Curtis und Anson versuchen, ein Meinungsbild herzustellen, aber ich glaube nicht, daß es ihnen gelingt. Vielleicht haben die Außerirdischen Frauen und Kinder an Bord des Mutterschiffs. Sie sind von weither gekommen.«

»Ach ja«, sagte David Coffey. Er sah sich in der großen Befehlszentrale um. »Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«

»Sie sollten sich hinlegen und sich etwas Ruhe gönnen«, empfahl Admiral Carrell.

»Sie auch.«

»Nach Ihnen, Sir. Irgend jemand muß auf dem Posten sein. Vielleicht kommen wir noch zu den Russen durch.«

Diesmal konnte sich Jenny das Lachen nicht verkneifen. Als Präsident und Admiral sie verständnislos ansahen, faßte sie sich rasch. »Ich hätte nie gedacht, daß wir so scharf darauf sind, etwas von den Russen zu hören.«

Carrells Lächeln wirkte gequält. »Ja, Ironie des Schicksals. Trotzdem…«

Er hörte auf, als rote Lichter aufleuchteten und eine Sirene in dem riesigen Raum losjaulte. Von einem unteren Dienstgrad ließ er sich Kopfhörer geben und sagte nach einem Augenblick: »Ein paar sind noch aktiv. Gerade ist eine wichtige Straßenkreuzung getroffen worden.«

»Straßenkreuzungen, Eisenbahnknotenpunkte, Staudämme«, knurrte der Präsident.

»Ja«, stimmte Admiral Carrell zu. »Aber keine Städte oder andere Orte, an denen sich größere Menschenmassen aufhalten. Der Hafen von San Diego, aber nicht der von New York. Die Städte entlang den größten Flüssen sind überflutet, einige von ihnen schwer. In manchen Teilen des Landes wurde bisher nichts beschädigt, aber Strom gibt es dort nicht. In anderen wiederum gibt es Strom. Eine merkwürdige Art der Kriegsführung.«


* * *

Bote summte. Die Schwingungen des mit Kernverschmelzungsenergie betriebenen Haupttriebwerks lagen deutlich über dem Hörbereich des Menschen, waren aber im Knochengerüst spürbar und allgegenwärtig. Schläfer und Raumgeborene hatten während der langen Phase, als sie bremsend in das System von Winterheim eingedrungen waren, gelernt, nicht darauf zu achten. Sie spürten es erst, wenn es aufhörte.

… Jetzt war die Antriebsphase vorüber. Der Fußboden wich unter dem Herrn der Herde davon, und er trieb frei. Sechs Achtel der Grifflingsschiffe hatten sie zurückgelassen, damit diese die Invasion zu Ende führten, während sich die Bote nach außen fallen ließ, dem FUSS entgegen. Die Beschleunigung, die Impulse aus Kernverschmelzungslicht und Gammastrahlen waren hinter der schützenden Masse des Mondes von Winterheim verborgen geblieben. Mochten die Herren von Winterheim nur versuchen, das Schiff zu entdecken, ein ruhender Fleck im All.

Der Herr der Herde stieß einen tiefen Seufzer aus. Mehrere Stunden des Manövrierens hatten ihn erschöpft. Es war gut, sich wieder im freien Fall zu befinden, wenn auch nur für einige Minuten.

»Das hätten wir hinter uns«, sagte er. »Jetzt werden wir uns einmal die Bewohner von Winterheim vornehmen und sehen, was sie tun.«

»Es ist ihr Gebiet. Wir werden Krieger einbüßen.« Die Glieder Fathistihtalks reckten sich in schläfriger Entspannung, und der Herr der Herde konnte es sich nicht versagen, ihm einen finsteren Blick zuzuwerfen. Sein Berater als ehemaliger Herr der Herde hätte ihm diese Aufgabe ersparen und ihn damit für anderes freihalten können… allerdings würden raumgeborene Krieger seinen Befehlen vielleicht den Gehorsam verweigern. Er war ein Schläfer, und seine Sprechweise verriet ihn.

Auch wenn der Zorn des Herrn der Herde ungerecht war, so schien doch Fathistihtalk die Situation zu genießen. Erneut seufzte der Herr der Herde auf und wandte sich der Gegensprechanlage zu. »Ich möchte mit UmerzieherZwei sprechen.«

Takpassih sprach ebenfalls auf die veraltete Weise, die kennzeichnend für die Schläfer war. Er stand an einem Tisch, der mit bei den Gefangenen gefundenen Gegenständen übersät war.

»Du hast mit den Beutewesen gesprochen«, begann der Herr der Herde.

»Mit einem. Er gehört der Herde von der Landmasse Zwei an, die unbedingt mit uns reden wollte, als wir näher kamen. Einige der anderen sprechen seine Sprache auch, gehören aber nicht seiner Herde an.«

»Was hast du erfahren?«

»Ich weiß nicht so recht, Herr der Herde. Mit Sicherheit hat sich das herdenlose Wesen nicht unterworfen.«

Einen Augenblick schwieg der Herr der Herde. »War es hilflos?«

»Herr der Herde, ich habe eine bewaffnete Achtschaft geschickt, es zu holen, und es nackt vor meinem Tisch stehen lassen. Es hat Erklärungen verlangt und mich beschimpft!«

»Und es lebt? Du legst bemerkenswerte Langmut an den Tag.«

Takpassih stieß einen schnaubenden Laut aus. »Ich habe nicht alles sofort verstanden. Erst nachdem wir es in den Absonderungspferch zurückgebracht hatten, haben wir uns die Aufnahmen gründlich angehört. Herr der Herde, es sind merkwürdige Wesen. Sie gehorchen nicht richtig. Es wird lange dauern, bis man sie in die Ziehende Herde eingliedern kann.«

»Vielleicht ist das Tier verrückt, weil es herdenlos ist. Gab es in dem WeltraumHabitat andere von seiner Herde?«

»Ja. Es hat gesagt, daß seine Gefährtin beim Angriff ums Leben gekommen ist.«

»Dann hat es vor Kummer den Verstand verloren. Tötet es!«

»Herr der Herde, es gibt keinen Grund zur Eile. Es spricht die Sprache, die die Beutewesen Englisch nennen, weit besser als die anderen.«

»Haben sich die anderen unterworfen?«

»Ich glaube schon, Herr der Herde.«

»Das Herdenlose kommt von der Landmasse mit den meisten Straßen, Häfen und Staudämmen. Die Angehörigen der höchstenwickelten Herde können nicht alle verrückt sein.«

»Kaum, Herr der Herde.«

»Hast du einen Rat für mich?«

»Herr der Herde, ich glaube, wir sollten den Plan weiterverfolgen. Die Beutewesen niedertrampeln, bevor wir mit ihnen sprechen. Wenn sie schon in der Niederlage überheblich sind, müssen sie in jeder anderen Situation unmöglich sein.«

»Sehr gut. Wirst du weiter mit dem einen sprechen?«

»Nicht ohne neuen Grund. Mir war das Gespräch schmerzlich. Sobald wir weitere Exemplare von seiner Herde hier haben, werde ich noch einmal mit dem herdenlosen Wesen sprechen. Vielleicht kommt es ja auch zur Vernunft. Bis dahin will Umerzieher Eins Rästapispmins es beobachten, aber nicht mit ihm sprechen.«

Der Herr der Herde legte seine Grifflinge um den Unterschenkel. Takpassih drückte sich taktvoll aus, denn Rästapispmins beherrschte die Sprache der Beutewesen nicht besonders gut.

»Die anderen Gefangenen unterstehen mir, aber wir lassen sie beisammen«, beendete UmerzieherZwei Takpassih.

»Hat sich eigentlich schon einer von ihnen unterworfen?«

»Es bestand keine Gelegenheit, mich um sie zu kümmern, während die Bote ihre Position geändert hat. Statt dessen haben wir Experimente mit ihren Lebensbedingungen angestellt. Wir haben ihnen Tuch aus den Vorräten gegeben, die sich im Habitat auf der Umlaufbahn um Winterheim befanden. Sie haben sich hineingewickelt. Wir haben ihnen Wasser gegeben und beobachtet, wieviel davon sie verbraucht haben, anschließend haben wir ihre Ausscheidungen analysiert. Wir haben ihre Umgebung verändert. Wir wollten wissen: was tun sie mit ihrer Nahrung? Was von unseren Lebensmitteln bekommt ihnen? Reagieren sie positiv auf mehr Sauerstoff oder auf weniger? Auf warme oder auf kalte Luft? In welchem Ausmaß können sie ihre eigenen Ausdünstungen ertragen?«

»Ich nehme an, sie atmen das Luftgemisch von Winterheim.«

»Natürlich, aber wo dort? Am Äquator oder an den Polen? In großer oder in niedriger Höhe? Ist es da feucht oder trocken? Wir erfahren es Schritt für Schritt. Sie fühlen sich wohl bei einem Luftdruck, wie er auf Meereshöhe herrscht, bis hinunter zu dessen Hälfte. Sie können unser Luftgemisch ertragen, haben es aber lieber etwas trockener. Sie bedecken ihre Haut auch dann mit Tuch, wenn es viel zu heiß dazu ist. Das hat uns anfänglich in die Irre geführt. Sie trinken sauberes Wasser und waschen sich damit. Von Schlamm wollen sie nichts wissen. Ihre Nahrung wird behandelt, sie müssen sie befeuchten und erhitzen. Unsere haben sie nicht angerührt. Bei den Experimenten haben wir sie starken Reizen ausgesetzt, damit sie lernen, mit uns zu sprechen.«

Der Herr der Herde lachte verächtlich schnaubend heraus. »Natürlich würden sie Euch gern sagen, daß Ihr aufhören sollt. Können sie sprechen, ich meine Fithpisch?«

»Wir bringen es ihnen schrittweise bei. Es ist einfacher mit denen, die ›Englisch‹ sprechen. Ich sehe keinen Anlaß, die Sprache der anderen zu lernen. Das herdenlose Wesen namens Dawson soll übersetzen, bis sie unsere Sprache erlernt haben. Ihre Münder sind nicht richtig geformt. Eines Tages wird es möglicherweise eine Art Kompromißsprache geben, doch man wird die Wesen nie als gewöhnliche Arbeiter in der Ziehenden Herde einsetzen können, nicht einmal in schwarzer Nacht. Ihr Geruch ist völlig andersartig.«

»Sind sie in gutem körperlichen Zustand?«

»Das Dunkelhäutige reagiert nicht und ißt nicht. Ich nehme an, daß es im Sterben liegt. Es ist gleichfalls herdenlos. Die anderen vier scheinen sich für die Ausbildung zu eignen.«

»Das andere Herdenlose wird auch sterben.«

»Vielleicht, doch es wirkt gesund. Wir müssen es im Auge behalten. Herr der Herde, aus welchen Bereichen beabsichtigt Ihr, Gefangene zu nehmen?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Herr der Herde, ich muß wissen, ob Dawson Gefährten von seiner eigenen Herde bekommt. Ich muß wissen, ob er verrückt ist oder ob sich alle Angehörigen dieser Herde so merkwürdig verhalten.«

»Es ist verrückt«, sagte der Herr der Herde.

»Leitet mich, Herr der Herde.«

»Tu deine Arbeit! Ich habe dir keine Anweisung gegeben.«

»Danke, Herr der Herde. Wahrscheinlich ist es verrückt. Bestimmt war es noch nie so weit von seiner Herde entfernt. Aber wir müssen es genau wissen.«

Der Herr der Herde überlegte. »Nun schön. Wir werden versuchen, einen Stützpunkt auf der Landmasse Zwei zu erobern und zu halten, im Norden, dort woher das meiste elektromagnetische Geplapper kommt. Wir werden Gefangene machen.«

»So viele wie möglich, Herr der Herde. Ich brauche Weibchen und Junge. Es wäre auch gut, Unausgereifte, Alte, Verkrüppelte und Verrückte zu haben.«

»Ich habe zwar andere Sorgen, werde den Wunsch aber an die Krieger weiterleiten lassen. Woran wollen wir die Verrückten erkennen?«

»Kümmert Euch nicht darum. Einige werden nach der Gefangennahme von selbst verrückt werden.«

»Noch etwas?«

»Ich möchte gern den Gefangenen einige Aufnahmen zeigen.«

»Gut. Wo? Im GemeinschaftsSchlammraum? Meine Offiziere und ihre Gefährtinnen drängen sich förmlich danach, die Eingeborenen von Winterheim zu sehen.«

»Ich bin nicht sicher, daß sie vorbereitet sind auf… Leitet mich. Wir können sie zeigen, aber nicht im Schlammraum. Wir könnten den Unterrichtsraum nehmen. Früher oder später werden sie sich an uns gewöhnen müssen.«

»Und mein Fithp muß sich an sie gewöhnen. Wir treten gleich in die Rotationsphase ein. Du kannst deine Vorführung anschließend veranstalten. Willst du ihnen den Podo Thaktan zeigen?«

»Nein! So weit sind sie noch nicht. Sie würden nicht verstehen, was er bedeutet. Fistartihthaktan würde mich zertrampeln.«

Der Herr der Herde schaltete das Gerät aus. Fathistihtalk, der während der Unterhaltung nichts gesagt hatte, ließ sich vernehmen: »Takpassih ist für die Aufgabe bestens geeignet. Viele Schläfer sind seit dem Erwachen lethargisch geworden. Er hat seinen Schwung und seine Neugier beibehalten.«

»Ja. Warum hat er keine Gefährtin? Er ist alt genug, und er hat eine angesehene Stellung – wenn er auch als Schläfer selbstverständlich weniger gilt als zuvor.«

»Seine Gefährtin hat den Todesschlaf nicht überlebt.«

»Ah.« Der Herr der Herde überlegte. »Ratet mir. Soll ich damit rechnen, daß aus diesen Gefangenen zuverlässige Mitarbeiter werden? Können sie ihr Volk zum Aufgeben überreden, damit nicht unnötig Blut vergossen wird?«

»Ihr kennt meine Ansicht«, sagte der Berater des Herrn der Herde. »Wir brauchen weder diese Welt noch ihre Herren. Wir sind keine Schmutzfüßler. Wir sollten den Raum besiedeln, keine bewohnten Welten.«

Schmutzfüßler: nur Schläfer benutzten diesen Begriff für jene, die behaglich in der Heimatwelt zurückgeblieben waren. Die Raumgeborenen sahen keinen Anlaß, Vorfahren zu kränken, die auf immer in Raum und Zeit von ihnen entfernt waren.

Dennoch hatte Fathistihtalk damit eine andere Frage angeschnitten. »Seltsam, daß ein Raumgeborener das von einem Schläfer zu hören bekommt. Auch ihr kennt meine Ansicht. Wir sind gekommen, um Winterheim zu erobern. Der Brauch will es, daß ich euch hinsichtlich der Vorgehensweise um Rat frage.«

»Wollt ihr nicht, daß unsere Gefangenen von dem FUSS erfahren?«

Der Herr der Herde runzelte die Stirn. »Es ist das übliche Vorgehen…«

Ein Schnauben antwortete ihm. »Natürlich. Ein Soldat sollte nie mehr wissen, als er unbedingt muß, denn er könnte in Gefangenschaft geraten und in die Herde des Feindes aufgenommen werden. Aber wie könnten die Kräfte von Winterheim unsere Gefangenen befreien, ohne die Bote selbst zu erobern? In einem solchen Fall wäre ohnehin alles verloren.«

»Schon möglich. Also…«

»Bitte wartet, Herr der Herde. Mein Rat.«

»Nun?«

»Eure Einschätzung war richtig. Sagt ihnen, was sie wissen müssen, fordert sie auf, sich zu unterwerfen und zeigt ihnen, daß wir sie zum Gehorsam zwingen können. Dann laßt sie zu ihrer Herde sprechen. Aber wir dürfen nicht auf ihre Hilfe angewiesen sein.«

»Es ist Aufgabe der Umerzieher, sie in die Ziehende Herde einzugliedern. Takpassih und Rästapispmins sind gewissenhaft.«

»Trotzdem. Laßt sie nicht alles wissen! Sie sind und bleiben Fremdlinge.«


* * *

Das Motorrad war eine 750er ZweizylinderKawasaki, ein Auslaufmodell, das Harry 1984 beim Modellwechsel gekauft hatte. Es war mit Satteltaschen und einem Gepäckträger für seine Gitarre ausgerüstet. Zwei Wochen zuvor hatte er den Motor mit Arline Motts Kleinlaster zum Überholen in die Werkstatt gebracht.

Mit eben diesem Kleinlaster fuhr er jetzt die Maschine holen und hatte ein schlechtes Gewissen dabei.

Um fünf Uhr morgens hatte er Arline angerufen, bevor sie Gelegenheit gehabt hatte, Radio zu hören. »Ich bin bis Mittag wieder zurück«, hatte er gesagt.

Da Arline ohnehin nicht vor Mittag aufstehen würde, gäbe es da keine Schwierigkeiten. Sie hatte den Schlüssel vor ihre Tür gelegt und war wieder schlafen gegangen.

Dabei müßte sie schleunigst aus Los Angeles verschwinden!

Ich hätte es ihr sagen müssen, dachte Harry. Ach was, sie bleibt so oder so bis Mittag im Bett, ich muß ihr also nur die verdammte Kiste rechtzeitig zurückbringen.

Er fuhr an einer Zapfsäule vor. Vor ihm standen drei Wagen. Er tankte voll, füllte dann zwei Kanister, die auf der Ladefläche standen. Das mindeste, was ich für Arline tun kann.

Noch wurde Benzin zum normalen Preis verkauft.

Das wird sich auch bald ändern.

Er fuhr nordwärts über den Van Nuys Boulevard, die zerlegte Maschine auf der Pritsche des Kleinlasters. Im Vorbeifahren erhaschte er einen Blick auf eine Rennmaschine im Schaufenster eines Motorradgeschäfts. Die klauen. Dann kam ich schneller und zuverlässiger hin – wenn man mich nicht schnappt. Not kennt kein Gebot … Er fuhr weiter, Richtung Werkstatt.

Mit zögerndem Schritt ging er durch den Verkaufsraum. Sein Geld reichte nicht für alles. Er brauchte ein neues Schutzblech, Reservehebel für Kupplung und Handbremse. Eine Verkleidung wäre nicht schlecht … Ich könnte die Tausend aus der Schublade von Wes gut brauchen – nur würde er es nicht anrühren. Es war Carlottas Geld, und er wollte es ihr bringen. Wenn schon nicht alles, dann doch soviel wie möglich.

Also keine Lenkerverkleidung. Er würde sich Stulpen aus Einkaufstüten machen, um die Hände vor dem Fahrtwind zu schützen. Er trat an die Theke neben einen anderen Kunden, Es war ein vierschrötiger Mann, jünger als er.

»Hallo, Roter Harry«, sagte dieser. Harry kannte ihn, nur fiel ihm der Name nicht ein. »Wie geht’s, wie steht’s?«

»Das weiß heute niemand«, sagte Harry. »Hast du die Lichtspiele gesehen?«

»Kann man wohl sagen. Ich hau ab.«

»Ich auch. Nach Osten. Könnte ‘nen Begleiter brauchen.«

»Mir scheint es im Norden sicherer«, sagte der Halbfremde. Harry nickte, das war auch seine Meinung. Als ein Verkäufer auftauchte, beglich er seine Restschuld von Wes Dawsons tausend Dollar, bezahlte die Motorreparatur und unterdrückte den Drang, etwas zu kaufen. Immerhin war es möglich, daß er das Geld noch dringend brauchte.

Er fuhr zum Parkplatz gegenüber der Motorradwerkstatt. Aus dem Transistorradio kam die Mitteilung, allem liege ein schreckliches Mißverständnis zugrunde, und die Außerirdischen zögen sich jetzt zurück, nachdem sie gewisse Teile der Vereinigten Staaten und der übrigen Welt angegriffen hätten. Weiter hieß es, die Delegation an Bord der sowjetischen Raumstation Kosmograd sei von den Außerirdischen in ihrem Schiff aufgenommen worden, und man verhandele. Die Bürger sollten Ruhe bewahren. Wer zur Arbeit gehen könne, solle das tun, doch möge jeder mit Strom und Wasser sparsam umgehen. Es werde zu Engpässen kommen. Man müsse mit Rationierungen rechnen.

Der Ansager des nächsten Senders berichtete voll Entsetzen, im Staate New Jersey seien Marsmenschen gelandet.

Eines wiederholten alle Sender: Angehörige militärischer Einheiten und der Polizei hatten sich sofort zum Dienst zu melden.

Harry machte sich ans Zusammensetzen der Maschine.

Wie es Carlotta Dawson wohl ging? Wo, zum Kuckuck, befand sich der Abgeordnete Wes? Eile mit Weile – Harrys Rükken schmerzte höllisch, während er hob, schraubte und klopfte. Es war Knochenarbeit, doch er tat, was er mußte und war bald in Schweiß gebadet. Er war alt geworden, alt. Aber er hatte wieder ein Motorrad.

Mit einem nicht eingefahrenen Motor dürfte die Strecke eine Tortur werden. Harry ließ das Öl aus dem Kurbelgehäuse ins Gras laufen. Er füllte dünnes Öl ein, startete den Motor und ließ ihn eine Zigarettenlänge lang laufen. Dann entleerte er das Kurbelgehäuse erneut und füllte Öl von höherer Viskosität ein.

Schnaufend begann er die Maschine zu bepacken. Der Schlafsack kam auf den Gepäckträger. Er verlegte neben den vorhandenen Bowdenzügen Reservezüge so, daß er sie bei einem Defekt sofort einhängen konnte. Im Benzintank – sah auch niemand zu? – versteckte er den GoldPeso und die silbernen ZehnCent Stücke. Carlotta Dawsons Automatik vom Kaliber 11,43 mm verschwand mitsamt zwei Magazinen unter der Sitzbank. Die 6,35er Beretta steckte in seiner Jackentasche. Jetzt noch die Feldflasche.

Nichts vergessen? Er hatte eine Reservekette mit, Motoröl zum Nachfüllen, je einen Satz Steck- und Gabelschlüssel, mehrere Schraubendreher, Isolierband, Reservesicherungen und eine kleine Dose Bremsflüssigkeit. Fertig zugeschnittene Flicken für die Schläuche, einen Müllsack mit Kleidung zum Wechseln. Das Fernglas.

Zum Schluß legte er den breiten Nierengürtel an. Dieser ließ seinen Bauch merklich dünner wirken, und Harry fühlte sich auf einmal zehn Jahre jünger.

Es war nicht einfach, die Maschine auf die Ladefläche zu wuchten, aber einige Männer aus der Werkstatt halfen ihm.

Den Wagen zurückbringen, gebot er sich. Das gehört sich so. Arlines Haus liegt ja fast an der Strecke. Und dann kommen über zweitausend Kilometer. Bloß schnell weg!

Mit einem Wagen hätte er es nie geschafft.

Alle Straßen, die aus Los Angeles hinausführten, waren verstopft. Manche Autos waren auf der falschen Straßenseite liegengeblieben, die Leute mißachteten alle Verkehrsregeln, sie wollten nur eins: die Stadt hinter sich lassen. Bald begann sich der Verkehr hinter den ersten Wracks endlos zu stauen.

Viele Fahrzeuge waren bis obenhin bepackt. Alles mögliche war auf Dachgepäckträgern festgezurrt: Laufställchen, Koffer, eine Schreibmaschine, Wolldecken, Spielzeug. Auf dem Dach eines Wagens voller Kinder lag eine riesige Matratze.

Die Polizei schickte zurück, wessen sie habhaft wurde.

Nachdem Harry Dawsons Brief mindestens ein dutzendmal hervorgeholt hatte, beherrschte er seine Rolle aus dem Effeff.

»Ich bin persönlicher Assistent des Kongreßabgeordneten Wes Dawson«, sagte er. »Er befindet sich an Bord des außerirdischen Raumschiffs. Ich muß mich um seine Frau kümmern.«

Einer der Nationalgardisten sagte sogar ›Sir‹, nachdem er das Schreiben gelesen hatte.

»Gibt es Neues, Sergeant?«

»Nein, Sir. Wir wissen nur, daß sie den HooverStaudamm zerstört haben, wie auch zahlreiche andere Dämme, Kraftwerke und Güterbahnhöfe. Niemand weiß Genaueres. Jetzt sind sie weg.«

Harry nickte jovial. »Danke.« Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und fügte hinzu: »Machen Sie weiter, Sergeant.« Dann gab er Gas.

Am Spätnachmittag hatte er den CajonPaß hinter sich und machte sich an die Durchquerung der MojaveWüste in Richtung Osten. Sein Rücken schmerzte.

14. Der Staudamm

Besser die eigene Aufgabe unvollkommen gelöst, als die eines anderen gut getan.

BHAGAWADGITA


Zeit: 36 Stunden nach der Stunde Null

Jeri Wilson fuhr ruckartig aus dem Schlaf hoch. Die Sonne sank im Westen einem der schneebedeckten Gipfel zu, zwischen denen sich die Bergstraße dahinwand. Melissa saß stumm auf dem Rücksitz.

»Schon Mittag durch«, sagte Jeri vorwurfsvoll. »Warum hast du mich so lange schlafen lassen?«

»Du warst so müde.«

Jeri gähnte. »Kannst recht haben, Schätzchen.« Sie sah auf den Sitz neben ihr, dann auf den Boden. »Wo ist die Karte?«

»Ich hab sie«, sagte Melissa. »Ich wollte feststellen, wo wir sind, aber ich krieg es nicht raus.« Sie gab sie ihrer Mutter.

Jeri fuhr einem gelben Strich auf der Karte nach. »Ich bin selbst nicht ganz sicher«, gab sie zu. »Ich hab über das nachgedacht, was du gesagt hast. Wir sind nicht durch Albuquerque gefahren. Der Rote Harry hat hier eine Straße nach Colorado eingezeichnet. Die würde er bestimmt gern mit seinem Motorrad fahren, lauter Kurven.«

»Wie weit ist es noch?«

»Etwa fünfhundert Kilometer Luftlinie, aber ich hab keine Ahnung, wie lang das auf der Straße dauert.«

»Ist… weiß Papi eigentlich, daß wir kommen?«

»Gewissermaßen.«

»Möchte er es?«

»Ich denke schon«, sagte Jeri. Er hat nicht nein gesagt! »Gib mir etwas Kaffee aus der Thermosflasche. Dann geht es gleich weiter.«

Jeri ließ den Wagen in Fahrstufe eins des Automatikgetriebes die gewundene Straße durch die Rocky Mountains hinabrollen. Die Straße war nahezu verlassen. Melissa hatte sich auf dem Rücksitz zum Schlafen hingelegt.

Die Great Plains dehnten sich endlos vor ihnen. Jeri stellte den Wählhebel der Getriebeautomatik auf N und schoß mit hundert Stundenkilometern im Leerlauf auf die große Ebene zu.

Es war ein wolkenloser Tag. Hinter ihr schienen die langsam zurückweichenden Rocky Mountains eher größer zu werden. Sie wirkten wie eine Mauer.

Jeri zuckte zusammen, als sie merkte, daß Melissa ihr über die Schulter sah. »Wenn die Benzinuhr leer ist, wieviel hast du dann noch?« sagte Melissa.

»Ich weiß nicht. Vielleicht zehn, zwölf Liter?«

Bald würden sie keinen Sprit mehr haben. Sie mußten versuchen, so weit wie möglich zu kommen. Vielleicht gab es Benzin ab der nächsten Tankstelle, wo auch immer die liegen mochte…

Im Rückspiegel zeigte sich ein Licht, grell wie ein Fernscheinwerfer. Jeri schlug den Spiegel beiseite und schrie: »Nicht hinsehen, Melissa! Leg dich auf den Boden!« Sie hoffte, das Kind werde gehorchen und wünschte, sie könne sich auch einfach hinwerfen. Sie bremste scharf und fuhr an den Straßenrand. Melissa sagte: »Was…?«

WAMM! Die Trommelfelle schienen zu platzen, der Wagen schwankte, die Heckscheibe barst und wurde undurchsichtig. Jeri hatte erwartet, daß das Glas zersplitterte und Scherben ihr Hinterkopf und Hals zerschnitten. In den Nachrichten hatte sie von Bomben gehört, die auf die Sperrmauern von Wasserkraftwerken gefallen waren, auf Eisenbahnen und wichtige Überlandstraßen. George und Vicki TateEvans hatten ihr (abwechselnd und so, daß niemand sie unterbrechen konnte) erzählt, woran man einen Atomblitz erkennt und wie man ihn überlebt.

Wenn alles um dich herum grell aufleuchtet, sieh nicht hin. Laß dich zu Boden fallen. Umschließ die Schienbeine mit den Händen und steck den Kopf zwischen die Knie, als wolltest du dich in den Hintern beißen. Hinter ihr kippte ein schwerer Sattelschlepper um, der ihr fast auf der Stoßstange gefolgt war, glitt vorbei, eine Funkenspur auf dem Straßenbelag ziehend, und kam irgendwo vor ihrem Wagen zum Stillstand.

»‘ne Atombombe«, sagte Melissa beeindruckt.

»Bleib unten!«

»Bin ich ja.«

Der Sattelschlepper hatte Feuer gefangen.

Jeri wartete auf das leisere WAMM!, auf die zweite Druckwelle, mit der die Luft das Vakuum unter der aufsteigenden Feuerkugel zu füllen bestrebt war. Als ihr Kombi nicht mehr in den Federn bebte, lenkte sie um den brennenden Sattelschlepper herum und fuhr weiter. Ein Flammenpilz beleuchtete die Straße. Im Außenspiegel beobachtete sie ihn und sah, wie er kleiner wurde.

Noch zehn Kilometer schaffte sie, dann blieb der Motor stehen. Hoffentlich waren sie weit genug von der radioaktiven Wolke entfernt, und hoffentlich gab es keinen Regen.


* * *

Der Motor der alten HarleyDavidson stotterte schon eine ganze Weile. Jetzt blieb er stehen. Der Langhaarige überlegte, welche Möglichkeiten ihm blieben.

Wahrscheinlich konnte er noch ein paar hundert Kilometer aus der Maschine herauskitzeln, aber sie war im vorigen Jahr schon fast am Ende gewesen. Er konnte aber auch zu Fuß gehen.

Es mußte eine bessere Lösung geben. Weiter vorn sah er einen Rastplatz. Mit letztem Schwung ließ er die Harley von der Straße dorthin rollen.

Die Straßen waren leer. Zuerst hatten Polizei und Nationalgarde jeden angehalten, der vorbeigekommen war. Der Langhaarige hatte dreimal Sperren umfahren. Nur gut, daß er sich in der Gegend so gut auskannte. In den Bergen hatte er die Hauptstraßen gemieden und war schon lange keinem Polizisten mehr begegnet.

Ein Schwerlaster donnerte vorüber. Etwas Verkehr gab es noch. Lastwagen mit Lebensmitteln – schließlich mußten die Menschen essen. Aber sonst war so gut wie nichts unterwegs.

Der Rastplatz war leer. Nein, nicht ganz. Der Langhaarige hörte Geräusche vom anderen Ende und ging näher heran.

Ein allem Anschein nach erschöpfter älterer Mann lag, einen Nierengürtel neben sich, auf einem der Picknicktische. Seiner offenen Hose entquoll ein bemerkenswerter Schmerbauch. Der Mann versuchte ein Bein gegen seine Brust zu drücken, doch der Bauch war im Weg.

Keuchend setzte er sich auf. Breitschultrig, ist wohl mal ziemlich kräftig gewesen. Jetzt nicht mehr. Der Mann, dessen einst wohl roter Bart und Haupthaar fast vollständig grau waren, setzte sich auf und sah in ein Buch, das neben ihm lag. Dann streckte er das rechte Bein, beugte sich vor, so weit er konnte, legte ein Handtuch um seine Fußsohle und zog an beiden Enden.

Sofern er in Begleitung war, hatten die Leute reichlich Zeit gehabt aufzutauchen. Der Langhaarige sah noch ein wenig zu. Jetzt kam das andere Bein an die Reihe; der Mann stöhnte.

Ein ganzer Tag auf dem Motorrad war die Hölle.

Stöhnend lag Harry auf dem Picknicktisch. Die beiden Auffahrunfälle würden für den Rest seines Lebens ihre Spuren bei ihm hinterlassen. Sein Rückgrat fühlte sich an wie eine Schlange aus Kristallglas, die man auf einen Plattenweg geworfen hatte. Ihm war bewußt, daß er zu dick war. Da nützte auch der Nierengürtel nichts.

Er nahm das Buch mit StreckGymnastikübungen heraus. Einige davon würden ja wohl gut gegen seine Rückenschmerzen sein – es war einen Versuch wert. Zuerst kam es ihm eher vor, als breche sein Rücken durch; er hatte nicht den Eindruck, daß ihm die Übungen halfen.

Jetzt tauchte ein Fremder in seinem Gesichtskreis auf, wohl auch ein Motorradfahrer. Er trat gelassen an Harrys Maschine, ließ den Blick über sie streifen und kam dann auf Harry zu. Hoch ragte er über ihm auf.

Muskulös, dichtbehaart und verdreckt, sieht nicht die Spur besser aus, als ich mich fühle, ist aber jünger und wohl auch besser in Form.

Der Fremde fragte: »Wozu das Handtuch?«

Keuchend ließ sich Harry auf den Rücken fallen. Er sagte: »Das ist das nützlichste, was man auf Reisen dabeihaben kann. Ich mach Dehnübungen. Mein Rücken ist total kaputt. Ich hab…«

»Laß gut sein. Her mit dem Schlüssel für die Kawa.«

»Zieh mich hoch! So komm ich nicht ran.«

Der Langhaarige befolgte diese Aufforderung und zog Harry am Kragen der Lederjacke nach oben. Als er über seinem Herzen auf einmal etwas Hartes spürte, senkte er den Blick. Die Lederjacke entglitt seiner Hand, und die 6,35er Beretta war auf ihn gerichtet.

»Ich hab ‘nen Schlüssel zu ‘ner Tür, die du besser nicht öffnest «, sagte Harry.

Jeder, der eine Spur Verstand besaß, hätte darüber zumindest einmal nachgedacht. Der Bursche jedoch reagierte sofort: er schlug nach der Hand, die ihn bedrohte und setzte zu einem Fausthieb auf Harrys Kinnlade an.

Harry zog den Abzug durch. Die Faust explodierte auf Harrys Kiefer und ließ alles vor seinen Augen verschwimmen. Auch die Hand, in der er die Waffe hielt, flog beiseite. Harry zielte erneut und schoß noch zweimal, die Pistole am Rumpf des Mannes emporführend.

Er sah sich rasch um. Die Schüsse waren nicht sehr laut gewesen. Es war auch kein besonders großes Kaliber, und Harry traute der Waffe nicht recht. Ob der Bursche wohl allein war? Er stand noch immer und machte ein verblüfftes Gesicht. Harry feuerte noch zwei Schüsse auf ihn ab und hielt die letzte Kugel in Reserve.

Endlich stürzte der Angreifer zu Boden.

Harry war klar, daß er hier nicht mehr bleiben konnte. Er wälzte sich vom Tisch, schloß die Hose, legte den Nierengürtel an und lauschte aufmerksam, während er zu Atem zu kommen versuchte.

Der Halunke atmete immer noch, es klang fast wie ein Schnarchen. Harry sah zu ihm hinab. »Ich tu dir ‘nen großen Gefallen, mein Junge«, sagte er, »und geb dir keinen Fangschuß.«

Der andere sagte nichts. Auch gut.

Harry schob seine Maschine zu der des Angreifers, zog munter pfeifend die Benzinleitung ab und ließ den Kraftstoff aus dem Tank in ein großes Glas laufen, das er aus einem Müllhaufen gefischt hatte. Nachdem er es bis zum letzten Tropfen in seinen Tank geleert hatte, untersuchte er das Gepäck des anderen. Viel hatte er nicht.

Dann bestieg er seine Maschine und fuhr gutgelaunt davon. Harry glaubte fest an das Gesetz vom Überleben der Tüchtigsten.


* * *

Jeri und Melissa hatten sich für die Nacht in ein Gebüsch ein ganzes Stück oberhalb der Straße zurückgezogen – sicherheitshalber. Als Jeri zu Beginn der Morgendämmerung erwachte, war Melissa bereits wach, blieb aber in ihren Schlafsack gekuschelt. »Ich wußte gar nicht, daß es in der Wüste so kalt sein kann«, beschwerte sie sich.

»Das hatte ich dir doch gesagt«, gab Jeri zurück. Sie machte rasch Kakao auf dem Campingkocher, der zwischen ihren Köpfen stand.

Während sie frühstückten – zum Kakao gab es Haferflocken –, wurde es allmählich wärmer. Jeri setzte ihren Hut auf und wies Melissa an, es ihr gleichzutun. Sie krochen aus ihren Schlafsäcken und rollten sie zusammen. Dabei ließen sie die Straße nicht aus den Augen.

Aus dem Gebüsch, in dem sie sich verborgen hielten, konnten sie mit dem Fernglas kilometerweit sehen. Die Straße verlief schnurgerade. Etwa fünfzehn Kilometer weiter westlich, wo sie eine andere Fernstraße kreuzte, war sie von einem riesigen Krater unterbrochen, je länger Jeri über ihn nachdachte, desto mehr ängstigte die Zielgenauigkeit der Außerirdischen sie.

Sie hielten Ausschau nach Fahrzeugen. Immer wieder fuhr Jeris Hand über die Handtasche, unter deren weichem Leder sie eine 9 mm Walther PPK ertasten konnte. Sobald sie einen Wagen sähen, von dem sie glaubten, daß es sicher sei mitzufahren, würden sie rechtzeitig zur Straße hinabgelangen und den Daumen in die Luft recken können. Der Verkehr war nahezu zum Erliegen gekommen. »Was tun wir jetzt?« fragte Melissa.

»Es wird uns schon was einfallen«, sagte Jeri. Möglicherweise muß ich dafür zahlen, daß uns einer mitnimmt. Hoffentlich ist er mit Geld zufrieden. Sie betete, eine Polizeistreife möge vorüberkommen, aber sie hatten schon lange keine mehr gesehen. Jemand müßte sich doch mal um den Bombentrichter kümmern. Oh die Umgebung radioaktiv verseucht ist? Und warum gerade hier? Was könnte die Außerirdischen ausgerechnet hier interessieren, mitten in der Wildnis?

Von Westen her näherte sich ein Motorrad. Es fuhr langsam an den Bombentrichter heran. Jeri fragte sich, ob der Fahrer wohl umkehren würde, doch er schlug einen Haken in die Wüste und umfuhr den Kraterrand. Eine schwere Maschine, ein massiger Fahrer. Es schien ihn Mühe zu kosten, sie wieder auf die Straße zu bringen. Er machte eine Zigarettenpause und fuhr dann weiter. Sie sahen ihn kommen.

Zehn Minuten später ließ Melissa das Fernglas sinken und sagte: »Das ist Harry.«

Jeri schnaubte verächtlich.

»Ehrlich, Mami, es ist der Rote Harry. Laß uns runtergehen!«

»Wie unwahrscheinlich«, sagte Jeri matt, nahm aber das Glas zur Hand. Den Kopf des einsamen Motorradfahrers bedeckte tatsächlich teils graues, teils rotes Haar, und er hatte einen Bart von gleicher Farbe. Jung war er wohl nicht mehr, sonst wäre es ihm nicht so sichtlich schwergefallen, die Maschine wieder auf die Straße zu schieben, auch fuhr er langsam. Das Motorrad sah aus wie Harrys Maschine. Konnte das sein? Es war tatsächlich Harry Reddington!

»Los«, sagte Jeri, »lauf rasch runter!« und eilte selbst hinab. Doch Melissa überholte sie lachend und war unten, lange bevor der Motorradfahrer die Stelle erreicht hatte. Als es soweit war, holte Jeri tief Luft und schrie: »Harry! Haaarry!«

Es sah nicht so aus, als würde er anhalten.


* * *

Mühevoll hatte Harry den Krater umfahren, der eine Straßenkreuzung mit geradezu unheimlicher Zielgenauigkeit zerstört hatte. Kurze Zeit später sah er am Straßenrand einen geparkten Kombi und zwei Gestalten, die hangabwärts zur Straße gelaufen kamen – eine Frau und ein kleines Mädchen.

Er hatte weder Zeit für Samariterdienste noch Platz für Mitfahrer.

Vom Straßenrand aus riefen sie ihm zu. Die Frau sah gut aus. Nicht ohne Bedauern gab er Gas.

Mit einemmal dann – »Haaarry!«

Mist! Seine Rechte zog den Bremshebel scharf an, er hielt die Maschine mit der Fußbremse in der Spur. Jeri und Melissa Wilson! Die hatten ihm noch gefehlt.

Dein Ehrenwort haben wir zur Kenntnis genommen. Wes Dawson mochte tot oder von Gott weiß was gefangen sein, aber er hatte seine Angelegenheiten auf der Erde Harry Reddington anvertraut. Carlotta Dawson würde ohne fremde Hilfe nicht durchkommen. Und wenn Jeri Wilson und ihre Tochter, die wohl kein Benzin mehr hatten, später erzählten, daß der Rote Harry einfach an ihnen vorbeigefahren war? Er wendete, blieb genau neben Melissa stehen und lächelte sie an. Verdammter Bockmist!

Dann stieg er vorsichtig von seiner Maschine, als habe er Angst, in Stücke zu zerbrechen, und richtete sich langsam auf. »Jeri. Melissa. Wieso seid ihr nicht bei den WagenburgLeuten?«

»Ich muß zu meinem Mann. Gott sei Dank, daß du vorbeigekommen bist, Harry! Wohin fährst du?«

Seine Antwort kam bedächtig. Er schien alles sehr langsam zu tun. »Ich war im Haus des Abgeordneten Dawson. Seine Frau ist jetzt in Dighton in Kansas, und er kann sich ja nun garantiert nicht um sie kümmern. Also muß ich ran.«

»Schön. Möchtest du Kakao?«

»Klar. Habt ihr denn was zum Heißmachen?«

»Einen Campingkocher, da oben am Hang.«

»Was ist mit eurem Wagen?«

»Kein Sprit.«

Harry nahm Jeris Einladung im vollen Wissen um die Folgen an. Drei Personen – das würden die Stoßdämpfer mit Sicherheit nicht überstehen. »In den Büschen da oben? Ich fahr die Maschine besser rauf. Wär jammerschade, wenn ich plötzlich ohne sie dastünde.«


* * *

Harry ließ das Motorrad ausrollen. Ohne den Fahrtwind war die Luft glühend heiß. Er goß etwas Wasser auf sein Stirnband und wischte sich das Gesicht ab. Jetzt krieg ich auch noch ‘nen Sonnenbrand. Elende Scheiße.

»Wir sind fast da«, sagte Jeri. »Warum hältst du an?«

»Es geht nicht mehr«, erklärte Harry. »Alles absteigen.«

Melissa sprang von ihrem luftigen Sitz auf dem Tank, und Jeri kletterte vom Sozius. Langsam stieg Harry ab und wuchtete die Maschine auf den Ständer. Jeder Muskel tat ihm weh. Dann versuchte er sich zu bücken.

»Zeit zum Rückeneinreiben?« fragte Jeri.

»Schaden kann’s nicht«, sagte Harry. Er wies auf einen Wasserlauf neben der Straße. »Melissa, wie wär’s, wenn du die Feldflaschen fülltest?«

»Das Wasser sieht nicht besonders sauber aus.«

»Es wird’s wohl tun«, sagte Harry.

»Gieß alles Wasser, das noch da ist, in eine Flasche, und füll die andere unten am Bach!« sagte Jeri. »Harry, du stehst da wie ein Fragezeichen. Bück dich mal über das Motorrad, dann kümmere ich mich um deinen Rücken.«

Harry wartete, bis Melissa fort war. »Ich weiß nicht recht, wie ich das sagen soll. Ich tu es nicht gern, aber einer muß ja. Wir sind fast da, noch fünfzehn, zwanzig Kilometer.«

»Ja. Vielen Dank. Ich weiß, daß es nicht an deiner Strecke liegt, und es ist wohl nicht sehr bequem, zu dritt auf einem Motorrad.«

»Schon richtig, aber darum geht es mir nicht«, sagte Harry. »Bist du nicht am Tag, bevor die Außerirdischen gekommen sind, über den Colorado River gefahren?«

»Doch.«

»Und seitdem hast du nichts gesehen als ein paar Städte und den Bombentrichter dahinten.«

»Harry, worauf willst du hinaus?«

»Ich hab mir die Karte angesehen. Unmittelbar oberhalb der Stadt, wo du hinwillst, liegt ein Staudamm.« Danach schwieg er, um Jeri Gelegenheit zu geben, die Bedeutung seiner Worte zu erfassen. »Jeri, ich hätte es fast nicht über den Colorado geschafft. In den Städten Needles und Bullhead City ist kein Stein mehr auf dem anderen. Den ganzen Fluß entlang ist nichts übriggeblieben. Die Außerirdischen haben einen Mordsbrocken auf den HooverStaudamm abgeworfen. Als die Staumauer am MeadSee brach, hat das Wasser auf eine Entfernung von dreihundert Kilometern alles mitgerissen. Ich meine buchstäblich alles: Staudämme, Brücken, Häuser, Boote. Ich hab’s nur auf diese Seite geschafft, weil mich ein Hubschrauber von der Nationalgarde mitsamt dem Motorrad übergesetzt hat.«

»Oh.«

»Ja, so sieht das aus. Keine Ahnung, was uns da vorne erwartet. Weißt du, in welchem Teil der Stadt dein Dave da gewohnt hat?«

»Nein«, sagte Jeri. »Harry – es muß einfach alles gut werden.«

»Na klar«, sagte Harry mit einer Stimme, der anzuhören war, daß er sich nicht einmal bemühte, sie aufrichtig klingen zu lassen.


* * *

Noch eine Steigung. Dahinter dann…

Jeri saß eingekeilt zwischen Harry und dem Gepäck. Sie mußte unaufhörlich weinen. Der Wind trieb ihre Tränen an den Schläfen entlang. Wieso heul ich eigentlich? Ich weiß doch noch gar nichts. Zumindest kann Melissa es nicht sehen.

Was soll ich ihr nur sagen? Sie schonend darauf vorbereiten? Aber…

Die Maschine arbeitete sich über eine Kuppe.

Unter ihnen lag ein riesiger Schlammsee. Durch die Mitte der Fläche von fünfzehn Kilometern Länge und zwei Kilometern Breite, die zuvor der Stausee bedeckt hatte, lief nur noch ein schmales Rinnsal, ein Bächlein mit unmäßig breiten Ufern. Beißender Gestank lag über dem Schlamm. Sie fuhren langsam, spürten den heißen Wind auf ihren Gesichtern, rochen modrigen Schlamm vom Grund des Stausees.

Melissa brauchten sie nichts zu sagen. Sie konnte den toten See selbst sehen und mußte imstande sein, sich auszumalen, was vor ihnen lag.

An den Schlammbänken entlang fuhren sie auf die Ruinen der Staumauer zu. Lange bevor sie sie erreichten, überlagerte etwas den Geruch nach verfaultem Schlamm und heißem Sommer. Überall lag der Gestank des Todes in der Luft.

Die Stadt unterhalb der Staumauer war verschwunden. Es sah aus, als habe ein Bulldozer alle Gebäude niedergewalzt und ein zweiter Schlamm über die Fundamente gebreitet. In gewisser Entfernung vom Bett des Stroms der Verwüstung lag ein schmaler Rand nur zum Teil zerstörter Gebäude, sah man Schuttreste. Ein Haus war fast genau in der Mitte entzwei gerissen worden, so daß Räume mit drei Wänden auf den Ort der Zerstörung hinabstarrten.

Oberhalb der Schuttlinie war alles intakt. Menschen stöberten in den Trümmern des Randbezirks umher, aber nur wenige wagten sich in den Schlamm hinab.

Sie suchen nicht mal mehr nach Überlebenden. Jeri spürte, wie sich Harrys Oberkörper aufrichtete, als sie der Ruinenstadt näherkamen.

Ein Polizeiauto versperrte gemeinsam mit einem Wagen der Nationalgarde die Straße. Harry hatte seinen Brief zur Hand, brauchte ihn aber nicht.

»Ich bin Mrs. David Wilson«, sagte Jeri. »Mein Mann wohnt hier, in der Spring Valley Lane 2467…«

Der junge Mann in der PolizeiUniform sah ebenso beiseite wie der Nationalgardist.

Sie verstand.

»Da unten lag sie, einen guten Kilometer von hier«, sagte der Mann von der Nationalgarde und wies dabei auf die Mitte der Schlammfläche.

»Vielleicht war er woanders«, sagte Melissa. »Vielleicht…«

»Es ist um zwei Uhr nachts passiert, fünf Minuten nachdem sie die russische Raumstation zerstört haben.«

»Alarm konnte auch nicht gegeben werden«, fügte der Polizeibeamte hinzu. »Das Telefonnetz ist sofort ausgefallen. Die einzige Möglichkeit, Leute flußabwärts zu warnen, hätte darin bestanden, schneller zu fahren, als das Wasser lief. Das aber ging nicht.«

»Wie schlimm ist es?« fragte Harry.

»Fürchterlich«, sagte der Nationalgardist. »Die Wasserversorgung im gesamten Tiefland ist zusammengebrochen, alle Orte entlang des Arkansas sind zerstört. Die Überflutung reicht noch über Little Rock hinaus.« Er nahm Harry beiseite, doch Jeri hörte, was er sagte.

»Fünf Kilometer östlich von hier haben wir in der Schule ein provisorisches Leichenschauhaus eingerichtet. Ein paar, die nicht ganz so entsetzlich aussehen, sind noch da. Hunderte mußten wir beerdigen, wie sie waren. Da haben sie auch eine Liste von allen, die sie identifizieren konnten.«

»Vielen Dank. Wir fahren wohl besser hin. Ob ich wohl irgendwo Sprit kriegen kann?«

Der Beamte lachte sarkastisch.


* * *

Die Brieftasche enthielt zwei Fotos von Jeri und eins von Melissa. Jeri sah darauf, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

Meine Bilder. Bestimmt hätte er mich gern gesehen. Der Führerschein war durchweicht, aber der Name war lesbar. »Das ist seiner«, sagte Jeri.

Der junge Mann mit dem schütteren Bartwuchs und dem schmutzigen weißen Kittel machte sich Notizen. »David J. Wilson aus Reseda, Kalifornien«, sagte er. »Nächster Verwandter Mrs. Geraldine Wilson…«

Es dauerte endlos. Er nahm Davids Brieftasche und notierte genauestens ihren Inhalt. Dann gab er Jeri einen Schuhkarton mit der Brieftasche, Davids Armbanduhr und Trauring. »Bitte unterschreiben Sie hier.«

Sie trat mit dem Schuhkarton hinaus ins helle Sonnenlicht, das über dem Staat Colorado lag. Mein Gott, was soll ich jetzt nur anfangen? Von Harry oder Melissa war nichts zu sehen. Sie setzte sich auf eine Bank neben der Schule.

Was wollen sie von uns? Warum tun sie das nur?

»Mutti…«

Jeri mochte ihre Tochter nicht ansehen.

»Harry hat es mir gesagt.« Melissa setzte sich neben sie. Nach einem Augenblick nahm Jeri sie in den Arm und sie hielten einander weinend umschlungen.

»Wir müssen weg«, sagte Melissa.

»Und wohin?«

»Nach Dighton in Kansas«, ertönte Harrys Stimme hinter ihrem Rücken, »und zwar sofort. Wir müssen über den Fluß, und es gibt mindestens bis Dodge City keine einzige Brücke. Also müssen wir flußaufwärts bis zum Ende des Staubeckens fahren – ein Umweg von etwa dreihundert Kilometern. Wir müssen jetzt sofort los.«

Jeri schüttelte den Kopf. »Was soll ich in Kansas? Ich kenne dort niemanden.«

»Ich auch nicht, außer Mrs. Dawson«, teilte ihr Harry ungerührt mit. Es war leicht zu erraten, was er dachte. Er hatte keine Frau…

»Harry, du kannst uns doch gar nicht brauchen auf deiner Maschine.«

»Stimmt«, sagte er, »aber was hat das damit zu tun?«

Melissa stand auf und zog an ihrer Hand. »Komm, Mutti, hier wollen wir nicht bleiben.«

Ich könnte Bekannte von David suchen und sehen, wo er seine letzten Monate verbracht hat.

Das ist morbid, wahrscheinlich triffst du am ehesten sein neues Schätzchen. War sie vielleicht sogar bei ihm? Hat die Erde deinetwegen gebebt, Liebling? »Also los, Harry! Ich dachte, du hättest kein Benzin mehr.«

»Er hat mit seinem Brief dem Polizisten eine Tankfüllung abgeschwatzt«, erklärte Melissa.

»Damit müßten wir es schaffen«, sagte Harry. Er führte sie um die Ecke. Sein Motorrad sah nicht mehr besonders gut aus und wirkte schon überladen, wenn niemand darauf saß.

»Auch zu dritt?«

»Ich denke schon.« Harry schwang sich mühsam in den Sattel. Er sah jetzt etwas erholter aus, sein Gesicht war nicht mehr so rot und sein Rücken nicht mehr so krumm wie zuvor. »Möchtest du vorher noch irgendwohin?« fragte er.

Jeri schüttelte den Kopf und nahm Melissas Hand. »Sie… haben über hundert in einem Massengrab beigesetzt. Das will ich nicht sehen.«

»Ich auch nicht, Mutti.« Melissa setzte sich vor Harry auf den Tank.

Die jungen Leute sind so verdammt – robust. Aber das muß wohl so sein. Vor allem jetzt. Jeri verstaute den Schuhkarton in der Satteltasche und stieg hinter Harry auf den Soziussitz. »Ich bin soweit.«

Als sie aus der Stadt fuhren, sah sie sich nicht um.

15. Die Weizenfelder

Wenn endlich selbst Liebende Frieden finden und die Erde nichts ist als ein Stern, der einstens schien.

JAMES ELROY FLECKER

Vorrede zu Die goldene Reise nach Samarkand


Zeit: 60 Stunden nach der Stunde Null

Sie hatten die letzten Vorberge hinter sich und fuhren durch die sanft geschwungene Weidelandschaft von Kansas, einem Land, dessen schnurgerade Straßen kleine Landstädtchen verbanden. Weizen- und Maisfelder gaben der Landschaft ihr eintöniges Gepräge. Kaum hielten sie einmal an, trieben der heiße Wind und die grelle Sonne sie zum Weiterfahren.

Eine Unterhaltung war bei dem Lärm, den das Motorrad machte, unmöglich. Harry unterdrückte den Schmerz in seinem Rücken und versuchte, nicht an die Krämpfe in seinen Beinen zu denken. Phantasievorstellungen halfen ihm dabei.

Jeri ist eine hübsche junge Frau, und sie ist ganz allein. Hat keine Ahnung, was sie in Kansas will. Vielleicht gab es nicht genug Zimmer, und sie mußten sich eins teilen, im selben Bett schlafen. In der ersten Nacht würde er sie einfach nur halten, und dann…

Insgeheim wußte er es besser, aber diese Vorstellungen waren immerhin angenehmer als die Rückenschmerzen.

Bis Dighton waren es noch gut sechzig Kilometer. Der Motor stotterte, und Harry schaltete auf Reserve. Sie würden es gerade schaffen, mit vielleicht noch Kraftstoff für fünfzehn Kilometer im Tank. Das muß und wird reichen, dachte Harry.

Sechs Kilometer vor Logan, einem völlig unbedeutenden Kleinstädtchen, blitzte es links vor ihnen hell auf. »Mist, verdammter!« schrie Harry und bremste so scharf ab, daß die Maschine mit quietschenden Reifen zum Halten kam. »Runter, runter und flachlegen!«

Jeri und Melissa warfen sich in den Straßengraben. Harry ließ die Maschine zu Boden gleiten. Er hatte unbewußt die Sekunden mitgezählt. Es dauerte nahezu eine Minute, bis der Donner über sie hinwegrollte. Die Druckwelle blieb aus.

»Fünfzehn bis zwanzig Kilometer von hier«, sagte Harry.

»Beim erstenmal waren wir näher«, sagte Melissa. Sie versuchte tapfer und gelassen dreinzusehen, aber es fiel ihr schwer zu vergessen, daß sie mit ihren zehn Jahren ihr ganzes Leben lang beschützt und behütet worden war.

Neuerliches Grummeln ertönte, es knallte, als würden Flugzeuge die Schallmauer durchbrechen, und ein mächtiges Getöse entstand am Himmel.

»Was, zum Kuckuck, gibt es denn hier zu bombardieren?« fragte Harry.

Jeri setzte sich auf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht… Harry!« Sie wies nach oben. Etwas Pfeilförmiges durchquerte in großer Höhe den Himmel, es glühte an der Spitze orangefarben und hinterließ einen wellenförmigen Kondensstreifen. »Was ist das?«

Harry schüttelte den Kopf. Der Kondensstreifen löste sich langsam in Schnörkeln und Windungen auf. Der Einfluß der Winde in der Stratosphäre. »Ein russisches Flugzeug? Es sieht nicht aus wie irgendein amerikanisches, das ich kenne.« Sie sahen einander erstaunt an. »Nee«, sagte Harry, »unmöglich. Vielleicht Raumgleiter?«

Die Maschine war nicht mehr zu sehen… dann setzte wieder das Blinken ein, blitzten die grellen blauen Lichtpünktchen auf, so wie in der ersten Nacht.

Staubkörnchen lösten sich aus dem Kondensstreifen.

Eine weitere Maschine überquerte den hellerleuchteten Himmel, dann noch eine, in schräg zueinander verlaufenden Bahnen. Auch hier lösten sich Staubkörnchen aus den Kondensstreifen. Die ersten Staubkörnchen wurden größer. Harry stand knietief im Grabenwasser und starrte nach oben. Eine vierte… und jetzt pulsierten die beiden ersten, entschwanden schließlich.

Sie mußten viel größer sein, als sie wirkten. Sie waren mindestens fünfzig Kilometer hoch oder noch höher: sie mußten so hoch sein, wenn man bedachte, was sie taten. Sie rasten mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die Stratosphäre und warfen ganze Wolken von… Pünktchen ab, die frei zur Erde fielen. Pünktchen?

Der vierte Raumgleiter pulsierte nicht. Er kippte zur Seite und schwang in weitem Bogen zurück.

Aus den Pünktchen waren Seifenblasen geworden, die immer tiefer sanken, und die untersten öffneten sich. Aus ihnen kam etwas mit einer Art Flügeln heraus…

»Das sind ja Fallschirmspringer!« riet Melissa in panischem Schrecken aus. »Mutti, sie wollen die Erde erobern!«


* * *

In einer Höhe von nahezu vierundsechzig Makasrapkithp brachte die Stratosphäre den Rumpf des Grifflingsschiffs zum Glühen. Trotz seiner Masse schien es kaum mehr Schutz zu bieten als die durchsichtige Hülle, die den Achtschaftführer Tshintithpitmäng umschloß. Überall sah er den Planeten, unvorstellbar riesig und schrecklich nah.

Er stand in der vordersten von acht Reihen, die aus je vierundsechzig weichen Blasen bestanden. Jede von ihnen enthielt ein Fi’, dessen Gesicht unter einer Sauerstoffmaske verborgen war.

Die durchsichtige Tür lag gerade einen Srapk von seinem Gesicht entfernt.

Die Krieger hielten sich gut. Warum auch nicht? Die unteren Dienstgrade waren ausschließlich unter den Schläfern rekrutiert worden, und ihnen war ein Planet nichts Neues, mußte der Flug dahin beinah wie eine Heimkehr sein. Und durften die Raumgeborenen, die die höheren Ränge bekleideten, im Angesicht der Schläfer Furcht zeigen? Dennoch…

Die Flußbiegung dort enthält mehr Wasser als sämtliche Vorräte an Bord des Bote. Die Masse jedes einzelnen der Berge, deren lange Kette wir vor wenigen VierundsechzigAtemzügen überquert haben, übertrifft sogar die des FUSSES!

»Achtschaften bereit machen zum Sprung.«

Der Atem des Achtschaftführers Tshintithpitmäng wurde flacher und beschleunigte sich.

Er war in dem Jahr geboren, in dem Thaktan Flishithy den Hauptstern dieser Welt umrundet hatte. Alle Angehörigen der Fithp des Jahres Null waren kurz nacheinander zur Welt gekommen, in Abständen von wenigen AchtTages Einheiten – natürlich – und standen einander daher näher als die Mitglieder anderer Altersgruppen. Einer wie der andere waren sie Abtrünnige, Männchen wie Weibchen. Sie hatten keinen Bedarf an Welten.

Innerlich lehnte sich Tshintithpitmäng dagegen auf, daß der Herr der Herde die Fithp des Jahres Null aufgespalten hatte. Er wollte nicht sein, wo er war.

Die Hecktür öffnete sich krachend. Luft entwich zischend. Die Blasen wurden straff. Die Tür fuhr nach draußen, während ein hohes Singen in die Kammer drang. Eine Reihe von Blasen strömte nach draußen, vierundsechzig Fithp fielen verstreut über die Landschaft. Ein weiterer Strom von Blasen folgte ihnen. Dann…

Das Fallen machte Tshintithpitmäng nichts aus. Nur das Knattern in der Luft ängstigte ihn. Die Überlebensblasen fielen stetig und verlangsamten allmählich ihren Fall. Das Grifflingsschiff blieb zurück, sah schließlich nur noch aus wie ein Punkt… und sogleich begann es zu pulsieren, beschleunigte, begab sich auf die Erdumlaufbahn zurück.

Das Knattern verstärkte sich. Die Luft wurde dichter. Einzelheiten wurden auf der Erde erkennbar. Der Krater dort war zugleich Orientierungspunkt und Markierung für den ersten Schlag; das Dorf dahinter war ihr Ziel. Tshintithpitmäng sah die Zahlen auf seinem Höhenmesser kleiner werden.

Jetzt. Er öffnete den Verschluß. Luft blies pfeifend davon. Er kroch aus dem Gewebe und ließ es vom Wind davonreißen. Die Ebene unten war gelb und braun, wurde von der weißen Linie einer Straße durchschnitten.

Der Gleitschirm schoß von selbst aus der Hülle und entfaltete sich, während Druckluft seine Versteifungsrippen füllte. Tshintithpitmängs Bewußtsein schwand fast, während ihm das Blut in die Glieder schoß. Der Landeschuh an einem seiner Hinterläufe hatte sich fast losgezerrt. Er beugte den Kopf nach vorn und streckte sich, um die Sache in Ordnung zu bringen. Seine Grifflinge reichten gerade weit genug.

Die Schuhe engten seine Zehen ein: es waren große, schwerfällige Plattformen aus Schaumstoff, der sich beim Aufprall flachdrückte, damit seine Fußknochen unbeschädigt blieben.

Er hielt Ausschau nach anderen Gleitschirmen in den Farben seiner Achtschaft: Rosa, Schwarz und Grün. Sechs sah er und lenkte den Schirm auf sie zu. Einer fehlte. Wo war er?

Der Erdboden kam näher. Er steuerte den Schirm über die Straße mit dem Trichter darin auf den Ort zu. Sechs Gleitschirme folgten ihm in Kiellinie. Immer noch fehlte einer. Unmöglich, dem Boden jetzt noch auszuweichen. Der Planet war alles, was es gab.

Einzelheiten wurden erkennbar. Drei Pünktchen bewegten sich von einem winzigen Fahrzeug fort, um sich neben die Straße zu werfen. Er steuerte auf sie zu. Sie wurden größer, GRÖSSER! Tshintithpitmäng richtete sein Geschirr so aus, daß er mehr Luft unter den Schirm bekam, mehr Auftrieb. Er versuchte verzweifelt, den Aufprall auf dem Planeten hinauszuzögern.

Fester Boden schlug gegen seine Hinterläufe. Sie schmerzten. Seine Landeschuhe wurden flachgedrückt. Er riß sie ab, warf den Gleitschirm von sich und sah sich um.

Groß. Planeten waren groß.


* * *

Eine Reihe insektengroßer Flieger sammelte sich und nahm Richtung auf die vor ihnen liegende Stadt. Das waren keine Fallschirme. »Wie Drachenflieger«, knurrte der Rote Harry. Die unter den Deltaflügeln hängenden Gestalten hatten keinerlei Ähnlichkeit mit Menschen.

Harry lief zu seinem Motorrad und klappte die Sitzbank hoch. Die schwere Waffe lag gut in der Hand, und befriedigt hörte er das Klicken, als er das Griffstück zurückschob. Doch das Gefühl der Sicherheit, das ihm die schwere Automatik sonst gab, wollte sich nicht einstellen.

Eine Anzahl Drachenflieger löste sich aus der Formation, teilte sich in zwei Gruppen und kam von zwei Seiten auf sie zu.

Melissa spähte durch das Fernglas. »Elefanten«, sagte sie, »Zwergelefanten.«

Jeri griff nach dem Glas. Dann begann sie hysterisch zu lachen und reichte es Harry.

»Was ist daran komisch?« fragte er und sah hindurch.

Wesen, die wie Zwergelefanten mit zwei Rüsseln aussahen, kamen unter Papierflugzeugen vom Himmel herabgeschwebt. Auch Harry erstickte fast an einem Lachanfall. Sie trugen riesige, auffällige Schuhe mit dicken Sohlen und hohen Absätzen. Doch beim Anblick der Gewehre, die sie mit aufgepflanztem Bajonett auf dem Rücken trugen, verging ihm das Lachen.

Links und rechts von ihnen flogen im Abstand von jeweils knapp hundert Metern zwei Reihen Drachenflieger vorbei und ließen sich rasch in die Weizenfelder sinken. Eine weit größere Gruppe hatte sich über den Ort Logan treiben lassen.

»Wir müssen schnellstmöglich von hier verschwinden!« schrie Harry. Er wuchtete die Maschine hoch.

Sie sprang nicht an. Die Schwimmerkammer des Vergasers war vollgelaufen während sie auf der Seite gelegen hatte. Der Benzingeruch stieg ihnen beißend in die Nase.

Erneut schnurrte der elektrische Anlasser. Endlich sprang der Motor an. Harry drehte die Maschine zur Straße hin…

Kaum einen Kilometer hinter ihnen landete ein Drachenflieger ziemlich unsanft auf der Fahrbahn. Das WeltraumWesen nahm seine Schußwaffe vom Rücken und trat dann aus den Schuhen heraus. Gefährten nahmen neben ihm Aufstellung. Ein weit größeres Objekt flog lautlos über sie hin: ein flaches Oval mit aufgerichteten Flossen. Es folgte den Verlauf der Straße, verlor langsam an Höhe und landete dann fast zwei Kilometer vor ihnen.

»Wir sind umzingelt.« Jeris Stimme klang, als hätte sie sich bereits in ihr Schicksal ergeben.

»Los!« gebot Harry. »Legt euch flach in die Felder! Vorwärts!«

Jeri nahm Melissa bei der Hand und zog sie mit sich, sie ließen eine deutliche Spur hinter sich. Die Weizenhalme standen dicht an dicht, man konnte nicht hindurchgehen, ohne sie niederzubrechen.

Wir können uns hier nicht verstecken. Vielleicht lassen sie uns in Ruhe. Harry umklammerte die Pistole fester und folgte ihnen.


* * *

Der Achtschafthoch drei Führer Harpanet hatte nur äußerst undeutliche Erinnerungen an seinen Fall.

Weit, weit unten erwartete ihn eine riesige, helle, gewellte Landschaft. Stimmen schnatterten durcheinander, unterbrochen von atmosphärischen Störungen; einige riefen seinen Namen. Er antwortete nicht.

Zu jedem Zeitpunkt während der Jahre der Vorbereitung hätte er den Mund auftun können. Er hatte Vorlesungen über das Wetter auf dem Planeten gehört: Temperaturveränderungen, »der windbedingte Abkühlungsfaktor« und die Corioliskräfte, die die Luft veranlaßten, so machtvolle Wirbel zu bilden, daß sie sogar Behausungen zerstören konnten. Ein ungeheurer, auf der ganzen Welt tobender Sturm, zufällig entstanden und deshalb außerhalb der Kontrolle durch das Fithp. Die Botschaften unserer Vorlinge wollten uns das mitteilen. Unvorhersehbarer Tod im Lebenserhaltungssystem!

Harpanet hatte zur Gruppe der Umerzieher gehört und versucht, die Beutewesen kennenzulernen. Sie hatten Sendungen verfolgt, die durch die Atmosphäre der Zielwelt ins All hinausgedrungen waren. Ich kann den Bildern nichts Vernünftiges entnehmen. Sie bedeuten überhaupt nichts.Je mehr er davon sah, desto merkwürdiger kamen sie ihm vor. Der Umerzieher Takpassih konnte mit seiner Unwissenheit leben und darauf warten, daß er mehr erfuhr. Für Harpanet waren diese Wesen keine Fithp. Sie verfertigen Werkzeuge und töten – mehr werden wir nie über sie wissen.

Andere Raumgeborene hatten insgeheim mit Fistartihthaktan gesprochen und waren daraufhin von den Listen der für Winterheim ausersehenen Krieger gestrichen worden. Was sie dem Priester gesagt hatten, dürfte seinen eigenen Gedanken entsprochen haben: Ich ertrage es nicht. Am wenigsten geht es dabei um das, was versuchen wird, mich umzubringen. Ich fürchte die Luft und das Land, und ich kann den Gedanken an einen Ozean nicht ertragen! Anschließend wich man ihnen aus. Ihre Mütter nahmen ihre Namen nie mehr in den Mund.

Harpanet hätte sich den Abtrünnigen anschließen können, doch er hatte sein Schweigen bewahrt.

Er wahrte es auch jetzt. Er konnte sich nicht rühren, brachte kein Geräusch heraus, mit Ausnahme eines dünnen Pfeifens, das dem Pfeifen der Luft ähnelte, durch die er fiel. Die dünne Haut der Blase wabbelte im Wind hin und her. Der Himmel rückte mit jeder Sekunde ferner.

Zu spät öffnete er seine Blase. Der Gleitschirm sprang heraus, und die Versteifungen entfalteten sich, bevor er ganz draußen war. Harpanet kreischte auf. Er stürzte unaufhaltsam auf eine gewellte helle Landschaft zu, und noch immer umschloß seine Blase den Gleitschirm. Er krallte sich am Gurt nach oben und trieb seine Grifflinge unter das Gewebe des Schirms, gegen den Widerstand der luftgefüllten Streben. Er zerrtedaran. Die helle Fläche des Planeten raste ihm entgegen, wollte ihn zerschmettern.

Nichts geschah. Er fiel ohne Widerstand. Noch immer krallte er sich ans Gewebe der Blase, und mit einemmal trieb sie lose über ihm. Er mußte sich zwingen, den Gleitschirm loszulassen, und erst dann begann er, der Luft Widerstand entgegenzusetzen, Harpanet schwebte.

Es dauerte eine Weile, bevor er sich soweit erholt hatte, daß er Ausschau nach den anderen Gleitschirmen halten konnte.

Er sah in großer Entfernung etwas wie einen Mückenschwarm. Gegen die Sonne. Es ist spät am Tag. Der Planet dreht sich vom Stern weg. Meine Krieger sind in der Drehrichtung.

Die unter seinem Befehl stehenden Achtschaften hatten den ihnen angegebenen Platz am Rande des großen Kreises angesteuert. Der Kreis würde sich schließen, Verteidigungsstellungen würden errichtet werden, Grifflingsschiffe würden sie bald wieder aufnehmen und in die Dunkelheit zurückbringen, in die unendliche Sicherheit des Weltraums.

Eine Erhebung versperrte ihm die Sicht auf die anderen Schirme. Wellen gelben Fells strömten schrecklich rasch unter ihm dahin. Durch sein Entsetzen drang ein einziger Gedanke: ein Anheben der Vorderkante des Gleitschirms würde seinen Flug verlangsamen und ihn Höhe gewinnen lassen. Er lehnte sich in den Gurten zurück. Der Schirm hob sich, wurde langsamer… bis er förmlich in der Luft stehenblieb. Dann sackte er durch, wurde schneller und schlug auf dem Boden auf. Er rollte sich ab. Der Schirm wickelte sich um ihn, eine der Streben zischte ihm Luft ins Gesicht, als sein Bajonett sie durchbohrte. Als es ihm schließlich gelang, sich aus dem Schirm zu entwirren, war sein Funkgerät stumm. Ein Knie hatte er sich verrenkt, so daß er nur auf drei Beinen humpeln konnte. Die Schwerkraft zerrte ihn nieder.

An dieses Erlebnis wünschte er sich keinesfalls zu erinnern. Er befand sich viele Makaskrapkithp von dem ihm zugewiesenen Landeplatz entfernt.


* * *

Jenny fuhr schlagartig aus dem Schlaf. Ein Unteroffizier vom Dienst stand über ihr und sagte aufgeregt: »Unverzüglich, Major. Der Admiral wünscht Sie sofort im Besprechungsraum. Es ist ein Notfall. Eine Invasion.«

Eine Invasion? Sie setzte sich auf. »In Ordnung, Sergeant. Ich komme.«

»Sofort, Major!«

»Ich habe es gehört. Vielen Dank.«

Sie schlüpfte rasch in ihren Kampfanzug. Von Handfeuerwaffen hatte er nichts gesagt. Wir befinden uns zwar im Kriegszustand, aber sie werden doch nicht in Colorado Springs einmarschieren!

Als sie den Einsatzraum betrat, war sie nicht mehr so sicher.

Admiral Carrell, noch immer in Zivil befand sich in einem der wie eine Schublade vorspringenden logenähnlichen Kommandostände, von denen aus man die Befehlszentrale überblickte. Jenny blieb vor der Tür stehen und fragte sich, was sie tun sollte.

»Kommen Sie herein, Major.« Carrell wies auf die wandgroßen Bildschirme unter ihnen. Sie zeigten Kansas sowie das südliche Nebraska mit roten Blitzen und von Hand gezeichneten grauen Quadraten bedeckt. Jenny starrte einen Augenblick lang darauf und versuchte zu begreifen, was sie da sah.

»Wir hatten keine Symbole für eine Luftlandung in Kansas«, sagte Admiral Carrell. »Also mußten wir sie einzeichnen. Allerdings bedeutet das nichts, da wir keineswegs alle Orte kennen, an denen sie landen.«

»Sind all die roten Marken Atomschläge?« wollte Jenny wissen.

»Wohl nicht«, sagte Carrell. »Bisher haben sie keine AWaffen eingesetzt. Es war nicht nötig.«

»Verstehe, Sir.« Sie werfen unter Ausnutzung der kinetischen Energie riesige Gesteinsbrocken ab.

Ein Generalleutnant des Heeres keuchte im Kampfanzug und mit umgeschnallter Pistole herein.

»Sie kennen General Toland«, sage Carrell. »Nein? General, Major Crichton ist meine Adjutantin. Wie sieht es aus, Harvey?«

»Wenn ich das doch nur wüßte, Thor. Es ergibt einfach keinen Sinn. Sie können unmöglich Kansas angreifen. Ganz gleich, wie groß das verdammte Schiff ist, so viele Soldaten passen da keinesfalls rein.«

»Was also tun sie dann?«

General Toland schüttelte den Kopf.

Carrell sagte: »Jenny, trommeln Sie bitte mal die SFLeute zusammen und setzen Sie sie an die Arbeit. Sie können dazu den großen Besprechungsraum nehmen. Lassen Sie Fernsehbildschirme aufstellen, holen Sie Kartenmaterial, besorgen Sie Kaffee und Whiskey – von mir aus auch Nutten, wenn ihnen danach ist. Auf jeden Fall brauche ich Erklärungen!«


* * *

Schwitzend lag Harry im Weizenfeld. Es war warm, doch er hätte jetzt auch in einem Schneesturm geschwitzt.

Die Straße konnte er nicht sehen, aber er hörte das Fahrzeug auf ihr. Der Motor klang anders als alles, was er je gehört hatte.

Dann hörte er es rascheln im Weizen. Jemand – etwas – näherte sich.

Die Halme standen zu dicht, als daß er hätte hindurchsehen können. Seine Welt war auf einen Umkreis von fünf Metern oder weniger zusammengeschrumpft. Er konnte gerade noch Melissas leuchtendrotes Kopftuch sehen. Ich hätte ihr raten sollen, es abzunehmen, jetzt ist es zu spät. Wir können uns sowieso nicht verstecken.

Die Geräusche kamen näher. Sie waren überall um ihn herum.

Und was jetzt? Die Pistole verlieh ihm kein Gefühl der Sicherheit. Er war kein guter Schütze. Ihm fiel ein, was ihm ein alter AfrikaSöldner einmal über Elefanten gesagt hatte. Es sei schwer, sie im vollen Lauf zu bremsen und noch schwerer, sie zu töten. Man mußte sie genau an der richtigen Stelle treffen. Eine Kugel vom Kaliber 11,43 mm würde die wohl kaum beeindrucken, außer sie traf genau an einer entscheidenden Stelle…

Aber es sind keine richtigen Elefanten. Vielleicht sind sie gar nicht so zäh. Wahrscheinlich würde ich die richtige Stelle nicht finden.

Er hörte Jeri aufkreischen, dann zwei Schüsse aus ihrer Walther. Melissas Tuch fuhr hoch, dann bewegte sich etwas, und sie verschwand im Weizen. Es gab nichts, auf das er hätte schießen können. Harry sprang auf und lief auf das Geräusch zu.

Dabei hörte er etwas hinter sich. Er wandte sich um…

Ein Zwergelefant war hinter ihm her. Ein weiterer näherte sich von der Seite. Die haben ja Mäntel mit Kapuzen an! Harry zielte auf den einen und schoß. Der Elefant ließ sich nicht beirren. Etwas wie Peitschenschnüre schlug ihm gegen Arm und Seite, so daß er herumgerissen wurde und ihm die Pistole aus der Hand fiel.

Der andere Elefant kam auf ihn zu. In seinem Rüssel, der aussah wie eine neunschwänzige Katze, hielt er ein Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett. Es zielte genau auf Harrys Kehle.

»Melissa! Lauf!« kreischte Jeri.

Harry wandte sich um, um zu ihr zu gelangen.

Etwas fuhr ihm pfeifend um die Knöchel und riß ihm die Füße unter dem Leib weg. Er fiel schwer in den Weizen. Der Elefant stand mit auf ihn gerichtetem Bajonett über ihm. Der andere stellte sich daneben.

»Pshthish ftpph.«

Harry sah verständnislos nach oben.

Die Elefanten wiederholten die Laute, diesmal lauter.

»Schon gut, verdammt noch mal, ihr habt mich!« Er blieb liegen, wo er war, wälzte sich halb herum. Bei der kleinsten Gelegenheit würde er…

Wieder zischelten die Außerirdischen. Dann fuhr mit einemmal ein Rüssel herab und drehte Harry auf den Rücken. Einer der Angreifer zog Harrys Hände über den Kopf. Der andere ragte über ihm auf.

Mein Gott, die wollen mich zertrampeln! Harry wand sich, um freizukommen. Der Fuß wurde auf seine Brust gestellt. Es geschah fast sanft. Harry zappelte, er riß eine Hand frei und kratzte mit den Nägeln an dem Fuß, versuchte, ihn nach oben zu drücken, sich seitwärts wegzurollen. Sein Kinn wurde von Krallen gehalten, und ein schweres Gewicht drückte auf seine Brust, preßte die Luft aus ihm heraus, es klang wie verzweifeltes Zischen. Er verlor das Bewußtsein.

Undeutliche Wahrnehmungen in seinem Gehirn, Erinnerungen an einen Alptraum. Er atmete schwer wie ein Blasebalg! Er rollte sich zur Seite in… Weizen? Unmenschliches Schreien und Brüllen drang an seine Ohren. Es klang, als wäre in einem Zoo Feuer ausgebrochen.

O Gott. Jeri. Harry versuchte aufzustehen und schaffte es bis auf ein Knie.

Die Zwergelefanten versammelten sich auf der Straße. Harry erhaschte einen Blick auf Melissa, die auf dem Rücken eines der Angreifer hockte und von einem sich verzweigenden Rüssel dort festgehalten wurde. Jeri bewegte sich taumelnd voran, von Angreifern umzingelt.

Auf der Straße wartete ein Fahrzeug von der Größe eines Schwerlasters. Es hatte keine Räder und sah aus wie ein riesiger Schlitten. Der Motor lief nicht.

Sie luden Melissa in das Fahrzeug und stießen Jeri hinter ihr hinein. Einige der Angreifer sprangen auf die große Ladefläche. Das Fahrzeug erhob sich lärmend auf einer Staubwolke: Aha, Luftkissengleiter. Es sauste davon.

Harry schienen die Außerirdischen ganz und gar vergessen zu haben.

Er kroch langsam davon und gab sich Mühe, die Weizenhalme so wenig wie möglich in Bewegung zu versetzen. Was blieb ihm nun? Sie hatten ihm die schwere Pistole genommen, aber vielleicht hatten sie sein Motorrad dagelassen, und Carlotta wartete immer noch. Es sei denn, sie waren auch dort gelandet.


* * *

Auf allen Wegen flohen die Beutewesen aus dem Dorf. Fahrzeuge galten als Waffen und wurden auch so behandelt, doch wer zu Fuß war, durfte sich ergeben. Man mußte es den Erdlingen beibringen: In manchen Fällen mußte man sie niederschlagen und in die richtige Stellung rollen. Wer anschließend aufstehen konnte, konnte ungehindert seiner Wege gehen.

Das Dorf war stärker in Mitleidenschaft gezogen worden als nötig. Es betrübte Tshintithpitmäng: einige Bewohner waren tot, einer war bei lebendigem Leib in Stücke gerissen worden, sein Schreien gellte ihm noch immer in den Ohren, Gebäude waren zerstört, der Geruch nach Sprengstoff und Brand hing in der Luft; der flache Trichter, wo der Fels heruntergekommen war… Wir kennen sie nicht. Lieber etwas zuviel Gewalt anwenden als zuwenig.

Durch Befragen vorüberkommender Krieger fand Tshintithpit mäng den Achtschafthoch drei Führer in einem großen, roten Gebäude mit einem Säuleneingang.

Siplisteph war von nahezu quadratischen Bündeln bedruckter Blätter umgeben, die an einer Ecke gebunden und bunt verziert waren. Er durchblätterte eines dieser Bündel, es enthielt neben dem Druck Zeichnungen. Der junge Schläfer schien entspannt, schien sich äußerst wohl zu fühlen. Er sah träumerisch auf und sagte: »Es ist so schön, wieder einmal einen Himmel zu sehen.« Seine Augen richteten sich auf Tshintithpitmäng. »Du kommst spät.«

Tshintithpitmäng sagte: »Einer hat sich nicht gemeldet. Davon abgesehen haben wir keine Verluste.«

Siplisteph hob seine Grifflinge. »Die anderen haben Krieger verloren. Du wirst befördert. Zusätzlich zum Kommando über deine Achtschaft bekommst du das stellvertretende Kommando über die Achthoch zwei Einheit, der du angehörst.«

»Hat es schwere Verluste gegeben, Achtschafthoch drei Führer?«

»Ziemlich viele in der Führerschaft. Wir haben einen Achtschaft hoch drei Führer verloren.«

»Es sind lauter Raumgeborene…«

»Diesen Gedanken solltest du besser nicht aussprechen, Tshintithpitmäng.«

Schläfer! Winterheim ist eure Heimat, aber wie können wir selbst uns inmitten dieses endlosen Horizontes finden, unter diesem unendlichen Himmel? Das konnte er nicht sagen. »Leitet mich.«

»Fahr mit deinem Bericht fort!«

»Ich gehorche. Achtschafthoch drei Führer, ich habe zwei Weibchen gefangengenommen. Das eine ist die Gefährtin eines kräftigen Mannes, das andere ihr Kind. Ich habe die Unterwerfung des Mannes angenommen und ihn zurückgelassen.«

Die Ohren Siplistephs stellten sich aufmerksam auf. »Er hat sich unterworfen?«

»Man mußte es ihm zeigen.« Aber der Zwischenfall hatte einen schlechten Nachgeschmack bei Tshintithpitmäng hinterlassen, und er fuhr fort: »Achtschafthoch drei Führer. Ich habe ihn niedergeschlagen und meinen Fuß vorsichtig auf ihn gestellt. Er hat sich gewehrt und um sich geschlagen. Ich habe kräftiger zugedrückt, bis er sich nicht mehr wehrte. Als ich den Fuß hob, bewegte er sich nicht mehr. Ich frage mich, ob ich ihn getötet habe.«

»Das ist das Problem der Umerzieher, nicht unseres.« Die Augen Siplistephs wandten sich erneut den Bildern zu.

»Leitet mich«, sagte Tshintithpitmäng und kehrte zu seiner Achtschaft zurück. Aber die Sache beschäftigte ihn. Die Eroberung von Winterheim durch Hinabstürzen von Gesteinsbrokken und die Unterbrechung von Versorgungswegen hatte bestimmt den achten Teil eines Sechstels der armen, mißgestalteten Lebewesen getötet. Nun, so war es im Krieg eben. Aber grundlos tötete ein Fi’ nicht, und keinesfalls einen Gegner, den es zur Unterwerfung bewegen konnte. Warum kämpfte das Tier weiter, wenn es so wenig aushielt?

Tshintithpitmäng erinnerte sich daran, wie der Brustkorb des einen Männchens unter seinem Fuß nachgegeben hatte. Es hatte um sich geschlagen, gekratzt und schließlich aufgehört, sich zu bewegen… es wußte nicht, wie man sich unterwarf. Keiner von ihnen wußte das. Schlimm.

16. Die Unterwerfung

Ein Mensch in einem Gefangenenlager in den Händen seiner Feinde ist Fleisch und bestürzend verwundbar.

Die Disziplin, die Menschen im Angesicht von Angst, Hunger und Gefahr zusammenhält, ist unnatürlich. Belastungen, die der durch Angst und Panik erzeugten gleichkommen und über sie hinausgehen, müssen den Menschen auferlegt werden. Einige dieser Belastungen nennt man Zivilisation. Und noch die höchste Form der Zivilisation verlangt nach Führerschaft.

T. R. FEHRENBACH

Diese Art Krieg


Zeit: 80 Stunden nach der Stunde Null

Die der Außenhaut zugekehrte Wand lag unten, die Tür befand sich in der Decke. Wahrscheinlich würde das eine Weile so bleiben.

Etwa eine Stunde lang hatte das Schiff beschleunigt, anschließend war es eine halbe Stunde lang frei gefallen und dann wieder in die Rotationsphase eingetreten. Einige Tage waren ohne weitere Veränderungen vergangen. Vermutlich würde es eine Stunde oder länger dauern, die Rotation zu stoppen.

Rotation würde das Mutterschiff bei einer Schlacht behindern, also mußte die Erde, so schloß Wes Dawson, weit zurück und außer Reichweite liegen.

Nikolai und Dmitri unterhielten sich leise: Nikolai machte ein finsteres Gesicht, meist sprach Dmitri. Unter dem Einfluß der Schwerkraft war Nikolai wieder zum Krüppel geworden.

Die Außerirdischen hatten keine Zeit verloren. Sie lehrten ihre Gefangenen bereits ihre Sprache. Wes fand das beruhigend. Die Sowjetrussen allerdings wurden getrennt unterwiesen, und sie hatten deutlich durchblicken lassen, daß ihnen nichts daran lag, Wes an ihren neuen Kenntnissen teilhaben zu lassen. Er wiederholte jetzt seine Aufgaben allein, und beim Lernen sprach er die fremden Laute flüsternd aus.

Srapk bedeutete soviel wie ›NormRüssellänge ‹ und maß etwa einen Meter achtzig. Ein Makasrapk war achthoch drei Srapkithp, also fünfhundertzwölf, knapp einen Kilometer.

Wes hatte versucht herauszubekommen, was ›Rüssel‹ hieß. Es gab offenbar kein Wort dafür. Ein scharfes Schnauben, Snnfp, bezeichnete die Nüster oder den Oberrüssel. Pa’ war die einzelne Verzweigung, sozusagen ein ›Finger‹ des Rüssels; Pathp bezeichnete, mit der Einzahl eines Verbs, die Gesamtheit der von den Außerirdischen als ›Grifflinge‹ bezeichneten Greifglieder, ähnlich wie ›Geäst‹ oder ›Gebüsch‹, diente aber zugleich auch als Plural, wie ›Äste‹ und ›Büsche‹ …

Tshejtrif hieß Fuß.

Sfaftiss war die Anrede für Takpassih; es bedeutete Lehrer. Der andere Sfaftiss sagte nichts, und sein Name war schwieriger auszusprechen: Rästapispmins. Beide Sfaftissthp kamen ihm alt vor, aber es sah aus, als seien sie auf verschiedene Weise gealtert. Konnte es zwei Rassen dieser Wesen geben? Allerdings bezeichneten sie sich mit demselben Begriff: Tshaptisk Fithp.

Tshapt hieß bewegen, tshaptisk bewegend, umherziehend. Tshaptisk Fithp war das Wort nicht nur für diese Wesen, sondern für jeden, der seinen Heimatplaneten verließ. Das umherziehende Volk, in etwa: die Ziehende Herde?

Fi’ hießen die Außerirdischen als Einzelwesen. Die Silbe wurde durch eine Art Aufstoßen abgeschnitten und klang wie der Teil eines Wortes.Fithp waren mehrere von ihnen – und die gesamte Gattung. Als sei ein einzelner kein Ganzes und Vollständiges, so wie Pa’ nur eine der Verzweigungen des Rüssels Pathp war. Offensichtlich waren es Herdentiere.

Tashajämp war Takpassihs Gehilfin. Jedenfalls vermutete Dawson, daß sie ein Weibchen war: der Leder- oder Kunststofffleck an ihrem Geschirr bedeckte eine andere Stelle weiter hinten an ihrem Rumpf als bei Takpassih. Vielleicht verwechselte er die Geschlechter auch; aber er mochte nicht fragen.

Die Tür öffnete sich nach oben, es war eine Falltür. Die Gefangenen sahen auf und warteten.

Es war Takpassih: Wes hatte gelernt, ihren Lehrer an der faltigen, dicken Haut zu erkennen und an den Augen, die stets zwinkerten, als sei das Licht zu hell. Takpassih sah zu, während Krieger der Außerirdischen vor der Falltür eine Plattform anbrachten. Sie glitt leise durch Nuten in der Polsterung der Steuerbordwand nach unten und bot genug Platz für einen Außerirdischen, mehr als genug für Wes und Arwid. Wes hatte angenommen, sie würden eine Leiter herablassen, aber damit konnten diese Wesen wohl nichts anfangen.

Takpassih, Tashajämp und acht bewaffnete Krieger warteten im Gang. Die Plattform senkte sich erneut für Dmitri und Nikolai. Giorge ließen sie zurück.


* * *

Vergeblich hatte Arwid gehofft, es werde ein Fenster geben. Je vier WeltraumSoldaten eskortierten sie vorn und hinten. Takpassih und Tashajämp reihten sich zwischen ihnen bei den Gefangenen ein. Für Nikolai hatten sie ein Räderfahrzeug aufgetrieben. Arwid schob es. Wes versuchte, Tashajämp zu erklären, daß sie etwas brauchten, um ihre Nahrung zu erwärmen. Arwid hörte nicht darauf. Er versuchte, sich mit den Bauprinzipien des Mutterschiffs vertraut zu machen.

Die Gefangenen mußten barfuß über den schwammartigen und patschnassen Teppich gehen. Die Türen im Boden öffneten sich zur Gangwand hin.

»Ich vermute«, sagte Arwid auf russisch, »daß jede Öffnung, die groß genug für einen der Außerirdischen ist, zwei oder drei von uns gleichzeitig durchläßt. Vielleicht bewachen sie Öffnungen nicht, durch die gerade ein Mensch passen würde.«

Dmitri nickte.

»Klettern können die bestimmt nicht. Eine Wand, die ein Mensch ohne weiteres überwinden kann, wäre für sie ein unübersteigbares Hindernis.«

Erneut nickte Dmitri.

»Hast du etwas gesehen, das mir vielleicht entgangen ist?«

Dmitri sagte: »Du hast zwar erst etwas gesagt, als wir einen Gang erreicht und uns in Bewegung gesetzt hatten. Das ist in Ordnung, aber bist du sicher, daß unsere Lehrer nicht Russisch sprechen?«

»Sie sprechen Englisch und machen kein Geheimnis daraus. Warum sollten sie damit hinter dem Berg halten, wenn sie Russisch könnten? Außerdem müssen wir ab und zu ja auch miteinander sprechen.«

»Vielleicht. Glaubst du, wir könnten ihre Gewehre benutzen?«

Ganz vorn am Lauf waren Haltestege für den verzweigten Rüssel eingearbeitet, und auch der Abzug lag weit vorn. Das Kaliber war gewaltig, der Kolben kurz und sehr breit. »Ein Mensch kann sie wohl nicht an die Schulter setzen, und wahrscheinlich würde man vom Rückstoß das Bewußtsein verlieren, außer… du stützt die Waffe irgendwo ab, auf dem Fußboden, an einer Wand, an einem Möbelstück. Schwer zu zielen.«

»Unternimm jedenfalls erst etwas, wenn ich es sage. Was ist mit Dawson? Ob er irgendwelche Dummheiten probieren würde?«

»Ich…« Arwid unterbrach sich. Sie waren am Ziel.

Die breite Tür wurde wahrscheinlich benutzt, wenn das Mutterschiff beschleunigte, der Aufzug hingegen nur, wenn im Raumschiff RotationsSchwerkraft herrschte. In dem unten liegenden großen Raum befanden sich bereits über ein Dutzend der Weltraumwesen.

Die Gefangenen stiegen hinab, die Soldaten blieben oben.

Die Außerirdischen sahen hinauf. Die meisten hatten ihre Rüssel auf den Kopf geklappt, offensichtlich eine Ruhestellung. Die Augenlider hingen herab, was ihrem Blick etwas Trauriges verlieh. Die schwarzen Pupillen verliefen zu einem rauchgrauen, weißen Ring. Obwohl die Augen weit auseinander lagen, ermöglichten sie ganz offensichtlich ein räumliches Sehen. Die kräftigen Muskeln am Ansatz des Rüssels bildeten Rillen. War der Rüssel hochgeklappt, konnten die Augen an ihnen entlang etwas fixieren: wie mit dem Visier eines Gewehrs. Der Blick dieser Augen war schwer zu ertragen.

Nikolai riß sich zusammen und hielt dem Blick der Weltraumwesen stand. Arwid murmelte: »Gib dich servil, Nikolai! Wir unterwürfigen Diener der neuen Herren warten auf unsere Anweisungen.«

Nikolai nickte und senkte den Blick. Seine Stimme klang gelassen. »Ich habe keine Entlüftungsöffnungen gesehen. Vielleicht wird die Luft durch die Bodenbeläge gefiltert. Der Teppich ist naß. Sie haben offenbar gern nasse Füße.«

Ohne weiteres hätte der Raum drei- bis viermal so viele Weltraumwesen aufnehmen können, wie jetzt darin waren. Takpassih sagte rasch etwas zu ihnen und sprach dann langsamer mit den Erdlingen. Arwid versuchte, die Namen zu behalten: Pastempihkeph. K’tarfukeph. Fathistihtalk. Tshaupintalk. Fistartihthaktan. Kulpulih. Peikartänk. Zwei kleinere Außerirdische wurden nicht vorgestellt. Sie starrten die Gefangenen neugierig an und drängten sich dicht an die größeren Weltraumwesen. Offensichtlich Jungtiere.

Sinnlos, sich die Namen einprägen zu wollen. Wichtig war es, sich die soziale Rangordnung der Außerirdischen zu merken. Sie traten gruppenweise auf, und es würde nicht leicht sein, ihre Körpersprache zu erlernen, das wußte er bereits.

Pastempihkeph (männlich) und K’tarfukeph (weiblich) mit ihrem Jungen (männlich) standen hoch in der Rangordnung, entsprechend einem Vorsitzenden, Präsidenten oder Admiral. Die Gleichheit der letzten Silbe des Namens wies darauf hin, daß sie Lebensgefährten waren; das hatte er bereits gelernt. Einer gab den Ton an, und Arwid war nicht sicher, ob das immer das Männchen war. In ähnlicher Weise gehörten Fathistih talk und Tsaupintalk zusammen, sie standen in der Nähe des Admirals. Berater? Ausschließlich der Mann redete. Aha.

Fistartihthaktan (männlich), Kulpulih (männlich) und Peikartänk (weiblich) bildeten gleichfalls eine Gruppe. Die zusätzlichen Silben bedeuteten wahrscheinlich, daß Fistartihthaktan eine Gefährtin hatte. Er war schon alt, seine Haut war faltig, und in seinen Augen lag ein schmerzlicher Blick… wie auch in denen ihres Lehrers Takpassih. Er trug ein reich verziertes Geschirr, es wirkte wie ein aus Silberdraht hergestellter Wandbehang. Er sah die Erdlinge prüfend an, wie ein Richter. Das Paar an seiner Seite war deutlich jünger: helle Augen, glattere Haut, rasche Bewegungen.

Nikolai sagte: »Ich hatte gedacht, daß die Oberbonzen Uniform tragen. Sie alle haben dies merkwürdige Geschirr mit dem Rucksack drauf. Könnten vielleicht die Farben und Muster…?«

»Ja, es sind Rangabzeichen. Dawson nimmt an, daß wir keinen bekleideten Außerirdischen zu sehen bekommen. Wahrscheinlich machen ihnen die riesigen Leiber die Wärmeregulierung schwer genug.«

Der Raum wurde dunkel. Eine Wand schien zu verschwinden, und Arwid begriff, daß sie in einem Vorführsaal waren, wie in einem Kino.

Rogatschow erkannte das riesige Raumschiff, eine Tonne, deren Umfang fast ihrer Länge entsprach. An ihrem hinteren Rand waren kleinere Fahrzeuge zu sehen, einige noch nicht an Ort und Stelle verzurrt. Eine Art Weltlandschaft aus Blau und Weiß konnte die Erde sein, allerdings vermochte Arwid keine Einzelheiten der Oberflächengestalt zu erkennen. Die polierte Kugel in der Nähe… ein Mond? Nein, sie bewegte sich langsam.

Takpassih sprach. Hie und da verstand Arwid ein Wort und übersetzte es frei: »Aufpassen, nicht bewegen. Ihr seht… Reise (Tshapt) zur Erde?. Bauen… Thaktan Flishithy.« Arwid lächelte. Er hatte schon angenommen, daß das ihr Name für das Mutterschiff war, und ganz offensichtlich korrespondierte er mit dem Bild auf der Leinwand, das die Konstruktion eines Raumkreuzers zeigte.

Regungslos sah er zu. Die Außerirdischen um ihn herum rührten sich nicht und sagten kein Wort.

Binnen Sekunden waren die letzten der kleinen Raumschiffe festgemacht. Zeitrafferaufnahmen. Ein Stück Ofenrohr, etwas größer im Durchmesser als Thaktan Flishithy, kam vom Bildrand herangetrieben und wurde hinter dem Ring aus kleineren Raumfahrzeugen befestigt.

Die glänzende Kugel wurde am Vorderende des Mutterschiffs angebracht. Sie war größer als alles andere zusammen. Eine Schutzhülle, die eine Anzahl von Sensoren und Instrumenten enthalten mochte, kroch an einem schlangenähnlichen Arm um sie herum.

Vom Rand des Bildes fiel etwas nach innen: helle Flammen von chemischen Raketen um… um etwas Rechteckiges herum. Es schrumpfte zu einem Punkt und strebte dem Schiff zu. »Laden Podo Thaktan in Thaktan Flishithy«, sagte Takpassih.

Das Wort Thaktan. Zuerst hatte Arwid angenommen, es bedeute Fähigkeit oder Wissen, aber – Fistartihthaktan? Eine Gefährtin für ihn war noch nicht genannt worden. War dies Fi’ womöglich mit dem Raumschiff verpaart, also sozusagen verheiratet?

Alles zu seiner Zeit. Arwid warf einen Blick auf Dawson. Dessen Blicke folgten gebannt den Vorgängen an der Projektionswand, und so konnte Arwid die Außerirdischen unauffällig mustern.

Fünf der Fithp zeigten Anzeichen einer schleichenden Krankheit, jedenfalls hing die Haut schlaff an ihnen hinab, und ihre Augen wirkten entzündet. Es schien nichts mit dem Alter zu tun zu haben. Pastempihkeph und K’tarfukeph (Admiral mitsamt Gefährtin) waren nicht jung, hatten aber auch diese Krankheit nicht. Die Kranken hielten sich beisammen. Sie sahen alle etwa gleich alt aus, die übrigen Weltraumwesen waren von sehr unterschiedlichem Alter.

Der Berater des Admirals und seine Gefährtin gehörten zur Gruppe der Kranken. Ein weiterer Kranker versuchte, zu ihnen zu sprechen, während ihn ein weibliches Weltraumwesen in ziemlich unfeiner Weise daran zu hindern versuchte.

Eine Spaltung unter den Außerirdischen konnte sich als nützlich erweisen.


* * *

Wes Dawson sah einen Planeten vorüberziehen… eine bunte Welt wie die Erde, blau mit weißem Zuckerguß. Nur wenige Sekunden lang versuchte er, die Gestalt von dessen Kontinenten zu enträtseln. Keiner kam ihm bekannt vor.

Das Raumschiff der Eindringlinge war nur etwa eine Minute im Blickfeld der Kamera zu sehen gewesen. Diese Kamera hatten sie wohl dort gelassen. Thaktan Flishithy war mehr als das zylinderförmige Kriegsschiff, das eine Umlaufbahn um die Erde erreicht hatte. Eine riesige, zerbrechlich wirkende Kugel saß auf seiner Spitze. Bestimmt diente sie der Brennstoffversorgung. Und der Ring…

Er sah an der Flanke von Thaktan Flishithy entlang nach hinten, an einem kräftigen Ring vorbei, der wie ein breiter Trauring das hintere Ende umschloß. Die Sonne wurde kleiner, eine zweite schob sich ins Bild. Beide schrumpften rasch zu hellen, weißen Sternen, deren Licht sich nicht sehr von dem der Erdsonne unterschied. Aus der Farbe der Zellenbeleuchtung hatte Wes das bereits geschlossen.

Man sah gleichbleibendes weißes Licht hinter dem Ring. Die Antriebsflamme wurde dunkler – Wes mochte es nicht recht glauben – und ein schwacher, violetter Schimmer drang aus dem schwarzen Hintergrund.

Wäre jetzt im Vorführraum eine Bombe detoniert, Wes Dawson hätte es nicht gemerkt. Nur am Rande bekam er mit, was der Kommentator sagte.»Thaktan Flishithy muß sich sehr rasch bewegen, bevor wir die (langes Wort) benutzen. Spart…« Interessant. »Auf halber Strecke zum Erdstern…« – ob damit die Sonne der Erde gemeint war? – »verzögern wir. Das ist schwierig.«

Aber was er sah, sprach deutlicher als die Worte.

Die Zeit im Film wurde stärker gerafft. Die Antriebsflamme wurde wieder hell, erstarb. Der violette Schimmer im Hintergrund, den Wes zu sehen gemeint hatte, war nicht da. Maschinen und Außerirdische, winzig wie Stäubchen, wurden sichtbar und lösten die Kugel von der Spitze des Raumfahrzeugs; die Sterne durchliefen einen Bogen von hundertachtzig Grad; erneut flammte das Triebwerk auf, wurde wieder dunkel, und die Sterne vorn lagen in violettem Schwarz – er hatte es sich also nicht eingebildet –, dann flog Thaktan Flishithy an seinem losgelösten Brennstofftank vorbei weiter in den Weltraum hinaus.

Den Zeitsprüngen im Film nach zu urteilen war ziemlich viel ausgelassen worden. Vielleicht befürchteten die Außerirdischen, ihren Gefangenen zu viele Einzelheiten zu zeigen. Wes nahm als selbstverständlich an, daß sie nicht viel über das Innere des Raumschiffs erfahren würden. Als nächstes zeigte eine Zeitrafferaufnahme, wie ein gewöhnlicher Stern immer heller erstrahlte, bis er förmlich in Dawsons Gesicht explodierte. Fluchend bedeckte er die Augen mit der Hand, nahm sie aber sofort wieder weg.

Sie mußten in die Nähe des Merkur gekommen sein. Irgendwo dort war der helle Schimmer des Triebwerks glänzender geworden. Der ›Trauring‹ um das Schiff war verschwunden. Dawson hatte nicht gemerkt, wann. Er knurrte ärgerlich.

Takpassih hörte auf zu reden, und seine Augen blitzten kurz zu Dawson hinüber. Niemand merkte es.

Die Kamera sah an der Spitze des Mutterschiffs entlang, während die Sonne des Planeten Erde kleiner wurde. Dann kamen Teleaufnahmen von Mars und Jupiter, später wuchs Saturn ins Unermeßliche. Das große Raumschiff manövrierte um die Monde herum und näherte sich den Ringen, nach wie vor langsamer werdend. Wes erkannte die drei klassischen Bänder des Rings, die sich in Hunderte von Einzelringen auflösten, als das Schiff näher kam. Der FRing wand und verzog sich, während der Ausstoß vom Antriebsreaktor der Feinsteuerung über ihn wegfegte.

Kleinere Raumschiffe lösten sich von Thaktan Flishithy. Der Start erfolgte über Schienen zum Heck hin. Die Kameras folgten ihnen nicht. Ein Teleskop zeigte etwas, das zierlich wie ein Schmetterling aussah, aber nicht annähernd so schön. Standbild. Takpassih deutete darauf und gab fragende Geräusche von sich.

»Voyager«, sagte Dawson. Er probierte einige Wörter der Sprache der Eindringlinge aus. »Wir haben es gemacht. Meine Fithp. Die Vereinigten Staaten von Amerika!«

»Ist es gekommen, um zu…« – unverständliches Gebrabbel. Der Lehrer versuchte es erneut. »Um uns anzusehen? Wußtet ihr von uns?«

Das Wort mußte etwas Ähnliches wie spionieren bedeuten. »Nein.«

»Warum dann?«

»Um den Saturn zu erforschen.« Zorn stieg in Wes Dawson auf. Er verstand selbst nicht, warum. Die Außerirdischen waren in feindlicher Absicht gekommen und hatten ohne Warnung getötet. Sie hatten sich den Saturn zunutze gemacht! Ihm schien es, als gehöre Saturn der Erde – der Menschheit – den Vereinigten Staaten, die ihn erforscht hatten, der Wissenschaft und den Science FictionLesern.

Er schwieg. Der Film lief weiter, machte erneut Zeitsprünge. Fast alle Informationen über ihr Treiben im Saturnsystem hatten sie ausgelassen. Zwei Sicheln kamen näher, Erde und Mond. Keilförmige Lichtanzeiger wiesen auf die Mondbasen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, auf Raummüll in Umlaufbahnen, auf Wettersatelliten, sowjetische Einrichtungen unbekannten Zwecks, die Raumstation…

»Frage: wann ihr gewußt wir kommen?« sagte Takpassih. Dann lauter: »Zeit ihr gewußt wir kommen!«

»Der sechste Teil eines Jahres«, sagte Arwid auf englisch. »Ein Jahr ist…« Seine Hände bewegten sich, mit einem Zeigefinger umfuhr er die Faust, während er in der Sprache der Außerirdischen sagte: »Kreis Erde um Erdstern.«

»Ihr langsame Kämpfer. Ihr wißt wir kommen. Warum so langsam?«

Warum die Verteidiger der Erde so lange gezögert hatten? Wes sagte: »ErdFithp TshaptiskFithp vielleicht nicht kämpfen.«

»Ihr kämpft, ihr kämpft nicht, zwei ist eins. WinterheimFithp ist TshaptiskFithp. Besser, wenn WinterheimFithp nicht kämpft.«

Bei der letzten Provokation dieser Art hatte er einem Hell’s Angel mit der Faust das Maul gestopft. »Ihr seid gekommen, um Krieg zu führen? Nur deshalb?«

»Ja, Kriegführen«, sagte Takpassih, als sei er erleichtert, daß er verstanden wurde.

Wes spürte kaum, wie sich eine kräftige Hand oberhalb des Ellbogens um seinen Arm schloß. »Was könnt ihr schon davon haben, wenn ihr zur ErdFithp kommt?« Welche Beute konnten sie sich erhoffen? Sie hatten so viel von ihrem Raumschiff abgeworfen, daß sie von Glück sagen könnten, wenn sie imstande waren, dahin zurückzukehren, woher sie gekommen waren!

»WinterheimPlanet ist Welt für TshaptiskFithp.«


* * *

Auf Takpassihs gebrüllten Befehl hin waren Krieger herbeigestürzt. Die Gefangenen waren fortgebracht worden. Fathistihtalk half Takpassih auf die Füße. »Bist du verletzt?«

»Mein Stolz schmerzt mich mehr als mein Auge – und mein Snnfp. Dawson hat mich völlig überrascht. Sie sehen so schwach aus!«

»Sie wissen nicht, wann man kämpft und wann man sich unterwirft «, sagte der Berater des Herrn der Herde.

»Dawson ist verrückt«, sagte UmerzieherEins Rästapispmins. »Aus seinem Verhalten erfahren wir nichts. Müssen wir ihn behalten?«

»Er spricht Englisch als Muttersprache, und das werden wir noch brauchen, bis die anderen die FithpSprache einen oder zwei Srapk besser können.«

»Sie müssen sich unterwerfen, sofort und in aller Form«, erklärte Rästapispmins. »Wir hätten ihnen gleich beibringen müssen, wie das vor sich geht, damit sie es künftigen ErdlingsGefangenen zeigen können.«

Die Erinnerung blitzte in Takpassihs Vorstellung auf, sie schmerzte mehr als sein Auge. Ihm wurde klar, warum er diesen wichtigen Schritt hinausgezögert hatte. »Natürlich hast du recht, UmerzieherEins. Jetzt möchte ich zur Krankenstation. Anschließend treffe ich euch im Gang über dem Absonderungs Pferch.«


* * *

Das Atmen schmerzte ihn, aber atmen mußte Wes. Hände ertasteten die Quelle des stechenden Schmerzes in seinen Rippen. Keuchend bemühte er sich, die Augen zu öffnen. Ein roter Dunstschleier, der sich allmählich auflöste… Die Schatten um ihn herum erwiesen sich schließlich als Menschengesichter…

»Was ist los?«

»Sie haben den Lehrer Takpassih angefallen, und ich wollte Sie daran hindern«, sagte Dmitri. »Erinnern Sie sich?«

Ja, er hatte rotgesehen. Seine Reflexe mußten auf irgendeiner Ebene richtig funktioniert haben, denn er hatte nicht einfach die Faust geschwungen, sondern sich nach vorn geworfen, zwischen die Verzweigung von Takpassihs Rüssel gegriffen und seine Finger scharf in dessen Nüstern gestoßen. Der Lehrer hatte laut lostrompetet, und seine Grifflinge hatten sich reflexartig um Wes’ Brustkorb geschlossen. Während seine Rippen knackten und die Luft aus ihm herausgepreßt wurde, hatte Wes am Rüssel entlang seinen Daumen unter Takpassihs dickes rechtes Augenlid geschoben und sich mit aller Kraft bemüht, daran zu drehen und zu zerren. An mehr konnte er sich nicht erinnern.

»Warum haben Sie das getan?«

»Sie wollen überhaupt nicht verhandeln«, sagte er. »Sie sind gekommen, um die Erde zu erobern.«

Dmitri Gruschin nahm Dawsons Kinn in seine Hand und drehte es so, daß sie einander in die Augen sahen. »Tun Sie so was nie wieder. Sie würden uns alle umbringen – für nichts und wieder nichts.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann begannen Arwid und Dmitri zu reden. Wes konnte dem Gespräch mit seinen bruchstückhaften Russischkenntnissen nicht annähernd folgen. Ohnehin beschäftigten ihn die Bilder in seinem eigenen Kopf weit mehr.

Unvermittelt fragte er: »Haben Sie das auch gesehen? Sie haben das halbe Raumschiff unterwegs abgeworfen.«

»Ja«, sagte Arwid. »Den Außentank und den breiten Ring.«

»Ich halte es für ein modifiziertes BussardStaustrahl Triebwerk.«

»Was meinen Sie damit?«

»Eine Möglichkeit, den interstellaren Raum zu überwinden. Der Antrieb erfolgt über Kernverschmelzung. Den Brennstoff dafür gewinnt man durch Aufnahme von Wasserstoff aus dem Weltraum.«

Arwid winkte ab. »Bestimmt hat noch nie jemand so was gebaut. Woran wollen Sie so ein Ding also erkennen?«

»Nach dem Start hat sich etwas verändert. Es hat erst ein violettes Glühen hinter dem Schiff erzeugt. Entscheidend ist, daß sie es abgeworfen haben, als sie hier angekommen sind. Nachdem sie die Raumreise hinter sich hatten, haben sie sich seiner entledigt. Es ist ihnen ernst. Sie haben nicht vor zurückzukehren.«

»Ich habe mich mehr darauf konzentriert, die Wesen zu beobachten, die uns gefangengenommen haben. Natürlich haben sie es abgeworfen, um Gewicht zu sparen, aber… nun ja. Es ist etwa so, als hätten eure englischen Vorfahren nach Erreichen der amerikanischen Küste ihre Mayflowerverbrannt, ja, sie werden wohl bleiben wollen.« Arwids Augen wanderten zur Falltür in der Decke des Raums, die wieder geschlossen war. »Ist Ihnen sonst noch was aufgefallen?«

Wes schlug sich zweimal mit der Faust aufs Knie. »Sie waren am Saturn, als die VoyagerSonden vorbeiflogen. Sie müssen Jahre dort verbracht haben. Wir hätten etwas merken können, wenn sich der Saturn nicht ohnehin so sonderbar verhielte. Dann hätten wir fünfzehn Jahre Vorwarnung gehabt!«

»Es ist schwer, die Pilzwolke zurück in ihr Stahlgehäuse zu stopfen.«

»Zumindest wissen wir, daß das hier ihr Mutterschiff sein muß. Es ist alles, was sie haben.«

»Waren sie schneller als das Licht?«

»Sie haben die Lichtgeschwindigkeit nicht einmal annähernd erreicht.« Wes hatte auf die Auswirkung der Relativität geachtet: nach vorn hätten die Gestirne Blauverschiebung und nach hinten Rotverschiebung zeigen müssen. Nichts dergleichen war zu sehen gewesen.

»Gut. Sie können keine Hilfe erwarten. Das bedeutet zugleich, daß sie mit dem Rücken zur Wand kämpfen. Wohin könnten sie fliehen, wenn wir sie besiegen?«

»Irgendwann müssen sie landen. Vermutlich rechnen sie damit, daß sie uns zu Boden schlagen können. Sie sind verrückt.«

Arwid sah keinen Anlaß zu antworten. Dawson gehörte nicht seinem Volk an, doch jeder Fachmann wußte, daß militärisch gesehen die Erde beherrschte, wer im Weltraum überlegen war. Die Sowjetunion hatte diese Überlegenheit im Weltraum bis vor drei Tagen besessen.

»Ja. Nun, wir haben nicht viel vom Innern des Schiffes gesehen. Sie haben lediglich die letzte Etappe auf ihrem Weg zur Erde gezeigt. Zwar wissen wir, wie das Mutterschiff mit neuem Treibstoff versorgt worden ist, nicht aber, woher der stammt. Vielleicht haben sie MethanSchnee auf einem Mond aufgenommen und aus ihm Deuterium und Tritium raffiniert. Doch warum hätten sie das nicht zeigen sollen? Sie verbergen etwas.«

»So ist es.«

»Etwas Bestimmtes.«

»Genau.«

Die Falltür schwang auf, und die Plattform senkte sich inmitten argwöhnischen Schweigens. Takpassih stand ganz allein darauf. Ein weiches weißes Tuch bedeckte sein rechtes Auge, ein weiterer Verband lag auf seiner Nüster. Er trug seinen verzweigten Rüssel merkwürdig abgeknickt. Ein zweites Fi’ folgte ihm nach unten. Die Soldaten blieben, wo sie waren.


* * *

Die Umerzieher standen den Erdlingen allein gegenüber.

Die Gefangenen wirkten harmlos. Sie hatten sich furchtsam und vorsichtig in eine Ecke des Raumes zurückgezogen. Der Schwarze lag auf dem Rücken und versuchte sich umzudrehen. Er schien die Weltraumwesen zum erstenmal bewußt wahrzunehmen.

Rästapispmins forderte sie auf: »Tretet von dem Schwarzen weg.«

Der Umerzieher setzte einen Fuß nachdrücklich auf dessen Brust.

Dann hob er ihn und trat zurück. »Jetzt du«, sagte er und wies mit seinen Grifflingen auf den Verkrüppelten. »Komm!«

Die Gefangenen debattierten erregt. Dann rutschte Nikolai auf den Händen zu ihm hin.

Dawson hatte sich bewegt, ohne eine Erlaubnis dazu abzuwarten. Er kniete sich neben den Schwarzen und legte ihm die knochigen Finger an die Kehle. Dann sagte er auf englisch zu den anderen: »Er ist tot.«

Takpassih ließ diese Ungehörigkeit hingehen, um das Ritual nicht unterbrechen zu müssen.

»Umdrehen«, sagte Rästapispmins und bewegte seine Grifflinge in einem Kreis. Nikolai schien ihn nicht zu verstehen. Rästapispmins drehte ihn mit Gewalt auf den Rücken, setzte den Fuß auf die Brust des Mannes und trat dann beiseite. Er wies auf einen anderen. »Du.«

Einer nach dem anderen unterwarfen sich die Sowjetbürger, bis nur noch Dawson übrig war. Dann trat, wie es wohl abgesprochen war, Rästapispmins beiseite, und Takpassih ging auf Dawson zu.

Der Mann stand fest auf dem Boden, die Arme leicht gebeugt, die Handflächen nach außen gedreht. Takpassih vermutete, daß er mit dem Leben abgeschlossen hatte.

Es war ihm herzlich gleichgültig, ob Dawson das Ritual überlebte oder nicht. Er schwang seine Grifflinge mit nahezu voller Kraft. Dawson tauchte darunter hinweg und sprang vor. Takpassih ergriff ihn mit dem zurückschwingenden Rüssel und schleuderte ihn quer durch den Raum gegen die Wand. Noch während Dawson fiel, war Takpassih zur Stelle, packte ihn und drehte ihn auf den Rücken. Der Mann riß Mund und Augen auf. War er vor Angst erstarrt? Takpassih hob seinen Fuß über Dawsons Brust.

Mich hat man nahezu als letzten aufgetaut. Einige der Schläfer haben Hirnschäden davongetragen. Viele haben sich gewehrt, aber die meisten haben sich mit der neuen Lage abgefunden.

UmerzieherEins Rästapispmins hat die Unterwerfung der Erdlinge in aller Form entgegengenommen. Er ist mein Enkel, älter als ich, wenn ich die acht Jahre außer acht lasse, die ich geschlafen habe. Für ihn war das nichts Neues.

Auch mich mußte er umerziehen. Das war ihm unangenehm, sei es, weil wir verwandt sind oder weil ich ihn anschließend in seiner Aufgabe unterweisen mußte. »Deine Stellung wird sich nicht ändern, Großvater. Wer außer dir ist so gut dafür ausgebildet, fremde Lebensformen so zu erziehen, daß sie fähig sind, mit der Ziehenden Herde zu leben. Aber die Herde hat sich verändert, und du mußt erneut in sie aufgenommen werden.«

Ich drehe mich auf dem Boden, Füße in der Luft, Rüssel schlaff, verletzlich. Andere sehen zu. Der Fuß meines raumgeborenen Enkels auf meiner Brust. »So, es ist vorüber. Jetzt mußt du mit meiner Ausbildung beginnen«, seine Stimme leise, nur für meine Ohren, »mich umerziehen. Ich muß etwas von dem erfahren, was uns zu tun aufgegeben ist.«

Noch heute spüre ich den Fuß, der leicht auf meine Brust drückt. Takpassih senkte seinen Vorderlauf. Ein einfaches Berühren würde hier nicht genügen, es ging nicht um eine symbolische Unterwerfung. Erst als er spürte, wie die Rippen des Mannes nachgaben, hob er den Fuß.

Dawson wartete, daß noch mehr kam, aber es blieb dabei. Er rollte sich zur Seite und stöhnte laut auf vor Schmerzen.

»Jetzt gehörst du zur Ziehenden Herde«, sagte Takpassih in seiner eigenen Sprache. Er sah, daß Dawson verstand und sich ein wenig zu entspannen schien. Er robbte zu den anderen Gefangenen hinüber. »Ist der Schwarze tot?« fragte Takpassih. »Was hat ihn umgebracht?«

Dmitri antwortete auf fithpisch: »Furcht vor dir. Furcht Fuß bringt Tod.«

Takpassih rief die Krieger herbei. Zwei kamen herunter und trugen den Schwarzen auf die Plattform. Sie schwebte nach oben, senkte sich dann wieder, um die Fithp einen nach dem anderen hinaufzubringen. Takpassih verließ sie als letzter.

17. Bauerngehöfte

Im allgemeinen ist es im Krieg am besten, ein Land zu besetzen, ohne ihm zu schaden; es zu zerstören, ist weniger günstig. Hundert Siege in hundert Schlachten erringen ist nicht der Gipfel der Kriegskunst. Er besteht darin, den Feind kampflos zu unterjochen.

SUN TZU

Über die Kriegskunst


Zeit: 100 Stunden nach der Stunde Null

Carlotta lag auf dem großen Himmelbett und versuchte, die Flecken an der Decke zu zählen. Ungebetene Vorstellungen bedrängten sie.

Vor ihrem inneren Auge sah sie erst eine aufgeblähte und zerfetzte Leiche vertrocknet und brüchig durch die leere schwarze Weite des Weltraums treiben, dann einen von Ungeheuern umstandenen Seziertisch.

Nein, ich will das nicht! Sie sprang aus dem Bett. Die Bodendielen knarrten unter ihren Füßen, als sie zur Tür stürmte. Das Haus war alt, als einfacher Viehzüchterhof in der Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut und entsprechend dem jeweiligen Familienzuwachs sowie den finanziellen Möglichkeiten erweitert worden. Von Carlottas Großmutter war es an ihre Schwester Juana gefallen, die einen inzwischen emeritierten Professor namens David Morgan geheiratet hatte. Gegenwärtig wurde es lediglich von vier Personen bewohnt: Carlotta, David, Juana und Lucy. Letztere war eine uralte Haushälterin aus Xuahaca. Juanas Kinder waren längst fortgezogen.

Sharon ist in New Hampshire. Ob ich sie je wiedersehe? Wenigstens hat das Telefon so lange funktioniert, daß ich ihr sagen konnte, sie solle dort bleiben, Gott sei Dank. Wie könnte sie jetzt reisen?

Helles Sonnenlicht erfüllte die Diele vor ihrem Schlafzimmer, und als sie die Küche betrat, sah sie auf der Wanduhr, daß es schon Nachmittag war. Hat Lucy die GinFlasche weggeräumt, oder sollte ich sie ausgetrunken haben, damit ich einschlafen konnte? Etwas müßte doch noch da sein. Sie trat an den Schrank, spürte aber dabei Lucys mißbilligenden Blick.

»Desayuno, Señora?«

»Gracias, no. Por favor, solamente café.« Ich setze mich im Morgenmantel nach draußen. Wer soll mich schon sehen, und wen könnte es stören?

Die Terrasse war viel zu groß. In Carlottas Kindertagen war dort ein Melonenfeld gewesen. Damals hatte man ihren Garten weithin im Land gerühmt. Mit Kürbissen, Melonen und anderen Erzeugnissen hatten die Trujillos auf landwirtschaftlichen Ausstellungen Preise eingeheimst. Einhübscher Sitzplatz. Sie setzte sich an den großen, schmiedeeisernen Tisch. In dem Augenblick, da Lucy den Kaffee vor sich hinstellte, begann es zu donnern.

Donner aus heiterem Himmel war in Kansas nichts Ungewöhnliches, aber dieser hier kam nicht in einzelnen, grollenden Schlägen, sondern dauerte an, nahm an Lautstärke zu, wurde schwächer und dann wieder lauter.

Schließlich zogen glänzende Pünktchen gerade, weiße Linien über den Himmel und säten ganze Wolken von weiteren Punkten aus, die west- und südwärts davontrieben. Lucy schrie vor Schreck laut auf, und da Carlotta die Alte beruhigen mußte, blieb sie selbst ruhig. Fallschirme. Eroberer. Jetzt ereilt mich das gleiche Schicksal wie Wes. Doch nichts zeigte sich unmittelbar über ihren Köpfen. Nicht hier. Jedenfalls noch nicht.

»Carla«, sagte eine Stimme hinter ihr.

»Ja, Juana?«

»Was ist das?« Der Lärm hatte ihre Schwester herausgelockt. Juana Morgan hielt ein kleines Transistorradio in der Hand, aus dem nichts als Rauschen drang, während sie fieberhaft den Tunerknopf hin- und herdrehte.

»Kondensstreifen. Vielleicht weiß es der Professor.«

»Er ist in die Stadt gefahren, um Zeitungen zu kaufen.« Juana machte eine Pause. »Und Gin.«

»Ah.« Carlotta warf Lucy einen vielsagenden Blick zu. »Sie kommen nicht zu uns«, sagte sie. »Das ist weit weg. Sie kommen wohl auch nicht nach Dighton.«

»Bist du sicher?« wollte Juana wissen.

»Ja.« Wie, zum Teufel, kann ich sicher sein? Und was könnten wir tun, wenn sie hierher oder nach Dighton kämen? Es sind fünfzehn Kilometer bis dorthin, und David hat das einzige Auto

»David hat auch gemeint, daß sie nicht kommen«, sagte Juana. »Aber die Nationalgarde hat mobil machen lassen. Vielleicht ist David schon bei der Garde!«

»Möglich.« Wozu soll das gut sein? Lauter Tattergreise mit veralteter Ausrüstung… Wes hat sich immer für einen besseren Etat der Nationalgarde eingesetzt, aber niemand wollte etwas davon wissen.

»Lucy, vielleicht sollten Sie Kerzen und Sturmlaternen herrichten «, sagte Juana.

»Sí.« Lucy schlurfte davon, den Blick furchtsam zum Himmel gerichtet.

»So hat sie etwas zu tun. Das bringt sie vielleicht auf andere Gedanken«, sagte Carlotta. »Ich wollte, ich hätte auch was zu tun.«

»Ich auch.«

Carlotta nickte. »Mir gefällt die Rolle des Übernachtungsbesuchs nicht besonders.«

»Es ist ebenso dein Haus wie meins«, sagte Juana. »Ich habe keineswegs vergessen, wieviel du und Wes uns geliehen habt.« Sie saß Carlotta gegenüber. »Laß dich doch einfach jeden Abend vollaufen, wenn es dir hilft. Du hast den Mann wirklich geliebt, was?«

»Ich liebe ihn immer noch.«

»Entschuldige…«

»Man weiß ja nicht einmal genau, ob er tot ist.«

»Nein.« Ein erneutes Donnergrollen. Juana erschauerte. »Wäre ich doch an deiner Stelle.«

Carlotta runzelte die Stirn.

»Nun, dann wäre David da oben, und nicht Wes. Verdammt. Das klingt entsetzlich. Ich meine… nun, du liebst deinen Wes wirklich. Man sieht, wie es dich mitnimmt. Mir würde David auch fehlen, wir haben uns immer gut verstanden, aber… nun, ich wäre anders als du. Ich seh dich ungern in diesem Zustand, Carla. Du warst immer die Stärkere.«

»So? Dann sieh mich doch mal jetzt an! O verdammt, Juana, verdammt, verdammt, was soll ich nur tun?«

Juana sah zu dem mit Pünktchen übersäten Himmel empor und erschauderte.


* * *

Das Motorrad war intakt geblieben. Harry sah sich verstohlen um. Vom Feind war nichts zu sehen. Er hob die Maschine auf und stellte sie auf den Ständer.

Die Satteltaschen waren mit allen Habseligkeiten darin verschwunden. Die Angreifer hatten sie zusammen mit Jeri und Melissa mitgenommen.

Gottverdammte Mistkerle! Harry fluchte ausgiebig, dann riß er sich zusammen. Mit Flüchen änderte er auch nichts. Ihm war nicht gelungen, was man eigentlich von ihm hätte erwarten dürfen: die Frau und ihr Kind zu beschützen. Daß er ohnehin nichts hätte tun können, war nur ein schwacher Trost.

Er spürte etwas Schweres in seiner Tasche. Die kleine Beretta. Sie hatten sich also nicht die Mühe gemacht, ihn zu filzen. Einen Augenblick lang überlegte er, dann begann er im Weizenfeld herumzustöbern, und fand auch prompt die blaugraue Automatik 11,43. Einer der Eindringlinge mußte sie beiseite geworfen haben. Im Lauf war Erde.

Warum aber dann die Satteltaschen? Jeris und Melissas Kleider sind da drin. Sie wollten also die beiden behalten. Warum aber sie, und nicht ihn? Er wußte keine Antwort darauf.

Das Motorrad sprang sofort an. Es schien völlig unbeschädigt zu sein. Weiter vorn hörte Harry Geräusche. Die Eroberer waren immer noch in Logan. Er begann den Lauf der Automatik zu reinigen, ließ es aber dann kopfschüttelnd sein. Sinnlos. Sie trugen schußfeste Rüstungen. Seine Pistole hatte nichts genützt, als sie nur zu wenigen waren, und wenn er sich jetzt nach Logan aufmachte, um Jeri zu retten, würde sie auch ihr nichts nützen – vorausgesetzt, sie war überhaupt noch dort.

Er versuchte, sich die Karte ins Gedächtnis zu rufen. In jenem Teil des Staates Kansas bildete das Straßennetz ein rechtwinkliges Gitter, und nur wenige Straßen verliefen diagonal dazu. Feldwege, die im rechten Winkel die Weizenfelder durchschnitten, führten gewöhnlich nicht zu einer der kleinen Städte, sondern zu den in einigem Abstand voneinander liegenden Bauerngehöften abseits der Straßen.

Bis Logan waren es etwa sechs Kilometer. Harry überlegte, daß sicherlich eine Zufahrtsstraße nordwärts zu einer Farm führen würde, auf der ihn die Eroberer nicht sehen konnten. Er schob die Pistole in den Nierengürtel, wo er sie leicht erreichen konnte, und fuhr in die Richtung, die er sich vorgenommen hatte.

Der Feldweg führte durch die Weizenfelder auf ein zerstörtes Gehöft zu. Er sah den Rauch, lange bevor er hingelangte. Er näherte sich langsam, jederzeit bereit, abzuspringen und in eins der Felder zu laufen. Mehrere Male hielt er an, um zu lauschen, hörte aber nichts. Er überlegte, ob er auf dem Weg zurückkehren sollte, den er gekommen war. Dann entschloß er sich weiterzufahren.

Das Haus war zerstört worden, das Dach war halb eingestürzt, die Türen waren von den Bändern gerissen, und die Stallgebäude waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Auf dem staubigen Hof sah Harry zwischen Haus und Stall eine Männerleiche und zwei Hundekadaver. Quer über die Brust des Mannes lag eine Schrotflinte.

Ein Hund winselte unter den Trümmern.

»Hallo! Ist da jemand?« rief Harry. Außer dem Winseln des Hundes hörte er nichts. Er zog den Zündschlüssel ab und wuchtete das Motorrad auf den Ständer. Breite Spuren waren im Staub zu sehen. Sie sahen nicht ganz so aus wie Elefantenspuren, denn vorne wiesen sie Krallenabdrücke auf. Kein irdisches Lebewesen hinterließ solche Spuren.

Vorsichtig umschlich er das Gehöft und betrat nach einer Weile das Haus. Im Schrank hingen neben den Kleidungsstükken des Bauern Frauenkleider. Den Raum daneben hatte wohl ein Junge von etwa zehn oder elf Jahren bewohnt, also in Melissas Alter, denn von der Decke hing ein Modell des Raumschiffs Enterprise, in einer Ecke standen Spielzeuggewehre, und Kleidungsstücke, die einem kleinen Jungen passen mochten, lagen auf dem Fußboden. Zwei Kommodenschubladen waren ausgeräumt.

Sie nehmen Frauen und Kinder gefangen, nicht aber Männer? Das ergibt keinen Sinn.

Briefe waren über den Fußboden des Wohnzimmers verstreut. John Thomas Kensington, RFD #3… Harry trat wieder hinaus. Kensington lag auf dem Rücken, die gebrochenen Augen zum Himmel gerichtet. Ein Schuß hatte ihn beinahe in zwei Hälften zerrissen. Das Kaliber der Waffen, die die Außerirdischen benutzten, riß faustgroße Löcher. Zwanzig Schritte von der Leiche entfernt war der Boden aufgewühlt, als habe etwas Großes wild um sich geschlagen, und man sah dunkle Flecken. John Thomas Kensington schien seinen Hof teuer verkauft zu haben. Harry machte eine Ehrenbezeigung und ging dann wieder in das verfallene Wohnhaus.

Sie nehmen ihre Toten mit, auch die Verwundeten. Auf die Entfernung müßte eine Schrotflinte durchaus erkennbaren Schaden anrichten. Was für Munition er wohl benutzt hat?

Die Nahrungsmittel im Kühlschrank waren noch eßbar. Harry suchte etwas für einen kleinen Imbiß zusammen und fand auf der Suche nach dem Brot eine Schachtel mit Vogelschrot – geeignet für die Jagd auf Tauben und Wachteln, für einen Elefanten wohl keine besonders wirksame Ladung. Erst als Harry sein belegtes Brot gegessen hatte, nahm er dem leblosen Mann die Waffe aus den Händen.

Der Hund winselte immer noch.

Soll ich ihn beerdigen? Den Hund abknallen, bevor er verrückt wird oder verhungert?

Er hatte sich immer für einen harten Burschen gehalten, wäre aber nie auf den Gedanken gekommen, daß er solche Entscheidungen würde treffen müssen. Leichen gingen die Polizei und später den Totengräber etwas an.

Hier gibt es keine Leichenschau. Harry machte sich auf die Suche nach einer Schaufel.


* * *

Die Lage auf der Karte im Gefechtsraum änderte sich jeweils im Verlauf weniger Minuten, dennoch war niemand sicher, wie aktuell die eingehenden Angaben wirklich waren. Ein riesiger Teil des Staates Kansas war, nordwärts bis nach Nebraska hinein, mit leuchtend roten Fähnchen besteckt. Jemand hatte schließlich stilisierte Fallschirme aufgetrieben, an denen man sah, wo die Außerirdischen gelandet waren. Sie bedeckten einen Bereich, dessen Form einer Amöbe sehr ähnlich sah: ihr Kern saß bei Great Bend, und Scheinfüßchen liefen nach Osten und Westen aus.

Der Lageraum befand sich in der Mitte des unterirdischen LuftverteidigungsKomplexes der USA unter einer gut eintausendfünfhundert Meter dicken Granitschicht. Er war durch hermetisch verschlossene Gänge, Wassersperren, Wachräume und dicke Granitwände von der Außenwelt abgeschirmt. Aus einer Anzahl kleiner Besprechungsräume sah man in den Lagerraum hinein. Jack Clybourne stand vor der Tür eines dieser Räume.

Jenny trat augenzwinkernd zu ihm ein. Er reagierte nicht. »Ich soll mich bei Admiral Carrell melden«, sagte sie. Sie war ein wenig irritiert.

»Klar.« Jack schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Schätzchen. Ich bin hier völlig überflüssig. Wo wäre der Präsident sicherer als hier? Aber ich bin als einziger Angehöriger seiner Personenschutzgruppe mitgekommen und muß so tun, als hätte ich eine Aufgabe zu erfüllen.«

»Ja. Sieh mal, hier unten gibt es ja sowieso nie dienstfrei, aber essen müssen wir von Zeit zu Zeit. Auch schlafen… Wie wäre es deshalb mit Abendessen?«

»Gern.«

»Ich komme.« Sie lächelte. »Wenn sie die Tür offenlassen, sieh dir auf jeden Fall die Schirmwände an.«

»Habt ihr Bilder von den Außerirdischen?«

»Das nehmen wir an.« Jenny klopfte an und trat ein. Eine Wand des Raumes bestand aus Glas, durch sie konnte man die großen Bildwände und Steuerkonsolen im darunterliegenden Stockwerk überblicken. Am einzigen Tisch saß Präsident Coffey und sah angestrengt auf die Karten. Links und rechts von ihm standen Admiral Carrell und General Toland. Toland hielt die Lippen fest zusammengepreßt.

»Ungefähr in diesem Kreis«, sagte Admiral Carrell.

»Aber was wollen sie?« fragte der Präsident.

»Es handelt sich ganz offensichtlich um ein Erkundungsunternehmen großen Maßstabs«, sagte Carrell. Er schüttelte den Kopf. »Was ihr eigentliches Ziel ist, kann ich mir nicht denken, Sir.« Er hob den Blick und sah Jenny wartend in der Tür stehen. »Treten Sie näher, Major. Haben sich Ihre Erkundungsleute schon mit den Informationen aus erster Hand beschäftigen können?«

»Ja, Sir. Wir haben Berichte von Flüchtlingen und auch ein paar Bilder, die jemand mitgebracht hat. Sie müßten jeden Augenblick vom Labor heraufkommen.«

»Haben Sie sie gesehen?«

»Nein, Sir. Es sind Farbfotos, die kann man während der Entwicklung nicht betrachten.«

»Aber Beschreibungen haben Sie doch?«

»Ja, Sir.«

»Nun, berichten Sie!« forderte der Präsident sie auf.

»Mr. President – Sir, es wird nur noch eine Minute dauern, bis die Bilder fertig sind. Ich möchte – Sir, ich denke, es wäre besser, wenn Sie es selbst sähen.«

»Berichte von Flüchtlingen«, sagte General Toland. »Heißt das, sie lassen Menschen durch?«

»Nur zu Fuß. Fahrzeuge nicht. Jeder, der den Kreis verläßt, muß sich einer Art Zeremonie unterwerfen.«

»Einer Zeremonie?«

»Die Science FictionLeute sagen, daß es angesichts des Aussehens der Außerirdischen ganz plausibel klingt, aber…«

»Major, Ihre Geheimniskrämerei wirkt allmählich ermüdend «, sagte Admiral Carrell.

Das Telefon läutete. Gerettet.

Der Admiral nahm ab. »Carrell… Ja, auf die großen Bildwände. Jeder soll unsere Gegner sehen.«

Der Raum unter ihnen enthielt fünf große Bildschirme. Einer nach dem anderen füllte sich mit Aufnahmen der Zwergelefanten. Einige hingen an Flugdrachen und trugen Schuhe mit hohen Absätzen. Andere gingen zu Fuß. Alle trugen merkwürdig geformte Gewehre.

Schallendes Gelächter erhob sich im unteren Raum, erstarb aber, sobald die Bildschirme Aufnahmen von zerstörten Gebäuden und von Fahrzeugen zeigten, auf denen sich die Außerirdischen im Vordergrund bewegten. Auf vielen Bildern waren Leichenhaufen zu erkennen.

Jenny betrachtete die Fotos gründlich. Das ist also der Feind.

»Sie sehen aus wie Elefanten«, sagte Admiral Carrell.

»Ja, Sir«, sagte Jenny. »Aber es sind keine.«

»Nein, es sind Eroberer«, sagte General Toland.

Der Präsident betrachtete aufmerksam die Bildschirme und wandte sich dann Jenny zu. »Was war das mit der Zeremonie?«

»Wer den Bereich verlassen will, den sie beherrschen, muß sich mit über dem Kopf ausgestreckten Armen auf den Rücken legen. Dann setzt ihm eins von diesen – Geschöpfen einen Fuß auf die Brust. Anschließend darf er gehen, wohin er will.«

»Und Ihre SFLeute halten das für plausibel?« erkundigte sich der Präsident ungläubig.

»Ja, Sir. Sie nehmen an, daß die Außerirdischen damit ihrem Wesen gemäß ihre Gegner symbolisch zertrampeln. Vielleicht sind sie die größten Lebewesen auf ihrem Planeten. Die meisten Tiergattungen der Erde kennen ein Unterwerfungsritual, eine Demutsgebärde, und so sieht sie bei ihnen aus.«

Der Präsident nickte bedächtig.

Er sieht entsetzlich aus. Ob er überhaupt geschlafen hat?

»Haben Ihre Fachleute irgendwelche Vorstellungen davon, was die Eindringlinge wollen?« fragte der Präsident.

»Die Erde«, sagte Jenny.

General Toland war unerbittlich. »Klotzen, nicht kleckern«, sagte er. »Mr. President, wir dürfen unsere Kräfte nicht zersplittern! Sie müssen mir gestatten, daß ich sie konzentriere, bevor wir überhaupt Leute dorthin schicken.«

»Bürger unseres Landes werden dort umgebracht und Gebäude zerstört. Großer Gott, sie haben die Vereinigten Staaten angegriffen.« David Coffeys Stimme war kalt vor Wut. Seine Hände umklammerten die Armlehnen des Sessels. »Irgend etwas müssen wir unternehmen? Wozu ist das Heer eigentlich da, wenn es das Volk nicht verteidigen kann!«

Toland kämpfte sichtlich um Beherrschung.

»Das ist nicht gerecht, Mr. President«, sagte Admiral Carrell. »Es wird im allgemeinen nicht dazu aufgeboten, den Feind auf unserem eigenen Grund und Boden zu bekämpfen.«

»Wenn sie uns wenigstens einige Reservisten hätten zusammenziehen lassen, bevor das verdammte Raumschiff angekommen ist«, knurrte General Toland. »Mr. President, ich tue, was ich kann. Unsere besten Einheiten stehen in Europa, Mittelamerika und dem Libanon, und wir haben keine Möglichkeit, sie ins Land zu holen – nicht, solange der Feind den Weltraum beherrscht. Er kann alles sehen, was wir tun.«

»Und wann also werden wir imstande sein, etwas für unser Volk zu unternehmen, General Toland?« beharrte der Präsident.

»In zwei Tagen, Sir, hoffe ich jedenfalls. Mr. President, es ist uns nicht möglich, unsere Kräfte zu massieren! Der Kommandant von Fort Knox hat Panzer auf einen Zug nach Westen verladen, und postwendend haben sie den Zug beschossen. Ihre Luftverteidigung ist glänzend. Alles, was wir dorthin schicken, wird entweder aus dem Weltraum abgeschossen oder von bodengestützten Raketen getroffen.«

»Oder Schlimmeres«, sagte Jenny. Kaum gesehen, schon umgebracht, dachte sie. Laserstrahlen gegen die Flugzeuge, kinetische Waffen gegen die Schiffe…

Alle sahen zu ihr hin.

»Der Feind ist dabei, LaserVerteidigungssysteme einzurichten, die vom Erdboden aus operieren. Die Berichte sind gerade hereingekommen. In wenigen Minuten haben wir sie auf den Bildschirmen.«

»Laser«, sagte der Präsident nachdenklich.

»Ja, Sir. Weit besser als unsere eigenen.«

»Und was zum Teufel wollen sie damit?« fragte General Toland.

Jenny schüttelte den Kopf. »Wir wissen es noch nicht, Sir. Sie scheinen um den von ihnen beherrschten Bereich herum eine Verteidigungslinie errichten zu wollen – aber wir wissen nichts Genaues, weil wir nicht hinein können, das Areal zu erkunden.«

»Sie bekommen also alles, was sie wollen.« Die Stimme des Präsidenten klang leise und müde, als sei er bereits geschlagen.

Das jagte Jenny Angst ein. »Ganz so ist es nicht, Sir«, sagte sie. »Hin und wieder erfahren wir etwas, meist von Funkamateuren. Allerdings können sie nie lange senden, weil bald ihre Anlage zerstört wird. Außerdem gibt es bestimmt Widerstand. Nationalgardisten. Bauern mit Jagdgewehren.«

»Sicher werden sie kämpfen«, sagte Toland, »sogar ohne Befehl.«

Jenny nickte. »Aber sie sind nicht organisiert, und wir haben keine Kommunikationsmittel!«

»Und können wir in dieser Richtung nichts tun?« fragte der Präsident. In seinem Tonfall schwang Verzweiflung mit. »Mit all unserer militärischen Macht, unseren Atomwaffen – können wir keine Atomwaffen gegen sie einsetzen?«

»Sie sind mitten unter unseren Landsleuten«, gab Admiral Carrell zu bedenken.

»General, tun Sie etwas! Setzen Sie ihnen zu!« sagte der Präsident. »Erteilen Sie ihnen eine Lektion! Gibt es keinen Ort, wo viele von ihnen konzentriert sind und sich keine von unseren Leuten befinden?«

»Keine – nein. Wenige – ja«, sagte Toland.

Der Präsident sah entschlossen auf die Bildschirme. »Statuieren Sie ein Exempel! Sofort! Es wird den Durchhaltewillen im Lande kräftigen.«

»Aber Sir…«

»Das ist ein Befehl, General!«

Toland salutierte. »Ja, Sir. Ich nehme an, Sie wünschen kein Flächenbombardement.«

»Nein. Aber sie sollen nicht nach Gutdünken schalten und walten können. Wir müssen ihnen zeigen, daß wir noch da sind. Wie sonst könnten wir sie aus Amerika vertreiben?«

Warum sind wir eigentlich so sicher, daß wir das können? Fast hätte Jenny das laut gesagt.

»Vielleicht sind wir nicht imstande, sie zu vertreiben«, sagte Admiral Carrell, »sondern müssen sie alle umbringen.«

»Möglicherweise kommt es dahin«, sagte General Toland, »daß wir das Land zerstören müssen, um es zu retten. Neutronenwaffen brauchen wir dafür.« General Toland trommelte mit den Fingern gegen die Glaswand des Raumes. »Wenn sich die Bürger in den Gebäuden befinden, hinter Steinmauern, in Kellern, werden nur die Außerirdischen getötet, weil sie sich draußen im Freien aufhalten. Haben nicht die meisten Häuser in Kansas Keller?«

»Viele«, sagte der Präsident.

»Knapp ein Meter Erde würde die Leute schon schützen«, sagte Toland. »Wir könnten diese Elefanten erledigen, ohne Kansas zerstören zu müssen. Das einzige Problem ist, daß wir keine Neutronenbomben haben.«

»Warum nicht?«

»Die wenigen, die wir besitzen, sind in Europa stationiert«, sagte Admiral Carrell. »Wegen der Proteste in der Öffentlichkeit durften wir sie nie in größerer Anzahl herstellen. Ich habe bei den Labors in Sandia und in Los Alamos angefragt, ob sie nicht ad hoc Waffen mit verstärkter Strahlung herstellen können, aber sie waren nicht in der Lage zu sagen, wie lange das dauern würde.«

»Aber das ist doch verrückt«, sagte der Präsident. »Ein paar tausend Elefanten – wie viele sind es überhaupt?«

»Wir wissen es nicht genau«, gestand Jenny. »Mit Sicherheit weniger als fünfzigtausend.«

»Auch das muß schon ein bedeutender Teil ihrer Bodentruppe sein«, sagte General Toland. »Mehr, als sie sich zu verlieren leisten können. Wenn wir sie alle vernichten, müssen sie uns in Zukunft möglicherweise zufrieden lassen.«

»Sie beherrschen nach wie vor den Weltraum«, gab Admiral Carrell zu bedenken. »Major Crichton, mir scheint, Sie wollen etwas sagen.«

»Ja, Sir«, gab Jenny zur Antwort. »Sie hatten mich aufgefordert, die Science FictionLeute an die Arbeit zu setzen. Es war nicht schwer. Sie haben eine ganze Reihe von Vorschlägen in puncto Kampfführung.«

»Nun?« ermunterte sie der Präsident.

»Sir, ich glaube, es wäre besser, wenn Sie es selbst hörten.«

David Coffey runzelte die Stirn, doch dann stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen. »Klar, warum nicht? Wie Sie schon gesagt haben, es sind die einzigen Fachleute, die wir haben.«


* * *

Bei Einbruch der Dunkelheit war David Morgan noch immer nicht zurück. Also kein Gin, dachte Carlotta. Nur noch drei Finger hoch in der Flasche. Im Keller hatte sie Brombeerwein gefunden. Der würde genügen müssen.

Sie saßen bei Kerzenlicht im Wohnzimmer. Aus der Ferne hörte man Donnergrollen, und weit im Osten und Süden sah man Lichtblitze aufzucken.

Der Himmel war klar. Juana las beim Schein einer Kerosinlampe.

»Machst du dir keine Sorgen?« erkundigte sich Carlotta.

»Doch, natürlich, aber was hilft es? David hat einen guten Wagen mit Allradantrieb und ein Gewehr. Das Telefon funktioniert nicht. Was also sollte ich tun? Sollten wir etwa weglaufen? Wohin? Die nächsten Häuser liegen kilometerweit von hier entfernt, und Lucy kann so weit ohnehin nicht gehen.«

»Habt ihr keinen zweiten Wagen?«

»Er ist kaputt. Aber selbst wenn er funktioniert, wo wärst du denn lieber als hier?«

»Ich weiß nicht. Willst du ein Glas Wein?«

»Nein.«

Wenn es nach dir ginge, dürfte auch ich nichts trinken. Der Teufel soll dich holen! Carlotta trank einen Schluck Brombeerwein. Er war viel zu süß.

Der Morgen zog hell, klar und wolkenlos herauf, ein herrlicher Tag in Kansas, mit Ausnahme einiger unheilschwangerer schwarzer Wolken, die sich fern im Osten erhoben. Immer noch keine Nachricht von Professor Morgan. Carlotta und Juana tranken Kaffee auf der Terrasse. Die Geräusche der Nacht hatten aufgehört. Eine Stunde verging, eine weitere brach an, dann erhoben sich Staubwolken im Westen, Lärm näherte sich.

»Autos, Lastwagen«, sagte Juana. Sie lauschte erneut. Dann lief sie nach vorn und spähte die Straße entlang. »Es sind Soldaten, unsere!« rief sie. »Unsere Leute!«

Fast war Carlotta enttäuscht.

Sie zählte ein Dutzend Panzer und fünf Lastwagen voller Soldaten. Sie kamen die Auffahrt entlang und parkten vor dem jetzt leeren Stall. Ein Fahrzeug, das wie ein Panzer aussah, aber Räder hatte, fuhr direkt bis vor die Haustür und blieb stehen. Ein älterer Offizier mit einem ergrauenden Schnurrbart stieg aus.

»Joe!« rief Juana.

Er salutierte. »Colonel Halverson von der Miliz des Staates Kansas.« Er grinste angestrengt. »Wir sind hergekommen, um zu sehen, ob hier Hilfe gebraucht wird.«

»Hast du David gesehen?« wollte Juana wissen.

»Ja. Major Morgan wird gleich hier sein. Er hat uns geholfen, die Leute zusammenzurufen. Eigentlich wollte er gestern abend nach Hause fahren und Bescheid sagen, aber dann hat er gemeint, ihr würdet schon verstehen, und wir haben ihn auch wirklich gebraucht, mitsamt seinem Allradfahrzeug.«

»Was haben Sie vor?« wollte Carlotta wissen. Sie genierte sich wegen ihres zerknitterten Morgenrocks.

»Meine Schwester«, stellte Juana vor.

»Mrs. Dawson?« fragte Halverson. »Sehr erfreut.« Er stieg von seinem Fahrzeug. »Als erstes warte ich auf meine Hubschrauber. Es dauert, bis die soweit sind. Sobald sie hier sind, fahren wir nach Süden und nach Osten, bis wir sehen, was uns da eigentlich heimgesucht hat.«

Carlotta nickte. Ein Dutzend Panzer, zwei von diesen gepanzerten Lastwagen. Und Hubschrauber. Freizeitsoldaten. Die meisten schon ziemlich alt. »Eindrucksvoll. Rasche Arbeit.«

»Am Abend, wie die Schießerei begonnen hat, hab ich gleich Leute zusammengetrommelt«, sagte Halverson mit Stolz in der Stimme, »im ganzen Land. Ich hätte Major Morgan angerufen, aber die Telefone waren schon tot. Zum Glück sind wir ihm in der Stadt begegnet.«

»Was ist denn überhaupt los?«

Halverson zuckte die Achseln. »Juana, wir haben keinen Kontakt mehr mit Regierungsstellen oberhalb der Kreisebene gehabt, seit die Außerirdischen angefangen haben zu schießen. Kein Telefon funktioniert, im Radio und über Funkgeräte hört man nichts als Rauschen. Die meisten unserer Nachrichtensysteme sind auf Satelliten angewiesen, und von denen haben wir gar keine mehr. Trotzdem…« Er straffte sich. »Die Regierung dürfte kaum damit einverstanden sein, daß ich mich hinsetze und auf Befehle warte – nicht, solange diese Dinger scharenweise vom Himmel fallen! Sobald meine Hubschrauber hier sind, zeigen wir denen, was es heißt, sich mit Amerikanern einzulassen. Vor allem mit uns Freischärlern hier aus Kansas!«

18. Der Krieg der Freischärler

Ein Feldherr weiß nie etwas mit Sicherheit, nie sieht er seinen Feind deutlich vor sich und weiß auch nie genau, wo sich dieser befindet. Auch das erfahrenste Auge kann nicht sicher sein, ob es die gesamte Armee des Feindes sieht oder nur Dreiviertel davon. So sieht der Feldherr mit dem inneren Auge, befehligt, indem er alle Verstandeskräfte zusammenfaßt, und urteilt nach einer Art Eingebung.

NAPOLEON BONAPARTE

Memoiren


Zeit: 120 Stunden nach der Stunde Null

Harry verbrachte die Nacht in einem Weizenfeld, bettete sich auf ein Strohlager und breitete Weizenstroh über sich, um nicht zu frieren. Er wagte nicht, ein Feuer zu machen. Rund um ihn zuckten Blitze und rollte Donner. Indem er die Sekunden zählte, die zwischen Blitz und Schall lagen, konnte er abschätzen, daß einige der Blitze nur fünf Kilometer von ihm entfernt aufzuckten – viel zu nah für seinen Geschmack.

Der Morgen kam. Ihm fehlten Jeris Campingkocher und der Kakao. Nicht daran denken. Ich muß los. Verdammt, ich hätte was tun sollen, sie retten müssen. Am besten hätte ich sie bei ihrem Wagen gelassen – da wären sie sicherer gewesen! ›Komm mit, ich kümmer mich um dich.‹ Von wegen!

Das Motorrad lief gut. Harry Schätzung nach waren es noch etwa dreißig Kilometer, und das Benzin würde für fünfzig reichen.

Er bog in den Weg ein, der zum großen Haus führte, und schüttelte ungläubig den Kopf. Geschafft, großer Gott! Zumindest sah das Anwesen ganz so aus, wie Wes es ihm beschrieben hatte. Es lag auch an der richtigen Straße, fünfzehn Kilometer westlich von Dighton, und in zwei Kilometer Umkreis gab es kein weiteres Haus.

Es war fast Mittag. Der Himmel war blau und klar, und nur gelegentlich hörte man Donner, sah man farbige Blitze aufleuchten.

Harry runzelte die Stirn. Ein Panzerfahrzeug stand vor dem Haus. Zu beiden Seiten der Auffahrt waren tiefe Eindrücke von Kettenprofilen zu sehen, die hinter das Haus führten. In den Feldern waren mindestens sechs Panzer verteilt, nicht unbedingt von der neuesten Bauart…

Ein großer blauer geländegängiger Lkw stand neben dem Panzerfahrzeug auf der Auffahrt. Bei dessen Anblick nickte Harry wohlgefällig. Er ließ das Motorrad zur vorderen Veranda rollen. Zwei Milizionäre, älter als er, saßen auf dem Panzerfahrzeug. Einer winkte ihm zu.

»Hallo«, rief Harry.

»Hallo«, erwiderte einer der Männer den Gruß.

Hinter der Fensterscheibe bewegte sich etwas.

»Ist Mrs. Dawson im Haus?« erkundigte sich Harry.

»Ich denke schon«, sagte einer der Männer. »He, Juana, Besuch für deine Schwester.«

Die Tür öffnete sich, und Carlotta Dawson kam die Treppe herabgeeilt. Sie trug Bluejeans, und ihr Haar wurde von einem Kopftuch zusammengehalten. Wortlos umarmte sie Harry und barg ihr Gesicht an seiner Schulter.

So blieb sie eine Weile stehen, dann sah sie zu den Milizmännern empor. »Er ist die ganze Strecke von Los Angeles gekommen«, sagte sie, »um mir beizustehen.«

»War es schlimm?« wollte einer wissen.

»Manchmal schon«, sagte Harry.

»Im Westen soll es nicht gut aussehen.«

»Sie haben den HooverStaudamm weggeputzt«, informierte ihn Harry. »Damit haben sie alle Städte entlang dem Colorado River zerstört. Genauso haben sie es mit den Staudämmen am Platte River gemacht. Sie scheinen gern Staudämme zu demolieren.«

Ein Offizier trat aus dem Haus. »Colonel Halverson, das ist Harry Reddington«, stellte Carlotta vor. »Ein Freund von – von Wes und mir. Er kommt geradewegs aus Los Angeles. Harry, Sie müssen Hunger haben.«

»Schon, aber vor allem müssen wir weg hier. Die verdammten Elefanten…«

»Welche Elefanten?« wollte Colonel Halverson wissen.

»Die Angreifer…«, sagte Harry.

»Warum bezeichnen Sie sie als Elefanten?«

»Weil sie aussehen wie Zwergelefanten mit zwei Rüsseln.«

»Haben Sie sie denn gesehen?«

»Und ob. Auf einen hab ich sogar geschossen, aber sie sind gepanzert, und deswegen weiß ich nicht, ob ich ihn getroffen habe.«

»Was meinen Sie mit ›gepanzert‹?«

»Sie tragen eine Art Rüstung, haben Gewehre und töten Menschen. Sie haben Leute aus einem Bauernhaus weggeführt und den Bauern umgebracht.«

»Wie nah waren Sie ihnen denn?«

Harry erschauderte bei der Erinnerung. »Viel zu nah! So, wie ich jetzt vor Ihnen stehe!« Einer hat mir sogar den Fuß auf die Brust gesetzt. Das aber sagte er nicht. Er schämte sich.

Halverson sah zweifelnd drein. »Und wie sind Sie ihnen entkommen?«

»Sie haben mich laufen lassen. Von mir aus könnt ihr Jungs machen, was ihr wollt, aber Mrs. Dawson und ich müssen hier weg. Sie sind überall. Ein Riesenglück, daß sie noch nicht hier waren.«

»Erzählen Sie mir!« sagte Colonel Halverson. »Alles was Sie wissen.«

»So viel gibt es da gar nicht zu erzählen«, sagte Harry. Sie hatten Schuhe mit hohen Absätzen an und sind mit Flugdrachen runtergekommen. Wenn ich das sage… »Sie sind mit Flugdrachen runtergekommen. Dann ist größeres Gerät gelandet.«

»Wie groß? Wo?«

»In der Nähe von Logan. Sie hatten Flugzeuge von der Größe ausgewachsener Düsenmaschinen, nur mit geringerer Spannweite. Und dann Luftkissengleiter, so groß wie Sattelschlepper. Jedenfalls sind sie mir so vorgekommen. Vielleicht waren sie auch größer.«

»Panzer? Geschütze?«

»Ich hab keine gesehen.«

»Und die haben Sie laufenlassen?«

»Ja – sozusagen.«

»Auch andere?«

»Ja.«

»Von Logan also, im Südwesten.« Halverson schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche. »Wir wissen, daß sie auch im Osten sind, und aus der Richtung ist bis jetzt niemand gekommen. Aber das hätte doch geschehen müssen, wenn die – wenn diese Wesen Menschen laufenlassen. Vielleicht wollen sie etwas verbergen. Am besten erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«

Stück für Stück entlockte Halverson Harry seine Geschichte. »Und dann habe ich die Waffe gefunden«, sagte Harry. »Ich hab erst überlegt, ob ich nicht Mrs. Wilson folgen sollte, bin dann aber doch lieber hergekommen.«

Halverson sah nachdenklich drein. »Was hätten Sie auch allein ausrichten können? Beim nächstenmal würden Sie einfach erschossen werden. Aber ich möchte doch zu gern wissen, was die da im Osten Geheimnisvolles im Schilde führen.«

»Colonel?« Der Sergeant sprang von dem Panzerfahrzeug herunter. Er schien älter zu sein als Halverson.

»Ja, Luke?«

»Colonel, ich hab gestern abend ‘ne merkwürdige Geschichte gehört, drüben in Collinston.«

»Collinston? Das liegt achtzig Kilometer von hier! Was haben Sie denn da getrieben?«

»Bin mit ein paar von den Jungs hingefahren, um was zu trinken. Sie brauchten uns nicht, denn wir wollten ja noch nicht aufbrechen.«

»Das nächste Mal geben Sie Bescheid, wenn Sie das Lager verlassen.« Er lachte leise vor sich hin. »Also schön, in Collinston haben Sie eine offene Bar gefunden. Vermutlich braucht es mehr als Krieg und Fallschirmjägerangriffe, damit sie in dem Ort die Lokale dichtmachen.«

»Bestimmt. Jedenfalls war da einer, der schon ziemlich viel intus hatte, deswegen hat ihn auch keiner groß beachtet. Er hat gesagt, er hätte einen Elefanten gesehen, einen kleinen, in einem Weidengehölz vor der Stadt. Er glaubte, er wäre vielleicht aus ‘nem Zirkus entlaufen, weil es ein dressierter Elefant war.«

»Dressiert? Wieso das?« fragte Halverson.

»Keine Ahnung.«

»Harry.« Carlotta sprach mit großem Nachdruck. »Harry, das ist einer von den Angreifern. Wir müssen ihn gefangennehmen, und zwar lebend. Vielleicht weiß er etwas über Wes. Harry, wir müssen!«

Harry schluckte. »Klar, aber ich brauch Benzin!«

»Ich zapfe welches aus Davids Wagen.«

»Augenblick mal«, sagte Colonel Halverson. »Das kann ich nicht zulassen.«

»Warum nicht?« wollte Carlotta wissen. »Sie fahren nach Osten. Da werden Sie genug Angreifer zu Gesicht bekommen. Den einen da brauchen Sie nicht.«

»Aber – hören Sie, diese Viecher sind bewaffnet…«

»Es hat dem Mann in der Bar nichts getan«, sagte Carlotta. »Warum hätte der sonst gedacht, daß es dressiert war? Vielleicht… vielleicht hat es sich hingelegt und auf den Rücken gedreht!«

»Großer Gott!« sagte Harry. »Vielleicht hat sie recht.«

»Ja, aber…«

»Colonel, mein Mann war ein Freund des Präsidenten. Präsident Coffey hat ihn persönlich den Außerirdischen entgegengeschickt. Es ist mein Recht zu erfahren, was mit ihm passiert ist. Geben Sie Harry Benzin, und dann führen Sie von mir aus Ihren Krieg! Harry und ich tun das übrige.«

Klar, dachte Harry. Natürlich.


* * *

»Und ich sage, wir stellen sie.« Evan Lewis war sich seiner Sache sehr sicher. »Zum Teufel, Joe, wir müssen einfach! Wir könne doch die – die Biester nicht in ganz Kansas frei rumlaufen lassen.«

»Ich widerspreche Ihnen ja gar nicht, Captain«, sagte Colonel Halverson, Er ließ den Blick über das Häuflein Männer schweifen, das sich um Juana Morgans Eßzimmertisch versammelt hatte. Evan Lewis, Inhaber eines Landmaschinenhandels mit angeschlossener Reparaturwerkstatt, der die Panzer kommandierte, George Mason, Rechtsanwalt, Kommandeur der sechs Hubschrauber. Der vierte Mann am Tisch war David Morgan, emeritierter Professor für Betriebswirtschaft, Halversons Adjutant und Stabschef. Morgan war der Kleinste in der Runde, und er sprach mit einem abgehackten Ostküstenakzent, der Joe Halverson maßlos auf die Palme brachte. Andererseits mußte er sich eingestehen, daß Morgan der klügste Kopf im Bataillon war.

»Trotzdem gefällt mir die Sache nicht«, sagte George Mason. »Colonel, wir haben keine Ahnung, was da vorne los ist, und auch nicht, was die vom Heer beabsichtigen.«

»Was also sollen wir Ihrer Ansicht nach tun?« erkundigte sich Halverson sarkastisch.

»Auf Befehle warten.«

»Wirklich heldenmütig«, sagte Captain Lewis.

»Genug«, sagte David Morgan leise, aber alle hörten es. »Auf Gezänk können wir verzichten.«

»Und auf welcher Seite stehen Sie, Professor?« Evan Lewis hatte Professor Morgan noch nie ausstehen können, doch sie waren Gäste in seinem Haus, Uniform hin oder her.

»Ich schließe mich Colonel Halversons Ansicht an«, sagte Morgan. »Die Eindringlinge haben da im Osten irgend etwas zu verbergen. Unsere Aufgabe als KavallerieEinheit ist Aufklärung – aber mit Umsicht. Vor allem müssen wir sicher sein, daß die Informationen, die wir bekommen, nützlich sind. Das wird nicht einfach sein. Wie wir wissen, stören sie alle Funkverbindungen, und die Telefone sind außer Betrieb.«

Nachdenklich nickte Joe Halverson. »Vorschläge, Major?«

»Wir sollten uns über das Gebiet verteilen und die Panzerspähwagen als Nachrichtenverbindungsmittel einsetzen.« Er entwarf rasch eine Skizze auf dem Tischtuch. »Corporal Lewis…« – Morgan nickte zu Evan Lewis hinüber; jedermann wußte, daß dessen Sohn Jimmy ein begnadeter Elektroniktechniker war – »Ihr Jimmy hat doch diese großartigen Abschirmungen gemacht, mit deren Hilfe die Panzerbesatzungen in Verbindung bleiben können, solange die Antennen genau aufeinander ausgerichtet sind. Wir schicken die Hubschrauber als Spähtrupp und Flankenschutz vor. Sie müssen unbedingt Sichtverbindung zu den Panzern halten. Die Panzer werden so konzentriert, daß sie eine gewisse Feuerkraft besitzen, aber so weit voneinander entfernt bleiben, daß sie kein gutes Ziel bieten. Dann werden die Panzerfahrzeuge und die Panzerspähwagen dahinter als Bindeglieder aufgefächert.«

»Und womit stehen sie in Verbindung?« fragte Mason.

»Wir lassen zwei Leute mit einem Funkgerät hier im Haus. Juana schreibt alles auf. Wenn wir nicht zurückkommen, verschwindet sie, so schnell sie kann.«

»Das dürfte kaum nötig sein«, sagte Halverson. »Wir sind zwar kein Armee, aber andererseits doch ziemlich stark.« Er sah aus dem Fenster auf sein versammeltes Kommando. Sechs mit Raketen bewaffnete Hubschrauber, ein Dutzend Panzer, die über Bordkanonen und Raketen verfügen. Auch ohne Nachrichtenverbindung war eine gepanzerte KavallerieEinheit nicht zu verachten.

»Klingt gut«, sagte Lewis. »Zumindest tun wir was.«

»Ich würde lieber auf Befehle warten«, beharrte George Mason, »aber was soll’s, wenn ihr mitmacht, bin ich dabei.«

Joe Halverson stand auf. »Also vorwärts!«


* * *

»Ich heiße Jimmy Lewis«, sagte der Corporal. Er kletterte durch die Luke zu Harry auf das Dach des großen Fachwerkhauses hinaus.

Harry nickte ihm zu. »Hallo. Man hat mir gesagt, daß Sie das hier erfunden haben.« Er schwang das TaschenFunksprech gerät, dessen Antenne in einem mit Kleiderbügeldraht versteiften Kegel aus Aluminiumfolie saß.

»Ja«, sagte Jimmy Lewis. »Meiner Ansicht nach die einzige Möglichkeit, wie wir eine Nachrichtenverbindung herstellen können. Man muß es allerdings ziemlich genau abgleichen, sonst kriegt man die Signale nicht mit.«

Harry warf einen Blick auf die Anlage, dann auf den gleichartigen, nur größeren Kegel aus Aluminiumfolie, der auf einem der Panzerfahrzeuge unten im Hof angebracht war. »Ja. Ich richte das hier also auf euren Panzer aus, und vielleicht hör ich dann was. Wie weiter?«

»Nehmen Sie das«, sagte Jimmy Lewis. Er gab Harry ein kleines Tonbandgerät. »Das Band hier läuft drei Stunden. Das ist mehr als genug. Einfach hier mit dem Funkgerät verbinden und einschalten, wenn wir losfahren. Wenn Sie sich den Kopfhörer aufsetzen, hören Sie einen Ton, solange die Antenne dicht am Panzer ausgerichtet ist, und nichts, wenn Sie genau draufhalten, außer wenn gesprochen wird. Dann hören Sie natürlich die Unterhaltung mit. Es klingt kompliziert, ist aber in Wirklichkeit ziemlich einfach.«

»Gut.«

Major Morgan stand auf dem Hof. Harry konnte nicht hören, was er sagte, aber Juana Morgan schien es nicht zu gefallen. Ihre Haushälterin saß auf dem Beifahrersitz des AllradKommandofahrzeugs, aber Juana Morgan wollte es nicht fahren.

Doch schließlich stieg sie ein, und das blaue Fahrzeug fuhr davon. Jetzt sind nur noch Carlotta und ich hier. David Morgan trat in militärischer Haltung zu seinem Panzer und kletterte hinein.

Halverson rief hinauf: »Es kann losgehen, Jimmy.«

»Ja, Sir.« Corporal Lewis winkte Harry zu und stieg durch die Luke wieder nach drinnen.

»Vielen Dank, Mr. Reddington«, rief Halverson hinauf. »Ich brauche jeden verfügbaren Mann, da ist es nett, daß Sie uns aushelfen. Ich bezweifle zwar, daß Sie gebraucht werden, aber…«

»Kein Problem, Colonel.« Carlotta wird natürlich ganz wild darauf sein, den Elefanten zu fangen. Vielleicht ist es hier oben ja sicherer!

»Noch einmal herzlichen Dank«, sagte Halverson. Er ging raschen Schrittes zum vordersten Panzer und stieg ein. Eine Weile blieb er winkend im Turm stehen und befahl dann theatralisch: »Kolonne Maaaaarsch!«

Die Hubschrauber stiegen in einer Staubwolke auf und teilten sich in zwei Dreiergruppen links und rechts der Fahrzeugreihe auf. Die Kettenfahrzeuge schwärmten aus, beschleunigten und ließen das Panzerfahrzeug hinter sich.

»Wächter, hier Freischärler Eins. Hören Sie mich?«

Harry schaltete das Mikrofon ein. »Verstanden, Freischärler Eins, hier Wächter.«

»Unser Kurs ist 100 Grad, Abfahrt 12.20 Uhr«, meldete sich die Stimme des Panzersoldaten in Harrys Ohr. Schuldbewußt zuckte Harry zusammen und schaltete das Tonbandgerät ein.

Als das Panzerfahrzeug ostwärts zu schwenken begann, wurde die Peilung viel schwieriger. Harry stützte das Funkgerät am Kamin ab. Das Dach war steil, und er hatte keinen leichten Stand.

Die Hubschrauber beschrieben komplizierte Muster vor den Panzern. »Marschgeschwindigkeit zwanzig Kaemm «, sagte die Stimme.

Eine halbe Stunde verging. Die Hubschrauber und die führenden Panzer waren kaum noch zu sehen, die anderen Fahrzeuge folgten ihnen in weitem Abstand. Harrys Gesprächspartner war nun gut acht Kilometer weit weg, und er brauchte seine ganze Konzentration, um ihn richtig anzupeilen. Er wollte gerade das Mikrofon einschalten, um ihm das mitzuteilen, als die Stimme des Mannes in einem Panzerfahrzeug rief:

»Licht über uns!«

Harry konnte es sehen. Ein leuchtendgrüner Blitz, vermutlich von seinem Aussichtspunkt besser sichtbar als vom Boden.

»Hubschrauber Drei meldet, daß sich der Strahl spiralförmig bewegt« – Pause. »Kein Kontakt mehr mit den Hubschraubern. Colonel Halverson meint, alle seien von einer Art Strahl angegriffen worden…«

Gott steh uns bei!

»Bisher kein Beschuß auf Fahrzeuge…«

Ein Dröhnen ertönte, dann hörte man das scharfe Krachen zahlreicher Überschallknalle. Harry sah nach oben. Dutzende parallel verlaufender weißer Streifen überquerten von Südwesten her den Himmel, dorthin, wo sich Colonel Halversons Trupp befand. Am Horizont leuchteten grelle Blitze auf, genau entlang der Linie, auf der sich die Verbindungsfahrzeuge befunden hatten. Nach einer langen Pause war grollender Donner zu vernehmen.

»Freischärler, hier spricht Wächter«, sagte Harry. »Freischärler, hier spricht Wächter. Kommen!«

– Keine Antwort.

Harry goß den letzten Rest Benzin in den Tank seines Motorrades.

»Was war das?« fragte Carlotta.

»Ich weiß nicht. Es hat ausgesehen wie ein Videospiel, richtig unwirklich.« Harry prüfte gründlich alle wichtigen Funktionen seiner Maschine. Eine gute Möglichkeit festzustellen, ob er noch bei Verstand war. Tod vom Himmel. – Einst waren wir die Herren da oben, dann haben uns die Sowjets abgelöst, und jetzt müssen wir den Himmel von Zwergelefanten zurückerobern.

»Die Maschine ist in Ordnung. Wir schaffen es ohne weiteres. Sie müssen nur die Knarre halten.« Er reichte Carlotta das WinchesterGewehr, das ihnen David Morgan gegeben hatte.

»Nicht gerade eine Elefantenbüchse, aber sie werden das Kaliber nicht so ohne weiteres wegstecken«, hatte er dabei gesagt.

Nun waren sie alle tot. Harry hatte eine volle Stunde gewartet. »Vielleicht sollte ich nachsehen gehen?«

»Nein«, sagte Carlotta mit fester Stimme. »Sie würden nur zu Schaden kommen. Es ist viel wichtiger, daß wir das versprengte Wesen einfangen.«

»Mrs. Dawson, Sie wissen doch gar nicht, ob es versprengt ist.«

»Was sonst?«

Harry zuckte die Achseln. Ich weiß nur, daß ich von der verdammten Maschine langsam die Nase voll hat. Hätte ich wenigstens noch ‘ne Tube von der Rückensalbe. Aber so weh tut es gar nicht mehr. »Alles aufsitzen!«

Prüfend klopfte er auf die Jackentasche, um sich zu vergewissern, daß die Tonbandspule darin war. Irgend jemand würde sich später gewiß dafür interessieren.

Vor ihnen drängten sich Fahrzeuge und Menschen um einen großen Lkw. »Wir sind gleich in Collinston«, rief Harry. »Da vorne scheint es Ärger zu geben.«

Langsam fuhr er heran. In der Nähe war ein Streifenwagen geparkt, und ein Polizeibeamter stand einer Gruppe wütender Bauern und Lastwagenfahrer gegenüber. Die meisten hielten Gewehre oder Schrotflinten in den Händen.

»Ach du Scheiße«, knurrte Harry.

Der Polizist warf einen Blick auf Harry und Carlotta. Roter Bart, schmuddlige Kleidung, eine Frau in mittleren Jahren, die Jeans trug. Er sah Carlotta absteigen. »Ja, Madam?«

»Ich heiße Carlotta Dawson. Ja, Dawson. Mein Mann war an Bord der sowjetischen Raumstation Kosmograd. Ich nehme an, daß sich hier eines der außerirdischen Wesen befindet.«

»Darauf können Sie Gift nehmen«, rief einer der Lastwagenfahrer. »Der verdammte Rüßler hat George Mathers weggepustet!« Er schwang ein Sturmgewehr. »Aber jetzt geht’s ihm an den Kragen!«

»Wir müssen ihn lebend fangen«, sagte Carlotta.

»Unsinn!« Das kam von einem Bauern. »Ich war in Logan, Lady. Die verdammten Rüßler haben meine Schwester umgebracht! Da wimmelt’s nur so von denen.«

»Und wie sind Sie rausgekommen? Fuß auf die Brust?« fragte Harry.

Der Mann sah betreten beiseite.

»Dacht’ ich’s mir doch«, sagte Harry. »Geben Sie uns ‘ne Chance! Das Militär will das Biest verhören. Wir holen es uns.« Er wies auf das Weidengebüsch hundert Meter von der Straße. »Da lang?«

»Ja, da lang zur Hölle!« kreischte jemand.

»Also los«, sagte Harry und bedeutete Carlotta mit einer Handbewegung, wieder aufzusteigen.

Mit »da lang« war ein Feldweg gemeint, der zu der Weidengruppe führte. Als Harry die Maschine anließ, hörte er einen der Lastwagenfahrer sagen: »Wir könnten ihm eins verpassen, wenn es rauskommt.«

Zustimmendes Gemurmel erhob sich.

Am Rande des Sumpfes angekommen, hörte Harry, wie sich etwas Massiges im Wasser bewegte.


* * *

Harpanet befand sich in einem merkwürdigen Zustand. Er hatte Schreckliches durchgemacht und war völlig verstört. Vielleicht hatte er den Verstand verloren? Woran sollte ein Fi’ erkennen, wenn die Herde nicht zum Vergleich in der Nähe war?

Mach die Demutsgebärde, wirf die Waffe in den Dreck, leg dich auf den Rücken, den Bauch in die Luft. Der Mann sieht dich blöd an, dreht sich um und schlurft davon. Lauf hinter ihm her, er schreit, wird schneller, fällt hin, rennt weiter, auf Lichter zu. Es sieht aus, als ob Harpanet angreift. Also aufhören! Verstecken und warten.

Ein Erdling steigt aus einem Fahrzeug. Dasselbe noch mal? Er klettert wieder hinein, kommt mit etwas heraus, das Flammen spuckt und brüllt. Harpanet wirft sich rechtzeitig zur Seite, damit die Wolke winziger Geschosse in die Flanke statt in den Bauch dringt. Der Erdling schießt erneut.

Er ist also nicht bereit, sich zu unterwerfen. Harpanet trompetet: Wut, Schmerz, Verlorenheit. Er rafft seine Waffe auf und feuert zurück. Aus Vordergliedmaßen und Kopf des Feindes schießt ein Schwall Blut empor.

In Harpanets Kopf verblaßt das Vergangene, das Zukünftige ist ungewiß. Die Grifflinge fahren an seiner Seite entlang, tasten nach der Todeswunde.

Keine Todeswunde, die Löcher sind nicht einmal groß genug, daß ein Griffling sie finden könnte. Was also wollte der Erdling? Ihn foltern? Harpanets ganze rechte Flanke juckt brennend und ist rot von Blut. Acht hoch acht schwarze Punkte bilden einen Wirbelsturm um ihn herum. Er schleppt sich durch das endlose Land, fort von Straßen, abwärts, wo immer das möglich ist, stets umgeben von dem wilden Sturm und dem Jucken, das ihn zum Wahnsinn treibt. Seine Erinnerung krallt sich wie eine Zange um ein Bild, das ihm lebhaft vor Augen steht und wirklicher ist als seine Umgebung. Er wandert durch eine endlose Planetenphantasie, sucht den Schlammraum der Bote.

Grün… Hohe Grünpflanzen mit Blättern wie Messerklingen, aber sie verjagen die hungrigen, schwärmenden Punkte… Wasser? Schlamm!

Er wälzt sich in Schlamm und Grün, über und über, erstarrt von Zeit zu Zeit, schaut sichernd um sich, nimmt Witterung auf, lauscht.

Erneut verschwimmt Harpanets Vergangenheit vor der merkwürdigen und schrecklichen Wirklichkeit. Wenn er eine Zukunft hat, liegt sie jenseits seines Vorstellungsvermögens, hinter einer nebelgrauen Wand. Es gibt nur ein Jetzt, fremdartige Pflanzen, feuriges Jucken, kühlenden Schlamm, und ein Hier, Schlammraum und Garten zugleich, alptraumhaft verändert. Er wälzt sich, um die Wunde auszuwaschen, hebt Schlammbatzen auf, um sie über seine Flanke zu streichen.

Angst fortzugehen, Angst zu bleiben. Welches Lebewesen im Wasser könnte das Blut schmecken und nach dessen Quelle streben? Die Räuber der Heimatwelt waren Bilder auf einem Thaktan, Geister auf einer alten Magnetaufzeichnung, doch trotz aller Ferne schrecklich genug. Was lauert in diesen fremdartigen Wassern? Aber er hört von fernher das Geräusch vorüberziehender Fahrzeuge und weiß, es sind keine Fahrzeuge der Fithp.

Eine Maschine nähert sich, wird lauter und lauter. Harpanets Ohren und Augen schieben sich aus dem Wasser.

Die Maschine schwankt seltsam auf zwei Rädern, wie ein Erdling auf seinen Beinen. Sie wird langsamer, schwankt noch mehr, bleibt stehen.

Erdlinge nähern sich zu Fuß.

Harpanets Muskeln wissen, was sie zu tun haben, wenn er verletzt ist, erschöpft, ohne Freunde, verzweifelt, allein. Harpanets Geist kommt auf keine andere Lösung. Und er sieht keine Zukunft –

Er springt aus dem Wasser. Fremdartige Waffen werden auf ihn gerichtet. Er wirft sein Gewehr ins Gestrüpp, dreht sich auf den Rücken, streckt alle vier Läufe aus und wartet.

Der Erdling kommt rasch herbeigerannt. Kein ausgewachsenes Fi’ würde versuchen, sich so zu bewegen. Er setzt Harpanet einen Hinterlauf mit aller Kraft auf die Brust, Harpanet spürt es kaum. Harpanet unterdrückt das Bedürfnis zu lachen, so kann man ja kaum eine Rippe verbiegen. Dennoch bleibt er mit ausgestreckten Gliedern Hegen, vollendet seine Unterwerfungsgebärde. Der Erdling schaut auf seinen Gefangenen hinab, atmet schwer, als habe er ein Rennen gewonnen…


* * *

»Wir haben ihn!« rief Harry. »Und jetzt weiter?« Er deutete zu dem Hügel hinauf, wo ein Dutzend Bewaffneter mit ihren Gewehren im Anschlag verborgen warteten.

»Ich kann mit ihnen reden«, sagte Carlotta, ohne recht zu glauben, daß sie damit Erfolg haben würde.

»Die hören nicht zu.« Der Teufel soll sie holen, das ist mein Rüßler, den können sie jetzt nicht umbringen! Wütend dachte Harry nach. Ein schuldbewußtes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, er klappte die Sitzbank des Motorrades hoch, unter der er sein Werkzeug aufbewahrte.

»Ist Ihnen etwas eingefallen?«

»Vielleicht.« Er suchte in der Werkzeugrolle und fand Fallschirmschnur. Sie war dünn, kräftig genug, um einen Mann zu halten, aber wohl nicht besonders wirkungsvoll gegen einen von denen. Er wies auf den Gefangenen, machte mit beiden Händen Bewegungen, die »aufstehen« bedeuteten.

Das Wesen erhob sich und sah sie teilnahmslos an.

»Da läuft es einem ja eiskalt den Rücken runter«, sagte Harry. Er umklammerte sein Gewehr. Eine Kugel ins Auge, und wir sind alle Sorgen los. »Probieren Sie mal, ob er Sie trägt«, sagte Harry.

»Mich tragen?«

»Als Königin des Dschungels sozusagen. So stark ist er bestimmt.«

Ein Dutzend Lastwagenfahrer und Bauern stand mit schußbereiten Waffen da.

Harry ging voran und führte das Weltraumwesen an der Schnur. Carlotta saß im Damensitz auf dessen Rücken. Sie strahlte zu den Männern hinüber. »Hallo!« rief sie ihnen zu.

Die Zuschauer schwiegen eisig.

»Es hat sich unterworfen«, rief Carlotta. »Wir bringen es zur nächsten Regierungsstelle.«

Laut klickend wurde ein Sicherungshebel umgelegt.

Harry pfiff leise vor sich hin und sagte: »Hüja, Bursche! Alles in Ordnung, Leute. Seht ihr, ist doch nur ein großer grauer Erdnußfresser!«

Unmutsäußerungen wurden laut, doch sie konnten ungehindert passieren.

19. Die Gelehrten

Richte den Blick auf die Welt, die vorüberzieht,

Um Weisheit hast du dich genug bemüht.

Bedrängnis, Qual, Neid, Not – all das belastet

Das Dasein des Gelehrten, der nicht rastet.

DR. SAMUEL JOHNSON

Von der Vergeblichkeit menschlichen Wünschens


Zeit: 150 Stunden nach der Stunde Null

Wes Dawson wurde wach. Er hörte das Heulen der Beschleunigungs Warneinrichtung, russische Flüche und das tiefe Summen des Triebwerks von Thaktan Flishithy. Der Boden war geneigt, nicht zu einer Wand hin, sondern zu einer Ecke. Offenbar beschleunigte das Raumschiff bei gleichzeitiger Verlangsamung der Rotation.

Um die Gefangenen würden sich die Fithp während der Flugmanöver nicht kümmern. Wes tat es den anderen nach: er legte sich wie ein Seestern auf den Bauch, krallte sich mit Fingern und Zehen in der Auskleidung des Raumes fest und döste vor sich hin.

Der Kippwinkel wurde größer, während die Rotationsgeschwindigkeit von Thaktan Flishithy immer mehr abnahm. Nach einigen Stunden rückten alle zur Heckwand hin. Sie waren wach und unterhielten sich, nur Wes Dawson schwieg. Nikolai machte Handbewegungen, als beschreibe er eine Achterbahn, und die anderen lachten.

Nach einigen weiteren Stunden war die Heckwand zum Fußboden geworden. Thaktan Flishithys Triebwerk erzeugte eine Kraft nahe der Erdbeschleunigung.

Die Tür öffnete sich.

Jetzt war es eine Tür, da die Decke zur Wand geworden war. Vier FithpKrieger kamen unverzüglich herein. Sie trieben die Gefangenen in den Gang hinaus, wo vier weitere Krieger mit Tashajämp, der Gehilfin des Lehrers, warteten. Dmitri verbeugte sich vor ihr. »Grüße«, sagte er (jedenfalls war es das Klangmuster, das sie für eine Begrüßung gelernt hatten, es enthielt das Wort für Zeit). »Frage, Ziel wir?«

»Ziel Podo Thaktan«, sagte Tashajämp. »Macht euch lernbereit.«

Jetzt, wo kein Vorgesetzter in der Nähe war, wirkte sie gelassener als zuvor. Woher kam dieser Eindruck? Wes beobachtete sie. Sie ging mit selbstsicheren Schritten, während er sie sonst vor der Berührung mit den Kriegern wie auch Menschen hatte zurückschrecken sehen. Vermutlich waren jetzt die Krieger ihre Leibwache.

Wie auch immer, er wollte etwas von ihr. »Frage: Ziel Thaktan Flishithy?«

»Nach zwei Mahlzeitpausen wird dieser Zustand enden. Es wird fast keinen Antrieb geben. Ihr werde lange schwerelos leben. Ihr müßt es lernen«, sagte sie.

Sie hatte seine Frage nicht beantwortet, das taten sie oft.

Der Gang verzweigte sich. Der neue Gang neigte sich, schwang dann nach rechts. Eigentlich hätte er radial verlaufen müssen. Warum also die Krümmung? Etwa, damit es hübscher aussah? Bei Rotation des Raumfahrzeugs würde der Korridor um zwanzig bis fünfundzwanzig Grad ansteigen…

Aber ein radialer Gang verliefe unter Rotationsbedingungen vertikal. Da Fithp keine Leitern ersteigen konnten, mußten die Wege nach innen spiralförmig sein. Am besten Ausschau nach den Schnellaufzügen halten.

Da die Sowjets nicht mehr mit Wes sprachen, richtete auch er das Wort nicht mehr an sie. Es war eine Art Spiel geworden. Beobachten, Schlüsse ziehen. Wer lernt schneller, Ihr oder ich?

Tashajämp sagt, daß wir bald nahezu schwerelos leben werden. Wie erreichen sie, daß es nur eine annähernde Schwerelosigkeit ist, und warum lassen sie das Raumschiff nicht rotieren, um sie ganz zu vermeiden? Den Fithp war wenig Schwerkraft lieber, aber nicht so wenig. Was konnte sie daran hindern, das Raumschiff rotieren zu lassen?

Ach, vermutlich ein Asteroid. Sie haben einen kleinen Stützpunkt auf einem Asteroiden, und wir werden daran festmachen. Was ich darum gäbe, wenn sie uns an ein Fenster ließen!

Und jetzt sollen wir also den Podo Thaktan sehen. Den haben sie ja damals bei dem Film gezeigt. Seine Anbringung war ihnen wichtig, sonst hätten sie das bestimmt nicht aufgezeichnet und uns vorgeführt. Ebenso wichtig wie der Treibstoff. Was aber ist das?

Thaktan bedeutet Botschaft, Lektion oder Wissensgebiet; ich habe es schon in allen drei Bedeutungen verwenden gehört. Einer der Namensbestandteile des Mutterschiffs ist Thaktan. Fistartihthaktan, der Schläfer mit dem Geschirr aus Wandbehangmaterial, ist mit thaktanverpaart und scheint keine normale Gefährtin zu haben. Was wir wohl zu sehen bekommen?

Der gewundene Gang endete vor einer soliden rechteckigen Tür. Im Unterschied zu den meisten anderen schien diese Tür nicht automatisch betätigt zu werden. Zwei Krieger mußten sie mit machtvollem Schulterdruck beiseite schieben.

Der kleine Trupp marschierte hindurch.

Spiralförmig wand sich eine Rampe an den Seiten des zylindrischen Raumes empor. Er war nahezu leer: eine auffällige Platzverschwendung in einem interstellaren Raumschiff. In der Mitte des Zylinders ragte ein Pfeiler auf, nicht dicker als Wes’ Handgelenk. Oben verzweigte er sich zu einer blütenförmigen Stützvorrichtung für…

Für ihren Podo Thaktan natürlich, dachte Wes. Ein Überbleibsel aus längst vergangener Zeit, möglicherweise sogar eine Reliquie. Der Podo Thaktan war ein Granitblock von acht bis zehn Metern Länge, ebenso breit und etwa halb so hoch. Seine Kanten und Ecken waren ungleichmäßig abgeschliffen, als wäre jahrtausendelang staubbeladener Wind über sie hinweggegangen.

Er trug eine Aufschrift. Doch nein, die Schrift befand sich in dem Stein: Wes sah durch die Linien Licht von oben fallen. Etwas wie ein fadendünner Laserstrahl hatte Schrift und eine Zeichnung in den dicken Granitblock eingebrannt.

Tashajämp geleitete mit der Hälfte der Soldaten die Sowjetbürger die spiralförmige Rampe empor; die anderen nahmen Wes in die Mitte und folgten. In unterschiedlicher Höhe führten Plattformen von der Rampe fort, und auf einer machten sich drei Fithp zu schaffen. Sie nahmen keine Notiz von den Störenfrieden.


* * *

Eine ganze Weile richteten Fistartihthaktan und seine raumgeborenen Akolythen den Blick in meditativer Versenkung zu Boden, bevor sie an die Arbeit gingen. Die Meditation war ein Ritual, und sie war erforderlich. Man konnte sich zu sehr an den Podo Thaktan gewöhnen; ihn als selbstverständlich hinnehmen. Das durfte keinesfalls, unter keinen Umständen je geschehen.

Früher einmal war es wegen des Bildes in der Mittelfläche des Podo Thaktan zu blutigen Auseinandersetzungen gekommen. Stellte es einen Vorling dar? Die Herde, die diese Ansicht vertrat, hatte die halbe Heimatwelt erobert, Generationen waren gekommen und gegangen, und mit bestürzender Regelmäßigkeit wurden Ketzer ihrer Position entkleidet, bis die Fithp begriffen, was es in Wahrheit mit dem Stein und der Zeichnung auf sich hatte.

Nach ihr war das BussardStaustrahl Triebwerk für die Bote gebaut worden, mit dessen Hilfe das Raumschiff die interstellaren Räume überwunden hatte.

Der Priester und seine Gehilfen wandten sich der Bibliotheks Schirmwand zu. Peikartänk drückte auf eine Taste von der Größe einer Männerfaust, und auf dem Bildschirm erschien eine Folge von Fotos. Einen nach dem anderen sah man halbe Granitwürfel in Nahaufnahme vor verschiedenen, nicht genau auszumachenden Hintergründen.

»Könnten wir nicht einige überspringen?« schlug Kulpulih vor.

»Ich wende mich dagegen«, sagte Fistartihthaktan sofort. »Uns liegt an jeder Information, die die Vorlinge bezüglich Winterheims oder seiner Bewohner hinterlassen haben.«

Die Thaktanthp waren in der Reihenfolge ihrer Entdeckung angeordnet und in etwa auch aufsteigend nach dem Schwierigkeitsgrad der auf ihnen enthaltenen Angaben. Die Geschichte der Fithp ließ sich von ihnen ablesen: der Gebrauch von Feuer, Bergbau und Metallverhüttung, erster Gebrauch des Rades – all das hatten die Vorlinge ihren Nachfahren leicht vermittelbar gemacht. Spätere Thaktanthp waren in Höhlen, auf Berggipfeln oder in unbelebten Wüsten entdeckt worden.

»Augenblick. Kulpulih, ist das nichts als Mathematik?«

»Es fällt mir nicht schwer, die ThaktanLinie zu lesen, Fistartih thaktan. Einfache darstellende Geometrie, eine Liste von Axiomen.«

»Dann der nächste.«

»Der Umerzieher ist mit den Zöglingen gekommen.«

»Achtet nicht auf sie. Auch das muß festgehalten werden!«

Verstohlen musterten Kulpulih und Peikartänk die Erdlinge, ohne den Blick zu heben. Fistartihthaktan tat so, als merke er nichts. Vielleicht konnten sie aus der Beobachtung der Fremden etwas lernen. Gerade jetzt befinden sich FithpKrieger auf dem Boden einer der Landmassen Winterheims und jagten die Beutewesen.

Fistartihthaktan erinnerte sich daran, wie es war, zu laufen, Beute in einem vorbeirauschenden Bach zu machen, nichts zu sehen als Berge in der Ferne und über ihnen Wolken…

Doch zuerst mußten diese Geschöpfe besiegt werden. Das Wissen um den Weg dorthin befand sich sicherlich hier, denn die Tashajämp enthielten alles, was ein Fi’ wissen mußte.

Von äußerstem Interesse war der LebensThaktan. Schrift und Zeichnung beschäftigten sich mit Biologie, und Fistartihthaktan hatte ihn schon früher gründlich studiert. Hierarchien des pflanzlichen Lebens zur Linken, des tierischen zur Rechten. Winzige alte EinzellerFormen unten, die sich aufwärts zu komplexen, warmblütigen Lungenatmern entwickelten. Einfache Skizzen auf jeder Stufe. Die dritte Skizze von oben ähnelte einem unterentwickelten, verwachsenen oder verkümmerten Fi’. Es war massig, hatte einen flachen Schädel und einen unverzweigten Snffp. Die Füße waren keulenförmig, und an jedem saß eine kaum wahrnehmbare Kralle.

Die oberhalb des UrFi ’ dargestellten Geschöpfe waren ausgestorben, allerdings hatte man in weichem Sedimentgestein guterhaltene Skelette gefunden. Andere abgebildete Lebensformen waren verschwunden, aber – konnte nicht die oberste Skizze der Umriß eines Vorlings sein? Hatten sie sich nicht selbst als an der Spitze der Lebensleiter stehend betrachtet? Auch über diese Frage waren Kriege ausgefochten worden.

Es war nicht leicht, Tashajämp mit ihrer halben Achtschaft von Soldaten und vier von Winterheims kleinen, flachgesichtigen Eingeborenen zu übersehen, von denen einer in einem Räderkäfig saß. Fistartihthaktan konnte kaum vermeiden zu hören, wie Takpassih sie in einer Art StammelFithp Sprache unterwies. Er warf einen kurzen Blick auf die Erdlinge. Sie ähnelten der obersten Zeichnung in keiner Weise. Fistartihthaktan empfand tiefe Erleichterung,

Seit seiner Wiedererweckung aus dem Todesschlaf war die Stellung des Priesters nie stärker gewesen als jetzt. Das durchschnittliche Fi’ an Bord der Bote hatte keine Vorstellung davon, worum es bei den Vorlingen ging, oder was alles Fistartihthaktan nicht wußte.

Aber er hatte eine Aufgabe. Er mußte die Offiziere beraten. Dazu mußte er jede von den Vorlingen hinterlassene Angabe suchen, die von Bedeutung sein konnte.

»Weiter«, sagte er zu Kulpulih.

Der nächste Thaktan erläuterte die Aluminiumherstellung.


* * *

»Unbekannt, die Umrisse der…« Ja, wessen eigentlich, der anderen? Ihrer Vorfahren? »Keine Bilder von uns. Vorlinge nur zum Teil bekannt.« Tashajämp sprach langsam, und Wes meinte das meiste zu begreifen. Er mußte sich allerdings stark konzentrieren.

»Ganze Achtzahlen von Achthoch drei Thaktanthp waren über die Heimatstadt verstreut. Die Vorlinge…« Tashajämp sah rasch zum Priester hinüber, der den Blick nicht von der großen Bildschirmwand löste, und senkte ihre trompetenlaute Stimme ein wenig – »wußten nicht alles. Beispielsweise war ihnen weder klar, daß sie mit dem, was sie mit Hilfe ihrer Maschinen taten, die Welt zugrunde richten würden, noch vermutlich, wo sich Leben in der Heimatwelt entwickeln würde, nachdem sie wieder gesundet war. Deshalb ließen sie die Thaktanthp überall zurück. Nicht bekannt sind Dinge über die Fithp, Dinge über die Vorlinge. Vielleicht waren die Thaktanthp als Botschaften für die Kindeskinder der Vorlinge gedacht. Aber diese hatten keine Nachkommenschaft.«

Arwid fragte: »Was ist geschehen?«

»Das weiß Fistartihthaktan. Ich spreche mit ihm. Wartet.« Tashajämp wandte sich beiseite und blieb unbeweglich hinter dem Priester stehen.

Wes sah zu Boden.

Von unten hatte die Halterung einen Teil der Schrift verdeckt, von oben sah man alles. Beim Behauen der Steine war um die Schrift herum ein Rand von mindestens einem Meter Breite gelassen worden. Durch ungleichmäßige Abnutzung waren Einbuchtungen entstanden, in die die Arme der Halterung greifen konnten.

Da Wes die Schrift nicht zu entziffern vermochte, wandte er sich dem Zeichnungsteil zu.

Der Podo Thaktan enthielt zahlreiche Muster. An einer Stelle erkannte Wes in einer Vielzahl von Punkten ein charakteristisches Sternbild des Sommerhimmels. An einer anderen fanden sich gewundene Linien – möglicherweise die Magnetfelder eines BussardStaustrahl Triebwerks…Podo mochte Sternenflug bedeuten, konnte aber auch Gestirne oder einfach nur Himmel heißen. Wörter und Sätze, die er gehört hatte, wurden ihm jetzt klar, und er war sicher, daß Thaktan Flishithy soviel bedeutete wie ThaktanTräger, mithin Überbringer der Botschaft, kurz Bote.Der Priester Fistartihthaktan schien den Podo Thaktan kulthaft zu verehren und auch als eine Art Bibliothekar zu fungieren. Wohl eine Art Herr der Überlieferung.

Jetzt hatte sich Fistartihthaktan vom Bildschirm abgewandt und sprach so rasch mit Tashajämp, daß Wes nichts verstand.

»Unbekannt, was geschehen ist, daß Vorlinge Nachkommen aufhörten«, sagte Tashajämp dann. »Vielleicht wollten sie keine, weil sie die Welt zerstört hatten. Vielleicht konnten sie keine haben.« Sie spreizte ihre Grifflinge auf eine Weise, die Dawson bei sich mit einem ›Achselzucken‹ verglich: ein vergebliches Krallen in die Luft. Es bedeutete soviel wie: »Ich weiß nicht, und ich glaube auch nicht, daß man es erfahren wird.« Dann wandte sie sich wieder an Fistartihthaktan. Wes besah erneut die Sternenmuster. Sehr ähnliche Konstellationen wie von der Erde aus, aber nicht ganz dieselben. Die Wesen müssen von irgendwo aus der Nähe stammen – Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Können noch mehr von ihnen kommen? Nein, im Film war nur ein Raumschiff zu sehen. Im interstellaren Raum ist »Nähe« ein sinnloser Begriff!

Fistartihthaktan sprach erneut. Wes näherte sich, um Tashajämp zuzuhören, die das Gesagte in RadebrechFithpisch übersetzte.


* * *

Ihre Unterkunft war in dem Maße erträglicher geworden, wie die Fithp lernten, was die Gefangenen mochten. Die Auspolsterung, die alle vier ›Wände‹ sowie ›Decke‹ und ›Boden‹ bedeckte, war nicht mehr feucht wie am Anfang, sondern angenehm trocken.

Dmitri sprach Dawson auf englisch an. Dieser schämte sich richtig, als er merkte, wie wohl es ihm tat, einmal wieder seine Muttersprache zu sprechen. Das Alleinsein fiel ihm schwer.

»Sie sind also umgekommen. Das klang, als hätten sie selbst ihre Umwelt zerstört, nicht wahr, Wes?«

»Ich meine, daß Fistartihthaktan das gesagt hat.«

»Aber sie müssen doch angenommen haben, daß einige von ihnen überleben würden. In anderer Gestalt. Könnte das stimmen?«

»Sie meinen, könnten die Vorlinge ihre Vorfahren sein? Nein. Auf der Bildschirmwand war ein Thaktan mit biologischen Darstellungen zu sehen, bis Fistartihthaktan weitergeschaltet hat. Haben Sie das mißratene Fi’ darauf nicht gesehen? Es war das dritte Bild von oben. Würden wir die Menschheit an die dritte Stelle von oben setzen, wenn wir eine Hierarchie der Lebensformen auf der Erde aufstellen wollten?«

»Nein«, sagte Dmitri verärgert. »Aber wenn ich kein Optimist wäre, würde ich die Menschen vielleicht ganz auslassen! Dann könnte man die Affen als dritte von oben ansetzen, wenn man eine Schwäche für Delphine und Wale hätte!«

»Das sind mir zu viele Wenns.«

»Außerdem hätte man als religiöser Mensch die Möglichkeit, phantasievoll ausgeschmückte Engel oberhalb der Menschen einzusetzen.«

»Gegenwärtig können wir wohl erst mal dasselbe annehmen wie Tashajämp«, sagte Arwid beschwichtigend. »Die Fithp beschäftigen sich schon wesentlich länger mit dem Problem als die eine Stunde, die wir dafür Zeit hatten. Also, eine Gattung ist ausgestorben, bedingt durch ein Übermaß an Umweltverschmutzung. Ihre Welt hat sich verändert und auf ihr ist etwas Neues entstanden – vielleicht ein Haustier, ein Arbeitstier, ein weiterentwickelter Hund oder ein Pferd. Sie scheinen die Vorlinge zu verehren.«

»Wie auch nicht?« warf Wes ein. »Überlegen Sie doch, was mit Stämmen geschehen würde, die sich nicht mit den Thaktanthp beschäftigten. Ursprünglich hat es mindestens… acht hoch vier, sagen sie, also über viertausend Thaktanthp gegeben, wahrscheinlich aber ein Mehrfaches davon. Viele von ihnen werden Duplikate, Kopien, gewesen sein. Der Stamm oder die Herde, die deren Hinweise und Anleitungen als erste nutzte, konnte herrschen. Kein Wunder, daß sie die Vorlinge verehren!«

Arwid zuckte die Achseln. »Ich denke, sie waren ursprünglich zahme Elefanten. Dann kam die Weltkatastrophe. Zwergwuchs ist das Ergebnis langer Hungerzeiten. Überflutungen mögen alle Exemplare ausgemerzt haben, die keine Krallen entwickelten, mit denen sie sich an Felsen im Flußbett oder sonstwo an Gestein festhalten konnten.« Er lächelte. »Beweise gibt es dafür natürlich nicht. Sucht euch selbst heraus, was euch am plausibelsten erscheint.«

»Und was ist mit den Kriegen?« sagte Dmitri. »Ob das tatsächlich Religionskriege waren, in denen es um die Deutung der Thaktanthp ging?«

»Ja«, sagte Dawson. »Kriege über die Frage, wie die Vorlinge ausgesehen haben.« Er schüttelte den Kopf. »Äußerst sonderbar.«

Dmitri lachte. »Wieso? In der Geschichte wimmelt es von Beispielen dafür. Die oströmische Kirche war gespalten, und Bürgerkriege sind über der Frage ausgebrochen, Ikonen welcher Art in den Kirchen gezeigt werden durften. Der Christengott hat keine fleischgewordene Gestalt, dennoch war es einem der Propheten vergönnt, sein Hinterteil zu sehen. Von vorn durfte er ihn nicht schauen, versteht sich. Ich weiß nicht, ob das zu Kriegen unter den Juden geführt hat, aber es wäre leicht möglich gewesen.«

»Man müßte eigentlich annehmen, daß es Abbildungen dieser ›Vorlinge‹ gibt«, sagte Dawson.

»Hat es vielleicht auch gegeben«, überlegte Dmitri laut. »Nur – nehmen wir an, sie hatten doch Nachkommen, und die Fithp haben sie ausgerottet. Es ist bestimmt nicht einfach, mit dem Wissen zu leben, daß man die Nachkommen der eigenen Götter getötet hat.«

Ja, das könnte ganze Zeitalter hindurch für Schuldbewußtsein sorgen. »Oder sie haben Darstellungen der ›Vorlinge‹ zu einer Zeit als gotteslästerlich zerstört«, nahm Wes den Faden auf, »als sie die Zeichnung des BussardStaustrahl Triebwerks dafür hielten.«

»Vielleicht«, sagte Arwid.

»Und dann… Entschuldigen Sie mich«, sagte Dmitri. Er sagte rasch etwas auf russisch. Nach einer Weile gingen die Russen in ihre Ecke und ließen Wes Dawson wieder allein.

Sie mißtrauen mir. Sie nehmen an, ich könnte die Außerirdischen warnen. Zumindest habe ich einige Antworten bekommen. Und Antworten brauche ich!


* * *

Am zweiten Morgen nach der Zerstörung Kosmograds durch die Außerirdischen hatten Nat Reynolds’ Schwierigkeiten begonnen, denn das Bekanntwerden der Katastrophe bedeutete das Ende des Science FictionKongresses, dessen Ehrengast er gewesen war. Jetzt saß er bei gutem Kaffee und Spiegeleiern in Dolly Jordans Frühstücksraum in Kansas City und überlegte, was er in Zukunft tun sollte, jetzt, da alle Geschichten über außerirdische Eroberer mit einem Schlag Makulatur geworden waren.

»Besuch für Sie«, hatte Dolly Jordan gesagt. Sie stellte ein weiteres Tablett und eine Kaffeetasse auf den Tisch.

Verärgert über die Störung sah Nat auf. Jemand, den er beim Kongreß kennengelernt hatte? Doch der Mann, den Dolly an seinen Tisch führte, sah nicht nach einem Science FictionFan aus.

»Ich habe sie schon überall gesucht«, sprudelte der Mann los. »Aha, Sie erinnern sich wohl nicht an mich? Ich bin Roger Brooks von derWashington Post.«

Nat schüttelte den Kopf. »Ich habe ein abscheuliches Gedächtnis.«

»Macht nichts. Darf ich mich setzen?«

»Dolly hat bereits für Sie gedeckt.«

Brooks nahm Platz. Dolly kam mit der Kaffeekanne. Sie war rundlich und fröhlich, und klug genug, am frühen Morgen nicht unausgesetzt auf ihre Gäste einzureden. Nachdem sie Brooks’ Tasse gefüllt hatte, kehrte sie in die Küche zurück.

»Warum haben Sie mich denn gesucht?« fragte Reynolds.

»Weil Sie vermutlich wissen, wo sich die Regierung aufhält.«

Reynolds schüttelte den Kopf.

»Unmittelbar vor der Ankunft der Außerirdischen sind alle SFAutoren spurlos verschwunden«, erklärte Brooks. »Zumindest die naturwissenschaftlich orientierten.«

»Soso.«

»Sicher wissen Sie Bescheid.« Brooks beugte sich begierig vor.

»Eigentlich nicht«, sagte Nat. »Vor ungefähr einem Monat hat mich Wade Curtis angerufen. Er wollte wissen, wo ich mich zum voraussichtlichen Zeitpunkt der Ankunft der Außerirdischen aufhalten würde. Als ich ihm sagte, daß ich beim SFKongreß sprechen würde, hat er das Thema gewechselt.«

»Und das ist alles?«

»Ja.«

»Der Präsident hat Washington zwei Stunden nach der Zerstörung Kosmograds durch die Außerirdischen verlassen«, sagte Brooks. »Gestern morgen war auch das gesamte Kabinett mit den meisten wichtigen Leuten des Pentagon weg.« Brooks zuckte die Achseln. »Aus Washington gibt’s nichts mehr zu berichten, niemand weiß da, was läuft.«

»Und da kommen Sie ausgerechnet zu mir?«

»Ja. Die Autoren sind vor ein paar Wochen verschwunden, und unmittelbar bevor die Außerirdischen aufgetaucht sind, hat der Präsident einen wichtigen weiblichen Nachrichtenoffizier nach Colorado geschickt, um sie zu ›impfen‹. Ich vermute, daß sich die Regierung im CheyenneBerg aufhält. Und Kansas City liegt auf dem Weg.« Roger nippte an seinem Kaffee. »Als man mir im Hotel gesagt hat, daß Sie mit bei den anderen SFLeuten waren, hab ich mir überlegt, daß ich Sie vielleicht hier finden könnte, und so bin ich hergekommen.«

»Es tut mir leid, daß Sie sich umsonst soviel Mühe gemacht haben.«

»Vielleicht nicht umsonst«, sagte Brooks. »Sehen Sie mal, die Autoren sind im CheyenneBerg, da bin ich sicher. Und Sie hat man aufgefordert hinzukommen, da bin ich genauso sicher. Also: Sie haben die Einladung, ich habe einen Presseausweis und einen DieselPkw mit einem vollen Tank. Wollen wir uns nicht zum beiderseitigen Vorteil zusammentun?«

20. Erwägungen

Kein Schlachtplan übersteht das Zusammentreffen mit dem Feind.

ALTE MILITÄRISCHE REGEL


Zeit: 180 Stunden nach der Stunde Null

Offenbar war den Erbauern der Bote der GemeinschaftsSchlammraum nebensächlich erschienen, denn sie hatten ihn gleich neben der Rumpfwand angebracht. Doch das hatte auch Vorteile.

Die unter der Einwirkung der Fliehkraft entstehende einen Srapk tiefe Schlammschicht konnte das Raumschiff vor einem unerwarteten Angriff schützen. Aus einem Riß dringender Schlamm würde an Ort und Stelle gefrieren und so einen Stopfen bilden, der die Luft im Innern hielt.

Der Schlammraum stand unter voller Rotationsschwerkraft. Ein Jahr, bevor das Raumschiff den von Ringen umgebenen Riesenstern erreichte, hatten die Außerirdischen die Masse Winterheims und die an seiner Oberfläche herrschende Schwerkraft durch teleskopische Untersuchungen ermittelt. Sechzehn Jahre lang, in vielen Fällen von Geburt an, hatten Fithp im GemeinschaftsSchlammraum üben können, sich bei WinterheimSchwerkraft zu bewegen. Zumindest diesen Vorteil hatten die zum Planeten abkommandierten Krieger.

Es war der größte Raum an Bord der Bote; er nahm ein Achtel der Rumpffläche aus dem Lebensbereich in Anspruch. Von der Mitte aus krümmte er sich in beide Richtungen, so daß man nicht bis an sein Ende sehen konnte. Der Schlamm bestand aus guter, klebriger HeimatweltErde, über die nahezu kristallklares Wasser lief. Fathistihtalk erinnerte sich daran, daß die Decke bedrückend nah und nackt gewesen war. Nah war sie noch immer, aber sie bedrückte ihn nicht mehr. Generationen von Raumgeborenen hatten sie mit bunten Friesen bemalt.

Über seinem Kopf sah er die Abbildung eines Thaktan in Originalgröße: ein mit Inschriften bedecktes, verwittertes Granitrechteck, in dessen Mitte die Abbildung eines mit Inschriften und der Darstellung eines Thaktan bedeckten Thaktans saß, der wiederum… Fathistihtalk überlegte, ob der Priester Fistartihthaktan diesen Teil der Decke je gesehen hatte. Ein solcher Thaktan wäre gewiß legendär. Die Thaktanthp kündeten von allem, was sich ein Fi’ denken konnte, aber keiner von ihnen äußerte sich über die Thaktanthp selbst, und auch nicht über ihre Verfertiger.

Fathistihtalk war der einzige Schläfer unter einer Vielzahl von Raumgeborenen.

»Es ist nicht so, daß wir den Planeten nicht trauen«, sagte der schlaksige Krieger. »Einem Planeten trauen wir, der Heimatwelt, wo ihr geboren seid. Sicherlich gehorchen andere Welten anderen Vorschriften.«

»Paarungszeiten«, sagte Fathistihtalk, der nur mit halbem Ohr zuhörte.

Er sprühte Wasser auf ein raumgeborenes Weibchen, das kaum geschlechtsreif war und ihn mied. Die Schranken zwischen Raumgeborenen und Schläfern galt es einzureißen – und wenn er es Fi’ um Fi’ tun mußte. Er hatte eine kräftige Lunge. Das Weibchen räkelte sich im Wasserstrahl und besprühte dann seinerseits Fathistihtalk, wie es die Anstandsregeln erforderten, wenn auch ein wenig zögernd. Der Strahl erreichte ihn kaum. Der schlaksige Krieger – Rashinggith oder so ähnlich – sprach immer noch. »Genau! Die Zielwelt hat eine Umlaufzeit von etwa sieben Achteln eines HeimatweltJahres. Nach drei Generationen im Raum haben wir nach wie vor eine Paarungszeit pro Jahr, und die Schläfer, weil sie zur falschen Zeit aufgeweckt wurden.«

»Ich weiß. Während eurer Paarungszeit spüren wir ein Unbehagen, ein Jucken, das wir nicht fortscheuern können.«

»Uns geht es ebenso. Sollen die beiden Paarungszeiten auf dem Zielplaneten zusammengelegt werden?« Die Abtrünnigen unter den Raumgeborenen mißachteten die vom Herrn der Herde festgelegte Sprachregelung und sagten Zielwelt statt Winterheim. »Nehmen wir an, einige von uns passen sich an und andere nicht? Nach einigen Generationen auf der Zielwelt könnten wir alle die ganze Zeit gemäßigt brünstig sein. Abscheulich!«

»Zwei Paarungszeiten im Jahr wären vielleicht gar nicht schlecht. Wenn es dahin kommt, und es kommt dahin, geschieht das auf jeden Fall, ob wir nun landen oder nicht.«

»Und das ist erst eins von vielen möglichen Problemen. Bestimmt gibt es Parasiten, von denen wir nichts ahnen.«

Eine Stimme hallte durch den Raum. »Talk!«

»Ich muß gehen«, sagte Fathistihtalk und strebte seiner Gefährtin zu, wobei er ein fröhliches »Talk« zurücktrompetete.

Während er sich jetzt unter Schläfern bewegte und mit Fontänen schlammigen Wassers Freunde begrüßte, kam er unter einem älteren Flachrelief vorbei. Es zeigte, wie sich an den blühenden Pflanzen im Vordergrund und dem Treiben der hinter den Bäumen nicht deutlich sichtbaren Fithp erkennen ließ, eine Szene aus der Paarungszeit. Er hatte selbst daran mitgearbeitet. Es freute ihn zu sehen, daß es renoviert und neu bemalt war.

Die nächsten Darstellungen waren neueren Datums. Eine von weißen Punkten übersäte nachtschwarze Fläche und ein kleines Muster konzentrischer Ringe zeigten die Sonne Winterheims in mehrfacher Wiederholung, wie sie im Laufe der Jahrzehnte immer größer geworden war. Dann die von Ringen umgebene Gewitterkugel mit ihren Monden und der scharfgezackte, geschwungene Horizont des Fußes, mit einer Gruppe von BergbauFithp um ein Grifflingsschiff, das als Treibstofftransporter diente.

»Talk!«

Schluß mit der Herumtrödelei!

Tshaupintalk wartete ungeduldig am Ausgang auf ihn. Da sie kleiner war als die durchschnittlichen Weibchen, wirkte sie geradezu unförmig, jetzt, wo das Junge in ihr wuchs. Sie sagte: »Komm, wir müssen reden!«

Die Hubplattform brachte sie zu einem Gang. Fathistihtalk sagte: »Wir sind auf halbem Weg zwischen Winterheim und dem FUSS. Was kann da dringend sein?«

»Du hast dich mit Abtrünnigen unterhalten!«

»Richtig. Abweichende Meinungen sind nicht verboten.«

»Sie werden es bald sein. Die Abtrünnigen behaupten, der Krieg um Winterheim sei unnötig. Vergiß nicht, daß wir uns mitten in diesem Krieg befinden. Willst du etwa Krieger davon abhalten zu kämpfen, während sie schon den Beutewesen nachsetzen? Muß ich dich daran erinnern, daß sich Fukertih gerade jetzt auf dem Boden von Winterheim befindet, und daß er K’tarfukephs Liebling ist?«

»Ich habe kaum etwas gesagt und hauptsächlich zugehört. Was sie sagen, klingt vernünftig. Wir haben die von Ringen umgebene Gaskugel erreicht, als das Schiff fast bar alles Erforderlichen war. Binnen drei Jahren wurde die Bote neu ausgerüstet und mit allem Nötigen versehen. Wir hätten schon damals aufbrechen können, wären wir nicht auf den FUSS angewiesen gewesen, oder wir hätten so lange bleiben können, wie wir wollten.«

Fathistihtalk hatte sie in der auf das Erwachen folgenden Paarungszeit nicht begattet. Das geschah bei Männchen, die an Status eingebüßt hatten, recht häufig und wurde sogar erwartet. Tshaupintalk erinnerte sich, daß sie darüber fast erleichtert gewesen war. Ihr nächstes Junges würde beim Krieg um Winterheim nicht im wehrfähigen Alter sein.

Die Ziehende Herde hatte die von Ringen umgebene Gaskugel erreicht und war mit dem FUSS beschäftigt, als Tshaupintalks Zeit erneut kam. Wieder war ihr Gefährte zeugungsunfähig. Vielleicht hatte sie ihn schlecht behandelt. Sie konnte sich noch gut an ihre gereizte Stimmung damals erinnern.

Beim nächstenmal hatte er sich erholt, und in der Paarungszeit darauf hatte sich das ausgewirkt. Der Status ihres Gefährten als Berater des Herrn der Herde hatte genügt, seine Selbstachtung wiederzuerlangen. Die andere Veränderung, die mit ihm vorgegangen war, hatte sie lange nicht bemerkt.

Fathistihtalk redete immer noch. »Der Weltraum enthält die meisten der von uns benötigten Rohstoffe, und wir brauchen sie niemandem zu rauben. Wir…«

»Talk! Weißt du nicht mehr, wie es ist, wenn man sich in richtigem Schlamm wälzt, unter freiem Himmel? Hast du den Unterschied zwischen einer Dusche und einem Regenschauer vergessen?«

Er zögerte. »Nein.«

»Warum dann dieser Unsinn?«

»Ich habe mit Raumgeborenen gesprochen. Sie erinnern sich nicht, und es fehlt ihnen an nichts. Talk, wir haben den Krieg begonnen, und das ist gut. Aber wenn wir uns zurückziehen müssen, wissen wir, daß uns die WinterheimBewohner nicht folgen können. Darauf sollten wir uns einstellen. Eine Generation später treiben wir vielleicht Handel mit ihnen, tauschen Stickstoff gegen veredelte Metalle…«

»Du meinst, wir treiben Handel? Mit zerbrechlichen, mißgestalteten Wesen, die aussehen, als ob sie jeden Augenblick umfallen könnten?«

»Ist das nicht weit besser, als sie mit Gewalt der Ziehenden Herde einzugliedern? Dann müßten wir sogar mit ihnen leben. Kannst du sie dir als unseresgleichen vorstellen, selbst nach vielen Generationen? Das aber ist das Schicksal erfolgreicher Sklaven.«

Er lachte, als sie bei dieser Vorstellung zusammenzuckte. »Es kann gar nichts schaden, die jetzigen Machthaber ein wenig in Unsicherheit zu halten. Es wäre mir recht, wenn sie über die Dinge nachdächten. Die Abtrünnigen tun etwas, das der Mühe wert ist.«

Dieser gefährliche, destruktive Humor. Sie hatte es einfach nicht rechtzeitig bemerkt.

Fathistihtalk war nicht gerade verrückt, nicht in selbstmörderischer Weise. Nie würde er der Ziehenden Herde, seiner Familie oder ihrer Sache Schaden zufügen. Aber politische Wechselwirkungen bedeuteten ihm nichts mehr, wie auch die Autorität seiner Gefährtin in Familienangelegenheiten. In den zwölf Jahren zwischen ihrer ersten und zweiten Trächtigkeit hatte er auch seinen Sinn für diese Feinheiten eingebüßt.

»Eine Ziehende Herde darf sich nicht in alle Winde verstreuen «, sagte sie. »Wir befinden uns im Krieg.«

»Der möglicherweise unnötig ist.«

»Laß sie ihre Arbeit ohne deine Unterstützung tun. Du schadest der Stellung aller Schläfer. Unterwürfigkeit ist der erste Schritt.«

»Wir haben uns keiner neuen Herde angeschlossen. Unsere Herde ist von innen gefangengenommen worden. Talk, mag sein, ich habe unrecht. Aber ich möchte dahinterkommen.«

»Wie?«

Das aber wollte er ihr nicht sagen.

Jenny führte die anderen in den großen Konferenzraum. Obwohl sich höchstens zwei Dutzend Menschen darin aufhielten, ging es laut zu. In Gruppen saßen und standen Science FictionAutoren beieinander, Offiziere in Uniform und Männer in Zivil, die den Präsidenten in Verteidigungsfragen berieten, standen vor Tafeln oder um Tische. Auf großen Sichtschirmen konnte jeder mitverfolgen, was die jeweils eine ganze Wand einnehmenden Schirme des Lageraums zeigten. Jenny fühlte sich an den Presseraum des JPL beim Vorbeiflug der Weltraumsonde am Saturn erinnert.

Einer der anwesenden Offiziere war ihr Schwager Ed Gillespie. Sie hatte gewußt, daß er kommen würde, war aber viel zu beschäftigt gewesen, als daß sie ihn hätte begrüßen können. Sein Bericht über seine Mission nach Kosmograd, wohin er den Abgeordneten Dawson gebracht hatte, enthielt nichts für sie Wesentliches, und für private Unterhaltungen hatte sie einfach keine Zeit.

Jack Clybourne folgte ihr hinein und musterte die Anwesenden mißtrauisch. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte er.

Trotzdem starrt er jeden einzelnen mißtrauisch an. Jenny trat in die Mitte des Raums. »Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Darauf reagierten alle. Die Militärs salutierten, und die Autoren warfen von ihren Stühlen neugierige Blicke herüber, bis ihnen ihre Kinderstube einfiel und auch sie sich erhoben. Auch wenn das laute Geplapper verstummte, konnte man weiterhin geflüsterte Unterhaltungen hören.

Admiral Carrell und General Toland begleiteten den Präsidenten, der seinen Blick ausdruckslos über die Versammelten schweifen ließ.

»Weitermachen!« sagte Admiral Carrell. »So, Major, jetzt sind Sie dran.«

»Jawohl, Sir.« Jenny ging voraus zur Tafel, an der Ed Gillespie mit den als Gruppensprecher ausgewählten Autoren stand. Anson spricht offenbar für alle, obwohl er nicht aussieht, als könne er sich energisch durchsetzen. Aha, Dr. Curtis. Joe Ransom. Sherry Atkinson war wohl zu schüchtern.

Als der Präsident zu den Autoren trat, erstarb ihr Gespräch. Er nickte Ed Gillespie zu. »Ich freue mich, Sie zu sehen, General.« Dann ließ er sich von Jenny die Autoren vorstellen.

»Mr. President, das ist Robert Anson, der Sprecher der Gruppe.«

Anson stellte seine Kollegen vor.

»Von Major Crichton höre ich«, sagte der Präsident, »daß Sie etwas für mich haben.«

»Ja, Sir«, sagte Anson. »Vielen Dank, daß Sie gekommen sind. Ich will Ihre kostbare Zeit nicht mit Nebensächlichkeiten vergeuden. Erstens: Es scheint jetzt klar, daß die Außerirdischen die Eroberung des Planeten anstreben, zumindest eines bedeutenden Teils davon. Wie es aussieht, wollen sie aber die Erde ganz für sich haben.«

»Was deutet darauf hin?« fragte der Präsident. Es klang eher neugierig als fordernd.

»Ihre Entscheidung, die Vereinigten Staaten anzugreifen«, sagte Anson, »eindeutig die mächtigste Nation auf der Erde.«

»Aber…«

Anson ließ sich nicht beirren: »Eindeutig die mächtigste Nation, zumindest vom Weltraum aus gesehen«, wiederholte er. »Schon die Infrastruktur: Straßen, Staudämme, Städte, Häfen, elektronische Emissionen – all das müßte ihnen zeigen, daß wir die beherrschende Nation sind.« Anson sah sich um, als erwarte er Widerspruch, aber niemand sagte etwas. »Dennoch haben sie beschlossen, hier zu landen, und allen Berichten zufolge, die hier eingegangen sind, errichten sie Verteidigungslinien um das von ihnen eroberte Gebiet – ganz als ob sie zu bleiben gedächten.«

»Das werden wir ja sehen«, brummte General Toland. Anson runzelte die Stirn.

Toland sah sich nervös um. »Wir planen einen Großangriff«, sagte er. »In etwa zwei Stunden.«

»Womit?« erkundigte sich Dr. Curtis.

Toland warf dem Autor einen mißbilligenden Blick zu.

»Es wird ein Angriff auf breiter Front sein«, sagte der Präsident. »Mr. Anson, ich stimme Ihrer Ansicht zu, daß sie bleiben wollen. Was bliebe ihnen denn anderes übrig? Ich sehe nicht, woher sie genug Raumschiffe nehmen wollen, um ihre Leute wieder von der Erde zu holen.«

»Laserstrahlen«, sagte Curtis.

Alle sahen ihn an. Achselzuckend wies er auf Anson. »Entschuldigung, Bob ist an der Reihe.«

»Das wird Dr. Curtis näher ausführen«, sagte Anson. »Wir sind uns also einig, daß sie bleiben wollen. Trotz ihrer Anfangserfolge würde es mich sehr überraschen, wenn sie annähmen, daß gleich ihr erster Angriff zum Erfolg führte. Letzten Endes werden wir die Oberhand gewinnen und sie aus Kansas hinauswerfen. Bestimmt rechnen sie damit und planen weitere Angriffe. Wahrscheinlich haben sie bereits Vorbereitungen dafür getroffen.«

»Welcher Art zum Beispiel?« fragte der Präsident.

Anson wandte sich Joe Ransom zu. »Dazu wird Mr. Ransom etwas sagen.«

»Sie haben kinetische Waffen eingesetzt«, erklärte Ransom. »Ein Raumschiff, das imstande ist, den interstellaren Raum zu überwinden, muß ein äußerst leistungsfähiges Triebwerk besitzen. Ich denke, sie werden eine DinosaurierKeule abwerfen.«

Der Präsident sah verständnislos drein, aber Joe Ransom erläuterte bereits: »Wahrscheinlich hat seinerzeit ein Asteroid von etwa neun Kilometern Durchmesser die Dinosaurier ausgerottet und den größten Teil des Lebens auf der Erde vernichtet. In Schichten toten Lehmbodens aus diesem Erdzeitalter hat man AsteroidenMaterial gefunden, und zwar auf der ganzen Welt. Es ist allerdings unerheblich, ob das stimmt oder nicht; was zählt, ist, daß die Außerirdischen bereits zahlreiche große Felsbrocken abgeworfen haben und ihnen sicher die Mittel zu Gebote stehen, einen kleinen Asteroiden zu bewegen. Es läßt sich leicht ausrechnen, wozu das führen könnte – auf der ganzen Welt.«

»Je nach der Größe des Asteroiden und dem Ort seines Auftreffens kann er praktisch alles vernichten«, ergänzte Anson. »Seismische Wellen, sogenannte Tsunamis, würden Küstenstädte zerstören. Eine Wolkendecke könnte wochen- oder monatelang endlose Nacht und unaufhörlichen Regen bewirken; sogar eine neue Eiszeit könnte ausgelöst werden.«

»Ist es denn sicher, daß sie in der Lage sind, die Erde mit Asteroiden zu bombardieren?« fragte der Präsident.

»Man könnte darauf wetten. Wenn wir nur wüßten, wie groß das Ding sein kann.«

»Fähig sind sie dazu ganz offenkundig«, sagte Anson. »Sie hocken seit fünfzehn Jahren draußen im Weltraum, bestimmt haben sie sich vorher überlegt, wie sie vorgehen wollen.«

»Aha.« Coffey nickte mit ernstem Gesicht. »Können wir etwas gegen das Ding unternehmen?« fragte Admiral Carrel. »Es zum Beispiel von seinem Ziel ablenken?«

»Wenn ich nur wüßte, wie. Die schießen doch alles ab, was wir raufschicken«, sagte Curtis.

»Was also können wir tun?« beharrte Admiral Carrell.

Anson wandte sich dem anderen Autor zu. »Darüber hat sich Dr. Curtis Gedanken gemacht. Wade…«

»Wir können sie unmöglich besiegen, solange sie den Weltraum beherrschen«, sagte Curtis. »Da oben finden sie immer etwas, das sie uns auf den Kopf werfen können. Eine Dinosaurier Keule nach der anderen. Wir müssen also unbedingt die Herrschaft über den Weltraum zurückgewinnen, und das kann uns nicht gelingen, solange die das große Mutterschiff haben.«

»Genauso sieht das die Marine auch«, sagte Admiral Carrell. »Aber eine Seestreitkraft braucht Schiffe, Dr. Curtis!«

»Orion«, sagte Curtis. »Das alte BummBumm.«

Der Präsident sah wieder verwirrt drein, und Jenny hatte den Eindruck, daß Curtis das genoß, als er sich zur Tafel wandte. Besonders häufig hat ein Autor nicht Gelegenheit, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Lektion zu erteilen.

»Denken Sie sich eine kräftige Stahlplatte«, sagte Curtis. »Groß und dick. Bilden Sie sie als Halbkugel aus, sie kann aber auch ruhig flach sein. Setzen Sie ein großes Raumschiff darauf, sagen wir, so groß wie ein Schlachtschiff. Zwischen der Platte und dem Schiff brauchen Sie eine erstklassige Schwingungsdämpfung.

Jetzt eine Atombombe unter dem Ganzen zünden. Ich garantiere Ihnen, daß sich das Ding bewegt.« Er zeichnete, während er sprach. »Damit, daß Sie unter dem Schiff eine ABombe nach der anderen zünden, kriegen Sie mehrere tausend Tonnen auf die Umlaufbahn. Je mehr Masse Sie haben, desto weniger ruckelt es.«

Admiral Carrell sah nachdenklich drein. »Und wenn das Ding erst mal oben ist…«

»Die Taktik ist einfach«, sagte Curtis. »Sie dringen damit in den Weltraum ein, suchen das Mutterschiff und greifen es mit allem an, was wir haben. Schlimmstenfalls wird gerammt.«

»Für die Besatzung ein wahres Himmelfahrtskommando«, sagte der Präsident.

»Sie werden reichlich Freiwillige finden, Sir«, sagte Ed Gillespie. »Sämtliche Astronauten vorweg.«

Stimmt. Die meisten von ihnen hatten Freunde auf dem Mondstützpunkt. Seltsam, da haben sie AWaffen eingesetzt, aber nirgendwo auf der Erde…

»Ist dies Projekt durchführbar?« fragte Admiral Carrell.

Curtis nickte. »Ja. Die Grundlagen dafür wurden in den sechziger Jahren untersucht. Man hat auch Modelle mit chemischen Sprengstoffen getestet. Nachdem die Moskauer Verträge Atomversuche in der Atmosphäre untersagten, wurde das Projekt aufgegeben. Soweit ich weiß, ist aberMichael unsere einzige Möglichkeit, rasch ein Schlachtschiff in den Weltraum zu befördern.«

»Michael?«

»Entschuldigen Sie, Mr. President. Wir haben ihm bereits einen Decknamen verpaßt. Der Erzengel Michael hat Satan aus dem Himmel vertrieben.«

»Ein durchaus passender Name. Doch unser gegenwärtiges Problem besteht darin, sie aus Kansas zu vertreiben…«

»Das wird nichts«, sagte Curtis. »Solange sie den Weltraum beherrschen, können sie landen, wo und wann immer sie wollen, und uns sind mehr oder weniger die Hände gebunden. Sir, wir müssen das Projekt Michael sofort in Angriff nehmen.«

Der Präsident dachte nach. »Vielleicht haben Sie recht«, sagte er nach einer Weile. Er wandte sich an Ed Gillespie. »General, wir haben hier ziemlich wenig Leute zur Verfügung. Ich nehme an, daß Sie gegenwärtig ohne Auftrag sind?«

»Ja, Sir.«

»Gut. Ich wünsche, daß Sie die Arbeitsgruppe für das Projekt Erzengel Michael leiten. Prüfen Sie seine Durchführbarkeit, überlegen Sie, welche Bewaffnung erforderlich ist, was für Leute Sie zum Bau brauchen, wo es gebaut werden soll und wie lange es dauern wird. Erstatten Sie Admiral Carrell Bericht, sobald Sie eine Vorstellung haben. Vielleicht können Ihnen diese Herren behilflich sein.« Er sah zu den Autoren hinüber.

»Klar«, sagte Curtis. »Eins allerdings…«

»Ja?«

»Wir könnten meinen Kollegen Nat Reynolds gut brauchen. Zuletzt soll er sich in Kansas City aufgehalten haben.«

»Das ist Kampfgebiet«, sagte General Toland.

»Nat ist ein pfiffiger Bursche. Vielleicht hat er es geschafft wegzukommen. Verrückt genug, um es zu schaffen, ist er allemal «, sagte Curtis mit ernster Miene.

»Major Crichton kann sich darum kümmern«, sagte der Präsident. »Jetzt zu einem anderen Punkt, den Sie bereits angesprochen haben. Was ist mit den Laserstrahlen?«

»Ja, Sir«, sagte Curtis. »Ich vermute, daß die ihre Schiffe mit Hilfe von Laserstrahlen vom Boden starten werden.«

»Warum?«

»Warum nicht? Ihre Laser sind den unseren haushoch überlegen, und das Verfahren ist ziemlich einfach, hat man erst mal die Strahlen und eine Energiequelle.«

»Schön, ich habe die falsche Frage gestellt«, sagte Coffey. »Wie?«

Erneut sah Curtis selbstzufrieden drein. Er skizzierte. »Wenn Sie einen Laserstrahl gegen das hintere Ende einer Rakete richten – mit dem üblichen, glockenförmigen Raketentriebwerk, aber stabiler –, haben Sie so ziemlich dieselbe Wirkung, als hätten Sie Raketentreibstoff an Bord, nur ist die Nutzlast weit größer, weil die Energiequelle auf dem Boden zurückbleiben kann. Die arbeitende Masse, also die Treibgase, besteht aus Luft und verdampftem Raketentreibstoff, heiß wie die Hölle, mit einer unglaublichen Austrittsgeschwindigkeit. Das System braucht Unmengen an Energie, aber klappt hundertprozentig. Schade, daß wir so was nie gebaut haben.«

»Und woher soll die Energie kommen?« fragte der Präsident. »Die Außerirdischen haben alle unsere Staudämme in die Luft gejagt, und sie können ja nicht einfach eine Steckdose anzapfen.«

Curtis wies auf eine an die Tafel geheftete Fotografie. Sie zeigte ein seltsames geflügeltes Objekt, das unscharf vor dem Hintergrund des Weltraums zu erkennen war.

»Ransom hat das Bild gefunden, es ist eins von dem Haufen, den uns Major Crichtons Leute zur Durchsicht gegeben haben«, sagte er. »Joe…«

Ransom zuckte die Achseln. »Ein Amateurastronom hat das den Leuten vom Nachrichtendienst gebracht. Ich weiß nicht, wie er die Wachen dazu überredet hat, es hereinzubringen, aber jedenfalls ist es bei mir gelandet. Es sieht ganz so aus, als entfalteten sie hoch oben in einer geostationären Umlaufbahn riesige Solargitter.«

»Wir beschäftigen uns mit dem Bau solcher Anlagen«, sagte der Präsident.

»Sicher«, antwortete Curtis trocken. »Aber der Kongreß hat den Bau von Energiesatelliten im Weltraum abgelehnt. Zu teuer und bei Angriffen zu verwundbar.«

»Verwundbar?«

»Ja, aber nicht mit den uns zur Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln«, sagte Curtis. »Wer im Weltraum etwas angreifen will, muß erst mal raufkommen.«

Coffey sah sich hilfesuchend um.

»Es stimmt schon«, sagte Admiral Carrell. »Sie putzen alles runter, was wir hochschießen, bevor es oben ankommt.«

»Was können wir also tun?«

»Den Erzengel raufschicken«, sagte Ed Gillespie. »Wenn wir da oben was ausrichten wollen, muß unsere Basis möglichst groß, stark und gut bewaffnet sein. Ich kümmere mich darum.«

»Und bis dahin schleudern sie Asteroiden herunter«, sagte der Präsident. »General, ich glaube, Sie sollten sich rasch an die Arbeit machen.« Er wandte sich zum Gehen.

»Eins noch, Mr. President«, sagte Curtis mit Nachdruck.

»Ja?«

»Der heutige Angriff. Ich vermute, Sie haben die Ansicht, starke Panzertruppen hinzuschicken.«

Der Präsident sah verständnislos drein.

»Wir machen es schon richtig, Doktor«, sagte General Toland. Er wandte sich gleichfalls zum Gehen. »Und ich möchte mich sofort damit beschäftigen.«

»Thor«, sagte Curtis.

Toland blieb wie angewurzelt stehen. »Was ist damit? Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Eine strategische Untersuchungskommission hat in den achtziger Jahren das Projekt Thor empfohlen«, sagte Curtis. »Fliegende Hämmer.« Er warf rasch eine Skizze auf die Tafel. »Man nimmt ein großes Stück Eisen, versieht es mit einem primitiven Sensor und einer Lenkflosse. Dann schickt man die Dinger dutzendweise in den Orbit. Zum Einsatz ruft man sie von da ab und dirigiert sie über das Zielgebiet. Sie haben ein ganz primitives Steuergehirn, das gerade imstande ist, einen Panzer von oben zu erkennen. Sobald sie den Umriß erfassen, steuern sie darauf zu. Was glauben Sie, was passiert, wenn man zehn- oder zwanzigtausend davon über einer Panzerdivision losläßt?«

»Verdammte Scheiße«, sagte Toland.

»Ist so etwas möglich?« fragte Admiral Carrell.

»Ja, Sir«, sagte Anson. »Sie können natürlich auch gegen Schiffe eingesetzt werden.«

»Nur haben wir sie nie gebaut«, sagte Curtis. »Wir waren zu geizig.«

»Jetzt hätten wir sie ohnehin nicht«, sagte Carrell. »General, vielleicht sollten Sie über eine Tarnung Ihrer Panzer nachdenken…«

»Oder den Angriff verschieben, bis eine dichte Wolkendecke über dem Gebiet liegt«, sagte Curtis. »Ich weiß nicht genau, was sich mit einer Tarnung erreichen läßt. Sie sollten außerdem auf Laserstrahlen achten. Möglicherweise kann Thor dem Laserstrahl ins Ziel folgen.«

»Ja, mit dem Verfahren arbeiten wir gegenwärtig«, sagte Toland. Seine Stimme klang triumphierend. Auch diese Burschen wußten nicht alles.

»Vielleicht sollten wir den Angriff verschieben«, sagte der Präsident.

General Toland warf einen Blick auf seine Uhr. »Zu spät. Mit unserem unzuverlässigen Nachrichtensystem würden einige Einheiten von dem Aufschub erfahren und andere nicht. Die würden dann allein angreifen und mit Sicherheit abgeschlachtet.«

»Ich danke Ihnen, meine Herren«, sagte der Präsident.

Als sie hinausgingen, hörte Jenny Curtis leise sagen: »Und was wollen Sie machen, wenn es nicht klappt? Dann müssen Sie bei den Russen um Hilfe anklopfen.«

21. Schlachtpläne

Verhaltensregeln, Grundsätze des Handelns und taktischer Instinkt, Dinge, die kleine Siege ermöglichen, lassen sich bei passender Gelegenheit stets auf das Erreichen großer Siege übertragen; denn Erfolg in allem, was den Menschen betrifft, gründet sich auf schnelle Entscheidungen und entschlossenes Handeln. Es scheint ein unverrückbares und unerbittliches Gesetz zu sein, daß nicht gewinnen kann, wer nicht bereit ist, etwas zu wagen.

JOHN PAUL JONES


Zeit: Zwei Wochen nach der Stunde Null

Jenny legte die gedruckten Exemplare der Tagesordnung oben auf die gelben Resopalplatten und trat einen Schritt zurück, um ihre Arbeit zu begutachten. Dann lächelte sie spöttisch. Das hier hatte nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem Kabinettsraum im Weißen Haus. An Stelle des großen hölzernen Konferenztischs waren zwei einfache Schreibtische aneinandergestellt worden. Die Mehrzahl der Sitzgelegenheiten bestand aus Klappstühlen. Immerhin war es ihnen gelungen, einen Holzsessel mit Armlehnen für den Platz in der Mitte des Tisches aufzutreiben.

Ein Diaprojektor stand an einem Ende des Raums. Prüfend schaltete Jenny die Projektionslampe ein und wieder aus.

Hinter dem Sitz des Präsidenten standen vor einer nackten Wand die Flagge der Vereinigten Staaten sowie die des Präsidenten.

»So muß es gehen.«

»Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?« Jack Clybourne kam herein.

»Der Konferenzraum«, sagte Jenny.

Jack nickte. »Und du spielst also Sekretärin, ja?«

»Irgend jemand muß die Arbeit ja tun«, protestierte Jenny. »Hier fehlen an allen Ecken und Enden Leute.«

»Als ob ich das nicht wüßte! Mich haben sie die Liste tippen lassen«, sagte Jack. »Macht nichts – dann hab ich wenigstens was zu tun.«

Sie grinste ihn an. »Willst du nicht zumindest in den Flaggenständern nach Bomben suchen?«

»Laß die Witzchen! Was machst du nach dem Abendessen?«

»Ich weiß nicht – warum?«

»Mein Zimmergenosse geht nach draußen«, sagte Jack mit breitem Grinsen. »Natürlich könnte ich das Zimmer aufräumen.«

»Das hat Zeit bis morgen. Ich komm dann gegen Mitternacht. Jetzt muß ich mich um meine Science FictionAutoren kümmern.«


* * *

Drei Ordonnanzen saßen auf dicht an die Wand gestellten Stühlen. Außer ihnen war noch niemand im Raum. Jack Clybourne ging die Namen auf seiner Liste durch. Joe Dayton aus Georgia, der Sprecher des Repräsentantenhauses. Er dürfte nach dem Präsidenten den höchsten Rang bekleiden. Senator Alexander Haswell aus Oregon, der amtierende Senatspräsident. Senator Raymond Carr aus Kansas. Admiral Carrell. Hap Aylesworth, ohne Titel. Mrs. Connie Fuller, die Handelsministerin. Jim Frantz, Stabschef des Weißen Hauses. General Toland. Arnold Biggs, der Landwirtschaftsminister. Für sie alle waren Plätze am Konferenztisch vorgesehen.

Jenny kam mit den Science FictionAutoren herein. Robert Anson schien in wenigen Tagen stark gealtert zu sein. Es folgten Dr. Curtis und ein unbekanntes Gesicht. Es war Nat Reynolds, der es tatsächlich geschafft hatte, auf einer abenteuerlichen Reise in Roger Brooks altem, aber wendigem und schnellem Golf über die zerstörten Straßen den halben Kontinent zu durchqueren. Halb verhungert und mit dem letzten Tropfen Benzin waren sie in Colorado Springs angekommen. Dort war dann allerdings, zumindest für Brooks, die Reise zu Ende gewesen. Die Sicherheitsbestimmungen für die unterirdische Kommandozentrale sahen nicht vor, daß jedermann, geschweige denn ein Schreiberling von derPost, Zutritt erhielt. Selbst Nats Fürsprache hatte da nichts genützt. Die Posten waren freundlich, aber unnachgiebig gewesen, und schließlich war Brooks fluchend von dannen gezogen.

»Das ist Nathaniel Reynolds«, sagte Jenny. »Er gehört zu den Science FictionAutoren und hat sich unter großen Gefahren kürzlich hierher durchgeschlagen. Mr. Reynolds, Jack Clybourne ist für die Sicherheit des Präsidenten verantwortlich.«

»Hallo«, sagte Reynolds.

Jenny führte die Autoren zu einer Stuhlreihe an der Wand und ging dann wieder hinaus. Nach einigen Minuten kam sie mit einer älteren Dame zurück.

»Mrs. Carlotta Dawson«, stellte Jenny vor. »Jack Clybourne.«

Aha. »Danke.« Jack wartete ab, um zu sehen, wo Jenny sie placieren würde. Sie geleitete die Frau zu einem Ende des Tisches, dem Präsidenten gegenüber, aber mit dem Rücken zu den Autoren und den Mitarbeitern.

Erneut verließ Jenny den Raum. Allmählich füllte er sich.


* * *

»Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten«, verkündete Jack Clybourne mit gemessener Stimme.

Gut macht er das, dachte Jenny. Die Aufrechterhaltung der Form ist auch nötig, damit wir immer daran denken, daß es hier ums Ganze geht.

Präsident Coffey nahm seinen Platz am Tisch ein. Er bemerkte die Flaggen und nickte Jenny anerkennend zu. Dann erteilte er seinem Stabschef das Wort. »Jim!«

»Ja, Sir.« Frantz wies auf die fotokopierten Blätter mit der Tagesordnung. »Wie Sie alle sehen können, gibt es ziemlich viel zu tun.

Punkt eins. Ernennungen. Der Präsident hat Admiral Thorwald Carrell zum Verteidigungsminister ernannt. Mr. Griffin, der dies Amt ursprünglich innehatte, wird sein Stellvertreter und bleibt beim Vizepräsidenten in der Ausweichbefehlszentrale. Admiral Carrell übernimmt zudem die Aufgabe des nationalen Sicherheitsberaters. Lieutenant General Harvey Toland wird zum General beordert und zum Oberkommandierenden der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ernannt.

Der Vizepräsident, die übrigen Kabinettsmitglieder und eine Anzahl führender Kongreßmitglieder bleiben in der Ausweichbefehlszentrale «, fuhr Frantz fort. »Den Kongreß vertreten zur Zeit dessen Sprecher und der amtierende Senatspräsident. Bitte, Mr. Dayton.«

John Dayton erhob sich. »Mr. President, ich darf Ihnen Mrs. Carlotta Dawson vorstellen. Da der Abgeordnete Dawson fehlt, haben wir seine Gattin gebeten, vorläufig seinen Platz einzunehmen. Das entspricht nicht dem Buchstaben der Verfassung, aber gegenwärtig ist ja nichts ganz so, wie es sein sollte.«

Müde nickte der Präsident. »Danke, Mr. Dayton. Mrs. Dawson, willkommen bei uns. Wir alle beten für die sichere Rückkehr Ihres Gatten.«

»Ich danke Ihnen, Mr. President.«

»Es gibt einen weiteren Grund für Mrs. Dawsons Anwesenheit «, sagte der Parlamentssprecher Dayton. »Sie hat den ersten gefangenen Außerirdischen mitgebracht!«

Was für Gesichter die machen! Jenny hätte fast losgelacht, beherrschte sich aber gerade noch.

»Danke, Mr. Dayton«, sagte Jim Frantz. »Zurück zur Tagesordnung! Punkt zwei. Herr Verteidigungsminister!«

Admiral Carrell blieb sitzen. »Ich habe nur wenig zu sagen. Heute haben wir am frühen Vormittag mit Hilfe von drei regulären Panzerdivisionen einen nichtatomaren Angriff gestartet, unterstützt von Einheiten der Nationalgarde und allen Militärflugzeugen, die wir aufbieten konnten. Wie Sie alle wissen, wurden wir vernichtend geschlagen.«

Geraune erhob sich.

»Der Feind hat eine Vielzahl äußerst fortschrittlicher Waffensysteme eingesetzt«, fuhr Carrell fort, »darunter Laser, sowohl bodengestützte wie aus einer Umlaufbahn gesteuerte, und kinetische Waffen aus dem All. Sie müssen sie sich als frei fliegende Speere vorstellen, die selbsttätig gepanzerte Fahrzeuge suchen und zerstören. Die Laserstrahlen fangen unsere Raketen ab und sind außerdem imstande, auf deren Spur den Abschußort zu finden und die Abschußrampen oder Artilleriegeschütze zu zerstören. Die bodengestützten Laserwaffen sind radargesteuert und immerhin stark genug, um noch durch eine Wolkendecke hindurch wirksam zu sein. Unsere Streitkräfte haben nicht einfach eine Niederlage erlitten, sondern sind völlig aufgerieben worden. Major Crichton hat inzwischen das Hauptquartier der Dritten Armee besucht. Wie würden Sie beschreiben, was Sie gesehen haben?«

»Sir, es war wie in einem Katastrophengebiet«, berichtete Jenny. »Alle Offiziere im Generalsrang bis auf einen einzigen sind gefallen oder vermißt. Die Lazarette sind überfüllt, und als einzige Fahrzeuge waren requirierte Privatautos verfügbar sowie die wenigen Militärfahrzeuge, die bei dem Angriff nicht eingesetzt worden waren.«

»Vielen Dank«, sagte Carrell mit gleichmütig klingender Stimme. »Damit ist mein Bericht zu Ende, Mr. President.«

Bedrücktes Schweigen herrschte im Raum.

»Großer Gott«, sagte der Sprecher des Repräsentantenhauses. »Admiral, General Toland, was für Auswirkungen hat der Angriff auf den Feind gehabt?«

»Ich weiß es nicht genau, Mr. Dayton«, sagte Admiral Carrell, »aber ich fürchte, so gut wie keine.«

»Sie haben uns richtig gezüchtigt«, sagte Dayton.

»Und was tun wir jetzt?« fragte der Sprecher des Repräsentantenhauses.

»Gegenschlag mit AWaffen «, sagte General Toland darauf.

»Um darüber zu beschließen, sind wir hier zusammengekommen «, sagte der Präsident.

»Sie können doch nicht auf dem Gebiet des Staates Kansas Atomwaffen einsetzen!« empörte sich Senator Carr. »Unter keinen Umständen!«

»Uns bleibt keine Wahl«, sagte General Toland.

»Das ist doch heller Wahnsinn!« schrie Carr.

»Bitte, meine Herren!« sagte Jim Frantz.

»Senator, auch ich bin der Ansicht, daß dies eine extreme Maßnahme ist«, sagte der Präsident. »Aber was bleibt uns übrig? Wir müssen die Außerirdischen von unserem Planeten vertreiben!«

»Auf Kosten der Bewohner des Staates Kansas. Es sind meine Landsleute!«

»Senator, durch Untätigkeit retten wir die auch nicht. Die Außerirdischen sind dabei, sie abzuschlachten. Major Crichton, Sie waren dort. Berichten Sie bitte, was Sie gesehen haben.«

»Gewiß, Sir. Sergeant Mailey…«

Der Angesprochene schaltete den Diaprojektor ein. Ein Leichenhaufen wurde auf einer Wand des Raumes sichtbar.

»Diese Aufnahmen wurden in Lauren, Kansas, gemacht. Mr. President, unsere angreifenden Truppen haben bei ihrem kurzen Vormarsch eine ganze Reihe solcher Szenen gesehen. Flüchtlinge berichten, daß eine Massenabschlachtung von Geiseln die übliche Reaktion auf jeglichen Widerstand ist. Das nächste Bild bitte.«

Jenny zeigte ein weiteres Dutzend Dias, dann endlich schaltete sie das Licht wieder ein.

»Mr. Reynolds«, fragte der Sprecher des Repräsentantenhauses, »was halten Sie von diesem Verhalten der Außerirdischen?«

»Sie waren davon überzeugt, Verräter zu töten«, sagte Reynolds.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der Präsident.

»Es sind Herdentiere. Ich bezweifle, daß sie aus eigenem Antrieb handeln können. Wer sich ihnen ergeben hat und sie dann angreift, wird als Rebell behandelt, und mit ihm alle, die sich in seiner Nähe aufhalten.«

»Major Crichton«, sagte der Präsident. »Sie haben das gefangene außerirdische Wesen verhört?«

»Ja, Sir.«

»Stimmen Sie dieser Einschätzung zu?«

»Wir haben außer seinem Namen nicht viel von ihm erfahren, Sir. Es scheint durchaus bereit zu sein, uns weiterzuhelfen. Es ist nur verwirrt.«

»Verrückt ist es«, knurrte Curtis. »Oder wird es bald.«

»Warum sagen Sie das, Dr. Curtis?« erkundigte sich Admiral Carrell.

»Es sind Herdentiere«, sagte Curtis. »Wie Nat schon gesagt hat – aus eigenem Antrieb unternehmen sie nichts, wie Elefanten oder Zebras. Trennen Sie ein Tier von der Herde – und was passiert?« Er zuckte die Achseln. »Wir können ja versuchen, den gefangenen Rüßler in unsere ›Herde‹ aufzunehmen. Vielleicht funktioniert es.«

Präsident Coffey machte ein neugieriges Gesicht. »Wie wollen Sie das bewerkstelligen?«

»Ihn keine Sekunde allein lassen«, sagte Curtis.

»Mit ihm reden«, sagte Reynolds. »Ihn so lange mit Menschen umgeben…«

»… bis er sich selbst für einen Menschen hält«, schloß Curtis.

»Haben Sie sonst etwas Nützliches erfahren?« fragte der Präsident.

»Nein, Sir«, sagte Jenny.

»Wir wissen, daß sie in Kosmograd Gefangene gemacht haben «, sagte Carlotta Dawson.

»Ah. Immerhin eine gute Nachricht«, sagte Präsident Coffey. Dann runzelte er die Stirn. »Das hoffe ich jedenfalls. So oder so – wir müssen jetzt zu einem Ergebnis kommen.«


* * *

In den fünfzig Jahren seit seiner Errichtung war der unterirdische Komplex östlich von Moskau verschönert, mit einer Klimaanlage versehen und erweitert worden. Es gab darin Schwimmbäder, Friseure und Feinschmeckerlokale; Wandteppiche und Bilder schmückten die Stahlbetonwände: kurz, man hatte alles getan, um den Eindruck zu verwischen, daß es sich letztlich um einen bombensicheren Unterstand handelte.

Der Erste Parteisekretär Narowtschatow schritt über Holzparkett zum Büro des Vorsitzenden. Wenn es nur den einen Feind gäbe…

Tataren, Ungarn, Polen, Letten und Tschechen revoltierten offen, und zahlreiche andere Völkerschaften waren unruhig geworden, sogar die Bewohner der Ukraine.

Mit einemmal ertönte ein: »Halt, Genosse Narowtschatow!«

Überrascht sah er auf. Ein Oberst der Gardedivision stand mit drei bewaffneten Soldaten vor ihm.

»Ich bedaure, Genosse Narowtschatow, aber wir müssen Sie durchsuchen.«

Aus dem Büro des Vorsitzenden Petrowski drang amüsiertes Gelächter. Lachend trat Petrowski in die Tür. »Es ist zwar löblich, daß Sie auf dem Posten sind, Genosse Oberst«, sagte er, »aber ich glaube, Sie brauchen Ihren Diensteifer nicht auf den Ersten Sekretär auszudehnen. Immerhin ist er mein ältester Freund. Kommen Sie rein, Nikolai Nikolajewitsch. Vielen Dank, Genosse Oberst. Kehren Sie zu Ihren Pflichten zurück.«

Nikolai Narowtschatow schloß die massive Holztür hinter sich und lehnte sich dagegen. Er hatte eben keine Zeit gehabt zu reagieren. Jetzt überdachte er die Situation vor der Tür und runzelte die Stirn.

»Ja«, sagte der Vorsitzende Petrowski. »So ernst kann es werden. Nehmen Sie doch Platz. Ich habe Ihnen viel zu sagen. Wodka oder Whisky?«

»Am liebsten wie Sie selbst einen Cognac.« Narowtschatow nahm das Glas und setzte sich dem Vorsitzenden gegenüber an den massiven Tisch.

»Auf die Menschheit«, sagte Petrowski, »und das ist kein bloßer Trinkspruch.« Sie tranken. »Nein, kein bloßer Trinkspruch «, sagte der Vorsitzende. »Ich habe heute einen Anruf bekommen. Vom amerikanischen Präsidenten.«

»Ah!«

»Es war äußerst sonderbar«, fuhr Petrowski fort. »Die Amerikaner bitten uns um Hilfe.«

»Und wir brauchen ihre«, sagte Narowtschatow.

»Genau.«

»Haben Sie ihm das gesagt?«

»Ich habe es durchblicken lassen. Aber, Nikolai Nikolajewitsch, sie sind selbst verzweifelt. Die Invasion der Außerirdischen ist erfolgreich.«

Ziemlich ungläubig schüttelte Narowtschatow den Kopf.

»Erfolgreich?«

»Ja. Der Feind hat die Kornkammer der Vereinigten Staaten besetzt. Sie haben ihn nicht von dort zu vertreiben vermocht und beim Versuch einige ihrer besten Einheiten verloren.«

Einen Augenblick lang stieg in Narowtschatow Triumphgefühl auf. Dann verschwand das breite Lächeln von seinem Gesicht. »Aber Anatoli Wladimirowitsch, wenn die Amerikaner es nicht schaffen, die Außerirdischen von der Erde zu vertreiben…«

»Können wir es auch nicht«, vollendete der Vorsitzende voll Bitterkeit den Satz. »Nikolai Nikolajewitsch, ganz gleich, wer gewinnt, wir haben verloren. Es wird viele Jahre dauern, bis wir unsere Kräfte wiedererlangt haben. Sind Sie auch dieser Ansicht?«

»Ja, Anatoli Wladimirowitsch. Sogar dann, wenn es keine militärischen Schwierigkeiten gäbe und wir ohne weitere Schwierigkeiten die Herrschaft über die Provinzen und die WarschauerPakt Staaten zurückgewännen, würde allein schon der Wiederaufbau von Staudämmen und Brücken Jahre dauern.«

»Wir kommen wohl nicht umhin, den Amerikanern zu helfen «, sagte Petrowski zögernd.

»Auf welche Weise?«

»Auf jede, die uns möglich ist. Sie haben einen Plan. Ein gemeinsamer Angriff von ihnen und uns auf die feindlichen Raumschiffe und die Streitkräfte der Außerirdischen in Kansas. Beide Seiten sollen die ihnen verbliebenen strategischen Raketen abfeuern.«

»Davon haben wir nur noch herzlich wenig«, sagte Narowtschatow.

»Ich weiß.« Der Vorsitzende ließ eine Pause eintreten. »Die Amerikaner wollen auch, daß wir Unterseeboote einsetzen.«

»Wozu?«

»Einige sollen auf feindliche Raumschiffe feuern, andere auf Kansas.«

»Auf Kansas!«

»Sie wünschen außerdem, daß wir strategische Langstreckenraketen gegen Kansas richten.«

»Wir sollen also Kansas bombardieren?« sagte Narowtschatow zutiefst erstaunt.

»Anatoli, Genosse Vorsitzender, aber das ist doch Wahnsinn!«

»Ja. Das glaubt auch der KGB.«

»Weiß man dort davon?«

Petrowski nickte. »Mein Gespräch wurde aufgezeichnet. Ich hätte nicht gedacht, daß Trussow dazu imstande wäre, aber er war schon wenige Minuten nach dem Anruf des Präsidenten hier.«

»Er hat zugegeben, daß er mitgehört hat! Ihnen ins Gesicht!«

»Ja. Er hat sich loyal erklärt, aber gleichzeitig gesagt, daß Gespräche mit den Amerikanern Angelegenheit der Staatssicherheit sind.«

Wütend dachte Narowtschatow nach. »Daher der Oberst und seine Wachen vor Ihrem Büro?«

»Auch anderswo. Ich habe welche in Ihre Unterkunft geschickt und außerdem einige zum Schutz Ihrer Tochter und Ihrer Enkel abgestellt.«

»Ist es bereits so ernst?«

Petrowski zuckte die Achseln. »Trussow war fast hysterisch vor Wut. Er meint, ich könne den Vorschlag unmöglich ernsthaft in Erwägung ziehen. ›Sollen doch die Außerirdischen die Vereinigten Staaten zerstören‹, hat er gesagt. ›Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Die Amerikaner sind und bleiben die Feinde des Kommunismus. Die Außerirdischen als Herdentiere werden den Kommunismus respektieren. Die Amerikaner haben nur einen einzigen ihrer fünfzig Staaten eingebüßt. Sollen die Außerirdischen sie erst ruhig noch weiter schwächen.‹ Das waren mehr oder weniger seine Worte.«

»Könnte er damit recht haben?«

»Glauben Sie das?«

Langsam schüttelte Narowtschatow den Kopf »Nein. Diese Außerirdischen, diese… Elefanten sind der wahre Feind. Sie werden uns alle versklaven.«

Die Stirn des Vorsitzenden umwölkte sich. »Das werden wir nicht zulassen«, sagte er. Der Ausdruck der Besorgnis vertiefte sich, während er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Niemand wird uns besiegen! Rußland muß stets unabhängig bleiben. Das wußten selbst die schlimmsten Zaren! Wir dürfen keinesfalls zulassen, daß Rußland von Außenstehenden Befehle entgegennimmt!«

Narowtschatow seufzte. »Sie haben recht, wie immer, Anatoli Wladimirowitsch. Aber ich fürchte, der KGB ist überall. Wenn er sich sperrt – was können wir tun?«

»Wir werden Ihren Schwiegersohn anrufen und ihn beauftragen, mit Marschall Schawirin zusammenzuarbeiten. Gemeinsam werden sie einen Plan entwickeln.«

Zustimmend nickte Narowtschatow. »Pawel Alexandrowitsch wird loyal sein«, sagte er. »Ich kenne Schawirin schon fast so lange wie Sie«, sagte Petrowski. »Ihm kann ich trauen. In wenigen Stunden kann er bei Bondarew in Baikonur sein. Aber wir müssen ihn warnen. Wenn er zu ihm geht, muß er seine treuesten Soldaten mitnehmen, die Wachen seines Hauptquartiers und seinen ganzen persönlichen Stab.«

So weit ist es also gekommen. »Ja.« Narowtschatow erhob sich. »Ich werde mich darum kümmern.« Er trat zur Tür und wandte sich dann noch einmal um. »Wann, Anatoli, wird Rußland je eine Regierung haben, die man nicht fürchten muß?«

Die Antwort wartete er nicht ab.


* * *

Eine Achtschaft von Kriegern kam auf sie zu.

Es gab fast keine Schwerkraft. Die gefangenen Erdlinge bewegten sich in wildem Durcheinander, prallten von den Gangwänden ab und flogen hin und her. Vier Krieger vorn und vier hinten näherten sich im Gleichschritt. Die Sohlen ihrer Schuhe krallten sich wie Klettband in den feuchten Bodenbelag.

Takpassih und Tashajämp warteten an einer Stelle, wo ein Abschnitt der Wand hochgezogen worden war, so daß ihnen ein schwarzes Loch entgegengähnte.

»Wir müssen eine Aufgabe für euch finden, bis Grifflingsschiff Sechs kommt«, sagte Takpassih munter. »Ihr werdet die Belüftungskanäle säubern. Klettern ist vermutlich das einzige, was ihr besser könnt als die Fithp. Es wird euch leichtfallen, jetzt, da Thaktan Flishithy tshejtrif.«

Was er damit wohl meint? Wes erinnerte sich, daß tshejtrif Fuß bedeutete. Jetzt, da das Mutterschiff mit einem Fuß verpaart war?

Man wird ja sehen. Tashajämp teilte Arbeitsmaterial aus. Jeder bekam einen Schwamm, eine Art PlastikMülltüte, ein kleineres, mit Seifenwasser gefülltes Säckchen und eine Taschenlampe. All das war mit großen Metallschlaufen, in die die Grifflinge eines Fi’ paßten, an einer Schnur befestigt.

»Die äußeren Einlässe brauchen euch am meisten«, sagte Takpassih. »Leert den Inhalt der Sammelgefäße in die Beutel. Wischt die Seitenwände ab. Heute geht in diese Richtung, mit der Drehbewegung.« Sein Rüssel beschrieb einen Kreis im Uhrzeigersinn. »Geht, so weit ihr könnt, beweist eure Ausdauer, dann kommt an einem beliebigen Gitter wieder heraus. Ruft den ersten Krieger an, den ihr seht. Jeder von ihnen kann euch zu eurem Pferch zurückbringen.«

Wollten die Fithp tatsächlich Gefangenen gestatten, das Belüftungssystem des Raumschiffs zu erkunden? Arwid und Dmitri sahen ebenso nachdenklich drein wie Wes, aber sie gehorchten und schlangen sich die Schnur locker um den Leib.

Am besten ging man davon aus, daß sie bewacht würden. Trotzdem würde Wes die Gelegenheit liebend gern nutzen, sich ein wenig umzusehen. Die Sowjets täten das bestimmt auch… Nikolai wurde aufgefordert, in die Öffnung zu steigen. Arwid und Dmitri folgten.

Vermutlich setzen die Fithp voraus, daß wir zusammenbleiben, aber wir müssen es wohl nicht. Wes trat auf die Öffnung zu.

Ein Stück lebender Schlauch legte sich um seinen Fußknöchel. »Einen Augenblick«, sagte Takpassih. »Dawson, du wirst von den anderen getrennt. Von diesem Augenblick an unterweist dich Rästapispmins. Wenn du einen Krieger siehst, sag zu ihm Rästapispmins.«

Wes zuckte die Achseln. In letzter Zeit waren die Sowjets keine besonders angenehme Gesellschaft gewesen. »Weil ich dich angegriffen habe?«

»Es ist ein Beschluß. Also los!«

Er zwängte sich durch die Lüftungskanäle und putzte. Die Arbeit war nicht schwierig. Tu, was sie wollen! Dmitri möchte, daß wir uns willig zeigen. Vielleicht hat er recht, jedenfalls einstweilen.

Er arbeitete, bis er zu müde war, um weiterzumachen: Fünf oder sechs Stunden mochten vergangen sein.

Die Gitter waren von den Gängen aus mit Flügelmuttern befestigt. Man mußte durch die Gitter greifen, um sie zu drehen. Das war nicht schwer, da die Flügel fast zwanzig Zentimeter breit waren, passend für die Grifflinge der Fithp. Wes stellte fest, daß die Schrauben Linksgewinde hatten. Er rief zwei vorbeikommenden Kriegern zu: »Bringt mich zu Rästapispmins.«

Einer blieb stehen. »Wes Dawson? Du kommst in einen Absonderungs Pferch.«

Wes brachte das Lüftungsgitter wieder an, dann ging er zwischen den Kriegern davon.


* * *

Lorena trug die Teekanne herein. »Noch eine Tasse, Genosse Marschall?« fragte sie.

»Danke, nein«, sagte Schawirin. Er sah erst zur Uhr an der Wand, dann auf Lorena.

Pawel Bondarew bedeutete ihr mit einer kaum wahrnehmbaren Geste, daß sie gehen konnte. Sie verließ den Raum. Bondarew fand, daß sie die Tür etwas zu laut hinter sich schloß, aber Marschall Schawirin schien das nicht aufzufallen.

»Unglaublich«, sagte Schawirin. Ein rasch zusammengestellter Bericht in einem leuchtendroten Umschlag lag neben Bondarews antikem Messingteleskop auf dem Schreibtisch. Schawirin nahm ihn zur Hand und blätterte ihn durch. »Unglaublich«, wiederholte er.

»Dem stimme ich zu«, sagte Bondarew. »Aber wir werden es glauben müssen.«

Das Telefon läutete. Bondarew schaltete mit einem Knopfdruck den Telefonverstärker ein. »Bondarew.«

»Petrowski.«

»Guten Tag, Genosse Vorsitzender!« sagte Bondarew. »Wir haben den von Ihnen angeforderten Bericht vorbereitet. Marschall Schawirin ist gerade bei mir…«

»Gut. Geht es Ihnen gut, Leonid Edmundowitsch?«

»Danke, Genosse Vorsitzender.«

»Nun, General Bondarew, Sie haben mit der amerikanischen Generalität gesprochen?«

»Ja. Was sie verlangt, ist kaum durchführbar, Genosse Vorsitzender.«

»Hat es Aussicht auf Erfolg?«

Bondarew warf Schawirin einen hilflosen Blick zu. Nach kurzem Schweigen sagte der Marschall: »Wer kann das wissen, Genosse Vorsitzender? Möglicherweise ist es der einzige durchführbare Plan. Es kommt jedoch sehr auf die genaue Abstimmung der Zeitabläufe an.«

»Und was empfehlen Sie? Können wir das tun?«

Schawirin schwieg.

»Nun?« drängte der Vorsitzende.

»Es ist sehr problematisch«, sagte Schawirin schließlich. »Das Gelingen des Plans hängt zum Teil von den PershingRaketen der Amerikaner ab. Sie sollen sie von Deutschland aus auf das Raumschiff abfeuern. Ein großer Teil von ihnen wird in Richtung auf die Sowjetunion fliegen. Es gibt keine Möglichkeit, im voraus das wahre Ziel zu kennen – es könnte Moskau heißen, Kiew oder unsere verbliebenen RaketenAbschußrampen. Noch schlimmer ist, daß die Außerirdischen bislang nach jedem Raketenabschuß mit Laserwaffen Vergeltungsschläge gegen die Abschußrampen geführt haben. Sie werden unsere verbleibenden Stützpunkte angreifen. Nach dieser Schlacht hätten wir nur noch wenige strategische Raketen. Sollten die Amerikaner ihre nicht einsetzen, stünden wir waffenlos und nahezu wehrlos da, während sie weiterhin über ihre strategische Einsatzwaffe verfügten. Nehmen wir einmal an, sie schießen ihre Pershings nicht ab, sondern halten sie in der Hinterhand. Dann könnten sie uns wahrscheinlich innerhalb von Minuten vernichten, wann immer sie das nur wünschen.«

Narowtschatows Stimme drang blechern durch die Leitung. »Heißt das, Sie empfehlen, daß wir nicht mit den Amerikanern zusammenarbeiten?«

»Nein, Genosse Erster Sekretär«, sagte Schawirin. »Aber es ist meine Pflicht, Ihnen und dem Vorsitzenden mit schonungsloser Klarheit die Konsequenzen eines solchen Vorgehens darzulegen.«

»Wir haben sehr wenig Zeit«, sagte der Vorsitzende Petrowski. »Der amerikanische Präsident erwartet meine Antwort. Er sagt, die Lage sei verzweifelt. Ich neige dazu, ihm zuzustimmen. Ich muß ihm unsere Entscheidung auf der Stelle mitteilen.«

»Alles hängt von den Pershings ab«, sagte Schawirin. »Sollten die Amerikaner sie nicht abfeuern – aus welchem Grund auch immer –, ist es unwahrscheinlich, daß unsere Raketen die Verteidigungsbarrieren des Feindes durchdringen. Wenn es den Amerikanern gelingt, könnten einige unserer Raketen ihr Ziel erreichen.«

»Genosse Bondarew?« fragte der Vorsitzende. »Was meinen Sie?«

»Möglicherweise ist das unsere letzte Chance. Wenn wir den Amerikanern jetzt nicht helfen, werden sie geschlagen, und wie lange wird es dann dauern, bis Rußland den Außerirdischen in die Hände fällt?«

»Sie empfehlen also?«

Das wird nun auch aufgezeichnet. Nicht nur der Vorsitzende hört mit, auch der KGB. Bei einem Fehlschlag…

»Genosse Vorsitzender, ich empfehle, daß wir den Amerikanern helfen, vorausgesetzt, daß diese zur Unterstützung unserer Bemühungen ihre PershingRaketen einsetzen, und zwar alle auf britischem und auf deutschem Boden stationierten.«

»Sind Sie damit einverstanden, Marschall Schawirin?«

»Unter diesen Voraussetzungen, ja, Genosse Vorsitzender.«

Ein langes Schweigen trat ein. Dann sagte der Vorsitzende: »Schön. Ich werde den amerikanischen Präsidenten von dieser Entscheidung in Kenntnis setzen, und wir werden Ihnen bald die Zeit für den Angriff nennen.« Eine weitere Pause entstand, dann ertönte die Stimme des Vorsitzenden erneut. »Akademiemitglied und General des Heeres Pawel Alexandrowitsch Bondarew und Marschall Leonid Edmundowitsch Schawirin, ich weise Sie an, das Kommando über sämtliche strategischen Streitkräfte der Sowjetunion einschließlich der UBoot Waffe an sich zu ziehen und sie zur Unterstützung des Schlachtplans mit dem CodeNamen WIRBELWIND einzusetzen. Gemeinsam sind Sie ermächtigt, mit allen Ihnen unterstehenden Streitkräften die Bemühung der Amerikaner zur Vertreibung der Außerirdischen von unserem Planeten zu unterstützen. Ist das verstanden?«

»Ja, Genosse Vorsitzender«, sagte Schawirin.

Pawel Bondarew schluckte. »Ja.«

22. Etwas liegt in der Luft

Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

ARABISCHES SPRICHWORT


Zeit: Drei Wochen nach der Stunde Null

Pawel Bondarew sah zur großen Wanduhr empor. »Zehn Minuten«, sagte er.

Marschall Schawirin grinste. »Sie sind ja nervös, Genosse!«

»Wieso auch nicht? Das ist doch kein Wunder«, sagte Bondarew verärgert. »Immerhin stehen wir im Begriff, die wichtigste Entscheidung in der Geschichte Rußlands zu treffen.«

»Schon, aber Sie gestatten doch sicher, daß ich ruhig bleibe. Immerhin weiß ich seit fünf Jahren, daß mir dieser Augenblick eines Tages bevorstehen würde.«

»Nun ja«, sagte Bondarew. Er sah auf die beiden an einer Wand seines unterirdischen Büros angebrachten Kommandokonsolen, auf denen Lichter in komplizierten Mustern hin und her liefen. An beiden befand sich rechts unten ein Schalter. Bondarew tastete nach dem Schlüssel, den er an einem Silberkettchen um den Hals trug. »Macht es das leichter?«

»Man gewöhnt sich an alles. Der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier – was war das?«

Von draußen ertönten Geräusche. Bondarew ging zur Tür.

»Nein! Nicht öffnen!« gebot Schawirin. Er nahm den Hörer seines Telefons ab. »Oberst! Wie ist die Lage?« Er lauschte einige Augenblicke. »Sie dürfen auf keinen Fall herein«, fuhr er ihn an. »Um keinen Preis. Unsere Befehle kommen direkt vom Vorsitzenden Petrowski! Tun Sie, was Sie können! Was Sie müssen!« fügte er hinzu. Er legte auf.

Bondarew sah ihn fragend an.

»Der KGB«, erklärte Schawirin, »hat seine SpetsnazTruppen geschickt. Meine Sicherheitskräfte leisten ihnen Widerstand.«

»Aber…« Pawel nahm den Hörer ab. »Verbinden Sie mich mit dem Vorsitzenden Petrowski!«

Schawirin schüttelte den Kopf. »Poliwanow hat mir gesagt, daß der KGB die Telefonleitungen bereits unterbrochen hat. Wir haben keine Verbindung mehr mit Moskau.«

Bondarew blickte entsetzt auf. »Aber…«

Bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür zum Nebenzimmer. Lorena trat ein.

»Was tun Sie hier?« fragte Bondarew scharf.

Sie zögerte einen Augenblick und richtete dann eine kleine Automatikpistole auf sie. »Sie stehen beide unter Arrest, im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes«, sagte sie.

»Nein!« rief Bondarew. »Nicht Sie!«

»Der KGB ist überall«, sagte Schawirin. Er griff nach dem Telefon.

»Lassen Sie das!« schrie Lorena in hysterischem Ton.

»Genossin, ich muß Kontakt mit den Raketenstreitkräften aufnehmen«, sagte Schawirin.

»Und ihnen Befehl geben, den Amerikanern zu helfen«, sagte sie. »Kommt überhaupt nicht in Frage! Damit die Außerirdischen die Sowjetunion zerstören?«

»Das werden sie ohnehin tun«, sagte Schawirin. »Verstehen Sie mich richtig. Die Amerikaner sollen…« – er warf einen Blick auf die Wanduhr – »sie stehen im Begriff, ihre PershingRaketen zu starten. Sie sind auf unser Land gerichtet. Das soll die Außerirdischen ablenken und uns die Möglichkeit geben, diese mit unseren Raketen zu treffen. Natürlich ist denkbar, daß die Amerikaner das als Gelegenheit ansehen, uns wirklich anzugreifen. Daher habe ich den Raketenstreitkräften den Auftrag erteilt, auf die Vereinigten Staaten zu feuern, wenn sie nichts von uns hören. Nicht etwa auf Kansas, sondern auf das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten!«

»Von all dem weiß ich nichts«, kreischte sie. »Sie gehen jetzt auf der Stelle dort an die Wand, weg von Tisch und Telefonen!«

»Lorena«, sagte Bondarew. »Lorena, das können Sie nicht tun.« Er ging auf sie zu. Sie wich zurück.

»Halt! Ich schieße! Bestimmt!«

Bondarew trat näher.

Ein Feuerstrahl fuhr aus der kleinen Waffe, und ein scharfer Schmerz drang durch seine Brust. »Lorena!« rief er. Er taumelte gegen die Wand.

Sie sah entsetzt zu ihm hin. »Pawel, Pawel…«

Unterdessen griff sich Marschall Schawirin das Messingteleskop von Bondarews Schreibtisch, schwang es und ließ es so kräftig auf ihren Kopf niedersausen, daß sich der Tubus verbog und eine Linse des Objektivs auf den Boden kollerte.

Sie brach zusammen. Schawirin ließ das Teleskop fallen und eilte zur Tür, um sie abzuschließen. Dann kümmerte er sich um Bondarew. »Genosse«, sagte er. »Pawel!«

Pawel hörte ihn von ferne. Er versuchte, tief durchzuatmen, aber der Schmerz hinderte ihn daran. Er hörte Blut in seiner Lunge gurgeln. Im Korridor fielen Schüsse.

»Ich… ich lebe«, sagte Bondarew. Jedes Wort kostete ihn große Mühe. Er sah auf die Uhr. »Es ist Zeit! Wir müssen wissen, ob die Amerikaner ihre Pershings abgefeuert haben.«

Schawirin nahm den Hörer auf. »Poliwanow, hier Schawirin. Oberst, haben die Amerikaner ihre Pershings abgefeuert?«

Eine lange Pause trat ein. »Aha«, sagte Schawirin. »Stehen wir in Verbindung mit den strategischen Streitkräften? Aha. Danke.« Er legte den Hörer auf. »Der KGB hat uns von allen Verbindungen mit dem Westen abgeschnitten«, sagte er nachdrücklich. »Ihre Leute waren so zahlreich, daß wir unser Hauptquartier nicht halten konnten. Meine Verteidigungskräfte haben sich entschlossen, zumindest die Befehlslinien zu schützen, was ihnen auch gelungen ist.« Er wies auf die blinkenden Leuchten. »Die Anlage ist bereit, Genosse Akademiemitglied. Was tun wir jetzt?«

Pawel schnappte in kurzen, keuchenden Stößen nach Luft. Es tat entsetzlich weh. Er sank in einen Sessel vor seiner Kommandokonsole. »Die Pershings…«

»Wir werden es nie erfahren«, sagte Schawirin, »und den Geräuschen im Gang nach bleibt uns nicht viel Zeit.« Während er sprach, knöpfte er die Brusttasche seines Uniformrocks auf und nahm einen Schlüssel heraus. Er sah ihn kurz an, führte ihn dann in seine Kommandokonsole ein und drehte ihn.

»Sie verstehen mehr von diesen Dingen als ich, Pawel. Ich habe mein Gerät jetzt scharfgemacht. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« Schawirin zog seine Pistole und wandte sich zur Tür. »Aber ich glaube, daß Sie sich rasch entschließen müssen.«

Bondarews Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte ausgepolstert. Jeder Atemzug quälte ihn. Schawirins Stimme schien schwächer zu werden und dann verstärkt wiederzukehren. Was soll ich tun? Wir wissen nichts, nichts. Haben die Amerikaner uns hereingelegt? Hat der KGB womöglich recht?

Lorena lag auf seinem wertvollen Perser, neben ihr das beschädigte Teleskop. Er konnte nicht sehen, ob sie noch atmete.

Die Schüsse vor der Tür klangen sehr nahe.

Rasch! Pawel nestelte an seinen Hemdknöpfen herum. Es schien endlos lange zu dauern, das Kettchen zu öffnen, und als er es zu zerreißen versuchte, wollte es nicht nachgeben. Geduld – Schließlich hielt er den Messingschlüssel in der Hand, steckte ihn nach kurzem Zögern rasch und entschlossen in den Schlüsselschalter und drehte ihn herum.

Eine nach der anderen wechselten die Leuchten der Anzeige von Grün auf Rot.

»Jetzt haben wir es getan«, sagte Bondarew.

»Ja«, bestätigte Schawirin. Es klickte scharf, als er den Sicherungshebel seiner Pistole umlegte.


* * *

Etwas lag in der Luft. Die ganze Fithp empfand es. Raumgeborene Weibchen verspürten eine Nervosität, ein merkwürdiges Unbehagen; sie keiften sofort zurück, wenn ihnen jemand in die Quere kam. Schläfer ließen sich leicht ablenken, sie mußten an ihre Pflichten gemahnt werden. Selbst raumgeborene Männchen waren von einem entschlossenen Optimismus erfüllt, als wollten ihre Leiber tanzen oder kämpfen.

Tantarentfid, der Herr der Verteidigung, hatte die Luftumwälzung auf hohen Durchsatz einstellen lassen, doch war lediglich ein schwacher Luftstrom spürbar. Etwas lag in der Luft; selbst ErdlingsFithp hätten den Unterschied aus all den fremdartigen Gerüchen herausgefunden. Die Paarungszeit der Schläfer hatte begonnen.

Seit fünfzehn Jahren kamen einmal jährlich die verschobenen Paarungszeiten. Der Herr der Herde kannte das Gefühl gut, er fühlte sich rundum wohl. Der Krieg verlief zufriedenstellend. Zwar hatte es auf Winterheim kleinere Verzögerungen gegeben, aber den Brückenkopf hielten sie nach wie vor. Wir lernen. Und diese Zusammenkunft wird Ergebnisse zeitigen.

Pastempihkeph benutzte den Vorführraum im Unterschied zu seinem Vorgänger nicht häufig. Er fühlte sich dort nicht behaglich, er war ihm zu groß. Seit der Geschichtsstunde, seit Dawsons Angriff auf seinen Umerzieher hatte er den Raum nicht gesehen. Jetzt hatte er den Eindruck, ihn zu brauchen. Die Bote konnte er einige Stunden lang sich selbst überlassen, und Bildschirme würden ihm genug Informationen liefern. Er wollte eine Vollversammlung einberufen, die Körpersprache der anderen beobachten.

Sieben Fithp ruhten im Kreis auf dem Bauch: der Herr der Herde, sein Berater, die beiden Umerzieher, der Herr des Angriffs, der Herr der Verteidigung und Fistartihthaktan. Der Herr der Herde sah sich im Kreis der von ihm zusammengerufenen Fithp um und sagte: »Wir werden sogleich den Grund für das Verhalten der Erdlinge erfahren.«

Selbst Fathistihtalk sah unbehaglich drein, und das gefiel ihm. Er wußte selbst nicht recht, warum,

»Zuerst das Wichtigste. Herr der Verteidigung, wie ist unsere Situation?«

Tantarentfid war der jüngste der Anwesenden, ein nicht besonders großes Männchen, raumgeboren, verpaart, Vater zweier männlicher Nachkommen, die noch lange nicht im Kriegeralter standen. Im Unterschied zu seinem Vorgänger galt er nicht als abtrünnig. Jenen hatte man abgesetzt, als der FUSS den von Ringen umgebenen Riesenstern verließ.

Dem Herrn der Verteidigung oblag das Überleben der Ziehenden Fithp. Ihm unterstanden Klimaanlage, Nahrungsversorgung, Unverletztheit des Schiffsrumpfes, Haupttriebwerk, Kursbestimmung, Grifflingsschiffe sowie die Laser, die Thaktan Flishithy vor Meteoren oder fremden Waffensystemen schützten. Auf den drei letztgenannten Gebieten teilte er sich die Aufgaben mit dem Herrn des Angriffs.

Er antwortete rasch und bereitwillig. »Die Bote ist durchaus imstande, sich zu verteidigen und befindet sich überdies weit außerhalb der Reichweite feindlicher Angriffe. Das Haupttriebwerk arbeitet einwandfrei. Natürlich haben wir schon mehr als die Hälfte unseres Treibstoffs verbraucht, wir werden demnächst neu bunkern müssen. Sechzehn Grifflingsschiffe haben festgemacht, weitere kommen von Winterheim zurück. Wir liegen im Plan. In zwei Tagen werden wir den FUSS erreichen und ihn in zweiundzwanzig Tagen so auf Kurs gebracht haben, wie es erforderlich ist. Wir werden uns von ihm lösen und Winterheim auf einer schnellen Parabelbahn verlassen.«

»Ihr habt Beutewesen in den Luftkanälen.«

»Ja, die Umerzieher hatten einen gewissen Erfolg im Anlernen der ErdlingsFithp. Sie entwickeln beachtliche Geschicklichkeit. Seit zwei Tagen reinigen sie die Abluftfilter und imprägnieren sie neu. Wir hatten gehofft, auf diese Weise den Paarungsgeruch aus den Gängen vertreiben zu können, jedoch…« – Tantarentfid fuhr mit seinen Krallen durch die Luft. »Wir werden die Erdlinge als Reserve für einen Ausfall der automatischen Anlage einsetzen. Die Umerzieher können euch am besten sagen, ob sie in einem wirklichen Notfall gut arbeiten würden.«

»Schön. Herr des Angriffs, Kuthfektilrasp, wie fühlt sich der Schlamm an?«

Krieg war seine Aufgabe. »Ich denke, daß wir den Stützpunkt auf Landmasse Zwei halten können«, sagte er. »Grifflingsschiffe sind mit Gefangenen und Beute an Bord auf dem Weg hierher. Wenn weiterhin alles gutgeht, werden wir den FUSS nicht brauchen, aber wir müssen unsbald entscheiden.« Er ließ eine Pause eintreten und fuhr dann fort: »Wir haben Grifflingsschiff Zwanzig verloren…«

»Wie ist es zu diesem Verlust gekommen?« Kuthfektilrasp erhob sich auf seinen Vorderläufen. »Es ist bei schwerem Wetter auf einem Startlaser aufgestiegen. Wir vermuten, daß der Strahl selbst einen Trichtersturm ausgelöst hat. Jedenfalls haben Wolken und Schutt ihn blockiert, das Schiff hat zu langsam Höhe gewonnen, und der Pilot hat versucht, wieder zu landen. In dieser empfindlichen Phase hat ein ErdlingsFlugzeug eine Rakete auf das Schiff abgefeuert.«

Selbstverständlich mußte man gewisse Verluste einkalkulieren. Raumgeborene wußten nur wenig vom Wetter auf dem Planeten. Ein neues Thema – »Herr des Angriffs, ich habe den Eindruck, daß es die Beutewesen mit ihrer Unterwerfung nicht ernst meinen.«

»So scheint es in der Tat.«

»Und was unternehmt ihr dagegen?«

Der Herr des Angriffs sah unbehaglich drein. »Welchen Thaktan sollen wir lesen? Fithp tun so etwas nicht. Meine Krieger zertrampeln alles im Umkreis von vierundsechzig Srapkithp um jeden Ort, an dem ErdlingsFithp ihre Verpflichtung gegenüber der Ziehenden Herde verletzen. Wenn sich ein Beutewesen gut genug verbirgt, um unseren Zorn zu überleben, halten wir es für geistig gesund und unschädlich. Aber es kostet meine Fithp Kräfte, Herr der Herde. Es fällt schwer, Wesen zu vernichten, die sich ergeben haben!«

»Auch ich habe meine Schwierigkeiten. UmerzieherEins, ist das Vorgehen des Herrn des Angriffs richtig?«

»Ich weiß nicht – auf diese Weise lernen sie nicht, sich zu ergeben, Herr der Herde. Der Herr des Angriffs, Kuthfektilrasp, hat uns gesagt, daß sie nach der Unterwerfung angreifen, einzeln, in Achtschaften und in noch größeren Gruppen. Das kann kein epidemisch auftretendes gemeingefährliches Einzelgängerverhalten sein. Vermutlich ähnelt der typische Erdling eher Dawson und nicht den Sowjets. Sie treffen ihre eigenen Entscheidungen; jeder ist eine ganze Fithp auf zwei Beinen. Die Tötung solcher, die sich keines Treuebruchs schuldig gemacht haben… führt möglicherweise zu nichts oder gibt ihnen Anlaß, an unserer geistigen Gesundheit zu zweifeln.«

»Dawson, hmf.« Der Herr der Herde überlegte. Er brauchte bald Lösungen. Stellte er überhaupt die richtigen Fragen? »Ein solches Verhalten als krankhaft zu behandeln führt zu nichts. Wenn alle geisteskrank sind – Berater, Ihr wart bisher ungewöhnlich schweigsam.«

»Leitet mich, Herr der Herde. UmerzieherEins, es geht um die Frage der Vorhersagbarkeit. Falls alle geistesgestört sind, sind sie es dann alle auf dieselbe Weise?«

»Nicht einmal das. Ich habe keine Klagen über die Sowjets vorzubringen.«

Doch Takpassih rührte sich, und Fathistihtalk bemerkte es. »UmerzieherZwei?«

»Sie halten Dinge vor uns geheim. Sie sprechen ihre eigene Sprache, obwohl sie auch der ThaktanSprache kundig sind. Sie wissen mehr von den Luftkanälen, als wir ihnen zu erfahren zugebilligt haben. Fragt uns erneut, wenn Grifflingsschiff Sechs weitere Gefangene geliefert hat.«

Fathistihtalk wandte sich einer anderen Quelle zu. »Bewahrer des Thaktan, was habt Ihr in Erfahrung gebracht? Es heißt, die Beute sei geistesgestört. Ich erinnere mich an die Pflitthp der Heimatwelt…«

Wenn Fistartihthaktan zu einem MitSchläfer von der Heimatwelt sprach, geriet er in wortreiches Schwärmen. »Natürlich haben sich die Pflitthp mit unglaublicher Geschwindigkeit vermehrt. Das Fell dieser kleinen graugescheckten Tiere war von der Farbe der Sonnwärtigen Wälder, in denen sie lebten, und die Art ihres Zusammenlebens ließ die Fithp dagegen geradezu als Einzelgänger erscheinen. Das Leben eines einzelnen Pflit war, bezogen auf das Überleben der Gattung, völlig unerheblich, und so hatten sie keinerlei Verteidigung gegen Raubtiere. Sie zogen sogar dann in Schwärmen, wenn der Weg von einer Klippe ins Meer hinabführte… Was für eine Erkenntnis sucht ihr? Die Beutewesen werfen ihr Leben fort, aber sie vermehren sich nicht rascher als wir.«

»Das mag stimmen«, sagte Takpassih.

»Ihr versteht nicht, was ich damit sagen will«, fuhr der Berater fort. »Stimmt es nicht, daß die Natur Lebewesen so bildet, daß sie den Umständen angepaßt sind?«

Wir vergeuden unsere Zeit, dachte Pastempihkeph. Da er aber nicht sicher war, sagte er nichts. Ein Herr der Herde mußte leise trompeten, sollte ein bloßer Hinweis nicht als Befehl mißdeutet werden.

»Der LebensThaktan sagt uns das«, äußerte sich Fistartihthaktan bedächtig. »Der Thaktan des Langen Weges zeigt, wie aus alten Formen neue entstehen. Die Evolution geht gruppenweise vor, herdenweise; aber der reißende Fthaggl lebt allein und greift einzeln seine Beute an: Es sind gemeingefährliche Einzelgänger, einer wie der andere. Sie brauchen viel Platz, um nach Beute zu jagen, und kommen nur zur Paarung zusammen. Fithp ergeben sich in Herden oder nehmen es hin, daß sie als Unterlegene in die Herde der Sieger aufgenommen werden. Welche Lebensweise hat unsere Beutewesen geprägt? Sie ergeben sich nicht dem Stärkeren; vielleicht sterben sie, um Gene zu bewahren, die den ihren verwandt sind. Oder…«

»Nehmt doch einfach jagende fleischfressende Tiere«, sagte Takpassih plötzlich erregt. »Gibt es nicht viel zu fressen, zerstreuen sie sich. Geschwister leben möglicherweise Hunderte von Meilen entfernt voneinander. Gefährlichere Räuber kommen. Ob da ein Beutetier stirbt, um diese zu töten, weil die Eindringlinge sonst an die Genotypen herankämen?«

»Aber die Eingeborenen von Winterheim sind nicht Fleisch-, sondern Allesfresser«, erinnerte sie Rästapispmins. »Dennoch war der Himmel über Winterheim schwarz von Flugzeugen, bevor wir angriffen. Ich glaube, ihr seid auf der richtigen Fährte. Sie bleiben nicht in Familien zusammen. Wie reißende Fthaggl machen sich einzelne auf, um ihr eigenes Gebiet abzugrenzen. Etwas Gefährliches zu töten, ist gut für alle. Für überlebende Helden bedeutet das möglicherweise sogar Vorrechte bei der Paarung, wenn wir die richtigen Schlüsse aus unserer Betrachtung dessen gezogen haben, was sie ›Fernsehen‹ nennen. Vermutlich kennen sie keine bestimmte Paarungszeit. Sie bleiben nicht einmal beständig bei einem Gefährten oder einer Gefährtin!«

Der Herr der Herde erinnerte sie an die Ziele der Zusammenkunft. »Was bedeutet das für uns – immer vorausgesetzt, es stimmt?«

In die unbehagliche Stille hinein sagte Fathistihtalk: »Es führt uns die ungeheure Größe unserer Schwierigkeiten vor Augen. Wir sind es gewohnt, daß sich Herden ergeben, unsere Beute aber lebt nicht in Herden! Eine Familie kann über den halben Planeten verstreut sein!«

»Aber gewiß…«

Was auch immer der Herr des Angriffs zu sagen im Begriff stand, niemand würde es je hören. Seine Grifflinge zuckten zurück und legten sich auf seinen Schädel – die übliche Reaktion auf eine Bedrohung –, während er auf den muschelförmigen Telefonhörer unter seinem riesigen Ohr lauschte.

Keine gute Nachricht. Der Herr der Herde wartete. Wenn Gefahr für das Schiff bestand, würden er und der Herr der Verteidigung es sofort erfahren. Was konnte nur so wichtig sein, daß diese Zusammenkunft gestört wurde?

Er erfuhr es nur allzubald.

Der Herr des Angriffs nahm ein Mikrofon aus seinem Geschirr. »Flieht! Rettet, was wir retten können!« Er wandte sich wieder dem Mikrofon zu. »Herr der Herde, wir haben keinen Stützpunkt mehr in Kansas.«

»Wie kommt das?«

»Die Beute hat thermonukleare Bomben eingesetzt. Sie steigen unter den Grifflingsschiffen auf, die sich auf der Umlaufbahn um Winterheim befinden.«

»Aber man kann sie doch abfangen.«

»Selbstverständlich. Doch weitere Bomben fallen auf unseren Stützpunkt, und unsere Schiffe haben mehr als genug damit zu tun, diese abzublocken. Bomben steigen von beiden Landmassen und vom Meer auf.«

»Von beiden Landmassen?« Der Berater sah nachdenklich drein. »Seid ihr dessen sicher?«

»Sicher nicht, Berater. Sie streuen radioaktives Feuer auf ihre eigenen Erntegebiete! Herr der Herde, ich muß…«

»Gewiß.« Der Herr der Herde erhob sich und entließ seine Fithp an ihre Aufgaben. Lediglich den Berater behielt er zurück.

»Und jetzt?« fragte er. »Was haltet ihr davon?«

Fathistihtalk schlug nach unsichtbaren Fliegen. »Ich möchte mich nicht auf dem Gebiet der Umerzieher einmischen.«

»Dein Rat, wenn du nicht ersäuft werden willst!«

»Dawsons Fithp und die der Sowjets machen gemeinsame Sache, wenn sie müssen – das dürfen wir nicht vergessen. Führt Euren Krieg«, sagte er zum Herrn der Herde, der sich bereits abgewandt hatte.

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