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Es wäre doch äußerst interessant, dachte Rumata, diesen Waga einzufangen und auf die Erde zu schaffen. Technisch ist das keine Schwierigkeit. Man könnte das sofort durchführen. Was aber würde er auf der Erde anfangen? Rumata versuchte sich vorzustellen, was Waga auf der Erde tun würde. In ein helles Zimmer mit spiegelblanken Wänden und Klimaanlage, das nach Nadelwald oder Meer duftete, wirft man eine riesige zottige Spinne. Die Spinne preßt sich gegen den blitzenden Fußboden, bewegt ruckartig ihre bösen, fieberhaft verkrampften Augen hin und her und – was bleibt ihr über? – kriecht seitlich und immer seitlich in den allerletzten Winkel, krümmt sich zusammen und stellt drohend ihre giftigen Kiefer zur Schau. Vor allem würde Waga natürlich nach Unzufriedenen, sozialen Außenseitern suchen. Und ebenso selbstverständlich würde sich der allerdümmste Unzufriedene der Erde als viel zu rein und ungeeignet für seine Zwecke erweisen. Der Alte würde regelrecht verfallen. Vielleicht sogar auch umkommen. Aber – wer kennt ihn denn schon? Denn das ist ja das Heikle an der Sache, die Psyche dieser Monstren gleicht einem dunklen Wald. Heiliger Micky! Sich darin zurechtzufinden ist schwieriger als bei den nonhumanoiden Zivilisationen. Alle ihre Handlungen kann man erklären, es ist aber höllisch schwer, ihre Handlungen zu prognostizieren. Ja, möglicherweise würde Waga auch aus Gram sterben. Vielleicht aber würde er sich umsehen, sich irgendwie anpassen, rasch begreifen, was wohin gehört, und würde in irgendeinen Naturpark als Waldgeist gehen. Es ist doch unmöglich, daß er nicht irgendeine kleine unbedeutende Leidenschaft haben sollte, die ihm hier nur hinderlich ist, die dort aber zum Kern seines Lebens werden könnte. Mir scheint, er liebt Katzen. Im Schluckaufwald, sagt man, hat er eine ganze Herde, und ein eigener Mann betreut sie dort. Und er bezahlt den Mann sogar dafür, obwohl er ein alter Geizkragen ist und ihn einfach mit Drohungen hinhalten könnte. Aber was er auf der Erde mit seiner ungeheuerlichen Machtgier anfangen würde, ist mir unverständlich!

Rumata hielt vor einer Taverne an und wollte eben hineingehen, als er bemerkte, daß ihm einer seiner Geldbeutel fehlte. Völlig verwirrt stand er vor dem Eingang – er konnte sich nicht um die Welt an solche Dinge gewöhnen, obwohl ihm das nicht zum erstenmal passierte – und kramte lange in allen seinen Taschen. Im ganzen hatte er drei Säckchen gehabt, zehn Goldstücke in jedem. Eins hatte er dem Prokurator, Vater Kin, gegeben, das zweite Waga. Das dritte war verschwunden. Seine Taschen waren leer. Vom linken Hosenbein hatte man ihm alle goldenen Spangen sorgfältig abgeschnitten, und vom Gürtel war der Dolch verschwunden. Da bemerkte er, daß in einiger Entfernung zwei Sturmowiki stehengeblieben waren, ihn anstarrten und höhnisch grinsten. Dem Mitarbeiter des Instituts für Experimentalgeschichte konnten sie den Buckel herunterrutschen, der edle Don Rumata jedoch wurde grün und blau vor Wut. Eine Sekunde lang verlor er die Kontrolle über sich. Er ging auf die beiden Grauen zu, seine Hand hob sich wie von selber drohend empor und ballte sich zur Faust. Offenbar waren in seinem Gesicht schreckliche Veränderungen vor sich gegangen, denn die Spötter durchlief ein eisiges Schauern, ihre Augen blieben wie bei Paralytikern mitten im Lächeln stecken, und sie flüchteten in die Taverne. Rumata erschrak. Ihm war plötzlich so elend zumute wie nur einmal zuvor, als er – damals noch als Reservekosmonaut – die ersten Anzeichen von Malaria spürte. Man konnte sich nicht erklären, woher die Krankheit plötzlich kam, und schon nach zwei Stunden hatte man ihn mit ein paar Witzen und Anekdoten geheilt. Er hatte aber niemals die Erschütterung vergessen, die er damals – als gesunder Mensch, der nie zuvor krank gewesen war – bei dem Gedanken empfunden hatte, daß sich in ihm etwas zersetzte, daß er nach und nach weniger werde und gleichsam die Herrschaft über seinen Körper zu verlieren drohe. Ich wollte es ja gar nicht, dachte er jetzt. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen. Sie haben ja auch gar nichts Besonderes getan … Sie sind dort gestanden, sie haben ein wenig die Zähne gefletscht, gegrinst … ziemlich blöde gegrinst, zugegeben, aber ich muß auch ziemlich idiotisch ausgesehen haben, als ich ganz bestürzt in meinen Taschen kramte. Und ich hätte sie doch beinahe in Stücke gehauen, wurde ihm plötzlich klar. Wenn sie sich nicht davongemacht hätten, hätte ich sie erschlagen! Er dachte daran, daß er erst unlängst bei einer Wette eine Modellpuppe, die in einem doppelten soanischen Panzer steckte, von oben bis unten mit seinem Schwert gespalten hatte, und es lief ihm kalt über den Rücken … Jetzt würden sie sich hier in ihrem Blut wälzen, wie abgestochene Schweine, und ich würde mit dem Schwert in der Hand dastehen und nicht wissen, was tun … Das nenne ich einen Gott! Ein Tier bist du geworden … – Er fühlte plötzlich, daß ihn alle Muskel schmerzten wie nach einer schweren körperlichen Arbeit. Nun, nun, sagte er für sich. Es war ja nichts Schreckliches. Alles schon vorbei. Nur ein kurzes Aufblitzen. Wie ein Blitz, und alles vorbei. Ich bin ja trotz allem ein Mensch, und so ist mir auch das Tierische nicht ganz fremd … Das sind nur die Nerven. Die Nerven und die Anspannung der letzten Tage … Das Schlimmste aber, das ist das Gefühl des herankriechenden Schattens. Man weiß nicht, wem er gehört und woher er kommt, doch er kriecht und kriecht unaufhaltsam immer näher …

Diese Unabwendbarkeit war in allem zu spüren. Darin, daß die Sturmowiki, die sich noch bis vor kurzem recht feige in den Kasernen herumgedrückt hatten, nun mit nacktem Beil ganz frech in der Mitte der Straße stolzierten, wo früher nur die edlen Dons gingen. Und darin, daß aus der Stadt die Straßensänger verschwunden waren, die Erzähler, die Tänzer, die Akrobaten. Und darin, daß die Bürger keine Lieder mit politischem Inhalt mehr sangen, sehr ernst wurden und auf einmal ganz genau wußten, was dem Staat zum Wohle gereiche. Und darin, daß ganz plötzlich und ohne Erklärung der Hafen geschlossen wurde. Und darin, daß »vom aufgebrachten Volk« alle Raritätenläden zertrümmert und verbrannt wurden, der einzige Platz im Königreich, wo man Bücher und Handschriften kaufen oder eine Zeitlang entlehnen konnte, Bücher und Handschriften in allen Sprachen des Reiches und auch in den alten, schon ausgestorbenen Sprachen der Eingeborenen jenseits der Bucht. Und darin, daß das Wahrzeichen der Stadt, der blitzende Turm des astrologischen Observatoriums nun als schwarzer fauler Zahn vor dem blauen Himmel aufragte: er war durch einen »unachtsamen Brand« eingeäschert worden. Und darin, daß der Konsum von Alkohol in den letzten zwei Jahren auf das Vierfache angestiegen war – und das in Arkanar, das von alters her für seine ungebändigte Trinklust berüchtigt war. Und darin, daß die ewig geprügelten, verschreckten Bauern sich nun endgültig in den Kellern ihrer Drecksnester einwühlten und sich nicht einmal entschließen konnten, sie zu verlassen, um die notwendigsten Feldarbeiten zu verrichten. Und schließlich darin, daß der alte Aasgeier Waga Koleso sein Hauptquartier in die Stadt verlegte – offenbar witterte er dort große Beute …

Irgendwo im Innern des Palastes, in den luxuriösen Appartements, wo der von Gicht geplagte König residierte, der aus Furcht vor allem auf der Welt nun schon zwanzig Jahre lang nicht mehr das Licht der Sonne gesehen hatte, der Sohn seines eigenen Großvaters, der schwachsinnig kichernd einen unheimlichen Erlaß nach dem andern unterschrieb, worauf die ehrbarsten und uneigennützigsten Menschen eines grausamen Todes sterben mußten … Dort irgendwo reifte ein ungeheuerlicher Eiterherd heran, dessen Zerplatzen heute oder morgen zu erwarten war …

Rumata stolperte über eine zerquetschte Melone und hob den Kopf. Er war auf der Straße der Übergroßen Dankbarkeit, der Domäne der besseren Kaufleute, der Geldwechsler und Juweliere. Links und rechts standen solide alte Häuser, die Gehsteige waren hier breit und die Fahrbahn mit Granitsteinen gepflastert. Gewöhnlich konnte man hier die edlen Dons treffen und den Geldadel der Stadt, jetzt aber wälzte sich Rumata eine dichtgedrängte Menge einfachen Volkes entgegen. Um Rumata machten sie einen vorsichtigen Bogen, manche starrten ihn neugierig an, viele verbeugten sich für alle Fälle vor ihm. Aus den Fenstern der oberen Stockwerke ragten dicke Gesichter wie kleine Leuchttürme heraus, in ihnen war aufgeregt starre Neugierde zu lesen. Irgendwo weiter vorn schrie man gebieterisch: »He da, weitergehen …! Auseinander …! Also, macht schon! Rasch, rasch!« Aus der Menge hörte man Stimmen: »Denen sitzt das Böse im Rücken, vor denen mußt du dich am meisten hüten. Auf den ersten Blick sind das ruhige, hochmoralische, ehrenwerte Menschen. Ein Kaufmann wie jeder andere. Aber schau nur ein wenig genauer hin – in ihrem Innern ist bitteres Gift …«

»Dem haben sie’s aber gegeben, dem Teufel … Ich bin schon an allerhand gewöhnt, aber da tun einem ja die Augen weh …«

»Sollen ihnen nur unterzünden … Ah, Kinder! Das nenne ich herzerfrischend. Die lassen einen nicht im Stich.«

»Aber vielleicht, vielleicht war es doch zu grausam? Er ist ja trotzdem ein Mensch, ein Wesen aus Fleisch und Blut … Wenn einer sündigt, nun, so straft ihn, belehrt ihn, aber warum denn gleich so …?«

»Du da, hör mir auf damit! Und vor allem leiser, leiser, mein Freund: Erstens bist du nicht allein hier, man hört dir zu …«

»Herr, aber Herr! Der Stoff ist gut, sage ich Ihnen, greifen Sie zu, bevor er teurer wird … Greifen Sie nur rasch zu, bevor die Agenten Pakins wieder alles zusammenraffen …«

»Vor allem, mein Sohn, zweifle nicht! Glaube nur, das ist das allerwichtigste. Wenn einmal die Behörden eingreifen, so heißt das, sie wissen schon, was sie tun …«

Schon wieder hat man jemanden mißhandelt, dachte Rumata. Er wäre am liebsten umgekehrt, hätte einen weiten Bogen gemacht um diese Stelle, von der die Menge herströmte und wo man »Weitergehen!« und »Auseinander!« rief. Aber er kehrte nicht um. Er fuhr nur mit einer Hand über sein Haar, damit nicht eine herabfallende Strähne den Stein in seinem goldenen Stirnreif bedecke. Der Stein war aber kein Stein, sondern das Objektiv einer Fernsehkamera, und der Reif war kein Reif, sondern ein Sender. Die Historiker auf der Erde sahen und hörten alles, was die zweihundertfünfzig Kundschafter auf den neun Kontinenten dieses Planeten sahen und hörten. Und deshalb waren die Kundschafter verpflichtet, zu schauen und zu horchen.

Das Kinn vorgeschoben und die Schwerter zur Seite gespreizt, um möglichst viel Volk zu verdrängen, ging er geradewegs auf die Straßenmitte zu. In die Gaffer kam Leben, sie gaben ihm eilig den Weg frei. Vier breitmäulige Träger mit angemalten Lippen trugen eine silberglänzende Sänfte vorbei. Hinter den Vorhängen schaute ein schönes, kaltes Frauengesicht mit halbgeöffneten Lidern hervor. Rumata riß den Hut herunter und verbeugte sich. Es war Dona Okana, die derzeitige Favoritin des Lichten Adlers, Don Rebas. Als sie den hochedlen Kavalier erblickte, lächelte sie ihm bedeutungsvoll und schmachtend zu. Auf Anhieb hätte man zwei Dutzend edle Dons aufzählen können, die viel darum gegeben hätten, mit einem solchen Lächeln von ihr bedacht zu werden. Ein solches Lächeln war heutzutage ein rares Stück und geradezu unbezahlbar. Rumata blieb stehen und begleitete mit seinen Blicken die Sänfte. Ich muß mich entschließen, dachte er. Ich muß mich jetzt endlich entschließen … Bei dem Gedanken, was ihn das kosten würde, lief es ihm kalt über den Rücken. Aber es mußte sein! Ich muß … Beschlossen ist beschlossen, dachte er, und außerdem bleibt mir ja nichts anders übrig, es gibt keinen andern Weg. Heute abend. Er kam an der Waffenhandlung vorbei, wo er vorher die Dolche ausprobiert und den Gedichten gelauscht hatte, und blieb stehen. So also ist das gewesen … Das heißt also, diesmal warst du an der Reihe, guter Vater Hauk …

Die Menge begann sich schon zu zerstreuen. Die Tür des Ladens war aus den Angeln gerissen, die Scheiben eingeschlagen. Im Eingang lehnte ein bulliger Sturmowik im Grauenhemd, die Füße gekreuzt. Ein zweiter Sturmowik hockte an der Mauer. Der Wind trieb ein paar zerfetzte beschriebene Blätter Papier über die Straße. Der bullige Sturmowik steckte einen Finger in den Mund, saugte eine Weile daran, zog ihn wieder heraus und betrachtete ihn aufmerksam. Der Finger blutete. Der Sturmowik fing den Blick Rumatas auf und sagte mit wohlgefälliger, heiserer Stimme: »Es beißt, das Biest … wie ein Iltis …«

Der zweite Sturmowik kicherte diensteifrig. So ein schütterer, bleicher Jüngling, unsicher noch und mit Pickeln um den Mund. Auf den ersten Blick war es klar: Ein Neuling, ein junges Scheusal, ein Wölfchen …

»Was war hier los?« fragte Rumata.

»Einen geheimen Bücherwurm hat man gehetzt«, sagte der junge Wolf nervös.

Der Bullige steckte wieder seinen Finger in den Mund, ohne seine Haltung zu ändern.

»Ha-a-altung!« kommandierte Rumata halblaut. Der Jungwolf sprang eilig auf und nahm seine Axt, wie es sich gehörte. Der Bullige überlegte eine Weile, setzte aber dann doch seine Füße nebeneinander und stand ziemlich gerade da. »Also, was für ein Bücherwurm?« erkundigte sich Rumata. »Keine Ahnung«, sagte der Welpe. »Auf Befehl des Vater Zupik …«

»Na und? Haben sie ihn gefaßt?«

»Ja, genau! Sie haben ihn gefaßt!«

»Gut so«, sagte Rumata.

Das war also wirklich gar nicht so übel. Es blieb noch Zeit. Nichts ist wertvoller als Zeit, dachte er. Eine Stunde kostet das Leben, ein Tag ist unbezahlbar.

»Und wo habt ihr ihn hingeschafft? In den Turm?«

»Hä?« fragte der Jungwolf völlig geistesabwesend. »Ich frage dich, ist er jetzt im Turm?«

Über das Pickelgesicht floß ein unsicheres Lächeln. Der Bullige kicherte gurgelnd. Rumata wandte sich rasch um. Dort, auf der andern Straßenseite, hing am Querbalken eines Haustors wie ein Lumpensack die Leiche Vater Hauks. Einige heruntergekommene kleine Kinder starrten ihn mit weitaufgerissenem Mund an. »Heutzutage kommt nicht jeder in den Turm«, ertönte hinter seinem Rücken die heisere Stimme des Bulligen. »Heutzutage geht das rasch bei uns. Schlinge ums Ohr – und ab mit ihm …« Der Jungwolf fing wieder zu kichern an. Rumata sah ihn aus blinden Augen an und ging dann langsam über die Straße. Das Gesicht des traurigen Poeten war schwarz und unkenntlich. Rumata senkte die Augen. Nur die Hände waren ihm vertraut, lange schwache Finger, mit Tinte bekleckst …

Heute geht man nicht aus dem Leben,

heut wird man aus dem Leben geführt.

Und wenn jemand wünscht,

daß es anders sei,

kraftlos und ungeschickt

fallen die schwachen Hände.

Sie wissen nicht, wo der Polyp sein Herz hat,

und ob der Polyp ein Herz hat …

Rumata wandte sich ab und ging davon. Guter schwacher Hauk … Der Polyp hat ein Herz. Und wir wissen, wo es ist. Und das ist das Allerschrecklichste, mein stiller, hoffnungsloser Freund. Wir kennen seinen Sitz, aber wir können es nicht zerhauen, ohne das Blut Tausender verängstigter, korrumpierter, blinder, kritikloser Menschen zu vergießen. Und es sind so viele, so hoffnungslos viele, so viele düstere, verzweifelte Menschen, verhärtet von dauernder Arbeit, ohne gerechten Lohn. Erniedrigte Menschen, die noch nicht fähig sind, sich über das Ideal von elenden Kupfergroschen zu erheben … Und man kann sie noch nicht lehren, vereinen, lenken und sie vor sich selber retten. Zu früh, viel zu früh, um ein Jahrhundert zu früh erhob sich in Arkanar das Graue Geschmeiß, es trifft auf keinen Widerstand. Und so bleibt nur eines: Die wenigen zu retten, die man noch retten kann. Budach, Tarra, Nanin und noch ein Dutzend andere oder zwei Dutzend vielleicht … Aber allein der Gedanke daran, daß Tausende andere, wenn auch vielleicht weniger begabte, so doch ehrliche und wirklich edle Menschen zum Untergang verurteilt waren, rief in Rumata ein Gefühl eisiger Kälte hervor und ein Gefühl seiner eigenen Niederträchtigkeit. Manchmal wurde dieses Gefühl so stark, daß sich sein Bewußtsein verfinsterte, und dann konnte Rumata buchstäblich bei hellichtem Tag die Rücken der Grauen Brut sehen, wie sie durch lilablitzende Gewehrschüsse erleuchtet waren; und das sonst immer so unansehnliche bleiche Gesicht Don Rebas, das nun von stinkenden Mücken über und über zerfressen war; und den Turm der Fröhlichkeit, der langsam in sich selbst zusammenstürzte … Ja, das wäre herrlich. Das wäre eine wirkliche Sache. Ein wirklich makroskopischer Eingriff. Aber dann … Ja, sie haben recht im Institut. Dann kommt das Unausbleibliche. Blutiges Chaos im ganzen Land. Die Nachtarmee des Waga Koleso kommt an die Oberfläche, zehntausend Meuchelmörder, die Ausgestoßenen aller Kirchen, Schandböcke, Sexualverbrecher und alle Arten schädlicher Elemente; die Horden der kupferhäutigen Barbaren ergießen sich von den Bergen herab und vernichten alles, vom Säugling bis zum Greis; unübersehbare Mengen von Bauern und Bürger, vor Schrecken blind, laufen in die Wälder, in die Berge, in die Wüste; und deine Mitstreiter – diese fröhlichen, tapferen Menschen! – schlitzen sich gegenseitig den Bauch auf im grausamen Kampf um die Macht und um dein Maschinengewehr, nach deinem unausweichlich gewaltsamen Tod … Und dieser dumme, plumpe Tod kommt aus einer Schale Wein von einem Freund oder von einem Armbrustpfeil hinter einem Vorhang hervor. Und dann das versteinerte Gesicht deines Nachfolgers, der von der Erde hierher gesandt wird und ein ausgestorbenes Land vorfindet, von Blut durchtränkt und von Bränden zerstört, in dem man alles, alles, alles wieder von vorn beginnen muß …

Als Rumata die Tür seines Hauses aufstieß und in den prächtigen, aber schon etwas baufälligen Vorraum eintrat, war sein Gesicht düster wie eine Wetterwolke. Muga, der bucklige, grauhaarige Diener, der schon vierzig Jahre lang Lakai war, krümmte sich bei seinem Anblick noch mehr zusammen und zog den Kopf zwischen die Schultern, als der wütende junge Herr Hut, Umhang und Handschuhe von sich riß, den Fes mit den Schwertern auf die Bank schleuderte und eilig in sein Zimmer hinaufging. Im Salon erwartete ihn der Knabe Uno.

»Befiehl das Mittagessen aufzutragen!« brüllte Rumata. »Ins Herrenzimmer!«

Der Knabe rührte sich nicht.

»Jemand wartet dort auf Sie«, meldete er mürrisch. »Wer?«

»Irgendeine junge Frau. Oder vielleicht eine Dona. Dem Benehmen nach eine junge Frau, liebenswürdig. Aber angezogen ist sie wie eine Edle, schön ist sie.«

Kyra, dachte Rumata erleichtert. Der Gedanke besänftigte ihn sofort. Oh, wie gut! Wie hat sie es geahnt, meine Kleine … Er blieb mit geschlossenen Augen stehen, um sich zu sammeln. »Verjagen, wie?« fragte der Knabe geschäftig. »Esel du«, sagte Rumata. »Ich werde gleich dich verjagen!… Wo ist sie denn?«

»Im Herrenzimmer halt«, sagte der Knabe und lächelte ungeschickt. Rumata ging rasch zum Herrenzimmer.

»Laß ein Mittagmahl für zwei auftragen«, sagte er im Gehen. »Und sieh dich vor: Niemand wird eingelassen! Nicht einmal der König – oder der Teufel – oder Don Reba selbst …«

Sie war wirklich im Herrenzimmer. Sie saß in einem großen Fauteuil, die Beine seitlich untergeschlagen, den Kopf auf ihre kleine Faust gestützt, und blätterte zerstreut im Traktat über Gerüchte. Als Rumata eintrat, wollte sie sich rasch erheben. Er ließ ihr aber keine Zeit dazu, eilte zu ihr, umarmte sie, fuhr mit der Nase in ihr dichtes, duftendes Haar und sagte leise: »Zur rechten Zeit, Kyra!… Wie gut!…«

Es war eigentlich nichts Außergewöhnliches an Kyra. Ein Mädchen wie viele, achtzehn Jahre, Stupsnase. Der Vater Hilfsschreiber bei Gericht, der Bruder Sergeant der Grauen Rotte. Umworben wurde sie nicht viel, denn sie war rotblond, und Rote waren in Arkanar nicht sehr gefragt. Eben darum aber war sie auch erstaunlich still und schüchtern, sie hatte nichts gemein mit jenen lauten, üppigen Frauen, die man in allen Schichten so sehr schätzte. Auch hatte sie nichts gemein mit jenen schmachtenden Hofdamen, die viel zu früh, dann aber gleich fürs ganze Leben erfuhren, worin der Sinn des weiblichen Lebens bestehe. Lieben aber konnte sie, – wie man nur auf der Erde liebt – still und ohne Vorbehalte … »Warum hast du geweint?«

»Warum mußtest du dich ärgern?«

»Nein, sag du, warum hast du geweint?«

»Ich werde dir dann erzählen. Deine Augen sind ganz müde … Was ist denn geschehen?«

»Später. Wer hat dich beleidigt?«

»Niemand hat mich beleidigt. Führ mich weg von hier! Bitte!«

»Ich verspreche es dir.«

»Wann fahren wir?«

»Ich weiß nicht, mein Kleines. Aber wir fahren sicher weg.«

»Weit weg?«

»Sehr weit.«

»In die Hauptstadt?«

»Ja … In die Hauptstadt. Zu mir.«

»Ist es dort schön?«

»Dort ist es wunderschön. Dort weint nie ein Mensch.«

»Das gibt es nicht.«

»Ja, natürlich. Das gibt es nicht. Aber du wirst dort nie weinen.«

»Und wie sind die Menschen dort?«

»Wie ich.«

»Alle?«

»Nicht alle. Es gibt auch noch viel bessere.«

»Das kann nicht sein!«

»Du wirst schon sehen!«

»Warum kann man dir so leicht glauben? Mein Vater glaubt überhaupt niemandem. Mein Bruder sagt, daß alle Menschen Schweine sind, nur sind die einen schmutzig und die andern nicht. Doch ihnen glaube ich nicht, dir aber glaube ich immer …«

»Ich liebe dich …«

»Warte … Rumata … Nimm den Reif ab … du sagtest, das sei Sünde …«

Rumatas Gesicht überzog ein glückliches Lächeln. Er streifte den Reif von seinem Kopf, legte ihn auf den Tisch und bedeckte ihn mit einem Buch.

»Das ist das Auge des Gottes«, sagte er. »Es kann sich jetzt ruhig schließen …«

Er nahm sie in die Arme.

»Es ist sogar sehr sündhaft. Aber wenn ich mit dir bin, brauche ich keinen Gott, nicht wahr?«

»Ja«, sagte sie leise.

Als sie sich zu Tisch setzten, war der Braten kalt, der Wein aus dem Kühlkeller aber warm geworden. Der Knabe Uno kam herein und ging, unhörbar, wie es ihn der alte Muga gelehrt hatte, die Wand entlang, um die Kerzen in den Leuchtern anzuzünden, obwohl es noch hell war.

»Ist das dein Sklave?« fragte Kyra.

»Nein, er ist frei. Ein prächtiger Junge, nur sehr, sehr geizig.«

»Gold liebt seine Ordnung«, sagte Uno, ohne sich umzuwenden. »Und so hast du wohl auch noch keine neuen Leintücher gekauft?« fragte Rumata.

»Wozu?« sagte der Knabe. »Die alten taugen noch lange …«

»Hör mal, Uno«, sagte Rumata. »Ich kann nicht den ganzen Monat lang auf ein und demselben Leintuch schlafen.«

»A-ha!« sagte der Knabe. »Seine Königliche Hoheit schlafen ein halbes Jahr darauf und beschweren sich nicht …«

»Na und das Öl?« sagte Rumata und zwinkerte Kyra zu. »Das Öl in den Leuchtern? Hast du das vielleicht gratis bekommen?« Uno hielt ein.

»Aber Sie haben doch einen Gast«, sagte er endlich mit fest entschlossener Stimme. »Siehst du, wie er ist!« sagte Rumata.

»Er ist ein guter Kerl«, sagte Kyra ernst. »Er hat dich gern. Nehmen wir ihn doch mit.«

»Wir werden sehen«, sagte Rumata.

Der Knabe runzelte argwöhnisch die Stirn und sagte: »Wohin soll das gehen? Ich fahr nicht weg von hier.«

»Wir gehen dorthin, wo alle Menschen so sind wie Rumata.« Der Knabe überlegte kurz und sagte dann verächtlich: »Ins Paradies, wie, für die Edlen …?«

Dann prustete er wie ein nasses Pferd und machte sich schlurfend auf seinen zerschlissenen Pantoffeln aus dem Herrenzimmer davon. Kyra schaute ihm nach.

»Ein prächtiger Junge«, sagte sie. »Mürrisch wie ein kleiner Bär. Aber ein guter Freund für dich.«

»Alle meine Freunde sind gute Menschen.«

»Und Baron Pampa?«

»Woher kennst du ihn?« wunderte sich Rumata. »Du erzählst doch von niemand anderem. Ich höre von dir immer nur: Baron Pampa, Baron Pampa.«

»Baron Pampa ist ein wertvoller Genosse.«

»Was soll denn das: Der Baron – ein Genosse

»Ich wollte sagen, ein guter Mensch. Sehr gutmütig und fröhlich. Und er liebt seine Frau über alles.«

»Ich möchte ihn kennenlernen … Oder hast du Bedenken wegen mir?«

»N-n-ein. Ich hab keine Bedenken. Aber wenn er auch ein guter Mensch ist, so bleibt er doch ein Baron.«

»Aber …«, sagte sie. Rumata schob den Teller von sich.

»Jetzt sag mir, warum du geweint hast. Und warum du allein hergelaufen bist. Oder läuft man in solchen Zeiten allein auf der Straße herum?«

»Ich konnte es nicht mehr ertragen zu Hause. Ich gehe auch nicht mehr zurück. Wenn du willst, werde ich bei dir als Dienstmädchen arbeiten. Umsonst.«

Rumata fühlte beim Lächeln deutlich einen Klumpen in der Kehle. »Der Vater schreibt jeden Tag Denunziationen um«, fuhr sie mit leiser Verzweiflung in der Stimme fort, »und die Papiere, von denen er abschreibt, sind voll Blut. Man gibt sie ihm im Turm der Fröhlichkeit. Ach, warum hast du mich bloß lesen gelehrt?! Jeden Abend, jeden Abend … Er schreibt die Aufzeichnungen von den Verhören um – und trinkt … So schrecklich, so schrecklich …! Schau her, sagt er, Kyra. Unser Nachbar, der Kalligraph, lehrte die Leute lesen und schreiben. Was glaubst du, wer er in Wirklichkeit ist? In der Folterkammer gestand er: ein Zauberer und irukanischer Spion. – Und wem, sagt er, wem soll man jetzt glauben? Ich, sagt er, ich hab doch selber bei ihm schreiben gelernt. Und der Bruder kommt von der Patrouille – mit einem Bierrausch, an seinen Händen eingetrocknetes Blut … Alle, sagt er, alle rotten wir aus, bis in die zwölfte Generation … Den Vater belästigt er in einem fort und fragt ihn, warum er lesen und schreiben kann … Zusammen mit Freunden, wie er sagt, zerrte er heute einen Mann ins Haus … Geschlagen haben sie ihn, daß sie alle mit Blut bespritzt waren. Er hat dann zu schreien aufgehört. – Ich kann so nicht mehr weiter, ich gehe nicht mehr zurück, lieber schlag mich tot …« Rumata stand neben ihr, und seine Hand glitt leicht über ihr Haar. Ihre glänzenden trockenen Augen waren auf einen Punkt gerichtet. Was konnte er ihr sagen? Er nahm sie in die Arme, trug sie auf den Diwan, setzte sich neben sie und begann zu erzählen. Er erzählte von kristallenen Tempeln, von heiteren Gärten, die sich über viele Meilen dahinzogen – dort gab es keinen Unrat, Mückenschwärme oder Schmutz. Er erzählte vom Tisch, der sich selber deckt, und vom fliegenden Teppich, von der bezaubernden Stadt Leningrad, von seinen Freunden – stolzen, frohen und guten Menschen, und von einem wundervollen Land hinter den Meeren, hinter den sieben Bergen, das man »Erde« nennt … Sie hörte ruhig und aufmerksam zu und drückte sich nur enger an ihn, als unter den Fenstern auf der Straße – grrrumm, grrrumm, grrrumm – der harte Klang von beschlagenen Stiefeln erschallte. Kyra besaß einen ganz wundervollen Charakterzug. Sie glaubte bedingungslos an das Gute. Erzählte er dieselbe Geschichte einem leibeigenen Bauern, würde der ein ungläubiges, dummes Gesicht schneiden, sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase wischen und ihn, ohne ein Wort zu sagen, wie ein seltenes Fabeltier anstarren. Ihn, den guten, gescheiten, edlen Don, den bloß – welch ein Unglück! – der Verstand ein wenig im Stich gelassen hatte. Erzähle einer so etwas Don Tameo oder Don Sera – sie würden gar nicht bis zu Ende zuhören: Der eine schliefe unfehlbar ein, und der andere sagte rülpsend: »Das ist ja alles sehr ehrenwert … Aber wie ist es dort mit den Weibern?« Don Reba aber würde bis zum Schluß aufmerksam lauschen und dann seinen Bluthunden, den Sturmowiki, einen leisen Wink geben, sie sollten dem edlen Don die Ellbogen bis zu den Schulterblättern verdrehen und ganz genau herausbekommen, woher der edle Don solche Märchen erfahren und wem er sie schon weitererzählt habe …

Als Kyra eingeschlafen war und sich ein wenig beruhigt hatte, küßte er sie sacht auf das friedlich schlummernde Gesicht, deckte sie mit einem Pelzmantel zu, verließ das Zimmer auf Zehenspitzen und verschloß leise hinter sich die widerlich knarrende Tür. Er ging durch das dunkle Haus ins Dienstbotenzimmer hinunter, blickte über die zum Gruß gebeugten Köpfe und sagte: »Ich habe mir eine Wirtschafterin genommen. Ihr Name ist Kyra. Wohnen wird sie oben, bei mir. Das Zimmer neben dem Herrenzimmer wird morgen sorgfältig aufgeräumt. Der Wirtschafterin ist zu gehorchen wie mir!« Er streifte die Bediensteten mit einem raschen Blick, ob nicht etwa einer grinse. Keiner verzog eine Miene, sie hörten ihm mit der gebührenden Ehrerbietigkeit zu. »Und wenn es jemandem einfallen sollte, hinter meinem Rücken zu tuscheln, so reiße ich ihm die Zunge heraus!«

Nachdem er ausgeredet hatte, blieb er noch eine Weile stehen, um seine Worte auf sie einwirken zu lassen, dann wandte er sich um und ging wieder hinauf in sein Zimmer. Die Wände des Salons waren über und über mit rostigen, alten Waffen behängt, und es standen da seltsame, von unzähligen Insekten bekleckste Möbel. Er ging zum Fenster, drückte seine Stirn an das dunkle, kalte Glas und schaute auf die Straße hinunter. Man schlug gerade zur ersten Wache. In den Fenstern gegenüber zündeten sie die Leuchten an und schlossen die Läden, um nicht die bösen Menschen und bösen Geister anzulocken. Es war ganz still, nur einmal brüllte mit schrecklicher Stimme ein Betrunkener laut auf – entweder bestahl man ihn, oder er torkelte gegen fremde Türen.

Am schrecklichsten waren diese Abende: elend, einsam und hoffnungslos. Wir hatten gedacht, daß es ein langwieriger Kampf werden würde, wild, aber siegreich, überlegte Rumata. Wir dachten, daß wir immer klare Vorstellungen von Gut und Böse, von Freund und Feind beibehalten würden. Und unsere Überlegungen waren im allgemeinen richtig, nur haben wir vieles nicht mit einberechnet. Zum Beispiel Abende wie diesen, obwohl wir doch genau wußten, daß sie kommen würden …

Unten hörte man Eisen klirren – sie schoben die Riegel vor und bereiteten sich zur Nacht. Die Köchin betete zum heiligen Micky, er möge ihr doch irgendeinen Mann schicken, nur ein bißchen Stolz und Verständnis für sie sollte er haben. Der alte Muga gähnte und beschrieb dabei mit dem Daumen kleine Kreise in der Luft. Die Diener tranken in der Küche ihr Abendbier und klatschten, was das Zeug hielt. Der Knabe Uno aber blitzte sie aus bösen Augen an und schalt sie wie ein Erwachsener: »Er wird euch schon noch die Zunge kratzen, ihr Stuten …«

Rumata trat vom Fenster zurück und begann im Salon auf und ab zu gehen. Das ist aussichtslos, dachte er. Keine Kraft der Welt reicht aus, um sie aus dem gewohnten Kreis ihrer Sorgen und festgefahrenen Vorstellungen herauszureißen. Man könnte ihnen alles geben. Man kann sie in die modernsten spektroakustischen Häuser übersiedeln und ihnen die Jonenprozedur beibringen – sie werden trotzdem am Abend in der Küche zusammenhocken, Karten spielen bis spät in die Nacht und über den Nachbarn losziehen, der seine Frau schlägt. Und es wird für sie keinen schöneren Zeitvertreib geben. Hier hat Don Kondor recht: Reba ist eine Laus, ein Nichts im Vergleich zu der erdrückenden Fülle von Traditionen, strengen Regeln, geheiligt durch die Jahrhunderte, altbewährt, unumstößlich und dem Dümmsten der Dummköpfe vertraut. Sie befreien von der Notwendigkeit, zu denken und sich für etwas zu interessieren. Don Reba aber kommt vielleicht nicht einmal in den Lehrstoff der Oberklassen: »Ein kleiner Abenteurer in der Epoche der Festigung des Absolutismus.«

Don Reba, Don Reba! Er ist nicht hochgewachsen, aber auch nicht klein, nicht zu dick, aber auch nicht ganz mager, er hat kein dichtes Haar, ist aber bei weitem nicht glatzköpfig. Seine Bewegungen sind nicht energisch, aber auch nicht langsam. Sein Gesicht vergißt man sofort wieder, tausend andere gleichen ihm aufs Haar. Er ist höflich, galant zu den Damen, sogar ein aufmerksamer Gesprächspartner, der allerdings keine Gedankenblitze beisteuert …

Vor drei Jahren tauchte er aus irgendeinem verschimmelten Keller der Hofkanzlei auf, ein kleiner, unscheinbarer Beamter … Damals war er noch unterwürfig und recht blaß im Gesicht, manchmal sogar ein wenig graublau. Kurz darauf wurde der damalige Erste Minister plötzlich verhaftet und hingerichtet, in den Folterkammern kamen hohe Beamte ums Leben, die vor Schreck den Verstand verloren und nicht einmal wußten, worum es ging. Und buchstäblich auf ihren Leichen wuchs ein riesiger fahler Pilz: dieses hartnäckige erbarmungslose Genie der Mittelmäßigkeit.

Er ist ein Niemand, und er kommt von nirgendwoher. Das ist nicht ein brillanter Kopf im Regime eines schwachen Herrschers, wie man sie aus der Geschichte kennt, auch kein schreckeneinflößender großer Mensch, der sein ganzes Leben der Konsolidierung des Landes im Namen der Autokratie widmet. Er ist nicht einmal ein gieriger Parasit, der außer Gold und Weibern nichts anderes im Sinn hat, der in seiner Machtgier blindlings nach links und rechts zuschlägt und herrscht, um zu töten. Insgeheim erzählt man sich sogar, daß er überhaupt nicht Don Reba sei, daß Don Reba ein ganz anderer Mensch ist, jener aber, weiß Gott, vielleicht ein Werwolf, sein eigener Doppelgänger oder irgendein Wechselbalg … Was immer er auch ausklügelte, alles ging schief. Er hetzte zwei einflußreiche Fürstenhäuser des Reichs gegeneinander auf, um sie zu schwächen und seinerseits einen Frontalangriff gegen die Barone führen zu können. Aber die beiden Häuser versöhnten sich, riefen beim Klang von Sektpokalen ewige Bruderschaft aus und raubten dem König ein schönes Stück Land, das seit Menschengedenken den Königen Totz von Arkanar gehört hatte. Er erklärte Irukan den Krieg, führte selber die Armee zur Grenze, ließ sie in den Sümpfen ersaufen oder verlor sie im Wald, überließ sie schließlich ihrem Schicksal und floh zurück nach Arkanar. Dank der Bemühungen Don Hugs – von denen er natürlich nicht die leiseste Ahnung hatte – gelang es ihm, dem Herzog von Irukan einen Frieden abzuringen, allerdings um den Preis zweier befestigter Grenzstädte. Dann wieder war der König gezwungen, seine ohnehin schon halbleere Staatskasse bis auf den Boden leerzukratzen, um mit den Bauernaufständen fertig zu werden, die das ganze Land erfaßt hatten. Für solche Streiche wäre jeder andere Minister im Turm der Fröhlichkeit an den Füßen aufgehängt worden, Don Reba aber gelang es immer, irgendwie an der Macht zu bleiben. Er verfügte, die Ministerien für Bildung und Moral aufzulassen, gründete das Sicherheitsministerium – »zum Schutze der Krone«, wie es hieß –, entfernte die einheimische Aristokratie und einige Gelehrte aus den Schlüsselstellen, stieß schließlich die gesamte Volkswirtschaft völlig um, schrieb einen Traktat über das Rindviehhafte Wesen der Landwirtschaft und organisierte vor einem Jahr eine »Leibgarde«, die Grauen Rotten. Hinter Hitler hat das Kapital gestanden, dachte Rumata, hinter Don Reba aber steht niemand, und es ist klar, daß ihn die Sturmowiki eines Tages totschlagen werden wie eine Fliege. – Aber er drehte und wendete sich weiter, beging eine Dummheit nach der andern, befreite sich wieder aus dem Netz, das ihn zu erdrücken drohte, betrog sich täglich selbst und war nur von dem einen wahnwitzigen Wunsch beherrscht: Alle Kultur zu vernichten. Wie Waga Koleso hatte er keine Vergangenheit. Vor zwei Jahren noch hatte jeder aristokratische Hofparasit mit Verachtung von ihm als einem »nichtswürdigen Gauner, der den König betrügt«, gesprochen. Dafür aber konnte man jetzt jeden beliebigen Edlen befragen, und jeder würde sich als Verwandter des Sicherheitsministers mütterlicherseits bezeichnen.

Jetzt scheint er gerade Budach zu benötigen. Und schon wieder eine Ungeschicklichkeit. Wieder eine grobe Finte. Budach ist ein Bücherwurm. Ins Loch mit Budach. Mit Geschrei und Aufwand, damit es alle wissen. Aber es gibt kein Geschrei und kein Aufsehen. Also braucht er Budach lebend? Wozu? Reba wird doch nicht so dumm und einfältig sein zu hoffen, daß er Budach zwingen könnte, für ihn zu arbeiten? Vielleicht ist er aber doch so dumm? Vielleicht ist Don Reba bloß ein dummer und erfolgreicher Intrigant, der selber nicht weiß, was er will, und der vor aller Augen mit pfiffigem Gesicht den Dummen mimt? Es ist zum Lachen, drei Jahre lang beobachte ich ihn schon und bin noch immer nicht klug aus ihm geworden. Übrigens, wenn er mich beobachtete, würde es ihm genauso gehen. Aber es ist ja alles möglich, das ist das Lustige daran. Die Basistheorie konkretisiert ja nur die grundsätzlichen Aspekte der psychologischen Zielgerichtetheit; in Wirklichkeit aber gibt es von diesen Aspekten so viele, wie Menschen auf der Erde leben, und an die Macht kommen kann ein x-beliebiger! Zum Beispiel ein Kerl, der sein ganzes Leben damit zubrachte, seinen Nachbarn eins auszuwischen: Er spuckte in fremde Suppentöpfe und warf zerstoßenes Glas in fremdes Heu. Man fegt ihn natürlich vom Thron, aber er findet inzwischen Zeit genug, seine Verachtung für die ganze Menschheit deutlich zum Ausdruck zu bringen, Schaden anzurichten, wo es nur möglich ist, und hat seine Freude daran. Und es kümmert ihn auch kein bißchen, daß in der Geschichte kein Hahn nach ihm krähen wird, und es berührt ihn ebensowenig, daß seine fernen Nachkommen sich den Kopf darüber zerbrechen werden, wie sein Gehaben in der weiterentwickelten Theorie der historischen Gesetzmäßigkeiten unterzubringen sei. Da fiel Rumata plötzlich Dona Okana ein. Also entschließ dich, dachte er. Fang gleich damit an. Wenn sich ein Gott entschließt, reinen Tisch zu machen, so soll er einmal nicht darauf achten, daß er saubere Finger habe … Bei dem Gedanken, was ihm bevorstand, fühlte er Übelkeit aufsteigen. Aber das war besser als töten. Lieber Dreck als Blut. Auf Zehenspitzen, um Kyra nicht zu wecken, ging er ins Herrenzimmer und kleidete sich um. Er wendete eine Zeitlang den Reif mit dem Sender in den Händen hin und her, legte ihn dann aber entschieden in die Tischlade. Dann steckte er sich eine weiße Feder hinters rechte Ohr, das Symbol leidenschaftlicher Liebe, gürtete die beiden Schwerter um und warf sich seinen besten Mantel über. Als er unten war und das Tor entriegelte, dachte er: Wenn Don Reba davon erfährt, ist es das Ende von Dona Okana. Aber zum Umkehren war es schon zu spät.

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