»It is not to be done. The seepage has rotted out the curtain. The mesh is decayed. Loosen the flesh from the machine, build no more bridges. Through what air will you fly to span the continents? Let the words fall any way at all - that they may hit love aslant. It will be a rare Visitation. They want to rescue too much, the flood has done its work«
William Carlos Williams Paterson
»Look and remember. Look upon this land, Far, far across the factories and the grass. Surely, there, surely, they will let you pass. Speak then and ask the forest and the loam. What do you hear? What does the land command? The earth is taken: this is notyour hörne.«
Karl Shapiro >Travelogue for Exiles<
1. Die Stadtbücherei von Derry, 1.15 Uhr
Nachdem Ben Hanscom seine Erzählung beendet hatte, wollten sie ihre Unterhaltung fortsetzen, aber Mike erklärte ihnen ruhig, es wäre vernünftiger, wenn sie jetzt schlafen gingen. Er selbst wirkte völlig erschöpft und physisch krank.
»Aber wir sind doch noch gar nicht fertig«, wandte Eddie ein. »Was ist mit dem Rest der Geschichte? Ich erinnere mich immer noch nicht...«
»Mike hat recht«, sagte Bill. »Alles andere w-w-wird uns auch noch einf-f-iallen, dessen bin ich m-mir jetzt ziemlich sicher. Wir haben uns heute abend an alles erinnert, was notwendig war.«
»Vielleicht an alles, was wir auf einmal verkraften können?« meinte Richie.
Mike nickte. »Wir sehen uns dann morgen.«
»Hier?« fragte Beverly.
Mike schüttelte langsam den Kopf. »Ich würde vorschlagen, daß wir uns auf der Kansas Street treffen, an der Stelle, wo Bill immer sein Fahrrad versteckte.«
»Und dann gehen wir in die Barrens...«, sagte Eddie und schauderte plötzlich.
Mike nickte wieder.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Alle sahen einander an. Dann stand Bill auf, und die anderen folgten seinem Beispiel.
»Ich möchte, daß ihr alle heute nacht sehr vorsichtig seid«, sagte Mike. »Es war hier; Es kann überall auftauchen, wohin ihr auch geht. Aber nach dem heutigen Abend habe ich doch schon ein besseres Gefühl.« Er sah Bill an. »Ich würde sagen, daß wir es immer noch schaffen könnten. Was meinst du, Bill?«
Bill nickte langsam. »Ja, ich g-glaube, wir könnten es sch-sch-schaffen.«
»Es wird sich dessen ebenfalls bewußt sein«, fuhr Mike fort. »Und Es wird alles in seiner Macht Stehende versuchen, um seine Gewinnchancen zu erhöhen.«
»Und was sollen wir tun, wenn Es auftaucht?« fragte Richie. »Uns die Nasen zuhalten, die Augen schließen, uns dreimal im Kreis drehen und an Gutes denken? ihm irgendeinen magischen Staub ins Gesicht blasen? Alte Elvis Presley-Lieder singen? Oder was sonst?«
Mike schüttelte den Kopf. »Wenn ich das sagen könnte, gäbe es überhaupt keine Probleme, stimmt's? Ich weiß nur, daß es auch noch jene andere Kraft gibt - zumindest gab es sie, als wir Kinder waren -, die wollte, daß wir am Leben bleiben und dieses Werk vollbringen. Vielleicht existiert diese Kraft immer noch.« Er zuckte müde die Achseln. »Ich dachte, daß zwei - vielleicht sogar drei - von euch zu unserem Treffen heute abend nicht mehr kommen würden - daß sie abgereist, spurlos verschwunden oder tot sein würden. Allein schon die Tatsache, daß ihr euch alle hier eingefunden habt, ließ mich neue Hoffnung schöpfen.«
Richie warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Viertel nach eins. Wie doch die Zeit vergeht, wenn man sich gut amüsiert, was, Haystack?«
»Piep-piep, Richie«, sagte Ben mit schwachem Lächeln.
»Gehen wir zusammen ins Town House zurück, Bev?« fragte Bill.
»Okay.« Sie zog ihren Mantel an. Die Bücherei wirkte jetzt sehr still und dunkel - direkt furchterregend. Auf einmal spürte Bill ganz gewaltig die physischen Anstrengungen und die psychischen Belastungen der letzten beiden Tage. Es war nicht nur Müdigkeit - die hätte ihn nicht beunruhigt; es war viel mehr: das Gefühl, daß er einem Nervenzusammenbruch ziemlich nahe war, weil ihn schon Wahnvorstellungen befielen, wie jene, beobachtet zu werden.
»Und was ist mit dir, Richie?«
Richie schüttelte den Kopf. »Ich werde Haystack und Eddie dadurch auszeichnen, daß sie mich nach Hause geleiten dürfen«, sagte er. »Einverstanden, Haystack?«
»Na klar«, sagte Ben. Er warf einen flüchtigen Blick zu Beverly hinüber, die dicht neben Bill stand, und ein fast vergessener Schmerz durchzuckte ihn. Eine neue Erinnerung stieg aus der Tiefe seines Unterbewußtseins empor, verschwamm jedoch wieder, bevor sie feste Konturen annehmen konnte.
»Und du, M-Mike?« fragte Bill. »Kommst du mit uns?«
Mike schüttelte den Kopf. »Ich muß noch...«
In diesem Moment stieß Beverly einen schrillen Schrei aus, der jäh die Stille der Bücherei zerriß, von der Kuppel zurückgeworfen wurde und gespenstisch im Gebäude widerhallte; und dieses Echo hörte sich an wie das Gelächter umherschwirrender Feen, die Todesnachrichten verkünden.
Bill wirbelte herum; Richie ließ sein Sportsakko fallen, das er gerade von der Stuhllehne genommen hatte; Eddie stieß eine leere Ginflasche vom Tisch, die mit lautem Klirren auf dem Boden zerschellte.
Beverly taumelte mit weit ausgestreckten Armen und schneeweißem Gesicht rückwärts. Ihre Augen traten fast aus den rot verfärbten Höhlen. »Meine Hände!« schrie sie. »Meine Hände!«
»Was...«, begann Bill, und dann sah er das Blut zwischen ihren zitternden Fingern. Er machte einen Schritt auf sie zu, und plötzlich fühlten seine eigenen Hände sich eigenartig warm an, und er verspürte einen leichten Schmerz, so als ob eine längst verheilte alte Wunde wieder weh tut.
Er hob die Hände und betrachtete sie. Die alten, in England nach Mikes Anruf wieder sichtbar gewordenen Narben waren aufgebrochen. Sie bluteten. Er warf einen Blick in die Runde und sah, daß Eddie Kaspbrak fassungslos auf seine Hände starrte. Auch sie bluteten. Und ebenso Mikes, Richies und Bens Hände.
»Uns bleibt jetzt überhaupt keine Wahl mehr, so ist es doch?« fragte Beverly weinend. Auch ihr Schluchzen hallte in der stillen leeren Bücherei wider - das Gebäude selbst schien zu weinen. Bill hatte den Eindruck, als würde er wahnsinnig werden, wenn er diese Laute noch lange hören mußte. »Gott steh uns bei - wir haben jetzt keine Wahl mehr.« Sie schniefte, und aus einem Nasenloch floß etwas Schleim heraus. Sie wischte ihn mit zittriger Hand ab, und dabei fielen einige Blutstropfen auf den Boden.
»Sch-Sch-Schnell!« rief Bill und griff nach Eddies Hand.
»Was...«
»Schnell!«
Er streckte seine andere Hand aus, und Beverly ergriff sie, immer noch weinend.
»Ja«, sagte Mike. Er war wie betäubt. »Ja, du hast recht. Es beginnt sich zu wiederholen, stimmt's, Bill?«
»Ja, ich g-g-glaube...«
Mike griff nach Eddies freier Hand, Richie nach Beverly s. Einen Moment lang stand Ben nur da und starrte sie an, dann trat er zwischen Mike und Richie. Er reichte ihnen die Hände, und der Kreis war geschlossen.
Bill wollte schreien, brachte aber keinen Laut hervor. Er sah, wie Eddie den Kopf in den Nacken warf, wie seine Halsmuskeln weit hervortraten. Bevs Hüften zuckten zweimal heftig, so als hätte sie einen Orgasmus. Mikes Mund bewegte sich in einer unheimlichen Mischung aus Lachen und Grimasse. Die Türen in der stillen Bücherei flogen plötzlich dröhnend auf. Im Lesezimmer flatterten die Zeitschriften in einem windlosen Wirbelsturm. In Carol Danners Büro begann die IBM-Schreibmaschine plötzlich wie verrückt draufloszutippen:
imßnsternföhrenwalddawohnteinwahrermeisterderfichtganz-
furchtloskaltsogarnochgegengeisterimfnsternföhrenwalddawohntein
Ein lautes Zischen ertönte, und die elektrische Maschine blieb abrupt stehen, weil sie hoffnungslos überladen war. Das Regal mit Büchern über Okkultismus kippte vornüber, und Edgar Cayce, Nostradamus, Charles Fort und die Apokryphen wurden in der ganzen Gegend verstreut.
Bill verspürte ein überwältigendes Machtgefühl. Er nahm unterbewußt wahr, daß er eine Erektion hatte und daß ihm alle Haare zu Berge standen. Die Kraft in dem vollendeten Kreis war einfach phänomenal.
Alle Türen in der Bücherei knallten gleichzeitig wieder zu. Die Großvateruhr hinter der Ausleihtheke schlug einmal und blieb dann stehen.
Sie ließen ihre Hände sinken und blickten einander ganz bestäubt an. Niemand sprach ein Wort. Das Gefühl von Kraft und Macht verebbte, und an seine Stelle trat bei Bill eine furchtbare Vorahnung. Er betrachtete die verzerrten weißen Gesichter der anderen, dann warf er einen Blick auf seine Hände. Sie waren mit Blut beschmiert, aber die Schnittwunden, die Stan Uris im August 1958 mit der Scherbe einer Colaflasche eingeritzt hatte, hatten sich wieder geschlossen, und nur noch die weißen Narben waren sichtbar. Er dachte: Das war damals das letzte Mal, daß wir sieben zusammen waren... als Stan uns in den Barrens die Handflächen ritzte. Stan ist nicht hier; Stan ist tot. Und dies ist nun das letzte Mal, daß wir sechs zusammen sind. Ich weiß es, ich fühle es. Jemand von uns wird heute nacht sterben. Mindestens einer; vielleicht auch mehrere.
Beverly lehnte sich zitternd an ihn, und er legte einen Arm um sie. Alle sahen ihn mit riesengroßen Augen an. Nur der lange Tisch, an dem sie gesessen hatten, und der mit leeren Flaschen, Gläsern und überquellenden Aschenbechern vollgestellt war, bildete eine kleine helle - tröstliche - Insel.
»Das r-reicht«, sagte Bill heiser. »Für einen einzigen Abend reicht's jetzt wirklich.«
»Ich habe mich erinnert«, sagte Beverly und schaute mit tränenbenetzten Wangen zu Bill auf. »Ich habe mich an alles erinnert... Mein Vater, der herausgefunden hatte, daß ich mit euch zusammen war... Wie ich vor ihm davongerannt bin... Bowers und Criss und Huggins... Und wie ich wieder gerannt bin... Und der Tunnel... die Vögel... Es... Ich habe mich an alles erinnert...«
»Ja«, sagte Richie, »ich auch.«
Eddie nickte. »Die Pumpstation...«
Bill fiel ein: »Und wie Eddie...«
»Geht jetzt nach Hause«, unterbrach sie Mike. »Ruht euch ein bißchen aus. Es ist schon spät.«
»Komm mit uns, Mike«, bat Beverly.
»Nein. Ich muß noch alles abschließen. Und außerdem muß ich noch ein paar Aufzeichnungen machen... über unser heutiges Treffen. Es wird aber nicht lange dauern. Geht ruhig schon vor.«
Immer noch halb betäubt, gingen sie zur Tür - Bill und Beverly nebeneinander, Eddie, Richie und Ben hinter ihnen. Alle waren sehr schweigsam. Bill hielt Beverly die Tür auf, und sie murmelte »Danke«. Als sie die breiten Granitstufen hinabging, dachte Bill, wie jung sie aussah, wie verletzlich ... und er wurde sich schockiert bewußt, daß er auf dem besten Wege war, sich neu in sie zu verlieben. Er versuchte an Audra zu denken, aber sie schien plötzlich sehr fern zu sein. Sie würde jetzt - in England war wohl gerade die Sonne aufgegangen, und der Milchmann fuhr seine Waren aus - in ihrem Haus in Fleet ruhig schlafen. Vermutlich allein, aber das war durchaus nicht sicher - und in Anbetracht der Tatsache seines eiligen, für sie unverständlichen Aufbruchs könnte er es ihr nicht einmal verübeln, wenn sie sich einen Partner gesucht hätte, um der plötzlichen Leere zu entfliehen.
Der Himmel hatte sich wieder bewölkt, und ein dichter Bodennebel lag in Schwaden über der dunklen, menschenleeren Straße. Ihre Schritte hallten laut durch die Stille. Beverly tastete nach Bills Hand, und er griff dankbar danach und verschränkte seine Finger mit den ihrigen.
»Es hat angefangen, bevor wir dazu bereit waren, stimmt's?« fragte sie.
»W-Wären wir je b-b-bereit gewesen?«
»Du schon, Big Bill.«
Es war wunderbar tröstlich, ihre Hand zu halten. Er ertappte sich bei dem Gedanken, wie es wohl wäre, zum zweitenmal in seinem Leben ihre Brüste zu berühren, und er vermutete, daß er es wissen würde, bevor diese lange, lange Nacht vorüber war. Sie würden jetzt üppiger sein, reif... und an gewissen anderen Stellen ihres Körpers würden seine liebkosenden Finger Haare ertasten. Ich habe dich geliebt, Beverly... ich liebe dich, dachte er. Ben hat dich geliebt... er liebt dich. Wir haben dich damals geliebt... und wir lieben dich auch heute. Alles wiederholt sich. Jetzt gibt es für uns keinen Ausweg mehr.
»Ich w-w-weiß nicht so r-recht«, ging er auf ihre letzte Bemerkung ein. »Im A-A-August hatte ich schon f-fast vergessen, wie G-G-G...«
»George?«
»Ja. Wie er ausgesehen h-h-hatte. Aber die Entscheidung wurde uns abgenommen.«
Er warf einen Blick zurück zur Bücherei, von der sie sich etwa einen Block weit entfernt hatten. Richie und Eddie standen immer noch auf der obersten Treppenstufe. Ben stand unten und schaute ihnen nach. Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, seine Schultern waren gebeugt, und diese Haltung hatte eine frappierende Ähnlichkeit mit dem zehnjährigen Jungen von einst. Wenn Gedanken übertragbar gewesen wären, hätte Bill ihm mitteilen mögen: Es spielt keine Rolle, Ben. Wir liebten Eev beide; und auch die anderen liebten sie. Was zählt, ist die Liebe, die Zärtlichkeit... nicht die Zeit. Und deine Zeit kommt noch.
»Mein Vater wußte Bescheid«, sagte sie plötzlich. »Eines Tages kam ich aus den Barrens nach Hause, und er wußte einfach Bescheid. Weißt du, was er zu sagen pflegte?«
»Was?«
»Ich mache mir Sorgen um dich, Bevvie. Ich mache mir große Sorgen. Ich mache mir schreckliche Sorgen.« Sie lachte, und dann schauderte sie zusammen. »Ich glaube, er wollte mich verletzen, Bill. Er hatte das zwar früher auch schon getan, aber irgendwie war es an jenem Tag anders. Er war... na ja, in vieler Hinsicht war er ein seltsamer Mensch. Ich liebte ihn, ich liebte ihn sehr, aber...«
Sie sah ihn an und hoffte, daß er es an ihrer Stelle aussprechen würde. Aber das tat er nicht; dies war etwas, das sie selbst über die Lippen bringen mußte, früher oder später. Lügen und Selbsttäuschungen waren ein Ballast, den sie sich jetzt nicht mehr leisten konnten.
»Aber ich haßte ihn auch«, sagte sie und grub ihre Nägel in seine Haut. »Ich habe das noch nie im Leben jemandem erzählt. Ich dachte, Gott würde mich auf der Stelle tot umfallen lassen, wenn ich es laut aussprechen würde.«
»Dann sag's jetzt noch einmal«, forderte Bill sie auf.
»Nein, ich...«
»Los! Auch wenn's weh tut - du hast es lang genug in dich hineingefressen, Bev. Sag's!«
»Ich habe meinen Vater gehaßt!« sagte sie und begann hilflos zu schluchzen. »Ich haßte ihn, ich hatte Angst vor ihm, ich haßte ihn... Ich konnte nie so brav und lieb sein, wie er mich haben wollte, und ich haßte ihn, o ja, aber ich liebte ihn auch, ich liebte ihn, und ich haßte ihn...«
Bill blieb stehen und hielt sie fest. Sie schlang wild ihre Arme um ihn wie eine Ertrinkende und weinte heftig an seiner Schulter. Die Nähe ihres Körpers erregte ihn, und er rückte ein wenig von ihr ab, weil er nicht wollte, daß sie seine Erektion spürte... aber sie schmiegte sich wieder fest an ihn.
»Wir hatten den Morgen in den Barrens verbracht«, schluchzte sie, »und Fangen gespielt oder so was Ähnliches. Irgendwas völlig Harmloses. Wir hatten an jenem Tag nicht einmal über Es gesprochen, zumindest noch nicht... normalerweise sind wir damals jeden Tag irgendwann auf Es zu sprechen gekommen, weißt du noch?«
»O ja«, sagte er, »ich erinnere mich daran.«
»Es war bewölkt... heiß. Wir hatten fast den ganzen Vormittag gespielt. So gegen halb zwölf bin ich dann nach Hause gegangen. Ich wollte duschen und ein bißchen was essen, ein Sandwich oder einen Teller Suppe. Und dann wollte ich wieder zum Spielen in die Barrens zurück. Meine Eltern arbeiteten beide. Aber er war zu Hause. Er war da, und er
2. Lower Main Street, 11.30 Uhr
schleuderte sie quer durchs Zimmer, bevor sie überhaupt wußte, wie ihr geschah. Sie stieß einen leisen Schrei aus, prallte mit einer Schulter gegen die Wand, und der Schmerz raubte ihr für Sekunden den Atem. Sie ließ sich auf das alte, durchgesessene Sofa fallen und sah sich verstört um. Die Tür zum Flur wurde laut zugeschlagen. Ihr Vater hatte hinter dieser Tür gestanden.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Bevvie«, sagte er. »Manchmal mache ich mir große Sorgen um dich. Schreckliche Sorgen. Das weißt du genau. Ich hab's dir oft genug gesagt, nicht wahr? Und du kannst dich drauf verlassen, daß es stimmt.«
»Daddy, was...«
Er durchquerte das Wohnzimmer, kam langsam auf sie zu; sein Gesicht wirkte besorgt, traurig und irgendwie furchterregend. Sie wollte nicht wahrhaben, daß es furchterregend war, aber es war nicht zu übersehen. Seine Augen waren viel zu strahlend, und er nagte nachdenklich an den Knöcheln seiner rechten Hand. Er trug seine graue Arbeitskleidung, und sie sah, daß seine Stiefel auf dem Teppich Schmutzspuren hinterließen. Ich werde den Staubsauger rausholen müssen, dachte sie verworren. Staubsaugen. Wenn ich nachher überhaupt noch dazu imstande bin. Wenn er mich nicht...
Es war Schlamm. Schwarzer Schlamm. In ihrem Gehirn ertönte ein Warnsignal. Unten in den Barrens gab es solchen zähen schwarzen Schlamm, wie er jetzt an Daddys Schuhen klebte. An jener sumpfigen Stelle, wo das Zeug, das Richie Bambus nannte, ein etwas unheimliches weißes skelettartiges Gehölz bildete. Und wenn Wind ging, schlugen die Gewächse mit hohlem Klang gegeneinander wie Voodoo-Trommeln. War ihr Vater etwa unten in den Barrens gewesen? Hatte ihr Vater...
Klatsch! Er hatte weit ausgeholt und ihr ins Gesicht geschlagen. Ihr Kopf prallte gegen die Wand. Er schob seine Daumen in den Gürtel und betrachtete sie mit jenem furchterregenden Ausdruck teilnahmsloser Neugierde. Sie spürte, wie warmes Blut ihr aus dem linken Winkel der Unterlippe das Kinn hinabrann.
»Ich habe dich heranwachsen sehen«, sagte er, und sie dachte, er würde weiterreden, aber er verstummte wieder.
»Daddy, wovon redest du?« fragte sie schließlich mit leiser, zitternder Stimme.
»Wenn du mich anlügst, schlag' ich dich halb tot, Bevvie«, sagte er, und sie registrierte entsetzt, daß er sie dabei nicht einmal ansah, sondern das Bild an der Wand über dem Sofa betrachtete. Und absurderweise drängte sich ihr plötzlich eine Szene auf: Sie war vier Jahre alt und saß in der Bade-
wanne, mit ihrer Kinderseife und ihrem blauen Plastikboot; ihr so großer, starker, über alles geliebter Vater kniete neben ihr, in einer alten grauen Hose und einem weißen Unterhemd; in einer Hand hatte er einen Waschlappen, mit dem er ihr den Rücken einseifte, in der anderen ein Glas Orangenlimonade, und er sagte: Laß mich mal deine Ohren sehen, Bevvie, deine Mutter braucht noch Kartoffeln fürs Abendessen. Und sie hörte das kleine Mädchen von damals kichern und selig zum vergötterten Daddy aufblik-ken.
»Ich... ich werd nicht lügen, Daddy«, sagte sie. »Was ist los?« Sie sah ihn jetzt nur noch verschwommen, weil sie Tränen in den Augen hatte.
»Warst du mit einer ganzen Horde Jungs unten in den Barrens?«
Ihr Herz machte einen Riesensatz, und sie starrte wieder auf seine schmutzverkrusteten Stiefel. Der klebrige schwarze Schlamm... Wenn man zu tief hineintrat, saugte er einem den Schuh vom Fuß... und sowohl Bill als auch Richie glaubten, wenn man ganz hineingeriete, würde er einen verschlingen.
»Ich spiele manchmal dort un...«
Klatsch! Seine harte, schwielige Hand landete wieder auf ihrer Wange. Sie schrie vor Schmerz und Furcht auf. Sein Gesichtsausdruck machte ihr Angst, und ebenso die Tatsache, daß er sie nicht ansah. Etwas stimmte nicht mit ihm. In letzter Zeit war es immer schlimmer geworden... und mit neuem Entsetzen wurde ihr klar, daß das so war, seit die Morde in Derry begonnen hatten... seit Es erwacht war. Was ist, wenn er mich umbringen will? Was ist, wenn
(oh, hör auf, Bevvie, er ist dein VATER, und VÄTER bringen ihre Töchter nicht um)
er auch nur die Kontrolle über sich verliert? Was ist, wenn...
»Was hast du diese Kerle mit dir machen lassen?«
»Machen? Was...« Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er meinte.
»Zieh deine Hose aus!«
Ihre Verwirrung wurde immer größer. Nichts, was er sagte, schien irgendeinen Zusammenhang zu haben. Ihr war schon ganz schwindlig von dem Versuch, ihm geistig zu folgen... sie fühlte sich regelrecht seekrank.
»Was... warum... ?«
Er hob die Hand, und sie zuckte angsterfüllt zusammen. »Zieh sie aus, Bevvie. Ich möchte nachschauen, ob du noch unberührt bist.«
Unberührt - was bedeutete das? Ein neues, völlig aberwitziges Bild drängte sich ihr auf: sie sah sich selbst ihre Jeans ausziehen, und dabei ging auch eines ihrer Beine ab. Ihr Vater prügelte sie durchs Zimmer, während sie versuchte, ihm auf einem Bein hüpfend auszuweichen, und er brüllte: Ich wußte doch, daß du nicht mehr unberührt bist! Ich wußte es! Ich wußte es!
Diesmal schlug er nicht mit der flachen Hand zu, sondern boxte sie mit der Faust in die Schulter. Sie schrie auf. Er zerrte sie hoch, und nun blickte er ihr zum erstenmal direkt in die Augen. Sie schrie wieder auf, als sie seine Augen sah. Da war... nichts. Ihr Vater war verschwunden. Und Beverly begriff plötzlich, daß sie mit ihm allein in der Wohnung war, daß Es an diesem diesigen Augustmorgen allein mit ihr hier war. Diesmal ging vom ihm nicht jene Macht und jenes unverhüllt Böse aus wie vor zwei
Wochen in dem Haus an der Neibolt Street - irgendwie wurde Es durch die ursprüngliche Menschlichkeit ihres Vaters abgeschwächt, aber Es war da, war durch ihren Vater am Werk.
Er schleuderte sie beiseite. Sie prallte gegen das Kaffeetischchen, stolperte und fiel mit einem Aufschrei zu Boden. So also passiert es, dachte sie. Ich muß es Bill erzählen, damit er es auch begreift. Es ist überall in Derry. Es... Es füllt einfach jedes Vakuum, das ist alles.
Sie drehte sich auf den Rücken. Ihr Vater kam auf sie zu. Sie rutschte auf dem Hosenboden weg. Ihre Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, in die Augen.
»Ich weiß, daß du dort unten gewesen bist«, sagte er. »Man hat es mir erzählt. Ich hab's nicht geglaubt. Ich konnte einfach nicht glauben, daß meine Bevvie sich mit einer Horde Jungs herumtreibt. Aber heute morgen habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Meine Bevvie treibt sich mit einer Horde Jungs herum. Und das mit zehn Jahren!« Dieser Gedanke versetzte ihn wieder in Rage; er zitterte vor Wut am ganzen Leibe. »Mit zehn Jahren!« brüllte er und versetzte ihr mit einem schmutzigen Stiefel einen Tritt in die Lende. Wieder schrie sie vor Schmerz laut auf. »Mit zehn! Mit zehn! Mit zehn!« brüllte er immer weiter.
Er trat wieder zu, aber diesmal konnte sie ausweichen. Sie waren inzwischen in der Küche angelangt, und sein Stiefel traf die Schublade unter dem Herd und brachte dort die Töpfe und Pfannen zum Klappern.
»Lauf nicht vor mir weg, Bevvie«, rief er. »Laß das lieber - es macht alles nur noch schlimmer, als es ohnehin schon ist. Glaub mir das. Glaub deinem Dad. Dies ist eine sehr ernste Sache. Sich im Alter von zehn Jahren mit Jungen herumzutreiben, sie Gott weiß was alles mit sich machen zu lassen - mit zehn! - das ist eine sehr ernste Sache!«
Er griff nach ihr und zerrte sie an den Schultern hoch.
»Du bist ein hübsches Mädchen«, sagte er. »Es gibt jede Menge Leute, die nur allzugern ein hübsches Mädchen ins Verderben stürzen wollen. Und es gibt eine Menge hübscher Mädchen, die sich bereitwillig dazu hergeben. Hast du diesen Kerlen als Dirne gedient, Bevvie?«
Jetzt endlich begriff sie. Sie begriff, welchen Gedanken Es ihm in den Kopf gesetzt hatte... im tiefsten Innern, halb verdrängt, glaubte sie allerdings, daß er solche Gedanken und Befürchtungen schon immer gehabt hatte, daß Es sich nur der bereits vorhandenen Werkzeuge bedient hatte, die sozusagen gebrauchsfertig bereitlagen.
»Nein, Daddy! Nein, Daddy, nein...«
»Ich habe gesehen, daß du geraucht hast!« brüllte er, und diesmal schlug er mit dem Handrücken so fest zu, daß sie sich ein paarmal um sich selbst drehte, bevor sie gegen den Küchentisch prallte und sich an dessen Chromkante die Wirbelsäule heftig anschlug. Salz- und Pfefferstreuer fielen vom Tisch. Der Pfefferstreuer zerbrach. Der Schmerz raubte ihr fast den Atem. Sie sah Sterne vor den Augen, und in ihren Ohren war ein dumpfes Sausen. Sie sah sein Gesicht. Etwas in seinem Gesicht. Er starrte auf ihre Brust. Sie bemerkte erst jetzt, daß ihre Bluse aus den Jeans gerutscht war und einige Knöpfe aufgegangen waren, und sie dachte auf einmal daran, daß sie keinen Bh trug... sie besaß noch gar keinen. Sie zog die Bluse über ihren Brüsten zusammen, und plötzlich hatte sie wieder jene Szene vor Augen, als Bill ihr im Haus an der Neibolt Street sein Hemd gegeben hatte. Sie war sich bewußt gewesen, daß ihre Brüste sich unter der dünnen Baumwolle abzeichneten, aber die verschämten Seitenblicke ihrer Freunde hatten sie nicht gestört; sie waren ihr völlig natürlich vorgekommen. Und seine Blicke hatten ihr sogar gefallen, hatten ihr das Herz erwärmt.
Schuldgefühle stiegen plötzlich in ihr auf, vermischten sich mit ihrer Angst. Hatte ihr Vater denn so ganz unrecht? Waren ihr nicht solche Gedanken gekommen? Schlechte Gedanken? Hatten diese Gedanken nicht etwas mit dem zu tun, was er ihr vorwarf?
DM hast das Erwachen eines Impulses gespürt - etwas, das Gott in dich hineingelegt hat. Das ist nicht dasselbe. Es ist keineswegs dasselbe wie die Art und Weise, in der er dich jetzt ansieht. Es ist nicht dasselbe, absolut nicht dasselbe.
Sie zog ihre Bluse noch fester über der Brust zusammen.
»Warum tust du das?« fragte er.
»Ich... ich weiß nicht«, antwortete sie. »Daddy, wir spielen doch nur. Sonst nichts. Wir spielen... wir... wir machen nichts... nichts Schlimmes. Wir...«
»Du hast geraucht, das habe ich mit eigenen Augen gesehen!« wiederholte er und kam erneut auf sie zu. Sein mageres Gesicht hatte sich mit Röte überzogen, als sie ihre Bluse raffte, aber seine Blicke schweiften immer noch unruhig über ihre Brust und ihre schmalen, unentwickelten Hüften. Plötzlich stimmte er mit einer hohen Schuljungenstimme, die ihr noch mehr Angst einjagte, folgende Litanei an: »Ein Mädchen, das Kaugummi kaut, wird auch rauchen... und ein Mädchen, das raucht, wird auch trinken... und ein Mädchen, das trinkt - na ja, jeder weiß, was ein solches Mädchen tun wird.«
»Ich habe überhaupt nichts getan!« schrie sie, als seine Hände sich wieder auf ihre Schultern legten, diesmal nicht mit schmerzhaft festem Griff, sondern ganz sanft, was irgendwie noch schlimmer, noch beunruhigender war.
»Beverly«, sagte er mit der aberwitzigen Logik des von einer fixen Idee total Besessenen, der mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen ist: »Ich habe dich in Gesellschaft von Jungen gesehen. Kannst du mir vielleicht sagen, was ein Mädchen da unten im Dickicht mit Jungen treibt, wenn es nicht das ist?«
»Laß mich in Ruhe!« schrie sie ihn an. Aus einem tiefen Brunnen in ihrem Innern, von dessen Existenz sie nicht einmal etwas geahnt hatte, stieg Zorn in ihr hoch und schoß mit einer lodernden bläulichgelben Flamme in ihren Kopf empor, wie die Flamme aus einem Ölbohrloch. Sie dachte an die vielen Male, da er ihr weh getan, da sie sich vor ihm gefürchtet hatte, und das verlieh ihrem Zorn zusätzlichen Auftrieb. »Ich will, daß du mich endlich in Ruhe läßt!«
»Sprich nicht so mit deinem Vater!« rief er, aber es hörte sich ein bißchen verunsichert und verwirrt an.
»Ich habe nicht getan, was du behauptest! Das habe ich nie getan!«
»Vielleicht stimmt das, vielleicht aber auch nicht. Ich werde mich selbst davon überzeugen. Ich weiß, wie man das macht. Zieh jetzt deine Hose aus.«
»Nein.«
Er riß die Augen weit auf. »Was? Was hast du gesagt?«
»Ich habe nein gesagt.« Er blickte ihr in die Augen, und vielleicht sah er den flammenden Zorn darin, den plötzlichen Ausbruch von Haß und Rebellion. »Wer hat es dir erzählt?«
»Bevvie...«
»Wer hat dir erzählt, daß wir da unten spielen? War es ein Fremder? War es ein Clown? War es ein Mann in orangefarbener Kleidung? Hat er Handschuhe getragen? Wer hat dich in die Barrens geschickt?«
»Bevvie, wirst du wohl sofort aufhören...«
»Nein, du sollst endlich aufhören!« rief sie.
Er schwang seine geballte Faust mit solcher Wucht, als wollte er ihr alle Knochen im Leibe brechen. Sie duckte sich. Die Faust sauste über ihren Kopf hinweg und schlug gegen die Wand. Er heulte vor Schmerz auf. Sie rannte blitzschnell auf die Tür zu.
»Komm sofort zurück!« brüllte er.
»Nein«, sagte sie. »Du willst mir weh tun. Aber... aber ich glaube, du willst auch noch etwas Schlimmeres tun. Ich liebe dich, Daddy, aber ich hasse dich, wenn du so wie jetzt bist. Du kannst das mit mir nicht mehr machen. Es treibt dich zu solchen Sachen, aber du läßt Es ein.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte er, »aber du solltest jetzt lieber sofort herkommen. Ich sag's dir nicht noch einmal.«
»Nein!« rief sie und begann wieder zu weinen.
»Zwing mich nicht dazu, dich holen zu müssen, Bevvie. Du würdest es hinterher sehr bedauern. Komm sofort her.«
»Sag mir, wer es dir erzählt hat«, sagte sie, »dann tu' ich's.«
Er sprang plötzlich auf sie zu, mit solch katzenhafter Geschicklichkeit, daß er sie fast gefangen hätte, obwohl sie mit so etwas gerechnet hatte. Sie packte den Türknopf aus geschliffenem Glas, zog die Tür einen Spaltbreit auf, so daß sie gerade hindurchschlüpfen konnte, und rannte den Flur entlang auf die Haustür zu, in panischer Angst - so wie sie 25 Jahre später vor Mrs. Kersh fliehen würde. Hinter ihr prallte AI Marsh gegen die Tür, die laut zufiel.
»komm sofort zurück, bevvie!« tobte er, und dann riß er die Tür auf und rannte hinter ihr her.
Die Haustür war abgeschlossen; sie hatte die Wohnung vorhin durch den Hintereingang betreten. Jetzt fummelte sie mit zitternder Hand am Schloß herum, während sie mit der anderen erfolglos am Türknopf rüttelte. Hinter ihr brüllte ihr Vater wieder. Wie ein hungriges Raubtier
(zieh jetzt deine Hose aus)
hörte er sich an. Endlich brachte sie die Tür auf. Keuchend warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter hinweg und sah ihn dicht hinter sich. Schon streckte er die Hand nach ihr aus; ein Grinsen breitete sich auf seinem wutverzerrten Gesicht aus und enthüllte sein großes gelbliches Pferdegebiß.
Beverly stürzte hinaus und spürte, wie seine Finger am Rücken ihrer Bluse abglitten. Sie nahm die Stufen zu schnell, verlor das Gleichgewicht, fiel auf den Gehweg und schlug sich beide Knie auf.
»KOMM SOFORT ZURÜCK, BEVVIE, ODER ICH SCHLAGDICH TOT!«
Er rannte die Stufen hinab, und sie sprang auf, Löcher in den Jeans.
(deine Hose aus)
mit blutenden Knien. Sie warf einen Blick zurück und sah, daß er sie immer noch verfolgte, AI Marsh, Hausmeister der High School, in grauer Hose und grauem Hemd mit zwei Brusttaschen, mit einem Schlüsselring am Gürtel, mit wehenden Haaren. Aber in seinen Augen war jetzt nichts mehr von ihm zu sehen - nichts von dem Mann, der ihr den Rücken eingeseift oder sie gelegentlich geknufft hatte, weil er sich Sorgen um sie machte; nichts von dem Mann, der einmal - als sie sieben Jahre alt gewesen war -versucht hatte, ihr Zöpfe zu flechten, und der dann zusammen mit ihr über das katastrophale Ergebnis gelacht hatte; nichts von dem Mann, der sonntagsmorgens manchmal Eierpunsch mit Zimt machte, der besser schmeckte als der in der Eisdiele auf der Center Street. Nichts davon war jetzt in seinen Augen zu lesen. Sie sah darin nur pure Mordlust. Sie sah darin nur noch Es, das sein irrsinniges, finsteres Gelächter ausstieß.
Sie rannte. Sie rannte vor ihm davon.
Mr. Pasquale, der auf dem Verandageländer saß, seinen schäbigen Rasen mit einem Schlauch sprengte und sich im Radio die Übertragung eines Spiels der Red Sox anhörte, blickte erstaunt auf. Die Söhne der Zimmer-mans, die sich vor kurzem für 25 Dollar einen alten Hudson Hörnet gekauft hatten, den sie jetzt fast täglich wuschen, ließen ihre Arbeit für einen Augenblick im Stich und traten mit offenen Mündern etwas zurück, der eine mit einem Eimer Seifenlauge in der Hand, der andere mit einem Schlauch. Mrs. Denton schaute aus dem Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stock, Stecknadeln im Mund, ein Kleid auf dem Schoß, während zahlreiche weitere ausbesserungsbedürftige Kleidungsstücke ihrer sechs Töchter in einem Korb auf dem Boden lagen. Der kleine Lars Thermaenius zog sein Red Ball Flyer-Wägelchen rasch vom Gehweg auf Bucky Pasquales ungepflegten Rasen und brach in Tränen aus, als Bevvie schreiend und weinend, mit schreckensweit aufgerissenen Augen, an ihm vorbeisauste. Sie hatte ihm im Frühling einen ganzen Vormittag lang geduldig gezeigt, wie man Schnürsenkel so bindet, daß sie nicht gleich wieder aufgehen. Einen Augenblick später rannte auch ihr brüllender Vater an ihm vorbei, und Lars, der damals drei Jahre alt war und später in einem Gefängnis in Hanoi starb, sah etwas Schreckliches und Unmenschliches in Mr. Marshs Gesicht. Er hatte danach drei Wochen lang Alpträume, in denen er sah, wie Mr. Marsh sich unter seinen Kleidern in eine Spinne verwandelte.
Beverly rannte. Sie wußte genau, daß sie um ihr Leben rannte. Wenn sie ihrem Vater jetzt in die Hände fiel, würde es ihr auch nichts nützen, daß sie auf der Straße waren. Die Leute in Derry taten manchmal verrückte Dinge; sie brauchte nicht die Zeitungen zu lesen oder die eigenartige Geschichte der Stadt zu kennen, um das zu begreifen. Wenn er sie erwischte, würde er sie erwürgen oder sie zu Tode prügeln. Und wenn dann alles vorüber sein würde, würde jemand kommen und ihn verhaften, und er würde in einer Gefängniszelle sitzen, so wie auch Eddie Corcorans Vater irgendwo in einer Gefängniszelle saß, völlig verwirrt und fassungslos über seine eigene Tat.
Und deshalb rannte sie. Je näher sie der Innenstadt kamen, desto mehr
Leute waren auf den Straßen, die sich nach ihnen umdrehten. Sie schauten
- überrascht, manche auch erschrocken - und dann wandten sie sich teilnahmslos wieder ab. Beverly atmete jetzt schon ziemlich schwer, und sie hatte heftiges Seitenstechen.
Sie überquerte den Kanal auf dem Zementtrottoir, während rechts von ihr Autos über die schweren Holzplanken der Brücke rumpelten. Links konnte sie den steinernen Halbkreis sehen, wo der Kanal unter der Erde verschwand. Sie stürzte plötzlich quer über die Straße, ohne auf den Verkehr, auf Hupen und quietschende Bremsen zu achten. Sie kreuzte die Straße schräg nach rechts, weil die Barrens in dieser Richtung lagen. Bis dorthin war es fast noch eine Meile, und sie würde ihren Vater auf dem steilen Up-Mile Hill irgendwie abhängen müssen (oder auf einer der noch steileren Parallelstraßen), wenn sie in die Barrens gelangen wollte. Sie waren der einzige Zufluchtsort, der ihr einfiel.
»KOMM HER, DU KLEINES LUDER, ICH WARNE DICH!«
Auf dem Gehweg, an der anderen Straßenseite angelangt, warf sie mit wehenden Haaren wieder einen Blick zurück. Ihr Vater überquerte die Main Street mit hochrotem, schweißüberströmtem Gesicht, wobei er ebenso wenig auf den Verkehr achtete wie sie selbst.
Sie bog plötzlich in eine Gasse ein, die hinter jenen Gebäuden verlief, die auf den Up-Mile Hill hinausgingen: Star Beef, Armour Meatpacking Plant, Hemphill Storage & Warehousing, Eagle Beef & Kosher Meats. Die Gasse war schmal, hatte Kopfsteinpflaster und war von Mülltonnen und -containern gesäumt. Das Pflaster war glitschig von Abfällen aller Art. Es stank nach Fleisch und Schlachthaus. Es wimmelte nur so von Fliegen. Aus einigen Gebäuden hörte sie Maschinen und das gräßliche Geräusch von Knochensägen. Sie rutschte auf dem glitschigen Kopfsteinpflaster aus und streifte mit der Hüfte eine Mülltonne; in Zeitungspapier eingewickelte Eingeweide fielen heraus.
»KOMM JETZT ENDLICH HER, BEVVIE! ICH SAG'S DIR ZUM LETZTEN mal! MACH ES NICHT NOCH SCHLIMMER, ALS ES OHNEHIN SCHON IST, MÄDCHEN!«
Zwei Männer standen auf der Schwelle der Kirshner Packing Works und aßen große, dicke Sandwiches, ohne sich vom Gestank und von den Fliegen auch nur im geringsten stören zu lassen. »Na, Mädchen«, rief einer von ihnen, »sieht ganz so aus, als würdest du mit deinem Pa bald in den Holzschuppen gehen und ordentlich was abkriegen.« Der andere Mann lachte.
Ja, ihr Vater holte auf. Sie hörte seine Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, hörte seinen keuchenden Atem; rechts konnte sie seinen schwarzen Schatten an dem hohen Bretterzaun sehen.
Dann schrie er plötzlich wütend auf - er war ausgerutscht und hingefallen. Im nächsten Moment war er aber schon wieder auf den Beinen und setzte wutschnaubend die Verfolgung fort, während die beiden Männer lachten und einander auf den Rücken klopften.
Die Gasse beschrieb eine scharfe Linkskurve... und Beverly kam schlitternd zum Stehen. Ihre Brust hob und senkte sich rasch, während sie nach Luft schnappte. In ihrem Kopf dröhnte es.
Ein Kipplaster stand auf der Gasse und versperrte sie fast vollständig; auf beiden Seiten waren nicht einmal neun Zoll Platz. Der Motor dröhnte im
Leerlauf, aber daneben konnte sie aus der Fahrerkabine leises Gemurmel hören. Auch hier wurde offensichtlich schon Mittagspause gemacht. Es mußte ja auch kurz vor zwölf sein; in wenigen Minuten würde bestimmt die Uhr am Gerichtsgebäude schlagen.
Sie hörte ihren Vater wieder hinter sich. Sie warf sich auf den Boden und kroch auf Ellbogen und Knien unter den Lastwagen. Der Gestank nach Auspuffgasen und Dieselöl vermischte sich mit den penetranten Fleischgerüchen und rief bei ihr ein leichtes Übelkeitsgefühl hervor. Sie kam unter dem Lastwagen ziemlich gut voran, weil auch hier das Pflaster gräßlich schmierig war. Einmal streifte sie mit dem Rücken das heiße Auspuffrohr und konnte nur mit Mühe einen Schmerzensschrei unterdrücken.
»Beverly? Bist du da unten?« keuchte ihr Vater abgerissen. Sie schaute zurück, und ihre Blicke kreuzten sich, als er sich bückte und unter den Laster spähte.
»Laß mich... in Ruhe!« stieß sie mühsam hervor.
»Du Luder!« rief er. Seine Schlüssel klirrten, als er sich flach auf den Boden warf und hinter ihr herzukriechen begann.
Beverly war inzwischen unter der Fahrerkabine angelangt; sie packte einen der großen Reifen, fand festen Halt im tiefen Profil und zog sich hoch. Sie schlug sich an der vorderen Stoßstange des Lasters das Steißbein an, und dann rannte sie wieder, rannte den Up-Mile Hill hinauf; ihre mit Unrat und Öl beschmierten Kleidungsstücke klebten ihr am Körper und stanken bestialisch. Sie warf einen Blick zurück und sah die Hände und die muskulösen Arme ihres Vaters unter der Fahrerkabine des Lasters hervorschießen wie die Pranken eines der Kinderfantasie entsprungenen Monsters, das unter dem Bett hervorkriecht.
Hastig schwenkte sie ab zwischen Feldmans Lagerschuppen und dem Nebengebäude der Gebrüder Tracker. Diese schmale Sackgasse war mit Abfällen und zerbrochenen Kisten vollgestellt; dazwischen wucherte Unkraut und wuchsen einige Sonnenblumen. Beverly sprang hinter einen Stapel Kisten, kauerte sich hin und spähte vorsichtig um die Ecke. Gleich darauf sah sie ihren Vater an der Sackgasse vorbei und weiter den Hügel hinauf rennen.
Sie hätte sich jetzt auf den Rückweg zur Stadtmitte machen können, aber ihr Wunsch, in die Barrens und zu den anderen zu kommen, war inzwischen übermächtig und unbezwinglich. Jedenfalls empfahl sich aber schnelles Handeln. Ihr Vater - oder der böse Geist, der von ihm Besitz ergriffen hatte - würde bald begreifen, wo sie abgeblieben war, und dann würde er hierher zurückkommen.
Beverly lief ans Ende der Sackgasse, wo sich ein Drahtzaun befand. Sie kletterte daran hoch und ließ sich auf der anderen Seite wieder herunter. Jetzt war sie auf dem Gelände des Theologischen Seminars. Sie rannte über den gepflegten hinteren Rasen, bog um die Ecke, rannte weiter seitlich am Gebäude entlang - drinnen spielte jemand auf der Orgel eine Bachprelude, und die harmonischen Klänge schwebten feierlich durch die Stille.
Zwischen dem Seminar und der Kansas Street wuchs eine hohe, dichte Buchsbaumhecke. Sie spähte hindurch und sah auf der anderen Straßenseite ihren Vater. Er atmete schwer, sein Hemd hatte unter den Achseln
große Schweißflecken, und sein Schlüsselbund funkelte in der Sonne. Die Hände in den Hüften gestemmt, drehte er suchend den Kopf in alle Richtungen.
Beverly beobachtete ihn mit laut pochendem Herzen. Sie war sehr durstig, und sie ekelte sich vor ihrem eigenen Geruch. Wenn man mich jetzt in einem Comicstrip zeichnen würde, dachte sie, so würden von mir jene Wellenlinien ausgehen, die Gestank symbolisieren.
Ihr Vater überquerte die Straße in Richtung Seminar.
Beverly hielt den Atem an.
Bitte, lieber Gott, ich kann nicht mehr rennen. Hilf mir, lieber Gott. Laß ihn mich nichtfinden!
AI Marsh ging auf dem Trottoir langsam genau an der Stelle vorbei, wo seine Tochter hinter der Hecke kauerte.
Lieber Gott, er wird mich bestimmt riechen!
Aber das passierte nicht - vielleicht weil AI, der ja auch unter dem Lastwagen durchgekrochen war, ebenso stank wie sie. Jedenfalls ging er weiter. Beverly warf sich flach auf den Rasen und kroch so weit wie möglich unter die Hecke. Aber zum Glück erwies sich das als überflüssige Vorsichtsmaßnahme. Ihr Vater betrat das Seminargelände nicht, um dort nach ihr zu suchen.
Langsam stand Beverly wieder auf. Ihr Rücken schmerzte an der Stelle, wo sie sich am Auspuffrohr verbrannt hatte. Ihre Kleidung starrte vor Dreck, und auch ihr Gesicht war schmutzig. Aber all diese Dinge waren relativ unwichtig, verglichen mit ihrer totalen emotionalen Verwirrung - sie hatte das Gefühl, über den Rand der Welt in die Tiefe gestürzt zu sein. Keins der üblichen Verhaltensmuster schien noch anwendbar zu sein. Sie konnte sich nicht vorstellen, heimzugehen, aber ebensowenig konnte sie sich vorstellen, nicht heimzugehen. Sie hatte ihrem Vater getrotzt, ihm wirklich und wahrhaftig getrotzt...
Sie mußte diesen Gedanken rasch verdrängen, weil er ihr Übelkeit und weiche Knie verursachte. Sie liebte ihren Vater. Und lautete nicht eines der Zehn Gebote: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.«? Ja. Aber er war nicht er selbst gewesen, das war's. Er war jemand anders gewesen. Es...
Plötzlich schoß ihr eine schreckliche Frage durch den Kopf, und sie fröstelte: Passierte das gleiche vielleicht auch den anderen? Oder so was Ähnliches? Sie mußte ihre Freunde warnen. Sie hatten Es verletzt, und vielleicht ging Es jetzt auf diese Weise gegen sie vor, um sicherzustellen, daß sie Es nie wieder verletzen würden. Und wohin sonst als in die Barrens sollte sie auch gehen? Bill und die anderen waren die einzigen Freunde, die sie hatte. Bill... Bill würde wissen, was zu tun war. Bill würde ihr sagen, was sie jetzt tun sollte, Bill würde ihr helfen.
Sie blieb am Ende der Seminarauffahrt stehen und spähte um die Hecke auf die Kansas Street hinaus. Ihr Vater war nicht mehr zu sehen. Sie trat auf den Gehweg und ging stadtauswärts. Vermutlich würde zur Zeit keiner ihrer Freunde in den Barrens sein. Sie würden jetzt alle zu Hause zu Mittag essen. Aber später würden sie sich wieder einfinden. In der Zwischenzeit konnte sie sich ins kühle unterirdische Klubhaus setzen und versuchen,
sich ein bißchen zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie würde das schmale Fenster aufmachen, damit etwas Sonnenlicht einfiel, und vielleicht würde sie sogar einschlafen können. Ihr müder Körper und ihr überan-strengtes Gehirn verlangten nach Schlaf.
Mit gesenktem Kopf trottete sie an den letzten Häusern vorbei; nun war es nicht mehr weit bis zum Steilabhang in die Barrens - die Barrens, wo ihr Vater, so unglaublich es auch zu sein schien, am Vormittag herumge-schnüffelt und sie beobachtet hatte.
Sie hörte die Schritte hinter sich nicht. Die Jungen, die sie verfolgten, waren schon zu oft abgehängt worden, um noch ein Risiko einzugehen. Sie schlichen katzenhaft leise hinter ihr her, verringerten dabei den Abstand jedoch immer mehr. Belch und Victor grinsten, aber Henrys Gesicht war ernst und ausdruckslos. Seine Haare waren ungekämmt und wirr, seine Blicke schweiften ruhelos hin und her. Er legte einen schmutzigen Finger in einer Psssf'-Geste an die Lippen, als sie nur noch 70 Fuß - nur noch 50 Fuß -nur noch 30 Fuß - von Beverly entfernt waren.
Den ganzen Sommer hindurch hatte Henry auf einer ständig schmäler werdenden Brücke über dem Abgrund des Wahnsinns balanciert. An jenem Tag, als er Patrick Hockstetter erlaubt hatte mitzuspielen, war diese Brücke nur noch ein Drahtseil gewesen. Und dieses dünne Drahtseil war nun auch noch gerissen. An diesem Morgen war er, nur mit einer abgetragenen gelblichen Unterhose bekleidet, auf den Hof hinausgegangen und hatte zum Himmel emporgeblickt. Der Mond war noch als bleicher Schatten zu sehen gewesen, und während Henry ihn betrachtet hatte, war plötzlich ein totenschädelartiges grinsendes Gesicht daraus geworden. Ganz hingerissen von freudigem Schrecken, war Henry vor diesem Gesicht auf die Knie gefallen. Geisterstimmen kamen vom Mond. Sie änderten sich, schienen sich manchmal zu einem kaum verständlichen Kauderwelsch zu vermischen... aber er erkannte die Wahrheit, daß nämlich alle diese Stimmen in Wirklichkeit eine stimme waren, daß ein geist dahinterstand. Die stimme hatte ihm gesagt, er solle sich mit Victor und Belch verabreden, und sie sollten gegen Mittag an der Ecke Kansas Street und Costello Avenue sein. Die stimme hatte ihm gesagt, er würde dann schon wissen, was zu tun sei. Und wirklich war diese kleine rothaarige Hexe aufgetaucht. Er wartete darauf, daß die stimme ihm sagen würde, was er als nächstes tun müsse. Er erhielt die Antwort, während sie den Abstand zwischen sich und Beverly stetig verringerten. Diesmal kam die stimme nicht vom Mond, sondern aus einem Gully, an dem sie vorbeikamen . Die stimme war leise, aber deutlich. Belch und Victor starrten wie hypnotisiert auf den Gully und dann auf Beverly.
Bring sie um, sagte die stimme aus dem Gully klar und deutlich.
Henry Bowers griff in die Tasche seiner Jeans und zog einen schmalen länglichen Gegenstand mit Intarsien aus imitiertem Elfenbein heraus. An einem Ende dieses dubiosen Kunstgegenstands funkelte ein kleiner Chromknopf. Henry drückte darauf, und eine sechs Zoll lange Messerklinge sprang heraus. Er hatte das Messer vor einer Woche in einem Pfandleihhaus in Bangor gekauft. Er behielt es in der Hand und begann etwas schneller zu gehen. Victor und Belch, die immer noch wie betäubt aussahen, taten es ihm nach.
Beverly hörte sie nicht; nicht deshalb drehte sie sich um, als Henry ihr dicht auf den Fersen war. Henry hatte sich so lautlos wie ein Indianer an sie herangepirscht, ein starres Grinsen auf dem Gesicht. Nein, es war einfach das deutliche und mächtige Gefühl,
3. Stadtbücherei Derry, 1.55 Uhr
beobachtet zu werden.
Mike Hanion legte seinen Füllfederhalter weg und ließ seine Blicke über den Hauptsaal der Bücherei schweifen. Er sah von den Hängelampen erzeugte Lichtinseln; er sah, unscharf im Halbdunkel, Bücherregale; er sah die eisernen Wendeltreppen zu den Magazinen. Sonst war nichts zu sehen.
Aber er wurde das Gefühl einfach nicht los. Er glaubte, daß er nicht allein hier war.
Nach dem Aufbruch der anderen hatte er automatisch aufgeräumt, während er im Geiste Millionen Meilen - und 27 Jahre - entfernt war. Er machte Aschenbecher sauber, warf die leeren Flaschen und Bierdosen weg (um Carol nicht zu schockieren, bedeckte er sie mit zerknülltem Papier), dann fegte er die Scherben der Flasche zusammen, die Eddie zerbrochen hatte.
Anschließend legte er im Leseraum die herumliegenen Zeitungen und Zeitschriften an Ort und Stelle. Und während er diese einfachen Arbeiten verrichtete, ging er noch einmal die Geschichten durch, die sie erzählt hatten, wobei er sich am meisten auf das konzentrierte, was sie ausgelassen hatten.
Sie glaubten sich jetzt an alles zu erinnern, aber das stimmte nicht ganz. Nun ja, der Rest würde ihnen auch noch einfallen... wenn Es ihnen soviel Zeit ließ. Im Jahre 1958 hatten sie keine Möglichkeit gehabt, sich vorzubereiten. Sie hatten endlos geredet - abgesehen von der Steinschlacht und ihrem heroischen Besuch des Hauses an der Neibolt Street hatten sie immer nur geredet - und vielleicht wäre es letzten Endes auch weiter nur beim Reden geblieben. Aber dann, am 10. August, waren sie von Henry und seinen Freunden geradezu in die unterirdische Kanalisation gejagt worden.
Vielleicht hätte ich es ihnen sagen sollen, dachte er, während er die letzten Zeitschriften wegräumte. Aber davon hatte ihn etwas abgehalten - jene andere Kraft. Vielleicht gehörte auch das einfach dazu; so vieles hatte sich schon wiederholt, und vielleicht würde sich auch jener letzte große Akt -natürlich in aktualisierter Form - wiederholen. Er hatte für den kommenden Tag starke Taschenlampen und Minenhelme besorgt; ebenso auch Pläne des Kanalisationssystems von Derry. Ordentlich zusammengerollt und mit Gummis zusammengehalten, lagen sie mit den Lampen und Helmen zu Hause in seinem Schrank. Aber damals, als Kinder, waren sie einfach in die Kanäle gejagt worden, waren unvorbereitet in die Konfrontation mit ihm getrieben worden. Würde sich das wiederholen? Er war inzwischen zu der Überzeugung gelangt, daß Glaube und Macht austauschbar waren. War die letzte Wahrheit vielleicht noch einfacher? Daß kein Glaubensakt möglich war, bis man - wie ein Fallschirmspringer-Neuling aus einem Flugzeug - einfach sozusagen ins Nichts hinausgestoßen wurde? Sobald man fiel, war man gezwungen, an den Fallschirm zu glauben. Während des freien Falls an der Leine zu ziehen war Ausdruck dieses Glaubens.
Während Mike so seinen verschiedenen Beschäftigungen nachging, hoffte er, daß er anschließend müde genug sein würde, um nach Hause zu gehen und ein paar Stunden zu schlafen. Aber als er dann schließlich alles aufgeräumt hatte, war er immer noch hellwach. Deshalb schloß er die Tür hinter seinem Büro auf, die in den Raum mit den wertvollen Erstausgaben der Bücherei führte; angeblich sollte er feuersicher sein, wenn die tresorartige Tür geschlossen war. Hier standen signierte Werke längst verstorbener Schriftsteller (darunter Moby Dick< und Whitmans >Leaves of Grass<), Dokumente zur Stadtgeschichte und die Manuskripte der wenigen Schriftsteller, die in Derry gelebt und gearbeitet hatten. Wenn alles ein gutes Ende nahm, hoffte Mike, Bill überreden zu können, der Stadtbücherei seine Manuskripte zu überlassen. Während er die dritte Regalreihe entlangging und die vertrauten Bibliotheksgerüche genoß, dachte er: Vermutlich werde ich einmal mit einer Büchereikarte-in der Hand und einem Stempel LEIHFRIST ÜBERSCHRITTEN in der anderen sterben. Na ja, vielleicht ist das besser als mit einem Gewehr in der Hand zu sterben, Nigger.
Etwa in der Mitte des dritten Regals blieb er stehen. Sein ziemlich mitgenommener Notizblock, in dem die diversen skandalösen Geschehnisse in Derry sowie seine eigenen Abschweifungen und Ängste schriftlich niedergelegt waren, stand zwischen Frickes >Old Derry-Town< und Michauds >Hi-story of Derry<. Er hatte das Notizbuch so weit nach hinten geschoben, daß es kaum zu sehen war. Niemand, der nicht direkt danach suchte, würde es hier aufstöbern.
Er löschte die Lampen, schloß die tresorartige Tür wieder ab und setzte sich an den Tisch, an dem sie vorhin alle gesessen hatten. Er blätterte die beschriebenen Seiten durch und dachte dabei, was für ein merkwürdiges Machwerk er doch fabriziert hatte: teils Geschichte, teils Skandalchronik, teils Tagebuch, teils Beichte. Seine letzte Eintragung stammte vom 6. April. Ich werde mir bald ein neues Notizbuch zulegen müssen, dachte er. Dieses ist schon fast voll. Aus unerfindlichen Gründen fiel ihm plötzlich Margaret Mitchells erster Entwurf von >Gone With the Wind< ein - sie hatte ihn in normaler Schreibschrift in unzählige Schulhefte geschrieben. Er schraubte die Kappe von seinem Füllfederhalter, ließ seinen Blick durch die leere Bücherei schweifen und begann sodann, alles zu notieren, was sich in den vergangenen drei Tagen ereignet hatte, angefangen von dem Moment, als er in seinem Büro den Telefonhörer abgenommen und Stanley Uris' Nummer gewählt hatte.
Etwa eine Viertelstunde lang schrieb er mit äußerster Konzentration... dann ließ sie nach, und er hielt immer häufiger inne. Stans abgetrennter Kopf im Kühlschrank tauchte vor seinem geistigen Auge auf, Stans blutiger Kopf mit dem offenen Mund voller Federn, Stans Kopf, der aus dem Kühlschrank gefallen und auf ihn zugerollt war. Er versuchte dieses Bild abzuschütteln und schrieb weiter. Fünf Minuten später fuhr er plötzlich zusammen und drehte sich in panischer Angst um, überzeugt davon, daß er gleich sehen würde, wie dieser Kopf über die alten schwarzen und roten Fliesen
auf ihn zurollte, mit unheimlich glasigen Augen, wie die eines ausgestopften Elchs, mit an den Wangen klebenden Federn...
Nichts zu sehen. Kein Kopf. Und außer dem gedämpften Trommeln seines eigenen Herzens war auch kein Laut zu hören.
Du mußt dich zusammennehmen, Mikey. Es sind nur die Nerven, weiter nichts. Du fantasierst!
Aber es nützte nichts. Seine Gedanken verwirrten sich, er konnte nicht mehr ordentlich formulieren. Er spürte einen Druck im Nacken, der immer stärker zu werden schien.
Das Gefühl, beobachtet zu werden.
Er legte den Füller hin und stand auf. »Ist da jemand?« rief er, und seine Stimme hallte gespenstisch vom Kuppeldach wider. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und versuchte es noch einmal. »Bill?... Ben?«
Bill-ill-ill... Ben-en-en...
Mike beschloß plötzlich, nach Hause zu gehen. Er würde nicht einmal mehr sein Notizbuch in das abgeschlossene Büchermagazin zurückbringen, sondern es einfach mitnehmen. Er griff danach... und dann hörte er einen schlurfenden Schritt.
Er blickte sich um. Lichtseen, umgeben von dunklen Schattenlagunen. Sonst nichts... zumindest konnte er nichts sehen. Er wartete mit laut pochendem Herzen.
Wieder ein Schritt- und diesmal konnte Mike lokalisieren, woher das Geräusch kam. Die verglaste Passage zwischen Erwachsenen- und Kinderbücherei. Bens BBC-Kommunikationsturm. Dort war jemand. Etwas.
Lautlos schlich Mike zur Ausleihtheke. Die Flügeltüren zur Passage wurden mit Holzkeilen offengehalten, und er konnte ein Stückchen hineinsehen. Er glaubte, Füße zu erkennen, und plötzlich kam ihm der schreckliche Gedanke, daß Stan vielleicht doch noch gekommen war, daß Stan gleich aus der Dunkelheit treten würde, seine Vogelenzyklopädie in einer Hand, mit weißem Gesicht und violetten Lippen, mit aufgeschnittenen Handgelenken und Unterarmen.
Ich bin doch noch gekommen, wenn auch ziemlich spät, würde Stan sagen. Ich
habe so lange gebraucht, weil ich mich erst aus einer Grube herausarbeiten mußte,
aber nun bin ich da...
Der nächste Schritt - und jetzt konnte Mike deutlich Schuhe erkennen -Schuhe und ausgefranste Hosenbeine über nackten Knöcheln. Und fast sechs Fuß über diesen Knöcheln konnte er in der Dunkelheit funkelnde Augen sehen.
Er tastete auf der Platte der halbkreisförmigen Ausleihtheke herum, ohne den Blick von diesen regungslosen funkelnden Augen zu wenden. Seine Finger berührten die Kante eines kleinen Holzkarteikastens - die Karten überfälliger Bücher. Dann eine Pappschachtel - Gummis und Büroklammern. Gleich darauf schlössen sich seine Finger um einen metallenen Gegenstand. Es war ein Brieföffner mit den eingravierten Worten jesus errettet auf dem Griff. Ein billiges Ding, das er zusammen mit einem Spendenaufruf von der Grace Baptist Church zugeschickt bekommen hatte. Mike hatte seit 15 Jahren keine Gottesdienste mehr besucht, aber Grace Baptist Church war die Gemeindekirche seiner Mutter gewesen, und er hatte fünf Dollar überwiesen, obwohl er sich das kaum leisten konnte. Er hatte eigentlich vorgehabt, den Brieföffner wegzuwerfen, aber dann war er doch auf seiner unordentlichen Pulthälfte (Carols Seite war immer tadellos aufgeräumt) liegengeblieben. Er umklammerte den Brieföffner krampfhaft und starrte in den dunklen Glaskorridor.
Noch ein Schritt... und noch einer. Jetzt waren die ausgefransten Baum-wollhosen schon bis zu den Knien sichtbar, und er konnte auch die Umrisse der dazugehörigen Gestalt erkennen: breit, schwerfällig, mit runden Schultern und zerzausten Haaren. Eine fast affenartige Gestalt.
»Wer ist da?« rief Mike.
Keine Antwort. Die Gestalt stand einfach da und betrachtete ihn.
Zwar fürchtete Mike sich immer noch, aber er hatte die lähmende übernatürliche Angst überwunden, die mit der Vorstellung verbunden gewesen war, es könnte Stan Uris sein, der aus dem Grab zurückgekehrt war, der durch die Narben auf seinen Handflächen auf geheimnisvolle Weise ins Leben zurückgerufen worden war, wie ein Zombie in irgendeinem Horrorfilm. Aber wer immer der Eindringling auch sein mochte - Stan war es jedenfalls nicht. Stan war nicht so groß gewesen.
Die schattenhafte Gestalt machte einen weiteren Schritt vorwärts, und nun fiel das Licht aus einer der Kugellampen auf die Schlaufen am Bund der Jeans, durch die kein Gürtel gezogen war.
Plötzlich wußte Mike, wer es war. Er wußte es, noch bevor die Gestalt den Mund aufmachte.
»Na so was, das ist ja der Nigger«, sagte die Gestalt. »Hast du wieder mal Steine geworfen, Nigger? Willst du wissen, wer deinen Scheißköter vergiftet hat?«
Die Gestalt machte noch einen Schritt vorwärts, und nun fiel das Licht auf Henry Bowers' Gesicht. Es war dick, aufgedunsen und von krankhafter Blässe; die Hängebacken waren mit Bartstoppeln bedeckt, die etwa zur Hälfte nicht mehr schwarz, sondern schon grau waren. Über den buschigen Brauen zogen sich drei tiefe Querfalten über die Stirn. Weitere Falten bildeten große Klammern um die Winkel des vollippigen Mundes. Über einem dicken Bauch, einem Bauch, der mehr Kartoffeln als andere Nahrungsmittel bekommen hatte, spannte sich das Hemd. Die kleinen Augen, die in dem fetten Gesicht fast verschwanden, waren blutunterlaufen und hatten einen leeren Ausdruck. Es war das Gesicht eines vorzeitig sehr gealterten Mannes, der eigentlich erst 39 Jahre alt war, doch aussah wie Mitte Siebzig. Aber gleichzeitig war es das Gesicht eines zwölfjährigen Jungen. Es war Henry Bowers.
»Hallo, Nigger«, sagte Henry.
»Hallo, Henry.« Mike fiel plötzlich ein, daß er den ganzen Tag kein Radio gehört hatte, ja, daß er nicht einmal die >Derry News< aufgeschlagen hatte, deren Lektüre bei ihm normalerweise zum festen Ritual gehörte. Es war einfach zuviel los gewesen. Vermutlich hätte er die Zeitung zu Hause beim Abendessen gelesen, vor dem Treffen in der Bücherei, aber dann hatte Bill ihn angerufen und sich mit Silver bei ihm eingefunden, und deshalb wußte er nichts von den Tagesereignissen. Gefährlicher Insasse aus Junction Hill entflohen, Verlierer, seid auf der Hut.
Henry blieb am Ende des Glaskorridors stehen und starrte Mike mit seinen Schweinsäuglein an. Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem unbeschreiblichen Grinsen und enthüllten verfaulte Zähne, die schief und krumm waren wie alte Grabsteine in weicher Erde.
»Stimmen«, sagte er. »Ich wette, du weißt darüber Bescheid. Hörst du Stimmen, Nigger?«
»Was für Stimmen, Henry?«
»Vom Mond«, sagte Henry und schob eine Hand in die Tasche. »Sie kam vom Mond. seine Stimme.«
»Hast du Es gesehen, Henry?«
»O ja«, erwiderte Henry. »Frankenstein. Hat Victor den Kopf abgerissen. Gab 'n Geräusch, wie wenn man 'nen großen Reißverschluß öffnet. Dann hat Es sich auf Belch gestürzt. Belch hat mit ihm gekämpft.«
»Ja?«
»Ja. Dadurch konnte ich entkommen.«
»Du hast ihn im Stich gelassen, hast ihn sterben lassen.«
»Sag so was nicht!« Henrys fette Wangen liefen vor Zorn rot an. Er machte zwei Schritte nach vorne, und als er jetzt aus dem Glaskorridor in die Erwachsenenbücherei heraustrat, kam er Mike komischerweise jünger vor. Er konnte die Spuren der Zeit in Henrys Gesicht nun noch deutlicher erkennen, aber er sah auch etwas anderes: das Kind, das vom verrückten Butch Bowers erzogen worden war, das auf einer ursprünglich ordentlichen Farm aufgewachsen war, die Butch allmählich immer mehr heruntergewirtschaf-tet hatte. Der verrückte Butch, der auf der hinteren Veranda seiner Bruchbude von Haus zu sitzen und Radio zu hören pflegte, sein japanisches Schwert - ein Kriegssouvenir - auf dem Schoß. »Sag so was nicht! Es hätte auch mich umgebracht!«
»Uns hat Es nicht umgebracht.«
Henrys Augen funkelten bösartig. »Noch nicht. Aber Es wird euch auch umbringen. Es sei denn, daß ich ihm keinen von euch übriglasse.« Er zog die Hand aus seiner Tasche heraus. Ein schmaler länglicher Metallgegenstand kam zum Vorschein, mit Intarsien aus Elfenbeinimitation. Henry drückte auf einen kleinen Chromknopf, und eine sechs Zoll lange Stahlklinge schoß hervor.
»Ich hab's wiedergefunden«, sagte er. »Hab das Messer gefunden, hab' diese Kleider gefunden. Ich wußte, wo ich suchen mußte.« Er zwinkerte mit einem blutunterlaufenen Lid. »Der Mann im Mond hat's mir erzählt. Nur verwandelt sich der Mond manchmal in ein gesicht. In ein großes clownsgesicht.« Henry entblößte wieder seine Zähne. »Bin per Anhalter gefahren. Mit 'nem alten Mann. Hab' ihm 'nen Schlag versetzt. Ich glaub', er war tot. Bin mit dem Auto in Newport in 'nen Graben gefahren. Kurz hinter der Stadtgrenze von Derry hab' ich dann diese stimme gehört. Ich hab' bei 'nem Gully nachgeschaut. Und da lagen die Kleider. Und das Messer. Mein altes Messer.«
»Du vergißt aber etwas, Henry.«
Grinsend schüttelte Henry den Kopf.
»Wir sind damals mit dem Leben davongekommen, und du ebenfalls. Es wird auch dich jetzt schnappen, Henry.«
»Nein.«
»O doch. Es hat Victor umgebracht, und während Belch mit ihm gekämpft hat, bist du weggerannt. Aber jetzt bist du zurückgekommen. Es ist stark hier in Derry, Henry. Du befindest dich jetzt auf seinem ureigensten Gelände. Und...«
»Nein!«
»... Es wird auch dich umbringen. Vielleicht wirst du wieder Frankenstein sehen. Oder den Werwolf. Einen Vampir. Oder vielleicht den Clown, Henry, und ich glaube, das ist am schlimmsten. Pennywise, der Clown. Warte, bis du ihn sehen wirst, Henry! Er liebt Scherze, und er hat Luftballons. ..«
Mit einem Schrei stürzte sich Henry auf Mike Hanion. Mike sprang beiseite und stellte ihm ein Bein. Henry stolperte darüber und fiel der Länge nach hin. Er schlug dröhnend auf dem Boden auf und schlitterte über die abgetretenen Fliesen. Sein Kopf prallte gegen ein Bein des Tisches, an dem die Verlierer vorhin gesessen und Geschichten erzählt hatten. Einen Moment lang war er halb betäubt; das Messer hing schlaff in seiner Hand.
Mike ging auf ihn zu. In diesem Augenblick hätte er Henry umbringen können; er hätte den Brieföffner mit der Aufschrift JESUS errettet in Henrys Nacken stoßen und danach die Polizei anrufen können. Das hätte natürlich etwas offizielles Geschwafel gegeben, aber nicht allzuviel, nicht in Derry, wo solche Gewalttaten keine Seltenheit waren.
Was ihn davon abhielt, war zum Teil seine Abscheu vor Gewalt, das Gefühl, daß Gewalt seine Waffe war (und vielleicht auch eine Erkenntnis, die ihn blitzartig durchzuckte, ohne richtig in sein Bewußtsein zu dringen: daß er sein Werk ausführen würde, wenn er Henry tötete; ebenso wie umgekehrt Henry sein Werk ausführte, wenn er Mike tötete); was ihn aber mehr als alles andere davon abhielt, war jener andere Ausdruck auf Henrys Gesicht- der müde, verwirrte Ausdruck des unglückseligen Kindes, dem von Geburt an übel mitgespielt worden war. Henry war im verseuchten Umfeld von Butch Bowers' verwirrtem Geist aufgewachsen; und er hatte bestimmt schon ihm gehört, noch bevor er gewußt hatte, daß Es existierte.
Anstatt also den Brieföffner in Henrys Nacken zu stoßen, ließ Mike sich auf die Knie fallen und griff nach dem Messer. Es drehte sich in seiner Hand
- scheinbar ganz aus eigener Kraft -, und obwohl er im ersten Moment keinen Schmerz verspürte, floß plötzlich rotes Blut aus der braunen Haut seiner ersten drei Finger auf die narbige Handfläche.
Er riß seine Hand zurück, und Henry rollte etwas zur Seite. Er kam auf die Knie, und die beiden Männer starrten einander an. Henrys Nase blutete. Er schüttelte den Kopf, und Blutstropfen flogen in die Dunkelheit.
»Ihr habt euch für so schlau gehalten!« schrie er heiser. »Ihr alle! Verdammte Feiglinge und Schwächlinge wart ihr alle, sonst nichts! In einem fairen Kampf hätten wir euch besiegt!«
»Leg das Messer weg, Henry«, sagte Mike ruhig. »Ich werde die Polizei anrufen. Man wird dich hier abholen und nach Jumper Hill zurückbringen. Du wirst von Derry weg sein. Du wirst in Sicherheit sein.«
Henry versuchte zu sprechen und konnte nicht. Er konnte diesem verhaßten Nigger doch nicht erzählen, daß er dort nicht in Sicherheit wäre, ebenso wenig wie in Los Angeles oder in den Regenwäldern von Timbuktu. Früher oder später würde überall der Mond aufgehen, knochenweiß und kalt wie Schnee, und die Geisterstimmen würden ertönen, und das Gesicht des Mondes würde sich in sein Gesicht verwandeln und schwatzen und lachen und ihm Befehle erteilen. Er schluckte schleimiges Blut.
»Ihr habt nie fair gekämpft!«
»Ihr auch nicht«, konterte Mike. »Schwärmer, M-8o...«
»Du verdammte schwarze Nigger-Drecksau!« schrie Henry und griff Mike wieder an.
Mike lehnte sich zurück, um dem ungeschickten Angriff auszuweichen, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel auf den Rücken. Henry packte ihn am Arm. Mike stieß mit dem Brieföffner zu und spürte, daß dieser sich tief in Henrys Unterarm bohrte. Henry schrie auf, aber anstatt loszulassen, umklammerte er Mikes Arm nur noch fester. Die Haare fielen ihm wirr in die Augen, und aus seiner gebrochenen Nase floß Blut über die wulstigen Lippen.
Mike versuchte, ihn mit dem Fuß wegzustoßen. Henry holte in weitem Bogen mit dem Messer aus, und die sechs Zoll lange Klinge drang bis zum Heft in Mikes Oberschenkel, ganz mühelos, wie in einen Butterkuchen. Henry zog das bluttriefende Messer wieder heraus, und mit einem Schrei stieß Mike ihn zurück.
Er kam mühsam auf die Beine, etwas später als Henry, und konnte dessen nächstem Angriff nur noch knapp ausweichen. Er spürte, wie Blut in beängstigender Menge an seinem Bein herabfloß und seinen Hush-Puppy-Schuh füllte. Er muß meine Oberschenkelarterie getroffen haben. O Gott, er hat mich ganz schön erwischt. Überall Blut. Blut auf dem Fußboden. Die Schuhe sind auch im Eimer, Blut bekommt man von Wildleder nicht mehr ab...
Keuchend und schnaubend wie ein wütender Stier, griff Henry erneut an. Mike taumelte beiseite und stieß gleichzeitig mit dem Brieföffner zu, der durch Henrys fadenscheiniges Hemd drang und eine tiefe Schnittwunde quer über seinen Rippen verursachte. Henry stieß einen Schmerzensschrei aus und griff sich an die Rippen. Sein Hemd sog sich rasch mit Blut voll.
»Du mieser Nigger!« kreischte er. »Schau nur, was du gemacht hast!«
»Laß das Messer fallen, Henry!«
Hinter ihnen ertönte plötzlich ein Kichern. Henry drehte sich um... und dann schrie er entsetzt auf und schlug sich die Hände vors Gesicht. Auch Mike warf einen Blick zur Ausleihtheke hinüber. An einer dicken Sprungfeder, die wie ein Korkenzieher in den Hals gebohrt war, wippte Stans Kopf auf und ab. Das Gesicht war grellweiß geschminkt. Auf beiden Wangen waren rote Rougekreise, und anstelle von Augen füllten große orangefarbene Pompons die Höhlen. Dieses groteske Schachtelmännchen nickte am Ende der Feder mit dem Kopf wie eine jener riesigen Sonnenblumen, die neben dem Haus an der Neibolt Street emporgeragt hatten. Es öffnete den Mund, und eine quiekende, lachende Stimme begann zu kreischen: »Bring ihn um, Henry! Bring den Nigger um, bring den Feigling um, bring ihn um, bring ihn um, bringthnum!«
Mike begriff, daß er auf einen üblen Trick hereingefallen war; rasch wandte er sich wieder Henry zu, wobei er sich aber unwillkürlich fragte,
was für ein Gesicht Henry wohl am Ende jener Sprungfeder gesehen hatte. Das von Stan? Das von Victor Criss? Oder vielleicht das seines Vaters?
Mit einem schrillen Schrei stürzte sich Henry wieder auf Mike. Die Messerklinge in seiner Hand sauste auf und ab wie die Nadel einer Nähmaschine. »Uuuuuh, Nigger!« brüllte Henry. »Uuuuuh, Nigger! Uuuuuuh, Nigger!«
Mike wich etwas zurück, aber sein verletztes Bein knickte gleich darauf unter ihm weg, und er fiel wieder hin. Er hatte kaum noch ein Gefühl in diesem Bein. Es war kalt, und als er einen Blick darauf warf, sah er, daß seine cremefarbene Hose sich rot verfärbt hatte.
Henrys Klinge sauste dicht an seiner Nase vorbei.
Mike holte mit dem Brieföffner aus, als Henry gerade wieder auf ihn zustürmte. Henry rannte direkt in den Brieföffner hinein. Sofort floß warmes Blut über Mikes Hand, und als er sie zurückzog, hielt er nur noch den Griff des Brieföffners fest. Die Klinge steckte in Henrys Bauch.
»Uuuuuh, Nigger!« schrie Henry wieder und griff sich an die Wunde. Blut sickerte zwischen seinen Fingern hindurch. Er starrte ungläubig darauf. Der Kopf am Ende der quietschenden Schachtelmännchen-Feder kreischte und lachte. Mike, dem jetzt schwindlig und übel war, warf einen Blick darauf und sah den Kopf von Belch Huggins mit einer New-York-Yankees-Mütze auf den blutigen Haaren. Mike stöhnte laut auf, aber der Laut drang nur ganz verschwommen an seine Ohren. Er spürte, daß er in einer warmen Blutlache saß... in seinem eigenen Blut. Wenn ich mein Bein nicht bald abbinden kann, verblute ich.
»Uuuuuuh! Niiiiigger!« schrie Henry. Eine Hand auf den blutenden Bauch gepreßt, in der anderen noch immer das Messer, stolperte er auf die Büchereitür zu. Er torkelte dabei wie ein Betrunkener durch den Saal, warf einen Lehnstuhl um, fegte mit der Hand einen Stapel Zeitungen zu Boden. Dann stieß er die Tür auf und verschwand in der Dunkelheit.
Mike war einer Ohnmacht nahe. Er fummelte mit tauben Fingern an seinem Gürtel herum. Schließlich gelang es ihm, die Schnalle zu öffnen und ihn herauszuziehen. Er schlang ihn dicht unterhalb der Leiste um sein Bein und band es ab. Während er den Gürtel mit einer Hand festhielt, kroch er auf die Ausleihtheke zu. Dort stand das Telefon. Er wußte zwar nicht, wie er an den Apparat herankommen sollte, aber fürs erste konzentrierte er sich nur darauf, die Theke überhaupt zu erreichen.
Er kroch. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er streckte rasch seine Zunge heraus und biß kräftig zu. Der scharfe Schmerz half sofort. Die Welt nahm wieder deutliche Konturen an. Er bemerkte, daß er noch immer den abgebrochenen Griff des Brieföffners in der Hand hatte, und warf ihn weg. Und da war auch endlich die Ausleihtheke; hoch wie der Mount Everest sah sie aus.
Mike schob sein unverletztes Bein unter sich, griff mit der freien Hand nach der Platte der Theke und zog sich hoch. Sein Mund verzerrte sich vor Anstrengung und Schmerz zur Grimasse, seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Schließlich stand er da wie ein Storch und nahm den Hörer vom Telefon. Auf der Seite klebte ein Zettel mit drei Notrufnummern: Feuerwehr, Polizei und Krankenhaus. Mit einem zitternden Finger, der mindestens zehn Meilen entfernt zu sein schien, wählte Mike die Nummer des Krankenhauses: 947-3711. Er schloß die Augen, als er den Signalton hörte... und dann riß er sie weit auf, denn am anderen Ende der Leitung hörte er die Stimme von Pennywise, dem Clown.
»Hallo!« rief Pennywise, und dann lachte er schrill in Mikes Ohr. »Was sagst du nun, Nigger? Wie geht's dir? Ich glaube, du bist ein toter Mann, meinst du nicht auch? Ich glaube, Henry hat dich erledigt! Möchtest du einen Luftballon, Mikey? Möchtest du einen Luftballon haben? Wie geht's dir? Hallo! Hallo!«
Mike blickte zur Großvateruhr empor, zur Mueller-Uhr, wie sie nach dem Spender Horst Mueller genannt wurde; ohne jede Überraschung registrierte er, daß das Zifferblatt sich in das Gesicht seines Vaters verwandelt hatte - ein graues, vom Krebs gezeichnetes, ausgemergeltes Gesicht. Die Augen waren so verdreht, daß man nur das Weiße sehen konnte, und dadurch entstand fast der Effekt einer Totenmaske. Plötzlich streckte sein Vater die Zunge heraus, und die Uhr begann zu schlagen.
Mikes Hand rutschte von der Kante der Ausleihtheke ab. Einen Moment lang schwankte er auf einem Bein, dann fiel er wieder hin. Der Hörer baumelte am Ende der Schnur vor seiner Nase hin und her. Es fiel ihm jetzt immer schwerer, den Gürtel festzuhalten.
»Hallo, du da!« rief Pennywise vergnügt aus dem Hörer. »Hallo, du da, wie geht's, wie steht's? Hallo, du da, wie geht's?«
»Falls dort jemand ist«, krächzte Mike, »so helfen Sie mir bitte. Ich heiße Michael Hanion, und ich bin in der Stadtbücherei von Derry. Ich verblute. Falls dort jemand ist - ich kann Sie nicht hören. Man erlaubt mir nicht, Sie zu hören. Bitte beeilen Sie sich, wenn Sie da sind. Ich glaube, ich sterbe.«
Er legte sich auf die Seite und zog seine Beine an, bis er dalag wie ein Embryo. Er schlang den Gürtel zweimal fest um seine rechte Hand und konzentrierte sich nur noch darauf, ihn festzuhalten, während ihm immer wieder schwarz vor Augen wurde.
»Hallo, du da, wie geht's?« quakte Pennywise immer noch aus dem hin und her pendelnden Telefonhörer. »Wie geht's, wie steht's, du Drecksau? Hallo,
4. Kansas Street, 12.20 Uhr
du da«, sagte Henry Bowers.
Beverly wollte instinktiv sofort losrennen. Mit einer so schnellen Reaktion hatten die Jungen nicht gerechnet, und vielleicht wäre es ihr tatsächlich gelungen wegzulaufen, wenn ihre langen Haare nicht gewesen wären. Henry packte sie daran, wickelte eine Strähne um seine schmutzige grobknochige Hand und zerrte sie zurück. Er grinste ihr ins Gesicht; sein Atem war warm und stank.
»Wie geht's, wie steht's?« fragte Henry sie. »Wohin des Weges? Willst du wieder mal mit deinen Arschlöchern von Freunden spielen? Vielleicht werd' ich dir die Nase abschneiden und dich zwingen, sie zu schlucken. Na, wie gefällt dir das?«
Beverly versuchte sich zu befreien. Henry lachte nur und schüttelte sie kräftig bei den Haaren. Das Messer funkelte gefährlich in der diesigen Augustsonne.
Plötzlich ertönte eine Autohupe.
»Hallo, ihr da! Was macht ihr Burschen? Laß sofort das Mädchen los!«
Es war eine alte Dame am Steuer eines gut erhaltenen Fords Baujahr 1950. Sie hatte an der Bordsteinkante angehalten, beugte sich über den Beifahrersitz und schaute aus dem Fenster. Beim Anblick ihres zornigen, ehrlich empörten Gesichts wich der leere, betäubte Ausdruck von Victors Gesicht, und er warf Henry einen nervösen Blick zu.
»Bitte!« schrie Beverly schrill. »Er hat ein Messer! Ein Messer!«
Der Ärger der alten Dame verwandelte sich in Überraschung, Sorge und Furcht. »Was macht ihr Burschen da? Laßt das Mädchen sofort in Ruhe!«
Auf der anderen Straßenseite - Bev sah es ganz deutlich - erhob sich Herbert ross aus dem Liegestuhl auf seiner Veranda, trat ans Geländer und blickte herüber. Sein Gesicht war ebenso ausdruckslos wie das von Belch Huggins. Er faltete seine Zeitung zusammen und ging ins Haus.
»Laßt sie los!« kreischte die alte Dame.
Henry bleckte seine faulen Zähne und rannte plötzlich auf das Auto zu; Beverly zerrte er an den Haaren hinter sich her. Sie stolperte, fiel auf ein Knie, wurde weitergezogen. Der Schmerz in ihrer Kopfhaut war furchtbar. Sie spürte, wie ihr Haare ausgerissen wurden.
Die alte Dame schrie auf und kurbelte in Windeseile ihr Fenster hoch. Brüllend stieß Henry zu, und die Klinge kratzte über Glas. Der Fuß der Frau rutschte von der Kupplung, und das Auto beschrieb drei große Sätze und landete mit den Vorderreifen auf dem Gehweg. Henry rannte hinterher, Beverly immer noch im Schlepptau. Victor leckte sich die Lippen und schaute sich nervös um. Belch schob seine New-York-YankeesBaseballmütze zurück und kratzte sich verwirrt am Ohr.
Bev sah das bleiche, ängstliche Gesicht der alten Dame, sah, wie sie rasch die Türsicherungsknöpfe herunterdrückte, zuerst auf der Beifahrerseite, dann auf der anderen. Der Motor des Fords heulte auf. Henry holte mit dem Fuß aus und zerschlug eine Rückleuchte.
»Hau ab, du vertrocknete alte Drecksfotze!«
Mit quietschenden Reifen setzte die alte Dame den Wagen auf die Straße zurück. Ein Lastwagen mußte ihr ausweichen, und der Fahrer hupte verärgert. Henry wandte sich wieder grinsend Bev zu, und da versetzte sie ihm einen kräftigen Fußtritt in die Hoden.
Henrys Grinsen verwandelte sich in eine Grimasse. Das Messer glitt ihm aus der Hand und fiel klirrend auf das Trottoir. Er ließ ihre Haare los, und dann sank er in die Knie, hielt sich die Hoden und stieß einen lautlosen Schrei aus. Beverly sah Strähnen ihres roten Haares, die an seiner Hand klebten, und in diesem Moment schlug ihre Angst in wilden Haß um. Sie zog laut die Luft ein, und dann spuckte sie ihm auf den Kopf.
Sie wirbelte auf dem Absatz herum und rannte los.
Belch machte drei zögernde Schritte hinter ihr her, dann blieb er stehen. Er und Victor gingen zu Henry, der sie wegschob und sich hochrappelte, beide Hände immer noch auf die Hoden gepreßt. Es war nicht das erste Mal in diesem Sommer, daß man ihm einen Tritt dorthin versetzt hatte.
Er bückte sich und hob sein Messer auf. »... mit...«, keuchte er.
»Was, Henry?« fragte Belch ängstlich.
Henry wandte ihm ein Gesicht zu, das verschwitzt und vor Schmerz, rasender Wut und Haß so verzerrt war, daß Belch unwillkürlich etwas zurückwich. »Ich... sagte... kommt... mit!« keuchte Henry und begann hinter Beverly herzustolpern.
»Wir können sie jetzt nicht mehr einholen, Henry«, sagte Victor unbehaglich. »Verdammt, du kannst ja kaum laufen!«
»Wir werden sie kriegen!« schnaubte Henry. Seine Oberlippe hob und senkte sich unbewußt, wie bei einem knurrenden Hund. Schweiß lief ihm in Strömen von der Stirn über die hektisch geröteten Wangen. »O ja, wir werden sie kriegen. Ich weiß nämlich, wohin sie geht. Sie geht runter in die Barrens, wo die übrigen Arschlöcher sind, ihre
5. Derry Town House, 31. Mai 1983, 2.00 Uhr
Freunde«, sagte Beverly.
»Hmmm?« Bill sah sie fragend an. Er war in Gedanken weit weg gewesen. Sie waren Hand in Hand gegangen, in freundschaftlichem Schweigen, obwohl das Bewußtsein der gegenseitigen Anziehungskraft beide ein bißchen verlegen machte. Bill hatte von ihrem Satz nur das letzte Wort aufgefangen. Einen Block vor ihnen schimmerten die Lichter des Town House durch den Bodennebel.
»Ich habe gesagt, ihr wart die besten Freunde, die ich je hatte. Vermutlich die einzigen.«
»Wir genügten uns vollständig«, sagte Bill und lächelte sie an. In ihren Haaren hingen Nebeltropfen, und das Licht der Straßenlaternen erzeugte eine Art Heiligenschein um ihren Kopf. Sie blickte ernst zu ihm empor.
»Ich brauche jetzt etwas«, sagte sie.
»W-W-Was denn?«
»Daß du mich küßt«, sagte sie.
Er dachte an Audra, und zum erstenmal wurde ihm bewußt, daß sie Beverly ähnlich sah, und er fragte sich, ob Audras Anziehungskraft auf ihn deshalb so groß gewesen war, daß er seine Hemmungen überwunden und sie gegen Ende der Hollywood-Party, bei der sie einander vorgestellt worden waren, um ein Rendezvous gebeten hatte. Er verspürte Gewissensbisse... und dann nahm er Beverly, seine Freundin aus fernen Kindheitstagen, fest in die Arme.
Ihr Kuß war fest und warm und süß. Ihre Brüste streifen an sein offenes Jackett, und sie schmiegte sich an ihn. Dann schob sie ihre Hüfen etwas zurück, und nun war er es, der sie zu sich heranzog und beide Hände in ihrer Haarmähne vergrub. Sie bemerkte seine Erektion, stieß laut den Atem aus und legte ihr Gesicht in seine Schultermulde. Er spürte ihre warmen Tränen auf seiner Haut.
»Komm«, flüsterte sie. »Schnell.«
Er nahm ihre Hand, und die restliche kurze Strecke bis zum Hotel legten sie wieder schweigend zurück. Die Hotelhalle war alt, mit vielen Pflanzen dekoriert, und hatte einen gewissen altmodischen Charme. Sie war im rustikalen Stil des 19. Jahrhunderts eingerichtet. Um diese Zeit war sie leer, abgesehen vom Angestellten am Empfang, der sich aber im hinteren Büro aufhielt, die Füße auf den Schreibtisch gelegt hatte und vor dem Fernseher saß. Bill drückte im Lift auf den Knopf der dritten Etage; sein Finger zitterte dabei etwas - Erregung? Nervosität? Schuldbewußtsein? Alles zusammen, und dazu auch noch Angst und eine fast aberwitzige Freude.
Sie gingen den Korridor entlang, zu seinem Zimmer. Er hatte den etwas konfusen Entschluß gefaßt, daß es - wenn er Audra schon untreu wurde -ein totaler Treuebruch sein sollte, vollzogen in seinem, nicht in Beverlys Zimmer. Plötzlich fiel ihm Susan ein, seine erste literarische Agentin und seine erste Geliebte - er war damals knapp zwanzig gewesen.
Ich betrüge meine Frau. Er versuchte, das richtig zu Ende zu denken, aber es kam ihm doch irgendwie unwirklich vor. Am stärksten war ein eigenartiges Heimweh; ein altmodisches Gefühl, etwas aufzugeben. Audra würde jetzt schon auf sein, Kaffee kochen, im Morgenrock am Küchentisch sitzen und entweder ihre Rolle studieren oder einen Roman - vielleicht von Dick Francis - lesen.
Sein Schlüssel drehte sich im Schloß von Zimmer 311. Wären sie in Beverly s Zimmer im fünften Stock gegangen, so hätte dort das Licht an ihrem Telefon geblinkt, das signalisierte, daß eine Nachricht für sie vorlag; der Empfangsangestellte hätte ihr ausgerichtet, sie solle ihre Freundin Kay in Chicago anrufen; vielleicht hätten die Dinge dann einen anderen Lauf genommen. Aber sie gingen in Bills Zimmer- vielleicht, weil es so vorherbestimmt war.
Die Tür öffnete sich. Sie traten ein. Beverly sah ihn mit leuchtenden Augen an; ihre Wangen glühten, und ihre Brust hob und senkte sich rasch. Er nahm sie in die Arme und wurde überwältigt von dem Gefühl, richtig zu handeln - von dem Gefühl, daß der Kreis zwischen Vergangenheit und Gegenwart sich mit triumphierender Nahtlosigkeit schloß. Er stieß die Tür ungeschickt mit dem Fuß zu, und sie lachte ihren warmen Atem in seinen Mund hinein. »Mein Herz...«, sagte sie und legte seine Hand auf ihre linke Brust. Er konnte es unter dem weichen und doch festen, wahnsinnig erregenden Fleisch laut pochen hören.
»Dein H-H-Herz...«
»Mein Herz...«
Sie ließen sich angekleidet aufs Bett fallen und küßten sich. Ihre Hand glitt unter sein Hemd, kam wieder hervor. Sie fuhr mit einem Finger über die Knöpfe, hielt an der Taille kurz inne... und dann glitt ihr Finger tiefer, über seinen harten Penis. In seinen Leisten begannen Muskeln zu zucken und zu vibrieren, Muskeln, die er normalerweise überhaupt nicht spürte. Er brach den Kuß ab und rückte auf dem Bett etwas von ihr ab.
»Bill?«
»Ich m-m-muß eine kleine P-P-Pause einlegen«, sagte er. »Sonst geht die
L-Ladung noch in m-meine Hose wie bei einem Jungen.«
Sie lachte wieder leise auf und sah ihn an. »Ist es nur das? Oder hast du noch andere Motive?«
»D-D-Die habe ich i-immer.«
»Ja«, sagte sie. »Deine Frau?«
Bill lächelte nur.
»Du liebst sie.«
»Und du liebst Tom«, sagte er. »Wir sollten eine Country-and-We-stern-Platte bespielen.«
»Ich hasse ihn.«
Er sah sie an, und sein Lächeln schwand.
»Bis heute abend war ich mir dessen nicht voll bewußt«, sagte sie. »Oh, ich wußte es - irgendwo tief im Innern wußte ich es die ganze Zeit, glaube ich. Er schlägt mich, er verletzt mich. Ich habe ihn geheiratet, weil... ich glaube, weil mein Vater sich immer Sorgen um mich machte. Wie sehr ich mich auch anstrengen mochte - er machte sich Sorgen. Und ich wußte vermutlich, daß er Toms Verhalten billigen würde. Denn auch Tom machte sich Sorgen. Und solange sich jemand Sorgen um mich machte, würde ich sicher sein. Ja, mehr als sicher. Real.« Sie sah ihn sehr ernst an. Ihre Bluse war etwas hochgerutscht und entblößte einen weißen Streifen Haut, den Bill gern geküßt hätte. »Aber es wurde ein einziger Alptraum. Mit Tom verheiratet zu sein war so ähnlich wie in den Alptraum zurückzukehren. Warum macht ein Mensch so etwas? Warum sollte irgendein Mensch aus eigenem Antrieb in den Alptraum zurückkehren wollen?«
»Der einzige G-G-Grund, den ich m-mir vorstellen kann, ist, daß M-M-Menschen zurückkehren, um sich s-s-selbst zu f-f-f-finden.«
»Der Alptraum ist hier«, fuhr Beverly fort. »Der Alptraum ist Derry. Verglichen damit ist Tom nur ein kleiner Fisch. Ich sehe ihn jetzt deutlicher. Ich verabscheue mich selbst für die Jahre, die ich mit ihm verbracht habe... du weißt ja nicht... wozu er mich zwang... und, oh, ich war glücklich, diese Dinge zu tun, weil er sich Sorgen um mich machte, weißt du. Er machte sich schreckliche Sorgen um mich. Ich würde am liebsten weinen... aber ich schäme mich viel zu sehr. Kannst du das verstehen?«
»Quäl dich n-n-nicht«, sagte er ruhig und legte seine Hand auf die ihrige. Sie griff danach wie nach einem Rettungsring. Ihre Augen leuchteten verdächtig, aber es kamen keine Tränen. »W-W-Wir verpatzen alle s-so vieles. Aber das L-Leben ist kein Examen. M-Man muß einfach w-weitermachen, so gut man k-k-kann.«
»Was ich sagen wollte, war, daß ich Tom nicht betrüge, und ich versuche auch nicht, mich durch dich irgendwie an ihm zu rächen oder irgend so was. Für mich wäre es etwas... etwas ganz Normales und Schönes. Aber ich möchte dir nicht weh tun, Bill. Oder dich zu etwas verführen, daß dir hinterher leid tun wird.«
Er dachte darüber nach. Er dachte ernsthaft darüber nach. Aber jener blödsinnige Spruch - Im finstern Föhrenwald und so weiter - schwirrte ihm wieder im Kopf herum und hinderte ihn am klaren Denken. Es war ein langer Tag gewesen. Mikes Anruf und die Einladung zum Mittagessen im >Jade of the Orient< - das schien hundert Jahre zurückzuliegen. So viele Geschichten hatte er seitdem gehört, soviel Erschütterungen seines bisher scheinbar geordneten Weltbildes erlebt.
»F-F-Freunde v-verführen einander n-n-nicht«, sagte er und beugte sich auf dem Bett über sie. Ihre Lippen trafen sich, und er begann ihre Bluse aufzuknöpfen. Sie schlang einen Arm um seinen Nacken und zog ihn fester an sich.
Als er in sie eindrang, wölbte sie den Rücken, um ihn noch tiefer in sich aufzunehmen, und murmelte: »Sei mein Freund... ich liebe dich, Bill.«
»Ich liebe dich auch«, sagte er, und dann begannen sie sich rhythmisch zu bewegen, zuerst langsam, dann schneller. Beide schwitzten. Bills Bewußtsein konzentrierte sich immer mehr nur auf ihre Vereinigung. Ihre Poren hatten sich geöffnet und verströmten einen süßen Moschusduft.
Beverly spürte, wie ihre Erregung immer mehr zunahm. Sie zweifelte nicht daran, daß sie einen Orgasmus haben würde. Ihr Körper schien plötzlich emporzuschießen, und sie erreichte eine Plateauphase, die unvergleichlich lustvoller war als alles, was sie mit Tom und ihren beiden Liebhabern vor ihm je erlebt hatte. Sie war sich bewußt, daß der Höhepunkt eine wahre Explosion sein würde. Sie fürchtete sich direkt ein bißchen davor... aber ihr Körper bewegte sich weiter rhythmisch. Sie fühlte, wie Bills Körper sich spannte wie eine Feder, wie sein ganzer Körper ebenso hart wurde wie sein Glied, das sie in sich aufgenommen hatte, und im selben Moment kam es ihr - ungeahnte Schleusen der Lust öffneten sich, einer so grenzenlosen Lust, daß es fast schon qualvoll war, und sie biß ihn in die Schulter, um ihre Schreie zu ersticken.
»O mein Gott«, stöhnte Bill, und obwohl sie sich später nie ganz sicher war, glaubte sie doch, daß er weinte. Er stemmte sich etwas hoch, und sie dachte, daß er sich jetzt aus ihr zurückziehen würde - sie versuchte sich auf diesen Moment einzustellen, der bei ihr immer ein unerklärliches Gefühl der Leere, eines schmerzlichen Verlusts hinterließ - und dann stieß er noch einmal kraftvoll zu. Sie hatte einen zweiten Orgasmus, was ihr noch nie passiert war, und was sie nicht für möglich gehalten hatte, und plötzlich wurde das Fenster der Erinnerung weit aufgestoßen, und sie sah die Vögel
- Tausende von Vögeln, die sich auf jedem Dachfirst, auf jeder Telefonleitung und jedem Briefkasten in Derry niederließen, Frühlingsvögel, die gegen einen weißen Aprilhimmel abstachen, und da war Schmerz, gemischt mit Lust - aber hauptsächlich Schmerz, physischer Schmerz gemischt mit schwacher physischer Lust und einem überwältigenden Gefühl der Bejahung. Sie hatte geblutet... sie hatte...
»Mit euch allen?« rief sie plötzlich und riß die Augen weit auf.
Jetzt zog er sich wirklich zurück, aber in dem plötzlichen Schock ihrer blitzartigen Erkenntnis spürte sie es kaum.
»Was? Beverly? Ist a-a-alles in Ordnung?«
»Mit euch allen? Ich habe mit euch allen geschlafen?«
Sie sah schockierte Überraschung auf Bills Gesicht, sah, daß ihm der Unterkiefer herunterklappte... sah sein plötzliches Begreifen. Aber trotz ihres eigenen Schocks erkannte sie, daß er nicht nur die Offenbarung nachvollzog, sondern selbst eine erlebte.
»Wir...«
»Bill? Was ist?«
»Auf diese W-W-Weise hast d-du uns rausgebracht«, sagte er, und nun funkelten seine Augen direkt furchterregend. »Beverly, verstehst du nicht? Auf diese W-W-Weise hast du uns rausgebracht! Wir alle... aber wir waren...« Plötzlich sah er verunsichert, ängstlich aus.
»Erinnerst du dich jetzt an den Rest?« fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »An keine Einzelheiten. Aber...« Er schaute sie an, und sie sah, daß er schreckliche Angst hatte. »W-Wir haben uns herausgewünscht. Und ich bin nicht s-sicher... Beverly, ich bin nicht sicher, daß Erwachsene das v-vollb-b-bringen können.«
Sie blickte ihn lange schweigend an, und dann setzte sie sich auf die Bettkante und zog sich ganz natürlich und selbstverständlich aus. Ihr Körper war schön und glatt; ihre Wirbelsäule zeichnete sich unter ihrer Haut schwach im Halbdunkel ab, als sie sich bückte, um ihre wadenlangen Nylonstrümpfe auszuziehen. Ihre Haare bildeten ein Knäuel über einer Schulter. Er dachte, daß er sie noch vor Tagesanbruch wieder begehren würde, und erneut überkam ihn jenes Schuldgefühl, nur gemildert durch den Trost, daß Audra einen Ozean entfernt war. Eine neue Münze in derMusicbox, dachte er. Dieses Lied heißt »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß.« Aber es tut trotzdem weh...
Beverly stand auf, schlug die Bettdecke zurück und legte sich dann wieder hin. »Komm, wir brauchen Schlaf. Wir haben ihn beide nötig.«
»O-Okay.« Denn das stimmte wirklich. Mehr als alles andere wollte er jetzt schlafen... aber nicht allein, nicht in dieser Nacht. Der Schock über seine letzte Offenbarung flaute ab... vielleicht viel zu schnell, aber er war so müde, so ausgelaugt. Trotz seiner Schuldgefühle spürte er, daß das Bett ein sicherer Ort war. Er würde ein Weilchen hier liegen, in ihren Armen schlafen können. Er hatte ihre Wärme, ihre Freundschaft sehr nötig.
Er zog Socken und Hemd aus und legte sich zu ihr. Sie schmiegte sich an ihn; ihre Brüste waren warm, ihre langen Beine kühl. Bill umarmte sie und wurde sich der Unterschiede bewußt - ihr Körper war länger als Audras, und ihre Brüste und Hüften waren voller. Aber es war ein sehr willkommener Körper.
Es hätte Ben sein sollen, dachte er schläfrig. Ich glaube, so war es eigentlich vorherbestimmt ... warum war es nicht Ben? - Weil es damals du warst, und weil du es auch jetzt wieder bist, weiter nichts. Und vielleicht bin ich es jetzt, weil Ben dazu ausersehen ist, die Dame später heimzuführen.
Beverly kuschelte sich an ihn, nicht aus sexuellen Motiven (obwohl sie glücklich war, daß sein Glied sich an ihrem Bein wieder versteifte, wenngleich er schon am Einschlafen war), sondern nur, um seine Wärme zu spüren. Auch sie selbst schlief schon halb. Ihr Glück hier mit ihm, nach all diesen Jahren, war eine Realität. Sie wußte es, weil dieses Glück einen bitteren Beigeschmack hatte. Sie hatten diese Nacht für sich und vielleicht noch den nächsten Morgen. Das war alles. Dann würden sie wie schon einmal in die Abwasserkanäle hinabsteigen und dem Monster gegenübertreten. Der Kreis würde sich schließen, und ihrer aller gegenwärtiges Leben würde sich mit ihrer Kindheit vermischen; sie würden zu einer Art Lebewesen auf einer aberwitzigen Möbiusschen Fläche werden.
Entweder das - oder aber sie würden dort unten sterben.
Sie drehte sich um. Er schob einen Arm zwischen ihre Seite und ihren Arm und umfaßte zärtlich eine ihrer Brüste. Bei ihm brauchte sie nicht wach zu liegen und sich zu fragen, ob seine Hand plötzlich unerwartet schmerzhaft zupressen würde.
Ihre Gedanken verschwammen, und sie glitt in den Schlaf. Wie immer, sah sie dabei leuchtende wilde Blumen - Unmengen wilder Blumen, die unter einem blauen Himmel wogten. Dann verblaßten sie, und sie glaubte zu fallen - als Kind war sie von diesem Gefühl manchmal schreiend und schweißgebadet aufgewacht. In ihren Psychologielehrbüchern im College hatte sie gelesen, daß solche Kinderträume vom Fallen sehr verbreitet waren.
Aber diesmal wachte sie nicht erschrocken auf; sie spürte das warme, tröstliche Gewicht seines Arms, seine Hand auf ihrer Brust. Wenn sie fiel, so fiel sie diesmal wenigstens nicht allein.
Dann kam es ihr so vor, als renne sie: Dieser Traum rollte rasch ab, und sie rannte hinterher, versuchte, den Schlaf, die Stille, vielleicht auch einfach die Zeit einzuholen. Die Zeit verging so schnell. Die Jahre flogen nur so dahin, und wenn man sich umdrehte und der eigenen Kindheit nachrannte, mußte man wirklich Riesenschritte machen und das letzte aus sich herausholen. Zweiundzwanzig - in jenem Lebensjahr hatte sie sich in einen Footballspieler namens Greg Mallory verliebt, von dem sie dann nach einer Party vergewaltigt worden war (schneller, schneller). Sechzehn - sie hatte sich mit zwei Freundinnen auf dem Bluebird Hill Overlook in Portland betrunken. Vierzehn... zwölf... (schneller, schneller, schneller)...
Sie rannte in den Schlaf, ließ ihr zwölftes Lebensjahr hinter sich, rannte durch die Gedächtnissperre hindurch, die Es für sie alle errichtet hatte (diese Sperre fühlte sich im Traum in ihren Lungen wie kalter Nebel an), rannte in ihr elftes Jahr hinein, rannte und war wieder zehn Jahre alt, rannte und
6. Die Barrens, 12.40 Uhr
blickte immer wieder gehetzt zurück, ob ihre Verfolger irgendwo zu sehen waren, während sie die Böschung hinablief, hinabrutschte. Nein. Noch nicht. Sie hatte es Henry >ordentlich gegeben<, wie ihr Vater manchmal sagte... aber beim bloßen Gedanken an ihren Vater fing sie sofort wieder am ganzen Leibe zu zittern an.
Sie warf einen flüchtigen Blick unter die baufällige Brücke, weil sie hoffte, daß Silver dort liegen würde, aber das Fahrrad war nicht da. Hier unten versteckten sie jetzt auch ihre Spielzeuggewehre, um sie nicht jedesmal mit nach Hause nehmen zu müssen. Sie schaute wieder zurück... und da waren sie - Belch und Victor stützten Henry von beiden Seiten; sie standen am Rand der Böschung wie Indianer-Wachposten in einem Randolph-Scott-Film. Henry war schrecklich bleich. Er deutete auf sie, und Victor und Belch begannen ihm den Steilabhang hinabzuhelfen. Kieselsteine und Erde rollten unter ihren Absätzen weg.
Wie hypnotisiert betrachtete Beverly sie einen Moment lang. Doch gleich darauf drehte sie sich um und durchquerte den kleinen Bach, der unter der Brücke dahinfloß. Wasser spritzte unter ihren Segeltuchschuhen hervor. Dann rannte sie den Pfad hinab; ihre Beinmuskeln zitterten vor Überanstrengung, sie hatte Seitenstechen und rang nach Luft. Das Klubhaus... Wenn sie es erreichen konnte, würde sie vielleicht in Sicherheit sein. Das war jetzt ihre einzige Hoffnung.
Zweige peitschten ihr gegen die Wangen; einer traf genau ihr Auge, das sofort zu tränen begann. Sie schwenkte nach rechts ab, bahnte sich mühsam einen Weg durch dichtes Unterholz und stürzte auf die Lichtung hinaus. Die getarnte Falltür und das schmale Fenster waren geöffnet. Ben Hanscom tauchte aus dem unterirdischen Klubhaus auf, um zu sehen, wer da so lärmend angerast kam. Er hatte eine Packung Junior Mints in der einen Hand und ein Archie-Comic-Heft in der anderen.
Er sah Bev angehetzt kommen, und ihm klappte buchstäblich der Unterkiefer herunter, was sie unter anderen Umständen vermutlich zum Lachen gebracht hätte. »Bev, was in aller Welt...«
Sie nahm sich nicht die Zeit zu antworten. Hinter sich - und nicht einmal allzuweit entfernt - hörte sie das Brechen von Zweigen, das Rascheln von Blättern und leises Fluchen. Henry schien sich allmählich wieder zu erholen und schneller voranzukommen. Deshalb rannte sie einfach auf die Falltür zu; ihre wirren Haare, in denen Blätter hingen und die außerdem auch etwas Ölschmiere abbekommen hatten, als sie unter dem Lastwagen durchgekrochen war, flatterten wild.
Ben sah, daß sie angebraust kam wie eine Rakete und fing sie ungeschickt auf, als sie ins Klubhaus hinabsprang.
»Mach zu!« keuchte sie. »Um Himmels willen, Ben, mach schnell alles dicht! Sie kommen! Schnell!«
»Wer?«
»Henry und seine Freunde! Henry ist verrückt geworden, er hat ein Messer... «
Mehr brauchte Ben gar nicht zu hören. Er zog die Falltür rasch zu. Sie war außen mit Grasplatten bedeckt, die sie mit einer Klebemasse namens Tan-gle-Track an den Brettern befestigt hatten. Einige Grasstücke hatten sich etwas gelockert, aber die meisten klebten ausgezeichnet. Beverly stellte sich
auf die Zehenspitzen und schloß das schmale Fenster. Sie waren jetzt im Dunkeln.
Sie tastete herum, fand Ben und klammerte sich in panischer Angst an ihn. Nach kurzem Zögern legte auch er seine Arme um sie. Beide knieten auf dem Boden. Dann fiel ihr plötzlich zu ihrem Entsetzen auf, daß irgendwo in der Dunkelheit aus Richies Transistorradio ein Lied von Buddy Holly zu hören war. Sie löste sich von Ben und suchte danach, konnte es aber nicht ertasten.
»Ben..-. das Radio... sie werden es hören...«
»O Gott!«
Er stieß mit seiner dicken Hüfte gegen sie, und sie verlor fast das Gleichgewicht. Sie hörte das Radio auf den Boden fallen. Buddy and the Crickets sangen weiter ihr >That'll Be the Day<, nur etwas gedämpfter. Auch Ben keuchte jetzt. Sie hörten sich an wie zwei Dampfmaschinen. Endlich schaltete Ben das Radio aus.
Nun tastete er in der Dunkelheit nach ihr. Sie spürte, wie seine Hand eine ihrer Brüste berührte und sofort zurückzuckte, so als hätte er sich verbrannt. Sie packte ihn am Hemd und zog ihn an sich.
»Beverly, was...«
»Pssst!«
Er verstummte. Sie saßen aneinandergeschmiegt da, eng umschlungen, und schauten hoch. Es war nicht hundertprozentig dunkel; auf einer Seite der Falltür fiel ein schmaler Lichtstreifen ein, ebenso auf drei Seiten des Fensters. Einer dieser Spalte war ziemlich breit; Bev hoffte inbrünstig, daß sie ihn nicht sehen würden.
Jetzt konnte sie die Jungen schon hören, obwohl sie ihre Unterhaltung noch nicht verstehen konnte... und gleich darauf konnte sie auch das. Sie kamen immer näher. Sie klammerte sich noch fester an Ben.
»Wenn sie in den Bambus gelaufen ist, finden wir ihre Spur dort ganz leicht«, sagte Victor.
»Sie spielen immer hier herum«, entgegnete Henry. Die Wörter kamen abgerissen heraus, so als koste ihn das Reden große Mühe. »Ralph Fratus hat's mir erzählt. Und an dem Tag, als wir die Steinschlacht hatten, müssen sie auch von hier gekommen sein.«
»Ja, sie spielen mit Gewehren und all so was«, sagte Belch.
Plötzlich dröhnten Schritte direkt über Bev und Ben; die grasbedeckte Falltür vibrierte. Erde rieselte auf Bevs Gesicht. Die Burschen standen auf dem Klubhaus. Ihr Magen krampfte sich so schmerzhaft zusammen, daß sie nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken konnte. Ben legte seine große Hand auf ihre Wange und preßte ihr Gesicht gegen seinen Arm, während er hochblickte und abwartete, ob sie es erraten würden... oder ob sie es vielleicht schon wußten und Bev und ihn nur noch zum Narren hielten.
»Sie haben hier irgendwo einen Schlupfwinkel«, sagte Henry. »Das meint jedenfalls Ralph Fratus. So'n blödsinniges Baumhaus oder was Ähnliches. Sie nennen es ihren Klub.«
»Ich werd' ihnen schon 'nen Klub geben, 'nen Klub, der sich gewaschen hat!« rief Victor. Belch wieherte darüber vor Lachen.
Bumm, bumm, bumm über Bens und Beverlys Köpfen. Diesmal bewegte sich die Falltür ein bißchen stärker auf und ab. Bestimmt würden die Jungen es bemerken; normaler Boden gab nicht so stark nach, vibrierte nicht so.
»Schauen wir uns mal am Fluß um«, sagte Henry. »Ich wette, das Miststück ist da unten.«
»Okay«, sagte Victor.
Bumm, bumm. Sie entfernten sich. Bev stieß durch ihre fest zusammengebissenen Zähne einen leisen Seufzer der Erleichterung aus... und dann hörte sie Henry rufen: »Du bleibst hier und bewachst den Pfad, Belch.«
»Okay.« Belch erklärte sich sofort dazu bereit. Und er begann hin und her zu laufen, manchmal ein Stückchen weiter weg, manchmal auch direkt über die Falltür hinweg. Wieder rieselte Erde herunter. Ben und Beverly sahen einander nervös an; ihre Gesichter waren schmutzig, und Bev wurde gewahr, daß der leichte Rauchgeruch im Klubhaus sich mit einem Gestank nach Schweiß, Öl und Abfällen vermischte. Das bin ich, dachte sie und ekelte sich vor sich selbst. Dann fiel ihr wieder ihr Vater ein, und sie umarmte Ben noch fester. Sein massiger Körper kam ihr mit einem Mal sehr angenehm, sehr tröstlich vor, und sie war glücklich, daß an ihm so viel dran war, daß es so viel zu umarmen gab. Vielleicht war er zu Beginn der Sommerferien nichts weiter als ein ängstlicher fetter Junge gewesen, aber jetzt war er viel mehr als das; wie sie alle, so hatte auch er sich sehr verändert. Und falls Belch sie hier unten entdeckte, könnte er durchaus eine unangenehme Überraschung erleben, wenn er es auf einen Kampf mit Ben ankommen ließ.
»Ich werd' ihnen 'nen Klub geben, der sich gewaschen hat«, murmelte Belch und kicherte wie ein bösartiger Troll. »Ich werd' ihnen 'nen Klub geben, der sich gewaschen hat! Das ist gut! Das ist wirklich ein toller Ausspruch!«
Beverly bemerkte, daß Bens Oberkörper bebte. Im ersten Moment dachte sie besorgt, er würde weinen, aber dann warf sie einen Blick auf sein Gesicht und sah, daß er gegen hysterisches Gelächter ankämpfte. Er fing ihren Blick auf, rollte wild mit den Augen und schaute rasch weg. In dem schwachen Licht, das durch die Ritzen einfiel, konnte sie sehen, daß sein Gesicht purpurrot angelaufen war vor Anstrengung, das Lachen zu unterdrücken.
»Ich werd' ihnen 'nen ollen Klub-Blub-Glub geben«, murmelte Belch wieder und setzte sich schwerfällig mitten auf die Falltür. Diesmal zitterte die Decke des Klubhauses ziemlich beunruhigend, und Bev hörte ein leises bedrohliches Knacken. Die Decke, die aus Brettern - und einer Mahagonitür -von der Müllhalde bestand, war eigentlich nur als Unterlage für die zur Tarnung angebrachten Grasplatten gedacht - nicht aber als Sitzgelegenheit für Belchs 160 Pfund.
Wenn er nicht bald aufsteht, landet er noch auf unserem Schoß, dachte Bev und wurde von Bens Hysterie angesteckt. Sie stellte sich bildhaft vor, wie sie das Fenster lautlos einen Spalt weit öffnete, ihre Hand durchschob und Belch Huggins kräftig in den Hintern kniff, während er dort oben saß, Selbstgespräche führte und kicherte. Sie mußte ihr Gesicht fest an Bens Brust pressen, um nicht laut herauszulachen.
»Psssst«, flüsterte Ben. »Um Gottes will, Bev...«
»Wird sie's aushaken?« flüsterte sie zurück.
»Wenn er nicht furzt«, erwiderte Ben, und kurze Zeit später ließ Belch wirklich einen - ein lauter Trompetenstoß über ihren Köpfen. Sie umklammerten einander noch fester, um so ihr hysterisches Kichern zu dämpfen. Beverlys Bauch tat vom Lachen so weh, daß sie glaubte, bald einen Schluckauf zu bekommen.
»Was?« schrie Belch und sprang auf, wodurch ein neuer Erdregen auf Ben und Bev niederging. »Was ist, Henry?«
Henry brüllte etwas, aber Beverly konnte nur die Wörter Ufer und Büsche versehen.
»Okay!« rief Belch und überquerte die Decke des Klubhauses ein letztes Mal. Diesmal knackte es viel lauter, und ein Holzsplitter landete auf Bevs Schoß. Sie schaute hoch und sah einen diagonalen narbenartigen Riß in einem der Stützbalken.
»Höchstens noch fünf Minuten«, flüsterte Ben. »Länger hätte sie auf keinen Fall mehr gehalten. Gott sei Dank, daß wir die Mahagonitür hatten.«
»Hast du diesen Furz gehört?« fragte Beverly und begann wieder zu kichern.
»Hat sich angehört wie der Dritte Weltkrieg«, sagte Ben und stimmte in ihr Lachen ein.
Es war eine große Erleichterung, die Spannung endlich abreagieren zu können, und sie lachten wild, versuchten allerdings, dabei möglichst leise zu sein.
Schließlich sagte Beverly, ohne vorher darüber nachgedacht zu haben, völlig impulsiv: »Danke für das Gedicht, Ben.«
Ben hörte abrupt zu lachen auf und betrachtete sie ernst und etwas mißtrauisch. Er zog ein schmutziges Taschentuch aus seiner Gesäßtasche und wischte sich damit langsam das Gesicht ab. »Gedicht?«
»Das Haiku. Das Haiku auf der Postkarte. Du hast es mir doch geschickt, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Ben. »Ich habe dir kein Haiku geschickt. Denn wenn ein Junge wie ich - ein Fettkloß wie ich - so etwas täte, würde das Mädchen ihn bestimmt auslachen.«
»Ich habe nicht gelacht«, widersprach sie. »Ben, ich fand es wunderschön.«
»Ich könnte nie etwas Schönes schreiben«, sagte er. »Bill vielleicht. Ich nicht.«
»Bill wird schreiben«, stimmte sie ihm zu. »Aber er wird nie etwas so Hübsches wie dieses Haiku schreiben. Könnte ich mal dein Taschentuch haben?«
Er gab es ihr, und sie säuberte sich das Gesicht, so gut es ging.
»Woher wußtest du, daß ich es war?« fragte er schließlich.
»Ich kann's nicht erklären«, sagte sie. »Aber ich wußte es einfach.«
Ben schluckte und starrte auf seine Hände. »Ich liebe dich«, gestand er. »Aber ich will nicht, daß das alles verdirbt.«
»Das wird es bestimmt nicht«, erwiderte sie leidenschaftlich. »Gerade jetzt brauche ich all die Liebe, die ich nur bekommen kann.«
»Aber du hast Bill besonders gern.«
»Vielleicht«, gab sie zu. »Doch das spielt keine Rolle. Wenn wir erwachsen wären, würde es vielleicht eine Rolle spielen, zumindest ein bißchen. Aber so - ich mag euch alle besonders gern. Ihr seid die einzigen Freunde, die ich habe. Ich liebe dich auch, Ben.«
»Danke« flüsterte er, kämpfte mit sich und brachte es schließlich heraus, wobei es ihm sogar gelang, ihr in die Augen zu sehen. »Ich habe das Gedicht geschrieben.«
Sie legte den Arm um seine Taille - sie mußte sich dazu sehr anstrengen, aber sie schaffte es; und Ben legte ihr unbeholfen seinen dicken Arm um die Schultern. Sie fühlte sich sicher. Beschützt. Geborgen. Die Bilder, die sie verfolgten - das verzerrte Gesicht ihres Vaters und Henrys funkelndes Messer -, verblaßten ein wenig und verloren etwas von ihrem Schrecken, während sie seine Nähe spürte. Jenes Gefühl der Geborgenheit war schwer zu erklären, und sie versuchte es auch gar nicht; erst viel später begriff sie, wo-
her es kam: Sie war in den Armen eines Menschen, der für sie sterben würde, ohne zu überlegen oder zu zögern. Das wußte sie einfach.
»Die anderen wollten auch wieder herkommen«, sagte Ben plötzlich. »Was ist, wenn sie Henry und seinen Kumpanen über den Weg laufen?«
Sie fuhr erschrocken auf und stellte fest, daß sie fast eingedöst war. Ihr fiel ein, daß Bill Mike Hanion zum Mittagessen eingeladen hatte. Richie hatte bei Stan essen wollen. Und Eddie hatte versprochen, am Nachmittag sein Parcheesi-Brett mitzubringen. Sie würden bald kommen, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, daß Henry und seine Freunde die Barrens unsicher machten.
»Wir müssen sie warnen«, sagte sie.
»Wenn wir jetzt rausgehen und die Kerle gerade zurückkommen...«, begann Ben.
»Ja, aber wir wissen zumindest, daß sie hier sind«, fiel Bev ihm ins Wort. »Die anderen nicht. Und Eddie kann nicht gut rennen; sie haben ihm ja schon den Arm gebrochen.«
»Verflixt«, sagte Ben besorgt. »Wir sitzen ganz schön in der Tinte. Aber du hast recht - wir müssen's versuchen. Wir können sie nicht einfach ahnungslos ins Verderben rennen lassen.«
»Nein. Das geht nicht.« Sie schluckte und warf einen Blick auf ihre Timex. Sie konnte das Zifferblatt nicht gut erkennen, glaubte aber, daß es auf der Uhr kurz nach eins war. »Ben!«
»Was?«
»Henry ist verrückt geworden. Er wollte mich mit seinem Messer töten. Es ist ein großes Schnappmesser, wie das in >The Blackboard Jungle<. Er wollte
mich damit umbringen. Und Vic und Belch hätten ihm dabei geholfen.«
»Ach nein«, sagte Ben. »Henry ist zwar verrückt, aber so verrückt auch wieder nicht. Er ist nur...«
»Nur was?« fragte Beverly. Sie dachte an Henry und Patrick Hockstetter auf dem Autofriedhof in der grellen Sonne. An Henrys völlig ausdruckslose Augen.
Ben gab keine Antwort. Er dachte nach. Die Dinge hatten sich verändert ... Wenn man selbst von diesen Veränderungen betroffen war, konnte man sie nur schwer erkennen. Man mußte ein paar Schritte zurücktreten, sich etwas von den Dingen distanzieren, um die Veränderungen besser erkennen zu können... man mußte das zumindest versuchen. Bei Ferienbeginn hatte er Angst vor Henry gehabt, aber nur, weil Henry größer war, und dazu ein übler Raufbold. Er gehörte zu jener Kategorie von Jungen, denen es Spaß machte, einen Erstkläßler zu packen, ihm den Arm zu verdrehen und ihn weinen zu sehen. Das war aber auch schon alles. Dann war da die Steinschlacht gewesen, und Henry hatte mit seinen M-8o auf ihre Köpfe gezielt. Auf diese Weise konnte man leicht jemanden umbringen. Er hatte sich auch äußerlich verändert - sein Gesicht hatte einen fast besessenen Ausdruck angenommen. Man mußte ständig auf der Hut vor ihm sein, so wie man im Dschungel ständig auf der Hut vor Tigern und Giftschlangen sein mußte. Aber auch daran gewöhnte man sich; man gewöhnte sich so sehr daran, daß es einem zuletzt ganz normal vorkam. Aber Henry war verrückt, oder etwa nicht? Doch. Und plötzlich kam ihm ein Gedanke - nein, es war mehr als ein Gedanke, es war fast schon eine Gewißheit, und sie ließ ihn schaudern, so schrecklich war sie. Es benutzt Henry. Vielleicht benutzt Es auch die anderen, aber die benutzt Es durch Henry. Und wenn das stimmt, dann hat Bev vermutlich recht. Dann geht es nicht nur um solche Dinge wie Kopfnüsse gegen Ende eines Schultages, wenn alle mit ihren Schulaufgaben beschäftigt sind und Mrs. Douglas vorne am Pult liest; dann geht es nicht nur um Stöße auf dem Spielplatz, so daß man hinfällt und sich die Knie aufschürft. Wenn Es Henry benutzt, dann wird er auch von seinem Messer Gebrauch machen. Dann ist er wirklich imstande, jemanden umzubringen...
(nein, nicht er... Es)
»Eine alte Dame hat gesehen, daß sie mich festhielten und mir weh taten«, berichtete Beverly. »Henry griff auch sie an. Er hat die Rückleuchte an ihrem Auto zerschlagen.«
Das beunruhigte Ben mehr als alles andere. Wie die meisten Kinder, so begriff auch er instinktiv, daß sie unterhalb des Gesichtskreises der meisten Erwachsenen lebten. Wenn ein Erwachsener die Straße entlangging, war er so mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt - Gedanken an seine Arbeit, an Verabredungen und Geldsorgen, an Autokäufe und Baseball wetten und woran Erwachsene auch immer denken mochten -, daß er spielende Kinder kaum bemerkte. Raufbolde wie Henry konnten anderen Kindern ungestraft eine Menge zuleide tun, wenn sie nur darauf achteten, außerhalb des Gesichtskreises der Erwachsenen zu bleiben. Ein vorbeigehender Erwachsener raffte sich normalerweise höchstens zu einer Bemerkung wie »Warum läßt du das nicht sein?« auf und ging dann seines Weges. Und der Raufbold brauchte nur abzuwarten, bis der Erwachsene um die Ecke gebogen oder in sein Auto gestiegen und weggefahren war... dann konnte er ungestört weitermachen. Es war so, als wären Kinder für Erwachsene nicht wirklich vorhanden, als glaubten sie, daß das wirkliche Leben erst begann, wenn man fünf Fuß groß war.
Wenn nun Henry diese Gegebenheit außer acht gelassen, wenn er einen Erwachsenen mit einem Messer angegriffen hatte... dann war er wirklich verrückt.
Beverly sah erleichtert, daß Ben ihr glaubte. Es war überflüssig, ihm von jener Sache zu erzählen, die sie am allermeisten verstört hatte: von dem Mann auf der anderen Straßenseite, der von seiner Veranda aus gesehen hatte, was vorging... und dessen einzige Reaktion darin bestanden hatte, seine Zeitung zu falten und ins Haus zu gehen.
»Gehen wir rauf zur Kansas Street«, sagte Ben und öffnete die Falltür. »Stell dich am besten schon mal auf Rennen ein.«
Er kletterte hinaus und schaute sich um. Die Lichtung war leer. Er konnte das Plätschern des nahen Kenduskeags hören, Vogelgesang und das Schnauben einer Diesellok, die über die Eisenbahnbrücke zum Güterbahnhof fuhr. Sonst nichts; und das verursachte ihm ziemliches Unbehagen. Es wäre ihm viel lieber gewesen, wenn er gehört hätte, wie die Burschen schimpften und fluchten und im dichten Unterholz rechts von der Lichtung oder zwischen den Bambusstauden etwas links umherstapften. Aber er konnte sie überhaupt nicht hören.
»Komm«, sagte er zu Beverly und half ihr heraus. Auch sie blickte sich nervös nach allen Seiten um, während sie sich die Haare zurückstrich und eine Grimasse schnitt, weil sie sich so schmutzig anfühlten.
Ben nahm sie bei der Hand, und sie bahnten sich einen Weg durch das Gebüsch um die Lichtung herum. »Wir sollten am besten ganz vom Pfad wegbleiben.«
»Nein«, widersprach sie. »Wir müssen uns beeilen.«
Er nickte. »Okay.«
Sie gelangten auf den Pfad und liefen in Richtung Kansas Street. Einmal stolperte Beverly über einen Stein und
7. Das Seminargelände, 2.17 Uhr
fiel der Länge nach auf den Gehweg, der im Mondlicht silbern schimmerte. Er grunzte vor Schmerz und spuckte etwas Blut aus, das auf dem rissigen Beton so schwarz wie Käferblut aussah. Henry Bowers betrachtete es verwirrt, dann hob er den Kopf und sah sich um.
Die Kansas Street lag wie ausgestorben in nächtlicher Ruhe; die Häuser waren abgeschlossen und dunkel, nur einige Nachtlampen brannten. Entlang der Bordsteinkanten reihten sich parkende Autos.
Ein Gully.
An einer der gußeisernen Streben des Gullys war ein Luftballon mit einem breit grinsenden Gesicht festgeknotet. Er schaukelte in der leichten Brise hin und her.
Mit einer Grimasse kam Henry wieder auf die Beine; eine klebrige Hand preßte er auf seinen Bauch. Der Nigger hatte ihn ganz schön erwischt, aber er selbst hatte noch gründlichere Arbeit geleistet. Der Nigger hatte geblutet wie eine abgestochene Sau, als er ihn verlassen hatte.
»Der Nigger ist hin«, murmelte Henry und stolperte an dem schwebenden Luftballon vorbei. Frisches Blut schimmerte auf seiner Hand - es sik-kerte immer noch aus der Bauchwunde. »Den Nigger hab' ich erledigt. Umgelegt hab' ich diese Drecksau. Ich werd' sie alle umlegen. Die werd' ich lehren, Steine zu werfen!«
Die Welt rollte in langsamen Wellen heran, in riesigen Brechern wie jenen im Vorspann jeder Folge der Fernsehserie >Hawaii-Five-O<. Fast konnte er das Brausen jener Wellen hören, die die reale Welt erzittern ließen. Und mit einem geistigen Ohr in seinem Kopf hörte er immer noch das Geräusch der Sprungfeder, vor seinem geistigen Auge sah er immer noch den Kopf am Ende der Feder, Victors Kopf mit blutverschmierten Lidern, Wangen und Stirn.
Henry wandte sich nach links und sah verschwommen, daß er jetzt an einer hohen schwarzen Hecke entlangtaumelte. Dahinter erstreckte sich das düstere viktorianische Gebäude des Theologischen Seminars. Sämtliche Fenster waren dunkel. Das Seminar hatte im Juni 1974 die letzten Absolventen entlassen und in jenem Sommer seine Pforten geschlossen. Seitdem führte hier ein schnatternder Frauenklub das Regiment, der sich hochtrabend >Historische Gesellschaft von Derry< nannte.
Die Auffahrt zum Vordereingang war durch eine schwere Kette versperrt, an der ein Metallschild hing: unbefugtes betreten polizeilich bet STRAFE VERBOTEN.
Henry stolperte über seine eigenen Füße und fiel wieder auf den Gehweg. Ein Stück weiter vorne bog ein Auto von der Hawthorne Street in die Kansas Street ein, und die hellen Scheinwerfer glitten über die Straße und blendeten ihn. Am Blaulicht auf dem Dach hatte er aber noch rechtzeitig erkannt, daß es ein Streifenwagen der Polizei war.
Er kroch unter der Kette hindurch und etwas nach links, hinter die Hecke. Der Tau auf seinem heißen Gesicht war wunderbar erfrischend, und er lag da und drehte den Kopf von einer Seite zur anderen, um seine glühenden Wangen zu kühlen.
Der Streifenwagen näherte sich langsam.
Dann wurde plötzlich das Blaulicht eingeschaltet; es zuckte gespenstisch durch die Dunkelheit und erzeugte umheimliche Licht-und-Schatten-Ef-fekte. Die Sirene war auf den leeren Straßen eigentlich überflüssig, und doch hörte Henry sie laut aufheulen, und Reifen quietschten auf dem Pflaster, was sich anhörte wie kreischende Schreie.
Geschnappt! Sie werden mich gleich geschnappt haben! schoß es ihm durch den Kopf, aber gleich darauf stellte er fest, daß der Streifenwagen sich von ihm entfernte, die Kansas Street hinaufbrauste. Einen Augenblick später zerriß erneut ein höllisches auf- und abschwellendes Geheul die Stille der Nacht; diesmal kam es aus südlicher Richtung immer näher auf ihn zu. Sein über-anstrengtes Gehirn gaukelte ihm vor, es wäre eine riesige schwarze Katze, die da in der Dunkelheit auf ihn zuschlich, eine riesige Katze mit funkelnden grünen Augen und seidigem Fell - Es in einer neuen Gestalt, Es, das ihn holen kam, das ihn verschlingen wollte.
Erst ganz allmählich, als das Geheul wieder in der Ferne verklang, dämmerte ihm, daß es ein Krankenwagen mit heulender Sirene war, der in dieselbe Richtung sauste wie die Bullen. Er lag zitternd auf dem nassen Gras, das ihm jetzt nicht mehr erfrischend, sondern kalt vorkam, und kämpfte gegen eine aufsteigende Übelkeit an. Er befürchtete, seine ganzen Eingeweide auszuspucken, wenn er sich übergab... und er mußte doch noch die anderen fünf zur Strecke bringen.
Krankenwagen und Polizei. Wohin sind sie unterwegs? Natürlich zur Bücherei. Der Nigger. Aber sie kommen zu spät. Ich habe ihn umgelegt. Ihr könnte eure Sirenen ebensogut abstellen, Jungs. Er wird sie ohnehin nicht mehr hören. Er ist tot, mausetot. Er... Aber war er das wirklich?
Henry fuhr sich mit seiner trockenen Zunge über die trockenen, rissigen Lippen. Wenn der Nigger tot wäre, würde nicht die Sirene in der Nacht heulen wie ein verwundeter Panther. Es sei denn, daß der Nigger sie angerufen hatte. Vielleicht war der Nigger also doch nicht tot.
»O nein!« wimmerte Henry. Er drehte sich auf den Rücken und starrte zum Himmel empor, zu den Billionen von Sternen, die dort wie Eissplitter funkelten. Es war von dort gekommen, das wußte er. Von irgendwo da oben, aus diesem Himmel... aus den Räumen zwischen den Sternen. Ihn fröstelte, wenn er diesen Himmel betrachtete - er war viel zu groß. Es war viel zu leicht, sich vorzustellen, daß er sich plötzlich blutrot färbte, daß sich dort aus feurigen Linien ein gesicht formte...
Schaudernd, die Arme über dem schmerzenden Bauch gekreuzt, schloß er die Augen, um diese schreckliche Vision abzuschütteln, und er dachte:
Der Nigger ist tot. Jemand hat uns kämpfen gehört und die Bullen gerufen, weiter nichts.
(Wozu aber dann der Krankenwagen?)
»Nein, nein, hör auf, hör auf«, stöhnte Henry. Die alte Wut stieg erneut in ihm auf; er erinnerte sich daran, wie sie ihn immer und immer wieder besiegt hatten, in jenen alten Zeiten, die jetzt wieder so lebendig waren, so nahe zu sein schienen; jedesmal, wenn er geglaubt hatte, sie endlich zu erwischen, waren sie ihm irgendwie durch die Lappen gegangen. So war es auch an jenem letzten Tag gewesen, als Belch gesehen hatte, wie das kleine Miststück die Straße in Richtung Barrens entlangrannte. Er erinnerte sich ganz deutlich daran, o ja, sehr deutlich. Wenn man einen Tritt in die Eier bekam, vergaß man das nicht so leicht.
Henry setzte sich mühsam auf und stöhnte über die rasenden Schmerzen in seinen Eingeweiden.
Victor und Belch, die an jenem Tag vor 27 Jahren den Abend nicht mehr erleben sollten, hatten ihn auf dem Weg in die Barrens gestützt. Trotz der Schmerzen in seinem Unterleib hatte er versucht, so schnell wie möglich voranzukommen. Er hatte diese Sache endlich zu Ende bringen wollen. Sie waren dem Pfad bis zur Lichtung gefolgt, von der fünf oder sechs andere Pfade abzweigten wie die Fäden eines Spinnennetzes. Ja, dort unten hatten ohne jeden Zweifel Kinder gespielt. Schokoladenpapier hatte herumgelegen, abgebrannte Zündhütchen und anderes Zeug. Auch einige Bretter und Sägespäne, so als sei hier etwas gebaut worden.
Er erinnerte sich, mitten auf der Lichtung gestanden und erfolglos nach dem kindischen Baumhaus dieser Arschlöcher Ausschau gehalten zu haben. Wenn er es entdeckt hätte, wäre er hinaufgeklettert und hätte dem Mädchen, das sich dort versteckt haben mußte, die Kehle durchgeschnitten.
Aber er hatte nirgendwo ein Baumhaus entdecken können, und Belch und Victor auch nicht. Die vertraute frustrierte Wut war in ihm aufgestiegen. Er hatte Belch als Wachposten auf der Lichtung zurückgelassen und war mit Victor zum Fluß gegangen. Aber auch dort war von dem kleinen Miststück keine Spur zu sehen gewesen. Er erinnerte sich genau daran: Er hatte sich gebückt und einen Stein aufgehoben und
8. Die Barrens, 12.55 Uhr
ihn wütend in den Fluß geschleudert. »Verdammt, wohin ist sie nur verschwunden?« fragte er und warf Victor einen bitterbösen Blick zu.
Victor schüttelte langsam den Kopf. »Weiß ich auch nicht«, sagte er. »Du blutest, Henry.«
Henry schaute an sich herunter und sah unter dem Hosenschlitz einen dunklen Fleck von der Größe einer Vierteldollarmünze. Die rasenden Schmerzen hatten nachgelassen, aber seine Unterhose kam ihm auf einmal viel zu eng vor, und er begriff, daß seine Eier anschwollen. Neue Wut stieg in ihm hoch. Das hat sie getan, dieses Miststück, dieses verdammte kleine Biest.
»Wo ist sie?« zischte er.
»Weiß nicht«, antwortete Victor wieder mit tonloser Stimme. Er wirkte wie hypnotisiert, schien nicht bei klarem Verstand zu sein. »Weggerannt, nehm ich an. Sie kann inzwischen schon drüben in Old Cape sein.«
»Das ist sie nicht!« widersprach Henry. »Sie versteckt sich. Sie haben hier irgendeinen Schlupfwinkel, und dort hat sie sich versteckt. Vielleicht ist es kein Baumhaus. Vielleicht ist es irgendwas anderes.«
»Was denn?«
»Ich... weiß... nicht!« brüllte Henry, und Victor wich erschrocken etwas zurück.
Henry stand im Kenduskeag; das kalte Wasser drang in seine Segeltuchschuhe ein. Seine Blicke blieben plötzlich auf einem Zylinder am Ufer haften, etwa 20 Fuß flußabwärts - einer Pumpstation.
Er stieg aus dem Wasser und ging darauf zu, erfüllt von Scheu und Ehrfurcht. Seine Haut schien sich zusammenzuziehen, seine Augen größer zu werden, so daß er immer mehr sehen konnte; die winzigen Härchen in seinen Ohren schienen sich aufzurichten und zu bewegen wie Seetang in einer Unterwasserströmung.
Ein stetiges tiefes Summen kam aus dem Betonzylinder, und etwas weiter hinten sah er ein Abflußrohr über den Kenduskeag hinausragen. Trübes, schmutziges Wasser floß aus dem Rohr in den Fluß.
Er beugte sich über den runden Eisendeckel des Zylinders.
»Henry?« rief Victor nervös. »Henry? Was machst du da?«
Henry beachtete ihn nicht. Er hielt ein Auge dicht an eines der runden Löcher im Deckel, sah aber nichts als Schwärze. Dann hielt er statt des Auges ein Ohr an das Loch.
»Warte...«
Die Stimme drang aus der Finsternis empor an sein Ohr, und Henry hatte das Gefühl, als sinke seine Körpertemperatur auf Null, als würden seine Venen und Arterien zu Eiszapfen gefrieren. Aber gleichzeitig verspürte er eine ihm fast unbekannte Emotion: eine irregeleitete Art von Liebe. Er riß die Augen weit auf. Seine Lippen verzogen sich zu einem breiten clownartigen Grinsen. Es war die stimme vom Mond. Jetzt schien Es unten in der Pumpstation zu sein... unten in der Kanalisation.
»Warte... beobachte...«
Er wartete, aber es kam nichts mehr; außer dem einschläfernden Summen der Pumpe war nichts mehr zu hören. Er kehrte zu Victor zurück, der am Ufer stand und ihm nervös zusah. Henry ignorierte ihn und rief nach Belch, der kurz darauf auftauchte.
»Kommt«, sagte Henry. »Wir verstecken uns an einer Stelle, von wo aus wir die Lichtung gut im Auge behalten können.«
Sie schlichen ein Stück zurück und setzten sich dann hin. Henry versuchte seine blutige Unterhose von den Hoden zu lösen, gab es aber gleich wieder auf, weil es zu sehr schmerzte.
»Henry, was...«, setzte Belch zu einer Frage an.
»Psssst!«
Belch verstummte gehorsam. Henry hatte Zigaretten bei sich, aber er ließ sie in der Tasche. Er wollte nicht, daß das Luder den Rauch roch, wenn es irgendwo in der Nähe war. Er hätte den anderen alles erklären können, sah dazu jedoch keine Notwendigkeit. Die stimme hatte ihm nur zwei Worte zugeraunt, aber sie schienen alles zu erklären. Die Arschlöcher spielten hier unten. Die anderen würden bald auftauchen. Wozu sich nur mit dem rothaarigen Luder abgeben, wenn sie alle sieben verdammten Säue auf einmal schnappen konnten?
Sie warteten und beobachteten die Lichtung... wie die stimme ihm befohlen hatte. Belch und Victor schienen mit offenen Augen zu schlafen. Sie mußten nicht allzu lange warten, aber Henry hatte doch Zeit, über manches nachzudenken. Seine Hoden schmerzten zwar noch immer, aber das Messer in seiner linken vorderen Jeanstasche tröstete ihn darüber hinweg. Bald würde er Rache nehmen. O ja, die anderen würden bald wieder herkommen, um ihre kindischen Spiele fortzusetzen, und dann würde die Stunde der blutigen Abrechnung schlagen. Er würde sie alle umbringen, und dann würde sich jenes bedrückende Gefühl in Nichts auflösen - jenes Gefühl, daß seine Macht im Schwinden begriffen war, daß er eine größere Welt betreten hatte, die er nicht so beherrschen konnte wie den Spielplatz seiner Schule. Und am allerschlimmsten war jene bohrende Angst, daß in dieser weiteren Welt der Fettkloß und der Judenlümmel und die stotternde Mißgeburt irgendwie an Bedeutung gewinnen würden, während er selbst nur älter würde.
Er würde sie alle umbringen, und dann würden die Stimmen - sowohl jene in seinem Innern als auch jene, die vom Mond zu ihm sprachen - verstummen. Dann würde alles in bester Ordnung sein, in allerbester Ordnung. Dann würde er seine Rechnung beglichen haben, und alles folgende würde völlig bedeutungslos sein. Die stimme würde sich seiner annehmen, ihm helfen - das spürte er. Wenn man ihm half, so half Es einem ebenfalls. So war es in Derry schon immer gewesen.
Aber die Kinder mußten beseitigt werden - bald beseitigt werden - heute noch! Die stimme hatte es ihm befohlen.
Henry /og sein Messer aus der Tasche und betrachtete es; er drehte es hin und her und genoß das Funkeln des Stahls in der Sonne. Plötzlich packte Belch ihn am Arm und zischte: »Schau dir das nur mal an, Henry! Jesus, Maria und Joseph! Schau dir das nur mal an!«
Henry schaute hin... und begriff alles. Wie durch Zauberei hob sich ein quadratisches Stück der Lichtung und enthüllte einen langsam immer breiter werdenden dunklen Spalt. Im allerersten Moment durchfuhr ihn Entsetzen - er glaubte, dies könnte der Eigentümer der stimme sein... denn Es hauste bestimmt irgendwo unter der Stadt. Dann hörte er aber das Knirschen von Erde in unsichtbaren Scharnieren und begriff. Er hatte ihr Baumhaus nirgends entdecken können, weil es überhaupt kein Baumhaus gab.
»Mein Gott, wir sind direkt auf ihnen drauf gestanden!« knurrte Victor, und als Bens Kopf und Schultern aus dem quadratischen Loch in der Lichtung auftauchten, wollte er aufspringen. Henry packte ihn fest am Bein.
»Wollen wir sie uns denn nicht schnappen?« fragte Victor, während Ben aus der Grube herauskletterte.
»O doch, wir schnappen sie uns«, sagte Henry, ohne seine Augen von dem verhaßten Fettkloß zu wenden. Auch so ein verdammter Eier-Kicker. Ich werd' dir so in die Eier kicken, daß du sie gleich als Ohrringe tragen kannst, du fette kleine Drecksau. Wart nur ab! »Nur keine Bange.«
Der Fettkloß half jetzt der rothaarigen Hexe aus der Grube heraus. Sie schaute sich ängstlich um, und einen Moment lang glaubte Henry, daß sie ihn direkt ansah. Dann schweiften ihre Blicke weiter in die Runde. Die beiden Arschlöcher flüsterten miteinander, und dann verschwanden sie im dichten Unterholz.
»Kommt«, sagte Henry, als das Rascheln von Blättern kaum noch zu hören war. »Wir folgen ihnen. Aber seid leise und haltet Abstand. Ich will sie alle zusammen schnappen.«
Die drei überquerten die Lichtung wie Soldaten auf einer Patrouille - in geduckter Haltung, lautlos, wachsam. Belch blieb stehen und warf einen Blick ins Klubhaus. Er schüttelte staunend und bewundernd den Kopf. »Direkt über ihren Birnen bin ich gesessen«, murmelte er.
Henry schob ihn ungeduldig vorwärts.
Sie gingen auf dem Pfad, weil sie dort geräuschloser vorankamen. Etwa auf halbem Weg zur Kansas Street tauchten der Fettkloß und das Miststück plötzlich händchenhaltend nicht weit vor ihnen aus dem Gebüsch auf. Glücklicherweise kehrten sie Henry und seinen Freunden den Rücken zu und drehten sich nicht um. Henry, Victor und Belch erstarrten... und zogen sich dann rasch in den Schatten am Rand des Pfads zurück. Bald waren Ben und Beverly nur noch zwei helle Flecke, die ab und zu zwischen den Büschen auftauchten. Die drei Jungen setzten die Verfolgung fort... noch vorsichtiger als zuvor. Henry zog sein Messer wieder aus der Tasche und
9. Henry macht eine Autofahrt, 2.30 Uhr
drückte auf den Chromknopf im Griff. Die Klinge sprang heraus, und er betrachtete sie verträumt im Mondschein. Es gefiel ihm, wie sie das Licht reflektierte. Er hatte keine Ahnung, wie spät es jetzt wohl sein mochte; die Realität löste sich zeitweise auf.
Ein Geräusch drang in sein Bewußtsein, ein Geräusch, das immer lauter wurde. Ein Automotor. Das Auto näherte sich, und Henry umklammerte sein Messer und wartete, ob es vorbeifahren würde.
Nein. Das Auto blieb an der Bordsteinkante stehen, mit laufendem Motor. Mit einer Grimasse (sein Bauch war inzwischen hart wie ein Brett, und noch immer sickerte dickflüssiges Blut aus der Wunde) kniete er sich hin, schob einige Zweige der Hecke auseinander und spähte hindurch. Er sah Scheinwerfer und die Umrisse eines Wagens. Der Streifenwagen? Seine Hand ballte sich um den Messergriff zur Faust.
Ich habe dir eine Mitfahrgelegenheit verschafft, flüsterte die STIMME vom Mond.
»Wer ist es?« krächzte Henry. »Wer ist da draußen?«
Betrachte es einfach als Taxi, erwiderte die stimme. Schließlich müssen wir dich rasch ins Town House bringen. Es ist schon ziemlich spät.
»Wer ist es?« fragte Henry wieder.
Aber die stimme stieß nur noch ein dünnes Kichern aus und verstummte sodann. Jetzt waren nur noch die Heimchen und das Geräusch des laufenden Motors zu hören.
Er richtete sich schwerfällig auf und taumelte zur Auffahrt zurück. Von dort spähte er um die Ecke. Es war kein Streifenwagen; er hatte kein Blaulicht auf dem Dach, und auch die ganze Karosserie war anders. Die Karosserie war... war altmodisch.
Er glaubte wieder jenes Kichern zu hören, aber vielleicht war es auch nur der Wind. Er kroch unter der Kette hindurch und ging auf das Auto zu, das sich ein wenig von der schwarzweißen Schnappschußwelt aus hellem Mondlicht und undurchdringlicher Dunkelheit abhob. Er sah grauenhaft aus: Sein Hemd war schwarz vom Blut, das auch seine Jeans fast bis zu den Knien durchtränkt hatte. Sein Gesicht war leichenblaß.
Auf dem Gehweg blieb er kurz stehen und versuchte die plumpe schwarze Gestalt am Steuer zu identifizieren. Aber zuerst erkannte er das Auto - es war jenes Modell, von dem sein Vater immer behauptet hatte, er würde es eines Tages besitzen: ein Hudson Hörnet Baujahr 1957. Es war ein flaschengrünes Hollywoodcoupe, und Henry wußte (hatte es sein Vater ihm nicht oft genug erzählt?), daß der Motor unter der Haube ein V-8-32/ war, mit 255 PS, der in etwa neun Sekunden von Null auf 70 Meilen pro Stunde beschleunigen konnte. Ich werde dieses Auto kriegen, und wenn ich dann sterbe, können sie mich darin begraben, hatte Butch immer gesagt... nur hatte er das Auto natürlich nie bekommen und war auf Kosten des Sozialamtes bestattet worden.
Wenn er da drin sitzt, glaube ich nicht, daß ich das ertragen kann, dachte Henry, umklammerte sein Messer, stand schwankend da und starrte auf die dunkle Gestalt am Steuer.
Dann öffnete sich die Tür auf der Beifahrerseite, die Innenleuchte ging an, und der Fahrer drehte sich nach ihm. um. Es war Belch Huggins. Sein Gesicht war eine gelbliche, in Fetzen herabhängende Ruine. Ein Auge fehlte ihm, und durch ein Loch in der pergamentartigen Wange konnte man schwarze Zähne erkennen. Auf dem Kopf hatte er die New-York-Yan-kees-Baseballmütze, die er an jenem Tag getragen hatte. Der Mützenschirm war mit graugrünem Schimmel überzogen.
»Belch!« rief Henry, und dann stieß er unter äußerster Qual einen stöhnenden Schrei aus.
Belchs tote Lippen verzogen sich zu einem Grinsen, wodurch sich in ihnen weißgraue, blutlose Risse zeigten. Er deutete'einladend auf die offene Tür.
Henry zögerte, und dann schlurfte er um die Kühlerhaube herum und berührte das V-förmige Emblem, wie damals als Kind, als sein Vater ihm dieses Automodell im Ausstellungsraum in Bangor gezeigt hatte. Als er die Beifahrerseite erreichte, wurde ihm schwarz vor Augen, und er mußte sich an der offenen Wagentür festhalten, um nicht zu stürzen. Er stand mit gesenktem Kopf da und rang keuchend nach Luft. Schließlich nahm die Welt wieder halbwegs klare Konturen an, und er schaffte es, um die Tür herumzugehen und sich auf den Sitz fallen zu lassen. Der rasende Schmerz in seinen Eingeweiden zwang ihn, den Kopf zurückzuwerfen und die Zähne so fest zusammenzubeißen, daß seine Halsmuskeln wie Stränge hervortragen. Wieder sickerte Blut in seine Hand; es fühlte sich an wie warmes Gelee. Schließlich ließ der Schmerz ein wenig nach.
Die Tür fiel von selbst zu. Die Innenleuchte schaltete sich aus. Henry sah, wie Bekhs halb vermoderte Hand den ersten Gang einlegte. Belchs weiße Knöchel schimmerten durch die Hautfetzen auf seinen Fingern.
Der Hudson bewegte sich langsam auf den Up-Mile Hill zu.
»Wie geht's dir, Belch?« hörte Henry sich fragen. Es war natürlich eine saudumme Frage; Belch konnte nicht hier sein, Tote konnten kein Auto lenken - aber etwas anderes fiel ihm nicht ein.
Belch gab keine Antwort. Sein einziges tief eingesunkenes Auge starrte auf die Straße. Es verursachte Henry Übelkeit, durch das Loch in Belchs Wange seine schwarzen Zähne zu sehen. Er nahm undeutlich wahr, daß der gute alte Belch einen überreifen Geruch verströmte. Er stank, ehrlich gesagt, wie ein Korb verdorbener Tomaten.
Das Handschuhfach flog auf, und im Schein der kleinen Glühbirne im Inneren sah er eine halbvolle Flasche Cosgrove-Whisky. Er holte sie mit blutverkrusteter Hand heraus, öffnete sie und trank einen ordentlichen Schluck. Der Whisky rann ihm durch die Kehle wie kühle Seide und brannte in seinem Magen wie heiße Lava. Er schüttelte sich stöhnend... und danach fühlte er sich etwas besser, wieder etwas stärker mit der Welt verbunden.
»Danke«, sagte er.
Belch drehte ihm den Kopf zu - Henry konnte dabei die Sehnen in Belchs Nacken quietschen hören wie rostige Türangeln. Belch betrachtete ihn einen Moment lang mit seinem einen starren Totenauge, und Henry sah erst jetzt, daß der größte Teil seiner Nase fehlte, so als hätte sie ihm jemand abgenagt. Vielleicht ein Hund. Oder Ratten. Ratten waren eigentlich wahrscheinlicher. In den Kanälen, in die sie die kleineren Kinder an jenem Tag gejagt hatten, hatte es von Ratten nur so gewimmelt.
Langsam drehte Belch seinen Kopf wieder nach vorne, worüber Henry sehr froh war. Belchs starrer Blick war schwer zu ertragen gewesen, auch wenn er den Ausdruck in dem einzigen tief in die Höhle eingesunkenen Auge nicht so recht zu deuten vermochte. Vorwurf? Zorn? Oder was sonst?
Hinter dem Steuer dieses Wagens sitzt ein toter Junge.
Henry stellte fest, daß er eine Gänsehaut auf den Armen hatte. Rasch trank er noch einen Schluck aus der Flasche. Eine angenehme Wärme breitete sich in seinem Körper aus.
Der Hudson rollte den Up-Mile Hill hinab und über die große Kreuzung mit Kreisverkehr - nur herrschte um diese Nachtzeit kein Verkehr; alle Ampeln blinkten gelb. Es war so still, daß Henry die Relais im Inneren der Ampeln klicken hören konnte... oder bildete er sich das nur ein?
»Ich hatte nicht vor, dich an jenem Tag im Stich zu lassen, Belch«, sagte
er.
Wieder das Quietschen ausgetrockneter Sehnen. Wieder starrte Belch ihn mit seinem einzigen Auge an. Und seine Lippen verzogen sich zu einem schrecklichen Grinsen, das grauschwarzes Zahnfleisch entblößte, auf dem sich ganze Schimmelkulturen angesiedelt hatte. Was für eine Art von Grinsen ist das? fragte sich Henry, während das Auto die Main Street hinabfuhr. Ist
es ein verzeihendes Grinsen? Das Grinsen eines alten Freundes? Oder ist es ein Grinsen, das besagen will: >Dir werde ich's schon noch geben, Henry. Ich werde mich dafür rächen, daß du mich und Vic im Stich gelassen hast Was für eine Art von Grinsen ist es?
»Du mußt verstehen, wie es gewesen ist«, sagte Henry und verstummte gleich wieder. Wie war es denn gewesen? Ihm schwirrte der Kopf, und die Ereignisse gerieten durcheinander wie die Einzelteile eines Puzzles, das gerade auf einen der beschissenen Kartentische im Freizeitraum von Junction Hill ausgeschüttet worden war. Wie war das alles noch gewesen? Sie waren dem Fettkloß und dem Luder fast bis zur Kansas Street gefolgt und hatten dann in den Büschen abgewartet, während die beiden die Böschung zur Straße hochgeklettert waren. Wenn sie außer Sichtweite verschwunden wäre, hätten er, Vic und Belch das Versteckspiel aufgegeben und wären den beiden einfach nachgerannt; zwei wären immerhin besser als nichts gewesen, und den Rest hätten sie sich dann eben später geschnappt.
Aber die beiden Arschlöcher waren nicht verschwunden. Sie hatten sich ans Geländer gelehnt, sich unterhalten und die Straße beobachtet. Ab und zu hatten sie einen Blick nach unten in die Barrens geworfen, doch Henry hatte dafür gesorgt, daß seine Männer und er nicht zu sehen waren.
Der Himmel hatte sich von Osten her allmählich zugezogen; Regen hatte in der Luft gelegen.
Was war dann als nächstes passiert? Was...
Eine knochige lederige Hand packte ihn am Unterarm, und Henry schrie auf. Er war nahe dran gewesen, wieder in jene wolkenweiche Grauzone zu gleiten, aber Belchs schrecklicher Griff und der vom Schreien bohrende Schmerz in seinem Bauch brachten ihn wieder zu sich. Er drehte sich um, und Belchs Gesicht war nicht einmal zwei Zoll von seinem eigenen entfernt; er zog keuchend die Luft ein und wünschte gleich darauf, er hätte es nicht getan. Ein Geruch von Moder und Verwesung ging von Belch aus; es erinnerte ihn wieder an verfaulte Tomaten in irgendeiner dunklen Scheunenecke, und sein Magen rebellierte.
Nein, dachte er unzusammenhängend, nein, ich darf nicht kotzen, nein, huuuh, darf nicht kotzen, wenn ich das tu, verliere ich noch mehr Blut von da, wo der Nigger mich gestochen hat.
Und das brachte ihn erneut in Rage - wieder fühlte er die alte ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. Nur war er jetzt nicht mehr ohnmächtig; jetzt hatte er ja sein Messer wieder, und ein Fingerdruck genügte, um eine lange, harte, scharfe Klinge herausspringen zu lassen und an die Arbeit zu gehen. Es hatte ihn aus dem Irrenhaus rausgebracht, Es hatte ihn nach Derry zurückgebracht, und jetzt würde er seinen Auftrag beenden.
Belch deutete auf etwas.
Henry sah, daß sie vor dem Derry Town House angekommen waren, und plötzlich wurde ihm alles klar. Das Town House war das einzige bessere Hotel, das es in Derry noch gab. Früher, im Jahre 1958, hatte es noch den >Eastern Star< am Ende der Exchange Street und das >Clarendon Inn< auf der Torrault Street gegeben. Beide waren im Rahmen der Stadtsanierung abgerissen worden (Henry wußte über all diese Dinge genauestens Bescheid; er hatte in Junction Hill tagtäglich gewissenhaft die >Derry News< gelesen). Jetzt war nur noch das Town House übrig, und die zahlreichen neuen Motels, die seit 1958 gebaut worden waren.
Hier werden sie abgestiegen sein, dachteer. Alle, dieübrigsind. Sie werden jetzt in ihren Betten liegen und süße Träume haben - oder vielleicht auch Alpträume von Abflußkanälen. Und ich werde sie erledigen, einen nach dem anderen werde ich sie umlegen.
Er holte die Flasche wieder heraus und trank noch einen ordentlichen Schluck Whisky. Er fühlte frisches Blut auf seinem Schoß, und der Sitz unter und neben ihm war feucht und klebrig, aber der Whisky half dagegen; der Whisky sorgte dafür, daß es nichts auszumachen schien.
»Hör mal«, sagte er zu Belch. »Es tut mir leid, daß ich weggerannt bin. Ich weiß auch nicht, warum ich weggerannt bin. Bitte... sei mir nicht böse.«
Belch sprach zum ersten und einzigen Mal, aber nicht mit seiner Stimme. Die Stimme, die aus Belchs verwestem Mund drang, war tief und geschlechtslos, kraftvoll, furchterregend. Henry wimmerte bei ihrem Klang auf. Es war die stimme vom Mond, der clown, die schreckliche stimme, die er in seinen Träumen von dunklen Abflußkanälen voll rauschenden Wassers gehört hatte.
»Bring sie um, dann ist alles in Ordnung«, sagte die STIMME.
»Na klar«, winselte Henry. »Na klar, okay, das werd' ich tun, das will ich ja, kein Problem...«
Er legte die Whiskyflasche zurück. Der Flaschenhals schlug klirrend gegen die Kante des Handschuhfachs. Und dort, wo die Flasche gewesen war, befand sich jetzt ein zusammengelegtes Blatt Papier. Er holte es heraus und faltete es auseinander, wobei er an den Ecken blutige Fingerabdrücke hinterließ. Es trug in Scharlachrot folgende Überschrift in erhabener Prägung:
EINE GEDÄCHTNSSTÜTZEVON PENNYWISE!
Und darunter war mit Großbuchstaben gedruckt:
Ihre Zimmernummern. Das war gut. Das sparte viel Zeit. »Danke, Be...« Aber Belch war verschwunden. Der Fahrersitz war leer. Nur die Baseballmütze mit dem schimmeligen Schirm lag noch da. Und auf dem Knopfjdes Schalthebels klebte irgendeine schleimige Masse.
Henry starrte mit wild pochendem Herzen darauf... und dann glaubte er zu hören, daß sich auf dem Rücksitz etwas bewegte. Er riß die Tür auf und stieg so hastig aus, daß er fast aufs Pflaster gestürzt wäre. Dann entfernte er sich rasch von dem alten Hudson, dessen Motor immer noch lief.
Das Gehen fiel ihm schwer; jeder Schritt verursachte ziehende
Schmerzen in seinem Bauch. Aber er erreichte den Gehweg, wo er stehenblieb und das achtstöckige Gebäude betrachtete, an das er sich aus alten Zeiten noch gut erinnerte. In den oberen Stockwerken brannten nur wenige Lampen, aber die runden Mattglaslampen am Haupteingang spendeten weiches Licht.
Henry stolperte auf sie zu, an ihnen vorbei und stieß mit der Schulter einen Flügel der Tür auf.
Die Hotelhalle war leer und sehr still. Nur aus irgendeinem Büro war der leise gestellte Ton eines Fernsehers zu hören. Die Aufzugtüren öffneten sich sofort, als er auf den Knopf drückte. Nach kurzem Zögern drückte er dann auf den Knopf zur sechsten Etage. Ich fange am besten ganz oben an und arbeite mich dann allmählich nach unten weiter.
Er lehnte sich mit halb geschlossenen Augen an die hintere Wand des Aufzugs, der beruhigend, ja einschläfernd summte. Es war ein ähnliches Summen wie das der Pumpen des Kanalisationssystems. Jener Tag - er fiel ihm immer wieder ein. Wie damals alles fast vorbestimmt zu sein schien, so als spielten sie nur ihre vorgeschriebenen Rollen... Wie Vic und Belch damals fast den Eindruck machten, als wären sie... na ja, als wären sie irgendwie betäubt oder hypnotisiert. Er erinnerte sich...
Der Aufzug hielt mit einem Ruck, der eine neue Schmerzeswelle durch seinen Bauch jagte. Die Türen öffneten sich. Henry trat auf den stillen Korridor. Kaspbrak hatte Zimmer 609. Er stützte sich an der Wand ab, hinterließ auf der Tapete eine schwache Blutspur und schwankte auf dieses Zimmer zu. Sein Atem war rauh und trocken.
Er erreichte Zimmer 609 und holte sein Messer aus der Tasche. Er fuhr sich mit der trockenen Zunge über die ausgetrockneten Lippen und klopfte an die Tür. Er klopfte noch einmal, diesmal lauter.
»Wer ist da?« Ein schläfrige Stimme. Das war ausgezeichnet. Er würde im Pyjama sein, noch schlaftrunken. Und wenn er die Tür öffnete, würde Henry ihm die Messerklinge direkt in die Vertiefung am unteren Ende des Halses stoßen, in die empfindliche Stelle direkt unterhalb des Adamsapfels.
»Der Hotelboy, Sir«, rief Henry. »Ich habe für Sie eine Nachricht von Ihrer Frau.« Hatte Kaspbrak überhaupt eine Frau? Vielleicht hatte er etwas Dummes gesagt. Er wartete angespannt. Er hörte Schritte - das Schlurfen von Pantoffeln.
»Von Myra?« Kaspbraks Stimme klang beunruhigt. Ausgezeichnet. In wenigen Sekunden würde er noch viel beunruhigter sein. In Henrys rechter Schläfe hämmerte sein Puls. Ich werde mich rächen. 0 ja - das werde ich.
»Ich nehm's an, Sir. Ich habe hier keinen Namen stehen. Nur, daß es sich um ihre Frau handelt.«
Kurze Stille... und dann das metallische Klirren der Türkette, an der Kaspbrak herumfummelte. Grinsend drückte Henry auf den Knopf am Messergriff. Klick Er hob die Klinge in Wangenhöhe, um sofort zustoßen zu können. Er hörte, wie der Schlüssel sich im Schloß drehte. Nur noch ein kurzer Augenblick, dann würde er dem mageren kleinen Schwächling das Messer in die Kehle jagen.
Er wartete. Die Tür öffnete sich, und Eddie
10. Die Verlierer alle beisammen 13.20 Uhr
sah Stan und Richie, die eben aus dem Costello Avenue Market herauskamen, jeder mit einem Eis am Stiel in der Hand. »He!« rief er. »Hallo, wartet auf mich!«
Sie drehten sich um, und Stan winkte. Eddie rannte auf sie zu, so schnell er konnte - ehrlich gesagt, war das nicht gerade sehr schnell. Ein Arm war in Gips, und unter dem anderen hatte er das Parcheesi-Brett.
»Na, wie geht's, Eddie? Wie geht's, alter Junge?« fragte Richie mit seiner >Stimme eines Gentlemans aus dem Süden<, die sich allerdings eher anhörte wie Foghorn Leghorn in den Cartoons der Warner Brothers. »Na so was... na so was... der Junge hat ja einen gebrochenen Arm. Schau dir das nur mal an, Stan, der Junge hat wirklich und wahrhaftig einen gebrochenen Arm, na so was... sei doch so nett und nimm dem armen Jungen sein Parcheesi-Brett ab.«
»Ich kann's gut selber tragen«, sagte Eddie etwas außer Atem. »Kann ich mal an deinem Eis schlecken?«
»Das würde deine Mutter aber gar nicht gern sehen, Eddie«, sagte Richie traurig und begann schneller zu essen. Er war gerade beim Schokoeis in der Mitte, seiner Lieblingssorte, angelangt. »Bazillen, mein Junge, Bazillen! Ich sag dir nur, man kann Bazillen bekommen, wenn man mit jemand anderem am selben Eis leckt!«
»Darauf laß ich's gern ankommen«, sagte Eddie.
Widerwillig hielt Richie ihm sein Eis hin... zog es aber rasch wieder zurück, nachdem dieser ein paarmal kräftig daran geschleckt hatte.
»Du kannst meins ganz haben, wenn du willst«, sagte Stan. »Ich bin noch satt vom Mittagessen.«
Eddie machte gern von dem Angebot Gebrauch, und die drei Jungen schlenderten einträchtig auf die Kansas Street und die Barrens zu. Derry wirkte an diesem frühen Nachmittag fast wie ausgestorben. Die Jalousien der meisten Häuser, an denen sie vorbeikamen, waren heruntergelassen. Spielzeuge lagen verlassen auf Rasen herum, so als seien Kinder hastig ins Haus gerufen oder zum Mittagsschlaf ins Bett gelegt worden. Aus dem Westen war fernes Donnergrollen zu hören.
»Junge, heute scheinen ja alle zu pennen«, sagte Richie und warf den Holzstiel seines Eises nachlässig in den Rinnstein. »Habt ihr hier schon mal so 'ne Ruhe erlebt? Was ist denn nur los - machen heute alle 'nen Tagesausflug nach Bar Harbor?«
»H-H-Hallo, ihr da!« schrie Bill Denbrough hinter ihnen her. »W-W-W-Wartet auf uns!«
Eddie drehte sich um, wie immer hell begeistert, Bills Stimme zu hören. Und da kam Bill auch schon auf Silver aus der Costello Street herausgeschossen; Mike war etwas hinter ihm zurückgeblieben, obwohl sein Fahrrad lange nicht so alt war wie Bills komischer Drahtesel.
»Hi-yo, Silver, Los!« brüllte Bill. Die Spielkarten an Silvers Speichen knatterten laut, während er mit einer Geschwindigkeit von etwa zwanzig Meilen pro Stunde auf seine Freunde zubrauste. Dann trat er auf den Rücktritt, schlitterte ein Stück weiter und kam neben ihnen zum Stehen.
»Stotter-Bill!« rief Richie. »Wie geht's, Junge? Na so was... na so was... sag mal, Junge, wie geht's dir?«
»G-G-Gut«, sagte Bill, »Habt ihr B-Ben oder Bev gesehen?«
Mike gesellte sich nun auch zu ihnen. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. »Mann, o Mann!« rief er atemlos. »Dein Rad hat ja 'ne irre Geschwindigkeit drauf.«
Bill lachte. »Ja, es ist g-g-ganz schön sch-schn-schnell.«
»Ich habe sie nicht gesehen«, beantwortete Richie Bills Frage. »Vermutlich sind sie schon unten und singen harmonisch im Duett: >Sha-boom, sha-boom, ya-da-da-da-da-da-da... you look like a dream, sweetheart<.«
Stan Uris würgte, als müßte er sich gleich übergeben.
»Er ist nur neidisch«, erklärte Richie, an Mike gewandt. »Juden können nämlich nicht singen.«
»P-P-P-P-P...«
»Piep-piep, Richie«, half Richie ihm grinsend weiter, und alle lachten.
Sie machten sich wieder auf den Weg in Richtung Barrens; Mike und Bill schoben ihre Räder. Anfangs unterhielten sie sich angeregt, aber dann wurden sie eigenartig einsilbig. Eddie warf einen Seitenblick auf Bill, stellte fest, daß sein Freund irgendwie unruhig und etwas ängstlich aussah und dachte, daß die unnatürliche Stille in Derry vielleicht auch Bill auffiel und ihm auf die Nerven ging. Eddie wußte natürlich, daß Richie nur Spaß gemacht hatte, aber es schien wirklich so, als machte ganz Derry einen Tagesausflug nach Bar Harbor... oder sonst wohin. Kein Auto auf der Straße; keine einzige alte Frau, die ein volles Einkaufswägelchen nach Hause schob.
»Derry ist ja wirklich wie ausgestorben, findest du nicht auch?« sagte er schließlich schüchtern, aber Bill nickte nur.
Sie überquerten die Kansas Street auf jene Seite, von der aus man in die Barrens gelangen konnte. Und dann sahen sie, wie Ben und Beverly auf sie zu gerannt kamen und etwas riefen. Eddie war total perplex über Beverly s Aussehen; normalerweise war sie sauber und gepflegt; ihre Haare waren immer frisch gewaschen und meistens ordentlich zum Pferdeschwanz frisiert. Jetzt war sie schmutzig von Kopf bis Fuß; ihre wirren, ölverschmierten Haare flatterten wild; sie hatte einen Kratzer auf der Wange, und ihre Augen waren schreckensweit aufgerissen.
Auch Ben, der mit schwabbelndem Bauch keuchend hinter ihr angerannt kam, sah sehr besorgt aus.
»Können nicht runter in die Barrens«, stammelte Bev. »die Jungen... Henry... Victor... sie sind irgendwo da unten... das Messer... er hat ein Messer...«
»B-B-Beruhige dich erst einmal«, sagte Bill, der sofort auf die ihm eigene fast unbewußte, mühelose Weise das Kommando übernahm. Er sah Ben fragend an, der mit hochrotem Kopf und ziemlich atemlos bei ihnen ankam.
»Sie sagt, er sei verrückt, Big Bill«, berichtete Ben.
»W-W-Was ist 1-los?« fragte Bill, und Eddie schob seine Hand in die Tasche und berührte seinen Aspirator. Er wußte zwar noch nicht, was los war, aber ihm war schon jetzt klar, daß es sich um etwas Schlimmes handelte.
Beverly zwang sich zur Ruhe und erzählte, was passiert war - es war allerdings nur ein verkürzter Situationsbericht, der damit begann, wie Henry und die anderen sie auf der Straße gefangen hatten. Von ihrem Vater erzählte sie ihnen nichts - sie schämte sich dieser Sache viel zu sehr.
Nachdem sie geendet hatte, stand Bill schweigend mit gesenktem Kopf da, die Hände in den Hosentaschen, Silvers Lenkstange an die Brust gelehnt. Die anderen warteten geduldig, warfen dabei aber immer wieder nervöse Blicke über das Geländer auf den Abhang und hielten Ausschau nach den drei großen Jungen. Bill dachte lange nach, und niemand störte ihn dabei. Es kam Eddie plötzlich in den Sinn, daß das der Auftakt zum Schlußakt sein könnte und daß die unnatürliche Stille irgendwie dazugehörte - jener Eindruck, als hätten sämtliche Einwohner die Stadt verlassen, als wären nur noch die leeren Hülsen der Gebäude da.
»K-K-Kommt«, sagte Bill schließlich. »W-Wir gehen r-r-r-runter.«
»Bill...«, brachte Ben gequält hervor. »Beverly sagt, daß Henry verrückt ist. Ich meine, wirklich verrückt. Sie sagt, er hätte sie töten...«
»D-Das alles gehört n-n-n-nicht ihnen!« sagte Bill und deutete demonstrativ auf die riesige grüne Fläche der Barrens rechts unter ihnen - auf das dichte Unterholz, die Büsche und Bäume, die Bambusstauden, das funkelnde Wasser des Kenduskeags. »Die B-B-Barrens s-sind nicht ihr Eigent-t-tum!« Er blickte mit grimmigem Gesicht in die Runde. »Ich hab's s-s-satt, von ihnen b-b-belästigt zu werden. Wir haben sie in der Sch-Sch-Stein-sch-schlacht besiegt, und wenn es sein muß, k-k-k-können wir sie w-wieder b-besiegen.«
»Aber, Bill«, wandte Eddie ein, »was ist, wenn es nicht nur sie sind?«
Bill wandte sich ihm zu, und Eddie stellte entsetzt fest, wie erschöpft, bleich und angespannt Bill aussah - dieses Gesicht hatte etwas Furchterregendes an sich, aber erst sehr viel später, kurz vor dem Einschlafen nach dem Treffen in der Bücherei, begriff er, woran das lag: Es war das Gesicht eines Jungen, der an den Rand des Wahnsinns getrieben worden war, eines Jungen, der letztlich vielleicht ebenso wenig Herr seiner eigenen Entscheidungen war wie Henry. Aber der eigentliche Bill war trotzdem noch da, sah Eddie aus jenen gehetzten, verwundeten Augen an... ein zorniger, zu allem entschlossener Bill.
»Na und«, sagte er, »was ist d-d-dann?«
Niemand antwortete ihm. Der Donner grollte, jetzt schon näher. Eddie blickte zum Himmel empor und sah von Westen her große schwarze Gewitterwolken aufziehen. Das würde einen ordentlichen Wolkenbruch geben.
»Ich s-s-sag' euch jetzt mal w-was!« rief Bill. »K-K-Keiner von euch b-braucht mitzugehen, wenn er n-nicht w-w-will. Es liegt g-ganz bei euch.«
»Ich komme mit, Big Bill«, sagte Richie ruhig.
»Ich auch«, sagte Ben.
»Klar«, sagte Mike achselzuckend.
Beverly und Stan erklärten ebenfalls, sie würden mitkommen, und zuletzt auch Eddie.
»Ich glaube, du solltest lieber nicht mitkommen, Eddie«, meinte Richie. »Weißt du, dein Arm sieht nicht allzugut aus.«
Eddie sah Bill an.
»Ich w-w-will aber, daß er m-mit von der P-P-Partie ist«, sagte Bill. »Du b-bleibst einfach in m-m-meiner N-Nähe, Eddie. Ich p-p-paß schon auf dich auf.«
»Danke, Bill«, sagte Eddie und mußte gegen Tränen ankämpfen. Bills müdes, nervöses Gesicht kam ihm plötzlich wunderschön vor - er liebte dieses Gesicht. Verwirrt dachte er: Ich würde für ihn sterben, glaube ich, wenn er mich dazu aufforderte. Was ist das nur für eine Macht? Auch wenn sie dazu führt, daß man so aussieht wie Bill jetzt, ist es vielleicht gar nicht so gut, diese Macht zu haben.
Der nächste Donnerschlag war so laut, daß alle zusammenzuckten und unwillkürlich näher zusammenrückten. Ein Wind kam auf und spielte mit den Abfällen im Rinnstein. Die erste schwarze Wolke verhüllte die diesige Sonnenscheibe und löste damit ihre Schatten auf. Der Wind war kalt und trocknete den Schweiß auf Eddies nacktem Arm; plötzlich fröstelte ihn.
Bill sah Stan an und sagte etwas Merkwürdiges: »H-H-Hast du dein V-V-V-Vogelbuch dabei, Stan?«
Stan klopfte auf seine Hüfttasche.
Bill blickte wieder in die Runde. »Gehen wir«, sagte er.
Sie stiegen im Gänsemarsch die Böschung hinab; nur Bill blieb, wie er versprochen hatte, an der Seite Eddies. Richie schob Silver, und unten angelangt, versteckten Mike und Bill die Räder wie immer unter der Brücke. Dann standen alle dicht nebeneinander da und schauten sich um.
Das aufziehende Unwetter bewirkte keine Dunkelheit, aber das Licht hatte sich verändert, und alle Dinge traten in einer Art traumhaftem, stählernem Relief hervor - schattenlos, klar, fast wie gemeißelt. Und Eddie begriff zu seinem Entsetzen, weshalb dieses Licht ihm so vertraut vorkam - es war die gleiche Art von Licht, an die er sich von dem Haus an der Neibolt Street erinnerte.
Ein greller Blitz zuckte durch die Wolken, und Eddie fuhr zusammen. Unwillkürlich zählte er: Eins... zwei... drei... Und dann explodierte der Donner wie ein M-8o-Feuerwerkskörper; es hörte sich wie ein hartes Bellen an, und sie rückten alle noch näher zusammen.
»Heute morgen wurde kein Regen angesagt«, murmelte Ben unbehaglich. »Heiß und dunstig, hieß es da.«
Mike blickte empor. Die Wolken dort oben glichen schweren, hohen Schiffen, die in Windeseile den Himmel bedeckten, der noch dunstig blau gewesen war, als er und Bill nach dem Mittagessen aus dem Haus der Denbroughs getreten waren. »Es zieht sehr schnell auf«, sagte er. »Ich habe noch nie ein Unwetter so schnell aufziehen sehen.« Und gleichsam zur Bestätigung seiner Worte donnerte es wieder laut.
»K-K-Kommt«, sagte Bill. »W-Wir b-b-bringen erst mal Eddies P-P-Par-cheesi-B-B-Brett ins K-K-K-Klubhaus.«
Sie gingen den Pfad entlang, den sie in all den Wochen seit dem Dammbau ausgetreten hatten. Bill und Eddie gingen voraus, die anderen folgten ihnen. Ein neuer Windstoß ließ die Blätter auf Bäumen und Büschen rascheln. Weiter vorne schlugen die Bambusgewächse aneinander wie unheimliche Trommeln in einer Dschungelgeschichte.
»Bill?« sagte Eddie leise.
»Ja?«
»Ich dachte immer, so was gab's nur in Filmen, aber...« Eddie lachte verlegen. »Aber ich habe das Gefühl, als beobachte mich jemand.«
»Oh, sie s-s-sind irgendwo in d-der N-N-Nähe, das ist k-klar«, sagte Bill. Eddie schaute sich nervös um und hielt sein Parcheesi-Brett etwas fester.
Er
11. Eddies Zimmer, 3.05 Uhr
öffnete die Tür und sah sich einem Monster aus einem Horror-Comic gegenüber; da stand eine blutige Gestalt, bei der es sich nur um Henry Bowers handeln konnte; diese gräßliche Erscheinung sah aus, als wäre sie soeben K dem Grab entstiegen. Henrys Gesicht war eine starre Fratze von Haß und Mordlust. Seine rechte Hand hielt etwas umklammert, und während Eddie die Augen vor Schrecken weit aufriß und entsetzt nach Luft schnappte, schoß diese Hand vor, und die lange Messerklinge blitzte auf.
Ohne zu überlegen - dazu blieb jetzt keine Zeit; wenn er erst nachgedacht hätte, wäre er ermordet worden -, schlug Eddie die Tür zu. Sie prallte gegen Henrys Unterarm und lenkte dadurch das Messer in eine andere Richtung, so daß es knapp an Eddies nacktem Hals vorbeisauste.
Henrys Arm war zwischen Tür und Türpfosten eingeklemmt. Ein leises Knirschen war zu hören, und Henry stieß einen erstickten Schmerzensschrei aus. Seine Hand öffnete sich, und das Messer fiel klirrend zu Boden. Mit einem Fußtritt beförderte Eddie es unter den Fernseher.
Mit einem leisen Fluch warf sich Henry gegen die Tür. Er war etwa 100 Pfund schwerer als Eddie, und Eddie wurde zurückgeschoben wie eine Puppe. Seine Kniekehlen stießen an die Bettkante, und er fiel auf das Bett. Henry stolperte ins Zimmer, warf hinter sich die Tür zu und schloß ab, während Eddie sich aufsetzte und spürte, wie seine Kehle eng wurde, wie sein Atem zu pfeifen und rasseln begann.
»Okay, du kleiner Schwuler«, sagte Henry. Er ließ seine Blicke über den Boden schweifen, sah aber zu Eddies großem Glück sein Messer nicht. Eddie tastete auf dem Nachttisch herum und griff nach einer der beiden Flaschen Perrier-Wasser, die er sich nachmittags hatte bringen lassen.
Als Henry die Suche nach seinem Messer aufgab und auf ihn zukam, packte Eddie die Flasche am Hals und zerschlug sie an der Nachttischkante. Das Wasser sprudelte schäumend über die Platte und warf einen Großteil der dort stehenden Pillenfläschchen um.
Henrys Hemd und Hose waren blutdurchdränkt; er schwankte auf Eddie zu. Seine rechte Hand hing in sonderbarem, unnatürlichem Winkel herab.
»Baby-Homo!« rief Henry. »Dich werd' ich lehren, Steine zu werfen!«
Er erreichte das Bett und wollte sich auf Eddie stürzen, der immer noch nicht so recht wußte, was eigentlich passiert war. Es war höchstens 40 Sekunden her, daß er die Tür geöffnet hatte. Henry packte ihn, und Eddie stieß ihm die zerbrochene Flasche mit dem ausgezackten unteren Rand ins Gesicht. Sie riß ihm die rechte Wange tief auf und durchstach sein rechtes Auge.
Henry stieß einen hohen, atemlosen Schrei aus und taumelte rückwärts.
Das aufgeschlitzte Auge hing lose aus der Höhle heraus; eine weißlichgelbe Flüssigkeit sickerte aus ihm hervor. Aus seiner Wange schoß eine Blutfontäne. Eddie schrie noch lauter auf als Henry. Er sprang vom Bett auf und ging auf Henry zu - vielleicht, um ihm zu helfen, er war sich nicht ganz sicher -, und Henry stürzte sich wieder auf ihn. Eddie stieß mit der Perrier-Flasche zu wie mit einem Degen, und diesmal drangen die Zacken des grünen Glases tief in Henrys linke Hand ein, und wieder floß Blut - diesmal aus seinen zerschnittenen Fingern. Henry ließ eine Art Grunzen hören und versetzte Eddie mit der rechten Hand einen Schlag.
Eddie flog rückwärts und prallte gegen den Schreibtisch. Er rutschte zu Boden und fiel auf seinen rechten Arm. Ein rasender Schmerz durchfuhr ihn - ein schrecklicher, nur allzu bekannter Schmerz. Er spürte, wie der Knochen an der alten Bruchstelle splitterte, und er mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzuschreien.
Ein Schatten verdeckte die Lampe.
Henry Bowers stand schwankend über ihm, riesig wie ein menschlicher Berg. Seine Knie zitterten, und von seiner linken Hand tropfte Blut auf Eddies Morgenrock.
Eddie hatte immer noch die abgebrochene Perrier-Flasche in der Hand, und während Henrys Knie völlig nachgaben, gelang es ihm, die Flasche so auf seiner Brust abzustützen, daß der ausgezackte Rand nach oben wies. Henry stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden und spießte sich auf der Flasche auf. Eddie spürte, wie sie in seiner Hand zersplitterte, und eine neue heftige Schmerzeswelle strahlte von seinem Arm aus, der immer noch unter ihm eingeklemmt war. Etwas Warmes sickerte durch seinen Pyjama, und er war nicht sicher, ob es Henrys Blut oder sein eigenes war.
Henry zuckte wie eine Forelle auf dem Trockenen. Mit seinen Schuhen hämmerte er auf dem Teppich. Eddie roch seinen fauligen Atem. Dann versteifte sich sein Körper und rollte auf den Rücken. Die Flasche ragte grotesk aus seinem Bauch heraus.
»Grrr«, fauchte Henry, dann verstummte er und lag regungslos da, den starren Blick zur Decke gewandt. Eddie glaubte, er wäre tot.
Er kämpfte mit aller Kraft gegen die Schwäche an, die ihn befallen hatte. Zitternd kam er auf die Knie, schließlich auf die Beine. Der Schmerz in seinem gebrochenen Arm war beim Aufstehen so heftig, daß er dadurch einen etwas klareren Kopf bekam. Mühsam nach Luft japsend, erreichte er den Nachttisch, hob seinen Aspirator aus der Wasserpfütze auf und schob ihn in den Mund. Er inhalierte mehrmals tief. Dann drehte er sich um und betrachtete die Leiche auf dem Teppich. Konnte das Henry sein? War das möglich? Ja. Er war alt geworden, hatte mehr graue als schwarze Haare, sein Körper war fett und aufgedunsen, seine Haut ungesund weiß - aber es war unverkennbar Henry. Und Henry war tot - endlich war Henry...
»Grrr«, machte Henry und setzte sich auf. Seine Hände fuchtelten in der Luft herum, so als wollte er sich an nur für ihn sichtbaren Griffen festhalten. Sein ausgestochenes Auge hing ihm auf die Wange herab und
tropfte immer noch. Er sah sich um, entdeckte Eddie, der an die Wand zurückwich, und versuchte aufzustehen.
Er öffnete den Mund, und eine gräßliche Blutfontäne schoß hervor. Henry brach wieder auf dem Boden zusammen.
Mit wildem Herzklopfen wollte Eddie den Telefonhörer abnehmen, aber er stieß mit der Hand dagegen, und der Hörer flog aufs Bett. Er hob ihn auf und wählte die Null. Das Telefon klingelte und klingelte.
Los doch, dachte Eddie, was treibst du Blödhammel dort unten denn - pennst du? Los, bitte, geh doch endlich ans Telefon!
»Empfang«, meldete sich schließlich eine verschlafene, vorwurfsvolle Stimme.
»Verbinden Sie mich mit Mr. Denbroughs Zimmer«, sagte Eddie. »So schnell Sie können.« Mit dem anderen Ohr lauschte er jetzt auf eventuelle Geräusche aus den Nebenzimmern. Hatten Henry und er viel Lärm gemacht? Würde gleich jemand an die Tür klopfen und sich erkundigen, ob alles in Ordnung wäre?
»Sind Sie ganz sicher, daß ich Sie verbinden soll?« fragte der Hotelangestellte. »Es ist zehn nach drei.«
»Nun machen Sie schon!« rief Eddie. Seine Hand, die den Hörer umklammerte, zitterte krampfhaft. Im anderen Arm rumorte der Schmerz. Hatte Henry sich wieder bewegt? Nein, ganz bestimmt nicht.
»Okay, okay«, sagte der Angestellte. »Immer mit der Ruhe, mein Freund.«
Es klickte in der Leitung, und dann war das heisere Surren eines Zimmertelefons zu hören. Los, Bill, los, lo...
Eine furchtbare, sehr plausible Idee schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Angenommen, Henry hatte zuerst Bills Zimmer einen Besuch abgestattet? Oder Richies? Oder Bens? Oder Bevs? Oder war er vielleicht in der Bücherei gewesen? Irgendwo mußte er vorher schon gewesen sein; er hatte ja heftig geblutet; und wenn nicht jemand ihn schon vorher verletzt hätte, so würde er - Eddie - jetzt bestimmt tot auf dem Boden liegen, und das Messer würde aus seiner Brust ragen, so wie die Perrier-Flasche nun aus Henrys Eingewei-den ragte. Oder angenommen, Henry war vorher schon bei allen gewesen, hatte sie aus dem Schlaf gerissen und überrumpelt wie ihn selbst? Angenommen, sie waren alle tot?
Und dieser Gedanke war so fürchterlich, daß Eddie glaubte, er würde einen Schreikrampf bekommen, wenn Bill den Telefonhörer nicht bald abnahm.
»Bitte, Big Bill«, flüsterte er. »Bitte, sei da, Mann!«
Der Hörer wurde abgenommen, und Bills Stimme sagte, ganz uncharakteristisch mißtrauisch: »H-H-Hallo?«
»Bill!« rief Eddie, vor Erleichterung den Tränen nahe. »Bill, Gott sei Dank.«
»Eddie?« Bill Stimme war vorübergehend schwächer zu hören, weil er jemand anderem erklärte: »Es ist Eddie.« Dann fragte er: »W-W-Was ist 1-los, Eddie?«
»Es ist Henry Bowers«, stammelte Eddie. Er warf wieder einen Blick auf den Körper am Boden. Hatte er seine Lage verändert? Diesmal fiel es ihm
weniger leicht, sich selbst zu überzeugen, daß das nicht der Fall war. »Bill... er... er ist hergekommen... und ich habe ihn getötet. Er hatte ein Messer... Ich glaube...« Er senkte die Stimme. »Ich glaube, es war dasselbe Messer, das er an jenem Tag hatte. Als wir in die Abwasserkanäle runterstiegen. Erinnerst du dich daran?«
»Ja, ich erinnere m-mich«, sagte Bill grimmig. »Eddie, hör zu. Ich möchte, daß du
12. Die Barrens, 13.55 Uhr
nach h-h-hinten gehst und B-Ben sagst, er soll herk-k-kommen.«
»Okay, Bill«, sagte Eddie und begab sich sofort nach hinten. Sie näherten sich jetzt der Lichtung. Donner grollte drohend im wolkenverhangenen Himmel, und die Büsche seufzten und rauschten im Wind.
Ben kam zu Bill, als sie die Lichtung erreichten. Die Falltür zum Klubhaus war geöffnet, ein fantastisch anmutendes schwarzes Quadrat inmitten des Grüns. Das Plätschern des Flusses war sehr deutlich zu hören, und Bill überkam plötzlich eine absurde Gewißheit: daß er dieses Geräusch und diesen Platz zum letzten Mal in seiner Kindheit erlebte. Er holte tief Luft, sog den Geruch nach Erde, Bäumen und der Müllhalde ein, die vor sich hin rauchte wie ein eigensinniger Vulkan, der sich nicht entschließen kann zu erlöschen. Er sah eine Vogelschar von der Eisenbahnbrücke in Richtung Old Cape fliegen. Dann blickte er empor zu den bedrohlichen Wolkenmassen.
»Was ist?« fragte Ben ängstlich.
»W-W-Warum haben sie n-nicht versucht, uns zu sch-sch-schnappen?« fragte Bill. »Sie s-sind da. Ich kann sie sch-sch-spüren.«
»Ich auch«, sagte Ben. »Vielleicht sind sie so blöd, daß sie glauben, wir steigen runter ins Klubhaus. Dann säßen wir in der Falle.«
»V-V-V-Vielleicht«, sagte Bill, und plötzlich überkam ihn eine ohnmächtige Wut über sein Stottern, das es ihm unmöglich machte, schnell zu sprechen. Aber möglicherweise hätte er das, was ihn bewegte, ohnehin nicht in Worte fassen können - daß er glaubte, alles fast auch mit Henrys Augen sehen zu können, daß er das Gefühl hatte, Henry und er stünden sich jetzt sehr nahe, obwohl sie auf verschiedenen Seiten kämpften, obwohl sie Schachfiguren waren, die von entgegengesetzten Kräften bewegt wurden.
Henry erwartete von ihnen, daß sie sich dem Kampf stellten.
Es erwartete von ihnen, daß sie sich dem Kampf stellten.
Und ermordet wurden.
In seinem Kopf schien eine kalte Explosion weißen Lichts stattzufinden. Sie würden als Opfer des Mörders gelten, der Derry seit Georgies Tod heimsuchte - es würde heißen, alle sieben seien sie ihm zum Opfer gefallen. Vielleicht würde man ihre Leichen finden, vielleicht auch nicht. Alles hing davon ab, ob Es Henry beschützen würde, ihn beschützen konnte - ihn und in geringerem Ausmaß auch Belch und Victor. Ja. Nach außen hin, für die ganze übrigeStadt, werden wir Opfer des Mörders sein. Und das stimmt sogar, auf merkwürdige Art und Weise stimmt das tatsächlich, denn der Mörder ist Es, und Es kann jeden als SEIN Werkzeug benutzen... schwache Menschen, böse Menschen... vielleicht sogar Menschen, die einfach... na ja, einfach leer sind. Es will, daß wir sterben. Henry ist das Werkzeug, das diese Arbeit verrichten soll, damit Es nicht selbst in Erscheinung treten muß. Ich werde vermutlich als erster sterben - Beverly und Richie könnten die anderen vielleicht zusammenhalten oder auch Mike, aber Stan hat Angst, und Ben ebenso, obwohl ich glaube, daß er stärker ist als Stan. Und Eddie hat einen gebrochenen Arm. Warum habe ich sie nur hierher geführt? Mein Gott! Warum nur?
»Bill?« sagte Ben ängstlich, und die anderen scharten sich neben dem Klubhaus um sie. Es donnerte wieder, und die Büsche raschelten jetzt lauter. Das Bambus trommelte rasselnd im düsteren Sturmlicht.
»Bill...« begann Richie.
»Pssst!« rief Bill eindringlich, und alle schwiegen unbehaglich beim Anblick seiner gehetzten, blitzenden Augen.
Er starrte ins Unterholz, auf den gewundenen Pfad, der zur Kansas Street führte, und sein Geist erklomm plötzlich eine weitere Stufe, stieg gleichsam auf eine höhere Ebene. Sein Geist stotterte nicht; er wurde von einer verrückten Heiterkeit erfaßt, so als würden seine Gedanken von einem rasenden Strom der Intuition emporgehoben, so als flöge ihm alles nur so zu.
George an einem Ende, ich und meine Freunde am anderen. Und dann wird es aufhören.
(wieder)
wieder, ja, wieder, denn solche Dinge sind auch schon früher geschehen, und immer muß irgendein Opfer am Ende stehen, etwas Schreckliches muß sich ereignen, damit es aufhört, ich weiß nicht, woher ich das weiß, aber ich weiß es... und sie... sie...
»Sie 1-1-1-lassen es g-geschehen«, murmelte Bill, während er mit weit aufgerissenen Augen auf die raschelnden Büsche starrte. Jetzt war auch ein neuer Laut zu hören - eiskalte Regentropfen fielen auf die Barrens hernieder.
»Bill?« fragte Beverly flehend. Stan stand leichenblaß neben ihr, klein und schmal und adrett in seinem blauen Polohemd und seiner Baumwoll-hose. Mike befand sich auf Bevs anderer Seite und sah ihn intensiv an, so als lese er seine Gedanken.
Sie lassen es geschehen, das haben sie schon immer getan, und dann kommt alles zur Ruhe, das Leben geht weiter, Es... Es
(schläft)
ja, Es schläft... oder hält so eine Art Winterschlaf wie ein Bär... und dann fängt es wieder an, und sie wissen... die Leute wissen... sie wissen, daß es so sein muß, damit Es existieren kann.
»Ich h-h-h-h-h...«
O bitte Gott o bitte Gott im finstern Föhrenwald bitte Gott da wohnt ein wahrer Meister o Gott laß mich herausbringen was ich ihnen sagen muß ein wahrer Meister der ficht ganz fiachtlos kalt o Gott o Christus BITTE LASS ES MICH HERAUSBRINGEN!
»Ich h-h-habe euch h-h-h-hierhergeführt, w-weil es k-k-keinen s-siche-ren Ort g-gibt«, sagte Bill. Speichel flog durch die Luft; er wischte seine Lippen mit dem Handrücken ab.
»D-D-Derry ist Es. V-Versteht ihr m-mich?« Seine Augen schössen Blitze. »D-D-Derry ist E-E-E-Es! Wohin wir auch g-g-gehen mögen... w-wenn Es uns sch-sch-sch-schnappen will, w-wenn Es uns u-u-umbringt, werden sie n-n-nichts s-s-s-sehen, sie w-werden nichts h-hören, sie w-w-werden nichts w-wissenl« Er sah sie flehend an. »S-S-Seht ihr nicht, w-wie es ist? W-Wir k-k-k-können nur eins t-tun - versuchen zu v-v-vollen-den, w-was wir begonnen h-h-haben.«
»Diese Frau hat aber versucht, mir zu helfen«, sagte Beverly, doch vor ihrem geistigen Auge tauchte das Bild des Mannes auf, der von seinem Liegestuhl auf der Veranda aufgestanden war, hingesehen hatte, seine Zeitung zusammengefaltet hatte... und ins Haus gegangen war. Sie werden nichts sehen, nichts hören, nichts wissen. Und ihr eigener Vater
(zieh jetzt die Hose aus)
hatte die Absicht gehabt, sie umzubringen.
Bill dachte an das Mittagessen mit Mike; seine Mutter hatte sich wieder einmal in ihre Traumwelt zurückgezogen, las einen Roman von Henry James und schien die beiden Jungen überhaupt nicht wahrzunehmen, die sich Sandwiches machten und lachten. Richie dachte an Stans ordentliches, aber völlig leeres Haus. Stan war ein bißchen überrascht gewesen; seine Mutter war zur Mittagszeit fast immer zu Hause, oder aber sie hinterließ ihm auf einem Zettel eine Nachricht. Aber es war keine Nachricht dagewesen. Das Auto hatte nicht in der Garage gestanden, das war alles. »Vermutlich ist sie mit ihrer Freundin Debbie zum Einkaufen gefahren«, hatte Stan gesagt, die Stirn gerunzelt und angefangen, Sandwiches mit Eiersalat zu machen. Richie hatte die Sache ganz vergessen. Bis jetzt. Eddie dachte an seine Mutter, die zu Hause gewesen war, weil es in der Fabrik in Newport im Sommer weniger zu tun gab und sie deshalb nur an vier Tagen pro Woche arbeitete. Als er mit seinem Parcheesi-Brett unter dem Arm weggegangen war, hatte es keine ihrer üblichen Ermahnungen gegeben: Sei vorsichtig, Eddie, stell dich irgendwo unter, wenn es regnet, Eddie, spiel ja keine gefährlichen Spiele, Eddie. Sie hatte ihn nicht gefragt, ob er seinen Aspirator dabei hatte, sie hatte ihm nicht gesagt, um wieviel Uhr er zu Hause sein sollte, sie hatte ihn nicht vor »jenen groben Jungen, mit denen du spielst« gewarnt. Sie hatte sich einfach weiter im Fernsehen eine schnulzige Serie angesehen, so als wäre er überhaupt nicht vorhanden.
So als wäre er überhaupt nicht vorhanden.
Sie hatten alle - in etwas verschiedenen Variationen - den gleichen Gedanken: Sie waren irgendwann in der Zeit zwischen dem Aufstehen und dem Ende des Mittagessens einfach zu unsichtbaren Gespenstern geworden. Sie waren für Derry sozusagen schon tot. Und vielleicht tauchten jetzt keine Monster mehr auf, weil Es Angst vor ihnen hatte und sich für andere - wirksamere - Mittel entschieden hatte - Es hatte bestimmt auch schon in früheren Zeiten richtige Menschen als seine Werkzeuge benutzt anstatt selbst irgendeine Gestalt anzunehmen.
»Die Frau...«, versuchte Beverly noch einmal gegen besseres Wissen einzuwenden.
»Sie war vielleicht nicht aus Derry«, unterbrach Stan sie mit heiserer
Stimme. »Bill, und wenn wir die Abkürzung nehmen? Durch Old Cape und...?«
Bill schüttelte den Kopf. »Ich g-g-glaube nicht, daß das g-geht. W-Wir würden im S-S-Sumpf steckenbleiben... oder es w-w-wären echte P-P-P-Piranhas im K-Kenduskeag... oder etwas a-a-anderes.«
»Wenn wir irgendwie aus der Stadt rauskommen könnten...«, murmelte Richie und zuckte gleich darauf zusammen, als wieder der Donner krachte. Der Regen wurde allmählich stärker - bald würde bestimmt ein richtiger Wolkenbruch niedergehen. Keine Spur mehr von dem diesig-sonnigen milden Wetter. »Wir wären in Sicherheit, wenn wir nur aus dieser verdammten Scheißstadt rauskommen könnten.«
»Piep-p...« begann Beverly, und dann kam aus dem raschelnden Gebüsch ein Stein geflogen, der Mike seitlich am Kopf traf. Er taumelte rückwärts und wäre gestürzt, wenn Bill ihn nicht aufgefangen hätte. Durch sein dichtes, krauses Haar sickerte Blut.
»Euch werd' ich lehren, Steine zu werfen!« ertönte Henrys höhnische Stimme.
Bill sah, daß seine Freunde in einer ähnlichen Verfassung waren wie eingepferchte Mustangs, daß sie am liebsten in sechs verschiedene Richtungen davonsausen wollten. Und wenn sie das taten, würde es das Ende von allem sein. Es würde den Sieg errungen haben.
»B-B-Ben!« sagte er scharf.
Ben sah ihn an. »Bill, wir müssen wegrennen. Sie...«
Zwei weitere Steine flogen aus dem Gebüsch. Einer traf Stan am Oberschenkel, und er schrie auf- mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Dem zweiten konnte Beverly ausweichen. Er fiel zu Bode/n und rollte über die Falltür des Klubhauses. j
»Erinnerst du d-dich an den ersten T-Tag, als du hiör r-r-r-runter kamst?« schrie Bill, um den Donner zu übertönen. »An den TrTag, als die S-S-Som-merferien b-begannen?«
»Bill...«, rief Richie.
Bill brachte ihn mit einer heftigen Handbewegung zum Schweigen. Er ließ Ben nicht aus den Augen, nagelte ihn mit seinen Blicken fest.
»Na klar«, sagte Ben, während er versuchte, gleichzeitig in alle Richtungen zu schauen. Die Büsche schwankten und tanzten jetzt wild.
»Der A-A-A-Abflußkanal«, sagte Bill. »Die P-P-Pumpstation. Dorthin m-m-müssen wir. Bring uns h-hin!«
»Aber...« |
»Bring uns dorthin!« i
Wieder kamen Steine aus den Büschen geflogen, und einen Moment lang konnte Bill Victors Gesicht sehen - es war ängstlich, wie betäubt und doch zugleich auch voller Angriffslust. Dann traf ein Stein seinen Backenknochen, und nun mußte Mike ihn auffangen. Sterne flimmerten ihm vor den Augen. Seine Wange fühlte sich taub an... und dann setzte der Schmerz ein, und er spürte, wie ihm Blut übers Gesicht lief: Er fuhr sich mit der Hand über die Wange, zuckte zusammen, betrachtete das Blut und wischte es an seinen Jeans ab. Seine Haare flatterten wild im Wind, der immer stärker wurde.
»Dich werd' ich lehren, Steine zu werfen, du stotternde Mißgeburt!« kreischte Henry lachend.
»B-B-Bring uns dorthin!« brüllte Bill Ben an. Jetzt verstand er, warum er Eddie vorhin nach hinten geschickt hatte, um Ben zu holen; es war jene Pumpstation, zu der sie gehen sollten, und Ben war der einzige von ihnen, der wußte, welche die richtige war - diese Betonzylinder ragten an beiden Ufern des Kenduskeags aus dem Boden, und unter ihnen führte jeweils ein Rohr zum Fluß. »D-D-Das ist d-der Ort! Der Eingang! Der W-W-W-Weg zu ihm!«
»Bill, das kannst du doch nicht wissen!« schrie Beverly mit hoher, verzweifelter Stimme.
Er brüllte sie - und die anderen - wütend an: »Ich weiß es!«
Ben stand einen Moment lang da, leckte sich über die Lippen und starrte Bill an. Dann drehte er sich um und ging über die Lichtung auf den Fluß zu. Ein greller rötlichweißer Blitz zerriß den Himmel, gefolgt von einem so heftigen Donnerschlag, daß Bill vor Schreck stolperte. Ein faustgroßer Stein sauste an seiner Nase vorbei und traf Ben am Gesäß. Er heulte vor Schmerz auf und rieb sich die Stelle.
»Ja, Fettkloß!« schrie Henry wieder mit dieser halb lachenden, halb kreischenden Stimme. Es knackte und raschelte im Gebüsch, und Henry sprang heraus, gerade als der Wolkenbruch einsetzte. Wasser rann ihm in die kurzgeschorenen Haare, in die Augenbrauen, über die Wangen. Sein Grinsen entblößte alle Zähne. »Dich werd' ich lehren, St...«
Mike hatte ein Stück Holz aufgehoben, das beim Klubhausbau übriggeblieben war. Er schleuderte es und traf Henry an der Stirn. Henry heulte auf, griff sich an die schmerzende Stelle und setzte sich auf den Hosenboden.
»R-R-Rennt!« schrie Bill. »Alle Ben n-nach!«
Wieder knackte und raschelte es im Gebüsch. Und als die Mitglieder des Klubs der Verlierer Ben nachrannten, nahmen Henry, Victor und Belch die Verfolgung auf. i
Sogar später, als die restlichen Ereignisse dieses Tages Ben wieder deutlich vor Augen standen, blieben seine Erinnerungen an diese chaotische Flucht durchs Unterholz bruchstückhaft, unzusammenhängend. Er erinnerte sich an Zweige mit tropfnassen Blättern, die ihm ins Gesicht gepeitscht und ihn mit kaltem Wasser übergössen hatten, er erinnerte sich, daß es fast unablässig geblitzt und gedonnert hatte, und er erinnerte sich, daß Henrys Schreie, sie sollten zurückkommen und kämpfen, sich allmählich mit dem Plätschern und Rauschen des Flusses vermischt hatten, dem sie sich näherten. Jedesmal, wenn er langsamer geworden war, hatte Bill ihn in den Rücken geknufft, um ihn zur Eile anzutreiben.
Was ist, wenn ich sie nicht finde? Was ist, wenn ich diese spezielle Pumpstation nicht finden kann?
Er keuchte, hatte Seitenstechen, und sein Hintern schmerzte an der Stelle, wo der Stein ihn getroffen hatte. Beverly hatte gesagt, Henry und seine Freunde hätten die Absicht, sie zu töten, und Ben glaubte das jetzt auch, o ja, er glaubte es ohne weiteres.
Die Uferböschung tauchte so plötzlich vor ihm auf, daß er nicht mehr rechtzeitig abbremsen konnte und - obwohl er wild mit den Armen ruderte, um das Gleichgewicht zurückzuerlangen - den steilen Abhang zum schnell dahinströmenden Wasser auf dem Hosenboden hinabschlitterte, wobei sein Hemd hochrutschte und nasser Lehm an seinem Rücken kleben blieb.
Bill rannte fast in ihn hinein und zog ihn dann hoch.
Nacheinander kamen nun auch die anderen aus dem Gebüsch am Rand der Uferböschung gestürzt und kletterten den Abhang hinunter: Bev, Stan, Mike, Richie und zuletzt Eddie. Richie schlang ungeschickt einen Arm um Eddies Taille, um ihm hinabzuhelfen; seine nasse Brille hing nur noch an seiner Nasenspitze.
»W-W-Wo?« schrie Bill Ben zu.
Ben schaute nervös nach links und nach rechts, sich nur allzu deutlich der Tatsache bewußt, daß die Zeit furchtbar knapp war. Der Fluß schien bereits gestiegen zu sein, und der wolkenverhangene Regenhimmel hatte ihm eine bedrohliche, schiefergraue Farbe verliehen. Seine Ufer waren mit Büschen und verkümmerten Bäumen überwuchert, die jetzt zu den Melodien des Windes einen wilden Tanz aufführten.
»W-W-Wo?«
»Ich weiß ni...«, setzte er an, und dann sah er die durch Erosion entstandene Höhle, in der er sich damals versteckt hatte, und die ihm so behaglich erschienen war. Er war eingeschlafen, und etwas später, nachdem er wieder aufgewacht war, hatte er dann Bills und Eddies Bekanntschaft gemacht.
Glaubt mir, Jungs, es war ein richtiger Kleinkinderdamm.
»Dort!« rief er. »Da lang!«
Ein Blitz zerriß den Himmel, und diesmal konnte Ben ihn hören - ein Summen und Brummen wie von einem überbeanspruchten Eisenbahntransformator. Der Blitz schlug in den Baum ein, und blauweißes elektrisches Feuer schoß zischend durch seinen Stamm; Holzsplitter flogen umher, die sich gut als Zahnstocher für einen Märchenriesen geeignet hätten. Der Baum stürzte mit ohrenbetäubendem Krachen in den Fluß; Wasserfontänen spritzten hoch.
Ben nahm einen heißen, wilden, unangenehmen Geruch wahr und hielt vor Schrecken die Luft an. Ein Feuerball rollte am Stamm des ertrunkenen Baumes entlang, flammte noch einmal grell auf und erlosch. Donner explodierte, nicht über ihnen, sondern um sie herum, so als stünden sie genau im Zentrum des Donnerschlags. Der Regen prasselte auf sie hernieder.
Bill stieß ihn in den Rücken und riß ihn aus seiner Erstarrung. »L-L-L-Los!«
Ben stolperte am Ufer entlang; er war jetzt so durchnäßt, daß er nicht mehr unterscheiden konnte, ob er noch an Land war oder durchs Wasser platschte. Er erreichte den umgestürzten Baum - die kleine, durch Erosion entstandene Höhle war vernichtet worden - und kletterte darüber hinweg, grub seine Zehen in die nasse Rinde, schürfte sich an den Ästen die Hände und Unterarme auf.
Bill und Richie hoben Eddie hinauf; er rutschte auf dem Baumstamm aus, und als Ben ihn auffangen wollte, fielen sie beide hin. Eddie stöhnte.
»Alles in Ordnung?« schrie ben.
»Ich glaub' schon«, schrie Eddie zurück und stand auf.
Richie kletterte über den Baumstamm hinweg, dann Stan und Mike. Bill schob Beverly hoch, und Ben und Richie fingen sie auf der anderen Seite auf. Ihre Haare klebten am Kopf, und unter der durchnäßten Bluse zeichneten sich ihre kleinen Brüste ab.
Bill erklomm als letzter den Baumstamm und sah Henry und die beiden anderen Jungen kommen. Während er sich auf der unteren Seite vom Stamm herabließ, schrie er: »Sch-Sch-Steine! Werft Steine!«
Hier am Ufer lag genügend Munition herum, und der vom Blitz getroffene, umgestürzte Baum bildete eine ausgezeichnete Barrikade. Sie warfen Steine auf Henry, Victor und Belch, die den Baum fast schon erreicht hatten. Die drei Burschen brüllten vor Schmerz und Wut, als Steine ihre Gesichter, ihre Brustkörbe, ihre Arme und Beine trafen und sie zurückweichen mußten.
»Ihr wolltet uns doch lehren, Steine zu werfen!« schrie Richie triumphierend und schleuderte einen hühnereigroßen Stein nach Victor. Er traf ihn mit voller Wucht an der Schulter, und Victor schrie auf. »Los, bringt es uns ruhig bei! Wir lernen sehr schnell!«
»Jaaa, jaaa!« brüllte Mike. »Wie gefällt euch das? Wie gefällt euch das?«
Die drei zogen sich aus der Gefahrenzone zurück, steckten die Köpfe zusammen und berieten sich. Gleich darauf kletterten sie die Uferböschung hinauf, wobei sie sich an Ästen festhielten, um auf dem glitschigen, nassen Lehm, durch den schon kleine Regenbäche flössen, nicht auszurutschen und hinzufallen.
Sie verschwanden im Gebüsch.
»Sie wollen uns austricksen, von hinten an uns rankommen, Big Bill«, sagte Richie, während er seine Brille hochschob.
»Das m-macht n-n-nichts«, erwiderte Bill. »Los, w-w-weiter, Ben. Wir f-folgen dir.«
Ben trottete am Ufer entlang, blieb kurz stehen, um sich zu orientieren (er rechnete damit, daß Henry und seine Freunde jeden Moment direkt vor seiner Nase auftauchen würden) und sah die Pumpstation etwa 20 Yards weiter unten. Er ging darauf zu, und die anderen folgten ihm. Am anderen Ufer konnten sie zwei weitere Betonzylinder erkennen, einen ziemlich genau gegenüber, den anderen etwa 40 Yards stromaufwärts; aus den dazugehörenden Rohren stürzten schmutzig-trübe Wasserfluten in den Kenduskeag.
Aber aus dem Rohr, das unterhalb des dicht vor ihnen liegenden Zylinders ein Stück über den Fluß hinausragte, sickerte nur ein dünnes Rinnsal. Ben bemerkte, daß auch kein Summen aus ihm zu hören war. Die Pumpe mußte defekt sein.
Er betrachtete Bill nachdenklich und etwas ängstlich.
Bill schaute währenddessen Richie, Stan und Mike an. »W-W-Wir müssen den D-D-D-Deckel hochheben«, sagte er. »Helft m-mir.«
Der Deckel hatte einen vorstehenden Rand, aber er war glitschig vom Regen, und der Deckel selbst war unglaublich schwer. Ben zwängte sich neben Bill, und Bill schob seine Hände etwas zur Seite, damit Ben mit anpak-ken konnte. Ben hörte aus dem Innern des Zylinders das Tröpfeln von Wasser - ein hallendes, unangenehmes Geräusch, das ihn an Brunnen - an Morlock-Brunnen - erinnerte.
»J-J-Jetzt!« rief Bill, und sie zogen zu fünft mit vereinten Kräften. Der Dek-kel bewegte sich knirschend.
Beverly packte jetzt neben Richie mit an, und auch Eddie schob mit seinem gesunden Arm.
»Eins, zwei, drei hau ruck\« kommandierte Richie. Der Deckel schabte ein Stückchen über den Zylinderrand. Ein sichelförmiger Streifen Dunkelheit tat sich auf.
»Eins, zwei, drei, hau ruckl«
Der Streifen wurde breiter.
»Eins, zwei, drei, hau ruck\«
Ben schob mit aller Kraft; rote Sterne flimmerten vor seinen Augen, und sein Rücken schmerzte.
»Aufgepaßt!« schrie Mike. »Jetzt ist's soweit!«
Sie traten beiseite, und der schwere runde Deckel rutschte vollends herunter, schlug eine tiefe Kerbe in die nasse Erde und blieb mit der unteren Seite nach oben liegen. Insekten krochen und sprangen von ihm ins Gras.
»Uff!« sagte Eddie.
Bill spähte in den Zylinder hinein. Eisensprossen führten an einer Wand in die Tiefe, zu einer runden schwarzen Wasserfläche, die jetzt mit Regentropfen gesprenkelt war. Die defekte Pumpe ragte in der Mitte etwas aus dem Wasser heraus. Rechts davon sah er aus einem Abflußrohr Wasser in die Pumpstation fließen, und mit rasendem Herzklopfen dachte er: Dorthin müssen wir. In dieses Rohr hinein.
»E-E-Eddie! Halt dich an m-mir f-f-fest!«
Eddie starrte ihn verständnislos an.
»Ich nehm' d-dich h-h-huckepack. Du b-brauchst dich n-nur mit deinem h-h-heilen Arm festzuhalten.« Er demonstrierte es. Eddie begriff nun, aber er zögerte noch.
»Sch-Sch-Schnell!« rief Bill. »S-Sie werden b-b-bald da sein!«
Eddie legte seinen Arm um Bills Nacken; Stan und Mike hoben ihn etwas hoch, bis er seine Beine um Bills Taille schlingen konnte. Als Bill sich schwerfällig über den Rand des Zylinders schwang, sah Ben, daß Eddie seine Augen fest zugekniffen hatte.
Durch das Rauschen des Regens hindurch konnte er nun auch andere Geräusche vernehmen: Rascheln von Blättern, Stimmengemurmel. Henry, Victor und Belch waren im Anmarsch.
Bill hielt sich am rauhen Rand des Zylinders fest und tastete mit den Füßen nach den Sprossen. Sie waren rund und schlüpfrig. Eddie hatte seinen Hals so fest umklammert, daß er kaum Luft bekam.
»Ich habe Angst, Bill«, wimmerte Eddie.
»Ich a-a-auch.«
Er hielt sich jetzt an der obersten Sprosse fest. Obwohl Eddie ihn fast erwürgte und plötzlich 40 Pfund schwerer als sonst zu sein schien, warf er noch einen Blick in die Runde, auf die Barrens, den Kenduskeag, auf die rasch dahinziehenden Wolken am Himmel. Eine innere Stimme - keine ängstliche, sondern eine sehr energische - hatte ihm gesagt, er solle sich alles gut einprägen für den Fall, daß er die Welt hier oben nie wiedersehen würde.
Dann begann er die Leiter hinabzusteigen, mit Eddie auf dem Rücken.
»Ich kann mich nicht mehr lange festhalten«, klagte Eddie.
»Brauchst d-du auch n-n-nicht«, tröstete ihn Bill. »Wir sind f-f-fast unten.«
Einer seiner Füße tauchte in kaltes Wasser ein. Er tastete nach der nächsten Sprosse, fand sie, und dann noch eine. Die Leiter endete, und er stand neben der dunklen Pumpe knietief im Wasser.
Er bückte sich, zuckte zusammen, als das kalte Wasser ihm in die Hose und über die Hoden floß, und ließ Eddie hinabgleiten. Er holte tief Luft, heilfroh, daß Eddies Arm ihm nicht mehr den Hals zuschnürte.
Er blickte hoch und sah etwa zehn Fuß über seinem Kopf einen kreisförmigen Himmelsausschnitt, der vom Zylinderrand eingerahmt wurde. Seine fünf Freunde beugten sich darüber und schauten zu ihm hinab. »K-K-Kommt runter!« schrie er. »Einer n-nach dem anderen! Sch-Sch-Schnell!«
Beverly schwang sich als erste gelenkig über den Rand des Zylinders und kletterte die Leiter hinab. Stan folgte, dann Ben. Mike und Richie standen noch im strömenden Regen und sahen aus wie nasse Wasserratten. Richie hörte, wie Henry, Victor und Belch sich ein Stück weiter links einen Weg durchs Gebüsch bahnten - leider nicht weit genug entfernt. Sie werden uns sehen, dachte er.
»Weißt du noch«, sagte er zu Mike, »an jenem Tag, als wir im Rauchloch die Vision hatten - da haben wir doch gesehen, wie Es vom Himmel herabkam, stimmt's?«
»Ja.«
»Es ist dort unten.«
»Ja.«
»Steigst du da runter?«
»Ja.«
»Dann nichts wie los«, sagte Richie. »Und wenn du unten angekommen bist, dann setz gefälligst dein strahlendes Lächeln auf, damit ich überhaupt sehen kann, wo du bist, du verdammte Schwarzhaut!«
»Piepe-piep, Richie«, lachte Mike und schwang sich über den Zylinderrand.
In diesem Moment brüllte Victor: »Henry! Da! Tozier!«
Richie drehte sich um und sah sie durch die regennassen Büsche auf sich zukommen. Victor führte... und dann stieß Henry ihn so heftig beiseite, daß er ausrutschte und auf die Knie fiel. Henry hatte tatsächlich ein Messer
- ein Messer, das so aussah, als würde es sich gut zum Schweineschlachten eignen. Von der Klinge rannten Wassertropfen.
Richie spähte in den Zylinder, sah, daß Mike unten angekommen war, und schwang sich über den Rand. Henry begriff, was er vorhatte, und schrie ihm etwas zu. Richie lachte hysterisch und schüttelte die Faust.
»Ihr werdet da unten krepieren!« brüllte Henry.
»Das wollen wir erst mal sehen!« schrie Richie. Er hatte Angst, in den Betonhals der Pumpstation hinabzuklettern, aber trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen. Und er posaunte mit seiner >Stimme eines irischen Bul-len<: »Das Glück läßt die Iren nie im Stich, merk dir das, mein lieber Freund!«
Henry rutschte auf dem nassen Gras aus und fiel auf den Hintern, kaum 20 Fuß von Richie entfernt, der auf der obersten Sprosse stand, sich am Zylinderrand festhielt und bis zur Brust zu sehen war.
»O weia, wenn der Arsch nur nicht aus dem Leim gegangen ist!« brüllte Richie triumphierend und kletterte geschwind die Leiter hinab. Die Eisensprossen waren schlüpfrig, und einmal wäre er fast abgerutscht. Dann griffen Bill und Mike ihm unter die Arme, und er stand neben den anderen bis zu den Knien im Wasser. Er zitterte am ganzen Leibe, heiße und kalter Schauder liefen ihm abwechselnd über den Rücken, aber trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen.
»Du hättest ihn sehen sollen, Big Bill, schwerfällig wie eh und je, stolpert immer noch über seine eigenen Beine...«
Henrys Kopf tauchte oben auf. Seine Wangen waren von Dornen und Ästen zerkratzt. Seine Augen schleuderten haßerfüllte Blitze.
»Okay!« brüllte er hinab. Seine Worte wurden von dem Betonzylinder dumpf zurückgeworfen, ohne ein richtiges Echo zu erzeugen. »Jetzt hab' ich euch!«
Er schwang ein Bein über den Rand, tastete mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und schwang auch das andere Bein hinüber.
Bill erklärte mit lauter Stimme: »W-W-Wenn er ein Sch-Sch-Stück r-run-tergeklettert ist, p-p-p-packen wir ihn und ziehen ihn zu uns. Und d-d-dann t-t-t-tauchen wir ihn unter. Verstanden?«
»Verstanden!« rief Richie und salutierte mit zittriger Hand.
»Verstanden«, sagte auch Ben.
Stan versetzte Eddie einen leichten auffordernden Rippenstoß, aber Eddie begriff nicht, was von ihm erwartet wurde. Ihm kam es so vor, als hätte Richie den Verstand verloren. Er lachte wie verrückt, während Henry Bowers - der allseits gefürchtete Henry Bowers - hinabstieg, um sie wie Ratten in einem Faß umzubringen.
»Alles bestens für ihn vorbereitet, Bill!« schrie Stan - aber seine Worte schienen mehr für Henry als für Bill bestimmt zu sein.
Über ihnen blieb Henry auf der dritten Sprosse von oben plötzlich stehen. Er warf über die Schulter hinweg einen Blick in die Tiefe. Er wirkte jetzt etwas verunsichert. Victor und Belch beugten sich über den Zylinderrand.
Und plötzlich begriff Eddie. Sie konnten nur einer nach dem anderen hinabsteigen. Zum Hinunterspringen war es viel zu hoch, besonders weil die Gefahr bestand, auf der Pumpe zu landen. Und hier unten standen sie zu siebent dicht nebeneinander im Kreis.
»K-K-Komm schon, Henry«, rief Bill liebenswürdig. »W-Worauf w-w-wartest du?«
»Ja, worauf wartest du, Henry?« fiel Richie ein. »Du verprügelst doch so gern kleine Kinder, stimmt's? Dann komm doch runter!«
»Wir warten, Henry«, rief Beverly freundlich. »Ich glaube nicht, daß es dir gefallen wird, wenn du erst mal hier bist, aber komm ruhig, wenn du möchtest!«
»Oder hast du etwa Angst?« fügte Ben hinzu. Henry blickte zu ihnen hinab; er umklammerte sein Messer mit der linken Hand, und sein Gesicht lief vor Wut ziegelrot an.
Gleich darauf kletterte er wieder aus dem Zylinder heraus,, begleitet von lautem Pfeifen, Zischen und Buh-Rufen der sieben Freunde.
»O-O-Okay«, sagte Bill leise. »Und jetzt sch-sch-schnell ins Rohr hinein.«
»Wozu denn, Bill?« fragte Beverly, aber Bill konnte sich die Antwort sparen, denn Henrys Oberkörper tauchte wieder über dem Rand des Zylinders auf, und er warf einen großen Stein hinab. Beverly schrie auf, und Stan zog geistesgegenwärtig Eddie nach hinten an die Wand. Der Stein fiel auf das rostige Stahlgehäuse der Pumpe - boing! - prallte ab und flog direkt neben Eddie gegen die Wand. Ein Betonsplitter zerkratzte ihm die Wange. Der Stein landete im Wasser, das hochspritzte wie ein Geysir.
»R-R-Rasch!« schrie Bill wieder, und sie zogen sich in das Rohr zurück, das in die Pumpstation mündete und einen Durchmesser von etwa vier Fuß hatte. Sie mußten sich alle etwas bücken, aber hier waren sie in Sicherheit. Weitere Steine kamen heruntergeflogen; die meisten schlugen auf der Pumpe auf und prallten in den verschiedensten Winkeln von ihr ab.
Als das Bombardement aufhörte, schaute Bill heraus und sah, daß Henry die Leiter herunterkletterte. »Sch-Sch-Schnappt ihn euch!« schrie er den anderen zu. Richie, Ben und Mike sprangen aus dem Rohr und wateten durchs Wasser. Richie reckte sich hoch und packte Henry am Fußknöchel. Henry fluchte und schüttelte sein Bein, so als wollte er einem lästigen Terrier einen Fußtritt versetzen. Richie zog sich an einer Sprosse etwas hoch und grub seine Zähne in Henrys Knöchel. Henry schrie auf und kletterte rasch hinauf. Dabei verlor er einen seiner Segeltuchschuhe, der ins stehende Wasser platschte, wo er kurze Zeit umherschwamm wie ein seltsames Boot, bevor er unterging.
»Er hat mich gebissen!« schrie Henry wütend. »Gebissen! Der kleine Dreckskerl hat mich gebissen!«
»Nur gut, daß ich im Frühjahr gegen Tetanus geimpft worden bin!« rief Richie ihm zu.
»Los, bombardiert sie!« brüllte Henry, außer sich vor Wut. »Bombardiert sie, bombardiert diese Drecksäue! Schlagt ihnen die Schädel ein!«
Wieder flogen Steine. Bill, Richie, Ben und Mike zogen sich rasch wieder ins Rohr zurück. Mike wurde von einem relativ kleinen Stein am Arm getroffen; er stöhnte und umklammerte ihn, bis der Schmerz nachließ.
»Es ist eine Zwickmühle«, sagte Stan. »Sie können nicht runter, aber wir können auch nicht rauf.«
»W-W-Wir s-sollen ja auch gar nicht w-w-wieder rauf«, sagte Bill ruhig. »Und d-d-das w-wißt ihr alle.«
Sie schauten ihn mit angsterfüllten Augen. Niemand sagte etwas.
Henrys Stimme schallte herab, voller Spott und Hohn, hinter denen sich seine Wut verbarg: »Wir können den ganzen Tag hier warten, ihr Arschlöcher! Irgendwann müßt ihr ja doch rauskommen!«
Beverly drehte sich um und blickte das lange Rohr entlang, wo das graue Licht rasch schwächer wurde und schließlich in undurchdringliche Schwärze überging. Was sie sehen konnte, war ein Betontunnel, dessen unteres Drittel mit schwarzem, schnell dahinströmenden Wasser gefüllt war. Sie stellte fest, daß es jetzt schon etwas höher stand als anfangs; das lag natürlich an der defekten Pumpe; dadurch floß nur ein kleiner Teil des Wassers auf der anderen Seite der Pumpe in den Kenduskeag ab. Ihr wurde die Kehle eng vor Klaustrophobie. Wenn das Wasser hoch genug stieg, würden sie hier drin ertrinken.
»Bill, müssen wir es wirklich tun?«
Er nickte, dann zuckte er die Achseln. Dieses Achselzucken besagte alles. Was blieb ihnen denn schon anderes übrig? Henry, Victor und Belch in den Barrens, etwas anderes - vielleicht noch viel Schlimmeres in der Stadt. Es wollte ihren Tod. Sie dachte: Es ist besser für uns, zu ihm zu gehen als darauf zu warten, daß Es zu uns kommt. Das ist es, was Bill meint.
»Wie hieß noch das Ritual, von dem du uns erzählt hast, Big Bill?« fragte Richie. »Von dem du in dem Büchereibuch gelesen hast?«
»Ch-Ch-Chüd«, sagte Bill und lächelte ein wenig.
»Chüd.« Richie nickte. »Du beißt auf seine Zunge, und Es beißt auf deine Zunge. So war's doch?«
»Sch-Sch-Sch-Stimmt genau.«
»Und dann erzählt man Witze.«
Bill nickte.
»Komisch«, sagte Richie und starrte in das dunkle Rohr. »Mir fällt kein einziger Witz ein.«
»Mir auch nicht«, sagte Ben. Die Angst lastete wie ein schweres Gewicht auf seiner Brust, schnürte ihm den Atem ab, erstickte ihn fast. Er wußte, daß das einzige, was ihn davon abhielt, sich ins Wasser zu setzen und wie ein Baby zu heulen - oder einfach verrückt zu werden -, Bills beruhigende, sichere Gegenwart war... und Beverly. Er spürte, daß er lieber sterben als Beverly zeigen würde, wie sehr er sich fürchtete.
»Weißt du, wohin dieses Rohr führt?« fragte Stan Bill.
Bill schüttelte den Kopf.
»Weißt du, wie wir Es finden können?«
Wieder schüttelte Bill den Kopf.
»Wir werden es wissen, sobald wir uns ihm nähern«, sagte Richie plötzlich. Er holte tief Luft. »Wenn wir es tun müssen, dann machen wir uns am besten gleich auf den Weg.«
Bill nickte. »Ich z-z-zuerst. Dann E-Eddie. B-B-Ben. Bev. Stan. Mike. Du zuletzt, R-R-Richie. Jeder legt s-s-seinem Vordermann die Hand auf die Sch-Schulter. Es wird d-dunkel sein.«
»Kommt ihr jetzt heraus?« brüllte Henry.
»Irgendwo werden wir wohl herauskommen«, murmelte Richie.
Sie nahmen hintereinander Aufstellung, wie eine Prozession von Blinden. Bill drehte sich noch einmal um und vergewisserte sich, daß jeder seine Hand auf der Schulter des Vordermanns - in Stans Fall auf der Schulter der Vorderfrau - liegen hatte. Dann beugte Bill Denbrough sich etwas vor, um in der Gegenströmung leichter voranzukommen, und führte seine Freunde in die Dunkelheit hinein.
1. Tom
Tom Huggins hatte einen Traum, wie er verrückter gar nicht sein konnte.
Er stolperte und plantschte einen langen, dunklen Tunnel entlang. Seine Hoden schmerzten, und sein Gesicht brannte, weil es ganz zerkratzt war. Zwei andere waren beim ihm, doch er konnte ihre Gestalten nur verschwommen sehen. Das war aber auch nicht weiter wichtig. Wichtig waren nur die Kinder, irgendwo vor ihm. Er mußte es den Kindern heimzahlen. Sie mußten
(eine ordentliche Tracht Prügel bekommen)
bestraft werden.
Was für ein Fegefeuer dies hier auch sein mochte - es stank jedenfalls bestialisch. Wasser tropfte von den Wänden. Seine Füße waren kalt, seine nasse Hose klebte an seinen Beinen. Die anderen waren irgendwo weiter vorne in diesem Tunnellabyrinth, und vielleicht glaubten sie
(Henry)
Tom und seine Freunde würden sich hoffnungslos verirren, aber das konnte höchstens ihnen selbst passieren.
(ha-ha, Henry, du dummes Arschloch, ha-ha!)
denn er hatte einen freund, o ja, einen ganz speziellen freund, und dieser freund hatte den richtigen Weg für sie markiert mit... mit...
(Mond-Ballons)
mit Luftballons, die groß und rund und innen irgendwie beleuchtet waren, so daß sie ein mattes Licht verbreiteten wie das altmodischer Straßenlaternen. Einer dieser Ballons schwebte an jeder Kreuzung, und auf jedem war ein Pfeil, der in jenen Tunnelarm wies, den er und
(Belch und Victor)
seine nicht genau erkennbaren Freunde entlanggehen sollten. Und es war der richtige Weg, o ja: Er hörte die anderen vor sich, hörte - durch das Echo verzerrt- ihr Stimmengemurmel. Er und seine Freunde holten immer mehr auf. Und sobald sie sie erreicht hatten... er blickte an sich herab und sah, daß er ein langes Messer in der Hand hielt.
Einen Moment lang verspürte er Angst - dies war etwas Ähnliches wie jene verrückten Astralerlebnisse, von denen er manchmal in populären Wochenzeitschriften gelesen hatte, wo die Seele den Körper verließ und sich in einem anderen Körper Wohnung nahm. Er hatte das Gefühl, als hätte sein Körper sich verändert, als sei er nicht Tom, sondern
(Henry)
jemand anderer, ein viel jüngerer Mensch, ein Kind. In panischer Angst versuchte er, diesem Traum zu entrinnen, aufzuwachen, und dann sprach eine stimme zu ihm, eine besänftigende stimme, und sie flüsterte ihm ins Ohr: Es spielt keine Rolle, wann das ist, und es spielt nicht einmal eine Rolle, wer du bist. Wichtig ist einzig und allein, daß Beverly da vorne ist, sie ist bei ihnen, mein
lieber Freund, und weißt du was? Sie hat etwas viel, viel Schlimmeres getan als nur geraucht, mein Freund. Sie hat mit ihrem alten Freund Bill Denbrough gefickt. O ja, in der Tat. Sie und diese stotternde Mißgeburt haben es miteinander getrieben.
Sie...
Das ist eine Lüge! versuchte er zu schreien. Das würde sie nicht wagen!
Aber er wußte, daß es keine Lüge war. Die stimme, die stimme von den Mond-Ballons, hatte die Wahrheit gesagt. Sie hatte ihn mit dem Gürtel geschlagen, auf seine
(getreten hat sie mich in die)
Hoden, und sie hatte ihn betrogen, dieses verdammte kleine Drecksstück, dieses Mistvieh hatte ihn tatsächlich betrogen, und - liebe Freunde und Nachbarn - sie würde dafür die Tracht Prügel ihres Lebens bekommen
- sie und dann dieser Denbrough, ihr Schriftsteller-Freund. Und ebenso jeder andere, der versuchen sollte, sich ihm in den Weg zu stellen.
Er beschleunigte sein Tempo, obwohl er ohnehin schon pfeifend atmete und keuchte. Vor sich sah er wieder eine leuchtende Kugel in der Dunkelheit - einen weiteren Mond-Ballon. Er konnte die Stimmen der anderen ein Stück weiter vorne hören, und die Tatsache, daß es Kinderstimmen waren, verwirrte ihn nun nicht mehr. Es war so, wie die stimme gesagt hatte: Es spielte keine Rolle, wann und wer. Aber Beverly war dort vorne, und -
»Los, Jungs, bewegt mal eure Ärsche«, sagte er, und es spielte nicht einmal mehr eine Rolle, daß seine Stimme nicht seine eigene war, sondern die eines Jungen.
Dann, als sie sich dem Mond-Ballon näherten, drehte er sich um und sah, daß seine beiden Gefährten tot waren. Einer hatte keinen Kopf mehr. Das Gesicht des anderen war aufgeschlitzt, wie von einer riesigen Kralle.
»Wir gehen so schnell wir nur können, Henry«, sagte der Junge mit dem aufgeschlitzten Gesicht, und seine Lippen bewegten sich in zwei Teilstük-ken, und groteskerweise nicht einmal synchron, und in diesem Augenblick begann Tom zu schreien, der Traum zerfiel, und er kam wieder zu sich und stellte fest, daß er dicht am Rand eines - wie ihm schien - riesigen leeren Raums hing.
Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, verlor es und fiel auf den Boden, wo ein Teppich lag. Trotzdem bereitete der Sturz ihm rasende Schmerzen in seinem verletzten Knie, und er mußte sich in den Unterarm beißen, um einen Schrei zu unterdrücken.
Wo bin ich? Wo zum Teufel bin ich nur?
Traum und Realität waren noch wild vermischt, und er grub seine Finger krampfhaft in den Teppich und biß sich noch fester in den Arm, weil er den Schmerz brauchte. Der Schmerz war die Nabelschnur, die ihn mit der Realität verband.
Er nahm ein schwaches, aber klares weißes Licht wahr, und einen schrecklichen Moment lang glaubte er, wieder in jenem Traum zu sein, das Licht von einem jener verrückten Ballons zu sehen. Dann fiel ihm ein, daß er die Badtür einen Spalt weit offengelassen hatte und daß die Neonröhre dort noch brannte. Das machte er immer so, wenn er an einem fremden Ort übernachtete, um sich nicht die Schienbeine anzuschlagen, wenn er nachts pinkeln mußte.
Das versetzte ihn endgültig in die Realität zurück. Es war ein Traum gewesen, nur ein verrückter Traum, weiter nichts. Er befand sich in einem >Holiday Inn<. Dies war Derry, Maine. Er war seiner Frau hierhergefolgt und mitten in einem verrückten Alptraum aus dem Bett gefallen. Das war alles.
Das war nicht nur ein Alptraum.
Er zuckte zusammen, so als wäre die Stimme, die diese Worte gesprochen hatte, dicht neben seinem Ohr gewesen, als handle es sich nicht um seine eigene innere Stimme. Sie hatte gar nicht wie seine eigene innere Stimme geklungen - sie war kalt, fremd... aber irgendwie hypnotisch und glaubwürdig.
Er richtete sich langsam auf, griff nach einem Glas Wasser, das auf dem Nachttisch stand, und trank es gierig aus. Er setzte sich und fuhr sich mit zitternden Händen durch die Haare. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte zehn Minuten nach drei an.
Schlaf weiter. Warte bis zum Morgen.
Und jene fremde Stimme antwortete: Aber am Morgen werden andere Leute in der Nähe sein - zuviel Leute. Und außerdem kannst du diesmal vor ihnen dort unten sein.
Diesmal kannst du als erster unten sein.
Dort unten? Er dachte an seinen Traum: das Wasser, die tropfende Dunkelheit.
Das Licht schien plötzlich heller zu sein. Er drehte langsam den Kopf, gegen seinen Willen, irgendwie zaghaft. Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Am Knopf der Badezimmertür war ein Ballon festgebunden. Er schwebte am Ende einer etwa drei Fuß langen Schnur. Ein gespenstisch weißes Licht schimmerte in seinem Inneren; er sah aus wie ein Irrlicht, das in einem Moor verträumt zwischen Bäumen umherfliegt, die mit dichtem grauem Moos überwachsen sind. Auf die Ballonhaut war ein Pfeil aufgedruckt, ein blutroter Pfeil.
Der Pfeil deutete auf die Tür zum Korridor.
Es spielt eigentlich keine Rolle, wer ich bin, sagte die stimme beruhigend, und Tom begriff jetzt, daß sie weder aus seinem eigenen Kopf kam noch neben seinem Ohr war; sie kam von dem Ballon her, aus der Mitte jenes weichen, seltsamen, herrlichen weißen Lichts.
Das einzige, was eine Rolle spielt, ist, daß ich dafür sorgen werde, daß alles sich zu deiner Zufriedenheit entwickelt, Tom. Ich will, daß sie Prügel bekommt; ich will, daß sie alle Prügel bekommen. Sie haben meinen Weg einmal zu oft gekreuzt... und viel zu spät für sie. Hör mir jetzt gut zu, Tom. Hör mir aufmerksam zu.. .Hör mir zu...
Tom hörte zu. Die stimme aus dem Ballon erklärte.
Sie erklärte ihm alles.
Als sie damit fertig war, platzte der Ballon.
Tom begann sich eilig anzuziehen.
2. Audra
Auch Audra hatte einen Alptraum gehabt.
Sie fuhr aus dem Schlaf hoch und stellte fest, daß sie aufrecht im Bett saß, daß das Leintuch sich ihr um die Taille gewickelt hatte und daß ihre kleinen nackten Brüste sich rasch hoben und senkten.
Wie Toms Traum, so war auch der ihrige ein wirres, qualvolles Erlebnis gewesen. Wie Tom, so hatte auch sie das Gefühl gehabt, jemand anders zu sein - oder vielmehr, ihr eigenes Bewußtsein in einen anderen Körper und einen anderen Geist versetzt zu sehen, teilweise damit zu verschmelzen. Sie war mit mehreren anderen an einem dunklen Ort gewesen, und sie war sich einer schrecklichen Gefahr bewußt gewesen - sie gingen freiwillig dieser Gefahr entgegen, und sie wollte den anderen zuschreien, sie sollten stehenbleiben und ihr erklären, was da eigentlich vor sich ging... aber jene andere Person schien es zu wissen und es für notwendig zu halten.
Sie war sich auch bewußt gewesen, daß sie verfolgt wurden und daß ihre Verfolger allmählich aufholten.
Bill war in dem Traum gewesen, aber sein Bekenntnis, daß er seine Kindheit vergessen hatte, mußte sie unbewußt so stark beschäftigt haben, daß der Bill in ihrem Traum ein Junge von zehn oder zwölf Jahren gewesen war
- er hatte noch alle seine Haare gehabt. In ihrem Traum hielt sie seine Hand und war sich vage bewußt, daß sie ihn sehr liebte, daß ihre Bereitschaft, weiterzugehen, auf dem felsenfesten Glauben basierte, daß Big Bill sie und die anderen beschützen würde, daß Big Bill sie irgendwie durch diese Gefahr und wieder zurück ans Tageslicht bringen würde.
Oh, aber sie hatte so schreckliche Angst.
Sie gelangten an eine Stelle, von der viele Tunnels in verschiedene Richtungen ausgingen, und Bill stand da und schaute ratlos von einem Tunnel zum anderen, und einer ihrer Freunde - ein Junge mit einem Gipsarm in der Schlinge - sagte: »Der hier, Bill. Der dritte von links.«
»B-B-Bist du sicher?«
»Ja.«
Sie schlugen diesen Weg ein, und dann standen sie plötzlich vor einer Tür, einer seltsamen kleinen Holztür, einer Tür wie aus einem Märchenbuch, und auf der Tür war ein Zeichen. Sie konnte sich nach dem Aufwachen nicht erinnern, wie dieses Zeichen ausgesehen hatte, was für eine merkwürdige Rune oder was für ein geheimnisvolles Symbol es gewesen war. Aber dieser Anblick hatte ihr Entsetzen auf den Höhepunkt getrieben, und sie hatte sich aus diesem anderen Körper herausgerissen, aus diesem Körper eines Mädchens, wer immer das auch
(Beverly, Beverly Marsh)
gewesen sein mochte. Sie erwachte aufrecht im Bett sitzend, schweißgebadet, mit schreckensweit aufgerissenen Augen keuchend, als hätte sie gerade an einem Wettlauf teilgenommen. Sie griff nach ihren Beinen und rechnete halb damit, daß sie kalt und naß von dem Wasser sein würden, durch das sie im Traum gewatet war. Aber sie waren trocken.
Sie sah sich um und hatte keine Ahnung, wo sie war - dies war nicht ihr Haus in Topanga Canyon, und es war auch nicht das gemietete Haus in
Fleet. Dies war Nirgendwo, eine Vorhölle, die mit einem Bett, einem Toilettentisch, zwei Stühlen und einem Fernseher ausgestattet war.
»O Gott, nun komm schon, Audra...«
Sie rieb sich mit den Händen kräftig das Gesicht, und dann funktionierte ihr Gedächtnis wieder. Jenes schreckliche Gefühl eines geistigen Schwindelanfalls legte sich. Sie war in Derry. Derry, Maine, wo ihr Mann seine Kindheit verbracht hatte, an die er sich angeblich nicht mehr erinnerte. Für sie war das kein vertrauter Ort, und ihr Gefühl sagte ihr, daß es kein besonders angenehmer Ort war, aber zumindest wußte sie jetzt wieder, wo sie war. Sie war hier, weil Bill hier war, und sie würde ihn morgen in Derry im Derry Town House sehen. Was immer hier auch Schreckliches vorgehen mochte, was auch immer jene plötzlich auf seinen Händen aufgetauchten Narben zu bedeuten hatten - sie würden sich dem gemeinsam stellen. Sie würde ihn anrufen, ihm sagen, daß sie hier war, sie würde zu ihm gehen. Und danach...
Undurchdringliche Schwärze. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, an einem Ort zu sein, der wirklich Nirgendwo war, drohte zurückzukehren. Mit neunzehn hatte sie mit einer schäbigen kleinen Theatergruppe eine Tournee gemacht - sie hatten in 47 Tagen in 40 verschiedenen kleineren Städten 40 Vorstellungen von >Arsenic and Old Lace< gegeben; sie hatten im >Peabody Dinner Theater< in Massachusetts angefangen und im >Play It Again Sam Revival Theater< in Sausalito aufgehört. Und irgendwann zwischendurch, in irgendeiner Stadt im Mittelwesten wie Ames oder Grand Isle oder Jubilee, war sie wie jetzt mitten in der Nacht aufgewacht und in Panik geraten, weil ihr jede Orientierung fehlte, weil sie nicht wußte, in welcher Stadt sie war, welches Datum oder wieviel Uhr es war. Sogar ihr eigener Name war ihr unwirklich vorgekommen.
Dieses Gefühl war damals bald vergangen, aber jetzt hatte sie es wieder, in noch stärkerem Ausmaß. Ihr Alptraum wirkte immer noch nach, und sie verspürte eine grenzenlose Angst. Die Stadt schien sich um sie gewickelt zu haben wie eine Riesenschlange. Sie konnte sie spüren, und sie rief in ihr keine guten Gefühle hervor. Sie stellte fest, daß sie wünschte, sie hätte Freddies Rat befolgt und wäre weggeblieben.
Sie versuchte sich ausschließlich auf Bill zu konzentrieren, sich an dem Gedanken an ihn festzuklammern wie eine Ertrinkende an einem Rettungsring, einer Schiffsplanke, an irgend etwas, das schwimmt.
(wir alle schwimmen hier unten, Audra, wir schwimmen und schweben und flie
gen)
Ein kalter Schauder überlief sie, und sie verschränkte unwillkürlich ihre Arme über den nackten Brüsten. Sie bemerkte, daß sie am ganzen Körper eine Gänsehaut hatte. Einen Moment lang war es ihr so vorgekommen, als hätte eine Stimme laut gesprochen, aber in ihrem Kopf. So als befände sich dort ein Fremder.
Werde ich verrückt? O Gott, ist es das?
Nein, erwiderte ihr Verstand. Es ist nichts weiter als Desorientierung... der Flug... die Zeitverschiebung... die Sorgen, die du dir um deinen Mann machst. Niemand spricht in deinem Kopf. Niemand...
»Wir alle schweben hier unten, Audra«, sagte eine Stimme aus dem Bade-
zimmer. Es war eine reale Stimme, aber sie hatte etwas Schreckliches an sich. Etwas Schlaues und Gemeines und Böses. »Auch du wirst schweben.« Die Stimme stieß ein leises Kichern aus, das immer tiefer wurde, bis es sich anhörte wie das Blubbern in einem verstopften Rohr. Audra schrie auf... und dann preßte sie beide Hände vor den Mund.
Ich habe das nicht gehört.
»Ich habe das nicht gehört«, sagte sie laut und riskierte es einfach, daß die Stimme ihr vielleicht widersprechen würde. Aber das geschah nicht. Es war ganz still im Zimmer. Irgendwo in der Ferne pfiff ein Zug in der Nacht.
Plötzlich brauchte sie Bill so dringend, daß es ihr unmöglich vorkam, bis zum Tagesanbruch zu warten. Sie war in einem ganz gewöhnlichen Motelzimmer, das sich in nichts von den 39 anderen Zimmern dieses Motels unterschied, aber plötzlich war es ihr zuviel. Wenn man an einem Ort plötzlich Stimmen hörte, so war das einfach zuviel, zu unheimlich. Sie hatte das Gefühl, in den Alptraum zurückzugleiten, dem sie entronnen war. Sie hatte Angst und fühlte sich furchtbar allein und verlassen.
Audra schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf ihre Uhr. Es war zwölf nach drei. Er würde schlafen, aber das war ihr jetzt ganz egal - sie wollte nur eins: seine Stimme hören. Sie wollte den Rest dieser Nacht mit ihm zusammen verbringen. Sie dachte, daß sie dann bestimmt keine Alpträume mehr haben würde. Sie schlug die Gelben Seiten im Telefonbuch auf, fand die Nummer des Derry Town House und wählte sie.
»Derry Town House.«
»Würden Sie mich bitte mit Mr. Denbroughs Zimmer verbinden? Mr. William Denbrough?«
»Wird dieser Bursche hin und wieder auch mal tagsüber angerufen?« murmelte der Hotelangestellte geheimnisvoll, aber bevor sie ihn fragen konnte, was das denn heißen sollte, hatte er die Verbindung hergestellt. Das Telefon klingelte einmal, zweimal, dreimal. Sie stellte sich vor, wie er tief unter der Decke schlief, so daß nur die Spitze seines Kopfes zu sehen war; sie stellte sich vor, wie er eine Hand unter der Decke hervorstreckte und nach dem Hörer tastete. Sie hatte ihn schon häufig dabei beobachtet, und ein zärtliches Lächeln glitt über ihr Gesicht, verschwand aber wieder, als das Telefon ein viertes Mal klingelte... ein fünftes, sechstes, siebtes Mal. Beim achten Klingelzeichen wurde die Verbindung unterbrochen.
»In diesem Zimmer meldet sich niemand.«
»Sind Sie ganz sicher, daß Sie im richtigen Zimmer angerufen haben?« fragte Audra noch verwirrter und ängstlicher als zuvor.
»Jawohl«, sagte der Angestellte. »Mr. Denbrough erhielt vor knapp fünf Minuten einen Anruf aus unserem Haus. Ich weiß, daß er diesen Anruf entgegengenommen hat, denn das Licht auf dem Schaltbrett hat ein-zwei Minuten geleuchtet. Er muß in das Zimmer des Anrufers gegangen sein.«
»Und welche Nummer hat dieses Zimmer?«
»Das weiß ich nicht mehr. Es war eins im sechsten Stock, glaube ich. Aber...«
Sie legte den Hörer auf. Eine qualvolle Gewißheit überkam sie - es war eine Frau. Irgendeine Frau hatte Bill angerufen... und er war zu ihr gegangen. Nun, und was jetzt, Audra? Wie sollen wir das verkraften?
Sie war den Tränen nahe. Sie brannten in ihren Augen, in ihrer Nase; sie spürte ein Schluchzen in ihrer Kehle aufsteigen. Keinen Zorn, zumindest noch nicht... nur ein schreckliches Gefühl von Verlust und Einsamkeit.
Audra, jetzt beherrsch dich mal. Du ziehst Schlußfolgerungen, die absolut nicht zwingend sind. Es ist mitten in der Nacht, und du hast einen Alptraum gehabt, und nun glaubst du, daß Bill bei einer anderen Frau ist. Aber das muß nicht so sein. Was du jetzt also tun wirst, ist, dich hinzusetzen - einschlafen wirst du sowieso nicht mehr. Schalt ein paar Lampen ein und lies den Roman zu Ende, den du dir für den Flug mitgenommen hast. Keine Alpträume mehr. Keine Stimmen mehr. Keine hysterischen, voreiligen Schlußfolgerungen mehr. Dorothy Sayers und Lord Peter, das ist genau das Richtige. >The Nine Taüors<. Das wird dir die Zeit bis zum Tagesanbruch vertreiben. Das wird...
Plötzlich ging im Bad das Licht an; sie konnte es durch den Spalt der Tür sehen. Dann klickte die Klinke, und die Badezimmertür flog auf. Audra starrte mit aufgerissenen Augen dorthin und verschränkte unwillkürlich wieder die Arme vor der Brust. Ihr Herz hämmerte gegen die Rippen, und sie spürte den herben Geschmack von Adrenalin im Mund.
Diese tiefe, schleppende Stimme sagte: »Wir alle schweben hier unten, Audra.« Das letzte Wort wurde zu einem langen, nur allmählich verklingenden Schrei - Audraaaaaaaa -, der wieder in jenem grausigen Blubbern endete, das einem Lachen so sehr ähnelte.
»Wer ist da?« schrie sie und wich etwas zurück. Das habe ich mir nicht nur eingebildet, auf gar keinen Fall, das kannst du mir nicht weismachen...
Der Fernseher schaltete sich ein. Sie wirbelte herum und sah einen Clown in silbrigem Kostüm mit großen orangefarbenen Knöpfen, der auf dem Bildschirm Luftsprünge machte. Anstelle der Augen gähnten nur leere schwarze Höhlen, und als sich die blutrot geschminkten Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen, sah sie rasierklingenartige Zähne. Er hielt einen abgetrennten Kopf in die Höhe, von dem Blut herabtropfte. Die Augen des Kopfes waren so verdreht, daß nur das Weiße zu sehen war, und der Unterkiefer war heruntergefallen, aber sie konnte dennoch genau erkennen, daß es Freddie Firestones Kopf war. Der Clown lachte und tanzte. Er schwenkte den Kopf herum, und Bluttropfen spritzten gegen die Innenseite des Bildschirms.
Audra versuchte zu schreien, brachte aber nur ein ganz leises Wimmern hervor. Sie griff blindlings nach ihrem Kleid, das über einer Stuhllehne hing, und nach ihrer Handtasche. Sie stürzte auf den Gang hinaus und schlug keuchend, mit schneeweißem Gesicht, die Tür hinter sich zu. Sie klemmte sich die Handtasche zwischen die Knie und streifte ihr Kleid über den Kopf.
»Schweben«, kicherte eine leise Stimme hinter ihr, und sie spürte, wie kalte, tote Finger sie an einer nackten Ferse berührten.
Sie stieß wieder einen hohen, atemlosen Schrei aus und sprang von der Tür weg. Weiße Leichenfinger zuckten darunter vor und zurück; die Nägel fehlten; nur das rötlichweiße blutlose Nagelbett war noch zu sehen. Die Finger kratzten leise über den rauhen Teppichboden im Gang.
Audra bückte sich, packte ihre Handtasche am Griff und rannte barfuß auf die Tür am Ende des Ganges zu. Sie war jetzt in blinder Panik, und sie
war von einem einzigen Gedanken besessen: das Town House und Bill zu finden. Es war ihr jetzt völlig egal, ob er mit einem Dutzend anderer Frauen im Bett lag oder nicht. Sie würde ihn finden und ihn dazu bringen, mit ihr von hier wegzufahren, weg von den unsagbaren Schrecken dieser Stadt.
Sie lief den Gehweg entlang zum Parkplatz und suchte verzweifelt nach ihrem Auto. Einen Moment lang konnte sie sich nicht mehr erinnern, was für eine Marke es gewesen war. Dann fiel es ihr wieder ein: Datsun, tabakbraun. Sie entdeckte ihn; der untere Wagenteil bis zur Radkappe verschwamm im dichten Bodennebel. Sie rannte darauf zu und suchte dann nach ihren Schlüsseln. Sie wühlte wild in ihrer Handtasche herum und versuchte sich von ihrer Panik nicht völlig aus der Fassung bringen zu lassen. Sie bemerkte den schäbigen LTD überhaupt nicht, der Motorhaube an Motorhaube vor ihrem Mietwagen stand, und schon gar nicht den Mann am Steuer. Sie bemerkte es auch nicht, als die Tür des LTD geöffnet wurde und der Mann ausstieg; sie hatte jetzt die entsetzliche Befürchtung, daß sie die Wagenschlüssel im Hotelzimmer vergessen hatte. Und dorthin konnte sie nicht zurückgehen; sie schaffte es einfach nicht.
Ihre Finger berührten unter einem zerknüllten Kleenex-Tuch hartes Metall, und sie stieß einen leisen triumphierenden Laut aus. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie noch, es könnte auch der Schlüssel ihres Rovers sein, der jetzt 3000 Meilen entfernt auf dem Bahnhofsplatz in Fleet stand, doch dann ertastete sie den Plexiglasanhänger der Mietwagenagentur. Sie steckte den Schlüssel mit zittriger Hand ins Türschloß und drehte ihn. Sie atmete laut und stoßweise. In diesem Augenblick fiel eine Hand auf ihre Schulter, und sie schrie... diesmal schrie sie laut. Irgendwo bellte als Antwort ein Hund, aber das war auch schon alles.
Die stahlharte Hand grub sich schmerzhaft in ihre Schulter und riß sie herum. Das Gesicht, das auf sie herabstarrte, war verquollen und zerkratzt. Die kleinen Augen funkelten. Als die geschwollenen Lippen sich zu einem grotesken Lächeln verzogen, sah sie, daß der Mann einige abgebrochene Vorderzähne hatte.
Sie versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Die Hand packte noch fester zu.
»Habe ich Sie nicht schon im Kino gesehen?« flüsterte Tom Huggins.
3. Eddies Zimmer
Beverly und Bill zogen sich rasch an und verließen sein Zimmer. Auf halbem Wege zum Aufzug hörten sie irgendwo hinter sich gedämpft das Läuten eines Telefons.
»Bill, war das deins?« fragte Beverly.
»V-V-Vielleicht jemand von den a-a-a-anderen«, sagte er und drückte auf den Aufzugsknopf.
Eddie öffnete ihnen die Tür; sein Gesicht war weiß und vom Schock gezeichnet. Sein rechter Arm baumelte in einem unnatürlichen Winkel herab. »Eddie, o mein Gott...«, rief Beverly.
»Mir geht's ganz gut«, fiel er ihr ins Wort. »Ich habe zwei Darvon genommen. Die Schmerzen sind momentan nicht so schlimm.« Aber sein Aussehen strafte seine Worte Lügen. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepreßt und violett verfärbt.
Bill sah hinter Eddie den Körper am Boden. Ein einziger Blick genügte, um ihn von zweierlei zu überzeugen - es war Henry Bowers, und er war tot. Bill kniete sich neben der Leiche hin. Die Perrierflasche war tief in Henrys Leib eingedrungen. Henrys glasiges unverletztes Auge war halb geöffnet. Sein Unterkiefer hing herab, und der Mund war mit gerinnendem Blut gefüllt. Seine Hände hatten sich zu Klauen gekrümmt.
Ein Schatten fiel über ihn, und Bill blickte hoch. Es war Beverly. Sie betrachtete die Leiche mit völlig ausdruckslosem Gesicht.
»Wie oft hat er uns verfolgt«, sagte Bill.
Sie nickte. »Er sieht nicht alt aus. Ist dir das auch aufgefallen, Bill? Er sieht überhaupt nicht alt aus.« Sie drehte sich abrupt nach Eddie um, der auf dem Bett saß. Eddie sah alt aus; alt und verhärmt. Sein Arm lag gebrauchsunfähig auf seinem Schoß. »Wir müssen einen Arzt für Eddie rufen.«
»Nein«, widersprachen Eddie und Bill gleichzeitig.
»Aber er ist verletzt! Sein Arm...«
»Es ist w-w-wie beim letzten M-Mal«, sagte Bill. Er stand auf, hielt sie an den Armen fest und schaute ihr in die Augen. »S-S-Sobald w-wir rausgehen. .. s-sobald wir uns an die Sch-Stadt w-w-w-wenden...«
»Sie werden mich wegen Mordes verhaften«, sagte Eddie dumpf. »Oder sie werden uns alle verhaften. Uns in Untersuchungshaft stecken. Irgend so was. Und dann wird irgendein Unfall passieren. Einer jener komischen Unfälle, zu denen es in Derry immer wieder kommt. Wie die Explosion in der Eisenhütte. Oder wie der Massenmord, der sich etwa ein Jahr vorher ereignete. Alle haben einfach an der Bar weitergetrunken, während so ein verrückter Kerl vier Männer niedermetzelte. Mike hat mir davon erzählt. Eine tolle Gutenachtgeschichte. Weißt du denn nicht mehr, wie es damals war, Bev?«
»Aber jetzt sind wir erwachsen! Du glaubst doch nicht wirklich... ich meine, er ist mitten in der Nacht hergekommen... hat dich angegriffen...«
»Womit denn?« sagte Bill. »W-Wo ist das M-M-Messer?«
Sie schaute sich um, konnte es nirgends entdecken und ließ sich auf die Knie fallen, um unter dem Bett danach zu suchen.
»Du kannst dir die Mühe sparen«, sagte Eddie mit schwacher, pfeifender Stimme. »Ich habe ihm den Arm in der Tür eingeklemmt, als er mich mit dem Messer erstechen wollte. Es ist ihm aus der Hand gefallen, und ich habe es unter den Fernseher gekickt. Es ist verschwunden. Ich habe schon nachgeschaut.«
»B-B-Beverly, ruf die anderen an«, sagte Bill. »Ich glaube, ich kann E-Ed-dies Arm b-b-b-behelfsmäßig schienen.«
Sie sah ihn nachdenklich an, dann schweiften ihre Blicke wieder zu der Leiche auf dem Fußboden. Sie dachte, daß das Bild, das dieses Zimmer bot, jedem halbwegs intelligenten Polizeibeamten eine völlig klare Geschichte erzählen müßte. Das angerichtete Chaos. Eddies gebrochener Arm. Der Tote. Es war ein eindeutiger Fall von Notwehr gewesen, Notwehr gegen einen nächtlichen Einbrecher. Und dann erinnerte sie sich plötzlich an den
Mann auf der Veranda - den Mann, der nachgeschaut hatte, was auf der Straße vorging, und der dann einfach seine Zeitung gefaltet und ins Haus gegangen war.
Sobald wir rausgehen... sobald wir uns an die Stadt wenden...
Und dabei fiel ihr ein, wie Bill als Junge mit bleichem, erschöpftem und nicht mehr allzuweit vom Wahnsinn entfernten Gesicht gesagt hatte: Derry ist Es. Versteht ihr mich? Wohin wir auch gehen mögen... wenn Es uns schnappen will, wenn Es uns umbringt, werden sie nichts sehen, sie werden nichts hören, sie werden nichts wissen. Seht ihr nicht, wie es ist? Wir können nur eins tun - versuchen zu vollenden, was wir begonnen haben.
Während sie jetzt dastand und auf Henrys Leiche blickte, dachte Beverly: Sie sagen beide, daß wir alle wieder zu unsichtbaren Gespenstern geworden sind. Daß sich auch das wiederholt, wie alles andere. Als Kind konnte ich das ertragen, weil Kinder ohnehin fast Gespenster, Geister sind. Aber...
»Seid ihr sicher?« fragte sie verzweifelt. »Bill, bist du ganz sicher?«
Er saß neben Eddie auf dem Bett und tastete vorsichtig dessen Arm ab. »D-Du etwa n-n-nicht?« fragte er. »N-Nach a-a-a-allem, was heute p-p-pas-siert ist?«
Ja. Alles, was passiert war. Die gräßliche Überraschung, die sie am Ende des Mittagessens erlebt hatten. Die schöne alte Frau, die sich vor ihren eigenen Augen in eine kreischende Hexe verwandelt hatte
(mein Vater war auch meine Mutter)
und abends in der Bücherei die verschiedenen Geschichten mit den übernatürlichen Begleiterscheinungen. All diese Dinge. Und trotzdem... ihr Verstand schrie ihr verzweifelt zu, das jetzt zu beenden, sich mit Vernunft zu wappnen, weil sie sich andernfalls mit Sicherheit noch in dieser Nacht in die Barrens begeben und eine ganz bestimmte Pumpstation finden würden und...
»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Ich... ich weiß es einfach nicht. Trotz allem, was passiert ist, Bill, glaube ich, daß wir die Polizei rufen könnten. Vielleicht.«
»R-R-Ruf die anderen an«, sagte er wieder. »W-Wir w-w-w-wollen hören, w-was sie m-m-meinen.«
»Okay«, sagte sie.
Sie rief zuerst in Richies und dann in Bens Zimmer an. Beide sagten, sie würden sofort heraufkommen, ohne zu fragen, was geschehen sei. Sie fand Mikes Nummer im Telefonbuch und wählte sie. Niemand nahm den Hörer ab, und sie legte nach dem zwölften Klingeln auf.
»V-Versuch's in der B-B-Bücherei«, sagte Bill. Er hatte die kurzen Gardinenstangen vom kleineren der beiden Fenster abgenommen und band sie mit dem Gürtel von Eddies Bademantel an dessen Arm fest.
Noch bevor Beverly die Nummer der Bücherei gefunden hatte, klopfte es an der Tür. Ben und Richie waren zusammen gekommen, Ben in Jeans und einem nicht zugeknöpften Hemd, Richie in einer grauen Baumwollhose und Pyjamaoberteil. Seine Augen hinter der Brille blieben bestürzt auf Eddie haften.
»Du lieber Himmel, Eddie, was ist denn mit dir...«
»Mein Gott!« schrie Ben. Er hatte Henry auf dem Fußboden entdeckt.
»Seid sch-sch-still!« sagte Bill scharf. »Und macht die T-Tür zu!«
Richie schloß sie, während auch er jetzt auf die Leiche starrte. »Henry?« fragte er.
Ben ging drei Schritte auf die Leiche zu und blieb dann stehen, so als hätte er Angst, daß sie ihn beißen könnte. Er sah Bill fragend an.
»Erz-z-z-zähl d-du«, sagte Bill zu Eddie. »Das v-v-verdammte Sch-Sch-Stottern wird immer sch-schlimmer.«
Eddie berichtete kurz, was geschehen war, während Beverly die Nummer der Bücherei heraussuchte und wählte. Sie rechnete damit, daß Mike dort eingeschlafen war - vielleicht hatte er sogar eine Schlafcouch in seinem Büro. Er war Junggeselle, und sie vermutete, daß seine Arbeit ihm mehr als fast alles andere bedeutete. Womit sie überhaupt nicht gerechnet hatte, war, daß der Hörer am anderen Ende der Leitung nach dem zweiten Klingeln abgenommen wurde und eine ihr völlig unbekannte Stimme »Hallo« rief.
»Hallo«, sagte sie und gab den anderen durch ein Zeichen zu verstehen, sie sollten still sein. »Hallo... ist Mr. Hanion da?«
»Wer spricht dort?« fragte die Stimme.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Bill sah sie forschend an, und auch Ben und Richie hatten sich umgedreht. Sie war jetzt zutiefst beunruhigt.
»Wer sind Sie denn?« konterte sie. »Sie sind nicht Mr. Hanion.«
»Ich bin Polizeichef Louis Rademacher«, erklärte die Stimme. »Mr. Hanion befindet sich im Krankenhaus. Er ist vor kurzem überfallen und schwer verletzt worden. Und jetzt sagen Sie mir bitte, wer Sie sind. Ich möchte Ihren Namen wissen.«
Aber sie hörte ihn kaum noch. Riesige Wellen des Entsetzens brachen über ihr zusammen, alle ihre Muskeln erschlafften, und absurderweise schoß ihr durch den Kopf: Auf diese Weise muß es passieren, wenn Leute sich in die Hosen machen. Klar. Man verliert einfach jede Kontrolle über seine Muskeln...
»Wie schwer ist er verletzt?« hörte sie sich mit zittriger, flüsternder Stimme fragen, und dann war plötzlich Bill neben ihr und legte ihr seine Hand auf die Schulter, und Ben war da, und Richie, und sie war ihnen dafür unendlich dankbar. Sie streckte ihre freie Hand aus, und Bill ergriff sie. Richie legte seine Hand über Bills, Ben legte seine Hand auf Richies. Eddie trat zu ihnen und legte seine Hand zuoberst.
»Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind«, rief Rademacher jetzt barsch in den Hörer, und fast hätte sie ihm erklärt: Ich bin Beverly Marsh, und ich befinde mich im Derry Town House. Bitte schicken Sie Mr. Nell hierher. Hier liegt ein toter Mann, der zur Hälfte immer noch ein Junge ist, und wir fürchten uns alle sehr.
Sie sagte: »Ich... ich befürchte, das kann ich nicht. Zumindest im Moment nicht.«
»Was wissen Sie von dieser Sache?«
»Nichts«, erwiderte sie erschrocken. »Ich habe nur...« Sie verstummte. Nur was? Was konnte sie sagen, das sich nicht verdächtig oder aber total verrückt anhören würde?
»Sie haben nur die Angewohnheit, jeden Morgen gegen halb vier in der
Bücherei anzurufen«, sagte Rademacher sarkastisch. »Ich frage Sie jetzt noch einmal: Was wissen Sie von dieser Sache?«
Sie schloß die Augen, umklammerte Bills Hand mit aller Kraft und fragte wieder: »Wie schwer ist er verletzt? Bitte sagen Sie es mir.«
»Er ist sehr schwer verletzt. Vielleicht stirbt er. Und jetzt möchte ich endlich wissen, Miß, wer Sie sind und weshalb...«
Wie im Traum beobachtete sie, wie ihre Hand sich langsam senkte und den Hörer auflegte. Sie blickte zu Henry hinüber und hatte das Gefühl, als hätte eine kalte Hand ihr scharf ins Gesicht geschlagen. Eines von Henrys Augen hatte sich geschlossen. Das andere hing noch immer glasig aus der Höhle heraus.
Henry schien ihr zuzuzwinkern.
4. Die Entscheidung
Richie rief im Krankenhaus an. Beverly war dazu nicht imstande. Bill |; führte sie zum Bett, und sie setzte sich neben Eddie und starrte ins Leere. Sie dachte, sie würde weinen, aber es kamen keine Tränen. Sie wünschte sich momentan einzig und allein, daß jemand Henry Bowers zudecken würde. Ansonsten war sie wie versteinert.
Richie verwandelte sich in einen Reporter der >Derry News<. Er habe gehört, daß Michael Hanion, der Leiter der Stadtbücherei, überfallen worden sei, während er spät abends noch gearbeitet habe. Ob das Krankenhaus ihm etwas über Mr. Hanions Zustand sagen könne?
Er lauschte und nickte dabei mehrmals mit dem Kopf.
»Ich verstehe das, Mr. Kerpaskian - schreiben Sie sich mit zwei >k Ja? Okay. Und Sie sind...«
Er hörte wieder zu und war jetzt so in seine Rolle geschlüpft, daß er mit einem Finger kritzelnde Bewegungen ausführte, so als würde er sich etwas notieren.
»Aha... aha... ja. Ja, ich verstehe... Nun, gewöhnlich schreiben wir in solchen Fällen einfach, wir hätten die Auskunft von einer verläßlichen Quelle< erhalten. Später können wir dann immer noch... aha... völlig richtig! Absolut richtig!« Richie lachte herzlich und wischte sich gleichzeitig mit einem Arm den Schweiß von der Stirn. Er lauschte wieder. »Okay, Mr. Kerpaskian. Ja. Ich werde... ja, ich habe mir Ihren Namen notiert. kerpaskian, stimmt's? Ein tschechisch-jüdischer Name, nicht wahr? Das ist... das ist sehr ungewöhnlich. Ja, das werde ich. Gute Nacht. Und herzlichen Dank.«
Er legte auf und schloß die Augen. »O Gott!« rief er mit leiser, belegter< Stimme. »O mein Gott!« Er machte eine Bewegung, als wollte er das Telefon vom Tisch herunterwerfen, aber dann ließ er seine Hand einfach sinken. Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit seinem Pyjamaoberteil.
»Er lebt, befindet sich aber in sehr kritischem Zustand«, berichtete er den anderen. »Er wurde mit einem Messer sehr schwer verletzt. Seine Oberschenkelarterie wurde getroffen, und er hat sehr viel Blut verloren.
Er hat sich selbst eine Art behelfsmäßigen Druckverband angelegt, sonst wäre er schon verblutet gewesen, bevor man ihn fand.«
Beverlys Erstarrung löste sich endlich, und sie brach in Tränen aus. Sie weinte wie ein Kind, beide Hände vors Gesicht gepreßt. Eine Zeitlang waren ihr Schluchzen und Eddies pfeifende rasche Atemzüge die einzigen Geräusche im Zimmer.
»Henry«, sagte Ben schließlich. »Henry muß zuerst in die Bücherei gegangen sein. Deshalb war er schon so übel zugerichtet, als er hier bei Eddie auftauchte.«
»W-W-Willst du immer n-noch zur P-P-P-Polizei gehen, B-Bev?« fragte Bill.
Auf Eddies Nachttischchen lagen Kleenex-Tücher, aber sie waren vom Perrier-Wasser völlig aufgeweicht. Sie ging ins Bad, wobei sie einen weiten Bogen um Henry machte, und ließ kaltes Wasser über einen Waschlappen laufen. Er fühlte sich auf ihrem heißen, vom Weinen geschwollenen Gesicht herrlich erfrischend an. Sie konnte plötzlich wieder klar denken -nicht rational, aber klar. Und mit einem Mal war sie überzeugt davon, daß Rationalität sie alle umbringen würde, wenn sie jetzt damit zu operieren versuchten. Dieser Bulle, Rademacher. Er hatte sie irgendwie verdächtigt. Warum auch nicht? Man rief normalerweise schließlich nicht morgens um halb vier in einer Bücherei an. Er verdächtigte sie zumindest der Mitwisserschaft. Zu welchen Schlußfolgerungen würde er dann erst kommen, wenn er herausfände, daß sie ihn aus einem Zimmer angerufen hatte, wo auf dem Fußboden eine Leiche lag, die eine abgeschlagene, gezackte Flasche in den Eingeweiden hatte? Daß sie und vier weitere Fremde am Vortag in die Stadt gekommen waren, nur um ein kleines Treffen zu veranstalten? Würde sie jemandem so eine Geschichte abnehmen, wenn sie an seiner Stelle wäre? Würde irgend jemand das tun? Und damit ihre Geschichte sich glaubwürdiger anhörte, könnte sie ja noch hinzufügen, daß sie zurückgekommen seien, um das Monster zur Strecke zu bringen, das unter der Stadt in der Kanalisation hauste. Das wäre dann ein sehr überzeugendes Argument.
Aber zu diesem Zweck waren sie doch nun einmal zurückgekommen. Vor 25 Jahren hatten sie versprochen, das zu tun. Sie hatten es geschworen. Sie hatten diesen Schwur mit Blut besiegelt.
Sie kam aus dem Bad heraus und schaute Bill an. »Nein«, sagte sie. »Ich will nicht zur Polizei gehen. Ich glaube, Eddie hat recht - irgend etwas könnte uns passieren. Etwas Schlimmes. Aber das ist nicht der eigentliche Grund.« Sie blickte von einem zum anderen. »Wir haben es geschworen«, sagte sie. »Wir haben es damals geschworen. Bills Bruder... Stan... all die anderen... und jetzt Mike. Ich bin bereit, Bill.«
Bill schaute die anderen an.
Richie nickte. »Okay, Big Bill. Ich bin bereit, es zu versuchen.«
»Unsere Chancen sind jetzt schlechter denn je. Wir sind nur noch zu fünft«, murmelte Ben.
Bill schwieg.
»Okay«, nickte Ben. »Sie hat recht. Wir haben es geschworen.«
»E-E-Eddie?«
Eddie lächelte schwach. »Ich nehme an, daß ich jene Leiter wieder huckepack zurücklegen werde. Wenn sie noch da ist.«
»Zumindest wird diesmal niemand Steine werfen«, sagte Bev. »Sie sind tot. Alle drei.«
»Tun wir es gleich jetzt, Bill?« fragte Richie.
»J-Ja«, sagte Bill. »Ich g-g-glaube, jetzt ist die r-r-r-richtige Zeit dafür g-g-gekommen.«
»Darf ich etwas sagen?« fragte Ben abrupt.
Bill sah ihn an und grinste ein wenig. »Jederz-z-zeit.«
»Ihr seid immer noch die besten Freunde, die ich jemals hatte«, sagte Ben. »Ganz egal, wie diese Sache ausgehen wird. Ich wollte... das wollte ich euch nur sagen.«
Er sah sie der Reihe nach an, und sie erwiderten feierlich seinen Blick.
»Ich bin glücklich, daß ich mich wieder an euch erinnert habe«, fügte er hinzu. Richie schnaubte. Beverly kicherte. Und dann schauten sie einander wie in alten Zeiten an und lachten, trotz der Tatsache, daß Mike im Krankenhaus war, vielleicht im Sterben lag, vielleicht sogar schon tot war; trotz der Tatsache, daß Eddies Arm wieder gebrochen war; trotz der Tatsache, daß draußen jetzt stockfinstere Nacht war.
»Haystack, du findest doch immer die richtigen Worte«, sagte Richie lachend und wischte sich die Augen ab. »Er hätte Schriftsteller werden müssen, Big Bill.«
Immer noch etwas lächelnd, sagte Bill: »Und in dieser Sch-Sch-Stim-mung...«
5. Das Auto
Sie fuhren mit Richies Auto, weil es das größte war. Der Bodennebel war dichter geworden; er trieb durch die Straßen wie Zigarettenrauch und erstreckte sich bis knapp unter die Straßenlaternen. Die Sterne am Himmel glichen strahlenden Eiskristallen... aber als Bill seinen Kopf an das halb geöffnete Fenster auf der Beifahrerseite lehnte, glaubte er es in der Ferne donnern zu hören. Irgendwo über dem Horizont kündigte sich Regen an.
Richie schaltete das Radio ein, und Gene Vincent sang >Be-Bop-A-Lula<. Er stellte einen anderen Sender ein, und Buddy Holly war zu hören. Beim dritten Versuch ertönte der >Summertimes Blues<.
»Stell's ab, Richie«, sagte Bev leise.
Richie wollte ihrer Bitte nachkommen... und dann blieb seine Hand wie erstarrt in der Luft hängen. »Bleiben Sie auf diesem Kanal und hören Sie mehr von Richie Toziers >Rock-Show der Totem!« Die kreischende, lachende Stimme des Clowns übertönte die Gitarrenbegleitung des > Summertime Blues(. »Kommt her, ihr Leute! Kommt alle her! Den >Summertime Blues< singt gerade Eddie Cochran! Wir singen und spielen hier unten aaaaaalle Hits! Aaaaaalle Hits! Sag's ihnen, Georgie!«
Und George Denbrough begann geistlos aus dem Radio zu plärren. »Du hast mich nach draußen geschickt, und Es hat mich ermordet1.« schrie George. »Ich dachte, Es wäre im Keller, aber Es war im Gully, und Es hat mich ermordet, du hast zugelassen, daß Es mich ermordet hat, Billy, du hast Es...«
Richie schaltete das Radio so heftig aus, daß der Knopf absprang und auf die Fußmatte fiel. »Bill...«, sagte Beverly.
Bill schüttelte nur den Kopf. Sein Gesicht war bleich und nachdenklich, und als es im Westen wieder donnerte, hörten sie es diesmal alle.
6. Die Barrens
Richie hielt an und parkte seinen Wagen. Sie stiegen aus und gingen zum Geländer zwischen dem Trottoir der Kansas Street und dem Steilabhang. Dieselbe Kansas Street, dasselbe Geländer, dieselben Barrens in der Tiefe, unberührt von den 27 Jahren, die vergangen waren, abgesehen von der Tatsache, daß die Eisenbahnbrücke durch die lange Autobahnbrücke ersetzt worden war. Die Bäume und Büsche schimmerten in den langsam dahinziehenden Nebelschwaden, unwirklich und gespenstisch. Während er am Geländer stand und hinabblickte, dachte Bill: Vermutlich ist es das, was wir meinen, wenn wir vom Bild der Erinnerung sprechen, etwas wie dies hier, etwas, das man zur richtigen Zeit aus der richtigen Perspektive sieht, so daß alles, was in der Zwischenzeit geschehen ist, einfach verschwindet. Der Kreis hat sich jetzt wirklich geschlossen.
»K-K-Kommt«, sagte er und führte sie den Steilhang hinab. Sie brachten Schutt und Kieselsteine ins Rollen, und als sie unten angelangt waren, warf Bill automatisch einen Blick unter die Brücke. Silver war natürlich nicht da; Silver lehnte an der Wand von Mikes Garage. Anscheinend war Silver bei all dem keine Rolle zugedacht, obwohl das merkwürdig war, wenn man bedachte, auf welche Weise er sein altes Fahrrad plötzlich in jenem Ramschladen wiederentdeckt hatte.
»B-B-Bring uns dorthin«, sagte Bill zu Ben.
Ben schaute ihn an, dann nickte er. Der Pfad - ihr Pfad - war natürlich längst zugewachsen, und sie mußten sich mühsam einen Weg durch dichtes Dornengestrüpp, Büsche und duftende wilde Hortensien bahnen. Heimchen zirpten schläfrig um sie herum, und einige frühe Glühwürmchen flimmerten im Dunkeln. Bill vermutete, daß hier unten immer noch Kinder spielten, aber sie hatten sich bestimmt ihre eigenen Geheimpfade geschaffen. Sie kamen zu der Lichtung, wo ihr Klubhaus gewesen war, nur gab es diese Lichtung jetzt nicht mehr - die Büsche und verkümmerten Fichten hatten sie erobert.
Sie folgten Ben nach links in Richtung Kenduskeag - Bill, Bev, dann Richie und zuletzt Eddie. Das Plätschern des Wassers wurde immer lauter, aber sie stürzten wieder fast in den Fluß, bevor sie ihn sahen; das Gebüsch auf der Uferböschung bildete jetzt eine hohe dichte Barriere, so daß man nicht erkennen konnte, wo der Boden zum Fluß hin abfiel. Ben wäre fast abgerutscht, und Bill zog ihn zurück. »Danke«, sagte Ben.
»Nichts zu d-d-danken. In a-a-alten Z-Zeiten hättest d-du mich mit d-d-deinem Gewicht einfach mitgezogen. Da Hang?«
Ben nickte und führte sie am Ufer entlang; während er sich mühsam durch das Dickicht von Zweigen und Dornen kämpfte, dachte er, um wieviel einfacher so etwas war, wenn man nur viereinhalb Fuß groß war und sich nur ein bißchen zu bücken brauchte, um leicht unter irgendwelchen Hindernissen durchkriechen zu können. Alles verändert sich, dachte er. Jungen und Mädchen, heute haben wir gelernt, daß sich die Dinge um so mehr verändern, je mehr sie sich verändern. Sie...
Er stolperte über etwas, fiel der Länge nach hin und hätte sich um ein Haar den Kopf am Betonzylinder der Pumpstation angeschlagen, der hinter den dichten hohen Brombeerbüschen kaum noch zu sehen war. Als er wieder aufstand, stellte er fest, daß die Dornen ihm Gesicht und Hände zerkratzt hatten. Er war über den schweren Eisendeckel gestolpert - jemand hatte ihn schon weggeschoben. Alle fünf scharten sich um den Zylinder und blickten in die Tiefe. Sie konnten leise das Tröpfeln von Wasser hören. Das war auch schon alles. Richie hatte alle Streichholzheftchen aus Eddies Hotelzimmer mitgenommen. Er zündete ein Streichholz an und warf es in die Tiefe. Einen Moment lang konnten sie die feuchte Innenwand und die Umrisse der Pumpe erkennen. Dann wurde es wieder dunkel.
»Vielleicht ist der Deckel schon vor langer Zeit entfernt worden«, versuchte Richie sich und die anderen zu beruhigen. »Es braucht nicht gestern oder heute nacht passiert sein.«
»Gib mir mal die Streichhölzer«, sagte Bev.
Richie reichte sie ihr, und sie zündete eins dicht neben dem Deckel an. Seine Unterseite war naß, und im Licht der Streichholzflamme konnten sie sehen, daß aus den abgebrochenen Brombeerzweigen Saft austrat. »Das ist frisch«, sagte Richie.
»Etwas 1-1-liegt darunter«, stellte Bill fest.
»Was, Big Bill?« fragte Ben.
»K-K-Kann ich nicht s-s-s-sagen. Helft m-mir, ihn umzudrehen.«
Ben und Richie packten mit an, und zu dritt kippten sie den Deckel um wie eine riesige Münze. Beverly zündete ein neues Streichholz an. »Mein Gott, das ist doch eine Handtasche, oder?« sagte sie, an Bill gewandt. Und gleich darauf: »Bill? Um Gottes willen, was ist los?«
Bill hatte das Gefühl, als wären seine Augen auf einmal zentnerschwer. Er konnte sie nicht bewegen, konnte sie nicht von jener Korduanlederhand-tasche abwenden. Er hatte plötzlich überhaupt keinen Speichel mehr im Mund, und seine Zunge und Wangeninnenflächen fühlten sich völlig ausgetrocknet an. Er hörte verschwommen das irrsinnige Zirpen von Grillen und dachte: Es ist nur ein neuer Trick, nur eine weitere Sinnestäuschung, sie ist in England, und dies ist nur ein billiger Trick, weil Es Angst hat, o ja, Es ist jetzt vielleicht nicht mehr so siegessicher wie vor kurzem, und außerdem - wieviel Korduanle-dertaschen mag es auf der Welt geben? Eine Million? Zehn Millionen?
»Bill?« Beverly hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und schüttelte ihn. Weit entfernt. 27 Jahre entfernt. Jene Handtasche...
Er riß Beverly die Streichhölzer aus der Hand, zündete eins an und leerte den Tascheninhalt aus. Was herausfiel, waren so unverkennbar Audras Sachen, daß ihm sogar zu einem Aufschrei jede Kraft fehlte: die mit Edelsteinen besetzte Puderdose, die Freddie Firestone ihr geschenkt hatte, als sie den Vertrag für >Attic Room< unterschrieb, ihre Brieftasche aus Krokodilleder, ein Dunhill-Feuerzeug, eine zerknitterte Packung Winstons, eine für sie typische Kollektion von Kleenex-Tüchern, ihr Sonnenbrillenetui.
»Meine F-F-Frau ist dort u-unten«, sagte er, fiel auf die Knie und begann ihre Sachen wieder in die Tasche zu schieben. Er strich sich nicht mehr vorhandene Haare aus der Stirn und merkte es nicht einmal.
»Deine Frau? Audra?« Beverly starrte ihn entsetzt an.
»Es ist ihre T-T-Tasche. Ihre S-Sachen.«
»Mein Gott, Bill«, murmelte Richie. »Aber das ist doch ganz unmöglich, das weißt du doch se...«
Bill griff nach Audras Brieftasche, öffnete sie und hielt sie hoch. Richie zündete ein neues Streichholz an und sah gleich darauf ein Gesicht, das ihm aus einem halben Dutzend Filmen bekannt war. Das Foto in Audras kalifornischem Führerschein schloß jeden Zweifel an ihrer Identität aus.
»Aber H-H-H-Henry ist t-tot... und V-Victor... und B-B-B-Belch... w-wer kann denn das n-nur getan haben?« Halb wahnsinnig vor Kummer starrte er sie alle an. »W-Wer k-kann das getan h-h-haben?«
Ben legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, wir sollten runtersteigen und es herausfinden; was meinst du?«
Bill drehte sich nach ihm um, betrachtete ihn einen Moment lang, als wisse er nicht, wer Ben sei, und dann wurde sein Blick wieder klar. »Ja«, sagte er. »E-E-Eddie?«
»Bill, es tut mir ja so leid«, sagte Eddie.
»K-K-Kannst du dich an m-mir festh-h-halten?«
»Ich hab's schließlich schon einmal geschafft.«
Bill bückte sich, und Eddie legte seinen gesunden Arm um seinen Nak-ken; Ben und Richie hoben ihn etwas hoch, bis er seine Beine um Bills Taille schlingen konnte. Als Bill sich schwerfällig über den Rand des Zylinders schwang, sah Ben, daß Eddie seine Augen fest zugekniffen hatte... und einen Moment lang glaubte er, jemandem im Gebüsch zu hören. Er drehte sich um und erwartete fast, Henry, Belch und Victor aus den Nebelschwaden herausstürzen zu sehen - aber es war nur eine Brise, die das Brombeergestrüpp bewegte. Ihre alten Feinde waren jetzt alle tot.
Bill hielt sich am rauhen Rand des Zylinders fest und tastete mit den Füßen nach den Sprossen. Eddie hatte seinen Hals so fest umklammert, daß er kaum Luft bekam. Ihre Handtasche, ihre Handtasche,.. wie ist Audra nur hierhergekommen ? Spielt keine Rolle. Aber Gott, wenn es Dich gibt, wenn Du Gebete erhörst, so laß ihr nichts Schlimmes passiert sein, laß sie nicht leiden für das, was Bev und ich heute nacht getan haben, oder für das, was ich eines Sommers als Junge getan habe... Wer? Wer? War es der Clown? War es Bob Gray? Wenn ja, dann kann vielleicht nicht einmal Gott ihr helfen. »Ich habe Angst, Bill«, sagte Eddie.
Bills Fuß tauchte in kaltes stehendes Wasser ein. Er erinnerte sich an dieses Gefühl, erinnerte sich an den feuchten Geruch und an die Klaustrophobie, die ihn an diesem Ort zu überwältigen gedroht hatte... und was war ihnen danach zugestoßen? Wie waren sie in jene Kanalrohre und Tunnels gelangt, und wie waren sie wieder herausgekommen? Daran konnte er sich immer noch nicht erinnern, er konnte jetzt überhaupt nur an Audra denken.
»Ich a-a-auch.« Er bückte sich, zuckte zusammen, als das kalte Wasser ihm in die Hose und über die Hoden floß, und ließ Eddie hinabgleiten. Sie standen bis zu den Schienbeinen im Wasser, neben der Pumpe, und beobachteten, wie die anderen die Leiter hinabkletterten.
1. Es, August 1958
Etwas völlig Neues war geschehen.
Zum erstenmal seit Äonen etwas völlig Neues.
Vor dem Universum hatte es nur ZWEI gegeben. Das eine war Es selbst, und das andere war die SCHILDKRÖTE. Die SCHILDKRÖTE war ein dummes altes Ding, das nie aus seinem Panzer hervorkam. Es dachte, daß die SCHILDKRÖTE vielleicht tot war, vielleicht schon seit der letzten Billion Jahre oder so tot war. Aber selbst wenn dem nicht so war, so war sie doch nur ein dummes altes Ding, und sogar wenn die SCHILDKRÖTE das Universum als Ganzes ausgespien hatte, so änderte das nichts an der Tatsache, daß sie sehr dumm war.
Es war hierhergekommen, lange nachdem die SCHILDKRÖTE .sich in ihren Panzer zurückgezogen hatte, hierher auf die Erde, und hier hatte Es eine Tiefe der Fantasie entdeckt, die fast neu, fast interessant war. Diese Vorstellungskraft bewirkte, daß die Nahrung sehr wohlschmeckend war. SEINE Zähne bohrten sich in Fleisch, das Biß hatte von exotischen Schreckensvisionen: die Menschen träumten von Bestien der Nacht und alles verschlingenden Sümpfen; gegen ihren Willen dachten sie über endlose Abgründe und wilde Strudel nach.
Durch diese reichhaltige Kost existierte Es in einem einfachen Kreislauf: ES wachte und aß, und Es schlief und träumte. Es hatte sich einen Ort ganz nach SEINER Vorstellung geschaffen, und Es betrachtete diesen Ort mit Wohlgefallen von den Totenlichtem aus, die SEINE Augen waren. Derry war SEIN Schlachthof, die Menschen von Derry SEINE Schafe. Die Dinge nahmen stets ihren gewohnten Lauf.
Und dann... diese Kinder. Etwas Neues.
Zum erstenmal seit Äonen etwas völlig Neues.
Als Es aus der Tiefe in das Haus an der Neibolt Street emporgeschossen war, mit der festen Absicht, sie alle umzubringen, mit einem leisen Unbehagen, weil Es bisher noch nicht imstande gewesen war, sie umzubringen (und allein schon dieses Unbehagen war etwas Neues gewesen), da war etwas völlig Unerwartetes, etwas völlig Unvermutetes geschehen - Es hatte Schmerz verspürt, heftigen, rasenden Schmerz in der ganzen Gestalt, die Es angenommen hatte, und einen Augenblick lang hatte Es auch Angst verspürt, denn das einzige, was Es mit der dummen alten SCHILDKRÖTE und der Kosmologie des Makroversums außerhalb des winzigen Eies dieses Universums gemeinsam hatte, war folgendes: alles Lebendige musste sich an die für die Gestalt, die es angenommen hatte, geltenden Naturgesetze halten. Zum erstenmal erkannte Es, daß. SEINE Fähigkeit, unterschiedliche Gestalt anzunehmen, vielleicht genauso gegen Es wie für Es arbeiten konnte. Es hatte nie zuvor Schmerz empfunden, Es hatte nie zuvor Angst verspürt, und einen Moment lang hatte Es gedacht, Es könnte sterben - oh, SEIN Kopf war mit einem rasenden grellen Schmerz von der Silberkugel erfüllt gewesen, und Es hatte gebrüllt und geheult, und irgendwie waren die Kinder entkommen.
Aber jetzt waren sie wieder da. Sie hatten SEIN ureigenstes Herrschaftsgebiet
unter der Stadt betreten, sieben törichte Kinder, die wie blinde Maulwürfe durch die Dunkelheit stolperten, ohne Lampen oder Waffen. Jetzt würde Es sie mit Sicherheit töten.
Es hatte eine wichtige Entdeckung über sich selbst gemacht: Es wollte keine Veränderungen, keine Überraschungen. Es wollte keine Neuheiten, niemals. Es wollte nur essen und schlafen und träumen und wieder essen.
Nach dem Schmerz und jener flüchtigen starken Angst war ein weiteres neues Gefühl in IHM aufgestiegen (alle echten Gefühle waren IHM neu, obwohl Es Gefühle großartig vorspiegeln konnte): Zorn. Es würde die Kinder umbringen, weil sie Es -durch einen erstaunlichen Zufall - verletzt hatten. Aber vorher würde Es sie leiden lassen, denn für einen flüchtigen Augenblick lang hatten sie IHM Angst eingejagt.
Kommt nur her zu mir, dachte Es, während Es ihrem Näherkommen lauschte. Kommt her zu mir, Kinder, und seht, wie wir hier unten schweben... wie wir alle schweben.
Und doch war da ein Gedanke, der sich IHM immer wieder außrängte, wie sehr Es auch versuchen mochte, ihn zu verdrängen. Es war ganz einfach folgendes: Wenn alles von IHM ausging (was mit Sicherheit der Fall war, seit die SCHILDKRÖTE das Universum ausgespien hatte und dann in ihrem Panzer völlig verstummt war) - wie konnte dann irgendein Geschöpf dieser oder irgendeiner anderen Welt Es zum Narren halten oder verletzen, ganz gleich, wie flüchtig oder geringfügig auch immer? Wie war das nur möglich?
Und so hatte Es sich mit noch etwas völlig Neuem auseinandersetzen müssen, diesmal nicht mit einem Geßhl, sondern mit einem schrecklichen Gedanken: Angenommen, Es war doch nicht allein gewesen, wie Es immer geglaubt hatte?
Angenommen, es gab noch einen ANDEREN?
Und angenommen, diese Kinder waren Sendboten dieses ANDEREN?
Angenommen... nur einmal angenommen...
Es begann zu zittern.
Haß war neu Verletzt werden war neu SEINE Pläne durchkreuzt zu sehen, war neu Aber das allerschrecklichste Neue war diese Angst. Nicht Angst vor den Kindern - die war rasch vergangen -, sondern Angst davor, nicht das EINZIGE zu sein.
Nein. Es gab keinen ANDEREN. Ganz bestimmt nicht. Vielleicht weil sie Kinder waren, hatte ihre Vorstellungskraft eine gewisse Macht, die Es kurzfristig unterschätzt hatte. Aber nun, da sie kamen, würde Es sie ruhig kommen lassen. Sie würden kommen und Es würde sie eines nach dem anderen ins Makroversum schleudern. .. in die Totenlichter SEINER Augen. Ja.
Sobald die hierher gelangten, würde Es die kreischenden, um den Verstand gebrachten Geschöpfe in die Totenlichter schleudern.
2. In den Tunnels, 14.15 Uhr
Bev und Richie besaßen zusammen etwa zehn Streichhölzer, aber Bill erlaubte ihnen nicht, sie anzuzünden. Im Augenblick wurde das Rohr noch von schwachem Licht erhellt; er konnte etwa vier Fuß weit in den Tunnel sehen. Und wenn sie jetzt schon anfingen, die Streichhölzer zu benutzen, würden sie in fünf Minuten keine mehr haben.
Er vermutete, daß dieses schwache Licht durch die runden Belüftungslö-eher in den schweren Schachtdeckeln oder durch die Gitter der Gullys einfiel.
Das Wasser ging ihm jetzt bis zu den Hüfen. Drei- oder viermal waren Kadaver an ihm vorbeigeschwommen - Ratten, ein kleines Kätzchen, etwas, das aussah wie ein Murmeltier. Er hörte hinter sich einen seiner Freunde angeekelt etwas vor sich hin murmeln.
Das Rauschen des Wassers wurde lauter, schwoll zu einem eintönigen Brausen an. Das Kanalrohr zweigte nach rechts ab, und kurz hinter der Kurve endete es. Jetzt konnte er sehen, daß es aus drei anderen Rohren gespeist wurde. Hier war das Licht etwas heller, und als Bill hochblickte, sah er, daß sie in einem Steinschacht von etwa 15 Fuß Höhe standen. Oben war ein Gully, aus dem sich Sturzbäche von Wasser auf sie ergossen wie in einer Art primitiver Dusche.
Bill betrachtete ratlos die drei hier mündenden Rohre. Das zu seiner Linken befand sich etwa drei Fuß über seinem Kopf; es war offensichtlich ein weiteres Abflußrohr, denn das Wasser, das sich daraus in den Schacht ergoß, war ziemlich klar, obwohl kleine Äste, Blätter, leere Zigarettenschachteln und Papierabfälle darin schwammen. Auch aus dem etwas tiefer angebrachten Rohr zu seiner Rechten floß Wasser in das Kanalrohr, durch das sie gerade gewatet waren und das über dem Kenduskeag endete, in den das Abwasser mit Hilfe der Pumpe - die jetzt defekt war - geleitet wurde.
Das dritte Rohr, das dicht über der Wasseroberfläche aus dem Schacht ragte, spuckte einen stinkenden graubraunen Strom klumpiger Abwässer aus.
»E-E-Eddie!«
Eddie watete auf Bill zu. Seine Haare klebten ihm am Kopf, und sein Gips war durchweicht und tropfte.
»W-W-Welches?« Alle Klubmitglieder wußten, daß Eddie einen fast schon unheimlichen Orientierungssinn hatte. Wenn man sich in einer fremden Gegend verirrt hatte und an einen vertrauten Ort zurückkehren wollte, konnte Eddie einen hinführen; er bewegte sich mit unverminderter Zuversicht vorwärts, bog nach rechts und links ab, und man folgte ihm blindlings und hoffte, daß es gut ausgehen würde... und Eddie enttäuschte dieses Vertrauen nie. Bill hatte ihn etwas über ein Jahr gekannt, bevor sie beide sich mit Richie Tozier anfreundeten, und Bill hatte Richie einmal erzählt, als er und Eddie angefangen hätten, in den Barrens zu spielen, hätte er selbst ständig Angst gehabt, sich dort hoffnungslos zu verirren. Solche Ängste waren Eddie fremd, und er führte sie immer an der gewünschten Stelle heraus. »Wenn ich mich in Allagash verirren würde, und Eddie wäre bei mir, so würde ich mir überhaupt keine Sorgen machen«, hatte Bill zu Richie gesagt. »Er weiß es einfach. Er hat einen Kompaß im Kopf. So drückt es mein Vater aus.«
»Was - welches?« schrie Eddie, um das Brausen des Wassers zu übertönen. Er hielt seinen Aspirator mit der gesunden Hand fest umklammert, und er hatte mehr Ähnlichkeit mit einer ertrunkenen Ratte als mit einem Jungen.
»W-Welches R-R-Rohr sollen wir n-n-n-nehmen?«
»Wohin willst du denn?« fragte Eddie und betrachtete zweifelnd die drei
Rohre. Sie würden in jedes leicht hineinpassen, obwohl sie sich in jenem, aus dem die unappetitliche braune Brühe herausfloß, etwas würden duk-ken müssen.
Bill dachte angestrengt nach, dann winkte er die anderen zu sich heran.
»W-Wo zum Teufel ist Es?« fragte sie.
»Stadtmitte«, erwiderte Richie. »Direkt unter der Stadtmitte. In der Nähe des Kanals.«
Beverly nickte zustimmend. »Oder unter ihm.«
Bill blickte in die Runde. Auch die anderen nickten. Es war nur eine Intuition, aber auf etwas anderes als Intuitionen konnten sie jetzt sowieso nicht bauen. Er wandte sich wieder Eddie zu. »W-W-Welches f-führt zur Sch-Sch-Sch-Stadtmitte?«
Widerwillig deutete Eddie auf das unappetitliche Rohr. »Das da«, sagte
er.
»Oh, pfui Teufel«, murmelte Stan unglücklich. »Das ist ein ScheißeRohr.«
»Wir...«, setzte Mike zum Sprechen an und verstummte sofort wieder. Er legte lauschend den Kopf zur Seite und riß beunruhigt die Augen auf.
»Was...«, begann Bill, aber Mike brachte ihn mit einer heftigen Geste zum Schweigen. Und dann hörte es auch Bill. Eilige platschende Schritte im Wasser. Henry und seine Freunde.
»Rasch«, flüsterte Ben. »Sie werden bald hier sein.«
Stan warf einen Blick über die Schulter hinweg in das Rohr, aus dem sie gekommen waren; dann preßte er die Lippen fest zusammen und nickte. »Scheiße läßt sich immerhin abwaschen«, murmelte er. »Los, gehen wir.«
Bill führte sie zu dem Rohr, schnitt eine Grimasse, als der Gestank ihm in die Nase stieg, und kletterte hinein. Dieser Gestank: Es waren Abwässer, es war Scheiße, aber daneben war hier auch noch ein anderer Geruch wahrnehmbar. Ein würzigerer, fleischigerer, lebendigerer Geruch. Das ist wirklich die richtige Richtung. Es ist hier gewesen... Es ist sehr oft hier gewesen.
Das Rohr war schmaler, als es zunächst ausgesehen hatte, und schon nach wenigen Fuß wurde die Luft gräßlich stickig, ranzig und giftig. Er tappte durch langsam abfließendes schlammartiges Zeug, von dem er wußte, daß es kein Schlamm war. Er warf einen Blick über die Schulter hinweg und sagte: »E-E-Eddie, du b-bleibst jetzt dicht h-h-hinter mir. Ich werde d-dich b-b-brauchen.«
»Wie ist es da drin, Big Bill?« erkundigte sich Eddie nervös.
»F-F-F-Fürchterlich«, sagte Bill und machte sich auf den Weg, um weiteren Fragen auszuweichen.
Das Licht wurde rasch immer schwächer, und zuletzt ging auch das letzte Grau in völlige Dunkelheit über. Bill tastete sich mit ausgestreckten Händen vorwärts; er hatte das Gefühl, den schrecklichen Gestank mit seinem Körper regelrecht zu durchschneiden. Und er rechnete halb damit, daß seine Hände jeden Augenblick in struppiges Fell greifen, daß grüne funkelnde Augen ihn aus der Dunkelheit anstarren würden, und daß das Ende kurz sein würde, begleitet von einem heißen Schmerz, wenn Es ihm den Kopf von den Schultern reißen würde.
Alle Geräusche wurden in dem dunklen Rohr verstärkt und hallten un
heimlich wider. Er hörte seine Freunde hinter sich schlurfen und ab und zu etwas murmeln. Glucksen und eigenartiges rasselndes Seufzen war zu hören. Einmal flutete ihm gräßlich warmes Wasser entgegen, durchnäßte ihn bis zu den Oberschenkeln und warf ihn fast um. Er spürte, wie Eddie sich krampfhaft an seinem Hemdrücken festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und dann verebbte der Strom zum Glück wieder. Richie, der ihre Nachhut bildete, rief von hinten mit einer Art Galgenhumor: »Ich glaub', wir sind gerade von Rübezahl bepißt worden, Bill!«
Bill bemerkte erst, daß er am Ende des Rohrs angelangt war, als er einen Schritt ins Leere machte; er taumelte vorwärts, ruderte wild mit den Armen und versuchte vergeblich, das Gleichgewicht zu halten. Er landete etwa zwei Fuß unterhalb des Rohrs, aus dem er gefallen war, auf dem Bauch in einer halbfesten undefinierbaren Masse. Etwas rannte quiekend über seine Hand, und er schrie auf und preßte sie an seine Brust; es war eine Ratte gewesen; er hatte ihren ekelhaften unbehaarten Schwanz auf seiner Haut gespürt.
Er versuchte aufzustehen und schlug sich an der unerwartet niedrigen Decke des neuen Rohrs so stark den Kopf an, daß er wieder auf die Knie fiel und rote Sterne vor seinen Augen tanzen sah.
»V-V-Vorsicht!« schrie er. Seine Worte hallten im Rohr dumpf wider. »Das Rohr fällt hier ab! E-E-Eddie! W-Wo bist du?«
»Hier!« Eddies wild gestikulierende Hand streifte Bills Nase. »Hilf mir raus, Bill, ich kann nichts sehen! Es ist...«
Ein lautes wäßriges Platsch! Beverly, Mike und Richie schrien gleichzeitig auf. Im hellen Tageslicht wäre diese totale Harmonie bestimmt komisch gewesen; hier unten im Dunkeln, in den Abwasserkanälen, klang sie jedoch schrecklich. Plötzlich stolperten und fielen sie alle heraus. Bill fing Eddie mit eisernem Griff auf, damit er nicht auf seinen gebrochenen Arm stürzte.
»O Gott, ich dachte schon, ich würde ertrinken«, stöhnte Richie. »Von oben kam plötzlich eine Ladung auf uns herab - Mann o Mann, es war Scheiße, eine Scheiße-Dusche, großartig, man sollte wirklich einmal einen Klassenausflug hierher machen, Big Bill, wir könnten Mr. Carson dazu bringen, uns zu begleiten...«
»Und Miß Jimmison könnte uns hinterher Unterricht in Gesundheitskunde geben«, sagte Ben mit zittriger Stimme, und alle lachten schrill. Als das Gelächter verebbte, brach Stan plötzlich unglücklich in Tränen aus.
»Stan... nicht, Mann«, sagte Richie und legte ihm einen Arm um die mageren Schultern. »Du bringst uns noch alle zum Heulen!«
»Ist schon wieder okay«, sagte Stan laut, immer noch schniefend. »Ich kann's ertragen, Angst zu haben, aber ich hasse es, so schmutzig zu sein, ich hasse es, nicht zu wissen, wo ich bin...«
»G-G-Glaubst du, daß d-deine Streichhölzer noch was t-taugen?« fragte Bill Richie.
»Ich hab' sie Bev gegeben.«
Bill spürte, wie jemand ihn im Dunkeln berührte und ihm ein Streichholzheftchen in die Hand drückte. Sie fühlten sich trocken an.
»Ich hatte sie unter die Achsel geklemmt«, sagte Bev. »Probier mal, ob sie's noch tun.«
Bill riß ein Streichholz aus dem Heftchen heraus; es zündete auf Anhieb, und er hielt es hoch. Seine Freunde standen dicht aneinandergedrängt da und zuckten unwillkürlich zusammen, als die helle Flamme aufleuchtete. Sie waren mit Kot bespritzt und beschmiert, und alle sahen sehr jung und sehr ängstlich aus. Hinter ihnen konnte er das Rohr sehen, aus dem sie gekommen waren. Das Rohr, in dem sie sich jetzt befanden, war niedriger und führte geradeaus in beide Richtungen. Sein Boden war mit Schichten alter Scheiße bedeckt. Und...
Er zog zischend den Atem ein und schüttelte das Streichholz aus, das ihm die Finger verbrannte. Er lauschte und hörte rasch dahinfließendes Wasser, tropfendes Wasser und gelegentlich ein lautes Brausen, wenn - wie das vorhin der Fall gewesen war - die Überlaufklappen sich öffneten und neue Abwässer sich in die Rohre ergossen. Henry und die anderen beiden Jungen konnte er nicht hören - noch nicht.
Er sagte ruhig: »R-R-Rechts von m-mir liegt ein t-t-toter Junge. Etwa z-zehn Fuß von mir entfernt. Ich g-g-glaube, es ist P-P-P-P...«
»Patrick?« fragte Beverly, und ihre Stimme zitterte am Rande einer Hysterie. »Patrick Hockstetter?«
»J-J-Ja. S-Soll ich noch ein Sch-Sch-Streichholz anzünden?«
»Geht gar nicht anders, Bill«, sagte Eddie. »Wenn ich nicht sehen kann, wie das Rohr verläuft, weiß ich auch nicht, welchen Weg wir einschlagen müssen.«
Bill zündete das Streichholz an. Im Schein der Flamme drehten sich alle um und warfen einen Blick auf das grüne aufgequollene Ding, das einmal Patrick Hockstetter gewesen war. Die Leiche grinste sie aus der Dunkelheit gräßlich vertraut an, aber nur mit einem halben Gesicht; die andere Hälfte hatten Ratten aufgefressen. Seine Sommerschulbücher lagen verstreut um ihn herum, durch die Feuchtigkeit dick aufgequollen.
»Mein Gott«, murmelte Mike heiser, mit weit aufgerissenen Augen.
»Ich höre sie wieder«, sagte Beverly tonlos. »Henry und die anderen.«
Die Akustik mußte ihre Stimme ebenso auch zu ihnen getragen haben, denn Henry brüllte ins Rohr hinein: »Wir kriegen euch schon noch...«, und es hörte sich so an, als stünde er direkt neben ihnen.
»Kommt nur, kommt!« schrie Richie. Seine Augen waren hell und glänzten wie im Fieber. »Kommt nur, ihr Arschlöcher! Kommt...«
Dann schallte ein so gräßlicher Schrei äußersten Entsetzens und rasenden Schmerzes durch das Rohr, daß Bill das Streichholz fallen ließ. Es erlosch. Eddie schlang seinen Arm um ihn, und Bill umarmte ihn ebenfalls und spürte, daß Eddie wie Espenlaub zitterte. Auf der anderen Seite schmiegte sich Stan eng an ihn. Jener kreischende Schrei schwoll immer lauter an... und dann war ein unheimliches Sausen zu hören, und der Schrei brach abrupt ab.
»Der Vogel!« brachte Mike mit erstickter Stimme entsetzt hervor. »Der Vogel ist irgendwo hier in der Nähe, o mein Gott, ich kenne dieses Sausen, es ist der Flügelschlag des Riesenvogels... es ist der Vogel... Bill, wir müssen hier raus... bitte...«
Bill konnte hören, daß einer der Jungen durch das Rohr auf sie zugestolpert kam. »W-Welchen Weg, E-Eddie?« fragte er eindringlich. »W-Weißt du's?«
»Möchtest du immer noch in Richtung Kanal?« fragte Eddie.
»J-Ja.«
»Dannmüssen wir nachrechts. An der Leiche vorbei... odereinfach übersie hinweg.« Eddies Stimme wurde auf einmal härter. »Das ist mir ziemlich egal. Er war mit von der Partie, als sie mir den Arm gebrochen haben.«
»G-G-Gehen wir«, sagte Bill und warf einen Blick zurück. Er befürchtete, daß Henry plötzlich aus dem Rohr auftauchen und ihm sein Messer in die Kehle stoßen könnte. Die eigenartige Akustik in den Kanalisationstunnels machte es ihm unmöglich abzuschätzen, wie weit sie noch entfernt waren. »H-H-Hintereinander. Und haltet euch einer am anderen f-f-fest wie vorhin!«
Er tastete sich mit zusammengebissenen Zähnen vorwärts und streifte mit der rechten Schulter an der schleimigen Rohrwand entlang, um möglichst nicht auf Patrick zu treten.
Und so stolperten sie tiefer in die Finsternis hinein, während um sie herum Wasser tropfte und rauschte, und während draußen ein Unwetter tobte und Derry eine frühe Dunkelheit bescherte - eine Dunkelheit, in der orkanartiger Wind heulte und mit entwurzelten Bäumen um sich warf, und durch die Blitze aus einem fast prähistorisch anmutenden Himmel herabschössen.
3. Es, Mai 1985
Jetzt kamen sie wieder, und obwohl alles so verlaufen war, wie es von IHM vorhergesehen worden war, wiederholte sich doch etwas völlig Unvorhergesehenes: jene quälende, wahnsinnige Angst... jenes Gefühl von der Existenz eines ANDEREN. Es haßte die Angst, hätte sich auf sie gestürzt und sie aufgefressen, wenn das möglich gewesen wäre... aber die Angst tanzte höhnisch außer Reichweite, und Es konnte sie nur vernichten, indem Es sie tötete.
Natürlich bestand überhaupt kein Grund zur Angst; sie waren jetzt älter, und ihre Zahl war von sieben auf fünfgeschrumpft, fünf war zwar immer noch eine Zahl, die man nicht unterschätzen durfte, aber sie besaß doch nicht die mystische, magische Kraft der Sieben. Zwar hatte SEINE Marionette es bedauerlicherweise nicht geschafft, den Bibliothekar zu ermorden, aber der Bibliothekar würde im Krankenhaus sterben. Später, kurz vor Morgengrauen, würde Es einen drogensüchtigen Krankenpfleger zu ihm schicken, der sorgfältig alle Fäden, mit denen die Wunden des Bibliothekars genäht waren, durchtrennen und auf diese Weise Hanion seines letzten Restes Lebenssaft berauben würde.
Die Frau des Schriftstellers war jetzt bei IHM; sie lebte, und lebte doch nicht, denn sie hatte völlig den Verstand verloren, beim ersten Blick auf Es, wie Es wirklich war, wenn Es all SEINE Masken und Verkleidungen ablegte -und all diese Masken waren natürlich nur Spiegel, die dem entsetzten Betrachter das Allerschlimmste zeigten, was es für ihn überhaupt gab, oder die ihm jenen Köder zuwarfen, dem er am allerschwersten widerstehen konnte.
Jetzt war der Geist der Frau des Schriftstellers bei IHM, in IHM, jenseits des Endes des Makroversums - in der Finsternis jenseits der SCHILDKRÖTE, in den Außenländern jenseits aller Länder.
Sie war in SElNEMAuge. Sie war in SEINEM Geist.
Sie war in den Totenlichtern.
Oh, aber die Masken und Verkleidungen waren amüsant. Hanion, beispielsweise. Er erinnerte sich nicht daran, zumindest nicht bewußt, aber seine Mutter hätte ihm erzählen können, wo der Riesenvogel, den er auf dem Gelände der Eisenhütte gesehen hatte, herkam. Als er ein Kleinkind war, etwa sechs Monate alt, hatte seine Mutter seinen Kinderwagen auf dem seitlichen Hof stehengelassen und war selbst auf den Hinterhof gegangen, um Wäsche aufzuhängen. Sie war zurückgerannt, als sie ihn schreien hörte. Eine große Krähe hatte sich auf den Rand des Kinderwagens gesetzt und pickte nach dem Kleinen wie eine böse Kreatur meinem Märchen. Mike hatte vor Angst und Schmerz geschrien, ohne die Krähe vertreiben zu können, die eine schwache Beute gewittert hatte. Mikes Mutter hatte dem Vogel einen Fausthieb versetzt und ihn vertrieben; dann hatte sie festgestellt, daß Klein-Mikeys Arme an zwei oder drei Stellen bluteten und ihn zu Dr. Stittwagon gebracht, damit er eine Tetanusspritze bekam. Ein Teil von Mike - sein Unterbewußtsein - hatte sich immer an diesen Vorfall erinnert - winziges Kind, riesiger Vogel. Und als Es zu Mike kam, sah Mike wieder den Riesenvogel.
Aber als der Ehemann des rothaarigen Mädchens von damals, der auch SEINE willige Marionette war, die Frau des Schriftstellers angebracht hatte, hatte Es keine Maske aufgesetzt - Es verkleidete sich nicht, wenn es daheim war. Der Mann der Rothaarigen war nach einem kurzen Blick auf Es vor Schreck tot umgefallen; sein Gesicht hatte sich grau verfärbt, und seine Augen hatten sich mit dem Blut gefüllt, das ihm aus dem Gehirn geschossen war. Der Frau des Schriftstellers war noch entsetzt durch den Kopf geschossen - O HEBER GOTT ES IST JA weiblich -, und dann hatte alles Denken aufgehört. Sie schwamm in den Totenlichtern. Es war von SEINEM Platz herabgekommen und hatte sich ihrer physischen Hülle angenommen, hatte sie zum späteren Verzehr präpariert. Jetzt hing Audra Denbrough hoch oben zwischen anderen Speisevorräten, mit Seidenfäden umwickelt; ihr Kopf war auf eine Schulter gesunken, ihre schreckensweit aufgerissenen Augen waren glasig, ihre Zehen wiesen nach unten.
Aber sie hatten immer noch Macht.. Sie war nicht mehr so stark wie früher, aber sie war noch spürbar. Sie waren als Kinder hierhergekommen und hatten Es - entgegen jeder Wahrscheinlichkeit, im Widerspruch zu allem, was sein durfte, was sein konnte - schwer verletzt, hatten Es fast getötet, hatten Es gezwungen, tief in die Erde hinein zu fliehen, wo Es sich in einer immer größer werdenden Lache SEINES seltsamen Blutes zusammengekauert hatte, verwundet und zitternd und haßerfüllt.
Und wieder hatte sich etwas Neues ereignet: zum erstenmal in SEINER unendlichen Geschichte war Es gezwungen gewesen, einen Plan zu schmieden; zum erstenmal hatte Es festgestellt, daß Es Angst hatte, sich einfach alles, was Es wollte, aus Derry - SEINEM ureigensten Jagdrevier - zu holen.
Es hatte sich immer gut von Kindern ernährt. Viele Erwachsene konnten als Werkzeug benutzt werden, ohne daß sie es merkten; Es hatte sich hin und wieder auch von diesen älteren Geschöpfen ernährt - Erwachsene hatten ihre spezifischen Ängste, und ihre Drüsen konnten angezapft, konnten geöffnet werden, so daß Chemikalien der Angst den Körper durchfluteten und das Fleisch würzten. Aber die Ängste der Erwachsenen waren meistens zu komplex; die Ängste der Kinder waren einfacher und normalerweise stärker. Die Ängste von Kindern ließen sich oft in einem einzigen Gesicht zusammenfassen... und wenn ein Köder benötigt wurde -welches Kind liebte Clowns nicht?
Es verstand vage, daß diese Kinder SEINE eigenen Waffen irgendwie auf Es gerichtet hatten - daß Es durch unglücklichen Zufall sicherlich nicht geführt von der Hand irgendeines anderen!), durch den ungewöhnlichen Zusammenhalt von sieben außerordentlich fantasievollen Menschenwesen in große Gefahr geraten war. Jedes von diesen sieben Kindern wäre, auf sich allein gestellt, SEINE Nahrung geworden, und wenn sie nicht zufällig zusammengekommen wären, hätte Es sie mit Sicherheit eines nach dem anderen vertilgt, von ihrer Fantasie angezogen - ebenso wie ein Löwe durch den Geruch eines Zebras von einer ganz speziellen Wasserstelle angezogen wird. Aber gemeinsam hatten sie ein gefährliches Geheimnis entdeckt, dessen nicht einmal Es selbst sich bewußt gewesen war - nämlich daß Glaube ein zweischneidiges Schwert ist. Wenn 10000 Bauern im Mittelalter Vampire schaffen, indem sie glauben, diese Monster seien real, so wird vielleicht irgendein Mensch -höchstwahrscheinlich ein Kind - den Pfahl ersinnen, mit dem man den Vampir töten kann. Aber der Pfahl erfüllt diesen Zweck nur, weil der Pfählende felsenfest daran glaubt. Ein Pfahl ist nur dummes Holz, weiter nichts; der Geist ist das Schlagholz, das ihm tödliche Wirkung verleiht.
Aber letztlich war Es doch entkommen. Es hatte sich verkrochen, und die erschöpften, zu Tode geängstigten Kinder hatten sich entschieden, Es nicht zu verfolgen, als Es am verwundbarsten gewesen war. Sie hatten sich dafür entschieden zu glauben, daß Es tot war oder im Sterben lag, und sie hatten sich zurückgezogen.
Es hatte ihren Schwur nicht gehört, aber Es hatte gewußt, daß sie zurückkommen würden, genauso wie ein Löwe weiß, daß das Zebra schließlich zur Wasserstelle zurückkehren wird. Es hatte schon zu planen begonnen, bevor Es eingeschlummert war. Wenn Es wieder auf wachte, würde Es geheilt sein, würde Es sich erholt haben -aber ihre Kindheit würde heruntergebrannt sein wie eine dicke Kerze. Die ursprüngliche große Macht ihrer Fantasie würde schwach, fast erstickt sein. Sie würden sich nicht mehr vorstellen, daß es im Kenduskeag Piranhas gab, sie würden nicht mehr glauben, daß man seiner Mutter den Rücken brechen konnte, wenn man auf einen Spalt trat, oder daß - wenn man einen Marienkäfer tötete, der sich einem aufs Hemd gesetzt hatte - in derselben Nacht das Haus abbrennen würde. Statt dessen würden sie an Versicherungen glauben. Sie würden an Wein zum Abendessen glauben - einen guten, aber nicht zu teuren, vielleicht einen Pouilly-Fuisse '83, und lassen Sie ihn bitte atmen, Ober, seien Sie so gut! Sie würden glauben, daß Rolaids gegen Sodbrennen hilft. Mit jedem Jahr würden ihre Träume kleiner fantasieloser werden. Und wenn Es aufwachte, würde Es sie zurückrufen, jawohl, zurückrufen, denn Angst war fruchtbar, ihr Kind hieß Zorn, und Zorn schrie nach Rache.
Es würde sie zurückrufen, und dann würde Es sie umbringen. Aber nun, da sie kamen, hattedie Angst Es wieder gepackt. Sie waren erwachsen geworden, undihre Fantasie war geschwächt - aber nicht in dem Ausmaß, wie Es fälschlich angenommen hatte. Es hatte eine verhängnisvolle, beunruhigende Zunahme ihrer Macht verspürt, als sie sich erneut zusammengeschlossen hatten, und da hatte Es sich zum erstenmal gefragt, ob Es vielleicht einen fehler begangen hatte.
Doch wozu solch düsteren Gedanken nachhängen? Die Würfel waren gefallen, und nicht alle Omen waren schlecht. Der Schriftsteller war halb verrückt vor Angst um seine Frau, und das war gut so. Der Schriftsteller war am stärksten, weil er in all den Jahren seinen Geist irgendwie für diese Konfrontation geschult hatte, und wenn der Schriftsteller erst einmal tot war, wenn seine Eingeweide ihm aus dem Leib heraushingen - wenn ihr ach-so-verehrter Big Bill tot war -, dann würden die anderen schnell SEINE Beute sein.
Es würde ausgezeichnet essen... und dann würde Es sich vielleicht wieder zurückziehen. Und ein Nickerchen machen. Für kurze Zeit.
4. In den Tunnels, 4.30 Uhr
»Bill!« schrie Richie in das widerhallende Rohr hinein. Er bewegte sich, so rasch er konnte, aber das war nicht allzu schnell. Er erinnerte sich daran, daß sie als Kinder dieses Kanalrohr, das von der Pumpstation in den Barrens wegführte, fast aufrecht entlanggegangen waren. Jetzt mußte er kriechen, und das Rohr kam ihm unglaublich eng vor. Seine Brille wollte ihm ständig von der Nase rutschen, und er schob sie andauernd hoch. Hinter sich hörte er Bev und Ben.
»Bill!« schrie er wieder. »Eddie!«
»Ich bin hier!« hörte er Eddies Stimme.
»Wo ist Bill?«
»Weiter vorne!« rief Eddie. Richie hörte, daß Eddie jetzt dicht vor ihm sein mußte. »Er hat nicht gewartet!«
Richies Kopf stieß gegen Eddies Bein. Einen Augenblick später stieß Bevs Kopf gegen Richies Hintern.
»Bill!« brüllte Richie, so laut er konnte. Das Rohr verstärkte seinen Schrei und warf ihn so laut zurück, daß er ihm selbst in den Ohren dröhnte. »Bill, wart auf uns! Wir müssen zusammenbleiben, weißt du das denn nicht mehr?«
Aus der Ferne hallte Bills Stimme: »Audra! Audra! Wo bist du?«
»Gott verdamm dich, Big Bill!« murmelte Richie leise. Seine Brille fiel herunter. Er fluchte, hob sie auf und setzte sie, naß wie sie jetzt war, wieder auf. Er holte tief Luft und brüllte dann wieder: »Du wirst dich ohne Eddie verirren, du verdammtes Arschloch! Warte! Wart auf uns! Hörst du mich, Bill? WART AUF UNS, VERDAMMT NOCH MAL!
Einen schrecklichen Moment lang, der ihnen allen wie eine Ewigkeit vorkam, herrschte Stille. Niemand schien zu atmen, und das einzige, was Richie hören konnte, war das ferne Tropfen von Wasser. Das Rohr war diesmal fast trocken, abgesehen von gelegentlichen Pfützen.
»bill!« Er fuhr sich mit zitternder Hand durchs Haar und kämpfe gegen aufsteigende Tränen an. »nun komm schon. .. bitte, mann! warte! bitte!«
Und ganz schwach drang Bills Stimme zu ihnen: »Ich warte.«
»Gott sei Dank«, murmelte Richie. Seine Arme und Beine fühlten sich vor Erleichterung gummiartig an. Er klopfte Eddie auf den Hintern. »Los.«
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch mit einem Arm kriechen kann«, sagte Eddie entschuldigend.
»Versuch's einfach«, sagte Richie, und Eddie kroch weiter.
Bill wartete in dem Kanalschacht auf sie, in den drei Rohre mündeten. Hier fiel etwas Licht von oben ein, und sie konnten auch wieder aufrecht stehen.
»D-D-Dort drüben«, sagte Bill und sah sie mit gehetzten Augen an. Sein Gesicht war abgehärmt und erschöpft. »V-V-Victor Criss.«
Sie schauten hin. Beverly stöhnte, und Ben, dessen Gesicht sich vor Entsetzen verzerrt hatte, legte seinen Arm um sie.
Offensichtlich war dieser Teil des Kanalisationssystems von Derry nicht mehr in Gebrauch; die moderne Kläranlage mußte diese Aufgaben übernommen haben. Irgendwann in der Zwischenzeit war die Umweltschutzbehörde ins Leben gerufen worden, und sie hatte erklärt, es sei absolut unmöglich, Abwässer einfach in Flüsse zu pumpen. Deshalb hatte sich in den Kanälen Schimmel gebildet, und Victors kopflose Leiche, deren einer Arm sich in einem Spalt zwischen den Steinen des Schachts verfangen hatte (der Arm war in einem grotesken, unnatürlichen Winkel gekrümmt), war nie weggeschwemmt worden. Es war die Leiche eines Jungen in einem blutigen vermoderten T-Shirt und Bluejeans, die bis auf einzelne Fetzen total verschimmelt waren. Fast nur noch das Skelett war von ihm übriggeblieben. Das teilweise zerfallende Xylophon seiner Rippen war mit Moos bewachsen, und seine Überreste erinnerten an eine moosbeklebte Holzpuppe, der man längst aus der Mode gekommene Knabenkleidung angezogen hatte. Richie bemerkte verwundert, daß die verschimmelten Jeans Aufschläge gehabt hatten, und daß die Gürtelschnalle sich auf einer Seite befunden hatte.
»Das Monster hat ihn erwischt«, sagte Ben leise. »Erinnert ihr euch noch? Wir haben gehört, als es passierte.«
»Audra ist t-t-tot«, sagte Bill. »Ich w-weiß es.«
»Das kannst du überhaupt nicht wissen!« rief Beverly mit solchem Zorn, daß Bill zusammenftihr und sie überrascht anschaute. »Das einzige, was du mit Sicherheit weißt, ist, daß eine ganze Menge anderer Menschen wirklich tot ist, ermordet wurde - die meisten davon waren Kinder.« Sie ging auf Bill zu und stand dann mit in die Hüften gestemmten Händen vor ihm. In dem schwachen Licht konnte Richie sehen, daß ihr Gesicht und ihre Hände schmutzig waren, und daß auch in ihrem Haar Schmutz klebte. Sie sah... einfach hinreißend aus. »Und du weißt auch, wer das getan hat!«
»Ich h-h-hätte ihr n-nie s-s-s-sagen d-dürfen, w-wohin ich w-w-wollte«, murmelte Bill. »W-Warum h-habe ich das nur g-g-g-getan? Warum h-habe ich...«
Ihre Hände schössen vor und packten ihn am Hemd. Erstaunt beobachtete Richie, wie sie ihn schüttelte.
»Schluß jetzt! Du weißt, wozu wir hergekomen sind! Wir haben es geschworen, und wir werden es tun! Verstehst du mich, Bill? Wenn sie tot ist, dann ist sie eben tot... aber Es ist nicht tot! Und wir brauchen dich. Kapierst du das? Wir brauchen dich!« Sie weinte jetzt. »Also hilf uns gefälligst, oder keiner von uns wird hier wieder lebendig rauskommen!«
Er sah sie lange wortlos an, und Richie dachte: Nun komm schon, Bill. Los, nun komm schon...
Bill blickte in die Runde und nickte. »D-D-Daran hat sich nichts g-geän-dert«, sagte er. »Oder?«
»Nein«, murmelte Ben.
»W-W-Weißt du noch, w-welches R-Rohr es w-war, E-E-Eddie?«
Eddie deutete an Victor vorbei. »Das da. Sieht ganz schön eng aus, was?« Bill nickte wieder. »Schaffst du's?«
»Ja, Bill - für dich schaff ich's.«
Bill lächelte - das traurigste, schrecklichste Lächeln, das Richie je gesehen hatte. »F-Führ uns hin, Eddie. B-B-Bringen wir die S-Sache hinter uns.«
5. In den Tunnels, 4.55 Uhr
Während er vorwärtskroch, erinnerte Bill sich an das abrupte Ende dieses Rohrs, aber dann kam es für ihn doch wieder überraschend. Eben hatte er sich noch mit seinen Händen über die schmutzverkrustete Oberfläche des alten Rohrs getastet, und im nächsten Moment griffen sie in Leere. Er fiel vornüber und rollte sich instinktiv ab. Er prallte schmerzhaft mit der Schulter auf.
»V-V-Vorsicht!« hörte er sich schreien. »H-Hier f-f-fällt es ab! E-E-Eddie?«
»Hier!« Eine von Eddies wild gestikulierenden Händen streifte über Bills Stirn. »Kannst du mir raushelfen?«
Bill legte seine Arme um Eddie und zog ihn heraus, wobei er versuchte, Eddies gebrochenen Arm nicht zu berühren. Ben kroch als nächster aus dem Rohr heraus, dann Bev, dann Richie.
»H-H-Hast du Sch-Streichhölzer, R-Richie?«
»Ich hab' welche«, sagte Beverly. Bill spürte, wie sie im Dunkeln seine Hand berührte und ihm ein Streichholzheftchen gab. »Es sind nur acht oder zehn. Aber Richie hat noch mehr. Aus dem Hotelzimmer.«
»H-Hast du sie wieder unter der A-A-Achsel gehabt, B-Bev?«
»Diesmal nicht, Bill«, sagte sie und legte in der Dunkelheit die Arme um ihn.
Er drückte sie fest an sich, mit geschlossenen Augen, und hoffte, daß ihre Nähe ihm etwas Trost spenden, seinen müden, verzweifelten Geist etwas beruhigen würde. Aber statt dessen quälten ihn nur Gewissensbisse - hatten sie sich vielleicht gerade geliebt, als jemand Audra, seine Audra, schreiend durch diese Rohre gezerrt hatte?
Er ließ sie sanft los und zündete ein Streichholz an. Die Macht der Erinnerung war sehr groß - unwillkürlich blickten sie alle sofort nach rechts. Die Leiche Patricks Hockstetters - oder vielmehr deren Überreste - waren noch da. Ein paar mit Moos überwachsenen Erhöhungen, die einmal Bücher gewesen waren. Ein Kieferknochen mit einem Halbkreis herausragender Zähne, von denen zwei oder drei Füllungen hatten.
Und dicht daneben etwas anderes. Ein schimmernder Kreis, im flackernden Licht des Streichholzes kaum zu sehen.
Bill schüttelte das Streichholz aus und zündete ein neues an. Er ging hinüber und hob den Gegenstand auf. »Audras Ring«, sagte er mit hohler, ausdrucksloser Stimme. »Audras Trauring.«
Das Streichholz erlosch.
In der Dunkelheit streifte er den Ring über seinen Finger.
»Bill?« sagte Richie zögernd.
»W-Wir werden Es umbringen«, sagte Bill.
Bill hatte keine Ahnung, wie lange sie jetzt schon durch die Tunnels unter Derry wanderten, seit sie die Stelle mit Patrick Hockstetters Leiche verlassen hatten, aber er war sich ganz sicher, daß er den Weg ins Freie nie finden würde. Wenn Eddies Orientierungssinn jetzt versagte, würde Es sie nicht einmal unbedingt umbringen müssen - sie würden in der Kanalisationsanlage umherirren, bis sie starben - oder sie würden, wenn sie in die falschen Rohre gerieten, ertrinken.
Aber Eddie schien sich seiner Sache immer noch völlig sicher zu sein. Ab und zu bat er Bill, eines der Streichhölzer aus ihrem schon sehr zusammengeschrumpften Vorrat anzuzünden, und schaute sich aufmerksam um, bevor er weiterging. Man konnte fast den Eindruck gewinnen, als biege er völlig aufs Geratewohl nach links oder rechts ab. Manchmal waren die Rohre so groß, daß Bill die Decke nicht einmal mit ausgestrecktem Arm und auf Zehenspitzen erreichen konnte. Manchmal mußten sie kriechen, und einmal mußten sie sich - Eddie an der Spitze - fünf schreckliche Minuten lang (die ihnen wie fünf Stunden vorkamen) flach auf den Bäuchen vorwärtsrobben wie Würmer, wobei ihre Nasen fast an die Absätze ihres Vordermannes stießen.
Irgendwie waren sie inzwischen in einen alten Teil der Kanalisation von Derry gelangt, der nicht mehr in Gebrauch war. Das Brausen der Abwässer war jetzt nur noch als ferner leiser Donner zu hören. Die Rohre hier waren viel älter, nicht aus gebrannter Keramik, sondern aus einem bröckeligen lehmartigen Material, aus dem hin und wieder eine stinkende Flüssigkeit sickerte. Die Gerüche der Abwasser führenden Rohre - jene reifen Gasgerüche, die sie zu ersticken gedroht hatten - waren hier kaum noch wahrnehmbar, aber dafür herrschte ein anderer Geruch, ein abgestandener, gleichsam vergilbter Geruch, der in gewisser Weise noch schlimmer war.
Es war ein Geruch, den Ben Hanscom mit der Mumie und Eddie mit dem Aussätzigen assoziierte. Richie dachte bei diesem Geruch an eine uralte Flanelljacke, die inzwischen verschimmelt und vermodert war - die Jacke eines Holzfällers. Eine riesige Jacke, groß genug für eine Gestalt wie Paul Bunyan. Beverly wurde durch diesen Geruch an die Sockenschublade ihres Vaters erinnert. In Stan Uris rief der Geruch eine schreckliche Erinnerung aus frühester Kindheit hervor - eine spezifisch jüdische Erinnerung, was bei einem Jungen, der nur äußerst vage Vorstellungen von seinem Judentum hatte, sehr merkwürdig war. Der Geruch war für ihn eine Mischung aus Lehm und Öl und ließ ihn an ein augenloses, mundloses mythisches Wesen denken, einen aus Lehm geformten künstlichen Menschen, den verfolgte Juden im Mittelalter angeblich geschaffen und zum Leben erweckt hatten. Mike Hanion dachte an den trockenen, staubigen Geruch von Federn, und er lauschte angestrengt in die Dunkelheit und erwartete fast, das trockene Kratzen der Vogelkrallen oder das düstere Rauschen von Vogelschwingen zu hören.
Nur Bill assoziierte den Geruch mit nichts Speziellem - er nahm ihn einfach wahr und wartete, was wohl als nächstes geschehen würde.
Als sie schließlich das Ende des besonders schmalen Rohrs erreichten,
glitten sie in einem neuen Rohr, das in schrägem Winkel von dem anderen ausging, ein Stück abwärts - und stellten dann fest, daß sie sich darin wieder aufrichten konnten. Bill zählte die Köpfe der ihnen verbliebenen Streichhölzer ab - es waren nur noch vier. Ihm wurde die Kehle eng, und er beschloß, den anderen nicht zu sagen, wie knapp ihr Lichtvorrat war -nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ.
»W-Wie geht's euch?«
Sie murmelten etwas, und er nickte im Dunkeln. Keine Panik, keine Tränen seit dem besonders unappetitlichen Fäkalien-Rohr. Das war gut. Er griff nach ihren Händen, und sie standen eine Weile im Kreis und schöpfen Kraft aus ihrer engen Gemeinschaft. Bill war plötzlich ganz durchdrungen von der Gewißheit, daß ihre Macht größer war als nur die Summe von sieben vereinten Kräften, daß die Gruppe auf geheimnisvolle Weise eine wesentliche höhere Endsumme ergab.
Er zündete eines der Streichhölzer an, und sie sahen einen engen Tunnel vor sich, der schräg nach unten führte. Die Decke war mit dichten - zum Teil zerrissenen - Spinnweben bedeckt, und dieser Anblick jagte Bill einen atavistischen Schauder über den Rücken. Der Boden des Tunnels war trok-ken, aber mit altem Schimmel überzogen. Ein Stückchen weiter vorne sah er einen Haufen Knochen und grüne Stoffetzen, die von Arbeitskleidung zu stammen schienen. Bill stellte sich vor, daß sich vielleicht irgendwann ein Kanalarbeiter verirrt hatte, hierher gelangt... und dann von ihm aufgespürt worden war...
Die Streichholzflamme flackerte. Er hielt es nach unten, damit es noch ein bißchen länger brannte. »W-W-Weißt du, w-wo wir s-s-sind?« fragte er Eddie.
Eddie deutete auf den abwärts führenden, leicht gebogenen Tunnel. »Der Kanal ist in dieser Richtung«, sagte er. »Weniger als eine halbe Meile entfernt, es sei denn, daß dieses Rohr irgendwo in eine andere Richtung abbiegt. Wir befinden uns jetzt unter dem Up-Mile Hill, glaube ich. Aber, Bill...«
Das Streichholz verbrannte Bill die Finger, und er ließ es fallen. Sie standen wieder im Dunkeln. Jemand - Beverly, so glaubte Bill - seufzte. Aber bevor das Streichholz erloschen war, hatte er noch gesehen, daß Eddie sehr beunruhigt aussah.
»W-W-Was? Was ist Hos?«
»Wenn ich sage, daß wir uns unter dem Up-Mile Hill befinden, so meine ich damit - wirklich unter ihm. Wir haben uns jetzt schon lange Zeit ständig nach unten bewegt. Niemand legt Abwasserkanäle in dieser Tiefe an. Tunnels in dieser Tiefe bezeichnet man eher als Minenschächte.«
»Was glaubst du, wie tief unter der Erde wir sind, Eddie?« fragte Richie.
»Eine Viertelmeile«, sagte Eddie. »Vielleicht auch mehr.«
»Jesus, Maria und Josef!« murmelte Bev.
»Das sind wirklich keine Abflußrohre mehr«, erklärte Stan. »Das merkt man am Geruch. Hier stinkt's zwar, aber nicht mehr nach Abwässern.«
»Ich glaube, der Abwassergestank war mir immer noch lieber«, sagte Ben. »Hier riecht's nach...«
Aus dem Rohr, durch das sie vor kurzem gekrochen waren, drang ein
Schrei an ihre Ohren. Bill sträubten sich die Nackenhaare, und alle sieben scharten sich eng zusammen.
».. .kriegen euch Arschlöcher schon! Wir kriegen euch schoooon...«
»Henry!« flüsterte Eddie. »O mein Goff!«
Schwache Geräusche kamen aus dem Rohr: Keuchen und das Schaben von Schuhen und das Knistern von Stoff.
»... euch schooooon...«
»K-K-Kommt«, sagte Bill.
Sie schlurften das Rohr hinab, immer zwei nebeneinander, bis auf Mike, der die Nachhut bildete: Bill und Eddie, Richie und Bev, Ben und Stan.
»W-W-Was g-glaubst du, wie w-weit zurück Henry ist?«
»Das kann ich nicht sagen, Big Bill«, erklärte Eddie entschuldigend. »Das Echo ist zu stark.« Er senkte die Stimme. »Hast du den Knochenhaufen gesehen?«
»J-J-Ja«, sagte Bill ebenso leise.
»Bei den Kleidern lag auch ein Galvometer oder wie das Ding heißt, mit dem man messen kann, wieviel Wasser durch ein Rohr fließt. Das muß ein Arbeiter des Wasserwerks gewesen sein.«
»G-G-Glaub' ich auch.«
»Was meinst du, wie lange...?«
»Ich w-w-weiß n-nicht.«
Eddie umklammerte mit seiner Hand im Dunkeln Bills Arm.
Etwa eine Viertelstunde später hörten sie in der Dunkelheit etwas auf sich zukommen. Richie blieb schreckensstarr stehen. Plötzlich war er wieder drei Jahre alt und kämpfte ohne viel Erfolg gegen seine wilde Panik an. Er lauschte jenen schabenden, saugenden Geräuschen, die immer näher kamen, und noch bevor Bill ein Streichholz anzündete, wußte er, was es sein würde... und das war es auch.
»Das auge!« schrie er. »O Gott, es ist das kriechende auge!«
Einen Moment lang waren die anderen nicht sicher gewesen, was sie sahen (Beverly hatte den Eindruck, als hätte ihr Vater sie gefunden, sogar hier unten; und Richie hatte eine vage Vision, daß Patrick Hockstetter wieder lebendig geworden war, daß Patrick sie irgendwie überholt hatte), aber Richies Schrei - und seine Gewißheit - ließ Es für sie alle jene Gestalt annehmen, die Richie gesehen hatte - genauso wie damals im Haus auf der Nei-bolt Street.
Ein gigantisches Auge füllte den Tunnel aus; die glasige schwarze Pupille hatte einen Durchmesser von etwa zwei Fuß, die Iris war schmutzig rotbraun. Das etwas vorgewölbte Weiße war mit roten Venen durchzogen, die gleichmäßig pulsierten. Es hatte weder ein Lid noch Wimpern - ein gallertartiges schreckliches Ding, das sich auf dünnen Tentakeln fortbewegte, die nach dem bröckligen Tunnelboden tasteten und sich hineingruben wie Finger, so daß im Schein von Bills zitternder Streichholzflamme der Eindruck entstand als wären dem Auge alptraumhafte Finger gewachsen, die es vorwärtszogen. Es starrte sie mit fieberhafter Gier an... und dann erlosch das Streichholz.
Im Dunkeln spürte Bill, wie zwei dieser dünnen Tentakel über seine Fußknöchel, über seine Schienbeine streiften... aber er konnte sich nicht bewegen. Er war vor Entsetzen wie angefroren. Er fühlte, wie dieser kriechende Schrecken immer näher kam, er nahm wahr, daß Hitze davon ausging, er hörte das nasse Pulsieren der Membrane. Er stellte sich vor, daß die Tentakel sich bestimmt klebrig anfühlen würden, aber er konnte weder schreien noch sich bewegen. Sogar als neue Tentakel sich um seine Taille schlangen und ihn vorwärtszogen, brachte er keinen Laut heraus. Eine tödliche Schläfrigkeit schien seinen ganzen Körper befallen zu haben.
Beverly spürte, wie einer der Tentakel sich um ihre Ohrmuschel legte und sich plötzlich wie eine Schlinge eng zusammenzog. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, und dann wurde sie vorwärtsgezogen, zappelnd und stöhnend, so als hätte eine alte Lehrerin die Geduld mit ihr verloren und zerrte sie am Ohr in die hintere Ecke des Klassenzimmers, wo sie auf einem Holzklotz Platz nehmen und eine Dummkopf »Ben... Ben, Es hat mich erwischt!« »Nein... nein... warte, ich ziehe...« Er zog mit aller Kraft, und Beverly schrie, weil der Schmerz an ihrem Ohr schier unerträglich wurde und es zu bluten begann. Ein trockener, harter Tentakel schabte an Bens Hemd entlang und schlang sich dann schmerzhaft fest um seine Schulter. Bill erwachte aus seiner Erstarrung und streckte eine Hand aus; sie sank in etwas Klebriges, Nasses, Nachgiebiges ein. Das Kriechende Auge! schrie eine innere Stimme in ihm. O Gott, meine Hand ist ins Auge geraten! O Gott! O lieber Gott, nein! Nein! Er begann zu kämpfen, aber die Tentakel zogen ihn unerbittlich vorwärts. Seine Hand verschwand im Kriechenden Auge, in dieser gierigen Hitze. Sein Unterarm. Bis zum Ellbogen war sein Arm nun schon im Auge versunken; jeden Moment würde nun auch sein übriger Körper mit dieser klebrigen Oberfläche in Berührung kommen, und er fühlte, daß er dann wahnsinnig werden würde. Er kämpfte verzweifelt, versuchte mit der freien Hand nach den Tentakeln zu schlagen. Eddie Kaspbrak hatte die erstickten Schreie und die Kampfgeräusche wie im Traum wahrgenommen. Er spürte rings um sich die Tentakel, aber bisher war noch keiner direkt auf ihm gelandet. Seine Freunde - Mike ausgenommen - wurden unaufhaltsam in Richtung des Kriechenden Auges gezogen. Renn nach Hause! riet sein Verstand ihm gebieterisch. Renn nach Hause zu deiner Mama, Eddie! Du findest den Weg nach draußen! Bill schrie im Dunkeln - ein hoher, verzweifelter Laut, dem völlig unbeschreibliche Geräusche folgten: eine Art Sabbern, Saugen, Geifern. Eddies Lähmung fiel mit einem Schlag von ihm ab - Es versuchte, Big Bill zu verschlingen! »nein!« brüllte Eddie - es war ein wildes Röhren, und niemand hätte gedacht, daß es aus Eddie Kaspbraks schmaler Brust kam - Eddie Kaspbrak, der so zart und schwächlich war, der unter dem stärksten Asthma in ganz Derry litt. Es war ein barbarischer Wutschrei. Eddie stürzte vorwärts, sprang über tastende Tentakel hinweg, ohne sie zu sehen; sein gebrochener Arm schwang in der Schlinge hin und her, schlug ihm gegen die Brust. Er griff in seine Tasche und zog seinen Aspirator heraus. (Säure) Er prallte gegen Bills Rücken und stieß ihn beiseite - ein tiefes gieriges Quäken ertönte, das Eddie nicht so sehr mit den Ohren hörte als vielmehr im Geist wahrnahm. Er hob den Aspirator (Säure) und drückte auf die Flasche. Ein Strahl schoß daraus hervor. »Pack dich!« schrie er und kickte nach dem Kriechenden Auge. Sein Fuß bohrte sich tief in seine gallertartige Hornhaut, und eine warme Flüssigkeit ergoß sich auf sein Bein. Er riß seinen Fuß zurück und bemerkte kaum, daß er seinen Schuh verloren hatte. Pack dich! Scher dich weg! Hau ab! Verschwinde! Scher dich zum Teufel! PACK dich!« Er fühlte, wie Tentakel ihn berührten, aber nur zögernd, fast ängstlich. Er drückte wieder auf seinen Aspirator, attackierte das Auge mit >Säure< und hörte im Geist wieder jenes Quäken... diesmal war es jedoch ein Schmer-zenslaut, ein überraschtes Wimmern. »Kämpft!« brüllte Eddie den anderen zu. »Es ist nur ein saublödes Auge! Kämpft! Hört ihr mich? Bekämpf Es, Bill! Gib IHM einen Tritt, daß die Scheiße nur so aus dem Arschloch rausfliegt!« Bill spürte plötzlich neue Kräfte in sich aufsteigen. Er riß seinen Arm aus dem Auge heraus - und schlug dann mit geballter Faust wieder zu. Einen Augenblick später war Ben neben ihm - er rannte direkt in das Auge hinein, grunzte angewidert und begann, Faustschläge auf die gallertartige, schwabbelige Oberfläche herabregnen zu lassen. »Laß sie los!« schrie er. »Hörst du mich? Laß sie los! Verschwinde! Mach, daß du hier wegkommst!« »Nur ein Auge! Nur ein saublödes Auge!« brüllte Eddie völlig außer sich. Er drückte wieder auf seinen Aspirator und fühlte, wie Es zurückwich. Die Tentakel, die sich auf ihm niedergelassen hatten, fielen herab. »Richie! Richie! Schnapp's dir! Es ist nichts weiter als ein Auge!« Richie stolperte vorwärts; er konnte selbst gar nicht glauben, daß er dazu imstande war, daß er sich wirklich und wahrhaftig dem schlimmsten, dem allerschrecklichsten Monster der ganzen Welt näherte. Aber er tat es. Er schlug nur einmal ziemlich schwach zu, und das Gefühl, als seine Faust ins Kriechende Auge einsank, - Es war zäh und naß und knorpelig -, drehte ihm den Magen um. Er würgte, und der unglaubliche Gedanke, daß er auf das Auge gekotzt hatte, ließ es ihn gleich noch einmal tun. Er hatte nur ein einziges Mal zugeschlagen, aber nachdem er dieses spezielle Monster geschaffen hatte, war mehr vielleicht auch gar nicht notwendig. Plötzlich waren sämtliche Tentakel verschwunden. Sie hörten, wie Es sich zurückzog ... und dann war nur noch Eddies Keuchen und Beverlys leises Weinen zu hören, die sich das blutende Ohr hielt. Bill zündete eines der drei letzten Streichhölzer an, und sie starrten einander mit bleichen, vom Schock gezeichneten Gesichtern an. Von Bills linkem Arm tropfte eine dicke, trübe Flüssigkeit, die wie eine Mischung aus halb geronnenem Eiweiß und Schleim aussah. Blut floß auf Beverlys Hals, und Bens Wange wies eine frische Schnittwunde auf. Richie schob langsam seine Brille hoch. »S-S-Seid ihr alle in O-O-Ordnung?« fragte Bill heiser. »Und du, Bill?« fragte Richie zurück. »J-J-Ja.« Er drehte sich nach Eddie um und drückte ihn fest an sich. »Du h-hast mir das L-L-Leben gerettet, M-Mann.« »Es hat meinen Schuh gefressen«, sagte Eddie, der sich über Bills Worte wahnsinnig freute, aber versuchte, es nicht zu zeigen. »Dieses hundsgemeine blöde Arschloch von Kriechendem Auge!« »Es hat deinen Schuh gefressen!« rief Beverly und lachte hysterisch. »Ist das nicht furchtbar schlimm?« »Ich kauf dir ein neues Paar, wenn wir wieder draußen sind«, sagte Richie. Er klopfte Eddie anerkennend auf den Rücken. »Wie hast du das nur gemacht?« »Ich habe Es mit der Asthmamedizin aus meinem Aspirator beschossen. So getan, als wäre es Säure. So schmeckt das Zeug nach 'ner Weile, wenn ich einen schlechten Tag habe und es oft inhalieren muß. Hat großartig funktioniert.« »Na, du solltest ihn weiterhin griffbereit haben«, meinte Richie. »Vielleicht brauchen wir ihn noch einmal.« »Ihr habt Es nicht irgendwo gesehen?« fragte Mike. »Als das Streichholz brannte?« »Es ist w-w-weg«, sagte Bill und fügte grimmig hinzu: »Aber w-wir m-m-müssen schon g-ganz in seiner N-N-Nähe sein. In der N-Nähe seiner W-W-Wohnung s-s-sozusagen. Und ich g-g-glaube, wir haben Es verw-wun-det.« »Henry ist immer noch hinter uns her«, sagte Stan mit leiser, heiserer Stimme. »Ich kann ihn hören.« »Dann sollten wir lieber weitergehen«, meinte Ben. Sie machten sich wieder auf den Weg. Der Tunnel führte stetig abwärts, und jener Geruch - jener undefinierbare, aber widerliche Gestank - wurde immer stärker. Von Zeit zu Zeit konnten sie Henry hinter sich hören, aber seine Drohungen und Schreie schienen jetzt weit entfernt und waren nicht mehr wichtig. Sie hatten jetzt alle ein Gefühl - ähnlich jenem, das sie im Haus auf der Neibolt Street verspürt hatten -, als wären sie über den Rand der Welt hinausgegangen und befänden sich nun in einem seltsamen Nichts... aber gleichzeitig spürten sie deutlich, daß sie sich Derrys dunklem, verderbtem Herzen näherten. Mike Hanion kam es so vor, als fühlte er jenen arhythmischen kranken Herzschlag, als gingen sie nicht durch einen Tunnel, sondern durch eine Arterie, die direkt in jenes Herz hinein führte. Beverly hatte das Gefühl, als würde eine böse Macht um sie herum immer stärker, als versuchte sie, sie zu umhüllen und von den anderen zu trennen, damit sie allein und verlassen zurückblieb. Nervös streckte sie beide Arme aus und griff nach Bills und Bens Händen. Es kam ihr so vor, als wären diese Hände viel zu weit entfernt gewesen, und sie rief nervös: »Reicht euch alle die Hände! Es ist so, als bewegten wir uns auseinander!« Es war Stan, der als erster bemerkte, daß er wieder sehen konnte. Es war kein richtiges Licht, vielmehr ein schwacher, sonderbarer Glanz. Zuerst konnte er nur Hände erkennen - seine eigenen, die Bens und Mikes hielten. Dann stellte er fest, daß er die Knöpfe an Richies Westernhemd sehen konnte, und ebenso auch den Captain- Midnight-Ring - einen billigen Ring aus einer Wundertüte oder so -, den Eddie gern am kleinen Finger trug. »Könnt ihr auch sehen?« fragte er und blieb stehen. Die anderen hielten ebenfalls an. Bill schaute sich um und stellte als erstes fest, daß er wirklich sehen konnte - zumindest ein bißchen -, und gleich darauf, daß der Tunnel sich ganz erstaunlich verbreitert hatte. Sie befanden sich jetzt in einem gekrümmten Raum, der so groß war wie der Sumner-Tunnel in Boston. Noch größer, verbesserte er sich gleich darauf, als er sich mit wachsender ehrfürchtiger Scheu einmal im Kreise drehte. Auch die anderen blickten überrascht um sich und lehnten die Köpfe zurück, um die Decke sehen zu können, die jetzt mindestens 50 Fuß über ihnen war und auf dicken gewundenen steinernen Strebepfeilern ruhte wie auf Rippenbögen. Zwischen ihnen hingen schmutzige riesige Spinnweben herab. Der Boden war jetzt mit Steinen ausgelegt, aber mit einer so dicken Schmutzschicht bedeckt, daß ihre Schritte nicht anders klangen als bisher. Die gewölbten Wände waren gut und gern 50 Fuß voneinander entfernt. »Die Typen von den Wasserwerken müssen hier unten wirklich total den Verstand verloren haben«, sagte Richie und kicherte nervös. »Es sieht aus wie eine Kathedrale«, stellte Beverly leise fest. »Woher kommt das Licht?« wollte Ben wissen. »S-S-Sieht so aus, als k-käm's direkt aus den W-W-Wänden.« »Es gefällt mir nicht«, bemerkte Stan dumpf. »Es erinnert mich an Leichenlichter.« »G-G-Gehen wir. H-Henry wird s-s-sicher bald hier s-sein...« Ein lauter, schmetternder Schrei zerriß die Stille, und gleich darauf das dumpfe Sausen von Vogelschwingen. Ein Schatten löste sich aus der Dunkelheit, ein Auge funkelte - das andere war erloschen. »Der Vogel!« schrie Stan. »Paßt auf, es ist der Riesenvogel!« er/es schoß auf sie herab wie ein Kampfflugzeug. Der orangefarbene Schnabel öffnete und schloß sich und enthüllte das pinkfarbene Mundinnere, das aussah wie der Plüsch eines Sargkissens. Es hackte mit dem Schnabel nach Eddie, und er spürte, wie Schmerz sich über seine ganze Schulter ausbreitete. Warmes Blut floß ihm über die Brust, und er schrie auf, als der Lufzug von seinen schlagenden Flügeln ihm stinkende Tunnelluft ins Gesicht blies. Es machte kehrt und kam wieder auf Eddie zugeflogen; sein eines Auge funkelte bösartig, rollte in seiner Höhle. seine Krallen wollten Eddie packen, der sich schreiend duckte. Sie rissen ihm das Hemd am Rücken auf und überzogen seine Schulterblätter mit scharlachroten Linien. Eddie schrie und versuchte wegzukriechen - aber der Riesenvogel hatte es offensichtlich auf ihn abgesehen. Mike wühlte in seiner Hosentasche und zog ein Taschenmesser heraus. Er klappte die Klinge auf, und als der Vogel wieder auf Eddie herabschoß, stürzte er vor und führte einen raschen Schnitt quer über eine der Klauen. Blut floß aus der tiefen Wunde. Der Vogel flog empor, legte dann seine Flügel an und sauste auf sie zu wie eine Kugel. Mike ließ sich im letzten Moment zu Boden fallen, während er gleichzeitig mit dem Messer zustieß. Er verfehlte den Vogel jedoch, und seine Kralle schlug mit solcher Kraft gegen sein Handgelenk, daß sein ganzer Unterarm und seine Hand völlig taub wurden. Der blaue Fleck breitete sich später fast bis zum Ellbogen aus. Das Messer flog ihm aus der Hand. Der Vogel kreischte triumphierend und setzte erneut zum Angriff an. Mike warf sich über Eddie und rechnete mit dem Schlimmsten. Stan ging auf die beiden am Boden übereinanderliegenden Jungen zu, als der Vogel mit rauschendem Flügelschlag zu diesem neuen Angriff ansetzte. Dann blieb er stehen, klein und trotz des Schmutzes auf Armen, Händen und Kleidern seltsam adrett, und plötzlich breitete er in eigenartiger Weise die Hände aus - die Handflächen nach oben, die Finger nach unten. Der Riesenvogel stieß wieder einen Schrei aus und schwenkte von Eddie und Mike ab, nahm Stan aufs Korn und verfehlte ihn nur um wenige Zoll; seine Haare flatterten von seinem heftigen Flügelschlag. Er drehte sich auf der Stelle um sich selbst und beobachtete, wie der Vogel wieder kehrtmachte und auf ihn zugeflogen kam. »Ich glaube an scharlachrote Tangaren, obwohl ich nie welche gesehen habe«, sagte er mit tiefer, sicherer Stimme. Der Vogel schrie und wich zurück, als hätte Stan auf ihn geschossen. »Dasselbe gilt von Geiern und den Schmutzfinken Neu Guineas und den Flamingos Brasiliens.« Der Vogel kreischte, beschrieb einen Kreis und flog plötzlich in den Tunnel hinein. »Ich glaube an den goldenen kahlen Adler!« schrie Stan ihm hinterher. »Und ich glaube, daß es irgendwo vielleicht wirklich einen Phönix geben könnte! Aber an dich glaube ich nicht, also verschwinde und laß dich nicht wieder hier blicken!« Er verstummte, und tiefe Stille trat ein. Dann gingen Bill, Ben und Beverly zu Mike und Eddie; sie halfen Eddie aufzustehen, und Bill schaute sich seine Kratzwunden an. »N-N-Nicht t-tief«, stell teer fest. »Aber ich w-w-wette, daßsieh-höllischb-b-b-brennen.« »Es hat mein Hemd zerrissen, Big Bill«, klagte Eddie. Auf seinen Wangen schimmerten Tränen, und sein Atem ging pfeifend. Von der barbarisch brüllenden Stimme war nichts mehr übrig, und es fiel schwer zu glauben, daß es sie jemals gegeben hatte. »Was soll ich nur meiner Mutter sagen?« Bill lächelte ein wenig. »Darüber können wir uns immer noch den Kopf zerbrechen, wenn wir erst einmal wieder draußen sind. Falls wir jemals hier herauskommen. Komm, benutz am besten mal deinen Aspirator, Eddie.« Eddie inhalierte tief und schnaubte dann. »Das war toll, Mann«, sagte Richie zu Stan. »Das war einfach fantastischl« Ein heftiger Schauder überlief Stan. »Es gibt keinen solchen Vogel, das ist alles. Es hat ihn nie gegeben, und es wird ihn auch nie geben.« »Wir kommen!« schrie Henry irgendwo hinter ihnen. Seine Stimme war die eines total Wahnsinnigen. Er lachte und heulte, wie irgendein der Hölle entstiegenes Wesen. »Ich und Belch! Wir kommen, und wir werden euch kleine Drecksäue schon noch erwischen! Ihr könnt uns nicht entwischen!« Bill brüllte: »M-Macht lieber, daß ihr h-hier r-r-r-rauskommt, Henry! Solange ihr noch k-k-könnt!« Henrys Antwort bestand aus einem hohlen, unartikulierten Schrei. Sie hörten laute, rennende Schritte, und plötzlich schoß Bill eine Erkenntnis durch den Kopf: er begriff, weshalb Es Henry als Werkzeug benutzte: er war real, ihn konnte man nicht durch intensives Wünschen oder durch jene primitive Kindermagie aufhalten, die sie, wenn vielleicht auch ungeschickt, angewandt hatten. »K-K-Kommt«, sagte er zu den anderen. »Wir m-m-müssen einen Vorsprung vor ihnen b-b-behalten.« Sie faßten sich wieder an den Händen und gingen weiter. Das Licht wurde heller, der Tunnel noch größer. Er führte weiterhin nach unten, aber seine Decke schien immer höher zu werden, bis sie kaum noch zu sehen war. Sie hatten jetzt den Eindruck, als befänden sie sich überhaupt nicht mehr in einem Tunnel, sondern in einem riesigen unterirdischen Hofraum, der Auffahrt zu einem Schloß von ungeheuren Ausmaßen. Das Licht aus den Wänden war zu einem fließenden grünen und gelben Feuer geworden. Jener Geruch wurde noch stärker, und sie nahmen nun eine Vibration wahr, die vielleicht real, vielleicht aber auch nur in ihren Köpfen vorhanden war... ein telepathisches Signal. Es war gleichmäßig und rhythmisch. Es war das Pochen eines Herzens. »Da vorne endet der Weg!« rief Beverly. »Seht nur! Da ist eine blanke Wand!« Aber als sie näher kamen - klein wie Ameisen auf diesem riesigen Fußboden aus schmutzigen Steinfliesen, von denen jede größer zu sein schien als der ganze Bassey-Park -, sahen sie, daß das doch nicht der Fall war. In der Wand befand sich eine einzige Tür. Und obwohl die Wand Hunderte von Fuß emporragte, war die Tür sehr klein. Sie war höchstens vier Fuß hoch, eine Tür wie aus einem Märchenbuch; sie bestand aus stabilen Eichenbrettern, die durch x-förmig angeordnete Eisenbeschläge verstärkt waren. Es war - das erkannten sie alle auf den ersten Blick - eine Tür für ein Kind. Ben hörte im Geiste wieder die Bibliothekarin, die den Kleinen vorlas: Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke? Die Kinder beugten sich gespannt vor, und in ihren Augen spiegelt sich die uralte Faszination: Wird das Ungeheuer besiegt werden... oder wird es die Guten auffressen? An der Tür war ein Zeichen, und darunter lag ein Haufen Knochen. Kleine Knochen. Knochen von Kindern. Gott allein mochte wissen, von wie vielen. Sie waren vor seiner Behausung angelangt. Das Zeichen an der Tür - was stellte es dar? Bill Denbrough sah darin ein Papierboot. Stan Uris glaubte einen zum Himmel emporsteigenden Vogel zu erkennen - vielleicht einen Phönix. Für Michael Hanion war es ein kapuzenverhülltes Gesicht - wenn er es sehen könnte, dachte er, würde es sich als das Gesicht des verrückten Butch Bowers herausstellen. Richie Tozier sah zwei Augen hinter einer Brille. Beverly Marsh sah eine zur Faust geballte zuschlagende Hand. Eddie Kaspbrak glaubte, es wäre das Gesicht des Aussätzigen, mit tief eingesunkenen Augen und faltigem Mund - alle Leiden, alle Krankheiten waren diesem Gesicht eingeprägt. Und Ben Hanscom sah in dem Zeichen einen wirren Haufen Bandagen - wie man sie von einer uralten Mumie abwickeln mag. Als Henry Bowers später ganz allein vor derselben Tür stand, während Belchs Schreie noch in seinen Ohren dröhnten, sah er darin den Mond, voll und reif... aber schwarz umrandet. »Ich habe Angst, Bill«, sagte Ben mit schwankender Stimme. »Müssen wir wirklich?« Bill berührte die Knochen mit den Zehenspitzen, und plötzlich trat er heftig nach ihnen, so daß sie klappernd in alle Richtungen flogen. Auch er hatte Angst... aber da war George. George und all die anderen - jene, die hierhergebracht worden waren, jene, die vielleicht noch hierhergebracht würden, jene, die einfach an verschiedenen anderen Orten liegengelassen worden waren und dort verwesten. »Wir müssen«, sagte Bill. »Und was, wenn die Tür verschlossen ist?« fragte Beverly mit dünner Stimme. »Sie ist nicht verschlossen«, erwiderte Bill. »Plätze wie dieser sind nie verschlossen.« Er legte die steifen Finger der rechten Hand auf die Tür und drückte dagegen. Sie flog auf, und sie wurden von zuckendem, strudelndem unheimlichem gelbgrünem Licht überflutet. Und da war auch wieder jener Geruch wie im Zoo, aber jetzt unglaublich stark, unglaublich mächtig. Einer nach dem anderen betraten sie durch die Märchentür seine Behausung. 7. In den Tunnels, 4.59 Uhr Bill blieb so abrupt stehen, daß die anderen aufeinanderprallten wie Autos auf einem Güterzug, der plötzlich eine Notbremsung machen muß. »Was ist los?« rief Ben. »H-Hier war es«, sagte Bill. »Das K-K-Kriechende Auge. W-Wißt ihr noch?« »Und ob«, sagte Richie grimmig. »Eddie hat Es mit seinem Aspirator vertrieben. Indem er so getan hat, als wäre Säure drin. Rechnest du damit, daß das Auge wieder auftaucht, Bill?« »W-Wir werden n-n-nichts sehen, was wir d-d-d-damals gesehen haben«, sagte Bill. Er zündete ein Streichholz an und betrachtete seine Freunde. Ihre Gesichter leuchteten im Schein der Flamme, sie leuchteten und sahen irgendwie geheimnisvoll aus. Und sehr jung. »Wie geht's euch?« »Uns geht's gut, Big Bill«, antwortete Eddie, aber sein Gesicht war schmerzverzerrt, und die Behelfsschiene, die Bill ihm angelegt hatte, hatte sich bedenklich gelockert. »Wie geht es dirl« »Mit mir ist alles in Ordnung«, versicherte Bill und schüttelte rasch das Streichholz aus, damit sein Gesicht ihnen nicht etwas ganz anderes verraten konnte. »Wie ist das nur passiert?« fragte Beverly und berührte im Dunkeln seinen Arm. »Bill, wie konnte sie...« »W-W-Weil ich den N-Namen der Stadt erw-w-wähnt habe«, sagte er. »S-Sie muß mir g-g-gefolgt sein. Sch-Sch-Schon als ich es ihr erzählte, s-s-sagte mir eine innere Sch-Stimme, 1-1-1-lieber den M-Mund zu halten. A-Aber ich habe n-n-nicht darauf gehört.« Er schüttelte hilflos den Kopf. »Doch ich b-b-begreife nicht, wie s-sie hierher gekommen ist. W-Wenn Henry sie nicht hergebracht hat - wer dann?« »Es«, schlug Ben vor. »Wir wissen ja, daß Es nicht unbedingt schlecht oder abstoßend aussehen muß. Es ist vielleicht aufgekreuzt und hat ihr erzählt, du seist in Schwierigkeiten. Und dann hat Es sie hergebracht, um... um dich verrückt zu machen, nehme ich an. Um dir deine Führerrolle unmöglich zu machen.« »Oder es könnte auch Tom gewesen sein«, sagte Beverly leise. »W-W-Wer?« Bill zündete ein neues Streichholz an. Sie sah ihn mit einer Art verzweifelter Aufrichtigkeit an. »Tom. Mein Mann. Er wußte, wo ich bin. Zumindest habe ich ihm gegenüber den Namen der Stadt erwähnt, so wie du ihn Audra gegenüber erwähnt hast. Ich... ich weiß nicht, ob er ihm im Gedächtnis geblieben ist oder nicht. Er hatte in jenem Moment eine Mordswut auf mich.« »Du lieber Himmel, das hört sich für mich aber nach ein bißchen zuviel Zufällen an«, sagte Richie zweifelnd. »Nichts von all dem ist blinder Zufall«, widersprach Ben niedergeschlagen. »Bev ist hingegangen und hat Henry Bowers geheiratet. Und jetzt ist er zurückgekommen.« »Nein«, sagte Bev ruhig, während Bill das Streichholz ausblies. »Ich habe nicht Henry geheiratet. Ich habe meinen Vater geheiratet. Ich... ich nehme an, daß ich schließlich beschlossen hatte, ihn feststellen zu lassen, ob ich noch unberührt war oder nicht.« »Was?« »Ach, nichts. Es spielt keine Rolle.« »K-K-Kommt her«, sagte Bill. »R-Reicht euch die H-H-Hände.« Sie taten es. Bill tastete nach Eddies heiler Hand und nach einer von Richies Händen. Gleich darauf standen sie im Kreis und hielten sich bei den Händen wie schon einmal vor langer Zeit, als sie noch zu siebt und nicht zu fünf t gewesen waren. Eddie spürte, daß jemand ihm einen Arm um die Schultern legte, und es war ein tröstliches und irgendwie sehr vertrautes Gefühl. Bill spürte jene Kraft, jene Macht, an die er sich von damals noch erinnerte, aber er erkannte verzweifelt, daß sich wirklich einiges verändert hatte. Die von ihnen ausgehende Macht war nicht einmal annähernd so stark - sie flackerte und zitterte wie eine Kerzenflamme im Luftzug. Die Dunkelheit schien undurchdringlicher und näher zu sein - direkt triumphierend. Und er konnte Es riechen. Diesen Tunnel hinab, dachte er, und dann ist es nicht mehr allzuweit bis zu jener Tür mit dem Zeichen. Was war hinter jener Tür? Das ist das einzige, woran ich mich immer noch nicht erinnern kann. Ich erinnere mich, daß ich meine Finger versteift habe, damit sie nicht zitterten, und ich erinnere mich, die Tür auf gestoßen zu haben. Wenn ich mich sehr anstrenge, kann ich mich sogar an den Lichtstrom erinnern, der herausflutete, und daß dieses Licht fast lebendig zu sein schien, so als wäre es nicht einfach Licht, sondern zuckende fluoreszierende Schlangen. Ich erinnere mich an den Geruch, wie im Affenhaus eines großen Zoos, nur noch schlimmer. Und dann... nichts. »Erinnert sich jemand v-von euch daran, w-w-was Es nun letztlich war?« »Nein«, sagte Eddie. »Ich glaube...«, begann Richie, und dann konnte Bill sich lebhaft vorstellen, wie er im Dunkeln den Kopf schüttelte. »Nein.« »Nein«, sagte Beverly. »Nein«, sagte Ben. »Dies ist das einzige, woran ich mich immer noch nicht erinnern kann. Was Es war... oder wie wir Es bekämpften.« »Wir haben Chüd angewandt«, sagte Beverly. »Aber ich erinnere mich nicht, was das bedeutet.« »Steht mir bei«, sagte Bill, »und ich w-w-werde euch b-b-beistehen.« »Bill«, sagte Ben sehr ruhig. »Etwas kommt auf uns zu.« Bill lauschte. Er hörte schlurfende, stolpernde Schritte, die sich ihnen im Dunkeln näherten... und er hatte Angst. »Audra?« rief er... und wußte dabei schon, daß sie es nicht war. Keine Antwort. Das schlurfende, stolpernde Etwas kam immer näher. Bill zündete ein Streichholz an. 8. Derry, 5.00 Uhr Das erste ungewöhnliche Geschehen in Derry ereignete sich genau um fünf Uhr morgens, zwei Minuten vor dem offiziellen Sonnenaufgang. Um zu verstehen, wie außergewöhnlich es war, mußte man zwei Tatsachen kennen, die Mike Hanion bekannt waren (der in tiefer Bewußtlosigkeit im Krankenhaus lag, als die Sonne aufging), und die beide die Grace Baptist Church betrafen, die seit 1897 an der Ecke Witcham Street und Jackson Street stand. Ihr Kirchturm endete - wie alle protestantischen Kirchtürme in Neuengland - in einer wunderschönen weißen nadeiförmigen Spitze. Auf allen vier Seiten des Kirchturms waren Zifferblätter angebracht, und die Uhr selbst war im Jahre 1898 in der Schweiz hergestellt und mit dem Schiff nach Amerika gebracht worden. Stephen Bowie, ein Holz-, Papier- und Landbaron, der am West Broadway wohnte, schenkte die Uhr - die einschließlich Schiffsfracht mehr als 17000 Dollar gekostet hatte - der Kirche. Bowie konnte sich das gut leisten, und er war ein sehr frommer Kirchgänger, der 40 Jahre lang als Diakonus diente (gleichzeitig war er mehrere Jahre lang auch Vorsitzender der Ortsgruppe Derry der >Maine Legion of White De-cency<). Außerdem war er bekannt für seine frommen Laienpredigten am Muttertag - den er stets ehrerbietig als Mutter-Sonntag bezeichnete - und am Patriot's Day. Vom Zeitpunkt ihres Einbaus an bis zum frühen Morgen des i. Junis 1985 war diese Uhr immer sehr genau gegangen und hatte getreulich jede volle und halbe Stunde geschlagen - mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen. Nach der Explosion der Kitchner-Eisenhütte hatte sie um 12 Uhr mittags nicht geschlagen; sie war bis halb eins stumm geblieben, hatte dann vorschriftsmäßig einmal geschlagen und auch zur vollen Stunde ganz korrekt einmal. Die Einwohner von Derry glaubten, daß Reverend Jollyn das Schlagwerk der Uhr um zehn angehalten hatte, zum Zeichen, daß die Kirche um die toten Kinder trauere, und Jollyn ließ sie in diesem Glauben, obwohl er selbst es besser wußte. Er hatte die Uhr nicht angehalten. Sie hatte einfach nicht geschlagen. Und sie schlug wieder nicht um fünf Uhr morgens am i. Juni 1985. In diesem Augenblick öffneten überall in Derry alte Menschen ihre Augen und setzten sich in den Betten auf. Ohne ersichtlichen Grund waren sie verstört. Arzneimittel wurden geschluckt, Zahnprothesen eingesetzt, Pfeifen und Zigarren angezündet. Die Alten waren plötzlich auf der Hut. Einer von ihnen war der über neunzigjährige Norbert Keene. Er hinkte ans Fenster und betrachtete den Himmel, der sich sehr schnell verdunkelte. Der Wetterbericht hatte am Vorabend schönes klares Wetter für diesen Tag gemeldet, aber seine Knochen sagten ihm, daß es regnen würde, und zwar heftig. Er war tief im Innern beunruhigt; er fühlte sich auf unerklärliche Weise bedroht, so als dringe ein Gift unaufhaltsam in Richtung seines Herzens vor. Ihm fiel plötzlich jener Tag wieder ein, als die Brady-Bande unvorsichtigerweise ihren Einzug in Derry gehalten hatte und unversehens mit 75 Pistolen und Gewehren konfrontiert worden war. Nach solcher Arbeit war einem Mann irgendwie warm ums Herz, und er fühlte sich auf angenehme Art träge, so als sei alles - nun ja, bestätigt worden. Er konnte es nicht besser ausdrücken. Nach solcher Arbeit fühlte ein Mann sich so, als könnte er ewig leben, und Norbert Keene war inzwischen verdammt nahe dran. Am 24. Juni würde er 96 werden, und er ging immer noch jeden Tag drei Meilen spazieren. Aber jetzt stieg eigenartigerweise plötzlich Angst in ihm auf. »Jene Kinder«, murmelte er, ohne es zu wissen, vor sich hin, während er aus dem Fenster blickte. »Was treiben jene verdammten Kinder nur? Womit spielen sie jetzt wieder leichtsinnig herum?« Egbert Thoroughgood, 98 Jahre alt, der im >Silver Dollar< gewesen war, als Claude Heroux mit seiner Axt aus vier Männern Kleinholz gemacht hatte, erwachte im selben Moment, setzte sich auf und stieß einen heiseren Schrei aus, den niemand hörte. Er hatte von Claude geträumt, nur hatte Claude es auf ihn abgesehen gehabt, und die Axt war herniedergesaust, und gleich darauf hatte Thoroughgood seine eigene abgetrennte Hand auf der Theke zucken sehen. Etwas stimmt nicht, dachte er verworren und zitterte vor Angst am ganzen Leibe. Etwas Schreckliches ist im Gange. Ich habe das Gefühl, als würde alles zerfallen. Warum? Was stimmt nicht? Dave Gardener, der im Oktober 1957 George Denbroughs verstümmelte Leiche entdeckt hatte, öffnete genau um 5 Uhr seine Augen und dachte, noch bevor er auf die Uhr auf der Kommode schaute: Die Uhr von Grace Church hat nicht geschlagen... was ist los? Er verspürte große undefinierbare Angst. Dave hatte es in all den Jahren zu finanziellem Wohlstand gebracht; 1965 hatte er das >Shoe-Boat< gekauft, und inzwischen gab es ein zweites >Shoe-Boat< im Einkaufszentrum von Derry und ein drittes in Bangor. Plötz-lieh schienen all diese Dinge, für die er sein Leben lang gearbeitet hatte, in Gefahr zu sein. Wodurch? fragte er sich, während er seine schlafende Frau betrachtete. Wodurch? Warum bist du auf einmal so verdammt ängstlich, nur weil diese Uhr nicht geschlagen hat? Aber er wußte darauf keine Antwort. Er stand auf und ging zum Fenster, wobei er seine Pyjamahose hochzog. Wolken jagten von Westen her über den Himmel, und Daves Unruhe nahm zu. Zum erstenmal seit sehr langer Zeit dachte er an jene Schreie, die ihn vor über 27 Jahren auf seine Veranda hatten stürzen lassen, dachte er an jene zuckende Kindergestalt im gelben Regenmantel. Er betrachtete die heranziehenden Wolkenmassen und dachte: Wir sind in Gefahr. Wir alle. Ganz Derry. Polizeichef Andrew Rademacher, der aufrichtig davon überzeugt war, sein Bestes getan zu haben, um die neue Serie von Kindermorden in Derry aufzuklären, stand auf der Veranda seines Hauses, die Daumen unter seinen Gürtel geschoben, blickte zu den Wolken empor und verspürte die gleiche Unruhe. Etwas zieht sich zusammen. Sieht ganz nach einem heftigen Wolkenbruch aus. Aber das ist noch lange nicht alles. Er schauderte... und während er noch auf der Veranda stand und der Duft des Specks, den seine Frau briet, ihm in die Nase stieg, fielen die ersten schweren Regentropfen auf den Gehweg vor seinem hübschen Haus in der Reynolds Street, und irgendwo am Horizont über dem Bassey Park donnerte es. Rademacher schauderte wieder. 9. George Bill hielt das Streichholz hoch... und stieß einen langen, zittrigen, verzweifelten Schrei aus. Georgie schwankte durch den Tunnel auf ihn zu, in seinem blutbefleckten gelben Regenmantel. Ein Ärmel baumelte an ihm schlaff und nutzlos herunter. Georgies Gesicht war schneeweiß, und seine Augen funkelten silbrig. Er starrte Bill in die Augen. »Mein Boot!« Georges verlorene, verdammte Stimme hallte laut durch den Tunnel. »Ich kann es nicht finden, Bill, ich habe überall danach gesucht, und ich kann es nicht finden, und jetzt bin ich tot, und es ist deine Schuld, deine Schuld, DEINE SCHULD. ..« »G-G-G-Georgie!« kreischte Bill am Rande des Wahnsinns. George stolperte taumelnd auf ihn zu, und nun erhob er seinen einzigen Arm gegen Bill, die weiße Hand zur Klaue gekrümmt. Die Fingernägel waren lang, schmutzig und krallenartig. »Deine Schuld!« flüsterte George grinsend. Er hatte jetzt richtige Fangzähne, die sich langsam öffneten und schlössen wie die Zähne einer Bärenfalle. »Du hast mich rausgeschickt, und es ist alles... deine... Schuld!« »N-N-Nein, Georgie!« schrie Bill. »N-Nein. Ich w-w-w-wußte nicht...« »Ich bringe dich um!« rief George, und eine Mischung hundeartiger Laute kam aus seinem Mund mit den Fangzähnen: Jaulen, Kläffen, Heulen. Eine Art Gelächter. Bill konnte ihn jetzt riechen, nahm den Verwesungsgestank seines Bruders George wahr. Es war ein Kellergestank, feucht und intensiv, irgendwie vital - der Geruch eines schrecklichen Monsters mit gelben Augen, das in der Ecke hockt und nur darauf lauert, einem kleinen Jungen die Eingeweide aus dem Leib zu reißen. Georges Zähne schnappten zusammen, mit einem Geräusch wie das aneinanderschlagender Billardkugeln. Gelber Eiter begann aus seinen Augen zu sickern und ihm über die Wangen zu rinnen... und dann ging das Streichholz aus. Bill spürte, wie seine Freunde verschwanden - sie rannten weg, natürlich rannten sie weg und ließen ihn allein. Sie distanzierten sich von ihm, sie wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben, so wie auch seine Eltern ihn geschnitten hatten, weil Georgie recht hatte: alles war seine Schuld gewesen. Bald würde diese einzige Hand ihn an der Kehle packen, bald würden diese Fangzähne ihn zerfleischen, und das würde richtig sein: Er hatte Georgie in den Tod getrieben, und er hatte sein ganzes Leben als Erwachsener damit verbracht, über den Schrecken dieses Verrats zu schreiben - oh, er hatte dieses Thema in verschiedenster Weise abgehandelt, es immer neu verkleidet, ihm immer wieder ein neues Gesicht gegeben - so wie Es für ihn und seine Freunde immer wieder neue Gesichter, neue Masken und Verkleidungen aufgesetzt hatte - aber im Grunde genommen hatte es immer nur George gegeben, der mit seinem paraffinüberzogenen Papierboot in den nachlassenden Regen hinausrannte. Und nun hatte endlich die Stunde der Sühne geschlagen. »Du verdienst den Tod, weil du mich umgebracht hast«, flüsterte George. Er war jetzt nahe... ganz nahe. Bill schloß die Augen. Es stimmte. Dann flammte plötzlich ein gelbes Licht auf, und er sah, daß Richie ein Streichholz hochhielt. »Bekämpf Es, Bill!« schrie Richie. »Um Gottes willen, bekämpf Es!« Was macht ihr denn hier? Er sah sie fassungslos an. Sie waren also doch nicht weggerannt. Wie war das nur möglich? Wie konnte das sein, nachdem sie doch gesehen hatten, auf welch gemeine, hinterhältige Weise er seinen eigenen Bruder umgebracht hatte? »Bekämpf Es!« schrie nun auch Beverly. »O Bill, du mußt Es bekämpfen! Dieses Monster kannst nur du bekämpfen! Bitte, um Gottes willen...« George war jetzt weniger als fünf Fuß entfernt. Er streckte Bill plötzlich die Zunge heraus. Sie war schwarz, und weiße Pilze wucherten darauf. Bill schrie wieder auf. »Töte Es, Bill!« rief Eddie. »Das ist nicht dein Bruder! Töte Es, solange Es klein ist. töte es jetzt gleich!« George richtete den Blick seiner leuchtend silbrigen Augen für einen Moment auf Eddie, und Eddie taumelte rückwärts und prallte gegen die Wand,, so als hätte ihm jemand einen heftigen Stoß versetzt. Bill stand da wie hypnotisiert und beobachtete, wie sein Bruder auf ihn zukam; da war George wieder, nach all den vielen Jahren, George stand am Ende von allem, wie er auch am Anfang gestanden hatte, o ja, und er hörte das leise Knistern von Georges gelbem Regenmantel bei jeder Bewegung, er hörte das Klirren der Schnallen, mit denen der Mantel vorne geschlossen wurde, und er nahm einen Geruch wie den vermodernder nasser Blätter wahr, so als bestünde Georges Körper unter dem Regenmantel aus nassem schwarzem Herbstlaub, als wären die Füße in Georges Gummistiefeln Blätter-Füße - ja, ein Blätter-Mensch, das war es, das war George, er war ein verfaultes Bailongesicht und ein Körper aus welken Blättern, wie sie manchmal nach heftigen Regenfällen die Gullys verstopfen. Alles war in Ordnung. George würde ihn umbringen, er würde seine Schuld endlich sühnen können. (und der Schrecken wird weitergehen, es wird immer neue tote Kindergeben, und der Mann auf der Veranda hatte Bev gehört, wie sie um Hilfe schrie, und hatte seine Zeitung gefaltet und war ins Haus gegangen) Wie von Ferne hörte er Beverly kreischen. (immer neue Tote noch mehr Tote im finstern Föhrenwald) »Bill, bitte, Bill...« (da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt) »Wir werden gemeinsam nach meinem Boot suchen«, sagte George. Dicker, gelber, klebriger Eiter floß ihm über die Wangen wie Tränen. Er streckte seine weiße gekrümmte Hand nach Bill aus. Wasser tropfte von ihr herab. Er legte den Kopf zur Seite und bleckte seine Fangzähne. (sogar noch gegen Geister, gegen Geister, gegen Geister) »Wir werden es finden«, sagte George, und nun roch Bill seinen Atem, und es war ein Geruch wie der überfahrener Tiere, die mit heraushängenden Eingeweiden um Mitternacht in Blutlachen auf dem Highway liegen. Als George den Mund weit aufriß, konnte Bill sehen, daß dort drinnen Gewürm herumkroch. »Es ist immer noch irgendwo hier unten, alles schwimmt hier unten, alles schwimmt und schwebt, und auch wir werden schwimmen und schweben, Bill, wir alle werden schweben...« Georges fischbauchweiße Hand packte Bill an der Kehle. (SOGARNOCH GEGEN GEISTER, GEGEN GEISTER, GEGEN GEISTER. ..) Georges verzerrtes Gesicht schoß auf Bills Kehle zu. ».. .schweben...« »Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister!« brüllte Bill plötzlich. Seine Stimme war sehr tief und hörte sich überhaupt nicht wie seine eigene Stimme an, und Richie fiel blitzartig ein, daß Bill nur in seiner eigenen Stimme stotterte: wenn er so tat, als wäre er jemand anderer, stotterte er nie. George stieß ein Zischen aus, wich etwas zurück und hielt sich abwehrend die Hand vors Gesicht. »Das ist es!« rief Richie. »Du hast Es getroffen, Bill! Weiter so! Mach weiter! Bring Es zur Strecke!« »Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister!« donnerte Bill und ging auf das Ge-orge-Wesen zu. »Du bist aber nicht einmal ein Geist! Du bist nicht Georges Geist! George weiß, daß ich seinen Tod nicht wollte! Meine Eltern hatten unrecht! Sie haben es mich büßen lassen, und das war falsch] Hörst du mich?« Das George-Wesen drehte sich abrupt um und begann wie eine Ratte zu quieken. Es zerlief unter dem gelben Regenmantel. Der Regenmantel selbst schien in gelben Klecksen zu zerlaufen. Er verlor seine Form, löste sich allmählich auf. »Im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, du Hundesohn!« brüllte Bill Denbrough, »der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen die verdammten, verfluchten Geister...!« Er sprang auf Es zu, und seine Finger gruben sich in den gelben Regenmantel, der kein Regenmantel mehr war. Was er zu pak-ken bekam, fühlte sich wie ein warmer Rahmbonbon an, der ihm zwischen den Fingern zerschmolz. Dann schrie Richie auf, weil das flackernde Streichholz ihm die Finger verbrannt hatte, und sie wurden wieder von Dunkelheit umhüllt. Bill spürte, wie ihm etwas in die Kehle stieg, etwas Heißes und Erstickendes, etwas so Schmerzhaftes wie Brennesseln. Er ließ sich auf den Boden fallen, zog seine Knie bis ans Kinn hoch und hoffte, daß das den Schmerz lindern würde; er war jetzt dankbar für die Dunkelheit, dankbar, daß die anderen seine Qual nicht sehen konnten. Er hörte, daß sich ein Laut seiner Kehle entrang - ein hohes, zitterndes Stöhnen. Dann ein zweites, ein drittes. »George!« rief er. »George, es tut mir leid! Ich wollte wirklich nicht, daß dir etwas Schlimmes zustößt!« Vielleicht gab es noch mehr zu sagen, aber er konnte es nicht sagen. Er brach in lautes Schluchzen aus, auf dem Rücken liegend, einen Arm über die Augen gelegt; er erinnerte sich an das Boot, erinnerte sich an das Klopfen des Regens gegen die Fensterscheiben, erinnerte sich an die Arzneimittel und die Taschentücher auf dem Nachttisch, an sein leichtes Kopfweh und Fieber, aber am besten erinnerte er sich an George, an George und an all den Schmerz, den zu bewältigen und zu artikulieren ihm niemand geholfen hatte; und er erinnerte sich an seine Schuldgefühle, die niemand hinter dem Symptom seines immer schlimmer werdenden Stotterns erkannt hatte, er erinnerte sich an die Einsamkeit und an die Angst und an die Gewissensbisse. Das alles war jetzt in diesem Feuerball des Schmerzes in seiner Brust und Kehle, in diesen Brennesseln, die letztlich alle nichts anderes waren als Variationen eines einzigen Bildes, das sich mit grausamer Eindringlichkeit in sein Gedächtnis eingebrannt hatte - sein Bruder Georgie im gelben Regenmantel mit Kapuze. »Georgie, es tut mir leid!« rief er wieder durch seine Tränen hindurch. Sein herzzerreißendes Schluchzen stieg aus tiefster Seele auf. »Es tut mir leid, es tut mir leid, bitte, es tut mir ja so LEID. ..« Und dann waren sie um ihn herum, seine Freunde, und niemand zündete ein Streichholz an, und jemand hielt ihn in den Armen, er wußte nicht wer, vielleicht Beverly, vielleicht auch Ben oder Richie. Sie waren bei ihm, und für diese kurze Zeit kam die Dunkelheit ihm tröstlich vor. 10. Derry 5.30 Uhr Gegen 5.30 Uhr morgens regnete es stark. Die Meteorologen der Rundfunksender in Bangor brachten ihre gelinde Überraschung und ihr Bedauern darüber zum Ausdruck, daß ihre Wettervorhersagen vom Vortag die Leute zum Pläneschmieden für Picknicks und Partys im Freien und Ausflüge verleitet hatten, die jetzt abgesagt werden müßten; sie waren gezwungen, wieder einmal zuzugeben, daß sie das Wetter doch nicht so im Griff hatten, wie sie manchmal gern glauben wollten. Zu ihrer Rechtfertigung wiesen sie darauf hin, daß die Wetterzonen sich im Penobscot Valley manchmal mit verblüffender Schnelligkeit verändern konnten. Ein Meteorologe vom Nationalen Wetterdienst erklärte, es handle sich um >ein ungewöhnlich stark ausgeprägtes Tiefdrucksystem<. Das war sehr milde ausgedrückt. In Bangor war der vorhergesagte sonnige blaue Himmel nirgends zu sehen; er war wolkenverhangen, und gelegentlich gingen Regenschauer nieder. Acht Meilen südlich, in Hampden, nieselte es anhaltend. In Etna, etwa acht Meilen südlich von Hampden, regnete es mäßig stark. Aber wenn man von Etna nach Süden fuhr, auf die Stadtgrenze von Derry zu, wurde der Regen von Minute zu Minute heftiger. Auf der Route 7 stand das Wasser stellenweise acht Zoll hoch, und hinter der Rhulin-Farm wurde sie völlig unpassierbar, weil durch einen verstopften Abflußkanal in einer Talsenke die Straße total überschwemmt war. Gegen sechs Uhr mußte die Derry Highway Patrol auf beiden Seiten der Talsenke orangefarbene Umleitungsschilder aufstellen. Die Menschen, die unter dem schützenden Wartehäuschen an der Main Street auf den ersten Bus warteten, um zur Arbeit zu fahren, blickten über das Geländer hinweg auf den Kanal, der in seinem Betonbett bedrohlich gestiegen war. Natürlich würde es keine Überschwemmung geben; darin stimmten alle überein. Der Wasserstand lag immer noch weit unter dem Hochwasserpegel von 1977. Und selbst in jenem Jahr hatte es keine Überschwemmung gegeben. Aber der Regen strömte unablässig hernieder, und Donner grollte in den tiefhängenden Wolken. Ganze Bäche flössen den Up-Mile Hill hinab und dröhnten in den Rohren und Gullys. Keine Überschwemmung, das war die allgemeine Meinung, aber auf allen Gesichtern war leichtes Unbehagen zu lesen. Um 5.45 Uhr explodierte mit einem purpurroten Blitz ein Transformator auf einem Strommast neben dem leerstehenden Lkw-Depot der Gebrüder Tracker; verbogene Metallstücke fielen auf das Ziegeldach. Eines dieser umherfliegenden Metallstücke durchtrennte ein Hochspannungskabel, das ebenfalls aufs Dach fiel, wild hin und her peitschte wie eine Schlange und einen fast flüssigen Funkenstoß ausspie. Trotz des Wolkenbruchs fing das Dach Feuer, und bald stand das Depot in Flammen. Das Hochspannungskabel rutschte vom Dach herunter und fiel auf den unkrautüberwucherten Grasstreifen am Rande des Parkplatzes, wo einst kleine Jungen Baseball zu spielen pflegten. Derry s Feuerwehr rückte an jenem Tag zum erstenmal um 6.02 Uhr aus und kam sieben Minuten später beim brennenden Depot an. Unter den ersten Feuerwehrmännern, die vom Wagen sprangen, war Calvin Clark, einer der Clark-Zwillinge aus Bens Klasse. Beim dritten Schritt trat er mit seinem Lederstiefel auf das stromführende Kabel. Calvin war auf der Stelle tot. Seine Zunge hing aus dem Mund heraus, und sein Feuerwehrmantel aus Gummi begann zu schmoren. Er roch wie brennende Reifen auf einer Müllhalde. Um 6.05 Uhr registrierten die Bewohner der Merit Street in Old Cape etwas, das sich anhörte und bemerkbar machte wie eine unterirdische Explosion. Teller fielen von Regalen, Bilder von den Wänden. Um 6.06 Uhr explodierten plötzlich alle Toiletten auf der Merit Street in einer Fontäne von Abwässern und Kot, weil in den Rohren, die zur neuen Kläranlage in den Barrens führten, plötzlich irgendein unvorstellbarer, unerklärlicher Rückstau stattgefunden hatte. In einigen Fällen waren diese Explosionen so heftig, daß in die Badezimmerdecken Löcher geschlagen wurden. Eine Frau namens Anne Stuart kam ums Leben, als zusammen mit den Abwässern ein altes Getrieberad aus ihrer Toilette herausgeschleudert wurde. Es durchschlug die Mattglasscheibe der Duschkabine und drang wie eine schreckliche Kugel in ihre Kehle, während sie sich gerade die Haare wusch. Sie wurde fast enthauptet. Das Getrieberad war ein Relikt der Kitchner-Eisen-hütte, das vor etwa einem Dreivierteljahrhundert in die Kanalisation geraten war. Eine weitere Frau wurde getötet, als ihre Toilette plötzlich wie eine Bombe explodierte. Die unglückselige Frau, die gerade auf dem WC gesessen und im aktuellen >Banana-Republic<-Kata\og geblättert hatte, wurde buchstäblich in Stücke gerissen. Um 6.19 Uhr schlug ein Blitz in die sogenannte Kußbrücke ein. Die HolzSplitter flogen hoch in die Luft, regneten dann in den schnell dahinströmenden Kanal hinab und wurden von den Wassermassen fortgetragen. Ein Westwind kam auf. Um 6.30 Uhr hatte er, wie am Meßgerät in der Halle des Gerichtsgebäudes abzulesen war, eine Geschwindigkeit von etwas über 15 Meilen pro Stunde. Gegen Viertel vor sieben betrug sie bereits 24 Meilen pro Stunde. Um 6.24 Uhr kam Mike Hanion in seinem Zimmer im Derry Community Hospital zu sich. Sein Erwachen aus der tiefen Bewußtlosigkeit war eine Art langsamer Übergang - längere Zeit glaubte er zu träumen. Wenn, dann war es ein merkwürdiger Traum... ein Angsttraum, würde sein alter Psychologieprofessor Doc Abelson dazu gesagt haben. Es schien keinen offenkundigen Grund für diese Angst zu geben, aber sie war trotzdem vorhanden; das kahle weiße Zimmer wirkte bedrohlich. Allmählich wurde er sich bewußt, daß dies kein Traum war. Das kahle weiße Zimmer war ein Krankenhauszimmer. Flaschen hingen über seinem Kopf; eine war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt, die andere mit einer dunkelroten. Er sah an der Wand einen Fernseher und hörte das einschläfernde Rauschen des Regens. Es war früher Morgen. Mike versuchte, seine Beine zu bewegen. Bei dem einen gelang es ihm leicht - er sah, wie die Umrisse unter der Bettdecke von links nach rechts gingen -, aber das andere Bein ließ sich überhaupt nicht bewegen. Er hatte auch kaum ein Gefühl in diesem Bein, und dann stellte er fest, daß es in einem engen Verband steckte. Allmählich fiel ihm alles wieder ein: das Wiedersehen im Restaurant, das Abendessen mit Bill, die Geschichten in der Bücherei. Er hatte sich an den Tisch gesetzt, um sich Notizen zu machen, und Henry Bowers war völlig unerwartet aufgekreuzt. Es hatte einen Kampf gegeben, und... Henry! Wohin war Henry gegangen? War er zu den anderen gegangen? Mike griff nach der Klingel über dem Kopfende seines Bettes, und er hatte sie gerade in der Hand, als die Tür sich öffnete. Ein Krankenpfleger betrat das Zimmer. Zwei Knöpfe seines weißen Kittels waren nicht geschlossen, und seine dunklen Haare waren ungekämmt. Er trug ein Chri-stophorus-Amulett um den Hals. Sogar in seinem benommenen Zustand erkannte Mike ihn sofort. Im Jahre 1958 war ein sechzehnjähriges Mädchen namens Cheryl Lamonica in Derry ermordet worden. Es hatte Cheryl ermordet. Das Mädchen hatte einen vierzehnjährigen Bruder gehabt, und dieser Mark Lamonica stand jetzt in seinem Zimmer. »Mark?« sagte er mit schwacher Stimme. »Ich muß mit Ihnen reden.« »Pssst!« sagte Mark. Er hatte eine Hand in der Tasche. »Nicht sprechen.« Er kam auf das Bett zu, und Mike sah mit hoffnungslosem Frösteln, wie leer Marks Augen waren. Sein Kopf war etwas zur Seite geneigt, so als hörte er ferne Musik. Er zog seine Hand aus der Tasche. Seine Faust hielt ein Skalpell umklammert. »Woll'n doch mal sehen, ob deine Eingeweide so schwarz sind wie deine Haut«, sagte Mark, während er immer näher kam. 11. »Pssst!« rief Bill plötzlich, obwohl abgesehen von ihren schlurfenden Schritten ohnehin völlige Stille geherrscht hatte. Richie zündete ein Streichholz an. Die gelbe Flamme erzeugte einen schwachen Lichtkreis von höchstens 20 Fuß Durchmesser. Der Tunnel hatte sich erheblich verbreitert, und die fünf Menschen sahen in diesem riesigen Raum tief unter der Stadt winzig klein aus. Sie drängten sich aneinander, so als wollten sie sich gegenseitig wärmen, und Beverly hatte das traumartige Gefühl eines Dejä-vu-Erlebnisses, als sie die riesigen Fliesensteine auf dem Boden und die herabhängenden Spinnennetze sah. Sie waren jetzt ganz nahe. Sie waren ihrem Schicksal jetzt ganz nahe - welches Schicksal ihnen auch immer beschieden sein mochte. »Was hörst du?« fragte sie Bill, während sie versuchte, ihre Augen überall gleichzeitig zu haben. Sie rechnete damit, irgendeine neue Überraschung aus der Dunkelheit herausrasen oder herausfliegen zu sehen. Rodan? Frankensteins Monster? Eine große Ratte mit orangefarbenen Ohren und scharfen Zähnen? Aber nichts geschah - da war nur der staubige Geruch der Dunkelheit, und in der Ferne das Rauschen von Wasser, so als füllten sich die Kanalrohre. »Etwas ist n-n-nicht in Ordnung«, sagte Bill. »M-M-Mike...« »Mike?« fragte Eddie. »Was ist mit Mike?« »Ich habe es auch gefühlt«, sagte Ben. »Ist er... Bill, ist er gestorben?« »Nein«, sagte Bill. Seine Augen waren ausdruckslos und verschwommen - seine ganze Unruhe drückte sich in seinem zuckenden Mund und in seinem angespannten Körper aus. »Er... Er...« Er schluckte laut. Seine Augen wurden plötzlich riesengroß. »Oh! O nein...!« »Bill?« schrie Beverly erschrocken. »Bill, was ist los? Was...« »G-G-G-Gebt euch die H-Hände!« rief Bill. »Sch-Sch-Schnell!« Das Streichholz erlosch. Richie griff nach Bills einer Hand, Beverly nach der anderen. Sie streckte ihre freie Hand aus, und Eddie umfaßte sie schwach mit der Hand seines gebrochenen Armes. Ben packte seine andere Hand und schloß den Kreis, indem er Richie die Hand reichte. »Verleih ihm Kraft!« rief Bill mit jener eigenartigen tiefen Stimme. »Verleih ihm Kraft, wer immer du auch sein magst, verleih ihm unsere Kraft! Jetzt! Jetzt! Jetzt!« Und Beverly fühlte, wie etwas von ihnen ausging, auf Mike überging. Ihr Kopf rollte in einer Art Ekstase von einer Seite zur anderen, und das rauhe Pfeifen von Eddies Atem vermischte sich mit dem Brausen des Wassers in den Kanalrohren. 12. »Jetzt«, sagte Mark Lamonica leise. Er seufzte wie ein Mann, der fühlt, daß er gleich einen Orgasmus haben wird. Mike drückte immer und immer wieder auf die Klingel in seiner Hand. Er hörte sie im Zimmer der Krankenschwestern am Ende des Gangs läuten, aber niemand kam. In einer Art schrecklichem zweitem Gesicht erkannte er, daß die Schwestern dort herumsaßen, die Morgenzeitung lasen und Kaffee tranken; sie hörten sein Klingeln, reagierten aber nicht darauf; sie würden erst später in sein Zimmer kommen, wenn alles vorbei war, wenn Lamonica wieder verschwunden war, denn so war es in Derry schon immer gewesen. In Derry übersah man gewisse Dinge lieber... bis sie vorüber waren. Mike ließ den Klingelknopf los. Mark beugte sich über ihn; das Skalpell funkelte. Sein Amulett baumelte hin und her, während er die Decke zurückzog. Mikes Beine kamen zum Vorschein, das eine von gräulicher Farbe, das andere vom Knie bis zur Leiste verbunden. »Genau hier«, flüsterte Mark und seufzte wieder. Und Mike spürte plötzlich, wie eine Welle von Kraft ihn erfüllte - eine enorme Kraft, die wie ein Stromstoß durch seinen Körper schoß. Er versteifte sich im Bett, und seine Finger verkrampften sich. Er riß die Augen weit auf, stieß eine Art Grunzen aus, und jenes schreckliche Gefühl der Lähmung und Benommenheit fiel mit einem Schlag von ihm ab. Seine rechte Hand schoß auf den Nachttisch zu, wo ein Plastikkrug und ein schweres Wasserglas standen. Seine Hand schloß sich um das Glas. Lamonica spürte die Veränderung; jenes verträumte, befriedigte Licht in seinen Augen machte einer plötzlichen wachsamen Verwirrung Platz. Er richtete sich etwas auf, und Mike stieß ihm das Glas mit aller Kraft ins Gesicht. Lamonica schrie auf und taumelte rückwärts; das Skalpell fiel ihm aus der Hand. Er griff sich ans blutende Gesicht; das Blut lief ihm über die Hände auf seinen weißen Kittel. Die Kraft verließ'Mike so plötzlich, wie sie gekommen war. Er starrte dumpf auf die Glasscherben auf seinem Bett und seinem Krankenhauspyjama und auf seine eigene blutende Hand. Er hörte auf dem Gang eilige Schritte, leises Quietschen von Kreppsohlen. Jetzt kommen sie, dachte er. O ja, jetzt kommen sie. Und wer wird hier auftauchen, wenn sie wieder gegangen sind? Wer kommt als nächstes? Als sie in sein Zimmer stürzten - die Krankenschwestern, die ruhig sitzengeblieben waren, als er verzweifelt geklingelt hatte -, schloß Mike die Augen und betete, es möge vorüber sein. Er betete darum, daß seine Freunde jetzt irgendwo unter der Stadt sein sollten, daß ihnen nichts passieren sollte, und daß sie ihr Werk vollenden sollten. Er wußte nicht genau, zu wem er eigentlich betete... aber er betete. 13. »Ihm ist n-n-nichts p-passiert«, sagte Bill. Ben wußte nicht, wie lange sie im Dunkeln gestanden und sich bei den Händen gehalten hatten. Es kam ihm so vor, als sei von ihnen, von ihrem Kreis, etwas ausgegangen und dann wieder zurückgekommen. Aber er wußte nicht, wohin dieses Etwas - wenn es überhaupt existierte - verströmt war, was es bewirkt hatte. »Bist du sicher, Big Bill?« fragte Richie. »J-J-Ja.« Bill ließ Richies und Bevs Hände los. »Aber w-wir m-m-müssen die S-S-Sache so schnell wie m-m-möglich zu Ende bringen. K-K-Kommt.« Sie gingen weiter; Richie oder Bill zündeten von Zeit zu Zeit Streichhölzer an. Wir haben keine einzige Waffe bei uns, dachte Ben, noch nicht einmal ein Blasrohr. Aber auch das muß wohl so sein. Chüd. Was bedeutet das? Was war es genau? Und welche endgültige Gestalt hatte Es nun eigentlich? Selbst wenn wir Es damals nicht getötet haben, so haben wir Es doch verletzt. Wie haben wir das nur geschafft? Der Raum, den sie durchquerten - als Tunnel konnte man ihn nicht mehr bezeichnen -, wurde immer größer. Ihre Schritte hallten. Ben erinnerte sich an den Geruch: jenen starken, vitalen Geruch wie in einem Zoo. Er bemerkte, daß die Streichhölzer jetzt nicht mehr notwendig waren - es gab Licht oder doch etwas Ähnliches: einen gespenstischen Schimmer, der immer heller wurde. In dieser Beleuchtung sahen seine Freunde wie wandelnde Leichen aus. »Wand voraus, Bill«, sagte Eddie. »Ich w-w-weiß.« Ben bekam rasendes Herzklopfen. Er hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund, und sein Kopf schmerzte. Er fühlte sich langsam und ängstlich ... er fühlte sich fett. »Die Tür!« flüsterte Beverly. Ja, da war sie. Einst, vor 27 Jahren, hatten sie alle sieben nur die Köpfe etwas einziehen müssen, um durch diese Tür zu kommen. Jetzt würden sie sich halb zusammenklappen oder aber auf allen vieren hindurchkriechen müssen. Sie waren erwachsen geworden - hier war der Beweis dafür. Bens Puls am Hals und an den Handgelenken fühlte sich heiß und blutig an; sein Herz flatterte hektisch. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Grelles grünlichgelbes Licht flutete unter der Tür hindurch; es ergoß sich in dickem gewundenem Strahl durch das kunstvoll verzierte Schlüsselloch der alten Tür. Das Zeichen war an der Tür, und wieder sah jeder von ihnen etwas anderes in diesem eigenartigen Symbol. Für Beverly war es Toms Gesicht. Bill erkannte darin Audras vom Rumpf abgetrennten Kopf mit leeren Augen, die ihn schrecklich anklagend anstarrten. Eddie sah Henry Bowers. Richie sah das bärtige Gesicht eines entarteten Paul Bunyan, dessen Augen zu mordlustigen Schlitzen zusammen- gekniffen waren. Und Ben sah einen grinsenden Totenschädel über zwei gekreuzten Knochen - das Symbol für Gift. »Bill, sind wir stark genug?« fragte Ben. »Können wir es schaffen?« »Ich w-w-weiß es nicht«, sagte Bill. »Und was, wenn die Tür verschlossen ist?« fragte Beverly mit dünner Stimme. Toms Gesicht schien sie zu verhöhnen. »Das ist sie nicht«, erwiderte Bill. »Orte wie dieser sind n-n-nie verschlossen.« Er legte die steifen Finger seiner rechten Hand auf die Tür - er mußte sich dazu hinabbeugen - und drückte dagegen. Sie flog auf, und zuckendes, strudelndes gelbgrünes Licht flutete heraus. Jener zooartige Geruch hüllte sie ein, der Geruch zur Gegenwart gewordener Vergangenheit. Bill sah sie der Reihe nach an, und dann ließ er sich auf Hände und Knie fallen. Beverly folgte ihm, dann Richie, dann Eddie. Ben war der letzte; ihn schauderte, als er den alten Sand auf dem Boden unter seinen Händen spürte. Er kroch durch die Tür, und als er sich wieder aufrichtete und zunächst nur das Feuer wahrnahm, das in Lichtschlangen und -schnüren über die Steinwände züngelte, traf ihn die letzte Erinnerung mit Wucht. Er schrie auf und taumelte rückwärts, und sein erster Gedanke war: Kein Wunder, daß Stan Selbstmord begangen hat! O Gott, ich wünschte, ich hätte das auch getan! Er sah den gleichen Ausdruck grenzenlosen Entsetzens und dämmernder Erkenntnis auf den Gesichtern seiner Freunde, während der letzte Schlüssel sich im letzten Schloß der Erinnerung drehte. Dann schrie Beverly gellend auf und klammerte sich an Bill, während Es sich blitzschnell an seinem riesigen Netz herabließ, eine spinne aus einem Jenseits von Zeit und Raum, eine spinne jenseits der schlimmsten Alpträume und Visionen von der tiefsten Hölle. Nein, dachte Bill kaltblütig, auch keine Spinne, nicht wirklich, aber diese Gestalt hat Es nicht unseren schlimmsten Schreckensvisionen entnommen; es ist einfach jene für unseren Geist gerade noch faßbare Gestalt, die (den Totenlichtern) dem, was Es auch immer in 'Wirklichkeit sein mag, am nächsten kommt. SiE/Es war etwa 15 Fuß hoch und schwarz wie eine mondlose Nacht. Jedes seiner Beine war so dick wie der Oberschenkel eines Muskelprotzes. seine Augen waren bösartig funkelnde Rubine; sie traten aus den Höhlen hervor, die mit irgendeiner tropfenden chromfarbenen Flüssigkeit gefüllt waren. Die gekerbten Kinnbacken öffneten und schlössen sich, öffneten und schlössen sich; Schaumfäden flössen heraus. In einer Ekstase des Schreckens erstarrt, am Rande des Wahnsinns taumelnd, registrierte Ben mit einer unnatürlichen Ruhe, daß diese Schaumfaden lebendig waren; sobald sie auf dem stinkenden Steinboden landeten, schlängelten sie wie Würmer davon und verschwanden in den Ritzen zwischen den Fliesen. Aber Es ist noch etwas anderes, Es hat noch eine andere, endgültige Gestalt, eine, die ich fast sehen kann, so wie man die schattenhaften Umrisse von Menschen sehen kann, die sich hinter einer Filmleinwand bewegen, während der Film läuft, irgendeine andere endgültige Gestalt, aber ich möchte sie nicht sehen, ich möchte Es nicht sehen, bitte, Gott, laß mich Es nicht in dieser endgültigen Gestalt sehen... Und eigentlich spielte das auch keine Rolle. Sie sahen, was sie sahen, und Ben begriff, daß Es in dieser scheinbar endgültigen Gestalt, in der Gestalt der spinne, gefangen war, durch ihrer aller gemeinsame ungewollte gräßliche Vision. Im Kampf gegen dieses Es würden sie leben oder sterben. Es quiekte und quakte, und Ben war sich ganz sicher, daß er diese Laute, die Es ausstieß, zweimal hörte - in seinem Kopf und dann erst, den Bruchteil einer Sekunde später, in seinen Ohren. Telepathie, dachte er, immer noch mit jener unnatürlichen Ruhe. sein Schatten war ein großes, plumpes Ei, das über die uralte tropfende Wand seiner Behausung raste. sein Körper war mit borstigen Haaren bedeckt, und Ben sah, daß Es einen Stachel hatte, der lang genug war, um damit mühelos einen Menschen aufspießen zu können. Eine klare Flüssigkeit - irgendein tödliches Gift - tropfte von der Spitze dieses Stachels, und auch sie war lebendig; wie der Speichel, so schlängelte auch sie über den Boden und verschwand in den Ritzen und Rissen. sein Stachel, ja... aber darunter war sein Bauch grotesk ausgewölbt; er schleifte fast über den Boden, als Es nun ohne Zaudern auf ihren Anführer - auf Big Bill - zukroch. Das ist sein Eisack, dachte Ben, und sein Verstand wollte über die logische Schlußfolgerung schreien. Was immer Es auch jenseits dessen, was wir sehen, sein mag - diese Vorstellung ist zumindest symbolisch richtig: Es ist weiblich, und Es ist schwanger... Es war damals schon schwanger, und keiner von uns hat es bemerkt ... außer Stan... Stan hat es begriffen, Stan hat es gewußt, und als er uns die Handflächen ritzte, wollte er es uns damit sagen... daß wir würden zurückkommen müssen; wir mußten zurückkommen, weil Es weiblich ist, weil Es mit irgendeiner unvorstellbaren Brut schwanger ist... und jetzt ist SEINE Zeit zum Gebären fast gekommen. Unglaublicherweise ging Bill Denbrough jetzt auf die spinne zu, ging auf Es zu. »Bill, nein!« schrie Beverly. »B-B-Bleibt, wo ihr seid!« rief Bill, ohne sich umzudrehen. Und dann rannte Richie auf Bill zu und schrie seinen Namen, und Ben stellte fest, daß auch seine eigenen Beine sich bewegten. Er hatte das Gefühl, als schwabbele ein Phantombauch vor ihm auf und ab, und er begrüßte diese Empfindung. Ich muß wieder ein Kind werden, dachte er unzusammenhängend. Das ist die einzige Methode, um zu verhindern, daß Es mich in den Wahnsinn treibt. Ich muß wieder ein Kind werden... muß es akzeptieren. Irgendwie. Er rannte und schrie dabei Bills Namen. Er nahm am Rande wahr, daß Eddie neben ihm herlief; sein gebrochener Arm baumelte hin und her; der Gürtel des Bademantels, mit dem Bill die Gardinenstangen als Behelfsschienen daran befestigt hatte, schleifte über den Boden. Eddie hatte seinen Aspirator gezogen. Er sah aus wie ein verrückt gewordener Schütze mit einer eigenartigen Pistole. Ben hörte Bill brüllen: »Du h-h-hast meinen B-B-Bruder umgebracht, du verfluchte hure!« Und dann richtete Es sich auf, hüllte Bill in seinen Schatten ein, und seine Spinnenbeine sausten durch die Luft. Ben vernahm seine gierigen Laute, blickte in seine zeitlosen bösartigen roten Augen... und einen Moment lang sah er die endgültige Gestalt hinter dieser Spinnengestalt: sah Lichter, sah ein endloses kriechendes haariges Etwas, das aus Licht und nichts als Licht bestand, totem Licht, das Leben nachahmte. Dann begann das Ritual von Chüd zum zweiten Male.
1. In seiner Behausung 1958
Es war Bill, der sie alle zusammenhielt, als sie sich mit seiner unverhüllten , Monstrosität unmittelbar von Angesicht zu Angesicht konfrontiert sahen.
Als Stan Uris sah, wie jene riesige schwarze spinne sich blitzschnell an ihrem Netz herabließ und dabei einen gräßlichen Luftzug erzeugte, der seine kurzen Haare zum Flattern brachte, schrie er auf wie ein Baby; seine Augen drohten aus den Höhlen zu treten, und er grub seine Fingernägel tief in die Wangen. Ben wich langsam zurück, bis sein fetter Hintern gegen die Wand links von der Tür stieß. Durch seine Hose hindurch fühlte er ein Brennen kalten Feuers, und wie im Traum rückte er etwas von der Wand ab. Das alles konnte bestimmt nicht Wirklichkeit sein, es war einfach der schlimmste Alptraum aller Zeiten. Er stellte fest, daß er seine Hände nicht heben konnte. Sie schienen zentnerschwer zu sein.
Richie Tozier starrte wie hypnotisiert auf das Spinnennetz. Hier und dort hingen, mit Seidenfäden umgarnt, die sich wie lebendige Wesen bewegten, verweste, angefressene Leichen. Er glaubte, in der Nähe der Decke Eddie Cochran zu erkennen, ohne Beine und nur einem Arm.
Beverly und Mike klammerten sich aneinander wie Hansel und Gretel im Walde und beobachteten schreckensstarr, wie die spinne den Fußboden erreichte und auf sie zugekrochen kam, wie ihr verzerrter Schatten an der schmutzverkrusteten, tropfenden Wand neben ihr herzulaufen schien.
Bill drehte sich nach seinen Freunden um, ein großer, magerer Junge in dreck- und kotbeschmiertem T-Shirt, das ehemals weiß gewesen war, in Bluejeans mit Aufschlägen, in schmutzstarrenden Schuhen. Seine Haare hingen ihm wirr in die Stirn, und seine Augen schleuderten Blitze. Er blickte von einem zum anderen, schien sie gleichsam zu entlassen und wandte sich erneut der spinne zu. Und unglaublicherweise begann er nun, auf sie - auf Es - zuzugehen, mit schnellen, entschlossenen Schritten, die Ellbogen angewinkelt, die Hände zu Fäusten geballt.
»D-D-Du hast meinen B-B-B-Bruder umgebracht, du v-verdammtes MISTSTÜCK:!«
»Nein, Bill!« kreischte Beverly, und dann riß sie sich von Mike los und rannte mit wild flatternden Haaren auf Bill zu. »Laß ihn in Ruhe, du Ungeheuer! Wag es ja nicht, ihn anzutasten!«
Scheiße! Beverly! dachte Ben, und dann rannte auch er mit weichen Knien und schwabbelndem Bauch vorwärts. Er nahm vage wahr, daß Eddie neben ihm herrannte und seinen Aspirator wie eine Pistole gezückt hatte.
Und dann sauste Es auf Bill zu, der unbewaffnet war; Es richtete sich auf, hüllte Bill in seinen Schatten ein, und seine Spinnenbeine schwirrten durch die Luft. Ben packte Beverly an der Schulter, aber seine Hand rutschte ab. Sie wirbelte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm herum.
»Hilf ihm!« schrie sie.
»Wie?« rief Ben. Er stürzte auf die spinne zu, hörte ihre gierigen Laute, blickte in ihre zeitlosen, bösartigen Augen und sah etwas hinter dieser Gestalt, etwas viel Schlimmeres als eine Spinne. Etwas, das nur aus irrsinnigem Licht bestand. Sein Mut geriet ins Wanken... aber es war Bev, die ihn gebeten hatte - Bev, und er liebte sie.
»Verdammt, laß Bill in Ruhe!« brüllte er.
Einen Augenblick später schlug ihm jemand so fest auf die Schulter, daß er fast zu Boden fiel. Es war Richie. Obwohl ihm Tränen über die Wangen liefen, grinste er wie ein Wahnsinniger; seine Mundwinkel schienen fast bis zu den Ohrläppchen zu reichen. »Schnappen wir uns dieses Drecksvieh, Haystack!« schrie Richie. »Chüd! Chüd!«
»Okay, aber was ist das? Was ist Chüd?«
»Keine Ahnung!« brüllte Richie und rannte weiter auf Bill zu, tauchte in seinen Schatten ein.
Es hatte sich auf seinen Hinterbeinen geduckt, und seine Vorderbeine sausten dicht über Bills Kopf hinweg. Und Stan Uris - der entgegen jeglichem Instinkt auf Es zuging, der einfach nicht anders konnte, weil seine Freunde ihn brauchten - sah, daß Bill Es anstarrte, mit seinen blauen Augen ihm in die riesigen, unmenschlichen roten Augen schaute, aus denen jenes schreckliche Leichenlicht strömte. Und er begriff, daß das Ritual von Chüd
- was immer das auch sein mochte - eingeleitet worden war.
2. Bill im leeren Raum/1958
(wer bist du, und warum kommst du zu mir?)
Ich bin Bill Denbrough. Du weißt genau, wer ich bin. Du hast meinen Bruder umgebracht, und ich bin hier, um dich zu töten. Du hast einen großen Fehler begangen, als du gerade George ermordet hast, du verdammtes Miststück.
(ich bin ewig. Ich vertilge ganze Welten.)
Tatsächlich, nun, mein Freund, du hast deine letzte Mahlzeit gegessen.
(du bist machtlos; hier ist die Macht; spür diese Macht, du elender Wurm, und dann versuch noch einmal zu sagen, daß du gekommen bist, um das EWIGE zu töten. Du glaubst, mich zu sehen? Du siehst nur, was dein Geist dir zu sehen erlaubt. Willst du mich sehen? Dann komm! Komm, du Wurm! Komm!)
Er wurde geworfen (im)
geworfen, nein, abgefeuert, abgefeuert wie eine lebendige Kugel, abgefeuert wie die Menschliche Kanonenkugel im Shrine-Zirkus, der jedes Jahr im Mai nach Derry kam. Er wurde hochgerissen und durch die Behausung der spinne geschleudert. Das vollzieht sich nur in meinem Geist! schrie er sich selbst zu. Mein Körper steht immer noch da, Auge in Auge mit IHM, sei tapfer, es ist nur eine Art Vision, sei tapfer, sei treu, sei standhaft...
(finstern Föhrenwald)
Er sauste dahin, schoß in einen schwarzen tropfenden Tunnel hinein, dessen Wände aus abbröckelnden Ziegeln bestanden, die fünfzig oder hundert oder tausend Jahre alt sein mochten, wer konnte das wissen, vielleicht auch eine Million oder Billion Jahre alt; er schoß in tödlicher Stille an unzähligen Kreuzungen vorbei; manche wurden von jenem zuckenden grüngel
ben Feuer erhellt, manche von schimmernden Luftballons, in denen ein gespenstisches weißes totes Licht glühte, manche waren auch gähnend schwarz; er flog mit einer Geschwindigkeit von 1000 Meilen pro Stunde an Knochenbergen vorbei, flog wie ein Pfeil mit Raketenantrieb durch einen Wind-Tunnel, wurde in schrägem Winkel weiter nach oben geschleudert, aber nicht auf ein Licht, sondern auf eine Finsternis zu, auf eine große, ungeheure FINSTERNIS zu... (da wohnt)
und schoß hinaus in eine totale Schwärze; diese Schwärze war alles, war der Kosmos, war das Universum, und der Boden dieser Schwärze war hart, hart, er war wie poliertes Ebenholz, und er schlitterte auf Brust, Bauch und Hüften über diesen harten Boden. Er war auf dem Boden des Ballsaals der Ewigkeit, und die Ewigkeit war schwarz,
(ein wahrer Meister)
(Hör auf damit, wozu sagst du das l Das wird dir nicht helfen, du dummer Junge)
der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister!
(hör auf damit!)
im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister!
(hör auf damit! Hör auf! Ich verlange, daß du sofort damit aufhörst! Ich befehle es dir!)
Das gefällt dir wohl nicht, was?
Und er dachte: Wenn ich es nur laut sagen könnte, ohne dabei zu stottern, könnte ich dadurch diese Sinnestäuschung, diese Vision beenden...
(dies ist keine Sinnestäuschung, du dummer, törichter kleiner Junge - dies ist die Ewigkeit, MEINE Ewigkeit, und du bist darin verloren, für immer darin verloren, du wirst nie den Weg zurückfinden, du bist jetzt ewig und dazu verdammt, in der schwarzen Finsternis umherzuwandern... das heißt, nachdem du mir von Angesicht zu Angesicht begegnest.
Aber hier war auch noch etwas anderes. Bill spürte es, nahm es auf eigenartige Weise mit allen Sinnen wahr:
Er nahm vor sich in der Finsternis eine überwältigende Gegenwart wahr -eine umrißhafte gestalt. Er verspürte keine Angst, nur grenzenlose ehrfürchtige Scheu; hier war eine Macht, die seine Macht in den Schatten stellte, und Bill hatte gerade noch Zeit zu denken: Bitte, bitte, was immer du auch sein magst, denk bitte daran, daß ich sehr klein bin...
Er sauste darauf zu und sah, daß es eine große Schildkröte war, ihr Panzer schillerte in vielen leuchtenden Farben. Ihr uralter reptilartiger Kopf schob sich langsam aus dem Panzer heraus, und Bill glaubte zu spüren, daß Es überrascht war, daß diese Überraschung jedoch mit Verachtung vermischt war. Die Augen der Schildkröte waren voller Güte. Bill dachte, es müsse das älteste Wesen sein, das man sich überhaupt nur vorstellen konnte, um vieles älter als Es, das von sich behauptete, ewig zu sein. Was bist du?
(ich bin die SCHILDKRÖTE, mein Sohn. Ich habe das Universum erschaffen, aber
bitte mach mir daraus keinen Vorwurf; ich hatte Bauchschmerzen)
Hilf mir! Bitte, hilf mir!
(ich mische mich in diese Angelegenheiten nicht ein)
Mein Bruder...
(auch er hat seinen Platz im Makroversum; Energie stirbt niemals, sie ist ewig, das muß sogar ein Kind wie du begreifen)
Er flog jetzt an der Schildkröte vorbei, und selbst bei seiner enormen Geschwindigkeit zog sich ihr Panzer scheinbar endlos rechts von ihm dahin, und er wurde vage an eine Zugfahrt erinnert, wenn man an einem in entgegengesetzter Richtung fahrenden Zug vorbeisaust, an einem so langen Zug, daß man schließlich das Gefühl hat, er stehe still oder bewege sich sogar rückwärts. Er konnte Es immer noch summen und brummen hören, mit seiner hohen, zornigen, unmenschlichen Stimme, die voll irrsinnigen Hasses war. Aber wenn die Schildkröte sprach, wurde seine Stimme völlig ausgelöscht. Sie sprach in Bills Kopf, und Bill verstand irgendwie, daß es noch einen anderen gab, und daß dieser letzte andere in einem Raum jenseits dieses Raumes wohnte. Dieser letzte andere war vielleicht der Schöpfer der Schildkröte, die nur beobachtete, und der spinne, die sich >Vertilger von Welten< nannte. Dieser letzte andere war eine Kraft jenseits des Universums, war eine Macht, die jede andere Macht grenzenlos überstieg, war der Schöpfer von allem.
Plötzlich glaubte er zu verstehen: Es hatte die Absicht, ihn durch irgendeine Mauer am Ende des Universums zu schleudern, in einen anderen Ort (den die alte schit dkröte Makroversum nannte)
wo Es in Wirklichkeit lebte; wo Es als titanischer glühender Kern existierte, der vielleicht doch nur ein winziges Stäubchen im Geist jenes anderen war; er würde Es unverhüllt sehen, ein etwas aus ungeformtem zerstörerischem Licht, und dort würde er entweder ungnädig ausgelöscht werden oder aber ewig leben, irrsinnig und doch bewußt im Innern seines mörderischen, endlosen, formlosen, hungrigen Wesens.
Bitte hilf mir! Für die anderen...
(du mußt dir selbst helfen, mein Sohn)
Aber wie? Bitte gib es mir ein! Wie? Wie? WIE?
Er war jetzt bei den schuppigen Hinterbeinen der Schildkröte angelangt; er hatte genügend Zeit, um ihr kraftvolles, wenngleich uraltes Fleisch zu betrachten, um in ehrfürchtigem Staunen ihre schweren Zehennägel zu bewundern - sie waren von eigenartig bläulichgelber Farbe, und er konnte in jedem davon große Galaxien schwimmen sehen.
Bitte, DU bist gut, ich fühle und glaube, daß DU gut bist, und ich bitte DICH so sehr... hilf mir doch bitte!
(du weißt bereits alles, was du wissen mußt, es gibt nur Chüd. Nur das... und deine freunde.)
Bitte, obitte...
(mein Sohn - im finstern Föhrenwald, da wohnt ein wahrer Meister, der ficht ganz furchtlos kalt sogar noch gegen Geister - mehr kann ich dir nicht sagen)
Er stellte erschrocken fest, daß die Stimme der Schildkröte leiser wurde. Er hatte sie jetzt schon hinter sich gelassen, er schoß auf eine Finsternis zu, die undurchdringlicher als undurchdringlich war. Die Stimme der Schildkröte wurde jetzt wieder von ihm übertönt, überschrien von der vergnügten plärrenden Stimme des Wesens, das ihn in diese schwarze Leere geschleudert hatte - die Stimme der spinne, seine Stimme.
(wiegefällt es dir, kleiner Freund? Gefällt es dir? Ist es schön? Mochtest du meinen Freund, die SCHILDKRÖTE ? Ich dachte, sie wäre schon längst gestorben, aber sie könnte genausogut tot sein, was dich betrifft; hast du geglaubt, sie könnte dir helfen?)
nein, nein, nein, nein, im finstern nein, im f-f-f-f-finstern nein (hör auf zu plärren! Die Zeit ist kurz, laß uns miteinander reden, solange wir es noch können. Erzähl mir von dir, kleiner Freund... sag mir, gefällt dir die kalte Finsternis hier draußen? Genießt du deine große Rundreise durch das Nichts, das außerhalb liegt? Warte, bis du erst durchbrichst, kleiner Freund! Warte, bis du dorthin durchbrichst, wo ICH bin1. Warte auf die Totenlichter! Du wirst sie sehen und den Verstand verlieren... aber du wirst leben... leben... leben... in ihnen leben... m MIR leben...)
Es stieß ein bösartiges kreischendes Gelächter aus, und Bill bemerkte, daß auch seine Stimme nun sowohl leiser zu werden begann als auch anschwoll, so als entferne er sich aus seinem Bereich... und nähere sich ihm gleichzeitig immer mehr. Und ging nicht tatsächlich genau das vor sich? Ja. Er glaubte, daß es wirklich so war. Denn obgleich die Stimmen total synchron waren, so war doch jene, auf die er zuflog, völlig fremdartig und unbegreiflich; sie sprach in Silben, die keine menschliche Zunge, keine menschliche Kehle nachvollziehen konnte. Das ist die Stimme der Totenlichter, dachte er.
(die Zeit ist kurz, laß uns miteinander reden, solange wir es noch können) seine menschliche Stimme wurde schwächer, so wie die Radiosender von Bangor, wenn man im Auto saß und in Richtung Süden fuhr. Ein grelles Entsetzen durchfuhr ihn blitzartig. Er war dabei, jede geistig noch gesunde Kommunikationsmöglichkeit mit ihm zu verlieren... und ein Teil von ihm begriff, daß Es genau das wollte. Wenn die geistige Kommunikation aufhörte, würde er völlig vernichtet sein. Die Schwelle zu übertreten, hinter der eine Kommunikation unmöglich war, bedeutete, jede Möglichkeit der Errettung zu verlieren; soviel verstand er, weil seine Eltern ihm gegenüber nach Georges Tod ein solches Verhalten an den Tag gelegt hatten; es war die einzige Lektion, die jene Eiseskälte, von der er umgeben war, wenn er sich zwischen seine Eltern auf die Couch setzte, ihn gelehrt hatte. Er verließ Es... und näherte sich ihm. Aber das Verlassen war irgendwie wichtiger. Wenn Es hier draußen kleine Kinder aufessen wollte, oder sie einsaugen oder was Es auch immer tat - warum hatte Es dann nicht sie alle hierher geschickt? Warum gerade ihn?
Weil Es sein sptnnen-ich von ihm befreien mußte, deshalb. Irgendwie war das sptnnen-£s und jenes Es, das von ihm als Totenlichter bezeichnet wurde, miteinander verbunden. Was immer hier draußen in der Finsternis lebte, mochte unverletzbar sein, wenn Es nur hier und nirgendwo anders war... aber Es war auch auf der Erde, unter Derry, in einer physischen Gestalt. Wie abstoßend, wie widerwärtig Es auch sein mochte - in Derry war es physisch... und was physisch war, konnte getötet werden.
Aber warum? dachte er verzweifelt, während er immer schneller durch die Finsternis schoß. Warum sollte das so sein? Warum habe ich das Geßhl, daß SEIN Gerede nichts weiter als ein einziger Bluff ist, ein großes Täuschungsmanöver? Warum sollte das so sein? Wie kann das sein?
Und plötzlich begriff er in einer hell auflodernden Flamme inneren Lichtes, er begriff, wie es sein könnte... wie es vielleicht - nur vielleicht - sein könnte. Es gibt nur Chüd, hatte die Schildkröte gesagt. Und angenommen,
das war es?
Angenommen, sie hatten sich gegenseitig tief in die Zungen gebissen, nicht physisch, sondern psychisch, geistig? Und angenommen, daß das Ritual beendet sein würde, wenn es IHM gelang, Bill weit genug in den leeren Raum, weit genug auf SEIN ewiges unkörperliches SELBST zuzuschleudern ? Es würde sich von ihm befreit, ihn abgeschüttelt, ihn getötet haben. Und damit würde Es gewonnen haben... alles gewonnen haben.
(du machst deine Sache gut, mein Sohn, aber sehr bald schon wird es zu
spät sein)
Es hat Angst! Angst vor mir! Angst vor uns allen!
... er schlitterte, schlitterte immer noch mit rasender Geschwindigkeit dahin, und irgendwo vor ihm war eine Wand, er spürte sie, spürte sie in der Dunkelheit, die Wand am Rande des Kontinuums, und dahinter war seine andere Gestalt, dort waren die Totenlichter...
(sprich nicht mit mir, mein Sohn, und führe auch keine Selbstgespräche - Es wird dich bald abschütteln, beiß fest zu, wenn du es wagst, wenn du tapfer sein kannst, wenn du dich um deine Freunde sorgst, wenn du für sie einstehen willst... beiß fest zu, mein Sohn!)
Und Bill Denbrough biß fest zu - nicht mit seinen Zähnen, sondern mit Zähnen seines Geistes.
Er senkte seine Stimme um eine ganze Tonlage, so daß sie sich nicht mehr wie seine eigene anhörte (er ahmte die Stimme seines Vaters nach, obwohl er sich dessen sein ganzes Leben lang nicht bewußt sein würde; manche Geheimnisse werden niemals offenbart, und vermutlich ist das auch am besten), holte tief Luft und rief:
»IM FINSTERN FÖHRENWALD, DA WOHNT EIN WAHRER MEISTER, DER FICHT GANZ FURCHTLOS KALT SOGARNOCH GEGEN GEISTERUND JETZT LASS MICH LOS!«
Im Geiste hörte er Es schreien; es war ein Schrei frustrierter, ungeduldiger Wut, aber aus diesem Schrei waren auch Angst und Schmerzen herauszuhören. Es war nicht daran gewöhnt, seinen Willen nicht durchzusetzen; so etwas war ihm in seinem ganzen langen Dasein noch nicht widerfahren, und Es hatte etwas Derartiges bisher auch für völlig undenkbar, für völlig unmöglich gehalten.
Bill fühlte seine wilden Zuckungen, fühlte, wie Es sich schüttelte, wie Es versuchte, ihn abzustoßen - sich von ihm zu befreien.
»IM FINSTERN FÖHRENWALD, DA WOHNT EIN WAHRER MEISTER, HABE ICH
gesagt! lass mich los! Du musst es tun! ich befehle es dir! ich verlange
ES VON DIR!«
Wieder schrie Es auf, und sein Schmerz war jetzt merklich stärker geworden - teilweise vielleicht auch deshalb, weil Es zwar sein ganzes langes, langes Dasein damit zugebracht hatte, Schmerz zuzufügen, sich vom Schmerz zu ernähren, aber bisher Schmerz niemals als einen Teil seiner selbst erfahren hatte.
Aber Es versuchte weiterhin eigensinnig, ihn abzuschütteln, ihn wegzustoßen, um doch noch den Sieg davonzutragen, wie Es ihn bisher immer davongetragen hatte. Es wollte ihn abschütteln, aber Bill spürte, daß sich die Geschwindigkeit, mit der er durch die Leere schoß, verlangsamt hatte, und ein groteskes Bild drängte sich ihm auf: seine Zunge, mit jenem lebendigen Speichel überzogen, lang herausgestreckt wie ein dickes Gummiband, rissig, blutend. Er sah sich selbst, wie er sich an dieser Zungenspitze festgebissen hatte und seine Zähne allmählich immer tiefer hineingrub, er sah sein Gesicht, das von seinem schwarzen Blut überströmt war, sah sich in seinem bestialischen Gestank nach Fäulnis und Verwesung fast erstik-ken, sah sich aber dennoch weiter zubeißen, irgendwie, während Es in seinem blinden Schmerz und seiner rasenden Wut versuchte, sich von ihm zu befreien.
Chüd, dies ist Chüd, halt aus, sei standhaft, sei tapfer, sei treu, steh für deinen Bruder ein, steh für deine Freunde ein, glaube, glaube an all die Dinge, an die du einmal geglaubt hast: daß es so etwas wie das Gute gibt; daß der Polizist, dem du erzählst, du hättest dich verirrt, dafür sorgen wird, daß du sicher nach Hause kommst; daß irgendwo hinter dem Nordpol Santa Claus wohnt, der zusammen mit den Elfen Spielzeuge herstellt; daß es Captain Midnight wirklich geben könnte, o ja; daß deine Mutter und dein Vater dich wieder lieben werden; daß Tapferkeit möglich ist; daß auch Liebe möglich ist; und daß dir alle Wörter immer leicht und glatt von der Zunge gehen werden - keine Verlierer mehr, kein Kauern mehr in einer Erdgrube mit der hochtrabenden Bezeichnung Klubhaus, kein Weinen mehr in Georgies Zimmer, weil du ihn nicht retten konntest; glaube an dich selbst, glaube an die Glut dieses Verlangens...
Er begann plötzlich in der Finsternis zu lachen, nicht hysterisch, sondern in äußerstem verzücktem Staunen,
»O ja, ich glaube an all diese dinge!« schrie er, und es stimmte: Sogar mit seinen elf Jahren hatte er schon beobachtet, daß die Dinge zu einem geradezu phänomenalen Prozentsatz ein gutes Ende nahmen. Um ihn herum wurde es Licht. Er breitete die Arme aus, über den Kopf hinweg. Er wandte sein Gesicht empor, und plötzlich spürte er, wie eine riesige Welle von Macht ihn durchflutete.
Er hörte Es wieder schreien... und plötzlich fühlte er sich zurückgezogen, flog denselben Weg, nur in entgegengesetzter Richtung, und hielt sich dabei immer noch jenes Bild vor Augen, das sich ihm vorhin aufgedrängt hatte: er selbst, der seine Zähne tief in das seltsame Fleisch seiner Zunge gegraben hatte, der sie fest zusammenbiß, während er in seinem schwarzen Blut zu ersticken drohte. Er flog dahin, Kopf nach vorne, Beine nach hinten, und die Schnürsenkel seiner schmutzverkrusteten Schuhe flatterten wie Wimpel an einem windigen Tag, und der Wind dieses leeren Raumes sauste ihm in den Ohren.
Er wurde zurückgezogen; er flog erneut an der Schildkröte vorbei und sah, daß sie ihren Kopf wieder in den Panzer eingezogen hatte; ihre Stimme kam von dort zu ihm, hohl und etwas verzerrt, so als sei sogar der Panzer, in dem sie lebte, ein Brunnen, der Ewigkeiten tief war:
(nicht schlecht, mein Sohn,, aber ich würde das Werk jetzt vollenden. Laß Es nicht entkommen. Energie verflüchtigt sich häufig, und was man vollbringen kann, wenn man elf Jahre alt ist, kann man später oft nie mehr vollbringen)
Die Stimme der Schildkröte wurde schwächer, immer schwächer, verklang. Da war nur noch die an ihm vorbeifliegende Dunkelheit... und dann die gähnende Öffnung eines riesigen Tunnels... Gerüche nach Alter und Verwesung... Spinnweben, die an seinem Gesicht vorbeistreiften wie vermoderte Seidensträhnen in einem Spukhaus... schimmelige Ziegel... Kreuzungen, die jetzt alle dunkel waren, denn die Mond-Ballons waren erloschen, und Es schrie und schrie:
(laß mich los, laß mich los, ich werde verschwinden und niemals mehr zurückkehren, laß mich los, ES SCHMERZT so, ES SCHMERZT, ES SCHMERRRR)
»Ficht ganz furchtlos kalt!« schrie Bill in einer Art Ekstase. Er sah vor sich Licht, aber dieses Licht wurde zusehends schwächer, flackerte wie große Kerzen, die fast heruntergebrannt sind... und für den Bruchteil einer Sekunde sah er sich selbst und die anderen in einer Reihe nebeneinander stehen und sich bei den Händen halten; Eddie stand auf einer Seite neben ihm, Richie auf der anderen. Er sah sich mit weit zurückgeworfenem Kopf zu der spinne emporstarren, die wilde Zuckungen vollführte wie ein Derwisch, deren Beine gegen den Boden hämmerten, aus deren Stachel Gift herabtropfte.
Es schrie; Es lag im Todeskampf.
Das glaubte Bill aufrichtig.
Und dann wurde er zurückgeworfen, mit solcher Wucht, daß seine Hände aus Richies und Eddies Griff gerissen wurden, daß er auf die Knie fiel und über den Boden schlitterte, bis zum Rand des Spinnennetzes. Er griff instinktiv nach einem der Spinnfäden, um Halt zu finden, und augenblicklich wurde diese Hand taub, so als hätte ihm jemand eine NovocainSpritze verabreicht. Der Spinnfaden war so dick wie ein Kabel oder ein Tau.
»Hände weg, Bill!« brüllte Ben, und Bill riß seine Hand zurück; unterhalb der Finger kam rohes Fleisch zum Vorschein, und die Wunde füllte sich mit Blut. Er taumelte auf die Beine und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der spinne zu.
Sie kroch davon, in den Hintergrund ihrer Behausung, der nun, da das Licht immer schwächer wurde, schon fast im Dunkeln lag. Schwarze Blutlachen markierten ihren Weg; der Kampf mußte ihr unvorstellbares Inneres an Dutzenden oder Hunderten von Stellen aufgerissen haben.
»Bill, das Netz!« schrie Mike. »Paß auf!«
Bill sprang zurück, und einzelne Spinnfäden seines Netzes stürzten um ihn herum zu Boden wie fleischige weiße Schlangen. Sobald sie auf den Steinen aufschlugen, lösten sie sich auf und sickerten in die Ritzen und Spalten. Das ganze Netz löste sich langsam aus seinen zahlreichen Verankerungen, fiel auseinander. Eine der Leichen, die wie eine Fliege eingesponnen war, schlug mit einem gräßlichen Geräusch auf dem Boden auf -wie ein überreifer, verdorbener Kürbis.
»Die spinne!« rief Bill. »Wo ist sie? Wo ist Es?«
Er konnte Es in seinem Kopf immer noch vor Schmerz wimmern und schreien hören, und er begriff, daß Es sich in denselben Tunnel zurückgezogen hatte, in den Es vorhin ihn geschleudert hatte... aber hatte Es sich dorthin zurückgezogen, um an jenen Ort zu fliehen, wohin Es Bill hatte schleudern wollen... oder nur, um sich zu verstecken, bis sie gingen? Hatte Es sich dorthin zurückgezogen, um zu sterben? Oder um zu entkommen?
»Mein Gott, die Lichter!« brüllte Richie. »Die Lichter gehen aus... was ist geschehen, Bill? Wo warst du? Wir dachten, du wärest tot!«
Aber Bill wußte, daß das nicht ganz stimmte; wenn sie ihn wirklich für tot gehalten hätten, so wären sie auseinandergerannt - und dann hätte Es sie mit Leichtigkeit einen nach dem anderen umbringen können. Vielleicht wäre es richtiger zu sagen, daß sie zwar gedacht hatten, er sei tot, daß sie aber geglaubt hatten, daß er lebte.
Wir müssen uns vergewissern! Wenn Es im Sterben liegt und sich dorthin geflüchtet hat, woher Es gekommen ist, dann ist alles gut. Aber was, wenn Es nur verletzt ist? Was, wenn Es sich wieder erholen kann? Was...
Stans gellender Schrei riß ihn abrupt aus seinen Gedankengängen. Im schwachen Licht sah Bill, daß einer der Spinnfäden direkt auf Stans Schulter gefallen war. Aber noch bevor Bill ihm zu Hilfe eilen konnte, hatte Mike Hanion schon einen Hechtsprung gemacht und Stan zu Boden geworfen. Der Faden schwirrte zurück und riß ein Stück von Stans Polohemd mit sich.
»Zurück!« schrie Ben den anderen zu. »Paßt auf das ganze Netz kommt gleich runter...« Er packte Beverly bei der Hand und zog sie zu der kleinen Tür in der mit Salpeterflecken übersäten Mauer, während Stan sich hochrappelte, sich benommen umschaute und dann Eddie packte. Die beiden rannten -sich gegenseitig helfend - auf Ben und Beverly zu. In dem immer schwächer werdenden Licht sahen sie wie Phantome aus.
Sie beobachteten, wie das Spinnennetz seine Symmetrie verlor, wie es in sich zusammenfiel. Leichen wirbelten durch die Luft. Die Fäden brachen auseinander wie vermoderte Leitersprossen; beim Aufprall auf den Steinen zischten und fauchten sie wie Katzen, und dann zerliefen sie.
Mike raste durch das herabfallende Netz auf die Tür zu, wie er später in der High School durch die gegnerischen Reihen beim Football rasen würde, mit gesenktem Kopf, geduckt, im Zickzack. Richie rannte ihm nach. So unglaublich es auch schien - Richie lachte, obwohl ihm alle Haare zu Berge standen. Die Phosphoreszenz, die über die Wände gezuckt und gestrudelt hatte, war nun fast erloschen, und es wurde rasch dunkel.
»Bill!« brüllte Mike. »Komm endlich! Machen wir, daß wir von hier wegkommen!«
»Aber was ist, wenn Es nicht tot ist?« schrie Bill zurück. »Wir müssen IHM folgen! Wir müssen uns vergewissern, daß Es wirklich tot ist!«
Ein ganzes Knäuel von Spinnweben schwebte wie ein Fallschirm herab und fiel mit einem gräßlichen Geräusch auseinander, das sich anhörte, als würde Haut zerrissen. Mike packte Bill am Arm und zog ihn aus der Gefahrenzone heraus.
»Es ist tot!« rief Eddie. Seine Augen glühten wie im Fieber, und sein Atem war ein hoher Pfeifton. Sein Gips hatte zahlreiche Kerben an jenen Stellen, wo herabfallende Spinnfäden ihn gestreift hatten. »Ich habe Es gehört, Es war am Sterben, dessen bin ich mir ganz sicher!«
Richie riß Bill in eine wilde Umarmung und schlug ihm begeistert auf den Rücken. »Ich habe Es ebenfalls gehört- Es lag im Sterben, Big Bill! Es lag im Sterben... und du stotterst nicht! Kein bißchen! Wie hast du das nur gemacht? Wie in aller Welt...«
In Bills Gehirn wirbelte alles wild durcheinander. Tiefe Erschöpfung
überfiel ihn. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so müde gewesen zu sein... aber er hörte im Geiste die schleppende, bekümmerte Stimme der Schildkröte: Ich würde das Werk jetzt vollenden. Laß Es nicht entkommen ... was man vollbringen kann, wenn man elf Jahre ist, kann man später oft nie mehr vollbringen.
»Aber wir müssen uns doch vergewissern...«
Die Schatten verdichteten sich; es war jetzt fast völlig dunkel. Aber bevor auch das letzte Licht verschwand, glaubte Bill in Beverlys Gesicht den gleichen schrecklichen Zweifel zu lesen... und noch stärker in Stans Augen. Und als gleich darauf undurchdringliche Dunkelheit sie umgab, konnten sie immer noch die gespenstischen Geräusche seines zerfallenden unsagbar scheußlichen Netzes hören.
3. Bill im leeren Raum/1985
(na, da bist du ja wieder, kleiner Freund! Was ist denn nur mit deinen Haaren passiert? Ausgefallen... wie traurig! Was für traurig kurze Lebensspannen Menschen doch haben!)
Ich bin immer noch Bill Denbrough. Du hast meinen Bruder umgebracht, du hast Stan umgebracht, und du hast versucht, Mike umzubringen. Diesmal werde ich das Werk vollenden, diesmal kommst du mir nicht mehr lebend davon!
(die SCHILDKRÖTE ist dumm, zu dumm zum Lügen; sie hat dir die Wahrheit gesagt, kleiner Freund... du hast den einzig möglichen Zeitpunkt nutzlos verstreichen lassen. Du hast mich damals verwundet... weil du mich überrascht hast. Nie wieder passiert das. Ich habe euch zurückgerufen. Ich.) DU hast uns gerufen, okay, aber du warst nicht der einzige.
(dein Freund die SCHILDKRÖTE ... sie ist vor einigen Jahren gestorben. Die alteNärrin hat sich in ihrem Panzer erbrochen und ist an ein, zwei Galaxien erstickt; sehr traurig, findest du nicht auch? Es ist etwa um jene Zeit herum passiert, als du beim Schreiben nichts Rechtes zustande gebracht hast, kleiner Freund.)
Auch das glaube ich nicht.
(oh, du wirst es schon noch glauben... du wirst schon sehen. Diesmal, kleiner Freund, habe ich die feste Absicht, dich alles sehen zu lassen... einschließlich der Totenlichter) seine Stimme schwoll immer mächtiger an - und Bill erkannte voller Entsetzen das ganze grenzenlose Ausmaß seiner Wut. Er versuchte, seine geistige Zunge zu fassen zu bekommen, er konzentrierte sich mit aller Kraft darauf und bemühte sich verzweifelt, seinen kindlichen Glauben von damals in voller Stärke wieder aufleben zu lassen. Aber gleichzeitig war ihm bewußt, daß in seinen Worten eine tödliche Wahrheit lag: Beim letzten Mal war Es unvorbereitet gewesen. Und diesmal... nun, selbst wenn Es sie nicht zurückgerufen hatte, so hatte Es doch zumindest auf sie gewartet. Aber dennoch...
Er fühlte seinen eigenen reinen, heiligen Zorn, als er ihm fest in seine bösartigen Augen blickte. Er bemerkte seine alten Narben, fühlte, daß sie Es damals wirklich ernsthaft verletzt hatten, und daß diese Wunden immer noch nicht ganz verheilt waren.
Und als Es ihn wieder in den leeren Raum schleuderte, als sein Geist wieder aus seinem Körper gerissen wurde, da konzentrierte er sich mit all der ihm zur Verfügung stehenden Kraft darauf, seine Zunge zu packen... und verfehlte sie.
4. Richie
Zunächst sahen die vier anderen nur wie gelähmt zu. Es war eine genaue Wiederholung dessen, was sie schon einmal erlebt hatten - zunächst. Die spinne, die soeben noch Bill hatte packen, ihn verschlingen wollen, schien mitten in der Bewegung zu erstarren. Bill blickte ihr fest in die riesigen, aus den Höhlen vortretenden Rubinaugen. Sie spürten, daß zwischen den beiden ein Kontakt bestand... sie vermochten sich allerdings nicht vorzustellen, welcher Art dieser Kontakt sein mochte. Aber sie spürten den Kampf, den Zusammenprall zweier Willen.
Dann blickte Richie in die Höhe, betrachtete das neue Spinnennetz und sah den ersten Unterschied zu damals.
Im Netz hingen Leichen - manche halb aufgefressen und halb verwest, das war nichts Neues... aber hoch oben in einer Ecke hing ein Körper, bei dessen Anblick Richie das sichere Gefühl hatte, daß er noch ganz frisch war, vielleicht sogar noch lebte. Beverly hatte nicht hochgeblickt - ihre ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Bill und die spinne -, aber trotz seines Entsetzens fiel Richie sofort die Ähnlichkeit zwischen Beverly und der dort im Netz hängenden Frau auf. Sie hatte lange rote Haare. ihre Augen waren geöffnet, aber starr und glasig. Ein Speichelfaden war ihr aus dem linken Mundwinkel über das Kinn geflossen. Sie war von der Taille bis unter die Arme eingesponnen und an einem der Hauptkabel des Netzes aufgehängt. Ihre Arme und Beine hingen schlaff herab. Sie hatte nackte Füße.
Dicht unter dem Netz lag zusammengesunken ein weiterer Körper - ein Mann, den Richie noch nie im Leben gesehen hatte... und doch registrierte er eine fast unbewußte Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Henry Bowers, dem niemand nachweinte. Der Unbekannte mußte aus beiden Augen geblutet haben, und vor dem Mund und am Kinn hatte er geronnenen Blutschaum. Er...
Dann schrie Beverly plötzlich: »Etwas ist schiefgegangen! Etwas ist nicht in Ordnung, tut doch etwas, um Gottes willen, jemand muß etwas tun ...!«
Richie richtete seinen Blick zurück auf Bill und die spinne ... und er glaubte, ein unvorstellbar schauriges kicherndes Gelächter zu vernehmen. Bills Gesicht zog sich irgendwie in die Länge. Seine Haut hatte die gelbliche Farbe von Pergament und war so dünn und fast durchsichtig wie die Haut sehr alter Menschen. Seine Augen traten in schierem Entsetzen weit aus den Höhlen hervor.
O Bill, wo bist du?
Plötzlich schoß Blut aus Bills Nase hervor. Sein Mund zuckte, versuchte vergeblich zu schreien... und nun bewegte sich die spinne wieder, griff ihn an, richtete ihren Stachel auf ihn.
Es will ihn töten... seinen Körper töten... während sein Geist sich irgendwo an-
ders befindet. Es will ihn ein für allemal ausschalten... Es gewinnt... O Bill, wo bist du? Um Gottes willen, wo bist du?
Und von irgendwo, aus einer unvorstellbaren schwarzen Entfernung, hörte er ganz schwach Bills Schrei... und die Worte waren kristallklar und sprachen von grauenhafter Verzweiflung, obwohl Richie ihren Sinn nicht verstand:
(DiE SCHILDKRÖTE IST TOT o GOTT DIE SCHILDKRÖTE IST WIRKLICH TOT)
Beverly schrie wieder auf und hielt sich die Ohren zu, so als könne sie es nicht ertragen, diese schwache, verzweifelte Stimme zu hören. Die spinne hob ihren Giftstachel... und plötzlich rannte Richie auf sie zu; er grinste von einem Ohr bis zum anderen, und er brüllte mit seiner allerbesten >Stim-me-eines-irischen-Bullen<:
»Aber, aber, mein liebes Mädchen! Was zum Teufel hast du vor? Laß sofort diesen Blödsinn, sonst kannst du was erleben!«
Das Gelächter der spinne brach abrupt ab, und Richie spürte, wie Es statt dessen ein rasendes Geheul der Wut und des Schmerzes ausstieß. Ich habe Es verletzt! dachte er frohlockend. Ich habe Es verletzt, gar kein Zweifel, ich habe Es verletzt, und... SEINE Zunge! ICH HABE SEINE ZUNGE zu FASSEN BEKOMMEN! BILL HAT SIE AUS IRGENDEINEM GRUND VERFEHLT, ABER ICH HABE. . .
Und dann wurde Richie aus seinem Körper hinausgeschleudert, in die Finsternis hinein; er hörte Es vor Wut heulen und toben - er hatte das Gefühl, einen ganzen summenden Bienenschwarm im Kopf zu haben, und er war sich vage bewußt, daß Es versuchte, ihn abzuschütteln, und daß Es dabei Fortschritte machte. Angst und Schrecken bemächtigten sich seiner -und dann trat an ihre Stelle ein Gefühl grenzenloser Absurdität. Ihm fiel Beverly ein, die ihm einst gezeigt hatte, wie man mit einem Jo-Jo umgeht, wie man es >schlafen< läßt. Und jetzt flog er selbst dahin wie ein Käfer, der sich an eine Jo-Jo-Schnur klammert, die länger ist als das ganze bekannte Universum, nur daß er sich nicht an einer Schnur festhielt, sondern an seiner Zunge, in die er hineingebissen hatte - und wenn das nicht komisch war, dann wußte er beim besten Willen nicht, was überhaupt komisch war. Richie lachte. Er wußte, daß es sich nicht gehörte, mit vollem Mund zu lachen, aber er bezweifelte, daß hier draußen jemand Bücher über gutes Benehmen las.
Darüber mußte er wieder lachen, und er biß fester zu.
Es schrie erneut und schüttelte ihn wütend, heulte vor Zorn darüber, wieder überrascht worden zu sein - Es hatte geglaubt, nur der Rothaarige, der jetzt fast kahl war, hätte den Mut, Es herauszufordern, und nun hatte dieser Mann, der wie ein verrückter Junge lachte, Es gepackt, als Es am wenigsten darauf vorbereitet gewesen war.
Richie spürte, daß er abzurutschen drohte.
(Halten Sie mal 'nen Moment inne, Senhorita, wir zwei Hübschen machen diesen Ausflug hier draußen schön brav zusammen, oder ich rühr' mich nicht vom Fleck, caramba!)
Er fühlte, wie seine Zähne sich tiefer in seine Zunge gruben, und er verspürte einen schwachen Schmerz, als Es seine Fangzähne ebenfalls in seine Zunge bohrte. Und doch war das alles furchtbar komisch. Obwohl ihn Finsternis umgab, obwohl er durch eine ungeheure Leere schoß, obwohl die
Zunge dieses unvorstellbaren Monsters die einzige ihm verbliebene Verbindung zu seiner eigenen Welt war, obwohl seine giftigen Fangzähne ihm Schmerz zufügten und seinen Geist in roten Nebel hüllten - es war wirklich trotz allem verdammt komisch. Ob ihr's glaubt oder nicht, Leute, ich kann fliegen!
Richie war von einer so gewaltigen Dunkelheit umgeben, wie er sie nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätte; er schoß mit irrsinniger Geschwindigkeit durch diese schwarze Leere und wurde von einer Seite auf die andere geschleudert und geschüttelt, wie eine Ratte im Maul eines Terriers. Er nahm vor sich etwas wahr, einen riesigen Körper, und er begriff, daß das die Schildkröte sein mußte, deren Tod Bill vorhin mit verklingender Stimme beklagt hatte. Sie war nur ein Panzer, eine tote Hülse; Richie spürte kein Leben in ihr. Dann war er auch schon an ihr vorbei, sauste weiter in die Dunkelheit hinaus.
Ich hab' jetzt wirklich Volldampf drauf, dachte er und verspürte wieder jenen wilden Drang zum Lachen.
Bill! Bill! Kannst du mich hören?
(er ist weg, er ist in den Totenlichtern, laß mich los! Laß mich los! LASS MICH
los!
(Richie?)
Aus unglaublicher Ferne; unglaublich weit draußen in all dieser
Finsternis.
Bill! Bill! Hier bin ich! Halt dich an mir fest! Um Gottes willen, gib mir deine Hand (ich kann nicht... ich bin schon zu weit draußen... zu weit draußen...)(er ist tot, ihr alle seid tot, ihr wart viel zu alt, begreifst du das denn nicht? Und jetzt laß mich los!)
Bring mich zu ihm, du Hure, dann tu' ich's vielleicht
(Richie)
- näher, er war jetzt näher, Gott sei Dank -
Ich komme schon, Big Bill! Richie, das Ein-Mann-Rettungskommando! Ich werd' deinen alten Scheißarsch schon retten!
(laß mich Looooos!)
Es schien jetzt starke Schmerzen zu haben, und Richie begriff, daß er Es total überrascht hatte - Es hatte geglaubt, es nur mit Bill zu tun zu haben. Das war gut. Ganz ausgezeichnet. Es ging Richie im Augenblick gar nicht darum, Es zu töten; er war sich inzwischen gar nicht mehr sicher, ob man Es überhaupt töten konnte. Aber Bill konnte getötet werden, und Richie spürte, daß Bill nur noch sehr, sehr wenig Zeit hatte. Bill sauste auf irgendeine riesige unangenehme Überraschung hier draußen zu, eine Überraschung, über die man am besten nicht nachdachte.
(Richie, nein! Kehr um! Hier oben ist das Ende von allem! Die Totenlichter...!)
Hört sich an wie die Dinger, die man anmacht, wenn man nachts mit dem Stahlroß unterwegs ist, Senhor ...wo bist du, Honigkuchenpferd? Lächle mal, damit ich sehen kann, wo du bist!
Und plötzlich war Bill da, schlitterte
(von rechts? von links? hier gab es keine Richtungen)
auf ihn zu. Und hinter ihm konnte Richie etwas sehen-spüren, etwas, bei dessen Anblick ihm jedes Lachen verging. Es war eine Barriere, etwas von seltsamer nicht-geometrischer Form, das sein Geist nicht verarbeiten konnte. Statt dessen setzte sein Geist es um, so gut er eben konnte, so wie er auch seine Gestalt in eine spinne umgesetzt hatte, und das erlaubte es Richie, es als riesige graue Wand ansehen zu können, die aus titanischen Pfählen versteinerter Bäume bestand. Diese Pfähle schienen nach oben und unten kein Ende zu nehmen, und sie hatten Ähnlichkeit mit den Stangen eines Käfigs. Und zwischen ihnen hindurch schien ein starkes dumpfes Licht. Es schimmerte und bewegte sich, lächelte und knurrte. Das Licht war lebendig.
(Totenlichter!)
Mehr als lebendig: Es hatte irgendeine furchtbar starke Kraft - Magnetismus, Gravität oder irgendwas anderes. Richie spürte, wie dieses Licht gierig über sein Gesicht glitt... und das Licht dachte.
Dies ist Es, dies ist Es, der Rest von ihm.
(laß mich los, du hast versprochen, mich loszulassen)
Manchmal, mein Schätzchen, lüge ich eben - meine Mom, die haut mich immer deswegen, aber mein Dad hat's schon aufgegeben
Er spürte, daß Bill auf eine der Lücken zwischen den Pfählen zutrieb, daß böse Lichtfinger nach Bill griffen, und obwohl Es ihn wild umherschleuderte, spannte er all seine Kräfte an und streckte verzweifelt die Hand nach seinem Freund aus.
Bill! Deine Hand! Gib mir deine Hand! DEINE HAND, VERFLUCHT NOCH mal! deinehand!
Bills Hand schoß vor; seine Finger öffneten und schlössen sich, und jenes lebendige Feuer kroch und zuckte über seinen Trauring und bildete runenhafte Muster- Räder, Sicheln, Sterne, Hakenkreuze, verschlungene Kreise, die sich in rollende Ketten verwandelten. Dasselbe Licht überflutete auch Bills Gesicht und verlieh ihm ein tätowiertes Aussehen. Richie streckte seine Hand aus, so weit er nur konnte, während er Es schreien und jammern hörte.
Ich habe ihn verfehlt, o mein Gott, ich habe ihn verfehlt, und er wird durch diesen Zaun hindurchschießen!
Dann schlössen Bills Finger sich um Richies, und Richie ballte seine Hand rasch zur Faust. Bills Beine flogen durch eine Lücke zwischen den versteinerten Bäumen, und einen irrsinnigen Augenblick lang konnte Richie alle Knochen, Venen und Kapillargefäße von Bills Beinen sehen, so als wäre Bill in den stärksten Röntgenapparat der Welt geraten. Richie spürte, wie seine Armmuskeln sich bis zum Äußersten dehnten, wie sein Schultergelenk unter dem unheimlichen Ziehen ächzte und stöhnte.
Er sammelte all seine Kräfte und schrie: »Zieh uns zurück! Zieh uns zurück, oder ich bringe dich um! Ich... ich werde dich sonst mit meiner Stimme erschlagen!«
Die spinne kreischte, und Richie spürte plötzlich, wie eine dicke Peitschenschnur durch seinen Körper schoß. Sein Arm war eine einzige weißglühende Stange rasenden Schmerzes. Sein Griff um Bills Hand begann sich zu lockern.
»Halt dich fest, Big Bill!«
»Tu' ich, Richie! Ich laß' dich nicht mehr los!«
Dürfte auch besser für dich sein, dachte Richie grimmig, denn ich glaube, hier draußen könntest du zehn Billionen Meilen weit umherirren, ohne irgendwo ein öffentliches Klo zu finden!
Sie flogen rückwärts; jenes Wahnsinnslicht wurde schwächer, wurde zu einer Reihe funkelnder Stecknadelköpfe, die zuletzt auch außer Sicht gerieten. Sie sausten durch die Finsternis - Richie hielt sich mit den Zähnen an seiner Zunge fest und hatte Bills Hand wieder fest im Griff. Sie sausten am Panzer der Schildkröte vorüber - im Bruchteil einer Sekunde lag sie schon wieder weit hinter ihnen.
Richie spürte, daß ihre reale Welt näher kam, und er dachte, daß er die Welt nie wieder als >real< ansehen würde - er würde sie von nun an immer als geschickt gemachte Kulisse betrachten, die durch ein Geflecht gestützt wird - ein spinnennetzartiges Geflecht. Aber wir werden es schaffen, dachte er. Wir werden zurückkehren. Wir...
Und dann versuchte Es plötzlich wieder, sie abzuschütteln; Es peitschte sie wild durch die Gegend, schwenkte sie wie rasend umher, um sich doch noch von ihnen zu befreien, um sie doch noch in jener Dunkelheit des Außerhalbs zu lassen. Und Richie fühlte, daß er den Halt verlor. Er hörte sein gutturales, laut anschwellendes triumphierendes Brüllen und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, nicht loszulassen. Er biß verzweifelt zu, aber seine Zunge schien plötzlich an Substanz und Realität zu verlieren, fühlte sich wie hauchdünne, nicht faßbare Gaze an.
»Hilfe!« schrie Richie. »Ich verliere den Halt! Bitte helft uns!«
5. Eddie
Eddie war sich dessen, was da vor sich ging, halb bewußt; er fühlte es irgendwie, aber so, als blickte er durch einen dünnen Vorhang. Irgendwo versuchten Bill und Richie verzweifelt zurückzukehren. Ihre Körper waren hier, aber ihre Geister weilten in weiter Ferne.
Er hatte gesehen, wie die spinne Bill mit ihrem Stachel hatte aufspießen wollen, und dann war Richie nach vorne gestürzt und hatte sie mit jener lächerlichen >Stimme-eines-irischen-Bullen< angebrüllt, die er als Kind zum Spaß oft nachgemacht hatte - nur mußte Richies Imitationstalent sich in der Zwischenzeit gewaltig entwickelt haben, denn diese Stimme hörte sich wirklich unheimlich nach Mr. Neu an, jenem Polizisten, der damals ihren Damm in den Barrens entdeckt hatte.
Die spinne hatte sich Richie zugewandt, und Eddie hatte gesehen, wie ihre scheußlichen roten Augen noch stärker aus den Höhlen hervortraten. Richie hatte sie wieder angebrüllt, diesmal mit seiner Pancho-Vanilla-Stimme, und Eddie hatte gefühlt, daß die spinne vor Schmerz heulte. Ben hatte heiser aufgeschrien, als ein langer Riß sich in ihrer behaarten Haut aufgetan hatte und ein Blutstrom, schwarz wie Rohöl, daraus hervorgeschossen war. Richie hatte wieder zu einer Rede angesetzt... und seine Stimme war verklungen, so wie die Musik am Ende mancher Pop-Songs.
Sein Kopf war weit in den Nacken gerollt, seine Augen blickten starr in die Augen der spinne, die plötzlich aufgehört hatte zu heulen.
Eddie hatte nicht die geringste Ahnung, wieviel Zeit seitdem vergangen war. Richie und die spinne starrten einander an, und Eddie spürte, daß zwischen ihnen eine Verbindung bestand. Er nahm wahr, daß irgendwo in weiter Ferne ein ungeheurer Sog aus Sprache und Emotionen am Werk war; er konnte nichts Genaues erkennen, aber er erahnte den Stand der Dinge in ihren Farben und Schattierungen.
Bills Körper lag schlaff am Boden; er blutete aus der Nase und aus den Ohren, sein schmales Gesicht war leichenblaß, seine Augen geschlossen; und seine Finger zuckten ein wenig.
Die spinne blutete jetzt aus vier oder fünf Wunden; sie war wieder schwer verletzt, aber sie war immer noch gefährlich vital, und Eddie dachte: Warum stehen wir nur so herum und tun nichts? Wir könnten SIE - Es! -doch verwunden, während sie mit Richie beschäftigt ist! Warum bewegt sich denn niemand von uns, um Himmels willen?
Er fühlte einen wilden Triumph - und dieses Gefühl war ausgeprägt, stark. Nahe. Sie kommen zurück? hätte er rufen mögen, aber sein Mund war zu trocken, seine Kehle wie zugeschnürt. Sie kommen zurück!
Dann begann Richie, seinen Kopf langsam von einer Seite zur anderen zu drehen. Sein Körper wurde heftig geschüttelt. Seine Brille hing einen Augenblick lang an der äußersten Nasenspitze... dann fiel sie herunter und zerschellte auf dem Steinboden.
Auch die spinne bewegte sich; ihre gräßlichen Beine schabten trocken über den Boden. Eddie hörte sie in schrecklichem Triumph aufbrüllen, und einen Augenblick später drang Richies Stimme ganz klar und deutlich in seinen Kopf ein:
(Hilfe! Ich verliere den Halt! Bitte helft uns!)
Eddie stürzte nach vorne, seinen Aspirator in der gesunden Hand, den Mund zur Grimasse verzerrt; seine Kehle schien jetzt so eng wie ein Nadelöhr zu sein, und sein Atem ging pfeifend. Absurderweise tanzte das Gesicht seiner Mutter vor ihm auf und ab, und sie rief weinend: Geh nicht nahe an dieses Ding heran, Eddie! Bleib weg! Solche Dinge verursachen Krebs!
»Halt den Mund, Ma!« schrie Eddie mit hoher, dünner Stimme - zu einer kräftigeren fehlte ihm die Luft. Die spinne löste ihren Blick von Richie und wandte ihren Kopf diesem Geräusch zu.
»Da!« kreischte Eddie mit dieser dünnen, hohen Stimme. »Da hast du was! Wie war's damit?«
Er sprang die spinne an und drückte aus nächster Nähe auf seinen Aspirator, und für einen Moment kehrte sein Kinderglaube an diese Medizin wieder zurück, an diese Medizin seiner Kindheit, die damals in allen Lebenslagen zu helfen schien, ob nun die größeren Jungen ihn verprügelt hatten, ob er nach Schulschluß in der allgemeinen wilden Hektik des Aufbruchs über den Haufen gerannt worden war, ob er am Rande des leeren Parkplatzes der Gebrüder Tracker sitzen mußte und vom Spiel ausgeschlossen war, weil seine Mutter ihm das Baseball-Spielen verboten hatte. Es war gute Medizin, starke Medizin, und während er der spinne fast ins Gesicht sprang, ihren Fäulnisgestank roch und von ihrer rasenden Wut und Entschlossenheit, sie alle umzubringen, fast überwältigt wurde, schoß er mit seinem Aspirator genau in eines ihrer Augen.
Er fühlte - hörte ihren Schrei - diesmal keinen Wut-, sondern einen reinen Schmerzensschrei, ein fürchterliches Aufheulen in höchster Qual. Er sah, wie sich die Spraytropfen auf diesem riesigen blutroten Auge verteilten, wie sie weiß wurden und einsanken wie eine ätzende Karbolsäure; er sah das große Auge flach werden wie einen blutigen Eidotter, sah es in einem unheimlichen Strom von lebendigem Blut und weißem Eiter auslaufen.
Komm jetzt zurück, Bill!« rief er, obwohl er kaum noch Luft bekam, und dann prallte er gegen die spinne, und er spürte, wie ihre widerliche Hitze ihn durchflutete; er spürte eine schreckliche nasse Wärme und stellte fest, daß sein heiler Arm in das Maul der spinne geraten war.
Er drückte wieder auf seinen Aspirator, schoß ihr seine Medizin diesmal direkt in die Kehle, direkt in ihren bösartigen, nach Fäulnis und Verwesung stinkenden Schlund, und dann verspürte er plötzlich einen rasenden Schmerz, als ihr Kiefer zuschnappte und sie ihm den Arm dicht unter dem Schulteransatz abbiß.
Eddie fiel zu Boden, und aus dem zerfetzten Armstumpf schoß eine Blutfontäne hervor; er nahm verschwommen wahr, daß Bill taumelnd auf die Beine kam, daß Richie auf ihn zutorkelte wie ein Betrunkener nach einem ausgedehnten nächtlichen Zechgelage.
». ..Eddie...«
Weit weg. Unwichtig. Er fühlte, wie zusammen mit seinem Lebenssaft auch alles andere aus ihm herausrann - Zorn und Schmerz und Angst und Verwirrung und Verletzbarkeit. Er vermutete, daß er im Sterben lag, aber er fühlte sich so... ah, lieber Gott, er fühlte sich so hell und klar wie eine frisch geputzte Fensterscheibe, durch die nun ungehindert das ganze prachtvoll beängstigende Licht irgendeines unvermuteten Sonnenaufgangs einfallen kann; das Licht, o Gott, jenes klare Licht, das in jeder Sekunde irgendwo auf der Welt den Horizont erhellt.
»... Eddie, o mein Gott, Bill Ben er hat seinen Arm verloren, Eddie hat seinen. ..«
Er schaute zu Beverly auf und sah, daß sie weinte, daß Tränen ihr über die schmutzigen Wangen rollten, während sie einen Arm um ihn schlang. Er nahm wahr, daß sie ihre Bluse ausgezogen hatte, daß sie versuchte, damit den Blutstrom zum Stillstand zu bringen, daß sie um Hilfe rief. Richie tauchte neben ihm auf, noch ganz benommen; er schien im ersten Augenblick überhaupt nicht zu begreifen, was geschehen war.
»Sagt...«
Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. So vieles fiel jetzt von ihm ab, löste sich auf; alles, was unrein war, strömte aus ihm heraus, damit er hell und klar werden konnte, damit das Licht einfallen und ihn ganz durchdringen konnte, und wenn er Zeit genug gehabt hätte, hätte er eine Predigt darüber halten können, die mit den Worten begonnen hätte: Wirklich nicht übel. Alles andere als schlecht.
»Sagt meiner Frau... sie soll keine Angst haben«, brachte er mühsam hervor. »Und, bitte...«
»... Eddie, versuch nicht zu sprechen...«
Richie zog sein Hemd aus und preßte es auch noch auf den Armstumpf, weil Beverlys Bluse schon blutgetränkt war.
»Bitte«, flüsterte Eddie. Seine Augen in dem bleichen Gesicht eines kleinen Jungen waren groß und strahlend. Er lächelte ihnen zu. »Sagt Bill...«
Richie und Beverly tauschten einen verzweifelten Blick.
»... was sollen wir ihm sagen, Eddie...?«
»Daß ich euch alle geliebt habe«, sagte Eddie. Er schloß die Augen. Da war noch etwas, und er würde sich von dem Licht nicht mitnehmen lassen, bevor er es gesagt hätte. »Sagt ihm, daß... daß ihr alle meine Freunde wart.«
6. Derry, 7.00 Uhr-9.00 Uhr
Um 7 Uhr war die Geschwindigkeit des Westwindes, der durch Derry fegte, auf etwa 37 Meilen pro Stunde angestiegen, und bei plötzlichen Böen betrug sie sogar 45 Meilen pro Stunde. Harry Brooks, ein Meteorologe vom Nationalen Wetterdienst, der am Internationalen Flughafen von Bangor Dienst tat, gab eine alarmierende telefonische Mitteilung an die Zentrale des Nationalen Wetterdienstes in Augusta durch. Er erklärte, die Winde kämen von Westen und bewegten sich in eigenartiger halbkreisförmiger Richtung, was er noch nie zuvor gesehen habe... aber seiner Meinung nach handle es sich um irgendeine seltsame Abart von Wirbelsturm, der sich indessen fast ausschließlich auf das Stadtgebiet von Derry zu konzentrieren scheine. Um 7.10 Uhr gaben die wichtigsten Rundfunksender Bangors die ersten ernsten Unwetterwarnungen durch.
Nach der Explosion des Transformators am ehemaligen LKW-Depot fiel der Strom auf jener Seite der Barrens, wo die Kansas Street verlief, in ganz Derry aus. Um 7.17 Uhr stürzte ein ehrwürdiger alter Ahorn mit ohrenbetäubendem Krachen auf einen Laden an der Ecke von Merit Street und Cape Avenue. Ein älterer Kunde namens Raymond Fogarty wurde von einem umstürzenden Kühlregal für Bier erschlagen. Es war derselbe Raymond Fogarty, der als Geistlicher der First Methodist Church von Derry im Oktober 1957 George Denbrough beerdigt hatte. Der Ahorn riß außerdem so viele Stromleitungen mit sich, daß nun auch in Old Cape und in der moderneren Siedlung Sherburn Woods der Strom ausfiel.
Die Kirchturmuhr der Grace Baptist Church hatte weder um sechs noch um sieben Uhr geschlagen. Um 7.20 Uhr schlug die Uhr dreizehn Mal. Eine Minute später schoß ein blauweißer Blitz in den Kirchturm. Heather Libby, die Pfarrersfrau, schaute gerade in diesem Augenblick zufällig aus dem Küchenfenster des Pfarrhauses, und sie sagte später, der Kirchturin sei explodiert, als hätte jemand ihn mit Dynamit geladen<. Vom Regen vieler Jahre weißgewaschenes Holz und Balkensplitter und Uhrwerkteile aus der Schweiz regneten auf die Straße herab. Der ausgezackte untere Teil des Kirchtums brannte noch kurze Zeit, aber das Feuer wurde rasch vom Wolkenbruch gelöscht, der inzwischen die Ausmaße tropischer Regenfälle angenommen hatte.
Die Straßen, die hügelabwärts zur Innenstadt führten, hatten sich in Sturzbäche verwandelt. Unter der Main Street brauste und donnerte der Kanal mit solcher Stärke, daß die Menschen unbehagliche Blicke tauschten.
Um 7.25 Uhr, als das ungeheure Krachen des explodierenden Kirchturms noch in ganz Derry widerhallte, sah der Pförtner, der jeden Morgen außer sonntags in >Wally's Spa< kam, um die Kneipe zu putzen, etwas, das ihn schreiend auf die Straße hinausstürzen ließ. Dieser Bursche - seit seinem ersten Semester an der University of Maine vor nunmehr elf Jahren ein Alkoholiker - erhielt für seine Arbeit nur eine kleine Geldsumme - sein eigentlicher Lohn bestand darin, den gesamten vom Vorabend in den Bierfäßchen unter der Bartheke übriggebliebenen Inhalt konsumieren zu dürfen. Richie Tozier hätte sich eventuell an ihn erinnert; er hieß Vincent Caruso Taliendo und hatte bei seinen Klassenkameraden den Spitznamen >Boogers< gehabt. Als er an diesem apokalyptischen Morgen den Fußboden der Kneipe aufwischte und sich dabei immer näher zur Theke vorarbeitete, sah er, wie sich alle sieben Bierfäßchen nach vorne neigten, so als würden sieben unsichtbare Hände an den Zapfhähnen ziehen. In Strömen goldweißen Schaums floß Bier aus ihnen heraus. Vince rannte auf sie zu; er dachte weder an Gespenster noch an Phantome, sondern nur daran, daß ihm sein Morgenquantum an Alkohol durch die Lappen ging. Doch dann blieb er plötzlich schreckensstarr stehen, riß die Augen auf und stieß einen entsetzten Schrei aus, der in der leeren, nach Bierdunst stinkenden Kneipe laut widerhallte. Statt Bier floß plötzlich Blut aus den Hähnen. Es sprudelte in die Chromrinnen, lief über und rann an der Seitenfläche der Bar herunter. Gleich darauf begannen aus den Zapfhähnen Haare und Fleischfetzen hervorzukommen. Taliendo starrte wie gelähmt darauf; er hatte nicht einmal mehr die Kraft zu schreien. Dann explodierte eines der Bierfäßchen mit dumpfem, tonlosem Knall. Alle Schranktüren unter der Bar flogen weit auf. Grünlicher Rauch quoll aus ihnen hervor. >Boogers< hatte genug gesehen. Schreiend rannte er auf die Straße, die sich inzwischen in einen flachen Kanal verwandelt hatte. Er fiel auf den Hintern, stand auf und warf einen entsetzten Blick über die Schulter hinweg. Eines der Kneipenfenster flog klirrend heraus. Glasscherben pfiffen Vince um den Kopf. Einen Moment später explodierte auch das zweite Fenster. Vince blieb wie durch ein Wunder auch diesmal unverletzt ... aber er faßte urplötzlich den Entschluß, seine Schwester in Eastport zu besuchen. Er machte sich sofort auf den Weg, und es wäre eine Geschichte für sich, wollte man seine Mühsale schildern, bis die Stadtgrenze Derrys endlich hinter ihm lag... aber schließlich gelang es ihm doch, aus der Stadt herauszukommen - ein Glück, das nicht allen vergönnt wurde.
Aloysius Nell, der vor kurzem 71 geworden war, saß mit seiner Frau im Wohnzimmer ihres Hauses in der Strapham Street und betrachtete den Sturm, der Derry verwüstete. Um 7.32 Uhr erlitt er einen tödlichen Herzschlag. Seine Frau erzählte ihrem Bruder eine Woche später, daß Aloysius seine Kaffeetasse auf den Teppich fallen ließ, sich mit weit aufgerissenen Augen ganz aufrecht hinsetzte und schrie: »Aber, aber, mein liebes Mädchen! Was zum Teufel hast du vor? Laß sofort diesen Blödsinn, sonst kannst du was erleb...« Dann stürzte er vom Stuhl und zerbrach durch sein Gewicht die Tasse. Maureen Nell, die genau wußte, wie schlecht es in den letzten drei Jahren um sein Herz bestellt war, begriff sofort, daß es für ihn keine Rettung mehr gab, und nachdem sie ihm den Kragen gelockert hatte, rannte sie zum Telefon, um Vater McDowell anzurufen. Aber das Telefon funktionierte nicht. Es gab nur komische Geräusche von sich, die Ähnlichkeit mit einer Polizeisirene hatten. Und deshalb versuchte sie - obwohl sie wußte, daß es vermutlich eine Blasphemie war, für die sie sich vor dem heiligen Petrus würde verantworten müssen -, ihren Mann selbst mit den Sterbesakramenten zu versehen. Sie war zuversichtlich - wie sie ihrem Bruder erzählte -, daß Gott sie verstehen würde, selbst wenn das beim heiligen Petrus nicht der Fall sein würde. Aloysius war ein guter Ehemann und ein guter Mensch gewesen, und wenn er zuviel getrunken hatte, so war das einfach sein irisches Erbe gewesen.
Um 7.49 Uhr erschütterte eine ganze Serie von Explosionen das Einkaufszentrum Derrys, das auf dem Gelände der Kitchner-Eisenhütte errichtet worden war. Niemand wurde getötet; das Einkaufszentrum öffnete erst um 10 Uhr, und auch die fünf Pförtner mußten erst um 8 Uhr ihren Dienst antreten (und an einem Morgen wie diesem wäre ohnehin kaum einer von ihnen aufgetaucht). Eine Untersuchungskommission verwarf später die Möglichkeit einer Sabotage und vertrat - wenngleich nicht allzu überzeugend - die Ansicht, die Explosionen seien durch Wasser verursacht worden, das irgendwie in die elektrischen Anlagen des Einkaufszentrums vorgedrungen sei.
Aber wie dem auch sein mochte - jedenfalls würde lange Zeit niemand mehr in Derrys Einkaufszentrum einkaufen können. Eine Explosion zerstörte Zales Juweliergeschäft vollständig. Diamantringe, Perlenketten, Armreifen, Trauringe und Seiko-Digitaluhren flogen wie funkelnde Hagelkörner in alle Richtungen. Eine Musikbox wurde in den Brunnen vor J. C. Penney's geschleudert, wo sie noch kurz eine ziemlich verzerrte Wiedergabe der Titelmelodie aus >Love Story< zum besten gab, bevor sie verstummte. Dieselbe Explosion riß ein Loch ins >Baskin-Robbins< nebenan und machte aus den 31 verschiedenen Eissorten eine Eissuppe, die als schmutzige Brühe über den Boden rann. Im >Sears< wurde durch die Explosion ein Stück Dach losgerissen, und der Sturmwind wirbelte es durch die Lüfte wie einen Papierdrachen; es stürzte 1000 Yards entfernt in das Silo eines Farmers namens Brent Kilgallon. Kilgallons sechzehnjähriger Sohn rannte mit der Kodak-Kamera seiner Mutter aus dem Haus und machte ein Foto. Der >National Enquirer< kaufe es für 60 Dollar, die dem Jungen zwei neue Reifen für sein Motorrad einbrachten. Eine dritte Explosion zerstörte das >Hit or Miss< und schleuderte brennende Röcke, Jeans und Unterwäsche auf den überfluteten Parkplatz. Und eine letzte Explosion riß die Filiale der >Derry Farmer's Trust< auf wie eine Keksschachtel. Auch vom Dach dieser Bank wurde ein Stück losgerissen. Die Alarmanlage begann zu heulen und verstummte erst vier Stunden später, nachdem die unabhängige Stromversorgung des Sicherheitssystems abgestellt wurde. Darlehensverträge, Einzahlungsformulare, Kassenzettel und alles mögliche andere Bank-Zubehör flogen gen Himmel und wurden vom Wind davongetragen. Und Geldscheine: hauptsächlich Zehner und Zwanziger, großzügig unterstützt von Fünfern und hin und wieder noch verschönert durch Fünfziger und Hunderter. Mehr als 75000 Dollar wirbelten nach Aussagen der Bankangestellten durch die Lüfte... später, nach zahlreichen Personalumbeset-zungen im Vorstand, wurde - selbstverständlich nur streng inoffiziell - zugegeben, daß es eher so an die 200000 Dollar gewesen waren. Eine Frau in Haven Village fand einen Fünfzig-Dollar-Schein auf der Fußmatte vor ihrer Hintertür, zwei Zwanziger in ihrem Vogelhäuschen und sogar einen Hunderter, der an einer Eiche auf ihrem Hinterhof klebte. Ihr Mann und sie bezahlten mit diesem sozusagen vom Himmel gefallenen Geld zwei Raten für ihren Bombadier Skidoo.
Dr. Halewagon, ein Arzt im Ruhestand, der seit fast 50 Jahren am West Broadway wohnte, kam um 8 Uhr ums Leben. Dr. Halewagon rühmte sich gern damit, daß er in der zweiten Hälfte dieser 50 Jahre tagtäglich den gleichen Spaziergang gemacht hatte, von seinem Haus um die Fairmount Ter-race herum zur Grundschule und zurück. Nichts konnte ihn von seinem Spaziergang abhalten, nicht Regen noch Hagel, nicht Graupelschauer noch Schnee, kein heulender Nordostwind, keine klirrende Kälte. Auch an diesem Morgen machte er sich trotz der besorgten Einwände seiner Haushälterin auf den Weg. Seine letzten Worte, die er über die Schulter hinweg sagte, während er sein Haus durch den Vordereingang verließ und seinen Hut energisch bis zu den Ohren herunterzog, waren: »Seien Sie doch nicht so gottverdammt töricht, Hilda. Das ist doch weiter nichts als ein bißchen Regen. Sie hätten mal das Unwetter von 1957 sehen sollen! Das war ein Sturm!« Als Dr. Halewagon auf dem Rückweg wieder in den West Broadway einbog, flog ein Kanalschachtdeckel vor dem Haus der Muellers plötzlich in die Luft wie die Nutzlast einer Redstone-Rakete. Er enthauptete Dr. Halewagon so rasch und gründlich, daß der Arzt noch drei Schritte machte, bevor er tot auf dem Gehweg zusammenbrach.
Und die Windstärke nahm immer noch zu.
7. Unter der Stadt/16.15 Uhr
Eddie führte sie eine oder auch anderthalb Stunden durch die dunkler gewordenen Tunnels, bevor er in einem eher fassungslosen als ängstlichen Ton zugab, daß er sich zum erstenmal in seinem Leben verirrt hatte.
Sie konnten immer noch das dumpfe Brausen von Wasser in den Rohren hören, aber die Akustik in all den Tunnels war so eigenartig, daß man unmöglich sagen konnte, ob diese Wassergeräusche nun von vorne oder hinten, von oben oder unten kamen. Sie hatten keine Streichhölzer mehr. Sie irrten im Dunkeln umher.
Bill war sehr beunruhigt. Er mußte immer wieder an die Unterhaltung denken, die er mit seinem Vater in dessen Werkstatt geführt hatte. Niemand weiß genau, wie diese verdammten Rohre verlaufen... ein Teil der Planzeichnungen ist verschwunden... Wenn alles funktioniert, spielt das natürlich keine Rolle. Wenn aber etwas kaputt ist, werden drei oder vier arme Leutchen vom städtischen Wasserwerk losgeschickt, um herauszufinden, welche Pumpe versagt hat oder wo etwas verstopft ist... Es ist dunkel dort unten, und es stinkt, und es gibt Ratten. Das sind alles gute Gründe, um wegzubleiben, der Hauptgrund ist aber, daß man sich dort unten leicht verirren oder sogar verlorengehen kann. So was ist alles schon passiert.
So was ist alles schon passiert. So was ist alles schon passiert. Schon passiert.
Er spürte Panik in sich aufsteigen und versuchte, sie zu bekämpfen. Es gelang ihm einigermaßen, aber sie lauerte im Hintergrund wie etwas Lebendiges, das kratzt und jault und heult und versucht, sich zu befreien. Zu dieser Panik trug nicht zuletzt auch die bohrende, nicht zu beantwortende Frage bei, ob sie Es nun getötet hatten oder nicht. Richie, Mike und Eddie waren der Ansicht, Es sei tot. Aber Bevs ängstlicher, zweifelnder Gesichtsausdruck hatte Bill großes Unbehagen bereitet, und noch mehr vielleicht Stans Augen, als sie seine Behausung durch die kleine Tür wieder verlassen und sich von den unheimlichen Geräuschen des in sich zusammenfallenden Spinnennetzes entfernt hatten.
»Und was machen wir jetzt?« fragte Stan. Bill hörte das angsterfüllte Beben in Stans Stimme und wußte, daß die Frage hauptsächlich an ihn gerichtet war.
»Ja«, sagte Ben. »Was? Verdammt, ich wünschte, wir hätten eine Taschenlampe. .. oder wenigstens eine Ke... Kerze.« Und Bill glaubte, bei dem letzten Wort ein mühsam unterdrücktes Schluchzen wahrgenommen zu haben. Das machte ihm mehr Angst als alles andere; obwohl Ben darüber sehr erstaunt gewesen wäre, hielt Bill den fetten Jungen für äußerst findig und ausgeglichen; er war zuverlässiger als Richie und verlor nicht so leicht die Nerven wie der übersensible Stan. Wenn sogar Ben einer Panik nahe war, dann konnte es leicht passieren, daß sie alle davon erfaßt wurden ... und dann würden sie nie mehr hier herausfinden. Ihn selbst quälte nicht einmal so sehr der Gedanke an das Skelett des Mannes von den Wasserwerken, sondern die Erinnerung an Tom Sawyer und Becky Thatcher, die sich in der McDougal-Höhle verirrt hatten. Sosehr er auch versuchte, diesen Gedanken zu verdrängen - er tauchte immer wieder auf.
Etwas anderes beunruhigte ihn auch noch, doch er war viel zu erschöpft, um richtig erkennen zu können, was es war. Vieleicht war diese Tatsache aber auch gerade deshalb so schwer faßbar, weil sie im Prinzip sehr einfach und logisch war: Sie fielen sozusagen auseinander. Das enge Band, das sie diesen ganzen Sommer lang zusammengeschweißt hatte, lockerte sich bedenklich. Sie hatten Es gestellt und besiegt, ob Es nun - wie Richie und Eddie glaubten - tot war, oder ob Es so schwer verletzt war, daß Es hundert oder tausend oder zehntausend Jahre schlafen würde. Sie hatten ihm ins Auge geschaut, hatten Es ohne irgendeine seiner Masken gesehen, und Es war grauenhaft gewesen - grauenhaft, o ja! -, aber nachdem sie Es erst einmal gesehen hatten, war Es seiner mächtigsten Waffe beraubt gewesen. Schließlich hatten sie alle schon viele Spinnen gesehen. Es waren unheimliche Geschöpfe, und er vermutete, daß keiner von ihnen je wieder eine Spinne würde sehen können
(wenn wir hier überhaupt jemals wieder herauskommen) ohne einen unbewußten Schauder zu verspüren. Aber letzten Endes war eine Spinne eben doch nur eine Spinne. Und vielleicht gab es - wenn die Masken des Schreckens erst einmal abgelegt waren - nichts, womit der menschliche Geist nicht fertig werden könnte. Das war ein aufmunternder Gedanke. Vielleicht konnte der menschliche Geist alles irgendwie bewältigen, abgesehen von (den Totenlichtern)
von dem, was dort draußen in der Unendlichkeit war... jenem anderen
Teil von ihm, und wenn sie das körperliche ich tatsächlich getötet hatten, so war vielleicht sogar jenes unvorstellbare lebendige Licht an der Schwelle zum Makrokosmos tot oder lag im Sterben. Aber die Totenlichter und sein Flug durch den leeren Raum verblaßten bereits, und er konnte sich nur noch verschwommen daran erinnern. Doch das war jetzt auch nicht weiter wichtig. Was ihn unterbewußt quälte, ohne daß er diese Unruhe beim Namen hätte nennen können, war das Gefühl, daß ihre Zusammengehörigkeit, ihre verschworene Gemeinschaft zerfiel... sie zerfiel, und sie waren immer noch im Dunkeln tief unter der Erde. Jener andere war, durch ihre Freundschaft, vielleicht imstande gewesen, sie mehr als nur Kinder sein zu lassen. Aber nun wurden sie wieder zu ängstlichen Kindern. Bill spürte es, und die anderen spürten es auch.
»Was jetzt, Bill?« fragte nun auch Richie gerade heraus.
»Ich w-w-weiß n-n-n-nicht«, sagte Bill. Er stotterte wieder. Er hörte es, sie alle hörten es, und er stand im Dunkeln, spürte die zunehmende Panik und fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis jemand - vermutlich Stan - ihm vorwerfen würde: Warum weißt du es nicht? Du hast uns schließlich in diese Lage gebracht!
»Und was ist mit Henry?« fragte Mike unbehaglich. »Ob er immer noch irgendwo hier unten ist?«
»O Gott«, stöhnte Eddie. »Henry hatte ich total vergessen. Bestimmt ist er noch hier, ganz bestimmt, er hat sich vermutlich genauso verirrt wie wir, und wir könnten jederzeit in ihn hineinlaufen... O Bill, hast du denn gar keine - keine einzige - Idee? Dein Vater arbeitet doch hier! Hast du denn wirklich keine einzige Idee?«
Bill lauschte dem fernen Donnern des Wassers und versuchte nachzudenken. Aber ihm fiel nichts ein. Nicht das geringste.
»Ich habe eine Idee«, sagte Beverly ruhig.
Bill hörte im Dunkeln ein Geräusch, das er sich im ersten Augenblick nicht erklären konnte. Ein leises Knistern. Dann folgte ein leichter erkennbares Geräusch - ein Reißverschluß wurde geöffnet. Was? dachte er, und dann begriff er, was los war. Beverly zog sich aus unerfindlichen Gründen aus.
»Was machst du?« fragte Richie mit erstaunter, zitternder Stimme.
»Ich weiß etwas«, sagte Beverly, und es kam Bill so vor, als sei ihre Stimme plötzlich viel erwachsener. »Ich weiß etwas - mein Vater hat mich darauf gebracht. Ich glaube, ich weiß, wie unsere engen Bande wieder zusammengeknüpft werden können. Und nur auf diese Weise können wir hier je wieder herauskommen.«
»Was?« fragte Ben verwirrt und fast erschrocken. »Wovon redest du eigentlich?«
»Etwas, das uns wieder zusammenbringen wird«, erklärte sie. »Das uns für immer zusammenbringen wird. Etwas, das zeigen wird...«
»N-N-Nein, Beverly!« rief Bill, der plötzlich begriffen hatte.
»... das zeigen wird, daß ich euch alle liebe«, fuhr sie fort, ohne ihn zu beachten, »daß ihr alle meine Freunde seid.«
»Wovon red...«, begann Mike.
Bev schnitt ihm ganz ruhig das Wort ab. »Wer ist der erste?« fragte sie.
Bev hielt Eddie in den Armen, und Richie beugte sich über sie; sie versuchten, den irrsinnig heftigen Blutstrom zum Stillstand zu bringen. Eddies Gesicht war bleich und regungslos. Plötzlich riß Bill Richie so heftig hoch, daß dieser fast das Gleichgewicht verloren hätte.
»Bill, ich glaube, er stirbt, sein Arm, sein Arm, Es hat seinen Arm verschlungen ...«
»Es entkommt uns wieder!« brüllte Bill ihm zu. Seine Lippen und sein Kinn waren blutverkrustet; ein Blutfaden führte von seinem rechten Ohr zum Backenknochen. »K-K-Komm! B-Ben, du und ich - diesmal werden wir ihm endgültig den Garaus machen!«
»Bill...« Bill schien nicht zu verstehen, was los war. Richie mußte es ihm erklären. »Eddie... wir brauchen möglichst schnell einen Arzt... eine Aderpresse...«
»Geh, Richie«, sagte Beverly. Sie bettete Eddies Kopf auf ihren Schoß und schloß ihm die Augen. »Geh! Wenn er ganz vergeblich gestorben ist, wenn ihr Es entkommen laßt, wenn Es in 27 oder 54 Jahren wiederkehrt, dann bringe ich euch um, das schwöre ich euch. Und falls ich dann nicht mehr leben sollte, werde ich euch als Geist heimsuchen. Geh jetzt!«
Richie betrachtete sie einen Augenblick lang unentschlossen. Dann bemerkte er, daß ihre Gesichtszüge verschwammen, daß sie nur noch als bleicher Schatten zu erkennen war. Das Licht wurde jetzt rasch schwächer. Das gab für ihn den Ausschlag. »Okay«, sagte er zu Bill. »Verfolgen wir Es!«
Ben stand hinter dem Spinnennetz, das sich nun wieder aufzulösen begann. Auch er hatte die Gestalt gesehen, die hoch oben im Netz hing, und er hoffte inbrünstig, daß Bill nicht hochblicken würde.
Aber als das Netz zu zerreißen begann, schaute Bill hoch.
Er sah Audra, die sich wie in einem uralten, nur noch ruckweise fahrenden Aufzug nach unten bewegte. Sie fiel zehn Fuß tief, blieb hängen, baumelte wie ein Pendel am Netz hin und her, fiel dann abrupt weitere 15 Fuß in die Tiefe. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich dabei überhaupt nicht. Ihre großen Augen waren völlig ausdruckslos. Ihre nackten Füße wippten. Die Haare hingen ihr über die Schultern. Ihr Mund war halb geöffnet.
»audra!« schrie Bill.
»Bill, komm mit!« brüllte Richie ihn an.
Überall um sie herum fielen jetzt einzelne Fetzen des Spinnennetzes herab, schlugen auf dem Boden auf und zerliefen dort. Richie packte Bill um die Taille und zog ihn vorwärts.
»Los, Bill! Komm! Schnell!«
»Das ist Audra!« rief Bill verzweifelt. »D-D-Das ist Audra!«
»Ist mir scheißegal, auch wenn's der Papst höchstpersönlich wäre«, erwiderte Richie grimmig. »Eddie ist tot, und wir werden Es jetzt töten, falls Es noch lebt. Diesmal werden wir das Werk vollenden, Big Bill. Entweder sie lebt, oder sie ist tot. Und jetzt komm!«
Bill stand weiterhin wie angewurzelt da, doch dann stiegen Bilder vor seinem geistigen Auge auf, Bilder all der vielen toten Kinder; sie schienen in seinem Kopf umherzuwirbeln wie verlorengegangene Fotos aus Georgies
Album. Schulfreunde. »Okay«, sagteer. »M-M-Möge Gott mir v-v-verzei-hen.«
Er und Richie rannten unter dem Netz hindurch, das jetzt schon bedrohlich tief durchhing. Sekunden später fielen seine unteren Teile vollends herab, und die Spinnfäden begannen auf dem Boden zu zerfließen. Ben hatte auf der anderen Seite des Netzes auf sie gewartet, und zu dritt nahmen sie seine Verfolgung auf, während Audra immer noch etwa 50 Fuß über dem Steinboden im sich auflösenden Netz hing, von Spinnfäden umgarnt.
9. Ben
Sie folgten der Spur seines schwarzen Blutes - öligen Lachen, aus denen das lebendige Blut sich in die Risse und Ritzen zwischen den Steinen schlängelte. Als der Fußboden dann aber allmählich anstieg, auf eine halbkreisförmige schwarze Öffnung ganz am Ende des riesigen Raumes zu, sah Ben etwas Neues: eine Spur aus Eiern. Sie waren schwarz, hatten eine rauhe Schale und etwa die Größe von Straußeneiern. Ein unheimliches wächsernes Licht drang aus ihrem Innern, und Ben stellte fest, daß sie halb durchsichtig waren, daß schwarze Schatten sich darin bewegten.
seine Kinder, dachte er, und ihm drehte sich fast der Magen um. seine verderbten Kinder. Gott! O Gott!
Richie und Bill waren ebenfalls stehengeblieben. Sie starrten die Eier in törichtem Staunen an.
»Los, geht weiter!« schrie Ben. »Um die Eier werde ich mich kümmern. Ihr schnappt euch Es.«
»Hier!« rief Richie und warf ihm ein Streichholzheftchen zu.
Ben fing es auf. Bill und Richie rannten weiter. Ben blickte ihnen in dem rasch schwächer werdenden Licht nach; sie rannten in die Dunkelheit seines Fluchtweges hinein und waren kurz darauf nicht mehr zu sehen.
Ben blickte auf das erste der dünnschaligen Eier hinab, auf den schwarzen Schatten im Innern, und seine Entschlossenheit schwand dahin. Dies... dies war einfach zuviel. Es war einfach zu gräßlich. Und bestimmt würden sie auch ohne sein Zutun sterben; sie waren ja sozusagen Frühgeburten, die ihre Mutter auf der Flucht vorzeitig verloren hatte.
Aber die Zeit ihrer regulären Geburt ist nicht mehr fern gewesen... und wenn auch nur eines von ihnen ausschlüpft und überlebt... wenn auch nur...
Ben nahm all seinen Mut zusammen, hielt sich Eddies bleiches, sterbendes Gesicht vor Augen und trat mit seinem Desert-Driver-Stiefel auf das erste Ei. Es brach mit einem scharfen Knacken entzwei, und eine schreckliche Art von Placenta rann unter seinem Fuß hervor. Und dann kroch eine etwa rattengroße Spinne unbeholfen über den Boden, versuchte zu entkommen, und Ben konnte sie in seinem Kopf hören, konnte ihre hohen Wimmerlaute hören...
Ben folgte ihr wie auf Stelzen und trat noch einmal zu. Er spürte, wie ihr Körper unter seinem Stiefelabsatz knirschte und zerbarst. ihm wurde so übel, daß er sich übergab... und dann bewegte er seinen Absatz hin und her, zermahlte das Ding und trat es total in den Stein hinein... und allmählich verstummten die Schreie in seinen Kopf.
Wieviel? Wieviel Eier? Habe ich nicht irgendwo einmal gelesen, daß Spinnen Tausende von Eiern legen können... oder sogar Millionen? Ich kann das nicht noch einmal tun. Ich werde dadurch den Verstand verlieren...
Du mußt es tun. Du mußt! Nun komm schon, Ben... nimm dich zusammen!
Er ging zum nächsten Ei und wiederholte den Vorgang im letzten schwachen Licht. Alles wiederholte sich: das scharfe Knacken, die ausströmende Flüssigkeit, der Gnadenstoß. Das nächste Ei. Das nächste. Das nächste. Er bewegte sich langsam auf die schwarze halbkreisförmige Öffnung zu, durch die seine Freunde gegangen waren. Jetzt herrschte absolute Dunkelheit. Beverly und das sich auflösende Netz waren nirgendwo hinter ihm. Er hörte es immer noch herabfallen - es klang wie fernes Wasserrauschen. Die Eier glichen matten Leuchtfeuern in der Finsternis. Sobald er wieder eines erreicht hatte, zündete er ein Streichholz an und zerbrach das Ei. Es gelang ihm jedesmal, der benommenen Jungspinne zu folgen und sie zu zertreten, bevor die Streichholzflamme erlosch.
Er hatte keine Ahnung, was er machen würde, wenn ihm die Streichhölzer ausgingen, bevor er das letzte Ei zertreten, seine grauenhafte Nachkommenschaft total vernichtet hatte.
Er machte einfach weiter und betete, daß dies bald vorüber sein möge.
10. Es, 1985
Sie verfolgten Es immer noch. Es spürte, wie sie näher kamen, aufholten, und SEINE Angst wuchs. Vielleicht war Es letzten Endes doch nicht ewig - das Undenkbare mußte nun endlich in Betracht gezogen werden. Und was alles noch schlimmer machte - Es wußte um den Tod SEINER Nachkommenschaft. Ein dritter dieser verhaßten gehässigen Männer-Jungen folgte unaufhaltsam der Spur SEINER Eier; er war vor Ekel und Widerwillen fast verrückt, aber er setzte sein Werk dennoch fort, vernichtete methodisch das Leben SEINER Kinder.
Nein! heulteEs, von einer Seite auf die andere taumelnd. Es fühlte, wie SEINE Lebenskraft nachließ, fühlte, daß Es aus hundert Wunden blutete, von denen zwar keine tödlich war, jede ihm jedoch Schmerzen und Qualen bereitete und Sein Tempo verlangsamte. Eines SEINER Beine hing nur noch an einer dünnen Sehne. Eines SEINER Augen war erblindet. Und SEIN Inneres brannte wahnsinnig von dem schrecklichen Gift, daß ein vierter dieser verhaßten Männer-Jungen IHM in die Kehle geschossen hatte.
Und sie kamen immer näher... Wie war das nur möglich? Es heulte, winselte und wimmerte, und als Es spürte, daß sie IHM dicht auf den Fersen waren, tat Es das einzige, was Es in dieser Lage noch tun konnte:
Es wandte sich um und stellte sich dem Kampf.
Bevor auch das letzte schwache Licht erstarb und totale Finsternis eintrat, sah Beverly, wie Bills Frau weitere 20 Fuß in die Tiefe fiel und dann erneut hängenblieb und sich langsam um sich selbst drehte, wobei ihre langen roten Haare sich leicht bewegten. Seine Frau, dachte sie. Aber ich war seine erste Liebe, und wenn er eine andere Frau für seine erste Liebe hielt, so nur deshalb, weil er vergessen hatte... weil er Derry vergessen hatte.
Dann saß sie im Dunkeln. Nur die Geräusche des zerfallenden Netzes drangen an ihre Ohren. Ihr Arm war schon fast taub von Eddies Gewicht, aber sie wollte ihn nicht loslassen, wollte nicht, daß sein Kopf auf dem stinkenden Boden lag.
Zärtlich strich sie ihm das Haar aus der feuchten Stirn. Sie dachte wieder an die Vögel... das war etwas, das sie von Stan übernommen haben mußte.
Armer Stan...
Sie alle... ich war ihre erste Liebe.
Sie versuchte sich daran zu erinnern - umgeben von all dieser Finsternis, in der man Geräusche nicht richtig erkennen konnte, tat es vielleicht gut, daran zu denken. Sie würde sich dann nicht mehr so allein fühlen. Zuerst wollte sich die Erinnerung nicht einstellen; das Bild der Vögel trat immer wieder dazwischen - Krähen und Stare und andere Frühlingsvögel, die von irgendwoher zurückkehrten, während Bäche von Schmelzwasser in den Rinnsteinen und Gräben plätscherten, und die letzten Reste von verharschtem, schmutzigem Schnee an schattigen Plätzen nicht weichen wollten.
Es kam ihr so vor, als wäre es immer ein bewölkter Tag, an dem man sie zuerst sah und sich wunderte, woher sie gekommen sein mochten. Sie waren plötzlich einfach da und erfüllten die weiße Luft mit ihren heiseren Schreien und ihrem Zwitschern. Sie saßen dicht gedrängt auf Telefonleitungen und auf den Dachfirsten der viktorianischen Häuser am West Broadway; sie besetzten die Aluminiumäste der großen Fernsehantenne auf >Wally's Spa< und belasteten mit ihrem Gewicht die nassen schwarzen Zweige der Ulmen auf der Lower Main Street - Ulmen, die irgendwann in der Zwischenzeit gefällt worden waren.
Sie ließen sich nieder, unterhielten sich miteinander mit den schrillen Stimmen alter Frauen vom Lande beim allwöchentlichen Bingo-Spielen, und dann flogen sie auf irgendein für Menschen nicht wahrnehmbares Signal hin alle gleichzeitig auf, verdunkelten den Himmel... und ließen sich nach kurzer Zeit anderswo nieder.
}a, die Vögel, ich dachte an sie, weil ich mich schämte. Vermutlich war mein Vater schuld daran, daß ich mich schämte, und vielleicht war auch das SEIN Werk. Vielleicht.
Die Erinnerung kam - die Erinnerung, die von den Vögeln verdrängt worden war -, aber sie blieb verschwommen und bruchstückhaft. Vielleicht würde diese spezielle Erinnerung immer so undeutlich bleiben. Sie hatte...
12. Liebe und Verlangen, 10. August 1958
Es ist Stan, der als erster zu ihr kommt, denn er fürchtet sich am meisten. Er kommt zu ihr nicht als der Freund dieses Sommers, auch nicht als ihr Geliebter, sondern so, wie er noch vor drei oder vier Jahren zu seiner Mutter gekommen wäre - er kommt, um bei ihr Trost zu finden; er zuckt vor ihrer weichen nackten Haut nicht zurück -vielleicht bemerkt er sie auch gar nicht. Er zittert am ganzen Leibe, und obwohl sie ihn jetzt umarmt, ist die Dunkelheit so undurchdringlich, daß sie ihn sogar aus dieser nächsten Nähe nicht sehen kann, daß er ebenso gut ein Phantom sein könnte.
»Was möchtest du?« fragt er sie.
»Du mußt dein Ding in mich hineinschieben«, sagt sie.
Er versucht zurückzuweichen, aber sie hält ihn fest, und er gibt nach. Sie hört irgendjemanden - sie glaubt, daß es Ben ist - laut schnaufen.
»Eevvie, das kann ich nicht. Ich weiß nicht, wie...«
»Ich glaube, es ist ganz einfach. Aber du mußt dich dazu ausziehen.«
»Nein, ich kann nicht...« Aber sie glaubt zu spüren, daß er es will, denn sein Zittern hat aufgehört, und sie fühlt, wie etwas Kleines und Hartes sich an die rechte Seite ihres Bauches preßt.
»Du kannst«, sagt sie und zieht ihn mit sich zu Boden. Die Oberfläche unter ihrem nackten Rücken, unter ihren Beinen ist fest, trocken und lehmig. Der ferne Donner des Wassers ist beruhigend, einschläfernd. Sie legt ihre Arme fest um ihn, und für einen Augenblick taucht das Gesicht ihres Vaters vor ihr auf streng und Einhalt gebietend
(ich will mich vergewissern, daß du noch unberührt bist)
und dann liegt seine glatte, weiche Wange an ihrer glatten, weichen Wange, und als er schüchtern ihre kleine Brüste berührt, seufzt sie und denkt zum erstenmal bewußt: Das ist Stan, und sie erinnert sich an einen Tag im Juli - war es wirklich erst einen Monat her? -, als außer ihr und Stan niemand in die Barrens gekommen war; er hatte sein Vogelbuch dabei gehabt, und sie waren fast den ganzen Nachmittag zusammen her^gelaufen und hatten Vögel beobachtet, und Stan hatte alle Vogelarten gekannt. Es war ein herrlicher, friedvoller Nachmittag gewesen.
Sie denkt an Vögel, besonders an die Stare und Krähen und die anderen Zugvögel, die im Frühling zurückkehren, und sie öffnet seinen Gürtel und den Reißverschluß seiner Hose, und er sagt wieder, daß er das nicht tun könne; sie erklärt ihm, sie wisse, daß er es könne, und was sie nun fühlt, ist weder Scham noch Angst, sondern eine Art Triumph.
»Wo?« fragt er, und jenes harte Ding berührt die Innenseite ihrer Schenkel.
»Hier«, sagt sie, greift behutsam nach ihm und weist ihm den Weg. Er stößt zu schnell zu, und es tut weh.
Sie beißt sich auf die Unterlippe und zieht zischend die Luft ein
(zieh deine Hose aus)
und denkt wieder an die Vögel, die Frühlingsvögel auf den Dächern, die unter den tiefhängenden Märzwolken alle zur gleichen Zeit auffliegen.
»Beverly«, flüstert er unsicher. »Ist alles in Ordnung?«
»Langsam«, sagt sie, und nun bewegt er sich langsam in ihr.
Er gibt einen Laut von sich. Ihr Schmerz vergeht. Er bewegt sich. Sie fühlt, daß das für ihn etwas ganz Besonderes, etwas Außerordentliches und Herrliches ist... etwas wie... wie Fliegen. Sie ist ganz durchdrungen von einem Gefühl der Macht, des Triumphes. Ist es das, wovor ihr Vater solche Angst hatte? Nun, vielleicht hatte er in gewisser Hinsicht nicht einmal so unrecht. Von diesem Akt geht wirklich eine Macht aus, eine überwältigende Kraft bis ins tiefste Innere. Sie verspürt keine echte physische Lust, aber sie befindet sich in einer Art geistiger Ekstase. Sie spürt die Nähe, das absolute Verbundensein. Er bewegt sich in ihr vor- und rückwärts, und sie hält ihn in den Armen. Und dann spürt sie, noch während er sich bewegt, wie jener Teil von ihm, der die Verbindung zwischen ihnen geschaffen hat, schrumpft, irgendwie kleiner wird.
Als er sich hochstemmt, setzt sie sich auf und berührt im Dunkeln sein Gesicht.
»Hast du?«
»Was?«
»Was auch immer es sein mag. Ich weiß es nicht genau.«
Er schüttelte den Kopf - sie fühlt es, weil ihre Hand auf seiner Wange liegt.
»Aber es war... es war wunderschön.« Er redet leise, damit die anderen ihn nicht hören können, und dann spricht er aus, was sie vermutet hat: »Es war wie Fliegen. Ich... ich liebe dich, Bevvie.«
»Ich liebe dich auch, Stan.« Sie umarmt und küßt ihn.
Dann trübt sich ihr Bewußtsein ein wenig. Sie ist sich ganz sicher, daß sie die Jungen reden hört, teils laut, teils im Flüsterton, aber sie nimmt nicht richtig auf, was sie sagen. Es spielt auch feine Rolle. Muß sie sie von neuem dazu überreden? Ja, vermutlich. Aber auch das spielt feine Rolle. Sie müssen dazu überredet werden, zu diesem wesentlichen Akt, der das menschliche Bindeglied zwischen der Welt und der Unendlichkeit darstellt, diesem einzigen Akt, bei dem der Blutkreislauf die Ewigkeit berührt. Alles andere spielt jetzt keine Rolle.
Mike kommt zu ihr, dann Richie, und der Akt wiederholt sich. Jetzt verspürt sie auch schwache Lust, ein vages Hitzegefähl in ihren kindlichen, noch nicht reifen Geschlechtsorganen, und sie schließt die Augen, als Eddie zu ihr kommt, und sie denkt an die Vögel, an Frühling und an die Vögel, und sie sieht sie wieder und immer wieder, wie sie bei Frühlingsbeginn die noch winterkahlen Bäume füllen, wie sie auf liegen, wie sie mit den Flügeln schlagen und dabei ein Geräusch erzeugen wie Wäsche auf der Leine im Wind, und sie denkt: Nur noch ein Monat, und dann werden alle Kinder im Fairmount-Park Drachen steigen lassen. Sie denkt wieder: So muß Fliegen sein.
Und auch bei Eddie spürt sie jenes Schrumpfen seines Gliedes, bei dem sie das eigenartige Gefühl eines Verlustes hat, und sie fühlt, daß auch er jenes Letzte-jenen Gipfel, wie immer er auch aussehen mag - dieses Aktes nicht erreicht hat.
»Hast du? «fragt sie ihn trotzdem, obwohl sie schon weiß, daß er es nicht gefunden hat, jenes endgültige >es<, von dem sie selbst nicht genau weiß, was es ist.
Nach einer langen Wartezeit kommt Ben Hanscom zu ihr.
Er zittert am ganzen Leibe, aber es ist nicht das ängstliche Zittern, das Stan geschüttelt hatte.
»Beverly, ich kann nicht«, sagt er.
»Aber du willst. Das fühle ich.«
Und das stimmt auch. Unterhalb seines weichen Bauches spürt sie wieder jenes harte Ding, und seine Größe erregt bei ihr eine gewisse Neugier, und sie berührt es behutsam. Er stöhnt an ihrem Hals, und der Hauch seines Atems jagt ihr plötzlich eine Hitzewelle durch den ganzen Körper - das Gefühl in ihr ist auf einmal sehr stark; sie erkennt, daß es eigentlich zu groß,
(und er ist groß, kann sie dieses große Ding in sich aufnehmen?)
zu erwachsen für sie ist, ein mächtiges Gefühl, das in Siebenmeilenstiefeln dahinzustürmen scheint.
»Beverly, nein...«
»Doch.« »Ich...«
»Zeig mir, wie man fliegt«, flüstert sie mit gespielter Ruhe; sie spürt auf ihrer Wange und auf ihrem Hals eine nasse Wärme und erkennt, daß er weint. »Zeig es mir, Ben.«
»Nein...«
»Wenn du das Gedicht geschrieben hast, dann zeig mir auch, wie man fliegt. Du kannst gern meine Haare berühren, wenn du möchtest, Ben.«
»Beverly... ich... ich...«
Er zittert jetzt nicht einfach, sondern es schüttelt ihn regelrecht. Aber sie fühlt wieder, daß es nicht Angst ist. Sie denkt an (die Vögel) sein Gesicht, sein liebes, süßes, ernsthaftes Gesicht und weiß, daß es nicht Angst ist, die ihn erzittern läßt - es ist sein Begehren, ein tiefes, leidenschaftliches Begehren, das er jetzt kaum noch unterdrücken kann, und wieder verspürt sie jenes Gefühl der Macht und eines Hochflugs - Leidenschaft, o ja, das mußte es sein, Leidenschaft war die Quelle jener Hitze, der Ort, an dem man fliegen lernte.
»Ben! Ja!« ruft sie nicht ohne Angst, und nun endlich gibt er nach.
Es tut weh, und im ersten Moment erschrickt sie und hat das Gefühl, zermalmt zu werden. Dann stützt er sich auf seine Handflächen, und jenes Gefühl vergeht.
Er ist groß, o ja - der Schmerz ist stärker als vorhin, als Stan zum erstenmal in sie eindrang, und sie muß sich wieder auf die Unterlippe beißen und an die Vögel denken, bis das Brennen nachläßt. Aber es läßt nach, es hört ganz auf, und sie kann ihre Hand heben und mit einem Finger zärtlich seine Lippen berühren, und er stöhnt.
Und dann verspürt sie wieder jene Hitze, und ihre Kraft und Macht überträgt sich nun auf ihn; sie verschenkt sie glücklich und nimmt sie auch glücklich von ihm entgegen. Zuerst ist es ein Gefühl, als würde sie sanft geschaukelt, und es ist so köstlich, so süß, so schwindelerregend, daß sie den Kopf hilflos von einer Seite auf die andere wirft und eine Art Summen zwischen ihren geschlossenen Lippen hervordringt, dies ist Fliegen, dies, und sie versteht es nun ganz, dieses letzte Ritual; während sie sich diesem Etwas nähert, begreift sie schlagartig, was es bedeutet: daß sie mit ihrem Körper ein Bindeglied schafft zwischen dem, was sie heute sind und was sie einmal sein werden, daß dieser Akt nicht nur ihre Körper miteinander verbindet, sondern auch eine eigenartige, aber mächtige Verbindung zwischen Kindheit und Erwachsensein herstellt, zwischen Gegenwart und Zukunft; es ist fast so etwas wie eine Reise durch die Zeit, ein im Dunkeln abgelegtes Gelübde, das sich nicht leugnen läßt, das sie zusammenschweißt, das einen mächtigen Kreis ergibt: geben und nehmen... fliegen.
»O ja, Ben, o ja«, flüstert sie im Dunkeln und fühlt den Schweiß auf ihrer Stirn, fühlt ihre enge Verbundenheit -fühlt, daß es richtig ist, was sie tun, daß es gut ist, daß es sie der Ewigkeit nahe bringt.
Und dann spürt sie, wie jenes Etwas sich in ihr vollzieht -jenes Etwas, von dem die Mädchen, die auf der Toilette darüber flüstern und kichern, keine Ahnung haben, zumindest soviel sie weiß; sie reden einfach darüber, wie gräßlich dieses >Sex~Zeug<
sein muß (ein Mädchen, dessen Eltern eine Farm haben, hat den anderen einmal einen entstellten Bericht von der Paarung von Schweinen gegeben, mit hochroten Wangen und einer Mischung aus hysterischem Lachen und Schreien), und daß sie es niemals tun würden; man könnte glauben, daß alleMädchen der fünften Klassezu-künßge alte Jungfern seien; und es ist Beverly völlig klar, daß keine ihrer Mitschülerinnen auch nur vermutet, was dieser Akt in Wirklichkeit ist, und sie hat das Bedürfnis, ihr neues Wissen um seine Schönheit herauszuschreien, aber sie hat Angst, daß die anderen erschrecken und glauben könnten, sie wäre ernsthaft verletzt. Sie schiebt ihre Hand in den Mund und beißt darauf Sie versteht die anderen Mädchen gut, weil sie ja selbst eine von ihnen war, und sie versteht Peggy Upslingers hysterisches Lachen - und ihr eigenes - viel besser: Man lacht darüber, weil das, was komisch ist, zugleich auch furchterregend und unbekannt ist, man lacht darüber, so wie ein kleines Kind manchmal gleichzeitig lacht und weint, wenn es einen Spaße machenden Clown auf sich zukommen sieht... es weiß, daß der Clown komisch ist, aber er verkörpert auch etwas Unbekanntes, er verkörpert die erschreckende, geheimnisvolle, ewige Macht des Unbekannten.
Obwohl sie fest in ihre Hand beißt, läßt sich der Schrei nicht unterdrücken, und sie kann die anderen - und Ben - nur beruhigen, indem sie ihre Bejahung in die Dunkelheit hinausschreit.
»Ja! Ja! Ja!« Herrliche Bilder vom Fliegen schwirren ihr durch den Kopf, und dazu hört sie das Kreischen der Stare und Krähen, und diese schrillen Laute werden für sie zur herrlichsten Musik der Welt. Sie fliegt, sie fliegt empor, und nun ist die Macht nicht mehr in ihr oder in Ben, sondern irgendwo zwischen ihnen, und sie schreit auf und fühlt das Zittern seiner Arme, und sie wirft sich ihm entgegen und spürt, wie er sich verkrampft und zuckt, wie sie beide gemeinsam jenen bisher unbekannten Gipfel, jenes letzte Verschmelzen erreichen.
Dann ist es vorüber, und sie umarmen einander, und als er versucht, etwas zu sagen - vielleicht eine dumme Entschuldigung, die ihr weh tun würde, die diesen Akt herabwürdigen, an die Erde fesseln würde - schließt sie ihm den Mund mit einem Kuß und schickt ihn dann weg.
Bill kommt zu ihr.
Er möchte etwas sagen, aber er stottert jetzt so stark, daß er kein Wort hervorbringt.
»Sei still«, sagt sie mit der Sicherheit ihres neu erworbenen Wissens. Zugleich wird sie sich jetzt aber auch ihrer Erschöpfung bewußt, und sie fühlt sich wund. Die Innenseiten ihrer Schenkel sind klebrig, und sie vermutet, daß sie blutet. »Alles wird völlig in Ordnung sein.«
»B-B-B-Bist d-d-du s-s-s-s-sicher?«
»Ja«, sagt sie und schlingt ihre Arme um seinen Nacken, spürt seine verschwitzten Haare unter ihren Fingern. »Ja.«
»l-I-l-Ist e-es...«
»Psssst!«
Es ist anders als mit Ben; es ist eine andere Art von Leidenschaft. Es ist der beste Abschluß, den es überhaupt geben konnte. Er ist sanft, zärtlich, fast ruhig. Sie spürt sein Begehren, aber es wird von seiner Angst um sie gedämpft - vielleicht weil nur Bill und sie selbst ganz begreifen, was für ein überwältigender Akt das ist und dass man nie darüber sprechen darf, nicht mit anderen, und am besten nicht einmal miteinander.
Am Ende wird sie wieder von jenem plötzlichen Hochgefühl überrascht, und sie kann gerade noch denken: Oh! Es passiert wieder! Ich weiß nicht, ob ich das ertragen kann...
Und dann schwemmt Seligkeit jedes Denken hinweg, und sie hört ihn nur verschwommen immer wieder flüstern: »Ich liebe dich, Bev, ich liebe dich«, und er stottert dabei nicht im geringsten.
Sie drückt ihn an sich, und einen Augenblick lang bleiben sie so liegen, Wange an Wange.
Dann zieht er sich schweigend zurück, und kurze Zeit ist sie allein; sie tastet nach ihren Kleidern, zieht sie langsam an und verspürt einen dumpfen pochenden Schmerz, den die anderen als Männer niemals empfinden werden. Sie ist erschöpft und erleichtert, es hinter sich gebracht zu haben, und sie fühlt sich in einer bisher unbekannten Weise glücklich, und obwohl sie froh ist, daß der intimste Teil ihres Leibes jetzt wieder ihr allein gehört, verspürt sie doch eine Leere dort unten, eine Leere, die sie seltsam melancholisch stimmt, ohne daß sie es erklären könnte... sie könnte dieses Gefühl höchstens mit einem Bild umschreiben: kahle Bäume unter einem weißen Winterhimmel, leere Bäume, die auf die Amseln warten, auf jene Vorboten des Frühlings, die jeden März kommen und den Schnee zu Grabe tragen.
Sie tastet nach den Händen ihrer Freunde.
Einen Augenblick lang sagt niemand ein Wort, und danach überrascht es sie nicht im geringsten, Eddie zögernd erklären zu hören: »Ich glaube, bei der vorletzten Abzweigung hätten wir nach links statt nach rechts abbiegen müssen. Wir sind auch sonst ein paarmal falsch gegangen, aber das war der schlimmste Fehler. Wenn wir den Weg zurück finden...«
Sie stellen sich hintereinander auf, Eddie an der Spitze. Beverly legt ihm ihre Hand auf die Schulter und spürt Mikes Hand auf ihrer Schulter. Sie machen sich wieder auf den Weg; diesmal kommen sie schneller voran, und Eddies Unsicherheit von vorhin ist nun völlig verschwunden.
Wir gehen nach Hause, denkt sie und erschaudert vor Erleichterung und Freude. Nach Hause, ja. Und das wird schön sein. Wir haben unsere Aufgabe erfüllt, und jetzt können wir zurückgehen und wieder Kinder und sonst nichts sein. Und auch das wird schön sein.
Sie bewegen sich im Dunkeln vorwärts, und sie stellt fest, daß die Wassergeräusche jetzt nicht mehr so weit entfernt sind.
1. Derry, 9.00 Uhr-10.00 Uhr
Um zehn nach neun wurden in Derry Windgeschwindigkeiten von durchschnittlich 55 Meilen pro Stunde gemessen, die von Zeit zu Zeit bis auf 70 Meilen pro Stunde anstiegen. Das Meßgerät im Gerichtsgebäude zeigte eine Böe von 81 Meilen pro Stunde an, dann ging die Nadel plötzlich auf Null zurück. Der Wind hatte die Meßvorrichtung auf dem Dach weggerissen, und sie flog im trüben Licht dieses Tages davon und wurde - wie George Denbroughs Boot- nie mehr gesehen. Um halb zehn mußte mit einer Gefahr gerechnet werden, von der die Verantwortlichen der Wasserwerke bisher behauptet hatten, sie wäre durch die neuen Kanalisationsanlagen für immer gebannt: daß Derrys Innenstadt überschwemmt werden könnte wie zuletzt im August 1958, als während eines schrecklichen Unwetters viele der alten Abflußrohre total verstopft wurden.
Um Viertel vor zehn tauchten beiderseits des Kanals Autos und Lastwagen auf, denen Männer mit grimmigen Mienen entstiegen. Zum erstenmal seit Oktober 1957 sollten entlang des Betonbetts des Kanals Sandsäcke aufgestapelt werden. In der Nähe der großen Straßenkreuzung im Herzen von Derrys Innenstadt, wo der Kanal unter der Erde verschwand, reichte das Wasser schon fast bis zum oberen Rand des Brückenbogens. Die Main Street, die Canal Street und der untere Teil des Up-Mile Hill waren nur noch zu Fuß passierbar, und Männer, die unterwegs waren, weil sie mithelfen wollten, Sandsäcke aufzustapeln, spürten, wie unter ihren Füßen die Straßen von der wilden Strömung des unterirdischen Kanals erzitterten, so wie eine Autobahnbrücke erzittert, wenn sich darauf schwere Lastwagen überholen. Nur war dies hier eine stetige Vibration, und die Männer waren heilfroh, wenn sie auf der Nordseite der Innenstadt ankamen und das leise Dröhnen, das weniger zu hören als vielmehr zu spüren war, hinter sich gelassen hatten. Dave Gardener schrie Alfred Zitner von >Zitner's Realty< zu, ob er glaube, daß die Straßen einbrechen würden. Zitner erwiderte, daß eher die Hölle gefrieren würde. Während Dave weiter Sandsäcke aufstapelte, malte er sich aus, wie Adolf Hitler und Judas Schlittschuhe austeilten. Das Wasser war jetzt nur noch knapp drei Zoll vom oberen Rand des Betons entfernt. In den Barrens war der Kenduskeag schon über die Ufer getreten, und gegen Mittag ragten die Büsche und verkrüppelten Bäume aus einem weiten, flachen stinkenden See heraus. Die Männer legten nur kurze Pausen ein, wenn sie auf die Anfahrt neuer Sandsäcke warten mußten... aber um zehn vor zehn ließ ein gräßliches splitterndes, berstendes Geräusch alle förmlich erstarren. Dave Gardener erzählte später seiner Frau, er hätte gedacht, das Ende der Welt sei angebrochen. Es war nicht die Innenstadt, die in der Erde versank - noch nicht; es war der Wasserturm.
Nur Andrew Keene, Norton Keenes Enkel, war direkter Augenzeuge, und er hatte an diesem Morgen soviel Colombian Red geraucht, daß er zuerst glaubte, er hätte eine Halluzination. Er lief schon seit acht Uhr durch Derrys Straßen und war naß bis auf die Haut (trocken war einzig und allein das Päckchen Marihuana mit zwei Unzen Inhalt, das er in der Achselhöhle bei sich trug), was ihm aber überhaupt nicht zu Bewußtsein kam. Er riß ungläubig die Augen auf. Er befand sich gerade in der Nähe des Memorial Park am Standpipe Hill. Und wenn ihn nicht alles täuschte, wies der Wasserturm jetzt eine deutliche Neigung auf, wie jener blödsinnige Schiefe Turm von Pisa, der auf allen Makkaronipackungen abgebildet war. »Wow!« rief Andrew Keene, und ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als das Splittern begann. Der Turm neigte sich immer stärker, während Andrew wie angewurzelt dastand; seine Jeans klebten ihm an den mageren Schenkeln, und aus dem tropfnassen Stirnband lief ihm Wasser in die Augen. Weiße Schindeln fielen aus der dem Stadtinnern zugewandten Seite des dicken runden Wasserturms... nein, >herausfallen< war eigentlich nicht das richtige Wort; Andrew hatte eher den Eindruck, als würden sie herausgestoßen. Und etwa 20 Fuß über dem Steinfundament des Turms zeigte sich ein breiter Riß. Plötzlich schoß Wasser aus diesem Riß hervor, und nun wurden die Schindeln regelrecht ausgespien. Ein berstendes Geräusch ertönte vom Wasserturm, und Andrew sah, wie er sich bewegte, ähnlich dem Zeiger einer großen Uhr, der nach unten wandert, von zwölf auf ein und dann auf zwei Uhr. Das Rauschgifpäckchen rutschte Andrew aus der Achselhöhle und landete in seinem Hemd, über dem Gürtel. Er bemerkte das nicht einmal. Er starrte wie gebannt auf den Wasserturm, aus dem nun lautes Schwirren zu hören war, so als würden die Saiten der größten Gitarre der Welt nacheinander zerrissen. Das waren die dicken Kabel im Innern des riesigen Zylinders, die dazu gedient hatten, daß der Bau dem enormen Wasserdruck standhalten konnte. Der Turm neigte sich jetzt immer schneller, Bretter und Balken lösten sich, und Splitter davon sausten wie Speere durch die Luft. »verdammt, das gan"ze scheissding kracht ja zusammen!« schrie Andrew Keene unwillkürlich, aber seine Worte gingen völlig unter, als der Wasserturm mit ohrenbetäubendem Krach auf dem Boden aufprallte und eindreiviertel Millionen Gallonen Wasser - 14 Millionen Pfund Wasser, 7000 Tonnen Wasser - sich in einer riesigen Flutwelle aus der geborstenen Seite des Gebäudes ergossen. Wenn Andrew irgendwo am Hügel unterhalb des Turmes gestanden hätte, wäre es natürlich sofort um ihn geschehen gewesen. Aber Gott beschützt offensichtlich außer Betrunkenen und kleinen Kindern auch Rauschgiftsüchtige; Andrew stand an einer Stelle, von der aus er alles bestens sehen konnte, ohne daß ihm auch nur ein Haar gekrümmt wurde. »verdammt gute Spezialeffekte!« schrie Andrew, als das Wasser den Memorial Park wie eine enorme Dampfwalze überrollte und die Sonnenuhr wegschwemmte, neben der ein kleiner Junge namens Stan Uris oft gestanden und mit dem Fernglas seines Vaters Vögel beobachtet hatte. Auch das steinerne Vogelbad wurde von den Wassermassen mitgerissen. Die Ahorne und Birken zwischen Park und Kansas Street stürzten um wie von der Kugel erfaßte Kegel. Strommasten wurden geknickt wie Streichhölzer. Das Wasser rollte quer über die Straße, riß auf der anderen Seite ein knappes Dutzend Häuser aus ihren Fundamenten und schwemmte sie wie Papierboote in die Barrens, manche davon sogar vollständig. Andrew Keene stellte mit einiger Befriedigung fest, daß sich unter den weggeschwemmten Häusern auch das der Massensiks befand. Karl Massensik war in der sechsten Klasse sein Lehrer gewesen - ein richtiger Dreckskerl. Aus den Barrens war eine Explosion zu hören, und eine hohe gelbe Flamme schoß empor, als eine Gaslaterne Öl in Brand setzte, das aus einem geborstenen Tank auslief. Andrew starrte auf jene Seite der Kansas Street, wo bis vor 40 Sekunden noch eine ordentliche Häuserreihe gestanden hatte, und wo jetzt zehn Kellerlöcher gähnten wie Swimmingpools. Andrew wollte seiner Meinung Ausdruck verleihen, daß dies einfach phänomenal sei, aber er war völlig sprachlos. Dann hörte er lautes Knirschen, so als ginge ein Riese eine Treppe hinab, der jede Menge Ritz-Crackers in den Schuhen hatte. Es war der Wasserturm, der den Hügel hinunterrollte, ein riesiger weißer Zylinder, aus dem sich die letzten Wasservorräte ergossen.
Die dicken Stützkabel wirbelten durch die Luft und rissen sodann den Boden auf wie stählerne Ochsenpeitschen, rissen tiefe Striemen in die weiche nasse Erde, die sich sofort in Sturzbäche von Regenwasser verwandelten. Am Fuße des Hügels flog der mehr als 125 Fuß lange Wasserturm hoch in die Luft und schien dort einen Augenblick zu schweben - ein surrealistisches Bild geradewegs aus dem Irrenhaus: Regen trommelte auf seine geborstenen Mauern, die Fenster waren zerbrochen, die Rahmen geknickt, während das Warnlicht für tiefliegende Flugzeuge an der Spitze des Turms immer noch blinkte. Gleich darauf erbebte die Erde, als der Turm dröhnend auf der Straße aufschlug. Die Kansas Street diente einem Teil der Wassermassen als eine Art Flußbett, und sie ergossen sich den Up-Mile Hill hinab in Richtung Stadtmitte. Dort drüben standen Häuser, dachte Andrew Keene wieder fassungslos, und plötzlich bekam er weiche Knie. Er setzte sich schwerfällig hin und starrte das geborstene Steinfundament an, auf dem der Wasserturm gestanden hatte, solange Andrew sich erinnern konnte. Er fragte sich, ob ihm jemals ein Mensch glauben würde. Er war sich nicht einmal sicher, ob er es selbst glaubte.
2. sein Tod, 1. Juni 1985
Bill und Richie konnten Es sehen, als Es sich ihnen zuwandte und sie aus seinem unverletzt gebliebenen Auge bösartig anstarrte, während seine Kinnladen sich abwechselnd öffneten und schlössen.
Bill registrierte, daß von ihm ein Licht ausging, so als sei Es eine Art gräßlicher Leuchtkäfer. Aber dieses Licht war ziemlich schwach und flackernd. Es war schwer verletzt. seine Gedanken dröhnten in Bills Kopf.
(laßt mich in Ruhe, laßt mich in Ruhe, und ihr könnt alles haben, was ihr euch je gewünscht habt - Geld, Ruhm, Glück, Macht - ich kann euch das alles geben)
Bill bewegte sich mit leeren Händen auf Es zu, die Augen fest auf sein einziges rotes Auge gerichtet. Er fühlte seine Kräfte gewaltig ansteigen; seine Arme und seine geballten Fäuste schienen plötzlich tödliche Waffen aus Stahl zu sein. Richie war an seiner Seite.
(ich kann dir deine Frau wiedergeben - ich kann es, nur ich - sie wird sich an nichts erinnern, so wie ihr sieben euch an nichts erinnert habt)
Sie waren ihm jetzt schon sehr nahe. Bill konnte riechen, wie Es stank, und erkannte mit plötzlichem übelkeitserregendem Entsetzen, daß das der Geruch der Barrens war, jener Geruch, den sie stets den Abwasserkanälen, dem verschmutzten Kenduskeag und der qualmenden Müllhalde zugeschrieben hatten... aber hatten sie jemals wirklich geglaubt, daß das alles war? Es war sein Gestank, und er mochte in den Barrens am intensivsten gewesen sein, aber er hatte auch wie eine Dunstglocke über ganz Derry gehangen, ohne daß es den Menschen aufgefallen war. Ihnen war es gegangen wie den Zoowärtern im Affenhaus, die sich nach einer Weile so an den Gestank gewöhnen, daß sie sich wundern, warum Besucher die Nase rümpfen. Ihr Geruchssinn war einfach völlig abgestumpft.
»Zusammen!« flüsterte Bill Richie zu, und Richie nickte, ohne seinen Blick von der spinne zu wenden, die nun vor ihnen zurückwich, sich endlich totaler Bedrängnis ausgesetzt sah.
(ich kann euch kein ewiges Leben versprechen, aber ich kann euch berühren, und ihr werdet lange leben, sehr lange - 200 Jahre, 300 Jahre, vielleicht auch 500 - ich kann euch zu Göttern der Erde machen - wenn ihr mich gehen laßt, wenn ihr mich gehen laßt, wenn ihr mich...)
»Bill?« fragte Richie heiser.
Mit einem immer mächtiger anschwellenden Schrei sprang Bill die spinne an, Richie dicht neben ihm. Gleichzeitig schlugen sie mit ihren rechten Fäusten zu, aber Bill begriff, daß sie letztlich nicht mit ihren Fäusten kämpften, sondern mit ihrer vereinten Kraft, verstärkt durch die Kraft jenes letzten anderen; es war die Kraft der Erinnerung und ihrer Wünsche; die Kraft der Liebe und der unvergessenen Kindheit, die sie vorantrieb; es war letzten Endes ihre Geisteskraft.
Der Schrei der spinne dröhnte in Bills Kopf, schien ihm das Gehirn zu sprengen. Er spürte, wie seine Faust und dann sein ganzer Arm bis zur Schulter in eine zuckende Nässe eindrang. Er riß ihn wieder heraus, und sein schwarzes Blut tropfte von seinem Arm und schoß aus dem tiefen Loch hervor, das er in seinen Leib geschlagen hatte.
Er sah Richie in der klassischen Boxer-Stellung fast unter ihm stehen und die Fäuste schwingen, überströmt von seinem dunklen Blut.
Die spinne schlug mit ihren abscheulichen haarigen Beinen nach ihnen -eines davon traf Bill an der Seite, riß ihm das Hemd auf, riß ihm die Haut auf. ihr Stachel peitschte hilflos den Boden. ihre Schreie hallten in Bills Kopf wie Sturmglocken. sie machte einen plötzlichen Ausfall und versuchte, ihn zu beißen, aber statt zurückzuweichen, warf Bill sich jetzt mit seinem ganzen Körper vorwärts wie ein Torpedo. ihr stinkendes Fleisch gab im ersten Moment elastisch nach, so als würde es gleich darauf zurückschnellen und ihn in die Luft schleudern. Mit einem unartikulierten wilden Schrei stemmte er sich mit den Beinen ab und grub seine Hände in ihren Leib. Und plötzlich gelang es ihm, diesen Leib mit seinem Körper zu durchstoßen, und er wurde mit einer heißen, stinkenden Flüssigkeit bespritzt. Sie rann ihm über das Gesicht, in die Ohren. Er schniefte, und diese lebendige Flüssigkeit kroch ihm wie dünne Würmer in die Nase.
Er steckte jetzt bis zu den Schultern in ihrem krampfhaft zuckenden, schwarzen, giftigen, bösen Leib. Und trotz seiner mit der gräßlichen Flüs-
sigkeit verstopften Ohren hörte er nun ein Geräusch, das Ähnlichkeit mit dem gleichmäßigen bum-bum-bum-bum einer großen Baßtrommel an der Spitze einer Zirkusparade hatte.
ihr Herzschlag - sein Herzschlag.
Er hörte, wie Richie einen lauten Schmerzensschrei ausstieß, der in ein keuchendes Stöhnen überging und dann abbrach. Bill ließ seine geballten Fäuste vorschnellen, bohrte sie in seine Eingeweide hinein.
Bum-bum-bum-bum-bum-bum...
Er wühlte mit schleimigen Finger in seinen Eingeweiden herum, zerriß Organe, suchte nach der Ursprungsquelle dieses trommelnden Geräusches und hatte das Gefühl, bald an Luftmangel ersticken zu müssen.
Bum-bum-bum-bum-bum-bum...
Und plötzlich hatte er es zwischen den Händen, ein großes lebendiges Ding, das gegen seine Handflächen pulsierte.
(Nein!Nein!Nein!Nein!Nein!Nein!Nein!)
»ja!« schrie Bill, obwohl er an seinem Giftgestank zu ersticken, in seinen Körperflüssigkeiten zu ertrinken drohte. »Ja! Probier mal, wie das ist! probiermal! WIE GEFÄLLT DIRDAS?«
Er verschränkte seine Finger über seinem Herzen, die Handflächen zu einem auf den Kopf gestellten >V< versteift - und dann drückte er mit aller Kraft zu.
Es stieß noch einen letzten schrecklichen Schrei aus, während sein Herz zwischen Bills Händen zerquetscht wurde, zwischen seinen Fingern auslief.
Bum-bum-bum-bu...
sein letzter Schrei brach ab. Bill spürte, wie sein Körper sich um ihn krampfte wie eine Faust. Gleich darauf erschlaffte alles. sein Spinnenleib neigte sich langsam zu Boden. Bill zog sich rasch daraus zurück. Er drohte das Bewußtsein zu verlieren.
Die spinne brach zusammen und fiel auf die Seite, ein Riesenberg dampfenden Fleisches. ihre Beine zuckten noch krampfhaft, streiften die Tunnelwände, kratzten und schabten auf der Erde herum.
Bill taumelte rückwärts, schnappte keuchend nach Luft, spuckte aus, um den grauenhaften Geschmack aus dem Mund zu bekommen. Er stolperte über seine eigenen Füße und fiel auf die Knie.
Und er hörte ganz deutlich die stimme des anderen; die Schildkröte mochte tot sein, aber wer immer sie erschaffen hatte, lebte.
»MEIN SOHN, DAS HAST DUWIRKLICH GUT GEMACHT!«
Die stimme verklang, und mit ihr schwand auch Bills Kraft. Er fühlte sich schwach und erschöpft, war vor Abscheu und Ekel dem Wahnsinn nahe. Er warf einen Blick über seine Schulter hinweg und sah den schwarzen Alptraum von spinne daliegen und nahm ihre letzten Todeszuckungen wahr.
»Richie!« rief er mit heiserer, brechender Stimme. »Richie, wo bist du, Mann?«
Keine Antwort.
Das Licht war mit seinem Tod erloschen. Bill zog das letzte Streichholzheftchen aus seiner Brusttasche, aber die von seinem Blut durchtränkten Streichhölzer brannten nicht.
»Richie!« schrie er wieder und brach in Tränen aus. Er kroch auf dem Boden vorwärts und tastete mit den Händen im Dunkeln herum. Schließlich stieß er auf eine schlaffe Gestalt und fuhr mit der Hand daran entlang, bis er Richies Gesicht unter seinen Fingern spürte.
»Richie! Richie!«
Keine Antwort. Bill schob einen Arm unter Richies Rücken, den anderen unter seine Knie. Mit Richie in den Armen richtete er sich schwankend auf und stolperte jenen Weg zurück, auf dem sie hergekommen waren.
3. Derry, 10.00 Uhr-10.15 Uhr
Um zehn Uhr schwoll die stetige Vibration in den Straßen der Innenstadt zu einem dröhnenden Rumpeln an. In den >Derry News< würde später zu lesen sein, daß die Träger des unterirdischen Kanalabschnitts durch die sintflutartigen Wassermassen einfach zusammengebrochen wären; aber es gab viele Menschen, die nicht dieser Ansicht waren. »Ich selbst war da, ich weiß Bescheid«, sagte Dave Gardener später zu seiner Frau. »Es stimmt nicht, daß die Träger einfach zusammengebrochen sind. Es war ein Erdbeben. Es war ein gottverdammtes Erdbeben.«
Aber wie auch immer - das Resultat war dasselbe. Als das Dröhnen und Rumpeln immer lauter anschwoll, zerbrachen Fensterscheiben und stürzten Decken ein, und die unmenschlichen Laute brechender Balken und geborstener Mauern bildeten dazu einen furchterregenden Chor. Risse breiteten sich blitzartig von unten nach oben über die ganze Ziegelfassade von Dakins Sport- und Jagdartikelgeschäft aus. Die Pfeiler, auf denen das Vordach des >Aladdin< ruhte, brachen zusammen, und das ganze Vordach stürzte ein. Auf die Richard's Alley ging plötzlich eine Lawine gelber Ziegelsteine nieder, als das 1952 erbaute Norbert Dowd Professional Building einstürzte; eine riesige gelbe Staubwolke stieg empor und wurde vom Wind zu einem dünnen Schleier verteilt.
Und dann, um 10.02 Uhr, brach die ganze Stadtmitte ein. Der größte Teil der Wassermassen aus dem Wasserturm hatte sich zwar von der Kansas Street aus in die Barrens ergossen, aber unzählige Tonnen waren auch den Up-Mile Hill hinab in die Innenstadt gestürzt. Vielleicht war das der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte... vielleicht hatte auch wirklich ein Erdbeben stattgefunden.
Risse zeigten sich auf dem Pflaster der Main Street. Zuerst waren sie noch schmal... und dann wurden sie immer breiter, gähnten wie hungrige Mäu-ler, und das Rauschen des unterirdischen Kanals drang nun beängstigend laut nach oben. Alles begann zu beben. Das Neonschild Sonderangebot: Mokassins von Shorty Squires Souvenirladen fiel auf die Straße und ertrank in drei Fuß tiefem Wasser. Und gleich darauf begann sich der Souvenirladen, der unmittelbar neben der Buchhandlung stand, zu senken.
Buddy Angstrom bemerkte dieses Phänomen als erster. Er stieß Alfred Zitner mit dem Ellbogen an, dem nach dem ersten Blick buchstäblich der Unterkiefer herunterklappte, und der dann seinerseits Dave Gardener einen Rippenstoß versetzte. Innerhalb von Sekunden ruhte die ganze Arbeit.
Alle Männer, die auf beiden Seiten des Kanals Sandsäcke aufgeschichtet hatten, standen wie angewurzelt da und starrten in fassungslosem Entsetzen zur Stadtmitte hinüber.
Es hatte ganz den Anschein, als hätte der Souvenirladen auf einem riesigen Aufzug gestanden, der sich nun nach unten bewegte. Das Gebäude sank mit einer Art schwerfälliger Würde in scheinbar festen Boden ein. Als es schließlich zum Stillstand kam, hätte man vom überfluteten Gehweg aus auf allen vieren direkt durch die Fenster des zweiten Stockwerks einsteigen können. Um das ganze Gebäude herum schössen Wasserfontänen empor, und gleich darauf tauchte der Ladeninhaber Shorty Squire auf dem Dach auf, schwenkte verzweifelt die Arme und schrie um Hilfe. Doch im nächsten Augenblick begann auch das Geschäftshaus daneben, in dessen Erdgeschoß sich die Buchhandlung befand, zu versinken, aber unglückseligerweise nicht so würdevoll wie der Souvenirladen; das hohe Gebäude neigte sich, wie zuvor der Wasserturm. Ziegelsteine regneten herab, und mehrere davon trafen Shorty auf dem Dach seines Hauses. Er griff sich an den Kopf, verlor das Gleichgewicht... und dann stürzten die drei obersten Stockwerke des Geschäftshauses ein und rissen Shorty mit sich in die Tiefe.
»Himmel, Arsch und Zwirn!« rief einer der Männer am Kanal. Danach gingen alle Rufe und Schreie im Donnern und Krachen der Zerstörung unter. Einige Männer wurden von der Wucht des Bebens zu Boden geschleudert, andere stolperten entsetzt vom Kanal weg.
Dave Gardener sah, wie die Gebäude auf beiden Seiten der Main Street sich bedenklich gegeneinander neigten, so als wären es Frauenköpfe, die zum Tuscheln zusammengesteckt würden. Die Straße selbst brach auf und sank ein. Wasserfontänen schössen überall empor. Und dann stürzten die Gebäude beiderseits der Main Street wie Kartenhäuser ein und fielen auf die Straße - nur daß es auch keine Straße mehr gab, lediglich einzelne im Wasser treibende Asphaltbrocken. Die Main Street war im unterirdischen Kanal versunken.
Dave Gardener beobachtete, wie die Verkehrsinsel der großen Straßenkreuzung plötzlich verschwand, und als auch an dieser Stelle eine enorme Wasserfontäne hervorschoß, begriff er, was demnächst passieren würde.
»Nichts wie weg!« brüllte er. »Gleich gibt's hier 'ne Mordsüberschwemmung!«
AI Zitner schien nichts zu hören. Sein Gesicht hatte den Ausdruck eines Schlafwandlers oder eines Hypnotisierten. Er stand wie erstarrt da, naß bis auf die Haut in seinem rot-blau karierten Sportsakko, dem Lacoste-Hemd, den blauen Socken mit den eingestickten gekreuzten Golfschlägern und den braunen Schuhen mit Gummisohlen Marke L. L. Bean's. Er sah etwa eine Million Dollar an persönlichen Investments im Kanal versinken, dazu etwa drei oder vier Millionen an Investments seiner Freunde - der Männer, mit denen er Poker und Golf spielte und zum Skilaufen fuhr. Plötzlich hatte seine Heimatstadt Derry in Maine eine bizarre Ähnlichkeit mit jener verdammten Stadt, in der die Levantiner mit langen schmalen Booten Leute beförderten. Trübes strudelndes Wasser umspülte die Gebäude, die noch nicht eingestürzt waren. Die Canal Street endete wie ein ausgezacktes schwarzes Sprungbrett über dem Rand des aufgewühlten Sees. Es war wirklich kein Wunder, daß Zitner Dave Gardener nicht gehört hatte. Andere Männer waren jedoch zur gleichen Schlußfolgerung gekommen wie Dave - wenn alles mögliche schwere Zeug in tosendem Wasser landete, mußte es zwangsläufig Unheil geben. Einige ließen ihre Sandsäcke fallen und machten, daß sie vom Kanal wegkamen. Zu diesen Männern gehörte auch Dave Gardener, und deshalb überlebte er. Andere, die nicht so schnell reagiert hatten, wurden kurz darauf zusammen mit Autos und Sandsäcken einfach weggeschwemmt, als der Kanal, in dessen Betonbett urplötzlich Tonnen von Asphalt, Ziegeln, Gips, Glas und verschiedenste Waren im Wert von etwa 4 Millionen Dollar gelandet waren, über die Ufer trat.
Dave hatte den Eindruck, als hätte der Kanal es auch auf ihn abgesehen; so schnell er auch rannte - das Wasser kam immer näher. Er entkam schließlich, indem er mühsam eine steile, mit Sträuchern bewachsene Uferböschung hochkletterte. Als er einmal einen Blick zurückwarf, sah er, wie ein Mann - er glaubte, Roger Lernerd, den Filialleiter von Dave's Darlehenskasse, zu erkennen - auf dem Parkplatz des kleinen Einkaufszentrums am Kanal verzweifelt versuchte, den Motor seines Wagens anzulassen. Das Knattern war sogar durch das Brausen des Wassers und das Heulen des Windes hindurch zu hören. Gleich darauf wurden sowohl das rote Auto als auch das Einkaufszentrum weggeschwemmt. Dave kletterte hastig weiter, klammerte sich an Zweigen und Wurzeln fest, an allem Greifbaren, das so aussah, als könnte es sein Gewicht aushallen. Hinter sich hörte er ein Getöse wie von Artilleriefeuer - die Zerstörung von Derrys Innenstadt ging immer noch weiter.
4. Bill
»Beverly!« brüllte Bill. Sein Rücken und seine Arme schmerzten, und er hatte das Gefühl, als wiege Richie mindestens 500 Pfund. Was soll das alles,
versuchte sein Verstand ihm einzuflüstern. Er ist tot, du weißt doch ganz genau, daß er tot ist, warum läßt du ihn also nicht einfach hier liegen?
Aber das wollte, das konnte er nicht tun.
»Beverly!« schrie er wieder. »Ben! Hör ihr mich?«
Er dachte: In diesen Tunnel hat Es mich - und Richie - vorhin geschleudert - nur hat Es uns dann noch viel, viel weiter geschleudert. Was war dort nur? Ich kann mich schon jetzt nicht mehr richtig daran erinnern, ich vergesse es...
»Bill?« es war Bens Stimme. Sie klang zittrig und erschöpft, aber er mußte irgendwo in der Nähe sein. »Wo bist du?«
»Hier drüben, Mann. Ich habe Richie auf den Armen. Er ist... er ist verletzt.«
»Sprich weiter.« Ben kam näher. »Sprich weiter, Bill.«
»Wir haben Es getötet«, sagte Bill und stolperte in die Richtung, aus der Bens Stimme gekommen war. »Wir haben Es geschafft. Und wenn Richie tot ist...«
»Tot?« rief Ben zutiefst erschrocken. Er mußte jetzt schon ganz nahe sein... und gleich darauf streifte seine Hand Bills Nase. »Was soll das heißen - tot?«
»Ich... er...« Sie trugen Richte jetzt zu zweit. »Ich kann ihn nicht sehen«, sagte Bill. »Das ist es. Ich k-k-k-kann ihn nicht s-s-s-sehen!«
»Richie!« brüllte Ben und schüttelte ihn kräftig. »Richie, nun komm schon! Komm zu dir, Richie, verdammt noch mal!« Bens Stimme schwankte. richie, wirst du wohl zu dir kommen, verflucht noch mal!«
Und mit benommener, verwirrter Stimme stammelte Richie: »Schon gut, Haystack... Schon gut... Du brauchst nicht so zu brüllen... Ich kann dich hören... glaube ich wenigstens...«
»Richie!« schrie Bill. »Richie, wie fühlst du dich?«
»Dieses Miststück hat mich durch die Luft geschleudert«, sagte Richie immer noch benommen. »Ich bin gegen etwas Hartes geprallt. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann. Wo ist Bevvie?«
»Weiter vorne«, sagte Ben und erzählte ihnen rasch von den Eiern. »Ich habe über hundert zertreten. Ich glaube, ich habe keins übersehen.«
»Ich bete zu Gott, daß dem wirklich so ist«, murmelte Richie. »Ihr könnte mich runterlassen. Ich kann laufen... ist das Wasser jetzt lauter?«
»Ja«, sagte Bill kurz. Die drei hielten sich im Dunkeln bei den Händen. »Was macht dein Kopf?«
»Tut höllisch weh«, sagte Richie, »Was ist da hinten zuletzt passiert, Bill?«
Bill erzählte es, wenn er auch einige Einzelheiten ausließ, weil er sie einfach nicht über die Lippen bringen konnte.
»Und Es ist wirklich tot?« erkundigte sich Richie fassungslos. »Bist du sicher, Bill?«
»Ja«, sagte Bill. »D-D-Diesmal b-bin ich mir ganz s-s-sicher.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Richie. »Halt mich mal fest, Bill, ich muß mich übergeben.«
Als Richie das hinter sich hatte, gingen sie weiter. Von Zeit zu Zeit stieß Bills Fuß gegen etwas Sprödes, das dann wegrollte - er vermutete, daß es Teile der Spinneneier waren, die Ben zertrampelt hatte, und ihn schauderte. Es war zwar angenehm zu wissen, daß sie sich in der richtigen Richtung bewegten, aber er war heilfroh, daß es dunkel war, daß er die... die Überreste nicht zu sehen brauchte.
»Beverly!« rief Ben. »Beverly!«
»Hier...« Ihr Rufen ging im Brausen des Wassers fast unter. Sie bewegten sich im Dunkeln auf sie zu, folgten dem Klang ihrer Stimme.
Als sie endlich bei ihr angelangt waren, fragte Bill, ob sie noch Streichhölzer habe. Sie tastete herum und drückte ihm ein halbvolles Heftchen in die Hand. Er zündete ein Streichholz an, und ihre Gesichter tauchten gespenstisch aus der Finsternis auf - Ben hatte einen Arm um Richie gelegt, der etwas vornübergebeugt dastand und aus der rechten Schläfe blutete; Beverly hatte Eddies Kopf auf dem Schoß... und dann drehte Bill sich um und sah Audra auf dem Steinboden liegen, mit gespreizten Beinen und auf die Seite herabhängendem Kopf. Die Spinnfäden, mit denen sie umgarnt gewesen war, waren zum allergrößten Teil weggeschmolzen.
Das Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er ließ es fallen. Im
Dunkeln schätzte er die Entfernung falsch ein und stolperte über sie. Um ein Haar wäre er gestürzt.
»Audra! Audra! Kannst du m-m-mich h-hören?«
Er schob einen Arm unter ihren Rücken und setzte sie auf. Dann legte er seine Finger an ihre Halsschlagader. Ihr Puls ging langsam, aber gleichmäßig.
Er zündete wieder ein Streichholz an, und als es aufflammte, sah er, daß ihre Pupillen sich zusammenzogen. Aber das war eine mechanische Ner-venfunktion; ihr Blick veränderte sich nicht, auch dann nicht, als er das Streichholz dicht an ihr Gesicht hielt. Sie lebte, aber sie war nicht ansprechbar. Sie war fast - angsterfüllte Verzweiflung griff ihm eiskalt ans Herz, als das Wort ihm einfiel - sie war fast katatonisch.
Das zweite Streichholz verbrannte ihm die Finger, und er blies es aus.
»Bill, das Brausen des Wassers gefällt mir gar nicht«, sagte Ben. »Ich glaube, wir sollten machen, daß wir hier wegkommen.«
»Wie sollen wir das ohne Eddie schaffen?« murmelte Richie.
»Wir werden es schaffen«, sagte Beverly. »Bill, Ben hat recht. Wir müssen hier raus.«
»Ich nehme sie mit.«
»Selbstverständlich. Doch wir sollten uns jetzt schleunigst auf den Weg machen.«
»Aber in welche Richtung?«
»Du wirst es wissen«, sagte Beverly ruhig. »Du hast Es getötet, und du wirst es wissen.«
Bill hob Audra hoch, wie er vorhin Richie hochgehoben hatte, und ging mit ihr auf den Armen zu den anderen zurück. Es war beunruhigend und unheimlich, ihr warmes Fleisch zu spüren und sie gleichzeitig wie leblos in seinen Armen hängen zu sehen.
»Wohin, Bill?« fragte Ben.
»Ich w-w-w-weiß n...«
(Du hast Es getötet, und du wirst es wissen.)
»Also los, kommt«, sagte Bill. »Versuchen wir's mal, ob wir wieder herausfinden. Beverly, nimm die Streichhölzer.« Nach unbeholfenem Herumtasten fanden sich ihre Hände, und er gab ihr das Heftchen. Sie zündete ein Streichholz an, und im Schein seiner Flamme gingen sie auf die kleine Märchentür zu.
Bill schob Audra so behutsam wie möglich durch die Tür und kroch dann hinterher. Er war erschöpft und fühlte sich wie zerschlagen. In seinen Schläfen pochte rasendes Kopfweh. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt eine ungestörte Nacht verbracht hatte. Du bringst sie nie hier heraus, dachte er, während er sie wieder auf die Arme nahm und sich schwerfällig aufrichtete. Du hast einfach nicht mehr die Kraft dazu. Tatsache, alter Junge... du schaffst es nie im Leben.
Beverly kroch als nächste durch die Tür, dann Ben und zuletzt Richie, der sie hinter sich mit dem Fuß energisch zustieß. Mit einem lauten Klicken schnappte sie ins Schloß ein.
»Warum hast du das getan?« fragte Beverly.
»Ich weiß nicht«, antwortete er, aber er wußte es genau. Er wollte die ganze nach Verwesung stinkende Finsternis seiner Behausung einschließen - sie für immer und ewig da drinnen einschließen... so hoffte er zumindest. Er warf einen Blick zurück, kurz bevor Beverlys Streichholz erlosch.
»Bill... das Zeichen an der Tür...«
»W-Was ist damit?« keuchte Bill.
»Es ist verschwunden.«
5. Derry, 10.15 Uhr
Der Glaskorridor zwischen Erwachsenen- und Kinderbücherei explodierte plötzlich. Glasscherben flogen durch die windgepeitschten Bäume auf dem Büchereigelände. Jemand hätte von diesen gefährlichen Geschossen schwer verletzt oder sogar getötet werden können, aber zum Glück war kein Mensch in der Nähe, auch nicht im Gebäude selbst. Die Bücherei war an diesem Tag überhaupt nicht geöffnet worden.
Der Glastunnel, der Ben Hanscom als Junge so fasziniert hatte, wurde nie wieder aufgebaut; es hatte in Derry soviel kostspielige Zerstörungen gegeben, daß alle maßgeblichen Leute der Meinung waren, es sei vernünftiger, es einfach bei zwei getrennten Gebäuden zu belassen, und nach einiger Zeit konnte niemand vom Stadtrat sich mehr erinnern, wozu dieser Glastunnel überhaupt gut gewesen sein sollte. Nur Ben hätte ihnen vielleicht sagen können, wie es war, in der Kälte eines Januarabends draußen zu stehen, mit laufender Nase und eiskalten Fingerspitzen, und zu beobachten, wie dort Leute hin- und herliefen, wie sie ohne Mäntel durch den Schnee zu gehen schienen, in helles warmes Licht gehüllt. Er hätte es ihnen sagen können... aber vermutlich gehörte das nicht zu den Dingen, die man bei einer Stadtratssitzung vorträgt - wie man als Kind draußen in der dunklen Kälte stand und das Licht zu lieben lernte.
Aber wie dem auch sein mochte, Tatsache war ganz einfach folgendes: Der Glaskorridor flog ohne ersichtlichen Grund in die Luft, niemand wurde dabei verletzt (was ein Segen war, denn die Gesamtzahl an Opfern, die die Unwetterkatastrophe jenes Morgens forderte - an menschlichen Opfern -, belief sich ohnehin auf 67 Tote und mehr als 320 - zum Teil schwer - Verletzte), und er wurde nicht wieder aufgebaut. Wenn man nach dem i. Juni 1985 von der Kinderabteilung in die Erwachsenenbücherei gelangen wollte, mußte man außen herum gehen. Und wenn es kalt war oder regnete oder schneite, mußte man seinen Mantel anziehen.
6.
»Wartet«, keuchte Bill. »Ich muß einen Augenblick... ausruhen.«
»Laß dir doch helfen«, bot Richie ihm wieder einmal an. Sie hatten Eddie in seiner Behausung zurückgelassen, und das war etwas, worüber keiner von ihnen reden wollte. Aber Eddie war tot, und Audra lebte noch... zumindest im klinischen Sinne.
»Ich schaff s schon«, brachte Bill zwischen keuchenden Atemzügen mühsam hervor.
»Blödsinn, du kriegst höchstens einen Herzinfarkt. Laß dir doch helfen, Big Bill!«
»Wie geht's d-d-deinem Kopf?«
»Tut weh«, antwortete Richie. »Aber lenk bitte nicht vom Thema ab.«
Nur sehr ungern ließ Bill es zu, daß Richie Audra übernahm. Es hätte schlimmer sein können; Audra war groß und wog normalerweise 140 Pfund. Doch sie spielte in >Attic Room< eine junge Frau, die von einem Psychopathen, der sich für einen politischen Terroristen hielt, als Geisel gefangengehalten wurde. Und weil Freddie Firestone alle im Dachzimmer spielenden Szenen gleich zu Beginn drehen wollte, hatte Audra eine strenge Geflügel-Hüttenkäse-Thunfisch-Diät gemacht und auf diese Weise 20 Pfund abgenommen. Aber nachdem er im Dunkeln mit ihr auf den Armen eine Viertelmeile (oder eine halbe oder noch mehr, er hatte keine Ahnung) durch die Tunnels gestolpert war, kamen diese 120 Pfund Bill wie mindestens 200 vor.
»D-D-Danke.«
»Nichts zu danken«, erwiderte Richie. »Haystack, du bist dann als nächster an der Reihe.«
»Piep-piep, Richie«, rief Ben, und Bill mußte wider Willen grinsen. Es war ein müdes Grinsen, und es hielt nicht lange an, aber es war immerhin besser als nichts.
»Wohin jetzt, Bill?« fragte Beverly. »Das Wasser hört sich immer lauter an. Ich möchte nicht unbedingt hier unten ertrinken.«
»Geradeaus, dann links«, sagte Bill. »Auf geht's.«
Sie liefen eine halbe Stunde durch die Tunnels. Bill rief ihnen jeweils zu, wann sie nach links oder rechts abbiegen mußten. Das Brausen des Wassers wurde immer lauter, bis es sie schließlich von allen Seiten zu umgeben schien - ein beunruhigender Stereo-Effekt in der Dunkelheit. Bill tastete sich an feuchten Ziegelsteinen entlang, bog um eine Ecke - und plötzlich floß ihm Wasser über die Schuhe. Es war seicht, aber die Strömung war sehr schnell.
»Gib mir Audra«, sagte er zu Ben, der laut keuchte. »Jetzt wird's naß.« Ben reichte ihm behutsam den schlaffen Körper, und Bill schwang ihn sich über die Schulter wie ein Feuerwehrmann. Wenn sie doch nur protestieren... sich bewegen... irgendwas tun würde! »Wie steht's mit unseren Streichhölzern, Bev?«
»Es sind nicht mehr viele«, antwortete sie. »Vielleicht noch ein halbes Dutzend. Bill, weiß du wirklich, wohin du gehst?«
»Ich g-g-glaub' schon«, sagte er. »Kommt.«
Sie folgten ihm um die Ecke und bewegten sich gegen die Wasserströmung vorwärts. Es strudelte und schäumte um Bills Knöchel, dann ging ihm das Wasser bis zu den Schienbeinen und wenig später bis zu den Schenkeln. Das Donnern und Tosen in den Kanalrohren schwoll immer stärker an. Der Tunnel, in dem sie sich befanden, bebte. Eine Zeitlang glaubte Bill, daß die Strömung zu stark würde, um dagegen ankämpfen zu können, aber schließlich kamen sie an einem Rohr vorbei, aus dem sich
Wasser in ihren Tunnel ergoß, und die Strömung wurde etwas langsamer -das Wasser allerdings immer tiefer. Es...
Ich habe gesehen, wie das Wasser aus jenem Rohr herausfloß! Ich habe es gesehen!
»He!« schrie er. »K-K-Könnt ihr etwas s-s-s-sehen?«
»In der letzten Viertelstunde ist es allmählich immer heller geworden!« schrie Beverly zurück. »Wo sind wir, Bill? Weißt du's?«
Ich glaubte es zu wissen, dachte Bill. »Nein! Kommt.«
Er hatte geglaubt, daß sie sich jenem Teil des Kenduskeags näherten, der unter dem Namen >Kanal< unterirdisch unter der Innenstadt verlief und im Bassey-Park wieder zum Vorschein kam... aber hier unten gab es Licht, Licht, und im Kanal unter der Stadt konnte es doch kein Licht geben.
Es wurde zusehends heller... und das Wasser wurde immer tiefer. Es ging ihm jetzt bis zur Brust, und er hatte große Schwierigkeiten mit Audra. Er konnte Beverly rechts und Ben links von sich sehen, und wenn er etwas den Kopf drehte, konnte er hinter Ben auch Richie sehen. Die Strömung war nun nicht mehr sehr stark. Sie behinderte zwar ihr Vorwärtskommen, war aber nicht gefährlich.
Der Boden interessierte Bill mehr. Sie kamen nicht nur deshalb so langsam vorwärts, weil das Wasser ihnen bis zur Brust reichte, sondern weil auf dem Tunnelboden jetzt allerhand Zeug herumlag - es fühlte sich fast wie Ziegelsteine an. Und ein Stück vor ihnen ragte etwas aus dem Wasser wie der Bug eines sinkenden Schiffes.
Ben plantschte darauf zu, zerteilte mit den Armen das Wasser und fröstelte, weil es ziemlich kalt war. Ein aufgeweichter Pappkarton schwamm ihm ins Gesicht, und er schob ihn beiseite. Er griff nach dem aus dem Wasser ragenden Gegenstand und riß vor Staunen die Augen weit auf. Es schien ein großes rechteckiges Plakat zu sein. Er konnte die Buchstaben AL lesen und darunter: sea. Und plötzlich begriff er.
»Bill! Richie! Bev!« Er lachte fassungslos.
»Was ist los, Ben?« rief Beverly.
Ben zog das Plakat mit beiden Händen aus dem Wasser heraus. Eine Seite streifte schabend an der Tunnel wand entlang. Und dann konnten sie es richtig lesen: aladdi, und darunter stand: sean conn.
»Das ist doch das Plakat vom Vordach des >Aladdin>!« rief Richie. »Wie zum Teufel...«
»Die Straße ist eingestürzt«, flüsterte Bill, und seine Augen wurden immer größer, während er den Tunnel entlangstarrte. Weiter vorne wurde das Licht noch heller.
»Was, Bill?«
»Was zum Teufel ist da nur passiert?«
»Bill? Bi//? Was...«
»All jene Rohre!« sagte Bill grimmig. »Jene alten Abflußrohre! Sie sind voll Wasser! Es muß eine Überschwemmung gegeben haben! Und ich glaube, diesmal...«
Er stolperte vorwärts und hielt Audra knapp über dem Wasserspiegel. Bev, Ben und Richie folgten ihm. Fünf Minuten später blickte Bill hoch und sah über sich blauen Himmel und ausgefranste Wolken. Er schaute durch einen Spalt in der Tunneldecke, einen Spalt, der sich verbreiterte und ein
Stück weiter unten eine Breite von mehr als 70 Fuß erreichte. Und dort ragten auch jede Menge Inseln aus dem Wasser - Ziegelhaufen, das hintere Verdeck einer Plymouth-Limousine, eine Parkuhr, die sich in schiefem Winkel an die Tunnelwand lehnte.
Der Boden war jetzt fast unpassierbar - er war mit soviel verschiedenem Zeug bedeckt, daß man bei jedem Schritt einen Knöchelbruch riskierte. Das Wasser plätscherte ruhig in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Jetzt ist es friedlich, dachte Bill. Aber wenn wir vor zwei Stunden hier gewesen wären oder sogar noch vor einer, dann war's höchstwahrscheinlich um uns geschehen gewesen!
»Was in aller Welt ist das?« fragte Richie. Er stand dicht neben Bills linkem Ellbogen und starrte zu dem Riß in der Tunneldecke empor, und sein Gesicht war vor Staunen über dieses Wunder ganz weich. Nur daß es keine Tunneldecke mehr ist, dachte Bill. Es ist die Main Street. Oder, besser gesagt, dies war einmal die Main Street.
»Vermutlich sind die Träger des Kanals zusammengebrochen«, sagte er. »Und ich nehme an, daß der größte Teil der Stadtmitte jetzt den Kenduskeag entlangtreibt... Kannst du mir mit Audra helfen, Richie? Ich glaub', ich kann nicht...«
»Na klar doch«, sagte Richie. »Klar, Bill. Gar kein Problem.«
Er nahm sie Bill ab, der sie jetzt, im helleren Licht, besser sehen konnte, als ihm lieb war - selbst der Schmutz auf ihrer Stirn, ihren Wangen und ihrem Hals konnte nicht verhüllen, daß sie leichenblaß war. Ihre Augen waren weit aufgerissen... und völlig ausdruckslos. Ihre Haare hingen naß und glatt herab. Sie hätte genausogut eine jener Gummipuppen zum Fik-ken sein können, die im >Pleasure Chest< in New York oder auf der Reeperbahn in Hamburg verkauft wurden. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie langsam, aber gleichmäßig atmete... doch selbst das ließ sich mit irgendeinem Mechanismus bestimmt imitieren.
»W-Wie sollen wir hier h-h-herauskommen?« fragte er Richie.
»Du mußt dir nur von Ben helfen lassen«, sagte Richie. »Dann ziehst du Bev rauf, und zu zweit hievt ihr dann deine Frau raus. Ben hilft mir hoch, und zuletzt ziehen wir ihn raus. Alles ein Kinderspiel. Und danach zeige ich euch wie man ein Volleyball-Turnier für 1000 Studentinnen ausrichtet.«
»Piep-piep, Richie.«
»Piep-piep kannst du mal zu deinem eigenen Arsch sagen, Big Bill.«
Die Erschöpfung drohte Bill jetzt zu überwältigen. Er fing Beverlys ruhigen Blick auf, und einen Augenblick lang kehrte neue Kraft in ihn zurück. Sie nickte ihm zu, und er brachte für sie ein Lächeln zustande.
»Hilfst du mir, B-Ben?«
Ben nickte. Auch er sah unglaublich erschöpft aus. Auf einer Wange hatte er einen tiefen Kratzer. »Ich glaube, das schaffe ich gerade noch.«
Er bückte sich etwas und verschränkte seine Hände zu einem Steigbügel. Bill stellte seinen Fuß darauf und sprang hoch.
»Sch-Sch-Schieb!«
Ben hob den aus seinen Händen bestehenden Steigbügel, und Bill packte den Rand des eingebrochenen Tunneldachs, das keines war. Er zog sich heraus. Als erstes sah er eine weißorangefarbene Absperrung; dann erblickte er hinter der Absperrung eine aufgeregte Menschenmenge. Als drittes sah er den Freese's Department Store - und es dauerte einen Augenblick, bevor er begriff, was passiert war: Die untere Hälfte des Kaufhauses war in die Straße gesunken... und in den Kanal unter der Straße. Die obere Hälfte ragte schief heraus und drohte umzukippen wie ein unordentlich aufeinander gestapelter Bücherstoß.
»Seht doch nur! Dort! Dort ist jemand!«
Eine Frau deutet auf die Stelle, wo Bills Kopf zwischen dem geborstenen Asphalt aufgetaucht war.
»Gelobt sei Gott, da ist noch jemand!«
Sie wollte auf ihn zurennen - eine ältere Frau mit einem nach Bäuerinnenart gebundenen Tuch auf dem Kopf -, wurde aber von einem Polizisten zurückgehalten. »Sie wissen doch, daß es da drüben nicht sicher ist, Mrs. Nelson. Der Rest der Straße kann jederzeit einbrechen.«
Mrs. Nelson, dachte Bill. Ich erinnere mich an sie. Ihre jüngere Schwester hat manchmal bei mir und Georgie den Babysitter gespielt. Er hob die Hand, um ihr zu zeigen, daß es ihm gut ging, und als sie zurückwinkte, brandete eine Woge guter Gefühle über ihn hinweg - und Hoffnung stieg in ihm auf.
Er drehte sich um und legte sich flach auf das schwankende Pflaster, um sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen. Er streckte seine Arme hinab, Bev packte ihn an den Handgelenken, und mit letzter Kraft zog er sie heraus. Die Sonne kam gerade wieder hinter den Schäfchenwolken hervor. Beverly blickte zum Himmel empor, und dann schaute sie Bill in die Augen und lächelte.
»Ich liebe dich, Bill«, sagte sie. »Und ich hoffe von ganzem Herzen, daß sie wieder gesund wird.«
»D-D-Danke, Bevvie«, sagte er, und sein Lächeln trieb ihr plötzlich Tränen in die Augen. Er schloß sie in die Arme, und die Menschen hinter der Absperrung applaudierten. Ein Fotograf der >Derry News< machte einen Schnappschuß, der am 2. Juni in der Zeitung erschien, die in Bangor gedruckt werden mußte, weil die Druckerei in Derry starke Wasserschäden erlitten hatte. Der kurze Bildtext war so zutreffend, daß Bill das Foto ausschnitt und jahrelang in der Brieftasche mit sich trug: überlebende, lautete diese Bildunterschrift. Das war alles, aber dieses eine Wort drückte alles aus.
Es war sechs Minuten vor elf Uhr vormittags in Derry, Maine.
7. Derry/Später am selben Tag
Der Glaskorridor zwischen der Erwachsenenbücherei und der Kinderabteilung explodierte um 10.15 Uhr. Um 10.27 Uhr hörte es zu regnen auf. Der Regen ließ nicht etwa allmählich nach, nein, von einer Minute zur anderen, so als hätte >jemand dort oben< einen Schalter umgelegt. Um 10.30 Uhr begann der Wind, der Geschwindigkeiten von 70 bis 95 Meilen pro Stunde erreicht hatte, sich zu legen. Er flaute so rasch ab, daß die Menschen fast abergläubisch unbehagliche Blicke tauschten.
Um 10.47 Uhr kam zum erstenmal an diesem Tag die Sonne zum Vorschein.
Am Nachmittag lösten sich auch die letzten Wolken auf, und der Tag wurde klar und heiß - um 15.30 Uhr zeigte die Quecksilbersäule des Thermometers vor der Tür des Trödelladens >Secondhand Rose, Secondhand Clothes< 83° Fahrenheit an - die höchste Temperatur dieses Frühlings.
Die Menschen gingen wie Zombies durch die Straßen, ohne viel zu reden. Fast alle Gesichter hatten den gleichen Ausdruck: eine Art einfältiger Verwunderung, die komisch gewirkt hätte, wenn sie nicht zugleich so mitleiderregend gewesen wäre. Bis zum Abend waren zahlreiche Rundfunkreporter vom ABC, CBS, NBC und CNN in Derry eingetroffen, und erst sie brachten den meisten Leuten die Ereignisse nahe, ließen sie ihnen wirklich real vorkommen. Am nächsten Vormittag wurden auch im Fernsehen Berichte und Interviews gebracht.
Sich selbst und die Nachbarn auf dem Bildschirm zu sehen - erst dadurch wurden die schrecklichen, unerklärlichen Geschehnisse so richtig zur Realität, ließen sich irgendwie einordnen und erklären. Der Sturm war ein seltsames SPIEL der natur gewesen. In den Tagen nach dem killersturm stieg die zahl der Todesopfer an. Es war zweifellos der schlimmste frühjahrssturm in der GESCHCHTE maines gewesen. All diese Schlagzeilen, so schrecklich sie auch sein mochten, waren sehr nützlich und hilfreich - sie nahmen den sonderbaren Ereignissen die unheimliche Spitze des Unerklärlichen... wobei >sonderbar< natürlich ein sehr milder Ausdruck war. Irrsinnig oder wahnsinnig - das hätte schon besser gepaßt. Sich selbst auf dem Bildschirm zu sehen, ließ ihnen das Geschehen konkreter, weniger irrsinnig vorkommen.
Aber in den Stunden, bevor die Reporter von Rundfunk und Fernsehen anrückten, liefen die Bewohner von Derry mit ungläubigen, fassungslosen Gesichtern durch ihre schlammigen, mit Schutt übersäten Straßen. Ohne viel zu reden, liefen sie herum, betrachteten die Verwüstung ihrer Stadt und versuchten, eine Erklärung für die Ereignisse der vergangenen sieben oder acht Stunden zu finden. Männer standen auf der Kansas Street, rauchten und starrten auf die Häuser, die in die Barrens hinabgerissen worden waren. Andere Männer und Frauen standen hinter den weißorangefarbenen Absperrungen und betrachteten das Zentrum der Innenstadt, das in den Kanal gestürzt war.
Die Schlagzeile der Sonntagszeitung dieser Woche lautete: wir werden DIE INNENSTADT WIEDER AUFBAUEN, ERKLÄRT DERRYS BÜRGERMEISTER, und vielleicht würden sie das auch tatsächlich tun. Aber in den folgenden Wochen, während der Stadtrat hitzige Debatten darüber führte, wie dieser Wiederaufbau vonstatten gehen sollte, gingen die Zerstörungen auf unspektakuläre Weise stetig weiter. Der riesige Krater an der Stelle, wo bis vor kurzem die Innenstadt gewesen war, wurde immer größer. Vier Tage nach dem Sturm stürzte das Bürogebäude der Bangor Hydroelectric Company in diesen Krater, drei Tage später das Restaurant >The Flying Dog<. Immer noch kam es in den Abwasserrohren zu Rückstaus, und in Old Cape nahm das solche Ausmaße an, daß die Bewohner der Siedlung auszuziehen begannen.
Am Abend des 10. Juni fand im Bassey-Park das erste Pferderennen des Jahres statt, und die allgemeine Stimmung hob sich beträchtlich. Aber gegen Ende des ersten Durchlaufs, als die Pferde auf die Ziellinie zutrabten, brach ein Teil der Zuschauertribüne zusammen, und ein halbes Dutzend Menschen wurde schwer verletzt. Zu den Verletzten gehörte auch Foxy Foxworth, der bis 1973 Geschäftsführer des >Aladdin< gewesen war. Foxy verbrachte zwei Wochen im Krankenhaus - er hatte sich das Bein gebrochen, und eine Strebe der Tribüne hatte sich ihm durch die Hoden gebohrt. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus beschloß er, zu seiner Schwester nach Somersworth in New Hampshire zu ziehen.
Er war nicht der einzige, der seinen Wohnsitz wechselte.
8
Sie beobachteten, wie der Sanitäter die hinteren Türen des Krankenwagens zuschlug und wie der Wagen sich den Hügel hinauf in Richtung Krankenhaus entfernte. Richie hatte ihn unter Einsatz seines Lebens angehalten, indem er sich mitten auf die Straße gestellt und wild gewinkt hatte, und dann hatte er seine ganzen Überredungskünste angewandt, um den wütenden Fahrer, der erklärte, keinen Platz mehr zu haben, dazu zu bewegen, Audra doch noch mitzunehmen. Schließlich hatte der Sanitäter sie auf dem Fußboden untergebracht.
»Was nun?« fragte Ben. Er hatte große dunkle Ringe unter den Augen, und ein Schmutzstreifen zog sich um seinen Hals.
»Ich g-g-gehe ins T-T-Town House«, sagte Bill, »und w-w-werde mindestens sechzehn Sch-Sch-Stunden schlafen.«
»Ausgezeichnete Idee«, meinte Richie und sah Beverly hoffnungsvoll an. »Haben Sie zufällig Zigaretten, schöne Dame?«
»Nein«, sagte Beverly. »Ich glaube, ich werde das Rauchen aufgeben.«
»Ein sehr vernünftiger Vorsatz.«
Sie gingen langsam nebeneinander den Hügel hinauf.
»Es ist v-v-vorbei«, sagte Bill.
Ben nickte. »Wir haben es vollbracht. Du hast es vollbracht, Big Bill.«
»Wir alle haben es vollbracht«, meinte Beverly. »Ich wünschte, wir hätten Eddie mit raufbringen können. Das wünschte ich mehr als alles andere.«
Sie erreichten die Ecke Upper Main Street und Point Street. Ein Junge in rotem Regenmantel und grünen Gummistiefeln ließ auf dem Sturzbach im Rinnstein ein Papierboot schwimmen. Er schaute auf, sah, daß sie zu ihm herüberblickten, und winkte ihnen schüchtern zu. Bill erkannte in ihm den Jungen mit dem Skateboard - den, dessen Freund Haie im Kanal gesehen hatte. Er lächelte und ging auf den Jungen zu.
»Jetzt ist alles in O-O-Ordnung«, sagte er.
Der Junge betrachtete ihn ernsthaft... und dann grinste er. Das Lächeln war so hoffnungsvoll und sonnig wie ein Frühsommertag. »Ja«, sagte er. »Das glaube ich auch.«
»Du k-k-kannst deinen Arsch drauf v-verwetten.«
Der Junge lachte.
»W-Wirst du vorsichtig s-s-sein, w-wenn du mit deinem Skateboard rumsaust?«
»Nicht sehr«, antwortete der Junge, und nun lachte Bill. Er widerstand der Versuchung, dem Jungen übers Haar zu streichen - das hätte er bestimmt übelgenommen -, und kehrte zu seinen Freunden zurück.
»Wer war das?« fragte Richie.
»Ein Freund«, sagte Bill und stopfte seine Hände in die Hosentaschen. »Erinnert ihr euch noch daran, wie wir letztes Mal rausgekommen sind?.«
Beverly nickte. »Eddie hat uns in die Barrens zurückgebracht. Nur sind wir irgendwie auf der anderen Seite des Kenduskeags rausgekommen. Auf der Old-Cape-Seite.«
»Und du und Haystack, ihr beide habt den Deckel von einem dieser Pumpwerk-Zylinder weggeschoben«, sagte Richie zu Bill, »weil ihr am kräftigsten wart.«
»Die Sonne schien«, fiel Ben ein. »Aber sie stand schon sehr tief am Himmel.«
»Ja«, sagte Bill, »und wir waren alle z-z-zusammen.«
»Aber nichts dauert ewig«, murmelte Richie. Er blickte den Hügel hinab, den sie gerade erklommen hatten, und seufzte. »Ja, ich weiß. Schaut euch das mal an.«
Er streckte seine Hände aus. Die schmalen Narben auf den Handflächen waren verschwunden. Auch Beverly, Ben und Bill betrachteten ihre Hände. Sie waren schmutzig, aber die Narben waren nicht mehr zu sehen. »Nichts dauert ewig«, wiederholte Richie. Er sah Bill an, und Tränen rannen langsam über seine schmutzigen Wangen. »Außer vielleicht Freundschaft. Was meinst du, Bill?«
»Ja«, sagte Bill. »Das glaube ich auch.«
»Und du, Bev?«
»Ich glaube es ebenfalls«, sagte sie und nahm seine Hand.
»Haystack?«
»Ja«, sagte Ben. »Ich glaube, daß Freundschaft und Liebe vielleicht wirklich ewig dauern.«
Er reichte ihnen die Hände, und kurze Zeit standen sie schweigend da, sieben Freunde, die auf vier reduziert worden waren, die aber immer noch einen Kreis bilden konnten. Sie sahen einander an. Auch Ben weinte jetzt, aber gleichzeitig lächelte er.
»Ich liebe euch alle«, sagte er und drückte Bev und Richie fest - sehr fest -die Hände, bevor er sie losließ. »Vielleicht könnten wir jetzt mal nachschauen, ob man hier so was wie ein Frühstück bekommen kann.«
»Großartige Idee, Senhor!« rief Richie. »Haystack, manchmal glaube ich direkt, daß du doch nicht ganz so blöd bist, wie du ausschaust. Was meinst du, Big Bill?«
»Ich meine, du solltest dich mal selbst am Arsch lecken, Richie«, sagte Bill.
Lachend betraten sie das Town House, und als Bill die Glastür aufschloß, erblickte Beverly etwas, das ihr zwar nicht den Appetit verdarb, das sie jedoch für sich behielt- aber sie vergaß es niemals. Einen Augenblick lang sah
sie im Glas ihre Spiegelbilder - nur waren sie nicht zu viert, sondern zu
sechst, denn Eddie war hinter Richie; und hinter Bill war Stan, und er hatte jenes für ihn so typische halbe Lächeln im Gesicht.
9. Abenddämmerung, 10. August 1958
Die Sonne steht genau am Horizont, ein großer roter Ball, der ein flaches, fast unwirkliches Licht über die Barrens wirft. Der schwere Schachtdeckel auf einer der Pumpstationen - einem von Ben Hanscoms Morlock-Brunnen - hebt sich ein wenig, senkt sich, hebt sich wieder... und beginnt, zur Seite zu rutschen.
»Sch-Sch-Schieb, Ben, das D-D-Ding b-bricht mir n-noch die Schulter ab...«
Der Deckel rutscht weiter zur Seite, neigt sich und fällt in das Gestrüpp, das rings um den Betonzylinder wächst. Nacheinander steigen sie heraus, sieben Kinder, die sich umschauen, als hätten sie nie zuvor Tageslicht gesehen, als hielten sie es für ein Wunder.
»Es ist so still...« sagt Beverly leise.
Die einzigen Geräusche sind das laute Plätschern des Flusses und das einschläfernde Summen der Insekten. Das Unwetter ist vorüber, aber der Wasserstand des Kenduskeags ist immer noch hoch. Näher zur Stadt hin, unweit der Stelle, wo der Fluß in ein Betonkorsett eingeschnürt wird, ist er über die Ufer getreten, hat allerdings keine größeren Schaden angerichtet - einige nasse Keller sind das Schlimmste. Zumindest diesmal.
Stan Uris entfernt sich von ihnen; sein Gesicht ist ernst und nachdenklich. Bill glaubt im ersten Moment, daß Stan am Ufer ein kleines Feuer entdeckt hat - Feuer ist sein erster Eindruck Etwas blendend Rotes.
Stan hebt das Feuer mit der rechten Hand auf und als der Winkel des Lichteinfalls sich ändert, erkennt er, daß es nur eine Colaflasche ist, die jemand hier weggewofen hat. Er beobachtet, wie Stan die Flasche umdreht, am Hals packt und auf einem Stein am Ufer zerschlägt. Bill bemerkt, daß nun auch alle anderen Stan beobachten, während er die Flaschenscherben begutachtet. Sein Gesicht ist immer noch ernst und konzentriert. Schließlich hebt er eine flache Glasscherbe auf. Die untergehende Sonne taucht sie in rotes Licht, und Bill denkt wieder: Wie ein Feuer.
Als hätte Stan seinen Gedanken gehört, blickt er zu ihm auf und plötzlich begreift Bill; er begreift vollkommen, und efndet es vollkommen richtig. Ergeht mit ausgestreckten Händen auf Stan zu. Stan weicht etwas zurück, bis er im Wasser steht. Kleine schwarze Insekten schwirren dicht über der Wasseroberfläche, und Bill sieht eine herrlich schillernde Libelle im Schilf am anderen Ufer verschwinden. Ein Frosch beginnt zu quaken, und während Stan seine linke Hand nimmt und ihm mit der gezackten Scherbe die Handfläche ritzt, so daß Blut hervorquillt, denkt Bill in einer Art Ekstase: Hier unten gibt es soviel Leben, und so vieles davon ist gut!
»Bill...?«
»Klar. Beide.«
Stan ritzt ihm auch die andere Hand. Es tut weh, aber nur ein bißchen. Ein Zie
genmelker beginnt irgendwo zu schreien - ein friedvolles Geräusch, das schon die
Nacht ankündigt. Bill denkt: Dieser Ziegenmelker läßt den Mond aufgehen.
Er wirft einen Blick auf seine blutenden Hände, dann schaut er sich um. Die anderen sind alle da - Eddie umklammert seinen Aspirator, Bens dicker Bauch schimmert hell durch sein zerrissenes Hemd; Richie sieht ohne seine Brille eigenartig nackt aus;
Mikes Gesicht ist ernst und feierlich, und er hat seine vollen Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepreßt. Und Bev, die mit zurückgeworfenem Kopf dasteht: Ihre großen Augen sind ganz klar, und trotz des Schmutzes sind ihre Haare wunderschön.
Wir alle. Wir sind alle hier.
Und Bill betrachtet sie alle, prägt sie sich genau ein, denn irgendwie ist ihm bewußt, daß sie nie wieder alle beisammen sein werden - zumindest nicht auf diese Weise. Niemand sagt etwas. Beverly streckt ihre Hände aus, und gleich darauf tun Richie und Ben es ihr nach. Die anderen folgen ihrem Beispiel. Und Stan ritzt ihnen allen die Handflächen, und zuletzt ritzt er seine eigenen, während die Sonne am Horizont versinkt und jene rote Schmelzofenglut in sanfte Rosatöne übergeht. Der Ziegenmelker schreit wieder, Bill sieht den ersten feinen Nebeldunst auf dem Wasser, und er hat das Gefühl, als wäre er mit allem ringsherum verschmolzen -dies ist keine Ekstase, sondern eine kurze Hochstimmung, über die er ebenso wenig sprechen wird wie Jahre später Beverly über jenes Spiegelbild in der Tür, als sie dort zwei tote Männer sieht, die als Jungen ihre Freunde waren.
Eine Brise bewegt Büsche und Bäume, läßt sie raunen und seufzen, und er denkt: Dies ist ein wundervoller Ort, und ich werde ihn niemals vergessen. Er ist herrlich, und alle meine Freunde sind wundervoll, jeder von ihnen ist einfach großartig.
Wieder schreit der Ziegenmelker, süß und fließend, und einen Moment lang fühlt sich Bill eins mit ihm, so als könnte er singen und dann in der Dämmerung verschwinden - so als könnte er davonfliegen, könnte mutig durch die Lüfte segeln.
Er sieht Beverly an, und sie lächelt ihm zu. Sie schließt die Augen und streckt ihre Händen nach beiden Seiten aus. Bill nimmt ihre linke, Ben ihre rechte Hand, Bill spürt, wie ihr warmes Blut sich mit dem seinigen vermischt und ihre Hände zusammenschweißt. Die anderen treten hinzu, und sie stehen im Kreis, und die Händer aller sind jetzt auf diese besonders innige Weise miteinander engstens verbunden.
Stan blickt Bill eindringlich an. In seinen Augen steht eine gewisse Angst geschrieben.
»Sch-Sch-Schwört mir, daß ihr z-z-zurückkommen werdet«, sagt Bill. »Sch-Schwört mir, daß ihr zurückkehren w-w-werdet, f-f-falls Es nicht tot ist.«
»Ich schwöre«, sagt Ben.
»Ich schwöre.« Richie.
»Ja - ich schwöre.« Beverly.
»Ich schwöre es«, murmelt Mike.
»Ja. Ich schwöre«, sagt Eddie mit dünner Stimme.
»Ich schwöre es auch«, flüstert Stan, und ein düsterer Schatten legt sich für einen Augenblick über seine Augen... und verschwindet gleich darauf wieder.
»Ich sch-sch-schwöre.«
Das war's; das war alles. Aber sie stehen noch ein Weilchen länger da; sie spüren die Macht, die ihrem geschlossenen Kreis innewohnt. Das Licht zaubert blasse färben auf ihre Gesichter; die Sonne ist untergegangen, der Sonnenuntergang verblaßt. Sie stehen im Kreis, während die Dunkelheit langsam die Barrens hineinkriecht, die Pfade füllt, auf denen sie in diesem Sommer gegangen sind, die Lichtungen, auf denen sie mit Gewehren gespielt haben, die Geheimplätze entlang der Ufer, wo sie gesessen und über wichtige Fragen - für Kinder wichtige Fragen -diskutiert oder Beverlys Zigaretten geraucht oder auch nur schweigend die im Wasser reflektierten Wolken betrachtet haben. Das Auge des Tages schließt sich.
Dann läßt Ben seine Hände sinken. Er versucht etwas zu sagen, schüttelt den Kopf und entfernt sich. Richie folgt ihm, und auch Beverly und Mike, die nebeneinander hergehen. Niemand spricht. Sie erklimmen die Böschung zur Kansas Street und gehen einfach auseinander. Und als Bill 27 Jahre später daran zurückdenkt, stellt er fest, daß sie wirklich nie wieder alle beisammen waren. Zu viert waren sie oft, manchmal zu fünft, und einige wenige Male zu sechst. Aber zu siebent nie wieder.
Bill bleibt noch eine Zeitlang stehen, nachdem seine Freunde gegangen sind. Die Hände auf das baufällige Holzgeländer gestützt, blickt er in die Barrens hinab, während die ersten Sterne am Sommerhimmel auftauchen. Er steht unter dem Himmel, über den zirpenden Grillen, und beobachtet, wie es in den Barrens dunkel wird.
Ich möchte nie wieder dort unten spielen, denkt er plötzlich und stellt erstauntfest, daß dieser Gedanke nichts Schreckliches oder Bedrückendes an sich hat, sondern befreiend ist.
Er bleibt noch einen Augenblick stehen, dann wendet er sich von den Barrens ab und macht sich auf den Heimweg, schlendert mit den Händen in den Hosentaschen den dunklen Weg entlang und wirft von Zeit zu Zeit einen Blick auf die Häuser von Derry, aus denen warmes Licht fällt.
Etwas später fällt ihm das Abendessen ein, und er beschließt, schneller zu gehen. Und kurz darauf beginnt er zu pfeifen.
Derry: Letztes Zwischenspiel
>»The ocean, in these times, is a perfect fleet of ships; and we can hardly fail to encounter many, in running over. It is merely crossing<, said Mr. Micaw-ber, trifling with his eyeglass, >merely crossing. The distance is quite imaginary<.«
Charles Dickens >David Copperfield<
4 Juni 1985
Bill war vor etwa zwanzig Minuten hier und hat mir dieses Buch mitgebracht - Carol hat es auf einem der Tische in der Bücherei gefunden und ihm gegeben, als er danach gefragt hat. Ich hatte gedacht, daß Polizeichef Rademacher es vielleicht an sich genommen hätte, aber offensichtlich konnte er nichts damit anfangen.
Bill stottert kaum noch, aber der arme Mann ist in den letzten vier Tagen um vier Jahre gealtert. Er erzählte mir, daß Audra morgen entlassen würde
- oder vielmehr, daß er sie morgen mit einem privaten Krankentransport in die 20 Meilen entfernte psychiatrische Klinik in Bangor bringen würde. Physisch gehe es ihr gut, sagte er - kleinere Quetschungen und Schnittwunden, die schon verheilen.
Aber psychisch...
»Wenn man ihre Hand hochhebt, bleibt sie oben«, berichtete Bill. Er saß dabei am Fenster und spielte nervös mit einer Dose Diät-Soda. »Sie hängt einfach in der Luft, bis jemand sie wieder auf die Bettdecke legt. Ihre gesamten Reflexe sind schwer gestört. Das EEG zeigt eine völlig abnorme AlphaKurve. Sie ist katatonisch, Mike! Audra ist katatonisch!«
»Ich habe eine Idee«, sagte ich. »Vielleicht taugt sie auch nichts, und wenn sie dir nicht paßt, kannst du's ja ruhig sagen.«
»Und was wäre das?«
»Ich muß noch eine Woche hier im Krankenhaus bleiben«, sagte ich. »Anstatt Audra nach Bangor zu bringen, könntest du diese Woche mit ihr in meinem Haus verleben. Rede mit ihr, auch wenn sie nicht antwortet. Ist sie... ich meine... kann sie auf die Toilette gehen?«
»Nein«, sagte Bill tonlos.
»Und könntest du... könntest du...«
»Ihr sozusagen die Windeln wechseln?« Er lächelte, und es war ein so gequältes Lächeln, daß ich meinen Blick abwenden mußte. So hatte auch mein Vater gelächelt, als er mir von Butch Bowers und den vergifteten Hühnern erzählte. »Ja. Ich glaube, das könnte ich. Schließlich bin ich ja an ihrem Zustand schuld.«
»Es hätte wenig Sinn, dir zu sagen, du solltest dir nicht zuviel Vorwürfe machen, weil du sie dir ja trotzdem machst«, sagte ich, »aber vergiß folgendes bitte nicht - du selber hast mir zugestimmt, daß vieles oder sogar alles von dem, was geschehen ist, vorherbestimmt war. Dazu gehört mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auch Audras Rolle bei dieser Sache.«
»Ich hätte meinen M-M-Mund halten s-sollen; ich hätte ihr nicht sagen dürfen, wohin ich f-f-fuhr.«
Manchmal ist es besser, nichts zu sagen - also schwieg ich.
»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Wenn dein Angebot wirklich ernst gemeint ist...«
»Das ist es«, sagte ich. »Hier hast du meine Hausschlüssel. in der Gefriertruhe müssen noch ein paar Steaks liegen. Vielleicht war auch das vorherbestimmt«, fügte ich lächelnd hinzu.
»Sie nimmt hauptsächlich weiche Nahrungsmittel und F-F-Flüssigkeiten zu sich.«
»Vielleicht«, sagte ich immer noch lächelnd, »wird es einen Grund zum Feiern geben. Auf dem obersten Regal in der Speisekammer steht eine gute Flasche Wein. Ein Mondavi. Einheimisch, aber gut.«
Er trat an mein Bett und drückte mir die Hand. »Danke, Mike.«
»Keine Ursache, Big Bill.«
Er ließ meine Hand los. »Richie ist heute morgen nach Kalifornien zurückgeflogen.«
Ich nickte. »Ich nehme an, ihr werdet in Verbindung bleiben.«
»Vielleicht«, sagte er. »Jedenfalls eine Zeitlang. Aber...« Er sah mich niedergeschlagen an. »Ich glaube, es wird wieder passieren.«
»Was? Das Vergessen?«
»Ja. Es hat schon begonnen. Bisher sind es nur Kleinigkeiten. Details. Aber ich glaube, es wird weitergehen, sich immer mehr ausbreiten.«
»Vielleicht ist es so am besten.«
»Vielleicht.« Er blickte aus dem Fenster, spielte immer noch mit seiner Soda-Dose herum und dachte bestimmt an seine Frau, die so schön, aber so regungslos daliegt. Katalanisch. Das hört sich an wie eine Tür, die ins Schloß fällt und verriegelt wird. Er seufzte. »Vielleicht hast du recht.«
»Und was ist mit Ben und Beverly?« fragte ich.
Er schaute mich lächelnd an. »Ben hat sie eingeladen, mit ihm nach Nebraska zu gehen, und sie hat ja gesagt, zumindest für eine Weile. Weißt du über ihre Freundin Bescheid? In Chicago?«
Ich nickte. Beverly hat es Ben erzählt, und Ben hat es mir gestern erzählt. Wenn man es sehr milde ausdrücken will, so war Beverly nicht ganz ehrlich, als sie uns von ihrem wundervollen, fantastischen Ehemann Tom vorschwärmte. Und dieses >nicht ganz ehrlich< ist die Untertreibung des Jahrhunderts! Dieser wundervolle, fantastische Tom hat Bev in den letzten fünf Jahren oder so offensichtlich in emotionaler, psychischer und oft auch in physischer Hinsicht tyrannisiert. Sie hat nach meinem Anruf ihr Haus verlassen, nachdem er sie mit brutaler Gewalt davon abhalten wollte, nach Derry zu fahren. Sie hat die Nacht dann bei einer feministisch eingestellten Freundin verbracht. Tom Huggins hat das vermutet und diese Freundin bedroht und übel zugerichtet, um von ihr zu erfahren, wohin Beverly gefahren ist. Beverly wollte sofort zu dieser Freundin fliegen, als sie erfuhr, was passiert war, aber ihre Freundin überzeugte sie davon, daß das nicht nötig sei, daß Beverly lieber selbst auf der Hut vor Tom sein solle.
»Bev hat mir erzählt, daß diese Freundin sie heute morgen wieder angerufen hat«, berichtete Bill. »Bev hat ihr gesagt, daß Tom immer noch nicht hier aufgetaucht sei, und daß sie die nächsten paar Wochen mit einem Freund verbringe. Falls Tom bis dahin nicht wieder aufgetaucht sei, würde sie nach Chicago fliegen und eine Vermißtenanzeige aufgeben.«
»Ganz schön raffiniert«, sagte ich. »Kein Mensch wird ihn jemals finden. .. dort unten, wo er liegt.«
»Höchstwahrscheinlich nicht«, sagte Bill. »Und ich wette, daß Ben sie begleiten wird, wenn sie zurückfliegt. Aber es ist kein Schachzug von ihr. Sie glaubt wirklich, daß Tom nie hier in Derry aufgetaucht ist.«
»Bist du sicher?«
»Ziemlich s-s-sicher.«
Wir sahen einander an, und keiner von uns beiden war eigentlich überrascht.
»Sie hat es vergessen«, sagte ich.
»Ja, auch bei ihr hat der Prozeß des Vergessens bereits eingesetzt«, sagte Bill. »Ich selbst kann mich beispielsweise nicht mehr daran erinnern, wie jene Tür aussah. Die Tür zu seiner Behausung. Ich versuche, sie mir ins Gedächtnis zurückzurufen, und dann passiert mir etwas ganz Verrücktes
- ich habe G-Geißlein vor Augen, die eine Brücke überqueren. Aus jenem Märchen >The Three Billy-Goats' Gruf<, wo es heißt: >Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke?< - Verrückt, nicht?«
»Man wird Tom Huggins' Spur aber doch bestimmt nach Derry verfolgen, wenn Bev Vermißtenanzeige erstattet. Mietwagen, Flugticket und so.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, sagte Bill und zündete sich eine Zigarette an. »Ich nehme fast an, daß er sein Flugticket bar bezahlt und einen falschen Namen angegeben hat. Und hier hat er sich dann vielleicht ein billiges Auto gekauft oder eines gestohlen.«
»Wozu denn das alles?«
»Na, überleg mal«, sagte Bill. »Glaubst du, er hat den ganzen weiten Weg gemacht, nur um ihr eine Tracht Prügel zu verabreichen?«
Wir blickten einander in die Augen, dann erhob er sich. »Hör mal, Mike...«
»Du willst mir sagen, daß du jetzt gehen mußt«, sagte ich. »Ich werd's überleben.«
Darüber mußte er herzlich lachen, und als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: »Danke, daß du uns dein Haus zur Verfügung stellst, Mi-key.«
»Ich kann natürlich nicht beschwören, daß es was helfen wird. Soviel ich weiß, hat mein Haus keine therapeutischen Eigenschaften.«
»Na ja... dann geh' ich jetzt.«
Und dann tat er etwas Seltsames, aber sehr Schönes. Er beugte sich vor und küßte mich auf die Wange.
»Gott segne dich, Mikey. Ich lass' mich bald wieder sehen.«
»Vielleicht kommt alles in Ordnung«, sagte ich. »Gib die Hoffnung nicht auf, Bill. Vielleicht kommt doch noch alles in Ordnung.«
Er nickte lächelnd, aber ich glaube, uns dröhnte beiden dasselbe Wort in den Ohren: Katalanisch.
5. Juni 1985
Ben und Beverly waren heute hier, um sich zu verabschieden. Sie fliegen nicht - Ben hat bei Hertz einen großen Cadillac gemietet, und sie wollen sich auf der Fahrt nach Nebraska Zeit lassen. Wenn sie einander anschauen, leuchten ihre Augen auf eine ganz besondere Art und Weise... und ich würde meine ganze Pension darauf verwetten, daß sie - falls sie es jetzt noch nicht tun - so doch spätestens in Nebraska miteinander schlafen werden.
Beverly umarmte mich, sagte, ich solle mich möglichst rasch erholen und weinte dann.
Auch Ben umarmte mich und fragte zum dritten oder vierten Male, ob ich schreiben würde. Ich bejahte, und ich werde auch wirklich schreiben ... zumindest eine Zeitlang. Denn diesmal passiert es auch mir. Ich fange an zu vergessen. Bis jetzt sind es - wie Bill gestern sagte - nur Kleinigkeiten, Einzelheiten. Auch ich habe das Gefühl, daß es weitergehen wird. Es ist durchaus möglich, daß dieses Notizbuch in einem Monat oder einem Jahr das einzige sein wird, wodurch ich mir in Erinnerung rufen kann, was hier in Derry geschehen ist. Und ich halte es sogar für möglich, daß ich vieles - oder alles - von dem, was ich hier aufgeschrieben habe, mit großer Verwunderung lesen werde, daß es mir total unglaubwürdig vorkommen wird - oder sogar, daß ich es für völlig unverständliches Geschwafel halten werde. Manchmal denke ich - hauptsächlich nachts, wenn ich Schmerzen habe und nicht schlafen kann -, daß vielleicht die Schrift verblassen könnte, daß dieses Notizbuch irgendwann nur noch aus leeren Seiten bestehen könnte, wie damals, als ich es kaufe. Das ist ein schrecklicher Gedanke, und am Tage kommt er mir auch total verrückt vor... aber nachts scheint er mir gar nicht so abwegig zu sein.
Dieses Vergessen... die Aussicht versetzt mich in eine Art dumpfe Panik, aber gleichzeitig verspüre ich insgeheim auch eine große Erleichterung. Denn dieses Vergessen sagt mir mehr als alles andere, daß sie Es diesmal wirklich zur Strecke gebracht haben, daß Es tot ist; daß jetzt kein Wachposten mehr nötig ist, der aufpaßt, ob der Zyklus von Schrecken und Mord wieder beginnt.
Dumpfe Panik, heimliche Erleichterung... Vielleicht wird letztere schließlich überwiegen...
Bill hat angerufen. Er und Audra sind bei mir eingezogen. ihr Zustand ist unverändert.
»Ich werde dich nie vergessen«, das waren Beverlys letzte Worte, bevor sie und Ben gingen.
Aber ich glaube, in ihren Augen eine andere Wahrheit gelesen zu haben.
6. Juni
Heute stand in den >Derry News< ein interessanter Artikel, auf Seite i. Die Überschrift lautete: sturm veranlasst henley, seine pläne zum ausbau des Kulturzentrums aufzugeben. Dieser Timothy Henley ist Multimillionär, ein Unternehmer, der Ende der sechziger Jahre nach Derry kam und hier viel Wind machte - Henley und Zitner waren es, die das Konsortium zum Bau des großen Einkaufszentrums organisiert haben (das - einem weiteren Zeitungsartikel auf Seite i zufolge - vermutlich nicht wieder aufgebaut wird). Henley war fest entschlossen, Derrys Wachstum in jeder Hinsicht zu fördern. Natürlich ging es ihm dabei um seinen Profit, aber das war nicht sein einziger Beweggrund; Henley hatte den aufrichtigen Wunsch, daß die Stadt wachsen und gedeihen sollte. Daß er nun plötzlich seine Pläne zum Ausbau des Kulturzentrums aufgegeben hat, mag teilweise daran liegen, daß er jetzt über Derry sehr verbittert ist. Ich halte es aber auch für möglich, daß die Zerstörung des Einkaufszentrums ihn in große finanzielle Schwierigkeiten gebracht hat.
Aber dem Zeitungsartikel zufolge ist Henley nicht der einzige; auch andere Kapitalanleger und potentielle Investoren scheinen es sich jetzt zu überlegen, sind offenbar nicht mehr daran interessiert, Geld in Derrys Zukunft zu investieren. Ai Zitner braucht sich mit solchen Problemen natürlich nicht mehr zu beschäftigen - Gott hat ihn in den ewigen Ruhestand versetzt, als der Kanal über die Ufer trat. Natürlich stehen all jene, die - wie Henley - die Innenstadt beleben wollten, nun auch tatsächlich vor einem schwierigen Problem - der größte Teil der Innenstadt ruht jetzt im Kanal oder ragt gerade noch ein Stück daraus hervor.
Ich persönlich glaube, daß Derry nach einer langen, dämonisch vitalen Blütezeit jetzt vielleicht im Sterben liegt... wie ein verblühtes Nachtschattengewächs.
Habe heute am Spätnachmittag Ben Denbrough angerufen. Audras Zustand unverändert.
Vor einer Stunde habe ich dann auch noch Richie Tozier in Kalifornien angerufen. Sein Anrufbeantworter war eingeschaltet. Ich hinterließ darauf meinen Namen und meine Telefonnummer, und nach kurzem Zögern- ich kann diese Apparate nicht leiden - fügte ich hinzu, ich hoffte, daß es ihm gut gehe und er seine Kontaktlinsen tragen könne.
Ich wollte gerade auflegen, als Richie selbst den Hörer abnahm und rief: »Mikey! Wie geht's dir?« Seine Stimme klang sehr herzlich und erfreut... aber ich hörte auch eine deutliche Verwirrung heraus.
»Hallo, Richie«, sagte ich. »Mir geht's ausgezeichnet.«
»Gut. Hast du noch Schmerzen?«
»Ein wenig. Aber sie lassen immer mehr nach. Das Jucken ist schlimmer. Ich werde verdammt froh sein, wenn ich endlich den Verband los bin. Ich hab' das Gefühl, man hätte mir Juckpulver darunter gestreut.«
Richie lachte. »Mit meinen Kontaktlinsen habe ich übrigens überhaupt keine Probleme mehr.«
»Freut mich zu hören.«
»Was ist mit Bill?«
»Er und Audra wohnen in meinem Haus, solange ich hier im Krankenhaus bin.«
»Gut. Das ist echt gut.« Er schwieg einen Augenblick. »Soll ich dir was verdammt Komisches erzählen, Mikey?«
»Na klar«, sagte ich. Ich glaubte zu wissen, was jetzt kommen würde, und ich hatte mich nicht getäuscht.
»Na ja... ich sitze hier in meinem Arbeitszimmer - es haben sich ganze Berge von Arbeit angesammelt - neue Platten, Kataloge etc. etc., und ich werde vermutlich die nächsten paar Wochen rund um die Uhr arbeiten müssen. Deshalb hatte ich den Anrufbeantworter eingeschaltet, aber den Ton etwas lauter gestellt, so daß ich hören konnte, wer anrief, und mich in wichtigen Fällen dann noch selbst melden konnte. Und daß ich dich so lange auf Band sprechen ließ, lag daran, daß...«
»Daß du zunächst nicht die leiseste Ahnung hattest, wer ich bin.«
»Stimmt genau! Woher weißt du das?«
»Weil wir wieder dabei sind zu vergessen. Diesmal wir alle.«
»Bist du sicher? Mikey, bist du ganz sicher?«
»Wie hieß Stanley mit Nachnamen?« fragte ich ihn.
Am anderen Ende der Leitung trat langes Schweigen ein. Schließlich sagte Richie sehr unsicher: »Ich glaube, Underwood, aber das ist kein jüdischer Name, stimmt's?«
»Er hieß Uris.«
»Uris!« rief Richie und hörte sich erleichtert und gleichzeitig erschüttert an. »Mein Gott, ich hasse es, wenn mir etwas auf der Zunge liegt und trotzdem nicht einfällt. Aber du erinnerst dich jedenfalls, Mikey. Wie zuvor.«
»Nein. Ich habe in meinem Adreßbuch nachgeschaut.«
Wieder trat längeres Schweigen ein. Dann: »Du wußtest es wirklich nicht mehr?«
»Nein.«
»Du willst mich nicht nur auf den Arm nehmen?«
»Nein.«
»Dann ist es diesmal wirklich vorüber«, sagte er, und deutliche Erleichterung war aus seiner Stimme herauszuhören.
»Ja, das glaube ich auch.«
Erneut langes Schweigen. Ich glaube, wir dachten beide das gleiche: Es war vorüber, ja. Und in sechs Wochen oder sechs Monaten würden wir einander total vergessen haben. Es war vorüber, und es hatte uns nichts gekostet als unsere Freundschaft... und Stans und Eddies Leben. Letzteres hatte ich fast vergessen, aber so schrecklich es sich auch anhören mag - ich habe Stan und Eddie selbst schon fast vergessen. Litt Eddie nun eigentlich an Asthma oder an chronischer Migräne? Ich glaube, es war Migräne, aber ich bin mir absolut nicht sicher. Ich werde Bill fragen. Er wird es wissen.
»Also dann - grüß Bill und seine hübsche Frau von mir«, sagte Richie mit gespielter Fröhlichkeit.
»Das werd' ich tun, Richie«, sagte ich, und dann schloß ich die Augen und rieb mir die Stirn. Er hatte sich daran erinnert, daß Bills Frau in Derry war... aber er erinnerte sich offensichtlich nicht an ihren Namen und an ihren fürchterlichen Zustand.
»Und falls du jemals nach Los Angeles kommen solltest - du hast ja meine Nummer. Ruf mich an, dann treffen wir uns und quatschen gemütlich miteinander.«
»Klar.« Ich spürte, daß in meinen Augen heiße Tränen brannten. »Das gleiche gilt natürlich auch umgekehrt.«
»Mikey?«
»Ja?«
»Ich liebe dich, Mann.«
»Gleichfalls!«
»Okay. Halt die Ohren steif.«
»Piep-piep, Richie.«
Er lachte. »Ja, ja, immer den armen Richie auslachen, das war von jeher eure Lieblingsbeschäftigung!«
Er legte den Hörer auf, und ich ebenfalls. Und dann ließ ich meinen Kopf aufs Kissen sinken und lag lange Zeit mit geschlossenen Augen da.
7. Juni
Rademacher ist tot, Polizeichef Rademacher, der das Amt Ende der sechziger Jahre von Borton übernommen hatte. Es war ein seltsamer Unfall, den ich unwillkürlich mit all dem assoziiere, was in Derry vorgegangen ist... was in Derry erst vor wenigen Tagen zu Ende gegangen ist.
Das Gerichtsgebäude, in dem auch die Polizei untergebracht ist, steht am Rande jenes Stadtgebiets, das in den Kanal gestürzt ist, und obgleich es nicht eingebrochen ist, muß die Erschütterung - oder die Überschwemmung - am Gebäude schwere Schäden angerichtet haben, ohne daß jemand das bemerkt hatte.
Rademacher arbeitete gestern noch spät abends im Büro, wie jeden Abend nach der Unwetterkatastophe - so steht es in der Zeitung. Das Büro des Polizeichefs befindet sich im vierten Stock, der allgemein als oberster Stock bezeichnet wird. Aber das stimmt nicht ganz, es gibt noch einen fünften Stock, ein Dachgeschoß, wo alle möglichen alten Akten und alter Plunder aufbewahrt werden - unter anderem auch verschiedenes Zeug, das irgendeinen Bezug zur Stadtgeschichte hat. Zu diesen Gegenständen gehörte auch der von mir bereits beschriebene >Landstreicher-Stuhl<. Er war aus Metall und wog über 400 Pfund.
Der Dachboden wurde bei dem Unwetter am i. Juni aufgrund des undichten Dachs überschwemmt, und dadurch soll der Fußboden des Dachgeschosses schwer gelitten haben (so steht es jedenfalls in der Zeitung). Auf alle Fälle brach der schwere >Landstreicher-Stuhl< durch den Fußboden durch und fiel direkt auf Rademacher, der am Schreibtisch saß. Er war auf der Stelle tot. Der diensthabende Polizeibeamte, Bruce Andeen, hörte den ohrenbetäubenden Krach, stürzte in Rademachers Büro und fand ihn. Er lag zwischen den Überresten des total zerschmetterten Schreibtisches, den Kugelschreiber noch in der Hand. Und der >Landstreicher-Stuhl< thronte über ihm wie ein bösartiges eisernes Idol.
Habe wieder mit Bill telefoniert. Audra nimmt ein bißchen feste Nahrung zu sich, aber sonst ist ihr Zustand nach wie vor unverändert. Ich fragte ihn, ob Eddie unter Asthma oder Migräne gelitten habe.
»Asthma«, erwiderte er sofort. »Erinnerst du dich denn nicht mehr an seinen Aspirator?«
»Doch«, sagte ich, und das stimmte auch - nachdem Bill es erwähnt hatte.
»Mike?«
»Ja?«
»Wie hieß er mit Nachnamen?«
Ich warf einen Blick auf mein Adreßbuch, das auf dem Nachttisch lag, aber ich schaute nicht nach. »Ich erinnere mich nicht so recht daran.«
»Es war so was Ähnliches wie Kerkorian«, sagte Bill leicht verstört, »aber doch nicht ganz. Aber du hast alles schwarz auf weiß notiert, stimmt's?«
»Ja.«
»Gott sei Dank!«
»Hast du irgendwelche Ideen in bezug auf Audra?«
»Ich hatte eine Idee«, sagte er, »aber sie ist so total verrückt, daß ich lieber nicht darüber reden möchte.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Okay.«
»Mike, es ist ein bißchen furchterregend, findest du nicht auch - dieses Vergessen, meine ich?«
»Ja«, sagte ich. Und das ist es wirklich.
8. Juni
Raytheon, eine Firma, die geplant hatte, im Juli in Derry mit dem Bau einer Zweigniederlassung zu beginnen, hat offensichtlich in letzter Minute beschlossen, ihre Fabrik statt dessen in Waterville zu bauen. Der Leitartikel auf Seite i der >Derry News< drückt seine Empörung darüber aus... aber zwischen den Zeilen glaube ich auch Befürchtungen herauszulesen, und zwar nicht zu knapp.
Ich glaube, ich weiß, was für eine Idee Bill hat. Er wird rasch handeln müssen, sonst wird er sie noch vergessen... und sonst könnte auch die letzte Magie aus dieser Stadt verschwunden sein. Falls das nicht bereits der Fall ist.
Etwas geschieht mit den Namen und Adressen der anderen in meinem Adreßbuch. Sie verblassen. Die Tinte sieht so aus, als wären diese Eintragungen 50 oder 75 Jahre vor allen anderen gemacht worden. Das ist in den letzten vier oder fünf Tagen passiert, und ich bin überzeugt davon, daß spätestens im September diese Namen ganz verschwunden sein werden.
Ich könnte sie natürlich immer wieder abschreiben. Aber ich bin auch überzeugt davon, daß sie jedesmal von neuem verblassen würden, und daß es schon nach kurzer Zeit eine völlig sinnlose Beschäftigung wäre - so als müßte man als Strafarbeit 5Oomal schreiben: Ich darf im Klassenzimmer nicht mit Papierbällen werfen. Ich würde Namen abschreiben, die mir überhaupt nichts sagen, aus einem Grund, an den ich mich nicht erinnern könnte.
Laß es sein, Mikey, laß es sein.
Bill, handle rasch... aber sei vorsichtig!
9. Juni
Bin mitten in der Nacht von einem schrecklichen Alptraum aufgewacht, an den ich mich nicht mehr erinnern konnte; geriet in Panik, bekam keine Luft. Griff nach der Klingel, klingelte dann aber doch nicht. Hatte eine schreckliche Vision, daß Mark Lamonica auf mein Klingeln hin auftauchen könnte... oder Henry Bowers mit seinem Messer.
Ich griff nach meinem Adreßbuch und rief Ben Hanscom in Nebraska an... die Adresse und Telefonnummer sind noch mehr verblaßt, aber gerade noch lesbar. Hatte jedoch keinen Erfolg. Eine Stimme vom Band teilte mir mit, unter dieser Telefonnummer gäbe es keinen Anschluß mehr.
War Ben fett, oder hatte er so etwas Ähnliches wie einen Klumpfuß?
Lag bis zur Morgendämmerung wach.
10. Juni
Die Ärzte sagen, ich könnte morgen entlassen werden.
Ich rief Bill an und berichtete ihm das - ich nehme an, ich wollte ihn warnen, daß die Zeit, die ihm noch zum Handeln bleibt, immer knapper wird. Bill ist der einzige von ihnen, an den ich mich noch deutlich erinnern kann, und ich bin überzeugt davon, daß ich der einzige bin, an den er sich noch deutlich erinnern kann. Vermutlich, weil wir beide noch in Derry sind.
»In Ordnung, Mike«, sagte er. »Gut. Wir werden deine B-B-Bude räumen.«
»Bleibt ihr noch in Derry?«
»Nein«, sagte er. »Wir werden morgen nicht mehr hier sein, so oder so.«
»Hältst du immer noch an deiner Idee fest?«
»Ja. Sieht so aus, als sei jetzt die Zeit gekommen, um sie auszuprobieren.«
»Bill... sei vorsichtig.«
Er lachte. »W-Wenn ich vorsichtig b-b-bin, wird die S-Sache nicht funktionieren, das wissen wir doch b-b-beide.«
»Und wie werde ich erfahren, wie die Sache ausgegangen ist, Bill?«
»Du wirst es einfach wissen«, sagte er und legte den Hörer auf.
Mein Herz ist bei dir, Bill, ganz egal, wie diese Sache ausgehen wird. Mein Herz ist bei ihnen allen, und ich glaube, selbst wenn wir einander vergessen, so werden wir uns doch in unseren Träumen erinnern.
Dieses Tagebuch dürfte jetzt fast abgeschlossen sein - und ich vermute, daß es niemals etwas anderes als ein Tagebuch sein wird und daß die Geschichte von Derrys alten Skandalen und sonderbaren Ereignissen außerhalb dieser Seiten nichts zu suchen hat. Und das ist mir jetzt auch sehr recht; ich glaube, wenn ich morgen entlassen werde, dürfte die Zeit gekommen sein, um über irgendeine neue Lebensweise nachzudenken... obwohl mir noch unklar ist, wie sie aussehen könnte.
Meine Freunde, ich liebte euch alle.
Ich liebte euch so sehr.