Zweiter Teil JUNI 1958

Viertes Kapitel Ben Hanscoms Sturz

1

Um 23.45 Uhr bekommt eine der Stewardessen, die auf dem Flug 41 der United Airlines von Omaha nach Chicago in der 1. Klasse Dienst hat, einen furchtbaren Schreck Für etwa 25 Sekunden glaubt sie, daß der Passagier am Fenster, auf Platz 1, gestorben ist.

Als er in Omaha an Bord ging, dachte sie insgeheim: Mit dem wird's Ärger geben. Er ist ja stockbesoffen. Seine Whiskyfahne erinnerte sie an die Staubwolke, die immer den schmutzigen kleinen Jungen in >Peanuts< umgibt - Pig Pen heißt er. Nervös dachte sie an den Getränkeservice kurz nach dem Start - sie war sicher, daß der Mann einen Drink bestellen würde, vermutlich sogar einen doppelten, und dann würde sie sich entscheiden müssen, ob sie seinem Wunsch nachkommen sollte oder nicht. Für diese Route waren Gewitterstürme vorhergesagt worden, und sie war ganz sicher, daß sich der große Mann im Baumwollanzug übergeben würde.

Aber der große schlaksige Mann bestellte ein Soda und lehnte die Nüsse dankend ab, so höflich, wie man es sich nur wünschen konnte. Sein Bedienungslicht leuchtete nicht auf, und nach kurzer Zeit vergaß ihn die Stewardeß völlig, denn sie hatte bei diesem Flug alle Hände voll zu tun - es war einer jener Flüge, die man am liebsten sofort nach der Landung vergessen möchte, einer jener Flüge, bei denen einem unwillkürlich Gedanken ans eigene Überleben durch den Kopf schießen.

Der Mittelwesten wird in dieser Nacht von Gewitterstürmen heimgesucht, und das Flugzeug laviert zwischen ihnen hindurch wie ein guter Skifahrer beim Slalom. Der Wind ist sehr stark, viele Passagiere ängstigen sich beim Anblick der zuckenden Blitze in den Wolken (»Mami, macht Gott Blitzlichtaufnahmen von den Engeln?« fragt ein kleiner Junge, und seine Mutter, die ziemlich grün im Geskht ist, lacht unsicher), die Anzeige >Bitte anschnalkn< erlischt nicht, die Bedienungslichter der Passagiere blinken unaufhörlich.

Das Flugzeug schlingert, jemand schreit leise auf, und die Stewardeß muß sich festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren; dabei dreht sie sich etwas um und blickt direkt in die starren Augen des Mannes auf Platz 1.

O mein Gott, er ist tot, denkt sie. Der viele Alkohol und dann dieser unruhige Flug... sein Herz... ihn hat bestimmt der Schlag getroffen.

Die Augen des Mannes sind direkt auf sie gerichtet, nehmen sie aber nicht wahr. Sie bewegen sich nicht. Es sind bestimmt die Augen eines Toten.

Die Stewardeß wendet sich von diesem schrecklichen starren Blick ab; ihr Herz klopft laut, und sie überlegt, was sie jetzt tun soll, und sie dankt Gott, daß der Mann keinen Sitznachbarn hat, der schreien und damit eine Panik auslösen könnte. Sie wird als erstes die Chefstewardeß und dann die männliche Besatzung informieren müssen. Vielleicht kann man den Mann in eine Decke einhüllen und ihm die Augen schließen, damit es so aussieht, als schliefe er, für den Fall, daß die Anzeige >Bitte anschnallen< doch noch erlischt und dann einer der Passagiere auf dem Weg zur Toilette an dem Toten vorbeikommt...

All diese Gedanken schießen ihr in weniger als 30 Sekunden durch den Kopf, dann wirft sie ihm einen zweiten Blick zu. Die toten, starren Augen sind unverändert auf sie gerichtet... und dann greift die vermeintliche Leiche nach ihrem Glas Soda und trinkt einen Schluck.

Genau in diesem Moment schwankt das Flugzeug besonders heftig, und der leise Aufschrei der Stewardeß geht in anderen Angstschreien unter. Endlich bewegen sich die Augen des Mannes - kaum merklich, aber sie weiß, daß er sie nun endlich sieht. Und sie denkt: Er ist ja gar nicht so alt, wie ich dachte, als er an Bord ging, trotz seiner graumelierten Haare.

Sie geht zu ihm, obwohl sie hinter sich zahlreiche Passagiere klingeln hört (nach der perfekten Landung, die 30 Minuten später erfolgt, werden die Stewardessen 70 Spucktüten wegzuwerfen haben).

»Ist mit Ihnen alles in Ordnung, Sir?« fragt sie und weiß, daß ihr Lächeln gezwungen wirken muß.

»Völlig in Ordnung«, antwortete der schlaksige Mann. Sie wirft einen Blick auf den Kontrollabschnitt der ersten Klasse, der in dem kleinen Schlitz auf seiner Rükkenlehne steckt, und sieht, daß er Hanscom heißt. »In bester Ordnung. Bißchen unruhiger Flug, was? Sie haben heute nacht wirklich viel um die Ohren. Machen Sie sich um mich keine Sorgen. Mir...« Er lächelte ihr zu, aber es ist ein gespenstisches Lächeln, bei dem sie unwillkürlich an Vogelscheuchen denken muß, die auf kahlen Novemberfeldern im Winde flattern. »Mir geht es ausgezeichnet.«

»Sie sahen...«

(tot aus)

».. .ein wenig wettergeschädigt aus«, führt sie ihren Satz zu Ende.

»Ich dachte über die Vergangenheit nach«, sagte er. »Mir ist erst heute abend klargeworden, daß ich mich mit diesem Thema nie beschäftigt habe.«

Weitere Rufsignale der Passagiere. »Stewardeß!« ruft jemand nervös.

»Nun, wenn bei Ihnen alles in Ordnung ist...«

»Ich dachte an einen Damm, den ich einmal mit Freunden gebaut habe«, sagte Ben Hanscom. »Es waren die ersten Freunde, die ich überhaupt jemals hatte. Der Damm... Auf diese Weise habe ich sie kennengelernt. Sie stellten sich furchtbar ungeschickt dabei an. Ich habe ihnen geholfen.«

»Stewardeß?« »Entschuldigen Sie mich bitte, Sir, ich muß jetzt wirklich

gehen.« »Aber selbstverständlich.«

Sie eilt zu den anderen Passagieren und ist heilfroh, diesem starren, leblosen, fast hypnotischen Blick zu entkommen. Ben Hanscom schaut aus dem Fenster. Etwa neun Meilen unter dem Flugzeug zucken Blitze in den Gewitterwolken, die wie riesige durchsichtige Gehirne voll schlechter Gedanken aussehen. Voll verrückter Gedanken.

Ergreift in seine Jackentasche, aber die Silberdollarmünzen sind nicht mehr da. Er wünscht plötzlich, er hätte einen zurückbehalten, wenigstens einen. Vielleicht hätte er ihnen allen noch von Nutzen sein können. Mit einer Susan B. Anthony-Münze konnte man nichts anfangen. Das war nur ein lausiges Kupferstück. Und man benötigte Silber, um einen Vierwolfoder Vampir aufzuhalten. Man benötigte Silber, um ein Monster aufzuhalten. Man benötigte...

Er schließt die Augen. Die Luft ist vom Klingeln der Rufsignale erfüllt. Das lugzeug schwankte und schlingerte, und die Luft schwirrte von den vielen Rufsignalen.

Nein, nicht vom Klingeln der Rufsignale. Von Glocken. Es sind Glocken, es ist die Glocke, auf die man das ganze Jahr hindurch wartet, sobald das Neue eines angebrochenen Schuljahres seinen Reiz verloren hat, was gewöhnlich schon nach einer Woche der Fall ist. Die Glocke, die für eine Weile Freiheit verheißt.

Ben Hanscom sitzt in der 1. Klasse, den Kopf dem Fenster zugewandt, mit geschlossenen Augen; über dem Mittelwesten ist soeben ein neuer Tag angebrochen, der 27. Mai ist soeben vom 28. Mai abgelöst worden, über dem in dieser Nacht so stürmischen westlichen Illinois; dort unten liegen die Farmer in tiefem Schlaf; wer weiß, was sich vielleicht in ihren Scheunen und in ihren Kellern und auf ihren Feldern bewegt, während die Blitze zucken und der Donner grollt. Niemand weiß so etwas; man weiß nur, daß in solchen Nächten Naturkräfte entfesselt sind, im Innern von Wolken, die mit ihren Windungen riesigen Gehirnen gleichen.

Aber es sind Glocken, die Ben Hanscom in 30000 Fuß Höhe hört, als das Flugzeug endlich die Sturmzone hinter sich hat und die Anzeigen >Bitte anschnallen' endlich erlöschen; es ist die Glocke, die Ben Hanscom im Schlafe hört; und während er schläft, stürzt er durch die Zeit in die Vergangenheit wie in einen tiefen Brunnen, tiefer und immer tiefer in das Land der Morlocks, wo in dunklen Tunneln der Nacht Maschinen dröhnen. Es ist ein Zeitbrunnen. Es wird 1981,1977,1969; und plötzlich ist es Juni 1958, alles strahlt in hellem Sommerlicht und hinter den geschlossenen Augenlidern ziehen sich Ben Hanscoms Pupillen auf Befehl seines Gehirns zusammen, das heftig träumt.

Glocken. Die Glocke.

Die Schule. Die Schule ist. Die Schule ist

2

aus!

Der Klang der Glocke, die in den Korridoren der Volksschule von Derry erscholl, einem großen Ziegelgebäude in der Jackson Street, ließ die Kinder in Ben Hanscoms Klassenzimmer in lauten Jubel ausbrechen - und diesmal wurden sie von der strengen Mrs. Douglas nicht getadelt.

»Kinder!« rief sie, als das Geschrei sich ein wenig gelegt hatte. »Dürfte ich noch einen Augenblick um eure Aufmerksamkeit bitten?«

Nun ging ein aufgeregtes Raunen, vermischt mit einigen tiefen Seufzern, durch das Klassenzimmer dieser fünften Klasse, denn Mrs. Douglas hatte die Zeugnisse in die Hand genommen.

»Hoffentlich bin ich durchgekommen«, sagte Sally Mueller leise zu Bev Marsh, die in der nächsten Reihe saß. Sally war blond, hübsch und lebhaft.

»Mir ist das scheißegal«, erwiderte Bev. Sally rümpfte die Nase - Damen drücken sich nicht so ordinär aus, bedeutete dieses Naserümpfen - und wandte sich Greta Bowie zu. Vermutlich war es ohnehin nur der Aufregung über die Glocke zuzuschreiben, die das Ende eines Schuljahres ankündigte, daß Sally sich herabgelassen hatte, mit Beverly zu reden, dachte Ben. Sally und Greta stammten aus reichen Familien mit Häusern am West Broadway, und Bev kam aus einem der verwahrlosten, heruntergekommenen Wohnhäuser in der Derry Street. Der West Broadway war für Beverly eine völlig fremde Welt; das konnte man schon an ihrem schäbigen Sweatshirt, ihrem

viel zu großen Rock (billiges Zeug von der Heilsarmee) und ihren ausgetretenen Schuhen erkennen. Außerdem waren Sally Mueller und Greta Bowie dumme Rotznasen, und Ben konnte beide nicht leiden. Seiner Meinung nach war Beverly viel hübscher - obwohl er es nie wagen würde, ihr so etwas zu sagen.

Aber manchmal, mitten im Winter, wenn draußen alles grau war, und das gelbliche Licht im Klassenzimmer einschläfernd wirkte, wenn Mrs. Douglas das Dividieren erklärte oder Fragen aus >Shining Bridges< vorlas oder über Zinnvorkommen in Paraguay sprach, an jenen Tagen, wo man das Gefühl hatte, daß die Schule nie enden würde, wo einem das aber nichts ausmachte, weil die ganze Welt ohnehin nur aus Matsch zu bestehen schien - an solchen Tagen betrachtete Benn verstohlen Beverly s Gesicht, und sein Herz schmerzte, aber gleichzeitig durchströmte ihn ein seltsames Glücksgefühl. Er vermutete, daß er für sie schwärmte oder in sie verliebt war oder wie immer man das auch nennen mochte, und solange er das für sich behielt, war es in Ordnung. Fette Jungen dürfen ein hübsches Mädchen nur heimlich lieben, dachte. Wenn er jemandem seine Gefühle anvertrauen würde (er hatte aber ohnehin niemanden, dem er etwas anvertrauen konnte), so würde die betreffende Person bestimmt lachen. Und wenn er Beverly selbst gestehen würde, welche Gefühle er für sie hegte, so würde sie ihn bestimmt entweder auslachen (und das wäre schlimm) oder aber ihm zu verstehen geben, daß sie sich vor einem Fettkloß wie ihm ekelte (was noch viel schlimmer wäre).

»Paul Anderson... Carla Bordreaux... Greta Bowie.,. Calvin Clark... Cissy Clark...«

Mrs. Douglas rief in alphabetischer Reihenfolge die Namen ihrer Fünft-kläßler auf, und die Kinder traten vor, nahmen ihre lederfarbenen Zeugnisse mit der amerikanischen Flagge und dem Treuegelöbnis auf dem vorderen Einband und dem Vaterunser auf dem hinteren Einband in Empfang, gingen manierlich zur Tür... und sausten dann den Gang entlang, an dessen Ende die große Flügeltür weit offenstand. Und so rannten sie in den Sommer hinein - manche hüpfend und springend, andere auf unsichtbaren Pferden reitend, wobei sie sich mit den Händen auf die Schenkel schlugen, um das Hufgetrappel nachzuahmen, wieder andere auf Fahrrädern; manche hängten sich ein, bildeten Ketten und sangen: »Mine eyes have seen the glory of the burning of the school« nach der Melodie von >The Battle Hymn af the Republik

»Marcia Fadden... Frank Frick... Ben Hanscom...«

Er stand auf, warf einen letzten Blick auf Beverly Marsh - zumindest dachte er, daß es für diesen Sommer der letzte sein würde - und ging nach vorne, ein zehnjähriger Junge mit einem Gesäß etwa von der Größe NeuMexicos in scheußlichen neuen Bluen Jeans, deren Kupfernieten im hellen Licht funkelten und die ein schabendes Geräusch von sich gaben, wenn seine fetten Schenkel beim Gehen aneinanderrieben. Seine Hüften wackelten wie bei einem Mädchen, und sein Bauch schwabbelte von einer Seite zur anderen. Er trug einen sackartigen Sweater, weil er sich seiner Brust furchtbar schämte, seit er am ersten Schultag nach den Weihnachtsferien eines seiner neuen Ivy-League-Hemden getragen hatte, und Belch Huggins,

ein Sechstkläßler, gebrüllt hatte: »He, schaut euch nur mal Hanscom an! Der Weihnachtsmann hat Benny Hanscom tolle Titten geschenkt!« und sich vor Lachen über seinen eigenen Witz gebogen hatte. Andere hatten in sein Gelächter eingestimmt... darunter auch einige Mädchen. Ben wäre in jenem Augenblick vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.

Deshalb trug er jetzt immer sackartige Sweater. In dieser einen Hinsicht hatte er sich gegenüber seiner Mutter durchgesetzt. Wenn an jenem Tag Beverly mit den anderen gekichert hätte, dann wäre er- so glaubte er- gestorben.

»Es war eine Freude, dich dieses Jahr zu unterrichten, Benjamin«, sagte Mrs. Douglas, als sie ihm sein Zeugnis überreichte.

»Danke, Mrs. Douglas«, sagte er, und aus dem Hintergrund des Klassenzimmers ertönte ein leises nachäffendes »Danke, Mrs. Douglas«. Das war natürlich Henry Bowers. Henry war im Vorjahr sitzengeblieben; das war der Grund, weshalb er nicht zusammen mit seinen Freunden Belch Huggins und Victor Criss die sechste Klasse besucht hatte. Ben vermutete, daß Bowers auch diesmal wieder Probleme mit der Versetzung hatte, denn sein Name war vorhin bei der alphabetischen Zeugnisverteilung nicht aufgetaucht.

Ben fühlte sich bei diesem Gedanken etwas unbehaglich. Während der schriftlichen Prüfungsarbeiten in Mathematik, Geographie und Rechtschreibung, die vor einer Woche stattgefunden hatten, waren sie von Mrs. Douglas umgesetzt worden - sie hatte die Plätze ausgelost -, und dabei war Ben in der letzten Reihe gelandet, neben dem von allen gefürchteten Henry Bowers. Er hatte sich wie immer tief über seine Blätter gebeugt und sie mit dem linken Arm abgedeckt, weil das seine Lieblingsposition war.

Etwa nach der Hälfte der vorgegebenen Zeit hatte Ben über den Gang hinweg einen geflüsterten Befehl gehört, so leise und meisterhaft vorgebracht wie von einem erfahrenen alten Sträfling im Gefängnishof: »Laß mich abschreiben!«

Er hatte bestürzt einen Blick nach links geworfen und direkt in die schwarzen, immer wütenden Augen von Henry Bowers geschaut. Henry war für einen zwölfjährigen Jungen sehr groß, mit kräftigen Arm- und Beinmuskeln ausgestattet - sein Vater, von dem es hieß, er sei verrückt, hatte eine Farm am Ende der Kansas Street, in der Nähe der Stadtgrenze von Newport, und Henry mußte 30 Stunden wöchentlich harken, Unkraut jäten, pflanzen oder ernten. Wenn es nichts anderes zu tun gab, ließ Mr. Bowers Henry Steine auflesen. Davon gab es auf den Feldern immer eine ganze Menge.

Henrys Haare waren so kurz geschnitten, daß seine weiße Schädeldecke durchschimmerte. Die vorderste Reihe seiner Haarstoppeln stand immer hoch, denn er bestrich sie mit einem Gel, das er stets in der Hüfttasche seiner Jeans bei sich trug. Er roch immer nach Schweiß und Kaubonbons und trug mit Vorliebe eine pinkfarbene Motorradjacke mit einem Adler auf dem Rük-ken, und als ein Viertkläßler es einmal gewagt hatte, über diese Jacke zu lachen, war Henry blitzschnell über ihn hergefallen und hatte dem unglückseligen Jungen seine schmutzige Faust ins Gesicht geschmettert und ihm drei Vorderzähne ausgeschlagen. Daraufhin war er für zwei Wochen vom Schulbesuch ausgeschlossen worden. Ben hatte damals die glühende Hoffnung der Unterdrückten und Terrorisierten gehegt, daß man Henry für immer von der Schule verweisen würde, aber dieses Glück war ihm nicht widerfahren. Zwei Wochen später war Henry wieder unheilverkündend auf den Schulhof stolziert, prächtig anzusehen in seiner pinkfarbenen Motorradjacke und mit den pomadisierten Haarstoppeln. Unter beiden Augen waren noch die Spuren der Prügel zu erkennen gewesen, die sein verrückter Vater ihm für >Kämpfen im Schulhof< verabreicht hatte. Aber niemals mehr hatte es jemand gewagt, über Henrys pinkfarbene Motorradjacke zu spotten.

Als Henry Ben während der Prüfung aufgefordert hatte, ihn abschreiben zu lassen, waren Ben verschiedene Gedanken durch den Kopf geschossen -sein Verstand arbeitete so schnell und präzise wie sein Körper fett und schwerfällig war. Wenn Mrs. Douglas bemerkte, daß Henry von ihm abschrieb, würden sie beide für die Prüfungsarbeiten Sechser bekommen, war sein erster Gedanke gewesen, und der zweite: Wenn er Henry nicht abschreiben ließ, würde dieser ihm nach der Schule auflauern und ihm die berüchtigten Fausthiebe verpassen, wobei Belch Huggins und Victor Criss vermutlich seine Arme festhalten würden.

Sein dritter Gedankengang war komplizierter gewesen, fast schon der eines Erwachsenen.

Vielleicht kann ich ihm in der letzten Schulwoche aus dem Weg gehen. Und vielleicht vergißt er die Sache im Laufe des Sommers. Ja. Er ist sehr dumm. Und vielleicht wird er dann wieder sitzenbleiben. Er wird nicht mehr in meiner Klasse sein und mich nicht mehr schikanieren können... Ich werde dann auch vor ihm auf die Junior High School kommen. Ich werde vielleicht... frei sein.

»Laß mich abschreiben!« hatte Henry wieder geflüstert, fordernd, mit blitzenden Augen.

Ben hatte leicht den Kopf geschüttelt und seinen Arm schützend über seine Blätter gehalten.

»Du kriegst es mit mir zu tun, Fettkloß!« hatte Henry in seiner Verzweiflung etwas lauter geflüstert. Sein Blatt war noch völlig leer gewesen. »Laß mich abschreiben, oder du kriegst es mit mir zu tun!«

Ben hatte wieder den Kopf geschüttelt, unglücklich, aber - zum erstenmal in seinem Leben - fest entschlossen. Er hatte seinen Entschluß gefaßt und würde daran festhalten.

»Spricht jemand da hinten?« hatte Mrs. Douglas plötzlich laut und scharf gerufen. »Das muß sofort aufhören!«

In den folgenden zehn Minuten hatte absolute Stille geherrscht, und die jungen Köpfe hatten sich eifrig über die vervielfältigten Prüfungsblätter gebeugt. Dann hatte Ben wieder Henrys Flüstern vernommen, kaum hörbar, aber rasend vor Wut: »Du bist ein toter Mann, Fettkloß!«

Jetzt dankte Ben Mrs. Douglas, nahm sein Zeugnis entgegen, entfernte sich und dankte sämtlichen Göttern, die es für fette elfjährige Jungen geben mochte, daß Henry Bowers nicht vor ihm das Klassenzimmer verlassen hatte und ihm deshalb auch nicht auflauern konnte.

Er rannte nicht den Korridor entlang - er konnte rennen, aber er war sich überdeutlich bewußt, wie komisch er dann aussah -, aber er ging raschen Schrittes zur Tür, trat in die helle Junisonne hinaus und wandte ihr einen Augenblick das Gesicht zu, dankbar für die Wärme und für die vor ihm liegende Freiheit. Der September schien ihm eine Ewigkeit entfernt zu sein. Der ganze Sommer gehörte ihm, und er hatte das Gefühl, die ganze Welt umarmen zu können.

Jemand stieß ihn kräftig an. Die angenehmen Gedanken an einen Sommer, der so jungfräulich unberührt vor ihm lag wie frisch gefallener Schnee auf einer Wiese, verschwanden schlagartig, als er taumelte und auf der Kante der obersten Stufe verzweifelt versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Es gelang ihm, das Eisengeländer zu umklammern und auf diese Weise einen schlimmen Sturz zu vermeiden.

»Geh mir aus dem Weg, Fettwanst!« Es war Victor Criss, der nun auf das Eingangstor zu stolzierte, das pomadisierte Haar zurückgekämmt, Hände in den Hosentaschen, mit den Nägeln seiner Stiefel scharrend.

Mit laut pochendem Herzen sah Ben, daß Belch Huggins auf der anderen Straßenseite stand und eine Zigarette rauchte, die er Victor reichte, als dieser zu ihm trat. Criss zog daran und gab sie Belch zurück. Dann deutete er auf Ben, der auf halber Treppe wieder stehengeblieben war, und sagte etwas. Beide brachen in schallendes Gelächter aus. Bens Gesicht glühte plötzlich - sie erwischten einen immer. Das war Schicksal oder irgend so was.

»Liebst du diesen Ort so sehr, daß du den ganzen Tag hier stehenbleiben willst?« sagte jemand neben ihm.

Ben drehte sich um und errötete noch stärker. Es war Beverly Marsh mit ihren herrlichen graugrünen Augen und dem rotgoldenen Haar, das wie ein Heiligenschein ihr Gesicht umrahmte. Sie hatte die Ärmel ihres Sweat-shirts bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt; es war am Ausschnitt sehr abgetragen und so weit, daß man nicht sehen konnte, ob sie schon Ansätze von Brüsten hatte oder nicht, aber das war Ben ohnehin egal; auch vorpubertäre Liebe kennt Wogen von alles überwältigender Kraft, und in diesem Augenblick fühlte sich Ben sowohl tölpelhaft als auch hochgestimmt, so verwirrt und verlegen wie noch nie im Leben... und doch zugleich auch völlig selig. Diese komplizierten Gefühle verschlugen ihm die Sprache.

»Nein«, brachte er schließlich mühsam hervor und räusperte sich. »Bestimmt nicht.« Ein idiotisches Grinsen breitete sich auf seinem fetten Gesicht aus.

»Dann ist's ja gut. Die Schule ist nämlich aus, mußt du wissen. Gott sei Dank!«

»Ich wünsch' dir einen schönen Sommer, Beverly«, sagte er.

»Danke, gleichfalls. Ben. Also dann, bis zum Herbst.«

Und sie lief weiter die Treppe hinab, leichtfüßig und anmutig, und Ben nahm alles an ihr mit den Augen der Liebe wahr: die leuchtenden Schottenkaros ihres Rockes, die wippenden roten Haare auf dem Sweatshirt, den hellen, zarten Teint, die kleine, fast verheilte Schnittwunde an ihrer Wade, die Tatsache, daß sie keine Strümpfe trug und das goldene Fußkettchen direkt über ihrem rechten Schuh, das in der Sonne funkelte (aus irgendeinem Grunde überwältigte ihn besonders diese letzte Einzelheit; seine Gefühle wurden wieder so übermächtig, daß er sich am Geländer festhalten mußte; vielleicht war es eine Art sexuelle Vorahnung, obwohl sein Körper noch nicht bereit für solche Dinge war, bedeutungslos und doch so grell aufleuchtend wie ein Blitz in einer klaren, heißen Sommernacht.

Ein unartikulierter Laut kam aus seinem Mund. Er ging die Treppe hinab wie ein Schlafwandler, blieb unten stehen und blickte ihr nach, bis sie nach links abbog und hinter einer hohen Hecke verschwand, die den Schulhof vom Trottoir trennte.

3

Die kurze Unterhaltung mit Beverly hatte Ben total durcheinandergebracht; trotzdem hatte er aber seine potentiellen Probleme mit Henry Bowers nicht ganz vergessen. Er war nicht so geistesabwesend, daß er - wie Bev - den Vorderausgang benutzt hätte; dieser Weg barg Gefahren, weil Belch Huggins und Victor Criss dort herumstanden.

Statt dessen überquerte er den Spielplatz, verließ das Schulgelände durch die kleine Hinterpforte und ging die Charter Street entlang, ohne dem Steingebäude, in dem er während der letzten neun Monate jeden Werktag verbracht hatte, auch nur einen Blick zu gönnen. Die nächsten acht Blocks legte er - so schien es ihm - zurück, ohne daß seine Schuhsohlen den Boden berührten.

Heute war um die Mittagszeit Schulschluß gewesen; seine Mutter würde frühestens um sechs nach Hause kommen, denn mittwochs ging sie von der Fabrik aus immer direkt zum Einkaufen. Ein langer Nachmittag lag vor ihm und wartete darauf, ausgefüllt zu werden.

Er ging in den McCarron-Park und setzte sich eine Zeitlang unter einen Baum. Dort träumte er vor sich hin und flüsterte von Zeit zu Zeit: »Ich liebe Beverly Marsh«, wobei ihn jedesmal ein leichter romantischer Schauder durchlief. Einmal, als Jungen zum Baseballspielen in den Park gerannt kamen, flüsterte er auch vor sich hin: »Beverly Hanscom.« Danach drückte er sein Gesicht ins Gras, bis seine glühenden Wangen etwas abgekühlt waren.

Kurz darauf stand er auf und durchquerte den Park in Richtung Costello Avenue. Von dort waren es nur fünf Blocks bis zur öffentlichen Bücherei, zu der es ihn - wie er vermutete - schon die ganze Zeit über hinzog. Fast gelang es ihm, den Park unbemerkt zu verlassen, aber dann entdeckte ihn ein Sechstkläßler namens Pete Gendron und rief: »He, Hanscom, willste mitspielen? Wir brauchten noch 'nen guten Torwart!« Ein schallendes Gelächter folgte diesen Worten, dem Ben mit eingezogenem Kopf so schnell wie möglich zu entkommen versuchte.

Heute schien ein Glückstag für ihn zu sein; die Jungen waren so in ihr Spiel vertieft, daß sie ihn nicht verfolgten, und auf der Costello Avenue entdeckte er unter einem Heckenzaun eine völlig durchweichte Tüte mit vier großen Sodaflaschen - zu fünf Cent Flaschenpfand pro Stück - und vier Bierflaschen. Das waren insgesamt 28 Cent, die nur darauf warteten, von irgendeinem Kind eingelöst zu werden. Ben hob die Flaschen auf und brachte sie in den Supermarkt auf der Costello Avenue, wo er sie abgab, sich das Geld dafür geben ließ und dann für 24 Cent billige Bonbons kaufte.

Mit seiner braunen Papiertüte voll Bonbons trat er wieder auf die Straße hinaus. Von dem Flaschenpfandgeld waren nur noch vier Cent übrig. Er betrachtete die braune Tüte, und plötzlich stieg ein Gedanke in ihm auf:

Wenn du so weiterfrißt, wird Beverly Marsh dich nie lieben -

und er verdrängte ihn rasch wieder-. Wenn jemand ihn gefragt hätte: >Ben, bist du einsam?< hätte er den Fragesteller überrascht angeschaut, denn dieser Gedanke war ihm noch nie gekommen. Er hatte keine Freunde, aber er hatte seine Bücher, seine Träume und seine Modellbaukästen. Zu seinem Geburtstag im Oktober würde er vielleicht sogar den Super-Deluxe-Bauka-sten bekommen, mit dem man eine Uhr bauen konnte, die richtig die Zeit anzeigte, oder ein Auto mit richtiger Gangschaltung. >Einsam?< hätte er vermutlich geantwortet, ehrlich verblüfft. >Häh? Was?<

Ein Kind, das von Geburt an blind ist, ist sich dessen nicht bewußt, bis jemand es darauf aufmerksam macht, und selbst dann hat es nur eine abstrakte Vorstellung davon, was Blindheit bedeutet; nur jene Menschen, die sehen können oder aber ihr Augenlicht verloren haben, begreifen wirklich, was es heißt, blind zu sein. Entsprechend hatte auch Ben Hanscom nicht das Gefühl, einsam zu sein, weil er es immer gewesen war. Wenn das ein neuer Zustand gewesen wäre, hätte er wahrscheinlich darunter gelitten; aber die Einsamkeit umgab von jeher sein Leben von allen Seiten. Deshalb spürte er sie kaum. Sie war einfach eine Realität, ebenso wie sein zweigliedriger Daumen oder die kleine Kerbe auf der Innenseite eines Vorderzahns, über die er unwillkürlich immer mit der Zunge fuhr, wenn er nervös war.

Beverly war ein süßer Traum; die Bonbons waren eine süße Realität. Die Bonbons waren seine Freunde. Deshalb verdrängte er den unangenehmen Gedanken sofort wieder, während er die Costello Avenue in Richtung Bücherei entlangging. Einen Teil der Bonbons wollte er sich für den Abend vor dem Fernseher aufsparen. >Whirlybirds< kam heute, mit Kenneth Tobey als furchtlosem Hubschrauberpiloten. Und außerdem Broderick Crawford in >Highway Patroh. Broderick Crawford war Bens persönliches Idol. Er war, wie Ben selbst, sehr dick. Aber dieser Teufelskerl war schnell, er war hartgesotten und ließ sich von niemandem etwas gefallen.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, erreichte Ben die Ecke Costello Avenue und Kansas Street, wo er die Straße überquerte, um zur Bücherei zu kommen. Sie bestand aus zwei Gebäuden - dem alten Steinhaus, das 1890 mit Geldern reicher Holzhändler gebaut worden war, und dem neuen niedrigen Sandsteingebäude hinter dem Hauptgebäude, in dem die Kinderbücherei untergebracht war. Die beiden Abteilungen waren durch einen verglasten Korridor miteinander verbunden.

Auf diesem Abschnitt in der Nähe der Stadtmitte war die Kansas Street eine Einbahnstraße, deshalb schaute Ben nur nach rechts, bevor er die Straße überquerte. Hätte er einen Blick nach links geworfen, so hätte er einen Riesenschreck bekommen. Links von der Bücherei, etwa anderthalb Blocks entfernt, erhob sich die Stadthalle, ein altes viktorianisches Gebäude, das vom Nationalen Rat der Kirchen für die Bürger von Derry renoviert worden war. Auf dem Rasen neben der Stadthalle standen im Schatten einer großen alten Eiche Belch Huggins, Victor Criss... und Henry Bowers.

»Kommt, jetzt schnappen wir ihn uns!« sagte Victor Criss begierig.

Henry beobachtete, wie der fette Dreckskerl rasch die Straße überquerte, mit schwabbelndem Bauch und wackelndem Hintern in den neuen Jeans, mit einer auf und ab wippenden abstehenden Haarsträhne am Hinterkopf. Er schätzte die Entfernung zwischen ihnen und Hanscom ab, danach die zwischen Hanscom und der Sicherheit bietenden Bücherei. Vermutlich würden sie ihn schnappen, bevor er hineinlaufen konnte, aber der fette Dreckskerl könnte ein Gebrüll loslassen. Ein Erwachsener könnte sich einmischen.

Henry wünschte keine Einmischung.

Der fette Dreckskerl hatte ihn nicht abschreiben lassen, obwohl er ihn dazu aufgefordert hatte, und vorhin hatte diese Hexe von Douglas ihm gesagt, daß er in Englisch und Mathematik durchgefallen war. Sie hatte ihm erklärt, daß er trotzdem versetzt würde, aber er müsse dazu vier Wochen lang die Sommer-Wiederholungskurse besuchen. Henry wäre lieber noch einmal sitzengeblieben, denn zur Sommerschule gehen zu müssen, bedeutete Prügel von seinem Vater. Henry würde nicht da sein, um bei der Heuernte zu helfen, Henry würde nicht da sein, um Erbsen zu ernten, Henry würde nicht da sein, um zu jäten. Folglich würde er im Holzschuppen eine Tracht Prügel bekommen, und über diese Aussicht tröstete ihn nur hinweg, daß er die Prügel an diesen fetten Dreckskerl Ben Hanscom weitergeben würde.

»Ja, gehen wir«, meinte auch Belch.

»Nein, warten wir lieber, bis er wieder rauskommt«, sagte Henry.

Die drei standen im Schatten der Eiche und beobachteten, wie Ben einen Flügel der großen Tür öffnete und hineinging.

5

Ben liebte die Bücherei.

Er liebte die Tatsache, daß es dort selbst an den heißesten Sommertagen kühl war; er liebte die beruhigende Stille, die nur gelegentlich von einem Flüstern unterbrochen wurde, vom Rascheln einer Zeitung oder Zeitschrift oder vom leisen Geräusch des Stempels auf Büchern und Leihkarten; er liebte das Licht, das nachmittags in staubigen Strahlen durch die hohen, schmalen Fenster einfiel oder an Winterabenden warm von den großen, an Ketten von der Decke herabhängenden Kugellampen ausging. Er liebte den Geruch von Büchern, und manchmal schlenderte er an den Regalen entlang, betrachtete die Tausende von Büchern für Erwachsene und malte sich aus, daß jedes eine Welt für sich war, von den verschiedensten Gestalten bevölkert; genauso malte er sich manchmal aus, wenn er in der Oktoberdämmerung seine Straße entlangging und die Sonne nur eine scharfe orangegelbe Linie am Horizont war, wie wohl das Leben hinter den Fenstern aussehen mochte - Menschen, die lachten oder sich stritten oder Karten spielten oder ihre Haustiere fütterten oder Fernsehen schauten. Er liebte es,

daß es im Verbindungsgang zwischen der alten Bücherei und Kinderbücherei sogar im Winter immer heiß war, abgesehen von bewölkten Tagen; das sei der Gewächshaus-Effekt, hatte Mrs. Starrett, die Leiterin der Kinderbücherei, ihm erklärt, und Ben war fasziniert von dieser Idee. Jahre später baute er in London ein heiß diskutiertes Gebäude für den BBC, ein Gebäude, das fast nur aus Glas bestand, und niemand wußte (abgesehen von Ben selbst), daß das BBC-Kommunikationszentrum, das etliche Millionen Pfund verschlungen hatte, große Ähnlichkeit mit dem gläsernen Verbindungskorridor zwischen der Alten Bücherei und der Kinderbücherei von Derry hatte, wenn man sich diesen vertikal aufgerichtet vorstellte.

Ben liebte auch die Kinderbücherei, obwohl sie nichts von dem geheimnisvollen Zauber der Alten Bücherei mit ihren Kugellampen, den eisernen Wendeltreppen und den hohen Gleitleitern besaß. Die Kinderbücherei war hell und sonnig, und trotz der Hinweistafeln > Bitte Ruhe< war es hier immer etwas lauter, hauptsächlich wegen >Poohs Ecke<, wo die kleinen Kinder Bilderbücher und ähnliches anschauen konnten. Heute las Miß Davies, die hübsche junge Bibliothekarin, gerade vor, und die Kleinen saßen ruhig da und lauschten gebannt dem Märchen >Billy Goat's

Gng-

»Wer trippelt und trappelt da über meine Brücke?« las Miß Davies, als Ben an ihr vorbeiging. Sie imitierte die tiefe, brummende Stimme des Trolls in der Geschichte, und einige Kinder hielten sich die Hand vor den Mund und kicherten, aber andere hingen gebannt an ihren Lippen, und ihre Augen spiegelten die ewige Faszination des Märchens: würde das Ungeheuer besiegt werden... oder würde es die Guten auffressen?

In der Kinderbücherei hingen viele bunte Poster. Auf einem Cartoon war ein braves Kind dargestellt, das sich so intensiv die Zähne putzte, daß es Schaum vor dem Mund hatte wie ein tollwütiger Hund; auf einem anderen Cartoon war ein böses Kind dargestellt, das Zigaretten rauchte; da hing ein herrliches Foto, auf dem eine Billion winziger Lichter in der Dunkelheit flackerten, und darunter stand der Ausspruch: EINE EINZIGE IDEE ENTZÜNDET TAUSENDE KERZEN.

Emerson

Ein Poster lud dazu ein, sich den Pfadfindern anzuschließen; ein weiteres behauptete: die Mädchenklubs von heute formen die frauen von morgen. Es gab Einladungen zum Baseballspielen und zum Kindertheater in der Stadthalle. Und dann natürlich das Poster: beteiligt euch am sommer-leseprogramm. Ben kam dieser Aufforderung jedes Jahr begeistert nach. Wenn man sich dazu einschrieb, erhielt man eine Karte der Vereinigten Staaten. Für jedes gelesene Buch, über das man einen kurzen Bericht schrieb, bekam man dann einen Aufkleber mit Informationen über einen Bundesstaat, sein Wappen und ähnliches. Wenn man alle 49 Staaten auf der Karte aufgeklebt hatte, gab es einen Buchpreis. Ben beabsichtigte, die Anregung auf dem Poster zu befolgen: verliere keine

ZEIT, SCHREIB DICH NOCH HEUTE EIN.

Von all diesen farbenfrohen Postern stach ein einfaches Plakat ab (paßte aber irgendwie gut zu Miß Davies' brummender Stimme in >Poohs

Ecke< hinter ihm), das an der Ausleihtheke angebracht war, hinter der Mrs. Starrett gerade Benachrichtigungen wegen überfälliger Bücher schrieb. Auf dem Plakat stand nur:

DENKT AN DIE SPERRSTUNDE!

19 UHR POLIZEISTATION DERRY.

Ein kleiner Schauder lief Ben über den Rücken. Über der ganzen Aufregung - dem Beginn der Sommerferien, dem Zeugnis, den beiden Raufbolden Criss und Huggins gegenüber der Schule und der Unterhaltung mit Beverly Marsh - hatte er die Sperrstunde ganz vergessen... und die Morde.

Man war sich nicht ganz einig darüber, wieviel es eigentlich gewesen waren. Manche sagten, der kleine Denbrough, George, sei das erste Mordopfer gewesen, während andere behaupteten, daß dieser Mord im vergangenen Oktober mit den anderen nicht in Verbindung stehe, aber alle stimmten darin überein, daß sich seit dem Tag nach Weihnachten des Vorjahres mindestens vier Morde ereignet hatten; damals war Betty Ripsom an der Outer Jackson Street gefunden worden, in der Nähe der Baustelle für den neuen Autobahnabschnitt. Das dreizehnjährige Mädchen war teilweise in die schlammige Erde im Straßengraben eingefroren; sein Körper war übel verstümmelt gewesen.

Etwa dreieinhalb Monate später, kurz nach Beginn der Forellenfangsaison, hatte ein Fischer, der etwa 20 Meilen östlich von Derry am Ufer des To-rault Stream angelte, etwas an Land gezogen, das er zunächst für einen Stock gehalten hatte. Es hatte sich dabei aber um eine Hand mit einem Stück Unterarm eines Mädchens gehandelt. Der Angelhaken war ins Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger eingedrungen. Die Polizei hatte den Rest von Cheryl Lamonicas Körper etwa 70 Yards weiter stromabwärts gefunden - er hatte sich in einem Baum verfangen, der im Winter umgestürzt und in den Fluß gefallen war. Der die Suchaktion leitende Polizeibeamte hatte darauf hingewiesen, daß der Torault weniger als eine halbe Meile stromabwärts in den Penobscot mündete und es deshalb reines Glück gewesen war, daß die Leiche des Mädchens von der starken Strömung im Frühjahr nicht in den großen Fluß und von dort ins Meer geschwemmt worden war.

Cheryl Lamonica war 16 Jahre alt gewesen. Sie hatte keine Schule mehr besucht; mit 13 hatte sie ihre Tochter Andrea zur Welt gebracht und mit ihr im Hause ihrer Eltern gewohnt. »Cheryl war ein bißchen wild, aber im Grunde genommen war sie ein gutes Mädchen«, hatte ihr schluchzender Vater der Polizei berichtet. Das Mädchen war fünf Wochen vor Auffindung der Leiche als vermißt gemeldet worden. Die vorherrschende Meinung war damals gewesen, daß einer von Cheryls Freunden (»Oh, sie hatte mehrere, die meisten waren nette Jungs«, hatte ihre Mutter gesagt; aber einer der metten Jungs<, der mit der sechzehnjährigen Cheryl ausgegangen war, war ein neunundzwanzigjähriger, in Banbor stationierter Luftwaffenoberst gewesen) sie umgebracht hatte. Oder daß ein Sexualmörder beide Mädchen auf dem Gewissen hatte.

Wenn es sich um einen Sexualmörder handelte, so hatte er es offensichtlich auch auf Jungen abgesehen, denn Ende April hatte ein Lehrer der Junior High School, der mit seiner Klasse eine Wanderung machte, ein Paar rote Segeltuchschuhe und die Hosenbeine eines blauen Spielanzugs erspäht, die aus einem Abzugskanal an der Merit Street herausragten. Dieser Teil der Merit Street war im Herbst des Vorjahres abgesperrt und der Asphalt mit Bulldozern aufgerissen worden; die neue Autobahn nach Bangor sollte auch hier vorbeiführen.

Die Leiche erwies sich als die des dreijährigen Matthew Clements, der erst am Vortag von seinen Eltern als vermißt gemeldet worden war (sein Foto war auf der ersten Seite der >Derry News< gewesen - ein Junge mit langen dunklen Haaren, der unter einer Mütze hervor frech in die Kamera gegrinst hatte). Die Clements wohnten in der Kansas Street, ziemlich am ' Stadtrand. Matthews Mutter, die vor Kummer so erstarrt war, daß sie eine unheimliche, jenseitige Ruhe ausstrahlte, hatte der Polizei erzählt, daß der Junge mit seinem Dreirad auf dem Gehweg neben dem Haus, das an der Ecke von Kansas Street und einer Sackgasse namens Kossuth Lane stand, auf und ab gefahren sei. Sie selbst habe nur kurz ihre Wäsche aus der Waschmaschine in den Trockner gepackt, und als sie dann wieder aus dem Fenster geschaut habe, sei nur noch sein Dreirad zu sehen gewesen, das umgestürzt im Rinnstein zwischen Gehweg und Straße lag. Eines der Hinterräder habe sich noch gedreht.

Daraufhin hatte Polizeichef Borton die Sperrstunde verhängt. Alle Kinder mußten um sieben Uhr abends zu Hause sein. Kleine Kinder sollten ständig von einem qualifizierten Erwachsenem beaufsichtigt werden. In Bens Schule hatte vor einem Monat eine Versammlung stattgefunden, bei der Polizeichef Borton ihnen versichert hatte, sie brauchten keine Angst zu haben, sollten aber trotzdem vorsichtig sein: die Sperrstunde einhalten, nicht mit Fremden reden, nie zu unbekannten Männern oder Frauen ins Auto steigen und sich immer daran erinnern, daß die Polizei dein Freund und Helfer ist.

Vor zwei Wochen hatte ein Junge, den Ben oberflächlich kannte (er war in einer der beiden anderen fünften Klassen der Fairmount-Schule), in einen Gully in der Nähe der Stelle geschaut, wo die Witcham Street in Witcham Road überging, und dort unten Haare schwimmen sehen. Eine Menge Haare. Dieser Junge, der entweder Frankie oder Freddy ROSS (vielleicht auch Roth) hieß, war mit einer einfallsreichen Erfindung unterwegs gewesen, die er >Gummi-Stecken< nannte. Es handelte sich dabei um einen langen, schmalen Birkenast, an dessen Spitze Frankie oder Freddy einen großen Klumpen Kaugummi befestigt hatte. In seiner Freizeit schweifte Freddy (oder Frankie) mit seinem Gummi-Stecken durch Derry und spähte in Gullys. Manchmal sah er dort unten Geld liegen - meistens Pennies, manchmal aber auch Zehn-Cent- oder Fünfundzwanzig-Cent-Münzen. Sobald er das Geldstück ausfindig gemacht hatte, trat sein Gummi-Stecken in Aktion, und gleich darauf klimperte die Münze in Frankie-Freddys Tasche.

Ben hatte Gerüchte über Frankie-oder-Freddy gehört, lange bevor der Junge als Entdecker der Leiche von Veronica Grogan bekannt wurde. »Der Kerl ist wirklich unappetitlich«, hatte ein Junge namens Richie Tozier Ben eines Tages während der Pause anvertraut. Tozier war ein mageres Bürschchen, dessen Brillengläser so dick waren wie der Boden einer Coke-Flasche, und er hatte riesige Schneidezähne, die ihm den Spitznamen Bucky Beaver eingebracht hatten. Er war in derselben fünften Klasse wie Frankie-oder-Freddy. »Den ganzen Tag stochert er mit seinem Stecken in den Gullys herum, und abends nimmt er den Kaugummi vom Stecken ab und kaut ihn.«

Frankie-oder-Freddy war nach Hause gerannt und hatte seiner Mutter erzählt, daß jemand eine Perücke in einen der Gullys in der Witcham Road geworfen hätte. Seine Mutter hatte ihm erklärt, er solle sich zum Teufel scheren. Der Junge war mit seinem Gummi-Stecken zu der Stelle zurückgegangen und hatte solange herumgestochert, bis ein Gesicht aus dem schmutzigen Wasser auf dem Grund des verstopften Gullys aufgetaucht war, ein Gesicht, an dessen weißen Wangen welke Blätter klebten wie eine groteske Kriegsbemalung, und das Schmutz in den starren Augen hatte.

Frankie-oder-Freddy war schreiend nach Hause gerannt.

Veronica Grogan war in der vierten Klasse der Neibolt School gewesen, die von Leuten geleitet wurde, die Bens Mutter als >Baptisten< bezeichnete. Am Tage ihrer Beerdigung wäre Veronica zehn Jahre alt geworden.

Nach diesem letzten schrecklichen Vorfall hatte sich Arlene Hanscom zu ihrem Sohn gesetzt und gefragt: »Ben, bist du ein Dummkopf?«

»Nein, Mama«, hatte Ben geantwortet. Ihm war etwas unbehaglich zumute gewesen. Er hatte keine Ahnung gehabt, worauf sie hinauswollte. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals so ernst erlebt zu haben.

»Nein«, wiederholte sie nachdenklich. »Das glaube ich auch nicht.«

Dann schwieg sie lange und schaute aus dem Fenster in die Nacht hinaus, und Ben fragte sich, ob sie ihn vielleicht vergessen hatte. Sie war noch eine junge Frau, erst 32, aber die Schwierigkeiten, allein für ihren Sohn sorgen zu müssen, waren ihr deutlich anzusehen. Sie arbeitete 40 Stunden pro Woche in Starks Textilfabrik in Newport, und manchmal, wenn besonders viele winzige Textilfasern und Staub im Raum herumschwirrten, hustete sie abends so lange und so stark, daß Ben Angst bekam. Es hatte Abende gegeben, an denen er nicht einschlafen konnte und darüber nachdachte, was wohl aus ihm werden würde, wenn sie starb. Er wäre dann eine Waise, und vermutlich würde man ihn ins Waisenhaus nach Bangor stecken. Das war ein schrecklicher Gedanke. Seine Mutter war eine strenge Frau, die darauf bestand, daß er ihr widerspruchslos gehorchte, aber sie war eine sehr gute Mutter. Er liebte sie sehr.

»Du weißt doch über diese Morde Bescheid«, sagte sie an jenem speziellen Abend schließlich.

Er nickte.

»Zuerst glauben die Leute, die Sache hätte...« Sie zögerte, denn sie hatte mit ihrem Sohn noch nie über dieses Thema gesprochen, aber die Umstände waren ungewöhnlich, und sie zwang sich weiterzureden. »... sexuelle Motive, und vielleicht stimmt das tatsächlich, vielleicht aber auch nicht. Niemand kann mehr irgendwas mit Sicherheit sagen, außer daß irgendein Verrückter frei herumläuft und kleine Kinder umbringt. Verstehst du mich, Ben?«

Er nickte wieder.

»Und du weißt, was ich meine, wenn ich sage, daß es vielleicht Sexualverbrechen waren?«

Er wußte es nicht, aber er nickte. Er wäre vor Scham in die Erde gesunken, wenn seine Mutter mit ihm über Sex geredet hätte.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte sie. »Du bist sehr viel allein - zuviel, nehme ich an. Du...«

»Mom...«

»Unterbrich mich nicht«, sagte sie, und Ben verstummte. »Du mußt sehr vorsichtig sein. Ben. Bald ist Sommer, und ich möchte dir die Ferien nicht verderben, aber du mußt vorsichtig sein. Ich möchte, daß du jeden Abend um sechs Uhr zum Essen zu Hause bist. Wenn ich den Tisch decke und deine Milch eingieße und feststelle, daß kein Ben auf seinem Stuhl sitzt oder sich gerade die Hände wäscht, werde ich die Polizei anrufen und dich als vermißt melden. Verstehst du das?«

»Ja, Mom«, flüsterte er. Sie meinte es wirklich ernst.

»Nun würde es sich später höchstwahrscheinlich als überflüssig erweisen, wenn ich das tun müßte. Ich weiß ein wenig Bescheid, was Jungs so alles treiben. Ich weiß, daß sie während der Sommerferien immer mit irgendwas beschäftigt sind - Bienen bis zu ihren Bienenstöcken zu verfolgen oder Ball zu spielen oder was auch immer. Ich kann mir ziemlich gut vorstellen, womit du und deine Freunde euch die Zeit vertreibt, weißt du, Ben.«

Ben nickte nachdenklich und dachte insgeheim, daß sie nicht sehr viel von ihm wissen konnte, wenn sie nicht einmal wußte, daß er keine Freunde hatte. Aber es wäre ihm nicht einmal im Traume eingefallen, ihr das zu sagen.

Sie holte etwas aus der Tasche ihres Hauskleides und reichte es ihm. Es war eine kleine Plastikschachtel. Ben öffnete sie und riß vor Staunen den Mund auf. »Wow!« rief er, und seine Freude war nicht gespielt. »Danke, Mom!«

Es war eine Timex-Uhr mit kleinen silbernen Ziffern und einem Kunstleder-Armband. Sie hatte die Uhr aufgezogen und gestellt; er hörte sie ticken.

»Mann, o Mann, die ist ja super!« Er umarmte und küßte sie enthusiastisch und staunte immer wieder seine Uhr an.

Sie lächelte und freute sich über seine Begeisterung. Dann wurde sie wieder ernst. »Nimm sie, trage sie, zieh sie auf, verlier sie nicht. Nachdem du jetzt eine Uhr hast, gibt es für dich keinen plausiblen Grund mehr, zu spät nach Hause zu kommen. Denk daran, was ich dir gesagt habe, Ben: sei pünktlich, sonst wird die Polizei nach dir suchen. Zumindest bis sie diesen Verbrecher schnappen, darfst du keine einzige Minute/zu spät kommen, sonst rufe ich bei der Polizei an.«

»Ja, Mama.«

»Und noch etwas«, fuhr sie fort. »Ich möchte nicht, daß du allein herumläufst. Du weißt zwar, daß du von Fremden keine Süßigkeiten annehmen oder nicht zu ihnen ins Auto steigen darfst - du bist kein Dummkopf, darin stimmen wir überein - und du bist groß für dein Alter, aber ein erwachsener Mann, besonders ein Verrückter, kann ein Kind leicht überwältigen, wenn er es darauf anlegt. Wenn du in den Park oder in die Bücherei gehst - geh mit einem deiner Freunde.«

»Ja, Mom.«

Sie sah ihn besorgt und traurig an. »Die Welt muß wirklich in einem schlimmen Zustand sein, wenn solche Dinge passieren können«, sagte sie. Sie wollte weiterreden, schüttelte dann aber den Kopf und wechselte das Thema. »Du läufst doch so viel herum, Ben. Du mußt so gut wie jedes Fleckchen in Derry kennen, stimmt's?«

Ben wußte nicht, ob er alle Fleckchen kannte, aber er kannte eine ganze Menge. Außerdem war er so aufgeregt über das unerwartete Geschenk, daß er seiner Mutter auch zugestimmt hätte, wenn sie vorgeschlagen hätte, daß John Wayne Hitler spielen sollte. Er nickte.

»Hast du nie etwas bemerkt?« fragte sie. »Irgend etwas oder irgend jemand ... na ja, Verdächtiges? Etwas Außergewöhnliches? Etwas, das dich beunruhigte oder dir Angst einjagte?«

In seiner Freude über die Uhr, seiner Liebe zu seiner Mutter und seinem Glück über ihr Interesse an ihm hätte er ihr fast erzählt, was er im Januar erlebt hatte. Aber im letzten Moment beschloß er, doch lieber den Mund zu halten.

Weshalb? Weil sogar Kinder manchmal intuitiv erfassen, daß es besser ist, aus Liebe zu schweigen, um dem geliebten Menschen Kummer und Sorgen zu ersparen? Ja, das war einer seiner Gründe, nichts von seinem unheimlichen Erlebnis zu verraten. Aber es gab auch andere, weniger edle Gründe. Sie konnte sehr streng sein. Sie konnte ein richtiger Boß sein. Sie bezeichnete ihn nie als dick, sondern nur als >groß<, immer nur als >groß< (manchmal abgewandelt in >groß für dein Alter<), und wenn vom Abendessen Reste übrigblieben, brachte sie sie ihm zum Fernseher, und er aß sie auf, und in seinem tiefsten Innern haßte er sich deswegen (Ben Hanscom hätte nie gewagt, seine Mutter zu hassen; für solche Gedanken würde Gott ihn mit einem Blitz erschlagen).

Außerdem wußte sie nicht, daß er keine Freunde hatte. Dieser Mangel an Wissen ließ ihn ihr mißtrauen - er war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er ihr erzählte, was im Januar passiert war—vielleicht passiert war. Um sechs Uhr abends zu Hause sein zu müssen, war nicht so schlimm. Er konnte lesen und fernsehen. Aber den ganzen Tag im Haus bleiben zu müssen, wäre sehr schlimm - und es war durchaus möglich, daß sie darauf bestehen würde.

Aus diesen Verschiedenen Gründen heraus verschwieg er ihr sein Erlebnis.

»Nein, Mom«\ sagte er. »Nur Mr. McKibbon, der in den Küchenabfällen anderer Leute herumwühlte.«

Das brachte sie zum Lachen - sie konnte Mr. McKibbon nicht leiden, der sowohl Baptist als auch Republikaner war -, und ihr Lachen beschloß dieses ernsthafte Gespräch. An jenem Abend lag Ben im Bett noch lange wach, aber diesmal quälten ihn keine Gedanken daran, elternlos in einer rauhen Welt zurückzubleiben; Er fühlte sich geliebt und geborgen unter seiner Steppdecke. Er hielt seine Uhr abwechselnd ans Ohr, um ihrem Ticken zu lauschen, und dicht vor seine Augen, um das gespenstisch leuchtende Zifferblatt zu bewundern. Schließlich schlief er ein, und im Traum spielte er mit den anderen Jungen Baseball auf dem leeren Parkplatz hinter dem Lastwagenpark der Gebrüder Tracker. Er hatte gerade einen tollen Treffer gelandet und wurde von seiner jubelnden Mannschaft umarmt und anerkennend auf den Rücken geklopft. Dann hoben sie ihn auf ihre Schultern und trugen ihn zu der Stelle, wo ihre Ausrüstung lag. Im Traum platzte er fast vor Stolz und Freude... und dann warf er einen Blick zurück auf den Parkplatz, der durch einen Kettenzaun von den dahinter beginnenden Barrens abgegrenzt war.

Von den Bäumen und Büschen hinter dem Zaun fast verdeckt, stand eine Gestalt. Sie winkte ihm mit einer Hand zu; in der anderen hielt sie eine Traube Luftballons - rote, gelbe, blaue, grüne. Ben konnte das Gesicht der Gestalt nicht sehen, aber er sah das glänzende, bauschige Kostüm mit großen orangefarbenen Pompons anstelle von Knöpfen. Er sah die große schlaffe Fliege und die weißen Handschuhe.

Es war ein Clown.

Als Ben am nächsten Morgen aufwachte, hatte er den Traum vergessen, aber sein Kopfkissen fühlte sich feucht an... so als hätte er nachts geweint.

6

Ben schüttelte die Gedanken an das Sperrstunden-Schild und alles, was damit zusammenhing, so leicht von sich ab wie ein Hund den Regen und ging zur Ausleihtheke.

»Hallo, Benny«, sagte Mrs. Starrett. Sie hatte Ben sehr gern, genauso wie seine Lehrerin Mrs. Douglas (und vor ihr Miß Hembek und all die anderen Lehrerinnen vor Miß Hembek). Erwachsene mochten ihn im allgemeinen, weil er höflich, rücksichtsvoll, still und manchmal sehr amüsant war. Aus eben diesen Gründen konnten die meisten Kinder ihn nicht leiden. »Hast du die Sommerferien schon satt?«

Ben lächelte. Das war ein Standardscherz von Mrs. Starrett. »Noch nicht«, antwortete er, »denn sie haben erst vor...« - er schaute auf seine Uhr - »... einer Stunde und 17 Minuten begonnen. Eine Stunde wird's wohl schon noch dauern.«

Mrs. Starrett lachte hinter vorgehaltener Hand. Sie fragte Ben, ob er sich für das Sommer-Leseprogramm einschreiben wolle, und er bejahte. Sie gab ihm eine Karte der Vereinigten Staaten, und Ben bedankte sich.

Dann schlenderte er an den Regalen entlang, zog ab und zu ein Buch heraus, blätterte darin und stellte es wieder zurück. Bücher auszuwählen war eine schwierige Angelegenheit. Als Erwachsener konnte man soviel Bücher ausleihen, wie man wollte, aber als Kind nur drei. Und es war ärgerlich, wenn eines davon sich als langweilig erwies.

Shließlich hatte er seine Auswahl getroffen - >Bulldozer< von Stephen W. Meader, >The Black Stallwn< von Walter Farley und ein Buch, das eine Art Schuß ins Blaue war: >Hot Rod< von Henry Gregor Felson. »Das wird dir vielleicht nicht gefallen«, sagte Mrs. Starrett, während sie das Buch abstempelte. »Es ist ziemlich grausam. Ich empfehle es immer den Teenagern, weil es ihnen Stoff zum Nachdenken gibt. Manchmal habe ich das Gefühl, daß sie danach eine ganze Woche lang langsamer fahren.«

»Na, ich schau's mal durch«, sagte Ben und trug seine Bücher zu einem Tisch, der möglichst weit entfernt von >Poohs Ecke< war, wo Big Billy Goat's

Gruff gerade dabei war, dem Troll unter der Brücke eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen.

Er vertiefte sich in >Hot Rod<, und das Buch gefiel ihm sehr gut. Es handelte von einem Burschen, der ein wirklich toller Fahrer war, aber ein Bulle versuchte ihn ständig zu zwingen, langsamer zu fahren. Ben erfuhr aus dem Buch, daß es in lowa, wo die Geschichte spielte, keine Geschwindigkeitsbegrenzungen gab. Das war wirklich interessant.

Nach drei Kapiteln schaute er hoch, und sein Blick fiel auf ein neues Poster an der Wand, auf dem ein glücklicher Postbote einem glücklichen Kind einen Brief aushändigte. Büchereien sind auch zum schreiben da, stand auf dem Plakat. warum nicht gleich heute einem freund schreiben? er

FREUT SICH GARANTIERT!

Unter dem Poster hingen unter Klarsichtfolie vorgestempelte Postkarten, vorgestempelte Briefumschläge und Briefbogen, auf denen oben die Bücherei abgebildet war. Die Umschläge kosteten 5 Cent, die Postkarten 3 Cent, zwei Bogen Papier i Cent. Ben griff in die rechte Vordertasche seiner Jeans. Die letzten vier Cent des Flaschenpfandgeldes waren noch da. Er legte ein Lesezeichen in >Hot Rod<, ging zur Ausleihtheke, gab Mrs. Starrett drei Cent und sagte: »Könnte ich bitte eine Postkarte haben?«

»Aber ja, Ben.« Sie freute sich - wie immer - über seine ernste Höflichkeit und bedauerte gleichzeitig, daß der Junge so dick war. Ihre Mutter würde sagen, daß er langsamen Selbstmord mit Messer und Gabel beging.

Sie gab ihm eine Karte und beobachtete, wie er an seinen Platz zurückging. Er saß ganz allein an jenem Tisch. Sie hatte Ben Hanscom noch nie mit irgendeinem anderen Jungen gesehen. Das war jammerschade, denn sie war überzeugt davon, daß Ben große innere Reichtümer besaß. Er würde sie einem freundlichen, geduldigen Menschen offenbaren... wenn er jemals auf einen solchen Freund stoßen sollte.

7

Ben holte seinen Kugelschreiber heraus und adressierte die Karte an: Miß Beverly Marsh, Derry Street, Derry, Maine, 2. Bezirk. Er kannte ihre Hausnummer nicht, aber seine Mutter hatte ihm einmal gesagt, daß der Postbote die meisten Namen in seinem Bezirk kannte. Wenn der Postbote die Karte zustellen könnte, so wäre das toll. Andernfalls würde sie einfach im Büro für unzustellbare Briefe landen, denn seinen Absender würde er natürlich nicht angeben.

Die Karte so in der Hand haltend, daß die Adresse nicht zu sehen war (er wollte kein Risiko eingehen, obwohl er bisher kein bekanntes Gesicht in der Bücherei erspäht hatte), holte er sich einige Zettel aus der kleinen Schublade neben den Katalogkästen. Dann kehrte er zu seinem Platz zurück und begann etwas auf die Zettel zu kritzeln, auszustreichen, neu zu schreiben.

In der letzten Schulwoche hatten sie im Englischunterricht Haikus gelesen. Das war eine japanische Dichtkunst, kurz und straff. Ein Haiku, so hatte Mrs. Douglas erklärt, mußte aus genau 17 Silben bestehen - nicht mehr und nicht weniger. Es konzentrierte sich meistens auf ein klares Bild,

das irgendeine Emotion ausdrückte: Trauer, Freude, Nostalgie, Glück... oder Liebe.

Diese Form faszinierte Ben und regte seine Fantasie an, obwohl er dem Englischunterricht im allgemeinen ein eher sachliches Interesse entgegenbrachte. Das Haiku weckte in ihm ein Glücksgefühl wie Mrs. Starretts Erklärung des Gewächshauseffekts. Haiku war gute Poesie, denn es war strukturierte Poesie. Es gab keine geheimnisvollen Regeln. Siebzehn Silben, und das Problem war gelöst. Ein mit irgendeiner Emotion verknüpftes Bild. Klar, ordentlich, auf das wichtigste reduziert, in sich geschlossen. Ihm gefiel sogar der Name: Haiku.

Ihre Haare fiel ihm plötzlich ein, und er sah sie deutlich vor sich: die Sonne verfing sich darin wie in einem Feuernetz, und es wippte um ihre Schultern, als sie die Treppe hinunterlief.

Zwanzig Minuten lang arbeitete er konzentriert (mit einer kurzen Unterbrechung, um neue Zettel zu holen), strich Wörter aus, die zu lang waren, änderte und brachte schließlich folgendes Haiku zustande:

Dein Haar gleicht Winterfeuer,

Funken im Januar.

Dort glüht mein Herz.

Er war von seinem Werk nicht sehr angetan, aber etwas Besseres brachte er nicht zustande. Er befürchtete, daß er nervös werden und die ganze Sache aufgeben würde, wenn er zu lange daran herumarbeitete. Und das wollte er nicht. Daß sie ihn angesprochen hatte, war für Ben etwas Überwältigendes gewesen, ein Augenblick, den er nie vergessen würde. Es war für ihn ein denkwürdiger Tag. Und vielleicht schwärmte Beverly für irgendeinen älteren Jungen - einen Sechst- oder sogar Siebtkläßler; sie würde vielleicht glauben, daß dieser Junge ihr das Haiku geschickt hatte, sie würde glücklich sein, -und dadurch würde auch ihr dieser Tag unvergeßlich bleiben. Und obwohl sie nie erfahren würde, daß sie das Ben Hanscom zu verdanken hatte, so spielte das keine Rolle. Er wußte es, und das genügte ihm.

Er schrieb sein Gedicht auf die Postkarte (um kein Risiko einzugehen, in Druckbuchstaben, als handle es sich dabei um eine Lösegeldforderung und nicht um ein Liebesgedicht), schob seinen Kugelschreiber wieder in die Tasche und legte die Karte in >Hot Rod<.

Dann stand er auf und verabschiedete sich im Hinausgehen von Mrs. Starre«.

»Auf Wiedersehen, Ben«, sagte die Bibliothekarin. »Genieß deine Sommerferien und vergiß die Sperrstunde nicht.«

»Ich denk' daran«, sagte er und ging. Er genoß die Hitze in der verglasten Passage zwischen den beiden Gebäuden (Gewächshauseffekt, dachte er zufrieden) und die Kühle der Bücherei für Erwachsene. Ein alter Mann las Zeitung in einem der alten bequemen Polsterstühle des großen Lesesaals. Fahndung nach psychopath geht weiter lautete eine Schlagzeile auf der unteren Hälfte der ersten Seite. Die Schlagzeile direkt unter dem Zeitungsnamen war: die USA werden quemoy nie aufgeben, erklärt der Präsident. Darunter befand sich ein Foto Eisenhowers. Bens Mutter sagte, daß 1960 Hubert Humphrey Präsident werden würde, und daß es dann mit Amerika wieder aufwärts gehen würde. Ben wußte verschwommen, daß sich gegenwärtig eine Rezession abzeichnete und daß seine Mutter Angst vor einer Entlassung hatte.

Er stieß die große Eingangstür auf und trat hinaus.

Am Ende der Auffahrt zur Bücherei gab es einen Briefkasten. Ben warf seine Postkarte möglichst unauffällig ein. Er hatte dabei lautes Herzklopfen. Was ist, wenn sie irgendwie weiß, daß ich ihr geschrieben habe?

Sei doch nicht albern, sagte er sich, aber der erregende Gedanke ließ ihn nicht los.

Er schlenderte die Kansas Street hinauf, ohne sich dessen bewußt zu sein. In seiner Fantasie malte er sich eine wundervolle Szene aus: Beverly Marsh kam auf ihn zu; ihre graugrünen Augen strahlten, ihre roten Haare waren zum Pferdeschwanz gebunden. Ich möchte dich etwas fragen, Ben, sagte sie, und du mußt nur schwören, die Wahrheit zu sagen. Sie hielt die Postkarte hoch. Hast du das geschrieben?

Bens Gesicht glühte wieder; er wünschte, dieser herrliche Wachtraum würde niemals enden. Er hatte wieder das Gefühl, daß seine Schuhsohlen das Pflaster überhaupt nicht berührten, daß er schwebte. Er pfiff vor sich hin. Du wirst mich vermutlich für ein schreckliches Mädchen halten, sagte Beverly, aber ich möchte dich küssen. Ihre Lippen öffneten sich leicht.

Bens Lippen waren plötzlich zum Pfeifen viel zu trocken.

»Das möchte ich auch«, flüsterte er und lächelte ganz benommen. Es war ein wunderschönes Lächeln.

Wenn er in diesem Moment einen Blick auf den Gehweg geworfen hätte, hätte er außer seinem eigenen Schatten drei weitere gesehen; wenn er aufgepaßt hätte, so hätte er Victors Nagelschuhe auf dem Pflaster hören müssen. Aber er sah und hörte nichts. Er war weit entfernt - er fühlte Beverly s weiche Lippen auf den seinen, er hob schüchtern die Hände, um das Winterfeuer ihrer Haare zu berühren.

8

Wie so viele andere kleine oder große Städte war Derry nicht geplant worden - es war einfach gewachsen. Städteplaner hätten es nie dort angelegt, wo es tatsächlich lag, nämlich in einem vom Kenduskeag gebildeten Tal. Der Fluß führte diagonal durch die Stadt, von Südwesten nach Nordosten; er war nicht tief, aber breit und schnell. Zwanzig Meilen stromabwärts mündete er in den Penobscot, einen viel größeren Fluß.

Das Tal war weit und flach, gesäumt von alten Hügeln. Der Boden war hier immer sumpfig und dicht bewachsen gewesen, und die Stadt war häufig von Überschwemmungen bedroht, trotz der Riesensummen, die in den letzten 50 Jahren für Entwässerungsanlagen ausgegeben worden waren. Im Jahre 1933 hatte es eine schreckliche Hochwasserkatastrophe gegeben, und auch im Herbst des Vorjahres, 1957, war die Situation mehr als kritisch gewesen. Bei heftigen Regenfällen bestand nicht nur die Gefahr, daß der Kenduskeag über die Ufer trat; die Hügel, auf denen Derry zum Teil erbaut war, waren von anderen Flüßchen und Bächen durchzogen - der Torault, in dem die Leiche von Cheryl Lamonica gefunden worden war, gehörte auch dazu.

In der Innenstadt war der Kenduskeag in einen knapp zwei Meilen langen Kanal eingezwängt. Von der Kreuzung Main Street und Canal Street floß er etwa eine halbe Meile unterirdisch, dann kam er wieder an die Oberfläche. Die Canal Street führte am Fluß entlang stadtauswärts, und alle paar Wochen mußte die Polizei das Auto irgendeines Betrunkenen aus dem Kanal fischen, der von Abwässern und Fabrikabfällen verunreinigt war.

An der Nordostseite von Derry - der Kanalseite - war der Fluß gebändigt worden. Hier herrschte immer geschäftiges Treiben; Leute schlenderten am Fluß entlang, manchmal Hand in Hand (ein solcher Spaziergang war allerdings nur angenehm, wenn der Wind den Gestank in die entgegengesetzte Richtung blies), und im Bassey Park, gegenüber der High School auf der anderen Kanalseite, wurden manchmal Pfadfinderlager oder Grillpartys veranstaltet - und 19 Jahre später waren die Bewohner von Derry schockiert und empört darüber, daß Hippies dort draußen haschten und mit Drogen handelten - Ende der 6oer Jahre wurde der Bassey Park zum regelrechten Umschlagplatz für verbotenes Rauschgift, und 1969 wurde dort ein siebzehnjähriger Junge am Kanal tot aufgefunden, mit schmerzverzerrtem Gesicht und vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen. Sein Körper war mit Heroin vollgepumpt - eine tödliche Dosis. Danach begannen die jungen Leute die Kanalgegend zu meiden, und es gingen sogar Gerüchte um, daß der Geist des Siebzehnjährigen den Bassey Park unsicher mache.

An der Südwestseite von Derry - der Flußseite - war der Kenduskeag nicht so leicht zu bändigen gewesen. Hier waren die von Bächen und Flüßchen durchzogenen Hügel sehr steil, und auf dem etwas abschüssigen Gelände, das in Derry unter dem Namen >Barrens< bekannt war, wuchsen niedrige Bäume, dichtes Buschwerk und jede Menge giftigen Efeus. Dieses Gelände war etwa anderthalb Meilen breit und drei Meilen lang und wurde auf einer Seite von der oberen Kansas Street und auf der anderen von Old Cape begrenzt. Old Cape war eine billige Wohnsiedlung, und die Dränage war dort so schlecht, daß Toiletten manchmal überliefen und Rohre platzten.

Der Kenduskeag floß mitten durch die Barrens, und die Stadt erstreckte sich zu beiden Seiten davon; aber dort unten befanden sich nur die städtische Abwasser-Pumpstation und die Mülldeponie. Aus der Luft sahen die Barrens wie ein großer grüner Dolch aus, an desen Spitze die Wildnis von Beton begrenzt wurde - hier begann der Kanal, in dem der Kenduskeag friedlich durch die Innenstadt floß, über- und unterirdisch.

Ben Hanscom bemerkte plötzlich, daß rechts und links von ihm keine Häuser mehr standen, daß er am Rande der Barrens angelangt war. Ein etwa taillenhohes baufälliges getünchtes Geländer begrenzte den Gehweg

- eine mehr symbolische Schutzmaßnahme. Er hörte das Plätschern von Wasser.

Er blieb stehen und betrachtete die Barrens. Von hier aus war der Kenduskeag kaum zu sehen, nur stellenweise schimmerte er zwischen dem dichten Laubwerk hindurch. Einige Kinder behaupteten, daß es um diese Jahreszeit dort unten im überwucherten Tiefland sperlinggroße Moskitos gäbe; andere berichteten von Treibsand. An die Riesenmoskitos glaubte Ben nicht, aber die Treibsand-Geschichten fand er beunruhigend.

Zu seiner Linken sah er eine große Schar kreisender und herabschießender Möwen: die Mülldeponie. Das Kreischen der Vögel war bis hierher schwach zu hören. Auf der anderen Wegseite konnte er in der Ferne die Anhöhen von Derry erkennen und davor die niedrigen Dächer der Häuser von Old Cape. Rechts von der Siedlung erhob sich wie ein plumper weißer Finger der Wasserturm von Derry. Direkt unterhalb von Bens Standort ragte ein rostiges Kanalrohr ein Stück aus der Erde heraus, aus dem ein schmales funkelndes Bächlein den Hügel hinabfloß und in einem Gewirr von Büschen und verkümmerten Bäumen verschwand.

Ein unangenehmer Gedanke schoß Ben durch den Kopf. Was wäre, wenn plötzlich, in diesem Augenblick, die Hand einer Leiche aus dem Rohr auftauchen würde? Ein weiteres Opfer des Verrückten? Angenommen, er würde diese Hand sehen und wegrennen wollen, um ein Telefon zu suchen und die Polizei anzurufen, und plötzlich würde ein Clown vor ihm stehen, ein lustiger Clown in einem bauschigen Kostüm mit orangefarbenen Pompons als Knöpfen? Nur einmal angenommen...

Eine Hand legte sich auf seine Schulter, und er schrie auf.

Er hörte Gelächter, wirbelte herum und lehnte sich gegen das weiße Geländer, das den sicheren Gehweg der Kansas Street von den wilden Barrens trennte (er fühlte deutlich, wie das Geländer unter seinem Gewicht schwankte). Vor ihm standen Henry Bowers, Belch Huggins und Victor Criss.

»Hallo, Fettkloß«, sagte Henry.

»Was willst du von mir?« fragte Ben. Aber er wußte es genau. Ein Schauder lief ihm über den Rücken.

»Ich will dich verprügeln«, erwiderte Henry bedächtig. Er wirkte ganz nüchtern, ganz ruhig und gelassen. Aber seine schwarzen Augen funkelten wild, und sogar seine hochstehenden Haarstoppeln sahen irgendwie bedrohlich aus. »Muß dir ein bißchen was beibringen, Fettkloß. Du bist doch gut in der Schule? Du lernst doch gern, nicht wahr?«

Er streckte die Hand nach Ben aus. Ben wich ein Stück zur Seite.

»Packt ihn, Jungs!« rief Henry.

Belch und Victor traten in Aktion. Ben quiekte - es war ein schrecklich feiger Laut, aber er konnte ihn nicht zurückhalten. Bitte, lieber Gott, laß sie mich nicht zum Heulen bringen, dachte Ben verzweifelt, aber er wußte, daß er heulen würde. Er würde vermutlich eine ganze Menge heulen, bevor das hier vorbei war.

»Hört sich an wie ein Schwein, was?« sagte Victor lachend. Er packte Ben an einem Arm, mit dem dieser wirkungslos in der Luft herumgefuchtelt hatte.

»Und ob!« kicherte Belch und packte Bens anderen Arm.

Ben versuchte auszubrechen, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Belch und Victor ließen ihn aber nicht los und zerrten ihn zurück.

Henry Bowers zog mit einem Ruck Bens weiten Sweater hoch und entblößte damit Bens Bauch, der weit über seinen Gürtel hinabhing.

»Schaut euch nur mal diesen Wanst an!« sagte Henry erstaunt und angewidert. »Mein Gott!«

Victor und Belch lachten. Ben schaute wild um sich, in der Hoffnung, in der Nähe jemanden zu sehen, den er zu Hilfe rufen konnte. Aber kein Mensch war da. Hinter ihm, unten in den Barrens, zirpten Grillen und kreischten Möwen über der Müllhalde.

»Du solltest mich lieber in Ruhe lassen«, sagte er. »Es wäre besser für dich.«

»Was passiert denn sonst?« fragte Henry in einem Ton, als wäre er daran wirklich interessiert. »Häh?«

Ben mußte plötzlich an Dan Matthews als Broderick Crawford in >High-way Patrol< denken - der Bursche war stark und hartgesotten - und er brach in Tränen aus. Dan Matthews hätte diese Kerle einfach mit seinem Bauch vor sich hergeschoben und über das Geländer geworfen.

»Mann o Mann, schaut euch nur mal das Baby an!« lachte Victor, und Belch stimmte in sein Gelächter ein. Henry Bowers lächelte ein wenig, aber sein Gesicht behielt jenen ernsten, nachdenklichen - fast traurigen - Ausdruck. Und irgendwie jagte dieser Ausdruck Ben mehr Angst ein als alles andere.

»Jaaa«, sagte Henry langsam und zog ein Messer aus der Tasche.

In seiner Verzweiflung versuchte Ben unter Aufbietung aller Kräfte erneut einen Ausfall, und einen Augenblick sah es so aus, als würde er tatsächlich entkommen können. Er schwitzte jetzt so stark, daß seine Arme glitschig waren und die beiden Jungen ihn nicht richtig festhalten konnten. Seinen linken Arm bekam er völlig frei; Belch hielt zwar noch sein rechtes Handgelenk fest, aber auch sein Griff war nur noch sehr locker. Noch ein kräftiger Ruck und...

Aber dazu kam er nicht mehr, denn Henry trat einen Schritt vor und versetzte ihm einen kräftigen Stoß. Ben flog nach rückwärts. Das Geländer knarrte bedenklich bei seinem Aufprall. Belch und Victor packten ihn wieder.

»Jetzt haltet ihr ihn mir aber ordentlich fest«, sagte Henry. »Habt ihr verstanden?«

»Klar, Henry«, sagte Belch etwas unbehaglich. »Sei ganz unbesorgt.«

Henry stand jetzt so dicht vor Ben, daß sein flacher Bauch Bens Wanst fast berührte. Ben starrte ihn an, und unwillkürlich liefen ihm wieder Tränen aus den Augen. Gefangen! Ich bin gefangen! jammerte ein Teil seines Verstandes hilflos. Er versuchte dieses Gejammer abzustellen, das ihn am klaren Nachdenken hinderte - aber die Stimme gellte immer weiter in seinem Kopf: Gefangen! Gefangen! Gefangen!

Henry drückte auf einen kleinen Silberknopf an der Seite seines großen Klappmessers, und die Klinge sprang heraus, acht Zoll funkelnder billiger Stahl.

»Jetzt werd' ich dich mal testen, Fettkloß«, sagte Henry - immer noch in jenem bedächtigen Ton. »Es ist ein wichtiges Examen. Du solltest es lieber bestehen!«

Ben weinte. Er hatte wahnsinniges Herzklopfen. Aus seiner Nase tropfte Rotze. Seine Bücher lagen verstreut auf dem Gehweg herum. Henry Bowers trat auf >Bulldozer<, warf einen flüchtigen Blick darauf und beförderte es mit einem Tritt in den Rinnstein.

»Erste Frage: Wenn jemand während der Schlußprüfungen sagt >Laß mich abschreiben - was antwortest du dann, Fettkloß?«

»Klar!« rief Ben. »Klar, geht in Ordnung!«

Die Messerspitze bohrte sich in Bens Magen, und einen Moment lang verschwamm ihm alles vor den Augen. Henrys Mund bewegte sich, aber er konnte kaum verstehen, was Henry sagte.

Du darfst nicht ohnmächtig werden! gellte jene panische Stimme in seinem Kopf. Wenn du in Ohnmacht fällst, bekommt er vielleicht so eine irre Wut, daß er dich umbringt!

Die Welt nahm allmählich wieder etwas klarere Konturen an. Er sah, daß Belch und Victor inzwischen ziemlich nervös waren, und plötzlich konnte er wieder scharf denken: sie waren beunruhigt, weil sie nicht wußten, was Henry tun, wie weit er gehen würde.

Du mußt nachdenken, sagte jene Stimme in seinem Gehirn. Wenn du noch nie in deinem Leben scharf nachgedacht hast und es nie wieder tun wirst -jetzt solltest du lieber ganz scharf nachdenken. Seine Augen sagen nämlich, daß das viel schlimmer als nur eine Tracht Prügel werden könnte. Seine Augen... sie sehen irre aus.

»Das ist die falsche Antwort, Fettkloß«, sagte Henry. »Wenn irgend jemand sagt >Laß mich abschreiben<, ist es mir scheißegal, was du tust, kapiert?«

»Ja«, schluchzte Ben. »Ja, ich hab's kapiert.«

»Okay«, sagte Henry. »Eine Antwort war also schon mal falsch, aber die wichtigsten Fragen kommen erst noch. Bist du bereit?«

»Ich... ich glaube schon.«

Ein Auto näherte sich, ein staubiger alter Ford mit einem alten Mann und einer alten Frau auf den Vordersitzen. Ben sah, daß der Alte zu ihnen herüberschaute. Henry trat noch dichter an ihn heran, so daß das Messer nicht zu sehen war. Ben fühlte, wie sich die Spitze über seinem Bauchnabel in sein Fleisch bohrte.

»Wenn du einen Laut von dir gibst, schlitz' ich dich auf!« zischte Henry, sein Gesicht so dicht vor Bens, als wollte er ihn küssen. Sein Atem roch betäubend nach Zimt.

Das Auto fuhr an ihnen vorbei, die Kansas Street entlang.

»In Ordnung«, sagte Henry und trat einen Schritt zurück. »Hier ist also die nächste Frage, Fettwanst. Wenn ich sage >Laß mich abschreiben - was antwortest du dann?«

»Okay«, sagte Ben. »Ich antworte: okay.«

Henry Bowers lächelte. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Und nun die dritte Frage, Fettkloß. Wie kann ich dafür sorgen, daß du das nie wieder vergißt?«

»Ich... ich weiß nicht«, flüsterte Ben.

Henry grinste. Sein Gesicht hellte sich auf. »Aber ich weiß es!« sagte er, als hätte er gerade eine wichtige Wahrheit entdeckt. »Ich werde meine Initialen auf deinen Wanst eingravieren! Wie gefällt dir das, Fettkloß?«

Er trat wieder einen Schritt vor; sein Messer funkelte. Victor und Belch lachten, und Ben wurde schlagartig zweierlei klar: Victor und Belch dachten, daß Henry nur Spaß machte, daß er ihm nur noch mehr Angst einjagen wollte und vielleicht hoffte, daß er sich vor Angst in. die Hose machen würde. Aber Henry scherzte nicht. Er meinte es völlig ernst.

Das Messer schoß vor und schnitt durch Bens Sweater durch. »He,

Henry!« schrie Victor, zuerst bestürzt und dann entsetzt, als durch den Schnitt in Bens Sweater Blut hervorquoll.

»Haltet ihn fest!« zischte Henry, und jetzt hatte sein Gesicht nichts Nachdenkliches und Feierliches mehr an sich; jetzt war es die verzerrte Fratze eines Teufels.

»Um Himmels willen, Henry, hör auf damit!« kreischte Belch mit hoher Stimme, wie ein Mädchen.

Alles ging jetzt sehr schnell vor sich, weil Henry Bowers sich sehr schnell bewegte, aber Ben Hanscom kam es sehr langsam vor, wie eine Serie von Momentaufnahmen in einem Bildbericht der Zeitschrift >Life<. Seine Panik war verschwunden. Er hatte plötzlich etwas in sich entdeckt. Etwas Stählernes, wie Henrys Messerklinge. Aber im Gegensatz zu Henrys Klinge war es kein billiger Stahl.

Erste Momentaufnahme: Henry schob seinen Sweater ungeduldig wieder hoch und entblößte seinen Bauch, der jetzt von einem vertikalen Schnitt dicht über seinem Nabel blutig war.

Zweite Momentaufnahme: Henrys Messer schnitt wieder in seinen Bauch. Henry arbeitete sehr schnell, wie ein irrsinniger Stabsarzt bei einem Luftangriff. Wieder floß Blut.

Rückwärts, dachte Ben kaltblütig, während sein Blut ihm über den Bauch in die Jeans floß. Mir bleibt nur der Weg nach rückwärts. Belch und Victor hielten ihn nicht mehr fest. Sie hatten sich entsetzt ein Stückchen zurückgezogen. Aber wenn er losrannte, würde Bowers ihn fangen. Er selbst war langsam. Bowers war schnell.

Dritte Momentaufnahme: Henry verband die beiden vertikalen Schnitte auf Bens schwabbelndem Bauch. Ben fühlte, wie ihm das Blut jetzt in die Unterhose rann, klebrig wie der Schleim von Schneckenspuren.

Wieder streckte Henry die Hand mit dem Messer aus. Nach H kommt B, dachte Ben, und er lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Geländer, das den Gehweg von der steilen Böschung trennte, die in die Barrens führte.

Er hob den rechten Fuß und stieß ihn in Henrys Magen. Das Geländer krachte und zersplitterte, und plötzlich flog er durch die Luft nach hinten. Er sah, wie Henry, der überhaupt nicht mit Widerstand gerechnet hatte, rückwärts taumelte, mit völlig perplexem, komischem Gesichtsausdruck. Sein Klappmesser fiel auf das Pflaster der Kansas Street. Und während Ben noch durch die Luft flog und nicht wußte, ob er sich gleich den Schädel aufschlagen oder die Wirbelsäule verletzen würde, verspürte er doch ein wildes Triumphgefühl, und der Schrei, den er während des Fallens ausstieß, war zur Hälfte ein Lachen.

Er landete knapp unterhalb des vorstehenden Kanalrohrs mit Rücken und Gesäß auf dem Abhang. Glück gehabt, schoß es ihm durch den Kopf. Wenn er gegen dieses rostige Rohr geprallt wäre, hätte er sich leicht das Rückgrat brechen können.

So aber hatte er den Aufprall kaum gespürt, weil der Abhang dicht mit Gras und Farnkraut bewachsen war. Er machte einen unfreiwilligen Purzelbaum rückwärts, und dann glitt er den steilen Abhang hinab wie ein Kind auf einer großen grünen Rutschbahn; er versuchte vergeblich, mit den Händen irgendwo Halt zu finden und riß dabei nur Büschel von Gras und Farnkraut aus.

Er sah, daß er sich mit rasender Geschwindigkeit immer weiter von der Stelle entfernte, wo er noch vor wenigen Sekunden seinem Peiniger hilflos ausgeliefert gewesen war. Er sah Victor und Belch; mit weit aufgerissenen Mündern verfolgten sie seine Rutschpartie. Seine Büchereibücher fielen ihm ein, die dort oben verstreut auf dem Gehweg und im Rinnstein lagen, und fast geriet er wieder in Panik - wie sollte er sie nur zurückbekommen? -und dann blieb sein linkes Bein irgendwo hängen, und ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn.

Es war ein umgestürzter Baum, der seine Rutschpartie beendet und ihm fast das Bein gebrochen hätte. Ben kroch ein Stück zurück und befreite es, stöhnend vor Schmerz. Er befand sich etwa auf halber Höhe des Abhangs. Unter ihm wurde das Gebüsch dichter. Aus dem Rohr über ihm rannen dünne Wasserbäche über seine Hände.

Er hörte über sich einen Schrei, blickte hoch und sah, wie Henry Bowers mit dem Messer in der Hand vom Gehweg nach unten sprang, wie der Anführer eines Marine-Sturmtrupps. Er landete auf beiden Beinen und rannte mit selbstmörderischer Geschwindigkeit den Steilabhang hinab, wobei er vor Wut die Zähne fletschte.

»Ich bring' dich um, Fettkloß! Verdammt, jetzt bring' ich dich um!«

Mit der gleichen Kaltblütigkeit wie zuvor erkannte Ben, was er tun mußte. Er rappelte sich mühsam hoch und nahm ganz unterbewußt wahr, daß sein linkes Hosenbein zerrissen und blutig war; aber immerhin hatte er sich das linke Bein nicht gebrochen.

Ben ging etwas in die Knie, um sein Gleichgewicht besser halten zu können, und als Henry ihn mit einer Hand packen und mit der anderen mit seinem Messer zustoßen wollte, machte er einen Schritt zur Seite. Dabei verlor er das Gleichgewicht, aber im Fallen streckte er sein linkes Bein aus, und Henry stolperte darüber. Es sah so aus, als würden ihm die Füße nach hinten weggezogen, und er flog über den umgestürzten Baum hinweg wie Superman; seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund öffnete und schloß sich, und Speichel flog ihm aus einem Mundwinkel.

Dann schlug er auf dem Boden auf, wobei er sein Messer verlor. Er rollte den Abhang hinab und verschwand im dichten Gebüsch. Ben hörte das Bersten von Zweigen, dann ein dumpfes Dröhnen... dann gespenstische Stille.

Größere und kleinere Steine rollten an ihm vorbei. Er blickte wieder hoch und sah, daß Victor und Belch den Abhang hinabkletterten, wesentlich vorsichtiger als ihr verrückter Anführer.

Ben stöhnte. Würde dieser Alptraum denn nie ein Ende nehmen?

Ohne sie aus den Augen zu lassen, begann er den Abhang hinabzusteigen. Er keuchte laut und hatte heftiges Seitenstechen. Die Büsche um ihn herum wurden größer und dichter; von irgendwoher hörte er das Plätschern von Wasser.

Sein Fuß glitt aus, er rollte wieder bergabwärts und riß sich den Handrük-ken an einem scharfen Stein auf; Fetzen seines ruinierten Sweaters blieben im Dornengestrüpp hängen.

Schließlich landete er ziemlich unsanft am Fuße des Abhangs, mit den

inen im Wasser. Rechts von ihm schlängelte sich ein schmaler Bach ins dichte Unterholz hinein, das so dunkel aussah wie eine tiefe grüne Höhle. Er schaute nach links und sah Henry Bowers auf dem Rücken in demselben Bach liegen. In seinen halb geöffneten Augen war nur das Weiße zu sehen. Aus einem Ohr sickerte Blut und floß in dünnen Rinnsalen den Bach hinab.

O mein Gott, ich habe ihn umgebracht! O mein Gott, ich bin ein Mörder! O mein Gott!

Ohne daran zu denken, daß Belch und Victor hinter ihm her waren, platschte Ben etwa zwanzig Fuß den Bach hoch, bis zu der Stelle, wo Henry Bowers mit völlig zerfetztem Hemd und durchweichten Jeans lag. Ben war sich vage bewußt, daß von seinen eigenen Kleidern nicht mehr viel übrig war, und daß ihm jeder Knochen im Leibe weh tat. Am schlimmsten war sein linker Knöchel; er war dick geschwollen, und Ben konnte nur noch so vorsichtig mit diesem Fuß auftreten, daß sein Gang große Ähnlichkeit mit dem eines einbeinigen Seemanns mit Holzprothese hatte, der nach einer langen Schiffsreise den ersten Tag an Land war.

Er beugte sich über Henry Bowers. In diesem Augenblick riß Henry die Augen weit auf und packte ihn mit einer zerkratzten blutigen Hand an der Wade. Seine Lippen bewegten sich, und zwischen den pfeifenden Atemzügen konnte Ben ihn mühsam flüstern hören: »... dich umbringen, du fetter Scheißkerl!«

Henry versuchte, sich an Bens Bein hochzuziehen. Ben riß es mit einem Ruck zurück, und Henrys Hand glitt ab. Mit den Armen wild um sich schlagend, flog Ben rückwärts und landete platschend im Bach. Tropfnaß rappelte er sich wieder hoch.

Henry stand auf allen vieren und starrte Ben aus seinen schwarzen Augen wild an. Seine Haarstoppeln sahen aus wie ein Kornfeld nach einem heftigen Sturm.

Ein rasender Zorn überkam Ben. Er war friedlich mit seinen Büchern unter dem Arm spazierengegangen, er hatte niemandem etwas getan - und was war passiert? Vielleicht war es der Gedanke an die ausgeliehenen Bücher, für die er verantwortlich war, der ihn zum Handeln trieb; die Bücher und Mrs. Starretts vorwurfsvoller Blick, den er vor seinem geistigen Auge deutlich sah. Vielleicht war es auch der Gedanke daran, was seine Mutter sagen würde, wenn sie seine ruinierten Kleidungsstücke oder sein Zeugnis sah, das er sorgfältig in seiner Hüfttasche verstaut hatte - die ordentlich mit Tinte geschriebenen Noten würden jetzt total verschmiert sein. Möglicherweise war es sogar die plötzliche Erkenntnis, daß es auf der Welt ungerecht zugeht, die ihn jetzt zum entschlossenen Handeln trieb.

Jedenfalls machte er einen Schritt vorwärts, als Henry gerade mühsam auf die Beine kam, und trat ihn kräftig in die Hoden.

Henry stieß einen gräßlichen Schrei aus - Vögel flatterten aufgeschreckt aus den Bäumen auf -, er fiel auf den Rücken, umklammerte seine Eier und rollte hilflos von einer Seite zur anderen, wobei seine Schuhe dünne Wasserfontänen verspritzten.

»O Gott, meine Eier!« brüllte er. »Du hast mir die Eier zertreten, du verdammtes Schwein, o meine Eier, mein Gott, meine Eier!«

Ben wich langsam einige Schritte zurück und blieb dann wie angewurzelt stehen. Er war entsetzt über seine Tat, aber zugleich verspürte er eine kolossale Befriedigung. Er wäre vielleicht so lange wie gelähmt dort stehengeblieben, bis Henry sich wieder soweit erholt hätte, um ihn verfolgen zu können, wenn ihn nicht plötzlich ein Stein mit solcher Wucht über dem rechten Ohr getroffen hätte, daß er im ersten Moment glaubte, der Schmerz käme von einem Wespenstich, bis er spürte, daß ihm warmes Blut über die Schläfe rann.

Er drehte sich um und sah Belch und Victor in der Mitte des Baches auf sich zukommen. Beide hatten eine Handvoll Kieselsteine bei sich, und im selben Moment schwirrten die Geschosse auch schon durch die Luft. Zwei Steinen konnte er ausweichen, ein dritter traf ihn am Oberschenkel, ein vierter am linken Backenknochen, und automatisch füllte sich das linke Auge mit Tränen.

Er rannte zum anderen Ufer und kletterte, so rasch er konnte, die steile Böschung empor, wobei er sich an vorstehenden Wurzeln und Ästen festhielt. Oben angelangt (ein letzter Stein traf ihn am Gesäß, als er sich hochzog), riskierte er rasch einen Blick über die Schulter hinweg.

Belch kniete neben Henry im Bach, währen Victor daneben stand und immer noch Steine schleuderte. Einer flog raschelnd durch das mannshohe Gebüsch und schlug dicht neben Ben auf. Er hatte genug gesehen - mehr als genug. Henry Bowers versuchte schon wieder aufzustehen. Ben zwängte sich ins dichte Gebüsch und schlug eine Richtung ein, von der er hoffte, daß sie nach Westen führte. Er mußte versuchen, die Barrens zu durchqueren und irgendwo in Old Cape herauszukommen. Dort würde er dann versuchen, von jemandem Geld zum Telefonieren zu bekommen und anrufen, daß man ihn mit dem Auto abholen sollte. Wer das tun sollte, wußte Ben noch nicht. Das konnte er sich später überlegen, wenn dieser verrückte Traum endlich vorbei sein würde.

Er zwang seinen fetten Körper dazu, sich schneller zu bewegen, als es diesem lieb war. Büsche versperrten ihm den Weg, und er schob sie ungeduldig zur Seite. Dornengestrüpp versuchte ihn aufzuhalten, aber er riß sich immer wieder los. Er gelangte an einen dunklen Ort, der schwarz und schmutzig aussah. Bambusartige Gewächse sprossen hier und da aus dem Boden, und von der Erde stieg ein Gestank auf. Ein bedrohlicher Gedanke (Treibsand!) schoß ihm durch den Kopf, während er auf das seichte stehende Wasser zwischen den Gewächsen starrte, und er bog rasch nach rechts ab.

Kurze Zeit danach befand er sich in einem dichten Wald. Die dicken Bäume kämpften grimmig um ein wenig Platz und Sonne, aber zumindest gab es hier weniger Gestrüpp, und er kam rascher vorwärts. Das einzige Problem war, daß er nicht mehr wußte, in welcher Richtung er sich eigentlich bewegte... allerdings beunruhigte ihn das nicht allzusehr. Die Barrens waren auf drei Seiten von Derry begrenzt, und auf der vierten Seite von der neuen Autobahn, die gerade gebaut wurde. Früher oder später würde er irgendwo herauskommen.

Sein Bauch schmerzte, und er schob den zerfetzten Sweater hoch, um sich die Bescherung einmal anzusehen. Unwillkürlich zuckte er bei diesem

Anblick zusammen und zog zischend die Luft ein. Sein Bauch sah aus wie eine groteske Weihnachtskugel, rot von Blut (das inzwischen Gott sei Dank schon trocknete und verkrustete), mit grünen Grasflecken von seiner Rutschpartie. Er zog den Sweater schnell wieder herunter, denn dieser Anblick verursachte ihm eine leichte Übelkeit.

Er hörte ein seltsames summendes Geräusch von irgendwoher aus der Nähe - ein stetiges, eintöniges, leises Geräusch. Ein Erwachsener in derselben Situation wie Ben hätte es einfach ignoriert, nur von dem einzigen Gedanken beseelt, so schnell wie möglich aus den Barrens herauszukommen (die Moskitos hatten Ben inzwischen entdeckt, und obwohl sie natürlich nicht die Größe von Sperlingen hatten, so waren sie doch ziemlich groß). Aber Ben war ein Junge, der seine Angst jetzt zum größten Teil überwunden hatte. Er schwenkte links ab und zwängte sich durch einige niedrige Lorbeerbüsche. Dahinter entdeckte er einen Zementzylinder von etwa vier Fuß Durchmesser und drei Fuß Höhe. Der Deckel war aus Metall, hatte Löcher für die Belüftung und trug die Aufschrift: derry Kanalisation. Das Summen kam aus der Tiefe.

Ben preßte ein Auge an eines der runden Luftlöcher, konnte aber nichts erkennen. Nur das Summen drang jetzt etwas lauter an sein Ohr, und er hörte in der Dunkelheit Wasser rauschen. Es war also nichts weiter als ein Teil der städtischen Kanalisation, aber trotzdem war es ein bißchen unheimlich. Zum Teil, weil er nicht erwartet hatte, in dieser wuchernden Wildnis etwas von Menschenhand Geschaffenes zu finden, hauptsächlich aber wegen der Form dieses Dings. Ben hatte im Vorjahr H. G. Wells' >The Time Machine< gelesen, zuerst die Comic-Fassung, dann die Erzählung - er hatte sie in der Bücherei geliehen. Und dieser aus dem Boden emporragende Zylinder mit seinem durchlöcherten Eisendeckel erinnerte ihn stark an die Brunnen, die ins unterirdische Land der schrecklichen Morlocks führten.

Er entfernte sich rasch in - wie er hoffte - westlicher Richtung, erreichte nach kurzer Zeit eine kleine Lichtung und drehte sich, bis sich sein Schatten direkt hinter ihm befand. Dann ging er geradeaus weiter.

Fünf Minuten später hörte er irgendwo vor sich das Plätschern von Wasser und Stimmen. Kinderstimmen.

Er blieb lauschend stehen, und in diesem Augenblick hörte er hinter sich raschelnde Zweige und andere Stimmen. Diese Stimmen kannte er nur allzugut. Sie gehörten Victor, Belch und Henry. Der Alptraum schien demnach immer noch nicht vorüber zu sein.

9

Etwa zwei Stunden später kam Ben Hanscom aus seinem Versteck heraus, schmutziger denn je, aber ein wenig ausgeruht. Es kam ihm zwar unglaublich vor, aber er mußte eine Zeitlang geschlafen haben.

Als er die drei großen Jungen hinter sich gehört hatte, die ihn offensichtlich immer noch unermüdlich verfolgten, war er einer totalen Erstarrung gefährlich nahe gekommen, wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht eines na-

henden Lastwagens. Eine lähmende Schläfrigkeit überfiel ihn, und er verspürte den Drang, sich einfach hinzulegen, wo er war, sich zu einem Ball zusammenzurollen und die anderen einfach alles tun zu lassen, was sie ihm antun wollten.

Es gelang ihm jedoch, dieses Gefühl zu überwinden, und er bewegte sich in Richtung des plätschernden Wassers. Ja - dort unten waren Kinder; er konnte ihre Stimmen jetzt deutlicher hören. Sie schienen über irgendein Projekt zu reden, platschten im Wasser umher und lachten ab und zu. Dieses Lachen weckte in Ben plötzlich eine törichte Sehnsucht, brachte ihm aber gleichzeitig seine gefährliche Lage stärker zu Bewußtsein als alles bisher Geschehene.

Er kam ziemlich rasch voran und vermied jedes Geräusch. Wie viele dicke Menschen, so bewegte auch er sich erstaunlich leichtfüßig und anmutig. Er ging auf das Wasser zu (er konnte jetzt durch das Laubwerk hindurch sehen, wie die Sonne sich im Wasser spiegelte), und die Kinderstimmen kamen von rechts.

Er gelangte zu einem schmalen Pfad zwischen den Büschen, überquerte ihn und bahnte sich weiterhin vorsichtig einen Weg durchs Gebüsch. Vor ihm lag nun der Bach. Er war etwas breiter als der, in den er und Henry gefallen waren. Zu seiner Linken sah er einen weiteren Zylinder, der friedlich vor sich hin summte, und dahinter, wo die Böschung zum Bach hin abfiel, neigte sich eine alte, knorrige Ulme zum Wasser hinab. Ihre aus dem Boden herausragenden Wurzeln sahen aus wie wirre, schmutzige braunschwarze Haare.

Ben zwängte sich durch die Wurzeln und kroch in eine enge Ausbuchtung. Er hoffte, daß es hier keine Insekten gab, aber er war so müde und so von dumpfer Angst erfüllt, daß er sich nicht weiter darum kümmerte. Er lehnte sich zurück, und eine Wurzel bohrte sich in seinen Rücken wie ein drohender Finger. Er änderte seine Position ein wenig, und nun diente ihm dieselbe Wurzel als Rückenstütze.

Er hörte Henry, Belch und Victor näher kommen... und dann weitergehen. Höchstwahrscheinlich benutzten sie den Pfad. Dann hörte er, wie Henry brüllte: »Was zum Teufel, macht ihr denn da, verdammt noch mal!«

Die Antwort konnte er nicht verstehen, aber die Stimme des Kindes klang ängstlich, was Ben nur allzugut verstehen konnte.

Nun rief Victor Criss etwas, dessen Sinn Ben nicht sofort verstand: »Was für ein blödsinniger Kleinkinderdamm! Ihr Babys könntet ja noch nicht einmal Wasser kochen!«

»Los, machen wir ihn kaputt!« regte Belch an.

Ben hörte ein Protestgemurmel, dann einen Schmerzensschrei - jemand begann zu weinen. Auch das war Ben nur allzu verständlich. Die drei Rohlinge hatten ihn nicht erwischt (zumindest bisher noch nicht, warnte ihn sein Verstand), und nun ließen sie ihre Wut an ein paar anderen Kindern aus.

»Ja, los, machen wir ihn kaputt!« rief Henry.

Lautes Platschen. Gelächter. Dann ein einzelner wütender Aufschrei.

»Komm mir ja nicht in die Quere, du stotternde kleine Mißgeburt!« brüllte Henry. »Heute lass' ich mir von niemandem mehr etwas gefallen!«

Man hörte ein Knacken und Splittern, und mit einem Male plätscherte das Wasser lauter als zuvor. Ben runzelte die Stirn. Kurz darauf glättete sie sich wieder. Er begriff jetzt, was da unten los war. Die Kinder - es mußten, nach den Geräuschen zu schließen, zwei oder drei sein - hatten einen Damm gebaut, und Henry und seine Freunde hatten ihn soeben zerstört. Ben glaubte sogar zu wissen, wer einer der Jungen war. Die einzige stotternde kleine Mißgeburt< in der Fairmont-Schule war Bill Denbrough von der Parallelklasse.

»Das hättet ihr nicht tun dürfen!« schrie eine dünne, ängstliche, wütende Stimme, die Ben ebenfalls bekannt vorkam, obwohl er sie im Augenblick nicht mit einem Gesicht oder Namen verbinden konnte. »Ihr hattet kein Recht...«

Ein dumpfer Laut, dann ein Schmerzensschrei. Der Junge begann wieder zu weinen.

»Und nun möchte ich eines von euch wissen«, sagte Henry. »Habt ihr einen fetten Jungen gesehen? Ganz zerkratzt und blutig?«

Eine kurze Antwort.

»Bist du ganz sicher?« fragte Belch. »Du solltest lieber ganz sicher sein, Stottermaul, sonst hast du auch gleich eine blutige Nase.«

»I-I-Ich b-b-b-bin s-s-sicher.«

»Los, gehen wir!« kommandierte Henry. »Vermutlich hat er den Bach ein Stück weiter unten überquert.«

»Glaubt mir, Jungs, es war ein richtiger Kleinkinderdamm«, rief Victor Criss zum Abschied. »Ihr müßtet uns eigentlich dankbar sein, daß wir euch darauf aufmerksam gemacht haben!«

Erneutes Platschen. Dann war wieder Belchs Stimme zu hören, aber weiter entfernt, so daß Ben die Worte nicht verstehen konnte. Büsche raschelten, Äste knirschten... die Geräusche wurden schwächer... immer schwächer ... verstummten schließlich ganz. Nur das Weinen des Jungen, der einen Schlag abbekommen hatte, war noch zu hören. Und das tröstende Gemurmel des anderen Jungen - Stotter-Bills, wenn Ben mit seiner Vermutung recht hatte.

Er blieb, wo er war, halb sitzend, halb liegend, an die Wurzel gelehnt. Er war schläfrig, völlig erschöpft und konnte sich kaum noch bewegen. Hier war es schmutzig, aber hier war er in Sicherheit... er fühlte sich geborgen. Das gleichmäßige Plätschern des Wassers wirkte beruhigend. Sogar seine Schmerzen hatten etwas nachgelassen. Er würde eine Zeitlang abwarten -nur um sicher zu sein, daß die großen Jungen wirklich nicht mehr in der Nähe waren... und dann würde er so schnell wie möglich nach Hause laufen.

Ben konnte das leise Summen des Kanalisations-Zylinders hören - er konnte es sogar fühlen, eine stetige leichte Vibration, die sich von der Erde in die Wurzel und von dort in seinen Rücken fortsetzte. Er dachte wieder an die Morlocks, an tiefe Brunnen, die unter die Erde führten, Brunnen mit rostigen Leitern an den Innenwänden. Er schlummerte ein.

Er träumte jedoch nicht von Morlocks, sondern von dem, was ihm im Januar zugestoßen war, und was er seiner Mutter nicht hatte anvertrauen können.

Es war der erste Schultag nach den langen Weihnachtsferien gewesen, der Beginn der zweiten Schuljahrhälfte. Mrs. Douglas hatte gefragt, wer ihr helfen könne, die vor den Ferien zurückgegebenen Bücher zu zählen, und Ben hatte sich gemeldet.

»Danke, Ben«, sagte Mrs. Douglas.

»Streberarschloch!« murmelte Henry Bowers vor sich hin.

Es war einer jener Wintertage, die sowohl wunderschön als auch sehr unangenehm sind: ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel - aber beängstigend kalt; dazu kam noch ein starker, schneidender Wind.

Ben zählte Bücher, Mrs. Douglas notierte sich die Nummern, und dann trugen sie die Bücher gemeinsam in den Lagerraum hinab, durch Korridore mit einschläfernd surrenden Heizkörpern. Zuerst war die Schule noch voll von Geräuschen gewesen: laut zugeschlagene Türen, das Klappern von Mrs. Thomas' Schreibmaschine im Büro, die etwas disharmonischen Klänge von einer Chorprobe im oberen Stockwerk, der laute Aufprall von Bällen aus der Turnhalle, wo Basketball trainiert wurde.

Aber allmählich verstummten all diese Geräusche, bis zuletzt - als der letzte Bücherstapel gezählt und notiert war (ein Buch fehlte, aber das spielte kaum eine Rolle, seufzte Mrs. Douglas - die Bücher fielen sowieso schon fast auseinander) - nur noch das Surren der Heizkörper, das schwache Fegen von Mr. Fazios Besen und das Heulen des Windes vor den Fenstern zu hören war.

Ben blickte aus dem einzigen schmalen Fenster des Lagerraums und sah, daß das Licht draußen rasch schwächer wurde. Es war vier Uhr - die Dämmerung brach an diesem Wintertag schon sehr früh herein. Schneeflocken wirbelten im Wind über den vereisten Sportplatz und über die Wippen, die so fest am Boden angefroren waren, daß diese Schweißnähte des Winters erst im lang anhaltenden Apriltauwetter aufgehen würden. Auf der Jackson Street war kein Mensch zu sehen. Irgendwie war das ein wenig unheimlich.

Ben schaute zu Mrs. Douglas hinüber und sah, daß sie ebenfalls aus dem Fenster starrte. Mit leichter Angst registrierte er, daß sie in vieler Hinsicht sehr ähnliche Gefühle haben mußte wie er. Ihr Gesicht war bleich und nachdenklich, ihr Blick leer. Sie hatte die Arme unter der Brust verschränkt, als sei ihr kalt. Was war an diesem Augenblick, das Ben ängstigte? Daß ein Erwachsener seine geheimen Gedanken teilen konnte? Oder daß er die geheimen Gedanken eines Erwachsenen teilte?

Dann wandte sie sich ihm zu und stieß ein kurzes, fast verlegenes Lachen aus. »Ich habe dich viel zu lange aufgehalten, Ben«, sagte sie. »Es tut mir leid.«

»Das macht nichts«, erwiderte er und schaute zur Seite. Er liebte sie ein bißchen - es war nicht die rückhaltlose Liebe, die er Miß Therault, seiner Lehrerin in der ersten Klasse, entgegengebracht hatte... aber er liebte sie.

»Wenn ich ein Auto hätte, würde ich dich nach Hause fahren«, sagte sie. »Hat deine Mutter vielleicht eins, Ben?«

»Nein«, antwortete Ben, »aber es ist wirklich nicht schlimm. Ich hab nur etwa eine Meile zu gehen.«

»Das ist ein weiter Weg, wenn es so kalt ist«, meinte Mrs. Douglas. »Wenn dir unterwegs zu kalt wird, mußt du dich irgendwo aufwärmen, okay?«

»Na klar. In Knowlers Laden oder sonstwo. Außerdem habe ich meine Schneehosen und meine Kapuzenjacke. Und meinen Schal.«

Mrs. Douglas wirkte nun ein bißchen beruhigter... und dann blickte sie wieder aus dem Fenster. »Es sieht so kalt da draußen aus«, sagte sie. »So... so feindselig.«

Ben kam plötzlich zu Bewußtsein, daß er in ihr auf einmal einen Menschen sah, nicht nur eine Lehrerin wie bisher; er dachte in Zusammenhang mit ihr plötzlich an ganz neue Dinge. Er sah sie heimgehen zu einem Mann, den er nicht kannte, er sah sie das Abendessen zubereiten. Und ein seltsamer Gedanke schoß ihm durch den Kopf, eine Frage, wie sie auf CocktailPartys üblich ist: Haben Sie Kinder, Mrs. Douglas?

»Um diese Jahreszeit denke ich manchmal, daß die Winter in Maine nichts für Menschen sind«, sagte sie. Dann sah sie ihn lächelnd an. »Ich werde mich bis zum Frühling alt fühlen, und dann werde ich wieder jung sein. Bist du sicher, daß du gut nach Hause kommen wirst, Ben?«

»Ganz sicher«, sagte er, erfreut, sie beruhigen zu können.

»Ja«, meinte sie. »Ich nehme es eigentlich auch an. Du bist ein guter Junge, Ben.«

Er errötete und schaute verlegen zur Seite. Er liebte sie mehr denn je.

Im Korridor fegte Mr. Fazio, ein graues Gespenst in seiner khakifarbenen Arbeitskleidung, rote Sägespäne zusammen. Er schaute gar nicht hoch, als Ben auf dem Weg zu seinem Schrank an ihm vorbeikam.

Ben zog seine Schneehosen an (er war immer furchtbar unglücklich gewesen, daß er sie tragen mußte, weil es in seinen Augen Babyklamotten waren, aber an diesem Spätnachmittag freute er sich, sie zu haben), seine Stiefel, seine Jacke, seine Fausthandschuhe und seinen Schal. Er schloß seinen Schrank und ging hinaus. Der Wind unternahm sofort eine Attacke auf Bens warmes, unvorbereitetes Gesicht und ließ seine Wangen vor Kälte erstarren. Rasch zog er seinen Schal hoch, bis er aussah wie eine kleine, gedrungene Karikatur von Red Ryder. Während er noch auf dem Gehweg vor dem Schultor stand, sah er Mrs. Douglas links um die Ecke biegen, eine schmale, einsam wirkende Gestalt in ihrem schwarzen Mantel und den Galoschen.

Ben setzte sich in Bewegung; zum Herumstehen war es wirklich viel zu kalt. Zuerst blies der Wind ihm in den Rücken, und das war nicht so schlimm; er schien ihn sogar richtig voranzutreiben. Aber als er an der Canal Street rechts abbog, blies der Wind ihm direkt ins Gesicht, so als versuchte er ihn aufzuhalten... so als hätte er einen eigenen Willen. Seine Nase fror. Seine Fingerspitzen waren ohne jedes Gefühl, und er schob seine behandschuhten Hände immer wieder in die Achselhöhlen, um sie zu wärmen. Kein Mensch war auf der Straße. Der Wind heulte und tobte und klang manchmal direkt menschlich.

Bens Stimmung war eine Mischung aus Furcht und Heiterkeit. Ängstlich war ihm zumute, weil er jetzt erst Geschichten richtig verstand, die er gelesen hatte - Geschichten wie Jack Londons >To Build a Fire<, wo Menschen regelrecht erfroren. In einer Nacht wie dieser, wenn die Temperatur auf —15° Fahrenheit sinken würde, wäre es nur zu leicht möglich zu erfrieren.

Die Heiterkeit war schwerer zu erklären. Sie war verbunden mit einem Gefühl der Einsamkeit, der Melancholie. Er war draußen; er kämpfte mit dem Wind, und niemand von den Menschen hinter den hell erleuchteten Fenstern sah ihn vorübergehen. Sie waren drinnen, in der Wärme, im Licht. Sie wußten nicht, daß er an ihren Häusern vorbeiging, nur er wußte das. Es war sein Geheimnis.

Sein Gesicht brannte wie von tausend Nadelstichen, aber die Luft war klar und rein. Weiße Atemwolken kamen aus seiner Nase, wie bei einem schnaubenden Schlachtroß.

Und als dann die Sonne unterging, der Tag sich mit einer kalten gelborangefarbenen Linie am Horizont verabschiedete, und die ersten Sterne wie Diamanten am Himmel funkelten, erreichte Ben den Kanal. Jetzt war er nur noch drei Häuserblocks von zu Hause entfernt, und er freute sich, bald ins Warme zu kommen, wo seine erstarrten Glieder wieder auftauen würden.

Trotzdem blieb er stehen.

In Richtung Innenstadt sah der Kanal in seinem Betonbett wie ein gefrorener Rosenmilchfluß aus; in den eigenartigen Schattierungen des Wintersonnenuntergangs wirkte die Oberfläche irgendwie lebendig, krachte und stöhnte. Schnee trieb über sie hinweg.

Ben drehte sich um und blickte in die andere Richtung, nach Südwesten. Zu den Barrens hinüber. Nun hatte er den Wind wieder im Rücken. Etwa eine halbe Meile weit war der Kanal noch von seinen Betonmauern umschlossen; dann endeten sie, der vereiste Fluß breitete sich aus - froh, seinen Kerkermauern entronnen zu sein - und ging unmerklich in die Barrens über, die um diese Jahreszeit eine skelettartige Eislandschaft bildeten.

Dort unten auf dem Eis stand eine Gestalt.

Ben starrte den Mann an - wenn es ein Mann war - und dachte wie in Trance: Das kann nicht sein. Es ist unmöglich, daß ich tatsächlich sehe, was ich zu sehen glaube.

Der Mann trug ein weites weißsilbernes Clownkostüm. An den Füßen hatte er ulkige, viel zu große Schuhe. Sie waren orangefarben, ebenso wie die großen Pomponknöpfe vorne auf seinem Kostüm. In einer Hand hielt er eine Traube von Luftballons, und Ben war ganz sicher, daß er zumindest das träumen mußte, denn bei einer derart starken Kälte hätte jeder Luftballon eigentlich sofort platzen müssen.

Ben! rief der Clown auf dem Eis. Ben! Willst du einen Luftballon?

Und in dieser Stimme schwang etwas so Böses, so Schreckliches mit, daß Ben wegrennen wollte... aber seine Füße schienen an den Boden angefroren zu sein wie die Wippen auf dem Spielplatz.

Sie schweben, Ben... sie schweben und fliegen alle... versuch's doch selbst ein

mal!

Der Clown begann übers Eis zu gehen, auf die Kanalbrücke zu. Ben stand regungslos da und beobachtete ihn angsterfüllt; er beobachtete ihn, so wie ein Vogel eine näher kommende Schlange beobachtet. Und während der Clown auf ihn zukam, fielen Ben zwei Dinge auf, die ihn vollends davon überzeugten, daß das alles ein Traum oder eine Art Halluzination sein mußte, hervorgerufen durch die Kälte: obwohl der Wind von Nordosten blies, in Richtung der Barrens blies, flogen die Ballons an den Enden ihrer Schnüre dem Clown voraus. Sie flogen in entgegengesetzter Richtung des Windes.

Das war das eine Ding der Unmöglichkeit. Das andere bestand darin, daß der Clown keinen Schatten aufs Eis warf, das die Pastellfarben des Sonnenuntergangs reflektierte und rosagelblich schimmerte.

Es wird dir hier gefallen, rief der Clown, und jetzt war er schon so nahe, daß Ben das Knirschen seiner ulkigen Schuhe auf dem holperigen Eis hören konnte. Es wird dir gefallen, o ja, hier gibt es alles mögliche; nimm einen Ballon, komm mit mir, lauf mit dem Zirkus fort, füttere die Elefanten, schau dir die Welt an, Ben, o Ben, wie du schweben wirst, wie du fliegen wirst...

Und trotz seiner Angst stellte Ben fest, daß er einen solchen Ballon wollte -wer hatte schon einen Ballon, der in Gegenrichtung des Windes flog? Wer hatte jemals von so etwas gehört? Ja, er wollte einen Luftballon... und er wollte auch das Gesicht des Clowns sehen, der den Kopf gesenkt hielt, so als wollte er sich vor dem Wind schützen.

Was geschehen wäre, wenn es in diesem Augenblick nicht von der Rathausuhr fünf geschlagen hätte, wußte Ben nicht... und er wollte es auch gar nicht wissen. Aber sie schlug, und der Clown blickte auf, und Ben sah sein Gesicht.

Es ist die Mumie! war sein erster Gedanke, der ihn mit solchem Entsetzen erfüllte, daß er sich an der niedrigen Steinbrüstung der Brücke festhalten mußte, um nicht ohnmächtig zu werden. v

Natürlich war es nicht die Mumie, das war nur ein Film, Boris Karloff mit einer Menge Make-up und Farbe im Gesicht, jeder wußte, daß diese Filmmonster nicht echt waren, aber...

Der Clown war nicht geschminkt... zumindest nicht wie ein Clown. Sein Gesicht war tief durchfurcht, die pergamentene safrangelbe Haut wies an Wangen und Stirn Risse auf. Tote Lippen grinsten bösartig und entblößten schiefe Zähne, die eingesunkenen Grabsteinen glichen; das Zahnfleisch war narbig und schwarz. Ben konnte keine Augen sehen, aber weit hinten in den dunklen Höhlen glitzerte etwas wie die kalten Juwelen in den Augen ägyptischer Skarabäen. Und obwohl der Wind in die Gegenrichtung blies, glaubte Ben doch Zimt und andere Gewürze riechen zu können, vermodernde Leichengewänder, die mit unheimlichen Methoden präpariert worden waren, Sand und uraltes Blut, das zu Rostschichten eingetrocknet war...

Wir alle schweben hier unten, Ben, krächzte der Clown, und Ben stellte mit neuem Entsetzen fest, daß er schon die Brücke erreicht hatte, daß er sich direkt unter ihm befand, und er sah eine verdorrte, gekrümmte Hand, von der Hautfetzen herabhingen wie schreckliche Fähnchen, eine Hand, durch die wie gelbes Elfenbein die Knochen hindurchschimmerten.

Er drehte sich um und rannte - die Haare unter seiner Kapuze waren gesträubt, aus den weit aufgerissenen Augen flössen Tränen, die sofort auf seinen Wangen gefroren. Er rannte - seine Stiefel dröhnten auf dem gefrorenen Gehweg der Kanalbrücke -, und hinter sich konnte er hören, daß die Mumie im Clownskostüm die Brücke erklomm, daß ihre alten Gelenke knarrten wie Scharniere, die geölt werden mußten. Er konnte das trockene Pfeifen ihres Atems hören, wenn sie die Luft durch Nasenlöcher, denen jede Feuchtigkeit entzogen war wie den unterirdischen Gewölben einer Pyramide, einzog oder ausstieß. Er konnte ihre nach Sand und Gewürzen riechenden Leichengewänder wahrnehmen, und er wußte, daß sich im nächsten Augenblick ihre Hände - fleischlos wie die geometrischen Konstruktionen, die er mit Zirkel und Lineal anfertigte - auf seine Schultern senken würden. Sie würde ihn herumdrehen, und er würde in dieses grinsende Pergamentgesicht blicken; der Fäulnisgeruch ihres Atems würde ihn einhüllen; die Augenhöhlen würden auf ihr herniederschauen, dunkle Löcher, aus deren Tiefe ein kalter Glanz schimmerte. Der Mund würde sich klaffend öffnen, und er würde seinen Luftballon haben. O ja, er würde seinen Luftballon haben...

Aber als er schluchzend und atemlos die Ecke seiner Straße erreichte, mit rasend pochendem Herzen, das in seinen Ohren zu dröhnen schien, als er es endlich wagte, einen Blick über die Schulter zu werfen, war die Straße leer. Auch die Brücke mit ihren Pfeilern, dem niedrigen Geländer und dem altmodischen Kopfsteinpflaster war leer. Den Kanal konnte er von seinem Standort aus nicht sehen, aber er war überzeugt davon, daß dort jetzt ohnehin nichts mehr zu sehen wäre. Wenn die Clown-Mumie überhaupt existiert hatte (und er begann schon daran zu zweifeln: kein Schatten? Luftballons, die gegen den Wind flogen?), so war sie jetzt unter der Brücke wie der Troll im Märchen >Three Billy Goat's Gruff<.

Unter der Brücke. Versteckt unter der Brücke.

Schaudernd lief Ben schnell nach Hause. Er erklärte seiner Mutter (die nach einem besonders anstrengenden Tag in der Fabrik so müde war, daß sie ihn kaum vermißt hatte), daß er Mrs. Douglas geholfen habe. Zum Abendessen gab es Nudeln und Reste des Truthahns vom Sonntag. Er stopfte drei Portionen in sich hinein, und mit jeder Portion verblaßte die Clown-Mumie immer mehr, wie ein Traum. So etwas gab es in Wirklichkeit niemals, nur im Kino, wo man in den Samstagmatinees für einen Vierteldollar zwei Horrorfilme sehen und sich für einen weiteren Vierteldollar jede Menge Popcorn kaufen konnte.

Nein, so etwas gab es in Wirklichkeit nicht. Zumindest nicht, bis man dann im Bett lag, die letzten vier Bonbons aufgegessen hatte, und das Bett sich in einen See der Träume verwandelte, draußen der Wind heulte und man Angst hatte, zum Fenster hinüberzuschauen, weil dort ein Gesicht sein könnte, ein uraltes grinsendes Gesicht, das verdorrt war wie ein altes Blatt anstatt zu vermodern, mit eingesunkenen Diamantaugen in tiefen schwarzen Höhlen, und eine klauenartige Hand, die eine Traube Luftballons hielt: Komm mit mir, Ben, komm mit in den Zirkus, füttere die Elefanten, schau dir die Welt an, Ben, o Ben, wie du schweben wirst, wie du fliegen wirst...

Ben fuhr keuchend aus dem Schlaf hoch, noch ganz im Banne seines Traums von der Mumie, und er geriet fast in Panik über die Enge und Dunkelheit um sich herum, über die dumpfen Schmerzen im ganzen Körper. Er sah Licht und taumelte darauf zu. Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte er, daß Traum und Wirklichkeit ineinander übergegangen waren, daß die Mumie ihn gefangen und in ihre Gruft verschleppt hatte.

Er trat in die Nachmittagssonne hinaus, hörte das Plätschern des Bachs, und plötzlich fiel ihm alles wieder ein. Die drei Raufbolde. Henry Bowers. Die unglaubliche Rutschpartie über den Steilabhang in die Barrens. Die Kinder, die im Wasser gespielt hatten. Glaubt mir, Jungs, es war ein richtiger Kleinkinderdamm.

Ben betrachtete niedergeschlagen seine ruinierten Kleider. Seine Mutter würde ihm die Hölle heiß machen.

Er humpelte mühsam zum Bach hinunter. Jeder Schritt tat höllisch weh -sein Bein, sein Knöchel, sein Bauch, der außer den Schnittwunden auch noch diverse Kratzer von der Rutschpartie abbekommen hatte. Die Kinder, die den Damm gebaut hatten, würden bestimmt nicht mehr hier sein, tröstete er sich selbst. Er wußte nicht genau, wie lange er geschlafen hatte, aber wenn es auch nur eine halbe Stunde gewesen war, so hatte die Begegnung mit Henry Bowers und seinen Kumpanen die Kinder doch mit Sicherheit davon überzeugt, daß irgendein anderer Ort - vielleicht Timbuktu - ihrer Gesundheit zuträglicher sein würde.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht ging Ben am Ufer des Baches entlang; wenn Henry und die anderen jetzt zurückkämen, so hätte er nicht die geringste Chance, ihnen zu entkommen, das wußte er genau.

Der Bach machte eine ellenbogenförmige Biegung, und hier blieb Ben unschlüssig stehen. Die Kinder waren doch noch da. Eines war wirklich Stotter-Bill aus der Parallelklasse. Er kniete neben dem zweiten Jungen, der ans Ufer gelehnt dasaß, mit zurückgeworfenem Kopf, mühsam nach Atem ringend. Unter seiner Nase und an seinem Kinn war eine Menge getrockneten Blutes. Auch sein Hemd war blutbefleckt. Mit einer Hand umklammerte er etwas Weißes.

Stotter-Bill blickte hoch und sah Ben unschlüssig dastehen. Ben bemerkte bestürzt, daß Denbrough Todesängste auszustehen schien, und er dachte verzweifelt: Wird dieser Tag denn nie ein Ende nehmen?

»K-K-K-Könntest du m-m-mir vielleicht h-h-h-helfen?« fragte Bill Denbrough. »Sein A-A-Aspirator ist Heer. Ich b-befürchte, daß er st-st-t-t-...«

Sein Gesicht lief vor Anstrengung rot an. Er stotterte wie ein Maschinengewehr an dem Wort herum. Speichel flog ihm von den Lippen, und es dauerte fast eine Minute, bis Ben verstand, daß Denbrough sagen wollte, er befürchte, daß der Junge sterben könnte.

Fünftes Kapitel Bill Denbrough schlägt den Teufel - I (1958)

1

Bill Denbrough denkt: Das ist ja schon der reinste Weltraumflug. Und das stimmt. Er denkt: Ich könnte ebensogut in einer Kanonenkugel reisen, und auch das stimmt. Die Concorde ist eng - unbequem eng. Beim Servieren der Mahlzeiten müssen die Stewardessen sich dünn machen und verrenken. Bill kann den Schweiß seines Sitznachbarn durch dessen Eau de Cologne hindurch riechen, und jedesmal, wenn sich der Mann bewegt, bohrt sich sein Ellenbogen in Bills Seite.

Bills Blicke schweifen immer wieder zum Machmeter vorne im Flugzeug. Dieses elektronische Gerät zeigt an, wie schnell diese britische Kanonenkugel fliegt, und nun, auf halbem Wege über dem Atlantik, steht der Zeiger auf etwas über 2 Mach. Die Concorde rast mit etwa 1100 Meilen pro Stunde durch die Lüfte, und mit Hilfe seines Taschenrechners stellt Bill fest, daß sie mehr als 18 Meilen pro Minute zurücklegen

Wenn er aus dem Fenster schaut, das so schmal und dick ist wie in einer Raumkapsel, erblickt er einen purpurroten Himmel wie bei Sonnenuntergang, obwohl es jetzt Vormittag ist, der Vormittag des 28. Mai 1985. Tief unten, wo Meer und Himmel sich berühren, kann er sehen, daß die Horizontlinie eher bogenförmig als gerade verläuft. Im Flugzeug sitzend, eine Bloody Mary in der Hand und den Ellenbogen seinesfetten Nachbarn in den Rippen, kann er die Krümmung der Erde mit eigenen Augen wahrnehmen.

Ein Mann, der das aushallen kann, denkt er, ein Mann, der mit 18 Meilen pro Minute in 50000 Fuß Höhe den Atlantik überfliegen kann, ein solcher Mann sollte eigentlich vor nichts Angst haben. Aber er hat Angst. Die dröhnenden Motoren der Concorde lullen ihn nicht ein. Er hat das Gefühl, als rase Derry auf ihn zu

Ja, so ist es: Trotz der 1100 Meilen pro Stunde hat er das Gefühl stillzustehen, während Derry auf ihn zugerast kommt wie ein angreifendes Raubtier, Derry mit seinem Fabrikgestank, seinem Flißgestank, seinen Alleen, der Bücherei, dem Wasserturm, Bassey Park, der Fairmount-Schule... und den Barrens.

Lichter flammen in seinem Kopf auf: große Scheinwerfer. Es ist so, als hätte er 27 Jahre in einem abgedunkelten Theater gesessen und daraufgewartet, daß etwas passiert; und nun, da der Vorhang sich allmählich hebt, wünscht er sich die Dunkelheit zurück, denn das Bühnenbild, das zum Vorschein kommt, gehört nicht zu >Arsen und Spitzenhäubchen<; es erinnert eher an >Das Gruselkabinett des Dr. Cali-gari<.

All deine Geschichten, all deine Romane, denkt er mit stumpfem Staunen - sie alle haben ihren Ursprung in Derry, in den Ereignissen jenes Sommers, in Georgies schrecklichem Tod im Herbst vor jenem Sommer. All die Journalisten, die dir ihre Standardfrage gestellt haben... du hast ihnen allen die falsche Antwort gegeben. »Alle Schriftsteller haben eine Pipeline, die ins Unterbewußtsein ßhrt«, hast du erklärt. »Aber der Mensch, der Horrorgeschichten schreibt, hat eine Pipeline, die vielleicht noch tiefergeht, bis ins Unter-Unterbewußtsein hinein. Bis in den allerunter-stenKeller, wenn Siesowollen.« Eine elegante Antwort war das. Aber du hast nie so

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recht daran geglaubt, nicht einmal vor Mikes Anruf. Du mußtest einfach eine gute Antwort parat haben. Aber jetzt weißt du es genau: Eine Pipeline gab es, aber sie führte nicht in dein Unterbewußtsein, in irgendwelche unterirdischen Kanäle des Gehirns, in irgendeine unterirdische Höhle voller Morlocks. Nur nach Derry. Dort war die ganze Zeit über das andere Ende der Pipeline. In Derry. Und... und wer trippelt und trappelt da über meine Brücke? Er setzt sich mit einem Ruck aufrecht hin, und diesmal ist sein Ellen -bogen an der Reihe: er bohrt sich einen Augenblick lang tief in die Fett-schicht seines Sitznachbarn. »Passen Sie doch auf, Mann!« knurrt der Fette. »Bleiben Sie mir mit Ihrem Ellenbogen vom Leibe!«

»Halten Sie Ihren von meinen Rippen fern, dann h-halt ich meinen von Ihrem Wanst f-fern«, sagt Bill, und der Fette wirft ihm einen vernichtenden Blick zu. Bill hält diesem Blick ruhig stand, bis der Fette sich murrend abwendet. Wer ist dort? Wer trippelt und trappelt über meine Brücke? Er blickt wieder aus dem Fenster. Tief unten fliegt der Atlantik unter ihnen vorbei, und diesmal denkt Bill: Wir schlagen den Teufel!

Er verspürt ein Prickeln in den Armen und trinkt den Rest seines Drinks in einem Zug aus. Sein Fahrrad fällt ihm ein - >Silver< hatte er es genannt, nach dem Pferd von Lone Ranger. Ein großes Fahrrad Marke Schwinn. »Du wirst dir damit den Hals brechen, Billy«, hatte sein Vater gesagt, als Bill es nach Hause brachte. Bill hatte es gebraucht im >Bike and Cycle Shop< auf der Central Street in der Innenstadt gekauft, mit seinem im Laufe eines Jahres gesparten Geld - Geburtstagsgeld, Weihnachtsgeld, Rasenmähgeld. Er hatte es in jenem Frühjahr gekauft, sobald der Schnee geschmolzen war. Eigentlich sonderbar, denn bis dahin hatte ihm nichts an einem Fahrrad gelegen. Es schien ihm ziemlich plötzlich eingefallen zu sein, vielleicht an einem jener endlosen Tage während des endlosen Winters nach Georgies Tod. Nach Georgies Ermordung.

»Du wirst dir damit den Hals brechen«, hatte sein Vater gesagt, aber irgendwie teilnahmslos. Seit Georges Tod hatte er an nichts mehr Interesse gehabt. Früher war er streng gewesen. Gerecht, aber streng. Nach Georges Tod war das anders gewesen. Auch wenn er etwas gesagt, gegen etwas Einwände erhoben hatte - es hatte ihn nur oberflächlich berührt. Darunter war nur noch eine tiefe Leere gewesen.

Bei seinen ersten Fahrversuchen hatte Bill sich ein paarmal wirklich fast den Hals gebrochen. Einmal hatte er es absichtlich umstürzen lassen, um nicht in den Bretterzaun am Ende der Kossuth Street zu rasen; dabei hatte er sich einen Arm verletzt. Ein anderes Mal hatte er nicht schnell genug bremsen können und war mit etwa 35 Meilen pro Stunde über die Kreuzung von Witcham Street und Jackson Street gesaust, ein kleiner Junge auf einem riesigen Fahrrad von langweilig silberweißer Farbe, mit Spielkarten an den Speichen von Vorder- und Hinterrad, die beim Fahren ein maschinengewehrartiges Knattern erzeugten; wenn in jenem Augenblick gerade ein Auto gekommen wäre, wäre von Bill nur noch totes Fleisch übriggeblieben Totes Fleisch - wie Georgie.

Im Laufe des Frühjahrs hatte er dann allmählich gelernt, richtig mit Silver umzugehen. Weder seine Mutter noch sein Vater hatten bemerkt, daß

er mit seinem Fahrrad den Tod direkt herausforderte. Vielleicht hatten sie es auch völlig vergessen, dieses alte Ding, dessen Farbe teilweise abgeblättert war, und das an regnerischen Tagen an der Garagenwand lehnte. Aber obwohl Silver nach nichts aussah, fuhr er wie der Wind. Bills einziger Freund, Eddie Kaspbrak, hatte ihm gezeigt, wie man es pflegen mußte - wo es geölt werden mußte, welche Bolzen regelmäßig überprüft werden mußten, wie die Kette angezogen werden mußte.

»Du solltest es neu streichen«, hatte Eddie eines Tages gesagt, aber Bill wollte Silver nicht neu streichen. Aus Gründen, die er sich selbst nicht hätte erklären können, wollte er, daß das Fahrrad genauso blieb, wie es war. Es sah erbärmlich aus, so als hätte es ein nachlässiger Besitzer regelmäßig im Regen stehengelassen, als würde es quietschen und klappern und sich nur noch im Schneckentempo vorwärtsbewegen. Aber es war-seinem Aussehen zum Trotz - schnell wie der Wind. Es hätte sogar...

»Es hätte sogar den Teufel geschlagen«, sagt Bill Denbrough laut vor sich hin und lacht. Der Fette wirft ihm einen scharfen Blick zu; sein Lachen hat jenen heulenden Unterton, der Audra schon am Vorabend aufgefallen ist.

Er hatte es im >Bike and Cycle< gesehen, ein außergewöhnlich großes Fahrrad, an dessen Ständer ein Schild mit der Aufschrift lehnte: MACHEN SIE UNS EIN ANGEBOT. Über dem Hinterrad hatte es einen Gepäckträger - na ja, Gepäckträger war die Bezeichnung, die immer in den Fahrradkatalogen stand, aber jedes Kind wußte natürlich, daß er in Wirklichkeit dazu da war, andere Kinder hinten mitfahren zu lassen. Ein rostiger Drahtkorb war an der Lenkstange befestigt, und es hatte eine altmodische Hupe mit einem rissigen schwarzen Gummibalg.

Und obwohl es keinen Mund hatte, rief es ihn. Ebenso sicher, wie Gott Moses aus dem brennenden Dornbusch gerufen hatte, rief das Fahrrad ihn an. Es war ein Ruf, dem er nicht widerstehen konnte, und das war gut so, denn Silver hatte ihm in der dritten Juniwoche 1958 das Leben gerettet, eine Woche, nachdem er Ben Hanscom zum erstenmal getroffen hatte, nachdem er und Eddie und Ben den Damm gebaut hatten, in der Woche, als Ben und Richie Tozier und Beverly Marsh in die Barrens gekommen waren. Es war Richie gewesen, der hinter ihm auf Silver gesessen hatte, an jenem Tag, als sie beide wie der Wind die Neibolt Street entlangsausten, während etwas Unsagbares sie verfolgte.

An jenem Tag hatte er wirklich den Teufel geschlagen. Einen Teufel mit silbrigen Augen, die alten Münzen glichen. Aber sogar schon früher hatte er vielleicht Eddie das Leben gerettet, an jenem Tag, als Ben Hanscom in ihr Leben getreten war, mit zerrissenen Kleidern, verkratztem Gesicht, geschwollenem Knöchel und blutverkrustetem Bauch. An jenem Tag, als Henry Bowers - der ebenfalls ziemlich ramponiert ausgesehen hatte - Eddie einen kräftigen Schlag auf die Nase versetzt hatte, worauf Eddie einen schweren Asthmaanfall bekommen hatte und sein Aspirator leer gewesen war. Auch damals war Silver die Rettung gewesen.

Bill Denbrough, der seit fast 17 Jahren auf keinem Fahrrad mehr gesessen hat, schaut aus dem Fenster eines Flugzeugs, das im Jahre 1958 noch unvorstellbar war. Hi-yo, Silver, los! denkt er und schließt die Augen, die plötzlich vor unterdrückten Tränen brennen. Was ist später aus Silver geworden? Er kann sich nicht daran erinnern. Dieser Teil des Bühnenbilds ist noch dunkel - und das ist vielleicht gut so. Dieser Scheinwerfer muß erst noch eingeschaltet werden.

Hi-yo.

Hi-yo, Silver.

Hi-yo, Silver..

... los!« brüllte er, und die Worte wurden vom Wind über seine Schulter hinweg nach hinten getragen. Sie kamen groß und stark heraus, als triumphierender Schrei. Nur sie vermochten das. Bei diesen Worten mußte er nie stottern.

Er fuhr die Kansas Street hinab, auf die Stadt zu, und wurde allmählich immer schneller. Das silberfarbene Fahrrad zu beobachten, wenn es an Tempo zunahm, war ein bißchen so, als beobachte man ein großes Flugzeug auf der Rollbahn. Zuerst schien es einem unglaublich, daß ein so riesiges, schwerfälliges Ding jemals die Erde verlassen könnte - und dann konnte man seinen Schatten zuerst unter ihm und gleich darauf hinter ihm sehen.

So ähnlich war es auch mit Silver.

Bill trat immer schneller in die Pedale; seine Beine bewegten sich auf und ab, während er sich stehend über die Lenkstange beugte. Er hatte gleich zu Anfang gelernt, seine Unterhose beim Fahren so zu tragen, daß er sich nicht die Hoden am Fahrradrahmen quetschte. Der Sattel, den Eddie und er so niedrig wie möglich gestellt hatten, stieß gegen den unteren Teil seines Rückens, während er in die Pedale trat. Eine Frau, die in ihrem Blumengarten an der Ecke von Kansas Street und Jackson Street Unkraut jätete, wandte den Kopf und blickte ihm nach. Er erinnerte sie ein wenig an einen Affen, den sie einmal im Zirkus Barnum & Bailey auf einem Einrad hatte fahren sehen. Dieser Junge wird sich noch den Hals brechen, wenn er nicht langsamerfährt, dachte sie, bevor sie ihr Interesse wieder ihren Blumen zuwandte.

Eddie war übel dran. Stotter-Bill hatte soviel Verstand gehabt, sich nicht mit den großen Jungen anzulegen, als diese aus den Büschen hervorgestürzt waren wie schlecht gelaunte Jäger auf der Spur eines Tieres, das die Frechheit besessen hatte, einen von ihnen zu verletzen. Aber Eddie hatte protestiert, und Henry Bowers, der aussah, als wäre er durch die Mangel gedreht worden, hatte seine Wut an ihm ausgelassen.

Bill kannte die Burschen. Es waren üble, heruntergekommene Strolche, wie sein Vater sagen würde. Sie hatten auch schon Richie Tozier verprügelt, einen Jungen, mit dem Bill manchmal spielte, und das nicht nur einmal, denn Richie schien einfach seinen Mund nicht halten zu können. Es war fast so, als würde sein Mund manchmal ganz von alleine spöttische Bemerkungen machen. Im April hatte Richie etwas gesagt, als die drei Burschen auf dem Spielplatz an ihnen vorbeigegangen waren; er hatte über ihre Kragen eine Bemerkung gemacht, die hochgestellt waren wie bei Vic Morrow in dem Film >The Blackboard Jungle<. Er hatte es eigentlich ganz leise sagen wollen - das Dumme war nur, daß Richie Tozier anscheinend einfach nicht leise reden konnte.

Victor Criss hatte sich umgedreht und gerufen: »Was hast du gesagt, du vieräugiger Knirps?«

»Ich hab' gar nichts gesagt«, erklärte Richie schnell, aber obwohl sein Gesicht ganz erschrocken und ängstlich aussah, fügte sein Mund plötzlich hinzu: »Ihr solltet euch mal das Wachs aus den Ohren holen, ihr Burschen. Wollt ihr ein bißchen Sprengpulver?«

Daraufhin sausten die drei hinter Richie her, und Stotter-Bill stand unglücklich im Schatten des Schulhauses und verfolgte das ungleiche Rennen. Richie rannte diagonal über den Spielplatz, sprang über die Wippen und erkannte erst, als er am Drahtzaun zwischen dem Spielplatz und dem daran angrenzenden Park angelangt war, daß er in eine Sackgasse geraten war. Er versuchte, den Zaun zu erklimmen, und hatte es zu zwei Dritteln geschafft, als Henry Bowers und Victor Criss ihn herunterzerrten, Henry am Saum seiner Jacke, Victor an seinen Jeans. Richie war schreiend heruntergefallen, und als er auf dem Asphalt aufschlug, flog ihm die Brille von der Nase. Henry hatte sie verächtlich beiseite gekickt, und einer der Bügel war dabei abgebrochen, und jetzt war er mit Leukoplast geflickt.

Bill hatte bisher nur kleinere Probleme mit diesen Burschen gehabt. Natürlich machten sie sich über sein Stottern lustig, aber das war nicht weiter schlimm. Gelegentlich spielten sie ihm auch irgendeinen gemeinen Streich; so hatte eines Tages während der Pause Belch Huggins ihm das Lunchpaket aus der Hand geschlagen und es zertrampelt.

»T-T-Tut m-m-m-mir 1-leid um d-d-dein L-L-L-Lunchpaket, d-du A-A-A-Arschloch«, sagte Belch und schlenderte grinsend zu den Kletterstangen, wo Victor Criss lehnte und schallend lachte. Außer Victor hielt sich niemand in der Nähe der Kletterstangen auf; sobald Criss, Bowers und Huggins irgendwo auftauchten, verzogen sich lieber alle anderen Kinder.

Aber auch dieser Vorfall war nicht so schlimm gewesen. Bill hatte von Eddie Kaspbrak ein halbes Erdnußbutterbrot bekommen, und Richie hatte ihm mit Freuden seine hartgekochten Eier abgetreten, die seine Mutter ihm jeden zweiten Tag einpackte und die ihm schon zum Hals raushingen.

Man mußte diesen üblen Kerlen aus dem Wege gehen.

Eddie hatte sich noch ganz ordentlich gefühlt, als die Burschen sich wieder verzogen, obwohl seine Nase heftig blutete. Bill gab ihm sein Taschentuch, als Eddies eigenes mit Blut vollgesogen war; er sagte ihm, er solle sich hinsetzen und den Kopf zurücklehnen. Bill erinnerte sich, daß seine Mutter das immer bei Georgie so gemacht hatte, denn Georgie hatte manchmal Nasenbluten gehabt...

Oh, aber es tat so weh, an Georgie zu denken!

Erst nachdem die Büsche wieder zur Ruhe gekommen und die Geräusche der büffelartig durch die Barrens trampelnden Burschen verklungen waren, erst als Eddies Nase aufgehört hatte zu bluten, begann der Junge nach Luft zu schnappen; sein Atem ging pfeifend, und seine Hände öffneten und schlössen sich krampfartig.

»Scheiße!« keuchte Eddie. »Asthma! Verdammt!«

Er zog seinen Aspirator aus der Tasche - das Ding hatte etwas Ähnlichkeit mit einer Sprühflasche Windex - und schob ihn sich in den Mund. Nichts tat sich.

»Er ist leer«, japste Eddie. Seine Augen waren riesengroß und angsterfüllt. Der Bach plätscherte fröhlich dahin; ihm war es egal, daß Eddie kaum Luft bekam. Bill dachte flüchtig, daß die Raufbolde in einem Punkt recht gehabt hatten: es war ein richtiger Kleinkinderdamm gewesen. Aber, verdammt, es hatte ihnen Spaß gemacht, ihn zu bauen, und plötzlich überkam ihn ein dumpfer Zorn über die Zerstörungswut der großen Jungen.

»N-N-Nimm's leicht, E-E-Eddie«, sagte er.

Etwa vierzig Minuten saß er dann neben seinem Freund und wußte nicht, was er tun sollte. Er kannte den Drugstore in der Center Street, wo Eddie seine Asthmamedizin immer holte, aber bis dorthin waren es drei Meilen. Wenn er nun losfuhr, um das Zeug zu holen, und bei seiner Rückkehr würde Eddie bewußtlos daliegen? Bewußtlos oder

(tot wie Georgie)

etwas noch Schlimmeres? Im Koma liegen oder so was Ähnliches? Bill kannte sich mit Komas aus; in den Arztfilmen lagen Leute immer im Koma.

Er saß da und wußte nicht, ob er bleiben oder fahren sollte; er hoffte inbrünstig, daß Eddies Atmung sich normalisieren würde, aber das war nicht der Fall. Eddies Gesicht verfärbte sich besorgnisereregend: auf seinen Wangen waren rotblaue Flecken, alles übrige war aschfahl. Sein Atem war ein lautes Pfeifen; aus seiner Kehle und Nase kamen Geräusche, die an das Heulen des Windes im Winter erinnerten.

Bill hatte gerade beschlossen, daß er irgend etwas tun mußte, daß er wahrscheinlich doch losfahren sollte, als er aufschaute und Ben Hanscom ein Stück weiter oben am Bach stehen sah. Dem Namen nach kannte er ihn natürlich; Ben war der fetteste Junge in der ganzen Schule. Er war in seiner Parallelklasse, und manchmal sah Bill ihn während der Pausen in irgendeiner Ecke stehen, an einem Sandwich kauend, ein Buch in der Hand.

Bill dachte, daß Ben womöglich noch schlimmer aussah als Henry Bowers; er überlegte, was zwischen den beiden vorgefallen sein mochte. Seine Haare standen ihm wild und schmutzverkrustet vom Kopf ab. Sein Sweater (zumindest war es vermutlich ein Sweater gewesen; genau ließ sich das nicht mehr sagen) hing in verfilzten Fetzen herunter und war außerdem voller Blut- und Grasflecken. Seine Jeans waren ebenfalls zerrissen.

Er bemerkte, daß Bill ihn gesehen hatte, und wich beunruhigt ein wenig zurück.

»G-G-Geh nicht w-w-weg!« rief Bill und hob die Hände mit gespreizten Fingern, um zu zeigen, daß er harmlos war. »W-W-Wir b-brauchen H-H-Hilfe.«

Ben kam näher, war aber immer noch auf der Hut. Er schaute sich nach allen Seiten um. »Sind sie weg? Bowers und die anderen?«

»J-Ja«, antwortete Bill. »K-K-Kannst d-du bei m-meinem Freund b-b-blei-ben, bis ich s-seine M-M-Medizin hole? Er hat A-A-A-A...«

»Asthma?«

Bill nickte.

Ben ließ sich neben Eddie auf ein Knie nieder, der weit zurückgelehnt dasaß, die Augen fast geschlossen. Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch.

»Wer hat ihn geschlagen?« fragte er schließlich und blickte zu Bill empor, der auf Bens Gesicht den gleichen dumpfen Zorn sah, den er selbst verspürte. »Bowers?«

Bill nickte.

»Geh ruhig. Ich bleibe bei ihm.«

»D-D-Danke.«

»Keine Ursache«, sagte Ben. »Wenn sie nicht hinter mir hergewesen wä-

ren, wäre das hier nicht passiert. Los. Beeil dich! Ich muß zum Abendessen zu Hause sein.«

Bill machte sich auf den Weg, ohne noch etwas zu sagen. Wenn er hätte sprechen können, hätte er Ben geraten, er solle sich die Sache nicht so zu Herzen nehmen, Burschen wie Bowers seien eben eine Krankheit, so etwas wie Krebsgeschwüre, oder eine Naturkatastrophe wie Überschwemmungen oder Wirbelstürme. Aber er konnte nicht sprechen; es war immer schwierig, aber wenn er - wie jetzt- sehr aufgeregt war, wurde das Stottern besonders schlimm.

Er eilte am Bach entlang, und als er sich einmal umblickte, sah er, wie Ben Hanscom grimmig am Bachrand Steine aufsammelte und sie zu einem Stapel Munition aufhäufte. Vorsichtshalber.

Bill kannte sich in den Barrens ziemlich gut aus. Er hatte in diesem Frühling sehr oft hier gespielt, manchmal mit Eddie, manchmal mit Richie, manchmal auch allein. Natürlich hatte er nicht das ganze Gelände gründlich erforscht, aber er hatte keine Schwierigkeiten, den Weg zur Kansas Street zu finden. Er rannte eine Viertelmeile bachab wärts, schlug dann einen Trampelpfad ein, den er mit Eddie und Richie ausgetreten hatte, und kam bei der kleinen Brücke heraus, wo die Kansas Street einen jener namenlosen Bäche kreuzte, die aus dem Kanalisationssystem von Derry entsprangen und durch die Barrens flössen, bevor sie im Kenduskeag mündeten. Unter dieser Brücke hatte er Silver versteckt.

Er schob das Fahrrad keuchend die Uferböschung hinauf. Die Spielkarten am Vorder- und Hinterrad - beides Pik-Asse, eines mit roter, das andere mit blauer Rückseite - klapperten rhythmisch.

Oben angelangt, stieg er auf, und wie immer, sobald er Silver unter sich spürte, ging mit ihm eine seltsame Verwandlung vor.

3

»Hi-yo, Silver, Los!«

Bei diesen Worten hatte seine Stimme immer einen tieferen Klang als gewöhnlich; es war eine Art Kampfruf. Silver gewann langsam an Geschwindigkeit - das schnellere Klappern der Spielkarten war der beste Beweis dafür. Bill trat stehend in die Pedale, seine Hände umklammerten die Griffe, seine Halsmuskeln traten hervor, und der Mund war vor Anstrengung leicht geöffnet, während er den üblichen Kampf gegen Gewicht und Trägheit führte.

Die Anstrengung lohnte sich wie immer.

Silver bewegte sich schneller und schneller. Häuser flogen vorbei. Und schon war er an der Stelle, wo links von ihm der Kenduskeag zum Kanal wurde, wo die Kansas Street die Jackson Street kreuzte und danach bergabwärts führte, auf Derrys Geschäftsviertel zu.

Hier gab es viele Querstraßen, aber Bill hatte Vorfahrt, und es war ihm nie in den Sinn gekommen, daß ein Autofahrer einmal eines der Halteschilder mißachten und ihn überfahren könnte. Doch selbst wenn ihn jemand auf diese Möglichkeit aufmerksam gemacht hätte, hätte er seine Fahrweise

höchstwahrscheinlich nicht geändert, denn die rasante Fahrt die Kansas Street hinab zur Innenstadt - eine Fahrt, die große Ähnlichkeit mit einem selbstmörderischen Banzai-Auftrag hatte - war während jenes Frühlings, der noch ganz im Zeichen von Georgies unerklärlicher Ermordung stand, zu einem wesentlichen Bestandteil seines Lebens geworden. Er träumte oft davon.

Dieser Abschnitt der Kansas Street, die hier am Kanal entlangführte, wurde von manchen älteren Einwohnern Derrys Up-Mile Hill genannt. Bill sauste mit voller Geschwindigkeit diesen Hügel hinab, tief über die Lenkstange gebeugt, um den Luftwiderstand möglichst gering zu halten, eine Hand an der Hupe, um Unvorsichtige warnen zu können, mit wehenden Haaren. Das Klappern der Spielkarten war in ein stetiges Dröhnen übergegangen. Die Geschäftshäuser auf der anderen Straßenseite (hauptsächlich Großhandelsfirmen und Großschlächtereien) flogen an ihm vorüber, ebenso wie der Kanal zu seiner Linken.

»Hi-YO, silver, los!« schrie er triumphierend. Silver sauste über den ersten Bordstein, und wie fast immer verlor er die Pedale und war einen Augenblick lang ganz besonders auf die Gunst jener Götter angewiesen, die kleine Jungen beschützen. Dann fanden seine Füße wieder die Pedale, und er schwenkte in die Straße ein, das Tempolimit von 25 Meilen pro Stunde um mindestens 15 Meilen pro Stunde überschreitend.

Nun lag alles hinter ihm: sein Stottern, der trostlos leere Blick seines Vaters, wenn er in seinem Hobbyraum herumwerkelte, der geschlossene Klavierdeckel - seine Mutter spielte nicht mehr; zuletzt hatte sie am Tag von Georgies Beerdigung gespielt, drei methodistische Hymnen. Nun hatte er das alles hinter sich gelassen. Georgie, der in seinem gelben Regenmantel in den Regen hinausgelaufen war, sein Boot aus Zeitungspapier mit dem leichten Paraffinglanz in der Hand. Und dann Mr. Gardener an der Tür, mit Georgies Leiche, die in eine Decke voller Schmutz- und Blutflecken gehüllt war. Der entsetzte Aufschrei seiner Mutter. Alles lag jetzt hinter ihm.

Silver flog dahin, und Stotter-Bill Denbrough mit ihm. Sie rasten zusammen den Hügel hinab. Die Spielkarten dröhnten. Bill trat wild in die Pedale

- er wollte noch schneller sein, er wollte eine hypothetische Geschwindigkeit erreichen, nicht die des Lichtes, sondern jene der Erinnerungen, er wollte diese Geschwindigkeitsgrenze überwinden und die Erinnerungen für immer hinter sich zurücklassen.

Über die Lenkstange gebeugt, sauste er dahin; er sauste dahin, um den Teufel zu schlagen.

Nun lag die große Kreuzung von Kansas Street, Center Street und Main Street vor ihm. Sogar 1958 war diese Kreuzung schon ein Horror für jeden Fahrer, ein einziges Durcheinander von Verkehrszeichen und Ampeln. Man hatte hier einen Verkehrsstrom im Gegenzeigersinn für den gesamten Innenstadtbereich schaffen wollen. Das Ergebnis war aber, wie ein Redakteur der >Derry News< im Vorjahr geschrieben hatte, eine in der Hölle ersonnene Verkehrsrotation.

Wie immer, schweiften Bills Blicke rasch nach links und rechts, schätzten den Verkehrsstrom ab, suchten nach Lücken. Eine einzige Fehlleistung -ein einziges Stottern, sozusagen -, und er würde tot sein.

Er brauste mit voller Geschwindigkeit durch den nur langsam vorankommenden Verkehr an der verstopften Kreuzung, überfuhr eine rote Ampel, wich einem Buick aus und warf blitzschnell einen Blick über die Schulter nach hinten, um sich zu vergewissern, daß die mittlere Fahrbahn frei war. Als er wieder nach vorne schaute, stellte er fest, daß er in wenigen Sekunden in einen Lieferwagen hineinrasen würde, der mitten auf der Kreuzung stehengeblieben war, während der Fahrer sich den Hals verrenkte, um alle Verkehrszeichen zu studieren.

Die Fahrbahn rechts von Bill wurde von einem großen Intercitybus Derry-Bangor blockiert. Trotzdem schwenkte Bill in diese Richtung - immer noch mit 40 Meilen pro Stunde - und schloß die Lücke zwischen dem Lieferwagen und dem Bus. Er mußte den Kopf nach rechts werfen, um den Seitenspiegel des Lieferwagens davon abzuhalten, ihm die Zähne einzuschlagen. Heißer Diesel aus dem Bus brannte ihm in der Kehle wie ein Schluck hochprozentigen Alkohols. Aus dem Augenwinkel sah er den erschrockenen leichenblassen Busfahrer, der ihm mit der Faust drohte und die Lippen bewegte - höchstwahrscheinlich ließ er die wüstesten Schimpfwörter los, die er aber durch das geschlossene Fenster nicht hören konnte.

Drei alte Damen überquerten die Main Street. Sie sperrten Mund und Augen weit auf und boten einen sehr komischen Anblick, als plötzlich dicht vor ihnen ein Junge auf einem Fahrrad vorbeisauste.

Das Schlimmste - und das Beste - lag nun hinter ihm. Er hatte wieder einmal der sehr realen Möglichkeit seines Todes ins Auge geschaut. Aber der Bus hatte ihn nicht zermalmt, er hatte weder sich selbst noch die drei alten Damen umgebracht. Nun fuhr er wieder hügelaufwärts, und seine Geschwindigkeit nahm beträchtlich ab. Alle Gedanken, alle Erinnerungen holten ihn wieder ein, nahmen wieder ihre angestammten Plätze in seinem Kopf ein.

Er bog in die Richard's Alley und erreichte gleich darauf die Center Street. Jetzt trat er nur noch langsam in die Pedale und spürte den Schweiß auf seinem Rücken und in seinen Haaren. Er stellte Silver vor dem Drugstore ab und ging hinein.

4

Vor Georges Tod hätte Bill dem Apotheker Mr. Keene die Sachlage mündlich erklärt. Mr. Keene war ein freundlicher, geduldiger Mann, der nie dumme Witze machte oder ihn aufzog. Aber jetzt war sein Stottern viel schlimmer geworden, und er hatte wirklich Angst, daß Eddie sterben oder in ein Koma fallen könnte oder sonstwas, wenn er sich nicht beeilte.

Deshalb griff er, als Mr. Keene sagte: »Hallo, Bill, was kann ich für dich tun?« nach einem Faltprospekt für Vitamine und schrieb auf die Rückseite: Eddie Kaspbrak und ich haben in den Barrens gespielt. Er hat einen schlimmen Asthmaanfall bekommen, er kann kaum atmen. Können Sie mir einen neuen Aspirator für ihn geben?

Er schob den Prospekt über die Glastheke zu Mr. Keene hinüber, der

Bills Nachricht las, seine angsterfüllten blauen Augen sah und sagte: »Natürlich, Bill. Wart einen Moment.«

Bill trat ungeduldig von einem Bein aufs andere, während Mr. Keene hinter der hohen Trennwand beschäftigt war. Obwohl es in Wirklichkeit nicht einmal fünf Minuten dauerte (es war erst halb vier nachmittags), kam es Bill wie eine Ewigkeit vor, bis der Apotheker mit einer von Eddies Druckflaschen in der Hand zurückkam. Er reichte sie Bill, lächelte und sagte: »So, das dürfte Eddie helfen.«

»D-D-D-Danke«, brachte Bill hervor. »I-I-Ich hab' k-kein G-G-G...«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte Mr. Keene. »Ich schreib's auf Mrs. Kaspbraks Rechnung. Ich bin sicher, daß sie dir sehr dankbar sein wird.« Erleichtert bedankte sich Bill noch einmal und rannte hinaus. Mr. Keene beobachtete ihn durch das große Schaufenster. Er sah, wie der

l Junge den Aspirator vorsichtig in den Drahtkorb legte, mühsam aufs Fahrrad stieg - wie schafft er es überhaupt, auf einem so großen Rad zu fahren? wunderte sich Mr. Keene - und sich langsam in Bewegung setzte. Das Fahrrad, das für Mr. Keenes Begriffe so aussah, als würde es jeden Moment auseinanderfallen, schwankte bedenklich hin und her, und der Aspirator rollte im Drahtkorb von einer Seite zur anderen.

Mr. Keene lächelte ein wenig traurig vor sich hin. Ja, er würde Eddies Asthma-Medizin auf Sonia Kapbraks Rechnung setzen, und sie würde wie immer überrascht - und etwas mißtrauisch - sein, wie billig dieses Medikament war... andere Arzneimittel sind doch so teuer, sagte sie jedesmal. Die Aufschrift auf dem Aspirator lautete: Hydroox Mist nach Bedarf verwenden. Das Mittel hatte sich bei den quälenden Asthmaanfällen des Kaspbrak-Jungen als erstaunlich wirksam erwiesen. Und es war billig, weil - nur Mr. Keene und RUSS Handor, der Arzt des Jungen wußten das - hydroox mist eine Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff war, der eine Spur von Kampfer beigefügt wurde, um dem Mittel einen leichten Medizingeruch zu verleihen.

Mit anderen Worten - Eddies Asthmamedikament war Leitungswasser.

5

Für den Rückweg brauchte Bill länger, weil er jetzt mühsam bergauf strampeln mußte, statt die Hügel hinabsausen zu können. An einigen Stellen mußte er sogar absteigen und Silver schieben, weil ihm die Muskelkraft fehlte, um größere Steigungen bewältigen zu können.

Bis er die kleine Brücke erreicht, sein Fahrrad darunter versteckt hatte, den Pfad entlanggerannt war und die Strecke am Bach entlang zurückgelegt hatte, war es zehn nach vier geworden. Unterwegs war er die ganze Zeit von allen möglichen Schreckensvisionen geplagt worden. Der fette Junge, Ben Hanscom, hatte Eddie einfach seinem Schicksal überlassen und sich aus dem Staub gemacht. Oder die Strolche waren zurückgekommen und hatten Ben und Eddie zu Brei geschlagen. Oder... die allerschlimmste Möglichkeit... der Mann, dessen Lieblingsbeschäftigung

darin bestand, Kinder zu ermorden, hatte Ben oder Eddie oder auch beide erwischt. So wie er auch Georgie erwischt hatte.

Bill wußte, daß es über die Morde jede Menge Gerede gegeben hatte und noch immer gab. Er stotterte sehr stark, aber er war nicht taub - obwohl manche Leute das zu glauben schienen, weil er nur redete, wenn es unbedingt notwendig war. Er hatte Vermutungen gehört, daß kein Zusammenhang zwischen der Ermordung seines Bruders und den Morden an Betty Ripsom, Cheryl Lamonica, Matthew Clements und Veronica Grogan bestand. Andere behaupteten, daß George, das Ripsom-Mädchen und Cheryl von ein und demselben Mann ermordet wurden und die beiden anderen Kinder von einem >Nachahmer-Killer<. Eine dritte Gruppe behauptete, daß die Jungen von einer Person und die Mädchen von einer anderen ermordet wurden.

Bill Denbrough glaubte, daß sie alle von ein und derselben Person ermordet worden waren... wenn es überhaupt eine Person war. Manchmal war er sich dessen nicht ganz sicher. Ebenso wie er sich in jenem Frühsommer seiner Gefühle in bezug auf Derry nicht sicher war. Lag das etwa an den Folgen von Georgies Tod, an der Tatsache, daß seine Eltern ihn seitdem zu ignorieren schienen, weil sie in ihrem Schmerz über den Verlust des jüngeren Sohnes völlig vergaßen, daß Bill noch am Leben war und ihre Hilfe brauchte? Oder lag es an diesen Dingen, verbunden mit den anderen Morden? Oder daran, daß er jetzt Silver hatte? oder an jenen Stimmen, die jetzt manchmal in seinem Kopf zu sprechen schienen, die ihm etwas zuflüsterten (und es waren mit Sicherheit nicht Varianten seiner eigenen Stimme, denn diese Stimmen stotterten nicht; sie waren leise, aber eindringlich), ihm den Rat gaben, etwas zu tun oder unterlassen? Lag es an diesen Dingen, daß Derry ihm irgendwie verändert vorkam? Irgendwie bedrohlich, mit unerforschten Straßen, die nicht einladend, sondern furchterregend wirkten? Daß manche Gesichter ihm jetzt verschlossen und verängstigt vorkamen?

Er wußte es nicht, aber er glaubte - ebenso wie er glaubte, daß alle Morde auf ein und dasselbe Konto gingen -, daß Derry sich tatsächlich verändert hatte, und daß diese Veränderung mit dem Tod seines Bruders begonnen hatte,. Die Schreckensvisionen in seinem Kopf hatten ihren Ursprung in seiner tief verborgenen Überzeugung, daß in Derry jetzt alles mögliche passieren konnte. Alles.

Als er jedoch um die letzte Kurve bog, sah er Eddie, der inzwischen mit gesenktem Kopf dasaß, die Hände auf dem Schoß; sein Atem ging immer noch stoßweise und pfeifend. Die Sonne stand jetzt so tief, daß sie lange grüne Schatten über den Bach warf, den Eddie und er einzudämmen versucht hatten, als Bowers und seine Freunde aufgetaucht waren.

»Mann, das war wirklich schnell!« sagte Ben und stand auf. »Ich habe frühestens in einer halben Stunde mit dir gerechnet.«

»Ich hab' ein sch-schnelles R-R-Rad«, sagte Bill mit einigem Stolz. Einen Augenblick lang musterten sie einander mißtrauisch. Dann lächelte Ben schüchtern, und Bill erwiderte sein Lächeln. Der Junge war fett, aber ansonsten schien er in Ordnung zu sein. Er war nicht abgehauen. Das mußte ganz schön viel Mut erfordert haben, nachdem es ja schließlich durchaus mög-

lich war, daß Henry und seine Freunde sich immer noch in dieser Gegend herumtrieben.

Er winkte Eddie zu, der mit pfeifendem Atem dankbar zu ihm aufschaute . »Hier, Eddie.« Er warf ihm den Aspirator zu. Eddie schob das Ding in seinen Mund, drückte auf die Flasche und keuchte krampfhaft. Dann lehnte er sich mit geschlossenen Augen zurück. Ben betrachtete ihn besorgt.

»Es geht ihm echt schlecht, was?« sagte er. »Mann o Mann, ich hatte 'ne Zeitlang furchtbaren Bammel. Ich hab' überlegt, was ich tun soll, wenn er Krämpfe bekommt oder so was. Ich konnte mich überhaupt nicht mehr erinnern, was wir im Rot-Kreuz-Kurs gelernt haben. Hast du noch 'ne Ahnung davon?«

Bill nickte. »Er w-w-wird k-k-keine Krämpfe bekommen«, sagte er. »Diese M-M-Medizin w-wird ihm h-h-helfen. Schau!«

Eddie hatte die Augen geöffnet. Der pfeifende Atem hatte inzwischen aufgehört.

»Danke«, sagte er zu Bill. »Das war ein schlimmer Anfall.«

»Sie haben deine Nase ganz schön zugerichtet, was?« meinte Ben teilnahmsvoll.

»An meine Nase hab' ich gar nicht mehr gedacht«, sagte Eddie. Er stand auf und schob den Aspirator in seine Tasche. »Ich dachte daran, was meine Mutter sagen wird, wenn sie das Blut auf meinem Hemd sieht. Sie wird mit mir zum Arzt gehen wollen.«

»Warum denn?« fragte Ben. »Es hat doch aufgehört zu bluten. Ich erinnere mich an einen Jungen, mit dem ich zusammen im Kindergarten war. Scooter Morgan hieß er, und er holte sich eine blutige Nase, als er von den Kletterstangen runterfiel. Er mußte wirklich zum Arzt gebracht werden, aber nur, weil es nicht aufhörte zu bluten.«

»Ja?« fragte Bill interessiert. »Ist er g-g-g-gestorben?«

»Nein«, antwortete Ben. »Aber er hat eine Woche gefehlt.«

»Meine Mutter wird mich trotzdem hinschleppen«, sagte Eddie mürrisch. »Sie wird glauben, meine Nase sei gebrochen oder etwas Ähnliches. Sie schleift mich mindestens ein- bis zweimal im Monat zum Arzt. Es ist zum Verrücktwerden!«

»Wow!« sagte Ben, der so was noch nie gehört hatte. »Aber warum weigerst du dich nicht einfach?«

»Ach...«, sagte Eddie unbehaglich, gab aber keine weitere Erklärung dazu.

»Wie heißt du?« fragte Bill.

»Ben Hanscom. Ich bin in deiner Parallelklasse. Du bist Bill Denbrough.«

»Ja. Und das ist E-E-E-E...«

»Eddie Kaspbrak«, sprang Eddie ein.

»Freut mich, euch kennenzulernen.«

Ein kurzes Schweigen breitete sich aus, aber es war irgendwie ein behagliches Schweigen, das die Freundschaft der drei Jungen besiegelte.

»Warum waren diese Burschen hinter dir her?« fragte Eddie.

»Ach, die s-s-sind d-doch immer hinter jemandem h-her«, sagte Bill. »Ich h-h-hasse diese Arschlöcher.«

Ben verschlug es einem Moment lang die Sprache - hauptsächlich vor Bewunderung, weil Bill dieses verbotene Wort'benutzt hatte. Er selbst hatte es letztes Jahr in Halloween an einen Telefonmast geschrieben (mit winzigen Buchstaben), aber noch nie laut gesagt.

»Bowers saß während der Examensarbeiten zufällig neben mir. Er wollte bei mir abschreiben, aber ich ließ das nicht zu.«

»Du mußt den Wunsch haben, jung zu sterben, Junge«, sagte Eddie bewundernd.

Stotter-Bill fing laut zu lachen an, und Eddie stimmte ein. Ben warf ihnen einen scharfen Blick zu, stellte fest, daß er nicht ausgelacht wurde, und lächelte ein wenig.

»Ich nehm's selbst fast an«, sagte er. »Na ja, und jetzt muß er die Sommerschule besuchen, und da hat er mir aufgelauert, er und seine beiden Kumpane, und das ist dabei herausgekommen.«

Er zuckte mit den Schultern und betrachtete den Bach.

»D-Du siehst aus, als h-h-hätten sie dich f-fast u-u-umgebracht«, sagte Bill.

»Ich bin von der Kansas Street die Böschung runtergefallen«, erklärte Ben. »Und wenn meine Mutter meine Kleidung sieht, wird sie mir vermutlich den Rest geben.«

Bill und Eddie brachen wieder in schallendes Gelächter aus, und diesmal fiel Ben ein. Sein Bauch schmerzte beim Lachen, aber er lachte trotzdem, schrill und ein bißchen hysterisch. Schließlich mußte er sich hinsetzen, und das plumpsende Geräusch, das sein Gesäß dabei machte, brachte ihn erneut zum Lachen. Es gefiel ihm, das gemeinsame Gelächer zu hören. Es war ein Geräusch, das er noch nie gehört hatte - gemeinsames Gelächter, von dem sein eigenes ein Teil war.

Er schaute zu Bill Denbrough hoch, ihre Blicke trafen sich, und schon mußten sie wieder lachen.

Bill zog seine Hose zurecht, stellte seinen Hemdkragen hoch und stolzierte mit geschwollener Brust umher. Mit tiefer Stimme gab er von sich: »Ich bring' dich um, Junge. Komm mir ja nich' in die Quere. Ich bin saudumm, aber ich bin groß und stark. Ich kann mit meiner Stirn Walnüsse knacken. Ich kann Essig pissen und Zement scheißen. Mein Name ist Henry Bowers, und ich bin das größte Arschloch in ganz Derry und Umgebung.«

Eddie wälzte sich auf dem Ufer hin und her und hielt sich den Bauch vor Lachen. Ben lachte Tränen.

Bill setzte sich neben sie. Allmählich beruhigten sie sich wieder.

»Die ganze Sache hat ein Gutes«, sagte Eddie. »Wenn Bowers in der Sommerschule ist, kann er uns hier unten nicht stören.«

»Kommt ihr oft hierher?« fragte Ben. Er war mehrmals am Kenduskeag spazierengegangen und auch schon beim Wasserturm gewesen, dessen Größe ihn faszinierte, aber in die Barrens war er heute zum erstenmal gekommen.

»K-K-Klar«, sagte Bill. »Es ist sch-sch-schön hier. N-N-Niemand stört uns h-h-h-hier. W-Wir haben eine M-M-Menge Spaß. Bowers und die a-a-a-an-deren kommen n-n-nie hierher.«

»Du und Eddie?« fragte Ben.

»R-R-R-R-...« Bill schüttelte den Kopf. Ben bemerkte, daß sein Gesicht sich verzerrte, wenn er stotterte, und plötzlich fiel ihm etwas Seltsames ein: Bill hatte überhaupt nicht gestottert, als er Henry Bowers imitiert hatte. »R-R-Richie Tozier k-k-kommt normalerweise auch h-h-her. Aber er m-m-mußte heute seinem V-V-V-Vater helfen, den D-Dachboden aufzuräumen.«

»Oh, den kenn' ich«, sagte Ben. »Ihr kommt wohl sehr oft her?« Dieser Gedanke faszinierte ihn - und weckte in ihm eine törichte Sehnsucht.

»Z-Z-Ziemlich oft«, bestätigte Bill, und Ben war völlig perplex, als er beiläufig hinzufügte: »W-W-Willst d-du morgen nicht auch h-h-herkommen? E-E-Eddie und i-ich haben v-v-versucht, einen D-D-Damm zu bauen.«

»Er hat nicht viel getaugt«, sagte Eddie.

Ben stand auf und ging zum Bach hinunter. Am Rand waren noch einige verflochtene kleine Äste zu sehen; ein paar weitere lagen auf einer Sandbank 40 oder 50 Fuß bachabwärts. Sonst war von dem Damm nichts mehr übrig.

»Ihr müßtet ein paar Bretter haben«, sagte Ben. »Und sie hintereinander anordnen... wie die Brotscheiben in einem Sandwich.«

Bill und Eddie starrten ihn verwirrt an, und Ben ließ sich auf ein Knie nieder. »Seht mal her«, sagte er. »Bretter hier und hier. Ihr rammt sie möglichst fest ins Bachbett. Versteht ihr? Dann füllt ihr, bevor das Wasser sie wegschwemmen kann, die Zwischenräume mit Steinen und Sand...«

»W-W-Wir!« verbesserte Bill.

»Was?« fragte Ben und schaute verdutzt hoch.

»W-W-Wir w-werden das machen.«

»Oh«, war das einzige, was Ben herausbrachte; er kam sich furchtbar dumm vor... und dann war er auf einmal wahnsinnig glücklich. »Ja. Wir. Jedenfalls, wenn ihr... wenn wir die Zwischenräume mit Steinen, Sand und sonstigem Zeug füllen, wird der Damm halten. Das vorderste Brett wird sich gegen die Steine lehnen. Wenn wir dann noch ein drittes Brett hätten - seht mal.« Bill und Eddie beugten sich über folgende Zeichnung im Sand und betrachteten sie mit großem Interesse:

»Hast du schon mal einen Damm gebaut?« fragte Eddie. Sein Ton war respektvoll, fast ehrfürchtig.

»Nein.«

»W-W-Woher w-weißt du dann, daß er h-h-halten wird?« fragte Bill.

Ben sah ihn verwirrt an. »Klar wird er halten. Warum auch nicht?«

»A-A-Aber w-woher willst d-du das w-w-wissenl« fragte Bill wieder. Er grinste, aber es war ein sympathisches Grinsen.

»Ich weiß es einfach«, erwiderte Ben und betrachtete noch einmal seine Zeichnung, die ihm irgendwie Sicherheit gab. Er hatte noch nie im Leben einen Kofferdamm gesehen, weder auf Bildern noch in Wirklichkeit, und er hatte keine Ahnung, daß er soeben einen gezeichnet hatte.

»O-Okay.« Bill klopfte Ben auf die Schulter. »Bis morgen dann.«

»Um wieviel Uhr?«

»E-E-Eddie und ich w-w-werden so g-gegen acht hier sein...«

»Wenn ich und meine Mutter um diese Zeit nicht beim Arzt sitzen«, sagte Eddie seufzend.

»Ich bring' ein paar Bretter mit«, sagte Ben. »Gleich bei mir um die Ecke wohnt so'n alter Kerl, der eine ganze Menge davon rumliegen hat. Ich werd' ihm ein paar klauen.«

»Bring auch ein paar Vorräte mit«, sagte Eddie. »Was zu essen. Du weißt schon, Sandwiches und so.«

»Okay.«

»H-H-Hast du ein G-Gewehr?« fragte Bill.

»Ich hab' ein Daisy-Luftgewehr«, sagte Ben. »Meine Mutter hat's mir zu Weihnachten geschenkt, aber sie kriegt Zustände, wenn ich im Haus damit schieße.«

»B-B-Bring's m-mit«, sagte Bill. »Vielleicht spielen w-wir mit G-G-Ge-wehren.«

»Okay«, sagte Ben glücklich. »Ich glaube, ich sollte mich jetzt lieber auf den Heimweg machen.«

Die drei Jungen verließen die Barrens gemeinsam. Ben half Bill, Silver die Uferböschung hinaufzuschieben. Eddie folgte ihnen langsam. Sein Atem ging wieder pfeifend, und er betrachtete unglücklich sein blutbeflecktes Hemd.

Bill verabschiedete sich und fuhr los, aus voller Kehle »Hi-yo, Looos!« brüllend.

»Das ist ja ein gigantisches Rad!« rief Ben.

»Das kann man wohl sagen«, stimmte Eddie zu. Er hatte inzwischen noch einmal seinen Aspirator benutzt und atmete wieder normal. »Manchmal nimmt er mich auf dem Gepäckträger mit. Er fährt so schnell, daß ich mir vor Angst fast in die Hosen mache. Er ist ein guter Kerl - Bill, meine ich.« Aber seine Augen, die Bill folgten, sagten noch viel mehr. Sie drückten Verehrung aus. »Du weißt doch über seinen Bruder Bescheid?«

»Was meinst du?«

»Er wurde letzten Herbst ermordet«, sagte Eddie. »Jemand hat ihn umgebracht. Hat ihm einen Arm ausgerissen.«

»Jesus, Maria und Josef!«

»Ja. Vorher hat Bill nur ein bißchen gestottert. Jetzt ist es echt schlimm. Ist dir aufgefallen, daß er stottert?«

»Na ja... ein bißchen.«

»Jaaa«, sagte Eddie. »Jedenfalls, wenn du willst, daß Bill dein Freund wird, dann sprich nicht über seinen kleinen Bruder George. Er ist völlig verstört über Georgies Tod.«

»Mann, das wäre ich auch«, sagte Ben. Er erinnerte sich jetzt vage an den kleinen Jungen, der im vergangenen Herbst ermordet worden war. »Ist es direkt nach der Überschwemmung passiert?«

»Ja.«

Sie hatten die Ecke von Kansas Street und Jackson Street erreicht. Hier mußte Ben rechts und Eddie links abbiegen. Kinder rannten hin und her, spielten Fangen und Ball. Ein kleiner Junge trottete an Ben und Eddie vorbei; er hatte eine Waschbärmütze auf, deren Schwanz ihm zwischen den Augen baumelte, und er rollte einen Hula-Hoop-Reifen vor sich her.

Die beiden Jungen blickten ihm amüsiert nach, dann sagte Eddie: »Na, ich muß gehen. Bis morgen, Ben.«

»He«, sagte Ben. »Ich hab' eine Idee, wenn du wirklich nicht zum Arzt gehen möchtest.«

»Jaa?« Eddie sah Ben zweifelnd, aber doch mit schwacher Hoffnung an.

»Hast du ein Fünfcentstück?«

»Ein Zehncentstück. Was soll ich damit?«

Ben betrachtete die rotbraunen Flecken auf Eddies Hemd. »Geh unterwegs in den Drugstore und bestell dir eine Schokoladenmilch. Gieß etwa die Hälfte davon über dein Hemd und erzähl deiner Mutter, du hättest das ganze Glas verschüttet.«

Eddies Augen leuchteten auf. In den vier Jahren seit dem Tod seines Vaters hatten die Augen seiner Mutter sehr nachgelassen. Aus Gründen der Eitelkeit (und weil sie sowieso nicht Auto fahren konnte) weigerte sie sich, zum Augenarzt zu gehen und sich eine Brille verschreiben zu lassen. Getrocknete Blutflecken und Schokoladenmilchflecken sahen ziemlich ähnlich aus.

»Das könnte hinhauen«, sagte er.

»Erzähl ihr nur nicht, daß es meine Idee war, wenn sie's rauskriegt.«

»Bestimmt nicht. Also, wir sehen uns dann morgen.«

»Okay.« Nach kurzem Zögern fügte Ben hinzu: »Ihr Jungs seid wirklich klasse.«

Eddie sah nicht nur verlegen, sondern fast nervös aus. »Bill ist klasse.«

»Es tut mir leid, daß diese Kerle euren Damm kaputtgemacht und dich geschlagen haben.«

»Sie verprügeln immer irgend jemanden. Bis dann, Big Ben.«

Ben blickte Eddie noch ein Weilchen nach, dann machte er sich ebenfalls auf den Heimweg, aber schon nach drei Blöcken sah er an der Bushaltestelle Jackson Street und Main Street drei ihm nur allzu bekannte Rücken. Huggins, Criss und Bowers! Rasch versteckte er sich hinter einer Hecke. Sein Herz klopft laut. Fünf Minuten später kam der Bus, der zur Witcham Road fuhr, und die drei Burschen traten ihre Zigaretten aus und stiegen ein.

Ben ging nach Hause und fühlte sich so gut wie den ganzen Tag nicht.

6

An jenem Abend hatte Bill Denbrough ein schreckliches Erlebnis. Und das

schon zum zweitenmal.

Seine Eltern saßen unten vor dem Fernseher, die Mutter an einem Couchende, der Vater am anderen - wie Buchstützen. Sie redeten nicht viel miteinander. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, als im Fernsehzimmer, das sich ans Wohnzimmer anschloß, soviel geredet und gelacht wurde, daß man den Fernseher manchmal überhaupt nicht mehr hörte. »Halt die Klappe, Georgie!« schrie Bill beispielsweise. »Friß nicht das ganz Popcorn auf!« rief George. »Ma, sag Bill, er soll mir das Popcorn geben.« »Gib ihm

das Popcorn, Bill. Und nenn mich nicht Ma, George.« Oder sein Vater erzählte Franzosenwitze, und alle lachten darüber, sogar seine Mutter.

In jener Zeit waren seine Eltern auch schon die Buchstützen auf der Couch gewesen (Vater mit einer Zeitschrift, Mutter mit ihrem Strick- oder Nähzeug) - aber er und Georgie waren die Bücher gewesen. Bill hatte nach Georgies Tod versucht, beim Fernsehen ein Buch zwischen ihnen zu sein, aber jetzt war es dort kalt. Sie strahlten von beiden Seiten Kälte aus, die seine Wangen erstarren ließ, und schließlich mußte er aufstehen, weil diese Art von Kälte ihm das Wasser in die Augen trieb.

»Soll ich euch einen Witz erzählen, den ich heute in der Schule gehört habe?« hatte er einmal, vor einem Monat, schüchtern gefragt.

Stille auf beiden Seiten. Auf dem Bildschirm bat ein Krimineller seinen Bruder, der Priester war, ihn zu verstecken.

Bills Vater schaute von seinem >Life< auf und warf Bill einen erstaunten Blick zu, bevor er sich wieder in die Zeitschrift vertiefte. Seine Mutter reagierte überhaupt nicht.

»Es g-g-geht d-darum, wieviel F-F-Franzosen man benötigt, um eine G-G-Glühbirne einzuschrauben«, fuhr Bill verzweifelt fort. Er schwitzte. Seine Stimme war viel zu laut. Die Worte dröhnten in seinem Kopf wie außer Kontrolle geratene Glocken, blieben stecken, kamen nur mühsam heraus.

»W-W-Wißt ihr, w-w-w-wieviel?«

»Einen, um die Glühbirne zu halten, und vier, um das Haus zu drehen«, sagte Zack Denbrough, ohne von seiner Zeitschrift aufzublicken.

»Hast du etwas gesagt, Liebling?« fragte seine Mutter, und im Fernseher sagte der Priester seinem Bruder, er solle umkehren und um Vergebung beten.

Bill saß schwitzend auf dem Sofa, zwischen seinen Eltern, aber ihm war kalt, furchtbar kalt. Ihn fror, weil George immer noch hier im Zimmer war, obwohl Bill ihn nicht sehen konnte, ein George, der nie mehr rief, Bill solle nicht das ganze Popcorn aufressen oder Bill habe ihn gezwickt. Irgendwie war Georgie trotzdem gegenwärtig, ein bleicher, einarmiger Georgie, der im matten weißbläulichen Licht des Fernsehers nachdenklich schwieg, ein Georgie, von dem eine betäubende, tödliche Kälte ausging; Bill rannte in sein Zimmer, warf sich aufs Bett und weinte in sein Kissen.

In Georges Zimmer war alles noch unverändert. Zack hatte eines Tages angefangen, es aufzuräumen, aber Sharon Denbrough hatte geschrien: »Rühr seine Sachen nicht an!«

Zack war heftig zusammengezuckt, die Arme voller Kartons - mit dem Inhalt von Georges Buchregal und den beiden oberen Schubladen seiner Kommode -, und dann war er mit den Sachen in Georges Zimmer zurückgeschlichen.

Bill war hereingekommen und hatte seinen Vater neben Georges Bett knien sehen (seine Mutter bezog es immer noch frisch, nur daß sie es jetzt einmal in der Woche machte anstatt zweimal wie zu Georgies Lebzeiten, den Kopf in seinen muskulösen, behaarten Armen vergraben. Erschrocken hatte Bill festgestellt, daß sein Vater weinte.

»D-D-Dad...«

»Geh, Billy«, hatte sein Vater gesagt. Seine Stimme klang erstickt und schwankte. Sein Rücken hob und senkte sich, und Bill hätte ihm gern die Hand auf den Rücken gelegt, traute sich aber nicht. »Laß mich allein.«

Er war durch den Flur geschlichen und hatte seine Mutter unten in der Küchen weinen gehört. Es klang schrill und hilflos, und Bill hatte gedacht: Warum weinen sie so weit voneinander entfernt? Er hatte keine Antwort auf diese Frage gefunden.

Am ersten Abend der Sommerferien ging Bill in Georgies Zimmer. Sein Herz klopfte laut in seiner Brust, und seine Beine fühlten sich steif und bleischwer an. Er hielt sich nicht gern hier auf. Georgie war in diesem Zimmer noch so gegenwärtig, und manchmal hatte Bill das Gefühl, daß es dort spukte... daß die Schranktür sich eines Abends knarrend öffnen und Georgie zum Vorschein kommen würde, zwischen seinen Hemden und Hosen, ein Georgie in gelbem Regenmantel voller roter Flecken, von dem ein leerer Ärmel schlaff herabhing. Georgies Augen würden leer und schrecklich sein, wie die Augen eines Zombies in einem Horrorfilm, und seine Überschuhe würden quietschen und auf dem Teppich nasse Spuren hinterlassen, wenn er auf sein Bett zugehen würde, wo Bill schreckensstarr saß... Diese Gedanken verfolgten und ängstigten ihn - wenn eines Tages der Strom ausfallen sollte, während er hier auf Georges Bett saß und auf die Bil-; der an den Wänden oder die Modelle auf der Kommode starrte, war er sicher, daß er einen Herzinfarkt, vermutlich einen tödlichen, erleiden würde -, aber trotzdem zog es ihn immer wieder dorthin. Gegen die Angst anzukämpfen, daß George als entsetzliches, auf Rache sinnendes Gespenst zurückkommen könnte, gehörte für Bill zu der Notwendigkeit, irgendwie mit Georges brutalem Tod fertig zu werden. Er begriff undeutlich, daß seine Eltern mit dieser Aufgabe nicht gut zurechtkamen, und er spürte, daß er das stellvertretend für sie tun mußte, wenn sie ihn je wieder lieben sollten.

Aber er kam nicht nur ihretwegen; er kam auch seinetwegen. Wenn er an jenem Tag das Boot für George nicht gebastelt hätte, würde sein Bruder vermutlich noch leben. Machte ihn das verantwortlich? Und wenn ja, in welchem Ausmaß? War er mitschuldig? Oder gar ein Mörder? Was war er?

Er vermißte George. Er vermißte seine Stimme, sein Lachen, seine vertrauensvoll zum älteren Bruder aufblickenden Augen. Und obwohl er manchmal Angst vor Georges Zimmer hatte, spürte er zu anderen Zeiten, daß er George am meisten liebte, wenn er Angst hatte, denn sogar in seiner Angst - in dieser unheimlichen Vorstellung, daß George im Schrank oder unter dem Bett sein könnte - erinnerte er sich voller Liebe an den Ausdruck in den Augen seines Bruders. In der Kombination dieser beiden Gefühle glaubte Bill, der Erkenntnis am nächsten zu sein, wie man das schreckliche Geschehen letztlich bewältigen konnte.

Manchmal blätterte er in Georgies Büchern, manchmal stöberte er in Georgies Spielsachen.

Aber er hatte seit dem Ende des Vorjahres nicht mehr in Georgies Fotoalbum geschaut.

Am Abend des Tages, als er Ben Hanscom zum erstenmal getroffen hatte, öffnete Bill jedoch die Schranktür (wobei er sich wie immer darauf einzustellen versuchte, daß er im nächsten Augenblick George sehen würde, stocksteif in seinem Regenmantel zwischen den hängenden Kleidungsstücken stehend, daß eine weiße Hand mit Schwimmhäuten plötzlich aus dem Dunkeln hervorschießen und ihn am Arm packen würde) und holte das Album vom obersten Fach.

mein album, stand in goldenen Lettern auf dem Einband. Und darunter, in sorgfältig gemalten, kindlichen Druckbuchstaben, auf einem - inzwischen abblätternden und gelblichen - Klebestreifen: george denbrough, 6 jahre alt. Mit noch lauterem Herzklopfen als sonst trug Bill das Album zum Bett, in dem Georgie immer geschlafen hatte. Was ihn veranlaßt hatte, das Album wieder hervorzuholen, nach seinem schrecklichen Erlebnis im Dezember, konnte er nicht sagen. Vielleicht wollte er einfach einen zweiten Blick darauf werfen, um sich davon zu überzeugen, daß das, was er beim erstenmal gesehen hatte, nur eine aus Angst geborene Halluzination gewesen war. Er war inzwischen älter geworden, er konnte jetzt besser mit den Dingen fertig werden. Man überwand den Schmerz, das hatte Mr. Fogarty, der Geistliche, der George beerdigt hatte, gesagt. Die Zeit heilt alle Wunden.

Bill hatte allerdings nicht das Gefühl, geheilt zu sein.

Und das Album übte auf ihn eine gewisse perverse Faszination aus. Was er gesehen oder zumindest zu sehen geglaubt hatte...

Er öffnete das Album mit Fotos, die Georgie seinen Eltern, Onkeln und Tanten abgebettelt und sorgfältig eingeklebt hatte. Es war Georgie egal gewesen, ob er die Personen kannte oder nicht; ihn hatte die Idee der Fotografie an sich interessiert, und wenn er keine neuen Fotos zum Einkleben hatte, war er im Schneidersitz auf seinem Bett gesessen und hatte sich die alten angeschaut; und nun saß Bill auf diesem Bett, blätterte behutsam die großen Seiten um und betrachtete die Schwarzweißfotos: Seine Mutter als junges, unglaublich hübsches Mädchen; sein Vater, nicht älter als achtzehn, ein Gewehr in der Hand, neben drei anderen lächelnden bewaffneten Männern über einem erlegten Hirsch stehend; Onkel Hoyt, der einen Hecht hochhielt; Tante Fortuna, die neben einem Korb Tomaten kniete; ein alter Buick; eine Kirche; ein Haus; ein Straßenabschnitt, von jemandem aus unbekanntem Grund aufgenommen, der nun hier im Album eines toten Jungen klebte, die Blätter der Bäume im Hintergrund des Fotos für immer in Herbstfarben erstarrt.

Auf einem Foto sah Bill sich selbst im Alter von drei Jähen in einem Krankenhausbett; ein Verband verbarg seine Haare; ein anderer führte über die Wangen um sein gebrochenes Kinn herum. Er war damals auf einem Parkplatz vor dem A & P in der Central Street von einem Auto angefahren worden. Er erinnerte sich kaum noch daran, nur daß er im Krankenhaus Eis bekommen hatte, und daß er tagelang furchtbares Kopfweh gehabt hatte.

Hier war die ganze Familie auf dem Rasen vor dem Haus - Bill stand neben seiner Mutter und hielt ihre Hand, George - ein Baby - schlief auf Zacks Armen. Und hier...

Es war das letzte Foto. Die übrigen Seiten des Albums waren leer. Georges Schulfoto, aufgenommen im Oktober des Vorjahres, weniger als zehn Tage vor seinem Tod. George trug ein Matrosenhemd, und sein weiches, normalerweise immer verstrubbeltes Haar war unter Zuhilfenahme von

Wasser glatt an den Kopf gekämmt. Er grinste, wobei zwei Zahnlücken sichtbar wurden - nun würden dort nie mehr neue Zähne wachsen; es sei denn, daß sie auch nach dem Tod weiterwachsen, dachte Bill schaudernd.

Er starrte eine ganze Weile auf dieses Foto und wollte das Album gerade wieder schließen, als es passierte.

George rollte - wie beim letztenmal - mit den Augen und begegnete Bills Blick. Georges Fotolächeln verwandelte sich in ein entsetzliches Schielen.

Sein rechtes Auge schloß sich blinzelnd.

Bill Denborugh schleuderte das Album durchs Zimmer. Er preßte die Hände vor den Mund. Seine Augen traten vor Entsetzen hervor.

Das Album prallte gegen die Wand und fiel aufgeschlagen zu Boden. Die Seiten blätterten sich um, obwohl es keinen Lufzug gab; Georges Fenster war fest geschlossen. Sie blätterten sich ganz von alleine um, bis zu jenem schrecklichen Foto, unter dem Schulfreunde 1957-1958 stand.

Blut floß von dem Foto herab.

Bill saß wie versteinert da; seine Zunge war ein geschwollener würgender Klumpen im Mund, er hatte eine Gänsehaut, die Haare standen ihm zu Berge. Er brachte nur ganz leise, wimmernde Geräusche hervor.

Das Blut floß über die Seite und begann auf den Boden zu tropfen und dort eine kleine Lache zu bilden.

Bill verließ fluchtartig das Zimmer und schlug die Tür kräftig hinter sich zu.

Sechstes Kapitel Einer der Vermißten - Sommer 1958

1

Aus >Derry News<, 21. Juni 1958, Seite 1:

VERMISSTERJUNGE GIBT ANLASS zuNEUENBEFÜRCHTUNGEN

Edward L. Corcoran, 10 Jahre alt, wohnhaft in Derry, Charter Street 73, wurde gestern von seiner Mutter, Monica Macklin, und seinem Stiefvater, Richard P. Macklin als vermißt gemeldet. Mrs. Macklin sagte, der Junge sei seit 19. Juni verschwunden, als er von der Schule nicht nach Hause kam. Der 19. Juni war in allen Schulen Derrys der letzte Schultag. Mr. und Mrs. Macklin erstatteten gestern abend um 17 Uhr die Vermißtenanzeige.

Auf die Frage der >News<, warum sie länger als 24 Stunden mit der Meldung von Edwards Verschwinden gewartet hätten, lehnten Mr. und Mrs. Macklin jeden Kommentar ab. Auch Polizeichef Borton lehnte jeden Kommentar ab, aber ein Informant vom Polizeirevier in Derry, der nicht genannt werden möchte, berichtete uns, daß der Corcoran-Junge die vorangegangene Nacht nicht zu Hause gewesen sei, und daß das Verhältnis zwischen dem Jungen und seinem Stiefvater nicht gerade das beste gewesen sei.

Das Verschwinden von Edward Corcoran, einem Schüler der FairmountVolksschule, gibt Anlaß zu neuen Befürchtungen, daß ein Phantomkiller immer noch die Stadt unsicher macht. Seit Oktober letzten Jahres sind innerhalb des Stadtgebiets von Derry fünf Kinder im Alter zwischen 3 und sechzehn Jahren ermordet worden.

»Ich hoffe, daß das Verschwinden dieses Jungen keine unnötigen Ängste auslösen wird«, sagte Polizeichef Borton gestern abend. »Bei uns gehen jedes Jahr über 40 Vermißtenmeldungen von Minderjährigen ein. Die meisten davon tauchen ein-zwei Tage später gesund und munter wieder auf. So Gott will, wird das auch bei dem kleinen Corcoran der Fall sein.« Polizeichef Borton wiederholte auch seine Überzeugung, daß die Morde an George Denbrough, Betty Ripsom, Cheryl Lamonica, Matthew Clements und Veronica Grogan nicht auf das Konto ein und derselben Person gehen. »Die einzelnen Verbrechen weisen beträchtliche Unterschiede auf«, erklärte Borton, weigerte sich aber, das näher zu erläutern. Er sagte, die Polizei verfolge immer noch gewisse Spuren. Auf die Frage, wie gut diese Spuren seien, äußerte Borton bei dem Telefoninterview gestern abend: »Ausgezeichnet«. Auf die Frage, ob in naher Zukunft mit einer Verhaftung zu rechnen sei, antwortete er: »Kein Kommentar.«

Aus >Derry News<, 22. Juni 1958, Seite 1:

BEZIRKSGERICHT DERRY ORDNET ÜBERRASCHEND EXHUMIERUNG AN

Richter Erhardt K. Moulson vom Bezirksgericht ordnete gestern namens der Stadt eine Exhumierung an - in Zusammenhang mit dem Verschwin den von Edward L. Corcoran, wohnhaft in der Charter Street 73, berechtigt die Exhumierungsanordnung den Gerichtsmediziner, die Leiche

Corsey

Corcorans, des jüngeren Bruders des Vermißten, auszugraben und zu untersuchen. Dorsey Corcoran starb angeblich an den Folgen eines Unfalls im Mai 1957. Der Junge war mit Schädelbruch und Knochenbrüchen bewußtlos ins städtische Krankenhaus von Derry eingeliefert worden. Sein Stiefvater, Richard P. Macklin, hatte ausgesagt, Dorsey habe auf einer Trittleiter in der Garage gespielt und sei dabei von der obersten Stufe gestürzt. Der Junge war drei Tage später gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt

zu haben.

Edward Corcoran, 10 Jahre alt, war am Mittwochabend als vermißt gemeldet worden. Auf die Frage, ob Mr. oder Mrs. Macklin verdächtigt würden, etwas mit dem Verschwinden des Jungen zu tun zu haben, lehnte Polizeichef Richard Borton jeden Kommentar ab.

Aus >Derry News<, 24. Juni 1958, Seite 1:

MACKLIN WEGEN TOTSCHLAGS VON STIEFSOHN VERHAFTET Polizeichef Richard Borton berief gestern eine Pressekonferenz ein, um bekanntzugeben, daß Richard P. Macklin, wohnhaft in Derry, Charter Street 73, verhaftet und unter Anklage gestellt wurde, seinen Stiefsohn Dorsey Corcoran getötet zu haben, der am 31. Mai letzten Jahres angeblich

an den Folgen eines Unfalls verstorben war. »Die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche Dorsey Corcorans hat zweifelsfrei ergeben, daß der Junge heftig geschlagen wurde«, erklärte Borton. Obwohl Macklin behauptet hatte, der Junge sei beim Spielen in der Garage von einer Trittleiter gefallen, sagte Borton, daß der gerichtsmedizinische Befund gezeigt habe, daß der Corcoran-Junge (dessen Leiche vor zwei Tagen exhumiert wurde) mit einem stumpfen Gegenstand, möglicherweise einem Hammer, heftig geschlagen worden sei. »Die festgestellten Verletzungen, besonders die Schädelverletzungen, können unmöglich die Folgen eines Sturzes sein«, zitierte Borton aus dem gerichtsmedizinischen Befund. Er fügte hinzu: »Dieser Junge wurde unerbittlich und grausam mißhandelt und dann zum Sterben ins Krankenhaus eingeliefert.« Auf die Frage, ob die Ärzte, die den kleinen Dorsey behandelten, ihre Schweigepflicht etwaiger Fälle von Kindesmißhandlung nicht nachgekommen seien, sagte Borton: »Sie werden bei der Gerichtsverhandlung sehr unangenehme Fragen beantworten müssen.« Nach seiner Meinung befragt, in welchem Zusammenhang diese Entwicklungen mit dem kürzlichen Verschwinden von Dorseys älterem Bruder Edward stünden, der vor vier Tagen von Macklin und seiner Frau Monica als vermißt gemeldet wurde, sagte Polizeichef Borton nur: »Ich glaube, die Sache sieht jetzt sehr viel ernster aus als zunächst angenommen.«

Aus >DerryNews<, 25. Juni 1958, Seite 3:

LEHRERIN BERICHTET VON HÄUFIGEN VERLETZUNGEN EDWARD CORCORANS Henrietta Dumont, die in der fünften Klasse der Fairmount-Volksschule unterrichtet, berichtete, daß Edward Corcoran, der nun seit einer Woche vermißt wird, oft »voller blauer Flecke und anderer Verletzungen« zur

Schule kam.

Mrs. Dumont, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer eine der

fünften Klassen an der Fairmount-Schule unterrichtet, sagte, der Junge sei eines Montags, etwa drei Wochen vor seinem Verschwinden am letzten Schultag (19. Juni), »mit fast völlig zugeschwollenen Augen zur Schule gekommen. Auf meine Frage, was denn passiert sei, erklärte er, sein Vater habe >ihn sich vorgenommen< weil er sein Abendessen nicht aufgegessen

habe.«

Auf die Frage, weshalb sie diesen Vorfall nicht gemeldet habe, obwohl die Strafe ihr >ziemlich streng< vorgekommen sei, erwiderte Mrs. Dumont: »Ich habe solche Dinge immer und immer wieder erlebt, seit ich Lehrerin bin. Niemand will in einen Fall von Kindesmißhandlung verwickelt werden - weder das Gesundheitsamt, noch die Krankenhäuser, noch die Lehrer.« Auf die Frage, warum ein Lehrer solche Mißhandlungen denn nicht melden wolle, erklärte Mrs. Dumont, die mit Ende dieses Schuljahres in den Ruhestand getreten ist: »Die Schulbehörde sieht das nicht gern. Ich kenne Lehrer, die einen Verweis erhielten, weil sie sich ins Privatleben eines Schülers eingemischt hatten. So etwas kann sich negativ auf die Beförderung auswirken.«

Auf die Frage, welches Schicksal der ältere Corcoran-Junge ihrer Meinung nach erlitten habe, sagte Mrs. Dumont: »Nun, wir wissen, was mit seinem kleinen Bruder passiert ist, nicht wahr? Ich knie abends nieder und bete zu Gott, daß Eddie weggelaufen ist, und daß er jetzt, nachdem dieses Ungeheuer von Stiefvater verhaftet wurde, nach Hause zurückkommen wird.«

In einem kurzen Telefoninterview wies Monica Macklin Mrs. Dumonts Beschuldigungen energisch zurück. »Rich hat Eddie nie geschlagen, und auch Dorsey nicht«, erklärte sie. »Das werde ich bei Gott beschwören.«

Aus >Derry News<, 28. Juni 1958, Seite 2:

»DADDY SAGT, ICH BIN BÖSE«, ERZÄHLTE DER Kl .EINE. JUNGE SEINER VOR-

SCHULLEHRERIN WENIGE TAGE VOR SEINEM TOD.

EINE VORSCHULLEHRERIN AUS NEWPORT, DIENICHT GENANNT WERDEN MÖCHTE, ERZÄHLTE GESTERN EINEM UNSERER REPORTER, DASS DERKLEINE DORSEY CORCORAN KNAPP EINE WOCHE VOR SEINEM TOD DURCH EINEN ANGEBLICHEN UNFALL IN DERGARAGE MIT SCHLIMMEN VERSTAUCHUNGEN VON DAUMEN UND DREI FINGERN DERRECHTENHAND IN DEN ZWEIMAL WÖCHENTLICH STATTFINDENDEN VORSCHULUNTERRICHT GEKOMMEN SEI. »ES WAR SO SCHLIMM, DASS DER ARME KLEINE KERL NICHT EINMAL SEIN BLLD AUSMALEN KONNTE«, ERZÄHLTE DIE LEHRERIN. »DLE FLNGER WAREN FURCHTBAR GESCHWOLLEN - SIE SAHEN WIE WÜRSTCHEN AUS. ALS ICH DORSEY FRAGTE, WAS DENN PASSIERT SEI, ERZÄHLTE ER, SEIN VATER (STIEFVATER RICHARD P. MACKLIN) HABE IHM DIE FINGER NACH HINTEN GEBOGEN, WEIL ER - DORSEY - ÜBER DIE FRISCH BEPFLANZTEN BLUMENBEETE SEINER MUTTER GELAUFEN SEI. >DADDY SAGT, ICH BIN BÖSE<, ERKLÄRTE DER KLEINE. ICH HÄTTE AM LIEBSTEN GEWINT, ALS ICH SEINE ARMEN FINGERCHEN SAH, ER KONNTE SIE KAUM BEWEGEN, UND ES WAR IHM ANZUSEHEN, DASS ER SCHMERZEN HATTE. ICH GAB IHM ZWEI KINDER-ASPIRIN. ALS ER STARB, IST ES MIR ÜBERHAUPT NICHT IN DEN SLNN GEKOMMEN, DASS DIESES MONSTER VON STIEFVATER DAFÜR VERANT WÖRTLICH SEIN KÖNNTE. ICH HÄTTE NIE GEGLAUBT, DASS EIN ERWACHSENER EINEM KLEINEN KLND ETWAS SO SCHRECKLICHES ANTUN KANN. JETZT WEISS ICH ES BESSER. ICH WÜNSCHTE BEI GOTT, ICH WÜSSTE ES NICHT.«

DORSEY CORCORANS ÄLTERER BRUDER EDWARD, 10 JAHRE ALT, IST IMMER

NOCH VERMISST.

Aus >DerryNews<, 30. Juni 1958, Seite 5: MACKLIN ÜBERTODESFÄLLE GROGAN UND CLEMENTS VERHÖRT Laut Informationsquelle unerschütterliche Alibis für die Mordzeiten.

Aus >Derry News<, 6. Juli 1958, Seite 1:

BORTON: MACKLINNUR WEGEN TOTSCHLAGS AN STIEFSOHN DORSEY ANGEKLAGT. EDWARD CORCOR AN IMMER NOCH VERMISST.

Aus >Derry News<, 24. Juli 1958, Seite 1:

»ICH HABE ES GETAN, GOTT VERZEIH MIR«, GESTEHT MACKLIN WEINEND BEI

VERHANDLUNG

In einer dramatischen Entwicklung bei der Gerichtsverhandlung gegen Richard P. Macklin, angeklagt des Totschlags an seinem Stiefsohn Dorsey Corcoran, brach Macklin beim Kreuzverhör von Bezirksstaatsanwalt Brad-ley Whitsun zusammen und gestand, den damals vierjährigen Dorsey wiederholt mit einem kugellagergefüllten Gummihammer mißhandelt zu haben, den er später am Rande des Gemüsegartens seiner Frau vergrub. »Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist«, schluchzte Macklin. Er hatte zuvor schon zugegeben, beide Jungen, Kinder seiner Frau aus einer früheren Ehe, häufig geschlagen zu haben. Er sagte weiterhin, daß seine Frau - die seine Geschichte vom Unfall in der Garage bestätigt hatte, der angeblich zu Dorseys Tod führte - Kenntnis von den Prügeln hatte. »Ich habe den Hammer gepackt, der auf der Bank lag«, berichtete Macklin im totenstillen Gerichtssaal, »und damit immer wieder auf ihn eingeschlagen. Ich wollte ihn nicht töten.«

»Sagte er irgend etwas?« fragte Whitsun. »Er schrie: >Hör auf, Daddy, es tut mir leid, ich habe dich lieb<«, sagte

Macklin.

»Und haben Sie aufgehört?« »Schließlich ja«, sagte Macklin. Der Angeklagte begann dann wieder so hysterisch zu weinen, daß Richter Erhardt Moulson die Fortsetzung des

Verhörs für den nächsten Tag ansetzte.

Aus >Derry News<, 18. September 1958, Seite 16:

Wo IST EDWARD CORCORAN? Sein Stiefvater, der wegen Totschlags an Edwards vierjährigem Bruder Dorsey zu einer Haftstrafe zwischen zwei und zehn Jahren verurteilt wurde, ist zur Zeit im Staatsgefängnis von Thomaston inhaftiert, wo er als Autoschlosser arbeitet. Seine Frau Monica hat gegen ihn die Scheidungsklage eingereicht. Der Gefängnisdirektor von Thomaston sagt, Macklin sei ein vorbildlicher Gefangener. Der katholische Priester, der das Staatsgefängnis von Maine betreut, sagt, daß Macklin sich im katholischen Glauben unterweisen lasse und >seine Tat aufrichtig bereue<. Inzwischen ist eindeutig erwiesen, daß er an einer Reihe unaufgeklärter Morde in Derry

unschul

dig ist, einerseits, weil er felsenfeste Alibis für die Zeit dreier Morde hatte, andererseits, weil in Derry in den Monaten Juni, Juli und August sieben weitere Morde geschehen sind - alle unaufgeklärt, alle nach seiner Verhaftung verübt.

Offen ist allerdings noch die Frage, ob Macklin auch seinen zweiten Stiefsohn getötet hat, Dorseys Bruder Edward, der am 19. Juni, dem letzten Schultag, in Derry verschwand... vor nunmehr 91 Tagen.

Macklin schwört, diese Tat nicht begangen zu haben. »Ich habe sie beide geschlagen«, erklärte er letzte Woche in einem Exklusivinterview mit den >News<. »Ich habe sie geliebt, aber ich habe sie geschlagen. Ich weiß nicht warum, und noch weniger verstehe ich, warum Monica das zuließ oder warum sie mich nach Dorseys Tod im Krankenhaus deckte. Vermutlich hätte ich Eddie ebenso leicht töten können wie Dorsey, aber ich habe es nicht getan, Gott ist mein Zeuge. Ich glaube, er ist einfach weggelaufen. Ich danke Gott, daß Eddie das getan hat.« Auf die Frage, ob er sich irgendwelcher Gedächtnislücken bewußt sei -ob er Edward Corcoran getötet und die Sache dann verdrängt haben könnte -, sagte Macklin: »Ich bin mir keiner Gedächtnislücken bewußt. Ich weiß nur zu gut, was ich getan habe. Ich habe mein Leben Christus übergeben, und ich beabsichtige, den Rest meines Lebens für meine Tat zu büßen.«

Aus >Derry News<, 27. Januar 1960, Seite 1:

BORTON. LEICHENICHT DIE DES CORCORAN-JUNGEN Polizeichef Richard Borton erklärte heute morgen Reportern gegenüber, daß die sehr stark verweste Leiche eines Jungen etwa des gleichen Alters wie Edward Corcoran, der am 19. Juni 1958 verschwand, definitiv nicht die des Corcoran-Jungen ist. Die Leiche war am Sonntag in einer Kiesgrube in Massachussetts in einem flachen Grab gefunden worden. Die Staatspolizei sowohl von Maine als auch von Massachussetts glaubte zunächst, es könnte sich um die Leiche von Edward Corcoran handeln; man ging dabei von der Annahme aus, daß der Junge zu einem Kindsmörder ins Auto stieg, nachdem er von zu Hause ausgerissen war, wo der Stiefvater seinen jüngeren Bruder mißhandelt und getötet hatte. Zahnärztliche Untersuchungen erwiesen nun eindeutig, daß es sich bei der Leiche nicht um Edward Corcoran handelt, der nun seit über anderthalb Jahren verschwunden ist.

Aus dem Portlander >Press Herald<, 19. Juli 1967, Seite 3:

ENTLASSENER STRÄFLINGBEGINGSELBSTMORD IN FALMOUTH Richard Macklin, der vor neun Jahren wegen Totschlags, verübt an seinem Stiefsohn, verurteilt worden war, und der seit seiner Entlassung aus dem Staatsgefängnis in Thomaston im Jahre 1964 ruhig in Falmouth gelebt und gearbeitet hatte, wurde gestern am späten Abend in seinem kleinen Apartment im dritten Stock eines Hauses in der Foreside Street tot aufgefunden. Nach Aussage von Polizeichef Bardan K. Röche beging Macklin, der seit seiner Entlassung als Mechaniker bei >Route One Fill - EM Quick<

gearbeitet hatte, offensichtlich Selbstmord. »Der Brief, den er hinterließ, deutet darauf hin, daß sein Geisteszustand

verwirrt war«, erklärte Röche. Der Inhalt des Briefes wird bis zur gerichtlichen Untersuchung nicht bekanntgegeben, aber einer gut informierten Quelle im Portlander Bezirksanwaltsbüro zufolge bestand dieser Brief aus zwei Zeilen: >Ich habe Eddie letzte Nacht gesehen. Er war tot.< Bei diesem Eddie könnte es sich durchaus um Edward Corcoran handeln, den Bruder des Jungen, für dessen Totschlag im Jahre 1957 Macklin verurteilt worden war; das Verschwinden des älteren Corcoran-Jungen führte zur Exhumierung der Leiche von Dorsey Corcoran und zu Macklins anschließender Verhaftung und Verurteilung. Der ältere Corcoran-Junge ist seit neun Jahren verschwunden, und im Jahre 1966 ließ die Mutter ihren Sohn gerichtlich für tot erklären, um in den Besitz von Edwards Sparbuch zu gelangen; es handelte sich dabei um eine Summe von 16 Dollar.

2

Edward Corcoran war tatsächlich tot. Er starb am Abend des 19. Juni, und sein Stiefvater hatte überhaupt nichts damit zu tun.

Am Abend des 19. Juni, als Ben Hanscom mit seiner Mutter vor dem Fernseher saß und die Reste vom Abendessen aufaß; als Eddie Kaspbraks ängstliche Mutter ihm die Stirn fühlte, um festzustellen, ob er nicht >Phan-tom-Fieber< hatte; als Beverly Marshs Stiefvater (der - zumindest was das Temperament anging - eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Edwards Stiefvater hatte) dem Mädchen einen kräftigen Tritt in den Hintern gab und es anbrüllte: »In die Küche mit dir und trockne das verdammte Geschirr ab, wie deine Mutter gesagt hat«; als Mike Hanion von einigen High-School-Jungs gehänselt wurde, die in einem alten Dodge vorbeifuhren, während Mike im Garten neben dem kleinen Haus der Hanions Unkraut jätete, an der Witcham Street, unweit der Farm, die Henry Bowers' verrücktem Vater gehörte; als Richie Tozier sich ins Schlafzimmer seiner Eltern schlich, um einen Blick auf die Herrenmagazine zu werfen, die sein Vater zwischen der Unterwäsche in seiner Kommode versteckte, und dort anschauliches Aufklärungsmaterial fand; als Bill Denbrough das Fotoalbum seines toten Bruders entsetzt quer durch das Zimmer schleuderte - während all dieser Ereignisse schlenderte Eddie Corcoran, der in Kürze als vermißte Person gelten würde, durch den Bassey Paik auf den Kanal zu.

Er war an diesem Mittag nach Schulschluß nicht nach Hause gegangen; sein Zeugnis steckte immer noch in der Hüfttasche seiner Jeans. Seine Mutter und sein Stiefvater stritten sich in diesem Monat besonders viel und heftig. Wenn sie in Wut gerieten, kreischte seine Mutter Anschuldigungen, die meistens aus der Luft gegriffen waren, und sein Stiefvater antwortete darauf zuerst mit Grunzen, dann mit Geschrei und schließlich mit tobendem Gebrüll. Diese Streitigkeiten drehten sich immer um die gleichen Themen. Am meisten häuften sie sich gegen Ende des Monats, wenn die Rechnungen bezahlt werden mußten. Ab und zu, wenn es besonders heiß herging, rief irgendein Nachbar bei der Polizei an, und dann kam ein Polizist vorbei und sorgte dafür, daß der ruhestörende Lärm abgestellt wurde.

Eddie bemühte sich, während dieser Szenen mucksmäuschenstill zu sein und ihnen aus dem Weg zu gehen. Das war vernünftiger. Man brauchte sich ja nur einmal anzuschauen, was mit Dorsey passiert war. Dorsey war zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, das war Eddies Meinung. Eddie war an jenem Tag in der Schule gewesen, und sie hatten ihm erzählt, Dorsey sei von einer Trittleiter gefallen, auf der er gespielt habe, aber seine Mutter hatte seinen Blick gemieden, und in ihren Augen hatte er Unruhe und Angst gelesen. Sein Vater war mit einem Liter >Rhinegold< am Küchentisch gesessen und hatte unter seinen buschigen Augenbrauen hervor ins Leere gestarrt. Er war an jenem Abend und auch an den folgenden ungewöhnlich still gewesen, und Eddie war ihm lieber aus dem Weg gegangen. Wenn sein Stiefvater herumbrüllte, war es noch nicht einmal so schlimm; auf der Hut mußte man besonders dann sein, wenn er unnatürlich still war.

Eddie war heute von der Schule nicht nach Hause gegangen, weil sein Stiefvater vor zwei Tagen einen Stuhl nach ihm geworfen hatte, als Eddie aufgestanden war, um im Fernsehen ein anderes Programm einzuschalten. Der alte Dreckskerl hatte einfach einen der Stahlrohr-Küchenstühle mit den pinkfarbenen Bezügen gepackt und nach ihm geworfen. Sein Rücken tat immer noch weh, und er hatte einen großen blauen Fleck über dem rechten Auge, wo er im Fallen gegen die Tischkante geprallt war. Und da war jener Abend vor etwa zwei Jahren gewesen, als sein Stiefvater plötzlich aufgesprungen war und ihm eine Handvoll Kartoffelbrei in die Haare gerieben hatte. Ein anderes Mal hatte Eddie die Haustür laut zugeschlagen, während sein Stiefvater schlief. Macklin war aus dem Schlafzimmer gestürzt, in Shorts und einem vergilbten abgetragenen Unterhemd, mit verstrubbelten, hochstehenden Haaren, mit Bartstoppeln im Gesicht - es war Wochenende, und er hatte sich seit zwei Tagen nicht rasiert - und einer Fahne vom vielen Biertrinken am Wochenende, und er hatte Eddie grün und blau geschlagen und schließlich auf den Flur geworfen. Dort hatte Eddies Mutter zwei niedrige Kleiderhaken angebracht, für Dorsey und ihn, damit sie ihre Mäntel aufhängen konnten. Diese Haken hatten ihre Stahlfinger in Eddies Rücken gebohrt, und er war vor Schmerz ohnmächtig geworden. Als er wieder zu Bewußtsein kam, hatte er kaum gehen können. Seine Mutter hatte ihn ins Krankenhaus bringen wollen.

»Nach dem, was mit Dorsey passiert ist?« hatte sein Stiefvater gesagt. »Willst du ins Gefängnis wandern?«

Danach hatte sie nichts mehr gesagt. Eddie hatte sich in sein Zimmer geschleppt. Drei Tage war er nicht zur Schule gegangen. Er hatte wahnsinnige Schmerzen gehabt und sich angewöhnt, am Whisky seines Stiefvaters zu nippen, wenn dieser nicht da war (er arbeitete als Mechaniker bei der Busgesellschaft), um den Schmerz ein wenig zu betäuben. Zehn Tage lang war sein Urin blutig gewesen.

All das... und der Hammer war nicht mehr in der Garage.

Was hatte das zu bedeuten, Freunde und Nachbarn?

Nicht der normale Hammer aus dem Werkzeugkasten, der war noch da. Aber der >Spezialhammer< seines Stiefvaters, den Dorsey und er nicht anrühren durften (»Wenn ihr den auch nur anrührt, solltet ihr vorher eure Knochen numerieren - kapiert?«), war nach Dorseys Tod verschwunden. Es war ein sehr teurer Hammer gewesen, ein Gummihammer mit Kugellagerfüllung. Eddies Stiefvater hatte immer gesagt, daß man bei diesem Hammer keinen Rückstoß spürte, egal wie stark man damit zuschlug.

Eddies Zeugnis war nicht das beste, weil er sehr oft in der Schule fehlte, seit seine Mutter wieder geheiratet hatte, aber war alles andere als dumm. Er glaubte zu wissen, was mit dem Hammer passiert war. Wahrscheinlich hatte sein Stiefvater damit auf Dorsey eingedroschen und ihn hinterher im Garten oder sonstwo vergraben. So etwas kam in den Horror-Comics häufig vor, die Eddie so gern las und auf dem obersten Fach seines Schrankes versteckte.

Er ging näher an den Kanal heran, der friedlich zwischen seinen Betonwänden dahinströmte, vom Mondlicht sanft beschienen. Er setzte sich auf den Rand, ließ die Beine hinabbaumeln und trommelte mit den Absätzen seiner Leinenschuhe gegen den Beton. Nach einem trockenen Frühling plätscherte das Wasser etwa neun Fuß unterhalb seiner abgelaufenen Sohlen. Aber wenn man die Betonwände betrachtete, konnte man über dem Wasserspiegel bräunliche Streifen sehen, die nach oben hin zu hellem Gelb verblaßten und dann fast weiß wurden. An diesen Markierungen konnte man erkennen, wie oft der Kenduskeag Hochwasser hatte. Rechts von Eddie machte die Main Street, die über dem Kanal durch die Innenstadt führte, eine scharfe Biegung an jener Stelle, wo der Kanal wieder zum Vorschein kam. Sie verlief dann auf der anderen Kanalseite weiter, vorbei an dem scheußlichen Granitklotz, der die Derry High School beherbergte.

Das Wasser floß ruhig an der Stelle vorbei, wo Eddie saß, auf die schmale Holzbrücke zu, die von den Schülern benutzt wurde, um vom Bassey Park zur High School zu gelangen. Boden und Geländer dieser Brücke waren mit eingeritzten Namen, Liebeserklärungen und Botschaften übersät, daß der-und-der Lust aufs Wichsen, Blasen oder Picken hatte. Manchmal, wenn Eddie hier saß, sah er Kondome auf dem Wasser treiben, die wie kleine tote Fische aussahen.

Hier gefiel es ihm, und er kam oft hierher, wenn er über etwas nachdenken wollte. Manchmal hielten sich in einem der zahlreichen Weiden- und Ulmenwäldchen des Parks irgendwelche Leute auf, aber wenn er ein Stück am Kanal entlangging, hatte er seine Ruhe. Am meisten liebte er die Stelle, wo er jetzt gerade saß. Er liebte sie im Sommer, wenn das Wasser so niedrig stand, daß es die Steine umspülte und oft sogar zu schmalen Rinnsalen wurde, die sich durchs Flußbett schlängelten und sich irgendwo wieder vereinigten, im Mond- oder Sternenlicht funkelnd wie Spiegelscherben. Er liebte diese Stelle aber auch kurz nach der Schneeschmelze; dann stand er manchmal bis zu einer Stunde hier am Kanal (im März war es zum Sitzen noch viel zu kalt; er hätte sich den Hintern abgefroren), die Kapuze seines Parkas auf dem Kopf, die Hände in den Taschen vergraben, ohne zu bemerken, daß sein magerer Körper vor Kälte zitterte. Er liebte den mächtigen Strom im März, wenn das Wasser schäumend aus seinem unterirdischen Kanal hervorschoß und an ihm vorbeibrauste, Äste und allen möglichen Abfall mit sich führend. Mehr als einmal hatte er sich ausgemalt, wie er mit seinem Stiefvater im März am Kanal entlangging und dem Dreckskerl einen heftigen Stoß versetzte. Der Alte würde einen Schrei ausstoßen, verzweifelt mit den Armen rudern und in die schäumende Strömung fallen, und Eddie

würde am Rand stehen und zusehen, wie «r sich vergeblich abmühte, den Kopf über Wasser zu halten, er würde dastehen und rufen: das war für DORSEY, DU VERDAMMTER HURENSOHN! WENN DU IN DER HÖLLE ANLANGST,

ERZÄHL DORT, DASS ICH GESAGT HABE, DU SOLLTEST DIR JEMANDEN VON DEINER EIGENEN GRÖSSE VORNEHMEN! Natürlich würde das in Wirklichkeit nie passieren, aber es war ein herrlicher Wunschtraum. Ein toller W...

Eine Hand schloß sich plötzlich um Eddies Fuß.

Er hatte über den Kanal hinweg zur High School hinübergeschaut, vor sich hin geträumt und überlegt, ob er heute nacht hier schlafen sollte (unter dem Musikpavillon war der beste Platz, dort lag eine Menge welker Blätter herum, die eine weiche Lagerstatt boten) und der sanfte, aber doch feste Griff überraschte ihn so sehr, daß er fast das Gleichgewicht verloren hätte und in den Kanal gestürzt wäre.

Er blickte nach unten.

Sein Unterkiefer klappte herunter, und er machte sich vor Entsetzen in die Hose.

Es war Dorsey.

Es war Dorsey in den Kleidern, in denen er beerdigt worden war - in seinem kleinen blauen Blazer und seiner grauen Hose -, aber jetzt war der Blazer zerrissen und schmutzig, das Hemd bestand nur noch aus gelben Fetzen, und die Hose klebte an Beinen, die so dünn wie Besenstiele waren. Sein Kopf sah furchtbar mißgestaltet aus, so als sei er von irgendeiner unvorstellbaren Kraft von hinten eingedrückt worden, und als habe sich das Gesicht dadurch nach vorne verschoben.

Dorsey grinste.

Ein nasses Kondom klebte an seiner Stirn.

»Eddieeeee«, krächzte sein toter Bruder grinsend. Gelbe Zähne schimmerten, und dahinter schien sich im Dunkeln etwas zu winden und zu krümmen.

»Eddieeee, ich bin gekommen, um dich zu sehen, Eddieee...«

Eddie versuchte zu schreien. Graue Schockwellen rollten über ihn hinweg, und er hatte das eigenartige Gefühl zu schweben. Aber es war kein Traum. Er war hellwach. Die Hand an seinem Schuh war weiß wie ein Fischbauch. Die nackten Füße seines Bruders fanden irgendwie Halt auf dem Beton.

»Komm runter, Eddieeee...«

Eddie begann zu stöhnen. Zum Schreien fehlte ihm die Luft. Dorseys Hand war klein, aber unerbittlich. Er versuchte, Eddie über die Kante zu ziehen. Eddies Gesäß geriet ins Rutschen.

Mit einem erstickten Schrei klammerte er sich an der Betonkante fest und riß seinen Fuß mit einem Ruck hoch. Die Hand rutschte ab, er hörte ein ärgerliches Zischen, und blitzartig durchfuhr ihn der Gedanke: Das ist nicht Dorsey!, bevor ein Adrenalinstoß durch seinen Körper ging, und er vom Ufer wegkroch und dann zu rennen versuchte, noch bevor er richtig auf den Beinen war; gleichzeitig versuchte er zurückzuschauen. Sein Atem ging stoßweise, pfeifend und quiekend.

Weiße Hände tauchten an der Betonkante des Kanals auf. Einen Moment später folgte Dorseys Gesicht. Seine eingesunkenen Augen waren rote Kerzenlichter. Sein nasses Haar klebte ihm am Kopf. Seine Wangen waren schmutzig.

Endlich löste sich der Krampf um Eddies Brust. Er stieß einen lauten Schrei aus. Dann rannte er los, wobei er aber über die Schulter hinweg zurückschaute, um sehen zu können, wo Dorsey war; prompt rannte er mit voller Wucht gegen eine Ulme.

Ein heftiger Schmerz durchzuckte seine Schulter. Er sah Sterne vor den Augen und glitt zu Boden. Aus seiner linken Schläfe sickerte Blut. Etwa anderthalb Minuten war er halb bewußtlos. Dann taumelte er wieder hoch. Ein leises Stöhnen entfuhr ihm, und er preßte seine Hände gegen den dröhnenden Kopf.

Er blickte sich um.

Der Kanalrand zog sich schnurgerade hin und schimmerte im Mondlicht wie ein weißer Knochen. Keine Spur von dem Wesen aus dem Kanal. Er drehte sich langsam im Kreis. Der Bassey Park war still, in weißes Mondlicht und schwarze Schatten unterteilt. Trauerweiden ließen ihre dünnen, unheimlichen Arme tief herabhängen, und in ihrem Schutz konnte sich alles mögliche verstecken.

Eddie ging weiter, wobei er versuchte, seine Augen überall zu haben. Sein laut pochendes Herz jagte Schmerzwellen durch seine ausgerenkte Schulter.

Eddieeee, raunten die Bäume in der leichten Brise, und Eddie spürte, wie schlaffe Leichenfinger seinen Nacken streichelten. Er wirbelte herum, stolperte über seine eigenen Füße und fiel wieder hin; im selben Augenblick erkannte er, daß es nur Weidenblätter waren, die ihn berührt hatten.

Er stand auf und versuchte zu rennen, aber dazu hatte er viel zu weiche Knie. Seine Schulter schmerzte, sein Kopf dröhnte, und er hatte das Gefühl, daß sein Herz vor Angst gleich platzen würde. Er brachte bestenfalls ein hinkendes Laufen zustande.

Er richtete seinen Blick auf die Straßenlaterne am Haupteingang des Parks, der auf die Main Street führte. Er humpelte darauf zu und dachte: Ich schatffs bis zum Licht, und dann ist alles in Ordnung. Ich schaffs bis zum Licht, dort bin ich in Sicherheit. Helles Licht, keine Angst mehr...

Etwas folgte ihm.

Er konnte es hören. Es bahnte sich raschelnd einen Weg durch die Weiden. Wenn er sich umdrehte, würde er es sehen können; es kam immer näher; er hörte seine Füße, schlurfende, platschende Schritte, aber er würde sich nicht umdrehen, nein, er würde nur auf das Licht vor ihm schauen, das Licht war tröstlich und gar nicht weit entfernt...

Es war der Geruch, der ihn dann doch zwang, sich umzudrehen. Der überwältigende Gestank, so als hätte man einen Haufen Fische einfach liegengelassen, und sie wären in der Sommerhitze verwest.

Er warf einen Blick zurück.

Es war nicht mehr Dorsey, der ihn verfolgte; es war das Wesen aus der Schwarzen Lagune, es sah genauso aus wie in jenem Film. Nur war das hier kein Mann in einem gruseligen Kostüm. Das Wesen hatte einen langen Panzerrüssel. Aus langen schwarzen klaffenden Wunden in seinen Wangen tropfte eine grüne Flüssigkeit. Seine Augen waren weiß und gallertartig; die durch Schwimmhäute miteinander verbundenen Finger hatten rasiermesserartige Klauen. Sein Atem war ein entsetzliches Blubbern, und als es sah, daß Eddie es anstarrte, verzog es die grünschwarzen Lippen zu einem leeren, toten Grinsen und bleckte seine riesigen Fangzähne.

Es watschelte triefend hinter ihm her, und Eddie begriff plötzlich, daß es ihn zum Kanal zurückzerren, ihn in die feuchte Finsternis des unterirdischen Wasserlaufs hinabschleppen... und ihn dort fressen würde.

Die Angst trieb Eddie vorwärts. Die Laterne rückte näher. Schon konnte er die Fliegen und Mücken um das Licht herumschwirren sehen. Ein Lastwagen knatterte auf der Main Street vorbei, und in seinem verzweifelten Entsetzen schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß dort ein Mann am Steuer saß, in Sicherheit, vielleicht Kaffee aus einem Pappbecher trinkend.

Der Gestank. Der überwältigende Gestank, der immer stärker wurde. Von allen Seiten auf ihn eindrang.

Es war eine Parkbank, über die er stolperte, eine Parkbank, die einige Kinder am Spätnachmittag umgeworfen hatten, in ihrer Eile, noch vor der Sperrstunde nach Hause zu kommen. Der Sitz ragte kaum sichtbar aus dem Gras hervor. Eddie spürte plötzlich einen rasenden Schmerz an den Schienbeinen und stürzte ins Gras.

Als er sich umschaute, beugte sich das Wesen schon über ihn; seine weißen Augen schimmerten im Mondlicht wie Alabaster, aus seinen Schuppen tropfe Schleim, die Kiemen an seinem gekrümmten dicken Hals und an den Wangen öffneten und schlössen sich.

»Ag!« krächzte Eddie. Es schien der einzige Laut zu sein, den er noch hervorbrachte. »Ag! Ag! Ag! Ag!« Er kroch vorwärts, grub seine Finger in den Rasen. Seine Augen traten ihm fast aus den Höhlen. Seine Zunge hing heraus.

In der Sekunde, bevor sich die nach Fisch stinkenden Hornfänge um seine Kehle schlössen, hatte er einen tröstlichen Gedanken: Dies ist ein Traum. Es muß ein Traum sein. Es gibt in Wirklichkeit kein solches Wesen, es gibt in Wirklichkeit keine Schwarze Lagune, und selbst wenn es doch eine gibt, so nur in Südamerika. Dies ist nur ein Traum, und ich werde gleich aufwachen und den Speck in der Bratpfanne riechen. Ich...

Dann drückten die Fänge ihm die Kehle zu, und sein heiseres Krächzen verstummte; die Kreatur drehte ihn um und zerkratzte ihm dabei mit den Hornhaken an ihren Fängen den Hals. Er starrte in ihre weißen funkelnden Augen. Er fühlte, wie die Schwimmhäute zwischen ihren Fingern sich gegen seine Kehle preßten wie lebende Algen. Sein vor Entsetzen geschärfter Blick fiel auf die Flosse, eine Art Hahnenkamm, eine Art Hornhecht-Rük-kenflosse, die den gepanzerten Kopf der Kreatur krönte. Während ihre Hände fest zudrückten und ihm die Luftzufuhr abschnitten, konnte er sogar sehen, wie das weiße Licht der Straßenlaterne sich in ein trübes Grün verwandelte, während es durch diese Membranflosse fiel.

»Du bist... nicht... real«, keuchte Eddie, aber nun verschwamm alles in grauem Nebel, und er registrierte schwach, daß dieses Wesen überaus real war. Es brachte ihn nämlich um.

Und doch wurde er bis zuletzt von einem Rest rationalen Denkens beherrscht: während die Kreatur ihre Klauen in das weiche Fleisch seines Halses grub, während seine Halsschlagader aufgeschlitzt wurde und das hervorschießende warme Blut den Reptilpanzer der Kreatur befleckte, tasteten Eddies Hände auf ihrem Rücken nach einem nicht vorhandenen Reißverschluß. Und sie fielen erst herab, als die Kreatur ihm mit einem tiefen, zufriedenen Grunzen den Kopf abriß. Und dann begann sie sich in etwas anderes zu verwandeln.

3

Ein Junge namens Michael Hanion, der in dieser Nacht sehr schlecht schlief und Alpträume hatte, erhob sich am Morgen nach Eddies tödlicher Begegnung mit einem mythischen Wesen kurz nach der Morgendämmerung. Das erste Licht war bleich und wurde von einem Bodennebel verschluckt, der sich gegen acht Uhr auflösen und einen herrlich heißen Sommertag enthüllen würde. Aber im Augenblick war die Welt noch grau und rosafarben, gedämpft und still.

Mike kam in Jeans, T-Shirt und hohen schwarzen Stiefeln nach unten, aß eine Schüssel Cornflakes, stieg dann auf sein Rad und fuhr in die Stadt. Wegen des Nebels fuhr er dicht neben den Gehwegen. Die Welt um ihn herum sah sonderbar und geheimnisvoll aus. Man konnte Autos hören, aber nicht sehen, und aufgrund der merkwürdigen akustischen Eigenschaften des Nebels wußte man nicht, ob sie noch weit entfernt oder schon ganz nahe waren, bis sie dann aus dem Nebel auftauchten, mit gespenstischen Heiligenscheinen aus Feuchtigkeit um ihre Scheinwerfer.

Er bog nach rechts in die Jackson Street ab und gelangte über die Palmer Lane - eine Vorstadtallee, wo er später als Erwachsener leben würde

- zur Main Street. Feuchtigkeit tropfte von den Bäumen. Nebelschwaden wanden sich um die Äste.

Auf der Main Street fuhr er zum Bassey Park; er fuhr einfach vor sich hin und genoß die Stille der frühen Morgenstunde. Im Park stellte er sein Rad ab und schlenderte auf den Kanal zu. Es war nichts weiter als eine Augenblickslaune, ein plötzlicher Einfall, der ihn gerade diesen Weg einschlagen ließ - zumindest glaubte er das selbst. Es war ihm nicht im geringsten bewußt, daß seine nächtlichen Träume etwas mit seinem Ziel zu tun hatten; er konnte sich überhaupt nicht mehr an sie erinnern, außer daß einer den anderen abgelöst hatte, und daß er um fünf Uhr morgens fröstelnd und doch verschwitzt aufgewacht war und plötzlich Lust gehabt hatte, eine Radfahrt zu unternehmen.

Der Nebel hatte hier einen Geruch, der Mike nicht gefiel; es roch nach Meer, salzig und irgendwie alt. Er hatte diesen Geruch schon häufig wahrgenommen; in den Morgennebeln konnte man in Derry oft den Ozean riechen, obwohl die Küste 40 Meilen entfernt war. Aber an diesem Morgen war der Geruch besonders intensiv. Irgendwie... ja, irgendwie fast bedrohlich.

Sein Blick fiel auf etwas. Er bückte sich und hob ein billiges Taschenmesser mit zwei Klingen auf. Auf einer Seite waren die Buchstaben E. C.

eingeritzt. Mike betrachtete es nachdenklich, dann schob er es in die Tasche. Wer etwas verlor, hatte eben den Schaden.

Er schaute sich um. Eine umgestürzte Parkbank. Er richtete sie auf und schob ihre Eisenbeine genau in die Vertiefungen, die sie im Laufe von Monaten oder Jahren in den Rasen gedrückt hatten. Daneben war eine Stelle, wo das Gras total zerdrückt war... und zwei Furchen im Gras gingen von hier aus. Sie waren noch deutlich zu sehen, obwohl das Gras sich langsam wieder aufrichtete. Die Furchen führten in Richtung Kanal.

Und da war auch Blut.

Ein Hundekampf, dachte Mike, aber irgendwie war er doch nicht so ganz davon überzeugt. Einer von ihnen muß den anderen sehr stark verletzt haben.

Nur um etwas zu tun, folgte er den Spuren im Gras. Er dachte sich eine kleine Geschichte aus. Ein Kind ist noch spät abends hier, nach der Sperrstunde, und der Killer erwischt es. Er bringt das Kind um. Und dann schleppt er es weg und wirft die Leiche in den Kanal. Wie in den Krimis von Hitchcock!

Ein Schauder lief ihm über den Rücken, während er in den Nebel blickte, der sich allmählich aufzulösen begann. Irgendwie war die Geschichte ein bißchen zu wahrscheinlich. Nur daß es vielleicht kein Mann war. Vielleicht war es ein Monster, wie die in Horrorfilmen oder

(in Alpträumen)

in Märchen.

Seine Geschichte gefiel ihm plötzlich gar nicht mehr. Er versuchte sie sich aus dem Kopf zu schlagen, aber es gelang ihm nicht. Die Geschichte war blödsinnig. Es war überhaupt blödsinnig gewesen hierherzukommen. Sein Vater würde heute jede Menge Arbeit für ihn haben. Er sollte lieber heimfahren. Und genau das würde er auch tun. Zurückgehen, sein Rad holen und heimfahren. Das würde er jetzt tun.

Statt dessen folgte er aber weiter den Spuren im Gras, das hier und da blutbefleckt war. Nicht sehr stark. Nicht so stark wie an jener Stelle neben der umgestürzten Bank.

Mike konnte jetzt den Kanal hören, der ruhig dahinfloß. Einen Augenblick später tauchte der Betonrand aus dem sich auflösenden Nebel auf.

Etwas lag im Gras.

Er bückte sich wieder. Ein Stoffetzen mit einem Blutstropfen.

Er ließ ihn liegen.

Die Furchen im Gras endeten am Kanal. Auf dem Beton waren zahlreiche getrocknete Blutflecken zu sehen.

Mike betrachtete sie, und dann blickte er in den Kanal hinab. Schwarzes Wasser strömte rasch dahin. Schmutziggelber Schaum haftete an den Betonwänden, wurde abgeschwemmt und trieb in trägen Kurven und Spiralen außer Sichtweite. Einen Augenblick - einen flüchtigen Augenblick lang vereinigten sich zwei Klümpchen dieses Industrieabwassers, wirbelten herum und schienen ein schmerzverzerrtes Gesicht zu bilden, ein Kindergesicht, mit Augen, die in unsagbarem Entsetzen verdreht waren.

Mike hatte plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Dann wurde der Schaum auseinandergetrieben und war nur noch schmutziges Abwasser, und im selben Moment hörte er rechts von sich ein

lautes Platschen. Er wich ein wenig zurück und schaute in jene Richtung, und ganz flüchtig glaubte er, in dem Schatten des Tunnels, dort wo der Kanal wieder an die Erdoberfläche kam, etwas zu sehen.

Dann war es verschwunden.

Frierend und zitternd holte er das Messer, das er gefunden hatte, aus der Tasche. Er wollte es nicht mehr. Er wollte nichts damit zu tun haben.

Er warf es in den Kanal. Ein leises Platschen, kreisförmige Wellen... und dann nichts mehr.

Nichts außer der Angst, die ihn mit überwältigender Heftigkeit überfiel. Er wußte mit einem Mal mit absoluter Sicherheit, daß etwas in der Nähe war, ihn beobachtete, seine Chancen abwägte und nur auf den richtigen Zeitpunkt wartete.

Er drehte sich um und beschloß, zu seinem Rad zurückzugehen, und dann hörte er wieder jenes platschende Geräusch, und plötzlich rannte er los, sprang auf sein Rad, schob mit dem Absatz den Ständer hoch und trat in die Pedale. Jener Ozeangeruch war nun noch viel intensiver - viel zu intensiv. Er war überall. Und das von den nassen Zweigen tropfende Wasser war viel zu laut.

Etwas kam hinter ihm her. Er hörte schlurfende, schlingernde Schritte im Gras.

Mike trat jetzt stehend in die Pedale, um schneller voranzukommen. Er schoß durch das Parktor auf die Main Street hinaus, ohne noch einmal zurückzuschauen, er fuhr nach Hause und fragte sich, welcher Teufel ihn geritten hatte, überhaupt an diesen Ort zu fahren... was ihn hierher gezogen hatte.

Und als er am nächsten Tag die Schlagzeile in der Zeitung sah (vermisster junge gibt anlass zu neuen Befürchtungen), dachte er an das Taschenmesser, mit den Initialen B.C., das er in den Kanal geworfen hatte... und an die Blutflecken im Gras.

Siebtes Kapitel Der Damm in den Barrens

1

Um Viertel vorfünf Uhr morgens gleicht Boston einer riesigen Totenstadt, einer antiken Stadt, die über irgendeine schreckliche Tragödie in ihrer Vergangenheit brütet

- eine Seuche oder einen Fluch. Der intensive, unangenehme Salzgeruch dringt vom Meer her in die Stadt hinein, und dichter Bodennebel füllt die engen Straßen.

Eddie Kaspbrak, der am Steuer des schwarzen Cadillacs sitzt, den er bei Butch Carrington in der Firma >Cape Cod Limousine< abgeholt hat, und in Richtung Stor-row Drive fährt, denkt, daß man das Alter dieser Stadt ringsum spürt wie sonst nirgends in Amerika. Dies ist eine alte Stadt, die sich schon vor dreihundert Jahren auf den Hügeln um den Charles River ausdehnte, als die Amerikanische Revolution noch unvorstellbar schien, als Patrick Henry und Paul Revere noch gar nicht geboren waren..

Dieses Alter und die Stille-sie machen ihn nervös. Ergreift nach seinem Aspirator und schiebt ihn in den Mund.

Einige wenige Leute sind doch schon auf den Straßen und strafen seinen Eindruck Lüge, daß er in eine Lovecraftsche Erzählung von verfluchten Städten und uralten Plagen hineingeraten ist; Kellnerinnen, Krankenschwestern, städtische Angestellte mit müden, unausgeschlafenen Gesichtern stehen an Bushaltestellen oder eilen die Treppen zu den Schächten hinab, um die ersten Untergrundbahnen zu erreichen, und Eddie denkt: Ich würde nicht dort hinabsteigen, wenn ich an eurer Stelle wäre. Nicht unter die Erde. Nicht in die Schächte und Tunnels.

Ein Schauder überkommt ihn, und er ist froh über den dichteren Verkehr am Star-row Drive in Richtung Mystic Bridge.

Er fährt unter einem grün beleuchteten Hinweisschild durch: MAINE, NEW HAMPSHIRE, ALLE ORTE IN NORD-NEUENGLAND, und unwillkürlich fröstelt ihn wieder. Er würde nur allzugern glauben, daß es erste Anzeichen für irgendeine Krankheit sind, daß er einen Virus aufgeschnappt hat oder eines der von seiner Mutter so gefürchteten >Phantom-Fieber<- bekommt, aber er weiß es besser. Es ist die Stadt, die lautlos auf der scharfen Kante zwischen Tag und Nacht schwebt, ebenso wie das Meer zwischen Ebbe und Flut schwebt; es ist der Ozeangeruch, dieser intensive, übelkeitserregende Geruch nach Salz und Tang; und es ist ein gewisses düsteres Schweigen. Diese Dinge sind seine Krankheitserreger... sie und die Erinnerungen, die jetzt über ihn hereinbrechen, Erinnerungen, die er einfach nicht verdrängen kann.

Ich habe Angst, denkt Eddie Kaspbrak. Das lag immer allem zugrunde -diese Angst. Sie beherrschte alles. Aber wie haben wir sie eingesetzt?

Daran kann er sich nicht erinnern. Erfragt sich, ob einer der anderen das kann.

Ein Lastwagen setzt zum Überholen an, und Eddie blendet kurz seine Scheinwerfer auf. Er macht das ganz automatisch; so etwas geht einem in Fleisch und Blut über, wenn man seinen Lebensunterhalt mit Autofahren verdient. Der Lastwagenfahrer bedankt sich durch zweimaliges kurzes Blinken mit dem Rücklicht für Eddies Höflichkeit. Wenn nur alles so einfach und klar sein könnte, denkt Eddie.

Erfolgt den Hinweisschildern, die ihn zur 7-95 führen sollen. Der Verkehr ist jetzt ziemlich stark, aber er hat einen Instinkt dafür, wann er auf welchen Fahrstreifen überwechseln muß, noch bevor die Schilder auftauchen. Auch das geschieht ganz automatisch - ebenso automatisch, wie er einst in Derry stets den richtigen Weg durch das Dickicht der Barrens fand. Die Tatsache, daß er noch nie durch die Innenstadt von Boston gefahren ist, die in puncto Straßenführung als eine der ver-wirrendsten Städte Amerikas gilt, macht ihm überhaupt nichts aus.

Eine Stimme spricht in seinem Kopf: die Stimme von Stotter-Bill, vor langer Zeit. »D-D« h-h-hast einen K-K-Kompaß im Kopf E-E-Eddie.«

Wie ihm das damals gefallen hatte! Es gefällt ihm auch jetzt wieder, während er auf die Mautsperren auf der Mystk Bridge zufährt. Unter ihm ist der Charles River eine flache, glatte Silberplatte, und Eddie lächelt ein wenig. Er wäre damals vermutlich für Bill Denbrough gestorben, wenn dieser es von ihm verlangt hätte. »E-E-E-Eddie, d-d-du mußt m-m-morgen für m-mich sterben, okay?« Na klar, Big Bill ...um wieviel Uhr?«

Eddie lacht jetzt sogar, und das überrascht ihn selbst, denn er lacht in letzter Zeit nur noch selten. Und ganz bestimmt hat er nicht damit gerechnet, diesen seltenen Klang seines eigenen Lachens ausgerechnet auf dieser schwarzen Pilgerfahrt zu hören.

Die Mautanlage ist automatisch, und Eddie greift ohne nachzudenken nach den richtigen Münzen. Bevor er losgefahren ist, hat er sein ganzes Silbergeld auf dem Ar-maturenbrettaufgereiht: Fünfcent-, Zehncent- und Vierteldollarmünzen und Susan B. Anthony-Silberdollarstücke. Als er diese Dollarmünzen jetzt wieder sieht, fallen ihm plötzlich Ben Hanscom und dessen Silberdollarmünzen ein - echte Silberdollar, auf denen Lady Liberty eingeprägt war. Und das führt ihn wieder zu Bill zurück, denn Bill hat ihnen einmal mit einem dieser Silberdollarmünzen das Leben gerettet -obwohl er sich um alles in der Welt nicht erinnern kann, auf welche Weise,

(oder liegt es daran, daß er sich nicht erinnern will?)

nur daß es dort dunkel war.

Er kurbelt das Fenster herunter und wirft das Geld in den Automaten. Das rote Licht wird grün; DANKE leuchtet auf. Erfährt weiter über die Brücke, in Richtung Revere, unter einem taubengrauen Himmel, über einen Fluß derselben Farbe.

Boston liegt jetzt hinter ihm. Vor ihm liegt MAINE, NEW HAMPSHIRE, ALLE ORTE IN NORD-NEUENGLAND. Vor ihm liegt Derry, und etwas in Derry ist noch nicht tot. Etwas mit unzähligen Gesichtern. Aber was ist es in Wirklichkeit? Haben Sie es zuletzt nicht unmaskiert gesehen? Und waren es nicht Bev Marsh und Ben Hanscom gewesen, die sie bei jener Gelegenheit gerettet hatten? Er weiß es nicht genau.

Oh, er kann sich jetzt an so vieles erinnern... aber es reicht immer noch nicht

Er erinnert sich daran, daß er Bill Denbrough liebte. Bill machte sich nie über sein Asthma lustig. Bill nannte ihn nie ein verweichlichtes Muttersöhnchen. Er liebte Bill, wie er einen großen Bruder geliebt hätte ... oder einen Vater. Bill wußte gut Bescheid. Er wußte, was man tun konnte, wohin man gehen konnte, was man sich anschauen konnte, was man spielen konnte. Bill hatte ihm die Spielregeln von >Scrabble< erklärt, und es war Bills Idee gewesen, den Damm in den Barrens zu bauen, und in gewisser Weise war es der Damm gewesen, der sie alle zusammengeführt hatte. Ben Hanscom hatte den Damm konstruiert - so gut konstruiert, daß sie um ein Haar Schwierigkeiten mit Mr. Nell, dem Streifenpolizisten, bekommen

hätten - aber die ursprüngliche Idee hatte Bill gehabt, und obwohl sie alle - mit Ausnahme von Richie - seit Jahresbeginn in Derry merkwürdige Dinge gesehen oder erlebt hatten, war es Bill gewesen, der als erster den Mut aufgebracht hatte, darüber zu reden.

JenerDamm.

Jener verdammte Damm.

Er erinnerte sich an Victor Criss' höhnische Bemerkung am Tage zuvor: »Es war ein richtiger Kleinkinderdamm.«

Und einen Tag später hatte Ben Hanscom ihn und Bill angegrinst und gesagt:

»Wir könnten die ganzen Barrens überfluten, wenn wir wollten.«

2

Bill und Eddie schauten zweifelnd von Ben zu dem Zeug, das er mitgebracht hatte: einige Bretter (von Mr. McKibbons Hinterhof geklaut, aber das war nicht schlimm, denn Mr. McKibbons hatte sie vermutlich selbst von irgendeinem Hinterhof geklaut), einen Schmiedehammer und eine Schaufel.

»Ich weiß nicht so recht«, sagte Eddie vorsichtig und schaute dabei Bill an. »Als wir's gestern probiert haben, hat's nicht sehr gut geklappt. Die Strömung hat unsere Stöcke dauernd weggeschwemmt.«

»Diesmals wird's klappen«, versicherte Ben. Auch er schaute Bill an -bei Bill lag die letzte Entscheidung.

»Also, v-v-v-versuchen wir's«, sagte Bill, »Ich hab' h-heute morgen R-R-Richie Tozier angerufen. Er k-k-k-kommt später rüber, hat er gesagt. Vielleicht w-w-werden er und Stanley L-L-L-Lust haben, uns zu h-h-hel-fen.«

»Wer ist Stanley?«

»Stan Uris«, antwortete Eddie automatisch. Er schaute immer noch Bill an, der ihm heute irgendwie verändert vorkam - stiller, nicht mehr so begeistert von der Idee, einen Damm zu bauen. Bill sah heute bleich aus. Geistesabwesend.

»Ich glaube nicht, daß ich ihn kenne«, sagte Ben. »Geht er in die Fair-mount-Schule?«

»Er ist so alt wie wir, aber er hat erst die vierte Klasse abgeschlossen«, antwortete Eddie. »Er war als kleiner Junge sehr viel krank und ist deshalb ein Jahr später in die Schule gekommen. Wenn du glaubst, Big Ben, daß du gestern von Bowers und seinen Kumpanen ordentlich was abbekommen hast, müßtest du mal Stan sehen. Irgend jemand schikaniert ihn immer.«

»Er ist jü-jü-jüdisch«, erklärte Bill. »V-V-V-Viele Kinder m-m-mögen ihn deshalb nicht. Aber er ist o-okay.«

»Jüdisch?« fragte Ben. »Tatsächlich?« Er war beeindruckt, hauptsächlich, weil er nicht wußte, was ein Jude war. »Ist das so was Ähnliches wie türkisch sein?«

»Ich n-n-nehm's an«, sagte Bill. Er hob eines der Bretter auf, die Ben

mitgebracht hatte, und betrachtete es. Es war etwa sechs Fuß lang und drei Fuß breit. »M-M-Mein V-V-Vater sagt, die m-meisten Juden hätten große N-N-N-Nasen und einen Haufen G-G-Geld, a-a-a-...«

»Aber Stan hat eine ganz normale Nase, und er ist immer pleite«, warf Eddie ein.

»Genau«, sagte Bill grinsend.

Ben grinste.

Eddie grinste.

Sie standen am Bach, dort wo Criss und Huggins und Bowers am Vortag Bill und Eddie überrascht hatten; die Bretter, der Hammer und die Schaufel lagen um sie herum, und Eddie war plötzlich sicher, daß Bill im nächsten Moment etwas Ernstes sagen würde. Er schaute jetzt nämlich von Ben zu Eddie, ohne zu lächeln, und Eddie hatte plötzlich Angst.

Aber Bill erkundigte sich nur: »H-H-Hast du deinen A-A-Aspirator, E-Eddie?«

Eddie klopfte gegen seine Tasche. »Alles klar.«

»Sag mal, wie hat eigentlich die Sache mit der Schokoladenmilch geklappt?« fragte Ben plötzlich.

Eddies Angst verging wieder. »Großartig!« sagte er und lachte, und Ben stimmte in sein Lachen ein, während Bill sie verwirrt anschaute. Eddie erklärte ihm die Sache, und nun grinste auch Bill.

»E-E-Eddies M-M-Mutter hat A-Angst, daß er k-k-k-kaputtgeht und sie k-k-keine Rückzahlung für ihn b-bekommt«, sagte er.

Eddie schnaubte und tat so, als wollte er Bill in den Bach werfen.

»Sieh dich vor, Arschloch!« imitierte Bill täuschend ähnlich Henry Bowers. »Ich dreh' dir den Hals um, so daß du deinen Arsch betrachten kannst, wenn du ihn dir abwischst!«

Ben mußte so lachen, daß er sich auf den Boden fallen ließ und sich den Bauch hielt. Bill stand da, die Hände in den Hosentaschen, warf ihm einen Blick zu, lächelte ein wenig, wandte sich dann an Eddie und sagte, mit dem Kopf auf Ben deutend. »D-D-Der Junge ist nicht ganz d-d-d-dicht.«

»Ja«, stimmte Eddie zu, aber er spürte, daß sie nur so taten, als amüsierten sie sich gut. Etwas lag Bill auf der Seele. Na ja, vermutlich würde er es schon irgendwann ausspucken, wenn ihm danach zumute war. »Der Junge ist geistig zurückgeblieben.«

»Behindert«, kicherte Ben.

»W-W-Wirst du u-uns nun z-z-zeigen, w-wie man einen D-D-D-Damm baut, oder w-willst du den g-g-g-ganzen Tag auf deinem fetten H-H-Hin-tern rumsitzen?« fragte Bill.

Ben stand auf und betrachtete den Bach, der nicht besonders schnell dahinfloß. Er war nicht breit; sogar ein kleines Kind hätte von einer Seite zur anderen springen können, ohne nasse Füße zu bekommen. Aber der Bach war gestern trotzdem stärker gewesen als Bill und Eddie. Sie hatten beide nicht gewußt, wie sie die Strömung in den Griff bekommen konnten.

Ben wandte sich ihnen wieder zu, und Eddie dachte: Er weiß, wie man's machen muß - ich glaube, er weiß es wirklich.

»Okay«, sagte Ben. »Ihr solltet lieber eure Schuhe ausziehen, denn ohne nasse Füße wird's nicht abgehen.«

Sofort hörte Eddie im Geiste die Stimme seiner Mutter, resolut und überzeugt und ganz deutlich: Tu das ja nicht, Eddie, nasse Füße führen zu Erkältungen, und aus einer Erkältung kann leicht eine Lungenentzündung werden. Tu's nicht, Eddie!

Bill und Ben saßen schon am Ufer und zogen Schuhe und Socken aus. Ben rollte umständlich seine Hosenbeine hoch. Bill schaute zu Eddie.

»K-K-Kommst du?«

»Klar«, sagte Eddie. Er setzte sich ans Ufer und zog ebenfalls Schuhe und Strümpfe aus, während seine Mutter, die immer gegenwärtig zu sein schien, in seinem Kopf unaufhörlich redete und predigte. Zu seiner großen Erleichterung wurde ihre Stimme aber allmählich immer schwächer, bis sie schließlich ganz verstummte.

3

Es war einer jener vollkommenen Sommertage, die man nie vergißt. Eine leichte Brise hielt die Moskitos fern. Der Himmel war strahlend blau, und die Temperatur bewegte sich so um die 70° Fahrenheit. Das Wasser im Bach war anfangs kalt, und Eddie mußte einmal seinen Aspirator benutzen, aber dann zog der Bau ihn so in seinen Bann, daß die Stimme seiner Mutter immer schwächer wurde... und als sie ganz verstummte, atmete er wieder normal. Der Bach plätscherte unermüdlich in seinem Bett aus glatten Kieselsteinen, und die Blätter der Bäume am Ufer rauschten angenehm. Ab und zu drehte der Wind nach Südwesten und trug von der Müllhalde einen beißenden Gestank zu ihnen herüber - donnerstags wurde immer der Abfall verbrannt - aber zum Glück passierte das selten.

Ganz in die Aufgabe vertieft, den Damm zu bauen, wurde Ben Hanscom, der am Vortag so unsicher und schüchtern gewesen war, zu einem selbstbewußten General, der ihnen genaue Anweisungen gab, was sie tun sollten. Ab und zu trat er ein paar Schritte zurück, betrachtete das Werk und murmelte etwas vor sich hin. Dabei fuhr er sich mit den Händen durch die Haare, und gegen elf Uhr standen sie nach allen Seiten wirr ab.

Zuerst zweifelte Eddie noch etwas am Gelingen des Werkes, aber dann überkam ihn Fröhlichkeit und schließlich ein seltsames Gefühl, das er in diesem Ausmaß noch nie verspürt hatte - ein Gefühl der Macht. Die Sache würde funktionieren, bei Gott - sie würde besser funktionieren, als Bill und er je zu träumen gewagt hätten.

Er sah, daß auch Bill mitgerissen wurde - zuerst war er noch nicht richtig bei der Sache gewesen, hatte noch über sein Problem nachgegrübelt, das ihn sehr zu beschäftigen schien, was immer es auch sein mochte, aber allmählich konzentrierte er sich dann hundertprozentig auf ihre Arbeit. Ein paarmal klopfte er Ben auf die dick gepolsterte Schulter und sagte ihm, er sei einfach phänomenal. Ben errötete jedesmal vor Freude.

Er wies Bill und Eddie an, eines der Bretter hochkant quer über den Bach zu schieben und festzuhalten, während er es mit dem Hammer ins Bachbett hineinrammte. »Du wirst es festhalten müssen, sonst wirft die Strömung es sofort wieder um«, erklärte er Eddie, und Eddie stellte sich folgsam in die

Bachmitte und hielt das Brett, während Bill und Ben ein zweites Brett zwei Fuß unterhalb des ersten anbrachten. Dann mußte Bill auf Bens Anweisung hin dieses zweite Brett halten, während er selbst den Zwischenraum mit Schlamm und Kieselsteinen aus dem Bachbett füllte.

»Wenn wir statt dieses Zeugs Zement hätten, dann müßten sie die ganze Stadt auf die Seite von Old Cape verlegen«, sagte Ben, während er ein wenig ausruhte. Bill und Eddie lachten, und Ben grinste ihnen zu. Wenn er lächelte, ließen seine Gesichtszüge ahnen, daß er einmal ein gutaussehender Mann sein würde.

Nach einer Weile wechselte Bill Ben beim Schaufeln ab, während Ben das untere Brett festhielt. Dann schaufelte Eddie, aber er kam schon nach kurzer Zeit völlig außer Atem, und Ben löste ihn wieder ab. Vor dem oberen Brett staute sich jetzt das Wasser, und Eddie wies darauf hin, daß ein Teil davon sich seitlich der Bretter einen neuen Weg bahnte.

»Darum werden wir uns später kümmern«, erklärte Ben so zuversichtlich, daß Eddie ganz beruhigt war.

Ben holte ein drittes Brett - das dickste der vier oder fünf, die er mühsam durch die Stadt geschleppt hatte - und lehnte es sorgfältig in einem bestimmten Winkel gegen das untere Brett.

»Okay«, sagte er mit einem prüfenden Blick auf sein Werk. Seine Jeans und sein weiter Sweater waren naß, die Jeans außerdem noch lehmbeschmiert. Auch in seinen Haaren war Lehm, den er mit seinen rastlosen Händen hineingerieben hatte. »Jetzt müßtet ihr eigentlich loslassen können. Die Füllung zwischen den Brettern und dieses schräge Brett müßten eigentlich dafür sorgen, daß der Damm dem Wasserdruck standhält.« »U-U-Und wenn n-nicht, werden w-wir dich 1-1-1-lynchen«, sagte Bill. »Okay«, meinte Ben.

Bill und Eddie ließen die Bretter los und traten ein Stück zur Seite. Ben geseilte sich zu ihnen. Die beiden Bretter, die den eigentlichen Damm bildeten, knarrten ein wenig, neigten sich ein bißchen... das war aber auch schon alles.

»Sagenhaft!« rief Eddie aufgeregt.

»Toll«, sagte Bill grinsend.

»Kommt, jetzt wollen wir erst mal was essen«, meinte Ben.

Sie saßen am Ufer, aßen, ohne viel zu reden, und beobachteten, wie das Wasser sich staute. Es bildete einen fast kreisförmigen Teich vor dem Damm, und noch bevor sie ihre Sandwiches und Süßigkeiten aufgegessen hatten, überflutete es die Ufer, trotz der Schleusen seitlich des Dammes. Funkelnde Bächlein flössen überall ins Gras und ins Gebüsch. Weiter oben ah der Bach irgendwie geschwollen aus - ein besserer Ausdruck fiel Eddie dafür nicht ein. Das fröhliches Blubbern und Plätschern von seichtem.Was-ser, das über Steine und Kies floß, war verstummt. Der Bach sah jetzt wie eine geschwollene graue Vene über einer Aderpresse aus.

Unterhalb des Dammes war das Bachbett fast leer; einige dünne Rinnsale in der Mitte - das war alles. Steine, die Gott weiß wie lange unter Wasser gewesen waren, trockneten - trockneten! - jetzt in der Sonne.

Wieder verspürte Eddie dieses unheimliche Machtgefühl. Sie hatten das fertiggebracht, drei kleine Jungen.

Ben legte seine leeren Tüten ordentlich in den Lunchbeutel, den er mitgebracht hatte. Eddie und Bill hatten nur so über die Riesenmengen gestaunt, die Ben verdrücken konnte; zwei Sandwiches mit Erdnußbutter und Gelee, ein Wurstbrot, ein hartgekochtes Ei (er hatte sogar daran gedacht, etwas Salz mitzubringen), zwei Päckchen Feigen, drei große Schokoladenplätzchen und einen Schokoriegel.

»Was hat deine Mutter gesagt, als sie gesehen hat, wie übel du zugerichtet warst?« fragte Eddie ihn.

»Hmmm?« Ben wandte seinen Blick von dem immer größer werdenden Teich vor dem Damm und rülpste leise hinter vorgehaltener Hand. »Oh, mittwochs kauft sie immer ein, und ich war vor ihr zu Hause und konnte mich noch saubermachen. Den Sweater hab' ich weggeworfen. Er war zu nichts mehr zu gebrauchen. Sie wird das nicht merken, weil ich mindestens sechs Sweater habe, die alle völlig gleich aussehen.«

Eddie nickte. Der Sweater, den Ben heute anhatte, sah wirklich haargenau so aus wie der von gestern, einmal abgesehen davon, daß der gestrige nur noch aus Fetzen bestanden hatte, die von einem runden Strickkragen herabhingen.

»Ich w-würde in einem S-S-Sweater vor H-H-Hitze umkommen«, sagte Bill, nachdem er den letzten Bissen seines Sandwiches hinuntergeschluckt und sich die Hände an seinen Jeans abgewischt hatte.

Ben zögerte. Einen Augenblick sah es so aus, als würde er darauf nichts erwidern. Dann sagte er: »Wenn man fett ist, sind sie besser. Sweater, meine ich.«

»Wegen deines Bauches?« fragte Eddie.

Bill schnaubte. »Wegen deiner B-B-B-...«

»Ja, wegen meiner Brüste«, sagte Ben ein wenig herausfordernd. »Na und?«

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen, dann sagte Eddie: »Mir gefällt nicht, wie das Wasser an den Seiten des Damms aussieht.«

Er deutete auf die Stelle, wo das Wasser an den Brettern vorbeifloß; es war trübe und schlammig.

»Oh, verdammt!« rief Ben und sprang auf. »Die Strömung holt unsere Füllung raus! Ich wollte, wir hätten Zement!«

Wie sich herausstellte, war der Schaden bisher nicht groß, aber sogar Eddie konnte sehen, was passieren würde, wenn nicht jemand fast ständig neues Füllungsmaterial hineinschaufeln würde: Erosion würde zuletzt dazu führen, daß das obere Brett umkippen, gegen das zweite stoßen und damit alles zum Einsturz bringen würde. Wie bei einer dieser Maschinen von Rübe Goldberg.

»Wir können das aber verhindern, indem wir die Seiten befestigen«, sagte Ben.

»Wenn wir Lehm verwenden, wird er auch einfach weggeschwemmt«, erwiderte Eddie.

»Keinen Lehm. Rasenstücke.«

Bill nickte, lächelte und machte ein O mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. »Also 1-1-los. Ich steche sie aus, und du z-z-zeigst mir, wohin ich sie legen muß, Big B-B-Ben.«

Von hinten ertönte plötzlich eine Stimme: »Mein Goooott, sie verlegen das Schwimmbad in die Barrens!«

Eddie drehte sich um, wobei er bemerkte, wie Ben sich beim Klang der fremden Stimme sofort wieder versteifte, wie seine Lippen zu einer dünnen Linie wurden. Über ihnen, ein Stückchen bachaufwärts, auf dem Pfad, den Ben am Vortag gekreuzt hatte, standen Richie Tozier und Stanley Uris.

4

Einige Stunden später war der Damm fertig. Die fünf Jungen saßen jetzt viel höher auf der Uferböschung und betrachteten von dort ihr Werk. Sogar Ben konnte es kaum glauben. Er verspürte bei aller Müdigkeit eine tiefe Befriedigung, die aber mit leichtem Unbehagen vermischt war. Er mußte unwillkürlich an >Fantasia< denken, wo Mickey zwar gewußt hatte, mit welchen Zauberworten er den Besen in Bewegung setzen konnte, wo seine Macht jedoch nicht ausgereicht hatte, um diesen wieder stillstehen zu lassen.

»Unglaublich«, sagte Richie Tozier leise.

Eddie warf einen Blick zu ihm hinüber, aber diesmal zog Richie keine seiner Nummern ab; seine Augen hinter den dicken Brillengläsern hatten einen nachdenklichen, fast feierlichen Ausdruck.

Die Stelle, wo Eddie, Ben und Bill ihr Mittagessen verzehrt hatten, stand jetzt unter Wasser. Auf der anderen Seite des Baches hatten sie eine Marschlandschaft geschaffen. Dornenbüsche und Farne standen fußtief unter Wasser, und sogar, während sie hier saßen, konnten sie beobachten, wie die Marsch sich nach Westen ausbreitete. Weiter oben sah der Bach immer noch geschwollen aus.

Gegen zwei Uhr hatte das gestaute Wasser den oberen Rand der Bretter erreicht, und alle außer Ben waren zu einer Expedition zur Müllhalde aufgebrochen, um weitere Bretter zu organisieren. Ben hatte unterdessen methodisch Lecke an den Seiten mit Rasenstücken gestopft, ohne sich um das über den oberen Bretterrand fließende Wasser zu kümmern. Die vier Müllmänner waren nicht nur mit Brettern zurückgekehrt, sondern auch mit vier kaputten Reifen und der rostigen Tür eines 1949er Hudson Hörnet. Unter Bens Anleitung hatten sie sodann einen zweiten, höheren Damm unterhalb des ersten errichtet, der inzwischen total überflutet war.

»Du bist ein Genie, Ben«, sagte Richie jetzt.

Ben lächelte. »So schwer war's nun auch wieder nicht«, sagte er bescheiden.

»Ich hab' ein paar Winstons«, verkündete Richie. »Wer möchte eine?« Er holte eine zerknitterte Packung aus der Tasche und bot reihum Zigaretten an. Eddie dachte an sein Asthma und lehnte ab. Stan ebenfalls. Bill nahm eine, und auch Ben griff nach kurzem Zögern zu. Richie zog ein Streichholzhefchen mit der Aufschrift röi-tan heraus und zündete zuerst Bens, dann Bills Zigarette an. Als er gerade auch seine eigene anzünden wollte, blies Bill das Streichholz aus.

»Danke vielmals, Denbrough, du Trottel!« rief Richie.

Bill lächelte entschuldigend. »D-D-Drei mit einem Streichholz b-b-bringt U-Unglück.«

»Ein Unglück war für deine Leute der Tag deiner Geburt«, sagte Richie liebenswürdig und zündete seine Zigarette mit einem neuen Streichholz an. Er blinzelte Ben zu, der ihn mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Vorsicht betrachtete.

Eddie konnte das gut verstehen. Er kannte Richie nun schon seit vier Jahren, kannte sich mit ihm aber immer noch nicht richtig aus. Er wußte, daß Richie in allen Schulfächern gute Noten hatte - hauptsächlich As und Bs -, aber im Betragen regelmäßig ein C oder D bekam. Er konnte anscheinend nicht stillsitzen, und noch weniger konnte er seinen Mund halten. Hier unten in den Barrens brachte ihn das nicht in Schwierigkeiten, aber in der größeren Welt von Derry hatte er dadurch jede Menge Probleme - sowohl mit Erwachsenen, was schlimm war, als auch mit Burschen wie Henry Bowers, was noch viel schlimmer war.

Sein heutiger Auftritt war dafür ein perfektes Beispiel gewesen: er war aufgeregt den Pfad hinabgesaust, während Stan Uris ihm gemächlicher folgte. Als Richie Ben Hanscom gesehen hatte, war er auf die Knie gefallen und hatte eine Reihe tiefer Verbeugungen gemacht, mit ausgestreckten Armen, die jedesmal im Schmutz landeten. Gleichzeitig hatte er mit einer seiner stimmen geredet.

Eddie wußte, daß Richie etwa ein Dutzend verschiedener Stimmen hatte. An einem regnerischen Nachmittag, als sie über der Garage der Kaspbraks Comics gelesen hatten, hatte er Eddie anvertraut, daß er den Ehrgeiz hatte, der größte Bauchredner der Welt zu werden; besser noch als Edgar Bergen. Eddie befürchtete allerdings, daß er Probleme mit der Verwirklichung dieses Wunschtraums haben würde. Erstens klangen sämtliche Stimmen Ri-chies nämlich sehr nach Richie Tozier (was nicht ausschloß, daß Richie manchmal wirklich komisch sein konnte). Zweitens bewegte er beim Bauchreden die Lippen. Nicht nur ein bißchen, sondern sehr stark. Und drittens, wenn Richie erklärte, er werde jetzt seine Stimme verlagern, so kam sie danach doch immer noch aus seinem Mund und nirgendwo sonst her. Die meisten von Richies Freunden waren zu taktvoll - oder zu verwirrt von Richies manchmal bezauberndem, oft aber anstrengendem Charme -, um ihn auf diese kleinen Mängel hinzuweisen.

Während er sich wie wahnsinnig vor dem total verwirrten und verlegenen Ben verbeugte, redete Richie mit seiner - wie er das nannte - >Nigger-Jim~Stimme<.

»Jesses, das ist ja Haystack Calhoun!« schrie er. »Fall nicht auf mich, Hay-stack! Du wirst mich zu Mus zerquetschen, wenn du's tust! Jesses, 300 Pfund wabbelndes Fleisch, 88 Zoll von Titte zu Titte, Haystack riecht wie Pantherschitte! Ich tu' alles, was du willst, Haystack, nur fall nicht auf mich armen schwarzen Boy!«

»M-M-Mach dir nichts d-d-draus«, sagte Bill zu Ben. »So ist R-R-R-Richie nun mal. Er ist v-v-verrückt.«

Richie sprang auf. »Ich hab's vernommen, Denbrough. Du solltest lieber abhauen, sonst schmeiß' ich Haystack auf dich drauf.«

»Der b-b-beste Teil von dir ist am B-B-Bein deines V-Vaters runtergelaufen«, sagte Bill.

»Stimmt«, sagte Richie. »Wie geht's, Haystack? Richie Tozier.« Er streckte seine Hand aus. Total verwirrt wollte Ben ihm die Hand schütteln, aber Richie zog sie im letzten Moment zurück. Ben errötete. Richie ließ sich davon nun doch erweichen und reichte ihm die Hand.

»Ben Hanscom«, stellte Ben sich vor.

»Ich hab' dich in der Schule schon gesehen«, sagte Richie. Er deutete auf den Teich. »Das muß deine Idee gewesen sein. Diese Trottel da könnten nicht mal einen Feuerwerkskörper mit einer brennenden Pechfackel zünden!«

»Du solltest nur für dich selbst sprechen«, sagte Eddie. »Ben hat uns gezeigt, wie man's machen muß, das stimmt.«

»Gute Arbeit.« Richie drehte sich um und entdeckte Stan, der immer noch hinter ihm stand. Er war schlank, dunkelhaarig und still. »Das da ist Stan Uris. Stan ist ein Jude. Er hat Christus umgebracht - zumindest hat mir Victor Criss das einmal erzählt. Seitdem halte ich mich immer an Stan. Wenn er nämlich so alt ist, sollte er uns eigentlich ein paar Bierchen spendieren können. Stimmt's, Stan?«

»Ich nehm' an, daß das mein Vater getan haben muß«, sagte Stan ruhig, und über diese Bemerkung mußten sie alle - einschließlich Ben - schallend lachen. Eddie lachte, bis er keine Luft mehr bekam.

»Ein toller Witz!« schrie Richie und stolzierte mit ausgebreiteten Armen umher. »Stan Uris läßt einen guten Witz los! Ein historischer Augenblick!«

»Hi«, sagte Stan.

»Hallo«, erwiderte Ben.

»Ich sag's nicht gern, aber es sieht ganz so aus, als würdest du deinen Damm verlieren«, rief Richie. »Das Tal wird bald überflutet sein. Frauen und Kinder zuerst!«

Und ohne sich die Mühe zu machen, seine Turnschuhe auszuziehen oder seine Jeans hochzukrempeln, sprang er ins Wasser und begann, Grasstücke seitlich des Damms festzudrücken, wo die beharrliche Strömung wieder die Füllung auszuwaschen versuchte. Ein Stück Pflaster stand an der geflickten Stelle seines Brillengestells ab. Bill fing Eddies Blick auf, lächelte ein wenig und zuckte mit den Schultern. Eddie zuckte ebenfalls die Achseln. Es war eben Richie. Er konnte einen zur Verzweiflung bringen... aber es war trotzdem schön, wenn er mit von der Partie war.

Die nächste Stunde war mit Arbeiten am Damm schnell verstrichen. Ri-chie befolgte Bens schüchterne Kommandos mit überraschender Bereitwilligkeit, führte seine Aufgaben mit irrsinniger Geschwindigkeit aus und meldete sich sofort wieder zur Stelle, um neue Befehle entgegenzunehmen. Er war schon nach kürzester Zeit von der Taille abwärts völlig durchnäßt. Von Zeit zu Zeit hänselte er die anderen mit einer seiner Stimmen: der deutsche Kommandant, der Senator aus den Südstaaten, der Wochenschausprecher im Kino.

Die Arbeit hatte rasche Fortschritte gemacht. Und nun, während sie am Ufer saßen, schien der Bach völlig eingedämmt zu sein. Die Autotür bildete den dritten Dammabschnitt, abgestützt durch einen Riesenwall aus Lehm

und Steinen. Bill, Ben und Richie rauchten; Stan lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und blickte zum Himmel empor. Eddie saß einfach da; er fühlte sich angenehm müde und lethargisch und zufrieden. Er hatte die tollsten Freunde, die ein Junge sich nur wünschen konnte. Sie fühlten sich zusammen wohl. Besser konnte er die allgemeine Stimmung nicht beschreiben.

Er schaute zu Ben hinüber, der seine halbgerauchte Zigarette linkisch hielt und häufig ausspuckte, als sage ihm der Geschmack nicht besonders zu. Dann drückte er sie verstohlen aus und vergrub sie. Als er bemerkte, daß Eddie ihn beobachtet hatte, schaute er verlegen zur Seite.

Eddies Blick schweife weiter, und etwas in Bills Gesicht weckte sein Unbehagen. Bill blickte über das Wasser hinweg auf die Bäume und Büsche am anderen Ufer; seine blauen Augen waren sehr nachdenklich. Sein Gesicht hatte einen grübelnden Ausdruck, und Eddie dachte, daß Bill richtig gequält aussah.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, blickte Bill plötzlich zu ihm hinüber. Eddie lächelte, aber Bill erwiderte sein Lächeln nicht. Er drückte seine Zigarette aus und schaute in die Runde. Sogar Richie war verstummt und hing seinen eigenen Gedanken nach, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, die Arme um die Schienbeine geschlungen.

Eddie fiel plötzlich ein, daß Bill selten etwas Wichtiges sagte, es seidenn, daß es völlig still war- das lag daran, daß ihm das Sprechen so schwerfiel. Und Eddie wünschte auf einmal, daß ihm selbst irgendeine geistreiche Bemerkung einfiele, oder daß Richie etwas in einer seiner Stimmen von sich gäbe, denn er war sicher, daß Bill jeden Moment seinen Mund aufmachen und etwas Schreckliches sagen würde. Etwas, das er absolut nicht hören wollte.

Er hatte plötzlich Angst. Es gab überhaupt keinen Grund dafür. Trotzdem hatte er Angst. Instinktiv tastete er nach seinem Aspirator. Das zylinderförmige Ding in seiner rechten Vordertasche übte auf ihn eine beruhigende Wirkung aus.

»K-K-Kann ich euch etwas erzählen?« fragte Bill.

Sie schauten ihn alle an. Laß einen Witz los, Richie, dachte Eddie. Mach irgendeinen Witz, sag irgend etwas verdammt Abscheuliches, verwirr ihn, bring ihn

zum Schweigen. Ich will es nicht hören. Was immer es auch sein mag, ich will es

nicht hören!

Aber Richie sagte nur: »Na klar, Big Bill. Was ist los?«

Bill öffnete den Mund (Eddies Angst wurde noch größer), schloß ihn (Eddie war erleichtert), öffnete ihn wieder (neue Angst).

»W-W-Wenn ihr 1-1-1-lacht, w-w-w-werde ich nie w-w-wieder mit euch r-r-r-r-reden«, sagte Bill. »Es hört sich v-v-verrückt an, aber es ist w-w-wirk-lich passiert, das sch-sch-schwöre ich.«

»Wir werden nicht lachen«, sagte Ben. Er blickte in die Runde. »Oder?« Stan schüttelte den Kopf, Richie ebenfalls. Auch Eddie schüttelte den Kopf, obwohl er am liebsten gerufen hätte: Doch, Billy, wir werden lachen und sagen, du seist ein Riesendummkopf also halt lieber gleich die Klappe! Aber Bill war sein Freund, und er konnte ihm nicht etwas so Abscheuliches sagen. Also schüttelte er langsam den Kopf. Er hatte das Gefühl, als würden starke, aber unsichtbare Hände seinen Kopf bewegen.

Und während sie so über der Dammanlage saßen, die sie nach Bens Anleitung gebaut hatten, und von Bills Gesicht zum aufgestauten Wasser und wieder zurück in sein Gesicht blickten, erzählte Bill ihnen, was ihm am Vorabend passiert war. Er erzählte ihnen, daß seine Eltern - hauptsächlich seine Mutter - in Georges Zimmer nichts verändert hatten, seit George getötet worden war (»erm-m-m-mor-det«, brachte Bill mühsam hervor, in abgehackten Sprachfetzen). Er erzählte ihnen, daß er Angst hatte, dorthin zu gehen, daß er aber trotzdem manchmal hinging, um sich an Georgie zu erinnern. Und zuletzt erzählte er ihnen, wie Georgies Schulfoto sich bewegt und ihm zugeblinzelt hatte, und wie das Album geblutet hatte, als er es durchs Zimmer schleuderte.

Es war eine lange, qualvolle Erzählung, und noch bevor Bill zum Schluß kam, hatte er ein hochrotes Gesicht und schwitzte. Eddie hatte ihn noch nie so schlimm stottern gehört.

Zuletzt war er aber doch fertig und schaute sie der Reihe nach an, herausfordernd und zugleich ängstlich. Eddie sah auf allen Gesichtern den gleichen Ausdruck: eine Art feierlichen Ernst - und Angst. Niemand schaute ungläubig drein. Eddie wäre am liebsten aufgesprungen und hätte gebrüllt: 'Was für eine verrückte Geschichte! Du glaubst doch wohl nicht im Ernst daran, Bill? Schulfotos können nicht blinzeln oder bluten! Du mußt den Verstand verloren haben, Bill!

Aber er tat es nicht. Denn die Gesichter der anderen drückten nicht nur Ernst und Angst aus. Ben blickte zum Wasser hinüber und sah richtiggehend krank aus. Stan preßte sich eine Hand vor den Mund. Seine Augen waren riesig. Richie rauchte wieder eine Zigarette, und seine Hand zitterte.

Es war nicht nur feierlicher Ernst. Nicht nur Angst. In ihren Gesichtern stand ein Wiedererkennen geschrieben, so als hätten sie die Geschichte schon gekannt, noch bevor Bill sie erzählt hatte.

Was aber noch schlimmer war - Eddie wußte, daß er selbst den gleichen Gesichtsausdruck hatte, und er dachte an die Neibolt Street 29. An das Haus am Güterbahnhof. Alt, mit halbverfallener Veranda und verwildertem Rasen. Ein altes Dreirad, rostig und umgestürzt, lag in diesem hohen Gras, und nur ein Rad schaute noch heraus.

Aber links von der Veranda war eine große kahle Stelle im Rasen, und man konnte die Kellerfenster sehen, klein und schmutzig, in die dreckigen Mauern eingelassen.

m einem dieser Fenster hatte Eddie zum erstenmal das Gesicht des Aussätzigen gesehen, vor weniger als sechs Wochen.

5

Manchmal, wenn Eddie niemanden hatte, mit dem er samstags spielen konnte, begab er sich zum Güterbahnhof draußen an der Neibolt Street. Er fuhr mit dem Rad die Witcham Street entlang und bog dann nach Nordwesten ab. Die Christian Day School, die normalerweise nur Neibolt-Schule genannt wurde, stand hier draußen, an der Ecke Neibolt Street und Route 2. Es war ein etwas schäbiges, aber sauberes Fachwerkhaus mit einem gro-

ßen Kreuz auf dem Dach, und über der Eingangstür stand in vergoldeten Lettern: lasset die kinder zu mir kommen. Manchmal hörte Eddie samstags, daß dort Harmonium gespielt und dazu gesungen wurde - flotte Gospelmusik, von der Eddie kaum glauben konnte, daß es sich dabei um religiöse Lieder handelte. Manchmal stellte er dann sein Rad auf der anderen Straßenseite ab, setzte sich unter einen Baum und tat so, als lese er dort, während er in Wirklichkeit dieser Musik lauschte.

An anderen Samstagen fuhr er direkt zum Güterbahnhof am Ende der Neibolt Street und beobachtete die Züge. Seine Mutter hatte ihm erzählt, daß hier früher ein richtiger Bahnhof - Neibolt Station - gewesen war, wo Fahrgäste abfahren und ankommen konnten, aber damit war so um das Jahr 1950 herum Schluß gewesen. »In nördlicher Richtung konnte man nach Browncville fahren«, hatte sie erzählt, »und von dort konnte man quer durch ganz Kanada fahren, wenn man wollte, bis zum Pazifik. In südlicher Richtung konnte man nach Portland und Boston fahren, und am Bostoner South Station stand einem dann das ganze Land offen, Eddie. Aber die Passagierzüge dürfen jetzt passe sein, Das Auto ist ihr Tod. Vielleicht wirst du nie mit einem Zug fahren.«

Aber immer noch fuhren Züge durch Derry, lange Güterzüge, auf dem Weg nach Süden beladen mit weichem Holz, Kartoffeln und Papier, auf dem Weg nach Norden beladen mit allen möglichen Waren für Bangor, Mil-linocket und Presque Isle. Besonders liebte Eddie die langen Autozüge mit den unzähligen funkelnden Fords oder Chevrolets. Eines Tages werde ich ein solches Auto haben, schwor er sich. Ein funkelnagelneues. Vielleicht sogar einen Cadillac!

Güter für Derry wurden hier abgeladen, manchmal direkt in bereitstehende Lastwagen, manchmal in die Wellblech-Lagerhäuser neben Gleis 1. Ingesamt waren es sechs Gleise, die hier zusammenliefen wie die Fäden eines Spinnennetzes in der Mitte: die Bangor- und die Great Northern-Linie von Norden her, die Great Southern und die Western Maine von Westen her, die Boston und die Maine von Süden her und die Southern Seacoast von Osten her.

Eines Tages, als Eddie am Ende des Bahnhofs am Gleis der Southern Seacoast gestanden war - das war 1956 gewesen, vor zwei Jahren -, hatte ein betrunkener Eisenbahner, der in der geöffneten Tür eines langsam fahrenden Güterwaggons stand, eine Lattenkiste herausgeworfen, in der sich etwas bewegte. »Letzte Fahrt, Junge!« brüllte er, und der Hals der flachen braunen Flasche, die aus seiner Jackentasche herausschaute, funkelte in der Sonne. »Bring sie heim zu deiner Mutter! Mit besten Grüßen von der verfluchten Southern Seacoast-Linie.« Er lehnte sich bei diesen letzten Worten weit hinaus, weil der Zug nun schneller fuhr, und einen Moment lang befürchtete Eddie, daß er herausfallen würde.

Dann verschwand der Zug außer Sichtweite. Eddie beugte sich über die Kiste. Er hatte Angst, ihr zu nahe zu kommen. Dort drin war etwas Lebendiges, etwas Schlüpfriges, Kriechendes. Bring sie heim zu deiner Mutter, hatte der Eisenbahner gerufen. Eddie klaute ein Stück Schnur aus einem der leeren Lagerhäuser und band die Kiste auf seinem Gepäckträger fest. Seine Mutter öffnete sie vorsichtig und stieß einen Schrei aus - nicht vor

Angst, sondern vor Freude. Vier Hummer lagen in der Kiste, große Zweipfünder mit zusammengebundenen Scheren. Sie kochte sie zum Abendessen und ärgerte sich, daß Eddie nichts davon essen wollte.

»Was glaubst du, was die Rockefellers heute abend essen?« fragte sie empört. »Das gleich wie wir! Nun komm schon, Eddie, probier mal!«

Aber Eddie konnte nicht. Er mußte dauernd an jene kriechenden, schlüpfrigen Geräusche in der Kiste denken. Seine Mutter schickte ihn daraufhin früh zu Bett, und er hörte, wie sie ihre Freundin Eleanor Dunton anrief. Eleanor kam herüber, und die beiden Frauen stopften sich mit kaltem Hummersalat voll. Als Eddie am nächsten Morgen aufstand, um zur Schule zu gehen, schnarchte seine Mutter noch und furzte häufig, was sich anhörte wie tiefe Klarinettentöne. Die Schüssel mit dem Hummersalat war leer, bis auf winzige Reste Mayonnaise.

Das war der letzte Zug der Southern Seacoast gewesen, den Eddie je gesehen hatte, und als er später Mr. Braddock, den Bahnhofsvorsteher, sah, fragte er ihn zögernd, was passiert sei. »Sie hat Pleite gemacht, weiter nichts«, sagte Mr. Braddock. »Liest du keine Zeitungen, Junge? So was passiert jetzt im ganzen Land. Und jetzt mach, daß du hier wegkommst. Hier ist nicht der richtige Ort für Kinder.«

Von nun an spazierte Eddie manchmal entlang der Gleise der Southern Seacoast - Gleis 4 -, die nach Osten führten, in Städte, die ein Schaffner mit monotoner Stimme in seinem Kopf auszurufen schien, Namen mit magischem Klang: Camden, Rockport, Bar Harbor, Wiscassett, Bath, Portland, Ogunquit, the Berwicks; er lief an den Gleisen entlang, bis er müde wurde, und es machte ihn traurig zu sehen, daß zwischen den Schwellen Unkraut wucherte. Einmal hatte er aufgeschaut und Möwen gesehen (vermutlich waren es nur fette, alte, bequeme Möwen gewesen, denen das Meer scheißegal war, aber daran hatte er damals nicht gedacht), die über seinem Kopf umherschwirrten und schrien, und der Klang ihrer Stimmen hatte ihm Tränen in die Augen getrieben, als müsse er um etwas Unwiederbringliches trauern.

Früher hatte es einmal am Bahnhofseingang von der Neibolt Street her ein Tor gegeben, aber es war bei einem heftigen Wintersturm vor Jahren umgestürzt, und niemand hatte sich die Mühe gemacht, es zu reparieren. Eddie konnte kommen und gehen, wie es ihm beliebte, obwohl Mr. Braddock ihn wegjagte, sobald er ihn - oder irgendein anderes Kind - sah und obwohl manchmal Lastwagenfahrer hinter ihm herliefen (aber nie sehr weit); ab und zu empfahl es sich auch, den Lagerhäusern nicht zu nahe zu kommen, wenn ein Militärzug irgendwelches Zeug abgeladen hatte. Das kam aber nicht oft vor. Die meisten Militärzüge fuhren bis Bangor durch. Es gab auch ein Pförtnerhäuschen am Eingang zum Bahnhofsgelände, aber es war leer, die Scheiben waren mit Steinen eingeworfen. Seit 1950 oder so gab es hier keine Aufsicht mehr. Nur nachts machte ein Wachmann vier- oder fünfmal in seinem alten Studebaker die Runde.

Manchmal hielten sich hier Vagabunden und Landstreicher auf. Wenn Eddie vor etwas Angst hatte, so vor diesen Männern mit unrasierten Wangen und rissigen Lippen und Blasen und Frostbeulen; sie fuhren ein Stück mit den Güterzügen, blieben dann eine Zeitlang irgendwo und fuhren wieder weiter. Manchmal fehlten ihnen Finger. Meistens waren sie betrunken. Eines Tages war einer dieser Landstreicher unter der Veranda des Hauses am Ende der Neibolt Street hervorgekrochen und hatte Eddie das Angebot gemacht, ihn für einen Vierteldollar fliegen zu lassen. Eddie war erschrok-ken zurückgewichen, mit eiskalter Haut und trockenem Mund. Ein Nasenloch des Landstreichers war vom Aussatz zerfressen gewesen. Man konnte direkt in den roten, schorfigen Kanal sehen.

»Ich habe keinen Vierteldollar«, sagte Eddie und bewegte sich rückwärts auf sein Rad zu.

»Ich tu's auch für zehn Cent«, krächzte der Landstreicher und kam auf Eddie zu. Er trug alte grüne Hosen mit gelben Flecken im Schritt. Er versuchte zu grinsen. Aber das Schlimmste war diese rote zerfressene Nase.

»Ich... ich hab' keine zehn Cent«, stammelte Eddie und dachte plötzlich: O mein Gott, er hat Lepra! Wenn er mich berührt, steckt er mich an! Er drehte sich um und rannte auf sein Fahrrad zu, und er hörte, daß der Landstreicher schlurfend hinter ihm herrannte.

»Komm zurück, Junge!« krächzte er. »Ich mach's umsonst. Komm zurück!«

Eddie sprang auf sein Rad. Er keuchte und bekam kaum noch Luft. Trotzdem trat er in die Pedale und fuhr los, aber plötzlich schwankte das Fahrrad, weil der Landstreicher versucht hatte, es am Gepäckträger festzuhalten. Eddie warf einen Blick über seine Schulter und sah, daß der Mann ihn verfolgte und nur wenige Schritte vom Hinterrad entfernt war (er holte immer mehr auf!). Er bleckte seine schwarzen Zahnstummel, und sein Gesichtsausdruck konnte sowohl Verzweiflung als auch Wut bedeuten.

Trotz seines Asthmaanfalls radelte Eddie immer schneller; er rechnete damit, daß eine der rauhen, trockenen Hände des Landstreichers ihrt jeden Moment am Arm packen, vom Rad zerren und in den Straßengraben werfen würde, wo ihm dann Gott weiß was passieren würde. Er wagte erst, sich umzuschauen, als er schon an der Neibolt-Schule vorbei über die Kreuzung der Route 2 gesaust war. Der Landstreicher war verschwunden.

Eddie behielt dieses schreckliche Erlebnis fast eine Woche für sich und vertraute es dann Richie und Bill an, als sie eines Tages über der Garage Comics lasen.

»Er hatte nicht Lepra, du Dummkopf«, sagte Richie. »Der Kerl hatte Syphilis.«

Eddie schaute fragend zu Bill hinüber, um festzustellen, ob Richie ihn aufzog - er hatte das Wort Syphilis noch nie gehört; es klang so, als hätte Richie es eben erfunden - aber Bill nickte ernst.

»Was ist Syphilis?« fragte Eddie.

»Eine Krankheit, die Frauen haben«, erklärte Richie. »Du weißt doch übers Picken Bescheid, oder?«

»Na klar«, sagte Eddie und hoffte nur, daß er dabei nicht errötete. Er wußte, wenn man älter wurde, kam irgendein Zeug aus dem Penis heraus, wenn er steif war. Nach Aussage eines Jungen aus der Schule namens Frank Frick mußte man dazu den Schwanz am Bauch des Mädchens reiben, bis man >das Gefühl bekam<. Als Eddie gefragt hatte, was das bedeutete, hatte Frank nur geheimnisvoll den Kopf geschüttelt. Wenn du >das Gefühl

bekommst<, wirst du's wissen, hatte Frank gesagt, und dann hatte er weiter erklärt. Nachdem man also >das Gefühl bekam<, kam dieses Zeug aus dem Penis heraus. Die meisten Jungs nannten das: >Kommen<, sagte Frank, aber sein großer Bruder hatte ihm gesagt, das richtige wissenschaftliche Wort dafür sei Saft. Und diesen Saft mußte man in den Bauchnabel des Mädchens schießen, und dann wanderte er ihm den Magen runter und machte ein Baby. Gefällt das den Mädchen, hatte Eddie bestürzt gefragt. Ich nehm's an, hatte Frank erwidert, aber er hatte selbst ein bißchen verwirrt ausgesehen.

»Okay«, sagte Richie. »Manche Frauen haben jedenfalls diese Krankheit. Die Syphilis. Und ein Mann kann sie bekommen, wenn er sie fickt. Dann fängt er an zu verfaulen. Die Nase verschwindet als erstes. Manchen Burschen, die Syph haben, fallen die Nasen einfach ab. Und dann die Schwänze.«

»B-B-B-B-Bitte«, sagte Bill. »Ich habe g-g-gerade g-g-gegessen.«

»He, Mann, das ist Wissenschaft!« rief Richie.

»Was ist denn dann der Unterschied zwischen Lepra und Syphilis?« fragte Eddie.

»Lepra kann man nicht vom Ficken bekommen«, erwiderte Richie prompt und brach in ein Gelächter aus, das weder Bill noch Eddie verstanden.

Von jenem Tag an hatte das Haus am Ende der Neibolt Street - Nummer 29 - Eddies Fantasie immer mehr beschäftigt. Wenn er den verwilderten Garten und die eingesunkene Veranda und die mit Brettern vernagelten Fenster betrachtete, geriet er in den Bann einer krankhaften Faszination. Und vor knapp sechs Wochen hatte er sein Fahrrad am Straßenrand abgestellt (der Gehweg endete vier Häuser weiter vorne) und war durch das Gras zur Veranda gegangen.

Sein Herz hatte laut in seiner Brust geklopft, und sein Mund war wieder ganz trocken gewesen - als er Bills Geschichte von dem schrecklichen Foto hörte, dachte er, daß er bei seinem Erlebnis ganz ähnliche Gefühle gehabt hatte wie Bill, als dieser ins Zimmer seines toten Bruder George ging. Er hatte das Gefühl gehabt, nicht aus freiem Willen zu handeln, sondern unter Zwang.

Das stille Haus kam immer näher.

Vom Bahnhof hörte man schwach das Rattern einer Diesellok und das metallische Zusammenprallen von Puffern. Dort wurden wohl Waggons auf Nebengleise rangiert, andere wiederum angekoppelt. Man stellte einen Zug zusammen.

Er griff nach seinem Aspirator, aber seltsamerweise bekam er keinen Asthmaanfall wie an dem Tag, als er vor dem Landstreicher mit der zerfressenen Nase geflohen war. Er hatte nur das Gefühl, in ein schreckliches schwarzes Loch der Angst zu fallen.

Er schaute unter die Veranda. Es waren keine Landstreicher da - sie sprangen hauptsächlich im Herbst in Derry aus den Zügen, wenn sie wußten, daß sie auf den abgelegenen Farmen Tagesjobs wie Äpfel oder Kartoffeln ernten bekommen konnten. Aber es gab jede Menge Indizien dafür, daß sie hier gewesen waren. Leere Flaschen - Whisky, Bourbon und Wein -schimmerten im gelben Unkraut. Eine alte Wolldecke lag an der Ziegelmauer des Hauses wie ein toter Hund. Da lag auch zerknülltes Zeitungspapier und ein alter Schuh; er stank nach Abfällen. Der ganze Boden war mit einer dicken Schicht welker Blätter bedeckt.

Eddie wollte nicht unter die Veranda kriechen, tat es aber doch. Sein Herz pochte jetzt so laut, daß ihm der Kopf dröhnte und weiße Lichtfunken vor seinen Augen flimmerten.

Unter der Veranda war der Gestank noch schlimmer - nach Fusel, Schweiß, Schimmel und Laub. Die welken Blätter raschelten nicht einmal unter seinen Händen und Knien. Die Zeitungen seufzten. Ich bin ein Landstreicher, stellte Eddie sich vor. Ich fahre als blinder Passagier kreuz und quer durchs Land. Hab' kein Geld, hab' kein Heim. Aber ich hab' eine Flasche und einen Dollar und einen Platz zum Schlafen. Diese Woche werde ich Äpfel ernten und nächste Woche Kartoffeln, und wenn der Frost einsetzt, wenn der Frost die Erde verschließt wie Geld in einer Stahlkammer, dann springe ich auf einen Zug, setze mich in die Ecke eines leeren Waggons, der nach Zuckerrüben riecht, trinke etwas, esse etwas, und früher oder später gelange ich nach Portland oder Boston, und wenn ich nicht von einem der Bahnhofsbullen geschnappt werde, springe ich auf einen anderen Zug und fahre in den Süden, und dort pflücke ich Zitronen, Limonen oder Orangen. Wenn ich aber wegen Landstreicherei aufgegriffen werde, baue ich Straßen, auf denen Touristen fahren können. Ich bin nur ein einsamer alter Vagabund, hab' kein Geld, hob' kein Heim, aber etwas habe ich doch. Ich habe eine Krankheit, die mich auffrißt, meine Haut bricht auf, ich spüre, wie's mir immer schlechter geht, sie frißt mich von innen her auf und...

Er packte die alte Wolldecke vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger, schnitt eine Grimasse, weil sie vor Dreck starrte und stank und zog sie ein Stück zur Seite. Dahinter kam eines der kleinen Kellerfenster zum Vorschein; eine Scheibe war zerbrochen, die andere so schmutzig, daß sie undurchsichtig war. Eddie beugte sich vor; die Faszination war jetzt so stark, daß er sich fast wie hypnotisiert vorkam. Er kroch näher an jene Dunkelheit heran, die nach Alter und Moder und Trockenfäule roch, kroch immer näher an das schwarze Rechteck heran, und er wäre mit Sicherheit gefangen worden, wenn nicht sein Asthma ihn plötzlich überfallen und ihm die Brust mit einem schmerzlosen, aber beängstigenden Druck zusammengepreßt hätte, wodurch sein Atem den vertrauten pfeifenden Ton bekam.

Er lehnte sich etwas zurück, und in diesem Moment tauchte das Gesicht im Kellerfenster auf, das Gesicht des aussätzigen. Eddie konnte nicht einmal schreien. Ihm stockte der Atem. Seine Augen traten fast aus den Höhlen hervor. Sein Unterkiefer klappte herunter. Es war nicht der Landstreicher mit der zerfressenen Nase, aber es gab Ähnlichkeiten. Schreckliche Ähnlichkeiten. Und doch... dies hier konnte kein menschliches Wesen sein. Nichts konnte so zerfressen sein und trotzdem noch leben.

Die Haut auf der Stirn hing in Fetzen herab. Weißer Knochen, überzogen mit einer dünnen schleimigen Masse, schimmerte hervor. Die Nase war eine Brücke aus rohem Knorpel über zwei flammendroten Kanälen. Ein Auge war von funkelndem, heiterem Blau. Das andere war nur noch eine Masse von schwammigem braunschwarzem Gewebe. Die Unterlippe des Aussätzigen hing herab wie ein Stück Leber. Die Oberlippe fehlte völlig; die Zähne standen vor.

Eine Hand des Aussätzigen schoß durch die zerbrochene Scheibe vor. Die andere zerschmetterte die schmutzige Scheibe und schoß ebenfalls vor.

Seine tastenden Hände waren mit schwärenden, eiternden Wunden bedeckt, auf denen Käfer herumkrochen.

Wimmernd und keuchend kroch Eddie rückwärts. Er bekam fast keine Luft. Sein Herz dröhnte in der Brust wie ein Motor. Diese Kreatur schien eine Art silbriges Kostüm zu tragen. In ihrem wirren, struppigen Haar kroch etwas herum.

»Wie war's mit Fliegen, Eddie?« krächzte die Erscheinung und grinste mit ihrem halben Mund. Und dann trällerte sie: »Bobby tut's für nur zehn Cent, jederzeit gern bereit, länger kostet's 15 Cent. Das bin ich, Eddie - Bob Gray. Und nachdem ich mich jetzt korrekt vorgestellt habe...«

Eine Hand des Aussätzigen berührte Eddies rechte Schuhspitze. Er schrie leise auf.

»Alles in Ordnung«, sagte der Aussätzige, und Eddie sah mit alptraum-hafem Entsetzen, daß er sich anschickte, aus dem Kellerfenster zu steigen. Der Knochenschild hinter seiner abblätternden Stirnhaut stieß gegen den dünnen Holzrahmen zwischen den beiden Scheiben. Seine Hände tasteten über die blätterbedeckte Erde unter der Veranda wie plumpe Spinnenbeine. Die silberbekleideten Schultern seines Anzugs - Kostüm - oder was immer es auch war - schoben sich durchs Fenster. Das eine funkelnde blaue Auge starrte Eddie an.

»Hier komme ich, Eddie, das ist ganz in Ordnung«, krächzte er. »Es wird dir hier unten bei uns gut gefallen. Einige deiner Freunde sind schon hier unten.«

Er streckte wieder die Hand aus, und mit einem winzigen Rest seines von panischer Angst beherrschten Verstandes begriff Eddie plötzlich, daß er selbst anfangen würde zu verfaulen, wenn diese Kreatur seine nackte Haut berührte. Dieser Gedanke riß ihn aus seiner Erstarrung. Er rutschte auf Händen und Knien ein Stück zurück, dann drehte er sich um und kroch so schnell er konnte auf das Ende der Veranda zu. Schmale Sonnenstrahlen, die durch Risse in den Verandabrettern fielen, zauberten ein Streifenmuster auf sein Gesicht. Sein Kopf zerriß staubige Spinnweben, die sich in seinem Haar verfingen. Er blickte über die Schulter hinweg und sah, daß der Aussätzige schon halb draußen war.

»Es wird dir nichts nützen wegzurennen, Eddie«, rief der Aussätzige.

Eddie hatte das Ende der Veranda erreicht. Hier war ein Drahtgeflecht angebracht. Ohne zu zögern, warf Eddie sich mit dem ganzen Körper dagegen. Rostige billige Nägel gaben knirschend nach, und das ganze Gitter flog heraus. Dahinter war ein Gestrüpp von Rosenbüschen, und Eddie bahnte sich einen Weg hindurch, ohne die Dornen zu spüren, die ihm Arme, Wangen und Hals zerkratzten.

Dann drehte er sich um und wich mit zitternden Knien weiter zurück. Er zog seinen Aspirator aus der Tasche, schob ihn in den Mund und drückte auf die Flasche. Das war doch bestimmt nicht wirklich passiert? Er hatte an jenen Landstreicher gedacht, und seine Fantasie hatte... hatte ihm einfach....

(einen Streich gespielt)

... einen Film gezeigt, einen Horrorfilm wie die bei den Samstagsmatineen im >Bijou< oder >Aladdin<, wo man Frankenstein und den Wolfsmenschen und die Mumie sehen konnte. Na klar, das war die Erklärung. Du hast einfach Angst gehabt, du Arschloch!

Er hatte sogar noch Zeit, über seine unerwartet blühende Fantasie den Kopf zu schütteln und etwas zittrig zu lachen, bevor die Hände unter der Veranda hervorschossen und mit unvernünftiger Heftigkeit die noch ziemlich frühlingskahlen Rosenbüsche umklammerten, daran zogen, rissen und Blutstropfen darauf zurückließen.

Eddie stieß einen quiekenden Schrei aus.

Der Aussätzige kroch unter der Veranda hervor. Eddie sah, daß er ein Clownskostüm trug - ein Clownskostüm mit großen orangefarbenen Pompons auf der Vorderseite. Er entdeckte Eddie und grinste. Sein halber Mund öffnete sich, die Zunge kam hervor. Eddie quiekte wieder auf, aber niemand hätte den atemlosen leisen Schrei des Jungen durch das Dröhnen der Diesellok auf dem Bahnhof hindurch hören können. Die Zunge des Aussätzigen war etwa vier Fuß lang. Sie lief nach unten hin pfeilförmig zu, und die Spitze schleifte im Schmutz. Schaum, dicker, klebriger, gelber Schaum tropfte von ihr herab. Insekten krabbelten auf ihr herum.

Die Rosenbüsche hatten die ersten Spuren von Frühlingsgrün gezeigt, als Eddie sich einen Weg hindurch gebahnt hatte. Jetzt war das Grün vollständig verschwunden; ihre grünen Blätter waren verdorrt und schwarz.

»Fliegen«, flüsterte der Aussätzige und richtete sich auf.

Eddie rannte auf sein Fahrrad zu. Es war fast die gleiche Situation wie damals, als er vor dem Landstreicher davongerannt war, nur hatte sie jetzt etwas von einem Alptraum an sich, wo man nur entsetzlich langsam vorankommt, obwohl man versucht, ganz schnell zu rennen... und wo man hört, daß Es einem immer näher kommt. Eine wilde Hoffnung durchzuckte ihn plötzlich: vielleicht war das ein Alptraum. Er würde in seinem Bett aufwachen, schweißgebadet, zitternd, vielleicht sogar schreiend... aber lebendig. In Sicherheit.

Rasch verwarf er diesen Gedanken wieder. Ein solcher Trost war verhängnisvoll, tödlich. Es war kein Traum.

Er versuchte nicht, sofort auf sein Rad zu steigen; er packte es an der Lenkstange und rannte damit, den Kopf tief vornübergebeugt.

»Fliegen«, krächzte der Aussätzige wieder. »Komm jederzeit zurück, Eddie.« Kalte, verfaulende Hände schienen seinen Nacken zu berühren, aber vielleicht waren das nur die Spinnweben, die sich in seinem Haar verfangen hatten. Er sprang aufs Rad und trat in die Pedale, so schnell er nur konnte, ohne darauf zu achten, daß ihm die Kehle wieder eng wurde, ohne sich im geringsten um sein Asthma zu kümmern, ohne sich umzuschauen.

Erst als er fast zu Hause war, wagte er einen Blick zurück, und natürlich war niemand hinter ihm her, und in jener Nacht, als er steif im Bett lag und ängstlich in die Dunkelheit starrte, hörte er den Aussätzigen flüstern: Es wird dir nichts nützen wegzurennen, Eddie.

»Wow!« entwich es Richte respektvoll. Es war das erste Wort, das jemand sagte, nachdem Bill seine Geschichte beendet hatte.

»H-H-Hast du noch eine Z-Z-Z-Zigarette, Richie?«

Richie gab ihm die letzte aus der halbvollen Packung, die er aus dem Schreibtisch seines Vaters geklaut hatte, und hielt ihm Feuer hin.

»Du hast das alles nicht nur geträumt, Bill?« fragte Stan plötzlich.

Bill schüttelte den Kopf. »Es war k-k-kein T-T-T-Traum.«

»Eine Realität«, sagte Eddie leise.

Bill warf ihm einen scharfen Blick zu. »W-W-Was?«

»Eine Realität, sagte ich.« Eddie sah ihn fast vorwurfsvoll an. »Es ist wirklich passiert. Es war real.« Und bevor er richtig wußte, was er tat, erzählte Eddie ihnen die Geschichte vom Aussätzigen unter dem Haus in der Neibolt Street 29, am Güterbahnhof. Mitten in seiner Erzählung begann er zu keuchen und mußte seinen Aspirator benutzen. Am Ende brach er in Tränen aus und zitterte am ganzen Leibe.

Alle sahen ihn unbehaglich an, und dann legte Stan ihm eine Hand auf den Rücken, und Bill tat es ihm nach und umarmte Eddie linkisch, während die anderen verlegen zur Seite blickten.

»Ist schon gut, Eddie. Ist ganz o-okay.«

»Ich habe ihn auch gesehen«, sagte plötzlich Ben Hanscom. Seine Stimme war heiser, tonlos und ängstlich.

Eddie blickte auf; sein Gesicht war immer noch tränenüberströmt, seine Augen vom Weinen rot und geschwollen. »Wen?«

»Den Clown«, sagte Ben. »Nur sah er anders aus, nicht so, wie du ihn beschrieben hast. Er war nicht... nicht aussätzig. Er wirkte ganz und gar ausgedörrt.« Er verstummte, senkte den Kopf und betrachtete seine Hände (sie lagen bleich auf seinen Elefantenschenkeln), Dann blickte er wieder hoch und sah sie der Reihe nach herausfordernd an. »Ich glaube, es war die Mumie.«

»Wie in den Filmen?«

»So ähnlich und doch anders«, antwortete Ben langsam. »In den Filmen ist es eine Maskierung. Sie jagt einem Angst ein, aber man kann sich sagen, daß alles nicht echt ist, nicht wahr? Diese ganzen Bandagen - sie sehen zu sauber und neu aus und all so was. Aber dieser Clown... er sah so aus, wie eine echte Mumie aussehen muß, nehme ich an. Abgesehen von seinem Kostüm.«

»W-W-Was für ein K-Kostüm?«

Ben schaute Eddie an. »Ein Silberkostüm mit großen orangefarbenen Knöpfen auf der Vorderseite.«

Eddie sperrte den Mund weit auf. »Sag's bitte, wenn du mich nur aufziehst«, bat er. »Scherz nicht darüber. Ich... träume immer noch von diesem Kerl unter der Veranda.«

»Ich scherze nicht«, sagte Ben und begann, seine Geschichte zu erzählen. Er erzählte langsam, fing damit an, wie er sich erboten hatte, Mrs. Douglas mit den Büchern zu helfen, und endete mit seinen eigenen schlechten Träumen. Er redete langsam, ohne die anderen anzuschauen. Er redete so, als

schämte er sich seines Benehmens. Er hob den Kopf erst wieder, als er seine Geschichte beendet hatte.

»Du mußt geträumt haben«, sagte Richie schließlich. Er sah, wie Ben zusammenzuckte und fuhr hastig fort: »Nimm's nicht persönlich, Big Ben, aber du weißt doch selbst, daß Ballons, na ja, daß Ballons nicht gegen den Wind fliegen können...«

Richie sah betrübt zu Bill hinüber. Ben zu beschuldigen, er hätte nur geträumt, war eine Sache; Bill zu beschuldigen, eine ganz andere. Bill war ihr Anführer, der Junge, zu dem sie alle aufschauten. Niemand sagte das laut; das war auch gar nicht notwendig. Aber Bill hatte Ideen, er konnte sich immer etwas Interessantes ausdenken, was man an einem regnerischen Tag tun konnte, er erinnerte sich an Spiele, die andere längst vergessen hatten. Und in gewisser Weise spürten sie alle, daß Bill etwas beruhigend Erwachsenes an sich hatte - vielleicht war es das Gefühl, daß man sich auf Bill verlassen konnte, daß er die Verantwortung übernehmen würde, wenn es notwendig wäre. Die Wahrheit war, daß Richie Bills Geschichte glaubte, so verrückt sie sich auch anhörte. Und daß er Bens Geschichte vielleicht nicht glauben wollte... und Eddies ebensowenig.

»Dir selbst ist so was Ähnliches noch nie passiert, was?« fragte Eddie.

Richie schüttelte den Kopf. »Das Ekelhafteste, was ich in letzter Zeit gesehen habe, war Mark Prenderlist, der sich im McCarron-Park nach allen Regeln der Kunst ausschiß. Das widerlichste Dreckschwein, das es gibt.«

»Und was ist mit dir, Stan?« fragte Ben.

»Nein«, antwortete Stan und wandte den Blick ab. Sein schmales Gesicht war bleich, seine Lippen so fest zusammengepreßt, daß sie weiß waren.

»W-W-War da v-v-v-vielleicht doch was, Stan?« fragte Bill.

»Nein, hab' ich gesagt.« Stan stand auf und ging zum Ufer.

»Nun komm schon, Stan-lee«, rief Richie in schrillem Falsett. Auch das war eine seiner Stimmen: die >Zeternde Oma<. Wenn er mit der Stimme der >Zeternden Oma< sprach, humpelte Richie herum, eine Faust auf dem Rük-ken, und schwatzte eine Menge. Dabei hörte er sich allerdings immer noch fatal wie Richie Tozier an.

»Nun beicht schon, Stanley, erzähl deiner Oma von dem böööösen Clown, und ich werd' dir ein Schokoladenplätzchen geben. Nun komm schon, er-zähl's...«

»Halt die Klappe!« brüllte Stan plötzlich und wirbelte herum, so daß Richie vor Erstaunen ein paar Schritte zurückwich. »Halt doch endlich deine Klappe!«

»Okay, Boß«, sagte Richie und setzte sich wieder. Er sah Stan mißtrauisch an. Stan hatte hektische Flecken auf den Wangen, aber er sah immer noch eher verängstigt als verrückt aus.

»Ist schon gut, Stan«, sagte Eddie leise. »Mach dir nichts draus.«

»D-D-Du kannst es uns r-r-r-r-ruhig erzählen«, sagte Bill, ebenfalls leise. »W-Wir haben es ja auch g-g-getan.«

»Es war kein Clown. Es war...«

In diesem Augenblick wurden sie unterbrochen. Sie sprangen alle wie von einer Tarantel gestochen auf, als sie Mr. Nells whisky-heisere Stimme brüllen hörten: »Je-sus Maria und Josef! Verdammt und zugenäht! Leck mich doch am Arsch und schau sich einer mal diese verfluchte Scheiße an!«

Achtes Kapitel Georgies Zimmer und das Haus an der Neibolt Street 1

Richard Tozier schaltet das Radio aus, fährt an den Straßenrand, stellt den Motor des Mustangs ab, den Carol am internationalen Flughafen von Bangor für ihn bei Avis vorbestellt hat, und steigt aus. Er hört seine Atemzüge - kurzes, tiefes, lautes Luftholen, und er spürt die Gänsehaut auf seinem Rücken. Er geht nach vorne und legt eine Hand auf die Motorhaube des Wagens. Er hört das leise Ticken des Motors, während dieser sich abkühlt. Ein Eichelhäher schreit, verstummt aber gleich wieder. Ansonsten herrscht völlige Stille. Es ist der Moment zwischen Dunkelheit und Dämmerung; der Tag kündigt skh schon an. Richie hat gerade die Stadtgrenze von Derry passiert. Es hat 25 Jahre gedauert, aber nun ist er nach Hause zurückgekehrt.

Ein scharfer, brennender Schmerz in seinen Augen reißt ihn aus seiner Nachdenklichkeit heraus. Er stößt einen Schrei aus und will sich unwillkürlich an die Augen greifen. Den Bruchteil einer Sekunde lang verspürt er Angst. Das einzige Mal, dass er etwas Ähnliches wie diesen brennenden Schmerz verspürt hat, war im College, als eine Wimper unter seine Kontaktlinse geriet - und auch das war nur in einem Auge gewesen. Noch bevor seine Hände sein Gesicht erreicht haben, ist der Schmerz vorüber. Langsam läßt er sie wieder sinken und blickt die Route 7 entlang. Er hat die Autobahn an der Ausfahrt Etna-Dixmont verlassen; aus irgendeinem ihm selbst unverständlichen Grund wollte er nicht direkt bis Derry auf der Autobahn fahren, die auf jenem Abschnitt noch im Bau gewesen war, als seine Familie und er den Staub dieser Stadt von sich abschüttelten und wegzogen. Nein, er wollte nicht auf der Autobahn zurückkehren, obwohl es schneller gegangen wäre. Deshalb ist er an der Ausfahrt Etna-Dixmont abgebogen und hat zuerst Route 2, Maines wichtigsten Ost-West-Highway, und dann Route 7 eingeschlagen. Langsam ist die Dunkelheit gewichen, und seine Scheinwerfer waren auf dem Asphalt nur noch schwach zu sehen. Schließlich hat er sie ausgeschaltet und ist im stillen rosigen Schimmer der anbrechenden Morgendämmerung dahingefahren - und kurz darauf hat er am Straßenrand das kleine Schild auf grünem Pfosten gesehen. Es war genauso wie all die ändern, die an den Stadtgrenzen der mehr als 600 Städte Maines aufgestellt sind, und doch - wie hat dieses Schild ihm plötzlich ans Herz gegriffen!

Penobscot

County

D

E

R

R

Y

Darunter eine >Elks<-Plakette, ein Schild des >Rotary Club< und - aller guten Dinge sind drei - ein >Lions<-Schild Dahinter ßhrte die Route 7 unverändert geradeaus, durch den Nadelwald. In diesem seltsamen stummen Licht bei Tagesanbruch sahen die Bäume so unwirklich aus wie blaugrauer Zigarettenrauch in der stehenden Luft eines stillen Zimmers.

Derry, dachte Rich. Gott steh mir bei.

Er befindet sich auf Route 7. Noch fünf Meilen, und er wird an der Farm der Rhulins vorbeifahren - wenn es sie noch gibt -, wo seine Mutter immer Eier und Gemüse kaufte. Zwei Meilen weiter ging die Route 7 in die Witcham Road über, und kurz danach würde er die Farm der Bowers zur Rechten und das alte Haus der Hanions zur Linken passieren. Und nach weiteren ein-zwei Meilen würde er links von sich den Kenduskeag funkeln sehen, und dann würde das grüne Dickicht in Sicht kommen. Die Barrens.

Ich weiß nicht, ob ich das alles ertragen kann, denkt Richie. Die ganze Nacht ist wie im Traum vergangen; solange er unterwegs gewesen ist, sich vorwärtsbewegt hat, hielt dieser Traum an. Aber nun ist er vorüber; die Wirklichkeit bricht wieder über ihn herein. Er kann sich der Erinnerungen nicht erwehren, und diese Erinnerungen werden ihn schließlich um den Verstand bringen, denkt er, und er beißt sich auf die Unterlippe und preßt seine Hände fest gegeneinander, so als wollte er damit verhindern, gespalten zu werden. Er fühlt, daß das bald geschehen wird, und obwohl ein kleiner, verrückter Teil von ihm sich direkt auf die bevorstehenden Ereignisse freut, wird er doch im wesentlichen von der wahnsinnigen Angst beherrscht, wie er die nächsten Tage überstehen soll. Er...

Ein Hirsch tritt auf die Straße heraus.

Rich hält einen Augenblick lang den Atem an. Er betrachtet das Tier, und irgendwie kommt ihm dieses plötzliche Auftauchen wie ein Wunder vor.

Der Hirsch erweist sich als Reh, das aus dem Wald rechts von der Straße gekommen ist. Mitten auf der Route 7 bleibt es stehen, die Vorderläufe auf einer Seite der durchbrochenen gelben Linie, die Hinterläufe auf der anderen. Mit seinen sanften dunkelbraunen Augen betrachtet es Rich Tozier aufmerksam, aber ohne Angst.

Vielleicht ist das ein Zeichen oder ein Omen oder irgend so was, denkt Rich. Und plötzlich fällt ihm völlig unerwartet Mr. Neu ein. Wie hat der Mann sie an jenem Tag erschreckt, als er im Anschluß an Bills Geschichte und Bens Geschichte und Eddies Geschichte plötzlich wie ein Donnergott vor ihnen stand! In diesem Augenblick wären sie alle heilfroh gewesen, wenn sie in den Erdboden hätten versinken können.

Die Augen immer noch auf das Reh gerichtet, holt Rich tief Luft und spricht plötzlich mit einer seiner stimmen ... zum erstenmal seit über 25 Jahren mit der Stimme-des-irischen-Bullen, die er nach jenem denkwürdigen Tag in sein Repertoire aufgenommen hatte.

Sie zerreißt die Stille lauter und mächtiger, als Rich je geglaubt hätte: »Jesus, Maria und Josef! Verdammt noch mal! Was macht ein so hübsches Rehmädchen wie du nur hier draußen in dieser Wildnis? Jesus, Maria und Josef!«

Noch bevor das Echo verklungen ist, noch bevor der erste aufgeschreckte Eichelhäher sich lautstark über sein Sakrileg empört, hat das Reh seinen Spiegel hochgestellt und ist zwischen den gespenstischen Kiefern auf der linken Straßenseite verschwunden; nur ein kleines dampfendes Häuflein Kot ist zurückgeblieben, sozusagen als Beweis dafür, daß Richie Tozier auch mit 37 Jahren noch zu beeindruckenden Leistungen imstande ist.

Rich beginnt zu lachen. Zuerst schmunzelt er nur, und dann kommt ihm sein lächerliches Benehmen voll zu Bewußtsein - hier steht er in der Morgendämmerung in Maine, 3400 Meilen von seinem Wohnort entfernt, und brüllt mit der Stimme eines irischen Bullen ein Reh an. Das Schmunzeln wird zum Kichern, das Kichern wird zum schallenden Gelächter, und schließlich lacht er Tränen und muß sich an seinem Auto festhalten.

Jedesmal, wenn er sich gerade ein wenig unter Kontrolle gebracht zu habenglaubt, fällt sein Blick auf das kleine Häuflein Kot, und er bekommt einen neuen hysterischen Lachanfall.

Schnaubend und immer noch kichernd steigt er schließlich wieder in den Mustang und läßt den Motor an. Ein mit Holz beladener Lastwagen braust in einer Staubwolke vorbei. Danach fährt Richie los, aufDerry zu; erfühlt sich jetzt besser, er hat sich wieder unter Kontrolle... vielleicht liegt das aber auch nur daran, daß er sich wieder vorwärtsbewegt, Meilen zurücklegt.

Seine Gedanken schweifen wieder zurückzu Mr. Nell und jenem Tag am Damm. Er hört Mr. Nell fragen, wer von ihnen der Schlaumeier gewesen sei, der sich dieses Ding ausgedacht habe. Er sieht sich selbst und die anderen dastehen und unbehaglich Blicke wechseln, und er erinnert sich genau, wie Ben schließlich vortrat, mit bleichen Wangen und gesenkten Augen; sein Gesicht zitterte vor Anstrengung, nicht in Tränen auszubrechen. Der arme Kerl dachte vermutlich, daß ihm fünf bis zehn Jahre Gefängnis blühten, denkt Richie jetzt, aber er bekannte sich trotzdem dazu. Er übernahm die Verantwortung. Und indem er das tat, zwang er sie alle irgendwie dazu, sich auch zu dieser Tat zu bekennen. Andernfalls wären sie schlechte Kameraden gewesen.. Feiglinge. AH das, was ihre Fernsehhelden nicht waren. Und das hatte sie zusammengeschweißt, für gute und für böse Zeiten. Es hatte sie offenbar für 27 Jahre oder noch länger zusammengeschweißt. Ein Dominostein fügt sich an den anderen und so weiter und so fort. Vielleicht hatte alles in Wirklichkeit damit angefangen, daß Bill ihnen erzählt hatte, wie sein Bruder auf dem Schulfoto den Kopf gedreht und ihn angeschaut hatte. Aber Richie hatte den Eindruck, als hätte es damit begonnen, daß Ben Hanscom vortrat und sagte:

»Ich habe ihnen gezeigt,

2

wie man es machen muß. Es ist meine Schuld.«

Mr. Nell stand da und starrte ihn an, die Hände an seinem schwarzen Ledergürtel, so als könne er das alles nicht glauben. Er war ein stämmiger Mann, mittelgroß, in blauer Uniform. Obwohl er erst 43 oder 44 Jahre alt war, hatte er schon graues Haar, das in ordentlichen Wellen zurückgekämmt war. Er hatte blaue Augen und eine rote Nase. Auf seinen Wangen waren geplatzte Äderchen zu sehen. Er war Junggeselle und - eigentlich überflüssig zu erwähnen - so irisch wie die Stadt, von der Derry seinen Namen hatte.

Er setzte gerade zum Sprechen an, als Bill Denbrough ebenfalls vortrat und sich neben Ben stellte.

»Es w-w-war m-m-m-m-meine Idee«, stammelte er. Dann holte er tief Luft, und während Mr. Nell dastand und ihn mit unbewegtem Gesicht anschaute, stotterte Bill mühsam hervor, was er noch zu sagen hatte: daß Ben nur zufällig vorbeigekommen sei und ihnen gezeigt habe, wie man es richtig machen müsse. Sie seien aber schon vorher damit beschäftigt gewesen, einen Damm zu bauen.

»Ich auch«, sagte Eddie.

»Was heißt dieses >ich auch

Eddie errötete heftig bis zu den Haarwurzeln. »Ich war mit Bill zusammen«, erklärte er. »Noch bevor Ben kam.«

Nun trat auch Richie vor. Ihm fiel plötzlich ein, Mr. Nell mit einer seiner Stimmen aufzuheitern, auf andere - fröhliche - Gedanken zu bringen, aber nach einem zweiten Blick auf Mr. Nells Gesicht entschied er, daß das keine sehr gute Idee war. So beschränkte er sich auf ein: »Ich habe auch mitgemacht.«

»Und ich ebenfalls«, fügte Stan hinzu.

Die fünf Jungen standen in einer Reihe nebeneinander. Ben schaute sie an, völlig fassungslos über ihre Unterstützung. Einen Augenblick lang glaubte Richie, der gute alte Haystack würde in Tränen der Dankbarkeit ausbrechen.

»Mein Gott«, sagte Mr. Nell und sah aus, als müßte er sich mühsam das Lachen verkneifen. »Ihr fünf Jungs seid ja das reinste Häuflein Elend. Wenn eure Leute wüßten, was ihr hier getrieben habt, dürften heute abend ein paar Riemen ganz schön was zu tun haben!«

Richie konnte sich einfach nicht länger beherrschen. In Augenblicken wie diesem wußte er normalerweise - nicht immer, aber doch meistens -, daß es besser wäre, still zu sein, aber er brachte das einfach nicht fertig. Es war so, als seien er und Stotter-Bill auf eine eigenartige Weise verbale Negative voneinander.

»Wie steh'n die Dinge in der alten Heimat, Mister Nell? Ach, Sie sind 'ne Augenweide, wirklich ein Prachtkerl, ein Trost für meine arme heimwehkranke Seele...«

»In etwa drei Sekunden werde ich dir einen hübschen Trost verabreichen, Tozier«, sagte Mr. Nell trocken.

»Um G-G-Gottes w-w-willen, R-Richie, halt die K-K-Klappe!«

»Ein guter Rat, Bill«, meinte Mr. Nell. »Ich wette, dein Vater weiß nicht, daß du hier unten in den Barrens bist, stimmt's?«

Bill senkte die Augen und schüttelte den Kopf.

Mr. Nell wandte sich Ben zu. »Wie heißt du?«

»Ben Hanscom, Sir«, antwortete er kläglich.

Mr. Nell nickte und betrachtete Bens Damm. »Deine Idee war das also?«

Ben blickte zu Boden und nickte.

»Nun, du bist ein fantastischer Ingenieur, Junge«, sagte Mr. Nell, »aber du hast wahrscheinlich keine Ahnung von den Barrens und dem Abwassersystem von Derry, stimmt's?«

Ben schüttelte den Kopf.

Nicht unfreundlich fuhr Mr. Nell fort: »Es besteht aus zwei Teilen. Feste

menschliche Ausscheidungen - im Klartext Scheiße, wenn ich damit deine zarten Ohren nicht beleidige - werden in den Kenduskeag gepumpt und gelangen von dort in den Penobscot. Du hast doch bestimmt schon einmal die Pumpstationen gesehen? Runde Betondinger mit durchlöcherten Dek-keln?« Ben nickte wieder, den Blick immer noch zu Boden gerichtet.

»Nun, dort hast du Gott sei Dank keine Probleme verursacht; weil es nicht der Kenduskeag war, den du eingedämmt hast. Aber alle anderen Abwasserkanäle arbeiten nach dem Prinzip der Schwerkraft. Dort fließt der größte Teil des städtischen Abwassers. Wasser aus den Toiletten und Badewannen und Spülen und so weiter. All diese Abwasserkanäle verlaufen hü-gelabwärts. Und ich brauche dir wohl nicht zu erzählen, wo sie enden?«

»In den Barrens«, flüsterte Ben heiser. Dicke Tränen rollten ihm langsam über die Wangen. Mr. Nell tat so, als sähe er das nicht.

»Stimmt genau, Junge. In den Barrens. Das Abwasser fließt aus den Kanälen in diese Bäche und dann in den Kenduskeag, und das ohne jede Pumpe; die Schwerkraft erledigt die ganze Arbeit. Nun, dieses Wasser, in dem ihr herumgewatet seid, besteht zu mindestens zehn Prozent aus menschlicher Pisse. Was sagt ihr dazu?«

Alle Jungen schauten angeekelt an sich herunter. Das heißt, alle außer Ben, der ein Bild totalen Elends bot. Eddie holte seinen Aspirator hervor und drückte auf die Flasche.

»Ihr habt nun mit eurem Damm das Wasser in etwa sechs Rohren aufgestaut, in welche die Witcham Street, die Jackson Street und vier oder fünf kleine Straßen dazwischen ihr Abwasser leiten«, fuhr Mr. Nell fort. Er warf Bill Denbrough einen trockenen Blick zu. »Euer Haus gehört auch dazu, mein Junge. Und da haben wir dann die Bescherung - Spülen, die nicht ablaufen, Toiletten, die überlaufen und in denen die Scheiße rumschwimmt, Waschmaschinen, die nicht arbeiten, Abflußrohre, deren Brühe sich fröhlich in Kellern ergießt...«

Ben schluchzte laut auf. Die anderen blickten verlegen beiseite. Mr. Nell legte dem Jungen sanft seine große Hand auf die Schulter.

»Nun, nimm's dir nicht so zu Herzen, mein Junge. Man hat mich hergeschickt, damit ich nachschaue, ob vielleicht ein großer Baum umgestürzt ist und sich quer über den Bach gelegt hat. Das passiert nämlich ab und zu. Ich werde diese Sache nicht an die große Glocke hängen. Wir haben wirklich ernstere Sorgen als ein bißchen gestautes Wasser.« Die fünf Jungen verstanden sofort die Anspielung auf die Mordserie. »Ich werde einfach berichten, daß einige Jungs gerade vorbeigekommen sind und mir geholfen haben, den Baum zu entfernen. Eure Namen werde ich überhaupt nicht erwähnen. Ihr braucht keine Angst zu haben, wegen Dammbaus in den Barrens Vorladungen zu bekommen.«

Er betrachtete die fünf Jungen. Ben wischte sich mit seinem Taschentuch das Gesicht ab; Bill blickte nachdenklich zum Damm hinüber; Eddie hielt seinen Aspirator in einer Hand; Stan stand dicht neben Richie und hatte ihm eine Hand auf den Arm gelegt, um sofort fest zupacken zu können, wenn Richie den Mund aufmachen wollte.

»Ihr Jungs habt hier unten sowieso nichts zu suchen«, sagte Mr. Nell und schaute sich um. »Vermutlich kann man sich hier unten sechzig Dutzend verschiedener Krankheiten holen. Drüben die Müllhalde; diese Bäche voll Abwasser, Spülwasser und Unrat; Insekten, Moskitos... es ist ein schlechter Platz zum Spielen, Jungs.«

»U-U-Uns g-gefällt es h-h-hier«, sagte Bill plötzlich trotzig. Die anderen schauten überrascht und etwas besorgt auf, aber Mr. Nell wurde nicht ärgerlich. Er nickte Bill zu, und um seine Lippen spielte ein kleines Lächeln. »Ja«, sagte er. »So ging's mir auch, als ich ein Junge war. Ich verbiet's euch ja auch nicht. Aber sperrt jetzt mal eure Ohren auf. Paßt gut auf, was ich euch jetzt sage.« Er hob den Zeigefinger, und sie sahen ihn alle ernst an, sogar Ben. »Wenn ihr zum Spielen hierherkommt, so dürft ihr das nur zusammen tun, habt ihr mich verstanden?«

Sie nickten.

»Das bedeutet wirklich zusammen«, fuhr Mr. Nell fort. »Kein VersteckenSpielen, bei dem ihr euch trennt. Ihr wißt alle, was in dieser Stadt vorgeht. Irgendwer - irgendein gemeiner perverser Mörder hat eine besondere Vorliebe für junges Gemüse wie ihr es seid. Ich verbiete euch nicht herzukommen, weil ihr es trotzdem tun würdet. Aber ich sag' euch zu eurem eigenen Wohl - bleibt zusammen, wenn ihr irgendwo hier unten seid.« Er schaute Bill an. »Haben Sie irgendwelche Einwände, Mr. Stotter-Bill Denbrough?«

»N-N-Nein, Sir«, sagte Bill. »W-W-Wir w-werden z-z-zu...«

»Das genügt mir«, fiel Mr. Nell ihm ins Wort. »Gib mir deine Hand drauf.«

Bill streckte seine Hand aus, und Mr. Nell schüttelte sie.

Richie gelang es, Stans Hand abzuschütteln. Er trat vor. »Ein Pfundskerl sind Sie, Mr. Nell, eine Seele von Mensch, das sind Sie wirklich! Ein feiner Mann! Ein wirklich feiner, feiner Kerl!« Er packte Mr. Nells große Pranke und schwenkte sie wild, wobei er die ganze Zeit grinste. Dem verwirrten Mr. Nell kam er wie eine gräßliche Parodie von Franklin Roosevelt vor.

»Danke, Junge«, sagte er und zog seine Hand zurück. »Du solltest noch ein bißchen daran arbeiten. Bis jetzt klingst du in etwa so irisch wie Groucho Marx.«

Die anderen Jungen lachten erleichtert. Aber Stan warf Richie trotzdem einen vorwurfsvollen Blick zu.

Mr. Nell schüttelte ihnen allen die Hand, Ben zuletzt.

»Du brauchst dich wirklich nicht zu schämen, Junge. Du hast einfach nicht gewußt, was für Konsequenzen dein Handeln haben würde, das ist alles. Hast du in einem Buch gesehen, wie man so was macht?«

Ben schüttelte den Kopf.

»Du hast es dir einfach so ausgedacht?«

»Ja, Sir.«

»Na, da schnall doch einer ab! Du wirst eines Tages große Dinge vollbringen, daran zweifle ich nicht. Aber die Barrens sind nicht der richtige Ort dafür.« Er blickte nachdenklich in die Runde. »Hier wird nie etwas Großes vollbracht werden. Gräßlicher Ort.« Er seufzte. »Also, Jungs, reißt alles nieder. Ich glaube, ich setz' mich einfach unter diesen Busch und ruh' mich ein bißchen aus.«

Die Jungen machten sich an die Arbeit; sie ließen sich wieder von Ben Anweisungen geben, wie man am schnellsten niederreißen konnte, was sie ge-

baut hatten. Mr. Nell holte inzwischen eine kleine braune Flasche aus seinem Hemd und trank einen großen Schluck. Dann stieß er zischend die Luft aus.

»Und was ist das wohl, Sir?« fragte Richie vorwitzig von seinem Platz aus

- er stand knietief im Wasser.

»Richie, halt die Klappe!« zischte Eddie.

»Das?« sagte Mr. Nell und betrachtete die kleine Flasche, die keinerlei Aufschrift trug. »Das ist die Hustenmedizin der Götter, mein Junge. Und jetzt beweg mal deine lahmen Knochen!« Mr. Nell genehmigte sich noch einen Schluck seiner Hustenmedizin und schob die Flasche dann wieder in sein Hemd.

»Da geht der niedrigste dahin!« schrie Ben, und mit einer kleinen Flutwelle schoß Wasser in das fast trockene Bachbett. Sie machten sich an den mittleren Dammabschnitt. Ben erklärte, wo sie stehen und wo sie anpacken sollten. Mr. Nell saß am Ufer, beobachtete sie, ruhte seine Füße aus und bewunderte die Sicherheit des Jungen. Er war zwar ein Fettkloß, aber er wußte ganz genau, was er tat, daran bestand gar kein Zweifel. Er hatte die unbewußte Selbstsicherheit der ganz Jungen und der Hochbegabten. Vielleicht würde er eines Tages tatsächlich große Dinge vollbringen. Mit größerer Wahrscheinlichkeit jedoch nicht. Mr. Nell glaubte, daß die Hochbegabten einen größeren Prozentsatz der Bevölkerung bildeten als allgemein angenommen wurde. In den meisten Fällen führte diese Begabung aber zu nichts; sie stahl sich eines Nachts hinweg - oder in einer Reihe von Nächten und war dann für immer verschwunden. Hatte nicht seine eigene Mutter ihm erzählt, daß er als Kind wie eine Nachtigall gesungen hatte? Mr. Nell zog die kleine braune Flasche wieder heraus und nahm noch einen kleinen Schluck von seiner Hustenmedizin, in sentimentale Gedanken an seine Mutter versunken.

3

Einige Stunden später gingen Bill und Richie die Witcham Street entlang, auf die Kreuzung an der Jackson Street zu. Bill schob Silver; er war zu müde, um zu fahren. Beide Jungen waren schmutzig und zerzaust und ziemlich erschöpft. Nachdem sie den Damm niedergerissen hatten, und das Wasser wieder dahinfloß wie eh und je, hatte Mr. Nell darauf bestanden, daß sie die Bretter zur Müllhalde trugen. Jeder von ihnen nahm also ein paar, und in einer kleinen Prozession legten sie den gewundenen, zweieinhalb Meilen langen Pfad zur riesigen Kiesgrube zurück, wo der größte Teil von Derrys Müll landete.

Sie hielten sich dort nicht lange auf; sie warfen nur die Bretter hinein und beobachteten, wie sie nach unten schlitterten, wo träge Feuerzungen durch den Abfall krochen. Bei anderer Gelegenheit wären sie vermutlich eine Weile hiergeblieben - die Müllhalde hatte ihre eigene Anziehungskraft -, aber nun stapften sie gleich wieder den Pfad entlang. Richie ßonnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so müde gewesen war.

Stan fragte, ob sie Lust hätten, mit ihm zu kommen und Monopoly oder

Parcheesi oder sonstwas zu spielen, aber sie lehnten alle ab. Ben sagte, er wolle nach Hause gehen und nachschauen, ob jemand vielleicht seine Büchereibücher abgegeben hatte. Diese Hoffnung war nicht ganz unberechtigt, denn die Bücherei schrieb nicht nur den Namen des Entleihers auf die Karte hinten im Buch, sondern auch seine Adresse. Eddie sagte, er wolle sich im Fernsehen >Bandstand< anschauen, und Stan beschloß, ihn zu begleiten.

Richie ging weiter neben Bill her. Sie redeten nicht viel. Richte dachte über Bills Geschichte von dem Foto nach, auf dem Georgie den Kopf gedreht und gezwinkert hatte. Und trotz seiner Müdigkeit kam ihm plötzlich eine Idee. Sie war verrückt... aber auch faszinierend.

»Billy«, rief er. »Halt mal einen Augenblick an. Ich muß mal verschnaufen.«

Sie kamen gerade am Theologischen Seminar von Derry vorbei. Bill legte Silver vorsichtig auf den grünen Rasen, und die beiden Jungen setzten sich auf die breiten Steinstufen, die zu dem ausgedehnten roten viktorianischen Gebäude führten, in dem die Verwaltung des Seminars untergebracht war.

»W-W-Was für ein Tag!« sagte Bill verdrießlich. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen. Sein Gesicht sah bleich und abgespannt aus.

»Ja. Das kann man wohl sagen. Hör mal, Big Bill...«

Richie schwieg einen Moment und dachte an Bens Mumie, Eddies Aussätzigen ... und an das, was Stan Uris ihnen fast erzählt hätte. Flüchtig schoß ihm noch etwas anderes durch den Kopf, und er hatte die Statue von Paul Bunyan vor Augen, Aber das war nur ein Traum gewesen, weiter nichts.

»Gehen wir zu euch und werfen einen Blick in Georgies Zimmer. Ich möchte dieses Foto sehen. Was hältst du davon?«

Bill sah Richie entsetzt an. Er versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Statt dessen schüttelte er heftig den Kopf.

»Du hast Bens Geschichte gehört. Und Eddies. Glaubst du an das, was sie gesagt haben?«

Bill dachte darüber nach. »I-I-Ich w-w-weiß n-nicht«, sagte er schließlich. »Ich d-d-denke, daß sie e-etwas g-g-gesehen haben m-m-m-müssen.«

»Ja«, sagte Richie. »Das glaube ich auch. Und all die Kinder, die ermordet worden sind, angefangen mit Georgie. Ich denke mir, daß sie vielleicht auch etwas gesehen haben. Vielleicht jenen Clown. Und vielleicht besteht der einzige Unterschied zwischen diesen Kindern und Eddie und Ben darin, daß Eddie und Ben nicht erwischt wurden.«

Bill hob die Augenbrauen, zeigte aber keine große Überraschung. Das hatte Richie auch nicht erwartet. Er hatte vermutet, daß Bill mit seinen Überlegungen selbst schon soweit gekommen war. Er konnte zwar nicht gut reden, aber er war alles andere als ein Dummkopf.

»Und jetzt denk mal weiter, Big Bill«, sagte Richie. »Ein Mann könnte sich in ein Clownskostüm verkleiden und Kinder ermorden. Ich weiß zwar nicht, wozu er das tun sollte, aber es wäre möglich. Der Unterschied zum Joker in einem Batman-Comic oder zum Penguin oder irgend so was ist nicht allzu groß.« Darüber zu reden, seine eigenen Ideen auszusprechen, erregte Richie. Er fragte sich kurz, ob er tatsächlich etwas zu beweisen versuchte oder nur einen Wortschwall von sich gab, um das Zimmer und jenes Schulfoto sehen zu können. Um festzustellen, ob es seine verrückten Tricks auch bei ihm versuchen würde. Aber seine Motive waren letztlich vielleicht gar nicht so wichtig. Er sah, daß eine Erregung, die seiner eigenen sehr ähnlich war, in Bills Augen aufglomm, und das verlieh ihm ein Gefühl der Macht.

»A-A-Aber wie p-paßt das F-F-Foto da hinein?« fragte Bill.

»Genau das habe ich mir auch gerade überlegt«, sagte Richie. »Was glaubst denn du, Billy?«

Leise, ohne Richie anzuschauen, erwiderte Bill, er glaube, daß es überhaupt nicht dazupasse. »Ich g-g-glaube, daß ich Georgies G-G-G-Geist gesehen habe.«

»Auf einem Foto? Einem Schulfoto?« fragte Richie nachdenklich.

Bill nickte.

Richie dachte darüber nach. Seinem kindlichen Verstand bereitete die Vorstellung von Geistern keinerlei Schwierigkeiten. Er war sich sicher, daß es solche Dinge gab; erst mit zunehmendem Alter würden ihm daran Zweifel kommen, würde er Probleme damit haben, diese Vorstellung irgendwie mit Logik unter einen Hut zu bringen. Seine Eltern waren Methodisten, und Richie ging jeden Sonntag in die Kirche, und donnerstags besuchte er die methodistischen Jugendabende. Er kannte sich schon ganz gut in der Bibel aus, obwohl der Inhalt- Dinge wie »Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen« und »Lazarus, komm heraus!« - ihm über die buchstäbliche Aussage hinaus noch wenig sagten. Wenn ihn jemand gefragt hätte, so hätte er geantwortet, in der Bibel stehe, es gäbe Zauberinnen, und Jesus habe einen Mann auferweckt, der drei Tage in seinem Grab gelegen sei. Richies Verstand, der bis vor vier Jahren auf ganz ähnliche Weise den Weihnachtsmann akzeptiert hatte, war noch nicht verwirrt durch die Notwendigkeit der Interpretation. Er sah alles noch ganzheitlich.

Und deshalb glaubte er sofort, daß Bills Vermutung völlig richtig sein konnte. Der Clown (oder jemand anders) hatte Georgie umgebracht, und jetzt war Georgies Seele auf irgendeine Weise in sein Schulfoto geschlüpft.

»Aber du sagtest doch, du hättest Angst gehabt«, sagte Richie. »Warum sollte Georgie dir denn Angst einjagen wollen, Bill?«

Bill fuhr sich mit der Hand über den Mund. Seine Hand zitterte dabei ein wenig. »E-Er ist w-w-wütend auf mich«, sagte er. »W-W-Weil er ermordet wurde. Es war m-m-m-meine Schuld. Ich hab' ihn m-mit dem B-B-B-B...« Er brachte das Wort >Boot< nicht heraus, aber Richie verstand ihn auch so. Er nickte.

»Das glaube ich nicht«, wandte er dann ein. »Wenn du ihn von hinten erstochen oder ihn erschossen hättest, wäre es etwas anderes. Oder wenn du ihn rausgeschickt hättest, damit er umgebracht wird. Aber in Wirklichkeit«

- Richie hob einen Finger wie ein Rechtsanwalt - »in Wirklichkeit wolltest du doch nur, daß er rausgeht und Spaß hat und sich freut. Stimmt's?«

Bill dachte angestrengt nach. Richies Worte hatten ihm gutgetan, er hatte sich in bezug auf Georgies Tod besser gefühlt als seit Monaten, und ein Teil von ihm bestand mit ruhiger Beharrlichkeit darauf, daß er sich nicht besser fühlen durfte. Andernfalls gäbe es nicht jenen kalten Platz zwischen seinen

Eltern auf der Couch. Es gäbe nicht jene schweigsamen Mahlzeiten, jene vagen Blicke, wenn er etwas über einen seiner Freunde oder über seine Schularbeiten berichtete, so als sei er der Geist, der zwar redete und sich bewegte, aber nicht gehört und gesehen wurde - nur vage gespürt. Seine Schuld zu leugnen hieß, Ursache und Wirkung zu leugnen... oder, was noch schlimmer war, zu unterstellen, daß die Liebe und Aufmerksamkeit, die seine Eltern ihm früher geschenkt hatten, irgendwie nur das Resultat von Georgies Gegenwart gewesen waren und nach Georgies Tod für ihn nichts übriggeblieben war... und das völlig grundlos. Und wenn man sein Ohr an diese Tür lehnte, konnte man draußen die Flügel des Wahnsinns hören.

Deshalb überlegte er verzweifelt, was er an Georgies Todestag getan, was der gefühlt hatte; er suchte nach den negativen Gefühlen, die es gegeben haben mußte, nach Eifersucht, nach Haß. Sie hatten oft Streit gehabt, Georgie und er; bestimmt hatten sie sich auch an jenem Tag gestritten.

Aber sie hatten sich nicht gestritten. Er hatte gehört, wie Georgie im Eßzimmer unglücklich vor sich hin murmelte, und er hatte ihn gefragt, was los sei. Georgie hatte gesagt, er versuche, ein Boot zu machen, wie es in seinem Bastelbuch gezeigt würde, er könne es aber nicht richtig falten. Und Bill, der im Bett lag, ein wenig Fieber hatte und sich furchtbar langweilte, hatte Georgie gesagt, er solle ihm sein Buch bringen. Und während er jetzt neben Richie auf den Stufen saß, konnte er sich noch genau erinnern, wie Georgies Augen geleuchtet hatten, als das Boot aus Zeitungspapier gelang, und wie gut ihm dieser Blick getan hatte, der besagte, daß Georgie ihn für einen tollen Kerl hielt, für einen patenten Bruder, der alles konnte. Jenes Boot hatte Georgie umgebracht, aber Bill hatte nicht gewußt, daß das passieren würde. Er hatte nur gewußt, daß Georgie sich über das Boot freute, daß es ihn glücklich machte.

Ganz plötzlich brach Bill in Tränen aus.

Erschrocken schaute sich Richie nach allen Seiten um, ob jemand in der Nähe war; dann legte er den Arm um Bills Schultern.

»Ist schon gut«, murmelte er. »Ist schon gut, Billy. Beruhige dich.«

»Ich w-w-w-wollte nicht, d-daß er e-e-erm-m-mordet wird!« schluchzte Bill. »Das w-war nicht m-meine Absicht!«

»Mein Gott, Billy, das weiß ich doch«, sagte Richie. Er tätschelte ungeschickt Bills Schulter. »Nun komm, hör auf zu weinen. Ist schon gut.«

Allmählich beruhigte sich Billi wieder. Er litt immer noch, aber es war ein irgendwie reiner Schmerz: es war ein Schmerz, der dadurch entstanden war, daß er etwas von überwältigender Bedeutung herausgefunden hatte.

»Ich w-w-wollte nicht, daß er g-g-getötet wird«, wiederholte er seine Erkenntnis noch einmal. »U-U-Und wenn du je-je-jemandem erzählst, daß ich g-g-geheult habe, schlag ich d-dir die N-N-Nase ein.«

»Ich erzähl's keinem«, versicherte Richie. »Mach dir keine Sorgen. Um Gottes willen, er war doch dein Bruder. Wenn mein Bruder ermordet würde, käme ich aus dem Heulen gar nicht mehr raus.«

»D-Du hast doch gar k-k-keinen B-Bruder.«

»Ja, aber wenn ich einen hätte, würde ich mir die Augen ausheulen.«

»J-Ja?«

»Na klar.« Richie schwieg ein Weilchen, betrachtete Bill bekümmert und versuchte zu erkennen, ob er sich wieder gefaßt hatte. Obwohl sich Bill immer noch mit dem Taschentuch die roten Augen rieb, entschied Richie, daß er jetzt wieder aufnahmefähig war. »Ich wollte nur sagen, daß ich nicht weiß, warum Georgie versuchen sollte, dir Angst einzujagen. Vielleicht hängt das Foto also irgendwie mit dem... na ja, mit dem anderen zusammen. Mit diesem Clown.«

»V-V-Vielleicht weiß Georgie es nicht b-besser. V-V-Vielleicht g-g-glaubt er...«

Richie schob diesen Einwand ungeduldig beiseite.

»Wenn man tot ist, weiß man alles, was die Leute über einen dachten, Big Bill«, sagte er mit der nachsichtigen Miene eines Lehrers, der den Grammatikfehler eines dummen Schülers verbessert. »So steht's in der Bibel. Es heißt da: > Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht.< Und das bedeutet...«

»Ich v-v-verstehe, was es b-bedeutet«, sagte Bill.

»Und was meinst du nun?«

»W-W-Wozu?«

»Gehen wir in sein Zimmer und schauen nach? Vielleicht finden wir etwas heraus.«

»Ich habe A-A-Angst davor.«

»Ich auch«, sagte Richie. Im ersten Moment glaubte er, daß er das nur so dahingesagt hatte, um Bill zu trösten, aber gleich darauf hatte er ein ganz komisches Gefühl im Magen und erkannte, daß es stimmte: er hatte Angst.

4

Die beiden Jungen schlichen sich ganz leise ins Haus der Denbroughs in der Witcham Street.

Bills Vater war noch nicht von der Arbeit nach Hause gekommen. Sharon Denbrough las am Küchentisch ein Taschenbuch. Im Eingangsflur roch es nach Kabeljau, den es zum Abendessen geben sollte.

»Wer ist da?« rief Sharon, als die Jungen auf halber Treppe waren.

Sie blieben ertappt stehen, schauten einander einen Augenblick mit großen Augen an, und dann rief Bill: »I-I-Ich, Mom. Und R-R-R-R...«

»Richie Tozier, Madam«, rief Richie und legte seine kalte Hand auf Bills Unterarm.

»Hallo, Richie«, rief Mrs. Denbrough zurück; es hörte sich völlig geistesabwesend an.

»K-Komm«, flüsterte Bill.

Sie gingen nach oben, in Bills Zimmer. Es war nicht gerade perfekt aufgeräumt, aber auch nicht allzu unordentlich: Bücher, Comics, Spielsachen und Modellfahrzeuge lagen herum, außerdem ein paar Kleidungsstücke, die zwar zusammengelegt, aber noch nicht weggeräumt waren. Auf der Kombination von Schreibtisch und Bücherschrank gegenüberfßills Bett stand ein Plattenspieler, und auf einem Regal direkt darüber lag ein Stapel zerkratzter 45er Schallplatten.

Bill legte sie auf die Spindel, mit der man zehn Platten hintereinander abspielen konnte, und schaltete das Gerät ein. Das erste Lied war >Come Sofly, Darling< von den Fleetwoods. Richie rümpfte die Nase. Trotz seines Herzklopfens mußte Bill grinsen.

»S-S-Sie mögen keinen Rock and Roll«, erklärte er. »I-Ich hab' auch Pat B-B-Boone und T-T-Tommy S-Sands. Aber meine M-Mutter wird glauben, daß w-w-wir hier im Z-Z-Zimmer sind. K-Komm.«

»Schließen sie es nicht ab?« flüsterte er Bill zu. Plötzlich hoffte er, daß es abgeschlossen war. Er konnte kaum noch glauben, daß das Ganze seine eigene Idee gewesen war.

Mit bleichem Gesicht schüttelte Bill den Kopf und öffnete die Tür. Er ging in Georgies Zimmer hinein, und nach flüchtigem Zögern folgte Richie ihm. Bill schloß hinter ihm die Tür, und Richie zuckte zusammen, als sie leise einklinkte. Die Fleetwoods waren jetzt nur noch gedämpft zu hören.

Richie schaute sich um, ängstlich, aber zugleich auch außerordentlich neugierig. Als erstes nahm er die dumpfe, abgestandene Luft wahr. Hier ist schon lange kein Fenster mehr geöffnet worden, dachte er. Verdammt, hier drin hat schon lange niemand mehr geatmet. Ein Schauder lief ihm über den Rücken, und er fuhr sich wieder mit der Zunge über die Lippen.

Sein Blick fiel auf Georgies Bett, und er dachte daran, daß Georgie jetzt unter einer Erddecke auf dem Mount Pleasant Cemetery schlief. Dort verweste. Und seine verwesenden Hände waren nicht gefaltet, denn er hatte nur noch einen Arm, eine Hand. Die andere war verschwunden.

Bill schaute ihn an.

»Du hast recht«, sagte Richie heiser. »Es ist unheimlich hier. Ich kapier' nicht, wie du's ausgehalten hast, allein hier zu sein.«

»E-Er w-w-war mein B-B-Bruder«, erwiderte Bill schlicht. »M-M-Manch-mal m-m-m-möchte ich h-hier sein.«

An den Wänden hingen Poster - Poster für kleine Kinder, wie Richie registrierte. Eines zeigte Tom Terrific, den Cartoon-Helden aus Captain Kanga-roo. Ein anderes zeigte Donald Ducks Neffen Tick, Trick und Track, die in ihren Waschbärmützen in ein Dickicht marschierten. Auf Georgies Kommode standen aufgeklappt seine Fleißkärtchen aus dem Kindergarten und der ersten Schulklasse. Als Richie sie betrachtete und daran dachte, daß Georges Ausbildung mit diesen wenigen Kleinkind-Kärtchen unwiderruflich und für immer geendet hatte, begriff er zum erstenmal in seinem Leben die Realität des Todes. Ein lähmendes Entsetzen überkam ihn. Ich könnte sterben! dröhnte es in seinem Kopf. Jeder kann sterben! Jeder kann sterben!

»Mann o Mann«, murmelte er mit zittriger Stimme. Mehr brachte er einfach nicht heraus.

»Jaaa«, sagte Bill und setzte sich auf Georgies Bett. »Schau.«

Richie folgte seinem Finger und sah das Fotoalbum auf dem Boden liegen. mein album, las er.

»Es w-war offen«, sagte Bill. »G-G-Gestern.«

»Dann ist es eben wieder zugeklappt«, sagte Richie unbehaglich. Er setzte sich neben Bill auf das Bett und blickte auf das Album. »Viele Bücher tun das.«

»D-Die S-S-Seiten vielleicht«, widersprach Bill. »N-Nicht der E-E-Ein-band. Es h-hat sich g-g-geschl-1-lossen.« Er sah Richie ernst an, und seine Augen wirkten in dem bleichen, müden Gesicht ungewöhnlich dunkel. »Es w-w-will, daß du es öffnest! D-Das ist es, w-w-was ich glaube!« Richie stand langsam auf und ging zu dem Album hinüber. Es lag unter einem Fenster mit hellen, fröhlichen Vorhängen. Draußen konnte er den Apfelbaum im Hinterhof der Denbroughs sehen. Von einem dicken, knorrigen Ast hing eine Schaukel herab, die sich langsam im Wind bewegte.

Er schaute auf das Album. Georgie Denbroughs Album.

Die mittleren Seiten des Schnitts waren rotbraun. Es hätte alter Ketchup sein können, die Visitenkarte, die ein kleiner Junge hinterlassen hatte, der seine Fotos anschaute, während er einen Hotdog oder Hamburger aß - aber Richie wußte, daß das nicht der Fall war. Es war Blut.

Er berührte das Album und zog seine Hände rasch wieder zurück. Es fühlte sich kalt an. Kalt.

Er schaute Bill an, und Bill erwiderte seinen Blick und schüttelte ganz langsam den Kopf.

Ach was, dachte Richie, ich lasse es einfach liegen. Ich hab sowieso keine Lust, in sein dummes altes Album zu schauen und einen Haufen Leute zu sehen, die ich nicht kenne. Ich werde jetzt einfach aufstehen, und Bill und ich können in sein Zimmer gehen und Comics lesen, und spätestens morgen früh werde ich sicher sein, daß es Ketchup und kein Blut ist. Das werde ich tun. Genau das.

Seine Hände schienen meilenweit von ihm entfernt zu sein, am Ende langer Kunststoffarme, als er das Album öffnete, und er betrachtete die Gesichter und Landschaften in Georges Album: Tanten, Onkel, Fremde, Babys, Häuser, alte Autos, Holzzäune, ein Riesenrad auf dem Jahrmarkt, den Wasserturm, die alte Kirchner-Eisenhütte...

Er wendete die Seiten immer schneller um, und plötzlich waren sie leer. Er blätterte zurück; eigentlich wollte er es nicht tun, aber irgend etwas zwang ihn dazu. Und da war wieder die Kirchner-Eisenhütte und ein Foto aus der Innenstadt von Derry - Main Street und Canal Street, aufgenommen etwa 1930...

»Es ist verschwunden!« rief Richie.

»Was?«

»Wenn du's nicht genommen hast, ist es einfach verschwunden. Hier ist kein Schulfoto deines kleinen Bruders, Bill!«

Bill stand vom Bett auf und ging zu Richie hinüber. Er betrachtete einen Augenblick lang die Fotos von der Eisenhütte und von Derry Innenstadt, wie sie vor etwa dreißig Jahren ausgesehen hatte - altmodische Autos und Lastwagen und Fußgänger, die am Kanal entlanggingen und auf dem Foto für immer mitten in einem Schritt versteinert waren. Dann blätterte er um. Eine leere eierschalenfarbene Seite bot sich ihm dar - abgesehen von einer einzigen Fotoecke eine absolut leere Seite.

»Es w-w-war h-hier«, sagte Bill. »Ich schwor's bei Gott.« Er starrte Richie offenen Blickes, erstaunt und ängstlich an.

»Ich glaube dir, Bill«, sagte Richie. »Mein Gott, was denkst du, was damit passiert ist?«

»Ich w-w-weiß es n-nicht.«

Bill nahm Richie das Album aus der Hand. Er blätterte die Seiten um und

suchte nach Georgies Schulfoto. Als er damit aufhörte, blätterten sie sich ganz von allein weiter um. Die beiden Jungen tauschten einen erschrockenen Blick, dann starrten sie wieder auf das Album.

Es hatte sich wieder auf der letzten vollen Seite geöffnet. Rechts war die Kitchner-Eisenhütte, links die Innenstadt von Derry, ein sepiafarbenes Foto, das jemand Georgie geschenkt hatte, und das Derry zu einer Zeit lange vor ihrer aller Geburt zeigte.

»Na so was!« rief Richie plötzlich und nahm das Album wieder an sich. In seiner Stimme lag keine Angst, nur verblüfftes Staunen. »Heiliger Strohsack, Bill...!«

»Was?« fragte Bill. »W-W-Was ist 1-los?«

»Heiliger Strohsack! Das sind ja wir\ Mein Gott, sieh doch nur!«

Über Georgies Fotoalbum gebeugt, sahen sie aus wie zwei Jungen, die sich bei einer Chorprobe ein Buch teilen. Richie hörte, wie Bill zischend Luft holte, und erkannte daran, daß er es ebenfalls gesehen hatte.

Auf diesem alten Schwarzweißfoto gingen zwei Jungen die Main Street entlang, auf die Kreuzung Central Street zu, wo der Kanal für etwa eineinviertel Meilen unter die Erde verschwand. Die beiden Jungen hoben sich deutlich von der niedrigen Betonmauer am Kanalrand ab. Einer der beiden trug Knickerbocker. Der andere trug etwas, das fast wie ein Matrosenanzug aussah. Er hatte eine Tweedkappe auf dem Kopf. Sie waren etwa im Dreiviertelprofil der Kamera zugewandt, so als hätte sie gerade jemand von der anderen Straßenseite her gerufen. Der Junge in den Knickerbockern war Richie Tozier. Und der Junge mit der Tweedkappe war Stotter-Bill. Daran konnte gar kein Zweifel bestehen.

Wie hypnotisiert starrten sie auf das fast dreißig Jahre alte Foto, auf dem sie selbst zu sehen waren. Einige Schritte vor ihnen hielt ein Mann die Krempe seines Filzhutes fest, und ein Windstoß hatte im Moment der Aufnahme gerade seinen Mantel aufgebläht. Auf der Straße waren Autos, ein Model-T, ein Pierce-Arrow, einige Packards und Chevrolets mit Trittbrettern.

»I-I-Ich g-g-g-glaub' n-nicht...«, begann Bill, und in diesem Augenblick bewegte sich das Foto.

Das Model-T, das eigentlich ewig in der Mitte der Kreuzung hätte bleiben müssen (oder zumindest so lange, bis die Chemikalien des alten Fotos sich völlig zersetzt hätten und es total verblaßt und verschwunden wäre), überquerte sie und fuhr in Richtung Up-Mile-Hill weiter. Eine kleine weiße Hand schoß aus dem Fenster neben dem Fahrersitz heraus und signalisierte, daß das Auto nach links abbiegen wollte. Es bog in die Court Street ein, fuhr über den weißen Bildrand hinaus und verschwand auf diese Weise außer Sicht.

Der Pierce-Arrow, die Chevrolets und Packards - sie alle rollten in verschiedenen Richtungen über die Kreuzung. Die Mantelschöße des Mannes flatterten im Wind. Er setzte seinen Hut fester auf und ging weiter.

Die beiden Jungen drehten ihre Köpfe vollends, und jetzt waren ihre Gesichter ganz von vorne zu sehen, und einen Moment später erkannte Richie, wohin sie schauten: ein räudiger Hund überquerte die Straße. Der Junge im Matrosenanzug - Bill - schob sich zwei Finger in die Mundwinkel und pfiff. Wie vom Donner gerührt, nahm Richie wahr, daß er den Pfiff hören konnte, daß er das unregelmäßige Tuckern der Automotoren hören konnte. Die Geräusche waren zwar nur schwach, wie durch dickes Glas, zu hören - aber sie waren zu hören.

Der Hund schaute zu den Jungen hinüber und trottete dann weiter. Sie wechselten einen Blick und lachten. Sie wollten gerade weitergehen, als Richie Bill am Arm packte und auf den Kanal deutete. Sie gingen darauf zu.

Nein, dachte Richie entsetzt, tut das nicht, tut...

Sie gingen zu der niedrigen Betonmauer, und plötzlich tauchte über dem Rand der Clown auf, wie ein schreckliches Schachtelmännchen, ein Clown mit Georgie Denbroughs Gesicht, die Haare glatt nach hinten gekämmt, der Mund ein gräßliches Grinsen voll blutender Fettfarbe, die Augen schwarze Löcher. In einer Hand hielt er drei Ballons an einer Schnur. Mit der anderen packte er seinen Bruder an derKehle.

»N-N-N-NEiN!« schrie Bill gequält auf und griff nach dem Bild.

»Nicht, Bill!« schrie Richie und packte ihn am Arm. Es war fast schon zu spät. Er sah Bills Fingerspitzen durch das Foto hindurch in jene andere Welt eintreten. Sie wurden klein und schienen gar nicht mehr zu Bills Hand zu gehören. Es war so ähnlich wie bei jener optischen Täuschung, die eintritt, wenn man eine Hand in stehendes Wasser hält: der sich im Wasser befindliche Teil der Hand scheint zu schweben, abgelöst und ein Stückchen entfernt von jenem Teil der Hand, der aus dem Wasser herausragt.

Eine Reihe diagonaler Schnitte zog sich über Bills Finger, so als hätte er seine Hand zwischen die Flügel eines Ventilators gesteckt.

Richie zog mit aller Kraft, und sie fielen beide dröhnend auf den Rük-ken. Das Buch schlug auf dem Boden auf und klappte laut zu. Bill steckte seine Finger in den Mund. Vor Schmerz hatte er Tränen in den Augen. Richie konnte sehen, daß dünne Blutrinnsale über seine Hand zum Gelenk flössen.

»Zeig mal«, sagte er.

»T-T-Tut h-höllisch weh«, flüsterte Bill. Er streckte Richie seine Hand hin, mit der Handfläche nach unten. Über Zeige-, Mittel- und Ringfinger zogen sich sprossenartige tiefe Schnitte. Der kleine Finger hatte die Oberfläche des Fotos kaum berührt (wenn es eine Oberfläche hatte!), und obwohl er keine Schnittwunden aufwies, so erzählte Bill Richie später doch, daß der Nagel säuberlich abgeschnitten war wie mit einer Nagelschere.

»Mein Gott, Bill!« sagte Richie. Verbandszeug. Das war das einzige, woran er denken konnte. »Komm, wir müssen das verbinden. Deine Mutter. ..«

»M-Meine M-M-Mutter wird das g-gar nicht m-merken«, sagte Bill. Er griff wieder nach dem Album. Blutstropfen fielen auf den Boden.

»Öffne es nicht!« schrie Richie und packte Bill verzweifelt bei den Schultern. »Mein Gott, Billy, du hättest um ein Haar deine Finger verloren!«

Bill schüttelte ihn ab. Er blätterte die Seiten um Sein Gesicht war bleicher denn je, hatte aber einen grimmig entschlossenen Ausdruck, der Richie mehr ängstigte als alles andere. Bills Augen sahen fast wie die eines

Wahnsinnigen aus. Seine verletzten Finger beschmierten Georgies Album mit Blut.

Und da war wieder die Kitchner-Eisenhütte und die Innenstadt von Derry.

Das Mödel-T stand mitten auf der Kreuzung. Die anderen Autos waren ebenfalls an ihren ursprünglichen Positionen erstarrt. Der auf die Kreuzung zugehende Mann hielt die Krempe seines Filzhutes fest, und sein Mantel war vom Wind gebläht.

Die beiden Jungen waren verschwunden.

Nirgends auf dem Foto waren Jungen zu sehen. Aber...

»Schau«, flüsterte Richie und deutete auf eine Stelle des Bildes, wobei er sorgfältig darauf achtete, der Oberfläche nicht zu nahe zu kommen. Direkt über der niedrigen Betonmauer am Kanalrand war ein Bogen zu sehen - der obere Teil von etwas Rundem.

Etwas wie einem Luftballon.

5

Bill schloß das Album und legte es auf das oberste Fach von Georges

Schrank zurück. Sie verließen das Zimmer und konnten gerade noch rechtzeitig die Tür schließen. Bills Mutter kam die Treppe hinauf.

»Habt ihr gerauft?« fragte sie scharf. Sie konnten ihren Schatten auf der Kletterrosentapete neben der Treppe sehen, das war aber auch alles. »Ich habe Lärm gehört...«

»N-N-ur ein bißchen, Mom«, sagte Bill und warf Richie einen warnenden Blick zu: Sei still.

»Nun, ich möchte, daß ihr sofort damit aufhört«, sagte Sharon Denbrough. »Es hat sich so angehört, als würde mir gleich die Decke auf den Kopf fallen. Und stellt den Plattenspieler leiser. Ich habe Kopfweh.«

»J-Ja, M-Mon.«

»Wenn ihr nicht leise spielen könnt, wird Richie heimgehen müssen.«

»O-Okay, M-Mom.«

Sie hörten Hausschuhe auf der Treppe. Dann entfernten sich ihre Schritte. Bill hielt seine blutende Hand. Sie gingen ins Bad am Korridorende, und er hielt sie unter kaltes Wasser, wobei er sich vor Schmerz auf die Unterlippe biß. Richie suchte inzwischen nach Verbandszeug. Nachdem die Schnittwunden von Blut gesäubert waren, sah man erst, daß sie dünn, aber entsetzlich tief waren. Beim Anblick der weißen Ränder und des roten Fleisches im Innern wurde Richie fast übel. Rasch verband er jeden Finger einzeln mit Pflaster.

»B-B-Brennt höllisch!« flüsterte Bill.

»Warum mußtest du aber auch deine Hand dort hineinstecken?« zischte Richie. »Du hast noch Glück gehabt, daß du sie nicht verloren hast, du verdammter Dummkopf! Das ist dir doch klar, oder?«

Bill nickte, betrachtete ernst seine verpflasterten Finger und schaute dann Richie an. »W-W-Was hat das zu b-b-be-bedeuten?«

Richie schüttelte langsam den Kopf. Das grelle Neonlicht im Bad ließ beide Jungen alt aussehen, wie kleine kraftlose Männer.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er. »Aber ich sage dir eines, Big Bill: ich glaube nicht, daß Borton jemals den Mann erwischt, der Kinder ermordet. Ich glaube nämlich nicht, daß es ein Mensch ist.«

»I-I-Ich versteh' dich n-nicht.« Aber Bill sah so aus, als verstünde er es sehr gut.

»Die vermißten Kinder. Die toten Kinder. Die Mumie, die Ben gesehen hat. Dieser kranke Kerl, den Eddie gesehen hat - dieser Vagabund...«

»Der A-A-Aussätzige.«

»Ja. All diese Dinge. Und Georgies Album. Ich glaube, das gehört alles irgendwie zusammen. Und gemacht wird das alles, glaube ich...»

Richie verstummte. Bill sah ihn nachdenklich an.

»...von irgendeinem Monster«, beendete Richie schließlich leise und tonlos seinen Satz. »Von irgendeinem Monster in Derry.«

6

Das geschah am Donnerstag. Am Samstag sahen sich Richie, Ben und Beverly Marsh zwei Monstern gegenüber - aber in völliger Sicherheit, im Aladdin-Kino auf der oberen Main Street. Eines der Monster war ein Werwolf (gespielt von Michael Landen), das andere eine von einem Nachkommen Victor Frankensteins geschaffene Kreatur (gespielt von Gary Con-way). Außerdem wurde noch gezeigt: eine tönende Wochenschau mit der neuesten Pariser Mode (das Sackkleid - das Kino dröhnte vor Gelächter) und der letzten Vanguard-Raketenexplosion in Cape Canaveral; zwei Cartoons der Warner Brothers; ein Cartoon von Popeye und Voranzeigen, unter denen zumindest zwei Filme waren, die Richie unbedingt sehen wollte: >I Married a Momterfrom Outer Space< und >The Blob<.

Ben war während der ganzen Vorstellung sehr still. Richie, der keine Ahnung davon hatte, daß Ben über die unmittelbare Nähe von Bev Marsh völlig aus dem Häuschen war, daß ihm vor Liebe abwechselnd heiß und kalt wurde, während sie in die Popcorntüte griff - Richie, der von alldem nichts ahnte, nahm einfach an, daß der alte Haystack vielleicht an diesem Tag nicht ganz auf dem Posten war. Richie selbst fühlte sich großartig. Das einzige, was seiner Meinung nach noch besser war als zwei Filme über Francis the Talking Mule, waren zwei Horrorfilme in einem Kino voller Kinder, die bei den blutrünstigen Szenen schrien und kreischten und Popcorntüten nach den großen Bildern auf der Leinwand warfen.

Er sah keinen Zusammenhang zwischen den Ereignissen in den beiden Filmen und dem, was in Derry vorging. Zumindest damals nicht.

Richie hatte die Voranzeige der Samstagsmatinee >Twin Schock Show< am Freitagmorgen in den >Derry News< gesehen und sofort vergessen, wie schlecht er in der vergangenen Nacht geschlafen hatte (und wie er schließlich aufgestanden war und Licht gemacht hatte - natürlich war das ein richtiges Baby-Verhalten, aber er hatte zuvor kein Auge zutun können). Aber am Morgen war ihm alles wieder ganz normal vorgekommen - oder doch fast normal. Er überlegte, ob Bill und er nicht einfach gemeinsam einer Halluzination zum Opfer gefallen waren. Natürlich waren da noch Bills Finger.

Aber vielleicht hatte er sich nur an den scharfen Papierkanten des Albums geschnitten. Oder irgend so was.

Und so vertilgte Richie nach einem Erlebnis, das einen Erwachsenen leicht in den Wahnsinn hätte treiben können, ein üppiges Frühstück mit Pfannkuchen, entdeckte die Anzeige für die beiden Horrorfilme und begann, seinen Vater um Geld anzubetteln.

Sein Vater, der schon den weißen Zahnarztkittel trug, legte die Sportseiten der Zeitung beiseite und trank seine zweite Tasse Kaffee. Er war ein sympathisch aussehender Mann mit schmalem Gesicht, einer Brille mit Metallfassung und einer beginnenden Glatze am Hinterkopf.

»Horrorfilme«, sagte Vern Tozier.

»Ja«, grinste Richie.

»Ich hab' das Gefühl, daß du unbedingt hingehen mußt.«

»Jaaa!«

»Vermutlich wirst du sterben, wenn du diese beiden Schundfilme nicht siehst?«

»Ja, ja, das werde ich bestimmt! Ahhhh!« Richie sank in seinem Stuhl zusammen - wobei er um ein Haar seine Milch verschüttete - und hängte die Zunge weit heraus. Auf seine ganz spezielle Art ließ er seinen Charme spielen.

»Hört auf mit dem Unsinn, ihr beiden!« rief Maggie Tozier vom Herd her, wo sie für Richie Spiegeleier machte.

»Du hast doch am Montag Taschengeld bekommen«, sagte Vern. »Wo ist das geblieben?«

Richie grinste etwas verlegen. Zwei neue Comic-Bücher. Zwei alte mit zerrissenen Einbänden. Ein Yo-Yo, das angeblich >schlafen< konnte, es aber nicht tat. Und eine Plastikratte, die angeblich den Leuten Angst einjagte, es aber auch nicht tat. Allerdings leuchtete sie im Dunkeln.

Richie probierte es mit einer seiner Stimmen, der des englischen Gentlemans. »Nun, ich habe es ausgegeben, Herr Gouverneur. Für extrem wichtiges Kriegsmaterial. Wasserbombenwerfer, Haftminen und...«

»Und jede Menge Scheißdreck«, fuhr Vern liebenswürdig fort.

»Du solltest vor dem Jungen wirklich nicht solche Ausdrücke gebrauchen, Vern«, tadelte Maggie, während sie Richie seine Spiegeleier brachte. An Richie gewandt, fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, wozu du dir solchen Blödsinn anschauen willst.«

»Oooch, Mom«, sagte Richie - nach außen hin niedergeschlagen, aber insgeheim frohlockend. Er konnte im Gesicht seines Vaters lesen wie in einem Buch... und er war fast sicher, daß er bekommen würde, was er wollte.

»Ich glaube, ich habe dich jetzt dort, wo ich dich haben will«, sagte Vern. »Du kennst doch unseren Rasen, Richie? Er ist dir doch bestens bekannt, oder?«

»Selbstverständlich, Herr Gouverneur. Bißchen hoch das Gras, wie?«

»Völlig richtig«, stimmte Vern zu. »Mäh diesen Rasen, Richie. Aber den ganzen, du dämlicher Affe. Hinten, vorne und an den Seiten. Zwei Dollar.«

»Zwei Dollar!« rief Richie aufrichtig empört. »Es ist der größte Rasen im ganzen Block! Mein Gott, Dad!«

Vern seufzte und griff wieder nach seiner Zeitung. Auf der ersten Seite konnte Richie die Schlagzeile vermisster junge gibt anlass zu neuen Befürchtungen lesen. Er dachte kurz an George Denbroughs seltsames Album - aber das war bestimmt eine Halluzination gewesen... und selbst wenn das nicht der Fall sein sollte - das war gestern passiert. Und jetzt war heute.

»Ich glaube, du willst diese Filme doch nicht unbedingt sehen«, sagte Vern. Er hielt sich die Zeitung vors Gesicht... schaute Richie aber über den Rand hinweg an, ziemlich siegessicher - wie ein Mann, der beim Pokern gute Karten hat.

»Wenn die Clark-Zwillinge den Rasen mähen, gibst du jedem von ihnen zwei Dollar!«

»Sehr richtig«, sagte Vern und ließ die Zeitung für einen Moment sinken. »Aber soviel ich weiß, wollen sie morgen nicht ins Kino gehen. Übrigens hast du Ei am Kinn, Richie.« Er verschwand wieder hinter der Zeitung.

»Das ist Erpressung!« sagte Richie zu seiner Mutter, die trockenen Toast aß, weil sie wieder einmal abzunehmen versuchte.

»Ja, mein Liebling«, stimmte seine Mutter zu. »Wisch dir das Ei vom Kinn ab.«

Richie tat, wie ihm befohlen. »Drei Dollar«, begann er zu handeln.

»Zwei«, sagte Vern trocken hinter seiner Zeitung. »Zweieinhalb, wenn alles fertig ist, bis ich heute abend nach Hause komme.«

»Okay!« rief Richie. »Abgemacht.«

Auf dem Weg zur Garage hörte er seinen Vater zu seiner Mutter sagen: »Sieht so aus, als hätte der Mörder wieder ein Opfer gefunden. Hast du das gelesen, Maggie?«

Der Clown, dachte Richie, und in der halbdunklen Garage lief ihm ein Schauder über den Rücken. Hier kam der Clown ihm viel realer vor als in seinem sonnigen Zimmer oder in der gemütlichen Eßecke. Hier war auch das Foto, das sich bewegt hatte, irgendwie realer. Georgie Denbrough mit einer Traube Luftballons.

Er packte den Holzgriff der Mähmaschine und zog sie aus der Garage heraus. Sobald er wieder im hellen Junisonnenschein stand, fühlte er sich besser. Er kannte Eddie Corcoran, und er glaubte nicht, daß der Killer ihn erwischt hatte - ganz egal, ob dieser Killer nun ein Mensch oder ein Monster war. Er glaubte vielmehr, daß Eddie nur wieder einmal seinem prügelwütigen Stiefvater aus dem Wege gehen wollte. Das hätte er seinen Eltern erzählen können, aber er hatte gelernt, daß man über solche Dinge am besten den Mund hielt. Sie glaubten nicht, daß Kinder über so was Bescheid wußten, obwohl Kinder in Wirklichkeit wahrscheinlich mehr darüber wußten als Erwachsene.

Richie machte sich an die Arbeit.

Während er den Rasenmäher vor sich her schob, übte er seine Stimmen.

Am Samstagmorgen hatte Richie zweieinhalb Dollar in seiner Jeanstasche -ein halbes Vermögen. Er rief Big Bill Denbrough an, aber Bill erzählte ihm mürrisch, er müsse nachmittags zu einem Sprachtherapietest in Bangor sein. Richie drückte sein Mitgefühl aus, dann fügte er in seiner besten Stot-ter-Bill-Stimme hinzu: »G-G-Gib ihnen S-S-S-Saures, B-Big Bill!«

»Arschloch!« erwiderte Bill und legte auf.

Als nächstes rief Richie Eddie an, aber Eddie hörte sich noch deprimierter als Bill an. Seine Mutter wollte heute ein volles Programm absolvieren; sie würden mit dem Bus die Schwestern seiner Mutter - seine Tanten - in Newport, Bangor und Hampden besuchen. Alle drei waren fett wie Mrs. Kaspbrak, und alle drei waren alleinstehend.

»Sie werden mir die Wangen tätscheln und mir sagen, wie sehr ich gewachsen bin«, klagte Eddie.

»Dann tätschle sie ebenfalls«, sagte Richie und fuhr nach einigem Zögern fort: »Eddie?«

»Ja, was ist?«

»Kommst du nächste Woche in die Barrens?«

»Wenn ihr auch da seid. Wollt ihr mit Gewehren schießen?«

»Ich glaube, daß Big Bill und ich euch was zu erzählen haben.«

»Was denn?«

»Es ist Bills Geschichte. Bis nächste Woche dann. Halt die Ohren steif, Mann.«

»Tanten!« sagte Eddie kläglich und hängte ein.

Richies dritte Wahl war Stan, aber Stan hatte Ärger mit seinen Eltern, weil er mit einem Baseball drei Fenster eingeschlagen hatte. Zur Strafe mußte er allerlei unangenehme Arbeiten im Haus und Garten verrichten. Richie fragte auch ihn, ob er nächste Woche in die Barrens käme. Vermutlich ja, sagte Stan. Richie legte nachdenklich den Hörer auf und stellte fest, daß das Erlebnis in Georgies Zimmer ihm doch mehr zu schaffen machte, als er gedacht hatte. Er suchte immer wieder nach Erklärungen und war wider Willen etwas beunruhigt. Er fragte sich, ob es Bill ähnlich gehen mochte.

Er schlug Bens Nummer im Telefonbuch nach und rief ihn an.

»Ich würde wahnsinnig gern mitgehen«, sagte Ben, »aber ich hab' mein Taschengeld schon ausgegeben.« Er hörte sich nicht nur deprimiert, sondern auch ein wenig beschämt an, als er dieses Geständnis machte.

Richie, der sich wie ein Krösus fühlte (und der nicht gern allein ins Kino ging), sagte: »Ich hab' etwas Geld. Ich könnte dir was pumpen.«

»Wirklich? Das würdest du tun?«

»Na klar«, sagte Richie verwirrt. »Warum denn nicht?«

»Okay!« rief Ben glücklich. »Okay, das wäre super! Zwei Horrorfilme! Wow, das ist toll!«

»Na, nun mach dir mal nicht in die Hose, Mann«, sagte Richie.

Ben lachte. »Wir treffen uns am Eingang, okay?«

»Großartig.«

Richie legte auf und starrte nachdenklich auf das Telefon. Ihm kam plötzlich die Idee, daß Ben einsam sein könnte. Und dadurch fühlte er sich rich-

tig edel. Er pfiff, während er nach oben rannte, um vor der Vorstellung noch ein paar Comics zu lesen.

8

Der Tag war sonnig, aber windig und kühl. Richie schlenderte gutgelaunt die Center Street entlang, auf das Aladdin zu. Ins Kino zu gehen versetzte ihn immer in gute Laune - er liebte diese magische Welt, diese Traumwelt. Er bemitleidete jeden, der an einem solchen Tag zu Hause bleiben oder unangenehme Dinge verrichten mußte - armer alter Bill, armer alter Eddie, die zu einem Nachmittag im Sprechzimmer beziehungsweise zu altbackenen Pfefferminzplätzchen auf Silbertabletts verurteilt waren, armer alter Stan, der die Verandastufen putzen mußte.

Richie hatte sein Yo-Yo dabei und versuchte wieder, es zum Schlafen zu bringen, aber das blöde Ding wollte einfach nicht. Es verwickelte sich nur in seiner eigenen Schnur.

Auf halber Höhe des Center Street Hill (sobald man die Innenstadt von Derry verließ, führten sämtliche Wege hügelaufwärts, es sei denn, man wollte in die Barrens) sah er ein Mädchen in beigem Faltenrock und weißer ärmelloser Bluse auf einer Bank vor dem LaVerdier's Drugstore sitzen. Es aß ein Eis - dem Aussehen nach zu schließen Pistazieneis. Rotbraunes Haar, das in der Sonne kupferfarben leuchtete und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, fiel ihm über den Rücken. Richie kannte nur ein Mädchen mit einer so wunderschönen Haarfarbe. Und das war Beverly Marsh.

Richie hatte Bev sehr gern. Na ja, er hatte sie gern, aber nicht so. Er bewunderte ihr Aussehen (und er wußte, daß er damit nicht allein stand -Mädchen wie Sally Mueller und Greta Bowie haßten Beverly wie die Pest; es war ihnen unbegreiflich, daß sie - die ansonsten alles hatten, was sie sich nur wünschen konnten - in puncto Aussehen mit der Tochter eines Slumbewohners von der unteren Main Street nicht konkurrieren konnten), aber er mochte sie so gern, weil sie ihm stark und humorvoll vorkam. Meistens hatte Bev Zigaretten bei sich. Ein- oder zweimal hatte er sich zwar bei dem Gedanken ertappt, welche Farbe wohl ihr Slip unter der kleinen Auswahl ziemlich abgetragener Röcke haben mochte, aber im allgemeinen konnte er sie einfach wie einen guten Kumpel behandeln - einen sehr hübschen Kumpel, das stand außer Frage.

Sofort zog Richie den Gürtel eines unsichtbaren Mantels enger, schob einen unsichtbaren Schlapphut nach vorne und verwandelte sich in Humph-rey Bogart. Wenn er dazu noch die richtige Stimme einsetzte, war er Humphrey Bogart. Nur hörte er sich an wie ein leicht erkälteter Richie Tozier.

»Hallo, Schätzchen«, rief er und schlenderte auf die Bank zu, wo sie saß und den Verkehr beobachtete. »Sinnlos, hier auf 'nen Bus zu warten. Die Nazis haben uns den Rückzugsweg abgeschnitten. Letztes Flugzeug startet um Mitternacht. Du wirst mit von der Partie sein. Er braucht dich, Schätzchen. Ich auch, aber ich werd's schon irgendwie allein schaffen.«

»Hallo, Richie«, sagte Bev, und als sie sich ihm zuwandte, sah er einen großen blauen Fleck auf ihrer rechten Wange. Ihm fiel wieder auf, wie hübsch sie aussah... nur erkannte er jetzt plötzlich, daß sie nicht einfach hübsch aussah, sondern wirklich schön war. Vielleicht war es der blaue Fleck, dem er diese Erkenntnis verdankte - der starke Gegensatz, der besonders ins Auge fiel und die Schönheit ihrer graublauen Augen, der roten Lippen, der makellosen hellen Haut besonders hervorhob. Auf ihrer Nase tummelten sich winzige Sommersprossen.

»Du bist ein Arschloch, Richie. Das hört sich kein bißchen nach Humph-rey Bogart an.« Aber sie lächelte ein wenig.

Richie setzte sich neben sie auf die Bank. »Gehst du auch ins Kino?«

»Ich hab' kein Geld«, sagte sie. »Kann ich mal dein Yo-Yo haben?«

Er gab ihn ihr. »Ich will's zurückbringen«, berichtete er. »Es soll angeblich schlafen, tut's aber nicht. Man hat mich reingelegt.«

Sie steckte ihren Finger durch die Schlinge, drehte ihre Handfläche nach oben, das Yo-Yo mit dem rechten Daumen festhaltend. Dann ließ sie es los. Es rollte sich ab, schlief und schnellte gehorsam wieder hoch, als sie ihre Finger bewegte.

»Oh, Scheiße!« rief Richie und schloß die Augen.

»Schau mal«, sagte Bev. Sie stand auf, rollte das Yo-Yo wieder ab und ließ es ein paarmal gekonnt bis zur halben Höhe hochschnellen und wieder abrollen.

»Oh, hör auf!« stöhnte Richie. »Ich kann Angeberei nicht ausstehen.«

»Und wie findest du das?« fragte Beverly mit süßem Lächeln. Sie ließ das Yo-Yo nach vorne und hinten schnellen und beendete ihre Vorführung mit zwei eleganten Schlenkern (wobei sie um ein Haar eine vorbeischlurfende alte Dame getroffen hätte, die den Kindern einen mißbilligenden Blick zuwarf). Zuletzt landete das Yo-Yo säuberlich aufgerollt wieder in ihrer Handfläche. Bev gab es Richie zurück, setzte sich wieder und kreuzte anmutig die Knöchel. Richie starrte sie mit offenem Mund in ungespielter Bewunderung an. Sie warf ihm einen Blick zu und kicherte.

»Mach den Mund zu, es zieht!«

Richie klappte laut vernehmlich seinen Mund zu. Kinder gingen vorbei, die ebenfalls auf dem Weg ins Aladdin waren. Peter Gordon näherte sich mit Marcia Fadden. Es hieß, die beiden gingen miteinander, aber Richie war der Ansicht, es läge nur daran, daß sie am West Broadway direkt gegenüber wohnten und beide solche Arschlöcher waren, daß sie sich gegenseitig unterstützen und schützen mußten. Obwohl er erst elf war, hatte Gordon schon jede Menge Pickel im Gesicht. Er trieb sich manchmal mit Bowers, Criss und Huggins herum, aber allein war er nicht allzu mutig. So beschränkte er sich auch jetzt darauf, als er Richie und Bev nebeneinander auf der Bank sitzen sah, spöttisch zu singen: »Richie und Beverly hoch auf einem Baum, küssen sich und sind wie im Traum! Zuerst kommt Liebe, dann kommt Ehe...«

»... und ein Baby rückt auch schon in die Nähe!« vollendete Marcia den geistreichen Spruch.

Bev zeigte ihnen sofort einen Vogel. Marcia schaute angewidert weg, so als könne sie nicht begreifen, daß jemand ein derart ungehobeltes Benehmen hatte. Gordon legfe den Arm um sie und rief Richie über die Schulter hinweg zu: »Vielleicht seh' ich dich später noch, Vierauge!«

»Vielleicht siehst du auch die Strapse deiner Mutter«, erwiderte Richie schlagfertig, wenn auch nicht besonders geistreich. Beverly mußte so lachen, daß sie sich einen Augenblick an Richies Schulter lehnte, und Richie stellte fest, daß es alles andere als unangenehm war, ihre Berührung zu spüren. Dann rückte sie wieder ein Stückchen zur Seite.

»Was für Arschlöcher!« sagte sie.

»Ja, ich nehm' an, daß Marcia Fadden Rosenwasser pißt«, sagte Richie, und Beverly kicherte wieder.

»Chanel Nummer Fünf«, sagte sie, sich die Hand vor den Mund haltend.

»Genau«, stimmte Richie zu, obwohl er keine Ahnung hatte, was Chanel Nummer Fünf war. »Bev?«

»Hmmm?«

»Kannst du mir zeigen, wie man das Yo-Yo zum Schlafen bringt?«

»Ich glaub' schon. Ich hab' noch nie versucht, es jemandem beizubringen.«

»Wie hast du's denn gelernt? Wer hat's dir gezeigt?«

Sie warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Niemand hat's mir gezeigt. Ich hab's mir selbst beigebracht. So wie das Taktstock-Wirbeln. Darin bin ich ganz groß, aber ich hab' keinen Unterricht gehabt oder so was.«

»Du kannst Taktstock-Wirbeln?«

»Klar.«

»Dann wirst du wohl in der Junior High School Cheerleader sein?«

Sie lächelte, und Richie hatte noch nie im Leben ein solches Lächeln gesehen. Es war weise, traurig und zynisch zugleich, und er zuckte angesichts dieser unbewußten Stärke unwillkürlich zusammen wie beim Anblick des Fotos in Georgies Album, das sich plötzlich bewegt hatte.

»Das ist etwas für Mädchen wie Sally Mueller und Greta Bowie und Marcia Fadden«, sagte sie. »Ihre Väter spenden 'ne Menge Geld für die FootballAusrüstung und dadurch haben sie's leicht, Cheerleader zu werden. Ich werd' nie eine sein.«

»Mein Gott, Bev, das ist keine Einstellung...«

»Es ist aber so. Na ja, doch wer möchte ohnehin Purzelbäume schlagen und einer Million Leuten seine Unterwäsche zeigen? So, Richie, und nun paß mal auf.«

In den nächsten zehn Minuten versuchte sie Richie beizubringen, wie er sein Yo-Yo zum Schlafen bringen konnte, und zuletzt hatte er den Dreh fast heraus, obwohl es nur bis zur halben Höhe hochschnellte, wenn er es wieder aufweckte.

Richie schaute auf die Uhr am Merrill Trust auf der anderen Straßenseite und sprang auf. »Du lieber Himmel, ich muß mich beeilen, Bev. Ich treff mich mit dem guten alten Haystack. Er wird glauben, ich sei verschollen oder so was Ähnliches.«

»Mit wem?«

»Oh. Ben Hanscom. Ich nenne ihn Haystack. Nach dem Ringer Haystack Calhoun.«

Bev runzelte die Stirn. »Das ist nicht nett von dir. Ich mag Ben.«

»Oh, bitte, peitschen Sie mich nicht aus, Herrin«, kreischte Richie mit seiner Negerstimme, rollte wild die Augen und faltete die Hände. »Bitte nicht peitschen. Ich schwör', ich tu's nicht wieder, Herrin, ich...«

»Richie«, sagte Bev leise.

Richie hörte sofort auf. »Ich mag ihn auch«, sagte er. »Wir haben vor ein paar Tagen draußen in den Barrens einen Damm gebaut und...«

»Ihr geht in die Barrens?« fragte Bev bestürzt. »Ben geht dorthin?«

»Naklar«, sagte Richie. »Wir.. .«Er schaute wieder auf die Uhr. »Ich muß gehen. Ben wird bestimmt schon warten.«

»Okay.«

Er schwieg einen Moment, dann rief er: »He, komm doch mit, wenn du nichts Besseres vorhast!«

»Ich hab' dir doch schon gesagt, daß ich kein Geld habe.«

»Ich zahl' für dich. Ich hab' ein paar Dollar.«

Sie warf die Überreste ihrer Eistüte in einen Abfallkorb. Dann schaute sie mit ihren schönen klaren blaugrauen Augen leicht amüsiert zu ihm auf. »Du lieber Himmel, werde ich zu einem Rendezvous eingeladen?« fragte sie und tat so, als richte sie ihr Haar.

Einen Augenblick lang war Richie sehr verlegen - was ihm nur sehr selten passierte. Er spürte, wie ihm Röte in die Wangen stieg. Er hatte sein Angebot gemacht, ohne sich etwas dabei zu denken, genau wie bei Ben (nein, flüsterte eine leise innere Stimme, Haystack hast du versprochen, ihm Geld zu leihen ... ich hab' aber nicht gehört, daß du Bev gegenüber das Wörtchen >leihen< erwähnt hast), aber nun war ihm ein bißchen... na ja, sonderbar zumute. Plötzlich nahm er ihre knospenden Brüste wahr - sie bekam tatsächlich schon welche! - und überlegte, wie ihre Beine unter dem Faltenrock wohl geformt sein mochten.

»Ja, ein Rendezvous!« rief er, fiel vor ihr auf die Knie und faltete flehend die Hände. »Bitte, komm mit! Komm mit! Ich bring' mich um, wenn du nein sagst!«

»Oh, Richie, du bist so ein Superarschloch!« sagte sie kichernd. Aber waren nicht auch ihre Wangen ein bißchen gerötet? Wenn ja, so sah sie dadurch nur noch reizender aus. »Steh auf, bevor du verhaftet wirst.«

Er stand auf. »Kommst du mit?«

»Klar«, sagte sie. »Herzlichen Dank. Na so was - mein erstes Rendezvous!«

»Ich wollte, du würdest aufhören, es so zu nennen.«

Sie seufzte. »Du hast keine sehr romantische Seele, Richie.«

»Stimmt haargenau.«

Aber er war in sehr gehobener Stimmung. Die ganze Welt kam ihm mit einem Male wunderschön vor. Von Zeit zu Zeit warf er ihr scheue Seitenblicke zu. Sie betrachtete im Vorbeigehen die Schaufensterauslagen - die Kleider und Nachthemden im >Cortell-Siegel<, die Handtücher und Töpfe im >Discount Barn<, und er betrachtete währenddessen ihre Haare und die Linie ihres Kinns und ihre nackten Arme, und alles entzückte ihn. Er wußte selbst nicht warum, aber die Ereignisse in Georgie Denbroughs Zimmer waren ihm plötzlich unendlich fern.

Kinder bezahlten an der Kasse ihren Vierteldollar und gingen in den Vor-führsaal hinein. Mit einem Blick durch die Glastür stellte Richie fest, daß an der Süßwarentheke ein Riesengedränge herrschte. Die alte Popcornmaschine arbeitete auf Hochtouren. Ben war nirgends zu sehen.

Auch Beverly hielt nach ihm Ausschau. »Ich seh' ihn nicht. Vielleicht ist er schon reingegangen.«

»Er hat mir erzählt, er hätte kein Geld. Und die Tochter von Frankenstein dort drüben würde ihn ohne Karte nie reinlassen.« Richie deutete mit dem Daumen auf Mrs. Cole, die etwa seit der Zeit, da Gott Himmel und Erde geschieden hatte, im Aladdin an der Kasse saß. Ihr rotgefärbtes Haar war so dünn, daß ihre Kopfhaut hindurchschimmerte. Sie hatte wulstige Lippen und trug eine Schmetterlingsbrille mit falschen Edelsteinen an den Ecken der Fassung. Sie war eine perfekte Demokratin - sie haßte alle Kinder in gleichem Maße.

»Mann, gleich beginnt die Vorstellung«, sagte Richie. »Wo bleibt er nur?«

»Du kannst ihm eine Karte kaufen und an der Kasse für ihn hinterlegen«, sagte Bev vernünftig. »Wenn er dann kommt...«

Aber in diesem Augenblick bog Ben um die Ecke Center- und Macklin Street. Er schnaufte, und sein Bauch schwabbelte unter seinem Sweater. Er sah Richie und winkte ihm zu. Dann entdeckte er Bev. Seine Augen wurden riesengroß. Seine Hand erstarrte mitten in der Bewegung, dann ließ er sie langsam sinken und kam ein wenig zaudernd auf sie zu.

»Hallo, Richie.« Er zögerte und schaute dann ganz kurz zu Bev hinüber, so als hätte er Angst, eine Verbrennung durch Hitzestrahlung oder so was Ähnliches zu bekommen, wenn er seine Blicke zu lange auf ihr ruhen ließ.

»Hallo, Ben«, sagte sie, und ein seltsames Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus - kein unangenehmes Schweigen, dachte Richie, sondern ein irgendwie bedeutungsvolles. Er verspürte einen Anflug von Eifersucht. Als er Jahre später in seinem Mietwagen vor dem Derry Town House vorfuhr, fiel ihm diese Szene wieder ein, und er dachte, daß seine Eifersucht sich damals hauptsächlich auf Ben konzentriert hatte... es war ein momentaner instinktiver Neid auf Bens starke Emotionen, wie immer diese auch beschaffen sein mochten.

»Tag, Haystack«, sagte er dann. »Ich glaubte schon, du hättest mich versetzt. Bei diesen Filmen wirst du dir mindestens zehn Pfund abschwitzen. Du wirst bestimmt den ganzen Sommer über Alpträume haben.«

Richie wollte zur Kasse gehen, aber Ben griff nach seinem Arm. Richie drehte sich um.

Ben setzte zum Sprechen an, warf Bev einen Seitenblick zu (sie lächelte ihn an) und machte dann einen neuen Anlauf. »Ich bin um die Ecke gegangen, weil diese Kerle anmarschiert kamen«, sagte er. »Henry Bowers und Criss. Belch Huggins. Und noch ein paar andere.«

Richie pfiff durch die Zähne. »Sind sie ins Kino gegangen?«

Ben nickte.

»Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich zu Hause bleiben und einfach in den Spiegel schauen«, sagte Richie. »Horrorfilme ganz gratis.« Bev lachte, aber Ben lächelte nur ein wenig. Henry Bowers hatte ihn neulich umbringen wollen. Dessen war er sich ganz sicher.

»Na ja, wir geh'n einfach auf den Balkon rauf«, meinte Richie. »Sie werden bestimmt in der zweiten Reihe sitzen und ihre Schweißfüße hochlegen.«

»Bist du sicher?«

»Ja.« Richie schwieg einen Moment. »Na ja, ganz sicher bin ich nicht. Aber wenn sie irgendwas anfangen wollen, sagen wir einfach Foxy Bescheid, und der schmeißt sie dann raus.« Foxy war Mr. Foxworth, der magere, blasse, verdrießlich aussehende Manager des Aladdin. Er verkaufte jetzt gerade Süßigkeiten und Popcorn und leierte dabei unaufhörlich »Nicht drängeln! Nicht vordrängen!« In seinem fadenscheinigen Smoking und dem vergilbten Hemd sah er wie ein Leichenbestatter aus.

Ben schaute zweifelnd Foxy und dann wieder Richie an.

»Du darfst dein Leben nicht total von ihnen beherrschen lassen, Mann«, sagte Richie leise. »Weißt du das nicht?«

»Eigentlich schon«, seufzte Ben. Er hatte sich bisher nie Gedanken darüber gemacht... aber Beverlys Anwesenheit gab für ihn den Ausschlag. Zum einen wollte er nicht, daß sie ihn für einen Feigling hielt, zum anderen übte der Gedanke, auf dem Balkon im Dunkeln in ihrer Nähe zu sein -selbst wenn Richie zwischen ihnen sitzen würde, was sehr wahrscheinlich war - auf ihn eine ungeheure Anziehungskraft aus.

»Wir gehen rein, sobald die Vorstellung anfängt«, sagte Richie. »Dann ist es dunkel. Nur Mut, HayStack.«

»Nenn mich bitte nicht so, okay?«

»Okay, Haystack.«

Ben runzelte flüchtig die Stirn, dann prustete er los. Auch Richie lachte, und Bev stimmte in ihr Lachen ein.

Richie ging zur Kasse. Wulstlippe Cole musterte ihn mürrisch.

»Guten Tag, schöne Frau«, sagte Richie. »Ich hätt' 'nen dringenden Bedarf an drei hübschen Kärtchen für unsre guten alten amerikanischen Schinken.«

»Was?« schnauzte Wulstlippe so barsch durch die runde Öffnung im Glas und zog so drohend ihre dünnen Brauen hoch, daß Richie hastig einen zerknitterten Dollarschein durch den Schlitz schob und murmelte: »Dreimal bitte.«

Drei Karten fielen in den Schlitz. Richie nahm sie an sich. Mrs. Cole warf ihm eine Vierteldollarmünze zu. »Keinen Unsinn machen, nicht mit Popcorntüten werfen, nicht schreien und kreischen«, kommandierte sie.

»Nein, Madam«, sagte Richie und zog sich zurück. »Es wärmt mir immer das Herz, eine alte Kuh zu sehen, die so 'ne Schwäche für Kinder hat«, sagte er zu Bev und Ben.

Sie standen draußen herum und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Wulstlippe starrte sie hinter ihrer Glasbarrikade hervor mißtrauisch an. Richie gab für Bev die Geschichte vom Dammbau in den Barrens zum besten und trompetete Mr. Nells Partien mit seiner Stimme-des-irischen-Bullen. Bald lachte Bev schallend, und sogar Ben grinste, obwohl seine Blicke weiterhin zwischen der Glastür des Aladdin und Beverlys Gesicht hin und her schweiften.

Der Balkon war okay. Gleich zu Beginn von >I Was a Teenage Frankenstein< entdeckte Richie - wie er vorhergesagt hatte - Henry Bowers und seine Scheißfreunde in der zweiten Reihe Parterre. Es waren fünf oder sechs Burschen, Fünft-, Sechst- und Siebenkläßler; alle hatten ihre Motorradstiefel auf die Lehnen vor ihnen gelegt. Foxy ging hin und befahl ihnen, die Füße auf den Boden zu stellen. Sie gehorchten. Foxy entfernte sich. Die Stiefel wurden wieder auf die Lehnen gelegt. Fünf oder zehn Minuten später tauchte Foxy wieder bei ihnen auf, und das Spielchen wiederholte sich. Foxy hatte nicht genug Mumm, um sie hinauszuwerfen.

Die Filme waren wirklich gut. Der Teenage-Frankenstein sah richtig schön gruselig aus. Trotzdem war der Teenage-Werwolf irgendwie furchterregender ... vielleicht, weil er auch ein bißchen traurig war. Er war eigentlich nicht schuld an dem, was passierte. Der Hypnotiseur hatte ihn zu dem gemacht, was er war.

Beverly saß zwischen den beiden Jungen, aß Popcorn aus ihren Tüten, schrie, hielt sich die Augen zu, lachte manchmal. Als der Werwolf das Mädchen schnappte, das nach der Schule in der Turnhalle trainierte, preßte sie ihr Gesicht gegen Bens Arm, und Richie hörte Bens überraschtes Keuchen sogar durch das Kreischen der zwei- oder dreihundert Kinder hinweg.

Zuletzt wurde der Werwolf getötet. Ein Bulle sagte zum anderen, dies würde den Leuten hoffentlich eine Lehre sein, nicht mit Dingen herumzuspielen, die man am besten Gott überlassen solle. Die Lichter im Saal gingen an. Richie war hundertprozentig zufrieden, obwohl er leichtes Kopfweh hatte. Vermutlich würde er bald wieder zum Augenarzt gehen und sich eine stärkere Brille verschreiben lassen müssen. Bis er auf die High School käme, würden seine Gläser so dick wie Cola-Flaschen sein, dachte er niedergeschlagen.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Ben ihn am Ärmel zupfte. »Sie haben uns gesehen«, flüsterte er.

»Häh?«

»Bowers und Criss. Sie haben beim Rausgehen hochgeschaut. Sie haben uns gesehen, Richie!« Ben hörte sich an, als sei er einer Panik nahe. Vielleicht hätte Richie den Grund dafür besser verstanden, wenn er dabei gewesen wäre, als Ben mit blutigem Bauch und zerfetztem Sweater am Bach auf Bill und Eddie zugehinkt war.

»Okay, okay«, sagte Richie. »Beruhige dich, Haystack. Beruhige dich. Wir gehen einfach durch den Seitenausgang raus. Kein Grund zur Sorge.«

Sie gingen die Treppe hinab, Richie als Vorhut, Beverly in der Mitte, Ben als letzter - er schaute immer wieder beunruhigt zurück.

»Sind diese Kerle hinter dir her, Ben?« fragte Beverly.

»Ich nehm's stark an«, antwortete Ben. »Ich hab' am letzten Schultag mit Henry Bowers einen Kampf gehabt.«

»Hat er dich verprügelt?«

»Nicht so sehr, wie er wollte«, sagte Ben. »Deshalb ist er jetzt wahrscheinlich wütender denn je.«

Richie stieß die Ausgangstür auf, und sie traten auf das Gäßchen zwi-

sehen dem Kino und Nan's Luncheonette hinaus. Eine Katze, die in Mülltonnen gewühlt hatte, fauchte und rannte an ihnen vorbei auf einen Bretterzaun am Ende der Gasse zu. Sie kletterte behend am Zaun hoch und verschwand auf der anderen Seite. Ein Mülltonnendeckel klapperte. Bev machte einen Satz und packte Richie am Arm. »Ich bin von den Filmen her noch ein bißchen nervös«, erklärte sie.

»Du brauchst...«, setzte Richie zu einer Antwort an.

»Hallo, Dreckskerl!« rief Henry Bowers.

Bestürzt drehten sich die drei Kinder um. Henry, Victor und Belch standen am Anfang der Gasse, und hinter ihnen zwei weitere Burschen.

»O Scheiße, ich wußte, daß so was passieren würde«, stöhnte Ben.

»Sprich am besten rasch noch ein Gebet, Dreckskerl«, sagte Henry und rannte auf sie zu.

Die folgenden Ereignisse kamen Richie sowohl damals als auch später immer unwirklich vor, wie aus einem Film - im wirklichen Leben passierte so etwas einfach nicht. Im wirklichen Leben bezogen die Kleinen ihre Prügel, sammelten dann ihre Zähne auf und humpelten nach Hause.

Aber diesmal lief es nicht so ab.

Beverly machte einige Schritte vorwärts, als wollte sie Henry entgegengehen, ihm die Hand schütteln oder einen Kuß geben. Richie hörte deutlich seine Stiefelnägel auf dem Pflaster. Victor und Belch folgten ihrem Anführer. Die beiden anderen Jungen standen am Eingang zur Gasse Schmiere.

»Laß ihn in Ruhe!« schrie Beverly. »Halt dich an jemanden von deiner eigenen Größe!«

»Geh mir aus dem Weg, du Hexe!« brüllte Henry, der alles andere als ein Gentleman war. »Sonst walz' ich dich pl...«

Richie streckte sein Bein aus, ohne richtig zu wissen, was er tat. Henry stolperte darüber und fiel hin. Die Pflastersteine waren hier sehr glitschig, weil überall Abfall aus den überquellenden Mülltonnen der Luncheonette herumlag.

»Ich bring' euch um, ihr Scheißkerle!« schrie er, während er sich wieder hochrappelte. Sein Hemd war mit Kaffeesatz, Dreck und Kohlresten beschmiert.

Irgend etwas setzte bei Ben aus. Er brüllte auf wie ein Löwe und packte eine der Mülltonnen. Einen Augenblick lang, als er sie hochstemmte, wobei er jede Menge Abfall verschüttete, sah er wirklich wie Haystack Calhoun aus, oder wie Man Mountain Mattoon. Sein Gesicht war bleich und zornig. Er schleuderte die Mülltonne. Sie traf Henry im Rücken, etwa in Taillenhöhe und warf ihn platt zu Boden.

»Machen wir, daß wir hier rauskommen!« schrie Richie.

Sie rannten auf den Eingang der Gasse zu. Victor Criss versperrte Ben den Weg. Ben brüllte wieder auf, senkte den Kopf, nahm einen Anlauf und rammte seinen Kopf in Victors Magen.

»Auah!« schrie Victor und setzte sich auf den Hintern.

Belch packte Beverly am Pferdeschwanz und schleuderte sie gegen die Ziegelmauer des Kinos. Bev riß sich los und rannte die Gasse hinunter. Richie folgte ihr, einen Mülltonnendeckel in der Hand. Belch holte zu einem Fausthieb aus. Richie hielt den Metalldeckel wie einen Schild hoch. Belchs

Faust landete mit voller Wucht darauf, mit einem lauten Bongl Richie spürte den Aufprall bis in die Schulter hinein. Belch schrie auf, hüpfte jammernd hin und her und hielt sich die anschwellende Hand.

Richie rannte hinter Ben und Beverly her.

Einer der Jungen am Anfang der Gasse hatte Bev gefangen. Ben kämpfte mit ihm. Der andere Junge schlug auf seinen Rücken ein. Richie holte mit dem Bein weit aus und trat den Jungen in den Hintern. Der heulte vor Schmerz auf. Richie packte mit einer Hand Beverly, mit der anderen Ben am Arm.

»Rennt!« schrie er.

Der Junge, mit dem Ben gekämpft hatte, ließ Bev los und landete einen Haken auf Richies Ohr. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn, dann wurde das Ohr taub und sehr warm. In seinem Kopf summte es wie im Fernseher nach Sendeschluß.

Sie rannten die Center Street entlang. Leute drehten sich nach ihnen um. Bens Bauch bewegte sich auf und ab. Beverlys Pferdeschwanz wippte. Richie hielt mit dem linken Daumen seine Brille fest. Sein Kopf dröhnte immer noch, und er spürte, wie sein Ohr anschwoll, aber er fühlte sich großartig. Er begann zu lachen. Beverly stimmte ein, und kurz darauf lachte auch Ben.

Sie bogen in die Court Street ab und ließen sich auf eine Bank vor der Polizeistation fallen. Das schien ihnen im Augenblick der sicherste Ort zu sein. Beverly schlang ihre Arme um Bens und Richies Nacken und drückte beide fest an sich.

»Das war Spitze!« sagte sie mit funkelnden Augen. »Habt ihr diese Kerle gesehen? Habt ihr sie gesehen?«

»Ich hob' sie gesehen«, keuchte Ben. »Und ich möchte sie nie wieder sehen.«

Sie brachen erneut in ein fast hysterisches Gelächter aus. Richie rechnete immer noch damit, daß sie jeden Augenblick um die Ecke biegen und die Verfolgung wieder aufnehmen würden, Polizeistation hin, Polizeistation her. Trotzdem konnte er nicht aufhören zu lachen. Beverly hatte recht. Es war einfach Spitze gewesen.

»Der Verlierer-Klub hat 'ne tolle Leistung hingelegt!« rief er überschwenglich. »Wacka-wacka-wacka!«

Ein Polizist streckte seinen Kopf aus einem offenen Fenster im zweiten Stock und brüllte: »Macht, daß ihr hier wegkommt, Kinder! Ihr habt hier nichts verloren! Weg mit euch!«

Richie öffnete den Mund zu einer geistreichen Antwort - eventuell sogar in seiner brandneuen Stimme-eines-irischen-Bullen. Ben trat ihm ans Schienbein. »Halt die Klappe, Richie!« sagte er und konnte gleich darauf kaum glauben, daß er wirklich so was gesagt hatte.

»Ganz recht«, stimmte Bev zu und schenkte Ben einen beifälligen Blick.

»Okay«, sagte Richie. »Und was machen wir jetzt? Sollen wir Henry Bowers suchen und ihn fragen, ob er den Streit bei einer Runde Monopoly beilegen möchte?«

»Beiß dich auf die Zunge«, sagte Bev.

»Häh? Was soll das heißen?«

»Ach, nichts«, meinte Bev. »Manche Jungs sind so ahnungslos.«

Schüchtern, mit hochrotem Kopf, wagte Ben die Frage: »Haben sie dir sehr weh getan, als sie dich an den Haaren zerrten, Bev?«

Sie lächelte ihm zu und war plötzlich von etwas überzeugt, was sie bisher nur vermutet hatte - daß es Ben Hanscom gewesen war, der ihr die Postkarte mit dem wunderschönen kleinen Haiku geschickt hatte. »Nein, es war nicht schlimm«, antwortete sie.

»Gehen wir in die Barrens«, schlug Richie vor.

Und das taten sie wirklich - sie flüchteten in die Barrens. Richie dachte später, daß das der Auftakt für jenen Sommer war. Die Barrens wurden ihr Ort. Wie Ben bis zum Tag seines ersten Kampfes mit Henry Bowers, so war auch Beverly noch nie dort unten gewesen. Sie gingen hintereinander den Pfad hinab, Bev in der Mitte. Ihr Rock wippte anmutig, und sobald Ben sie anschaute, wurde er von Gefühlen überwältigt, die so heftig wie Magenkrämpfe waren. Sie trug wieder ihr Fußkettchen. Es glitzerte und funkelte in der Nachmittagssonne.

Sie überquerten den kleinen Bach, wo die Jungen ihren Damm gebaut hatten, auf Steinen, die im Bachbett herumlagen, entdeckten einen neuen Pfad und gelangten schließlich ans Ostufer des Kenduskeags. Ohne einengenden Kanal war der Fluß breit und seicht. Er funkelte im Licht. Zu seiner Linken sah Ben zwei jener Betonzylinder mit den durchlöcherten Deckeln. Etwas unterhalb endeten große Betonrohre. Dünne Ströme von Schmutzwasser ergossen sich aus diesen Rohren in den Kenduskeag. Oben in der Stadt macht jemand einen Haufen, und hier kommt das Zeug raus, dachte Ben, der sich noch genau an Mr. Nells Erklärungen erinnerte. Er verspürte einen dumpfen hilflosen Zorn. Früher hatte es im Kenduskeag bestimmt Fische gegeben. Jetzt dürften die Chancen, hier eine Forelle zu fangen, gleich null sein. Viel wahrscheinlicher war es, daß man einen Fetzen Klopapier oder einen Tampon herausfischen würde.

»Hier ist es wunderschön«, seufzte Beverly glücklich.

»Ja, es ist wirklich nicht schlecht«, stimmte Richie ihr zu. »Die Schnaken sind verschwunden, und die Moskitos sind erträglich.« Er sah sie hoffnungsvoll an. »Hast du Zigaretten?«

»Nein«, antwortete sie. »Ich hatte ein paar, aber ich hab' sie gestern geraucht.«

»Jammerschade«, meinte Richie.

Ein lautes Pfeifen ertönte, und sie sahen einen langen Güterzug, der am anderen Ende der Barrens auf den Bahnhof zu ratterte. Wenn das ein Personenzug wäre, hätten die Fahrgäste wirklich eine fantastische Aussicht, dachte Richie. Zuerst die armseligen Häuser von Old Cape, dann die Bambussümpfe auf der anderen Seite des Kenduskeags und schließlich, ziemlich am Ende der Barrens, die rauchende Kiesgrube, die der Stadt als Müllhalde diente.

Einen Augenblick lang fiel ihm Eddies Geschichte von dem Aussätzigen unter dem leerstehenden Haus in der Neibolt Street ein. Er verdrängte diesen Gedanken rasch wieder und wandte sich an Ben.

»Welche Szene hat dir am besten gefallen, Haystack?«

»Was?« Ben zuckte schuldbewußt zusammen. Während Beverly gedankenverloren über den Fluß hinwegblickte, hatte er ihr Profil betrachtet... und den blauen Fleck auf ihrer Wange.

»Welche Szene von den Filmen dir am besten gefallen hat?«

»Oh«, sagte Ben. »Als Dr. Frankenstein anfing, die Leichen den Krokodilen unter seinem Haus vorzuwerfen - das fand ich am tollsten.«

»Das war echt gruselig«, stimmte Beverly schaudernd zu. »Ich hasse solches Zeug wie Krokodile und Piranhas und Haie.«

»Was sind denn Piranhas?« erkundigte sich Richie interessiert.

»Kleine Fische«, erklärte Bev. »Sie haben kleine Zähne, die aber wahnsinnig scharf sind. Und wenn man in einen Fluß gerät, wo welche sind, fressen sie einen bis auf die Knochen auf.«

»Wow!«

»Ich hab' einmal einen Film gesehen, wo Eingeborene einen Fluß überqueren wollten, aber die Brücke war kaputt«, berichtete Bev. »Sie trieben dann eine Kuh an einer langen Schnur ins Wasser, und während die Piranhas damit beschäftigt waren, die Kuh zu fressen, überquerten sie den Fluß. Als sie sie dann rauszogen, war von ihr nur noch das Skelett übrig. Ich hab' eine Woche lang Alpträume gehabt.«

»Ich wünschte, ich hätte ein paar von diesen Fischen«, sagte Richie fröhlich. »Ich würde sie Henry Bowers in die Badewanne legen.«

Ben begann zu kichern. »Ich glaube nicht, daß er jemals badet.«

»Wir sollten lieber auf der Hut vor diesen Burschen sein«, sagte Beverly und strich mit dem Finger über den blauen Fleck auf ihrer Wange. »Mein Dad hat mich vorgestern verprügelt, weil ich ein paar Teller zerbrochen habe. Einmal pro Woche ist genug.«

Ein kurzes Schweigen trat ein, das aber nichts Betretenes oder Peinliches an sich hatte. Dann erzählte Richie, ihm habe am meisten die Szene gefallen, als der Werwolf den bösen Hypnotiseur erwischte. Sie unterhielten sich länger als eine Stunde über die Filme - und über andere Horrorfilme, die sie gesehen hatten, und über die Alfred-Hitchcock-Show im Fernsehen. Bev entdeckte am Ufer Gänseblümchen und pflückte eines. Sie hielt es zuerst unter Richies und dann unter Bens Kinn, um festzustellen, ob sie Butter mochten. Sie erklärte, das sei bei beiden der Fall. Als sie ihnen die Blume unters Kinn hielt, war jeder der beiden Jungen sich der leichten Berührung auf der Schulter und des frischen Geruchs ihrer Haare stark bewußt. Ihr Gesicht war nur ganz flüchtig Bens Gesicht sehr nahe, aber in der folgenden Nacht träumte er von ihren Augen.

Die Unterhaltung geriet gerade etwas ins Stocken, als sie auf dem Pfad hinter sich Schritte und Gesprächsfetzen hörten. Sie drehten sich rasch um, und Richie schoß es plötzlich durch den Kopf, daß hinter ihnen der Fluß war, daß sie keine Rückzugsmöglichkeit hatten.

Die Stimmen wurden lauter. Unwillkürlich stellten sich Ben und Richie schützend vor Beverly.

Die Büsche am Ende des Pfades bewegten sich... und plötzlich kam Bill Denbrough zum Vorschein. Ein anderer Junge war bei ihm, den Richie flüchtig kannte. Er hieß Bradley Sowieso und lispelte furchtbar. Wahrscheinlich war er zusammen mit Bill bei diesem Sprachtherapiedingsbums gewesen, dachte Richie.

»Big Bill!« rief er, dann fuhr er in seiner gewählten britischen Stimme fort: »Wir sind sehr glücklich, Sir, Sie hier begrüßen zu dürfen, Mr. Denbrough.«

Bill grinste fröhlich - und als seine Blicke von Richie zu Ben und Beverly und dann zu Bradley Wieimmererauchheißenmochte schweiften, überkam Richie plötzlich eine unheimliche Gewißheit. Beverly gehörte irgendwie zu ihnen. Bills Augen verrieten es deutlich. Aber Bradley nicht. Er würde heute vielleicht ein Weilchen hierbleiben und sogar wieder einmal in die Barrens kommen - niemand würde ihm sagen, tut uns leid, der Klub der Verlierer ist schon voll, wir haben bereits unser sprechbehindertes Mitglied -, aber er gehörte einfach nicht dazu.

Dieser Gedanke machte Richie plötzlich Angst. Sie überwältigte ihn mit solcher Kraft, daß er einen Augenblick lang befürchtete zu ersticken. Es war ein Gefühl, wie wenn man plötzlich erkennt, daß man zu weit hinausgeschwommen ist und den Kopf nicht mehr über Wasser halten kann. Es war eine blitzartige intuitive Erkenntnis: Wir werden in irgend etwas hineingezogen. Werden sorgfältig ausgewählt - auserwählt. Nichts von alldem ist Zufall. Weder daß Ben neulich in die Barrens gefallen ist, noch daß Stan und ich rechtzeitig gekommen sind, um beim Dammbau zu helfen, noch daß ich heute Beverly auf jener Bank getroffen habe. Nichts davon war Zufall. Wir werden in irgend etwas hineingezogen. Sind wir schon komplett?

Dann verschwand die Angst wieder, und die Intuition zerfiel in bedeutungslose Gedankenfetzen - wie die Splitter einer zerbrochenen Glasscheibe. Bill war hier, und Bill bot Sicherheit; er war physisch der größte von ihnen, und er sah auch am besten aus. Er brauchte nur einen Seitenblick auf Bev zu werfen, die Bill fasziniert anschaute, und dann Bens Augen zu sehen, der Bev unglücklich und wissend betrachtete, um sich dessen sicher zu sein. Aber Bill sah nicht nur am besten aus, er war auch am stärksten von ihnen allen, und Richie vermutete, daß Ben nicht eifersüchtig sein würde, wenn Beverly sich in Bill verknallte oder wie immer man das nennen wollte (wenn'sie sich hingegen in mich verknallen würde, dachte Richie, wäre Ben bestimmt eifersüchtig). Er würde das als etwas völlig Natürliches akzeptieren. Und da war auch noch etwas anderes: Bill war gut. Es war dumm, so was zu denken (er dachte es auch nicht richtig; vielmehr spürte er es), aber er konnte es nicht ändern. Bill hatte nun mal diese Ausstrahlung. Stark und gut, wie ein Ritter in einem alten Film, der kitschig ist, der einen aber trotzdem zum Weinen bringt. Stark und gut. Und fünf Jahre später, als seine Erinnerungen an das, was in Derry in jenem Sommer und auch zuvor passiert war, rasch verblaßten, würde der Teenager Richie Tozier entdecken, daß John F. Kennedy ihn an Stotter-Bill erinnerte.

An wen? würde eine innere Stimme fragen.

Er würde verwirrt aufschauen und den Kopf schütteln. An einen Jungen, den ich einmal gekannt habe, würde er denken und ein vages Unbehagen verdrängen, indem er seine Brille hochschieben und sich wieder seinen Hausaufgaben zuwenden würde. An einen Jungen, den ich vor langer Zeit gekannt habe.

Jetzt stemmte Bill seine Hände in die Hüften, lächelte fröhlich und

sagte: »N-N-Na, d-da wären w-wir a-also... u-u-und was m-m-machen wir jetzt?«

»Hast du Zigaretten?« fragte Richie hoffnungsvoll.

11

Fünf Tage später, als der Juni sich dem Ende zuneigte, erzählte Bill Richie, er wolle zur Neibolt Street fahren und sich unter der Veranda umschauen, wo Eddie den Aussätzigen gesehen hatte.

Sie waren fast vor Richies Haus angekommen, und Bill schob Silver. Richie hatte die ganze Strecke auf dem Gepäckträger zurückgelegt - es war eine aufregend schnelle Fahrt quer durch Derry gewesen -, aber einen Block vor Richies Haus hatte Bill lieber angehalten, und sie waren abgestiegen. Wenn Richies Mutter sehen würde, daß er auf dem Gepäckträger mitfuhr, würde sie glatt in Ohnmacht fallen. In Silvers Drahtkorb lagen Spielzeuggewehre - zwei gehörten Bill, zwei Richie. Sie hatten den größten Teil des Nachmittags in den Barrens verbracht und mit Gewehren gespielt. Beverly war gegen drei Uhr aufgetaucht, in verblichenen Jeans, mit einem uralten Daisy-Luftgewehr, das nicht mehr viel taugte - wenn man den abblätternden Drücker betätigte, gab es ein erschöpftes Schnauben von sich. Bevs Spezialität war japanisches Heckenschießen, und sie konnte ausgezeichnet auf Bäume klettern und von dort Unvorsichtige erschießen, die unten vorbeigingen. Der blaue Fleck auf ihrer Wange war zu einem hellen Gelb verblaßt.

»Was hast du gesagt?« fragte Richie. Er war geschockt... aber auch ein wenig neugierig.

»I-Ich m-m-möchte einen B-B-Blick unter jene V-V-Veranda werfen«, wiederholte Bill. Seine Stimme klang eigensinnig, aber er vermied es, Richie anzuschauen. Auf seinen Backenknochen brannten kleine rote Flek-ken. Sie standen jetzt vor Richies Haus. Richies Mutter saß auf der Veranda und las ein Buch. Sie winkte ihnen zu und rief: »Hallo, Jungs! Wollt ihr Eistee haben?«

»Wir kommen gleich, Mom«, rief Richie, dann wandte er sich wieder Bill zu: »Es wird dort nichts zu sehen geben. Er hat einen Landstreicher gesehen und ist darüber zu Tode erschrocken. Mein Gott, du kennst doch Eddie!«

»Ja-Ja, ich k-kenne Eddie. Aber d-d-denk mal an das Foto im A-A-Album.«

Richie trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. Bill zeigte ihm seine rechte Hand. Die Finger waren nicht mehr verpflastert, aber Richie konnte die verheilenden Schnittwunden noch deutlich erkennen.

»Ja, aber...«

»H-H-Hör mal zu«, fiel Bill ihm ins Wort. Er redete sehr langsam und schaute Richie unverwandt in die Augen. Er wies wieder auf die Ähnlichkeiten zwischen Bens und Eddies Geschichten hin... und verknüpfte sie mit dem, was sie in dem sich bewegenden Foto gesehen hatten. Er wiederholte die Vermutung, daß der Clown die Jungen und Mädchen ermordet hatte, die seit Dezember des Vorjahres in Derry tot aufgefunden worden waren. »Und vielleicht n-nicht nur s-sie«, endete er. »W-Was ist mit all jenen, die v-v-verschwunden sind? W-w-was ist mit E-E-Eddie Corcoran?«

»Scheiße, sein Stiefvater hat ihn umgebracht«, sagte Richie, aber er fühlte sich immer noch sehr unbehaglich. Richard Macklin war am Vortag verhaftet worden. »Liest du denn keine Zeitungen?«

»N-Na ja, v-v-vielleicht hat er's getan, v-vielleicht aber auch n-n-nicht«, meinte Bill. »I-Ich kannte ihn ein b-b-bißchen, und ich w-weiß daß sein D-D-Dad ihn oft prügelte. U-U-Und ich w-weiß auch, daß er m-m-manchmal n-nachts nicht heimging, um vor ihm in S-S-Sicherheit zu sein.«

»Und du glaubst, daß der Clown ihn erwischt hat«, sagte Richie nachdenklich. »So ist es doch?«

Bill nickte.

»Und was willst du - sein Autogramm?«

»W-W-Wenn der Clown die a-a-anderen e-e-erm-m-mordet hat, d-dann hat er auch G-G-Georgie e-ermordet«, sagte Bill und schaute Richie an. Seine Augen waren wie aus Stein - hart, kompromißlos, unversöhnlich. »Ich w-w-will ihn t-t-t-töten.«

»Mein Gott«, rief Richie ängstlich. »Wie willst du denn das machen?«

»Mein D-D-Dad hat eine P-Pistole«, erklärte Bill. Etwas Speichel flog ihm aus dem Mund, aber Richie bemerkte es kaum. »E-Er weiß n-n-nicht, daß ich's w-weiß, a-aber sie liegt g-g-ganz oben in s-seinem Schrank.«

»Das könnte funktionieren, wenn es ein Mann ist«, sagte Richie, »und wenn wir ihn auf einem Haufen Kinderknochen sitzend finden...«

»Ich hab' den Tee eingeschenkt, Jungs!« rief Richies Mutter. »Kommt her!«

»Sofort, Mom!« rief Richie zurück und lächelte strahlend, aber dieses gezwungene Lächeln verschwand sofort aus seinem Gesicht, als er sich wieder Bill zuwandte. »Ich würde nämlich niemanden erschießen, nur weil er ein Clownskostüm anhat, Billy. Du bist mein bester Freund, aber das würde ich nicht tun, und ich würde auch dich daran hindern, wenn ich könnte.«

»U-U-Und w-was, w-w-wenn t-tatsächlich ein H-H-Haufen Knochen daliegen w-würde?«

Richie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schwieg einen Moment lang. Dann fragte er: »Und was willst du tun, wenn es kein Mensch ist, Billy? Wenn es irgendein Monster ist? Wenn es so was tatsächlich gibt? Ben sagt, es sei eine Mumie gewesen, und die Luftballons seien gegen den Wind geflogen, und die Mumie habe keinen Schatten geworfen. Das Foto in Georgies Album... entweder wir haben uns das alles nur eingebildet, oder es war Magie. Was willst du machen, wenn es kein Mensch ist, Billy?«

»D-D-Dann w-werden wir uns was a-a-anderes ausdenken.«

»O ja«, sagte Richie, »ich verstehe. Wenn du vier- oder fünfmal geschossen hast, und es kommt immer noch auf uns zu wie der Werwolf in diesem Film, den Ben und Bev und ich neulich gesehen haben, probierst du dein Glück mit einer Schleuder. Und wenn das auch nichts nützt, schmeiß ich ihm Niespulver ins Gesicht. Und wenn es uns dann immer noch verfolgt, sagen wir einfach: >Jetzt bleiben Sie mal stehen, Mr. Monster. So klappt's nicht. Hören Sie mal, ich muß erst in der Bücherei nachlesen, wie man Ihnen beikommen kann. Ich komme demnächst wieder. Entschuldigung< -Willst du's so anfangen, Big Bill?«

Er schaute seinen Freund mit laut pochendem Herzen an. Es war durchaus möglich, daß Bill sich jetzt einfach von ihm abwenden und ihm erklären würde, wenn es so sei, dann verzichte er gern auf Richie. Ein Teil von ihm lehnte sich unglücklich gegen eine solche Möglichkeit auf, aber ein anderer Teil von ihm wollte direkt, daß Bill genau das sagte; diese Sache war nämlich nicht gefahrlos wie ein Horrorfilm, wo man wußte, daß zuletzt alles gut ausging, und selbst wenn es einmal nicht gut ausging, machte es nichts, denn es war ja nur ein Film. Aber das Foto in Georgies Zimmer - es war etwas ganz anderes als ein Film gewesen. Er hatte gedacht, daß der Vorfall in seiner Erinnerung schon verblaßt war, aber offenbar hatte er sich das nur einreden wollen, denn jetzt sah er wieder genau vor sich, wie Billys Finger in das Foto eingetaucht waren, er sah die Schnittwunden. Wenn er Bill nicht zurückgerissen hätte...

Aber anstatt sich abzuwenden, grinste Bill. »D-Du w-w-wolltest das A-Album sehen, und ich hab's d-dir gezeigt«, sagte er. »Jetzt m-m-möchte ich, daß du z-zusammen mit m-mir einen B-B-B-Blick auf das H-Haus wirfst. W-Wie du m-m-mir, so ich d-dir. M-Morgen vormittag.« So, als sei es schon eine beschlossene Sache.

»Und wenn es nun ein Monster ist?« fragte Richie wieder und schaute Bill fest in die Augen. »Wenn die Pistole deines Vaters es nicht aufhalten kann, Big Bill? Wenn es trotzdem immer näher kommt?«

»W-Wir denken uns sch-sch-schon was aus«, erwiderte Bill, warf den Kopf zurück und lachte, als hätte er plötzlich den Verstand verloren. Richie stimmte in sein Gelächter ein. Es war einfach unwiderstehlich.

Sie schlenderten nebeneinander zu Richies Veranda. Seine Mutter, eine etwas umständliche kleine Frau mit einem lieben Gesicht, hatte ihnen riesige Gläser Eistee mit Pfefferminzblättern und eine Schüssel Vanillewaffeln hingestellt.

»D-D-Du k-kommst also m-m-mit?«

»Ja«, sagte Richie. »Ich will es zwar nicht, aber ich komme trotzdem mit.«

Bill klopfte ihm fest auf die Schulter, und das machte die Angst etwas erträglicher - obwohl Richie sicher war (und er irrte sich nicht), daß der Schlaf in dieser Nacht lange auf sich warten lassen würde.

»Es sah eben so aus, als würdet ihr da draußen eine sehr ernste Besprechung abhalten«, sagte Mrs. Tozier, während sie sich mit einigen Zeitschriften und einem Glas Eistee zu ihnen setzte. Erwartungsvoll blickte sie von einem zum anderen.

»Ach, Denbrough hat die verrückte Idee, daß die Red Sox in die erste Liga aufsteigen werden«, erklärte Richie.

»M-M-Mein D-Dad und ich g-g-glauben, daß s-sie auf den d-d-dritten Platz k-kommen können«, sagte Bill und schlürfte seinen Eistee. »D-D-Das schmeckt sehr g-gut, Mrs. T-Tozier.«

»Danke, Bill.«

»Die Sox kommen im selben Jahr in die erste Liga, in dem du aufhörst zu stottern, du Mißgeburt!« sagte Richie liebenswürdig.

»richie!« schrie Mrs. Tozier entsetzt und ließ fast ihr Glas fallen. Aber Ri-chie und Bill lachten schallend, fast hysterisch. Sie schaute fassungslos von ihrem Sohn zu Bill und wieder zurück zu ihrem Sohn; sie war total perplex, aber da war auch noch etwas anderes - eine unbestimmte Angst, die in ihrem Herzen vibrierte wie eine Stimmgabel aus purem Eis.

Ich verstehe keinen von den beiden, dachte sie. Wohin sie gehen, was sie treiben, was sie wollen... oder was aus ihnen einmal wird. Manchmal - manchmal sind ihre Augen so wild, und manchmal habe ich solche Angst um sie, und manchmal habe ich direkt Angst vor ihnen...

Nicht zum erstenmal dachte sie, wie schön es doch wäre, wenn sie und ihr Mann auch noch eine Tochter hätten, ein hübsches blondes Mädchen, dem sie sonntags Röckchen und schwarze Lederschuhe anziehen und passende Schleifen ins Haar binden könnte. Ein hübsches kleines Mädchen, das nach der Schule Kuchen backen und sich Puppen wünschen würde anstatt Bücher über das Bauchreden und schnelle Automodelle.

Ein kleines hübsches Mädchen könnte sie verstehen.

12

»Hast du sie?« fragte Richie eifrig.

Sie schoben ihre Räder die Kansas Street entlang der Barrens hoch. Es war zehn Uhr vormittags am nächsten Tag. Der Himmel war bewölkt und grau, und für den Nachmittag war Regen vorhergesagt worden. Richie dachte, daß Big Bill mit seinen dunklen Ringen unter den Augen so aussah, als hätte auch er sehr schlecht geschlafen.

»J-Ja«, sagte Bill und klopfte an die Tasche seines grünen Dufflecoats.

»Zeig mal«, sagte Richie fasziniert.

»N-Nicht hier«, sagte Bill. »Jemand k-k-könnte sie sehen.« Er grinste plötzlich. »Aber sieh m-mal, w-w-was ich noch dabei h-habe.« Er griff unter seinen Dufflecoat und zog seine Schleuder aus der Gesäßtasche der Jeans.

»Oh, Scheiße, Mann!« rief Richie lachend.

Bill tat so, als wäre er beleidigt. »Es w-w-war doch d-deine Idee, T-To-zier.«

Bill hatte die Aluminiumschleuder letztes Jahr zum Geburtstag bekommen. Das war Zacks Kompromiß gewesen zwischen der 22er, die Bill sich gewünscht hatte, und der strikten Weigerung seiner Mutter, einem Jungen in Bills Alter eine Schußwaffe in die Hand zu geben. In der Bedienungsanleitung hatte gestanden, daß eine Schleuder eine gute Jagdwaffe sein könne, wenn man sie zu handhaben verstünde. >In den richtigen Händen ist diese Schleuder eine ebenso wirksame und tödliche Waffe wie ein guter Bogen aus Eschenholz oder eine Feuerwaffey, hieß es dort. Und dann wurde gewarnt, der Besitzer dürfe damit ebensowenig auf Menschen zielen wie mit einer geladenen Pistole.

Bill konnte noch nicht besonders gut mit der Schleuder umgehen (und glaubte insgeheim, daß er es nie richtig lernen würde), aber er hielt die Warnung für gerechtfertigt - die breite, dicke Schlinge ließ sich nur schwer spannen, und wenn man mit einer Kugel - zwanzig dieser Kugellager-Ge-schösse waren gleich mitgeliefert worden - eine Blechdose traf, schlug sie ein großes Loch hinein.

»Kannst du inzwischen besser damit schießen, Big Bill?«

»Ein b-b-bißchen«, sagte Bill. Das stimmte nur teilweise. Nachdem er die Anleitungen im Buch genau studiert und danach im Fairmount Park geübt hatte, bis er einen lahmen Arm bekam, traf er die ebenfalls mitgelieferte Zielscheibe von zehn Schüssen etwa dreimal, und einmal hatte er sogar ins Schwarze getroffen - fast.

Richie spannte die Schleuder einmal, dann gab er sie Bill zurück. Er bezweifelte insgeheim, daß sie gegen Monster etwas ausrichten konnte.

»Na gut«, sagte er. »Du hast also deine Schleuder mitgebracht. Ausgezeichnet. Aber das ist noch gar nichts. Sieh mal, was ich dabei habe, Denbrough.« Er zog aus seiner Jackentasche eine Tüte, auf der ein glatzköpfiger Mann mit aufgeblasenen Backen hatschi! machte, dr. wackys Niespulver stand darunter.

Die beiden Jungen starrten einander lange an, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.

»W-W-Wir sind auf alles v-vorbereitet«, rief Bill schließlich kichernd und wischte sich mit einem Ärmel die Tränen aus den Augen.

»Du sagst es, Stotter-Bill!«

»W-Wir w-w-werden dein Rad in den B-Barrens verstecken«, sagte Bill. »D-Du fährst h-hinten bei mir mit, f-für den F-F-Fall, daß wir uns sch-schnell aus dem Staub m-achen müssen.«

Richie nickte. Sein Raleigh (an dessen Lenkstange er sich manchmal, wenn er schnell fuhr, die Knie anschlug) sah neben Silver wie ein Zwergen-rad aus. Er wußte, daß Bill kräftiger und Silver schneller war. Die von Bill vorgeschlagene Lösung war also sinnvoll.

Sie kamen zu der kleinen Brücke, und Bill lehnte Silver ans Holzgeländer und half Richie, sein Rad den schmalen Trampelpfad hinabzuschieben, den er seit dem Frühling gemacht hatte, weil er Silver immer hier unten versteckte, damit das Rad nicht gestohlen wurde, während er mit den anderen in den Barrens spielte.

Sie versteckten Richies Rad am Ufer des Baches, setzten sich unter die Brücke - hin und wieder hörten sie über ihren Köpfen das Rumpeln eines Fahrzeuges -, und Bill öffnete den Reißverschluß seines Dufflecoats und zog die Pistole seines Vaters heraus.

»D-Du mußt verdammt v-v-vorsichtig sein«, sagte er, während er sie Richie reichte, der anerkennend pfiff. »D-D-Diese P-Pistolen haben keine Si-Si-Sicherung.«

»Ist sie geladen?« fragte Richie ehrfürchtig. Die Pistole, eine PK-Walther, die Zack Denbrough während der Besatzung erstanden hatte, kam ihm unglaublich schwer vor.

»N-Noch nicht«, sagte Bill. Er klopfte auf seine Tasche. »I-Ich hab' ein paar K-K-Kugeln bei mir. Aber mein D-Dad sagt, w-w-wenn die P-Pistole glaubt, du seist nicht v-vorsichtig genug, 1-1 -lädt sie sich von a-a-allein. U-Und erschießt d-d-dich.« Sein Gesicht zeigte ein sonderbares Lächeln; es drückte aus, daß er etwas so Absurdes natürlich nicht glauben konnte, daß er es aber dennoch glaubte.

Richie verstand das sehr gut. Dieses Ding sah irgendwie viel bedrohlicher aus als die drei Gewehre und die Schrotflinte seines Vaters. Diese Pistole sah so aus, als diene sie nur einem einzigen Zweck: Menschen zu erschießen.

Ganz vorsichtig, ohne dem Abzug zu nahe zu kommen, drehte er die Mündung zu sich, und nach einem einzigen Blick in das schwarze lidlose Auge der Walther verstand er Bills eigenartiges Lächeln noch besser. Er erinnerte sich an die Worte seines Vaters: Geh mit einer Schußwaffe immer so um, als sei sie geladen, Richie. Jetzt konnte er das verstehen. Er gab Bill die Pistole zurück und war froh, sie los zu sein.

Bill verstaute sie wieder in der Innentasche seines Dufflecoats. Das Haus an der Neibolt Street hatte für Richie jetzt einen Teil des Schreckens verloren ... aber dafür kam es ihm nun viel wahrscheinlicher vor, daß es tatsächlich zu irgendeiner Gewalttat kommen, daß Blut fließen würde.

Er schaute Bill an und wollte diesen Gedanken Ausdruck verleihen, aber Bill las in seinem Gesicht und fragte: »B-B-Bist du soweit?«

»Ich glaube schon«, antwortete Richie verdrießlich. »Ich glaube schon, Big Bill.«

13

Wie jedesmal, wenn Bill auch den zweiten Fuß aufs Pedal stellte, war Richie überzeugt davon, daß sie gleich umstürzen und sich die Schädel einschlagen würden. Das große Fahrrad schwankte bedenklich von einer Seite zur anderen. Die beiden Pik-Asse an den Speichen hörten sich an wie Maschinengewehre. Silver schwankte immer stärker, wie ein total betrunkener Mann. Richie schloß die Augen und wartete auf den unvermeidlichen Sturz.

Dann brüllte Bill: »Hi-yo, Silver, lös!« Das Fahrrad wurde noch schneller, aber das Schwanken hörte auf. Richie lockerte seine verzweifelte Umklammerung von Bills Taille und hielt sich statt dessen vorne am Gepäckträger, über dem Hinterrad, fest. Bill überquerte waghalsig die Kansas Street und sauste auf Seitenstraßen hügelabwärts. Sie rasten mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit von der Strapham Street auf die Witcham Street hinaus, und Richie lachte in den Wind hinein, als Silver sich gefährlich zur Seite neigte und Bill wieder sein »Hi-yo, Silver, lös!« brüllte.

»Ja, los, Big Bill!« schrie Richie; er machte sich vor Angst fast in die Hose, aber gleichzeitig lachte er wild. »Los!«

Bill ließ sich nicht zweimal bitten. Über die Lenkstange gebeugt, trat er stehend wie wild in die Pedale. Und während er Bills Rücken betrachtete, der für einen noch nicht elfjährigen Jungen erstaunlich breit war, überkam Richie plötzlich die Gewißheit, daß sie unverwundbar waren... daß sie immer und ewig leben würden. Na ja... vielleicht nicht sie, aber Bill bestimmt. Bill selbst hatte keine Ahnung, wie stark er war, wie sicher und irgendwie vollkommen - wie König Artus, der in die Schlacht zieht.

Sie sausten dahin; die Abstände zwischen den Häusern wurden größer, die Querstraßen, die in die Witcham Street mündeten, seltener.

Kurz darauf fuhren sie an grünen Feldern vorbei, die unter dem grauen Himmel seltsam flach und leblos aussahen. In der Ferne konnte Richie jetzt schon den alten Bahnhof erkennen, und rechts davon die Wellblech-Lagerhäuser. Und da war auch schon die Kreuzung Neibolt Street. Unter dem Straßenschild war ein blaues Wegweiserschild: bahnhof derry. Es war rostig und hing schief. Darunter war ein wesentlich größeres gelbes Schild angebracht, auf dem mit schwarzen Buchstaben stand: sackgasse.

Bill bog in die Neibolt Street ein und stellte einen Fuß auf den Gehweg. »Von hier aus gehen wir am besten zu Fuß«, sagte er.

Mit einer Mischung aus Erleichterung und Bedauern glitt Richie vom Gepäckträger. »Okay«, sagte er.

Sie gingen auf dem Gehweg, aus dessen Rissen Unkraut herauswuchs. Vor ihnen, auf dem Bahnhofsgelände, schnaubte eine Diesellok, verstummte, schnaubte dann wieder. Ab und zu war auch das metallische Klirren von Waggons zu hören, die aneinandergekoppelt wurden.

»Hast du Angst?« fragte Richie.

Bill, der Silver neben sich her schob, warf Richie einen flüchtigen Blick zu und nickte dann. »Ja. Und d-du?«

»Und wie!« sagte Richie.

Zur Ablenkung erzählte Bill, daß er seinen Vater am Vorabend über die Neibolt Street ausgefragt habe. Sein Vater habe berichtet, daß bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges sehr viele bei der Bahn Beschäftigte hier gewohnt hätten - Lokomotivführer, Schaffner, Weichensteller, Gepäckträger, Bahnarbeiter. Als der Bahnhof dann für den Personenverkehr geschlossen wurde, ging es auch mit der Straße bergab. Und als Bill und Richie sie jetzt entlanggingen, wurden die Häuser immer schäbiger und heruntergekommener. Die letzten drei oder vier auf beiden Straßenseiten standen leer; die Fenster waren mit Brettern vernagelt, die Gärten total verwildert. An der Veranda eines dieser Häuser hing ein uraltes Schild: Zu verkaufen. Dann endete der Gehweg, und sie mußten auf einem von Unkraut überwucherten Trampelpfad weitergehen.

Bill blieb stehen. »D-Da ist es«, sagte er leise und deutete auf ein Haus.

Nr. 29 mußte früher ein hübsches rotes Haus gewesen sein. Vielleicht hatte hier einmal ein Lokführer gewohnt, dachte Richie, ein Junggeselle, der nur ein- oder zweimal im Monat für drei oder vier Tage nach Hause gekommen war und dann Radio gehört hatte, während er in seinem Garten arbeitete; ein Mann, der sich hauptsächlich von Tiefkühlkost ernährt hatte (obwohl er im Garten für seine Freunde Gemüse anbaute), und der in windigen Nächten sehnsüchtig an das Mädchen-das-er-zurückließ gedacht hatte.

Jetzt war die rote Farbe zu einem verwaschenen Rosa verblaßt, das in großen häßlichen Brocken abblätterte. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt. Die meisten Ziegel waren vom Dach herabgefallen. Auf beiden Seiten des Hauses wucherte Unkraut, und der verwilderte Rasen war mit Löwenzahn bedeckt. Ein hoher Bretterzaun, der früher vermutlich ordentlich weiß gestrichen gewesen war, jetzt aber ebenso grau aussah wie der Himmel, ragte zwischen verwilderten Obststräuchern hervor. Ein Stück weiter unten am Zaun wuchsen riesige Sonnenblumen. Richie fand, daß sie irgendwie aufgeblasen und bedrohlich aussahen. Sie bewegten sich im Wind und schienen einander zuzuraunen: Die Jungen sind hier, ist das nicht schön? Neue Jungen. Ein Schauder lief Richie über den Rücken.

Während Bill sein Rad behutsam an eine Ulme auf der anderen Seite des Pfades lehnte, ließ Richie das Haus nicht aus den Augen. Er entdeckte ein Rad, das aus dem dichten Gras in der Nähe der Veranda herausragte und zeigte es Bill. Dieser nickte. Es war das umgestürzte Dreirad, das Eddie erwähnt hatte.

Sie schauten in beide Richtungen der Neibolt Street. Die Diesellok schnaubte, verstummte, schnaubte wieder. Die Straße war völlig verlassen. Auf der Witcham Street fuhren Autos, aber Richie konnte sie nur hören, nicht sehen.

Die Diesellok schnaubte und verstummte, schnaubte und verstummte.

Die riesigen Sonnenblumen raunten einander zu: Neue Jungen. Ausgezeichnet.

»B-B-Bist du soweit?« fragte Bill, und Richie zuckte ein wenig zusammen.

Sie gingen durch das hohe Gras auf die Veranda zu.

»Sch-Sch-Schau mal«, sagte Bill.

Am linken Ende der Veranda war das Drahtgeflecht losgerissen und ragte ins Gebüsch hinein. Beide Jungen konnten die rostigen Nägel sehen, die aus dem Holz gerissen worden waren. Hier wuchsen alte Rosenbüsche, und während die Rosen rechts und links von dem abgerissenen Verandasaum prachtvoll blühten, waren die Büsche direkt davor verdorrt und abgestorben.

Bill und Richie tauschten einen erschrockenen Blick. Alles, was Eddie erzählt hatte, schien völlig wahr zu sein; nach sechs Wochen war der Beweis dafür immer noch vorhanden.

»Du willst doch nicht etwa drunterkriechen?« fragte Richie. Seine Stimme klang flehend.

»N-N-Nein«, erwiderte Bill. »A-Aber ich t-t-tu's trotzdem.«

Und Richie erkannte schweren Herzens, daß er das völlig ernst meinte. Seine Augen hatten wieder jenen harten, leidenschaftlichen Ausdruck, und seine Gesichtszüge waren von einer wilden Entschlossenheit, die ihn älter aussehen ließ. Ich glaube, er hat wirklich vor, es zu töten, wenn es noch hier ist, dachte Richie. Es zu töten, ihm vielleicht den Kopf abzuschneiden, seinem Vater zu bringen und zu sagen: >Sieh mal, das war Georgies Mörder. Wirst du dich jetzt abends wieder mit mir unterhalten, mir erzählen, was bei dir tagsüber los war, wer gewonnen hat, als ihr ausgelost habt, wer den Morgenkaffee bezahlen muß?<

»Bill...«, setzte er zum Sprechen an, aber Bill stand nicht mehr neben ihm. Er ging schon auf das rechte Ende der Veranda zu, dort wo Eddie daruntergekrochen sein mußte. Richie rannte hinter ihm her, wobei er fast über das Dreirad gefallen wäre, das im Gras langsam vor sich hin rostete.

Bill kauerte vor der Veranda nieder und blickte darunter. Hier gab es überhaupt kein Drahtgeflecht; wahrscheinlich hatte irgendein Landstreicher es vor langer Zeit entfernt, um unter die Veranda kriechen zu können, die Schutz vor dem Januarschnee oder dem kalten Novemberregen oder einem Sommergewitter bot.

Richie ging neben Bill in die Hocke. Sein Herz trommelte in der Brust. Unter der Veranda waren nur Haufen halbverfaulter Blätter, gelber Zeitungen - und Schatten. Viel zuviel Schatten.

»Bill«, sagte er leise.

»W-W-Was?« Bill hatte die Walther seines Vaters hervorgeholt und lud sie vorsichtig mit vier Kugeln. Richie sah fasziniert zu, dann schaute er wieder unter die Veranda. Diesmal sah er noch etwas anderes. Glasscherben. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Er war alles andere als dumm, und er begriff, daß das die endgültige Bestätigung von Eddies Geschichte war. Wenn die Scheibe von außen zerbrochen worden wäre, hätten die Glassplitter nach innen, auf den Kellerboden, fallen müssen.

»W-Was?« fragte Bill noch einmal und schaute Richie an. Sein Gesicht war bleich und grimmig. Als Richie dieses weiße, zu allem entschlossene Gesicht sah, resignierte er. Bill würde sich durch nichts davon abbringen lassen, sein Vorhaben auszuführen. Richie konnte ihn entweder begleiten oder hier draußen bleiben. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.

»Nichts«, sagte er.

»K-Kommst du?«

»Ja«, sagte Richie. Sie krochen unter die Veranda.

Der Geruch fauliger Blätter war stark und alles andere als angenehm, obwohl Richie diesen Geruch normalerweise liebte. Die Blätter fühlten sich unter seinen Händen und Füßen schwammig an, und er hatte das Gefühl, als könnten sie sich jeden Augenblick um zwei oder drei Fuß senken. Er fragte sich plötzlich, was er wohl tun würde, wenn aus diesen Blättern plötzlich eine Hand oder eine Tatze auftauchen und nach ihm greifen würde. Dieser Gedanke war nicht gerade dazu angetan, ihn zu beruhigen.

Bill untersuchte das zerbrochene Fenster. Überall lagen Glassplitter herum. Der Holzrahmen zwischen den Scheiben lag in zwei zersplitterten Stücken unter den Verandastufen. Der obere Rahmen ragte vor wie ein zerbrochener Knochen.

»Jemand hat hier ganz schön gewütet«, flüsterte Richie. Bill, der durchs Fenster spähte, nickte.

Richie schob ihn etwas beiseite, um auch hineinschauen zu können. Im düsteren Keller herrschte ein Durcheinander von Schachteln und Lattenkisten. Der Boden bestand aus Lehm. Wie die Blätter, so verströmte auch er einen feuchten, schlammigen Geruch. Links war ein großer Ofen, von dem runde Rohre zur niedrigen Decke führten. Daneben, in der Ecke, konnte Richie einen großen Holzverschlag erkennen. Eine Pferdebox, war sein erster Gedanke, aber wer könnte auf die Idee kommen, ein Pferd im Keller unterzubringen? Dann dämmerte ihm, daß es ein Kohlenverschlag sein mußte, daß der Ofen mit Kohle und nicht mit Öl geheizt worden war. Das ergab einen Sinn: das Haus war alt. Ganz rechts konnte er eine Treppe erkennen, die ins Erdgeschoß führen mußte.

Jetzt setzte sich Bill... schob sich vorwärts... und bevor Richie noch so richtig begriffen hatte, was los war, verschwanden die Beine seines Freundes im Fenster.

»Bill!« zischte er. »Um Himmels willen, was machst du? Komm zurück!«

Bill gab keine Antwort. Er glitt durch das Fenster, und eine Sekunde später hörte Richie, wie seine Turnschuhe auf dem harten Lehmboden aufprallten.

»O mein Gott«, murmelte Richie verzweifelt vor sich hin, während er auf das schwarze Rechteck starrte, durch das sein Freund verschwunden war. »O Gott, o Christus, o Jesus, steh uns bei!«

Bills Stimme ertönte von unten: »D-Du k-k-kannst ruhig oben b-b-b-blei-ben, wenn du w-willst, R-R-Richie. Halt da oben W-W-Wache!«

Aber das brachte Richie nicht fertig. Er legte sich auf den Bauch, hoffte, daß er sich nicht an den Glassplittern schneiden würde, und schob seine Beine durch das Kellerfenster.

Etwas packte ihn an den Beinen. Er schrie auf.

»I-Ich b-b-bin's nur«, flüsterte Bill, und einen Augenblick später stand Richie neben ihm im Keller und zog sein Hemd und seine Jacke zurecht. »W-Was d-d-dachtest denn du, w-wer das ist?«

»Der Buhmann«, sagte Richie und lachte unsicher.

»D-Du gehst d-d-dort lang, und i-i-ich...«

»Nein, verdammt noch mal«, sagte Richie. Sein rasendes Herzklopfen war sogar seiner Stimme anzuhören- sie klang holperig und schwankte auf und ab. »Ich bleibe bei dir, Big Bill.«

»O-O-Okay.«

Sie gingen zuerst auf den Kohlenverschlag zu, Bill voran, die Pistole in der Hand, Richie dicht hinter ihm. Er versuchte, seine Augen überall gleichzeitig zu haben. Bill blieb einen Moment lang vor der Holzwand des Koh-lenverschlags stehen, dann sprang er mit einem Satz um die Ecke, die Walther mit beiden Händen umklammernd. Richie drückte seine Augen fest zu und wappnete sich gegen die Explosion. Sie kam nicht. Vorsichtig öffnete er wieder die Augen.

»N-N-Nichts als K-Kohle«, sagte Bill und kicherte nervös.

Richie trat neben ihn und schaute. Vorne, in der Nähe ihrer Füße, lagen nur einzelne Kohlenstücke, aber nach hinten zu stieg der Kohleberg fast bis zur Decke an. Der Anthrazit war so schwarz wie ein Krähenflügel.

»Geh'n wir...«, begann Richie, und dann prallte die Tür am oberen Ende der Kellertreppe mit einem lauten Knall gegen die Wand, und schwaches weißes Tageslicht überflutete die Stufen.

Beide Jungen schrien entsetzt auf.

Richie hörte Knurrlaute. Sie waren sehr laut - sie hätten von einem im Käfig eingesperrten wilden Tier stammen können. Er sah Mokassins die Treppe herunterkommen. Darüber verblichene Jeans... schwingende Hände...

Aber es waren keine Hände... es waren Tatzen. Riesige unförmige Tatzen.

»K-K-Kletter die K-Kohle rauf!« schrie Bill, aber Richie stand da wie gelähmt; er wußte plötzlich, was sich ihnen hier näherte, was sie in diesem Keller mit seinem Gestank nach feuchtem Lehm und billigem, irgendwo in der Ecke verschüttetem Wein gleich töten würde. »Ü-Ü-Über der K-Kohle ist ein F-F-Fenster!«

Die Tatzen waren mit dichtem, rauhem braunem Haar bewachsen; die

Finger endeten in langen gezackten Nägeln. Jetzt sah Richie ein Seidenjakkett, nicht einfach ein gewöhnliches Jackett, nein. Es war schwarz, mit orangefarbenen Borten - die Farben der Derry High School. Es war ein High-School-Jackett.

»L-L-Los!« Bill versetzte Richie einen kräftigen Stoß, und er fiel auf die Kohle. Die scharfen Kanten und Zacken schnitten ihm schmerzhaft in die Haut, und dadurch erwachte er aus seiner Erstarrung. Kohlenstücke rollten ihm über die Hände. Kohlenstaub stieg ihm in die Nase. Er nieste. Dieses irrsinnige Knurren hörte und hörte nicht auf.

Richie Tozier geriet in Panik.

Kaum wissend, was er tat, kletterte er den Kohleberg hinauf, rutschte dabei ab, kroch weiter. Er schrie. Das Fenster unter der Decke war mit Kohlestaub bedeckt und ließ kaum Licht durch. Richie packte den Fenstergriff und versuchte ihn mit aller Kraft zu drehen. Er bewegte sich nicht. Das Knurren kam jetzt schon aus der Nähe.

Plötzlich ging unter ihm die Pistole los; sie machte in dem geschlossenen Raum einen ohrenbetäubenden Lärm. Scharfer, beißender Rauch stieg Richie in die Nase. Er stellte fest, daß er in seiner Panik den Griff in die falsche Richtung gedreht hatte. Er drehte in die Gegenrichtung. Mit einem rostigen Quietschlaut bewegte sich der Griff. Kohlestaub rieselte wie Pfeffer auf seine Hände.

Wieder ging unten die Pistole mit ohrenbetäubendem Knall los. Bill Denbrough brüllte: »Du hast meinen Bruder ermordet, du Dreckskerl!«

Und einen Moment lang schien die Kreatur, die die Treppe herabgekommen war, zu lachen und zu sprechen - es war so, als würde ein bösartiger Hund plötzlich entstellte Wörter bellen, und Richie glaubte zu hören, wie diese Kreatur in ihrem High-School-Jackett knurrte: Ich werde auch dich töten.

»Richie!« schrie Bill, und Richie hörte die Geräusche hinabrollender Kohlestücke, während Bill hochkletterte. Das Knurren und Brüllen hörte nicht auf. Holz splitterte. Bellen und Heulen - Geräusche aus einem furchtbaren Alptraum.

Richie versetzte dem Fenster mit aller Kraft einen Stoß, ohne daran zu denken, daß es zerbrechen und ihm die Hände zerschneiden könnte. Um solche Kleinigkeiten konnte er sich jetzt nicht kümmern. Aber das Fenster zerbrach nicht; es flog an einer alten rostigen Metallangel auf. Diesmal rieselte der Kohlestaub auf Richies Gesicht. Er wand sich auf den Hof hinaus wie ein Aal, atmete herrlich frische Luft und spürte das hohe Gras an seinem Gesicht. Es regnete. Er konnte die dicken Stengel der Riesensonnenblumen sehen, grün und haarig.

Die Walther explodierte ein drittesmal, und die Kreatur im Keller brüllte -ein primitiver Laut rasender Wut. Und gleich darauf schrie Bill: »Es hat mich geschnappt, Richie! H-H-Hilfe! Es hat mich geschnappt!«

Richie drehte sich auf Händen und Knien um und sah das emporgewandte Gesicht seines Freundes im Rechteck des großen Kellerfensters, durch das einst jedes Jahr im Oktober die Kohlen in den Keller geschüttet worden waren.

Bill lag auf dem Kohlehaufen. Seine Hände versuchten vergeblich, den Fensterrahmen zu erreichen. Sein Hemd und sein Dufflecoat waren bis zur

Brust hochgerutscht. Und er glitt abwärts... nein, er wurde abwärts gezogen. Es war nur ein riesiger Schatten hinter Bill. Ein Schatten, der knurrte und plärrte und sich fast menschlich anhörte.

Richie brauchte ihn gar nicht zu sehen. Er hatte ihn am Samstag zuvor im Aladdin gesehen. Es war zwar verrückt, total verrückt, aber Richie zweifelte keinen Augenblick daran - weder an seinem Verstand noch an seiner Erkenntnis.

Der Teenage-Werwolf hatte Bill Denbrough erwischt. Nur war dies hier nicht Michael Landon mit einer Maske und viel Schminke im Gesicht und jeder Menge falschem Fell. Dies war ein echter Werwolf.

Wie zum Beweis schrie Bill wieder.

Richie streckte beide Arme durchs Fenster und packte Bills Hände. Mit einer Hand hielt Bill die Walther umklammert, und zum zweitenmal an diesem Tag blickte Richie in ihre schwarze Mündung... nur war sie diesmal geladen.

Sie kämpften um Bill... Richie zog an seinen Händen, der Werwolf an seinen Knöcheln.

»R-R-Rette dich, Richie!« schrie Bill. »R-Rette...«

Plötzlich tauchte das Gesicht des Werwolfs aus der Dunkelheit auf. Seine Stirn war niedrig und gewölbt, mit kurzen Haaren bedeckt. Seine pelzigen Wangen waren hohl. Die Augen waren dunkelbraun und verrieten eine schreckliche Wachsamkeit, eine fürchterliche Intelligenz. Er öffnete den Mund und begann wieder zu knurren. Weißer Schaum rann ihm aus den Winkeln der dicken Unterlippe am Kinn hinab. In diesem Augenblick glich er mehr einem Pavian denn einem Wolf. Er warf den Kopf zurück und brüllte, ohne Richie aus den Augen zu lassen.

Bill kroch ein Stückchen höher. Richie packte ihn an den Unterarmen und zog. Das Gesicht des Werwolfs verschwand, und plötzlich wurde Bill wieder zurückgezerrt, auf die Dunkelheit zu. Der Werwolf war stärker. Er hatte Bill erwischt und dachte nicht daran, seine Beute entkommen zu lassen.

Und plötzlich hörte Richie sich mit der Stimme-des-irischen-Bullen brüllen, ohne daß er diese Absicht gehabt hatte. Nur war es diesmal nicht Richie Tozier, der eine schlechte Imitation lieferte, und es war auch nicht direkt Mr. Nell. Es war die Stimme aller irischen Polizisten, die je gelebt und auf ihren nächtlichen Streifen den Knüppel an seinem Lederriemen geschwungen hatten, während sie nach Mitternacht die Türen geschlossener Läden prüfen:

»Laß ihn sofort los, Bürschchen, oder ich schlag' dir deinen dicken Schädel ein! Ich schwor's bei Gott! Laß ihn sofort los, sonst präsentier' ich dir deinen Arsch auf’nem Tablett!«

Die Kreatur im Keller stieß ein lautes Wutgebrüll aus... aber es kam Richie so vor, als schwinge in diesem Brüllen noch etwas anderes mit. Vielleicht Angst. Oder Schmerz.

Er zog wieder mit aller Kraft, und Bill flog durchs Fenster und landete im Gras. Er starrte Richie mit dunklen, entsetzten Augen an. Sein Dufflecoat war vorne mit schwarzem Kohlestaub beschmiert.

»Sch-Sch-Schnell!« keuchte Bill, und es hörte sich fast wie ein Stöhnen an. Er packte Richie am Hemd. »W-W-Wir m-m-müssen...«

Richie hörte, wie unten wieder Kohle hinabrollte. Einen Augenblick später füllte die Fratze des Werwolfs das Kellerfenster aus. Er heulte und knurrte. Seine Tatzen landeten auf dem Gras.

Bill hatte immer noch die Pistole in der Hand - er hatte sie die ganze Zeit über nicht losgelassen. Nun richtete er sie mit ausgestreckten Armen auf das Monster, preßte die Augen zu Schlitzen zusammen und drückte auf den Abzug. Wieder ertönte der ohrenbetäubende Knall. Ein Blutstrom floß über die Wange der Kreatur, verfärbte ihr Fell und tropfte auf den Kragen des Jacketts.

Langsam, wie im Traum, zog Richie die Tüte mit dem Niespulver aus der Tasche. Er riß sie auf, während das brüllende blutende Monster sich durch das Fenster zwängte und dabei mit seinen Pfoten tiefe Furchen in die Erde grub. Zurück mit dir, Bürschchen, schrie Richie mit der Stimme-des-irischen-Bullen und drückte die Tüte zusammen. Eine weiße Wolke flog dem Werwolf ins Gesicht. Sein Gebrüll verstummte abrupt. Er starrte Richie mit fast komischer Überraschung an und stieß ein ersticktes Schnauben aus. Seine roten Triefaugen schienen sich Richie für immer genau einprägen zu wollen.

Dann begann er zu niesen.

Er nieste und nieste und nieste. Speichel schoß aus seinem Maul, grünlichschwarze Rotze aus der Nase. Etwas von diesem Schleim landete auf Richies Haut und brannte wie Feuer. Er schrie vor Schmerz und Ekel auf und wischte das Zeug rasch ab.

Die Fratze des Werwolfs drückte jetzt neben rasender Wut auch Schmerz aus - das war unübersehbar. Bill hatte ihn mit der Pistole seines Vaters verwundet - aber Richie hatte ihn stärker verletzt, zuerst mit der Stimme-des-irischen-Bullen und dann mit dem Niespulver.

Mein Gott, wenn ich auch noch Juckpulver und eine schrille Trillerpfeife hätte, könnte ich ihn vielleicht töten, dachte Richie, und dann packte ihn Bill am Kragen und riß ihn zurück.

Das war auch gut so, denn der Werwolf hatte plötzlich aufgehört zu niesen und versuchte, Richie zu packen - und er war schnell, unglaublich schnell.

Vielleicht wäre Richie einfach dagesessen, zur Salzsäule erstarrt, hätte das Monster mit einer Art betäubter Verwunderung angesehen und gedacht, wie braun sein Fell und wie rot sein Blut war, und daß es solche Farben im wirklichen Leben überhaupt nicht gäbe... vielleicht wäre er so dagesessen, bis die Tatzen seinen Hals umklammert und die langen Krallen ihm die Kehle aufgeschlitzt hätten, aber Bill packte ihn wieder und zog ihn auf die Beine.

Richie stolperte hinter Bill her. Sie rannten zur Vorderseite des Hauses, und Richie dachte: Es wird nicht wagen, uns weiter zu verfolgen, wir sind jetzt auf der Straße, es wird nicht wagen, uns zu verfolgen, das wagt es nicht, wagt es nicht...

Aber das Monster folgte ihnen. Er hörte es hinter sich, knurrend und heulend und brüllend.

Da stand Silver, an den Baum gelehnt. Bill sprang auf den Sattel und warf die Pistole seines Vaters in den Drahtkorb. Richie riskierte einen Blick zu-

rück, während er sich auf den Gepäckträger schwang. Der Werwolf überquerte den Rasen, er war weniger als zwanzig Fuß von ihnen entfernt. Sein High-School-Jackett war mit Blut und Kohlestaub verschmutzt. Über der rechten Schläfe schimmerte weißer Knochen durch das Fell. Und dann sah Richie zwei weitere Dinge, die den Horror vervollständigten: Das Jackett hatte keinen Reißverschluß; statt dessen hatte es große flaumige orangefarbene Knöpfe, die aussahen wie Pompons. Aber die zweite Einzelheit war noch schlimmer; sie gab ihm das Gefühl, daß er gleich ohnmächtig werden oder einfach aufgeben und sich umbringen lassen würde. Auf das Jackett war in Goldfäden ein Name aufgesteppt, so wie man das im >Dakin's Tro-phy Shop< für einen Dollar machen lassen konnte.

Auf der linken Brusttasche des Jacketts stand in blutgetränkten Buchstaben: RICHIE TOZIER.

Das Monster kam immer näher.

»Los, Bill!« schrie Richie.

Silver setzte sich in Bewegung, aber langsam... viel zu langsam. Bill brauchte so lange, um richtig in Fahrt zu kommen...

Der Werwolf überquerte gerade den Trampelpfad, als Bill in die Mitte der Neibolt Street radelte. Seine verblichenen Jeans waren blutbefleckt, und Richie - der in einer schrecklichen Faszination, wie in Hypnose, über die Schulter hinweg nach hinten starrte - sah, daß die Nähte der Jeans stellenweise aufgerissen waren und zottiges braunes Fell hervorschaute.

Silver schwankte wild von einer Seite zur anderen. Bill trat jetzt stehend in die Pedale, den Kopf dem bewölkten Himmel zugewandt, die Lenkstange von unten her umklammernd. Seine Adern im Nacken traten hervor. Aber immer noch gaben die Spielkarten an den Speichen nur einzelne Schüsse ab.

Eine Tatze griff nach Richie. Er schrie auf und duckte sich. Der Werwolf knurrte und grinste ihn an. Er war jetzt so nahe, daß Richie die gelbliche Hornhaut seiner Augen sehen und den süßlichen, fauligen Gestank seines Atems riechen konnte. Er hatte große krumme Fangzähne.

Richie schrie wieder auf, als die Tatze erneut ausholte. Er war sicher, daß sie ihm den Kopf zerschmettern würde, aber sie sauste dicht vor ihm vorbei, so dicht, daß Richies verschwitzte Haare ihm aus der Stirn nach hinten flogen.

»Hi-yo, Silver, lös!« brüllte Bill, so laut er konnte.

Er hatte einen kleinen, ziemlich flachen Hügel erreicht, aber die Neigung genügte, um Silver richtig in Gang zu bringen. Die Spielkarten begannen ihr Maschinengewehrtrommeln. Bill trat wie wahnsinnig in die Pedale. Silver hörte auf, hin und her zu schwanken und sauste geradeaus die Neibolt Street hinab, auf die Witcham Street zu.

Danke, lieber Gott, danke, lieber Gott, danke, dachte Richie. Dan...

Der Werwolf brüllte wieder - o mein Gott, es klingt, als sei er direkt neben mir - und Richies Luftzufuhr wurde plötzlich abgeschnitten, weil sein Hemd so heftig zurückgerissen wurde, daß es ihm die Luftröhre zudrückte. Er stieß einen röchelnden Laut aus und konnte im letzten Moment, bevor er vom Gepäckträger gezerrt worden wäre, Bills Taille umklammern. Bill wurde ein Stückchen zurückgezogen, aber er hielt sich an den Griffen seines Fahrrades fest, und einen Moment lang dachte Richie, daß Silver sich gleich auf das Hinterrad stellen und sie beide nach hinten hinabfallen würden. Dann gab der Stoff seines Hemdes, das alt und morsch und beinahe reif für den Lumpensack war, nach, und der Hemdenrücken zerriß mit einem lauten durchdringenden Ton, der sich fast wie ein Schluckauf anhörte. Richie konnte wieder atmen.

Er warf einen Blick zurück und starrte direkt in jene trüben mörderischen Augen.

»Bill!« schrie er, aber kein Laut kam aus seinem Mund.

Trotzdem schien Bill ihn irgendwie gehört zu haben, denn er trat noch schneller in die Pedale, so schnell wie noch nie. Er spürte dickes, metallisch schmeckendes Blut in seiner Kehle. Seine Augen traten aus den Höhlen hervor. Sein Mund war weit geöffnet. Er war erfüllt von einem aberwitzigen wilden Jubel.

Silver steigerte die Geschwindigkeit immer mehr, und Bill hatte das Gefühl zu fliegen.

»Hi-yo, Silver, lös!« schrie er wieder.

Aber Richie hörte noch ein anderes Geräusch: das schnelle Tappen von Schuhen auf dem Pflaster. Er drehte sich wieder um. Die Tatze des Werwolfs traf ihn mit betäubender Wucht über den Augen, und einen Moment lang glaubte Richie, der obere Teil seines Kopfes wäre abgerissen worden. Alles kam ihm plötzlich unwichtig und trübe vor. Die Welt büßte jede Farbe ein. Alle Geräusche drangen nur noch verschwommen an sein Ohr. Er drehte den Kopf wieder nach vorne und klammerte sich verzweifelt an Bill. Warmes Blut rann ihm ins rechte Auge.

Erneut holte die Pranke zum Schlag aus. Diesmal traf sie das Fahrrad. Einen Augenblick schwankte das Rad wie verrückt hin und her und drohte umzukippen, dann hatte Bill es aber unter Kontrolle. Er brüllte wieder Hi-yo, Silver, lös! Doch Richie hörte das nur noch wie aus weiter Ferne, wie ein verklingendes Echo.

Er schloß die Augen, hielt sich mit letzter Kraft an Bill fest und erwartete sein Ende.

14

Auch Bill hatte die schnellen Schritte gehört und begriffen, daß der Clown immer noch nicht aufgegeben hatte; aber er wagte es nicht, sich umzuschauen. Wenn der Clown sie einholte, würde er es schon früh genug merken.

Los, Junge, dachte er. Gib jetzt dein Letztes. Los, Silver, LOS!

Und so befand sich Bill Denbrough wieder in einem Wettlauf mit dem Teufel, nur war der Teufel jetzt ein gräßlich grinsender Clown, an dessen Gesicht Schweiß und Schminke herabliefen, dessen Mund sich in einem verzerrten roten Vampirgrinsen nach oben zog, dessen Augen funkelnden Silbermünzen glichen. Ein Clown mit roten Haarbüscheln, wie Bozo der Clown sie hatte. Ein Clown, der aus irgendeinem unbegreiflichen Grund ein Derry-High-School-Jackett über dem silbrigen Kostüm mit der orangefarbenen Halskrause und den gleichfarbigen Pompon-Knöpfen trug.

Los, Silver, los, Junge, gib dein Bestes!

Silver sauste dahin wie der Wind. Die Neibolt Street flog an ihm vorbei. Klangen die sie verfolgenden Schritte jetzt etwas ferner? Bill wagte es immer noch nicht zurückzuschauen. Richie hielt ihn so fest umklammert, daß er kaum Luft bekam, und Bill wollte ihm zurufen, er solle seinen Griff etwas lockern, aber er durfte darauf keinen Atem verschwenden.

Und da tauchte vor ihm plötzlich das Halteschild auf, das die Kreuzung Neibolt- und Witcham Street anzeigte. Auf der Witcham Street herrschte in beiden Richtungen lebhafter Verkehr. In seinem Zustand erschöpften Schreckens kam das Bill wie ein Wunder vor.

Weil er jetzt ohnehin bremsen mußte, wagte Bill einen Blick zurück.

Was er sah, ließ ihn die Pedale mit einem einzigen Ruck zurückdrehen. Silver schleuderte durch die plötzliche Blockierung des Hinterrads, und Richies Kopf prallte unsanft gegen Bills Schulter.

Die Straße hinter ihnen war leer.

Völlig leer.

Aber etwa 25 Yards entfernt, auf der Höhe des ersten leerstehenden Hauses, war ein heller orangefarbener Fleck. Was immer es auch sein mochte, es lag jedenfalls neben einem Gully.

»Uhhh...«

Erst im letzten Moment merkte Bill, daß Richie vom Gepäckträger glitt. Er hatte die Augen so verdreht, daß Bill nur die unteren Ränder seiner Iris unter den Lidern sehen konnte. Der geflickte Bügel seiner Brille hing an der Bruchstelle durch. Aus seiner Schläfe sickerte Blut.

Bill packte ihn am Arm, wurde von seinem Gewicht nach rechts gezogen, Silver kam aus dem Gleichgewicht, und sie stürzten auf die Straße. Bill schlug sich den Musikantenknochen so stark an, daß er vor Schmerz aufschrie. Richies Lider flatterten.

»Ich werd' Ihnen gleich zeigen, wie Sie zu dem Schatz kommen, Senhor«, sagte Richie röchelnd. Es sollte seine Mexikaner-Stimme sein, aber sie hörte sich so tonlos und fern an, daß Bill erschrak. »Nur noch ein Tequila...«

Bill schlug Richie auf die Wangen. Er sah, daß an der Schläfenwunde einzelne braune Haare klebten. Sie waren leicht gelockt, wie die Schamhaare seines Vaters. Ihr Anblick steigerte seine Angst noch mehr, und er gab Richie eine kräftige Ohrfeige.

»Auah!« schrie Richie. Seine Lider flatterten, dann riß er die Augen weit auf. »Warum schlägst du mich, Big Bill? Du wirst noch meine Brille kaputtmachen.«

»I-I-Ich d-dachte, du stirbst«, sagte Bill. Und dann fügte er absurderweise hinzu: »Ü-Ü-Übrigens ist d-deine B-B-Brille sch-schon k-k-kaputt!«

Richie setzte sich langsam auf und griff nach seinem Kopf. Er stöhnte. »Was...« Und dann fiel ihm ein, was passiert war, er riß vor Entsetzen die Augen weit auf, rang nach Luft und blickte in panischer Angst um sich.

»N-N-Nicht«, beruhigte ihn Bill. »E-Er ist f-f-fort, R-Richie. Er ist v-v-ver-schwunden.«

Richie sah die leere Straße, auf der sich nichts bewegte, und plötzlich brach er in Tränen aus. Bill legte die Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. Richie umklammerte seinen Hals und umarmte ihn ebenfalls.

»N-N-Nicht, Richie«, sagte Bill, »n-n-n...« Dann brach er selbst in Tränen aus, und sie hielten einander fest und weinten am Straßenrand, neben Bills umgestürztem Rad, und ihre Tränen hinterließen helle Streifen auf ihren mit Kohlestaub beschmierten Gesichtern.

Neuntes Kapitel Was aus dem Abfluß herauskam; der Wasserturm

1

Irgendwo hoch oben über dem Bundesstaat New York beginnt Beverly Huggins am Nachmittag des 28. Mai 1985 wieder zu lachen. Sie hält sich beide Hände vor den Mund, weil man sie für verrückt halten könnte, aber sie kann das Lachen nicht unterdrücken.

Wir haben damals sehr viel gelacht, denkt sie, und dieser Gedanke ist ein tröstliches Licht in der Finsternis. Wir hatten ständig Angst, aber wir konnten nicht aufhören zu lachen, ebensowenig wie jetzt ich. Der Mann, der neben ihr auf dem Platz am Gang sitzt, ist jung, langhaarig und gutaussehend. Seit das Flugzeug um 14.30 Uhr in Milwaukee gestartet ist (vor nunmehr fast zweieinhalb Stunden, mit Zwischenlandungen in Cleveland und Philly), hat er ihr bewundernde Blicke zugeworfen, aber die Tatsache respektiert, daß sie sich nicht unterhalten möchte; nach einigen mißlungenen Versuchen, ein Gespräch zu beginnen, hat er einen Roman aus seiner Reisetasche geholt.

Jetzt legt er seinen Finger als Lesezeichen hinein, klappt es zu und erkundigt sich: »Alles in Ordnung?«

Sie nickt und versucht, ein ernsthaftes Gesicht zu machen, aber statt dessen muß sie wieder lachen. Er lächelt ein wenig verwirrt und fragend.

»Es ist nichts«, sagt sie und bemüht sich wieder, ernst zu sein, aber es gelingt ihr nicht; je mehr sie versucht, ein ernstes Gesicht zu machen, desto mehr muß sie lachen. Genau wie in alten Zeiten. »Es ist nur - mir ist plötzlich eingefallen, daß ich nicht einmal weift, mit welcher Linie ich fliege. Nur daß an der Seite des Flugzeugs eine große fette E-Ente w-w-war...« Aber der Gedanke an die Ente ist zuviel. Sie lacht wieder ausgelassen. Leute drehen sich nach ihr um; manche runzeln die Stirn.

»Republic«, sagt der junge Mann. »Es steht auf dem GoHEA-Prospekt.«

»GDHEA?« fragt sie.

Er zieht den Prospekt aus der Sitztasche heraus. Hier wird erklärt, wo die Notausgänge sind, wo die Schwimmwesten liegen, wie man die Sauerstoffmasken bedienen muß, wie man sich bei einer Bruchlandung zu verhalten hat. »Der Gib-Deinem-Hintern-einen-Abschiedskuß-Prospekt« erklärt er, und diesmal brechen sie beide in schallendes Gelächter aus. Er sieht wirklich gut aus, denkt sie plötzlich... Er trägt einen Wollsweater und verblichene Jeans. Sein dunkelblondes Haar ist mit einem Lederband zusammengebunden, und plötzlich fällt ihr der Pferdeschwanz ein, den sie als Kind getragen hat. Sie denkt: Ich wette, er hat einen hübschen Schwanz, der gut zu diesem höflichen Collegejungen paßt...

Sie beginnt wieder zu lachen; sie kann einfach nicht anders. Ihr fällt ein, daß sie nicht einmal ein Taschentuch hat, mit dem sie sich die nassen Augen trocknen könnte, und bei diesem Gedanken muß sie noch mehr lachen.

»Sie sollten jetzt lieber aufhören, sonst wirft die Stewardeß Sie noch aus dem Flugzeug«, sagt er feierlich, aber sie schüttelt nur lachend den Kopf; vor Lachen tut ihr schon alles weh.

Er gibt ihr ein sauberes weißes Taschentuch, und sie benutzt es. Irgendwie hilft ihr das, sich endlich zu beruhigen, obwohl es ihr nicht auf einen Schlag gelingt. Sobald ihr die große Ente am Flugzeug einfällt, kichert sie wieder los.

Als sie sich endlich völlig unter Kontrolle hat, gibt sie ihm das Taschentuch zurück. »Danke.«

»Mein Gott, Madam, was haben Sie nur mit Ihrer Hand gemacht?« Betroffen hält er sie einen Augenblick fest.

Sie schaut auf ihre Hand und sieht die abgebrochenen und tief eingerissenen Fingernägel, die sie sich beim Hochstemmen des Toikttentisches eingehandelt hat. Die Erinnerung an diese Szene schmerzt mehr als die Fingernägel. Sie entzieht ihm sanft ihre Hand. »Ich hab' sie am Flughafen in die Wagentür eingeklemmt«, erklärt sie und denkt an die unzähligen Male, da sie schon Lügen erzählt hat - um zu verschweigen, was Tom ihr antat und - viel früher - was ihr Vater ihr antat. Ist dies jetzt das letztemal, die letzte Lüge? Wie herrlich wäre das... fast zu schön, um wahr zu sein. Sie muß an einen Arzt denken, der zu einem Krebspatienten kommt und erklärt: Die Röntgenuntersuchung zeigt, daß der Tumor zurückgeht. Wir haben keine Ahnung warum, aber es ist so.

»Das muß ja höllisch weh tun«, sagt der junge Mann.

»Ich habe ein paar Aspirin genommen.« Sie öffnet den Flugprospekt wieder, ob

wohl er bestimmt gemerkt hat, daß sie ihn schon zweimal von A bis Z gelesen hat.

»Wohin fliegen Sie?«

Sie schließt den Prospekt und schaut ihn lächelnd an. »Sie sind sehr nett«, sagt sie, »aber ich möchte mich nicht unterhalten. Okay?«

»Okay«, sagt er und erwidert ihr Lächeln. »Aber wenn Sie in Boston etwas auf das Wohl der großen Ente trinken möchten, lade ich Sie dazu ein.«

»Herzlichen Dank, aber ich muß dort einen Anschlußflug erreichen.«

»Mann o Mann, war mein Horoskop für heute falsch!« sagt er und schlägt sein Buch wieder auf. »Aber Sie haben ein herrliches Lachen. Ein Mann könnte sich allein deshalb in Sie verlieben.«

Sie öffnet den Prospekt wieder, stellt jedoch gleich darauf fest, daß sie auf ihre eingerissenen Nägel anstatt auf den Artikel über die Vergnüguhgsmög-lichkeiten in New Orleans am Faschingsdienstag schaut. Zwei sind blutunterlaufen. Sie hört im Geiste Tom brüllen: »Ich bring' dich um, du Drecksluder! Du verdammtes Drecksluder!« Sie friert plötzlich. Ein Luder in Toms Augen, ein Luder in den Augen jener Näherinnen, die vor wichtigen Modenschauen Pfuscharbeit lieferten, ein Luder in den Augen ihres Vaters, lange bevor Tom oder die unglückseligen Näherinnen, die für geringen Lohn ihre Augen ruinierten, in ihr Leben getreten waren. Ein Luder...

Sie schließt für kurze Zeit die Augen.

Ihr Fuß, den sie sich bei ihrer Flucht aus dem Schlafzimmer an der Glasscherbe geschnitten hat, tut mehr weh als ihre Finger. Kay hat ihr die Wunde verpflastert, nachdem sie sich vergewissert hatte, daß keine Glassplitter darin steckten. Kay hat ihr ein Pflaster, ein Paar Schuhe und einen Scheck über 1000 Dollar gegeben, den Beverly gleich um neun Uhr morgens bei der First Bank of Chicago am Watertower Square eingelöst hat.

Ungeachtet Kays Proteste hat sie ihr auf einem Blatt Schreibmaschinenpapier ebenfalls einen Scheck über 1000 Dollar ausgeschrieben. »Ich hab' einmal gelesen, daß sie einen Scheck annehmen müssen, ganz egal, worauf er geschrieben ist«, hat sie Kay erklärt. »Jemand hat einmal einen Scheck eingereicht, der auf einer leeren Patrone geschrieben war. Ich glaub', ich hab's im >Book of the Lists< gelesen.« Nach kurzer Pause hat sie dann gezwungen gelacht. »Lös ihn möglichst schnell ein, bevor Tom daran denkt, die Konten sperren zu lassen.«

Obwohl sie keine Müdigkeit spürt (sie ist sich jedoch bewußt, daß ihre Nerven zum Zerreißen gespannt sind), kommt ihr die vergangene Nacht wie ein Traum vor. Vielmehr der Teil nach der Nacht im Schlafzimmer. An den Kampf selbst erinnert sie sich mit fürchterlicher Klarheit; jede Einzelheit hat sich ihr tief eingeprägt.

Sie erinnert sich daran, daß ihr drei Teenager folgten; die Jungen pfiffen und riefen hinter ihr her, wagten es aber nicht, sie direkt zu belästigen. Sie erinnert sich an ihre Erleichterung, als sie an einer Kreuzung aus einem >Seven-Eleven< weißes Neonlicht auf den Gehsteig fallen sah. Sie ging hinein und ließ den pickeligen Mann an der Theke einen Blick in ihre alte Bluse werfen (in jenem Augenblick war sie zynisch froh, daß sie keinen BH anhatte), und er lieh ihr 40 Cent zum Telefonieren,.

Sie rief Kay McCall an. Die Nummer kannte sie auswendig. Das Telefon klingelte ein dutzendmal, und sie befürchtete schon, daß Kay in New York sein könnte. Schließlich wurde der Hörer aber doch abgenommen, und Kays verschlafene Stimme murmelte: »Wer immer Sie auch sind - müssen Sie zu einer so gottverdammten Zeit anrufen?«

»Ich bin's, Kay - Bev«, sagte sie, zögerte einen Moment und überwand ihre Hemmungen. »Ich brauche deine Hilfe.«

Nach kurzem Schweigen rief Kay hellwach: »Wo bist du? Was ist passiert?«

»Ich bin im >Seven-Eleven< an der Ecke Strayland Avenue und irgendeiner anderen Straße. Ich... Kay, ich habe Tom verlassen.«

Kay, nachdrücklich und aufgeregt: »Gut! Endlich! Hurra! Ich komme und hole dich ab! Dieser Dreckskerl! Dieses verdammte Stück Scheiße! Ich hol' dich mit meinem Mercedes ab! Ich engagiere eine vierzigköpfige Musikkapelle! Ich...«

»Ich nehme ein Taxi«, sagte Bev, die beiden restlichen Münzen in der verschwitzten Hand. In dem runden Spiegel im Hintergrund des Geschäfts konnte sie sehen, daß der pickelige Verkäufer auf ihren Hintern starrte. »Aber du wirst für mich bezahlen müssen. Ich hab'kein Geld. Keinen Cent.«

»Ich werd' dem Fahrer fünfDollar Trinkgeld geben«, riefKay. »Das ist die beste Neuigkeit seit Nixons Rücktritt! Komm so schnell wie möglich her, Mädchen! Und...« Sie verstummte, und als sie dann fortfuhr, klang ihre Stimme ernst und so fürsorglich und liebevoll, daß Beverly fast die Tränen kamen. »Und Gott sei Dank, daß du's endlich getan hast, Bev. Ich meine es so, wie ich sage: Gott sei gedankt.«

Kay McCall war eine ehemalige Designerin, die reich geheiratet hatte, durch die Scheidung noch reicher geworden war und im Jahre 1972 plötzlich ihr Interesse für feministische Bestrebungen entdeckt hatte - drei Jahre, bevor Bev sie kennenlernte. Zur Zeit ihrer größten Popularität (oder Kontroversen) wurde sie beschuldigt, sich dem Feminismus zugewandt zu haben, nachdem sie sich zuvor chauvinistischer Gesetze bedient hatte, um ihren Fabrikanten-Ehemann legal um jeden nur möglichen Cent zu erleichtern.

»So ein verdammter Blödsinn!« hatte sich Kay einmal gegenüber Bev Luft ge-

macht. »Die Leute, die diesen Scheiß verzapfen, mußten nie mit Sam ins Bett gehen. Auf mehr als 70 Sekunden brachte er's nur, wenn er sich selbst in der Badewanne einen abwichste. Ich hab' ihn nicht ausgenommen; ich hab'mir nur rückwirkend meinen Anteil geholt.«

Sie schrieb drei Bücher, von denen die beiden ersten ziemlich populär wurden. In den letzten drei Jahren war sie ein wenig aus der Mode gekommen, und Beverly glaubte, daß sie insgeheim darüber erleichtert war. Sie hatte ihr Geld gut investiert (Feminismus und Kapitalismus schließen einander nicht zwangsläufig aus, meine Liebe), und nun war sie eine reiche Frau mit Stadthaus, Landhaus und zwei oder drei Liebhabern, die männlich genug waren, um sie im Bett befriedigen zu können, die aber nicht männlich genug waren, sie im Tennis zu besiegen. »Wenn sie das schaffen, lasse ich sie fallen«, erklärte Kay einmal.

Beverly rief ein Taxi, und als es kam, setzte sie sich mit ihrem Koffer auf den Rücksitz, froh, den lüsternen Blicken des Verkäufers zu entkommen.

Kay wartete am Ende der Auffahrt. Über ihrem Nachthemd trug sie einen Nerzmantel. An den Füßen hatte sie pinkfarbene Pantöffelchen mit großen Pompons. Zum Glück waren diese Pompons nicht orange - das hätte bei Bev eventuell wieder einen hysterischen Lachkrampf ausgelöst. Auf der Fahrt zu Kays Haus hatte sie zwischen Angst und Heiterkeit geschwankt: Erinnerungen brachen über sie herein, in so rascher Folge und so klar, daß es sie ängstigte. Namen, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte: Ben Hanscom, Richie Tozier, Greta Bowie, Henry Bowers, Eddie Kaspbrak, Stan Uris... Bill Denbrough. Besonders Bill - Stotter-Bill, wie sie ihn damals mit jener kindlichen Offenheit genannt hatten, die manchmal als Aufrichtigkeit, manchmal als Grausamkeit bezeichnet wird. Er war ihr sogroß vorgekommen, so vollkommen (das heißt, bis er den Mund aufmachte).

Namen... Orte... Ereignisse... Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt, als sie sich an die Stimmen im Ablauf erinnerte. .. und an das, was sie gesehen hatte. Sie hatte geschrien, und ihr Vater hatte sie geschlagen. Ihr Vater... Tom... Sie drohte in Tränen auszubrechen... und dann bezahlte Kay den Taxifahrer und gab ihm ein so hohes Trinkgeld, daß er überrascht ausrief: »Wow! Danke, gnädige Frau!«

Kay führte sie ins Haus, gab ihr einen Morgenrock, untersuchte ihre Verletzungen und verpflasterte ihre Schnittwunde am Fuß. Sie gab Beverly ein großes Glas Whisky und bestand darauf, daß sie ihn bis zum letzten Tropfen austrank. Dann briet sie für sich und Bev Steaks und dünstete dazu frische Pilze. »All right«, sagte sie. »Was ist passiert? Sollen wir die Polente anrufen oder dich einfach nach Reno schicken, damit du in der nächsten Zeit dort deinen Wohnsitz aufschlägst?«

»Ich kann dir nicht allzuviel erzählen«, sagte Beverly. »Es würde sich viel zu verrückt anhören. Aber es war größtenteils meine Schuld...«

Kay schlug mit der Hand so fest auf die polierte Mahagoniplatte des Tisches, daß es sich anhörte wie ein Schuß aus einer Kleinkaliberpistole. Bev zuckte zusammen. »Sag so was nicht!« rief Kay. Auf ihren Wangen glühten rote Flecken, und ihre braunen Augen funkelten. »Wie lange sind wir jetzt befreundet? Fünf Jahre? Sechs? Wenn ich dich noch einmal sagen höre, daß es deine Schuld war, muß ich kotzen. Hörst du? Ich werde dann einfach kotzen. Es war nicht deine Schuld, diesmal nicht, und letztes Mal nicht, und vorletztes Mal nicht, und überhaupt nie. Weißt du denn nicht, daß die meisten deiner Freunde glaubten, daß er dich früher oder später zum Krüppel schlagen oder töten würde?«

Beverly sah sie mit großen Augen an.

»Und das wäre deine Schuld gewesen, zumindest teilweise«, fuhr Kay fort. »Weil du bei ihm geblieben und das zugelassen hast. Aber jetzt hast du ihn endlich verlassen. Gott sei Dank! Aber sitz nicht da, mit deinen aufgerissenen Fingernägeln, dem aufgeschnittenen Fuß und Striemen auf den Schultern, und erzähl mir, es sei deine Schuld gewesen!«

»Er hat mich nicht mit dem Riemen geschlagen«, sagte Bev. Die Lüge kam ihr ganz automatisch über die Lippen... und ebenso automatisch färbte eine tiefe Schamröte ihr Gesicht.

»Wenn du mit Tom fertig bist, solltest du's auch mit den Lügen sein«, sagte Kay ruhig und sah Bev so lange und liebevoll an, daß Bev ihre Augen senken mußte. »Wen glaubtest du denn täuschen zu können?« fragte Kay, immer noch in diesem ruhigen Ton. Sie nahm Bevs Hände in die ihrigen. »Die dunklen Brillen, die Blusen mit Stehkragen und langen Ärmeln... vielleicht konntest du ein paar Käufer täuschen. Aber nicht deine Freunde, Liebling. Nicht jene Menschen, die dich lieben.«

Und dann weinte Bev lange, und Kay hielt sie in den Armen, und später, bevor sie endlich zu Bett gingen, erzählte sie Kay, soviel sie durfte: daß ein alter Freund aus Derry in Maine, wo sie aufgewachsen war, sie angerufen und an ein Versprechen erinnert hatte, das sie vor langer Zeit gegeben hatte. Nun sei die Zeit gekommen, dieses Versprechen einzulösen, hatte er gesagt. Ob sie kommen würde? Ja... sie würde kommen. Und dann hatten die Schwierigkeiten mit Tom begonnen.

»Was für ein Versprechen war das?« fragte Kay.

Beverly schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es dir nicht erzählen, Kay. So gern ich es auch tun würde.«

Kay dachte darüber nach, dann nickte sie. »In Ordnung. Was wirst du wegen Tom unternehmen, wenn du aus Maine zurückkommst?«

Und Bev, die immer stärker das Gefühl hatte, daß sie nie aus Derry zurückkehren würde, sagte nur: »Ich werde zuerst zu dir kommen, und wir werden es uns gemeinsam überlegen. Einverstanden?«

»Mehr als einverstanden«, sagte Kay. »Ist das auch ein Versprechen?«

»Sobald ich zurück bin«, versicherte Bev ruhig. »Du kannst dich auf mich verlassen.« Und sie umarmte Kay.

Mit Kays eingelöstem Scheck und Kays Schuhen an den Füßen hatte sie einen Greyhound-Bus nach Milwaukee genommen, weil sie Angst hatte, daß Tom auf dem Flughafen O'Hare nach ihr suchen könnte. Kay, die sie zum Busbahnhof begleitete, versuchte ihr das auszureden.

»Im O'Hare wimmelt es nur so von Sicherheitsbeamten, Liebling«, sagte sie. »Du brauchst vor ihm keine Angst zu haben. Wenn er in deine Nähe kommt, brauchst du nur wie am Spieß zu schreien.«

Beverly schüttelte den Kopf. »Ich möchte ihm völlig aus dem Weg gehen. Und auf diese Weise kann ich das.«

Kay warf ihr einen forschenden Blick zu »Du hast Angst, daß er dir die ganze Sache doch noch ausreden könnte, stimmt's?«

Und Beverly dachte daran, wie sie zu siebt im Bach gestanden hatten, wie Stanley s Colaflaschen-Scherbe in der Sonne gefunkelt hatte; sie dachte an den schwachen Schmerz, als er ihr die Hand diagonal geritzt hatte, sie dachte daran, wie sie sich im

Kreis stehend an den Händen gefaßt und versprochen hatten zurückzukehren, wenn es jemals wieder anfangen sollte... zurückzukehren und es endgültig zu töten.

»Nein«, sagte sie. »Er könnte mir das nicht ausreden. Aber er könnte mich verletzen, trotz der Sicherheitsbeamten. Du hast ihn letzte Nacht nicht gesehen, Kay. Er...« »Ich habe ihn bei anderen Gelegenheiten genügend kennengelernt«, sagte Kay mit zusammengezogenen Brauen. »Das Arschloch, das sich für einen Mann ausgibt.«

»Er hat sich wie ein Wahnsinniger aufgeführt«, fuhr Bev fort. »Auch Sicherheitsbeamte könnten ihn vielleicht nicht aufhalten. Und ich muß fahren. Es ist besser so. Glaub mir.«

»In Ordnung«, sagte Kay widerwillig, und Bev dachte amüsiert, daß Kay enttäuscht war, weil es nicht zu einer Konfrontation kommen würde, zu einer großen Abrechnung... und vor allem hätte Kay es genossen, wenn ein 400 Pfund schwerer Sicherheitsbeamter auf Toms Kopf gesessen hätte. »Lös den Scheck rasch ein«, riet Bev ihr noch einmal. »Bevor er die Konten sperren läßt. Das wird er nämlich mit Sicherheit tun.« »Wenn er das tut, statte ich ihm einen Besuch ab und sorge dafür, daß dieses Dreckschwein mir das Geld persönlich gibt...« »Du bleibst weg von ihm, hast du verstanden?« sagte Beverly scharf. »Er ist gefährlich, Kay. Glaub mir bitte. Er ist verrückt. Er hat sich aufgeführt wie...«- wie mein Vater, lag ihr auf der Zunge. Statt dessen sagte sie:».. .wie ein Besessener.« »In Ordnung«, sagte Kay. »Du kannst ganz beruhigt sein. Fahr und erfüll dein Versprechen. Und denk schon mal darüber nach, wie es dann weitergehen soll.« »Das tu' ich«, versicherte Bev, aber es war eine Lüge. Sie hatte über zuviel anderes nachzudenken: beispielsweise, was sich ereignet hatte, als sie ein zehnjähriges Mädchen gewesen war. Beispielsweise über Stimmen aus dem Ablauf. Und über etwas, das sie gesehen hatte und das so schrecklich gewesen war, daß sie es immer noch zu verdrängen versuchte, als sie Kay neben dem langen silberfarbenen Greyhound-Bus zum letztenmal umarmte. Jetzt, während das Flugzeug mit der Ente seinen langen Abstieg in die Bostoner Gegend beginnt, kehren ihre Gedanken wieder zu diesen Dingen zurück... und zu Stan Uris... und zu einem Haiku auf einer Postkarte ohne Unterschrift... und zu den Stimmen, und zu jenem Moment, als sie etwas Ungeheurem ins Auge geschaut hatte. Sie blickt aus dem Fenster, blickt hinab und denkt, daß Toms Bösartigkeit klein und unbedeutend ist im Vergleich zu dem Bösen, das sie in Derry erwartet. Wenn es dafür eine Entschädigung gibt, so die, daß Bill Denbrough auch dort sein wird... und es gab einmal eine Zeit, als ein zehnjähriges Mädchen namens Beverly Marsh Bill Denbrough liebte. Sie erinnert sich an jene Postkarte mit dem schönen Gedicht, und sie erinnert sich daran, daß sie einmal gewußt hat, wer ihr diese Karte geschickt hatte. Aber es fällt ihr nicht ein, und auch an das Gedicht selbst kann sie sich nicht mehr genau erinnern... aber vielleicht hatte Bill es geschrieben. Ja, es ist durchaus möglich, daß es Stotter-Bill Denbrough gewesen war. Ihr fällt plötzlich ein, wie sie sich am Abend jenes Tages, als sie mit Richie und Ben im Kino gewesen war und die beiden Horrorfilme gesehen hatte, zum Schlafengehen fertigmachte. Sie hatte mit Richie darüber Witze gerissen - in jener Zeit war das ihre Verteidigungswaffe gewesen -, aber ein Teil von ihr war aufgeregt, gerührt und ein bißchen ängstlich gewesen. Es war in gewisser Weise wirklich ihr erstes Rendezvous gewesen, obwohl sie es mit zwei Jungen anstatt mit einem gehabt hatte. Richie hatte ihre Eintrittskarte und alles bezahlt, genau wie bei einem richtigen Rendezvous. Und hinterher hatten dann jene großen Burschen sie verfolgt... und sie hatten den Rest des Nachmittags in den Barrens verbracht... und Bill Denbrough war mit irgendeinem anderen Jungen auch dorthin gekommen, sie erinnerte sich nicht, wie der andere geheißen hatte, aber sie erinnerte sich daran, wie Bills Blicke sich für einen Moment mit ihren getroffen hatten, und sie erinnerte sich an den elektrischen Schlag, den ihr dieser Blick versetzt hatte ...und an den heißen Schauder am ganzen Körper.

Sie erinnert sich daran, daß sie an all diese Dinge dachte, als sie ihr Nachthemd anzog und ins Bad ging, um sich das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Sie dachte, daß es bestimmt lange dauern würde, bis sie einschlief, weil sie über so vieles nachdenken mußte... und daß es schön war, daran zu denken, denn es schienen sehr nette Jungen zu sein, Kinder, mit denen man spielen und denen man vielleicht sogar ein bißchen vertrauen konnte. Das wäre schön. Es wäre... nun ja, es wäre einfach himmlisch.

Und während sie all das dachte, griff sie nach ihrem Waschlappen und beugte sich über das Waschbecken, und die Stimme

2

kam flüsternd aus dem Ablauf:

»Hilf mir!«

Beverly fuhr erschrocken zurück, den trockenen Waschlappen immer noch in der Hand haltend. Ihre Augen waren riesengroß. Sie schüttelte den Kopf, so als wollte sie ihn klar bekommen, dann beugte sie sich wieder über das Becken. Das Bad befand sich am Ende ihrer Vierzimmerwohnung. Sie hörte schwach, daß im Fernsehen irgendein Western gezeigt wurde. Danach würde ihr Vater wahrscheinlich auf ein Baseballspiel oder einen Boxkampf umschalten und in seinem Sessel einschlafen.

Die Badtapete hatte ein scheußliches Muster: Frösche auf Wasserlilienblättern. Sie wellte sich über dem unregelmäßigen Verputz, hatte Wasserflecken und löste sich stellenweise. Die Badewanne hatte Rostflecken, der Toilettendeckel war gesprungen. Eine nackte 6o-Watt-Birne war in die Porzellanfassung über dem Waschbecken eingeschraubt. Beverly erinnerte sich vage daran, daß es hier einmal eine richtige Lampe gegeben hatte, aber der Schirm war vor einigen Jahren zerbrochen und nie ersetzt worden. Der Fußboden war mit Linoleum bedeckt, dessen Muster völlig ausgeblichen war, abgesehen von einem kleinen Stück unter dem Waschbecken.

Es war kein sehr ansprechendes Bad, aber Beverly benutzte es schon so lange, daß ihr das nicht mehr auffiel.

Auch das Waschbecken hatte Flecken. Der Abfluß war rund, hatte einen Durchmesser von etwa zwei Zoll und ein einfaches kreuzförmiges Abflußventil. Früher hatte er noch eine Chromeinfassung gehabt, aber auch die war schon vor langer Zeit kaputtgegangen. Ein Gummistöpsel hing an einer Kette ins Waschbecken. Das Abflußloch war schwarz, und als Beverly sich dicht darüberbeugte, fiel ihr zum erstenmal der schwache unangenehme Geruch auf - ein leichter Fischgestank -, der aus dem Abflußrohr aufstieg. Sie rümpfte angeekelt die Nase.

»Hilf mir...«

Sie schnappte nach Luft und hatte plötzlich einen trockenen Mund. Das war eine Stimme. Sie hatte an ein Rasseln in den Rohren gedacht... oder es für reine Einbildung gehalten... hervorgerufen durch die Horrorfilme...

»Hilf mir, Beverly...«

Ihr wurde abwechselnd heiß und kalt. Sie hatte das Gummiband aus ihrem Haar gelöst, und nun fiel es ihr in roten Locken über die Schultern. Sie spürte, wie es sich an den Wurzeln sträubte.

Ohne zu überlegen, was sie tat, beugte sie sich wieder über das Becken und flüsterte halblaut: »H-Hallo! Ist dort jemand?« Die Stimme aus dem Abfluß hatte einem Kind gehört, einem sehr kleinen Kind, das vermutlich erst vor kurzem sprechen gelernt hatte. Und trotz der Gänsehaut auf ihren Armen suchte sie nach einer rationalen Erklärung. Dies hier war ein Mietshaus. Die Marshs hatten die hintere Wohnung im Erdgeschoß. Es gab noch vier weitere Wohnungen. Vielleicht vergnügte sich in einer dieser Wohnungen ein Kind damit, in die Abflußrohre zu rufen. Und irgendein akustischer Trick...

»Ist dort jemand?« rief sie wieder in den Abfluß, diesmal etwas lauter. Plötzlich fiel ihr ein, daß ihre Eltern sie für verrückt halten würden, wenn sie jetzt hereinkämen. Ihre Mutter würde fragen, was in aller Welt sie treibe; und ihr Vater würde vermutlich zuerst zuschlagen und dann erst Fragen stellen.

Es kam keine Antwort aus dem Abfluß, aber der unangenehme Geruch schien stärker zu werden. Er erinnerte sie an den Bambusstreifen in den Barrens und an die Müllhalde; an langsam aufsteigende beißende Rauchwolken und schwarzen Morast, der einem die Schuhe von den Füßen ziehen wollte.

Es gab im ganzen Haus keine kleinen Kinder, das war die Sache. Die Ro-gans hatten einen fünfjährigen Jungen und zwei Mädchen - eines drei Jahre, das andere sechs Monate alt- gehabt, aber Mr. Rogan hatte seine Arbeitsstelle im Schuhgeschäft in der Tracker Avenue verloren, sie waren mit der Miete in Rückstand geraten und eines Tages kurz vor Schulschluß in Mr. Rogans rostigem alten Buick verschwunden. In der vorderen Wohnung im zweiten Stock gab es noch Skipper Bolton, aber er war 14 Jahre alt und besuchte die High School.

»Wir alle wollen dich kennenlernen, Beverly...«

Sie hielt sich die Hand vor den Mund und riß entsetzt die Augen auf. Einen Augenblick - Bruchteile von Sekunden - lang glaubte sie, dort unten eine Bewegung gesehen zu haben. Ihr wurde plötzlich bewußt, daß ihre Haare ihr in zwei dicken Garben über die Schultern fielen und nahe - sehr nahe - über dem Abflußloch hingen. Irgendein Instinkt riet ihr plötzlich, sich aufzurichten und sie zurückzustreichen. Sonst könnte etwas womöglich von unten nach ihr greifen, sie an den Haaren packen... hinabzerren ...

Sie schaute sich um. Die Badtür war fest geschlossen. Sie hörte, wie im Fernseher Cheyenne Bodie den Bösewicht gerade aufforderte, die Pistole wegzustecken, bevor jemand verletzt würde. Sie war allein. Abgesehen von jener Stimme.

»Wer bist du?« rief sie leise in den Abfluß hinein.

»Matthew Clements«, flüsterte die Stimme. Sie klang niedergeschlagen... aber Beverly glaubte einen beunruhigenden Unterton herauszuhören. War es Fröhlichkeit? Glück? Was war es?

»Ich bin mit dem Clown gegangen«, flüsterte die Stimme. »Der Clown hat mich hierher in die Abflußrohre mitgenommen, und ich bin gestorben, und sehr bald wird er kommen und auch dich holen, Beverly, und Ben Hanscom und Bill Denbrough und Eddie...«

Sie preßte ihre Hände an die Wangen. Ihre Augen wurden immer größer. Sie spürte, wie ihr ganzer Körper unter der weißen Haut eiskalt und schwach wurde. Die Stimme im Abfluß veränderte sich. Nun klang sie alt und erstickt... aber immer noch war da dieser Unterton einer verderbten Fröhlichkeit.

»Du wirst hier unten mit deinen Freunden schweben, Beverly, wir alle schweben hier unten, sag Bill, daß Georgie ihn grüßt, sag Bill, daß Georgie ihn vermißt, daß sie sich aber bald wiedersehen werden, sag ihm, daß Georgie eines Abends im Schrank sein wird, sag ihm...«

Die Stimme ging in einen erstickten Schluckauf über, und plötzlich stieg eine grellrote Blase aus dem Ablauf und zersprang; Blutstropfen spritzten auf das Porzellanbecken. ,

Dann ertönte die erstickte Stimme von neuem, und mitten im Reden veränderte sie sich: Einmal war es die Stimme des kleinen Kindes, die sie zuerst gehört hatte, dann die eines Mädchens im Teenageralter, dann - und das war besonders schrecklich! - die eines Mädchens, das Beverly gekannt hatte... Veronica Grogan. Aber Veronica war tot, sie war tot in einem Abwasserkanal gefunden worden...

»Ich bin Matthew... ich bin Betty... ich bin Veronica... wir sind hier unten mit dem Clown... und der Kreatur aus der Schwarzen Lagune... und der Mumie... und dem Werwolf... und mit dir, Beverly, wir sind hier unten mit dir, und wir schweben undfliegen, und wir verändern uns...«

Eine schreckliche Blutfontäne stieg aus dem Ablauf hoch und bespritzte das Waschbecken und den Spiegel und die Tapete mit dem Frosch-auf-Li-lienblättern-Muster. Beverly schrie plötzlich gellend auf. Sie wich von dem Waschbecken zurück, prallte gegen die Tür, riß sie auf und rannte blindlings ins Wohnzimmer, wo ihr Vater gerade aufgesprungen war.

»Was zum Teufel ist denn mit dir los?« fragte er mit hochgezogenen Brauen. Die beiden waren an diesem Abend allein zu Hause. Beverlys Mutter hatte in dieser und der nächsten Woche die Schicht von drei bis elf im >Slavett's Farm<, Derrys bestem Restaurant.

»Das Bad!« schrie Beverly hysterisch. »Das Bad, Daddy, im Bad...«

»Hat jemand durchs Fenster geschaut, Beverly? War's so?« Sein Arm schoß vor, und seine Hand packte sie schmerzhaft fest am Oberarm.

»Nein... der Abfluß... im Abfluß... die... die...« Aber sie brachte nichts mehr hervor; sie brach in hysterische Tränen aus. Ihr Herz dröhnte so laut in ihrer Brust, daß sie zu ersticken glaubte.

AI Marsh schob sie mit einem >O-mein-Gott-was-kommt-als-nächstes<-

Gesichtsausdruck beiseite und ging ins Bad. Er hielt sich so lange dort auf, daß Beverly wieder Angst bekam.

Dann brüllte er: »Beverly! Komm sofort her, Mädchen!«

Unmöglich, dem Befehl nicht Folge zu leisten. Die psychologische Macht von Beverlys Vater über sie war unheimlich groß; wenn sie zusammen am Rand eines hohen Felsens gestanden hätten, und er ihr befohlen hätte hinabzuspringen - jetzt gleich, Mädchen! -, so hätte ihr instinktiver Gehorsam sie bestimmt dazu getrieben, wirklich hinabzuspringen, noch bevor ihr Verstand sie daran hätte hindern können.

Die Badezimmertür war geöffnet. Da stand ihr Vater, ein großer Mann, dem die kastanienbraun-roten Haare allmählich ausfielen, die er Beverly vererbt hatte. Er trug immer noch seine graue Arbeitshose und sein graues Hemd (er war Pförtner in der High School), und er sah Beverly streng an. Er trank nicht, er rauchte nicht, er hatte keine Weibergeschichten. Ich habe alle Weiber, die ich brauche, zu Hause, pflegte er zu sagen. Sie kümmern sich um mich, und wenn es nötig ist, kümmere ich mich um sie.

»Na, was soll das, zum Teufel noch mal?« fragte er, als sie hereinkam.

Beverly hatte das Gefühl, als wäre ihre Kehle zugeschnürt. Ihr Herz hämmerte dumpf in der Brust. Sie glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Lange Blutstropfen liefen am Spiegel herab. Die Glühbirne über dem Waschbecken war blutbefleckt, und sie konnte es kochen riechen. Blut floß über die Porzellanseiten des Beckens und fiel in dicken Tropfen auf den Linoleumboden.

»Daddy...«, flüsterte sie heiser.

Er wandte sich angewidert von ihr ab und begann sich in dem blutigen Waschbecken die Hände zu waschen. »Großer Gott, Mädchen, mach den Mund auf. Du hast mir einen Mordsschreck eingejagt. Jetzt erklär mir mal, was los war.«

Er wusch seine Hände, und sie sah, wie seine graue Hose dort, wo sie das Waschbecken berührte, Blutflecken bekam; und wenn er mit der Stirn den Spiegel berühren sollte (er war nur wenige Millimeter davon entfernt), würde Blut auf seine Haut kommen. Ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle.

Er drehte den Hahn zu, griff nach einem Handtuch, das auch zwei große Blutspritzer abbekommen hatte, und begann sich die Hände abzutrocknen. Sie war einer Ohnmacht nahe, als sie sah, daß er sich die Knöchel mit Blut beschmierte. Auch unter seinen Fingernägeln und Handflächen war Blut.

»Na? Ich warte.« Er warf das blutige Handtuch über den Handtuchhalter.

Überall war Blut... Blut... und ihr Vater sah es nicht.

»Daddy...« Sie hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte, aber ihr Vater unterbrach sie ohnehin.

»Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte AI Marsh. »Ich glaube nicht, daß du je erwachsen wirst, Beverly. Du rennst ständig draußen herum, kümmerst dich nicht um den Haushalt, du kannst nicht kochen, du kannst nicht nähen. Die Hälfte der Zeit steckst du deine Nase in Bücher und schwebst irgendwo in den Wolken, und die andere Hälfte machst du dich dünn. Du hast nur Grillen im Kopf. Ich mache mir Sorgen um dich.«

Er holte plötzlich weit aus, und seine Hand landete schmerzhaft auf ihrem Gesäß. Sie schrie auf, konnte aber immer noch nicht den Blick von ihm abwenden. In seiner buschigen rechten Augenbraue hing ein winziger Blutstropfen. Wenn ich lange genug hinschaue, werde ich einfach verrückt werden, und dann wird mich nichts von alldem mehr berühren, dachte sie verschwommen.

»Ich mache mir große Sorgen«, sagte er und schlug wieder zu, noch stärker als beim erstenmal; er traf ihren Arm dicht über dem Ellbogen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte sie, dann wurde der Arm taub. Sie wußte, daß sie dort am nächsten Tag einen großen blauen Fleck haben würde.

»Ich mache mir schreckliche Sorgen«, sagte er und boxte sie in den Magen. In der letzten Sekunde milderte er die Wucht des Schlages etwas ab, und dadurch blieb Beverly nur die Hälfte der Luft weg. Sie keuchte, und Tränen traten ihr in die Augen. Ihr Vater betrachtete sie ungerührt. Er schob seine blutigen Hände in die Hosentaschen.

»Du mußt erwachsen werden, Beverly«, sagte er, und jetzt klang seine Stimme freundlich und mild. »Hab' ich recht?«

Sie nickte. Ihr Kopf dröhnte. Sie weinte, aber nur ganz still vor sich hin. Wenn sie laut schluchzte - in >Baby-Geheul< ausbrach, wie ihr Vater das nannte -, würde er sie eventuell erst richtig verprügeln. AI Marsh hatte sein ganzes Leben in Derry verbracht und erzählte Leuten, die ihn danach fragten (und manchmal auch jenen, die nicht fragten), daß er hier auch begraben werden wollte - möglichst erst mit 110 Jahren. »Kein Grund, warum ich nicht ewig leben sollte«, erklärte er häufig Roger Aurlette, der ihm einmal im Monat die Haare schnitt. »Ich habe keine Laster.«

»Und jetzt erzähl mal, warum du gebrüllt hast«, sagte er. »Und mach's kurz.«

»Da war...« Sie schluckte, und das tat weh, weil ihre Kehle völlig trocken war. »Da war eine Spinne. Eine große fette schwarze Spinne. Sie... sie kroch aus dem Ablauf, und ich... ich nehme an, daß sie wieder runtergekrochen ist.«

»Oh!« Jetzt lächelte er ihr zu. Diese Erklärung schien ihm zu gefallen. »Das war's also? Verdammt! Wenn du mir das gleich erzählt hättest, Beverly, hätte ich dich nicht geschlagen. Alle Mädchen haben Angst vor Spinnen. Warum hast du denn den Mund nicht aufgemacht?«

Er beugte sich über den Ablauf, und sie mußte sich auf die Lippe beißen, um ihm keine Warnung zuzurufen... aber tief in ihrem Innern hörte sie noch eine andere Stimme, eine schreckliche Stimme, die nicht ihr gehören konnte; es mußte die Stimme des Teufels höchstpersönlich sein: Laß es ihn packen, wenn es ihn haben will. Dann bist du ihn los!

Sie war entsetzt über diese Stimme. Solche Gedanken in bezug auf den eigenen Vater zu haben war sündhaft; sie würde dafür bestimmt in die Hölle kommen.

AI Marsh beugte sich tief über das Waschbecken und starrte in den Ablauf. Seine Hände faßten in das Blut am Waschbeckenrand. Beverly konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. Ihr Magen schmerzte von dem Boxhieb ihres Vaters.

»Ich kann nichts sehen«, sagte er. »Diese ganzen Häuser sind alt, Beverly. Große dicke Abflußrohre. In der alten High School schwammen ab und zu ertrunkene Ratten in den Kloschüsseln. Es machte die Mädchen ganz verrückt.« Er lachte über diese weibliche Schwäche. »Hauptsächlich, wenn der Kenduskeag viel Wasser führte. Es ist besser geworden, seit wir das neue Abwassersystem haben.«

Er legte einen Arm um sie und drückte sie fest an sich.

»Du gehst jetzt am besten ins Bett und denkst nicht mehr daran. Okay?«

Sie spürte deutlich ihre Liebe zu ihm. Ich schlage dich nie, wenn du es nicht verdient hast, Beverly, hatte er ihr einmal gesagt, als sie es wagte, eine Bestrafung als ungerecht zu bezeichnen. Und sicher stimmte das, denn er konnte liebevoll sein, und wenn er manchmal einen Tag mit ihr verbrachte, ihr zeigte, wie dieses oder jenes gemacht wurde oder ihr alles mögliche erzählte, glaubte sie, daß ihr vor Glück das Herz zerspringen würde. Sie liebte ihn, und sie verstand, daß er sie oft bestrafen mußte, weil es - wie er sagte -seine Pflicht war, seine von Gott aufgetragene Pflicht »Töchter«, erklärte er, »brauchen mehr Strafen als Söhne.« Er hatte keine Söhne, und manchmal hatte sie das Gefühl, daß auch das teilweise ihre Schuld sein könnte.

»Okay, Daddy«, sagte sie. Sie gingen zusammen in ihr kleines Zimmer; ihr rechter Arm tat von dem Schlag furchtbar weh. Sie warf über die Schulter hinweg einen Blick auf das Bad und sah das blutige Waschbecken, den blutigen Spiegel, die blutige Tapete, den blutigen Fußboden... das blutige Handtuch. Und sie dachte: Wie soll ich mich nur je wieder dort waschen? Bitte, Gott, lieber Gott, es tut mir leid, wenn ich das über meinen Vater doch selbst gedacht habe, du kannst mich bestrafen, wenn du willst, laß mich hinfallen und mich verletzen oder laß mich die Grippe bekommen wie letzten Winter, aber bitte, lieber Gott, laß das Blut morgen früh verschwunden sein, laß es nicht mehr da sein, bitte, lieber Gott, okay? Laß das alles nur Einbildung sein; keine Stimmen, kein Blut, okay?

Ihr Vater deckte sie zu und küßte sie wie immer auf die Stirn. Dann stand er kurze Zeit einfach da, in der für ihn typischen Haltung, die für Bev immer >seine< Haltung bleiben würde: leicht vorgebeugt, Hände in den Hosentaschen, die blauen Augen in seinem traurigen Hush-Puppy-Gesicht auf sie gerichtet. In späteren Jahren, lange nachdem sie aufgehört hatte, überhaupt noch an Derry zu denken, sah sie manchmal einen Mann im Bus oder an irgendeiner Ecke stehen, manchmal in der Abenddämmerung, manchmal im Mittagslicht eines klaren Herbsttages im Watertower Square, und wurde an ihren Vater erinnert; oder Tom, der ihrem Vater so ähnlich sah, wenn er sein Hemd auszog und vor dem Badspiegel stand und sich rasierte. Ein ganz bestimmter Typ von Mann.

»Manchmal mache ich mir Sorgen um dich, Beverly«, sagte er, aber jetzt lag keine Drohung in seiner Stimme. Er strich ihr zärtlich übers Haar.

Das Badezimmer ist voller Blut, Daddy! hätte sie ihm in diesem Moment fast anvertraut. Hast du es denn nicht gesehen? Es ist überall! Es kocht sogar auf der Glühbirne! Hast du es denn nicht gesehen?

Aber sie schwieg, und er ging hinaus und schloß hinter sich die Tür. Sie blieb allein in ihrem dunklen Zimmer zurück. Sie lag immer noch wach und starrte in die Dunkelheit, als ihre Mutter um halb zwölf nach Hause kam und der Fernseher ausgeschaltet wurde. Sie hörte, wie ihre Eltern ins Schlafzimmer gingen, sie hörte die Bettfedern quietschen, als sie jene SexSache machten, von der Greta Bowie einmal Sally Mueller erzählt hatte, sie brenne wie Feuer und kein anständiges Mädchen wolle dabei mitmachen (»Zuletzt pißt der Mann dir auf den Bauch«, sagte Greta, und Sally schrie: »Oh, ich würde nie zulassen, daß ein Junge so was mit mir macht!«). Dann hörte Beverly ihre Mutter ins Bad gehen. Sie hielt den Atem an und wartete, ob ihre Mutter aufschreien würde.

Aber es ertönte kein Schrei - sie hörte nur, wie Wasser ins Waschbecken floß, kurz darauf gurgelnd ablief, und wie ihre Mutter sich die Zähne putzte. Dann quietschten wieder die Bettfedern im Schlafzimmer ihrer Eltern, als ihre Mutter sich niederlegte. Das war alles.

Eine düstere Angst überkam sie und schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte Angst, sich auf die rechte Seite zu drehen - ihre Lieblingsposition zum Einschlafen -, weil sie dann vielleicht sehen würde, daß etwas sie durchs Fenster anstarrte. Einige Zeit später - Minuten oder Stunden - fiel sie in einen leichten, unruhigen Schlaf.

3

Beverly wachte wie immer auf, als im Schlafzimmer ihrer Eltern der Wecker klingelte. Sie mußte rasch reagieren, denn gleich nach den ersten Tönen stellte ihr Vater ihn ab. Während er ins Bad ging, zog sie sich schnell an. Dazwischen betrachtete sie - wie neuerdings fast immer- im Spiegel ihre Brüste und versuchte zu entscheiden, ob sie über Nacht größer geworden waren. Ende des Vorjahres hatte sie die ersten Ansätze entdeckt, und zuerst hatte sie leichte Schmerzen gehabt, aber jetzt nicht mehr. Sie waren noch sehr klein - nicht einmal apfelgroß -, doch ihr Vorhandensein ließ sich nicht leugnen. Bald würde sie eine Frau sein.

Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu, schob mit einer Hand von hinten ihre Haare hoch und streckte ihre Brust heraus. Sie lachte leise vor sich hin. Es war ein ganz natürliches Kleinmädchenlachen... aber plötzlich fiel ihr ein, was am Vorabend im Bad passiert war, und ihr Lachen endete abrupt.

Sie betrachtete ihren Arm, und da war die Schwellung, ein häßlicher großer blauer Fleck zwischen Ellbogen und Schulter.

Der Toilettendeckel knallte, die Spülung wurde betätigt.

Beverly schlüpfte rasch in verblichene Jeans und ein Sweatshirt mit dem Aufdruck Derry High School. Sie beeilte sich, um ihren Vater heute morgen nicht gleich wieder zu verärgern. Und dann konnte sie es nicht länger hinausschieben - sie mußte ins Bad. Im Wohnzimmer traf sie ihren Vater, der ins Schlafzimmer zurückging, um sich anzuziehen. Er hatte einen blauen Pyjama an, sein Gesicht war aufgequollen, seine Haare standen wirr vom Kopf ab. Er knurrte ihr etwas zu, ohne sie dabei anzuschauen.

Sie stand einen Augenblick vor der geschlossenen Badtür und versuchte, sich seelisch auf das einzustellen, was sie vielleicht gleich sehen würde. Wenigstens ist es jetzt hell, dachte sie, und das tröstete sie ein wenig. Sie benetzte sich die Lippen und ging hinein.

Beverly hatte an diesem Tag viel zu tun. Sie machte ihrem Vater das Frühstück - Orangensaft, zwei weiche Eier, Toast nach seinem Geschmack... das Brot mußte heiß, durfte aber nicht stark getoastet sein. Er setzte sich an den Tisch, verbarrikadierte sich hinter der Zeitung und aß alles auf.

»Wo ist der Speck?«

»Den haben wir gestern aufgegessen, Daddy.«

»Dann mach mir einen Hamburger.«

»Es ist nur noch ein kleiner Rest...«

Die Zeitung raschelte. Ihr Vater schaute sie über den Rand hinweg an. »Was?« fragte er leise.

»Okay«, rief sie rasch. Sie briet ihm einen Hamburger - sie klopfte den Rest Hackfleisch so flach wie nur möglich, damit er größer aussah. Ihr Vater aß ihn, während er die Sportseite las; währenddessen machte Beverly sein Mittagessen zurecht - zwei Sandwiches mit Erdnußbutter und Marmelade, ein großes Stück von dem Kuchen, den ihre Mutter gestern abend mitgebracht hatte, und eine Thermoskanne mit heißem Kaffee.

»Richte deiner Mutter aus, daß die Wohnung heute geputzt werden muß«, brummte er, während er nach seinem Lunchpaket griff. »Hier sieht's aus wie im Schweinestall. Ich muß drüben in der Schule den ganzen Tag aufräumen. Wenn ich heimkomme, möchte ich keinen Saustall vorfinden. Vergiß es nicht, Beverly.«

»Okay, Daddy.«

Er küßte sie, umarmte sie ziemlich rauh und ging. Wie jeden Tag schaute Bev ihm aus dem Fenster in ihrem Zimmer nach. Sie sah ihn die Straße entlanggehen und verspürte wie immer eine große Erleichterung... und haßte sich dafür.

Sie spülte das Geschirr, dann setzte sie sich mit einem Buch auf die Stufen am Hinterausgang. Lars Thermaenius, dessen lange blonde Haare wunderschön schimmerten, kam vom Nebenhaus herübergewatschelt, um ihr seinen neuen Spielzeuglaster und seine aufgeschürften Knie zu zeigen. Beverly bewunderte beides gebührend. Dann rief ihre Mutter.

Sie ging ins Haus und half ihrer Mutter, die noch im Morgenrock war, die Betten frisch zu beziehen und die Böden zu schrubben. Ihre Mutter übernahm den Boden im Bad, wofür Bev sehr dankbar war. Mrs. Marsh war eine kleine Frau mit ergrauendem Haar. Die Falten in ihrem Gesicht und ihr grimmiger Ausdruck verrieten der Welt, daß sie schon ein Weilchen gelebt hatte und beabsichtigte, noch ein Weilchen länger zu leben... daß es aber nicht leicht gewesen war, und daß sie auch nicht damit rechnete, etwas könnte in Zukunft leichter werden.

»Kannst du die Fenster putzen, Beverly?« fragte sie, als sie etwas später in ihrer Kellnerinnen-Kleidung und weißen Schuhen in die Küche kam. »Ich muß nach Bangor, ins E. M. M. C. und dort Cheryl Tarrent besuchen. Sie hat sich gestern abend das Bein gebrochen.«

»O Gott«, sagte Bev. »Ist sie hingefallen?« Cheryl Tarrent war eine Frau, mit der ihre Mutter im Restaurant zusammenarbeitete - sie war etwa zehn Jahre jünger als Rhoda Marsh, und sie strahlte eine Lebensfreude aus, die

Beverly sehr gefiel. Sie hatte immer noch etwas Mädchenhaftes an sich; die Welt war mit ihr noch nicht so rauh umgesprungen wie mit Bevs Mutter

»Sie und ihr nichtsnutziger Ehemann hatten einen Autounfall«, berichtete Mrs. Marsh grimmig. »Er war betrunken. Du mußt stets Gott danken, daß dein Vater nicht trinkt, Bev.«

»Das tu' ich«, sagte Beverly, und es war ihr damit ernst.

»Sie wird jetzt vermutlich ihren Job verlieren, und er hält es bei keiner Arbeitsstelle lange aus. Wahrscheinlich werden sie sich an die Sozialfürsorge wenden müssen.« In der Stimme ihrer Mutter klang eine grimmige Furcht mit. Das war in etwa das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte: zur Sozialfürsorge gehen und sich für Almosen tausendmal bedanken müssen. »Wenn du die Fenster geputzt und den Abfall rausgebracht hast, kannst du spielen gehen, wenn du möchtest. Dein Vater hat heute seinen Kegelabend, du brauchst ihm also kein Essen zu kochen, aber ich möchte, daß du vor Dunkelheit zu Hause bist. Du weißt ja, warum.«

»Okay, Mom.«

»Mein Gott, du wächst so schnell!« sagte ihre Mutter. »Eh wir uns versehen, wirst du schon aus dem Haus gehen, nehm' ich an. Und dabei kommt es mir wie gestern vor, daß die Krankenschwester dich mir brachte und in die Arme legte. Du wächst wie Unkraut.«

»Ich werde immer hier sein«, sagte Beverly lächelnd.

Ihre Mutter, die es besser wußte, umarmte sie. »Ich liebe dich, Bewie.«

Sie erwiderte die Umarmung und spürte die kleinen Brüste ihrer Mutter, das einzig Weiche an diesem harten, sehnigen Körper. »Ich liebe dich auch, Mom.«

Und als ihre Mutter gerade zur Tür hinausgehen wollte, sagte Beverly (sie hoffte, daß ihre Stimme beiläufig klang): »Hast du im Bad irgendwas Seltsames gesehen, Mom?«

Mrs. Marsh drehte sich noch einmal um und runzelte leicht die Stirn. »Etwas Seltsames?«

Beverly spürte das Pochen ihrer Halsschlagader. »Na ja, ich hab' dort gestern abend 'ne Spinne gesehen. Sie kroch aus dem Abfluß. Hat Daddy es dir nicht erzählt?«

»Nein. Er hat nichts gesagt. Hast du deinen Vätern gestern abend geärgert, Bewie?«

»Nein«, erwiderte Bev rasch. »Ich hab's ihm erzählt, und er hat gesagt, daß in der alten High School manchmal Ratten - ertrunkene Ratten - in den Kloschüsseln schwammen. Wegen der Abflußrohre. Ich hab' nun überlegt, ob du die Spinne auch gesehen hast.«

»Nein, ich hab' nichts gesehen. Ich wünschte, wir könnten uns neues Linoleum fürs Bad leisten. Vermutlich ist die Spinne sofort wieder in den Abfluß gekrochen, Bewie.« Sie betrachtete den blauen wolkenlosen Himmel. »Es heißt, es gibt Regen, wenn man eine Spinne sieht. Aber es schaut nicht sehr danach aus, findest du nicht auch?«

»Nein«, stimmte Beverly zu.

Ihre Mutter schaute sie mit einem forschenden Blick an, und Bev dachte, daß sie noch etwas sagen würde - Eltern hatten ein Gespür dafür, wenn man etwas verheimlichte. Aber ihre Mutter sagte nur: »Vergiß nicht, den Abfall rauszubringen.«

»Ich denk' dran, Mom.«

Ihre Mutter verließ das Haus. Von ihrem Zimmer aus blickte Bev auch ihr nach und sah sie die Main Street entlanggehen, auf die Bushaltestelle zu. Als sie nicht mehr zu sehen war, holte Beverly Eimer, Windex und einige Lappen, um die Fenster zu putzen. Die Wohnung kam ihr viel zu still vor. Jedesmal, wenn der Fußboden knarrte oder irgendwo eine Tür zugeschlagen wurde, fuhr sie zusammen. Als in der Wohnung der Bortons über ihr die Toilettenspülung zu hören war, stieß sie einen leisen Schrei aus.

Und immer wieder schweiften ihre Blicke zur geschlossenen Badtür.

Schließlich ging sie hin und riß die Tür weit auf. Nachdem ihre Mutter heute morgen hier geputzt hatte, war der größte Teil des Blutes, das auf den Boden getropft war, verschwunden... ebenso das Blut am Waschbek-kenrand. Aber im Becken selbst waren immer noch rotbraune trockene Blutflecken, und auch auf dem Spiegel und auf der Tapete.

Beverly betrachtete ihr weißes Gesicht im Spiegel und stellte mit plötzlichem abergläubischen Entsetzen fest, daß das Blut auf dem Glas den Eindruck hervorrief, als blute ihr Gesicht, und sie dachte wieder: Was soll ich nur tun? Bin ich verrückt geworden? Bilde ich mir das alles nur ein?

Aus dem Ablauf kam plötzlich ein rülpsendes Kichern.

Beverly schrie auf und schlug die Tür zu, und fünf Minuten später zitterten ihre Hände immer noch so stark, daß sie fast die Flasche Windex fallen ließ, während sie die Fenster im Wohnzimmer putzte.

5

Nachdem Beverly Marsh gegen drei Uhr nachmittags die Wohnung abgeschlossen und ihren Schlüssel sorgfältig in die Jeanstasche gesteckt hatte, ging sie die Richard's Alley entlang, ein enges Sträßchen, das die Main Street mit der Center Street verband, und stieß dort zufällig auf Ben Hanscom, Eddie Kaspbrak und einen Jungen namens Bradley Donovan, die >Pennywerfen< spielten.

»Hallo, Bev«, rief Eddie. »Na, hast du von den Filmen Alpträume bekommen?«

»Nee«, sagte Beverly und setzte sich auf eine leere Kiste. »Woher weißt du denn, daß ich im Kino war?«

»Haystack hat's mir erzählt«, antwortete Eddie und deutete mit dem Daumen auf Ben, der ohne ersichtlichen Grund heftig errötete.

»Was für Filme?« fragte Bradley, und nun erkannte Beverly ihn: Er war zusammen mit Bill Denbrough in die Barrens gekommen. Sie machten zusammen irgendeine Sprechtherapie oder so was Ähnliches. Beverly widmete ihm kaum Aufmerksamkeit. Wenn man sie gefragt hätte, würde sie wohl geantwortet haben, daß er ihr irgendwie weniger wichtig als Ben und Eddie vorkam - sogar weniger real.

»Zwei Horrorfilme«, antwortete sie kurz angebunden und kniete sich zwischen Ben und Eddie hin. »Spielt ihr Pennywerfen?«

»Ja«, sagte Ben. Er schaute sie an, wandte dann aber wieder rasch seinen Blick von ihr ab.

»Wer gewinnt?«

»Eddie«, antwortete Ben. »Er spielt echt gut.«

Sie schaute Eddie an, der sich feierlich am Hemd die Nägel polierte und verlegen kicherte.

»Darf ich mitspielen?«

»Von mir aus gern«, meinte Eddie. »Hast du Pennys?«

Sie stöberte in ihren Taschen und brachte drei zum Vorschein.

»Du lieber Himmel, wie kannst du es wagen, mit so einem Vermögen herumzulaufen?« fragte Eddie.

Ben und Bradley Donovan lachten.

»Auch Mädchen können mutig sein«, sagte Bev todernst, und einen Augenblick später lachten sie alle.

Bradley warf als erster, dann Ben, dann Beverly. Eddie kam, weil er am Gewinnen war, als letzter dran. Sie zielten auf die Rückwand des Center Street Drugstores. Manchmal flogen die Pennies nicht so weit, manchmal prallten sie gegen die Wand und flogen ein Stück zurück. Am Ende jeder Runde durfte der Spieler, dessen Penny der Wand am nächsten war, alle vier Pennys kassieren. Fünf Minuten später besaß Bev 24 Cent. Sie hatte nur eine Runde verloren.

»Mädchen mogeln!« rief Bradley wütend und stand auf. Seine gute Laune war verschwunden, und er starrte Beverly mit einer Mischung aus Zorn und Demütigung an. »Mädchen sollten gar nicht mitspielen dürfen.«

Ben sprang auf. Es war erschreckend, Ben Hanscom aufspringen zu sehen, denn alles an ihm schwabbelte gleichzeitig. »Nimm das sofort zurück!«

Bradley riß den Mund weit auf. »Was?«

»Nimm das sofort zurück, hab' ich gesagt! Sie hat nicht gemogelt.«

Bradley schaute von Ben zu Eddie und dann zu Beverly, die noch kniete. Dann schweifte sein Blick zu Ben zurück. »Du willst wohl 'ne geschwollene Lippe haben, Arschloch?«

»Na klar«, sagte Ben und grinste. Irgend etwas in seinem Verhalten ver-anlaßte Bradley, überrascht einen Schritt zurückzuweichen. Vielleicht entnahm er diesem Grinsen die einfache Tatsache, daß Ben sich verändert hatte, daß er - nachdem er nicht nur einmal, sondern sogar zweimal siegreich aus Kämpfen mit Henry Bowers hervorgegangen war - vor dem schmächtigen Bradley Donovan (der Warzen auf den Händen hatte) keine Angst mehr hatte.

»Ja, und dann fallt ihr alle über mich her«, sagte Bradley und wich noch einen Schritt zurück. Seine Stimme zitterte jetzt, und er hatte Tränen in den Augen. »Ihr seid doch alle Betrüger!«

»Du sollst nur zurücknehmen, was du über Bev gesagt hast«, sagte Ben.

Beverly stand auf und berührte Bens dicke Schulter. »Laß ihn doch, Ben«, sagte sie. Dann hielt sie Bradley eine Handvoll Münzen hin. »Du kannst deine gern zurückhaben. Ich hab' sowieso nicht um Geld gespielt.«

Jetzt rollten Tränen der Demütigung über Bradleys Wangen. Er schlug Beverly die Münzen aus der Hand und rannte davon. Die anderen standen da und starrten ihm mit offenen Mündern nach. In sicherer Entfernung drehte Bradley sich um und schrie: »Du bist doch nur ein kleines Drecksluder und sonst nichts! Bescheißerin! Bescheißerin! Und deine Mutter ist eine Nutte!«

Beverly schnappte nach Luft. Ben wollte Bradley verfolgen, warf aber nur eine Mülltonne um. Bradley war nicht mehr zu sehen, und Ben wußte genau, daß er ihn nicht einholen konnte. Deshalb wandte er sich lieber Beverly zu, um zu sehen, wie's ihr ging. Das Wort hatte ihn genauso schok-kiert wie sie.

Sie sah die Sorge in seinem Gesicht. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, um zu erklären, daß alles okay sei, daß er sich um sie keine Sorgen zu machen brauche, daß Worte sie nicht verletzen könnten... aber statt dessen brach sie in Tränen aus.

Eddie schaute sie unbehaglich an, holte seinen Aspirator aus der Tasche und drückte auf die Flasche. Dann bückte er sich und begann die verstreuten Pennys aufzusammeln.

Ben trat instinktiv zu ihr; er wollte den Arm um sie legen und sie trösten, aber dann traute er sich doch nicht. Sie war viel zu hübsch. Angesichts ihrer Schönheit fühlte er sich hilflos.

»Mach dir nichts draus«, sagte er; er wußte, daß es eine dumme Bemerkung war, aber er fand keine anderen Worte. Er berührte leicht ihre Schultern (sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen), zog seine Hände aber gleich wieder zurück, als hätte er sich verbrannt. Sein Gesicht war so hochrot, als würde er jeden Moment einen Schlaganfall bekommen. »Mach dir doch nichts draus, Beverly.«

Sie ließ die Hände sinken. Ihre Augen waren rot, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Mit schriller, zorniger Stimme rief sie: »Meine Mutter ist keine Nutte! Sie... sie ist Kellnerinl«

Tiefes Schweigen folgte ihren Worten. Ben starrte sie an. Eddie schaute zu ihr hoch, die Hände voller Pennys. Und plötzlich brachen sie alle drei in hysterisches Gelächter aus.

»Kellnerin!« kicherte Eddie. Er hatte nur sehr verschwommene Vorstellungen davon, was eine Nutte war, aber etwas an diesem Vergleich kam ihm furchtbar komisch vor. »Das ist sie also!«

»Ja! Ja, das ist sie!« rief Beverly, die gleichzeitig weinte und lachte.

Ben lachte so, daß er nicht mehr stehen konnte. Er ließ sich auf eine Mülltonne fallen. Unter seinem Gewicht aber kippte der Deckel, und Ben landete auf dem Boden. Eddie schüttelte sich vor Lachen. Beverly half Ben aufzustehen.

Irgendwo über ihnen wurde ein Fenster aufgerissen, und eine Frau schrie: »Macht, daß ihr hier wegkommt, sonst ruf ich die Polizei!«

Die drei Kinder faßten sich bei den Händen, Beverly in der Mitte, und rannten in Richtung Center Street. Sie lachten immer noch.

Sie legten ihr Geld zusammen und stellten fest, daß sie 40 Cent hatten. Das reichte für zwei Milchshakes aus der Eisdiele. Weil der Besitzer ein alter Griesgram war, der nicht erlaubte, daß Kinder unter zwölf in der Eisdiele herumsaßen (er behauptete, der Pinball-Automat im Hinterzimmer könnte sie verderben), nahmen sie die Shakes in zwei großen Pappbechern mit zum Bassey Park und setzten sich dort ins Gras. Ben hatte einen Mokka-, Eddie einen Erdbeershake. Beverly saß zwischen ihnen und labte sich mit einem Strohhalm abwechselnd an den Getränken, wie eine Biene an Blumen. Zum erstenmal, seit am Vorabend die Blutfontäne aus dem Abfluß hochgespritzt war, fühlte sie sich wieder okay - gefühlsmäßig erschöpft und leer, aber okay. Im Frieden mit sich selbst.

»Ich kapier' einfach nicht, was in Bradley gefahren ist«, sagte Eddie schließlich. Es klang wie eine linkische Entschuldigung. »So habe ich ihn noch nie erlebt.«

»Du hast mich verteidigt«, sagte Beverly und küßte Ben auf die Wange. »Danke.«

Ben wurde sofort wieder scharlachrot. »Du hast nicht gemogelt«, murmelte er und trank in drei riesigen Schlucken die Hälfte seines Mokkashakes, worauf er einen gewaltigen Rülpser ausstieß.

»Tolle Leistung, Haystack!« sagte Eddie, und Beverly hielt sich vor Lachen den Bauch.

»Nicht«, kicherte sie. »Mir tut schon alles weh. Bitte keine Spaße mehr.«

Ben lächelte. An diesem Abend, vor dem Einschlafen, würde er immer wieder den Moment vor seinem geistigen Auge ablaufen lassen, als sie ihn geküßt hatte.

»Geht es dir jetzt wirklich wieder gut?« erkundigte er sich.

Sie nickte. »Es war eigentlich nicht Bradley. Es war etwas anderes. Etwas, das gestern abend passiert ist.« Sie zögerte und schaute von Ben zu Eddie und zurück zu Ben. »Ich... ich muß es einfach jemandem erzählen. Oder zeigen. Oder irgendwas. Ich glaube, ich habe geweint, weil ich Angst habe, in der Klapsmühle zu landen oder so was Ähnliches.«

»Worüber redet ihr - von Klapsmühlen?« ertönte plötzlich eine neue Stimme.

Sie drehten sich bestürzt um. Es war Stanley Uris. Er sah wie immer klein, schmal und unnatürlich korrekt aus. Viel zu gepflegt für einen zehnjährigen Jungen. In seinem weißen Hemd, das ordentlich in den frisch gewaschenen Jeans steckte, den tadellos sauberen Schuhen, mit dem sorgfältig gekämmten Haar sah er eher wie der kleinste Erwachsene der Welt aus. Dann lächelte er, und dieser Eindruck verging.

Sie wird jetzt nicht mehr erzählen, was sie uns anvertrauen wollte, dachte Eddie, weil er nicht dabei war, als Bradley ihre Mutter mit jenem Namen beschimpfte.

Aber nach kurzem Zögern erzählte Beverly es doch, denn irgendwie war Stanley anders als Bradley - im Gegensatz zu Bradley war er wirklich vorhanden, war er real. Stanley ist einer von uns, dachte sie und wunderte sich, warum sie von diesem Gedanken plötzlich eine Gänsehaut bekam.

Ich tu' keinem von ihnen einen Gefallen, wenn ich es ihnen erzähle, dachte sie. Ihnen nicht, und mir selbst auch nicht.

Aber es war schon zu spät. Sie hatte schon angefangen zu reden. Stan setzte sich zu ihnen. Sein Gesicht war ernst und wie versteinert. Eddie bot ihm den Rest seines Erdbeershakes an, aber Stan schüttelte nur den Kopf, ohne Beverly aus den Augen zu lassen. Niemand unterbrach sie bei ihrem Bericht.

Sie erzählte ihnen von den Stimmen. Wie sie Ronnie Grogans Stimme erkannt hatte. Sie wußte genau, daß Ronnie tot war, aber es war ihre Stimme gewesen. Sie erzählte ihnen von dem Blut, und daß ihr Vater es nicht gesehen oder gerochen hatte, und daß auch ihre Mutter es an diesem Morgen nicht bemerkt hatte.

Als sie geendet hatte, sah sie die anderen der Reihe nach an. Sie hatte Angst vor dem, was sie vielleicht in ihren Gesichtern lesen würde... aber sie sah keine Ungläubigkeit. Sie sahen alle erschrocken, aber nicht ungläubig aus.

Schließlich sagte Ben: »Schauen wir uns die Sache doch mal an.«

7

Sie betraten die Wohnung durch die Hintertür, nicht nur deshalb, weil Bevs Schlüssel zu dieser Tür paßte, sondern auch, weil sie sagte, daß ihr Vater sie umbringen würde, wenn Mrs. Borton ihm erzählte, daß sie in Abwesenheit ihrer Eltern drei Jungen mitgebracht hatte.

»Warum denn?« fragte Eddie verwundert.

»Das verstehst du nicht, Dummchen«, sagte Stan. »Sei lieber still.«

Eddie wollte etwas erwidern, aber nach einem Blick auf Stans bleiches, angespanntes Gesicht hielt er lieber den Mund.

Die Hintertür führte in die Küche, die von Nachmittagssonne überflutet und sehr still war. Das Frühstücksgeschirr funkelte im Ständer auf der Spüle. Die vier Kinder rückten am Küchentisch eng zusammen, und als im oberen Stock eine Tür laut zufiel, durchzuckte es sie alle, und sie lachten nervös.

»Wo ist es?« fragte Ben flüsternd.

Mit pochenden Schläfen führte Beverly sie den schmalen Flur entlang, an dessen Ende sich das Bad befand. Sie öffnete die Tür, lief rasch hinein und steckte den Gummistöpsel in den Abfluß des Waschbeckens. Dann ging sie zurück und stellte sich zwischen Ben und Eddie. Das Blut war zu fürchterlichen rotbraunen Flecken auf dem Spiegel, auf der Tapete und im Waschbecken getrocknet. Sie starrte darauf, weil ihr das immer noch leichter fiel als einen der Jungen anzuschauen.

Schließlich fragte sie mit einer schwachen Stimme, die sie kaum als ihre eigene erkannte: »Seht ihr es? Sieht es jemand von euch?«

Ben trat vor, und sie war von neuem überrascht, wie leichtfüßig er sich für so einen dicken Jungen bewegte. Er berührte einen der Blutflecken; dann einen zweiten; dann einen langen Tropfen auf dem Spigel. »Hier. Hier. Und hier«, sagte er.

»Es sieht so aus, als hätte jemand hier ein Schwein geschlachtet«, sagte Stan erschrocken.

»Und es kam aus dem Abfluß?« fragte Eddie. Der Anblick des Blutes verursachte ihm leichte Übelkeit. Er atmete schwer und umklammerte seinen Aspirator.

Beverly hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht wieder weinen; sie befürchtete, daß die anderen sie sonst als typische Heulsuse ansehen könnten. Aber sie mußte die Türklinke fest umklammern, weil sie vor überwältigender Erleichterung plötzlich ganz weiche Knie hatte. Erst jetzt wurde ihr so richtig bewußt, wie überzeugt sie gewesen war, Halluzinationen zu haben oder verrückt zu werden.

»Und deine Eltern haben es nicht gesehen«, staunte Ben. Er berührte einen trockenen Blutfleck im Waschbecken, zog aber rasch seine Hand weg und wischte sie an seinem Hemdsaum ab. »Du lieber Himmel!«

»Ich weiß nicht, wie ich je wieder reingehen soll«, sagte Beverly, »um mich zu waschen, meine Zähne zu putzen oder... na ja, ihr wißt schon.«

»Wir können hier doch gründlich saubermachen«, schlug Stan plötzlich vor.

Beverly starrte ihn an. »Saubermachen?«

»Na klar. Vielleicht kriegen wir von der Tapete nicht alles runter - sie sieht... na ja, sie sieht so aus, als liege sie ohnehin in den letzten Zügen -aber den Rest können wir bestimmt abwaschen. Hast du ein paar Putzlappen?«

»Unter der Spüle«, sagte Beverly. »Aber meine Mutter wird sich wundern, wohin sie verschwunden sind, wenn wir sie benutzen.«

»Ich habe 50 Cent«, sagte Stan ruhig, ohne den Blick von den Blutflecken zu wenden. »Wir säubern jetzt alles, so gut es geht, dann bringen wir die Putzlappen in die Münzwäscherei, waschen und trocknen sie, und du kannst sie wieder an Ort und Stelle legen.«

»Meine Mutter sagt, daß Blut aus Stoff nicht mehr rausgeht«, wandte Eddie ein. »Sie sagt, es setzt sich im Gewebe fest oder irgend so was.«

Ben kicherte hysterisch. »Es macht nichts, wenn die Flecken aus den Lappen nicht ganz rausgehen«, sagte er. »Sie können sie ja ohnehin nicht sehen.«

Niemand mußte fragen, wen er mit >sie< meinte.

»Okay«, sagte Beverly, »versuchen wir's.«

8

In der nächsten halben Stunde waren sie eifrig mit Putzen beschäftigt, und als das Blut allmählich von den Wänden, vom Spiegel und vom Waschbek-ken verschwand, wurde Beverly immer leichter ums Herz. Ben und Eddie kümmerten sich um das Waschbecken und den Spiegel, während sie den Boden schrubbte. Stan arbeitete mit größter Sorgfalt an der Tapete. Er verwendete dazu einen fast trockenen Lappen. Die anderen benutzten Mrs. Marshs Putzeimer, ihr Putzmittel und jede Menge heißes Wasser, das sie häufig wechselten, weil es sie ekelte hineinzulangen, wenn es blutig war.

Zuletzt wechselte Ben die Glühbirne über dem Waschbecken aus. Das würde nicht auffallen, weil Mrs. Marsh letzten Herbst zu stark herabgesetztem Preis gleich einen Zweijahresvorrat gekauft hatte.

Endlich trat Stanley ein paar Schritte zurück, betrachtete das Bad mit dem kritischen Auge eines Jungen, dem Sauberkeit und Ordnungsliebe einfach angeboren sind, und erklärte: »Ich glaube, wir haben unser Bestes getan.«

An der Wand links vom Waschbecken waren immer noch schwache Blutspuren zu erkennen; dort war die Tapete so dünn und abgenutzt, daß Stanley nicht gewagt hatte, sie kräftig abzureiben. Aber sogar dort waren die Flecken nur noch schwach pastellfarben und sahen nicht mehr bedrohlich aus.

»Danke«, sagte Beverly. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ein Dankeschön jemals so aufrichtig empfunden zu haben. »Ich danke euch allen.«

»Ist schon in Ordnung«, murmelte Ben errötend.

»War doch selbstverständlich«, sagte Eddie.

»Kommt, wir bringen diese Putzlappen weg«, meinte Stan. Sein Gesicht war starr, fast düster. Und viel später dachte Beverly, daß Stan damals vielleicht als einziger erkannt hatte, daß sie einer unausdenkbaren Konfrontation wieder um einen Schritt näher gekommen waren.

9

Sie legten die blutigen Putzlappen in eine Tragetasche, nahmen etwas Waschpulver mit und begaben sich in die Kleen-Kloze-Wäscherei an der Ecke Main- und Cony Street. Zwei Blöcke weiter konnten sie den Kanal in der heißen Nachmittagssonne leuchtend blau funkeln sehen.

Bis auf eine Frau in weißer Schwesterntracht, die ihre Sachen gerade trocknete, war die Wäscherei leer. Die Frau warf den Kindern einen argwöhnischen Blick zu und schaute dann wieder in ihr Taschenbuch.

»Kaltes Wasser«, sagte Ben leise. »Meine Mutter sagt, daß Blutflecken am besten mit kaltem Wasser rausgehen.«

Sie legten die Lappen in die Waschmaschine, während Stan seine zwei Vierteldollar gegen vier Zehncent- und zwei Fünfcentmünzen einwechselte. Nachdem Bev das Waschpulver über die Lappen geschüttet hatte, steckte er zwei Zehncentstücke in den Münzschlitz. Bev schloß das Bullauge, und Stanley setzte die Waschmaschine in Gang.

Beverly hatte die meisten Pennys, die sie gewonnen hatte, für die Milchshakes ausgegeben, aber nach langem Suchen fand sie doch noch vier in ihrer linken Jeanstasche. Sie bot sie Stan an, der ganz verlegen aussah. »Mein Gott«, sagte er, »da lade ich nun ein Mädchen zu einem Rendezvous in die Wäscherei ein, und plötzlich will es selbst bezahlen.«

Beverly mußte lachen. »Bist du sicher?«

»Ich bin ganz sicher«, sagte Stan trocken. »Es bricht mir zwar fast das Herz, auf deine vier Pennys zu verzichten - aber ich bin ganz sicher.«

Die vier Kinder gingen zu der Reihe harter Plastikstühle an der hinteren Wand der Wäscherei, setzten sich und schwiegen. Die Putzlappen wirbelten in der Waschmaschine herum. Seifenlauge spritzte gegen das dicke

Glas des runden Bullauges. Zuerst war das Wasser rötlich, und es verursachte Beverly ein leichtes Übelkeitsgefühl, aber sie konnte trotzdem nicht wegschauen. Die Frau in der Krankenschwesterntracht blickte immer häufiger über ihr Taschenbuch zu ihnen hinüber. Vielleicht hatte sie zuerst befürchtet, daß sie herumlärmen würden; nun schien ihr aber das Schweigen der Kinder auf die Nerven zu gehen.

Als die Trockenschleuder stillstand, holte sie ihre Sachen heraus, faltete sie zusammen, legte sie in einen blauen Wäschesack aus Plastik, warf den Kindern einen letzten verwirrten Blick zu und ging weg.

Sobald sie draußen war, sagte Ben abrupt, fast barsch: »Du bist nicht die einzige.«

»Was?« fragte Beverly.

»Du bist nicht die einzige«, wiederholte Ben. »Weißt du...«

Er verstummte und schaute Eddie an, der nickte. Dann schaute er Stan an, der ein unglückliches Gesicht machte... der aber nach momentanem Zögern ebenfalls achselzuckend nickte.

»Was ist los?« fragte Beverly wieder und packte Ben am Unterarm. »Wenn ihr irgendwas darüber wißt, so sagt es mir bitte!«

»Willst du's erzählen?« fragte Ben Eddie.

Eddie schüttelte den Kopf, holte seinen Aspirator aus der Tasche und drückte darauf.

Langsam erzählte Ben Beverly, wie er zufällig am letzten Schultag nachmittags Bill Denbrough und Eddie Kaspbrak in den Barrens getroffen hatte. Er erzählte ihr, wie er, Eddie, Bill, Richie Tozier und Stan am nächsten Tag den Damm gebaut hatten. Er erzählte ihr Bills Geschichte von dem Foto seines toten Bruders, auf dem Georgie sich bewegt und ihm zugezwinkert hatte. Er erzählte sein eigenes Erlebnis mit der Mumie, die mitten im Winter mit Luftballons, die gegen den Wind flogen, auf dem vereisten Kanal auf ihn zugekommen war. Beverly hörte mit wachsendem Schrecken zu. Sie spürte, wie ihre Hände und Füße kalt und ihre Augen immer größer wurden.

Ben kam zum Schluß und schaute Eddie an. Eddie drückte noch einmal auf seinen Aspirator, dann erzählte er sein Erlebnis mit dem Aussätzigen. Er überschlug sich dabei fast vor Hektik, um die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen. Er endete mit einem leisen Aufschluchzen, aber diesmal brach er nicht in Tränen aus.

»Und du?« fragte Beverly Stan.

»Ich...«

Plötzlich trat eine Stille ein, die sie alle zusammenfahren ließ wie eine Explosion.

»Der Waschvorgang ist beendet«, sagte Stan.

Er stand auf, ging zur Waschmaschine, holte die Lappen heraus, die in einem Klumpen zusammenklebten, und betrachtete sie genau.

»Ein paar Flecken sind noch drauf«, bemerkte er, »aber es ist nicht schlimm. Sieht aus wie Preiselbeersaft.«

Er zeigte sie ihnen, und sie nickten feierlich wie über wichtige Dokumente. Beverly verspürte eine ähnliche Erleichterung wie kurz zuvor, als das Bad gesäubert war. Sie konnte die schwachen hellen Flecken auf der abblätternden Tapete ertragen, und auch die schwachen rötlichen Spuren auf den Putzlappen ihrer Mutter konnte sie ertragen.

Stan legte sie in eine der großen Trockenschleudern und warf seine beiden Fünfcentmünzen ein. Die Maschine kam in Bewegung, und Stan ging zurück und setzte sich wieder zwischen Eddie und Ben.

Einen Augenblick lang saßen sie alle schweigend da und betrachteten die Lappen, die in der Trockenschleuder umherwirbelten. Das Summen der gasbetriebenen Maschine wirkte auf sie beruhigend, sogar etwas einschläfernd. Eine Frau fuhr draußen mit einem Wägelchen voller Lebensmittel vorbei. Sie warf im Vorbeigehen einen Blick in die Wäscherei.

»Ich habe etwas gesehen«, sagte Stan plötzlich. »Ich wollte nicht darüber reden, weil ich es für einen Traum oder so was Ähnliches halten wollte. Vielleicht sogar für einen Anfall, wie der Stavier-Junge sie manchmal hat. Kennt ihr ihn?«

Ben und Bev schüttelten den Kopf, aber Eddie sagte: »Der Junge, der Epileptiker ist?«

»Genau. Es war so schlimm, daß ich lieber glauben wollte, auch krank zu sein, als die Sache für real zu halten.«

»Was war es denn?« fragte Bev, aber sie war sich nicht sicher, ob sie es auch wirklich hören wollte. Das hier war etwas ganz anderes als um ein Lagerfeuer zu sitzen und sich Gespenstergeschichten anzuhören, während man Rosinenbrötchen aß und Marshmallows grillte, bis sie schwarz und runzelig waren. Hier saßen sie in einer stickigen Wäscherei, und sie konnte unter den Waschmaschinen große Staubflocken sehen (Geisterscheiße, wie ihr Vater das nannte -Jahre später las sie diesen Ausdruck in einem Roman über West Point mit dem Titel >Dress Gay<, und obwohl sie nicht bewußt an ihren Vater dachte, begannen ihre Arme plötzlich unerklärlich zu schmerzen, sie legte das Buch beiseite und nahm es nie wieder zur Hand), in der Luft umherwirbelnde Stäubchen und alte Zeitschriften mit zerrissenen Titelblättern. Und sie hatte Angst. Schreckliche Angst. Denn keine dieser Geschichten war erfunden, es waren keine erfundenen Monster, um die es hier ging: Bens Mumie, Eddies Aussätziger... jedes konnte heute abend, wenn es dunkel war, irgendwo lauern. Oder Bill Denbroughs Bruder, einarmig und furchterregend.

Trotzdem fragte sie, als Stan nicht gleich antwortete, noch einmal: »Was war es?«

Langsam begann Stan: »Ich war drüben in dem kleinen Park in der Nähe des Wasserturms...«

»O Gott, das ist ein schrecklicher Ort«, sagte Eddie bekümmert. »Wenn es in Derry einen verhexten Ort gibt, dann den.«

»Was?« rief Stan scharf. »Was hast du da gesagt?«

»Weißt du denn über diesen Ort nicht Bescheid?« fragte Eddie. »Meine Mutter hat mir immer verboten, dort hinzugehen, sogar bevor die ganzen Kinder ermordet wurden. Sie... sie paßt wirklich gut auf mich auf.« Er grinste ihnen verlegen zu und packte seinen Aspirator etwas fester. »Einige Kinder sind da drin ertrunken. Drei oder vier. Sie... Stan? Stan, geht's dir nicht gut?«

Stans Gesicht hatte sich grau verfärbt. Sein Mund öffnete und schloß sich wie bei einem Fisch auf dem Trockenen. Er verdrehte die Augen, bis die anderen nur noch die unteren Bögen seiner Iris sehen konnten. Eine Hand griff ins Leere und fiel dann kraftlos auf seinen Schoß.

Eddie tat das einzige, was ihm einfiel. Er beugte sich vor, legte einen Arm um Stans schlaffe Schultern, schob ihm seinen Aspirator in den Mund und drückte auf die Flasche.

Stan hustete und würgte. Er richtete sich auf, seine Augen nahmen wieder ihren normalen Ausdruck an, er hielt sich die Hand vor den Mund. Schließlich keuchte er nur noch etwas und lehnte sich in seinen Stuhl zurück.

»Was war das?« brachte er mühsam hervor.

»Meine Asthmamedizin«, sagte Eddie entschuldigend.

»Mein Gott, die schmeckt ja wie Hundescheiße.«

Sie lachten alle darüber, aber es war ein nervöses Lachen. Sie schauten Stan besorgt an. Langsam kam wieder etwas Farbe in seine Wangen.

»Sie schmeckt wirklich ziemlich scheußlich«, stimmte Eddie mit einigem Stolz zu.

»Ja, aber ist sie auch koscher?« fragte Stan, und wieder lachten sie, obwohl keiner von ihnen - einschließlich Stan - genau wußte, was >koscher< bedeutete.

Stan schaute Eddie an. »Erzähl mir, was du von dem Wasserturm weißt«, sagte er.

Alle drei berichteten ihm, was sie wußten. Der Wasserturm stand an der Kansas Street, etwa anderthalb Meilen von der Stadtmitte entfernt, am Südrand der Barrens. Im vorigen Jahrhundert hatte er ganz Derry mit Wasser versorgt. Er hatte ein Fassungsvermögen von 60000 Gallonen. Weil man von der ringförmigen offenen Plattform direkt unter dem Dach des Wasserturms einen herrlichen Blick auf die Barrens, den Kenduskeag, den Kanal und die Innenstadt von Derry hatte, war das bis um 1930 herum ein beliebter Ausflugsort gewesen. Bei schönem Wetter kamen Familien an Samstagoder Sonntagnachmittagen in den kleinen Memorial Park, machten dort ein Picknick und kletterten dann die 160 Stufen zur Plattform empor, wo sie den Ausblick genossen.

Die schmale Wendeltreppe befand sich zwischen der Außenmauer des Wasserturms, die aus blendend weißen Schindeln bestand, und der inneren Muffe, einem riesigen rostfreien Stahlzylinder von 106 Fuß Höhe.

Dicht unterhalb der Aussichtsplattform führte eine dicke Holztür im inneren Stahlkorsett auf eine Plattform über der Wasseroberfläche, die von nackten Glühbirnen angestrahlt wurde. Wenn der Frischwassertank voll war, hatte das Wasser eine Tiefe V9n 100 Fuß.

»Woher kam denn dieses Wasser?« fragte Stan.

Bev, Eddie und Ben schauten einander an. Keiner von ihnen wußte es.

»Und was war mit jenen Kindern?«

Auch darüber wußten sie nicht genau Bescheid. Anscheinend war die Tür, die zur Plattform über dem Wasser führte, damals (>in jenen alten Zei-ten<, wie Ben es pathetisch ausdrückte) immer unverschlossen. Eines Abends hatten ein paar Kinder - oder auch nur eines - oder drei - festgestellt, daß auch die untere Tür nicht abgeschlossen war. Sie waren hinaufgestiegen und im Dunkeln über den Rand der Plattform ins Wasser gestürzt.

»Ich hat/ das von Vic Crumly gehört, der sagte, sein Vater hätte es ihm erzählt«, berichtete Beverly. »Vielleicht stimmt es also. Vic sagte, nachdem sie reingefallen waren, gab es nichts, woran sie sich festhalten konnten. Die Plattform war knapp außer Reichweite. Sie konnten also nur herumpaddeln und um Hilfe schreien, aber niemand hörte sie, weil es spät abends war. Und sie wurden immer erschöpfter, bis sie dann...«

Sie verstummte und spürte, wie Entsetzen sie überfiel. Sie sah jene Jungen vor sich, sie sah sie herumpaddeln wie triefend nasse Hundebabys. Untergehen und hefig um sich schlagend wieder hochkommen. Je größer ihre Panik wurde, desto wilder strampelten sie im Wasser. Ihre Schuhe sogen sich mit Wasser voll. Sie tasteten vergeblich nach irgendeinem Halt auf den glatten Stahlwänden. Beverly konnte fast das Wasser schmecken, das sie geschluckt haben mußten. Sie konnte ihre Schreie hören, die in dem Wasserturm gespenstisch widerhallten. Wie lange hatte es wohl gedauert? Fünfzehn Minuten? Eine halbe Stunde? Wie lange mochte es gedauert haben, bis die letzten Schreie verstummten und die Jungen nur noch mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser trieben, eigenartige Fische, die der Wärter am nächsten Morgen gefunden haben mußte?

»Mein Gott!« sagte Stan mit trockener Kehle.

»Ich hab' gehört, daß eine Frau dort einmal ihr Baby verlor«, sagte Eddie plötzlich, »und daß danach der Turm für Besucher gesperrt wurde. Früher konnten Leute dort raufgehen, das weiß ich. Und einmal ist also diese Frau mit einem Baby raufgegangen; ich weiß nicht, wie alt es war. Jedenfalls ist sie auf diese Plattform über dem Wasser gegangen, bis zum Geländer; sie hatte das Baby auf dem Arm, und entweder ließ sie es fallen oder aber es strampelte sich los. Ich hab' gehört, daß ein Mann ihm nachgesprungen ist und versucht hat, es zu retten. Er wollte wohl den Helden spielen. Aber das Baby war verschwunden. Vielleicht hatte es ein Jäckchen an. Wenn Kleider naß werden, ziehen sie einen runter.«

Eddie griff plötzlich in seine Tasche und holte ein kleines braunes Glasfläschchen heraus. Er öffnete es, schüttelte zwei weiße Tabletten heraus und schluckte sie trocken.

»Was ist das?« fragte Beverly.

»Aspirin. Ich hab' Kopfweh.« Er schaute sie an, als wollte er sich verteidigen, aber Beverly sagte nichts.

Ben führte den Bericht zu Ende. Nach dem Zwischenfall mit dem Baby (er selbst hätte allerdings gehört, es sei ein kleines dreijähriges Mädchen gewesen) hatte der Stadtrat beschlossen, beide Türen des Wasserturms immer abgeschlossen zu halten. Und das war bis jetzt so geblieben. Natürlich hatte der Wärter jederzeit Zutritt, und ab und zu kamen die Wartungsleute, und einmal im Jahr wurden Führungen veranstaltet. Interessierte Bürger konnten hinter einer Dame von der Historischen Vereinigung die Wendeltreppe erklimmen, auf der offenen Plattform >Ohs< und >Ahs< über die herrliche Aussicht ausstoßen und Fotos machen. Aber die Tür zur Plattform über dem Wasser blieb immer geschlossen. Der Stadtrat wollte weitere Unfälle vermeiden.

»Ist der Turm immer noch voll Wasser?« erkundigte sich Stan.

»Ich nehm's an«, antwortete Ben. »Ich hab' jedenfalls gesehen, wie Feuerwehrautos während der Grasbrandsaison dort vollgetankt wurden. Sie befestigten einen Wasserschlauch an den Rohren am Boden und füllten ihre Tanks.«

Stanley betrachtete wieder die Trockenschleuder, in der die Putzlappen umherwirbelten. Einige schwebten schon wie Fallschirme.

»Was hast du dort gesehen?« fragte Bev ihn sanft.

Einen Moment lang schien es so, als würde er überhaupt nicht antworten. Dann holte er tief Luft und sagte etwas, das ihnen zuerst völlig abwegig vorkam.

»Er erhielt den Namen Memorial Park nach dem 23sten Maine-Regiment im Bürgerkrieg. Den Derry Blues. Früher gab's auch ein Denkmal, aber es ist in den 4oer Jahren bei einem Sturm umgestürzt. Sie hatten nicht genug Geld, um die Statue zu restaurieren, deshalb haben sie ein Vogelbad daraus gemacht. Ein großes steinernes Vogelbad.«

Sie starrten ihn alle erstaunt an. Stan schluckte. Man konnte richtig hören, daß er einen Kloß in der Kehle hatte.

»Ich beobachte Vögel, müßt ihr wissen«, erzählte er. »Ich habe ein Album, ein Fernglas und all so Zeug.«

Er verstummte wieder, dann fragte er Eddie: »Hast du noch Aspirin?«

Eddie reichte ihm das Röhrchen. Stan nahm zwei Tabletten heraus, zögerte und nahm dann noch eine dritte. Er gab Eddie das Röhrchen zurück und schluckte grimassenschneidend die Pillen, eine nach der anderen. Dann erzählte er ihnen seine Geschichte.

10

Es war vor zwei Monaten, an einem regnerischen Aprilabend, passiert. Stan Uris hatte seinen Regenmantel angezogen und war mit seinem Vogelalbum und dem Fernglas in den Memorial Park gegangen. Normalerweise ging er immer mit seinem Vater dorthin, aber der Vater mußte an jenem Abend Überstunden machen und hatte Stan deshalb sogar extra angerufen.

Einer seiner Kunden in der Agentur, der ebenfalls Vögel beobachtete, behauptete, im Vogelbad im Memorial Park eine scharlachrote Tangare gesehen zu haben. Die Tangaren aßen, tranken und badeten gern in der Dämmerung. Ob Stan hingehen und danach Ausschau halten möchte, hatte sein Vater gefragt.

Stan hatte sich gefreut. Seine Mutter nahm ihm das Versprechen ab, seine Kapuze aufzubehalten, aber das hätte Stan sowieso gemacht. Er war ein pedantischer Junge. Er machte niemals Schwierigkeiten, wenn er Gummischuhe oder Schneehosen anziehen sollte.

Er legte die anderthalb Meilen bis zum Park in einem Regen zurück, der so fein war, daß man ihn nicht einmal als Nieselregen bezeichnen konnte; eher als konstanten Nebel. Trotz des trüben Wetters löste die Luft frohe Erwartungen aus; unter Büschen und im Gehölz lagen zwar noch die letzten schmutzigen Schneehaufen, aber trotzdem war schon der Geruch neuen

Naturerwachens in der Luft. Stan betrachtete die Zweige der Ulmen, Ahorne und Eichen, die sich vom bewölkten Himmel abhoben, und dachte, daß ihre Silhouetten jetzt auf geheimnisvolle Weise dicker aussahen. Das lag natürlich an den schwellenden Knospen, die in ein, zwei Wochen aufbrechen und zartgrüne, fast durchsichtige Blätter enthüllen würden.

Die Luft riecht heute abend grün, dachte er und lächelte ein wenig.

Er ging schnell, denn in höchstens einer Stunde würde es dunkel werden, und er war ein Perfektionist: Wenn das Licht nicht ausreichen würde, um hundertprozentig sicher zu sein, würde er niemals behaupten, die Tangare gesehen zu haben, selbst wenn er tief im Herzen genau wissen würde, daß es wirklich eine gewesen war.

Er durchquerte den Memorial Park. Der weiße Wasserturm ragte links von ihm empor, aber Stan hatte kaum einen Blick für ihn übrig. Der Wasserturm interessierte ihn nicht.

Der Memorial Park war in etwa ein Rechteck, das sich hügelabwärts erstreckte. Das Gras - um diese Jahreszeit ausgeblichen und tot - war im Sommer ein gepflegter Rasen, und es gab viele runde Blumenbeete. Einen Spielplatz suchte man hier vergeblich; dies war ein Park für Erwachsene.

Am Ende des Parks, kurz bevor er dann abrupt in die Barrens überging, war ein ebenes Gelände, und dort, etwa 20 Fuß vor dem ersten Dickicht aus Büschen, Gestrüpp, giftigem Efeu und Brombeersträuchern, stand das Vogelbad. Es war eine flache Steinwanne auf einer quadratischen gemauerten Säule, die für diesen bescheidenen Zweck viel zu wuchtig war. Stans Vater hatte ihm erzählt, daß dort früher anstelle des Vogelbads ein Denkmal gestanden hatte - ein Soldat der Union mit einem Gewehr.

»Das Vogelbad gefällt mir aber besser, Daddy«, hatte Stan gesagt.

Mr. Uris hatte ihm übers Haar gestrichen. »Mir auch, Stanny«, hatte er gesagt. »Mehr Bäder und weniger Kugeln, das ist mein Motto.«

Stan setzte sich auf eine Bank, holte sein Vogelalbum aus der Regenmanteltasche und schlug noch einmal das Foto der scharlachroten Tangare auf. Er betrachtete es aufmerksam und prägte sich alle besonderen Merkmale des Vogels ein, um nicht irrtümlich einen Specht für den gesuchten Vogel zu halten. Wenn er wirklich eine scharlachrote Tangare entdecken könnte, würde sein Vater sehr stolz auf ihn sein.

Er betrachtete das Foto etwa zwei Minuten lang; vor Konzentration runzelte er die Stirn. Dann klappte er das Buch zu (die Luftfeuchtigkeit wellte das Papier) und schob es wieder in die Manteltasche. Er holte sein Fernglas aus dem Futteral und hielt es vor die Augen. Er brauchte es nicht erst einzustellen, denn als er es zuletzt benutzt hatte, hatte er von derselben Bank aus dasselbe Vogelbad beobachtet.

Er war ein ruhiger, geduldiger Junge. Er wurde nicht nervös. Er stand nicht auf und lief herum, er schwenkte das Fernglas nicht in eine andere Richtung, um festzustellen, was es dort zu sehen gab. Er saß ganz still da, das Fernglas auf das Vogelbad gerichtet, und der feine Regen tropfte auf seinen Mantel.

Es wurde ihm auch nicht langweilig. Was er sah, war so eine Art Marktplatz für Vogel. Vier braune Sperlinge saßen eine Weile da, tauchten ihre Schnäbelchen ins Wasser und ließen von Zeit zu Zeit Tropfen über ihre

Schultern und Rücken perlen, als wollten sie duschen. Ein Häher störte ihre gemütliche Runde - wie ein Polizist, der eine Schar von Müßiggängern auseinandertreibt. In Stans Fernglas sah er riesengroß aus, und seine dünnen, zänkischen Schreie paßten irgendwie nicht zu ihm. Die Sperlinge flogen fort. Der Häher stolzierte eine Zeitlang hochmütig herum, dann wurde es ihm langweilig, und er flog davon. Die Sperlinge kehrten zurück, entfernten sich aber wieder, als drei Rotkehlchen sich häuslich niederließen, um zu baden und - vielleicht - wichtige Angelegenheiten zu besprechen.

Jetzt kam ein neuer Vogel hinzu, und Stan richtete sein Fernglas ein klein wenig mehr nach links. Einen Augenblick lang war er fast sicher... aber es war der Specht, keine scharlachrote Tangare. Der Specht war ein regelmäßiger Besucher des Vogelbads. Stan erkannte ihn an seinem zerfetzten rechten Flügel und überlegte wie immer, was dem Vogel zugestoßen sein mochte: Hatte er vielleicht nähere Bekanntschaft mit einer Katze gemacht?

Andere Vögel kamen und gingen, und zuletzt wurde Stan mit einer neuen Vogelart belohnt: nicht mit der Tangare, aber mit einer - ja, er war sich fast sicher - mit einer Ammer.

Er senkte das Fernglas und holte sein Album wieder aus der Tasche, wobei er betete, daß die Ammer nicht wegfliegen würde, während er sich vergewisserte, wie sie aussah. Wenn es eine war, würde er seinem Vater wenigstens etwas Neues berichten können. Und es wurde allmählich Zeit heimzugehen. Es dunkelte rasch, und ihm war kalt.

Er schaute in seinem Buch nach, dann setzte er wieder sein Fernglas an die Augen. Der neue Vogel war noch da, und es war ziemlich sicher eine Ammer. Bei dem schwachen Licht war es schwer, es hundertprozentig zu sagen, aber wenn er noch einmal verglich...

Er warf wieder einen Blick in sein Album und richtete danach sein Fernglas gerade wieder auf das Vogelbad, als ein hohles, rollendes Wwumm! alle Vögel erschrocken aufflattern ließ. Stan versuchte, den Weg der vermeintlichen Ammer mit dem Fernglas zu verfolgen, wußte aber, daß seine Chancen in der tiefen Dämmerung sehr gering waren.

Er verlor den Vogel aus den Augen und stieß ein enttäuschtes Zischen aus. Na ja, aber wenn sie einmal hergekommen war, würde sie vielleicht wiederkommen. Und außerdem war es ja nur eine Ammer gewesen und kein goldener Adler.

Stan schob sein Fernglas ins Futteral, steckte das Album in die Tasche und schaute sich um, weil er herausfinden wollte, woher der plötzliche laute Knall gekommen war. Er hatte sich nicht wie ein Gewehr oder ein Autoauspuff angehört. Eher wie eine Tür, die in einem unheimlichen Film mit Schlössern, Verliesen und gespenstischen Echoeffekten weit auffliegt. Aber er konnte nichts sehen.

Er stand auf, hängte sein Fernglas um und ging den Hügel hinauf, auf die Kansas Street zu. Der Wasserturm befand sich jetzt zu seiner Rechten, ein kalkig-weißer Zylinder, der im Nebel und in der Dämmerung gespenstisch aussah. Er schien fast... ja, er schien fast zu schweben.

Das war ein seltsamer Gedanke, der ihm so gar nicht wie sein eigener vorkam.

Er betrachtete den Wasserturm genauer und ging auf ihn zu, ohne zu überlegen, was er tat. In regelmäßigen Abständen war das Gebäude mit Fenstern versehen, die sich spiralförmig emporwanden. Die knochenweißen Schindeln ragten über jedes dieser dunklen Fenster hinaus wie Brauen über Augen. Wie sie das wohl gemacht haben? überlegte Stan, und dann entE; deckte er am unteren Ende des Wasserturms eine viel größere dunkle Fläche - ein Rechteck.

Er blieb mit gerunzelter Stirn stehen und dachte, das sei ein komisches Fenster - überhaupt nicht symmetrisch zu den anderen angebracht -, und dann begriff er, daß es kein Fenster, sondern eine Tür war. Sie stand weit auf.

Jener laute Knall, dachte Stan. Es mußte diese Tür gewesen sein, die aufgegangen war. Aber wie? Warum? Er vermutete, daß die Tür dieses laute Wwumm! gemacht haben konnte, wenn sie heftig genug aufgerissen worden war. Aber es schien eine sehr schwere Tür zu sein; unwahrscheinlich, daß jemand sie so schwungvoll aufreißen konnte; aber es hatte auch keinen heftigen Windstoß gegeben.

Neugierig ging er näher darauf zu.

Die Tür war sogar noch größer, als er zuerst gedacht hatte - sie war über sechs Fuß hoch, zwei Fuß dick und mit Messingbeschlägen verstärkt. Stan versetzte ihr einen Stoß, und trotz ihrer Größe bewegte sie sich leicht in ihren Angeln, ohne zu quietschen. Er wollte nachsehen, wie stark die Beschädigungen an den Schindeln waren, die der heftige Aufprall der Tür verursacht haben mußte. Aber es gab keine Beschädigungen. Nicht die geringsten. Doch das Vorlegeschloß war völlig zerstört, so als hätte jemand eine große Ladung Pulver ins Schlüsselloch gelegt und angezündet. Gefährlich scharfe Metallblumen standen vom Schloß ab, und Stan konnte die inneren Stahlschichten sehen. Der dicke Riegel hing schief an einem zu drei Vierteln aus dem Holz gerissenen Bolzen. Die drei anderen Bolzen, mit denen der Riegel befestigt gewesen war, lagen im nassen Gras.

Stirnrunzelnd stieß Stan die Tür wieder weit auf und schaute in den Wasserturm hinein.

Eine schmale Wendeltreppe führte in die Höhe. Die äußere Wand des Treppenhauses war aus Holz, verstärkt durch riesige Querbalken, die zum Teil dicker waren als Stans Oberarm. Die innere Wand war aus Stahl, aus dem große Nieten hervorragten.

Stan ging hinein und blickte in das dunkle, schmale Treppenhaus empor. Er konnte nichts sehen. Er drehte sich um und wollte wieder gehen; ihm war jetzt etwas unbehaglich, etwas ängstlich zumute... aber dann hörte er Musik.

Sie war sehr leise, aber sofort erkennbar. Es war Drehorgelmusik.

Er hob lauschend den Kopf. Er täuschte sich nicht - es war tatsächlich Drehorgelmusik, die Musik von Jahrmärkten und Karnevalsveranstaltungen, die herrliche Assoziationen hervorrief: Popcorn, Zuckerwatte, Karussellfahrten ...

Er lächelte ein wenig und stieg eine Stufe hinauf, dann eine zweite. Er blieb stehen. Als hätte der Gedanke an all die verlockenden Dinge sie tatsächlich hergezaubert, konnte er das Popcorn und die Zuckerwatte jetzt riechen - und noch vieles andere. Da war der scharfe Geruch von weißem Es-

sig, den man durch ein Loch in der Packung über seine Pommes frites gießen konnte; Hot Dogs und gelber Senf, den man mit einem Holzstäbchen auf ihnen verteilen konnte; Pfannkuchen, gebratene Zwiebeln und Paprika.

Das war erstaunlich... unglaublich.

Er ging noch eine Stufe höher, und in diesem Moment hörte er über sich schlurfende Schritte, die die Treppe hinabkamen. Wieder hob er lauschend den Kopf. Die Drehorgelmusik war jetzt lauter, so als sollte sie die Schritte übertönen. Er konnte sogar die Melodie erkennen: >Camptawn Races<.

Schritte: Aber eigentlich waren es keine schlurfenden Schritte. Sie hörten sich eher platschend an, so als ginge jemand in Gummischuhen voller Wasser. Und sie waren langsam, so als bereite das Gehen Mühe und Schmerzen.

Camptown ladies sing Ais song, doodah, doodah

(platschplatsch)

Camptown Racetrack nine miles lang, all doodah day

(platschplatsch - jetzt schon näher)

Ride around all night

Ride around all day

(Schatten bewegten sich über ihm an der Wand)

Plötzlich wurde Stan von panischer Angst gepackt; vielleicht war sie schon vorher dagewesen, und er hatte nur nichts davon gemerkt, weil sie von einer Art Hypnose verdeckt worden war - so wie die sich nähernden platschenden Schritte zuerst von der Drehorgelmusik verdeckt worden waren.

Er sah die Schatten nur einen Augenblick. In dieser kurzen Zeitspanne konnte er bloß erkennen, daß es zwei gebückte Gestalten waren, die irgendwie unnatürlich aussahen. Er hatte nur einen Moment Zeit, um sie zu betrachten, denn das Licht wurde immer schwächer, es wurde viel zu schnell schwächer, und als er sich umdrehte, fiel die schwere Tür gerade heftig zu.

Stanley rannte die Treppe hinab (er hatte schon mehr als zwölf Stufen erklommen, obwohl er sich nur an zwei oder drei erinnern konnte!). Es war zu dunkel, um etwas sehen zu können. Er hörte seine eigenen lauten Atemzüge, er hörte die Drehorgelmusik irgendwo über sich...

(Was macht ein Drehorgelspieler überhaupt dort oben im Dunkeln? Wer spielt

da?)

.. .und er hörte jene nassen Schritte. Sie kamen immer näher.

Mit gespreizten Händen drückte er gegen die Tür; er drückte so fest, daß ein prickelnder Schmerz sich bis zu den Ellbogen ausbreitete. Vorhin war die Tür so leicht aufgegangen... und nun bewegte sie sich überhaupt nicht. Nein, das stimmte nicht ganz. Zuerst hatte sie sich ein klein wenig bewegt, gerade genug, daß er an der linken Seite einen schmalen vertikalen Streifen graues Licht sehen konnte, der ihn zu verhöhnen schien. Dann war auch dieser Streifen verschwunden. Es war so, als drücke jemand die Tür von außen zu.

Er wirbelte im Dunkeln herum und preßte seinen Rücken und die gespreizten Hände gegen die Tür. Er spürte, wie ihm heißer, öliger Schweiß über die Stirn lief. Die Drehorgelmusik war noch lauter geworden. Sie hallte

im spiralförmigen Treppenhaus wider. Jetzt hatte sie nichts Fröhliches mehr an sich. Sie hatte sich verändert. Jetzt war sie ganz in Moll, wie klagende Trauermusik. Sie heulte wie Wind und Wasser, und Stan sah vor seinem geistigen Auge einen Jahrmarkt gegen Ende des Herbstes - Wind und Regen fegten über einen öden Rummelplatz, Wimpel flatterten, Zelte blähten sich, stürzten ein, flogen weg wie Fledermäuse aus Leinwand. Er sah schwarzes Wasser, das still und unfreundlich war und Geheimnisse barg, an die man besser nicht rührte, und er verstand plötzlich, daß an diesem Ort der Tod lauerte, daß der Tod aus der Dunkelheit auf ihn zukam und er nicht wegrennen konnte.

Er hörte das Rauschen von Wasser. Es rieselte und tropfte die Stufen hinab. Jetzt roch es nicht mehr nach Popcorn, sondern nach Verwesung, nach totem Schweinefleisch, das irgendwo im Verborgenen verfaulte, und in dem es von Maden nur so wimmelte.

»Wer ist dort?« schrie er mit hoher, zitternder Stimme.

Und er erhielt eine Antwort - von einer leisen, blubbernden Stimme, die von Schlamm und fauligem Wasser fast erstickt zu werden schien.

»Die Toten, Stanley. Wir sind die Toten. Wir sind untergegangen, aber jetzt schweben wir... und auch du wirst schweben.«

Er spürte, wie Wasser seine Füße umspülte. Er drückte sich in Todesangst noch enger an die Tür. Sie waren jetzt ganz nahe. Er fühlte ihre Nähe. Er konnte sie riechen. Etwas preßte sich in seine Hüfte, als er immer wieder vergeblich versuchte, die Tür aufzudrücken, um ins Freie zu entkommen.

»Wir sind tot, aber manchmal albern wir ein bißchen herum, Stanley. Manch

mal ...«

Es war sein Vogelalbum.

Ohne zu überlegen, griff Stanley danach. Es hatte sich in seiner Manteltasche festgeklemmt. Es ließ sich nicht herausziehen. Einer der beiden Toten war jetzt schon unten angelangt. Stanley hörte ihn über den Steinboden schlurfen. Im nächsten Augenblick würde der Tote seine Hände ausstrek-ken, und er würde das kalte Fleisch auf seiner Haut spüren.

Er zerrte heftig, und dann hatte er das Vogelbuch in der Hand. Er hielt es mit beiden Händen vor sich wie einen winzigen Schild, ohne darüber nachzudenken, was er tat; er war plötzlich sicher, daß es das Richtige war.

»Rotkehlchen!« schrie er in die Dunkelheit hinein, und einen Moment lang zögerte das Wesen, das sich ihm näherte (es war nicht einmal mehr fünf Schritte von ihm entfernt) - er war fast sicher, daß es zögerte. Und hatte er nicht auch gespürt, daß die Tür ein klein wenig nachgab?

Er leckte sich die trockenen Lippen und begann zu singen: »Rotkehlchen! Graue Reiher! Haubentaucher! Scharlachrote Tangaren! Spechte! Buntspechte! Rotspechte! Schwarzmeisen! Zaunkönige! Peli...«

Die Tür öffnete sich mit einem lauten protestierenden Schrei und schleuderte ihn in die letzten Reste einer grauen, regnerischen Dämmerung. Seine Augen traten fast aus den Höhlen. Er hatte das Vogelalbum so weit auseinandergebogen, daß es beinahe in zwei Hälften zerfiel, und später am Abend stellte er anhand der deutlichen Fingerabdrücke fest, daß er seine Finger richtiggehend in den festen Einband gekrallt haben mußte.

Er landete auf dem Rücken, stemmte sich mit den Beinen ab und begann, durch das nasse Gras rückwärts zu kriechen. Er fletschte die Zähne. In dem schwarzen Rechteck konnte er zwei Beinpaare sehen, unter der diagonalen Schattenlinie der halboffenen Tür. Er konnte Jeans erkennen, die im Wasser rötlichschwarz geworden waren. Von den Säumen tropfte Wasser und bildete Pfützen um die Schuhe, die größtenteils verfault waren und aufgequollene purpurrote Zehen enthüllten.

Die Hände hingen schlaff an ihren Seiten herab, viel zu lang und wachsweiß.

Sein Vogelalbum immer noch aufgeschlagen vor sich, das Gesicht von Sprühregen, Schweiß und Tränen überströmt, flüsterte Stan heiser und monoton vor sich hin: »Hühnerfalken... Kolibris... Albatrosse... Kiwis. ..«

Eine jener Hände drehte sich und zeigte eine Handfläche, von der endloses Wasser sämtliche Linien ausgewaschen und etwas so absurd Glattes zurückgelassen hatte wie die Hand einer Schaufensterpuppe.

Ein Finger krümmte sich... streckte sich... krümmte sich.

Man winkte ihm zu.

Stan Uris, der 27 Jahre später mit aufgeschnittenen Pulsadern in einer Badewanne sterben würde, kam irgendwie auf die Beine und rannte. Er überquerte die Kansas Street, ohne auf den Verkehr zu achten, und blieb keuchend auf dem Gehweg stehen, um einen Blick zurückzuwerfen.

Von seinem Standort aus konnte er die Tür des Wasserturms nicht sehen; nur den Turm selbst, der sich dick und doch anmutig von der Dunkelheit abhob.

»Sie waren tot!« flüsterte Stan entsetzt vor sich hin.

Er wandte sich rasch ab und rannte nach Hause.

11

Die Trockenschleuder stand still. Und Stan hatte seinen Bericht beendet.

Die drei anderen schauten ihn lange schweigend an. Seine Haut war fast so grau wie der Aprilabend, von dem er ihnen soeben erzählt hatte.

»Wow!« sagte Ben schließlich und stieß den Atem in einem abgerissenen, pfeifenden Seufzer aus.

»Es ist alles wahr«, sagte Stan leise. »Ich schwöre bei Gott, daß es stimmt.«

»Ich glaube dir«, versicherte Beverly. »Nach dem, was in unserem Badezimmer passiert ist, würde ich alles glauben.«

Sie stand so abrupt auf, daß sie fast ihren Stuhl umgeworfen hätte, und ging zur Trockenschleuder. Sie holte die Putzlappen heraus und faltete sie ordentlich zusammen. Sie wandte den anderen dabei den Rücken zu, aber Ben glaubte, daß sie weinte. Er wäre am liebsten zu ihr hingegangen, aber dazu fehlte ihm der Mut.

»Wir sollten mit Bill darüber sprechen«, meinte Eddie. »Bill wird wissen, was wir tun sollen.«

»Tun?« sagte Stan und starrte ihn an. »Was meinst du mit tun?«

Eddie schaute ihn unbehaglich an. »Na ja...«

»Ich will nichts tun«, rief Stan. Er sah Eddie mit einem so starren und harten Blick an, daß dieser verwirrt auf seinem Stuhl hin- und herrutschte. »Ich will die Sache vergessen. Das ist alles, was ich tun will.«

»Das ist aber nicht so einfach«, wandte Beverly ruhig ein, während sie sich wieder den anderen zuwandte. Ben hatte recht gehabt; das grelle Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Fensterscheiben der Münzwäscherei einfiel, enthüllte die Tränenspuren auf ihren Wangen. »Es geht nicht nur um uns. Ich habe Ronnie Grogan gehört. Und andere. Der kleine Junge, den ich zuerst gehört habe... vielleicht war das der kleine Clements, der von seinem Dreirad verschwunden ist.«

»Na und?« sagte Stan herausfordernd.

»Was ist, wenn es noch mehr sind?« fragte sie. »Wenn es noch mehr Kinder umbringt?«

Seine braunen Augen blickten in ihre graublauen und beantworteten wortlos ihre Frage: Na und? Was könnten wir schon dagegen tun?

Aber Beverly hielt seinem Blick ruhig stand, und zuletzt senkte Stan die Augen... vielleicht nur deshalb, weil sie immer noch weinte und dadurch irgendwie stärker war als er.

»Eddie hat recht«, sagte sie. »Wir sollten mit Bill reden. Und dann vielleicht zum Polizeichef gehen...«

»Großartig«, erwiderte Stan. Wenn er versuchte, sarkastisch zu sein, so gelang ihm das nicht; seine Stimme klang nur müde und resigniert. »Tote Kinder im Wasserturm. Blut, das nur Kinder sehen können, nicht aber Erwachsene. Clowns, die auf dem Kanal herumlaufen. Mumien. Aussätzige unter Veranden. Borton wird uns einen Orden verleihen... und uns ins Irrenhaus schicken.«

»Wenn wir alle zu ihm gehen würden«, meinte Ben niedergeschlagen. »Wenn wir alle zusammen hingehen würden...«

»Haha!« sagte Stan. »Sprich ruhig weiter, Haystack. Schreib einen ganzen Roman.« Er stand auf und ging zum Fenster, die Hände in den Hosentaschen. Er sah ärgerlich, verwirrt und ängstlich aus. »Schreib einen tollen Roman. Du hast wirklich eine blühende Fantasie.«

»Nein«, erwiderte Ben ruhig. »Die Romane wird Bill eines Tages schreiben.«

Stan drehte sich überrascht um, und auch die anderen starrten Ben an, der selbst ganz erschrocken aussah. Dann schüttelte er den Kopf, so als könnte er sich nicht mehr daran erinnern, was er gerade gesagt hatte.

Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Bev wandte sich wieder der Trockenschleuder zu und faltete die letzten Putzlappen zusammen.

»Vögel«, murmelte Eddie plötzlich.

»Was?« fragten Bev und Ben gleichzeitig.

Eddie schaute Stan an. »Du bist rausgekommen, weil du ihnen Vogelnamen zugerufen hast.«

»Vielleicht«, sagte Stan widerwillig. »Vielleicht klemmte die Tür aber auch einfach und ging in jenem Moment zufällig wieder auf.«

»Ich glaube, es waren die Vogelnamen, die du ihnen zugerufen hast«, sagte Eddie. »Aber warum? In den Filmen hält man im allgemeinen ein Kreuz hoch...«

»... oder betet das Vaterunser...«, fiel Ben ein.

»... oder ruft irgendwelche Heiligen um Hilfe an«, fügte Bev hinzu.

»Das alles kenne ich nicht«, sagte Stan ärgerlich. »Ich bin doch ein elender Jude.«

Sie schauten verlegen weg, weil sie das ganz vergessen hatten.

»Vögel«, wiederholte Eddie. »Jesus!« Dann warf er Stan wieder einen schuldbewußten Seitenblick zu, aber Stan starrte düster aus dem Fenster.

»Bill wird wissen, was zu tun ist«, sagte Ben plötzlich, als stimme er endlich Beverly und Eddie zu. »Ich wette, daß ihm etwas einfällt. Ja, ich wette um alles in der Welt.«

»Seht mal«, sagte Stan und wandte sich ihnen wieder zu. »Das ist okay. Wir können mit Bill darüber reden, wenn ihr wollt. Ich hab' nichts dagegen. Aber damit hört die Sache für mich auch auf. Ihr könnt mich einen Feigling oder eine elende Memme oder sonstwas schimpfen, das ist mir egal. Aber diese Sache im Wasserturm... es ist nicht so, daß ich mich fürchte...«

»Wenn du dich vor so was nicht fürchten würdest, müßtest du verrückt sein, Stan«, sagte Beverly sanft.

»Ja, ich hatte Angst, aber darum geht es nicht«, erwiderte Stan hitzig. »Begreift ihr denn nicht...«

Sie blickten ihn erwartungsvoll an; er las in ihren Augen Unruhe und zugleich auch einen schwachen Hoffnungsschimmer, doch er konnte seine Empfindungen nicht ausdrücken. Ihm fehlten einfach die Worte. Seine Gefühle erdrückten ihn fast, aber er konnte sie nicht artikulieren. Trotz seiner Gewissenhaftigkeit und Klugheit war er letztlich doch nur ein zehnjähriger Junge, der gerade erst die vierte Klasse abgeschlossen hatte.

Er wollte ihnen erklären, daß es Schlimmeres gab als sich zu fürchten. Man konnte Angst vor einem Autounfall, vor Kinderlähmung, vor Gehirnhautentzündung haben. Man konnte Angst vor dem Ertrinken und vor allen möglichen Sachen haben und trotzdem weiterleben.

Er wollte ihnen sagen, daß jene Geschehnisse im Wasserturm, jene toten Jungen, die in ihren tropfenden Jeans und verfaulten Schuhen die Wendeltreppe hinabgewatschelt waren, etwas Schlimmeres getan hatten als ihn zu ängstigen: Sie hatten ihn verletzt.

Verletzt, ja, das war das einzige Wort, das ihm einfiel, und wenn er das sagte, würden sie ihn auslachen. Aber es gab Dinge, die nicht sein sollten. Sie verletzten die Weltordnung, jene zentrale Idee, daß Gott als letztes die Erdachse schief auf die Umlaufbahn gesetzt hatte, so daß die Dämmerung am Äquator nur etwa zwölf Minuten dauerte, während sie dort, wo die Eskimos ihre Iglus bauten, länger als eine Stunde anhielt; daß Er das getan und danach gesagt hatte: »Okay, wenn ihr diese Neigung der Erdachse entdecken und berechnen könnt, so könnt ihr auch alles andere entdecken und berechnen. Denn sogar Licht hat ein Gewicht, und wenn der Ton einer pfeifenden Lokomotive tiefer wird, wenn sie sich entfernt, so ist das der Dopp-ier-Effekt, und wenn ein Flugzeug die Schallmauer durchbricht, so ist der Knall kein Applaus der Engel, sondern nur freigesetzte Schallenergie. Ich habe die Erdachse schräg auf die Umlaufbahn gesetzt, und dann habe ich mich in den Zuschauerraum begeben, um die Show zu verfolgen. Ich brauchte euch nichts anderes zu sagen, als daß zwei und zwei vier ist, und wenn irgendwo Blut ist, so können Erwachsene es ebenso sehen wie Kinder, und tote Jungen bleiben tot.«

Mit der Angst kann man leben, hätte Stan gesagt, wenn er sich hätte artikulieren können. Vielleicht nicht ständig, aber doch sehr lange Zeit. Es ist die Verletzung der Weltordnung, mit der man eventuell nicht leben kann, denn sie hat ihre eigene furchtbare Logik, und um dieser logischen Kette folgen zu können, muß man einen dunklen Pfad einschlagen, wo es in den Büschen Lebewesen gibt, mit kleinen gelben Augen, die nicht blinzeln; wo ein quadratischer Mond am Himmel aufgeht; wo die Sterne mit kalten Stimmen lachen; wo manche Dreiecke vier Seiten haben, andere fünf und wieder andere fünf hoch fünf Seiten; am Rande dieses Pfades singen die Rosen mundlos in schrecklicher Harmonie.

Eines führt zum anderen, hätte er ihnen erklärt, wenn er die richtigen Worte gefunden hätte. Geht in eure Kirche und hört euch an, wie Jesus auf dem Wasser gewandelt ist, aber wenn ich so was sehen würde, käme ich aus dem Schreien gar nicht mehr heraus. Es ist kein Wunder. Es ist eine Verletzung der Weltordnung.

Weil er nichts von alledem in Worte fassen konnte, wiederholte er nur: »Angst ist nicht das größte Problem. Ich möchte nur nicht in etwas verstrickt werden, das mich ins Irrenhaus bringen kann.«

»Wirst du wenigstens mit uns kommen und mit Bill reden?« fragte Beverly. »Und dir anhören, was er sagt?«

»Klar«, sagte Stan und lachte plötzlich. »Vielleicht sollte ich mein Vogelalbum mitbringen.«

Alle stimmten in sein Lachen ein, und dadurch wurde ihnen ein wenig leichter ums Herz.

12

Beverly verabschiedete sich vor der Münzwäscherei von den anderen und ging allein nach Hause. Die Wohnung war immer noch leer. Sie legte die Putzlappen unter die Spüle in der Küche und schloß das Schränkchen. Dann schaute sie zum Badezimmer hinüber.

Ich gehe nicht dorthin, dachte sie. Ich werde mir im Fernsehen >Bandstand< ansehen. Vielleicht kann ich dabei lernen, wie man eine elegante Dame wird.

Sie ging ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein, und fünf Minuten später schaltete sie ihn wieder aus, während Dick Clark vorführte, wieviel Fett ein einziges Stri-Dex Medicated Pad vom Gesicht eines durchschnittlichen Teenagers entfernte. (»Wenn du glaubst, nur mit Seife und Wasser sauber werden zu können«, sagte Dick und hielt das schmutzige Tüchlein dicht vor die Kamera, damit jeder Teenager in Amerika es genau sehen konnte, »solltest du dir dies hier einmal genau ansehen.«)

Sie ging in die Küche und bemerkte, daß sie schon wieder auf die Badtür starrte. Ich gehe nicht dorthin, sagte sie sich, aber sie wußte, daß sie genau das tun würde.

Sie öffnete den Schrank über der Spüle, wo ihr Vater seine Werkzeuge aufbewahrte. Darunter befand sich auch ein Taschen-Meßband, so ein auf-rollbares Ding, dessen schmale gelbe Stahlzunge in Zoll eingeteilt war. Sie nahm es in ihre kalte Hand und ging ins Bad.

Das Bad strahlte vor Sauberkeit und war sehr still. Irgendwo hörte sie Mrs. Doyon rufen, Jim - ihr Sohn - solle ins Haus kommen.

Bev ging zum Waschbecken und schaute in das dunkle Abflußventil.

Einige Zeit stand sie so da; ihre Beine in den Jeans waren kalt wie Marmor, ihre Brustwarzen ganz hart, ihre Lippen völlig trocken. Sie wartete auf die Stimmen.

Es waren keine zu hören.

Sie stieß einen leisen, zittrigen Seufzer aus und begann das dünne Stahlband in den Ablauf zu schieben. Es glitt mühelos hinab, wie ein Schwert in die Kehle eines Jahrmarktartisten. Sechs Zoll, acht Zoll, zehn... und dann stockte das Meßband im Knie des Siphons unter dem Waschbecken. Sie bewegte es vorsichtig hin und her, und schließlich ließ es sich weiterschieben: 16 Zoü, 2 Fuß, 3 Fuß.

Sie beobachtete, wie das gelbe Band aus dem Stahlgehäuse glitt, das von der großen Hand ihres Vaters abgegriffen war. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie das Meßband durch das schwarze Loch des Rohres fuhr, schmutzig wurde und Rostschichten zerkratzte. Dort unten, wo nie die Sonne scheint, dachte sie. Dort unten, wo die Nacht nie endet.

Sie stellte sich vor, wie die Spitze des Meßbands mit dem kleinen Stahlring von der Größe eines Fingernagels immer tiefer in die Dunkelheit hinabglitt, und sie hörte eine innere Stimme, die ihr zurief: Was tust du? Sie ignorierte diese Stimme nicht, aber sie war nicht imstande, auf sie zu hören. Sie stellte sich vor, wie die Spitze jetzt in den Keller hinabwanderte, wie sie das Abwasserrohr erreichte... und in diesem Moment stockte das Meßband wieder. Sie bewegte es wieder vorsichtig hin und her, und der biegsame dünne Stahl gab ein schwaches unheimliches Geräusch von sich.

Sie sah direkt vor sich, wie der Kopf des Meßbandes gegen den Boden dieses größeren Rohres stieß, wie es sich durchbog... und dann konnte sie es weiterschieben.

Zehn Fuß. Zwölf. Vierzehn...

Und plötzlich spulte sich das Band von allein ab, als ziehe jemand unten daran. Nein, es war auch kein einfaches Ziehen - es war so, als renne jemand damit. Mit weit aufgerissenen Augen und herabhängendem Unterkiefer starrte sie auf das hinabsausende Band; sie hatte Angst, natürlich hatte sie Angst, aber sie war nicht überrascht. Hatte sie es nicht gewußt? Hatte sie nicht gewußt, daß irgend so was passieren würde?

Das Meßband war jetzt völlig ausgezogen: 30 Fuß und 10 Zoll.

Ein leises Kichern kam aus dem Ablauf, gefolgt von einem Flüstern, das sich fast vorwurfsvoll anhörte: »Beverly, Beverly, Beverly ...du kann uns nicht bekämpfen... du wirst sterben, wenn du's versuchst... sterben, wenn du's versuchst. .. Beverly... Beverly... ly-ly-ly...«

Etwas klickte im Gehäuse des Meßbands, und es begann sich schnell wieder aufzurollen; die Zahlen und Markierungen verschwammen. Die letzten fünf oder sechs Fuß war es nicht mehr gelb, sondern dunkelrot und naß, und sie schrie auf und ließ es fallen, als hätte es sich plötzlich in eine lebendige Schlange verwandelt.

Frisches Blut tropfte auf das saubere weiße Porzellanbecken und zurück ins große Auge des Abflußventils. Weinend packte sie das Meßband mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Sie trug es in die Küche. Blutstropfen markierten ihren Weg. Sie hielt es weit von sich ab, und ihr Gesicht hatte den angeekelten, ängstlichen und zugleich grimmigen Ausdruck einer Frau, die eine tote Ratte am Schwanz zur Mülltonne trägt. In der Küche legte sie das Meßband auf die Spüle.

Sie machte sich selbst Mut, indem sie daran dachte, was ihr Vater sagen würde - was er mit ihr tun würde -, wenn er bemerkte, daß sie sein Meßband blutig gemacht hatte. Natürlich würde er das Blut nicht sehen können, aber der Gedanke an mögliche Folgen verlieh ihr jetzt Kraft. Sie nahm einen der sauberen Lappen - er war noch warm von der Trockenschleuder, wie frisches Brot - und kehrte ins Bad zurück. Als erstes steckte sie den Gummistöpsel in den Ablauf, um dieses düstere Auge zu verschließen. Das frische Blut ließ sich leicht wegputzen. Sie folgte ihrer Spur und wischte die Blutstropfen auf dem alten Linoleum in Flur und Küche auf. Dann spülte sie den Lappen, wrang ihn aus und legte ihn beiseite.

Mit einem zweiten Lappen säuberte sie das Meßband ihres Vaters. Das Blut war dick und klebrig. An zwei Stellen waren richtige Klumpen, schwarz und dick und schwammig.

Obwohl nur die ersten fünf oder sechs Fuß blutig waren, putzte sie das ganze Meßband, beseitigte alle Spuren von Dreck und Unrat. Danach legte sie es ordentlich an seinen Platz im Schrank über der Spüle und trug die beiden schmutzigen Lappen zur Hintertür hinaus. Mrs. Doyon rief wieder nach Jim. Ihre Stimme gellte durch den stillen, heißen Spätnachmittag.

Im Hinterhof mit seinem Dreck, dem Unkraut und den Wäscheleinen stand ein rostiger Verbrennungsofen. Beverly warf die Lappen hinein, dann setzte sie sich auf die Hintertreppe. Plötzlich kamen ihr mit überraschender Heftigkeit die Tränen, und jetzt versuchte sie nicht, sie zurückzuhalten.

Sie legte die Arme um ihre Knie, verbarg den Kopf in ihnen und weinte, während Mrs. Doyon schrie, Jim solle sofort von der Straße weggehen -oder ob er vielleicht von einem Auto angefahren und getötet werden wolle?

Derry: Zweites Zwischenspiel

14. Februar 1985, Valentinstag Zwei weitere Vermißte in der vergangenen Woche - beides Kinder. Gerade als ich anfing, mich ein wenig zu entspannen. Bei den Vermißten handelt es sich um den sechzehnjährigen Dennis Torrio und um ein fünfjähriges Mädchen, das hinter seinem Elternhaus am West Broadway Schlitten fuhr. Die hysterische Mutter fand den Schlitten, eine dieser blauen fliegenden Untertassen aus Plastik, aber sonst nichts. In der Nacht zuvor hatte es frisch geschneit - etwa vier Zoll hoch. Keine Spuren außer denen des Mädchens, sagte Polizeichef Rademacher, als ich ihn anrief. Ich glaube, er hat allmählich von mir die Schnauze voll. Aber das wird mir bestimmt keine schlaflosen Nächte bereiten; mich hält weitaus Schlimmeres wach.

Ich habe ihn gefragt, ob ich die Polizeifotos sehen dürfte. Er hat abgelehnt.

Ich habe ihn gefragt, ob die Spuren des Mädchens zu einem Gully oder Abzugskanal führten. Nach langem Schweigen sagte Rademacher: »Ich frage mich allmählich, ob Sie nicht zum Arzt gehen sollten, Hanion. Zum Psychiater. Die Kleine wurde von ihrem Vater entführt. Lesen Sie denn keine Zeitungen?«

»Wurde der Torrio-Junge auch von seinem Vater entführt?« fragte ich.

Wieder eine lange Pause.

»Lassen Sie die Sache auf sich beruhen, Hanion«, sagte er schließlich. »Und lassen Sie mich endlich in Ruhe.«

Er legte den Hörer auf.

Natürlich lese ich Zeitungen - schließlich lege ich sie jeden Morgen höchstpersönlich im Lesesaal aus. Das kleine Mädchen, Laurie Ann Win-terbarger, war in der Obhut seiner Mutter, nachdem es ihr im Frühjahr 1982 nach erbitterten gerichtlichen Auseinandersetzungen zugesprochen worden war. Die Polizei vertritt die Auffassung, daß Horst Winterbarger, der irgendwo in Fort Lauderdale als Maschinist arbeiten soll, nach Maine gefahren ist und seine Tochter entführt hat. Man vermutet, daß er sein Auto neben dem Haus geparkt und seine Tochter gerufen hat- das ist die Erklärung der Polizei für das Fehlen weiterer Fußspuren. Viel weniger äußert die Polizei sich zu der Tatsache, daß das Mädchen seinen Vater nicht mehr gesehen hatte, seit es zwei Jahre alt gewesen war. Die Mutter hatte bei der Scheidung gebeten, das Gericht solle ihrem Mann jedes Besuchsrecht absprechen, weil er das kleine Mädchen sexuell belästigt habe; und obwohl Horst Winterbarger das energisch bestritten hatte, war dem Antrag der Mutter stattgegeben worden. Rademacher vertritt die Ansicht, daß Winterbarger durch diesen Gerichtsbeschluß, der ihn völlig von seinem einzigen Kind abschnitt, zu der Entführung getrieben wurde. Diese Möglichkeit ist nicht auszuschließen, aber urteilen Sie selbst: Hätte die kleine Laurie Ann ihren Vater nach drei Jahren wiedererkannt und wäre zu ihm gelaufen, als er sie rief? Rademacher behauptet das, obwohl sie erst zwei Jahre alt war, als sie ihren Vater zuletzt sah. Ich halte das für fast ausgeschlossen, besonders da Laurie Anns Mutter auch noch sagt, sie habe der Kleinen beigebracht, nicht mit Fremden zu reden - eine Lektion, die die meisten Kinder in Derry frühzeitig lernen. Rademacher sagt, die Polizei von Florida suche jetzt nach Winterbarger, und damit falle die Sache nicht mehr in seine Zuständigkeit. »Für das Sorgerecht sind in erster Linie Anwälte zuständig, nicht die Polizei«, soll dieses großkotzige fette Arschloch wörtlich von sich gegeben haben.

Aber der Torrio-Junge... da ist die Lage ganz anders. Wunderbares Elternhaus. Spielte Football für die Derry Rams. Hervorragender Schüler. Hatte im Sommer 1984 die Outward Bound Survival School mit Auszeichnung absolviert. Kein Drogenkonsum. Hatte eine Freundin, in die er offensichtlich mächtig verknallt war.

Verschwunden.

Nun, was ist mit ihm passiert? Ein plötzlicher Anfall von Wanderlust? Ein betrunkener Autofahrer, der ihn vielleicht angefahren, tödlich verletzt und

dann irgendwo begraben hat? Oder ist er vielleicht immer noch in Derry, irgendwo dort unten, und leistet Betty Ripsom und Patrick Humboldt und Eddie Corcoran und all den anderen Gesellschaft? Ist es...

(später)

Ich bin schon wieder dabei, immer und immer dasselbe durchzukauen, nichts Konstruktives zu tun, mich nur total verrückt zu machen. Ich zucke zusammen, wenn die Treppe zum Büchermagazin knarrt. Die Schatten da oben sind mir unheimlich. Ich ertappe mich bei dem Gedanken, wie ich wohl reagieren würde, wenn ich dort mit meinem gummibereiften Bücherwägelchen Bücher einsortierte und plötzlich zwischen zwei Regalen hindurch eine Hand zum Vorschein käme, eine Hand, die nach mir greifen wollte...

Heute nachmittag überkam mich erneut das fast unwiderstehliche Verlangen, die anderen anzurufen. Ich habe sogar schon 404 gewählt, die Vorwahl von Atlanta; Stanley Uris' Nummer lag vor mir. Dann legte ich den Hörer wieder auf und vergrub mein Gesicht in den Händen; ich überlegte, l ob ich sie anrufen wollte, weil ich mir wirklich sicher war - hundertprozentig sicher-, daß Es zurückgekehrt ist, oder einfach deshalb, weil ich inzwischen solche Angst habe, daß ich mit jemandem sprechen muß, mit jemandem, der weiß (oder wissen wird), weshalb ich so fürchterliche Angst habe.

Ich stellte fest, daß letzteres der Fall war, und widerstand dem Verlangen, nach dem Telefonhörer zu greifen. Tatsache ist, daß ich mir nicht sicher bin. Wenn noch eine Leiche aufgefunden werden sollte, werde ich sie anrufen... aber im Augenblick darf ich die Möglichkeit nicht ausschließen, daß sogar ein so großkotziges Arschloch wie Rademacher recht haben könnte, wenn auch nur rein zufällig. Laurie Ann könnte sich an ihren Vater erinnert haben; vielleicht hat sie Fotos von ihm gesehen. Und vermutlich könnte ein wortgewandter Erwachsener ein Kind überreden, in sein Auto zu steigen, auch wenn man dem Kind hundertmal erklärt hat, es dürfe so etwas niemals tun.

Und da ist noch eine andere Angst, die mich verfolgt. Rademacher hat mir deutlich zu verstehen gegeben, daß er mich für verrückt hält oder doch zumindest auf dem besten Wege dazu, verrückt zu werden. Ich glaube das nicht, keineswegs, aber wenn ich sie jetzt anrufe, könnten sie ebenfalls glauben, ich sei verrückt. Ja, noch schlimmer, ich habe das schreckliche Gefühl, daß sie sich überhaupt nicht an mich erinnern würden. Mike Hanion? Wer? Ich kenne keinen Mike Hanion. Ich erinnere mich überhaupt nicht an Sie. Ein Versprechen? Was für ein Versprechen?

Ich fühle, daß einmal die richtige Zeit kommen wird, um sie anzurufen... und wenn es soweit ist, werde ich wissen, daß es richtig ist. Ihre eigenen Schaltkreise werden sich zur selben Zeit öffnen. So, als kämen zwei große Räder ganz langsam in Konvergenz zueinander - ich und ganz Derry einerseits, die sechs anderen andererseits.

Jeder, der sich mit irgendeinem Ritual beschäftigt hat, weiß genau, daß das zeitliche Element dabei eine außerordentlich wichtige Rolle spielt... vielleicht sogar eine entscheidende. Trauungen werden um zwei vorgenommen. Beerdigungen um zehn. Es würde keinem Kind auch nur im

Traume einfallen, Halloween am 30. Oktober oder Weihnachten am 26. Dezember zu feiern. Und die Zeit dafür ist noch nicht reif.

Deshalb werde ich abwarten, und früher oder später werde ich es wissen. Ich glaube nicht, daß es jetzt noch fraglich ist, ob ich sie anrufen soll oder nicht.

Jetzt ist es nur noch die Frage des richtigen Zeitpunkts.

20. Februar 1985

Das Feuer im >Black Spot<.

»Ein perfektes Beispiel dafür, wie die Mächtigen versuchen, Geschichte umzuschreiben, Mike«, hätte der alte Albert Carson vermutlich krächzend gesagt. »Sie versuchend immer, und manchmal gelingt es ihnen fast... aber die Alten erinnern sich noch daran, wie es tatsächlich war. Und sie werden es dir erzählen, wenn du ihnen die richtigen Fragen stellst.«

Es gibt Leute, die seit zwanzig Jahren in Derry wohnen und nicht wissen, daß es auf dem alten Militärstützpunkt von Derry früher einmal eine >spe-zielle< Kaserne für Schwarze gab, eine Kaserne, die eine gute halbe Meile vom übrigen Stützpunkt entfernt war - und Mitte Februar, wenn die Temperaturen um o° Fahrenheit schwankten, wenn der Wind mit einer Geschwindigkeit von vierzig Meilen pro Stunde über die ebenen Flugschneisen pfiff, bedeutete diese zusätzliche halbe Meile Frostbeulen, Erfrierungen, ja manchmal sogar den Tod.

Die übrigen Kasernen - es waren insgesamt sieben - hatten Ölheizung und Doppelfenster und waren gut isoliert. Sie waren warm und gemütlich. Die >spezielle< Kaserne, in der die 27 Männer von Kompanie E untergebracht waren, wurde mit einem vorsintflutlichen Holzofen beheizt. Die Holzvorräte waren Gegenstand heftiger Kämpfe. Die einzige Isolierung bestand aus den breiten Wällen aus Kiefern- und Fichtenstämmen, die die Männer um die Außenwände herum aufschichteten. Einer der Männer organisierte Doppelfenster, aber die 27 Bewohner der speziellen* Kaserne wurden nach Bangor abkommandiert, um auf dem dortigen Stützpunkt zu helfen. Als sie abends müde und durchgefroren zurückkamen, waren alle Fenster eingeschlagen. Ausnahmslos alle.

Das war im Jahre 1930, als Amerikas Luftwaffe noch zur Hälfte mit Doppeldeckern ausgerüstet war. In Washington war der hitzige Billy Mitchell zur Büroarbeit degradiert worden, weil sein beharrliches Drängen auf den Aufbau einer moderneren Luftwaffe seinen Vorgesetzten zu lästig geworden war. Kurze Zeit später kam er vors Kriegsgericht.

Aus diesem Grunde wurden auf dem Militärstützpunkt Derry sehr wenig Flüge durchgeführt, trotz der drei Startbahnen (eine davon war sogar geteert). Meistens wurden die Soldaten mit irgendwelchen Verlegenheitsarbeiten beschäftigt.

Einer der Soldaten von Kompanie E war mein Vater. Er erzählte mir folgende Geschichte:

»Eines Tages im Frühjahr 1930 - etwas sechs Monate vor dem Feuer im >Black Spot< - kehrte ich mit vier Kumpels von einem dreitägigen Kurzurlaub in Boston zurück, wo es Lokalitäten gab, die ein Schwarzer ungehindert aufsuchen, wo er sich als Mensch fühlen konnte. Weiß Gott, in Derry gab es damals solche Örtlichkeiten nicht. Es war eine hartherzige, haßerfüllte Stadt. Vermutlich ist sie das in vieler Hinsicht immer noch, aber weiß Gott - heute ist es doch wesentlich einfacher für einen Schwarzen, hier zu leben.

Na ja, wie dem auch sei, jedenfalls stand da dieser große weiße Bursche, gleich hinter der Wache, stützte sich auf 'ne Schaufel und starrte Löcher in die Luft. Ein Feldwebel irgendwo aus dem Süden. Wilson hieß er. Karottenrote Haare. Schlechte Zähne. So 'ne Art Affe ohne Körperhaare, wenn du verstehst, was ich meine. Zur Zeit der Depression gab es jede Menge solcher Typen in der Armee.

Wir kamen also daher, vier schwarze Jungs, vier schwarze Gesichter, 'Und wir sahen ihm sofort an den Augen an, daß er nur so darauf lauerte, uns was anhängen zu können. Deshalb salutierten wir vor ihm, als sei er •General Black Jack Pershing höchstpersönlich. Auch ich salutierte schneidig, und vermutlich wäre alles gutgegangen, aber es war ein schöner Tag Ende April, die Sonne schien, und ich Dummkopf riskierte 'ne Lippe. >Ei-nen schönen Nachmittag wünsche ich Ihnen, Herr Feldwebel<, sagte ich, und er fiel natürlich sofort über mich her. >Habe ich dir erlaubt, mich an-zusprechen?< brüllte er.

>Nein, Sir<, sagte ich.

Er schaute die anderen der Reihe nach an - Trevor Dawson, Carl Roone und Henry Whitsun, der dann im Herbst bei dem Feuer ums Leben kam -und sagte: >Diesen Klugscheißer von Nigger werde ich mir jetzt mal vornehmen. Und wenn ihr keine Lust habt, zusammen mit ihm einen angenehmen, lehrreichen Nachmittag zu verbringen, so würde ich euch dringend raten, schleunigst in eure Kaserne zu gehen, dort eure Klamotten abzuladen und euch dann beim wachhabenden Offizier zu melden. Kapiert? <

Sie setzten sich also in Bewegung, und Wilson brüllte ihnen nach: >Tempo, ihr verfluchten Nigger! Schwingt mal eure Ärsche! <

Sie machten, daß sie wegkamen, und Wilson ging mit mir zu einem der Lagerschuppen und holte für mich einen Spaten. Dann führte er mich auf das große Feld, dort, wo heute der Northeast Airlines Airbus Terminal ist. Schaute mich an, grinste, deutete auf den Boden und fragte: >Siehst du diese Grube da, Nigger? <

Es war keine Grube da, aber ich hielt es für besser, ihm zuzustimmen, ganz egal, was er sagte, also schaute ich auf die Stelle, wohin er deutete, und erklärte, natürlich sähe ich sie. Daraufhin knallte er mir seine Faust auf die Nase, und ich landete auf dem Boden, und das Blut floß über mein letztes frisches Hemd.

>Du kannst sie nicht sehen, weil irgend so ein verfluchter Niggerbastard sie zugeschüttet hat!< brüllte er. Auf seinen mageren Wangen glühten zwei große rote Flecken, aber zugleich grinste er, und es war nicht zu übersehen, daß er sich bestens amüsierte. >Was du jetzt also tun wirst, Mr. Einen-schönen-Nachmittag, ist, den Dreck aus meiner Grube rauszuschaufeln. Und zwar ein bißchen schnell!<

Ich schaufelte also drauflos, und bald stand ich bis zum Kinn in dieser Grube. Die letzten paar Fuß waren nasser, schwerer Lehm, und als ich fertig war, stand ich bis zu den Knöcheln im Wasser, und meine Schuhe waren völlig durchweicht.

>Komm raus, du Nigger !< befahl Wilson. Er saß gemütlich im Gras und rauchte eine Zigarette. Natürlich half er mir nicht dabei, aus der Grube rauszuklettern. Ich war von Kopf bis Fuß total verdreckt, von dem Blut auf meinem Hemd ganz zu schweigen. Er stand auf und schlenderte auf mich zu. Er deutete auf die Grube.

>Was siehst du da, Nigger?< fragte er mich.

>Ihre Grube, Herr Feldwebel<, sagte ich.

>Ja, aber ich habe beschlossen, daß ich sie nicht haben will<, erklärte er. >Du wirst jetzt meine Grube wieder zuschaufeln, Nigger. <

Also schaufelte ich sie wieder zu, und als ich damit fertig war, ging die Sonne schon fast unter, und es wurde langsam kühl. Er kam rüber und schaute sich die Sache an, nachdem ich mit der Rückseite des Spatens alles glattgeklopft hatte.

>Na, und was siehst du jetzt, Nigger?< fragte er mich.

>Einen Haufen Dreck, Sir<, sagte ich, und er schlug wieder zu. Mein Gott, ich war nahe daran, ihm die Schaufel auf den Schädel zu knallen. Aber wenn ich das getan hätte, hätte ich nie wieder die Sonne gesehen, außer durch Gitterstäbe hindurch. Und trotzdem glaube ich manchmal fast, daß die Sache es wert gewesen wäre. Aber irgendwie schaffte ich es, mich zu beherrschen.

>Das ist kein Haufen Dreck, du verdammter Scheißkerl! < brüllte er, und der Speichel flog ihm nur so von den Lippen. >Das ist meine Grube, und du wirst jetzt sofort den Dreck aus meiner Grube rausschaufeln. Und zwar ein bißchen schnell!<

Also schaufelte ich den Dreck aus seiner Grube, und dann mußte ich sie wieder zuschütten, und als ich damit fertig war, fragte er mich, warum ich seine Grube zugeschaufelt hätte, wo er doch gerade reinscheißen wollte. Also schaufelte ich sie noch einmal aus, und er ließ seine Hosen runter und hängte seine Arschbacken über die Grube und grinste zu mir hoch, während er sein Geschäft verrichtete, und fragte: >Wie heißt du, Nigger? <

>Hanlon<, sagte ich. >William J. Hanion, Sir.<

>Na, ist das Leben nicht einfach herrlich?< sagte er. >Du solltest diese Grube rasch zuschütten, gemeiner Soldat William J. Hanion. Und halt dich gefälligst ein bißchen ran. Du wirst immer langsamer<

Also hab' ich sie wieder zugeschaufelt, und an seinem Grinsen konnte ich ablesen, daß er vorhatte, sie mich wieder ausheben zu lassen und dieses Spielchen weiterzutreiben, bis ich umkippen würde. Aber in diesem Moment kam einer seiner Freunde mit einer Gaslaterne in der Hand quer übers Feld auf ihn zugelaufen und berichtete ihm, daß eine überraschende Inspektion stattgefunden hätte, und Wilson Schwierigkeiten bekommen würde, weil er nicht dagewesen wäre. Daraufhin ließ er mich gehen, und am nächsten Tag schaute ich mehrmals nach, ob sein Name auf der Strafli-ste stand, aber dem war nicht so. Ich nehme an, er hat einfach erzählt, daß er die Inspektion versäumt hätte, weil er einem großmäuligen Nigger beibringen mußte, wem all die Gruben auf dein Militärstützpunkt Derry gehörten, jene, die schon ausgehoben waren, und all jene, die noch nicht ausgehoben waren. Vermutlich haben sie ihm daraufhin einen Orden verliehen, anstatt ihn strafweise Küchendienst machen zu lassen.

Ja, so war die Lage für Kompanie E hier in Derry, damals, Anfang der 3oer Jahre, Mikey.«

Es muß so um 1958 herum gewesen sein, daß mein Vater mir diese Geschichte erzählte, und er ging damals schon auf die Fünfzig zu, obwohl meine Mutter erst knapp 40 war. Ich fragte ihn, warum er denn in Derry geblieben wäre, wenn dort solche Zustände geherrscht hätten.

»Na ja, ich war erst 16, als ich zum Militär ging«, erklärte er mir. »Geboren und aufgewachsen bin ich in Oxford, Mississippi, und Fleisch bekamen wir nur direkt nach der Baumwollernte und höchstens noch ab und zu im Winter zu sehen, wenn mein Vater einen Waschbären oder eine Beutelratte schoß. Meine einzige schöne Erinnerung an Oxford - das ist die Beutelrattenpastete, die mit Maisbrot wunderschön verziert wurde.

Und als dann mein Vater bei einem Unfall mit irgendeiner landwirtschaftlichen Maschine ums Leben kam, sagte meine Mutter, daß sie mit Philly Loubird nach Corinth umziehen würde, wo sie Verwandte hatte. Philly Loubird war das Nesthäkchen der Familie.«

»Sprichst du von Onkel Phil?« fragte ich. Ich mußte bei dem Gedanken lächeln, daß jemand ihn Philly Loubird nennen konnte. Er war Rechtsanwalt in Tuscon, Arizona, und er hatte sechs Jahre lang dem Stadtrat angehört. Als Kind hielt ich ihn für einen reichen Mann. Für einen Schwarzen war er das vermutlich auch. Er verdiente 1958 so an die 20000 Dollar im Jahr.

»So ist es«, sagte mein Vater. »Aber damals war er nur ein zwölfjähriger Junge, der eine Mütze aus Reispapier aufhatte und gestopfte Hosen trug und keine Schuhe besaß. All die anderen - wir waren sechs Geschwister -waren schon aus dem Haus. Also ging ich zum Amtsgebäude, wo der Rekrutierungsmensch saß, und bat, in die Armee aufgenommen zu werden. Er zeigte mir die Papiere und die Zeile, wo ich meine drei Kreuzchen hinmachen sollte. >Ich kann meinen Namen schreiben<, protestierte ich, und er lachte nur, so als ob er mir nicht glaubte.

>Also los, dann unterschreib, Junge<, meinte er.

>Einen Augenblick«, sagte ich. >Ich möchte Ihnen vorher noch ein paar Fragen stellen. <

>Nur raus damit<, sagte er. >Ich kann jede Frage beantworten.«

>Gibt es in der Armee zweimal wöchentlich Fleisch?< fragte ich.

>Nein<, sagte er. >Jeden Abend gibt's welches.<

>Sie müssen mich für einen totalen Dummkopf halten<, sagte ich.

>Da hast du nicht mal so unrecht, Nigger«, erwiderte er.

>Wenn ich Soldat werde, muß ich etwas für meine Mutter und für Philly Loubird tun können«, sagte ich.

>Dafür ist gesorgt«, meinte er und deutete auf das Soldformular. >Sonst noch Fragen?«

>Na ja«, sagte ich, >wie steht's mit einer Offiziersausbildung?«

Er warf den Kopf zurück und lachte schallend. Er lachte so lange, daß ich schon dachte, er würde gleich an seinem eigenen Speichel ersticken. Dann sagte er: >Mein Sohn, der Tag, an dem man Niggeroffiziere in der Armee haben wird, wird derselbe Tag sein, an dem man den blutenden Jesus im Orpheum Vaudeville tanzen sehen kann. Und jetzt unterschreib oder laß es bleiben. Du verpestest hier die Luft.<

Ich unterschrieb, da ich dachte, man würde mich nach New Jersey raufschicken, wo die Armee damals Brücken baute, weil es ja nirgends Kriege zu führen gab. Statt dessen kam ich nach Derry, Maine, in die Kompanie E.«

Er seufzte und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, ein großer Mann mit weißen lockigen Haaren. Damals gehörte uns eine der größeren Farmen in Derry und der vermutlich beste Straßenverkaufsstand südlich von Bangor und nördlich von Lewiston. Wir drei arbeiteten schwer, und mein Vater stellte zur Erntezeit Hilfskräfte ein, aber im allgemeinen schafften wir es allein ganz gut.

»Ich bin hiergeblieben, weil ich sowohl den Süden als auch den Norden gesehen hatte, und weil es da keinen Unterschied gab«, sagte er. »Es war nicht Feldwebel Wilson, der mich zu dieser Überzeugung brachte. Er war nichts weiter als ein Habenichts aus Georgia, der durch und durch Süd-staatler blieb, wohin er auch ging. Er brauchte nicht südlich der Mason-Di-xie-Linie zu leben, um Nigger zu hassen. Dieser Haß begleitete ihn überall hin. Nein, es war das Feuer im >Black Spot<, das mich davon überzeugte. In gewisser Weise...«

Er warf einen Blick zu meiner Mutter hinüber, die strickte und ihm zuhörte, ohne jedoch von ihrer Beschäftigung aufzuschauen.

»In gewisser Weise war es dieses Feuer, das mich zum Mann machte. Sechzig Menschen kamen bei dem Brand ums Leben, und achtzehn davon waren aus der Kompanie E. Nach diesem Brand gab es keine Kompanie E mehr. Henry Whitsun... Stork Anson... Alan Parkinson... Everett McCaslin... alle meine Freunde waren dabei ums Leben gekommen. Und dieses Feuer war nicht von Feldwebel Wilson und seinen Freunden gelegt worden, sondern von der >Maine Legion of White Decency<, Ortsgruppe Derry. Einige der Kinder - nicht die armen -, mit denen du zur Schule gehst, mein Sohn - ihre Väter waren es, die das >Black Spot< in Brand setzten.«

»Warum, Daddy?«

»Na ja, zum Teil war einfach die Atmosphäre in Derry dafür verantwortlich«, sagte mein Vater stirnrunzelnd. Er zündete langsam seine Pfeife an und blies das Steichholz aus. »Ich weiß nicht, warum es gerade hier passierte; ich kann es nicht erklären. Die >Legion of White Decency< war die Nordstaaten-Version des Ku-Klux-Klans, weißt du. Sie liefen in der gleichen weißen Kapuzentracht herum, sie hatten das gleiche Symbol des Flammenkreuzes, sie schrieben die gleichen haßerfüllten Drohbriefe an Schwarze, die ihrer Meinung nach zu hoch hinauswollten oder Jobs annahmen, die eigentlich Weißen vorbehalten waren. In Kirchen, wo die Prediger über die Gleichberechtigung der Schwarzen sprachen, legten sie manchmal Dynamit. In den meisten Geschichtsbüchern ist mehr vom Ku-Klux-Klan die Rede als von der >Legion of White Decency<, und sehr viele Leute wissen nicht einmal, daß es so was gab. Ich nehme an, daß es teilweise daran liegt, daß die meisten Geschichtsbücher von Nordstaatlern geschrieben werden, die sich dieser Sache schämen.

Na ja, den größten Zulauf hatte die >Legion of White Decency< in den Großstädten und in Industriegebieten. New York, New Jersey, Detroit, Baltimore, Boston, Portsmouth - überall gab es Ortsgruppen. Sie versuchten sich auch in Maine zu organisieren, aber Derry war der einzige Ort, wo sie wirklich Erfolg damit hatten. O ja, eine Zeitlang gab es auch in Lewiston eine ziemlich starke Gruppe, aber sie kümmerte sich nicht um Nigger, die angeblich weiße Frauen vergewaltigten oder Jobs innehatten, die Weißen vorbehalten sein sollten, denn es gab hier oben kaum Neger. In Lewiston beschäftigten sie sich mit Landstreichern und Vagabunden; sie befürchteten, daß ehemalige Soldaten sich mit der - wie sie sich ausdrückten - kommunistischen Proletenarmee< verbünden könnten, womit die Arbeitslosen gemeint waren. Die >Legion of White Decency< pflegte verdächtige Elemente dieser Art sofort aus der Stadt zu vertreiben, sobald sie nur dort auftauchten.

Mitte 1931 hatte sich die Ortsgruppe in Lewiston aber schon so gut wie aufgelöst, und auch in Derry zerfiel sie nach dem Brand im >Black Spot<. Weißt du, sie war einfach außer Kontrolle geraten. In dieser Stadt scheint so etwas öfters vorzukommen.«

Er paffte eine Zeitlang schweigend vor sich hin.

»Man könnte sagen, Mikey«, fuhr er schließlich fort, »die >Legion of White Decency< sei eine Saat gewesen, die in Derry einen guten Boden für ihr Gedeihen gefunden hat. Sie war hier ein regelrechter Klub reicher Männer. Und nach dem Brand legten sie alle ihre Kapuzentrachten einfach ab und deckten sich gegenseitig mit ihren Lügen, und die Sache wurde vertuscht.« Jetzt lag in seiner Stimme eine so heftige Verachtung, daß meine Mutter stirnrunzelnd aufblickte. »Wer war denn schließlich ums Leben gekommen? Achtzehn Nigger aus der Armee, vierzehn oder fünfzehn Nigger aus der Stadt, vier Mitglieder einer Nigger-Jazzband... und etliche NiggerLiebchen. Was spielte das schon für eine Rolle?«

»Will«, sagte meine Mutter sanft. »Das reicht.«

»Nein«, rief ich, »ich will es hören!«

»Für dich ist eigentlich schon Schlafenszeit, Mikey«, sagte er und strich mir mit seiner großen rauhen Hand übers Haar. »Eines möchte ich dir aber doch noch sagen, obwohl ich nicht glaube, daß du es verstehen wirst - ich bin mir nicht einmal sicher, daß ich es verstehe. Was in jener Nacht im >Black Spot< geschah, so schlimm es auch war... ich glaube eigentlich nicht, daß es passierte, weil es sich um Schwarze handelte. Nicht einmal deshalb, weil das >Black Spot< direkt hinter dem West Broadway war, wo damals die reichen Weißen von Derry wohnten - und wo sie heute noch wohnen. Ich glaube nicht, daß die >Legion of White Decency< hier soviel Zulauf und Erfolg hatte, weil der Haß auf Schwarze in Derry größer war als in Portland oder Lewiston oder Brunswick. Es liegt an diesem Boden. Es hat den Anschein, als gedeihe das Böse auf dem Boden dieser Stadt besonders gut. Ich habe in all den Jahren immer wieder darüber nachgedacht. Ich weiß nicht, warum es so ist... aber es ist so.

Doch es gibt hier auch gute Menschen, und die gab es auch damals. Zu den Begräbnissen nach dem Brand kamen Tausende, und sie kamen zu den Begräbnissen der Schwarzen ebenso wie zu jenen der Weißen. Die Ge-

Schäfte blieben fast eine Woche lang geschlossen. In den Krankenhäusern wurden die Verletzten unentgeltlich behandelt. Es gab Eßkörbe und Beileidsbriefe, die ehrlich gemeint waren. Und es gab helfende Hände, die sich uns entgegenstreckten. Ich lernte damals meinen Freund Dewey Conroy kennen, der so weiß wie Vanilleeis ist, aber für mich ist er wie ein Bruder. Ich würde für Dewey sterben, wenn er mich darum bitten würde, und obwohl kein Mensch einem anderen wirklich ins Herz schauen kann, glaube ich, daß auch er für mich sterben würde.

Na ja, jedenfalls schickte die Armee uns nach dem Feuer alle weg, so als schämten sie sich... und ich vermute, daß sie sich tatsächlich schämten. Ich landete in Fort Hood, und da blieb ich sechs Jahre lang. Dort lernte ich deine Mutter kennen, und wir heirateten in Galveston, in ihrem Elternhaus. Aber in all den Jahren war mir Derry nie aus dem Kopf gegangen. Und nach dem Krieg kehrten wir hierher zurück. Und dann kamst du auf die Welt. Und da sind wir nun, keine drei Meilen von der Stelle entfernt, wo einst das >Black Spot< stand. Und jetzt mußt du wirklich ins Bett, mein Junge.«

»Ich will aber alles über das Feuer hören!« rief ich. »Erzähl mir davon, Daddy!«

Er sah mich mit gerunzelter Stirn ernst an, was mich immer zum Schweigen brachte... vielleicht weil er nur selten so dreinschaute. Meistens lächelte er. »Das ist keine Geschichte für einen zehnjährigen Jungen«, sagte er. »Ein anderes Mal, Mikey. Wenn wir beide ein paar Jährchen mehr auf dem Buckel haben.«

Und ich erfuhr erst vier Jahre später, was in jener Nacht geschehen war. Mein Vater erzählte es mir, als er im Krankenhaus lag, oft halb betäubt von den schmerzstillenden Mitteln, während der Krebs in seinen Eingeweiden rastlos arbeitete und ihn langsam zerfraß.

26. Februar 1985

Ich habe meine letzten Aufzeichnungen soeben noch einmal gelesen und war selbst ganz überrascht, daß ich plötzlich beim Gedanken an meinen Vater, der nun schon seit 21 Jahren tot ist, in Tränen ausbrach. Ich erinnere mich noch gut an meine Trauer über seinen Tod - sie hielt fast zwei Jahre an. Und als ich dann 1966 die High School abschloß, sagte meine Mutter: »Wie stolz wäre dein Vater auf dich gewesen!«, und wir weinten gemeinsam, und ich dachte, mit diesen späten Tränen hätten wir ihn nun endgültig begraben. Aber wer weiß schon, wie lange ein Schmerz anhalten kann? Ist es nicht möglich, daß man sogar 30 oder 40 Jahre nach dem Tod eines Kindes, eines Bruders oder einer Schwester plötzlich beim Gedanken an sie das gleiche Gefühl der Trauer und Verlassenheit verspürt, das Gefühl eines Platzes, der für immer leer bleibt... vielleicht sogar nach dem Tod?

Er verließ die Armee 1938 mit einer Invalidenpension. Zu jener Zeit war es beim Militär schon wesentlich kriegerischer zugegangen; er erzählte mir einmal, daß jeder, der nicht völlig blind war, damals schon sehen konnte, daß es wieder zum Krieg kommen würde. Er war inzwischen zum Feldwebel befördert worden, und er büßte einen Großteil seines linken Fußes ein, als ein neuer Rekrut, der sich vor Angst fast in die Hose machte, eine Handgranate zündete und dann fallen ließ. Sie rollte auf meinen Vater zu und explodierte mit einem Geräusch, das sich - wie er sagte - anhörte >wie ein Husten mitten in der Nacht<.

Ein großer Teil der Waffen, mit denen die damaligen Soldaten üben mußten, war entweder schadhaft oder hatte so lange in irgendwelchen halbvergessenen Depots herumgelegen, daß sie nicht mehr funktionierten. Gewehre gingen nicht los oder explodierten manchmal in ihren Händen. Die Navy hatte Torpedos, die gewöhnlich erheblich von der Zielrichtung abwichen oder nicht explodierten. Die Luftwaffe hatte Flugzeuge, deren Tragflächen bei harten Landungen abfielen, und - wie ich gelesen habe - stellte 1939 in Pensacola ein Versorgungsoffizier fest, daß eine ganze Reihe von Jeeps nicht funktionierten, weil Küchenschaben die Gummischläuche und sogar die Treibriemen aufgefressen hatten.

Mein Vater blieb nur infolge dieser mangelhaften Waffenvorräte am Leben - die Handgranate explodierte nicht richtig, und so verlor er nur einen Teil des linken Fußes.

Mit Hilfe des Invalidengeldes konte er meine Mutter ein Jahr früher als geplant heiraten. Sie zogen nach Houston, wo sie bis 1945 in der Rüstungsindustrie arbeiteten. Mein Vater war Vorarbeiter in einer Fabrik, in der Bombenzylinder hergestellt wurden, und meine Mutter war Nieterin. Aber Derry war ihm >nie aus dem Kopf gegangen<, wie er mir an jenem Abend erzählte, als ich zehn Jahre alt war. Und heute frage ich mich, ob dieses blinde Etwas nicht vielleicht schon damals am Werk war und ihn zurückzog, nur damit ich an jenem gewittrigen Nachmittag im August 1958 meinen Platz in jenem Kreis in den Barrens einnehmen konnte. Wenn die Räder des Universums richtig eingestellt sind, dann kompensieren sich Gut und Böse -aber auch das Gute kann furchtbar sein.

Sie hatten eine ganz hübsche Geldsumme gespart. Eine Farm wurde zum Kauf angeboten. Die beiden fuhren mit dem Bus von Texas nach Maine, schauten sie sich an und kauften sie noch am selben Tag. Die First Mer-chants of Penobscot County räumten meinem Vater eine Zehn-Jahres-Hy-pothek ein, und meine Eltern ließen sich in Derry nieder.

»Zuerst hatten wir gewisse Probleme«, erzählte mein Vater. »Es gab Leute, die keine Neger in der Nachbarschaft haben wollten. Wir hatten gewußt, daß es so sein würde - ich hatte das >Black Spot< nicht vergessen -, und wir waren fest entschlossen auszuharren. Kinder warfen im Vorbeigehen mit Steinen oder Bierdosen. Ich mußte in jenem ersten Jahr etwa zwanzig Fensterscheiben neu einsetzen. Und es waren nicht nur Kinder. Als wir eines Morgens aufstanden, war ein Hakenkreuz auf eine Seitenwand des Hühnerschuppens geschmiert, und alle Hühner waren tot. Jemand hatte ihr Futter vergiftet. Das war mein letzter Versuch, Hühner zu halten.

Aber der Kreissheriff - damals gab es hier noch keinen Polizeichef, dafür war Derry nicht groß genug - nahm sich der Sache an, und er leistete gute Arbeit. Das ist es, was ich meine, Mikey, wenn ich sage, daß es hier neben dem Bösen auch das Gute gibt. Für jenen Sheriff Simon spielte es keine Rolle, daß meine Haut braun und mein Haar kraus war. Er kam ein halbes Dutzend Mal zu uns, er redete mit den Leuten, und schließlich fand er heraus, wer es getan hatte. Und was glaubst du, wer es war?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich.

Mein Vater lachte Tränen. Er holte ein großes weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sie ab. »Es war Butch Bowers - der Vater jenes Jungen, der, wie du sagst, der schlimmste Raufbold weit und breit ist.«

»Die anderen Kinder meinen, Henrys Vater sei verrückt«, erwiderte ich.

»Nun, meiner Meinung nach haben sie gar nicht so unrecht. Es heißt, daß er nach seiner Rückkehr aus dem Pazifik nie mehr ganz normal war. Er war dort bei der Marine. Aber wie dem auch sei, jedenfalls verhaftete ihn der Sheriff, und Butch brüllte herum, das Ganze sei ein abgekartetes Spiel, und sie seien alle nichts weiter als ein Haufen Niggerfreunde. Oh, er wollte alle verklagen. Ich bezweifle, daß er auch nur eine einzige ordentliche Unterhose hatte, aber er wollte mich, Sheriff Simon, die Stadt Derry und den Kreis Penobscot verklagen.

Wie mir berichtet wurde, hat ihm der Sheriff dann im Gefängnis von Bangor einen Besuch abgestattet. >Es ist höchste Zeit für dich, den Mund zu halten und zuzuhören, Butch<, hat er zu ihm gesagt. >Der Schwarze besteht nicht auf einer Anklage. Er möchte nur Schadenersatz für seine Hühner haben, sonst nichts. Mit 200 Dollar wäre er zufrieden.«

Worauf Butch dem Sheriff erklärt hat, wohin er sich seine 200 Dollar stek-ken könne.

Und darauf hat Simon zu ihm gesagt: >Drüben in Thomaston gibt's eine Kalkgrube, und es heißt, wenn man zwei Jahre dort verbringt, hat man eine grüne Zunge. Sie haben die Wahl: Zwei Jahre oder 200 Dollar. Was ist Ihnen lieber? <

>Kein Geschworenengericht in Maine wird mich verurteilen<, prahlte Butch, >nur weil ich die Hühner eines Niggers vergiftet habe.<

>Sie werden dich nicht wegen der Hühner verurteilen«, erwiderte Simon,

> sondern wegen des Hakenkreuzes, das du nach der Tat an die Schuppenwand geschmiert hast.<

Daraufhin klappte Butch glatt der Unterkiefer runter, und Simon ging und ließ ihm Zeit, darüber nachzudenken. Drei Tage später beauftragte Butch seinen Bruder - den, der etwa drei Jahre später erfroren ist, als er betrunken auf der Jagd war - damit, seinen neuen Mercury zu verkaufen, den er sich von der Abfindung angeschafft hatte, die er bei der Abmusterung vom Militär erhalten hatte. Ich bekam meine 200 Dollar, aber Butch schwor, er würde mich ausräuchern. Das posaunte er bei allen seinen Freunden herum. Deshalb schnappte ich ihn mir eines Nachmittags. Er hatte sich nach dem Verkauf des Mercurys einen alten Vorkriegsford zugelegt, und ich war mit meinem Lieferwagen unterwegs. Draußen auf der Witcham Street, in der Nähe des Bahnhofsgeländes, schnitt ich ihm den Weg ab und stieg mit meiner Winchester aus.

>Wenn du bei mir irgendwo Feuer legst, knall' ich dich ab!< erklärte ich ihm.

>In diesem Ton kannst du nicht mit mir reden, Nigger<, sagte er, und vor Wut und Angst war er fast am Heulen. >So kannst du nicht mit einem Weißen reden, du verdammter Niggerbastard! <

Nun, ich hatte die Schnauze gestrichen voll. Kein Mensch war in der Nähe. Ich packte ihn mit einer Hand bei den Haaren, stützte meinen Flintenschaft auf meine Gürtelschnalle und hielt ihm die Mündung direkt unters Kinn. >Wenn du mich noch ein einziges Mal Nigger oder Niggerbastard nennst, wird dir das Gehirn aus deinem Schädel rausspritzen<, sagte ich. >Und ich geb dir mein Wort, Butch: die geringste Brandstiftung auf meinem Grund und Boden, und ich knall dich ab. Und eventuell auch noch deinen Balg, deine Frau und deinen Taugenichts von Bruder. Ich hab' jetzt genug.

Daraufhin begann er tatsächlich zu heulen, und ich habe nie im Leben etwas Abstoßenderes gesehen. >Soweit ist es hier also schon gekommen< plärrte er. >Ein Nig- ein Mann kann am hellichten Tag am Straßenrand einen arbeitenden Menschen mit einer Flinte bedrohen... schöne Zustände sind das!<

>Die Welt muß wirklich zum Teufel gehen, wenn so was möglich ist<, stimmte ich ihm zu. >Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich möchte nur eines wissen: Haben wir uns verstanden, oder möchtest du ausprobieren, ob es möglich ist, durch die Stirn zu atmen?<

Er war der Ansicht, wir hätten uns verstanden, und seitdem hatte ich keinerlei Ärger mehr mit Butch Bowers - vielleicht abgesehen von der Vergiftung deines Hundes Mr. Chips vor vier Jahren. Aber ich habe keinen Beweis dafür, daß Bowers dabei seine Hand im Spiel gehabt hat. Der Hund könnte auch einfach einen Giftköder oder so was Ähnliches gefressen haben.

Ja, seit jenem Tag hatten wir so ziemlich unsere Ruhe und konnten unserer Wege gehen, und wenn ich heute zurückblicke, gibt es nicht viel, was ich bereue. Wir hatten hier ein gutes Leben, und wenn es auch Nächte gibt, in denen ich von jenem Feuer im >Black Spot< träume - niemand lebt wohl sein Leben, ohne ein paar Alpträume zu haben.«

28. Februar 1985

Es ist nun schon wieder Tage her, daß ich mich hinsetzte, um die Geschichte vom Feuer im >Black Spot< aufzuschreiben, so wie ich sie von meinem Vater gehört habe, aber ich bin immer noch nicht dazu gekommen. Ich glaube, es ist in >The Lord of the Rings<, wo jemand sagt, daß >ein Weg zum anderen führt<, und daß man, sobald man erst einmal den Weg von der eigenen Vordertreppe zum Gehsteig hinter sich gebracht hat, überall hin gehen könne. Vermutlich ist es mit Geschichten ebenso. Eine führt zur anderen, und diese wieder zur nächsten, und vielleicht gehen sie in die Richtung, die man ursprünglich einschlagen wollte, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht sind aber letzten Endes die Geschichten selbst wichtiger als die Richtung.

Ich glaube, es ist seine Stimme, an die ich mich am besten erinnere: die tiefe Stimme meines Vaters, seine langsame Sprechweise, wie er manchmal kicherte oder laut lachte. Die Pausen, um seine Pfeife anzuzünden oder sich zu schneuzen oder eine Dose Narragansett aus dem Kühlfach zu holen. Jene Stimme, die für mich irgendwie die Stimme all der Jahre ist, die ausschlaggebende Stimme dieses Ortes - eine Stimme, die ich weder in den Interviews von Ives noch in den paar armseligen Geschichtsbüchern über diesen Ort wiederfinde... und ebensowenig auf meinen eigenen Tonbändern.

Jetzt ist es zehn Uhr abends, die Bücherei ist seit einer Stunde geschlossen, draußen heult der Wind, und der Schneeregen trommelt gegen die Fenster und auf den verglasten Korridor, der zur dunklen, stillen Kinderbücherei führt. Ich höre auch wieder jene anderen Geräusche - leises Knarren außerhalb des Lichtkreises, wo ich sitze und in ein grünes Stenoheft schreibe. Ich sage mir, daß es nur die üblichen Geräusche in einem alten Gebäude sind... aber ich bin mir nicht ganz sicher. Und ich frage mich, ob irgendwo dort draußen im Sturm heute abend ein Clown Ballons an den Mann bringt.

Nun, wie dem auch sei, ich werde jetzt endlich die letzte Geschichte meines Vaters zu Papier bringen.

Ich hörte sie in seinem Krankenhauszimmer, knapp sechs Wochen vor seinem Tod. Ich besuchte ihn jeden Nachmittag direkt nach der Schule zusammen mit meiner Mutter und jeden Abend noch einmal allein. Abends mußte meine Mutter daheim bleiben und die Hausarbeit erledigen, aber sie bestand darauf, daß ich hinging. Ich fuhr immer mit dem Rad. Ich traute mich nicht, per Anhalter zu fahren, obwohl die Morde schon vor vier Jahren aufgehört hatten.

Das waren schwere sechs Wochen für einen erst vierzehnjährigen Jungen. Ich liebte meinen Vater, aber es kam soweit, daß ich diese Abendbesuche haßte - ihn zusammenschrumpfen zu sehen, zu beobachten, wie sein Gesicht von immer tieferen Falten durchfurcht wurde. Manchmal weinte er vor Schmerzen, obwohl er sich krampfhaft bemühte, die Tränen zu unterdrücken. Und auf dem Heimweg wurde es dunkel, und ich dachte zurück an den Sommer von 1958, und ich hatte Angst, mich umzudrehen, weil hinter mir jener Clown seinrkonnte... oder der Werwolf... oder Bens Mumie. Aber welche Gestalt Es auch immer annehmen würde - Es würde das vom Krebs gezeichnete Gesicht meines Vaters haben. Deshalb trat ich immer schneller in die Pedale und kam mit hochrotem Kopf, total verschwitzt und völlig außer Atem zu Hause an, und meine Mutter fragte dann: »Warum fährst du nur so schnell, Mikey? Du wirst mir noch krank werden.« Und ich antwortete: »Ich wollte möglichst schnell heimkommen, um dir noch bei der Hausarbeit helfen zu können«, und dann umarmte und küßte sie mich und sagte, ich sei ein guter Junge.

Im Laufe der Zeit wußte ich kaum noch, worüber ich mich mit meinem Vater unterhalten sollte. Auf dem Weg in die Stadt zerbrach ich mir den Kopf über mögliche Gesprächsthemen. Ich hatte riesige Angst vor jenem Moment, wenn wir beide nicht mehr wußten, was wir sagen sollten. Sein Sterben machte mich zornig und betrübte mich sehr, aber es war mir auch unangenehm; damals wie heute war ich der Meinung, daß - wenn die Menschen schon sterben müssen - es wenigstens schnell gehen sollte. Der Krebs brachte meinen Vater nicht nur um - er erniedrigte ihn auch noch.

Wir sprachen nie darüber, und jedesmal, wenn sich zwischen uns jenes bedrückende Schweigen ausbreitete, hatte ich das Gefühl, als müßten wir nun gleich darüber sprechen, und ich bemühte mich krampfhaft, etwas zu sagen - irgend etwas -, nur damit wir nicht über jene Krankheit sprechen mußten, die meinen Vater vernichtete, der doch einst Butch Bowers bei den Haaren gepackt und ihm eine Flintenmündung unters Kinn gepreßt hatte. Gleich würden wir gezwungen sein, davon zu reden, dachte ich, und dann würde ich weinen. Ich würde meine Tränen nicht unterdrücken können. Und mit meinen vierzehn Jahren war mir der Gedanke, vor meinem Vater zu weinen, einfach unerträglich.

Wähend einer dieser endlosen, bedrückenden Gesprächspausen fragte ich ihn also wieder nach dem Feuer im >Black Spot<. Man hatte ihn an jenem Abend mit Betäubungsmitteln vollgepumpt, weil die Schmerzen besonders schlimm waren, und er war zeitweise nicht bei vollem Bewußtsein - manchmal redete er ganz klar und deutlich, manchmal murmelte er unverständlich vor sich hin. Ab und zu erkannte er mich, dann wieder schien er mich mit seinem Bruder Phil zu verwechseln. Ich hatte keinen besonderen Grund für meine Frage; sie war mir einfach plötzlich eingefallen, und ich war heilfroh, ein Gesprächsthema gefunden zu haben.

Seine Augen wurden klarer, und er lächelte ein wenig. »Du hast das nie vergessen, was, Mikey?«

»Nein«, sagte ich, obwohl ich seit mindestens drei Jahren nicht mehr daran gedacht hatte.

»Nun, ich werde es dir jetzt erzählen«, meinte er. »Mit vierzehn bist du wohl alt genug dazu, und deine Mutter ist nicht hier - sie würde vielleicht etwas dagegen haben. Aber es ist wichtig, daß du darüber Bescheid weißt. Ich glaube manchmal, daß so etwas nur in Derry möglich war, und auch das solltest du wissen, damit du dich vorsehen kannst. Denn obwohl hier nach außen hin alles in Ordnung zu sein scheint, muß man sehr vorsichtig sein. Die Voraussetzungen für solche Ereignisse waren hier offenbar immer besonders gut. Du bist doch vorsichtig, Mikey, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich.

»Gut«, flüsterte er und ließ den Kopf auf sein Kissen sinken. »Das ist gut.« Ich glaubte schon, er würde wieder eindösen - er hatte die Augen geschlossen -, aber statt dessen begann er zu erzählen.

»Als ich 1929 und 1930 auf dem hiesigen Militärstützpunkt stationiert war«, sagte er, »gab es auf dem Hügel, wo heute die Stadthalle von Derry ist, ein Militärkasino. Es befand sich direkt hinter dem PX-Laden, wo man für sieben Cent eine Packung Lucky Strike Greens bekommen konnte. Das Kasino war in einer großen alten Nissenhütte untergebracht, aber im Innern war es wirklich hübsch eingerichtet - Teppich auf dem Fußboden, gemütliche Sitznischen und so weiter - und am Wochenende konnte man dort Drinks bekommen - das heißt, wenn man weiß war. Samstagabends spielten dort meistens Musikkapellen, und es war wirklich ein toller Treffpunkt.

Wir Jungs von Kompanie E durften natürlich nicht mal in die Nähe dieses Kasinos kommen. Wenn wir abends Ausgang hatten, gingen wir deshalb in die Stadt. Zu jener Zeit war Derry immer noch so 'ne Art Holzfällerstadt, und es gab acht bis zehn Bars, manche mit Drinks und Musik an Wochenenden, manche auch nur mit Bier vom Faß und zwei bis drei Sorten minderwertigen Whiskys in Flaschen mit guten Markenetiketten wie Four Roses und Wild Turkey. Es waren Bars für Arbeiter, das will ich damit sagen, und fast jeden Abend mußte man den Kopf einziehen, weil Bierflaschen durch die Luft flogen. Es gab >Nan's< und >The Paradise< und >Wally's Spa<, >The Silver Dollar< und eine Bar namens >Opryland North<, wo man manchmal eine Nutte aufgabeln konnte. Oh, man konnte in jeder Bar eine Frau auflesen, es war nicht mal schwierig, denn sehr viele wollten herausfinden, ob eine Scheibe Schwarzbrot anders schmeckt, aber für Jungs wie mich und Trevor Dawson und Carl Roone - wir waren damals ja noch halbe Kinder -war der Gedanke, sich eine Nutte zu kaufen - eine weiße Nutte -, etwas, worüber man gründlich nachdenken mußte.«

Wie gesagt, man hatte ihn an jenem Abend mit Betäubungsmitteln vollgepumpt. Ich glaube nicht, daß er andernfalls so etwas erzählt hätte - seinem vierzehnjährigen Sohn ganz bestimmt nicht.

»Na ja, es dauerte nicht sehr lange, bis ein Großteil des Stadtrats auf dem Stützpunkt auftauchte und Major Füller sprechen wollte. Du wirst unschwer erraten können, was sie wollten, jene fünf ehrenwerten weißen Männer. Sie erklärten Major Füller, sie wollten in ihren Bars keine Armeenigger haben, die weiße Frauen belästigten oder an der Bar standen, wo nur Weiße stehen und den nur für Weiße bestimmten Whisky trinken sollten.

Natürlich war das alles völlig lächerlich. Bei der Auswahl weißer Weiblichkeit, um die sie so besorgt waren, handelte es sich größtenteils um BarNutten, und was die Männer anging, denen wir angeblich die Plätze wegnahmen ... Nun, dazu kann ich nur sagen, daß ich nie ein Mitglied des Stadtrats von Derry im >Silver Dollar< oder in >Wally's Spa< gesehen habe. Die Männer, die in jenen Spelunken verkehrten, waren Holzfäller in schweren rotschwarzkarierten Jacken, mit verkratzten, vernarbten Händen; manchen fehlte ein Auge oder Finger, alle hatten kaum noch Zähne im Mund, und alle rochen nach Holzspänen, Sägemehl und Schweiß. Sie trugen grüne Flanellhosen und hohe grüne Gummistiefel. Es waren Riesenkerle, unheimlich stark, mit sehr kräftigen, lauten Stimmen.

Was ich damit sagen will, ist folgendes: Wenn diese Männer, die an Freitag- und Samstagabenden aus den Wäldern in die Stadt kamen und in die Bars gingen, etwas gegen unsere Anwesenheit gehabt hätten, wäre es für sie ein leichtes gewesen, uns an die Luft zu setzen. Tatsache war aber, daß wir sie überhaupt nicht störten.

Einer von ihnen nahm mich eines Abends beiseite - er war sechs Fuß groß, was für jene Zeit verdammt viel war, und er war stockbesoffen, und er stank bestialisch. Seine Kleider starrten vor Dreck. Er betrachtete mich genau und sagte dann: >Mister, sind Sie ein Neger?<

>Stimmt genau<, erwiderte ich.

>Ich möchte Ihnen ein Bier spendieren<, sagte er, >weil ich außer in Büchern noch nie einen gesehen habe.<

>Nichts dagegen<, sagte ich - ich wollt's mir mit ihm nicht verderben. >Das beweist nur wieder mal, daß es für alles ein erstes Mal gibt.<

Er lachte darüber und klopfte mir auf den Rücken- so kräftig, daß ich fast zusammenbrach - und bahnte sich einen Weg zur Bartheke, wo sich etwa 70 Männer und 15 Frauen drängten. >Zwei Bier, und zwar 'n bißchen schnell, sonst mach' ich Kleinholz aus dieser Bruchbude !< brüllte er den Barkeeper an, einen großen Kerl mit gebrochener Nase namens Romeo Du Pree.

Er bekam seine Biere, gab mir meins und fragte: >Wie heißen Sie?< >William Hanlon<, sagte ich.

>Also dann, auf Ihr Wohl!< rief er.

>Nein, auf Ihres<, sagte ich. >Sie sind nämlich der erste Weiße, der mir jemals ein Bier spendiert hat.< Und das stimmte tatsächlich.

Wir tranken also unser Bier und dann jeder noch eins, und er sagte: >Sind Sie ganz sicher, daß Sie ein Neger sind? Für meine Begriffe sehen Sie aus wie ein Weißer, nur eben mit 'ner braunen Haut.<«

Mein Vater lachte, und ich ebenfalls. Er lachte so sehr, daß sein Bauch zu schmerzen begann, und er hielt ihn sich mit verzerrtem Gesicht und verdrehten Augen und biß sich auf die Unterlippe.

»Soll ich nach der Krankenschwester läuten, Daddy?« fragte ich beunruhigt.

»Nein... nein. Es geht schon wieder«, versicherte er. »Das Schlimmste an dieser Sache ist, Mikey, daß man nicht einmal mehr lachen kann, wenn einem danach zumute ist. Was verdammt selten der Fall ist.«

Er verstummte für kurze Zeit, und erst jetzt wird mir bewußt, daß es das einzige Mal war, wo wir nahe daran waren, über seine tödliche Krankheit zu sprechen. Vielleicht wäre es besser gewesen, besser für uns beide, wenn wir es tatsächlich getan hätten.

Mein Vater trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf seinem Nachttisch und erzählte dann weiter.

»Jedenfalls waren es nicht die paar Frauen, die sich in den Bars herumtrieben, und ebensowenig die Hauptkundschaft dieser Spelunken - die Holzfäller. In Wirklichkeit waren es nur jene ehrenwerten Mitglieder des Stadtrats, die etwas gegen unseren Aufenthalt in den Bars einzuwenden hatten, sie und noch etwa ein Dutzend Männer, die hinter ihnen standen, Derrys alte Führungsschicht sozusagen. Keiner von ihnen hatte jemals einen Fuß ins >Paramount< oder >Wally's Spa< gesetzt; sie zechten im Country Club, der damals drüben auf den Derry Heights stand, aber sie wollten ganz sichergehen, daß niemand mit den Schwarzen der Kompanie E in Berührung kam.

Major Füller erklärte ihnen: >Ich wollte sie von Anfang an hier nicht haben. Ich glaube immer noch, daß es sich um ein Versehen handelt, und daß sie bald in den Süden oder vielleicht nach New Jersey zurückgeschickt werden

>Das ist nicht mein Problem<, sagte daraufhin ihr Wortführer. Mueller hieß der Kerl, glaube ich...«

»Sally Muellers Vater?« fragte ich bestürzt. Sally Mueller ging in dieselbe Klasse wie Ben Hanscom und Beverly Marsh.

Mein Vater lächelte - es war ein bitteres, verzerrtes Lächeln. »Nein, es war ihr Onkel. Sally Muellers Vater war damals irgendwo im College. Aber wenn er in Derry gewesen wäre, hätte er seinen Bruder bestimmt begleitet. >Das ist nicht mein Problem<, erklärte dieser Kerl also Major Füller. >Ich bin nur hier, um Ihnen zu sagen, daß es Schwierigkeiten geben wird, wenn sie sich weiterhin in den Bars herumtreiben. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir in dieser Stadt die Legion of White Decency.<

>Und ich beglückwünsche Sie dazu, Sir<, sagte Füller. >Aber ich bin ein bißchen in der Zwickmühle. Ich kann sie nicht drüben im Militärkasino trinken lassen. Das würde gegen die Vorschriften verstoßen - und außerdem würden die anderen Soldaten es nicht dulden.<

Mueller brauste auf: >Wollen Sie damit etwa sagen, daß die Bürger unserer Stadt eher bereit sind, mit diesem Nigger-Abschaum zu verkehren als Ihre Soldaten?<

>Nein, nein, keineswegs<, sagte Füller und wünschte sich in diesem Augenblick vermutlich meilenweit weg. >Ich wollte Ihnen nur erklären, daß ich ein bißchen in der Zwickmühle bin. Ich kann diese Männer schließlich nicht für den Rest ihrer Dienstzeit auf dem Militärgelände einsperren. <

>Auch das ist nicht mein Problem«, erwiderte Mueller. >Sie werden schon eine Lösung finden, Herr Major. Ich setze vollstes Vertrauen in Sie. Ein hoher Dienstgrad ist nun einmal immer mit Verantwortung verbunden< Und mit diesen Worten zog er ab.

Na ja, Füller fand tatsächlich eine Lösung für dieses Problem. Das Militärgelände von Derry war damals verdammt groß, alles in allem mehr als 100 Acker. Im Norden grenzte es direkt an den West Broadway, wo eine Art Grüngürtel angepflanzt worden war. Und das >Black Spot< stand da, wo heute der McCarron Park ist.

Anfang 1930 war es nur ein alter Requisitionsschuppen, aber Major Füller ließ unsere Kompanie E antreten und erklärte, dies sei jetzt >unser< Klub, und die Bars in der Stadt seien für uns von nun an tabu.

Wir waren darüber sehr verbittert, aber was konnten wir schon machen? Wir hatten ja keinerlei Einfluß. Es war dann dieser junge Bursche, ein Mannschaftskoch namens Dick Hallorann, der anregte, wir sollten versuchen, etwas daraus zu machen, den Schuppen nett herzurichten.

Wir probierten es, und - kurz gesagt - wir machten unsere Sache sehr gut. Als ein paar von uns zum erstenmal reingingen, waren wir ganz schön deprimiert. Der Schuppen war dunkel und stank bestialisch; er war mit alten Werkzeugen und mit Schachteln vollgestopft, in denen vermoderte Papiere lagen. Es gab nur zwei kleine Fenster und keinen elektrischen Strom. Der Fußboden war aus Lehm. Carl Roone lachte bitter und sagte - ich erinnere mich noch genau daran: >Der alte Major ist doch ein richtiger Fürst -schenkt uns da einen Klub ganz für uns allein! Scheiße!<

Und George Brannock, der bei dem Feuer im Herbst ebenfalls ums Leben kam, meinte: >Ja, es ist wirklich ein finsteres Loch.< Und so wurde der Klub von nun an genannt - >Black Spot<, finsteres Loch.

Aber Hallorann ermutigte die anderen... Hallorann, Carl und ich. Gott möge uns verzeihen, was wir taten, aber wir konnten schließlich nicht wissen, was für Konsequenzen es haben würde.

Nach kurzer Zeit legten sich auch die übrigen ins Zeug. Wir konnten ja ohnehin nicht viel anderes tun, nachdem die Bars in der Stadt für uns jetzt tabu waren. Wir hämmerten und putzten also drauflos. Trev Dawson war ein ausgezeichneter Hobby-Zimmermann, und er zeigte uns, wie man einige zusätzliche Fenster auf einer Seite einbauen konnte, und Alden Flan-ders organisierte verschiedenfarbige Glasscheiben dafür.

>Wo hast du denn das Glas her?< fragte ich ihn. Alden war der älteste von uns - 42 oder so. Er schob sich eine Camel in den Mund und blinzelte mir zu. >Mitternächtliche Requirierungen<, sagte er, ließ sich aber nicht näher darüber aus.

Wir machten rasche Fortschritte, und Mitte des Sommers konnten wir

den Klub schon benutzen. Trev Dawson und einige andere hatten das hintere Viertel des Schuppens abgeteilt und dort eine kleine Küche eingerichtet

- viel mehr als einen Grill und ein paar große Friteusen gab es dort allerdings nicht, aber es reichte, um Hamburger und Pommes frites herstellen zu können. Auf einer Längsseite wurde die Bartheke gebaut, und weder die Stadt noch der Staat machten irgendwelche Schwierigkeiten wegen der Alkohollizenz. Sie überschlugen sich fast vor Eifer, uns eine zu erteilen.

Den Lehmboden putzten wir gründlich und ölten ihn immer gut ein. Trev und Pop Flanders verlegten eine Stromleitung - weitere mitternächtliche Requirierungen<, nehme ich an. Im Juli konnte man an Samstagabenden hingehen, sich gemütlich hinsetzen und ein paar Bierchen oder ein Glas Whisky oder Wein trinken. Es war ein schöner Klub. Er wurde nie richtig fertiggestellt - wir arbeiteten immer noch daran, als er niederbrannte, das war so eine Art Hobby für uns geworden... oder eine Möglichkeit, Füller und dem Stadtrat ein Schnippchen zu schlagen - aber wir wußten, daß es unser Klub war, als Dave Richard und ich eines Freitagabends ein Schild befestigten, auf dem the black spot stand und darunter Kompanie E und Gäste. So als seien wir was ganz Exklusives, weißt du!

Unser >Black Spot< sah so gut aus, daß die weißen Jungs zu murren begannen. Aber Füller sorgte dafür, daß das rasch aufhörte. Ans Kasino der Weißen wurde in Windeseile eine kleine Cafeteria und ein spezieller Gesellschaftsraum angebaut. Es war so, als wollten sie mit uns wetteifern. Aber wir hatten keine Lust, uns an diesem Wettlauf zu beteiligen.«

Mein Vater lächelte mir von seinem Bett aus zu.

»Wir waren zwar jung, mit Ausnahme von Flanders, aber wir waren keine kompletten Narren. Wir wußten genau, daß die weißen Jungs es zulassen, daß wir gegen sie antreten, aber sobald es dann so aussieht, als könnten wir gewinnen, bricht uns jemand einfach die Beine, damit wir nicht so schnell rennen können. Wir hatten, was wir wollten, und das genügte uns. Aber dann... dann passierte etwas.« Er runzelte die Stirn und verstummte.

»Was denn, Daddy?«

»Wir entdeckten, daß wir eine ganz ordentliche Jazzband in unseren Reihen hatten«, sagte er langsam. »Martin Devereaux, ein Korporal, spielte die Trommel. Ace Stevenson spielte Hörn. Flanders konnte ganz ordentlich auf dem Klimperkasten spielen. Er war nicht erstklassig, aber auch alles andere als schlecht. Ein anderer Bursche spielte Klarinette, und George Brannock spielte Saxophon. Manchmal beteiligten sich auch noch andere von uns, spielten Gitarre oder Mundharmonika oder auch einfach auf einem Kamm, über den wir ein Stück Wachspapier legten.

Natürlich ging das nicht so von einem Tag auf den anderen, aber Ende August spielte im >Black Spot< an Freitag- und Samstagabenden eine ganz schön heiße Dixieland-Combo. Im Laufe der Zeit wurden sie immer besser, und obwohl sie nie wirklich erstklassig waren - ich möchte nicht, daß du das glaubst -, spielten sie doch irgendwie anders... heißer... irgendwie. ..« Er schwenkte seine magere Hand über der Decke.

»Sie spielten hingebungsvoll«, schlug ich grinsend vor.

»Genau!« rief er und grinste zurück. »Das ist der richtige Ausdruck. Sie spielten hingebungsvoll die Dixieland-Musik der Schwarzen. Und es kam so weit, daß Leute aus der Stadt in unserem Klub aufkreuzten. Und sogar einige der weißen Soldaten unseres Stützpunkts. Jedes Wochenende war das >Black Spot< regelrecht überfüllt. Natürlich passierte auch das nicht von einem Tag auf den anderen. Zuerst nahmen sich die weißen Gesichter wie Salzkörner in einer Pfefferbüchse aus, aber im Laufe der Zeit wurden es immer mehr.

Inzwischen ist mir klar, daß wir sie irgendwie hätten fernhalten müssen, aber - wie gesagt - wir waren jung und stolz auf das, was wir geleistet hatten. Und wir unterschätzten die möglichen Folgen ganz erheblich. Wir wußten natürlich, daß die Entwicklung im >Black Spot< Leuten wie diesem Mueller nicht behagen konnte, aber keiner von uns begriff, daß sie ihn wahnsinnig machte - und ich meine das im buchstäblichen Sinne: Sie machte ihn wahnsinnig. Und er war nicht der einzige. Das >Black Spot< stand direkt am Rand des Grüngürtels, und da saßen sie nun keine 70 Yards davon entfernt in ihren großen viktorianischen Häusern am West Broadway und mußten sich Musikstücke wie >Aunt Hagar's Blues< und >Diggin My Pota-toes< anhören. Das war schon schlimm genug, aber zu wissen, daß ihre jungen Leute sich dort aufhielten und Seite an Seite mit den Schwarzen die Musiker anfeuerten - das muß noch viel schlimmer gewesen sein.

Denn es waren nicht nur die Holzfäller und die Bar-Nutten, die bei uns aufkreuzten, als es Oktober wurde. Unser Klub wurde so eine Art Stadtattraktion. Junge Leute kamen, tranken und tanzten zur Musik unserer namenlosen Dixieland-Jazzband, bis zur Sperrstunde um ein Uhr nachts. Sie kamen nicht nur aus ganz Derry, sondern auch aus Bangor, Newport, Old-town und all den kleinen Ortschaften in dieser Gegend. Verbindungsstudenten von der University of Maine in Orono machten mit ihren Freundinnen wilde Luftsprünge, und als die Band eine Ragtime-Version von >The Maine Stein Song< einstudierte, kannte ihre Begeisterung keine Grenzen.

Natürlich war es offiziell ein Militärklub, und Zivilisten ohne Einladung war der Zutritt eigentlich verboten. Aber praktisch öffneten wir um sieben einfach die Tür und ließen sie bis eins offenstehen. Wir verwehrten keinem den Eintritt, und Mitte Oktober war es so voll, daß man sich auf dem Tanzboden kaum noch bewegen konnte. Richtig tanzen war unmöglich... man konnte nur noch dastehen und sich auf der Stelle wiegen und winden. Aber ich hab' nie gehört, daß jemand sich darüber aufgeregt hätte. Gegen Mitternacht war es so, als würde ein ganzer Untergrundbahnwaggon zur Zeit des Spitzenverkehrs hin und her wogen und schwanken. Das ist das einzige Bild, das mir einfällt, damit du's dir vorstellen kannst.«

Er trank wieder einen Schluck Wasser, dann erzählte er weiter. Seine Augen waren jetzt ganz klar.

»Na ja, früher oder später hätte Füller diesem Zustand natürlich ein Ende gesetzt. Wenn es früher gewesen wäre, wären sehr viel weniger Leute ums Leben gekommen. Ich nehme an, irgendwann hätte er die Militärpolizei zu uns geschickt, die dann all die Flaschen Alkohol konfisziert hätte, die von den Leuten mitgebracht wurden. Das hätte eine gute, saubere Schließung des Klubs zur Folge gehabt. Das Kriegsgericht hätte einiges zu tun gehabt, und ein paar von uns wären im Gefängnis in Rye gelandet, und alle anderen hätte man versetzt. Aber Füller war langsam. Vielleicht hoffte er, daß es nur eine... nun ja, eine... du weißt schon...«

»Eine vorübergehende Modewelle wäre?«

»Ja, und daß sie nach einer gewissen Zeit von selbst abklingen würde, besonders wenn erst einmal die Schneefälle einsetzten. Statt dessen kamen sie Anfang November in ihren weißen Kapuzentrachten - die >Maine Legion of White Decency< - und veranstalteten ein ganz besonderes Barbecue.«

Er verstummte wieder, aber diesmal nicht, um Wasser zu trinken. Er starrte auf die weiße Wand seines Zimmers, und vom Korridor her ertönte ein leises Klingeln. Eine Krankenschwester eilte vorbei - ich hörte das Quietschen ihrer Schuhsohlen auf dem Linoleum. Ich hörte auch von irgendwo her einen Fernseher; und woanders spielte ein Radio. Die Augen meines Vaters waren sehr ruhig, und ich erinnere mich, daß draußen der Wind pfiff. Obwohl es August war, hörte er sich irgendwie kalt an.

»Einige von ihnen kamen durch jenen Grüngürtel, von dem ich vorhin sprach«, fuhr mein Vater schließlich fort. »Sie müssen sich in irgendeinem Haus am West Broadway getroffen haben, vielleicht im Keller, um ihre Kapuzentrachten anzuziehen und die Fackeln herzurichten.

Man hat auch erzählt, daß andere über die Ridgeline Road, wo der Haupteingang zum Militärstützpunkt war, direkt aufs Gelände fuhren. Ich habe gehört - ich sage nicht, wo -, daß sie in einem brandneuen Packard kamen, in ihren weißen Gewändern, die Kapuzen auf dem Schoß, die Fackeln auf dem Boden. Die Fackeln waren aus Baseballschlägern hergestellt; sie waren an den breiten Teilen mit großen Leinwandstücken umwickelt, die mit roten Gummiringen, wie Frauen sie zum Einmachen verwenden, befestigt waren. Es gab eine Kontrollbude an der Stelle, wo die Ridgeline Road von der Witcham Road abzweigte, und der Wachposten ließ den Packard einfach passieren.

Nun, Mikey, es war Samstagabend, und im überfüllten Klub wurde eifrig getanzt. Vielleicht waren 300 Leute da, vielleicht auch 400. Und da kamen nun diese Weißen, sechs oder acht Männer in einem flaschengrünen Pak-kard, und sehr viel mehr kamen wie große weiße Gespenster durch diesen Baumgürtel zwischen dem Militärgelände und den Luxushäusern am West Broadway. Die meisten waren alles andere als jung, und manchmal überlege ich, wieviel Fälle von Angina und blutenden Geschwüren es wohl am nächsten Tag gegeben haben mag. Ich hoffe, eine ganze Menge. Diese verdammten, dreckigen mörderischen Schweine!

Der Packard hielt auf dem Hügel und blinkte zweimal mit den Scheinwerfern. Etwa vier Männer stiegen aus und gesellten sich zu den anderen. Einige hatten Zwei-Gallonen-Kanister Benzin bei sich. Alle hatten Fackeln. Der Anführer blieb am Steuer des Packards sitzen. Mueller hatte so einen Wagen, mußt du wissen. Ja, er hatte einen flaschengrünen Packard.

Sie versammelten sich hinter dem >Black Spot< und tränkten ihre Fackeln mit Benzin. Vielleicht wollten sie uns nur Angst einjagen. Ich habe teilweise etwas anderes gehört, aber manchmal auch diese Version. Ich möchte lieber glauben, daß sie uns nur einen Schrecken einjagen wollten - vermutlich bin ich immer noch zu anständig, um das Schlimmste glauben zu wollen.

Vielleicht ist das Benzin auf die Griffe einiger Fackeln herabgetropft, und diese Männer sind in Panik geraten, als sie sie anzündeten, und haben sie einfach wild drauflosgeschleudert, nur um sie loszuwerden. Jedenfalls loderten in jener dunklen Novembernacht plötzlich überall Fackeln. Manche hielten sie hoch und schwenkten sie durch die Luft. Kleine glühende Leinwandfetzen flogen umher. Einige der Männer lachten. Aber, wie gesagt, ein paar andere schleuderten die Fackeln durch die hinteren Fenster in unsere Küche. In wenigen Minuten brannte sie lichterloh.

Die Männer draußen trugen alle ihre spitzen weißen Kapuzen. Einige riefen im Chor: >Kommt raus, Nigger! Kommt raus, Nigger! Kommt raus, Nigger! < Manche taten es vielleicht, um uns Angst einzujagen, aber ich möchte lieber glauben, daß die meisten versuchten, uns zu warnen - ebenso wie ich glauben möchte, daß jene Fackeln nur versehentlich in der Küche unseres Klubs landeten.

Aber wie dem auch sei, es spielte ohnehin keine Rolle. Die Band spielte laut, und die Leute klatschten und feuerten sie an und amüsierten sich prächtig. Wir merkten erst, was los war, als Gerry McCrew, der an jenem Abend dem Barkeeper half, die Tür zur Küche öffnete und um ein Haar ver-schmort wäre. Zehn Fuß hohe Flammen schössen heraus und versengten sein blaues Jackett. Und auch im Gesicht erlitt er schwere Brandwunden.

Ich saß mit Trev Dawson und Dick Hallorann etwa in der Mitte der Ostwand, als das passierte, und im ersten Moment glaubte ich, der Gasofen wäre explodiert. Ich sprang auf, und dann wurde ich von Leuten, die zur Tür stürzten, über den Haufen gerannt. Sie trampelten einfach über meinen Rücken hinweg, und ich glaube, das war der Moment, in dem ich während der ganzen Katastrophe am meisten Angst hatte. Ich hörte Menschen schreien, es brenne, man müsse schleunigst hier raus. Aber jedesmal, wenn ich versuchte, auf die Beine zu kommen, trampelte jemand über mich hinweg. Ein großer Fuß landete direkt auf meinem Hinterkopf, und ich sah Sterne vor den Augen. Meine Nase wurde auf dem eingeölten Lehmboden plattgedrückt, ich atmete Staub ein und begann gleichzeitig zu husten und zu niesen.

Jemand trat mir in Taillenhöhe auf den Rücken. Der hohe Absatz eines Frauenschuhs bohrte sich zwischen meine Arschbacken, und ich kann dir versichern, mein Junge - ein solches Klistier möchte ich nie wieder bekommen. Wenn meine Hose geplatzt wäre, würde ich vermutlich bis heute bluten.

Es hört sich vermutlich komisch an, aber ich wurde wirklich fast zu Tode getrampelt. Ich bekam am ganzen Leibe soviel Stöße und Tritte ab, daß ich am nächsten Tag kaum laufen konnte. Ich schrie, aber niemand hörte mich oder achtete auf mich.

Es war Trev, der mir das Leben rettete. Plötzlich tauchte seine große braune Hand direkt vor mir auf, und ich griff danach wie ein Ertrinkender nach dem Schwimmgürtel. Ich klammerte mich an seiner Hand fest, und er zog mit aller Kraft, und ich kam ein Stück hoch. Ein Fuß landete mit voller Wucht auf meinem Hals, genau hier...« Er strich sich über die Stelle, wo der Kiefer zum Ohr aufsteigt, und ich nickte.

»... und das tat so weh, daß mir einen Moment lang das Bewußtsein schwand. Aber ich ließ Trevs Hand nicht los, und er hielt mich ebenfalls fest. Schließlich kam ich dann doch noch auf die Beine, gerade als die Wand, die wir zwischen der Küche und dem Saal errichtet hatten, zusammenbrach. Es gab ein Geräusch, als ob man ein brennendes Streichholz in eine Benzinlache geworfen hätte. Sie brach in einem Funkenregen zusammen, und die Leute stoben in panischer Angst auseinander. Einige schafften es, andere hingegen nicht. Einer unserer Kameraden wurde unter ihr begraben, und eine Sekunde lang kam seine Hand unter dem lodernden Holz zum Vorschein und öffnete und schloß sich krampfhaft. Ich erinnere mich auch noch genau an ein weißes Mädchen, das bestimmt nicht älter als zwanzig war, und dessen Kleid im Rücken Feuer fing.

Es war mit einem Verbindungsstudenten da, aber nach einem flüchtigen Versuch, die Flammen zu ersticken, rannte er mit den anderen davon. Und das Mädchen stand da und schrie, und dann fing auch sein Haar Feuer.

Unsere Küche war jetzt die reinste Hölle. Die Flammen waren so grell, daß man nicht hinschauen konnte. Die Hitze war mörderisch, Mikey, wie im Backofen. Man spürte direkt, wie die Haare in der Nase sich kräuselten.

>Komm!< schrie Trev und zog mich vorwärts, an der Wand entlang.

Dann packte Dick Hallorann ihn am Arm. Er kann nicht älter als neunzehn gewesen sein, und seine Augen waren so groß wie Teller, aber er behielt den Kopf besser als wir. Er rettete uns das Leben. >Nicht dorthin!< schrie er. >Hier entlang!< Und er deutete zurück auf das Podium der Musikkapelle ... in Richtung des Feuers, weißt du.

>Du bist verrückt!< brüllte Trevor. Er hatte eine sehr kräftige Stimme, aber wir konnten ihn kaum hören, so laut war das Tosen des Feuers und das Geschrei der Leute. >Verbrenn, wenn du willst, aber ich und Will möchten rauskommen! <

Er hielt mich immer noch bei der Hand und begann wieder, mich in Richtung Tür zu ziehen, obwohl sie inzwischen von soviel Menschen umlagert war, daß man sie gar nicht mehr sehen konnte. Ich hätte mich von ihm mitschleppen lassen. Ich konnte vor Entsetzen keinen klaren Gedanken fassen. Ich wußte nur eines - daß ich nicht bei lebendigem Leibe wie ein Truthahn gebraten werden wollte.

Dick packte Trev bei den Haaren, so fest er konnte, und als Trev sich umdrehte, schlug Dick ihm ins Gesicht. Ich erinnere mich daran, daß Trevs Kopf gegen die Wand prallte und daß ich dachte, Dick hätte den Verstand verloren.

Dann schrie er Trev ins Gesicht: >Wenn du zur Tür gehst, stirbst du! Sie haben sie eingekeilt! <

>Das kannst du nicht wissen! < brüllte Trev, und dann war da plötzlich dieses laute peng! wie von einem Feuerwerkskörper - nur war es kein Feuerwerkskörper, sondern Marty Devereaux' große Baßtrommel, die vor Hitze explodiert war. Inzwischen hatten auch die Balken über unseren Köpfen schon Feuer gefangen.

>Ich weiß es genau!< schrie Dick. >Ich weiß es!<

Er packte mich bei der anderen Hand, und einen Moment lang kam ich mir vor wie das Seil beim Tauziehen. Dann, nach einem Blick zur Tür hinüber, gab Trev nach. Dick führte uns zu einem Fenster und wollte die

Scheibe mit einem Stuhl einschlagen, aber die Hitze nahm ihm diese Arbeit ab - das Glas flog heraus. Dick packte Trev hinten an der Hose und stemmte ihn etwas hoch. >Raus mit dir!< brüllte er. >Los, du Ärschloch!< Und Trev kletterte Hals über Kopf übers Fensterbrett.

Dann leistete Dick mir Hilfestellung, und ich klammerte mich an den seitlichen Rahmen des Fensters fest und zog mich hoch. Am nächsten Tag waren meine Hände voller Brandblasen - das Holz glimmte schon. Ich kam kopfüber raus, und wenn Trev mich nicht aufgefangen hätte, hätte ich mir leicht den Hals brechen können.

Dieses Feuer war wie der schlimmste Alptraum, den man sich überhaupt vorstellen kann, Mikey. Das Fenster war nur noch ein gelbes loderndes Lichtrechteck. An Dutzenden von Stellen schössen Flammen durch das Blechdach. Wir hörten drinnen die Menschen schreien. Ich sah zwei braune Hände dicht vor dem Feuer herumfuchteln - Dicks Hände. Trev sah mich an und nickte. Er bildete mit den Händen eine Stufe, und ich streckte meine Arme durchs Fenster und packte Dicks Hände. Sein Gewicht drückte meinen Bauch gegen die Wand, und es war ein Gefühl, wie wenn man sich an einen Ofen lehnt, der gerade so richtig schön heiß geworden ist. Dicks Gesicht tauchte auf, und einige Sekunden lang glaubte ich nicht, daß wir es schaffen würden, ihn rauszuholen. Er hatte ziemlich viel Rauch geschluckt und war nahe daran, ohnmächtig zu werden. Seine Lippen waren aufgesprungen. Das Rückenteil seines Hemdes schwelte schon.

Und dann hätte ich ihn um ein Haar losgelassen, denn ich roch etwas... es war wie... nun, manche Leute sagen, dieser Geruch gleiche dem von Schweinerippchen, die zu lange gegrillt werden, aber das stimmt nicht. Es hat eher Ähnlichkeit mit etwas, das nach Kastrationen von Pferden gemacht wird. Das ganze Zeug wird in ein großes Feuer geworfen, und wenn es heiß genug ist, hört man, wie die Pferdehoden platzen wie Kastanien, und genauso riecht es, wenn Menschen anfangen, in ihren Kleidern zu schmoren. Dieser Gestank stieg mir also in die Nase, und dann zog ich noch einmal mit aller Kraft, und Dick kam raus. Er verlor dabei einen Schuh.

Ich rutschte auf Trevs Hand aus und fiel hin. Dick flog direkt auf mich drauf, und dieser Nigger hatte einen verdammt harten Schädel. Ich bekam kaum noch Luft und rollte kurze Zeit auf dem Dreck hin und her und hielt mir den Bauch.

Schließlich rappelte ich mich aber wieder hoch, zuerst auf die Knie, dann kam ich auf die Beine. Und da sah ich jene umrißhaften Gestalten auf den Grüngürtel zurennen. Zuerst dachte ich, ich sähe Gespenster, aber dann sah ich Schuhe. Inzwischen war es um das >Black Spot< herum so hell wie am Tage. Ich sah Schuhe und begriff, daß es Männer in weißen Kutten waren. Einer von ihnen war ein Stück zurückgeblieben, und ich sah...«

Er verstummte plötzlich und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Was hast du gesehen, Daddy?« fragte ich.

»Ach, das ist unwichtig«, murmelte er. »Gib mir bitte mein Wasser, Mikey.«

Ich reichte ihm das Glas. Er trank es fast aus und begann zu husten. Eine Krankenschwester schaute im Vorbeigehen hinein und fragte: »Brauchen Sie etwas, Mr. Hanion?«

»Neue Därme«, sagte mein Vater. »Haben Sie welche zur Hand, Rhoda?«

Sie lächelte nervös und unsicher und ging weiter. Mein Vater gab mir das Glas, und ich stellte es auf seinen Tisch zurück. »Erzählen dauert länger als sich erinnern«, sagte er. »Füllst du mir das Glas wieder, bevor du gehst?«

»Na klar, Daddy.«

»Wirst du von dieser Geschichte Alpträume bekommen, Mikey?«

Ich wollte zuerst eine Lüge vorbringen, aber dann änderte ich meine Meinung. Und heute glaube ich - wenn ich gelogen hätte, hätte er nicht weitererzählt. Er war inzwischen sehr erschöpft, aber meine Lüge hätte er bestimmt gemerkt.

»Vielleicht schon«, sagte ich deshalb.

»Vielleicht ist das gar nicht mal so schlecht«, meinte er. »In Alpträumen können wir das Schlimmste denken. Ich nehme an, daß sie dazu dienen.«

Er streckte seine Hand aus, ich legte meine hinein, und wir hielten uns bei den Händen, während er zu Ende erzählte.

»Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, daß Trev und Dick zur Vorderseite des Klubs gingen, und ich lief hinter ihnen her, immer noch nach Luft schnappend. Dort vorne standen etwa 40 oder 50 Leute; manche weinten, andere schrien. Wieder andere lagen im Gras - sie waren durch den Rauch in Ohnmacht gefallen. Die Tür war verschlossen, und wir hörten auf der anderen Seite Menschen schreien; sie schrien, man solle sie um Himmels willen rauslassen, sie würden bei lebendigem Leibe verbrennen.

Es war die einzige Tür, abgesehen von der, die von der Küche zu den Mülltonnen führte. Beim Hineingehen stieß man die Tür auf. Beim Hinausgehen mußte man an ihr ziehen.

Einige Leute waren rausgekommen, und dann waren alle zur Tür gestürzt, und sie war in dem Gedränge zugedrückt worden. Die Leute weiter hinten schoben und drückten, um dem Feuer zu entkommen, und dadurch wurden alle total eingeklemmt. Die vordersten wurden einfach zerquetscht. Sie hatten keine Möglichkeit, die Tür aufzuziehen - das Gewicht der von hinten schiebenden Masse war zu groß. So saßen sie also alle in der Falle, und das Feuer wütete.

Es war Trev Dawson, der dafür sorgte, daß nur 60 oder so ums Leben kamen anstatt 100 oder vielleicht auch 200. Aber das brachte ihm nicht etwa 'nen Orden ein, sondern zwei Jahre in Leavenworth. Gerade war ein Jeep vorgefahren, und am Steuer saß kein anderer als mein alter Freund, Feldwebel Wilson, der Kerl, dem alle Gruben auf dem Gelände gehörten.

Er stieg aus und begann, Befehle zu brüllen, die ziemlich sinnlos waren, und die ohnehin niemand hören konnte. Trev packte mich am Arm, und wir rannten zu ihm hin. Dick Hallorann hatte ich inzwischen völlig aus den Augen verloren - ich hab ihn erst am nächsten Tag wieder gesehen.

>Herr Feldwebel, ich brauche Ihren Jeep!< schrie Trev.

>Geh mir aus dem Weg, Nigger !< rief Wilson und stieß ihn zu Boden. Dann fing er wieder an, seinen sinnlosen Scheiß zu brüllen. Niemand achtete auf ihn. Und plötzlich kam Trev wieder hoch, wie ein Stehaufmännchen, und knallte Wilson seine Faust ins Gesicht.

Dieses Arschloch war hart im Nehmen, alles was recht ist. Er stand auf, aus Nase und Mund blutend, und schrie: >Dafür bring ich dich um!< Trev boxte ihn mit voller Wucht in den Magen, und als er zusammenklappte, hieb ich ihm in den Nacken, so fest ich nur konnte. Natürlich war es feige, einen Mann so von hinten zu schlagen, aber in verzweifelten Situationen sind verzweifelte Maßnahmen notwendig. Und, um die Wahrheit zu sagen, Mikey - ich genoß es richtig, diesem großkotzigen Dreckskerl eins zu verpassen.

Er brach zusammen wie ein Ochse unter einem Axthieb. Trev rannte zum Jeep, ließ den Motor an und wendete in Richtung Klubeingang, aber etwas links von der Tür. Dann legte er den ersten Gang ein und fuhr los.

> Vorsicht!< brüllte ich den Herumstehenden zu. >Macht, daß ihr dem Jeep aus dem Weg kommt! <

Sie stoben auseinander wie aufgescheuchte Hühner, und es war eigentlich direkt ein Wunder, daß Trev niemanden überfuhr. Er rammte die Wand des Klubs mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 Meilen pro Stunde, und sein Gesicht prallte gegen den Rahmen der Windschutzscheibe. Ich sah, wie er kurz den Kopf schüttelte, und wie ihm das Blut aus der Nase schoß. Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr 50 Yards zurück und dann wieder auf die Wand zu. wumm! Das >Black Spot< bestand nur aus Wellblech, und der zweite Aufprall brachte die Wand zum Einsturz, und die Flammen schössen heraus. Ich weiß nicht, wie jemand da drin noch am Leben sein konnte, aber Menschen sind wohl viel zäher als man denkt, Mikey. Es war der reinste Schmelzofen, eine Hölle aus Flammen und Rauch, und trotzdem rannte ein ganzer Menschenschwarm heraus. Es waren so viele, daß Trev den Jeep nicht zurücksetzen konnte, aus Angst, einige von ihnen zu überfahren. Er sprang einfach heraus, ließ den Jeep stehen und rannte zu mir.

Zusammen verfolgten wir das Ende des Dramas. Es dauerte keine fünf Minuten, aber uns kam es vor wie eine Ewigkeit. Die letzten, die es schafften rauszukommen - ein Dutzend oder so - standen schon in Flammen. Leute packten zu und rollten sie auf dem Gras herum, um die Flammen zu ersticken. Wir konnten sehen, daß noch weitere Leute im Innern versuchten, dem Inferno zu entkommen, aber uns war klar, daß sie es nicht mehr schaffen würden.

Trev griff nach meiner Hand, und ich drückte sie ganz fest. So standen wir da und hielten uns bei den Händen, so wie jetzt du und ich, Mikey. Trevs Nase war gebrochen, und Blut lief ihm übers Gesicht, und seine Augen schwollen zu, und wir standen da und starrten in die Flammenhölle. Diese Leute da drinnen - das waren die richtigen Gespenster, die wir in jener Nacht sahen; es waren schimmernde Schatten im Feuer, die auf die Öffnung zutaumelten, die Trev mit Wilsons Jeep geschaffen hatte. Einige streckten die Arme aus, als erwarteten sie, daß jemand sie retten würde. Die anderen wankten einfach vorwärts, aber sie schienen nicht von der Stelle zu kommen. Ihre Kleider brannten lichterloh. Ihre Gesichter zerschmolzen. Und einer nach dem anderen fiel einfach um, und man sah sie nicht mehr.

Die letzte war eine Frau. Ihr Kleid war verbrannt. Sie hatte nur noch ihren Slip an, und sie brannte wie eine Kerze. Zuletzt schien sie mich anzuschauen.. . und ich sah, daß ihre Lider brannten.

Als auch sie umfiel, war es vorbei. Alles war nur noch ein einziges Flammenmeer. Als die Militärfeuerwehr und zwei weitere Löschwagen von der Feuerwehrstation auf der Main Street anrückten, war es schon fast ausgebrannt. Ja, Mikey, das war also das Feuer im >Black Spot<. Und vermutlich kann so was in jeder Kleinstadt passieren... nur passieren in Derry derartige Dinge immer und immer wieder...«

Er trank den letzten Schluck Wasser und gab mir das Glas, damit ich es im Korridor füllen sollte. »Heute nacht mach ich bestimmt ins Bett, Mikey.«

Ich küßte ihn auf die Wange und ging auf den Korridor hinaus. Als ich imit dem vollen Wasserglas zurückkam, waren seine Augen glasig, und er i schien nicht mehr ganz da zu sein. Als ich das Glas auf den Nachttisch J stellte, murmelte er ein kaum verständliches Dankeschön. Ich warf einen [jBlick auf die Uhr auf seinem Tischchen und sah, daß es schon fast acht war. Zeit für mich heimzufahren.

Ich beugte mich über ihn, um ihm einen Abschiedskuß zu geben... und hörte mich statt dessen flüstern: »Was hast du gesehen?«

Seine Augen, die allmählich zufielen, bewegten sich kaum merklich in Richtung meiner Stimme. Vielleicht wußte er, daß ich es war, vielleicht glaubte er auch, die Stimme seiner eigenen Gedanken zu hören. »Hmmm?«

»Das, was du gesehen hast«, flüsterte ich. Ich wollte es nicht hören, aber ich mußte es wissen. Mir war heiß und kalt, meine Augen brannten, meine Hände waren eisig. Aber ich mußte es hören. So wie Lots Frau vermutlich einfach zurückblicken und die Zerstörung von Sodom sehen mußte.

»Es war ein Vogel«, murmelte er. »Vielleicht ein Falke. Ein Turmfalke. Aber er war groß. Ich hab's nie jemandem erzählt. Man hätte mich in die Klapsmühle gesteckt. Der Vogel war von Flügelspitze zu Flügelspitze etwa 60 Fuß groß. Er hatte die Größe eines japanischen Zeros. Aber ich hab'... ich hab' seine Augen gesehen... und ich glaube... er hat mich auch gesehen. ..«

Sein Kopf fiel zur Seite, in Richtung Fenster, wo die Dämmerung hereinbrach.

»Er schoß herab und packte jenen zurückgebliebenen Mann bei seiner Kutte... und ich hörte den Flügelschlag des Vogels... es hörte sich an wie Feuer... und er schien in der Luft zu stehen... und ich dachte, Vögel können doch nicht in der Luft stehen... aber dieser Vogel konnte es, weil... veil...«

Er verstummte.

»Warum, Daddy?« flüsterte ich. »Warum konnte er in der Luft stehen?«

»Er stand nicht in der Luft«, sagte er.

Ich saß schweigend da und dachte, er wäre eingeschlafen. Ich hatte nie | zuvor im Leben solche Angst gehabt... denn vier Jahre zuvor hatte ich je-I nen Vogel gesehen. Irgendwie, auf eine unvorstellbare Weise, hatte ich die-jsen Alptraum fast vergessen. Mein Vater hatte ihn mir wieder in Erinne-| rung gebracht.

»Er stand nicht in der Luft«, murmelte er. »Er schwebte. Er schwebte. An jedem Flügel waren riesige Trauben von Luftballons befestigt, und er schwebte.« Mein Vater schlief ein.

i. März 1985

Es ist zurückgekommen. Ich weiß es jetzt. Ich werde noch warten, aber tief im Herzen weiß ich es. Ich bin nicht sicher, ob ich es ertragen kann. Als Kind war ich imstande, es zu verkraften, aber bei Kindern ist das etwas anderes. Etwas grundlegend anderes.

Ich habe das alles letzte Nacht in einem Anflug von Raserei niedergeschrieben - ich hätte aber ohnehin nicht nach Hause gehen können. Derry wurde mit einer dicken Eisschicht überzogen, und obwohl die Sonne schien, bewegte sich nichts.

Ich schrieb bis drei Uhr nachts; meine Feder glitt immer schneller übers Papier. Ich wollte mir endlich alles von der Seele schreiben. Ich hatte den Vogel vergessen gehabt. Erst die Geschichte meines Vaters brachte ihn zurück ... und seitdem vergaß ich ihn nie wieder. Ihn nicht, und all das andere auch nicht. In gewisser Weise war es das letzte Geschenk, das mein Vater mir machte. Ein schreckliches Geschenk, möchte man meinen, aber auf eine ganz besondere Art auch wunderbar.

Ich schlief ein, wo ich war, den Kopf in den Armen, mein Notizbuch und den Füllfederhalter vor mir auf dem Tisch. Heute morgen wachte ich mit taubem Hintern und schmerzendem Rücken auf, fühlte mich aber herrlich frei... befreit von jener alten Geschichte.

Und dann sah ich, daß ich in der Nacht, während ich schlief, Besuch gehabt hatte.

Die Spuren, schwache eingetrocknete Dreckabdrücke, führten von der Eingangstür der Bücherei (die ich abgeschlossen hatte; ich schließe sie immer ab) zum Schreibtisch, wo ich schlief.

Zurück führten keine Spuren.

Was immer es auch gewesen sein mag... es kam in der Nacht, hinterließ seinen Talisman... und verschwand dann einfach.

An meine Leselampe war ein einzelner Luftballon gebunden. Mit Helium gefüllt, schwebte er, beleuchtet von einem Sonnenstrahl, der durch eines der hohen Fenster einfiel.

Auf dem Ballon war mein Gesicht, augenlos - Blut rann aus den Augenhöhlen; und ein Schrei verzerrte den Mund auf der dünnen, gewölbten Gummihaut des Ballons.

Ich starrte ihn an, und ich schrie auf. Der Schrei hallte durch die Bücherei, kam als Echo wieder zurück, versetzte die eiserne Wendeltreppe, die zum Magazin führt, in Vibration.

Der Ballon zerplatzte mit einem lauten Knall.

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