Äußerst zufrieden polierte Nikodemus die Klinge seines neuen Schwertes. Er würde die Waffe nicht wirklich im Kampf benutzen können. Es war ein Elfenschwert und folglich viel zu groß und schwer für einen Kobold. Aber eine Weile würde er es behalten. Allein, weil es so prächtig war. Er könnte es sich wie einen Zweihänder auf den Rücken schnallen. Und wenn er sich entschied, es zu verkaufen, dann wäre er ein gemachter Mann. Obwohl ... Nein, es wäre unrecht, das Geld für sich zu behalten. Nicht, solange der Freiheitskampf seines Volkes nicht entschieden war. Die Drucke beim Schwarzen kosteten ein Vermögen!
Doch heute war ein guter Tag für alle Unterdrückten! Auf dem Schlachtfeld lag ein Vermögen. Aber die Trolle interessierten sich wie die Krähen nur für das Fleisch. Überall auf der Ebene und den Hügeln brannten kleine Feuer. Der breite Buschstreifen am Bach, dort wo sich der Rudelführer Brodgrim mit seinen Männern versteckt hatte, war fast völlig gerodet. Die zerstörten Streitwagen, Kleiderreste, sogar Knochen, alles wurde genutzt, um die Feuer zu schüren. Über der ganzen Ebene hing der Duft nach gebratenem Fleisch.
Nikodemus schnürte es die Kehle zu, wenn er daran dachte, was für Fleisch da gebraten wurde. Und morgen schon würden sie wandern müssen, um so viel wie möglich von dem Fleisch zu den geheimen Vorratslagern zu bringen. Bei dem Gedanken daran schauderte es den jungen Kommandanten der Lutin. Bisher hatten sie nur Büffelfleisch, Schweinehälften, Mammutschinken und dergleichen in die Vorratskammern gebracht. Diesmal würde es anderes Fleisch sein ... Aber Geschäft war Geschäft! Elija hatte sich mit den Trollen eingelassen, und bei allem, was man über diese stinkenden Kannibalen auch Übles sagen mochte, sie hielten sich an ihr Wort.
Nikodemus betrachtete sich in der spiegelnden Schwert-
klinge. Er sah gut aus. Die feine lange Schnauze mit dem dichten roten Haar, die schmalen Lippen, auf denen keine einzige Warze wucherte, die spitzen, makellos weißen Zähne. Er freute sich darauf, bald wieder durch die Lande zu ziehen, um für die Sache der Rotmützen zu werben.
Verstohlen blickte er zu Ganda hinüber. Kommandantin Schlüsselchen kümmerte sich um einige der verwundeten Kobolde, die sie auf dem Schlachtfeld gefunden hatten. Es waren sehr wenige. Aber sie waren äußerst dankbar! Den Kerlen war klar, was ihnen widerfahren wäre, wenn die Trolle sie gefunden hätten. Hatte Elija sich erst mal ein paar Abende mit ihnen unterhalten, würden sie sicherlich treue Rotmützen werden.
Der Gedanke an seinen großen Bruder machte Nikodemus ein wenig eifersüchtig. Elija fiel immer alles zu. Er konnte reden, bis man nicht mehr wusste, wo einem der Kopf stand. Nie hatte Nikodemus erlebt, dass es seinem Bruder nicht gelungen wäre, einen Kobold von der Sache der Rotmützen zu überzeugen. Es war Elija gewesen, der den Kommandanten Skorpion angeworben hatte und die Eiserne Kommandantin. Sie hatte ein schreckliches Ende genommen, die Eiserne. Und obwohl es hieß, sie und der Skorpion seien ein Paar gewesen, hatte sich der Kommandant ruhig verhalten.
Er hätte das nicht getan, dachte Nikodemus. Wieder blickte er zu Ganda. Unglaublich, wie gut sie noch aussah! Dabei musste sie doch etwa genauso alt sein wie sein Bruder Elija. Er sah sie gern an. Das hatte er schon damals getan, als er noch ein Rotzlöffel gewesen war. Sie hatte sich nichts dabei gedacht. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal geahnt, dass er in sie fast genauso verliebt gewesen war wie in Liza.
Warum verliebte er sich nur immer in die Weiber, die nichts von ihm wissen wollten? Ach, Liza! Sie war jetzt irgendwo im Herzland. Sie hatte sich freiwillig gemeldet, um dort im Untergrund für die Sache der Rotmützen zu streiten. Sich zu ihnen zu bekennen, war seit einer Weile nicht mehr ganz ungefährlich. Einige der Elfenfürsten ließen sie verfolgen. Er musste wieder an die Eiserne denken. Sie war eine Märtyrerin geworden, eine Heldin. Ihren Namen würde man noch in hundert Jahren kennen.
Nikodemus blickte auf. Ganda schlenderte in seine Richtung. Wieso hatte sie sich nur sofort wieder Elija an den Hals geworfen? Der wusste mit den Weibern doch kaum etwas anzufangen!
Ein bisschen unheimlich war sie ihm mit ihrer silbernen Hand. Was sie in den Kerkern der Elfen wohl erlebt hatte? Ob es sehr unhöflich war, sie direkt danach zu fragen?
»Na, reiche Beute gemacht?«
Nikodemus legte das Schwert ins Gras und lächelte etwas verlegen. »Es ist nicht gut, dass wir morgen schon wieder losziehen müssen. Hier liegt ein Vermögen auf der Steppe.«
»Das wird auch noch dort liegen, wenn wir in ein paar Tagen zurückkommen. Aber das Fleisch muss fort. Ich verstehe zwar nicht ganz, was der Sinn dieses Geschäftes ist, aber den Trollen ist es sehr wichtig. Man muss wohl ein Troll sein, um zu begreifen, welchen Nutzen man von Vorratslagern hat, an die man gar nicht ohne weiteres herankommt.«
Nikodemus war in die Hintergründe dieses Geschäftes eingeweiht. Es hatte mit der Erschaffung der Einheitsfront zu tun, mit Trollen und Viehherden, die davonliefen, dem Winter, langen Märschen, wunden Füßen, leeren Bäuchen und ... Hmmm. Vielleicht hatte er doch nicht den Überblick über alle Einzelheiten. Aber Ganda würde er nichts erzählen. Wenn Elija sie noch nicht eingeweiht hatte, dann hatte das gewiss einen Grund. Da würde er sich nicht einmischen.
»Ein Vermögen liegt da auf der Steppe«, sagte er noch einmal.
»Und es ist nicht egal, ob wir es erst in einer Woche einsammeln. Die Waffen und Rüstungen müssen gefettet werden. Das Zeug rostet sonst. Und wer weiß, wer sich hier heranmacht, wenn wir weg sind. Die Elfen haben sogar auf ihren Rüstungen Edelsteine. Manche jedenfalls. Und du würdest gar nicht glauben, wie viele Bekloppte mit einer prallen Geldbörse in die Schlacht ziehen. Wirklich, Ganda! Das ist ungeheuerlich. Statt das Geld bei ihrer Familie oder Sippe zu lassen, nehmen sie es mit, wenn es ans Hälse-Durchschneiden geht. Da weiß man doch nicht, ob es einen mal selber erwischt. Da kann man sein Geld ja gleich verschenken.«
»Ich schätze, die wenigsten Krieger machen sich so tiefschürfende Gedanken. Krieger wird man, weil man in seiner Sippe keinen Platz mehr hat.«
Nikodemus kratzte sich an der linken Augenbraue. Also, das klang ihm zu abfällig. Krieger waren schon wichtig! Sie waren die Helden. Und jedes Volk brauchte Helden! »Ich finde, man wird auch dann Krieger, wenn man sich mit Leib und Seele seinen Idealen verschreibt, wie wir es getan haben. Wir sind eine ganze Sippe von Kriegern.« Er deutete zum Lager der Hornschildechsen. »Jeder dort würde ohne zu zögern sein Leben für unsere Sache geben. Sogar die Echsen.«
Ganda grinste.
»Was ist daran so lustig, Kommandantin?« »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie Mondkragen mit einer roten Mütze aussehen würde.« Ganda grinste noch breiter. »Sehr eindrucksvoll! Sie wäre eine prima Heldin im Kampf um die Einheitsfront der Koboldvölker.«
Nikodemus versuchte sich an das Wort zu erinnern, das sein Bruder gebrauchte, um solche unbotmäßigen Bemerkungen zu brandmarken. Defätismus! Das war es. Hatte Ganda sich diesen seltsamen Humor zugelegt, um die Schrecken der Elfenkerker zu überstehen? Bestimmt! Früher war sie nicht so gewesen ... Oder? Sie war so lange fort gewesen.
»Du solltest mich auf einer meiner nächsten Reisen begleiten, Kommandantin. Es wäre sicher sehr hilfreich, wenn du von deinen Erlebnissen in den Elfenkerkern erzählen könntest. Du bist die einzige Kommandantin, die ihnen jemals entkommen ist. Wenn du den anderen Kobolden nur die Augen öffnen könntest, welche Abgründe unter den schönen Häusern und Palästen lauern.«
»Ich glaube, dafür bin ich nicht die Richtige.« »Du kannst nicht darüber reden, weil es so schlimm war, ja?«
»Genau.« Etwas an dem Tonfall, mit dem Ganda das sagte, gefiel ihm nicht. Aber wer fünfzehn Jahre in einem Elfenkerker verschwunden gewesen war, hatte wohl das Recht, ein bisschen seltsam zu sein. Nikodemus nahm das Schwert und polierte noch einmal über die Klinge. Das Abendlicht spiegelte sich rot wie Blut im Elfenstahl. Welch eine wunderbare Waffe! Bestimmt war sie von Koboldschmieden gemacht! Ob sie wohl verzaubert war? Vielleicht wurde sie niemals stumpf? Oder sie konnte durch Eisen schneiden wie durch Butter? Oder wer die Klinge trug, war unverwundbar ... Nein, das war es wohl nicht. Unverwundbar hatte der Kerl bei Leibe nicht ausgesehen! »Wie viele Rotmützen gibt es eigentlich?«, fragte Ganda nach längerem Schweigen.
»Tausende.« Nikodemus war stolz auf das, was sein großer Bruder geschaffen hatte. »Wir sind überall. In den Elfenpalästen geschieht nichts, wovon wir nicht Kenntnis hätten. Unsere Spitzel sind überall. Sogar einige Faune und Blütenfeen haben sich unserer Sache angeschlossen. Die Tage der Knechtschaft sind gezählt. Bald wird eine Zeit anbrechen, in der jeder nur noch nach seinen Taten beurteilt werden wird und nicht mehr nach dem Volk, in das er geboren wurde.«
»Ein wunderbarer Traum«, sagte die Lutin nachdenklich.
»Es liegt in unserer Hand, Träume Wirklichkeit werden zu lassen, Ganda. Wir müssen es nur wollen.«
Die Kommandantin lächelte traurig. »Ja, so einfach scheint die Welt. Aber es ist gut, einen Traum zu haben und ihn zu leben. Das ist ein kostbarer Schatz. Ich werde ihn dir nicht ...«
»Was hast du?« Ganda war plötzlich erstarrt, als habe sie eine Viper gesehen. »Ganda?«
»Das Schwert! Woher hast du das?«
»Eine wunderbare Waffe, nicht wahr? Ich bin sicher, sie hat einem Fürsten gehört und ist ein Vermögen wert.«
»Woher hast du das Schwert?«
Ganda war völlig aus dem Häuschen geraten. Nikodemus konnte sich nicht erinnern, sie jemals so aufgeregt gesehen zu haben. Was hatte sie jetzt schon wieder? »Dort drüben, wo sich das Felskliff zwischen Hügeln erhebt, habe ich es gefunden.« Er kramte in seinen Hosentaschen. »Ich habe dort auch eine wunderschöne Brosche gefunden und goldene Münzen, die an einem Pferdegeschirr hingen, und ...«
Ganda schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab.
»Bring mich dort hin! Sofort!«
»Aber es wird gleich dunkel und ...«
Die Lutin packte ihn mit ihrer Silberhand. Nikodemus keuchte auf. Sie packte zu wie ein Troll. Fast hätte sie ihm die Hand zerquetscht. »Ist schon gut, ist schon gut. Ich bringe dich hin. Ist ein ganzes Stück Fußmarsch.«
Der Weg über das Schlachtfeld war dem Lutin unangenehm. Er hatte schon oft Tote gesehen, wenn auch noch nie annähernd so viele. Die Hitze ließ die Leiber aufquellen. Mit den toten Kentauren war es am schlimmsten. Ihre Beine standen stocksteif ab, und manchmal zuckten sie oder die Kadaver furzten.
Die Heerscharen von Raben ließen Nikodemus kalt. Sie waren überall, und obwohl der Tisch so überreichlich für sie gedeckt war, stritten sie immer noch um die besten Happen. Was dem Lutin jedoch zusetzte, waren die Fliegen. Wie schwarzer Nebel standen sie in der Luft, wenn sie von den Leichen aufstiegen. Sie waren so zahllos wie die Grashalme der Steppe. Und sie behelligten auch die Lebenden. Krochen einem übers Gesicht, wollten in die Augenwinkel und Nasenlöcher. Und Nikodemus konnte sich nur zu gut vorstellen, wo diese großen, schillernden Fliegen erst vor ein paar Augenblicken noch gesessen hatten.
Überall streiften Trolle umher und suchten nach Fleisch für ihre Feuer. Nikodemus sah weg, wenn sie sich mit ihren Steinklingen über einen Kadaver beugten. Es machte ihm nichts aus, einem frisch erlegten Kaninchen das Fell abzuziehen und es auszuweiden. Im Gegenteil. Er dachte dabei an den Braten oder den Fleischeintopf, den es bald geben würde. Aber das hier war etwas anderes ...
Endlich erreichten sie die Klippe. Er ging ein Stück weiter bis zur Ruine. Die Sonne war im Westen hinter den Flügeln verschwunden und hatte den Himmel in rote Glut getaucht. Bald fand er den Ort, an dem das Schwert im Boden gesteckt hatte. Er rammte es zwischen die trockenen Grasbüschel. Das Gewicht des Griffs ließ die Waffe leicht zur Seite kippen. Ein Stück entfernt erhob sich ein verfallener Fensterbogen.
Ganda sah sich suchend um. Sie betrachtete eingehend die Toten, die um einen Streitwagen lagen, suchte nach Spuren im Gras und ging dann langsam in Richtung der Klippe. Plötzlich begann sie zu laufen.
»Was hast du denn, Kommandantin?« Es war Nikodemus ein Rätsel, warum sie sich so seltsam aufführte. Hatte das Schwert vielleicht einem ihrer Folterknechte gehört? Und wenn ja, warum wollte sie ihn finden? Oder ging es nur darum, ihn tot zu sehen? Vielleicht war sie auch wahnsinnig geworden. Er hatte schon von Irren gehört, die einem die meiste Zeit über ganz normal erschienen, bis sie aus heiterem Himmel anfingen, die verrücktesten Dinge zu tun.
Er folgte ihr mit ein wenig Abstand. Es war seine Pflicht, Elija davon zu erzählen. Er sollte das wissen, bevor er Ganda befahl, ihnen und der Herde einen Weg durch das goldene Netz zu suchen. Ihn packte kalte Wut auf die Elfen, die Ganda so sehr verändert hatten.
»Nikodemus, schnell!« Sie war auf die Knie gesunken. Vor ihr lag ein Elfenritter im hohen Gras. Er trug einen prächtigen Brustpanzer und einen weißen Umhang. Der Kerl musste ein Fürst gewesen sein. Aber jetzt war er nur noch ein Stück totes Fleisch. Der Brustpanzer war zerbeult und voller Blut, die Kleider zerrissen. Der ganze Körper war eine einzige Wunde. Und sein Helm! An einer Seite war er so tief eingebeult, dass Nikodemus seine Faust hätte hineinlegen können.
»Was tust du hier, du verdammter Mistkerl! Warum bist du nicht bei deiner Königin und studierst mit ihr das Buch? Wieso liegt dein Schwert an einem ganz anderen Ort als du?« Ganda machte sich mit bebenden Händen am Kinnriemen des Helms zu schaffen. In einem plötzlichen Wutausbruch hieb sie dem Elfen mit der Faust auf die Brust. »Los, atme! Denkst du, ich bin dir etwas schuldig, weil du an meinem Lager gesessen hast? Ich bin eine Lutin. Wir sind Lügner und Diebe! Schulden kennen wir nicht! Bilde dir nicht ein, dass du mir leid tust!« Während sie das sagte, standen ihr Tränen in den Augen.
»Komm, Ganda.« Nikodemus legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. »Wir sollten jetzt gehen. Du kannst nichts für ihn tun.«
»Lass mich!« Wieder und wieder schlug sie dem Elfen auf die Brust. Dabei redete sie ohne Unterlass auf ihn ein.
Schließlich schaffte sie es sogar, den Helmriemen zu lösen.
»Los, hilf mir!«, herrschte sie Nikodemus an.
Irgendjemand hatte ihm einmal erklärt, man solle Verrückte in ihrem Wahn gewähren lassen. Also kniete er sich neben ihr nieder. Und er verkniff sich, ihr zu sagen, was er von dem ganzen Unsinn hielt.
Vorsichtig drehten sie den Helm hin und her. Endlich bekamen sie ihn mit einem Ruck ganz gelöst. Eine blutige Masse quoll ihnen entgegen. Nikodemus musste sich abwenden. Ihm war speiübel.
»Das sind nur die Haare«, murmelte Ganda. »Stell dich nicht so an.« Vorsichtig tastete sie über den Schädel des Elfen.
Ganz gleich, was die Kommandantin auch sagte, er mochte den Kerl nicht anschauen. Sein Gesicht schien irgendwie verrutscht zu sein. Warum ließ sie diesen verdammten Toten nicht einfach in Ruhe? Sollten ihn sich doch die Trolle holen!
»Geh zurück zum Lager und hol jemanden, der uns hilft, ihn zu tragen!«
»Was? Komm, Ganda. Er ist tot. Wir lassen ihn einfach hier liegen.«
»Du holst jetzt Hilfe!«, schrie sie ihn an. Ihre Augen funkelten im Wahn.
»Gut.« Nikodemus hob beschwichtigend die Hände. »Ich hole jemanden.« Elija würde sich wohl nicht gerade nachsichtig zeigen, wenn er von all dem erfuhr. Es warf ein schlechtes Licht auf die Sache, wenn eine ihrer berühmtesten Kommandantinnen eine Irre war. Man würde eine Lösung finden müssen, dachte Nikodemus beklommen. Dabei hatte er Ganda immer gemocht. Verfluchte Elfen! Es war ihre Schuld. Sie hatten den Verstand der Kommandantin zerstört. Hätte er nur nicht das verdammte Schwert gefunden. Vielleicht wäre der Wahn niemals ausgebrochen.
Traurig ging Nikodemus zum Lagerplatz zurück. Sie hatten Ganda am selben Tag schon wieder verloren, an dem sie zurückgekehrt war.
Der Lutin knöpfte seine Weste zu. Es war kalt geworden. Nicht weit von der Ruine sah er drei weiße Pferde über das Schlachtfeld irren.
Die Bestie hatte es gespürt. Zur Mittagsstunde hatte es begonnen. Die Kreatur, mit der sie eins geworden waren, wollte fort vom Meer, und bald hatte er sich ihr fügen müssen. Sein Wille wäre stark genug, sich ihr zu widersetzen. Aber sie hatte seine Schwachstelle gefunden. Die Bestie würde eine seiner Schwestern und einen der Brüder töten, mit denen sie gemeinsam in diesem Leib verschmolzen waren, wenn er nicht gehorchte. Sie weidete sich an seinen Gewissensqualen. Gestern erst hatte sie eine Gruppe junger Nixen gejagt und getötet. Kinder! Hinterher hatte das Ungeheuer ihm erklärt, es habe das um seinetwillen getan. Weil er dabei so wunderbar gelitten hätte.
Und nun waren sie hier.
Sebastien versuchte seine Seele vor dem zu verschließen, was er sah. Es war seine Aufgabe, einen Krieg zu entfesseln, der Albenmark und all seine Bewohner verschlingen würde. Heute war er zum Zeugen des Auftakts zu diesem Gemetzel geworden. Das Ungeheuer in ihm hatte ihn über hunderte von Meilen bis auf diese sonnenverbrannte Ebene gebracht. Wie weit sie vom Meer entfernt waren, konnte er nicht wirklich schätzen. Ihr Leib war nicht denselben Gesetzen unterworfen wie andere Körper. Er glitt schneller als der Wind über das Land.
Sebastien hatte nicht verstanden, wie das Tier es anstellte, sich so schnell zu bewegen. Vielleicht allein kraft seiner Gedanken? Er wusste es nicht zu sagen.
Zunächst schwebten sie wie ein Bussard hoch über dem Schlachtfeld und schauten. Die Bestie hatte Freude daran, dem großen Sterben beizuwohnen. Zu beobachten, wie Lebenslichter verzweifelt gegen das Verlöschen ankämpften.
Auch Sebastien war vom Anblick der Schlacht ganz gefangen genommen. Von dem vernichtenden Angriff, den die Pferdemänner und die Elfen vortrugen. Er war selbst einmal Krieger gewesen. So lange war das her ... Aber eine Schlacht wie an diesem Tag hatte er noch nie gesehen. Die Trolle hatten einen außergewöhnlichen Glauben an dieses alte Weib und den Jungen. Wo immer die beiden erschienen, sammelten sich ihre Truppen wieder. Eigentlich hätte ihr Heer an diesem Tag vernichtet werden müssen. Aber die beiden hatten das Ruder noch einmal herumgerissen.
Sebastien war so abgelenkt, dass er nicht sagen konnte, wann die anderen beiden Geisterwölfe erschienen waren. Sie verharrten ganz in ihrer Nähe am Himmel. Aber sie starrten nicht hinab. Die drei verständigten sich miteinander. Es war mehr ein Gefühl als eine Gewissheit; Sebastien konnte nicht sagen, wie sie es taten, aber die Bestien hielten einen Kriegsrat miteinander ab. Er spürte, dass das Ungeheuer, mit dem er in einem Körper gefangen war, eine wilde Freude empfand. Und das tat es für gewöhnlich nur, wenn es töten und quälen konnte.
Zu dritt stiegen die Geisterwölfe vom Himmel hinab. Sie streiften über das Schlachtfeld und naschten Leben. Bevorzugt töteten sie jene, die noch Hoffnung hatten. Leicht Verletzte, die aber nicht aus eigener Kraft gehen konnten. Jene, denen noch zu helfen war und die das auch wussten. Die Sterbenden kümmerten sie nicht.
Die Art, wie die drei Wölfe sich verhielten, erinnerte Sebastien an einen Stadtvogt, den er als Kind einmal beobachtet hatte. Der Mann war auf einen großen Wochenmarkt gekommen und von Stand zu Stand geschlendert. Überall hatte er sich etwas genommen. Es war Erntezeit gewesen. Hier hatte er ein paar Pflaumen genascht, dort eine Birne, von der er nur zwei Bissen genommen hatte, bevor er sie fortwarf. Und niemand hatte etwas gesagt! Das war wahre Macht, hatte er sich in seiner kindlichen Einfalt gedacht, und er hatte sich gewünscht, so mächtig zu werden wie dieser Vogt.
Manche Wünsche wurden unseligerweise erfüllt, dachte der Abt bitter. Zuerst hatte er Sorge, dass die Waffen oder die Magie der Elfen ihnen etwas anhaben könnten. Er war zu Tode erschrocken, als ein Krieger ihnen ein Langschwert durch den Leib stieß. Sebastien spürte die Waffe, aber sie richtete keinen Schaden an. Einen jämmerlichen Augenblick lang hatte selbst er Gefallen ander Todesangst im Blick des Elfen, nachdem der Angriff fehlgeschlagen war. Der Abt bereute es aufrichtig, seiner Seele diesen Makel zugefügt zu haben. Er war eine jämmerliche Gestalt!
»Du liebst es einfach, dich selbst zu geißeln«, verhöhnte ihn die Stimme der Bestie. »Während ich es liebe, anderen Leid zuzufügen. Wir ergänzen uns gut in unseren Unzulänglichkeiten. Deine Qual ist mir ein nie versiegender Quell der Freude, Sebastien. Deshalb werde ich dich noch immer in mir dulden, wenn ich all die anderen winselnden Seelen, mit denen wir diesen Leib teilen, schon längst verschlungen haben werde.«
Sebastien wünschte sich von ganzem Herzen, dass er einen Weg fände, sich vor dieser Stimme zu verschließen. Er sah zu den anderen Geisterwölfen. Waren dort Seelen wie seine, gefangen in höchster Not? Konnten sie ihn hören? Er erhielt keine Antwort.
Wir sollten fort von hier, dachte der Abt schließlich enttäuscht. Wir haben eine Aufgabe!
»Genießt ihr Menschen denn niemals die Früchte eurer Arbeit? Das hier ist es, woran wir so hart arbeiten. Und es ist erst der Auftakt! Uns erwarten brennende Städte. Endlose Flüchtlingszüge, zehntausendfacher Tod. Wir sind wie Chorleiter, die einen tausendstimmigen Chor dirigieren. Und jede Stimme schreit in Todesqual. Freust du dich auf das Lied, das über ganz Albenmark erklingen wird? Du musst es doch genießen! Die Elfen haben euren heiligsten Priester ermordet. Und dich haben Tjured und Bruder Jules ausgewählt, zum Schwert der göttlichen Rache zu werden. Warum höre ich dich nicht in einem fort vor Freude jauchzen? Bist du deinem Gott Tjured untreu geworden?«
»... Schon am Abend nach der Schlacht wurde offenbar, dass die Verluste am Mordstein weit weniger hoch waren, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Die versprengten Einheiten fanden langsam wieder zueinander. Ruhelos eilten die Hauptleute die lange Marschsäule im Flussbett entlang, erstellten Verlustlisten und versuchten ihre Einheiten wieder zusammenzuführen.
Fürst Elodrin von Alvemer hatte den Oberbefehl wieder an sich gezogen, und niemand unter den Verbündeten machte ihm diese Position streitig. Doch schon am ersten Abend des Rückzugs kam es zu einer Auseinandersetzung mit Hauptmann Melvyn. Entgegen aller Befehle zog er sich mit den Schwarzrückenadlern zurück. Erst viel später erfuhr ich, dass er das Schlachtfeld nach unserem verlorenen Feldherrn absuchte. Wir alle wussten, was mit unseren Toten geschehen würde. Melvyn war der Gedanke daran, dass die Leiche Ollowains in die Hände der Trolle fallen würde, unerträglich. Die ganze Nacht und einen guten Teil des nächsten Tages suchten sie nach ihm. Es kam wohl auch zu einigen Scharmützeln mit den Trollen. Doch den Feldherrn fanden sie nicht. Und der Bruch zwischen Melvyn und Elodrin war nur der erste Riss in dem zerbrechlichen Gefäß, zu dem das Heer von Feylanviek geworden war. Melvyn und seine Männer wurden vom Heer ausgeschlossen, obwohl sie doch unsere Augen hätten sein sollen.
Militärisch gesehen war es wohl ein Sieg, was wir in der Schlacht am Mordstein erlangten. Die Trolle hatten tausende Krieger verloren, wir letzten Endes nur ein paar hundert. Ihr Feldzug in das Windland war um Monde verzögert worden, wie sich später zeigen sollte. Doch was hilft ein Sieg, den niemand sieht? Mit dem Tod Ollowains war die Moral unseres Heeres zerbrochen. Sieger lassen ihre Toten und Verwundeten nicht auf dem Schlachtfeld zurück, hieß es unter den einfachen Kriegern. Sieger flüchten nicht wie verprügelte Hunde. Siegern hat man nicht das Herz herausgeschnitten, denn nicht weniger war Ollowain für uns gewesen. Er war das Herz des Heeres, mehr noch als sein Kopf.
Die wenigen Tage, die der Schwertmeister uns geführt hatte, hatten Elodrins Unzulänglichkeiten noch stärker hervorgehoben. Der Fürst von Alvemer ist ein kühler Taktiker. Er kennt den Krieg, und er formte aus dem schwer angeschlagenen Heer, welches das Schlachtfeld am Mordstein verließ, in den sechs Tagen des Rückzugs wieder eine Truppe, die in ordentlichen Fünferreihen zur Siegesparade über die Hauptstraßen von Feylanviek zog. Wahrscheinlich hatte er zu viel Verstand, um die Herzen der Krieger zu berühren. Bald verließen uns die Minotauren, um ihre geheimen Rituale für die Herbstmonde in ihren heimatlichen Bergen vorzubereiten. Und nicht viel später gingen auch die Kentauren, denn es war an der Zeit, die Herden auf die Winterweiden zu treiben, und in den Stämmen der Steppe wurde jeder Mann gebraucht. Doch vorher gab es noch die Totenfeier. Jenes Fest, auf dem auch das brüchige Bündnis der Stämme des Windlands zu Grabe getragen wurde....«
Kadlin lehnte sich gegen den warmen Fels und blickte den Hang hinab. Björn war ein gutes Stück hinter ihr zurückgeblieben. Er hatte einen hochroten Kopf und schnaufte wie ein alter Elchbulle. Wenn er nicht auf seinem Pferd saß, bewegte er sich kaum schneller als ein fußkrankes Murmeltier. Und bei dem Lärm, den er machte, brauchte sie nicht darauf zu hoffen, dass sie auch nur eine Felsmaus stellen würde, so lange er in der Nähe war. Er mochte ja ein guter Bogenschütze sein, aber ein guter Jäger war er nicht! Und wenn die Windböe nicht gewesen wäre ... Dass sie im Bogenschützenturnier gegen ihn verloren hatte, ärgerte sie noch immer. Björn ließ auch keine Gelegenheit aus, sie darauf hinzuweisen, dass er der bessere Schütze war. Manchmal war er eine rechte Plage! Sie hätte ihn nicht mitnehmen sollen. Alleine kam sie viel schneller voran! Eirik hatte den größten Teil der Jäger ausschwärmen lassen, nachdem ihr Heerzug aus Kriegern und Arbeitern den Pass erreicht hatte, auf dem die neue Festung erbaut werden sollte. Bis zum Einbruch des Winters sollten sie weit abseits des Bauplatzes jagen, damit es noch Wild in der Nähe der neuen Burg gab, wenn der erste Schnee kam und lange Jagdausflüge zu beschwerlich wurden. Auch sollten sie sich mit dem Gelände vertraut machen und sich an die dünne Luft in den Bergen gewöhnen. Eirik hatte seine Jäger in Trupps von zwei bis drei Mann aufgeteilt. Grinsend dachte Kadlin daran, was für ein Gerangel es darum gegeben hatte, wer mit ihr losziehen durfte. Ihr Plan, einen netten Kerl zu finden und vielleicht im nächsten Winter Hochzeit zu feiern, würde wohl aufgehen.
Kadlin hatte den Verdacht, dass Björn seine hohe Geburt ausgespielt oder Eirik mit einer Hand voll Münzen bestochen hatte. Dass ausgerechnet er mit ihr losgeschickt wurde, hatte Kadlin überrascht. Eigentlich gehörte Björn ja eher zu den Kriegern als zu den Jägern, obwohl er ein sehr guter Bogenschütze war.
Kadlin war gerne mit ihm zusammen. Es fiel ihm leicht, sie zum Lachen zu bringen. Wenn er nur ein bisschen älter wäre. Grinsend blickte sie zu ihm hinunter. Er hatte sich hoffnungslos überladen. Außer seinem Bogen, dem Köcher mit den Pfeilen und einem Jagdmesser hatte er auch noch eine Saufeder mit breiter Klinge mitgenommen. Dazu eine Decke, zwei Wasserschläuche und einen Proviantsack, der ausgereicht hätte, eine Familie mit zehnköpfiger Kinderschar über den Winter zu bringen. Kadlin selbst trug nicht einmal halb so viel. An Proviant hatte sie außer etwas Brot und Käse und ein bisschen Salz nichts dabei. Sie waren schließlich Jäger. Wenn sie es nicht schafften, sich ein Essen zu schießen, dann hatten sie es auch verdient, am Abend mit leerem Magen am Feuer zu sitzen.
Als Björn sie endlich eingeholt hatte, stützte er sich schwer schnaufend auf den Felsen, an dem sie lehnte. Sein Gesicht war nass von Schweiß.
»Brauchst du eine Rast?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, was er darauf antworten würde.
»Sehe ich so aus?«, stieß er japsend hervor. »Ich bin absichtlich langsamer gegangen, damit du hier ein bisschen verschnaufen kannst. Ich bin doch kein Mädchen, das alle paar hundert Schritt eine Pause braucht.«
»Du siehst in der Tat mehr wie ein Packesel als wie ein Mädchen aus.« Sie nahm den Bogen und deutete den Hang hinauf.
»Dort oben, dicht unter der Baumgrenze, ist eine Schneise zwischen den Kiefern. Wahrscheinlich ein Windbruch. Dort finden wir sicher einen guten Lagerplatz, was meinst du?«
»Sicher.«
Ganz offensichtlich hatte Björn nicht mehr genug Puste, um einen anderen Vorschlag zu machen. Die Schneise war mehr als eine Wegstunde entfernt. Kadlin überlegte, ob es nicht klüger wäre, noch ein wenig stehen zu bleiben und zu plaudern, damit der Junge wieder zu Atem kam. »Ganz schön heiß heute.«
»Nicht besonders.«
Er sagte das und fuhr sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn. Blödmann! »Dann hast du dir wohl nur etwas Wasser aus deinem Trinkschlauch ins Gesicht gespritzt.«
»Genau.«
»Jetzt verstehe ich, warum du zwei Wasserschläuche trägst. Aus einem trinkst du, und den anderen benutzt du, um dich gelegentlich zu erfrischen.«
»Richtig.«
Langsam wurde sie wütend. Wie konnte man nur so schamlos lügen! »Wo du so gut erfrischt bist, könntest du ja jetzt vorneweg laufen. Ich würde auch vorschlagen, dass wir einen Schritt schneller gehen. Dort oben soll es irgendwo einen kleinen See geben. Etwas schwimmen zu gehen wäre angenehm, nicht wahr?« Björn wurde noch etwas röter. Ob er sich schämte, sich ihr nackt zu zeigen? Vielleicht konnte er auch nicht schwimmen. Plötzlich grinste er frech. Er sah eigentlich gar nicht schlecht aus. Wenn er nur nicht so verdammt jung wäre!
»Es ist nicht klug, erhitzt ins Wasser zu steigen.« Er war immer noch kaum bei Puste und sprach stockend. »Außerdem gehe ich gerne hinter dir und sehe mir deinen Hintern an. So wie du damit wackelst, weißt du das auch.« Kadlin unterdrückte den Impuls, ihm eine Ohrfeige zu geben. Nicht, weil er sie nicht verdient hätte, sondern weil sie sich nicht eine solche Blöße geben wollte. »Na, dann halt dich mal ran, sonst hast du meinen Allerwertesten schnell aus den Augen verloren.«
Mit weiten Schritten eilte sie dem Wald entgegen. Sie ärgerte sich darüber, dass seine Worte sie so aufgebracht hatten. So ein blöder Hund! Er würde noch darum betteln, dass sie ihm etwas von seinem Gepäck abnahm. Als ob sie absichtlich mit dem Hintern wackeln würde! Was bildete der sich ein! Wenn man ging, bewegte sich nun einmal der Hintern. Das ließ sich nicht vermeiden. Sie und mit dem Hintern wackeln! Hielt er sie für eines von den Mädchen, die alle Scham vergaßen, weil sie einen Mann abbekommen wollten? Wenn er das von ihr dachte, dann würde er sie kennen lernen! Dieser Bursche sollte erst einmal trocken hinter den Ohren werden! Der hatte sicher noch nie bei einer Frau gelegen. Außer zu pissen, wusste er mit dem Ding zwischen seinen Beinen wahrscheinlich noch gar nichts anzufangen. Hätte sie sich bloß nicht darauf eingelassen, ausgerechnet mit ihm loszuziehen. Was hatte sie nur geritten, als sie zugestimmt hatte? Sie blickte über die Schulter. Björn hatte ganz offensichtlich Mühe, auch nur einen Schritt weiter zu kommen. Und er glotzte ihr tatsächlich auf den Hintern! Kadlin ging stocksteif weiter. Björns begehrliche Blicke hatten sie aus der Fassung gebracht. Vielleicht war er ja doch schon mehr Mann, als sie wahrhaben wollte. Sein frecher Spruch hatte sie geärgert. Sie fand ihren Hintern viel zu schmal. Er sah aus wie bei einem Knaben. Ihre Schwester hatte sie immer deshalb aufgezogen. Silwyna hatte üppigere Formen. Deshalb hatte sie ja ihren Fischer, obwohl sie zwei Jahre jünger war. Sie sah eben aus, wie ein Weib aussehen sollte.
Kadlin sah noch einmal flüchtig zurück. Björn starrte ihr immer noch hinterher. Ganz schön schamlos! Sie lächelte und entspannte sich etwas. Dann betonte sie bewusst ihren Hüftschwung, während sie weiterging. Sollte er nur schauen! Wenn sie oben im See badete, würden ihm wahrscheinlich die Augen aus dem Kopf fallen. Gut, sie hatte auch zu kleine Brüste. Aber wenn sie ihr Haar offen trug, würde er das erst einmal nicht bemerken. Und er mochte ihren Hintern! Ein Herzogssohn!
Gut gelaunt trat Kadlin in den Kiefernwald. Es duftete wunderbar nach Harz und frischem Grün. Das dicke Polster aus Kiefernnadeln ließ ihre Schritte federn und dämpfte jedes Geräusch. Es war, als gleite man schwerelos dahin. Sie lief etwas langsamer, damit Björn sie nicht aus den Augen verlor. Ob er wohl schon einmal bei einer Frau gelegen hatte? Sein Vater war ein ziemlich grober Klotz. Vielleicht hatte er eine der Mägde ins Bett seines Sohnes geschickt, damit aus dem Jungen ein richtiger Mann wurde. Björn war anders als Lambi. Vor allem konnte man ihm ins Gesicht sehen, ohne eine Gänsehaut zu bekommen. Der alte Herzog sah mit seiner halb abgeschnittenen Nase zum Fürchten aus!
Kadlin dachte an ihren eigenen Vater. Kalf war geradezu erleichtert gewesen, als sie mit Björn losgezogen war. Er schien den Jungen zu mögen. Und er hatte ein gutes Auge für Menschen. Warum er allerdings den König stets mied, war ihr ein Rätsel. Man hörte nur Gutes über Alfadas. Dennoch wurde Kalf immer ganz unruhig, wenn er in der Nähe war.
Kadlin fröstelte es. Unter den Bäumen war es doch recht kühl. Weiter oben am Hang konnte sie in den Schattenlagen sogar noch Schneeflecken sehen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, schwimmen zu gehen. Das Wasser in dem Bergsee war sicher eisig.
Sie verdrängte die Gedanken und versuchte eins zu werden mit dem Wald. Seit sie laufen konnte, war sie mit Kalf auf die Jagd gegangen. Ihr Vater hatte ihre Sinne geschärft. Sie wusste, dass es sich nicht lohnen würde, der Rentierspur zu folgen, die ein paar Schritt weiter verlief. Sie war älter als fünf Stunden. Die Aussichten, das Tier noch einzuholen, waren gering. Ihr entgingen auch die flachen Furchen im Teppich aus Kiefernnadeln nicht. Jene Wege, die Kleintiere hinterlassen hatten, die zwischen Verstecken und möglichen Futterplätzen immer wieder demselben Pfad folgten.
Sie beobachtete ein Eichhörnchen, das hektisch im weichen Boden wühlte und nach den Kiefernzapfen suchte, die es im letzten Jahr verborgen hatte. In der Ferne hörte sie das rhythmische Hämmern eines Spechts. Andere Vögel bemerkte sie nicht. Wahrscheinlich wurden sie alle von dem zweibeinigen Packesel vertrieben, der ihr noch immer beharrlich folgte.
Fast eine Stunde war Kadlin im Wald unterwegs, als sie eine große Barriere aus gestürzten Bäumen erreichte. Riesige Felsbrocken ragten zwischen den zersplitterten Stämmen auf. Eine Lawine hatte eine breite Schneise in den Wald geschlagen.
Die Jägerin machte einen Bogen um das Hindernis. Der Ort eignete sich bestens für ein Lager. Zwischen den Stämmen und Ästen würde man leicht einen windgeschützten Platz finden. Vielleicht sogar eine Höhle, die so eng war, dass man gar keine andere Wahl hatte, als sich näher zu kommen, wenn man dort Unterschlupf suchte. Sie dachte an die Nächte des letzten Sommers, an das ungestüme Liebesspiel mit dem Fischer, und eine wohlige Wärme stieg zwischen ihren Schenkeln in den Bauch hinauf.
Der Hang jenseits des Kiefernbruchs war verwüstet. Mannshohe Wurzelstrünke ragten aus dem aufgerissenen Boden. Geröll und klaffende Löcher machten es schwierig, hier einen Weg zu finden. Ein Stück den Hang hinauf beobachtete sie eine Gruppe Hasen. Plötzlich verharrten die Tiere. Kadlin hatte sich vorsichtig bewegt, und der Wind blies ihr entgegen. Eigentlich konnten die Hasen sie nicht bemerkt haben. Sie suchte am Himmel nach dem Schattenriss eines Greifvogels, doch da war nichts.
Dann hörte sie einen Ast brechen. Etwas bewegte sich in einem Dickicht aus Büschen und Brombeergestrüpp etwa hundert Schritt entfernt. Die Hasen sprangen auf und waren binnen weniger Herzschläge verschwunden.
Wieder krachte ein Ast. Das Geräusch klang unheimlich laut im stillen Wald. Das Hämmern des Spechtes war verstummt. Kadlin zog die Sehne auf ihren Bogen und nahm einen Pfeil aus dem Köcher an ihrer Hüfte. Sie hatte das Gefühl, dass dort oben jemand absichtlich Lärm machte. Das war gewiss kein Tier! Jemand wollte sie anlocken.
Die leichte Brise erstarb. Der Wald lag totenstill. Sie hörte nicht einmal mehr das Schnaufen von Björn. Doch den hatte sie ein gutes Stück hinter dem Kiefernbruch zurückgelassen. Wahrscheinlich nutzte er die Gelegenheit, aus ihrem Blickfeld zu sein, und hatte eine kleine Pause eingelegt.
Die feinen Härchen in Kadlins Nacken sträubten sich. Sie wurde beobachtet! Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft. Es stank nach Aas. Der Kiefernduft überdeckte den Aasgestank fast. Er war mehr Ahnung als Gewissheit.
Mit zusammengekniffenen Augen spähte sie hinauf zu dem Brombeerdickicht. Ein scharfer Knall hallte über die Waldschneise. Jemand hatte einen dicken Ast zerbrochen.
Plötzlich erklang hinter ihr ohrenbetäubendes Gebrüll. Sie fuhr herum und riss den Bogen hoch. Aus dem Chaos zersplitterter Stämme brach ein Schneelöwe hervor. Eine riesige, grauweiße Bestie.
Kadlin wich zurück. Sie hob den Bogen und schoss, doch der Pfeil war schlecht gezielt. Sie streifte die dichte Mähne des Löwen, ohne Schaden anzurichten.
Ohne den Blick von der Bestie zu wenden, hetzte sie die Schneise empor. Immer wieder strauchelte sie über Wurzeln. Ein Teil der Pfeile fiel aus ihrem Köcher. Mit fliegender Hast legte sie ein neues Geschoss auf die Sehne.
Der Schneelöwe folgte ihr. Beängstigend schnell stürmte er vor, setzte über einen Wurzelstrunk hinweg und hatte sie fast erreicht.
Kadlin zog die Bogensehne bis zur Wange durch. Sie zielte auf das rechte Auge des Löwen. Ihr Herzschlag beruhigte sich. Sie sah nicht mehr das tödliche Raubtier, sondern nur noch ihr bernsteinfarbenes Ziel.
Der Pfeil schnellte davon. Die Bestie duckte sich zum Sprung, und das Geschoss verfehlte sein Ziel. Es zog eine tiefe, blutige Furche über die Stirn der Raubkatze und verfing sich in der dichten Mähne. Der Schneelöwe stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Helles Blut sickerte ihm ins rechte Auge und troff zu seinen Lefzen hinab.
Kadlin wich ein Stück zurück. Ihre Rechte tastete nach dem Köcher mit den Pfeilen. Noch einen Schuss, solange er wütend ist, dachte sie. Das ist die letzte Gelegenheit! Die gefiederten Pfeilschäfte glitten ihr zwischen den Fingern hindurch. Sie machte hastig ein paar Schritte zurück, um etwas mehr Abstand zu gewinnen.
Ruhe, ermahnte sie sich und atmete tief aus. Sie legte einen Pfeil auf die Sehne und machte noch einen weiteren Schritt zurück, als etwas mit eisernem Griff ihren linken Knöchel umschloss. Sie wurde nach hinten gerissen. Der Pfeil schnellte in den Himmel davon. Ein grausilberner Schatten glitt über sie hinweg. Die Zeit schien langsamer zu fließen, als habe der Schicksalsweber beschlossen, ihr eine letzte Frist zu gewähren, um sich von der Welt zu verabschieden. Überdeutlich sah sie die Schlammspritzer und Kletten im Bauchfell des Schneelöwen. Seine riesigen Pranken mit den gekrümmten, hellen Krallen, die ihr gleich das Fleisch vom Leib reißen würden. Den langen Schwanz, der in einer schwarzen Quaste endete.
Kadlin schlug hart auf den Boden. Zersplitterte Wurzelstränge stießen durch ihr ledernes Jagdhemd und schrammten über ihr Fleisch. Über ihr war der Himmel. Wunderbar weit, wolkenlos und von einem strahlenden, hellen Blau.
Geröll stob knirschend zur Seite, als der Schneelöwe hinter ihr landete. Ihr Sturz hatte ihr eine winzige Gnadenfrist verschafft. Sie ließ den Bogen fallen, den sie immer noch umklammert hielt, und zog das Jagdmesser aus ihrem Gürtel. Sie würde sterben, aber der Löwe sollte dafür bluten, dass er sich ausgerechnet sie als Beute ausgesucht hatte.
»He, du flohzerfresssene Missgeburt! Komm her zu mir! Kämpf wie ein Mann!« Björn war hinter dem Kiefernbruch hervorgekommen und schwenkte herausfordernd seine Saufeder. Er schrie aus Leibeskräften. Und tatsächlich, der Löwe wandte sich von Kadlin ab. Knurrend ging er dem jungen Krieger entgegen.
Kadlin versuchte aufzustehen. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Knöchel. Ihr Fuß war verstaucht. Noch einmal mühte sie sich, hochzukommen, knickte aber sofort wieder ein. Fluchend griff sie nach ihrem Bogen.
Björn und der Schneelöwe umkreisten einander. Der Herzogssohn war tief in die Knie gegangen und hielt die Saufeder flach über dem Boden. Ihre Spitze folgte jeder der Bewegungen des Löwen.
Kadlin wagte es nicht, Björn zu rufen. Jeden Augenblick würde der Löwe angreifen. Wenn sie Björn jetzt ablenkte, mochte das sein Tod sein. So wie die beiden standen, konnte sie nicht schießen. Das Risiko, Björn zu treffen, war zu groß.
Die Raubkatze stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus. Björn zuckte vor ihr zurück. Im selben Augenblick sprang der Löwe vor. Mit der Vorderpranke hieb er nach der Spitze der Saufeder und fegte die Waffe zur Seite.
Dann prallte er mit seinem ganzen Gewicht gegen Björn. Der junge Krieger stürzte.
Kadlin ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Der Schuss war schlecht gezielt. Er traf den Löwen in den rechten Hinterlauf. Fauchend fuhr die Raubkatze herum. Björn lag reglos am Boden. Sein Jagdhemd war von den Krallen des Löwen zerfetzt.
Voll kalter Wut griff Kadlin nach einem neuen Pfeil. Sie musste den großen Bogen waagerecht halten, weil sie sich nicht aufrichten konnte. So vermochte sie ihn nicht mit aller Kraft zu spannen. Aber sie war zumindest nicht wehrlos.
Hinkend kam der Schneelöwe auf sie zu. Von seiner Schnauze troff Björns Blut.
Kadlin atmete aus und schoss. Der Pfeil traf den Löwen dicht unter der Mähne in die Brust.
In den Augen der Bestie funkelten Wut und Mordlust. Ohne den Blick vom Löwen zu wenden, tastete Kadlin nach den Pfeilen, die neben ihr auf dem Boden verstreut lagen. Mit etwas Glück würde sie noch einen Schuss haben. Die Raubkatze spannte die Muskeln zum Sprung. Kadlin zog die Sehne durch.
Eine riesige, graue Gestalt tauchte hinter dem Löwen auf. Schnell und lautlos wie ein Geist war sie auf dem Kampfplatz erschienen. Knotige Hände griffen in die Mähne des Löwen. Die Raubkatze wurde hochgerissen. Ihre Kiefer schnappten nach dem Arm des Angreifers, als ihr ein breites Steinmesser in die Kehle fuhr.
Der Löwe gab einen hustenden Laut von sich. Blut spritzte aus der klaffenden Wunde. Der Gegner hatte ihn so weit hochgehoben, dass seine Hinterläufe hilflos in der Luft zuckten. Seine Bewegungen wurden langsamer.
Kadlin hatte einen neuen Pfeil aufgehoben. Sie wusste, dass sie gegen diesen neuen Feind mit ihrem Bogen kaum etwas ausrichten konnte. Aber sie würde nicht einfach nur liegen bleiben und auf das unvermeidliche Ende warten.
Der Troll ließ den sterbenden Löwen fallen. Er schob das Steinmesser in den breiten Gürtel, der seinen Lendenschurz hielt. Der Kerl war so groß wie ein Fels. Wulstige Schmucknarben bedeckten seine breite Brust. Sie zeigten einen Falken. Drei dünne Zöpfe hingen ihm von der Schläfe auf die rechte Schulter hinab. Als Schmuck hatte er sich Vogelfedern ins Haar gesteckt.
Die Haut des Trolls schimmerte ölig. Sie war graugrün mit hellen Einsprengseln, wie ein mit Flechten bedeckter Fels. Der Blick des Hünen hatte etwas Zwingendes. Kadlin hatte das Gefühl, dass der Bogen in ihrer Hand schwer wie ein Baumstamm wurde.
Björn war wieder zu sich gekommen. Er stöhnte vor Schmerzen und rief leise ihren Namen.
Langsam kam der Troll auf sie zu. Sie wollte schießen! Doch bevor sie den Bogen auch nur halb gespannt hatte, war der Troll über ihr und wand ihr die Waffe aus der Hand. Er beugte sich tief zu ihr hinab. Seine Naseflügel bebten. Wie ein Raubtier nahm er ihre Witterung auf.
»Maidchen«, sagte er unbeholfen. Sein Atem roch nach Kräutern. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wiegte sie hin und her, als halte er ein kleines Kind.
»Maidchen! Lecker Maidchen!« Er klopfte sich auf die Brust.
»Brud! Brud Jaiger.«
Alvias schnippte ein Staubkorn von seinem schwarzen Umhang und blickte zur großen Flügeltür, die zum Thronsaal führte. Er wünschte, er hätte es schon hinter sich. Er hatte den Aufbruch aus Feylanviek um einen Tag hinausgezögert, weil er nicht wusste, wie er ihr sagen sollte, was geschehen war. Vielleicht wusste sie es auch durch die Silberschüssel? Aber hätte sie dann diesen Brief geschrieben? Er blickte zu dem prächtigen Springbrunnen, dessen Statuen den Augenblick von Falrachs Tod zeigten. Wer der Königin zu nahe kam, war in Gefahr, dachte Alvias. So war es schon immer gewesen. Emerelle überstand auf wundersame Weise jeden Sturm. Aber wehe denen, die sie begleiteten.
Die hohen Bronzepforten des Thronsaals schwangen auf. Eine Gestalt ganz in Schwarz trat heraus. Sie war also wirklich gekommen, dachte der Hofmeister bitter. Alathaia! Sie ging geradewegs auf ihn zu. Ein eisiger Luftzug eilte ihr voraus.
Der Luftzug kommt aus dem Thronsaal, redete er sich ein.
Das Kleid der Fürstin war schlicht und schmucklos. Sie lief barfuss! Ihr Gesicht war ein blasser Schemen hinter einem Gazeschleier. Als sie vor ihm stand, war ihr Antlitz gut zu erkennen. Ihr Schleier zog die Blicke an, doch verbarg er letztlich nur wenig. Deutlich sah er ihre dunkelgrünen Augen. Alathaias fein geschwungene Lippen waren von einem tiefen Rot. »Willkommen zurück, Hofmeister.« Ihre Stimme hatte einen warmen, sinnlichen Klang. »Ich hoffe, du bringst gute Nachrichten vom Schlachtfeld. Hat der Schwertmeister das Heer unserer Feinde zerschmettert?«
Alvias hatte das Gefühl, dass es eine rein rhetorische Frage war und sie längst wusste, wie die Kämpfe ausgegangen waren. Angeblich vermochte sie Geister herbeizurufen. Nicht die Seelen verstorbener Elfen, sondern jene, für die es nach dem Ende des Lebens nur die Finsternis gab.
»Du wirst verstehen, dass ich zuerst der Königin Bericht erstatte«, sagte er steif.
Sie schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. »Ich habe schon gehört, dass du dich stets an die Etikette hältst, Meister Alvias. Würdest du mir die Freude bereiten, mich in meinen Gemächern aufzusuchen, nachdem du deine Pflichten gegenüber der Königin erfüllt hast?«
Sie schaffte es, das in einem Tonfall zu sagen, als gehe es dabei um irgendetwas Anzügliches. Was bildete sich dieses Weib ein! Alathaia beugte sich vor und hauchte ihm durch den Schleier einen Kuss auf die Wange. Ein schwerer, verstörender Duft stieg aus ihren Kleidern auf. Obwohl Alvias sich gut mit Parfüms auskannte, vermochte er diesen Geruch nicht zuzuordnen. »Ich erwarte dich, Alvias.« Mit einem Lächeln ging sie davon.
Welch ein überhebliches Miststück, dachte Alvias. Er beherrschte sich und sah ihr nicht nach. Stattdessen suchte er auf seinem Umhang noch einmal nach einem Staubkörnchen. Seine Finger strichen über den glatten Stoff. Die Flügeltür zum Thronsaal stand noch immer weit offen. Er zögerte, doch das weite Tor schrie ihm förmlich seinen Namen entgegen. Emerelle erwartete ihn.
Der Hofmeister straffte sich. Mit etwas steifen Schritten trat er ein. Leise rauschten die Wasserschleier an den Wänden. Emerelle saß auf ihrem Thron. Sie war allein in dem weiten, runden Saal. Ein Abendhimmel in Rot und Gold spannte sich über der offenen Kuppel.
»Komm herauf zu mir«, sagte Emerelle leise. »Lassen wir die Förmlichkeiten.« Alvias widersprach ihr nicht. Er widersprach ihr niemals. Aber es wäre ihm lieber gewesen, vor dem Thron zu knien. Dicht vor ihr zu stehen machte es schlimmer, die Nachricht zu überbringen, auch wenn sie ihren Schmerz sicher verbergen würde.
»Ich glaube, es besteht Grund zu der Annahme, dass wir den Angriff der Trolle um viele Wochen verzögert haben«, begann er seinen Bericht. Alvias erzählte vom Ablauf der Schlacht und vom Rückzug. Auch verheimlichte er nicht, dass sich das Heer der Verbündeten in Feylanviek wohl bald auflösen würde.
Emerelle hörte ihm aufmerksam zu. Manchmal stellte sie Zwischenfragen, um sich ein besseres Bild machen zu können. Besonderes Interesse hatte sie an Melvyn und Nestheus, dem jungen Kentauren, dessen tollkühner Angriff die Verteidiger auf dem Hügel vor dem Untergang bewahrt hatte.
Alvias lobte Ollowains Plan. In aller Ausführlichkeit erzählte er von den schwarzen Seidenballons. Nie zuvor hatte er von so etwas auch nur gehört. Der Schwertmeister war ein überragender Feldherr gewesen. Niemand würde ihn ersetzen können. Es hatte etwas Obszönes, sich zu vergegenwärtigen, dass an jenem Tag, an dem tausende gestorben waren, der Tod eines einzelnen Elfen das Schicksal Albenmarks besiegelt hatte.
»Trotz aller Verluste sind die Trolle immer noch stark. Sie werden sich schon bald von dieser Niederlage erholt haben, Herrin, und ich weiß nicht, wie wir sie dann aufhalten sollen. Ich fürchte, wir sollten darüber nachdenken, Feylanviek zu evakuieren.«
»Die Trolle fangen an, Fehler zu machen. Wie es scheint, hat Skanga einige Shi-Handan beschworen. Sie nutzt sie, um jene Albenkinder zu bestrafen, die nicht mit ihr paktieren wollen. Das wird das Bündnis stärken. Sie zeigt damit allen, was für eine Art Herrschaft uns erwartet, wenn die Trolle das Herzland erobern. Ich hoffe, ich werde neue Truppen senden können, wenn sich die Kentauren auf ihre Winterweiden zurückziehen. Im Übrigen bin ich zuversichtlich, dass Ollowain uns wieder mit einem Plan überraschen wird, der die Übermacht der Trolle bedeutungslos werden lässt.«
Nun war es also so weit, die Wahrheit ließ sich nicht länger hinauszögern. »Herrin, ich fürchte, wir können nicht mehr mit Ollowains Plänen rechnen. Er gehört zu jenen, die nicht zurückgekehrt sind.« Alvias konnte der Königin nicht länger in die Augen sehen. »Deine Nachricht hat ihn nicht mehr erreicht, Herrin. Ich bin zu spät gekommen.«
Nie zuvor hatte sich Alvias im weiten Thronsaal so einsam gefühlt. Nur das leise Rauschen des Wassers war zu hören. Nicht einmal das Lied der Nachtigallen störte die Ruhe. Sie waren verstummt, seit die Schatten die Burg heimsuchten.
Schließlich tat Emerelle einen tiefen Atemzug. »Du musst dich irren, Alvias.«
»Herrin, ich selbst sprach mit einem Kentauren, der ihn sterben sah. Glaube mir, dass ich nicht leichtfertig Nachricht über einen Tod bringe. Er gab sein Leben, um Caileen, die Gräfin von Dorien, zu retten. Er starb, wie er lebte. Wie ein Ritter.«
Alvias räusperte sich verlegen. Seit Tagen hatte er versucht, sich die Worte zurechtzulegen, mit denen er es Emerelle sagen konnte, und nun redete er solch pathetischen Unsinn!
»Gab es ein Feuer?«
Emerelle schien ihm ein wenig blasser geworden zu sein. Alvias verstand ihre Frage nicht. »Ein Feuer, Herrin? Wie meinst du das?«
»Kam er in Flammen um?«
»Nein, Herrin. Er wurde von Trollen umringt und niedergemacht.« Jetzt lachte die Königin. »Du weißt, dass er der beste Schwertkämpfer Albenmarks ist, Alvias. Das wäre niemals geschehen.« Der Hofmeister sah Emerelle fest an. Er hatte es ihr ersparen wollen. Wahrscheinlich hätte auch er nicht begriffen, was wirklich geschehen war, hätte er nicht um den Streit zwischen der Königin und ihrem Schwertmeister gewusst und nicht jene Zeilen gelesen, die Ollowain unbedingt noch vor der Schlacht hätten erreichen sollen. »Herrin, bitte glaube mir. Er ist den Trollen entgegengegangen und hat nicht einmal versucht, sein Schwert gegen sie zu erheben. Es war kein Kampf. Es war eine Hinrichtung. Das sind die genauen Worte des Kentauren Senthor, der Ollowain sterben sah. Ich habe ihn überzeugen können, diese Geschichte nicht weiterzuerzählen, damit der Tod eines Helden nicht von Gerüchten und unziemlichen Geschichten besudelt wird.«
»Aber hast du seine Leiche gesehen, Alvias?«
»Nein, Herrin. Melvyn hat Ollowain gesucht. Er scheint seinen Tod noch schwerer als die anderen genommen zu haben. Er hat sein Leben riskiert, um den Leichnam des Schwertmeisters zu bergen. Aber er konnte ihn nicht finden.«
Emerelle schüttelte den Kopf. Sie wirkte nicht mehr wie eine Herrscherin auf den Hofmeister, sondern wie ein junges Mädchen, das sich trotzig gegen jede Vernunft weigerte anzuerkennen, welch tragische Folgen der Streit mit dem Schwertmeister gehabt hatte. »Er ist nicht tot. Deshalb konntet ihr auch keine Leiche finden.«
»Herrin, vielleicht ist er ins Mondlicht gegangen. Oder ... Du weißt, was die Trolle mit den Toten auf den Schlachtfeldern tun. Gerade mit jenen, vor deren Mut sie Respekt haben.«
»Genug! Ich verbiete dir, so zu sprechen. Ich ...«
»Herrin, bitte.«
Die Königin legte die Hand auf ihr Herz. »Ich weiß, dass er nicht von uns gegangen ist. Ich spüre ihn hier in meinem Herzen. Er lebt. Es geht ihm gut. Wo immer er auch sein mag. Er hat mich nicht verlassen!«
»Welch eine seltsame Form von Hass.« Ganda zuckte zusammen. Sie hatte Elija nicht kommen hören. Der Kommandant stand im Eingang zu ihrem Zelt und stützte sich an eine der Stangen, die fest mit dem Holzgerüst auf dem Rücken der Hornschildechse verbunden war.
»Nikodemus glaubt, dass er einer deiner Folterknechte war.«
Elija trat ein und ließ die Zeltklappe hinter sich zufallen. Er stand breitbeinig da und hielt mühelos das Gleichgewicht auf dem schwankenden Holzboden, der sich bei jedem Schritt der Hornechse leicht hob und senkte. »Hat er Recht?«
Ganda wusste, dass es aussichtslos war, dem Kommandanten etwas vorzumachen. »Nein«, sagte sie leise. »Dieser Elf hat mich verraten. Und dennoch schulde ich ihm etwas. Er hat um mein Leben gekämpft.«
Der Lutin setzte sich neben sie an das Krankenlager. »Sie sind gut darin, uns Schuldgefühle zu machen, Ganda. Das liegt daran, dass sie uns vorgaukeln, so weit über uns zu stehen. Wenn sich dann einer von ihnen um uns kümmert und Dinge tut, die eigentlich selbstverständlich sein sollten, sind wir ganz fassungslos vor Glück und haben das Gefühl, ihnen fortan etwas zu schulden. Das ist einer der Mechanismen ihrer Herrschaft.«
Ganda blickte müde zu Elija auf. »Vielleicht hast du Recht. Wenn ja, dann funktioniert es verdammt gut. Ich dachte, ich hasse ihn. Und jetzt sitze ich hier und kämpfe um sein Leben.«
»Bist du sicher, dass er es dir danken wird?«
»Darum geht es nicht. Ich brauche seinen Dank nicht. Ich tue es ...«
»Du hast mich falsch verstanden. Sieh ihn dir an! Er wird nie mehr sein, was er einmal war. Ist dir jemals ein verkrüppelter Elf begegnet? Sie sind besessen von ihren Vorstellungen der Vollkommenheit. Das Unvollkommene können sie nicht ertragen. Er wird entstellt sein. Vielleicht wird er sogar gelähmt sein. Glaubst du, er wird es dir danken, dass du ihm so ein Leben schenkst? Tust du ihm wirklich einen Gefallen? Oder ist es vielleicht doch eine merkwürdige Form von Hass? Wenn er stirbt, dann geht er ins Mondlicht ein oder wird wiedergeboren. Für ihn ist der Tod nicht das Ende, so wie für uns. Ganz gleich, welcher von beiden Wegen ihm bestimmt ist, er wird sich verbessern. Lass ihn gehen.«
Ganda sah auf die bandagierte Gestalt, die vor ihr auf einem im Boden eingelassenen Lager ruhte. Ollowain hatte einen schweren Schädelbruch und sieben weitere Knochenbrüche. Drei tiefe Schnittwunden hatten ihn fast verbluten lassen, und eine Unzahl von Prellungen und Quetschungen bedeckte seinen Leib. Wie ein Kleinkind musste sie ihn Löffel für Löffel mit Fleischbrühe füttern. Seit sie ihn gefunden hatte, war er nicht zu Bewusstsein gekommen, und es war unmöglich zu sagen, welchen Schaden sein Verstand genommen hatte. Sein Gesicht war so angeschwollen, dass sie ihn nicht wiedererkannt hätte, wäre er nicht ganz in Weiß gekleidet gewesen. Vielleicht tat sie ihm wirklich keinen Gefallen ... Aber sie konnte ihn auch nicht einfach sterben lassen. Das brachte sie nicht übers Herz.
»Willst du mir seinen Namen sagen?«
»Ollowain.«
»Der Schwertmeister?« Elija seufzte. »Ach, Ganda. Er ist einer der treuesten Diener Emerelles, und wir pflegen ihn. Das ist widersinnig. Glaubst du, er würde auch nur einen Herzschlag lang zögern, sich gegen uns zu stellen, wenn wir die Tyrannin stürzen wollen? Er darf nicht sehen, was wir tun. Er darf nicht einmal unsere Gesichter kennen. Du hast eine Natter in unsere Mitte gebracht. Er steht für all das, was wir bekämpfen.«
»Ich schulde ihm mein Leben.«
»Das mag ja sein, Ganda, aber was schulden wir ihm? Vor drei Stunden habe ich dir unsere Herde anvertraut, und nun muss ich sehen, auf was für Abwege du dich verirrt hast.«
»Habe ich dich nicht an den Ort gebracht, an den du wolltest? Ich weiß, was ich der Herde schuldig bin. Ich habe euch sicher durch das goldene Netz geführt. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich meine Pflichten so wie früher gewissenhaft erfüllen werde.«
»Und was würdest du tun, wenn ich von dir verlangen würde, dass wir den Elfen zurücklassen?«
»Ich wäre traurig, dass es den Elija, den ich von früher kannte, nicht mehr gibt. Er hätte sich nicht vor einem schwer Verwundeten gefürchtet, der vielleicht nicht einmal die nächste Nacht überleben wird.«
Der Lutin zuckte ärgerlich mit der Schnauze. »Komm, Ganda! Nicht so ... Was ist, wenn du den Elfen gesund pflegst? Dann haben wir den Schwertmeister in unserer Mitte. Wenn auch nur die Hälfte der Geschichten stimmt, die man sich über ihn erzählt, dann sind wir alle zusammen ihm nicht gewachsen. Und was glaubst du, wird geschehen, wenn er begreift, was wir getan haben? Bleibt er hier, so sind wir alle in Gefahr. Ich führe unsere kleine Herde, und ich werde nicht dulden, dass wir einen Wolf in unserer Mitte haben.«
»Also was willst du tun? Mich verstoßen?«
Elija richtete sich auf. »Nein. Ich war glücklich, als du wieder zu uns zurückgekehrt bist. Ich will dich nicht sofort wieder verlieren. Und das werde ich nicht. Ich werde dich und den Schwertmeister beobachten, und wenn ich den Eindruck habe, dass er eine Gefahr für uns wird, dann werde ich etwas unternehmen.«
»Was soll das heißen, etwas unternehmen? Willst du ihn töten?«
»Vielleicht.«
»Wenn du ihn umbringst, wirst du auch mich für immer verlieren.«
Elija seufzte. »Das ist grotesk! Hast du dich etwa in ihn verliebt? Dir ist hoffentlich klar, dass er das nicht einmal bemerken würde, Ganda. Er ist ein Elf. Für ihn sind wir nichts anderes als nützliche Diener. Wenn er dich mag, dann so, wie man einen treuen Hund mag. Lieben wird er dich niemals.«
»Wer spricht hier von Liebe!«
»Deine Taten, Ganda. Deine Taten.«
»Bist du etwa eifersüchtig?«
Elija lächelte, doch wie bei allen Lutin sah es aus, als fletsche er die Zähne. »Vielleicht, Ganda. Mein Leben lang bekämpfe ich die Überheblichkeit der Elfen. Für sie sind wir nicht mehr wert als der Dreck unter unseren Fingernägeln. Und nun holst du mir einen Elfen mitten in unser Lager, der alles zunichte machen kann, wenn er begreift, wie nahe wir unserem Ziel gekommen sind. Ich könnte aus der Haut fahren vor Wut! Und zugleich freue ich mich immer noch, dass du wieder zurückgekehrt bist.«
Elija sagte das ruhig, ohne ein Gefühl in der Stimme. Er war ihr unheimlich.
»Ich mache dir einen Vorschlag, Ganda. Ich werde das Leben des Elfen schonen, und er kann in unserem Lager bleiben. Aber dafür fordere ich deine Treue, Ganda. Diene unserer Sache, so wie du es früher getan hast. Schwöre mir das!«
Ganda war überrascht. Elija gab sein Wort niemals leichtfertig. Man konnte sich darauf verlassen, dass er sich an das hielt, was er versprach. Sein plötzlicher Sinneswandel machte sie skeptisch. Liebte er sie so sehr?
Lange sahen sie einander schweigend an. Ganda versuchte, in den Augen des Kommandanten zu lesen, doch er verstand es meisterlich, seine Gefühle zu verbergen.
»Ich bin einverstanden«, sagte sie schließlich. »Du kannst mir vertrauen. Ich bin noch immer eine treue Kämpferin für unsere Sache.«
Wieder bleckte Elija die Zähne. »Gut.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zelt.
Ganda wartete eine Weile, bis auch sie hinaustrat. Weites, sanft gewelltes Grasland erstreckte sich bis zum Horizont. Die Herde zog gemächlich ihres Weges. Lachende Kinder liefen hinter den Hornschildechsen her und sammelten ihren harten, trockenen Dung für die abendlichen Feuer. Sie hatte die Herde vermisst. Hätte sie all das für Ollowain aufgegeben? Sie strich über ihre glatte Silberhand. War das alles, was ihr das Abenteuer mit dem Elfen eingebracht hatte? Vor ein paar Tagen noch hatte sie ihn leidenschaftlich gehasst. Und jetzt riskierte sie ihr Leben in der Herde für ihn. War sie wirklich verliebt? Bei dem Gedanken stieg ihr ein Kloß in den Hals. Das durfte sie nicht zulassen! Es wäre aussichtslos. Vielleicht würde Ollowain nicht einmal diese Nacht überleben? Seine Wunden waren nicht brandig geworden, aber er war so sehr geschwächt, dass allein das Atmen schon fast seine Kräfte überstieg. Und seine Kopfwunde ... Sie hatte die eingedrückten Schädelknochen so gut gerichtet, wie sie es konnte. Aber es war unmöglich zu sagen, ob er nicht als stammelnder Idiot erwachen würde.
Ganda spürte das warme Sonnenlicht auf ihrem Pelz. Sie atmete tief durch. Die Luft roch nach trockenem Gras, Staub und Steppenblumen. Nach den Ausdünstungen der großen Echsen und dem Fleisch, das die Herde trug. Genug, um die ganze Sippe viele Monde lang zu ernähren. Sie schauderte bei dem Gedanken, was für Fleisch das war. Vielleicht wäre auch Ollowain in einem der Körbe, wenn sie ihn nicht gefunden hätte. Ausgeweidet und von wuchtigen Steinäxten zerteilt.
Tausende Fliegen umschwirrten die großen Echsen. Ganda war froh, wenn sie diese grausige Fracht endlich abliefern konnten. Die Zeit drängte. Einen weiteren Tag in der Sommerhitze würde das Fleisch nicht vertragen. Schon jetzt wimmelte es vor Maden. Sie hatten das Fleisch eingesalzen und es mit Zaubern umwoben, die Hitze und Fliegen fern halten sollten. Aber letzten Endes war dies ein Kampf, den man nicht gewinnen konnte. Es war höchste Zeit, dass sie ihr Ziel erreichten!
Sie schirmte die Augen mit ihrer Silberhand ab. Bald müssten sie am Grabhügel eintreffen, in dem das Kentaurenvolk der Schwarzschilde seine toten Anführer bestattete. Warum das Fleisch dorthin sollte, hatte ihr niemand sagen wollen. Vielleicht wusste es auch nur Elija. Offenbar ging es schon seit Jahren so, dass sie Fleisch in Gräber brachten. Ob der Kommandant verrückt geworden war? Und welchen Plan hatte er mit Ollowain?
»Und was erwartet einen bei so einem Leichenschmaus?«, fragte Melvyn, obwohl er die Antwort schon ahnte. Er versuchte fröhlich zu klingen, dabei hatte er sich zwingen müssen, heute Abend an die große Wiese am Fluss zu kommen. Morgen schon würde er flüchten. Elodrin konnte er nicht gehorchen. Er hatte versucht, dem Elfenfürsten zu erklären, warum er nicht bleiben konnte, doch Elodrin wollte nichts von einer Suche nach Leylin wissen. Im Gegenteil. Er hatte ihm erklärt, wie groß Arkadien war und wie viele Orte es gab, an die Shandral geflohen sein mochte. Er hatte an seine Ehre appelliert, ihm sogar geschmeichelt und ihn daran erinnert, dass er und seine Späher die Augen des Heeres seien und sie ihn nun, da die Kentauren ziehen würden, mehr denn je brauchten. Doch nichts hätte Melvyn überzeugen können. Er blickte zum südlichen Himmel, den die Abenddämmerung mit einem tiefen, samtenen Blau überzogen hatte, aus dem scharf die Sichel des Mondes hervorstach. Irgendwo dort in der Ferne war Leylin. Und sie blickte zum selben Mond. Und vielleicht hoffte sie noch auf ihn. Er hatte ihr Leben zerstört. Diese Schuld würde er niemals abtragen können. Das Einzige, was er für sie tun konnte, war, sie von Shandral fortzuholen. Sie würden wieder mit den Adlern schwerelos im Himmel tanzen. Er wollte sie vergessen lassen, dass sie ihre Beine verloren hatte. Wollte ihr das scheue Lächeln auf die Lippen zaubern, in das er sich verliebt hatte. Wollte sein Gesicht in ihrem langen Haar vergraben und zwischen ihren Schenkeln versinken. Er würde sie finden! Oder er würde auf der Suche nach ihr sterben.
Er dachte an Ollowain. Nur ein paar Tage hatte er ihn erlebt. Er war so voller Kraft gewesen. So voller Zuversicht. Jeder Zoll ein Ritter. Alles schien möglich, wenn man Ollowain auf seiner Seite hatte. Schon als kleiner Junge hatte er Geschichten über ihn gehört. Sein Vater Alfadas war angeblich einmal sein liebster Schüler gewesen. Aber ein Ritter wie Ollowain war Alfadas nicht geworden, dachte Melvyn. Ollowain hätte ihn nicht allein gelassen. Er war genau so gewesen, wie er ihn sich als kleiner Junge vorgestellt hatte.
Melvyn lächelte bitter, als er an seine erste Begegnung mit dem Ritter dachte und daran, wie Ollowain ihn in Eisen hatte legen lassen. Er hatte wohl Recht damit gehabt. Aber trotz allem hatte der Ritter ihm vertraut. Das war ein gutes Gefühl gewesen.
Melvyn blickte zu Artaxas auf, der neben ihm her schritt. Der Lamassu hatte sich ihm und Nestheus auf dem Weg zur Festwiese angeschlossen. Er hatte ein Funkeln in den dunklen Augen, und ein verschmitztes Lächeln spielte um seine Lippen. Melvyn kannte diesen Gesichtsausdruck nur zu gut. Seinem Freund saß an diesem Abend wieder einmal der Schalk im Nacken. Er war auf der Suche nach einem Besäufnis und einer netten Schlägerei. Aus Artaxas wurde man nicht schlau, er konnte gestelzt daherreden wie ein Philosoph und im nächsten Augenblick fluchen, dass selbst abgebrühte Söldner blass wurden. Seine Launen waren so wechselhaft und unvorhersehbar wie das Frühlingswetter an der Küste Alvemers. Er war ein Rätsel auf vier stämmigen Stierbeinen. Und ein treuer Freund.
»He, Pferdearsch. Redest du nicht mit uns? Wie feiern deine Leute einen Toten? Das würde ich auch gern wissen, bevor ich einen Abend an einem Ort vergeude, an dem man nur auf feuchte Wangen, nicht aber auf feuchte Kehlen hoffen darf.«
Melvyn zuckte innerlich zusammen. Jetzt ging es also los mit Artaxas. Doch Nestheus tat so, als habe er die Beleidigungen überhört. Er wirkte nervös an diesem Abend. Der weiße Kentaur schien ihnen kaum zuzuhören. Sein Schweif peitschte unruhig, und er blickte sich ständig um. »Was erwartet ihr bei einem Fest meines Volkes? Wir werden uns besaufen, bis wir umfallen, und vorher wird man ein paar ergreifende Reden über den Toten halten.«
»Willst du wirklich mitkommen, Artaxas?«, fragte Melvyn in der vagen Hoffnung, den Lamassu doch noch umstimmen zu können.
Sein Freund grinste breit. »Warum nicht? Heute steht mir der Sinn danach, meinen Horizont zu erweitern. Nimm es mir nicht übel, aber es ist nicht wirklich eine Herausforderung an meinen Intellekt, meine Abende plaudernd mit einem Hauptmann zu verbringen, der seine Kindheit in einer Wolfshöhle verbrachte. Ich brauche Abwechslung von dir.«
»Und was erwartest du auf einem Kentaurenfest? Neue Einblicke in das Paarungsverhalten volltrunkener Hengste?«
Artaxas schnalzte mit der Zunge. »Du bringst mich noch auf Ideen ... Eigentlich hoffte ich darauf, Elodrin zu begegnen und ihn dazu zu überreden, die wilde Sauforgie zu verlassen und sich stattdessen mit mir im Falrach-Spiel zu messen. Angeblich soll er ja recht gut sein. Aber falls er nicht kommt, werde ich herausfinden, wie viel Wolfsmilch ein Lamassu braucht, um von den Hufen zu kippen, und bis das geschieht, beschäftige ich mich mit den Studien, die du anregst, Melvyn.«
»Welcher Teil von dir ist eigentlich für deine altkluge Ader verantwortlich, der Stier, der Adler oder jenes obskure Wesen, dem du das Gesicht verdankst, das du hinter deinem Bart versteckst?«
»Ist das ein Anflug von Bartneid? Ein Freund von mir hat darüber einen hübschen Aufsatz verfasst. Er glaubt, Elfen als bartlose Geschöpfe hätten generell die Neigung, sich Bartträgern gegenüber intellektuell unterlegen zu fühlen. Er ist auch der Auffassung, viele von ihnen kompensieren das durch Pferdeschweife oder üppige Federbüsche auf ihren Helmen. Das halte ich persönlich für zu weit gegriffen, aber ...«
»Blablabla.« Melvyn wandte sich lachend an Nestheus. »Man sollte einem Lamassu niemals die Gelegenheit geben, mit seiner Weisheit zu prahlen. Die quatschen dir die Ohren vom Kopf ... Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«
»Unser niedliches Fohlen verrenkt sich sicher den Hals nach der kleinen Stute, mit der er gestern auf der Weide bei dem Birkenhain zugange war. Soll ich mal ‚ne Runde über das Lager drehen und mich nach dem Mädel umsehen? Das wäre vielleicht weniger umständlich. Deine Zappelei schlägt mir allmählich auf den Magen.«
Der Kentaur blickte erschrocken zu Artaxas auf. »Du hast ...«
»Wenn man Freunde hat, die fliegen können, sollte man auch den Himmel im Auge behalten, Nestheus.« Der Lamassu lächelte verschwörerisch. »Aber keine Sorge. Nur weil ich gerne rede, heißt das nicht, dass ich kein Geheimnis für mich behalten könnte.«
»Würde mir mal jemand sagen, worum es geht?«, brummelte Melvyn beleidigt.
»Tja, als Fußgänger hat man ein sehr eingeschränktes Weltbild«, stichelte Artaxas. »Unser vierbeiniger Freund hat sich in eine hübsche Schimmelstute verguckt. Von oben sah es so aus, als sei sie von ihm auch recht angetan.«
Nestheus wurde rot. »Du hast uns doch nicht etwa ...«
»Junge Liebe wärmt einem das Herz, wenn man so ein alter Knochen ist wie ich.« Melvyn wurde langsam ärgerlich. Dieser Abend sollte ganz dem Andenken an Ollowain gewidmet sein, doch seinen beiden Freunden schien es nur um andere Dinge zu gehen.
»Sie heißt Kirta und gehört zum Klan der Frostkinder«, sprudelte es unvermittelt aus Nestheus hervor. »Ich habe sie vor zwei Jahren während eines Viehmarkts hier in Feylanviek kennen gelernt. Du hast sie gesehen, Artaxas. Sie ist wunderbar! Ihre Fesseln sind wie zarte Birkenstämme, ihr Haar wie Raureif an einem kalten Frühlingsmorgen. Und wenn du ihre Stimme hören könntest. Süß und melancholisch wie der Ruf des Eistauchers in der ersten Dämmerung. Sie ist wie ...«
»Schreibst du ihr etwa Gedichte?«, unterbrach ihn Artaxas.
Der Kentaur wirkte verdattert. »Ja«, gestand er schließlich ein.
»Das merkt man. Wann stellst du sie uns vor? Ich hätte nie zu hoffen gewagt, auf meine alten Tage noch einmal dem vollkommensten aller Geschöpfe zu begegnen«, scherzte der Lamassu.
Melvyn brannten die Worte des Kentauren in der Seele. Er musste an Leylin denken, und er wünschte, er wäre allein.
»Sie wird nicht zum Fest kommen ... hoffe ich. Ich habe sie darum gebeten. Es wäre nicht gut.«
»Weil nur Männer sich besaufen?«
Der Pferdemann schüttelte den Kopf. »Mein Vater hat mir den Umgang mit ihr verboten.« Artaxas lachte laut auf. »Und darum scherst du dich? Junge, ich hab dich auf dem Schlachtfeld gesehen. Vor dir hatten selbst Trolle Angst, und du scherst dich um den Segen deines Vaters! Schnapp dir dein Mädel und verschwinde. Ich wette, Orimedes wird sich damit abfinden. Du bist doch sein einziger Sohn. Er wird es nicht lange ohne dich aushalten. Mit Vätern muss man manchmal die harte Gangart proben. Du wirst sehen, der kommt schon wieder zur Vernunft.«
»Das glaube ich kaum. Er kann sehr verstockt sein ...«
»Ach, Junge. Du bist ein Geschenk des Schicksals. Ein kostbares Kleinod, das sein Leben bereichert. Aber du bist nicht sein Besitz. Als du ein Fohlen warst, hatte er vielleicht das Recht, dir zu sagen, wo es langgeht. Aber jetzt doch nicht mehr! Du bist ein Mann! Ein Krieger! Du hast auf dem Schlachtfeld das Blut deiner Feinde vergossen. Elodrin und die Hälfte der Anführer unseres Heeres verdanken dir ihr Leben. Ohne deine letzte Attacke wäre die Schlacht am Mordstein zu einem schaurigen Gemetzel für uns geworden. Dir sprießt kaum ein Barthaar auf den Wangen, und du bist berühmt. Nicht einmal dein Vater kann sich jetzt noch gegen dich stellen. Jedenfalls wird er das nicht tun, wenn er ein kluger Mann ist, und den Eindruck hatte ich bislang von ihm.«
Sie erreichten die Festwiese. Orimedes stand auf einem sanften Hügel nahe dem Fluss. Neben ihm war eine große Balkenwaage aufgerichtet. Auch hatte man einen Karren mit Weinamphoren auf den Hügel gebracht. Der Fürst hatte die Totenrede schon begonnen. Hunderte Kentauren standen schweigend und lauschten seinen Worten. Worten der Freundschaft und des Mutes.
Melvyn fühlte einen bittersüßen Schmerz. Und er fühlte sich betrogen! Warum hatte er Ollowain kennen lernen müssen, wenn er ihn gleich darauf wieder verlor?
»Ein Licht, das zu hell brennt, muss früh verlöschen, so heißt es.« Die volltönende Stimme des Kentaurenfürsten trug über das weite Feld. »Ein solches Licht war Ollowain. Ein Vorbild in seiner Ritterlichkeit. Nie habe ich ihn fragen hören, was nutzt es mir, wenn man ihn um seine Hilfe bat. Er war dort, wo Unrecht sein Haupt erhob, und er fand keine Ruhe, bis der Gerechtigkeit zum Sieg verholfen ward. Sein unverrückbarer Glaube daran, dass die Gerechtigkeit zuletzt immer siegen würde, war vielleicht sein herausragendster Charakterzug. Nie scheute er davor zurück, für eine scheinbar verlorene Sache einzustehen. Und deshalb war er zu uns gekommen, meine Brüder. Erinnert euch, wie verzagt wir waren. Wie wir Woche um Woche im Heerlager warteten, so wie ein zum Tode Verurteilter in seiner Zelle auf seine Hinrichtung wartet. Wir wussten, wie viele Trolle sich auf der Ebene am Mordstein sammelten. In unseren Herzen waren wir schon besiegt, noch bevor wir unsere erste Schlacht geschlagen hatten. Ich weiß nicht, wie es um euch steht, meine Brüder, doch mir hat Ollowain meinen Mut zurückgegeben. Die Schlacht am Mordstein war ein Sieg für uns, denn die Trolle mussten lernen, dass sie sich zu keiner Stunde und an keinem Ort sicher vor uns fühlen können — und dass auch ihre Zahl sie nicht vor unseren Angriffen schützt. Ollowain, der Schwertmeister Emerelles, hat für unsere Sache sein Leben gegeben. Ich weiß, dass manche sich fragen, warum wir den Krieg gegen die Trolle nicht aufgeben. Sie sagen, die Trolle würden nur durch unser Land ziehen und uns nicht weiter behelligen. Sie glauben, dass es allein der Thron Emerelles ist, was sie begehren. Ich sage euch, wer das annimmt, ist blind. Sie werden immer mehr, die Trolle, und ihr Hunger ist berüchtigt. Hunger auf Fleisch! Sie werden uns zwingen, ihnen Tribut zu zahlen. Sie werden die besten Tiere aus unseren Herden fordern. Und ihr Hunger wird unersättlich sein. Bald werden sie sagen, die Herden gehörten ihnen, denn sie seien die Herren des Landes und das Land ernähre die Herden. Dann werden wir nur noch ihre Viehtreiber sein. Ollowain wusste, dass es so kommen würde. Er war ein Freund der freien Steppenvölker. Er wusste, dass wir unsere Freiheit brauchen wie die Luft, die wir atmen. Mit seinem Tod hinterlässt er uns ein Vermächtnis. Er hat sein Fleisch gegeben, um unseres zu schützen. Lasst seinen Tod nicht sinnlos gewesen sein!«
Orimedes breitete die Arme aus und streckte sie dem Himmel entgegen. »Ich weiß nicht, wohin deine Seele gegangen ist, mein Schwertbruder Ollowain. In meinem Volk glauben wir, die Seelen der Toten reisen mit dem Wind, der über die Steppe weht. Vielleicht reitest auch du nun den Wind. Was ich aber ganz gewiss weiß, ist, dass du immer stolz auf uns sein sollst. Dein Opfer war nicht vergebens. Wir werden den Kampf gegen die Trolle nicht aufgeben. Wir werden fechten, bis wir den Sieg errungen haben, der unsere Freiheit bewahrt. Den Sieg, an dem du nie gezweifelt hast.«
Orimedes hob das Schwert und streckte die Klinge dem Mond entgegen. »Hörst du mich, Südwind? Trage meine Worte zu meinem toten Freund. Du warst als Elf geboren, aber gestorben bist du für mein Volk. Und gleich, wie oft die Sonne sich noch über die Steppe erheben mag, bis unsere Welt zerbricht und das Ende aller Zeiten naht, deinen Namen und deine Taten werden wir für immer auf unseren Lippen tragen. So lange es Kentauren gibt, wirst du unvergessen sein, Ollowain!«
Der Fürst verstummte, und einen Herzschlag lang herrschte Stille auf der Wiese. Melvyn dachte daran, wie er Ollowain gegen die Kobolde hatte kämpfen sehen. Wie konnte ein Mann, der Armbrustbolzen auszuweichen vermochte, von schwerfälligen Trollen getötet werden? Dieses Geheimnis würde sich ihm wohl niemals erschließen.
»Lasst seinen Namen wie einen Sturmwind zum Himmel fahren!«, rief Orimedes plötzlich. »Ollowain!«
Melvyn stimmte in das Geschrei ein. »Ollowain! Ollowain!«, rief er immer wieder, bis ihm die Kehle brannte, und tatsächlich fühlte er sich danach besser. Den Namen des Helden von tausenden Stimmen gerufen zu hören, hatte etwas Befreiendes. Und seine Traurigkeit stieg mit dem Ruf dem Himmel entgegen.
Nach einer Weile breitete Orimedes die Arme aus, und langsam verebbten die Stimmen der Krieger. »Immer schon haben wir unsere Toten geehrt, indem wir für sie tranken. Nie sind sie uns so nah wie im Rausch. Ich will für dich trinken, wie ich noch nie in meinem Leben getrunken habe, Ollowain. Unser Rausch soll Tage dauern. Ich schwöre, er wird erst enden, wenn ich mein Gewicht in Wein getrunken habe. Und dir zu Ehren soll es nur der beste sein. Roter aus Alvemer, gezogen in jenem Jahr, in dem wir in Phylangan unser Blut gaben. Ein König unter den Weinen für einen König unter den Kriegern.« Mit diesen Worten trat Orimedes in eine der beiden Waagschalen, die groß wie Scheunentore waren. Zwei junge Kentauren eilten herbei und stapelten Amphoren in die zweite Waagschale.
»Er muss eine ganze Herde verkauft haben, um den Wein zu bezahlen.« Nestheus‘ Stimme schwankte zwischen Bewunderung und Entsetzen. »Das ist verrückt. Da steckt noch mehr dahinter. Noch nie habe ich gehört, dass ein Fürst so viel für einen Leichenschmaus gezahlt hat.«
»Dann kann man wohl sagen, dass nie zuvor einem Fürsten im Windland ein Freund so teuer war«, stellte Artaxas fest.
Melvyn blickte überrascht zu seinem Gefährten auf. Mit dieser ironischen Art würde er sich unter den Pferdemännern schnell Feinde machen.
Nestheus schien gar nicht auf die Worte des Lamassu zu achten. Er blickte unverwandt auf den Hügel und beobachtete, wie die Waagschale, auf der sein Vater stand, sich langsam hob.
»Er schummelt«, stellte Artaxas fest. »Die Amphoren machen einen beträchtlichen Teil des Gewichts aus.«
»Dort drüben haben sie begonnen, Wolfsmilch auszuschenken.« Melvyn deutete zu einem Karren mit prallen Lederschläuchen, der auf die Wiese fuhr. Zwei Kobolde warfen jedem Pferdemann, der ihnen winkte, einen Schlauch mit Branntwein zu.
»Was mich angeht, ziehe ich die Wolfsmilch dem Wein oder Bier vor. Warum Zeit verschwenden, wenn man sich besaufen will.« Melvyn hoffte, seine beiden Gefährten aus ihrer eigenartigen Stimmung zu lösen. Er war sich bewusst, dass der Alkohol entweder helfen oder alles noch schlimmer machen würde. Aber der Halbelf mochte nicht einfach nur zusehen und untätig bleiben. Er hatte noch keinem Totenfest der Kentauren beigewohnt, und er wusste nicht, wie man sich zu verhalten hatte. Es lag etwas in der Luft. Es würde Streit geben.
Sie drängten sich durch die Menge, die sich um den Wagen versammelt hatte. Artaxas war wie eine mächtige Galeere, die durch die Fluten pflügte. Er überragte jeden der Kentauren um mehr als Haupteslänge. Keiner suchte Streit mit ihm. Noch nicht.
Melvyn folgte dem Lamassu. Er ahnte, was jetzt kommen würde. Artaxas genoss das Schauspiel, das ein Mann ohne Arme lieferte, wenn er trank. Ein Mann, der wie alle Lamassu von Magie durchdrungen war, wie sonst nur wenige andere Geschöpfe Albenmarks.
»He, du hässliche Lederhaut«, rief Artaxas einem der Kobolde zu. »Den größten Schlauch für den Mann mit dem größten Durst auf dieser Wiese.«
Der Kobold setzte zu einer Antwort an, doch ein Blick auf den Lamassu ließ ihn verstummen. Er flüsterte seinem Gefährten etwas zu, dann suchten sie einen Weinschlauch, den sie zu zweit anheben mussten. Sie packten ihn an beiden Händen, schwangen ihn zweimal vor und zurück und ließen ihn dann in hohem Bogen durch die Luft segeln. Der Weinschlauch würde den Lamassu mitten ins Gesicht treffen. Die Umstehenden wichen ein Stück zurück. Einige Pferdemänner grinsten gehässig. Melvyn war immer wieder aufs Neue überrascht, wie der Lamassu es schaffte, sich mit nur einem einzigen Satz unbeliebt zu machen.
Der Lederschlauch verharrte im Flug, als habe eine unsichtbare Faust ihn gepackt. Artaxas lächelte breit. Wie eine Sichel schimmerten seine schneeweißen Zähne durch den schwarzen Bart. Der Korkstöpsel des Lederschlauchs öffnete sich. Artaxas legte den Kopf in den Nacken, und ein dünner Strahl Wolfsmilch schoss ihm in den weit geöffneten Mund.
Die abergläubischen Kentauren wichen noch weiter vor dem Lamassu zurück. Selbst Nestheus war aus seiner grüblerischen Stimmung herausgerissen. »Dein Freund ruft die Geister des Windes und macht sie sich zu Dienern«, sagte er ungläubig. »Er ist ein machtvoller Zauberer!«
Melvyn lachte. »Zuerst würde ich ihn einen Fürsten unter den Angebern nennen. Und ja, natürlich, er ist ein Zauberer. Alle Lamassu sind das. Im Übrigen ist er auch ein hervorragender Fechtlehrer.«
Nestheus runzelte die Stirn. »Eine Kreatur ohne Arme ist ein Fechtlehrer?«
»Er kann einen Säbel schweben lassen, so wie er den Weinschlauch schweben lässt. Hast du einmal gegen eine Klinge gekämpft, hinter der kein Krieger steht, den du verwunden kannst? Jeder richtige Kampf erscheint dir danach wie ein Kinderspiel. Wenn er will, kann er sogar fünf Säbel gleichzeitig kämpfen lassen. Und er schleudert allein kraft seines Willens Dolche durch die Luft, wie andere Armbrustbolzen verschießen. Außerdem betrachtet er sich auch noch als einen genialen Bauherren, einen der bedeutendsten lebenden Dichter, einen unschlagbaren Falrach-Spieler und den Besitzer des elegantesten Bartes, den die Welt jemals gesehen hat. Man könnte auch sagen, er ist maßlos in allen Dingen, die er tut. Aber in den meisten ist er wirklich gut.«
»Das habe ich gehört, Wölfchen«, rief der Lamassu. Er ließ den Lederschlauch in Melvyns Richtung schweben. »Komm, trink, dann kannst du nicht noch mehr Unsinn über mich erzählen.«
»In deiner Heimat musst du ein Fürst sein«, sagte Nestheus ehrfürchtig.
Artaxas rollte mit den Augen. »Alle Lamassu halten sich für Fürsten. Zum Glück gibt es von uns nicht allzu viele. Ich ziehe es vor, der Lehrer eines Elfen zu sein, den man schon als Kind wegen seiner schlechten Manieren in der Wildnis ausgesetzt hat.« Er rülpste. »Manchmal fürchte ich allerdings, dass sein schlechter Einfluss auf mich abfärbt. Aber genug davon ... Komm, trink auch etwas. Für jemanden, der nüchtern bleibt, wird es sicherlich bald ziemlich ungemütlich auf dieser Wiese.«
Der Lederschlauch entglitt Melvyns Händen und schwebte zu dem Kentauren hinüber.
Nestheus hob abwehrend die Hände. »Ich vertrage nicht viel.«
»Dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen, dass für uns nicht genug übrig bleibt.«
»Wenn ich getrunken habe, sage ich manchmal unbedachte Dinge ...«
Der Stiermann brach in schallendes Gelächter aus. »Da befindest du dich in bester Gesellschaft. Komm, zier dich nicht wie eine alte Jungfer. Trink, Junge!« Der Kentaur setzte das Mundstück an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Dann reichte er den Schlauch Melvyn. Er wirkte verlegen.
»Auf Ollowain!«, rief der Elf, und etliche Kentauren nahmen seinen Trinkspruch auf.
Melvyn drückte den Lederschlauch, und ein Strahl Wolfsmilch spritzte ihm in den Mund. Das Getränk brannte auf der Zunge und in der Kehle. Wenn es aber erst einmal den Magen erreichte, dann breitete sich wohlige Wärme aus. Und es sprengte die Fesseln des Geistes. Die Welt sah anders aus, wenn man nur genug Wolfsmilch trank. Freundlicher. Mehr so, wie man sie gerne gehabt hätte. Dieser Zaubertrank aus vergorener Stutenmilch und anderen Zutaten, nach denen Melvyn nie zu fragen gewagt hatte, war ein Geschenk an alle, die einen Abend lang vergessen wollten. Und im Gegensatz zu Wein oder Bier wirkte es sehr schnell.
Melvyn war bereits leicht beschwipst, als er sah, wie der Kentaur Senthor kam und auf Nestheus einredete. An Nestheus‘ Seite war eine junge Stute. Ein hübsches Mädchen. Der Wolfself hatte gar nicht bemerkt, wie sie gekommen war. Sie hatte langes, weißblondes Haar. Auch ihr Schweif war von dieser Farbe, und wie Nestheus war sie ein Schimmel. Die beiden passten gut zueinander.
Der schrille Klang von Luren hallte über die Wiese. Melvyn blickte auf. Auf dem Hügel bei Orimedes hatte sich Katander von Uttika eingefunden. Der verwundete Fürst musste von zweien seiner Krieger gestützt werden, um stehen zu können. Lurenbläser standen um den Fuß des Hügels und streckten ihre schlangengleichen Instrumente dem Himmel entgegen. Als ihr eindringlicher Ruf ein zweites Mal erscholl, verstummten die Lieder der Zecher und die gelallten Prahlereien über Liebes-
und Kriegsabenteuer.
»Du wirst zu ihm kommen. Sofort!« Senthor verstummte, als er bemerkte, wie alle ihn anblickten. Das Kentaurenmädchen an seiner Seite wirkte erschrocken.
»Nicht heute Abend!«, entgegnete Nestheus entschieden.
»Meine Brüder!« Die Stimme des Fürsten Orimedes klang ein wenig heiser, und man hörte ihr an, dass er schon hart daran gearbeitet hatte, seinen Schwur gegenüber Ollowain zu erfüllen. »Seite an Seite haben wir mit den Uttikern gekämpft. Und nun trinken wir mit ihnen und gedenken gemeinsam unseres größten Helden. Uttiker haben Steppenreitern das Leben gerettet, und auch wir haben die Haut von manchem Goldkrebs gerettet. Die Feuer des Krieges schmieden Freundschaften, die nie mehr zerbrechen. Aus Verachtung wurde Respekt. Und so soll es von nun an für immerdar bleiben. Katander und ich haben miteinander getrunken, und wir haben beschlossen, das Band zwischen unseren Völkern noch fester zu knüpfen. Deshalb werden wir noch in diesem Winter eine Hochzeit feiern. Mein Nestheus, der Held der Schlacht am Mordstein, der einzige Erbe meines Blutes, wird Elena heiraten, die einzige Tochter Katanders. So wie die beiden sich vereinigen werden, werden auch unsere Völker künftig vereint sein. Und wenn das nächste Frühjahr kommt, dann wird mein Sohn es sein, der unsere vereinten Heerscharen anführt.«
Melvyn war schlagartig wieder nüchtern. Er sah zu Nestheus. Der junge Kentaur war leichenblass geworden. Er hielt die Fäuste geballt, und sein Schweif peitschte vor Wut. Kirta hatte den Kopf gesenkt. Sie wirkte gefasster.
»Tu jetzt nichts Unbedachtes!«, flüsterte Melvyn, doch sein Freund schob ihn einfach zur Seite. Er drängte sich durch die Menge.
Melvyn folgte ihm, doch zwischen den wogenden Pferdeleibern verlor er ihn aus den Augen, bis Nestheus den flachen Hügel hinaufpreschte, auf dem sein Vater und Katander standen.
»Keine Stunde ist vergangen, da hast du die Freiheit der Steppe als unser höchstes Gut gelobt, Vater. Und ich soll unser Heer anführen, um für diese Freiheit zu kämpfen. Aber wie kannst du glauben, dass unsere Krieger sich von einem Unfreien, einem Sklaven, anführen lassen werden?«
»Du redest wirr, Sohn. Du bist betrunken.« Orimedes winkte zwei stämmigen Leibwächtern. »Bringt ihn fort!« Er zwang sich zu einem falschen Lachen. »Der Junge verträgt nicht viel.«
»Mach es dir nicht so leicht, Vater! Du weißt, wovon ich spreche. Ich habe eine Braut dort draußen auf der Steppe gefunden. Und ich habe ihr mein Herz geschenkt.«
Er wandte sich an Katander, der aschfahl geworden war. »Ich kenne deine Tochter nicht, Fürst von Uttika. Gewiss ist sie ein wunderbares Mädchen. Und weil sie das ist, verdient sie einen Mann, der sie liebt. Sei nicht wie mein Vater und verschachere dein Fleisch und Blut. Man kann Völker nicht verheiraten, indem man einen Mann und ein Weib dazu zwingt, ihr Leben miteinander zu teilen. Wenn ich deine Tochter besteige, ohne sie zu lieben, ist es dann nicht fast dasselbe, als nähme ich sie mit Gewalt? Willst du das wirklich, Katander? Willst du ...«
»Genug!« Orimedes war hochrot angelaufen. »Es ist das Schicksal von Fürstenkindern, dass sie in Ketten geboren werden. Sie dienen ihrem Volk! Und ganz gleich, was du dir in deinem Liebeswahn zusammenfabulierst, es ist ein alter und bewährter Brauch, dass man das Bündnis zwischen zwei Völkern durch eine Hochzeit bekräftigt. Du wirst dich fügen, denn wenn du es nicht tust, dann bist du nichts als ein selbstsüchtiger Verräter. Ich kenne die Hure, die dir den Kopf verdreht hat. Was bringt sie dir? Ihre Sippe ist bettelarm. Ihre Büffel sind räudige Gerippe auf vier Beinen. Und dem Mädchen hat man befohlen, dich zu umgarnen. Du wirst sie reich machen. Nur deshalb umschmeichelt sie dich mit ihren schönen Augen.«
Mit Schrecken sah Melvyn, dass es auch Kirta geschafft hatte, auf den Hügel zu kommen. Immer dichter drängten sich die Kentauren, um den Streit zu verfolgen. Der Halbelf kämpfte sich zwischen den schwitzenden Pferdeleibern hindurch. Außer dem Stampfen der Hufe und den Stimmen der Streitenden war nichts zu hören.
Kirta sah im silbernen Mondlicht wie ein Geist aus. Ihr Fell schimmerte, als leuchte es von innen heraus. Sie wirkte sehr zart und zerbrechlich, als sie an Nestheus‘ Seite trat. Und ja, sie war mager. Das Licht ließ deutlich ihre Rippen unter dem Fell erkennen.
»Zwei meiner Brüder haben am Mordstein ihr Leben für dich gegeben, Fürst, und du schmähst meine Sippe! Du nennst mich eine Hure. Wie kannst du es wagen, Orimedes! Es war dein Sohn, der zu mir kam, der mich mit schönen Worten umwarb und der mir meine Unschuld nahm. Er ist edel und selbstlos. Ziehe seine Taten nicht in den Schmutz! Wenn du glaubst, dass ich den Frieden unserer Völker störe, dann nimm dein Schwert und stoße es mir in die Brust. Lass mein Herz aufhören zu schlagen, denn solange es sich noch regt, werde ich Nestheus gehören. Ich habe ihm meine Liebe geschworen, und du wirst mich nicht zur Eidbrecherin machen, mein Fürst.«
»Du hast meinem Jungen den Verstand geraubt, Hexe, und ich warne dich, fordere mich nicht heraus!« Der Fürst legte die Hand auf den Schwertknauf.
Melvyn verdoppelte seine Anstrengungen, sich durch die Menge zu kämpfen. Er musste auf den Hügel gelangen und diese Hitzköpfe auseinander bringen.
Nestheus stellte sich vor Kirta. »Mein Leib ist ihr Schild.«
Auch er legte die Hand auf sein Schwert. »Zwinge mich nicht, mein Weib gegen dich zu verteidigen, Vater. Mein Leben lang habe ich dir gehorcht. Ich war dir ein guter Sohn. Du hast mich Stolz gelehrt und Edelmut. Du hast mich den Ehrenkodex gelehrt, dem ein Krieger folgen soll. Und nun bist du es, der mit der Hand auf dem Schwertknauf vor einem unbewaffneten Weib steht. Hüte dich vor mir, Vater, denn das Kind, das du zum Manne erzogen hast, ist bereit, nach deinen Worten zu leben.«
Orimedes standen Tränen in den Augen. »Sie hat ihn verhext«, schrie er mit schriller Stimme. »Du bist nicht mehr mein Sohn. Mein Sohn wäre niemals zum Verräter an seinem Volke geworden.«
Melvyn erreichte die Hügelkuppe. Er wollte sich zwischen die beiden Kentauren werfen, als Flügelrauschen über ihm erklang. Ein gewaltiger Schatten erschien am Nachthimmel. »Kommt zu mir, Kinder«, rief Artaxas mit Donnerstimme.
Kirta stieß einen überraschten Schrei aus. Ihre Hufe zuckten in der Luft. Sie wurde emporgehoben. Ein Schwert blitzte. Metall kreischte auf Metall. Orimedes hatte sein Schwert gezogen. Nestheus versuchte seinen Hieb zu parieren. Ein flacher Schnitt lief quer über seine Brust. Dann wurde auch er emporgehoben.
Melvyn blickte in den Himmel. Artaxas! Das Antlitz des Lamassu war vor Anstrengung verzerrt. Die beiden durch seine Magie dem Himmel entgegenzuheben, brachte ihn ganz offensichtlich bis an den Rand seiner Kräfte. Kirta und Nestheus schwebten jetzt an seiner Seite.
Orimedes schwang in hilfloser Wut sein blutiges Schwert.
»Ich verstoße dich, Nestheus. Du hast dich gegen dein Volk gewandt. Es wäre dir bestimmt gewesen, alle Stämme zu führen. Doch jetzt bist du ein Verfemter! Und wer immer dir Unterschlupf gewährt, den wird mein Zorn treffen. Glaube nicht, dass du mir entkommen wirst. Sobald ich meinen Eid gegen Ollowain erfüllt habe, werde ich mich auf die Suche nach dir machen. Und wenn ich dich finde, dann werden du und deine Hure die Strafe für Verrat erleiden. Mit gebrochenen Läufen werde ich dich in der Steppe aussetzen, damit die Wölfe dich holen. Verflucht seiest du! Ich reiße dich aus meinem Herzen!«
Artaxas und die beiden Kentauren verschwanden im Dunkel des Nachthimmels. Auf der Wiese aber breitete sich eine bedrückte Stimmung aus. Melvyn schritt durch die Menge. Er lauschte auf die flüsternden Stimmen. Selbst etliche Uttiker waren von Nestheus beeindruckt, obwohl er sich gegen ihren Fürsten gestellt hatte.
Der Wolfself fand einen halb leeren Lederschlauch auf dem Boden liegend. Er prostete zum Himmel. »Ich wünsche euch Glück, meine Freunde.« Dann begann er zu trinken. Er würde sehr viel trinken in dieser Nacht!
»Der Schneelöwe hatte dort im Kiefernbruch seinen Fressplatz. Manchmal schleppen Löwen ihre Beute über weite Strecken an einen sicheren Ort.« Eirik, der Anführer der Jäger des Königs, deutete zu der Barriere aus Felstrümmern und zersplitterten Stämmen. »Wir haben dort ein Nest voller Knochen gefunden. Er hätte nicht jagen müssen. Es liegt auch ein Rehkitz dort. Es ist noch keinen Tag tot.«
Ulric roch das Aas. Er mochte Eirik nicht. Seit ihrer Kindheit waren sie beide verfeindet, auch wenn der Jäger nicht mehr den Fehler machte, seine Fehde offen auszutragen. Ulric wusste, dass Eirik schlecht über ihn redete. Wann immer sie sich begegneten, spürte er Misstrauen und Wut. Und Angst, auch wenn Eirik das niemals zugeben würde. Der Jäger glaubte die Geschichten wirklich, die sich die tratschenden Weiber abends am Feuer oder an den Waschplätzen am Fjord erzählten. Er hielt ihn und Halgard für Wiedergänger. Für Tote, die durch die Zaubermacht der Elfenkönigin noch einmal in die Welt der Lebenden zurückgekehrt waren.
Der Jäger deutete auf die Blutspritzer am Boden. Zwischen den Steinen funkelte das Stichblatt einer Saufeder. Ein Stück weiter lag der zersplitterte Schaft der Waffe. »Björn hat versucht, sie zu retten. Er hat den Löwen abgelenkt. Siehst du den blutigen Tatzenabdruck hier? Er muss Björn übel zugerichtet haben.«
Ulric sah vor allem das Blut rings herum auf den Felsen und die eingetrocknete Lache, dort wo Lambis Sohn gelegen hatte.
»Und dann?« Ulric war kein schlechter Fährtenleser, aber Eirik war ein Meister. Ihm entging nicht die kleinste Einzelheit. Auch wenn er den Mann nicht mochte, wäre es töricht, sich seine Meinung nicht anzuhören.
Der Jäger deutete zu einem Brombeerdickicht. »Dort oben hat ein Troll gelauert und den Kampf beobachtet. Und als sie alle verwundet waren, hat er sein Versteck verlassen und leichte Beute gemacht. Hier auf dem steinigen Grund kann man die Spuren nur schlecht verfolgen. Aber er ist mindestens zweimal hierher gekommen.«
»Und du meinst, er hat sie ...« Ulric mochte nicht aussprechen, was er dachte. Es war ein dummer Aberglaube, aber etwas in Worte zu kleiden, hieß, ihm mehr Gewissheit zu geben. Er hatte das rothaarige Mädchen gemocht. Sie hatten auf dem Marsch in die Berge zweimal miteinander geplaudert. Sie war seltsam. Wild und ungestüm wie ein Keiler und dann manchmal überraschend verletzlich. Sogar sein alter Jagdhund Blut hatte Kadlin gemocht. Sein Vater aber litt an dem jungen Mädchen. Ulric hatte gesehen, wie der König Kadlin manchmal verstohlen beobachtete! Dass sie auch noch Kadlin heißen musste! Luth trieb wirklich ein grausames Spiel mit ihnen! Kadlin, so hatte seine kleine Schwester geheißen, die vor fast sechzehn Jahren während des Elfenwinters umgekommen war. Er konnte sich nur noch undeutlich an sie erinnern. Sein Bild von ihr war vor allem durch die Erzählungen seines Vaters geprägt.
Der Königssohn begleitete Eirik hinauf zu den Brombeerbüschen. Der Troll hatte deutliche Spuren hinterlassen. Etwas war verwunderlich. »Was glaubst du, was diese zerbrochenen Äste zu bedeuten haben?«
Der Jäger zuckte mit den Schultern. »Dafür gibt es keine Erklärung. Dieser Troll hier bewegt sich sehr geschickt. Eigentlich ungewöhnlich für sein Volk. Ich habe den Verdacht, dass auch er ein Jäger ist. Wahrscheinlich hat er das Versteck des Schneelöwen beobachtet und darauf gewartet, dass der Räuber aus seinem Bau kam. Dass er so reichliche Beute machen würde, hätte er sich sicher nicht träumen lassen. Aber diese Äste hier ... Er muss sie mutwillig zerbrochen haben. Vielleicht, um den Schneelöwen durch die Geräusche aufzuschrecken.«
Ulric hob einen der Äste auf. Sie waren dicker als sein Handgelenk, und das Holz war nicht morsch. Man brauchte Bärenkräfte, um einen solchen Ast zu zerbrechen.
»Und Kadlin lebte noch?«
Eirik seufzte. Er war kein Mann, der sich seine Gefühle anmerken ließ, aber auch er hatte Kadlin gemocht. Alle hatten sie gemocht! »Sie hat jedenfalls nicht geblutet. Sie hatte sich mit dem Fuß in einer Wurzel verfangen. Ich schätze, der Fuß war verstaucht. Vielleicht sogar gebrochen. Jedenfalls konnte sie sich aus eigener Kraft nicht mehr von der Stelle bewegen. Aber sie hat nicht aufgegeben. Dort vorne, bei dem Felsen, der ein wenig wie ein Amboss aussieht, findet man Blutstropfen. Ich bin sicher, dass sie den Schneelöwen mindestens einmal verwundet hat, nachdem sie gestürzt war.«
»Aber eine tödliche Wunde war das nicht?«
»Bei allem Respekt, Ulric Alfadasson. Hast du schon einmal Jagd auf einen Schneelöwen gemacht? Die Biester sind zäh wie Sattelleder. Du kannst ihnen einen Pfeil ins Herz schießen, und sie zerreißen dich trotzdem noch, bevor sie begreifen, dass sie tot sein sollten.«
Einer der Jäger winkte weiter oben am Hang. »Hier ist mehr Blut!« Der kleine Suchtrupp sammelte sich. Vier Fährtensucher gingen voraus. Die Spur führte den Felsschlag hinauf und dann dicht oberhalb des Waldes parallel zum Hang. Hin und wieder fanden sie auf weichem Grund einen Fußabdruck des Trolls.
Ulric hielt sich dicht an Eiriks Seite. Der junge Krieger war froh, dass weder Alfadas noch Kalf oder Lambi im Lager bei der Baustelle gewesen waren, als die Nachricht eingetroffen war, dass Kadlin und Björn von ihrem Jagdausflug nicht zurückgekehrt seien. Sie alle waren bei verschiedenen Jagdgruppen in den Bergen, und es war unmöglich, sie jetzt zu benachrichtigen. Im Grunde war Ulric froh darüber. Er konnte hier jetzt keine sorgengebeugten alten Krieger gebrauchen. Der Weg den steilen Hang hinauf brachte selbst viel jüngere Männer an die Grenze ihrer Kräfte.
Ulric beobachtete, wie Schweißtropfen an der Innenseite von Eiriks Oberarm hinabrannen, an seinem Ellenbogen schaukelten und dann auf den staubigen, grauen Felsboden tropften. Der Anführer der Jäger schnaufte nicht, obwohl er schweres Gepäck und Ausrüstung auf dem Buckel trug. Zäh kämpfte er sich voran. Du hast einiges mit dem Schneelöwen gemein, dachte Ulric. Du wärst wohl auch schwer umzubringen. Und stur bist du wie ein alter Steinbock. Der Jäger hatte seine Meinung über ihn und Halgard nie geändert. Ulric kannte auch die neueren Geschichten, die über sie beide im Umlauf waren. Er konnte das aushalten, aber Halgard traute sich kaum noch aus ihrer Kammer. Den ganzen Tag war sie mit der Spindel zugange oder saß an ihrem Webrahmen. Es gab nur eine Hand voll junge Frauen, die sie um sich duldete, Sklavinnen aus dem Süden. Manchmal sprach sie auch mit Gundaher, dem Baumeister. Aber sonst duldete sie niemanden in ihrer Nähe.
So sehr hatten sie beide versucht, ein Kind zu bekommen. Einen Stammhalter, der eines Tages die Königswürde erben konnte. Doch die Sippe Mandreds würde wohl mit ihm und Halgard verlöschen. Und viel Zeit blieb nicht mehr. Luth hatte ihm und Halgard nur einen kurzen Lebensfaden gesponnen. Sie beide wussten das. Vielleicht war es besser, unter diesen Umständen kein Waisenkind zurückzulassen.
Wenn er daran dachte, wie die Leute mit ihrem Tratsch die Wirklichkeit so lange verdreht hatten, dass selbst Halgard nicht mehr wusste, was sie noch glauben sollte, dann packte ihn die kalte Wut. Es sei kein Wunder, dass sie beide kein Kind bekämen, so hieß es. Wer hätte je davon gehört, dass etwas Totes etwas Lebendiges gebären könnte.
Es war einfach nur Pech! Es war das Schicksal, das Luth ihnen bestimmt hatte. Es gab auch andere Paare, die keine Kinder zeugten. Sein Vater Alfadas und Silwyna hatten auch kein Kind mehr bekommen — soweit er wusste. Die Elfe war oft für Monde verschwunden. Vielleicht hatte sie in Albenmark noch weitere Kinder geboren. Ulric fragte sich oft, wie sein Halbbruder wohl aussah. Er wäre gern nach Albenmark gereist, aber er mochte Halgard nicht allein lassen. Sie hatte Angst, durch das goldene Tor im Steinkreis auf dem Hartungskliff zu schreiten. Silwyna hatte ihm angeboten, ihn mitzunehmen. Immer wieder. Sie hatte ihm gesagt, wie sehr sein Bruder sich freuen würde, ihn kennen zu lernen. Ulric hatte nie verstanden, warum Melvyn nicht einfach mit seiner Mutter ins Fjordland kam. Er schien wohl recht stolz zu sein. Oder besser gesagt, dickköpfig. Er war der Auffassung, seine Familie schulde es ihm, zu ihm zu kommen. So waren sie sich nie begegnet. Aber vielleicht ... Nein, dazu würde es wohl nicht mehr kommen. Blut, der große Jagdhund seines Vaters, war sehr alt und hinfällig. Er würde den Winter nicht mehr überstehen. Und das hieß, dass auch für ihn und Halgard die Zeit gekommen war. Sie würden den Hund nicht lange überleben. Das wussten sie, seit sie Kinder waren. Seit dem Winter, als er den Fremden im blauen Umhang getroffen hatte. Er hätte seine Geschenke nicht annehmen dürfen! Sie hatten ihr Leben vergiftet. Sie waren so hübsch gewesen, die Puppen, die ihn, Halgard und Blut darstellten. Wie hätte er als Kind diesen Geschenken widerstehen sollen?
Als sei es erst gestern gewesen, erinnerte sich Ulric an diesen Abend. Es war viel Schnee gefallen. Er hatte Halgard in Svenjas Hütte gefunden. Svenja war eine Tante seiner Mutter Asla; sie war ihre Kinderfrau geworden, als Asla nicht zurückgekehrt war. Wie sehr Halgard sich über die schön geschnitzten Holzfiguren gefreut hatte, die er ihr mitgebracht hatte! Den Krieger mit dem Schwert, das aus einem alten Nagel gefertigt war, die Prinzessin mit den Haaren aus rotem Nussholz und den rußgeschwärzten Hund. Wenn man am Schwertarm der Kriegerpuppe drehte, dann öffnete sich eine kleine Klappe in ihrem Rücken. Sie hatten einen sorgsam aufgewickelten roten Faden darin gefunden. Auch in den beiden anderen Figuren waren solche Fäden versteckt gewesen. Halgard hatte sofort gewusst, was die Fäden zu bedeuten hatten. Hätte er nur die verfluchte Hundepuppe nicht mitgenommen! Ihr Leben wäre anders verlaufen. Glücklicher.
Halgard hatte die Fäden abgewickelt und den Faden von sich und Ulric nebeneinander gelegt. Beide waren genau gleich lang! Das hieß, sie würden am selben Tag, ja vielleicht sogar in derselben Stunde sterben. Halgard war darüber nicht erschrocken gewesen. Für sie war das wie in einem Märchen. Selbst heute hatte sie ihre Einstellung nicht geändert. Sie schöpfte Frieden aus der Gewissheit, dass sie nie ein Leben ohne ihn führen würde.
Wie unschuldig sie damals gewesen waren! Sie hatten darüber gestritten, wie lange ihr Leben wohl währen würde. War ein Zoll des Fadens ein Jahr oder ein Jahrzehnt? Nach welchem Maß beschnitt Luth die Schicksalsfäden? Noch heute verfluchte sich Ulric für den Einfall, den er damals gehabt hatte. Sie hatten den Faden von Blut neben ihre beiden gelegt. Beide wussten sie, dass Hunde nicht so alt wurden. Dreizehn Jahre manchmal, mit Glück auch etwas mehr. So würden sie abschätzen können, wie viel Zeit ihnen bemessen war.
Zunächst sah es aus, als sei auch Bluts Lebensfaden so lang wie ihre beiden. Immer wieder legten sie die roten Zwirnfäden nebeneinander. Selbst heute taten sie es noch manchmal. Man musste sehr genau hinsehen und die Fäden vorsichtig straff ziehen, dann sah man, dass Bluts Faden um eine Winzigkeit kürzer war als ihre Lebensfäden.
Nie hatten sie mit jemandem darüber gesprochen, dass ihnen bestimmt war, ein Leben so kurz wie ein Hundeleben zu führen. Immer wieder hatte Ulric versucht, sich selbst und Halgard einzureden, dass all das nur ein böser Scherz des Fremden gewesen war. Schließlich wusste nur Luth allein um die Länge der Schicksalsfäden. Halgard hatte davon nichts hören wollen. Sie glaubte dem Fremden. Und tief in seinem Herzen wusste Ulric, dass sie Recht damit hatte. Der Mann war unheimlich gewesen. Niemand außer ihm hatte ihn zu Gesicht bekommen. Er war aus der Winternacht getreten, als sei er ein Bote des Schicksalswebers. Und er war wieder verschwunden, ohne die geringste Spur zu hinterlassen. Niemand kannte diesen Jules. Längst hatten sie aufgegeben, nach ihm zu suchen.
Er war nicht viel älter als zehn Jahre gewesen, da hatte Ulric beschlossen, sein Verhängnis zu seinem Vorteil zu deuten. So lange der Hund lebte, konnte ihm nichts passieren! Damals war er selbstmörderisch tollkühn gewesen. Er war weiter in den Fjord hinausgeschwommen als jeder andere Junge, hatte seinem Fechtmeister graue Haare wachsen lassen und keinen dummen Streich ausgelassen. Bis er vom Dach der Königshalle gestürzt war und sich übel das Bein gebrochen hatte. Sein Vater hatte Heiler von überallher kommen lassen, doch keiner hatte ihm zu helfen vermocht. Die Wunde war brandig geworden, und er hätte sein Bein wohl verloren, wenn Silwyna nicht gewesen wäre. Sie hatte eine Elfe vom Hof der Königin Emerelle gebracht, die ihn gerettet hatte. In den vielen Wochen, die er damals an sein Bett gefesselt gewesen war, hatte er sein Leben schätzen gelernt. Keinen Tag wolle er vergeuden, hatte er sich damals geschworen. Jetzt ging die Frist zu Ende. Er hatte drei Knoten, groß wie Haselnüsse, in Bluts Leiste ertastet. Wenn man genau hinsah, bemerkte man, dass der große Hund zu hinken begann. Er war immer noch erschreckend. Aber sein Faden war fast zu Ende gesponnen. Und damit neigte sich auch ihre Spanne dem Ende entgegen. Wahrscheinlich würden sie nicht einmal mehr den Winter erleben.
Hundegebell schreckte ihn aus seinen Gedanken. Sie hatten ein gutes Stück Weg zurückgelegt und waren in ein enges Tal gelangt. Einige wenige windschiefe Kiefern klammerten sich an den steinigen Boden. Die Hunde standen bei einem flachen Felsen. Große Rostflecken sprenkelten seine Oberfläche; an den Seiten liefen einige rostige Adern hinab.
Ulric gesellte sich zu den Jägern. Niemand sagte etwas. Man musste kein Fährtenleser sein, um zu wissen, was diese Flecken bedeuteten. Hier hatte der Troll seine Beute zerlegt.
»Wir sollten umkehren«, sagte Eirik leise. »Ich schätze, ihr Lager ist ganz in der Nähe. Wir wissen nicht, wie viele es sind. Hier haben sie ihr Fleisch für das Feuer bereitet.«
»Wir werden nicht ohne Björn und Kadlin heimkehren«, sagte Ulric entschieden.
Der Anführer der Jäger rollte mit den Augen und schnitt eine Grimasse, als habe er es mit einem Idioten zu tun. »Bei allem Respekt, Ulric Alfadasson.«
So redete er ihn immer an, wenn er am liebsten gesagt hätte: Pfusch mir nicht ins Handwerk, eingebildeter Trottel!, dachte Ulric.
»Unsere Jagdgruppe ist nicht stark genug, um es mit einem Rudel Trolle aufzunehmen. Wenn ich glaubte, dass es einen Sinn hätte, dann würde ich mich auf diese Gefahr einlassen. Ich denke, niemand hier würde mich einen Feigling nennen.«
Eirik blickte kurz auf, um sich zu vergewissern, dass keiner es wagte, ihm zu widersprechen. »Die beiden sind seit drei Tagen überfällig. Ich war unten am Fjord, nachdem dein Vater die Trolle vertrieben hatte. Ich habe ihr Lager gesehen. Und das, was sie mit ihren Gefangenen gemacht haben. Niemand will das sehen! Es verfolgt mich noch heute in meinen Träumen. Sie werden Kadlin und Björn geschlachtet haben. Behalten wir die beiden in Erinnerung, wie wir sie kannten! Ihnen wäre das auch lieber.«
Ulric standen die Schreckensbilder seiner Kindheit wieder vor Augen. Er hatte nur seinem Vater erzählt, wie die Trolle ihn und Halgard und all die anderen Überlebenden aus dem brennenden Honnigsvald getrieben hatten. Am Ufer des Fjords waren sie wie Vieh zusammengepfercht worden. Er hatte nicht nur ein verlassenes Lager gesehen ... Er war mitten drin gewesen, als die Schlächter gekommen waren. Sie hatten auch Halgard holen wollen. Er hatte den Troll, der sie ausgewählt hatte, mit dem Dolch angegriffen, den ihm einst der Schwertmeister geschenkt hatte. Es war aussichtslos gewesen. Das Einzige, was er erreicht hatte, war, dass der Troll mit den Brandnarben auf der Brust ihn statt Halgard mitgenommen hatte. Warum er nicht geschlachtet worden war, hatte Ulric nie ganz begriffen. Es war Glück gewesen. Genauso wie es Glück gewesen war, dass die Elfe Yilvina gekommen war, um sie mitten aus dem Lager der Trolle zu befreien.
Der Thronfolger betrachtete das eingetrocknete Blut auf dem Stein. Vielleicht hatte ja auch Kadlin Glück gehabt. Mehr Glück als seine Schwester Kadlin, die zusammen mit seiner Mutter bei ihrer Flucht in die Berge umgekommen war.
»Ich werde sie finden. Ob tot oder lebendig. Ihr müsst mich nicht begleiten.« Eirik wurde bleich vor Zorn. »Glaubst du, es gäbe hier auch nur einen Mann, der weniger Mut hat als du? Was erlaubt dir, ihr Leben leichtfertig aufs Spiel zu setzen? Liegt es daran, dass du schon lange tot bist? Du ... du verdammter Wiedergänger!« Einer der Männer packte den Jäger und zog ihn von Ulric fort. Niemand sprach aus, was alle dachten. Das war ein ungeschriebenes Gesetz.
»Ich sagte doch, dass mir niemand folgen muss.«
»Herr, wenn du gehst, haben wir keine andere Wahl, als dir zu folgen«, sagte ein älterer Jäger. »Wer dich verlässt, der wird für immer Schande auf seinen Namen laden.« Er warf einen Blick auf Ulrics Schwert. »Du bist der Einzige hier, der ein Zauberschwert hat.«
Ulric verfluchte stumm die Geschichten des Skalden Vehleif. Seine Saga vom jungen Ulric Alfadasson hatte dafür gesorgt, dass jedes Kind im Fjordland darum wusste, wie Ulric mit nur sieben Jahren einen Troll getötet hatte. Und dabei hatte er das Schwert des legendären Königs Osaberg geführt, eines Helden aus alter Zeit, dessen Grab UIric auf seiner Flucht gefunden hatte.
»Ich kenne die meisten von euch seit meiner Kindheit. Ich würde für jeden dort hinaufgehen. Ich weiß, was es heißt, von Trollen gefangen zu sein. Finden wir mehr als einen von ihnen, dann ziehen wir uns zurück. Ich weiß, was ihr von mir denkt, aber ich werde kein Leben aufs Spiel setzen, um Tote zu retten.« Ulric wandte sich an Eirik. »Kennst du die Gegend hier? Was glaubst du, wo würden die Trolle lagern, wenn sie in der Nähe sind?«
Der Anführer der Jäger sah ihn finster an. »Ich war vor zwei Jahren schon einmal hier.« Er deutete zu einem Steilhang, der etwa fünfhundert Schritt östlich lag. »Dort gibt es eine große Höhle. Die Plünderer, die kommen, um das Vieh von unseren Höfen zu stehlen, benutzen sie manchmal als Lagerplatz.«
»Wie würdest du die Höhle angreifen?«
Eirik verdrehte wieder die Augen. »Gar nicht! Die Trolle brauchen nur da drinnen zu bleiben und zu warten, dass wir hineingehen. Sie werden uns einen nach dem anderen niedermachen. Sie sind Menschenfresser, Bestien. Aber sie sind nicht blöd.«
»Dann werde ich allein zur Höhle gehen und versuchen, sie herauszulocken. Du platzierst unsere Bogenschützen so, dass sie jeden Troll, der sich blicken lässt, mit Pfeilen spicken. Und sollten mehr Trolle aus der Höhle kommen, als wir töten können, dann habt ihr beste Aussichten, ihnen davonzulaufen. Als Bogenschützen müsst ihr ja nicht zu nahe heran.«
Der Anführer der Jäger sah ihn voller Verachtung an. »Das will nicht in deinen Schädel hinein, nicht wahr? Niemand kann davonlaufen, wenn es um deine Haut geht, Wiedergänger. Du bist der Sohn des Königs! Was glaubst du, was dein Vater mit uns macht, wenn wir ihm erzählen, dass wir fortgelaufen sind, als du dich mit einem Rudel Trolle angelegt hast?«
»Er wird euch dazu beglückwünschen, dass ihr mehr Verstand hattet als ich.«
»Schöne Worte, Ulric. Du musst uns nicht davon überzeugen, dass dein Vater ein gerechter Mann ist. Wir alle wissen das. Aber wird er sich daran erinnern, wenn er seinen einzigen Sohn zum zweiten Mal verloren hat?« Ulric war es müde, noch länger zu schwatzen. Der Jäger würde immer einen Grund finden, um ihn schlecht dastehen zu lassen. Er sollte sich nicht abhängig von seiner Meinung machen. Sein Herz sagte ihm, dass es falsch war, nicht alles versucht zu haben, um Björn und Kadlin zu retten. Auch wenn die Aussicht, sie noch lebend zu finden, noch so gering war. »Zeig mir, wo ich die Höhle finde.«
Er blickte in die Runde. »Euch entbinde ich von allen Treueiden. Tut, was ihr für richtig haltet.« Alle sahen Eirik an, ganz so, als habe er das Kommando, bemerkte Ulric verärgert.
»Wir kommen mit«, entschied der Anführer der Jäger. Er beschrieb seinen Gefährten, wie sie sich der Höhle nähern sollten, um ein möglichst gutes Schussfeld zu haben. Dann wurden die Hunde angeleint. Man würde sie zurücklassen, damit ihr Kläffen die Jäger nicht verraten konnte.
»Ich werde an deiner Seite gehen, Ulric Alfadasson.«
»Ich brauche keinen Leibwächter«, entgegnete der Königssohn gereizt.
Der Jäger wartete mit seiner Antwort, bis die übrigen Männer außer Hörweite waren. »Mir geht es nur darum zu sehen, dass du diesmal wirklich stirbst, Wiedergänger.«
»Und? Wirst du nachhelfen, wenn die Trolle ihre Sache nicht gut machen?«
»Ganz gleich, was du von mir halten magst: Ein Mörder bin ich nicht. Aber ich gestehe, ich werde mit Genugtuung zusehen, wenn sie dich schlachten. Dann bleibt nichts mehr, was deine Elfenfreunde noch einmal ins Leben zurückrufen können. So hätte es schon während des Elfenwinters sein sollen.«
Die Offenheit des Jägers machte Ulric sprachlos. Was hatte er Eirik getan, dass dieser ihn so sehr hasste?
Sie beide warteten schweigend, bis die anderen Jäger ihre Positionen bezogen hatten.
Endlich gab Eirik ihm ein Zeichen. Sie gingen los. Ihr Aufstieg wurde durch zwei abgestorbene Kiefern gedeckt. Sie versperrten die Sicht auf die Höhle. Bleich wie Knochen ragten die Stämme aus dem felsigen Grund.
Der Wind kam ihnen entgegen. Es war eine schwache, unstete Brise. Sie trug den Duft von Gebratenem den Hang hinab.
Sie verharrten bei den toten Kiefern. Jetzt konnten sie den Höhleneingang sehen. Es war ein breiter Spalt, der sich am Fuß der Steilklippe erhob.
»Warte einen Augenblick«, sagte Eirik leise. Er deutete zu zwei Gestalten, die sich seitlich den Hang hinaufarbeiteten. Die beiden Jäger sollten oberhalb der Höhle Stellung beziehen.
Der Bratengeruch quälte Ulric. Ihm haftete etwas Süßliches an. Er erinnerte ihn an das Lager bei Honnigsvald. Die Trolle hatten in der Stadt etliche Fässer mit Honig gefunden. Damit hatten sie das Fleisch bestrichen, das sie brieten. Beim bloßen Gedanken daran wurde Ulric ganz übel. Sein Vater hatte Recht. Mit diesen Ungeheuern konnte es keinen Frieden geben. Niemals!
Ulric zog das Schwert des toten Königs Osaberg. Er hatte es sich nach seiner Weihe zum Krieger aus der Königsgruft geholt.
»Los!«, stieß er hervor und musste dabei ein Würgen unterdrücken.
Eirik sah ihn zweifelnd an. Hatte der Jäger etwa gehofft, er werde es sich noch einmal anders überlegen? Ulric hob sein Schwert und deutete nach vorn. Er hatte Angst vor dem, was er in der Höhle finden würde. Und er wollte Blut vergießen!
Er trat aus der Deckung hervor. »Hört ihr mich? Hier steht Ulric Alfadasson! Kommt heraus und zeigt euch!«
Der Königssohn stapfte den Hang herauf. Loses Geröll rutschte unter seinen Stiefeln weg. Fast wäre er gestrauchelt. »Hört ihr mich, ihr Trolle? Habt ihr Angst vor einem Menschenkind? Ich habe schon einmal einen von euch getötet. Ich werde es wieder tun!«
Am Eingang zur Höhle bewegte sich etwas. Aus den Augenwinkeln sah Ulric, wie der Anführer der Jäger einen Pfeil auf seinen Bogen legte.
Der Geruch nach Gebratenem wurde stärker. Ulric hielt den Atem an und beschleunigte seine Schritte.
Eine riesige Gestalt trat aus dem Schatten des Höhleneingangs. Dem Troll hingen drei federgeschmückte Zöpfe von seinem kahlen Schädel. Ein großes Steinmesser steckte im Gürtel, der seinen Lendenschurz hielt. In der Hand hielt er eine Keule.
Ulric sah die grausigen Szenen aus dem Gefangenenlager wieder vor sich. So viele Jahre hatte er sie vergessen gehabt. Es waren Steinmesser wie das im Gürtel des Trolls, mit denen sie das Fleisch zerteilt hatten.
Der Troll deutete auf den Eingang der Höhle. »Maidchen!«
Jetzt erkannte Ulric, dass der Kerl keine Keule hielt. Es war ein Schinkenstück, aus dem ein Knochen ragte.
»Ich werde dich umbringen und deine Leber an die Hunde verfüttern. Ich ...« Heiße Tränen rannen ihm über die Wangen. Er dachte an das Mädchen in dem blauen Kleid. Kadlin hatte bei dem Bogenschützenturnier wie eine Prinzessin ausgesehen. Sie hätte nicht so enden dürfen. Niemand durfte so enden!
»Halt dich mehr links! Du versperrst mir das Schussfeld!«, rief Eirik hinter ihm.
Ulric hörte die Worte, doch er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Er wollte dem Troll das Schwert in den Leib rammen. Er konnte ihn besiegen. Schon als Kind hatte er einen Troll getötet.
Der Hüne ließ die Hand mit dem Schinken sinken.
»Maidchen«, sagte er noch einmal. Er wich ein Stück in den Höhleneingang zurück.
»Verdammter Idiot! Halt dich mehr links!«, schrie Eirik.
Ulric hatte den Troll jetzt fast erreicht. Die Brust des Menschenfressers war mit wulstigen Narben bedeckt. Er hob seine riesige Pranke und schüttelte sie. »Nich kaimpfen!«
Ein Pfeil zischte so dicht an Ulrics Wange vorbei, dass er den Luftzug spürte. Das Geschoss bohrte sich tief in die Brust des Trolls.
Der Hüne taumelte zurück in die Höhle. »Nich ...« Der Geruch nach Gebratenem in Honigkruste war unerträglich intensiv. Ein Feuer brannte dicht hinter dem Höhleneingang. Etwas bewegte sich im Spiel von Licht und Schatten. Eine zierliche Gestalt humpelte ihm entgegen.
»Nicht schießen«, rief Kadlin. »Bei den Göttern, nicht schießen!« Ulric traute seinen Augen kaum. Neben dem Feuer lag Björn. Sein Lederhemd war zerrissen, die Brust mit einer grünen Paste bedeckt. Kadlin stützte sich auf ihren Bogen. Immer wieder rief sie, dass sie nicht schießen sollten. Der Troll kauerte neben dem Feuer. Er presste die Linke auf seine Brust. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
Ulric starrte fassungslos auf das Bild, das sich ihm bot. Das passte nicht! Das konnte nicht die Wirklichkeit sein.
»Was habt ihr getan?«, rief Kadlin. »Er hat uns gerettet. Was habt ihr getan!« Ein Schatten drängte sich neben Ulric in den Eingang. »Nicht!« Kadlin stellte sich vor den Troll.
»Weg da, Mädchen!«, schrie Eirik.
»Die Waffen nieder!« Ulric griff dem Jäger in den Bogen und drückte ihn zur Seite. »Nicht schießen. Es ist ... anders.« Er konnte kaum fassen, was er sah. Den beiden war nichts geschehen, obwohl sie wehrlos dem Troll ausgeliefert gewesen waren.
Die hünenhafte Gestalt erhob sich. Sanft schob der Troll Kadlin zur Seite. »Gehän, jetzt.«
»Nicht, Brud. Bitte! Es war ein Irrtum. Es war ...«
»Maidchen gut.«
Ulric wich vor dem riesigen Krieger zurück. Der Troll drängte zum Eingang. Einen Augenblick lang war er versucht, den Hünen in die Falle laufen zu lassen. Dann besann er sich; es war geradezu ein Wunder, dass Kadlin noch lebte. Ein Geschenk der Götter. Und vor den Göttern wollte er nicht als ehrloser Mörder dastehen. Er würde den Troll ziehen lassen. Diesmal.
»Nicht schießen! Hört ihr! Die Waffen nieder. Lasst ihn gehen!«
Ulric hielt Brud zurück. »Du kannst noch nicht gehen. Warte. Ich muss zuerst hinaus. Bitte vertraue mir.« Brud sah ihn eindringlich an. Er schien keine Angst zu haben. »Schneidding weg!« Ulric ließ sein Schwert fallen.
»Du wirst ihm doch nicht etwa trauen«, zischte Eirik.
»Ich komme jetzt heraus. Ich bin es, Ulric.« Der Königssohn trat aus der Höhle ins grelle Sonnenlicht. Etwas tiefer am Hang standen zwei Jäger. Sie hielten die Waffen gesenkt, doch lagen Pfeile auf den Sehnen.
»Kadlin und Björn leben. Der Troll scheint ihnen geholfen zu haben. Lasst ihn ziehen! Habt ihr mich verstanden? Lasst ihn durch, das ist ein Befehl!«
Eine schwere Hand legte sich auf Ulrics Schulter. Der Thronfolger stand wie versteinert. Er wusste, der Troll könnte ihm das Genick so leicht brechen, wie er ein Schilfrohr knickte. Ulric spürte warmen Atem in seinem Nacken. Was, bei den Göttern, tat dieses Ungeheuer? Ein schnaubendes Geräusch jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
»Hol Maidchen in Rudel, gut.«
Jetzt erst begriff Ulric, was der Hüne tat. Er schnupperte an ihm, wie ein Raubtier, das Witterung aufnahm. Mit einem Grunzen richtete sich der Troll auf. Dann trat er aus der Höhle. Falls er begriffen hatte, dass dort draußen Bogenschützen lauerten, ließ er sich nichts anmerken. Hoch erhobenen Hauptes schritt er den Hang hinab.
»Du wirst ihn doch nicht einfach ziehen lassen«, protestierte Eirik. »Er ist ein Feind!«
»Dieser nicht!«, mischte sich Kadlin ein. »Er hat Björn das Leben gerettet. Und mir auch. Er hat den Schneelöwen getötet.«
Ulric konnte immer noch nicht fassen, dass Kadlin und Björn noch lebten. Es war richtig und ehrenhaft gewesen, den Troll ziehen zu lassen. Auch wenn sie an einem anderen Tag einander vielleicht als Feinde begegnen würden. Seit er als kleiner Junge den Ritter für Halgard gespielt hatte, hatte er nicht mehr so empfunden. Die widerstreitenden Gefühle drohten ihn zu übermannen. Er hustete verlegen, kämpfte gegen Tränen. Die anderen sollten nicht bemerken, wie aufgewühlt er war! »Was ist das für ein Fleisch?«, fragte er, um einen kühlen Ton bemüht.
Kadlin sah ihn an, als sei er ein Idiot. »Der Schneelöwe«, sagte sie schließlich. »Er ist zurückgegangen, um ihn zu holen. Dort unten vor der Höhle hat er ihn zerlegt. Und er hat Honig aus einem Bienenstock in einem hohlen Baumstamm geholt. Damit hat er das Fleisch eingerieben, um es haltbarer zu machen. Ohne ihn wäre Björn gestorben. Er hat die Blutung gestillt und seine Wunden mit kühlem Moos bedeckt.«
»Warum?«, fragte Eirik. »Welchen Nutzen hatte er davon? Trolle tun so etwas nicht!«
Kadlin sah sie hilflos an. »Ich hatte das Gefühl, dass er mich kennt. Ich ... Ich bin noch nie einem Troll begegnet, glaube ich. Außer ... Das hört sich verrückt an. Manchmal habe ich einen Traum. Ich bin noch sehr klein, und ich bin in einer Höhle. Mir ist sehr kalt. Um mich herum sind große Männer, die trotz der Kälte nackte Oberkörper haben. Einer reibt mir vorsichtig die Glieder. Seine Hände sind riesig, aber er ist sehr behutsam. Langsam wird mir dann warm. Und ich sehe Mutter. Sie nimmt mich in die Arme. Der Mann, der mir die Glieder gerieben hat
... Er hatte schlimme Narben auf der Brust. Narben, die aussahen wie ein Vogel. So wie dieser Troll welche hatte. Vielleicht war es ja kein normaler Traum. Vielleicht ...«
»Dummes Weibergeschwätz!«, schimpfte Eirik. »Der Kerl bezweckt irgendetwas. Und du bist ihm auf den Leim gegangen. Bist du dem Geräusch brechender Äste gefolgt, als du zu den umgestürzten Kiefern kamst? Denk nach, Kadlin! Kann es sein, dass er dich absichtlich in die Nähe des Schneelöwen gelockt hat?«
Die Jägerin sah Eirik verwundert an. »Das ... Ich weiß es nicht. Nein. Was soll diese Frage?«
»Vielleicht wollte er, dass der Schneelöwe euch angreift. So hatte er Gelegenheit, euch beide zu retten. Und nun fühlst du dich ihm gegenüber schuldig. Womöglich wollte er eben das erreichen.«
»Warum sollte es nicht einfach das sein, wonach es aussieht?«, fragte Kadlin zornig. »Wir waren in Not, und der Troll hat uns geholfen. Warum musst du eine verwickelte Intrige in die Ereignisse hineindeuten? Trolle sind halbe Tiere. Sie denken nicht lange. Sie handeln.«
»Seit ich ein Kind bin, leben wir im Krieg mit den Trollen. Sie sind grausame Menschenfresser. Und nun kommt einer daher und kümmert sich um dich und Björn. Das stinkt doch zum Himmel! Da steckt mehr dahinter.« Ulric hatte nicht viel übrig für Eirik, aber diesmal hatte er Recht. Das Mädchen stand ganz offensichtlich noch unter Schock und konnte die Wahrheit nicht erkennen.
»Du glaubst, mit diesem Troll stimmt etwas nicht?«, fragte Kadlin wütend. »Betrachte es doch einmal anders herum. Vielleicht stimmt mit dir etwas nicht, wenn du nicht hinnehmen kannst, dass mir und Björn von unerwarteter Seite etwas Gutes widerfuhr. Wäre es dir lieber, ich wäre tot, aber dein Bild über Trolle würde noch stimmen?«
»Es reicht jetzt, Kadlin!«, unterbrach Ulric sie scharf.
Eirik schüttelte wütend den Kopf. »Bleib mir gestohlen mit deinem verdrehten Unsinn, Mädchen! Ich weiß, was ich weiß. Wenn ein Troll sich plötzlich aufführt wie eine Glucke, dann steckt da mehr dahinter. Du wirst schon noch sehen, Kadlin.«
Mit diesen Worten ging er zur Höhle hinaus.
»Ist er immer so?«, fragte Kadlin. Sie hatte sich auf einen Stein neben das Feuer gesetzt und massierte sich den Fußknöchel.
»Er ist der Einzige aus seiner ganzen Sippe, der den Elfenwinter überlebt hat. Wundert es dich da, dass in seiner Welt kein Platz ist für einen Troll, der keine reißende Bestie ist?«
Orgrim betrachtete die Bauarbeiten unten am Pass mit gemischten Gefühlen. Er stand verborgen zwischen Felsen, die fast die Farbe seiner Haut hatten. Völlig reglos blickte er auf die große Baustelle am Pass. Zu hunderten waren die Menschen gekommen, und ihre Arbeit machte gute Fortschritte. Sie hatten den Boden der Baustelle geebnet und die Fundamente gelegt. Es war unübersehbar, dass die Menschen sich auf Dauer einrichteten. Zum ersten Mal bauten sie eine Grenzbefestigung aus Stein, und das mitten auf dem wichtigsten Pass nach Süden. Wollten sie ihn herausfordern? Oder war ihre Angst vor seinem Volk so groß?
Für seinen Geschmack waren sie zu weit in die Jagdgründe der Trolle vorgestoßen. Wohin sollte das führen? Träumten sie etwa davon, die Nachtzinne anzugreifen?
Er musste unwillkürlich lächeln. Das war albern. Auch wenn seine Felsenburg bei weitem nicht über die raffinierten Verteidigungsanlagen Phylangans verfügte, wäre sie für Menschen doch ähnlich unangreifbar. Niemals würden sie die steile Felsnadel erobern! Ihre Burg dort unten war der Ausdruck ihrer Angst vor seinem Volk. Er sollte sie gewähren lassen. Seine jungen Krieger würden sich mit den Patrouillen herumschlagen können, die von hier aufbrechen würden, wenn das Bauwerk erst einmal vollendet war. Das wäre eine gute Übung für sie.
Orgrim streckte die Glieder. Er hätte den König der Menschen gern einmal kennen gelernt. Dieser Alfadas war ein tapferer Mann. Er genoss sogar unter den Elfen großes Ansehen. Der Herzog der Nachtzinne spielte mit dem Gedanken, einfach in das Lager der Menschen zu schlendern. Aber sie hatten zu viele Bogenschützen dort unten, und sie waren zu ängstlich. Er würde gar nicht bis zu Alfadas vordringen, obwohl es da unten nicht einen einzigen Krieger gab, der sich mit ihm hätte messen können. Außer der Elfe vielleicht, die er schon oft in der Nähe des Königs beobachtet hatte.
Das Geräusch schlurfender Schritte und das leise Klicken eines Holzstabs ließen ihn herumfahren. Skanga! Die alte, gebrechliche Schamanin kam zu ihm herauf. Er seufzte. Dann gab er seinen Beobachtungsposten auf und ging ihr entgegen.
»Es gibt wohl keinen Ort, an dem man vor dir sicher ist, Alte.«
»Hast du es denn nötig, dich vor mir in Sicherheit zu bringen?«, stieß sie vor Erschöpfung schnaufend hervor.
Er lachte. »Stets zu einem kleinen Wortgeplänkel aufgelegt, was? Komm, setz dich.« Die Schamanin blieb stehen. Ihre schneeweißen blinden Augen musterten ihn durchdringend. Der Fürst fragte sich, wie sie ihn wohl sah. Natürlich war Magie dabei im Spiel. Aber wie mochte er wohl aussehen für sie?
»Du hast von der Schlacht am Mordstein gehört?« Orgrim war überrascht. Nur wenige Trolle besaßen die Macht, die Albenpfade zu beschreiten und zwischen den Welten zu wandern. Nachrichten aus Albenmark waren deshalb selten.
»Sie haben die Snaiwamark angegriffen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie das wagen würden.«
»Wir hatten ein Heer versammelt, das fünfmal so stark war wie das der Elfen und Kentauren.« Orgrim ahnte Schlimmes. Schweigend hörte er sich den Bericht der Alten an. Er war erschüttert. Von Süden gab es nur einen Weg, den ein Heer auf die Ebene am Mordstein nehmen konnte. Es wäre ein Leichtes gewesen, diesen Anmarschweg zu blockieren! Zweihundert Trolle hätten genügt, um das Heer Albenmarks aufzuhalten, bis Verstärkungen gekommen wären. Aber Orgrim hütete sich, der Alten Vorwürfe zu machen. Sie war berüchtigt für ihre Launen.
»Wie viele Tote sind es auf unserer Seite?«
»Zu viele.« Skanga presste die Lippen zusammen. Ein Muskel in ihrer Wange zuckte. »Viel zu viele. Aber wir haben gesiegt. Wir haben das Schlachtfeld gehalten. Es waren die Elfen und ihre Verbündeten, die flohen.« »Warum bist du zu mir gekommen, wenn ihr doch gesiegt habt?«
»Weil ich weitere Siege dieser Art fürchte.« Plötzlich ließ sie sich auf die Knie sinken. Ihre Gelenke knackten schauderlich.
»Ich bitte dich, uns zu helfen, Orgrim. Sieh mich an! Es ist Jahrhunderte her, dass ich vor jemandem niedergekniet bin. Ich weiß nicht einmal, ob ich aus eigener Kraft wieder hochkommen werde. Aber auf der Ebene am Mordstein ist mein Stolz zu Asche geworden. Tausende unserer Welpen haben dort erschlagen gelegen. Jungen, die es verdient gehabt hätten, unter den Wölfen aufgenommen zu werden und sich Krieger zu nennen. Die Elfen sind schwach. Wir werden sie letztlich besiegen. Aber ich fürchte den Preis des Sieges. Du hast selbst einen ganzen Wurf junger Welpen gezeugt. Du weißt, wovon ich rede. Ich bitte dich, Orgrim, steh uns bei! Wenn es sein muss, werde ich sogar deine Füße küssen. Ich werde alles tun, was du verlangst. Ich ...«
Orgrim packte sie bei den Schultern und hob sie hoch.
»Komm, Skanga. Komm! Du weißt, ich respektiere dich. Spiel mir nichts vor. Ich habe meinen Frieden in der Welt der Menschen gefunden. Ich habe gute Weiber und mit ihnen acht Welpen gezeugt, die mir viel Freude bereiten. Warum sollte ich in Albenmark Kriege führen? Ich bin glücklich hier.«
Der Atem der Alten ging immer noch pfeifend vor Anstrengung. »Du magst glücklich sein, aber der Tod ist deinen Welpen näher, als du denkst. Erinnerst du dich an das Ritual auf der Insel im Waldmeer? Weißt du noch, was ich aus den beiden gefangenen Elfen erschaffen habe?«
Bis ans Ende seiner Tage würde er das nicht vergessen. »Ja. Drohst du mir, Skanga?«
»Nicht ich! Emerelle hat einige Shi-Handan erschaffen. Und ihre Burg im Herzland lässt sie durch Yingiz bewachen.«
Orgrim dachte darüber nach. »Das ist nicht die Emerelle, die ich kenne«, sagte er schließlich.
»Natürlich nicht. Sie kämpft einen Todeskampf, und ich habe Sorge, dass sie unsere Welt mit in den Abgrund reißt. Ihr muss klar sein, dass sie gegen uns nicht gewinnen kann, und sie ist verzweifelt. Hätte ich es nicht erlebt, ich hätte niemals geglaubt, dass sie einen Teil vom großen Werk der Alben zerstören würde. Und die Vernichtung des Albenpfads war erst der Anfang. Sie gibt die Fesseln auf, die sie sich bisher auferlegt hat. Und sie hat Alathaia von Langollion in ihre Burg gerufen. Wenn sie beginnen, gemeinsam Magie zu weben, müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen, Orgrim. Dein Volk braucht dich! Albenmark braucht dich! Wir müssen die Elfenkönigin endgültig besiegen, bevor sie noch mehr Unheil anrichten kann.«
Orgrim blieb unschlüssig. Er hatte sich geschworen, dem König nicht mehr zu dienen. Gewiss, Branbart war tot, aber seine Seele war wiedergeboren, und der Herzog der Nachtzinne mochte nicht glauben, dass nun alles ganz anders werden würde. Branbart hatte seinen Tod gewollt, als er ihn hierher in die Welt der Menschen geschickt hatte. Ob die dunklen Seiten Branbarts wohl in Gilmarak wiederkehrten? Er hatte kein Bedürfnis, das herauszufinden. Und er war sich im Klaren darüber, dass Skanga sich immer auf Seiten des Königs stellen würde. Nein, wenn er nach Albenmark ging, dann hatte er nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren.
»Du wirst Emerelle besiegen, Skanga. Du bist unendlich viel mächtiger als ich.«
Die Schamanin grunzte ärgerlich. »Schmier mir nicht Honig ums Maul. Ich bin keine Feldherrin. Vielleicht würde ich gewinnen, doch diesen Sieg würde ich weit blutiger erkaufen als du. Und was mir noch viel mehr Sorge macht, ich würde länger brauchen, um Emerelle zu besiegen. Zeit haben wir aber nicht mehr. Wer weiß, was die verfluchte Tyrannin als Nächstes tun wird. Ich bin nicht ängstlich, Orgrim. Aber Emerelle fürchte ich. Sie nutzt die Shi-Handan, um all jene Fürsten zu bestrafen, die sich nicht entscheiden können, auf Seiten der Elfen in den Krieg zu ziehen. Und was noch schlimmer ist, ihre Opfer glauben, ich hätte die Geisterwölfe geschickt! Vor wenigen Wochen noch war ihr Bündnis schwach und keine Gefahr für uns. Doch nun gewinnt sie jeden Tag neue Verbündete. Und dann noch die Shi-Handan und die Yingiz. Sie weiß, dass du eine Gefahr darstellst. Vielleicht wird sie einen ihrer Geisterwölfe auch hierher schicken. Du solltest deine Weiber und deine Welpen aus der Nachtzinne fortbringen. Und wer weiß, was Emerelle noch alles plant. Womöglich will sie einen der schlafenden Riesen wecken.«
Orgrim wurde langsam unruhig. Die Vorstellung, dass die Geisterwölfe auch zu ihm kommen könnten, machte ihm Angst. Aber wäre sein bester Schutz vor ihnen nicht, sich auf keinen Fall in den Krieg in Albenmark einzumischen? »Die schlafenden Riesen. Ist das nicht ein Märchen?«
»Viele haben die Shi-Handan ebenso für Geschöpfe aus Märchen gehalten. Ich weiß nicht, ob es die Riesen gibt und ob sie wirklich den Alben geholfen haben, die Welt zu erbauen. Aber wenn sie mehr sind als nur Geschichten, die man seinen Welpen erzählt, dann haben sie die Kraft, Gebirge einzureißen. Emerelle ist längst nicht mehr wählerisch, wen sie gegen uns ins Feld schickt.«
Orgrim blickte hinab zum Bauplatz. Wie klein und überschaubar ihm die Welt eben noch erschienen war. »Wie viele Krieger hast du noch, nach den Kämpfen am Mordstein?«
»Das Heer zählt noch mehr als vierzigtausend.«
»Wie soll man eine solche Menge von Trollen ernähren?«
Skanga lächelte verschlagen. »Ich bin kein Feldherr, aber ich bin auch nicht dumm! Natürlich sind wir vorbereitet.« Sie berichtete ihm ausführlich von ihren Plänen und den Verbündeten, auf die sie sich verlassen konnte.
Orgrim war ehrlich beeindruckt. »Welches Ziel soll dein Krieg haben, Skanga?«
»Wir werden Emerelle von ihrem Thron vertreiben. Es geht letztlich allein um sie, aber wer sich uns in den Weg stellt, der wird mit ihr untergehen. Gilmarak soll im Herzland auf dem Thron von Albenmark sitzen, und Emerelles Schreckensherrschaft soll beendet sein. Das ist das Ziel des Feldzugs.« Orgrim kratzte sich hinter dem Ohr und schüttelte den Kopf. »Der Thron von Albenmark. Ist das nicht etwas viel für einen Welpen? Du willst herrschen, nicht wahr? Wenn du Emerelle besiegst und ihr ihren Albenstein abnimmst, dann wirst du die mächtigste aller Zauberinnen sein. Und du stündest als Beraterin an der Seite eines Welpenkönigs, der alles tun wird, was du ihm sagst.«
Skangas tote Augen ruhten auf ihm. Sie sah sehr müde aus.
»Ich bin vor dir niedergekniet, Herzog, und ich habe dir gesagt, wie die Dinge stehen. Ich werde dich nicht anflehen, noch werde ich dich zwingen, mir zu helfen. Albenmark braucht dich. Du könntest Emerelle aufhalten.« Sie wandte sich ab. Ihr Knochenstab tastete über den unebenen Felsboden. Langsam stieg sie den Hang hinab.
Vor zwei Tagen hatten ihn die ersten beunruhigenden Nachrichten erreicht. Sein Bruder Nikodemus sah oft bei Ganda vorbei und hatte sie ihm zugetragen. Obwohl Elija sich noch immer zu der Lutin hingezogen fühlte, mied er es, sie aufzusuchen, seitdem sie den Elfen in ihrem Zelt hatte.
Er wusste, dass man über Kommandantin Schlüsselchen tuschelte. Wirres Zeug darüber, dass sie den Elfen liebe. Diese Worte waren wie Gift in seiner Seele. Aber seine Seele war stark! Das musste sie sein bei der großen Aufgabe, die ihm sein Leben gestellt hatte. Er fürchtete sich nicht davor, dass der Elf Ganda vielleicht schöne Augen machen könnte. Das würde niemals geschehen! Er kannte die Elfen! Die fuchsköpfigen Lutin waren für sie kaum mehr als Tiere. Niemals würde sich ein Elf in eine Lutin verlieben! Eher würden die Trolle dem Fleischfressen entsagen und wie Kühe friedlich auf den Wiesen weiden. Was ihn besorgte, war, was geschehen würde, wenn der Elf wieder zu Kräften käme. Wie viel hatte er wohl über das Verhältnis zwischen den Trollen und den Lutin aufgeschnappt? War er wirklich in tiefer Bewusstlosigkeit gewesen? Oder hatte er am Ende gar gelauscht, zu schwach, um ein Lebenszeichen von sich zu geben, aber durchaus stark genug, um zu begreifen, was um ihn herum geschah?
Die Herde war auf dem Weg ins Lager der Steinhufe, einem Kentaurenstamm, bei dem sie schon mehrmals Vieh gekauft hatten. Sie führten Salz und Gewürze mit sich sowie Waffen und schweres Gold vom Schlachtfeld am Mordstein. Das Vieh würde teurer sein als in den vergangenen Jahren. So war es in Kriegszeiten. Reichtümer, die sich aus eigener Kraft bewegten, wurden teurer und teurer. Aber der Preis spielte keine Rolle mehr. Bald würden die Trolle wieder marschieren. Und dann würden sie die Tyrannei der Elfen für immer brechen. Danach würde sich alles ändern. Und die Lutin waren die treuesten Verbündeten der neuen Herrscher. Nein, auf Geld musste man nun keine Rücksicht mehr nehmen.
Bald schon konnte er über das Schicksal Albenmarks mit entscheiden. Was kümmerte es ihn da, ob er für eine Herde einen Sack Pfeffer mehr gab, als sie wert war. Nur um den verfluchten Elfen musste er sich kümmern. Wäre er doch nur nicht aus seiner Ohnmacht erwacht! Jetzt musste er eine endgültige Lösung finden. Und das hieß zugleich auch, dass er es sich auf immer mit Ganda verderben würde, wenn die Kommandantin durchschaute, was er getan hatte. Nur wenn er sehr schnell handelte, bestand die Hoffnung, dass sie Ollowains Veränderung für einen tragischen Rückfall halten mochte.
Elija griff nach dem flachen Holzkästchen. Vor sieben Jahren hatte er es vom Schwarzen erworben. Der Drucker hatte zwar einen fürstlichen Preis dafür verlangt, doch hatte er zugleich auch erleichtert gewirkt, als er diesen Schatz endlich losgeworden war.
Der Lutin strich über das Kästchen aus abgestoßenem, rissigem Rosenholz. Blüten aus feurigen Granatsteinen waren in das altersdunkle Holz eingelassen. Die Hälfte der Schmucksteine fehlte. Er selbst hatte vor Jahren einige der Steine verschachert, als er nicht gewusst hatte, wovon er den nächsten Laib Brot zahlen sollte.
Elija stand schon am Eingang seines Zeltes, als er noch einmal innehielt. Der Schwarze hatte ihm versichert, dass der Schatz nicht vergiftet sei. Aber bei den Werken des Grobhäm Flog war man stets gut beraten, Vorsicht walten zu lassen. Elija kannte einen Bibliothekar, dem eines von Grobhäms Büchern zwei Finger abgebissen hatte.
Der Lutin ging zu seiner Kleidertruhe und suchte nach den schweren Lederhandschuhen, die er im Winter trug. Als er sie über die Finger streifte, fühlte er sich besser. Die Rosenholzkiste unter den Arm geklemmt, trat er aus dem Zelt. Es war Mittagszeit, und die Herde rastete. Aufmerksam sah er sich um. Weit im Westen entdeckte er einen kleinen Reitertrupp auf der Ebene. Heute hatte Ganda zum ersten Mal das Lager des Elfen verlassen. Sie machte mit Nikodemus und einigen anderen Jägern einen kleinen Ausritt zu einem nahen See. Bald würden die ersten Herbststürme über das Windland ziehen. Der Sommer war vorüber, und niemand konnte sagen, ob das Jahr noch einen weiteren so strahlenden, warmen Tag zu bieten hatte.
Elija stieg die Strickleiter von der Zeltplattform hinab und ging zu Mondkragen. Die große Hornschildechse blinzelte schläfrig, als sie ihn sah, und schloss dann wieder die Augen. Der Lutin spürte, wie ihm die Hände feucht wurden. Es war lange her, dass er das letzte Mal gemordet hatte. Was für eine Ironie, dass der größte Schwertkämpfer Albenmarks durch einen unbewaffneten Lutin ausgelöscht werden würde, der ihm kaum bis übers Knie reichte.
»Ausgelöscht.« Elija kostete das Wort wie einen alten Wein, den man nach jedem Schluck noch einen Augenblick im Mund behielt, um sein volles Aroma zu genießen. Ausgelöscht, treffender konnte man es nicht ausdrücken.
Elija kletterte die Strickleiter hinauf. Noch einmal spähte er nach Westen. Die Reiterschar war hinter dem Horizont verschwunden. Im Lager rings herum hatten seine Gefolgsleute Schutz unter den Sonnensegeln gesucht. Nur zwei Wachen sahen ihn bei Gandas Zelt. Er hatte sie selbst ausgewählt. Von ihnen würde Ganda nicht erfahren, was an diesem Mittag geschehen war.
Der Lutin schlug die Plane zurück und trat ins Dämmerlicht des kleinen Zeltes. Der Elf regte sich.
»Wie ich hörte, geht es dir besser, Fürst«, sagte der Lutin freundlich und nahm neben dem Lager des Verwundeten Platz.
»Ganda hat dich aufopferungsvoll gepflegt. Sie ist voller Hoffnung, dass du schon bald wieder zu Kräften kommen wirst. Sie hat ein wahres Wunder an dir vollbracht. Ich hätte nicht einen Grashalm aus der Ebene darauf verwettet, dass du wieder zu dir kommen würdest. Ihr Elfen seid wirklich von erstaunlicher Widerstandsfähigkeit.« Elija lächelte. »Doch seid ihr auch langmütig, wenn es darum geht, Langeweile zu ertragen? Ganda hat viele Pflichten, und sie wird dich in den nächsten Tagen oft allein lassen müssen. Und du darfst dich noch nicht von deinem Lager erheben. Dazu bist du zu schwach. Deine Wunden könnten wieder aufbrechen, wenn du dich zu sehr anstrengst.«
Der Elf sah ihn mit durchdringenden blauen Augen an. Der größte Teil seines Gesichts war hinter Verbänden verborgen. Die Lippen schimmerten rot durch das weiße Leinen. Zwei Furchen aus schwarzem Schorf teilten sie. Auch waren sie noch immer geschwollen, wodurch sie wulstig erschienen. Das linke Augenlid des Elfen hing ein wenig herab. Auf dem Lid war eine hässliche braungrüne Verfärbung zu sehen.
»Verstehst du mich?«
»Ja.« Die geschwollenen Lippen blieben bewegungslos, als Ollowain antwortete. Sein Mund stand leicht offen. Goldenes Haar fiel seitlich über die Verbände. Elija wusste, dass Ganda einen guten Teil des Schädels kahl geschoren hatte, um die Wunden des Elfen besser zu versorgen. Er hatte sie dabei beobachtet, wie sie jedes einzelne der goldenen Haare verbrannt hatte, damit niemand sie für einen Schadenszauber gegen den Elfen verwenden konnte.
Elija klopfte auf die kleine Holzkiste. »Ich habe dir etwas mitgebracht, um deine einsamen Stunden zu verkürzen. Wie du weißt, sind wir ein Volk auf steter Wanderschaft. Wir besitzen nur wenig, denn unsere Lebensumstände erlauben uns nicht, mehr Güter anzuhäufen, als wir tragen können. Deshalb besitzt mein Volk auch so gut wie keine Bücher. Dieses hier ist eine der wenigen Ausnahmen.« Er öffnete den Deckel des Rosenholzkästchens. Das Buch darin war nicht einmal so groß wie eine Hand. In verblassten Goldbuchstaben stand der Titel auf dem schwarzen Ledereinband: EIN UNGESCHRIEBENES LEBEN.
Das Leder des Einbands war nicht abgegriffen. Nur die verblasste Schrift verriet das Alter, ansonsten wirkte das Buch ungelesen.
»Glaubst du, du kannst deine Hand heben? Es ist nicht sonderlich schwer. Ich hoffe, es kann dich ein wenig unterhalten.«
Ollowain drehte den Kopf leicht zur Seite. Er stöhnte. Ganz langsam hob er die rechte Hand.
»Kannst du es halten?« Vorsichtig nahm Elija das Buch aus dem Kistchen. Der Arm des Elfen war geschient, doch seine Hand sah, abgesehen von ein paar fast verheilten Schürfwunden, gut aus. Was für lange, schlanke Finger der Kerl hatte. Und seine Fingernägel waren so makellos, als würden sie jeden Tag von einer Dienerin gepflegt.
Der Schwertmeister zog den zweiten Arm auf seine Brust. Er bewegte sich ungelenk. Behutsam drückte ihm Elija das Buch in die Hände.
»Danke«, stieß der Elf mühsam hervor. Ollowain bereitete es ganz offensichtlich Mühe, seine Finger um das schmale Buch zu schließen, doch er beklagte sich nicht.
»Überanstrenge ich dich?«
»Nein ... du bist ... sehr freundlich.« Ein Lächeln lag in den Augen des Elfen.
Ungelenk klappte Ollowain das Buch auf.
»Nur weiße ... Seiten ...«, sagte er überrascht.
Elija wandte ängstlich den Blick ab. »Du musst zum Anfang des Buches blättern. Dann wird sich dir alles erschließen. Schlag die erste Seite auf.« Der Lutin drehte sich etwas zur Seite, sodass Ollowain ihm nicht ins Gesicht blicken konnte, und schloss die Augen. Er hörte das leise Geräusch von Seiten, die umgeblättert wurden. Dann erklang ein Seufzer. Darauf folgte Stille. Erst ein Poltern ermutigte ihn, die Augen wieder zu öffnen. Das Buch war dem Elfen aus den Händen gefallen.
Der Lutin hob es von den Holzdielen auf. Es war so dick, dass es nicht mehr in das Rosenholzkästchen passte. Er klappte es kurz auf. Die Seiten waren mit einer kleinen, sehr ordentlichen Handschrift dicht beschrieben. Er überflog flüchtig einige Zeilen. Es ging um eine Elfendame, die bei einem Festmahl zu Tode kam, weil sie sich den abgebrochenen Stiel eines Kristallglases ins Auge rammte. »Was für ein blutiges Leben du hattest«, murmelte Elija und schloss das Buch. Der Lutin betrachtete den Elfen. Die blauen Augen starrten ausdruckslos zur Zeltdecke. Ein dünner Speichelfaden troff Ollowain aus dem Mundwinkel.
Elija drückte ihm die Augenlider zu. »Hättest du nicht gedacht, auf diese Weise von uns zu gehen. Nicht gerade ein Heldentod.«
Alathaia legte das schwere Buch vor Emerelle auf den Tisch. Ihre selbstsichere Art war wie weggefegt. Sie blickte in die Schattenwinkel der kleinen Bücherkammer, in der sie sich getroffen hatten. »Einer von ihnen ist hier. Ich spüre ihn.« Die Königin nickte. Auch sie spürte die Gegenwart des Yingiz. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, dass die Schattenwesen sie ständig belauerten. Es waren mehr geworden in den letzten Monden. »Was hältst du von dem Buch?«
Alathaia strich über den schweren Buchdeckel. »Meliander war dein Bruder, nicht wahr? Darf ich trotzdem offen sprechen?«
»Die Lage ist zu ernst, um Zeit damit zu verschwenden, sich gegenseitig etwas vorzumachen.«
Die Fürstin nickte. »Ich halte ihn für wahnsinnig, obwohl er zweifellos seine klaren Momente hatte. Das Buch ist verwirrend. Ich habe es dreimal gelesen. Er widerspricht sich manchmal in dem, was er schreibt. Ich habe auch versucht, einiges zu überprüfen ... soweit das in meiner Macht stand.«
»Meister Alvias hat mir davon berichtet. Er ist alles andere als angetan von dir. Im ganzen Palast findet sich kein Diener mehr, der es wagt, deine Gemächer zu betreten. Er musste sie selbst säubern.« Emerelle dachte an die Dinge, die ihr Alvias erzählt hatte. Es war nicht leicht, den Hofmeister aus der Fassung zu bringen.
»Hat er sich wegen der Blutspritzer aufgeregt?« Alathaia lächelte kühl. »Ich hatte ihm geraten, den Boden und die Wände rot tünchen zu lassen. Gleich am ersten Abend, nachdem ich eingetroffen war. Damals hat er mich nicht ernst genommen. Aber dass ihm der Tod von ein paar schwarzen Widdern so nahe geht ...« Sie breitete die Hände aus. »Ich dachte, er hätte schon in Schlachten gekämpft. Da müsste er den Anblick von etwas Blut doch gewöhnt sein.«
»Ich glaube, ihm machte nicht die Tatsache zu schaffen, dass die Widder in deinen Gemächern zu Tode kamen, sondern viel eher die Art, wie sie starben.«
Alathaia lachte verächtlich. »Er sollte sich nicht so anstellen. Es war wesentlich unangenehmer, während ihres Todes anwesend zu sein, als die Fleischfetzen von den Wänden zu kratzen.«
Emerelle schluckte. Ihr lag eine Frage auf der Zunge, doch dann entschied sie, lieber nicht wissen zu wollen, was Alathaia getan hatte. »Du glaubst Meliander also nicht.«
»Wenn ich das täte, müsste ich verzagen. Er malt die Zukunft in den dunkelsten Farben aus. Dabei liegt der Sieg zum Greifen nahe.« Der Königin missfiel der Blick, mit dem Alathaia das Buch betrachtete. »Du weißt, was für ein Stein das ist?«
Die Fürstin von Langollion überging die Frage. »Wem hat dein Bruder den Albenstein abgenommen? Und warum hat er ihn zerstört? Ich weiß, der Stein beschützt das Buch, doch das ist zu viel Schutz. Es ist, als wolle eine Ameisenkönigin ihr Volk durch einen Löwen verteidigen lassen. Und dass er ihn zerstört hat ....« Sie schüttelte den Kopf. »Er muss wahrlich wahnsinnig gewesen sein.«
»Er wollte uns auf etwas hinweisen. Es gibt unendlich viel mehr Zukünfte, als er in dem Buch beschreiben konnte. Und die Silberschüssel versteht sich darauf, stets nur die schlimmen Seiten zu zeigen.«
»Du meinst, wie der kleine Trollkönig dich nach seinem Sieg an der Shalyn Falah mit dem Kopf nach unten an den Zinnen deiner Burg aufhängt, um dir bei lebendigem Leib das Herz herauszuschneiden und es zu verspeisen.« Emerelle begegnete der Fürstin mit einem eisigen Lächeln. »Das ist die Art, wie sie einem Respekt erweisen. Skanga hofft, dass ihr Königswelpe dadurch einmal genauso tapfer werden wird, wie ich es bin.«
»Bist du wirklich so tapfer? Würdest du jeden Weg gehen?«
»Ich glaube, der Weg zum Sieg muss ein Weg sein, den mir mein Bruder nicht zugetraut hat. Ich muss etwas tun, das er für so unwahrscheinlich gehalten hat, dass er diesen Zweig der Zukunft erst gar nicht erforschte.«
Alathaia schüttelte den Kopf. »Hätte er das nicht einfach in sein Buch schreiben können? Warum so umständlich?«
»Weil er mich immer für etwas dickköpfig gehalten hat. Früher war ich berüchtigt dafür, gut gemeinte Ratschläge nicht anzunehmen und stets meinen eigenen Weg zu gehen. Das war lange bevor ich zum ersten Mal zur Königin gewählt wurde.«
Wehmütig dachte sie an die Nacht vor dem Drachenkampf. Falrach hatte ihr dringend von dem Gefecht abgeraten. Er hatte für ihre Unvernunft mit dem Leben bezahlt.
»Wenn wir den Albenstein wieder zusammenfügen«, fuhr die Königin fort, »dann können wir den zerstörten Albenpfad erneuern. Damit ist das Loch im Netz der Wege geschlossen. Das Netz, das die Yingiz zurückhält. Dann kann ich beginnen, die Schatten zu vertreiben. Und wenn das geglückt ist, werden die Trolle meine Macht zu spüren bekommen.«
»Warum vertreibst du die Yingiz nicht gleich? Du weißt, wie man sie besiegt?«
»Du musst weiter denken, Alathaia. Was geschieht, wenn einer von ihnen heulend ins Nichts zurückgeschleudert wird? Wird er nicht all seinen Gefährten berichten, dass ein Weg nach Albenmark offen steht? Bisher ahnen die Yingiz, die noch im Dunkel zwischen den Welten gefangen sind, nichts von dem Weg. Doch schicke ich nur einen von ihnen zurück, werden sie alle nach dem Fluchtweg aus ihrem Gefängnis suchen.«
»Dann töte sie!«
»Das vermochten nicht einmal die Alben. Keine Kraft Albenmarks kann das erreichen. Du weißt, was Meliander schreibt. Es gibt nur einen Weg der Hoffnung, und den kann kein Elf beschreiten. Kein Geschöpf Albenmarks würde die Wachen der Goldenen Hallen passieren können. Wenn du dort Hilfe suchst, musst du einem Menschen den Schierlingsbecher reichen. Einem ganz besonderen Menschen, der diesen Trunk freiwillig nimmt und der Aussichten hat, in den Goldenen Hallen Hilfe zu finden. Wer sollte das sein? Ein Held reinen Herzens ... Und bist du dir sicher, dass Meliander sich nicht irrt? Woher will er wissen, was nie erprobt wurde? Kein Albenkind hat die Goldenen Hallen je gesehen. Gibt es sie vielleicht nur in der Vorstellung der Menschen? Willst du das Schicksal der Welt auf solch eine vage Vermutung setzen?«
»Wenn du den Menschen nicht traust, welchen Weg würdest du gehen?«
»Den der Macht.« Emerelle fröstelte. Wäre sie einst wie Alathaia, wenn sie den Weg zu Ende ging, auf den das Schicksal sie Stück um Stück gezerrt hatte? Mit jedem Kompromiss hatte sie ein Stück ihrer Linie aufgeben müssen. Schleichend war ihr das eigene Weltbild entglitten.
»Du solltest den zweiten Albenstein für dich gewinnen«, meinte Alathaia. »Wenn die Gefahr durch die Yingiz gebannt ist, dann kannst du dich mit aller Kraft den Trollen widmen. Du darfst dich nicht zwischen diesen beiden Kriegen aufreiben. An keiner Front wirst du einen Sieg erringen, wenn du nur mit halber Kraft kämpfst.«
Emerelle betrachtete nachdenklich das Buch und die Steinfragmente, die wie Schmuck in den prächtigen Einband eingelassen waren. »Ich habe versucht, den Albenstein wieder zusammenzufügen, doch er widersetzt sich mir.«
»Du hast mich doch gerufen, damit ich dir helfe. Dann nimm meine Hilfe an. Ich habe in den letzten Wochen einige Zauber erprobt und bin sehr zuversichtlich, dass wir erfolgreich sein können.« Sie lehnte sich zurück. Alathaia strahlte eine provozierende Selbstsicherheit aus. Sie war eine schöne Frau. Jede ihrer Gesten war sorgsam einstudiert. Sie wusste um ihre Wirkung, ihre Ausstrahlung. Wappnete sie sich gerade noch in einen Panzer aus Eis, der es unmöglich machte, ihr nahe zu kommen und ihre wahren Gefühle auch nur zu erahnen, so vermochte sie binnen eines Augenblicks eine völlig andere zu werden. Ein einladendes Lächeln, ein verheißungsvoller Blick, ein laszives Räkeln ... Mit ihr könnte man seine dunkelsten Sehnsüchte ausloten. Träume, die einen mitten in der Nacht schweißgebadet auffahren ließen und über deren Abgründe nie ein Wort über die Lippen drang ... Mit Alathaia konnte man sie Wirklichkeit werden lassen.
Emerelle hatte sich nie zu Frauen hingezogen gefühlt, doch selbst bei ihr blieb die sinnliche Ausstrahlung der Fürstin von Langollion nicht ohne Wirkung. »Du weißt also, wie man den Stein zusammenfügen kann.«
Kerzenlicht spiegelte sich auf den dunklen, granatfarbenen Lippen der Fürstin. »Dir wird nicht gefallen, was du zu hören bekommst, Emerelle. Und das liegt daran, dass unser Volk seit Jahrhunderten in seinen selbst gezogenen Grenzen gefangen ist. Wir sind erstarrt, unfähig, uns den neuen Zeiten anzupassen. Und deshalb werden wir untergehen, wenn du nicht den Mut hast, falsche moralische Schranken hinter dir zu lassen. Nur Blutmagie hat die Macht, den Albenstein wieder zusammenzufügen. Ich fordere von dir dreizehn Kinder von edlem Blut. Elfenkinder müssen es sein, geboren in den ältesten unserer Sippen. In ihnen brennt das Licht des Lebens am stärksten. Diese Kraft, richtig gelenkt, wird den Stein wieder in seine ursprüngliche Form zwingen.«
Emerelle spürte einen Stich in ihrem Herzen. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Hand an die Brust. Sie musste sich beherrschen! Was Alathaia forderte, war ungeheuerlich, aber es war kein Grund, sich derart gehen zu lassen. Obwohl sie diesen Gedanken in aller Klarheit zu fassen vermochte, stiegen ihr dennoch Tränen in die Augen.
Der Fürstin entging nichts. Emerelle fühlte sich nackt unter ihrem unbarmherzigen Blick. »Natürlich wirst du den Dolch führen müssen, der die Kehlen der Kinder durchtrennt, denn du besitzt den Albenstein. Du bist der Brennpunkt der magischen Macht. Es sei denn, du würdest mir den Albenstein anvertrauen.« Sie lächelte. »Aber mein Ruf lässt das vermutlich wenig empfehlenswert erscheinen.«
»Glaubst du wirklich, du könntest mich dazu bringen, Kinder zu töten?«
Alathaia hob eine Braue. »Glaubst du, du könntest dem entgehen? Du wirst Kinder töten, Emerelle. Die einzige Frage, die sich stellt, ist: Wie viele wirst du töten? Hast du den Mut, den Dolch selbst in die Hand zu nehmen? Kannst du es ertragen, ihr warmes Blut über deine Finger fließen zu spüren? Und wirst du ihren ersterbenden Blicken standhalten? Oder fliehst du in dein Gefängnis heuchlerischer Moral? Mit einem zweiten Albenstein können wir die Yingiz verbannen und einen schnellen Sieg gegen die Trolle erringen. Hast du nicht den Mut, diesen Weg zu beschreiten, dann wird es einen langen, blutigen Krieg geben. Und so wie es aussieht, werden die Trolle gewinnen. Natürlich kannst du deinem Gewissen sagen, du hättest deine Hände niemals in Blut getaucht. Die Wahrheit aber sieht anders aus. Deine Entscheidung wird hunderte, vielleicht sogar tausende Kinder das Leben kosten. Du weißt, was ein Krieg mit den Trollen bedeutet. Scharen von Flüchtlingen ... Es sind die Kinder, die als Erste sterben. Und wenn der Krieg vorüber ist? Werden die Trolle dann nicht versuchen, die Fürstenfamilien der Elfen auszulöschen? Von den Kindern, die ich fordere, um den Albenstein zusammenzufügen, wird auch dann keines überleben, wenn du nicht den Mut findest, sie zu töten.«
»Genug!«
»Nein, Emerelle. So leicht lasse ich mir nicht den Mund verbieten. Ich gehöre nicht zu deinen Speichelleckern. Du wolltest herrschen. Seit Jahrhunderten klammerst du dich an den Thron von Albenmark und bist verliebt in die Macht, denn einen Mann hast du dir nicht mehr ins Bett geholt, wie man hört, seit du deinen Thron besitzt. Nun stehe zu deiner Liebe! Kämpfe um sie! Hast du nicht von dir gesagt, du seiest die erste Dienerin der Albenkinder? Waren es nicht deine Worte, dass aus deiner Herrschaft immer das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl deiner Untertanen entspringen sollte? Herrsche! Opfere dreizehn, um ungezählte Leben zu retten. Bekenne dich endlich zu dem, was du bist. Eine Herrscherin kann nicht nach dem Maß normaler Sterblicher gemessen werden.«
Emerelle richtete sich auf. Mit der Rechten stützte sie sich auf den Tisch auf, der zwischen ihnen stand. Sie hatte das Gefühl, dass jeden Augenblick ihre Beine unter ihr nachgeben könnten.
»Du hast die Erlaubnis, dich zurückzuziehen, Alathaia. Ich werde dir zu gegebener Zeit mitteilen, wie ich mich entschieden habe.«
Die Fürstin erhob sich und holte aus dem weiten Ärmel ihres Kleides eine kleine Pergamentrolle hervor. »Ich habe hier die Namen von dreißig Kindern niedergeschrieben, die in Frage kämen. Und bevor du sie jetzt zurückweist, denke daran, wie lang die Liste der Opfer werden wird, die ihr Leben geben mussten, weil du nicht bereit warst, mit deinen fragwürdigen Moralvorstellungen zu brechen. Ich glaube, der erste Name auf dieser Liste lautet Ollowain. Oder irre ich mich?«
»Wie kannst du es wagen ...«
»Meister Reilif hat mir einiges erzählt, bevor er nach Iskendria zurückkehrte. Er war sehr beeindruckt davon, wie du das Problem mit Ollowain gelöst hast. Nur über das Wie von Ollowains Tod war sich der Hüter des Wissens nicht im Klaren. Dazu sind die Gerüchte zu widersprüchlich. Ich glaube zwar, dass du durchaus auch auf Meuchler zurückgreifst, wenn es darum geht, deinen Willen als Herrscherin durchzusetzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass einer seiner Gefährten den Schwertmeister inmitten des Schlachtgetümmels am Mordstein hinterrücks erstochen hat. Auch wenn ein Schlachtfeld wohl der bestmögliche Ort ist, um einem Leben, das deiner Herrschaft zur Last wurde, ein schnelles Ende zu bereiten. Ich bin der Meinung, dass du subtiler vorgegangen bist. Leider habe ich Ollowain nie kennen gelernt. Aber alle, die ich von ihm reden hörte, waren sich einig, dass es nie einen Elfen gab, der die Tugenden der Ritterlichkeit so vollkommen verkörperte wie er. Wenn du es gewünscht hättest, dann hätte er gewiss von sich aus dafür Sorge getragen, die Schlacht am Mordstein nicht zu überleben. Du hast längst damit begonnen, die Grenzen des Kerkers deiner Moral auszuweiten. Mach dir nichts vor! Ich fordere dich nicht auf, den ersten Schritt zu tun. Es ist nur ein weiterer Schritt auf einem Weg, der dir schon lange vertraut ist.«
Emerelle hatte nicht länger die Kraft zu stehen. Sie ließ sich auf den Lehnstuhl am Tisch sinken. Auch ihre Tränen konnte sie nicht mehr zurückhalten. Unfähig, ein Wort zu sagen, sah sie Alathaia einfach nur an.
»Ich erwarte deine Entscheidung, Herrscherin.« Mit diesen Worten verließ die Fürstin von Langollion die kleine Bücherkammer.
Emerelle vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Nicht Alathaias Worte hatten ihr den Stich ins Herz versetzt. Es war Ollowain ... Sie spürte ihn nicht mehr. Er war nicht mehr da ... Er war ... verloschen. Der Tod hatte den Schwertmeister gefunden, wo immer er gewesen war. Er musste wohl seinen Verletzungen aus der Schlacht erlegen sein. Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, auch wenn es nicht ihre Hände gewesen waren, die den tödlichen Streich geführt hatten.
Oft schon hatte sie den Tod des wiedergeborenen Falrach erduldet. Doch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.
Durch den Schleier ihrer Tränen sah sie die Pergamentrolle mit den Namen der Kinder, und sie dachte an Alathaias Worte. Die Fürstin hatte Recht. Emerelle hatte die Flüchtlingszüge in der Silberschale gesehen. All das Blut, das an ihren Händen haften würde.
Das Tier hatte ihn an den See gebracht, von dem aus die wunderbare Burg zu sehen war. Immer schneller konnte sich die Bestie bewegen. Sebastien vermochte nicht nachzuvollziehen, wie dies dem Tier gelang. War es die Kraft seiner Gedanken, die Landschaften verwischen ließ wie in einem Traum? Genügte es, an einen Ort nur zu denken, um ihn zu erreichen? Und warum kannte die Kreatur diese Welt so gut? So wie der Abt es verstanden hatte, hielt ein mächtiger Bannzauber die Schattengestalten aus der Welt der Elfen fern. Wie konnte das Tier dann so viel über diesen Ort wissen?
Er lauschte in sich hinein, doch der dunkle Teil ihrer verschmolzenen Seelen mochte ihm nicht antworten. Geschwätzig war das Tier nur, wenn es darum ging, andere zu quälen.
Die Burg mit ihren weißen Mauern und schlanken Türmen erhob sich hell gegen den grauen Herbsthimmel. Regenschauer zerwühlten den Spiegel des Sees. Ganz in der Nähe des Ufers hatte jemand bunte Steine ins Wasser gelegt. Sebastien hockte unter dem ausladenden Blätterdach zweier Linden. Obwohl er Regen nicht zu scheuen brauchte, hatte er aus alter Gewohnheit Zuflucht gesucht. Der Ort lud zum Verweilen ein. Und er erweckte eine fremde Sehnsucht. Etwas war bei der Burg. Das Tier fühlte sich zu ihr hingezogen und fürchtete sie zugleich. Seit sie miteinander verschmolzen waren, hatte Sebastien allein Hass und Hunger als die beherrschenden Gefühle der Schattengestalt kennen gelernt. Nun glaubte er Sehnsucht zu spüren.
»Du weißt nichts von meinen Gefühlen«, erklang die Stimme in seinen Gedanken, die so lange geschwiegen hatte. »Für einen Ordensbruder findest du erstaunlich viel Gefallen an jungen flachbrüstigen Weibsbildern. Du solltest einmal die Apsaras kennen lernen. Wassernymphen, so schön, dass dir die Seele brennt, wenn du sie siehst. Ich werde es genießen, sie mit dir gemeinsam zu töten und mich an deinen Qualen zu weiden.«
»Warum tust du all das?«, fragte Sebastien.
»Weil ich es kann.«
Das Bild der Burg verwischte. Die Landschaft zerschmolz. Doch Sebastien hatte das Gefühl, dass das Tier hierher zurückkehren würde. Etwas in der Burg lockte es.
Erschöpft vergrub Ulric sein Gesicht in Halgards rotem Haar. Das Liebesspiel hatte ihm den Atem genommen. Jedes Mal, wenn sie beieinander lagen, liebten sie sich mit fast schmerzhafter Hingabe. Denn jedes Mal lag der Schatten des verfluchten Geschenks über ihnen. Und sie fürchteten, es könne das letzte Mal gewesen sein.
»Blut frisst nicht«, sagte Halgard leise.
Ulric dachte an den großen, alten Hund, mit dem ihrer beider Leben verbunden war. Er war stark. Er weigerte sich zu sterben. Mindestens siebzehn Jahre lebte er nun schon. Das war viel länger, als sie zu hoffen gewagt hatten. Aber nun wurde er von Tag zu Tag hinfälliger. Den Winter würde Blut wohl nicht überstehen, ganz gleich, wie trotzig er dem Tod auch entgegenbellte.
Ulric drückte Halgard enger an sich. Geistesabwesend spielte er mit ihrem Haar. »Woran denkst du?«
»Was glaubst du, warum die Götter uns die Fähigkeit gegeben haben, nicht jeden Gedanken auf unseren Lippen zu tragen?«
»Daran denkst du?« Halgard knuffte ihn mit dem Ellenbogen.
»Schelm!«
Ulric drehte sich, sodass er auf ihr lag, und sah ihr ins Gesicht. Blasse Sommersprossen umgaben ihre Nase. Ihre Lippen waren noch immer dunkel von den Blaubeeren, die er ihr mitgebracht hatte. Blau ... Er dachte an den Mann im blauen Mantel. Bruder Jules. Warum hatte er ihnen das angetan? Ein Hundeleben zu leben. Warum lud man Kindern einen so schrecklichen Fluch auf? »Ich dachte daran, wie blind jene sind, die schon immer sehen konnten«, sagte Halgard unvermittelt.
»Gefällt es meiner Hauspriesterin, in Rätseln zu sprechen?«
»Ich lasse halt nichts unversucht, um dir die Augen zu öffnen.« Sie sagte das in ernstem, fast barschem Tonfall.
»Habe ich dich beleidigt?«
Halgard seufzte. »Nein.« Sie zerzauste ihm das lange Haar.
»Ist dir bei Kadlin nichts aufgefallen?«
»Björn singt wahre Lobeshymnen auf ihr wunderbares Hinterteil. Ich finde es etwas schmal und knabenhaft. Doch davon abgesehen ist sie recht hübsch ...«
Halgard zog ihn an den Haaren. »Kannst du nicht einen Augenblick ernst sein?«
Ulric schnaubte. Mangelnden Ernst warf man ihm beileibe nicht oft vor. Unter seinen Gefährten galt er als zu kühl und selbstbeherrscht. Er wusste von Björn, dass sie erst dann wirklich unbeschwert miteinander umgingen, wenn er nicht in der Nähe war. »Ich glaube, im Augenblick würde ich lieber in den Armen eines Trolls liegen.« Halgard stieß ihn von sich.
»Bist du dir im Klaren darüber, was du gerade treibst?«, fragte er eher traurig als erbost. »Ich liege nackt zwischen deinen Schenkeln, und du fragst mich, was ich von der einzigen anderen hübschen Frau halte, die auf diesem verfluchten Bauplatz herumläuft? Was ist das? Eine Falle? Willst du mich auf die Probe stellen? Bist du eifersüchtig? Willst du fühlen, ob sich bei mir etwas regt, wenn ich an sie denke?«
»Habt ihr Männer auch noch etwas anderes im Kopf als eure Schwänze?«
»Bei den Göttern! Wenn du meine Einfalt nicht ertragen kannst, dann sag mir doch einfach geradeheraus, was du denkst!«
»Ich denke, dass Kadlin deine kleine Schwester ist.«
Ulric ließ sich auf den kleinen Schemel neben dem Bett sinken.
»Ach, Halgard ...«
»Komm mir jetzt nicht damit. Hast du sie einmal beobachtet? Blut, der nun wirklich kein handzahmes Schoßhündchen ist, lässt sich von ihr kraulen. Ja, er frisst ihr sogar aus der Hand. Und auch sie hat keinerlei Angst vor ihm.«
»Kadlin ist tot!«, sagte Ulric eisig. Er begriff nicht, was in Halgard gefahren war, aber er würde bei diesem schlechten Scherz nicht weiter mitspielen.
»Man hat ihre Leiche nie gefunden. Und auch nicht die Leiche deiner Mutter.« »Sie sind auf der Flucht in die Berge erfroren. Und ich bin froh, dass niemand ihre halb gefrorenen und von Aasfressern entstellten Leichen hinunter nach Sunnenberg gebracht hat. Ich bin froh, dass ich sie so in Erinnerung behalten habe, wie ich sie kannte.«
»Eben, deshalb bist du ja auch blind für die Wahrheit. Stell dir deine Schwester fünfzehn Jahre älter vor. Sie hätte Kadlins Alter. Und gab es nicht einen Fischer namens Kalf im Dorf? Er war doch mit dabei, bei der Flucht über das Eis. Kadlins Vater heißt auch Kalf.«
»Der Fischer war ein großer, stattlicher Kerl mit blonden Haaren.«
»Und unser Kalf ist ein großer, stattlicher Kerl mit kahl rasiertem Kopf und kurzem Bart. Ich war blind. Ich habe den Fischer nie gesehen. Aber könnte es nicht der Kalf aus dem Dorf sein? Du musst dich doch noch an ihn erinnern!«
Ulric hob abwehrend die Hände. »Bitte hör auf! Ich will davon nichts wissen. Sie alle sind in den Bergen gestorben. Und warum sollte Kadlin den Fischer Vater nennen? Das ergibt doch keinen Sinn!«
»Sie war ein kleines Mädchen«, fuhr Halgard unbarmherzig fort. »Wenn man ihr erzählt hätte, Kalf sei ihr Vater, dann hätte sie es sicher geglaubt. Und dann noch die Sache mit den Trollen. Vielleicht haben sie ihr schon einmal geholfen? Vielleicht hat der Troll in der Höhle sie deshalb gerettet, statt sie zu schlachten.«
Ulric streifte sich seine Hosen über. »Es ist genug. Komm mich suchen, wenn du wieder bei Verstand bist. Ich will das nicht hören!« Mit diesen Worten trat er aus der kleinen Hütte, die im Windschatten der Festungsmauer lag. Er eilte zwischen den schwitzenden Arbeitern hindurch zum Brunnen und tauchte den Kopf in den großen Wassertrog.
Halgard war gut darin, den Dingen auf den Grund zu gehen. Obwohl sie noch Kinder gewesen waren, hatte sie herausgefunden, dass die roten Fäden in ihren Holzpuppen ihre Lebensfäden darstellen sollten. Und nun das!
Der Krieger suchte unter den Arbeitern nach Kalf. Er entdeckte ihn beim Torturm. Der alte Jäger trug auf einem Holzgestell behauene Steine zu den Maurern am Turm. Von der Statur her mochte er dem Fischer gleichen ...
Ulric verwarf den Gedanken. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Wenn es stimmte, was Halgard dachte, dann hätte Asla, seine Mutter, ihn im Stich gelassen! Verlassen wegen diesem Fischer. Das war unmöglich! Das hätte sie niemals getan. Sie hatte ihn geliebt! Es war ein Unglück, dass er in Honnigsvald verloren gegangen war. Seine Schuld ... Sie hatte doch die Elfe Yilvina geschickt, um ihn zu holen. Asla hatte ihn geliebt!
Ulric blickte wieder zu dem alten Jäger. Kalf hatte die Maurer erreicht und wuchtete das Tragegestell von seinem Rücken. Er hatte wirklich Ähnlichkeit mit dem Fischer. Und dass Blut Kadlin mochte, war in der Tat seltsam. Fremden traute er gewöhnlich nicht ...
Aber was machten die beiden dann hier? Wenn Kalf ihm seine Mutter und seine kleine Schwester gestohlen hatte, dann würde er sich doch wohl kaum hierher wagen, wo er befürchten musste, wieder erkannt zu werden. Er lieferte sich dem Zorn des Königs aus! Sein Vater war ein friedliebender Mann. Aber wenn er erfahren müsste, dass Kalf Kadlin und Asla entführt hatte ... Nicht auszudenken! Als er noch kleiner gewesen war, war Ulric manchmal eifersüchtig auf Kadlin gewesen. Immer wieder hatte er seinen Vater abends am Feuer sitzen sehen, das blaue Kinderkleid auf dem Schoß. Dieses Kleidchen war alles, was ihm von Kadlin geblieben war.
Damals hatte Ulric sich gewünscht, Vater würde mit ihm reden und spielen, statt einfach nur vor sich hin zu starren. Mit den Jahren hatte er diese Eifersucht besiegt. Es war albern, auf ein totes Mädchen eifersüchtig zu sein!
»Ach Halgard, wärst du doch weniger scharfsichtig.« Ulric beschloss, das Geheimnis für sich zu behalten. Daran zu rühren, würde eine Tragödie heraufbeschwören.
Elodrin legte Emerelles Brief zur Seite und sah seine Vertrauten und Ratgeber der Reihe nach an. »Ich verstehe die Königin nicht mehr«, sagte er sehr leise.
Im Kartensaal des Palasts der Gilde der Safranhändler herrschte gedrückte Stimmung. Elodrin hatte der Königin dreimal geschrieben und sie gebeten, ihre neue Strategie noch einmal zu überdenken, aber sie war halsstarrig und blieb bei ihrer Meinung. Auf seine Bitten, nach Feylanviek zu kommen und sich von der Lage an der Grenze selbst ein Bild zu machen, hatte sie erst gar nicht reagiert. Es war nicht mehr die Herrscherin, die er einmal gekannt hatte. Zuletzt hatte er Obilee geschickt, weil die junge Kriegerin ein besonders gutes Verhältnis zur Königin hatte, doch selbst ihr gegenüber war sie wortkarg und abweisend gewesen. Und Obilee hatte ihm erzählt, dass Alathaia auf der Burg der Königin weilte. Das war ihm eine Erklärung für die grausamen Befehle der Herrscherin.
Die Tür zum Kartensaal schwang auf, und Graf Fenryl trat ein. Er trug einen Verband um die Stirn, in den frisches Blut sickerte. Sein Leinenpanzer und sein Umhang erstrahlten im Weiß von frisch gefallenem Schnee. Der Helm, den er unter den Arm geklemmt trug, schimmerte silbern. Manchmal, wenn er ihn nur aus den Augenwinkeln sah, hatte Elodrin das Gefühl, Ollowain sei wieder unter ihnen. Er hatte den Schwertmeister nicht gut gekannt, und sie hatten miteinander gestritten, aber es ließ sich nicht leugnen, dass er ein guter Feldherr und ehrenhafter Mann gewesen war.
»Du bringst Nachricht aus der Snaiwamark?« Fenryl legte den Helm auf dem Kartentisch ab und begrüßte die Versammelten: Yilvina und Obilee, die Gräfin Caileen, die den Oberbefehl über die Streitwagen und Reitertruppen führte, und die Heilerin Nardinel.
Der Graf warf einen Blick auf die Karte und deutete auf den Mordstein. »Es ist Bewegung in die Truppen gekommen. Die Trolle verstärken ihr Heer. Viele junge Welpen sind vor der Zeit zu den Waffen gerufen worden. Sie haben Truppen nach Osten in Richtung der Walbucht in Marsch gesetzt. Weitere fünftausend Krieger sind auf dem Weg nach Süden. Sie stehen kurz vor Jerash und blockieren den Weg hinauf zum Mordstein.« Er machte eine kurze Pause.
»Und was noch schlimmer ist, ich habe Orgrim gesehen. Er scheint den Oberbefehl zu führen. Man spürt es. Die Dinge ändern sich. Es sind viel mehr Späher und Streifen unterwegs. Sie wollen uns unsere Augen nehmen. Ich bin zweimal von Raben angegriffen worden. Ich glaube, Orgrim hat seinen Schamanen befohlen, jeden Vogel vom Himmel zu vertreiben. Auf all meinen Flügen mit Schneeschwinge in diesem Sommer bin ich nicht ein einziges Mal von anderen Vögeln angegriffen worden und nun gleich zweimal. Ich bin nicht geneigt, das für einen Zufall zu halten. Auch wird die Flotte in der Walbucht zum Auslaufen bereit gemacht. Es sind mehr als achtzig riesige schwarze Galeassen. Sie könnten ein ganzes Heer darauf einschiffen. Jede der Galeassen kann zweihundert oder mehr Krieger an Bord nehmen.«
Elodrin versuchte ein Lächeln, um seine Niedergeschlagenheit zu verbergen. »Du bist sicher, dass Orgrim gekommen ist? Er hat doch ein Herzogtum in der Anderen Welt.« Eigentlich zweifelte er nicht an Fenryls Worten. Er wollte lediglich etwas Zeit gewinnen, um seinen Entschluss noch einmal zu überdenken.
»Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Wenn ich mit Schneeschwinge fliege, sind meine Augen so scharf, dass ich jeden Namen auf der Landkarte hier noch aus hundert Schritt Entfernung lesen könnte. Es ist Orgrim. Ich kenne ihn noch von Phylangan. Es war sein tollkühner Angriff ins Herz der Festung, der das Schicksal der uneinnehmbaren Felsenburg besiegelte. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen.«
»Die marschierenden Truppen und das Spielchen mit der Flotte, all das ist nur Augenwischerei«, erklärte Elodrin.
»Orgrim weiß, dass wir ihn beobachten. Er will uns verwirren. Will erreichen, dass wir seine eigentlichen Pläne nicht allzu schnell erraten. Und er hält sich Optionen offen. Die Flotte kann einigen Schaden anrichten, ebenso ein Heer aus fünftausend Trollen. Mit dieser Strategie verfolgt er die Absicht, dass wir unsere ohnehin schon schwachen Streitkräfte noch weiter zersplittern. Was schätzt du, wie stark die Truppen der Trolle sind, Fenryl?«
Der Graf breitete die Hände aus. »Das ist schwer zu sagen. Mit den Kriegern, die die Schiffe bemannen, und den Verstärkungen am Mordstein könnten es wohl wieder fünfzigtausend sein. Wie gesagt, sie haben alle Welpen, die erst im nächsten Frühjahr zu den Kriegern gerufen werden sollten, schon jetzt unter Waffen stehen. Ich glaube, sie suchen noch in diesem Winter die Entscheidung.«
»Dieser Auffassung bin ich auch.« Er griff nach dem Elfenbeinkästchen auf dem Tisch, nahm Emerelles letzten Brief heraus und legte ihn mitten auf den Kartentisch. »Die Königin befiehlt, Feylanviek aufzugeben.«
»Dann war also alles Leid umsonst«, sagte Nardinel. »All die Toten, die Verwundeten und auf immer Verstümmelten haben vergebens gelitten.«
»Wir haben den Trollen zwei oder drei Monde Zeit abgekauft«, sagte Yilvina kühl. »Auch Ollowain war klar, dass dies alles war, was wir erreichen konnten. Ich schlage vor, wir halten uns weiter an seine Pläne, locken die Trolle in die weiten Steppen des Windlands und schneiden sie dort von ihrem Nachschub ab. Dann werden das Land und der Winter das Töten für uns übernehmen.«
»Ollowain ging nicht davon aus, dass wir gegen Orgrim kämpfen müssen«, wandte Elodrin ein. »Der Herzog der Nachtzinne wird unsere Strategie durchschauen, sobald wir uns zurückziehen. Er wird vorbereitet sein, wenn er ins Windland vorstößt.« Er seufzte. »Und Emerelle macht es ihm leichter. Sie überlässt es jedem Bewohner Feylanvieks, ob er vor den Trollen flüchten möchte. Wer hier bleibt und sich unterwirft, der wird dafür nicht bestraft werden. Ihr Plan sieht vor, alle Kämpfer aus dem Windland, aus Uttika, Alvemer, den Mondbergen, Carandamon, den Wäldern am Albenhaupt und auch aus Arkadien abzuziehen. All diese Fürstentümer und Königreiche will sie aufgeben. Und jedem, der dort lebt, steht es frei, sich den Trollen zu ergeben.« Einen Augenblick lang herrschte ungläubiges Schweigen.
»Sie befiehlt mir, mein Fürstentum aufzugeben. Keine Stadt dort würde sich freiwillig den Trollen ausliefern. Es gibt in Alvemer fünfmal so viele Bewohner, wie wir auf unseren Schiffen transportieren können. Ganz abgesehen davon, ist es nicht ratsam, während der Herbst- und Winterstürme zu segeln. Wenn wir kämpfen, stehen wir allein und dürfen auf keine Unterstützung rechnen. Schlimmer noch, ich habe den ausdrücklichen Befehl, jeden Krieger ins Herzland zu schicken. Wir sind also wehrlos, wenn wir uns dem Willen der Königin fügen.«
Elodrin schwieg einen Augenblick, um seinen nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Ich werde mein Kommando über das Heer der Königin niederlegen. Noch in dieser Stunde. Caileen, wirst du den Befehl über die Truppen übernehmen?«
Die Gräfin sah ihn betroffen an. Sie hatte sich immer noch nicht ganz von ihrer Verwundung am Mordstein erholt. »Ich kann nicht ...«
»Du bist eine gute Heerführerin. Und ich möchte nicht, dass du mir auf dem Weg folgst, den ich nun einschlagen muss. Ich stelle mich gegen die Befehle der Königin. Das heißt, ich werde mein Fürstentum verlieren, selbst wenn ich gegen jede Hoffnung über die Trolle triumphieren sollte. Es ist nun an der Zeit, eine andere Art von Krieg zu führen. Ollowain hatte mich für das, was ich ihm schon vor Wochen vorgeschlagen hatte, getadelt. Es wird ein Krieg ohne Helden sein. Ein Krieg ohne Glanz. Ein Krieg, in dem die Recken zu Mördern werden. Doch nur so kann ich hoffen, die Meinen vor den Trollen zu bewahren.«
»Ich stelle meine Schwerter weiterhin in deinen Dienst, Fürst«, sagte Yilvina ruhig. »Was die Königin von dir verlangt, ist ehrlos. Ich vertraue darauf, dass du die richtigen Entscheidungen treffen wirst.«
Elodrin lächelte. »Ich will nicht verhehlen, dass ich darauf gehofft habe, dich an meiner Seite zu haben. Du kennst den König des Fjordlands, nicht wahr? Ich werde dich mit einer wichtigen Botschaft zu ihm schicken.«
»Ganz gleich, ob mit oder ohne Ehre gekämpft wird, am Ende gibt es immer Verwundete, die wünschten, dem Krieg niemals begegnet zu sein. Auch ich werde mit dir gehen, Elodrin.« Die Heilerin hielt den Blick gesenkt, so als schäme sie sich dafür, sich gegen Emerelles Befehl zu stellen.
»Auch ich komme ...«, setzte Obilee an.
»Nein!« Das hatte Elodrin befürchtet. Wenn die Rebellion erst einmal begonnen hatte, dann würde sie immer weiter um sich greifen. »Nein, Obilee! Du bist eine Vertraute der Königin. Du bist die Einzige hier in diesem Raum, die hoffen darf, Einfluss auf Emerelle zu nehmen. Du darfst dich unserer Sache nicht anschließen. Und auch du nicht, Caileen. Meine Entscheidung macht mich zum Verräter. Ich habe mein Recht verwirkt, die Truppen Albenmarks zu befehligen. Gib nicht auch du dieses Recht auf! Tausende werden durch die Steppe und über die Mondberge flüchten, um den Trollen zu entkommen. Eine entschlossene Reiterführerin kann sie vielleicht vor dem Schlimmsten bewahren. Albenmark braucht dich! Du darfst nicht länger auf meiner Seite stehen!«
Caileen war sehr blass. »Emerelle hat auch meine Ländereien aufgegeben.« Eine steile Zornesfalte erschien zwischen ihren Brauen. »Ganz gleich, was die Königin fordert, ich werde dafür sorgen, dass der Weg nach Arkadien für die Trolle lang und blutig wird. Ich werde an Ollowains Plänen festhalten. Und was soll mit den Kentauren werden? Sie können ihre Herden im Winter unmöglich über die Mondberge treiben. Und selbst wenn sie einen Weg fänden, wovon sollte ihr Vieh in Arkadien leben? Soll es unsere Weizenfelder abweiden? Die Kentauren können nicht fliehen. Emerelle wirft sie den Trollen buchstäblich zum Fraß vor!«
»Ich werde nach Carandamon gehen«, stellte Fenryl klar.
»Auch meine Leute können nicht fliehen.«
»Vielleicht«, wandte Obilee ein, »will die Königin ja erreichen, dass die Trolle ihre Truppen aufteilen, sodass man sie leichter besiegen kann. Emerelle hat damit begonnen, ein neues Heer im Herzland auszuheben. Und es heißt, dass es viel Zulauf findet, weil die Trolle blutrünstige Geisterhunde an jeden Fürstenhof schicken, der sich ihnen nicht unterwerfen will.«
Aber kein Geisterhund kann ein halbes Dutzend Fürstentümer vernichten, dachte Elodrin, so wie Emerelle es mit einem Federstrich getan hatte. Zu fliehen war für viele schlichtweg unmöglich, und sich den Trollen zu ergeben, hieß, sich der Gnade von Fleischern auszuliefern. Mit ihrem Entschluss hatte Emerelle ihren Feinden die Vorräte geliefert, die sie brauchten, um schnell vorrücken zu können. Das Einzige, was nun zu tun blieb, war, Orgrim dort zu treffen, wo er am verwundbarsten war. Wenn er den Oberbefehl wieder aufgab, dann wäre viel gewonnen. Und Elodrin war fest entschlossen, genau das zu erreichen.
Elija war überrascht, wie schwer Ganda das Schicksal des Elfen nahm. Man hatte ihr Klagen und Weinen im ganzen Lager gehört, als sie vom Ausflug mit Nikodemus und den anderen zurückgekehrt war. Ihre Tränen schienen nicht mehr versiegen zu wollen. Während er auf ihr Klagen gelauscht hatte, war Elija aufgegangen, welch eine wunderbare Gelegenheit Ollowains Zustand bot. Er hatte Nikodemus geschickt, um Ganda zu holen. Es wäre besser, wenn sie nicht in Hörweite des Elfen miteinander sprachen.
Elija hatte sich ein Stück von der Herde entfernt. Er stand bei einem alten Büffelschädel und blickte nach Norden. Ein dunkelgraues Wolkenband stand am Himmel. Die Narbe an seinem linken Arm zwickte. Der Winter würde in diesem Jahr früh kommen. Und er würde sehr hart werden.
Elija beobachtete, wie Ganda und Nikodemus durch das hohe Gras geschritten kamen. Die Lutin trug enge Hosen und ein helles Hemd, dazu eine knappe Weste. Sie sah gut aus in der Tracht ihres Volkes. In all den Jahren, die sie fort gewesen war, schien sie um keinen Tag gealtert zu sein. Es gab eine Zeit, da war er sehr verliebt in sie gewesen. Er würde nicht zulassen, dass diese Gefühle zurückkehrten. Er brauchte einen klaren Kopf. Die Welt war dabei, sich zu verändern. Bald schon wäre die Tyrannei der Elfen gebrochen. Er durfte sich nicht durch seine Gefühle ablenken lassen!
»Du hast mich zu dir befohlen.« Gandas Stimme klang ungewohnt rau.
»Nikodemus, lass uns bitte allein.« Er wartete, bis sein Bruder außer Hörweite war. Die Lutin hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Ihre Augen waren ganz rot von ihren Tränen.
»Es tut mir leid, dass der Elf dir solchen Kummer bereitet. Was ist mit ihm geschehen?«
»Seit wann kümmert dich das Schicksal eines Elfen?«
»Ach, Ganda! Er ist Teil meiner Herde. Ich muss wissen, was unter den Meinen geschieht. Vergiss unsere Streitereien für den Augenblick und erzähl mir einfach, was geschehen ist.«
Sie sah ihn misstrauisch an, doch dann war ihr Bedürfnis zu reden größer als ihre Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. »Ich dachte, es ginge ihm besser. Er war aufgewacht. Ich habe mit ihm gesprochen. Ich wäre niemals mit Nikodemus fortgeritten, wenn ich geahnt hätte ...« Ihr stockte die Stimme. Tränen standen ihr in den Augen. »Ich ... Er war auf dem Weg der Besserung. Ich hätte nicht gehen dürfen.«
Elija legte ihr den Arm um die Schulter. »Mach dir keine Vorwürfe, Ganda. Es ist ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Bei einer so schweren Kopfverletzung darf man nicht erwarten, dass ... nichts zurückbleibt.«
»Aber er schien ganz genesen ...«
»Was ist denn nun mit ihm los?«
Ganda atmete schwer aus und trocknete ihre Tränen. »Er erinnert sich an nichts. Anfangs schien es sogar so, als höre er mich nicht einmal. Ich verstehe das nicht. Bevor ich davongeritten bin, habe ich mich noch mit ihm unterhalten.«
Wieder standen ihr Tränen in den Augen. Ihre weinerliche Art ärgerte Elija zunehmend. So war sie früher nicht gewesen!
»Aber jetzt spricht er?«
»Ja, aber nur stockend, als müsse er jedes einzelne Wort aus einem Kerker tief in seinem Gedächtnis befreien.« Elija spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er hatte gedacht, es bleibe nichts als die fleischliche Hülle zurück, wenn man in eines der Bücher Grobhäm Plogs blickte.
»Er weiß nicht mehr, wer er war. Er weiß auch nichts über die Welt. Er ist wie ein Kind. Wie ein Neugeborenes, nur dass er schon sprechen kann.«
Der Kommandeur kratzte sich hinter den Ohren. »Und was sagt er, wenn er redet?«
»Das ist es ja! Er erinnert sich an nichts. Nicht an seinen Namen oder seine Herkunft. Er weiß nicht, dass er mich schon einmal gesehen hat. Und es scheint ihm Angst zu machen, dass er nicht aussieht wie ich.« Elija musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen. »Hast du ihm denn viel über seine Vergangenheit erzählt.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich das? Ich weiß kaum etwas über ihn.«
Elija sah sie mitleidig an, doch innerlich jubilierte er. Ein Elf, der alles Wissen über sich und die Ordnung der Welt vergessen hatte. Damit ließ sich einiges anfangen!
»Er ist wie tot«, sagte Ganda. »Als habe man ihm den Kopf abgeschnitten. Es gibt Ollowain nicht mehr. Alles, was von ihm geblieben ist, ist nur eine leere Hülle.«
»So darfst du nicht denken! Ich dachte, du liebst ihn ...«
Ganda sah ihn erschrocken an. Für einen Herzschlag wirkte sie wie ein kleines Mädchen, das man bei einem Streich ertappt hatte. Dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. »Ich sagte dir doch schon ...«
»Mach mir nichts vor, Ganda!«, schalt er sie. »Glaubst du, ich bin blind? Du hast so sehr um ihn gekämpft. Und nie habe ich eine Lutin so trauern sehen ... Er hat dir dein Herz gestohlen. Und nun ist seine Erinnerung auf und davon. Aber dein Gefühl ist noch da.« Sie schluckte, wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor.
»Ganda, ich bin dein Freund. Siehst du denn nicht, was für ein Geschenk dir das Schicksal gemacht hat? Sag ihm nichts über seine Vergangenheit. Erzähle ihm nichts darüber, wie die Elfen sind. Kein Wort! Soll ich dir etwas über den Ollowain verraten, in den du dich verliebt hast? Er hätte deine Liebe niemals erwidern können, denn du bist nur eine Lutin. Er mag ein großartiger Kerl gewesen sein, aber seinen Hochmut gegenüber Kobolden hat er schon mit der Muttermilch aufgesogen. Er hätte niemals über seinen Schatten springen können. Aber all das gilt jetzt nicht mehr. Er ist frei. Wie ein unbeschriebenes Blatt. Wir können ihn so formen, wie wir uns die Elfen wünschen. Frei von Vorurteilen und Hochmut. Du kannst ihm vermitteln, wie die Welt ist. Dass niemand dazu geboren ist, eines anderen Diener zu sein. Ebenso wie niemand zum Herrscher geboren ist. Ergreife diese wunderbare Gelegenheit. Ich bin mir sicher, du wirst sein Herz wieder erobern ... Nein. Du wirst es zum ersten Mal erobern, denn nun sieht er in dir nur Ganda und nicht die Lutin, der man nicht trauen kann.«
Sie wirkte unschlüssig. »Betrüge ich ihn damit nicht?«
»Wie kannst du von Betrug reden? Du machst ihm ein Geschenk. Lass ihn erfahren, wie es ist, ohne Diener zu leben. Sobald er wieder bei Kräften ist, sollte er mit den Kindern zusammen den Dung der Hornschildechsen sammeln. Er sollte für sein Essen und seinen Schlafplatz arbeiten. Zieh ihn auf wie einen von uns.«
»Aber er ist doch keiner von uns.«
Elija lachte. »Ich glaube, zuerst musst du dich von deinen festgefahrenen Vorstellungen befreien. Du hast es immer noch nicht begriffen, Ganda. Er erinnert sich an nichts mehr. Er ist ein unbeschriebenes Blatt. Ollowain ist tot. Du entscheidest, wer nun geboren wird.«
»Ist das nicht unrecht?«
»Ist es unrecht zu sein wie wir? Wenn du es nicht um deinetwillen tust, dann tue es für unsere Sache. Ein Elf, der denkt und fühlt wie ein Lutin! Und einer, dessen Wort unter den Seinen Gewicht hat. Auch wenn sein Verstand sich aufgelöst hat, sieht er ja noch immer aus wie Ollowain. Sie werden ihm zuhören, weil er ein Elf ist. Aus seinem Munde werden sie Wahrheiten akzeptieren, die wir niemals aussprechen dürften. Begreifst du, was für ein Geschenk er ist? Durch ihn werden die Schranken zwischen Herren und Dienern aufgebrochen. Ein Elf, der sich der Sache der Rotmützen verschrieben hat!« Er packte sie bei den Armen. »Ganda, sieh doch, was für einen Schatz wir in Händen halten!«
»Vielleicht bin ich zu traurig und zu erschöpft, um das Wunder erkennen zu können, das mir widerfahren ist«, sagte sie ruhig. »Du hast Recht, ich habe ihn geliebt. Gegen jede Vernunft.« Sie lächelte melancholisch. »So ist das wohl mit der Liebe. Eine Zeit lang habe ich ihn auch gehasst ...«
»Glaubst du denn nicht, dass du in ihm jetzt das wiedererwecken kannst, was du geliebt hast? Diesmal jedoch unbeschwert von seinen Vorurteilen.«
»Und wenn ich ihn geliebt habe, weil er mich trotz seiner Vorurteile gegen unser Volk ritterlich behandelt hat?«
Elija stöhnte. »Das ist doch verrückt. Du denkst zu verwickelt. Und was nutzt es, um das zu trauern, was für immer verloren ist. Blicke in die Zukunft! Denke daran, was du gewinnen kannst. Was er deinem ganzen Volk zu geben vermag, wenn du ihn nach unseren Vorstellungen erziehst.«
»Ich danke dir für deine Anteilnahme. Wahrscheinlich hast du Recht. Verzeih mir, wenn ich mich aufführe wie eine weinerliche alte Jungfer. Wirst du mir helfen mit ihm?«
»Du kannst jederzeit zu mir kommen.« Sie beugte sich vor und gab ihm einen flüchtigen Kuss. »Danke. Ich habe dich falsch eingeschätzt, Elija.« Sie ging zur Herde zurück. Der Kommandant sah ihr nach und war überrascht über die widerstreitenden Gefühle, die er empfand. Ihr Kuss und ihre Dankbarkeit hatten ihn zutiefst aufgewühlt. Er fühlte sich schäbig, weil er sie benutzte. Er würde ihr niemals sagen, was wirklich mit Ollowain geschehen war. Wie er ihn ermordet hatte, aus niedersten Motiven. Was dachte er da! Ollowain war ein bedeutender Elf gewesen! Und eine große Gefahr! Er hatte ihn beseitigen müssen, um die neue Weltordnung nicht zu gefährden. Und nun gehörte er ihm in einem Ausmaß, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte ausmalen können.
Kadlin schob Björns Arm zur Seite und erhob sich vorsichtig aus dem Bett. Der steinerne Fußboden war eisig. Hastig schlüpfte sie in ihre Kleider und spähte durch den Spalt im hölzernen Fensterladen. Bald würde es dämmern. Sie war gespannt, ob der Baumeister wieder tanzen würde. Ein seltsamer, verschlossener Kerl war dieser Gundaher. Ein Fremder, der vor langer Zeit weit aus dem Süden gekommen war. Und obwohl er ein guter Freund des Königs war, war er immer ein Fremder geblieben. Sein Geschick und sein Eifer hatten die Festung auf dem Pass entstehen lassen. Er wusste alles über Steine und wie man sie zu wunderbaren Bauwerken fügte.
Vorsichtig öffnete Kadlin die Tür. Lächelnd blickte sie zu Björn. Er hatte sich von dem Kampf mit dem Schneelöwen fast gänzlich erholt. Und er war ein wunderbarer Liebhaber. Wenn nur sein Vater nicht wäre! Herzog Lambi ließ keine Gelegenheit aus, schlecht über sie zu reden. Eine Hure nannte er sie, die sich ins Bett seines Sohnes geschlichen hatte. Dass sie Nacht für Nacht an diesem Bett gewacht hatte, bis es Björn besser ging, legte er ihr als Heuchelei aus.
Heiße Wut stieg in ihr auf, wenn sie an das hässliche Monstrum dachte. Kaum anschauen konnte man 'Lambi ohne Nase', wie ihn viele Männer heimlich nannten.
Kadlin eilte die Treppenstufen zum Wehrgang hinauf. Der verharschte Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Jeden Abend kam der Frost, dabei hatte der Herbst gerade erst begonnen. Nicht mehr lange, und die halb fertige Burg wäre von den Tälern abgeschnitten. Wenn der Winter einmal Einzug hielt, dann wären die Wege unter Schneebergen begraben. Dann würde es sehr einsam hier oben werden.
Der König hatte die meisten Arbeiter zurück nach Hause geschickt, als der Frost kam. Nur ein paar Steinmetze waren geblieben. Sie behauten unter Gundahers Aufsicht die Steine, die im nächsten Frühjahr gebraucht wurden. Er hatte verboten, weitere Mauern zu errichten, sobald der Frost begonnen hatte. Kadlin hielt das für irgendeinen dummen Aberglauben. Was machte es Mauern und dem grauen Matsch, den er anrühren ließ, um ihn zwischen die Steine zu schmieren, schon aus, ob es heiß war oder schneidend kalt? Aber der König hörte auf Gundaher. Dabei war Alfadas sonst kein sonderlich abergläubischer Mann ...
Kadlin lachte. Was wusste sie schon von Alfadas! Sie war eine einfache Jägerin. Den König bekam sie nur von Ferne zu sehen. Aber sie mochte ihn. Wenn er nur nicht so oft so traurig aussehen würde! Offensichtlich überstieg es Silwynas Kräfte, ihn glücklich zu machen. Die Elfe mied sie, seit sie ihr Tal verlassen hatte. Kadlin konnte sich das nicht erklären. Während ihrer Kindheit im einsamen Tal waren Silwynas Besuche immer die Höhepunkte des Jahres gewesen. Die Elfe hatte sie mit auf die Jagd genommen, und sie war viel weniger streng als Kalf gewesen. Sie hatte Kadlin und ihre Schwester, die kleine Silwyna, gelehrt, auf den Baumwipfeln zu laufen und sich so geschickt im Schnee zu bewegen, dass sie fast keine Spuren hinterließen. Sie hatte ihnen die Heilkräfte der Kräuter, Rinden und Blätter erklärt und die Eigenarten der Tiere. Und sie konnte wunderbar Geschichten erzählen. Alfadas musste schon ein sehr eigenartiger Mann sein, wenn er unglücklich war, obwohl Silwyna an seiner Seite lebte. Kadlin jedenfalls war immer glücklich gewesen, wenn Silwyna an ihrer Seite gewesen war, und dass die Elfe nun so tat, als kennten sie einander nicht, machte ihr sehr zu schaffen. Sie wünschte sich einen anderen Namen oder zumindest eine andere Haarfarbe. Silwyna hatte ihr von der toten Tochter des Königs erzählt und wie sehr Kadlin ihr ähnelte. Es musste wohl sehr schwer für den König sein, sie dauernd in der halb fertigen Burg zu sehen. Auch sie hatte angefangen, ihn zu meiden, wo immer das möglich war.
Ihr Vater fühlte sich ebenfalls nicht wohl hier. Kalf ließ keine Gelegenheit aus, auf die Jagd zu gehen und die Burg zu verlassen. Kadlin konnte nicht begreifen, warum alle sich so seltsam verhielten. Wahrscheinlich war sie zu dumm, die Gesetze eines Königshofs zu begreifen. Sie lächelte in sich hinein. All das war ihr egal, so lange sie sich jede Nacht in Björns Kammer schleichen konnte. Es war angenehm, nicht als einzige Frau in der Unterkunft der Jäger übernachten zu müssen. Anfangs hatten die anderen Männer gemeint, sie müssten ihr mit dummen Sprüchen kommen, aber nach einigen Raufereien hüteten sie zumindest in ihrer Nähe ihre Zungen.
Kadlin eilte den Wehrgang entlang bis zum südlichen Eckturm. Die Jägerin war stolz auf die großartige Arbeit, die sie alle in diesem Frühjahr und im Sommer geleistet hatten. Mehr als hundert Schritt war die vordere Burgmauer lang, die fast die Hälfte des Passes blockierte. Sie hatte zwei mächtige Ecktürme und einen Torturm, der mehr als zwanzig Schritt hoch war. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass man so hoch bauen konnte. Gundaher konnte wahrlich Wunder wirken. Wahrscheinlich gab es nirgends sonst auf der Welt einen so hohen Turm. Bestimmt waren auch die Trolle sehr beeindruckt und würden den Pass künftig meiden.
Kadlin dachte an den Troll, der sie und Björn gerettet hatte. Es war ein großes Unrecht, dass er als Lohn für seine Taten einen Pfeil in die Brust bekommen hatte. Sie wünschte, sie würde ihm noch einmal begegnen und ihm sagen können, wie sie darüber dachte. Vielleicht konnte man sogar mit den Trollen in Frieden leben, wenn die anderen auch so waren wie Brud. Seit der Begegnung mit Brud quälte sie immer wieder ein Albtraum. Sie war gefangen in einer großen Höhle mit vielen Trollen. Und vom Eingang her hörte sie das Heulen eines entsetzlichen Sturms. Ihr war kalt, obwohl eines der grauhäutigen Ungeheuer sie in den Armen wiegte. Ein Troll mit Schmucknarben auf der Brust. An einem Feuer in der Höhle saßen Asla und Kalf. Sie hatten solche Angst, dass sie kein Wort sprachen und nicht einmal wagten aufzublicken,
Gundaher verließ die halbfertige Burganlage durch das Tor und ging die Mauer entlang nach Süden. Der Baumeister hatte sich einen schweren blauen Umhang um die Schultern geschlungen. Er blickte kurz zu den Zinnen empor. Vorgestern hatte er sie auf der Mauer entdeckt, aber kein Wort gesagt. Er wusste, dass sie ihn beobachtete.
Im Osten zeigte sich ein schmaler Silberstreifen zwischen den Bergen. Mit ihm kam ein eisiger Wind. Staunend sah Kadlin, wie der Sturmwind eine breite Fahne aus feinem Schnee von dem Berggipfel blies, der den Pass im Süden überragte. Es sah aus, als wolle der Wind dem schroffen Felsgestein seinen weißen Schleier entreißen.
Gundaher legte den Umhang ab. Er begann sich zu strecken und hüpfte eine Weile auf der Stelle. Ein seltsamer Kerl, der Baumeister. Dann verneigte er sich in Richtung des Silberstreifs am Horizont.
Kadlin stellte sich auf die Zehenspitzen und beugte sich so weit wie möglich über den Rand der Mauer hinaus.
Jetzt hob Gundaher seine ausgestreckte Arme über den Kopf, sodass sich die Handflächen berührten. Der Baumeister war ein korpulenter Mann mit einem kurz geschorenen Kinnbart. Er musste wohl etwa vierzig Jahre alt sein; sein Haupthaar wurde bereits dünner. Dennoch bewegte er sich erstaunlich gewandt. Jetzt machte er einen Satz mitten in eine Fläche aus unberührtem Schnee. Von Mag hatte Kadlin erfahren, dass der Baumeister jeden Winter im ersten Morgenlicht in den Schnee hinausging, um zu tanzen. Er war ein Fremder und ein einflussreicher Mann bei Hof. Niemand hatte ihn je gefragt, warum er das tat.
Es gab viele Gerüchte. Die meisten glaubten, dass Gundaher damit einen Wintergott aus seiner Heimat ehrte.
Kadlin wusste, dass es einen anderen Grund geben musste. Sie verließ Björns Kammer stets noch vor dem Morgengrauen. Dabei war sie auf die morgendlichen Spaziergänge des Baumeisters aufmerksam geworden. Und auf seine seltsamen Tänze. Und sie kannte sein Geheimnis, zumindest einen Teil davon. Wahrscheinlich könnte ihn die ganze Besatzung der Burg beobachten, und keiner würde sehen, was sie sah. Außer Silwyna vielleicht ...
Die Jägerin dachte an jenen fernen Sommer zurück, als Silwyna sie und ihre Schwester die Priesterrunen gelehrt hatte. Immer wieder hatten sie beide die Elfe bedrängt, ihnen Zaubern beizubringen. Sie wussten, dass es Magie war, wenn Silwyna selbst im kältesten Winter nie fror oder leichtfüßig über Zweige lief, die so dünn waren, dass sie kaum ein Eichhörnchen getragen hätten. Und sie wollten genauso sein wie Silwyna. Doch sie scheiterten immer und immer wieder. Dennoch wurden sie es nicht müde und bettelten die Elfe an, sie in die Kunst einzuweihen, Magie zu weben.
Kadlin erinnerte sich noch gut an jenen Abend am See, als sie alle drei im weichen Sand gesessen hatten und es wieder einmal um das leidige Thema gegangen war. Damals hatte Silwyna gesagt, Worte seien wie der Wind. Einmal ausgesprochen, seien sie verschwunden und würden nur als ein Echo in unserer Erinnerung weiterleben. Doch wie ein Echo Worte veränderte, die man in eine Felsklamm rief, so veränderte auch die Erinnerung die Worte, und das sei schlimm, denn die Hälfte aller Lügen auf der Welt hätten ihre Wurzeln in diesen falschen Erinnerungen.
Wie immer, wenn die Elfe erzählte, hatten die beiden Mädchen ihr an den Lippen gehangen. Sie hatte eine lustige Geschichte über einen Luthpriester vorgetragen, der sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Zauber zu ersinnen, mit dem man den Wind einfangen könne. Ein weit gereister Händler hatte ihm nämlich einmal erzählt, der Wind sei in Wirklichkeit ein unsichtbares Pferd, das Firn, dem Gott des Winters, einst davongelaufen sei. Der Priester hoffte, sich Firn zum Freund zu machen, wenn er dessen Pferd einfing, und er wollte versuchen, den Gott zu überreden, dem Fjordland mildere Winter zu schenken.
Sein ganzes Leben widmete er dem Versuch, das unsichtbare Pferd zu fangen, doch alles, was er erreichte, war, einen Zauber zu weben, der es ihm erlaubte, Worte einzufangen. Er erfand die Priesterrunen.
Und diesen Zauber hatten die beiden Mädchen in jenem Sommer erlernt. Es war der einzige Zauber, den sie jemals bewältigt hatte, dachte Kadlin wehmütig. Sie dachte daran, wie sie mit Stöcken in den Sand gemalt hatten und mit verkohlten Ästen auf Birkenrindenstücke. Ganz besessen waren sie davon gewesen. Und Vater und Mutter hatten ihnen nur staunend zugesehen. Kalf hatte sogar manchmal Angst gehabt. Einmal hatte er sehr mit ihnen geschimpft, weil sie Runenzeichen in einen der Deckenbalken ihrer Hütte geschnitzt hatten und Kalf befürchtet hatte, die Zeichen würden am Ende gar böse Geister herbeirufen.
Weil sie beide kleine Mädchen gewesen waren, hatte es ihnen nicht ausgereicht, die Schrift zu kennen. Eines Tages hatten sie entdeckt, dass die Runen ganz anders aussahen, wenn man ein beschriebenes Stück Birkenrinde an einem windstillen Tag über das unbewegte Wasser des Sees hielt. Sie hatten die Zeichen nachgeahmt, bis sie so gut darin geworden waren, dass man einen Text über Wasser halten musste, um ihn richtig lesen zu können. Diesen neuen Zauber, um Worte einzufangen, der nur ihnen beiden gehörte, hatten sie Wasserrunen genannt. Und in genau diesen Wasserrunen schrieb Gundaher!
Kadlin war regelrecht erschrocken, als sie es erkannt hatte. Der Baumeister hatte etwas gestohlen, von dem sie ganz sicher gewesen war, dass es ihr und ihrer Schwester bis ans Ende aller Tage allein gehören würde. Seine großen Füße stanzten die Wasserrunen in den jungfräulichen Schnee. Und wenn er ein Zeichen vollendet hatte, dann machte er einen tänzerischen Sprung, um ein Stück entfernt die nächste Wasserrune zu beginnen. Jeden Tag waren es nur zwei oder drei Runen, die der Tänzer in den Schnee schrieb.
Kadlin beobachtete den Baumeister. Kurz blickte sie zum Torturm. Natürlich war auch er ein Zauberer. Wer sonst als ein Zauberer hätte einen so gewaltigen Turm bauen können! Er hatte auch etwas von einem Priester, die stille Art und all das Wissen, das er besaß. So viele Geheimnisse konnte man doch nur kennen, wenn man den Göttern näher war als andere Sterbliche!
Gundaher machte einen letzten Sprung und ging dann zu seinem Umhang, der im Schnee lag.
E H T hatten seine Füße in den Schnee gestampft.
DER FREUND GEHT.
Das war seine Botschaft. Jetzt war sie vollständig. Kadlin runzelte die Stirn. Was wollte Gundaher damit sagen? Sie hatte mit einem Geheimnis gerechnet. Mit etwas, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Aber das hier ... So eine Enttäuschung. Der Freund geht. Wollte Gundaher sie vielleicht veralbern? Hatte er das nur geschrieben, weil er wusste, dass sie ihm zusah?
Der Baumeister lehnte sich an die Burgmauer. Er presste beide Hände an die Schläfen, als habe er schreckliche Kopfschmerzen. Er sah wirklich nicht gut aus.
Kadlin lief den Wehrgang entlang und eilte die steile Steintreppe hinab. Als sie aus dem Tor bog, kam ihr Gundaher entgegen. Mit einer Hand tastete er sich an der Mauer entlang. Seine Augen waren geschlossen. Mit der Rechten rieb er sich die Stirn.
»Kann ich dir helfen, Baumeister?«
Er blinzelte sie an. »Lass mich!«
»Im Küchenhaus müssten die ersten Brote fertig sein. Es wird dir besser gehen, wenn du etwas isst und trinkst.« Er stieß ein trockenes Lachen aus, das an das Krächzen eines Raben erinnerte. »So, wird es das? Du bist also eine Heilerin.«
»Ich könnte dir auch einen Sud aus Weidenrinde kochen.« Er blinzelte sie erneut an. Offensichtlich bereitete es ihm sogar schon Schmerzen, die Augen offen zu halten. »Du kennst dich ja tatsächlich aus, Mädchen. Verzeih, ich dachte, du seiest nur die Hure des Herzogsohns.«
»Dann wäre ich ja in bester Gesellschaft. Man erzählt sich, seine Mutter sei auch einmal eine Hure gewesen.«
»Zuzuhören gehört wohl nicht zu deinen Gaben. Seine Stiefmutter war einmal eine Hure. Aber man sollte die Leute nicht nach dem beurteilen, was sie einmal waren, sondern nach dem, was sie sind.« Er lehnte sich an die Mauer und presste wieder beide Hände an die Schläfen.
»Und zu deinen Gaben gehört es wohl nicht hinzusehen. Sonst könntest du vielleicht zwischen einer Hure und einer Jägerin, die es gut mit dir meint, unterscheiden.«
»Bin ich jetzt in Gefahr, von dir niedergeschlagen zu werden?«
»Ich mag meine Fehler haben, Baumeister. Aber ich schlage nicht auf Dunghaufen. Bleib doch hier und verrecke im Schnee. Mich wundert es nicht, dass deine Freunde gehen!« Sie wandte sich um und trat in das Dunkel des Torgangs.
»Warte!«
Sollte er ihr doch den Buckel runterrutschen! »Hörst du mich, Mauer? Sag deinem Baumeister, ich schlage nicht auf Dunghaufen, und ich rede auch nicht mit ihnen!«
»Es tut mir leid, Mädchen. Wenn ich diese Schmerzen habe, sage ich manchmal Dinge, die ich später bereue.«
Kadlin ging weiter. »Ich hoffe, deine Reue ist angenehmere Gesellschaft als ich.«
»Bitte! Sag mir, wie du das mit dem Freund gerade gemeint hast. Bitte! Es tut mir ja leid. Ich habe so lange auf dich gewartet, dass ich blind geworden bin.«
»Ich glaube nicht, dass ein Baumeister sich die Gesellschaft der Hure eines Herzogsohns leisten kann. Jedes Lächeln von mir kostet dich einen Fuchspelz. Und wenn ich dir zuhören sollte ... Bei den Göttern, ich glaube, dafür müsstest du mir schon ein Pferd aus den Ställen des Königs schenken. Ich bin vielleicht ein leichtes Mädchen, aber ganz bestimmt kein billiges.« Kadlin hatte zunehmend Spaß an dem Streit. So gut hatte sie sich nicht mehr amüsiert, seit ihre Schwester die kleine Liebelei mit dem Fischer aufgedeckt und um ihren eigenen guten Ruf gefürchtet hatte.
»Verdammt, ich entschuldige mich doch! Was erwartest du noch von mir?«
»Vielleicht einen Turm, der meinen Namen trägt?« Sie war stehen geblieben und wartete, bis der Baumeister sie einholte. Ein dicker Tropfen Blut quoll ihm aus dem linken Nasenloch.
»Verzeih mir. Ich bin den Umgang mit Frauen nicht mehr gewöhnt.«
»Ich glaube kaum, dass du dich an der Tafel des Königs derart pöbelhaft aufführen kannst. Lass dir also eine bessere Ausrede einfallen.«
»Was hältst du von der Wahrheit? Wenn mich die Schmerzen packen, dann bin ich am liebsten allein. Und dummerweise bin ich in der Wahl der Mittel manchmal nicht ganz zimperlich, um mir Ruhe zu verschaffen.« Er zog die Nase hoch und spuckte Blut in den Schnee. »Endlich begegnete ich jemandem, der die Zeichen zu deuten versteht, und dann vergraule ich ihn. Ich bin wahrlich verflucht!« Er blinzelte und konnte die Augen kaum offen halten. Kalter Schweiß stand ihm auf dem Gesicht. Gundaher war aschfahl geworden, und Kadlin hatte Sorge, dass er jeden Augenblick zusammenbrechen könnte.
»Du hast doch eine eigene Kammer. Lass uns dort weiterreden, Baumeister. Ich glaube, du brauchst ein wenig Ruhe.«
»Ich bin nicht krank«, begehrte er auf. »Täusche dich nicht. Es ist das Reden, das mich töten wird, wenn ich meine Zunge nicht im Zaum halte.«
Offensichtlich war er ein wenig verrückt, dachte sich Kadlin.
»Komm mit in meine Kammer. Ich warte seit vielen Jahren auf dich. Ich habe ein Geschenk für dich.«
Die Jägerin blickte zu den beiden Wachposten auf dem nördlichen Ende der Mauer. Sie beobachteten sie. Kadlin war sich darüber im Klaren, dass man sich über sie das Maul zerriss. Wenn sie jetzt mit Gundaher verschwand, kaum dass sie sich aus Björns Kammer geschlichen hatte, dann würde das reichlich Tratsch für lange Winterabende liefern. Sie blieb stehen. »Was ist denn das für ein Freund, der geht?«
Gundaher schüttelte den Kopf. »Du denkst in die falsche Richtung. Mit der Botschaft ist es wie mit den Runen. Du musst sie verdrehen.«
Kadlin hasste Rätsel. Ihre Schwester hatte eine wunderbare Gabe, Rätsel zu lösen. Sie selbst hatte immer schlecht dabei abgeschnitten, wenn Silwyna sie mit Rätselgeschichten hatte unterhalten wollen. »Also kommt dein Freund?«, fragte sie ein wenig verdrossen.
»Du musst es noch mehr verdrehen.« Der Baumeister stöhnte auf. »Aber sprich es nicht aus!«
»Der Freund geht«, murmelte sie leise vor sich hin. Sie konnte ihre Gedanken besser sammeln, wenn sie dabei leise sprach.
»Also ...«
Gundahers gequälter Blick ließ sie verstummen. Rote Äderchen durchzogen das Weiß seiner Augen. Wieder quoll ihm Blut aus der Nase.
Kadlin sah ihn erschrocken an. Das Gegenteil bedeutete: Der Feind kommt! »Hierher?«
Der Baumeister schüttelte den Kopf. »In meiner Kammer ... Komm!« Sie stützte ihn und brachte ihn auf die Rückseite des Langhauses. Seine Kammer lag nicht weit von Björns Kammer entfernt. Als sie um die Ecke des Langhauses bogen, konnte sie sehen, wie die Wachposten auf der Mauer die Köpfe zusammensteckten.
Aus der Kammer des Baumeisters schlug ihnen stickige Luft entgegen. Es roch nach altem Schweiß und Lampenöl. Von der niedrigen Decke hingen an Ketten mehrere Öllampen, über denen sich dunkle Rußflecken auf dem hellen Holz ausbreiteten. Die Wände waren weiß getüncht. Dies war die einzige Kammer, in der man solchen Aufwand betrieben hatte. Doch diese Mühe war vergebens gewesen. Eine Flut von Bildern hatte die weiße Farbe zurückgedrängt. Die meisten waren nur mit Kohlestücken ausgeführt. Es waren Grimassen. Alte, eingefallene Gesichter. Die Münder weit aufgerissen. Ihre Augen verdreht. Zwischen den Gesichtern sah man einen jungen Mann. Nur hier hatte der Zeichner Farbe benutzt. Die Gestalt trug eine lange, blaue Kutte und stand neben einem verbrannten Baum.
Kadlin fiel auf, dass vor allem das Gesicht einer alten Frau immer wieder auftauchte. Die Jägerin trat ein, doch egal, wohin sie sich bewegte, die Augen dieser Frau schienen sie zu verfolgen. Im Gegensatz zu den anderen Gesichtern blickte sie jeden, der durch die Tür kam, geradewegs an.
Die Kammer war karg eingerichtet. Auf dem niedrigen Bett lag eine Schaffelldecke. Auf einem Tisch lagen ordentlich ausgerichtet einige Pinsel. Flache Schalen standen in Reih und Glied. In einigen hafteten noch eingetrocknete Farbreste. Ein Bogen Pergament war mit dünnen Nadeln auf die Tischplatte geheftet. Daneben lag ein Kistchen aus abgegriffenem Leder.
»Ich werde dir keine Fragen beantworten«, sagte Gundaher gehetzt. »Du bist die Erste, die meine Kammer betreten darf, und ich wäre dir dankbar, wenn du niemandem von dem erzählen würdest, was du hier siehst.« Der Baumeister trat an den Tisch, griff nach dem Kästchen und reichte es ihr. »Mein Geschenk an dich. Ein Dichter würde sagen, es enthält die Asche meines vergangenen Lebens. Mariotte ist dort ...«
Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann dir nicht erzählen, was geschehen ist. Doch du wirst dem Schrecken so nahe kommen, wie es möglich ist, ohne selbst auf dem Mons Gabino gewesen zu sein. Manches wird sich dir sofort erschließen. Anderes habe auch ich nach fünfzehn Jahren noch nicht begriffen. Vielleicht wirst du jemanden finden, der die Ereignisse zu deuten weiß, die mich hierher trieben. Ereignisse, die mich noch immer nachts verfolgen.« Er deutete auf die Wände. »Und selbst am Tage sind die Verlorenen nie weit von mir.«
»Aber ...«
Gundaher zischte und hob einen Finger an die Lippen. »Nein! Keine Fragen.« Er atmete plötzlich wieder schwer und griff sich an den Kopf. »Öffne die Schließe seitlich am Buch. Sieh es dir an. Und nun geh! Ich kann die Schmerzen besser ertragen, wenn ich allein bin.«
Kadlin wich durch die Tür zurück, die der verrückte Baumeister sofort hinter ihr verschloss. Sie war erleichtert, die Kammer verlassen zu haben. Neugierig betrachtete sie das ledergefasste Kästchen. Das also war ein Buch. Sie hatte davon erzählen hören, konnte sich aber nie eine rechte Vorstellung machen, wie so ein Buch wohl aussah.
Vorsichtig schob sie mit dem Daumen die Bronzeschließe auf. Dann klappte sie den Deckel zurück. Ein Frauengesicht blickte ihr entgegen. Sie hatte weizenfarbenes Haar und schöne, sinnliche Lippen. Ob das die Mariotte war, von der Gundaher gesprochen hatte? Im Hintergrund sah man ein Gebäude auf einem steilen Berg. Wohl eine Burg. Obwohl sie nicht sonderlich trutzig aussah, war die Anlage doch von einer steinernen Mauer umgeben.
Kadlin blätterte weiter. Die Bilder zeigten eine Gruppe von Männern und Frauen, die offenbar in der Burg lebten. Sie alle trugen lange blaue Kutten wie jene Gestalt auf den Wänden in Gundahers Kammer. Dann erschien der Mann aus der Kammer. Er wurde freundlich aufgenommen.
Kadlin hatte das Buch nun halb durchgeblättert und kein einziges Runenzeichen entdeckt. Doch die Bilder wurden schlechter, seit der Gast auf ihnen auftauchte. Es sah ganz so aus, als seien sie in großer Hast entstanden. Ein wenig enttäuscht von ihrem Schatz blätterte Kadlin weiter — und fand das Grauen.
Vertraulicher Bericht! Unbedingt unter Verschluss zu halten! Bedarf der Freigabe durch die Königin!
»... Der Herbst war schon fortgeschritten, als der Vormarsch der Trolle begann. Nur wenige Bewohner Feylanvieks waren dem Befehl der Königin gefolgt und hatten die Stadt verlassen. Ich glaube, viele von denen, die blieben, konnten sich nicht wirklich vorstellen, dass man ihre Stadt aufgegeben hatte. Bis zuletzt hielt ich mit einer Nachhut der Reiterei Stellung. Ich war gefangen zwischen meinen Befehlen und der militärischen Notwendigkeit, den Vormarsch des Feindes so schwer wie möglich zu machen. Ich entschied mich gegen die Königin ...
Die letzten Elfen, die Feylanviek verließen, setzten die Lagerhäuser am Mika in Brand. Es geschah noch, während die ersten Trolle über den Mika übersetzten. Die Eroberer hätten die Vorräte an sich genommen, so sagt es die Logik des Krieges. Sie brauchten alle Lebensmittel, um ihr riesiges Heer über die weite, karge Steppe zu bringen. Ich wusste ja nicht, wie es in Talsin kommen würde. Ich war überzeugt, das Richtige zu tun. Mir war klar, dass Feylanviek den ganzen Winter über abgeschnitten sein würde. Kein Schiff aus Vahlemer würde kommen, und kein Stamm der Pferdemänner würde seine Herden zu den Schlachthäusern der Stadt führen, solange die Trolle dort regierten.
Die Königin zwang mich später, die Berichte zu lesen. Und ich musste die Überlebenden besuchen. An jenem Tag, als ich befahl, die Brände zu legen, hatte ich mir nicht vorstellen können, wozu Hunger führen mag. All die geöffneten Gräber und die Morde an jenen, die zu schwach waren, das bisschen Fleisch zu schützen, das sie noch auf den Knochen trugen ... Die Albenkinder sind entsetzt über den Kannibalismus der Trolle. Nur wenige ahnen, wie dünn die Wand ist, die uns von ihnen trennt. Ich habe keinen Gedanken an die Bewohner jener Stadt verschwendet, deren Gast ich so lange war. Ich dachte nur an den Winterkrieg in der Steppe, der uns erwartete.
Vierzig Meilen südlich von Feylanviek sammelte Orimedes die wenigen Kentauren, die er zu den Waffen rufen konnte. Erst als das Heer der Trolle die Ruinen von Jerash erreichte, war der Fürst des Windlands bereit gewesen, die Verfolgung seines Sohnes aufzugeben.
Wir wähnten uns in Sicherheit, da wir davon ausgingen, dass die Plünderung von Feylanviek das Heer der Trolle mindestens einen Tag lang aufhalten würde. Doch Orgrim führte auf andere Weise Krieg, wie wir noch oft erfahren sollten. So waren wir völlig überrascht, als aus dem Frühnebel Trolle hervorbrachen und unser Lager umzingelten. Nie zuvor hatte ich ein so verzweifeltes und blutiges Gefecht erlebt. Und nie sah ich so viele Männer sterben, um einen dem Tod Geweihten in Sicherheit zu bringen ...«
Er trug einen schweren Leinensack, der mit einem breiten Lederriemen über seine Schulter geschlungen war. Das braune, vertrocknete Sommergras war von einer zarten Schicht Raureif überzogen. Das Gras knisterte, während er hindurchlief und nach Hornschildechsendung Ausschau hielt. Es war diesig. Die Herde hatte schon vor Sonnenaufgang ihre Wanderung begonnen. Ganda hatte ihn sehr früh geweckt. Ganda war immer gut zu ihm. Er mochte sie. Heute Morgen hatte sie ein braunes Pulver auf den grauen Griesbrei geschüttet, das ihn viel besser schmecken ließ.
Klaves lauschte in den Nebel. Die Schreie waren jetzt verklungen und auch das helle Klingen von Metall. Er hatte gespürt, wie die Geräusche die großen Hornschildechsen unruhig gemacht hatten. Und auch in seinem Bauch hatte sich ein kaltes, stacheliges Gefühl eingenistet. Dort im Nebel musste etwas Fürchterliches geschehen.
Ganda war heute Morgen unruhig gewesen. Ob sie gewusst hatte, dass dieser Lärm kommen würde?
Ein dampfender Dunghaufen ließ ihn die Grübeleien vergessen. Klaves kniete nieder. Den Dung von Mondkragen konnte er am Geruch erkennen. Doch dies hier war von einem Bullen und nicht von einer Kuh. Er betrachtete die unverdauten Grashalme, die in dem dunklen Gemenge schimmerten. Sie hatten die Farbe von Sonnenstrahlen. Manchmal stellte er sich vor, dass die Echsen Sonnenstrahlen fraßen. Und wenn sie den getrockneten Dung abends in die Feuer warfen, dann befreiten sie die Wärme der Sonne.
Klaves grub seine Finger tief in den Haufen. Er war angenehm weich und warm. Mit beiden Händen schaufelte er seine Beute in den Leinensack. Dann sprang er auf. Der Riemen auf seiner Schulter drückte auf die alten Wunden auf der Brust. Überall hatte er rote Striemen auf dem Leib, die nur langsam blasser wurden. Ganda und auch die anderen hatten ihm nicht erzählen mögen, was mit ihm geschehen war. Wenn er sich streckte, dann stach es in seiner Schulter und Brust. Und manchmal sprang ihn ein Kopfschmerz an, als habe sich ein Rabe in sein Haar geklammert, um mit seinem Schnabel auf die kahle Stelle an seinem Kopf einzuhacken.
Klaves beschleunigte seine Schritte. Er konnte im Nebel den alten Dickhaut sehen. Auf seinem Rücken war das große Trockengerüst festgeschnallt, auf dem er den Dung ausbreiten musste. Erst wenn er ganz hart und bröckelig wurde, konnte man ihn ins Feuer werfen.
Geschickt kletterte Klaves die Strickleiter zu dem Gerüst hinauf, während Dickhaut gemächlich weitertrottete. Er schüttete den Dung auf eine der geflochtenen Matten mit ihren hohen, wulstigen Rändern, die zwischen das Gitterwerk aus dünnen Stangen gespannt waren, das sich wie Stacheln über den Rücken der Echse erhob. Sorgsam verteilte er die braungoldenen Haufen, damit der Dung gleichmäßig trocknen konnte.
»He, Mistträger! Komm herunter, wir brauchen dich.«
Klaves sah sich verwirrt um, ob noch jemand anderes auf Dickhauts Rücken war.
»Hörst du nicht, du Stinkbeutel?« Klaves hob den Beutel auf, in dem er den Dung trug. Was wollte Nikodemus von der Leinentasche? Die konnte er nicht haben! »Klaves! Komm endlich herunter!« Der Diener war erschrocken. Offenbar hatte der Kommandant schon die ganze Zeit ihn gemeint. Aber warum rief er ihn dann nicht bei seinem Namen? Klaves packte sich an die rasierte Stelle an seinem Kopf. Die Schmerzen kamen wieder. Alles war so verwirrend. Er hatte sich an seinen Namen nicht mehr erinnern können, bis der große Kommandant Elija so freundlich war, ihn zu erwähnen.
Elija war ein guter Kerl. Er kam oft zu ihm. Meist wenn Ganda nicht in der Nähe war. Er erklärte ihm all die Dinge, die er nicht verstand. So vieles gab es, das er nicht verstand! Offenbar war er wohl etwas dumm! Selbst die Kinder konnten ihm Dinge erklären.
Elija sagte, es liege daran, dass er so anders sei. Anfangs hatte er sich große Sorgen deshalb gemacht. Er war viel zu groß! Seine Arme und Beine waren ungelenk. Und er hatte nicht so einen hübschen Kopf wie die Lutin. Manchmal betrachtete er morgens seinen Kopf in der Trinkschüssel. Er war voller kahler Stellen, an denen kein einziges Haar wuchs. Und seine Schnauze war platt und eingedrückt. Den anderen musste es schwer fallen, eine so hässliche Gestalt anzuschauen.
»Klaves! Komm endlich da runter, du Riesentrottel!« Er beeilte sich, die Strickleiter hinabzuklettern. Unten wartete eine ganze Gruppe von Lutin auf ihn. Dass es so viele waren, machte ihn unruhig. Er stellte sich ungeschickt an, als er vom Ende der Stickleiter absprang, und rollte ins Gras.
Die Lutin lachten. Und auch er fiel in ihr Gelächter ein. Dann waren sie netter zu ihm.
»Du stinkst zum Erbarmen!«, maulte Nikodemus. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du deine Finger im Gras abwischen sollst, wenn du in der Scheiße gewühlt hast!«
»Zehnmal, Kommandant.« Das stimmte nicht. Es war öfter gewesen, aber Klaves wusste nicht, wie es nach zehn weiterging. Er wusste, dass es weiterging, aber seine Erinnerung hatte ihn verlassen. Bis zehn konnte er nur deshalb zählen, weil es ihm die Kinder beigebracht hatten. Morgen wollten sie ihm zeigen, wie man an den Zehen weiterzählte, wenn man mit den Fingern fertig war. Das hatten sie versprochen. Aber Klaves freute sich nicht darauf. Sie hatten ihm erklärt, dass er zum Zählen barfuß laufen müsste. Das war nicht gut in dem kalten Gras!
»Wir brauchen jemanden, der schwer tragen kann«, erklärte Nikodemus.
»Kommandant! Jawohl, Kommandant.« Nikodemus mochte es sehr, wenn man ihn mit Kommandant ansprach, deshalb tat er es so oft wie möglich. Das hatte Klaves schnell gelernt, genauso wie er schnell gelernt hatte, dass er schwerer tragen konnte als die Lutin. Mit etwas Mühe konnte er einen ganzen Dunghaufen auf einmal zum Trockengerüst bringen. Jeder Lutin im Lager musste dafür mehrmals laufen. Es war gut, wenigstens etwas zu können. Seine Kraft erfüllte Klaves mit Stolz.
»Los jetzt!« Nikodemus winkte ihm, und die ganze Gruppe der Lutin setzte sich in Bewegung. »Und wisch dir endlich die Scheiße von den Fingern!«
Widerwillig folgte Klaves dem Befehl. Er mochte das Gefühl, wenn der feuchte Dung auf seinen Händen trocknete. Und er beobachtete gerne, wie sich feine Risse in der zweiten, dunklen Haut bildeten und sie sich dann langsam wie Wundschorf ablöste.
Stumm folgte Klaves den Lutin. Nach einer Weile hörten sie ein Stöhnen. Grobe Stimmen erklangen hinter einem Hügel. Noch immer behinderte leichter Dunst die Sicht.
Ein Stück entfernt sah Klaves etwas Großes durch den Nebel gleiten. Es war noch größer als er. Besorgt schloss er dichter zu den Lutin auf.
Auf der Kuppe des Hügels fanden sie ein seltsames Tier. Ein sehr großes Pony. Doch statt eines Halses wuchs ihm ein Männerleib aus dem Rumpf. Es musste ein Verwandter der Lutin sein, denn obwohl ihm die hübsche spitze Schnauze fehlte, hatte er sehr viele Haare im Gesicht.
Die Lutin umringten den Toten. Sie schienen nach etwas zu suchen. Plötzlich kam eine riesige Gestalt den Hügel hinaufgelaufen. Sie kam direkt auf ihn zu und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus. Die Kreatur hob eine Keule, aus der scharfe Steinsplitter wie Dornen ragten.
Klaves duckte sich unter einem Hieb hinweg. Er griff sich an den Gürtel, als müsse dort etwas sein, das ihm helfen könne.
»Nicht schlagen!«, rief er verzweifelt.
»Lass meinen Diener in Frieden!«, schrie Nikodemus.
Wieder sauste die Keule nieder. Klaves warf sich flach ins Gras. Der Hieb verfehlte ihn nur um Haaresbreite.
Klaves rollte sich seitlich ab. Halb unter dem toten Ponywesen begraben lag etwas Schimmerndes. Er zog den länglichen Gegenstand hervor. Ein sehr großes Messer!
Ein Schrei ließ Klaves erzittern. Die Kreatur mit der Keule war mindestens einen Schritt größer als er. Sie hatte sich vorgebeugt und brüllte ihn an. Nikodemus versuchte sich zwischen sie beide zu drängen.
»Lass meinen Diener in Frieden, du Trolltrottel!«
Klaves war beeindruckt vom Mut des Lutin. Gerade von Nikodemus, der so gern seltsame Späße mit ihm trieb und sich immer neue Namen für ihn ausdachte, um ihn zu verwirren, hätte er niemals erwartet, dass er ihn verteidigen würde.
»Hör auf meinen Freund, Trolltrottel!«, sagte Klaves drohend. Er war froh, dass er jetzt einen Namen für das Ungeheuer hatte. Das nahm der Kreatur einen Teil ihres Schreckens.
»Weg, du Made!« Der Trolltrottel trat nach Nikodemus, und der Lutin schaffte es nicht mehr ganz, ihm aus dem Weg zu kommen. Mit einem Aufschrei landete er im Gras und krümmte sich vor Schmerz.
»Nikodemus ist mein Freund, Trolltrottel. Du darfst ihn nicht treten!«, sagte Klaves entsetzt.
Die anderen Lutin machten nicht die geringsten Anstalten, sich dem Riesen in den Weg zu stellen. Einer eilte zu Nikodemus.
Ohne Vorwarnung stürmte der Trolltrottel auf Klaves los. Er holte mit der Rechten weit aus. Die Keule schwang dem Diener entgegen. Es war leicht, die Bewegung vorherzusehen.
Klaves wartete bis zum allerletzten Augenblick, dann machte er einen Schritt zur Seite und wich dem Angriff aus. Sein langes Messer zuckte vor. Ein langer, tiefer Schnitt klaffte im Bauch des Trolltrottels.
Die Bestie presste eine Hand darauf. Bläuliche, blutige Schlangen schienen aus seinem Bauch kriechen zu wollen.
Klaves war jetzt hinter dem Trolltrottel. Er änderte den Griff und stach mit dem langen Messer nach hinten. Er brauchte nicht einmal hinzusehen, um zu wissen, dass er in die Kniekehle treffen würde. Ein wütendes Heulen begleitete den Druck und das Knirschen, als seine Klinge durch Fleisch und Knochen schnitt.
Er befreite das lange Messer mit einem Ruck. Der Trolltrottel war in die Knie gegangen. Schnaufend drehte er sich um. Seine Linke hielt er noch immer auf den Bauch gepresst. Wieder hob er die Keule, noch langsamer und vorhersehbarer als beim letzten Angriff.
Klaves sprang geduckt vor und unterlief den Schlag. In einem geraden Stoß drang das lange Messer durch die Kehle des Trolltrottels in dessen Mund. Die Augen der Kreatur weiteten sich vor Entsetzen. Blut schoss ihm aus Kehle und Mund.
Klaves setzte dem Ungeheuer einen Fuß auf den Bauch, woraufhin noch weitere der blutigen Schlangen aus der Schnittwunde quollen. Mit einem Ruck befreite er seine Klinge.
Der Trolltrottel sackte seitlich ins Gras.
Klaves ging zu Nikodemus. Merkwürdigerweise versuchte der Lutin, vor ihm fortzukriechen. »Alles ist gut, mein Freund. Der Trolltrottel wird dich nicht mehr treten. Hast du Schmerzen?«
»Mir ... Mir geht es gut«, stieß Nikodemus erschrocken hervor.
»Du musst keine Angst mehr haben.« Klaves war sehr zufrieden mit sich. Er konnte noch etwas, außer schwere Leinenbeutel mit Hornschildechsendung zu tragen. Offensichtlich war er gut darin, Trolltrottel zu töten. Er streckte Nikodemus die Hand entgegen und half dem Lutin auf die Beine.
»Wir sollten hier verschwinden«, sagte der Lutin zu seinen Kameraden. »Es war keine gute Idee, ihn mitzunehmen.«
Klaves verstand das nicht ganz. Immerhin hatte er Nikodemus davor bewahrt, noch einmal getreten zu werden. Enttäuscht kniete er neben dem großen Ponymann nieder. Zu dem langen Messer gehörte eine Hülle aus rotem Leder. Er schob die Waffe hinein und steckte sie in seinen Gürtel. Sie fühlte sich gut an seiner Seite an. Das war es, was gefehlt hatte, als er vorhin an seinen Gürtel gegriffen hatte.
»Hat ihn jemand gesehen?«, fragte Nikodemus die anderen.
Die Lutin schüttelten die Köpfe. Sie blickten den Hügel hinunter. Der Dunst hatte sich etwas gelichtet.
Klaves war erschrocken über das Bild, das sich ihm bot. Überall lagen tote Ponymänner. Auch tote und verwundete Trolltrottel waren dort. Und kleinere, zartere Körper. Gestalten, die aussahen wie er. Gerne wäre er hinuntergegangen, um sie sich näher anzusehen.
»Komm, Klaves!«, befahl Nikodemus. »Wir gehen zurück zur Herde.« Klaves zögerte kurz. Er musste dem Kommandanten folgen. Er war sein Diener. Was er selbst gern tun würde, zählte nicht.
Eine eisige Windböe empfing sie auf dem Pass. Mag hatte Ulric von diesem Ort und seinen Besonderheiten erzählt. Der Prinz von Firnstayn blickte blinzelnd zu der strahlend weißen Gletscherzunge, die sich in den weiten See vor ihnen schob. Irgendwo dort oben im Eis war Mag, um über sie zu wachen. Unerklärlicherweise schien der Veteran aus Phylangan völlig unempfindlich gegen Kälte zu sein.
Halgard lenkte ihre Stute an seine Seite. Sie legte den Kopf zurück und blickte in den weiten, wolkenlosen Himmel. Wie ein riesiger Spiegel lag der See vor ihnen. Himmel, Berge und Gletscher betrachteten in ihm ihre Ebenbilder.
»Was für ein wunderbarer Ort«, flüsterte Halgard, als fürchte sie, mit ihrer Stimme die stille Majestät der Berge zu stören.
»Wie heißt der See?«
»Er hat keinen Namen«, sagte Ulric leichthin. »Vor uns sind erst wenige Menschen hier gewesen. Ich schenke ihn dir.«
Sie lachte. »Du bist verrückt!«
»Ich bin der Sohn des Königs. Alles Land, das niemand bebaut, gehört dem König. Und mein Vater wird es mir nachsehen, wenn ich einen See verschenke, den bislang kaum jemand kennt.«
Halgard schluckte. Einen Augenblick schien es, als wolle sie in Tränen ausbrechen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. Der Morgen war schlimm gewesen. Sie hatte entdeckt, dass der große schwarze Hund seines Vaters Blut pisste. Daraufhin hatte sie wieder die drei verfluchten Lebensfäden aus den Holzpuppen geholt und sie nebeneinander gelegt. Manchmal verbrachte sie halbe Tage damit, die Fäden anzustarren und auszurechnen, wann sie sterben würden.
»Ein so wunderschöner Ort sollte einen Namen haben«, sagte sie. Ein scheues Lächeln spielte um ihre Lippen. Manchmal waren ihre Launen schon sonderbar. Von einem Herzschlag zum nächsten konnte ihre Stimmung von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt wechseln.
»Du wirst ja wohl nicht erwarten, dass ich dir die Mühe abnehme, für deinen See einen Namen zu finden. Mir würde nur so ein Unsinn wie Halgards Spiegel einfallen.« In Wahrheit hatte er sich den halben Weg hier hinauf Gedanken darüber gemacht, mit welchem Namen er ihr eine Freude bereiten könnte.
»Nein, das wäre kein guter Name. Es wäre fürchterlich anmaßend, so etwas Schönes nach mir zu benennen.«
»Aber du bist schön!«, begehrte er auf.
»Ich liebe es, von dir geliebt zu werden.« Ihr Lächeln ließ ihn alle Traurigkeit vergessen. Vielleicht würde sein Plan doch noch gelingen. Er wollte, dass sie einen wunderbaren, unvergesslichen Tag erlebten. Auf viele Tage durften sie nicht mehr hoffen. Und jede Stunde konnte das Wetter umschlagen und das Blau des Himmels für Wochen verschwinden lassen. Bis ans Ende ihrer Tage ...
»‘Wolkenspiegel’ wäre doch ein schöner Name«, sagte sie gut gelaunt.
»Hast du gehört, welchen Namen dir die schönste Maid des Fjordlands ausgesucht hat?«, rief er lauthals auf den See hinaus.
»Von heute an bist du der Wolkenspiegel!«
»Danke«, sagte Halgard unvermittelt.
Ulric lächelte ein wenig verlegen. »Warte ab, was ich mir noch überlegt habe, bevor du mir dankst. Ich hatte vor, mit dir schwimmen zu gehen.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Hier? Das Wasser muss doch eisig sein!«
»Ich sagte doch, dass es zu früh ist, um mir zu danken.« Er trieb seinen Braunen voran. »Komm, ich zeig dir etwas.«
Dicht am Ufer gab es einen großen Felsen, in den eine Nische gebrochen war, die den Ort vor dem Wind und vor Blicken schützte. Dort war eine Feuerstelle vorbereitet, und ein stattlicher Stapel Brennholz lag unter einem Überhang aufgeschichtet.
Halgard runzelte die Stirn. »Da hat sich jemand reichlich Mühe gemacht. Die Baumgrenze liegt doch mehr als eine Wegstunde hinter uns.«
»Es hat ein paar Vorteile, der Sohn des Königs zu sein«, sagte Ulric gut gelaunt und schwang sich aus dem Sattel. Er sah sich nach dem Holzstecken um, den Mag hier irgendwo in den Boden gerammt haben musste. Als er ihn fand, schlang er die Zügel darum. Der Schatten des Steckens war auf wenige Finger Breite geschrumpft. Prüfend blickte Ulric zum Himmel. Die Mittagsstunde war nicht mehr weit! Kurz danach würde es geschehen. Sie sollten sich beeilen.
Er sattelte den Braunen ab, dann versorgte er die Stute.
Halgard kauerte sich in die Felsnische und sah ihm zu. Erst als er fertig war, sprach sie. »Den Scherz mit dem Schwimmen habe ich nicht verstanden, fürchte ich.«
Ulric öffnete die Schließe seines Umhangs. »Ich fürchte, das war kein Scherz.«
Sie stöhnte. »Bitte nicht. Es ist so ein schöner Tag ...«
Als Kinder waren sie unter eine geschlossene Eisdecke geraten und fast ertrunken. Nur den heilenden Kräften der Elfenkönigin hatten sie es zu verdanken, dass sie noch lebten. Im Sommer darauf hatte Mag ihnen Unterricht im Schwimmen gegeben. Anfangs war es ihnen beiden schwer gefallen, sich dem Wasser anzuvertrauen. Aber gegen Ende des Sommers waren sie immer tollkühner geworden, und inzwischen liebten sie es zu schwimmen. Doch Halgard war zu verfroren, um auch im Winter wirklich Freude daran zu haben.
Ulric hatte sich ganz ausgezogen.
»Sind wir wirklich allein?«, fragte Halgard.
»Natürlich«, log der Prinz.
»Und wenn ein Troll kommt?«
»Die hassen schöne Orte wie diesen. Du musst dir keine Sorgen machen.« Zögernd streifte Halgard ihre Kleider ab. Ihr dabei zuzusehen, erregte Ulric. So viele Jahre waren sie nun schon ein verheiratetes Paar, aber es gab nur selten Gelegenheit, sie bei gutem Licht nackt zu sehen. Ihre schweren Brüste. Die milchweiße Haut.
»Im Schatten des Felsens hat sich ein wenig Schnee von der Nacht gehalten.«
»Muss das sein?«, brummte sie. »Es ist doch so schon kalt genug.«
Ulric hörte nicht auf ihr Maulen. Er wusste, dass sie kommen würde. Der raue Schotter, den der längst abgeschmolzene Gletscher zum Seeufer getragen hatten, stach nach seinen Fußsohlen. Er war zu weich geworden. Als Kind war er den halben Sommer barfuß unterwegs gewesen. Damals hatte es ihm nichts ausgemacht, über scharfkantige Steine zu gehen. Seine Füße hatte eine Hornhaut geschützt, dick wie eine Ledersohle. Halgard ging auch heute noch oft barfuß. Grinsend folgte sie ihm. Sie wusste genau, welche Qualen er litt.
Endlich erreichte er den Schneeflecken. Er war ein wenig mehr als doppelt so groß wie ihr Bett. Die Sonne stand jetzt im Zenit. Es gab keinen schützenden Schatten mehr. Ein dünnes Rinnsal sickerte vom Schneefeld zum See hinab.
Ulric kniete sich nieder. Er wollte zwei Hände voll Schnee zusammenklauben, als ihn ein Stoß mit dem Gesicht voran in dieses eisige Bett stürzen ließ. Lachend sprang Halgard ihm auf den Rücken und massierte ihm eine Portion Schnee in die nackten Schultern.
Sein ganzer Leib prickelte vor Kälte. Ulric atmete nur stoßweise. Im ersten Moment war er völlig überrumpelt und wehrlos. Dann bekam er ein Bein von Halgard zu packen und zog sie von sich herunter. Lachend balgten sie sich im Schnee, bis ihre Lippen blau vor Kälte waren.
»Komm jetzt!« Ulric half ihr auf, und Hand in Hand liefen sie hinab zum Ufer.
Vorsichtig tasteten sie sich ins Wasser. Nach der Rauferei im Schnee schien es ihnen fast warm. Runde, glatte Kiesel liebkosten ihre Füße. Dann endlich waren sie weit genug, um frei schwimmen zu können. Ulric ließ sich nach vorne fallen, und der Wolkenspiegel umschloss ihn mit eisiger Umklammerung. Einen Augenblick lang keimte in ihm wieder die Erinnerung daran auf, wie er mit den Fäusten verzweifelt gegen den Eispanzer über sich getrommelt und die Kälte ihn langsam gelähmt hatte.
Halgard war ganz still geworden. Er sah ihr an, dass auch sie die Erinnerung eingeholt hatte.
Ulric blickte zum Himmel. Die Mittagsstunde war gerade vorüber. Das war die Zeit! Er suchte am gegenüberliegenden Ufer nach einem Berg, der an einen riesigen Turm erinnerte. Und als er den roten Felskoloss entdeckte, schwamm er in seine Richtung. »Komm!«, rief er Halgard zu. »Blut lebt, was soll uns also passieren!«
»Wir könnten uns zum Beispiel ein Bein brechen«, rief sie.
»Bist du nicht ein bisschen zu alt für solche törichten Mutproben? Hast du mich deshalb hierher gebracht? Ich glaube, mir ist gerade der Spaß am Schwimmen vergangen.«
»Bitte bleib! Entschuldige. Es war dumm von mir. Ich ...«
»Mir wird kalt«, entgegnete Halgard ungehalten.
Verzweifelt blickte Ulric über die spiegelglatte Wasserfläche. Mag hatte ihm gesagt, dass es immer kurz nach der Mittagsstunde geschehen würde. Das war jetzt! Wo blieb das verdammte Wunder?
»Es ist noch weit zum Ufer. Komm! Lass uns Luth nicht herausfordern.« Ein Stück entfernt begann mit einem Mal die Wasseroberfläche zu brodeln. Tausende silberner Perlen stiegen aus der Tiefe auf, um zu zerplatzen, sobald sie das schützende Wasser verließen. Blasser Dunst breitete sich über dem Wasser aus.
»Was ist das?«
»Mein Geschenk für dich.« Er schwamm zu ihr und küsste sie.
»Komm schon.«
Halgard wirkte ängstlich, aber sie folgte ihm. Die Silberperlen kitzelten ihre nackten Leiber. Das Wasser war plötzlich angenehm warm. Der Dunst wurde dichter.
Mit den Füßen strampelnd, drehte sich Ulric im Kreise und prägte sich das Panorama der Bergriesen rings herum ein. Dann schätzte er den Abstand zum großen Felsblock nahe dem Ufer. Etwa zweihundert Schritt. Ein weiter Weg, wenn das Wasser wieder kälter wurde und ihre Kräfte erschöpft waren.
Ein leichter Duft wie von fauligen Eiern hing in der Luft. Gerade eben wahrnehmbar. Unaufdringlich.
»Was ist mit dem Wasser?«, fragte Halgard.
»Ich weiß es nicht. Mag hat es entdeckt. Jeden Tag kurz nach der Mittagsstunde steigen hier die Blasen und das warme Wasser aus der Tiefe auf, als gäbe es am Grund des Sees eine Quelle, die aber nur manchmal fließt.«
Halgard schlang ihm die Arme um den Nacken. »Es ist schön hier. All die Luftblasen und die leichte Strömung von unten. Es ist, als liebkosten einen tausend zärtliche Hände. Überall ...« Sie lächelte sinnlich. »Wie lange sprudelt die Quelle?«
»Etwa eine halbe Stunde.« Er spürte ihre Hand zwischen seinen Schenkeln.
»Wird das reichen, mein Geliebter?« Er lächelte. »Wollen wir es herausfinden?«
Die Fackel am Tor wies ihnen den Weg durch die Dunkelheit. Sie waren zu lange am See geblieben. Eine wohlige Wärme breitete sich in Ulric aus, als er an die gestohlenen Stunden dachte. Stunden, in denen sie beide die roten Fäden aus ihren Holzpuppen vergessen konnten.
Sein Brauner schnaubte unruhig. Der Prinz strich ihm über den Hals. »Bald bist du wieder in deinem Stall.«
»Ich sehe gar keine Wachen auf der Mauer«, sagte Halgard unruhig. »Sie hätten doch ein Hornsignal geben müssen.«
Ulric zügelte den großen Hengst. »Wahrscheinlich haben sie uns nicht gesehen.«
»Bei dem hellen Sichelmond?«
Das ließ sich nicht von der Hand weisen. Sein Vater hatte nur die besten Männer mitgenommen. Etwas musste in ihrer Abwesenheit geschehen sein! Er musterte die Zinnen. Auf der Mauer rührte sich nichts.
»Vielleicht solltest du zurückbleiben.« Er lockerte sein Schwert in der Scheide. Das Tor stand weit offen. Verdammt! Alle dort oben wussten, dass jederzeit mit einem Überfall von ein paar übermütigen Trollen zu rechnen war. Natürlich half ein verschlossenes Tor nur wenig, wenn drei von vier Burgmauern noch nicht vollendet waren. Doch hier ging es um Disziplin! Das Tor hatte nachts geschlossen zu sein. Und es gab keine Entschuldigung dafür, keine Wachen auf den Mauern zu haben!
»Etwas ist da oben«, sagte Halgard leise.
Sein Brauner peitschte unruhig mit dem Schweif.
Ulric konnte nichts entdecken, so angespannt er auch starrte.
»Spürst du es nicht? Da lauert jemand.«
»Dein Weib hat gute Augen, Prinz Ulric.« Wie aus dem Nichts stand eine Gestalt vor ihnen und griff seinem Hengst in die Zügel. Sie hatte mit einem seltsamen, singenden Akzent gesprochen. Ulric blickte in kalte graue Augen. Die Iris war von einem schwarzen Kranz eingefasst. Wolfsaugen! »Du bist ein Maurawan.«
Der fremde Krieger trat ein wenig zur Seite, sodass Mondlicht auf sein Antlitz fiel. Er lächelte. »Du kennst die Völker Albenmarks gut für einen Menschen.« Er hob den Arm und winkte zur Mauer.
»Was glaubst du, wie viele Bogenschützen dort oben warten, edle Dame?«
»Zwei«, sagte Halgard.
»Es sind drei. Aber den dritten kann selbst ich nicht sehen. Fingayn sieht niemand, wenn er es nicht will. Es heißt, selbst seine Mutter habe ihn unmittelbar nach der Geburt aus den Augen verloren.«
»Könnt ihr euch unsichtbar machen?«, fragte Halgard ungläubig.
Statt zu antworten, zog der Maurawan einen Zipfel seines Umhangs über den Kopf und kauerte sich nieder. Er sah aus wie ein Baumstumpf. Die Schattierungen des Stoffes hatten dieselbe Farbe wie von Wind und Wetter ausgeblichenes Holz; sein Pfeilköcher ragte wie ein abgestorbener Ast zur Seite.
Ulric wusste um die Fähigkeiten der Maurawan. Silwyna hatte ihm manchmal von ihrem Volk erzählt, allerdings war sie nur sehr selten in der Stimmung, von Albenmark zu sprechen. Der Prinz räusperte sich. »Ohne unhöflich erscheinen zu wollen...« Er machte eine kurze Pause, doch der Maurawan nutzte die Gelegenheit nicht, um sich vorzustellen. »Was verschafft mir die Ehre, von Jägern der Maurawan empfangen zu werden? Und warum sind die Wachen meines Vaters von den Wällen verschwunden?«
Der Maurawan erhob sich. »Weil dein Vater wünschte, dass alle Krieger die Rede des hässlichen Mannes ohne Nase hören.«
»Aber warum seid ihr hier?«
»Ohne dich drängen zu wollen, Prinz ... Die Antworten erwarten dich in der Festhalle. Ich bin nur ein Wachposten.« Ja, nur ein Wachposten! Ulric wusste sehr genau darum, wie empfindlich die Maurawan waren. Sie ließen sich von niemandem Befehle geben. Nur ein Wachposten! Lächerlich! Der Kerl war hier, weil ihm nicht der Sinn danach stand, in der verräucherten Halle zu weilen, und weil er es für sinnvoll hielt, dass ein paar Wachen auf Posten blieben. Wenn er ihm den ahnungslosen Wachposten vorspielte, dann geschah das, weil er keine Lust hatte, Erklärungen abzugeben.
Ohne auf seine Antwort zu warten, griff der Maurawan nach den Zügeln seines Braunen.
Ulric ließ ihn gewähren.
Halgard warf ihm einen fragenden Blick zu, doch er war genauso überrumpelt wie sie. Das Einzige, was er sicher wusste, war, dass von den Maurawan mutmaßlich keine Gefahr ausging. Andernfalls wären sie beide schon tot.
Der Elfenkrieger brachte sie durch das Tor hinauf zur Burganlage. Auf dem Hof standen zwei schlanke, feingliedrige Pferde. Es waren wunderbare Tiere. Im Mondlicht sah ihr Fell sandfarben aus, Schweif und Mähne waren milchweiß. Ihr Zaumzeug war mit silbernen Beschlägen verziert. Als sie die Köpfe hoben, erklangen leise Glöckchen. Die Pferde wären eines Königs würdig gewesen, dachte Ulric. Sein Vater hatte einige Elfenpferde aus Albenmark mitgebracht und sie mit den drahtigen, kleinen Pferden des Fjordlands gekreuzt. Das Ergebnis waren sehr ausdauernde, trittsichere und kluge Reittiere. Doch die Anmut der Elfenpferde hatten sie verloren.
Tosendes Gelächter ließ seinen Braunen scheuen. Es tönte von der Königshalle herüber. Dann erklang aus hunderten Kehlen der Kriegsruf der Fjordländer. »Sieg und Ruhm! Sieg und Ruhm!« Ulric hatte ein ungutes Gefühl, als er sich aus dem Sattel schwang. Sein Vater stand den Elfen zu nahe! Den letzten Dienst, den er ihnen erwiesen hatte, hatten hunderte von Fjordländern mit ihrem Leben bezahlen müssen.
Halgard trat an seine Seite. Sie schien seine Unruhe zu spüren.
»Was geschieht hier?« Ulric blickte dem Maurawan nach, der ihre Pferde fortführte. »Ich fürchte, uns steht ein Feldzug bevor.«
»Jetzt, kurz vor Einbruch des Winters? Kein vernünftiger Mensch führt Krieg, wenn man das Wetter mehr fürchten muss als seine Feinde.«
Er lächelte traurig. »Da stimme ich dir zu. Kein vernünftiger Mensch! Elfen und Trolle hingegen scheren sich nicht um Schnee und Eis. Und ich fürchte, was uns erwartet, wird mit Vernunft nicht viel zu tun haben.« Er stieß das Tor zur Königshalle auf. Das Licht und der beißende Rauch blendeten ihn. Der schwere Honigatem von Festen, bei denen der Met in Strömen floss, schlug ihm entgegen.
»Sieg und Ruhm! Sieg und Ruhm!«, dröhnte es von den Wänden. Die Krieger hielten ihre Trinkhörner hoch. Immer wieder grölten sie den Schlachtruf.
»Viele von euch kenne ich, seit sie Knaben sind. Und ich kannte eure Väter, die im Elfenwinter ihr Leben gegeben haben, um euch zu retten. Um das Fjordland gegen die Blut saufenden Bestien zu verteidigen. Ihr seid unser Schild und unser Schwert, seit ihr alt genug seid, eine Waffe zu halten. Auch ihr seid Blut saufende Ungeheuer geworden, und endlich ist der Tag gekommen, euch von der Kette zu lassen. Der Tag, an dem die Scharmützel enden und wir Rache nehmen werden für all unsere Toten! Die Trolle waren es, die die Fackel des Krieges in unsere Dörfer und Städte getragen haben. Nun sollen sie lernen, wie es ist, sein Heim brennen zu sehen. Eine Elfenflotte ist unterwegs zur Nachtzinne, und wir werden an der Seite unserer Waffenbrüder stehen, um die Trolle aus ihrer Festung zu locken. Und wenn wir sie da haben, dann werden wir ihnen in den Arsch treten, dass sie unsere Stiefelspitzen auf der Zunge spüren!«
Die Krieger brachen in begeisterten Jubel aus.
Ulric schmunzelte. Diesen Spruch mit der Stiefelspitze hatte Lambi schon hunderte Male gebraucht, aber die Männer mochten ihn. Eine Rede des Herzogs ohne seinen Lieblingsspruch war undenkbar. Ebenso, wie es stets um Ärsche, Schlappschwänze, Hurensöhne oder Bastarde ging. Ulric hätte eine dieser Reden wortwörtlich wiederholen können, und die Männer hätten ihm bestenfalls ein mitleidiges Lächeln geschenkt. Aber Lambi schaffte es auf seine unvergleichliche Art, die Herzen der Krieger in Flammen zu setzen. Dabei war er wohl der hässlichste Mann des Fjordlands. Ihm war die halbe Nase weggeschnitten, sodass man in eine dunkle Höhle blickte, wenn man ihm ins Gesicht sah. Selbst hart gesottene Krieger senkten vor dem Herzog den Blick. Aber wenn er vor einer Schlacht oder auch an einem offenen Kriegergrab eine Rede hielt, dann vermochte niemand anderes mit seinen Worten so tiefe Gefühle zu wecken wie er. Und niemand erzählte so unterhaltsame Geschichten über seine Heldentaten — erfundene und tatsächliche -, wie Lambi es tat. Sogar etliche Skalden beneideten ihn um sein Geschick, die Zuhörer an seine Lippen zu fesseln.
Ulric drängte sich durch die Reihen der Männer, bis er Lambi endlich sehen konnte. Er stand auf einem Tisch und schwenkte während seines Vortrags sein Methorn, als sei es ein Schwert, mit dem es galt, Trolle aufzuspießen.
Der Herzog winkte ihm gut gelaunt zu. »Wie ich sehe, ist die Runde der Helden nun vollständig. Willkommen in unserer Mitte, Ulric Alfadasson!«
Ulric räusperte sich. »Was für ein Fest habe ich verpasst?«
»Oh, nicht Bedeutenderes als den Ausbruch des Krieges, Junge.« Die Männer rings um ihn brachen in schallendes Gelächter aus. Einige klopften ihm auf die Schultern. Mag war einer von ihnen. Selbst jetzt, von Met und schönen Worten berauscht, hielten die meisten Abstand zu ihm, dem Wiedergänger.
Ulric blickte erschrocken zu seinem Vater. Sein Thron stand auf einem kleinen Holzpodest, sodass ihn die zechenden Männer gut sehen konnten. Doch zu viele Arme wurden hin und her geschwenkt. Einige Krieger hatten zu tanzen begonnen und neckten sich gegenseitig damit, wer höher springen könnte.
Lambi war vom Tisch heruntergestiegen und drängte sich zu ihm durch. »Komm, dein Vater will dich sehen. Ich denke, wir können unsere Raufbolde ein wenig sich selbst überlassen.« Der Herzog tauschte einen kurzen Blick mit Mag. Der gebrandmarkte Recke nickte ihm zu. Er würde dafür sorgen, dass die Stimmung in der Königshalle nicht zu ausgelassen wurde.
»Halgard wird mit uns kommen«, entschied Ulric. Lambi hob die Brauen. Ein Schnauben drang durch den Krater seiner Nase.
»Du glaubst doch nicht, dass ich sie inmitten einer Horde besoffener Krieger zurücklasse?«
»Sie könnte vielleicht draußen ...«
»Bin ich ein Fohlen auf dem Jahrmarkt?«, mischte sich Halgard verärgert ein. »Ich kann auf mich aufpassen! Geht schon und besprecht euren Krieg. Ich erwarte dich in unserer Kammer.« Ihr Blick wurde wärmer. »Danke«, flüsterte sie.
»Was immer auch geschehen mag, die Erinnerung an den Wolkenspiegel wird mich den ganzen Winter über wärmen.«
Sie zog den langen grünen Umhang straffer um ihre Schultern und ging stolz erhobenen Hauptes durch die Reihen der Männer. Und wie das Wasser vor dem Bug eines großen Schiffes, das den Fjord hinaufeilt, so wichen sie vor ihr zurück.
»Sie wird eine gute Königin werden«, sagte Lambi anerkennend. »Wenn ich noch eine Nase hätte, würde ich ihr den Hof machen.«
Ulric sah den bärtigen Krieger ungläubig an. »Hast du denn keine Angst vor Wiedergängern?«, fragte er kühl.
»Nicht wenn sie so hübsch sind wie dein Mädchen. Aber jetzt ist keine Zeit für Weibergeschichten. Komm mit!« Der Herzog führte ihn hinter den Thron und von dort in den kleinen Raum, in dem Alfadas manchmal mit einigen seiner Vertrauten aß und die Berichte der Späher besprach. Ulric wusste, dass sein Vater die Festhallen des Fjordlands mit ihren offenen Feuergruben und den munter pöbelnden Zechern nicht mochte. Wenn sie beide allein waren, erzählte sein Vater gern von den Palästen der Elfen und ihren Festen. Von der Magie, von wunderbaren Kleidern, Frauen, schön und kalt wie das Feenlicht, das in den Winternächten am Himmel des Fjordlands tanzte.
Als die Tür zum Zimmer hinter dem Thron aufschwang, erblickte er als Erstes Silwyna. Sie stand dicht bei der Tür und etwas abseits von dem Tisch, über den sich die übrigen Anwesenden beugten. Ihre Wolfsaugen zeigten keine Gefühle, obwohl um ihre Lippen die Andeutung eines Lächelns spielte. Als Kind hatte Ulric sie immer bewundert. Die Elfe Silwyna war für ihn eine lebendig gewordene Märchengestalt gewesen. Doch seine verlorene Mutter hatte sie nicht ersetzen können und wollen. Später hatte er begriffen, wie naiv es gewesen war, von einem Weib, das sein eigenes Kind bei Wölfen zurückgelassen hatte, um mit seinem Vater zusammen zu sein, die Zuneigung einer Mutter zu erwarten. Und seit Halgard ihm die Augen geöffnet hatte, wer Kadlin wirklich war, argwöhnte Ulric, dass Silwyna etwas mit dem Verschwinden seiner Mutter zu tun haben könnte. Er erinnerte sich, dass auch sie in die Berge gegangen war, um nach Asla und Kadlin zu suchen.
»Gut, dass du endlich zurück bist, Junge!« Sein Vater trat vom Tisch zurück und schloss ihn warmherzig in die Arme. »Sieh nur, wer gekommen ist.« Alle blickten jetzt von den Karten auf. Eirik, Björn und noch ein halbes Dutzend weiterer Hauptleute waren versammelt. Doch Ulric ignorierte sie. Sein Blick war ganz gefangen von der Elfe mit dem kurzen, blonden Haar, über deren Schultern die Griffe von zwei Schwertern aufragten.
Sie lächelte. »Aus dem Knaben ist ein stattlicher Mann geworden, wie ich sehe.« In dem Winter, in dem seine Mutter lieber einen Treck mit Flüchtlingen in Sicherheit gebracht hatte, statt nach ihm zu suchen, und in dem sein Vater sogar in einer anderen Welt gegen eine Übermacht von Trollen gekämpft hatte, war sie es gewesen, die gekommen war, um ihn zu retten. Gegen jede Vernunft war sie allein in das Heerlager der Trolle eingedrungen und hatte ihn und Halgard befreit, bevor sie erfroren oder ihnen noch Schlimmeres widerfuhr. Sie und Blut, der große schwarze Jagdhund seines Vaters.
»Yilvina«, sagte er mit belegter Stimme. »Es tut gut, dich zu sehen.«
»Bevor ihr euch um den Hals fallt und anfangt, uns alle mit alten Heldengeschichten zu langweilen, die ich im Übrigen besser erzählen könnte als du, sollte dein Vater dich vielleicht in unsere Pläne einweihen«, unterbrach Lambi ihr Wiedersehen und schob ihn an den Kartentisch.
Ulric betrachtete die Landkarte, die auf frisches Pergament gezeichnet war. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Sie reichte viel weiter nördlich und war auch viel detaillierter als jede Karte, die er bisher gesehen hatte. Mit kupferfarbener Tinte waren die Berge und Fjorde eingezeichnet. Es gab sogar Anmerkungen zu Meeresströmungen und Wassertiefen. Am nördlichsten Fjord, dessen Arm sich tief in unzugängliches Bergland erstreckte, waren etliche Kartenkorrekturen vorgenommen worden. Sie waren in schwarzer Tinte ausgeführt.
»Wer hat das gezeichnet?«, fragte Ulric verblüfft. »Warum habe ich diese Karte noch nie gesehen?«
»Yilvina hat sie mitgebracht. Sie wurde von unseren Elfenfreunden gezeichnet. Einer ihrer Späher war einen Mond lang hier oben am Fjord und hat die Nachtzinne beobachtet. Wir wissen jetzt alles über die Hauptfestung der Trolle.«
»Fingayn, nehme ich an.«
Yilvina blickte kurz zu ihm auf. »Du bist auch nicht schlecht informiert, Ulric Alfadasson. Es ist allerdings zwei Jahre her, dass er dort war. Er sollte die Möglichkeiten für einen Angriff auf die Nachtzinne ausspähen. Elodrin erwog damals, Orgrim zu töten und den Trollen so ihren besten Heerführer zu nehmen. Aber dass du um Fingayn weißt ... Ich bin beeindruckt.«
Ulric tat das Kompliment ab. Es ärgerte ihn, dass die Elfen bessere Karten vom Fjordland und den nördlichen Bergen besaßen als sein Vater, der immerhin der König dieses Landes war.
»Ich bin im Auftrag des Fürsten Elodrin von Alvemer hier. Er bat deinen Vater um Unterstützung für einen Angriff auf die Nachtzinne. Eure Aufgabe bestünde darin, die Garnison der Nachtzinne von der Felsenfestung fortzulocken und ein paar Stunden lang im Kampf zu binden. In dieser Zeit wird Elodrin mit einer Schar handverlesener Kämpfer die Nachtzinne erstürmen und seine Flotte in der Bucht landen lassen. Wir werden sodann den Trollen in den Rücken fallen, die gegen euch kämpfen.«
»Warum tragt ihr euren Krieg mit den Trollen in unsere Welt?«, fragte Ulric. »Warum sollten wir ...«
»Wir leben auch im Krieg mit den Mördern deiner Mutter! Gerade du solltest nicht vergessen, was sie uns angetan haben!«, unterbrach ihn sein Vater zornig. »Bei den Göttern! Hast du vergessen, wie sie gewütet haben? All die niedergebrannten Städte und Dörfer! Nun werden wir ihnen endlich Gleiches mit Gleichem vergelten!«
Ulric sah seinem Vater ins Antlitz. Sein Wunsch nach Rache hatte ihn ausgebrannt. Er war alt geworden in den letzten Monden. Und er hatte sich niemals damit abfinden können, dass der Herzog der Nachtzinne ihm entkommen war.
»Wenn wir gesiegt haben, dann können wir mit den Trollen über einen Frieden zwischen unseren Völkern verhandeln«, erklärte Alfadas nun ruhiger. »Es muss ein Friede sein, der auf Stärke beruht, sonst werden diese Bestien ihn nicht annehmen. Wenn wir aber die Höhle ihres Herzogs ausgeräuchert haben, dann werden sie wissen, dass mit uns zu rechnen ist!«
»Und was ist, wenn der Herzog der Trolle so fühlt, wie du es getan hast, sobald er sein Heim brennen sieht? Wenn er sein Leben ganz dem Gedanken an Rache widmet? Glaubst du wirklich, man kann mit der Faust in ein Wespennest schlagen, ohne gestochen zu werden?«
»Wir reden hier von Trollen! Die verstehen nichts als die Sprache der Gewalt. Wir müssen ein deutliches Zeichen setzen, bevor wir mit denen verhandeln. Dann werden sie sich fügen.«
»So gut kennst du unsere Feinde ... Der Kerl, der Kadlin und Björn in eine Höhle geschleppt und ihre Wunden versorgt hat, kann dann wohl kein Troll gewesen sein. Wenn sie alle so sind, wie du sagst, dann hätte er die beiden wohl fressen müssen.« Er legte die Hand auf das Abbild der Bergketten, die die Nachtzinne umschlossen. »Und wie willst du unsere Männer über diese Berge bringen? Noch dazu, wo der Winter vor der Tür steht? Die Maurawan werden das sicher schaffen, aber unsere Krieger kennen keinen Zauber, um sich vor der Kälte zu schützen und sicheren Schrittes über mannshohe Schneeverwehungen zu marschieren. Wir würden die Hälfte unserer Krieger verlieren, bevor wir überhaupt auf den ersten Troll stoßen. Ist deine Rache das wert, Vater?« Er deutete zur Tür. »Sieh hinaus in die Halle! Blick in die Gesichter der Männer, die bereit sind, dir überall hin zu folgen. Und stell dir vor, wie jeder Zweite von ihnen erfroren im Schnee liegt. Willst du diesen Preis zahlen?«
Alfadas hielt seinem Blick stand. »Natürlich nicht. Vielleicht würdest du uns freundlicherweise zuhören, bis Yilvina ihre Ausführungen beendet hat. Fürst Elodrin ist einer der bedeutendsten Heerführer Albenmarks. Er hat unsere Schwächen bedacht. Sag es ihm, Yilvina.«
Merkwürdigerweise vermied es die Elfe nun, Ulric direkt anzusehen. »Mein Fürst schlägt vor, dass sich alle Truppen dieser Burg nach Firnstayn zurückziehen. Boten, die euch vorauseilen, sollten noch weitere Verstärkungen in die Stadt rufen. Die vereinten Truppen könnten dann hinauf zum Hartungskliff marschieren, um durch das Tor im Steinkreis zu schreiten.« Sie deutete zur Karte und wies auf ein kleines Tal, das nahe der Nachtzinne lag. »Hier gibt es ein weiteres Tor. Ihr müsstet nur einen einzigen Pass überqueren.« Ihr Finger verharrte auf einem weißen Fleck. »Hier gibt es ein weites ebenes Feld, das auf zwei Seiten von steilen Felsen eingefasst ist. Es wäre ein ideales Schlachtfeld. Eure Flanken sind geschützt, wenn ihr hier kämpft. Ihr müsst nur die Schlachtlinie halten, bis wir den Trollen in den Rücken fallen. Unsere besten Pfadfinder werden euch begleiten, um euch beizustehen. Wir werden siegen!«
Ulric strich sich über das Kinn. Der Plan hörte sich sehr einfach an. »Wie stark ist die Flotte, die uns unterstützt?«
Yilvina sah ihn zweifelnd an. »Stark genug!«, entgegnete sie kühl. »Elodrin wird sechshundert der besten Schwertkämpfer und Bogenschützen bringen, die Albenmark zu bieten hat. Hast du Angst, dich den Trollen zur entscheidenden Schlacht zu stellen, die deinem Land Jahrzehnte des Friedens bringen kann?«
»Meine einzige Sorge ist, dass das Fjordland noch einmal zu einem Spielstein im Kampf um Albenmark wird und sich das Grauen des Elfenwinters wiederholt. Wir haben beide unser Blut vergossen, um einander das Leben zu retten. Schwöre mir bei diesem Blutsband, dass dieser Krieg nicht noch einmal unsere Städte verbrennen wird.«
Yilvina legte feierlich die Rechte auf ihr Herz. »Ich schwöre es.« Ulric sah ihr fest in die Augen. Sie glaubte, was sie sagte. Und dennoch war er sich sicher, dass es anders kommen würde. Er und Halgard würden den Winter nicht überleben, und er wusste, dass es dieser Feldzug war, den sein Vater so sehr wollte, der sie beide töten würde.
»Keine andere Sage des Windlands wird in so vielen Varianten im Windland erzählt wie jene von Nestheus und Kirta. Ich habe mich entschieden, die Geschichte so niederzuschreiben, wie sie mir in der Steppe südlich von Talsin erzählt wurde, denn es heißt, in einem der Hügel dort ruhe der Leib des Orimedes, und ich hatte das Gefühl, dass Sage und Wirklichkeit in der Nähe seines Grabes näher beieinander liegen als anderswo in den Weiten des Graslands ...
Es begab sich zu jener Zeit, als Fürst Orimedes die Trolle vom Mordstein besiegte, dass sich die Völker der Steppe und die Bronzereiter von Uttika nach Jahrhunderten der Feindschaft wieder näherten. Um diesen Bund zu festigen, beschlossen die Fürsten Orimedes und Katander, ihre beiden Kinder Nestheus und Elena miteinander zu vermählen. Nestheus war ein Recke mit einem Fell weiß wie der erste Herbstschnee; in der Schlacht am Mordstein hatte er allein an die hundert Trolle erschlagen. Sein Blick war wie Blitzschlag, sein Schwert der Tod seiner Feinde, und er war ein so ausdauernder Läufer, dass er den Weg von Feylanviek nach Talsin in drei Tagen zurücklegen konnte, was seither noch niemandem gelang. Elena aber, Katanders Tochter, war eine große und massige Stute. Sie hatte ein hübsches Antlitz und war von friedlichem Wesen. Doch überragte sie den Helden um mehr als Haupteslänge, was Neider zu manch bösem Scherz trieb. Dies hätte einer Hochzeit gewiss nicht im Wege gestanden, hätte Nestheus sein Herz nicht an die bezaubernde Kirta verloren. Manche sagen, sie sei eine Schamanin gewesen und habe den Recken verhext. Andere hingegen sagen, ihre Schönheit allein sei machtvoller als jeder Zauberbann gewesen. Ihr verfiel der Recke Nestheus, und lange vor der Schlacht am Mordstein hatte er ihr schon seine Liebe geschenkt. Immer wieder bat Nestheus seinen Vater, die Hochzeitspläne aufzuheben, doch der Fürst wollte davon nichts hören. In Ketten ließ er seinen Sohn auf den Hügel schaffen, auf dem die Brautfeierlichkeiten abgehalten werden sollten, und die Zeremonie hatte schon begonnen, da trat Kirta unter den Gästen hervor und forderte ihren Liebsten ein. Und als sie auf den Hügel trabte, da sah Elena neben ihr so unscheinbar aus wie eine Motte neben dem herrlichsten Schmetterling. Orimedes aber befahl seinen Wachen, die Hexe zu ergreifen, und schwor, ihr mit seinem Schwerte das Herz aus dem Leibe zu schneiden, um seinen Sohn von ihrem Zauberbann zu befreien.
Da rief Nestheus in seiner Not den Sanhalla, den Südwind, zu Hilfe, der ihm schon in der Schlacht am Mordstein geholfen hatte, seine Feinde zu besiegen. Und der Wind hob die beiden Liebenden in die Höhe und trug sie weit fort in die Steppe, wo sie sicher sein konnten vor dem Zorn des Orimedes.
Der Fürst der Pferdemänner aber ließ verkünden, dass er jenem sein Gewicht in Gold schenken wolle, der ihm die Köpfe von Nestheus und Kirta bringe. Nur wenige aus den Völkern der Steppe erlagen der Verlockung des Reichtums. Es waren vor allem Söldner, die aus den fernsten Ländern herbeieilten, um die beiden Liebenden zu stellen. Zahllos sind die Abenteuer, die Nestheus und Kirta in jenem Herbst und Winter erlebten, die auf ihre Flucht vom Hochzeitshügel folgten. So überlisteten sie den berühmten Bogenschützen Fingayn in den engen Tälern der Rejkas und entgingen der Silbernen Horde, einer berüchtigten Schar von Kopfgeldjägern aus Uttika, indem sie sich während eines Schneesturms, der über drei Tage dauerte, in einer Erdhöhle einschneien ließen. Obwohl Orimedes jeden mit schweren Strafen bedrohte, der den Flüchtlingen half, gab es viele Stämme, die ihnen für eine Nacht oder zwei Zuflucht gewährten oder ihnen zumindest Vorräte zusteckten, wenn sie den beiden begegneten. Nur einen Winter dauerte es, Nestheus und Kirta zu einer Legende unter den freien Stämmen des Windlands werden zu lassen. Denn das Volk der Steppe liebt Geschichten von unbeugsamen Rebellen, die ihre Freiheit nicht opfern wollen.
Es war während eines der ersten Frühlingstage, dass Nestheus und Kirta am kiesigen Ufer des Swatja von drei Verfemten gestellt wurden, Kentaurenkriegern, die von ihren Stämmen verstoßen worden waren und nun als Räuber und Söldner lebten. Ohne die Gefahr zu scheuen, griff Nestheus sie an und besiegte sie alle drei, doch erhielt Kirta einen Schwertstich in den Rücken, und Blut füllte ihre Lunge, um sie langsam zu ersticken.
Unfähig, sie zu retten, hielt Nestheus seine Geliebte in den Armen. Ein drittes Mal rief er den Sanhalla um Hilfe an. Doch die Winde sind launisch. Der Sanhalla erschien, aber statt Kirta zu heilen, prophezeite er Nestheus dessen Zukunft. Er sagte ihm, wenn Kirta nun in seinen Armen stürbe, dann werde er nach langer Trauerzeit zu einem weisen Mann reifen, dessen Name man noch in hundert Jahrhunderten überall in Albenmark schätzen würde. Würde er aber dafür sorgen, dass Kirta für immer bei ihm wäre, dann würde er seinen eigenen Vater töten und zum ersten König der Kentauren werden. Doch seine Herrschaft werde von Unruhen bestimmt sein, und er werde niemals Kinder zeugen. Ohne zu zögern antwortete Nestheus, dass er alles erdulden werde, wenn nur Kirta wieder bei ihm sei. So wirkte der Südwind sein drittes Wunder, und Nestheus atmete das Lebenslicht der sterbenden Kentaurin ein. Und fortan wohnte Kirta in seinem Herzen, und er konnte ihre Stimme hören, auch wenn sie außer ihm niemand wahrzunehmen vermochte.
Und es kam, wie der Sanhalla vorhergesagt hatte. Nestheus suchte in seinem Schmerz seinen Vater auf und erschlug Orimedes in dessen Lager. Und niemand aus dem Gefolge des Fürsten hob eine Hand, um Orimedes zu helfen. Dann gelobten sie Nestheus die Treue. Mit den Jahren gelang es dem jungen Krieger, alle Stämme der Steppe zu einen, und zuletzt unterwarfen sich ihm sogar die Uttiker. Doch fand Nestheus niemals eine Stute, mit der er einen Erben zeugen konnte. Nicht, dass es an Bewerberinnen um seine Gunst gefehlt hätte. Doch blieb der Kentaur bis ans Ende seiner Tage der Geliebten treu, die in seinem Herzen wohnte. Und so verlosch das Königsgeschlecht, das er begründet hatte, am Tag seines Todes. Die Sage von Nestheus und Kirta aber blieb unsterblich, auch wenn ihre Liebesgeschichte nur einen Winter gedauert hatte. Und es heißt, wenn im Frühling der Sanhalla warm von Süden weht und das Eis des Swatja bricht, dann könne man manchmal zwei weiße Kentauren am kiesigen Ufer sehen, und wem sie begegneten, der werde noch vor Ende des Sommers seine Hochzeit feiern.«
Trotz des Schneegestöbers waren hunderte Gäste zur Totenfeier gekommen. Manche von ihnen lagerten schon seit Tagen bei dem Grabhügel und warteten.
Melvyn hatte die Nachricht vom Tod des Kentaurenfürsten in Alvemer erreicht. Mehr als drei Monde hatte er vergebens nach Shandral gesucht. Es schien, als habe sich die Erde aufgetan, um den Elfen und sein Koboldgefolge zu verschlingen. Niemand wusste, wohin er geflohen war. Es gab dutzende Gerüchte, und Melvyn war jedem einzelnen nachgegangen, ohne Shandral finden zu können. Die Schar seiner Männer war zusammengeschmolzen; es waren nur mehr so viele geblieben, wie die großen Adler tragen konnten. Elodrin hatte ihm die meisten Maurawan abgeworben: Kriegerinnen und Krieger, mit denen er schon seit Jahren zusammen gekämpft hatte. Mit jeder neuen Schreckensnachricht vom Vormarsch der Trolle wurde der Widerstand, noch länger nach Leylin zu suchen, stärker. Seine Gefährten wollten sich dem Heer der Königin anschließen, das sich im Herzland sammelte, oder den Rebellen, die unter der Führung von Gräfin Caileen verzweifelt versuchten, den Vormarsch der Trolle zu verzögern. Ihr Widerstand war in Melvyns Augen so sinnlos wie der Versuch, mit ausgebreiteten Armen eine Lawine aus Schnee und Eis aufhalten zu wollen, die den Hang eines Berges herunterdonnerte.
Trotz der Angriffe durch Krähen war er zweimal über die Marschkolonnen der Trolle hinweggeflogen. Nie zuvor hatte er ein so riesiges Heer gesehen. Wie ein endloser schwarzer Wurm wand sich das Heer des jungen Königs durch die verschneite Steppe. Und nichts schien es aufhalten zu können. Ihr Marschweg war seltsam unberechenbar. Die Hauptrichtung führte sie zwar nach Süden, aber immer wieder schwenkten sie nach Osten oder Westen ab, ohne dass zu erkennen war, welches Ziel sie dabei verfolgten. Caileen hatte tausende Kentauren um sich geschart, um die Nachschubkolonnen zu überfallen, die das Heer versorgen mussten. Doch es kam kein Nachschub. Es war vollkommen unerklärlich, wovon sich die Trolle ernährten. Nur eines war sicher. Ihre Krieger waren gut bei Kräften, und ihr Vormarsch war schneller, als man sich erklären konnte. Sie zersplitterten ihre Truppen auch nicht, um den Herden der Kentauren nachzusetzen oder die Städte Alvemers zu bestürmen. Nach der Eroberung von Feylanviek hatten sie all ihre Krieger zusammengezogen und ihren unaufhaltsamen Marsch auf das Herzland begonnen.
Sie waren nun weniger als zwei Wochen von Talsin entfernt. Melvyn war tags zuvor in der Stadt gewesen und hatte die Panik erlebt. Wer konnte, packte seine Sachen. Doch die tief verschneiten Pässe der Mondberge würden wohl nicht weniger Opfer fordern als die Besetzung der Stadt durch die Trolle. Die ganze Welt schien in Auflösung begriffen. Es gab keine Hoffnung. Niemand begriff, warum Emerelle nicht ihre Burg verließ. Sie hätte in Talsin sein sollen oder Gräfin Caileen besuchen, um sie an den Gehorsam zu erinnern, den sie ihr schuldete. Oder zumindest hätte sie das neue Heer aufsuchen müssen, das sich bei der Shalyn Falah sammelte, um den Kriegern Mut zu machen. Stattdessen hatte sie lediglich eine Reihe der bedeutendsten Elfenfamilien Albenmarks samt ihren Kindern zu sich an den Hof befohlen. Ein Hof, der ein Hort der Schatten und der Angst geworden war, seit Alathaia dort Einzug gehalten hatte.
In der Ferne hörte man den klagenden Ruf der Luren. Als Kentauren in das Lager beim Grabhügel geprescht waren, um die nahe Ankunft des Fürsten zu verkünden, waren alle Gäste aufgebrochen. In einer Doppelreihe vermummter Gestalten standen sie Spalier entlang des Weges, der zum Eingang der Fürstengruft führte. Der Schnee blieb auf ihren Umhängen und Mänteln haften und verwischte die Unterschiede zwischen Arm und Reich, je länger sie warteten.
Melvyn war erstaunt, wie viele gekommen waren, um von Orimedes Abschied zu nehmen, obwohl der Fürst der Kentauren sich in den letzten Monden in einen grausamen Tyrannen verwandelt hatte, den angeblich sogar seine ältesten Kampfgefährten gefürchtet hatten.
Auch Meister Alvias war unter den Gästen. Er verhandelte mit Caileen, die ebenfalls mit ihren Rebellen gekommen war. Ajax, der Minotaurenfürst aus den Mondbergen, hatte sich selbst von den zugeschneiten Pässen nicht aufhalten lassen und war mit großem Gefolge erschienen, um von Orimedes Abschied zu nehmen. Von den Heerführern, die im vergangenen Sommer in Feylanviek versammelt gewesen waren, fehlten nur Shandral und Elodrin. Selbst Katander von Uttika war mit einer Ehrengarde in Bronze gewappneter Krieger erschienen.
Neben Melvyn stand Senthor, der Kentaurenveteran aus Phylangan, der am Mordstein die Nachricht von Ollowains Tod überbracht hatte. Der alte Krieger trug eine schäbige Pelzweste. Seine Arme waren nackt und blau vor Kälte. Senthor rannen die Tränen über die Wangen. Er schien sich seiner Trauer nicht zu schämen. In der Rechten hielt er einen Dolch. Fast alle Kentauren unter den Gästen hielten eine blanke Waffe in der Hand.
»Wie ist der Fürst gestorben?«, fragte Melvyn mit belegter Stimme. Obwohl er flüsterte und der dichte Schneefall seine Worte dämpfte, kam ihm seine Stimme inmitten der stummen Trauergäste unnatürlich laut vor.
Orimedes war während der Kämpfe bei Feylanviek schwer verwundet worden. Fast seine ganze Leibwache hatte ihr Leben bei dem Versuch gelassen, den Fürsten vom Schlachtfeld zu bringen und seinen Leib den Trollen zu entreißen. Mit demselben sturen Mut, mit dem Orimedes ein Leben lang die Trolle bekämpft hatte, hatte er sich gegen den Tod gestemmt. Er hatte weiter Söldner anwerben lassen, die seinen Sohn jagten, und das Kopfgeld, das auf Nestheus und Kirta ausgesetzt war, sogar noch einmal erhöht.
Senthor beugte sich zu Melvyn herab. Der Kentaur flüsterte; immer wieder brachten ihn die Tränen zum Stocken. »Er war ein guter Mann, ganz gleich, was man nun über ihn erzählt. Er war ein Krieger von Ehre. Die Keulenhiebe der Trolle haben ihm die Brust zerschmettert. Seine gebrochenen Rippen steckten in seiner Lunge. Eigentlich hätte er noch auf dem Schlachtfeld sterben müssen, darin waren sich alle Heilkundigen, die wir riefen, einig.« Der alte Recke lächelte traurig. »Ein paar Tage lang habe ich geglaubt, er werde sogar den Tod besiegen. Dann sind seine Wunden brandig geworden. Er hat sich geweigert, den Mohnsaft der Heiler zu trinken. Er wollte alles bei klarem Verstand erleben. Anderthalb Monde hat sein letzter Kampf gedauert. Wir waren ständig auf der Flucht vor den vorrückenden Trollen. Wenn er mehr Ruhe gehabt hätte ...«
Senthor versagte die Stimme. »Sein Tod war schrecklich. Im Fieberwahn hat er zuletzt nach seinem Jungen gerufen. Kurz bevor er starb, war sein Verstand noch einmal ganz klar. Er hat befohlen, Nestheus und sein Weib in Frieden zu lassen. Die Jagd ist beendet. Endlich.« Der Kentaur schluchzte. »Dieser verdammte Sturkopf! Wenn sein Sohn bei ihm gewesen wäre, dann hätte er den Tod besiegt. Ganz gewiss!«
Wieder schrieen bronzene Luren ihre Trauer in das Schneegestöber. Diesmal klangen sie viel näher. Die klaren Stimmen silberner Glöckchen drangen an Melvyns Ohr. Er blickte die Reihe der Wartenden entlang, die sich dunkel im weißen Wüten des Winters verlor. Ein Schatten erschien zwischen ihnen.
Der Wolfself erkannte Katander. Gemeinsam mit sieben anderen Stammesführern zog er einen großen Schlitten, auf dessen Pritsche Orimedes stand, den Blick auf sein Grab gerichtet.
Ein Schauer überlief Melvyn bei dieser unheimlichen Erscheinung. Der Schlitten des Fürsten war mit hunderten von Glöckchen geschmückt, deren silberne Stimmen ihm ein Totenlied sangen. Das Ehrengeleit zog Orimedes in langsamem Schritt, sodass jeder Gast ins Antlitz des Fürsten sehen konnte. Sein Bart war während der letzten Wochen weiß geworden. Der größte Teil des Haupthaars war ihm ausgefallen. Tiefe Furchen hatten sich in sein Gesicht gegraben. Seine Brust blieb hinter einem weißen Leinenpanzer verborgen. Von seinen Schultern wallte ein purpurner Umhang, dessen Säume mit Goldfäden durchwirkt waren. Man hatte den Fürsten auf zwei Tischböcke gehoben und seine Beine daran festgebunden. Sein Rücken war mit einem Speerschaft abgestützt. So vermochte er noch im Tod aufrecht im Schlitten zu stehen.
Verwundert beobachtete Melvyn, wie sich alle Gäste Schnitte beibrachten, kurz bevor der Schlitten an ihnen vorbeifuhr. Und sie besprenkelten das Gefährt mit ihrem Blut. In der Eiseskälte gefror es in wenigen Augenblicken und überzog den Schlitten mit einem roten Eispanzer. Manche schnitten sich sogar ein Ohrläppchen ab und warfen es auf die Pritsche. All das geschah schweigend. Man hörte nur das Stampfen der Hufe des Ehrengeleits, die knirschenden Schlittenkufen im Schnee und den hellen Klang der Glocken.
Melvyn ballte die Faust und ließ die Krallen aus seinem rechten Armschutz schnellen. Mit einem raschen Schnitt zog er vier parallele Linien in seine linke Hand. Als der Schlitten an ihm vorüberglitt, drückte er die Hand gegen die blutbedeckten Aufbauten.
Dann schloss sich Melvyn dem Zug der Gäste an, die den toten Fürsten zu seinem Grabhügel geleiteten.
Der Schlitten hielt schließlich an einer Erdrampe am Fuß des Hügels. Vier Kentaurenkrieger mit nacktem Oberkörper, die sich Brust und Arme zum Zeichen der Trauer mit weißen Schlangenlinien bemalt hatten, hoben den Fürsten samt den Stützböcken aus dem Schlitten. Als sie in den Schacht traten, der zum Herzen des Grabhügels führte, erklang von der Ebene her ein Schrei voller Wut und Schmerz und laut wie ein Fanfarenstoß.
Aus dem Schneegestöber kam ein Trupp weißer Kentauren. Wie Geister, geboren aus Eis und Wind, erschienen sie Melvyn. An ihrer Spitze trabten Nestheus und Kirta.
Die Menge der Trauergäste teilte sich vor den Verfemten. Sie fielen in langsamen Schritt. Vor der Rampe blieben sie stehen. Nur Nestheus und Kirta stiegen zu dem toten Fürsten hinauf.
Mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, befahl der Fürstensohn den Totenträgern, den Leichnam seines Vaters abzustellen. Und sie gehorchten.
Nestheus trat ihm zur Seite und küsste den Leichnam auf beide Wangen. »Ich vergebe dir!«, rief er so laut, dass es auch im Schneegestöber noch weithin zu hören war. Dann küsste auch Kirta die eingefallenen Wangen des Kentaurenfürsten und rief mit lauter Stimme: »Orimedes, ich vergebe dir.«
Melvyn hörte, wie Senthor neben ihm einen tiefen Seufzer ausstieß. »Hätte sein Vater nur diesen unseligen Fluch nicht ausgesprochen. Kann man einen besseren Sohn haben?«
»Katander von Uttika, ich rufe dich an meine Seite!«, rief Nestheus mit fester Stimme.
Der Fürst trat aus der Trauergesellschaft hervor und kam die Rampe herauf.
»Maktor von den Silberhufen, ich rufe dich an meine Seite!«
Nestheus rief noch vier weitere Fürsten hinauf auf die Rampe.
»Melvyn vom Albenhaupt, ich rufe dich an meine Seite.« Der Halbelf war überrascht.
»Geh hinauf«, drängte Senthor. »Es ist eine große Ehre, die Fürstengruft betreten zu dürfen.« Etwas unsicher nahm Melvyn den Weg zur Rampe. Nicht alle begegneten ihm mit freundlichen Blicken. Es schien sehr ungewöhnlich zu sein, dass jemand, der nicht dem Volk der Pferdemänner angehörte, zur Gruft gerufen wurde.
»Senthor, Held von Phylangan, ich rufe dich an meine Seite.«
Melvyn freute sich für den alten Kentauren, dass er an die Seite der Fürsten und Stammesführer berufen wurde, um Orimedes das letzte Geleit zu geben.
Plötzlich drängte sich Katander zwischen den Stammesführern und Totenträgern hindurch. Er rief einem seiner Krieger am Fuß der Rampe etwas zu, und ein großes Doppelschwert segelte durch die Luft. Geschickt fing er es auf und drehte sich zu Nestheus um. Melvyn ließ seine Stahlkrallen aus den Armschienen schnappen, doch er wusste, dass er zu spät kommen würde. Nestheus, der unbewaffnet gekommen war, griff nach dem Schwert seines toten Vaters.
Statt den Fürstensohn anzugreifen, rammte Katander das Doppelschwert in den gefrorenen Boden.
»Du bist dem Ruf deines Herzens gefolgt. Ich kann dir nicht vorwerfen, dass du ehrlich gehandelt hast. Hättest du meine Tochter zum Schein zum Weibe genommen und in Wahrheit eine andere geliebt, hättest du meinem Haus weit größere Schande bereitet als durch deine Flucht während des Leichenschmauses für Ollowain.« Er umfasste Nestheus‘ Handgelenk im Kriegergruß. »Du hast in den vergangenen Monden großen Mut und große Klugheit bewiesen. Das sind die Tugenden eines Mannes, der zum Anführer geboren ist. Du hast durch deine Taten selbst die Herzen meiner Männer betört. Ich weiß, dass du in Uttika für kurze Zeit Zuflucht gefunden hast. Besiegeln wir bei der Leiche deines Vaters den Bund, den er sich im Leben so sehr gewünscht hatte.«
Melvyn hielt verblüfft den Atem an. Würde Katander noch einmal versuchen, seine Tochter zu vermählen?
»Ich unterwerfe mich dir als dem Kriegsherrn aller Kentauren. Verfüge über meine Panzerreiter, Fürst Nestheus vom Windland. Sie werden deinen Befehlen gehorchen. Ich werde dich als Kriegsherrn respektieren und dir die Treue halten. Doch erwarte nicht, dass ich dich lieben werde. Dafür hast du meine Tochter zu tief gekränkt.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann trat Maktor vor Nestheus und leistete ihm den Treueid. Auch die übrigen Fürsten folgten seinem Beispiel. Nachdem auch der Letzte von ihnen seine Gefolgschaft gelobt hatte, wurde der Leichnam des Orimedes erneut angehoben, und in feierlichem Schweigen traten sie in den Grabhügel.
Melvyn fühlte sich beklommen in der uralten Gruft. Senthor hatte ihm am Abend zuvor einiges über die Fürstengräber der Pferdemänner erzählt. Vor vielen Jahrhunderten waren sie von den fuchsköpfigen Lutin erbaut worden. Zunächst hatte man die Grabgewölbe aus Stein errichtet, dann waren über ihnen die großen Erdhügel aufgeschüttet worden. Die steinernen Tore wurden mit einem mächtigen Bannspruch versiegelt, und nach jedem Begräbnis schüttete man den Weg ins Innere des Hügels wieder zu, sodass die Gräber am Ende aussahen wie all die anderen Hügel, die sich in der weiten Ebene des Windlands befanden.
Und noch eine weitere Bewandtnis hatte es mit den Grüften der Pferdemänner. Die Leichen, die man in sie trug, verrotteten dort nicht. Dies war der eigentliche Auftrag, den man den Baumeistern der Lutin einst erteilt hatte. Sie sollten Gräber erschaffen, in denen die Leiber der toten Fürsten und Stammesführer unbeschadet die Jahrhunderte überstanden, denn nach dem Glauben der Pferdemänner würden die Alben eines Tages zurückkehren, um in den Ebenen des Windlands eine letzte Schlacht gegen ihre wiedererstandenen Feinde zu schlagen. Wenn dies geschah, würden sich die toten Fürsten und Helden des Kentaurenvolkes noch einmal erheben, um an der Seite der Weltenschöpfer in den Kampf zu ziehen.
Gestern Abend hatte sich diese Geschichte wie eines der Märchen angehört, die man sich erzählte, um die langen Stunden der Winterabende zu verkürzen. Doch hier unten erschien Melvyn das alles in einem anderen Licht. Ein schwerer, fast betäubender Geruch nach Weihrauch und Fichtennadeln hing in der Luft. Und noch ein anderer Duft, der fast völlig überlagert wurde. Es roch nach Blut!
Gleich am Eingang der Gruft lehnten Speere mit bronzenen Stichblättern in einem Holzgestell. Senthor nahm eine der Waffen an sich.
Der Tunnel, der tiefer in die Gruft führte, war leicht abschüssig. Die gemauerten Wände bestanden aus hellem Sandstein, auf den einfache Strichzeichnungen aufgetragen worden waren. Sie zeigten das Leben der Pferdemänner. Ihre Wanderschaft mit den Herden, ihre Kriegszüge, und eines der Bilder stellte offenbar eine Totenfeier dar.
Fackeln erleuchteten den Tunnel in unregelmäßigen Abständen. Nischen waren in den Wänden ausgespart. Dort hockten tote Falken in schwarz angelaufenen Silberkäfigen. Und Hunde lagen wie schlafend, den Kopf auf die Pfoten gelegt, in ewiger Ruhe.
Der hohe Tunnel machte einen scharfen Knick und öffnete sich in eine rechteckige Kammer, in der grimmige Krieger auf hölzernen Böcken ruhten. Ihre Oberkörper wurden von Speerschäften gestützt, gegen die sich die Toten lehnten. Beunruhigt registrierte Melvyn, dass es noch zwei Dutzend Böcke gab, auf denen keine toten Krieger ruhten.
Die Fürsten und die auserwählten Totenwachen gingen schweigend weiter. Ihr Hufschlag auf dem steinernen Boden war das einzige Geräusch im Grab.
Melvyn sah eingetrocknetes Blut auf den Speerschäften und am Boden unterhalb der toten Wächter. Ein feuchter Schimmer erregte seine Aufmerksamkeit. Hinter einem der Krieger war Blut an der Wand.
Der Wolfself ließ sich an das Ende des Trauerzuges zurückfallen. Dann trat er zwischen den toten Wachen hindurch und tastete über die Wand. Frisches Blut benetzte seine Hand. Er witterte daran. Dann leckte er sich über die Hand. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Das war kein Kentaurenblut! Es stammte von einem Büffel! Misstrauisch sah er sich um. Irgendetwas stimmte hier nicht. Weitere frische Blutflecken konnte er jedoch nicht entdecken.
Melvyn beeilte sich, wieder zu den anderen aufzuschließen. Der Trauerzug hatte inzwischen eine runde Grabkammer mit leicht gewölbter Decke erreicht. In weitem Kreis waren hier tote Kentauren aufgestellt, die man an ihren Kleidern und Waffen auf den ersten Blick als Fürsten erkennen konnte. Manche von ihnen hatten die Augen geöffnet. Sie blickten den Störenfrieden zornig entgegen, wie es Melvyn erschien.
Der Weihrauchduft war hier noch bedrückender. Mit jedem Atemzug legte sich ein pelziger Geschmack in seinen Mund. Melvyn hatte vor Jahren einmal ein Mammut im Eis eingeschlossen gefunden. Das Tier war offensichtlich vor langer Zeit in einer Lawine umgekommen. In seiner Flanke hatte ein Speer mit Bronzeblatt gesteckt. Solche Waffen wurden seit vielen Jahrhunderten nicht mehr verwendet. Das Tier musste schon sehr lange tot gewesen sein. Dennoch war sein Fleisch gut genießbar gewesen, nachdem es aufgetaut war.
Die toten Fürsten in der Grabkammer erinnerten Melvyn an das Mammut. Obwohl es hier nicht kalt war, schienen die Jahrhunderte spurlos an ihnen vorübergegangen zu sein. Nur der Bronzepanzer eines Herrschers war von blaugrüner Edelpatina überzogen. Ansonsten deutete nichts darauf hin, wie lange sie hier schon auf die Rückkehr der Alben warteten.
Orimedes wurde in den Kreis der toten Fürsten gestellt. Die Krieger, die den Fürsten getragen hatten, zogen sich aus der Gruft zurück. Auch die anderen Kentauren folgten ihnen. Nur Nestheus blieb an der Seite seines Vaters. Flüsternd hielt der weiße Kentaur Zwiesprache mit dem Toten. Dabei hielt er den Kopf leicht geneigt, als lausche er auf etwas.
Ein Schauer lief Melvyn über den Rücken. Er zog sich in den Saal mit den toten Kriegern zurück. Dort halfen die Ehrenwachen Senthor auf zwei Holzböcke. Sie banden die Beine des alten Kriegers mit dünnen Lederriemen fest.
»Was tut ihr da?« Der Halbelf wollte dem Alten zu Hilfe eilen, doch dieser hob abwehrend die Hand.
»Sorge dich nicht um mich, mein Freund. Mir wird eine große Ehre zuteil. Orimedes hat mich auf dem Totenbett eingeladen, ihn auf seinem letzten Ritt als sein Waffenbruder zu begleiten.«
»Du willst doch nicht ...«
»Doch, ich werde in der letzten Schlacht der Alben kämpfen. Gemeinsam mit Orimedes.« Seine Augen strahlten. »Ich bin ein alter Mann. Wir hatten schwere Verluste. Ich bin jetzt der letzte Überlebende aus Phylangan. Unsere Zeit ist um. Bald würde ich meinem Stamm nur noch zur Last fallen. Es ist besser, diesen Weg zu gehen. Er ist ehrenhafter.« Senthor drehte den alten Speer mit dem Bronzeblatt, den er am Eingang zum Grab mitgenommen hatte.
Melvyn hörte Hufschlag an seiner Seite. »Halte ihn nicht auf«, sagte Katander. »Ihr Elfen könnt das nicht verstehen. Ihr werdet wiedergeboren. Wir aber nicht. Es gibt nur einen einzigen Weg, noch einmal für einen Tag zurückzukehren. Nur wer in den Gräbern gemeinsam mit unseren Fürsten auf das Ende aller Zeiten wartet, der wird noch einmal wiederkehren. Alle anderen erwartet nach dem Tod das Nichts.«
Senthor setzte das Ende des Speers in eine Vertiefung zwischen den Steinplatten am Boden. Jetzt erst begriff Melvyn, was er übersehen hatte, als er zum ersten Mal durch die Vorkammer des Fürstengrabes gegangen war. Das Blut auf dem Boden hätte ihn eigentlich stutzig machen müssen. Nicht das frische Büffelblut, sondern das eingetrocknete unter den toten Kriegern. Sie hatten noch gelebt, als sie hierher gekommen waren. Und die Speere, die sie abstützten, damit ihre Oberkörper nicht im Tode nach vorne kippten, hatten sie sich selbst in den Leib gestoßen.
Nestheus trat aus der Kammer, in die man seinen Vater gebracht hatte. Sein Blick war hart. Die Monde in den Eissteppen, gehetzt wie ein Wild, hatten ihn verändert. »Ich möchte euch bitten, das Grab zu verlassen, meine Gefährten.« Obwohl die Worte höflich gewählt waren, ließ sein Tonfall keinen Zweifel aufkommen, dass dies ein Befehl war.
Die Kentauren zogen sich zu dem abschüssigen Weg zurück, der hinauf in den Winter führte. Melvyn war froh, das Grab verlassen zu können. Er dachte wieder an den Flecken Büffelblut. Woher kam dieses Blut? Der Weihrauch kratzte ihm in der Kehle. Das Grab war zu gründlich ausgeräuchert worden, ganz so, als wolle man mit dem hellblauen Rauch einen anderen Duft überdecken.
»Melvyn, warte auf mich. Bleib hier im Grab!« Der Wolfself drehte sich überrascht um. Katander, der als Letzter in der Reihe der Kentauren ging, hatte die Worte ebenfalls gehört. Er sah zurück, und eine steile Zornesfalte klaffte zwischen seinen dichten Brauen. Dann ging er weiter und war bald hinter der Biegung des Grabtunnels verschwunden.
Nestheus stand neben Senthor. Der alte Kentaur hatte dem jungen Fürsten die Linke gereicht. Die Herzhand. Mit der Rechten hielt er den Speerschaft umfasst. Das Bronzeblatt zielte auf sein Herz. Die beiden sahen einander schweigend an. Die Lippen des Alten bewegten sich, doch er sprach so leise, dass Melvyn ihn nicht verstehen konnte.
Plötzlich ließ sich Senthor nach vorne kippen. Er stieß einen langen Seufzer aus. Einen Laut wie ein erleichtertes Ausatmen, als das Bronzeblatt des Speers in seiner Brust verschwand. Ströme dunklen Bluts spritzten aus der Wunde. Sie besprenkelten den weißen Kentaurenfürsten und rannen auch den Speerschaft hinab. Unter dem Sterbenden bildete sich eine rasch größer werdende Blutlache wie bei den anderen Waffenbrüdern, die ihren Fürsten auf dem Weg in die Dunkelheit gefolgt waren.
Es dauerte lange, bis der Blutstrom versiegte. Bis zuletzt hielt Nestheus die Hand des alten Kriegers. Endlich löste er seine Finger aus der Umklammerung des Toten. »Wir werden uns wieder sehen am Tag der letzten Schlacht. Es wird mir eine Ehre sein, Seite an Seite mit dir und meinem Vater zu fechten.«
Im verlassenen Grab klang der Hufschlag des Fürsten unnatürlich laut, als er auf Melvyn zukam. »Ich danke dir, dass du noch geblieben bist.«
Melvyn nickte knapp. Er war eigentlich nicht zimperlich, aber ihm wäre es lieber gewesen, nicht zum Zeugen dieses sinnlosen Todes zu werden.
Nestheus schien seine Gedanken zu erraten. »Nun hältst du uns für grausame Barbaren, nicht wahr?«
»Er war ein starker Krieger. Er hätte sicher noch viele Jahre zu leben gehabt.«
»Er hätte die Bitte meines Vaters nicht zurückweisen können. Es ist eine große Ehre, von seinem Fürsten eingeladen zu werden, ihm in den Tod zu folgen.«
»Was für eine Belohnung!«, sagte Melvyn wütend. »Zum Lohn für seine Treue mit dem Befehl zum Selbstmord beschenkt zu werden. Wirst du auch so ein Tyrann werden, nun, da du Fürst bist?«
Nestheus lächelte zynisch. »Keine Sorge, ich werde dich nicht hierher einladen, wenn meine Stunde naht. Und was meinen Vater angeht, glaube ich nicht, dass du ihn wirklich gekannt hast. Ihr mögt am Mordstein und anderswo zusammen gekämpft haben, aber seiner Seele bist du dabei nicht nahe gekommen.«
»In der Tat nicht! Dass er dir Mörder auf den Hals hetzt, hätte ich niemals für möglich gehalten. In den letzten Monden habe ich vieles über dein Volk gelernt. Ich begreife jetzt, warum die Elfen die Nase über euch rümpfen.«
»So, du begreifst ...«, sagte Nestheus traurig. »Ich glaube nicht. Ich werde dir jetzt ein Geheimnis anvertrauen, das dieses Grab nicht verlassen darf. Ein Geheimnis, das ich nicht einmal mit meinem Weib geteilt habe, obwohl ich glaube, dass sie die Wahrheit ahnt. Mein Vater war ein Mistkerl, aber einer, der sein Herz am rechten Fleck trug. Er war besessen von der Idee, dass alle Kentauren unter der Führung eines Kriegsherrn kämpfen sollten. Die endlosen Fehden zwischen unseren Stämmen, die Viehdiebstähle, die Blutrache und die ständigen Scharmützel mit den Uttikern, all das schwächt unser Volk. Seit Phylangan war ihm klar, welche Gefahr die Trolle darstellen. Und er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie nach Süden wanderten. Sie sind zu viele für die Snaiwamark. Und sie brauchen das Fleisch unserer Herden. Bisher haben sie nur die Lutin geschickt und für unser Fleisch gezahlt. Aber wie lange kann das gut gehen? Wir müssen stark sein. Wenn wir nicht zusammenstehen, dann werden sie uns Stamm um Stamm auslöschen. Als Katander ihm anbot, seine Tochter Elena mit mir zu vermählen, wusste er, dass all seine Pläne zunichte gemacht wurden. Er konnte das Angebot nicht einfach ablehnen, ohne Katander zu brüskieren. Dass ich statt Elena ein Weib heiraten würde, hinter dem kein mächtiger Stamm steht, hätte er niemals begriffen. Und mein Vater kannte mich so gut, dass er wusste, wie entschieden ich mich gegen eine Hochzeit wehren würde. Du hältst uns für Barbaren, Melvyn, aber wusstest du, dass mein Vater ein begeisterter Falrach-Spieler war? Zuletzt hat er sogar aus seinem Leben ein Falrach-Spiel und uns zu seinen Spielfiguren gemacht. Erinnerst du dich, wie verwundert du warst, dass Artaxas mit uns zum Fest kam? Mein Vater hatte ihn bestochen. Der Lamassu hat sich seinen Dienst sehr gut belohnen lassen. Nichts war dem Zufall überlassen. Auch nicht der Eid, den mein Vater ablegte. Indem er sich vor hunderten Zeugen zu einem tagelangen Trinkgelage verpflichtete, verschaffte er Kirta und mir einen Vorsprung. Und zumindest die ehrenhaften unter den Kentaurenkriegern konnten das Trinkgelage nicht einfach verlassen. Damit hätten sie den toten Ollowain und auch meinen Vater beleidigt. Mein Vater aber hatte noch etwas getan.« Der weiße Kentaurenfürst lächelte. »Er hatte einen Schutzgeist für Kirta und mich beschworen. Schon von der ersten Stunde unserer Flucht an fühlte ich mich immer wieder beobachtet. Du kennst das Gefühl? Etwas scheint in deinen Nacken zu stechen. Du weißt ganz sicher, irgendwo hinter dir ist ein lauerndes Paar Augen. So ging es über Wochen. Und dann kam der Tag, an dem uns die Verfemten stellten. Es war ein mörderischer Kampf. Sie waren genauso verzweifelt wie wir. Das Gold meines Vaters sicherte den Ausgestoßenen eine Zukunft. Kirta war an meiner Seite. Ich sah den Schwertstoß, der auf ihr Herz zielte. Meine Waffe war gebunden durch einen Fischspeer. Drei von fünf Gegnern hatten wir überwunden, doch der Tod war ihr gewiss. Da durchschlug mit einem widerlichen Knacken ein Pfeil den Kopf des Kriegers, der sie beinahe getötet hätte, und sie trug nur eine leichte Schnittwunde davon. Ich bezwang den letzten Gegner. Und da sahen wir ihn, unseren Retter. Eine Gestalt ganz in Weiß zwischen tief verschneiten Birken. Ein Elf. Einen Wimperschlag nur sahen wir einander an. Dann verschwand er. Doch ich wusste, dass er weiterhin in unserer Nähe war. Er war es, der uns vor zehn Tagen die Nachricht vom Tod meines Vaters brachte. Wir hatten Zuflucht bei Kirtas Sippe gefunden. Mein Vater hatte Fingayn angeheuert, einen Jäger aus dem Volk der Maurawan, der selbst unter den Seinen eine Legende ist. Er erzählte mir, was ich so lange schon geahnt hatte. Vom Tag des Streites auf dem Hügel an war er uns gefolgt. Er hatte uns beschützt. Doch nun ging er einer neuen Schlacht entgegen. Wohin ihn sein Weg führte, wollte er nicht sagen.«
Melvyn schüttelte den Kopf. »Was ist das für ein Irrsinn? Dein Vater setzt einen Preis auf deinen Kopf aus und heuert gleichzeitig einen berühmten Bogenschützen an, um dich zu beschützen? Das ist doch vollkommen verrückt!«
»Das ist die Logik der Macht. Mein Vater kannte sein Volk. Er wusste, wie viele mit dem Herzen auf meiner Seite sein würden. Der einzelne Krieger, der sich mit seiner Geliebten dem Winter in der Steppe stellte, verfolgt von grausamen Jägern. Das klang wie eines unserer Märchen. Selbst den ärmsten Viehhirten bedeutete es mehr, uns einen Abend lang als Gäste an ihrem Feuer zu bewirten, als das Gold meines Vaters zu nehmen. Orimedes wusste, dass mein Fürstentum gestärkt würde durch seine Inszenierung. Du hast selbst gesehen, wie sogar Katander auf meine Seite übergetreten ist. Mit seinem Tod hat sich der Traum meines Vaters erfüllt. Alle Stämme der Kentauren werden von einem einzigen Kriegsherrn geführt.«
Melvyn dachte über die Geschichte nach. Ihm missfiel die Vorstellung, wie ein ganzes Volk getäuscht wurde. Wie ihre Gefühle entflammt wurden und dass man mit ihrer Liebe und Treue Intrigenspiele trieb. »Was du mir gerade erzählt hast, werde ich in diesem Grab zurücklassen. Nur eine Frage habe ich noch. Wie viel wusstest du davon?«
»Als Artaxas uns verriet, dass Orimedes ihm Gold für unsere Rettung versprochen hatte, da ahnte ich, dass mein Vater ein doppeltes Spiel trieb. Doch was hätte ich tun sollen? Der Weg zurück war mir da schon verstellt. Übrigens wollte dein Gefährte das Gold nicht mehr annehmen. Er erzählte, es sei ihm eine Freude, einer der Hauptdarsteller in der großartigsten Schmierenkomödie gewesen zu sein, von der er je gehört habe. Ein seltsamer Kerl, dieser Lamassu.«
»Und wenn seine Häscher ihm die Köpfe von dir und Kirta gebracht hätten?«
Nestheus lächelte. »Unsere Märchen gehen immer gut aus. Wolltest du nicht aufhören, Fragen zu stellen?«
Melvyn trat näher an den Kentauren und versetzte ihm einen kameradschaftlichen Knuff. »Es tut gut, dich in einem Stück wieder zu sehen, verdammter Mistkerl. Und eines verspreche ich dir, ich werde mit dir und Artaxas nie wieder auf ein Fest gehen!«
»Da müsste ich dich hier unten einsperren lassen, denn oben erwartet uns der Leichenschmaus. Die Lutin haben ganze Berge von Fleisch für die Feierlichkeiten herangeschafft.«
Melvyn blickte zu dem frischen Blutfleck an der Wand. »Habt ihr hier unten einen Büffel zu Ehren der Toten geopfert?«
Der Fürst sah ihn verwundert an. »Nein, wie kommst du darauf?«
Es war nicht gut, ein Diener zu sein! Alle waren bei dem Fest, nur er durfte dort nicht hingehen, dachte Klaves traurig. Kommandant Elija hatte ihm streng verboten, auch nur in die Nähe der Pferdemänner zu gehen. Und dann hatte er ihm noch eingeschärft, dass Diener keine Fragen stellten. Er war wohl ein schlechter Diener, überlegte Klaves. Wenn er den Lutin schon keine Fragen stellen durfte, dann fragte er sich zumindest selbst, warum sich alles so verändert hatte, seit sie hierher gekommen waren. Er konnte spüren, dass die Lutin Angst hatten. Warum waren sie überhaupt hier, wenn sie diesen Ort fürchteten?
Den ganzen Winter über war die Herde mit den Trolltrotteln gezogen, und man hatte ihm streng verboten, noch einen von den Kerlen umzubringen. Sogar sein Schwert hatte er Elija geben müssen. Der war sehr böse mit Nikodemus gewesen, weil er Klaves mit auf das Totenfeld genommen hatte.
Immer wieder hatten sie den Trolltrotteln Hügel geöffnet und Fleisch daraus hervorgeholt. Die Trolltrottel hatten sogar die Pferdemänner aus den Hügeln gefressen! Sie fraßen wohl alles. Und sie hatten immer Hunger. Aber zu den Lutin waren sie freundlich. Nur ihn mochten sie nicht, dachte Klaves bedrückt. Elija hatte ihm befohlen, stets eine eng anliegende Haube zu tragen. So eng war sie, dass sie ihm die Ohren quetschte! Er hatte immer Schmerzen, wenn er sie aufhatte. Dafür waren oben auf die Kappe große Pferdeohren genäht. Sie sahen sehr eindrucksvoll aus! Aber besser hören konnte er nicht, weil sie auf der Kappe waren.
Er musste wohl sehr dumm sein, überlegte Klaves. Richtig verstanden hatte er nicht, warum sie hier waren. Etwas sollte geheim bleiben. Das hatte der König von all den unendlich vielen Trolltrotteln befohlen. Klaves konnte verstehen, dass es besser war, nicht anderer Meinung zu sein als so viele Trolltrottel. Deshalb waren Elija und die Herde hierher gekommen. Sie hatten den Hügel geöffnet, ohne dass die Trolltrottel zum Essen gekommen waren.
Eine verdammte Knochenarbeit war das gewesen, die steinhart gefrorene Erde des Hügels aufzuhacken. Sonst gab es immer Trolltrottel, die diese Arbeit erledigten. Und dann musste das ganze Fleisch herausgeschleppt werden. So viel Fleisch!
Sie hatten es ein gutes Stück vom Hügel weggebracht und inmitten ihres Lagers zu einem Haufen aufgeschichtet, den sie dann noch mit Schnee bedeckt hatten. Und als die ersten Pferdemänner kamen, hatte Elija befohlen, ihnen Fleisch zu schenken. Aber immer nur ein paar Büffelhälften. Der Berg inmitten ihres Lagers war davon kaum kleiner geworden. Es war einfach viel zu viel Fleisch! Sie konnten es auch nicht mit der Herde mitnehmen. Selbst wenn ihre Hornschildechsen noch all ihre Brüder, Vettern und Schwestern an der Seite gehabt hätten, wären sie nicht genug gewesen, um das Fleisch fortzutragen.
Als die Pferdemänner mit den Tagen immer mehr wurden, war der Fleischberg langsam kleiner geworden. Heute gab es ein Fest bei dem Hügel, in dem das Fleisch gewesen war. Klaves hatte sich dort zwar nicht blicken lassen dürfen, aber aus der Ferne hatte er sie beobachtet. Viele seltsame Geschöpfe hatten sich dort versammelt. Krieger, die noch größer waren als Trolltrottel und spitze Hörner auf dem Kopf trugen. Und es waren Pferdemänner gekommen, die auseinander brechen konnten.
Manche der Lutin beherrschten diesen Zauber auch. Sie wurden eins mit den Ponys im Lager, und wenn sie genug davon hatten, über die verschneite Steppe zu rennen, dann brachen sie wieder auseinander. Klaves hatte das einmal versucht, aber das verdammte Pony hatte ihn so heftig getreten, dass er drei Tage hinken musste. Er war eben kein Zauberer, sondern nur ein Diener!
Nur warum die Lutin solche Angst hatten, verstand er nicht. Und dann war da diese Sache heute Nachmittag. Ein Kerl, der genauso schrecklich verwachsen war wie er selbst, war um das Lager der Hornschildechsen geschlichen. Der hatte Elija große Angst gemacht. Danach war der Kommandant zu ihm gekommen. Er hatte ihm ein langes Messer gebracht. Das Messer musste verzaubert sein! Klaves streichelte über den Griff an seiner Seite. Er hatte es in die Hand genommen, und es war, als sei es schon immer ein Teil von ihm gewesen. Noch viel besser als das Messer, mit dem er den Trolltrottel getötet hatte. Elija hatte ihm versprochen, dass er es behalten durfte. Und dann hatte Elija ihm auch schöne weiße Kleider bringen lassen. Sie waren genau richtig für ihn gewesen. Darüber wunderte sich Klaves immer noch. Sonst musste er immer Kleider tragen, die ihm nicht richtig passten. Und sie waren wunderbar warm! Klaves lächelte träumerisch. Wenn er seine Sache gut gemacht hatte, dann würde er Elija fragen, ob er die Kleider nicht auch behalten dürfte. Niemand sonst in der Herde konnte damit etwas anfangen. Schließlich hatte niemand sonst so grässlich lange Arme und Beine.
Klaves streckte sich. Obwohl er auf einem dicken weißen Fell lag, wurde ihm doch langsam kalt. Er blickte zu den vielen Feuern, die rings um den Grabhügel brannten. Langsam wurde es dort stiller. Sie hatten gefressen wie die Trolltrottel, die Pferdemänner und all die anderen. Elija schien sich unnötige Sorgen gemacht zu haben. Er hatte befürchtet, dass der Schleicher vom Nachmittag wiederkommen würde, um in das Lager der Herde einzudringen, wenn alle schliefen.
Klaves kratzte sich an der engen Kappe. Wenn ihm nur seine Ohren nicht so wehtun würden! Und zu allem Überfluss hatte er sich noch eine weiße Maske vor das Gesicht binden müssen. Elija meinte es gut mit ihm! Er hatte sich Sorgen gemacht, dass ihn der Wind ins Gesicht kneifen würde, wenn er die ganze Nacht Wache hielt. Schließlich hatte er ja nicht so ein schönes Fell im Gesicht wie die Lutin.
Klaves hielt den Atem an. Ein Geräusch! Hinter ihm! Lautlos drehte er sich um. Das lange Messer glitt in seine Hand. Wie wunderbar es sich anfühlte!
Eine kleine Gestalt zeichnete sich vor dem Schnee ab. Sie trug etwas. Trotz der Finsternis erkannte er den breiten, bestickten Schal. Ganda! Sie mochte er ganz besonders. Obwohl sie eine sehr merkwürdige Lutin war. Nie durfte er für sie einen Dienst erledigen. Und manchmal, wenn es besonders kalt war, holte sie ihn in ihr Zelt, obwohl Elija das streng verboten hatte. Klaves erinnerte sich, dass er dort auch gewesen war, als all seine Glieder vor Schmerzen gebrannt hatten. Sie hatte ihn manchmal mit Öl und seltsam klebrigem Zeug eingerieben und nach und nach all seine Schmerzen fortgezaubert. Sie war eine große Zauberin! Wenn die Herde wandern musste, dann schnitt sie immer wieder Tore in die Luft. Dahinter lag Finsternis. Die anderen Lutin waren ein wenig unruhig, wenn man durch diese Tore ging. Auch die Hornschildechsen. Aber alle sagten, dass man viel schneller vorankam, wenn man durch die Dunkelheit ging.
Klaves sah sich um. Vielleicht sollte er Elija raten, mit der Herde nur noch bei Nacht zu wandern? Dann käme man auch schneller voran, und man müsste nicht durch die Tore gehen.
Ganda kauerte sich neben ihm auf das Fell. Sie hatte einen dampfenden, in Lumpen eingeschlagenen Topf mitgebracht.
Dankbar wärmte sich Klaves die Hände an dem Topf. Dann trank er vorsichtig in kleinen Schlucken. Es schmeckte köstlich. Und die Wärme kroch jetzt auch tief in sein Inneres. Es schneite nur wenig in dieser Nacht, dafür strich ein eisiger Wind von Norden her über die Ebenen. Trotz der warmen Kleider hatte die Kälte seine Glieder ganz taub werden lassen.
Ganda sprach kein Wort. Sie saß einfach nur neben ihm und sah ihn an. So verhielt sie sich fast immer. Und sie sah traurig aus dabei. Manchmal schnitt er Grimassen, damit sie lachte. Bei den Kindern half das immer. Klaves konnte nicht recht verstehen, was er falsch gemacht hatte, dass Ganda bei ihm immer so traurig schaute. Bestimmt hatte er etwas falsch gemacht! Er war ja dumm!
Eine Bewegung im Schnee lenkte ihn ab. Er presste die Lippen zusammen und duckte sich tiefer in sein Versteck. Elija hatte wieder einmal vorhergesehen, was geschehen würde. Er war eben klug. Obwohl sich der Schleicher wie ein Hund auf allen vieren bewegte, erkannte Klaves ihn sofort wieder. Eigenartiger Kerl. Heute Nachmittag war er ganz anders gegangen. Da war Klaves froh gewesen, ein mal jemanden zu sehen, der so war wie er. Es tat gut zu wissen, dass inmitten all der Lutin, Trolltrottel, Hörnerträger und Pferdemänner noch ein zweites Geschöpf herumlief, das so war wie er.
Als er die auseinander brechenden Pferdemänner gesehen hatte, hatte er kurz geglaubt, dass es viele wie ihn gab. Aber dann war ihm aufgegangen, dass er sich irrte. Die konnten zaubern! Und die konnten Pferdebeine für sich laufen lassen, damit sie nicht müde wurden. Sie waren ganz anders als er. Auch wenn sie ihm äußerlich ein wenig ähnlich sahen. Und auch der Schleicher war anders. Er mochte vielleicht dumm sein, dachte Klaves. Aber wie ein Hund war er noch nie gelaufen!
Böiger Wind fegte über das tief verschneite Land und trieb weiße Schneeschleier vor sich her. Es gab da noch eine Sache, die er den Pelzköpfen voraushatte, dachte Klaves stolz. Er konnte auf dem verharschten Schnee gehen, ohne einzusinken. Er vermochte sich fast lautlos zu bewegen. Es war an der Zeit, den Schleicher zu stellen, bevor er es noch ins Lager schaffte.
»Pass auf dich auf«, sagte Ganda leise.
Klaves lächelte. Dann wurde ihm klar, dass sein Gesicht ja hinter der weißen Maske verborgen war. Sie konnte es nicht sehen. Er zog sein langes Messer und lief geduckt los.
Plötzlich blieb der Schleicher stehen.
Klaves ließ sich zu Boden gleiten und drückte sich in den Schnee wie ein Kaninchen, das hoffte, sich vor dem Falken hoch am Himmel zu verbergen.
Der Schleicher hob den Kopf. So bewegte sich ein Hund, der Witterung aufnahm. Klaves war erstaunt. Der Fremde im Schnee sah ihm ähnlicher als jedes andere Geschöpf, das ihm bislang begegnet war. Wenn er sich nur nicht wie ein Hund verhalten würde! Bestimmt war er auch ein Diener, ging es Klaves durch den Kopf. Aber wer mochten seine Herren sein?
Schade, dass er ihn töten musste. Viel lieber hätte er mit ihm geredet. Vielleicht würde er nie wieder einem Geschöpf begegnen, das ihm so sehr ähnelte? Vielleicht war er der Einzige, der noch so war wie er?
Der Schleicher ließ lange Krallen aus seinen Armen gleiten. Klaves hielt erschrocken die Luft an. Was für ein Zauber war das denn nun?
Auf eine Antwort brauchte er nicht lange warten. Der Schleicher hatte ihn entdeckt. Vorsichtig, halb geduckt kam er näher.
»Was willst du hier?«
»Elija sagt, ich soll dich totmachen wie den Trolltrottel.«
Die Worte ließen den Schleicher ganz ungerührt. »Und, wirst du es versuchen?« Klaves war unschlüssig. Sollte er wirklich das einzige Geschöpf totmachen, das ein bisschen so war wie er? Der Schleicher hatte sogar sonnenfarbenes Kopffell, so wie er selbst es hatte. »Geh weg! Komm nicht zur Herde!«
»Warum?«
»Elija will das nicht.«
Der Schleicher legte den Kopf schief. Schneeflocken hatten sich in seinem schönen Kopffell verfangen. »Und du glaubst wirklich, du kannst mich ... totmachen, du eselsohriger Trottel?«
»Das sind Pferdeohren«, berichtigte ihn Klaves.
Ohne Vorwarnung griff der Schleicher an. Er war viel schneller als der Trolltrottel, den Klaves aufgeschnitten hatte. Die langen Krallen wollten ihm das Herz herausreißen.
Klaves ließ sich nach hinten fallen. Dennoch glitt Stahl über seine Rippen. Er fühlte keinen Schmerz. Nur warmes Blut, das in seine schönen neuen Kleider sickerte.
Er landete auf dem Rücken im Schnee, rollte sich seitlich ab und war sofort wieder auf den Beinen. Sein langes Messer fing eine Krallenhand ab.
Der Schleicher versuchte, ihm das Messer aus der Hand zu drehen, indem er es zwischen den Krallen verkantete. Gleichzeitig holte er mit der anderen Hand zu einem Hieb aus, der auf Klaves‘ Bauch zielte.
Der Diener erinnerte sich an das Gesicht des Trolltrottels, als ihm die bläulichen Schlangen aus dem Leib gefallen waren. So würde er nicht sterben. Statt zurückzuweichen, machte er einen Schritt vor und blockierte den Angriff mit seinem Arm. Dann beugte er sich zur Seite und legte all seine Kraft in die Bewegung.
Ein trockenes Knacken erklang. Der Schleicher stieß einen erstickten Schrei aus.
Der Schleicher war ein guter Totmacher. Er sprang zurück. Sein linker Arm, dessen Krallen eben noch das lange Messer gefangen gehalten hatten, hing schlaff herab. Trotzdem wollte er wohl nicht versuchen davonzulaufen.
Das Blut, das seine schönen Kleider durchtränkt hatte, war inzwischen kalt wie Eis. Klaves fühlte sich ein wenig schwindelig. Es würde schwer werden, den Schleicher noch bis in das Lager der Hörnermänner zu tragen, wie Elija befohlen hatte.
Klaves drückte die Linke auf seine Brust. Blut quoll ihm durch die Finger. Seine Kleider knisterten, wo sich dünne, rote Eiskrusten gebildet hatten. Er musste jetzt schnell machen.
Der verdammte Schleicher dachte nicht daran davonzulaufen! Hätte er das getan, dann wäre er ihm nicht gefolgt, auch wenn Elija dann böse geworden wäre.
Der Schleicher griff erneut an. Er holte weit aus und wollte ihm den Bauch aufreißen. Klaves trat ein wenig zur Seite. Mit tödlicher Geschwindigkeit wechselte der Schleicher die Schlagrichtung, und seine Krallen schnellten hoch, um ihm die Kehle zu zerfetzen.
Stahl prallte auf Stahl. Klaves hatte dem Hieb nicht alle Wucht nehmen können. Die Krallen kratzen über sein Kinn.
Einen Moment lang sahen sie einander in die Augen. Klaves sah die Wut im Gesicht seines Gegners. »Wer bist du?«
»Klaves, der Totmacher.« Er versetzte dem Schleicher einen Fausthieb auf den gebrochenen Arm. Der Kerl stöhnte. Seine rechte Krallenhand ruckte vor, aber Klaves hielt mit seinem langen Messer dagegen. In stummer Wut maßen sie ihre Kräfte.
Dann plötzlich zog sich der Schleicher zurück. Ein wenig zu langsam.
Das lange Messer beschrieb einen blitzenden Bogen. Der Schleicher versuchte noch, den Angriff abzuwehren. Wieder schrammte Stahl auf Stahl. Das lange Messer drehte sich ein wenig. Fast wäre es Klaves aus der Hand gerissen worden. Dann traf es den Kopf des Schleichers.
Der Kerl wurde zur Seite gerissen und stürzte in den Schnee.
Klaves war übel. Er mochte den Schleicher nicht ansehen. Er hatte auch nicht die Kraft, ihn zu den Hörnermännern zu schleppen. Er beugte sich vor und schnitt zum Beweis für seinen Sieg die Krallenhände ab.
Der Nebel verbarg den großen Segler und die beiden Galeeren, die fast lautlos durch das schwarze Wasser des Fjords glitten. Ein weißer Falke landete auf der Reling des Dreimasters Meerwanderer. Elodrin spürte, wie ihn die bernsteinfarbenen Augen des Tiers mit zu viel Verstand taxierten. Der Falke blinzelte.
Auf dem Achterdeck der Meerwanderer war ein schmales Bett aufgestellt. Wie tot lag Graf Fenryl dort hingestreckt, die Arme über der Brust gekreuzt.
Der Falke stieß einen langen, schrillen Schrei aus. Irgendwo in der Dunkelheit antwortete eine Möwe mit herausforderndem Gekreisch.
Elodrin spähte in den Nebel. Die Nachtzinne war ganz nah. Sie hatten die Bucht erreicht, an der die Kobolde ihren Trollherren die mächtige Feste erbaut hatten. Hätte er keinen Nebel herabgerufen, sie wären schon längst entdeckt worden. Dieser Teil seines Plans war aufgegangen. Doch waren die Menschen gekommen? Und hatten sie genügend Krieger aufgeboten? Sich auf sie verlassen zu müssen, hatte ihm von Anfang an Kopfschmerzen bereitet. Sie waren mindestens genauso unzuverlässig wie Kentauren. Yilvina hatte ihm zwar von dem unstillbaren Hass erzählt, den der König des Fjordlands gegenüber den Trollen empfand, doch war dieser Alfadas mutig genug, sein Heer noch einmal durch das goldene Netz zu führen? Und selbst wenn er den Mut besaß, konnte er seine Krieger auf diesen Schreckensweg führen?
Für einen guten Plan gab es zu viele Unwägbarkeiten. Im schlimmsten Fall würden die Maurawan allein gegen die Trolle vorgehen, aber sie waren viel zu wenige, um alle Krieger aus der Nachtzinne zu locken.
Fenryls Augenlider flatterten. Er tat einen tiefen Seufzer.
Elodrin trommelte nervös mit den Fingern auf der Reling. Er wusste, dass es seine Zeit dauerte, bis die Seele, die mit dem Falken geflogen war, wieder ganz im Körper des Elfen heimisch wurde. Der Seefürst war froh, dass der Vormarsch der Trolle Fenryl den Rückweg nach Carandamon versperrt hatte. Als sich abgezeichnet hatte, dass die Trolle mit allen Kräften nach Süden marschierten und keine unmittelbare Bedrohung für das Fürstentum im ewigen Eis bestand, hatte sich der Graf ihm angeschlossen. Natürlich hatte Elodrin ihn nicht in alle Pläne eingeweiht. Ebenso wenig wie Yilvina alles wusste. Die beiden hatten zu lange an der Seite von Ollowain gefochten, um akzeptieren zu können, dass man manchmal nur durch den Willen, notfalls selbst Freunde zu opfern, und durch Grausamkeit siegen konnte.
Shalawyn und fünfzig andere ausgesuchte Kriegerinnen und Krieger kauerten entlang der Reling und warteten auf seinen Angriffsbefehl. Abgesehen von ihren Waffengurten waren sie nackt. Elodrin lächelte zynisch, als er an Ollowains wohl bekannten Makel dachte. Er mochte der beste Schwertkämpfer Albenmarks gewesen sein, doch an diesem Angriff hätte er nicht teilhaben konnte. Jeder der Kämpfer musste in der Lage sein, sich in den wärmenden Mantel der Magie zu hüllen. Den einzigen Mantel, der sie bei dieser Mission nicht behindern würde.
Selbst Elodrin war nackt. Sein Körper war drahtig und makellos. Der eisige Wind spielte in seinem langen, weißen Haar. Ein breiter, roter Schwertgurt lief quer über seine Brust. Die Waffe trug er auf dem Rücken. Ein Lederbeutel mit einem Barinstein darin war neben der Waffe die einzige Last, die er sich aufgebürdet hatte.
Mit einem tiefen Seufzer setzte sich Fenryl ruckartig auf. Der Graf blinzelte. Verwirrt blickte er sich um. Seine Arme zuckten, als glaube er, noch immer Flügel zu tragen.
»Was hast du gesehen, mein Freund?« Fenryl sah ihn durchdringend an. Sein Blick hatte noch immer etwas von einem Raubvogel. Elodrin hielt nicht viel von den Zaubern, die es einem Elfen erlaubten, mit einem Tier eins zu werden. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen. Gewiss, solch einen Zauber wirkte man nur auf sein Seelentier, ein Geschöpf, mit dem man sich ohnehin schon sehr verbunden fühlte. Der Seefürst aber war der Meinung, dass sich auf Dauer die Seelen von Tier und Elf vermengen würden. So wie es gerade bei Fenryl der Fall war, der noch immer glaubte, im Körper des Falken zu stecken.
»Fenryl?«
Der Blick des Elfen klärte sich. »Sie sind dort, die Menschen. Es sind viele. Sehr viele. Die Trolle ziehen ihnen entgegen. Ich war ihnen so nahe, dass ich sie belauschen konnte. Ein Rudelführer Namens Gornbor befehligt sie. Es sind fast tausend. Die Menschen allein werden sie nicht besiegen können. Es sind viel mehr Trolle hier, als wir erwartet hatten. Man könnte meinen, dass Orgrim einen Angriff befürchtet hat.«
Elodrin winkte ärgerlich ab. »Unsinn! Woher sollte er das wissen?« Er selbst war bis zuletzt unschlüssig gewesen, ob er sich gegen Emerelle stellen sollte. »Was glaubst du, wie viele Trolle noch in der Nachtzinne zurückgeblieben sind?«
»An Kriegern? Das kann nicht mehr als eine kleine Wachtruppe sein. Die anderen sind jetzt schon zu weit entfernt, um es zu merken, wenn wir den Turm angreifen. Sie werden sehr bald auf die Menschen treffen. Aber vielleicht kommt es gar nicht zur Schlacht. Von Osten zieht ein Sturm herauf. Wenn die Menschen keinen Schutz finden, dann werden sie zu hunderten verrecken.«
Elodrin ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. Dieser Alfadas und seine Krieger entpuppten sich langsam eher als eine Belastung. Immerhin hatten sie die Trolle aus ihrem Bau gelockt. Alles Übrige war nebensächlich. Wenn der Handstreich gelang, dann würden die Menschen Zuflucht in der Trollfestung finden. »Wir greifen an, Graf. Ich übertrage dir hiermit das Kommando über die Flotte.« Elodrin wandte sich zu den Kämpfern, die im Schutz der Reling kauerten. »Vor fünfzehn Jahren hat Herzog Orgrim die Eroberung von Phylangan eingeleitet, indem er eine Schar auserlesener Krieger auf geheimen Pfaden ins Innere der Festung führte. Heute wird er auf dieselbe Weise seine Burg verlieren. Üben wir Rache für die Toten von Phylangan!«
Es gab keine Jubelrufe und auch nicht das selbstsichere Grinsen, mit dem Elodrin die Kentaurenkrieger in die Schlacht hatte ziehen sehen. In den Augen der fünfzig, die Elodrin für den ersten Angriff ausgewählt hatte, spiegelte sich kalte Wut. Sie alle hatten Freunde und Verwandte während der Kämpfe um die Snaiwamark verloren. Bei jedem von ihnen war er sich sicher, dass sie jeglichen Sinn für romantische Ritterlichkeit verloren hatten.
»Folgt mir!«, befahl er, schwang sich über die Reling und tauchte in das eisige Wasser ein. Die Kälte schnitt in seine Haut, doch schon nach einem Herzschlag hatte der Wärmezauber, mit dem er sich schützte, sich an die veränderte Temperatur angeglichen. Tausende silberne Luftperlchen bildeten sich um seinen Leib und schufen eine isolierende Schicht zum Wasser des Fjords.
Rings um ihn herum tauchten Kriegerinnen und Krieger mit elegantem Kopfsprung in die Fluten. Wie Seehunde auf der Jagd glitten sie den Fjord hinauf. Nacht und Nebel verbargen sie vor den Blicken der Trolle.
Shalawyn übernahm die Führung. Sie trug breite Arm- und Fußbänder, in die perlmuttfarben leuchtende Barinsteine eingelassen waren. So konnten ihr alle in dem dunklen Gewässer gut folgen.
Fingayn hatte den Weg, den sie nahmen, schon vor zwei Jahren ausgekundschaftet. Der legendäre Held Farodin hatte ihm erzählt, wie er in die Nachtzinne gelangt war, als er Orgrim in seiner vorherigen Inkarnation getötet hatte. Diesen geheimen Pfaden würden sie nun ins Herz der Trollburg folgen.
Der Nebel zog sich über ihnen vom Wasser zurück. Elodrin konnte dunkle Schiffsrümpfe über sich auf den Wellen schaukeln sehen. Neugierig tauchte er auf und blickte zur Nachtzinne, die sich himmelhoch über die steinerne Mole erhob, die weit in die Bucht hinausgriff. Orgrims Festung war ein riesiger Turm, der wie ein steinerner Baumstumpf aus einer schroffen Felszinne emporwuchs. Ein bleigrauer Himmel schluckte alle Farben. Die Welt schien nur noch aus Grau- und Schwarztönen zu bestehen. Bleiches Licht schimmerte durch Fensternischen, die mit dünn geschabten Tierhäuten verhangen waren, um den Winterwind auszusperren. Orgrims Turm sah anders aus als alle übrigen Trollfestungen, die er zu sehen bekommen hatte. Er wirkte wie eine gröbere, dunkle Spielart von Emerelles Burg im Herzland. Flankiert von Pfeilern und Stützbögen, ragte der Turm bis fast zu dem grauen Wolkenband empor, das über den Himmel zog. An einigen Stellen wuchsen Pfeiler wie riesige Dornen aus dem Mauerwerk. Ohne erkennbares System durchbrachen hunderte Fenster das Bauwerk. Wer immer diese Festung erschaffen hatte, war ein bedeutender Baumeister gewesen, doch er hatte all sein Können darauf verwendet, sein Werk düster und bedrohlich erscheinen zu lassen.
Fünf der schwarzen Trollgaleassen lagen an der langen Mole. Bisher hatte sich Elodrin an die schwache Hoffnung geklammert, dass Fenryl sich in seiner Falkengestalt vielleicht geirrt hatte. Ein Vogel konnte schließlich nicht zählen! Aber jetzt wurde ihm klar, wie töricht das gewesen war. Auf fünf Galeassen konnten sogar mehr als tausend Krieger transportiert werden.
Der Fürst tauchte erneut. Die anderen Schwimmer waren nur noch als ferne bleiche Schemen zu erkennen. Er verdrängte alle Sorgen und konzentrierte seine Kraft darauf zu schwimmen. Mit langen, kräftigen Stößen holte er auf. Dann stemmte er sich durch die dunkle Öffnung in der Hafenmole. Sie lag dicht über dem Felsgrund der Bucht.
Panik sprang ihn in dem engen Tunnel an. Seine Lungen brannten, bald würde ihm die Luft ausgehen. Völlige Finsternis hielt ihn nun gefangen. Seine Schulter schrammte über rauen Fels. Er drehte sich und stieß nun auch mit dem Kopf gegen eine Felskante. Erschrocken atmete er aus. Mit Händen und Füßen versuchte er sich abzustemmen. Er hatte die Orientierung verloren. Wo war oben, wo unten? In welcher Richtung gelangte er tiefer in den Fels? Welcher Weg führte zurück ins Hafenbecken?
Ein Licht glomm in der Finsternis. Matt, fern. Mit unsicheren Schwimmbewegungen bewegte Elodrin sich darauf zu. Das Licht wurde größer. Ein mattgelber Schimmer. Über ihm schimmerte eine glatte Wasseroberfläche.
Ein letzter Schwimmstoß, dann endlich konnte er wieder atmen. Keuchend rang er nach Luft. Er war in eine weite Grotte gelangt. Wie ein schwarzer Spiegel schimmerte das Wasser darin. Die Wände rings herum waren weiß von Kalk. Barinsteine waren in die Felsen eingelassen und spendeten ein warmes, gelbes Licht.
Der Fürst tastete nach seiner Stirn. Er blutete. Für einige Herzschläge schloss er die Augen. Er versuchte nicht daran zu denken, dass sich über dieser Grotte die Felsnadel und der riesige Turm erhoben. Er war eingeschlossen in Stein wie die kleinen Tierchen, die man manchmal in klarem Bernstein sah.
Unsinn, schalt er sich in Gedanken. Es gab den Tunnel zum Hafen und es gab dutzende weitere Tunnel, die aus dieser Grotte hinauf in die Trollfestung führten. Wie in den meisten Burgen, die sie erbaut hatten, so hatten die Kobolde auch hier ein Labyrinth von Gängen und versteckten Kammern erschaffen. Eine zweite Felsenburg, in der sie sich verborgen vor den Blicken ihrer Herren bewegen konnten. Die Kobolde, die diesen Ort erschaffen hatten, waren längst verschwunden. Aber ihr Vermächtnis würde den Trollen der Nachtzinne den Untergang bringen.
Elodrin schaffte es, seine Panik einzudämmen. Er zwang sich, regelmäßig zu atmen. Überall entlang des Ufers bewegten sich Elfenkrieger.
Mit gleichmäßigen Zügen schwamm der Fürst zu einem flachen Felsen und zog sich hinauf. Shalawyn eilte ihm entgegen. Sie betrachtete kurz die Wunde an seinem Kopf, enthielt sich aber jeglicher Bemerkung. »Es gibt eine unerwartete Schwierigkeit, Fürst.«
Elodrin runzelte ungehalten die Stirn. Pochender Schmerz erinnerte ihn an die Wunde. »Welche?«
»Die Koboldtunnel. Jemand hat sie mit Geröll gefüllt. Wir konnten bislang keinen Weg nach oben finden.«
Kadlin zog die Sehne bis zu ihrer Wange und ließ den schwarz gefiederten Pfeil fliegen. Sie hatte auf den Troll mit der riesigen Keule gezielt, der, die Waffe mit beiden Händen schwingend, die Formation der Langspeerträger durchbrochen hatte.
Der böige Wind zerrte an Kadlins Umhang und brachte den Pfeil ins Trudeln. Das Geschoss verfehlte den Troll um mehr als einen Schritt. Hilflos fluchend tastete sie nach dem Köcher an ihrer Seite. Die Hälfte der Pfeile war schon verschossen, und sie hatten fast keinen Schaden angerichtet.
Die Jägerin fühlte sich elend. Sie stand am Rand einer steilen Felsklippe mehr als hundert Schritt über dem Schlachtfeld. Hier war sie in verhältnismäßiger Sicherheit. Doch sie musste hilflos dem Gemetzel zusehen.
König Alfadas hatte mehr als dreitausend Krieger in das schmale, von Steilklippen eingefasste Tal geführt, das nahe der Trollburg lag. Nach Firnstayn zurückgekehrt, waren alle waffenfähigen Männer der näheren Umgebung zusammengerufen worden. Viele waren nur einfache Bauern oder Handwerker. Langspeerträger stellten die Mehrheit der Krieger. Ihre Waffen waren mehr als zweieinhalbmal so lang wie ein ausgewachsener Mann. Sie schlossen sich zu dichten Menschenblöcken zusammen. Die Speere nach vorn gerichtet, waren sie ein fast unüberwindliches Hindernis, so lange sie ihre Formation behielten.
Hinter dem Wall aus Speeren warteten drei Blöcke von Stangenbeilträgern. Diese Waffen waren für den Kampf gegen Trolle ersonnen worden. Man hatte Äxte auf besonders lange Schäfte gesetzt, um im Kampf gegen die Trolle mehr Abstand zu den Ungeheuern halten zu können. Diese Krieger sollten eingreifen, falls die Trolle es schafften, durch die Kampflinie der Speerträger zu brechen. Und sie hatten alle Hände voll zu tun, denn immer mehr Trollen gelang es, sich durch die Reihen der Speerkämpfer zu schlagen; die um sich greifende Panik vergrößerte die Lücken in der Schlachtlinie weiter.
Kadlins Finger waren steif vor Kälte, als sie zitternd einen neuen Pfeil auf die Sehne legte. Ihr standen Tränen in den Augen, so hilflos und wütend war sie. Das Wetter machte all ihre Pläne zunichte! Es war viel zu kalt für diese Jahreszeit. Heute Morgen waren siebzehn Männer nicht von ihren Schlafplätzen aufgestanden. Dutzende hatten Erfrierungen an Händen, Füßen und im Gesicht.
Verzweifelt blickte sie zu den hundert Reitern, die sich in einer Bodensenke ein gutes Stück hinter der Schlachtlinie verbargen. Es waren die besten Kämpfer des Königreichs. Alfadas selbst führte sie an. Sie würden angreifen, wenn die Trolle glaubten, der Sieg sei schon nahe. Björn war dort unten. Kadlins Kehle schnürte sich zu vor Angst. Ihr Björn! Die Männer dort unten konnten nicht sehen, was sie sah. Hunderte von Trollen waren in dem langen Tal. Es waren viel zu viele! Wenn die Elfen nicht bald kamen, dann würde die Schlacht in einem grausigen Gemetzel enden! Und sie war dazu verdammt, von hier oben hilflos zuzusehen.
»Wir müssen näher heran!«, rief der Befehlshaber der Elfenbogenschützen. Er sprach das Fjordländische auf eine seltsam singende Art aus. Und er wirkte unangemessen ruhig. Dass zu ihren Füßen hunderte von Männern starben, schien ihn nicht im Geringsten zu berühren. Und überhaupt: Was sollte das heißen, sie müssten näher heran. Sie standen schon am Rand der Steilklippe. Ein Schritt weiter, und sie würden in den Abgrund stürzen!
»Findest du, wir sollen die Trolle mit unseren Leibern erschlagen, wenn wir sie schon nicht mit unseren Pfeilen töten können?«, schrie sie ihn an. Sie war sich bewusst, dass sie ihre hilflose Wut an ihm ausließ, und war dankbar zugleich, ein Opfer gefunden zu haben. Der Elf trug ein dünnes weißes Hemd mit einer aufgenähten Kapuze. Auch seine übrigen Kleider waren weiß, ja, sogar sein Schwertgurt, der Köcher mit Pfeilen und sein Bogen. Schon auf ein paar Schritt Entfernung war er bei leichtem Schneetreiben so gut wie unsichtbar. Die Krieger aus seinem Gefolge waren ganz ähnlich ausgerüstet. Und noch etwas anderes hatten sie gemeinsam. Sie alle waren viel zu dünn angezogen. Wahrscheinlich konnten sie sich als Elfen durch irgendeinen Zauber gegen die Kälte schützen. Doch genau das gab ihnen in Kadlins Augen nicht das Recht, sich so überheblich aufzuführen, wie sie es taten. Sie ließen keine Gelegenheit aus, den Menschen zu zeigen, dass sie ihnen in allem überlegen waren. Sie konnten länger durch den Schnee wandern, besser schießen und schienen sich sogar in den Bergen rings um Firnstayn besser auszukennen als die Menschen, die dort schon seit Generationen lebten.
Aber was waren das für Leistungen, wenn ihnen die Magie die Mühsal des Überlebens nahm? Kadlin verachtete die Maurawan! Wenn man auf dem tiefen Schnee gehen konnte, statt sich mühsam einen Weg durch ihn bahnen zu müssen, wenn man den Stachel der Kälte nicht fühlte und nicht mit der Angst einschlief, am nächsten Morgen mit erfrorenen Füßen zu erwachen, und wenn man verzauberte Bögen hatte, mit denen man niemals sein Ziel verfehlte, was hatte man dann selbst geleistet, worauf man sich etwas einbilden durfte? Nichts!
Der Elf mit den himmelgrauen Wolfsaugen lächelte sie an.
»Wenn deine Blicke Pfeile wären, dann hätten wir die Schlacht schon gewonnen. Vorausgesetzt, du würdest sie auf die Trolle abschießen und nicht auf mich.«
»Wenn du dich hier vom Klippenrand noch näher an die Trolle bewegst, werde ich dir gerne folgen.« Sie deutete in den Abgrund. »Selbstverständlich lasse ich dir den Vortritt.«
Das Lächeln des Elfen wurde noch breiter. »Ich nehme dich beim Wort.« Er griff unter sein Schneehemd und holte eine weiße Seilrolle hervor. Auch andere Mauravan bereiteten nun Seile vor. Einige Bogenschützen schlugen schwere Haken in den Felsen und knoteten ihre Seile daran fest. Dann seilte sich der Erste mit dem Rücken zum Abgrund ab. Atemberaubend schnell glitt er das weiße Seil hinab, bis er plötzlich mit einem Ruck innehielt. Vor einem Überhang schwebend, nahm er den Bogen von der Schulter und zog einen Pfeil aus dem Köcher. Die Windböen ließen den Schützen leicht pendeln. Er zog die Sehne durch. Kadlin sah seinen Pfeil den Trollscharen entgegenfliegen. Ob er traf, konnte sie nicht ausmachen.
»Wer nicht in den Abgrund geht, gibt all seine Pfeile denen, die sich jetzt abseilen!«, befahl der Elf, den Kadlin als Fingayn kannte. »Am besten sucht ihr Halt an der Klippe! Frei schwingend über dem Abgrund zu schießen heißt, nur unnötig Pfeile zu verschwenden.«
Zwei Elfen mit Rucksäcken verteilten ein merkwürdiges ledernes Gurtzeug an die Bogenschützen.
Fingayn half Kadlin mit den Beinen in einen Gurt zu steigen, der ihr als sicherer Sitz dienen sollte. Ob sie sich freiwillig meldete, um abgeseilt zu werden, hatte er erst gar nicht gefragt. Kalf trat an ihre Seite. Ihr Vater versuchte, sie von der waghalsigen Klettertour abzubringen. Als das nichts nutzte, nahm er sich selbst einen Gurt.
Fingayn gab ihr letzte Anweisungen und bestand darauf, dass sie seine Handschuhe anzog. »Du hältst immer eine Hand am Seil, bis du einen sicheren Halt gefunden hast. Und stoß dich beim Abseilen mit den Füßen von der Wand ab.« Kadlin hatte den Bogen geschultert und das Seil mit der Linken umklammert. Sie stand mit dem Rücken zum Abgrund. Der eisige Wind zerrte an ihren Kleidern, und ihre Gedärme rebellierten vor Angst. Kalf stand neben ihr, bereit, ebenfalls in den Abgrund zu gleiten. »Pass auf dich auf, mein Mädchen!«, schrie er gegen den Wind an.
Kadlin wünschte, sie hätte die Klappe gehalten. Nun kam auch Fingayn herüber. »Du wolltest mir folgen. Dann zeig einmal, wie viel Mut du hast.« Er trat zurück und verschwand im Abgrund.
Kadlin presste die Lippen zusammen. So ein Mistkerl! Ihre Hände waren trotz der Handschuhe ganz taub vor Kälte. Sie machte den Schritt zurück in den Abgrund. Leise sirrend glitt sie am Seil entlang. Mit einer Handbewegung konnte sie die Geschwindigkeit abbremsen, mit der sie hinabglitt.
Eine Böe packte sie und drückte sie gegen die Steilwand. Sie schlug mit der Schulter gegen den Fels und begann sich im Kreis zu drehen. Fluchend versuchte sie mit ausgestreckten Beinen Halt zu finden. Endlich ließ das Pendeln wieder nach. Schräg über sich sah sie ihren Vater. Auch er hatte seine liebe Mühe mit dem Seil.
Bisher hatte Kadlin es vermieden, in den Abgrund zu blicken, über dem sie hing. Doch nun war es an der Zeit, ein Felssims zu finden, auf dem sie sich niederlassen konnte. Schneewechten markierten die Vorsprünge und Nischen in der Steilwand.
Endlich entdeckte sie einen zwei Fuß breiten Absatz im Fels. Kadlin blickte nach unten. Der Lärm der Schlacht war jetzt viel deutlicher zu hören. Sie war nur noch wenig mehr als zwanzig Schritt über dem Kampfplatz. Mit Schrecken sah sie, dass die Schlachtreihe der Langspeerträger inzwischen völlig zerbrochen war. Einer der Stangenbeiltrupps war so dicht von Trollen umzingelt, dass die Kämpfer nicht mehr richtig mit ihren langen, unhandlichen Waffen ausholen konnten.
Kadlin verdoppelte ihre Anstrengungen, um den Felsabsatz zu erreichen. Er lag ein wenig zurück, sodass sie ihr Seil in sanfte Pendelbewegungen versetzten musste. Die Linke am Seidenseil, die Rechte weit vorgestreckt, um an einem Riss im Felsen Halt zu finden, schwang sie vor und zurück. Zweimal stieß sie sich das Knie an. Sie fluchte über ihr Ungeschick, während von der Ebene gellende Todesschreie erklangen.
Endlich fand sie an einer vorspringenden Felsnase einen sicheren Griff. Sie zog sich auf das Sims und drehte sich um. Die Füße stemmte sie fest gegen den Boden. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die Steilwand. Jetzt erst bemerkte sie, wie heftig ihr Herz schlug. Ihre linke Hand brannte trotz des Handschuhs von der Reibung des Seils. Das Hemd unter ihrer Fellweste war durchgeschwitzt, und der Wind schnitt ihr ins Fleisch, als stünde sie nackt auf dem Sims.
Ihr Vater schwebte noch immer ein Stück über ihr in der Steilwand. Sein Gesicht war aufgeschürft. Dennoch lächelte er ihr zu, als er ihren Blick bemerkte.
Kadlin nahm den Bogen von der Schulter. Du bist hier, um Trolle zu töten, ermahnte sie sich in Gedanken und versuchte den riesigen Kerl zu vergessen, der Björn und sie vor dem Schneelöwen gerettet hatte. Hoffentlich war Brud jetzt nicht dort unten.
Sie zog die Sehne durch und schoss. Ihr Pfeil grub sich tief in den Halsansatz eines Kriegers, der den grauen Wanst mit blutigen Schlangenlinien bemalt hatte. Der Troll packte schreiend nach dem Pfeilschaft. Ruckartig riss er den Kopf herum, um zu erkennen, wer auf ihn geschossen hatte. Kadlin sah sich kurz um. Inzwischen hingen mehr als dreißig Bogenschützen rings um sie in der Steilwand. Immer mehr Pfeile prasselten auf die riesigen Feinde ein. Der Wind fegte in plötzlichen Böen über das tief verschneite Land, doch da sie nun so viel näher an ihre Feinde herangekommen waren, trafen ihre Pfeile besser.
Kadlin gab sich keinen Illusionen hin. Den Ausgang der Schlacht würde ihre kleine Schar wohl kaum beeinflussen. Aber wenn sie es nur schaffte den Angriff der Trolle ins Stocken zu bringen, dann war den Kriegern unten im Tal wenigstens etwas geholfen.
Unter ihr ertönte ein lang gezogenes Hornsignal. Wie eine lebende Woge stürmte die Reiterschar aus der Bodensenke. Der tiefe Schnee verlangsamte ihren Angriff. Dennoch waren die Trolle überrascht, als sie sich einer neuen Einheit von Feinden gegenübersahen. Einige von ihnen begannen zurückzuweichen.
Kadlin suchte ihr nächstes Ziel zwischen den Kämpfern, die versuchten, den Reitern aus dem Weg zu gehen. Ein paar Tote mehr oder weniger konnten durchaus den Unterschied zwischen geordnetem Rückzug und panischer Flucht ausmachen.
Sie suchte sich einen Krieger aus, der keinen Schild trug. Langsam zog sie die Sehne durch. Eine Böe wirbelte ihr Eiskristalle ins Gesicht. Sie blinzelte kurz, fixierte ihr Ziel erneut und schoss. Der Pfeil ging fehl. Leise fluchend griff sie in den Köcher.
Etwas krachte nicht weit entfernt. Einer der Maurawan schrie auf und stürzte. Blut tränkte sein Schneehemd. Sein Kopf war nur noch eine blutige Masse.
Wieder krachte es. Kadlin entdeckte einen Trupp Trolle mit umgehängten Ledertaschen. Sie warfen faustgroße Steine nach den Bogenschützen.
Unwillkürlich duckte sich die Jägerin. Doch in der Steilwand gab es keine Deckung.
Einer der Steinwerfer ging zu Boden. Seine Gefährten aber blieben davon unbeeindruckt, und mit einem Mal entspann sich ein verbissenes Duell zwischen den Bogenschützen und den Trollen. Ihre Feinde hatten Mühe, so hoch zu werfen und dabei noch genau zu zielen. Dafür waren sie deutlich in der Überzahl, und es kamen ständig noch neue hinzu. Die Trollkrieger wirkten weniger stämmig als jene, die inzwischen den Kampf mit den Reitern aufgenommen hatten. Wahrscheinlich waren es Jünglinge, die zum ersten Mal in der Schlacht kämpften.
Ein Stein schlug dicht neben Kadlin gegen die Felswand. Feine Splitter spritzen gegen ihre Wange. Kaltblütig streckte sie sich. Sich ducken half nicht, so konnte sie nicht schießen. Sie spannte den Bogen erneut, suchte sich einen der Jünglinge aus und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Der Treffer riss den Troll nach hinten. Ohne Triumph zu empfinden, zog sie den nächsten Pfeil auf die Sehne.
Etwas Großes, Weißes stürzte an ihr vorbei. Sie konzentrierte sich ganz auf den nächsten Schuss.
Wieder schlug ein Stein ganz in ihrer Nähe gegen die Felswand. Vom Schlachtfeld schrieen ihr Waffengeklirr und Todeslaute entgegen. Doch an diesem Todeslied hatte sich etwas verändert. Neue Stimmen waren hinzugekommen. Stimmen, die weit über ihr erklangen.
Wieder stürzte etwas an ihr vorbei ... Jemand! Er war so nah gewesen, dass sie sein Gesicht gesehen hatte. Guthorm, ein etwas korpulenter junger Bogenschütze, der sie mit seinen Späßen über seinen ungezügelten Appetit immer wieder zum Lachen gebracht hatte.
Kadlin legte den Kopf in den Nacken, aber ein Felsüberhang versperrte ihr den Blick hinauf zum Rand der Klippe. Dafür sah sie noch drei weitere Gestalten mit weit ausgebreiteten Armen in den Abgrund stürzen. Einer von ihnen hatte einen Trollkrieger mit in den Tod gerissen.
Kalf hing immer noch an seinem Seil über dem Abgrund. Verzweifelt schaukelnd suchte er einen Halt an der Steilwand zu finden.
»Hierher!«, schrie Kadlin und streckte ihm die Hand entgegen. »Lass etwas Seil nach! Komm tiefer.«
Ein Stück links von ihr ging ein Hagel von Eisklumpen und Felsbrocken nieder. Zwei Bogenschützen wurden von den Felssimsen gerissen, auf denen sie Halt gefunden hatten.
»Mach schon, Vater!«
Der stämmige Jäger schlug gegen die Felswand. Verzweifelt glitten seine Hände über den Stein.
Jetzt ging dicht vor ihnen ein Geröllschauer nieder. Doch der Überhang, der die Sicht auf den Klippenrand blockierte, bewahrte sie davor, getroffen zu werden.
Etwas streifte Kadlins Gesicht. Es gab einen leichten Ruck in dem Gurtzeug. Das Seil! Ihr Seil war durchgeschnitten worden.
Mit schreckensweiten Augen sah ihr Vater sie an. Wieder schlug er gegen die Felswand. Seine Hände und Füße glitten Halt suchend über den Stein. Ein plötzlicher Ruck ließ ihn erzittern. Er glitt tiefer ... Stürzte! Fassungslos blickte Kadlin ihm nach. Sie sah seine massige Gestalt gegen einen Felsvorsprung schlagen. Die kräftigen Hände, die so oft ihren Kopf getätschelt hatten, versuchten noch ein letztes, verzweifeltes Mal, Halt zu finden.
Kadlin vergaß völlig, dass sie nicht mehr angeseilt war. Sie beugte sich vor. Jetzt endlich fand sie die Kraft, Kalfs Namen zu rufen. Voller Schmerz, beschwörend ...
Ein Arm schob sich über den Felsvorsprung. Dann erschien Kalfs Gesicht, bleich und zu einer Grimasse der Qual verzerrt. Langsam, Zoll um Zoll, schob er sich auf den vereisten Felsvorsprung. Seine linke Gesichtshälfte war übel zugerichtet. Er saß jetzt rittlings auf einem Felsvorsprung. Seine Beine baumelten über dem Abgrund, aber er hatte sicheren Halt.
»Luth sei Dank.« Kadlin standen Tränen in den Augen.
»Wenn ich hier lebend herauskomme, dann stelle ich dir zu Ehren einen Eisenbart auf einem Pilgerweg auf und werde ihn jedes Jahr besuchen, um dort zu opfern.«
Kalf legte den Kopf in den Nacken und blickte zu ihr auf. Erschöpft hob er einen Arm, um ihr zu winken. Im nächsten Augenblick wurde er nach hinten gerissen und verschwand im Abgrund.
Fassungslos starrte Kadlin hinab. Er war doch in Sicherheit gewesen! Er ... Ein gellender Schrei ertönte. Rechts neben ihr wurde ein Maurawan aus der Felswand gerissen. Auch er hatte sicheren Halt gehabt.
Das Seil ... Sie reckte sich. Unten am Fuß der Steilklippe suchten zwei Trolle nach herabhängenden Seilen. Kadlin hob ihren Bogen.
Sie fühlte nichts mehr, als sie sich unvernünftig weit vorbeugte, um einen Pfeil in die Tiefe zu schicken. Ihr Geschoss drang dem linken Troll durch die Schulter ins Herz.
Wie eine Handpuppe, die von einem fremden Willen beherrscht war, legte sie einen weiteren Pfeil auf die Sehne. Den zweiten Troll traf sie in den offenen Mund, als er zu ihr aufblickte und ihr einen Fluch entgegenschrie.
Die Waffe entglitt ihren Händen. Ihr Köcher war leer. Sie ließ sich gegen den kalten Fels sinken. Erschöpft holte sie ihr Seil ein, rollte es zusammen und legte es neben sich. Hier oben gab es keine Möglichkeit, es zu befestigen. Sie war tot, so wie Kalf und all die anderen.
Unten im Tal waren die Reiter von Trollen umzingelt. Das Heer hatte sich aufgelöst. Nur einzelne, kleine Grüppchen leisteten noch Widerstand.
Dunkle Sturmwolken vertrieben das Licht vom Himmel. Nur weit im Westen leuchtete es noch blau zwischen zwei Berggipfeln.
Es gab keinen Weg hinauf und keinen Weg hinab. Sie würde hier sitzen und erfrieren. Ihr Vater würde nicht lange warten müssen, bis sie ihm in Norgrimms Hallen folgte, um mit ihm gemeinsam an der Festtafel des Kriegsgottes zu sitzen.
Endlich! Das Hornsignal zum Angriff war eine Erlösung. Das Warten, das Lauschen auf den Kampflärm und die Todesschreie hatten Ulric aufgewühlt wie nichts zuvor in seinem Leben. Untätig bleiben zu müssen, war eine Qual. Und dass er nicht einmal sehen konnte, was geschah, machte es noch schlimmer.
Erleichtert gab er seinem Braunen die Sporen. Wie ein Mann setzten sich die Reiter in Bewegung. Eingebettet in einen riesigen Leib aus Pferden und Kriegern, fühlte er sich wie ein Teil Norgrimms, des Kriegsgottes.
Vielleicht war er nur der kleine Finger oder sogar nur der Nagel des kleinen Fingers, doch das war gleich, denn er gehörte zu der Faust, die nun nach ihren Feinden schlagen würde. Unnachgiebig und unbesiegbar wie eine Gottesfaust.
Das Trommeln der Hufe ließ den Boden erbeben. Verharschter Schnee wurde aufgewühlt und spritzte ihm bis ins Gesicht.
Immer lauter wurde das Donnern der Hufe. Die Reiter strömten über den Rand der Bodensenke hinweg. Ein Stück links strauchelte ein Pferd und wurde samt Reiter hinabgezogen in die Woge aus Fleisch und Stahl.
Ulric senkte seine Lanze. Noch etwas mehr als hundert Schritt. Die Schlachtreihen der Trolle waren auseinander gerissen, als sie durch die Lücken in der Speerträgerformation gebrochen waren. Jetzt waren sie leichte Beute.
Noch fünfzig Schritt. Ihre Feinde waren so groß, dass sie den Reitern fast auf Augenhöhe begegneten. Und er sah Angst in ihren Augen. Was für eine Genugtuung! Es gab etwas, wovor sie sich fürchteten!
Zu seiner Linken ritt sein Vater! Ein ganzes Leben hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt. Er war ein alter Mann geworden, bis er noch einmal Gelegenheit bekommen hatte, in einer großen Schlacht gegen die alten Feinde anzutreten. Ulric war skeptisch gewesen, ob es klug war, den Elfen in ihren Krieg zu folgen, doch in diesem einen, göttlichen Augenblick waren alle Zweifel vergessen. Dies allein schon war es wert gewesen zu leben!
»Für Kadlin!«, schrie Björn, der dicht neben ihm ritt.
Die Trolle, die am weitesten durch die Linien gebrochen waren, drehten sich um und suchten ihr Heil in der Flucht. Doch es war unmöglich, der Front von Reitern zu entkommen. Hinter ihnen versperrten ihnen die Kämpfenden den Weg. Das enge Tal wurde zur Todesfalle.
Ulrics Lanze traf einen der Trollkrieger dicht unter dem Nacken. Es war, als sei er gegen einen Felsen angeritten. Der Schaft der Waffe zersplitterte. Er ließ das nutzlose Stück Holz fallen und sah, wie der Troll trotz seiner mörderischen Wunde versuchte, im Schnee davonzukriechen. Dann verschwand er unter der Masse der Hufe.
Die Reiter hielten sich so dicht beieinander, dass sich fast ihre Knie berührten. Sie waren wie eine Lawine, die einen Abhang hinabdonnerte.
Ulric zog seinen Trollstecher aus dem Holster am Sattel, eine dreikantige Eisenstange, die in einer mörderischen Spitze auslief. Das andere Ende war wie ein Schwertgriff geformt. Sie maß mehr als einen Schritt, war schwer und unhandlich. Ihr einziger Zweck bestand darin, die Wucht der Attacke nutzend, in einen Trollleib getrieben zu werden.
Unmittelbar vor ihnen kämpfte ein Haufen Stangenbeilträger. Die Trolle hatten die Männer so dicht zusammengedrängt, dass sie ihre wuchtigen Beile nicht mehr schwingen konnten.
»Firnstayn!«, schrie einer der Reiter, und sofort nahmen Dutzende seinen Schlachtruf auf.
»Firnstayn!«, schrie auch Ulric, als sie in die Reihen der Trolle prallten. Pferde kreischten. Der Prinz hatte den Trollstecher weit vorgestreckt gehalten. Die Wucht des Aufpralls riss ihm die Waffe aus der Hand. Im Getümmel konnte er nicht richtig sehen, wo er den Gegner getroffen hatte. Sein Brauner bäumte sich auf. Die Hufe trommelten auf den Troll vor ihm.
Björns Stute wurde zu Boden gerissen, und Lambis Sohn verschwand im Gewühl übereinander stürzender Leiber.
Plötzlich löste sich das Knäuel aus Menschen und Trollen. Die hünenhaften Gegner flüchteten. Ulric riss an den Zügeln seines Braunen. Die Fußkämpfer stachen mit den langen Dornen an ihren Stangenbeilen auf die gestürzten Trolle ein.
Die Mauer der Reiter war zerbrochen. Einzelne setzten den fliehenden Trollen nach. Ulric ließ das Gemetzel hinter sich und folgte den Flüchtenden. Seine Hände waren voller Blut. Er fühlte sich wie in einem Traum. Alles erschien ihm seltsam unwirklich. Ein Leben lang war er dafür ausgebildet worden, als Krieger in einer solchen Schlacht zu kämpfen. Und doch hatte ihn nichts von all dem, was er gelernt hatte, auf diesen Tag vorbereitet.
Er zog sein Schwert, hob es hoch, die Spitze leicht nach vorn gesenkt. Er trieb den Braunen voran. Das Pferd und ein flüchtender Troll lieferten sich ein Rennen. Die Hufe zerwühlten den Schnee, den die Kämpfe in blutigen Schlamm verwandelt hatten. Der Troll sah sich nach ihm um. Nackte Angst lag in seinem Blick. Er strauchelte über einen Toten.
Im Augenblick des Stolperns war Ulric neben ihm. Ohne seinen Braunen zu zügeln, ließ er den Schwertarm fallen und beschrieb einen Rückwärtsschwung. Die schwere Klinge traf mit voller Wucht in etwas, das unter dem Hieb splitterte. Es fühlte sich an wie ein Spalteisen, das durch Holz fuhr. Ulric blickte nicht zurück.
Die Ebene vor ihm war voller Trolle. Es mussten hunderte sein. Der Reiterangriff hatte längst seine mörderische Kraft verloren. Ihre Formation war zerbrochen. Einzeln wirkten die Berittenen zwischen den Trollen nun nicht mehr so unbesiegbar.
Wieder überholte Ulric einen Flüchtenden und ließ sein Schwert in tödlichem Rückhandschlag niedersausen.
Doch es waren zu viele. Sie konnten die Trolle nicht besiegen. Und kein Zeichen verriet die Ankunft der Elfen im Rücken der Feinde. In der Ferne konnte er die dunkle Felsnadel der Nachtzinne sehen. Sie wurde eins mit den schwarzen Wolken, die das Blau des Himmels auslöschten.
Mit einem Schrei sprang ein Troll auf, der sich tot gestellt hatte. Er packte seinen Braunen um den Hals wie ein Ringer. Der große Hengst wurde zu Boden gerissen. Ulric schaffte es gerade noch, die Füße aus den Steigbügeln zu bekommen. Vom Sturz benommen, tastete er im Schnee nach dem Schwert. Er hatte es fallen lassen.
Der Troll hämmerte mit seiner Keule auf den Schädel des Pferdes ein. Das Knirschen, das den Treffern folgte, ging Ulric durch Mark und Bein. Der große Hengst stieß einen schrillen Laut aus. Nie hatte er ein Pferd so wiehern hören. In Ulrics Ohren klang es wie eine Anklage. Mit einem letzten langen Seufzer wich die Luft aus den Lungen des großen Hengstes. Noch immer schlug der Troll auf das tote Pferd ein. Er war ein wenig kleiner als die anderen Krieger, die Ulric bisher begegnet waren. Bauch, Brust und Gesicht waren mit Pferdeblut bespritzt.
Der Prinz zog den Elfendolch, den Ollowain ihm einst geschenkt hatte. Die Waffe wirkte lächerlich klein im Vergleich zu dem tobenden Troll. Doch der Krieger beachtete ihn gar nicht. Unablässig hieb er auf das tote Pferd ein und stieß dabei grobe Laute wie Flüche aus.
Ulric umrundete den Troll und stach ihm die Waffe in die Kniekehle.
Jetzt erst erwachte der Kerl aus seiner blinden Raserei. Stolpernd machte er einen Schritt nach vorne und brach in die Knie. Den Kopf in den Nacken gerissen, stieß er einen schrillen Schrei aus. Ulric sprang vor, wechselte den Griff und rammte dem Troll den Dolch ins Ohr. Der Schrei des jungen Kriegers brach abrupt ab. Wie von einem Blitzschlag gefällt, kippte er nach vorne. Der Elfendolch war ihm bis zum Heft in den Schädel gedrungen.
Mit einiger Mühe befreite Ulric die Waffe, als ihn ein Schlag in den Rücken traf. Er stürzte über den Toten hinweg. Ein riesiger Trollkrieger stand hinter ihm und hatte ihm einen Stoß mit dem Schild versetzt. Der Kerl schrie ihn an und deutete auf den Toten. Machte er ihm Vorwürfe?
Der Troll hielt einen Kriegshammer in der Rechten. Der Hammerkopf war aus dunklem Granit und groß wie ein Wolfsschädel. Ulric hob den blutigen Dolch, bereit für seinen letzten Kampf.
Der Troll spuckte ihm voller Verachtung eine Lawine grunzender Laute entgegen. Dann deutete er mit seinem Kriegshammer zur Seite. Dort lag das Schwert König Osabergs im Schnee.
Ulric ließ den Krieger nicht aus den Augen, als er sich nach der Waffe bückte. Hatte der Troll entschieden, dass ein Dolch keine angemessene Waffe für den Kampf gegen ihn sei? Als der Hüne keinerlei Anstalten machte, überraschend über ihn herzufallen, fühlte sich Ulric zutiefst beschämt. Der Troll verhielt sich ritterlicher, als er es getan hatte. Den jungen Krieger, der sein Pferd getötet hatte, hatte er einfach niedergemacht. Traurig dachte Ulric an die Lektionen über Ehre, die sein Vater ihn gelehrt hatte, vor so langer Zeit, in dem letzten Herbst mit Mutter und Kadlin. Er hatte sich weit von jenem Weg entfernt, auf den Alfadas ihn einst führen wollte.
Ulric hob das Schwert vor dem Troll zum Fechtergruß. Sein Gegner runzelte ärgerlich die Brauen. Er betrachtete ihn wohl nicht als einen ehrenhaften Krieger. Von einem Troll verachtet zu werden, trieb Ulric die Schamesröte ins Gesicht.
Der Hüne ging zum Angriff über. Langsam, ohne Hast, siegessicher. Mit Schildstößen drängte er Ulric vor sich her.
Bald ging Ulrics Atem stoßweise. Der Bastard von einem Troll war ein außergewöhnlicher Krieger. Immer wieder versuchte der Prinz, am Schild seines Gegners vorbeizukommen, doch dieser bewegte sich mit tödlichem Geschick.
Nur selten schwang er seinen riesigen Kriegshammer, um Ulric zu einem hastigen Satz zu zwingen. Zweimal schon war der Prinz dabei gestürzt. Jedes Mal war der Troll einen Schritt zurückgetreten und hatte ihn wieder aufstehen lassen.
Ulric war fast am Ende seiner Kräfte. Der blutige Schneematsch griff gleich Krallenhänden nach seinen Füßen. Was wollte der Troll? Der Kerl hätte ihn längst töten können.
Wieder wich Ulric vor einem Schildstoß zurück. Der Krieger drängte ihn immer weiter bis zur Steilklippe, die das Schlachtfeld im Osten begrenzte. Hier wurde nicht gekämpft. Nur ein einzelner anderer Troll war hier, doch er beachtete sie nicht. Er suchte etwas zwischen den scheunengroßen Felsblöcken am Fuß der Klippe.
Der Hüne drängte Ulric unter einen Felsvorsprung. Die Flucht war zu Ende. Noch weiter zurückzuweichen war unmöglich. Ein Schrei ließ den Troll aufblicken. Ein Krieger stürzte aus der Steilwand und schlug ganz in der Nähe in eine Schneewehe.
Ulric machte einen verzweifelten Ausfall, doch mit seinem türgroßen Schild wehrte der Troll ihn mühelos ab. Er drängte ihn zurück gegen die Felswand. Und jetzt begriff Ulric, was der Kerl vorhatte. Er wollte ihn mit seinem riesigen Schild an der Felswand zerquetschen, wie man eine Laus zwischen den Nägeln von Daumen und Zeigefinger zerquetschte.
Noch einmal stürmte er gegen den Troll an. Ein Fußtritt ließ ihn zurück gegen die Felswand taumeln.
Plötzlich brach der Trollkrieger zusammen, der ein Stück entfernt zwischen den Klippen nach etwas suchte.
Ulrics Gegner blickte hoch und stieß einen zornigen Fluch aus.
Wie eine göttliche Strafe fuhr ein Pfeil vom Himmel herab und stieß dem Krieger in den offenen Mund.
Zu erschöpft, um seinem unbekannten Retter auch nur einen Dank zuzurufen, ließ sich Ulric zu Boden sinken. Er dachte an Halgard und Blut. Lebte der Hund noch? Halgard hatte darauf bestanden, an dem Kriegszug teilzunehmen. Und sie hatte auch den Hund mitgenommen. Verfluchte Holzpuppen! Sie hatten sie zu Sklaven gemacht.
Der Wind wehte Schnee von der Klippe hinab. Prickelnd traf er Ulric ins Gesicht. Er blickte zum Schlachtfeld. Nur eine Meile entfernt war das Lager ihres Heeres. Ob die Trolle es schon erreicht hatten?
Ein röchelnder Laut riss den Prinzen aus seinen Gedanken. Finsternis verschlang das Schlachtfeld. Der Sturm war heran. Feine Schneeflocken peitschten vom Himmel herab. Ulric tastete sich zwischen den Felstrümmern hindurch. Überall lagen Tote, zerschmettert auf den scharfkantigen Steinen. Elfen wie Menschen starrten mit leeren Augen in den schwarzen Himmel. Der Tod hatte sie alle gleichgemacht.
Endlich fand er den stämmigen alten Jäger, der mit Kadlin nach Firnstayn gekommen war. Kalf. Er lag in einer Schneewehe. Sein rechter Arm bewegte sich auf und ab wie ein Ast im Wind.
Ulric kniete sich neben den Jäger. Eine Hälfte von Kalfs Gesicht war blutig zerrissen. Durch die offene Wange konnte man seine Zähne sehen. Er stieß einen gurgelnden Laut aus.
»Ich weiß, wer sie ist«, sagte Ulric leise.
Die Augen des Jägers weiteten sich. Es war schwer, in seinem verwüsteten Gesicht ein Gefühl abzulesen. War er erschrocken oder erleichtert? Sein Mund öffnete sich.
Wieder sprudelten unverständliche Laute hervor. Jetzt sah Ulric die Zunge des Mannes oder besser das, was davon noch übrig war. Er musste sie sich abgebissen haben, als er beim Sturz gegen die Felsen geschlagen war.
»Warum ist meine Mutter mit dir gegangen? Warum hat sie mich und meinen Vater im Stich gelassen? Warum hast du sie mir gestohlen?«
Kalf stammelte etwas Unverständliches. Blut quoll von seinen Lippen.
»Wo ist sie jetzt? Wohin hast du Asla gebracht?«, rief Ulric zornig. Nachdem Halgard ihn darauf gestoßen hatte, wer die junge, rothaarige Jägerin wirklich sein musste, hatte Ulric eigentlich beschlossen, die Sache auf sich beruhen zu lassen, aber jetzt brachen all sein Zorn und seine Trauer aus ihm heraus. Vor ihm lag der Mann, der all seine Fragen hätte beantworten können. Und er war im Begriff zu sterben.
»Hat meine Mutter dich geliebt?« Kalf schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Sollte das ja heißen? Oder war es Verlegenheit? Es war sinnlos, ihn nach etwas zu fragen! Schaumiges Blut quoll über Kalfs Lippen. Er versuchte sich aufzusetzen, aber seine Kräfte reichten dazu bei weitem nicht mehr aus. »Kah ...len ... Kah ...linn!«, stammelte er.
»Kadlin?«
Der Jäger verdrehte die Augen, als wolle er zu jemandem blicken, der hinter ihm stand. Doch da war nur die Steilklippe.
»Meinst du Kadlin? Was ist mit ihr?« Kalf antwortete nicht mehr.
»Mögen die Götter dir gnädig sein.« Ulric strich dem Toten mit der Hand übers Gesicht. Schnee fiel auf den Jäger herab.
Bald wird uns der Winter alle unter sein weißes Leichentuch gebettet haben, dachte der Prinz. Wer den Trollen entging, den würde Firns Atem töten. Fröstelnd rieb er sich die Arme und wusste doch, dass er die Kälte nicht würde vertreiben können.
... Zwei Stunden hatte ich mir Zeit gelassen, bis ich es wagte, gegen den Befehl zu verstoßen. Elodrin und auch sein Navigator Landal befürchteten, dass es auf der Nachtzinne Kriegsmaschinen geben könnte, um Schiffe an der Mole und in der Bucht anzugreifen. Orgrim war der einzige Troll, dem sie zutrauten, solche Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Wäre ich doch mutiger gewesen! Jeder Atemzug, den ich zögerte, kostete zehn Menschenleben. Elodrin wollte ein Lichtzeichen geben, sobald die Nachtzinne gestürmt war. Ein leuchtend roter Stern sollte in den Himmel steigen. Er glaubte, es werde im schlimmsten Fall zwei Stunden dauern, die Besatzung der Nachtzinne zu überrumpeln und alle wichtigen Verteidigungsstellungen zu besetzen. Zwei Stunden ließ ich darüber hinaus verstreichen. Ein Schneesturm war aufgezogen. In seinem Schutz brachten wir die Schiffe zur Mole und gingen an Land. Die Tore der Nachtzinne fanden wir fest verschlossen. So befahl ich, in jenes Tal vorzustoßen, in dem wir uns mit dem Heer der Menschen vereinen wollten.
Welch ein Grauen erwartete uns! Trotz des Sturms hatte ein Teil der Trolle schon mit, dem Leichenschmaus begonnen. Einige kämpften noch; verzweifelt verteidigten die Menschen ihr Lager. Die Tolle waren so überrascht von unserer Ankunft, dass wir viele niederstreckten, bevor sie überhaupt zu den Waffen greifen konnten. Die Übrigen flohen in die Berge. Wir setzten ihnen nicht nach. Ich weiß, es gehört zu den Gesetzen des Krieges, dass der Sieger den Druck gegen den fliehenden Feind aufrechterhalten soll. Doch ich wollte auf keine Hand verzichten, die mithelfen konnte, jene wenigen Menschen zu bergen, die noch zu retten waren. Viele Verwundete, die auf dem Schlachtfeld zurückgeblieben waren, hatte die Kälte getötet.
Der Tod hatte eigentümliche Muster auf jenem Feld gewoben, das wir ihm zu so reicher Ernte bestimmt hatten. Dort, wo die Krieger bis zuletzt gekämpft hatten, lagen sie in Haufen, umgeben von erschlagenen Trollen. Halb vom Schnee begraben waren es große, abstrakte Blumen. Der Kreis der toten Trolle waren die Blütenblätter, die erschlagenen Menschen aber waren das Herz der Blüte. Die Flüchtenden waren allein gestorben. Zusammengekrümmt lagen sie jeder für sich, wo der Feind und der Tod sie gleichermaßen eingeholt hatten. Und noch einmal anders war die Spur des Reiterangriffs. Wie eine Lawine war er durch die Spitzen des Trollangriffs gebrochen und hatte alles mit sich gerissen, bis er an Kraft verlor und zuletzt aufgehalten wurde.
Es waren wenig mehr als fünfhundert Menschen, die wir dem Leichenfeld entreißen konnten, und kaum einer war dem Schrecken der Schlacht ohne Wunden entkommen. Jene von uns, die von Anfang an dabei waren, werden wohl für immer ein anderes Bild von den Männern und Frauen des Fjordlands haben. Sie haben nicht unser Geschick und unsere Kunstfertigkeit im Umgang mit Waffen. Wenn vier von ihnen sich einem Troll stellen, dann werden drei davon mit dem Leben bezahlen, bevor das Ungeheuer vielleicht bezwungen ist. All jene, die gern abfällig über Menschen sprechen, fordere ich auf, daran zu denken, wie viel Mut es erfordert, sich solchen Gegnern zu stellen und nicht zu weichen. Wir, die wir als ausgebildete Elfenkrieger darauf hoffen dürfen, sogar allein in einem Kampf mit einem Troll bestehen zu können, werden diesen verzweifelten Mut niemals ermessen können.
Nie werde ich vergessen, wie mir der stolze Fingayn aus dem Sturm entgegenwankte. Selbst am Ende seiner Kräfte, trug er ein rothaariges Menschenmädchen in den Armen, dem vom Frost fast die Seele entrissen worden war. Der sonst so Schweigsame, der sich gern den Blicken entzieht, stammelte von ihrem Mut und ihrem Geschick, unfähig, einen Satz mit einem Anfang und einem Ende hervorzubringen. Yilvina, die viele für die Meisterschülerin Ollowains hielten, stand breitbeinig vor einem Mann ohne Nase, der seinen Sohn betrauerte und das Kämpfen aufgegeben hatte. Verletzt war sie umringt von toten Trollen und bot, als wir sie fanden, noch immer dreien von ihnen die Stirn, statt den hässlichen Kerl und den Toten ihrem Schicksal zu überlassen.
Wir brachten die Menschen zu unseren Schiffen, da öffneten sich die Tore der Nachtzinne. Und heraus trat Elodrin und war wie eine Missgeburt des Krieges anzusehen. Nackt, wie er einst aus dem Schoß seiner Mutter gekommen war, stand er im Tor, mit Blut beschmiert, in jeder Hand ein Schwert. Sein weißes Haar klebte ihm in roten Strähnen am Kopf, und in seinen Augen funkelte der Wahn, der manche befällt, die das Töten zu sehr lieben.
Er und seine Kriegerschar hatten Stunden gebraucht, um sich einen Weg durch die mit Steinen verfüllten Tunnel zu bahnen, von denen er sich einen so einfachen Weg ins Herz der Festung versprochen hatte. So fanden wir also zuletzt doch Zuflucht in der Nachtzinne.
Elodrin hatte hunderte Gefangene gemacht, denn wie sich zeigte, hatte Orgrim alle Weiber und Welpen — wie die Trolle ihre Kinder nennen — in die stärkste Festung der Trolle befohlen. Hätte ich geahnt, welch schändlichen Verrat Elodrin an ihnen und auch an den Menschen plante, ich hätte den Fürsten getötet, als ich ihn durch das Tor schreiten sah. Jetzt, so viele Jahre später, fällt es mir schwer zu begreifen, warum ich das deutliche Bild nicht verstand, als er mir unter dem Tor entgegentrat, nackt und blutbedeckt.
Alles, was einen ehrenhaften Herrscher ausmacht, war von ihm abgefallen. Doch in jener stürmischen Nacht war ich froh, dass er das Tor zur Nachtzinne öffnete und allen Zuflucht vor dem Wüten des Winters gab, denn für das Wüten in seinem Herzen blieb ich blind, bis es zu spät war, das Verhängnis abzuwenden....
Er flog mit Leylin hoch am Himmel. Die Sonne schien zum Greifen nahe. Wie ein grünes Meer wogten die Frühlingsweiden des Windlands unter ihnen. Er lachte, Eisfeder und Wolkentaucher schrieen ihre Freude in das weite Blau. Leylin rief seinen Namen. Plötzlich war sie verschwunden. Von einem Augenblick zum anderen war der Himmel mit Sturmwolken bedeckt. Wind peitschte ihm ins Gesicht. Er rief seine Liebste. Der böige Wind zupfte an Wolkentauchers Gefieder. Seine Flügel schlugen unregelmäßig. Unstet flatternd glitt er in weiten Kreisen den Bergen unter ihnen entgegen. Etwas spritzte Melvyn ins Gesicht. Blut! Im linken Auge des Adlers steckte ein Pfeil! Er starb! Wer hatte sie angegriffen? Plötzlich füllte ein Gesicht, verdeckt von einer weißen Maske, den ganzen Himmel aus.
Melvyn schrak hoch. Er war schweißgebadet. Seine Augen ... Er war gefangen in Finsternis. Er hatte die Augen doch offen? Da war etwas auf seinem Gesicht! Er wollte die Arme heben. Etwas stimmte nicht mit seinen Händen! Sie waren ... Die Finger. Wo waren seine Finger? Alles war ganz taub. Und da war immer noch das seltsam flatternde Geräusch.
»Ich glaube, er ist wach«, flüsterte eine vertraute Stimme. »Er hat uns reich gemacht, unser Hauptmann. Wir wussten doch, dass ihn nichts umhaut. Der kommt wieder hoch.«
Melvyn versuchte sich zu erinnern, woher er die Stimme kannte. Wo war er hier? Was war ... Die Gestalt mit der weißen Maske! Nie hatte er gegen einen so wendigen und geschickten Krieger gekämpft.
»Bin ich tot?«
»Nein, nein, Hauptmann. Dann hätten wir ja verloren. Es wäre sehr nett, wenn du wieder so richtig auf die Beine kämst, dann verdoppelt sich unser Gewinn nämlich, vorausgesetzt, du schaffst es innerhalb von zehn Tagen, nachdem du zu dir gekommen bist, dein Krankenlager zu verlassen.«
»Misht?« Melvyn hob die Arme an, um nach seinem Gesicht zu tasten. Sengender Schmerz meldete sich in seiner Schulter. Er biss die Zähne zusammen. Er spürte das Gewicht seiner Hände auf seinem Gesicht, aber mit den Fingern konnte er nichts ertasten. Es war, als seien sie gar nicht da!
»Das solltest du nicht tun, Hauptmann!«
»Was ist mit mir passiert?«
»Wir hatten gehofft, dass du uns das erzählen könntest«, antwortete der Kobold. »Du warst auf dem Leichenschmaus für Orimedes irgendwann verschwunden. Als man dich gefunden hat, hast du ausgesehen, als hätte ein ganzer Minotaurenclan eine Nacht lang einen seiner seltsamen Hüpftänze auf dir veranstaltet. Ein Arm war ausgekugelt und obendrein noch gebrochen, du warst fast erfroren, und dein Gesicht .... Reden wir lieber nicht darüber.«
»Was ist damit?«, herrschte ihn Melvyn an.
»Wirklich, Hauptmann ... Manche Dinge muss man nicht wissen.«
»Du wirst mir jetzt den verdammten Verband abnehmen und mir sagen, was mit meinen Fingern ist.«
»Das darf ich nicht. Und deine Finger ... Tja, die wirst du ... Wie soll ich sagen ... Es ist gut, dass du mit den Krallen in deinen Armschienen kämpfst. Du wirst Schwierigkeiten haben, etwas zu halten.«
Melvyn schnappte nach Luft. »Sind sie ... Hat er mir die Hände abgeschnitten?«
»Nein!« Man hörte Mishts Stimme die Verwunderung an.
»Also wie kommst du denn darauf? Deine Armschienen sind fort. Wer immer dich so zu zugerichtet hat, war ein ziemlicher Metzger. Er hat sich recht ungeschickt dabei angestellt, dir die Armschienen abzunehmen. Er hat sie mit einem Messer abgeschnitten und dabei ein ziemliches Gemetzel an deinen Unterarmen und Händen angerichtet. Es ist alles zerschnitten: Adern, Sehnen, Muskeln, Nerven. Aber Artaxas hat es wieder gerichtet. Er war ziemlich teuer, der Mistkerl. Hat einen Anteil an unseren Wettgewinnen gefordert. Er musste wohl allen möglichen Kram kaufen. Krötenfett und anderes Dreckzeug, das Heiler so brauchen ... Egal! Er sagt, du wirst wieder greifen können. Und er meint, dass du ein ziemliches Glückskind bist. Das fand die Heilerin auch, die er zwischendurch angeschleppt hatte. War ganz hin und weg, die Gute.« Der Kobold lachte. »Selbst wenn du bewusstlos bist, liegen dir die Weiber zu Füßen. So gut müssten wir es auch mal haben. Bei uns ist es genau anders herum. Da müssen die Weiber bewusstlos sein, damit sie uns zu Füßen liegen.« Melvyn versuchte sich aufzurichten, gab es aber sofort wieder auf, als sich erneut der stechende Schmerz in seiner Schulter meldete. Jetzt erklang wieder das flatternde Geräusch. Kurz, abgehackt. Wie das hilflose Flattern eines Vogels mit einem gebrochenen Flügel.
»Ich kann nicht erkennen, welch ein Glück ich gehabt haben sollte.«
»Das hat mit der Kälte zu tun. Du bist zwar fast erfroren, aber deshalb haben deine Wunden an den Armen nicht so stark geblutet. Hab nicht alles behalten, was die sich da erzählt haben. Irgendwas hat sich bei dir zusammengezogen. Die Schnitte, die Adern ... Wäre das nicht gewesen, wärst du wohl ausgelaufen wie ‚ne angeschlagene Weinamphore. Leider hattest du ein paar Erfrierungen, zusammen mit der Prellung sahst du aus, als hätte man dein Gesicht über ‚ne Farbpalette gerieben. Du hast...«
»Danke, es reicht.«
»Du hast es doch wissen wollen«, entrüstete sich Misht. »Ich hätte dir das niemals erzählt. Aus einer Sache werde ich allerdings nicht schlau. Der Kerl, der dich niedergemacht hat, der hat dir sein Schwert mit der Breitseite gegen den Kopf gehauen. Muss ein Schlag gewesen sein, der einen Büffel von den Beinen geholt hätte. Hätte er die Klinge nur ein wenig gedreht und mit der Schneide auf dich eingeschlagen, dann hätten wir dich neben Orimedes in diesen Hügel legen können. Du ...«
Melvyn hörte nicht mehr zu. Der Grabhügel! Damit hatte es angefangen. Das Büffelblut. Und das viele Büffelfleisch, das die Lutin an die Gäste des Begräbnisses verschenkt hatten. Jetzt fiel ihm alles wieder ein. »Wo steckt Nestheus? Ich muss ihn sofort sprechen. Und mach mir den albernen Verband vom Kopf! Ich will sehen, wo ich bin!«
»Na, kaum bei Bewusstsein und schon wieder große Töne spucken, Hauptmann!«, ertönte ein tiefer Bass. »Das haben wir gerne.«
»Artaxas?«
Gleißendes Licht stach in Melvyns Augen. Verschwommen nahm er das bärtige Gesicht des Lamassu wahr. Der Kerl grinste gehässig. »Na, das tut gut, was?«
»Hol mir Nestheus!« Melvyn hielt die Augen zusammengekniffen.
»So, so, du hast also lieber einen Pferdearsch am Bett stehen als einen Stierarsch. Damit, dass du dich bedanken würdest, hatte ich ja nicht gerechnet. Aber das ist schon ein starkes Stück. Dein Rösslein ist vor der Stadt Kentauren scheuchen.«
»Vor der Stadt?« Er riss die Augen auf. Jetzt erkannte er eine rissige Lehmwand. Und ein Fenster, vor das eine gelbe Plane gespannt war, die nur wenig Licht hindurchließ. An einem Ende hatte sich die Verschnürung gelöst, und der Stoff machte ein flatterndes Geräusch, wenn sich der Wind darunter verfing. Es war nicht sehr hell in der Kammer. Dennoch schmerzten seine Augen, als wäre er aus einer Höhle in grelles Mittagslicht getreten. »Es stand wohl ziemlich schlecht um mich«, sagte er kleinlaut.
»Ziemlich schlecht ist ziemlich untertrieben. Dein geschäftstüchtiger Koboldfreund hat mit dem halben Heer gewettet, dass du überleben würdest. Zuletzt stand die Quote achtzehn zu eins gegen dich. Wenn du dich jetzt freundlicherweise bequemen würdest, in zehn Tagen wieder auf die Beine zu kommen, um damit den Gewinn noch einmal zu verdoppeln, werden sie eine mittelgroße Stadt plündern müssen, um ihre Wettschulden zu bezahlen. Ach ja ... Wir sind in Talsin. Noch, denn alles, was Beine hat, verlässt die Stadt, und auch wir werden morgen weiterziehen.«
»Talsin! Und wo sind die Trolle?«
»Vielleicht vier- oder fünfhundert Meilen nördlich. Aber ich würde vorschlagen, dass du erst einmal wieder zu Kräften kommst, bevor du dich aufs Neue in den Krieg stürzt. Wie es scheint, hast du ja deinen Meister gefunden. Dem solltest du besser nicht noch einmal begegnen. Ich weiß nicht, ob dir klar ist, wie viel Glück du hattest.« Artaxas war bei den letzten Worten deutlich lauter geworden. Sein Gesicht war jetzt fast kirschrot. »Wenn du glaubst, ich verbringe meine Tage damit, dich bei jeder Gelegenheit im Schnee aufzusammeln und mühsam wieder hochzupäppeln, dann hast du dich geirrt!«
»Ich weiß, wie wir sie aufhalten können ...«
»Du kannst dich nicht einmal auf den Beinen halten, aber du willst ein Heer von tausenden von Trollen aufhalten? Mir scheint, der Schlag vor deinen Kopf hat doch mehr Schaden angerichtet, als wir alle dachten. Leg dich jetzt hin, und ich decke dein Gesicht wieder ab.« Ein schmieriger Lappen schwebte auf Melvyn zu.
»Lass das! Hol Nestheus! Ich scherze nicht. Es sind die Gräber. Er soll eine Karte mitbringen!«
»Meine Mutter hat immer erzählt, Verrückten sollte man ihren Willen lassen, dann hätte man den wenigsten Ärger mit ihnen«, sagte Misht.
Der Lamassu stieß einen tiefen Seufzer aus. »Dann hol ihn her.« Er beugte sich über Melvyn. »Und bilde du dir nicht ein, du hättest deinen Dickschädel durchgesetzt, Hauptmann. Ich habe Nestheus versprochen, ihn zu benachrichtigen, sobald du erwachst.«
»War ich lange bewusstlos?«
»Fünf Tage. Du solltest es jetzt wirklich nicht übertreiben, mein Freund. Du warst dem Tode sehr nahe. Überanstrenge dich nicht.« Er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Erwarte jetzt keine Gefühlsduseleien von mir. Ich kann dich ja schlecht in den Arm nehmen oder dir einen freundschaftlichen Knuff geben. Mistkerl! Du hast uns ganz schön Sorgen gemacht. Weißt du, wer draußen auf dem Dach sitzt und auf deinen Atem lauscht, seit du hier liegst? Dein Oberadler. Der hat das ganze Viertel in Angst und Schrecken versetzt, weil sich die Kobolde hier unter seinen Blicken fühlen wie Mäuse, denen gerade eine ausgehungerte Katze über den Weg läuft. Leider kann ich Wolkentaucher schlecht hereinbitten. Aber wenn du das Licht vertragen kannst, dann befehle ich Misht, die Plane aufzuknüpfen, wenn er zurück ist.«
Melvyn räusperte sich, um den Kloß loszuwerden, der ihm in den Hals gestiegen war. So aufgewühlt hatte er Artaxas noch nie erlebt. Manche Gefühle waren so stark und unmännlich, dass man sie schleunigst unter dummen Sprüchen begraben musste. Sie beide waren ziemlich gute Totengräber ihrer Gefühle.
»Was für ‚nen Dreckslappen hast du denn auf mein Gesicht gelegt? Der stinkt, als hätte man ‚nen Schweinestall damit ausgewischt.«
»Dein Dreckslappen hat mich sein Gewicht in Edelsteinen gekostet, du undankbarer kleiner Bastard. Der ist in Smaragdkrötenfett getränkt und mit noch ein paar anderen wirklich widerlichen Sachen eingerieben, die geholfen haben, die Erfrierungen auf deinem Gesicht zu heilen. Du warst in deinem eigenen Blut festgefroren, als wir dich gefunden haben. Du sahst verdammt übel aus ... Wer hat dich nur so zugerichtet?«
Melvyn zuckte mit der Schulter und bereute es augenblicklich, als der bohrende Schmerz sich wieder meldete. »Ich konnte den Kerl nicht gut sehen. Er trug eine weiße Maske, und es ging alles sehr schnell. Ich glaube, ich habe ihn auch getroffen. Aber sicher bin ich mir nicht. Er war verdammt gut. Es war ein Elf! Ein Elf, der zu den Trollen übergelaufen ist! Kannst du dir das vorstellen?«
Artaxas hob die Brauen. »Was haben die Trolle damit zu schaffen?«
»Das hat mit den Hügelgräbern zu tun. Ich glaube, ich weiß jetzt, wie die Trolle es schaffen, ohne Proviant so schnell die Steppe zu durchqueren. Es hat mit den Lutin zu tun.«
»So, mit den Fuchsköpfen?« Artaxas hatte einen Ton angeschlagen, als unterhalte er sich mit einem Kind, das ihm atemlos irgendwelche Märchen erzählte. »Haben etwa auch die Blütenfeen und Faune damit zu tun? Die habe ich immer schon für besonders durchtrieben gehalten.«
»Du wirst sehen ...«
Der Lamassu beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn.
»Bist du verrückt?«, rief Melvyn.
»Ich wollte fühlen, ob du vielleicht Fieber hast. Du redest wirres Zeug! Fieber hast du keines. Offensichtlich hat der Schlag auf den Kopf doch mehr Schaden angerichtet, als ich zuerst angenommen hatte.«
»Du kannst mir ruhig ...«
»Weißt du, dass wir hier nicht allein sind?«, unterbrach ihn Artaxas. »Glaubst du, ich kann dich aufrichten?« Der Lamassu wartete die Antwort erst gar nicht ab. Wie von Geisterhand wurde Melvyn emporgehoben. Die Felle, mit denen er zugedeckt gewesen war, rutschten herab. Es war kalt in der Kammer.
Seinem Lager gegenüber stand ein Kinderbett. Undeutlich konnte er eine kleine, bärtige Gestalt darin liegen sehen.
»Nossew?«
»Eine Patrouille von Caileens Reitern hat ihn siebzig Meilen südlich von Talsin gefunden«, erklärte Artaxas. »Er lag halb unter einem umgestürzten Schlitten begraben. Der Frost hatte ihm übel mitgespielt. Ich habe ihm drei Zehen und zwei Finger amputieren müssen. Die waren schon ganz schwarz geworden. Er wollte zu dir. Sobald wir ihn ein bisschen warm bekommen hatten, rief er immer wieder deinen Namen.«
Artaxas hatte Melvyn kraft seines Zaubers nun dicht neben das Lager des Kobolds gehoben. »Geht es dir gut?«, fragte er Nossew.
Der Kobold blinzelte, dann hob er matt eine Hand, ballte sie zur Faust und streckte den Daumen hoch.
Melvyn musste lächeln. Der Armbrustschütze war noch nie sonderlich gesprächig gewesen. »Du hast sie gefunden, nicht wahr?«
Nossew nickte.
»Wir werden sie holen gehen, sobald wir hier herauskommen.« Der Kobold stieß einen bestätigenden Grunzer aus. »Bin ich hier im Irrenhaus?«, empörte sich Artaxas. »Ihr beiden könnt nicht einmal aus eigener Kraft stehen und plant schon die nächste Schlacht. Habt ihr erst genug, wenn man euch Arme und Beine abgehackt hat?«
»Warst du jemals verliebt, Artaxas?«
Nossew schnitt eine Grimasse.
»Der größte Teil von mir ist ein wilder Stier«, entgegnete der Lamassu, als sei damit alles beantwortet.
»Ich werde Leylin holen, und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Sie muss fort von diesem Irren. Er darf sie nicht noch länger quälen. »Hast du Leylin gesehen, Nossew? Geht es ihr gut?«
Der Kobold breitete die Hände aus. Es schmerzte Melvyn, die Fingerstümpfe seines Gefährten zu sehen. Er wusste, dass Nossew eher ein Handwerker als ein Krieger war. Misht hatte ihm einmal erzählt, dass sie beide davon träumten, genug Gold zusammenzubekommen, um noch einmal eine Werkstatt aufmachen zu können.
»Wir werden diesen irren Fürsten bestrafen. Jedes Leid, das er zu verantworten hat, soll auf ihn zurückfallen. Jede Bosheit wird ihm heimgezahlt werden. Jedes ...«
»Deine Zunge scheint ja schon wieder ganz genesen zu sein«, klang es von der Tür. Ein Schattenriss füllte den Rahmen. Nestheus trat ein. Der Kentaur trug eine geflickte Weste, das Haar hing ihm in wirren Strähnen ins Gesicht, und er wirkte mehr wie ein übermüdeter Viehtreiber denn wie ein Fürst. Hinter ihm folgte Caileen in ihrer grünen, mit Gold beschlagenen Rüstung. Die Elfe schien ein Strahlen zu umgeben. Ihr Haar war gerichtet, der Harnisch glänzte selbst im trüben Winterlicht. Zwei ihrer Krieger trugen eine Holztafel, Rollen mit Karten und eine kleine Truhe.
»Es ist Zeit, wieder ins Bett zu gehen«, verkündete Artaxas schmunzelnd und ließ Melvyn zu dessen Lager schweben. Misht, der mit den anderen gekommen war, zog ihm die Felldecken über die Beine.
Melvyn schämte sich ein wenig für seine Schwäche, genoss es aber, wieder im Warmen zu liegen. In der Luft zu hängen, den Launen seines Freundes ausgeliefert, hatte ihm zutiefst widerstrebt.
»Du überraschst uns«, spottete Caileen freundlich. »Du kannst dich kaum von deinem Lager erheben und rufst schon einen Kriegsrat an dein Krankenbett, als seiest du hier der Oberbefehlshaber.«
Melvyn versuchte seine Gedanken zu ordnen, doch das Bild Leylins wollte nicht vor seinen Augen verschwinden. Er musste sie wieder finden. Das war wichtiger als alles andere. Unangenehme Stille machte sich breit. Alle sahen ihn an.
»Weißt du, wer dich angegriffen hat?«, fragte Nestheus schließlich.
»Ein Elf ...« Er versuchte, seine Erinnerung an diese Winternacht wachzurufen, und doch waren es die Bilder einer ganz anderen, freundlicheren Nacht, die sich ihm aufdrängten. Die Erinnerung an den Adlerflug mit Leylin.
»Bist du erschöpft?«, fragte Artaxas besorgt.
Melvyn schüttelte den Kopf. »Die Gräber ... Gibt es eine Karte, auf der ihr mir den Vormarsch der Trolle zeigen könnt?« Er musste sich zusammenreißen. Er würde sich noch zum Gespött aller machen! Und er brauchte ihre Hilfe, wenn er Leylin retten wollte.
Caileen winkte den beiden Kriegern. Sie stellten die Tafel ab und legten eine große Karte des Windlands auf. Mit roter Kreide war eine Schlangenlinie auf das Pergament gemalt. Die Hauptrichtung des Vorstoßes führte von Nord nach Süd. »Ist einem von euch der Sinn der Haken klar, die unsere Feinde immer wieder schlagen? Gibt es etwas, wovor sie ausweichen?«
Melvyn konnte in den Gesichtern lesen, dass sich die anderen diese Fragen auch schon ungezählte Male gestellt hatten, ohne befriedigende Antworten zu finden.
»Sie folgen dem Weg der Gräber«, erklärte er schließlich.
»Nestheus, kennst du auch die Grabhügel der anderen Kentaurenvölker?«
»Selbstverständlich. Schon als Kind habe ich meinen Vater auf die Totenfeste begleitet.«
»Kannst du mir auf der Karte zeigen, wo entlang des Marschwegs der Trolle Hügelgräber liegen?«
Nestheus betrachte das Pergament. Plötzlich schnaubte er.
»Das ist verrückt. Jeder Haken, den sie schlagen, führt zu einem Hügelgrab, als wollten sie unseren toten Fürsten und Kriegsherren huldigen.«
»Wovon man bei Trollen nicht ausgehen sollte«, mischte sich Caileen ein. »Was hat das zu bedeuten?«
»Habt ihr es geschafft, ihnen ihren Nachschub abzuschneiden, wie Ollowain es geplant hatte? Hungern die Trolle, und stirbt ihr Heer auf einem Todesmarsch durch die endlose Steppe?«
»Du weißt, dass es nicht so ist«, stieß Caileen gereizt hervor.
»All unsere Pläne sind fehlgeschlagen. Würdest du uns jetzt freundlicherweise an deiner Weisheit teilhaben lassen und dieses kindische Ratespiel beenden!« »Sie haben Vorratslager angelegt. Du hast mir gesagt, dass die Lutin die Baumeister eurer Grabhügel sind. Ich selbst habe gesehen, wie ihre Zauber die toten Fürsten deiner Sippe schützten. Ihr Fleisch ist so gut erhalten wie an dem Tag, an dem sie starben. Sie sind bereit, sich einst zur letzten Schlacht zu erheben. In der Gruft, in der dein Vater ruht, habe ich Büffelblut gefunden, Nestheus, aber Büffel gelangen dort niemals hinab. Wie kam das Blut dorthin?« Der Kentaurenfürst zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht erklären.«
»Was haben die Lutin mit den Totenfeierlichkeiten deines Volkes zu tun?«
»Sie öffnen die Grabhügel und bereiten sie darauf vor, einem weiteren Toten zur Heimat zu werden. Nur sie können die magischen Siegel der Grabkammern öffnen, ohne dass der Zauber, der die Toten erhält, Schaden nimmt. Sie richten auch den Leichenschmaus aus.«
»In der Schlacht am Mordstein hat man eine Schar von Lutin nahe dem Lager der Trolle gesehen. Ich glaube, die Fuchsköpfe haben sich mit unseren Erzfeinden verbündet.«
»Warum sollten sie das tun?«, mischte sich Caileen ein. »Sie treiben schon immer mit jedem Handel, der ihre Dienste und Waren nachfragt. Natürlich kann man sie dann auch im Heerlager der Trolle antreffen. Aber ihre Geschäfte können sie nur deshalb machen, weil sie sich nie auf eine Seite schlagen. Das ist nicht ihre Art.«
Melvyn ließ sich von dem Einwand nicht beirren. »Ich weiß, dass die Lutin in den letzten Jahren viele Stämme der Steppe reich gemacht haben. Sie haben große Büffelherden gekauft und mit ihrem Gold die Preise so sehr verdorben, dass kaum jemand anders noch Vieh kaufen mochte. Weißt du, wohin sie das Vieh gebracht haben?«
»Was schert es mich, wohin das Fleisch ging. Sie haben gut gezahlt. Selbst wenn sie es an die Trolle weiterverkauft hätten, wäre das doch egal. Die Trolle halten keine Viehherden. Sie schlachten sie und fressen.« Nestheus verstand ganz offensichtlich nicht, worauf er hinauswollte.
»Machen sich die Lutin manchmal an den Grabhügeln zu schaffen, wenn kein Begräbnis bevorsteht?«
»Sie pflegen die Gräber. Manchmal kommen sie, um nach dem Rechten zu sehen. So ist es zwischen unseren Völkern festgeschrieben, seit sie die Gräber für uns errichtet haben.«
Caileen sah Melvyn mit großen Augen an. »Du meinst, sie haben die Büffel geschlachtet und das Fleisch in die Gräber gebracht, damit es ebenso wenig vergeht wie die toten Fürsten.«
Der Wolfself deutete auf die Karte. »Kannst du mir einen anderen Grund nennen, warum sich das Heer der Trolle von Grabhügel zu Grabhügel bewegt? Warum können sie die Steppe durchqueren, ohne von Vorratskarawanen versorgt zu werden? In ihrem Heer gibt es kaum Lasttiere, die sie aufhalten. Sie sind schneller, als jeder erwartet hätte.«
Nestheus schüttelte ungläubig das Haupt. »Das kann nicht sein! Der Pakt zwischen meinem Volk und den Lutin währt seit Jahrhunderten.«
»Hätten sie euren Zorn zu fürchten, wenn die Trolle die neuen Herren Albenmarks würden?«, fragte Melvyn gereizt. »Sieh der Wahrheit ins Gesicht! Eure Totenwächter haben euch auf das Schändlichste hintergangen.«
»Das ist alles Unsinn!«
»Dann geh und lass einen der Grabhügel öffnen, Nestheus. Dort wirst du nicht einmal mehr die Leichen eurer Ahnen finden! Die Trolle sind nicht wählerisch, wenn sie hungrig sind.«
»Das kann ich nicht ... Es ist unmöglich. Wenn wir die Rundsteine wegrollen, mit denen die Gräber verschlossen sind, dann zerstören wir die Zauber, die unsere Ahnen erhalten. Sie würden zu Staub zerfallen. Nur die Lutin können die Gräber öffnen.«
»Dann konnten sie sich ja ganz sicher sein, dass ihr Betrug an euch niemals auffallen würde«, bemerkte Artaxas.
Der Kentaurenfürst deutete auf die Karte. »Hier liegt der Grabhügel meiner Ahnen«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme. »Die Trolle sind zwanzig Meilen davon entfernt vorbeigezogen. Warum haben sie das getan, wenn diese Hügel ihre Vorratslager waren? Deine Geschichte ist nicht mehr als ein kranker Fiebertraum, Melvyn.«
»Sie waren nicht dort, weil dein Vater zur falschen Zeit gestorben ist. Die Lutin mussten ihr Fleischlager räumen, weil das Begräbnis abgehalten wurde. Sie mussten alle Spuren verwischen. Und wir alle haben ihnen geholfen! Erinnerst du dich, wie großzügig sie die Gäste bewirtet haben? Wie viel Fleisch es gab?«
»Sie haben schon immer den Leichenschmaus ausgerichtet«, wandte der Kentaurenfürst ein. Doch sein Widerspruch war diesmal nicht mehr so entschieden.
»Und ist es Tradition, dass sie alle Gäste schon lange vor den Feierlichkeiten bewirten? Jeder, der sie gefragt hat, bekam Rippenstücke und Büffelkeulen geschenkt. Deine Gäste hielten dich für einen besonders freigiebigen Trauernden, Nestheus. Aber war es wirklich deine Idee?«
Der Kentaur senkte den Blick. »Das kann doch nicht sein ...«
»Als ich versuchte, mich in das Lager der Lutin zu schleichen, um nachzusehen, woher all das Fleisch kommt, hat mich ein Meuchler angegriffen. Warum wollten sie verhindern, dass ich mich umsehe, wenn sie nichts zu verbergen hatten? Und wie lange sind sie bei dem Grabhügel geblieben? Sind sie vielleicht noch in derselben Nacht aufgebrochen? Und haben sie ein großzügiges Geschenk an Fleischvorräten zurückgelassen?«
In dem schäbigen Zimmer herrschte bedrückte Stille.
»Ganze Heerscharen haben sich bemüht, die Nachschubkarawanen der Trolle aufzuspüren«, brach Melvyn das Schweigen.
»Nun wissen wir endlich, wo wir suchen müssen. Endlich können wir anfangen, ihnen Probleme zu bereiten!«
»Wir werden nicht die Gräber unserer Ahnen schänden!«, sagte Nestheus entschieden.
Der Elf hatte mit diesem Einwand gerechnet. »Sie haben die Steppe ohnehin fast überwunden. Aber es muss noch weitere Vorratslager geben. Auf den Ebenen des Windlands gab es nicht viele Verstecke, die sie nutzen konnten. In den Mondbergen und in den weiten Wäldern Arkadiens sieht das anders aus. Es gibt natürliche Höhlen, Burgruinen und die Gewölbekeller verlassener Gutshäuser. Ihre Zauber, den sie auf die Kentaurenfürsten gelegt haben, können sie überall wirken. Diese Verstecke müssen wir ausfindig machen und das Fleisch darin vernichten. Nun, da sie schon so weit vorgestoßen sind, werden wir sie wohl nicht mehr daran hindern können, das Herzland zu erreichen, aber wir können versuchen, ihnen den Weg dorthin so schwer wie möglich zu machen.«
Caileen sah ihn fest an. Ihr Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. »Wir werden sie ziehen lassen.«
»Was?« Melvyn richtete sich ruckartig auf seinem Lager auf und zuckte vor Schmerz zusammen. »Was gibt es da zu überlegen? Endlich sind wir ihnen einen Schritt voraus. Wenn wir die geheimen Vorratslager entdecken, dann wissen wir, wohin sie gehen werden. Wir können ihnen Hinterhalte legen, und wir können ...«
»Nein«, sagte Caileen entschieden. »Deine Nachricht kommt zu spät. Meister Alvias war im Auftrag der Königin auf dem Leichenschmaus für Orimedes. Während du bewusstlos warst, haben wir mit ihm verhandelt. Wir können nur dann hoffen, die Trolle zu besiegen, wenn sich alle Kämpfer Albenmarks einem Befehl unterwerfen. Emerelle hat mir meine Rebellion vergeben. Die Bedingung war, dass ich von nun an ihren Befehlen gehorche. Ich bin mit meinen Reitern nur deshalb noch hier, weil wir den Flüchtlingen helfen. Die Königin hat uns befohlen, den Trollen keinen Widerstand mehr zu leisten. Wir werden uns bis zur Shalyn Falah zurückziehen. Dort hat sie die Trolle schon einmal besiegt. Auch diesmal soll die Entscheidung bei der weißen Brücke fallen.«
Melvyn konnte es nicht fassen. »Aber wir haben die Gelegenheit, die Trolle zu schwächen! Wenn wir ihnen die Vorräte nehmen, dann wird es leichter werden, sie zu besiegen. Und mit jedem Tag, um den wir ihren Vormarsch verlangsamen, wird Emerelles Heer weiter wachsen. Es wäre töricht, unseren Vorteil nicht zu nutzen.«
»Die Befehle der Königin sind eindeutig«, beharrte Caileen.
»Sie tut es, um das Land zu schonen. Wenn wir den Trollen ihre Vorräte nehmen, dann werden sie plündern müssen. Sie werden langsamer vorrücken, und ihr Heer wird sich auf eine größere Fläche verteilen. Alles, was ihnen fehlt, werden sie aus dem Land nehmen. Dörfer und Städte, die ansonsten ungeschoren geblieben wären, werden dann von ihnen heimgesucht. Wir werden auch Talsin kampflos aufgeben, obwohl es leichter zu verteidigen ist als Feylanviek.« Sie machte eine kurze Pause.
»Und wir werden die Lagerhäuser den Trollen überlassen.«
Melvyn konnte nicht fassen, was er da hörte. Sogar Artaxas legte keinen Widerspruch ein. »Und was meint Elodrin?«
»Die Königin hat ihn und alle, die mit ihm sind, für vogelfrei erklärt. Er hat mit einigen Schiffen Reilimee verlassen. Niemand weiß, wohin er gesegelt ist. Emerelle hat einen neuen Fürsten für Alvemer berufen.«
Der Wolfelf lächelte zynisch. »Kaum übernimmt sie das Kommando, setzt sich ihr bester verbliebener Feldherr ab. Vielleicht wäre es besser für mich gewesen, noch weiter ohnmächtig zu sein. Dann wäre es mir zumindest erspart geblieben, all diesen Unsinn mitzuerleben. Hat sie auch Befehle für mich?«
Caileens Gesicht blieb unbewegt. »Keine Befehle ... Offenbar hat Obilee der Königin von Shandrals Verbrechen berichtet. Auch er ist für vogelfrei erklärt worden, und Emerelle hat dir ein Geschenk schicken lassen.« Sie winkte einem der Krieger, der sie begleitet hatte, und dieser stellte die kleine Truhe, die er mitgebracht hatte, auf Melvyns Bettstatt.
Der Wolfself hob hilflos seine bandagierten Hände. Wenn Emerelle glaubte, sie könne ihn einfach kaufen, dann hatte sie sich geirrt. Mochten die anderen nur nach ihrer Pfeife tanzen! Er war sein eigener Herr!
»Darf ich die Truhe für dich öffnen?«, fragte Caileen. Melvyn zögerte kurz. Nein, es sollten ruhig alle sehen, wie er das Geschenk zurückwies!
»Nur zu.«
Die Gräfin zerbrach die beiden Siegel und klappte den Truhendeckel zurück. Auf einem Samtkissen lagen zwei wulstige Armschienen. Adler mit ausgebreiteten Schwingen waren als Schmuck in das Leder geprägt. Melvyn traute seinen Augen kaum. Woher wusste sie, dass er seine Waffen verloren hatte? War das Geschenk eine Aufforderung, Shandral zu richten?
»Die Königin lässt dir auch mitteilen, dass sie sich sehr freuen würde, dich an ihrem Hof zu empfangen, sobald du deine Angelegenheiten gerichtet hast.«
Melvyn horchte auf. »Waren das ihre Worte? Meine Angelegenheiten gerichtet?«
Die Andeutung eines Lächelns spielte um Caileens Lippen.
»Es waren die Worte ihrer Botin Obilee. Doch ich glaube, die fahrende Ritterin wiederholte wörtlich die Botschaft der Königin. Mir scheint, dass Obilee von dir sehr angetan war. Offenbar wusste sie der Königin nur Gutes über dich zu berichten.«
Melvyn betrachtete nachdenklich sein Geschenk. Er hatte Gerüchte gehört, dass Emerelle in die Zukunft sehen konnte. Vielleicht ergaben ihre eigenwilligen Befehle ja doch einen Sinn?
Lambi stand auf, als er sie kommen sah. Kadlin versteifte sich und ballte die Fäuste. Sie würde sich von ihm nichts sagen lassen! Mit diesem hässlichen alten Kerl würde sie fertig, dachte sie und wusste es besser, konnte sie sich doch vor Schwäche kaum auf den Beinen halten.
Sie wollte es mit eigenen Augen gesehen haben. Gegen jede Vernunft hoffte sie, das alles sei nur ein böser Traum. Sie betete zu den Göttern, dass sie gleich in Björns kleiner Kammer auf der Burg aufwachen würde. Sie würde spüren, dass die Nacht fast vorüber war, sich lautlos ankleiden und aus dem Zimmer schleichen, um auf der Burgmauer auf das erste silberne Tageslicht zu warten.
»Geh nicht zu ihm«, sagte Lambi mit rauer Stimme. Der alte Krieger sah zum Erbarmen aus. Ein blutiger Verband saß schief auf seiner Stirn. Seine Augen waren rot, und das grässliche Loch, das seine Nase ersetzte, war mit Schleim verklebt. Sein Haar hing ihm in Strähnen auf die Schultern herab. Das Kettenhemd war mit eingetrocknetem Blut bedeckt. Er stank nach Schweiß, Rauch und Tod.
»Du wirst mir nicht ...«
Lambi packte ihre Arme und presste sie ihr an den Leib. Der Herzog war noch erstaunlich stark für sein Alter. Seine Augen starrten. Das Weiß war von blutigen Adern durchzogen. »Geh nicht zu ihm! Es ist besser, Mädchen. Behalte ihn in ...« Er stockte. Tränen rannen ihm über die Wangen. »Behalte ihn in Erinnerung wie ...« Wieder brach er ab. Er drückte sein Gesicht gegen ihre Brust. Seine Schultern bebten. Er schluchzte leise. »Ich wünschte, mich hätte jemand zurückgehalten. Ich ...« Er ließ sie los und sah ihr gerade ins Gesicht. Sein Kinn bebte. Er rang um Worte. »Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich bin froh, dass er dich gehabt hat. Er hätte sonst niemals ... Du hast ihn die Liebe erfahren lassen. Man sollte nicht zu den Göttern gehen, ohne geliebt zu haben.«
Kadlin hatte keine Tränen mehr. Sie sah den alten Herzog nur an. Seine Worte berührten sie, aber sie war unfähig, ihre Gefühle noch zu zeigen.
»Ich habe ihn nie so glücklich erlebt wie in den letzten Monden. Es tut mir leid, dass ich ... Manche Männer werden auch im Alter nicht weise.«
Kadlin blickte die lange Reihe der mit Decken und Fellen zugedeckten Körper entlang. Es waren so viele ... Und es gab noch zwei andere Tunnel voller Leichen, die man vor dem Sturm vom Schlachtfeld geholt hatte. Kalf hatte sie schon gefunden.
Sie blickte zu dem roten wollenen Umhang und erinnerte sich, wie sie Björn gefoppt hatte, als er versucht hatte, mit Nadel und Faden einen Riss zuzunähen. Unter dem Umhang ragten seine schweren, dunkelbraunen Winterstiefel hervor. Sie hatte immer gescherzt, dass er dort außer seinen Füßen wohl noch zwei Tote Iltisse versteckte, weil die Stiefel so erbärmlich stanken.
Lambi trat ein Stück zur Seite. »Versteh mich nicht falsch, Mädchen. Ich verbiete es dir nicht. Ich könnte das nicht ... Du hast dasselbe Recht wie ich. Doch es wäre besser, wenn du ihn in Erinnerung behältst, wie du ihn kanntest. Das ... Das ist er nicht mehr. Nur noch eine leblose Hülle. Er ...«
»Wie starb er?«
Lambi atmete schwer aus. »Schnell.« Ihr Blick ließ ihn nicht los.
»Sein Pferd wurde niedergerissen ... Wir waren in voller Attacke. Ein Troll stürzte. Sie verschwanden unter den Hufen ... Es ging alles so schnell.«
»Unsere eigenen Reiter haben ihn zu Tode ...?« Sie konnte nicht weiter. Sie wollte das nicht einmal denken.
»Es war Pech.« Der Alte versuchte ein Lächeln, vielleicht um ihr Mut zu machen. »Ich sage mir die ganze Zeit, dass Norgrimm ihn in seinem Gefolge haben wollte. Er war zu gut für uns, nicht war? Er hatte keine Angst. Kurz bevor er gestürzt ist, habe ich noch zu ihm hinübergeblickt. Sein Gesicht strahlte. Er freute sich auf die Schlacht. Seine erste Schlacht. Sein ...«
Lambi sah sie hilflos an. Er schien irgendetwas von ihr zu erwarten, aber sie begriff nicht, was es war.
»Ich habe gehört, dass auch dein Vater ...« Sie nickte. Darüber wollte sie jetzt nicht sprechen. Sie wollte überhaupt nicht mehr reden. Sie wollte ... Es gab auch nichts mehr, was sie noch wollte. Gestern noch war ihr Leben erfüllt gewesen. Und jetzt wünschte sie sich, dieser verdammte Elf hätte sie nicht vom Sims in der Steilklippe heruntergeholt. Sie wünschte, sie wäre mit den anderen in Norgrimms Hallen eingezogen. Sie war früher wochenlang allein durch die Wälder gestreift und hatte sich nie einsam gefühlt. Es hatte immer Kalf gegeben. Stark, freundlich. Nie hatte sie daran gedacht, einmal zu ihrem Haus am See in dem verborgenen Tal zurückzukehren und ihn dort nicht mehr zu finden. Sie würde nicht mehr dorthin gehen können ...
Und Björn. Er hatte so sehr um sein Leben gekämpft, nachdem der Silberlöwe ihn verwundet hatte. Und als er noch zu schwach gewesen war, um sich zu erheben, hatte er ihr von seinen Plänen erzählt. Sie hatten beschlossen, nach Albenmark zu fliehen, wenn Lambi ihnen zu sehr zusetzte. Und Silwyna hatte schon fest zugesagt, ihnen zu helfen. Sie dachte auch an jenen wundervollen Nachmittag, als sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Björn hatte es gewollt, obwohl seine Wunden noch nicht verheilt gewesen waren. Er hatte zuerst vor Schmerzen und dann vor Lust gestöhnt. Er war so voller Lebensfreude gewesen! Als er in der Höhle mit dem Troll erwacht war, waren seine ersten Worte ein Scherz gewesen. Wieder blickte sie zu dem Körper unter dem roten Wollumhang.
»Geh nicht hin, Mädchen«, flüsterte Lambi. »Behalte ihn so in Erinnerung, wie du ihn geliebt hast«, sagte er noch einmal.
»Vertrau einem alten Mann, der ... der schon oft Abschied nehmen musste.«
Sie atmete schwer aus. »Wie wird man ...« Sie brachte es nicht über die Lippen. Kadlin setzte noch einmal an, doch diesmal versagte ihr gänzlich die Stimme.
Lambi hatte sie auch so verstanden. »Es wird ein Totenfeuer geben, sobald der Sturm sich gelegt hat.«
Sie nickte. Der Herzog sah sie an. Was erwartete er? Vergebung? Es gab nichts zu vergeben. Sie schuldeten einander nichts. Sie wusste nicht, was sie ihm noch sagen sollte. Aber sie spürte, dass er etwas brauchte. Einen Halt in seinem Kummer. Das konnte sie nicht sein!
Kadlin legte dem Alten kurz die Hand auf die Schulter. Dann ging sie. Sie hatte Angst, dass es ihr leid tun würde, von Björn nicht mehr Abschied genommen zu haben. Zugleich hätte sie es nicht ertragen, sein Antlitz so zerstört zu sehen wie das ihres Vaters.
Rastlos irrte sie durch die dunklen Gänge der riesigen Trollfestung. An manchen Stellen waren seltsame Steine in die Wände eingelassen, von denen ein blasses Licht ausging. Alles hier war zu groß. Die hohen Flure, die weiten Säle. Egal wohin man sich wandte, man wurde stets daran erinnert, dass dieser Ort nicht für Menschen geschaffen war. Sie hätten niemals hierher kommen dürfen, dachte sie traurig. Was hatte ihnen dieser Krieg gebracht?
Kadlin war froh, während der Kämpfe nicht dem Troll mit den Schmucknarben auf der Brust begegnet zu sein. Sie schämte sich immer noch dafür, dass man Brud seine Hilfe mit einem Pfeil vergolten hatte.
Alles um sie herum war so fremd, dass sie es nicht als Wirklichkeit akzeptieren konnte. Wieder schlich sich die trügerische Hoffnung in ihre Gedanken, dass sie bald aus einem grässlichen Alptraum erwachen müsse. Björn konnte nicht tot sein! Vielleicht würde sie ihn schon hinter der nächsten Biegung des Ganges treffen?
Unsinn!
Überall lagen Verwundete. Es war kalt in der Trollfestung. Die dicken Mauern hielten den Wind fern, doch der Frost lauerte auch im Herzen der Festung. Sie hatten Feuerschalen aufgestellt und an manchen Stellen sogar Feuer mitten in den Gängen entfacht. Dort wurde alles verbrannt, was ihnen in die Hände fiel. Stinkende Felle, die plumpen Möbel, die Dauben zerschlagener Fässer, Lumpen.
Ziellos wanderte Kadlin umher. Einmal suchte sie Wasser für einen Verwundeten. Ein anderes Mal setzte sie sich an das Lager eines Bewusstlosen und hielt ihm die Hand. Stundenlang. Bis dessen Finger kalt und steif wurden. Sie wusste nicht mehr, ob es Tag oder Nacht war, als das Jaulen des Windes nachließ, der sich in den Pfeilern und Stützstreben des Turmes verfing.
Sie verspürte keinen Hunger und keinen Durst. Ihr Gefühl für Zeit war ihr abhanden gekommen.
Einmal, als sie in einen besonders großen Saal gelangte, sah sie von Ferne den König. Er war umringt von seinen Hauptleuten und einigen Elfen. Er stand bei einem riesigen Lehnstuhl. Daneben sah Alfadas wie ein Kind aus. Alle sahen sie im Schatten dieses Stuhls wie Kinder aus! Böse Kinder, die einen üblen Streich gespielt hatten und nun überlegten, wie sie ihrer Bestrafung entgehen konnten.
Wären sie nur niemals hierher gekommen! Kadlin war so müde, dass sie nicht einmal mehr zornig sein konnte. Wieder begann sie ihre rastlose Wanderschaft zwischen den Toten, den Sterbenden und den für ihr Leben Gezeichneten. Sie verlor sich in hohen Tunneln, in denen es nach altem Bratenfett und Fäkalien stank.
In einer Nische, unter einem der leuchtenden Steine kauernd, fand sie Gundaher. Der Baumeister des Königs hockte mit angezogenen Beinen und umklammerte ein riesiges Buch.
»Träumst du auch schlecht?«, fragte er sie unvermittelt.
Sie unterbrach ihre Wanderschaft, die ohnehin kein Ziel hatte.
»Ich träume nicht. Seit der Schlacht habe ich noch nicht geschlafen.«
»Spürst du das Böse? Es ist tief in die Steine eingedrungen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Und wenn wir das Böse sind?« Kadlin hatte eine Kammer voller Trollweiber und -kinder gesehen. Sie waren groß und unförmig. Unheimliche Gestalten. Offensichtlich hatte man sie gezwungen, sich auf den Boden zu kauern. Überall waren bewaffnete Elfen. Mit gezogenen Schwertern schritten sie zwischen den Gefangenen auf und ab.
Der Baumeister strich sich nachdenklich über den Kinnbart.
»Vor langer Zeit war ich ein Priester, und man hat mich gelehrt, die Elfen seien die Sendboten der Finsternis. Dann begegnete ich einem Priester, der schlimmer war als alle Geschichten, die ich jemals über die Elfen hörte.« Er sah sie forschend an.
Kadlin wusste, wovon er sprach. Sie kannte die schrecklichen Bilder aus dem Buch, das er ihr anvertraut hatte. Die unsägliche Qual in den Gesichtern der Sterbenden. Dieselben Qualen hatte sie hier bei jungen Kriegern gesehen, die sich verzweifelt an ihr Leben klammerten und doch wussten, dass sie ihren Wunden erliegen würden.
»Ich habe mit einem Elfenfürsten gesprochen. Ich bin schon zu lange im Fjordland. Meine Vergangenheit könnte mich einholen.« Bei diesen Worten blickte er besorgt den Flur hinab, dessen Ende sich im Dunkel verlor. »Der Elf war freundlich. Er scheint ein Fürst unter ihnen zu sein. Er trägt stets einen weißen Falken auf der Hand. Fenril oder so ähnlich heißt er.« Gundaher lächelte. »Ihre Namen verbiegen einem die Zunge. Es heißt, ihre Welt sei wunderschön. Ein Ort, an dem immer Frühling ist.«
»Führen sie dort nicht einen großen Krieg?«
»Kriegen kann man davonlaufen, Kadlin. Glaube mir, ich bin ganz gut im Davonlaufen. Ich will nicht zu den Kriegern, ich will zu den Künstlern und Gelehrten. Ich will sehen, ob sie wirklich Paläste aus Licht bauen. Und vom Winter habe ich genug. Meine alten Knochen sehnen sich nach einer Frühlingssonne, die wärmer scheint als die im Fjordland.« Er klopfte auf das Buch. »Auch hoffe ich, jemanden zu finden, der das hier lesen kann. Ich habe es in einer Kammer ganz oben im Turm gefunden. Ich glaube, es ist das einzige Buch hier. Dass diese Menschenfresser Bücher schreiben ... Ich wüsste zu gern, was darin steht. Was sie wohl zu sagen haben?« Kadlin schloss die Augen und dachte an den Frühling in den Bergen. Der Schmerz überwältigte sie. Wohin auch immer sie gehen würde, jeder Wald, jeder Hang, jeder Gipfel würde sie an die Jagdausflüge mit ihrem Vater erinnern.
Kalf und Björn waren ihr Leben gewesen, der Mittelpunkt all ihrer Gedanken. Sie waren mit allem verknüpft, was der Erinnerung wert war. Ohne sie würde es nur noch Traurigkeit in ihrem Leben geben. Vielleicht vermochte die wundersame Welt der Elfen diesen Schmerz zu lindern. Aus den Tagen mit Silwyna kannte sie viele Geschichten über Albenmark. Sie verstand sogar ein wenig von deren Sprache.
»Graf Fenryl würde dich wirklich mitnehmen?«
»Er scheint sich auch für das Trollbuch zu interessieren. Ich glaube, er ist nicht nur ein Krieger, sondern auch ein gelehrter Mann. Wir Gelehrten finden überall zusammen.«
»Aber ich bin keine Gelehrte«, wandte Kadlin ein.
Gundaher lächelte. »Das müssen wir ihm ja nicht verraten.«
Als die schweren Masten sich neigten und die Rahen durch die lichterloh brennenden Decks schlugen, begann das große Schiff zu sinken. Fauchend brach Wasser in die Stauräume ein. Weißer Dampf, gesprenkelt von glühenden Funken, stieg dem Nachthimmel entgegen. Das sterbende Schiff stieß tiefe, grollende Laute aus, als das Wasser immer weitere Decks überflutete. Die verlöschenden Flammen fauchten.
Elodrin stand mit verschränkten Armen auf der steinernen Mole, die sich unterhalb der Nachtzinne in die Bucht erstreckte. Seine Getreuen waren in langem Spalier angetreten, um von den Toten feierlich Abschied zu nehmen. Das größte der Trollschiffe war ausgewählt worden, um den Gefallenen der Menschen und Elfen als Scheiterhaufen zu dienen.
Feuerbecken standen am Rand der Mole. Sie wurden flankiert von den drei Dutzend Eingeweihten. Die meisten von ihnen waren Maurawan. Auf ihren unverbrüchlichen Hass gegen die Trolle konnte man sich verlassen. Sie würden keinen Befehl verweigern!
Als die brennende Galeasse schon tief im Wasser lag, kam der König der Menschen und verabschiedete sich. Elodrin kannte Alfadas noch aus der Zeit, in der er am Hof der Elfenkönigin geweilt hatte. Es war erschütternd zu sehen, welche Verwüstungen so wenige Jahre bei einem Menschen anstellen konnten. Vielleicht ein Vierteljahrhundert war vergangen, seit er den jungen, selbstbewussten Alfadas das letzte Mal gesehen hatte. Nun stand ein verhärmter alter Mann vor ihm.
Alfadas fand nur wenige, kühle Abschiedsworte. Der Seefürst konnte ihn verstehen. Zu teuer hatten die Menschen für den Sieg über die Trolle bezahlt. Kaum mehr als fünfhundert von ihnen würden zurückkehren. Dreihundert waren so schwer verletzt, dass sie den Weg zum Albenstern nicht mehr aus eigener Kraft schaffen konnten. Sie würden an Bord der Meerwanderer in ihre Heimat gelangen. Der Dreimaster war mit Verwundeten überfüllt.
Es war Elodrin leicht gefallen, Alfadas diese Hilfe anzubieten. Der Seefürst hatte es nicht eilig, nach Albenmark zu gelangen. Er wusste, dass Emerelle ihm nicht verzeihen würde. Er blickte zu den vier schwarzen Galeassen, die noch an der Mole lagen. Er selbst würde sich nicht verzeihen können. Doch Kriege folgten ihren eigenen Gesetzen, und wer kein Blut sehen konnte, der sollte nicht nach dem Schwert greifen, sondern sich lieber gleich unterwerfen.
Es war ein trauriges Häuflein, das sich auf den Rückweg zum Albenstern machte, durch den sie hierher gekommen waren. In zwei Tagen würden sie die Nachricht vom Sieg, der zu blutig gewesen war, um gefeiert zu werden, in ihre Heimat tragen.
Es begann wieder zu schneien. Schnell verschluckten die Nacht und das wirbelnde Weiß die Geschlagenen. Ob ihr König schon ahnte, in welchem Ausmaß sie für ihren Sieg würden zahlen müssen?
Elodrin winkte Fenryl zu. »Bringt die Gefangenen auf die Schiffe!« Selbst die Alten, die Weiber und die Kinder hatten Widerstand geleistet, als er die Nachtzinne erstürmt hatte. Natürlich waren sie der Elite der Fechter Albenmarks nicht gewachsen gewesen, aber es hatte viel Blut vergossen werden müssen, bis sie das eingesehen und sich ergeben hatten. In den langen Tunneln und den Hallen des Felsennests war den Trollen nicht klar geworden, mit wie wenigen Angreifern sie es zu tun gehabt hatten. So hatten seine fünfzig auserwählten Krieger zuletzt mehr als siebenhundert Trolle gefangen gesetzt. Es war wie damals in der Schlacht an der Shalyn Falah gewesen, als sie ein überlegenes Trollheer getäuscht und gesiegt hatten, obwohl ihre Lage im Grunde hoffnungslos gewesen war.
Elodrin verschränkte die Finger ineinander und drückte die Hände durch. Er hatte das, was geschehen sollte, schon sehr lange geplant. Sein Gewissen plagte ihn deshalb nicht. Es war logisch, so zu verfahren. Aber würden seine Befehle ausgeführt werden? Das, was nun geschehen sollte, war der eigentliche Grund dafür, dass er sich bemüht hatte, so viele Maurawan wie möglich zu rekrutieren. Sie waren aufsässig und fügten sich schlecht in die Befehlshierarchien eines Heeres ein. Aber sie galten auch als besonders gnadenlos. Sie hatten ebenso wenig Gewissenbisse, wie er sie hatte. Die Trolle hatten ihre heiligen Haine geschändet und damit begonnen, ihre Wälder abzuholzen.
Elodrin winkte den Ruderern der beiden Galeeren zu. Es war abgesprochen, die beiden Galeassen, die von den Trollen besetzt werden sollten, in die Mitte der Bucht zu schleppen. Trolle fürchteten tiefes Wasser, denn sie versanken darin wie Steine. Keiner von ihnen würde einen Fluchtversuch unternehmen.
Der Seefürst ging zu den Gefangenen hinüber. Sie stanken erbärmlich! Er betrachtete ihre derben Gesichter. Was mochte die Alben veranlasst haben, solche grobschlächtigen Ungeheuer zu erschaffen?
Graf Fenryl kam zu ihm hinüber. Der Elf aus dem Volk der Normirga war nützlich, aber ein wenig affektiert. Stets trug er Weiß, so als wolle er Ollowain nachahmen. Auch seine Vorstellungen von ritterlichen Tugenden waren überaus störend.
»Orgrims Weib ist unter den Gefangenen.« Mit nichts anderem hatte Elodrin gerechnet. Schließlich war die Nachtzinne seine Burg. Der Ort, den er für den sichersten in diesem Krieg gehalten hatte.
»Ich weiß«, entgegnete der Seefürst, ohne sich die Mühe zu machen, Überraschung zu heucheln. »Aber niemand verrät, wer sie ist. Es sind wohl auch einige Konkubinen und etliche Kinder des Feldherrn anwesend.«
»Mit diesen Geiseln können wir ihn sicher zu Verhandlungen zwingen.«
Elodrin hob eine Braue. Unfassbar, wie naiv der Kerl war.
»Und was erreichen wir? Wir haben vielleicht ein paar Jahre Frieden ... In dieser Zeit werden die Trolle noch stärker, und dann fallen sie erneut über die zivilisierten Völker Albenmarks her. Das ist keine Lösung!« Er winkte den Kriegern, die an dem hölzernen Steg standen, der hinauf zum ersten Schiff führte.
»Bring mir diesen großen Kerl da!« Er deutete auf einen besonders massigen Troll, der ihn die ganze Zeit über mit Blicken wie Messerstichen bedacht hatte.
Seine Befehle wurden ohne Zögern ausgeführt. Vier Speerträger eskortierten den Troll. Ihre Waffen hielten sie drohend auf seine Kehle gerichtet.
»Er wird unser Bote für Orgrim sein«, erklärte Elodrin.
»Der Herzog soll schließlich wissen, wer sein Feind ist.« Er wandte sich an den Troll und sprach ihn in dessen Sprache an.
»Wenn dein Herr dich findet, dann richte ihm aus, dass Elodrin, der Fürst von Alvemer, hier war. Der Fürst, dessen Tochter und dessen Enkel in Reilimee lebten, bevor ihr die Stadt vor fünfzehn Jahren niedergebrannt habt. Kannst du dir meinen Namen merken? Elodrin«, wiederholte er noch einmal langsam.
»Ehlodrin«, wiederholte der Troll. Aus seinem Munde klang der Name befremdlich. Hart und irgendwie beschmutzt.
Der Seefürst wandte sich an die Wachen und fuhr in seiner Muttersprache fort: »Kettet den Mistkerl an der Mole fest. Und dann schneidet ihm beide Daumen ab. Er soll nie wieder eine Waffe halten können.«
Fenryl sah ihn schockiert an. Von diesem romantischen Weichling mit seinen falschen Ritteridealen hatte Elodrin nichts anderes erwartet. Er konnte sehen, wie es den Grafen Mühe kostete, sich zurückzuhalten.
Ungerührt schlenderte er ein Stück die Mole hinauf. Er beobachtete, wie die Landestege von den Galeassen zurückgezogen wurden. Die Galeeren nahmen die zwei schwarzen Schiffe in Schlepp. Ihre roten Ruder zerwühlten das dunkle Wasser zu Gischt. Die Seile zwischen den Schiffen spannten sich. Wasser perlte aus dem feuchten Hanf. Langsam, Zoll um Zoll, kamen die Galeassen in Fahrt.
Aus den Feuerschalen auf der Mole stieg der Rauch fast senkrecht in die Luft. Das Wetter war umgeschlagen. Es schneite noch immer, aber es war jetzt völlig windstill. Die Maurawan hatten sich nicht von der Stelle gerührt.
Als die Schiffe die Mitte der Bucht erreichten, holten die Galeeren die Schlepptrossen ein.
Fenryl räusperte sich. »Sollten wir uns mit dem Einschiffen nicht etwas mehr beeilen? Ich dachte an die Schamanin, die uns entkommen ist. Orgrim wird doch sicher schon benachrichtigt sein.«
»Ich selbst habe fünf Tage gebraucht, um mit meinen Schiffen nach Reilimee zurückzukehren, als ich hörte, dass die Trolle die Stadt erstürmt hatten. Die Nachricht war damals schon sieben Tage alt.«
Kurz zuvor war sein Bruder Hallandan bei den Kämpfen um Vahan Calyd gefallen. Die Flotte war auf hoher See. Es gab Streit um Hallandans Nachfolge, und in dieser Zeit griffen die Trolle Reilimee an. Es waren schreckliche Tage, die sein Leben zerstörten.
»Glaubst du, die Trolle sind uns überlegen?«, fragte er harsch.
»Wir haben noch Zeit.« Elodrin erwähnte nicht, dass die Schamanin auf seinen Befehl hin Gelegenheit zur Flucht bekommen hatte. Fingayn war ihr gefolgt und hatte beobachtet, wie sie durch den Albenstern ging. Elodrin wollte, dass der Feldherr der Trolle wusste, was hier geschah. Er würde rasen vor Zorn. Er würde wochenlang nicht wiederkehren. Hoffentlich hatte Emerelle einen fähigen Heerführer ernannt. Orgrims Abwesenheit war die Gelegenheit, gegen die Trolle loszuschlagen. Ihres fähigsten Anführers beraubt, standen die Aussichten gut, sie doch noch zu besiegen.
Elodrin dachte an die niedergebrannte Stadt, in die er vor fünfzehn Jahren heimgekehrt war. An die Knochenberge, die am Ufer gelegen hatten, dort, wo die Trolle ihr Siegesfest gefeiert hatten.
Der Feldherr hob den rechten Arm. »Bogenschützen! Setzt die Schiffe in Brand!« Die Maurawan zogen die vorbereiteten Brandpfeile aus ihren Köchern. Die Spitzen waren mit ölgetränkten Lappen umwickelt. Sie hielten die Pfeile in die Feuerschalen.
»Nein!«, schrie Fenryl. »Ich verbiete euch zu schießen! Im Namen der Königin, legt die Waffen nieder.«
Die ersten Pfeile flogen in weitem Bogen den Schiffen entgegen.
»Die Maurawan haben noch nie sehr viel auf die Befehle der Königin gegeben«, bemerkte der Seefürst trocken. Fenryl führte sich genauso auf, wie er es erwartet hatte.
Yilvina kam die Mole entlanggelaufen. Auch sie war erschüttert. »Herr, was geschieht hier? Wie konntest du diesen Befehl geben? Du wirst eine Lawine damit lostreten! Sie werden sich an den Menschen rächen! Das kannst du nicht zulassen.«
Er wies auf den angeketteten Troll. »Er wird ihnen sagen, wer hier den Befehl geführt hat. Vielleicht werden die Fjordländer einen schlimmen Winter haben, aber in hundert Jahren werden sie mir dankbar sein, denn dann ist der Letzte dieser Menschenfresser an Altersschwäche verreckt. Ohne Weiber gibt es keine Kinder mehr. Wir müssen ihre Weiber dezimieren, bis sie genauso wenige Kinder bekommen wie wir. Nur dann wird es Frieden in Albenmark geben können.«
Gellende Schreie hallten über das Wasser. Noch immer schickten die Maurawan Salve auf Salve gegen die brennenden Schiffe. Elodrin hatte die Decks und die Segel am Morgen mit Lampenöl tränken lassen, damit sich das Feuer besser ausbreiten konnte.
»Was ihr dort seht, ist das Totenfeuer des Trollherzogtums in den Menschenlanden.« Fenryl und Yilvina schwiegen. Erschüttert beobachteten sie, was sich auf den Schiffen abspielte. Manche Trolle warfen sich brennend ins Wasser. Wild mit den Armen schlagend, versuchten sie zum Ufer zu gelangen. Doch keiner schaffte es. Ihre schweren, gedrungenen Leiber rissen sie in die Tiefe.
Elodrin hatte erwartet, dass ihm seine Rache mehr Genugtuung bereiten würde. Aber was er sah, vermochte die große Leere, die der Verlust seiner einzigen Tochter in ihm hinterlassen hatte, nicht auszufüllen. Ernüchtert winkte er seinem Navigator auf der Meerwanderer. »Bring mir meinen Schild und mein Schwert, Landal!«
»Ich werde dich zum Hof der Königin bringen, Elodrin! Du wirst für deine Verbrechen büßen.«
Fenryls Zorn hatte etwas Rührendes. »Ich werde hier bleiben. Es gibt keinen Ort mehr, wohin ich zurückkehren könnte. Emerelle hat mich gewiss schon jetzt für vogelfrei erklärt. Mein Fürstentum wird sie mir für meine vermeintlichen Verbrechen entziehen, und meine Sippe ist ausgelöscht.«
Der Navigator brachte ihm die Waffen. Elodrin gürtete sich das Schwert um, das ihn in so vielen Schlachten begleitet hatte. Dann schnallte er den Schild mit dem Bild der silbernen Nixe, dem Wappen Alvemers, an seinen Arm.
Die Schreie auf den Schiffen erstarben. Bald war nur noch das Knistern des Feuers zu hören.
»Was hast du vor?«, fragte Yilvina.
»Meine letzte Schlacht schlagen. Ich erwarte die Trolle. Mein Schicksal hat sich erfüllt. Vielleicht kann ich Orgrim ja davon überzeugen, dass ich die Menschen nur benutzt habe.«
»So wie mich?«
»Es war in der Tat von Vorteil, dass König Alfadas dir vertraute, Yilvina. Aber machen wir uns nichts vor. Er hätte niemals Frieden mit den Trollen geschlossen. Ich fühle wie er. Ich weiß, wie es ist, die eigene Familie an diese Ungeheuer zu verlieren.«
Seine Leibwächterin funkelte ihn wütend an. »Nichts hast du mit ihm gemeinsam. Die Dunkelheit, die du in deiner Seele trägst, konnte ich an ihm nie entdecken.«
In der Ferne erklangen Kriegshörner. Ihre plumpen, röhrenden Rufe waren unverwechselbar. Es waren die Hörner von Trollen.
Elodrin war überrascht.
Niemals hätte er damit gerechnet, dass die Trolle es nach ihrer blutigen Niederlage beim Angriff auf Emerelles Burg noch einmal wagen würden, mit einem Heer das goldene Netz zu durchqueren. Mochte die Masse dieses Volkes auch aus tumben Blutsäufern bestehen, so war zumindest Orgrim ein würdiger Gegner.
»Sie marschieren auf Alfadas und seine Getreuen zu«, stellte Yilvina fest.
Wahrscheinlich werden die Trolle die Fjordländer schon erreicht haben, dachte Elodrin. Warum sonst sollten sie in ihre Kriegshörner stoßen? Er deutete auf den gefangenen Troll.
»Macht den Kerl da los! Unsere Pläne haben sich geändert!«
Emerelle erwartete Eleborn im Falrach-Zimmer. Sie verbrachte in den letzten Wochen sehr viel Zeit in dem kleinen Raum, der völlig vom Spieltisch beherrscht wurde. Auf dem Brett hatte sie die Lage Albenmarks dargestellt. Sie spielte Weiß, die Trolle Schwarz. Die weißen Steine waren in das letzte Drittel ihrer Spielfeldhälfte zurückgedrängt. Doch zumindest schlossen sich langsam die Reihen. Die Lage war verzweifelt, daran ließ sich nichts schönreden, aber sie war noch nicht völlig hoffnungslos.
Sie betrachtete die Steine der Königin und der Magierin. Sie und Alathaia. Seit Wochen verharrten sie bewegungslos in der Burg. Abseits des Tisches stand die Figur des Feldherrn. Erst als ihr Herz ihr sagte, dass Ollowain gestorben war, hatte sie den weißen Feldherrn aus dem Spiel genommen. Sie musste den Posten neu besetzen. Ihr Heer brauchte einen Kommandanten. Aber wer taugte dazu? Caileen hatte gegen sie rebelliert und musste sich erst bewähren. Melvyn hatte sie noch nie gesehen. Sie wusste, dass er unter den Kentauren und auch bei anderen Verbündeten beliebt war. Aber würden die Elfen ihm in die Schlacht folgen? Würden sie von einem jungen Krieger, der in einer Wolfshöhle aufgewachsen war, Befehle annehmen? Wohl nicht ...
Elodrin wäre eine gute Wahl. Er war kalt wie Eis, aber als Stratege hatte er seine Vorzüge. Hätte nicht auch er gegen sie rebelliert, dann wäre er ihre erste Wahl.
Die Tür zum Falrach-Zimmer öffnete sich. Alvias verneigte sich. »Eleborn, der Fürst unter den Wogen, Herrin.«
Würde Alvias als Heerführer taugen? Er war klug und loyal, das stand außer Frage. Aber konnte er ein Heer befehligen?
»Danke«, antwortete sie geistesabwesend.
Alvias zog sich zurück, und eine hochgewachsene Gestalt trat in das Zimmer. Der salzige Duft einer Seebrise eilte dem Fürsten voraus. Der weißhaarige Wassermann trug einen altertümlichen Wickelrock und einen mit langen Fransen besetzten Umhang. Das breite Kreuz, der harte, ozeangrüne Blick, alles an ihm strahlte Kraft aus.
Der Fürst unter den Wogen kniete vor ihr nieder. »Ich bitte dich um Verzeihung, Herrin.«
Emerelle winkte ärgerlich ab. »Keine Entschuldigungen und keine Förmlichkeiten. Lass uns von gleich zu gleich sprechen.«
Sie deutete auf das Falrach-Brett. »Die Lage ist sehr ernst, Fürst. Ich brauche jedes Schwert, das ich bekommen kann. Talsin ist vor wenigen Stunden an die Trolle gefallen. Sie waren wieder einmal schneller, als wir erwartet hatten.«
»Ich bedauere, so lange auf den alten Verträgen beharrt zu haben und blind für die Wirklichkeit gewesen zu sein. Meine Kinder haben dafür bluten müssen.« Eleborn trat an den Falrach-Tisch. Er musterte das Spiel, dann griff er nach dem schwarzen Schiff. »Ich habe nur wenige Krieger, die an Land kämpfen können. Viele Schwerter können wir dir nicht bringen.« Er blickte über die Dutzenden von Trollfiguren, die sich in einem Keil auf die dünne weiße Linie zubewegten.
»Aber ein Geschenk kann ich dir machen. Die Flotte der Trolle ist vernichtet. Riesenkraken, Leviathane und tausende zorniger Wassermänner haben sie auf den Grund der Walbucht gerissen. Nur fünf Schiffe sind uns entkommen. Sie sind gestern, während sich meine Kinder noch sammelten, mit unbekanntem Kurs davongesegelt und durch einen Albenstern auf hoher See geflüchtet.«
Emerelle nahm das kleine schwarze Schiff aus seinen Händen und stellte es zu den wenigen geschlagenen Steinen der Trolle.
»Ich danke dir für deine Morgengabe«, sagte sie lächelnd. »Ich werde leichter schlafen, nun, da ich weiß, dass es von See her keine Bedrohung mehr gibt. Sei mir willkommen im Bündnis, Eleborn, Fürst unter den Wogen.«
Emerelle küsste ihn flüchtig auf beide Wangen. Dann nahm sie ein kleines weißes Schiff aus den Seitenfächern des Falrach-
Tischs und stellte es auf ihre Seite. »Dank dir haben wir die Herrschaft über das Meer zurückerlangt.«
»Ich könnte Gischtpferde die Flüsse und Bäche hinaufschicken. Sie können nicht viele Trolle töten, doch wann immer unsere Feinde ein fließendes Gewässer überqueren, werden sie ihnen einige Schwierigkeiten machen.«
Emerelle dachte kurz über die Option nach. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich möchte ihren Vormarsch nicht aufhalten. Ich möchte unsere Feinde so schnell wie möglich an der Shalyn Falah haben. Wir werden nichts unternehmen, was sie aufhält.«
»Und wenn sie sich dort nicht zum Kampf stellen? Es gibt auch andere Wege ins Herzland.«
»Glaube mir, sie werden dorthin kommen, Eleborn. Das hat wenig mit Vernunft zu tun. Dieses Schlachtfeld ist sehr ungünstig für sie. Dennoch werden sie dort kämpfen, denn sie werden die Erinnerung an ihre einstige Niederlage durch einen glorreichen Sieg für immer tilgen wollen.« Der Fürst unter den Wogen strich sich über den gischtfarbenen Bart. »Du kennst die Zukunft, Herrin. Du wirst es wissen.« Er verbeugte sich.
»Verwehre den Trollen das Meer, Eleborn, und schenke unseren Schiffen günstige Winde. Das wird dein Anteil an unserem Sieg sein.«
Noch einmal verbeugte er sich steif. »Dein Wille wird geschehen, Herrin.« Mit diesen Worten zog er sich zurück.
Wenn er wüsste, wie viele Zukünfte ich sehe, dachte Emerelle niedergeschlagen. Sie betrachtete wieder den Spieltisch. Die Waagschale hatte sich ein wenig zu ihren Gunsten geneigt, doch die Übermacht der Trolle war immer noch erdrückend.
Sie nahm den neuen Spielstein, den sie hatte schnitzen lassen, vom Tisch und drehte ihn nachdenklich zwischen den Fingern. Er zeigte ein Kind. Alle dreißig Kinder, die auf Alathaias Liste gestanden hatten, waren in der Burg. Emerelle verbrachte jeden Tag einige Stunden mit ihnen. Sie hatten Angst. Sie spürten die Gegenwart der Yingiz in den Schatten, und Nacht für Nacht quälten sie Albträume.
Emerelle dachte an ihre Nächte. Immer wieder stellte sie in Gedanken eine Liste mit den dreizehn Opfern zusammen, die Alathaia gefordert hatte. Und immer wieder verwarf sie die Listen.
Die Königin seufzte. Und dann waren da noch die anderen Listen, die sie Tag für Tag erreichten. Listen von Toten, Verwundeten und Vermissten. Der Blutzoll, den Albenmark für jeden Tag, den der Krieg mit den Trollen fortdauerte, zu zahlen hatte. Wenn die Trolle erst einmal die Shalyn Falah erreicht hätten, würde sogar die Liste der verlorenen Städte mehr als dreizehn Namen tragen. Arkadien war dicht besiedelt. An der Heerstraße nach Süden lagen viele wunderschöne Orte. Wie viele Kinder würden sterben, weil sie unter den dreißig nicht wählen konnte?
Wenn sie Melianders Albenstein wieder zusammenfügten, dann könnten sie und Alathaia den zerstörten Albenpfad wiederherstellen. Wenn das goldene Netz geflickt war, dann konnte sie endlich die Burg verlassen und sich mit aller Kraft den Trollen widmen. Doch solange niemand sagen konnte, ob die Yingiz zu tausenden durch die Lücke brachen, sobald sie den Palast verließ, wagte sie sich nicht von der Stelle. Die Bilder in Melianders Buch waren unmissverständlich. Wenn die Yingiz kamen, würde Albenmark vergehen.
Emerelle schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, das Land zu spüren. Die beseelten Bäume im Park der Burg, deren Wurzeln einander zärtlich berührten. Die Magie, die Noroelle einst in den kleinen See gewoben hatte, der nicht weit entfernt von der Burg lag. Über all dem lag der Schatten der Yingiz, die bereits hierher gefunden hatten. Sie raubten dem Land von seiner Kraft.
Erleichtert schlug Emerelle die Augen auf. Im Augenblick war es nicht da ... Manchmal lauerte dort draußen etwas. Bisher hatte es sich ihr stets entziehen können. Es beobachtete die Burg, wachte darüber, ob sie noch da war. Mitunter war diese fremde Präsenz für Tage verschwunden. Doch jedes Mal, wenn sie zu hoffen begann, der fremde Beobachter sei fort, kehrte er zurück.
Emerelle setzte den Spielstein, der ein Kind zeigte, auf den Falrach-Tisch zurück. Wenn sie sich zu dem Opfer entschließen könnte, dann würde der Beobachter für immer gehen.
Orgrim betrachtete das Antlitz des toten Königs. Im Fackellicht sahen seine Züge sehr hart aus. Die Falten wirkten tiefer. In den toten Augen spiegelten sich Flammen, obwohl ihr Feuer längst verloschen war. Es war still auf dem Schlachtfeld. Noch immer schneite es, doch der einzige Laut war das Zischen des heißen Pechs, das von den Fackeln in den Schnee troff.
Der Herzog der Trolle versuchte zu begreifen, warum der Herrscher der Menschen ihm das angetan hatte. So lange hatten sie nebeneinander in Frieden gelebt. Nur ihre jungen Krieger hatten gelegentlich miteinander die Kräfte gemessen, doch es waren keine Heere marschiert. Der Himmel war nicht schwarz vom Rauch brennender Städte gewesen — und nun das! Der Mann, dem er sein Weib und sein Kind geschenkt hatte, als er diese dem Tode nahe im Schneesturm gefunden hatte, war gekommen, um ihm Weiber und Kinder zu nehmen! Warum? Orgrim konnte das nicht begreifen! Warum war Alfadas so leicht zum Krieg zu verführen gewesen? Was hatten die Elfen ihm für Gift in die Ohren geträufelt, um seinen Verstand zu blenden?
Der Herzog hatte immer geglaubt, die Menschen zu kennen. Während der Kämpfe in der Snaiwamark hatte er sie zu respektieren gelernt. Sie waren klein und schwächlich, aber sie kämpften mit dem Mut einer in die Enge getriebenen Schneelöwin, die ihre Jungen verteidigte.
Er atmete tief die kalte Winterluft ein und versuchte all die widerstreitenden Gefühle niederzukämpfen, die in seiner Brust tobten. Hass, Trauer, Zorn. Er wusste, dass es das war, was die Elfen erreichen wollten. Doch dieses Wissen half ihm nicht, seinen Schmerz zu überwinden. Sie wollten, dass er unbedachte Entscheidungen fällte. Das war geschehen, um ihn aus dem Krieg in Albenmark zu ziehen. Wäre er doch niemals mit Skanga gegangen! Hätte er nur der Versuchung des Ruhmes widerstanden! Es war sein Ehrgeiz, der ihn nach Albenmark zurückgebracht hatte. Die Aussicht, ein Heer zu führen, wie es bislang nicht einmal die Könige der Trolle befehligt hatten. Die Aussicht, Unsterblichkeit in den Heldensagen seines Volkes zu erlangen als jener Herzog, der Emerelle von ihrem Thron vertrieb. Um all das zu erreichen, sollte er nur ein halbes Jahr nach Albenmark zurückkehren. Und er hatte die Seinen in Sicherheit gewähnt. Die Nachtzinne war eine starke Festung ...
Er ballte die Fäuste in hilfloser Wut. So wie Phylangan es einst gewesen war. Die Botschaft der Elfen war angekommen! Sie wollten Rache ... War es so einfach? War er ihnen vielleicht schon in das Netz aus Heimtücke und Bosheit gegangen? Verstrickt in Gedanken, von denen sie wünschten, dass sie ihn quälten.
Er schrie seinen Schmerz und seine Verzweiflung in die Nacht. Unvermittelt riss er dem Krieger, der neben ihm stand, die Fackel aus der Hand. Er packte mit der Faust in die Flammen. Seine Finger schlossen sich um die pechgetränken Lappen und erstickten Flammen und Glut. Orgrim hechelte vor Schmerz, und doch vermochte die Pein des gemarterten Fleisches nicht den Schmerz auszulöschen, der in seiner Brust tobte. Er hatte verloren, ganz gleich, wie viele Menschen und Elfen er töten würde. Selbst Emerelles Thron würde ihn nicht entschädigen. Was war ein Stück Holz wert im Vergleich zu seinem Weib und seinen Kindern. Doch um dieses Stück Holz zu halten, war all das hier geschehen, dachte er zornig.
Er blickte ins Antlitz des toten Menschenkönigs. Alfadas hatte lange an Emerelles Hof gelebt. Er hatte sogar eine Elfe zum Weib, so hieß es. Er hätte das Ränkespiel doch durchschauen müssen! Was hatte ihn nur getrieben? Dass ein so tapferer Mann zugleich so dumm und verblendet sein konnte! Alfadas hatte gut gekämpft. Mit einer Hand voll Krieger hatte er sich in einer Klamm verschanzt, während seine übrigen Männer in die Berge geflohen waren. Der König hatte einen Trollkrieger getötet und einen weiteren übel verletzt. Und dabei hatte er zum Schluss allein gekämpft. Orgrim würde sein Herz essen, sobald die Toten gerächt waren. Alfadas hatte es verdient, dass man ihm Ehre erwies.
Der Herzog blickte zu Helog, dem Krieger, den die Elfen ihm entgegengetrieben hatten. Ihm die Daumen abzuschneiden, war selbst für Elfen niederträchtig. »Glaubst du, die Menschen wussten vom Plan der Elfen, unsere Leute zu ermorden?«
»Das kann ich nicht sagen. Sie sind vorher gegangen. Selbst unter den Elfen hat es Streit gegeben, als die Schiffe brannten.«
»Aber Elodrin ist noch immer ihr Anführer.« Helog nickte.
»Ja. Als er die Hörner hörte, hat er befohlen, meine Ketten zu lösen und mich laufen lassen. Dann gab er den Befehl, die Schiffe zu verlassen. Er marschiert uns entgegen. Er befehligt etwa fünfhundert Elfen.«
Orgrim kaute auf seiner Unterlippe. Er sollte in eine Falle gelockt werden. Was ging nur im Kopf des Fürsten von Alvemer vor? Elodrin konnte nicht gewusst haben, dass er nur dreihundert Krieger hierher führen würde. Mehr hatte Skanga ihm nicht gestattet. Sie hatte große Sorge gehabt, ihre Streitmacht könne im goldenen Netz noch einmal in eine Falle der Elfenkönigin geraten.
Dreihundert. Das war genug gewesen, um die Menschen in die Flucht zu schlagen. Aber gegen fünfhundert Elfen anzutreten, das wäre leichtfertig. Er musste sich zurückziehen. Und er würde die Toten hier lassen.
Die Menschen würden es den Elfen nicht verzeihen, wenn ihre Verbündeten die Leichen auf dem Schlachtfeld zurückließen. Für jeden Toten müssten die Elfen zwei Krieger abstellen, um ihn zu tragen. Ganz gleich, was sie taten, die Toten würden für Unfrieden sorgen. Sie konnten nicht zurückgelassen werden. Man konnte sie im hart gefrorenen Boden auch nicht begraben. Und selbst wenn das möglich wäre, hätten sie befürchten müssen, dass die Trolle sie wieder ausgruben. Sie zu tragen, machte das Heer aus Menschen und Elfen aber erheblich langsamer. Einen Scheiterhaufen zu errichten, auf dem man siebzig Tote verbrennen konnte, würde sie einen Tag kosten, um genügend Bäume zu schlagen. Mehr brauchte Orgrim nicht. Das Kräfteverhältnis würde sich schon sehr bald verschieben. Dann waren sie ihm ausgeliefert! Er würde alle Mörder stellen.
»Löscht die Fackeln! Wir ziehen uns zurück und warten auf Brodgrimm!«
Fenryl stand am Ruder seiner Galeere und lauschte auf die Geräusche im Nebel. Er wünschte, sie würden den verfluchten Fjord endlich hinter sich lassen. In Albenmark wären sie in sichereren Gewässern; dort könnten sie auf Eleborns Hilfe hoffen.
Gerade eben noch konnte er das Vorsegel der Meerwanderer hinter sich sehen. Schlaff und triefnass hing es von der Rah. Kein Lufthauch regte sich. Es war ohnehin schon schwierig, in den Fjorden mit ihren hohen Steilklippen zu segeln. Zu unberechenbar waren die Winde hier. Doch jetzt herrschte Flaute. Kein Luftzug regte sich. Deshalb hatten die beiden Galeeren die Meerwanderer in Schlepp genommen.
Dick und träge hing der Nebel über dem Wasser und dämpfte alle Geräusche. Vom Bug erklang der Singsang des Lotsen.
»Sieehben Faaahhden!«
Fenryl vermochte nicht zu sagen, ob sie in der Mitte des Fjords oder nahe an einem der Steilufer waren. Angespannt lauschte er auf jedes Geräusch. Auf das Knarren der Ruder, das leise Plätschern des Wassers. Die Mannschaft schwieg. Sie alle standen noch unter dem Eindruck des ungeheuerlichen Verbrechens, in das Elodrin sie hineingezogen hatte. Niemals hätte Fenryl erwartet, dass sich ein Elfenfürst zu solch einer Bluttat würde hinreißen lassen. Ihrer aller Ehre war auf immer besudelt. Der Name der Elfen würde von nun an mit diesem Massaker verbunden sein.
Ein Rumoren steuerbord voraus schreckte ihn aus seinen Gedanken. Mehrere Gletscher mündeten in den Fjord. Mehr Angst als vor Riffen, die sich unter der schwarzen Wasseroberfläche verbargen, hatte er vor den himmelhohen Eiswänden, die sich in die Einschnitte des Steilufers zwängten. Niemand konnte vorhersagen, wann sich Eisbrocken aus ihren Flanken lösten. Meistens waren sie nur so groß wie eine Faust oder auch ein Pferdekopf. Aber manchmal brachen auch Stücke ab, die so gewaltig wie ein Bergfried waren. Sie jagten Flutwellen durch die engen Fjorde, und wer den Gletschern zu nahe kam, lief Gefahr, zerquetscht zu werden wie eine Fliege unter der Faust eines Riesen.
»Aaacht Faaahhden!«, rief der Lotse, und wie zur Antwort klang es von der anderen Galeere: »Neun Faaahhden!«
Fenryl lehnte sich ein Stück weit über die Reling. Sie waren also mutmaßlich näher an den Klippen als die andere Galeere. Durch den dichten Nebel konnte er kaum die Wasseroberfläche erkennen. Ein Klacken, wenn die Ruder eintauchten, verriet ihm, dass Eisstücke im Wasser schwammen. »Die Ruder halt!«, rief er.
Auch die Ruder der zweiten Galeere verharrten. Die Lotsen schwiegen. Alle an Bord der drei Schiffe lauschten. Leises Kratzen erklang. Eis, das an der Bordwand entlangschrammte. Dann war in der Ferne wieder ein Rumpeln zu hören. Etwas stürzte ins Wasser.
Fenryl hielt den Atem an. Zu leise, dachte er. Das ist keine Gefahr.
Er wollte den Ruderern schon befehlen, sich wieder in die Riemen zu legen, als er eine lang gezogene Stimme hörte. Dunkel, fremd und zugleich auch vertraut. Die Stimme eines Trolls. Fenryl kannte die Sprache seiner Feinde gut genug, um zu wissen, dass dort jemand zehn Faden gerufen hatte.
Die Gedanken des Grafen überschlugen sich. Mindestens ein feindliches Schiff kam ihnen entgegen. Die Elfengaleeren waren schnell und wendig, aber mit der Meerwanderer im Schlepp bestand keine Hoffnung, den Trollen zu entkommen.
Das rothaarige Menschenmädchen, das ein Stück entfernt an der Reling kauerte, sah ihn mit leerem Blick an. Sie war seltsam. Seit dem Massaker in der Hafenbucht hatte sie kein Wort gesprochen. Wer mochte ihr das verübeln? Ihr Gefährte, der Baumeister, saß still, den Kopf nach vorn gebeugt. Seine Lippen bewegten sich unablässig. Er schien zu beten. Dies war die Welt der Menschen. Vielleicht half es, ihre Götter anzuflehen.
»Zwölf Faden!«, rief der Trolllotse.
Wenn sie etwas Glück hatten, würden die Trolle an ihnen vorbeirudern. Sie hielten sich eindeutig mehr in der Mitte des Fjords, wo das Fahrwasser tiefer war.
Es war kaum sechzehn Jahre her, dass die Trolle die Welt der Menschen verlassen hatten. Vorher waren die Berge und die Fjorde im äußersten Norden der Anderen Welt ihre Heimat gewesen. Sie kannten sich hier besser aus.
»Wir warten«, rief er leise zur zweiten Galeere hinüber.
»Gut!«, kam einige bange Herzschläge später die Antwort.
Ohne Hilfe war die Meerwanderer dazu verdammt, auf der Stelle zu liegen. Mit ihnen musste man sich nicht absprechen. Die schweren Schleppseile erschlafften, als der große Segler näher glitt und dabei immer mehr an Fahrt verlor.
»Elf Faden!«, hörte man den Troll. Und gleich darauf erklang leiser: »Zwölf Faden!« Fenryl fluchte stumm. Noch ein zweites Schiff! Der Graf spürte ein feines Prickeln auf der Haut. Jemand wirkte Magie. Sein Mund wurde trocken. Sein bestes Pferd würde er dafür geben, wenn er wüsste, was jetzt auf den beiden schwarzen Galeassen geschah, die der Nebel vor ihren Blicken verbarg.
Es kam Bewegung in das Weiß. Spiralwirbel glitten wie Schlangendrachen durch den Nebel. Fenryl spürte einen leichten Luftzug auf dem Gesicht. Drei Herzschläge später war daraus eine frische Brise geworden. Er hörte die nassen Segel der Meerwanderer hinter sich im Wind schlagen.
Jetzt hörte Fenryl schon drei Lotsen rufen.
Ein tiefer Laut, der sich in den Bauch grub, hallte über das Wasser. Dann gab es ein Splittern und Tosen, als wolle die Welt zerbrechen. Die Galeeren hoben und senkten sich unter immer höheren Wellen.
Gundaher, der Baumeister, betete nun nicht mehr leise. Mit schreckensweiten Augen bat er seinen Gott Tjured um Hilfe. Bei dem Lärm musste Fenryl ihn nicht zur Ordnung rufen. Womöglich hatten die Menschengötter ihnen sogar tatsächlich geholfen? Hätten sie nicht angehalten, wären sie wohl gefährlich nahe am Gletscher gewesen.
Der Nebel zerriss. Deutlich sah der Elfengraf einen großen, schwarzen Schatten über das Wasser gleiten. Das Deck der Galeasse stand dicht gedrängt voller Trollkrieger.
Immer deutlicher schälten sich die Umrisse des schwarzen Schiffes aus dem Nebel. Er erkannte eine Gestalt, die ganz vorne am Bug stand und wie ein Schwimmer in langsamen Bewegungen die Arme ausbreitete. Eine Schamanin, die den Nebel vertrieb. So also blieben die feindlichen Schiffe in der Mitte der Fahrrinne.
Das Schaukeln der Galeere ließ nach.
Fenryl sah einige der Trolle wild gestikulieren und in Richtung der Galeere deuten. Wer sehen konnte, konnte auch gesehen werden.
»Rudert!«, befahl er, obwohl ihm klar war, dass mit der schweren Meerwanderer im Schlepp nicht die geringste Aussicht bestand, den Trollen zu entkommen.
Die Männer strengten sich verzweifelt an. Die dicken Taue, die sie mit dem Segler verbanden, spannten sich wieder. Doch es war, als seien sie an einen Felsen geschmiedet. Unendlich langsam setzten sie sich in Bewegung, während das vorderste Schiff der Trolle auf sie einschwenkte. Inzwischen konnte Fenryl drei schwarze Galeassen erkennen, die in einer Linie hintereinander fuhren. Auch die Trollschiffe verfügten über eine Reihe Ruderer. Aufgrund ihrer massigen Bauart manövrierten die Galeassen normalerweise viel schwerfälliger als Galeeren.
Eine Fontäne spritzte zwanzig Schritt vor ihnen aus dem Wasser. Einer der Trolle hatte einen faustgroßen Stein geworfen.
»Bogenschützen und Schildträger auf das Vordeck!«, befahl der Graf. Zumindest würden sie nicht kampflos untergehen.
»Fenryl!« Die Stimme ging im Lärm der trampelnden Füße auf Deck fast unter. »Fenryl!« Der Elf drehte sich um. Nun, da sich der Nebel gelichtet hatte, war der große Dreimaster deutlich zu erkennen. Ein Trupp Krieger bemannte gerade das schwenkbare Torsionsgeschütz auf dem Vordeck. Ganz vorne am Rumpf der Meerwanderer stand Nardinel. Sie trug ein weißes Kleid, ihr Haar bewegte sich sanft in der Brise. Sie war so schön, dass es schmerzte, sie anzusehen. Zwei Elfen mit schweren Äxten flankierten sie.
Nardinel wirkte gefasst. »Lebe wohl, Graf.«
»Nein!«, rief Fenryl.
Die Heilerin gab ihrer Eskorte ein Zeichen. Die Äxte sausten nieder.
»Nein! Du könntest mit uns kommen!« Dumpfe Schläge hallten über das Wasser. Polternd schlug ein Stein an Deck. Er richtete zwar keinen Schaden an, aber die Trolle feierten den Treffer mit wildem Gebrüll.
»Ich kann die Verwundeten nicht im Stich lassen.« Sie lächelte traurig. »Uns bleibt die Hoffnung auf Wiedergeburt. Den Menschen nur die Hoffnung auf unsere Treue. Trage unsere Geschichte nach Albenmark. Und bringe den Menschen Schutz, wenn sie für unsere Verbrechen büßen müssen.«
Die Galeere machte einen regelrechten Satz nach vorn, als das dicke Schleppseil durchtrennt war. Einen Moment lang gerieten die Ruderer aus dem Takt. Steine prasselten gegen die Bordwand des Schiffes. Einer der Schildträger wurde von einem Geschoss zu Boden gerissen, rappelte sich aber fluchend wieder auf. Dem Schiff konnten die Steine kaum Schaden zufügen, doch wenn die Trolle noch näher kamen, dann wurden ihre primitiven Wurfgeschosse für die Besatzung gefährlich.
Die zweite Galeere, die dichter bei den Galeassen lag, hatte schon die ersten Ausfälle. Auch sie war nun von der Fessel, die sie an die Meerwanderer gebunden hatte, befreit und versuchte sich dichter an die Steilklippe zu schieben.
Fenryl korrigierte seinen Kurs, damit ihre beiden Schiffe nicht kollidierten. Eine vierte und fünfte Galeasse schälten sich aus dem Nebel. Laute Rufe hallten zwischen den Trollschiffen. Sie alle änderten den Kurs und drehten die Rümpfe in Richtung der Steilwand. Sie würden versuchen, ihnen den Weg abzuschneiden.
»Pullt, Männer! Pullt!«, feuerte Fenryl seine Ruderer an. Auch er brachte die Galeere dichter an die Küste. »Lotse!«
»Sieben Faden!«, erklang es vom Rumpf. Diesmal ganz ohne den üblichen Singsang.
Ein Schildträger eilte an Fenryls Seite. Keinen Augenblick zu früh! Wieder prasselten Steine an Bord. Die Bogenschützen am Bug revanchierten sich mit tödlicheren Geschossen.
Im Nebel voraus zeichnete sich ein weiterer Schemen ab. Er war riesig! Ein Schiffstyp, von dem er noch nicht gehört hatte? Niemand wusste genau, was die Trolle in den letzten Jahren in der Walbucht getrieben hatten. Aber sie hatten sehr viel Holz gebraucht.
»Sechs Faden!«, rief der Lotse.
Fenryl musterte die Klippen. Sie waren weniger als fünfzig Schritt entfernt. Nur wenige grauschwarze Felsen ragten aus dem Wasser. Wie dicht konnte er herangehen?
Ein Stein traf den Schild des Kriegers, der ihn beschützte.
Fenryl hallten die Ohren von dem Treffer. Aus dem Nebel schob sich ein Eisberg. Er war über fünfzig Schritt lang und ragte mehr als zehn Schritt in die Höhe. Ein Gletscherfragment! Kleinere Eisberge umgaben ihn wie eine Herde von Schafen ihren Schäfer.
Der Dreimaster war schon ein gutes Stück hinter ihnen zurückgeblieben. Das vorderste der Trollschiffe wechselte den Kurs, um bei der Meerwanderer längsseits zu gehen. Auch die zweite Galeasse war aus dem Rennen.
In der Ferne war wieder das dumpfe Rumoren des Gletschers zu hören. Fenryl schwor sich, nie wieder ein Schiff in einen Fjord zu steuern, wenn sie hier lebend herauskamen.
Ihr Schwesterschiff verlor an Geschwindigkeit. Der Steinhagel hatte einige der Ruder backbord beschädigt. Doch die Galeere war immer noch schneller als die Galeassen.
»Sechs Faden!«, rief der Lotse.
Der Graf fragte sich, wie weit ihm die Galeassen folgen konnten. Die Schiffe der Trolle hatten breite Rümpfe. Wahrscheinlich hatten sie für ihre Größe erstaunlich wenig Tiefgang. Schließlich mussten sie in den engen Fjorden manövrieren können. Er blickte zu dem Eisberg. Zwischen dem schwimmenden Koloss und der Steilwand war eine Lücke von mehr als zwanzig Schritt. Der Eisberg hatte leichte Drift in Richtung der Felsen. Das hinterste der Trollschiffe lag auf der anderen Seite des Eisbergs. Der Fjord war an dieser Stelle recht eng. Backbord konnte Fenryl Riffe im Wasser entdecken. Diese letzte Galeasse hatte beste Aussichten, ihnen den Weg zu verlegen. Wenn der Kapitän geschickt manövrierte, würde es ihm vielleicht sogar gelingen, eine der Elfengaleeren zu rammen. Auf jeden Fall würden sie etliche Steinsalven auf kurze Distanz abbekommen.
Der Graf entschied sich für das Risiko. »Bringt die Ersatzruder an Deck!«
Das Menschenmädchen erwachte aus seiner Lethargie und versuchte, sich nützlich zu machen. Sie half den Seeleuten, die Ruder aus dem Stauraum zu heben. Es waren zehn. Anschließend ging sie zum Bug, hob den Schild eines Verwundeten und schirmte einen der Bogenschützen ab.
Die Galeere flog nur so über das dunkle Wasser. Ihr Schwesterschiff folgte ihnen in der Kiellinie. Bei einem Blick über die Schulter sah Fenryl, wie die Trolle die Meerwanderer enterten. Sie stießen auf keinen Widerstand. Offensichtlich hatte Nardinel den Kriegern verboten, sich zu verteidigen. Hoffentlich fanden sie in den Trollen gnädige Sieger. Zumindest konnten die Krieger auf den Schiffen noch nicht wissen, was in der Bucht an der Nachtzinne geschehen war.
»Bogenschützen zurück vom Bug!«, rief Fenryl. »Nehmt die Ruder. Und dann haltet das Eis fern vom Bug.«
Steinbrocken prasselten auf Deck. Das zweite und dritte Trollschiff hatten sie inzwischen hinter sich gelassen. Doch die vierte Galeasse war ihnen bedenklich nahe gekommen. Sie nutzten inzwischen schon deutlich größere Steine als Geschosse. Allerdings schienen sie schlechter zu treffen.
Eis schrammte unter ihrem Rumpf entlang. Die Männer am Bug versuchten mit den langen Rudern die dicksten Brocken von der Galeere fortzuschieben.
Schreie erklangen auf dem Ruderdeck. »Backbordruder drei, acht und sechzehn ausgefallen!«, rief jemand zu Fenryl hoch.
Der Graf verdrehte den Kopf, aber von seiner Position an der Ruderpinne konnte er nicht sehen, was backbord geschah. Allerdings ahnte er, was die Trolle vorhatten. Sie zielten keineswegs schlechter als zuvor. Sie hatten lediglich ein anderes Ziel. Die Ruder! Mit jedem Treffer machten sie die Galeere langsamer.
Fenryl sah, wie auch steuerbord die Ruder drei, acht und sechzehn eingeholt wurden, damit sich die Kräfte nicht ungleich verteilten und die Galeere zu den Klippen hin abdriftete.
»Fünf Faden!« rief der Lotse.
Unruhig sah Fenryl zu den Felsen. Er musste dichter heran, wenn er den Trollen entkommen wollte. Aber wenn sie drei Faden unterschritten, liefen sie Gefahr, auf Grund zu laufen. Durch das viele Eis wurde es sogar noch riskanter, sich den Klippen zu nähern. Ein falsches Manöver, und sie waren zwischen Felsen und treibenden Eisbrocken eingeklemmt.
Ein kleinerer Stein traf dicht neben dem Grafen die Reling und riss ein Stück aus dem Holz. Schleuderer waren in die Masten der Galeassen gestiegen. Das hatte gerade noch gefehlt!
An Deck lagen die ersten Toten.
Das vierte Schiff war mörderisch nah. Wieder zielte eine Salve Steine auf ihre Ruder. Der Graf hörte Holz splittern und die Schmerzensschreie der Männer, denen die langen Ruderstangen gegen die Leiber hieben.
»Ruder vier und einundzwanzig ausgefallen!«, kam die Meldung vom Ruderdeck.
Plötzlich stand der Baumeister der Menschen neben ihm. Er hielt Fenryl einen Helm hin. »Setz den auf. Sie werden versuchen, dich zu töten. Wenn der Mann am Steuer ausfällt, dann sind wir alle verloren.« Gundaher hatte sich so gestellt, dass er Fenryl mit seinem breiten Rücken abschirmte.
Wie um die Worte des Menschen zu bestätigen, zupfte ein Stein an seinem Umhang. Hastig setzte sich der Graf den Helm auf. »Bogenschützen! Holt mir die Schleuderer von den Masten.«
»Drei Faden!«
Fenryls Hände krampften sich um das Seitenruder. Ein Ruck lief durch den Schiffsrumpf. Etwas knirschte wie Krallenhände über das Holz. »Holt die Ruder ein!«, befahl er. Die Gasse zwischen dem großen Eisberg und den Klippen war nicht mehr weit entfernt. Mit etwas Glück hatten sie genug Fahrt, um hindurchzukommen. Zur Not konnten sie an der Wand des Eisbergs entlangstaken.
Wieder lief ein Zittern durch den Schiffrumpf. Ein Bogenschütze wurde umgerissen. Eines seiner Augen hatte sich in einen blutigen Krater verwandelt.
Noch zehn Schritt bis zum Eisberg. Seine hohen Flanken würden sie vor dem Beschuss schützen.
»Drei Faden!«, rief der Lotse.
Gundaher stöhnte auf. Der Stein eines Schleuderers hatte ihn in den Rücken getroffen. Der Baumeister biss die Zähne zusammen. Er hielt sich weiter auf den Beinen und diente Fenryl als lebender Schild.
Ein Geschoss traf die linke Hand des Grafen. Er hörte seine Knochen splittern. Blut quoll ihm unter den Fingernägeln hervor. Gundaher griff mit ins Ruder, um die Galeere auf Kurs zu halten.
»Drei Faden!«, rief der Lotse. Panik schwang in seiner Stimme mit.
Der kalte Atem des Eisbergs erfasste das Schiff. Seine schillernd blauweißen Wände wurden der Galeere zum Schutzschild. Mit den Rudern hielt die Mannschaft Abstand zu dem Koloss.
»Drei Faden!«
Der Rumpf ruckte. Mit einem Knall splitterte eine Planke. Sie verloren immer mehr an Fahrt. Die Männer an Deck benutzten die Ruder, um sich an der Flanke des Eisbergs entlangzudrücken.
In der Ferne war Rumoren zu hören.
»Vier Faden!«
Eine Lawine aus kleineren Eisklumpen prasselte an Deck. Besorgt musterte Fenryl die Flanke des Berges. Das Eis war von tiefen Rinnen durchzogen. Sollte sich ein Klumpen von der Größe eines Stiers lösen, wären sie verloren. Ein solcher Brocken würde mühelos die Decks durchschlagen und das Schiff versenken. Neben dem Eisberg erschien Fenryl die Galeere zerbrechlich wie ein Spielzeug.
Weit entfernt prasselte etwas ins Wasser. Der Gletscher! Fenryl hielt den Atem an. Seine Männer stemmten sich mit aller Kraft in die Ruder. Hinter ihnen war jetzt auch die zweite Galeere in den engen Kanal aus Eis und Felsen eingelaufen.
Die Dünung hob ihr Schiff; im gleichen Rhythmus hob sich der Eisberg. Überall entlang seiner Flanke gingen kleine Lawinen ab. Eisklumpen schlitterten über Deck. Die Eiswand driftete der Steilklippe entgegen.
Etwas rammte den Rumpf. Der Graf atmete keuchend aus. Holz splitterte.
»Wir haben ein Leck!«, rief jemand unter Deck.
Noch immer war die Galeere ein Spielball der Dünung. Backbord schlugen sie gegen die Wand aus Eis. Ein Teil der Reling wurde eingedrückt.
Dann schob sich der Rumpf in freies Wasser.
Noch einige bange Herzschläge ...
Jubel erhob sich. Sie hatten es geschafft! »Sieehben Faaahhden!«, sang der Lotse in vertrauter Litanei.
Gundaher küsste Fenryl stürmisch auf die Wangen. »Das war ein Wunder! Bei Tjured, du hast ein Wunder vollbracht, Kapitän.«
Hinter ihnen glitt auch ihr Schwesterschiff aus dem Kanal.
Fenryl sah, wie die hinterste Galeasse der Trolle versuchte beizudrehen, aber dem plumpen Schiff würden sie nun leicht entkommen können.
»Jetzt geh schon! Ich kann dein weinerliches Gesicht nicht länger ertragen. Lass mich allein, damit ich über die Scherze der Götter lachen kann«, fauchte Ottar. Selbst jetzt brannte noch Wut in seinen Augen. Wie seine Schwester Asdis gehörte er zu denen, die in Eiriks Bann standen. Aus dem scheuen kleinen Jungen, der sich stets in den Schutz seiner großen Schwester rettete, wenn Gefahr im Verzug war, war ein harter Krieger geworden, der zur Leibwache des Königs gehört hatte.
»Wir könnten dich tragen«, sagte Ulric und wusste es doch besser.
»Und dann kippen wir spätestens morgen gemeinsam um? Mit dir möchte ich nicht einmal begraben sein, Wiedergänger. Ich bleibe hier.« Er schnaubte ein freudloses Lachen. »Was für ein wunderbarer Witz! Ich werde lebend zu den Toten gelegt, und ein Toter, der nicht von den Lebenden weichen will, flennt sich gleich meinetwegen die Augen aus dem Kopf. Hätte ich diese Geschichte in einer Schänke in Firnstayn gehört, hätte ich sicher herzhaft gelacht.«
Ulric blickte zu seinem toten Vater. Er hielt noch immer sein Schwert in der Hand. Seltsam verdreht lag er da, so wie er auf dem Schlachtfeld gefallen war. Der Frost verhinderte, dass man ihn mit über der Brust verschränkten Händen bestattete, wie es Sitte war.
Auch all die anderen Leichen verharrten in der Körperhaltung, in der der Tod sie gefunden hatte. Die Elfen hatten nur zwanzig Gefallene vom Schlachtfeld mitgebracht. Die Übrigen waren den Trollen zum Fraß geblieben, dachte der Prinz bitter.
Elodrin hatte die Trolle glauben lassen, dass er mit seiner ganzen Streitmacht zurückgekehrt sei. So hatten sie zwei Tage gewonnen. In Wirklichkeit war der Fürst von Alvemer aber mit weniger als hundert Kriegern gekommen. Dafür hatte er allerdings ein Geschenk mitgebracht, dessen Wert nicht in Gold zu bemessen war. Schutzamulette vom Elfenvolk der Normirga. Die Götter allein wussten, wie er daran gekommen sein mochte. Alfadas hatte ihm oft erzählt, wie eifersüchtig die Normirga diesen Schatz hüteten. Die verzauberten Amulette hielten die Kälte fern. Trug man eins davon auf der Haut, hätte man nackt durch einen Schneesturm wandern können, ohne zu frieren.
Ulric war die undankbare Aufgabe zugekommen, die fünfzig Amulette unter den Überlebenden zu verteilen. Er hatte die Entkräfteten ausgewählt. Und alle hatten geschworen, die Amulette herauszugeben, wenn es anderen noch schlechter ging.
Insgeheim hatte der Prinz mit sich gerungen, ob er auch für Blut ein Amulett aufheben durfte. Der große schwarze Hund hielt sich erstaunlich gut. Obwohl er hinkte, verfügte er immer noch über Bärenkräfte. Und er wich nicht von der Seite des toten Königs. Wann immer sie rasteten, leckte er Alfadas die Wangen und stupste ihn mit seiner breiten Schnauze, als versuche er ihn zu wecken. Irgendwann gab er dann auf und rollte sich zu Füßen des Königs zusammen. Er schlief nie sonderlich tief. Auch bei dem kleinsten Geräusch richtete er die Ohren auf. Wenn die Rast vorüber war, trottete er neben jenen, die den Leichnam trugen, und achtete darauf, dass man den König mit Respekt behandelte. So ging es nun schon seit drei Tagen.
Heute Morgen dann hatte Fingayn die Höhle auf der kleinen Insel inmitten eines namenlosen Bergsees gefunden und ihnen von seinem Plan erzählt. Er und Silwyna waren die einzigen Elfen, die sie noch begleiteten. Die Übrigen waren in der Hoffnung zurückgeblieben, Orgrim eine Falle stellen zu können. Ulric war klar, dass sie ihre Leben gaben, um ihm und den anderen Fjordländern ein paar Tage mehr zu erkaufen.
Fingayn hatte beobachtet, wie fünf schwarze Galeassen und die Meerwanderer in die Bucht bei der Nachtzinne eingelaufen waren. Mehr als tausend Trolle folgten ihnen nun, angeführt vom besten Feldherrn ihres Volkes. Ihre Lage war hoffnungslos. Aber wenn es wenigstens einer von ihnen bis Firnstayn schaffte, dann konnte dieser ihre Verwandten und Freunde vor der bevorstehenden Invasion warnen. Ulric war verzweifelt! Das Drama des Elfenwinters vor fast sechzehn Jahren würde sich wiederholen. Und diesmal gab es keinen Alfadas mehr, der mit den Veteranen der Schlacht um Phylangan und einem Heer von Elfen zur Rettung kommen würde.
Sein Blick wanderte über all die Toten. So viele vergeudete Leben! Unruhig sah er sich nach dem Hund um. »Blut?«
Ein Kläffen antwortete von draußen. Er atmete aus. Am Ende der Höhle hatte es einen engen Tunnel gegeben. Vielleicht einen Dachsbau. Ulric hatte befürchtet, dass Blut sich dort verkriechen könnte.
»Du willst wirklich hier bleiben?«, fragte Ulric den jungen Krieger noch einmal.
»Meine Füße sind erfroren. Ich würde euch nur aufhalten. Selbst wenn wir überleben, wäre ich ein Krüppel. Da bleibe ich lieber hier, an der Seite meines Königs, wie es sich für eine Schildwache gehört.«
Ulric hatte genug von den Phrasen. »Dann soll es so sein.« Er beugte sich über seinen Vater, flüsterte ein letztes Lebewohl und verließ die Höhle. Blut empfing ihn bellend und drückte ihm seine feuchte Schnauze in die Hand.
Es war mörderisch kalt. Die Bärte der Männer, die kein Elfenamulett trugen, waren steif vor Raureif. Ihr Atem stand ihnen in kleinen weißen Wolken vor den Mündern. Sie stapften mit den Füßen, um die Kälte zu vertreiben. Vielleicht auch nur, um zu erproben, ob sie ihre Zehen noch spürten.
Schweigend machten sie sich an ihr Werk. Sie rollten Steine vor den Eingang und schütteten Kies darüber. Immer wieder musste Ulric an Ottar denken. Der junge Prinz erinnerte sich gut, was es hieß, in einer Höhle eingeschlossen zu sein. Einst war es ihm auf seiner Flucht aus dem Gefangenenlager von Honnigsvald selbst so ergangen.
Als der Höhleneingang vollständig verschlossen war, gingen sie über das dicke Eis zurück. Im Lager am Ufer erwarteten sie jene, die zu schwach gewesen waren, bei den Arbeiten zu helfen. Ulric musste niemanden aufscheuchen. Sie alle wussten, dass sie nicht weiter verweilen konnten. Mehr als tausend Trolle folgten ihnen. Aber König Alfadas würden sie nicht bekommen.
Sie waren schon ein gutes Stück den Südhang hinaufgekommen, als am anderen Ende des Tals eine Lawine abging. Schnee und Felstrümmer stoben über einen steilen Hang in jene enge Klamm, in der der Abfluss des Sees lag. Ein schnell fließender, tiefer Bach, der selbst jetzt nicht zugefrorenen war. Ein halbes dutzend Quellen ergossen sich in den See; deren Wasser wurde nun weiter angestaut.
Ulric ging vorne, als sich die Kolonne der Überlebenden wieder in Bewegung setzte. Schnaufend bahnte er den Nachfolgenden einen Weg durch den tiefen Schnee. Immer einen Schritt vor den anderen ... Bloß an nichts anderes denken! Schritt um Schritt um Schritt ... Ihr Ziel war zunächst die halb vollendete Passfestung. Von dort konnten sie einen ausgeruhten Boten nach Firnstayn schicken. Bis zu der Festung waren es noch vier oder fünf Tagesmärsche, wenn das Wetter sich hielt. Sollte aber ein Sturm aufziehen, dann waren sie alle verloren. Sie hatten kaum Vorräte. So würden selbst jene, die von den Amuletten vor der Kälte geschützt wurden, zuletzt vor Hunger und Erschöpfung sterben.
Denk so etwas nicht, ermahnte sich Ulric. Wir können es schaffen, wenn Firn uns wohlgesonnen ist und wenn Elodrin und seine Krieger die Trolle hinhalten.
Ein majestätisches Knirschen und Knacken lenkte ihn ab. Ulric blieb stehen, um den Hang hinabzublicken.
Risse breiteten sich über das Eis des Sees aus. Das angestaute Wasser drückte die Eisdecke empor. Das Eis zerbarst. Ein klagender Laut, fast wie Wolfsgeheul, hallte durch das Tal.
Vom Ende der Schlange kämpfte sich Halgard zu ihm vor.
»Wo ist Blut?«, fragte sie aufgebracht.
Ulric sah sie erschrocken an. »Ich dachte, er wäre bei dir!«
»Ich ...« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie griff nach seiner Hand. »Als wir aufgebrochen sind, war er noch bei mir. Er tänzelte um mich herum wie ein Welpe. Und er hat mir seine Schnauze in die Hand gestoßen. Wie ... wie zum Abschied.«
Eine hinkende schwarze Gestalt erschien zwischen den Bäumen der Insel und schleppte sich zum Eingang der Höhle. Dort ließ sie sich auf die Hinterbeine nieder und reckte die Schnauze dem Himmel entgegen. Ein langer, klagender Laut entwand sich Bluts Kehle.
Es war unmöglich, jetzt, da das Eis aufgebrochen war, Blut zurückzuholen. Das Wasser würde steigen, bis es das Grab und die kleine Insel verschlungen hatte. Niemals würden die Trolle den Leichnam des Königs finden.
»Er singt meinem Vater ein Totenlied.«
»Und auch uns«, flüsterte Halgard.
Er drückte ihre Hand. Dann gingen sie weiter. Bluts Heulen folgte ihnen noch bis zur Dämmerung. Dann brach es ab.
Welch eine Wunderwelt! Obwohl sie nun schon drei Tage lang in Albenmark war und inmitten eines Flüchtlingszugs steckte, wurde Kadlin nicht satt sich umzusehen. Alles hier war intensiver. Die Farben, der Duft der ersten Blüten, der Geschmack des Essens, der Klang der Musik. Selbst wenn sie etwas berührte, hatte sie das Gefühl, dass sie stärker empfand.
Auch Gundaher war von der neuen Welt hingerissen. Er erholte sich schnell von der Wunde in seinem Rücken. Eine Heilerin der Elfen hatte ihn behandelt; hinterher hatte er verwirrt erzählt, es habe sich angefühlt, als sei sie in ihm gewesen und habe den Schmerz an seiner Stelle getragen.
Sieben Tage waren seit der Flucht aus dem Fjord vergangen. Kadlin hatte für sich beschlossen, die Erinnerung an die brennenden Schiffe aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Elodrin war anders gewesen als die meisten Elfen. Düsterer. Allein die Götter mochten wissen, was ihn zu dieser Bluttat bewogen hatte.
Wohin man auch blickte, Albenmark war durchtränkt von Schönheit. Doch der Weg durch die Finsternis war schrecklich gewesen. Am vierten Tag ihrer Flucht hatte Fenryl sein Schiff durch ein Tor aus Licht gebracht, das plötzlich inmitten der See erschienen war. Dahinter hatte sich eine Dunkelheit aufgetan, verglichen mit der Kadlin selbst eine bewölkte Neumondnacht wie ein lichter Frühlingsmorgen erschien. Diese Finsternis war auf schreckliche Art lebendig gewesen. Lauernd hatte sie entlang des Pfades aus Licht gekauert. Noch eine Erinnerung, die sie vergessen wollte.
Sie musste mit allem brechen, was dunkel und traurig in ihr war. Ihre Flucht hatte sie auf einen weiten See gebracht und schließlich in eine weiße Stadt. Alle Häuser dort waren weiß und aus Stein errichtet. Es gab keine offenen Jauchegruben, stattdessen waren selbst die Straßen aus Stein, und wohin sie ihre Abfälle leiteten, war Kadlin schleierhaft. Firnstayn, die größte Siedlung, die sie je gesehen hatte, nahm sich neben dieser Stadt wie ein schmutziges kleines Dorf aus. Alles hier war groß! Manche Häuser waren von Säulen umgeben, dick wie Eichenstämme. Und auf den Plätzen standen versteinerte Mörder und Hochverräter. Sie hatten sich im letzten Augenblick ihres Lebens alle in Pose geworfen. Manche blickten ernst, andere lächelten einen sogar an. Und sie alle wirkten so lebendig, als hätten sie eben noch geatmet.
Ein kleiner dicker Kobold, der zu den Flüchtlingen gehörte und der erstaunlicherweise ein wenig ihre Sprache verstand, hatte sich eine Stunde Zeit für sie genommen, um ihr die Wunder von Lavianar zu erklären. Der Name des Kobolds war so unaussprechlich, dass er ihr vorgeschlagen hatte, ihn einfach nur den Schwarzen zu nennen. Er war aus einer Stadt geflohen, die von den Trollen zerstört worden war. Doch hier in Lavianar wollte er abwarten. Er sagte, er sei zu müde, noch weiter fortzulaufen.
Der Schwarze war ein großartiger Erzähler. Er erklärte ihr die Wunder Albenmarks. Von ihm wusste sie, dass man die schlimmsten Verbrecher bestrafte, indem man sie in Stein verwandelte und auf die öffentlichen Plätze stellte. Manche verwandelte man sogar samt ihrer Pferde! Aber nur, wenn die Pferde an ihren Verbrechen beteiligt gewesen waren.
Vom Schwarzen erfuhr sie, dass Elfen in ihrem ganzen Leben niemals wirklich arbeiteten und dass alle übrigen Bewohner Albenmarks für sie schuften mussten. Er erzählte ihr von den Wolkendrachen, die keine Jungen mehr bekommen konnten und deren gefrorene Milch man mit fliegenden Schiffen vom Himmel holen musste, damit sie nicht so viel wurde, dass sie den Blick auf die Sonne versperrte. Da diese Milch verzaubert war und nicht mehr auftaute, schnitt man sie in Blöcke und baute Häuser daraus. Deshalb waren alle Städte Arkadiens weiß, denn sie waren nicht aus Stein, sondern aus Wolkendrachenmilch errichtet.
Am meisten beunruhigte Kadlin, was der Schwarze über die seltsamen Gestalten sagte, die man allenthalben sehen konnte. Geschöpfe, die zur Hälfte Tiere waren. Manche sahen sehr hübsch aus, und keines hatte Kadlin in irgendeiner Weise bedroht oder auch nur feindselig angesehen. Dennoch hatte ihr Anblick sie durcheinander gebracht. Es war nicht wirklich Angst ... Aber sie hatte sich in ihrer Nähe unwohl gefühlt.
Der Kobold hatte ihr ausschweifend erzählt, dass ganz Albenmark von Magie durchdrungen sei. Daher rührte die Schönheit des Landes, doch es führte auch zu einigen Absonderlichkeiten. Als er das sagte, hatte er auf einen Mann am anderen Ende des Marktplatzes gedeutet, der zur Hälfte ein Pferd war. Manchmal, wenn man ein Tier sehr schätzt und sehr viel Zeit mit ihm verbringt, hatte der Schwarze gesagt, dann könne es geschehen, dass man eins mit ihm würde. Das gehe sehr langsam. Zunächst übernehme man ein paar Eigenheiten, bekomme ein wieherndes Lachen, das Haar wachse stärker und Ähnliches. Und manchmal verschmelze man mit dem Tier, so wie dieser Kentaur dort drüben.
Kadlin hatte an Fenryl und seinen Falken denken müssen. Der Elf hatte einen sonderbaren Blick, der in eine weite Ferne zu reichen schien. Und manchmal bewegte er den Kopf wie ein Vogel. Seltsam ruckartig. Offensichtlich hatte er begonnen, eins mit seinem Falken zu werden. Ob ihm das klar war? Vielleicht sollte sie ihn warnen, wenn sie ihn das nächste Mal sah.
Fenryl hatte darauf bestanden, dass sie und Gundaher die Stadt mit einem Flüchtlingszug verließen. Angeblich waren die Trolle noch weit entfernt. Niemand unter den Flüchtlingen wirkte sonderlich beunruhigt. Sie wollten zu einer Brücke, bei der sich das Heer der Elfenkönigin sammelte.
Der Wagenzug auf der Straße reichte von Horizont zu Horizont. Lachende Kinder liefen neben den Karren her. Kadlin hatte es sich auf einem hohen Stapel mit Fellen bequem gemacht und blickte in den Himmel. Sie hatte kein Ziel. Fenryl hatte gesagt, es sei gut, wenn sie mit den Flüchtlingen ziehe. Also hatte sie sich darauf eingelassen. Gundaher war mit ihr gekommen. Er saß auf dem Kutschbock neben einem schweigsamen Kobold und zeichnete. All die Wunder, die er sah, versuchte er in Bildern festzuhalten. Kadlin vertraute da lieber auf ihre Erinnerung als auf etwas, das so vergänglich war wie ein paar Blatt Pergament.
Die Sonne versank hinter einem breiten Waldstreifen. Wolken hingen wie riesige rote Fahnen am Himmel. Kadlin dachte an die fliegenden Schiffe, mit denen man die Milch der Wolkendrachen vom Himmel holte. Auf so einem Schiff würde sie gerne einmal mitfahren. Dann könnte sie die Welt sehen, wie ein Adler sie sah.
Ein Schwarm absonderlicher kleiner Geschöpfe stieg von den Wagen auf. Sie waren nicht länger als ein Finger und hatten Schmetterlingsflügel, die in allen Farben des Regenbogens schillerten. Sie hielten aufgerollte kleine Decken in den Händen. In gaukelndem Flug wirbelten sie umeinander und stiegen höher und höher. Dann ließen sie ihre Lasten fallen, alle zugleich. Was Kadlin zunächst für Decken gehalten hatte, entpuppte sich als Eichenblätter. Sie tanzten im Wind. Eines fiel auf die Felle auf ihrem Wagen. Neugierig betrachtete sie es. Es war mit seltsam verschlungen Zeichen bedeckt. Merkwürdig. Achtlos schnippte sie es vom Wagen und sah seinem torkelnden Flug zu, bis es zuletzt auf dem Weg landete und unter den schweren Hufen eines Ochsen verschwand.
Ein Schrei gellte durch die Dämmerung. Ruckartig setzte Kadlin sich auf. Alle Schrecken der Schlacht am engen Tal waren wieder da. Sie zitterte. Die Erinnerung an die Todesschreie tilgte jeden anderen Gedanken.
Nicht weit entfernt war ein großer, weißer Hund aus dem Wald getreten. Eine seltsame, durchscheinende Gestalt. Ein Mann mit Bocksbeinen lag vor ihm. Der Hund ... er zerrte etwas Leuchtendes aus der Brust des Gestürzten.
Gundaher drehte sich zu ihr um. »Lauf fort, Mädchen. Das sind die Hunde von Jules! Sie haben mich gefunden! Lauf!«
Kadlin schwang sich vom Wagen. Doch sie dachte nicht daran wegzulaufen. Sie war aus ihrer Welt geflohen, weil sie dort alles verloren hatte, was ihr etwas bedeutete. Hier hatte sie sich sofort wieder in einen Flüchtlingszug eingereiht. Es war genug! Sie würde kämpfen. Und wenn es Luth so gefiel, dann würde sie eben sterben! Aber weglaufen würde sie nicht mehr!
Sie zog ihr Schwert und küsste die Klinge. In ihrer Zeit bei den Jägern des Königs hatte sie eine Geschichte über einen Geisterhund gehört, der in das Langhaus des Alfadas gekommen war. Ein Luthpriester hatte das Ungeheuer getötet, indem er den Namen seines Gottes aussprach und es umarmte.
Einige Krieger hatten den Geisterhund umringt, ein Pferdemann, zwei Kobolde und ein Geschöpf, das wie ein aufrecht gehender Stier aussah. Sie stachen mit Speeren nach dem Geisterhund, vermochten die Bestie jedoch nicht zu verletzen. Dann grub sich die Schnauze des Hundes in die Brust des Stiers. Der Gehörnte stieß gurgelnde, abgehackte Schreie aus. Die übrigen Kämpfer gaben auf. Sie ließen die Waffen fallen und liefen davon.
»Luth steh mir bei!«, murmelte Kadlin. Gundaher rief ihr nach, sie solle umkehren.
»Lass mich stark sein, Luth. Lass uns diese unheilige Kreatur aus diesem Land voller Schönheit tilgen.« Der Geisterhund sah sie an. Alle Kraft schien aus ihren Beinen zu fliehen. Sein Blick allein genügte, sie zum Halten zu bringen.
Kadlin blickte auf das Schwert in ihrer Hand. Die Waffen der anderen hatten gegen den Hund nicht geholfen. Aber umarmen würde sie ihn gewiss nicht!
»Gib mir Kraft, Luth! So viele deiner Kinder sind gestorben. Vereine mich mit ihnen, oder lass meine Flucht ein Ende haben und mich den Feind besiegen. Ich lege mein Leben in deine Hand, Schicksalsweber.«
Der Hund ließ von dem Stiergeschöpf ab. Die mächtige Gestalt war in sich zusammengesunken. Sie schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen.
Ganz gemächlich kam die Geistererscheinung zu ihr hinüber. Kadlin hörte hinter sich Stimmen rufen.
»Keine Flucht mehr!«, sagte sie leise zu sich und hob das Schwert.
Der Hund schien ihre Waffe spöttisch anzublicken.
Heiße Wut wallte in ihr auf. Als Tochter des Fjordlands galt sie ihm wohl weniger als das niederste Albenkind! Sie machte einen Ausfallschritt. Ihr Schwert schnellte vor, ein Schwert, geweiht durch ihren Glauben an Luth. Eine Waffe, wie es keine zweite in Albenmark gab. Ohne Widerstand glitt sie durch die Geistgestalt. Sprühendes, blaues Licht umspielte die Klinge. Eiseskälte griff nach Kadlins Fingern und kroch ihren Arm hinauf. Auf dem Gras rings herum bildete sich Raureif. Ein seltsamer Geruch wie nach einem Gewitter hing in der Luft.
Der Geisterhund war so groß wie ein einjähriges Fohlen. Sein Maul war weit aufgerissen. Die spitzen Zähne wurden blasser. Der Geist schien blaues Licht zu schwitzen. Der Übermut war aus seinem Blick gewichen. Er sah Kadlin in fassungslosem Entsetzen an.
»Töte ihn, Luth!«, sagte die Jägerin, und die Kreatur verschwand.
Kadlin stand wie versteinert. Nur langsam wich die Kälte aus ihren Gliedern. Eine immer größer werdende Schar von Albenkindern umringte sie. Pferdemänner, Kobolde und Elfen starrten sie an, als sei sie irgendein Wundertier. Dabei war sie doch weit und breit die Einzige, die normal aussah.
Hufschlag ließ sie aufblicken. Graf Fenryl und einige Krieger kamen eilig den Flüchtlingszug entlanggeprescht. Die Menge rief etwas. Dutzende Hände deuteten in ihre Richtung. Fenryl sah sie ungläubig an. »Du hast den Shi-Handan getötet?« Er betrachte ihr Schwert. Auf der Klinge waren Rußschlieren. »Mit diesem Schwert?«
»Ich habe einen Geisterhund getötet. Luth hat dabei meine Hand geführt!« Der Graf hob die Brauen. »Die Königin sollte dich kennen lernen, Kadlin aus dem Fjordland!« Eine Koboldfrau kam auf sie zu und küsste ihr die Hand. Jetzt wagten sich auch die anderen näher. Fingerspitzen berührten sie. Einer der Stiermänner strich ihr sanft über das Haar.
Fenryl lächelte. »Sie halten dich für eine machtvolle Magierin. Sie glauben, etwas von deiner Kraft überträgt sich auf sie, wenn sie dich berühren.« Er wurde ernster. »Willst du lieber allein sein?«
Kadlin wusste es nicht.
Das hatte er kommen sehen! Ärgerlich zerknüllte Madrog den schmalen Pergamentstreifen. Er streute der Taube, die ihm die schlechte Nachricht gebracht hatte, ein paar Körner hin. Eine Abteilung Kentauren und Elfenritter war von der großen Heerstraße abgebogen, um hinauf in die Berge zu gelangen. Es gab nur einen Ort, zu dem sie auf diesem Weg gelangen würden. Das Jagdschloss der Gräfin Caileen.
Der Hauptmann der Spinnenmänner strich sich nachdenklich über die Stirn. Er hatte seinem Fürsten Shandral die Nachricht verheimlicht, dass er vogelfrei sei. Es war besser gewesen, dass sich der Irre immer noch für den Fürsten von Arkadien hielt. So machte er weniger Ärger.
Madrog blickte zu den Türmen und Wehrgängen. Überall patrouillierten Wachen. Das kleine Jagdschloss war fest in der Hand seiner Krieger. Entlang des Waldweges standen gut versteckt ebenfalls Wachen. Es war unmöglich, sich dem Schloss zu nähern, ohne dass er es schon Stunden vorher erfuhr. Die Wächter entlang des Weges hatten ihm die Brieftaube geschickt.
Der Unglücksvogel pickte zufrieden gurrend nach den Krümeln auf dem Mauerkranz.
Madrog blickte zum strahlend blauen Himmel. Immer wieder hatte er Elija geschrieben und ihn gewarnt. Doch der Kommandant hatte sich einfach nicht entschließen können, den Befehl zu geben. Worauf wartete Elija nur? Auf den Sieg der Trolle? Wollte er dann erst mit den Unterdrückern abrechnen? Dann würde es immer heißen, sie seien lediglich die Henkersknechte der Trolle gewesen. Von den Handlangern der Elfen wären sie zu Handlangern der Trolle geworden. So durfte es nicht enden!
Shandral hatte seine ganze Familie hier zusammengeholt. Die Idee, sich im Jagdschloss Caileens zu verstecken, war brillant gewesen, so lange die Gräfin vogelfrei gewesen war. Ihre Diener hatten damals ihre Besitzungen verlassen, um nicht in Verdacht zu geraten, einer Geächteten zu helfen. Und das große Jagdschloss in den Bergen wurde im Winter ohnehin nur von einigen Kobolden gehütet. Kobolden, die sich der großen Sache angeschlossen hatten! Niemand hatte Shandral und die Seinen hier gesucht. Doch nun war ihr Geheimnis offenbar ruchbar geworden.
Madrog betrachtete den Burghof. Er war hier schon einmal gewesen, während der Jagdzeit im Frühjahr. Die Elfen hatten das tote Wild entlang der Mauer niedergelegt und abends bei Fackellicht ihr Garn gesponnen.
Ein anderes Bild drängte sich in Madrogs Erinnerung. Die Schmiede in Feylanviek und wie Shandral sein Weib dort hinunterbringen ließ. Es war heiß. Rauch waberte in der Luft. Der Lärm war ohrenbetäubend. Fünfzig seiner Armbrustschützen waren dabei. Die meisten gehörten schon damals zu den Rotmützen. Leylin wurde von drei Kobolddienerinnen begleitet.
Die Kobolde in der Schmiede gehörten zu Shandrals Männern. Madrog hatte sie nicht gekannt. Harte Burschen mit schwieligen Händen und kalten Augen. Weiß der Henker, wo Shandral die herhatte! Vielleicht aus Langollion? Jedenfalls zögerten sie keinen Herzschlag lang, als Shandral auf eine von Leylins Dienerinnen zeigte und befahl, sie zu ergreifen.
Bis heute wusste Madrog nicht, ob Shandral Martha gezielt oder nur zufällig auswählte. Er deutete auf die Eiserne, die Kommandantin, die das Kommando über die Rotmützen in der Stadt innehatte. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung. Shandrals Worte klangen Madrog immer noch im Ohr. »Zeigt meiner Frau, wie man in meiner Sippe eine Ehebrecherin bestraft, eine Hure, die für andere Männer die Beine breit macht.«
Martha war zu verblüfft, um überhaupt etwas zu sagen, als die Schmiede sie ergriffen. Sie rissen ihr den Rock herunter und schleppten sie zum nächsten Amboss. Dann erst begann Martha zu schreien. Sie setzten sie quer auf einen der großen Ambosse und lösten die Sperre, die den Schmiedehammer hielt.
Leylin schrie. Andere Schmiede ergriffen sie und brachten sie bis dicht vor den Amboss. Sie musste den Luftzug im Gesicht gespürt haben, als der Hammer niedersauste und Martha beide Beine zerschmetterte.
Leylin wurde ohnmächtig, als die Schmiede sie auf den blutverschmierten Amboss hoben.
Madrog atmete schwer aus. Er sah den Meisen zu, die nahe der Mauer im Geäst einer Kiefer saßen. Frieden konnte er nicht finden. Eine Laune Shandrals hatte ihm Martha genommen. Seither wurde viel Unsinn darüber erzählt, wie die Eiserne ums Leben gekommen war. Vielleicht würde er eines Tages die Wahrheit sagen dürfen, dachte Madrog traurig. Elija hatte ihm den Namen Kommandant Skorpion gegeben, weil er sich Shandral gegenüber stets als treuer und zuverlässiger Diener ausgeben sollte, bis der Tag kam, an dem man den Elfen die Herrschaft entriss. Dann endlich durfte er dem Irren einen Stachel in den Rücken jagen.
Madrog hatte sich nicht dazu hinreißen lassen, Martha zu rächen. Er hatte dem Elfen weiter als Befehlshaber seiner Koboldleibwache gedient. Er war ja ein harter Bursche, dachte er bitter. Aber jetzt würde er nicht länger warten. Die Fürstenbrut von Arkadien würde aus der Welt geschafft, noch bevor die Kentauren und Elfen am Spätnachmittag das Jagdschloss erreichen konnten.
Und diese Tat würde von Kobolden vollbracht werden! Das war er Martha schuldig! Er ging den Wehrgang entlang und grüßte die Wache, die auf der Treppe stand. »Lasst die Lehnstühle auf den Hof schaffen! Unser Tag ist gekommen!« Der Kobold lächelte breit, dann stürmte er die Treppe hinab.
Madrog ging zu der Wachstube, die ihm als Quartier diente. Er kramte unter seinen Habseligkeiten die rote Mütze hervor. Stolz setzte er sie auf. Nie wieder würde er sie verstecken!
Die Fürstenfamilie war wie Efeu, das einen wunderschönen alten Baum zu ersticken drohte. Madrog würde sich zum Gärtner Arkadiens machen und diese wuchernde Würgepflanze mitsamt den Wurzeln ausreißen! Einzig Leylin hätte vielleicht ein gnädigeres Schicksal verdient gehabt! Der Hauptmann schüttelte nachdenklich den Kopf. Was Shandral ihr angetan hatte! Wie wurde man so? Hatte die Hexe Alathaia ihn zu dem gemacht, was er war? Statt Leylins Beine zu zerschmettern, hatte er sie mit seinem Gürtel grün und blau geschlagen. Nackt hatte sie auf dem Amboss gelegen. Und sie alle hatten zusehen müssen. Mehrfach war die Arme aus ihrer Ohnmacht erwacht. Immer hatte sie den blutigen Hammerkopf über sich schweben sehen.
Endlich hatte Shandral den Befehl gegeben, sie hinauf in ihr Zimmer zu bringen. Er hatte Löcher in ihre Matratze schneiden lassen und ihre Beine hindurchgesteckt. Gefesselt hatte sie im Bett gelegen. Er hatte ihr Opium gegeben und ihr erzählt, dass die Strafe genauso wie bei ihrer Dienerin vollzogen worden sei.
In Wahrheit hatte er ihr die Beine gelassen; stattdessen hatte er nun eine perverse Freude daran, ihren Verstand zu zerstören. Er ließ ihr Zimmer im Halbdunkel und hängte Masken mit Dämonenfratzen an die Wände. Vom Opium berauscht, wusste sie bald nicht mehr, wann sie träumte und wann sie wachte. Im ganzen Haus hörte man ihr Wimmern und ihre ängstlichen Schreie.
Ihm gegenüber hatte Shandral sein Weib einmal mit einem kostbaren Instrument verglichen, auf dem er spielte. Selbst nach ihrer Flucht machte er damit noch weiter. Er war vollkommen irre! Im Lauf des Winters war er dieses Spiels irgendwann überdrüssig geworden. Er hatte Leylin erzählt, er werde einen großen Zauber wirken und ihr die Beine wiedergeben, wenn sie fortan ein fügsames Weib sei.
Sie glaubte ihm alles! Still und gebrochen lebte sie auf dem Jagdschloss. Wie ein zu oft geprügelter Hund fügte sie sich jedem seiner Wünsche. Und er dachte sich täglich etwas Neues aus, um sie zu demütigen. Anfangs hatte sie wieder gehen lernen müssen; zu lange hatte sie mit zusammengebundenen Beinen in ihrem Bett gelegen.
Die Elfen glaubten an Wiedergeburt. Für Leylin wäre es eine Erlösung, dieses Leben hinter sich zu lassen!
Madrog nahm seine Armbrust und spannte die Waffe.
Auf dem Hof erwarteten ihn dreißig Kobolde. Sie alle trugen rote Mützen. »Es ist der Tag gekommen, an dem wir den Mord an unserer Kameradin rächen. Was immer heute geschieht, wir tun es für die Eiserne, die Kommandantin der Rotmützen von Feylanviek, unsere Gefährtin.«
Es gab keinen Jubel. Nur Gesichter, in denen stumme Entschlossenheit geschrieben stand.
Die breiten marmornen Treppen dröhnten unter dem Tritt ihrer Stiefel, als Madrog seine Männer hinauf zum Trophäensaal führte. Der Hauptmann stieß die breite Doppeltür zum Kabinett ausgestopfter Jagderinnerungen auf. An der Doppeltür auf der gegenüberliegenden Seite standen zwei Krieger in schwarzsilberner Rüstung. Leibwächter, die Alathaia ihrem Schüler vor einigen Wochen geschickt hatte.
Der linke Krieger trat vor und hob den Arm. »Halt!« Seine Stimme klang blechern hinter dem Visier des Maskenhelms. Sein wahres Gesicht verbarg er unter einem metallenen Eberkopf. Madrog hatte keinen der beiden Krieger je ohne Helm gesehen.
»Was wollt ihr?«, fragte der Elf scharf.
»Ärger.« Der Kobold legte die Armbrust an und schoss. Hinter ihm ertönte das Klacken der Abzugshebel von zwanzig weiteren Armbrüsten. Zuckend gingen die beiden Elfen zu Boden. Der Rechte hatte es sogar noch geschafft, sein Schwert zu ziehen.
Madrog setzte seine Armbrust auf den Boden und spannte ihren stählernen Bogen mit den seitlich angebrachten Zugwinden. Dann legte er einen neuen Bolzen auf. »Ich will Shandral lebend!«, ermahnte er seine Kampfgefährten. Dann stieß er die Tür zum Studierzimmer des Fürsten auf.
Shandral blickte verblüfft von seinen Büchern auf. Ärgerlich wedelte er mit der Hand. »Du darfst gehen, Madrog. Ich brauche dich jetzt nicht.«
»Packt ihn!«, befahl der Hauptmann.
Der Fürst sah sie sprachlos an.
»Drückt ihn mit der rechten Wange auf die Tischplatte.« So viele Monde hatte sich Madrog ausgemalt, was er nun tun würde. Shandral war eine Gefahr. Er war ein sadistischer Weichling, der einen ganzen Morgen lang über einen Mückenstich jammern konnte. Aber er war auch ein Zauberer. Seine Worte vermochten unabsehbare Kräfte zu entfesseln. Das galt es um jeden Preis zu verhindern!
»Ich lasse euch die Haut abziehen!«, fluchte der Fürst. Und dann stieß er einen tiefen, grollenden Ton aus. Madrog hatte das Gefühl, dass es schlagartig kälter wurde.
Der Hauptmann eilte zum Schreibtisch. Seine Männer stießen dem Fürsten die Kolben ihrer Armbrüste in die Kniekehlen, sodass er niederbrach wie ein gefällter Ochse. Hart schlug Shandrals Kopf gegen die Tischkante. Jemand griff in das lange, goldblonde Haar des Fürsten.
Madrog stieg auf den Stuhl und dann auf den Tisch. Sein früherer Herr blickte benommen zu ihm auf. »Erinnerst du dich an Martha?«
Shandral sah ihn an. »Sollte ich?« Madrog wusste, dass er sich erinnerte! »Sie war eine von Leylins Zofen. Sie hatte die Ehre, dich in die Schmiede zu begleiten.«
»Ach, dieses Flittchen?« Er lächelte. »Ich ahne, sie bedeutete dir etwas. Bereitete es dir auch Freude, ihr dabei zuzusehen, wie sie es mit Hunden trieb?«
»Das war die letzte Lüge, die man aus deinem Mund gehört hat.« Madrog hob die Armbrust. Er hämmerte den Kolben der Waffe dicht neben das Ohr des Fürsten. Seine Knochen splittern zu hören, war Balsam auf seine wunde Seele. Blut quoll Shandral aus Mund und Nase. Sein Kinn hing grotesk verrutscht herunter. Der Mund stand ihm weit offen. Er stieß unverständliche Laute aus. Sein Kiefergelenk war zertrümmert.
»Bringt ihn auf den Hof!«
Madrog nahm ein Spitzentüchlein vom Schreibtisch und wischte das Blut vom Kolben der Armbrust. Er wünschte, Martha könnte Shandral nun sehen.
Während die Krieger den Fürsten abführten, ging er zu der verborgenen Tür, die hinauf zu Leylins Gefängnis führte. Er entspannte seine Armbrust. Die Waffe würde er nicht mehr brauchen. Er stieg die steile Wendeltreppe empor und klopfte an die eisenbeschlagene Tür, damit die Fürstin sich nicht erschreckte, wenn er eintrat. Er wartete einen Augenblick. Madrog wusste, dass sie nicht antworten würde. Sie sprach so gut wie gar nicht mehr, seit Shandral ihr die Beine zurückgegeben hatte.
Behutsam schob der Hauptmann die Tür auf. Leylin saß auf einen Stuhl und sah die weiß getünchte Wand ihr gegenüber an. Die Hände hatte sie in den Schoß gefaltet. Sie trug ein schlichtes, weißes Leinenkleid. Ihr schwarzes Haar war zu einem schweren Zopf geflochten. Sie blickte ihn kurz an und schlug dann die Augen nieder.
»Würdest du mir auf den Hof folgen, Herrin?« Leylin erhob sich schweigend. Sie hielt den Kopf leicht eingezogen, als fürchte sie, sich zu stoßen.
Der Weg die Stiege hinab kam Madrog viel kürzer vor als der Weg hinauf. Hätte dieser verdammte Wolfself sie doch nur mitgenommen!
Sie war die Fürstin von Arkadien. Er konnte sie nicht schonen.
Auf dem Hof waren alle übrigen Mitglieder des Fürstenhauses bereits zu den Stühlen geschafft worden. Die Arme auf die Lehnen gefesselt, saßen sie dort. Ihre Münder waren geknebelt.
Shandrals Mutter, zwei Tanten und seine beiden jüngeren Brüder. Sie wirkten gefasst oder verärgert. Sie schienen nicht begriffen zu haben, was sie erwartete. Shandrals jüngster Bruder gab sich sogar größte Mühe, ihn besonders gelangweilt anzublicken.
Sie waren so ignorant, dass ihnen nicht einmal der Zustand des Fürsten zu denken gab. Ein Aufstand der Kobolde lag offensichtlich weit jenseits ihrer Vorstellungskraft.
Madrog geleitete Leylin zu dem Stuhl, der neben Shandral noch frei war.
»Soll ich sie fesseln?«, fragte einer der Schützen.
»Nein. Sie wird nichts sagen und auch nicht wieder aufstehen, bevor man es ihr nicht befiehlt.« Auf den Wehrgängen, auf den Türmen, im Hof, überall standen Kobolde mit roten Mützen.
Der Augenblick, von dem er so lange geträumt hatte. Sie alle waren bewaffnet, obwohl es keinen Kampf mehr geben würde.
Madrog genoss den Augenblick. Dann begann er die Rede zu halten, die er seit so vielen Monden in seinem Herzen trug. Er prangerte die Tyrannei der Elfen an. Ihre Ignoranz und ihre Herrschsucht, die den Krieg mit den Trollen entfesselt hatte. Schließlich ging er auf die Verbrechen der Fürstenfamilie Arkadiens ein. Es war eine lange Liste. Lediglich zu Leylin war ihm nicht mehr eingefallen, als ihr vorzuwerfen, dass sie die Verbrechen ihrer Verwandten still geduldet hatte. Er stockte kurz.
Dann kam er zum besten Teil der Rede. »Nie haben sich die Elfen die Finger schmutzig gemacht! Selbst wenn es um den Tod ging, hatten sie ihre Diener. Henker und ihre Knechte mit Stricken und Richtschwertern. Wir, das Volk, richten auf andere Art. Wir schrecken nicht davor zurück, Blut an unseren Händen zu haben, wenn ein Urteil gerecht ist. Befreit Arkadien von dieser Schlangenbrut! Legt an!«
Fünfhundert Armbrustkolben wurden gegen Schultern gestützt. Das Klacken der Abzüge klang wie Hagelschlag auf einer Rüstung.
Ein Tontiegel zerschellte neben Madrog auf dem Pflaster des Hofes. Dicker, schwarzer Rauch quoll dem Hauptmann entgegen.
»Es sind nicht einmal mehr fünfzig«, sagte Brud. »Lass uns die Jagd beenden. Selbst von den Überlebenden werden noch einige verrecken, wenn ihre erfrorenen Glieder brandig werden. Wir werden nicht viel davon haben, wenn wir sie weiter jagen und schlachten.«
Brodgrimm sah ihn verärgert an. »Hast du Angst zu kämpfen?«
»Während der Schlacht im engen Tal haben ich und meine Männer ihre Bogenschützen erledigt«, entgegnete der Späher gereizt. »Wo warst du an diesem Tag? Dir in einer geplünderten Stadt den Wanst voll schlagen?«
»Wo warst du, als wir den größten Feldherrn der Elfen am Mordstein besiegt haben?«
Der Späher hob die Hände. Ihm war nicht daran gelegen, sich mit dem Günstling Orgrims zu streiten. Nachdem sie die Elfen unter dem Befehl des Mörders Elodrin endlich besiegt hatten, hatte Orgrim nur dreihundert Krieger nach Süden geschickt, um den Menschen weiter nachzustellen. Doch stand ihm nicht der Sinn danach, die Städte der Menschen zu brandschatzen. Herzog Orgrim wusste, wo der eigentliche Feind saß, den es zu besiegen galt. Er war nach Albenmark zurückgekehrt, um die letzte Streitmacht der Elfen zu zerschlagen und die Tyrannin Emerelle für immer vom Thron zu vertreiben.
Es gab nichts, das Brud an Brodgrimm schätzte. Der Rudelführer war überheblich und aufbrausend. Er kannte das Land nicht, nahm aber dennoch keinen Rat an. Brud war unbegreiflich, was Orgrim an dem Kerl fand, auch wenn man ihn in Albenmark als den Helden der Schlacht am Mordstein feierte.
»Glaubst du, Orgrim würde den Menschen nicht selbst nachstellen, wenn sie ihm so wichtig wären?«
»Er hat mir den Befehl gegeben, ihnen nachzustellen.«
»Von töten war also nicht die Rede.«
»Ich weiß, wie er es gemeint hat. Dreh mir nicht das Wort im Mund rum, Brud. Und versuche nicht noch einmal, die Führung des Rudels an dich zu bringen, oder ich töte dich, alter Wolf.«
Der Späher hielt dem Blick des Rudelführers stand. »Alte Wölfe zeichnen sich dadurch aus, schon viele junge Wölfe überlebt zu haben.«
»Und dadurch, dass ihr Blut so dünn wie Wasser geworden ist. Führe mich zu den Menschen! Oder willst du dich weigern, meinen Befehlen zu folgen?« Er machte nicht den Versuch, bei seinen letzten Worten den Tonfall freudiger Erwartung zu unterdrücken.
Der Späher spuckte aus. »Dann folgt mir! Die Menschen sind auf einem Pass bei einem zugefrorenen See. Sie sind so erschöpft, dass sie heute Morgen ihr Nachtlager nicht abgebrochen haben. Einen Schneehasen zu erlegen, ist eine größere Herausforderung, als dieses jämmerliche Häuflein niederzumachen.«
Brud wählte absichtlich einen beschwerlichen Weg zum Pass hinauf. Bald hörte er die Krieger hinter sich schnaufen. Sie mochten gute Kämpfer sein, geschickte Waldläufer waren sie nicht. Und ihr Rudelführer hatte nur seinen Ruhm im Kopf.
Der Späher dachte daran zurück, wie er sich mit seinen Männern, die die Klippe erstürmt hatten, in unwegsames Gelände zurückgezogen hatte, als die Elfen überraschend auf dem Schlachtfeld im engen Tal aufgetaucht waren. Er hatte es immer schon vorgezogen zu überleben, um seine Kämpfe zu einem späteren Zeitpunkt fortzuführen, wenn der Gegner nicht alle Vorteile auf seiner Seite hatte. Nur Trottel verschanzten sich hinter den Worten Mut und Ehre.
Als Orgrim zurückgekehrt war, hatte sich Brud seinem Herzog sofort angeschlossen, noch bevor der Emporkömmling Brodgrimm mit dem eroberten Segler und den Verstärkungen im Hafen der Nachtzinne eingetroffen war. Mit seinem Rudel hatte Brud an den Kämpfen gegen die Elfen teilgenommen. Es hatte eine ganze Reihe blutiger Gefechte gegeben, bis sie endgültig überwunden waren. Orgrims Befehl, so viele Elfen wie möglich lebend zu fangen, hatte die Sache nicht einfacher gemacht.
In Bruds Augen war viel zu viel Blut vergossen worden. Auch nur einen einzigen Krieger zu verlieren, weil man dieses jämmerliche Häuflein Überlebender auch noch niedermetzeln wollte, war Verschwendung. Bei dem, was jetzt kam, war der Unterschied zwischen ihnen und dem Elfenfürsten, der die Schiffe mit den Gefangenen in Brand gesetzt hatte, nicht mehr groß. Im Übrigen war es klüger, die Menschen in ihre Rudel zurückkehren zu lassen. Sollten sie nur erzählen, welche Schrecken ihnen widerfahren waren. Das würde für einen langen Frieden sorgen!
Sie erreichten den Pass. Vor ihnen lag ein weiter See. Vorsichtig trat Brud auf das Eis. Es war fest.
»Wo sind sie?«, fragte Brodgrimm atemlos schnaufend.
»Siehst du den Felsen hinten am anderen Ufer? Dort lagern sie.«
Der Rudelführer strich mit der Hand über den schweren Kriegshammer an seinem Gürtel. »Du bleibst mit deinen Kämpfern hier, Brud. Ich will kein Rudel an meiner Seite, das schon einmal aus einer Schlacht davongelaufen ist.«
Ulric schluckte hart, als er die dunklen Gestalten am fernen Ufer sah. Er hatte absichtlich den Weg über diesen Pass gewählt. Und er hatte sich der Hoffnung hingegeben, dass die Trolle vielleicht ihre Verfolgung aufgegeben hätten. Er streckte sich und streifte den schweren Umhang ab. Das Amulett, das er trug, hielt ihn warm. Sie waren nicht mehr viele. Jetzt gab es genug Amulette für alle, doch das Sterben hatte nicht aufgehört. Es war nicht die Kälte, die sie tötete. Sie starben vor Erschöpfung.
Ulric zog das Schwert des toten Königs Osaberg, das er einst als Junge gefunden hatte. Nun gab es keine Yilvina mehr, die ihr Leben riskierte, um ihn zu retten. Er war ja auch kein Junge mehr ... Nun war es an ihm, Leben zu retten.
»Ich bin an deiner Seite, mein König.« Lambi schwankte vor Erschöpfung. Auch er hatte sein Schwert gezogen.
Ulric war gerührt, aber er konnte den alten Mann jetzt nicht an seiner Seite gebrauchen. Auch Mag und selbst Eirik hatten sich aus dem Schnee erhoben.
»Ihr bleibt hier und haltet das Ufer. Zu viele gute Männer sind schon tot. Ein paar müssen ins Fjordland zurückkehren.«
Silwyna und Fingayn nahmen ihre Bögen und gesellten sich zu ihnen.
»Was hast du vor, mein König?«, wollte Lambi wissen. »Hinausgehen und verhandeln.« »Mit Trollen verhandelt man nicht«, meinte Fingayn mit seinem melodischen Akzent.
Mit den Göttern auch nicht, dachte der junge König traurig. In der Nacht, die auf das Begräbnis von Alfadas gefolgt war, hatten sie ihn zum König ausgerufen. Es war eine schlichte, aber ergreifende Zeremonie gewesen. Mag hatte ihm eine Krone aus Eis geschnitten. Er hatte sie nicht lange tragen können. Ulric schmunzelte. Wie symbolisch. Sein Königtum war rasch dahingeschmolzen.
Er blickte zum Himmel. Es war ein schöner, wolkenloser Tag. So kalt, dass ihm gewiss die Wangenknochen geschmerzt hätten, wäre da nicht das Elfenamulett gewesen. »Ich möchte, dass du überlebst, Lambi«, sagte er mit fester Stimme. »Sollte mir etwas geschehen, dann wünsche ich mir, dass du dich auf die Suche nach der Königin machst.«
Der Herzog blickte verwirrt von ihm zu Halgard. »Wie meinst du das?«
»Du musst Kadlin finden. Sie ist nach Albenmark geflohen. Und du solltest dir besser angewöhnen, sie nicht mehr eine Hure zu nennen. Sie ist die rechtmäßige Thronfolgerin, denn sie ist niemand anderes als meine verschollene Schwester.«
Der Herzog runzelte die Stirn, sagte aber nichts. »Vertraue mir, Lambi. Wirst du dem Befehl deines Königs gehorchen?«
Lambi sah ihn fragend an. Als er aber keine Anstalten machte, noch weitere Erklärungen abzugeben, nickte der Herzog schließlich. »Bei den Spinnweben Luths schwöre ich, dass ich nicht ruhen werde, bis ich Kadlin gefunden habe.«
Ulric blickte zum Himmel. Die Sonne stand fast im Zenit. Es war an der Zeit zu gehen.
Eine warme Hand schmiegte sich in seine Linke. Er hatte ihr gestern Nacht von seinem Plan erzählt, und sie waren übereingekommen, ihr Glück gemeinsam zu versuchen.
Ihr Glück versuchen, das klang zynisch. Ihre Lebensspanne endete heute. Auf gewisse Weise schloss sich ein Kreis. Emerelle hatte Luth ihrer beider Leben gestohlen, doch die Götter holten sich stets zurück, was ihnen gehörte. Sie hatten fast sechzehn zusätzliche Jahre geschenkt bekommen. Und obwohl seit dem ersten Winter der Fluch jenes heimtückischen Geschenks aus der Hand des Fremden auf ihnen lastete, waren es gute Jahre gewesen. Sie hatten keine Hundejahre gehabt! An diesem sonnigen Wintertag wusste er es ganz sicher.
Die dünne Schneeschicht auf dem Eis knirschte unter ihren Schritten. Das Eis war fest wie Fels. Dennoch fächerte das Trollrudel, das sich vom anderen Ende des Sees näherte, weit aus. Ein zweiter, kleinerer Trupp Trolle blieb als Reserve am Ufer zurück.
Ulric blickte zurück zu seinen Gefährten. Sie standen um den Felsen versammelt, an dessen Fuß er und Halgard sich geliebt hatten. Seine Gedanken verweilten bei der warmen Umarmung ihrer Schenkel. Ein wohliges Gefühl stieg ihm in den Bauch.
Er blickte sie an. Sie lächelte, und er wusste, dass sie in diesem Augenblick dieselben Erinnerungen teilten. Sie sah wunderschön aus an diesem Mittag, auch wenn die Entbehrungen der letzten Tage ihr Gesicht hatten spitzer werden lassen.
Ulric hielt sich ein wenig mehr nach links. Wieder sah er zu dem Felsen zurück. Sie waren jetzt fast zweihundert Schritt vom Ufer entfernt. Jetzt war es nicht mehr allein der Schnee, der unter ihren Füßen knirschte.
Der junge König hob das Schwert König Osabergs, und er wiederholte die Worte, die Fingayn ihm in die Sprache der Trolle übersetzt hatte. »Bleibt stehen, und ihr werdet leben! Ich bin der König des Fjordlands, und ich werde jeden von euch töten, der die Grenze meines Königreichs überschreitet. Kehrt um, und wir werden in Frieden leben!«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, lief ein leichtes Zittern durch die Eisdecke.
Tatsächlich blieben einige der Trolle stehen. Ihr Anführer jedoch ging weiter. Er rief etwas in einem spöttischen Tonfall. Dann deutete er mit seinem Kriegshammer auf Ulric. Der grobschlächtige Kerl rief ihm etwas entgegen.
Ulric wünschte, er könnte verstehen, was der Troll sagte.
Der Trollfürst zog einen mächtigen Kriegshammer aus seinem Gürtel. Sehr betont und überartikuliert sagte er etwas. Einige seiner Männer lachten.
Ulric spürte ein gleichmäßiges Vibrieren unter seinen Füßen. Die Sonne stand jetzt im Zenit. Das Eis knirschte. Die warme Quelle am Grund des Sees war wieder zum Leben erwacht.
»Ich werde jeden von euch töten, der die Grenze meines Königreichs überschreitet«, wiederholte er noch einmal einen Teil der Worte, die er auswendig gelernt hatte.
Der Trollfürst stieß einen Laut aus, der auch ohne Übersetzer unmissverständlich war. Er hob den Kriegshammer und rannte ihnen entgegen.
Ulric spürte, wie Halgard fester seine Hand drückte.
Jetzt rannten alle Trolle. Die vordersten waren vielleicht noch zwanzig Schritt entfernt. Sie gaben ihre weit gefächerte Formation auf und lieferten sich ein Wettrennen um die Gelegenheit, sie beide zu töten.
Der junge König drehte den Schwertgriff. Die Spitze der alten Klinge zeigte auf das Eis. »Es war ein wunderbares Leben mit dir, Halgard.« Das Schwert fuhr hinab. Der Stahl drang tief in das Eis. Ein Riss entstand. Der Sturmlauf der Trolle ließ das Eis noch stärker vibrieren. Aus dem Riss wurde ein Spalt, der sich schnell weiter verästelte.
Einer der Krieger, die weit vorne liefen, stieß einen Warnschrei aus. Schlitternd und rutschend versuchten die riesigen Krieger zum Stehen zu kommen.
Die Eisdecke zitterte noch stärker. Das Wasser der warmen Quelle drückte nun mit aller Kraft gegen die Eishaut des Sees.
Der Boden unter Ulrics Füßen kippte zur Seite. Wasser griff nach seinen Kleidern. Halgard hielt tapfer seine Hand. Sie tauchten in blaues Zwielicht. Die Elfenamulette schützten sie vor der Kälte.
Rings herum sahen sie große Körper in die Tiefe sinken. Über ihnen war ein Gitterwerk aus Licht. Eisschollen tanzten auf dem Wasser. Deutlich hörten sie das Bersten des Eises. Die Geräusche strampelnder Glieder. Immer weiter griff die Zerstörung um sich.
Ulric ließ das Schwert los. Er schloss Halgard in die Arme. Silberne Kugeln perlten von ihren Lippen. Sie wollten den Kampf nicht in die Länge ziehen, so hatten sie es miteinander abgesprochen. Sie atmeten aus. Die letzte Luft aus ihren Lungen vermischte sich mit den Millionen feiner Silberperichen, die mit dem warmen Quellwasser vom Grund des Sees aufstiegen.
Ihrer beider Lippen fanden sich zu einem letzten Kuss. Dann atmeten sie das dunkle Wasser ein.
Als er sah, wie die Armbrustschützen anlegten, entglitt Melvyn der Rauchtopf, den er in Händen gehalten hatte.
»Bring mich hinab! Hinab!«, befahl er Wolkentaucher in Gedanken.
Es sind zu viele, warnte ihn der mächtige Adler.
Melvyn wollte davon nichts wissen. Er spürte den Zorn und die Traurigkeit seines Gefährten, doch Wolkentaucher fügte sich und stürzte mit angelegten Flügeln dem engen Hof entgegen.
Der Wolfself löste den Ledergürtel, der ihn mit dem Himmelssteig verband, jener Holzstange, die es ihm erlaubte, mit den Adlern zu fliegen.
Überall im Hof stiegen Rauchfontänen auf. Artaxas und alle Adler seiner Kampfgefährten kreisten jetzt über dem Jagdschloss, von dem Nossew ihnen erzählt hatte. Sie wagten es nicht, ihm zu folgen. Zu erdrückend war die Übermacht der Kobolde. Sie hatten darauf gehofft, die Besatzung zu überrumpeln, die Burg mit ihren Rauchtöpfen in erstickenden Qualm zu hüllen und Leylin zu befreien, während unter den Kobolden Panik um sich griff. Eine Landung mitten unter fünfhundert kampfbereiten Armbrustschützen hingegen war Selbstmord.
Melvyn war es egal, was mit ihm geschehen würde. Aber das Leben seiner Gefährten würde er nicht leichtfertig opfern.
Wolkentaucher spreizte die Flügel und fing den Sturzflug ab. Der dichte Rauch wirbelte in Spiralen über den Hof.
Melvyn sprang vom Himmelssteig. Er rollte sich ab, um dem Aufprall an Wucht zu nehmen. Ein Stich fuhr durch seine verletzte Schulter. Aus der Rolle heraus kam er auf die Beine. Rings herum richteten sich Armbrüste auf ihn. Er ignorierte sie, so wie Hauptmann Madrog ihn ignorierte. Der Kobold ging an ihm vorbei auf die Reihe der Lehnstühle zu.
Der Rauch hatte ein faseriges Tuch vor die Leichen der Fürstenfamilie gezogen. Madrog hob die Hand.
Melvyn ging neben dem Hauptmann in den Rauch. Er sah Shandral, der grässlich zugerichtet war. Dutzende Armbrustbolzen hatten seine Brust durchschlagen. Sein Gesicht war von Geschossen zerfetzt. Melvyn erkannte den Fürsten nur noch an seinem langen, goldblonden Haar. Neben ihm saß sein jüngerer Bruder zusammengesackt in seinem Lehnstuhl. Melvyn versuchte vergeblich, den erstickenden Rauch zur Seite zu wedeln. Leylins Kopf war ihr auf die Brust gesunken. Ihre Hände hatten sich in die Lehnen gekrallt. Doch er sah kein Blut auf ihrem weißen Kleid. Sie zitterte ... Sie lebte!
Melvyn ließ sein Schwert fallen, beugte sich vor und schloss sie in die Arme. »Leylin«, stammelte er immer wieder.
»Leylin!«
Ihre Hände tasteten über seinen Nacken.
»Mein Geliebter?« Ihre Stimme klang zögerlich. Ein Schluchzen ließ ihren Leib erzittern.
»Lass mich die Fürstin sehen, Wolfself«, forderte eine harsche Stimme.
Noch ganz benommen vor Glück, seine Liebste unversehrt zu sehen, gehorchte Melvyn.
Madrog starrte Leylin mit großen Augen an. Er schüttelte den Kopf. Dann lächelte er plötzlich. »Das Volk hat entschieden, der Fürstin das Leben zu schenken! Wo fünfhundert sich einig sind, muss Gerechtigkeit walten. Niemand hat auf die Fürstin angelegt. Sie ist frei zu gehen«, verkündete er mit schnarrender Stimme.
»Danke«, sagte Melvyn. »Danke, Madrog. Ich habe mich in dir geirrt.«
Der Kobold blickte zu ihm auf. »Täusche dich nicht in mir, Elf. Von nun an gibt es keinen Madrog mehr. Ich bin Kommandant Skorpion von der ersten Front zur Befreiung Albenmarks. Wenn wir uns wieder begegnen, werde ich gegen dich kämpfen.«
Der gedrungene Kobold mit seinem nietenbeschlagenen Wams musterte ihn. Er strich sich nachdenklich über den eckig gestutzten Bart und sah zu Leylin. »Unglaublich!«
Er hob den Arm. »Die Waffen nieder, Männer! Die beiden haben freien Abzug. Heute haben wir den Kobolden Arkadiens das Tyrannenjoch von den Schultern genommen und wurden Zeugen, wie das Volk Gerechtigkeit übt. Ihr habt Geschichte geschrieben, Männer. Lasst die beiden Liebenden ziehen!« Melvyn hob Leylin vom Stuhl.
Er strich ihr über die Beine ... Sein Herz setzte einen Augenblick aus zu schlagen. Das war unmöglich! Er wagte es gar nicht, an ihr herabzublicken.
»Dort ist das Tor«, drängte Madrog.
»Es lebe der Skorpion«, riefen einige der Schützen. »Es lebe die Revolution!« Immer mehr der Spinnenmänner stimmten in die Jubelrufe ein.
Am Tor blieb Madrog stehen. »Ich weiß, dass ein großer Trupp Elfen und Kentauren hierher unterwegs ist, und ich denke, es steht in deiner Macht, sie aufzuhalten, Wolfself. Es wäre doch traurig, wenn so ein Tag der Wunder doch noch mit vielen Toten enden würde. Ich werde mit meinen Kriegern noch heute Nacht in die Wälder ausweichen. Ab morgen gehört das Jagdschloss wieder euch ... Bis die Trolle kommen.«
»Ich bin jetzt die Fürstin Arkadiens.« Leylins Worte waren nur ein Flüstern. Sie hielt den Kopf an seinen Hals gepresst. Offensichtlich hatte Madrog sie dennoch gehört. Eine tiefe Falte grub sich zwischen seine Brauen.
»Ich werde verbieten, euch zu verfolgen.«
Der Kommandant kratzte sich nachdenklich den Bart. »Wir werden sehen ...«
Er blickte zu Melvyn. »Wenn du verrückter Wolf mir das nächste Mal auf den Kopf springst, dann verspreche ich dir, wird der Skorpion stechen. Es wird wieder sein wie in Feylanviek.« Er schenkte Melvyn ein bärbeißiges Lächeln. Dann drehte er sich um und ging zurück ins Jagdschloss.
Die Tür zum Falrach-Zimmer schwang auf. »Kadlin vom Fjordland und der Baumeister Gundaher«, verkündete Hofmeister Alvias steif.
Emerelle war kurz eingenickt. Müde hob sie den Kopf. Sie saß in einem Lehnstuhl vor dem prächtigen Falrach-Tisch, der das kleine Zimmer beherrschte. Gestern hatte das Heer der Trolle die Shalyn Falah erreicht. Nur die breite Schlucht trennte sie jetzt noch vom Herzland. Das Ende stand unmittelbar bevor.
»Man kniet vor der Königin«, hörte sie den Hofmeister flüstern.
»Ich knie vor niemandem nieder!«, entgegnete die junge Frau trotzig, während der Baumeister dem Befehl folgte.
»Man widerspricht nicht dem Hofmeister ...«
Emerelle unterbrach Alvias mit einem Winken. »Lass es gut sein. Wir wissen doch, wie die Fjordländer sind, Alvias.«
»Wenn wir anfangen, Ausnahmen zu machen, bricht das ganze Hofzeremoniell zusammen«, sagte Alvias ruhig, doch in seinen Augen standen Sorge und Zorn.
»Einigen wir uns darauf, dass das Zeremoniell nur für Albenkinder gilt?« Sie war zu müde zum Streiten, ja selbst zu müde, um Befehle zu geben. Und worum ging es überhaupt? Schon morgen um diese Stunde mochten alle Zeremonien des Elfenhofs für immer gestorben sein.
Sie betrachtete Kadlin. Mit dem roten Haar und ihrem trotzigen Blick erinnerte sie das Mädchen an Mandred. Sie trug ein schlichtes, blaues Seidenkleid, das ihr gut stand. In ihren Händen hielt sie ein kleines, abgegriffenes Buch.
»Ich habe von deiner Heldentat gehört.« Die Sprache der Fjordländer ging Emerelle nicht ganz flüssig über die Lippen. Sie hatte sie lange nicht mehr gebraucht.
Ein kurzes Lächeln huschte über das Antlitz der jungen Frau. Sie schien erfreut zu sein, in ihrer Muttersprache angesprochen zu werden.
»Baumeister, erhebe dich. Du hast mir Ehre erwiesen. Es ist genug.« Emerelle hatte sich das Schwert von Kadlin bringen lassen und es gemeinsam mit Alathaia untersucht. Die Waffe hatte nichts Magisches an sich. Sie war nichts Besonderes, im Gegenteil. Sie war aus schlecht verhüttetem Eisen geschmiedet. Im Kampf gegen eine Klinge aus dem Silberstahl der Elfen würde sie in Stücke gehackt werden. Vielleicht war es gerade diese Unvollkommenheit, die den Shi-Handan getötet hatte. Alathaia war der Auffassung, das Schwert sei einem der Menschengötter geweiht und diese fremde Art von Zauber könne kein Geschöpf Albenmarks ergründen.
»Kadlin und Gundaher, ihr hattet den Wunsch, mich zu sehen. Was ist euer Begehr?« Das Mädchen hielt ihr das Buch hin.
»Der Baumeister weiß, woher der Shi-Handan kam. Er kennt den Mann, der ihn erschaffen hat. Sein Name ist Bruder Jules. Er ist ein Tjuredpriester.« Der Baumeister stöhnte. Sein Gesicht war aschfahl geworden, als leide er große Schmerzen.
»Ich bitte dich, sieh dir dieses Buch an.« Gundaher schwankte. Alvias trat vor und fing den Mann auf, bevor er stürzte.
Emerelle erhob sich. Sie umrundete den Falrach-Tisch und kniete nieder. Ihre Hände umfassten die Schläfen des Menschen und hatte Teil an seinem Schmerz. Sie spürte die fremde Macht, die den Baumeister gezeichnet hatte. Und sie spürte die Nähe des Todes. Ein stummes Kräftemessen begann. Emerelle hörte Kadlin sprechen, doch sie konnte dem Sinn ihrer Worte nicht folgen. All ihre Kraft musste sie aufbieten, um dem, was Gundaher töten wollte, zu widerstehen. Ihre Linke umklammerte den Albenstein, den sie auf ihrer Brust trug. Sie spürte, wie sich etwas tief im Kopf des Baumeisters bewegte. Etwas, das durchdrungen war von Magie, Bosheit und Hunger.
Gundaher wurde von Krämpfen geschüttelt. Blut trat aus seinen Augen. Emerelle spürte, wie auch über ihre Wangen warme Tränen rannen. Sie spürte, wie sich die Geschöpfe im Kopf des Baumeisters wanden, wie sie fraßen. Schmerz und Ekel drohten sie zu überwältigen. Sie wurde sich bewusst, wie lange der Mensch schon unter dieser Folter litt, und sie begriff, welchen Schaden sie angerichtet hatten. Wie sich ein freundlicher, weltoffener Mann in einen Eigenbrötler verwandelt hatte, dessen unerwartete Bosheiten alle fürchteten, die Umgang mit ihm pflegen mussten.
Emerelle konnte nicht heilen, was die Kreaturen angerichtet hatten. Aber sie konnte den Schmerz mit Gundaher teilen, und sie konnte die Geschöpfe töten, eines nach dem anderen. Das stumme Duell schien Stunden zu dauern. Sie war am Rande der Erschöpfung, als die schleimbedeckten Würmer aus der Nase des Baumeisters quollen. Feist, fast so groß wie die Finger eines neugeborenen Kindes.
Die Königin hob die Kreaturen auf, trat an eine Feuerschale, die das Zimmer wärmte, und schnippte die Würmer in die glühenden Kohlen. Mit einem kurzen Zischen vergingen die bleichen Leiber.
Emerelle wusste, wer das getan hatte. Müde stützte sie sich auf die Kante des Falrach-Tisches. Es war nicht weise gewesen, so zu handeln. Morgen, wenn die Schlacht begann, würde sie all ihre Kräfte brauchen.
Kadlin war sehr blass geworden. Sie sah sie mit großen Augen an. »Was war mit ihm? Wird er wieder gesund werden? Gibt es noch mehr von diesen Würmern? Und ...«
Emerelle beendete mit einer fahrigen Geste den Strom der Fragen. »Die Würmer sind tot, doch ob er geheilt ist, wird man erst nach einiger Zeit sagen können. Vor langer Zeit scheint er einem Wesen von großer Macht und schrecklicher Bosheit begegnet zu sein. Dem Devanthar. Es ist bemerkenswert, dass Gundaher so lange gelebt hat. Und ich vermag nicht zu ergründen, warum der Devanthar ihm das angetan hat.« Sie winkte Alvias. »Lass eine Trage bringen und sorge dafür, dass der Baumeister ein gutes Quartier erhält.«
»Danke«, sagte Kadlin aufgewühlt. »Ich schulde dir ...«
»Nichts!«, unterbrach Emerelle das Mädchen. Sie wollte allein sein. Die Begegnung mit der Bosheit des Devanthar hatte ihre letzten Kräfte verbraucht.
»Er ist der einzige Mensch, der mir in einer fremden Welt geblieben ist. Ganz gleich, was du sagst, ich stehe in deiner Schuld.«
Zwei junge Krieger mit einer Trage betraten das Zimmer. Sie hoben den bewusstlosen Baumeister auf. Kadlin legte das kleine Buch auf den Rand des Falrach-Tischs. Die ganze Zeit über hatte sie es in Händen gehalten. Scheu blickte sie zu Emerelle. »Dort wirst du Antwort darauf finden, wann er der Bosheit begegnete und woher die Geisterhunde kommen«, sagte sie. Dann folgte sie den Kriegern, die Gundaher fortbrachten.
Emerelle lauschte auf die Schritte, die in der Weite des leeren Palastes verhallten. Der Hofmeister stand noch immer an der Tür, unaufdringlich und bereit, ihr jeden Wunsch zu erfüllen.
»Ich werde heute niemanden mehr empfangen, Alvias. Lass dem Befehlshaber ausrichten, dass ich morgen in der Stunde vor Sonnenaufgang zur Shalyn Falah kommen werde. Mein Heer wird nicht ohne mich kämpfen.«
»So soll es sein«, antwortete Alvias, ohne dass sein Tonfall verraten hätte, was er von ihrer Entscheidung hielt.
Emerelle ließ sich auf den Lehnstuhl nieder. Nach kurzem Zögern nahm sie das Buch. Zumindest einen Blick wollte sie hineinwerfen. Auch wenn seine Bilder ohne große Kunstfertigkeit ausgeführt waren, hatte der Maler es verstanden, seine Gefühle in sie zu bannen. Sie atmeten den Frieden, der in der kleinen Gemeinschaft der blau gewandeten Menschenkinder geherrscht hatte.
Als Emerelle zum ersten Mal den Fremden auf den Bildern sah, verspürte sie eine Unruhe, die sie sich zunächst noch nicht zu erklären vermochte.
Als sie das Buch schließlich zuschlug, hatte das Grauen, das der unbekannte Künstler durchlebt hatte, auch ihre Seele berührt. Erschüttert blickte sie auf den Falrach-Tisch. Sie wollte ihre Gedanken von den Bildern lösen, doch es mochte ihr nicht gelingen. Die Shi-Handan hatte also der Devanthar geschickt? Warum? Das Erscheinen der Geisterhunde hatte den Trollen geschadet. Und ging es dem Devanthar nicht vor allem darum, das Volk der Elfen zu bestrafen? Warum hatte er sie unterstützt?
Das Heer auf der weißen Seite des Tisches war in den letzten Wochen angewachsen. Die Trolle waren ihnen immer noch überlegen, doch die Verbündeten waren stark genug geworden, um darauf hoffen zu dürfen, die Heerscharen der Trolle zumindest aufzuhalten. Ganz gleich, wer morgen siegte, Albenmark würde sich von dieser Schlacht in Jahrhunderten nicht erholen. Sie stutzte. Lange blickte sie auf die schön geschnittenen Figuren, die Symbole für zehntausende Krieger waren. Sie sträubte sich gegen die Wahrheit! Doch je länger sie über den Spielstand nachdachte, desto klarer ordneten sich alle Ereignisse der letzten Monde. Sie war es nicht, die in dieser Partie spielte! Sie war nur eine Figur auf dem Feld, die von unsichtbarer Hand geführt worden war. Das Gleiche galt für Skanga. Dies war kein Spiel im üblichen Sinne, denn es gab nur einen Spieler. Es war belanglos, wer siegte, denn ohne Gegenspieler wäre der Unsichtbare, der beide Seiten lenkte, in jedem Fall der Gewinner.
Und ihm ging es einzig darum, in diesem Falrach-Spiel auf beiden Seiten so viele Steine zu schlagen wie nur möglich. Er wollte Albenmark eine Niederlage bereiten, von der es sich nicht mehr erholen würde.
Emerelle blickte auf das kleine, abgegriffene Buch in ihrem schoss. Es hatte das Antlitz des Unsichtbaren offenbart. Ein Priester, der seine Bosheiten mit der Kraft der Liebe und Verehrung nährte, die man ihm entgegenbrachte.
Als die Königin auf den Falrach-Tisch blickte, sah sie all die Gesichter, für die die Spielsteine standen. Ein Meer von Gesichtern ... Beide Seiten hatten einander in den letzten Monden zu viel angetan. Ein Kampf war unvermeidlich. Aber vielleicht ließ sich ein Massaker verhindern.
Als Obilee, die Botin der Elfenkönigin, mit ihrem Vortrag endete, war Ganda sprachlos. Sie blickte in die weite Runde der Befehlshaber, die der junge Trollkönig zum Kriegsrat einberufen hatte. Sie alle sahen überrumpelt aus. Emerelles Vorschlag war verlockend.
»Du solltest unserer Beratung nicht beiwohnen, Obilee«, sagte Skanga sachlich. »Kehre zu deiner Königin zurück, wir werden ihr mitteilen, wie König Gilmarak sich entschieden hat.«
Die Elfenkriegerin verneigte sich formvollendet und ging davon.
»Sie fürchtet unsere Stärke«, sagte Slarag, ein junger Rudelführer der Trolle, der nach der Schlacht am Mordstein zu Ehren gekommen war.
Skanga strich sich nachdenklich über das Kinn. Ganda hatte schon öfter bemerkt, dass immer alle zuerst zu der Schamanin blickten und nicht zum König. Sie war es, die hier die Entscheidungen traf.
»Es gibt wenig, das Emerelle fürchtet. Und gerade, wenn sie schwach erscheint, sollte man sich besonders vor ihr hüten. Orgrim, wie stehen unsere Aussichten, sie in offener Feldschlacht zu besiegen?«
Der Trollherzog wirkte geistesabwesend. Sein Gesicht war von Falten durchzogen. Die Kämpfe bei der Nachtzinne hatten ihn bis ins Innerste erschüttert. Jeder im Heer wusste um die Morde, die der Elfenfürst Elodrin begangen hatte, und tausende Krieger brannten darauf, Rache zu nehmen.
»Das Heer der Elfen und ihrer Verbündeten hat an Kraft gewonnen. Sollten wir einen Übergang über die Shalyn Falah erzwingen wollen, dann besteht die Gefahr, besiegt zu werden. Gehen wir aber über die Flanken und suchen abseits der Brücke einen Weg ins Herzland, können wir unsere Übermacht zum Tragen bringen. Dann werden wir siegen.«
Ganda war mit Elija und Nikodemus zum Kriegsrat gekommen. Sie wagte es nicht, etwas zu sagen. Aber sie musste Elija nur ansehen, um zu ahnen, was in ihm vorging. Emerelle hatte vorgeschlagen, statt einer Schlacht ein Duell auszutragen, um dem unnützen Blutvergießen ein Ende zu bereiten. Ganda hielt diese Entscheidung für sehr weise, doch musste man bei den Elfen stets auf Heimtücke gefasst sein.
»Welchen Krieger könnten die Elfen denn schicken?«, fragte König Gilmarak.
Ein heftiger Streit entbrannte. Die meisten Namen, die fielen, hatte Ganda noch nie zuvor gehört. Letzten Sommer hätte es nur einen Namen gegeben, dachte sie traurig.
Aus dem Augenwinkel sah Ganda, wie Elija hintersinnig lächelte. Dann erhob sich der Kommandant, denn unter den lauthals streitenden Trollen wäre seine Stimme untergegangen. Ganda ahnte, was er vorschlagen würde, und sie betete, dass er sich nicht durchsetzte. In der letzten Nacht hatte sie von Klaves geträumt. Er war in einen Abgrund gestürzt. Wenn König Gilmarak sich überreden ließ, den Elfen im Streit für die Trolle antreten zu lassen, dann würde sie Klaves niemals wiedersehen.
Kurz überlegte Ganda, ob sie von ihrem Traum erzählen sollte. Doch die Kriegsherren würden über Weiberträume nur lachen. Lediglich Skanga würde sie vielleicht ernst nehmen.
Sie erinnerte sich an ein Bild, das sie in Melianders verbotenem Buch in der Bibliothek von Iskendria gesehen hatte. Ein kopfloser Schwertkämpfer war auf eine Brücke getreten. Hatte Emerelles Bruder damit auf Ollowain hindeuten wollen? Sie dachte an die düstere Prophezeiung, die sie auf der Seite neben dem Bild gelesen hatte. Meliander schrieb dort über einen lebenden Toten, der erst im Tod ein Leben fand. Ollowain war ein lebender Toter. Ohne Zweifel hatte Meliander den Schwertmeister gemeint. Sie schluckte. Verzweifelt überlegte sie, wie sie gegen ein Schicksal ankämpfen könnte, das offenbar seit Jahrhunderten vorherbestimmt war.
Wieder einmal war die Bestie zu ihrem Beobachtungspunkt nicht weit der weißen Burg zurückgekehrt. Sebastien spürte die Unruhe der Kreatur. Eben noch waren sie bei der tiefen Schlucht gewesen, wo sich die gegnerischen Heere versammelt hatten. Nie hatte Sebastien so viele Krieger gesehen! Dicht wie die Halme in einem Weizenfeld standen die Speere der Kämpfer, die sich versammelt hatten. Ohne Zahl waren die Bogenschützen. Weiter hinten warteten Reiter und Streitwagenfahrer. Auch gab es große Reittiere, deren Namen Sebastien nicht kannte, denen man hölzerne Türme auf die Rücken gebunden hatte, um sie zu wandelnden Burgen zu machen Auf der anderen Seite hatten sich zehntausende ungeschlachte Gestalten versammelt. Drei Schritt groß, mit groben Gesichtern und primitiven Waffen verstrahlten sie eine Kraft, die beängstigend war. Sebastien hatte in der Schlacht auf der Grasebene gesehen, wozu Trolle fähig waren. Es war unmöglich zu sagen, welche der beiden Seiten wohl bessere Aussichten auf den Sieg hatte. Die Schlacht versprach ein beispielloses Gemetzel zu werden. Und dennoch hatte sich die Bestie zurückgezogen, um wieder die weiße Burg zu belauern. Was gab es hier, das sie mehr ergötzte als tausendfacher Tod? Etwas in der Burg zog die Bestie an, wie ein Topf Honig Fliegen anlockte. Aber es gab dort auch etwas, das sie fürchtete. Konnte die Kreatur sterben? Den dritten Geisterhund hatten sie seit einer Weile nicht mehr gesehen. Hatte ihn jemand getötet? Wer mochte dazu fähig sein? Ein Held, der auf dieser Burg lebte? Die Bestie gab ihr abwartendes Lauern auf. Schnell wie der Wind eilte sie den hohen Mauern entgegen. Sebastien versuchte erst gar nicht, sich ihrem Willen zu widersetzen. Er hatte ihrer Macht längst nichts mehr entgegenzusetzen. Die ungezählten Lebenslichter, die sie verschlungen hatte, erlaubten ihr, ihn und ihren gemeinsamen Körper zu beherrschen. Wozu auch immer er in dieser Verbindung nötig gewesen war, die Kreatur war längst stark genug, ohne ihn zu existieren. Sie konnte inzwischen sogar fleischliche Gestalt annehmen, wenn sie es wollte. Von seinen Ordensbrüdern und -schwestern lebten nur noch drei. Ein paar Tage noch, dann wäre alles Menschliche in dem Geschöpf der Finsternis verloschen. Was würde die Bestie dann wohl unternehmen? »Du bist sehr neugierig, Sebastien. Manchmal denke ich, dass wir uns im Grunde recht ähnlich sind. Ich bin ein Sebastien, der alle Fesseln der Moral abgestreift hat.« Gar nichts haben wir gemeinsam, begehrte der Abt auf.
»Wie kannst du so sprechen, wo wir doch sogar einen Leib teilen?«, entrüstete sich die Kreatur. Sie glitt durch die dicken Burgmauern und gelangte in einen Saal, der von einem großen Brunnen beherrscht wurde. Prächtige Banner hingen von den Wänden. Vor einer hohen, zweiflügeligen Tür am anderen Ende des Saals stand ein einzelner Wachtposten, der sie offenbar noch nicht bemerkt hatte.
Witternd sah die Bestie sich um.
Wieder glitt sie durch eine Wand. Inmitten des Mauerwerks war ein niedriger Tunnel. Die Kreatur verharrte und starrte ins Dunkel. Etwas bewegte sich in der Finsternis. Ein Schatten. Was hatten sie da aufgespürt?
»Einen Bruder.«
Sebastien konnte die andere Gestalt nicht deutlich erkennen. Er hatte das Gefühl, dass diese Geschöpfe der Finsternis sich auf eine Weise austauschten, die es erlaubte, ihn auszuschließen.
»Wie überaus scharfsinnig du doch bist, Abt«, verhöhnte ihn die Kreatur. »Ich sagte doch, wir sind uns ähnlich. Aber du bist meiner Gesellschaft überdrüssig, nicht wahr?«
Was sollte das nun? Es war nicht meine Absicht, dich zu kränken. Ich wollte lediglich anmerken — ohne damit eine Wertung auszudrücken —, dass wir voneinander verschieden sind.
»Ach, Sebastien, wenn du ermessen könntest, wie viel Freude es mir bereitet, mit dir zusammen zu sein.«
Die Bestie hatte einen Unterton in der Stimme, den er fürchten gelernt hatte. Von einem Augenblick zum anderen hatten sie den verborgenen Tunnel verlassen. Ein Schatten folgte ihnen. Eine amorphe Gestalt. Belebte Finsternis.
Die Bestie eilte dem Wachposten an dem Tor entgegen. Der Elf senkte den Speer, doch die Waffe vermochte ihrer Geistergestalt keinen Schaden zuzufügen. Ihre Schnauze fuhr dem Krieger in die Brust. Raureif breitete sich auf seinem Bronzepanzer aus. Seine Kleider wurden steif vor Kälte. Mit schreckensweiten Augen starrte er auf das Lebenslicht, das sie aus seiner Brust zerrten.
Die Bestie erlaubte dem Schatten, der ihnen gefolgt war, einen Teil des Lichts zu fressen.
Was hatten die beiden besprochen? Noch nie hatte Sebastien erlebt, dass das Tier in ihm Beute geteilt hatte.
»Du bist ungerecht, mein Freund! Teilen wir nicht jeden Happen, da wir uns einen Körper teilen? Du machst dir ein zu einfaches Bild von mir!« Die Kreatur trat durch die hohe Tür, die der Elf bewacht hatte. Sie gelangten in einen runden Saal, von dessen Wänden Wasser strömte. Es gab keine Decke. Man sah einfach hinauf in den Frühlingshimmel. Gegenüber dem Portal erhob sich ein Thron. Auf dem Boden gab es ein großes Mosaikbild aus ineinander verschlungenen Schlangen.
Dieses Bild schien es der Bestie angetan zu haben. Sie schlich um die Schlangen herum und belauerte sie so lange, bis es Sebastien erschien, als bewegten sich die steinernen Schlangen. Ihre Augen wirkten lebendig. Und dann erhoben sie sich.
Der Abt wollte schreien, sich abwenden, flüchten. Aber der Körper des Geisterwolfs gehorchte ihm nicht. Er war gezwungen zuzusehen, wie sich die Schlangen gegeneinander neigten und ein Tor aus gleißendem Licht sich öffnete.
Dahinter lag Finsternis. Sie schwebten. Der Thronsaal war verschwunden. War hinter ihnen das Tor aus Licht? Was geschah hier?
»Du wirst Teil haben an einem außergewöhnlichen Ereignis. Das Tor, durch das wir gegangen sind, sollte für meine Schattenbrüder unpassierbar sein. Doch hier ist das magische Siegel zerbrochen, und es gibt nicht einmal einen ernst zu nehmenden Wächter. Die Finsternis hier ist schier unendlich. Dieses Tor zu finden, wäre für meine Schattenbrüder ein großer Zufall. Jene, die in die Welt der Albenkinder gelangten, sind leider etwas selbstsüchtig. Sie wagen sich nicht zurück, um unsere übrigen Brüder zu rufen. Sie haben nicht unsere Kraft, Sebastien. Wir können selbst durch versiegelte Tore schreiten. Sie nicht. Ich bin hier, um sie zu rufen. Doch meine Stimme würde sie womöglich nicht locken.«
Sebastien fühlte sich plötzlich leicht und unbeschwert. Vor ihm stand der große, geisterhafte Wolf. Er stutzte. Drei Schlangen aus Licht traten aus dem Körper des Wolfs. Der Abt begriff.
»Ihr seid frei«, erklärte die Bestie.
Sebastien sah, wie sich etwas in der Finsternis regte. »Zumindest für den Augenblick. Es gibt nichts, was meine Brüder verlockender finden, als ein Lebenslicht zu trinken. Du kennst ja unsere Schwächen, Sebastien. Sie alle werden spüren, dass du hier bist. Gefällt dir so viel Aufmerksamkeit?« Warum tust du das?
»Weil du eine zarte Seele bist, mein Freund. Es ist besser, dein Weg endet hier. Du würdest keinen Gefallen daran haben, Zeuge zu werden, wie das Licht einer ganzen Welt vergeht.«
»Du darfst nicht gehen, Emerelle!« Melvyn hatte sie am Tor der Festung, die über die Shalyn Falah wachte, abgepasst. Er trug die neuen Armschienen, die sie ihm geschickt hatte. Die stählernen Krallen waren ausgefahren. »Ich werde an deiner Stelle kämpfen. Es gibt keinen Troll, den ich nicht besiegen könnte.«
»Was hält Leylin davon?«
Er hielt ihrem Blick stand. »Sie würde es sicherlich ehrenhaft finden.«
»Also weiß sie nichts davon.« Emerelle musste lachen. »Du musst noch einiges über den Umgang mit Frauen lernen. Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe schon in den Drachenkriegen gekämpft. Bevor ich Königin wurde, war ich Kriegerin. Ich werde siegen.«
»Aber du könntest ...«
Sie hob gebieterisch die Hand. »Nein, Melvyn. Es ist ausgeschlossen, dass ich verliere. Ich danke dir für dein edelmütiges Angebot, aber ich werde es nicht annehmen.« Mit festem Schritt ging sie der Brücke entgegen. Sie hatte in der letzten Nacht die Zukunft erforscht und sich gesucht. Traute sie Melianders Worten, so hätte die Silberschale keine Schrecken vor ihr verheimlicht. Es war schwer, seine eigene Zukunft zu erkunden. Sie war besonders veränderlich, denn jedes Bild, das man sah, mochte Einfluss auf alle kommenden Taten haben. Emerelle hatte keine mögliche Zukunft entdecken können, in der sie auf der Shalyn Falah starb. Ganz gleich, wen die Trolle schicken würden, sie würde siegen.
Für das Duell hatte die Königin einen leichten Leinenpanzer angelegt. Auf jegliche weitere Rüstung hatte sie verzichtet. Sie kämpfte am besten, wenn sie beweglich war.
An der Brücke angekommen, blickte sie zurück. Hunderte Banner wehten auf den Mauern der weißen Festung, die den Zugang ins Herzland bewachte. Die Wälle waren dicht besetzt mit ihren Kriegern. Selbst Fingayn war dort, obwohl der Maurawan es eigentlich vorzog, nicht allzu viel Gesellschaft zu haben. War das ein Mensch an seiner Seite? Der Mann verschwand im Gedränge.
Emerelles Blick wanderte über die hohen, weißen Festungswälle. Hier hatte ihr Schwertmeister residiert und seine neuen Schüler ausgebildet. Sie griff sich an ihr Herz. Würde sie die Leere, die sie dort verspürte, jemals überwinden? Was gäbe sie dafür, wenn Ollowain auf diesen Wällen stehen würde, um ihr nun zuzusehen. Sie lächelte traurig. Dazu wäre es niemals gekommen. Er hätte sie nicht in diesen Zweikampf ziehen lassen.
Sie wandte sich ab. Eine einzelne Fanfare erklang, als sie die Brücke betrat.
Auf der anderen Seite des Abgrunds drängten sich tausende Trolle. Zwischen den hünenhaften Kriegern sahen die Kobolde wie Kinder aus. Sie konnte nicht begreifen, was sie dazu gebracht hatte, zu den Feinden überzulaufen.
Der Anblick der Kobolde erinnerte die Königin auch an die dreißig Kinder. Heute Morgen hatte sie sie mit ihren Familien in Richtung Yaldemee geschickt. Viel zu lange waren sie den Einflüsterungen der Schatten ausgesetzt gewesen. Dafür schämte sich Emerelle, ebenso wie für die Tatsache, überhaupt auf Alathaia gehört zu haben und in Versuchung geraten zu sein, sich einen Albenstein mit Kinderblut zu erkaufen.
Die Königin blinzelte. Sie würde während des Kampfes in die Sonne blicken müssen. Das war ärgerlich, aber letzten Endes würde sich deshalb nichts ändern.
Eine Gasse bildete sich zwischen den Trollen. Eine schlanke, weiße Gestalt erschien auf dem Kamm der Klippe. Das Licht blendete. Einen Moment schien es, als habe der Krieger keinen Kopf.
Emerelle erinnerte sich an eines der Bilder in Melianders Buch. Es zeigte eine kopflose Gestalt, die auf eine Brücke trat.
Ihr Gegner stieg nun den in Serpentinen gewundenen Pfad hinab, der von dort drüben auf die Shalyn Falah führte. Es war ein Elf! Wie hatten die Trolle einen Elfen für ihre Sache gewinnen können?
Die Bewegungen des Kriegers erschienen ihr seltsam vertraut. Der Kämpfer war ganz in Weiß gekleidet. Nervös trommelten ihre Finger auf den Schwertknauf. Wer war das? Er trug eine weiße Maske und dazu eine eng anliegende Mütze mit Pferdeohren. Wie geschmacklos! Wollte der Kerl sie verhöhnen?
So wie sie trug auch er einen Leinenpanzer. Auf Arm- oder Beinschienen und einen Schild hatte er verzichtet. In der Rechten hielt er ein blankes Schwert. Sein Wuchs, die katzenhafte Art, mit der er sich bewegte, in all dem glich er Ollowain! Wer war dieser Krieger?
Emerelle kniete nieder und streifte ihre Sandalen ab. Die Shalyn Falah, die weiße Brücke, war ein tückischer Ort für einen Zweikampf. Es gab kein Geländer, und der Brückenweg war leicht gewölbt. Von den Wänden der Klippen stürzte Wasser in die Tiefe. Ganz gleich wie der Wind drehte, fast immer wurde Sprühwasser zur Brücke getragen und ließ den polierten weißen Stein glatt und rutschig werden. Es war klüger, hier barfuß zu kämpfen.
Dumpfer Trommelschlag erklang auf der Seite der Trolle, als ihr Krieger die Shalyn Falah betrat. Auch er war barfuß! Ohne zu zögern, kam er auf sie zu. Mit der Linken nestelte er an seiner Maske. Als er die Mitte der Brücke erreichte, nahm er sie ab und warf sie mit lässiger Geste in den Abgrund.
Ollowain!
Emerelle traute ihren Augen nicht! Wieder griff sie sich an ihr Herz. Wie konnte es sein, dass er vor ihr stand und sie ihn nicht fühlte?
Er hob das Schwert zum Fechtergruß.
»Ollowain?« Er reagierte nicht auf seinen Namen! Was hatte Skanga ihm angetan?
»Los! Kämpfen.« Seine Stimme war verändert.
»Wer bist du?«
»Klaves. Diener in Elijas Herde. Ich trage den Dung der Echsen. Und Trolltrottel totmachen kann ich auch ...« Er wirkte plötzlich erschrocken. »Das darf ich eigentlich nicht sagen, Weißmädchen.«
Emerelle starrte ihn einfach nur an. Wie redete er? Was war mit ihm geschehen? »Komm, Weißmädchen!« Er deutete mit dem Schwert auf ihre Brust.
»Du willst mich töten? Warum? Du warst mein Schwertmeister. Erinnerst du dich denn nicht?«
Klaves runzelte die Stirn. »Ich bin Elijas Diener. Und wenn ich dich totmache, werde ich vom Diener zum Krieger. Krieger müssen keinen Echsendung mehr schleppen.« Er hatte sogar noch sein altes Schwert, bemerkte Emerelle. Sie legte ihre Hand auf den Schwertgriff. Sie konnte es nicht ...
»Du würdest mich töten, Klaves?«
»Elija hat gesagt, ich soll mit dir kämpfen. Ich bin ein guter Diener. Ich tue immer, was Elija mir sagt.«
»Und wenn ich nicht mit dir kämpfen möchte?« Er sah sie erschrocken an. »Das geht nicht. Elija hat gesagt, ich muss kämpfen. Nimm jetzt dein Schwert in die Hand. Das brauchst du zum Kämpfen!« Der Wind wehte ihr Gischt ins Gesicht und verbarg so ihre Tränen. Was hatten sie mit ihm gemacht? Er war nicht mehr Ollowain. Aber er hatte immer noch das Gesicht des Mannes, den sie liebte. Ihre Finger tasteten nach dem Albenstein unter ihrer Leinenrüstung. »Darf ich dich mit einem Stein an deiner Stirn berühren?«
Er trat einen Schritt zurück. »Nein! Wir kämpfen jetzt, Weißmädchen!« Emerelle kniete nieder. Sie hatte in ihrem Leben manches getan, das ihr schlaflose Nächte bereitet hatte. Sie hatte Unrecht geduldet, zum Wohle Albenmarks. All dies war vergebens gewesen, wenn sie nun kampflos aufgab. All die Toten der letzten Monde waren für nichts gestorben. Doch sie konnte nicht.
Sie zog ihr Schwert und legte es ihm zu Füßen. Sie wusste nicht, was geschehen war. Doch zumindest ihr Herz hatte sie nicht getäuscht. Der Ollowain, den sie gekannt hatte, war tot. Aber sie würde ihn wieder zurückholen! Sie würde alle seine Leben wieder zurückholen! »Du hast mich besiegt«, sagte sie leise.
Der Krieger sah sie verwirrt an. »Das geht so nicht. Erst muss man kämpfen. Dann siegt man.« »Stell deinen Fuß auf mein Schwert und strecke deine Waffe dem Himmel entgegen.« Er gehorchte sofort. Sie hatten ihn durch und durch zu einem Diener gemacht.
Auf Seiten der Trolle brach wildes Jubelgeschrei los. Ihr junger König und Skanga kamen den Serpentinenweg hinab. Orgrim, Ganda und andere, die Emerelle nicht kannte, folgten ihnen.
Sie wagte es nicht zurückzublicken. Sie konnte nicht in die Augen all derer sehen, die sie verraten hatte. Aber ganz gleich, wie schlecht die Trolle auch herrschen mochten, es wäre Frieden. Das Massaker war abgewandt.
»Darf ich mit meinem Stein deine Stirn berühren?« Sie hatte alles aufgegeben für ihn. Nun würde sie ihn zurückholen. Kein Zauber, den Skanga wirken konnte, würde der Macht des Albensteins widerstehen!
Sie zog den Stein, der an einem dünnen Lederriemen hing, unter ihrem Leinenpanzer hervor. Ollowain beobachtete sie misstrauisch.
»Es wird nicht wehtun«, sagte Emerelle, obwohl sie sich dessen nicht sicher war. Sie berührte ihn sanft mit dem Stein an der Stirn und hauchte ein Wort der Macht. Dann griff sie in seine Erinnerungen. Sie sah ihn niederste Arbeiten verrichten, aber auch, wie er mit Melvyn kämpfte. Ganda pflegte ihn, als er verwundet war. Im Blick der Lutin konnte sie lesen, wie viel er Ganda bedeutete. Dann kamen keine Erinnerungen mehr. Mit all ihrer Macht und Wut stemmte sich Emerelle gegen den Zauber, der auf Ollowain lag. Ein Wall aus Finsternis trennte ihn von seinem Leben. Emerelle stellte sich vor, ein Rammbock zu sein. Eine Kraft, der nichts widerstehen konnte. Doch der Wall blieb unüberwindlich.
Dann dachte sie an all das Unausgesprochene. An ihre Liebe zu Ollowain, die sie niemals gelebt hatte. Sie dachte an Falrach und an all die anderen, als die Falrach seitdem wiedergeboren worden war. Falrach, der sich für sie geopfert hatte. Der selbstlose Ritter, der unter dem Prankenhieb starb, der sie hätte töten sollen.
Der Albenstein fühlte sich kalt an.
»Geh weg von ihm, Weib!« fauchte Skanga. »Er gehört zu uns! Fort mit dir! Du bist nichts mehr.«
»Beleidige Emerelle nicht.« Ollowain hob sein Schwert. »Weg mit dir!«
»Aber Jüngelchen, du gehörst zu uns.«
»Davon wüsste ich!«
Die Stimme klang vertraut in Emerelles Ohren, auch wenn sie sie sehr lange nicht mehr gehört hatte. » Falrach?«
»Wir sollten uns zurückziehen, Schwertschwester«, sagte er leise. »Das sind zu viele Trolle dort oben. Allein werden wir sie nicht aufhalten. Und hier finden wir keine Deckung, wenn sie auf die Idee kommen, Steine zu werfen.«
Das war Falrach! Unverwechselbar! Wieder hatte er sich schützend vor sie gestellt. Wo war Ollowain? Wie konnte es sein, dass sie zu Falrach vordrang, aber Ollowain nicht finden konnte?
»Was hast du getan, du hirnlose Elfenschlampe!«, schrie Skanga. Ihre Stimme klang schrill vor Angst.
Emerelle blickte zurück. Doch sie konnte nichts sehen.
»Sie sind gekommen, Verfluchte! Sie haben das Tor gefunden, das du ihnen geöffnet hast!«
»Als dann aber Ulric Trolltöter in die Tiefen versank und hundert der schrecklichsten Trolle mit sich in den Tod riss, da brach ein großer Streit aus. Von den Kindern des Elfenjarls Alfadas war nur mehr Kadlin geblieben, denn den Wolfselfen, den er in Albenmark gezeugt hatte, hatte noch niemand gesehen und wollte auch niemand sehen. Nun erhob sich aber ein großes Geschrei unter den Kriegern im Fjordland, denn sie wollten nicht von einem Weibe regieret sein. Kadlin aber, in der das heiße Blut ihres Großvaters stark war, nahm die Axt und sagte, sie wolle zu Luth gehen, um als Einzige in ihrem Fleische in der Goldenen Halle zu sitzen, denn sie wolle lieber unter toten Helden als unter lebenden Schreihälsen verweilen. Weil Kadlin aber nicht wusste, wie sie lebend zu Luths Halle gelangen konnte, ging sie zur Allweisen Emerelle. Wie es aber mit den Allweisen so ist, so sind sie manchmal sehr zerstreut. So hatte Emerelle, als sie das letzte Mal ins Große Dunkel gegangen war, vergessen, die Pforte zu verschließen, welche die Schatten aus Albenmark fortsperrt. Es herrschte eine große Not in der Alben Mark, als Kadlin dorthin reiste. So schlimm war es um die Alben bestellt, dass Emerelle den Trollen ihre Krone schenkte, damit sie ihr halfen. Doch selbst Elfen und Trolle vereint, vermochten die Schattenkrieger aus dem Großen Dunkel nicht zu besiegen.
Kadlin, die nie aufs Maul gefallen war, versprach den Albenkindern, ihren Bruder aus den Hallen des Luth zu schicken, wenn die Elfen ihr denn dorthin verhelfen wollten. Da Emerelle, die Allweise, stets einen Weg an jeden Ort kannte, den man sich nur denken mochte, öffnete sie Kadlin ein Tor, und die Enkelin Mandreds fuhr durch den Schornstein in die Halle des Luth hinab. Und Kadlin hielt sich an ihr Wort. Sie schickte den ruhmreichen Ulric zu den Albenkindern, wo ihr Bruder so viele Schattenkrieger erschlug, dass die Überlebenden froh waren, wieder ins Große Dunkel zu flüchten.
Kadlin aber fand solchen Gefallen daran, mit den Helden zu zechen, dass sie ganz die Zeit vergaß. Und darin lag eine große Gefahr, denn wer den Helden der Goldenen Halle einen Tag und eine Nacht Gesellschaft geleistet hat, den lädt Luth ein, für immer zu bleiben. Und dem Schicksalsweber widerspricht man nicht, es sei denn, man ist Ulric Alfadasson — doch das ist eine andere Geschichte. Zu ihrem Glück aber hatte Kadlin noch einen Freund ...«
Man konnte Elfen nicht trauen! Niemals! Wenn Skanga eines in ihrem Leben gelernt hatte, dann das. Es war kein Zufall, dass Emerelle sich unterwarf, und ganz gewiss nicht die große Liebe, die sie heuchelte. Sie hatte gewusst, dass die Yingiz kommen würden. Und sie hatte auch gewusst, dass sie mit den Geschöpfen der Finsternis allein nicht fertig würde, wenn sie in Massen kamen.
»Der Wald sieht zum Fürchten aus«, flüsterte Birga ihr ins Ohr. »Das Gras ist welk wie in einem heißen Sommer. Von allen Bäumen ist die Rinde geschält. Bleich wie Knochen ragen sie in den Himmel.«
Das reicht, knurrte die Schamanin. Sie wollte nicht wissen, wovor Birga sich fürchtete. »Pass auf, dass ich über keinen Ast falle, und sonst halt dein Maul!« Der Wald sieht zum Fürchten aus. Lächerlich! Wenn Birga sehen könnte, was sie sah, dann wüsste sie, was Furcht ist. Die Aura Alathaias zum Beispiel. Nie zuvor hatte Skanga so etwas gesehen.
Oder die Aura von diesem Elfenritter Ollowain. Als sie ihn am Mittag zum ersten Mal sah, schien er nur einen daumengroßen Kopf zu haben. Jetzt war ihm ein neuer gewachsen.
Oder die zerstörerischen Kraftlinien, die die Yingiz erschufen. Wie die Tentakel eines riesigen Kraken griffen sie von der Burg aus in den Himmel. Und wo sie hinab auf das Land reichten, da rissen sie jegliches Leben fort. Der tote Wald war nicht unheimlich. Ihn hatten die Yingiz abgeweidet.
Skanga blickte zum Himmel hinauf. Die anderen schienen nicht sehen zu können, was dort geschah. Vielleicht war es auch besser so. Die beiden Heere hatten den Befehl erhalten, sich einen Tagesmarsch weit zurückzuziehen.
Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die Tentakel unter die Krieger griffen.
»Wir haben den Weg hinauf zur Burg erreicht«, flüsterte Birga.
Skanga verzichtete darauf, die jüngere Schamanin zurechtzuweisen. Sie brauchte all ihre Kraft, um den magischen Kokon aufrechtzuerhalten. Er schützte die kleine Gruppe: Emerelle, Alathaia, das Menschenkind, den Elfenritter mit seinem neuen Kopf und die geschwätzige Birga.
Was wohl geschehen würde, wenn einer der Tentakel auf den Kokon traf? Nein, besser erst gar nicht an so etwas denken! Im Nichts hatte der Zauber sie und Branbart gut geschützt. Allerdings hatten die Yingiz im Nichts ihre Kräfte auch nicht vereint, so wie sie es jetzt taten.
Alathaia hatte vorhin von einem zerbrochenen Albenstein gesprochen. Ein dritter Stein, den könnten sie jetzt gut gebrauchen! Wenn das alles hier vorüber war, dann würde sie sich diese Elfenschlampe vornehmen.
Skangas Blick verweilte auf der Aura der Hexenfürstin. Nein, vielleicht war es klüger, freundlich zu ihr zu sein. In ihr schlummerte eine eigentümliche Finsternis. Es wäre besser, sie nicht zu reizen. Auch ohne einen Albenstein hatte sie große Macht.
Jetzt waren die Yingiz überall. In Scharen kauerten die Schatten um sie herum. Kalt war es in Emerelles Schloss. Und der magische Glanz war wie alter Putz von den Mauern gefallen. Egal! Solchen Schnickschnack brauchten sie nicht. Wahrscheinlich würde sich Gilmarak ohnehin einen anderen Ort als Herrschersitz aussuchen. Sie würde ihm dringend dazu raten. Zum Glück tat der Junge meistens, was sie ihm empfahl. Emerelles Heerscharen schienen sich dem Ausgang des Duells zu fügen. Das war das einzig Gute an der Ankunft der Yingiz. Sie hatten allen solche Angst eingejagt, dass niemand mehr daran dachte, sich zu beschweren, dass es keinen Kampf gegeben hatte. Emerelle hatte ihre Krone zuletzt einfach verschenkt. Dass sie es wegen diesem Elfenkrieger getan hatte, mochte Skanga einfach nicht glauben. Da steckte bestimmt noch mehr dahinter!
Etwas tastete nach dem Kokon. Fest umklammerte Skanga ihren Albenstein. Die fremde Macht zog sich wieder zurück. Die Tentakel, die Skanga gesehen hatte, griffen weit aus der Burg hinaus. Eigentlich sollten sie hier sicherer sein als draußen. Das Land versprach den Yingiz viel fettere Beute. Was waren eine Hand voll Weiber und ein Mann schon verglichen zur Lebenskraft, die ein Wald in sich trug!
»Wir gehen an einem Brunnen mit einem Drachen vorbei auf ein hohes Tor zu«, raunte Birga ihr ins Ohr. »Ich glaube, wir haben den Thronsaal fast erreicht.«
Ja, ja, dachte Skanga. Sie sah den Albenpfad, der geradewegs durch das Tor zum Thronsaal lief. Jetzt sah sie auch die übrigen Linien. Es waren nur sechs. Man sollte diese machtversessene Elfenschlampe den Yingiz zum Fraß vorwerfen! Wie hatte Emerelle es nur wagen können, einen Teil vom goldenen Netz zu zerreißen! Und was hatte es ihr gebracht? Trotz allem Übel war dies ein stolzer Tag in der Geschichte ihres Volkes. Gilmarak war zum König Albenmarks aufgestiegen. Nie zuvor war ein Troll zu solchen Würden gelangt! Und Emerelle war gedemütigt!
Das magische Tor im Thonsaal flackerte in allen Regenbogenfarben.
»Emerelle hat mir jetzt das großes Stundenglas gegeben«, sagte Birga.
»So war es abgemacht!«, zischte Skanga. Sie wusste, was um sie herum vor sich ging! »Bring uns näher an das Tor heran. Wir müssen es im Schutz deines Zaubers durchqueren!« Ihren herrischen Tonfall hatte die Elfenschlampe noch nicht abgelegt. Skanga wusste genau, dass Emerelle nicht mehr hierher zurückkommen würde, wenn die Sache vorüber war. Sie würde fliehen. Wahrscheinlich nach Carandamon. »Wenn du den Frieden brichst, den du gelobt hast, werde ich dich finden, ganz gleich, wo du dich versteckst, Emerelle.«
Zufrieden sah Skanga das Rot mühsam unterdrückten Zorns in der Aura der Elfe. »Ich drehe jetzt das Stundenglas. Seid in sieben Stunden bereit.« Mit diesen Worten trat Emerelle mit ihrem Krieger durch den Albenstern.
Skanga blickte zu dem Menschenkind. Die Kleine hatte fürchterliche Angst. Wenn sie versagte, dann würden sie alle bis über die Ohren in der Scheiße sitzen. Nur die Elfenschlampe hätte es dann geschafft, sich in Sicherheit zu bringen.
Jetzt bereitete Alathaia die Menschentochter auf ihre Reise zu Luth vor. Dass dieses Mädchen und das Buch eines verrückten Elfen die letzte Hoffnung Albenmarks sein sollten, empfand Skanga als schlechten Scherz. Lieber hätte sie den alten Kerl geschickt. Aber der hatte wohl einen ihrer machtlosen Götter angebetet und durfte ebenso wenig wie ein Albenkind darauf hoffen, zu den Goldenen Hallen zu gelangen.
Falls der verwirrte Meliander mit seinen Vermutungen nicht danebenlag, vermochten die toten Helden aus den Hallen der Menschengötter die Yingiz tatsächlich zu vertreiben. Doch um zu diesen Hallen zu gelangen und die Helden zu rufen, musste das Mädchen dem Tod entgegengehen. Nachdenklich betrachtete Skanga ihre Aura.
Ihre Verbindung zu den Toten schien stärker zu sein als zu den Lebenden. Das waren schlechte Voraussetzungen, um von der Reise, die ihr bevorstand, lebend zurückzukehren.
Kadlin hielt den goldenen Becher mit beiden Händen umklammert. Der Trunk, den ihr die unheimliche Elfe eingeschüttet hatte, war schwarz wie der Tod. Aber zumindest roch er angenehm. Ein wenig erinnerte er sie an den Lebertran, den sie als Kind hatte trinken müssen, wenn sie krank wurde.
Die schwarzhaarige Elfe lächelte sie an. »Selbstverständlich! Aber nicht in dieser Nacht.« Kadlin blickte zu den beiden Trollweibern. Beide waren sie schrecklich. Sowohl die Blinde als auch die mit der Maske. Und dann all die Schatten hier ringsherum. Wo war das blühende Albenmark? Sie hatten ihr eingeredet, es liege allein an ihr, diese Welt zu retten. Sie müsse Mut haben, und sie müsse überzeugend sein. Nur ein Recke aus den Goldenen Hallen könne die Schatten vertreiben. Aber kein Albenkind vermochte dorthin zu finden. Das war nur Menschen möglich. Helden! Kadlin nahm all ihren Mut zusammen und trank. Ganz gleich, was mit ihr geschah, überall anders wäre sie besser aufgehoben als hier! Wie flüssiges Eis war der Trunk. Kadlin fühlte sich taub.
»Vorsichtig. Du solltest dich hinlegen«. Die Stimme klang seltsam fern. Hände ergriffen sie. Sie sank nach hinten, doch sie kam nicht auf dem Boden zu liegen. Stattdessen glitt sie davon in die Dunkelheit.
Er war, als versinke sie in Wasser. Nur dass sie atmen konnte. Sie fühlte sich angenehm schläfrig. Langsam glitt sie tiefer. Die Dunkelheit rings herum war vollkommen.
Lange Zeit ließ sie sich treiben. Manchmal streifte sie etwas Klebriges. Aber sie war zu müde, um die Augen zu öffnen. Dann blieb sie hängen. Sie blinzelte und blickte in acht bernsteinfarbene Augen. Kadlin wollte schreien, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Ein Zangenpaar nahm sie auf. Dann trug die riesige Spinne sie davon.
Spinnen waren die heiligen Tiere Luths, das wusste Kadlin, aber in den Liedern der Skalden hatte sie noch nie von pferdegroßen Spinnen mit Beinen, so lang wie Schiffsmasten gehört.
Die Spinne eilte über silberne Fäden. Langsam wurde es heller. Kadlin sah einen Himmel voller silberner Fäden über sich. Manchmal zerriss einer von ihnen, und ein Leib glitt daran hinab. Noch andere Spinnen waren unterwegs. Die Jägerin konnte beobachten, wie eine strampelnde Gestalt in Fäden eingewoben wurde. Als der Mann endlich ganz still lag, kamen kleinere Spinnen und krochen zwischen den Fäden hindurch.
Kadlin wandte den Blick ab. In der Ferne sah sie ein goldenes Licht. Es wurde größer. Bald erkannte sie eine weit geöffnete Tür, sie gehörte zu einer Halle, deren weites Dach sich im Zwielicht verlor. Das Langhaus war über und über mit silbernen Fäden bedeckt.
Behutsam legte die Spinne Kadlin an der Tür ab. Ein derbes Zechlied kam der Jägerin vertraut vor. Es handelte von Mandred, der ein Hurenhaus besuchte. Der süße Duft von Met stieg Kadlin in die Nase.
Sie richtete sich auf. Ihre Glieder waren schwer wie Blei. Hinter dem Tor lag ein goldener Saal. Hunderte Krieger zechten und sangen dort. »Björn Lambison?« Wie Donnerschlag hallte der Name in dem weiten Saal. Das Lied verstummte. Alle blickten zur Tür. Und dann stand er vor ihr! Er sah gut aus. Ein wenig betrunken. »Was tust du hier?« Statt zu antworten, wollte sie ihn einfach nur in die Arme schließen.
»Tritt nicht über die Schwelle!«, warnte eine Ehrfurcht gebietende Stimme. König Alfadas trat zwischen den Gästen der Halle hervor. An seiner Seite ging Kalf. »Wenn du die Schwelle überschreitest, verwirkst du dein Recht auf deinen warmen, atmenden Leib. Was tust du hier, Kadlin? Du solltest nicht an diesem Ort sein.«
Sein Tonfall ärgerte sie. Von Kalf würde sie sich so etwas sagen lassen, aber ein toter König hatte ihr nicht mehr zu gebieten! Einen Augenblick lang war sie versucht, Alfadas zurechtzuweisen. Doch dann beherrschte sie sich und erzählte von der Not Albenmarks und davon, dass Emerelle glaubte, nur einer der Helden aus den Goldenen Hallen könne die Yingiz vertreiben.
Der König wirkte traurig. »Weißt du um den Preis, den dein Held zahlen wird? Wer die Goldenen Hallen verlässt, der kann nicht mehr zurück. Er wird im nächsten Morgengrauen vergehen. Seine Seele verlischt.« Er deutete in das Licht. »Dies ist unendlich mehr als eine Halle. Was du siehst, ist nur der Eingang. Asla ist hier.« Kadlin stutzte. Was hatte der König mit ihrer Mutter zu schaffen?
»Ich werde gehen!« Zwischen den Recken längst vergangener Zeiten erschien Ulric. Ihn zu sehen erschreckte Kadlin. Warum war auch er schon hier? Was war geschehen? Wie im Leben, so war auch hier Halgard an seiner Seite.
»Du schuldest ihr nichts, Junge.«
»Ich weiß.« Er wandte sich an Kadlin. »Ist Albenmark so schön, wie die Skalden sagen?«
»Nicht der Ort, zu dem du gehen würdest.«
Skanga sah die beiden Lichtgestalten verblassen. Sie hatten die Yingiz das Fürchten gelehrt. Es war eine Freude gewesen zuzuschauen, wie die Schatten auseinander stoben und zurück ins Nichts flohen. Was die Menschen wohl an sich hatten, dass sie die Yingiz besiegen konnten? Lag es an ihren Göttern? »Wie lange dauert es noch, bis die Sanduhr abgelaufen ist?«
»Weniger als eine Stunde«, antwortete Birga.
Skanga würde es den anderen gegenüber nicht eingestehen, aber sie spürte, wie ihre Kräfte nachließen. Noch immer hielt die Schamanin den schützenden Kokon aufrecht.
Jetzt versperrte sie damit das Tor. Doch das konnte so nicht ewig weiter gehen. Wenn Emerelle sie hereinlegte, dann war das Opfer der beiden Lichtgestalten vergebens gewesen.
Skanga blickte zu dem Mädchen. Ihre Lebensaura war fast verloschen. »Wann wird sie erwachen, Alathaia?«
»Ich glaube nicht, dass sie zu uns zurückkehrt. Sie wird den Rückweg nicht finden.« Skanga schnaubte ärgerlich. Elfenpack! Man konnte ihnen einfach nicht trauen. »Warum hast du sie belogen?«
»Das habe ich nicht«, entgegnete Alathaia in aller Ruhe. »Im Gegenteil, ich sagte ihr ausdrücklich, dass sie sterben wird. Nur nicht in dieser Nacht. Doch nun ist die Nacht vorüber.«
»Ist Emerelle so wie du?«, fragte Birga.
»Nein. Ich glaube, sie ist mir in fast jeder Hinsicht überlegen.«
Wunderbar, dachte Skanga. »Kann man der Kleinen irgendwie helfen?«
»Nein. Meliander schrieb in seinem Buch, dass man zwar einen Boten zu den Goldenen Hallen schicken könne, aber sie fänden den Rückweg nicht mehr. Das Tor, durch das sie gekommen sind, bleibt ihnen verborgen.« Skanga dachte über Elfen nach. Man konnte sie nur hassen! Niemand sprach mehr. Die alte Schamanin beobachtete, wie die Lebensaura des Mädchens weiter verblasste. »Wie lange noch?«, fragte sie endlich.
»Etwas länger als eine halbe Stunde.« Schritte.
»Da kommt ein Mensch. Ein ziemlich hässlicher Kerl. Er hat keine Nase.« Skanga blickte in Richtung der Schritte. Der Mann hatte eine starke Aura, obwohl sie auch Anzeichen von Alter zeigte.
»Versteht ihr mich?«, fragte er höflich.
Niemand antwortete ihm.
Er kniete neben dem Mädchen nieder. Rot pulste unter den Farben seiner Aura. »Warum lasst ihr sie sterben?«
»Weil man mit dem Tod nicht feilschen kann«, antwortete Alathaia. »Sie hat ihre Aufgabe erfüllt. Sie wusste, was sie erwartet«, log die Elfe.
»Du irrst dich, meine Dame. Kadlin hat ihre Aufgabe keineswegs erfüllt. Sie ist meine Königin. Ich soll sie zurückholen.«
»Manchmal macht ein Lakai einen Botengang vergebens.«
Alathaia genoss es offensichtlich, sich die Zeit damit zu vertreiben, den Kerl zu quälen. Vielleicht wäre sie ein wenig zurückhaltender, wenn sie die Aura des Menschen sehen könnte, dachte Skanga.
»Mein Freund sagte mir schon, dass ihr nicht sehr freundlich seid. Aber als ein Fremder in dieser Welt wollte ich höflich sein. Versuchen wir es also anders. In dem Augenblick, in dem Kadlins Herz aufhört zu schlagen, wirst du mit einem faustgroßen Loch in der Stirn auf dem Boden liegen, und weil ich ein rachsüchtiger Mann bin, werde ich dir die Leber aus deinem bleichen Leib schneiden und an meine Hunde verfüttern.«
»Du nimmst den Mund sehr voll.«
»Und du hättest vielleicht besser keinen Saal ohne Decke betreten, über dem sich ein hoher Turm mit vielen Fenstern erhebt. Es sind mehr als zwanzig Schritt bis zur Tür. Glaubst du, du könntest einem Pfeil davonlaufen?« Skanga blickte zu dem Turm. Sie nahm ihn nur als einen undeutlichen Schemen war.
»Und wenn wir dem Mädchen nicht mehr helfen können? Hast du erwogen, dass das, was du verlangst, jenseits unserer Möglichkeiten liegen könnte?«, fragte Alathaia. Den überheblichen Tonfall hatte sie nun abgelegt.
»Wenn dem so ist, steht euch ein wirklich hässlicher Tag bevor.«
»Was haben wir damit zu tun?«, fragte Birga aufgebracht.
»Trolle konnte ich noch nie sonderlich leiden. Wenn Kadlin stirbt, dann werdet ihr sie alle drei auf ihre letzte Reise begleiten.«
»Und wenn wir sterben, kehren die Yingiz zurück, Menschensohn. Sie werden dich töten und danach die ganze Welt verschlingen«, sagte Skanga.
»Sehe ich aus wie ein Mann, dem an seinem Leben oder eurer Welt gelegen ist?« Die alte Schamanin betrachtete seine Aura. Er machte keine leeren Worte! »Glaubst du, dein Freund wird uns alle drei treffen, bevor wir das Tor erreichen?«
»Man sagte mir, Fingayn sei ein sehr guter Schütze.«
Skanga fluchte.
Emerelle betrachtete den Morgenhimmel durch den weiten Krater, der die Deckenkuppel des Himmelssaals in Phylangan ersetzt hatte. Von all der Pracht der Felsenburg war nichts mehr geblieben. Die weißen Pfeiler der Brücke, die man der Shalyn Falah nachempfunden hatte, ragten gleich Zahnstümpfen aus der erkalteten Lava.
Die Albenpfade verliefen über ihr im leeren Kraterrund. Emerelle sprach ein Wort der Macht. Langsam erhob sie sich zu den Kraftlinien, die von den Alben als schützendes Gitterwerk um ihre Welt gelegt worden waren.
Der Pfad, den Emerelle zerstört hatte, begann hier und führte in gerader Linie zu ihrer Burg im Herzland. Skanga hatte ihren Marsch auf die Königsburg bei einem anderen Albenpfad begonnen, doch zuletzt war es diese Linie des goldenen Netzes, die sie beschritten hatte.
»Der Sand ist durchgelaufen«, rief die Stimme Falrachs.
Emerelle schloss die Augen. Sie stellte sich den Weg vor, den der Albenpfad einst genommen hatte. Sie spürte Skanga. Die Trollschamanin hatte Angst. Wahrscheinlich traute Skanga ihr nicht. Die Königin umfasste ihren Albenstein mit beiden Händen und dachte einen Pfad aus goldenem Licht. Sorgsam wob sie einen Zauber darum, der die Yingiz von den Reisenden auf diesem Weg fern halten würde. Sie atmete schwer. Es war vollbracht! Das Werk der Alben war wieder vollständig. Langsam sank sie auf den verwüsteten Boden.
»Ist es geglückt?«
Sie nickte. Es war seltsam, in Ollowains Antlitz zu blicken und Falrach sprechen zu hören. Sie würde sich daran gewöhnen.
»Wirst du um deinen Thron kämpfen?« Emerelle sah ihn überrascht an. »Nein. Ich werde nie wieder gegen die Trolle kämpfen. Mit ihnen vielleicht eines Tages, aber nicht gegen sie. Kein Thron ist es mir mehr wert, auf diese Weise erworben zu werden.«
»Gibt es einen anderen Weg?«
Die Königin lächelte. »In zwölf Jahren werden die Fürsten Albenmarks in Vahan Calyd zusammenkommen, um einen König zu wählen. Glaubst du, sie werden einen Troll auf dem Thron sehen wollen? Die Fürsten werden wieder nach mir rufen. Doch noch bin ich für sie taub.«
Falrach grinste. »Mit dir zusammen zu sein macht hungrig. Glaubst du, hier gibt es etwas zu jagen?«
»Vielleicht Schneehasen?«
»Hättest etwas dagegen, wenn ich sie zubereite?« Emerelle brach in schallendes Gelächter aus. »Nein!« Seit Jahrhunderten hatte sie sich nicht mehr so frei gefühlt.
Jules hielt die Figur der Königin in Händen und blickte auf den Falrach-Tisch. Der Ausgang des Spiels hatte ihn überrascht. Emerelle war geschlagen. Sie hatte ihre Krone verloren! Aber Albenmark würde weiter bestehen. Er dachte eine Weile nach. Er würde einen anderen Weg finden ...
Jules sah hinüber zu dem zweiten Falrach-Tisch. Die Tjured-
Priesterschaft hatten erheblich an Macht gewonnen. Vielleicht hatte dieser jämmerliche kleine Kerl, der ihm kurz hatte dienen dürfen, nicht Unrecht gehabt. Wie hatte er auch geheißen? Michel Sarti!
Man sollte einen Orden kämpfender Priester erschaffen. Ritter des Tjuredglaubens! Jules schmunzelte. Er dachte an seinen jüngsten Sohn. Der Kleine hatte einige kämpferische Anlagen. Vielleicht konnte er zum Anführer der Ordensritter werden? Eine verbrannte Eiche auf weißem Grund sollte ihr Wappen sein! So würden die Ritter stets vor Augen haben, dass es Elfen waren, die den heiligen Guillaume ermordet hatten.
Das war zwar eine Lüge, aber was machte das schon in einer Welt voller Lügen.
Als Kadlin die Augen aufschlug, blickte sie in das hässlichste Gesicht, das sie kannte.
»Es tut gut, dich wieder bei uns zu haben!« Kadlin blinzelte. Sie drehte den Kopf und war überrascht, Alathaia zu sehen. Die Elfe wirkte tatsächlich erleichtert. Ein wenig schämte Kadlin sich. Sie hatte die Elfe für sehr kaltherzig gehalten.
»Wie hast du zu uns zurückgefunden?«, fragte die Schamanin mit der grässlichen Maske. Auch ihre Stimme klang ... erleichtert.
»Da war ein goldener Lichtblitz. Er hat mir den Weg gewiesen. Ich hatte mich verirrt.« Kadlin dachte an die Goldene Halle zurück. Sie hatte sehr lange mit Kalf, Alfadas und Mutter gesprochen. Die drei schienen ihren Frieden miteinander gemacht zu haben. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihnen all die Lügen vergeben mochte.
»Wollen wir gehen, meine Königin?« Sie sah zu dem Mann auf, der sie einst eine Hure genannt hatte. Ihm würde sie vergeben! Traurig dachte sie an Björn. Sie hatten so wenig Zeit miteinander gehabt. Nicht einmal ein Jahr. Sie war froh, ihn dort gesehen zu haben. Und sie wusste, er erwartete sie.
Noch etwas benommen stemmte sich Kadlin hoch. Sie hatte einen üblen Geschmack im Mund und spuckte auf den Boden. Königinnen sollten so etwas wohl nicht tun, dachte sie. Doch wer machte Königinnen schon Vorschriften?
Lambi half ihr aufzustehen.
Die Toten hatten ihr etwas verraten. Sie hatten einen sehr genauen Blick für das Leben. Für alles Leben ... »Du bist ein ziemlich alter Mann, Lambi. Geradezu ein Großvater.«
»Wenn du glaubst, ich bin hierher gekommen, um mich beleidigen zu lassen, darfst du gern weiterhin in Gesellschaft von Elfen und Trollen bleiben. Nur weil du eine Königin bist ...« Er hielt inne. »Ein Großvater? Bei allen Göttern! Das ... Sorge dafür, dass ich das Erste bin, was der Junge sieht! Dann wird er danach nie mehr in seinem Leben vor etwas Angst haben.«
Plötzlich stand die alte Schamanin neben ihr. Finger wie Krallen fuhren vorsichtig über ihren Bauch.
»Es wird ein Mädchen sein.« Ihr grässlicher Mund klaffte zu einem zahnlückigen Lächeln. »In meinem Volk ist es Sitte, einer Mutter ein Geschenk zu machen, wenn sie zum ersten Mal ein neues Leben unter ihrem Herzen trägt.«
Kadlin musste an das Geschenk denken, von dem Ulric ihr erzählt hatte. Die drei Holzpuppen. »Ich ...«
»Schweig, wenn ich rede!«, herrschte Skanga sie an. »In den Bergen nördlich der Burg, die ihr erbaut habt, gibt es einen Gletschersee. Überschreitet nie wieder diese Grenze, und es wird Frieden zwischen unseren Völkern sein. Das ist mein Geschenk für deine Tochter.«