TEIL 2 DIE GRAUEN

Ein Geist kommt aus dem Unbewussten An meine Schwelle getappt: Er will, stöhnt er, wiedergeboren werden!

Die Gestalt da hinter mir ist nicht mein Freund; Die Fland auf meiner Schulter wird zu Flörn.

THEODORE ROETHKE

Kurtz und Underhill


Im Einsatzgebiet gab es lediglich einen kleinen Bier- und Jagdbedarfsladen, der Gosselin's Country Market hieß. Kurtz' Cleaner trafen dort ein, als es eben anfing zu schneien. Als Kurtz dann um halb elf selber kam, rückten auch schon die ersten Hilfstruppen an. Sie bekamen die Lage allmählich in den Griff.

Der Laden hieß jetzt Blue Base. Den Kuhstall, den daran angrenzenden Schuppen (baufällig, aber er stand noch) und den Pferch davor hatte man Blue Holding getauft und zu einem Lager umfunktioniert. Die ersten Internierten waren bereits dort untergebracht.

Archie Perlmutter, Kurtz' neuer Adjutant (sein alter, Cal-vert, war gerade zwei Wochen zuvor an einem Herzinfarkt gestorben, ganz schlechtes Timing) hielt ein Klemmbrett mit einer Liste von einem Dutzend Namen. Perlmutter war mit einem Laptop und einem Palm Pilot hier eingetroffen und hatte feststellen müssen, dass elektronische Geräte in Jeffer-son Tract gegenwärtig komplett verrückt spielten. Ganz oben auf der Liste stand zweimal der Name Gosselin: der alte Mann, der den Laden betrieb, und seine Frau.

»Es kommen noch mehr«, sagte Perlmutter.

Kurtz warf einen flüchtigen Blick auf die Namen auf Pear-lys Liste und gab ihm dann das Klemmbrett wieder. Große Caravans wurden hinter ihnen eingeparkt; Wohncontainer wurden hochgehievt und abgesetzt; Lichtmasten wurden aufgerichtet. Bei Sonnenuntergang würde es hier so hell erleuchtet sein wie im Yankee-Stadion bei einem Spiel der World Series.

»Wir haben zwei Männer nur so knapp verpasst«, sagte Perlmutter und hielt die rechte Hand hoch, Daumen und Zeigefinger einen halben Zentimeter auseinander. »Sie haben Proviant eingeholt. Hauptsächlich Bier und Hotdogs.« Perlmutters Gesicht war blass, nur auf den Wangen hatte er lebhafte rote Flecken. Er musste lauter sprechen, um gegen den zunehmenden Lärm anzukommen. Hubschrauber flogen zu zweit ein und landeten auf der Asphaltstraße, die schließlich irgendwann zum Interstate Highway 95 führte, auf dem man nach Norden in ein ödes Kaff (Presque Isle) und nach Süden in beliebig viele öde Kaff er (angefangen bei Bangor und Derry) gelangen konnte. Hubschrauber waren eine feine Sache, solange die Piloten auch ohne die hochgezüchtete Navigationsausrüstung auskamen, die ebenfalls komplett verrückt spielte.

»Sind sie abgereist oder wieder in den Wald gefahren?«, fragte Kurtz.

»Wieder in den Wald«, sagte Perlmutter. Er brachte es nicht fertig, Kurtz direkt in die Augen zu sehen, und ließ seinen Blick schweifen. »Es gibt da eine Straße durch den Wald, laut Gosselin heißt sie Deep Cut Road. Auf den üblichen Karten ist sie nicht verzeichnet, aber ich habe ein Messtischblatt von Diamond International Paper, auf dem -«

»Schon gut. Entweder kommen sie wieder raus, oder sie bleiben drin. Ist mir beides recht.«

Weitere Hubschrauber landeten, und einige entluden jetzt, da sie unter sich waren, ihre Maschinengewehre Kaliber 50. Das hier lief möglicherweise auf etwas ähnlich Großes hinaus wie Desert Storni. Vielleicht auf Größeres.

»Sie sind sich doch hier über Ihre Aufgabe im Klaren, nicht wahr, Pearly?«

Das war Perlmutter ganz bestimmt. Er war neu, er wollte

Eindruck machen, er hüpfte förmlich auf der Stelle. Wie ein Spaniel, der Futter riecht, dachte Kurtz. Und das machte er alles, ohne Blickkontakt zu suchen. »Sir, meine Aufgabe ist dreieinig beschaffen.«

Dreieinig, dachte Kurtz. Dreieinig. Auch nicht schlecht, was?

»Ich soll erstens abfangen, zweitens abgefangene Personen an den Sanitätsdienst übergeben und sie drittens unter Kontaktsperre internieren, bis weitere Befehle folgen.« »Genau. Das ist -«

»Aber Sir, verzeihn Sie, Sir, aber wir haben noch keine Ärzte hier, nur ein paar Sanis, und -«

»Schnauze«, sagte Kurtz. Er sprach nicht laut, aber ein halbes Dutzend Männer in nicht markierten Overalls (sie trugen alle nicht markierte grüne Overalls, auch Kurtz) zögerten kurz, während sie im Laufschritt ihre jeweiligen Aufträge erledigten. Sie schauten schnell zu Kurtz und Perlmutter hinüber und setzten sich dann wieder in Bewegung. Einen Schritt schneller. Perlmutter war schlagartig kalkweiß geworden. Er entfernte sich noch einen Schritt von Kurtz.

»Wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, Pearly, schlage ich Sie zusammen. Wenn Sie mich noch ein zweites Mal unterbrechen, schlage ich Sie krankenhausreif. Haben Sie das verstanden?«

Es kostete ihn eindeutig enorme Überwindung, aber Perlmutter schaute Kurtz doch tatsächlich ins Gesicht. In die Augen. Dann salutierte er so zackig, dass die Luft förmlich davon knisterte. »Sir, jawohl, Sir.«

»Das können Sie sich auch schenken, das wissen Sie doch.« Und als Perlmutter den Blick niederschlug: »Sehen Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede, Kleiner.«

Das befolgte Perlmutter sehr zögerlich. Sein Teint war mittlerweile bleiern. Obwohl die Hubschrauber, die entlang der Straße landeten, einen Heidenlärm verursachten, kam es ihm irgendwie sehr still hier vor, als würde sich Kurtz in ei

nem persönlichen Luftloch fortbewegen. Perlmutter war davon überzeugt, dass alle ihnen zuschauten und alle sehen konnten, was für schreckliche Angst er hatte. Teilweise lag das an den Augen seines neuen Chefs - an der abscheulichen Leere in seinem Blick, als wäre gar kein Gehirn dahinter. Perlmutter hatte von dem Tausend-Meter-Blick gehört, aber Kurtz schien eine Million Meter weit zu sehen, vielleicht gar Lichtjahre.

Doch irgendwie hielt Perlmutter Kurtz' Blick stand. Sah hinein in diese Leere. Er hatte gar keinen guten Start hingelegt. Es war wichtig - es war entscheidend -, dass dieser Ausrutscher aufgefangen wurde, ehe er sich zu einer Lawine aus-wuchs.

»Na also. Gut. Jedenfalls schon besser.« Kurtz sprach leise, aber Perlmutter konnte ihn, trotz des alles übertönenden Hubschrauberlärms, ohne Schwierigkeiten verstehen. »Ich sage Ihnen das nur einmal, und das auch nur, weil Sie neu in meinem Dienst sind und von Tuten und Blasen offensichtlich keine Ahnung haben. Ich bin beauftragt, hier einen Phooka-Einsatz durchzuführen. Wissen Sie, was ein Phooka ist?«

»Nein«, sagte Perlmutter. Es bereitete ihm förmlich körperliches Unbehagen, nicht Nein, Sir sagen zu dürfen.

»Den Iren zufolge, die nie so recht dem Bad des Aberglaubens entstiegen sind, in dem ihre Mütter sie gebären, ist ein Phooka ein Geisterpferd, das Reisende entführt und auf seinem Rücken davonträgt. Ich verwende diesen Ausdruck, wenn ein Einsatz geheim ist, dabei aber in aller Öffentlichkeit stattfindet. Ein Paradox, Perlmutter! Die gute Nachricht ist, dass wir seit 1947, seit die Luftwaffe erstmals ein außerirdisches Objekt barg, ein so genanntes Leuchtfeuer, Eventualpläne für genau diese Art von Scheißspiel ausgearbeitet haben. Die schlechte Nachricht ist, dass die Zukunft jetzt angebrochen ist und ich mich ihr mit Typen wie Ihnen stellen muss. Haben Sie mich verstanden, Bursche?

»Ja, S ..., ja.«

»Na hoffentlich. Wir haben hier Folgendes zu tun, Perlmutter: Wir müssen schnell und rücksichtslos und wie ein Phooka vorgehen. Wir werden die nötige Drecksarbeit erledigen und hinterher so sauber dastehen wie nur möglich ... sauber... ja, o Herr, und lächelnd ...«

Kurtz lächelte flüchtig mit so brutal ironischer Intensität, dass Perlmutter fast zum Schreien zu Mute war. Groß und mit krummen Schultern, war Kurtz gebaut wie ein Bürokrat. Doch etwas an ihm war schrecklich. Man sah es in seinem Blick, spürte es an der ruhigen, steifen Art, wie er die Hände vor dem Bauch gefaltet hielt ... aber das war es nicht, was ihn so unheimlich machte und weshalb ihn die Männer »Kurtz, das Schreckgespenst« nannten. Perlmutter wusste nicht, was genau das Unheimliche an ihm war, und wollte es auch nicht wissen. Er wollte jetzt nur - und das war das Einzige, was er überhaupt wollte - dieses Gespräch ohne weitere Zwischenfälle hinter sich bringen. Wozu denn zwanzig oder dreißig Meilen weiter nach Westen fliegen, um mit einer außerirdischen Lebensform in Kontakt zu treten? Perlmutter hatte hier doch schon eine vor sich stehen.

Kurtz1 Lippen schnappten zu. »Wir sind doch auf einer Wellenlänge, nicht wahr?«

»Ja.«

»Salutieren der gleichen Flagge? Pissen in die gleiche Latrine

»Ja.«

»Und wie werden wir nach dieser Sache dastehen, Pearly?« »Sauber?«

»Exzellent! Und wie noch?«

Eine entsetzliche Sekunde lang wusste er es nicht. Dann «ei es ihm wieder ein. »Lächelnd, Sir.«

»Nennen Sie mich noch einmal Sir, und ich schlage Sie zusammen.«

»Tut mir Leid«, flüstere Perlmutter. Und das war nicht gelogen.

Jetzt kam hier ein Schulbus langsam die Straße herauf, die Räder auf der Fahrerseite schon fast im Straßengraben und der ganze Bus fast bis zum Umkippen geneigt, um an den Hubschraubern vorbeizukommen, millinocket school dept. stand in großen schwarzen Lettern auf gelbem Grund darauf. Ein beschlagnahmter Bus. Mit Owen Underhill und seinen Männern drin. Dem A-Team. Als Perlmutter das sah, ging es ihm gleich besser. Beide Männer hatten verschiedentlich mit Underhill zusammengearbeitet.

»Bis Einbruch der Dunkelheit haben Sie Ihre Ärzte«, sagte Kurtz. »So viele Ärzte Sie brauchen. Alles klar?«

»Alles klar.«

Als er zu dem Bus ging, der vor Gosselins einziger Zapfsäule hielt, schaute Kurtz auf seine Armbanduhr. (Es war eine zum Aufziehen; batteriebetriebene Uhren funktionierten hier oben nicht.) Schon fast elf. Mann, wie die Zeit verging, wenn man das Leben genoss. Perlmutter ging mit ihm, aber aus seinem Schritt war aller Spaniel-Elan verschwunden.

»Vorläufig, Archie: Genau beäugen, beschnuppern, sich ihre Märchen anhören und jeden Fall von Ripley dokumentieren, den Sie sehen. Sie wissen doch mit dem Ripley Bescheid, nehme ich an?«

»Ja.«

»Gut. Und nicht anfassen.«

»Gott, nein!«, rief Perlmutter aus und wurde dann rot.

Kurtz lächelte vage. Dieses Lächeln war nicht echter als sein Haigrinsen. »Ausgezeichnete Idee, Perlmutter! Haben Sie Atemmasken?«

»Sind gerade gekommen. Zwölf Kartons, und Nachschub ist schon unter -«

»Gut. Wir brauchen Polaroids vom Ripley. Wir brauchen jede Menge Dokumentation. Beweisstück A, Beweisstück B und so weiter. Verstanden?«

»Ja.« üi1

»Und keiner unserer ... unserer Gäste kommt davon, klar?«

»Klar.« Der Gedanke schockierte Perlmutter, und man sah es ihm an.

Kurtz1 Lippen dehnten sich. Das vage Lächeln wuchs sich zu dem Haigrinsen aus. Mit seinem leeren Blick schaute er jetzt durch Perlmutter hindurch - schaute bis zum Mittelpunkt der Erde, so kam es Perlmutter vor. Er ertappte sich dabei, dass er sich fragte, ob denn überhaupt jemand die Blue Base verlassen würde, wenn das alles hier vorbei war. Von Kurtz natürlich mal abgesehen.

»Weitermachen, Bürger Perlmutter. Im Namen der Regierung befehle ich Ihnen weiterzumachen.«

Archie Perlmutter sah zu, wie Kurtz zu dem Bus ging, dem gerade Underhill entstieg - ein stämmiger, gedrungener Kerl. Nie im Leben war er so froh gewesen, jemanden von hinten zu sehen.

»Hallo, Boss«, sagte Underhill. Wie die anderen auch, trug er einen schlichten grünen Overall, dazu aber, genau wie Kurtz, eine Dienstwaffe. In dem Bus saßen knapp zwei Dutzend Männer, die eben ein vorgezogenes Mittagessen beendeten.

»Was essen die da, Bursche?«, fragte Kurtz. Mit seinen ein Meter achtundneunzig überragte er Underhill, der aber vermutlich dreißig Kilo schwerer war.

»Burger King. Wir waren bei einem Drive-Through. Ich hätte nicht gedacht, dass der Bus da durchpasst, aber Yoder meinte, das würde schon gehen, und er hat Recht behalten. Möchten Sie einen Whopper? Die sind wahrscheinlich mittlerweile ein bisschen kalt, aber es gibt doch hier bestimmt irgendwo eine Mikrowelle.« Underhill wies mit einer Kopfbewegung auf den Laden.

»Nein, danke. Mein Cholesterinspiegel könnte besser sein.«

»Alles fit im Schritt?« Sechs Jahre zuvor hatte sich Kurtz beim Raquetball einen komplizierten Leistenbruch zugezogen. Das hatte indirekt zu ihrer bisher einzigen Meinungsverschiedenheit geführt. Keiner ernsthaften, wie Owen Un-derhill fand, aber bei Kurtz wusste man das nie. Hinter dem unnachahmlichen Pokerface des Mannes kamen und gingen die Gedanken nahezu mit Lichtgeschwindigkeit, wurden Pläne unaufhörlich geändert und konnten Gefühle jederzeit in ihr Gegenteil Umschlägen. Manche Leute - und es waren gar nicht mal so wenige - hielten Kurtz für verrückt. Owen Underhill wusste nicht, ob er verrückt war oder nicht, er wusste nur, dass man sich vor Kurtz in Acht nehmen musste. Sehr in Acht.

»Wie die Iren so schön sagen«, meinte Kurtz: »Me groin's foine.« Er langte sich zwischen die Beine, imitierte einen Sackgrabbier und schenkte Owen ein breites Grinsen.

»Schön.«

»Und Sie? Alles in Butter?«

»Me groin's foine«, sagte Owen, und Kurtz lachte.

Jetzt kam ein nagelneuer Lincoln Navigator die Straße herauf, langsam und vorsichtig, aber er hatte es einfacher als der Bus. Darin saßen drei Jäger in orangefarbener Kluft, allesamt kräftige Kerle, und begafften die Hubschrauber und die im Laufschritt herumeilenden Soldaten in ihren grünen Overalls. Vor allem begafften sie die Waffen. Sah aus wie in Vietnam - und das hier im nördlichen Maine. Bald würden sie sich zu den anderen im Internierungslager gesellen.

Ein halbes Dutzend Männer kam dazu, als der Lincoln hinter dem Bus mit den Aufklebern dran hielt, auf denen BLUE DEVIL PRIDE Und DIESER BUS HÄLT AN ALLEN BAHNÜBERGÄNGEN stand. Drei Anwälte oder Banker mit ihren eigenen Cholesterinproblemen und fetten Aktienportfolios, Anwälte oder Banker, die einen auf kumpelhaft machten,

weil sie glaubten (von dieser Illusion würde man sie bald befreien), immer noch in einem friedlichen Amerika zu leben. Bald würden sie im Stall sein (oder im Pferch, wenn ihnen frische Luft lieber war), wo man ihre Visa-Karten nicht akzeptierte. Ihre Mobiltelefone durften sie behalten. Die funktionierten hier oben in der Buttnick sowieso nicht, und so konnten sie sich damit vergnügen, immer wieder auf die Wahlwiederholungstaste zu drücken.

»Sind Sie im Bilde?«, fragte Kurtz.

»Ich denke schon, ja.«

»Immer noch so ein Schnell-Leser?«

Owen zuckte mit den Achseln.

»Wie viele Menschen insgesamt in der blauen Zone, Owen?«

»Wir schätzen achthundert. Und höchstens hundert in den Primärzonen A und B.«

Das war gut, vorausgesetzt, es ging ihnen niemand durch die Lappen. Was die mögliche Kontamination anging, spielte es keine Rolle, ob ein paar entwischten - dahingehend waren die Nachrichten bisher gut. Es konnte sich aber als Katastrophe für das Informationsmanagement erweisen. Es war heutzutage schwierig, ein Phooka-Pferd zu reiten. Zu viele Leute mit Videokameras. Zu viele Hubschrauber von Fernsehsendern. Zu viele Augen.

Kurtz sagte: »Kommen Sie mit in den Laden. Die richten mir einen Winnebago ein, aber der ist noch nicht da.«

»Uno momento«, sagte Underhill und eilte noch mal in den Bus. Als er wiederkam, hielt er eine fettfleckige Tüte von Burger King in der Hand, und ein Kassettenrekorder baumelte ihm an einem Riemen von der Schulter.

Kurtz wies mit einer Kopfbewegung auf die Tüte. »Das Zeug bringt Sie noch mal um.«

»Wir spielen die Hauptrollen in Krieg der Welten, und Sie zerbrechen sich den Kopf über Cholesterinwerte?«

Hinter ihnen verkündete einer der eben eingetroffenen

tapferen Jägersleut', er wolle seinen Anwalt anrufen. Das bedeutete wahrscheinlich, dass er Banker war. Kurtz führte Underhill in den Laden. Über ihnen waren wieder die Leuchtfeuer aufgetaucht und hüpften und tanzten wie Trickfilmfiguren in einem Disneyfilm.

Im Büro des alten Gosselin roch es nach Salami, Zigarren, Bier, Musterole-Creme und Schwefel - entweder von Fürzen oder faulen Eiern, schätzte Kurtz. Vielleicht auch von beidem. Und es roch, vage aber wahrnehmbar, nach Äthylalkohol. So rochen sie. Überall hier oben roch es jetzt danach. Jemand anderes hätte diesen Geruch vielleicht schlechten Nerven und einem Übermaß an Fantasie zugute gehalten, aber Kurtz konnte weder mit dem einen noch mit dem anderen dienen. Er glaubte jedenfalls nicht, dass den gut hundert Quadratmeilen Waldland um Gosselin's Country Store herum als lebensfähigem Ökosystem noch eine große Zukunft beschieden war. Manchmal musste man ein Möbelstück eben bis aufs blanke Holz abbeizen und ganz von vorne anfangen.

Kurtz saß am Schreibtisch und zog eine Schublade auf. Darin lag ein Karton mit der Aufschrift chem/ü. S./10 stück. Da hatte Perlmutter noch mal Glück gehabt. Kurtz nahm die Schachtel und machte sie auf. Darin lagen zehn kleine Atemmasken aus durchsichtigem Plastik, die über Mund und Nase passten. Er warf Underhill eine zu, setzte sich dann selbst eine auf und passte flink die elastischen Bänder an. »Ist das nötig?«, fragte Owen.

»Wir wissen es nicht. Und fühlen Sie sich nicht privilegiert; in einer Stunde werden alle welche tragen. Von den Jims und Janes im Lager natürlich mal abgesehen.«

Underhill legte ohne weiteren Kommentar seine Atemmaske an. Kurtz saß hinterm Schreibtisch und lehnte den Kopf an das neueste Plakat der Behörde für Arbeitsschutz (wenn Sie das nicht aufhängen, werden Sie erschossen), das hinter ihm an die Wand geheftet war.

»Und wirken die?« Underhills Stimme war kaum gedämpft. Der klare Kunststoff beschlug beim Atmen nicht. Er sah keine Poren oder Filter, bekam aber trotzdem ganz einfach Luft.

»Sie wirken gegen Ebola, sie wirken gegen Anthrax, sie wirken gegen die neue Super-Cholera. Wirken sie auch gegen Ripley? Wahrscheinlich schon. Wenn nicht, sind wir im Arsch, Soldat. Wir sind vielleicht sowieso schon im Arsch. Aber noch tickt die Uhr, und noch läuft das Spiel. Soll ich mir das Band anhören, das Sie ja zweifellos in diesem Ding da an Ihrer Schulter haben?«

»Sie müssen es sich nicht komplett anhören, aber reinhören sollten Sie, glaube ich, schon mal.«

Kurtz nickte, drehte den Zeigefinger (wie ein Schiri beim Homerun, fand Owen) und lehnte sich weiter auf Gosselins Stuhl zurück.

Underhill nahm den Rekorder ab, stellte ihn vor Kurtz auf den Schreibtisch und drückte auf play. Eine tonlose Roboterstimme sagte: »NSA Funkabhör-Mitschnitt. Mehrband. 62914A44. Dieses Material ist als streng geheim eingestuft. Zeitpunkt des Mitschnitts: 0627, vierzehnter November Zwo Null Null Eins. Der Mitschnitt beginnt nach dem Signalton. Wenn Sie keine Freigabe für diese Geheimhaltungsstufe haben, drücken Sie jetzt bitte auf Stop.«

»Tja«, sagte Kurtz nickend. »Gute Idee. Das dürfte die meisten nicht autorisierten Personen aufhalten, glauben Sie nicht auch?«

Es folgten eine Pause und ein zwei Sekunden währender leP, und dann sagte eine junge Frau: »Eins. Zwei. Drei. Tut

uns bitte nichts. Ne nous blessez pas.« Ein zweisekündiges cnweigen, und dann sagte ein junger Mann: »Fünf. Sieben.

Elf. Wir sind wehrlos. Sommes sans defense. Tut uns bitte nichts, wir sind wehrlos. Ne nous faites -«

»Bei Gott, das ist ja wie ein Berlitz-Kursus aus den Weiten des Alls«, sagte Kurtz.

»Erkennen Sie die Stimmen?«, fragte Underhill.

Kurtz schüttelte den Kopf und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen.

Die nächste Stimme war die Bill Clintons. »Dreizehn. Siebzehn. Neunzehn.« Clinton sprach es mit breitem Arkansas-Akzent aus. »Wir haben nichts Ansteckendes. // n'y a pas d'infection id.« Eine weitere zweisekündige Pause, und dann sprach Tom Brokaw aus dem Kassettenrekorder. »Dreiundzwanzig. Siebenundzwanzig. Neunundzwanzig. Wir sterben. On se meurt, on creve. Wir sterben.«

Underhill drückte auf stop. »Falls Sie sich das fragen -die erste Stimme war von Sarah Jessica Parker, einer Schauspielerin. Die zweite ist von Brad Pitt.«

»Wer ist das?«

»Ein Schauspieler.«

»Aha.«

»Nach jeder Pause kommt eine andere Stimme. Und alle Stimmen sind einem Großteil der Leute hier in der Gegend vertraut. Wir haben Alfred Hitchcock, Paul Harvey, Garth Brooks, Tim Sample - das ist ein Humorist hier aus Maine, sehr beliebt in der Gegend - und hunderte andere, von denen wir einige noch nicht identifiziert haben.«

»Hunderte andere? Wie lange haben sie die denn abgehört?«

»Genau genommen musste das gar nicht abgehört werden, weil es sich dabei um eine unverschlüsselte Sendung handelt, die wir seit 0800 Uhr stören. Was bedeutet, dass viel davon durchgekommen ist, aber wir bezweifeln, dass jemand, der das empfangen hat, viel damit anfangen konnte. Und falls doch -« Underhill zuckte mit den Achseln ä la Da kann man nichts machen. »Es geht immer noch weiter. Die

Stimmen scheinen echt zu sein. Die paar Voiceprint-Vergleiche, die durchgeführt wurden, haben identische Ergebnisse gebracht. Wer sie auch sind - neben diesen Typen sieht jeder Stimmenimitator alt aus.«

Das Wupp-wupp-wupp der Hubschrauber tönte durch die Wände. Kurtz spürte es so deutlich, wie er es hörte. Durch die Bretter, durch das Arbeitsschutz-Plakat, und von dort in das graue Fleisch, das größtenteils aus Wasser bestand, und es sagte ihm, komm, komm, komm, beeil dich, beeil dich, beeil dich. Sein Blut sprach darauf an, aber er saß ganz ruhig da und betrachtete Owen Underhill. Dachte über Owen Underhill nach. Eile mit Weile - das war ein treffliches Sprichwort. Zumal, wenn man mit Leuten wie Owen zu tun hatte. Alles fit im Schritt? Allerdings.

Du bist mir einmal dumm gekommen, Bursche, dachte Kurtz. Hast vielleicht meine Grenze nicht überschritten, warst aber, bei Gott, nah dran, nicht wahr? Ja, ich glaube schon. Und ich glaube, auf dich muss ich aufpassen.

»Immer wieder die gleichen vier Botschaften«, sagte Underhill und zählte sie an den Fingern seiner linken Hand ab. »Tut uns nichts. Wir sind wehrlos. Wir haben nichts Ansteckendes. Und die letzte -«

»Nichts Ansteckendes«, grummelte Kurtz. »Hm. Die haben vielleicht Nerven, was?«

Er hatte auf Bildern den rötlich goldenen Flaum gesehen, der rund um Blue Boy an allen Bäumen wuchs. Und auf den Menschen. Auf Leichen hauptsächlich, jedenfalls bisher. Die Leute vom Labor hatten es Ripley-Pilz getauft, nach dieser knallharten Braut, Sigourney Weaver, die in diesen Weltraumfilmen mitgespielt hatte. Die meisten von ihnen waren zu jung, um sich noch an den anderen Ripley zu erinnern, der m der Zeitung immer die Serie Ob Sie's glauben oder nicht hatte. Ob Sie's glauben oder nicht gab es schon lange nicht mehr; im politisch korrekten 21. Jahrhundert mochte an es nicht, wenn das Absonderliche so betont wurde.

Aber es passte zu dieser Situation, dachte Kurtz. O ja, es passte wie die Faust aufs Auge. Und die siamesischen Zwillinge und janusköpfigen Kühe des guten alten Mr. Ripley waren, verglichen hiermit, absolut normal.

»Die letzte lautet: Wir sterben«, sagte Underhill. »Und das ist interessant wegen der zwei unterschiedlichen französischen Fassungen. Die erste ist ganz einfach und verständlich. Die zweite - on creve - ist umgangssprachlich. Wir würden sagen: Wir kratzen ab.« Er sah Kurtz an, der sich Perlmutter herbei wünschte, der dann hätte sagen können: Ja, das ließe sich einrichten. »Und kratzen sie ab? Ich meine: Auch wenn wir nicht nachhelfen?«

»Wieso Französisch, Owen?«

Underhill zuckte mit den Achseln. »Das ist hier oben immer noch die zweite Sprache.«

»Aha. Und die Primzahlen? Nur um zu zeigen, dass wir es mit intelligenten Lebewesen zu tun haben? Als ob es nicht reichte, dass sie aus einem anderen Sonnensytem oder einer anderen Dimension oder was auch immer hierher reisen konnten?«

»Vermutlich. Was ist mit den Leuchtfeuern, Boss?«

»Die meisten sind im Wald niedergegangen. Sie lösen sich ziemlich schnell auf, wenn ihnen mal der Saft ausgegangen ist. Die wir bergen konnten, sehen wie Suppendosen ohne Etikett aus. Aber in Anbetracht ihrer Größe ziehen sie eine mordsmäßige Show ab, was? Haben den Einheimischen eine Heidenangst eingejagt.«

Wenn sich die Leuchtfeuer auflösten, hinterließen sie dabei diesen Pilz, dieses Mutterkorn oder was es auch war. Das schien auch bei den Aliens selbst so zu sein. Die noch übrig waren, standen dort einfach um ihr Raumschiff herum wie Pendler um einen liegen gebliebenen Bus, und brüllten, sie hätten nichts Ansteckendes, U n'y a pas d'infection ici, gelobt sei der Herr, und reich die Kekse weiter. Und sobald man das Zeug einmal an sich hatte, würde man höchstwahr-scheinlich - wie hatte sich Owen ausgedrückt? Abkratzen. Das wussten sie natürlich nicht mit Sicherheit, dafür war es noch zu früh, aber sie mussten davon ausgehen.

»Wie viele ETs haben wir da noch?«, fragte Owen.

»Etwa hundert.«

»Was wissen wir alles nicht? Hat da irgendjemand eine Ahnung?«

Kurtz machte eine abschätzige Handbewegung. Er war kein Wissender; dafür waren andere Leute zuständig, und von denen war keiner zu dieser Party hier eingeladen.

»Die Überlebenden«, beharrte Underhill. »Ist das die Crew?«

»Keine Ahnung, aber wahrscheinlich nicht. Für eine Crew sind es zu viele; und für Kolonisten sind es zu wenige; und als Stoßtrupp sind es viel zu wenige.«

»Was läuft hier sonst noch, Boss? Irgendwas läuft hier doch.«

»Da sind Sie sich ziemlich sicher, was?«

»Ja.«

»Wie kommt's?«

Underhill zuckte mit den Achseln. »Intuition ...«

»Das ist keine Intuition«, sagte Kurtz fast sanftmütig. »Das ist Telepathie.«

»Wie bitte?«

»Nur eine leichte Form davon, aber es besteht wirklich kein Zweifel daran. Die Männer spüren etwas, aber was es ist, wissen sie noch nicht. Das werden sie aber in ein paar Stunden. Unsere grauen Freunde sind Telepathen, und anscheinend verbreiten sie das genauso wie diesen Pilz.«

»Ach du große Scheiße«, flüsterte Owen Underhill.

Kurtz saß ganz ruhig da und sah ihm beim Nachdenken zu. Er sah gern Leuten beim Nachdenken zu, wenn sie denn dabei etwas zustande brachten, aber jetzt kam noch etwas hinzu: Er hörte Owens Gedanken wie das leise Meeresrauschen in einer Muschel.

»Der Pilz ist unter diesen Umweltbedingungen nicht sehr lebensfähig«, sagte Owen. »Und sie selber auch nicht. Wie steht es mit den ASW?«

»Das lässt sich noch nicht sagen. Wenn es aber andauert und sich ausbreitet, ändert sich alles. Das ist Ihnen klar, nicht wahr?«

Es war Underhill klar. »Unfassbar«, sagte er.

»Ich denke an ein Auto«, sagte Kurtz. »An welche Marke denke ich?«

Owen schaute ihn an und wusste anscheinend nicht, ob Kurtz das ernst meinte. Als er sah, dass Kurtz es durchaus ernst meinte, schüttelte er den Kopf. »Woher soll ich ...« Er hielt inne. »Fiat.«

»Nein, Ferrari. Ich denke an eine Eiskremsorte. An welche S-«

»Pistazien«, sagte Owen.

»Sehn Sie?«

Owen saß einen Moment lang da und fragte Kurtz dann zögerlich, ob er ihm den Namen seines Bruders nennen könne.

»Kellogg«, antwortete Kurtz. »Mann, Owen, wie kann man einen Jungen denn bloß so nennen?«

»Das ist der Mädchenname meiner Mutter. Flerrgott. Telepathie. «

»Das wird bei Jeopardy und Wer wird Millionär gar nicht gut ankommen, das kann ich Ihnen sagen«, meinte Kurtz und beharrte dann noch einmal: »Wenn es sich ausbreitet.«

Draußen erscholl ein Schuss und dann ein Schrei. »Was soll denn das?!«, schrie jemand zornig und verängstigt. »Was soll denn das?!«

Sie lauschten, aber weiter passierte nichts.

»Wir haben bisher einundachtzig bestätigte Todesfälle bei den Grauen«, sagte Kurtz. »Wahrscheinlich sind es mehr. Sie verwesen ziemlich schnell. Es bleibt nur Schmiere von ihnen übrig ... und dann der Pilz.«

»Über die ganze Zone verteilt?«

Kurtz schüttelte den Kopf. »Stellen Sie sich einen Keil vor, der nach Osten weist. Das dicke Ende ist Blue Boy. Wir befinden uns ungefähr in der Mitte des Keils. Östlich von hier wandern noch ein paar weitere illegale Einwanderer des grauen Typs herum. Die Leuchtfeuer sind größtenteils über dem keilförmigen Gebiet geblieben. So eine Art Verkehrswacht der Außerirdischen.«

»Das wird alles vernichtet, nicht wahr?«, fragte Owen. »Nicht nur die Grauen und ihr Schiff und die Leuchtfeuer -die ganze Gegend hier.«

»Darüber kann ich vorläufig noch nicht sprechen«, sagte Kurtz.

Klar, dachte Owen, natürlich können Sie das nicht. Er fragte sich augenblicklich, ob Kurtz seine Gedanken lesen konnte. Das war unmöglich festzustellen - nicht bei diesem ausdruckslosen Blick.

»Wir werden die restlichen Grauen erledigen, so viel kann ich Ihnen sagen. Ihre Männer und nur Ihre Männer werden die Kampfhubschrauber fliegen. Sie sind Blue Boy Leader. Klar?«

»Ja, Sir.«

Kurtz berichtigte ihn nicht. Unter diesen Umständen und angesichts von Underhills Widerwillen gegen diesen Einsatz war das Sir wahrscheinlich in Ordnung. »Ich bin Blue One.« Owen nickte.

Kurtz stand auf und schaute auf seine Armbanduhr. Es war zwölf Uhr mittags.

»Wir werden das nicht geheim halten können«, sagte Underhill. »Es halten sich viele US-Bürger in der Zone auf. Es ist einfach unmöglich, das geheim zu halten. Wie viele haben dlese... diese Implantate?«

Kurtz hätte fast gelächelt. Die Wiesel, ja. Ziemlich viele hier und noch ein paar mehr im Laufe der Jahre. Underhill Wusste das nicht; Kurtz schon. Das waren schon fiese kleine

Biester. Und das war das Schöne daran, wenn man der Boss war: Man musste keine Fragen beantworten, die man nicht beantworten wollte.

»Was anschließend passiert, ist Sache der PR-Spezialis-ten«, sagte er. »Unsere Aufgabe besteht darin, etwas dagegen zu unternehmen, worin gewisse Leute - und die Stimme von einem von denen haben Sie wahrscheinlich auch auf Ihrem Band - eine eindeutige Gefahr für die Bevölkerung der USA erkannt haben. Verstanden, Bursche?«

Underhill sah Kurtz in die ausdruckslos blickenden Augen und schaute dann wieder weg.

»Eins noch«, sagte Kurtz. »Sie erinnern sich an das Phooka?«

»Das irische Geisterpferd.«

»Genau. Auf diesen Gaul habe ich schon immer gesetzt. Seit jeher. Einige Leute haben Sie in Bosnien auf meinem Phooka reiten sehen, nicht wahr?«

Owen wagte nicht zu antworten. Kurtz schien darüber nicht verärgert, schaute ihn aber durchdringend an.

»Ich will so was nicht noch mal erleben, Owen. Schweigen ist Gold. Wenn wir auf dem Phooka-Pferd reiten, müssen wir unsichtbar sein. Verstehen Sie das?«

»Ja.«

»Wir sind uns also vollkommen einig?«

»Ja«, sagte Owen. Er fragte sich wieder, inwieweit Kurtz seine Gedanken lesen konnte. Owen konnte zumindest den Namen lesen, an den Kurtz in diesem Moment vor allem dachte, und vermutlich wollte Kurtz das so. Bosanski Novi.

Sie waren kurz davor aufzubrechen, vier Kampfhubschrauber, und Owen Underhills Männer hatten die Jungs von der ANG ersetzt, die die CH-47er hierher geflogen hatten. Sie fuhren die Turbinen hoch, erfüllten die Luft mit dem Donnern ihrer Rotoren, und dann kam der Befehl von Kurtz, am Boden zu bleiben.

Owen gab ihn weiter und zuckte dann mit dem Kinn nach links. Jetzt war er auf Kurtz' privatem Funkkanal.

»Mit Verlaub, was soll die Scheiße?«, fragte Owen. Wenn sie das schon tun mussten, dann wollte er es endlich hinter sich bringen. Das hier war schlimmer als Bosanski Novi, viel schlimmer. Es mit dem Vorwand abzutun, die Grauen seien eben keine menschlichen Wesen, zog einfach nicht. Zumindest nicht bei ihm. Wesen, die so etwas wie Blue Boy bauen oder wenigstens fliegen konnten, waren mehr als nur menschlich.

»Es ist nicht meine Schuld, Junge«, sagte Kurtz. »Die Wettertypen in Bangor meinen, da zieht ein Sturm auf. Ein so genannter Alberta Clipper. In dreißig, höchstens fünfundvierzig Minuten sind wir unterwegs. Da unsere Navigationsausrüstung ausgefallen ist, warten wir besser noch, wenn wir können ... und wir können. Sie werden mir noch dankbar sein.«

Das bezweifle ich.

»Verstanden. Ende.« Er zuckte mit dem Kopf nach rechts. »Conklin«, sagte er. Bei diesem Einsatz durften keine Dienstgrade genannt werden, schon gar nicht über Funk.

»Hier Conklin, S ... Ich höre.«

»Sagen Sie den Männern, dreißig bis fünfundvierzig Minuten Wartestellung. Wiederhole: dreißig bis fünfundvierzig.«

»Verstanden. Dreißig bis fünfundvierzig.« »Spielen wir doch irgendwas aus der Jukebox.« »Okay. Irgendwelche Wünsche?«

»Spielen Sie, was Sie wollen. Außer der Kommando-Hymne.«

»Verstanden, Kommando-Hymne wird zurückgestellt.«

°nks Stimme war kein Lächeln anzuhören. Gab es da also wenigstens einen Mann, dem das hier genauso wenig gefiel wie Owen. Aber Conklin war eben auch '95 bei dem Einsatz in Bosanski Novi dabei gewesen. In Owens Kopfhörer legten Pearl Jam los. Er nahm ihn ab und hängte ihn sich wie ein Kummet um den Hals. Er mochte Pearl Jam nicht, war aber bei seiner Truppe da in der Minderheit.

Archie Perlmutter und seine Männer liefen wie geköpfte Hühner auf und ab. Es wurde gegrüßt und dann, mitten in der Bewegung, die Hand wieder heruntergerissen, und viele der Grüßenden warfen einen »Hat er das gesehen?«-Blick zu dem kleinen grünen Aufklärungshubschrauber hinüber, in dem Kurtz saß, den Kopfhörer fest auf beiden Ohren und eine Derry News vor der Nase. Kurtz schien in die Zeitungslektüre vertieft, aber Owen hatte so eine Ahnung, dass er jeden unwillkürlichen Gruß bemerkte, jeden Soldaten, der die Situation nicht bedachte und in alte Gewohnheiten verfiel. Links neben Kurtz saß Freddy Johnson. Johnson war ungefähr seit der Zeit bei Kurtz, als die Arche Noah auf dem Berg Ararat auf Grund gelaufen war. Er war auch in Bosanski Novi dabei gewesen und hatte Kurtz zweifellos ausführlich Bericht erstattet, als Kurtz selber hatte Zurückbleiben müssen und wegen seines Leistenbruchs nicht in den Sattel seines geliebten Phooka-Pferdes hatte steigen können.

Im Juni '95 hatte die US-Luftwaffe in der Flugverbotszone der NATO, nahe der kroatischen Grenze, einen Aufklärungspiloten verloren. Die Serben hatten groß mit dem Flugzeug von Captain Tommy Callahan angegeben und hätten noch mehr mit Callahan selbst angegeben, hätten sie ihn nur gefangen genommen; und deshalb hatten es die hohen Tiere, immer noch heimgesucht von den Bildern, wie die Nordvietnamesen hämisch der internationalen Presse umgedrehte US-Piloten vorgeführt hatten, zu einem vorrangigen Ziel erklärt, Tommy Callahan rauszuholen.

Die Suchtrupps wollten eben schon aufgeben, da meldete sich Callahan auf einem Niederfrequenzband. Seine High-

School-Freundin nannte ihnen einen guten Anhaltspunkt für die Identifizierung, und als man den Mann am Boden befragte bestätigte er es und erzählte, seine Freunde würden ihn seit einer denkwürdigen durchzechten Nacht in seinem ersten Fligh-School-Jahr King Kotz nennen.

Kurtz' Jungs flogen mit ein paar Flubschraubern, die viel kleiner waren als die, die sie heute einsetzten, los, um Callahan zu holen. Owen Underhill, den viele (und auch Kurtz selbst, schätzte Owen) für fähig hielten, Kurtz' Nachfolger zu werden, leitete den Einsatz. Callahan sollte etwas Rauch machen, wenn er die Vögel sah, und sich dann bereithalten. Underhill sollte - das war der Phooka-Aspekt dabei - Callahan ungesehen einsammeln. Das war nicht unbedingt notwendig, so weit Owen das verstand, aber so hatte Kurtz es eben gern: Seine Männer waren unsichtbar und ritten auf diesem irischen Pferd.

Das Rausholen klappte reibungslos. Ein paar Boden-Luft-Raketen wurden abgefeuert, verfehlten sie aber weit - Milosevic hatte eben auch wirklich Schiss. Und genau in dem Moment, als sie Callahan an Bord holten, sah Owen zum ersten und einzigen Mal Bosnier: fünf oder sechs Kinder, das älteste höchstens zehn Jahre alt, sahen ihnen mit ernster Miene zu. Es wäre Owen nie in den Sinn gekommen, dass sich Kurtz' Weisung, keinerlei Zeugen zu hinterlassen, auch auf einen Haufen Rotznasen beziehen konnte. Und Kurtz hatte auch nie etwas dazu gesagt.

Bis heute.

Dass Kurtz ein schrecklicher Mensch war, bezweifelte Owen nicht. Aber beim Militär gab es viele schreckliche Menschen, ganz sicherlich mehr Teufel als Heilige, und viele hatten einen Geheimhaltungsfimmel. Owen hatte keine Ah-nu"g, was Kurtz so anders machte - Kurtz, dieser groß gewachsene, melancholische Mann mit den weißen Wimpern und den ruhigen Augen. Es fiel schwer, in diese Augen zu sehen, denn es lag nichts in diesem Blick - keine Liebe, kein

Humor und nicht die mindeste Neugier. Und die fehlende Neugier war irgendwie das Schlimmste.

Ein klappriger Subaru hielt vor dem Laden, und zwei alte Männer stiegen vorsichtig aus. Einer klammerte sich mit wettergegerbter Hand an einen schwarzen Gehstock. Beide trugen rotschwarz karierte Overshirts für die Jagd. Beide hatten verblichene Schirmmützen auf, eine mit der Aufschrift case, die andere mit der Aufschrift deere. Sie schauten verwundert den Trupp Soldaten an, der auf sie zugelaufen kam. Soldaten bei Gosselin's? Was zum Henker ging hier vor? Dem Anschein nach waren sie über achtzig, aber sie hatten die Neugier, die Kurtz fehlte. Das sah man an ihrer Körperhaltung und daran, wie sie den Kopf neigten.

Die ganzen Fragen, die Kurtz nicht angesprochen hatte. Was wollen sie? Sind sie uns wirklich feindlich gesinnt? Werden sie uns anschließend feindlich gesinnt sein? 'Wird uns der Wind, den wir säen, Sturm bringen? Was an all den bisherigen Begegnungen - den Sichtungen, den "Leuchtfeuern, dem Engelshaar und roten Staub, den Entführungen, mit denen es Ende der Sechziger losging - hat den Regierenden solche Angst eingejagt? Hat es je einen ernsthaften Versuch gegeben, sich mit diesen Wesen zu verständigen?

Und dann die letzte Frage, die wichtigste Frage: Waren die Grauen wie wir? Waren sie in irgendeiner Hinsicht menschlich? War das hier schlicht und einfach Mord?

Auch daran hatte er in Kurtz' Blick keinerlei Zweifel gesehen.

Der Schneefall ließ nach, der Himmel heiterte auf, und genau dreiunddreißig Minuten nachdem er den Aufschub befohlen hatte, gab Kurtz den Startbefehl. Owen gab es an Conklin weiter, und die Chinnies ließen wieder ihre Motoren aufheulen, wirbelten hauchfeine Schneeschleier auf und verwandelten sich so für einen Moment in Gespenster. Dann stiegen sie auf Baumwipfelhöhe, richteten sich nach Under-hill aus - Blue Boy Leader - und flogen nach Westen in Richtung Kineo davon. Kurtz' Kiowa 58 folgte ihnen etwas tiefer und etwas weiter rechts, und Owen musste kurz an einen Kavallerietrupp in einem John-Wayne-Film denken, neben dem ein einzelner indianischer Kundschafter ohne Sattel auf seinem Pony ritt. Er konnte es nicht sehen, vermutete aber, dass Kurtz immer noch Zeitung las. Vielleicht sein Horoskop. »Fische: Heute ist der Tag Ihrer Schmach. Bleiben Sie im Bett.«

Die Kiefern und Fichten dort unten tauchten aus weißen Schwaden auf und verschwanden wieder darin. Schneeflocken landeten auf den beiden Windschutzscheiben des Chinook, tanzten, verschwanden. Der Flug war äußerst holprig - als säßen sie in einer Waschmaschine -, aber Owen mochte es so. Er setzte sich wieder den Kopfhörer auf. Eine andere Band, vielleicht Matchbox Twenty. Auch nicht so toll, aber immer noch besser als Pearl Jam. Owen fürchtete nur die Kommando-Hymne. Aber er würde zuhören. Ja, er würde zuhören.

Hinein in die niedrige Wolkendecke und wieder hinaus, dunstige Ausblicke auf einen anscheinend endlosen Wald, weiter nach Westen, Westen, Westen.

»Blue Boy Leader, hier ist Blue Two.«

»Ich höre, Two.«

»Ich habe Sichtkontakt zu Blue Boy. Bestätigen Sie?«

Es dauerte einen Moment, bis Owen das bestätigen konnte. Was er dann sah, verschlug ihm den Atem. Ein Foto, ein begrenztes Bild, etwas, das man in der Hand halten konnte -das war eines. Aber das hier war etwas gänzlich anderes.

»Bestätige, Two. Blue Group, hier ist Blue Boy Eeader. Halten Sie Ihre gegenwärtige Position. Ich wiederhole: Halten Sie Ihre gegenwärtige Position.«

Ein Hubschrauber nach dem anderen bestätigte, nur Kurtz nicht, aber auch der blieb, wo er war. Die Chinooks und der Kiowa standen gut einen Kilometer vor dem abgestürzten Raumschiff in der Luft. Dorthin führte eine gewaltige Schneise aus planierten Bäumen, gefällt wie von einer riesigen Heckenschere. Am Ende dieser Schneise befand sich ein sumpfiges Gebiet. Abgestorbene Bäume streckten ihre Äste in den weißen Himmel, als wollten sie die Wolken aufreißen. Es gab Zickzackmuster aus schmelzendem Schnee, und er wurde gelb, wo er in den feuchten Grund sickerte. An anderen Stellen zeigten sich Adern und Kapillaren aus schwarzem Wasser.

Das Schiff, eine riesengroße graue Platte von fast einem halben Kilometer Durchmesser, war mitten im Sumpf durch die abgestorbenen Bäume gerast, hatte sie zermalmt und Holzsplitter in alle Richtungen geschleudert. Der Blue Boy (er war überhaupt nicht blau, nicht im Mindesten) war am anderen Ende des Sumpfs zum Stillstand gekommen, wo ein felsiger Hügel steil aufragte. Eine seiner gewölbten Seiten war in dem sumpfigen, wenig tragfähigen Erdboden versunken. Aufgewirbelter Schmutz und Baumsplitter überzogen die glatte Hülle des Schiffs.

Die überlebenden Grauen standen darum herum, die meisten auf verschneiten Hügeln unter dem in die Höhe ragenden Ende ihres Schiffs; hätte die Sonne geschienen, dann hätten sie im Schatten des abgestürzten Schiffs gestanden. Tja ... es gab eindeutig jemanden, der das hier eher für ein Trojanisches Pferd als für ein abgestürztes Raumschiff hielt, aber die überlebenden Grauen, nackt und unbewaffnet, sahen nicht sonderlich bedrohlich aus. Etwa hundert, hatte Kurtz gesagt, aber jetzt waren es weniger; Owen schätzte ihre Anzahl auf sechzig. Er sah mindestens ein Dutzend Leichen in mehr oder weniger fortgeschrittenem Zustand rötlicher Verwesung auf den verschneiten Hügeln liegen. Manche lagen mit dem Gesicht nach unten im seichten schwarzen

Wasser. Hier und dort sah man, erstaunlich leuchtend bunt auf dem Schnee, rötlich goldene Flecken des so genannten Ripley-Pilzes ... nur dass nicht alle diese Flecken leuchtend bunt waren, wie Owen entdeckte, als er sein Fernglas darauf richtete. Mehrere wurden zusehends grau, fielen der Kälte oder der Atmosphäre oder beidem zum Opfer. Nein, sie hielten sich hier nicht gut - weder die Grauen noch der Pilz, den sie mitgebracht hatten.

War dieses Zeug wirklich ansteckend? Er konnte es einfach nicht glauben.

»Blue Boy Leader?«, meldete sich Conk. »Hören Sie mich?«

»Ja. Sein Sie mal kurz still.«

Owen beugte sich vor, langte unter den Ellenbogen des Piloten (Tony Edwards, ein guter Mann) und schaltete das Funkgerät auf den Gemeinschaftskanal. Dass Kurtz Bosan-ski Novi erwähnt hatte, kam ihm dabei nicht in den Sinn; dass er einen entsetzlichen Fehler beging, kam ihm auch nicht in den Sinn; und ihm kam auch nicht in den Sinn, dass er Kurtz' Wahnsinn vielleicht ernstlich unterschätzt hatte. Nein, er machte das, fast ohne einen bewussten Gedanken darauf zu verwenden. So kam es ihm später vor, wenn er daran zurückdachte und den Zwischenfall nicht nur einmal, sondern immer wieder neu überdachte. Nur das Umlegen eines Schalters. Mehr brauchte es anscheinend nicht, um die Lebensbahn eines Menschen zu verändern.

Und da war es auch schon, laut und deutlich, eine Stimme, die Kurtz' Burschen auf jeden Fall erkennen würden. Sie kannten Eddie Vedder; mit Walter Cronkite war es da schon was anderes. »- Ansteckendes. // n'y a pas d'infection id.« Zwei Sekunden, und dann eine Stimme, die Barbra Streisand hätte gehören können: »Einhundertdreizehn. Einhundertsiebzehn. Einhundertneunzehn.«

irgendwann, das wurde Owen klar, hatten sie von vorne angefangen, Primzahlen aufzuzählen. Auf der Busfahrt zu

Gosselin's waren die unterschiedlichen Stimmen längst bei vierstelligen Primzahlen angelangt.

»Wir sterben«, sagte Barbra Streisands Stimme. »On se meurt, on creve.« Eine Pause und dann die Stimme von David Letterman: »Einhundertsiebenundzwanzig. Einhundert-«

»Aufhören!«, schrie Kurtz. Zum ersten Mal in all den Jahren, die Owen ihn kannte, klang Kurtz wirklich außer sich. Fast schockiert. »Owen, wieso leiten Sie diesen Dreck in die Ohren meiner Jungs? Antworten Sie mir, und erklären Sie mir das, und zwar sofort.«

»Ich wollte nur hören, ob sich was geändert hat, Boss«, sagte Owen. Das war gelogen, und das wusste Kurtz natürlich, und zweifellos würde er ihn irgendwann dafür bezahlen lassen. Es war genau wie damals, als er die Kinder nicht erschossen hatte, vielleicht sogar schlimmer. Owen war das egal. Scheiß auf das Phooka-Pferd. Wenn sie das hier schon taten, dann wollte er, dass Kurtz' Jungs (Skyhook in Bosnien, Blue Group diesmal, irgendein anderer Name beim nächsten Mal, aber es waren immer wieder die gleichen markigen jungen Gesichter) ein letztes Mal die Grauen hörten. Reisende aus einem anderen Sonnensystem, vielleicht gar aus einem anderen Universum oder Zeitstrom, die vieles wussten, was ihre Gastgeber nie erfahren würden (nicht dass Kurtz das kümmerte). Lass sie die Grauen ein letztes Mal hören, statt Pearl Jam oder Jar of Flies oder Rage Against the Machine; die Grauen, wie sie an etwas appellierten, was sie törichterweise für irgendeine Form von Gewissen gehalten hatten.

»Und hat es sich geändert?«, knisterknackte Kurtz' Stimme zurück. Der grüne Kiowa war immer noch dort unten, knapp unterhalb der Front der Kampfhubschrauber, und seine Rotorblätter wirbelten knapp oberhalb des Wipfels einer großen alten Kiefer und zausten sie und brachten sie zum Schwingen. »Hat es das, Owen?«

»Nein«, sagte der. »Überhaupt nicht, Boss.« »Dann hören Sie mit dem Geschnatter auf. Das ist Zeitverschwendung, bei Gott.«

Owen hielt für einen Moment inne und sagte dann, nach reiflicher Überlegung: »Jawohl, Sir.«

6

Kurtz saß kerzengerade auf dem rechten Sitz des Kiowa -»stocksteif«, wie es in Büchern und Filmen immer hieß. Er hatte trotz des rnattgrauen Tageslichts seine Sonnenbrille auf, und Freddy, sein Pilot, wagte ihn trotzdem nur aus dem Augenwinkel anzusehen. Es war eine Rundum-Sonnenbrille, und wenn er sie aufhatte, wusste man nie, wohin der Boss gerade schaute. Auf keinen Fall konnte man sich darauf verlassen, wohin sein Kopf gerade gerichtet war.

Die Derry News lag auf Kurtz' Schoß (geheimnisvolle

LICHTER AM HIMMEL UND VERMISSTE JÄGER LÖSEN IN JEF-

FERSON tragt panik aus, lautete die Schlagzeile). Jetzt nahm er die Zeitung und faltete sie sorgsam zusammen. Das beherrschte er gut, und bald hatte er die Derry News so zusammengefaltet, wie er Owen Underhill bald zusammenfalten würde, hatte sie so zu einem Papierhut geknickt, wie Underhill seine weitere Militärlaufbahn gerade geknickt hatte. Underhill rechnete zweifellos mit irgendwelchen disziplinarischen Konsequenzen - von Kurtz' Seite, denn es war ja, zumindest bisher, ein Geheimeinsatz - und anschließend einer zweiten Chance. Ihm war anscheinend überhaupt nicht bewusst (und das war wahrscheinlich auch gut so; unverhofft bedeutete normalerweise auch unbewaffnet), jdass er eben bereits seine zweite Chance verspielt hatte. Und

aas war eine Chance mehr, als Kurtz üblicherweise vergab, was er nun bitter bereute. Bitter bereute. Dass Owen nach 1 rem Gespräch im Büro dieses Ladens losging und so eine

Nummer abzog ... nachdem er ihn ausdrücklich gewarnt hatte ...

»Wer erteilt den Befehl?«, knackte Underhills Stimme auf Kurtz' privatem Kanal.

Kurtz war über seinen Zorn erstaunt und auch ein wenig bestürzt. Hauptsächlich rührte er wohl schlicht von dem Erstaunen her, dem einfachsten Gefühl, das Babys als Allererstes empfanden. Owen hatte ihn kalt erwischt, als er die Grauen auf den Kommando-Kanal geschaltet hatte; und von wegen, er habe nur hören wollen, ob sich irgendwas geändert hatte - das konnte er schön zusammenrollen und sich in den Arsch stecken. Owen war wahrscheinlich der beste zweite Mann, den Kurtz in seiner langen und verschlungenen Laufbahn gehabt hatte, und die hatte Anfang der Siebziger in Kambodscha begonnen. Aber Kurtz würde ihn trotzdem einen Kopf kürzer machen. Wegen dieser Sache mit dem Funkgerät und weil Owen nicht dazugelernt hatte. Jetzt ging es nicht mehr um ein paar Kinder in Bosanski Novi oder um brabbelnde Stimmen. Es ging nicht mehr um den Gehorsam oder auch nur ums Prinzip. Jetzt ging es um die Grenze. Seine Grenze. Die Kurtz-Grenze.

Und dann war da auch noch das Sir.

Dieses rotzige Sir.

»Boss?« Jetzt klang Owen ein wenig nervös, und er hatte, bei Gott, auch allen Grund dazu. »Wer erteilt —«

»Gemeinschaftskanal, Freddy«, sagte Kurtz. »Schalten Sie mich drauf.«

Der Kiowa, der viel leichter war als die Kampfhubschrauber, bekam eine Böe ab und schaukelte hin und her. Kurtz und Freddy achteten nicht darauf. Freddy schaltete ihn auf den Gemeinschaftskanal.

»Hört zu, Jungs«, sagte Kurtz und sah zu den vier Kampfhubschraubern hinüber, die wie gläserne Libellen in einer Reihe über den Bäumen und unter den Wolken hingen. Genau voraus befanden sich der Sumpf und die riesige, perl-muttfarbene, geneigte Schüssel, unter deren hinterem Rand die überlebenden Crew-Mitglieder - oder wer sonst sie waren - standen.

»Hört zu, Jungs, jetzt hält Daddy einen Vortrag. Hört ihr zu? Meldet euch.«

Ja, ja, bestätige, verstanden, Roger (und gelegentlich ein Sir dabei, aber das war schon in Ordnung; es bestand ein Unterschied zwischen Achtlosigkeit und Unverschämtheit).

»Ich bin kein großer Redner, Jungs, fürs Reden werd ich nicht bezahlt, aber ich möchte, dass ihr wisst, dass wir es hier nicht, ich wiederhole: nicht mit einem Fall von What you see is u>hat you get zu tun haben. Ihr seht dort etwa sechs Dutzend graue, anscheinend geschlechtslose Humano-ide, die so nackt herumstehen, wie Gott sie schuf, und ihr sagt, jedenfalls sagen manche: >Ach, die armen Leutchen, nackt und unbewaffnet, haben keine Schwengel und keine Mösen, um sich dran zu erfreuen, flehen dort um Gnade vor ihrem abgestürzten intergalaktischen Reisebus, und da müsste man doch schon ein Hund, da müsste man doch schon ein Unmensch sein, wenn man diese flehenden Stimmen hört und sie trotzdem angreift. < Und ich muss euch sagen, Jungs, dass ich dieser Hund, dass ich dieser Unmensch bin -ich bin dieses postindustrielle, postmoderne, kryptofa-schistische, politisch inkorrekte, chauvinistische Kriegstreiberschwein, gelobt sei der Herr, und falls uns irgendjemand zuhört, mein Name ist Abraham Peter Kurtz, Veteran der Luftwaffe der Vereinigten Staaten, Nummer 241771699, und ich leite diesen Angriff, ich bin der Lieutenant Calley bei diesem Massaker in Alice's Restaurant hier.«

Er atmete tief durch, den Blick starr auf die vor ihm schwebenden Hubschrauber gerichtet.

»Aber, meine Lieben, ich bin hier, um euch zu sagen, dass die Grauen schon seit Ende der Vierziger mit uns rummachen und ich schon seit Ende der Siebziger mit ihnen rum-ache, und ich kann euch sagen, wenn ein Typ mit erhobenen Händen ankommt und sich ergibt, heißt das noch lange nicht, gelobt sei der Herr, dass er nicht doch eine Phiole Nitroglyzerin im Arsch stecken hat. Also die großen, alten, klugen Goldfische, die in den Think-Tanks herumschwimmen, die meinen, dass die Grauen gekommen sind, als wir angefangen haben, Atom- und Wasserstoffbomben zu zünden, das hätte sie angezogen wie Motten das Licht. Ich verstehe nichts davon, ich bin kein Denker, das Denken überlasse ich anderen, das überlasse ich dem Kohl, der hat den Kopf dafür, wie man so schön sagt, aber mit meinen Augen ist alles in Ordnung, Jungs, und ich sage euch, diese grauen Schweine sind so harmlos wie ein Wolf im Hühnerstall. Wir haben eine ganze Menge von ihnen im Laufe der Jahre gefangen genommen, aber keiner hat es überlebt. Wenn sie sterben, verwesen sie sehr schnell und verwandeln sich in genau das Zeug, das ihr da unten seht, was ihr Jungs den Ripley-Pilz nennt. Manchmal platzen sie auch. Habt ihr gehört? Sie platzen. Der Pilz, den sie in sich tragen - aber vielleicht hat ja auch der Pilz das Sagen, einige Schwerdenker glauben das -, geht ziemlich schnell ein, es sei denn, er findet einen lebenden Wirt, ich wiederhole: lebenden Wirt, und der Wirt, den er offenbar am liebsten mag, Jungs, gelobt sei der Herr, ist der gute alte Homo sapiens. Sobald ihr ihn auch nur unterm Nagel des kleinen Fingers habt, könnt ihr die Radieschen bald von unten begucken.«

Das entsprach nicht so ganz der Wahrheit - es entsprach eigentlich überhaupt nicht der Wahrheit -, aber niemand kämpfte so entschlossen wie ein verängstigter Soldat. Das wusste Kurtz aus Erfahrung.

»Jungs, unsere kleinen grauen Freunde können Gedanken lesen und scheinen diese Fähigkeit durch die Luft an uns weiterzugeben. Wir bekommen das ab, auch wenn wir den Pilz nicht abbekommen, und ihr mögt zwar denken, dass ein bisschen Gedankenlesen ganz spaßig sein könnte und ihr damit auf jeder Party groß rauskommt, aber ich kann euch sagen, was dann bald folgt: Schizophrenie, Paranoia, gestörtes Realitätsempfinden und insgesamt der unwiderrufliche, ich wiederhole: D El? UNWIDERRUFLICHE WAHNSINN. Die Experten, Gott segne sie, glauben, dass diese Telepathie nur ein vorübergehendes Phänomen ist, aber ich muss euch nicht sagen, was uns da blühen würde, wenn man den Grauen gestatten würde, sich hier niederzulassen und häuslich einzurichten. Ich möchte, dass ihr euch sehr aufmerksam anhört, was ich euch jetzt sage. Ich möchte, dass ihr zuhört, als hinge euer Leben davon ab, klar? Wenn die uns entführen, Jungs -ich wiederhole: Wenn die uns entführen - und ihr wisst alle, dass es Entführungen gegeben hat, die meisten Leute, die behaupten, von Außerirdischen entführt worden zu sein, lügen, dass sich sämtliche Balken biegen, aber nicht alle -, dann implantieren sie denen, die sie wieder freilassen, vorher oft etwas. Manchen weiter nichts als Werkzeuge -Sender vielleicht oder so eine Art Abhörgeräte -, aber einige bekamen auch Lebewesen implantiert, die ihren Wirt auffressen, sich an ihm mästen und ihn dann in Stücke reißen. Diese Implantate wurden von eben den Wesen eingepflanzt, die ihr da unten seht, wie sie alle ganz nackt und unschuldig da herumlaufen. Sie behaupten, nichts Ansteckendes zu haben, wissen aber, dass sie bis Oberkante Unterlippe voll davon sind. Ich sehe diese Viecher seit über fünfundzwanzig Jahren am Werk, und ich sage euch, das hier ist es, das ist die Invasion, das ist die Entscheidungsschlacht, und ihr Jungs seid unsere Verteidigung. Das sind keine wehrlosen kleinen ETs, die nur darauf warten, dass man ihnen eine Telefonkarte der New England Tel gibt, damit sie nach Hause telefonieren können, das ist eine Krankheit. Sie sind Krebs, gelobt sei der Herr, und Jungs, wir sind eine große, hoch dosierte, radioaktive Chemotherapie-Injektion. Hört ihr mich, Jungs?« Diesmal keine Bestätigung. Kein Roger, kein Verstanden, ehliges Hurrageschrei, nervös und neurotisch, bebend vor Übereifer. Kurtz' Kopfhörer dröhnte davon.

»Krebs, Jungs. Sie sind Krebs. Besser kann ich es nicht ausdrücken, und ihr wisst ja, ich bin kein großer Redner. Owen, haben Sie verstanden?«

»Verstanden, Boss.« Ganz nüchtern. Nüchtern und ruhig, der Scheißkerl. Na, sollte er doch cool sein. Sollte er doch cool sein, solange er noch konnte. Mit Owen Underhill war es sowieso zu Ende. Kurtz hob den Papierhut und betrachtete ihn bewundernd. Owen Underhill war erledigt.

»Was ist da unten, Owen? Was regt sich da rund ums Schiff? Was hat vergessen, sich Hosen und Schuhe anzuziehen, ehe es heute Morgen aus dem Haus gegangen ist?«

»Der Krebs, Boss.«

»Genau. Jetzt geben Sie den Befehl, und dann schlagen wir los. Ich will was hören, Owen.« Und da er wusste, dass die Männer in den Kampfhubschraubern ihn beobachteten (noch nie hatte er eine solche Predigt gehalten, noch nie, und kein Wort davon war vorformuliert, höchstens in seinen Träumen), drehte er ganz bewusst seine eigene Mütze nach hinten.

Owen sah, wie Tony Edwards seine Mets-Kappe umdrehte, sodass ihm der Schirm in den Nacken hing, und hörte Bry-son und Bertinelli die 50er durchladen, und da wurde ihm klar, dass es jetzt wirklich losging. Jetzt schlugen sie los. Entweder stieg er ins Auto ein und fuhr mit, oder er blieb auf der Straße stehen und wurde überfahren. Das war die einzige Wahl, die Kurtz ihm gelassen hatte.

Und da war noch etwas, eine unangenehme Erinnerung aus der Zeit, als er - wie alt? Acht? Sieben? Vielleicht sogar noch jünger gewesen war. Er war draußen auf dem Rasen ihres Hauses gewesen, dem Haus in Paducah, und sein Vater war noch bei der Arbeit und seine Mutter auch irgendwo, wahrscheinlich in der Grace Baptist, wo sie einen der unzähligen Kirchenbasare vorbereitete (und im Gegensatz zu Kurtz meinte Randi Underhill es auch so, wenn sie »gelobt sei der Herr« sagte), und nebenan bei den Rapeloews war ein Krankenwagen vorgefahren. Ohne Sirenen, aber mit jeder Menge Blaulicht. Zwei Männer in Overalls, ganz ähnlich wie der, den Owen jetzt trug, waren die Einfahrt der Rapeloews hochgelaufen und hatten dabei, ohne aus dem Schritt zu kommen, eine schimmernde Bahre ausgeklappt. Es war wie ein Zaubertrick.

Keine zehn Minuten später kamen sie mit Mrs. Rapeloew auf der Bahre wieder raus. Sie hatte die Augen geschlossen. Mr. Rapeloew folgte ihnen und vergaß ganz, hinter sich die Haustür zu schließen. Mr. Rapeloew, der ungefähr so alt war wie Owens Daddy, sah mit einem Mal so alt aus wie ein Opa. Das war noch so ein Zaubertrick. Mr. Rapeloew schaute nach rechts, als die Männer seine Frau in den Krankenwagen luden, und sah Owen, der da in kurzer Hose auf dem Rasen kniete und mit seinem Ball spielte. Sie sagen, es war ein Schlag!, rief Mr. Rapeloew. St. Mary's Memorial! Sag das deiner Mutter, Owen! Und dann stieg er hinten in den Krankenwagen, und der Krankenwagen fuhr davon. Vielleicht fünf Minuten lang spielte Owen weiter mit seinem Ball, warf ihn hoch und fing ihn auf, und zwischendurch schaute er immer mal wieder zu der Tür hinüber, die Mr. Rapeloew hatte offen stehen lassen, und dachte, er sollte sie zumachen. Sie zu schließen, wäre das gewesen, was seine Mutter immer einen Akt christlicher Nächstenliebe nannte.

Schließlich stand er auf und ging hinüber in den Garten der Rapeloews. Die Rapeloews waren immer gut zu ihm gewesen. Nichts Besonderes (»Nichts weswegen man mitten in der Nacht aufstehen und einen Brief nach Hause schreiben würde«, wie seine Mutter gesagt hätte) aber Mrs. Rapeloew buk immer viele Kekse und vergaß nie, ihm welche aufzuheben; und viele, viele Schalen Zuckerguss und Keksteig hatte er m der Küche der pummeligen, immer gut gelaunten Mrs.

Rapeloew schon ausgekratzt. Und Mr. Rapeloew hatte ihm beigebracht, Papierflieger zu falten, die tatsächlich flogen. Sogar drei unterschiedliche Modelle. Also hatten die Rape-loews Nächstenliebe, christliche Nächstenliebe verdient, aber als er durch die offen stehende Tür ihr Haus betrat, wusste er nur zu gut, dass er nicht aus christlicher Nächstenliebe dort war. Von christlicher Nächstenliebe kriegte man keinen steifen Schniedel.

Fünf Minuten lang - oder vielleicht war es auch eine Vierteloder eine halbe Stunde gewesen, die Zeit verging wie im Traum - war Owen einfach nur durch das Haus der Rape-loews gewandert, ohne weiter irgendwas zu tun, und die ganze Zeit über war sein Schniedel hart wie Stein gewesen, so hart, dass er wie ein zweiter Herzschlag pochte, und er hätte gedacht, dass so etwas wehtut, aber das hatte es nicht, nein, es hatte sich schön angefühlt, und viele Jahre später erkannte er in diesem schweigenden Umherwandern das, was es in Wirklichkeit gewesen war: Vorspiel. Dass er nichts gegen die Rapeloews hatte, dass er die Rapeloews eigentlich sogar mochte, machte es irgendwie nur noch schöner. Hätte man ihn dabei erwischt (dazu kam es nicht) und gefragt, warum er das getan hatte, dann hätte er ganz ehrlich sagen können: Ich weiß es nicht.

Nicht dass er viel angestellt hatte. Im Badezimmer im Erdgeschoss entdeckte er eine Zahnbürste mit dem Aufdruck dick. Dick war Mr. Rapeloews Vorname. Owen versuchte auf die Borsten von Mr. Rapeloews Zahnbürste zu pinkeln, aber sein Schniedel war zu steif, und es kam einfach keine Pisse, kein einziger Tropfen. Also spuckte er stattdessen auf die Borsten, rieb die Spucke ein und stellte die Zahnbürste dann wieder in das Zahnputzglas. In der Küche goss er ein Glas Wasser auf die Herdplatten des Elektroherds. Dann nahm er eine große Porzellanplatte aus der Anrichte. »Sie sagen, es war der Storch«, sagte Owen und hielt sich die Platte über den Kopf. »Es muss ein Baby sein, denn er hat gesagt, es war ein Storch.« Und dann schmetterte er die Platte in die Ecke, wo sie in tausend Scherben zersprang. Gleich anschließend rannte er aus dem Haus. Was auch immer da in ihn gefahren war, was seinen Schniedel steif gemacht und bewirkt hatte, dass sich seine Augäpfel zu groß für die Augenhöhlen angefühlt hatten - mit dem klirrenden Bersten der Platte war es wie weggeblasen, das hatte es platzen lassen wie einen Pickel, und hätten sich seine Eltern nicht solche Sorgen um Mrs. Rapeloew gemacht, dann wäre ihnen bestimmt aufgefallen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Aber wie es sich traf, nahmen sie wahrscheinlich an, dass er sich ebenfalls Sorgen um Mrs. R. machte. Gut eine Woche lang schlief er wenig, und wenn er doch einmal einschlief, hatte er Albträume. In einem dieser Träume kam Mrs. Rapeloew aus dem Krankenhaus mit dem Baby nach Hause, das der Storch ihr gebracht hatte, aber das Baby war schwarz und tot. Owen war vor Scham und Gewissensbissen fast vergangen (es ging aber nie so weit, dass er es gestanden hätte; was in Gottes Namen hätte er denn auch sagen sollen, wenn ihn seine baptistische Mutter gefragt hätte, was da in ihn gefahren sei), und doch vergaß er nie das sinnlose Vergnügen, mit heruntergelassener Unterhose in dem Badezimmer zu stehen und zu versuchen, auf Mr. Rapeloews Zahnbürste zu pinkeln, und auch die Erregung nicht, die in ihm aufgebrandet war, als die Porzellanplatte zerschellte. Wäre er älter gewesen, dann hätte er sich bestimmt in die Hose ergossen, vermutete er später. Die Reinheit lag in der Sinnlosigkeit begründet; die Freude im lauten Geschepper; und anschließend folgte dann das ausführliche, sehr genüssliche Schwelgen in Reue und nachträglicher Angst, dabei erwischt zu werden. Mr. Rapeloew hatte gesagt, es sei der Storch gewesen, aber als Owens Vater an diesem Abend nach Hause kam, sagte er ihm, dass es ein Schlag gewesen sei. Ein Blutgefäß in Mrs. Rapeloews Gehirn sei geplatzt, und das sei ein Schlaganfall.

Und jetzt war das alles wieder da.

Vielleicht komme ich ja diesmal, dachte er. Das wird auf jeden Fall eine Nummer größer als der Versuch, auf Mr. Rapeloews Zahnbürste zu pinkeln. Und dann, als auch er sich die Mütze umdrehte: Aber es läuft im Grunde aufs Gleiche hinaus.

»Owen?« Kurtz' Stimme. »Sind Sie da, mein Junge? Wenn Sie nicht sofort bestätigen, gehe ich davon aus, dass Sie entweder nicht können oder wollen -«

»Boss, ich bin hier.« Mit ruhiger Stimme. Vor seinem geistigen Auge sah er einen verschwitzten kleinen Jungen, der eine Porzellanplatte über dem Kopf hielt. »Jungs, seid ihr bereit, den Außerirdischen mal so richtig einzuheizen?«

Bejahendes Gebrüll, darin auch Aber immer und Die schießen wir zu Klump.

»Was wollt ihr zuerst, Jungs?«

Kommando-Hymne und Hymne und die Stones, aber sofort! »Wer nicht mitwill, muss jetzt Bescheid sagen.«

Funkstille. Auf einer anderen Frequenz, auf die Owen nie wieder schalten würde, flehten die Grauen mit Stimmen prominenter Menschen um Gnade. Rechts unten schwebte der kleine Kiowa OFI-58. Owen brauchte kein Fernglas, um Kurtz zu sehen, der seine Kappe umgedreht hatte und ihn beobachtete. Die Zeitung lag immer noch auf seinem Schoß, nun aus irgendeinem Grund zu einem Dreieck gefaltet. Sechs Jahre lang hatte Owen Underhill keine zweite Chance gebraucht, und das war auch gut so, denn bei Kurtz bekam man keine zweite Chance - im Grunde seines Flerzens hatte Owen das wohl immer gewusst. Aber darüber würde er später nachdenken. Wenn es denn sein musste. Ein letzter schlüssiger Gedanke blitzte durch sein Hirn - Sie sind der Krebs, Kurtz, Sie allein - und erstarb dann. Eine vollkommene, willkommene Dunkelheit trat an seine Stelle.

»Blue Group, hier ist Blue Boy Leader. Ich brauche euch

jetzt. Wir eröffnen auf zweihundert Meter das Feuer. Schießt, wenn möglich, nicht auf Blue Boy, aber diese Saftärsche machen wir alle. Conk, spielen Sie die Hymne.«

Gene Conklin legte einen Schalter um und warf eine CD in den Discman, der auf dem Boden von Blue Boy Two stand. Owen, der nicht mehr er selbst war, beugte sich in Blue Boy Leader vor und drehte die Lautstärke auf.

Mick Jagger, Stimme der Rolling Stones, erfüllte ihre Kopfhörer. Owen hob eine Hand und sah, wie Kurtz ihm knapp salutierte - ob das nun sarkastisch oder ernst gemeint war, konnte Owen nicht feststellen, und es war ihm auch egal -, und dann ließ Owen den Arm sinken. Während Jagger sang, ihre Hymne sang, die sie immer spielten, wenn sie losschlugen, sanken die Hubschrauber, bildeten eine Formation und steuerten auf ihr Ziel zu.

8

Die Grauen - die Grauen, die noch übrig waren - standen im Schatten ihres Schiffs, das am Ende der Schneise lag, die es bei seinem Absturz in den Wald geschlagen hatte. Anfangs machten sie keine Anstalten, wegzulaufen oder sich zu verstecken; nein, die Hälfte von ihnen kam sogar auf ihren nackten, zehenlosen Füßen vor, platschten damit durch den Schneematsch und Schlamm und den verstreuten Flaum aus rötlich güldenem Moos. Sie stellten sich der näher kommenden Front der Kampfhubschrauber, hoben die langfingrigen Hände und zeigten, dass sie unbewaffnet waren. Ihre riesigen schwarzen Augen schimmerten im trüben Tageslicht.

Die Kampfhubschrauber wurden nicht langsamer, obwohl sich die Männer alle kurz an die letzte Übertragung erinnerten: Tut uns bitte nichts, wir sind wehrlos, wir sterben. Dazwischen, gezwirbelt wie ein Schweineschwanz, erklang die Stimme von Mick Jagger: »Please allow me to introduce myself, Fm a man of wealth and taste; Fve been around for many a long year, stolen many man's soul and faith ...«

Die Kampfhubschrauber schwenkten so flott herum wie eine Marschkapelle, die an der Fünfzig-Yard-Linie des Footballfelds im rechten Winkel abbog, und die 50er eröffneten das Feuer. Die Kugeln pflügten den Schnee um, rissen abgestorbene Äste von den ohnehin schon beschädigten Bäumen, schlugen auf der Hülle des großen Raumschiffs fahle Funken. Sie durchsiebten die Grauen, die mit erhobenen Fländen beieinander standen, und zerpflückten sie. Arme wurde von rudimentären Körpern gerissen und spien einen roten Saft. Köpfe platzten wie Flaschenkürbisse, aus denen sich ein rötlicher Platzregen auf das Schiff und ihre Schiffskameraden ergoss - kein Blut, sondern dieses moosartige Zeug, als wären ihre Köpfe voll davon, als wären das gar keine Köpfe, sondern gruslige Obstkörbe. Mehrere Graue wurden mittendurch getrennt und gingen mit immer noch erhobenen Fländen zu Boden. Und als sie hinstürzten, nahmen die grauen Körper eine schmutzig weiße Färbung an und schienen dabei zu kochen.

Mick Jagger bekannte: »I was around when Jesus Christ had bis moment of doubt and pain ... «

Ein paar Graue, die noch unter dem Rand des Schiffs standen, machten kehrt, wie um wegzulaufen, aber es gab keine Zuflucht für sie. Die meisten wurden auf der Stelle erschossen. Die letzten Überlebenden - insgesamt vielleicht vier -zogen sich in das spärliche Dunkel zurück. Dort schienen sie irgendwas anzustellen, mit irgendwas zu hantieren, und Owen hatte eine schreckliche Vorahnung.

»Ich kann sie kriegen!«, tönte es krächzend aus dem Funkgerät. Das war Deforest in Blue Boy Four, förmlich bebend vor Eifer. Und Owens Befehl zum Losschlagen vorwegnehmend, sank der Chinook fast bis zum Boden, und seine Rotorblätter wirbelten Schnee und schwarzes Wasser zu einem schmutzigen Blizzard auf und wehten das Gebüsch platt.

»Nein, negativ, aufhören, Rückzug, gehen Sie auf Ausgangsposition plus fünfzig!«, schrie Owen und schlug Tony auf die Schulter. Tony, der mit der durchsichtigen Maske über Mund und Nase nur ganz leicht sonderbar aussah, riss den Knüppel zurück, und Blue Boy Leader hob sich in die unruhige Luft. Trotz der lauten Musik - der wilden Bongos, des Chors, der Hoo-hoo sang, Sympathy for the Devil war bisher noch nicht ein einziges Mal durchgelaufen - konnte Owen seine Mannschaft grummeln hören. Der Kiowa, das sah er, wurde in der Ferne immer kleiner. Wie es um seine geistige Verfassung sonst auch bestellt sein mochte: Dumm war Kurtz nicht. Und seine Instinkte funktionierten einwandfrei.

»Äh, Boss -« Deforest hörte sich nicht nur enttäuscht, sondern richtig außer sich an.

»Wiederhole, wiederhole: Rückkehr zur Basis, Blue Group, Rückkehr-«

Die Explosion stieß ihn in den Sitz zurück und schleuderte den Chinook wie ein Spielzeug empor. In dem ganzen Krach hörte er Tony Edwards fluchen und sah ihn mit dem Knüppel kämpfen. Von hinten hörte er Schreie, und ein Großteil seiner Crew war zwar verletzt, aber verloren hatten sie nur Pinky Bryson, der sich, um besser sehen zu können, zu weit aus dem Helikopter gebeugt hatte und abgestürzt war, als die Druckwelle sie traf.

»Hab dich, hab dich, hab dich«, sagte Tony, aber Owen fand, dass es mindestens dreißig Sekunden dauerte, bis Tony den Hubschrauber tatsächlich wieder im Griff hatte; Sekunden, die ihm wie Stunden vorkamen. Ihr Sound-System spielte die Hymne nicht mehr, was für Conk und die Jungs in Blue Boy Two nichts Gutes ahnen ließ.

Tony schwenkte mit Blue Boy Leader herum, und Owen sah, dass die Windschutzscheibe aus Acrylglas an zwei Stel-'en gesprungen war. Hinter ihnen schrie immer noch jemand - Mac Cavenaugh, wie sich herausstellte, dem es irgendwie gelungen war, zwei Finger zu verlieren.

»Verdammte Scheiße«, flüsterte Tony, und dann: »Sie haben uns den Arsch gerettet, Boss. Danke.«

Owen hörte ihn kaum. Er schaute sich zu den Überresten des Raumschiffs um, das in mindestens drei Teile zerborsten war. Man sah es schlecht, denn die Luft war von einem rötlich orangefarbenen Nebel erfüllt. Schon etwas einfacher war es, die Überreste von Deforests Kampfhubschrauber zu erkennen. Er lag schräg auf der Seite im Matsch, und rundherum brodelten Blasen aus dem Boden. Rechts daneben trieb das lange Bruchstück eines Rotorblatts wie ein riesiges Kanupaddel im Wasser. Gut fünfzig Meter weiter ragten aus einem gelbweißen Feuerball weitere Rotorblätter schwarz und schräg auf. Das war Blue Boy Two mit Conklin.

Gekrächze und Gefiepe aus dem Funkgerät. Blakey in Blue Boy Three: »Boss, hey, Boss, ich sehe -«

»Three, hier ist Leader. Ich will, dass Sie -«

»Leader, hier ist Three. Ich sehe Überlebende, ich wiederhole: ich sehe bei Blue Boy Four Überlebende, mindestens drei ... nein, vier... Ich gehe runter und ...«

»Negativ, Blue Boy Three, nichts da, gehen Sie auf Ausgangsposition plus fünfzig - warten Sie, Ausgangsposition plus hundertfünfzig, eins fünf null, und zwar sofort!«

»Äh, aber Sir ... Boss, meine ich ... Ich sehe Friedman, und er brennt, verdammt noch mal ...«

»Joe Blakey, hören Sie zu.«

Unverkennbar Kurtz' schnarrende Stimme. Kurtz, der sich rechtzeitig vor dem roten Dreck in Sicherheit gebracht hatte. Fast so, dachte Owen, als hätte er gewusst, was passieren würde.

»Sie hauen da sofort ab, oder ich garantiere Ihnen, dass Sie nächste Woche irgendwo in der Hitze, wo Alkohol verboten ist, Kamelscheiße schippen. Ende.«

Kein Wort mehr von Blue Boy Three. Die beiden übrig gebliebenen Kampfhubschrauber zogen sich hundertfünfzig Meter hinter ihre vormalige Ausgangsposition zurück.

Owen saß da, sah dem wilden, spiralförmigen Hochwirbeln des Ripley-Pilzes zu und fragte sich, ob Kurtz das tatsächlich gewusst oder nur geahnt hatte, und ob Blakey und er das Gebiet noch rechtzeitig verlassen hatten. Denn die Grauen hatten durchaus etwas Ansteckendes; was sie auch immer behaupteten: Sie hatten etwas Ansteckendes. Owen wusste nicht, ob es deswegen gerechtfertig war, was sie gerade getan hatten, ging aber davon aus, dass die Überlebenden von Ray Deforests Hubschrauber wandelnde Leichname waren. Oder schlimmer noch: lebende Menschen, die sich in etwas anderes, in Gott weiß was verwandelten.

»Owen.« Das Funkgerät.

Tony sah zu ihm hinüber und hob die Augenbrauen.

»Owen.«

Seufzend wechselte Owen mit einer Kinnbewegung zu Kurtz' Kanal. »Ich höre, Boss.«

9

Kurtz saß in dem Kiowa und hatte die Zeitung immer noch auf dem Schoß. Er und Freddy trugen ihre Masken, wie auch die übrigen Männer des Angriffsverbandes. Wahrscheinlich trugen auch die armen Schweine da am Boden immer noch ihre Masken. Die Masken waren wahrscheinlich überflüssig, aber Kurtz, der sich keine Ripley-Ansteckung holen wollte, wenn es sich irgend vermeiden ließ, war hier das hohe Tier und sollte unter anderem ein Vorbild abgeben. Und außerdem: Er gab hier die Spielregeln vor. Und was Freddy Johnson anging ... tja, mit Freddy hatte er noch einiges vor.

»Ich höre, Boss«, sagte Underhill in seinem Kopfhörer.

»Gute Schussleistung, noch bessere Flugleistung und brillante Denkleistung. Sie haben Leben gerettet. Sie und ich sind wieder da, wo wir schon mal waren. Wir sind quitt. Verstanden?«

»Verstanden, Boss. Ich weiß das zu schätzen.« Und wenn Sie mir das abkaufen, dachte Kurtz, sind Sie noch dümmer, als Sie aussehen.

10

Hinter Owen plärrte Cavenaugh immer noch, aber nicht mehr so laut. Von Joe Blakey war nichts zu hören. Der sah vielleicht allmählich ein, was es mit diesem rotgoldenen Wirbelwind auf sich hatte, dem sie hatten ausweichen können -oder auch nicht.

»Alles in Ordnung, Bursche?«, fragte Kurtz.

»Wir haben einige Verwundete«, antwortete Owen, »aber sonst ist alles im grünen Bereich. Aber viel Arbeit für die Putztruppe; das sieht gar nicht gut aus dahinten.«

Kurtz' krähenartiges Gelächter dröhnte in Owens Kopfhörer.

11

»Freddy.«

»Ja, Boss.«

»Wir müssen Owen Underhill im Auge behalten.«

»Okay.«

»Wenn wir plötzlich abreisen müssen - Imperial Valley -, dann bleibt Underhill hier.«

Freddy Johnson sagte nichts, nickte nur und flog den Helikopter. Guter Mann. Wusste, im Gegensatz zu manchen anderen, auf welche Seite der Grenze er gehörte.

Kurtz richtete sich wieder an ihn: »Freddy, bringen Sie uns zurück zu diesem gottverlassenen Kramladen, und schonen Sie die Pferde nicht. Ich will mindestens fünfzehn Minuten vor Owen und Joe Blakey da sein. Zwanzig, wenn's geht.« »Jawohl, Boss.«

»Und ich will eine abhörsichere Satellitenverbindung zum Cheyenne Mountain.«

»Kriegen Sie. Dauert etwa fünf Minuten.«

»Ich gebe Ihnen drei, Bursche, drei Minuten.«

Kurtz lehnte sich zurück und betrachtete den Kiefernwald, der unter ihnen vorbeizog. So viel Wald, so viele wilde

Tiere und auch ein paar Menschen - die meisten von ihnen

trugen zu dieser Jahreszeit Orange. Und in einer Woche -vielleicht auch schon in drei Tagen - würde das alles hier so tot sein wie ein Gebirge auf dem Mond. Schon schade - aber wenn es in Maine an etwas nicht mangelte, dann an Wald.

Kurtz drehte den Papierhut auf der Fingerspitze. Wenn es sich irgendwie einrichten ließ, wollte er sehen, wie Owen Underhill ihn trug, nachdem er seinen letzten Atemzug getan hatte.

»Er wollte nur hören, ob sich was geändert hat«, murmelte Kurtz.

Freddy Johnson, der wusste, nach wessen Pfeife er zu tanzen hatte, schwieg.

12

Auf halber Strecke zu Gosselin's, als Kurtz' schneller kleiner Kiowa nur noch ein Fleck am Flimmel war, den man abwechselnd gerade noch und nicht mehr sah, richtete sich Owens Blick auf Tony Edwards' rechte Fland, die den Y-för-migen Steuerknüppel des Chinook hielt. Am rechten Daumennagelansatz, hauchzart wie ein paar Sandkörnchen, war eine gekrümmte rötlich goldene Linie zu sehen. Owen betrachtete seine eigenen Hände, inspizierte sie so genau wie Mrs. Jankowski das in Persönliche Hygiene immer getan hatte, damals, vor langer Zeit, als die Rapeloews noch ihre Nachbarn gewesen waren. An seinen Händen konnte er nichts entdecken, noch nicht, aber Tony hatte sein Mal schon abbekommen, und Owen dachte, sein eigenes würde auch nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Die Underhills waren Baptisten, und Owen war mit der Geschichte von Kain und Abel vertraut. Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde, hatte Gott gesagt und Kain dann in das Land Nod verbannt, jenseits von Eden, im Osten. Zum Abschaum, wie Owens Mutter immer behauptet hatte. Doch ehe er Kain losschickte, zeichnete Gott ihn, damit ihn auch der Abschaum von Nod erkannte. Und jetzt, da er die rotgoldene Spur auf Eddies Daumennagel sah und danach auch an seinen eigenen Händen und Handgelenken suchte, glaubte Owen zu wissen, welche Farbe das Kainsmal gehabt hatte.

Die Reise des Eiermanns


Der Selbstmord, das hatte Henry entdeckt, hatte eine Stimme. Er wollte sich erklären. Das Dumme war nur, dass er kaum Englisch sprach; meistens verfiel er in das ihm eigene, abgehackte Kauderwelsch. Aber das war eigentlich egal; hauptsächlich kam es wohl aufs Reden an sich an. Seit Henry dem Selbstmord seine Stimme gelassen hatte, hatte sich sein Leben enorm verbessert. Er hatte sogar wieder ganze Nächte durchgeschlafen (nicht viele, aber immerhin) und hatte keine richtig schlimmen Tage mehr erlebt.

Bis heute.

Es war Jonesys Körper dort auf dem Arctic Cat gewesen, aber das Ding, das nun in ihm steckte, war voller fremder Bilder und fremder Absichten. Jonesy mochte immer noch dabei sein - Henry ging eigentlich davon aus -, aber wenn dem so war, dann war er jetzt zu tief verborgen, zu klein und schwach, um irgend hilfreich sein zu können. Bald würde Jonesy ganz verschwunden sein, und das wäre dann vermutlich eine Gnade.

Henry hatte befürchtet, das Ding, das Jonesy nun beherrschte, würde ihn bemerken, aber es fuhr vorbei, ohne abzubremsen. In Petes Richtung. Und dann? Wohin dann? Henry wollte nicht darüber nachdenken, wollte sich nicht dämm scheren.

Schließlich machte er sich wieder auf den Weg zum , nicht weil in ihrer Hütte noch irgendetwas auf ihn

wartete, sondern weil er sonst nirgends hinkonnte. Als er an das Tor mit dem Namensschild kam - clarendon -, spuckte er sich einen weiteren Zahn in die Hand, betrachtete ihn und warf ihn dann weg. Es schneite nicht mehr, aber der Himmel war immer noch bedeckt, und der Wind frischte anscheinend wieder auf. Hatten sie im Radio irgendwas von zwei aufeinander folgenden Stürmen gesagt? Er konnte sich nicht erinnern und wusste nicht, ob das noch eine Rolle spielte.

Irgendwo im Westen dröhnte eine mächtige Detonation. Henry schaute lustlos in diese Richtung, konnte aber nichts erkennen. Da war entweder etwas abgestürzt oder explodiert, und wenigstens einige der sonst keine Ruhe gebenden Stimmen in seinem Kopf waren verstummt. Er hatte keine Ahnung, ob es da einen Zusammenhang gab oder nicht und keine Ahnung, ob ihm das gleichgültig sein durfte. Er trat durch das offen stehende Tor und ging über den planierten Schnee, auf dem sich die Spur des davonbrausenden Schnee-mobils abzeichnete, auf ihre Hütte zu.

Der Generator dröhnte gleichmäßig, und über der Granitplatte, die als Fußmatte diente, stand die Tür offen. Henry blieb kurz draußen stehen und betrachtete den Granit. Erst dachte er, eine Blutspur darauf zu sehen, aber Blut, sei es nun frisch oder getrocknet, glänzte nicht so unverkennbar rotgolden. Nein, was er da sah, war irgendwie pflanzlich. Moos oder vielleicht ein Pilz. Und da war noch etwas ...

Henry legte den Kopf in den Nacken und schnupperte -absurderweise hatte er in diesem Moment wieder ganz deutlich vor Augen, wie er einen Monat zuvor mit seiner Ex-Frau bei Maurice's gewesen war und am Wein gerochen hatte, den der Sommelier eben eingeschenkt hatte, und wie er Rhonda dabei angeschaut und gedacht hatte: Wir schnuppern am Wein, und Hunde schnuppern einander am Arsch herum, und es läuft ungefähr aufs Gleiche hinaus. Und dann blitzte die Erinnerung auf, wie seinem Vater die Milch übers

Kinn gelaufen war. Er hatte Rhonda zugelächelt, und sie hatte sein Lächeln erwidert, und er hatte gedacht, was für eine Erleichterung das Ende sein würde und dass er es am besten schnell hinter sich brachte.

Doch jetzt roch er keinen Wein, sondern einen sumpfigen, schwefligen Gestank. Für einen Moment konnte er ihn nicht einordnen, und dann fiel es ihm wieder ein: die Frau, die den Unfall verursacht hatte. Auch hier stank es nach ihren verdorbenen Innereien.

Henry betrat die Granitplatte und war sich bewusst, dass er zum letzten Mal hier war. Er spürte die Last all der Jahre -das Gelächter, die Gespräche, die Biere, ab und zu auch mal einen schönen Joint, die Wurfschlacht mit Lebensmitteln von Anno '96 (vielleicht war es auch '97 gewesen), die Gewehrschüsse, diese bittere Geruchsmischung aus Schießpulver und Blut, die die Jagdsaison für Hirsche verhieß, der Geruch von Tod und Freundschaft und der Freuden der Kindheit.

Und als er dort so stand, schnupperte er noch mal. Der Gestank war jetzt viel stärker und wirkte eher chemisch als organisch, vielleicht weil er so übermächtig war. Er schaute in die Hütte. Auf dem Boden war noch mehr von diesem fussligen, schimmelartigen Zeug, aber die Dielen konnte man noch sehen. Auf dem Navajo-Teppich aber wuchs es bereits so dicht, dass man kaum mehr das Teppichmuster erkannte. Was es auch war - es gedieh im Warmen eindeutig besser, und es war unheimlich, wie schnell es wuchs.

Henry wollte eben hineingehen, überlegte es sich dann aber anders. Er ging zwei, drei Schritte von der Tür zurück und stand dann dort im Schnee und dachte an seine blutende Nase und an die Löcher in seinem Zahnfleisch, wo noch Zähne gewesen waren, als er an diesem Morgen erwacht war. Wenn von diesem moosartigen Zeug ein durch die Luft übertragbarer Virus ausging, wie Ebola oder Hanta, hatte er sich wahrscheinlich längst angesteckt und konnte jetzt nur noch die Stalltür schließen, nachdem das Pferd gestohlen war. Aber es war ja nicht nötig, unnötige Risiken einzugehen, nicht wahr?

Er machte kehrt und ging um die Hütte herum zur Schlucht-Seite. Dabei hielt er sich in der Spur des Schneemo-bils, um nicht im Neuschnee einzusinken.

Die Schuppentür stand ebenfalls offen. Und Henry konnte Jonesy sehen, ja, ganz klar und deutlich, wie Jonesy kurz an der Tür stehen blieb, ehe er hineinging, um das Schneemobil zu holen; wie sich Jonesy im Vorbeigehen am Türrahmen festhielt, wie Jonesy lauschte ... worauf lauschte?

Es war nichts zu hören. Keine Krähen krächzten, keine Eichelhäher schimpften, keine Spechte hämmerten, keine Eichhörnchen keckerten. Man hörte nur den Wind und hin und wieder ein gedämpftes Wopp, wenn ein Schneeballen von einer Kiefer oder Fichte rutschte und unten auf dem Neuschnee landete. Die einheimische Tierwelt war verschwunden, war fortgezogen wie die blöden Viecher in einem Cartoon von Gary Larson.

Er blieb dort für einen Moment stehen und rief sich das Innere des Schuppens ins Gedächtnis. Pete hätte das besser gekonnt - Pete hätte mit geschlossenen Augen und pendelndem Zeigefinger dagestanden und einem dann gesagt, wo alles war, bis zur kleinsten Schale mit Schrauben -, aber in diesem Fall glaubte Henry, ohne Petes besondere Gabe auszukommen. Er war gerade am Vortag erst hier draußen gewesen und hatte etwas gesucht, womit er die Küchenschranktür öffnen konnte, die sich verzogen hatte. Da hatte er gesehen, wonach er jetzt suchte.

Henry atmete mehrfach schnell ein und aus, hyperventi-lierte seine Lunge sauber, hielt sich dann die Hand vor Mund und Nase und ging hinein. Für einen Moment stand er nur da und wartete darauf, dass sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnten. Wenn es sich vermeiden ließ, wollte er sich von nichts überraschen lassen.

Als er gut sehen konnte, ging Henry über die freie Stelle, an der das Schneemobil gestanden hatte. Auf dem Boden befand sich nur noch ein mehrschichtiges Muster aus Ölflecken, aber auf der grünen Plane, mit der das Arctic Cat abgedeckt war und die nun in der Ecke lag, wuchs jetzt ebenfalls das rötlich goldene Zeug.

Die Werkbank war ein einziges Chaos: Eine Schale mit Nägeln und eine mit Schrauben waren ausgekippt worden, sodass alles, was sorgsam sortiert war, nun durcheinander lag, ein alter Pfeifenständer, der Lamar Clarendon gehört hatte, lag zerbrochen am Boden, und sämtliche Schubladen, die in die Werkbank eingebaut waren, waren aufgerissen. Einer der beiden, Biber oder Jonesy, war wie ein Wirbelwind durch den Schuppen gerast und hatte etwas gesucht.

Das war Jonesy.

Ja. Henry würde vielleicht nie erfahren, was er gesucht hatte, aber es war Jonesy gewesen, das wusste er, und es war eindeutig sehr dringend gewesen. Henry fragte sich, ob Jonesy es gefunden hatte. Auch das würde er wahrscheinlich nie erfahren. Was er selber aber suchte, war am anderen Ende des Raums deutlich zu sehen, hing dort an einem Nagel über einem Stapel Farbdosen und Spritzpistolen.

Immer noch mit der Hand vor Mund und Nase und mit angehaltenem Atem ging Henry quer durch den Schuppen. Dort hingen mindestens vier dieser kleinen Heimwerker-Atemmasken, die man sich über Mund und Nase zog, an ausgeleierten Gummibändern. Er nahm sie alle, und als er sich umdrehte, sah er, wie sich an der Tür etwas bewegte. Er konnte sich eben noch davon abhalten, überrascht nach Luft zu schnappen, aber sein Herz machte einen Satz, und ganz plötzlich kam ihm die Luft in seiner Lunge, die ihn bis hierher gebracht hatte, zu warm und schwer vor. Aber da war nichts; das hatte er sich bloß eingebildet. Dann sah er, dass dort doch etwas war. Licht kam zur offen stehenden Tür herein, ein wenig Licht fiel auch durch das einzige schmutzige Fenster über der Werkbank, und Henry hatte sich buchstäblich vor seinem eigenen Schatten erschreckt.

Er verließ den Schuppen mit vier großen Schritten, die Atemmasken in der rechten Hand. Er hielt noch die Luft an, bis er auf der Schneemobilspur weitere vier Schritte zurückgelegt hatte, und stieß sie dann aus. Er beugte sich vor, stützte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und hatte kleine schwarze Punkte vor den Augen, die sich aber bald auflösten.

Aus dem Osten kam ferner Schusslärm. Es waren keine Gewehrschüsse; dafür waren sie zu laut und folgten zu schnell aufeinander. Das waren automatische Waffen. Henry hatte eine Vision vor Augen, so deutlich wie die Erinnerung an die Milch, die seinem Vater übers Kinn gelaufen war, und die an Barry Newman, wie er in Windeseile aus seinem Sprechzimmer geflohen war. Er sah, wie die Hirsche und Waschbären und Waldmurmeltiere und Hasen und verwilderten Hunde zu Dutzenden und Hunderten niedergemäht wurden, während sie versuchten, dem zu entfliehen, was nun eindeutig ein Seuchengebiet war; er sah, wie sich der Schnee von ihrem unschuldigen (aber möglicherweise verseuchten) Blut rot färbte. Diese Vision schmerzte ihn unerwartet heftig, drang zu einer Stelle vor, die nicht tot, sondern nur betäubt war. Es war die Stelle, die so stark auf Dud-dits' Weinen angesprochen hatte, das Weinen, das ihm fast den Kopf platzen ließ.

Henry richtete sich auf, sah frisches Blut auf der Handfläche seines linken Handschuhs und schrie mit ebenso zorniger wie amüsierter Stimme »Ach du Scheiße!« zum Himmel empor. Er hatte sich Mund und Nase zugehalten, hatte sich die Masken besorgt und wollte mindestens zwei davon tragen, wenn er die Hütte betrat, und hatte dabei ganz die Beinwunde vergessen, die er sich geholt hatte, als sich der Scout überschlagen hatte. Wenn dort im Schuppen etwas Ansteckendes gewesen war, etwas, das der Pilz absonderte, dann standen die Chancen ausgezeichnet, dass er es jetzt hatte. Aber er hatte sich eben auch nicht vorgesehen. Henry stellte sich ein Schild vor, auf dem mit großen roten Lettern stand:

SEUCHENGEBIET! BITTE NICHT ATMEN, UND HALTEN SIE SICH ALLE EVENTUELLEN KRATZER ZU !

Er grunzte vor Lachen und ging zurück zur Hütte. Tja, was soll's, er wollte ja sowieso nicht ewig leben.

Fern im Osten ratterten die Schüsse ohne Unterlass.

Wieder vor der offenen Hüttentür angelangt, tastete Henry in seiner Gesäßtasche nach einem Taschentuch, hatte aber nicht viel Hoffnung, eins zu finden ... und fand auch keins. Zwei der selten erwähnten Freuden des Lebens im Walde bestanden darin, hinzupinkeln, wo man wollte, und sich einfach so zwischen zwei Fingern in die Luft zu schnauzen. Es hatte etwas ursprünglich Befriedigendes an sich, Pisse und Rotze einfach so in die Welt zu versprenkeln ... zumindest für Männer. Wenn man es so bedachte, dann war es schon ein Wunder, dass sich Frauen überhaupt einmal in die Besten von ihnen verliebten, vom Rest mal ganz zu schweigen.

Er zog sich die Jacke, das Hemd und das Thermo-Unter-hemd aus. Die unterste Schicht bestand aus einem verblichenen T-Shirt der Boston Red Sox mit der Aufschrift garcia-parra 5 auf dem Rücken. Henry zog es aus, drehte es zu einem Verband zusammen und wickelte es sich um den blutverkrusteten Riss in seinem linken Hosenbein. Dabei dachte er wieder, dass er die Stalltür schloss, nachdem das Pferd längst gestohlen war. Doch trotzdem füllte man die Formulare aus, nicht wahr? Ja, man füllte die Formulare aus und schrieb ordentlich und lesbar. Das waren die Grundsätze, auf denen das Leben beruhte. Anscheinend auch noch, wenn es mit dem Leben zu Ende ging.

Er zog sich die übrigen Sachen wieder über seinen gänsehäutigen Oberkörper und legte dann zwei der tropfenförmigen Atemmasken übereinander an. Er überlegte, sich auch welche über die Ohren zu ziehen, und stellte sich vor, wie sich die Gummibänder über seinen Hinterkopf ziehen würden wie die Riemen eines Schulterholsters, und da brach er in Gelächter aus. Sonst noch was? Wollte er sich die letzte Maske dann über ein Auge spannen? Heiliger Bimbam!

»Wenn ich's kriege, dann kriege ich's halt«, sagte er und mahnte sich dann doch, dass es nicht schaden konnte, vorsichtig zu sein; ein bisschen Vorsicht hat noch keinem geschadet, wie der alte Lamar immer gesagt hatte.

In der Hütte war der Pilz (oder Schimmel oder was es auch war) auch während der kurzen Zeitspanne, die Henry im Schuppen gewesen war, eindeutig weitergewachsen. Der Navajo-Teppich war nun vollständig davon überwuchert, und von seinem Muster war nichts mehr zu erkennen. Es wuchs auf dem Sofa, auf dem Tresen zwischen Küche und Wohnzimmer und auf der Sitzfläche zweier der drei Hocker, die auf der Wohnzimmerseite am Tresen standen. Eine Ranke aus rotgoldenem Flaum lief ein Bein des Esszimmertischs hoch, als würde sie der Spur von etwas Verschüttetem folgen, und Henry musste daran denken, wie sich Ameisen auch an der flüchtigsten Spur von verstreutem Zucker einfanden. Das Erschreckendste war vielleicht das mit rotgoldenem Flaum überzogene Spinnennetz, das über dem Navajo-Teppich hing. Henry starrte es ein paar Sekunden lang an, ehe ihm bewusst wurde, was das eigentlich war: Lamar Cla-rendons

Traumfänger. Henry würde, dachte er, nie erfahren, was genau hier vorgefallen war, aber eines wusste er mit Sicherheit: Diesmal hatte der Traumfänger einen absoluten Albtraum eingefangen.

Du willst doch nicht im Ernst weiter hier reingehen, oder? Wo du jetzt gesehen hast, wie schnell es wächst? Jonesy sah okay aus, als er vorbeigefahren ist, aber er war nicht okay, das weißt du doch. Du hast es gespürt. Und deshalb ... willst du da doch nicht reingehen, oder?

»Doch«, sagte Henry. Die doppelte Maske bewegte sich beim Sprechen auf und ab. »Wenn es mich packt... tja, dann muss ich mich halt umbringen.«

Henry lachte wie Stubb in Moby Dick und ging weiter in die Hütte hinein.

Mit einer Ausnahme wuchs der Pilz als dünnes, sich hier und da verdickendes Geflecht. Diese Ausnahme befand sich vor der offen stehenden Badezimmertür, wo es einen richtigen Hügel davon gab, der dicht verflochten im Türrahmen hochwuchs und ihn bis zu einer Höhe von mindestens ein Meter zwanzig auch bedeckte. Diese hügelförmige Wucherung schien auf einem gräulichen, schwammigen Nährboden zu wachsen. Auf der Seite zum Wohnzimmer hin spaltete sich das graue Zeug V-förmig, was Henry auf unangenehme Weise an gespreizte Beine erinnerte. Als wäre dort jemand vor der Tür gestorben und der Pilz hätte die Leiche überwuchert. Henry fühlte sich aus seinem Medizinstudium an einen Sonderdruck erinnert, einen Artikel, den er einmal überflogen hatte, als er nach etwas ganz anderem gesucht hatte. Uarin war unter anderem auch ein schauriges Obduktions-ild abgedruckt, das er nie mehr vergessen hatte. Daraufwar ein im Wald abgeladenes Mordopfer zu sehen. Die nackte e'che hatte man schätzungsweise vier Tage nach dem Mord entdeckt. Pilze wuchsen ihr im Nacken, in den Falten der Kniekehlen und zwischen den Pobacken.

Nach vier Tagen, ja. Aber hier war an diesem Morgen noch alles sauber gewesen, und ...

Henry schaute auf seine Armbanduhr und sah, dass sie um zwanzig vor zwölf stehen geblieben war. Es war jetzt ganz genau irgendwann Eastern Standard Time.

Er drehte sich um und spähte aus der Tür, weil er plötzlich davon überzeugt war, dass dort etwas lauerte.

Nein. Nur Jonesys Garand, das da an der Wand lehnte.

Henry wollte sich schon abwenden, drehte sich dann aber doch noch mal um. Das Garand schien frei von der Schmiere zu sein, und Henry nahm es. Geladen, durchgeladen, gesichert. Gut. Henry hängte es sich am Riemen über die Schulter und wandte sich dann wieder dem widerlichen roten Haufen zu, der vor der Badezimmertür wuchs. In der Hütte stank es nach Äther, vermischt mit etwas Schwefligem und etwas noch Widerlicherem. Henry ging langsam quer durch den Raum auf das Badezimmer zu und musste sich dabei zu jedem Schritt zwingen, weil er befürchtete (und zusehends sicher war), dass der rote Hügel mit den beinförmigen Ausläufern alles war, was von seinem Freund Biber noch übrig war. Bald würde er die struppigen Reste von Bibers langem schwarzem Haar erblicken oder seine Doc Marten's, die Biber als sein »Lesben-Solidaritäts-Statement« bezeichnet hatte. Der Biber war der Ansicht gewesen, Doc Marten's wären Erkennungssignale für Lesben, und das hatte ihm keiner aus-reden können. Er war ebenso fest davon überzeugt, dass Leute namens Rothschild und Goldfarb die Welt regierten, und das wahrscheinlich von einem Felsbunker in Colorado aus. Biber, dessen Lieblingsausdruck »Kackorama« gewesen war.

Aber es war schier unmöglich zu sagen, ob der Haufen auf der Türschwelle einst der Biber oder überhaupt ein Mensch gewesen war. Nur der Umriss erweckte diesen Eindruck. Irgendetwas glitzerte in dem schwammig wuchernden Zeug, und Henry sah sich das ein bisschen näher an und fragte sich schon im gleichen Moment, ob mikroskopisch kleine Partikel des Pilzes nicht bereits auf der feuchten, ungeschützten Oberfläche seiner Augen wuchsen. Was er dort entdeckt hatte, erwies sich als der Türknauf der Badezimmertür. Daneben, ebenfalls fusslig überwuchert, lag eine Rolle Isolierband. Ihm fiel das Chaos draußen auf der Werkbank ein und die aufgerissenen Schubladen. War es das gewesen, wonach Jonesy draußen im Schuppen gesucht hatte? Eine blöde Rolle Klebeband? Etwas in seinem Kopf - vielleicht der Klick, vielleicht auch nicht - bestätigte das. Aber warum? Warum, um Gottes willen?

Im Laufe der vergangenen fünf Monate, während derer die Selbstmordgedanken immer häufiger zu Besuch gekommen und dann auch immer länger geblieben waren und in ihrem Kauderwelsch geplappert hatten, war Henry so gut wie alle Neugierde vergangen. Jetzt wütete die Neugier, als wäre sie hungrig erwacht. Und er hatte nichts, womit er sie speisen konnte. Hatte Jonesy die Tür zukleben wollen? Ja? Wogegen? Er und der Biber hätten doch wissen müssen, dass das gegen den Pilz nichts ausgerichtet hätte, der einfach unter der Tür durchgewachsen wäre.

Henry schaute ins Badezimmer und ächzte leise auf. Was für ein abscheulicher Wahnsinn sich hier in ihrer Hütte auch immer abgespielt hatte - hier hatte es begonnen, daran hatte er keinerlei Zweifel. Der Raum war eine rote Höhle, die blauen Fliesen fast vollständig unter Haufen von diesem Zeug verborgen. Es war auch am Waschbecken und der Toilettenschüssel hochgewuchert. Der Klodeckel lehnte am Spülkasten, und obwohl er das nicht so genau sehen konnte -dazu war es alles zu überwuchert -, hatte er den Eindruck, dass die Klobrille ins Becken hinein eingebrochen war. Der Duschvorhang war nun dick und rotgolden und nicht mehr auchdünn blau; größtenteils war er von den Ringen geris-sen (an denen auch pflanzliche Barte wuchsen) und lag in der Badewanne.

Seitlich aus der Wanne ragte, ebenfalls von Pilz überwuchert, ein Fuß mit einem Stiefel dran. Der Stiefel war ein Doc Marten's, da war sich Henry sicher. Er hatte Biber wohl endlich doch gefunden. Plötzlich kamen Erinnerungen hoch an den Tag, an dem sie Duddits gerettet hatten, so klar und deutlich, als wäre es gestern gewesen. Biber, wie er seine blöde alte Lederjacke trug, Biber, wie er Duddits' Lunchbox nahm und sagte: Magst du die Serie, Mann? Aber die ziehen sich doch nie um! Und dann, wie er sagte -

»Arschkrass«, sprach Henry zu der überwucherten Hütte. »Das hat er gesagt, das hat er immer gesagt.« Tränen liefen ihm über die Wangen. Wenn der Pilz denn nur Feuchtigkeit suchte - und dem Dschungelgestrüpp in der Toilettenschüssel nach zu urteilen, war er sehr auf Feuchtigkeit aus -, dann konnte er kommen und sich an ihm gütlich tun.

Henry stellte fest, dass es ihm ziemlich egal war. Er hatte Jonesys Gewehr. Der Pilz konnte bei ihm zwar mit der Vorspeise beginnen, aber Henry konnte dafür sorgen, dass er längst fort war, wenn der Pilz beim Dessert ankam. Wenn es denn so weit kommen würde.

Und wahrscheinlich würde es das.

Henry war sicher, in einer Ecke des Schuppens einen Haufen Teppichreste gesehen zu haben. Er überlegte, ob er rausgehen und sie holen sollte. Er konnte sie auf dem Badezimmerboden auslegen und darauf gehen, um so besser in die Badewanne gucken zu können. Aber was sollte das bringen? Er wusste, dass es Biber war, und er hegte kein großes Verlangen, seinen alten Freund, den Schöpfer so geistreicher Sprüche wie Knutsch mir die Kimme zu sehen, wie er von einem roten Pilz überwuchert war. Es hätte vielleicht einige seiner Fragen darüber beantwortet, was hier passiert war, ja, vielleicht. Aber Henry hielt das nicht für wahrscheinlich.

Eigentlich wollte er jetzt nur noch hier raus. Der Pilz war schon unheimlich genug, aber da war noch etwas: das noch unheimlichere Gefühl, hier nicht allein zu sein.

Henry wich von der Badezimmertür zurück. Auf dem Esstisch lag ein Taschenbuch, auf dessen Umschlag kleine Teufel mit Dreizacken Ringelreihen tanzten. Das war bestimmt einer von Jonesys Krimis, und auch darauf wuchs bereits dieses Zeug.

Er hörte ein ratterndes Geräusch, das sich aus westlicher Richtung näherte und schnell zu einem Donnern anwuchs. Hubschrauber, und diesmal nicht nur einer. Viele. Und große. Es hörte sich an, als würden sie auf Dachfirsthöhe ein-fliegen, und Henry duckte sich unwillkürlich. Bilder aus einem Dutzend Vietnamkriegsfilme schwirrten ihm durch den Kopf, und für einen Moment war er sicher, dass sie mit ihren Maschinengewehren das Feuer auf die Hütte eröffnen würden. Vielleicht würden sie sie auch mit Napalm bombardieren.

Sie flogen vorüber und taten weder das eine noch das andere, kamen aber so nah, dass die Tassen und Teller auf den Küchenregalen schepperten. Henry richtete sich wieder auf, als der Donner allmählich verklang und erst in ein Rattern und dann in ein harmloses Brummen überging. Vielleicht flogen sie auch zum Abschlachten der Tiere am Ostende des Jefferson Tract. Sollten sie doch. Er würde hier die Biege machen und dann -Und dann was? Was dann?

Während er über diese Frage nachdachte, kam aus einem der beiden Schlafzimmer im Erdgeschoss ein Geräusch. Ein Rascheln. Dann war wieder alles still, eben lange genug, dass Henry überzeugt war, seine Fantasie habe ihm einen Streich gespielt. Dann ertönte eine Folge leiser Klick- und Schnarr -geräusche, es hörte sich fast wie ein mechanisches Spielzeug an - ein Blech-Affe oder -Papagei etwa -, dessen Uhrwerk eben ablief. Henry bekam schlagartig am ganzen Körper Gänsehaut. Sofort hatte er einen trockenen Mund. Seine Nackenhaare sträubten sich büschelweise.

Raus hier! Lauf!

Ehe er auf diese Stimme hören und sich von ihr leiten lassen konnte, ging er schon mit großen Schritten zur Schlafzimmertür und nahm dabei das Garand von der Schulter. Adrenalin schoss in sein Blut, und er sah alles hell und klar. Seine selektive Wahrnehmung, diese oft verkannte Gabe derer, denen es gut geht, fiel von ihm ab, und er sah alle Einzelheiten: die Blutspur, die vom Schlafzimmer zum Bad verlief, einen hingeworfenen Turnschuh, dieser abartige rote Schimmel, der in der Form eines Handabdrucks an der Wand wuchs. Dann betrat er das Schlafzimmer.

Es - was immer es auch war - war auf dem Bett. Für Henry sah es wie ein Wiesel oder Waldmurmeltier aus, dessen Beine amputiert waren, und aus dem hinten, wie eine Nachgeburt, ein langer, blutiger Schwanz hing. Nur dass kein Tier, das er je gesehen hatte - die Muräne im Seeaquarium von Boston vielleicht ausgenommen - derart unverhältnismäßig große schwarze Augen hatte. Und noch etwas war so ähnlich wie bei der Muräne: Als es den Strich aufriss, der sein Maul war, entblößte es ein Bündel schockierender Zähne, so lang und dünn wie Hutnadeln.

Hinter dem Vieh, pulsierend auf dem blutgetränkten Laken, lagen hundert oder mehr orangebraune Eier. Sie waren so groß wie Murmeln und in einen trüben, rotzeartigen Schleim gehüllt. Und in jedem einzelnen konnte Henry einen sich regenden, haarförmigen Schatten erkennen.

Das Wieselding richtete sich auf wie eine Schlange, die sich aus dem Korb eines Schlangenbeschwörers erhebt, und zischte ihn an. Es rutschte auf dem Bett - auf Jonesys Bett -hin und her, schien sich aber nicht groß bewegen zu können.

Seine glänzenden schwarzen Augen starrten zornig. Sein Schwanz (den Henry beim näheren Hinsehen eher für eine Art Fangarm hielt) schlug hin und her und breitete sich dann über so viele Eier, wie er erreichen konnte, wie um sie zu beschützen.

Henry wurde sich bewusst, dass er immer wieder das eine Wort sagte: Nein, und das in einem monotonen Singsang wie ein hilfloser, mit Thorazin voll gepumpter Neurotiker. Er legte mit dem Gewehr an und zielte auf den widerlichen Knoten, der den Kopf des Viehs bildete und zuckte und auswich. Es weiß, was das hier bedeutet, wenigstens so viel weiß es durchaus, dachte Henry ganz kalt, und dann drückte er ab.

Es war ein Schuss aus nächster Nähe, und das Wesen konnte nicht groß ausweichen; entweder war es vom Eierlegen erschöpft, oder die Kälte bekam ihm nicht - da die Haustür offen stand, war es ziemlich kalt in der Hütte geworden. Der Knall war sehr laut in diesem geschlossenen Raum, und der erhobene Kopf des Viehs zerplatzte klatschend und schlug in Strängen und Klumpen an die Wand. Sein Blut war genauso rotgolden wie der Pilz. Der geköpfte Leib taumelte vom Bett auf einen Kleiderhaufen, den Henry nicht erkannte: ein brauner Mantel, eine orangefarbene Warnweste, eine Jeans mit Aufschlägen (niemand von ihnen hatte je aufgekrempelte Jeans getragen; in der Junior High School wurden Jungs, die so was trugen, als Bauerntrampel abgestempelt). Etliche Eier fielen mit dem Kadaver vom Bett. Die meisten landeten auf den Klamotten und auf Jonesys Bücherhaufen und blieben heil dabei, aber ein paar fielen auch auf den Boden und platzten auf. Eine trübe Substanz, wie verdorbenes Eiweiß, sickerte heraus, knapp ein Esslöffel pro Ei. Und mit ihr diese Haare, die sich krümmten und zuckten und Henry mit ihren schwarzen stecknadelkopfgroßen Augen grimmig anzufunkeln schienen. Als er das sah, war ihm zum Schreien zu Mute.

Er machte kehrt und ging ruckartig aus dem Zimmer, auf Beinen, in denen er etwa so viel Gefühl hatte, als wären es Tischbeine. Er kam sich wie eine Marionette vor, die von jemandem gesteuert wurde, der es zwar gut meinte, sein Handwerk aber eben erst erlernte. Er hatte keine Ahnung, wohin er ging, bis er dann in der Küche war und sich vor dem Schrank unter der Spüle bückte.

»I am the eggman, I am the eggman, I am the walrus! Goo-goo-joob!«

Das sang er nicht, sondern deklamierte es mit lauter, anfeuernder Stimme, von der er gar nicht gewusst hatte, dass er sie in seinem Repertoire hatte. Es war die Stimme eines Schmierenkomödianten aus dem 19. Jahrhundert. Dieser Gedanke beschwor - Gott allein wusste, warum - ein Bild von Edwin Booth herauf, als d'Artagnan gekleidet, komplett mit Federhut und allem, wie er die Verse von John Lennon rezitierte, und Henry stieß ein lautes, zweisilbiges Lachen aus: Ha! Ha!

Ich werde verrückt, dachte er ... aber das war schon in Ordnung. Lieber d'Artagnan, der / Am The Walrus rezitierte, als das Bild, wie das Blut dieses Viehs an die Wand spritzte, oder die mit Schimmelpilz bedeckten Doc Marten's, die aus der Badewanne ragten, oder, am schlimmsten, diese Eier, wie sie aufplatzten und eine Ladung zuckender Haare mit Stecknadelkopfaugen freisetzten. Und wie ihn alle diese Augen angestarrt hatten.

Er schob das Geschirrspülmittel und den Wischeimer beiseite, und da war sie: die gelbe Dose Sparx-Grillanzünder. Der unfähige Puppenspieler, der ihn hierher geführt hatte, streckte Henrys Arm mehrmals ruckartig aus und schloss dann Henrys rechte Hand um die Sparx-Dose. Er trug sie quer durchs Wohnzimmer zurück und dachte auch daran, die Streichholzschachtel vom Kaminsims mitzunehmen.

»I am he and you are me and we are all together!«, deklamierte er und betrat wagemutig Jonesys Zimmer, ehe der verängstigte Mensch in seinem Kopf die Kontrolle wieder an sich reißen und ihn dazu bringen konnte wegzulaufen. Dieser Mensch wollte, dass er lief, bis er bewusstlos umfiel. Bewusstlos oder tot.

Die Eier auf dem Bett platzten nun ebenfalls auf. Zwei Dutzend oder mehr dieser Haare krochen jetzt auf dem blutgetränkten Laken und auf Jonesys Kissen herum. Eins davon hob seinen Knubbel von einem Kopf und zischte Henry an, ein fast unhörbares Geräusch, so dünn und hoch war es.

Sich immer noch keine Atempause gönnend - hätte er eine Pause gemacht, dann hätte er nie wieder losgelegt, wäre höchstens noch zur Tür gelaufen -, eilte Henry mit zwei Schritten ans Bett. Eines der Haare kam auf dem Boden auf ihn zugeglitten und bewegte sich dabei mit seinem Schwanz fort wie ein Spermium unterm Mikroskop.

Henry zertrat es und zupfte den roten Plastikdeckel von der Düse der Dose. Er richtete die Düse aufs Bett und sprühte hin und her und achtete darauf, auch den Fußboden gut zu erwischen. Als die haarartigen Wesen mit dem Grillanzünder in Berührung kamen, gaben sie ein hohen Wimmern von sich wie frisch geborene Kätzchen.

»Eggman ... eggman ... walrusl«

Er zertrat noch ein weiteres Haarwesen und sah, dass sich ein drittes an das Hosenbein seiner Jeans klammerte, sich mit seinem winzigen Schwanz daran festhielt und versuchte, mit seinen noch nicht festen Zähnen durch das Gewebe zu beißen.

»Eggman«, murmelte Henry und schabte es mit der Sohle des anderen Stiefels ab. Als es sich wegschlängeln wollte, zertrat er es. Plötzlich merkte er, dass er von Kopf bis Fuß klatsch-nass von Schweiß war und dass er sich, wenn er so in die Kälte hinausginge (und das würde er tun müssen, hier konnte er nicht bleiben), wahrscheinlich den Tod holen würde.

Ich kann nicht hier bleiben, darf mich nicht ausruhen!«, Henry in seinem neuen, anfeuernden Ton.

Er schob die Streichholzschachtel auf, aber seine Hände zitterten so, dass er die Hälfte der Streichhölzer zu Boden fallen ließ. Weitere fadenartige Würmer krochen auf ihn zu. Sie wussten vielleicht nicht viel, aber dass er der Feind war, das wussten sie durchaus.

Henry bekam ein Streichholz zu fassen, hielt es hoch und legte den Daumen an die Spitze. Ein Trick, den ihm Pete vor langer Zeit beige bracht hatte. Es waren immer die Freunde, die einem die wirklich guten Sachen beibrachten, nicht wahr? Wie man zum Beispiel ihrem alten Kumpel Biber eine Wikingerbestattung bescherte und mit einem Schlag auch noch diese ekligen Minischlangen loswurde.

»Egg man!«

Er rieb die Streichholzspitze an, und sie loderte auf. Der Geruch des brennenden Schwefels ähnelte dem Gestank, der ihm entgegengeschlagen war, als er die Hütte betreten hatte, ähnelte auch dem Gestank der Fürze der dicken Frau.

» Walrus!«

Er warf das Streichholz vors Bett auf eine zusammengeknüllte Daunendecke, die nun mit Grillanzünder getränkt war. Für einen Moment flackerte die Flamme bläulich an dem kleinen Holzstäbchen hinunter, und Henry dachte schon, sie würde erlöschen. Dann hörte man ein leises Fump, und die Daunendecke umgab eine bescheidene Krone aus gelben Flammen.

» Goo-goo-joob!«

Die Flammen fraßen sich am Bett hoch und färbten das blutgetränkte Laken schwarz. Sie erreichten den Großteil der mit Schleim umhüllten Eier, kosteten davon und fanden Geschmack daran. Mit lautem Knall begannen die Eier zu platzen. Wieder dieses hohe Wimmern, als die Würmchen brannten. Zischende Geräusche, als Flüssigkeit aus den geplatzten Eiern verdampfte.

Henry ging rückwärts aus dem Zimmer und versprühte dabei weiter Grillanzünder. Er war schon halb über den

Navajo-Teppich, als die Dose endlich leer war. Er warf sie weg, riss noch ein Streichholz an und warf es hin. Diesmal machte es sofort Fump!, und die Flammen loderten orangefarben auf. Die Hitze brannte auf seinem schweißnassen Gesicht, und plötzlich verspürte er den ebenso mächtigen wie freudigen Drang, die Atemmasken abzustreifen und einfach ins Feuer hineinzugehen. Hallo Wärme, hallo Sommer, hallo Dunkelheit, alte Freundin.

Etwas ebenso Schlichtes wie Überzeugendes hielt ihn davon ab. Wenn er jetzt den Stöpsel zog, hatte er das unangenehme Wiedererwachen all seiner tieferen Gefühle völlig sinnlos durchlitten. Er würde zwar nie in allen Einzelheiten erfahren, was hier passiert war, konnte aber wenigstens ein paar Antworten bekommen von den Leuten, die die Hubschrauber flogen und die Tiere abschössen. Wenn sie ihn denn nicht ebenfalls einfach abschössen.

An der Tür angelangt, kam Henry eine Erinnerung, die so deutlich war, dass sein Herz aufschrie: Biber, wie er vor Duddits kniete, als der versuchte, sich seinen Turnschuh falsch herum anzuziehen. Lass mich mal machen, Mann, sagte Biber, und Duddits schaute ihn mit dieser großäugigen Verdutztheit an, die man einfach lieben musste, und erwiderte: Was mahn?

Henry weinte wieder. »Tschüs, Biber«, sagte er. »Ich liebe dich, Mann - und das kommt von Herzen.«

Dann ging er hinaus in die Kälte.

Er ging zum anderen Ende der Hütte, wo das Brennholz lagerte. Daneben war eine zweite, ältere, gräuliche Plane, die früher einmal schwarz gewesen war. Sie war am Boden festgefroren, und Henry musste mit beiden Händen daran zerren, um sie loszubekommen. Darunter befand sich ein Gewirr aus Schneeschuhen, Schlittschuhen und Skiern. Auch ein vorsintflutlicher Eisbohrer lag darunter.

Als er diesen wenig ansprechenden Haufen lange nicht benutzter Winterausrüstung betrachtete, merkte Henry mit einem Mal, wie müde er war ... nur dass müde wirklich ein zu schwaches Wort dafür war. Er hatte eben zu Fuß zehn Meilen zurückgelegt, größtenteils joggend. Er hatte einen Autounfall durchgemacht und die Leiche eines Freundes aus Kindertagen entdeckt. Und er glaubte, dass seine anderen beiden Freunde aus Kindertagen ebenfalls verloren waren.

Wenn ich nicht überhaupt so in Selbstmordlaune wäre, wäre ich längst des Wahnsinns fette Beute, dachte er und lachte dann. Es tat gut zu lachen, aber davon wurde er auch nicht fitter. Und er musste weg von hier, musste irgendjemand Zuständigen finden und erzählen, was hier passiert war. Sie wussten es vielleicht schon - den ganzen Geräuschen nach zu urteilen, wussten sie ganz bestimmt irgendwas, und wie sie darauf reagierten, löste bei Henry Beklommenheit aus -, aber vielleicht wussten sie ja noch nicht von den Wieseln. Und von den Eiern. Er, Henry Devlin, würde ihnen davon berichten — wer denn auch sonst? Er war ja schließlich der Eggman, der Eiermann.

Die Rohleder-Bespannung der Schneeschuhe war von so vielen Mäusen angenagt, dass kaum mehr als leere Rahmen übrig waren. Nach einigem Suchen fand er aber ein kurzes Paar Langlaufski, die aussahen, als hätten sie so um 1954 dem neuesten Stand der Technik entsprochen. Die Bindungen waren verrostet, aber als er mit beiden Daumen drückte, gelang es ihm, dass sie sich zögerlich um die Sohlen seiner Stiefel schlössen.

Aus der Hütte hörte man nun ein stetes Prasseln. Henry legte eine Hand an die Holzwand und spürte die Wärme. Unter dem Dachvorsprung lehnten Skistöcker wirr durcheinander. Ihre Griffe waren mit schmierigen Spinnweben überzogen. Henry sträubte sich, das anzufassen - die Erin-nerung an die Eier und den krabbelnden Wiesellaich war noch zu frisch -, aber er hatte ja schließlich seine Handschuhe an. Er wischte die Spinnweben weg und sah schnell die Skistöcker durch. Jetzt sah er in dem Fenster neben seinem Kopf die Funken stieben.

Er fand ein Paar Skistöcker, das kaum zu kurz für ihn war, und fuhr auf den Skiern unbeholfen zur Ecke des Gebäudes. Mit den alten Skiern an den Füßen und Jonesys Gewehr am Riemen über der Schulter kam er sich vor wie ein Nazi-Gebirgsjäger in einem Alistair-MacLean-Film. Als er sich umdrehte, platzte die Fensterscheibe, neben der er gestanden hatte, mit erstaunlich lautem Knall - so laut, als hätte jemand eine große Glasschüssel aus dem ersten Stock geworfen. Henry duckte sich weg und spürte Glassplitter auf seiner Jacke aufprallen. Etliche landeten in seinem Haar. Ihm ging auf, dass ihm das splitternde Glas das ganze Gesicht zerschnitten hätte, hätte er noch zwanzig oder dreißig Sekunden länger Skistöcker sortiert.

Er schaute zum Himmel, hielt sich die Handrücken wie AI Jolson an die Wangen und rief: »Ich habe da oben wohl einen FreundiJuchu!«

Jetzt schlugen Flammen zum Fenster heraus und loderten unter den Dachvorsprung, und drinnen hörte er weitere Dinge in der sprunghaft ansteigenden Hitze platzen und splittern. Das Camp von Lamar Clarendons Vater, ursprünglich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut, brannte jetzt lichterloh. Das konnte doch einfach alles nur ein Traum sein.

Henry fuhr auf den Skiern in weitem Bogen ums Haus herum und sah zu, wie Funken aus dem Kamin stoben und zu den niedrig hängenden Wolkenbäuchen aufwirbelten. Aus dem Osten scholl immer noch stetes Maschinengewehrrattern. Da schöpften aber einige ihre Quote aus. Mehr als nur das. Dann erklang im Westen eine Explosion - was um Gottes willen war da geschehen? Unmöglich festzustellen.

Wenn er heil bei anderen Menschen ankam, würden sie es ihm vielleicht erzählen.

»Wenn die mich nicht auch einfach umlegen«, sagte er. Seine Stimme war nur noch ein trockenes Krächzen, und da erst merkte er, wie durstig er war. Er bückte sich vorsichtig (er hatte zehn Jahre oder noch länger nicht mehr auf Skiern gestanden), nahm zwei Hände voll Schnee und stopfte ihn sich in den Mund. Er ließ ihn schmelzen und seine Kehle hinabrinnen. Es war ein göttliches Gefühl. Henry Devlin, Psychiater und Verfasser eines Essays über die Hemingway-Lösung, ein Mann, der einst ein unschuldiger Junge gewesen war und jetzt ein großer, plumper Kerl, dem immer die Brille auf die Nasenspitze rutschte, der graue Haare bekam und dessen Freunde entweder tot oder auf der Flucht oder verwandelt waren, dieser Mann stand am offenen Tor zu einer Hütte, zu der er nie zurückkehren würde, stand da auf Skiern, stand da und aß Schnee, wie ein Kind im Zirkus einen Eislutscher aß, stand da und sah zu, wie der letzte richtig angenehme Ort, den er in seinem Leben hatte, niederbrannte. Die Flammen schlugen durch das mit Holzschindeln gedeckte Dach. Schmelzender Schnee verwandelte sich in dampfendes Wasser und lief zischend in die rostigen Dachrinnen. Feuerarme ragten zappelnd aus der Haustür, als wäre das Feuer ein begeisterter Gastgeber, der eben eingetroffenen Gästen zuwinkte, sie sollten sich beeilen, sollten schnell machen und hereinkommen, ehe das Haus ganz abgebrannt war. Die Schicht aus rotgoldenem Flaum, die auf dem Granitblock wuchs, brutzelte vor sich hin, büßte ihre Farbe ein, wurde grau. »Gut«, murmelte Henry. Er ballte rhythmisch die Fäuste um die Griffe der Skistöcker, ohne es zu bemerken. »Gut. Das ist gut.«

So stand er noch eine Viertelstunde da, und dann konnte er es nicht mehr ertragen, kehrte den Flammen den Rücken zu und brach in die Richtung auf, aus der er gekommen war.

Er brachte keine Eile mehr auf. Er hatte zwanzig Meilen vor sich (22,2, um genau zu sein, sagte er sich), und wenn er es nicht etwas langsamer anging, würde er es nie schaffen. Er blieb in der Spur des Schneemobils und hielt häufiger als auf dem Hinweg an, um sich zu verschnaufen.

Ah, aber da war ich ja auch noch jünger, dachte er nur leicht ironisch.

Zweimal sah er auf seine Armbanduhr, da er vergessen hatte, dass es in Jefferson Tract jetzt Punkt irgendwann Eas-tern Standard Time war. Angesichts der dichten Wolkendecke konnte er lediglich mit Sicherheit sagen, dass es noch Tag war. Es war natürlich Nachmittag, aber ob nun Frühoder Spät-, das konnte er unmöglich feststellen. An einem anderen Nachmittag hätte sein Appetit vielleicht als Zeitmaß dienen können, aber nicht heute. Nicht nach dem Ding auf Jonesys Bett und den Eiern und den Haaren mit den vorstehenden schwarzen Augen. Nicht nach dem aus der Badewanne ragenden Fuß. Er fühlte sich, als würde er nie wieder etwas essen wollen ... und wenn doch, dann auf keinen Fall etwas, das auch nur eine Spur rötlich war. Und Pilze? Nein, danke.

Skifahren, zumindest auf kurzen Langlaufskiern wie diesen hier, war ein wenig wie Fahrrad fahren, das stellte er fest: Man verlernte es nicht. Er stürzte einmal, als er den ersten Hügel hochfuhr und die Skier unter ihm wegrutschten, aber die andere Seite glitt er dann in Schwindel erregendem Tempo hinunter, schwankte dabei nur ein wenig, fiel aber nicht hin. Die Skier waren vermutlich zum letzten Mal gewachst worden, als der Erdnussfarmer Präsident war, aber solange er sich in der Spur des Schneemobils hielt, würde es wohl gehen. Er bestaunte die Vielzahl der Tierspuren auf der Deep ^ut Road - in seinem ganzen Leben hatte er nicht mal ein Zehntel dessen gesehen. Ein paar Tiere waren an der Straße entlanggelaufen, aber die meisten Spuren kreuzten sie nur von West nach Ost. Die Deep Cut Road führte in weitem Bogen nach Nordwesten, und der Westen war eine Himmelsrichtung, mit der die einheimische Tierwelt eindeutig nichts zu tun haben wollte.

Ich unternehme eine Reise, sagte er sich. Vielleicht wird eines Tages jemand ein Epos darüber schreiben: Henrys Reise.

»Ja, genau«, sagte er. »Die Welt hing schief, die Zeit gerann, doch nichts hielt auf den Eiermann.« Er lachte darüber, und in seiner ausgetrockneten Kehle verwandelte sich das Gelächter in trockenen Husten. Er hielt am Rand der Schneemobilspur, nahm noch zwei Hände voll Schnee und aß sie.

»Lecker ... und gesund!«, verkündete er. »Schnee! Nicht mehr nur zum Frühstück!«

Er sah zum Himmel, und das war ein Fehler. Für einen Moment packte ihn der Schwindel, und er dachte schon, er würde hintenüber kippen. Dann legte sich das. Die Wolken oben sahen ein bisschen dunkler aus als zuvor. Lag Schnee in der Luft? Oder wurde es schon dunkel? Oder sowohl als auch? Die Knie und Knöchel taten ihm vom Skifahren weh, und die Arme schmerzten sogar noch mehr. Aber am schlimmsten wütete der Schmerz in seiner Brustmuskulatur. Er hatte es längst hingenommen, dass er es nicht bis zum Einbruch der Dunkelheit zu Gosselin's schaffen würde; jetzt, da er hier stand und wieder Schnee aß, ging ihm auf, dass er es vielleicht gar nicht schaffen würde.

Er löste das Red-Sox-T-Shirt, das er sich ums Bein gebunden hatte, und war starr vor Entsetzen, als er einen leuchtend scharlachroten Faden auf seinen Bluejeans sah. Sein Herz pochte so schnell, dass ihm weiße Flecken vor den Augen tanzten. Mit zitternden Fingern fasste er dorthin.

Was willst du denn jetzt tun?, fragte er sich höhnisch. Willst du es wegschnippen, als ob es ein Fussel wäre?

Und genau das tat er, denn es war ein Fussel: ein roter Faden aus dem aufgedruckten Emblem auf dem T-Shirt. Er schnippte ihn weg und sah zu, wie er in den Schnee trudelte. Dann band er sich wieder das T-Shirt um den Riss in seinen Jeans. Für jemanden, der keine vier Stunden zuvor über alle möglichen letzten Optionen nachgedacht hatte - das Seil und die Schlinge, die Badewanne und die Plastiktüte, der Sprung von der Brücke und die allzeit beliebte Flemingway-Lösung, mancherorts auch Polizistenabschied genannt -, hatte er ein, zwei Sekunden lang eine ziemliche Fleidenangst ausgestanden.

Weil ich so nicht enden will, sagte er sich. Ich will nicht bei lebendigem Leibe aufgefressen werden von ...

»Von den Giftpilzen vom Planeten X«, sagte er.

Der Eiermann setzte sich wieder in Bewegung.

8

Die Welt schrumpfte zusammen, wie das immer so ist, wenn man sich der Erschöpfung nähert und die Arbeit noch längst nicht getan ist. Flenrys Leben war auf vier einfache, wiederholte Bewegungen reduziert: das Abstoßen mit den Skistöckern und das Schieben der Skier im Schnee. Seine Schmerzen verflogen, zumindest vorläufig, als er in einen anderen Bereich vordrang. Er konnte sich nur an ein entfernt ähnliches Erlebnis aus seiner High-School-Zeit erinnern, als er Center der Basketballmannschaft der Derry Tigers gewesen war. Bei einem entscheidenden Liga-Spiel hatten es drei ihrer vier besten Spieler zur Hälfte der zweiten Halbzeit geschafft, sich vom Platz stellen zu lassen. Der Trainer hatte Henry für den Rest des Spiels drin gelassen - er kam überhaupt nicht an den Ball, höchstens nach Auszeiten und bei Freiwürfen. Er überstand es, aber als endlich die Schluss-Si-rene ertönte und der Sache ein Ende machte (die Tigers hatten haushoch verloren), hatte er sich gefühlt, als schwebte er in einem schönen Traum. Auf halbem Weg in die Umkleidekabine waren ihm die Beine weggeknickt, und er war mit einem blöden Lächeln im Gesicht zu Boden gegangen, während seine Mannschaftskameraden, die ihre roten Trainingsanzüge trugen, gelacht und gejubelt und geklatscht und gepfiffen hatten.

Hier klatschte oder pfiff niemand; hier war nur aus dem Osten das stete Maschinengewehrfeuer zu hören. Es hatte vielleicht ein wenig nachgelassen, war aber immer noch heftig-

Noch bedrohlicher wirkten gelegentliche Gewehrschüsse aus der Richtung, in die er fuhr. Vielleicht bei Gosselin's? Es war unmöglich festzustellen.

Er hörte sich den Rolling-Stones-Song singen, den er am allerwenigsten mochte, Sympathy for the Devil (Made damn sure that Pilate washed bis hands and sealed His fate. Herzlichen Dank, ihr wart ein wunderbares Publikum, gute Nacht) und zwang sich, damit aufzuhören, als er merkte, dass der Song ganz mit Erinnerungen an Jonesy im Krankenhaus verwoben war, Jonesy, wie er im vergangenen März ausgesehen hatte, nicht nur abgehärmt, sondern irgendwie weniger er selbst, als hätte sich sein Wesen in sich selbst zurückgezogen, um einen Schutzpanzer um den erstaunten, entsetzten Körper zu bilden. Jonesy hatte für Henry wie ein Todeskandidat ausgesehen, und nun wurde Henry klar, dass es um diese Zeit herum mit seinen eigenen Selbstmordabsichten so richtig ernst geworden war. Zu dem Verbrecheralbum der Bilder, die ihn nächtens heimsuchten - blauweiße Milch, die seinem Vater übers Kinn lief, Barry Newmans riesige Pobacken, wie sie schlabberten, als er aus seinem Sprechzimmer floh, Richie Grenadeau, der dem weinenden und fast nackten Duddits Cavell ein Stück Hundekacke hinhielt und ihm befahl, es zu essen - war jetzt das Bild von Jonesys viel zu schmalem Gesicht und seinem benebelten

Blick hinzugekommen, Jonesy, der verunglückt war und allzu bereit aussah, die ganz große Platter zu machen. Sie sagten, sein Zustand wäre stabil, aber Henry hatte eher »kritisch« im Blick seines alten Freundes abgelesen. Mitgefühl mit dem Teufel? Also bitte. Es gab keinen Gott, keinen Teufel, kein Mitgefühl. Und sobald einem das klar wurde, hatte man ein Problem. Dann waren die Tage als geschätzter, zahlender Kunde in diesem großen Vergnügungspark der US-Kultur gezählt.

Er hörte sich wieder singen - But what's puzzling you is the nature ofmy game - und zwang sich, damit aufzuhören. Aber was sonst? Irgendwas völlig Stumpfsinniges. Etwas Stumpfsinniges und Sinnloses, das einem aber nicht mehr aus dem Kopf ging, etwas, das förmlich vor USA troff. Wie wäre es mit diesem Song von den Pointer Sisters? Das wäre doch gut.

Er schaute auf die schlurfenden Skier und die wellige Spur des Schneemobils hinunter und fing an zu singen. Bald wiederholte er es immer wieder, mit tonlosem Flüstern, während er sich die Hemden durchschwitzte und ihm die Rotze aus der Nase lief und auf der Oberlippe gefror: »I know tue can make it, I know we can, ive can work it out, yes we cancan y es we can yes we can ...«

Besser. Schon viel besser. Das ewige Yes we can war ungefähr so amerikanisch wie ein Ford-Pickup auf dem Parkplatz vor einer Bowlingbahn, wie ein Unterwäsche-Ausverkauf bei J. C. Penney oder ein toter Rockstar in der Badewanne.

9

Und so kam er schließlich wieder zu dem Unterstand, an dem er Pete und die Frau zurückgelassen hatte. Pete war fort. Von ihm war nichts mehr zu sehen, rostige Wellblechdach war eingestürzt, aber Henry

hievte es hoch und schaute darunter wie unter eine metallene Bettdecke, um sicherzugehen, dass Pete nicht darunter lag. Er nicht, aber die Frau. Sie war dorthin gekrochen oder bewegt worden, von der Stelle weg, an der sie gelegen hatte, als Henry zur Hütte aufgebrochen war, und irgendwann war sie dann an einem schweren Fall von Tod gestorben. Ihre Kleidung und ihr Gesicht waren von dem rostfarbenen Schimmelpilz überzogen, der sich auch in ihrer Hütte breitgemacht hatte, und Henry fiel etwas Bemerkenswertes auf: Während der Pilz auf ihr gut gedieh (besonders in den Nasenlöchern und an dem einen sichtbaren Auge, wo er förmlich wucherte), ging es dem Pilz, der sich um sie herum ausgebreitet hatte und sie wie ein schartiges Sonnenrad umgab, nicht sonderlich gut. Der Pilz hinter ihr, auf der vom Feuer abgewandten Seite, war grau geworden und nicht weiter gewachsen. Dem Pilz vor ihr ging es ein wenig besser - er hatte Wärme abbekommen, und auf dem Boden, auf dem er wuchs, war der Schnee geschmolzen -, aber die Spitzen der Ranken nahmen die pulverig graue Farbe vulkanischer Asche an.

Henry war sich ziemlich sicher, dass er einging.

Und auch mit dem Tageslicht war es bald vorbei, daran bestand kein Zweifel. Henry ließ das rostige Wellblech auf Becky Shues Leichnam und die noch glühenden Reste des Feuers sinken. Dann betrachtete er wieder die Spur des Schneemobils und wünschte sich, wie schon in der Hütte, er hätte Natty Bumppo dabei, der ihm erklärt hätte, was er da sah. Oder vielleicht Jonesys guten alten Freund Hercule Poirot, den mit den kleinen grauen Zellen.

Die Spur bog zu dem eingestürzten Dach des Unterstands ab und führte dann weiter nach Nordwesten in Richtung Gosselin's. Im Schnee war eine Mulde, die fast nach dem Umriss eines Menschen aussah. Und beiderseits war der Schnee im Halbkreis aufgescharrt.

»Was meinst du, Hercule?«, fragte Henry. »Was bedeutet das, mon ami?« Aber Hercule schwieg.

Henry fing wieder an, monoton vor sich hin zu singen, und schaute sich eine dieser aufgescharrten Stellen etwas genauer an, wobei ihm gar nicht auffiel, dass er von den Pointer Sisters wieder zu den Rolling Stones gewechselt war.

Es war noch hell genug, um das Muster in den drei Vertiefungen links neben dem Menschenumriss zu sehen, und da fiel ihm der Flicken am rechten Ellbogen von Petes Dufflecoat ein. Pete hatte ihm mit merkwürdigem Stolz erzählt, seine Freundin hätte den angenäht und ihm gesagt, er könne doch wohl unmöglich mit einem zerrissenen Mantel auf die Jagd gehen. Henry wusste noch, dass er es gleichwohl traurig wie lustig gefunden hatte, wie Pete aus diesem einen Freundschaftsdienst die schwermütige Fantasie einer glücklichen Zukunft heraufbeschworen hatte ... einem Freundschaftsdienst, der letztlich wahrscheinlich mehr damit zu tun hatte, wie die entsprechende Dame erzogen war, als mit irgendwelchen Gefühlen, die sie für ihren ewig bierseligen Lover hegen mochte.

Nicht dass das noch eine Rolle spielte. Viel wichtiger war, dass Henry glaubte, endlich eine triftige Schlussfolgerung ziehen zu können. Pete war unter dem eingestürzten Dach hervorgekrochen. Jonesy - oder was auch immer Jonesy jetzt lenkte, die Wolke - war vorbeigekommen, zu den Resten des Unterstands abgebogen und hatte Pete eingesammelt.

Und warum?

Henry hatte keinen Schimmer.

Nicht alle Flecken im Schneeabdruck seines um sich schlagenden Freunds, der mit den Ellenbogen unter dem Blechdach hervorgekrochen war, gehörten zu diesem Schimmelpilz. Einiges davon war auch getrocknetes Blut. Pete war verletzt gewesen. Hatte er sich geschnitten, als das Dach eingestürzt war? War das alles?

Henry entdeckte eine sich windende wurmförmige Spur, die von der Schneemulde wegführte, in der Pete gelegen hatte. An ihrem Ende lag etwas, das er zunächst für einen verkohlten Stock gehalten hatte. Bei näherer Betrachtung stellte es sich als ein weiteres dieser Wieselwesen heraus, das verbrannt und tot war und grau wurde, wo es nicht versengt war. Henry schnippte es mit der Stiefelspitze beiseite. Darunter war ein kleiner gefrorener Haufen. Weitere Eier. Es musste sie noch im Sterben gelegt haben.

Henry schob mit dem Fuß erschaudernd Schnee über die Eier und den kleinen Monsterkadaver. Er löste den improvisierten Verband, um sich die Wunde an seinem Bein noch einmal anzusehn, und in diesem Moment wurde ihm bewusst, welchen Song er da die ganze Zeit schon sang. Er hörte auf zu singen. Neuer Schnee, nur ein paar zarte Flocken, trudelte herab.

»Wieso singe ich das immer wieder?«, fragte er. »Wieso kriege ich diesen Scheiß-Song nicht aus dem Kopf?«

Er erwartete keine Antwort; solche Fragen stellte man vor allem deshalb laut, weil es schön war, die eigene Stimme zu hören (das war hier eine Todesstätte, vielleicht spukte es hier sogar), doch trotzdem erhielt er eine Antwort.

»Weil es unser Song ist. Das ist die Kommando-Hymne. Die spielen wir, wenn wir losschlagen. Wir sind die Cruise-Jungs.« Cruise? Hatte er richtig gehört? Cruise? Wie Tom Cruise? Na, vielleicht doch eher nicht.

Die Schüsse im Osten waren fast verklungen. Das Abschlachten der Tiere war fast beendet. Aber da waren Männer, eine lange Gefechtsreihe von Jägern, die grün oder schwarz und nicht orangefarben gekleidet waren, und die hörten sich diesen Song immer wieder an, während sie ihrer Arbeit nachgingen und die Beträge auf einer unglaublichen Schlachterrechnung in die Höhe trieben: / rode a tank, held a general's rank, when the blitzkrieg raged and the bodies stank... Pleased to meetyou, hope y ou guess my na me.

Was ging denn hier vor? Nicht in der wilden, wundervollen, wahnsinnigen Außenwelt, sondern in seinem eigenen Kopf? Er hatte sein ganzes Leben lang - zumindest seit er

Duddits kannte - blitzartige Einsichten gehabt, so etwas aber hatte er noch nie erlebt. Was war das? War es mal an der Zeit, sich näher mit dieser neuen, effektiven Methode, die Linie zu sehen, zu beschäftigen?

Nein. Nein, nein, nein.

Und wie um ihn zu verspotten, dazu der Song in seinem Kopf: General's rank, bodies stank.

»Duddits'.«, rief er hinein in den immer grauer werdenden Spätnachmittag; und Schneeflocken segelten wie Federn aus einem geplatzten Kissen hernieder. Ein Gedanke kämpfte darum, geboren zu werden, aber er war zu groß, viel zu groß.

»Duddits!«, schrie er noch mal mit seiner anfeuernden Eiermannstimme, und eines verstand er jetzt durchaus: Der Luxus des Selbstmords war ihm nun verwehrt. Und das war das Allerschrecklichste daran, denn diese seltsamen Gedanken - / shouted out who killed the Kennedys - rissen ihn fast entzwei. Verwirrt und verängstigt und ganz allein im Wald, fing er wieder an zu weinen. Bis auf Jonesy waren seine Freunde alle tot, und Jonesy war im Krankenhaus. War ein Filmstar im Krankenhaus bei Mr. Gray.

»Was soll das heißen?«, stöhnte Henry. Er hielt sich die Schläfen (er fühlte sich, als würde sein Kopf anschwellen, immer mehr anschwellen), und seine rostigen alten Skistöcker baumelten lose an den Handschlaufen wie abgebrochene Propellerblätter. »Herrgott, was soll das HEISSEN?«

Und nur der Song antwortete ihm: Pleased to meet you! Hope you guess my name!

Nur der Schnee: rot vom Blut der abgeschlachteten Tiere, und sie lagen überall, ein Dachau der Hirsche und Rehe und Waschbären und Kaninchen und Wiesel und Bären und Waldmurmeltiere und -

Henry schrie, hielt sich den Kopf und schrie so laut und so heftig, dass er sich einen Moment lang sicher war, ohnmächtig zu werden. Dann wich seine Benommenheit allmählich, und er schien wieder klar denken zu können, zumindest vorläufig. Ihm blieb ein strahlend helles Bild von Duddits, wie er war, als sie ihn kennen gelernt hatten, Duddits, nicht im Licht eines Blitzkriegswinters wie in dem Stones-Song, sondern im unscheinbaren Licht eines bewölkten Oktobernachmittags, Duddits, wie er mit seinen manchmal so weisen Chinesenaugen zu ihnen hochgeschaut hatte. Mit Duddits, das war unsere beste Zeit, hatte er zu Pete gesagt. »Was mahn?«, sagte Henry jetzt. »Pass nich?« Nein, pass nich. Dreh ihn um und zieh ihn andersrum an.

Matt lächelnd (obwohl seine Wangen noch feucht von den Tränen waren, die anfingen zu gefrieren), folgte Henry auf den Skiern weiter der sich windenden Spur des Schneemobils.

10

Zehn Minuten später kam er zu dem umgestürzten Wrack des Scout. Mit einem Mal wurden ihm zwei Dinge bewusst: dass er jetzt doch einen Bärenhunger hatte und dass sich Essen im Auto befand. Er hatte die hierher und von hier fort führenden Spuren gesehen und hatte keinen Natty Bumppo gebraucht, um zu wissen, dass Pete die Frau allein gelassen hatte und zum Scout zurückgegangen war. Und er brauchte auch keinen Hercule Poirot, um zu wissen, dass die Lebensmittel, die sie eingekauft hatten - wenigstens größtenteils -, noch da waren. Er wusste, weshalb Pete wiedergekommen war.

Er stapfte, Petes Spuren folgend, zur Beifahrerseite und erstarrte dann, als er sich die Bindungen aufmachte. Diese Seite des Autos war vom Wind abgewandt, und was Pete in den Schnee geschrieben hatte, während er dort gesessen und Bier getrunken hatte, war größtenteils noch erhalten: dud-dus, immer und immer wieder. Als er den Namen im Schnee sah, fing Henry an zu zittern. Es war, als käme man ans Grab eines geliebten Menschen und würde daraus eine Stimme hören.

11

Im Scout lagen Glasscherben. Und da war auch Blut. Da sich das Blut hauptsächlich auf der Rückbank befand, ging Henry davon aus, dass es nicht bei ihrem Unfall vergossen worden war; Pete hatte sich bei seiner Rückkehr hier geschnitten. Interessanterweise wuchs auf dem Blut nichts von dem rotgoldenen Flaum. Da er sonst schnell wuchs, lautete der logische Schluss, dass sich Pete noch nicht angesteckt hatte, als er zurückgekommen war, um das Bier zu holen. Später vielleicht schon, aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Er nahm sich das Brot, die Erdnussbutter, die Milch und die Tüte Orangensaft. Dann kroch er rückwärts wieder aus dem Scout und saß dann mit den Schultern an das Wagenheck gelehnt da, sah dem Trudeln der Schneeflocken zu und verschlang das Brot und die Erdnussbutter so schnell er konnte, wobei er seinen Zeigefinger als Streichmesser einsetzte und zwischendurch ableckte. Die Erdnussbutter war köstlich, und den Orangensaft trank er mit zwei tiefen Schlucken leer, aber das reichte nicht.

»Woran du da denkst«, verkündete er dem dämmerigen Nachmittag, »ist absurd. Von dem Rot ganz zu schweigen. Rotes Essen.«

Rot oder nicht rot, er dachte nun mal daran, und so absurd war es auch gar nicht; er hatte schließlich lange Nächte damit zugebracht, an Schusswaffen und Stricke und Plastiktuten zu denken. Das alles kam ihm jetzt ein wenig kindisch vor, aber so war es nun mal, das kostbare Selbstbild des Henry Devlin. Und deshalb -

»Lassen Sie mich schließen, meine Damen und Herren von der psychiatrischen Akademie, indem ich den verstorbenen Joseph >Biber< Clarendon zitiere: >Da ist drauf geschissen. Jetzt oder nie. Und wenn's euch nicht passt, dann fickt euch ins Knie.< Herzlichen Dank.«

Derart seinen Vortrag vor der psychiatrischen Akademie beendend, kroch Henry zurück in den Scout, wich dabei wieder erfolgreich den Glasscherben aus und holte das in Wachspapier eingeschlagene Päckchen ($ 2,79, stand in der zittrigen Handschrift des alten Gosselin darauf). Er kroch mit dem Päckchen in der Tasche rückwärts aus dem Wagen, nahm es dann heraus und riss den Bindfaden auf. Darin befanden sich neun ansehnliche Hotdog-Würstchen. Die von der roten Sorte.

Sein inneres Auge versuchte ihm Bilder des beinlosen Reptilienwesens zu zeigen, das sich auf Jonesys Bett gewunden und ihn mit seinen ausdruckslosen schwarzen Augen angeschaut hatte, aber er drängte das beiseite, mit der Behendigkeit und Leichtigkeit eines Menschen, dessen Selbsterhaltungstrieb nie nachgelassen hatte.

Die Würstchen waren zwar vorgekocht, aber er wärmte sie trotzdem auf, strich mit der Flamme seines Butanfeuerzeugs daran entlang, immer hin und her, bis sie wenigstens warm waren, packte sie dann in Hotdog-Brötchen und schlang sie hinunter. Dabei lächelte er, und ihm war klar, wie lächerlich er für einen Außenstehenden aussehen musste. Tja, hieß es nicht immer, dass Psychiater eines Tages genauso verrückt würden wie ihre Patienten, wenn nicht gar noch verrückter?

Aber wichtig dabei war, dass er endlich satt war. Und noch wichtiger war, dass all die unzusammenhängenden Gedanken und Bilderschnipsel seinen Kopf verlassen hatten. Auch der Song. Er hoffte nun, dieser ganze Mist würde nie wiederkommen. Nie wieder, bitte, lieber Gott.

Er schluckte noch mehr Milch, rülpste, lehnte dann den

Kopf an den Scout und schloss die Augen. Einschlafen aber wollte er nicht; dieser Wald war so richtig schön tief und dunkel, und er hatte noch 12,7 Meilen vor sich, ehe er schlafen konnte.

Ihm fiel wieder ein, wie Pete den Tratsch bei Gosselin's angesprochen hatte - die vermissten Jäger, die Lichter am Himmel - und wie rundheraus der Große Amerikanische Psychiater das alles abgetan, über die Satanismus-Hysterie in Washington geschwafelt hatte und über die Missbrauchs-Hysterie in Delaware. Wie er mit dem Mund den Mr. Klugscheißer Seelenklempner gegeben hatte, während er im Hinterkopf weiter mit Selbstmordgedanken gespielt hatte wie ein Baby, das in der Badewanne eben erst seine Zehen entdeckt hat. Was er gesagt hatte, hatte vollkommen plausibel geklungen, gut genug für jede beliebige Diskussionsrunde im Fernsehen, die sich sechzig Minuten lang mit den Berührungspunkten zwischen Unbewusstem und Unbekanntem beschäftigen wollte, aber dem war jetzt nicht mehr so. Jetzt war er selbst ein vermisster Jäger. Und er hatte Dinge gesehen, die man auch im Internet nicht fand, ganz egal, wie gut die Suchmaschine war.

Er saß da, den Kopf im Nacken, die Augen geschlossen, den Bauch vollgeschlagen. Jonesys Garand lehnte an einem Reifen des Scout. Die Schneeflocken ließen sich auf seiner Stirn und seinen Wangen nieder, zart wie Kätzchenpfoten. »Das ist es, worauf die ganzen Idioten immer gewartet haben«, sagte er. »Begegnungen der dritten Art. Mann, vielleicht sogar der vierten oder fünften Art. Tschuldige, dass ich mich über dich lustig gemacht habe, Pete. Du hattest Recht, und ich hatte Unrecht. Nein, es ist noch schlimmer. Der alte Gosselin hatte Recht, und ich hatte Unrecht. So viel zum Thema Harvard-Studium.«

Und als er das laut ausgesprochen hatte, fügte sich plötzlich eins zum anderen. Da war etwas gelandet oder abgestürzt. Es hatte eine militärische Reaktion der US-Regierung gegeben. Erzählten sie der Außenwelt, was hier vor sich ging? Wahrscheinlich nicht, das wäre nicht ihr Stil, aber Henry hatte so das Gefühl, dass ihnen bald nichts anderes mehr übrig bliebe. Man konnte schließlich nicht den gesamten Jefferson Tract in Hangar 57 unterbringen.

Wusste er sonst noch etwas? Vielleicht schon und vielleicht sogar ein wenig mehr als die Männer, die die Hubschrauber und Exekutionskommandos befehligten. Sie glaubten eindeutig, es hier mit etwas Ansteckendem zu tun zu haben, aber Henry dachte nicht, dass es so gefährlich war, wie sie offenbar meinten. Das Zeug verbreitete sich und erblühte ... aber dann ging es ein. Selbst der Parasit, den die Frau in sich getragen hatte, war gestorben. Es war die falsche Jahreszeit und der falsche Ort für interstellaren Fußpilz - wenn es sich denn darum handeln sollte. Das alles deutete sehr auf eine Bruchlandung hin ... aber hatten die Trojaner das Holzpferd nicht auch für ein Geschenk gehalten? Und was war mit den Lichtern am Himmel? Was war mit diesen Implantaten? Seit Jahren hatten Leute, die behaupteten, von Außerirdischen entführt worden zu sein, auch erzählt, man habe sie ausgezogen ... untersucht ... habe ihnen etwas implantiert ... all diese Ideen waren derart freudianisch, dass sie schon fast lachhaft...

Henry merkte, dass er wegdämmerte, und schreckte so abrupt hoch, dass ihm das aufgerissene Päckchen mit den Würstchen vom Schoß in den Schnee fiel. Nein, er war nicht nur weggedämmert; er war eingenickt. Es war noch erheblich dunkler geworden, und die Welt war in ein fahles Schiefergrau gehüllt. Auf seiner Hose waren frische Schneeflocken. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte angefangen zu schnarchen.

Er wischte sich den Schnee ab und stand auf, zuckte zusammen, als seine Muskeln empört aufschrien. Er betrachtete die Hotdog-Würstchen, die dort im Schnee lagen, mit leichtem Widerwillen, bückte sich dann, packte sie wieder ein und steckte sie sich in eine Jackentasche. Vielleicht würde er später wieder Appetit darauf haben. Er hoffte es wirklich nicht, aber man wusste ja nie.

»Jonesy ist im Krankenhaus«, sagte er unvermittelt und ohne zu wissen, was er damit meinte. »Jonesy ist mit Mr. Gray im Krankenhaus, muss da bleiben. Auf der Intensivstation.«

Wahnsinn. Das Gefasel eines Wahnsinnigen. Er spannte sich die Skier wieder unter die Stiefel, inständig hoffend, dass er keinen Hexenschuss bekam, während er sich so bückte, und folgte dann der Spur aufs Neue. Der Schneefall wurde nun wieder dichter, und es wurde immer dunkler.

Als ihm aufging, dass er zwar an die Würstchen gedacht, aber Jonesys Gewehr vergessen hatte (von seinem eigenen ganz zu schweigen), war er schon zu weit, um noch mal umzukehren.

12

Gut eine Dreiviertelstunde später blieb er stehen und guckte dumm auf die Schneemobilspur hinab. Vom Tageslicht war nun kaum mehr als ein matter Schimmer über, aber es reichte, um zu sehen, dass die Spur (was davon noch blieb) abrupt nach rechts schwenkte und in den Wald führte.

Ausgerechnet in den Wald. Was wollten Jonesy und Pete (wenn Pete denn bei ihm war) im Wald? Was sollte das, wenn die Deep Cut Road doch ohne Hindernisse geradeaus verlief, eine weiße Fahrspur zwischen den dunklen Bäumen?

»Die Deep Cut führt nach Nordwesten«, sagte er, wie er da so stand, die Skier vorne leicht gekreuzt, und ihm die lose eingeschlagenen Würstchen aus der Jackentasche ragten. »Die Straße zu Gosselin's, die Asphaltstraße, ist höchstens noch drei Meilen entfernt. Jonesy weiß das. Pete weiß es auch. Und trotzdem ... fährt das Schneemobil ...« Er hob die Arme wie Uhrzeiger und schätzte es ab. »Das Schneemobil fährt fast genau nach Norden. Wieso?«

Vielleicht wusste er, wieso. Der Himmel wurde in Richtung Gosselin's heller, als hätte man dort Scheinwerferbatterien aufgebaut. Er konnte das an- und abschwellende Dröhnen der Hubschrauber hören, das immer aus der gleichen Richtung kam. Bald, dachte er, würde er auch anderes schweres Gerät hören: Versorgungsfahrzeuge und vielleicht

Generatoren. Im Osten hörte man immer noch vereinzelte Schüsse, aber der Dreh- und Angelpunkt des Geschehens befand sich eindeutig in der Richtung, in die er ging.

»Sie haben bei Gosselin's ein Basislager aufgeschlagen«, sagte Henry. »Und dem will Jonesy ausweichen.«

Das kam Henry sehr plausibel vor. Nur ... dass es keinen Jonesy mehr gab, nicht wahr? Da war nur noch die rotschwarze Wolke.

»Das stimmt nicht«, sagte er. »Jonesy ist immer noch da. Jonesy ist mit Mr. Gray im Krankenhaus. Das ist nämlich die Wolke — Mr. Gray.« Und dann, wie aus heiterem Himmel (zumindest kam es ihm so vor): »Was mahn? Pass nich?«

Henry schaute hoch in den trudelnden Schneefall (er war, zumindest bisher, viel weniger ergiebig als der Schneefall zuvor, dafür aber ausdauernd), als glaubte er, dort oben wäre irgendwo ein Gott, der ihn mit dem aufrichtigen, wenn auch distanzierten Interesse eines Forschers betrachtete, der ein zappelndes Pantoffeltierchen beobachtete. »Worüber rede ich hier? Was soll das?«

Keine Antwort. Dafür tauchte eine Erinnerung auf. Biber, Jonesys Frau und er hatten einander im vergangenen März versprochen, etwas geheim zu halten. Carla war der Ansicht gewesen, Jonesy brauchte nicht zu wissen, dass sein Herz zweimal stehen geblieben war, einmal kurz nach dem Eintreffen der Rettungssanitäter am Unfallort in Cambridge und einmal kurz nach seiner Ankunft im Krankenhaus. Jone-sy wusste, dass er dem Tod nur knapp entronnen war, wusste aber nicht (jedenfalls nicht, soweit Henry wusste), wie knapp es gewesen war. Und falls Jonesy irgendwelche ins Licht aufgehenden Erfahrungen ä la Kübler-Ross gemacht hatte, dann hatte er sie entweder verschwiegen oder dank wiederholter Anästhesie und jeder Menge Schmerzmittel vergessen.

Ein Dröhnen rollte mit erschreckendem Tempo aus dem Süden heran, und Henry duckte sich und hielt sich die Ohren zu. Es hörte sich nach einer ganzen Staffel Düsenjäger an, die durch die Wolken über ihm rasten. Sehen konnte er nichts, und als das Dröhnen der Jets so schnell verklang, wie es gekommen war, richtete er sich mit wild pochendem Herzen auf. Heiliger Strohsack! So musste es sich während der Tage vor Desert Storm auf den Luftwaffenstützpunkten rund um den Irak angehört haben.

Dieser Riesen-Knall. Bedeutete das, dass die Vereinigten Staaten von Amerika eben gegen Wesen aus einer anderen Welt in den Krieg eingetreten waren? Lebte er jetzt in einem Roman von Robert Heiniein? Henry spürte ein heftiges, drängendes Flattern in der Brust. Wenn dem so war, dann verfügte dieser Gegner doch wohl über mehr als nur ein paar hundert schrottfreife sowjetische Scud-Raketen, um sich damit gegen Uncle Sam zur Wehr zu setzen.

Lass es sein. Du kannst eh nichts daran ändern. Was machst du jetzt - das ist die Frage. Was machst du jetzt?

Das Dröhnen der Düsenjäger war schon zu einem fernen Brummen verklungen. Henry ging aber davon aus, dass sie wiederkommen würden. Vielleicht mit Verstärkung.

»Zwei Pfade führten durch den verschneiten Wald - heißt es nicht so? Na, so ähnlich jedenfalls.«

Doch der Schneemobilspur noch weiter zu folgen, kam wirklich nicht in Frage. Er würde sie binnen einer halben Stunde in der Dunkelheit nicht mehr sehen können, und der Schneefall würde sie ohnehin zudecken. Und er würde sich

verirren und wäre verloren - ganz wie Jonesy aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt verloren war.

Mit einem Seufzer ließ Henry von der Schneemobilspur ab und fuhr weiter die Straße entlang.

13

Als er sich der Stelle näherte, an der die Deep Cut Road auf die zweispurige Asphaltstraße führte, die Swanny Pond Road hieß, war Henry fast schon zum Stehen zu müde, vom Skifahren ganz zu schweigen. Seine Oberschenkelmuskeln fühlten sich an wie alte, feuchte Teebeutel. Nicht einmal die Lichter am nordwestlichen Horizont, die nun viel heller waren, oder das Geräusch der Motoren und Hubschrauber konnte ihm viel Trost spenden. Vor ihm lag ein letzter steiler Hügel. Auf der anderen Seite des Hügels endete die Deep Cut Road und fing die Swanny Pond Road an. Dort würde er dann wohl anderen Menschen begegnen, schon gar, wenn Truppen an rückten.

»Los«, sagte er. »Komm, fahr los.« Doch er blieb dort noch ein wenig länger stehen. Er wollte nicht über diesen Hügel. »Lieber Underhill als Overhill«, sagte er. Das schien irgendwas zu bedeuten, war wahrscheinlich aber nur wieder eine idiotische unlogische Folgerung. Und außerdem konnte er sonst nirgendwohin.

Er bückte sich und schaufelte mit beiden Händen wieder Schnee auf - in der Dunkelheit sah diese doppelte Hand voll wie ein kleines Kopfkissen aus. Er aß etwas von dem Schnee, nicht weil ihm danach war, sondern weil er wirklich noch nicht wieder aufbrechen wollte. Die Lichter, die aus Richtung Gosselin's kamen, ließen sich einfacher erklären als die Lichter, die Pete und er am Himmel hatten tanzen sehen (Sie sind wieder da!, hatte Becky gekreischt, wie das kleine Mädchen, das in diesem alten Spielberg-Film vor dem Fernseher saß), gefielen Henry aber aus irgendeinem Grund noch weniger. Diese ganzen Motoren und Generatoren klangen irgendwie ... hungrig.

»Das stimmt, Kaninchen«, sagte er. Und dann, da er wirklich keine andere Wahl hatte, kraxelte er den letzten Hügel hoch, der ihn noch von einer richtigen Straße trennte.

14

Er blieb auf der Hügelkuppe stehen und stützte sich, nach Luft schnappend, auf seine Skistöcker. Der Wind war hier oben frischer und schien ihm ohne weiteres durch die Kleidung zu dringen. Sein linkes Bein pochte, wo sich der Blinkerhebel hineingebohrt hatte, und er fragte sich wieder, ob er dort unter seinem improvisierten Verband eine kleine rotgoldene Pilzkolonie ausbrütete. Es war zu dunkel, um das zu überprüfen, und da die einzig mögliche gute Neuigkeit gar keine Neuigkeit war, war das vielleicht auch am besten so.

»Die Welt hing schief, die Zeit gerann, doch nichts hielt auf den Eiermann.« Und da ihm weiter nichts einfiel, fuhr er den Hügel hinab auf die T-Kreuzung zu, an der die Deep Cut Road endete.

Auf dieser Seite war der Hügel steiler, und bald fuhr er eher Abfahrt als Langlauf. Er wurde schneller und wusste nicht, ob er da nun Angst um sein Leben, ein ungeahntes Hochgefühl oder eine ungute Mischung aus beidem empfand. Ganz bestimmt fuhr er für die Sichtverhältnisse zu schnell, denn die Sicht war gleich null, und auch für seine Fähigkeiten, die gleichermaßen Rost angesetzt hatten wie die Skibindungen, die seine Stiefel hielten. Bäume huschten beiderseits vorbei, und plötzlich ging ihm auf, dass sich alle seine Probleme mit einem Schlag lösen ließen. Letztlich nun doch nicht die Hemingway-Lösung. Nennen wir diesen Abgang die Sonny-Bono-Lösung.

Die Mütze wehte ihm vom Kopf. Er griff instinktiv danach, einer seiner Skistöcker flog vor ihm in der Dunkelheit hoch, und mit einem Mal hatte er die Balance verloren. Er würde stürzen. Und das war möglicherweise gut so, solange er sich nicht das Bein brach. Ein Sturz würde ihn wenigstens bremsen. Er würde einfach wieder aufstehen und -

Lichter flammten auf, große, auf Lastern montierte Scheinwerfer, und ehe er völlig geblendet war, erkannte Henry noch vage die Umrisse eines Holztiefladers, der quer am Ende der Deep Cut Road stand. Die Scheinwerfer waren offenbar durch einen Bewegungsmelder aktiviert worden, und davor stand eine Reihe Männer.

»HALT!«, befahl eine Furcht einflößende, verstärkte Stimme. Es hätte die Stimme Gottes sein können. »HALT, ODER WIR SCHIESSEN!«

Henry ging abrupt und unbeholfen zu Boden. Die Skier brachen ihm von den Stiefeln. Ein Fußknöchel wurde so schmerzhaft verdreht, dass er aufschrie. Einen Skistock verlor er; der andere brach in der Mitte durch. Es schlug ihm mit einem kalten Japsen alle Luft aus der Lunge. Er schlitterte im Schneepflug mit weit gespreiztem Schritt, und als er dann zum Stillstand kam, bildeten seine verkrümmten Gliedmaßen so etwas wie ein Hakenkreuz.

Allmählich konnte er wieder sehen, und er hörte knirschende Schritte im Schnee. Er tastete um sich, und es gelang ihm, sich aufzusetzen. Er konnte noch nicht sagen, ob er sich etwas gebrochen hatte oder nicht.

Sechs Männer standen gut drei Meter hügelabwärts vor ihm, und ihre Schatten zeichneten sich auf dem wie mit Diamanten bestäubten Neuschnee ungewöhnlich lang und deutlich ab. Sie alle trugen Parkas. Sie alle hatten durchsichtige Atemmasken über Mund und Nase, die zwar leistungsfähiger aussahen als die Heimwerkermasken, die Henry im Schneemobilschuppen gefunden hatte, Henrys Vermutung nach aber dem gleichen Zweck dienten.

Die Männer hatten auch automatische Waffen, die jetzt alle auf ihn gerichtet waren. Jetzt kam es Henry eher wie ein Glücksfall vor, dass er Jonesys Garand und seine eigene Winchester beim Scout zurückgelassen hatte. Wäre er bewaffnet gewesen, dann hätte er jetzt wahrscheinlich ein Dutzend oder mehr Löcher im Leib gehabt.

»Ich glaube, ich habe es nicht«, krächzte er. »Wovor Sie auch Angst haben, ich glaube -«

»AUFSTEHEN!« Wiederum Gottes Stimme. Sie kam von dem Laster. Die vor ihm stehenden Männer verdeckten das grelle Licht wenigstens teilweise, und Henry sah weitere Männer am Fuße des Hügels an der Straßenkreuzung stehen. Auch sie waren bewaffnet, bis auf den, der das Megafon hielt.

»Ich weiß nicht, ob ich -«

»SOFORT AUFSTEHEN!«, befahl Gott, und einer der Männer vor ihm verlieh dem mit einer Bewegung seines Gewehrlaufs Nachdruck.

Henry stand schwankend auf. Seine Beine schlotterten, und das Fußgelenk, das er sich verrenkt hatte, tat höllisch weh, aber vorläufig war noch alles heil. Und so endet die Reise des Eiermanns, dachte er und fing an zu lachen. Die Männer vor ihm tauschten betretene Blicke, und obwohl sie ihre Gewehre auf ihn gerichtet hatten, tröstete ihn diese kleine menschliche Regung.

Im strahlenden Licht der auf den Tieflader montierten Scheinwerfer sah Henry etwas im Schnee liegen - es war ihm aus der Tasche gefallen, als er hingestürzt war. Da er wusste, dass sie ihn sowieso erschießen würden, bückte er sich langsam.

»NICHT ANFASSEN!«, schrie Gott mit seinem Megafon von der Fahrerkabine der Holzlasters herab, und jetzt hoben die Männer dort unten ebenfalls ihre Waffen, und aus der Mündung jedes Gewehrs guckte ein kleines Hello dark-ness, my old friend.

»Friss Scheiße und stirb«, sagte Henry - eine von Bibers besseren Leistungen - und hob das Päckchen auf. Mit einem Lächeln hielt er es den bewaffneten und maskierten Männer hin. »Ich komme in friedlicher Absicht, im Namen der gesamten Menschheit«, sagte er. »Möchte jemand ein Würstchen?«

Jonesy im Krankenhaus


Es war ein Traum.

Es kam ihm nicht wie einer vor, aber es musste einer sein. Zum einen hatte er den fünfzehnten März schon einmal durchgemacht, und es kam ihm fürchterlich unfair vor, das noch mal durchmachen zu müssen. Zum anderen konnte er sich aus den acht Monaten zwischen Mitte März und Mitte November an alles Mögliche erinnern - wie er den Kindern bei den Hausaufgaben geholfen hatte, wie Carla mit ihren Freunden (viele davon aus dem Narcotics-Anonymous-Pro-gramm) telefoniert hatte, wie er in Harvard einen Vortrag gehalten hatte ... und natürlich auch an die Monate der körperlichen Rehabilitation. Das ewige Beugen, das an den Nerven zehrende Kreischen, als sich seine Gelenke ganz, ganz widerwillig wieder streckten. Wie er zu Jeannie Morin, seiner Therapeutin, gesagt hatte, er könne das nicht. Wie sie ihm gesagt hatte, er könne das durchaus. Tränen auf seinem Gesicht, ein strahlendes Lächeln auf ihrem (dieses verhasste, durch nichts zu erschütternde Lächeln), und letztendlich hatte sie dann doch Recht behalten. Er konnte es, er war die kleine Dampflok, die das schon schaffen würde, aber was hatte es die kleine Dampflok gekostet.

An all das erinnerte er sich und auch noch an mehr: wie er zum ersten Mal aus dem Bett aufgestanden war, wie er sich zum ersten Mal den Hintern abgewischt hatte, die Nacht Anfang Mai, als er zum ersten Mal mit dem Gedanken Ich stehe das durch ins Bett gegangen war, die Nacht Ende Mai, in der er zum ersten Mal seit dem Unfall wieder mit Carla geschlafen und wie er ihr hinterher diesen alten Scherz erzählt hatte: Wie treiben es die Stachelschweine? - Gaaanz vorsichtig. Er konnte sich erinnern, wie er am Memorial Day dem Feuerwerk zugesehen hatte, während ihm Hüfte und Oberschenkel höllisch schmerzten; er konnte sich daran erinnern, wie er am vierten Juli Wassermelone gegessen hatte, Kerne ins Gras gespuckt und Carla und ihrer Schwester beim Badmintonspielen zugesehen hatte, während ihm Hüfte und Oberschenkel immer noch wehtaten, aber längst nicht mehr so schlimm; er konnte sich daran erinnern, wie Henry im September angerufen hatte - »Nur um mal zu hören«, hatte er gesagt - und mit ihm über alles Mögliche gesprochen hatte, auch über den alljährlichen Jagdausflug zur Hütte im November. »Klar komme ich mit«, hatte Jonesy gesagt und noch nicht gewusst, wie unangenehm es ihm sein würde, das Gar-and in Händen zu halten. Sie hatten über die Arbeit gesprochen (Jonesy hatte die letzten drei Wochen des Sommersemesters unterrichtet und war da schon ziemlich rüstig an einer Krücke herumgehumpelt), über ihre Familien, über die Bücher, die sie gelesen, und die Filme, die sie gesehen hatten; Henry hatte wieder, wie schon im Januar, erwähnt, dass Pete zu viel trank. Jonesy, der mit seiner Frau schon einen Drogenkrieg ausgefochten hatte, hatte nicht darüber reden wollen, aber als Henry von Bibers Vorschlag erzählt hatte, nach ihrem einwöchigen Jagdausflug in Derry vorbeizufahren und Duddits Cavell zu besuchen, hatte Jonesy begeistert zugestimmt. Das hatten sie schon viel zu lange nicht mehr gemacht, und es gab nichts Besseres als eine volle Dosis Duddits, um sich aufzumuntern. Und außerdem ...

»Henry?«, hatte er gesagt. »Wir hatten doch vorgehabt, Duddits zu besuchen, nicht wahr? Wir wollten am St. Patrick's Day hinfahren. Ich kann mich nicht daran erinnern, aber es steht so in meinem Terminkalender.«

»Ja«, hatte Henry erwidert. »Das wollten wir tatsächlich.«

»So viel zum Thema >Glück der Iren<, was?«

Angesichts all dieser Erinnerungen war sich Jonesy sicher, dass sich der fünfzehnte März bereits zugetragen hatte und weit zurücklag. Alle möglichen Beweismittel stützten diese These, und sein Terminkalender war Beweismittel A. Und trotzdem waren sie wieder da, diese schlimmen Iden ... und jetzt, o Mann, war das unfair, war anscheinend mehr vom Fünfzehnten da als je zuvor.

Bisher hatten seine Erinnerungen an diesen Tag bis ungefähr zehn Uhr morgens gereicht. Er war in seinem Büro gewesen, hatte Kaffee getrunken und einen Stapel Bücher zusammengesucht, die er hinunter ins Büro der historischen Fakultät mitnehmen wollte, wo es einen Büchertisch gab, an dem sich Studenten gratis bedienen konnten. Er hatte schlechte Laune gehabt, konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr erinnern, warum. Laut seines Terminkalenders, in dem er die nicht eingehaltene Verabredung vom siebzehnten März, Duddits zu besuchen, entdeckt hatte, hatte er am fünfzehnten März einen Termin mit einem Studenten namens David Defuniak gehabt. Jonesy konnte sich nicht erinnern, worum es dabei gegangen war, aber später hatte er eine Notiz von einem seiner Tutoren über einen nachgereichten Aufsatz von Defuniak entdeckt, der die kurzfristigen Folgen des normannischen Eroberungszugs behandelte - also war es vermutlich darum gegangen. Doch was an einem nachgereichten Aufsatz hatte dem außerordentlichen Professor Gary Jones denn so die Laune verdorben?

Unglücklich oder nicht - er hatte etwas gesummt, hatte etwas gesummt und dann leise den Text des Songs gesungen, der ziemlich blödsinnig war: Yes we can, yes we can-can, great gosh a'mighty yes we can-can. Anschließend folgten dann nur noch ein paar Bruchstücke - wie er Colleen, der rothaarigen Fakultätssekretärin, einen schönes St. Paddy's

Day gewünscht hatte, wie er sich aus der Zeitungskiste vor dem Gebäude eine Boston Phoenix genommen hatte, wie er auf der Cambridge-Seite der Brücke einem glatzköpfigen Saxofonisten einen Vierteldollar in den Saxofonkoffer geworfen hatte, weil ihm der Typ Leid tat, denn er trug nur einen dünnen Pulli, und auf dem Charles River blies ein beißender Wind -, aber hauptsächlich erinnerte er sich, nachdem er den Stapel Bücher zum Weggeben zusammengesucht hatte, an Dunkelheit. Er war im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein gekommen und hatte im Nebenzimmer diese monotone Stimme gehört: Hört auf, ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Marcy, ich will zu Marcy. Oder vielleicht war es auch: Wo ist Jonesy, ich will zujonesy. Der Tod, das alte Schreckgespenst. Der Tod, der sich für einen Patienten ausgab. Der Tod, der Schmerzen vortäuschte. Der Tod, der ihn aus den Augen verloren hatte - klar war das möglich, es war ein großes Krankenhaus, bis unters Dach voll mit Schmerzen und Todesqualen -, und jetzt wollte der Tod, das alte Schreckgespenst, ihn wiederfinden. Wollte ihn reinlegen. Wollte, dass er sich verriet.

Diesmal jedoch fehlt die ganze gnädige Dunkelheit dazwischen. Diesmal wünscht er Colleen nicht nur einen schönen St. Paddy's Day, sondern erzählt ihr auch noch einen Witz: Was steht auf dem Grabstein einer Putzfrau? - Sie kehrt nie wieder. Er geht hinaus, und sein zukünftiges Ich - sein No-vember-Ich - geht wie ein blinder Passagier in seinem Kopf mit. Sein zukünftiges Ich hört das März-Ich denken Was für ein schöner Tag es doch noch geworden ist, während er zu seinem Rendezvous mit dem Schicksal in Cambridge geht. Er versucht seinem März-Ich klarzumachen, dass dies eine schlechte Idee sei, eine geradezu grotesk schlechte Idee, dass er sich monatelange Qualen ersparen könne, wenn er einfach ein Taxi herbeiwinke oder die U-Bahn nehme, aber er dringt nicht zu ihm durch. Vielleicht stimmte es ja, was in diesen ganzen Sciencefiction-Geschichten, die er in seiner Ju

gend gelesen hatte, über Zeitreisen behauptet wurde: Was man auch anstellte, die Vergangenheit konnte man nicht verändern.

Er geht über die Brücke, und der Wind ist zwar ein bisschen frisch, aber trotzdem genießt er die Sonne im Gesicht und wie sie sich millionenfach funkelnd auf dem Charles River spiegelt. Er singt einen Fetzen aus Here Comes the Sun und kehrt dann wieder zu den Pointer Sisters zurück: Yes we can-can, great gosh a'mighty. Rhythmisch dazu die Aktentasche schwenkend. Mit seinem Sandwich drin. Mit Eiersalat drauf. Mmmh, hat Henry gesagt. S SÄT, hat Henry gesagt.

Da ist der Saxofonist, und: Überraschung! Er steht nicht am Ende der Mass Ave Bridge, sondern weiter entfernt, auf dem MIT-Campus, vor einem dieser angesagten kleinen indischen Restaurants. Er zittert in der Kälte, ist glatzköpfig und hat Kerben auf der Kopfhaut, die darauf hindeuten, dass er nicht das Zeug zum Barbier hat. Und wie er da These Foolish Things spielt, deutet darauf hin, dass er auch nicht das Zeug zum Saxofonisten hat, und Jonesy will ihm vorschlagen, doch Tischler zu werden, Schauspieler oder Terrorist, alles, bloß nicht Musiker. Doch stattdessen ermutigt Jonesy ihn noch und wirft dem Typ nicht, wie er sich bisher immer zu erinnern meinte, einen Vierteldollar in den Koffer (der mit abgewetztem lila Samt ausgekleidet ist), sondern eine ganze Hand voll Kleingeld - so ein Blödsinn. Er macht den ersten Sonnenschein nach einem langen kalten Winter dafür verantwortlich und wie gut es mit Defuniak gelaufen ist.

Der Sax-Mann sieht Jonesy an, verdreht die Augen und dankt ihm so, während er weiterspielt. Jonesy fällt ein anderer Scherz ein: Wie nennt man einen Saxofonisten, der eine Kreditkarte bat? - Einen Optimisten.

Er geht weiter, schwenkt seine Tasche und hört nicht auf den Jonesy in seinem Kopf, der wie ein zeitreisender Lachs den Fluss aus dem November heraufgeschwommen ist. »Hey, Jonesy, bleib stehen. Ein paar Sekunden dürften reichen. Schnür dir die Schuhe oder so. (Bringt nichts. Er trägt Halbschuhe ohne Schnürsenkel. Bald wird er auch noch einen Gips tragen.) An dieser Kreuzung da vorne wird es passieren, bei der U-Bahn-Haltestelle, Mass Avenue und Prospect. Da kommt ein alter Mann, ein verblödeter Juraprofessor in einem dunkelblauen Lincoln Town Car und wird dich planieren. «

Aber es nützt nichts. Wie laut er auch brüllt, es nützt nichts. Er kommt nicht durch. Man kann nicht zurück, kann seinen eigenen Großvater nicht töten, kann Lee Harvey Oswald nicht erschießen, wie er dort im fünften Stock des Schulbuchlagers in Dallas am Fenster kniet, neben sich kalt werdendes Brathähnchen auf einem Pappteller, und sein bei einem Versandhaus bestelltes Gewehr in Händen, man kann sich selbst nicht davon abhalten, die Kreuzung Mass Avenue und Prospect Street zu überqueren, mit der Aktentasche in der Hand und einer Boston Phoenix - die man nie lesen wird -unter dem Arm. Entschuldigen Sie, Sir, irgendwo in Jeffer-son Tract sind die Leitungen gestört, es ist ein einziges Chaos da oben, Ihr Anruf kann nicht durchgestellt werden -

Und dann, o Gott, das ist neu - kommt die Botschaft doch durch! Als er an der Ecke ankommt, als er am Bordstein steht und eben den Zebrastreifen betreten will, kommt sie durch!

»Was?«, fragt er, und der Mann, der neben ihm stehen geblieben ist, der sich als Erster über ihn beugen wird - in einer Vergangenheit, die nun vielleicht glücklicherweise abgesagt wurde -, schaut ihn argwöhnisch an und sagt: »Ich habe nichts gesagt«, als wäre da irgendwo noch ein Dritter dabei. Jonesy hört ihn kaum, denn es ist durchaus ein Dritter da, da ist eine Stimme in seinem Kopf, die sich verdächtig nach seiner eigenen anhört, und sie schreit ihn an, er solle auf dem Bordstein stehen bleiben, solle nicht auf die Straße gehen -

Dann hört er jemanden weinen. Er schaut hinüber auf die andere Seite der Prospect Street, und, o Gott, da ist Duddits, Duddits Cavell, nackt bis auf die Unterhose, und er hat etwas Braunes rund um den Mund geschmiert. Es sieht wie Schokolade aus, aber Jonesy weiß es besser. Es ist Hundescheiße, dieses Schwein Richie hat ihn doch noch dazu zwingen können, sie zu essen, und die Leute da drüben gehen einfach weiter, als wäre Duddits gar nicht da.

»Duddits!«, ruft Jonesy. »Duddits, halt durch, Mann, ich komme!«

Und er eilt, ohne hinzuschauen, auf die Straße, und dem Passagier in ihm drin bleibt nichts übrig als mitzumachen, aber jetzt weiß er wenigstens, wie und warum der Unfall passiert ist - der alte Mann, ja, der alte Mann mit Alzheimer im Frühstadium, der überhaupt nicht mehr am Steuer eines Autos hätte sitzen dürfen, aber das war nur der eine Teil. Der andere Teil, der bisher in der Schwärze, die den Unfall bis dato umgeben hatte, verborgen geblieben war, war der: Er hatte Duddits gesehen und war einfach auf die Straße gerannt, ohne nach links und rechts zu schauen.

Und er sieht noch etwas ganz kurz: ein riesiges Muster, so etwas wie ein Traumfänger, der all die Jahre seit 1978, als sie Duddits Cavell kennen lernten, und auch die Zukunft zusammenhält.

Sonnenschein glitzert auf einer Windschutzscheibe; das sieht er im linken Augenwinkel. Ein Auto kommt und kommt zu schnell. Der Mann, der neben ihm am Bordstein stand, der gute alte Mr. /c^-Hab-Nichts-Gesagt, schreit: »Pass auf, Mann, pass auf!«, aber Jonesy hört ihn kaum. Denn dort steht ein Hirsch auf dem Bürgersteig hinter Duddits, ein schöner kapitaler Bock, fast so groß wie ein Mensch. Und dann, kurz bevor der Lincoln ihn erwischt, sieht Jonesy, dass der Hirsch tatsächlich ein Mensch ist, ein Mann mit orangefarbener Mütze und Warnweste. Auf der Schulter hat er wie ein abscheuliches Maskottchen ein beinloses Wieselwesen mit riesigen schwarzen Augen. Sein Schwanz - oder vielleicht ist es auch ein Fangarm - schlingt sich um den Hals des Mannes. Wie um Gottes willen konnte ich den für einen Hirsch hatten?, denkt Jonesy, und dann erwischt ihn der Lincoln, und er wird auf die Straße geschleudert. Er hört ein fieses, gedämpftes Knacken, als seine Hüfte bricht.

Diesmal also keine Dunkelheit; so oder so wird die Gedächtnisstraße jetzt von Bogenlampen erhellt. Doch der Film ist durcheinander, als hätte sich der Cutter zum Mittagessen ein paar Drinks zu viel gegönnt und vergessen, wie die Geschichte ursprünglich gedacht war. Teilweise hat es damit zu tun, dass die Zeit aus der Form geraten ist: Er scheint gleichzeitig in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu leben.

So reisen wir, sagt eine Stimme, und Jonesy wird klar, dass es die Stimme ist, die er um Marcy, um eine Spritze hat wimmern hören. Ab einer bestimmten Beschleunigung wird alles Reisen zu Zeitreisen. Das Gedächtnis ist die Grundlage jeder Reise.

Der Mann von der Ecke, der alte Mr. 7c/?-Hab-Nichts-Gesagt, beugt sich über ihn, fragt, ob alles mit ihm in Ordnung sei, sieht, dass nichts mit ihm in Ordnung ist, schaut dann hoch und fragt: »Wer hat ein Handy? Der Mann hier braucht einen Krankenwagen.« Als er den Kopf hebt, sieht Jonesy, dass er einen kleinen Schnitt unterm Kinn hat, den sich der alte Mr. 7c^-Hab-Nichts-Gesagt heute Morgen wahrscheinlich zugefügt hat, ohne es auch nur zu merken. Das ist süß, denkt Jonesy, und dann springt der Film, und hier haben wir einen alten Knacker in einem dunkelbraunen Mantel und mit einem Fedorahut auf - nennen wir das ältliche Sackgesicht den alten Mr. Was-Habe-Ich-Gemacht. Er läuft herum und stellt den Leuten diese Frage. Er sagt, er hätte einen Moment lang weggeschaut und dann einen Aufprall gespürt - was habe ich gemacht? Er sagt, eigentlich hätte er nie so einen großen Wagen haben wollen - was habe ich gemacht? Er sagt, er könne sich nicht an den Namen des Versicherungsunternehmens erinnern, nur dass sie gesagt hätten »bei uns sind Sie in guten Händen« - was habe ich gemacht? Er hat einen Fleck im Schritt seiner Hose, und während Jonesy da so auf der Straße liegt, kommt er nicht umhin, Mitleid mit dem alten Sack zu haben - und wünscht sich, er könnte zu ihm sagen: Wenn Sie wissen wollen, was Sie gemacht haben, dann schauen Sie sich mai Ihre Hose an. Sie haben sich eingemacht, das haben Sie.

Der Film springt wieder. Jetzt haben sich noch mehr Leute um ihn her eingefunden. Sie sehen sehr groß aus, und Jonesy kommt sich vor, als ob er bei einer Beerdigung den Blickwinkel aus dem Sarg hat. Das erinnert ihn an eine Geschichte von Ray Bradbury, Die Menge heißt sie, glaubt er, in der die Leute, die sich an Unfallschauplätzen einfinden -es sind immer dieselben Leute - durch das, was sie sagen, das Schicksal des Opfers bestimmen. Wenn sie um einen herumstehen und murmeln, es sei ja nicht so schlimm gewesen und man hätte noch Glück, dass das Auto im letzten Augenblick noch einen Schlenker gemacht hätte, dann kommt man durch. Wenn die Leute aber Sachen sagen wie Er sieht nicht gut aus oder Ich glaube nicht, dass er durchkommt, dann muss man sterben. Immer dieselben Leute. Immer dieselben ausdruckslosen, dabei eifrig interessierten Gesichter. Die Schaulustigen, die unbedingt Blut sehen und das Stöhnen der Verletzten hören wollen.

In der Menschenmenge um ihn her sieht Jonesy, gleich hinter dem alten Mr. Jc^-Habe-Nichts-Gesagt, Duddits Cavell, jetzt vollständig bekleidet und normal aussehend - also ohne Hundekackebart. McCarthy ist auch da. Nenn ihn den alten Mr. Siehe-ich-stehe-vor-der-Tür-und-klopfe-an, denkt

Jonesy. Und da ist noch jemand. Ein grauer Mann. Nur dass er kein Mann und kein Mensch ist; er ist der Außerirdische, der hinter ihm stand, als Jonesy mit der Badezimmertür beschäftigt war. Riesige schwarze Augen beherrschen ein Gesicht, das ansonsten kaum Gesichtszüge aufweist. Die schlaffe, durchhängende Elefantenhaut ist jetzt noch straffer; der alte Mr. ET-Nach-Hause-Telefonieren ist noch nicht dabei, den Umweltbedingungen zu erliegen. Das wird er aber. Letztlich wird ihn diese Welt auflösen wie Säure.

Ihr Kopf ist geplatzt, versucht Jonesy dem grauen Mann zu sagen, bekommt aber kein Wort heraus; nicht einmal sein Mund öffnet sich. Und doch scheint ihn der alte Mr. ET-Nach-Hause-Telefonieren zu hören, denn er neigt leicht den grauen Kopf.

Er wird ohnmächtig, sagt jemand, und ehe der Film erneut springt, hört er den alten Mr. Was-Habe-Ich-Gemacht, den Typ, der ihn angefahren und seine Hüfte zerschmettert hat wie einen Porzellanteller an einer Schießbude, zu jemandem sagen: Die Leute haben immer gesagt, ich sehe aus wie Lawrence Welk.

Er liegt bewusstlos in einem Krankenwagen, sieht sich aber selbst dabei zu, hat eine richtige außerkörperliche Erfahrung, und da ist noch etwas Neues, etwas, von dem ihn später niemand erzählt: Er bekommt Herzkammerflimmern,

während sie ihm die Hose aufschneiden und eine Hüfte frei-legen, die aussieht, als hätte jemand zwei große, unförmige Türknäufe darunter eingenäht. Herzkammerflimmern - er weiß ganz genau, was das ist, denn Carla und er verpassen keine Folge von Emergency Room, sie schauen sich sogar die Wiederholungen auf TNT an, und da sind die Kellen, und da ist die Schmiere, und einer der Rettungssanitäter trägt ein goldenes Kreuz an einer Halskette, und es streift Jonesys Nase, als sich der Mr. Rettungssanitäter über das beugt, was im Grunde eine Leiche ist, und: unfassbar! Er ist im Krankenwagen gestorben! Wieso hat ihm niemand je erzählt, dass er im Krankenwagen gestorben ist? Haben sie gemeint, das würde ihn nicht interessieren, da würde er eh nur sagen: Na ja, was soll's, kennen wir doch alles schon?

»Fertig!«, brüllt der erste Sani, und kurz vor dem Elektroschock dreht sich der Fahrer um, und Jonesy sieht, dass es Duddits' Mutter ist. Dann jagen sie Strom in ihn hinein, und sein Körper zuckt hoch, das ganze weiße Fleisch schlottert an den Knochen, wie Pete sagen würde, und obwohl der Jonesy, der zusieht, keinen Körper hat, spürt er doch den Strom, ein mächtiges Pow!, das noch die letzten Verästelungen seines Nervensystems erhellt wie eine Feuerwerksrakete. Gelobt sei der Herr! Und Halleluja!

Der Teil von ihm da auf der Bahre springt hoch wie ein Fisch, der aus dem Wasser gezerrt wird, und liegt dann wieder still. Der Sanitäter, der hinter Roberta Cavell kauert, schaut auf sein Kontrollpult und sagt: »Ah, nein, Mann, kein Puls, versuch's noch mal.« Und als der andere das macht, springt der Film wieder, und Jonesy befindet sich in einem Operationssaal.

Nein, Augenblick, so ganz stimmt das nicht. Ein Teil von ihm ist in dem OP, aber der Rest von ihm befindet sich hinter einer Glasscheibe und schaut hinein. Hier sind noch zwei Ärzte, die aber keinerlei Interesse an den Anstrengungen des Chirurgenteams zeigen, Jonesy-Dumpty wieder zusammenzuflicken. Sie spielen Karten. Über ihren Köpfen hängt der Traumfänger aus ihrer Hütte und dreht sich langsam im Luftstrom aus einem Heizungsgebläse.

Jonesy hat keine Lust zuzusehen, was da hinter der Glasscheibe vorgeht - er mag den blutigen Krater nicht sehen, der einmal seine Hüfte war, und auch nicht den zerschmetterten Knochen, der trüb schimmernd daraus hervorragt.

Obwohl er in seinem körperlosen Zustand keinen Magen hat, dem schlecht werden könnte, ist ihm speiübel.

Hinter ihm sagt einer der Karten spielenden Ärzte: Über Duddits haben wir uns definiert. Die Zeit mit ihm war unsere beste. Worauf der andere erwidert: Meinst du? Und da wird Jonesy klar, dass die Ärzte Henry und Pete sind.

Er dreht sich zu ihnen um, und jetzt ist er anscheinend überhaupt nicht mehr entkörpert, denn er erhascht auf dem Fenster zum Operationssaal einen Blick auf sein Spiegelbild. Er ist nicht mehr Jonesy. Er ist kein Mensch mehr. Seine Haut ist grau, und seine Augen sind schwarze Kolben, die aus einem nasenlosen Gesicht ragen. Er ist einer von denen geworden, einer der -

Einer der Grauen, denkt er. So nennen sie uns: die Grauen. Manche sagen auch Weltall-Nigger zu uns.

Er macht den Mund auf, um so etwas zu sagen oder vielleicht auch, um seine alten Freunde um Hilfe zu bitten - sie haben einander immer geholfen, wenn sie konnten —, aber da springt der Film wieder (Mist! Dieser Cutter! Säuft bei der Arbeit!), und er liegt in einem Bett, einem Krankenbett in einem Krankenhauszimmer, und jemand ruft: Wo ist Jonesy, ich will zu Jonesy.

Aha, denkt er kläglich erleichtert, wusste ich doch, dass es Jonesy hieß, nicht Marcy. Da ruft der Tod oder vielleicht der Tod, und ich muss jetzt ganz still sein, wenn ich ihm entgehen will, er hat mich in der Menge verfehlt, hat im Krankenwagen nach mir gegriffen und mich wieder verfehlt, und jetzt ist er hier im Krankenhaus und gibt sich als Patient aus.

Hört bitte auf, stöhnt der clevere alte Mr. Tod mit dieser grauenhaft tückischen, monotonen Stimme, ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Jonesy, ich will zu Jonesy.

Ich bleibe einfach hier Hegen, bis er auf hört, denkt Jonesy, ich kann sowieso nicht aufstehen, sie haben mir gerade ein Kilo Metall in die Hüfte eingesetzt, und es wird Tage, wenn nicht Wochen dauern, bis ich wieder aufstehen kann.

Doch zu seinem Entsetzen sieht er, dass er trotzdem aufsteht, dass er die Bettdecke beiseite schlägt und aus dem Bett steigt, und obwohl er spürt, wie die Nähte an seiner Hüfte und quer über seinen Bauch reißen und aufplatzen und sich das, was zweifellos Spenderblut ist, sein Bein hinab und auch in sein Schamhaar ergießt und es durchtränkt, geht er ohne zu humpeln durchs Zimmer, durch einen Streifen Sonnenlicht, was kurz einen durchaus menschlichen Schatten auf den Boden wirft (er ist jetzt kein Grauer, wenigstens dafür kann er dankbar sein, denn die Grauen sind erledigt), und zur Tür. Er schlendert ungesehen einen Flur entlang, vorbei an einer abgestellten Bahre mit einer Bettpfanne drauf, vorbei an zwei lachenden, schwatzenden Krankenschwestern, die sich Fotos angucken, und immer auf die monotone Stimme zu. Er ist machtlos, kann nicht stehen bleiben, und da sieht er ein, dass er in der Wolke ist. Nicht aber in der rotschwarzen Wolke, wie Pete und Henry meinten; die Wolke ist grau, und er schwebt darin mit, als einziges Teilchen dieser Wolke, das nicht von ihr beeinflusst wird, und Jonesy denkt: Ich bin es, wonach sie gesucht haben. Ich weiß nicht, wie das angeht, aber ich bin genau das, wonach sie gesucht haben. Denn ... die Wolke ändert mich nicht?

Ja, irgendwie so.

Er kommt an drei offen stehenden Türen vorbei. Die vierte ist geschlossen. Auf einem Schild steht: treten sie

EIN. KEINE ANSTECKUNGSGEFAHR. IL n'yA PAS D'INFECTION ICI.

Das ist gelogen, denkt Jonesy. Cruise oder Curtis oder wie er auch heißt, mag ja ein Wahnsinniger sein, aber in einem hat er doch Recht: Es besteht sehr wohl eine Ansteckungsgefahr.

Blut fließt ihm die Beine hinab, die untere Hälfte seines Johnny ist jetzt tief scharlachrot (jetzt fließt der Bordeaux aber so richtig, wie die Boxreporter früher immer sagten), aber er empfindet keinen Schmerz. Und er befürchtet auch keine Ansteckung. Er ist einmalig, und die Wolke kann ihn nur tragen, nicht beeinflussen. Er öffnet die Tür und geht hinein.

Ist er überrascht, als er den grauen Mann mit den großen schwarzen Augen in einem Krankenhausbett liegen sieht? Nicht im Mindesten. Als sich Jonesy in der Hütte umgedreht und diesen Typ entdeckt hat, der hinter ihm stand, war dem Kerl der Kopf geplatzt. Danach hätte wohl jeder ins Krankenhaus gemusst. Jetzt aber sieht sein Kopf unversehrt aus; die moderne Medizin ist schon was Wunderbares.

Das ganze Zimmer ist mit Pilzen überwuchert, ist überzogen mit rotgoldenen Wucherungen. Es wächst auf dem Boden, dem Fensterbrett, den Leisten der Jalousie; es dämpft das Licht der Deckenbeleuchtung und hat sich auf der Glukose-Flasche (Jonesy nimmt an, dass es Glukose ist) auf dem Nachttisch ausgebreitet; rötlich goldene Barte hängen vom Türknauf der Badezimmertür und der Kurbel am Fußende des Betts.

Als sich Jonesy dem grauen Ding nähert, das sich die Decke bis zur schmalen, unbehaarten Brust hochgezogen hat, sieht er, dass auf dem Nachttisch nur eine einzige Karte mit Genesungswünschen steht, gute Besserung!, steht da über einem Cartoon mit einer bedrückt schauenden Schildkröte mit einem Pflaster auf dem Panzer. Und unter dem Bild:

WÜNSCHEN DIR STEVEN SPIELBERG UND ALLE DEINE FREUNDE IN HOLLYWOOD.

Das ist ein Traum, ein Traum voller symbolischer Bilder und In-Jokes, denkt Jonesy, weiß es aber besser. Sein Hirn vermischt Dinge, püriert sie, damit sie einfacher zu schlucken sind, und so ist das mit Träumen; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind ineinander gequirlt, doch trotzdem weiß er, dass es ein Fehler wäre, das hier als bruch-stückhaftes Märchen aus seinem Unterbewusstsein abzutun. Denn einiges davon geschieht tatsächlich.

Die vorgewölbten schwarzen Augen beobachten ihn. Und jetzt bewegt sich die Bettdecke und wölbt sich neben dem grauen Ding. Darunter taucht das rötliche Wieselwesen auf, das den Biber erledigt hat. Es starrt ihn mit diesen glasigen schwarzen Augen an, während es sich mit seinem Schwanz auf das Kissen schlängelt und sich dort neben dem schmalen grauen Kopf zusammenrollt. Kein Wunder, dass sich McCarthy ein wenig unpässlich gefühlt hat, denkt Jonesy.

Blut läuft weiter Jonesys Bein hinab, klebrig wie Honig und so heiß wie Fieber. Es tropft auf den Boden, und man sollte meinen, dass daraus bald eine eigene Kolonie dieses rötlichen Pilzes oder Schimmels oder was es auch ist sprießt, ein richtiger Dschungel davon, aber Jonesy weiß es besser. Die Wolke kann ihn tragen, aber sie kann ihn nicht verändern.

Kein Prall, kein Spiel, denkt er, und dann, sofort: Schsch, behalt das für dich.

Das graue Wesen hebt die Hand zu einem kraftlosen, müden Gruß. Es hat drei lange Finger, die in rosarote Fingernägel auslaufen. Darunter sickert dickflüssiger, gelber Eiter hervor. Mehr davon schimmert lose in den Falten seiner Haut und seinen Augenwinkeln.

Du hast Recht, du brauchst eine Spritze, sagt Jonesy. Vielleicht ein wenig Abflussreiniger oder Lysol, irgendwas in der Richtung. Was dich so richtig gut aufmi-

Ein schrecklicher Gedanke kommt ihm in den Sinn; für einen Moment ist er so übermächtig, dass er der Kraft widerstehen kann, die ihn zum Bett zieht. Dann setzen sich seine Füße wieder in Bewegung und hinterlassen große rote Abdrücke.

Du wirst doch nicht mein Blut trinken, oder? Wie ein Vampir?

Das Ding da im Bett lächelt, ohne zu lächeln. Wir sind, soweit ich das in euren Begriffen ausdrücken kann, Vegetarier.

Ja, aber was ist mit Bowser da? Jonesy zeigt auf das beinlose Wiesel, und das bleckt einen Mundvoll Nadelzähne zu einem grotesken Grinsen. Ist Bowser auch Vegetarier;1

Du weißt, dass er keiner ist, sagt das graue Ding, ohne dabei seinen Schlitzmund zu bewegen - der Typ ist ein höllisch guter Bauchredner, das musste man ihm lassen; in den Catskills wäre er der Star. Und du weißt, dass du von ihm nichts zu befürchten hast.

Wieso? Inwiefern bin ich anders?

Das sterbende graue Ding (natürlich stirbt es, sein Körper versagt, verwest von innen heraus) antwortet nicht, und Jonesy denkt wieder: Kein Prall, kein Spiel. Er hat das Gefühl, dass der graue Kerl diesen einen Gedanken gerne lesen würde, aber nicht die Möglichkeit dazu hat. Die Fähigkeit, seine Gedanken abzuschirmen, ist noch etwas, das ihn anders, einmalig macht, und Vive la différence kann Jonesy da nur sagen (nicht dass er es tatsächlich sagt).

Inwiefern bin ich anders?

Wer ist Duddits?, fragt das graue Ding, und als Jonesy nicht antwortet, lächelt das Ding wieder, ohne den Mund zu bewegen. Siehst du, sagt das graue Ding. Wir haben beide Fragen, die der andere nicht beantwortet. Legen wir sie doch beiseite, ja? Umgedreht. Das sind ... Wie nennt ihr das? Wie sagt ihr dazu bei diesem Spiel?

Das Crib, sagt Jonesy. Jetzt kann er das Verwesen des Dings riechen. Es ist der gleiche Geruch, den McCarthy mit ins Camp gebracht hat, der Geruch von Äther-Spray. Er denkt wieder, dass er den O-Mann-oje-Schweinehund hätte abknallen sollen, ihn hätte abknallen sollen, bevor er dorthin gelangen konnte, wo es warm war. Beim Auskühlen der

Leiche wäre auch die Pilzkolonie darin dort unter dem Hochsitz auf dem alten Ahorn eingegangen.

Das Crib, ja, sagt das graue Ding. Der Traumfänger ist jetzt hier, hängt von der Decke und dreht sich langsam über dem Kopf des grauen Dings. Diese Dinge, von denen wir nicht wollen, dass der andere sie weiß, legen wir beiseite und zählen sie später. Wir legen sie auf das Crib.

Was willst du von mir?

Das graue Wesen sieht Jonesy unverwandt und ohne zu blinzeln an. Soweit Jonesy das beurteilen kann, kann es auch nicht blinzeln. Es hat weder Augenlider noch Wimpern.

Weder Augenlider noch Wimpern, sagt es, nur dass Jonesy jetzt Petes Stimme hört. Wer ist Duddits?

Und Jonesy ist so verblüfft, Petes Stimme zu hören, dass er es ihm, bei Gott, fast erzählt ... was natürlich die Absicht dabei war: ihn zu übertölpeln. Dieses Ding ist clever, ob es nun stirbt oder nicht. Er ist gut beraten, auf der Hut zu sein. Er sendet dem Grauen das Bild einer großen braunen Kuh mit einem Schild am Hals. Auf dem Schild steht: duddits, diekuh.

Wieder lächelt der Graue, ohne zu lächeln; er lächelt in Jonesys Kopf. Duddits, die Kuh, sagt er. Wohl kaum.

Woher kommst du?, fragt Jonesy.

Vom Planeten X. Wir kommen von einem sterbenden Planeten und wollen hier lecker Pizza essen, zu günstigen Kreditbedingungen einkaufen und auf der Berlitz School ganz einfach Italienisch lernen. Diesmal ist es Henrys Stimme. Dann kehrt Mr. ET-Nach-Hause-Telefonieren zu seiner eigenen Stimme zurück ... nur dass Jonesy nun matt feststellt, dass seine Stimme nun seine Stimme ist: Jonesys Stimme. Und er weiß, was Henry sagen würde: dass er nach Bibers Tod eine mörderische Halluzination durchmacht.

Nein, das würde er nicht mehr sagen, denkt Jonesy. Nicht wehr. Jetzt ist er der Eiermann, und der Eiermann weiß es besser.

Henry? Der ist sowieso bald tot, sagt der Graue gleichmütig. Seine Hand stiehlt sich unter der Tagesdecke hervor. Die drei langen Finger umschlingen Jonesys Hand. Seine Haut ist warm und trocken.

Was soll das heißen?, fragt Jonesy, um Henry besorgt ... aber das sterbende Ding im Bett antwortet nicht. Das ist eine weitere Karte für das Crib, also spielt auch Jonesy noch eine Karte aus: Wieso hast du mich hergerufen?

Das graue Wesen tut erstaunt, aber sein Gesicht regt sich immer noch nicht. Niemand stirbt gern allein, sagt es. Ich möchte nur jemanden bei mir haben. Wir werden Fernsehen schaun.

Ich will nicht -

Da kommt ein Film, den ich gern sehen würde. Der wird dir auch gefallen. Er heißt Mitgefühl mit den Grauen. Bow-ser! Die Fernbedienung!

Bowser gewährt Jonesy einen besonders bösartigen Blick und gleitet dann vom Kopfkissen, wobei sein sich windender Schwanz ein trockenes Rasseln erzeugt, wie bei einer Schlange, die über einen Felsen kriecht. Auf dem Tisch liegt eine Fernbedienung für den Fernseher. Auch sie ist mit Pilz überwuchert. Bowser packt sie mit den Zähnen, macht kehrt und bringt sie dem Grauen. Der Graue lässt Jonesys Hand los (seine Berührung ist nicht widerwärtig, aber es ist doch eine Erleichterung, als er loslässt), nimmt die Fernbedienung, richtet sie auf den Fernseher und schaltet ihn ein. Das Bild, das erscheint - etwas verschwommen, aber nicht unkenntlich durch den leichten Flaum, der auf dem Glas wächst -zeigt den Schuppen hinter der Hütte. In der Mitte der Mattscheibe sieht man etwas, das unter einer grünen Plane verborgen ist. Und noch ehe die Tür aufgeht und er sich selbst hereinkommen sieht, versteht Jonesy, dass das hier bereits passiert ist. Der Star von Mitgefühl mit den Grauen ist Gary Jones.

Tja, sagt das sterbende Wesen da im Bett von seiner gemüt-

liehen Stelle mitten in Jonesys Hirn aus, den Vorspann haben wir verpasst, aber der film fängt wirklich gerade erst an.

Genau das befürchtet Jonesy.

5

Die Schuppentür geht auf, und Jonesy kommt herein. Ziemlich kunterbunt bekleidet, mit seinem Mantel, Bibers Handschuhen und einer alten orangefarbenen Mütze von Lamar. Für einen Moment denkt der Jonesy, der sich das im Krankenhauszimmer ansieht (er hat sich den Besucherstuhl herangezogen und sitzt neben Mr. Grays Bett), dass sich der Jonesy da im Schneemobilschuppen ihrer Hütte doch irgendwie angesteckt hätte und rotes Moos auf ihm wachsen würde. Dann fällt ihm wieder ein, dass Mr. Gray genau vor ihm geplatzt ist - sein Kopf zumindest - und dass er jetzt seine Überreste an sich trägt.

Nur dass du gar nicht geplatzt bist, sagt er. Du bist... tja, was bist du? Hast du dich fortgepflanzt?

Pschti, sagt Mr. Gray, und Bowser bleckt seinen ganzen Kopf voller Zähne, wie um Jonesy aufzufordern, nicht so unhöflich zu sein. Ich mag diesen Song. Du nicht auch?

Im Hintergrund läuft Sympathy for the Devil von den Rolling Stones, sehr passend, da der Titel des Films so ähnlich lautet (mein Film-Debüt, denkt Jonesy, wenn Carla und die Kinder das sehen], aber Jonesy mag den Song nicht, er macht ihn aus irgendeinem Grund traurig.

Wie kannst du das mögen?, fragt er und beachtet Bowsers gebleckte Zähne nicht - Bowser stellt für ihn keine Gefahr dar, das wissen sie beide. Wie kannst du? Genau das haben sie doch gespielt, als sie euch abgeschlachtet haben.

Sie schlachten uns jedes Mal ab, sagt Mr. Gray. Und jetzt sei still und schau dir den Film an. Dieser Teil ist noch etwas , aber es wird noch viel besser.

Jonesy faltet die Hände auf seinem roten Schoß - anscheinend hat er endlich aufgehört zu bluten - und schaut sich Mitgefühl mit den Grauen an, mit dem unvergleichlichen Gary Jones in der Hauptrolle.

Der unvergleichliche Gary Jones zieht die Plane vom Schneemobil herunter, findet die Batterie in einem Karton auf der Werkbank und setzt sie ein, wobei er darauf achtet, die Kabel an die richtigen Anschlüsse zu klemmen. Damit wären seine handwerklichen Kenntnisse dann auch weit gehend erschöpft -schließlich ist er Geschichtslehrer und nicht Mechaniker, und wenn er bei sich zu Hause mal etwas ausbessert, dann höchstens insofern, als er die Kinder hin und wieder dazu bringt, History Cbannel statt Xena zu gucken. Der Schlüssel steckt, und die Instrumentenbeleuchtung springt an, als er ihn umdreht - hat er die Batterie also richtig angeschlossen -, aber der Motor startet nicht. Gibt keinen Mucks von sich. Der Anlasser rasselt ein wenig, und das war's.

»Oje o Mann sein Geschäft machen lassen«, sagt er, spricht alles zusammen mit monotoner Stimme. Er glaubt nicht, dass er jetzt groß Gefühle ausdrücken könnte, selbst wenn er wirklich wollte. Er ist Horrorfilm-Fan, hat Invasion ofthe Body Snatchers zwei Dutzend Mal gesehen (hat sogar die verpfuschte Neuverfilmung mit Donald Sutherland gesehen), und er weiß, was hier vor sich geht. Sein Körper ist entführt worden, einfach so und ganz und gar entführt worden. Es wird aber keine ganze Armee von Zombies geben, nicht mal eine ganze Stadt voll. Er ist einmalig. Er ahnt, dass Pete, Henry und der Biber ebenfalls einmalig sind (einmalig waren, was Biber angeht), aber er ist der Einmaligste von ihnen. So etwas kann man eigentlich nicht sagen, einmalig ist nicht zu steigern, aber dies ist einer der seltenen Fälle, in denen diese Regel nicht zutrifft. Pete und Biber waren einmalig, Henry ist noch einmaliger, und er, Jonesy, ist der Einmaligste. Er spielt ja sogar die Hauptrolle in seinem eigenen Film! Wie einmalig ist das denn jetzt, wie sein ältester Sohn sagen würde.

Der Graue im Krankenhausbett schaut vom Fernseher, wo Jonesy I auf dem Arctic Cat sitzt, zu dem Stuhl hinüber, auf dem Jonesy II nur auf seinem blutigen Johnny sitzt.

Was verbirgst du vor mir?, fragt Mr. Gray.

Nichts.

Wieso siehst du immer wieder eine Ziegelsteinmauer? Was ist Neunzehn noch, außer einer Primzahl? Wer hat »Scheiß auf die Tigers« gesagt? Was bedeutet das? Was ist diese Ziegelsteinmauer? Wann ist diese Ziegelsteinmauer? Was bedeutet das? Warum siehst du sie immer wieder?

Er kann spüren, wie Mr. Gray an seinem Gedächtnis herumhebelt, aber vorläufig ist dieser Kern sicher. Er kann getragen werden, aber nicht verändert. Und anscheinend auch nicht ganz geöffnet. Zumindest noch nicht.

Jonesy hält sich den Zeigefinger vor die Lippen und wiederholt die Worte des Grauen: Sei still und schau dir den Film an.

Er betrachtet ihn mit seinen vorgewölbten schwarzen Augen (sie sind insektenartig, denkt Jonesy, die Augen einer Gottesanbeterin), und Jonesy spürt ihn noch etwas weiter an seinem Gedächtnis hebeln. Dann verschwindet das Gefühl. Es eilt nicht; früher oder später wird er die Hülle um diesen letzten Kern des reinen, noch nicht überwältigten Jonesys auflösen, und dann wird er alles erfahren, was er wissen will.

Einstweilen schauen sie den Film. Und als Bowser Jonesy auf den Schoß kriecht - Bowser mit den scharfen Zähnen und dem Frostschutzmittelgestank -, bemerkt Jonesy das kaum.

Jonesy I, der Schuppen-Jonesy (der jetzt eigentlich Mr. Gray ist) geht auf Gedankenfang. Es gibt viele Gedankenströme, auf die er zugreifen kann, sie überlagern einander wie nächtliche Funksignale, und er findet ganz einfach ein Hirn, das die Informationen enthält, die er braucht. Das ist, als würde man an einem Computer eine Datei öffnen und statt eines Textes einen sehr detaillierten 3-D-Film vorfinden.

Mr. Grays Quelle ist Emil »Dawg« Brodsky aus Menlo Park, New Jersey. Brodsky ist Technical Sergeant bei der Army, einer von der Instandsetzungstruppe. Nur dass Technical Sergeant Brodsky hier, als Angehöriger von Kurtz' taktischer Eingreiftruppe, keinen Dienstgrad hat. Das hat hier niemand. Seine Vorgesetzten ruft er »Boss« und seine Untergebenen (und das sind bei diesem Grillfest eine ganze Menge) »Hey Sie«.

Düsenjäger überfliegen das Gebiet, aber nicht viele (sie werden alle Bilder, die sie brauchen, aus einer niedrigen Erdumlaufbahn bekommen, sobald sich die Wolken erst einmal verziehen), und mit denen hat Brodsky sowieso nichts zu tun. Die Jäger steigen von der Basis der Air National Guard in Bangor auf, und er ist hier in Jefferson Tract. Brodskys Job sind die Hubschrauber und die LKWs ihres ständig wachsenden Fuhrparks (seit zwölf Uhr mittags sind in diesem Teil von Maine sämtliche Straßen gesperrt, und es dürfen dort nur noch die olivgrünen LKWs mit verdeckten Insignien verkehren). Außerdem ist er dafür zuständig, mindestens vier Generatoren zu installieren, die dem Lager Strom liefern sollen, das rund um Gosselin's Market aufgeschlagen wird. Und Strom brauchen auch die Bewegungsmelder, die Laternen, die Scheinwerfer an der Umzäunung und der behelfsmäßige Operationssaal, der in aller Eile in einem Windstar-Wohnmobil eingerichtet wird.

Kurtz hat betont, dass ihm das Licht sehr wichtig sei - es soll hier die ganze Nacht lang taghell erleuchtet sein. Die meisten Laternen werden rund um den Stall und hinten um das aufgebaut, was früher ein Pferch und eine Koppel war. Auf der Wiese, auf der früher die vierzig Milchkühe der alten Reggie Gosselin weideten, sind zwei Zelte aufgebaut worden. Das größere hat ein Schild auf dem grünen Dach: Intendantur. Das andere Zelt ist weiß und nicht bezeichnet. Es stehen keine Kerosinöfen darin wie in dem größeren Zelt, und es werden auch keine benötigt. Das ist die behelfsmäßige Leichenhalle, so viel versteht Jonesy. Bisher liegen dort lediglich drei Leichname (darunter ein Banker, der versucht hat wegzulaufen, so ein Dummkopf), aber bald könnten es viele mehr sein. Es sei denn, es käme zu einem Zwischenfall, der die Bergung der Leichen erschweren oder unmöglich machen würde. Und Kurtz, dem Boss, käme ein solcher Zwischenfall sehr gelegen.

Aber das nur am Rande. Jonesy I hat jetzt mit Emil Brodsky aus Menlo Park zu tun.

Brodsky hastet über den verschneiten, schlammigen, aufgewühlten Boden zwischen dem Helikopterlandeplatz und der Koppel, auf der die Ripley-Positiven untergebracht sind (es sind schon eine ganze Menge da, und sie wandern mit dem verdatterten Gesichtsausdruck umher, den eben erst Inhaftierte überall auf der Welt haben, rufen den Wachen zu, bitten um Zigaretten und Informationen und stoßen leere Drohungen aus). Emil Brodsky ist ein gedrungener Mann mit Bürstenhaarschnitt, einem Bulldoggengesicht, das wie geschaffen aussieht für billige Zigarren (aber Jonesy weiß, dass Brodsky ein frommer Katholik ist, der nie im Leben geraucht hat). Im Moment ist er ungefähr so beschäftigt wie ein einarmiger Tapezierer. Er hat einen Kopfhörer auf, und ein Mikro hängt ihm vor den Lippen. Er steht in Funkkontakt mit dem Treibstoffnachschubkonvoi, der auf dem Interstate Highway 95 unterwegs ist - der ist von entscheidender Bedeutung, denn die im Einsatz befindlichen Hubschrauber müssen bei ihrer Rückkehr betankt werden -, spricht aber auch mit Cambry, der neben ihm hergeht, über das Kontroll-und Überwachungszentrum, das Kurtz bis 21 Uhr, allerspä-testens bis Mitternacht aufgebaut sehen will. Dieser Einsatz W1rd in spätestens achtundvierzig Stunden vorbei sein, heißt es jedenfalls, aber woher will man das schon wissen? Angeblich ist ihr Hauptziel, Blue Boy, bereits ausgeschaltet, aber Brodsky sieht nicht, wieso sich da irgendjemand sicher sein könnte, denn die großen Kampfhubschrauber sind noch nicht zurück. Und im Grunde ist ihre Aufgabe ja auch ganz simpel: den ganzen Laden bis Stufe elf aufdrehen und dann die Knöpfe abbrechen.

Und du meine Güte, mit einem Mal gibt es jetzt drei Jonesys: einer, der in dem mit Pilzen überwucherten Krankenhauszimmer sitzt und Fernsehen guckt, einer im Schneemobilschuppen ... und Jonesy III, der plötzlich in Emil Brodskys kurz geschorenem katholischen Kopf auftaucht. Brodsky bleibt stehen und schaut einfach nur zum weißen Himmel hoch.

Cambry geht allein noch drei, vier Schritte weiter, ehe er merkt, dass Dawg unvermittelt stehen geblieben ist und dort einfach nur so mitten auf der schlammigen Kuhweide steht. Inmitten des ganzen geschäftigen Treibens - umherlaufende Männer, einschwebende Hubschrauber, aufheulende Motoren -steht er da wie ein Roboter, dessen Batterie alle ist.

»Boss?«, sagt Cambry. »Alles klar?«

Brodsky antwortet nicht ... zumindest antwortet er Cambry nicht. Zu Jonesy I - dem Schuppen-Jonesy - sagt er: Machen Sie die Motorhaube auf, und zeigen Sie mir die Zündkerzen.

Jonesy weiß erst nicht, wo der Riegel ist, mit dem sich die Motorhaube öffnen lässt, aber Brodsky leitet ihn an. Dann beugt sich Jonesy über den kleinen Motor, schaut nicht selber, sondern verwandelt seine Augen in ein Paar hoch auflösender Kameras und sendet die Bilder an Brodsky.

»Boss?«, fragt Cambry zusehends besorgt. »Boss, was ist? Was ist denn?«

»Nichts«, sagt Brodsky langsam und deutlich. Er hängt sich den Kopfhörer um den Hals; das Geplapper daraus lenkt ihn ab. »Lassen Sie mich nur kurz mal nachdenken.«

Und zu Jonesy: Irgendwer hat die Zündkerzen rausgenommen. Schauen Sie sich mai um ...ja, da sind sie. Da an der Tischkante.

Am Rand der Werkbank steht ein halb mit Benzin gefülltes Majonäseglas. Der Deckel hat zwei Lüftungslöcher, hineingestoßen mit der Spitze eines Schraubendrehers, damit sich keine Gase darin sammeln. Darin eingelegt wie Ausstellungsstücke in Formaldehyd, befinden sich zwei Champion-Zündkerzen.

Laut sagt Brodsky: »Gut abtrocknen«, und als Cambry fragt: »Was gut abtrocknen?«, befiehlt ihm Brodsky geistesabwesend, doch mal still zu sein.

Jonesy angelt die Zündkerzen heraus, trocknet sie ab und setzt sie dann nach Brodskys Anleitung ein. Versuchen Sie's jetzt mal, sagt Brodsky, diesmal ohne die Lippen zu bewegen, und das Schneemobil springt aufdröhnend an. Schaun Sie auch mal nach dem Benzin.

Jonesy macht es und bedankt sich.

»Gern geschehn, Boss«, sagt Brodsky und geht flott weiter. Cambry muss ein wenig traben, um ihn einzuholen. Er bemerkt Dawgs leicht verblüfften Gesichtsausdruck, als er entdeckt, dass ihm der Kopfhörer jetzt um den Hals hängt. »Was zum Henker war das denn?«, fragt Cambry.

»Nichts«, sagt Brodsky, aber da war durchaus etwas; da war ganz bestimmt etwas. Sprechen. Ein Gespräch. Eine ... Beratung? Ja, genau. Er weiß bloß nicht mehr, worum es genau ging. Sehr wohl aber kann er sich an die Einsatzbesprechung erinnern, die sie heute Morgen hatten, vor Sonnenaufgang, als es losging. Eine der Weisungen, direkt von Kurtz, hatte gelautet, alle ungewöhnlichen Vorkommnisse zu melden. War das ungewöhnlich gewesen? Was war es denn eigentlich gewesen?

»Ich hatte wohl einen Hirnkrampf«, sagt Brodsky. »Zu V1el zu tun und zu wenig Zeit. Kommen Sie, Junge, nicht Zurückbleiben.«

Cambry hält Schritt. Brodsky widmet seine Aufmerksamkeit wieder hier dem Konvoi und da Cambry, erinnert sich aber an noch etwas anderes, an ein drittes Gespräch, das jetzt beendet ist. Ungewöhnlich oder nicht? Eher nicht, entscheidet Brodsky. Ganz bestimmt nichts, worüber er mit diesem inkompetenten Scheißkerl Perlmutter sprechen könnte. Was Pearly angeht: Wenn der etwas nicht auf seinem stets präsenten Klemmbrett hat, dann gibt es das auch nicht. Kurtz? Nie im Leben. Er respektiert den alten Bussard, fürchtet ihn aber noch mehr. So geht es allen. Kurtz ist klug, Kurtz ist tapfer, aber Kurtz ist auch absolut durchgeknallt. Brodsky mag nicht einmal dort gehen, wo Kurtz' Schatten schon den Boden gestreift hat.

Underhill? Kann er mit Owen Underhill reden?

Vielleicht ... aber vielleicht auch nicht. So eine Sache konnte einen in Teufels Küche bringen, ohne dass man es überhaupt mitbekam. Er hat da ein, zwei Minuten lang Stimmen gehört - eine Stimme -, aber jetzt fehlt ihm nichts.

Bei der Hütte brettert Jonesy aus dem Schuppen und auf die Deep Cut Road. Er spürt Henry, als er an ihm vorbeifährt - Henry, der sich hinter einem Baum versteckt und ins Moos beißt, um sich vom Schreien abzuhalten -, kann der Wolke aber, die diesen letzten Kern seines Bewusstseins umgibt, verhehlen, was er weiß. Es ist mit einiger Sicherheit das letzte Mal, dass er seinem alten Freund nahe war, denn er wird es nicht schaffen, diesen Wald lebend zu verlassen.

Jonesy hätte sich gern von ihm verabschiedet.

Ich weiß zwar nicht, wer diesen Film gemacht hat, sagt Jonesy, aber ich glaube nicht, dass es sich für die lohnt, ihre Smokings für die Oscar-Verleihung auf bügeln zu lassen. Im Grunde -

Er schaut sich um und sieht nur schneebedeckte Bäume. Schaut wieder nach vorn und sieht nur die Deep Cut Road, die sich vor ihm abspult, und das Schneemobil, das zwischen seinen Oberschenkeln vibriert. Da war nie ein Krankenhaus, nie ein Mr. Gray. Das war alles ein Traum.

War es nicht. Und da ist durchaus ein Zimmer. Aber kein Krankenhauszimmer. Kein Bett, kein Fernseher, kein Infusionsständer. Es gibt eigentlich überhaupt nicht sehr viel darin; nur ein schwarzes Brett, an dem zwei Dinge festgesteckt sind: eine Landkarte des nördlichen Neuengland, auf der bestimmte Routen verzeichnet sind - die Routen der Gebrüder Tracker -und das Polaroidfoto eines Mädchens, das seinen Rock hebt und einen goldfarbenen Muff herzeigt. Er schaut von dem Fenster aus auf die Deep Cut Road. Es ist, da ist sich Jonesy ziemlich sicher, das Fenster des Krankenhauszimmers. Aber dieses Krankenhauszimmer taugte nichts. Er musste da raus, denn -

Das Krankenhauszimmer war nicht sicher, denkt Jonesy ... als wäre das hier sicher, als wäre er irgendwo sicher. Und doch ... ist es hier ... vielleicht ... sicherer. Das hier ist seine letzte Zuflucht, und er hat es geschmückt mit dem Bild, das sie damals alle zu sehen hofften, als sie 1978 diese Auffahrt hochgingen. Tina Jean Sloppinger oder wie sie noch hieß.

Manches von dem, was ich gesehen habe, war real... waren tatsächliche, wiedergewonnene Erinnerungen, wie Henry sagen würde. Ich glaube, ich habe Duddits an diesem Tag wirklich gesehen. Deshalb bin ich auf die Straße gerannt, ohne mich umzusehn. Und was Mr. Gray angeht... Der bin ich jetzt. Nicht wahr? Bis auf den Teil von mir in diesem staubigen, leeren, uninteressanten Raum mit den benutzten Gummis auf dem Boden und dem Bild eines Mädchens am schwarzen Brett, bin ich ganz Mr. Gray. Ist es nicht so?

Keine Antwort. Und mehr will er eigentlich auch nicht hören.

Aber wie ist das passiert? Wie bin ich hierher gekommen? Und wieso bin ich hier? Was soll das?

Immer noch keine Antworten, und auf diese Fragen weiß er selbst auch keine. Er ist nur froh, einen Ort zu haben, an dem er immer noch er selbst sein kann, und bestürzt darüber, wie einfach sein übriges Leben entführt wurde. Und wieder wünscht er sich mit bitterer Ernsthaftigkeit, er hätte McCarthy erschossen.

8

Eine mächtige Explosion zerriss den Tag, und obwohl sie sich meilenweit entfernt ereignet haben musste, war sie doch so stark, dass noch hier der Schnee von den Ästen rutschte. Die Gestalt auf dem Schneemobil sah sich nicht einmal um. Es war das Schiff. Die Soldaten hatten es in die Luft gejagt. Die Byrum waren fort.

Einige Minuten später kam rechts der eingestürzte Unterstand in Sicht. Davor im Schnee, mit einem Stiefel immer noch unter dem Wellblechdach, lag Pete. Er sah tot aus, war es aber nicht. Sich tot zu stellen hätte nichts gebracht; nicht bei diesem Spiel; er konnte Pete denken hören. Und als er auf dem Schneemobil vorfuhr und den Gang herausnahm, hob Pete den Kopf und zeigte bei einem humorlosen Grinsen seine verbliebenen Zähne. Sein linker Parka-Ärmel war geschwärzt und angesengt. An seiner rechten Hand war offenbar nur noch ein funktionstüchtiger Finger übrig. Seine gesamte sichtbare Haut war mit Byrus übertupft.

»Du bist nicht Jonesy«, sagte Pete. »Was hast du mit Jonesy gemacht?«

»Steig auf, Pete«, sagte Mr. Gray.

»Ich will nicht mit dir fahren.« Pete hob die rechte Hand -die zerfetzten Finger, die rotgoldnen Byrusklumpen - und

wischte sich damit über die Stirn. »Verpiss dich. Kratz die Kurve.«

Mr. Gray senkte den Kopf, der einst Jonesy gehört hatte (Jonesy sah dem Ganzen vom Fenster seines Schlupfwinkels im verwaisten Lagerhaus der Gebrüder Tracker aus zu, unfähig zu helfen oder irgendwie einzugreifen), und starrte Pete an. Pete fing an zu schreien, als sich der Byrus, der auf seinem ganzen Körper wuchs, zusammenzog und sich die Wurzeln dieses Zeugs in seine Muskeln und Nerven gruben. Der Stiefel, der unter dem eingestürzten Wellblechdach eingeklemmt war, kam frei, und Pete krampfte sich, immer noch schreiend, in embryonaler Haltung zusammen. Frisches Blut ergoss sich aus seinem Mund und seiner Nase. Als er wieder aufschrie, platzten ihm zwei weitere Zähne aus dem Mund. »Steig auf, Pete.«

Weinend und sich die übel zugerichtete rechte Hand vor die Brust haltend, versuchte Pete aufzustehen. Der erste Versuch misslang; er kippte wieder in den Schnee. Mr. Gray sagte nichts dazu, saß einfach nur auf dem im Leerlauf laufenden Schneemobil und sah zu.

Jonesy spürte Petes Schmerz und Verzweiflung und jämmerliche Angst. Die Angst war bei weitem das Schlimmste, und er beschloss, ein Risiko einzugehen.

Pete.

Nur ein Flüstern, aber Pete hörte es. Er sah hoch, sein Gesicht abgehärmt und mit Pilz überzogen - das, was Mr. Gray Byrus nannte. Als sich Pete die Lippen leckte, sah Jonesy, dass er ihm auch auf der Zunge wuchs. Eine Pilzkrankheit aus den Tiefen des Alls. Pete Moore hatte einmal Astronaut werden wollen. Er hatte sich einmal für e'nen, der kleiner und schwächer war, gegen ein paar größere Jungs zur Wehr gesetzt. Das hier hatte er nicht verdient.

Kein Prall, kein Spiel.ete lächelte fast. Es war gleichwohl schön wie herzzerrei-

ßend. Jetzt schaffte er es aufzustehen, und er trottete langsam auf das Schneemobil zu.

In dem verwaisten Büro, in das er verbannt war, sah Jonesy, wie der Türknauf hin und her gedreht wurde. Was soll das bedeuten?, fragte Mr. Gray. Was ist kein Prall, kein Spiel? Was machst du da drin? Komm wieder mit ins Krankenhaus und schau mit mir fern. Wie bist du da überhaupt reingekommen?

Jetzt war es an Jonesy, nicht zu antworten, und er tat es mit großem Vergnügen.

Ich komme da rein, sagte Mr. Gray. Wenn ich so weit bin, komme ich da rein. Du bildest dir vielleicht ein, du könntest vor mir die Tür verriegeln, aber da täuschst du dich.

Jonesy verhielt sich still - es nützte nichts, das Wesen zu provozieren, das zurzeit über seinen Körper herrschte - und glaubte nicht, dass er sich täuschte. Andererseits wagte er nicht, das Zimmer zu verlassen; wenn er das versuchte, würde er assimiliert werden. Er war nur ein Kern in dieser Wolke, ein unverdauter Happen in den Eingeweiden eines Außerirdischen.

Er hielt sich am besten bedeckt.

9

Pete stieg hinter Mr. Gray auf und legte die Arme um Jonesys Taille. Zehn Minuten später fuhren sie an dem umgestürzten Scout vorbei, und da verstand Jonesy, warum Henry und Pete nicht vom Einkäufen wiedergekommen waren. Es war ein Wunder, dass sie das überhaupt überlebt hatten. Er hätte sich das gern näher angesehen, aber Mr. Gray bremste nicht ab und fuhr einfach weiter, und die Kufen des Schneemobils glitten ruckelnd über den Mittelstreifen zwischen den beiden zugeschneiten Fahrrinnen.

Gut drei Meilen hinter dem Scout kamen sie auf eine Anhöhe, und da sah Jonesy eine strahlend helle, gelbweiße Lichtkugel keine dreißig Zentimeter über der Straße schweben und auf sie warten. Sie sah so heiß aus wie die Flamme eines Schweißgeräts, war es aber offenbar nicht; der Schnee darunter war nicht geschmolzen. Das war bestimmt eines der Lichter, die der Biber und er durch die Wolken hatten huschen sehen, über den fliehenden Tieren, die aus der Schlucht heraufgekommen waren.

Das stimmt, sagte Mr. Gray. Was bei euch Leuchtfeuer genannt wird. Das ist eins der letzten. Vielleicht das allerletzte.

Jonesy sagte nichts, schaute nur unverwandt aus dem Fenster seiner Büro-Zelle. Er spürte Petes Arme an seiner Taille, die sich jetzt eigentlich nur noch instinktiv festhielten, so wie sich ein fast erledigter Boxer an seinen Gegner klammert, um nicht zu Boden zu gehen. Der Kopf, der an seinem Rücken lehnte, war schwer wie ein Stein. Pete war jetzt ein Nährboden für den Byrus, und der Byrus fühlte sich bei ihm wohl; die Welt war kalt, und Pete war warm. Mr. Gray hatte anscheinend irgendwas mit ihm vor - doch Jonesy wusste nicht was.

Das Leuchtfeuer führte sie noch gut eine halbe Meile weiter die Straße entlang und bog dann in den Wald ab. Es schlüpfte zwischen zwei großen Kiefern hindurch und wartete dann dort auf sie, knapp über dem Schnee kreisend. Jonesy hörte, wie Mr. Gray Pete anwies, sich gut festzuhalten.

Das Arctic Cat holperte und brummte einen kleinen Hang hinauf, die Kufen vergruben sich im Schnee, drückten ihn dann beiseite. Sobald sie unter dem Baldachin aus Baumkronen waren, lag kaum noch Schnee, an manchen Stellen gar keiner. Dort ratterte die Kette des Schneemobils lautstark über den gefrorenen Boden, der fast nur aus Fels und einer dünnen Erd- und Nadelschicht bestand. Sie fuhren jetzt nach Norden.

Zehn Minuten später schlugen sie hart auf einem Granitblock auf, und Pete fiel mit einem leisen Schrei vom Rücksitz. Mr. Gray nahm wieder den Gang raus. Das Leuchtfeuer hielt ebenfalls und kreiste über dem Schnee auf der Stelle. Jonesy fand, dass es matter aussah.

»Steig auf«, sagte Mr. Gray. Er hatte sich auf dem Sitz umgedreht und sah sich zu Pete um.

»Ich kann nicht«, sagte Pete. »Ich bin erledigt, Mann. Ich -«

Dann fing Pete wieder an zu heulen und um sich zu schlagen und zu treten, und seine Hände - die eine versengt, die andere zerfleischt - zuckten.

Hör auf!, schrie Jonesy. Du bringst ihn um!

Mr. Gray beachtete ihn nicht und sah nur mit tödlicher, gefühlloser Geduld zu, wie der Byrus sich spannte und an Petes Fleisch zerrte. Schließlich spürte Jonesy Mr. Gray nachgeben. Pete stand benommen auf. Er hatte eine frisch Schürfwunde auf der Wange, und darin wimmelte es bereits von Byrus. Seine Augen blickten benommen und erschöpft und schwammen in Tränen. Er stieg zurück auf das Schneemobil und legte wieder die Arme um Jonesys Taille.

Halt dich an meinem Mantel fest, flüsterte Jonesy, und als sich Mr. Gray vorbeugte und wieder einen Gang einlegte, spürte er, wie Pete zupackte. Kein Prall, kein Spiel, klar?

Kein Spiel, pflichtete Pete, sehr matt, bei.

Diesmal achtete Mr. Gray nicht darauf. Das Leuchtfeuer, das nicht mehr so hell, aber immer noch flink war, brach wieder nach Norden auf ... oder zumindest in eine Richtung, die Jonesy wie Norden vorkam. Als sich das Schneemobil dann zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, durch dichtes Gestrüpp und an Felsbrocken vorbei, ließ ihn sein Orientierungssinn irgendwann im Stich. Hinter ihnen ertönte stetes Maschinengewehrrattern. Es hörte sich nach einem fürchterlichen Gemetzel an.

Gut eine Stunde später erfuhr Jonesy endlich, weshalb sich Mr. Gray mit Pete aufgehalten hatte. Das war, als das Leuchtfeuer, das zuletzt nur noch ein blasser Schatten seiner selbst war, endlich erlosch. Es löste sich mit einem Knall auf, der sich anhörte, als hätte jemand eine Papiertüte platzen lassen. Einige letzte Bruchstücke fielen zu Boden.

Sie befanden sich auf einem baumgesäumten Hügelkamm mitten im Nirgendwo. Vor ihnen erstreckte sich ein verschneites, bewaldetes Tal; dahinter erhoben sich erodierte Hügel mit dichtem Gestrüpp, aus dem kein einziges Eicht zu sehen war. Und zur Krönung des Ganzen ging nun auch noch die Sonne unter.

Na, da hast du uns ja wieder mal einen schönen Schlamassel eingebrockt, dachte Jonesy, konnte bei Mr. Gray aber keine Verärgerung bemerken. Mr. Gray hielt mit dem Schneemobil an, nahm den Gang raus und saß dann einfach reglos da.

Norden, sagte Mr. Gray. Aber nicht zu Jonesy.

Pete antwortete laut, mit müder, lahmer Stimme: »Woher soll ich das wissen? Ich kann nicht mal sehn, wo die Sonne untergeht! Eins meiner Augen ist im Arsch!«

Mr. Gray drehte Jonesys Kopf um, und Jonesy sah, dass Pete das linke Auge verloren hatte. Das Eid war nach oben gezogen, was zu einem töricht überraschten Gesichtsausdruck führte, und aus der Augenhöhle wuchs ein kleiner By-rus-Dschungel. Die längsten Fäden hingen heraus und strichen Pete über die bartstoppelige Wange. Weitere Fäden rankten sich in satt rotgoldenen Strähnen durch sein schütteres Haar.

Du weißt es.

»Vielleicht schon«, sagte Pete. »Und vielleicht will ich dir nicht sagen, wo es langgeht.«

Und wieso nicht?

»Weil ich bezweifle, dass es uns gut bekommt, was du vorhast, du Arschgesicht«, sagte Pete, und Jonesy verspürte einen absurden Stolz.

Jonesy sah das Gewächs in Petes Augenhöhle zucken. Pete schrie und hielt sich das Gesicht. Für einen kurzen, trotzdem viel zu langen Moment stellte sich Jonesy bildlich vor, wie sich die rotgoldenen Tentakeln von der Augenhöhle in Petes Hirn vorgruben, wo sie sich wie kräftige Finger um einen grauen Schwamm schlössen.

Mach schon, Pete, sag's ihm!, schrie Jonesy. Um Himmels willen, sag's ihm!

Der Byrus gab wieder Ruhe. Pete ließ die Hand von seinem Gesicht sinken, das nun dort, wo es nicht rötlich golden war, Totenblässe zeigte. »Wo bist du, Jonesy?«, fragte er. »Ist da Platz für zwei?«

Die kurze Antwort darauf lautete natürlich nein. Jonesy verstand nicht, was mit ihm passiert war, und wusste nur, dass sein Überleben - dieser letzte Kern von Autonomie -davon abhing, dass er genau dort blieb, wo er war. Wenn er auch nur die Tür öffnete, war es aus mit ihm.

Pete nickte. »Kann ich mir auch nicht vorstellen«, sagte er und wandte sich dann an den anderen. »Aber tu mir nicht mehr weh, du.«

Mr. Gray saß nur da, betrachtete Pete mit Jonesys Augen und versprach gar nichts.

Pete seufzte, hob dann seine verbrannte linke Hand und streckte einen Finger aus. Er schloss das verbliebene Auge und fing an, mit dem Finger zu pendeln. Und während er das tat, verstand Jonesy beinahe alles. Wie hieß das kleine Mädchen? Rinkenhauer, nicht wahr? Ja. An ihren Vornamen konnte er sich nicht erinnern, aber einen so plumpen Nachnamen wie Rinkenhauer vergaß man nicht so schnell. Sie war ebenfalls auf die Mary-M.-Snowe-Sonderschule, die Be-hindi-Akademie, gegangen, nur dass Duddits damals schon auf die Berufsschule ging. Und Pete? Pete hatte sich immer schon gut Dinge merken können, aber nachdem sie Duddits kennen gelernt hatten -

Die Worte fielen Jonesy wieder ein, als er sich in seiner schmutzigen kleinen Zelle hinkauerte und hinausschaute in die Welt, die ihm geraubt war ... nur dass es eigentlich keine richtigen Wörter waren, nur Vokal-Laute, so eigenartig schön:

les uh ieh Inije, let? - Siehst du die Linie, Pete?

Pete hatte verträumt-verblüfft-verwundert geguckt und ja gesagt, ja, er sehe es. Und auch damals hatte er diese Bewegung mit dem Finger gemacht, dieses Pendeln, genau wie jetzt.

Der Finger hielt inne, die Fingerspitze zitterte noch nach, wie eine Wünschelrute an einer Wasserader. Dann wies Pete leicht nach rechts auf den Hügelkamm.

»Da lang«, sagte er und ließ die Hand sinken. »Da geht es nach Norden. Genau auf diese Felswand zu. Wo in der Mitte die Kiefer steht. Siehst du?«

Ja, ich sehe. Mr. Gray drehte sich nach vorn und legte wieder einen Gang ein. Jonesy fragte sich kurz, wie viel Benzin wohl noch im Tank war.

»Darf ich jetzt absteigen?« Was natürlich heißen sollte: Darf ich jetzt sterben?

Nein.

Und dann fuhren sie weiter, und Pete hielt sich mit letzter Kraft an Jonesys Mantel fest.

11

Sie umfuhren die Felswand und erklommen die Kuppe des höchsten Hügels dahinter, wo Mr. Gray eine Pause einlegte, damit ihnen sein Ersatz-Leuchtfeuer wieder den Weg weisen konnte. Pete tat das, und dann fuhren sie weiter und folgten einer Route, die leicht nach Westen abwich. Das Tageslicht verschwand zusehends. Einmal hörten sie Hubschrauber -mindestens zwei, vielleicht aber auch vier - auf sich zukommen. Mr. Gray fuhr das Schneemobil ins dichte Unterholz, ohne dabei auf die Zweige zu achten, die Jonesy ins Gesicht peitschten und blutige Striemen auf seinen Wangen und seiner Stirn hinterließen. Pete fiel wieder vom Rücksitz. Mr. Gray schaltete den Motor ab und schleifte den stöhnenden Pete, der kaum noch bei Bewusstsein war, unter den dichtesten der Sträucher. So warteten sie ab, bis die Hubschrauber vorübergeflogen waren. Jonesy bekam mit, wie Mr. Gray kurz mit einem der Besatzungsmitglieder Verbindung aufnahm, ihn scannte und dabei vielleicht die Kenntnisse des Mannes mit dem verglich, was ihm Pete erzählt hatte. Als die Hubschrauber im Südwesten verschwunden waren, anscheinend flogen sie zu ihrer Basis zurück, ließ Mr. Gray das Schneemobil wieder an, und sie fuhren weiter. Es hatte wieder angefangen zu schneien.

Eine Stunde später hielten sie auf einer anderen Erhebung, und Pete fiel erneut vom Schneemobil, diesmal seitlich. Als er den Kopf hob, war ein Großteil seines Gesichts verschwunden, überwuchert von einem pflanzlichen Bart. Er versuchte zu sprechen und konnte es nicht; sein Mund war verstopft, seine Zunge begraben unter einer üppigen Schicht Byrus.

Ich kann nicht mehr, Mann. Ich kann nicht mehr. Bitte, lass mich.

»Gut«, sagte Mr. Gray. »Ich glaube, du hast deinen Zweck erfüllt.«

Pete!, schrie Jonesy. Und dann, an Mr. Gray gewandt: Nein! Nicht!

Mr. Gray achtete natürlich nicht darauf. Für einen Moment sah Jonesy einen Blick schweigenden Einverständnisses in Petes verbliebenem Auge. Und Erleichterung. Für diesen einen Moment drang er noch zu Pete vor - zu seinem Freund aus Kindertagen, der immer draußen vor dem Tor der Derry Junior High School gestanden hatte, eine Hand vor dem Mund, unter der er eine Zigarette verbarg, die gar nicht da war, der Astronaut hatte werden und die ganze Welt aus der Erdumlaufbahn hatte sehen wollen, einer der vier, die geholfen hatten, Duddits vor den großen Jungs zu retten.

Für einen Moment. Dann spürte er, wie etwas aus Mr. Grays Geist hervorsprang, und das Zeug, das auf Pete wuchs, zuckte nicht einfach nur, sondern packte zu. Ein infernalisches Krachen erscholl, als Petes Schädel an einem Dutzend Stellen gleichzeitig brach. Sein Gesicht - was noch davon übrig war - wurde mit einem Ruck nach innen gezogen, was ihn mit einem Schlag in einen Greis verwandelte. Dann sackte er nach vorn, und Schneeflocken ließen sich schon auf dem Rücken seines Parkas nieder.

Du Schwein.

Mr. Gray, den Jonesys Fluch und Jonesys Wut gleichgültig ließen, entgegnete nichts. Er schaute wieder nach vorn. In diesem Moment ließ der auffrischende Wind kurz nach, und in dem Schneeschleier tat sich eine Lücke auf. Gut fünf Meilen weiter nordwestlich sah Jonesy sich bewegende Lichter -keine Leuchtfeuer, sondern Autoscheinwerfer. Und zwar jede Menge. Ein Laster-Konvoi kam den Highway herauf. Laster und nur Laster, mutmaßte er. Dieser Teil von Maine gehörte jetzt dem Militär.

Und die suchen alle nach dir, Arschloch, spie er, als das Schneemobil weiterfuhr. Der Schneevorhang um sie her fiel wieder und schnitt ihnen den Blick auf die LKWs ab, aber Jonesy wusste, dass Mr. Gray den Highway problemlos finden würde. Pete hatte ihn in einen Teil der Quarantäne-Zone gebracht, in der sie, dachte Jonesy, wohl nicht groß mit Schwierigkeiten rechneten. Für die restliche Strecke verließ er sich auf Jonesy, denn Jonesy war anders. Zum einen hatte er keinen Byrus. Der Byrus mochte ihn aus irgendeinem Grunde nicht.

Du kommst hier nie raus, sagte Jonesy.

Und ob, sagte Mr. Gray. Wir sterben immer, und wir überleben immer. Wir verlieren immer, und wir siegen immer. Ob es dir nun passt oder nicht, Jonesy: Wir sind die Zukunft.

Wenn das stimmt, dann ist es das beste Argument für ein Leben in der Vergangenheit, das ich je gehört habe, entgeg-nete Jonesy. Mr. Gray sagte nichts darauf. Mr. Gray als Wesen, als Bewusstsein, war verschwunden, hatte sich wieder in der Wolke aufgelöst. Es war eben noch genug von ihm übrig, um Jonesys motorische Fähigkeiten zu steuern und das Schneemobil weiter in Richtung Highway zu lenken. Und Jonesy, wehrlos mitgeschleppt zu welchem Ziel auch immer, fand bescheidenen Trost in zwei Umständen. Dass Mr. Gray erstens nicht wusste, wie er zu seinem Innersten Vordringen konnte, zu diesem kleinen Teil von ihm, der in seiner Erinnerung an das Büro der Gebrüder Tracker noch existierte. Und zweitens, dass Mr. Gray nichts von Duddits wusste, von kein Prall, kein Spiel.

Und Jonesy wollte dafür sorgen, dass Mr. Gray auch nichts davon erfuhr.

Zumindest noch nicht.

Bei Gosselin's


Für Archie Perlmutter, den Redner der High-School-Ab-schlussfeier (Thema der Ansprache: »Die Freuden und Pflichten der Demokratie«), den ehemaligen Pfadfinder, den gläubigen Presbyterianer und West-Point-Absolventen, sah Gosselin's Country Market nicht mehr real aus. Mittlerweile mit einer Lichtstärke ausgeleuchtet, die für eine Kleinstadt gereicht hätte, sah es aus wie ein Filmset. Und nicht wie irgendein Filmset, sondern wie der zu einem Ausstattungsfilm ä la James Cameron, bei dem allein die Cateringkosten reichen würden, ganz Haiti zwei Jahre lang zu ernähren. Auch der beständig zunehmende Schneefall dämpfte das grelle Licht nicht nennenswert und änderte nichts an der Illusion, dass alles an dem Gebäude, von der morschen Flolzverschalung der Mauern, über die beiden Ofenrohre, die schräg aus dem Dach ragten, bis zu der rostigen Zapfsäule vorm Flaus, schlicht nur Kulisse war.

Das wäre dann Akt eins, dachte Pearly, während er flott dahinschritt, sein Klemmbrett unterm Arm (Archie Perlmutter hatte sich immer für einen künstlerisch ... und auch kommerziell sehr begabten Menschen gehalten). Ein abgelegener Dorfladen wird eingeblendet. Die alten Leute sitzen um den Holzofen -nicht um den kleinen in Gosselins Büro, sondern um den großen im Verkaufsraum -, und draußen schneit es kräftig. Sie reden über Lichter am Himmel ... vermisste Jä-Ser ... graue Männchen, die gesehen wurden, wie sie im wald herumschlichen. Der Ladeninhaber - nennen wir ihn den alten Rossiter - schnaubt verächtlich: »Potz Stockfisch und Makrele, ihr seid ja wie die 'Waschweiber'.«, und genau in diesem Moment wird der ganze Laden von strahlend hellen Lichtern erleuchtet (man denke an Unheimliche Begegnung der Dritten Art,), als davor ein UFO landet! Blutgierige Außerirdische drängen sich heraus und schießen mit ihren Todesstrahlen um sich! Es ist wie in Independence Day, nur eben, und jetzt kommt's: mitten im Wald!

Neben ihm hatte Melrose, der dritte Koch (was schon so ziemlich die offiziellste Einstufung bei diesem kleinen Abenteuer war), Schwierigkeiten, mit ihm Schritt zu halten. Er trug Turnschuhe und keine Stiefel - Perlmutter hatte ihn aus dem Spago's geschleift, so nannten die Männer die Feldküche - und rutschte immer wieder aus. Überall um sie her liefen Männer (und auch einige wenige Frauen) herum, meist im Laufschritt. Viele sprachen in Ansteckmikrofone oder Walkie-Talkies. Der Eindruck, dass es sich hier um ein Filmset und nicht um die Wirklichkeit handelte, wurde noch durch die Wohnmobile und -Container verstärkt, durch die mit laufenden Turbinen dastehenden Hubschrauber (das schlechter werdende Wetter hatte sie alle nach Hause getrieben) und durch das unaufhörliche, sich gegenseitig übertönende Dröhnen der Motoren und Generatoren.

»Wieso will er mich sehen?«, fragte Melrose noch einmal. Atemloser und jämmerlicher denn je. Jetzt kamen sie an der Koppel und dem Pferch neben Gosselins Stall vorbei. Der alte, brüchige Zaun (es war über zehn Jahre her, dass sich mal ein Pferd im Pferch aufgehalten oder auf der Koppel bewegt hatte) war mit mehreren Lagen Draht und Stacheldraht verstärkt worden. Der Draht war elektrisch geladen. Die Spannung war wahrscheinlich nicht tödlich, reichte aber, um einen mit einem Schlag umzuhauen ... und ließ sich auf tödliches Maß hochdrehen, falls die Einheimischen unruhig werden sollten. Hinter diesem Zaun schauten ihnen zwanzig oder dreißig Männer zu, darunter auch der alte Gosselin (bei

James Cameron würde Gosselin von einem kantigen Alten wie Bruce Dem gespielt). Kurz zuvor hätten ihnen die Männer hinterm Zaun noch zugebrüllt, hätten Drohungen und zornige Forderungen gerufen, aber seit sie gesehen hatten, was mit dem Banker aus Massachusetts passiert war, der versucht hatte zu fliehen, ging ihnen ziemlich der Arsch auf Grundeis, den armen Kerlen. Mitanzusehen, wie jemand einen Kopfschuss abbekam, nahm einem schon etwas die Renitenz. Und dann kam noch hinzu, dass alle Einsatzkräfte jetzt Atemmasken trugen. Das hatte ihnen den noch übrigen Widerspruchsgeist geraubt.

»Boss?« Das Beinahe-Winseln war in ein richtiges Winseln übergegangen. Der Anblick US-amerikanischer Staatsbürger hinter Stacheldraht hatte Melroses Beklommenheit anscheinend noch gesteigert. »Boss, sagen Sie schon. Wieso will mich der große Mann sehen? Der große Mann sollte eigentlich gar nicht wissen, dass es überhaupt einen dritten Koch gibt.«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Pearly. Und das entsprach der Wahrheit.

Vor ihnen, am Anfang dessen, was hier »Heli-Bahn« genannt wurde, stand Owen Underhill mit einem Typ von der Instandhaltungstruppe. Der musste Underhill förmlich ins Ohr brüllen, um sich bei diesem Hubschrauberlärm verständlich zu machen. Sie würden die Hubschrauber bestimmt bald abschalten, dachte Perlmutter; bei diesem Scheißwetter, einem für die Jahreszeit frühen Schneesturm, den Kurtz als »Gottesgeschenk« bezeichnet hatte, würde niemand aufsteigen. Wenn Kurtz so etwas sagte, wusste man nie, ob er es ernst oder ironisch meinte. Es klang immer, als meinte er es wirklich so ... aber dann lachte er manchmal auf. Es war ein Lachen, das Archie Perlmutter nervös machte. Im Film würde Kurtz von James Woods gespielt. Oder vielleicht von Christopher Walken. Keiner von beiden sah aus wie Kurtz, aber hatte George C. Scott etwa wie General Patton ausgesehen? Na also.

Perlmutter schwenkte abrupt zu Underhill um. Melrose wollte ihm folgen und landete dabei fluchend auf dem Hintern. Perlmutter tippte Underhill auf die Schulter, und als er sich umdrehte, hoffte Perlmutter, die Atemmaske würde seinen verblüfften Gesichtsausdruck zumindest teilweise verbergen. Owen Underhill sah aus, als wäre er um zehn Jahre gealtert, seit er dem Schulbus entstiegen war.

Sich vorbeugend, brüllte Pearly gegen den Wind an: »Kurtz in fünfzehn! Nicht vergessen!«

Underhill machte eine ungeduldige Handbewegung, um anzudeuten, dass er schon daran denken würde, und wandte sich dann wieder dem Typ von der Instandhaltungstruppe zu. Perlmutter hatte ihn jetzt erkannt. Er hieß Brodsky. Die Männer nannten ihn Dawg.

Kurtz' Kommandoposten, ein äußerst geräumiges Winne-bago-Wohnmobil (wäre das hier ein Filmset gewesen, dann hätte hier der Star gewohnt oder vielleicht auch James Ca-meron), war gleich voraus. Pearly beschleunigte seinen Gang, schritt tapfer gegen das Schneegestöber an. Melrose hastete mit und wischte sich Schnee vom Overall.

»Bitte, Skipper«, flehte er, »haben Sie denn nicht irgendwie ’ne Idee?«

»Nein«, sagte Perlmutter. Er hatte keine Ahnung, weshalb Kurtz einen dritten Koch sehen wollte, während rundherum alles auf vollen Touren lief. Aber er dachte, dass sie beide wussten, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.

Owen drehte Emil Brodsky den Kopf, kam ihm mit seiner Atemmaske nahe ans Ohr und sagte: »Erzählen Sie mir das noch mal. Nicht alles, nur das, was Sie >Gedankenklau< genannt haben.«

Brodsky widersprach nicht, nahm sich aber zehn Sekunden Zeit, um seine Gedanken zu ordnen. Owen ließ ihm die Zeit. Er hatte zwar einen Termin bei Kurtz und hinterher die Einsatznachbesprechung - großer Auftrieb, bändeweise Schreibarbeiten -, und Gott allein wusste, was ihm dann für scheußliche Aufgaben bevorstanden, aber er ahnte, dass das hier wichtig war.

Ob er Kurtz davon berichten würde oder nicht, würde man noch sehen.

Schließlich drehte Brodsky Owen den Kopf, kam nun mit seiner Maske an Owens Ohr und fing an zu reden. Die Geschichte war diesmal etwas detaillierter, aber im Grunde die gleiche. Er war über die Wiese beim Laden gegangen, hatte dabei gleichzeitig mit dem ihn begleitenden Cambry und einem anrückenden Treibstoffnachschubkonvoi gesprochen, und mit einem Mal hatte er das Gefühl, als wären seine Gedanken entführt worden. Er war in einem voll gemüllten alten Schuppen gewesen, zusammen mit jemandem, den er nicht so recht hatte sehen können. Der Mann wollte ein Schneemobil starten, und es gelang ihm nicht. Dawg musste ihm erklären, woran es haperte.

»Ich habe ihn gebeten, die Motorhaube aufzumachen!«, brüllte Brodsky Owen ins Ohr. »Das hat er gemacht, und dann kam es mir vor, als würde ich mit seinen Augen sehen ... aber trotzdem mit meinem Gehirn, verstehen Sie?«

Owen nickte.

»Ich habe sofort gesehen, was nicht stimmte. Jemand hatte die Zündkerzen rausgenommen. Also habe ich zu dem Typ gesagt, er solle sich mal umschaun, und das hat er dann auch gemacht. Das haben wir beide gemacht. Und da waren sie dann auch, in einem Glas mit Benzin auf einem Tisch. Das hat mein Dad früher auch immer mit den Zündkerzen von seinem Rasenmäher und Rototiller gemacht, wenn's kalt wurde.«

Brodsky hielt inne. Es war ihm eindeutig peinlich, was er da sagte oder wie es sich, seinem Gefühl nach, anhörte. Owen, der fasziniert war, forderte ihn mit einer Handbewegung auf weiterzuerzählen.

»Viel mehr war da nicht. Ich habe ihm gesagt, er soll sie rausnehmen, abtrocknen und reinschrauben. Es war genau wie Millionen Male schon, wenn ich irgendwem geholfen habe ... nur dass ich gar nicht da war - ich war hier. Nichts davon ist wirklich passiert.«

Owen fragte: »Und dann?« Er brüllte, um sich bei dem Motorenlärm verständlich zu machen, aber trotzdem waren die beiden so für sich wie ein Priester und sein Gegenüber bei der Beichte.

»Ist sofort angesprungen. Ich habe ihm noch geraten, mal nach dem Benzin zu sehen, wenn er schon dabei war, und der Tank war voll. Er hat sich bedankt.« Brodsky schüttelte verwundert den Kopf. »Und ich habe zu ihm gesagt: >Gern geschehn, Boss.< Und dann bin ich irgendwie in meinen eigenen Kopf zurückgefallen und bin einfach weitergegangen. Glauben Sie, ich bin verrückt?«

»Nein. Aber ich möchte, dass Sie das vorläufig für sich behalten.«

Unter der Maske verzogen sich Brodskys Lippen zu einem Grinsen. »O Mann, damit habe ich kein Problem. Ich dachte bloß ... na ja, wir sollen ja alles Ungewöhnliche melden, das ist die Weisung, und ich dachte -«

Schnell und ohne Brodsky Zeit zum Nachdenken zu lassen, fragte Owen: »Wie war sein Name?«

»Jonesy drei«, antwortete Dawg und bekam dann vor Erstaunen große Augen. »Ach du liebe Zeit! Ich wusste gar nicht, dass ich das weiß.«

»Was meinen Sie - ist das irgendwie ein indianischer Name? So wie Sonny Sixkiller oder Ron Nine Moons?«

»Könnte sein, aber ...« Brodsky hielt inne und überlegte, und dann brach es aus ihm heraus: »Es war schrecklich! Nicht während es passiert ist, aber hinterher ... daran zu denken ... das war, als würde man ...« Er ließ die Stimme etwas sinken. »Als würde man vergewaltigt, Sir.«

»Fassen Sie sich«, sagte Owen. »Sie haben doch bestimmt ein paar Dinge zu erledigen, oder?«

Brodsky lächelte. »Nur ein paar tausend.«

»Dann legen Sie mal los.«

»Okay.« Brodsky trat einen Schritt zurück und machte dann kehrt. Owen schaute zum Pferch hinüber, in dem früher Pferde und jetzt Menschen eingesperrt waren. Die meisten Internierten befanden sich im Stall, und bis auf einen Mann stand die Gruppe von etwa zwei Dutzend Menschen dicht beieinander, wie um sich zu trösten. Der da alleine stand, war ein dürrer langer Lulatsch mit einer großen Brille auf, die ihn wie eine Eule aussehen ließ. Brodsky schaute von der dem Untergang geweihten Eule zu Underhill. »Sie bringen mich in dieser Sache doch nicht in Schwierigkeiten, oder? Schicken mich nicht zum Klapsdoktor?« Wobei ihm, wobei ihnen beiden natürlich nicht bewusst war, dass der hagere Typ mit der altmodischen Hornbrille ein Klapsdoktor war.

»Keine Ban-«, setzte Owen an. Ehe er aussprechen konnte, erklang in Kurtz' Winnebago ein Schuss und schrie jemand auf.

»Boss«, flüsterte Brodsky. Owen konnte ihn beim Krach der miteinander wetteifernden Motoren nicht hören; er las es von Brodskys Lippen ab. Und dann noch: »Ach du Scheiße.«

»Weitermachen, Dawg«, sagte Owen. »Das geht Sie nichts an.«

Brodsky schaute ihn noch kurz an und befeuchtete sich unter der Maske die Lippen. Owen nickte ihm zu und versuchte Zuversicht, Beherrschung seiner selbst und der Lage auszustrahlen. Vielleicht funktionierte es, denn Brodsky erwiderte das Nicken und ging davon.

Aus dem Winnebago mit dem handschriftlichen Schild an der Tür (hier landet der schwarze peter) drangen weiter Schreie. Als Owen in diese Richtung losging, rief ihm der Mann, der im Lager allein stand, zu: »He! He, Sie! Warten Sie mal, ich muss mit Ihnen reden!«

Na, aber sicher doch, dachte Underhill und verlangsamte seinen Schritt nicht. Sie haben bestimmt eine mordsmäßig gute Geschichte zu erzählen und tausend gute Gründe, warum Sie auf der Stelle freigelassen werden müssen.

»Overhill? Nein: Underhill. So heißen Sie doch, nicht wahr? Aber sicher. Ich muss mit Ihnen reden! Es ist für uns beide wichtig!«

Owen blieb trotz der Schreie aus dem Winnebago, die nun in Schluchzer übergingen, stehen. Das hörte sich gar nicht gut an, aber wenigstens war anscheinend niemand umgekommen. Er sah sich den Mann mit der Brille etwas genauer an. Dünn wie eine Bohnenstange, und er zitterte trotz des dicken Parkas, den er trug.

»Es ist wichtig für Rita!«, rief der dünne Mann zum widerstreitenden Gebrüll der Motoren. »Und für Katrina auch!« Diese Namen auszusprechen schien die Brillenschlange irgendwie zu schwächen, als hätte er sie wie Steine aus einem tiefen Brunnen heraufgeholt, doch weil Owen so schockiert darüber war, die Namen seiner Frau und Tochter aus dem Munde dieses Fremden zu hören, fiel ihm das kaum auf. Er war drauf und dran, zu dem Mann zu gehen und ihn zu fragen, woher er diese Namen kannte; aber im Augenblick hatte er keine Zeit ... er hatte einen Termin. Und dass bisher niemand umgekommen war, hieß noch längst nicht, dass nicht noch jemand umkommen würde.

Owen warf dem Mann hinterm Zaun noch einen letzten Blick zu, merkte sich sein Gesicht und eilte dann zu dem Winnebago mit dem Schild an der Tür.

Perlmutter hatte Das Herz der Finsternis gelesen und Apocalypse Now gesehen und hatte oft gedacht, der Name Kurtz sei einfach eine Spur zu passend. Er hätte hundert Dollar darauf gewettet (für einen sonst nie wettenden Künstlertyp wie ihn eine erkleckliche Summe), dass es nicht der wahre Name seines Vorgesetzten war - dass der Boss in Wirklichkeit Arthur Holsapple oder Dagwood Eigart hieß, vielleicht auch noch Paddy Maloney. Aber Kurtz? Wohl kaum. Das war mit ziemlicher Sicherheit ein affektierter Deckname, genauso ein persönlicher Fimmel wie George Pattons 45er mit den Perlmutt-Griffschalen. Die Männer, von denen manche seit Desert Storm unter Kurtz dienten (Archie Perlmutter war längst nicht so lange dabei), hielten ihn für einen verrückten Spinner, und Perlmutter sah das auch so ... so verrückt, wie Patton verrückt gewesen war. Mit anderen Worten: verrückt wie ein Fuchs. Beim Rasieren betrachtete er morgens wahrscheinlich sein Spiegelbild und übte mit dem genau richtigen Marlon-Brando-Flüstern: »Das Grauen, das Grauen.«

Daher war Pearly beunruhigt, aber nicht ungewöhnlich beunruhigt gewesen, als er den dritten Koch Melrose in den überheizten Kommandostand gebracht hatte. Und Kurtz hatte auch ganz normal ausgesehen. Der Skipper saß da auf einem Rohr-Schaukelstuhl in seinem Wohnbereich. Er hatte sich den Overall ausgezogen - der hing an der Tür, durch die Pearlmutter und Melrose eingetreten waren - und hatte sie in langer Unterhose empfangen. An einer Seitenstrebe des Schaukelstuhls hing seine Pistole in einem Gürtelholster, keine 45er mit Perlmutt-Griffschalen, sondern eine Automatik Kaliber neun Millimeter.

Sämtliche elektronischen Gerätschaften spielten verrückt. Auf Kurtz' Schreibtisch summte das Faxgerät ohne Unterlass und spuckte Papier aus. Etwa alle fünfzehn Sekunden schrie Kurtz' iMac mit freudiger Roboterstimme: »Sie ha-ben neue Nachrichten!« Aus drei leise gestellten Funkgeräten knackten und krächzten die Meldungen. An dem Kiefernholzfurnier hinter dem Schreibtisch waren zwei gerahmte Fotos angebracht. Wie auch das Schild an der Tür begleiteten diese Bilder Kurtz überallhin. Das linke, auf dem Investition stand, zeigte einen engelsgleichen Jungen in Pfadfinderuniform, die rechte Fland zum dreifingrigen Pfadfindergruß erhoben. Das rechte mit der Bildlegende dividende war eine Luftaufnahme von Berlin aus dem Frühjahr 1945. Zwei oder drei Gebäude standen noch, aber größtenteils zeigte die Kamera eine mit Ziegelsteinen übersäte Trümmerwüste.

Kurtz wies mit abschätziger Handbewegung auf seinen Schreibtisch. »Kümmert euch nicht drum, Jungs - das ist alles nur Lärm. Das hier ist Freddy Johnsons Aufgabe, aber den habe ich rüber zur Intendantur geschickt, damit er mal was isst. Ich habe ihm gesagt, er soll sich Zeit lassen, soll sich alle vier Gänge schmecken lassen, von der Suppe bis zu den Nüssen, von Poisson bis Sorbet, denn die Lage hier ist... Jungs, die Lage hier ist so gut wie ... STABILISIERT!« Er schenkte ihnen ein grimmiges Roosevelt-Grinsen und setzte seinen Schaukelstuhl in Bewegung. Neben ihm schwang die Pistole in ihrem Gürtelholster wie ein Pendel.

Melrose erwiderte Kurtz' Lächeln vorsichtig, Perlmutter schon weniger zurückhaltend. Er wusste Kurtz einzuschätzen, na klar; der Boss war von A bis Z pseudo ... und man musste das für eine gute Entscheidung halten. Eine ausgezeichnete Entscheidung. Geisteswissenschaftliche Bildung brachte einem bei einer Militärlaufbahn keine großen Vorteile, einige wenige aber doch. Man konnte zum Beispiel besser schwafeln.

»Mein einziger Befehl an Lieutenant Johnson - huch, keine Dienstgrade, an meinen guten Freund Freddy Johnson, wollte ich sagen - lautete, dass er das Tischgebet sprechen soll, bevor's ans Futtern geht. Betet ihr, Jungs?«

Melrose nickte so vorsichtig, wie er gelächelt hatte; Perl-rnutter nickte nachsichtig. Er war sicher, dass Kurtz' oft beschworener Gottesglaube nur Show war, genau wie sein Name.

Kurtz schaukelte und betrachtete frohgemut die beiden Männer, zu deren Füßen der Schnee von ihren Schuhen auf dem Boden schmolz. »Die besten Gebete sind Kindergebete«, sagte Kurtz. »Diese Schlichtheit, wissen Sie. >Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, o Gott, von dir. Wir danken dir dafür.« Ist das nicht schlicht? Ist das nicht schön?«

»Ja, a-«, setzte Pearly an.

»Halten Sie die Schnauze, Sie Hund«, sagte Kurtz vergnügt. Er schaukelte immer noch. Die Waffe pendelte immer noch im Gürtelholster hin und her. Er richtete den Blick von Pearly auf Melrose. »Was meinen Sie denn, mein Bürschchen? Ist das ein schönes kleines Gebet, oder ist das ein schönes kleines Gebet?«

»Ja,S-«

»Oder Allah akbar, wie unsere arabischen Freunde sagen; >Gott ist groß<. Was könnte es denn noch Schlichteres geben? Das dringt doch direkt zum Mittelpunkt der Pizza vor, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Sie antworteten nicht. Kurtz schaukelte jetzt schneller, und die Pistole pendelte schneller, und Perlmutter wurde allmählich etwas mulmig zu Mute, wie schon am Mittag, ehe Underhill dann eingetroffen war und Kurtz gewissermaßen wieder auf den Teppich gebracht hatte. Er plusterte sich wahrscheinlich nur wieder auf, aber -

»Oder Moses und der brennende Dornbusch!«, schrie Kurtz. Sein schmales, eher pferdeartiges Gesicht setzte ein dämlichen Lächeln auf. >Mit wem rede ich da?<, fragt Moses, und Gott erzählt ihm: >Ich bin, der ich bin, und das ist alles, was ich bin, und bläh bläh blah.< Ein ziemlicher Scherzkeks, dieser Gott, was, Mr. Melrose, haben Sie unsere Abgesandten aus den Weiten des Alls tatsächlich als Weltraum-Nigger < bezeichnet?«

Melrose klappte die Kinnlade herunter.

»Antworten Sie mir, Bursche.«

»Sir, ich —«

»Wenn Sie mich noch einmal Sir nennen, während wir im Einsatz sind, dann feiern Sie Ihre nächsten beiden Geburtstage im Bau. Haben Sie das verstanden, Mr. Melrose? Haben Sie das jetzt endlich gefressen?«

»Ja, Boss.« Melrose war plötzlich ganz Ohr. Sein Gesicht war kreidebleich, bis auf die roten Wangen von der Kälte, und die Riemen seiner Maske teilten diese roten Stellen säuberlich entzwei.

»Haben Sie unsere Besucher also als >Weltraum-Nigger< bezeichnet oder nicht?«

»Sir, vielleicht habe ich beiläufig so etwas gesagt -«

Sich mit einer Schnelligkeit bewegend, die Perlmutter kaum fassen konnte (es war fast wie ein Spezialeffekt in einem James-Cameron-Film), riss Kurtz die Pistole aus dem pendelnden Holster, richtete sie aus, anscheinend ohne zu zielen, und schoss. Die obere Hälfte des Turnschuhs an Mel-roses linkem Fuß platzte auf. Leintuchfetzen flogen umher. Perlmutters Hosenbein bekam Blutspritzer und Fleischfasern ab.

Das habe ich nicht gesehen, dachte Pearly. Das ist nicht passiert.

Aber Melrose schrie, schaute gequält und fassungslos zu seinem zerschossenen linken Fuß hinunter und schrie sich die Kehle aus dem Hals. Perlmutter sah Knochen in der Wunde, und ihm drehte sich der Magen um.

Kurtz stand nicht ganz so schnell von dem Schaukelstuhl auf, wie er die Pistole aus dem Holster gezogen hatte - das konnte Perlmutter jetzt wenigstens sehen -, trotzdem aber noch sehr schnell. Gespenstisch schnell.

Er packte Melrose an der Schulter und starrte dem dritten Koch ins schmerzverzerrte Gesicht. »Hören Sie auf zu heulen, Bürschchen.«

Melrose heulte weiter. Aus seinem Fuß sprudelte Blut, und für Pearly sah es so aus, als wäre der vordere Teil mit den Zehen vom hinteren mit dem Hacken abgetrennt. Pearly bekam weiche Knie, und ihm drehte sich alles vor Augen. Mit aller Willenskraft riss er sich zusammen. Wenn er jetzt ohnmächtig wurde, wusste Gott allein, was Kurtz mit ihm anstellen würde. Perlmutter hatte Storys gehört und neunzig Prozent davon auf der Stelle abgetan, weil er dachte, es wären entweder Übertreibungen oder von Kurtz lancierte Propagandalügen, die sein Image als fähiger Irrer untermauern sollten.

Jetzt weiß ich es besser, dachte Perlmutter. Das sind keine Gerüchte. Das ist wahr.

Kurtz, der sich mit fast chirurgischer Präzision bewegte, platzierte die Mündung seiner Pistole mitten auf Melroses käseweißer Stirn.

»Stellen Sie das weibische Geheule ab, Bursche, oder ich stelle es für Sie ab. Das sind Hohlspitzgeschosse, wie ja sicherlich selbst ein so dummer Amerikaner wie Sie weiß.«

Es gelang Melrose irgendwie, mit dem Schreien aufzuhören. Er ging zu leisen, gepressten Schluchzern über. Das schien Kurtz zufrieden zu stellen.

»Nur damit Sie mir zuhören können, Bursche. Und Sie müssen mir zuhören, denn Sie müssen die Botschaft verbreiten. Ich glaube, gelobt sei der Herr, Ihr Fuß oder was noch davon übrig ist, wird das grundlegende Konzept zum Ausdruck bringen, aber mit Ihrem eigenen geweihten Munde müssen Sie die Einzelheiten verkünden. Hören Sie mir also zu, Bursche? Hören Sie sich die Einzelheiten an?«

Immer noch schluchzend, gelang es Melrose zu nicken, wobei ihm die Augen wie blaue Glaskugeln aus dem Kopf traten.

Flink wie eine zuschnappende Schlange riss Kurtz den Kopf herum, und Perlmutter sah ganz deutlich sein Gesicht. Der Wahnsinn zeichnete sich auf seinen Zügen so deutlich ab wie eine Kriegsbemalung. In diesem Moment brach alles in sich zusammen, was Perlmutter je über seinen Vorgesetzten gedacht hatte.

»Was ist mit Ihnen, Bursche? Hören Sie zu? Denn Sie sind auch ein Bote. Wir sind alle Boten.«

Pearly nickte. Die Tür ging auf, und er sah mit unbeschreiblicher Erleichterung, dass Owen Underhill hereinkam. Kurtz' Blick flog ihm zu.

»Owen! Mein foiner Bursche! Ein weiterer Zeuge! Ein weiterer, gelobt sei der Herr, ein weiterer Bote! Hören Sie zu? Werden Sie die Botschaft von diesem trauten Heim aus verbreiten?«

Underhill nickte so ausdruckslos wie ein Pokerspieler bei hohem Einsatz.

»Gut! Gut!«

Kurtz wandte sich wieder an Melrose.

»Ich zitiere aus dem Handbuch der Streitkräfte, dritter Koch Melrose, Teil 16, Abschnitt 4, Absatz 3: >Der Gebrauch rassistischer, ethnischer oder geschlechtsbezogener Schimpfnamen unterminiert die Moral und verstößt gegen das Protokoll der Streitkräfte. Bei erwiesenem Gebrauch wird der Schuldige sofort durch ein Kriegsgericht oder im Felde von seinem Vorgesetzten bestraft^ Ende des Zitats. Der Vorgesetzte bin ich, der Schimpfwörter Gebrauchende sind Sie. Verstehen Sie, Melrose? Hat's jetzt geschnackelt?«

Melrose flennte und wollte etwas sagen, aber Kurtz schnitt ihm das Wort ab. Am Eingang stand Owen Underhill immer noch vollkommen still, während der Schnee auf seinen Schultern schmolz und ihm wie Schweiß über die transparente Hülle seiner Atemmaske lief. Sein Blick war starr auf Kurtz gerichtet.

»Also, dritter Koch Melrose, was ich Ihnen hier im Beisein dieser, gelobt sei der Herr, dieser Zeugen zitiert habe, nennt sich >Verhaltensregel < und bedeutet, dass wir hier nicht von Pedros, Judenbengeln, Krauts oder Rothäuten sprechen.

Es bedeutet auch, worauf es gegenwärtig vor allem ankommt, dass wir nicht von Weltraum-Niggern sprechen. Haben Sie das verstanden?«

Melrose versuchte zu nicken und geriet dabei ins Schwanken. Er war kurz davor, ohnmächtig zu werden. Perlmutter packte ihn an der Schulter, richtete ihn wieder auf und hoffte inständig, Melrose würde nicht umkippen, bevor das hier nicht vorbei war. Gott allein wusste, was Kurtz tun würde, sollte Melrose die Unverfrorenheit besitzen, den Geist aufzugeben, ehe Kurtz damit fertig war, ihm die Leviten zu lesen.

»Wir werden diese Scheiß-Invasoren ausradieren, mein Freund, und sollten sie je wieder nach Terra Firma kommen, dann reißen wir ihnen die grauen Köpfe ab und scheißen ihnen in die grauen Hälse. Und wenn sie dann immer noch keine Ruhe geben, werden wir ihre eigene Technologie, die wir schon sehr weitgehend beherrschen, gegen sie einsetzen, mit ihren eigenen Schiffen oder ähnlichen, die von General Electric und Du Pont und, gelobt sei der Herr, Microsoft gebaut sein werden, zu ihren Heimatplaneten fliegen und dort ihre Städte oder Bienenstöcke oder gottverdammten Ameisenhaufen, wo auch immer sie leben, niederbrennen, werden ihre Kornkammern mit Napalm versehren und die Pracht ihrer Gebirge mit H-Bomben planieren, gelobt sei der Herr, Allah akbar, wir werden die feurige Pisse Amerikas auf ihre Seen und Ozeane regnen lassen ... aber wir werden das auf anständige und angemessene Weise tun, ohne uns dabei um Rasse oder Geschlecht oder ethnische Abstammung oder religiöse Vorlieben zu scheren. Wir werden es tun, weil sie in die falsche Gegend gekommen sind und dann an die falsche Tür geklopft haben. Wir sind hier nicht 1938 in Deutschland und auch nicht 1963 in Oxford, Mississippi. Also, Mr. Melrose, meinen Sie, Sie können diese Botschaft verbreiten?«

Melrose hatte die Augen so verdreht, dass man fast nur noch das Weiße sah. Seine Knie ließen ihn im Stich. Perlmutter packte ihn wieder an der Schulter, um ihn aufrecht zu halten, aber diesmal reichte das nicht. Melrose ging zu Boden.

»Pearly«, flüsterte Kurtz, und als der brennende Blick dieser blauen Augen ihn berührte, dachte Perlmutter, er habe nie im Leben solche Angst ausgestanden. Seine Blase war ein heißer, schwerer Beutel, der nichts lieber wollte, als seinen Inhalt in den Overall zu ergießen. Und hätte Kurtz in seiner gegenwärtigen Stimmung im Schritt seines Adjutanten einen sich ausbreitenden dunklen Fleck entdeckt, das schwante Perlmutter, dann hätte er ihn auf der Stelle erschossen ... Aber das machte es anscheinend auch nicht einfacher. Nein, es machte alles nur noch schlimmer.

»Ja, S... Boss?«

»Wird er die Botschaft verbreiten? Wird er ein guter Bote sein? Meinen Sie, er hat genug davon mitbekommen, oder war er zu beschäftigt mit seinem blöden Fuß?«

»Ich ... ich ...« Pearly sah, wie Underhill ihm kaum wahrnehmbar zunickte, und da fasste er sich ein Herz. »Ja, Boss. Ich glaube, er hat Sie klar und deutlich verstanden.«

Kurtz schien erst überrascht von Perlmutters Vehemenz, dann aber dankbar dafür. Er wandte sich an Underhill. »Und Sie, Owen? Meinen Sie, er wird die Botschaft verbreiten?«

»Mmmh«, sagte Underhill. »Wenn Sie ihn auf die Krankenstation bringen lassen, bevor er hier auf Ihrem Teppich verblutet.«

Kurtz' Mundwinkel hoben sich, und er brüllte: »Kümmern Sie sich drum, Pearly, ja?«

»Sofort«, sagte Perlmutter und ging zur Tür. Sobald er an Kurtz vorbei war, warf er Underhill einen sehr dankbaren Blick zu, den Underhill entweder übersah oder lieber nicht gesehen haben wollte.

»Im Laufschritt, Mr. Perlmutter. Owen, ich möchte mit Ihnen mano a mano sprechen, wie die Iren sagen.« Er stieg über Melrose, ohne zu ihm hinunterzusehen, und eilte in die kleine Küche. »Kaffee? Den hat Freddy gemacht, ich kann also schwören, dass er trinkbar ist ... nein, schwören kann ich das nicht, aber...«

»Kaffee wäre nett«, sagte Underhill. »Schenken Sie schon mal ein. Ich versuche, bei ihm hier die Blutung zu stillen.«

Kurtz stand am Küchentresen vor der Kaffeemaschine und warf Underhill einen dunkel funkelnden, zweifelnden Blick zu. »Meinen Sie wirklich, dass das nötig ist?«

In diesem Moment schloss Perlmutter die Tür hinter sich. Nie zuvor war er mit solcher Bereitwilligkeit in einen Sturm hinausgegangen.

Henry stand am Zaun (ohne den Draht zu berühren; er hatte gesehen, was passierte, wenn man das tat) und wartete darauf, dass Underhill - so hieß er, na klar - wieder aus dem Kommandoposten zum Vorschein kam. Als aber die Tür aufging, kam einer der anderen Typen, die er hatte hineingehen sehen, herausgeeilt. Sobald er die Treppe hinunter war, fing der Typ an zu rennen. Er war groß gewachsen und hatte eines dieser ernsten Gesichter, die Henry immer mit mittlerem Management in Verbindung brachte. Jetzt sah dieses Gesicht entsetzt aus, und der Mann wäre fast hingefallen, ehe er so richtig loslief. Henry hätte es ihm gegönnt.

Dem mittleren Manager gelang es, das Gleichgewicht zu wahren, nachdem er ins Schlittern geraten war, aber auf halber Strecke zu zwei Caravans, die man zusammengeschoben hatte, rutschte er aus und landete auf dem Hintern. Das Klemmbrett, das er in der Hand gehalten hatte, flitzte los wie ein Rodelschlitten für Zwerge.

Henry klatschte mit ausgestreckten Händen, so laut er konnte. Er wurde wahrscheinlich vom Krach der Motoren übertönt, und deshalb brüllte er zwischen hohlen Händen: »Nicht schlecht, Scherge! Ich will die Zeitlupenwiederholung sehn!«

Der mittlere Manager stand auf, ohne sich zu ihm umzusehen, sammelte sein Klemmbrett ein und lief weiter zu den beiden Caravans.

Eine Gruppe von acht oder neun Männern stand gut zwanzig Meter von Henry entfernt am Zaun. Jetzt kam einer von ihnen, ein korpulenter Kerl in einer orangefarbenen Daunenjacke, in der er aussah wie der Pillsbury Dough Boy, zu Henry hinüber.

»Ich glaube, Sie sollten das lassen.« Er hielt inne und senkte die Stimme. »Die haben meinen Schwager erschossen.«

Ja. Henry sah es in seinen Gedanken. Wie der Schwager des korpulenten Kerls, ebenfalls ein korpulenter Kerl, von seinem Anwalt gesprochen hatte, seinen Rechten, seiner Stelle bei einer Investmentbank in Boston. Wie die Soldaten genickt und ihm gesagt hatten, es wäre nur vorübergehend, die Lage würde sich bereits normalisieren und wäre bis zum Morgengrauen geklärt, und wie sie die ganze Zeit die beiden übergewichtigen tapferen Jägersleut' zum Stall gedrängt hatten, der bereits einen ansehnlichen Fang beherbergte, und wie der Schwager dann ganz plötzlich losgelaufen war, auf den Fuhrpark zu, und Bumm-Bumm, das war's dann.

Einiges davon erzählte der korpulente Mann Henry, und sein blasses Gesicht schaute dabei ernst im Licht der eben aufgerichteten Scheinwerfer, und dann unterbrach ihn Henry-

»Was glauben Sie denn, was die mit uns Übrigen tun werden?«

Der korpulente Mann sah Henry schockiert an und wich einen Schritt zurück, als vermutete er, Henry hätte etwas Ansteckendes. Schon lustig, wenn man es recht bedachte, denn sie alle hatten ja etwas Ansteckendes, oder wenigstens gingen diese von der Regierung engagierten Cleaner davon aus, und letztendlich lief das wohl aufs Gleiche hinaus.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein«, sagte der korpulente Mann. Dann, fast nachsichtig: »Wir sind doch hier in Amerika.«

»Ach ja? Dann finden Sie ja bestimmt auch, dass hier alles seinen geordneten Gang geht, was?«

»Die sind bloß ... das ist bestimmt bloß ...« Henry lauschte interessiert, aber mehr kam da nicht, zumindest nicht in dieser Richtung. »Das war ein Schuss, nicht wahr?«, fragte der korpulente Mann. »Und ich glaube, ich habe jemanden schreien gehört.«

Aus Richtung der beiden zusammengestellten Caravans hasteten zwei Männer mit einer Trage herbei. Ihnen folgte, deutlich widerwillig, der mittlere Manager, das Klemmbrett nun wieder fest unterm Arm.

»Ich würde sagen, da haben Sie richtig gehört.« Henry und der korpulente Mann sahen zu, wie die beiden Männer mit der Trage die Eingangstreppe des Winnebago hocheilten. Als Mr. Mittleres Management am Zaun vorbeikam, rief Henry ihm zu: »Wie läuft's denn, Scherge? Macht's denn auch Spaß?«

Der korpulente Mann zuckte zusammen. Der Typ mit dem Klemmbrett warf Henry einen knappen verdrießlichen Blick zu und stapfte dann weiter zum Winnebago.

»Das ist bloß ... das ist bloß irgendein Notfall«, sagte der korpulente Mann. »Das hat sich bis morgen früh bestimmt geklärt.«

»Aber nicht für Ihren Schwager«, sagte Henry.

Der korpulente Mann sah ihn mit zusammengekniffenem, leicht zitterndem Mund an. Dann ging er zu den anderen Männern zurück, deren Ansichten den seinen zweifellos eher entsprachen. Henry drehte sich wieder zum Winnebago um und wartete weiter, dass Underhill herauskam. Er hatte so eine Ahnung, dass Underhill seine einzige Hoffnung darstellte ... Aber welche Zweifel Underhill auch an dem Einsatz hegen mochte, blieb diese Hoffnung doch vage. Und Henry konnte nur einen einzigen Trumpf ausspielen. Dieser Trumpf war Jonesy. Sie wussten nichts von Jonesy.

Fragte sich bloß, ob er Underhill davon erzählen sollte. Henry hatte schreckliche Angst, dass es zu nichts Gutem führen würde.

Gut fünf Minuten nachdem Mr. Mittleres Management den beiden Sanitätern in den Winnebago gefolgt war, kamen die drei mit einem vierten Mann auf der Trage wieder heraus. Im strahlend hellen Licht der Scheinwerfer sah das Gesicht des Verwundeten so blass aus, dass es fast violett wirkte. Henry war erleichtert, als er sah, dass es nicht Underhill war, denn Underhill war anders als die übrigen Irren hier.

Zehn Minuten vergingen. Underhill hatte den Kommandoposten immer noch nicht verlassen. Henry wartete im dichter werdenden Schneefall. Soldaten beobachteten die Häftlinge (denn das waren sie: Häftlinge, und am besten machte man sich da nichts vor), und schließlich kam einer von ihnen herübergeschlendert. Die Männer, die an der Kreuzung Deep Cut und Swanny Pond Road stationiert gewesen waren, hatten Henry mit ihren Scheinwerfern ziemlich geblendet, und deshalb erkannte er das Gesicht dieses Mannes nicht. Ebenso erfreut wie zutiefst beunruhigt, stellte Henry aber fest, dass auch die Gedanken eines Menschen Züge aufwiesen, die in jeder Hinsicht so unverkennbar waren wie ein hübscher Mund, eine gebrochene Nase oder ein schiefes Auge. Das war einer der Typen, denen er da draußen begegnet war, und der hier hatte ihm mit dem Schaft seines Gewehrs einen Schlag auf den Hintern verpasst, als er fand, dass Henry nicht schnell genug zum Wagen ginge. Was auch immer mit Henrys Gehirn passiert war, alles blieb skizzenhaft; er wusste den Namen des Mannes nicht, wuss-te aber, dass sein Bruder Frankie hieß und dass Frankie während seiner Fligh-School-Zeit wegen Vergewaltigung vor Gericht gestellt und dann freigesprochen worden war. Da war auch noch mehr - ein unzusammenhängendes Wirrwarr wie der Inhalt eines Mülleimers. Flenry wurde klar, dass er tatsächlich einem Bewusstseinsstrom folgte und das Treibgut betrachtete, das der Strom mit sich trug. Es war bloß ernüchternd, wie banal das meiste davon war.

»Sieh einer an«, sagte der Soldat nicht unfreundlich. »Unser Klugscheißer! Möchten Sie ein Würstchen, Klugscheißer?« Er lachte.

»Flatte schon eins«, sagte Flenry lächelnd. Und dann sprach Biber aus ihm, wie das manchmal so war. »Zisch ab, Scherge.«

Dem Soldaten blieb das Lachen im Hals stecken. »Warten wir mal ab, ob Sie in zwölf Stunden auch noch so die Schnauze aufreißen«, sagte er. Das Bild, das vorbeitrieb, getragen von dem Strom zwischen den Ohren des Mannes, zeigte einen mit Leichen beladenen Laster, weiße Gliedmaßen wirr durcheinander. »Wächst der Ripley schon auf Ihnen, Klugscheißer?«

Henry dachte: der Byrus. Das meint er damit. In Wirklichkeit heißt es Byrus. Jonesy weiß das.

Henry antwortete nicht, und der Soldat ging weiter, mit dem behaglichen Gesichtsausdruck eines Mannes, der einen Punktsieg errungen hatte. Neugierig geworden, nahm Henry all seine Konzentration zusammen und stellte sich bildlich ein Gewehr vor - Jonesys Garand war es. Er dachte: Ich habe eine Waffe, und ich bringe dich damit um, sobald du mir den Rücken zukehrst, du Arschloch.

Der Soldat wirbelte herum, und der behagliche Blick war nun ebenso verschwunden wie zuvor das Grinsen und das Gelächter. Stattdessen schaute er nun zweifelnd und argwöhnisch. »Was haben Sie gesagt, Klugscheißer? Haben Sie was gesagt?«

Mit einem Lächeln erwiderte Henry: »Ich habe mich bloß gefragt, ob Sie auch was von dem Mädchen gehabt haben -Sie wissen schon: das Mädchen, das Frankie eingeritten hat. Hat er sie hinterher auch mal auf sie drauf gelassen?«

Für einen Moment war der Soldat baff und sah dabei vollkommen idiotisch aus. Dann stand ihm finsterster Zorn ins Gesicht geschrieben. Er hob sein Gewehr. Henry kam die Mündung wie ein Lächeln vor. Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und hielt sie im immer dichter werdenden Schneefall auf. »Na los«, sagte er und lachte. »Mach schon, Rambo. Nur zu.«

Frankies Bruder hielt die Waffe noch für einen Moment auf Henry gerichtet, und dann spürte Henry den Zorn des Mannes verrauchen. Es war knapp gewesen - er hatte gesehen, wie der Soldat überlegt hatte, was er erzählen würde, irgendeine plausibel klingende Ausrede -, aber er hatte einen Moment zu lange gezögert, und da hatte sein Vorderhirn die rote Bestie schon wieder an die Kandare genommen. Es war immer das gleiche Schema. Die Richie Grenadeaus starben nie aus. Sie waren die Reißzähne des Leviathans.

»Morgen«, sagte der Soldat, »morgen ist noch Zeit genug für Sie, Klugscheißer.«

Diesmal ließ Henry ihn gehen - er wollte die rote Bestie nicht noch weiter reizen, obwohl es weiß Gott einfach genug gewesen wäre. Und er hatte auch etwas erfahren ... oder eher etwas bestätigt bekommen, das er bereits geahnt hatte. Der Soldat hatte seine Gedanken gehört, aber nicht deutlich. Hätte er sie deutlich gehört, dann hätte er sich viel schneller umgedreht. Und er hatte Henry auch nicht gefragt, woher er das mit seinem Bruder Frankie wusste. Denn in gewisser Hinsicht wusste der Soldat, was Henry da machte: Sie hatten sich alle mit Telepathie angesteckt, die ganze Bande - hatten es sich geholt wie einen nervigen kleinen Virus. »Nur dass es mich schlimmer erwischt hat«, sagte er und schloss den Reißverschluss seiner Jacke wieder. Wie bei Pete und Biber und Jonesy auch. Aber Pete und Biber waren jetzt tot, undjonesy ... Jonesy ...

»Bei Jonesy ist es am schlimmsten«, sagte Henry. Und wo war Jonesy jetzt?

Süden ... Jonesy war nach Süden aufgebrochen. Ihre kostbare Quarantäne war durchbrochen worden. Henry vermutete, dass sie mit so etwas rechneten. Es bereitete ihnen kein Kopfzerbrechen. Sie dachten, es wäre nicht weiter schlimm, wenn ein paar wenige Menschen die Sperre durchbrachen.

Henry glaubte, dass sie sich da irrten.

Owen stand mit einem Becher Kaffee in der Hand da und wartete, bis die Typen von der Krankenstation mit ihrer Last abgezogen waren. Melroses Schluchzer waren dank einer Morphium-Injektion glücklicherweise abgestellt, und er murmelte und stöhnte nur noch. Pearly folgte ihnen nach draußen, und dann war Owen mit Kurtz allein.

Kurtz saß auf seinem Schaukelstuhl und schaute Owen Underhill für einen Moment mit zur Seite geneigtem Kopf neugierig amüsiert an. Der tobende Irre war verschwunden, abgelegt wie eine Halloween-Maske.

»Ich denke an eine Zahl«, sagte Kurtz. »Welche ist es?«

»Siebzehn«, sagte Owen. »Sie sehen sie in Rot. Wie auf einem Feuerwehrauto.«

Kurtz nickte erfreut. »Jetzt versuchen Sie, mir etwas zu senden.«

Owen stellte sich ein Geschwindigkeitsbeschränkungs-Schild vor: 60.

»Sechs«, sagte Kurtz nach kurzem Überlegen. »Schwarz auf weiß.«

»Knapp vorbei, Boss.«

Kurtz trank seinen Kaffee. Seinen Becher zierte der Aufdruck Opa ist der beste. Owen nippte mit aufrichtigem Genuss. Es war eine schlimme Nacht und ein schmutziger Job, und Freddys Kaffee war nicht schlecht.

Kurtz hatte Zeit gefunden, sich seinen Overall anzuziehen. Jetzt griff er in die Innentasche und zog ein großes Schnupftuch hervor. Er betrachtete es kurz, kniete sich dann hin, verzog dabei das Gesicht (es war kein Geheimnis, dass der alte Mann Arthritis hatte) und fing an, Melroses Blutspritzer aufzuwischen. Owen, der sich eingebildet hatte, ihn könne nichts mehr schocken, war geschockt.

»Sir ...« Oh, Mist. »Boss ...«

»Hörn Sie auf«, sagte Kurtz, ohne hochzusehen. Er arbeitete sich von Fleck zu Fleck vor, gewissenhaft wie eine Wäscherin. »Mein Vater hat immer gesagt, dass man seinen Dreck selber wegmachen soll. Dann denkt man beim nächsten Mal vielleicht vorher ein bisschen nach. Wie hieß mein Vater mit Vorname, Bursche?«

Owen suchte danach und erhaschte nur einen kurzen Blick darauf wie auf den Slip unterm Kleid einer Dame. »Philip?«

»Nein, Patrick ... Nur knapp verfehlt. Anderson glaubt, dass es sich dabei um eine Welle handelt, die jetzt ihre Kraft aufbraucht. Eine Telepathie-Welle. Finden Sie, dass das eine beängstigende Idee ist, Owen?«

»Ja.«

Kurtz nickte, ohne hochzusehen, und wischte weiter auf. »Aber von der Idee her beängstigender als in Wirklichkeit -finden Sie das auch?«

Owen lachte. Der alte Mann hatte nichts von seiner Fähigkeit eingebüßt, einen zu verblüffen. Er spielt nicht mit vollem Blatt, sagte man manchmal über psychisch labile Personen. Wie Owen es sah, bestand das Problem bei Kurtz darin, dass er mit einem mehr als vollen Blatt spielte. Er hatte noch ein paar zusätzliche Asse auf der Hand. Und auch ein paar zusätzliche Joker.

»Setzen Sie sich, Owen. Trinken Sie Ihren Kaffee im Sitzen wie jeder normale Mensch, und lassen Sie mich das hier erledigen. Ich brauche das.«

Das glaubte ihm Owen. Er setzte sich und trank seinen Kaffee. Fünf Minuten vergingen auf diese Weise, dann stand Kurtz unter Schmerzen wieder auf. Das Schnupftuch pinge-lig an einer Ecke haltend, brachte er es in die Küche, ließ es in den Mülleimer fallen und kehrte dann auf seinen Schaukelstuhl zurück. Er trank einen Schluck Kaffee, verzog das Gesicht und stellte ihn weg. »Kalt.«

Owen erhob sich. »Ich hole Ihnen einen frischen -«

»Nein. Setzen Sie sich. Wir müssen uns unterhalten.«

Owen setzte sich.

»Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung da draußen beim Schiff, Sie und ich, nicht wahr?«

»Ich würde es nicht -«

»Ja, ich weiß, dass Sie das nicht so nennen würden, aber ich weiß, was da vorgefallen ist, und Sie wissen es auch. In schwieriger Lage verliert man schon mal die Beherrschung. Aber das haben wir jetzt hinter uns. Wir müssen es hinter uns haben, denn ich bin der Befehlshaber, und Sie sind mein zweiter Mann, und wir müssen immer noch diesen Einsatz hier abschließen. Können wir dabei Zusammenarbeiten?«

»Ja, Sir.« Scheiße, da war es wieder. »Boss, wollte ich sagen.«

Kurtz gewährte ihm ein eisiges Lächeln.

»Ich habe gerade die Beherrschung verloren.« Charmant, offenherzig, nüchtern und aufrichtig. Das hatte Owen viele Jahre lang getäuscht. Er ließ sich davon nicht mehr hinters Licht führen. »Ich habe mich hinreißen lassen und die übliche Karikatur abgegeben - zwei Teile Patton, ein Teil Ras-Putm, Wasser drauf, umrühren und fertig -, und da habe ich ... Puh! Da habe ich einfach die Beherrschung verloren. Sie halten mich für verrückt, nicht wahr?«

Jetzt ganz vorsichtig. In diesem Raum wurden Gedanken gelesen, gab es richtige Telepathie, und Owen hatte keine Ahnung, wie tief Kurtz in ihn hineinblicken konnte.

»Ja, Sir. Ein wenig schon, Sir.«

Kurtz nickte sachlich. »Ja. Ein wenig schon. Das trifft es ziemlich gut. Ich mache das schon seit langer Zeit - Männer wie ich sind nötig, aber schwer zu finden, und man muss schon ein bisschen verrückt sein, um diesen Beruf auszuüben und dabei nicht zynisch zu werden. Es ist ein schmaler Grat, der berühmte schmale Grat, über den diese Sesselfurzer von Psychologen so gerne reden, und in der ganzen Weltgeschichte hat es keinen Säuberungseinsatz wie diesen hier gegeben ... immer vorausgesetzt, die Geschichte von Herakles, wie er die Ställe des Augias ausmistet, ist nur ein Mythos. Ich verlange von Ihnen kein Mitgefühl, sondern Verständnis. Wenn wir einander verstehen, werden wir damit fertig, mit dem härtesten Job, den wir je hatten. Wenn nicht ...« Kurtz zuckte mit den Achseln. »Wenn nicht, muss ich ohne Sie damit fertig werden. Können Sie mir folgen?«

Owen hatte da so seine Zweifel, verstand aber, wohin Kurtz ihn haben wollte, und nickte. Er hatte davon gelesen, dass es eine bestimmte Vogelart gab, die im Maul von Krokodilen lebte, mit Duldung der Krokodile. Jetzt war er wohl auch so ein Vogel, schätzte er. Kurtz wollte ihn glauben machen, er hätte ihm verziehen, dass er den Funkspruch der Außerirdischen auf den Gemeinschaftskanal gelegt hatte - in der Hitze der Erregung, genau wie Kurtz in der Hitze der Erregung Melrose den Fuß zerschossen hatte. Und was war sechs Jahre zuvor in Bosnien passiert? Das spielte jetzt keine Rolle. Vielleicht stimmte das. Und vielleicht hatte das Krokodil ja auch das nervige Gepicke des Vogels satt und wollte eben das Maul zuklappen. Owen konnte an Kurtz' Gedan-ken nicht ablesen, was davon denn nun zutreffend war, aber in jedem Fall geziemte es sich für ihn, sehr vorsichtig zu sein. Sehr vorsichtig und bereit zum Abflug.

Kurtz griff wieder in seinen Overall und holte eine matt schimmernde Taschenuhr hervor. »Die hat meinem Großvater gehört. Sie funktioniert noch einwandfrei«, sagte er. »Weil sie zum Aufziehen ist, glaube ich - ohne Strom. Meine Armbanduhr spielt immer noch verrückt.«

»Meine auch.«

Um Kurtz1 Lippen spielte ein flüchtiges Lächeln. »Wenden Sie sich an Perlmutter, wenn Sie die Gelegenheit dazu haben und meinen, ihn ertragen zu können. Neben seinen vielen anderen Pflichten und Aktivitäten hat er die Zeit gefunden, sich heute Nachmittag dreihundert mechanische Timex liefern zu lassen. Das war kurz bevor der Schneefall unseren Lufteinsatz verzögert hat. Pearly ist wirklich tüchtig. Ich wünsche nur bei Gott, er würde endlich aufhören zu glauben, dass er in einem Film lebt.«

»Er dürfte da heute Abend Fortschritte gemacht haben, Boss.«

»Ja, vielleicht hat er das.«

Kurtz dachte nach. Underhill wartete.

»Bürschchen, wir sollten Whiskey trinken. Es ist ein wenig wie eine irische Totenwache heute Abend.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Mein geliebtes Phooka ist kurz davor, tot umzukippen.«

Owen runzelte die Augenbrauen.

»Ja. Und in diesem Moment wird seine magische Tarnkappe weggezogen. Dann ist es nur noch ein ganz normales totes Pferd. Aber das wird die Leute und vor allem die Politiker nicht daran hindern, darauf herumzureiten.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen.«

Kurtz schaute noch einmal auf die stumpf angelaufene laschenuhr, die er wahrscheinlich in einem Pfandhaus gekauft oder einem Leichnam abgenommen hatte. Underhill hielt beides für denkbar.

»Es ist jetzt sieben Uhr. In etwa vierzig Minuten wird der Präsident vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen sprechen. Diese Rede werden mehr Menschen sehen und hören als jede Rede bisher in der Menschheitsgeschichte. Sie wird in die der Menschheitsgeschichte eingehen als das größte Ammenmärchen, seit Gott, der allmächtige Vater, den Kosmos erschaffen und mit seiner Fingerspitze die Planeten in Bewegung gesetzt hat.«

»Und worin besteht es?«

»Es ist eine schöne Geschichte, Owen. Wie alle guten Lügen enthält sie viel Wahrheit. Der Präsident wird einer faszinierten Welt, einer Welt, die mit angehaltenem Atem, gelobt sei der Herr, jedem Wort lauschen wird, erzählen, dass am sechsten oder siebten November dieses Jahres im nördlichen Maine ein Raumschiff mit einer Besatzung von Wesen aus einer anderen Welt abgestürzt sei. Das ist wahr. Er wird sagen, wir seien davon nicht gänzlich überrascht gewesen, da wir, wie auch die Regierungen der übrigen Staaten, die einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat haben, seit mindestens zehn Jahren wüssten, dass ET uns ausspioniert. Das stimmt ebenfalls, nur dass einige hier in Amerika seit den späten 1940ern von unseren Kumpeln aus dem All wüssten. Wir wissen auch, dass russische Kampfflugzeuge 1974 über Sibirien ein Schiff der Grauen abgeschossen haben ... bloß dass die Russen bis heute nicht wissen, dass wir das wissen. Das war damals wahrscheinlich eine Drohne, ein Test-Bal-Ion. Von denen hat es viele gegeben. Die Grauen sind bei ihren ersten Kontaktaufnahmen mit einer Umsicht vorgegangen, die sehr darauf hindeutet, dass wir ihnen ziemliche Angst einjagen.«

Owen hörte mit einer Faszination zu, die ihm selbst zuwider war und von der er hoffte, dass sie weder seinem Gesicht anzusehen war noch sich auf der obersten Ebene seiner Gedanken abzeichnete, auf die Kurtz eventuell immer noch zugreifen konnte.

Aus seiner Innentasche holte Kurtz jetzt eine verbeulte Schachtel Marlboro. Er bot Owen eine an, der erst den Kopf schüttelte und dann doch eine der vier noch übrigen Kippen nahm. Kurtz nahm sich auch eine und gab ihnen dann Feuer.

»Ich vermische hier Wahrheit und Fälschung«, sagte Kurtz, nachdem er einen tiefen Zug genommen und wieder ausgeatmet hatte. »Das ist wahrscheinlich nicht die beste Vorgehensweise. Halten wir uns also an die Fälschung, ja?«

Owen sagte nichts. Er rauchte in letzter Zeit nur selten, und der erste Zug machte ihn immer benommen. Aber der Geschmack war wunderbar.

»Der Präsident wird sagen, die Regierung der Vereinigten Staaten habe die Absturzstelle und die Gegend rundherum aus drei Gründen unter Quarantäne stellen lassen. Der erste ist rein logistischer Art: Wegen der Abgelegenheit und dünnen Besiedelung von Jefferson Tract konnten wir es überhaupt unter Quarantäne stellen. Wären die Grauen in Brooklyn oder auch noch auf Long Island runtergekommen, dann wäre dem nicht so gewesen. Der zweite Grund ist der, dass wir uns über die Absichten der Außerirdischen nicht im Klaren sind. Der dritte und letztlich überzeugendste Grund ist der, dass die Außerirdischen eine ansteckende Substanz an sich haben, die von den Einsatzkräften vor Ort >Ripley-Pilz< genannt wird. Die außerirdischen Besucher haben uns zwar vehement versichert, sie hätten nichts Ansteckendes an sich, aber in Wirklichkeit haben sie eine äußerst ansteckende Substanz mitgebracht. Der Präsident wird einer entsetzten Welt auch erzählen, dass dieser Pilz dabei durchaus die steuernde Intelligenz sein könnte und die Grauen nur eine Art Nährboden. Er wird eine Videoaufzeichnung vorführen, auf der ein Grauer aufplatzt und sich dabei förmlich in Ripley-Pilz auflöst. Das Bildmaterial ist der Deutlichkeit halber etwas bearbeitet worden, ist im Grunde aber authentisch.«

Sie lügen, dachte Owen. Das Bildmaterial ist von A bis Z gefälscht und genauso ein Pake wie dieser Schwachsinn mit der Alien-Obduktion. Und wieso lügen Sie? Weil es Ihnen freisteht. So einfach ist das, nicht wahr? Denn Ihnen kommt eine Lüge leichter über die Lippen als die Wahrheit.

»Also gut, das war gelogen«, sagte Kurtz, ohne sich im Mindesten aus der Ruhe bringen zu lassen. Er funkelte Owen kurz an und betrachtete dann wieder seine Zigarette. »Aber es ist wahr und nachprüfbar. Manche von denen platzen tatsächlich und verwandeln sich dabei in so eine Art rote Pusteblumenfusseln. Die Fusseln, das ist der Ripley. Wenn Sie genug davon einatmen, dauert es eine bestimmte Zeit, die wir noch nicht abschätzen können - eine Stunde vielleicht oder auch zwei Tage -, und Ihre Lunge und Ihr Hirn haben sich in Ripley-Salat verwandelt. Dann sehen Sie aus wie ein wandelnder Giftsumach. Und dann sterben Sie.

Unser kleines Abenteuer von heute Mittag wird nicht erwähnt. Laut der Version des Präsidenten wurde das Schiff, das anscheinend beim Absturz schwer beschädigt wurde, entweder von der Besatzung gesprengt oder ist von allein in die Luft gegangen. Sämtliche Grauen sind dabei umgekommen. Der Ripley, der sich zunächst ausgebreitet hat, geht jetzt ebenfalls ein, weil er anscheinend die Kälte nicht verträgt. Die Russen bestätigen das übrigens. Die Tiere, die die Ansteckung ebenfalls verbreiten, sind in ziemlich großem Maßstab getötet worden.«

»Und die menschliche Bevölkerung von Jefferson Tract?«

»Der Präsident wird sagen, dass etwa dreihundert Personen

- gut siebzig Einheimische und etwa zweihundertdreißig Jäger

- mit Verdacht auf Ripley-Pilz unter Beobachtung stehen. Er wird sagen, dass sich einige zwar anscheinend angesteckt haben, die Infektion aber offenbar mit so normalen Antibiotika wie Ceftin und Augmentin abwehren können.«

»Das ist dann der Werbeblock«, sagte Owen. Kurtz lachte vergnügt auf.

»Zu einem späteren Zeitpunkt wird dann bekannt gegeben, dass der Ripley doch ein wenig resistenter gegen Anti-biotika sei, als zunächst angenommen wurde, und dass eine Reihe von Patienten gestorben seien. Dann werden wir die Namen der Leute rausgeben, die tatsächlich schon gestorben sind, entweder an Ripley oder an diesen fürchterlichen, schaurigen Implantaten. Wissen Sie, wie die Männer diese Implantate nennen?«

»Ja. Kackwiesel. Wird der Präsident sie erwähnen?«

»Unmöglich. Die zuständigen Jungs meinen, dass die Kackwiesel dann doch ein wenig zu viel für den Normalbürger wären. Gleiches gilt natürlich auch für die Einzelheiten unserer Lösung für das Problem hier beim Gosselin's Store, dieser rustikalen Sehenswürdigkeit.«

»Die Endlösung könnte man es nennen«, sagte Owen. Er hatte seine Zigarette bis zum Filter aufgeraucht und drückte sie nun am Rand seines leeren Kaffeebechers aus.

Kurtz schaute hoch und sah Owen unerschrocken in die Augen. »Ja, so könnte man es nennen. Wir werden schätzungsweise dreihundertfünfzig Menschen vernichten - größtenteils Männer, aber ich kann nicht behaupten, dass die Säuberung nicht auch einige wenige Frauen und Kinder betreffen wird. Der Pluspunkt besteht natürlich darin, dass wir die Menschheit vor einer Pandemie und voraussichtlicher Unterwerfung retten. Und das ist kein unbeträchtlicher Pluspunkt. «

Owens Gedanke — Hitler hätte diese Story bestimmt gefallen - war nicht aufzuhalten, aber er verbarg ihn, so gut er konnte, und hatte nicht das Gefühl, dass Kurtz ihn gehört oder gelesen hatte. Mit Sicherheit konnte man das natürlich nie wissen; Kurtz war gerissen.

»Wie viele haben wir jetzt interniert?«, fragte Kurtz.

»Etwa siebzig. Und noch einmal doppelt so viele sind aus

Kineo unterwegs. Die werden gegen neun hier eintreffen, falls sich die Wetterverhältnisse nicht verschlechtern.« Davon ging man aus, aber erst nach Mitternacht.

Kurtz nickte. »Mm-mh. Dazu noch etwa fünfzig aus dem Norden, siebzig oder so aus St. Cap's und den anderen Dörfern im Süden ... und unsere Jungs. Vergessen Sie die nicht. Die Masken scheinen zu wirken, aber bei den Nachuntersuchungen haben wir schon vier Fälle von Ripley festgestellt. Die Männer wissen natürlich nichts davon.«

»Tatsächlich?«

»Ich will es mal so ausdrücken«, sagte Kurtz. »Ihrem Verhalten nach habe ich keinen Anlass zu der Vermutung, dass die Männer etwas wissen. Alles klar?«

Owen zuckte mit den Achseln.

»Die Story«, fuhr Kurtz fort, »wird die sein, dass die Häftlinge zu einer streng geheimen medizinischen Einrichtung geflogen werden, so einer Art Area 51, wo sie dann gründlich untersucht und, wenn nötig, langfristig behandelt werden. Es wird nie wieder eine offizielle Stellungnahme zu ihnen geben - zumindest nicht, wenn alles nach Plan verläuft -, aber es werden im Laufe der nächsten zwei Jahre immer mal wieder Gerüchte durchsickern: fortschreitende Infektion trotz bester medizinischer Anstrengungen ... Wahnsinn ... groteske körperliche Verunstaltungen, die man besser nicht beschreibt... und schließlich ist der Tod eine Erlösung. Die Öffentlichkeit wird alles andere als empört, sie wird erleichtert sein.«

»Während in Wirklichkeit ...?«

Er wollte es von Kurtz hören, hätte es aber besser wissen müssen. Es gab hier zwar keine Wanzen, aber dem Boss war die Vorsicht in Fleisch und Blut übergegangen. Er hob eine Hand, bildete mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole nach und ließ den Daumen dreimal sinken. Dabei sah er Owen unverwandt in die Augen. Krokodilsaugen, dachte Owen.

»Alle?«, fragte Owen. »Die Ripley-Positiven wie auch die anderen? Wohin führt uns das? Die Soldaten, die negativ sind?«

»Die Jungs, die jetzt okay sind, werden auch okay bleiben«, sagte Kurtz. »Die Ripley haben, waren alle unachtsam. Darunter ist auch ... tja, da ist ein kleines Mädchen da draußen, vielleicht vier Jahre alt, unglaublich süß. Man erwartet fast, dass sie im Stall steppt und dazu singt: On the Good Ship Lollipop. «

Kurtz fand sich offenbar witzig, und Owen dachte, dass er es in gewisser Hinsicht wohl auch war, aber Owen selbst packte blankes Entsetzen. Da draußen ist ein vierjähriges Mädchen, dachte er. Gerade mal vier Jahre ait. Was sagst du jetzt?

»Sie ist süß, und sie ist infiziert«, sagte Kurtz. »Sichtbarer Ripley innen an einem Handgelenk, er wächst an ihrem Haaransatz und in einem Augenwinkel. Die üblichen Stellen. Tja, und ein Soldat hat ihr einen Schokoriegel geschenkt, als wäre sie so ein hungerndes Elendsbalg im Kosovo, und sie hat sich mit einem Küsschen bedankt. Wirklich zuckersüß, ein wahrer Kodak-Moment, nur dass jetzt auf seiner Wange ein Lippenstiftabdruck wächst, der gar kein Lippenstiftabdruck ist.« Kurtz verzog das Gesicht. »Er hatte sich ein ganz klein wenig beim Rasieren geschnitten, eine kaum sichtbare Wunde, aber schon war es zu spät. Ähnliche Vorfälle bei anderen. Die Regeln ändern sich nicht, Owen; Achtlosigkeit ist tödlich. Eine Zeit lang hat man vielleicht Glück, aber irgendwann lässt einen das Glück im Stich. Achtlosigkeit ist tödlich. Die meisten unserer Jungs, es freut mich, das zu sagen, werden die Sache hier überstehen. Wir werden für den Rest unseres Lebens immer wieder Vorsorgeuntersuchungen über uns ergehen lassen müssen, von gelegentlichen Stichprobentests mal ganz zu schweigen, aber da müssen Sie auch mal die Vorteile sehen: Die werden Ihren Arschkrebs verdammt früh diagnostizieren.« »Die Zivilisten, die sauber sind? Was ist mit denen?« Kurtz beugte sich vor, nun auf seine charmanteste, überzeugendste Weise geistig gesund wirkend. Man sollte sich davon geschmeichelt fühlen, sollte glauben, einer der ganz wenigen zu sein, die Kurtz zu sehen bekamen, wenn er seine Maske (»zwei Teile Patton, ein Teil Rasputin, Wasser drauf, umrühren und fertig«) abgelegt hatte. Früher hatte das bei Owen gewirkt, aber diesmal nicht. Rasputin war nicht die Maske; das hier war die Maske.

Doch selbst jetzt — und das war das Schlimme - war er sich da nicht vollkommen sicher.

»Owen, Owen, Owen! Nutzen Sie Ihr Gehirn - dieses gute Gehirn, das Gott Ihnen gegeben hat! Unsere eigenen Leute können wir überwachen, ohne Verdacht zu erregen oder in der ganzen Welt Panik auszulösen - und es wird schon genug Panik geben, wenn der Präsident das Phooka-Pferd geschlachtet hat. Aber mit dreihundert Zivilisten könnten wir das nicht. Und wenn wir sie wirklich nach New Mexico ausfliegen und für die nächsten fünfzig, siebzig Jahre auf Kosten der Steuerzahler in irgendein Dorf vom Reißbrett stecken würden? Was wäre, wenn einer oder mehrere daraus entfliehen würden? Oder was wäre — und ich glaube, das befürchten die Schlauberger bereits -, wenn der Ripley nach einer gewissen Zeit mutiert? Wenn er sich, statt hier einzugehen, in etwas weitaus Ansteckenderes verwandeln würde, das viel weniger anfällig für die Umweltfaktoren wäre, die ihn hier in Maine eingehen lassen? Wenn der Ripley intelligent ist, ist er auch gefährlich. Und selbst wenn nicht

- was ist, wenn er den Grauen als eine Art Funkfeuer dient, als interstellares Leuchtzeichen, das auf unsere Welt hinweist

- lecker, lecker, kommt und holt euch die hier, diese Jungs schmecken gut ... und es gibt jede Menge davon?« »Sie meinen also: Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Kurtz lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und strahlte. »Mit einem Wort: Ja.«

Tja, dachte Owen, auf unsere eigenen Leute passen wir auf. Wir sind gnadenlos, wenn es sein muss, aber sogar Kurtz passt auf seine Bürschchen auf. Zivilisten hingegen sind nur Zivilisten. Wenn man sie hait verbrennen muss, fangen sie ziemlich schnell Feuer.

»Falls Sie bezweifeln, dass es einen Gott gibt, und dass Er auch nur ein wenig Seiner Zeit damit verbringt, auf den guten alten Homo S. aufzupassen, dann sollten Sie sich mal anschauen, wie wir nach dieser Sache dastehen«, sagte Kurtz. »Die Leuchtfeuer kamen früh und wurden gemeldet -und eine dieser Meldungen stammte von dem Ladeninhaber hier persönlich, von Reginald Gosselin. Dann kommen die Grauen in der einzigen Zeit im Jahr, in der sich in diesen gottverlassenen Wäldern überhaupt Menschen aufhalten, und zwei davon sehen das Schiff abstürzen.«

»Das war Glück.«

»Das war die Gnade Gottes. Ihr Schiff stürzt ab, man weiß von ihrer Anwesenheit, und die Kälte bringt sowohl sie selbst wie auch diesen galaktischen Schimmelpilz um, den sie mitgebracht haben.« Er zählte die Punkte rasch an seinen langen Fingern ab, und seine weißen Augenwimpern blinzelten dabei. »Und das ist noch nicht alles. Sie implantieren etwas, und die gottverdammten Dinger funktionieren nicht -statt ein harmonisches Verhältnis mit ihrem Wirt einzugehen, werden sie zu Kannibalen und bringen ihn um.

Beim Abschlachten der Tiere ist alles gut verlaufen - wir haben gut hunderttausend Viecher gezählt, und an der Grenze nach Castle County findet jetzt ein mordsmäßiges Grillfest statt. Im Frühjahr und Sommer hätten wir uns auch um die Insekten sorgen müssen, die den Ripley aus der Zone herausgetragen hätten, aber nicht jetzt. Nicht im November. «

»Aber einige Tiere müssen durchgeschlüpft sein.« »Wahrscheinlich sowohl Tiere als auch Menschen. Aber der Ripley breitet sich langsam aus. Wir kriegen das in den

Griff, denn wir haben die große Mehrheit der infizierten Wirte im Sack, das Schiff ist zerstört, und was sie uns da mitgebracht haben, schwelt eher, als dass es lodernd brennt. Wir haben ihnen eine ganz einfache Botschaft übermittelt: Kommt in Frieden, oder kommt mit euren Strahlenkanonen, aber versucht es nicht noch mal so, denn das läuft nicht. Wir glauben nicht, dass sie wiederkommen, wenigstens nicht so schnell. Sie haben ein halbes Jahrhundert gebraucht, bis sie so weit gegangen sind. Wir bedauern bloß, dass wir das Schiff nicht für die Forscher-Eierköpfe sichern konnten ... aber es wäre wahrscheinlich ohnehin zu sehr mit Ripley verseucht gewesen. Wissen Sie, was unsere größte Furcht gewesen ist? Dass entweder die Grauen oder der Ripley eine Ty-phoid Mary finden, jemanden, der es aufnehmen und verbreiten kann, ohne sich selbst damit anzustecken.«

»Sind Sie sicher, dass es so jemanden nicht gibt?«

»So gut wie. Falls doch ... tja, dafür haben wir ja den Kordon.« Kurtz lächelte. »Wir haben Schwein gehabt, Soldat. Eine Typhoid Mary ist unwahrscheinlich, die Grauen sind tot, und der Ripley ist in Jefferson Tract eingeschlossen. Glück oder Gott. Entscheiden Sie.«

Kurtz senkte den Kopf und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken, wie jemand, der eine Nebenhöhlenentzündung hatte. Als er wieder hochsah, waren seine Augen feucht. Krokodilstränen, dachte Owen, aber so ganz sicher war er sich da nicht. Er hatte keinen Zugriff mehr auf Kurtz' Gedanken. Entweder war die Telepathie-Welle schon zu weit abgeklungen, oder Kurtz hatte eine Methode entdeckt, wie er die Tür zuknallen konnte. Doch als Kurtz wieder das Wort ergriff, war sich Owen fast sicher, hier den wahren Kurtz zu hören, ein menschliches Wesen, und nicht Tick-Tock, das Krokodil.

»Das war's dann für mich, Owen. Sobald dieser Auftrag erledigt ist, mache ich Schicht. Hier ist noch Arbeit für vier Tage, würde ich sagen - vielleicht auch für eine Woche, wenn der Sturm wirklich so schlimm wird wie vorhergesagt-, und schön wird es nicht, aber der eigentliche Albtraum steht uns morgen früh bevor. Ich könnte mein Ende wohl noch etwas hinauszögern, aber nach dieser Sache ... tja, ich bin ja voll pensionsberechtigt, und ich werde sie vor die Wahl stellen: Zahlt mich aus oder legt mich um. Ich denke mal, sie werden zahlen, denn ich weiß von zu vielen Leichen im Keller - das ist eine Lektion, die ich von J. Edgar Hoover gelernt habe -, aber ich bin schon fast so weit, dass mir das egal ist. Das ist nicht der brutalste Einsatz, an dem ich je beteiligt war, in Haiti haben wir in einer einzigen Stunde achthundert umgelegt - das war 1989, und ich träume immer noch davon -, aber das hier ist schlimmer. Viel schlimmer. Denn diese armen Idioten da draußen im Stall und auf der Koppel und im Pferch ... das sind Amerikaner. Das sind Leute, die Chevys fahren, bei Kmart einkaufen und keine Folge von Emergency Room verpassen. Bei dem Gedanken, Amerikaner zu erschießen, Amerikaner zu massakrieren ... dreht sich mir der Magen um. Ich mache das nur, weil es gemacht werden muss, um dieses Geschäft abzuschließen, und weil die meisten von ihnen ohnehin bald sterben würden, und zwar viel grausamer. Capish?«

Owen Underhill erwiderte nichts. Sein Gesicht konnte er ausdruckslos bewahren, aber wenn er etwas sagte, würde er damit wahrscheinlich verraten, dass ihm vor Entsetzen flau im Magen war. Er hatte zwar gewusst, dass das kommen würde, aber es jetzt wirklich auch zu hören ...

Vor seinem geistigen Auge sah er die Soldaten durch den Schnee auf den Zaun zugehen, hörte, wie Lautsprecher die Internierten aus dem Stall herbeiriefen. Er hatte noch nie an einem solchen Einsatz teilgenommen, hatte Haiti verpasst, aber er wusste, wie so etwas ablaufen sollte. Wie es ablaufen würde.

Kurtz beobachtete ihn aufmerksam.

»Ich sage nicht, dass ich Ihnen diesen Blödsinn verziehen habe, den Sie heute Nachmittag verzapft haben. Das ist jetzt zwar kalter Kaffee, aber Sie sind mir was schuldig, Bursche. Ich muss nicht Gedanken lesen können, um zu wissen, wie Sie das finden, was ich Ihnen da erzähle, und ich werde keine Spucke darauf verschwenden, Ihnen zu sagen, dass Sie endlich erwachsen werden und sich der Realität stellen sollen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich Sie brauche. Sie müssen mir dieses eine Mal helfen.«

Die feuchten Augen. Das schwache, kaum merkliche Zucken der Mundwinkel. Man konnte leicht vergessen, dass Kurtz keine zehn Minuten zuvor einem Mann den Fuß zerschossen hatte.

Owen dachte: Wenn ich ihm dabei helfe, dann bin ich, ob ich nun selber abdrücke oder nicht, genauso verdammt wie die Männer, die die Juden ins Lager Bergen-Belsen gescheucht haben.

»Wenn wir um elf anfangen, können wir um halb zwölf damit fertig sein«, sagte Kurtz. »Allerspätestens um zwölf. Dann haben wir das hinter uns.«

»Bis auf die Albträume.«

»Ja. Bis auf die Albträume. Werden Sie mir helfen, Owen?«

Owen nickte. Er war schon so weit gekommen und würde jetzt nicht aufgeben - ob er nun verdammt war oder nicht. Das Mindeste, was er tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass es gnädig ablief ... so gnädig ein Massenmord eben sein konnte. Später wurde ihm die tödliche Absurdität dieses Gedankens bewusst, aber wenn man mit Kurtz zusammen war, fast auf Tuchfühlung und mit Blickkontakt, war es zu viel verlangt, die Dinge nüchtern und sachlich zu sehen. Sein Wahnsinn war wahrscheinlich letztlich viel ansteckender als der Ripley.

»Gut.« Kurtz lehnte sich auf seinem Schaukelstuhl zurück und wirkte erleichtert und ausgelaugt. Er holte wieder seine Zigaretten hervor, spähte in die Schachtel und hielt sie Owen hin. »Noch zwei übrig. Möchten Sie?«

Owen schüttelte den Kopf. »Diesmal nicht, Boss.«

»Dann sehen Sie zu, dass Sie rauskommen. Falls nötig, gehen Sie rüber zur Krankenstation und lassen sich ein paar Schlaftabletten geben.«

»Ich glaube nicht, dass ich das brauche«, sagte Owen. Er hätte sie natürlich gebraucht - er brauchte sie jetzt schon -, aber er würde sie nicht einnehmen. Lieber lag er wach.

»Also gut. Dann los.« Kurtz ließ ihn bis zur Tür gehen. »Äh, Owen?«

Owen drehte sich um und schloss den Reißverschluss an seinem Parka. Jetzt hörte er draußen den Wind. Er fing richtig an zu tosen, wie er das bei dem relativ harmlosen Alberta Clipper nicht getan hatte, der am Vormittag durchgezogen war.

»Danke«, sagte Kurtz. Eine große, groteske Träne trat ihm aus dem linken Auge und rann ihm die Wange hinab. Kurtz schien es nicht zu bemerken. In diesem Moment liebte und bedauerte ihn Owen. Trotz allem und wider besseres Wissen. »Danke, Bursche.«

Henry stand im dichter werdenden Schneefall, drehte dem Wind den Rücken zu, schaute über seine linke Schulter zu dem Winnebago hinüber und wartete, dass Underhill herauskam. Er war jetzt allein - die anderen hatten im Stall, wo ein Heizgerät stand, Zuflucht vor dem Sturm gesucht. In der Wärme wucherten bestimmt bereits die Gerüchte, vermutete Henry. Immer noch lieber Gerüchte als die Wahrheit, die sie direkt vor Augen hatten.

Er kratzte sich am Bein, wurde sich dann bewusst, was er da tat, schaute sich um und drehte sich dabei einmal im Kreis. Keine Häftlinge und keine Wachen. Auch im dichten Schneefall noch war das Lager fast taghell erleuchtet, und er konnte in alle Richtungen gut sehen. Zumindest vorläufig war er allein.

Henry bückte sich und band das Hemd auf, das er um die Stelle geknotet hatte, an der der Blinkerhebel ihn verletzt hatte. Dann zog er den Schlitz in seinen Bluejeans auseinander. Die Männer, die ihn festgenommen hatten, hatten hinten in ihrem Wagen, wo bereits fünf weitere Flüchtige untergebracht waren (auf dem Weg zu Gosselin's hatten sie dann noch drei weitere eingesammelt), die gleiche Untersuchung an ihm durchgeführt. Da war er sauber gewesen.

Jetzt war er nicht mehr sauber. Ein zarter Faden roter Spitze wuchs aus dem Schorf mitten in der Wunde. Wenn er nicht gewusst hätte, wonach er suchen musste, hätte er es fälschlicherweise für ein Blutrinnsal gehalten.

Byrus, dachte er. Na dann prost Mahlzeit.

Ein Licht blitzte am oberen Rand seines Gesichtsfelds auf. Henry richtete sich auf und sah Underhill die Tür des Win-nebago hinter sich schließen. Schnell band sich Henry das Hemd wieder um den Riss in seinen Jeans und ging dann zum Zaun. Eine Stimme in seinem Kopf fragte ihn, was er tun würde, wenn er Underhill etwas zuriefe und der Mann einfach weiterginge. Dann wollte die Stimme auch noch wissen, ob Henry wirklich vorhatte, Jonesy zu opfern.

Er sah Underhill im grellen Licht der Lagerscheinwerfer herbeitrotten, den Kopf vor dem Schnee und dem immer tosenderen Wind eingezogen.

8

Die Tür schnappte zu. Kurtz saß da und betrachtete sie, rauchend und langsam schaukelnd. Wie viel von diesem Sermon hatte ihm Owen abgekauft? Owen war klug, Owen behielt immer den Kopf oben, Owen war nicht ohne Idealismus ... und Kurtz glaubte, dass ihm Owen das alles fast bis auf die letzte Kleinigkeit abgekauft hatte. Denn letztlich glaubten die meisten Menschen, was sie glauben wollten. John Dillin-ger war auch so ein Überlebenskünstler gewesen, der gerissenste Desperado der Dreißigerjahre, und trotzdem war er mit Anna Sage ins Biograph Theater gegangen. Manhattan Melodrama wurde gegeben, und nach der Vorführung knallten FBIIer Dillinger in einer Seitenstraße vor dem Theater ab wie einen Hund, der er ja auch gewesen war. Anna Sage hatte auch geglaubt, was sie hatte glauben wollen, und trotzdem hatte man sie nach Polen abgeschoben.

Niemand bis auf seinen handverlesenen Kader würde morgen Gosselin's Store verlassen - die zwölf Männer und zwei Frauen, aus denen Imperial Valley bestand. Owen Underhill würde nicht dabei sein, hätte aber dabei sein können. Bis Owen die Grauen auf den Gemeinschaftskanal gelegt hatte, hatte Kurtz ihn dabeihaben wollen. Aber die Dinge änderten sich. Das hatte Buddha gesagt, und damit hatte der schlitzäugige alte Heide wenigstens einmal die Wahrheit gesprochen.

»Du hast mich enttäuscht, Bursche«, sagte Kurtz. Er hatte sich zum Rauchen die Maske heruntergezogen, und beim Sprechen bewegte sie sich nun auf seiner graustoppeligen Kehle auf und ab. »Du hast mich enttäuscht.« Kurtz hatte es Owen Underhill einmal durchgehen lassen, dass er ihn enttäuscht hatte. Aber ein zweites Mal?

»Niemals«, sagte Kurtz. »Nie im Leben.«

Die Fahrt nach Süden


Mr. Gray lenkte das Schneemobil in eine Schlucht mit einem schmalen, gefrorenen Bach hinab. Daran entlang legte er die letzte Meile zum Interstate Highway 95 zurück. Zwei-, dreihundert Meter von den Scheinwerfern der Armeefahrzeuge entfernt (es waren nur wenige, und sie fuhren langsam durch den hohen Schnee), blieb er lange genug stehen, um den Teil von Jonesys Geist zu befragen, auf den er - es - zugreifen konnte. Dort waren Akten über Akten, die keinen Platz in Jonesys kleiner Bürofestung gefunden hatten, und Mr. Gray fand ganz einfach, wonach er suchte. Es gab keinen Schalter, um den Scheinwerfer des Schneemobils abzuschalten. Mr. Gray schwang Jonesys Beine vom Sitz, suchte sich einen Stein, hob ihn mit Jonesys rechter Hand auf und schlug damit den Scheinwerfer ein. Dann stieg er wieder auf und fuhr weiter. Das Schneemobil hatte fast keinen Sprit mehr, aber das war nicht weiter schlimm; das Fahrzeug hatte seinen Zweck erfüllt.

Die Röhre, die den Bach unter dem Highway durchführte, war groß genug für das Schneemobil, nicht aber für Schneemobil und Fahrer. Mr. Gray stieg ab. Neben dem Schneemobil stehend, gab er Gas und jagte die Maschine holpernd und schräg in die Röhre. Sie blieb schon nach drei, vier Metern stecken, aber das reichte, damit sie aus der Luft nicht zu sehen war, wenn der Schneefall nachließ und Luftaufklärung wieder möglich wurde.

Mr. Gray ließ Jonesy die Böschung zum Highway hochsteigen. Er blieb kurz vor der Leitplanke stehen und legte sich dann dort auf den Rücken. Hier war er vorläufig vor dem schlimmsten Wind geschützt. Der Anstieg hatte einen letzten kleinen Rest Endorphine freigesetzt, und Jonesy spürte, wie sein Entführer sie kostete und genoss, wie Jonesy vielleicht an einem frischen Oktobernachmittag nach einem Footballspiel einen Cocktail genossen hätte oder auch ein heißes Getränk.

Ihm wurde klar, dass er Mr. Gray hasste.

Dann war Mr. Gray als Wesen — als etwas, das sich auch hassen ließ - wieder verschwunden, war ersetzt worden durch die Wolke, die Jonesy in der Hütte gesehen hatte, als diesem Wesen der Kopf geplatzt war. Es ging auf Gedankenfang, wie es das auch bei Emil Brodsky gemacht hatte. Es hatte Brodsky gebraucht, weil sich Informationen darüber, wie man das Schneemobil startete, nicht in Jonesys Akten fanden. Jetzt brauchte es wieder etwas. Vermutlich eine Mitfahrgelegenheit.

Und was war hier noch übrig? Was bewachte noch das Büro, in dem der letzte Rest von Jonesy kauerte - von Jonesy, der aus seinem eigenen Körper geschüttelt worden war wie ein Fussel aus einer Hosentasche? Die Wolke natürlich; das Zeug, das Jonesy eingeatmet hatte. Etwas, das ihn hätte töten können, ihn aber aus irgendeinem Grunde nicht getötet hatte.

Die Wolke konnte nicht denken, jedenfalls nicht so wie Mr. Gray. Der Herr der Hauses (das war nun leider Mr. Gray und nicht mehr Mr. Jones) war verreist und hatte das Haus in der Obhut der Thermostate, des Kühlschranks, des Herdes zurückgelassen. Und, falls es Ärger gab, des Rauchmelders und der Alarmanlage, die automatisch die Polizei rief.

Trotzdem konnte er, wenn Mr. Gray fort war, vielleicht das Büro verlassen. Nicht um wieder die Kontrolle zu erlangen; wenn er das versuchte, würde die rotschwarze Wolke es melden, und Mr. Gray würde auf der Stelle von seinem Erkundungsausflug zurückkehren. Jonesy würde bestimmt gefasst werden, ehe er sich wieder in das sichere Büro der Gebrüder Tracker zurückziehen konnte, mit dem schwarzen Brett und dem staubigen Fußboden und diesem einen schmutzverklebten Fenster hinaus in die Welt ... nur dass dort vier halbmondförmige saubere Stellen in diesem Schmutz waren, nicht wahr? Stellen, wo einmal vier Jungen die Stirn dagegen gedrückt hatten, weil sie hofften, ein Bild zu sehen, das jetzt dort ans schwarze Brett gepinnt war: Tina Jean Schlossinger, die ihren Rock hochhielt.

Nein, es ging weit über seine Fähigkeiten, die Kontrolle wiederzuerlangen, und das nahm er besser so hin, so bitter es auch war.

Aber vielleicht konnte er an seine Akten kommen.

Gab es irgendeinen Grund dafür, das zu riskieren? Irgendeinen möglichen Vorteil? Vielleicht schon, wenn er gewusst hätte, was Mr. Gray wollte. Von einer Mitfahrgelegenheit einmal abgesehen. Und apropos: Wohin wollte er denn fahren?

Die Antwort kam unerwartet, denn sie kam mit Duddits' Stimme: Üdn. Issa Äi /// na Üdn.

Mr. Gray will nach Süden.

Jonesy ging einen Schritt von seinem schmutzigen Fenster mit Blick auf die Welt zurück. Dort draußen war jetzt sowieso nicht viel zu sehen - Schnee und schemenhaft dunkle Bäume. Der Schnee von heute Morgen war die Vorspeise gewesen, und nun kam der Hauptgang.

Mr. Gray will nach Süden.

Wie weit? Und wieso? Was sollte das alles?

Zu diesen Fragen schwieg Duddits.

Jonesy drehte sich um und sah mit Erstaunen, dass die Streckenkarte und das Bild des Mädchens nicht mehr am schwarzen Brett hingen. Stattdessen hingen dort nun vier Farbfotos, Schnappschüsse mit je einem Jungen drauf. Der Hintergrund war immer der gleiche: die Junior High School in

Derry; und die Bildunterschrift auch: Schulzeit 1978. Jone-sy selbst war ganz links, mit einem arglosen Grinsen von einem Ohr zum anderen, das ihm jetzt fast das Herz brach. Daneben Biber, und das Grinsen des Bibers entblößte die Zahnlücke in der Mitte; den Zahn hatte er sich bei einem Sturz vom Skateboard ausgeschlagen, und er war erst gut ein Jahr später ersetzt worden ... jedenfalls bevor er auf die High School kam. Pete mit seinem breiten Gesicht, dem olivefarbe-nen Teint und dem schändlich kurzen Haar, wofür sein Vater immer sorgte, der meinte, er habe nicht in Korea gekämpft, damit sein Sohn dann wie ein Hippie herumlaufe. Und schließlich Henry, Henry mit seiner dicken Brille, bei der Jonesy an Danny Dünn, den Kinderdetektiv, denken musste, den Held der Krimis, die Jonesy als kleiner Junge gelesen hatte.

Biber, Pete, Henry. Wie hatte er sie geliebt, und wie unfair plötzlich waren ihre langjährigen Freundschaftsbande gekappt worden. Nein, das war alles andere als fair -

Mit einem Mal erwachte das Bild von Biber Clarendon zum Leben, was Jonesy einen Heidenschreck einjagte. Biber bekam große Augen und sprach mit leiser Stimme: »Sein Kopf war ab, weißt du noch? Er lag im Graben, und seine Augen waren voller Schlamm. So ein Kackorama! Heilige Filzlaus!«

O Gott, dachte Jonesy, als es ihm wieder einfiel: die Sache mit dem ersten Jagdausflug zu ihrer Hütte, die er fast vergessen hatte ... oder verdrängt. Hatten sie alle es verdrängt? Vielleicht schon. Wahrscheinlich. Denn in all den Jahren seither hatten sie über alles in ihrer Kindheit gesprochen, über alle gemeinsamen Erinnerungen ... nur über die eine nicht.

Sein Kopf war ab ... seine Augen waren voller Schlamm.

Damals war etwas mit ihnen passiert, das mit dem zusammenhing, was jetzt mit ihm passierte.

Wenn ich nur wüsste, was es war, dachte Jonesy. Wenn ich das nur wüsste.

Andy Janas hatte die übrigen drei Wagen seiner kleinen Gruppe aus den Augen verloren - hatte sie weit zurückgelassen, weil sie, im Gegensatz zu ihm, nicht daran gewöhnt waren, bei so einem Scheißwetter zu fahren. Er war im nördlichen Minnesota aufgewachsen und war so etwas von klein auf gewöhnt. Er saß allein in einem der besseren Armeefahrzeuge von Chevrolet, einem umgebauten Pickup mit Allradantrieb, und den hatte er heute Abend auch aktiviert. Er war ja schließlich nicht auf den Kopf gefallen.

Doch der Highway war größtenteils frei; ein paar Army-Schneepflüge waren die Strecke gut eine Stunde zuvor abgefahren (er würde sie bald einholen, schätzte er, und dann würde er abbremsen und wie ein braver Junge hinter ihnen herzockeln), und seither hatten sich nur fünf, sechs Zentimeter auf dem Beton niedergelassen. Das wahre Problem war der Wind, der die Schneeflocken aufwirbelte und einem die Sicht nahm. Aber man konnte sich ja an den Rückstrahlern der Leitplanke orientieren. Die Rückstrahler im Blick zu behalten -das war der Trick, den die anderen Blödmänner nicht kannten ... oder vielleicht waren bei den Lastern und Humvees die Scheinwerfer auch zu hoch angebracht und die Rückstrahler deshalb nicht gut sichtbar. Und bei richtigem Schneegestöber verschwanden die Rückstrahler auch ganz; die gesamte Welt wurde weiß, und man musste den Fuß vom Gaspedal nehmen, bis der Wind wieder nachließ, und nur versuchen, nicht von der Straße abzukommen. Es würde schon werden, und falls irgendwas passierte, stand er ja in Funkkontakt. Außerdem folgten dichtauf weitere Schneepflüge, die die nach Süden führende Spur des Highways von Presque Isle bis ganz nach Millinocket freihielten.

Hinten auf der Ladefläche hatte er zwei dreifach verpackte Lieferungen. In der einen waren die Kadaver zweier Hirsche, die an Ripley gestorben waren. In der anderen - und das fand Janas mäßig bis ernstlich grausig - befand sich die Leiche eines Grauen, die sich allmählich in eine Art rötlich orangefarbene Suppe verwandelte. Beide Pakete waren für die Ärzte der Blue Base bestimmt, die in einem Ort namens ...

Janas schaute zur Sonnenblende hoch. Daran steckten unter einem Gummiband ein Notizblatt und ein Kugelschreiber. Auf dem Zettel stand gekrakelt: gosselin's störe, AUSFAHRT 16, LINKS AB.

Er würde in einer Stunde dort sein. Vielleicht auch schon früher. Die Ärzte würden ihm zweifellos erzählen, sie hätten schon alle Tierproben, die sie brauchten, und man würde die Hirschkadaver verbrennen, aber den Grauen wollten sie ja vielleicht, wenn sich der kleine Kerl bis dahin nicht gänzlich in Brei verwandelt hatte. Die Kälte bremste diesen Vorgang vielleicht etwas, aber ob dem nun so war oder nicht, kümmerte Andy Janas nun wirklich nicht. Seine einzige Sorge bestand darin, dort anzukommen, die Proben abzugeben und dann auf die Besprechung mit demjenigen zu warten, der befugt war, Fragen über das nördliche - und stillste -Grenzgebiet der Quarantänezone zu stellen. Und während er dort wartete, würde er sich einen heißen Kaffee und eine Riesenportion Rührei besorgen. Und wenn die richtigen Leute da waren, bekam er vielleicht sogar Kaffee mit Schuss. Das wäre schön. Ein kleiner Schwatz und sich dann schön hinhocken und

Fahr rechts ran

Janas runzelte die Stirn, schüttelte den Kopf und kratzte sich dann am Ohr, als hätte ihn da irgendwas - ein Floh vielleicht - gestochen oder gebissen. Der gottverdammte Wind toste so, dass er den ganzen Pickup durchschüttelte. Der Highway verschwand und auch die Rückstrahler. Er war wieder völlig in Weiß gehüllt, und die anderen Jungs hatten jetzt bestimmt die Hosen gestrichen voll, aber nicht er, Andy »Lasst Mr. Minnesota mal machen« Janas, nimm einfach

nur den Fuß vom Gas (und vergiss das Bremspedal; wenn man in einem Schneesturm unterwegs war, war bremsen wirklich das Dümmste, was man tun konnte), fahr einfach im Leerlauf weiter und warte ab, dass Fahr rechts ran

»Ha?« Er sah zum Funkgerät, aber da war nichts, nur Rauschen und im Hintergrund dumpfes Geplapper.

Fahr rechts ran

»Au!«, schrie Janas und hielt sich den Kopf, in dem er plötzlich höllische Schmer/en hatte. Der olivgrüne Pickup brach aus, geriet ins Schlingern und fing sich dann wieder, als seine Hände instinktiv in die Spur lenkten. Er hatte immer noch den Fuß vom Gas, und der Tachozeiger des Chevy sank schnell nach links.

Die Schneepflüge hatten einen schmalen Pfad in der Mitte der beiden nach Süden führenden Spuren geräumt. Jetzt steuerte Janas in den Tiefschnee rechts neben seiner Spur, und unter den Reifen des Pickup stoben Schneeschleier auf, die der Wind schnell vertrieb. Die Rückstrahler an der Leitplanke leuchteten grell, funkelten im Dunkeln wie Katzenaugen.

Fahr hier rechts ran

Janas schrie auf vor Schmerz. Wie aus großer Ferne hörte er sich selber rufen: »Schon gut, schon gut, mach ich ja! Hör bloß auf damit! Hör auf zu ziehen]« Mit tränenden Augen sah er keine zwanzig Meter voraus hinter der Leitplanke eine dunkle Gestalt. Als die Scheinwerfer sie erfassten, sah er, dass es ein Mann war, der einen Parka trug.

Andy Janas' Hände schienen nicht mehr ihm zu gehören. Sie waren wie Handschuhe, in denen die Hände eines anderen Menschen steckten. Das war ein merkwürdiges und äußerst unangenehmes Gefühl. Sie drehten das Lenkrad gänzlich ohne seine Mithilfe weiter nach links, und der Pickup kam vor dem Mann im Parka zum Stehen.

Das war seine Chance, denn Mr. Gray war vollkommen abgelenkt. Jonesy ahnte, wenn er noch weiter überlegte, würde er sich nicht trauen, und deshalb dachte er nicht weiter darüber nach. Er handelte einfach, drückte den Riegel an der Bürotür mit dem Handballen zurück und riss die Tür auf.

Er war als Kind nie im Gebäude der Gebrüder Tracker gewesen (und den schweren Sturm von 1985 hatte es nicht überstanden), war sich aber ziemlich sicher, dass es nie so ausgesehen hatte wie das, was er jetzt sah. Von dem schmuddeligen Büro kam man in einen Raum, der so riesig war, dass Jonesy nicht bis ans andere Ende sehen konnte. Oben erstreckten sich endlose Reihen von Neonröhren. Und darunter, zu ansehnlichen Säulen aufgestapelt, standen Millionen Pappkartons.

Nein, dachte Jonesy. Nicht Millionen. Milliarden. Billionen.

Ja, Billionen kam schon eher hin. Dazwischen verliefen tausende schmale Gänge. Er stand am einen Ende des Lagerhauses der Ewigkeit, und der Gedanke, hier irgendetwas zu finden, wirkte lächerlich. Wenn er sich von der Tür zu seinem Büroversteck entfernte, hätte er sich im Handumdrehen verlaufen. Mr. Gray hätte sich dann nicht mehr um ihn kümmern müssen; Jonesy wäre bis zu seinem Tod umhergeirrt, verloren in einem irrsinnigen Labyrinth aus aufgestapelten Kartons.

Das stimmt nicht. Ich würde mich da genauso wenig verlaufen wie in meinem eigenen Schlafzimmer. Und ich würde auch nicht groß nach etwas suchen müssen. Ich bin hier zu Hause. Willkommen in deinem eigenen Kopf, du Blitzmerker.

Die Idee war so überwältigend, dass er sich ganz schwach dabei fühlte ... aber Schwäche konnte er sich jetzt nicht erlauben - und auch kein Zaudern. Mr. Gray, der allseits beliebte Eroberer aus den Weiten des Alls, würde nicht lange mit dem Fahrer beschäftigt sein. Wenn Jonesy einige dieser Akten in Sicherheit bringen wollte, dann musste er sich beeilen. Die Frage war nur: Welche sollte er nehmen?

Duddits, flüsterte es in ihm. Das hat etwas mit Duddits zu tun. Das weißt du. Du hast in letzter Zeit oft an ihn denken müssen. Die anderen Jungs haben auch an ihn gedacht. Duddits war es, der dich und Henry und Pete und Biber zusammengehalten hat — das habt ihr immer gewusst, und jetzt weißt du noch etwas, nicht wahr?

Ja. Er wusste, dass der Unfall im März dadurch ausgelöst worden war, dass er sich eingebildet hatte zu sehen, wie Duddits von Richie Grenadeau und seinen Freunden wieder gehänselt wurde. Aber »gehänselt« war eine lächerlich schwache Bezeichnung dafür, was an diesem Tag hinter dem Gebäude der Gebrüder Tracker vorgegangen war, oder etwa nicht? Gefoltert traf es eher. Und als er gesehen hatte, wie diese Folter wiederholt werden sollte, war er auf die Straße gerannt, ohne nach links und rechts zu schauen, und -

Sein Kopf war ab, sprach Bibers Stimme plötzlich aus den Deckenlautsprechern des Lagerraums, und seine Stimme war so laut und kam so plötzlich, dass Jonesy zusammenzuckte. Er tag im Graben, und seine Augen waren voller Schlamm. Und früher oder später ist jeder Mörder dran. Was für ein Kackorama!

Richies Kopf. Der Kopf von Richie Grenadeau. Und Jonesy hatte keine Zeit dafür. Er war unbefugterweise in seinen eigenen Kopf eingedrungen und tat besser daran, sich zu beeilen.

Als er zum ersten Mal in dieses riesige Lager geschaut hatte, hatten alle Kartons gleich ausgesehen und waren un-beschriftet gewesen. Jetzt sah er, dass auf denen direkt vor ihm mit schwarzem Fettstift duddits geschrieben stand. Kam das jetzt überraschend? War es einfach Glück? Nicht im Mindesten. Das waren schließlich seine Erinnerungen, die da fein säuberlich in diesen Billionen Kartons lagerten, und ein gesundes Hirn konnte eben ziemlich beliebig auf die eigenen Erinnerungen zugreifen.

Ich brauche irgendwas, womit ich sie transportieren kann, dachte Jonesy, und als er sich umsah, war er nicht sonderlich erstaunt, dort einen knallroten Kofferkuli zu sehen. Das war hier ein magischer Ort, wo man im Handumdrehen alles Mögliche erschuf, und das Fantastischste daran war, fand Jonesy, dass jeder Mensch so etwas hatte.

Hastig lud er einige Kartons mit der Aufschrift duddits auf den Wagen und schob ihn dann im Laufschritt in das Büro der Gebrüder Tracker. Er lud sie ab, indem er den Kofferkuli neigte und sie auf den Boden kippte. Alles durcheinander, aber um seinen Ruf als Hausmann konnte er sich später Sorgen machen.

Er lief wieder raus und sah sich nach Mr. Gray um, aber Mr. Gray war immer noch mit dem Fahrer beschäftigt ... Janas war sein Name. Da war die Wolke, aber die Wolke nahm ihn nicht wahr. Sie war so dumm wie ... tja, so dumm wie ein Pilz.

Jonesy holte die restlichen DuDDirs-Kisten und sah, dass der nächste Stapel nun auch mit Fettstift beschriftet war. Auf diesen Kartons stand derry, und es waren zu viele, um sie alle mitzunehmen. Fragte sich nur, ob er einige davon brauchte oder nicht.

Er dachte darüber nach, während er die zweite Ladung Gedächtniskisten ins Büro fuhr. Die Derry-Kisten standen natürlich neben den Duddits-Kisten; Erinnerung war sowohl der Akt als auch die Kunst der Assoziation. Blieb nur die Frage, ob seine Derry-Erinnerungen eine wichtige Rolle spielten oder nicht. Woher sollte er das wissen, wenn er nicht wusste, was Mr. Gray vorhatte?

Aber er wusste es doch.

Mr. Gray will nach Süden.

Derry lag im Süden.

Jonesy sprintete zurück ins Erinnerungslager und schob dabei den Wagen vor sich her. Er würde so viele Kisten mit der Aufschrift derry mitnehmen, wie er konnte, und hoffen, dass es die richtigen waren. Er würde auch hoffen, dass er Mr. Grays Rückkehr noch rechtzeitig bemerkte. Denn wenn er sich hier draußen erwischen ließ, würde er geklatscht werden wie eine Fliege.

Janas sah entsetzt zu, wie seine linke Hand ausgestreckt wurde und auf der Fahrerseite des Pickup die Tür öffnete, wie Kälte hereinkam, Schnee und der nicht nachlassende Wind. »Tun Sie mir bitte nicht mehr weh, Mister, bitte nicht, ich nehme Sie gern ein Stückchen mit, wenn es das ist, was Sie wollen, aber tun Sie mir nicht mehr weh, mein Kopf -«

Plötzlich rauschte Andy Janas etwas durch den Kopf. Es war wie ein Wirbelwind mit Augen. Janas spürte, wie dieses etwas in seinen gegenwärtigen Befehlen herumschnüffelte, seiner erwarteten Ankunftszeit in der Blue Base ... und darin, was er über Derry wusste: nichts. Seine Anweisungen hatten ihn durch Bangor geführt, und in Derry war er nie im Leben gewesen.

Er spürte, wie sich der Wirbelwind zurückzog, und verspürte für einen Moment ekstatische Erleichterung - ich habe nicht, wonach es sucht, jetzt lässt es mich gehen -, nur um dann einzusehen, dass das Ding da in seinen Gedanken nicht die Absicht hatte, ihn gehen zu lassen. Zum einen brauchte es den Wagen. Und zum anderen musste es ihn zum Schweigen bringen.

Janas brachte eine kurze, aber erbitterte Gegenwehr zustande. Dieser unerwartete Widerstand war es, der Jonesy die Zeit ließ, wenigstens einen Stapel Kisten mit der Aufschrift derry zu holen. Dann gewann Mr. Gray wieder die Oberhand über Janas' motorische Kontrolle.

Janas sah, wie seine Hand zur Sonnenblende hochfuhr. Seine Finger packten den Kugelschreiber und zerrten ihn los, zerrissen dabei das Gummiband, das ihn hielt.

Nein!, schrie Janas, aber es war zu spät. Er sah noch ein schimmernd dahinrasendes Glitzern, als ihm seine Hand, die den Kugelschreiber wie einen Dolch gepackt hielt, den Stift ins Auge rammte. Dann erscholl ein platzendes Geräusch, und er zitterte am Lenkrad hin und her wie eine ungeschickt gelenkte Marionette, während seine Faust den Stift tiefer und immer tiefer hineinstieß, erst bis zur Hälfte, dann drei Viertel, und ihm sein geborstener Augapfel jetzt wie eine monströse Träne die Wange hinablief. Die Spitze stieß auf etwas, das sich wie ein Knorpel anfühlte, wurde dadurch kurz aufgehalten und drang dann weiter in seine Gehirnmasse vor.

Du Schwein, dachte er, was bist du denn, du Schw-

Ein letzter, strahlend heller Lichtblitz zuckte durch seinen Kopf, und dann wurde alles dunkel. Janas sackte aufs Lenkrad. Die Hupe des Pickup ertönte.

Mr. Gray hatte von Janas nicht viel geboten bekommen -hauptsächlich die unerwartete Gegenwehr am Ende -, aber er hatte deutlich mitbekommen, dass Janas nicht alleine war. Der Transportkonvoi, zu dem er gehörte, fuhr des Sturms wegen in großen Abständen, aber sie fuhren alle zu dem einen Ort, den Janas in Gedanken sowohl als Blue Base als auch als Gosselin's bezeichnet hatte. Dort gab es einen Mann, vor dem Janas Angst hatte, den Befehlshaber dort, aber Mr. Gray hätte sich gar nicht weniger für das Schreckgespenst Kurtz / den Boss / den verrückten Abe interessieren können. Und er musste sich auch nicht dafür interessieren, denn er hatte nicht vor, auch nur in die Nähe des Gosselin's Store zu kommen. Dieser Ort war irgendwie anders, und auch diese Spezies, obwohl nur begrenzt empfindungsfähig und größtenteils aus Emotionen aufgebaut, war irgendwie anders. Sie wehrten sich. Mr. Gray hatte keine Ahnung, warum, aber sie wehrten sich tatsächlich.

Am besten machte man ein schnelles Ende. Und für dieses Ende hatte er ein ausgezeichnetes Liefersystem entdeckt.

Mit Jonesys Händen zerrte Mr. Gray Janas hinterm Lenkrad hervor und trug ihn zur Leitplanke. Er warf die Leiche hinüber und nahm sich nicht die Zeit zuzusehen, wie sie den Hang hinab in das zugefrorene Flussbett stürzte. Er ging zurück zum Wagen, den Blick dabei starr auf die beiden in Plastik verpackten Bündel auf der Ladefläche gerichtet, und nickte dann. Die Tierkadaver taugten nichts. Das andere Bündel hingegen ... das würde nützlich sein. Darin wimmelte es nur so von etwas, das er brauchte.

Er sah unvermittelt hoch, und Jonesys Augen waren in dem Schneegestöber plötzlich weit aufgerissen. Der Besitzer dieses Körpers hatte sich aus seinem Versteck vorgewagt. War verletzlich. Gut, denn dieses Bewusstsein ärgerte ihn zusehends, ein unaufhörliches Gemurmel (das sich hin und wieder zu einem panischen Aufschrei erhob) auf der unteren Ebene seines Denkprozesses.

Mr. Gray hielt noch einen Moment lang inne und versuchte an gar nichts zu denken, damit Jonesy nicht die leiseste Warnung erhielt... und dann ging er zum Angriff über.

Er wusste nicht, was er erwartet hatte, das aber jedenfalls nicht.

Nicht dieses blendende weiße Licht.

Jonesy wäre fast übertölpelt worden. Wäre übertölpelt worden, hätte es die Neonröhren nicht gegeben, mit denen er seinen geistigen Lagerraum erleuchtete. Dieser Ort existierte zwar gar nicht, aber für ihn selbst war er doch real, und deshalb war er auch für Mr. Gray real, als Mr. Gray kam.

Jonesy, der den Kofferkuli mit den Kisten mit der Aufschrift derry schob, sah Mr. Gray wie von Zauberhand vorn in einem Gang zwischen hoch aufgestapelten Kartons auftauchen. Es war der rudimentäre Humanoid, der in der Hütte hinter ihm gestanden hatte, das Ding, das er im Krankenhaus besucht hatte. Die matten schwarzen Augen waren nun doch zum Leben erwacht, blickten gierig. Es hatte sich angeschlichen, hatte ihn außerhalb seiner Bürozuflucht ertappt und wollte ihn erledigen.

Doch dann zuckte sein unförmiger Kopf zurück, und ehe die dreifingrigen Hände die Augen bedecken konnten (es hatte keine Augenlider, nicht einmal Wimpern), sah Jonesy einen Ausdruck auf dieser grauen Skizze von einem Gesicht, bei dem es sich um Verblüffung handeln musste. Vielleicht sogar um Schmerz. Es war da draußen gewesen, im Schnee und der Dunkelheit, und hatte die Leiche des Fahrers beseitigt. Als es hier hereinkam, war es nicht auf diese grelle Supermarktbeleuchtung gefasst gewesen. Und er sah noch etwas: Der Außerirdische hatte sich den erstaunten Gesichtsausdruck von seinem Wirt geborgt. Für einen Moment war Mr. Gray eine gruslige Karikatur von Jonesy selbst.

Seine Überraschung verhalt Jonesy zum nötigen Vorsprung. Den Kofferkuli vor sich her schiebend, fast ohne es zu bemerken, und sich vorkommend wie die gefangene Prinzessin in irgendeinem durcheinander geratenen Märchen, lief er ins Büro. Er spürte mehr, als dass er sah, wie Mr. Gray mit seinen widerlichen dreifingerigen Händen nach ihm langte (die graue Haut darauf sah irgendwie roh aus, wie schon sehr lange liegendes ungekochtes Fleisch), und knallte die Bürotür genau vor ihnen zu. Er stieß sich mit der lädierten Hüfte am Kofferkuli, als er sich umdrehte -er nahm hin, dass er sich in seinem eigenen Kopf aufhielt, und nichtsdestotrotz blieb das alles vollkommen real -, und es gelang ihm eben noch, den Riegel vorzuschieben, ehe Mr. Gray den Türknauf umdrehen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen konnte. Zur Sicherheit drückte Jonesy auch noch das Schnappschloss im Türknauf hinein. War das Schloss zuvor schon dagewesen, oder war es neu? Er konnte sich nicht erinnern.

Jonesy trat schwitzend von der Tür zurück und stieß jetzt mit dem Hintern gegen den Griff des Kofferkulis. Vor ihm drehte sich der Türknauf immer wieder hin und her. Mr. Gray war da draußen und steuerte seinen restlichen Geist -und auch seinen Körper -, aber hier herein konnte er nicht. Er konnte die Tür nicht aufbrechen, hatte nicht die Kraft, sie aufzurammen, und nicht den nötigen Grips, um das Schloss zu knacken.

Wieso? Wie konnte das sein?

»Duddits«, flüsterte er. »Das hat alles mit Duddits zu tun. Kein Prall, kein Spiel.«

Der Türknauf klapperte. »Lass mich rein!«, knurrte Mr. Gray, und für Jonesy hörte er sich gar nicht an wie ein Abgesandter aus einer anderen Galaxie, sondern einfach wie jemand, der stinksauer war, dass ihm etwas verwehrt wurde. Lag das daran, dass er Mr. Grays Verhalten nach Maßstäben beurteilte, die er, Jonesy, verstand? Dass er den Außerirdischen vermenschlichte? Ihn übersetzte?

»Lass ... mich ... REIN!«

Jonesy entgegnete spontan: »Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein.« Und dachte dann: Und du musst jetzt sagen: »Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten!«

Aber Mr. Gray rüttelte nur noch vehementer am Türknauf. Er war es nicht gewöhnt, derart (oder überhaupt, dachte Jonesy) behindert zu werden, und war stinksauer. Janas' kurze Gegenwehr hatte ihn erstaunt, aber das hier war Widerstand auf einem gänzlich anderen Niveau.

»Wo bist du?«, rief Mr. Gray zornig. »Wie kannst du da drin sein? Komm raus!«

Jonesy antwortete nicht, stand nur inmitten der hingekippten Kartons und lauschte. Er war sich fast sicher, dass Mr. Gray nicht hereinkommen konnte, aber es war trotzdem besser, ihn nicht zu provozieren.

Und nachdem Mr. Gray noch etwas am Türknauf gerüttelt hatte, spürte Jonesy, wie er ihn in Ruhe ließ.

Jonesy ging zum Fenster, stieg dabei über die umgestürzten Kartons mit der Aufschrift duddits und derry und schaute hinaus in den Schnee und die Dunkelheit.

Mr. Gray setzte sich mit Jonesys Körper ans Steuer des Pick-up, knallte die Tür zu und trat aufs Gas. Der Wagen brauste los und verlor sofort die Straßenhaftung. Alle vier Reifen drehten durch, und der Wagen schlitterte, metallisch kreischend, mit einem Knall an die Leitplanke.

»Mist!«, brüllte Mr. Gray und griff dabei, fast ohne es zu merken, auf Jonesys Sprachschatz zurück. »Heilige Filzlaus! Knutsch mir die Kimme! Gekörnte Scheiße! Blas mir den Hobel aus!«

Dann hielt er inne und griff wieder auf Jonesys Fahrkenntnisse zu. Jonesy hatte einige Informationen über das Autofahren bei solchen Wetterverhältnissen, wenn auch längst nicht so viele wie Janas. Aber Janas war fort, seine Daten gelöscht. Was Jonesy wusste, musste reichen. Entscheidend war, das zu verlassen, was Janas in Gedanken »Q-Zone« genannt hatte. Außerhalb der Q-Zone war er in Sicherheit. Da hatte Janas keinen Zweifel gehabt.

Jonesys Fuß trat wieder aufs Gaspedal, diesmal aber viel behutsamer. Der Pickup setzte sich in Bewegung. Jonesys Hände steuerten den Chevrolet zurück auf die sich allmählich schließende Spur des Schneepflugs.

Unter dem Armaturenbrett meldete sich knackend das Funkgerät. »Tubby One, hier ist Tubby Four. Ich habe hier einen Sattelschlepper, der von der Straße abgekommen ist und umgestürzt auf dem Mittelstreifen liegt. Haben Sie verstanden?«

Mr. Gray konsultierte die Akten. Was Jonesy von militärischem Funkverkehr verstand, war kärglich und stammte größtenteils aus Büchern und etwas, das »Kino« hieß, aber vielleicht langte das ja. Er nahm das Mikrofon, tastete nach dem Knopf, den Jonesy offenbar seitlich daran vermutete, fand ihn und drückte drauf. »Verstanden«, sagte er. Würde Tubby Four merken, dass Tubby One nicht mehr Andy Janas war? Von Jonesys Akten ausgehend, glaubte Mr. Gray das kaum.

»Ein paar von uns richten ihn wieder auf und versuchen, ihn wieder fahrtüchtig zu machen. Er hat ausgerechnet das Essen geladen, verstanden?«

Mr. Gray drückte auf den Knopf. »Hat ausgerechnet das Essen geladen, verstanden.«

Es folgte eine längere Pause, lang genug, um sich zu fragen, ob er etwas Falsches gesagt hatte oder in irgendeine Falle getappt war, und dann sagte das Funkgerät: »Wir müssen wohl auf die nächsten Schneepflüge warten. Sie können genauso gut weiterfahren. Over?« Tubby Four hörte sich empört an. Jonesys Akten deuteten darauf hin, dass es daher kam, dass Janas mit seinem überragenden Fahrkönnen zu weit voraus war, um helfen zu können. Das war gut so. Er wäre sowieso weitergefahren, aber es war gut, dass er von Tubby Four die offizielle Erlaubnis dazu bekommen hatte, wenn das denn so etwas war.

Er sah in Jonesys Akten nach (die er nun sah, wie auch Jonesy sie sah: in Kisten in einem riesigen Saal) und sagte: »Verstanden. Tubby One, over and out.« Und dann schickte er noch hinterher: »Und einen schönen Abend noch.«

Dieses weiße Zeug war abscheulich. Tückisch und gefährlich. Trotzdem riskierte es Mr. Gray, ein bisschen schneller zu fahren. Solange er sich in dem Bereich aufhielt, der von den Streitkräften des Schreckgespenstes Kurtz beherrscht wurde, schwebte er in Gefahr. Sobald er aber durch das Netz geschlüpft war, würde er seinen Auftrag sehr schnell abschließen können.

Was er brauchte, hatte mit einem Ort namens Derry zu tun, und als Mr. Gray wieder in den Lagersaal ging, musste er etwas Erstaunliches feststellen: Sein unfreiwilliger Gastgeber und Wirt hatte das entweder gewusst oder geahnt, denn es waren die Derry-Akten gewesen, die Jonesy umgeräumt hatte, als Mr. Gray wiedergekommen war und ihn fast erwischt hätte.

Mr. Gray, plötzlich besorgt, durchsuchte die verbliebenen Kisten und beruhigte sich dann.

Was er brauchte, war noch da.

Neben der Kiste mit den wichtigsten Informationen lag eine andere, ganz kleine und staubige Kiste. Auf der Seite stand mit schwarzem Stift das Wort duddits geschrieben. Wenn es noch andere Duddits-Kisten gab, dann waren sie weggeräumt. Nur diese hier war übersehen worden.

Eher aus Neugier (seine Neugier hatte er sich auch aus Jonesys Gefühls-Repertoire geborgt) machte Mr. Gray sie auf. Eine knallgelbe Plastikschachtel befand sich darin. Absonderliche Figuren tollten darauf herum, Gestalten, die laut Jonesys Akten einerseits »Zeichentrickfiguren« und andererseits die »Scooby-Doos« waren. Auf einem Klebeettikett auf der Schachtel stand: ich gehöre duddits cavell, 19 maple lane,

DERRY, MAINE. WENN SICH DER JUNGE, DEM ICH GEHÖRE, VERLAUFEN HAT, RUFEN SIE

Gefolgt von einigen Zahlen, die so blass und unleserlich waren, dass er sie nicht entziffern konnte, wahrscheinlich ein Kommunikations-Code, an den sich Jonesy nicht mehr erinnerte. Mr. Gray warf den gelben Plastikbehälter, der wahrscheinlich für die Aufbewahrung von Nahrungsmitteln bestimmt war, beiseite. Das musste nichts bedeuten ... aber wenn es nichts bedeutete, warum hatte Jonesy dann sein restliches Leben aufs Spiel gesetzt, indem er die übrigen DuDDixs-Kisten (und auch einige mit der Aufschrift derry) in Sicherheit gebracht hatte?

Duddits - Kindheitsfreund. Mr. Gray wusste das von seiner ersten Begegnung mit Jonesy im »Krankenhaus« ... und wenn er gewusst hätte, zu was für einem Ärgernis sich Jonesy entwickeln würde, dann hätte er das Bewusstsein seines Wirts auf der Stelle ausgelöscht. Weder der Begriff »Kindheit« noch der Begriff »Freund« hatten für Mr. Gray irgendeinen emotionalen Wert, aber er verstand, was sie bedeuteten. Er verstand bloß nicht, inwiefern Jonesys Kindheitsfreund etwas damit zu tun haben konnte, was heute Abend passierte.

Eine mögliche Erklärung fiel ihm ein: Sein Wirt war wahnsinnig geworden. Aus seinem eigenen Körper vertrieben zu sein, hatte ihn geisteskrank gemacht, und er hatte einfach die Kisten genommen, die der Tür seiner verblüffenden Festung am nächsten standen, und hatte ihnen in seinem Wahnsinn eine Bedeutung beigemessen, die ihnen gar nicht zukam.

»Jonesy«, sagte Mr. Gray und sprach den Namen mit Jonesys Stimmbändern aus. Diese Wesen waren geniale Mechaniker (das mussten sie natürlich auch sein, um in einer so kalten Welt zu überleben), aber ihre Gedankengänge waren eigenartig und verkrüppelt: ohnehin rostige Gehirnwindungen noch in korrosive Gefühlspfützen getunkt. Ihre telepathischen Fähigkeiten waren lächerlich gering; die flüchtige Telepathie, die sie jetzt dank des Byrus und der Kim (»Leuchtfeuer« sagten sie dazu) erlebten, verwirrte und ängstigte sie. Mr. Gray konnte kaum fassen, dass sie sich noch nicht selbst ausgerottet hatten. Wesen, die zu echtem Denken nicht in der Lage waren, waren Wahnsinnige - das stand doch wohl außer Frage.

Doch immer noch keine Antwort von dem Wesen in diesem seltsamen, uneinnehmbaren Raum.

»Jonesy.«

Nichts. Aber Jonesy lauschte. Da war Mr. Gray sicher.

»Dieses Leiden ist überflüssig, Jonesy. Sieh uns als das an, was wir sind - nicht Invasoren, sondern Retter. Freunde.«

Mr. Gray dachte an die vielen Kisten. Für ein Wesen, das eigentlich nicht groß denken konnte, hatte Jonesy eine enorme Speicherkapazität. Frage, die ein andermal zu klären war: Wieso hatten Wesen, die so nur so armselig denken konnten, so viel Speicherfähigkeit? Hing das mit ihrer völlig übertriebenen emotionalen Veranlagung zusammen? Und dann störten diese Gefühle auch noch. Jonesys Gefühle störten ihn sehr. Sie waren immer gegenwärtig. Immer abrufbereit. Und es waren so viele.

»Krieg ... Hungersnöte ... ethnische Säuberungen ... Töten für den Frieden ... Massakrieren der Heiden um Jesu willen ... Totschlägen von Homosexuellen ... Bazillen in Flaschen, die Flaschen in der Spitze von Raketen, die auf jede Großstadt der Welt gerichtet sind ... also bitte, Jonesy, was ist da schon ein bisschen Byrus unter guten Freunden, verglichen mit Anthrax Typ vier? Heilige Filzlaus, ihr wärt in fünfzig Jahren sowieso alle tot! Wir tun euch nur guti Entspann dich und genieß es!«

»Du hast diesen Mann gezwungen, sich einen Stift ins Auge zu rammen.«

Grantig. Aber immerhin eine Reaktion. Der Wind toste, der Pickup schlitterte, und Mr. Gray fuhr und nutzte Jonesys Fähigkeiten. Die Sicht ging gegen null. Er hatte auf dreißig Stundenkilometer verlangsamt und würde vielleicht gut daran tun, für eine Weile rechts ran zu fahren, sobald er Kurtz' Netz hinter sich gelassen hatte. Und währenddessen konnte er mit seinem Wirt und Gastgeber plaudern. Mr. Gray bezweifelte, dass er Jonesy überreden konnte, aus diesem Raum herauszukommen, aber beim Plaudern verging wenigstens die Zeit schneller.

»Ich hatte keine andere Wahl, mein Freund. Ich brauchte den Wagen. Ich bin der Letzte.«

»Und ihr verliert nie.«

»Stimmt«, sagte Mr. Gray.

»Aber in so einer Situation warst du noch nie, nicht wahr? Du hattest noch nie jemanden, an den du nicht rangekommen bist.«

Wollte Jonesy ihn aufziehen? Mr. Gray verspürte einen leichten Anflug von Verärgerung. Und dann sagte Jonesy etwas, das Mr. Gray auch schon gedacht hatte.

»Vielleicht hättest du mich im Krankenhaus umbringen sollen. Oder war das nur ein Traum?«

Mr. Gray, der nicht recht wusste, was ein »Traum« war, machte sich nicht die Mühe zu antworten. Diesen verbarrikadierten Meuterer dort zu haben, wo mittlerweile einzig und allein Mr. Grays Gedanken herrschen sollten, wurde immer ärgerlicher. Er konnte es beispielsweise nicht ausstehen, sich selbst als »Mr. Gray« aufzufassen - das entsprach nicht seiner Vorstellung von sich oder dem Gattungshirn, dessen Teil er war; er konnte es nicht mal ausstehen, sich selbst als »er« aufzufassen, denn er gehörte beiden Geschlechtern an und keinem. Doch jetzt war er in diesen Vorstellungen gefangen und würde es bleiben, solange er Jonesys Wesenskern nicht absorbiert hatte. Ein schrecklicher Gedanke ging Mr. Gray durch den Sinn: Was war, wenn seine Vorstellungen nicht zutrafen?

Er hasste es, in dieser Lage zu sein.

»Wer ist Duddits, Jonesy?«

Keine Antwort.

»Wer ist Richie? Warum war er ein Scheißkerl? Warum hast du ihn getötet?«

»Haben wir nicht\«

Ein leichtes Zittern in seiner geistigen Stimme. Ah, das hatte gesessen. Und noch etwas Interessantes: Mr. Gray hatte »du« gesagt, und Jonesy hatte im Plural geantwortet.

»Habt ihr doch. Zumindest glaubt ihr, dass ihr es getan habt.«

»Das ist gelogen.«

»Wie dumm von dir, so etwas zu sagen. Ich habe die Erinnerungen hier vor mir in einer deiner Kisten. Da ist Schnee in der Kiste. Schnee und ein Mokassin. Braunes Wildleder. Komm raus und schau's dir an.«

Eine ekstatische Sekunde lang dachte er, Jonesy würde das tatsächlich tun. Wenn er es tat, würde ihn Mr. Gray auf der Stelle wieder ins Krankenhaus befördern. Dort konnte Jonesy sich selbst im Fernsehen beim Sterben zusehen. Ein Hap-py End für den Film, den sie sich angeschaut hatten. Und dann war Schluss mit »Mr. Gray«. Dann gab es nur noch das, was Jonesy »die Wolke« nannte.

Mr. Gray starrte wie gebannt auf den Türknauf und wollte, dass er sich bewegte. Er bewegte sich nicht.

»Komm raus.«

Nichts.

»Du hast Richie umgebracht, du Feigling! Du und deine Freunde. Ihr ... ihr habt ihn totgeträumt.« Und obwohl Mr. Gray nicht wusste, was Träume waren, wusste er doch, dass das stimmte. Oder dass Jonesy es für die Wahrheit hielt.

Nichts.

»Komm raus! Komm raus und ...« Er kramte in Jonesys Erinnerungen. Viele davon waren in Kisten mit der Aufschrift filme, Jonesy liebte Filme anscheinend über alles, und Mr. Gray pflückte aus einem dieser Filme einen Satz heraus, der ihm besonders schlagkräftig vorkam. »... und kämpfe wie ein Mann!«

Nichts.

Du Schwein, dachte Mr. Gray und griff wieder einmal auf das Gefühlsrepertoire seines Wirts und Gastgebers zurück. Du Scheißkerl. Du stures Arschloch. Knutsch mir die Kimme, du stures Arschgesicht.

Damals, als Jonesy noch Jonesy gewesen war, hatte er Wut oft zum Ausdruck gebracht, indem er mit der Faust auf etwas eingeschlagen hatte. Genau das tat Mr. Gray jetzt auch und schlug mit Jonesys Faust so heftig mitten aufs Lenkrad, dass die Hupe ertönte. »Erzähl's mir! Erzähl mir nicht von Richie oder von Duddits, sondern von dir\ Irgendwas macht dich anders. Ich will wissen, was es ist.«

Nichts.

»Es ist im Crib - ist es das?«

Immer noch keine Antwort, aber Mr. Gray hörte Jonesys Schuhe hinter der Tür schlurfen. Und vielleicht hörte er auch einen leisen Atemzug. Mr. Gray lächelte mit Jonesys Mund.

»Sprich mit mir, Jonesy. Wir vertreiben uns ein wenig die Zeit. Wer war Richie, außer dass er Nummer neunzehn war? Wieso wart ihr wütend auf ihn? Weil er ein Tiger war? Ein Derry Tiger? Was waren das für welche? Wer ist Duddits?«

Nichts.

Der Wagen kroch langsamer denn je durch den Sturm, und die Scheinwerfer waren fast machtlos gegen den wirbelnden weißen Schleier. Mr. Gray sprach ihm mit leiser Stimme gut zu.

»Du hast eine Duddits-Kiste übersehen, mein Freund, wusstest du das? Und wie es sich trifft, ist in dieser Kiste eine Schachtel - eine gelbe Schachtel. Es sind Scooby-Doos drauf. Was sind Scooby-Doos? Das sind keine echten Menschen, nicht wahr? Sind sie aus Filmen? Sind sie aus dem Fernsehen? Willst du die Schachtel haben? Komm raus, Jonesy. Komm raus, und ich gebe dir die Schachtel.«

Mr. Gray nahm den Fuß vom Gaspedal und ließ den Pick-up langsam nach links rollen, aus der freigeräumten Spur heraus. Irgendwas ging hier vor, und er wollte sich ganz darauf konzentrieren. Mit Gewalt hatte er Jonesy nicht aus seiner Festung herausholen können ... aber Gewalt war ja schließlich auch nicht die einzige Option, wenn es galt, eine Schlacht, einen Krieg zu gewinnen.

Der Pickup stand mit laufendem Motor an der Leitplanke, und rundherum toste jetzt ein veritabler Schneesturm. Mr. Gray schloss die Augen. Augenblicklich war er wieder in Jonesys hell erleuchtetem Erinnerungslager. Hinter ihm erstreckten sich unter den Neonröhren meilenweit aufgestapelte Kisten. Vor ihm befand sich die verschlossene Tür, schäbig und schmutzig und aus irgendeinem Grunde ausgesprochen stabil. Mr. Gray legte seine dreifingrigen Hände daran und fing leise an zu sprechen, in einem sowohl vertraulichen als auch eindringlichen Tonfall.

»Wer ist Duddits? Wieso habt ihr ihn angerufen, nachdem ihr Richie umgebracht hattet? Lass mich rein, wir müssen reden. Wieso hast du ein paar von den Derry-Kisten mitgenommen? Was soll ich nicht sehen? Das spielt keine Rolle, ich habe, was ich brauche, lass mich rein, Jonesy, besser jetzt als später.«

Es würde funktionieren. Er ahnte Jonesys ausdruckslosen Blick, sah, wie sich Jonesys Hand auf den Türknauf mit dem Schloss darin zubewegte.

»Wir siegen immer«, sagte Mr. Gray. Er saß hinterm Lenkrad und hatte Jonesys Augen geschlossen, und in einem anderen Universum kreischte der Wind und rüttelte am Wagen. »Mach die Tür auf, Jonesy. Mach jetzt auf.«

Stille. Und dann, keine zehn Zentimeter entfernt und so überraschend wie eine Schüssel mit kaltem Wasser, die über warmer Haut ausgegossen wurde: »Friss Scheiße und stirb!«

Mr. Gray schreckte so heftig zurück, dass Jonesys Hinterkopf an das rückwärtige Fenster der Fahrerkabine knallte.

Der Schmerz kam plötzlich und schockierend, eine zweite unangenehme Überraschung.

Er schlug wieder mit der Faust zu, dann mit der anderen, dann wieder mit der ersten; er schlug auf das Lenkrad ein, und die Hupe blökte einen Morse-Code des Zorns. Als im wesentlichen emotionsloses Wesen und Angehöriger einer im wesentlichen emotionslosen Gattung hatte er sich von den emotionalen Säften seines Wirts und Gastgebers mitreißen lassen - tauchte diesmal nicht nur kurz in sie ein, sondern badete in ihnen. Und wieder ahnte er, dass dies nur geschah, weil Jonesy noch da war, ein unruhiger Tumor in dem, was ein gelassenes und auf seine Ziele konzentriertes Bewusstsein hätte sein sollen.

Mr. Gray hämmerte auf das Lenkrad ein, hasste diesen Gefühlsausbruch - was Jonesys Gedanken Koller nannten -, genoss ihn aber gleichzeitig auch. Er liebte es, wie die Hupe ertönte, wenn er mit Jonesys Fäusten darauf einschlug, liebte es, wie Jonesys Blut in Jonesys Schläfen pochte, liebte es, wie Jonesys Herz schneller schlug und wie Jonesys heisere Stimme immer und immer wieder schrie: »Du Arsch! Du Arsch!«

Und selbst noch mitten in diesem Wutausbruch wurde einem kühleren Teil von ihm klar, worin die eigentliche Gefahr bestand. Wenn sie kamen, gestalteten sie die Welten, die sie heimsuchten, nach ihrem Bilde um. So war das immer gewesen, und so waren sie nun mal.

Aber diesmal ...

Da passiert etwas mit mir, dachte Mr. Gray, und im selben Moment wurde ihm bewusst, dass das nun wirklich ein »Jonesy-Gedanke« war. Ich nehme menschliche Züge an.

Und dass dieser Gedanke durchaus einen gewissen Reiz hatte, löste bei Mr. Gray Entsetzen aus.

Jonesy schreckte aus einem Dösen auf, in dem nur die einlullende Stimme von Mr. Gray zu hören gewesen war, und sah, dass seine Hände auf dem Türknauf und dem Riegel lagen und drauf und dran waren, den Knauf zu drehen und den Riegel beiseite zu ziehen. Das dumme Schwein wollte ihn hypnotisieren und machte das gar nicht mal schlecht.

»Wir siegen immer«, sagte die Stimme hinter der Tür. Sie wirkte beruhigend, was schön war nach einem so aufreibenden Tag, klang aber auch widerlich selbstgefällig und überheblich. Der Usurpator, der keine Ruhe gab, bis er nicht alles an sich gerissen hatte ... der meinte, ein Anrecht auf alles zu haben. »Mach die Tür auf, Jonesy. Mach jetzt auf.«

Für einen Moment hätte er es fast getan. Er war wieder wach, hätte es aber trotzdem fast getan. Dann fielen ihm zwei Geräusche wieder ein: das infernalische Krachen in Petes Schädel, als sich das rote Zeug darin gespannt hatte, und das feucht platzende Geräusch, als die Spitze des Kugelschreibers durch Janas' Auge gedrungen war.

Jonesy wurde klar, dass er überhaupt nicht wach gewesen war. Aber jetzt war er es.

Jetzt war er wach.

Er nahm die Hände von der Tür und sagte, so klar und deutlich er konnte: »Friss Scheiße und stirb!« Er spürte Mr. Gray zurückschrecken. Er spürte sogar den Schmerz, als Mr. Gray an das Fenster stieß, und warum auch nicht? Schließlich waren es ja seine Nerven. Und sein Kopf, davon mal ganz abgesehen. Wenige Dinge in seinem Leben hatten ihm solches Vergnügen bereitet wie Mr. Grays empörte Verblüffung, und ihm wurde vage klar, was Mr. Gray längst wusste: Die fremde Macht in seinem Kopf hatte jetzt menschlichere Züge angenommen.

Wenn du als eigenständiges Lebewesen wiederkommen könntest, wärst du dann immer noch Mr. Gray?, fragte sich

Jonesy. Er glaubte es nicht. Mr. Pink vielleicht, aber nicht Mr. Gray.

Er wusste nicht, ob der Typ seine Monsieur-Mesmer-Nummer noch einmal ausprobieren würde, aber Jonesy beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen. Er machte kehrt und ging zum Bürofenster. Dabei stolperte er über eine Kiste und stieg dann über die übrigen hinweg. O Gott, tat seine Hüfte weh. Es war verrückt, solche Schmerzen zu empfinden, wenn man in seinem eigenen Kopf gefangen war (der, das hatte ihm Henry einmal versichert, gar kein Schmerzempfinden hatte, zumindest nicht, sobald man zu den grauen Zellen vordrang), aber trotzdem waren diese Schmerzen da. Er hatte irgendwo gelesen, dass Amputierte manchmal in Gliedmaßen, die es gar nicht mehr gab, schreckliche Schmerzen und unerträgliches Jucken empfanden; wahrscheinlich war das so ähnlich.

Vom Fenster aus bot sich wieder der langweilige Blick auf die mit Unkraut überwucherte, doppelspurige Auffahrt, die 1978 um das Lagerhaus der Gebrüder Tracker herumgeführt hatte. Der Himmel war weiß und bedeckt; wenn dieses Fenster in die Vergangenheit blickte, war die Zeit an einem Nachmittag stehen geblieben. Für diesen Ausblick sprach einzig und allein, dass Jonesy, wenn er hier stand, so weit wie möglich von Mr. Gray entfernt war.

Er vermutete, dass er den Ausblick durchaus ändern konnte, wenn er nur wirklich wollte; dass er hinausschauen und dabei sehen konnte, was Mr. Gray in diesem Moment mit den Augen von Gary Jones sah. Aber er hatte keine Lust dazu. Es gab da außer dem Schneesturm nichts zu sehen und außer Mr. Grays gestohlenem Zorn nichts zu empfinden.

Denk an etwas anderes, sagte er sich.

An was?

Ich weiß nicht - an irgendwas. Wie war's -

Auf dem Schreibtisch klingelte das Telefon, und das war so absonderlich wie etwas aus Alice im Wunderland, denn noch ein paar Minuten zuvor hatte es in diesem Raum gar kein Telefon gegeben und auch keinen Schreibtisch, auf dem es hätte stehen können. Nun gab es hier beides. Die hingeworfenen benutzten Gummis waren verschwunden. Der Fußboden war immer noch schmutzig, aber die Fliesen waren nicht mehr so staubig. Anscheinend hatte er so eine Art Flausmeister in seinem Kopf, einen Putzfimmler, der beschlossen hatte, der Raum solle wenigstens annehmbar sauber sein, wenn sich Jonesy schon eine Weile hier aufhalten würde. Er fand die Vorstellung beängstigend und fand es deprimierend, worauf das hindeutete.

Auf dem Schreibtisch schrillte wieder das Telefon. Jonesy nahm den Flörer ab und sagte: »Hallo?«

Bibers Stimme jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ein Telefonanruf von einem Toten - so was gab es in den Filmen, die er mochte. Beziehungsweise früher gemocht hatte.

»Sein Kopf war ab, Jonesy. Er lag im Graben, und seine Augen waren voller Schlamm.«

Dann folgte ein Klicken, dann Totenstille. Jonesy legte auf und ging zurück ans Fenster. Die Auffahrt war verschwunden. Derry war verschwunden. Er sah ihre Flütte unter einem blassen, klaren, frühmorgendlichen Flimmel. Das Dach war schwarz und nicht grün, was bedeutete, dass dies ihre Flütte war, wie sie vor 1982 ausgesehen hatte, als die vier Jungs, mittlerweile stramme Fligh-School-Boys (na ja gut, Flenry war nie im eigentlichen Wortsinn »stramm« gewesen), Bibers Dad dabei geholfen hatten, das Dach mit den grünen Schindeln zu decken, die es bis zum Schluss hatte.

Aber Jonesy brauchte keine solche Eselsbrücke, um zu wissen, welches Jahr es war. Und er musste sich auch von niemandem erzählen lassen, dass die grünen Schindeln nicht mehr waren, dass ihre Flütte nicht mehr war, dass Flenry sie niedergebrannt hatte. Jeden Moment würde die Tür aufgehen und Biber herausgelaufen kommen. Es war 1978, das

Jahr, in dem das alles angefangen hatte, und jeden Moment würde Biber herausgelaufen kommen, nur bekleidet mit Boxershorts und seiner Motorradjacke mit den vielen Reißverschlüssen und den flatternden orangefarbenen Tüchern dran. Es war 1978, sie waren jung, und sie hatten sich verändert. Nichts mehr mit selbe Scheiße, anderer Tag. Dies war der Tag, an dem ihnen allmählich klar wurde, wie sehr sie sich verändert hatten.

Jonesy starrte wie gebannt aus dem Fenster.

Die Tür ging auf.

Biber Clarendon, vierzehn Jahre alt, kam herausgerannt.

Henry und Owen


Henry sah Owen im grellen Licht der Scheinwerfer auf sich zu stapfen. Underhill hatte den Kopf vor dem Schnee und dem auffrischenden Wind eingezogen. Henry machte den Mund auf und wollte ihm etwas zurufen, aber ehe er dazu kam, spürte er Jonesy so überdeutlich, dass es ihn fast umwarf. Und dann kam eine Erinnerung und blendete Underhill und die hell erleuchtete, verschneite Welt um ihn her vollkommen aus. Mit einem Mal war es wieder 1978, und zwar November und nicht Oktober, und da war Blut, Blut an den Rohrkolben und Glassplitter im Morast, und dann knallte die Tür.

Henry erwacht aus einem schrecklichen, wirren Traum -Blut, Glassplitter, der Gestank von Benzin und brennendem Gummi -, und hört eine Tür klappern und spürt einen Schwall kalter Luft. Er setzt sich auf und sieht Pete neben sich sitzen, und Pete hat Gänsehaut auf der unbehaarten Brust. Henry und Pete schlafen in ihren Schlafsäcken auf dem Fußboden, weil sie beim Auslosen verloren haben. Biber und Jonesy haben das Bett bekommen (später gibt es dann in ihrer Hütte ein drittes Schlafzimmer, aber jetzt sind es nur zwei, und eins hat Lamar durch das göttliche Vorrecht der Erwachsenen für sich allein), doch jetzt ist da nur

Jonesy drin, hat sich ebenfalls aufgesetzt und schaut auch verwirrt und ängstlich.

Scooby-ooby-Doo, wo bist du, denkt Henry ohne besonderen Anlass, als er auf dem Fensterbrett nach seiner Brille tastet. Er hat immer noch den Gestank von Benzin und brennenden Reifen in der Nase. Wir haben jetzt was zu tun -»Verunglückt«, sagt Jonesy mit träger Stimme und schlägt die Bettdecke zurück. Obenrum hat er nichts an, aber wie Henry und Pete auch ist er mit Socken und langer Unterhose schlafen gegangen.

»Ja, ins Wasser gestürzt«, sagt Pete, und seinem Gesichtsausdruck nach hat er nicht die leiseste Ahnung, worüber er da redet. »Henry, du hast seinen Schuh -«

»Mokassin -«, sagt Henry, hat aber auch keine Ahnung, wovon er da spricht. Und will es auch gar nicht wissen.

»Biber«, sagt Jonesy und springt unbeholfen aus dem Bett. Mit einem Fuß landet er auf Petes Hand.

»Au!«, schreit Pete. »Du hast mich getreten, du blöder Penner, pass doch auf, wo du -«

»Sei still, sei still«, sagt Henry, packt Pete an der Schulter und schüttelt ihn. »Weck Mr. Clarendon nicht auf!«

Was nicht schwierig wäre, denn die Tür ihres Zimmers steht offen. Wie auch die Tür am anderen Ende des großen Raums, die Haustür. Kein Wunder, dass ihnen kalt ist; es zieht wie Hechtsuppe. Da Henry jetzt seine Augen aufgesetzt hat (so denkt er darüber), sieht er den Traumfänger da draußen im kalten Novemberwind tanzen, der zur offen stehenden Haustür hereinkommt.

»Wo ist Duddits?«, fragt Jonesy mit benommener Ich-träume-noch-Stimme. »Ist er mit Biber rausgegangen?«

»Der ist in Derry, du Dummkopf«, sagt Henry, steht auf und zieht sich sein Thermo-Unterhemd an. Und eigentlich kommt ihm Jonesy auch nicht wie ein Dummkopf vor; er hat auch so das Gefühl, als wäre Duddits gerade eben hier bei ihnen gewesen.

Das war der Traum, denkt er. leb habe von Duddits geträumt. Er saß auf der Böschung. Er hat geweint. Es tat ihm Leid. Das hat er nicht gewollt. Wenn jemand das gewollt hat, dann wir.

Und er hört immer noch jemanden weinen. Das Weinen weht, vom Wind getragen, zur Haustür herein. Aber es ist nicht Duddits; es ist der Biber.

Sie verlassen im Gänsemarsch das Zimmer, ziehen sich dabei schnell etwas über und halten sich nicht damit auf, Schuhe anzuziehen.

Eine gute Neuigkeit: Nach der Blechstadt aus Bierbüchsen auf dem Küchentisch (und einer ähnlichen Vorstadt auf dem Couchtisch) zu urteilen, würde es mehr als nur ein paar offen stehende Türen und flüsternde Kinder brauchen, um Bibers Dad zu wecken.

Die große Eingangsstufe aus Granit fühlt sich unter Henrys nur in Strümpfen steckenden Füßen eiskalt an, auf eine so vollkommen rücksichtslose Weise kalt, wie der Tod kalt sein muss, aber das merkt er kaum.

Er sieht den Biber sofort. Er kniet am Fuß des Ahornbaums mit dem Hochsitz im Geäst, als würde er beten. Seine Beine sind nackt, und er ist barfuß, das sieht Henry. Er hat seine Motorradjacke an, und an den Ärmeln flattern, wie Piratenschmuck, die dort festgeknoteten orangefarbenen Tücher, auf die sein Vater bestanden hat, als Biber unbedingt so etwas Bescheuertes und Unwaidmännisches wie diese Jacke im Wald tragen wollte. Sein Aufzug sieht ziemlich lustig aus; an seinem gequält blickenden Gesicht hingegen, das zu der fast nackten Baumkrone des Ahorns hochschaut, ist nichts lustig. Die Wangen des Bibers sind klatschnass von Tränen.

Henry rennt los. Pete und Jonesy laufen hinterher. Ihr Atem steht in weißen Schwaden in der kalten Morgenluft. Der mit Nadeln übersäte Erdboden unter Henrys Füßen ist rast so hart und kalt wie die Eingangsstufe aus Granit.

Er fällt vor Biber auf die Knie, ängstlich und irgendwie auch eingeschüchtert angesichts dieser Tränen. Denn der Biber vergießt nicht einfach nur ein, zwei männliche Tränen, wie es dem Held im Film gestattet ist, wenn sein Hund oder seine Freundin stirbt - nein, aus Biber strömen buchstäblich die Niagarafälle. Klar glitzernde Rotze hängt ihm in zwei Perlenschnüren aus der Nase. So was sieht man im Kino auch nie.

»Krass«, sagt Pete.

Henry wirft ihm einen tadelnden Blick zu, sieht dann aber, dass Pete gar nicht Biber anguckt, sondern an ihm vorbei zu einer dampfenden Lache Erbrochenem. Darin lässt sich Mais vom Vorabend erkennen (was die Verpflegung auf der Jagd angeht, ist Lamar Clarendon ein vehementer Verfechter der Vorzüge von Dosengerichten) und auch Fasern des Brathähnchens vom Vorabend. Henry dreht sich der Magen um. Und als sich seine Übelkeit eben wieder legt, reihert Jonesy los. Es klingt wie ein lauter, nasser Rülpser. Die Kotze ist braun.

»Krass!«, schreit Pete diesmal fast.

Biber scheint das nicht mal zu bemerken. »Henry!«, sagt er. Seine Augen sehen unter all den Tränen groß und unheimlich aus. Sie scheinen durch Henrys Gesicht hindurch in die Privatgemächer hinter seiner Stirn zu spähen.

»Schon gut, Biber. Du hast schlecht geträumt.«

»Klar, ein Albtraum.« Jonesys Stimme klingt belegt. Er hat immer noch Kotze in der Kehle. Er versucht sie mit einem ratschend klingenden Räuspern frei zu bekommen, das sich irgendwie noch schlimmer anhört als das, was er zuvor gemacht hat, bückt sich dann und spuckt. Die Hände stützt er dabei auf die Oberschenkel seiner langen Unterhose, und sein nackter Rücken ist von Gänsehaut überzogen.

Biber nimmt keine Notiz von Jonesy und auch nicht von Pete, als der sich auf der anderen Seite neben ihn kniet und plump und zögerlich einen Arm um Bibers Schultern legt. Biber sieht weiterhin nur Henry an.

»Sein Kopf war ab«, flüstert Biber.

Jonesy kniet sich auch hin, und jetzt knien sie alle drei um den Biber herum, Henry und Pete seitlich und Jonesy vor ihm. Jonesy hat Kotze am Kinn. Er will sie wegwischen, aber ehe er dazu kommt, nimmt Biber seine Hand. Die Jungen knien unterm Ahornbaum, und mit einem Mal sind sie vereint. Es hält nur kurz an, dieses Gefühl der Einheit, ist aber so stark und mächtig wie ihr Traum. Es ist der Traum, aber da sie jetzt wach sind, sehen sie es nun bei klarem Verstand und können es nicht einfach von der Hand weisen.

Jetzt ist es Jonesy, den der Biber mit seinen unheimlichen, in Tränen schwimmenden Augen ansieht. Dabei hält er Jone-sys Hand gepackt.

»Er lag im Graben, und seine Augen waren voller Schlamm.«

»Ja«, flüstert Jonesy mit ehrfürchtiger, zitternder Stimme. »O Gott, das stimmt.«

»Wir sehn uns wieder, hat er gesagt, wisst ihr noch?«, fragt Pete. »Entweder einzeln oder alle zusammen. Das hat er gesagt.«

Henry hört das alles wie aus weiter Ferne, denn er ist wieder zurück in diesem Traum. Ist zurück am Schauplatz des Unfalls. Unten an einer mit Müll übersäten Böschung gibt es ein Stück Morast, das von einem verstopften Abwasserkanal gespeist wird. Er kennt die Stelle, es ist an der Route 7, der alten Straße von Derry nach Newport. Dort im Matsch und der Jauche liegt ein umgekipptes, brennendes Auto. Der Gestank von Benzin und brennenden Reifen hängt in der Luft. Duddits weint. Duddits sitzt auf halber Höhe auf der mit Müll übersäten Böschung, hält sich seine gelbe Scooby-Doo-Lunchbox vor die Brust und weint sich die Augen aus.

Eine Hand ragt aus einem der Fenster des umgestürzten Autos. Sie ist schlank, und die Nägel sind so rot wie kandierte Äpfel. Die beiden anderen Insassen sind hinausgeschleudert worden, einer fast zehn Meter weit. Er liegt da mit dem Gesicht nach unten, aber Henry erkennt ihn an dem nassen Wust blonder Haare. Das ist Duncan, der gesagt hat, ihr werdet keinem Menschen was erzählen, sonst seid ihr nämlich tot. Bloß dass Duncan jetzt tot ist.

Etwas treibt an Henrys Schienbein vorbei. »Heb das nicht auf!«, sagt Pete eindringlich, aber Henry hört nicht auf ihn. Es ist ein brauner Wildleder-Mokassin. Er hat eben noch Zeit, das zu registrieren, und dann kreischen Biber und Jonesy in entsetzlichem, kindischem Gleichklang los. Sie stehen beieinander, bis zu den Fußknöcheln in der Jauche, und beide tragen sie ihre Jagdkluft: Jonesy seinen neuen, hell orangefarbenen Parka, eigens für diesen Ausflug bei Sears gekauft (und Mrs. Jones ist trotzdem unter Tränen davon überzeugt, dass ihr Sohn im Wald von der Kugel eines Jägers sterben wird, hingerafft in der Blüte seiner Jugend), Biber seine ranzige Motorradjacke (Du hast ja viele Reißverschlüsse an deiner Jacke!, hatte Duddits Mom bewundernd gesagt und damit für alle Zeiten einen Platz in Bibers Herz erobert), an deren Ärmeln orangefarbene Bänder festgeknotet sind. Sie schauen den dritten Leichnam nicht an, der gleich vor der Fahrertür liegt, aber Henry tut's doch, nur ganz kurz (immer noch den Mokassin wie ein kleines, voll Wasser gelaufenes Kanu in der Hand), denn auf eine schreckliche, grundlegende Weise stimmt etwas damit nicht, ist etwas daran so derart nicht in Ordnung, dass er für einen Moment gar nicht drauf kommt, was es ist. Dann wird ihm klar, dass da nichts aus dem Kragen der High-School-Jacke ragt, die die Leiche trägt. Biber und Jonesy kreischen, weil sie gesehen haben, was dort eigentlich hingehört. Sie haben Richie Grenadeaus Kopf gesehen, der mit dem Gesicht nach oben, zum Himmel glotzend, inmitten blutbespritzter Rohrkolben liegt. Henry weiß sofort, dass es Richie ist. Auch wenn er kein Pflaster mehr auf dem Nasenrücken hat, erkennt er auf Anhieb den Typ, der hinter dem

Gebäude der Gebrüder Tracker versucht hat, Hundekacke an Duddits zu verfüttern.

Duds ist da oben auf der Böschung und weint und weint, und dieses Weinen löst Kopfschmerzen aus wie bei einer Nebenhöhlenentzündung, und wenn er nicht damit aufhört, wird Henry noch wahnsinnig davon. Er lässt den Mokassin fallen und geht hinten um das brennende Auto herum zu Biber und Jonesy, die die Arme umeinander geschlungen haben.

»Biber! Biber!«, ruft Henry, aber er muss den Biber erst schütteln, damit er aufhört, wie gebannt den abgetrennten Kopf anzustarren.

Schließlich sieht Biber ihn an. »Sein Kopf ist ab«, sagt er, als wäre das nicht offensichtlich. »Henry, sein Kopf-«

»Lass mal den Kopf, und kümmer dich um Duddits! Sorg dafür, dass er aufhört zu weinen!«

»Genau«, sagt Pete. Er schaut zu Richies Kopf hinüber, zu dem letzten toten, trotzigen Blick, und sieht dann mit zuckendem Mund weg. »Da kriegt man echt die Motten.«

»Wie quietschende Kreide auf der Tafel«, murmelt Jonesy. Sein Gesicht ist sehr käsig und sticht vom Orange seiner neuen Jacke ab. »Sorg dafür, dass er aufhört, Biber.«

»W-W-W -«

»Stell dich nicht an! Sing ihm das Lied vor!«, ruft Henry. Er spürt, wie ihm die Jauche in die Schuhe sickert. »Das Wiegenlied, das verdammte Wiegenlied!«

Für einen Moment guckt der Biber, als verstünde er immer noch nicht, aber dann klärt sich sein Blick ein wenig, und er sagt: »Ah!« Er geht schleppend zu der Böschung, auf der Duddits sitzt, seine knallgelbe Lunchbox umklammert und so heult wie an dem Tag, als sie ihn kennen gelernt haben. Henry sieht flüchtig, dass um Duddits' Nasenlöcher getrocknetes Blut klebt, und um die linke Schulter hat er einen Verband. Etwas ragt daraus hervor, etwas, das wie weißes Plastik aussieht.

»Duddits«, sagt der Biber und steigt die Böschung hoch. »Duddie, Kleiner, nicht. Nicht mehr weinen, guck nicht mehr hin, das ist nichts für dich, das ist viel zu krass ...«

Erst reagiert Duddits nicht und heult einfach weiter. Henry denkt: Er hat so lange geweint, dass er Nasenbluten davon bekommen hat. Das erklärt das Blut. Aber was ist das für ein weißes Ding, das ihm da aus der Schulter ragt?

Jonesy hält sich jetzt tatsächlich die Ohren zu. Pete hat sich eine Hand auf den Kopf gelegt, als wollte er verhindern, dass er platzt. Dann nimmt Biber Duddits in die Arme, genau wie ein paar Wochen zuvor, und fängt mit dieser hohen, klaren Stimme zu singen an, die man bei einem Wuschel wie dem Biber nie erwartet hätte.

»Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht...«

Und o Wunder aller Wunder: Duddits beruhigt sich.

Aus dem Mundwinkel heraus, fragt Pete: »Wo sind wir, Henry? Wo zum Henker sind wir hier?«

»In einem Traum«, sagt Henry, und mit einem Mal sind die vier wieder zurück unter dem Ahornbaum vor ihrer Hütte, knien dort gemeinsam, nur mit Unterwäsche bekleidet, und bibbern in der Kälte.

»Was?«, fragt Jonesy. Er macht seine Hand los, um sich den Mund abzuwischen, und als der Kontakt zwischen ihnen aufgehoben wird, ist die Realität plötzlich wieder da. »Was hast du gesagt, Henry?«

Henry spürt, wie sich die Gedanken der anderen zurückziehen, spürt es wirklich, und denkt: Wir sind dafür nicht gemacht, keiner von uns. Manchmal ist es besser, allein zu sein.

Ja, allein. Allein mit seinen Gedanken.

»Ich hatte einen Albtraum«, sagt Biber. Er scheint es eher sich selbst als den anderen zu erklären. Ganz langsam, als würde er immer noch träumen, zieht er den Reißverschluss einer seiner Jackentaschen auf, wühlt darin herum und bringt einen großen Lutscher, einen Tootsie Pop, zum Vorschein. Statt ihn auszupacken, steckt sich Biber den Stiel in den Mund, dreht ihn mit den Lippen hin und her und nagt und knabbert daran. »Ich habe geträumt, dass -«

»Lass mal«, sagt Henry und schiebt sich die Brille hoch, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. »Wir wissen alle, was du geträumt hast.« Wir waren ja schließlich auch dabei, liegt ihm auf der Zunge, aber er spricht es nicht aus. Er ist zwar erst vierzehn, aber schon klug genug, um zu wissen, dass sich etwas, das gesagt wurde, nicht ungesagt machen lässt. Gelegt ist gelegt, sagen sie beim Rommee immer, wenn jemand beim Ausspielen Blödsinn macht. Würde er es sagen, dann müssten sie sich damit auseinander setzen. Wenn er es nicht sagt, dann ... dann geht es vielleicht einfach weg.

»Ich glaube sowieso nicht, dass es dein Traum war«, sagt Pete. »Ich glaube, es war Duddits' Traum, und wir haben alle -«

»Es ist mir scheißegal, was du glaubst«, sagt Jonesy in so scharfem Tonfall, dass es sie alle erschreckt. »Es war nur ein Traum, und ich werde nicht mehr daran denken. Wir werden alle nicht mehr daran denken, nicht wahr, Henry?«

Henry nickt augenblicklich.

»Gehn wir wieder rein«, sagt Pete. Er sieht sehr erleichtert aus. »Mir frieren die Füße ab.«

»Eins noch«, sagt Henry, und sie schauen ihn alle ängstlich an. Immer wenn sie einen Anführer brauchen, schlüpft Henry in diese Rolle. Und wenn es euch nicht passt, wie ich das mache, denkt er trotzig, kann das ja ein anderer übernehmen. Denn so einfach ist das nicht, das kann ich euch sagen.

»Was?«, fragt Biber und meint damit: Was jetzt?

»Wenn wir nachher zu Gosselin's gehen, muss jemand Duds anrufen. Falls er sich Sorgen macht.«

Niemand erwidert etwas. Der Gedanke, ihren neuen Be-hindifreund anzurufen, verschlägt ihnen allen die Sprache.

Henry muss daran denken, dass Duddits wahrscheinlich in seinem ganzen Leben noch nie angerufen wurde; das wird sein allererster Telefonanruf.

»Da hast du wahrscheinlich Recht«, sagt Pete ... und hält sich dann den Mund zu, als ob er etwas Belastendes gesagt hätte.

Biber, der bis auf seine blöden Boxershorts und seine noch blödere Jacke nackt ist, schlottert mittlerweile richtig. Der Lutscher zittert an seinem angenagten Stiel.

»Eines Tages wirst du mal an diesen Dingern ersticken«, sagt Henry zu ihm.

»Ja, das sagt meine Mom auch immer. Können wir jetzt reingehen? Mir ist kalt.«

Sie gehen zurück zu ihrer Hütte, wo ihre Freundschaft dreiundzwanzig Jahre später ein Ende finden wird.

»Ist Richie Grenadeau wirklich tot? Was meint ihr?«, fragt Biber.

»Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal«, sagt Jonesy. Er sieht Henry an. »Wir rufen also Duddits an - ich habe ein eigenes Telefon, und wir können die Gebühren auf meine Nummer umbuchen lassen.«

»Ein eigenes Telefon«, sagt Henry. »Du Glückspilz. Deine Eltern verwöhnen dich aber wirklich, Gary.«

Gary genannt zu werden geht ihm normalerweise gegen den Strich, aber nicht so an diesem Morgen - an diesem Morgen hat Jonesy andere Sorgen. »Ich hab's zum Geburtstag bekommen, und die Ferngespräche muss ich selbst von meinem Taschengeld bezahlen, also mach mal halblang. Und wenn das hier vorbei ist, ist das nie passiert. Nie passiert! Habt ihr verstanden?«

Sie nicken alle. Nie passiert. Wirklich nie passiert -

Ein Windstoß schob Henry nach vorn, fast in den Elektrozaun hinein. Er kam wieder zu sich, schüttelte die Erinnerungen ab wie einen schweren Mantel. Sie hätten gar nicht ungelegener kommen können (manche Erinnerungen kamen natürlich nie gelegen). Er hatte auf Underhill gewartet, hatte sich fast den Allerwertesten abgefroren und auf seine einzige Chance gelauert, hier herauszukommen, und Underhill hätte genau an ihm Vorbeigehen können, während er dort in Tagträumen versunken stand, und dann hätte er so richtig schön in der Scheiße gesteckt.

Aber Underhill war nicht vorbeigegangen. Er stand auf der anderen Seite des Zauns, die Hände in den Taschen, und schaute Henry an. Schneeflocken landeten auf der durchsichtigen, käferförmig gewölbten Atemmaske, schmolzen in der Wärme seines Atems und rannen daran hinunter wie ... Wie Bibers Tränen damals, dachte Henry.

»Sie sollten zu den anderen in den Stall gehen«, sagte Underhill. »Hier draußen verwandeln Sie sich noch in einen Schneemann.«

Henry klebte die Zunge am Gaumen. Sein Leben hing buchstäblich davon ab, was er jetzt zu diesem Mann sagte, und ihm fiel kein guter Anfang ein. Ja, er brachte kein Wort heraus.

Und wozu auch die Mühe?, wollte die Stimme in seinem Innern wissen - die Stimme der Dunkelheit, seiner alten Freundin. Jetzt mal im Ernst: Wozu die Mühe? Wieso lässt du sie nicht machen, was du selber sowieso vorhattest?

Weil es nicht mehr um ihn alleine ging. Und er bekam immer noch nicht den Mund auf.

Underhill stand dort noch für einen Moment und sah ihn an. Die Hände in den Taschen. Seine Kapuze war nach hinten geweht, und man konnte sein kurzes dunkelblondes Haar sehen. Der Schnee schmolz auf der Maske, die die

Soldaten trugen und die Internierten nicht, denn die Internierten brauchten keine Maske; für die Internierten stand, wie auch für die Grauen, eine Endlösung bereit.

Henry wollte so dringend etwas sagen und konnte es nicht, konnte es einfach nicht. Ach Gott, Jonesy hätte an seiner Stelle hier sein sollen; Jonesy war immer der bessere Redner gewesen. Underhill würde weitergehen und ihn mit dem ganzen Was-wäre-gewesen-wenn alleine lassen.

Aber Underhill blieb noch einen Moment.

»Es wundert mich gar nicht, dass Sie meinen Namen kennen, Mr. ... Henreid? Heißen Sie Henreid?«

»Devlin. Das ist mein Vorname, den Sie da aufgeschnappt haben. Ich heiße Henry Devlin.« Sehr vorsichtig schob Henry seine rechte Hand durch eine Lücke zwischen Stacheldraht und Elektrodraht. Nachdem Underhill sie ein paar Sekunden lang mit ausdrucksloser Miene betrachtet hatte, zog Henry seine Hand zurück in seine Ecke der neu eingeteilten Welt, kam sich idiotisch dabei vor und beschwor sich in Gedanken, sich nicht wie ein Trottel aufzuführen, denn es war ihm ja nicht jemand auf einer Cocktailparty dumm gekommen.

Sobald das erledigt war, nickte Underhill freundlich, als wären sie hier durchaus auf einer Cocktailparty und stünden nicht mitten in einem tosenden Schneesturm im Licht der neu aufgebauten Scheinwerfer.

»Sie wissen meinen Namen, weil die Außerirdischen hier in Jefferson Tract eine leichte Form von Telepathie verbreitet haben.« Underhill lächelte. »Es klingt verrückt, wenn man das so sagt, nicht wahr? Aber es stimmt. Dieser Effekt ist nur vorübergehend und harmlos und zu schwach, um für irgendwas außer Partyspielchen nützlich zu sein, und für Partyspielchen haben wir heute Abend ein bisschen zu viel zu tun.«

Henrys Zunge löste sich zum Glück endlich. »Sie sind nicht in einem Schneesturm hier herausgekommen, weil ich

Ihren Namen weiß«, sagte Henry. »Sie sind hergekommen, weil ich auch weiß, wie Ihre Frau heißt. Und Ihre Tochter.« Underhills Lächeln schwand nicht. »Kann schon sein«, sagte er. »Aber ich glaube, es wird für uns beide Zeit, sich mal hinzulegen und etwas auszuruhen. Es war ein langer Tag.«

Underhill ging los, aber sein Weg führte ihn am Zaun entlang zu den weiter hinten abgestellten Trailern und Wohnwagen. Henry hielt Schritt mit ihm, musste sich dabei aber anstrengen; es lagen hier jetzt gut dreißig Zentimeter Schnee, der immer wieder aufgewirbelt wurde, und hier auf der Seite der Toten hatte ihn noch niemand platt getrampelt.

»Mr. Underhill. Owen. Warten Sie, und hören Sie mir zu. Ich habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.«

Underhill ging weiter auf seiner Seite des Zauns entlang (die ebenfalls eine Seite der Toten war, wusste Underhill das denn nicht?), den Kopf vor dem Wind geduckt und immer noch ein halbwegs freundliches Lächeln auf den Lippen. Und das Schreckliche dabei war, auch das war Henry bewusst: Underhill wollte durchaus stehen bleiben. Henry hatte ihm bloß noch keinen hinreichenden Anlass dazu gegeben.

»Kurtz ist zwar verrückt«, sagte Henry. Er hielt immer noch Schritt, schnaufte aber schon, und seine erschöpften Beine protestierten. »Aber er ist verrückt wie ein Fuchs.«

Underhill ging weiter, den Kopf gesenkt und die Andeutung eines Lächelns unter der idiotischen Maske. Er beschleunigte sogar noch seinen Schritt. Bald würde Henry laufen müssen, um auf seiner Seite des Zauns mit ihm mitzuhalten. Wenn er denn überhaupt noch laufen konnte.

»Ihr werdet die Maschinengewehre auf uns richten«, keuchte Henry. »Die Leichen kommen in den Stall ... der Stall wird mit Benzin übergössen ... wahrscheinlich aus der Zapfsäule des alten Gosselin, wozu Staatsbesitz vergeuden ... und dann: Pluuff!, werden alle verbrannt... zweihun-glühende Gesicht rann. Dabei wurde Henry plötzlich von weither bewusst, dass die Wunde an seinem Bein, in der der Byrus wuchs, angefangen hatte zu jucken.

Endlich machte Underhill kehrt und kam zurück. »Woher wissen Sie das mit den Rapeloews? Die Telepathie verschwindet doch schon. Sie dürften eigentlich nicht in der Lage sein, so tief zu kommen.«

»Ich weiß so manches«, sagte Henry. Er erhob sich und stand dann nach Luft schnappend und hustend da. »Und das auch nicht erst seit heute. Ich bin anders. Meine Freunde und ich, wir waren alle anders. Wir waren zu viert. Zwei sind tot. Ich bin hier in diesem Lager. Aber der vierte ... Mr. Underhill, der vierte ist Ihr Problem. Nicht ich, nicht die Leute, die Sie da im Stall haben oder erst noch internieren, nicht ihre Blue Group und auch nicht das Imperial-Valley-Kader von Kurtz. Einzig und allein er.« Er zauderte, wollte den Namen nicht aussprechen - Jonesy war immer sein bester Freund gewesen, Biber und Pete hatte er auch nahe gestanden, aber nur Jonesy konnte geistig mit ihm mithalten, Buch um Buch, Gedanke um Gedanke. Aber Jonesy gab es ja nicht mehr, nicht wahr? Henry war sich da ziemlich sicher. Er war dagewesen, ein winziges bisschen von ihm war dagewesen, als die rotschwarze Wolke an Henry vorbeigebraust war, aber mittlerweile war sein alter Freund ja wohl bei lebendigem Leibe aufgefressen worden. Sein Herz mochte vielleicht noch schlagen, und seine Augen mochten noch sehen, aber das, was Jonesy ausmachte, war genauso tot wie Pete und der Biber.

»Jonesy ist Ihr Problem, Mr. Underhill. Gary Jones aus Brookline, Massachusetts.«

»Kurtz ist auch ein Problem.« Underhill sprach zu leise, als dass man ihn in dem heulenden Wind hätte hören können, aber Henry hörte ihn trotzdem - hörte ihn in seinen Gedanken.

Underhill sah sich um. Henry folgte seiner Kopfbewegung und sah ein paar Männer die improvisierte Gasse zwischen den Caravans und Wohncontainern auf und ab laufen. Aber niemand war in der Nähe. Doch das gesamte Areal um den Laden und den Stall herum war gnadenlos hell erleuchtet, und trotz des Sturms konnte er aufheulende Motoren hören, das stotternde Dröhnen von Generatoren und brüllende Männer. Jemand erteilte mit einem Megafon Befehle. Insgesamt wirkte das Ganze unheimlich, als hielte der Sturm die beiden an einem Ort gefangen, wo es von Gespenstern nur so wimmelte. Und die herumlaufenden Männer sahen sogar wie Gespenster aus, wenn sie in den wirbelnden Schneewänden verschwanden.

»Wir können hier nicht reden«, sagte Underhill. »Hören Sie zu, und lassen Sie mich das nicht zweimal sagen, Bursche.«

Und in Henrys Kopf, der jetzt so viel aufnehmen musste, dass das meiste davon zu einem unverständlichen Brei vermengt wurde, leuchtete plötzlich ein Gedanke aus Owen Underhills Gehirn ganz deutlich auf: Bursche. Sein Wort. Ich kann nicht glauben, dass ich sein Wort gebraucht habe.

»Ich bin ganz Ohr«, sagte Henry.

Der Schuppen stand am anderen Ende des Lagers, weitab vom Stall. Er war zwar von außen ebenso strahlend hell erleuchtet wie der Rest dieses höllischen Konzentrationslagers, innen aber war es düster und roch es süßlich nach altem Heu. Und nach noch etwas anderem.

Vier Männer und eine Frau saßen mit dem Rücken an der hinteren Mauer des Schuppens. Sie alle trugen orangefarbene Jagdkluft und reichten einen Joint herum. Es gab im Schuppen nur zwei Fenster, eines auf den Pferch und eines, von dem aus man die Umzäunung und den Wald dahinter sah. Die Fensterscheiben waren schmutzig und milderten das gnadenlos grelle, weiße Licht der Natrium-Scheinwerfer ein wenig. In dem Dämmerlicht sahen die Gesichter der kiffenden Internierten grau und tot aus.

»Willst du mal ziehn?«, fragte der mit dem Joint. Er sprach angespannt und kurz angebunden und behielt dabei den Rauch in der Lunge; trotzdem hielt er Henry aber bereitwillig den Joint hin. Es war ein Monster von einer Tüte, bemerkte Henry, so groß wie eine Cohiba.

»Nein. Ich will, dass ihr alle hier verschwindet.«

Sie sahen ihn verständnislos an. Die Frau war mit dem Mann verheiratet, der gerade den Joint hielt. Der Typ links neben ihr war ihr Schwager. Die anderen beiden waren nicht mit ihnen verwandt.

»Geht wieder in den Stall«, sagte Henry.

»Kommt nicht in Frage«, sagte einer der anderen Männer. »Da ist es zu voll. Wir sind lieber unter uns. Und da wir zuerst hier waren, solltest du doch wohl die Biege machen, wenn dir nicht nach Geselligkeit ist -«

»Ich habe es«, sagte Henry. Er legte eine Hand auf das T— Shirt, das er sich ums Bein gebunden hatte. »Byrus. Was die hier Ripley nennen. Einige von euch haben es auch ... Ich glaube, du hast es, Charles —« Er wies auf den fünften Mann, der eine Halbglatze hatte und eine dicke Daunenjacke trug.

»Nein!«, schrie Charles, aber die anderen rückten schon von ihm ab, und der mit der kambodschanischen Zigarre (er hieß Darren Chiles und kam aus Newton, Massachusetts) achtete dabei noch darauf, den Rauch nicht vorschnell auszuatmen.

»Doch, du hast es«, sagte Henry. »Und zwar richtig heftig. Und du auch, Mona. Mona? Nein, Marsha. Marsha heißt du.«

»Ich habe es nicht!«, sagte sie. Sie stand auf, drückte sich mit dem Rücken an der Schuppenmauer entlang und sah Henry mit großen, verängstigten Augen an. Rehaugen. Bald würden alle Rehe hier tot sein, und auch Marsha würde tot sein. Henry hoffte, dass sie seinen Gedanken nicht lesen konnte. »Ich bin clean, Mister, wir hier drin sind alle clean, bis auf Sie!«

Sie sah zu ihrem Gatten hinüber, der nicht kräftig war, aber doch kräftiger als Henry. Das waren sie eigentlich alle. Vielleicht nicht unbedingt größer, aber kräftiger.

»Schmeiß ihn raus, Dare.«

»Es gibt zwei Typen von Ripley«, sagte Henry und stellte als Tatsache hin, was seine Privatmeinung war ... aber je länger er darüber nachdachte, desto plausibler kam es ihm vor. »Nennen wir sie Primär-Ripley und Sekundär-Ripley. Ich bin mir ziemlich sicher: wenn ihr keine massive Dosis abbekommen habt, wenn ihr es nicht geschluckt oder eingeatmet oder auf eine offene Wunde bekommen habt, dann könnt ihr auch wieder gesund werden. Ihr könnt es überstehen. «

Jetzt sahen sie ihn alle mit großen Rehaugen an, und Henry verspürte kurz eine unvergleichliche Verzweiflung. Wieso hatte er sich nicht einfach in aller Ruhe das Leben nehmen können?

»Ich habe Primär-Ripley«, sagte er. Er band das T-Shirt auf. Keiner von ihnen wagte mehr als einen flüchtigen Blick auf den Riss in Henrys vor Schnee starrenden Jeans zu werfen, aber Henry schaute stellvertretend für sie ganz genau hin. Die Wunde, die der Blinkerhebel gerissen hatte, war nun mit Byrus zugewachsen. Manche Fasern waren fünf Zentimeter lang, und ihre Spitzen wogten wie Seetang in der Dünung. Er spürte, wie sich die Wurzeln beständig weiter vorarbeiteten, tiefer und immer tiefer, juckend und schäumend und sprudelnd. Und zu denken versuchten. Das war das Allerschlimmste: Es versuchte zu denken.

Jetzt wichen sie in Richtung Schuppentür zurück, und Henry rechnete damit, dass sie Reißaus nehmen würden, stattdessen blieben sie stehen.

»Können Sie uns helfen, Mister?«, fragte Marsha mit bebender Kleinmädchenstimme. Darren, ihr Mann, legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Ich weiß es nicht«, sagte Henry. »Wahrscheinlich nicht... aber vielleicht doch. Geht jetzt. Ich bin hier in einer halben Stunde wieder raus, vielleicht auch schon früher, aber ihr bleibt wohl am besten im Stall bei den anderen.«

»Und wieso?«, fragte Darren Chiles aus Newton.

Und Henry, der da nur eine vage Idee hatte, nichts, was einen Plan auch nur ähnelte, sagte: »Ich weiß es nicht. Das ist einfach meine Meinung.«

Sie gingen hinaus und überließen Henry den Schuppen.

6

Unter dem Fenster, das zur Umzäunung hinaus ging, lag ein alter Heuballen. Darren Chiles hatte darauf gesessen, als Henry hereingekommen war (als der mit dem Dope hatte Chiles ein Anrecht auf den bequemsten Platz gehabt), und jetzt ließ sich Henry darauf nieder. Er saß da mit den Händen auf den Knien und wurde augenblicklich schläfrig, trotz der vielen Stimmen, die in seinem Kopf herumschwirrten, und trotz des tiefen, sich immer weiter ausdehnenden Juckens in seinem linken Bein (es ging auch in seinem Mund los, in einer seiner Zahnlücken).

Er hörte Underhill kommen, ehe Underhill draußen vor dem Fenster etwas sagte, hörte, wie sich seine Gedanken näherten.

»Ich bin auf der vom Wind abgewandten Seite und größtenteils im Schatten des Gebäudes«, sagte Underhill. »Ich rauche hier eine. Wenn jemand vorbeikommt, sind Sie nicht da drin.«

»Verstanden.«

»Wenn Sie mich anlügen, gehe ich weg, und Sie werden mich für den kurzen Rest Ihres Lebens nicht mehr sprechen, weder laut noch ... sonst irgendwie.«

»Klar.«

»Wie sind Sie denn die Leute da drinnen losgeworden?«

»Wie?« Henry hätte gedacht, er sei zu kaputt, um noch wütend werden zu können, aber dem war anscheinend nicht so. »War das irgendwie ein Test oder was?«

»Stellen Sie sich doch nicht dumm.«

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich Primär-Ripley habe, und das stimmt ja auch. Da sind sie schnell verduftet.« Henry hielt inne. »Sie haben es auch, nicht wahr?«

»Wie kommen Sie darauf?« Henry konnte in Underhills Stimme keinerlei Anspannung hören, und als Psychiater war er vertraut mit den Anzeichen dafür. Was er auch sonst noch sein mochte, Henry hatte so das Gefühl, dass Underhill ein äußerst kühl denkender Verstandesmensch war, und das war doch schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Und außerdem, dachte er, kann es nicht schaden, wenn er weiß, dass er wirklich nichts zu vertieren hat.

»Sie haben es an den Fingernägeln, nicht wahr? Und ein wenig auch am Ohr.«

»Sie würden in Vegas groß rauskommen, mein Lieber.« Henry sah, wie Underhill die Hand hob, in der er die Zigarette hielt. Vermutlich würde hauptsächlich der Wind sie aufrauchen.

»Primär-Ripley bekommt man direkt von der Quelle. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man Sekundär-Ripley bekommt, wenn man etwas berührt, worauf es wächst - auf Bäumen, auf Moos, auf Hirschen, Hunden, anderen Menschen. Es verhält sich damit wie mit Giftefeu. Es ist nicht so, dass Ihre Laborleute das nicht wüssten. Soweit ich weiß, habe ich diese Informationen von denen. Mein Kopf ist wie eine gottverdammte Satellitenschüssel, und ich kriege alles unverschlüsselt rein. Bei vielem weiß ich nicht, wo es herkommt, und es ist auch egal. Aber hier ist etwas, das Ihre

Laborleute nicht wissen: Die Grauen nennen dieses rote Gewächs Byrus, und das bedeutet >Quell des Lebens<. Unter gewissen Umständen kann die Primärvariante diese Implantate ausbilden.«

»Die Kackwiesel, meinen Sie.«

»Kackwiesel, das ist gut. Das gefällt mir. Sie entspringen dem Byrus und vermehren sich dann, indem sie Eier legen. Sie breiten sich aus, legen wieder Eier und breiten sich weiter aus. So ist das jedenfalls gedacht. Aber hier gehen die meisten Eier ein. Ich habe keine Ahnung, ob es am kalten Wetter, an der Atmosphäre oder noch etwas anderem liegt. Aber unter unseren Umweltbedingungen, Underhill, geht es nur um den Byrus. Das ist das Einzige, was sie haben, was funktioniert. «

»Der Quell des Lebens.«

»Mmh, aber hören Sie zu: Die Grauen haben hier große Schwierigkeiten, und das ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sie so lange - ein halbes Jahrhundert lang - gezögert haben, ehe sie richtig losschlugen. Die Wiesel zum Beispiel. Das sollen eigentlich Saprophyten sein ... Wissen Sie, was das ist?«

»Henry? ... So heißen Sie doch, nicht wahr? Henry? ... Hat das irgendwelche Auswirkungen auf unsere gegenwärtige-

«

»Es hat immense Auswirkungen auf unsere gegenwärtige Situation. Und wenn Sie nicht einen Großteil der Verantwortung für das Ende allen Lebens auf dem Raumschiff Erde tragen wollen - von jeder Menge interstellarem Kudzu natürlich mal abgesehen -, dann rate ich Ihnen, den Mund zu halten und zuzuhören.«

Eine Pause. Dann: »Ich höre.«

»Saprophyten sind nützliche Parasiten. Viele davon leben in unseren Eingeweiden, und wir nehmen sie bereitwillig mit manchen Molkereiprodukten zu uns. Mit Buttermilch zum Beispiel und mit Jogurt. Wir bieten diesen Bakterien einen

Ort zum Leben, und sie revanchieren sich mit etwas. Bei den Milchbakterien ist es die Verdauungsförderung. Die Wiesel werden unter normalen Umständen - normal in irgendeiner anderen Welt, schätze ich mal, in der die ökologischen Bedingungen so anders sind, dass ich es nicht mal erraten kann -nicht größer als ein Daumennagel. Ich glaube, bei weiblichen Wesen wirken sie irgendwie auf die Fortpflanzung ein, bringen sie aber nicht um. Normalerweise nicht. Sie leben einfach nur im Darm. Wir geben ihnen Nahrung, und sie verleihen uns telepathische Kräfte. Das ist normalerweise der Deal. Nur dass sie uns auch in Fernsehgeräte verwandeln. Wir sind das TV für die Grauen.«

»Und Sie wissen das alles, weil auch in Ihnen so eines lebt?« Underhills Stimme war kein Ekel anzuhören, aber Henry nahm es deutlich in den Gedanken des Mannes wahr, es schreckte zurück wie der Fühler einer Schnecke. »Ein so genanntes normales Wiesel?«

»Nein.« Glaube ich zumindest nicht, dachte er.

»Woher wissen Sie dann, was Sie wissen? Oder denken Sie sich das alles einfach nur aus? Wollen Sie sich hier rausschwindeln?«

»Woher ich das weiß, spielt noch die geringste Rolle, Owen. Und Sie wissen doch, dass ich nicht lüge. Sie können meine Gedanken lesen.«

»Daher weiß ich, dass Sie glauben, dass Sie nicht lügen. Wie schlimm wird das denn noch mit dieser Gedankenlese-rei bei mir?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nimmt es noch zu, wenn sich der Byrus ausbreitet, aber nicht so wie bei mir.«

»Weil Sie anders sind.« Skepsis, sowohl in Underhills Ton als auch in Underhills Gedanken.

»Mann, bis heute wusste ich nicht, wie anders ich bin. Aber lassen wir das doch mal für eine Minute beiseite. Vorläufig möchte ich nur, dass Sie verstehen, dass die Grauen hier die Arschkarte gezogen haben. Vielleicht zum ersten

Mal in ihrer Geschichte gerät ihnen das alles außer Kontrolle. Erstens, weil sich die Wiesel, wenn sie sich in Menschen einnisten, nicht wie Saprophyten verhalten, sondern gewaltsam parasitär. Sie hören nicht auf zu fressen, und sie hören nicht auf zu wachsen. Sie sind wie ein Tumor, Underhill.

Zweitens: der Byrus. Er gedeiht in anderen Welten gut, in unserer aber, zumindest vorläufig, nicht. Die Wissenschaftler und medizinischen Experten, die dieses Rodeo hier betreiben, sind der Ansicht, dass die Kälte ihn eindämmt, aber ich glaube nicht, dass es daran liegt, zumindest nicht allein. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, denn sie wissen es auch nicht, aber —«

»Brr, brr.« Halb verdeckt leuchtete eine kleine Flamme auf, als sich Underhill eine neue Zigarette ansteckte, die der Wind dann aufrauchen durfte. »Damit meinen Sie nicht die Laborleute, nicht wahr?«

»Nein.«

»Sie glauben, Sie stehen mit den Grauen in Verbindung. In telepathischer Verbindung.«

»Ich glaube ... mit einem von Ihnen. Über einen Mittelsmann.«

»Dieser Jonesy, von dem Sie gesprochen haben?«

» Owen, ich weiß es nicht. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Entscheidend ist nur: Sie vertieren. Sie und ich und die Männer, die heute mit Ihnen zu Blue Boy rausgeflogen sind, wir alle werden Weihnachten wahrscheinlich nicht mehr erleben. Ich will Ihnen da nichts vormachen. Wir alle haben eine hohe, konzentrierte Dosis abbekommen. Aber -«

»Also gut, ich habe es«, sagte Underhill. »Und Edwards hat es auch. Es ist urplötzlich an ihm aufgetaucht.«

»Aber selbst wenn es sich richtig in Ihnen einnistet, glaube ich nicht, dass Sie es sehr weit verbreiten können. So ansteckend ist es nun auch wieder nicht. Manche von den Leuten da im Stall werden es nie kriegen, da können sie noch so lange mit Byrus-Infizierten zusammenhocken. Und die Leu-te, die es sich wie eine Erkältung holen, erkranken an Sekun-där-Byrus ... oder -Ripley, wenn Ihnen das besser gefällt.« »Bleiben wir doch bei Byrus.«

»Also gut. Sie können eventuell einige wenige andere Menschen damit anstecken, die dann eine sehr schwache Form bekommen, die wir Byrus drei nennen könnten. Es mag sogar noch darüber hinaus ansteckend sein, aber ich glaube, man brauchte schon ein Mikroskop oder einen Bluttest, um Byrus vier nachzuweisen. Und dann ist es futsch.

Jetzt kommt die Zusammenfassung, also passen Sie auf.

Punkt eins: Die Grauen - wahrscheinlich nicht mehr als eine Art Zusteildienst für den Byrus - sind bereits erledigt. Diejenigen, die nicht an den Umweltbedingungen eingegangen sind wie die Marsianer in Krieg der Welten an den Mikroben, wurden von Ihren Kampfhubschraubern vernichtet. Das heißt, alle bis auf einen - ja, so muss es sein -, von dem ich meine Informationen habe. Und im körperlichen Sinne ist auch er tot.

Punkt zwei: Die Wiesel funktionieren nicht. Wie alle Tumore fressen sie sich letztendlich zu Tode. Die aus dem Darm ausbrechen, sterben bald in einer Umgebung, die sie als unwirtlich empfinden.

Punkt drei: Auch der Byrus überlebt nicht besonders gut, aber wenn er eine Chance bekommt, wenn er Zeit hat, im Verborgenen zu wachsen, dann könnte er mutieren und lernen, sich anzupassen.«

»Wir werden das alles vernichten«, sagte Underhill. »Wir werden den gesamten Jefferson Tract in eine Brandnarbe verwandeln.«

Henry hätte vor Frustration schreien mögen, und etwas davon drang anscheinend nach außen. Es gab ein leises, dumpfes Geräusch, als Underhill zusammenzuckte und mit dem Rücken die dünne Schuppenmauer berührte.

»Was Sie hier oben machen, spielt keine Rolle«, sagte Henry. »Die Menschen, die Sie interniert haben, können es nicht verbreiten, die Wiesel können es nicht verbreiten, und der Byrus kann sich auch nicht selbst verbreiten. Wenn Sie jetzt Ihre Zelte abbrechen und abhauen würden, würde sich die Natur selbst darum kümmern und diesen Quatsch einfach auslöschen. Ich glaube, die Grauen sind hier aufgetaucht, weil sie es einfach nicht wahrhaben wollen. Ich glaube, das war ein Selbstmordkommando, angeführt von einer grauen Version Ihres Mista Kurtz. Scheitern ist für sie einfach kein Begriff. Sie denken: >Wir siegen immer.<«

»Woher wissen -«

»Und dann, in letzter Minute, Underhill - vielleicht gar in letzter Sekunde -, hat einer von ihnen einen Menschen gefunden, der auf bemerkenswerte Weise anders war als alle Menschen, mit denen die Grauen, die Wiesel und der Byrus je in Kontakt gekommen waren. Und der ist Ihre Typhoid Mary. Er hat die Quarantänezone bereits verlassen und macht all Ihre Pläne zunichte.«

»Gary Jones.«

»Ja, Jonesy.«

»Und was macht ihn so anders?«

So ungern er darauf eingehen wollte, sah Henry doch ein, dass er Underhill eine Erklärung schuldig war.

»Er und ich und unsere beiden Freunde - die beiden, die jetzt tot sind - kannten einmal jemanden, der sehr eigen war. Er war von Natur aus Telepath, brauchte keinen Byrus dazu. Und der hat etwas mit uns gemacht. Wenn wir ein bisschen älter gewesen wären, als wir ihn kennen gelernt haben, dann wäre das vermutlich nicht möglich gewesen, aber wir haben ihn kennen gelernt, als wir besonders ... tja, anfällig müsste man wohl sagen ... dafür waren, was er hatte. Und dann, Jahre später, ist mit Jonesy noch etwas passiert, etwas, das nichts zu tun hatte mit... mit diesem bemerkenswerten Jungen.«

Aber das stimmte so nicht, vermutete Henry. Obwohl Jonesy in Cambridge überfahren worden und fast umgekommen war und Duddits, soweit Henry wusste, in seinem ganzen Leben nie südlich von Derry gewesen war, hatte Duds doch irgendwie eine Rolle bei Jonesys endgültiger Verwandlung gespielt. Das wusste er einfach.

»Und das soll ich jetzt... einfach so glauben? Das soll ich schlucken wie Hustensaft?«

In der nach Heu duftenden Dunkelheit des Schuppens setzte Henry ein todernstes Grinsen auf. »Owen«, sagte er, »Sie glauben es doch. Ich bin ein Telepath, haben Sie das schon vergessen? Und zwar der allerschlimmste. Die Frage ist doch ... die Frage ist...«

Henry stellte die Frage in Gedanken.

Wie er so da draußen vor der Umzäunung an der hinteren Mauer des alten Lagerschuppens stand und sich den Arsch abfror, die Filtermaske runtergezogen, damit er ein paar Zigaretten rauchen konnte, die er nicht rauchen wollte (er hatte sich ein neues Päckchen besorgt), war Owen nie im Leben weniger zum Lachen zumute gewesen ... doch als der Mann im Schuppen auf seine so überaus vernünftige Frage mit so ungeduldiger Unverblümtheit antwortete - Sie glauben es doch ... Ich bin ein Telepath, haben Sie das schon vergessen? -, musste er ganz unvermittelt lachen. Kurtz hatte gesagt, die menschliche Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form würde zusammenbrechen, wenn sich die Telepathie dauerhaft ausbreiten würde. Owen hatte das durchaus nachvollziehen können, aber jetzt verstand er es erst so richtig.

»Die Frage ist doch ... die Frage ist...«

Was wollen wir dagegen unternehmen?

Müde wie er war, fiel Owen darauf nur eine Antwort ein. »Wir müssen Jones verfolgen, schätze ich mal. Bringt das was? Bleibt uns genug Zeit?«

»Ich glaube schon. Gerade mal so.«

Owen versuchte mit seinen eigenen, geringeren Fähigkeiten zu lesen, was hinter Henrys Antwort steckte, aber es gelang ihm nicht. Und doch war er sicher, dass es größtenteils der Wahrheit entsprach, was ihm der Mann erzählt hatte. Entweder das oder er hält es nur für die Wahrheit, dachte Owen. Und Gott weiß, dass ich es auch für die Wahrheit halten will. Mir ist jede Ausrede recht, um hier wegzukommen, ehe das große Gemetzel losgeht.

»Nein«, sagte Henry, und Owen fand, dass er sich zum ersten Mal aufgebracht anhörte und nicht vollkommen selbstsicher. »Kein Gemetzel. Kurtz wird doch nicht zwei-bis achthundert Menschen umbringen! Menschen, die sowieso keinen Einfluss auf die ganze Sache haben. Das sind doch bloß - Herrgott, das sind doch bloß unbeteiligte Zuschauer!«

Wenn er einmal bedachte, was für Unbehagen Henry ihm bereitet hatte, wunderte sich Owen nicht, dass er ein wenig schadenfroh war angesichts des Unbehagens seines neuen Freundes. »Was schlagen Sie vor? Da es ja, wie Sie sagen, nur auf Ihren Kumpel Jonesy ankommt.«

»Ja, aber...«

Er geriet ins Schwimmen. Henrys Gedankenstimme klang ein wenig selbstsicherer, aber nur minimal. Damit habe ich nicht gemeint, dass wir Weggehen und sie dem Tod überlassen sollen.

»Wir gehen auch nicht weg«, sagte Owen. »Wenn überhaupt, dann flitzen wir wie zwei Ratten im Getreidesilo.« Er ließ seine dritte Zigarette nach einem letzten Pro-forma-Zug fallen und sah zu, wie der Wind sie davontrug. Jenseits des Schuppens wirbelten Schneeschleier über den verwaisten Pferch und schichteten an den Stallmauern hohe Schneewehen auf. Es wäre Wahnsinn, bei diesem Wetter irgendwohin zu fliehen. Zuallererst brauchten wir mindestens mai ein Schneemobil, dachte Owen. Gegen Mitternacht tut es wahrscheinlich nicht mal mehr ein Wagen mit Allradantrieb. Nicht bei diesem Wetter.

»Sie bringen Kurtz um«, sagte Henry. »Das ist die Antwort. Wir können leichter entkommen, wenn keiner da ist, der Befehle gibt, und das würde die ... biologische Säuberung erst mal aufhalten.«

O wen lachte trocken. »Es hört sich so einfach an, wenn Sie das sagen«, sagte er. »Null-Null-Underhill mit der Lizenz zum Töten.«

Er steckte sich eine vierte Zigarette an, wölbte dabei die Hände um die Flamme. Trotz der Handschuhe hatte er in den Fingern kaum noch Gefühl. Wir sollten uns ganz schnell was einfüllen lassen, dachte er. Ehe ich hier erfriere.

»Was ist denn schon dabei?«, fragte Henry, wusste es aber nur zu gut; O wen spürte (und hörte es halb), wie er versuchte, es nicht zu sehen, weil er nicht wollte, dass alles noch schlimmer war als ohnehin schon. »Gehen Sie einfach rein und knallen ihn ab.«

»Das geht nicht.« Owen schickte Henry schnell ein Bild: Freddy Johnson (und die übrigen Mitglieder des so genannten Imperial-Valley-Kaders), wie sie auf Kurtz' Winnebago aufpassten. »Außerdem ist das Wohnmobil verwanzt. Wenn da irgendwas passiert, kommen die harten Kerle angestürmt. Vielleicht könnte ich ihn erwischen. Wahrscheinlich nicht, denn er lässt sich beschützen wie ein kolumbianischer Kokainkönig, vor allem, wenn er im Einsatz ist, aber vielleicht ja doch. Ich bin ja selbst auch nicht von Pappe. Aber das wäre Kamikaze. Wenn er Freddy Johnson rekrutiert hat, dann hat er wahrscheinlich auch Kate Gallagher und Marvell Ri-chardson ... Carl Friedman ... Jocelyn McAvoy. Knallharte Jungs und knallharte Mädels, Henry. Wenn ich Kurtz umniete, nieten die mich um, und dann schicken die hohen Tiere, die die ganze Show von ihrem Bunker unterm Cheyenne Mountain aus dirigieren, einen neuen Cleaner, einen Klon von Kurtz, der da weitermacht, wo Kurtz aufgehört hat.

Oder vielleicht übertragen sie einfach Kate das Kommando. Die ist weiß Gott verrückt genug dafür. Dann dürfen die Leute im Stall noch zwölf Stunden länger in ihrem eigenen Saft schmoren, aber letztendlich würden sie trotzdem verbrennen. Der einzige Unterschied wäre der, dass Sie, mein Lieber, statt mit mir unbekümmert durch den Schneesturm zu tollen, gemeinsam mit den anderen verbrennen. Und Ihr Kumpel -dieser Jonesy - ist dann längst unterwegs nach ... wohin?« »Das behalte ich vorläufig besser für mich.«

Owen forschte trotzdem mit den ihm gegebenen telepathischen Mitteln danach. Für einen Moment hatte er verschwommen ein verblüffendes Bild vor Augen - ein großes, weißes, eingeschneites Gebäude, zylindrisch wie ein Getreidesilo -, und dann war es wieder verschwunden, und statt -dessen sah er ein weißes Pferd, das fast wie ein Einhorn aussah, an einem Schild vorbeilaufen. Und auf dem Schild stand in roten Lettern unter einem Pfeil: banbury cross.

Er ächzte belustigt und erschöpft. »Sie sperren mich aus.«

»So könnte man sagen. Oder man könnte sagen: Ich bringe Ihnen eine Technik bei, die Sie sich aneignen sollten, wenn Sie unser Gespräch geheim halten wollen.«

»Soso.« Owen war nicht gänzlich unerfreut darüber, was eben passiert war. Zum einen kam es ihm sehr gelegen, eine Störtechnik zu beherrschen. Zum anderen wusste Henry offensichtlich, wohin sein infizierter Freund - nennen wir ihn Typhoid Jonesy - wollte. Owen hatte in Henrys Gedanken ein Bild davon erhascht.

»Henry, ich möchte, dass Sie mir jetzt zuhören.«

»Ich höre.«

»Folgendermaßen bringen wir beide, Sie und ich, das auf die einfachste und sicherste Weise über die Bühne. Zunächst sollten wir, wenn die Zeit nicht der alles entscheidende Faktor ist, etwas schlafen.«

»Ja, das glaube ich auch. Ich kippe gleich um.«

»So gegen drei Uhr kann ich dann loslegen. In der ganzen Anlage hier wird zwar so lange höchste Alarmbereitschaft gelten, bis es hier keine Anlage mehr gibt, aber wenn die Augen des Großen Bruders denn jemals ein wenig glasig werden, dann zwischen vier und sechs Uhr morgens. Ich sorge für Ablenkung, und ich kann den Zaun kurzschließen - das ist eigentlich noch die leichteste Übung. Und fünf Minuten nachdem hier die Hölle ausgebrochen ist, kann ich mit einem Schneemobil hier sein -«

Die Telepathie brachte gegenüber rein verbaler Verständigung gewisse Vorteile, stellte Owen jetzt fest. Noch während er sprach, schickte er Henry das Bild eines brennenden Hubschraubers vom Typ MH-6 Little Bird, auf den Soldaten zuliefen.

»— und weg sind wir.«

»Und lassen Kurtz mit einem Stall voll unschuldiger Zivilisten zurück, die er rösten will. Von der Blue Group mal ganz abgesehen. Das sind dann ... noch mal gut dreihundert?«

Owen, der seit seinem neunzehnten Lebensjahr beim Militär war und seit acht Jahren zu Kurtz' Cleanern zählte, schickte zwei harte Wörter über die geistige Verbindung, die sie aufgebaut hatten: Hinnehmbare Verluste.

Hinter der schmutzigen Fensterscheibe regte sich die verschwommene Gestalt, die Henry Devlin war, und stand dann wieder ruhig da.

Nein, erwiderte er.

8

Nein ? Was soll das bedeuten - nein? Nein. Nein bedeutet nein. Haben Sie eine bessere Idee? Und da wurde Owen zu seinem Entsetzen bewusst, dass

sich Henry genau das einbildete. Bruchstücke dieser Idee -sie einen Plan zu nennen, wäre zu viel der Ehre gewesen -huschten Owen durch den Kopf wie der hell aufstrahlende Schweif eines Kometen. Sie verschlugen ihm den Atem. Die Zigarette fiel ihm unbemerkt aus der Hand und wurde fortgeweht.

Sie sind verrückt.

Nein, bin ich nicht. Wir brauchen eine Ablenkung, wenn wir hier wegkommen wollen, das ist Ihnen doch klar. Und das wäre eine Ablenkung.

Die werden so oder so umgebracht!

Manche schon. Vielleicht sogar die meisten von ihnen. Aber so haben sie wenigstens eine Chance. Welche Chance hätten sie denn in einem brennenden Stall?

Und laut fügte Henry hinzu: »Und dann ist da auch noch Kurtz. Wenn er sich um ein paar hundert Ausbrecher kümmern muss - die den ersten Reportern, denen sie begegnen, gern erzählen werden, dass die von panischem Schrecken gepackte US-Regierung hier auf amerikanischem Boden ein zweites My-Lai-Massaker gestattet hat -, dann wird er sich viel weniger Sorgen um uns machen.«

Da kennen Sie Abe Kurtz schlecht, dachte Owen. Sie haben keine Ahnung von der Kurtz-Grenze. Das hatte er natürlich selber auch nicht. Oder hatte es bis heute nicht gehabt.

Doch Henrys Vorschlag wirkte auf verrückte Weise vernünftig. Und brachte zumindest eine gewisse Buße mit sich. Während dieser endlose vierzehnte November auf Mitternacht zuging und die Wahrscheinlichkeit zunahm, das Wochenende doch noch zu erleben, wunderte sich Owen gar nicht, dass die Idee der Buße ihm plötzlich reizvoll erschien. »Henry?«

»Ja, Owen. Ich bin hier.«

»Ich habe mich immer dafür geschämt, was ich an diesem Tag im Haus der Rapeloews gemacht habe.«

»Ich weiß.«

»Und trotzdem habe ich so etwas immer wieder gemacht. Ist das nicht völlig verkorkst?«

Henry, der ein ausgezeichneter Psychiater war, auch noch nachdem er sich in Gedanken dem Selbstmord zugewandt hatte, sagte nichts darauf. Verkorkst zu sein war für Menschen völlig normal. Traurig, aber wahr.

»Also gut«, sagte Owen schließlich. »Du darfst das Haus kaufen. Aber ich richte es ein. Abgemacht?«

»Abgemacht«, erwiderte Henry sofort.

»Kannst du mir wirklich diese Störtechnik beibringen? Die könnte ich nämlich gut gebrauchen.«

»Ich glaube schon.«

»Also gut. Hör zu.« Und dann sprach Owen drei Minuten lang, abwechselnd laut und in Gedanken. Die beiden Männer waren an einem Punkt angelangt, an dem sie zwischen diesen Verständigungsweisen keinen Unterschied mehr machten; Gedachtes und Gesprochenes ging ineinander über.

Derry


Es ist warm bei Gosselin's - Mann, ist das warm hier! Auf Jonesys Gesicht bricht sofort Schweiß aus, und als die vier beim Münztelefon ankommen (das, wie könnte es auch anders sein, gleich neben dem Holzofen hängt), tropft ihm der Schweiß schon von den Wangen, und seine Achselhöhlen fühlen sich an wie Regenwaldboden nach einem Wolkenbruch ... nicht dass dort sonderlich viel sprießt, das nicht, nicht mit vierzehn. Das hättste wohl gerne, wie Pete immer sagt.

Es ist also warm hier, und dieser Traum hat ihn noch gar nicht richtig losgelassen, er hat ihn noch nicht vergessen, obwohl er Albträume sonst immer schnell vergisst (er hat immer noch den Gestank von Benzin und brennendem Gummi in der Nase, hat immer noch Henry vor Augen, wie er diesen Mokassin hochhält... und den Kopf, er sieht immer noch Richie Grenadeaus grausligen, abgetrennten Kopf), und dann macht die Frau in der Vermittlung alles auch noch schlimmer, indem sie rumzickt. Als Jonesy ihr die Telefonnummer der Cavells nennt, die sie regelmäßig anrufen, um zu fragen, ob sie rüberkommen dürfen (Roberta und Alfie sagen immer ja, aber es ist trotzdem ein Gebot der Höflichkeit, um Erlaubnis zu bitten, das haben sie alle zu Hause gelernt), fragt die Frau: »Wissen deine Eltern, dass du ein Ferngespräch führen willst?« Sie sagt das nicht im Yankee-Tonfall, sondern mit dem leicht französisch angehauchten Ton derer, die hier in diesem Teil der Welt aufgewachsen sind, wo die Leute eher Letourneau oder Bissonette heißen als Smith oder Jones. Die knickerigen Froschfresser nennt Petes Dad diese Leute. Und jetzt hat Jonesy ausgerechnet so eine am Apparat, Gott steh ihm bei.

»Ich darf teure Anrufe machen, wenn ich sie selber bezahle«, sagt Jonesy. O Mann, er hätte wissen müssen, dass es letztlich an ihm hängen bleiben würde, diesen Anruf zu machen. Er zerrt den Reißverschluss seiner Jacke auf. Gott, ist das heiß hier drin! Nicht auszuhalten! Wie diese Opas da um den Ofen hocken können, geht über Jonesys Verstand. Seine Freunde drängen sich um ihn, was verständlich ist - sie wollen ja mithören -, aber Jonesy wünscht sich trotzdem, sie würden ein bisschen von ihm abrücken. Ihm wird nur noch wärmer, wenn sie sich so um ihn drängen.

»Und wenn ich sie anrufen würde, mon fils, deine mere et pere, würden sie das dann bestätigen?«

»Klar«, sagt Jonesy. Schweiß läuft ihm ins Auge, es brennt, und er wischt ihn weg wie eine Träne. »Mein Vater ist auf der Arbeit, aber meine Mutter müsste eigentlich zu Hause sein. Neun-vier-neun sechs-sechs-fünf-acht. Aber machen Sie bitte schnell, denn -«

»Also gut, ich verbinde«, sagt sie und klingt enttäuscht. Jonesy zieht sich schnell die Jacke aus, wechselt dazu mit dem Hörer vom einen zum anderen Ohr und lässt die Jacke dann fallen. Die anderen haben ihre immer noch an; Biber hat sich noch nicht mal die Fonzie-Jacke aufgemacht. Wie sie das aushaken, ist Jonesy ein Rätsel. Sogar die Gerüche setzen ihm zu: Musteroie und Bohnen und Bohnerwachs und Kaffee und der Lake-Geruch aus dem Pökelfass. Normalerweise mag er die Gerüche bei Gosselin's, aber heute könnte Jonesy auf der Stelle loskotzen.

Er hört es klicken. Das dauert! Seine Freunde drängen sich um ihn und das Münztelefon an der Rückwand des Ladens. Zwei oder drei Gänge weiter starrt Lamar auf das Regal mit den Getreideflocken und reibt sich die Stirn wie jemand, der fürchterliche Kopfschmerzen hat. Und bei dem vielen Bier, das er gestern Abend getrunken hat, denkt Jonesy, ist es auch kein Wunder, dass er Kopfschmerzen hat. Er bekommt selbst auch gerade Kopfschmerzen, die allerdings mit Bier nichts zu tun haben, sondern eher daher kommen, dass es so verdammt heiß hier drin ist -

Er richtet sich ein wenig auf. »Es klingelt«, sagt er zu seinen Freunden und wünscht sich augenblicklich, er hätte den Mund gehalten, denn jetzt drängen sie sich noch enger um ihn. Pete hat fürchterlichen Mundgeruch, und Jonesy denkt: Wie machst du das bloß, Petesky? Putzt du dir nur einmal im Jahr die Zähne?

Beim dritten Läuten wird abgehoben. »Ja, hallo?« Es ist Roberta, und sie klingt geistesabwesend und besorgt und nicht so fröhlich wie sonst immer. Und es ist auch klar, warum; im Hintergrund hört er Duddits brüllen. Jonesy weiß, dass Alfie und Roberta das Weinen nicht so wahrnehmen wie er und seine Freunde - sie sind Erwachsene. Aber sie sind auch Duddits' Eltern, und etwas davon nehmen sie durchaus wahr, und er würde mal bezweifeln, dass es ein schöner Morgen für Mrs. Cavell gewesen ist.

Gott, wie kann es denn hier drin so heiß sein? Womit haben die diesen verdammten Holzofen denn heute Morgen befeuert? Mit Plutonium?

»Hallo! Wer ist da?« Ungeduldig - auch das passt nicht zu Mrs. Cavell. Wenn man als Mutter eines so besonderen Menschen wie Duddits eines lernt, das hat sie den Jungs oft gesagt, dann ist es Geduld. Aber nicht so heute Morgen. Heute Morgen klingt sie fast stocksauer, und das ist eigentlich unvorstellbar. »Wenn Sie mir was verkaufen wollen: Ich kann jetzt nicht mit Ihnen reden. Ich habe zu tun, und ...«

Duddits dazu im Hintergrund, trompetend und heulend. Natürlich haben Sie zu tun, denkt Jonesy. Seit dem Morgengrauen weint er so, und mittlerweile dürften Sie so ziemlich mit den Nerven am Ende sein.

Henry stößt Jonesy einen Ellenbogen in die Seite und gibt ihm ein Handzeichen - Los! Mach schon! Der Stoß tut zwar weh, kommt aber genau richtig. Wenn sie auflegen würde, müsste sich Jonesy wieder mit dieser Zicke in der Vermittlung herumärgern.

»Mrs. Cavell? Roberta? Ich bin's, Jonesy.«

»Jonesy?« Er spürt förmlich ihre immense Erleichterung; sie hat sich so danach gesehnt, dass Duddies Freunde anrufen, dass sie schon fast glaubt, sie würde sich das nur einbilden. »Bist du's wirklich?«

»Ja«, sagt er. »Die anderen sind auch hier.« Er hält ihnen den Hörer hin.

»Hallo, Mrs. Cavell«, sagt Henry.

»Hey, wie geht's?«, ist Petes Beitrag.

»Hallo, schönes Kind«, sagt Biber blöde grinsend. Er ist mehr oder weniger in Roberta verliebt, seit er sie kennt.

Lamar Clarendon guckt herüber, als er die Stimme seines Sohns hört, zuckt mit den Achseln und vertieft sich dann wieder in die Betrachtung von Cornflakes-Packungen. Dann mal los, hat Lamar zu Biber gesagt, als Biber ihm erzählt hat, dass sie Duddits anrufen wollen. Weiß zwar nick, was ihr mit diesem Schwachkopp bequatschen wollt, aber es ist ja schließlich euer Geld.

Als sich Jonesy den Hörer wieder ans Ohr hält, sagt Roberta Cavell gerade: »- wieder in Derry? Ich dachte, ihr wärt jagen? In Kineo oder so?«

»Wir sind noch hier oben«, sagt Jonesy. Er sieht sich zu seinen Freunden um und wundert sich, dass sie kaum schwitzen - Henrys Stirn glänzt nur ein wenig, und Pete hat ein paar Schweißperlen auf der Oberlippe, aber das war's. Völlig abgedreht. »Wir dachten bloß ... äh ... dass wir mal anrufen.«

»Ihr wisst davon.« Sie sagt das mit ausdrucksloser Stimme, nicht unfreundlich, aber auch keine Widerrede duldend.

»Ah ...« Er zupft an seinem Flanellhemd herum, fächelt sich darunter Luft auf die Brust. »Ja.«

An dieser Stelle würden die meisten Menschen tausend Fragen stellen, wahrscheinlich angefangen mit Woher wisst ihr das? oder Was, um Gottes willen, ist mit ihm los?, aber Roberta ist anders als die meisten Menschen und erlebt schon seit fast einem Monat mit, wie sie sich mit ihrem Sohn verstehen. Sie sagt: »Bleib dran, Jonesy. Ich hole ihn.«

Jonesy wartet. In der Ferne hört er Duddits heulen und Roberta mit ihm sprechen. Sie versucht ihn zu überreden, ans Telefon zu gehen, und nutzt dazu die neuen Zauberwörter bei den Cavells: Jonesy, Biber, Pete und Henry. Das Brüllen kommt näher, und selbst übers Telefon merkt Jonesy, wie es ihm ins Hirn dringt, wie ein stumpfes Messer, das bohrt und aushöhlt, statt zu schneiden. Autsch. Verglichen mit Duddits' Weinen sind Flenrys Ellenbogenknüffe die reinen Liebkosungen. Währenddessen läuft ihm die Brühe in Strömen den Rücken hinunter. Seine Augen konzentrieren sich auf zwei Schilder über dem Telefon, bitte nicht länger als 5 Minuten telefonieren, steht auf dem einen, gossensprache wird nicht geduldet, steht auf dem anderen. Darunter hat jemand eingeritzt: »Scheiße, wer sagt das?!« Dann ist Duddits dran, und Jonesy hat dieses fürchterliche Geheul direkt im Ohr. Er zuckt zusammen, und obwohl es wehtut, kann er es Duds nicht übel nehmen. Hier oben sind sie zu viert und zusammen. Er ist da unten ganz allein, und dann ist er auch noch so anders. Gott hat ihn gleichwohl geschlagen wie gesegnet, Jonesy wird ganz schwummrig zu Mute, wenn er daran denkt.

»Duddits«, sagt er. »Duddits, wir sind's. Jonesy ...«

Er reicht den Hörer an Henry weiter. »Hallo, Duddits, hier ist Henry ...«

Henry gibt Pete den Hörer. »Hallo, Duds, hier ist Pete, hör jetzt auf zu weinen, es ist alles gut.«

Pete reicht den Hörer an Biber weiter, der sich umsieht und dann mit dem Hörer so weit um die Ecke geht, wie das Kabel reicht. Die Hand um die Muschel wölbend, damit ihn die älteren Herren am Ofen nicht hören (von seinem alten Herrn natürlich ganz zu schweigen), singt er die ersten beiden Verse des Wiegenlieds. Dann verstummt er und hört zu. Einen Augenblick später gibt er den anderen ein Handzeichen, einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger. Dann reicht er den Hörer zurück an Henry.

»Duds? Henry noch mal. Es war nur ein Traum, Duddits. Das ist nicht wirklich passiert. Okay? Es ist nicht wirklich passiert, und jetzt ist es vorbei ...« Henry hört zu. Jonesy nutzt die Gelegenheit und zieht sein Flanellhemd aus. Das T-Shirt darunter ist durchgeschwitzt.

Es gibt Myriaden Dinge auf der Welt, die Jonesy nicht weiß - zum Beispiel, was für eine Verbindung er und seine Freunde da zu Duddits haben -, aber er weiß auf jeden Fall, dass er es nicht mehr lange hier im Laden aushält. Er fühlt sich, als würde er in diesem Ofen stecken und nicht nur davorstehen. Die alten Säcke, die da sitzen und Dame spielen, müssen Eis in den Knochen haben.

Henry nickt. »Genau wie ein Gruselfilm.« Er hört zu und runzelt die Stirn. »Nein, hast du nicht. Das hat keiner von uns. Wir haben ihm nichts getan. Wir haben keinem von ihnen was getan.«

Und in diesem Moment - einfach so - weiß Jonesy, dass sie es doch getan haben. Sie haben es nicht gewollt, jedenfalls nicht so, aber sie haben es getan. Sie hatten Angst, Ri-chie würde seine Drohung wahrmachen und sich an ihnen rächen ... und deshalb sind sie ihm zuvorgekommen.

Pete streckt die Hand aus, und Henry sagt: »Pete will mit dir sprechen, Dud.«

Er reicht den Hörer an Pete weiter, und Pete sagt zu Duddits, er solle es einfach vergessen und ganz locker bleiben, sie würden bald nach Hause kommen, und dann würden sie das Spiel spielen, das wird ein Spaß, das wird eine Mords-Gau-di, und bis dahin -

Jonesy schaut hoch und sieht, dass eines der Schilder

über dem Telefon ausgetauscht worden ist. Auf dem linken steht immer noch bitte nicht länger als 5 Minuten telefonieren, aber auf dem rechten steht jetzt: geh doch nach draussen, da ist es kühler. Das ist eine gute Idee, wirklich mal eine ausgezeichnete Idee. Und es spricht auch nichts dagegen -die Duddits-Situation ist eindeutig unter Kontrolle.

Aber ehe er gehen kann, hält Pete ihm den Hörer hin und sagt: »Er will mit dir sprechen, Jonesy.«

Er ist drauf und dran, trotzdem rauszurennen, und denkt sich, lass mich doch in Ruhe, Duddits, ihr könnt mich doch alle mal. Aber das sind seine Freunde, und gemeinsam haben sie einen schrecklichen Albtraum durchlitten, haben etwas getan, das sie nicht tun wollten (Lügner du Lügner du wolltest es ja du wolltest es)

und ihre Blicke halten ihn hier fest, trotz der Hitze, die ihm nun wie ein Polster, das ihn erstickt, die Brust zuschnürt. Mit ihren Blicken beharren sie darauf, dass er dazugehört und nicht gehen darf, solange Duddits noch am Telefon ist. Das wäre gegen die Spielregeln.

Es ist unser Traum, und er ist noch nicht vorbei, darauf beharren sie mit ihren Blicken, Henry vor allem. Das geht jetzt so seit dem Tag, an dem wir ihn da hinten bei den Gebrüdern Tracker gefunden haben, auf den Knien und fast nackt. Er sieht die Linie, und jetzt sehen wir sie auch. Wir mögen es anders wahrnehmen, aber etwas in uns wird immer die Linie sehen. Wir werden sie unser ganzes Leben lang sehen.

Es liegt noch etwas in ihren Blicken, das sie alle, ohne dass sie es sich eingestehen, für den Rest ihres Lebens verfolgen und noch auf ihre glücklichsten Tage seinen Schatten werfen wird. Die Furcht davor, was sie getan haben. Was sie in dem Teil ihres gemeinsamen Traums getan haben, an den sie sich nicht erinnern können.

Das ist es, was dafür sorgt, dass er bleibt und den Hörer nimmt, obwohl er vor Hitze fast vergeht, obwohl er nun wirklich dahinschmilzt.

»Duddits«, sagt er, und sogar seine Stimme klingt heiß. »Es ist wirklich alles gut. Ich gebe dir noch mal Henry, es ist superheiß hier drin, und ich muss raus und ein bisschen frische Luft schnappen -«

Duddits unterbricht ihn mit lauter, eindringlicher Stimme: »Eeh nich aus! Ohnieh! Eeh nich aus! Äi! Äi! Issa AI!«

Sie haben sein Gebrabbel von Anfang an verstanden, und Jonesy versteht auch das: »Geh nicht raus! Jonesy, geh nicht raus! Gray! Gray! Mister GRA Y!«

Jonesy klappt die Kinnlade herunter. Er schaut an dem glühend heißen Ofen vorbei, den Gang entlang, in dem Bibers verkaterter Vater nun lustlos die Etiketten der Bohnenkonserven studiert, vorbei an Mrs. Gosselin an der alten, verschnörkelten Registrierkasse, und hinaus durch das Schaufenster. Das Fenster ist schmutzig und hängt voller Schilder, die für alles Mögliche werben, von Winston-Ziga-retten und Moosehead-Ale bis zu kirchlichen Veranstaltungen und Picknicks am Unabhängigkeitstag, die stattgefunden haben, als der Erdnussfarmer noch Präsident war... aber es ist trotzdem noch genug Glas frei, um hindurchzuschauen und das Ding zu sehen, das ihm da draußen auflauert. Es ist das Ding, das sich von hinten angeschlichen hat, als er versucht hat, die Badezimmertür zuzuhalten, das Ding, das seinen Körper geraubt hat. Eine nackte graue Gestalt, die auf zehenlosen Füßen neben der Zapfsäule steht und ihn mit ihren schwarzen Augen anstarrt. Und Jonesy denkt: So sind sie nicht in Wirklichkeit. Das ist bloß die einzige Möglichkeit, wie wir sie sehen können.

Wie um das noch zu betonen, hebt Mr. Gray eine Hand und lässt sie dann wieder sinken. Von den Spitzen seiner drei Finger schweben kleine rötlich goldene Flöckchen distelförmig in die Höhe.

Byrus, denkt Jonesy.

Und als wäre das ein Zauberspruch aus einem Märchen, erstarrt jetzt alles. Gosselin's Market wird zu einem Stillleben. Dann verblassen die Farben, und es wird zu einer sepia-farbenen Fotografie. Seine Freunde verblassen und verschwinden vor seinen Augen. Nur zwei Dinge noch scheinen real: der schwere schwarze Flörer des Münztelefons und die Flitze, diese drückende Flitze.

»Ach AUF!«, schreit ihm Duddits ins Ohr. Jonesy hört ein lang gedehntes, stockendes Einatmen, das er nur zu gut kennt; es ist Duddits, der sich bereitmacht, so deutlich zu sprechen, wie er nur kann. »Ohnzi! Ohnzi, ach AUF! Ach AUF! Ach

auf! Wach auf! Jonesy, wach auf!

Jonesy hob den Kopf und konnte für einen Moment gar nichts sehen. Ihm hingen die verschwitzten Flaare in die Augen. Er strich sie beiseite und hoffte, sein Schlafzimmer zu sehen - entweder das in ihrer Flütte oder noch lieber das daheim in Brookline -, aber da hatte er Pech gehabt. Er war immer noch im Büro der Gebrüder Tracker. Er war am Schreibtisch eingeschlafen und hatte davon geträumt, wie sie damals, vor vielen Jahren, Duddits angerufen hatten. Das war ihm sehr real vorgekommen, aber nicht diese benommen machende Flitze. Der alte Gosselin hatte es in seinem Laden immer ziemlich kalt gehabt; er sah es nicht ein, groß zu heizen. Die Hitze hatte sich in seinen Traum eingeschlichen, weil es hier drin so heiß war, lieber Gott, es musste ja mindestens vierzig Grad haben.

Die Heizung spinnt, dachte er und stand auf. Oder vielleicht brennt es hier. Jedenfalls muss ich hier raus. Sonst schwitze ich mich tot.

Jonesy ging um den Tisch herum und bemerkte kaum,

dass sich der Schreibtisch verändert hatte, merkte auch kaum, dass etwas seinen Kopf streifte, als er zur Tür eilte. Er langte mit einer Hand nach dem Türknauf und mit der anderen nach dem Riegel, und da fiel ihm wieder Duddits in dem Traum ein, der ihn gewarnt hatte, nicht hinauszugehen, Mr. Gray sei da draußen und warte nur auf ihn.

Und das stimmte. Gleich hinter dieser Tür. Er wartete im Erinnerungslager, auf das er jetzt uneingeschränkten Zugriff hatte.

Jonesy spreizte die schwitzenden Finger auf dem Holz der Tür. Das Haar fiel ihm wieder in die Augen, aber das bemerkte er kaum. »Mr. Gray«, flüsterte er. »Bist du da draußen? Du bist doch da, nicht wahr?«

Keine Antwort, aber natürlich war Mr. Gray da. Er stand da, hatte den unbehaarten primitiven Kopf geneigt, starrte mit seinen glasschwarzen Augen den Türknauf an und lauerte darauf, dass er sich drehte. Lauerte darauf, dass Jonesy herausgestürzt kam. Und dann -?

Schluss mit den lästigen menschlichen Gedanken. Schluss mit den störenden menschlichen Gefühlen.

Schluss mit Jonesy.

»Willst du mich ausräuchern, Mr. Gray?«

Immer noch keine Antwort. Aber Jonesy brauchte auch keine. Mr. Gray hatte ja schließlich Zugriff auf alle Regler, nicht wahr? Und also auch auf die, die seine Temperatur bestimmten. Wie heiß hatte er sie gestellt? Jonesy wusste es nicht, er wusste nur, dass es hier immer noch heißer wurde. Seine Brust war wie zugeschnürt, und er bekam kaum noch Luft. Seine Schläfen pochten.

Das Fenster. Was ist mit dem Fenster?

Plötzlich voller Hoffnung, drehte sich Jonesy in diese Richtung und kehrte der Tür den Rücken zu. Das Fenster war jetzt dunkel - so viel zum Thema: ewiger Oktobernachmittag 1978 -, und die Auffahrt, die seitlich um das Gebäude der Gebrüder Tracker führte, war unter Schneewehen begraben. Nie im Leben, auch nicht als Kind, hatte Schnee so verlockend auf Jonesy gewirkt. Er sah sich selbst wie Er-rol Flynn in einem alten Piratenfilm durchs Fenster hechten, sah sich in den Schnee stürzen und sich darin wälzen, sein brennendes Gesicht in die gesegnete weiße Kälte tauchen -

Ja, und dann das Gefühl, wie sich Mr. Grays Hände um seinen Hals schlössen. Er hatte zwar nur drei Finger an den Händen, aber sie waren bestimmt kräftig; sie würden ihn im Handumdrehen erwürgen. Wenn er auch nur ein Loch ins Fenster schlug, um etwas kalte Nachtluft hereinzulassen, würde Mr. Gray hereinschlüpfen und sich wie ein Vampir über ihn hermachen. Denn dieser Teil der Jonesy-Welt war nicht sicher. Es war erobertes Gebiet.

Ich habe eigentlich gar keine Wahl. Ich bin so oder so erledigt.

»Komm raus«, sagte Mr. Gray schließlich durch die Tür, und zwar mit Jonesys Stimme. »Ich mach es schnell. Du willst da drin doch nicht vor Hitze vergehen ... oder etwa doch?«

Jonesy sah plötzlich den Schreibtisch, der da vor dem Fenster stand, den Schreibtisch, der noch gar nicht hier gewesen war, als er sich zum ersten Mal in diesem Zimmer wiedergefunden hatte. Bevor er eingeschlafen war, war es ein schlichtes Holzding gewesen, so eine Billigausführung, wie man sie bei Office Depot kaufte, wenn man sparen musste. Irgendwann -er wusste nicht mehr, wann genau - war ein Telefon dazugekommen. Nur ein schlichtes schwarzes Telefon, so zweckmäßig und schmucklos wie der Schreibtisch auch.

Jetzt sah er, dass es ein Rollschreibtisch aus Eiche war, genau wie der daheim in seinem Arbeitszimmer in Brookline. Und das Telefon war ein blaues Trimline, genau wie das in seinem Büro am Emerson College. Er wischte sich eine Hand voll pisswarmen Schweiß von der Stirn, und da sah er, was vorhin seinen Kopf gestreift hatte.

Es war der Traumfänger.

Der Traumfänger aus ihrer Hütte.

»Ach du Scheiße«, flüsterte er. »Ich richte mich hier ja ein.«

Natürlich tat er das, und warum auch nicht? Richteten nicht sogar Häftlinge im Todestrakt ihre Zellen ein? Und wenn er im Schlaf einen Schreibtisch und einen Traumfänger und ein Trimline-Telefon herbeischaffen konnte, dann konnte er ja vielleicht auch -

Jonesy schloss die Augen und konzentrierte sich. Er versuchte, vor seinem geistigen Auge ein Bild seines Arbeitszimmers in Brookline erstehen zu lassen. Für einen Moment fiel ihm das schwer, denn eine Frage störte ihn dabei: Wenn seine Erinnerungen da draußen waren, wie konnte er sie dann hier drin heraufbeschwören? Die Lösung, das ging ihm auf, war wahrscheinlich ganz einfach. Seine Erinnerungen waren immer noch in seinem Kopf, wo sie immer gewesen waren. Die Kartons im Lager waren etwas, das Henry eine Externa-lisierung genannt hätte, seine Art, sich all das vorzustellen, worauf Mr. Gray zugreifen konnte.

Egal. Konzentriere dich auf das, was jetzt zu tun ist. Dein Arbeitszimmer in Brookline. Zeig dir dein Arbeitszimmer in Brookline.

»Was machst du da?«, wollte Mr. Gray wissen. Die anbiedernde Selbstsicherheit war aus seiner Stimme verschwunden. »Gekörnte Scheiße noch mal, was machst du

da?«

Jonesy musste ein wenig darüber lächeln, konnte es sich nicht verkneifen, hielt aber weiter an dem Bild fest. Nicht nur das des Arbeitszimmers, sondern das einer Wand dieses Arbeitszimmers ... da neben der Tür, die in das kleine Badezimmer führte ... ja, da war er. Der Thermostat. Und was sollte er jetzt sagen? Gab es da ein Zauberwort? So was wie Simsalabim?

Klar.

Mit immer noch geschlossenen Augen und dem Anflug eines Lächelns auf seinem schweißüberströmten Gesicht flüsterte Jonesy: »Duddits.«

Er schlug die Augen auf und sah die staubige, unscheinbare Wand an.

Da war der Thermostat.

»Hör auf!«, schrie Mr. Gray, und als Jonesy durchs Zimmer ging, war er verblüfft darüber, wie vertraut ihm diese Stimme war; es war, als würde er einen seiner eigenen gelegentlichen (normalerweise von unaufgeräumten Kinderzimmern ausgelösten) Wutanfälle auf Kassette hören. »Hör auf damit! Das geht so nicht weiter!«

»Knutsch mir die Kimme«, entgegnete Jonesy grinsend. Wie oft hatten sich seine Kinder gewünscht, so etwas zu ihm sagen zu können, wenn er anfing rumzuquaken? Dann kam ihm ein scheußlicher Gedanke. Er würde seine Wohnung in Brookline wahrscheinlich nie Wiedersehen, und wenn doch, dann nur mit Augen, die jetzt Mr. Gray gehörten. Die Wange, die seine Kinder geküsst hatten (»Au, kratzig, Daddy!«, sagte Misha immer), war nun Mr. Grays Wange. Und ebenso waren die Lippen, die Carla geküsst hatte, nun Mr. Grays Lippen. Und im Bett, wenn sie nach ihm fasste und ihn hineinführte in ihre -

Jonesy erschauderte und griff dann zum Thermostat ... der, wie er sah, auf fünfzig Grad gestellt war. Es war bestimmt der Einzige auf der ganzen Welt, an dem man solche Temperaturen einstellen konnte. Er drehte den Knopf eine halbe Umdrehung nach links, wusste nicht, was er nun zu erwarten hatte, und war hocherfreut, als er augenblicklich einen kühlen Luftzug auf Stirn und Wangen spürte. Er drehte sich dankbar um, um mehr von der Brise abzubekommen, und sah, dass oben in einer Wand ein Lüftungsgitter eingelassen war. Noch etwas Neues.

»Wie machst du das?«, brüllte Mr. Gray durch die Tür. »Wieso nimmt dein Körper den Byrus nicht auf? Wie kannst du überhaupt da drin sein?«

Jonesy brach in Gelächter aus. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen.

»Freut mich, dass du das so lustig findest«, sagte Mr. Gray, und jetzt war sein Tonfall eisig. Es war der Ton, in dem Jonesy Carla sein Ultimatum gestellt hatte: Entzug oder Scheidung, Schatz, du hast die Wahl. »Ich kann mehr als nur die Heizung aufdrehen, weißt du. Ich kann dich ausräuchern. Oder dich dazu bringen, dass du dich selber blendest. «

Jonesy erinnerte sich daran, wie der Kugelschreiber in Andy Janas' Auge gedrungen war - dieses schreckliche platzende Geräusch -, und ein Schauer überlief ihn. Aber er wusste, dass das nur ein Bluff war. Du bist der Letzte deiner Art, und ich bin dein Fortbewegungsmittel, dachte Jonesy. Du wirst mich nicht allzu sehr quälen, jedenfalls nicht, solange deine Aufgabe noch nicht ausgeführt ist.

Er ging langsam zurück zur Tür und ermahnte sich zur Vorsicht ... denn wie hieß es doch so schön: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!

»Mr. Gray?«, fragte er leise.

Keine Antwort.

»Mr. Gray, wie siehst du jetzt aus? Wie siehst du aus, wenn du du bist? Ein bisschen weniger grau und eher ein bisschen rosa? Ein paar mehr Finger an den Händen? Auch ein paar Haare auf dem Kopf? Kriegst du Zehen und Hoden?«

Keine Antwort.

»Siehst du allmählich aus wie ich, Mr. Gray? Denkst du allmählich wie ich? Das gefällt dir nicht, nicht wahr? Oder etwa doch?«

Immer noch keine Antwort, und da wurde Jonesy klar, dass Mr. Gray fort war. Er drehte sich um und eilte zum Fenster, und dabei fielen ihm weitere Veränderungen auf: ein Holzschnitt von Currier &c Ives an der einen Wand, ein Van-Gogh-Druck an der anderen - Ringelblumen, ein Weihnachtsgeschenk von Henry -, und auf seinem Schreibtisch stand der magische Achterball, den er auch zu Hause auf seinem Schreibtisch hatte. Jonesy achtete kaum auf diese Dinge. Er wollte sehen, was Mr. Gray jetzt im Schilde führte, was jetzt seine Aufmerksamkeit fesselte.

Das Wageninnere hatte sich verändert. Statt vom eintönigen Olive in Andy Janas' Militär-Pickup (mit einem Klemmbrett mit Papieren und Formularen auf dem Beifahrersitz und einem quakenden Funkgerät unter dem Armaturenbrett) war er nun umgeben von einem luxuriös ausgestatteten Dodge Ram Club Gab mit grauen Velours-Sitzbezügen und einem Armaturenbrett wie im Cockpit eines Learjets. Auf dem Handschuhfach war ein Aufkleber mit der Aufschrift ich V meinen border collie. Der dazugehörige Border Collie war ebenfalls anwesend und schlief eingerollt auf der Fußmatte vor dem Beifahrersitz. Es war ein Rüde namens Lad. Jonesy ahnte, dass er auch erfahren konnte, wie Lads Herrchen hieß und was aus ihm geworden war, aber wozu sollte er das wissen wollen? Irgendwo nördlich von hier stand Andy Janas' Armee-Pickup jetzt abseits der Straße, und der Fahrer dieses Wagens hier lag wahrscheinlich irgendwo in der Nähe. Jonesy hatte keine Ahnung, wieso der Hund verschont worden war.

Dann hob Lad den Schwanz und furzte, und da war Jone sy alles klar.

Er stellte fest, dass er, wenn er aus dem Bürofenster der Gebrüder Tracker schaute und sich konzentrierte, mit seinen eigenen Augen sehen konnte. Es schneite jetzt heftiger denn je, aber genau wie das Armeefahrzeug hatte der Dodge Ram einen Allradantrieb und zockelte sicher dahin. Auf der Gegenfahrbahn, die nach Norden, nach Jefferson Tract führte, kam ihnen eine Kolonne hoch angebrachter Scheinwerfer entgegen: ein Konvoi von Armeelastern. Dann ragte vor ihnen ein Schild mit weißen Leuchtbuchstaben auf grünem Grund aus dem Schneegestöber: derry nächste 5 Ausfahrten.

Die städtischen Schneepflüge waren unterwegs gewesen, und obwohl kaum Verkehr war (auch bei gutem Wetter wäre um diese Uhrzeit nicht mehr viel los gewesen), war der Highway gut passierbar. Mr. Gray beschleunigte mit dem Dodge auf sechzig Stundenkilometer. Sie kamen an drei Ausfahrten vorbei, die Jonesy gut aus seiner Kindheit kannte

(KANSAS STREET, FLUGHAFEN, UPMILE HILL/STRAWFORD PARK) Und

bremsten dann ab.

Mit einem Mal meinte Jonesy, ihm ginge ein Licht auf.

Er betrachtete die Kisten, die er hereingeschafft hatte. Die meisten waren mit duddits beschriftet, einige auch mit derry. Diese mitzunehmen war eine nachträgliche Idee gewesen. Mr. Gray dachte, er hätte alle Erinnerungen, die er brauchte, alle Informationen, die er brauchte, aber wenn Jonesy Recht damit hatte, wohin sie fuhren (und es sah wirklich ganz danach aus), dann stand Mr. Gray eine Überraschung bevor. Jonesy wusste nicht, ob ihn das freuen oder ängstigen sollte, und musste feststellen, dass beides eintrat.

Jetzt kam ein grünes Schild mit der Aufschrift ausfahrt 2^5 > wiTCHHAM street. Seine Hand betätigte den Blinkerhebel des Dodge.

An der nächsten Kreuzung bog er links auf die Witcham Street und dann eine halbe Meile später wieder links in die Carter Street. Die Carter Street ging steil bergauf und führte zurück in Richtung Upmile Hill und Kansas Street, auf einen Hügelkamm, der früher bewaldet gewesen war und wo es auch eine Ansiedlung der Micmac-Indianer gegeben hatte. Die Straße war seit Stunden nicht geräumt worden, aber der Allradantrieb war dem gewachsen. Der Dodge schlängelte sich zwischen den Schneehügeln am linken und rechten Straßenrand hindurch - Autos, die verbotenerweise auch bei diesem Wetter an der Straße geparkt waren.

Auf halber Strecke den Hang hoch bog Mr. Gray wieder ab, diesmal auf eine noch schmalere Straße, die Carter Lookout hieß. Der Dodge kam ins Schlittern und brach hinten aus. Der Hund schaute kurz winselnd hoch und legte den Kopf dann wieder auf die Fußmatte, als die Reifen Halt fanden, im Schnee griffen und den Wagen das restliche Stück bergauf beförderten.

Jonesy sah fasziniert von seinem Fenster auf die Welt aus zu und wartete darauf, dass Mr. Gray ... na, dass er es mitbekam.

Zunächst war Mr. Gray nicht bestürzt, als das Fernlicht des Dodge auf dem Gipfel des Hügels weiter nichts zeigte als wirbelnde Schneeflocken. Er baute darauf, dass er ihn in ein paar Sekunden erblicken würde, natürlich würde er das ... nur noch ein paar Sekunden, dann würde er den großen weißen Turm erblicken, der hier stand und den Hang hinab zur Kansas Street überragte, den Turm, an dem sich spiralförmig eine Kette von Fenstern emporzog. Nur noch ein paar Sekunden ...

Nur dass es hier nicht mehr weiterging. Der Dodge hatte sich bis ganz auf den Hügel hochgekämpft, der früher Standpipe Hill hieß. Hier endete die Carter Lookout - und drei, vier ähnliche schmale Straßen - auf einem großen, runden Platz. Sie waren an der höchsten und ungeschütztesten Stelle von Derry angelangt. Der Wind heulte gespenstisch, jagte mit einer Geschwindigkeit um die achtzig Stundenkilometer daher, in Böen auch hundertzehn, ja hundertdreißig. Im Fernlicht des Dodge flogen die Schneeflocken hier waagerecht wie ein Gewitter von Dolchen.

Mr. Gray saß reglos am Steuer. Jonesys Hände sanken vom Lenkrad, wie abgeschossene Vögel vom Himmel stürzen. Schließlich fragte er: »Wo ist er?«

Seine linke Hand hob sich, nestelte am Türgriff herum und bekam ihn schließlich auf. Er schwang ein Bein heraus und fiel auf Jonesys Knien in eine Schneewehe, als ihm der heulende Wind die Tür aus der Hand schlug. Er rappelte sich auf und kämpfte sich zur Vorderseite des Wagens, und seine Jacke und seine Hosenbeine flatterten wie Segel im Sturm. In diesem Wind lag die empfundene Temperatur jetzt sicherlich bei minus zwanzig Grad (im Büro der Gebrüder Tracker wurde es binnen Sekunden richtig kühl), aber das war der rotschwarzen Wolke, die jetzt einen Großteil von Jonesys Geist innehatte und Jonesys Körper steuerte, vollkommen egal.

»Wo ist er?«, schrie Mr. Gray dem heulenden Sturm entgegen. »Wo ist der WASSERTURM?«

Jonesy hingegen musste nicht schreien. Ob es nun stürmte oder nicht: Mr. Gray verstand ihn auch flüsternd.

»Ätsch-bätsch, Mr. Gray«, sagte er. »Har har har! Reingelegt! Der Wasserturm steht schon seit 1985 nicht mehr.«

6

Jonesy dachte, dass er an Mr. Grays Stelle jetzt einen richtig kleinkindhaften Wutanfall mit allen Schikanen hingelegt hätte, sich vielleicht sogar im Schnee herumgerollt und um sich getreten hätte; und obwohl er sich dagegen sträubte, schöpfte Mr. Gray ja auch voll aus Jonesys Gefühlsrepertoire und konnte, da er einmal damit angefangen hatte, ebenso wenig wieder damit aufhören wie ein Alkoholiker, der einen Nachschlüssel zu einer Kneipe sein Eigen nannte.

Doch statt aus der Haut zu fahren und in die Luft zu gehen, stieß er Jonesys Körper quer über die kahle Hügel kuppe auf den klobigen Steinsockel zu, der dort stand, wo er den Speicher für das Trinkwasser der Stadt erwartet hatte - für zweieinhalb Millionen Liter Trinkwasser. Er fiel in den Schnee, quälte sich wieder hoch, humpelte, Jonesys invalide Hüfte belastend, weiter, fiel wieder hin und stand wieder auf, und die ganze Zeit über spie er Bibers Litanei kindischer Verwünschungen dem Sturm entgegen: Gekörnte Scheiße! Knutsch mir die Kimme! Leckomio! Karierte Kacke! Wenn das von Biber (oder Henry oder Pete) kam, war es immer lustig gewesen. Aber hier, auf diesem einsamen Hügel, von diesem immer wieder strauchelnden und hinfallenden Monster in Menschengestalt dem Sturmwind entgegengebrüllt, war es schrecklich.

Er oder es oder was Mr. Gray auch war, erreichte schließlich den Sockel, der im Scheinwerferlicht des Dodge gut zu sehen war. Er ragte in Kindergröße auf, gut ein Meter fünfzig, und war aus dem schlichten Felsgestein erbaut, aus dem in Neuenglang viele Mauern bestanden. Oben drauf standen zwei Bronzefiguren, ein Junge und ein Mädchen, die Händchen hielten und den Kopf zum Gebet oder in Trauer gesenkt hatten.

Der Sockel war fast unter einer Schneewehe verschwunden, aber das obere Ende der Gedenktafel war noch zu sehen. Mr. Gray fiel auf Jonesys Knie, wischte mit Jonesys Händen den Schnee beiseite und las das Folgende:

DEN OPFERN DES ORKANS VOM 31. MAI 1985 UND DEN KINDERN

ALLEN KINDERN IN LIEBE VON BILL, BEN, BEV, EDDIE, RICHIE,

STAN, MIKE DER KLUB DER VERSAGER

Und in krakeligen roten Sprühbuchstaben stand darüber, im Scheinwerferlicht des Dodge ebenfalls gut lesbar, diese Botschaft:

P&/NYWISE LEBT

Mr. Gray kniete dort fast fünf Minuten lang, starrte die Tafel an und ignorierte dabei völlig die lähmende Kälte, die Jo-nesy in die Knochen kroch. (Und warum hätte er sich auch darum scheren sollen? Jonesy war ja einfach nur ein billiger Mietwagen, mit dem man durch jedes Schlagloch fuhr und auf dessen Fußmatten man seine Kippen austrat.) Er versuchte das zu verstehen. Orkan? Kinder? Versager? Wer oder was war Pennywise? Und vor allem: Wo war der Wasserturm geblieben, der Jonesys Erinnerungen nach hier stand?

Schließlich erhob er sich, humpelte zurück zum Wagen, stieg ein und drehte die Heizung auf. In dem warmen Luftstrom fing Jonesys ganzer Körper an zu schlottern. Im Handumdrehen stand Mr. Gray wieder an der verschlossenen Bürotür und verlangte eine Erklärung.

»Wieso bist du denn so wütend?«, fragte Jonesy sanft und lächelte dabei. Konnte Mr. Gray das Lächeln wahrnehmen? »Hattest du etwa erwartet, dass ich dir helfe? Also bitte, mein Lieber - ich kenne zwar die Einzelheiten nicht, kann mir aber gut vorstellen, worauf das hier hinauslaufen soll: In zwanzig Jahren ist der ganze Planet eine einzige rot überzogene Kugel, nicht wahr? Zwar ohne Loch in der Ozonschicht, dafür aber auch ohne Menschen.«

»Komm mir nicht wie ein Klugscheißer! Wage es nicht!«

Jonesy widerstand der Versuchung, einen weiteren Wutanfall aus Mr. Gray herauszukitzeln. Er glaubte zwar nicht, dass ihm sein unwillkommener Gast, wie wütend er auch sein mochte, die Tür einpusten konnte, aber warum sollte man es darauf ankommen lassen? Und außerdem war Jonesy emotional ausgelaugt und mit den Nerven am Ende und hatte einen widerlichen Geschmack wie von Kupfer im Mund.

»Wie kann es sein, dass er nicht da ist?«

Mr. Gray schlug mit den Hand mitten aufs Lenkrad. Die Hupe ertönte. Lad, der Border Collie, hob den Kopf und sah den Mann am Steuer mit großen, ängstlichen Augen an. »Du kannst mich nicht belügen! Ich habe deine Erinnerungen!«

»Tja nun ... ein paar habe ich mir geholt. Schon vergessen?«

»Welche? Sag's mir.«

»Wieso sollte ich?«, fragte Jonesy. »Was springt für mich dabei raus?«

Mr. Gray verfiel in Schweigen. Jonesy spürte, wie er auf diverse Daten zugriff. Dann, mit einem Mal, zogen unter der Tür und durch das Lüftungsgitter Gerüche ins Zimmer. Es waren seine Lieblingsgerüche: von Popcorn, Kaffee und der Fischsuppe seiner Mutter. Augenblicklich fing sein Magen an zu knurren.

»Die Suppe deiner Mutter kann ich dir natürlich nicht versprechen«, sagte Mr. Gray. »Aber ich werde dir was zu essen geben. Und du hast doch Hunger, nicht wahr?«

»Da du meinen Körper lenkst und dich mit meinen Gefühlen vollstopfst, wäre es ja auch ein Wunder, wenn ich keinen Hunger hätte«, erwiderte Jonesy.

»Es gibt südlich von hier eine Gaststätte - Dysart's. Dir zufolge hat sie jeden Tag vierundzwanzig Stunden lang geöffnet, was besagen soll, dass sie immer geöffnet hat. Oder lügst du mich da auch an?«

»Ich habe nie gelogen«, erwiderte Jonesy. »Du sagst es doch selber: Ich kann dich nicht belügen. Du hast die Kontrolle über mich, du hast die Datenbanken, du hast alles bis auf das, was hier drin ist.«

»Und wo ist das? Wie kann es ein >hier drin< überhaupt geben?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Jonesy ganz aufrichtig. »Und woher weiß ich, dass du mir was zu essen geben wirst?«

»Das muss ich doch sowieso«, sagte Mr. Gray auf der anderen Seite der Tür, und Jonesy wurde klar, dass Mr. Gray ebenfalls aufrichtig war. Wenn man nicht ab und zu nachtankte, setzte irgendwann der Motor aus. »Aber wenn du meine Neugier befriedigst, gebe ich dir das zu essen, was du magst. Wenn nicht...«

Nun zogen andere Gerüche unter der Tür hindurch: das grünliche, Ekel erregende Aroma von Brokkoli und Rosenkohl.

»Schon gut«, sagte Jonesy. »Ich erzähle dir, was ich weiß, und du gibst mir bei Dysart's Pfannkuchen und Bacon aus. Da gibt es nämlich rund um die Uhr Frühstück. Abgemacht?«

»Abgemacht. Wenn du die Tür aufmachst, können wir das mit Handschlag besiegeln.«

Das entlockte Jonesy ein Lächeln. Es war Mr. Grays erster Versuch, etwas Humor zu zeigen, und dafür gar nicht mal so schlecht. Er schaute in den Rückspiegel und sah auf dem Mund, der nicht mehr seiner war, genau das gleiche Lächeln. Also ein bisschen unheimlich war das schon.

»Das mit dem Händeschütteln lassen wir mal lieber«, sagte

er.

»ErzähPs mir.«

»Gut, aber sei gewarnt: Wenn du nicht einhältst, was du mir versprochen hast, kriegst du nie wieder die Gelegenheit, mir etwas zu versprechen.« »Ich werd's mir merken.«

Der Wagen stand oben auf dem Standpipe Hill und wurde leicht durchgerüttelt, und seine Scheinwerfer sandten schneeflockige Lichtzylinder aus, und Jonesy erzählte Mr. Gray, was er wusste. Es war, dachte er, genau der richtige Ort für eine gruselige Geschichte.

8

Die Jahre 1984 und '85 waren schlimme Jahre in Derry. Im Sommer 1984 warfen drei einheimische Jugendliche einen Schwulen in den Kanal und brachten ihn um. Im Laufe der folgenden zehn Monate wurde dann ein halbes Dutzend Kinder ermordet, anscheinend von einem Wahnsinnigen, der sich manchmal als Clown verkleidete.

»Wer ist dieser John Wayne Gacey?«, fragte Mr. Gray. »Hat der die Kinder umgebracht?«

»Nein, das war nur jemand aus dem Mittelwesten, der einen ähnlichen Modus operandi hatte«, sagte Jonesy. »Du verstehst viele der Querverweise in meinem Kopf nicht, was? Wo du herkommst, gibt es bestimmt nicht viele Dichter.«

Darauf erwiderte Mr. Gray nichts. Jonesy bezweifelte, dass er überhaupt wusste, was ein Dichter war. Und dass es ihn interessierte.

»Wie dem auch sei«, sagte Jonesy. »Zum Schluss gab es dann noch einen fürchterlichen Hurrikan. Das war am 31. Mai 1985. Über sechzig Menschen sind dabei umgekommen. Der Wasserturm ist umgestürzt. Er ist den Hügel runter in die Kansas Street gerollt.« Er zeigte nach rechts aus dem Auto, wo ein steiler Abhang in die Dunkelheit hinabführte.

»Zweieinhalb Millionen Liter Wasser ergossen sich vom Upmile Hill in die Innenstadt, die mehr oder weniger weggeschwemmt wurde. Ich ging damals aufs College. Der Sturm ereignete sich, als ich gerade Abschlussprüfungen hatte. Mein Dad hat mich angerufen und mir davon erzählt, aber ich hatte natürlich schon davon gehört - im ganzen Land sprach man darüber.«

Jonesy hielt inne, überlegte und sah sich im Büro um, das nun nicht mehr kahl und schmuddelig war, sondern schön eingerichtet (sein Unterbewusstsein hatte sowohl eine Couch von zu Hause hineingestellt als auch einen Charles-Eames-Sessel, den er im Katalog des Museum of Modern Art gesehen hatte, sehr schön, aber unbezahlbar für ihn) und eigentlich ganz angenehm war ... auf jeden Fall angenehmer als die Schneesturmwelt, die der Entführer seines Körpers gegenwärtig erdulden musste.

»Henry war damals auch auf dem College. In Harvard. Pete hat sich an der Westküste rumgetrieben und einen auf Hippie gemacht. Biber hat es mit einem Junior College in Süd-Maine probiert. Hat Kiffen und Videospiele studiert, wie er später sagte.« Einzig Duddits war hier in Derry gewesen, als der große Sturm kam ... aber Jonesy stellte fest, dass er Duddits' Namen nicht aussprechen wollte.

Mr. Gray sagte nichts, aber Jonesy spürte deutlich seine Ungeduld. Mr. Gray interessierte sich nur für den Wasserturm. Und dafür, dass Jonesy ihn hereingelegt hatte.

»Hör mal, Mr. Gray: wenn überhaupt, hast du dich selber reingelegt. Ich habe hier ein paar Derry-Kisten, weiter nichts, und die habe ich reingeholt, als du damit beschäftigt warst, diesen armen Soldaten umzubringen.«

»Die armen Soldaten sind mit Schiffen vom Himmel gekommen und haben alle meine Artgenossen, die sie finden konnten, abgeschlachtet.«

»Mir kommen die Tränen. Ihr seid doch wohl auch nicht hier, um uns im intergalaktischen Buchclub zu begrüßen.«

»Und wenn doch? Wäre dann irgendwas anders verlaufen?«

»Diese Hypothesen kannst du dir schenken«, sagte Jone-sy. »Nach dem, was du mit Pete und dem Typ von der Army gemacht hast, bin ich nicht mehr an einer intellektuellen Diskussion mit dir interessiert.«

»Wir tun, was wir tun müssen.«

»Das mag ja sein, aber wenn du von mir erwartest, dass ich dir dabei helfe, dann bist du verrückt.«

Der Hund schaute Jonesy nun noch beklommener an. Er war offenbar nicht an Herrchen gewöhnt, die angeregte Selbstgespräche führten.

»Der Wasserturm ist 1985 eingestürzt - vor siebzehn Jahren -, und du hast die Erinnerung daran gestohlen?«

»Kurz gesagt: Ja, aber ich glaube nicht, dass du vor Gericht weit damit kommen würdest, denn die Erinnerungen haben von Anfang an mir gehört.«

»Was hast du noch gestohlen?«

»Den Teufel werde ich tun, dir das zu erzählen.«

Es folgte ein schwerer, wütender Schlag gegen die Tür. Jonesy musste wieder an das Märchen mit den drei Schwein-chen denken. Dann huste und pruste mal, Mr. Gray, und genieße die zweifelhaften Freuden des Zorns.

Aber Mr. Gray stand anscheinend nicht mehr an der Tür.

»Mr. Gray?«, rief Jonesy. »Hey, nicht schmollen, ja?«

Jonesy vermutete, dass Mr. Gray anderweitig nach Informationen suchte. Der Wasserturm war fort, aber Derry war ja noch da, also musste die Stadt irgendwoher ihr Wasser beziehen. Wusste Jonesy, woher es kam?

Nein. Er konnte sich vage erinnern, viel Wasser aus Flaschen getrunken zu haben, als er in diesem Sommer vom College zurückgekommen war, aber das war alles. Irgendwann kam dann wieder Wasser aus der Leitung, aber was kümmerte das einen 21-Jährigen, dessen Hauptsorge darin bestand, Mary Shratt endlich mal an die Wäsche zu dürfen. Das Wasser floss, und man trank es. Man machte sich keine Gedanken darüber, woher es kam, solange man davon nicht das große Kotzen oder die große Scheißerei bekam.

War Mr. Gray ein wenig frustriert? Oder bildete sich Jonesy das nur ein? Das wollte Jonesy doch nicht hoffen.

Das hatte echt gesessen ... das war, wie die vier in ihrer vergeudeten Jugend zweifellos gesagt hätten, »ein echter Brüller«.

Roberta Cavell erwachte aus einem unangenehmen Traum, schaute nach rechts und rechnete schon halbwegs damit, dort nur Dunkelheit zu sehen. Doch die tröstlichen blauen Ziffern leuchteten noch auf dem Wecker neben ihrem Bett, dann war der Strom also nicht ausgefallen. Wenn man bedachte, wie der Wind heulte, war das erstaunlich.

1.04 Uhr, sagten die blauen Ziffern. Roberta knipste die Nachttischlampe an - solange sie noch funktionierte, konnte sie sie schließlich auch nutzen - und trank etwas Wasser aus ihrem Glas. Hatte der Wind sie aufgeweckt? Der böse Traum? Es war wirklich ein schlimmer Traum gewesen, irgendwas mit Außerirdischen und Todesstrahlen, und alle waren davongelaufen, aber sie glaubte nicht, dass sie davon wach geworden war.

Dann ebbte der Wind ab, und da hörte sie, was sie geweckt hatte: Duddits' Stimme von unten. Duddits ... sang? War das möglich? Sie hielt es nicht für möglich, wenn sie bedachte, was für einen schrecklichen Nachmittag und Abend die beiden hinter sich hatten.

»Ieba-od!«, fast ununterbrochen, von zwei bis fünf Uhr -Biber ist tot! Duddits war untröstlich gewesen und hatte schließlich Nasenbluten bekommen. Das hatte sie befürchtet. Wenn Duddits erst einmal blutete, ließ sich die Blutung manchmal erst im Krankenhaus stillen. Diesmal war es ihr jedoch gelungen, die Blutung zu stillen, indem sie ihm Wattebäusche in die Nasenlöcher gestopft und seine Nase dann oben, zwischen den Augen, zugedrückt hatte. Sie hatte Dr. Briscoe angerufen und ihn fragen wollen, ob sie Duddits eine dieser gelben Valium-Tabletten geben dürfe, aber Dr. Briscoe war nach Nassau verreist, soso. Irgendein anderer Arzt hatte Notdienst, irgendso ein Weißkittel-Johnny, der Duddits nie im Leben gesehen hatte, und Roberta rief ihn gar nicht erst an. Sie gab Duddits einfach das Valium und be-strich dann seine armen trockenen Lippen und seine Mundhöhle mit den Glyzerin-Tupfern mit Zitronengeschmack, die er so mochte -er bekam immer Geschwüre im Mund. Das blieb auch so, nachdem die Chemotherapie abgeschlossen war. Und sie war abgeschlossen. Keiner der Ärzte — weder Briscoe noch ein anderer - gab das zu, und deshalb blieb der Katheter drin, aber die Chemotherapie war vorbei. Roberta würde nicht zulassen, dass sie ihren Sohn noch mal durch diese Hölle schleiften.

Nachdem er seine Tablette genommen hatte, legte sie sich zu ihm ins Bett, hielt ihn im Arm (achtete dabei darauf, seine linke Seite nicht zu berühren, wo der Katheter unter einem Verband verborgen war) und sang ihm etwas vor. Aber nicht Bibers Wiegenlied, nein, heute nicht.

Irgendwann beruhigte er sich dann allmählich, und als sie dachte, er wäre eingeschlafen, zog sie ihm vorsichtig die Wattebäusche aus der Nase. Der zweite hing etwas fest, und Duddits schlug die Augen auf - diese schönen, strahlenden, grünen Augen. Seine Augen waren eine wahre Gottesgabe, dachte sie manchmal, und nicht das andere da ... dass er die Linie sah, und alles, was damit zusammenhing.

»Amma?«

»Ja, Duddie?«

»leba in Himmn?«

Große Trauer überkam sie, auch beim Gedanken an Bibers lächerliche Lederjacke, die er so geliebt und getragen hatte, bis sie in Fetzen gehangen hatte. Wäre es um jemand anderes gegangen, um irgendjemanden, und nicht um seine vier Kindheitsfreunde, dann hätte sie an Duddits' böser Vorahnung gezweifelt. Aber wenn Duddits sagte, Biber sei tot, dann stimmte das höchstwahrscheinlich.

»Ja, Schatz, er ist ganz bestimmt im Himmel. Schlaf jetzt.«

Für eine ganze Weile schauten diese grünen Augen sie noch an, und sie dachte schon, er würde wieder anfangen zu weinen. Und tatsächlich kullerte auch eine Träne, eine große runde Träne seine stoppelige Wange hinab. Das Rasieren fiel ihm jetzt so schwer, manchmal hinterließ auch der Elektrorasierer kleine Schnitte, die dann stundenlang bluteten. Doch schließlich machte er die Augen zu, und sie schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer.

Nach Sonnenuntergang, als sie ihm eben Haferbrei machte (nur die fadesten Speisen erbrach er jetzt nicht gleich wieder, auch ein Anzeichen, dass es zu Ende ging), ging der ganze Albtraum von vorne los. Ohnehin durch die immer seltsameren Nachrichten aus Jefferson Tract verängstigt, eilte sie mit pochendem Herzen in sein Zimmer. Duddits saß wieder aufrecht im Bett und schüttelte verzweifelt wie ein Kind den Kopf hin und her. Das Nasenbluten hatte wieder angefangen, und bei jeder Kopfbewegung spritzten scharlachrote Tropfen umher. Sie sprenkelten seinen Kissenbezug, seine Autogrammkarte von Austin Powers (»Groovy, Baby!«, stand unter dem Bild) und die Flaschen auf dem Nachttisch: Mundwasser,

Compazine, Percocet, die Multivitamin-Präparate, die keinerlei Wirkung zeigten, die große Schale mit Zitronen-Tupfern.

Jetzt war es Pete, der angeblich tot war, der süße (und nicht sehr helle) Peter Moore. Lieber Gott, konnte das wahr sein? Irgendwas davon? Alles?

Der zweite hysterische Traueranfall dauerte nicht so lange an wie der erste, wahrscheinlich weil Duddits vom ersten noch erschöpft war. Sie konnte das Nasenbluten wieder stillen, die Glückliche, und wechselte seine Bettwäsche, nachdem sie ihm auf den Stuhl am Fenster geholfen hatte. Dort saß er dann, schaute mit tränenden Augen hinaus in den wieder auffrischenden Sturm, schluchzte hin und wieder und gab ab und zu laute Seufzer von sich, die ihr im Herz wehtaten. Es tat ihr schon weh, wenn sie ihn nur ansah: wie dünn er war, wie blass er war, wie kahl er war. Sie gab ihm seine Red-Sox-Kappe - auf dem Schirm vom großen Pedro Marti-nez signiert (man bekommt so viele hübsche Dinge geschenkt, wenn man stirbt, dachte sie manchmal) -, falls es ihm, so nah an der Fensterscheibe, am Kopf fror, aber ausnahmsweise wollte Duddits sie nicht aufsetzen. Er hielt sie nur im Schoß und schaute mit großen, traurigen Augen hinaus in die Dunkelheit.

Schließlich brachte sie ihn wieder ins Bett, und wieder leuchteten die grünen Augen ihres Sohns in ihrem ersterbenden Glanz zu ihr hoch.

»let auch in Himmn?«

»Ganz bestimmt ist er das.« Sie wollte auf keinen Fall weinen - dann wäre bei ihm vielleicht alles von vorne losgegangen —, aber ihre Augen schwammen in Tränen. Ihr ganzer Kopf war tränenschwanger, und wenn sie einatmete, roch es in ihrer Nase nach Seeluft.

»Im Himmn bei leba?«

»Ja, Schatz.«

»Eff ich leba un let im Himmn?«

»Ja, das wirst du. Natürlich wirst du das. Aber das ist noch lange hin.«

Er schloss die Augen. Roberta saß neben ihm auf dem Bett, betrachtete ihre Hände und war trauriger als traurig, fühlte sich einsamer als einsam.

Jetzt eilte sie nach unten, und tatsächlich: Er sang. Da sie die Duddits-Sprache fließend beherrschte (wieso auch nicht? Es war seit über dreißig Jahren ihre zweite Mutter-Sprache), dolmetschte sie sich die gelallten Silben, ohne sich groß etwas dabei zu denken: Scooby-Dooby-Doo, wo bist du? Wir haben jetzt was zu tun. Ich hab's dir doch gesagt, Scooby-Doo, wir brauchen deine Hilfe.

Als sie sein Zimmer betrat, wusste sie nicht, was sie dort zu erwarten hatte. Ganz bestimmt nicht, was sie dann vorfand: Alle Lichter brannten, und Duddits war zum ersten Mal wieder komplett bekleidet, seit es ihm das letzte Mal (und laut Dr. Briscoe war es wahrscheinlich wirklich das letzte Mal gewesen) etwas besser gegangen war. Er hatte sich seine Lieblings-Kordhose angezogen, sein Grinch-T-Shirt und seine Daunenweste und dazu seine Red-Sox-Kappe aufgesetzt. Er saß auf dem Stuhl am Fenster und schaute hinaus in die Nacht. Ohne eine Miene zu verziehen und ohne zu weinen. Er schaute mit strahlenden Augen und einer Beflissenheit hinaus in den Sturm, die Roberta an die Zeit lange vor seiner Erkrankung erinnerte, als sich die Krankheit erst mit unterschwelligen und leicht zu übersehenden Symptomen angedeutet hatte: wie kaputt und außer Atem er nach ein wenig Frisbee-Spielen im Garten war, was für große Schrammen selbst die leichtesten Rempler und Stürze hinterließen und wie langsam sie verheilten. So hatte er immer geguckt, wenn ...

Aber sie konnte nicht weiterdenken. Sie war zu durcheinander, um klar denken zu können.

»Duddits! Duddie, was —«

»Amma! O-s eine Anschocks?«

Mama! Wo ist meine Lunchbox?

»In der Küche, aber Duddie, es ist mitten in der Nacht. Es schneit draußen! Du gehst nicht...«

Raus, endete dieser Satz natürlich sonst immer, aber dieses Wort kam ihr nicht über die Lippen. Seine Augen leuchteten so, sein Blick war so lebendig. Vielleicht hätte sie sich darüber freuen sollen, dieses Strahlen, diese Kraft so deutlich in seinen Augen zu sehen, aber stattdessen war sie entsetzt.

»I muss mein Anschocks harn! Ich muss mein Ansch harn!«

Ich muss meine Lunchbox haben! Ich muss mein Lunch haben!

»Nein, Duddits.« Sie gab sich Mühe, streng zu sein. »Du musst dich ausziehen und wieder ins Bett gehen. Das musst du, und sonst musst du gar nichts. Komm, ich helfe dir.«

Aber als sie näher kam, hob er die Arme und verschränkte sie vor seiner schmalen Brust, drückte seine rechte Handfläche an seine linke Wange und die linke Handfläche an die rechte Wange. Von frühester Kindheit an war diese Pose das Äußerste, was er an Trotz aufbringen konnte. Es reichte normalerweise, und so auch jetzt. Sie wollte nicht, dass er sich schon wieder aufregte und vielleicht wieder Nasenbluten bekam. Aber sie würde ihm um Viertel nach eins nicht seine Scooby-Doo-Lunchbox packen. Das kam nicht in Frage.

Sie ging zu seinem Bett und setzte sich auf die Bettkante. Im Zimmer war es warm, aber ihr war, trotz des dicken Flanellnachthemds, kalt. Duddits ließ langsam die Arme sinken und beobachtete sie misstrauisch.

»Du darfst aufbleiben, wenn du willst«, sagte sie. »Aber wieso? Hast du geträumt, Duddits? Ein böser Traum?«

Vielleicht hatte er geträumt, aber bestimmt keinen bösen Traum, nicht bei diesem lebhaften Gesichtsausdruck, und jetzt erkannte sie es auch: So hatte er damals in den Achtzigern oft geschaut, in den guten Jahren, ehe Henry, Pete, Biber und Jonesy alle ihrer Wege gegangen waren, immer seltener anriefen und ihn noch seltener besuchten, während sie ihrem Erwachsenenleben entgegenstrebten und den vergaßen, der Zurückbleiben musste.

So schaute er, wenn sein siebter Sinn ihm sagte, dass seine Freunde zum Spielen vorbeikommen würden. Manchmal gingen sie dann alle zusammen in den Strawford Park oder die Barrens (es war ihnen nicht erlaubt, dorthin zu gehen, aber sie taten es trotzdem, Alfie und sie wussten davon, und einer ihrer Ausflüge dorthin brachte sie alle auf die Titelseite der Zeitung). Hin und wieder fuhr Alfie oder jemand von ihren Eltern mit ihnen zum Minigolf oder zu Fun Town in Newport, und an solchen Tagen packte sie Duddits immer Brote und Kekse und eine Thermoskanne mit heißer Milch in seine Scooby-Doo-Lunchbox.

Er glaubt, dass seine Freunde kommen. Er muss wohl denken, Henry und Jonesy würden kommen, denn er sagt ja, dass Pete und Biber...

Plötzlich hatte sie ein entsetzliches Bild vor Augen, wie sie da auf Duddits' Bett saß, die Hände im Schoß gefaltet. Sie sah sich selbst, wie sie auf ein Klopfen hin um drei Uhr nachts die Haustür öffnete, nicht aufmachen wollte, aber einfach nicht anders konnte. Und dann standen statt der Lebenden die Toten vor ihr. Da standen Biber und Pete, und sie waren wieder so alt wie an dem Tag, an dem sie sie kennen gelernt hatte, an dem Tag, an dem sie Duddie vor Gott weiß was für einer Schweinerei gerettet und sicher nach Hause gebracht hatten. Vor ihrem geistigen Auge trug Biber seine Motorradjacke mit den vielen Reißverschlüssen und Pete den Pulli, auf den er so stolz gewesen war, den mit dem Aufdruck NASA auf der linken Brust. Sie standen kalt und blass vor ihr, in ihren Augen der stumpfe, traubenschwarze Blick von Leichen. Sie sah Biber vortreten. Er schenkte ihr kein Lächeln, ließ sich nicht anmerken, dass er sie kannte; als Joe »Biber« Clarendon seine fahle Seestern-Hand ausstreckte, wirkte er vollkommen geschäftsmäßig. Wir kommen Duddits holen, Mrs. Cavell. Wir sind tot, und er ist jetzt auch tot.

Ihre Hände verkrampften sich, und ein Schauer überlief sie. Duddits sah das nicht; er schaute jetzt wieder aus dem Fenster, und sein Blick wirkte eifrig und erwartungsfroh. Und ganz leise fing er wieder an zu singen.

»Uhbi-uhbi-duh, wo bistu? le ham etz wassu tun ...«

»Mr. Gray?«

Keine Antwort. Jonesy stand an der Tür zu dem Büro, das nun eindeutig sein Büro war - es war keine Spur mehr von den Gebrüdern Tracker übrig, vom Schmutz am Fenster mal abgesehen (das Bild des Mädchens mit gelüpftem Rock war durch van Goghs Ringelblumen ersetzt worden) - und wurde allmählich unruhig. Wonach suchte das Schwein?

»Mr. Gray, wo bist du?«

Wiederum keine Antwort, aber er hatte so das Gefühl, dass Mr. Gray wiederkam ... und dass er sich freute. Die dumme Sau freute sich.

Das gefiel Jonesy überhaupt nicht.

»Hör mal«, sagte Jonesy. Er hatte die Hände immer noch an die Tür seiner Zuflucht gepresst und lehnte nun auch die Stirn daran. »Ich habe einen Vorschlag für dich, mein Freund - du bist doch schon ein halber Mensch - wieso wirst du da nicht ein ganzer? Wir können bestimmt gute Nachbarn sein, und ich zeige dir dann alles. Eiscreme ist lecker, und Bier ist noch besser. Was hältst du davon?«

Vermutlich war es schon verlockend für Mr. Gray, wie es für ein formloses Wesen eben verlockend sein musste, eine Form geboten zu bekommen - ein Handel wie aus dem Märchen.

Aber es war nicht verlockend genug.

Das Geräusch des Anlassers. Der Motor sprang an.

»Wo wollen wir denn jetzt hin, alter Freund? Vorausgesetzt, wir kommen überhaupt von Standpipe Hill runter?«

Keine Antwort, nur das beunruhigende Gefühl, dass Mr. Gray etwas gesucht... und es gefunden hatte.

Jonesy eilte ans Fenster und sah eben noch, wie das Scheinwerferlicht des Dodge das Denkmal streifte. Die Gedenktafel war wieder zugeschneit, also waren sie eine ganze Weile hier geblieben.

Sich langsam und vorsichtig einen Weg durch Schneewehen bahnend, die bis an die Stoßstange reichten, fuhr der Dodge Ram den Hügel hinab.

Zwanzig Minuten später waren sie wieder auf dem Highway und fuhren erneut in Richtung Süden.

Helden


Es gelang Owen nicht, Henry mit lautem Zurufen zu wecken, dafür schlief er vor Erschöpfung einfach zu tief, und deshalb rief er ihn in Gedanken. Das fiel ihm umso leichter, je weiter sich der Byrus ausbreitete. Er wuchs jetzt an drei Fingern seiner rechten Hand und füllte seine linke Ohrmuschel mit seiner schwammigen, juckenden Wucherung fast vollständig aus. Er hatte auch ein paar Zähne verloren, aber in den Lücken schien nichts zu wachsen, zumindest noch nicht.

Kurtz und Freddy hatten sich, dank Kurtz' feiner Instinkte, nicht angesteckt, aber die Besatzungen der beiden übrig gebliebenen Blue-Boy-Kampfhubschrauber hatte es schlimm erwischt. Seit seinem Gespräch mit Henry im Schuppen hörte Owen die Stimmen seiner Kameraden, vor denen sich ein ungeahnter Abgrund aufgetan hatte. Vorläufig versteckten sie die Infektion ebenso wie er auch; die dicke Winterkleidung war da sehr hilfreich. Aber das würde nicht mehr lange so gehen, und sie wussten nicht, was sie tun sollten.

In dieser Hinsicht konnte sich Owen vermutlich glücklich schätzen. Er hatte wenigstens etwas, für das es sich lohnte aufzustehen.

Nachdem er hinter dem Schuppen am Elektrozaun eine weitere Zigarette geraucht hatte, ging Owen auf die Suche nach Henry und fand ihn, wie er einen steilen, überwucherten Hang hinabkletterte. Über ihm hörte man Kinder Baseball oder Softball spielen. Henry war ein Junge, ein Jugendlicher, und er rief nach jemandem - nach Janey? Jolie? Na egal. Er träumte, und Owen brauchte ihn in der wirklichen Welt. Er hatte Henry so lange schlafen lassen, wie er konnte (fast eine Stunde länger, als er beabsichtigt hatte), aber wenn sie die Sache ins Rollen bringen wollten, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.

Henry, rief er.

Der Jugendliche sah sich erschreckt um. Bei ihm waren noch andere Jungs; drei, nein, vier Jungs, und einer von ihnen spähte in eine Art Schacht. Sie waren nur verschwommen zu erkennen, schwer zu sehen, und Owen interessierte sich sowieso nicht für sie. Henry war es, den er jetzt brauchte, aber nicht diesen pickeligen, schreckhaften Jugendlichen, sondern den Erwachsenen.

Henry, wach auf.

Nein, sie ist da drin. Wir müssen sie rausholen. Wir —

Sie ist mir scheißegal, wer sie auch ist. Wach auf.

Nein, ich -

Es wird Zeit, Henry, wach auf. Wach auf. Wach

auf, verdammt noch mai!

Henry setzte sich nach Luft schnappend auf und wusste nicht, wer und wo er war. Das war schon schlimm genug, aber noch schlimmer war: Er wusste nicht, wann er war. War er achtzehn oder fast achtunddreißig oder irgendwas dazwischen? Er hatte den Geruch von Gras in der Nase, hörte noch einen Ball auf einem Schläger aufprallen (einem Softball-Schläger; es waren Mädchen, die da spielten, Mädchen mit gelben Trikots), und er konnte Pete immer noch rufen hören: Sie ist da drin! Jungs, ich glaube, sie ist da drin!

»Pete hat es auch gesehen, er hat die Linie gesehen«, murmelte Henry. Er wusste eigentlich nicht, worüber er da sprach. Der Traum verblasste schon, und an die Stelle der hellen Bilder trat etwas Dunkles, etwas, das er tun oder wenigstens versuchen musste. Er roch Heu und, ganz vage nur, den süßlichen Duft von Haschisch.

Können Sie uns helfen, Mister?

Große Rehaugen. Marsria war ihr Name. Jetzt sah er allmählich klarer. Wahrscheinlich nicht, hatte er geantwortet und dann aber vielleicht doch hinzugefügt.

Wach auf, Henry! Es ist Viertel vor vier. Es wird Zeit, dass du in die Socken kommst.

Diese Stimme war kräftiger und eindringlicher als die anderen und übertönte sie; es war wie eine Stimme aus einem Walkman mit frischen Batterien, bei dem die Lautstärke bis zehn aufgedreht war. Es war die Stimme von Owen Under-hill. Er war Henry Devlin. Und wenn sie es versuchen wollten, dann war jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen.

Henry stand auf und zuckte dabei zusammen, solche Schmerzen hatte er in den Beinen, im Rücken, in den Schultern, im Nacken. Wo seine Muskeln nicht protestierten, juckte der weiter wuchernde Byrus ganz abscheulich. Er fühlte sich, als wäre er hundert Jahre alt, und als er dann seinen ersten Schritt auf das schmutzige Fenster zu machte, dachte er, er sei wohl doch eher hundertzehn.

Owen sah den Mann schemenhaft am Fenster auftauchen und nickte erleichtert. Henry bewegte sich wie Methusalem an einem schlechten Tag, aber Owen hatte etwas, das ihm zumindest vorläufig aufhelfen würde. Er hatte es im nagelneuen Krankenrevier mitgehen lassen, wo so viel los war, dass niemand sein Kommen und Gehen bemerkt hatte. Und die ganze Zeit über hatte er seine Gedanken mit den beiden abschirmenden Mantras geschützt, die Henry ihm beigebracht hatte: Auf einem Steckenpferd nach Banbury Cross und Yes ive can-can, yes we can, yes we can-can, great gosh-a'mighty. Bislang schienen sie zu funktionieren - er hatte sich ein paar argwöhnische Blicke eingehandelt, aber bisher keine Fragen. Sogar das Wetter meinte es gut mit ihnen; der Sturm toste unvermindert.

Jetzt sah er Henrys Gesicht am Fenster, eine blasse, ovale, verschwommene Erscheinung, die zu ihm herausschaute.

Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, sandte Henry. Mann, ich kann kaum gehen.

Dem kann ich abhelfen. Geh vom Fenster weg.

Ohne Fragen zu stellen, ging Henry beiseite.

In einer Tasche seines Parkas hatte Owen ein kleines Metalletui (die Insignien der Marineinfanterie waren auf dem Stahldeckel eingeprägt), in dem er im Dienst seine diversen Ausweise aufbewahrte. Das Etui hatte ihm ausgerechnet Kurtz geschenkt, nach ihrem Einsatz in Santo Domingo im vergangenen Jahr. In einer anderen Tasche hatte er drei Steine, die er unter seinem Hubschrauber eingesammelt hatte, wo die Schneeschicht nur dünn war.

Er nahm einen davon - einen schönen Brocken Maine-Granit - und hielt dann inne, als ein helles Bild vor seinem geistigen Auge auftauchte. Mac Cavenaugh, der Typ aus dem Blue Boy Leader, der bei dem Einsatz zwei Finger verloren hatte, saß in einem der Wohncontainer des Lagers. Bei ihm war Frank Bellson aus dem Blue Boy Three, dem anderen Kampfhubschrauber, der es zurück zur Basis geschafft hatte. Sie hatten eine kräftige Taschenlampe mit acht Batterien angeknipst und wie eine elektrische Kerze hingestellt. Ihr helles Licht strahlte unter die Decke. Das geschah in diesem Augenblick, keine zweihundert Meter von der Stelle entfernt, an der Owen mit einem Stein in der einen Hand und seinem Stahletui in der anderen stand. Cavenaugh und

Bellson saßen nebeneinander auf dem Boden des Containers. Beide hatten sie etwas im Gesicht, das wie ein dichter roter Bart aussah. Die üppige Wucherung hatte die Bandagen über Cavenaughs Fingerstümpfen durchdrungen. Die beiden hielten sich die Mündung ihrer Dienstpistolen in den Mund. Sie hielten Blickkontakt. Und waren über Gedanken miteinander verbunden. Bellson zählte ab: Fünf ... vier ... drei...

»Nicht, Jungs!«, rief Owen, hatte aber nicht das Gefühl, dass sie ihn hörten; ihre Verbindung zueinander war zu stark; es waren die Bande zwischen zwei Männern, die zu allem entschlossen waren. Sie waren die Ersten in Kurtz' Kommando, die das heute Nacht taten; und Owen glaubte nicht, dass sie die Einzigen bleiben würden.

Owen? Das war Henry. Owen, was ist -

Dann zapfte er an, was Owen sah, und schwieg entsetzt.

... zwei... eins.

Zwei Pistolenschüsse, vom tosenden Wind und dem Betriebslärm der vier Generatoren fast übertönt. Zwei Fächer aus Blut und mehliger Gehirnmasse tauchten im Dämmerlicht wie von Zauberhand über den Köpfen von Cavenaugh und Bellson auf. Owen und Henry sahen Bellsons rechten Fuß noch ein letztes Mal zucken. Er stieß die Taschenlampe um, und für einen Augenblick konnten sie Cavenaughs und Bellsons entstellte, mit Byrus überwucherte Gesichter sehen. Als dann die Taschenlampe über den Containerboden kullerte, noch ein paar Lichtkreise auf die Aluminiumwände warf, wurde das Bild dunkel wie bei einem Fernseher, bei dem man den Stecker herausgezogen hatte.

»O Gott«, flüsterte Owen. »Gütiger Gott.«

Henry war wieder hinter dem Fenster aufgetaucht. Owen gab ihm ein Handzeichen, er solle beiseite gehen, und warf dann den Stein. Es war nicht weit, aber beim ersten Mal verfehlte er das Fenster trotzdem, und der Stein prallte an den verwitterten Brettern links daneben ab. Er nahm einen zwei-

ten Stein, atmete tief ein und warf. Diesmal zerschlug er das Glas.

Jetzt kommt Post für dich, Henry.

Er warf das Stahletui in den Schuppen.

4

Es fiel auf den Boden. Henry hob es auf und öffnete es. Vier kleine Päckchen aus Alufolie lagen darin.

Was ist das?

Taschenraketen, antwortete Owen. Hast du ein gesundes Herz?

Ich glaube schon.

Gut. Denn verglichen damit, fühlt sich Kokain wie Valium an. Es sind zwei pro Packung. Nimm drei und heb die restlichen auf.

Ich habe kein Wasser.

Stell dich nicht blöde an. Kauen, mein Lieber. Du hast doch noch ein paar Zähne übrig, oder? Das klang verärgert, und zunächst verstand Henry es nicht, dann aber schon. Wenn er zu dieser frühen Morgenstunde irgendwas nachvollziehen konnte, dann den plötzlichen Verlust von Freunden.

Die Tabletten waren weiß, trugen keine Markierung irgendeines pharmazeutischen Unternehmens und schmeckten schrecklich bitter, als sie im Mund zerbröselten. Seine Kehle sträubte sich dagegen, als er sie schluckte.

Die Wirkung setzte fast augenblicklich ein. Als er sich Owens Etui in die Hosentasche gesteckt hatte, schlug Henrys Herz schon doppelt so schnell. Und es schlug dreimal so schnell, als er wieder ans Fenster gegangen war. Seine Augen schienen mit jedem hastigen Herzschlag in ihren Höhlen zu pulsieren. Das war aber kein Besorgnis erregendes Gefühl; Henry fand es sogar angenehm. Seine Schläfrigkeit und auch seine Schmerzen waren verflogen.

»Wow!«, rief er. »Popeye sollte mal ein paar Büchsen von diesem Zeug hier probieren!« Er lachte auf, weil ihm das Sprechen jetzt so merkwürdig vorkam - schon fast antiquiert - und weil er sich so gut fühlte.

Beruhig dich. Wie findest du's?

Gut! G UT!

Selbst seine Gedanken hatten anscheinend eine neue, kristallklare Kraft, und Henry glaubte nicht, dass er sich das nur einbildete. Es war hinter dem alten Futterschuppen zwar etwas dunkler als im übrigen Lager, aber doch hell genug, dass er sah, wie Owen zusammenzuckte und sich eine Hand an den Kopf hielt, als hätte ihm jemand direkt ins Ohr gebrüllt.

Tschuldige, sandte er.

Schon gut. Du bist nur einfach sehr laut. Du musst ja ganz überwuchert von dem Zeug sein.

Nein, bin ich gar nicht, antwortete Henry. Ein Fetzen aus seinem Traum fiel ihm wieder ein: sie alle vier auf diesem grasbewachsenen Hang. Nein, sie waren zu fünft, denn Duddits war auch dabei gewesen.

Henry, weißt du noch, wo ich auf dich warten werde?

An der Südwestecke des Lagers. Gegenüber vom Stall. Aber -

Kein Aber. Da warte ich auf dich. Und wenn du hier rauswillst, kommst du dahin. Es ist jetzt... Owen sah kurz auf seine Armbanduhr. Wenn sie noch funktionierte, musste es eine zum Aufziehen sein, dachte Henry. ... zwei Minuten vor vier. Ich gebe dir eine halbe Stunde, und wenn sich die Leute im Stall dann noch nicht in Bewegung gesetzt haben, schließe ich den Zaun kurz.

Eine halbe Stunde ist vielleicht zu knapp, entgegnete Henry. Obwohl er ruhig dastand und zu Owen dort im Schneetreiben hinausschaute, atmete er so schnell wie ein Rennläufer. Und sein Herz fühlte sich an, als würde er tatsächlich rennen.

Das muss reichen, sandte Owen. Der Zaun ist mit einer Alarmanlage versehen. Die Sirenen werden heulen. Noch mehr Scheinwerfer. Großalarm. Wenn die Kacke am Dampfen ist, gebe ich dir noch fünf Minuten - zähl bis dreihundert —, und wenn du dann noch nicht da bist, mache ich mich allein vom Acker.

Ohne mich findest du Jonesy nie.

Deswegen muss ich aber noch längst nicht hier bleiben und mit dir sterben, Henry. Ganz ruhig. Als würde er mit einem kleinen Kind sprechen. Wenn du es in fünf Minuten nicht bis zu unserem Treffpunkt schaffst, hat sowieso keiner von uns eine Chance.

Die beiden Männer, die sich gerade umgebracht haben ... die sind nicht die Einzigen, bei denen es so schlimm ist.

Ich weiß.

Henry hatte vor seinem geistigen Auge kurz ein Bild des gelben Schulbusses mit dem Aufdruck millinocket school dept. Aus den Fenstern schauten gut vierzig grinsende Totenschädel. Das waren Owen Underhills Kameraden, dämmerte es Henry. Die, mit denen er gestern Morgen eingetroffen war. Männer, die jetzt im Sterben lagen oder bereits tot waren.

Mach dir um die keine Gedanken, erwiderte Owen. Um Kurtz' Bodentruppe müssen wir uns Sorgen machen. Vor allem um die Imperial-Valley-Einheit. Wenn es sie gibt, kannst du davon ausgehen, dass sie ihre Befehle befolgen und gut ausgebildet sind. Und eine gute Ausbildung siegt noch immer über Konfusion — dazu ist eine gute Ausbildung schließlich da. Wenn du hier bleibst, werden sie dich rösten. Du hast fünf Minuten, sobald der Alarm losgeht. Zähl bis dreihundert.

Das klang leider alles schlüssig.

Also gut, sagte Henry. Fünf Minuten.

Du musst das überhaupt nicht tun, sagte Owen. Diesen Gedanken empfing Henry in ein Wirrwarr von Gefühlen gehüllt: Frustration, Gewissensbisse und die unvermeidliche Furcht - bei Owen Underhill nicht vor dem Tod, sondern vor dem Scheitern. Wenn es stimmt, was du erzählst, hängt alles davon ab, dass wir reibungslos hier rauskommen. Dass du das Schicksal der ganzen Welt aufs Spiel setzen willst für ein paar hundert Blödmänner in einem Stall...

Dein Boss würde das nicht so machen, was?

Darauf reagierte Owen überrascht und nicht mit Worten, sondern mit einem »!«, das aus einem Comic hätte stammen können. Dann hörte Flenry, wie Owen trotz des unablässig tosenden und heulenden Windes lachte.

Eins zu null für dich.

Ich werde sie schon auf Trab bringen. Ich bin ein Meister im Motivieren.

Du wirst es auf jeden Fall versuchen. Flenry konnte Owens Gesicht nicht sehen, spürte aber, dass er lächelte. Dann fragte Owen laut: »Und was ist dann? Sag's mir noch mal.«

Wieso?

»Weil Soldaten vielleicht auch motiviert werden müssen, zumal wenn sie meutern sollen. Und hör mit der Telepathie auf — ich will, dass du es laut sagst. Ich will das Wort hören.

«

Flenry sah den Mann an, der dort zitternd auf der anderen Seite des Zauns stand, und sagte: »Dann sind wir Flelden. Nicht weil wir es darauf angelegt haben, sondern weil es gar nicht anders geht.«

Owen nickte dort draußen im Schneegestöber. Er nickte und lächelte dabei immer noch. »Tja, wieso nicht?«, sagte er. »Wieso eigentlich nicht?«

Vor Owens geistigem Auge sah Flenry das Bild eines kleinen Jungen auftauchen, der eine Porzellanplatte hochhielt. Der erwachsene Mann wollte, dass der kleine Junge die Platte zurückstellte - diese Platte, die ihn all die Jahre verfolgt hatte und für immer zerbrochen bleiben würde.

Kurtz erwachte, wie er immer erwachte: Im einen Moment war er noch nirgends und im nächsten schon vollkommen präsent. Noch am Leben, hallelujah, o ja, und immer noch in großen Zeiten. Er drehte den Kopf und schaute auf seinen Wecker, und das Scheißding hatte trotz des extra antimagnetischen Gehäuses wieder versagt und blinkte nur »12-12-12« wie ein Stotterer, der an einem Wort hängen geblieben war. Er knipste die Nachttischlampe an und nahm die Taschenuhr zur Hand, die daneben lag. 4.08 Uhr.

Kurtz legte die Taschenuhr wieder hin, schwang die nackten Füße aus dem Bett und stand auf. Zu allererst fiel ihm der Wind auf, der sich immer noch anhörte wie Hundegeheul. Dann bemerkte er, dass das leise Stimmengewirr aus seinem Kopf verschwunden war. Die Telepathie war weg, und das freute Kurtz. Sie hatte ihn auf tiefste Weise angewidert, genau wie ihn manche sexuellen Praktiken anwiderten. Der Gedanke, jemand könne in seinen Kopf eindringen, könne die höheren Regionen seines Geistes besuchen ... das war schon entsetzlich gewesen. Für dieses widerliche Gastgeschenk allein hatten die Grauen es verdient, ausradiert zu werden. Gott sei Dank hatte sich diese Gabe als flüchtig erwiesen.

Kurtz schälte sich aus seinen grauen Shorts, stand dann nackt vor dem Spiegel an der Schlafzimmertür und betrachtete sich vom Kopf, mit dem vom Schlaf zerzausten grau melierten Haar, bis zu den Füßen (an denen sich die ersten knotigen lila Adern zeigten). Er war sechzig, sah dafür aber gar nicht schlecht aus; die geplatzten Adern an den Füßen waren auch schon das Schlimmste. Und er hatte auch ein mächtiges Gehänge, aber das hatte er nie groß genutzt; Frauen waren im Grunde niedere Wesen und zu Loyalität nicht fähig. Sie laugten einen Mann nur aus. In der hintersten Kammer seines kranken Hirns, dort, wo selbst sein Wahnsinn nur noch Methode war, hielt Kurtz Sex grundsätzlich für abartig. Selbst wenn er zu Fortpflanzungszwecken betrieben wurde, kam dabei doch normalerweise nur ein Tumor mit Gehirn heraus, der sich von den Kackwieseln nicht groß unterschied.

Von seinem Scheitel aus ließ Kurtz den Blick langsam wieder sinken und suchte nach der allerkleinsten roten Stelle, dem allerwinzigsten Pockenfleck. Er konnte nichts entdecken. Er drehte sich um, betrachtete sich von hinten und entdeckte auch hier nichts. Er spreizte seine Hinterbacken, tastete dazwischen alles ab, schob sich einen Finger bis zum dritten Fingerglied in den Anus und spürte auch dort weiter nichts als Fleisch.

»Ich bin sauber«, sagte er mit leiser Stimme, als er sich im kleinen Badezimmer des Winnebago energisch die Hände wusch. »Blitzsauber.«

Er schlüpfte wieder in seine Shorts und setzte sich dann aufs Bett, um sich die Socken anzuziehen. Sauber, gelobt sei der Herr. Sauber. Ein gutes Wort. Sauber. Und das unangenehme Gefühl der Telepathie - wie schwitzende Haut, die sich an schwitzende Haut drängte - war verschwunden. Auf ihm wuchs nicht ein einziges Fädchen Ripley; er hatte sogar seine Zunge und sein Zahnfleisch untersucht.

Und was hatte ihn dann aufgeweckt? Wieso schrillten die Alarmglocken in seinem Kopf?

Weil Telepathie nicht die einzige Form übersinnlicher Wahrnehmung war. Weil es lange bevor die Grauen überhaupt gewusst hatten, dass es hier in diesem verstaubten, wenig populären Winkel der Milchstraßengalaxie einen Planeten Erde gab, schon den so genannten Instinkt gegeben hatte und Uniform tragende Homo saps, wie er einer war, ganz besonders damit gesegnet waren.

»Die Ahnung«, sagte Kurtz, »die gute, alte, amerikanische Ahnung.«

Er zog sich die Hose an. Dann, immer noch mit nacktem

Oberkörper, nahm er sein Walkie-Talkie, das auf dem Nachttisch neben der Taschenuhr lag (4.16 Uhr war es jetzt, und wie die Zeit mit einem Mal zu rasen schien, wie ein Auto mit defekter Bremse, das einen Hügel hinab auf eine viel befahrene Kreuzung zurauschte). Das Funkgerät war ein spezielles digitales, mit Verschlüsselung und angeblich nicht zu stören ... aber ein Blick auf seinen vorgeblich bestens ummantelten Digitalwecker lehrte ihn, dass er sich bei diesen Gerätschaften auf gar nichts verlassen konnte.

Er drückte zweimal auf den SEND/SEQUEAL-Knopf. Fred-dy Johnson meldete sich sofort und klang dabei auch nicht allzu verschlafen ... oh, aber wie sehnte sich Kurtz (der auf den Namen Robert Coonts getauft war, Namen, Namen: Namen sind doch Schall und Rauch), da es jetzt hart auf hart ging, nach Owen Underhill. Owen, Owen, dachte er, wieso musstest du versagen, als ich dich am dringendsten brauchte, mein junge?

»Boss?«

»Ich ziehe Imperial Valley auf sechs Uhr vor. Imperial Valley um null sechshundert. Bestätigen Sie.«

Er musste sich anhören, warum das nicht zu machen sei, ein Blödsinn, den Owen nicht in seinen schwächsten Träumen gefaselt hätte. Er ließ Freddy knapp vierzig Sekunden lang protestieren und sagte dann: »Halten Sie den Rand, Sie Vollidiot.«

Entsetztes Schweigen auf Freddys Seite.

»Hier braut sich irgendwas zusammen. Ich weiß nicht, was es ist, aber es hat mich aus tiefem Schlaf hochgeschreckt. Ich habe diese Gruppe ja nicht zum Spaß gebildet, und wenn Sie heute Abend noch unter den Lebenden weilen wollen, dann bringen Sie sie lieber mal auf Trab. Sagen Sie Galla-gher, dass sie sich jetzt bewähren kann. Bestätigen Sie, Freddy.« »Boss, ich bestätige. Eins sollten Sie aber wissen - wir hatten vier Selbstmorde, soweit ich weiß. Vielleicht auch mehr.«

Darüber war Kurtz weder erstaunt noch verärgert. Unter gewissen Umständen war der Selbstmord nicht nur hin-nehmbar, sondern auch eine noble Geste - die letzte Tat eines wahren Gentlemans.

»Die Hubschrauberbesatzungen?«

»Ja.«

»Niemand vom Imperial Valley?«

»Nein, Boss, keiner vom Valley.«

»Also gut. Machen Sie Dampf, Bursche. Wir stecken in Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich spüre es kommen. Es liegt mächtig was in der Luft.«

Kurtz warf das Funkgerät wieder auf den Nachttisch und zog sich weiter an. Er hätte gern eine Zigarette geraucht, aber die waren alle.

6

Eine ansehnliche Herde Milchkühe hatte früher im Stall des alten Gosselin gestanden, und obwohl das Innere in seinem gegenwärtigen Zustand vielleicht nicht den Normen des Landwirtschaftsministeriums entsprach, war das Gebäude selbst doch noch gut in Schuss. Die Soldaten hatten einige Tausend-Watt-Strahler angebracht, die grelles Licht auf die Boxen, die Melkstationen in der Mitte und den oberen und unteren Heuboden warfen. Sie hatten auch einige Heizgeräte aufgestellt, und im ganzen Stall herrschte eine benommen machende Wärme. Henry machte sich sofort die Jacke auf, als er drinnen war, und trotzdem spürte er auf seinem Gesicht Schweiß ausbrechen. Das lag vermutlich auch an Owens Pillen; er hatte vor dem Stall noch eine genommen.

Auf den ersten Eindruck ähnelte es hier sehr den diversen Flüchtlingslagern, die er schon gesehen hatte: bosnische Ser-

ben in Mazedonien, haitianische Rebellen, nachdem die Marineinfanterie des Zuckeronkels Sam in Port-au-Prince gelandet war, oder afrikanische Flüchtlinge, die ihr Heimatland verlassen hatten, weil dort Seuchen, Hunger, Bürgerkrieg oder all das zusammen herrschten. Man gewöhnte sich daran, so etwas in den Fernsehnachrichten zu sehen, und die Bilder stammten immer von weit her; das Entsetzen, mit dem man sie sah, hatte etwas Klinisches. Aber das hier war kein Ort, den man nur mit Reisepass besuchen konnte. Das hier war ein Kuhstall in Neuengland. Die Menschen hier drin trugen keine Lumpen oder schmutzige Dashikis, sondern Par-kas von Bean's, Cargo-Hosen (wie geschaffen für Reserve-Schrotpatronen) von Banana Republic und Unterwäsche von Fruit of the Loom. Doch trotzdem sah es so ähnlich aus. Der einzige Unterschied, den er bemerkte, bestand darin, dass sie alle immer noch verblüfft wirkten. So etwas war im Lande der kostenlosen Ortsgespräche einfach nicht vorgesehen.

Die Internierten bedeckten fast den gesamten Boden, auf dem man Heu ausgebreitet hatte (und darauf Jacken). Familien schliefen beieinander, andere lagen in kleinen Gruppen zusammen. Auf den Heuböden hielten sich weitere auf und auch je drei oder vier in den vierzig Boxen. Im ganzen Stall hörte man das Schnarchen und Grunzen von Menschen, die schlecht träumten. Irgendwo weinte ein Kind. Und es gab Musikberieselung - und das war für Henry nun wirklich das Bizarrste. Die dem Tode geweihten Schläfer lauschten im Stall des alten Gosselin dem Fred Waring Orchestra und seiner Geigenversion von Some Enchanted Evening.

In seiner jetzigen Höchstform sah Henry alles ganz berauschend klar und deutlich. All die orangefarbenen Jacken und Mützen!, dachte er. Mann, ey! Halloween in der Hölle!

Und auch das rotgoldene Zeug war reichlich vorhanden. Henry sah es auf Wangen, in Ohren und zwischen Fingern wachsen; es wuchs auch an einigen Balken und an den Kabeln der aufgehängten Scheinwerfer. Vorherrschend roch es hier nach Heu, aber Henry nahm ohne Schwierigkeiten auch den leicht schweflig angehauchten Geruch von Äthylalkohol wahr. Neben dem Schnarchen wurde nicht minder gefurzt -es klang, als würden sechs oder sieben vollkommen unbegabte Musiker auf Tubas und Saxofonen vor sich hin träten. Unter anderen Umständen wäre das amüsant gewesen ... war es vielleicht auch sogar unter diesen: für jemanden, der nicht gesehen hatte, wie sich dieses fauchende Wieselwesen auf Jonesys blutgetränktem Bett gewunden hatte.

Wie viele von ihnen brüten wohl so etwas aus?, fragte sich Henry. Es spielte keine Rolle, dachte er, denn letztlich waren die Wiesel harmlos. Sie mochten vielleicht außerhalb ihrer Wirte in diesem Stall lebensfähig sein, aber draußen im Schneesturm, wo der Windchill-Faktor bestimmt bei minus zwanzig Grad lag, hatten sie keine Chance.

Er musste zu diesen Menschen sprechen -

Nein, nicht nur das. Er musste ihnen eine Heidenangst einjagen. Musste sie zum Aufbruch antreiben, obwohl es hier drin so warm und da draußen so kalt war. Früher hatten hier Milchkühe gestanden; jetzt lag hier willfähriges Schlachtvieh. Er musste sie wieder in Menschen verwandeln -in verängstigte, wütende Menschen. Er konnte es schaffen, aber nicht allein. Und die Uhr lief. Owen Underhill hatte ihm eine halbe Stunde gegeben. Henry schätzte, dass sie zu einem Drittel bereits verstrichen war.

Ich brauche ein Megafon, dachte er. Das wäre Schritt Nummer eins.

Er schaute sich um, entdeckte einen stämmigen Kerl mit schütterem Haar, der links neben dem Eingang der Melkstationen schlief, und ging hinüber, um ihn sich genauer anzusehen. Er dachte, es wäre einer der Typen, die er aus dem Schuppen vertrieben hatte, war sich da aber nicht ganz sicher. Bei diesen Jägern hier gab es stämmige Kerle mit schütterem Haar wie Sand am Meer.

Aber es war tatsächlich Charles, und der Byrus überwucherte das, was der alte Charlie zweifellos als seinen »Solar-Sexus« bezeichnete. Wer braucht schon Haarwuchsmittel, wenn er dieses Zeug hat?, dachte Henry und musste grinsen.

Es war gut, dass er Charles gefunden hatte; und besser noch: Marsha schlief ganz in der Nähe und hielt Händchen mit Darren, dem Mr. Riesen-Joint aus Newton. Der Byrus wuchs nun auf einer von Marshas zarten Wangen. Ihr Gatte war noch clean, aber sein Schwager - Bill? Hatte er so geheißen? - hatte das Zeug überall. Mister Byrus 2001, dachte Henry.

Er kniete sich neben Bill, nahm seine mit Byrus überwucherte Hand und sprach in den wirren Dschungel seiner Albträume hinein. Wach auf, Bill. Aufgewacht! Wir müssen hier raus! Und wenn du mir hilfst, schaffen wir das auch. Wach auf, Bill!

Wach auf und sei ein Held.

Es geschah mit berauschender Schnelligkeit.

Henry spürte, wie sich Bills Bewusstsein seinem entgegenhob, wie es sich aus Albträumen löste, die es gefangen hielten, und sich Henry entgegenstreckte wie ein Ertrinkender einem Rettungsschwimmer. Ihre Gedanken verbanden sich wie die Kupplungen zweier Güterwaggons.

Sag nichts, versuch nicht zu sprechen, sagte Henry in Gedanken zu ihm. Bleib ganz ruhig. Wir brauchen auch Marsha und Charles. Zu viert müssten wir es schaffen.

Was-

Keine Zeit, Billy. Gehn wir.

Bill nahm die Hand seiner Schwägerin. Marsha schlug sofort die Augen auf, als hätte sie auf so etwas nur gewartet, und Henry spürte, wie in seinem Gehirn alle Zeiger noch weiter nach rechts zuckten. Auf ihr wucherte es nicht so schlimm wie auf Bill, also war sie vermutlich ein Naturtalent. Ohne weiteren Kommentar nahm sie Charles' Hand. Henry hatte das Gefühl, dass sie bereits verstand, was hier vor sich ging und was jetzt zu tun war. Glücklicherweise verstand sie auch, dass es schnell gehen musste. Sie würden diese Leute für sich einnehmen und dann zum Losschlagen anstiften.

Charles setzte sich mit einem Ruck auf und glotzte mit seinen Schweinsäuglein, als hätte ihn jemand in den Hintern gekniffen. Jetzt standen sie alle vier und hielten einander an den Händen wie die Teilnehmer einer Seance ... was sie, dachte Henry, im Grunde ja auch fast waren.

Geht's mir, wies er sie an, und das taten sie. Es fühlte sich an, als hielte er einen Zauberstab.

Hört mir zu, rief er.

Köpfe hoben sich; einige Leute setzten sich wie elektrisiert aus dem Tiefschlaf auf.

Hört mir zu und unterstützt mich ... verstärkt mich! Versteht ihr? Stärkt meine Kräfte! Das ist eure einzige Chance, also STÄRKT MICH!

Sie taten es so instinktiv, wie man ein Lied mitsummt oder einen Takt mitklatscht. Hätte er ihnen Zeit zum Nachdenken gelassen, dann wäre es wahrscheinlich schwieriger, vielleicht gar unmöglich gewesen, aber das tat er nicht. Die meisten von ihnen hatten eben noch geschlafen, und er erwischte die Infizierten, die Telepathen, bei sehr aufnahmefähigem Bewusstsein.

Ebenfalls rein instinktiv vorgehend, projizierte Henry eine Folge von Bildern: Soldaten mit Atemmasken vordem Gesicht umstellten den Stall. Die meisten hatten Schusswaffen, einige Rucksäcke, die an lange Stäbe angeschlossen waren. Die Gesichter der Soldaten ließ er zu Karikaturen der Grausamkeit gerinnen. Auf einen über Megafon gebrüllten Befehl hin versprühten die Stäbe Ströme flüssigen Feuers - Napalm. Außenmauern und Dach des Stalls fingen sofort an zu brennen.

Henry blendete in den Stall über und projizierte Bilder kreischend umherlaufender Menschen. Flüssiges Feuer tropfte durch Löcher im lodernden Dach und setzte das Heu in den Heuböden in Brand. Hier sah man einen Mann mit brennendem Haarschopf; dort eine Frau in einer brennenden Skijacke, an der noch Skipässe vom Sugarloaf und Rag-ged Mountain hingen.

Jetzt sahen sie alle Henry an - Henry und seine Freunde, die sich an den Händen hielten. Nur die Telepathen empfingen die Bilder, aber zwei Drittel der Menschen in diesem Stall waren infiziert, und auch die, die es nicht waren, bekamen die Panik mit und wurden wie Boote von einer Woge mitgerissen.

Bills Hand fest in der einen und Marshas fest in der anderen, wechselte Henry mit seinen Bildern wieder zur Außensicht. Feuer; näher rückende Soldaten; eine Megafonstimme, die befahl, niemanden entkommen zu lassen.

Jetzt standen die Internierten alle und brabbelten verängstigt los (bis auf die wahren Telepathen; die starrten ihn nur mit gequält blickenden Augen in von Byrus überwucherten Gesichtern an). Er zeigte ihnen den Stall, wie er gleich einer Fackel im nächtlichen Schneetreiben loderte und der Wind das Flammenmeer in einen Feuersturm verwandelte, und immer noch spritzte Napalm, und immer noch mahnte die Megafonstimme: »GUT SO, MÄNNER, MACHT SIE NIEDER, LASST KEINEN ENTKOMMEN, SIE SIND DER KREBS, UND WIR SIND DIE HEILUNG!«

Seine Fantasie lief jetzt auf Hochtouren, und Henry projizierte Bilder der wenigen Menschen, die zu den Ausgängen gelangten oder sich durch die Fenster zwängen konnten. Viele von ihnen standen in Flammen. Darunter war auch eine Frau mit einem Kind in den Armen. Die Soldaten mähten sie alle mit Maschinengewehrgarben nieder, bis auf die Frau mit dem Kind, die sich beim Laufen in eine Napalm-Fackel verwandelte.

»Nein!«, schrien mehrere Frauen unisono, und Henry bemerkte ebenso verwundert wie angewidert, dass sie alle, auch die ohne Kinder, der brennenden Frau ihr eigenes Gesicht verliehen hatten.

Jetzt liefen sie alle aufgescheucht durcheinander wie eine Viehherde bei Gewitter. Er musste sie losschicken, ehe sie dazu kamen, einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Kraft der Gehirne bündelnd, die mit seinem verbunden waren, sandte Henry ihnen allen ein Bild des Ladens.

SEHT!, rief er ihnen zu. DAS IST EURE EINZIGE CHANCE! DURCH DEN LADEN, WENN IHR KÖNNT! REISST DEN ZAUN NIEDER, WENN DIE TÜR BLOCKIERT IST! NICHT STEHEN BLEIBEN UND NICHT ZÖGERN! FLIEHT IN DEN WALD! VERSTECKT EUCH IM WALD! SIE WERDEN KOMMEN UND DAS ALLES HIER IN BRAND STECKEN, DEN STALL UND ALLE MENSCHEN DARIN, UND DER WALD IST EURE EINZIGE CHANCE! LOS! LOS!

Tief in seiner Fantasie versunken, dank Owens Pillen förmlich schwebend und mit aller Kraft sendend - Bilder einer möglichen Sicherheit dort und des sicheren Todes hier, Bilder, die so schlicht waren wie in einem Kinderbuch -, bekam er nur vage mit, dass er in einen lauten Sprechgesang verfallen war: »Los, los, los.«

Marsha Chiles nahm den Singsang auf, dann stimmte ihr Schwager mit ein und dann Charles, der Mann mit dem überwucherten Solar-Sexus.

»Los! Los! Los!«

Er war zwar offensichtlich immun gegen den Byrus und daher der Telepathie ebenso wenig mächtig wie der durchschnittliche Fettwanst, aber gegen einen mitreißenden

Sprechchor war Darren nicht immun, und auch er stimmte ein.

»Los! Los! Los!«

Das sprang von Mensch zu Mensch und von Gruppe zu Gruppe über, eine durch die Panik ausgelöste Infektion, die ansteckender war als der Byrus: »Los! Los! Los!«

Der ganze Stall bebte davon. Fäuste wurden unisono hochgereckt wie bei einem Rockkonzert.

»LOS! LOS! LOS!«

Henry ließ sie alle einstimmen, reckte selbst, ohne es zu merken, die Faust empor, soweit sein schmerzender Arm es zuließ, und ermahnte sich doch dabei, sich von diesem Wirbelwind aus Menschen, den er ausgelöst hatte, nicht mitreißen zu lassen - wenn sie nach Norden gingen, ging er nach Süden. Er wartete auf den Augenblick, in dem es kein Zurück mehr gab - auf den zündenden Moment.

Und dieser Moment kam.

»Los«, flüsterte er.

Er versammelte die geistige Kraft von Marsha, Bill, Charlie ... und der anderen, die in der Nähe standen und sich ihnen angeschlossen hatten. Er bündelte sie und schleuderte dann dieses eine Wort wie eine Silberkugel in die Köpfe von dreihundertsiebzehn Menschen im Kuhlstall des alten Gosselin:

LOS.

Für einen Moment herrschte Totenstille, und dann brach die Hölle los.

8

Kurz vor Sonnenuntergang war entlang des Zauns ein Dutzend Zwei-Mann-Wachhäuschen (eigentlich waren es mobile Toilettenhäuschen, bei denen man die Urinale und Klobecken herausgerissen hatte) aufgestellt worden. Die

Häuschen waren mit Öfen ausgestattet, die auf dem engen Raum eine richtig mollige Hitze erzeugten, und die Wachen hatten keine Lust, auch mal nach draußen zu gehen. Ab und an machte einer mal die Tür auf, um einen mit Schneeflocken vermengten Schwung frischer Luft hereinzulassen, aber weiter bekamen die Wachen von der Außenwelt nichts mit. Die meisten von ihnen waren nie in einen Krieg gezogen und verstanden im Grunde nicht, was hier alles auf dem Spiel stand, und daher quatschten sie über Sex, Autos, Versetzungen, ihre Familien, ihre Zukunft, Sex, Sauftouren und Drogenerlebnisse - und Sex. Sie hatten Underhills Schuppen-Besuche nicht mitbekommen (er wäre von Wachtposten neun und zehn aus deutlich zu erkennen gewesen) und merkten als Allerletzte, dass sie es hier mit einer waschechten Lagerrevolte zu tun hatten.

Sieben andere Soldaten, Männer, die schon ein bisschen länger bei Kurtz und daher ein wenig gewiefter waren, saßen hinten im Laden am Holzofen und spielten in eben dem Büro Five-Card-Stud-Poker, in dem Owen knapp zwei Jahrhunderte zuvor Kurtz das »Ne nous blessez pas«-Band vorgespielt hatte. Sechs der Pokerspieler hatten Wachdienst. Der siebte war Dawg Brodskys Kollege Gene Cambry. Cam-bry hatte nicht schlafen können. Der Grund dafür war unter einem dehnbaren Baumwollarmband verborgen. Er wusste allerdings nicht, wie lange dieses Armband noch nützen würde, denn das rote Zeug darunter breitete sich aus. Wenn er nicht aufpasste, sah es noch jemand ... und dann würden sie ihn nicht mehr hier im Büro Karten spielen lassen, sondern zu den anderen armen Schweinen in den Kuhstall sperren.

Und war er denn der Einzige, der sich da vorsehen musste? Ray Parsons hatte einen dicken Wattebausch im Ohr. Angeblich hatte er Ohrenschmerzen, aber wer wusste schon, ob das stimmte? Einer von Ted Trezewskis kräftigen Unterarmen war bandagiert, und er behauptete, sich beim Verlegen von Stacheldraht verletzt zu haben. Vielleicht stimmte das. George Udall, unter normaleren Umständen Dawgs unmittelbarer Vorgesetzter, trug eine Strickmütze über der Glatze und sah damit aus wie ein ältlicher weißer Rapper. Vielleicht war weiter nichts als Kopfhaut darunter, aber für eine Mütze war es hier drin doch eigentlich ziemlich warm, oder? Und schon gar für eine Strickmütze.

»Setze einen«, sagte Howie Everett.

»Steige aus«, sagte Danny O'Brian.

Parsons stieg ebenfalls aus, und Udall auch. Cambry hörte es kaum. Vor seinem geistigen Auge tauchte das Bild einer Frau auf, die ein Kind auf dem Arm hielt. Sie strauchelte über die verschneite Koppel, und ein Soldat verwandelte sie in eine Napalmfackel. Cambry zuckte entsetzt zusammen und dachte, seine Gewissensbisse hätten dieses Bild heraufbeschworen.

»Gene?«, sagte AI Coleman. »Steigst du aus oder -«

»Was ist das?«, fragte Howie und runzelte die Stirn.

»Was ist was?«, fragte Ted Trezewski zurück.

»Wenn du hinhören würdest, wüsstest du's«, erwiderte Howie. Blöder Polacke - Cambry hörte diese unausgesprochene Folgerung in seinem Kopf, achtete aber nicht weiter darauf. Sobald man sie darauf aufmerksam gemacht hatte, hörten sie den Sprechchor ganz deutlich, der den Wind übertönte und immer lauter und eindringlicher wurde.

»Los! Los! Los! Los! LOS!«

Es kam aus dem Kuhstall, der sich direkt hinter ihnen befand.

»Was soll denn das?«, fragte Udall nachdenklich und schaute blinzelnd über den Klapptisch mit den Spielkarten, den Aschenbechern, Chips und Geldscheinen. Plötzlich wurde Gene Cambry klar, dass unter der blöden Wollmütze letztlich doch nur Kopfhaut war. Udall war nominell der Ranghöchste ihrer kleinen Gruppe, hatte aber keinen blassen Schimmer, was vor sich ging. Er konnte die empor gereckten Fäuste nicht sehen und die kräftige Gedankenstimme nicht hören, die den Sprechgesang anführte.

Cambry sah besorgte Mienen bei Parsons, Everett und Coleman. Sie sahen es auch. Sie verständigten sich ohne Worte, während die Nicht-Infizierten nur dumm guckten.

»Die brechen aus«, sagte Cambry.

»Red nicht so einen Quatsch, Gene«, sagte George Udall. »Die haben keine Ahnung, was ihnen bevorsteht. Und außerdem sind es Zivilisten. Die lassen nur ein bisschen D -«

Cambry verstand den Rest nicht mehr, weil ihm ein einzelnes Wort - LOS - wie mit einer Kreissäge durch den Kopf fuhr. Ray Parsons und AI Coleman zuckten zusammen. Howie Everett schrie vor Schmerz auf, hielt sich die Schläfen und knallte mit den Knien gegen die Tischplatte. Chips und Spielkarten flogen umher. Ein Dollarschein landete auf dem heißen Ofen und fing Feuer.

»Ach du grüne Neune, jetzt schau dir an, was du -«, wetterte Ted los.

»Sie kommen«, sagte Cambry. »Sie kommen hierher.«

Parsons, Everett und Coleman stürzten zu ihren Karabinern Typ M-4, die neben dem Kleiderständer des alten Gos-selin lehnten. Die anderen schauten sie verdutzt an, begriffen immer noch nicht ... und dann gab es einen mächtigen Knall, als sechzig oder mehr Internierte gegen die Stalltore anrannten. Die Tore waren von außen mit großen Stahlschlössern verriegelt. Die Schlösser hielten, aber das alte Holz brach krachend.

Die Internierten strömten durch die Lücke, riefen dem Schneesturm »Los! Los!« entgegen und trampelten mehrere Menschen nieder.

Cambry stürzte auch nach vorn, schnappte sich eins der kompakten Sturmgewehre und musste es sich dann aus den Händen reißen lassen. »Das ist meins, du Scheißkerl«, knurrte Ted Trezewski.

Zwischen den aufgebrochenen Stalltoren und der Ruckseite des Ladens lagen keine zwanzig Meter. Der Mob strömte über das freie Feld und brüllte: »LOS! LOS! LOS!«

Der Pokertisch fiel krachend um, und was noch darauf gestanden hatte, flog durchs Zimmer. Alarm wurde ausgelöst, als die ersten Internierten den Zaun erreichten und entweder gegrillt wurden oder wie aufgespießte Fische in den großen Stacheldrahtspiralen hängen blieben. Nur Augenblicke später erscholl zum rhythmischen Hupen dieses Alarms eine aufheulende Sirene, der Generalkommandoalarm, auch Situation 666 genannt - das Ende der Welt. Aus den Plastik-Pissbuden, die als Wachhäuschen dienten, glotzten erstaunte, ängstliche Gesichter.

»Der Stall!«, rief jemand. »Alle Mann zum Stall! Sie brechen aus!«

Die Wachen trotteten hinaus in den Schnee, viele ohne Stiefel, und gingen außen den Zaun ab, ohne zu bemerken, dass ihn das Gewicht von über achtzig Kamikaze-Hirschjägern kurzgeschlossen hatte, die alle noch aus voller Kehle LOS gebrüllt hatten, als sie schon zitternd schmorten und starben.

Keiner bemerkte den Mann - groß, hager, eine altmodische Hornbrille auf der Nase -, der ganz allein den Stall verließ und durch die Schneewehen die Koppel überquerte. Obwohl Henry weder sah noch spürte, dass ihn jemand beobachtete, fing er an zu laufen. Er fühlte sich schrecklich ungeschützt im grellen Scheinwerferlicht, und die Kakopho-nie der Sirene und des Zaunalarms versetzte ihn in Panik und machte ihn schier wahnsinnig ... löste bei ihm das Gleiche aus wie Duddits' Weinen damals hinter dem Lagerhaus der Gebrüder Tracker.

Er hoffte bei Gott, dass Underhill auf ihn wartete. Er konnte ihn nicht erkennen, der Schneefall war zu dicht, um ganz bis über die Koppel zu schauen, aber gleich war er ja da, und dann würde er es wissen.

Kurtz war bis auf einen Stiefel vollständig bekleidet, als der Alarm ertönte, zusätzlich die Notbeleuchtung ansprang und dieses gottvergessene Grundstück in noch grelleres Licht tauchte. Er war nicht überrascht oder bestürzt, verspürte eher eine Mischung aus Erleichterung und Verdruss. Erleichterung darüber, dass nun zum Vorschein gekommen war, was da an seinen Nervenenden gekaut hatte. Verdruss darüber, dass dieses ganze Theater nicht noch hatte zwei Stunden warten können. Nur noch zwei Stunden, und er hätte die ganze Sache erfolgreich abschließen können.

Er stieß mit der rechten Hand die Tür des Winnebago auf, den Stiefel noch in der linken Hand. Wildes Gebrüll erscholl aus dem Kuhstall, Kriegsgeschrei, bei dem ihm, trotz allem, das Herz aufging. Der Sturmwind verwirbelte es ein wenig, aber nicht sehr; sie schienen alle darin einzustimmen. Von irgendwo aus ihren wohlgenährten, furchtsamen, hier-pas-siert-schon-nichts-denkenden Reihen war ein Spartakus erstanden - wer hätte das gedacht?

Das kommt alles von der verdammten Telepathie, dachte Kurtz. Seine Instinkte, stets messerscharf, verrieten ihm, dass es ernstliche Schwierigkeiten gab, dass er zusehen musste, wie eine Operation in großem Maßstab in die Binsen ging, und trotzdem lächelte er. Das muss an der verdammten Telepathie liegen. Die haben gewittert, was ihnen bevorstand ... und dann hat jemand beschlossen, etwas dagegen zu unternehmen.

Während er zusah, drängte sich ein bunt gemischter Mob von Männern, größtenteils mit Parkas und orangefarbenen Mützen bekleidet, zwischen den aufgebrochenen, schief in den Angeln hängenden Stalltoren hindurch. Einer fiel auf ein gesplittertes Brett und wurde gepfählt wie ein Vampir. Einige rutschten im Schnee aus und wurden niedergetrampelt. Jetzt brannten sämtliche Scheinwerfer. Kurtz kam sich vor, als hätte er bei einem Boxkampf einen Platz direkt am Ring. Er konnte alles sehen.

Die Ausbrecher teilten sich mühelos in zwei Flügel von je fünfzig bis sechzig Mann, als wären sie Soldaten bei einer Übung, und stürzten auf den Zaun beiderseits des Ladens zu. Entweder wussten sie nicht, dass der Draht mit einer tödlich wirkenden Stromspannung geladen war, oder es war ihnen egal. Der große Pulk, der folgte, stürmte direkt auf die Rückseite des Ladens zu. Das war der Schwachpunkt der Umzäunung, aber das machte nichts. Kurtz dachte, es würde schon alles gut gehen.

In keinem seiner Eventualpläne hatte er dieses Szenario berücksichtigt: Zwei- bis dreihundert übergewichtige Novemberkrieger setzten zu einem tollkühnen Kamikaze-Angriff an. Er hatte von ihnen nie etwas anderes erwartet, als dass sie blieben, wo sie waren, und lauthals auf ihre Rechte pochten, bis sie dann gegrillt würden.

»Nicht schlecht, Jungs«, sagte Kurtz. Jetzt roch er statt-dessen noch etwas anderes in Flammen aufgehen - wahrscheinlich seine Militärlaufbahn -, aber das Ende war ja sowieso nah, und hatte er sich für den Schluss nicht einen mordsmäßigen Einsatz ausgesucht? Wie Kurtz es sah, spielten die grauen Männchen aus dem All absolut die zweite Geige. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte die Schlagzeile gelautet: unfassbar! Amerikaner zeigen heutzutage Rückgrat! Hervorragend. Es war fast schade, sie abzuschlachten.

Die Alarmsirene heulte in die verschneite Nacht hinaus. Die erste Menschenwelle brandete hinten an den Laden. Kurtz konnte förmlich sehen, wie das Haus bis in die Grundfesten erschüttert wurde.

»Diese verdammte Telepathie«, sagte Kurtz grinsend. Er sah seine Jungs eingreifen, die Ersten kamen aus den Wachhäuschen, und weitere liefen vom Fuhrpark, der Intendantur und den Wohncontainern herbei, die als Feldlager dienten.

Dann schwand das Lächeln auf Kurtz' Gesicht allmählich und wich einer verwirrten Miene. »Knallt sie ab«, sagte er. »Wieso knallt ihr sie nicht ab?«

Einige feuerten, aber es waren nicht genug, längst nicht genug. Kurtz meinte Panik zu wittern. Seine Männer schössen nicht, weil sie Muffensausen hatten. Oder weil sie wuss-ten, dass sie als Nächste dran waren.

»Diese verdammte Telepathie«, sagte er wieder, und plötzlich eröffneten im Laden automatische Gewehre das Feuer. In den Fenstern des Büros, in dem er und Owen Un-derhill ihr einleitendes Gespräch geführt hatten, blitzte Trommelfeuer auf. Zwei Fenster platzten. Ein Mann versuchte, durch das zweite Fenster zu entkommen, und Kurtz erkannte ihn als George Udall, ehe George an den Beinen wieder hineingezerrt wurde.

Wenigstens kämpften die Jungs in dem Büro, aber sie hatten ja auch keine andere Wahl; da drinnen kämpften sie um ihr Leben. Die Bürschchen, die gelaufen gekommen waren, liefen größtenteils immer noch umher. Kurtz überlegte, den Stiefel fallen zu lassen und seine Pistole zu ziehen. Ein paar Ausbrecher abzuknallen. Seine Quote zu erfüllen. Warum nicht, da um ihn her ohnehin alles in Trümmer fiel?

Underhill - deswegen nicht. Owen Underhill steckte auf irgendeine Weise hinter diesem GAU. Das wusste Kurtz so genau, wie er seinen eigenen Namen wusste. Das hier stank förmlich nach Grenzüberschreitung, und Grenzüberschreitung war Owen Underhills Spezialgebiet.

Weiter Schießerei in Gosselins Büro ... Schmerzensschreie ... dann Triumphgebrüll. Die computerkundigen, Evian trinkenden, Salat essenden Goten hatten ihr Ziel erreicht. Kurtz knallte die Tür des Winnebago vor diesem Anblick zu und eilte zurück in sein Schlafzimmer, um Freddy Johnson zu rufen. Er hielt immer noch den Stiefel in der Hand.

Cambry kniete hinterm Schreibtisch des alten Gosselin, als die erste Welle der Internierten hereinbrandete. Er riss alle Schubladen auf und suchte verzweifelt nach einer Waffe. Dass er keine fand, rettete ihm höchstwahrscheinlich das Leben.

»LOS! LOS! LOS!«, brüllten die Internierten. Die Rückseite des Ladens erbebte unter einem gewaltigen Schlag, wie von einem Laster gerammt. Von draußen hörte Cambry ein lautes Knistern und Brutzeln, als die ersten Internierten im Zaun landeten. Das Licht im Büro fing an zu flackern.

»Zusammenhalten, Männer!«, rief Danny O'Brian. »Um der Liebe Christi willen, haltet zu-«

Die Hintertür sprang mit solcher Wucht aus den Angeln, dass sie buchstäblich quer durch den Raum flog und dabei die ersten Männer abschirmte, die brüllend dahinter ins Zimmer stürzten. Cambry duckte sich und hielt sich die Hände über den Kopf, und die Tür landete schräg auf dem Schreibtisch, unter dem er hockte.

Der Lärm der auf automatisches Feuer gestellten Gewehre war in dem engen Raum ohrenbetäubend und übertönte sogar noch die Schreie der Verwundeten, doch trotzdem bekam Cambry mit, dass sie nicht alle feuerten. Trezewski, Udall und O'Brian schössen, aber Coleman, Everett und Ray Parsons standen nur dumm glotzend da, die Gewehre im Anschlag.

Von seiner unverhofften Zufluchtsstätte aus sah Gene Cambry die Internierten in den Raum stürmen und die ersten Männer, von Kugeln getroffen, wie Vogelscheuchen umkippen; er sah ihr Blut an die Wände und auf die Bohnenessen-Ankündigungen und Arbeitsschutzrichtlinien spritzen. Er sah George Udall sein Gewehr zwei massigen jungen Männern in Orange entgegenschleudern, dann herumwirbeln und zu einem der Fenster stürzen. George wäre fast entkommen und wurde dann zurückgerissen; ein Mann, der auf der Wange einen muttermalförmigen Ripleyfleck hatte, schlug seine Zähne in Georges Wade, als wäre sie ein Putenschenkel; und ein anderer Mann stellte den kreischenden Kopf an Georges anderem Ende ruhig, indem er ihn einmal kurz nach links riss. Die Luft war zwar blau vor Pulverdampf, aber Cambry sah, wie AI Coleman sein Gewehr wegwarf und in den Sprechchor einstimmte — »Los! Los! Los!« Und er sah, wie Ray Parsons, normalerweise eine Seele von Mensch, sein Gewehr auf Danny O'Brian richtete und ihm das Hirn rauspustete.

Jetzt war alles ganz einfach. Jetzt hieß es nur noch: Infizierte gegen Immune.

Der Schreibtisch wurde an die Wand gerammt. Die Tür fiel auf Cambry, und ehe er aufstehen konnte, liefen Menschen darüber und quetschten ihn ein. Er kam sich wie ein Cowboy vor, der vom Pferd zwischen fliehende Rinder gefallen war. Ihr zerquetscht mich, dachte er, und dann war die mörderische Last für einen Moment von ihm genommen. Er kämpfte sich unter Einsatz aller Kräfte auf die Knie, die Tür rutschte nach links von ihm herunter, und er bekam zum guten Schluss noch einen sehr schmerzhaften Hüftstoß mit dem Türknauf ab. Jemand verpasste ihm im Vorbeigehen einen Tritt in die Rippen, ein Stiefel schrammte an seinem rechten Ohr entlang, und dann stand er. Die Luft im Zimmer war voller Rauch und Geschrei. Vier oder fünf stämmige Jäger wurden auf den Holzofen geschleudert, der von seinem Ofenrohr riss, krachend umstürzte und dabei brennende Ahornscheite auf den Boden warf. Geldscheine und Spielkarten fingen Feuer. Der Gestank schmelzender Plastik-Pokerchips breitete sich aus. Das waren Rays, fiel Cambry ein. Die hatte er auch am Golf mit dabei. Und in Bosnien.

Niemand beachtete ihn in dem Tohuwabohu. Die ausbrechenden Internierten mussten nicht durch die Tür zwischen Büro und Laden; sie hatten die ganze dünne Wand dazwi-sehen eingerissen. Und deren Bruchstücke entflammten sich enfalls am umgekippten Ofen.

»Los«, murmelte Gene Cambry. »Los.« Er sah Ray Par-sons mit den anderen zur Front des Ladens laufen, und Howie Everett folgte ebenfalls. Er schnappte sich eine Tüte Brot, als er durch den Mittelflur zum Haupteingang lief.

Ein dürrer Alter, der eine mit Troddeln verzierte Mütze und einen dicken Mantel trug, wurde bäuchlings auf den umgestürzten Ofen gestoßen und dann platt getrampelt. Cambry hörte seine kreischenden Schreie, als sein Gesicht auf dem Metall auftraf und zu schmoren begann.

Hörte sie und spürte sie auch.

»Los!«, rief Cambry und reihte sich in den großen Zug ein. »Los!«

Er hechtete über die aus dem Ofen schlagenden Flammen und lief los, ging mit seinem kleinen Geist in diesem großen Gedankenstrom auf.

Damit war die Operation Blue Boy praktisch beendet.

11

Nach drei Vierteln der Strecke quer über die Koppel blieb Henry stehen, rang nach Luft und hielt sich die pochende Brust. Hinter ihm lief das Westentaschen-Armageddon ab, das er ausgelöst hatte; und vor sich sah er nichts als Dunkelheit. Der Scheiß-Underhill war ihm weggelaufen, hatte -Ganz ruhig, mein Lieber - ganz ruhig.

Zweimal blitzten Lichter auf. Henry hatte in die falsche Richtung geguckt, das war alles; Owen wartete ein wenig links ab von der Südwestecke der Koppel. Jetzt sah Henry den kastenförmigen Umriss des Schneemobils ganz deutlich. Hinter ihm ertönten Schreie, Rufe, Befehlsgebrüll, Schüsse. Aber nicht so viele Schüsse, wie er erwartet hatte, doch es blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Beeil dich!, rief Owen. Wir müssen hier weg!

Ich komme so schnell ich kann. Warte.

Henry setzte sich wieder in Bewegung. Die Wirkung von Owens Wunderpillen ließ allmählich nach, und die Füße wurden ihm schwer. Sein Oberschenkel juckte unerträglich, und sein Mund auch. Er spürte, wie ihm das Zeug über die Zunge kroch. Es war wie das Sprudeln einer Limonade, das einfach nicht mehr aufhören wollte.

Owen hatte den Elektro- und den Stacheldraht gekappt. Jetzt stand er vor dem Schneemobil (es war in der Tarnfarbe Weiß lackiert, und insofern war es wirklich kein Wunder, dass Henry es nicht gesehen hatte), ein automatisches Gewehr mit dem Schaft auf der Hüfte aufgestützt, und schaute sich hektisch um. Die diversen Scheinwerfer sorgten dafür, dass er ein halbes Dutzend Schatten warf; sie gingen von seinen Stiefeln aus wie irrlichternde Uhrzeiger.

Owen packte Henry an der Schulter. Bist du okay?

Henry nickte. Als Owen ihn in Richtung Schneemobil zog, gab es eine laute, schrille Explosion, als wäre der weltgrößte Karabiner abgefeuert worden. Henry duckte sich, stolperte über seine eigenen Füße und wäre hingefallen, hätte Owen ihn nicht festgehalten.

Was -?

Propangas. Vielleicht auch Benzin. Schau.

Owen packte ihn an der Schulter und drehte ihn um. Henry sah eine riesige Feuersäule in die Nacht aufsteigen. Trümmer des Ladens - Bretter, Dachschindeln, glühende Cornflakespackungen, brennende Klopapierrollen - flogen in die Luft. Einige Soldaten sahen dem fasziniert zu. Andere liefen in den Wald. Um die Ausbrecher zu verfolgen, nahm Henry an, aber er hörte ihre Panik in seinem Kopf- Los.' Lauf! Los! Lauf! - und konnte es einfach nicht glauben. Später, als er Zeit hatte, darüber nachzudenken, verstand er, dass auch viele der Soldaten geflohen waren. In diesem Moment aber verstand er nichts. Es geschah alles viel zu schnell.

Owen drehte ihn wieder um und schob ihn auf den Beifahrersitz des Schneemobils, an einer herabhängenden Plane vorbei, die sehr nach Motoröl roch. Es war schön warm in der Fahrerkabine. Aus einem Funkgerät, das an das einfache Armaturenbrett geschraubt war, schnatterte und quakte es. Henry verstand nichts, bekam nur mit, wie panisch die Stimmen klangen. Als er das hörte, machte es ihn unglaublich froh -so froh, wie er seit dem Nachmittag nicht mehr gewesen war, an dem sie Richie Grenadeau und seinen fiesen Kumpanen etwas Gottesfurcht gelehrt hatten. So waren auch die Leute hier bei diesem Einsatz, dachte Henry: eine Bande

inzwischen erwachsener Richie Grenadeaus, die jetzt mit Gewehren statt mit getrockneter Hundekacke bewaffnet waren.

Da war etwas zwischen den Sitzen, ein Kasten mit zwei blinkenden gelben Lämpchen. Als sich Henry neugierig darüber beugte, schlug Owen die Plane neben dem Fahrersitz beiseite und schwang sich ans Steuer des Schneemobils. Er atmete heftig und schaute lächelnd zu dem brennenden Laden hinüber.

»Sei vorsichtig damit, Bruder«, sagte er. »Pass mit den Knöpfen auf.«

Henry nahm die Schachtel, die etwa die Ausmaße von Duddits geliebter Scooby-Doo-Lunchbox hatte. Die Knöpfe befanden sich unter den blinkenden Lämpchen. »Was ist das?«

Owen drehte den Zündschlüssel um, und der noch warme Motor des Schneemobils sprang augenblicklich an. Mit einem langen Knüppel legte Owen jetzt einen Gang ein. Er lächelte immer noch. In dem hellen Licht, das durch die Windschutzscheibe drang, sah Henry, dass unter den Augen des Mannes eine rötlich orangefarbene Spur Byrus wuchs wie Mascara. Und es wuchs ihm auch in den Augenbrauen.

»Viel zu hell hier«, sagte er. »Wir werden das mal ein bisschen dimmen.« Er wendete das Schneemobil erstaunlich flott. Es war wendig wie ein Motorboot. Henry wurde in seinen Sitz gedrückt. Die Schachtel mit den blinkenden Lämp-chen hielt er auf dem Schoß. In seiner gegenwärtigen Verfassung hätte er nichts dagegen gehabt, die nächsten fünf Jahre nicht mehr zu Fuß gehen zu müssen.

Owen schaute ihn kurz an, während er das Schneemobil auf die Swanny Poud Road zusteuerte, die jetzt nicht mehr als ein Graben zwischen Schneewällen war. »Du hast es geschafft«, sagte er. »Ich hatte meine Zweifel, dass du das hinkriegst, das gebe ich offen zu, aber du hast es echt durchgezogen. «

»Ich hab's dir doch gesagt: Ich bin ein Meister im Motivieren. « Und außerdem, sandte er, werden die meisten von ihnen so oder so sterben.

Egal. Du hast ihnen zu einer Chance verhelfen. Und jetzt

Weitere Schüsse ertönten, aber erst als eine Kugel an dem Blech genau über ihren Köpfen entlangpfiff, wurde Henry bewusst, dass sie das Ziel waren. Mit lautem Klirren prallte eine weitere Kugel von einer Kette des Schneemobils ab, und Henry duckte sich ... als ob das irgendwas nützen würde.

Immer noch lächelnd, wies Owen mit der behandschuhten Hand nach rechts. Henry spähte in diese Richtung, und zwei weitere Kugeln prallten von der gedrungenen Karosserie des Schneemobils ab. Henry zuckte beide Male zusammen; Owen schien es nicht einmal zu bemerken.

Henry sah eine Siedlung aus Wohncontainern, einige mit Markennamen wie Sysco und Scott Paper drauf. Vor diesen Containern stand eine Caravan-Kolonie, und vor dem größten, einem Winnebago, der Henry wie eine Villa auf Rädern vorkam, standen sechs oder sieben Männer und feuerten auf das Schneemobil. Und dafür, dass sie so weit weg waren, der Wind immer noch heftig pfiff und immer noch schweres Schneetreiben herrschte, trafen sie viel zu oft. Andere Männer, manche nur teilweise bekleidet (ein bulliger Typ kam mit nackter Brust, die auch einem Comic-Superhelden gut angestanden hätte, durch den Schnee gesprintet), gesellten sich zu der Gruppe. In ihrer Mitte stand ein großer Mann mit grauem Haar. Neben ihm stand ein stämmigerer, rothaariger Kerl. Während Henry zusah, legte der hagere Mann sein Gewehr an und feuerte, anscheinend ohne zu zielen. Ein Spanng erklang, und Henry spürte direkt vor seiner Nase ein kleines, fieses Ding vorbeizischen.

Owen lachte doch tatsächlich. »Der mit dem grauen Haar ist Kurtz. Das ist hier der Chef, und der Scheißkerl kann echt schießen.«

»Kurtz? Der heißt Kurtzl Du willst mich doch verschei-ßem.«

Weitere Kugeln prallten von den Ketten und der Karosserie des Schneemobils ab. Henry spürte noch einmal etwas durch die Fahrerkabine zischen, und plötzlich verstummte das Funkgerät. Sie entfernten sich immer weiter von den Schützen vor dem Winnebago, aber das spielte anscheinend keine Rolle. Henrys Meinung nach konnten die alle verdammt gut schießen. Es war nur eine Frage der Zeit, dass einer auch mal traf ... und doch sah Owen froh aus. Henry ging auf, dass er sich vielleicht mit jemandem eingelassen hatte, der noch selbstmordgefährdeter war als er selbst.

»Der Rothaarige ist Freddy Johnson. Die Musketiere sind alles Kurtz' Jungs, die ursprünglich - hupps, pass auf!«

Ein weiteres Spanng, wieder eine summende Stahlbiene -diesmal zwischen ihnen -, und plötzlich war der Knauf des Kupplungshebels verschwunden. Owen brach in Gelächter aus. »Kurtz!«, rief er. »Darauf wette ich! Drei Jahre übers vorgeschriebene Pensionsalter hinaus, und er schießt immer noch wie Annie Oakley!« Er schlug mit der Faust auf den Steuerknüppel. »Aber jetzt reicht's. Jetzt ist Schluss mit lustig. Knips ihnen die Lichter aus, mein Lieber.«

»Ha?«

Immer noch grinsend, wies Owen mit dem Daumen auf

die Schachtel mit den gelb blinkenden Lämpchen. Die By-rus-Streifen unter seinen Augen kamen Henry jetzt wie Kriegsbemalung vor. »Drück auf die Knöpfe, Alter. Drück auf die Knöpfe, dann wird's zappendüster.«

12

Plötzlich - alles geschah jetzt so plötzlich wie von Zauberhand - war die ganze Welt verschwunden, und Kurtz drang in andere Regionen vor. Das Kreischen des Sturms, das Schneegestöber, das Sirenengeheul, das Dröhnen der Alarmhupe: Das gab es alles nicht mehr. Kurtz merkte nicht mehr, dass Freddy Johnson neben ihm stand und sich die übrigen Imperial Valleys um sie versammelt hatten. Er konzentrierte sich einzig und allein auf das davonbrausende Schneemobil. Er konnte Owen Underhill auf dem linken Sitz sehen, durchs Stahlblech der Fahrerkabine hindurch konnte er ihn sehen, als besäße er, Abe Kurtz, mit einem Mal Supermans Röntgenblick. Sie waren schon weit weg, aber das spielte keine Rolle. Die nächste Kugel, die er abfeuerte, würde Owen Underhill genau in seinen verräterischen, Grenzen überschreitenden Kopf treffen. Er hob das Gewehr, legte an -

Zwei Explosionen zerrissen die Nacht, eine nah genug, um Kurtz und seine Männer mit ihrer Druckwelle umzuwerfen. Ein Wohncontainer mit dem Aufdruck intel in-side hob sich in die Luft, kippte und landete auf dem Spago's, der Feldküche. »Ach du Scheiße!«, rief einer der Männer.

Nicht alle Lichter erloschen - eine halbe Stunde war nicht viel Zeit gewesen, und Owen hatte nur zwei der Generatoren mit Thermit-Ladungen versehen können (wobei er die ganze Zeit »Banbury Cross, Banbury Cross, auf einem Steckenpferd nach Banbury Cross« vor sich hin gemurmelt hat-te), aber plötzlich wurde das fliehende Schneemobil von einer von Flammen durchzuckten Dunkelheit verschluckt, und Kurtz warf sein Gewehr in den Schnee, ohne dass er geschossen hatte.

»Nicht zu fassen«, sagte er tonlos. »Feuer einstellen. Feuer einstellen, ihr Nieten. Hört sofort auf. Rein. Alle, bis auf Freddy. Und betet zu Gott, dem allmächtigen Vater, dass ihr den Kopf noch einmal aus der Schlinge ziehen dürft. Kommen Sie her, Freddy. Ein bisschen lebhaft, bitte.«

Die anderen, fast ein Dutzend, marschierten die Eingangstreppe des Winnebago hoch und schauten dabei beklommen zu den brennenden Generatoren und dem in Flammen stehenden Küchenzelt hinüber (das Intendanturzelt nebenan fing schon Feuer, und das Krankenrevier und die Leichenhalle waren als Nächste dran). Die Hälfte der Scheinwerfer im Lager war erloschen.

Kurtz legte Freddy Johnson einen Arm um die Schultern und ging mit ihm zwanzig Schritte hinaus in den Schnee, den der Sturm jetzt schleierförmig wie zu geheimnisvollen Dampfschwaden aufgewirbelt. Direkt vor den beiden Männern brannte Gosselin's - oder was noch davon übrig war -lichterloh. Der Kuhstall hatte bereits Feuer gefangen. Die aufgebrochenen Tore standen weit offen.

»Freddy, lieben Sie Jesus? Sagen Sie mir die Wahrheit.«

Freddy kannte das schon. Es war ein Mantra. Der Boss versuchte einen klaren Kopf zu bekommen.

»Ich liebe ihn, Boss.«

»Schwören Sie das?« Kurtz blickte sehr gespannt. Sah aber wahrscheinlich eher durch ihn hindurch. Plante schon voraus, wenn man denn von solchen instinktgeleiteten Wesen überhaupt behaupten konnte, dass sie etwas planten. »Wenn Ihnen bei einer Lüge der ewige Höllenpfuhl droht?« »Ich schwöre es.«

»Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?«

»Ja, Boss.«

»Mehr als die Gruppe? Mehr als den Dienst an der Waffe?« Eine Pause. »Mehr, als Sie mich lieben?«

Das waren Fragen, auf die man nicht die falschen Antworten geben wollte, wenn einem noch was am Leben lag. Aber es waren zum Glück keine schwierigen Fragen. »Nein, Boss.« »Keine Telepathie mehr, Freddy?«

»Ich hatte da was - ich weiß nicht, ob es wirklich Telepathie war. Ich habe Stimmen gehört -«

Kurtz nickte. Flammen, rotgolden wie der Ripley-Pilz, schlugen aus dem Stalldach.

»- aber das ist jetzt weg.«

»Noch jemand aus der Gruppe?«

»Imperial Valley, meinen Sie?« Freddy machte eine Kopfbewegung in Richtung Winnebago.

»Wen soll ich denn sonst meinen? Firehouse Five Plus Two? Natürlich die!«

»Die sind sauber, Boss.«

»Das ist gut, aber es ist auch schlecht. Freddy, wir brauchen ein paar Infizierte. Und wenn ich wir sage, dann meine ich Sie und mich. Ich brauche Leute, denen diese rote Scheiße schon zu den Ohren rauskommt, verstanden?«

»Ja.« Freddy verstand bloß nicht, warum, aber das war im Moment egal. Er konnte förmlich zusehen, wie Kurtz seinen Plan entwickelte, und das war für ihn eine große Erleichterung. Wenn Freddy etwas wissen musste, würde Kurtz es ihm schon sagen. Freddy schaute beklommen zu dem lodernden Laden, dem lodernden Kuhstall, der lodernden Feldküche hinüber. Die Lage war komplett fürn Arsch.

Nein, das stimmte nicht. Nicht, wenn Kurtz einen Plan hatte.

»Daran ist vor allem diese verdammte Telepathie schuld«, meinte Kurtz grüblerisch. »Aber die Telepathie hat es nicht ausgelöst. Das war eine normale menschliche Schweinerei.

Wer hat Jesus verraten, Freddy? Wer hat ihm den Verräterkuss gegeben?«

Freddy hatte die Bibel gelesen, und das vor allem, weil Kurtz ihm eine geschenkt hatte. »Judas Iskariot, Boss.«

Kurtz nickte bedeutungsvoll. Seine Augen schweiften umher, tabellarisierten die Zerstörungen, kalkulierten die Reaktionsmöglichkeiten, die der Sturm sehr einschränkte. »Das stimmt, Bursche. Judas hat Jesus verraten, und Owen Philip Underhill hat uns verraten. Judas hat dafür dreißig Silberstücke bekommen. Kein toller Lohn, finden Sie nicht auch?«

»Nein, Boss.« Bei der Antwort wandte er sich etwas von Kurtz ab, weil eben in der Intendantur etwas explodiert war. Eine stählerne Fland packte ihn an der Schulter und drehte ihn wieder um. Kurtz1 Augen waren weit aufgerissen und loderten. Mit den weißen Wimpern sahen sie aus wie die Augen eines Gespenstes.

»Schaun Sie mich an, wenn ich mit Ihnen rede«, sagte Kurtz. »Und hören Sie mir zu, wenn ich mit Ihnen rede.« Kurtz legte die freie Fland auf den Griff seiner Pistole. »Oder ich verteile Ihre Eingeweide im Schnee. Das ist eine schwierige Nacht für mich. Machen Sie es mir nicht noch schwerer, Sie Hund! Haben Sie mich verstanden? Haben Sie das jetzt endlich gefressen?«

Johnson war eigentlich ein tapferer Mann, aber jetzt war er nur noch ganz klein mit Flut. »Ja, Boss, entschuldigen Sie bitte.«

»Entschuldigung angenommen. Gott liebt und vergibt, und so wollen wir's auch halten. Ich weiß zwar nicht, wie viele Silberstücke Owen bekommen hat, aber das eine kann ich Ihnen sagen: Wir werden ihn kriegen, und dann reißen wir dem Jungen dermaßen den Arsch auf, dass es sich gewaschen hat. Sind Sie dabei?«

»Ja.« Nichts wollte Freddy sehnlicher, als den Menschen zu finden, der seine ehedem geordnete Welt auf den Kopf gestellt hatte, und ihn dann so richtig fertig machen. »Wie viel davon ist wohl Owens Schuld, Boss?«

»Für mich reicht's«, sagte Kurtz gleichmütig. »Ich habe so das Gefühl, dass mein Abgang nun endlich bevorsteht, Freddy

»Nein, Boss.«

»- aber ich werde nicht allein abtreten.« Den Arm immer noch um Freddys Schultern gelegt, führte Kurtz seinen neuen Stellvertreter zurück zum Winnebago. Gedrungene, erlöschende Feuersäulen markierten die brennenden Generatoren. Das hatte Underhill getan, einer von Kurtz' Jungs. Freddy konnte es noch kaum fassen, aber trotzdem kam er allmählich in Brass. Wie viele Silberstücke, Owen? Wie viele haben Sie gekriegt, Sie Verräter?

Kurtz blieb vor der Eingangstreppe stehen.

»Wer von denen soll das Aufspüren und Vernichten leiten, Freddy?«

»Gallagher, Boss.«

»Kate?«

»Ja, genau.«

»Ist sie Kannibale, Freddy? Die Person, der wir die Leitung übertragen, muss Kannibale sein.«

»Sie isst sie roh mit Krautsalat, Boss.«

»Gut«, sagte Kurtz. »Denn das hier wird haarig. Ich brauche zwei Ripley-Positive, am besten Blue-Boy-Jungs. Die übrigen ... wie die Tiere, Freddy. Imperial Valley hat jetzt den Auftrag, aufzuspüren und zu vernichten. Gallagher und die anderen sollen so viele wie möglich zur Strecke bringen. Soldaten und Zivilisten. Von jetzt ab bis morgen zwölf Uhr ist Essenszeit. Anschließend soll dann jeder sehen, wo er bleibt. Das gilt nur nicht für uns, Freddy.« Das Licht der Flammen überzog Kurtz' Gesicht mit Byrus, verwandelte seine Augen in Wieselaugen. »Wir werden Owen Underhill zur Strecke bringen und ihn lehren, den Herrn zu lieben.«

Kurtz eilte die Eingangstreppe des Winnebago hoch, auf dem festgetrampelten, glatten Schnee sicher wie eine Bergziege. Freddy Johnson folgte ihm.

13

Das Schneemobil rutschte so schnell die Böschung zur Swanny Pond Road hinab, dass Henry ein flaues Gefühl im Magen bekam. Dann schleuderte es herum und rauschte in südliche Richtung davon. Owen betätigte die Kupplung und schaltete in den höchsten Gang. Angesichts der Schnee-Galaxien, die ihnen auf der Windschutzscheibe entgegenströmten, hatte Henry den Eindruck, sie würden sich mit Mach eins fortbewegen. In Wirklichkeit waren es wohl eher fünfzig Stundenkilometer. Das würde sie zwar von Gosselin's wegbringen, aber er hatte so das Gefühl, dass sich Jonesy viel schneller fortbewegte.

Highway voraus?, fragte Owen. Stimmt's?

Ja. Noch etwa vier Meilen.

Da müssen wir das Fahrzeug wechseln.

Niemand wird verletzt, wenn es nicht sein muss. Und umgebracht wird auch keiner.

Henry ... ich weiß nicht, wie ich dir das beibringen soll, aber wir sind hier nicht beim High-School-Basketball.

»Es wird niemand verletzt. Und es wird niemand umgebracht. Zumindest nicht, wenn wir das Fahrzeug wechseln. Stimme dem zu, oder ich werfe mich auf der Stelle hier aus der Tür.«

Owen schaute kurz zu ihm hinüber. »Das würdest du tun, nicht wahr? Und drauf scheißen, was dein Freund mit dem ganzen Planeten vorhat.«

»Mein Freund trägt keine Schuld daran. Er ist entführt worden.«

»Also gut. Niemand wird verletzt, wenn wir das Fahrzeug wechseln. Wenn es nicht sein muss. Und keiner wird umgebracht. Höchstens wir beide. Also: wohin fahren wir?«

Nach Derry.

Da ist er? Der letzte überlebende Außerirdische?

Ich glaube schon. Und ich habe einen Freund in Derry, der uns helfen kann. Er sieht die Linie.

Linie? Was für eine Linie?

»Vergiss es«, sagte Henry und dachte: Das ist zu kompliziert.

»Was soll das heißen - kompliziert? Und: Kein Prall, kein Spiel - was bedeutet das?«

Das erklär ich dir, wenn wir nach Süden fahren. Falls ich das kann.

Das Schneemobil fuhr in Richtung Interstate Highway, eine Kapsel hinter strahlenden Lichtern.

»Sag mir noch mal, was wir tun werden«, bat Owen.

»Die Welt retten.«

»Und sag mir, was wir dann sind. Ich muss es hören.«

»Dann sind wir Helden«, sagte Henry. Dann lehnte er den Kopf nach hinten und schloss die Augen. Binnen Sekunden war er eingeschlafen.

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