TEIL I KREBS

Das Zittern hält mich ruhig. Ich sollte es wissen. Was abfällt, ist ewig. Und ist nahe.

Ich erwache, um zu schlafen, und nehm mir zum Erwachen Zeit. Gehend lerne ich, wohin ich gehen muss.

THEODORE ROETHKE

KAPITEL I McCarthy


Jonesy hätte den Typ fast erschossen, als er aus dem Wald kam. Wie knapp war es? Noch ein Pfund Druck auf den Abzug des Garand, vielleicht auch nur ein halbes Pfund. Später, mit der Hellsichtigkeit, die manchmal auf das Entsetzen folgt, wünschte er, er hätte geschossen, bevor er die orangefarbene Mütze und Warnweste sah. Richard McCarthy umzubringen hätte nicht schaden können; es wäre sogar gut gewesen. Es hätte sie alle retten können, hätte er McCarthy erschossen.

Pete und Henry waren zu Gosselin's Market gefahren, dem nächsten Laden, um ihre Vorräte an Brot, Dosengerichten und Bier aufzustocken, den Grundnahrungsmitteln also. Sie hatten noch reichlich für zwei Tage, aber im Radio hieß es, es würde bald schneien. Henry hatte seinen Hirsch schon erlegt, eine große Hirschkuh, und Jonesy hatte so das Gefühl, dass sich Pete eher für ihren Biervorrat interessierte als dafür, selbst einen Hirsch zu schießen. Für Pete Moore war die Jagd ein Hobby, Bier aber eine Religion. Der Biber war irgendwo dort draußen, und da Jonesy im Umkreis von fünf Meilen keinen Gewehrschuss gehört hatte, nahm er an, dass der Biber, genau wie er selbst, noch auf der Lauer lag.

Gut siebzig Meter von ihrem Camp entfernt gab es in einem alten Ahornbaum einen Hochsitz, und dort saß Jonesy, trank Kaffee und las einen Krimi von Robert B. Parker, als er etwas sich nähern hörte und das Buch und die Thermoskanne beiseite legte. In anderen Jahren hätte er vielleicht vor Aufregung den Kaffee verschüttet, aber diesmal nicht. Diesmal nahm er sich sogar noch die paar Sekunden Zeit, den knallroten Verschluss der Thermoskanne zuzuschrauben.

Die vier kamen seit sechsundzwanzig Jahren in der ersten Novemberwoche zur Jagd hier herauf, wenn man die Male mitzählte, die Bibers Dad sie mitgenommen hatte, und Jonesy hatte sich nie um diesen Hochsitz im Baum geschert. Niemand hatte sich dafür interessiert; es war einfach zu beengt dort. Doch in diesem Jahr war es Jonesys Lieblingsplatz geworden. Die anderen dachten, sie wüssten, warum, aber sie wussten nur die Hälfte.

Mitte März 2001 war Jonesy von einem Auto angefahren worden, als er in Cambridge über die Straße ging, ganz in der Nähe des Emerson College, wo er unterrichtete. Er hatte sich einen Schädelbruch zugezogen, sich zwei Rippen gebrochen und die Hüfte zertrümmert, die mit einer exotischen Mischung aus Teflon und Metall ersetzt worden war. Der Mann, der ihn angefahren hatte, ein emeritierter Geschichtsprofessor der Boston University, litt — zumindest laut seines Anwalts - an einer Frühform von Alzheimer und verdiente eher Mitleid als Strafe. Allzu oft, dachte Jonesy, hatte niemand Schuld, wenn sich der Staub einmal gelegt hatte. Und selbst wenn, was nützte es? Man musste trotzdem mit dem leben, was übrig blieb, und sich damit trösten, dass es, wie ihm die Leute tagein, tagaus sagten (bis sie die ganze Sache vergaßen), viel schlimmer hätte kommen können.

Und das hätte es tatsächlich. Er hatte einen sprichwörtlichen Dickschädel, und der Bruch heilte. Er konnte sich zwar an die Stunde vor dem Unfall in der Nähe des Harvard Hirnkasten nichts passiert. Seine Rippen heilten binnen eines Monats. Am schlimmsten war es mit der Hüfte, aber im Oktober brauchte er schon keine Krücken mehr, und nennenswert humpelte er meist erst gegen Abend.

Pete, Henry und der Biber dachten, er würde wegen seiner Hüfte und nur seiner Hüfte wegen den Hochsitz im Baum dem feuchten, kalten Waldboden vorziehen, und sicherlich spielte seine Hüfte dabei auch eine Rolle, bloß eben nicht die einzige. Er hatte ihnen verschwiegen, dass er kaum noch Lust hatte, einen Hirsch zu schießen. Sie hätten es nicht fassen können. Ja, es bestürzte Jonesy auch selbst. Aber da war etwas Neues in sein Leben getreten, womit er nie gerechnet hatte, bis sie am elften November hier heraufgekommen waren und er sein Gewehr ausgepackt hatte. Er fand den Gedanken zu jagen nicht abstoßend, nein, ganz und gar nicht; er verspürte bloß überhaupt kein Bedürfnis danach. Der Tod hatte ihn an einem sonnigen Märztag gestreift, und Jonesy wollte das nicht noch einmal erleben, auch wenn er hier eher austeilte als einsteckte.

Es wunderte ihn schon, dass ihm der Aufenthalt im Camp immer noch gefiel, in mancher Hinsicht sogar besser als früher. Die Nächte durchzuquatschen - über Bücher und Politik und Kram aus ihrer Kindheit und ihre Zukunftspläne. Sie waren noch keine vierzig, noch jung genug, um Pläne zu haben, sogar viele Pläne, und die alten Bande waren noch stark.

Und auch die Tage waren schön - die Stunden auf dem Hochsitz, wenn er ganz alleine war. Er nahm einen Schlafsack mit und schlüpfte bis zur Taille hinein, wenn ihm kalt wurde, hatte ein Buch und einen Walkman dabei. Nach dem ersten Tag hatte er aufgehört, Kassetten zu hören, und hatte bemerkt, dass ihm die Musik des Waldes besser gefiel - das seidige Rauschen des Winds in den Kieferbäumen, der rostige Ruf der Krähen. Er las ein wenig, trank Kaffee, las dann wieder ein bisschen, kämpfte sich manchmal aus dem Schlafsack (der so rot wie ein Bremslicht war) und pinkelte vom Hochsitz hinab. Er war ein Mann mit einer großen Familie und einem großen Kollegenkreis, ein geselliger Mensch, der die vielfältigen Beziehungen genoss, die ihm Familie, Kollegen (und Studenten natürlich, dieser unerschöpfliche Strom von Studenten) boten und der es allen recht machen konnte. Und erst hier draußen und hier oben merkte er, dass die Stille durchaus auch noch ihren Reiz hatte, und zwar einen starken. Es war, als würde man nach langer Trennung einem alten Freund wieder begegnen.

»Bist du sicher, dass du da rauf willst?«, hatte ihn Henry gestern Morgen gefragt. »Du bist auch herzlich eingeladen, mit mir auf die Pirsch zu gehen. Wir werden dein Bein auch nicht überanstrengen — versprochen.«

»Lass ihn«, hatte Pete gesagt. »Er ist gern da oben. Nicht wahr, Jones-Boy?«

»Irgendwie schon«, hatte er geantwortet, nicht willens, mehr zu sagen - wie sehr er es in Wirklichkeit genoss, zum Beispiel. Manches wagte man selbst seinen besten Freunden nicht anzuvertrauen. Und manches wussten die besten Freunde ja ohnehin.

»Ich sag dir was«, hatte der Biber gesagt. Er nahm einen Bleistift, steckte ihn sich in den Mund und nagte daran herum - seine älteste, liebste Angewohnheit schon seit der ersten Klasse. »Ich mag es, wenn ich wiederkomme und du da oben bist — wie ein Matrose im Mastkorb in einem dieser blöden Hornblower-Bücher. Du hältst Ausschau.«

»Schiff ahoi!«, hatte Jonesy gesagt, und sie hatten alle gelacht, und Jonesy wusste, was der Biber damit meinte. Er spürte es. Ausschau halten. Einfach nur seinen Gedanken nachhängen und Ausschau halten - nach Schiffen oder Haifischen oder was sonst auch immer. Die Hüfte tat ihm weh, wenn er hinunterstieg, der Rucksack mit seinem Kram drin lastete ihm schwer auf dem Rücken, und er kam sich lahm und unbeholfen vor auf den hölzernen Sprossen, die an den Stamm des Ahornbaums genagelt waren, aber das war schon okay. Nein, sogar gut so. Alles änderte sich, und es wäre Blödsinn zu glauben, dass alles immer nur schlimmer wurde. Das dachte er zumindest damals.

Als er das Rascheln im Gebüsch hörte und das leise Knacken eines Zweigs - Geräusche, die fraglos von einem sich nähernden Hirsch stammten -, fiel Jonesy etwas ein, das sein Vater oft gesagt hatte: Man kann sein Glück nicht zwingen. Lindsay Jones war einer dieser ewigen Verlierer gewesen und hatte wenig gesagt, was es wert gewesen wäre, sich zu merken, aber das war so ein Satz, und hier war schon der Beweis: Nur Tage nachdem er beschlossen hatte, ein für alle Mal mit der Hirschjagd Schluss zu machen, lief ihm da einer direkt vor die Flinte, und den Geräuschen nach sogar ein kapitaler, bestimmt ein Bock, vielleicht so groß wie ein Mensch.

Dass es ein Mensch hätte sein können, wäre Jonesy nie in den Sinn gekommen. Sie waren hier mitten in der Wildnis, fünfzig Meilen nördlich von Rangely, und die nächsten Jäger waren zwei Stunden Fußmarsch entfernt. Bis zur nächsten befestigten Straße, die schließlich zu Gosselin's Market führte (bier Köder Jagdscheine lotterielose), waren es mindestens sechzehn Meilen.

Tja, dachte er, ich hab's ja nicht direkt geschworen oder so.

Nein, einen Schwur hatte er nicht geleistet. Im nächsten November saß er vielleicht mit einer Nikon hier oben statt mit einem Garand-Gewehr, aber es war ja noch nicht nächstes Jahr, und er hatte das Gewehr griffbereit. Und einem geschenkten Hirsch wollte er nicht ins Maul schauen.

Jonesy schraubte den roten Verschluss auf die Thermoskanne und stellte sie beiseite. Dann streifte er den Schlafsack ab wie einen großen, wattierten Strumpf (und zuckte dabei zusammen, als es in der Hüfte kniff) und nahm sein Gewehr. Es war nicht mehr nötig durchzuladen und dabei dieses laute Ratschen zu erzeugen, das Hirsche so fürchteten; alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab, und die Waffe war schussbereit, sobald er sie entsichert hatte. Das tat er, als er fest auf beiden Beinen stand. Die altbekannte Aufregung stellte sich nicht ein; es war nur noch ein Rest davon geblieben: Sein Puls war gestiegen, und darüber freute er sich. Seit seinem Unfall freute er sich über jedes solcher Lebenszeichen. Es war, als gäbe es ihn nun doppelt, einmal als den, der er war, ehe er überfahren wurde, und einmal den umsichtigeren, älteren Kerl, der im Krankenhaus wieder aufgewacht war ... wenn man dieses träge, mit Drogen vollgepumpte Bewusstsein denn überhaupt Wach-Sein nennen konnte. Ab und zu hörte er immer noch eine Stimme - wessen, wusste er nicht, seine eigene war es jedenfalls nicht -, die rief: Hört auf, ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Marcy, ich will zu Marcy. Er hielt es für die Stimme des Todes; der Tod hatte ihn auf der Straße verfehlt und war ihm ins Krankenhaus gefolgt, um sein Werk zu vollenden, und der Tod hatte sich als Mann verkleidet (oder vielleicht war es auch eine Frau gewesen, das war schwer zu sagen), der oder die Schmerzen litt und nach einer gewissen Marcy rief, eigentlich aber Jonesy meinte.

Diese Idee kam und ging - wie alle wirren Gedanken, die er im Krankenhaus gehegt hatte, letztlich irgendwann verschwanden -, wirkte aber nach. Eine gewisse Umsicht blieb ihm. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie Henry ihn angerufen und ihm gesagt hatte, er solle in nächster Zeit gut auf sich aufpassen (und Henry hatte ihn auch nicht daran erinnert), aber seither passte Jonesy auf sich auf. Er war vorsichtig. Denn vielleicht lauerte dort draußen der Tod, und vielleicht rief er manchmal seinen Namen.

Doch die Vergangenheit war vergangen. Er hatte seinen Zusammenstoß mit dem Tod überlebt, und heute Morgen würde hier niemand sterben, höchstens ein Hirsch (ein Bock, hoffte er), der sich verlaufen hatte.

Das Rascheln im Gebüsch und das Knacken der Zweige kam aus Südwesten, was bedeutete, dass er nicht am Stamm des Ahorns vorbeischießen musste - gut - und gegen den Wind stand - noch besser. Der Ahorn hatte sein Laub größtenteils abgeworfen, und durch das Astwerk hatte Jonesy eine gute, wenn auch nicht perfekte Sicht. Jonesy hob das Garand, setzte es an und machte sich bereit, etwas Gesprächsstoff zu erlegen.

Was McCarthy - zumindest vorerst - rettete, war Jonesys ernüchterte Haltung gegenüber der Jagd. Was McCarthy fast umgebracht hätte, war ein Phänomen, das George Kil-roy, ein Freund von Jonesys Vater, »Augenfieber« genannt hatte. Augenfieber, behauptete Kilroy, sei eine Abart des Jagdfiebers und wahrscheinlich die zweithäufigste Ursache für Jagdunfälle. »Die häufigste ist der Suff«, sagte George Kilroy ... und wie Jonesys Vater verstand auch Kilroy einiges von diesem Thema ... »Die häufigste ist immer der Suff.«

Laut Kilroy waren Leute, die an Augenfieber litten, immer ganz erstaunt, wenn sie feststellen mussten, dass sie auf einen Zaunpfahl geschossen hatten oder auf ein vorbeifahrendes Auto oder auf die Längsseite einer Scheune oder ihren eigenen Jagdkumpan (und das waren oft die Frauen, Geschwister oder Kinder). »Aber ich habe es doch gesehen«, protestierten sie dann, und die meisten von ihnen hätten, laut Kilroy, auch einen Lügendetektortest bestanden. Sie hatten den Hirsch oder Bär oder Wolf gesehen oder auch das Waldhuhn, das durchs hohe Herbstgras flatterte. Sie hatten es gesehen.

In Wirklichkeit wollten diese Jäger, laut Kilroy, den Schuss um jeden Preis abfeuern, es so oder so endlich hinter sich bringen. Dieses Verlangen wurde so übermächtig, dass das Hirn dem Auge vorgaukelte, es würde etwas sehen, was noch gar nicht sichtbar war - nur um endlich die Anspannung zu lösen. Das war Augenfieber. Und obwohl sich Jone-sy keiner ungewöhnlichen Aufregung bewusst war - seine Hand war vollkommen ruhig gewesen, als er den roten Verschluss auf die Thermoskanne geschraubt hatte -, musste er sich später eingestehen, vielleicht durchaus diesem Leiden anheim gefallen zu sein.

Für einen Moment sah er den Hirschbock ganz deutlich am anderen Ende des Tunnels, den die verschlungenen Äste bildeten - so deutlich, wie er jeden der sechzehn Hirsche (sechs Böcke, zehn Kühe) gesehen hatte, die er im Laufe der Jahre hier erlegt hatte. Er sah seinen braunen Kopf, ein dunkles, fast samtschwarzes Auge, ja sogar einen Teil des Geweihs.

Jetzt schieß!, schrie etwas in ihm - das war der Jonesy von vor dem Unfall, der intakte Jonesy. Er hatte seit knapp einem Monat häufiger zu ihm gesprochen, während er allmählich einen mythischen Zustand erreichte, den Leute, die nie überfahren worden waren, ungeniert als »völlige Genesung« bezeichneten, aber nie zuvor hatte er so laut gesprochen. Es war förmlich ein Befehl gewesen, ein gebrüllter Befehl.

Und sein Finger spannte sich tatsächlich um den Abzug. Er setzte nie dieses letzte Pfund Druck ein (vielleicht wäre auch nur ein halbes nötig gewesen, lumpige 250 Gramm), aber er spannte sich durchaus. Die Stimme, die ihn nun aufhielt, stammte von dem zweiten Jonesy, demjenigen, der im Krankenhaus aufgewacht war, benommen und Schmerzen leidend, der nichts mitbekam, außer dass jemand wollte, dass sie aufhörten, dass jemand es nicht mehr ertragen konnte -jedenfalls nicht ohne Spritze - und dass jemand zu Mar-cy wollte.

Nein, noch nicht - warte, schau hin, sagte dieser neue,

umsichtige Jonesy, und das war die Stimme, auf die er hörte. Er stand reglos da, sein Gewicht größtenteils auf sein gesundes linkes Bein verlagert, das Gewehr im Anschlag, den Lauf ganz entspannt fünfunddreißig Grad hinab in diesen Lichttunnel gerichtet.

Genau in diesem Augenblick kamen die ersten Schneeflocken aus dem weißen Himmel getrudelt, und im gleichen Moment sah Jonesy einen senkrechten, orangefarbenen Strich unter dem Kopf des Hirsches - es war, als hätte der Schnee ihn erst zum Vorschein gebracht. Für einen Moment gab sein Wahrnehmungsvermögen einfach auf, und über Kimme und Korn sah er nur noch ein Wirrwarr, wie Farben, die auf der Palette eines Malers ineinander gemischt wurden. Da war kein Hirsch mehr und kein Mensch, ja nicht einmal der Wald, sondern nur ein verwirrendes Gemenge aus Schwarz, Braun und Orange.

Dann war da noch mehr Orange, und das in einer erkennbaren Form: Es war eine Mütze, so eine mit Ohrschützern zum Herunterklappen. Touristen kauften sie für vierundvierzig Dollar bei L. L. Bean's, und innen hatten sie ein kleines Etikett mit dem Aufdruck von gewerkschaftlich

ORGANISIERTEN ARBEITERN IN DEN USA HERGESTELLT. Man bekam sie auch für sieben Dollar bei Gosselin's. Auf dem Etikett dieser Mützen stand einfach nur made in Bangladesh.

Die Mütze rückte buchstäblich alles ins, o Gott, rechte Licht: Das Braune, das er versehentlich für einen Hirschkopf gehalten hatte, war die Front eines Herrenwollmantels, das Samtschwarze der Hirschaugen war ein Mantelknopf, und das Geweih waren nur weitere Zweige - Zweige eben des Baums, auf dem er stand. Der Mann war so unklug (Jonesy brachte es nicht über sich, das Wort verrückt zu verwenden), im Wald einen braunen Mantel zu tragen, und Jonesy konnte es immer noch nicht fassen, wie er fast einen Fehler mit möglicherweise so entsetzlichen Konsequenzen hatte begehen können. Denn der Mann trug ja auch eine orangefarbene Mütze, nicht wahr? Und noch dazu eine knallorangefarbene Warnweste über seinem zugegebenermaßen unklug gewählten braunen Mantel. Der Mann war -

- war nur um ein Pfund Fingerdruck dem Tod entgangen. Vielleicht gar um weniger.

Da fuhr es ihm durch Mark und Bein und schlug ihn glatt aus seinem Leib. Für einen schrecklichen, leuchtend klaren Moment, den er nie wieder vergaß, war er weder Jonesy Nummer eins, der zuversichtliche Jonesy von vor dem Unfall, noch Jonesy Nummer zwei, der eher vorsichtige Überlebende, der sehr viel Zeit in einem lästigen Zustand körperlicher Leiden und geistiger Verwirrung zugebracht hatte. Für diesen einen Moment war er ein anderer Jonesy, eine unsichtbare Präsenz, die zu einem Jäger auf einem Hochsitz in einem Baum hochsah. Der Jäger hatte kurzes Haar, das schon grau wurde, hatte Runzeln um den Mund, Bartstoppeln auf den Wangen und wirkte insgesamt abgehärmt. Er stand kurz davor, seine Waffe abzufeuern. Schneeflocken tanzten ihm um den Kopf und ließen sich auf seinem braunen, nicht in die Hose gesteckten Flanellhemd nieder, und er war drauf und dran, einen Mann zu erschießen, der eine orangefarbene Mütze und genauso eine Warnweste trug, wie er selbst sie angelegt hätte, wäre er mit dem Biber auf die Pirsch gegangen, statt sich auf diesen Baum zu hocken.

Mit einem dumpfen Schlag fiel er in sich selbst zurück, genau wie man durchgeruckelt wird, wenn man mit dem Auto bei hohem Tempo durch ein Schlagloch fährt. Zu seinem Entsetzen bemerkte er, dass er das Garand immer noch auf den Mann dort unten gerichtet hielt, als hätte sich irgendein starrhalsiger Alligator in seinem Hinterkopf an der Idee festgebissen, der Mann im braunen Mantel sei jagdbares Wild. Und schlimmer noch, er konnte seinen Finger nicht vom Abzug lösen. Ein, zwei schreckliche Sekunden lang dachte er, er würde wirklich immer noch drücken und unweigerlich die letzten paar Gramm Druck aufbringen, die ihn vom größten Fehler seines Lebens noch trennten. Später ging ihm auf, dass zumindest das eine Illusion gewesen war, so ähnlich wie man in einem stehenden Auto das Gefühl hat, rückwärts zu rollen, wenn man im Augenwinkel neben sich ein anderes Auto sieht, das langsam vorwärts rollt.

Nein, er war einfach nur unfähig, sich zu bewegen, doch das war schlimm genug, das war die Hölle. Jonesy, du denkst zu viel, sagte Pete gern, wenn er Jonesy dabei ertappte, wie er in die Ferne starrte und dem Gespräch nicht mehr folgte, und wahrscheinlich wollte er damit sagen: Jonesy, du hast zu viel Fantasie, und das stimmte höchstwahrscheinlich. Und ganz bestimmt in dieser Situation, als er nun hier oben auf dem Baum stand, im ersten Schneefall der Saison, ihm das Haar wirr um den Kopf wehte, er den Finger am Abzug des Garand hatte - nicht weiter drückend, wie er für einen Moment befürchtet hatte, aber auch nicht entspannt -, der Mann jetzt fast direkt unter ihm, das Korn des Garand auf die orangefarbene Mütze gerichtet, das Leben des Mannes buchstäblich an einem seidenen Faden hängend, der aufgespannt war zwischen der Gewehrmündung und seinem be-mützten Kopf. Der Mann dachte vielleicht gerade daran, seinen Wagen in Zahlung zu geben oder seine Frau zu betrügen oder seiner ältesten Tochter ein Pony zu kaufen (später hatte Jonesy gute Gründe anzunehmen, dass McCarthy an nichts Derartiges gedacht hatte, aber das wusste er natürlich in diesem Augenblick nicht, als er dort im Baum stand, den Zeigefinger starr auf dem Abzug seines Gewehrs), und wusste nicht, was auch Jonesy nicht gewusst hatte, als er, seine Aktentasche in der einen Hand und eine Boston Phoenix unter dem anderen Arm, in Cambridge am Bordstein gestanden hatte, dass der Tod gleich um die Ecke lauerte, oder vielleicht gar der Tod, eine umherhuschende Gestalt, wie aus einem frühen Ingmar-Bergman-Film entsprungen, mit einer verborgenen Waffe unter den groben Falten seines Umhangs. Eine Schere vielleicht. Oder ein Skalpell.

Doch am schlimmsten war, dass der Mann nicht sterben würde, zumindest nicht auf der Stelle. Er würde hinstürzen und dort schreiend liegen, wie auch Jonesy schreiend auf der Straße gelegen hatte. Er konnte sich zwar nicht erinnern, ge-schrien zu haben, aber natürlich hatte er geschrien; man hatte es ihm erzählt, und er sah keinen Grund, daran zu zweifeln. Wahrscheinlich hatte er sich die Kehle aus dem Hals geschrien. Und was wäre, wenn der Mann im braunen Mantel und mit der orangefarbenen Warnkleidung anfangen würde, nach Marcy zu schreien? Das würde er sicherlich nicht - nicht in Wirklichkeit -, aber Jonesy würde sich vielleicht einbilden, er würde nach Marcy schreien. Wenn es denn so etwas wie Augenfieber gab - wenn er beim Anblick eines braunen Herrenmantels an einen Hirschkopf denken konnte -, dann gab es wahrscheinlich für den Gehörsinn auch etwas Entsprechendes. Einen Menschen schreien zu hören und zu wissen, dass man selbst schuld daran war - o lieber Gott, nein. Und trotzdem ließ sein Finger nicht los.

Etwas ebenso Schlichtes wie Unerwartetes löste dann schließlich seine Starre: Gut zehn Schritte vor dem Stamm von Jonesys Baum fiel der Mann zu Boden. Jonesy hörte das schmerzerfüllte, erstaunte Geräusch, das er von sich gab -wie Mrof! hörte es sich an -, und spontan ließ er den Abzug los.

Der Mann hockte jetzt auf Händen und Knien, die Finger in den braunen Handschuhen (braune Handschuhe, noch so ein grober Fehler, der Typ hätte sich auch gleich ein Schild mit der Aufschrift erschiesst mich! hinten an den Mantel kleben können, dachte Jonesy) auf dem Boden gespreizt, der bereits weiß wurde. Als der Mann wieder aufstand, fing er an, in einem klagenden, verwunderten Ton zu sprechen. Jonesy bemerkte zunächst nicht, dass er auch weinte.

»Oje, oje!«, sagte der Mann, während er mühsam wieder aufstand. Er schwankte, als wäre er betrunken. Jonesy wuss-te dass sich Männer im Wald, wenn sie für eine Woche oder ein Wochenende von ihrer Familie getrennt waren, allen möglichen kleinen Lastern hingaben - und um zehn Uhr morgens zu trinken, war da relativ normal. Doch Jonesy glaubte nicht, dass dieser Typ betrunken war. Er konnte nicht sagen, warum; es war nur so ein Gefühl.

»Oje, oje, oje.« Und dann, als er weiterging: »Schnee. Jetzt ist es Schnee. Ach Gott, du lieber Gott, jetzt ist es Schnee, du meine Güte.«

Seine ersten Schritte waren unsicher. Jonesy war zu dem Schluss gekommen, dass ihn sein Gefühl getrogen und der Typ tatsächlich getrunken hatte, doch dann wurde der Gang des Mannes sicherer. Er kratzte sich die rechte Wange.

Er ging direkt unter dem Hochsitz durch und war für einen Moment kein Mensch, sondern nur der Kreis einer orangefarbenen Mütze mit braunen Schultern seitlich dran. Seine Stimme scholl herauf, von Tränen fast erstickt, größtenteils war Oje zu hören, hin und wieder auch mit O Gott und Jetzt ist es Schnee gewürzt.

Jonesy blieb stehen und sah zu, wie der Typ erst unter dem Hochsitz verschwand und dann auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam. Jonesy drehte sich, ohne es zu bemerken, um den dahintrottenden Mann im Blick behalten zu können - und er war sich auch nicht bewusst, dass er das Gewehr hatte sinken lassen und sich sogar die Zeit genommen hatte, es zu sichern.

Jonesy rief ihm nicht nach und wusste wohl auch warum: Gewissensbisse. Er fürchtete, der Mann dort unten würde ihn anschauen und in seinen Augen die Wahrheit erblicken -würde selbst durch den Tränenschleier und den zunehmenden Schneefall sehen, dass Jonesy dort oben gestanden und auf ihn angelegt hatte, dass Jonesy ihn um ein Haar erschossen hatte.

Zwanzig Schritte jenseits des Baums blieb der Mann stehen und stand dann einfach nur da, hielt sich die rechte Hand über die Augenbrauen und schirmte seine Augen so vor den Schneeflocken ab. Jonesy wurde klar, dass er ihre Hütte entdeckt hatte. Und wahrscheinlich hatte er auch bemerkt, dass er auf einem regelrechten Pfad angelangt war. Das Oje und O Gott hörte auf, und der Typ lief auf das Surren des Generators zu und schlingerte dabei von links nach rechts wie an Deck eines Schiffs. Jonesy hörte die kurzen, zischenden Atemzüge des Fremden, der auf die geräumige Hütte zutaumelte, aus deren Schornstein gemächlich eine Rauchfahne stieg, die sich fast sofort im Schnee verlor.

Jonesy stieg die an den Stamm des Ahorns genagelten Sprossen hinunter, das Gewehr am Riemen über der Schulter (auf die Idee, dieser Mann könne irgendeine Gefahr darstellen, kam er nicht, noch nicht; er wollte nur das Garand, ein feines Gewehr, nicht draußen im Schnee liegen lassen). Seine Hüfte war wieder steif, und als er am Fuß des Baumes angelangt war, war der Mann, den er beinahe erschossen hatte, schon fast an der Tür der Hütte ... die natürlich nicht abgeschlossen war. Niemand schloss hier draußen seine Hütte ab.

Gut drei Meter vor dem Granitblock, der als Eingangstreppe diente, fiel der Mann im braunen Mantel erneut zu Boden. Seine Mütze flog ihm vom Kopf und entblößte einen verschwitzten Balg schütterer brauner Haare. Er blieb für einen Moment auf einem Knie hocken, den Kopf gesenkt. Jonesy hörte ihn schnell und rasselnd atmen.

Der Mann nahm seine Mütze, und als er sie eben wieder aufsetzen wollte, machte sich Jonesy mit einem Ruf bemerkbar.

Der Mann stand schwankend auf und drehte sich vorsichtig und unbeholfen um. Jonesy hatte zunächst den Eindruck, der Mann hätte ein sehr längliches Gesicht, was die Leute so »Pferdegesicht« nannten. Als Jonesy dann näher kam, ein wenig hinkend, aber nicht richtig humpelnd (und das war auch gut so, denn der Boden wurde zusehends glitschig), wurde ihm klar, dass der Mann kein außergewöhnlich längliches Gesicht hatte, sondern vielmehr nur völlig verängstigt und sehr, sehr blass war. Der rote Fleck auf seiner Wange, den er sich gekratzt hatte, zeichnete sich deutlich ab. Er schien sofort sichtlich erleichtert, als er Jonesy auf sich zueilen sah. Jonesy hätte fast über sich selbst gelacht, weil er dort oben auf dem Hochsitz gestanden und sich Sorgen gemacht hatte, der Typ könnte ihm an den Augen ablesen, was beinahe passiert war. Dieser Mann las niemandem etwas an den Augen ab, und es interessierte ihn auch eindeutig nicht, woher Jonesy kam und was er eben getan hatte. Der Mann sah aus, als hätte er Jonesy am liebsten umarmt und vor Rührung abgeknutscht.

»Gott sei Dank!«, rief der Mann. Er streckte Jonesy eine Hand entgegen und schlurfte über die dünne Neuschneeschicht auf ihn zu. »O Mensch, Gott sei Dank, ich habe mich verlaufen, ich irre seit gestern durch den Wald, ich dachte schon, ich würde da draußen sterben. Ich ... ich ...«

Er rutschte aus, und Jonesy packte ihn an den Oberarmen. Er war groß, größer als Jonesy, der einen Meter achtundachtzig maß, und war auch kräftiger gebaut. Trotzdem kam er Jonesy federleicht vor, als hätte die ganze Furcht ihn irgendwie ausgehöhlt und leicht wie einen Schmetterling gemacht.

»Ganz ruhig, Mann«, sagte Jonesy. »Ganz ruhig. Sie sind in Sicherheit. Alles wird gut. Kommen Sie, wir gehen rein und wärmen Sie ein bisschen auf. Wie wäre das?«

Als wäre »aufwärmen« das Stich wort gewesen, fing der Mann an mit den Zähnen zu klappern. »G-g-gern.« Er versuchte zu lächeln, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Jonesy fiel wieder seine extreme Blässe auf. Es war an diesem Morgen durchaus kalt hier draußen, geringe Minusgrade, aber der Mann war kreidebleich. Die einzigen Farbtupfer in seinem Gesicht, von dem roten Fleck einmal abgesehen, waren die braunen Ringe unter seinen Augen.

Jonesy legte dem Mann einen Arm um die Schultern, plötzlich mitgerissen von einem absurden, blödsinnigen Zutrauen zu diesem Fremden, ein Gefühl so stark, wie er es für seinen ersten Schwärm auf der Junior High School empfunden hatte — Mary Jo Martineau, in einer ärmellosen, weißen Bluse und einem geraden, knielangen Jeansrock. Er war sich jetzt vollkommen sicher, dass der Mann nichts getrunken hatte -es war nur Angst (und vielleicht Erschöpfung), die ihn so unsicher gehen ließ. Doch er roch aus dem Mund -ein Geruch wie von Bananen. Es erinnerte Jonesy an den Äther, den er in den Vergaser seines ersten Autos gesprüht hatte, ein Ford aus der Vietnamkriegszeit, damit er an kalten Morgen ansprang.

»Wir gehn rein, ja?«

»Ja. K-kalt. Gott sei Dank sind Sie vorbeigekommen. Ist das -«

»Meine Hütte? Nein, die gehört einem Freund.« Jonesy öffnete die lackierte Eichentür und half dem Mann über die Schwelle. Der Fremde keuchte, als ihm die warme Euft entgegenschlug, und seine Wangen röteten sich. Jonesy war erleichtert zu sehen, dass der Mann doch noch etwas Blut im Leib hatte.

6

Ihre Hütte war dafür, dass sie so tief im Wald stand, durchaus komfortabel. Wenn man hereinkam, betrat man einen großen Raum - Küche, Ess- und Wohnzimmer in einem -, und dahinter befanden sich noch zwei Schlafzimmer und ein weiteres im Obergeschoss unter der Dachschräge. Das große Zimmer war erfüllt vom milden Goldlicht des Kiefernholzes und duftete auch danach. Auf dem Boden lag ein Navajo-Teppich, und ein Micmac hing an der Wand und zeigte tapfere kleine Speerjäger, die einen riesigen Bären umstellt hatten. Ein rustikaler Eichentisch, groß genug für acht Personen, dominierte den Essbereich. Es gab einen Holzofen in der Küche und einen offenen Kamin im Wohnzimmer; wenn beide brannten, wurde man in der Hütte rammdösig vor Hitze, auch wenn draußen dreißig Grad minus herrschten. Die Westwand war komplett verglast, und dort schaute man einen langen steilen Hang hinunter. In den Siebzigern hatte es dort gebrannt, und die verkohlten Bäume standen kreuz und quer in dem dichter werdenden Schneefall. Jonesy, Pete, Henry und der Biber nannten diesen Abhang »die Schlucht«, denn so hatten schon Bibers Dad und seine Freunde dazu gesagt.

»0 Gott, Gott sei Dank, und Ihnen sei auch gedankt«, sagte der Mann mit der orangefarbenen Mütze zu Jonesy, und als Jonesy grinste - das war ja eine ganze Menge Dank -, lachte der Mann schrill auf, wie um zu sagen, ja, er wisse schon, das sei komisch, so etwas zu sagen, aber er könne nicht anders. Er atmete ein paarmal tief durch und sah kurz aus wie einer dieser Fitnessgurus, die man auf obskuren Kabelkanälen sah. Und jedes Mal, wenn er ausatmete, sagte er etwas.

»Gott, heute Nacht hab ich wirklich gedacht, es wäre zu Ende mit mir ... Es war so kalt ... Und die feuchte Luft, das weiß ich noch ... Ich weiß noch, wie ich dachte, o Junge, oje, was ist, wenn es jetzt auch noch schneit... Ich habe gehustet und konnte nicht mehr aufhören ... Dann ist was gekommen, und ich habe gedacht, ich muss aufhören zu husten, wenn das ein Bär ist oder so, dann ... wissen Sie ... reize ich ihn doch oder so ... aber ich konnte nicht, und nach einer Weile ist es ... ist es ganz von alleine weggegangen -«

»Sie haben heute Nacht einen Bären gesehen?« Jonesy war gleichwohl fasziniert wie entsetzt. Er hatte davon gehört, dass es hier oben Bären gab - der alte Gosselin und seine Saufkumpane im Laden erzählten mit großer Begeisterung ihre Bärengeschichten, zumal Leuten, die nicht aus Maine kamen -, aber bei dem Gedanken, dass dieser Mann, der sich verlaufen hatte und ganz auf sich gestellt war, tatsächlich heute Nacht von einem bedroht worden war, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Es war, als würde man einen Matrosen von einem Seeungetüm erzählen hören.

»Ich weiß nicht, was es war«, sagte der Mann und warf Jonesy mit einem Mal einen verschlagenen Seitenblick zu, der Jonesy gar nicht gefiel und den er nicht zu deuten wusste. »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Da hat es schon nicht mehr geblitzt.«

»Sogar auch Blitze? Mann!« Wäre der Typ nicht so augenscheinlich verzweifelt gewesen, dann hätte sich Jonesy gefragt, ob er hier nicht buchstäblich einen Bären aufgebunden bekam. Aber auch so war er sich da nicht ganz sicher.

»Ein Trockengewitter, schätze ich mal«, sagte der Mann. Jonesy konnte förmlich sehen, wie er es mit einem Achselzucken abtat. Er kratzte sich den roten Fleck auf der Wange, der nach einer leichten Frostbeule aussah. »Im Winter be

deutet das, dass ein Sturm im Anzug ist.«

»Und das haben Sie gesehen? Heute Nacht?«

»Ich schätze mal schon.« Der Mann warf ihm wieder einen

flinken Seitenblick zu, doch diesmal konnte Jonesy darin keine Verschlagenheit entdecken, also hatte er sich vermutlich zuvor getäuscht. Er sah nur Erschöpfung. »In meinem Kopf ist alles durcheinander ... mir tut der Bauch weh, seit ich mich verlaufen habe ... Ich habe immer Magenschmerzen, wenn mir bange ist, schon als ich ein kleiner Junge war...«

Und er war immer noch wie ein kleiner Junge, dachte Jonesy, wie er sich da so völlig ungeniert umsah. Jonesy führte den Typ zum Sofa vor dem Kamin, und der Typ ließ sich führen.

Bange. Er sagt tatsächlich bange wie ein Kind. Wie ein Kleinkind.

»Geben Sie mir Ihren Mantel«, sagte Jonesy, und während der Typ ihn zunächst aufknöpfte und sich dann an dem darunter liegenden Reißverschluss zu schaffen machte, dachte Jonesy wieder daran, wie er ihn für einen Hirsch gehalten hatte, für einen Hirschbock, um Himmels willen - wie er diese Knöpfe für Augen gehalten und beinahe eine Kugel hineingejagt hatte.

Der Mann bekam den Reißverschluss halb auf, und dann klemmte er. Der kleine goldfarbene Schieber hing an einer Seite im Futter fest. Er schaute sich das an - ja, starrte es an -, als hätte er so etwas noch nie gesehen. Und als Jonesy nach dem Reißverschluss griff, ließ der Mann die Hände sinken und ließ Jonesy einfach machen, wie ein Erstklässler, der aufstand und die Lehrerin alles richten ließ, wenn er Galoschen oder Jacke falsch herum anhatte.

Jonesy bekam den Schieber frei und zog den Reißverschluss auf. Jenseits des Panoramafensters verschwand die Schlucht allmählich; man sah nur noch die schwarz hingekrakelten Gestalten der Bäume. Seit fast dreißig Jahren kamen sie gemeinsam zur Jagd hier herauf, fast dreißig Jahre ununterbrochen, und nie hatte es mehr als einen kleinen Schneeschauer gegeben. Offenbar war es damit nun vorbei, aber woher wollte man das wissen? Bei den Jungs im Radio und Fernsehen hörten sich zehn Zentimeter frischer Pulverschnee heutzutage gleich immer wie der Beginn der nächsten Eiszeit an.

Für einen Moment stand der Typ einfach nur da. Sein Mantel stand offen, und der Schnee schmolz um seine Stiefel herum auf dem gewachsten Holzboden, und er schaute mit offenem Mund zu den Deckenbalken hinauf, und, ja, er sah aus wie ein riesiger Sechsjähriger - oder wie Duddits. Man hätte fast erwartet, dass ihm Fäustlinge an einer Kordel aus den Ärmeln seines Mantels baumelten. Er löste sich aus seinem Mantel genau wie ein Kind, das, sobald der Reißverschluss geöffnet war, einmal mit den Schultern zuckte und die Jacke zu Boden gleiten ließ. Wäre Jonesy nicht zur Stelle gewesen und hätte den Mantel aufgefangen, dann wäre er zu Boden gefallen und hätte sich mit dem geschmolzenen Schnee vollgesogen.

»Was ist das?«, fragte er.

Für einen Augenblick hatte Jonesy keine Ahnung, was der Typ meinte, und dann folgte er seinem Blick zu dem Webstück, das vom mittleren Deckenbalken hing. Es war bunt -rot und grün und hier und da auch kanariengelb - und sah aus wie ein Spinnennetz.

»Das ist ein Traumfänger«, sagte Jonesy. »Ein indianischer Talisman. Der soll die Albträume fern halten, glaube ich.«

»Ist das Ihrs?«

Jonesy wusste nicht, ob er die Hütte meinte (vielleicht hatte ihm der Typ nicht zugehört) oder nur den Traumfänger, aber die Antwort war ja auch die gleiche. »Nein, das gehört einem Freund. Wir kommen jedes Jahr zur Jagd hierher.«

»Wie viele sind Sie?« Der Mann zitterte, hatte sich die Arme um den Oberkörper geschlungen und die Ellenbogen gepackt, während er zusah, wie Jonesy seinen Mantel an den Garderobenständer neben der Tür hängte.

»Wir sind zu viert. Biber - das ist sein Camp - ist draußen auf der Pirsch. Ich weiß nicht, ob der Schnee ihn nach Hause treibt. Wahrscheinlich schon. Pete und Henry sind einkaufen. «

»Bei Gosselin's?«

»Ja. Kommen Sie, setzen Sie sich aufs Sofa.«

Jonesy führte ihn zum Sofa, einer lächerlich langen Sitzecke. Solche Sachen waren zwar seit Jahrzehnten aus der Mode, aber es roch nicht allzu schlimm und barg kein Ungeziefer. Stil und Geschmack spielten hier in der Hütte keine große Rolle.

»Bleiben Sie da«, sagte er und ließ den Mann, der zitterte und schlotterte und sich die Hände zwischen die Knie klemmte, dort sitzen. Seine Jeans hatte diesen Wurstpelle-Look angenommen, der auf lange Unterhosen hindeutete, und trotzdem schlotterte er und bibberte. Doch die Wärme hatte ihm eine wahre Farbpracht ins Gesicht getrieben; statt wie eine Leiche sah der Fremde nun wie ein Diphteriekran-ker aus.

Pete und Henry teilten sich das größere der beiden Schlafzimmer im Erdgeschoss. Jonesy ging hinein, klappte die Holztruhe links neben der Tür auf und nahm eine der beiden Tagesdecken heraus, die dort zusammengefaltet lagen. Als er durchs Wohnzimmer zurück zu dem schlotternd auf dem Sofa sitzenden Mann ging, fiel ihm ein, dass er die grundlegendste aller Fragen noch gar nicht gestellt hatte, die Frage, die selbst Sechsjährige stellten, die ihren Reißverschluss nicht aufbekamen.

Als er die Tagesdecke über dem Fremden auf der übertrieben großen Camp-Couch ausbreitete, fragte er: »Wie heißen Sie?« Und merkte, dass er es fast schon wusste. McCoy? McCann?

Der Mann, den Jonesy fast erschossen hatte, sah zu ihm hoch und raffte sich die Tagesdecke um den Hals. Die braunen Ringe unter seinen Augen wurden allmählich lila.

»McCarthy«, sagte er. »Richard McCarthy.« Seine Hand, ohne Handschuh erstaunlich fleischig und weiß, kroch wie ein scheues Tier unter der Decke hervor. »Und Sie?«

»Gary Jones«, sagte er und schlug mit der Hand ein, mit der er fast abgedrückt hatte. »Aber die meisten Leute nennen mich Jonesy.«

»Danke, Jonesy.« McCarthy schaute ihn feierlich an. »Ich glaube, Sie haben mir das Leben gerettet.«

»Ach, das weiß ich nicht«, sagte Jonesy. Er sah sich noch mal den roten Fleck an. Nur eine kleine Erfrierung. Eine Frostbeule, weiter nichts.

KAPITEL 2 Der Biber


»Sie wissen, dass ich niemanden anrufen kann, nicht wahr?«, sagte Jonesy. »Bis hier raus reichen die Telefonleitungen nicht. Für die Elektrik haben wir einen Generator, aber das war's auch schon.«

McCarthy, der nur mit dem Kopf aus der Tagesdecke hervorschaute, nickte. »Den Generator habe ich gehört, aber Sie wissen ja, wie das ist, wenn man sich verlaufen hat: Die Geräusche sind trügerisch. Manchmal scheinen sie von links zu kommen und dann wieder von rechts, und dann könnte man schwören, dass es von hinten kommt und dass man umdrehen sollte.«

Jonesy nickte, obwohl er eigentlich nicht wusste, wie das war. Von der knappen Woche nach seinem Unfall einmal abgesehen, einer Zeit, in der er durch einen Nebel aus Drogen und Schmerzen geirrt war, hatte er sich nie verlaufen.

»Ich überlege, was am besten wäre«, sagte Jonesy. »Ich schätze mal, wenn Pete und Henry wieder da sind, bringen wir Sie besser weg. Wie viele Leute gehören denn zu Ihrer Gruppe ?«

Da musste McCarthy anscheinend erst mal überlegen. Das und sein schwankender Gang bestätigten Jonesy in dem Eindruck, dass der Mann unter Schock stand. Er wunderte sich, dass eine Nacht des Herumirrens im Wald so etwas bewirken konnte; und er fragte sich, ob es ihm selber auch so ergangen wäre.

»Vier«, sagte McCarthy, nachdem er eine Minute lang darüber nachgedacht hatte. »Genau wie bei Ihnen. Wir sind zu zweit auf die Pirsch gegangen. Ich war mit einem Freund unterwegs, mit Steve Otis. Er ist Anwalt, wie ich, aus Skow-hegan. Wir sind alle aus Skowhegan, wissen Sie, und diese Woche ist für uns ... etwas ganz Besonderes.«

Jonesy nickte lächelnd. »Ja. Das kenne ich.«

»Jedenfalls habe ich mich wohl irgendwie verlaufen.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich habe Steve rechts von mir gehört und ab und zu seine Weste zwischen den Bäumen gesehen, und dann bin ich ... Ich weiß es einfach nicht. Ich war wohl so in Gedanken verloren - im Wald kann man so wunderbar nachdenken -, und dann war ich plötzlich allein. Ich habe noch versucht, meine Spur zurückzuverfolgen, aber dann wurde es dunkel ...« Er schüttelte wieder den Kopf. »Das ist in meinem Kopf alles durcheinander, aber, ja — wir waren zu viert, da bin ich mir sicher. Ich und Steve und Nat Roper und Nats Schwester Becky.«

»Die müssen sich schreckliche Sorgen machen.«

McCarthy wirkte erst verdattert, dann verzagt. Auf die Idee war er anscheinend noch überhaupt nicht gekommen.

»Ja, das stimmt. Natürlich. Ach du liebe Zeit! Ach du meine Güte!«

Jonesy musste sich ein Lächeln verkneifen. Wenn er richtig loslegte, hörte sich McCarthy ein wenig an wie eine Figur aus dem Film Fargo.

»Wir bringen Sie besser hin. Das heißt, falls -«

»Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen -«

»Wir bringen Sie hin, sobald wir können. Dieser Wetterumschwung kam aber auch wirklich plötzlich.«

»Allerdings«, sagte McCarthy bitter. »Man sollte doch wohl meinen, dass sie es besser könnten, mit ihren verdammten Satelliten und dem Doppier-Radar und was nicht noch alles. So viel zum Thema heiter und der Jahreszeit entsprechend kalt, was?«

Jonesy schaute verdutzt zu dem Mann unter der Tagesdecke hinüber, von dem nur das gerötete Gesicht und das sich lichtende braune Haar zu sehen waren. Die Wettervorhersagen, die er gehört hatte - er und Pete und Henry und der Biber -, hatten seit zwei Tagen Schneefall prophezeit. Einige Meteorologen hatten sich nicht festlegen wollen und gesagt, statt des Schnees könne auch Regen fallen, aber der Typ vom Sender Castle Rock (WCAS war der einzige Radiosender, den sie hier oben reinbekamen, und auch den nur schwach und verrauscht) hatte an diesem Morgen von einem sich schnell fortbewegenden Tiefdruckgebiet gesprochen, einem so genannten Alberta Clipper, das zehn bis fünfzehn Zentimeter Schnee bringen würde, und möglicherweise einen Nordoststurm hinterher, wenn es so kalt blieb und das Tief nicht auf den Atlantik hinauszog. Jonesy wusste nicht, woher McCarthy seine Wettervorhersagen hatte, aber bestimmt nicht von WCAS. Der Typ war einfach nur völlig durch den Wind, das war es wahrscheinlich, und er hatte ja auch jedes Recht dazu.

»Ich könnte etwas Suppe aufsetzen. Wie wäre das, Mr. McCarthy?«

McCarty lächelte dankbar. »Das wäre sehr schön«, sagte er. »Ich hatte heute Nacht Magenschmerzen und heute Morgen auch wieder, aber jetzt geht es mir besser.«

»Das ist der Stress«, sagte Jonesy. »Ich hätte nur noch gekotzt. Und mich wahrscheinlich auch eingeschissen.«

»Ich habe mich nicht übergeben«, sagte McCarthy. »Da bin ich mir ziemlich sicher. Aber ...« Wieder schüttelte er den Kopf. Es wirkte wie ein nervöser Tick. »Ich weiß nicht. Es ist alles so durcheinander, es ist, als hätte ich einen Albtraum gehabt.«

»Der Albtraum ist vorüber«, sagte Jonesy. Er kam sich etwas lächerlich vor, so etwas zu sagen - ein bisschen tan-tenhaft -, aber der Mann konnte eindeutig jede Beruhigung gebrauchen.

»Gut«, sagte McCarthy. »Danke. Und ich hätte wirklich gern etwas Suppe.«

»Wir haben Tomatensuppe und Hühnerbrühe, und dann ist da, glaube ich, auch noch eine Dose Chunky Sirloin. Was möchten Sie?«

»Hühnerbrühe«, sagte McCarthy. »Meine Mutter hat immer gesagt, Hühnerbrühe sei genau das Richtige, wenn es einem nicht so gut geht.«

Er grinste, als er das sagte, und Jonesy gab sich alle Mühe, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. McCarthy hatte weiße, ebenmäßige Zähne, so ebenmäßig, dass es einfach Jacketkronen sein mussten, wenn man in Betracht zog, wie alt der Mann war, und Jonesy schätzte ihn auf ungefähr fünfundvierzig. Aber wenigstens vier Zähne fehlten - die oberen Eckzähne (die Jonesys Vater immer »Vampirzähne« genannt hatte) und zwei unten in der Mitte -Jonesy wusste nicht, wie die hießen. Er wusste nur eins: McCarthy war sich ihres Fehlens nicht bewusst. Niemand, der von solchen Lücken in seinem Gebiss wusste, hätte es so ungeniert hergezeigt, nicht einmal unter diesen Umständen. So sah Jonesy das jedenfalls. Ein leichtes Ekelgefühl fuhr ihm durch den Bauch, ein Anruf aus dem Nirgendwo. Er drehte sich zur Küche um, ehe McCarthy seinen Gesichtsausdruck sehen und sich — und vielleicht gar Jonesy - fragen konnte, was denn los sei.

»Einmal Hühnerbrühe, sehr wohl. Wie wäre es mit einem heißen Käsesandwich dazu?«

»Wenn es keine Umstände macht. Und nennen Sie mich Richard, ja? Oder noch lieber Rick. Wenn mir jemand das Leben gerettet hat, soll er mich doch bitte beim Vornamen nennen.«

»Rick. Aber gern.« Lass dir Heber mal die Zähne machen, ehe du das nächste Mal vor die Geschworenen trittst, Rick.

Das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte, war fast übermächtig. Es war dieser Klick, genau wie er McCarthys Namen fast erraten hatte. Er war noch weit davon entfernt, sich zu wünschen, er hätte den Mann erschossen, als sich ihm die Gelegenheit dazu bot, aber allmählich wünschte er schon, McCarthy hätte sich von seinem Baum und aus seinem Leben fern gehalten.

Er hatte die Suppe aufgesetzt und machte gerade die Käsesandwiches, als der erste Windstoß kam - eine mächtige Böe, unter der die ganze Hütte ächzte und die den Schnee meterhoch aufwirbelte. Für einen Moment verschwanden selbst die schwarz hingekrakelten Baumgestalten in der Schlucht und sah man im Panoramafenster nur noch Weiß - als hätte man dort draußen die Leinwand eines Autokinos aufgespannt. Zum ersten Mal machte sich Jonesy etwas Sorgen, nicht nur um Pete und Henry, die nun vermutlich in Petes Scout auf dem Rückweg von Gosselin's Market waren, sondern auch um den Biber. Wenn irgendjemand diese Wälder kannte, dann der Biber, aber in einem starken Schneegestöber nützte einem das nichts - dann ist guter Rat teuer, das war noch so eine stets passende Redewendung seines Vaters, wahrscheinlich nicht ganz so gut wie Man kann sein Glück nicht zwingen, aber auch nicht schlecht. Der Lärm des Generators half dem Biber vielleicht, sich zu orientieren, aber wie McCarthy schon gesagt hatte, konnten solche Geräusche in die Irre führen. Zumal wenn es windig war. Und windig wurde es nun offenbar.

Seine Mutter hatte ihm das Dutzend Kochkniffe beigebracht, das er beherrschte, und einer dieser Kniffe hatte mit der Kunst zu tun, heiße Käsesandwiches zuzubereiten. streich zuerst etwas Mussnich drauf, hatte sie gesagt -»Mussnich« war Janetjonesisch für »Mostrich« - und dann gib die Butter aufs Brot, nicht in die Pfanne. Wenn du die

Butter in die Pfanne tust, kriegst du nur geröstetes Brot mit etwas Käse drauf. Er hatte nie verstanden, wie es etwas ausmachen konnte, ob man die Butter nun aufs Brot oder in die Pfanne tat, machte es aber immer so, wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte, auch wenn es nervig war, die Brotscheiben oben mit Butter zu bestreichen, während sie unten bereits rösteten. Er hätte im Haus auch nie Gummistiefel anbehalten ... denn seine Mutter hatte immer gesagt: »Das verzieht dir die Füße.« Er hatte zwar keine Ahnung, was das bedeuten sollte, aber auch jetzt noch, als Mann, der auf die Vierzig zuging, zog er sich die Stiefel gleich an der Tür aus, damit sie ihm nicht die Füße verzogen.

»Ich glaube, ich esse auch eins«, sagte Jonesy und legte die Brotscheiben in die Pfanne, mit der gebutterten Seite nach unten. Die Suppe köchelte schon, und es roch sehr lecker - irgendwie tröstlich.

»Gute Idee. Ich hoffe bloß, Ihren Freunden geht es gut.«

»Ja«, sagte Jonesy und rührte die Suppe um. »Wo ist denn Ihre Hütte?«

»Na ja, früher waren wir immer in Mars Hill und haben in einer Hütte gewohnt, die einem Onkel von Nat und Becky gehört hat, aber die hat irgend so ein gottverfluchter Idiot vor zwei Jahren im Sommer niedergebrannt. Hatte getrunken und war dann unachtsam mit Glimmstengeln - das hat jedenfalls die Feuerwehr gesagt.«

Jonesy nickte. »So was hört man öfter.«

»Die Versicherung hat den Wert ersetzt, aber wir hatten keine Jagdhütte mehr. Ich dachte schon, das war's, aber da hat Steve in Kineo eine hübsche Hütte entdeckt. Das ist, glaube ich, nur so ein unerschlossenes Gebiet, das auch zu Jefferson Tract gehört, aber sie nennen es Kineo, die paar Leute, die da wohnen. Kennen Sie das?«

»Kenne ich«, sagte Jonesy, und seine Lippen fühlten sich merkwürdig taub an. Er bekam wieder einen dieser Anrufe aus dem Nirgendwo. Ihre Hütte hier befand sich gut zwanzig Meilen östlich von Gosselin's. Kineo lag etwa dreißig Meilen westlich von dort. Zusammen machte das fünfzig Meilen oder gut achtzig Kilometer. Sollte er ernsthaft glauben, dass dieser Mann, der dort in die Tagesdecke gehüllt auf dem Sofa saß, eine solche Strecke gewandert war, seit er sich am Nachmittag des Vortags verlaufen hatte? Blödsinn. Das war unmöglich.

»Riecht schon sehr gut«, sagte McCarthy.

Und es roch tatsächlich gut, aber Jonesy war der Appetit vergangen.

Er brachte eben das Essen ans Sofa, als er hörte, wie jemand auf dem Stein vor der Tür aufstampfte. Einen Augenblick später ging die Tür auf, und Biber kam herein. Schneeflocken stieben ihm um die Beine.

»Heilige Filzlaus!«, sagte der Biber. Pete hatte mal eine Liste der Biberismen erstellt, und Heilige Filzlaus hatte dabei einen der oberen Plätze belegt, neben Gekörnte Scheiße und Knutsch mir die Kimme. Es waren ebenso kindliche wie unflätige Ausrufe. »Ich dachte schon, ich müsste da draußen übernachten, aber dann habe ich das Licht gesehen.« Biber hob die Hände mit gespreizten Fingern zur Decke. »Ich hatte eine Erleuchtung, Herr, o ja, gelobt sei -« Seine beschlagenen Brillengläser klärten sich etwas, und er sah den Fremden auf dem Sofa. Er ließ langsam die Hände sinken und lächelte. Das war einer der Gründe, weshalb ihn Jonesy schon seit der Grundschule liebte, obwohl einem der Biber auch ganz schön auf die Nerven gehen konnte und nun wirklich nicht eben der Hellste war: Seine erste Reaktion auf etwas Unerwartetes war kein Stirnrunzeln, sondern ein Lächeln.

»Hallo«, sagte er. »Ich bin Joe Clarendon. Und wer sind Sie?«

»Rick McCarthy«, sagte der und stand auf. Die Tagesdecke rutschte herunter, und Jonesy sah, dass ihm ein ziemlicher Spitzbauch aus dem Pullover ragte. Na, dachte er, wenigstens daran ist nichts ungewöhnlich. Das ist die Krankheit der Männer mittleren Alters, und die wird uns in den nächsten zwanzig Jahren zu Millionen hinwegraffen.

McCarthy streckte die rechte Hand aus, wollte vortreten und wäre fast über die Tagesdecke gestolpert. Hätte ihn Jonesy nicht an der Schulter gepackt und ihm Halt gegeben, dann wäre McCarthy wahrscheinlich lang hingeschlagen und hätte den Couchtisch umgerissen, auf dem jetzt das Essen stand. Wieder fiel Jonesy die merkwürdige Unbeholfenheit des Mannes auf - er fühlte sich ein wenig an sich selbst im vergangenen Frühjahr erinnert, als er wieder gehen lernen musste. Er schaute sich den Fleck auf der Wange des Mannes etwas genauer an und wünschte fast, er hätte es gelassen. Das war keine Erfrierung. Es sah eher nach Hautkrebs aus oder wie ein Feuermal, aus dem Haarstoppel wuchsen.

»Hey, immer langsam mit den jungen Pferden«, sagte der Biber und machte einen Satz nach vorn. Er packte McCarthys Hand und schüttelte sie wie wild, bis Jonesy schon dachte, McCarthy würde doch noch auf dem Couchtisch landen. Er war erleichtert, als der Biber - einen Meter siebenundsiebzig groß und immer noch mit schmelzenden Schneeflocken in der schwarzen Hippiemähne - endlich losließ. Der Biber lächelte immer noch, strahlte jetzt übers ganze Gesicht. Mit dem schulterlangen Haar und der dicken Brille sah er aus wie ein Mathegenie oder ein Serienmörder. In Wirklichkeit war er Tischler.

»Rick hat ziemlich was durchgemacht«, sagte Jonesy. »Er hat sich gestern verlaufen und die ganze Nacht im Wald verbracht. «

Biber lächelte weiter, aber jetzt wirkte sein Lächeln eher besorgt. Jonesy ahnte schon, was jetzt kommen würde, und hoffte, der Biber würde es nicht sagen - er schätzte McCarthy als ziemlich religiösen Menschen ein, dem solche Unflätigkeiten nicht behagen würden -, aber wer Biber den Mund verbieten wollte, hätte natürlich auch gleich versuchen können, den Wind zu bändigen.

»Ach du dicke Fotze!«, kreischte er. »Das ist ja unglaublich! Setz dich! Iss was! Du auch, Jonesy.«

»Ach nee«, sagte Jonesy. »Iss du das mal. Du kommst doch gerade aus dem Schnee herein.«

»Meinst du?«

»Ja. Ich mach mir Rührei. Rick kann dir seine Geschichte erzählen.« Vielleicht wirst du daraus ja eher schlau als ich, dachte er.

»Also gut.« Biber zog sich Mantel (rot) und Weste (natürlich orangefarben) aus. Er wollte beides eben auf den Holzhaufen werfen, als ihm etwas einfiel. »Warte mal, ich hab da was für dich.« Er vergrub eine Hand in einer Tasche seiner Daunenjacke, wühlte darin herum und kam schließlich mit einem Taschenbuch zum Vorschein, das zwar ziemlich ver-knickt war, sonst aber unversehrt schien. Vorn auf dem Titel tanzten kleine Teufel mit Dreizacken - Small Vices von Robert B. Parker. Es war der Krimi, den Jonesy auf dem Hochsitz gelesen hatte.

Der Biber hielt ihm das Buch mit einem Lächeln hin. »Deinen Schlafsack habe ich liegen lassen. Ich dachte mir, du kannst heute Nacht sowieso nicht schlafen, wenn du nicht weißt, wer der Mörder war.«

»Du hättest da nicht raufklettern sollen«, sagte Jonesy, war aber so gerührt, wie nur Biber das bei ihm fertig brachte. Der Biber war durch das Schneegestöber heimgekehrt und hatte nicht mit Sicherheit feststellen können, ob Jonesy auf seinem Hochsitz war oder nicht. Er hätte rufen können, aber zu rufen reichte dem Biber nicht, er glaubte nur, was er auch sah.

»Keine Ursache«, sagte Biber und setzte sich zu McCarthy, der ihn anschaute, als wäre er ein bisher unbekanntes, recht exotisches Kleintier.

»Danke«, sagte Jonesy. »So kommst du doch noch zu deinem Sandwich. Ich mache mir Eier.« Er wollte gehen und drehte sich dann noch mal um. »Was ist mit Pete und Henry? Meinst du, die schaffen es zurück?«

Der Biber machte den Mund auf, aber ehe er antworten konnte, blies der Wind wieder unter den Dachvorsprung, ließ es in den Wänden knarzen und pfiff grimmig ums Haus.

»Ach was, das ist nur eine Mütze voll Schnee«, sagte Biber, als die Böe vorbeigezogen war. »Die kommen schon wieder. Aber ob wir hier wegkommen, wenn wir einen richtigen Nordsturm kriegen — das ist natürlich ’ne andere Frage.« Er fing an, das Käsesandwich zu verschlingen. Jonesy ging in die Küche, um sich Rührei zu machen und noch eine Dose Suppe aufzusetzen. Nun, da der Biber da war, war ihm etwas wohler mit McCarthy. Ja, eigentlich war ihm immer wohler, wenn der Biber da war. Schon verrückt. Aber nicht zu leugnen.

Als das Rührei fertig und die Suppe aufgewärmt war, plauderte McCarthy längst mit dem Biber, als wären sie seit zehn Jahren die dicksten Freunde. Falls sich McCarthy an Bibers Litanei größtenteils lustiger Lästerlichkeiten störte, machte Bibers beträchtlicher Charme das mehr als wett. »Da gibt's nichts zu erklären«, hatte Henry mal zu Jonesy gesagt. »Er ist einfach ein Wuschel - man muss ihn einfach mögen. Deshalb ist sein Bett nie leer - es ist bestimmt nicht sein Aussehen, auf das die Frauen anspringen.«

Jonesy brachte das Rührei und die Suppe in den Wohnbe-reich und gab sich dabei Mühe, nicht zu humpeln - es war schon erstaunlich, wie viel mehr ihn der Schmerz in der Huf-te bei schlechtem Wetter plagte, er hatte das immer für ein Ammenmärchen gehalten, aber anscheinend stimmte es -und setzte sich auf einen Sessel neben dem Sofa. McCarthy hatte anscheinend mehr geredet als gegessen. Die Suppe hatte er kaum angerührt, und das Käsesandwich war auch noch zur Hälfte da.

»Wie geht's, Jungs?«, fragte Jonesy. Er pfefferte sein Rührei und verspachtelte es dann mit Feuereifer. Sein Appetit war anscheinend wieder ganz der alte.

»Gut wie frisch gefickten Eichhörnchen geht's uns«, sagte Biber, und obwohl er sich so aufgeräumt wie üblich anhörte, fand Jonesy, dass er besorgt, vielleicht gar beunruhigt aussah. »Rick hat mir von seinen Abenteuern erzählt. Die Geschichte ist so gut, die könnte glatt aus einem dieser Herrenmagazine sein, die es immer beim Friseur gab, als ich noch klein war.« Er wandte sich, immer noch lächelnd, wieder an McCarthy - das war der Biber: immer lächelnd, immer vergnügt - und fuhr sich mit der Hand durch seine schwarze Mähne. »Der alte Castonguay war bei uns in Derry der Friseur, als ich ein kleiner Junge war, und er hat mir mit seiner Schere solche Angst eingejagt, dass ich da nie wieder hingegangen bin.«

McCarthy lächelte kurz matt, erwiderte aber nichts. Er nahm die restliche Hälfte seines Käsesandwichs, betrachtete es und legte es dann wieder auf den Teller. Die rote Stelle auf seiner Wange glühte wie ein Brandzeichen. Währenddessen redete Biber weiter, als fürchtete er, was McCarthy sagen würde, bekäme er auch nur den Hauch einer Gelegenheit dazu. Draußen schneite es jetzt stärker, und auch der Wind hatte aufgefrischt, und Jonesy dachte an Henry und Pete, die wahrscheinlich mittlerweile in Henrys altem Scout auf der Lteep Cut Road unterwegs waren.

»Rick wäre nicht nur mitten in der Nacht fast von einem 1 1er gefressen worden - er glaubt, es war ein Bär -, nein, er at auch noch sein Gewehr verloren. Ein nagelneues Remington Kaliber 30-30. Du Scheiße! Das siehst du nicht wieder, das kannst du vergessen.«

»Ich weiß«, sagte McCarthy. Aus seinen Wangen wich wieder alle Farbe, und sein Teint war wieder bleiern. »Ich weiß nicht mal mehr, wann ich es hingelegt habe oder -«

Plötzlich hörte man ein leises, schnarrendes Geräusch, wie von einer Heuschrecke. Jonesy spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, und dachte, da hätte sich etwas im Kamin verfangen. Dann wurde ihm klar, dass es McCarthy war. Jonesy hatte im Laufe seines Lebens schon einige laute Fürze gehört und auch einige lang gedehnte, so etwas aber noch nie. Es schien gar kein Ende zu nehmen, obwohl es unmöglich länger als ein paar Sekunden angedauert haben konnte. Und dann kam der Gestank.

McCarthy hatte eben seinen Löffel gehoben. Nun ließ er ihn wieder in die kaum angerührte Suppe sinken und hob in fast mädchenhafter Verlegenheit die rechte Hand vor die Versehrte Wange. »O Mann, das tut mir Leid!«

»Aber was denn - hier draußen ist mehr Platz als da drinnen«, sagte Biber, aber da plapperte einfach nur sein loses Mundwerk vor sich hin, und Jonesy sah, dass Biber über den Gestank ebenso entsetzt war wie er selbst. Es war nicht dieser schweflige Gestank von faulen Eiern, bei dem man lachte, die Augen verdrehte, mit der Hand vor dem Gesicht wedelte und kreischte: O Gott, wer hat denn den Käse angeschnitten? Und es war auch keiner dieser nach Methan riechenden Sumpfgas-Fürze. Es war ein Gestank, den Jonesy auch an McCarthys Atem wahrgenommen hatte, nur stärker - eine Mischung aus Äther und überreifen Bananen, wie das Startfix, das man an kalten Morgen in den Vergaser sprühte.

»Ach je, das ist ja wirklich schlimm«, sagte McCarthy. »Das tut mir wirklich fürchterlich Leid.«

»Schon gut«, sagte Jonesy, aber sein Magen hatte sich zu-sammengekrampft, wie um sich vor einem Überfall zu wappnen. Sein Lunch würde er nicht aufessen; das war jetzt völlig undenkbar. Er stellte sich normalerweise bei Fürzen nicht an, aber dieser hier stank nun wirklich.

Der Biber stand vom Sofa auf und öffnete ein Fenster, ließ Schnee hereinwirbeln und gesegnete frische Luft. »Mach dir deshalb keinen Kopf, Mann ... aber der war nun echt schon ziemlich überreif. Was hast du denn gegessen? Murmeltierkötel?«

»Blätter und Moos und solche Sachen, ich weiß es nicht genau«, sagte McCarthy. »Ich war einfach so hungrig, wissen Sie, ich musste irgendwas essen, aber ich kenne mich da nicht aus, habe nie ein Buch von Ewell Gibbons gelesen ... und es war natürlich dunkel.« Das sagte er, als wäre es ihm eben erst eingefallen, und Jonesy schaute zu Biber hinüber und wollte sehen, ob der Biber wusste, was Jonesy wusste: dass McCarthy log. McCarthy wusste nicht, was er im Wald gegessen hatte und ob er überhaupt etwas gegessen hatte. Er wollte einfach nur diesen grässlichen, unerwarteten Monsterfurz erklären. Und den folgenden Gestank.

Es gab wieder einen Windstoß, eine mächtige Böe, die ein kleines Schneegestöber zum offen stehenden Fenster hereinwehte, aber wenigstens wälzte der Wind auch die Luft im Zimmer um, Gott sei Dank.

McCarthy beugte sich abrupt vor, wie von einer Sprungfeder angetrieben, und als er dann da hing, mit dem Kopf zwischen den Knien, ahnte Jonesy schon, was jetzt kommen würde; mach's gut, Navajo-Teppich, war schön mit dir. Der Biber dachte eindeutig in die gleiche Richtung; er zog die ausgestreckten Beine ein, damit sie nicht vollgespritzt wurden.

Doch statt Erbrochenem entwich McCarthy ein lang gedehntes, tiefes Brummen - es klang wie eine völlig überlastete Fabrikmaschine. McCarthys Augen traten wie Murmeln yor, und seine Wangen waren so gespannt, dass sich unter seinen Augenwinkeln kleine halbmondförmige Schatten bildeten. Das ging so immer weiter, ein Knurren und Schnarren, und als es endlich aufhörte, kam einem der Generator draußen viel zu laut vor.

»Ich hab ja schon ’ne Menge Monsterrülpser gehört, aber der war nun wirklich einsame Spitze«, sagte Biber. Es klang aufrichtig respektvoll.

McCarthy lehnte sich auf dem Sofa zurück, die Augen geschlossen und die Mundwinkel gesenkt zu einem Ausdruck, in dem Jonesy Scham oder Schmerz oder beides zu entdecken meinte. Und wieder nahm er diesen Geruch von Bananen und Äther wahr, ein gärender Geruch, als ob etwas gerade eben schlecht wurde.

»O Gott, das tut mir so Leid«, sagte McCarthy, ohne die Augen zu öffnen. »Das mache ich schon den ganzen Tag, seit es hell geworden ist. Und ich habe auch wieder Bauchschmerzen. «

Jonesy und der Biber schauten einander schweigend besorgt an.

»Weißt du, was ich glaube?«, meinte Biber. »Ich glaube, du solltest dich mal hinlegen und ein bisschen pennen. Du warst wahrscheinlich die ganze Nacht lang wach und hast auf diesen blöden Bären gelauscht und wer weiß auf was sonst noch. Du bist übermüdet und fertig und überhaupt. Du musst einfach mal ein bisschen Bubu machen, und in ein paar Stunden bist du wieder frisch wie der Morgentau.«

McCarthy sah Biber so hundserbärmlich dankbar an, dass sich Jonesy ein wenig genierte zuzuschauen. Obwohl McCarthys Teint immer noch bleiern war, war er in Schweiß ausgebrochen, große Tropfen, die sich auf Stirn und Schläfen bildeten und ihm dann wie klares Öl die Wangen hinunterliefen. Und das trotz der kalten Luft, die nun durchs Zimmer wirbelte.

»Wissen Sie«, sagte er, »Sie haben bestimmt Recht. Ich bin müde, weiter nichts. Ich habe Bauchschmerzen, aber das kommt vom Stress. Und ich habe alle möglichen Sachen ge-eessen, Blätter und ... o Mann, oje, ich weiß nicht ... alle möglichen Sachen halt.« Er kratzte sich die Wange. »Ist das verdammte Ding da auf meinem Gesicht schlimm? Blutet es?«

»Nein«, sagte Jonesy. »Es ist bloß rot.«

»Das ist eine Allergie«, sagte McCarthy mit tieftrauriger Stimme. »Das kriege ich auch immer, wenn ich Erdnüsse esse. Ich lege mich mal hin. Famose Idee.«

Er stand auf und fing sofort an zu schwanken. Biber und Jonesy wollten ihn festhalten, aber er kam auch allein ins Gleichgewicht. Jonesy hätte schwören können, dass das, was er für einen Bierbauch gehalten hatte, verschwunden war. War das möglich? Konnte der Mann so immense Blähungen gehabt haben? Er hatte keine Ahnung. Er wusste nur, dass es ein mächtiger Furz und ein noch mächtigerer Rülpser gewesen waren, etwas, wovon man noch in zwanzig Jahren erzählen konnte, beginnend etwa mit den Worten Wir sind früher alljährlich in der ersten Woche der Jagdsaison zu Biber Clarendons Hütte gefahren, und einmal im November — das war '01, in dem Jahr mit dem schweren Herbststurm -kommt da plötzlich dieser Typ in unser Camp gewandert... Ja, das würde eine gute Story abgeben, alle würden sie lachen über den Riesenfurz und den Riesenrülpser, bei Geschichten übers Furzen und Rülpsen waren einem die Lacher immer sicher. Er würde allerdings nicht erzählen, wie nur wenige Gramm Druck auf den Abzug des Garand gefehlt hatten, und er hätte McCarthy umgebracht. Nein, das würde er nicht erzählen.

Pete und Henry teilten sich ein Schlafzimmer, und deshalb führte Biber McCarthy zu dem anderen Schlafzimmer im Erdgeschoss, das Jonesy belegt hatte. Der Biber warf ihm einen knappen, bedauernden Blick zu, und Jonesy zuckte mit den Achseln. Das war schließlich die nahe liegendste Eösung. Jonesy konnte heute Nacht bei Biber schlafen - das hatten sie als Kinder oft genug gemacht -, und er wusste ohnehin nicht, ob McCarthy allein die Treppe hochgekommen wäre. Der bleierne, verschwitzte Teint des Mannes gefiel ihm immer weniger.

Jonesy zählte zu den Menschen, die ihr Bett erst machen, um es dann vollzumüllen - mit Büchern, Papieren, Kleidung, Tüten, Toilettenartikeln. Er räumte das alles schnell weg und schlug dann die Tagesdecke beiseite.

»Musst du noch mal auf den Topf, Partner?«, fragte der Biber.

McCarthy schüttelte den Kopf. Er wirkte fast hypnotisiert von dem sauberen blauen Laken, das Jonesy aufgeschlagen hatte. Jonesy fiel wieder auf, was für glasige Augen der Mann hatte. Wie die Augen einer ausgestopften Jagdtrophäe. Spontan sah er sein Wohnzimmer daheim in Brookline vor sich, diesem piekfeinen Vorort von Boston. Alte Teppiche, altamerikanische Möbel ... und McCarthys Kopf ausgestopft über dem Kamin. Den habe ich oben in Maine erlegt, würde er seinen Gästen bei Cocktailpartys erzählen. Ein Riesenvieh, wog ausgeweidet immer noch fast achtzig Kilo.

Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah ihn der Biber einigermaßen besorgt an.

»Meine Hüfte macht wieder Zicken«, sagte er. »Entschuldigung. Mr. McCarthy - Rick - den Pullover und die Hose wollen Sie doch sicherlich ausziehen. Und die Stiefel natürlich auch.«

McCarthy sah sich zu ihm um, als hätte Jonesy ihn aus einem Traum aufgeweckt. »Klar«, sagte er. »Sowieso.« »Brauchst du Hilfe?«, fragte Biber.

»Nein, das nun wirklich nicht.« McCarthy wirkte aufgeschreckt oder amüsiert oder beides. »So schlimm ist es nun auch wieder nicht.«

»Dann lasse ich Jonesy zum Aufpassen hier.«

Biber verließ das Zimmer, und McCarthy fing an, sich auszuziehen. Zunächst zog er sich den Pullover über den Kopf. Darunter trug er ein schwarz-rotes Holzfällerhemd und ein Thermo-Unterhemd. Und tatsächlich ragte unter diesem Hemd nicht mehr so viel Bauch hervor, da war sich Jonesy sicher.

Na ja ... fast sicher. Gerade mal eine Stunde zuvor, das rief er sich wieder ins Gedächtnis, hatte er McCarthys Mantel noch für einen Hirschkopf gehalten.

McCarthy setzte sich auf den Stuhl vor dem Fenster, um sich die Stiefel auszuziehen, und in diesem Moment ließ er wieder einen Furz - nicht so lang gedehnt wie der erste, aber genauso laut knatternd. Keiner von ihnen sagte etwas dazu, auch nicht zu dem daraus resultierenden Gestank, der in dem kleinen Raum so stark war, dass Jonesy ein wenig die Augen tränten.

McCarthy kickte sich die Stiefel von den Füßen - sie landeten polternd auf dem Dielenboden - und stand dann auf und öffnete seinen Gürtel. Als er seine Bluejeans herunterschob und die Beine seiner Thermo-Unterhose entblößte, kam der Biber von oben mit einem Keramiktopf wieder. Er stellte ihn ans Kopfende des Betts. »Nur falls du, na, du weißt schon, Reihermann und Söhne. Oder falls du ein R— Gespräch kriegst, das du sofort annehmen musst.«

McCarthy sah ihn mit einem so matten Blick an, dass Jonesy es besorgniserregend fand - ein Fremder in diesem Zimmer, das eigentlich sein Zimmer war, irgendwie gespenstisch anzuschauen in seiner schlabbrigen langen Unterhose. Ein kranker Fremder noch dazu. Fragte sich nur, was er hatte.

»Und falls du, na, du weißt schon, es nicht bis ins Badezimmer schaffst«, erklärte der Biber. »Das übrigens ganz in der Nähe ist. Einfach draußen links abbiegen, aber denk dran, es ist die zweite Tür, wenn du an der Wand entlanggehst. Okay? Wenn du das vergisst und die erste Tür nimmst, dann kackst du uns in den Wandschrank.«

Da musste Jonesy einfach lachen, und es war ihm ganz egal, wie es sich anhörte - schrill und leicht hysterisch.

»Es geht mir schon besser«, sagte McCarthy, aber Jonesy hörte der Stimme des Mannes keinerlei Aufrichtigkeit an. Und der Typ stand da einfach in Unterwäsche herum, wie ein Androide, dessen Gedächtnis-Chips zu drei Viertel gelöscht waren. Zuvor hatte er ja noch Lebenszeichen von sich gegeben, wenn er auch nicht direkt putzmunter gewirkt hatte; jetzt war das alles verschwunden, genau wie die Farbe aus seinen Wangen.

»Mach schon, Rick«, sagte Biber ganz ruhig. »Hau dich hin und penn ’ne Runde. Erhol dich.«

»Ja, gut.« Er setzte sich auf das frisch aufgeschlagene Bett und schaute aus dem Fenster. Seine Augen waren weit geöffnet und sein Blick ausdruckslos. Jonesy kam es so vor, als würde sich der Gestank im Zimmer allmählich legen, aber vielleicht gewöhnte er sich auch nur daran, wie man sich an den Gestank im Affenhaus im Zoo gewöhnte, wenn man sich nur lange genug darin aufhielt. »Mensch, schaun Sie mal, wie das schneit.«

»Ja«, sagte Jonesy. »Wie geht's Ihrem Magen jetzt?«

»Besser.« McCarthy schaute Jonesy ins Gesicht. Er hatte den ernsten Blick eines verängstigten Kindes. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich so furze - so was habe ich noch nie gemacht, nicht mal bei der Armee, und da haben wir praktisch jeden Tag Bohnen gegessen -, aber jetzt geht es mir besser.«

»Müssen Sie noch mal pinkeln, ehe Sie sich hinlegen?« Jonesy hatte vier Kinder, und die Frage stellte er fast automatisch.

»Nein. Ich bin im Wald gegangen, kurz bevor Sie mich gefunden haben. Danke, dass Sie mich aufgenommen haben. Danke Ihnen beiden.«

»Ach was«, sagte Biber und trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Das hätte doch jeder gemacht.«

»Vielleicht«, sagte McCarthy. »Und vielleicht auch nicht. In der Bibel heißt es: >Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.<« Draußen stürmte es jetzt regelrecht, und der Wind ließ die ganze Hütte erzittern. Jonesy wartete, dass McCarthy weitersprach - es hörte sich an, als hätte er noch mehr zu sagen -, aber der Mann schwang einfach nur noch seine Füße ins Bett und verschwand unter der Decke.

Irgendwo in den Tiefen von Jonesys Bett erklang nun noch ein weiterer lang gedehnter, schnarrender Furz, und da hatte Jonesy genug. Es war eine Sache, einen wandernden Fremden ins Flaus zu lassen, wenn gerade ein Sturm aufzog; etwas ganz anderes aber war es herumzustehen, während er eine Gasbombe nach der anderen losließ.

Der Biber folgte ihm hinaus und schloss sachte hinter sich die Tür.

Als Jonesy etwas sagen wollte, schüttelte Biber den Kopf, hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen und führte Jonesy quer durch den großen Raum in die Küche. Weiter konnten sie sich von McCarthy nicht entfernen, wenn sie nicht draußen in den Schuppen gehen wollten.

»Mann, der Typ hat ja vielleicht Schmerzen«, sagte Biber, und im grellen Licht der Neonröhren in der Küche sah Jonesy erst, wie besorgt sein alter Freund war. Der Biber wühlte in der großen Brusttasche seines Overalls, zog einen Zahnstocher hervor und fing an, daran herumzunagen. In drei Minuten - in der Zeit also, in der ein richtiger Raucher eine Zigarette schaffte - würden davon nur noch flachszarte Splitter übrig sein. Jonesy hatte keine Ahnung, wie Bibers Zähne das verkrafteten (von seinem Magen ganz zu schweigen), aber er machte das schon sein ganzes Leben lang so.

»Hoffentlich hast du Unrecht, aber ...« Jonesy schüttelte den Kopf. »Hast du schon mal so was gerochen wie diese Fürze?«

»Nein«, sagte Biber. »Aber der Typ hat noch ganz andere Probleme als seine Magenschmerzen.«

»Wie meinst du das?«

»Tja, er glaubt zum Beispiel, wir hätten den elften November.«

Jonesy verstand nicht. Der elfte November war der Tag gewesen, an dem sie, wie immer gemeinsam, in Henrys Scout hier eingetroffen waren.

»Biber, es ist Mittwoch. Heute ist der vierzehnte.«

Biber nickte und lächelte ein wenig, wider besseres Wissen. Der Zahnstocher, der bereits ziemlich verbogen war, wanderte von einem Mundwinkel in den anderen. »Ich weiß das. Du weißt es auch. Aber Rick, der weiß es nicht. Rick denkt, heute wäre der Tag des Herrn.«

»Biber, was genau hat er dir erzählt?« Was es auch war, es konnte nicht viel sein, denn so lange hatte es ja nicht gedauert, Rührei zu machen und eine Dose Suppe aufzuwärmen. Das brachte ihn auf eine andere Idee, und während Biber erzählte, ließ Jonesy Wasser ein, um die paar Teller zu spülen. Er hatte nichts gegen das Campen, hätte es aber nie ertragen, dabei in einem Saustall zu leben - ganz im Gegensatz zu den meisten Männern, wenn sie ihr trautes Heim verließen und in den Wald zogen.

»Er hat erzählt, sie wären am Samstag angekommen, damit sie noch ein bisschen jagen konnten, und am Sonntag wollten sie dann das Dach flicken, das ein paar Löcher hat. Er meinte: >Wenigstens habe ich nicht gegen das Gebot verstoßen, am Sonntag nicht zu arbeiten. Wenn man sich im Wald verlaufen hat, besteht die einzige Arbeit, die man leisten muss, darin, nicht verrückt zu werden. <«

»Soso«, sagte Jonesy.

»Also ich würde nicht drauf schwören, dass er glaubt, wir hätten den elften, aber entweder das oder noch eine Woche früher, den vierten, denn er glaubt auf jeden Fall, dass heute Sonntag ist. Und ich kann unmöglich glauben, dass er zehn Tage lang da draußen war.«

Das konnte Jonesy auch nicht. Aber drei Tage? Ja. Das konnte er glauben. »Das würde etwas erklären, das er mir erzählt hat«, sagte Jonesy. »Er -«

Der Boden knarzte, und sie zuckten zusammen und schauten zu der geschlossenen Schlafzimmertür auf der anderen Seite des großen Raums hinüber, aber dort war nichts zu sehen. Und der Boden und die Wände knarzten hier draußen ja auch ständig, auch wenn es mal nicht stürmte. Sie tauschten einen leicht betretenen Blick.

»Ja, ich bin nervös«, sagte Biber und las es Jonesy vielleicht am Gesicht ab oder in seinen Gedanken. »Mann, du musst schon zugeben, dass es ein bisschen unheimlich ist, dass er so aus dem Wald auftaucht.«

»Ja, das ist es.«

»Der Furz hat sich angehört, als hätte er irgendwas im Arsch, das gerade an einer Rauchvergiftung krepiert.«

Da guckte der Biber ein wenig verwundert, wie immer, wenn er was Witziges sagte. Sie brachen gleichzeitig in Gelächter aus, hielten sich aneinander fest, rissen den Mund auf, lachten rasselnd und gaben sich dabei Mühe, leise zu sein, damit der arme Kerl sie nicht hörte, wenn er denn noch wach war, sie hörte und wusste, dass sie über ihn lachten. Jonesy fiel es besonders schwer, leise zu sein, denn er hatte diesen Ausbruch so nötig gehabt - er hatte etwas Hysterisches in seiner Heftigkeit, und er kringelte sich vor Lachen, rang nach Luft und prustete, und Tränen liefen ihm über die Wangen.

Schließlich packte ihn Biber und zerrte ihn zur Tür hinaus. Da standen sie dann mantellos im Schnee und konnten endlich lauthals lachen, und der brausende Wind übertönte ihr Gelächter.

Als sie wieder hineingingen, waren Jonesys Hände so taub, dass er das heiße Wasser kaum spürte, als er sie hineintauchte, aber er hatte voll abgelacht, und das war gut. Er fragte sich wieder, wie es Pete und Henry gehen mochte und ob sie es zurück schaffen würden.

»Du hast gesagt, das würde irgendwas erklären«, sagte der Biber. Er war schon beim nächsten Zahnstocher. »Was meinst du damit?«

»Er hat nicht gewusst, dass es schneien würde«, sagte Jonesy. Er sprach langsam und versuchte sich an McCarthys Worte zu erinnern. »>So viel zum Thema heiter und der Jahreszeit entsprechend kalt<, hat er, glaube ich, gesagt. Und das käme hin, wenn er seit dem elften oder zwölften keine Wettervorhersagen mehr gehört hat. Denn bis gestern Abend war es ja heiter, nicht wahr?«

»Ja, und der Jahreszeit entsprechend scheißkalt«, pflichtete Biber bei. Er zog ein Geschirrtuch mit einem verblassten Marienkäfermuster aus der Schublade neben der Spüle und fing an, die Teller abzutrocknen. Dabei schaute er zu der geschlossenen Schlafzimmertür hinüber. »Was hat er noch gesagt?« »Dass ihr Camp in Kineo ist.«

»Kineo? Das ist vierzig oder fünfzig Meilen westlich von hier. Er -« Biber nahm den Zahnstocher aus dem Mund, betrachtete die Nagespuren und steckte sich das andere Ende zwischen die Lippen. »Aha, ich verstehe.«

»Ja. Das kann er nicht in einer einzigen Nacht gewandert sein, aber wenn er drei Tage lang da draußen war -«

»- und vier Nächte, wenn er sich am Samstagnachmittag verlaufen hat, dann sind das vier Nächte -«

»Ja, vier Nächte. Mal angenommen, er ist die ganze Zeit über ziemlich schnurstracks Richtung Osten gegangen ...« Jonesy rechnete mit fünfzehn Meilen pro Tag. »Ich würde sagen, das ist machbar.«

»Aber wieso ist er nicht erfroren?« Biber flüsterte nun fast, wahrscheinlich ohne sich dessen bewusst zu sein. »Er hat einen schönen dicken Mantel und eine lange Unterhose an, aber hier im County war es seit Halloween nachts immer deutlich unter null Grad. Jetzt erklär mir mal, wie er vier Nächte da draußen zubringt und dabei nicht erfriert. Er scheint nicht mal irgendwelche Frostbeulen zu haben, mal abgesehen von dem hässlichen Ding auf seiner Wange.«

»Ich weiß es nicht. Und da ist noch was«, sagte Jonesy. »Wieso hat er überhaupt keinen Bart?«

»Ha?« Biber machte den Mund auf. Der Zahnstocher klebte ihm an der Unterlippe. Dann, ganz allmählich, nickte er. »Ja. Er hat nur Stoppeln.«

»Ich würde sagen, von nicht mal einem Tag.«

»Dann hat er sich wohl rasiert, was?«

»Stimmt«, sagte Jonesy und stellte sich McCarthy vor, wie er sich im Wald verlaufen hatte, verängstigt, frierend und hungrig (nicht dass er so aussah, als hätte er viele Mahlzeiten verpasst, das war auch so eine Sache), sich aber trotzdem allmorgendlich an einen Fluss hockte, mit dem Stiefel ein Loch ins Eis trat, damit er an das Wasser kam, und dann seinen treuen Gillette-Rasierer aus ... woher? Aus der Manteltasche zog?

»Und heute Morgen hat er dann seinen Rasierer verloren, und deshalb hat er den Stoppelbart«, sagte der Biber. Jetzt lächelte er, aber besonders witzig fand er das anscheinend auch nicht.

»Ja, als er auch sein Gewehr verloren hat. Hast du seine Zähne gesehen?«

Biber machte ein ratloses Gesicht.

»Vier fehlen. Zwei oben, zwei unten. Er sieht aus wie dieser Alfred E. Neuman, der immer auf dem Titel von Mad drauf ist.«

»Na und? Ein paar von meinen Beißerchen haben auch

schon Reißaus genommen.« Biber zog sich mit dem Finger einen Mundwinkel nach hinten und entblößte seine linke Gebisshälfte in einem einseitigen Grinsen. Ein Anblick, ohne den Jonesy gut hätte leben können. »Siehste? Gleich da hinten.

«

Jonesy schüttelte den Kopf. Das war etwas anderes. »Der Typ ist Rechtsanwalt, Biber - der ist ständig in der Öffentlichkeit und muss auf sein Aussehen achten. Und die fehlen ihm auch vorne. Und er hat keine Ahnung, dass sie ihm fehlen. Das könnte ich schwören.«

»Du meinst doch nicht, dass er irgendwie verstrahlt ist oder so?«, fragte Biber beklommen. »Die Zähne fallen einem aus, wenn man eine Strahlenvergiftung hat, das habe ich mal in einem Film gesehen. In einem dieser Filme, die du immer guckst, diese Monsterfilme. Das glaubst du doch nicht, oder? Vielleicht hat er deshalb auch die rote Stelle?«

»Ja, er hat was abgekriegt, als das Kernkraftwerk in Mars Hill in die Luft geflogen ist«, sagte Jonesy, bereute den Scherz aber sofort, als er Bibers verwirrten Gesichtsausdruck sah. »Biber, wenn man eine Strahlenvergiftung hat, fallen einem doch wohl auch die Haare aus.«

Biber schaute wieder zuversichtlicher. »Ja, das stimmt. Der Typ in dem Film hatte am Schluss so eine Glatze wie Telly, wie hieß der noch, der früher im Fernsehen immer diesen Bullen gespielt hat.« Er hielt inne. »Und dann ist er gestorben. Der in dem Film, meine ich, nicht Telly, obwohl, wenn ich jetzt darüber nachdenke ...«

»Dieser Typ hat noch jede Menge Haare«, unterbrach ihn Jonesy. Wenn man Biber erst mal abschweifen ließ, kam man wahrscheinlich nie wieder auf das eigentliche Thema zurück. Ihm fiel auf, dass jetzt, da der Fremde nicht dabei war, keiner ihn Rick oder McCarthy nannte. Immer nur »der Typ«, als wollten sie ihn unbewusst zu etwas Unwichtigerem als einem Menschen degradieren - als wäre es dann nicht so wichtig, ob er... tja, ob er...

»Ja«, sagte Biber. »Hat er, nicht wahr? Jede Menge Haare.«

»Er muss unter Amnesie leiden.«

»Vielleicht, aber er weiß noch, wer er ist und mit wem er unterwegs war und so. Mann, das war aber ein Fanfarenstoß, den er da von sich gegeben hat, was? Und der Gestank erst! Wie Äther!«

»Ja«, sagte Jonesy. »Ich musste immer an Startfix denken. Diabetiker riechen nach irgendwas, wenn sie umkippen. Das habe ich mal in einem Krimi gelesen, glaube ich.«

»So ähnlich wie Startfix?«

»Weiß ich nicht mehr.«

Sie standen da, schauten einander an und lauschten dem Wind. Jonesy überlegte, Biber von den Blitzen zu erzählen, die der Typ angeblich gesehen hatte, aber was sollte das? Es reichte auch so.

»Ich hab echt gedacht, er würde kotzen, als er sich so vorgebeugt hat«, sagte der Biber. »Du nicht auch?«

Jonesy nickte.

»Und er sieht auch nicht gut aus, überhaupt nicht gut.«

»Nein.«

Biber seufzte, warf seinen Zahnstocher in den Müll und schaute aus dem Fenster. Es schneite noch heftiger als zuvor. Er strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Mann, wenn doch Henry und Pete hier wären. Vor allem Henry.«

»Biber, Henry ist Psychiater.«

»Ich weiß, aber immerhin ist er Arzt, und ich glaube, der Typ braucht einen Arzt.«

Henry war durchaus Arzt, musste es sein, um seine Zulassung als Seelenklempner zu bekommen, hatte aber, soweit Jonesy wusste, immer nur als Psychiater praktiziert. Aber er verstand, was Biber meinte.

»Glaubst du immer noch, dass sie es zurück schaffen, Biber?«

Biber seufzte. »Vor 'ner halben Stunden hätte ich noch

gesagt, na klar, aber jetzt kommt es ja so richtig dicke. Ich glaube schon.« Er schaute Jonesy mit düsterer Miene an, die gar nicht zu dem sonst immer so unbeschwerten Biber Clarendon passte. »Hoffentlich«, sagte er.

KAPITEL 3 Henrys Scout


Während er den Scheinwerfern des Scout durch den immer dichter werdenden Schneefall folgte und sich so wie durch einen Tunnel über die Deep Cut Road zu ihrer Hütte durchbuddelte, überlegte Henry, wie er es anstellen sollte.

Es gab da natürlich die Hemingway-Lösung - als Student an der Wesleyan University hatte er es in einem Aufsatz so genannt und offenbar schon damals daran gedacht -, und zwar auf sich selbst bezogen und nicht als weiteren Schritt zum Bestehen irgendeines affigen Seminars. Für die Hemingway-Lösung nahm man eine Flinte, und Henry hatte jetzt sogar eine ... nicht dass er es hier tun würde, unter den Augen der anderen. Die vier hatten viel Schönes dort auf ihrer Hütte erlebt, und es wäre ihnen gegenüber unfair, es dort zu tun. Das würde den Ort für Pete und Jonesy besudeln - und für Biber auch, vielleicht am meisten sogar für Biber, und das wäre nicht recht. Aber er würde es bald tun, er spürte es kommen wie ein Niesen. Schon komisch, das Lebensende mit einem Niesen zu vergleichen, aber darauf lief es wahrscheinlich hinaus. Einfach Hatschi! und dann: hello dark-ness, my Jd friend.

Wenn man die Hemingway-Lösung wählte, zog man sich vorher Schuhe und Socken aus. Das Gewehr stand mit dem Schaft auf dem Boden. Die Mündung des Laufs nahm man m den Mund. Mit dem großen Zeh drückte man ab. Nicht vergessen, dachte Henry, als der Scout auf dem Neuschnee hinten ein wenig ausbrach und er gegensteuerte - die Spuren waren dabei hilfreich, und das war im Grunde auch alles, woraus diese Straße bestand: zwei parallele Spuren von den Waldtraktoren, die hier im Sommer langfuhren. Wenn du es auf diese Weise machst, dann nimm vorher ein Abführmittel, und mach es erst, nachdem du zum letzten Mal kacken warst. Du kannst den Leuten, die dich finden, ruhig diese zusätzliche Sauerei ersparen.

»Vielleicht solltest du etwas langsamer fahren«, sagte Pete. Er hatte sich ein Bier zwischen die Oberschenkel geklemmt, das schon halb leer war, aber eines reichte nicht, um Pete zu beruhigen. Noch drei oder vier Bier, und Henry konnte mit hundert Sachen diese Straße entlangbrettern, und Pete würde einfach nur daneben sitzen und eine seiner entsetzlichen Pink-Floyd-Platten mitsingen. Und er konnte wahrscheinlich durchaus hundert fahren, ohne mehr zu riskieren als eine weitere Delle vorn in der Stoßstange. Wenn man in den Spuren dieser Straße blieb, fuhr man, auch bei Schnee, wie auf Gleisen. Wenn es weiter schneite, würde sich das vielleicht ändern, aber bisher war alles in Ordnung.

»Mach dir keine Sorgen, Pete. Ich hab alles im Griff.«

»Willst du'n Bier?«

»Nicht solange ich fahre.«

»Nicht mal hier draußen in West Overshoe?«

»Später.«

Pete gab es auf und ließ Henry auf dieser weißen Straße durch den Wald den Lichtkegeln der Scheinwerfer folgen. Ließ ihn mit seinen Gedanken allein, und genau das war es, was er wollte. Es war, als würde man mit der Zungenspitze immer wieder zu einer blutenden Wunde im Mund zurückkehren und sie untersuchen; aber genau das war es, was er wollte.

Man konnte Tabletten nehmen. Man konnte sich in der Badewanne eine Tüte über den Kopf ziehen. Man konnte sich ertränken. Man konnte sich in die Tiefe stürzen. Sich mit einer Pistole ins Ohr zu schießen war zu unsicher - die Chance war zu groß, dass man gelähmt erwachte -, ebenso wie sich die Handgelenke aufzuschlitzen; das war etwas für Leute, die noch übten, nein; aber die Japaner hatten eine Methode, die Henry sehr interessierte. Man binde sich ein Seil um den Hals. Das andere Ende binde man um einen großen Stein. Man stelle den Stein auf einen Stuhl und setze sich so hin, dass man mit dem Rücken an etwas lehnt und nicht nach hinten kippen kann. Man werfe den Stuhl um, und der Stein rollt los. Dann lebt man noch drei bis fünf Minuten in immer tieferer Bewusstlosigkeit. Grau geht in Schwarz über; hello darkness, my old friend. Er hatte ausgerechnet in einem von Jonesys geliebten Kinsey-Milhone-Krimis von dieser Methode gelesen. Kriminalromane und Horrorfilme -das war Jonesys Ding.

Alles in allem tendierte Henry eher zur Hemingway-Lösung.

Pete trank sein erstes Bier aus, machte sich ein zweites auf und sah schon viel zufriedener aus. »Was hältst du davon?«, fragte er.

Henry fühlte sich aus einem anderen Universum gerufen, aus einer Welt, in der die Lebenden auch wirklich leben wollten. Und wie stets in letzter Zeit machte ihn das gereizt. Aber es war wichtig, dass niemand Verdacht schöpfte, aber er hatte das Gefühl, dass Jonesy bereits etwas ahnte. Und Biber vielleicht auch. Sie waren es, die manchmal in ihn hineinschauen konnten. Pete hatte keine Ahnung, konnte aber vielleicht den anderen gegenüber etwas Falsches sagen, wie beschäftigt etwa der olle Henry immer wirke, als würde ihn irgendwas bedrücken, und das wollte Henry nicht. Es würde der letzte gemeinsame Jagdausflug der alten Kansas-Street-an§ in, der roten Korsaren aus der dritten und vierten Klasse, und er wollte, dass es schön wurde. Er wollte, dass sie schockiert waren, wenn sie davon erfuhren, auch Jonesy, er schon immer am tiefsten in ihn hineingesehen hatte. Er wollte, dass sie sagten, sie hätten nichts geahnt. Lieber so, als dass die drei mit gesenktem Kopf dahockten, einander kaum noch in die Augen zu sehen wagten und dachten, sie hätten es wissen müssen, hätten es kommen sehen und etwas unternehmen müssen. Und so kam er in diese andere Welt zurück und heuchelte mühelos und überzeugend Interesse. Wer konnte das schließlich besser als ein Seelenklempner? »Was halte ich wovon?«

Pete verdrehte die Augen. »Bei Gosselin's, du Blitzmerker! Das ganze Zeug, das der alte Gosselin erzählt hat.«

»Peter, sie nennen ihn ja nicht umsonst den alten Gosselin. Er ist mindestens achtzig, und wenn es eines gibt, woran bei alten Leuten bestimmt kein Mangel herrscht, dann ist es Hysterie.« Der Scout - mit seinen vierzehn Jahren auch nicht mehr der Jüngste und längst über die fünf Neunen auf dem Kilometerzähler hinaus — sprang aus der Spur und geriet sofort ins Schlingern, Allradantrieb hin oder her. Henry setzte zurück in die Spur und hätte fast gelacht, als Pete das Bier herunterfiel und er schrie: »Ey! Scheiße! Pass doch auf!«

Henry ging vom Gas, bis er den Scout wieder im Griff hatte, und trat dann absichtlich zu schnell und zu heftig wieder aufs Gaspedal. Der Scout geriet wieder ins Schlingern, diesmal in die entgegengesetzte Richtung, und Pete schrie wieder auf. Henry nahm erneut Gas weg, und der Scout sprang zurück in die Spuren, wo er dann wie auf Gleisen fuhr. Das Schöne daran, wenn man beschlossen hatte, sich das Leben zu nehmen, war es anscheinend, dass man vor solchen Kleinigkeiten keine Angst mehr hatte. Die Scheinwerfer drangen durch das weiße Treiben Myriaden tanzender Schneeflocken, die, glaubte man der herkömmlichen Überzeugung, alle einzigartig waren.

Pete hob sein Bier auf (es war nur wenig verschüttet) und tätschelte seine Bierkiste. »Fährst du nicht ein bisschen zu schnell?«

»Ach was«, sagte Henry, und fuhr dann, als wäre er mit dem Wagen nie ins Schleudern geraten (das war er durchaus) und als hätte es den Fluss seiner Gedanken nicht unterbrochen (das hatte es nicht), fort: »Gruppenhysterie findet man vor allem bei ganz alten und ganz jungen Menschen. Das ist ein auf meinem Gebiet ausführlich belegtes Phänomen, und bei den Soziologie-Schwachköpfen nebenan auch.«

Henry schaute kurz hinunter und sah, dass er fast sechzig Stundenkilometer fuhr, was bei diesen Straßenverhältnissen tatsächlich ein wenig zu schnell war. Er ging vom Gas. »Besser so?«

Pete nickte. »Nimm's mir nicht krumm, du bist ein fabelhafter Fahrer, aber es schneit, Mann. Und außerdem haben wir den Proviant dabei.« Er wies mit dem Daumen über seine Schulter auf die zwei Tüten und zwei Kartons auf der Rückbank. »Außer den Hotdogs haben wir mindestens drei Packungen Makkaroni mit Käse von Kraft. Du weißt ja, Biber kann ohne das Zeug nicht leben.«

»Ich weiß«, sagte Henry. »Ich ess das auch gern. Erinnerst du dich an diese Geschichten über Teufelsanbetungen in Washington, die Mitte der Neunziger die Runde machten? Die ließen sich zurückverfolgen zu mehreren alten Leuten, die mit ihren Kindern - in einem Fall auch Enkelkindern - in zwei Kleinstädten südlich von Seattle wohnten. Die massenhaften Berichte über sexuellen Missbrauch in Kindertagesstätten fingen anscheinend damit an, dass gleichzeitig in Delaware und Kalifornien Mädchen, die dort als Aushilfe arbeiteten, blinden Alarm schlugen. Möglicherweise ein Zufall, aber vielleicht war die Zeit auch einfach reif dafür, dass man an solche Geschichten glauben wollte, und diese Mädchen haben das gewittert.«

Wie flüssig ihm doch die Worte aus dem Munde quollen, rast als hätten sie noch eine Bedeutung. Henry sprach, und der Mann neben ihm lauschte, tumb bewundernd, und niemand (und schon gar nicht Pete) hätte dabei vermuten können, dass Henry eigentlich an die Flinte dachte, an die Schlinge, das Auspuffrohr, die Tabletten. Sein Kopf steckte voller Endlosbänder, das war alles. Und seine Zunge war das Abspielgerät.

»In Salem«, fuhr Henry fort, »haben die alten Männer und die jungen Frauen ihre Hysterie vereint, und voilä, schon hast du die Hexenprozesse von Salem.«

»Den Film habe ich mit Jonesy gesehen«, sagte Pete. »Da hat Vincent Price mitgespielt. Hat mir eine Heidenangst eingejagt.«

»Das glaube ich«, sagte Henry und lachte. Einen kurzen, verrückten Moment lang hatte er gedacht, Pete hätte Hexenjagd gemeint. »Und wann werden hysterische Ideen besonders glaubhaft? Sobald die Ernte eingefahren ist und das Wetter schlecht wird natürlich - dann hat man Zeit, Geschichten zu erzählen und Unfrieden zu stiften. In Wenat-chee, Washington, sind es Teufelsanbetung und Kinderopfer in den Wäldern. In Salem waren es Hexen. Und in Jefferson Tract, Heimstätte des unvergleichlichen Gosselin's Market, sind es merkwürdige Lichter am Himmel, vermisste Jäger und Truppenmanöver. Ganz zu schweigen von dem komischen roten Zeug, das an den Bäumen wächst.«

»Mit den Hubschraubern und Soldaten, das weiß ich nicht, aber so viele Leute haben diese Lichter gesehen, dass sie jetzt eigens eine Stadtversammlung abhalten. Das hat mir der alte Gosselin erzählt, als du die Büchsen holen warst. Und außerdem werden diese Leute in Kineo wirklich vermisst. Das ist keine Hysterie.«

»Nur vier kurze Einwände«, sagte Henry. »Erstens kann man in Jefferson Tract keine Stadtversammlung abhalten, weil es hier gar keine Stadt gibt - auch Kineo ist nur eine lose besiedelte Gegend mit einem Namen. Zweitens wird die Versammlung am Franklin-Ofen des alten Gosselin abgehalten, und die Hälfte der Teilnehmer werden hackedicht sein von Pfefferminzschnaps oder Coffee Brandy.«

Pete kicherte.

»Drittens: Was haben sie denn sonst zu tun? Und viertens: Was die Jäger angeht - die hatten wahrscheinlich entweder keine Lust mehr und sind nach Hause gefahren, oder sie haben sich alle besoffen und wollten im Spielcasino in Carra-bassett das große Los ziehen.«

»Meinst du, ja?« Pete wirkte geknickt, und Henry hatte ihn plötzlich sehr lieb. Er tätschelte ihm das Knie.

»Hab keine Angst«, sagte er. »Die Welt ist voller Seltsamkeiten.« Wäre die Welt wirklich voller Seltsamkeiten gewesen, dann wäre Henry, dachte er, nicht so erpicht darauf gewesen, sie zu verlassen, aber wenn Psychiater eines beherrschten (mal davon abgesehen, Rezepte für Prozac, Pa-xil und Arabien auszustellen), dann war es das Lügen.

»Aber es kommt mir doch schon ziemlich merkwürdig vor, dass gleichzeitig vier Jäger verschwinden.«

»Ach was«, sagte Henry und lachte. »Einer wäre sonderbar, zwei wären merkwürdig. Aber vier? Die sind gemeinsam abgehauen, verlass dich drauf.«

»Wie weit ist es noch zur Hütte, Henry?« Was übersetzt bedeuten sollte: Habe ich noch Zeit für ein Bier;"

Henry hatte den Tageskilometerzähler bei Gosselin's auf Null gestellt, eine alte Angewohnheit noch aus der Zeit, als er für den Bundesstaat Massachusetts gearbeitet und zwölf Cent pro Meile bekommen hatte und so viele psychotische Tattergreise, wie sein Herz begehrte. Die Entfernung vom Laden zur Hütte war einfach zu merken: 22,2 Meilen. Der Zähler zeigte jetzt 12,7 an, was bedeutete, dass -

»Pass auf!«, schrie Pete, und Henry schaute wieder nach vorn.

Der Scout war eben mitten im Wald auf der Kuppe eines steil ansteigenden Hügels angelangt. Hier schneite es heftiger denn je, aber Henry hatte das Fernlicht an und sah die Person klar und deutlich, die gut dreißig Meter vor ihnen auf der Straße saß. Die Person trug einen Dufflecoat, eine orangefarbene Weste, die sich wie Supermans Cape im auffrischenden Wind blähte, und hatte eine russische Pelzmütze auf. An der Mütze waren orangefarbene Bänder befestigt, und auch die flatterten im Wind und erinnerten Henry an die Girlanden, die man manchmal über den Höfen von Gebrauchtwagenhändlern sah. Der Typ hockte mitten auf der Straße wie ein Indianer, der die Friedenspfeife rauchen wollte, und regte sich nicht, als das Scheinwerferlicht ihn erfass-te. Für einen Moment sah Henry die Augen der sitzenden Gestalt, weit geöffnet, aber ganz ruhig, ganz ruhig und klar und ausdruckslos, und Henry dachte: So würden meine Augen auch ausseben, wenn ich nicht so gut auf sie Acht geben würde.

Es blieb keine Zeit zu bremsen, nicht hier im Schnee. Henry riss das Lenkrad nach rechts und spürte den Schlag, als der Scout wieder aus den Spuren sprang. Er erhaschte noch einen Blick auf das weiße, ruhige Gesicht und hatte noch Zeit zu denken: Ja, verdammt! Das ist ja eine Frau!

Sobald er aus den Spuren war, geriet der Scout wieder ins Schlingern. Diesmal steuerte Henry gegen und stellte bewusst die Räder quer, um besser Halt zu finden, da er, ohne darüber nachzudenken (zum Denken blieb keine Zeit) wuss-te, dass darin die einzige Chance der Straßenhockerin bestand -wenn auch keine sehr große.

Pete schrie, und aus dem Augenwinkel sah Henry, wie er sich die Hände vors Gesicht hielt, die Handflächen in einer abwehrenden Geste nach außen gekehrt. Der Scout wollte sich quer stellen, worauf Henry das Lenkrad herumriss und versuchte, das Schlittern wenigstens so weit im Griff zu behalten, damit er der Frau mit dem Heck des Wagens nicht das Gesicht einschlug. Das Lenkrad drehte sich mit Schwindel erregender Schnelligkeit in seinen behandschuhten Händen. Vielleicht drei Sekunden lang schoss der Scout die zugeschneite Deep Cut Road im Winkel von fünfundvierzig Grad entlang, wofür teilweise Henry Devlin und teilweise der

Sturm verantwortlich waren. Der Schnee stieb hoch und sprühte an ihnen vorbei, und die Scheinwerfer warfen zwei dahinrasende Spots auf die schneebedeckten Kiefern am linken Straßenrand. Drei Sekunden lang, allerhöchstem, aber das reichte. Er sah die Gestalt vorbeihuschen, als würde sie sich bewegen und nicht das Auto, nur dass sie sich nicht bewegte, nicht einmal, als die rostige Kante der Stoßstange des Scout nur wenige Zentimeter an ihrem Gesicht vorbeisauste.

Verpasst!, frohlockte Henry. Hab dich verpasst, du dumme Sau! Dann verlor er das letzte bisschen Kontrolle, und der Scout stellte sich quer. Der Wagen ruckelte, als er wieder in die Spuren fiel, nur diesmal quer. Er wollte sich immer noch umdrehen - Vordermann! Hintermann!, hatten sie damals immer gerufen, wenn sie in der Grammar School anstehen mussten -, doch dann prallte er mit heftigem Knall auf einen verborgenen Felsbrocken oder vielleicht einen kleinen umgestürzten Baum und überschlug sich, erst auf die Fahrerseite, wo die Fenster zu glitzernden Glaskrümeln zerplatzten, und drehte sich dann aufs Dach. Henrys oberer Sicherheitsgurt riss, und er wurde mit der linken Schulter gegen das Dach geschleudert. Mit den Eiern stieß er gegen die Lenksäule, was augenblicklich einen lähmenden Schmerz auslöste. Der Blinkerhebel brach an seinem Oberschenkel, und er spürte sofort Blut in seine Jeans sickern. Der Bordeaux, wie die Boxreporter früher immer gesagt hatten, schaut hin, Leute, jetzt fließt der Bordeaux. Pete rief etwas oder schrie oder beides.

Etliche Sekunden lief der Motor des umgekippten Scout noch weiter, und dann tat die Schwerkraft ein Übriges, und der Motor soff ab. Jetzt war er nur noch ein umgekipptes Autowrack auf der Straße, dessen Räder sich noch drehten und dessen Scheinwerfer die schneebeladenen Bäume am linken Straßenrand beschienen. Ein Scheinwerfer erlosch, aber der andere leuchtete weiter.

Henry hatte mit Jonesy viel über dessen Unfall gesprochen (hatte ihm hauptsächlich zugehört - Therapie, das war kreatives Zuhören), und er wusste, dass sich Jonesy an den eigentlichen Zusammenprall nicht erinnern konnte. Soweit Henry das beurteilen konnte, hatte er selbst nach dem Umkippen des Scout nie das Bewusstsein verloren, und die Kette der Erinnerungen blieb intakt. Er erinnerte sich, wie er nach der Schließe des Sicherheitsgurts getastet hatte und sich ganz aus dem Scheißding hatte lösen wollen, während Pete gebrüllt hatte, sein Bein sei gebrochen, sein Bein sei gebrochen, verdammt noch mal. Er erinnerte sich an das stete, regelmäßige Wick-wumm, Wick-wumm der Scheibenwischer und an die leuchtenden Armaturen, die nun auf dem Kopf standen. Er fand die Gurtschließe, verlor sie wieder, fand sie dann wieder und drückte drauf. Der Schoßgurt löste sich, und Henry plumpste aufs Wagendach und zerschlug dabei die Plastikhülle der Innenbeleuchtung.

Er tastete um sich, fand den Türgriff und konnte ihn nicht bewegen.

»Mein Bein! O Mann, mein Scheiß-ßem/«

»Sei jetzt mal still«, sagte Henry. »Dein Bein ist in Ordnung.« Als ob er das wusste. Er fand den Türgriff wieder und zerrte daran, aber ohne Erfolg. Dann ging ihm der Grund dafür auf: Er lag über Kopf und zerrte in die falsche Richtung. Er packte andersrum zu, und die bloßgelegte Birne der Innenbeleuchtung glühte ihm direkt ins Auge, als sich die Tür öffnete. Er stieß mit dem Handrücken dagegen und rechnete nicht damit, dass sie nachgeben würde. Die Karosserie war wahrscheinlich verzogen, und er konnte froh sein, wenn er sie zehn Zentimeter weit aufbekam.

Doch die Tür quietschte, und plötzlich spürte er Schneeflocken kalt um Gesicht und Hals wirbeln. Er schob fester und stieß mit der Schulter gegen die Tür, und erst als sich seine Beine von der Lenksäule lösten, wurde ihm klar, dass sie dort festgehangen hatten. Er schlug halbwegs einen Purzelbaum und betrachtete plötzlich den Schritt seiner Jeans ganz aus der Nähe, als hätte er seine vor Schmerz pochenden Eier küssen und trösten wollen. Ihm klappte das Zwerchfell zusammen, und das Atmen fiel ihm schwer.

»Henry! Hilf mir! Ich hänge fest! Ich hänge fest, verdammt!«

»Augenblick.« Seine Stimme klang gepresst und hoch, er kannte sie kaum wieder. Jetzt sah er, wie sich sein rechtes Hosenbein oben mit Blut vollsog. Der Wind in den Kiefern klang wie Gottes Staubsauger.

Er packte die Mittelsäule, froh, dass er beim Fahren die Handschuhe anbehalten hatte, und riss mit aller Kraft daran -er musste hier raus, musste sein Zwerchfell entlasten, damit er wieder atmen konnte.

Für einen Moment geschah gar nichts, und dann flutschte Henry hinaus wie ein Korken aus einer Flasche. Er lag für einen Augenblick keuchend da und schaute zu dem wirbelnden Netz aus fallenden Schneeflocken empor. Am Himmel war nichts Ungewöhnliches zu sehen; das hätte er vor Gericht auf einen ganzen Stapel Bibeln geschworen. Nur die niedrig hängenden grauen Wolkenbäuche und das psychedelisch wirkende Schneegestöber.

Pete rief immer wieder und zusehends panisch seinen Namen.

Henry drehte sich um und kam auf die Knie, und als ihm das gelungen war, stand er schwankend auf. Er stand einen Moment lang da, im Wind schwankend, und wartete ab, ob sein blutendes linkes Bein einknicken und ihn zurück in den Schnee werfen würde. Als es das nicht tat, humpelte er um das Heck des umgestürzten Scout herum, um nachzusehen, wie er Pete helfen konnte. Kurz schaute er auch zu der Frau muber, die schuld an diesem ganzen Kackorama war. Sie lrnrner noch im Schneidersitz mitten auf der Straße, die Oberschenkel und die Front ihres Mantels waren eingeschneit. Ihre Weste flatterte im Wind, ebenso die Bänder an ihrer Mütze. Sie hatte sich nicht zu ihnen umgeschaut, sondern starrte weiter unverwandt in Richtung Gosselin's Market, genau wie zuvor, als sie über die Hügelkuppe gekommen waren und sie entdeckt hatten. Eine schlangenlinienförmige Reifenspur verlief im Schnee nur knapp dreißig Zentimeter an ihrem linken Knie vorbei, und er hatte keine Ahnung, wirklich nicht die mindeste Ahnung, wie es ihm gelungen war, ihr auszuweichen.

»Henry! Hilf mir, Henry!«

Er eilte weiter und schlitterte durch den Neuschnee zur Beifahrerseite. Petes Tür klemmte, aber als sich Henry hinkniete und mit beiden Händen daran zerrte, ließ sie sich halb öffnen. Er packte Pete an der Schulter und zog. Nichts.

»Mach den Gurt los, Pete.«

Pete nestelte herum, fand ihn aber nicht, obwohl er ihn direkt vor der Nase hatte. Ganz methodisch und ohne die mindeste Ungeduld zu verspüren (er ging davon aus, dass er unter Schock stand), löste Henry den Sicherheitsgurt. Pete stürzte aufs Dach und drehte den Kopf beiseite. Er schrie vor Erstaunen und Schmerz auf und zwängte und schob sich dann durch die halb offene Tür. Henry packte ihn unter den Armen und zog ihn. Gemeinsam purzelten sie in den Schnee, und Henry hatte ein so plötzliches und mächtiges Dejä-vu, dass es ihm fast die Sinne raubte. Hatten sie als Kinder nicht genauso gespielt? Natürlich hatten sie das. Zum Beispiel an dem Tag, als sie Duddits beigebracht hatten, Schnee-Engel zu machen. Jemand fing an zu lachen, was Henry ziemlich erschreckte. Doch dann merkte er, dass er es selber war, der lachte.

Pete setzte sich wild und finster blickend auf, den Rücken mit Schnee bedeckt. »Verdammte Scheiße, worüber lachst du? Das Schwein hätte uns fast umgebracht! Ich dreh dem Schwein den Hals um!«

»Kein Schwein, eher eine Sau«, sagte Henry. Er lachte nun noch lauter und hielt es durchaus für möglich, dass Pete nicht verstand, was er sagte - zumal bei diesem Wind -, aber das war ihm egal. Selten nur hatte er sich so herrlich gefühlt.

Pete stand so auf wie Henry, und Henry wollte eben bemerken, wie gut sich Pete doch bewegen könne für jemanden mit einem gebrochenen Bein, als Pete mit einem Schmerzensschrei wieder zu Boden sank. Henry ging zu ihm und tastete sein Bein ab, das er vor sich ausgestreckt hatte. Es schien unversehrt, aber wie wollte man das durch zwei Schichten Kleidung beurteilen?

»Es ist überhaupt nicht gebrochen«, sagte Pete, keuchte dabei aber vor Schmerz. »Das Scheißknie ist blockiert, weiter nichts, genau wie früher, als ich noch Football gespielt habe. Wo ist sie? Bist du sicher, dass es eine Frau ist?«

»Ja.«

Pete stand auf, humpelte vorn ums Auto herum und hielt sich dabei das Knie. Der noch intakte Scheinwerfer strahlte weiter tapfer in den Schnee. »Dann will ich mal hoffen, dass sie gelähmt oder blind ist«, sagte er zu Henry. »Denn wenn nicht, tret ich ihr bis zu Gosselin's zurück in den Arsch.«

Henry brach wieder in Gelächter aus. Er hatte Pete vor Augen, wie er humpelte ... und dann zutrat. Wie ein invalider Tanzbär. »Peter, tu ihr nicht weh!«, rief er, und jede Ernsthaftigkeit, die er vielleicht aufgebracht hätte, wurde dadurch zunichte gemacht, dass er nur zwischen heftigen Lachanfällen sprechen konnte.

»Nur, wenn sie mir frech kommt«, sagte Pete. Die Worte, die der Wind zu Henry weitertrug, klangen nach gekränktem Tantchen, und das brachte ihn nur noch mehr zum Lachen. Er zerrte sich die Jeans und die lange Unterhose herunter, stand dann in seiner Jockeys da und schaute nach, wie schwer ihn der Blinkerhebel verwundet hatte.

Es war eine flache, gut sechs Zentimeter lange Wunde innen am Oberschenkel. Sie hatte reichlich geblutet und nässte immer noch, aber Henry glaubte nicht, dass es schlimm war.

»Was zum Teufel haben Sie sich denn dabei gedacht?«, zeterte Pete auf der anderen Seite des umgestürzten Scout los, dessen Scheibenwischer immer noch Wick-u>umm, Wick-wumm machten. Und obwohl Petes Tirade mit Schimpfwörtern (größtenteils Biberismen) gespickt war, hörte er sich für Henry an wie eine gekränkte ältliche Lehrerin, und das brachte ihn wieder zum Lachen, während er sich die Hosen hochzog.

»Verdammte Scheiße noch mal! Wieso sitzen Sie mitten in einem Schneesturm mitten auf der Straße? Sind Sie besoffen? Zugedröhnt? Was für eine bescheuerte Dumpfbacke sind Sie denn? Hey! Antworten Sie mir! Sie hätten mich und meinen Freund fast umgebracht, da können Sie doch wohl wenigstens ... auu, VERFICKT UND ZUGENÄHT!«

Henry kam eben noch rechtzeitig hinter dem Autowrack hervor, um Pete neben Miss Buddha zu Boden stürzen zu sehen. Sein Knie war wohl wieder blockiert. Sie sah ihn nicht mal an. Die orangefarbenen Bänder an ihrer Mütze flatterten hinter ihr im Wind. Das Gesicht hielt sie dem Sturm entgegen, die weit geöffneten Augen zwinkerten nicht, während Schneeflocken hineinwirbelten und auf den warmen Linsen schmolzen, und Henry spürte, trotz allem, seine berufliche Neugierde erwachen. Auf wen waren sie denn hier gestoßen?

»Auu, Scheißdreck, verdammte Scheiße, tut das WEH!« »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Henry, und das brachte ihn wieder zum Lachen. Was für eine bescheuerte Frage.

»Höre ich mich etwa so an, Seelenklempner?«, giftete Pete zurück, doch als sich Henry über ihn beugte, machte er eine

abwehrende Handbewegung. »Nee, schon gut, es geht schon wieder. Schau mal lieber nach Prinzessin Arschgeige. Die sitzt da einfach nur.«

Henry kniete sich vor der Frau hin und zuckte bei dem Schmerz zusammen - seine Beine, ja, aber seine Schulter tat auch weh, wo er mit ihr aufs Dach geknallt war, und er bekam einen steifen Hals -, kicherte aber immer noch.

Sie war nun wirklich keine junge Maid, der es beizuspringen galt. Sie war mindestens vierzig und kräftig gebaut. Zwar trug sie einen dicken Mantel und wer weiß wie viele Kleiderschichten, doch zeichneten sich darunter unverkennbar Euter von einem Kaliber ab, für das die Möglichkeit der Brustverkleinerungsoperation ursprünglich geschaffen worden war. Dem Haar, das zwischen und unter den Ohrenklappen ihrer Mütze hervorragte, war keinerlei Frisur anzusehen. Wie Pete und Henry trug sie Jeans, aber ihre Oberschenkel waren doppelt so breit wie Henrys. Das erste Wort, das ihm einfiel, war Landfrau — diese Frauen, die man sah, wie sie auf dem mit Spielzeug übersäten Hof neben dem extrabreiten Wohnwagen ihre Wäsche aufhängten, während Garth oder Shania aus einem Radio plärrten, das an einem offenen Fenster stand ... oder wie sie bei Gosselin's einkauften. Die orangefarbene Warnkleidung mochte darauf hindeuten, dass sie auf der Jagd war, aber wo war dann ihr Gewehr? Bereits unter dem Schnee begraben? Ihre weit geöffneten Augen waren dunkelblau und schauten völlig ausdruckslos. Henry schaute sich nach ihren Fußspuren um, konnte aber keine entdecken. Zweifellos hatte der Wind sie verweht; aber unheimlich war es schon; als wäre sie vom Himmel gefallen.

Henry zog sich die Handschuhe aus und schnipste vor ihren glotzenden Augen mit den Fingern. Sie blinzelte. Das war nicht viel, aber mehr, als er erwartet hatte, angesichts dessen, dass ein mehrere Tonnen schweres Fahrzeug sie eben rast um Haaresbreite verfehlt hatte, ohne dass sie auch nur mit der Wimper gezuckt hätte.

»Hey!«, schrie er ihr ins Gesicht. »Hey! Aufgewacht! Aufgewacht! «

Er schnipste wieder mit den Fingern und hatte kaum noch ein Gefühl darin - seit wann war es denn plötzlich so kalt? Na, jetzt sind wir aber in der Bredouille, dachte er.

Die Frau rülpste. Der Rülpser war erstaunlich laut, auch mit dem tosenden Wind in den Bäumen, und ehe der Sturm den Geruch vertrieb, bekam Henry noch etwas mit, das sowohl bitter als auch durchdringend roch - wie medizinischer Alkohol. Die Frau regte sich, verzog das Gesicht und ließ dann einen Furz - einen lang gedehnten, knatternden Furz, der sich anhörte, als würde ein Tuch zerreißen. Vielleicht, dachte Henry, begrüßen sich die Einheimischen hier ja so. Bei dem Gedanken musste er wieder lachen.

»Ach du grüne Neune«, sagte Pete, nun fast direkt neben seinem Ohr. »Das hat sich ja angehört, als wäre ihr Hosenboden geplatzt. Was haben Sie denn getrunken, Lady? Pres-tone?« Und dann zu Henry: »Die hat doch irgendwas getrunken, Herrgott, und ich fress ’n Besen, wenn das nicht Frostschutzmittel war.«

Henry roch es auch.

Die Frau bewegte plötzlich die Augen und schaute Henry ins Gesicht. Er war entsetzt über den Schmerz, den er ihrem Blick ansah. »Wo ist Rick?«, fragte sie. »Ich muss Rick finden - er ist als Einziger noch übrig.« Sie verzog das Gesicht, und als sie die Lippen zurückzog, sah Henry, dass die Hälfte ihrer Zähne fehlten. Die verbliebenen sahen aus wie die Latten eines verfallenen Zauns. Sie rülpste wieder, und der Geruch war so übermächtig, dass ihm davon die Augen tränten.

»Ach du Kacke!«, schrie Pete förmlich. »Was hat sie denn?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Henry. Er wusste nur mit Sicherheit, dass die Frau nun wieder ausdruckslos schaute und sie hier ziemlich in der Patsche steckten. Wäre er allein gewesen, dann hätte er sich vielleicht zu der Frau gesetzt und den Arm um sie gelegt - eine weit interessantere und originellere Antwort auf die letzte Frage als die Hemingway-Lö-sung. Aber er musste ja auch noch an Pete denken - und Pete hatte noch nicht mal seinen ersten Alkohol-Entzug durchgemacht, der ihm zweifellos bevorstand. Und außerdem war er neugierig.

Pete saß im Schnee, massierte sich wieder das Knie, schaute Flenry an und wartete darauf, dass der etwas unternahm, denn Flenry war nur allzu oft der Ideengeber ihrer Viererbande gewesen. Sie hatten zwar keinen Anführer gehabt, aber Flenry war so etwas Ähnliches gewesen. Das war auch schon damals auf der Junior High School so. Die Frau schaute währenddessen nur wieder hinaus in den Schnee.

Ganz ruhig, dachte Flenry. Tief durchatmen und ganz ruhig sein. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und atmete dann wieder aus. Schon besser. Schon viel besser. Also gut, was war mit dieser Frau los? Mal davon abgesehen, woher sie kam, was sie hier machte und warum ihr Atem nach verdünntem Frostschutzmittel stank, wenn sie rülpste. Was war im Moment mit ihr los?

Sie stand unter Schock, das war offensichtlich. Ein so tiefer Schock, dass er einer Katatonie ähnelte. Man bedenke nur, dass sie sich kaum bewegt hatte, als der Scout um Haaresbreite an ihr vorbeigeschleudert war. Und doch hatte sie sich noch nicht so tief in sich selbst zurückgezogen, dass man sie nur mit einem injizierten Aufputschmittel hätte wiederbeleben können; sie hatte auf sein Fingerschnipsen reagiert und etwas gesagt. Hatte sich nach einem gewissen Rick erkundigt.

»Henry -«

»Sei mal kurz still.«

Er zog sich wieder die Handschuhe aus und klatschte vor ihrem Gesicht schnell in die Hände. Es war sehr leise, verglichen mit dem steten Tosen des Winds in den Bäumen, aber sie blinzelte wieder.

»Stehen Sie auf!«

Henry nahm sie bei den behandschuhten Händen, und es ermutigte ihn, dass sie sich reflexartig um seine schlössen. Er beugte sich vor, kam dabei ihrem Gesicht nahe und roch wieder diesen ätherartigen Gestank. Wer so roch, konnte nicht gesund sein.

»Stehen Sie auf! Auf die Beine! Mit mir! Bei drei! Eins, zwei, drei!«

Er stand auf und hielt ihre Hände. Sie erhob sich, ihre Knie knackten, und sie rülpste wieder. Dann furzte sie auch noch. Die Mütze rutschte ihr über ein Auge. Als sie keine Anstalten machte, sie zu richten, sagte Henry: »Setz ihr die Mütze richtig auf.«

»Ha?« Pete war ebenfalls aufgestanden, sah aber nicht sonderlich sicher auf den Beinen aus.

»Ich will sie nicht loslassen. Rück ihr die Mütze zurecht, dass sie ihr nicht übers Auge hängt.«

Mit spitzen Fingern richtete Pete ihr die Mütze. Die Frau neigte leicht den Kopf, verzog das Gesicht und furzte wieder.

»Herzlichen Dank«, sagte Pete säuerlich. »Ihr wart ein wunderbares Publikum. Gute Nacht.«

Henry spürte, wie sie weiche Knie bekam, und packte fester

zu.

»Gehen Sie!«, schrie er und kam nun wieder ihrem Gesicht nahe. »Gehen Sie mit mir! Bei drei! Eins, zwei, drei!«

Er ging nun rückwärts auf den Scout zu. Sie sah ihn an, und er hielt Blickkontakt zu ihr. Ohne Pete anzusehen - er wollte nicht riskieren, ihre Aufmerksamkeit zu verlieren -sagte er: »Pack mich beim Gürtel. Führ mich.«

»Wohin?«

»Um den Scout herum.«

»Ich weiß nicht, ob ich das -«

»Du musst, Pete. Mach schon.«

Für einen Moment tat sich nichts, und dann spürte er, wie Petes Hand unter seinen Mantel glitt, dort nestelte und seinen Gürtel packte. Wie bei einer Polonäse schlurften sie unbeholfen über die schmale Straße, durch den glotzenden, gelben Scheinwerferstrahl des Scout. Hinter dem umgestürzten Fahrzeug waren sie zumindest teilweise vor dem Wind geschützt, und das war gut so.

Die Frau zog abrupt ihre Hände aus Henrys Griff und beugte sich mit offenem Mund vor. Henry trat einen Schritt zurück, wollte nicht davon getroffen werden, was sie von sich geben würde ... doch statt zu kotzen, rülpste sie, noch lauter als zuvor. Dann ließ sie, immer noch vorgebeugt, einen weiteren Furz. Das Geräusch dabei ähnelte nichts, was Henry je gehört hatte, und dabei hätte er geschworen, in den Krankenhäusern des westlichen Massachusetts schon alles gehört zu haben. Immerhin blieb sie auf den Beinen und schnaufte laut durch die Nase wie ein Pferd.

»Henry«, sagte Pete. Seine Stimme klang heiser vor Entsetzen, Ehrfurcht oder beidem. »Mein Gott, schau dir das an.«

Er starrte mit offenem Mund zum Himmel. Henry folgte seinem Blick und konnte kaum glauben, was er da sah. Strahlend helle Lichtkreise, neun oder zehn, zogen langsam über die niedrig hängenden Wolken. Sie waren so hell, dass Henry blinzeln musste. Er dachte kurz an die Strahler, die in Hollywood bei Filmpremieren den Nachthimmel furchten, aber natürlich gab es hier draußen im Wald keine solchen Scheinwerfer, und hätte es welche gegeben, dann hätte er auch die Lichtstrahlen in der Schneeluft gesehen. Was auch lrnmer diese Lichter aussandte - es befand sich über oder in en Wolken, nicht darunter. Sie bewegten sich hin und her, anscheinend ziellos, und Henry spürte, wie sich plötzlich eine Urangst in ihm breit machte, sich aus seinem tiefsten Innern zu erheben schien. Mit einem Mal fühlte sich sein Rückenmark wie eine Eissäule an.

»Was ist das?«, fragte Pete, den Tränen nah. »Herrgott, Henry, was ist das?«

»Ich habe keine -«

Die Frau sah hoch, sah die tanzenden Lichter und fing an zu kreischen. Sie kreischte erstaunlich laut, und es klang so entsetzt, dass Henry fast mitgekreischt hätte.

»Sie sind wieder da!«, schrie sie. »Sie sind wieder da! Sie sind wieder da!«

Dann hielt sie sich die Augen zu und lehnte den Kopf an den Vorderreifen des umgestürzten Scout. Sie hörte auf zu schreien und stöhnte nur noch, wie ein Tier in einer Falle, das nicht mehr hoffte, sich befreien zu können.

Für eine Ungewisse Zeitspanne (wahrscheinlich aber höchstens fünf Minuten lang, wenn es ihnen auch länger vorkam) sahen sie den strahlend hellen Lichtern am Himmel zu - wie sie kreisten, dahinglitten, nach links und rechts auswichen und Bocksprünge miteinander zu vollführen schienen. Irgendwann fiel Henry auf, dass es nur noch fünf waren und kein knappes Dutzend mehr, und dann waren es nur noch drei. Die Frau, die neben ihm das Gesicht an den Reifen lehnte, furzte wieder, und da wurde Henry klar, dass sie hier mitten in der Wildnis standen und ein irgendwie durch den Sturm ausgelöstes Himmelsphänomen begafften, das zwar ganz interessant war, ihnen aber auch nicht dabei half, an einen warmen und trockenen Ort zu gelangen. Er konnte sich an den letzten Blick auf den Tageskilometerzähler ganz genau erinnern: 12,7. Sie waren noch fast zehn Meilen von

ihrer Hütte entfernt, unter idealen Wetterbedingungen auch schon ein anständiger Fußmarsch, und um sie her brauste ein Sturm, dem nicht mehr viel zum Blizzard fehlte. Noch dazu, dachte er, bin ich hier der Einzige, der gehen kann. »Pete.«

»Das ist was, hm?«, hauchte Pete. »Das sind echte UFOs, genau wie in Akte X. Was soll man -«

»Pete.« Er fasste Pete am Kinn und drehte sein Gesicht vom Himmel weg zu sich her. Dort oben verblassten die letzten beiden Lichter. »Das ist irgendein elektrisches Phänomen, weiter nichts.«

»Meinst du?« Pete wirkte absurderweise enttäuscht.

»Ja - das hat irgendwas mit dem Sturm zu tun. Aber auch wenn das die erste Angriffswelle der Schmetterlings-Aliens vom Planeten Alnitak sein sollte, kann uns das egal sein, wenn wir uns hier draußen in Eis am Stil verwandeln. Du musst mir jetzt helfen. Du musst deinen kleinen Trick anwenden. Kannst du das?«

»Ich weiß nicht«, sagte Pete und warf noch einen letzten Blick gen Himmel. Es war jetzt nur noch ein Licht zu sehen, und das war so blass, dass man es nicht erkannt hätte, hätte man nicht danach gesucht. »Ma'am? Ma'am, sie sind gleich weg. Beruhigen Sie sich, ja?«

Sie erwiderte nichts, stand einfach nur mit dem Gesicht an den Reifen gelehnt da. Die Bänder an ihrer Mütze flatterten im Wind. Pete seufzte und drehte sich wieder zu Henry um. »Was willst du?«

»Du kennst doch die Holzfällerschuppen an dieser Straße?« Es gab acht oder neun davon, und sie bestanden lediglich aus vier Pfosten und einem rostigen Wellblechdach. Die Holzfäller bewahrten darin über den Winter Holzklötze und Ausrüstungsgegenstände auf.

»Klar«, sagte Pete.

»Wo ist der nächste? Kannst du mir das sagen?« 61:6 schloss die Augen, hob einen Finger und bewegte ihn

vor und zurück. Dazu machte er mit der Zungenspitze am Gaumen ein leises tickendes Geräusch. Das machte Pete schon seit der High School so. Er machte es noch nicht so lange, wie Biber Bleistifte annagte und Zahnstocher kaute oder wie Jonesy für Horrorfilme und Mordgeschichten schwärmte, aber doch schon ziemlich lange. Und normalerweise klappte es. Henry wartete ab und hoffte, es würde auch diesmal klappen.

Die Frau, die anscheinend trotz des brausenden Winds das leise, rhythmische Ticken aufgeschnappt hatte, hob den Kopf und sah sich um. Von dem Reifen hatte sie eine große dunkle Schmierspur auf der Stirn.

Schließlich schlug Pete wieder die Augen auf. »Gleich da vorne«, sagte er und wies in Richtung ihrer Hütte. »Geh um die Kurve, dann kommt ein Hügel. Auf der anderen Seite des Hügels kommt ein gerades Stück. Und am Ende dieses geraden Stücks steht einer dieser Schuppen. Er steht links neben der Straße. Das Dach ist zum Teil eingestürzt. Ein Mann namens Stevenson hatte da mal Nasenbluten.«

»Tatsächlich?«

»Ach, Mann, was weiß denn ich ...« Pete schaute weg, als genierte er sich.

Henry erinnerte sich vage an diesen Schuppen ... und vielleicht war es gut, dass das Dach teilweise eingestürzt war. Wenn es in die richtige Richtung gefallen war, hatte es den wandlosen Unterstand vielleicht in einen Wetterschutz verwandelt.

»Wie weit?«

»Eine halbe Meile. Vielleicht auch eine Dreiviertelmeile.«

»Und du bist dir sicher?«

»Ja.«

»Kannst du mit deinem Knie so weit gehen?«

»Ich denke schon. Aber sie?«

»Sie hat keine Wahl«, sagte Henry. Er legte der Frau seine Hände auf die Schultern, drehte ihr mit großen Augen glotzendes Gesicht zu sich und näherte sich ihr, bis sich ihre Nasen fast berührten. Ihr Atem stank abscheulich - nach Frostschutzmittel und noch etwas Öligem, Organischem dazu -, aber er hielt dem tapfer stand.

»Wir müssen gehen!«, sagte er in lautem Befehlston zu ihr. »Gehen Sie mit mir! Bei drei! Eins, zwei, drei!«

Er nahm sie an die Hand und führte sie um den Scout herum auf die Straße. Sie sträubte sich kurz, folgte ihm dann aber lammfromm und schien den Wind gar nicht zu bemerken, der ihnen entgegenschlug. So wanderten sie etwa fünf Minuten lang; Henry hielt die behandschuhte rechte Hand der Frau in seiner linken, und dann blieb Pete plötzlich stehen.

»Warte«, sagte er. »Das verdammte Knie fängt wieder an zu blockieren.«

Während er sich bückte und es massierte, sah Henry zum Himmel hoch. Es waren keine Lichter mehr zu sehen. »Alles in Ordnung? Schaffst du's?«

»Ich schaffe das«, sagte Pete. »Komm, gehn wir.«

6

Sie schafften es um die Kurve und halb den Hügel hinauf, und dann fiel Pete zu Boden, stöhnte und fluchte und hielt sich das Knie. Als er sah, wie Henry ihn anschaute, gab er einen seltsamen Laut von sich, halb Lachen und halb Knurren. »Mach dir um mich keine Sorgen«, sagte er. »Der kleine Petie schafft das schon.«

»Bestimmt?«

»Jau.« Und zu Henrys Befremden (nein, auch Belustigung, dieser schwarze Humor schien ihn gar nicht mehr loszulassen), ballte Pete die Fäuste und schlug auf sein Knie ein.

»Pete -«

»Hör auf, du Scheißteil, hör auf!«, schrie Pete und ignorierte ihn völlig. Und die ganze Zeit über stand die Frau mit hängenden Schultern da, den Wind jetzt im Rücken, die orangefarbenen Mützenbänder flatterten ihr ins Gesicht, und sie war so still wie eine Maschine, die man abgeschaltet hatte. »Pete?«

»Es geht schon wieder«, sagte Pete. Er schaute mit erschöpftem, aber auch nicht unamüsiertem Blick zu Henry hoch. »Ist das jetzt das absolute Kackorama, oder was?« »Allerdings.«

»Ich glaube nicht, dass ich ganz bis nach Derry zurück wandern könnte, aber bis zu diesem Schuppen schaffe ich es.« Er streckte eine Hand aus. »Hilf mir hoch, Chief.«

Henry nahm die Hand seines alten Freunds und zog. Pete stand steifbeinig auf, als würde er sich von einer Verbeugung erheben, stand dann für einen Moment da und sagte schließlich: »Gehn wir. Ich freue mich schon darauf, aus diesem Wind herauszukommen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Wir hätten ein paar Bier mitnehmen sollen.«

Sie erreichten die Hügelkuppe, und dahinter war der Wind nicht mehr so schlimm. Als sie dann am Fuß des Hügels auf das gerade Straßenstück kamen, hatte Henry sogar zu hoffen gewagt, wenigstens hier würde es keine Schwierigkeiten geben. Dann, mitten auf dem geraden Stück, als sie vor sich eben einen schemenhaften Umriss erkennen konnten, bei dem es sich um den Holzfällerschuppen handeln musste, brach die Frau zusammen - erst ging sie in die Knie, dann schlug sie lang hin. Für einen Moment lag sie so da, den Kopf beiseite gedreht, und nur die Atemfahne aus ihrem offen stehenden Mund deutete darauf hin, dass sie noch am Eeben war (und wie viel einfacher wäre alles, wenn sie es nicht wäre, dachte Henry). Dann drehte sie sich auf die Seite und gab wieder einen lang gedehnten, wiehernden Rülpser von sich.

»Mann, du nervige Fotze«, sagte Pete, und es klang eher erschöpft als verärgert. Er schaute Henry an. »Was jetzt?«

Henry kniete sich neben sie, brüllte sie an, sie solle aufstehen, schnipste mit den Fingern, klatschte in die Hände und zählte mehrfach bis drei. Nichts wirkte.

»Bleib hier bei ihr. Vielleicht finde ich was, worauf wir sie ziehen können.«

»Na viel Glück.«

»Hast du ’ne bessere Idee?«

Pete setzte sich in den Schnee, verzog das Gesicht und streckte sein verwundetes Bein aus. »Nein, Sir«, sagte er. »Habe ich nicht. Mir sind gerade die Ideen ausgegangen.«

Henry brauchte fünf Minuten bis zu dem Schuppen. Sein Bein wurde an der Stelle, an der sich der Blinkerhebel hineingebohrt hatte, allmählich steif, aber das würde schon wieder, dachte er. Wenn er Pete und die Frau zu dem Schuppen bringen konnte und das Arctic Cat daheim ansprang, konnte immer noch alles gut werden. Und es war doch wirklich auch interessant, das war nicht zu leugnen. Diese Lichter am Himmel

Das Wellblechdach des Schuppens war genau richtig eingestürzt: vorn, zur Straße hin, stand er offen, aber die Rückseite war fast vollständig winddicht. Und aus der dünnen Schneeschicht, die hineingeweht war, ragte das Ende einer schmutzig grauen Plane, an der Sägespäne und Holzsplitter klebten.

»Volltreffer«, sagte Henry und packte sie. Zunächst hing sie am Boden fest, doch als er mit aller Kraft daran zog, löste sich die Plane mit lautem Ratsch, einem Geräusch, bei dem er an die furzende Frau denken musste.

Die Plane hinter sich herziehend, trottete er zurück zu der stelle, an der Pete, das Bein immer noch steif ausgestreckt, im Schnee neben der auf dem Bauch liegenden Frau saß.

Es war viel einfacher, als Henry zu hoffen gewagt hatte. Ja, sobald sie sie einmal auf der Plane hatten, war es ein Klacks. Sie war zwar kräftig gebaut, glitt aber wie auf Schmierseife über den Schnee. Henry war froh, dass es nicht fünf Grad wärmer war; bei klebrigem Schnee hätte das alles schon ganz anders ausgesehen. Und natürlich half es auch, dass sie auf einem geraden Straßenstück waren.

Der Schnee lag nun knöcheltief und fiel noch dichter als zuvor, aber die Schneeflocken waren jetzt größer. Es hört auf, hatten sie als Kinder enttäuscht gesagt, wenn sie solche Flocken gesehen hatten.

»Hey, Henry!« Pete hörte sich atemlos an, aber das war nicht weiter schlimm; der Schuppen war gleich voraus.

»Was?«

»Ich hab in letzter Zeit oft an Duddits gedacht. Ist das nicht seltsam?«

»Kein Prall«, sagte Henry spontan.

»Stimmt«, sagte Pete und lachte leicht nervös auf. »Kein Prall, kein Spiel. Aber das ist doch seltsam, oder?«

»Wenn das seltsam ist«, sagte Henry, »dann sind wir beide seltsam.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe auch an Duddits gedacht, und zwar schon seit einer ganzen Weile. Mindestens seit vergangenem März. Jonesy und ich wollten ihn besuchen -«

»Tatsächlich?«

»Ja. Dann hatte Jonesy den Unfall -«

»Der dumme alte Sack hätte gar nicht mehr fahren dürfen«, sagte Pete mit grimmiger Miene. »Jonesy hat Glück, dass er noch lebt.«

»Da hast du Recht«, sagte Henry. »Sein Herz ist im Krankenwagen stehen geblieben. Die Sanitäter mussten ihn mit Elektroschocks zurückholen.«

Pete blieb mit großen Augen stehen. »Im Ernst? So schlimm war es? So knapp?«

Henry wurde bewusst, dass er indiskret gewesen war. »Ja, aber das solltest du für dich behalten. Carla hat es mir erzählt, und ich glaube, Jonesy weiß das gar nicht. Ich hatte jedenfalls nie ...« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, und Pete nickte, als verstünde er vollkommen. Ich hatte jedenfalls nie den Eindruck, dass er das weiß, hatte Henry sagen wollen.

»Ich behält's für mich«, sagte Pete.

»Das wäre wohl das Beste.«

»Und ihr habt Duds dann nicht besucht.«

Henry schüttelte den Kopf. »In der ganzen Aufregung um Jonesy habe ich nicht mehr daran gedacht. Dann war es Sommer, und du weißt ja, wie das ist...«

Pete nickte.

»Aber weißt du was? Ich habe gerade vorhin an ihn gedacht. Bei Gosselin's.«

»Hat dich der Junge mit dem Beavis-and-Butthead-T-Shirt drauf gebracht?«, fragte Pete. Er sprach in weißen Dampfwölkchen.

Henry nickte. »Der Junge« hätte zwölf oder auch fünfundzwanzig sein können, bei Menschen mit Downsyndrom war das schwer zu sagen. Er war rothaarig gewesen und in dem schummrig beleuchteten kleinen Supermarkt durch den Mittelgang gewandert, neben einem Mann, der einfach sein Vater sein musste - die gleiche grün-schwarz karierte Jagdjacke und vor allem das gleiche karottenfarbene Haar, bei dem Mann schon so licht, dass die Kopfhaut durchschimmerte -; und der hatte ihnen einen Blick zugeworfen, der besagte: Ein Spruch über meinen Sohn, und ihr kriegt Ärger, und natürlich hatte keiner von ihnen etwas gesagt; sie hatten dle gut zwanzig Meilen von ihrer Hütte dorthin zurückgeegt' um sich Bier, Brot und Hotdogs zu holen, keinen Ärger, und außerdem hatten sie früher Duddits gekannt, kannten ihn in gewisser Weise immer noch - schickten ihm jedenfalls Weihnachts- und Geburtstagskarten -, und Duddits war einmal, auf seine ganz eigene Art, einer von ihnen gewesen. Henry konnte Pete schlecht anvertrauen, dass er in seltsamen Momenten an Duds gedacht hatte, seitdem ihm vor gut sechzehn Monaten aufgegangen war, dass er sich umbringen wollte und dass alles, was er tat, dieses Ereignis entweder hinauszögerte oder vorbereitete. Einige Male hatte er sogar von Duddits geträumt und davon, wie der Biber gesagt hatte: Lass mich mal machen, Mann, und wie Duddit erwidert hatte: Was mahn?

»Es schadet ja nicht, an Duddits zu denken, Pete«, sagte er, als er den improvisierten Schlitten mit der Frau drauf in den Unterstand zerrte. Jetzt war er selbst auch etwas aus der Puste. »Über Duddits haben wir uns definiert. Die Zeit mit ihm war unsere beste.«

»Meinst du?«

»Ja.« Henry hockte sich hin, um Luft zu schnappen, ehe er sich der nächsten Aufgabe widmete. Er sah auf seine Armbanduhr. Fast schon zwölf. Mittlerweile würden Jonesy und Biber nicht mehr glauben, der Schneefall hätte sie aufgehalten; sicherlich dachten sie mittlerweile, dass etwas nicht stimmte. Vielleicht würde einer von ihnen das Schneemobil anwerfen (wenn es funktioniert, musste Henry immer wieder denken, wenn das Scheißding funktioniert) und nach ihnen suchen. Das würde alles etwas vereinfachen.

Er sah sich die Frau an, die auf der Plane lag. Das Haar war ihr über ein Auge gerutscht und verbarg es nun; mit dem anderen sah sie Henry mit eisiger Gleichgültigkeit an — und durch ihn hindurch.

Henry war der Ansicht, dass alle Kinder in früher Jugend mit Situationen konfrontiert würden, in denen sie sich selbst definieren mussten, und dass Kinder in Gruppen darauf normalerweise entschiedener reagierten als Kinder, die alleine waren. Oft verhielten sie sich böse und reagierten mit Grausamkeit auf Leid. Henry und seine Freunde hatten sich, warum auch immer, gut verhalten. Das bedeutete letztendlich nicht viel, aber es konnte nicht schaden - und schon gar nicht, wenn einem so düster zu Mute war -, sich daran zu erinnern, dass man sich einmal in einer eigentlich aussichtslosen Situation anständig verhalten hatte.

Er erklärte Pete, was sie jetzt zu tun hatten, und stand dann auf, um damit loszulegen. Er wollte, dass sie alle sicher in der Hütte waren, ehe die Sonne unterging. Ein sauberer, gut beleuchteter Raum: das war natürlich von Papa, und das brachte ihn wieder auf die Hemingway-Lösung.

»Gut«, sagte Pete, klang aber ängstlich dabei. »Ich hoffe bloß, sie stirbt mir nicht. Und diese Lichter kommen nicht wieder.« Er legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel, aber dort waren nur dunkle, niedrig hängende Wolken zu sehen. »Was war das wohl? Eine Art Gewitter?«

»Wahrscheinlich«, sagte Henry. »Sammle mal die Stückchen ein. Dazu musst du nicht mal aufstehen.«

»Als Anmachholz?«

»Genau«, sagte Henry, stieg dann über die Frau auf der Plane und ging zum Waldrand, wo im Schnee jede Menge Kleinholz herumlag. Knapp neun Meilen Fußmarsch hatte er jetzt vor sich. Aber erst würden sie noch ein Feuer machen. Ein schönes großes Feuer.

KAPITEL 4 McCarthy geht aufs Klo


Jonesy und Biber saßen in der Küche und spielten Cribbage, das sie einfach nur »das Spiel« nannten. So hatte es Lamar, Bibers Vater, immer genannt, so als gäbe es nur dieses eine Spiel. Und für Lamar Clarendon, dessen ganzes Leben sich um sein Bauunternehmen gedreht hatte, hatte es wahrscheinlich auch nur dieses eine Spiel gegeben, weil Cribbage in den Holzfällercamps, an Bahnhaltestellen und, natürlich, in Bauwagen am häufigsten gespielt wurde. Ein Brett mit hundertzwanzig Löchern, vier Stiften aus Holz oder Metall und ein altes, labbriges Kartenspiel - wenn man das hatte, konnte es losgehen. Das Spiel wurde meistens gespielt, während man auf etwas wartete - dass es aufhörte zu regnen, dass eine Frachtlieferung eintraf oder dass die Freunde vom Einkäufen wiederkamen und man besprechen konnte, was man mit dem komischen Kerl machen sollte, der da nun hinter einer geschlossenen Schlafzimmertür lag.

Nur dass wir, dachte Jonesy, im Grunde eigentlich auf Henry warten. Pete ist nur dabei. Henry wird wissen, was zu tun ist, da hat der Eiber Recht. Henry wird es wissen.

Aber Henry und Pete waren spät dran. Es war noch zu früh, um zu vermuten, dass ihnen etwas zugestoßen sei, es hätte auch einfach nur der Schneefall sein können, der sie aufgehalten hatte, aber Jonesy fragte sich allmählich, ob das alles war, und vermutlich fragte sich der Biber das auch. Sie hatten noch nicht darüber gesprochen - es war noch vor zwölf, und vielleicht war ja auch alles in Ordnung -, aber der Gedanke stand unausgesprochen im Raum.

Jonesy konzentrierte sich auf das Spielfeld und die Karten und schaute dann doch immer mal wieder zu der verschlossenen Schlafzimmertür hinüber, hinter der McCarthy lag und wahrscheinlich schlief, und, o Mann, seine Gesichtsfarbe hatte gar nicht gut ausgesehen. Zwei- oder dreimal ertappte er auch den Biber dabei, wie er kurz hinüberschaute.

Jonesy mischte das alte Blatt Marke Bicycle, teilte aus, gab sich selbst und legte dann das Crib beiseite, nachdem ihm Biber zwei Karten zugeschoben hatte. Biber hob ab, und damit waren die Vorbereitungen abgeschlossen; jetzt wurde es Zeit zu punkten. Man kann punkten und trotzdem verlieren, hatte Lamar zu ihnen gesagt, stets eine Chesterfield im Mundwinkel und die Schirmmütze mit dem eigenen Firmenlogo immer übers linke Auge gezogen, wie ein Mann, der ein Geheimnis kennt und es nur verraten wird, wenn der Preis stimmt - Lamar Clarendon, dieser nie zu Scherzen aufgelegte Malocher-Daddy, der mit achtundvierzig an einem Herzinfarkt gestorben war —, aber wer punktet, vediert nicht zu Null.

Kein Spiel, dachte Jonesy jetzt. Kein Prall, kein Spiel. Sofort gefolgt von dieser schrecklichen, zittrigen Stimme damals im Krankenhaus: Hört auf, ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Marcy? Und, o Mann, warum war das Leben so schwer? Wieso lauerten überall Knüppel auf deine Finger, und wieso gab es so viele Stöcke, die nur daraufwarteten, einem in die Speichen geworfen zu werden? »Jonesy?«

»Hmm?«

»Alles klar?«

»Ja, wieso?«

»Du hast gerade gezittert.«

»Echt?« Klar hatte er gezittert. Er wusste es.

»Ja.«

»Vielleicht zieht's. Riechst du was?«

»Du meinst... ihn?«

»Meg Ryans Achselhöhlen meine ich jedenfalls nicht. Ja, ihn.«

»Nein«, sagte Biber. »Ein paarmal dachte ich ... aber das habe ich mir nur eingebildet. Weil diese Fürze, weißt du -«

»- so übel gestunken haben.«

»Ja. Allerdings. Und die Rülpser auch. Ich dachte echt, er würde kotzen, Mann. Dachte ich wirklich.«

Jonesy nickte. Ich habe Angst, dachte er. Ich sitze hier mit einer Scheißangst in einem Schneesturm. Ich will, dass Henry kommt, gottverdammt Wo bleibt er bloß?

»Jonesy?«

» Was? Spielen wir jetzt oder nicht?«

»Klar, aber ... meinst du, mit Henry und Pete ist alles in Ordnung?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Hast du nicht ... so ein Gefühl? Siehst du nicht vielleicht -«

»Ich sehe nur dein Gesicht.«

Biber seufzte. »Aber meinst du, mit ihnen ist alles in Ordnung?«

»Ja, das meine ich.« Doch verstohlen blickte er zur Uhr -es war halb zwölf - und dann zu der geschlossenen Schlafzimmertür, hinter der McCarthy lag. Mitten im Zimmer drehte sich der Traumfänger langsam in einem Luftzug. »Die lassen sich einfach nur Zeit. Die kommen schon. Lass uns spielen.«

»Also gut. Acht.«

»Fünfzehn. Macht zwei.«

»Mist.« Biber steckte sich einen Zahnstocher in den Mund. »Fünfundzwanzig.«

»Dreißig.«

»Go.«

»Ass. Macht zwei.«

»Gekörnte Scheiße!« Biber lachte verzweifelt auf, als Jonesy um die Ecke in die dritte Straße einbog. »Jedes Mal, wenn du gibst, laschst du mich ab.«

»Ich lasch dich auch ab, wenn du gibst«, sagte Jonesy. »Die bittere Wahrheit. Komm schon, spiel.«

»Neun.«

»Sechzehn.«

»Und einen für die letzte Karte«, sagte der Biber, als hätte er damit einen moralischen Sieg errungen. Er stand auf. »Ich geh nach draußen pissen.«

»Wieso das? Wir haben hier ein prima Klo, falls du's noch nicht weißt.«

»Ich weiß. Ich will bloß mal sehn, ob ich meinen Namen in den Schnee pissen kann.«

Jonesy lachte. »Wirst du denn nie erwachsen?«

»Nicht solange es sich vermeiden lässt. Und sei nicht so laut. Weck den Typ nicht auf.«

Jonesy schob die Karten zusammen, fing an zu mischen, und Biber ging zur Hintertür. Er musste an eine Variante des Spiels denken, die sie als Kinder gespielt hatten. Sie nannten es das Duddits-Spiel, und meistens spielten sie es im Freizeitraum der Cavells. Es war genau wie das übliche Cribbage, nur dass sie Duddits die Stifte weiterstecken ließen. Ich habe zehn, sagte Henry dann, steck zehn weiter, Duddits. Und Duddits, der sein bescheuertes Lächeln aufgesetzt hatte, das Jonesy unweigerlich froh machte, steckte dann vier oder sechs

oder zehn oder auch vierundzwanzig Punkte. Die

Hauptregel beim Duddits-Spiel bestand darin, sich nie zu beschweren, nie zu sagen: Duddits, das ist zu viel oder Duddits, das reicht nicht. Und Mann, was hatten sie gelacht. Mr. und Mrs. Cavell hatten auch gelacht, wenn sie gerade im

Zimmer waren, und Jonesy konnte sich an das eine Mal er

innern, da waren sie fünfzehn oder sechzehn, und Duddits war natürlich so alt, wie er halt war: Duddits Cavell wurde me älter, das war so schön und so unheimlich daran, und

dieses eine Mal hatte Alfie Cavell angefangen zu weinen und hatte gesagt: Jungs, wenn ihr nur ivüsstet, was das für mich und meine Frau bedeutet, wenn ihr nur wüsstet, was das für Douglas bedeutet -

»Jonesy.« Bibers Stimme klang eigenartig hölzern. Kalte Luft kam zur offenen Küchentür herein, und Jonesy bekam Gänsehaut an den Armen.

»Mach die Tür zu, Biber. Was sind denn das für Unsitten?«

»Komm her. Das musst du diransehen.«

Jonesy stand auf und ging zur Tür. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, und schloss ihn dann wieder. Auf dem Hof waren genug Tiere, um damit einen Streichelzoo zu eröffnen. Größtenteils Hirsche und Rehe, ein paar Dutzend Böcke und Kühe und Ricken. Doch mit ihnen kamen da Waschbären, watschelnde Waldmurmeltiere und ein Trupp Eichhörnchen, die sich anscheinend mühelos auf dem Schnee fortbewegten. Hinter dem Schuppen, in dem das Schneemobil und diverse Werkzeuge und Ersatzteile aufbewahrt wurden, kamen drei große Hunde hervor, die Jonesy erst fälschlicherweise für Wölfe hielt. Dann entdeckte er bei einem eine alte, verschlissene Wäscheleine am Hals, und da wurde ihm klar, dass sie wahrscheinlich verwildert waren. Sie kamen den Hang der Schlucht herauf und wanderten alle nach Osten. Jonesy sah zwei große Wildkatzen, die sich zwischen zwei Hirschverbänden bewegten, und rieb sich die Augen, wie um dieses Trugbild loszuwerden. Aber die Wildkatzen waren immer noch da. Und auch die Hirsche und Rehe, die Waldmurmelhörnchen, Waschbären und Eichhörnchen. Sie gingen einfach weiter und hatten für die beiden Männer, die dort in der Tür standen, kaum einen Blick übrig; aber sie waren nicht panisch, wie Tiere etwa, die vor einem Feuer flohen. Und es roch auch nicht nach einem Brand. Die Tiere wanderten einfach nach Osten, verließen das Gebiet.

»Ach du großer Gott«, sagte Jonesy mit leiser, ehrfürchtiger Stimme.

Biber hatte zum Himmel geschaut. Jetzt warf er den Tieren noch einen flüchtigen Blick nach und sah dann wieder hinauf. »Ja. Und jetzt guck mal nach oben.«

Jonesy schaute hoch und sah ein Dutzend grelle Lichter -einige rot, andere blau-weiß - dort oben herumtanzen. Sie beleuchteten die Wolken, und mit einem Mal war ihm klar, was McCarthy gesehen haben musste, als er durch den Wald geirrt war. Sie glitten hin und her, wichen einander aus oder verschmolzen kurz miteinander und strahlten so grell, dass er nicht hinsehen konnte, ohne zu blinzeln. »Was ist das?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, sagte Biber, ohne den Blick abzuwenden. Auf seinem blassen Gesicht zeichneten sich die Bartstoppeln mit beinahe unheimlicher Deutlichkeit ab. »Aber die Tiere mögen es nicht. Das ist es, wovor sie fliehen.«

Sie schauten dem zehn, vielleicht auch fünfzehn Minuten lang zu, und dann bemerkte Jonesy ein leises Brummen, das sich anhörte wie ein elektrischer Transformator. Jonesy fragte Biber, ob er es auch höre, und der Biber nickte nur und ließ dabei die tanzenden Lichter am Himmel, die Jonesy etwa so groß vorkamen wie Kanaldeckel, nicht aus dem Blick. Er hatte das Gefühl, dass die Tiere eher vor dem Geräusch als vor den Lichtern flohen, sagte aber nichts. Es fiel ihm plötzlich überhaupt schwer zu sprechen; eine lähmende furcht hatte ihn gepackt, etwas Fiebriges, wie eine leichte Grippe.

Schließlich wurden die Lichter schwächer, und obwohl Jonesy keines davon hatte verlöschen sehen, waren es doch anscheinend nicht mehr so viele. Es waren auch weniger Tiere zu sehen, und das eindringliche Brummen verklang allmählich.

Biber zuckte zusammen, wie aus dem Tiefschlaf gerissen. »Meine Kamera«, sagte er. »Ich muss die knipsen, ehe die weg sind.«

»Ich glaube nicht, dass du -«

»Ich muss es versuchen!«, schrie Biber förmlich. Dann, leiser: »Ich muss es versuchen. Wenigstens ein paar Hirsche und so, bevor sie ...«Er drehte sich um, lief durch die Küche und versuchte sich wahrscheinlich zu erinnern, unter welchem Schmutzwäschehaufen seine alte, ramponierte Kamera lag, und blieb dann abrupt stehen. Mit ausdrucksloser und gar nicht biberlicher Stimme sagte er: »Oh, Jonesy. Ich glaube, wir haben ein Problem.«

Jonesy sah noch ein letztes Mal zu den verbliebenen Lichtern hoch, die immer matter (und auch kleiner) wurden, und drehte sich dann um. Biber stand vor der Spüle und schaute über den Küchentresen in den Hauptraum.

»Was? Was ist denn?« Diese meckernde, zänkische, leicht bebende Stimme ... war das wirklich seine?

Biber zeigte mit dem Finger. Die Tür des Schlafzimmers, in dem sie Rick McCarthy untergebracht hatten - Jonesys Zimmer -, stand offen. Die Tür zum Badezimmer, die sie offen gelassen hatten, damit sich McCarthy auf keinen Fall verlief, wenn er mal musste, war jetzt geschlossen.

Biber drehte sein finsteres, bartstoppeliges Gesicht zu Jonesy um. »Riechst du das?«

Jonesy roch es, trotz der kalten, frischen Luft, die zur offen stehenden Küchentür hereinkam. Äther oder Äthylalkohol, ja, danach roch es immer noch, aber jetzt auch noch nach etwas anderem. Ganz bestimmt nach Fäkalien. Vielleicht auch nach Blut. Und nach noch etwas anderem, etwas wie Grubengas, das eine Million Jahre lang eingesperrt gewesen war und nun endlich hatte entweichen können. Mit anderen Worten: Es waren nicht die Furzgerüche, über die Kinder im Zeltlager kichern. Es war stärker und weit schlimmer. Man verglich es nur mit Furzgerüchen, weil das noch am nahe liegendsten war. Im Grunde, dachte Jonesy, roch es wie etwas Verseuchtes, das unter Qualen starb.

»Und schau dir das an.«

Biber wies auf den Dielenboden, auf dem Blut zu sehen war, eine Spur größerer Tröpfchen, die von der offenen Tür zur geschlossenen verlief. Als hätte McCarthy Nasenbluten gehabt.

Nur dass Jonesy nicht glaubte, dass es seine Nase war, die da geblutet hatte.

Von all den Dingen in seinem Leben, gegen die er sich gesträubt hatte - seinen Bruder Mike anzurufen und ihm zu sagen, dass ihre Mutter an einem Herzinfarkt gestorben sei, Carla zu sagen, dass sie mit dem Schnaps und den ganzen Medikamenten Schluss machen müsse, sonst würde er sie verlassen, Big Lou, seinem Hüttenwart im Camp Agawam, zu gestehen, dass er ins Bett gemacht hatte -, fiel es ihm jetzt am schwersten, durch den großen Hauptraum ihrer Hütte zu der geschlossenen Badezimmertür zu gehen. Es war wie in einem Albtraum, in dem man immer mit der gleichen traumwandlerischen Unterwassergeschwindigkeit vorankam, ganz egal, wie schnell man die Beine bewegte.

In bösen Träumen kam man nie dort an, wohin man wollte, aber sie schafften es, den Raum zu durchqueren, und daher ging Jonesy davon aus, dass es wohl doch kein Traum war. Sie standen da und betrachteten die Blutspritzer. Sie waren nicht sehr groß, der größte wie eine kleine Münze.

»kr hat wohl noch einen Zahn verloren«, sagte Jonesy, immer noch flüsternd. »Das ist es wahrscheinlich.«

Der Biber sah ihn an und hob eine Augenbraue. Dann ging er zum Schlafzimmer und schaute hinein. Einen Moment später drehte er sich zu Jonesy um und winkte ihn herbei. Jonesy ging hinüber und ließ dabei die Badezimmertür nicht aus dem Blick.

Im Schlafzimmer lag die Bettdecke am Boden, als wäre McCarthy ganz plötzlich und in aller Eile aufgestanden. Sein Kopfabdruck war noch auf dem Kissen zu sehen, und der Umriss seines Körpers zeichnete sich auf dem Laken ab. Und etwa in der Mitte des Eakens war ein großer Blutfleck. Auf dem blauen Tuch sah er lila aus.

»Dem fallen die Zähne aber an komischen Stellen aus«, flüsterte Biber. Er biss auf den Zahnstocher, den er im Mund hatte, und die vordere Hälfte fiel auf die Türschwelle. »Vielleicht hofft er, von der Arschfee einen Vierteldollar zu kriegen.«

Jonesy erwiderte nichts. Vielmehr zeigte er nach links. Neben der Tür lagen in einem Knäuel McCarthys lange Unterhose und der Jockey-Slip, den er darunter getragen hatte. Beide waren mit Blut verkrustet. Den Slip hatte es am schlimmsten erwischt; vom Bund und dem oberen Rand des Eingriffs abgesehen, hätte man meinen können, er wäre von Hause aus knallrot, ein Slip, wie ihn ein Anhänger des Penthouse-Forums anziehen würde, dem für den Abend noch Großes vorschwebte.

»Guck mal im Nachttopf nach«, flüsterte Biber.

»Wieso klopfen wir nicht einfach an der Badtür an und fragen ihn, wie's ihm geht?«

»Weil ich, verdammt noch mal, wissen will, womit ich da zu rechnen habe«, antwortete Biber energisch flüsternd. Er klopfte sich auf die Brust und spuckte dann die faserigen Reste des Zahnstochers aus. »Mann, mir geht vielleicht die Düse.«

Jonesy hatte auch Herzklopfen, und er spürte, wie ihm Schweiß übers Gesicht lief. Trotzdem betrat er das Zimmer.

Die kalte, frische Luft, die von der Hintertür kam, hatte den Hauptraum ordentlich durchgelüftet, aber hier drinnen stank es immer noch widerlich - nach Scheiße und Grubengas und Äther. Jonesy spürte, wie ihm das bisschen Essen, das er zu sich genommen hatte, hochkam, und zwang sich, nicht zu kotzen. Er ging zum Nachttopf und brachte es zunächst nicht über sich hineinzuschauen. Ein halbes Dutzend Horrorfilmbilder dessen, was ihn möglicherweise darin erwartete, wirbelten ihm durch den Kopf. Eingeweide in Blutsuppe. Zahne. Ein abgetrennter Kopf.

»Mach schon!«, flüsterte Biber.

Jonesy kniff die Augen zu, neigte den Kopf, hielt den Atem an und schlug dann wieder die Augen auf. Nur sauberes Porzellan schimmerte im Licht der Deckenlampe. Der Nachttopf war leer. Jonesy stieß durch zusammengebissene Zähne Luft aus und ging dann zurück zum Biber, wobei er den Blutspritzern auf dem Boden auswich.

»Nichts«, sagte er. »Also los! Kein Rumgekasper mehr!«

Sie gingen am Wandschrank vorbei und standen dann vor der geschlossenen Badezimmertür aus Kiefernholz. Biber sah Jonesy an. Jonesy schüttelte den Kopf. »Du bist dran«, sagte er. »Ich hab in den Pisspott geguckt.«

»Du hast ihn hergebracht«, entgegnete Biber flüsternd und blieb hartnäckig. »Du machst das.«

Jetzt hörte Jonesy noch etwas anderes - hörte es, ohne genau hinzuhören, zum Teil, weil ihm dieses Geräusch vertraut war, aber größtenteils, weil er so auf McCarthy fixiert war, auf den Mann, den er um ein Haar erschossen hatte. Ein Wupp-wupp-wupp, leise noch, aber es wurde lauter und kam näher.

»Ach, Scheiße, was soll's«, sagte Jonesy, und obwohl er m ganz normalem Tonfall sprach, war es doch laut genug, dass sie beide zusammenzuckten. Er klopfte an die Tür. »Mr. McCarthy! Rick! Alles in Ordnung mit Ihnen?«

& wird nicht antworten, dachte Jonesy. Er wird nicht antworten, denn er ist tot. Er ist tot und sitzt auf dem Thron, genau wie Elvis.

Doch McCarthy war nicht tot. Er stöhnte und sagte: »Ich bin ein bisschen krank, Jungs. Mir fehlt ein anständiger Stuhlgang. Wenn ich Stuhlgang gehabt habe, geht es mir gleich —« Dann stöhnte er wieder, und dann hörte man einen Furz. Diesmal nicht so laut, und es hörte sich fast flüssig an. Jonesy verzog das Gesicht. »- geht es mir gleich viel besser«, schloss McCarthy. Für Jonesy hörte es sich nicht so an, als würde es dem Mann jemals wieder besser gehen. Er hörte sich an, als bekäme er kaum Luft und litte Schmerzen. Wie um das zu unterstreichen, stöhnte McCarthy noch einmal, diesmal lauter. Es folgte wieder dieses flüssig klingende Reißen, und dann schrie McCarthy auf.

»McCarthy!« Biber rüttelte am Türknauf, aber der ließ sich nicht bewegen. McCarthy, ihr kleines Mitbringsel aus dem Wald, hatte von innen abgeschlossen. »Rick!« Der Biber rüttelte am Türknauf. »Mach auf, Mann!« Biber gab sich Mühe, unbeschwert zu klingen, so als wäre die ganze Sache nur ein Scherz, ein Ulk unter Freunden, aber dadurch klang er nur noch verängstigter.

»Mir geht's gut«, sagte McCarthy. Jetzt keuchte er. »Ich muss ... Jungs, ich muss bloß ein bisschen Platz schaffen.« Man hörte weitere Blähungen. Es wäre lächerlich gewesen, was sie da hörten mit »einen fahren lassen« oder »Wind streichen lassen« zu umschreiben - das waren vage gehaltene Redewendungen, leicht und luftig wie Baiser. Die Geräusche, die durch die verschlossene Tür drangen, klangen brutal, nach reißendem Fleisch.

»McCarthy!«, sagte Jonesy. Er klopfte. »Lassen Sie uns rein!« Aber wollte er da rein? Nein, wollte er nicht. Er wünschte, McCarthy würde immer noch durch den Wald irren oder wäre von jemand anderem gefunden worden. Ja, schlimmer noch: Die Amygdala in seinem Stammhirn, dieses gewissenlose Reptil, wünschte, er hätte McCarthy gleich auf der Stelle erschossen. »Je einfacher, desto besser«, wie sie in Carlas Seminaren bei Narcotics Anonymous immer sagten. »McCarthy!«

»Haut ab!«, rief McCarthy schwach, aber bestimmt. »Können Sie nicht Weggehen und einen Mann ... sein Geschäft machen lassen? Manno!«

Wupp-wupp-ivupp - jetzt lauter und näher.

»Rick!« Das war wieder der Biber. Er hielt fast verzweifelt an diesem unbeschwerten Ton fest, klang wie ein Bergsteiger in schwieriger Lage an seinem Seil. »Woraus blutest du denn, Mann?«

»Bluten?« McCarthy klang aufrichtig verblüfft. »Ich blute nicht.«

Jonesy und Biber schauten einander verängstigt an.

WUPP- WUPP- WUPP!

Jetzt errang das Geräusch endlich Jonesys ungeteilte Aufmerksamkeit, und er verspürte eine immense Erleichterung. »Das ist ein Hubschrauber«, sagte er. »Die suchen bestimmt nach ihm.«

»Meinst du?« Bibers Gesichtsausdruck besagte: Das wäre zu schön, um wahr zu sein.

»Ja.« Jonesy vermutete, dass die Leute im Hubschrauber den rätselhaften Lichtern am Himmel nachjagten oder herauszufinden versuchten, was die Tiere da vorhatten, aber an diese Dinge wollte er nicht denken, das war ihm vollkommen egal. Ihm ging es jetzt einzig und allein darum, Rick McCarthy vom Donnerbalken herunter, in fremde Hände und in ein Krankenhaus in Machias oder Derry zu bekommen. »Geh nach draußen, und wink ihnen zu.«

»Und was ist, wenn -«

WUPP! WUPP! WUPP! Und jenseits der Tür erklangen wieder diese reißenden, feuchten Geräusche, gefolgt von einem weiteren Schrei McCarthys.

»Geh nach draußen!«, brüllte Jonesy. »Hol die runter! Ist mir ^"eißegal, ob du dazu die Hose runterlassen und Lambada tanzen musst, Hauptsache, du sorgst dafür, dass die landen!»

»Na gut -« Biber wandte sich zum Gehen, zuckte dann zusammen und schrie.

Viele Dinge, die Jonesy recht erfolgreich verdrängt hatte, kamen plötzlich wieder zum Vorschein und tollten ihm anzüglich grinsend durchs Bewusstsein. Als er herumwirbelte, sah er aber lediglich ein Reh in der Küche stehen, dessen Kopf über den Küchentresen ragte und das sie mit sanftmütigen braunen Augen anschaute. Jonesy atmete tief durch und musste sich kurz an die Wand lehnen.

»Friss Rotz und kotz«, hauchte Biber. Dann ging er auf das Reh zu und klatschte dabei in die Hände. »Mach die Biege! Weißt du denn nicht, was für eine Jahreszeit es ist? Raus! Sieh zu, dass du Land gewinnst! Mach dich vom Acker!«

Das Reh blieb noch für einen Moment dort stehen und machte große Augen, ein erschrockener Gesichtsausdruck, der fast menschlich wirkte. Dann wirbelte es herum und streifte mit dem Kopf die Töpfe, Schöpfkellen und Zangen, die über dem Herd hingen. Sie schepperten aneinander, und einige fielen mit großem Getöse herunter. Dann war es, mit einem knappen Zucken des weißen Schwänzchens, zur Tür hinaus.

Biber ging hinterher und hatte noch Zeit, kurz mit bitterem Blick den Kötelhaufen auf dem Linoleum zu betrachten.

Vom großen Auszug der Tiere waren nur noch Nachzügler übrig. Das Reh, das Biber aus der Küche gescheucht hatte, sprang über einen humpelnden Fuchs, der offenbar eine Pfote in einer Falle verloren hatte, und verschwand dann im Wald. Dann tauchte aus den niedrig hängenden Wolken gleich hinterm Schneemobilschuppen ein Hubschrauber von den Ausmaßen eines Omnibus' auf. Er war braun, und seitlich drauf stand mit weißen Buchstaben AN G.

Ang?, grübelte Biber. Was zum Henker ist Ang? Dann fiel es ihm ein: die Air National Guard, die Luftwaffe der Nationalgarde, wahrscheinlich aus Bangor.

Der Hubschrauber sank mit der Nase voran. Biber trat auf den Hof und winkte mit erhobenen Händen. »Hey!«, schrie er. »Hey, wir brauchen Hilfe! Wir brauchen Hilfe!«

Der Hubschrauber sank weiter, bis er nur noch fünfundzwanzig Meter über dem Boden stand, tief genug, um den Neuschnee in einem Zyklon aufsteigen zu lassen. Dann flog er auf Biber zu und brachte dabei den Schneezyklon mit.

»Hey! Wir haben hier einen Verletzten! Einen Verletzten!« Jetzt hüpfte er auf und ab wie diese bescheuerten Bootscoo-ters, die man bei diesem Countrysender aus Nashville immer sah, und kam sich dabei wie ein Vollidiot vor, machte es aber trotzdem. Der Hubschrauber kam im Tiefflug auf ihn zu, sank aber nicht weiter und machte keine Anstalten zu landen. Da kam er plötzlich auf eine entsetzliche Idee. Biber wusste nicht, ob die Typen im Hubschrauber ihm das suggerierten, oder ob es nur Paranoia war. Er wusste bloß, dass er sich plötzlich wie eine Schießbudenfigur vorkam: Triff den Biber, und du gewinnst einen Radiowecker.

Die Seitentür des Hubschraubers wurde geöffnet. Ein Mann, der ein Megafon in der Hand hielt und den dicksten Parka trug, den Biber je gesehen hatte, beugte sich heraus. Der Parka und das Megafon störten den Biber nicht. Ihn störte die Sauerstoffmaske, die der Typ über Mund und Nase hatte. Er hatte noch nie gehört, dass Flieger auf einer Hohe von fünfundzwanzig Metern Sauerstoffmasken tragen mussten. Es sei denn, mit der Luft, die sie atmeten, stimmte etwas nicht.

Der Mann im Parka sprach in das Megafon, und seine Worte waren trotz des Wupp-wupp-wupp der Rotoren klar und deutlich zu verstehen, hörten sich aber trotzdem merkwürdig an, zum einen, dachte Biber, weil sie elektrisch verstärkt wurden, hauptsächlich aber der Maske wegen. Es war, als würde man von irgendeinem seltsamen Robotergott angesprochen.

«WIE VIELE SIND SIE?«, rief die Gottesstimme herab. »ZEIGEN SIE ES MIT DEN FINGERN.«

Biber, verwirrt und verängstigt, dachte zunächst nur an sich selbst und an Jonesy; Henry und Pete waren ja schließlich auch noch nicht vom Einkäufen zurück. Er hob zwei Finger wie zum Friedenszeichen.

»BLEIBEN SIE, WO SIE SIND!«, dröhnte der Mann aus dem Hubschrauber mit seiner Robotergottstimme. »DIESES GEBIET STEHT VORLÄUFIG UNTER QUARANTÄNE! ICH WIEDERHOLE: DIESES GE

BIET STEHT VORLÄUFIG UNTER QUARANTÄNE! SIE DÜRFEN ES NICHT VERLASSEN!«

Der Schneefall lichtete sich, aber nun frischte der Wind auf und blies Biber eine Schneefahne, die die Rotorblätter des Hubschraubers aufgewirbelt hatten, ins Gesicht. Er kniff die Augen zu und winkte mit den Armen. Er bekam eisigen Schnee in den Mund und spuckte seinen Zahnstocher aus, damit er den nicht auch verschluckte (so würde er einmal sterben, hatte seine Mutter immer geweissagt, indem er einen Zahnstocher in die Luftröhre bekam und daran erstickte), und schrie dann: »Was soll das heißen - Quarantäne? Wir haben hier einen Kranken! Sie müssen herkommen und ihn mitnehmen!«

Ihm war klar, dass sie ihn beim lauten Wupp-ivupp-wupp der Rotorblätter nicht verstehen konnten, er hatte ja schließlich kein Megafon, um seine Stimme damit zu verstärken, aber er schrie trotzdem. Und als ihm das Wort »Kranker« über die Lippen kam, fiel ihm ein, dass er dem Typ im Hubschrauber zu wenige Finger gezeigt hatte - sie waren zu dritt, nicht zu zweit. Er wollte eben drei Finger heben, da fielen ihm Henry und Pete ein. Sie waren noch nicht hier, aber falls ihnen nichts zugestoßen war, würden sie bald kommen. Wie viele waren sie also? Zwei wäre die falsche Antwort gewesen, aber war drei die richtige? Oder war es fünf? Wie oft in solchen Situationen verfiel Biber in eine geistige Starre. Wenn in der Schule so etwas passiert war, hatte neben ihm Henry oder hinter ihm Jonesy gesessen, und sie hatten ihn mit der passenden Antwort versorgt. Hier draußen aber half ihm niemand, und das laute Wupp-wupp-wupp schmetterte ihm in die Ohren, und er verschluckte sich an dem aufgewirbelten Schnee und musste husten.

»BLEIBEN SIE, WO SIE SIND! DIE LAGE HAT SICH SPÄTESTENS IN ACHTUNDVIERZIG STUNDEN GEKLÄRT! WENN SIE LEBENSMITTEL BRAUCHEN, KREUZEN SIE DIE ARME ÜBER DEM KOPF!«

»Hier sind noch mehr Leute!«, brüllte Biber zu dem Mann hoch, der sich aus dem Hubschrauber beugte. Er brüllte so laut, dass ihm rote Punkte vor den Augen tanzten. »Wir haben einen Verletzten hier! Wir ... haben ... einen VERLETZTEN!«

Der Idiot im Hubschrauber warf das Megafon hinter sich in die Kabine und zeigte Biber dann einen Kreis aus Daumen und Zeigefinger, wie um zu sagen: Okay! Verstanden! Biber hätte vor Frust platzen können. Stattdessen hob er eine ausgestreckte Hand über den Kopf - je einen Finger für sich und seine Freunde und den Daumen für McCarthy. Der Mann im Hubschrauber sah sich das an und grinste dann. Für einen wirklich wundervollen Moment dachte Biber, er hätte sich dem Maske tragenden Saftarsch verständlich gemacht. Dann erwiderte der Saftarsch, was er wohl für ein Winken hielt, und sagte etwas zu dem Piloten hinter sich, und der ANG-Helikopter hob sich wieder. Biber Clarendon stand immer noch mitten im wirbelnden Schnee und schrie: »Wir sind zu fünft, und wir brauchen Hilfe! Wir sind zu fünft, und wir brauchen verdammt noch mal HILFE!«

Der Hubschrauber verschwand wieder in den Wolken.

Jonesy hörte einiges davon - auf jeden Fall hörte er die Me-gafbn-Stimme aus dem Thunderbolt-Hubschrauber -, nahm aber nur wenig davon bewusst wahr. Er war zu besorgt um McCarthy, der ein paar kurze, atemlose Schreie ausgestoßen hatte und dann verstummt war. Der Gestank, der unter der Tür hervordrang, wurde immer intensiver.

»McCarthy!«, brüllte er, als der Biber wieder hereinkam. »Machen Sie die Tür auf, oder wir brechen sie auf!«

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie McCarthy mit dünner, verzweifelter Stimme zurück. »Ich muss nur kacken, weiter nichts, ICH MUSS KACKEN! Wenn ich nur kacken kann, geht es mir besser!«

So deutliche Worte von einem Mann, der sonst anscheinend o Mann und oje für Kraftausdrücke hielt, beunruhigten Jonesy mehr als das blutige Laken und die blutige Unterhose. Er drehte sich zu Biber um und bemerkte kaum, dass der Biber in Schnee gehüllt war und aussah wie Frosty, der Schneemann. »Komm, hilf mir, die Tür aufzubrechen. Wir müssen versuchen, ihm zu helfen.«

Biber sah verängstigt und besorgt aus. Schnee schmolz auf seinen Wangen. »Ich weiß nicht. Der Typ im Hubschrauber hat was von Quarantäne gesagt. Was ist, wenn er irgendwas Ansteckendes hat oder so? Was ist, wenn die rote Stelle in seinem Gesicht —«

Trotz seiner eigenen, wenig wohlwollenden Haltung McCarthy gegenüber hätte Jonesy seinem alten Freund am liebsten eine gescheuert. Im vergangenen März hatte er selbst blutend in Cambridge auf der Straße gelegen. Was

wäre gewesen, wenn ihn niemand hätte anrühren wollen, weil er ja vielleicht AIDS haben konnte? Wenn sie sich geweigert hätten, ihm zu helfen? Wenn sie ihn dort hätten verbluten lassen, weil niemand Gummihandschuhe parat hatte?

»Biber, wir sind ihm nahe gekommen. Wenn er etwas wirklich Ansteckendes hat, dann haben wir uns das wahrscheinlich längst geholt. Was sagst du jetzt?«

Für einen Moment sagte Biber erst mal gar nichts mehr. Dann spürte Jonesy dieses Klicken in seinem Kopf. Für einen ganz kurzen Moment sah er den Biber, mit dem er aufgewachsen war, einen Jungen mit einer alten, abgewetzten Motorradjacke an, der schrie: Hey, hört auf! Hört sofort auf damit!, und da wusste er, dass alles gut werden würde.

Biber trat einen Schritt vor. »Fley, Rick, mach doch auf. Wir wollen dir doch nur helfen.«

Hinter der Tür blieb es still. Kein Schrei, kein Atemzug, nicht einmal ein Rascheln. Man hörte nur das stete Grum-meln des Generators und den allmählich verklingenden Flub-schrauberlärm.

»Also gut«, sagte Biber und bekreuzigte sich. »Brechen wir das Scheißding auf.«

Sie traten einen Schritt zurück und drehten die Schultern zur Tür, wie sie es bei Polizisten in Dutzenden Filmen gesehen hatten.

»Bei drei«, sagte Jonesy.

»Macht dein Bein das mit, Mann?«

Jonesy hatte tatsächlich ziemliche Schmerzen im Bein und der Flüfte, das merkte er aber erst, als Biber es ansprach. »Ich bin fit«, sagte er.

»Ja, und mein Arsch ist der Kaiser von China.«

»Bei drei. Bist du bereit?« Und als Biber nickte: »Eins ... zwei ... drei.«

Jie stürmten gemeinsam vor und prallten gegen die Tür, zusammen fast hundertachtzig Kilo hinter zwei eingezogenen Schultern. Die Tür gab mit absurder Leichtigkeit nach, und sie flogen ins Badezimmer, wo sie auf dem Blut auf den Fliesen ausrutschten.

»Ach du Scheiße!«, sagte Biber. Seine rechte Hand fuhr zu seinem Mund, in dem dieses eine Mal kein Zahnstocher steckte, und hielt ihn zu. Seine Augen waren weit aufgerissen und feucht. »Ach du Scheiße!«

Jonesy fehlten die Worte.

KAPITEL 5 Duddits, Teil I


»Lady«, sagte Pete.

Die Frau im Dufflecoat sagte nichts. Lag auf der Plane voller Sägespäne und schwieg. Pete konnte eines ihrer Augen sehen, das ihn anstarrte oder durch ihn hindurch oder zum vermaledeiten Mittelpunkt des beschissenen Universums, wer wusste das schon. Richtig unheimlich. Zwischen ihnen knisterte das Feuer, fing jetzt richtig an zu brennen und etwas Wärme zu spenden. Flenry war seit etwa einer Viertelstunde weg. In frühestens drei Stunden würde er zurück sein, schätzte Pete, in allerfrühestens drei Stunden, und das war eine lange Zeit, wenn man sie unter dem gruseligen Blick dieser Dame verbringen sollte, die guckte wie ein Auto. »Lady«, sagte er noch mal. »Floren Sie mich?« Nichts. Aber einmal hatte sie gegähnt, und da hatte er gesehen, dass die Hälfte ihrer Zähne fehlten. Was war bloß mit ihr los? Und wollte er das eigentlich wirklich wissen? Die Antwort, das hatte Pete festgestellt, lautete einerseits ja und andererseits nein. Er war neugierig - Menschen sind nun einmal neugierig, dachte er -, gleichwohl interessierte es ihn aber überhaupt nicht - nicht wer sie war, nicht wer Rick war und was ihm widerfahren sein mochte, und auch nicht wer »sie« waren. Sie sind wieder da!, hatte die Frau gekreischt, als sie die Lichter am Flimmel gesehen hatte, Sie sind wieder da!

»Lady«, sagte er zum dritten Mal.

Keine Reaktion.

Sie hatte gesagt, Rick sei als Einziger noch übrig, und dann hatte sie Sie sind wieder da gesagt und damit vermutlich die Lichter am Himmel gemeint, und seither hatte sie nur noch diese unerfreulichen Rülpser und Fürze von sich gegeben ... und einmal gegähnt und die vielen Zahnlücken entblößt ... und dann war da noch ihr unheimlicher Blick. Sie guckte wirklich wie ein Auto. Henry war erst seit einer Viertelstunde weg - er war um fünf nach zwölf gegangen, und jetzt war es, Petes Armbanduhr zufolge, zwanzig nach zwölf-, und es kam ihm bereits wie anderthalb Stunden vor. Es würde ein verdammt langer Tag werden, und wenn er ihn überstehen wollte, ohne durchzudrehen (er musste an eine Geschichte denken, die sie in der achten Klasse gelesen hatten, von wem sie war, wusste er nicht mehr, nur dass der Typ in der Geschichte einen alten Mann umgebracht hatte, weil er dessen Blick nicht ertragen konnte, und damals hatte Pete das nicht verstanden, aber jetzt konnte er es voll und ganz nachvollziehen), brauchte er was zu trinken.

»Lady, hören Sie mich?«

Nada. Nur dieser unheimliche Blick.

»Ich muss zurück zum Auto. Ich habe was vergessen. Sie sind ja hier in Sicherheit, nicht wahr?«

Keine Antwort - und dann ließ sie noch einen dieser lang gedehnten Knatterfürze vom Stapel und verzog dabei das Gesicht, als täte es weh ... Und das tat es wahrscheinlich auch: Was sich so anhörte, musste einfach wehtun. Und obwohl Pete darauf geachtet hatte, nicht im Wind zu sitzen, bekam er doch etwas von dem Gestank ab — heftig, übel riechend und irgendwie nicht menschlich. Es roch auch nicht wie ein Kuhfurz. Er hatte in seiner Jugend bei Lionel Sylvester gearbeitet, hatte jede Menge Kühe gemolken, und manchmal furzten sie einen halt an, wenn man da auf dem Melkschemel saß - ein üppiges, grünes Aroma, ein mooriger Geruch. Das hier roch nicht so, nicht im Mindesten. Das hier war wie ... tja, es ähnelte dem Geruch, der dabei herauskam, wenn man als kleiner Junge seinen ersten Chemiebaukasten bekommen hatte und nach einer Weile gelangweilt war von den mädchenhaften kleinen Experimenten, die in der Anleitung beschrieben wurden, und einfach loslegte und den ganzen Kram zusammenmixte, nur um zu sehen, ob es wohl explodierte. Und auch das, wurde ihm klar, beunruhigte ihn und machte ihn nervös. Obwohl es Blödsinn war. Menschen explodierten ja schließlich nicht einfach so. Trotzdem brauchte er Hilfe. Denn die Tante hier ging ihm auf den Zeiger, und zwar mächtig.

Er nahm zwei der Holzstücke, die Henry gesammelt hatte, legte sie ins Feuer, haderte mit sich und legte dann noch ein drittes nach. Funken sprühten, stoben wirbelnd empor und erloschen am eingestürzten Teil des Wellblechdachs. »Ich bin wieder da, bevor das niedergebrannt ist, aber Sie können auch herzlich gern noch was nachlegen. Alles klar?«

Keine Reaktion. Er war schon drauf und dran, sie zu schütteln, aber zum Scout und zurück hatte er anderthalb Meilen Fußmarsch vor sich und musste seine Kräfte schonen. Und außerdem hätte sie wahrscheinlich ohnehin nur gefurzt. Oder ihm ins Gesicht gerülpst.

»Also gut«, sagte er. »Wer schweigt, ist einverstanden, hat Mrs. White in der vierten Klasse immer zu uns gesagt.«

Er stand auf, hielt sich dabei das Knie und verzog das Gesicht. Fast wäre er ausgerutscht und hingefallen, kam dann schließlich doch hoch, denn er brauchte ein Bier, verdammt, brauchte dringend ein Bier, und er war der Einzige, der es ihm holen konnte. Wahrscheinlich war er Alkoholiker. Nein, das hatte mit wahrscheinlich nichts mehr zu tun. Und vermutlich musste er irgendwann mal was dagegen unternehmen, aber jetzt war er ja erst mal auf sich allein gestellt, nicht wahr? Ja, denn mit dieser Schnalle war ja nichts mehr os, von der war weiter nichts übrig als stinkendes Gas und dieser unheimliche Blick. Wenn sie Holz nachlegen musste, dann musste sie das eben alleine hinkriegen, aber das brauchte sie ja auch gar nicht, denn dann würde er längst zurück sein. Es waren nur anderthalb Meilen. Sein Bein würde ihn ganz bestimmt so weit tragen.

»Ich komme wieder«, sagte er. Er beugte sich vor und massierte sein Knie. Es war steif, aber nicht allzu schlimm. Wirklich nicht allzu schlimm. Er würde das Bier in eine Tüte packen - vielleicht noch eine Schachtel Hi-Ho-Cracker für die Schiunze, wenn er schon mal dabei war - und gleich wiederkommen. »Und Ihnen fehlt auch bestimmt nichts?«

Keine Reaktion. Nur dieser Blick.

»Wer schweigt, ist einverstanden«, sagte er noch mal, ging zurück zur Deep Cut Road und folgte dabei der Schleifspur der Plane und ihren fast schon zugeschneiten Fußspuren. Er ging mit kurzen Schritten und blieb alle zehn oder zwölf Schritte stehen, um sich auszuruhen ... und um sein Knie zu massieren. Einmal sah er sich noch zum Feuer um. Im grauen Mittagslicht sah es schon klein und schwach aus. »Das ist wirklich verrückt«, sagte er und ging weiter.

Er kam ohne Schwierigkeiten über das gerade Stück und halb den Hügel hinauf. Er fing eben an, etwas schneller zu gehen und seinem Knie ein wenig zu vertrauen, als es - ätschbätsch, Blödmann, reingelegt! - wieder blockierte und sich anfühlte wie glühendes Roheisen. Er ging zu Boden und quetschte Flüche durch zusammengebissene Zähne.

Erst als er dort fluchend im Schnee saß, bemerkte er, dass hier etwas sehr Merkwürdiges vor sich ging. Ein kapitaler Hirschbock ging links an ihm vorbei, ohne dem Menschen, vor dem er in jeder anderen Situation sofort geflohen wäre, mehr als nur einen knappen Seitenblick zuzuwerfen. Und zwischen den Beinen des Hirsches flitzte ein Eichhörnchen mit.

Pete saß da im sich lichtenden Schneefall - große Flocken segelten in Schichten herab, die wie Spitze aussahen -, das Bein ausgestreckt und mit offenem Mund. Über die Straße kamen weitere Hirsche und Rehe und auch andere Tiere, und sie gingen und hoppelten, als würden sie vor einer Katastrophe fliehen. Es kamen immer mehr aus dem Wald, ein richtiger Zug nach Osten.

»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte er einen Hasen, der mit angelegten Ohren an ihm vorbeihoppelte. »Großer Bingo-Abend im Reservats-Casino? Oder zum Casting für einen neuen Disney-Film? Habt ihr -«

Er verstummte, und schlagartig bekam er einen trockenen Mund, der sich anfühlte, als stünde er unter Strom. Ein Schwarzbär, fettgefressen für den Winterschlaf, trottete links neben ihm durch den lichten, nachwachsenden Wald. Er hatte den Kopf gesenkt, und sein Rumpf pendelte hin und her, und obwohl er Pete nicht eines Blickes würdigte, raubte er ihm doch zum ersten Mal jegliche Illusionen darüber, welche Stellung ihm hier in den großen Wäldern des Nordens zukam. Er war nichts weiter als ein Haufen leckeres weißes Fleisch, der eher zufällig noch am Leben war. Ohne sein Gewehr war er schutzloser als das Eichhörnchen, das er zwischen den Hufen des Hirschs hatte flitzen sehen - wenn ein Bär es sah, konnte das Eichhörnchen wenigstens noch auf den nächsten Baum flüchten, hinauf bis in die lichte Krone, wohin ihm der Bär nicht folgen konnte. Dass ihn dieser Bär kaum angeguckt hatte, beruhigte Pete nicht sonderlich. Wo einer war, da waren auch noch mehr, und der nächste war vielleicht aufmerksamer.

Sobald er sicher sein konnte, dass der Bär verschwunden war, stand Pete mühsam und mit pochendem Herzen wieder • Er hatte die blöde furzende Frau zwar allein gelassen, aber welchen Schutz hätte er ihr schon groß bieten können, wenn ein Bär sie angegriffen hätte? Er musste an sein Gewehr gelangen. Und Henrys auch mitnehmen, wenn er es tragen konnte. Für die nächsten fünf Minuten, bis er auf der Hügelkuppe angelangt war, dachte Pete zuerst an Feuerkraft und dann erst an Bier. Als er jedoch vorsichtig den Hang hinabging, war er längst wieder beim Thema Bier angekommen. Pack es in die Tüte, und häng dir die Tüte über die Schulter. Und auf dem Rückweg wird nicht stehen geblieben und getrunken. Er würde sich erst eins gönnen, wenn er wieder am Lagerfeuer saß. Das würde dann sein Belohnungsbier, und es gab nichts Besseres als ein Bier zur Belohnung.

Du bist Alkoholiker. Das ist dir klar, oder? Ein beschissener Alkoholiker.

Ja, und was bedeutete das? Dass man nichts falsch machen konnte. Dass man nicht verantwortlich war, wenn man eine schon halb im Koma liegende Frau im Wald allein ließ, um Bier zu holen. Und wenn er zurück beim Unterstand war, musste er daran denken, die leeren Flaschen ganz weit in den Wald zu werfen. Aber Henry würde es trotzdem merken. Wie sie einander offenbar immer alles Mögliche anmerkten, wenn sie zusammen waren. Aber Gedankenlesen hin oder her - man musste schon ziemlich früh aufstehen, wenn man Henry Devlin hinters Licht führen wollte.

Pete dachte aber, dass ihn Henry wahrscheinlich mit dem Bier nicht nerven würde. Es sei denn, Pete beschloss, die Zeit sei reif, darüber zu sprechen, Henry vielleicht um Hilfe zu bitten. Was Pete zum passenden Zeitpunkt vielleicht auch tun würde. Es gefiel ihm überhaupt nicht, wie er sich zurzeit fühlte; und dass er die Frau allein zurückgelassen hatte, besagte wenig Schmeichelhaftes über Peter Moore. Aber Henry ... auch mit Henry stimmte in diesem November etwas nicht. Pete wusste nicht, ob Biber das mitbekam, aber Jone-sy merkte es ganz bestimmt. Henry war irgendwie ziemlich im Arsch. Vielleicht dachte er sogar -Hinter sich hörte er ein schmatzendes Grunzen. Pete schrie auf und wirbelte herum. Sein Knie blockierte wieder, diesmal noch schlimmer als zuvor, aber vor Schreck merkte er das kaum. Es war der Bär, der Bär war zurückgekommen, dieser Bär oder ein anderer -

Es war kein Bär. Es war ein Elch, und er ging an Pete vorbei und würdigte ihn kaum eines Blickes, während Pete wieder auf die Straße fiel, leise vor sich hin fluchend, sich das Bein hielt, in den dünnen Schneefall hochsah und sich selbst einen Trottel schimpfte. Einen Alkoholiker-Trottel.

Für einen beängstigenden Augenblick schien es so, als würde sich das Knie diesmal nicht wieder entspannen, als wäre etwas gerissen und als müsse er hier mitten im Exodus der Tiere liegen, bis Henry endlich auf dem Schneemobil wiederkam. Und Henry würde sagen: Was machst du denn hier? Wieso hast du sie allein gelassen? Ich hab's echt geahnt.

Doch irgendwann konnte er dann wieder aufstehen. Jetzt bekam er gerade noch ein lahmes Gehoppel hin, aber das war immer noch besser, als nur Meter neben einem noch dampfenden Haufen Elchscheiße im Schnee zu liegen. Jetzt konnte er den umgestürzten Scout sehen, dessen Reifen und Unterboden von Neuschnee bedeckt waren. Er sagte sich, dass er, hätte sich sein letzter Sturz auf der anderen Seite des Hügels ereignet, zu der Frau am Feuer umgekehrt wäre, dass es aber nun, da der Scout schon in Sicht war, besser war weiterzugehen. Dass es ihm hauptsächlich um die Waffen ginge, und die Bud-Flaschen nur eine nette Nebensache wären. Und hätte es sogar fast geglaubt. Und was den Rückweg anging ... tja, den würde er schon irgendwie schaffen. Er hatte es ja schließlich auch bis hierher geschafft, nicht wahr?

Noch gut fünfzig Meter vom Scout entfernt, hörte er ein rasch sich näherndes Wupp-wupp-wupp - das unverkennbare Geräusch eines Hubschraubers. Er schaute gespannt zum Himmel und machte sich bereit, so lange aufrecht zu stehen, dass er winken konnte - Gott, wenn irgendjemand

Hilfe vom Himmel brauchte, dann doch wohl er -, doch der Helikopter sank nicht durch die niedrig hängende Wolkendecke. Für einen Moment sah er fast direkt über sich einen dunklen Umriss durch den trüben Wolkenbrei gleiten und auch verschwommene Lichter -, und dann entfernte sich das Hubschraubergeräusch in Richtung Osten, in die Richtung, in die auch die Tiere liefen. Zu seiner Bestürzung stellte er fest, dass unter seiner Enttäuschung eine abscheuliche Erleichterung hervorlugte: Wäre der Helikopter gelandet, dann wäre er nie zu seinem Bier gekommen, und dabei hatte er dafür doch schon so viel auf sich genommen.

Fünf Minuten später hockte er auf den Knien und kletterte vorsichtig in den umgestürzten Scout. Er bekam schnell mit, dass ihn sein verwundetes Knie nicht lange tragen würde (es war nun unter seiner Jeans angeschwollen wie ein dicker, schmerzgefüllter Brotlaib), und deshalb schwamm er förmlich in das eingeschneite Wageninnere hinein. Es gefiel ihm dort nicht; alle Gerüche waren zu intensiv, und es war viel zu eng. Es war fast, als würde man in ein Grab kriechen, und zwar in eines, das nach Henrys Parfüm roch.

Die Lebensmittel waren über den ganzen hinteren Teil des Wagens verstreut, aber Pete würdigte das Brot, die Dosen, den Senf und die Hotdog-Würstchen (rote Hotdog-Würstchen waren das einzige Fleisch, das es beim alten Gosselin gab) kaum eines Blickes. Einzig das Bier interessierte ihn, und offenbar war nur eine Flasche zu Bruch gegangen, als der Scout gekentert war. Säuferglück. Das ganze Wageninnere roch nach Bier - die Flasche, aus der er getrunken hatte, war natürlich auch ausgelaufen -, aber er mochte diesen Geruch. Henrys Parfüm hingegen ... puuh, lieber Gott. Das stank gewissermaßen genauso wie die Fürze der durchgeknallten Schreckschraube. Er wusste nicht, warum er beim Geruch dieses Parfüms an Särge und Gräber und Trauerkränze denken musste, aber so war es nun mal.

»Wieso legst du im Wald denn überhaupt Parfüm auf, alter Sportsfreund?«, fragte er, und die Worte kamen aus weißen Atemwölkchen hervor. Die Antwort war natürlich, dass Henry gar kein Parfüm getragen hatte - der Geruch war in Wirklichkeit gar nicht da, nur der Biergeruch. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte Pete wieder an die hübsche Immobilienmaklerin, die vor der Apotheke in Bridgton ihre Autoschlüssel verloren hatte, und daran, wie er gemerkt hatte, dass sie nicht zum Abendessen kommen würde und am liebsten meilenweit von ihm entfernt gewesen wäre. War es nicht so ähnlich, wenn man Parfüm roch, das gar nicht da war? Er wusste es nicht, nur dass es ihm gar nicht gefiel, dass dieser Geruch für ihn unauflöslich mit dem Gedanken an den Tod verbunden war.

Vergiss es, du Knallkopf. Du siehst Gespenster. Es ist ein großer Unterschied, ob man wirklich die Linie sieht oder nur Gespenster. Vergiss es, und hol dir, weshalb du hier bist.

»Tolle Idee«, sagte Pete.

Die Tragetüten waren aus Plastik, nicht aus Papier, und hatten Griffe; so weit hatte der alte Gosselin den Fortschritt durchaus mitgemacht. Pete langte nach einer und spürte sofort ein schmerzhaftes Reißen im linken Zeigefinger. Es war nur eine Flasche zerbrochen, und an der musste er sich natürlich schneiden, und dann auch noch ziemlich tief, so wie es sich anfühlte. Das war vielleicht die Strafe dafür, dass er die Frau allein zurückgelassen hatte. Wenn dem so war, dann würde er es tapfer wie ein Mann ertragen und sich sagen, dass er noch glimpflich davongekommen sei.

Er sammelte acht Flaschen ein und wollte eben wieder aus dem Scout kriechen, überlegte es sich aber noch einmal anders. Für lumpige acht Bier war er den weiten Weg hierher gehumpelt? »Wohl kaum«, murmelte er und holte dann auch noch die übrigen sieben, nahm sich die Zeit, sie alle einzusammeln, obwohl ihm im Scout so unheimlich zu Mute war. Dann kroch er rückwärts und sträubte sich gegen die plötzliche Idee, eines der fliehenden Tiere - ein kleines, aber mit großen Zähnen -, hätte hier Zuflucht gesucht und würde ihn gleich anfallen und ein schönes Stück aus seinen Eiern herausbeißen. Petes Strafe, Teil zwei.

Er brach nicht direkt in Panik aus, kroch aber schneller hinaus, als er hineingekrochen war, und sein Knie blockierte wieder, als er gerade das Auto verließ. Er drehte sich wimmernd auf den Rücken, schaute hinauf in den Schnee - nun fielen die letzten, großen Flocken, wie die Spitze feinster Damenunterwäsche -, massierte sich das Knie und redete ihm gut zu: Komm Baby, mach Schatzi, entspann dich, du verdammtes Scheißteil. Und als er schon dachte, diesmal würde es nicht mehr gehen, ging es doch. Er sog zischend durch zusammengebissene Zähne Luft ein, setzte sich auf und betrachtete die Tüte, auf der in Rot stand: vielen dank, dass

SIE BEI UNS EINGEKAUFT HABEN!

»Wo hätte ich denn sonst hinfahren sollen, du alter Sack?«, fragte er. Er beschloss, sich ein Bier zu gönnen, ehe er zurück zu der Frau aufbrach. Dann hatte er auch nicht mehr so viel zu tragen.

Pete angelte sich eins aus der Tüte, machte es auf und goss sich die halbe Flasche mit vier Schluck in den Hals. Es war kalt, und der Schnee, auf dem er saß, war noch kälter, aber trotzdem tat es ihm gut. Das war die Magie des Bieres. Es war auch die Magie von Scotch, Wodka und Gin, aber wenn es um Alkohol ging, war er wie Tom T. Hall: Er trank gern Bier.

Als er so die Tüte betrachtete, fiel ihm wieder der Junge mit den karottenfarbenen Haaren im Laden ein - das verwunderte Lächeln, die Schlitzaugen, die solchen Menschen ursprünglich die Bezeichnung Mongoloide eingetragen hatten. Das brachte ihn wieder auf Duddits, auf Douglas Ca-veil, wenn's denn formell sein sollte. Warum er in letzter Zeit so oft an Duds hatte denken müssen, wusste Pete nicht zu sagen, aber er hatte oft an ihn gedacht und nahm sich nun selbst ein Versprechen ab: Wenn das hier alles vorüber war, würde er in Derry vorbeifahren und den alten Duddits besuchen. Er würde die anderen bitten mitzukommen, und irgendwie hatte er so das Gefühl, dass er sie nicht groß würde überreden müssen. Duddits war wahrscheinlich der Grund dafür, dass sie nach so vielen Jahren immer noch befreundet waren. Mann, die meisten Leute dachten nicht mal mehr an ihre Freunde aus der College- oder High-School-Zeit, von ihren Kumpeln von der Junior High School mal ganz zu schweigen. Middle School nannte man sie heute, was aber, da hatte Pete nicht den mindesten Zweifel, genauso ein düsterer Dschungel aus Schüchternheit, Verwirrung, muffelnden Achselhöhlen, blödsinnigen Ticks und halbgaren Ideen war. Sie kannten Duddits natürlich nicht aus der Schule, denn Duddits ging nicht auf die Derry Junior High. Duds ging auf die Mary-M.-Snowe-Sonderschule, die bei den Kindern in der Nachbarschaft auch Behindi-Akademie genannt wurde oder schlicht und einfach Dummschule. Unter normalen Umständen hätten sich ihre Wege nie gekreuzt, aber es gab da diese Brache an der Kansas Street und das leer stehende Ziegelsteingebäude davor. Von der Straße aus konnte man immer noch in verblichener weißer Farbe Spedition & Lagerhaus gebr. TRACKER auf den alten roten Ziegeln lesen. Und auf der anderen Seite, an der großen Rampe, wo früher die Laster entladen wurden ... da stand etwas anderes geschrieben.

Jetzt, da er im Schnee hockte und nicht mehr spürte, wie er unter seinem Hintern zu kaltem Schneematsch schmolz, und er sein zweites Bier trank, ohne sich überhaupt daran erinnern zu können, es aufgemacht zu haben (das erste leere atte er in den Wald geworfen, wo er immer noch Tiere nach Osten wandern sah), erinnerte sich Pete an den Tag, an dem sie Duds kennen gelernt hatten. Er erinnerte sich an Bibers blöde Jacke, die der Biber damals so geliebt hatte, und an Bibers Stimme, so dünn, aber doch auch so kräftig, wie sie das Ende von etwas und den Anfang von etwas anderem verkündet hatte, wie sie auf eine unfassbare, dennoch aber ganz reale und wahrnehmbare Weise verkündet hatte, dass sich der Lauf ihres ganzen Lebens an einem Dienstagnachmittag änderte, als sie lediglich vorhatten, bei Jonesy in der Auffahrt ein wenig Zwei-gegen-zwei und anschließend vor dem Fernseher dann vielleicht etwas Parcheesi zu spielen; jetzt, da er hier im Wald neben dem umgestürzten Scout saß und immer noch das Parfüm roch, das Henry gar nicht getragen hatte, und das beglückende Gift seines Lebens trank, erinnerte sich der Autoverkäufer an den Jungen, der seinen Traum, Astronaut zu werden, noch nicht aufgegeben hatte, obwohl ihm Mathe zusehends schwer fiel (Jonesy hatte ihm geholfen, und dann hatte Henry ihm geholfen, und dann, in der zehnten Klasse, war ihm nicht mehr zu helfen gewesen), und er erinnerte sich auch an die anderen Jungen und vor allem an den Biber, der mit einem kieksigen Schrei seiner Stimmbruchstimme die ganze Welt auf den Kopf gestellt hatte: He, ihr da! Lasst das! Hört sofort auf damit!

»Biber«, sagte Pete und brachte im trüben Nachmittagslicht einen Toast auf ihn aus, mit dem Rücken an die Karosserie des umgestürzten Scout gelehnt. »Du warst wunderbar, Mann.« Aber waren sie das nicht alle?

Waren sie nicht alle wunderbar gewesen?

Weil er in die achte Klasse geht und in der letzten Stunde Musik im Erdgeschoss hat, ist Pete immer schon vor seinen drei besten Freunden draußen, die ihre letzte Stunde immer im ersten Stock haben: Jonesy und Henry haben Amerikanische Literatur, also Lesen für Schlaue, und Biber nebenan Mathe fürs Leben, also eigentlich Mathe für Dumme. Pete sträubt sich noch mächtig dagegen, das im nächsten Jahr belegen zu müssen, aber diesen Kampf wird er wohl verlieren. Er kann addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren und er beherrscht auch die Brüche, obwohl er viel zu lange dafür braucht. Aber jetzt gibt es da etwas Neues, jetzt gibt es da das X. Pete versteht das X nicht, und es macht ihm Angst.

Er steht draußen vorm Tor am Maschendrahtzaun, während die übrigen Achtklässler und die kindischen Siebtkläss-Ier vorbeiströmen, steht da, kickt nach etwas und tut so, als würde er rauchen, eine Hand vorm Mund gewölbt und die andere darunter verborgen - und die verborgene Hand ist die mit der fiktiven versteckten Kippe.

Und jetzt kommen da die Neuntklässler aus dem ersten Stock, und wie eine königliche Familie - ja, fast wie ungekrönte Könige, obwohl Pete so etwas Schwiemeliges natürlich nie aussprechen würde - kommen da auch seine Freunde Jonesy, Biber und Henry. Und wenn es denn einen König der Könige gibt, dann ist es Henry, für den alle Mädchen schwärmen, und das, obwohl er Brillenträger ist. Pete kann sich glücklich schätzen, solche Freunde zu haben, und das ist ihm bewusst - er ist wahrscheinlich der glücklichste Achtklässler von ganz Derry - X hin oder her. Und das hat kaum etwas damit zu tun, dass er mit Freunden aus der neunten Klasse von keinem harten Kerl aus der Achten verdroschen wird.

»Hey, Pete!«, sagt Henry, als die drei durch das Schultor geschlendert kommen. Wie stets wirkt Henry überrascht, ihn dort zu sehen, aber auch äußerst erfreut. »Was läuft denn so, Mann?«

»Nicht viel«, antwortet Pete wie stets. »Und bei euch?«

SÄT«, sa§1 Henry, nimmt seine Brille ab und fängt an,zu Putzen. Hätten sie einen Club gegründet, dann wäre

SSAT wahrscheinlich ihr Motto gewesen; sie brachten es schließlich sogar Duddits bei - bei ihm hörte es sich wie Sähe Scheise, anner Tah an, und es ist eines der wenigen Dinge, die Duddits sagt, die seine Eltern nicht verstehen können. Und das ist für Pete und seine Freunde natürlich ein Heidenvergnügen.

Jetzt aber, da ihnen Duddits erst in einer halben Stunde bevorsteht, wiederholt Pete einfach nur, was Henry gesagt hat: »Ja, Mann. SSAT.«

Selbe Scheiße, anderer Tag. Nur dass die Jungs im Grunde ihres Herzens nur die erste Hälfte davon glauben, denn im Grunde ihres Herzens glauben sie, dass es, Tag für Tag, immer derselbe Tag ist. Wir sind in Derry, im Jahre 1978, und es wird immer 1978 sein. Sie sagen, es werde eine Zukunft geben und sie würden das 21. Jahrhundert erleben - Henry wird Anwalt sein und Jonesy Schriftsteller, Biber wird einen Sattelzug fahren und Pete Astronaut sein mit dem NASA-Emblem auf dem Oberarm - aber das sagen sie bloß, wie sie auch in der Kirche das Glaubensbekenntnis mitsprechen, ohne recht zu wissen, was da aus ihrem Munde kommt; und in Wirklichkeit sind sie eher an Maureen Chessmans Rock interessiert, der überhaupt schon ziemlich kurz ist und ihr noch weiter die Schenkel hinaufrutschen wird. Im Grunde ihres Herzens glauben sie, dass Maureens Rock eines Tages so weit hochrutschen wird, dass sie ihren Schlüpfer sehen können, und genauso glauben sie, dass Derry so ewig ist wie sie selbst. Sie werden immer in die Junior High School gehen, und es wird immer Viertel vor drei sein, und sie werden immer gemeinsam die Kansas Street entlanggehen, um bei Jonesy in der Auffahrt Basketball zu spielen (Pete hat bei sich vor der Garage auch einen Korb, aber Jonesys gefällt ihnen besser, weil sein Vater ihn so niedrig angebracht hat, dass man dünken kann) und um sich ewig über die gleichen Themen zu unterhalten, über den Unterricht und die Lehrer und darüber, welcher Junge sich mit welchem angelegt hat und welcher sich mit welchem erst noch anlegen wird und ob Soundso den Soundso denn überhaupt plattmachen könnte, wenn er sich mit ihm anlegen würde (nur dass sie sich nie miteinander anlegen werden, denn Soundso und Soundso sind befreundet), wer in letzter Zeit was Krasses gebracht hat (dieses Jahr bisher ihr Favorit: der Siebtklässler Norm Par-meleau, jetzt auch Makkaroni-Parmeleau genannt, ein Spitzname, der jahrelang an ihm kleben wird, noch bis ins nächste Jahrhundert, über das diese Jungs zwar reden, an das sie im Grunde ihres Herzens aber nicht glauben; bei einer Wette um fünfzig Cents hatte sich Norm Parmeleau eines Tages in der Mensa beide Nasenlöcher mit Käse-Makkaroni zugestopft, sie dann wie Rotze hochgezogen und schließlich gegessen; Makkaroni-Parmeleau, der, wie so viele Jungs auf der Junior High School, traurige mit wahrer Berühmtheit verwechselt hatte), wer mit wem geht (wenn ein Typ und ein Mädchen gesehen werden, wie sie nach der Schule zusammen nach Hause gehen, nimmt man an, dass sie wahrscheinlich miteinander gehen; wenn man sie Händchen halten oder knutschen sieht, gibt's da nichts mehr zu deuteln) und wer das Superbowl gewinnen wird (die Patriots! die Boston Patriotsi, aber die gewinnen nie; Fan der Patriots sein zu müssen, ist schon echt scheiße). Es sind immer die gleichen Themen, und doch sind sie unerschöpflich faszinierend, während sie alle gemeinsam von derselben Schule (Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen) dieselbe Straße (den Schöpfer des Himmels und der Erde) unter dem ewig gleichen weißen Oktoberhimmel (... und das ewige Leben) und mit denselben Freunden nach Hause gehen (Amen). Selbe Scheiße, selber I ag, das glauben sie im Grunde ihres Herzens, und da sind sie sich einig mit K. C. and the Sunshine Band, obwohl sie alle sagen würden: RR-DS (Rock regiert! Disco? Scheiße!): that's the way - aha, aha - they like it ... Der Wandel, die eränderung wird plötzlich und unerwartet kommen, wie das bei Kindern in ihrem Alter immer so ist; brauchten Veränderungen die Zustimmung von Junior-High-School-Schülern, dann würde sich nie etwas ändern.

Heute bietet ihnen auch die Jagd Gesprächsstoff, denn Mr. Clarendon wird sie zum ersten Mal auf seine Hütte mitnehmen. Sie werden drei Tage dort sein, zwei davon Schultage (diese Fahrt bekommen sie von der Schule problemlos genehmigt, und es wäre völlig unnötig, den Zweck der Reise zu verheimlichen; das südliche Maine mag mittlerweile verstädtert sein, aber hier oben im Norden, in Gottes freier Natur, ist die Jagd immer noch Bestandteil der Erziehung, zumal bei Jungen). Den Gedanken, mit Gewehren mit scharfer Munition durch den Wald zu schleichen, während ihre Klassenkameraden brav die Schulbank drücken, finden sie unglaublich stark, und sie gehen an der Behindi-Akademie gegenüber vorbei, ohne auch nur hinzusehen. Die Sonderschüler haben zur gleichen Zeit Schulschluss wie die Kinder von der Derry Junior High, aber die meisten fahren mit ihren Müttern in einem gesonderten Behindertenbus nach Hause, der blau ist und nicht gelb und angeblich hinten drauf einen Aufkleber hat, auf dem steht: helfen sie geistig BEHINDERTEN MENSCHEN - ODER ICH BRING EUCH UM!

Als Henry, Biber, Jonesy und Pete an der Sonderschule gegenüber Vorbeigehen, laufen da immer noch ein paar der selbstständigeren Behinderten rum, die allein nach Hause gehen dürfen. Sie glotzen mit diesem abstrusen, unablässig verwunderten Gesichtsausdruck. Pete und seine Freunde sehen sie wie immer, ohne sie wirklich zu sehen. Sie sind einfach nur Bestandteil der Welttapete.

Henry, Jonesy und Pete hören dem Biber ganz genau zu, der ihnen erzählt, wenn sie zu ihrer Hütte fahren, müssten sie runter in die Schlucht, denn dort seien die kapitalen Hirsche, da unten mögen sie das Gestrüpp. »Mein Dad und ich, wir haben da schon ’ne Milliarde Hirsche gesehn«, sagt er. Die Reißverschlüsse an seiner alten Motorradjacke klimpern so lustig.

Sie streiten darüber, wer den größten Hirsch erlegen wird und wohin man am besten zielen solle, um das Tier mit einem Schuss niederzustrecken und nicht leiden zu lassen. (»Mein Vater sagt aber, Tiere leiden nicht so wie Menschen, wenn sie verletzt werden«, sagt Jonesy. »Er sagt, Gott hat sie anders geschaffen, damit es für uns in Ordnung ist, sie zu jagen.«) Sie lachen und zanken sich und streiten darüber, wer denn wohl sein Lunch wieder von sich geben werde, wenn es daran geht, die Beute auszunehmen, und die Behindi-Akademie haben sie längst hinter sich gelassen. Vor ihnen, auf ihrer Straßenseite, ragt das klobige Ziegelsteingebäude auf, in dem die Gebrüder Tracker früher ihr Unternehmen hatten.

»Wenn einer kotzt, dann bestimmt nicht ich«, dröhnt Biber. »Ich habe tausendmal Hirschinnereien gesehen. Das macht mir überhaupt nichts. Ich weiß noch, als wir -«

»Hey, Jungs«, unterbricht ihn Jonesy, plötzlich aufgeregt. »Wollt ihr die Möse von Tina Jean Schlossinger sehn?«

»Wer ist Tina Jean Sloppinger?«, fragt Pete, ist aber auf Anhieb fasziniert von der Idee. Überhaupt irgendeine Möse zu sehen, kommt ihm schon sehr verlockend vor; er schaut sich immer die Penthouse und Playboy seines Vaters an, die der in seiner Werkstatt hinter dem großen Werkzeugkasten versteckt. Mösen sind ein hochinteressantes Thema. Er kriegt dabei keinen Steifen, und es macht ihn auch nicht so an wie blanke Titten, aber das liegt wohl daran, denkt er, dass er noch ein Kind ist.

Also: Mösen sind wirklich interessant.

»Schlossinger«, sagt Jonesy lachend. »Sie heißt Schlossinger, Petesky. Die Schlossingers wohnen bei mir zwei Ecken weiter, und ...« Er hält plötzlich inne, weil ihm eine wichtige frage eingefallen ist, die sofort geklärt werden muss. Er wendet sich an Henry. »Sind die Schlossingers Juden oder Republikaner?«

Jetzt ist es an Henry, über Jonesy zu lachen, aber es ist

nicht böse gemeint. »Genau genommen kann man wohl auch beides sein ... oder nichts von beidem. Aber von Religion und Politik mal abgesehen«, sagt Henry, immer noch lachend. »Wenn du ein Bild hast, auf dem Tina Jean Schlos-singer ihre Möse herzeigt, dann will ich es sehn.«

Der Biber ist mittlerweile sichtlich erregt - rote Wangen, strahlende Augen, und er steckt sich einen neuen Zahnstocher in den Mund, ehe er mit dem alten auch nur halb fertig ist. Die Reißverschlüsse seiner Jacke, die Bibers älterer Bruder während seiner vier- oder fünfjährigen Rockerphase getragen hatte, klimpern schneller.

»Ist sie blond?«, fragt der Biber. »Blond und auf der High School? Super gut aussehend? Hat sie -« Er wölbt die Hände vor der Brust, und als Jonesy grinsend nickt, wendet sich Biber an Pete und platzt los: »Sie ist dieses Jahr Home-coming Queen der High School, du Arschgeige! Ihr Bild war in der Zeitung! Mit Richie Grenadeau auf dem Festwagen!«

»Ja, aber die Scheiß-Tigers haben das Homecoming-Spiel verloren, und Grenadeau hat sich dabei die Nase gebro chen«, sagt Henry. »Die erste High-School-Mannschaft aus ! Derry, die je gegen ein A-Klasse-Team aus Süd-Maine ange treten ist, und diese Idioten -«

»Scheiß auf die Tigers«, mischt sich Pete ein. Er interes-: siert sich durchaus mehr für High-School-Football als für; das gefürchtete X, aber so groß ist der Unterschied nun auch wieder nicht. Außerdem weiß er jetzt, wer das Mädchen ist, erinnert sich an das Zeitungsfoto, auf dem sie neben dem Quarterback der Tigers auf der mit Blumen geschmückten Ladefläche eines Holzlasters steht, beide mit einer Krone aus Alufolie auf dem Kopf, und lächelnd der Menge zuwinken. Dem Mädchen fiel das Haar in Wuscheligen Farrah-Fawcett-Wellen ums Gesicht, und ihr Kleid war trägerlos und ließ tief blicken.

Zum ersten Mal im Leben empfindet Pete richtige Wol-lust - es ist ein üppiges, rotes, pochendes Gefühl, und er bekommt einen Steifen davon und einen trockenen Mund, und es macht das Denken schwer. Mösen sind an sich schon interessant; aber der Gedanke, eine Möse hier aus der Stadt zu sehen, die Möse einer Homecoming Queen ... das ist mehr als nur aufregend. Das muss man, wie die Kritikerin der Derry News manchmal über einen Film sagt, der ihr besonders gefallen hat, das muss man einfach gesehen haben.

»Wo?«, fragt er Jonesy atemlos. Er stellt sich vor, wie er dieses Mädchen sieht, diese Tina Jean Schlossinger, wie sie an der Ecke auf den Schulbus wartet, einfach nur mit ihren Freundinnen dasteht und rumgackert und nicht die leiseste Ahnung hat, dass der Junge, der da vorbei kommt, gesehen hat, was sie unterm Rock oder unter der Jeans hat, und weiß, ob ihr Muschihaar die gleiche Farbe hat wie das auf ihrem Kopf. Mit einem Mal ist Pete Feuer und Flamme. »Wo ist es?«

»Da«, sagt Jonesy und zeigt auf das alte Ziegelsteingebäude, das ehemalige Lagerhaus der Gebrüder Tracker. An den Mauern rankt Efeu empor, aber es ist ein kalter Herbst, und die meisten Blätter sind schon abgestorben und schwarz. Einige Fenster sind eingeschlagen, die übrigen schmutzig. Es fröstelt Pete ein wenig, als er das Gebäude betrachtet. Zum einen, weil die Großen, die High-School-Jungs und die noch älteren, auf der Freifläche dahinter immer Baseball spielen und die Großen die Kleinen gern verkloppen, warum, wuss-te keiner, es war wohl mal ’ne Abwechslung oder so. Aber das ist eigentlich kein Thema mehr, denn mit Baseball ist es für dieses Jahr vorbei, und die Großen sind wahrscheinlich längst in den Strawford Park weitergezogen, wo sie Touch-Football spielen werden, bis der erste Schnee fällt. (Und sobald der erste Schnee fällt, werden sie sich beim Eishockey mit ihren alten, immer wieder geflickten Schlägern gegenseitig die Köpfe einbauen). Nein, das Problem besteht eher dann, dass in Derry manchmal Kinder verschwinden, das ist in

Derry so, und wenn sie verschwinden, werden sie zuletzt meist an abgelegenen Orten gesehen, wie etwa dem leer stehenden ehemaligen Lagerhaus der Gebrüder Tracker. Niemand spricht über diese unangenehme Tatsache, aber alle wissen davon.

Aber eine Möse ... nicht irgendeine fiktive Penthouse-Möse, sondern die reale Muschi eines Mädchens aus dieser Stadt ... das wäre doch was, das man sich ansehen muss. Das wäre echt eine Mordsgeschichte.

»Gebrüder Tracker?«, fragt Henry fassungslos. Sie sind jetzt stehen geblieben, stehen nicht weit von dem Gebäude entfernt, während auf der anderen Straßenseite die letzten Behindis faselnd und glotzend Vorbeigehen. »Ich halte große Stücke auf dich, Jonesy, versteh mich bitte nicht falsch -wirklich große Stücke -, aber wieso sollte da drin ein Foto von Tina Jeans Möse sein?«

»Keine Ahnung«, sagt Jonesy, »aber Davey Trask hat es gesehen und gesagt, sie wäre das.«

»Ich weiß nicht, ob wir da reingehen sollten, Leute«, sagt Biber. »Ich meine, ich würde natürlich liebend gern mal die Möse von Tina Jean Slophanger -«

»Schlossinger -«

»- aber der Laden hier ist stillgelegt worden, da waren wir noch in der fünften Klasse oder so -«

»Biber -«

»- und da wimmelt es bestimmt von Ratten.«

»Biber —«

Aber Biber besteht darauf auszureden. »Und Ratten kriegen Tollwut«, sagt er. »Die kriegen alle Tollwut.«

»Wir müssen da nicht reingehen« sagt Jonesy, und da schauen ihn die drei mit wiedererwecktem Interesse an. Ja, dann sieht die Sache natürlich gleich ganz anders aus.

Jonesy merkt, dass er ihre volle Aufmerksamkeit genießt. Er nickt und fährt fort: »Davey sagt, wir müssen nur bei der Auffahrt rumgehen und in das dritte oder vierte Fenster gucken. Da war früher das Büro von Phil und Tony Tracker. An der Wand hängt immer noch ein schwarzes Brett. Und Davey sagt, an dem schwarzen Brett sind nur zwei Sachen: eine Landkarte von Neuengland, auf der die ganzen Lasterrouten verzeichnet sind, und ein Bild von Tina Jean Schlossinger, wie sie ihre Pussi herzeigt.«

Sie schaun ihn alle gebannt an, und Pete stellt die Frage, die allen auf der Zunge liegt. »Ist sie nackt?«

»Nein«, muss Jonesy zugeben. »Davey sagt, man könnte nicht mal ihre Titten sehn, aber sie hält sich den Rock hoch und hat keinen Schlüpfer an, und man kann es ganz deutlich sehn.«

Pete ist zwar enttäuscht, dass die diesjährige Homecoming Queen der Tigers nicht splitterfasernackt ist, dass sie sich aber den Rock hochhält, entflammt sie alle, spricht eine dunkel geahnte Vorstellung davon an, wie Sex wirklich funktioniert. Ein Mädchen konnte sich schließlich den Rock hochhalten; das konnte jedes Mädchen.

Jetzt stellt nicht einmal Henry mehr Fragen. Nur von Biber kommt jetzt noch eine Frage. Er fragt Jonesy, ob sie da auch bestimmt nicht hineingehen müssen, um das zu sehen. Da gehen sie schon auf die Auffahrt zu und laufen dann um das Gebäude herum auf die Freifläche, unaufhaltsam und blindlings wie eine Springflut.

Pete trank sein zweites Bier aus und warf die Flasche weit in den Wald hinein. Jetzt ging es ihm besser, und er stand vorsichtig auf und wischte sich den Schnee vom Hintern. Hatte sich sein Knie ein wenig entspannt? Es kam ihm so vor. Es sah natürlich schrecklich aus - sah aus, als würde da unter der Hose ein Hefeteig aufgehen -, fühlte sich aber ein biss-c en besser an. Trotzdem ging er vorsichtig und ließ die Plastiktüte mit dem Bier lose neben sich baumeln. Da nun die leise, aber übermächtige Stimme, die darauf bestanden hatte, er müsse ein Bier trinken, zum Schweigen gebracht war, machte er sich wieder Sorgen um die Frau und hoffte, sie hätte gar nicht bemerkt, dass er fort war. Er würde langsam gehen und alle fünf Minuten oder so stehen bleiben und sich das Knie massieren (und ihm vielleicht gut zureden, es ermutigen, eine verrückte Idee, aber hier draußen kriegte das ja keiner mit, und schaden konnte es nicht), und so würde er zu der Frau zurückkehren. Dann würde er noch ein Bier trinken. Er schaute sich nicht zu dem umgestürzten Scout um und sah nicht, dass er duddits in den Schnee geschrieben hatte, immer und immer wieder, während er dagesessen und an diesen Tag im Jahr 1978 gedacht hatte.

Einzig Flenry hatte gefragt, warum das Bild der kleinen Schlossinger im leer stehenden Büro einer stillgelegten Spedition hängen sollte, und mittlerweile war Pete der Meinung, dass Flenry nur gefragt hatte, um seiner Rolle als Cliquenskeptiker gerecht zu werden. Und bestimmt hatte er das nur einmal gefragt; die anderen, die hatten es einfach geglaubt — und warum denn auch nicht? Mit dreizehn hatte Pete schließlich sein halbes Leben lang auch an den Weihnachtsmann geglaubt. Und außerdem -

Pete blieb kurz vor der Hügelkuppe stehen, nicht, weil ihm die Puste ausgegangen wäre oder er einen Krampf im Bein bekommen hätte, sondern weil er plötzlich ein leises Summen im Kopf spürte, wie von einem Transformator, nur dass es etwas Rotierendes an sich hatte, ein leises Dud-dud-dud. Und nein, es war auch nicht »plötzlich« gekommen; er hatte so das Gefühl, das Geräusch schon eine ganze Weile zu hören und jetzt erst richtig wahrzunehmen. Und dann waren ihm ja auch so merkwürdige Gedanken gekommen. Die Sache mit Henrys Parfüm zum Beispiel ... und Marcy. Eine gewisse Marcy. Er glaubte nicht, eine Marcy zu kennen, aber der Name schwirrte ihm plötzlich im Kopf herum, zum Beispiel als Marcy, ich brauche dich und als Marcy, ich will dich und vielleicht auch als verdammt noch mal, Marcy, bring mir die Sodaflasche.

Er blieb dort stehen und leckte sich über die trockenen Lippen, und die Tüte mit dem Bier hing ruhig neben ihm. Er schaute zum Himmel und war sich plötzlich sicher, dass er dort Lichter sehen würde ... und tatsächlich waren sie da, aber nur zwei und auch nur sehr matt.

»Sag Marcy, sie sollen mir eine Spritze geben«, sagte Pete, in der Stille jedes Wort ganz genau betonend, und wusste, dass es genau die richtigen Worte waren. Er hätte nicht sagen können, warum oder inwiefern sie richtig waren, aber ja, das waren die Worte in seinem Kopf. War das der Klick, oder hatten die Lichter diese Gedanken ausgelöst? Pete wusste es nicht.

»Vielleicht weder noch«, sagte er.

Pete merkte, dass es aufgehört hatte zu schneien. Die Welt um ihn her zeigte nur drei Farben: das Dunkelgrau des Himmels, das tiefe Grün der Tannen und das makellose Weiß des Neuschnees. Und es war mucksmäuschenstill.

Pete legte den Kopf erst auf die eine Seite und dann auf die andere und lauschte. Ja, vollkommene Stille. Es war kein Laut mehr zu hören, und das Summen hatte ebenso aufgehört wie der Schneefall. Als er hochschaute, sah er, dass auch die blass glimmenden Lichter verschwunden waren.

»Marcy?«, fragte er, als würde er jemanden rufen. Ihm kam in den Sinn, dass Marcy vielleicht der Name der Frau war, die den Unfall verursacht hatte, aber diese Idee verwarf er gleich wieder. Diese Frau hieß Becky, das wusste er so genau, wie er damals auch den Namen der Immobilienmaklerin gewusst hatte. Marcy war jetzt nur ein Wort, und es sagte ihm nichts. Wahrscheinlich hatte er einfach nur einen Hirnkrampf. Es wäre nicht der erste gewesen.

erklomm den Hügel und ging auf der anderen Seite wieder hinunter, und seine Gedanken kehrten zu dem Tag

im Herbst 1978 zurück, zu dem Tag, an dem sie Duddits kennen gelernt hatten.

Er war schon fast am Anfang des geraden Straßenstücks angelangt, als sein Knie mit einem Mal einknickte, diesmal nicht blockierte, nein, es schien zu explodieren wie ein Knorren in einem Kiefernscheit, wenn das Feuer ihn erreicht.

Pete kippte bäuchlings in den Schnee. Er hörte nicht, dass die Bud-Flaschen in der Tüte (alle bis auf zwei) zerbrachen. Dazu schrie er zu laut.

KAPITEL 6 Duddits, Teil II

Henry ging schnellen Schritts in Richtung ihrer Hütte los, und als Schneefall und auch Wind nachließen, fing er zu joggen an. Er war jahrelang gejoggt und fiel wie selbstverständlich in diesen Trab. Vielleicht würde er es hin und wieder etwas langsamer angehen lassen müssen, aber das glaubte er eigentlich nicht. Er war Straßenrennen gelaufen, über mehr als neun Meilen - allerdings war das auch schon ein paar Jahre her und hatten damals keine zehn Zentimeter Schnee gelegen. Aber worüber sollte er sich Sorgen machen? Dass er stürzen und sich die Hüfte brechen würde? Dass er einen Herzinfarkt erleiden könnte? Mit siebenund-dreißig war ein Herzinfarkt unwahrscheinlich, und selbst wenn er in dieser Hinsicht gefährdet wäre, wäre es doch lächerlich, sich deshalb den Kopf zu zerbrechen, nicht wahr? Angesichts dessen, was er vorhatte? Also weshalb sollte er sich Sorgen machen?

Wegen Jonesy und Biber. Das wirkte auf den ersten Blick ebenso lächerlich wie die Sorge, man würde hier mitten in der Wildnis einen fatalen Herzinfarkt erleiden - die Schwierigkeiten lagen hinter ihm, bei Pete und dieser merkwürdigen, schon halb im Koma liegenden Frau, und nicht vor ihm m ihrer Hütte ... nur dass es in ihrer Hütte tatsächlich Schwierigkeiten gab, große Schwierigkeiten. Er hätte nicht sagen können, woher er das wusste; er wusste es einfach und zweifelte nicht daran. Schon bevor ihm die Tiere begegne-ten, die alle in die entgegengesetzte Richtung eilten und ihn kaum eines Blickes würdigten, wusste er es.

Ein- oder zweimal schaute er zum Himmel und suchte nach diesen rätselhaften Lichtern, konnte aber keine entdecken, und dann schaute er nur noch geradeaus und musste hin und wieder einen Schlenker machen, um den Tieren auszuweichen. Sie flohen nicht direkt in wilder Panik, aber ihr Blick hatte etwas Merkwürdiges, Unheimliches, das Henry noch nie gesehen hatte. Einmal musste er einen kleinen Satz machen, sonst hätten ihn zwei dahineilende Füchse förmlich über den Haufen gelaufen.

Acht Meilen noch, sagte er sich. Das wurde sein Jogging-Mantra, anders als die, die ihm normalerweise beim Laufen durch den Kopf gingen (meistens waren es Kinderreime), aber so anders nun auch nicht - es war dasselbe Schema. Acht Meilen noch, acht Meilen noch nach Banbury Cross. Aber nicht nach Banbury Cross, sondern bis zu Mr. Clarendons alter Jagdhütte - die jetzt Bibers Jagdhütte war -, und kein Steckenpferd trug ihn dorthin. Was war denn überhaupt ein Steckenpferd? Musste wohl was Englisches sein. Und was um Himmels willen ging hier vor sich? Die Lichter, diese Flucht in Zeitlupe (du lieber Gott, was war denn das da linkerhand im Wald? War das jetzt wirklich ein Bär?), die Frau, die einfach so auf der Straße hockte und einen Großteil ihrer Zähne und ihres Verstands eingebüßt hatte? Und dann diese Fürze, du lieber Gott. Das Einzige, was dem auch nur entfernt ähnelte, war der Atem eines Patienten, den er einmal behandelt hatte, eines Schizophrenen mit Darmkrebs. Immer dieser Geruch, hatte ein befreundeter Internist zu Henry gesagt, als Henry versucht hatte, es zu beschreiben. Die können sich ein Dutzend Mal am Tag die Zähne putzen und jede Stunde mit Mundwasser gurgeln, und dieser Geruch kommt trotzdem durch. Man riecht, dass sich der Körper selber auffrisst, denn das ist Krebs letztlich, wenn man die einzelnen Erscheinungsformen mai beiseite lässt: Autokannibalismus.

Sieben Meilen noch, sieben Meilen noch, und alle Tiere fliehen, alle Tiere laufen nach Disneyland. Und dort angekommen, tanzen sie dann eine Polonäse und singen: »It's A Sntall World After All. «

Das rhythmische, gedämpfte Stampfen seiner Stiefel. Seine Brille, die auf dem Nasenrücken federte. Sein Atem, den er in kalten Dampfschwaden ausstieß. Aber jetzt war ihm warm, und er fühlte sich gut; er bekam das Endorphin zu spüren. Was auch sonst mit ihm nicht stimmen mochte -daran herrschte kein Mangel; er war zwar selbstmordgefährdet, aber an Dysthymie litt er nicht.

Dass zumindest einige seiner Probleme - die körperlich empfundene, die emotionale Leere, die ihm wie das Verlorensein in einem Schneegestöber vorkam - auch körperliche, hormoneile Ursachen hatten: daran hatte er keinen Zweifel. Dass man gegen diese Probleme angehen konnte, wenn man sie vielleicht auch nicht gänzlich beheben konnte, und zwar mit Tabletten, die er anderen schon in rauen Mengen verschrieben hatte - auch das bezweifelte er nicht. Doch im Gegensatz zu Pete, der zweifellos wusste, dass ihm ein Entzug und jahrelange AA-Treffen bevorstanden, wollte Henry nicht kuriert werden, war aus irgendeinem Grund davon überzeugt, dass ihn das nicht heilen, sondern um etwas berauben würde.

Er fragte sich, ob Pete sein Bier holen gegangen war, und wusste, dass die Antwort darauf wahrscheinlich ja lautete. Henry hätte vorgeschlagen, es mitzunehmen, wenn er daran gedacht hätte, was eine so riskante Rückkehr zum Auto (riskant sowohl für die Frau wie auch für Pete selbst) überflüssig gemacht hätte, aber er war ziemlich neben der Spur gewesen und hatte nicht an das Bier gedacht.

Aber Pete hatte bestimmt daran gedacht. Konnte Pete den Weg hin und zurück mit seiner Knieverletzung schaffen? Es war möglich, aber Henry hätte nicht darauf gewettet.

Ae sind wieder da, hatte die Frau geschrien, als sie zum Himmel gesehen hatte. Sie sind wieder da! Sie sind wieder da!

Henry senkte den Kopf und legte einen Zahn zu.

Sechs Meilen noch, sechs Meilen noch nach Banbury Cross. Waren es nur noch sechs, oder war er da zu optimistisch? Ließ er den Endorphinen zu freien Lauf? Na, wenn schon. Optimismus konnte jetzt nicht schaden. Es hatte fast aufgehört zu schneien, und der Strom von Tieren war abgeebbt, und auch das war gut so. Nicht so gut hingegen waren die Gedanken, die ihm jetzt durch den Kopf gingen und zusehends weniger von ihm selbst zu stammen schienen. Becky zum Beispiel. Wer war Becky? Der Name hallte ihm mit einem Mal im Kopf wider, war zu einem Teil seines Mantras geworden. Er nahm an, dass es die Frau war, die er fast überfahren hatte. Wessen kleines Mädchen bist du denn? Becky, ich bin doch die Becky, die hübsche Becky Shue.

Nur dass sie nicht hübsch war, gar nicht hübsch. Eine stinkende Fettsau, das war sie, und befand sich nun in Pete Moores alles andere als verlässlicher Obhut.

Sechs. Sechs. Sechs Meilen noch nach Banbury Cross.

Stetig joggend - so stetig es bei diesen Bodenverhältnissen eben ging -, hörte er andauernd fremde Stimmen in seinem Kopf. Nein, nur eine davon war ihm wirklich fremd, und das war auch eigentlich keine Stimme, sondern eine Art rhythmisches Summen: Wessen kleines Mädchen, wessen kleines Mädchen, die hübsche Becky Shue.

Die übrigen Stimmen kannte er oder kannten seine Freunde. Eine war eine Stimme, von der Jonesy ihm erzählt hatte, eine Stimme, die er nach seinem Unfall gehört hatte und mit seinen ganzen Schmerzen assoziierte: Hörtauf, ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Marcy, ich will zu Marcy.

Er hörte Bibers Stimme: Guck mal im Nachttopf nach.

Und Jonesy erwidern: Wieso klopfen wir nicht einfach an der Badtür an und fragen ihn, wie's ihm geht?

Die Stimme eines Fremden, der sagte, er müsse nur sein Geschäft erledigen, dann ginge es ihm gleich wieder besser...

aber das war kein Fremder, das war Rick, der Freund der hübschen Becky. Rick wie? McCarthy? McKinley? Mc-Keen? Flenry war sich nicht sicher, tendierte aber zu McCarthy, wie Kevin McCarthy in diesem alten Florrorfilm über die Schoten aus dem Weltall, die sich in Menschenform verwandelten. Einer von Jonesys Lieblingsfilmen. Wenn er ein paar intus hatte und jemand diesen Film erwähnte, wartete Jonesy unweigerlich mit dem Schlüsselspruch daraus auf: »Sie sind da! Sie sind da!«

Die Frau, die zum Flimmel sah und schrie: Sie sind wieder da! Sie sind wieder da!

Lieber Gott, so was hatte er ja seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt, und diesmal war es schlimmer; es war, als wäre man an eine Stromleitung angeschlossen, die statt Elektrizität Stimmen führte.

Die vielen Patienten im Laufe der Jahre, die über Stimmen in ihrem Kopf geklagt hatten. Und Flenry, der große Psychiater (der junge Mr. Gott, wie ihn in frühen Jahren mal ein Patient in einem staatlichen Krankenhaus genannt hatte), hatte genickt, als hätte er gewusst, wovon sie sprachen. Flatte sich tatsächlich eingebildet zu wissen, wovon sie sprachen. Und vielleicht wusste er es erst jetzt.

Stimmen. Er lauschte ihnen so angestrengt, dass ihm das Wupp-wupp-wupp des Flubschraubers entging, der über ihn hinwegflog, eine dunkle, huschende Flaifischgestalt, von den Wolken kaum verborgen. Dann wurden die Stimmen leiser, sie klangen wie Funksignale von weither, wenn es Tag wird und sich die Atmosphäre wieder mit störenden Signalen ullt. Zuletzt war da nur noch die Stimme seiner eigenen Gedanken, die darauf beharrte, dass in ihrer Hütte etwas Schreckliches passiert war oder gerade passierte, dass etwas ähnlich Schreckliches beim Scout oder dem Holzfällerschuppen passiert war oder gerade passierte.

Fünf Meilen noch. Fünf Meilen noch.

Um nicht an den Freund hinter sich oder die Freunde vor sich zu denken oder daran, was um ihn her vorging, ließ er seine Gedanken dorthin schweifen, wo Pete schon in Gedanken gewesen war: ins Jahr 1978, zu den Gebrüdern Tracker und zu Duddits. Inwiefern Duddits Cavell etwas mit diesem ganzen Kackorama zu tun haben konnte, verstand Henry nicht, aber sie hatten alle an ihn gedacht, und Henry brauchte die alte Geistesverbindung nicht mal, um das zu wissen. Pete hatte Duddits erwähnt, als sie die Frau auf der Plane zum Holzfällerschuppen geschleift hatten, Biber hatte gerade neulich erst über Duddits gesprochen, als er mit Henry im Wald unterwegs gewesen war - an dem Tag, an dem Henry seinen Hirsch erlegt hatte. Der Biber hatte in Erinnerungen daran geschwelgt, wie die vier Duddits in dem einen Jahr nach Bangor zum Weihnachtsbummel mitgenommen hatten. Da hatte Jonesy gerade seinen Führerschein gemacht; in diesem Winter hätte er jeden überallhin gefahren. Der Biber hatte darüber gelacht, wie sich Duddits gesorgt hatte, den Weihnachtsmann gäbe es gar nicht, und wie sie alle - High-School-Bengel mittlerweile, die sich einbildeten, ihnen stünde die ganze Welt offen - versucht hatten, Duddits wieder davon zu überzeugen, dass es den Weihnachtsmann wirklich gäbe. Was ihnen natürlich auch gelungen war. Und vergangenen Monat hatte Jonesy Henry betrunken aus Boston angerufen (Trunkenheit kam bei Jonesy viel seltener vor als bei Pete, zumal seit seinem Unfall, und es war der einzige rührselige Suffanruf gewesen, den Henry je von ihm bekommen hatte) und ihm gesagt, er hätte in seinem ganzen Leben nichts getan, das so schlicht und einfach gut gewesen sei wie das, was sie damals, 1978, für den armen Duddits Cavell getan hatten. Das war unsere beste Zeit, hatte Jonesy am Telefon gesagt, und mit einem Mal fiel Henry ein, dass er genau das auch zu Pete gesagt hatte. Duddits, Mann. Ich sage nur: Duddits.

Fünf Meilen noch ... oder vielleicht auch vier. Fünf Meilen noch ... oder vielleicht auch vier.

Sie waren dorthin gegangen, um sich das Bild der Möse eines Mädchens anzusehen, das angeblich in einem verwaisten Büro am schwarzen Brett hing. Henry konnte sich nach all den Jahren nicht mehr an den Namen des Mädchens erinnern, nur dass sie die Freundin von diesem Schwein Gre-nadeau gewesen war und 1978 die Homecoming Queen der Derry High School. Das hatte die Aussicht, ihre Möse zu sehen, besonders reizvoll gemacht. Und als sie dann in die Auffahrt gekommen waren, hatten sie ein hingeworfenes rot-weißes Trikot der Derry Tigers gesehen. Und ein Stückchen weiter die Auffahrt hoch hatte noch etwas anderes gelegen.

Ich hasse diese Scheiß-Serie. Die haben ja immer die gleichen Klamotten an, hatte Pete gesagt, und Henry hatte eben den Mund aufgemacht, um etwas darauf zu erwidern, aber ehe er dazu kam ...

»Schrie der Kleine«, sagte Henry. Er rutschte im Schnee aus, schlitterte ein wenig, lief dann weiter und erinnerte sich an diesen Oktobertag unter dem weißen Himmel. Er lief weiter und erinnerte sich an Duddits. Wie Duddits geschrien und ihrer aller Leben verändert hatte. Zum Besseren, hatten sie immer geglaubt, aber nun kamen Henry da Zweifel.

Gerade in diesem Moment kamen ihm da ziemlich große Zweifel.

Als sie zur Auffahrt kommen - die nicht mehr viel hermacht, mittlerweile sind auch die gekiesten Fahrspuren mit Unkraut überwuchert -, geht Biber voran. Biber hat tatsächlich buchstäblich Schaum vorm Mund. Nach Henrys Vermutung ist Pete fast genauso außer sich, kann es aber besser verbergen, obwohl er ein Jahr jünger ist. Biber hingegen platzt förmlich vor Neugier. Henry hätte fast gelacht, so bezeichnend fand er das, und dann bleibt Biber so abrupt stehen, dass Pete fast in ihn hineinläuft.

»Hey!«, sagt Biber. »Mich laust der Affe! Ein Kindertri-kot!«

Ja, tatsächlich. Rot-weiß und nicht alt und schmutzig, als hätte es schon tausend Jahre dort gelegen. Nein, es sieht fast neu aus.

»Ein Trikot - na und?«, meint Jonesy. »Gehn wir -«

»Moment mal«, sagt der Biber. »Das ist ein gutes Trikot.«

Als er es aber aufhebt, sehen sie, dass das nicht stimmt. Es ist durchaus neu - es ist ein brandneues Trikot der Derry Tigers, mit der Nummer 19 hinten drauf. Pete interessiert sich nicht die Bohne für Football, aber die anderen erkennen darin Richie Grenadeaus Spielernummer. Aber gut ist es nicht - nicht mehr. Es hat hinten am Kragen einen tiefen Riss, als hätte der Mensch, der es trug, versucht wegzulaufen, während man ihn am Schlafittchen gepackt hatte.

»Da habe ich mich wohl geirrt«, sagt Biber enttäuscht und lässt es wieder fallen. »Gehn wir.«

Doch kurz darauf finden sie schon wieder etwas - und diesmal ist es gelb und nicht rot, dieses knallige Plastikgelb, das nur Kinder mögen. Henry trottet vor den anderen her und hebt es auf. Es ist eine Lunchbox mit Scooby Doo und seinen Freunden drauf, die alle gerade aus so etwas wie einem Geisterhaus fliehen. Wie auch das Trikot sieht die Schachtel neu aus und nicht so, als hätte sie schon länger hier draußen gelegen, und mit einem Mal kommt Henry die ganze Sache nicht geheuer vor und er wünscht sich, sie hätten keinen Abstecher zur Auffahrt dieses verlassenen Gebäudes gemacht... oder hätten es sich für ein andermal aufgehoben. Doch auch schon mit vierzehn ist ihm klar, dass das Blödsinn ist. Wenn es um Mösen geht, denkt er, packt man es entweder an, oder man lässt es bleiben; das hebt man sich nicht für ein andermal auf.

»Ich hasse diese Scheiß-Serie«, sagt Pete und betrachtet über Henrys Schulter die Lunchbox. »Die haben immer die gleichen Klamotten an, ist dir das schon mal aufgefallen? Die tragen echt in jeder Folge die gleichen Sachen.«

Jonesy nimmt Henry die Scooby-Doo-Lunchbox ab und dreht sie um, weil er gesehen hat, dass auf der Unterseite ein Aufkleber ist. Dieser wilde Blick ist aus Jonesys Augen gewichen, er hat die Stirn leicht gerunzelt, und Henry hat so das Gefühl, auch Jonesy wünscht sich, sie wären weitergegangen und hätten Zwei-gegen-zwei gespielt.

Auf dem Klebeetikett steht: ich gehöre duddits cavell, 19

MAPLE LANE, DERRY, MAINE. WENN SICH DER JUNGE, DEM ICH GEHÖRE, VERLAUFEN HAT, RUFEN SIE BITTE 9491864 AN. DANKE!

Henry macht den Mund auf, um zu sagen, dass die Lunchbox und das Trikot wohl einem Kind gehören, das auf die Behindi-Akademie geht - das ist ihm klar, seit er diesen Aufkleber gesehen hat, der Text ähnelt dem auf der Hundemarke ihres Hundes -, doch ehe er dazu kommt, schreit jemand auf der anderen Seite des Gebäudes, da drüben, wo die Großen im Sommer immer Baseball spielen. Er klingt sehr gekränkt, dieser Schrei, aber was Henry dazu bringt, spontan loszulau-ren, ist das das Erstaunen, das darin mitklingt, das schreckliche Erstaunen eines Menschen, dem zum allerersten Mal im Leben wehgetan oder Angst eingejagt wird (oder beides).

e anderen folgen ihm. Sie laufen die überwucherte rechte Fahrspur der Auffahrt hoch, die dem Gebäude am nächs-

ten liegt, und zwar einer hinter dem anderen her: Henry, Jo-nesy, der Biber und Pete.

Sie hören herzhaftes, männliches Gelächter. »Nun mach! Iss!«, sagt jemand. »Wenn du das isst, kannst du gehn. Vielleicht gibt dir Duncan dann sogar deine Hose wieder.«

»Ja, wenn du -«, setzt ein anderer Junge, wohl Duncan, an, verstummt dann aber, als er Henry und seine Freunde sieht.

»Hey, ihr! Hört auf!«, schreit Biber. »Hört sofort auf damit!«

Duncans Freunde - es sind zwei, und beide tragen sie Jacken der Derry High School - merken, dass sie bei ihrem Nachmittagsvergnügen nicht mehr unteobachtet sind, und drehen sich um. Zwischen ihnen auf dem Kies, nur mit Unterhose und einem Turnschuh bekleidet, das Gesicht mit Blut und Dreck und Rotze und Tränen verschmiert, kniet ein Junge, dessen Alter Henry nicht einschätzen kann. Mit seiner eben sprießenden Brustbehaarung ist er kein kleines Kind mehr, sieht aber trotzdem wie ein kleines Kind aus. Er hat hellgrüne Schlitzaugen, die in Tränen schwimmen.

Auf der roten Ziegelmauer hinter dieser kleinen Gruppe steht in großen, weißen, verblassenden Druckbuchstaben: kein prall, kein spiel. Es soll wahrscheinlich bedeuten: Haltet euch beim Spielen mit den Bällen von diesem Gebäude fern und bleibt damit draußen auf der Freifläche, wo man die Trampelspuren zwischen den einzelnen Bases und den zerklüfteten Hügel der Wurfhöhe immer noch erkennen kann, aber wer weiß das schon? kein prall, kein spiel. In den folgenden Jahren werden sie das oft sagen; es wird eines der gemeinsamen Schlagwörter ihrer Jugend werden und hat keine genau definierte Bedeutung. Wer weiß?, kommt dem vielleicht noch am nächsten. Oder Was soll man da tun? Man sagt es am besten mit einem Achselzucken, einem Lächeln und einer hilflosen Handbewegung.

»Was wollt ihr denn hier?«, fragt einer der großen Jungs den Biber. Über der linken Hand trägt er einen Schlag- oder vielleicht auch Golfhandschuh ... jedenfalls etwas Sportliches. Und darin hält er die getrocknete Hundekacke, die er versucht hat, an den fast nackten Jungen zu verfüttern.

»Was macht ihr da?«, fragt Jonesy entsetzt. »Das wollt ihr ihn essen lassen? Seid ihr nicht ganz richtig im Kopf?«

Der Junge, der die Hundekacke hält, hat ein breites weißes Pflaster auf dem Nasenrücken, und Henry lacht überrascht auf, als er ihn erkennt. Das ist doch einfach zu schön, oder? Sie sind hier, um sich die Möse der Homecoming Queen anzusehen, und da, bei Gott, ist der Homecoming King, dessen Footballsaison offensichtlich durch nichts Schlimmeres als eine gebrochene Nase beendet wurde und der sich gegenwärtig mit so etwas hier die Zeit vertreibt, während die übrige Mannschaft für das Spiel der Woche trainiert.

Richie Grenadeau hat nicht bemerkt, dass Henry ihn erkannt hat; er starrt Jonesy an. Weil er auf dem falschen Fuß erwischt wurde und weil Jonesys Empörung so ungeheuchelt klingt, weicht Richie erst mal einen Schritt zurück. Dann erst wird ihm bewusst, dass der Junge, der es gewagt hat, ihn in so tadelndem Ton anzusprechen, mindestens drei Jahre jünger und fünfundvierzig Kilo leichter ist als er. Die Hand, die eben noch gesunken war, hebt sich wieder.

»Ich werde dieses Stück Scheiße an ihn verfüttern«, sagt er. »Dann kann er gehn. Und ihr Rotzlöffel macht besser die Biege, wenn ihr nicht die Hälfte abhaben wollt.«

»Ja, verpisst euch«, sagt der dritte Junge. Richie Grenadeau ist schon ein Schrank, aber dieser Junge ist noch größer, ein ein Meter fünfundneunzig großer Hüne, auf dessen Gesicht Akne blüht. »Solange ihr noch -«

»Ich weiß, wer du bist«, sagt Henry.

Richies Blick schwenkt zu Henry hinüber. Plötzlich wirkt er vorsichtiger ... aber er wirkt auch gereizt. »Verpiss dich, Kleiner. Das ist mein Ernst.«

»Du bist Richie Grenadeau. Von dir war ein Foto in der Zeitung. Was meinst du wohl, was die Leute sagen, wenn wir erzählen, wobei wir dich hier erwischt haben?«

»Ihr werdet keinem Menschen was erzählen, sonst seid ihr nämlich tot«, sagt der Junge namens Duncan. Er hat schmutzigblondes Haar, das ihm bis auf die Schultern reicht. »Haut ab. Verschwindet.«

Henry beachtet ihn nicht. Er starrt Richie Grenadeau an. Er verspürt keine Angst, obwohl diese drei Jungs sie zweifellos ungespitzt in den Boden rammen könnten; er glüht vor Empörung wie noch nie im Leben. Der Junge, der da am Boden kniet, ist zweifellos geistig zurückgeblieben, aber so zurückgeblieben ist er auch nicht, dass er nicht verstünde, dass diese drei großen Jungs vorhatten, ihm wehzutun, dass sie ihm das Trikot ausgezogen haben und dann -

Henry war in seinem ganzen Leben nicht so nah dran, richtig gründlich verdroschen zu werden, und nie hat es ihn weniger gekümmert. Er tritt einen Schritt vor und ballt die Fäuste. Der Junge da am Boden schluchzt und lässt den Kopf hängen, und das Schluchzen hallt in Henrys Kopf wider und speist seinen Zorn.

»Das erzähle ich«, sagt er. Das ist zwar eine kindische Drohung, aber als er es sagt, kommt er sich dabei gar nicht kindisch vor. Richie anscheinend auch nicht, denn Richie weicht einen Schritt zurück und lässt die Hand, in der er die getrocknete Hundekacke hält, wieder sinken. Zum ersten Mal wirkt er beunruhigt. »Drei gegen einen, gegen einen kleinen, behinderten Jungen. Na und ob ich das erzähle. Ich werde es allen erzählen, und ich weiß, wer du bist!«

Duncan und der große Junge - der als Einziger keine High-School-Jacke trägt - bauen sich links und rechts neben Richie auf. Der Junge in der Unterhose ist jetzt hinter ihnen, aber Henry kann immer noch das bebende, monotone Schluchzen hören, es ist in seinem Kopf, pocht in seinem Kopf und macht ihn wahnsinnig.

»Also gut, jetzt reicht's«, sagt der größte der Jungs. Er grinst und zeigt dabei mehrere Zahnlücken. »Jetzt machen wir euch kalt.«

»Pete, du rennst los, wenn die uns angreifen«, sagt Henry, ohne Richie Grenadeau dabei aus den Augen zu lassen. »Lauf nach Hause, und erzähl das deiner Mutter.« Und zu Richie: »Den kriegt ihr nicht. Der ist schnell wie der Wind.«

Petes Stimme klingt dünn, aber nicht ängstlich: »Da hast du Recht, Henry.«

»Und je schlimmer ihr uns verkloppt, desto schlimmer wird's für euch«, sagt Jonesy. Henry ist das längst klar, aber für Jonesy kommt es einer Offenbarung gleich; er muss sich das Lachen verkneifen. »Und wenn ihr uns kaltmacht, was habt ihr davon? Pete ist schnell, und er wird es allen erzählen. «

»Ich bin auch schnell«, sagt Richie kühl. »Ich hole ihn ein.«

Henry schaut erst Jonesy, dann den Biber an. Beide weichen sie nicht. Biber geht sogar noch weiter. Er bückt sich flink und hebt ein paar Steine auf - so groß wie Hühnereier, aber mit scharfen Kanten -, und dreht sie in der Hand. Biber schaut mit zusammengekniffenen Augen zwischen Richie Grenadeau und dem größten der Jungs hin und her. Der Zahnstocher in seinem Mund wippt aggressiv auf und ab.

»Ziel auf Grenadeau, wenn sie angreifen«, sagt Henry. »Die anderen beiden holen Pete im Leben nicht ein.« Er schaut wieder zu Pete hinüber, der blass ist, aber nicht ängstlich wirkt - seine Augen leuchten, und er tänzelt fast auf den Fußballen und ist drauf und dran loszurennen. »Erzähl's deiner Ma. Sag ihr, wo wir sind und dass sie die Polizei schicken soll. Und vergiss auf keinen Fall den Namen von diesem Kinderquäler da.« Er zeigt mit der anklagenden Geste eines Staatsanwalts auf Grenadeau, der immer unsicherer bhckt. Nein, mehr als nur unsicher. Ängstlich.

»Richie Grenadeau«, sagt Pete und fängt jetzt wirklich an zu tänzeln. »Das vergesse ich nicht.«

»Komm doch her, du Arsch mit Ohren«, sagt Biber. Das muss man dem Biber lassen: Er kennt die schönsten Schimpfwörter. »Ich brech dir gleich noch mal die Nase. Was für ’ne Memme bist du denn überhaupt, dass du mit ’ner gebrochenen Nase nicht mehr zum Football gehst?«

Grenadeau erwidert nichts - vielleicht weiß er nicht mehr, an wen er sich noch wenden soll -, und dann passiert etwas wirklich Wunderbares: Der andere Junge mit der High-School-Jacke, Duncan, guckt ebenfalls unsicher. Seine Wangen und seine Stirn haben sich gerötet. Er befeuchtet sich die Lippen und schaut unsicher zu Richie hinüber. Nur der Schlägertyp sieht noch gefechtsbereit aus, und Henry hofft beinahe, dass es zu einer Schlägerei kommen wird, Henry und Jonesy und der Biber werden sie richtig übel aufmischen, aber so richtig übel, einfach des Weinens wegen, dieses steinerweichenden Weinens wegen, das einem nicht mehr aus dem Kopf geht, das Poch-poch-poch dieses schrecklichen Weinens.

»Hey, Rieh, vielleicht sollten wir -«, setzt Duncan an.

»Sie umbringen«, knurrt der Schlägertyp. »Hackfleisch aus ihnen machen.«

Er tritt einen Schritt vor, und fast wäre es jetzt losgegangen. Henry weiß, wenn der Schlägertyp auch nur einen Schritt weiter hätte gehen dürfen, dann hätte ihn Richie Grenadeau nicht mehr unter Kontrolle gehabt - wie ein fieser Pitbull, der sich von der Leine losreißt und auf sein Opfer losstürzt wie ein Pfeil aus Fleisch.

Aber Richie gestattet ihm diesen nächsten Schritt nicht, der dann einen plumpen Angriff ausgelöst hätte. Er hält den Schlägertyp am Unterarm zurück, der dicker ist als Henrys Bizeps und dicht mit rötlich goldenem Haar bewachsen. »Nein, Scotty«, sagt er. »Warte mal.«

»Ja, warte«, sagt Duncan und hört sich dabei fast ängstlich an. Er wirft Henry einen knappen Blick zu, den Henry, auch mit dreizehn schon, absurd findet. Es ist ein vorwurfsvoller Blick. Als wären es Henry und seine Freunde, die hier etwas Falsches tun.

»Was wollt ihr?«, fragt Richie Henry. »Sollen wir abhauen? Ist es das?«

Henry nickt.

»Und wenn wir gehen, was macht ihr dann? Wem erzählt ihr davon?«

Henry stellt etwas Unglaubliches an sich fest: Er ist genauso drauf und dran, auszurasten wie Scotty, der Schlägertyp. Etwas in ihm will tatsächlich eine Schlägerei provozieren, will schreien: »ALLEN! ALLEN LEUTEN!« Er weiß, dass seine Freunde ihm beistehen und nie ein Wort darüber verlieren würden, selbst wenn man sie krankenhausreif schlüge.

Aber der Junge. Der arme, kleine, weinende, zurückgebliebene Junge. Sobald die großen Jungs mit Henry, Biber und Jonesy fertig wären (und mit Pete, wenn sie ihn kriegen würden), würden sie auch den zurückgebliebenen Jungen fertig machen, und dann würden sie es wahrscheinlich nicht dabei bewenden lassen, ihm ein getrocknetes Stück Hundescheiße aufzuzwingen.

»Keinem«, sagt er. »Wir erzählen es niemandem.«

»Du lügst«, sagt Scotty. »Das ist doch ein beschissener

Lügner, Richie, schau ihn dir doch an.«

Scotty will wieder auf sie losgehen, aber Richie packt den Unterarm des großen Schlägertyps fester.

»Wenn keinem was passiert«, sagt Jonesy in erfreulich vernünftigem Ton, »gibt's auch nichts zu erzählen.«

Grenadeau wirft ihm einen Blick zu und schaut dann wieder Henry an. »Schwörst du das bei Gott?«

»Ich schwöre es bei Gott«, sagt Henry.

»Schwört ihr's alle bei Gott?«, fragt Grenadeau.

Jonesy, Biber und Pete schwören es brav bei Gott.

Grenadeau denkt für einen Augenblick, der ihnen sehr lang vorkommt, darüber nach. Dann nickt er. »Na gut. Scheiß drauf. Wir gehn.«

»Wenn sie was wollen, lauf hinten ums Gebäude rum«, sagt Henry zu Pete, ganz hastig, weil sich die großen Jungs schon in Bewegung gesetzt haben. Aber Grenadeau hat Scot-ty immer noch beim Unterarm gepackt, und Henry hält das für ein gutes Zeichen.

»Reine Zeitverschwendung«, sagt Richie Grenadeau in einem hochmütigen Ton, der Henry zum Lachen reizt... Mit Müh und Not gelingt es ihm, ernst zu bleiben. Es wäre eine schlechte Idee, in diesem Augenblick zu lachen. Es ist fast vorbei. Etwas in ihm kann das gar nicht ausstehen, andererseits zittert er fast vor Erleichterung.

»Was willst du denn überhaupt?«, fragt ihn Richie Grenadeau. »Was soll das alles?«

Henry will selber Fragen stellen - will Richie Grenadeau fragen, wie er das tun konnte, und das wäre auch nicht rhetorisch gemeint. Dieses Weinen! Mein Gott! Aber er schweigt, denn er weiß, dass alles, was er sagen könnte, dieses Arschloch nur provozieren würde, und dann würde alles von vorne losgehen.

Jetzt läuft so eine Art Tanz hier ab, der fast so aussieht wie die Tänze, die man in der ersten und zweiten Klasse lernt. Während Richie, Duncan und Scott in Richtung Auffahrt gehen (sie schlendern und geben sich Mühe, so zu tun, als gingen sie aus freien Stücken und wären nicht von ein paar kleinen Schulkindern verjagt worden), drehen sich Henry und seine Freunde zunächst so um, dass sie sie dabei im Blick behalten, und treten dann in einer Reihe rückwärts vor den weinenden Jungen, der dort in seiner Unterhose hockt, um ihn vor den Großen abzuschirmen.

An der Ecke des Gebäudes bleibt Richie stehen und schaut sich noch ein letztes Mal zu ihnen um. »Wir sehn uns wieder«, sagt er. »Entweder einzeln oder alle zusammen.«

»Ja«, pflichtet Duncan bei.

»Und dann dürft ihr die Welt durch ein Sauerstoffzelt betrachten!«, fügt Scott hinzu, und da ist Henry wieder gefähr -lieh nah dran, in Gelächter auszubrechen. Er hofft inständig, dass jetzt keiner seiner Freunde etwas sagt - es jetzt nicht noch zunichte macht -, und es sagt auch keiner was. Es kommt fast einem Wunder gleich.

Ein letzter drohender Blick von Richie, und sie sind um die Ecke verschwunden. Henry, Jonesy, Biber und Pete sind allein mit dem Jungen, der auf seinen schmutzigen Knien vor und zurück schaukelt, das schmutzige, blutige, tränenüberströmte, verständnislos blickende Gesicht zum weißen Himmel gerichtet wie das Zifferblatt einer kaputten Uhr, und alle fragen sie sich, was sie jetzt tun sollen. Mit ihm sprechen? Ihm sagen, dass alles gut sei, dass die bösen Jungs fort seien und die Gefahr vorbei? Das würde er nicht verstehen. Und dieses Weinen ist auch einfach so krass. Wie konnten die Jungs, auch wenn sie noch so fies und dumm waren, bei diesem Weinen weitermachen? Henry wird es später verstehen - oder fast -, aber in diesem Moment ist ihm das ein absolutes Rätsel.

»Ich probier mal was«, sagt Biber plötzlich.

»Ja, klar, mach«, sagt Jonesy. Seine Stimme klingt zittrig.

Der Biber geht vor und schaut sich dann zu seinen Freunden um. Es ist ein eigenartiger Blick, verschämt und trotzig und -ja, das würde Henry beschwören - auch hoffnungsvoll.

»Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe«, sagt er, »rede ich kein Wort mehr mit euch.«

»Red keinen Scheiß«, sagt Pete, und auch seine Stimme klingt zittrig. »Wenn du ihn zum Schweigen bringen kannst, dann tu's!«

Biber steht für einen Moment, wo Richie stand, als er versuchte, die Hundekacke an den Jungen zu verfüttern, und kniet sich dann hin. Henry fällt auf, dass auf den Shorts des Jungen die Figuren aus der Zeichentrickserie Scooby Doo abgebildet sind, inklusive der Mystery Machine, dem Auto von Shaggy, genau wie auf seiner Lunchbox.

Dann nimmt Biber den weinenden, fast nackten Jungen in die Arme und fängt an zu singen.

Vier Meilen noch nach Banbury Cross ... oder vielleicht auch nur noch drei. Vier Meilen noch nach Banbury Cross ... oder vielleicht auch nur - Henry rutschte erneut aus, und diesmal hatte er keine Chance, wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Er war tief in Erinnerungen versunken, und ehe er daraus auftauchen konnte, flog er schon durch die Luft.

Er landete mit voller Wucht auf dem Rücken, und der Aufprall war so heftig, dass er ihm mit einem lauten, schmerzerfüllten Keuchen - »Ah!« - alle Luft aus der Lunge schlug. Schnee stob wie Puderzucker auf, und er schlug so hart mit dem Hinterkopf auf der Straße auf, dass er Sterne sah.

Er blieb für einen Moment liegen und gab eventuell gebrochenen Knochen reichlich Gelegenheit, sich zu melden. Als nichts passierte, griff er nach hinten und knuffte sein Kreuz. Schmerz, aber keine Todesqualen. Als sie mit zehn, elf Jahren den ganzen Winter über im Strawford Park Schlitten gefahren waren, hatte er schlimmere Stürze erlitten als diesen hier und war lachend wieder aufgestanden. Einmal, als Pete Moore, der Idiot, ihren Flexible Flyer steuerte und Henry hinter ihm saß, waren sie frontal gegen die große Kiefer unten am Hang, die alle Kinder Todesbaum nannten, gekracht und hatten lediglich ein paar Prellungen und gelockerte Zähne davongetragen. Das Dumme war nur, dass er seit geraumer Zeit nicht mehr zehn oder elf Jahre alt war.

»Komm hoch, Baby, dir fehlt nichts«, sagte er und setzte sich vorsichtig auf. Ein leichtes Stechen im Rücken, weiter nichts. Nur durchgerüttelt. Nichts verletzt, höchstens dein blöder Stolz, wie sie früher immer gesagt hatten. Trotzdem wollte er ein, zwei Minuten dort sitzen bleiben. Er lag gut in der Zeit und hatte sich eine Rast verdient. Und außerdem hatten die Erinnerungen ihn erschüttert. Richie Grenadeau, der blöde Richie Grenadeau, den sie, wie sich dann herausstellte, aus der Footballmannschaft rausgeschmissen hatten -das hatte mit der gebrochenen Nase gar nichts zu tun gehabt. Wir sehn uns wieder, hatte er zu ihnen gesagt, und vermutlich hatte er das auch ernst gemeint, aber die angedrohte Konfrontation fand nie statt, nein, fand nie statt. Standessen passierte etwas ganz anderes.

Und das alles war lange her. Jetzt erwartete ihn Banbury Cross - oder zumindest ihre Hütte -, und er hatte kein Steckenpferd, auf dem er dorthin reiten konnte, nur das ross des armen Mannes: Schusters Rappen. Henry stand auf und fing eben an, sich den Schnee vom Hintern zu klopfen, als jemand in seinem Kopf aufschrie.

»Au! Au! Au!«, schrie er. Es klang wie aus einem Walkman, der auf Rockkonzertlautstärke gestellt war, war wie ein Gewehrschuss, der sich direkt hinter seinen Augen gelöst hatte. Er strauchelte rückwärts, streckte die Arme aus und versuchte, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und wäre er nicht in die steif vorragenden Äste einer Kiefer am linken Straßenrand gelaufen, dann wäre er bestimmt wieder hingestürzt.

Er löste sich aus der Umarmung des Baums, und ihm klangen immer noch die Ohren - Gott, ihm klang der ganze Kopf-, ging einen Schritt vor und konnte es kaum fassen, dass er noch am Leben war. Er berührte seine Nase, und als er die Hand wegnahm, war seine Handfläche voller Blut. In seinem Mund war etwas lose. Er hielt sich eine Hand davor, spuckte einen Zahn aus, schaute ihn verwundert an und warf ihn dann weg, seinem ersten Impuls widerstehend, ihn in die Manteltasche zu stecken. Soweit er wusste, ließen sich Zähne nicht wieder einsetzen, und er bezweifelte doch sehr, dass die Zahnfee bis hier heraus in die Wildnis kam.

Er wusste nicht mit Bestimmtheit, wer da geschrien hatte, hatte aber so eine Ahnung, dass Pete Moore gerade so richtig übel in der Scheiße steckte.

Henry lauschte, ob er noch andere Stimmen, andere Gedanken hörte, aber es kam nichts. Ausgezeichnet. Aber er musste schon zugeben, dass sich das hier, auch ungeachtet der Stimmen, zu einem ziemlich einmaligen Jagdausflug gemausert hatte.

»Lauf, mein Großer, lauft, ihr Huskys!«, sagte er und joggte wieder in Richtung ihrer Hütte los. Das Gefühl, dass dort etwas gar nicht stimmte, war übermächtiger denn je, und er konnte weiter nichts tun, als sich zu schnellem Trab anzuhalten.

Guck mal im Nachttopf nach.

Wieso klopfen wir nicht einfach an der Badtür an und fragen ihn, ivie's ihm geht?

Hatte er diese Stimmen wirklich gehört? Ja, jetzt waren sie zwar fort, aber er hatte sie gehört, genau wie er diese schrecklichen Schmerzensschreie gehört hatte. Pete? Oder war es die Frau gewesen? Die hübsche Becky Shue?

»Pete«, sagte er, stieß das Wort in einer Dampfwolke aus. »Pete war's.« Immer noch nicht vollkommen sicher, aber doch ziemlich sicher.

Erst fürchtete er, er würde nicht wieder zu seinem Rhythmus finden können, doch dann, noch während er sich darüber Gedanken machte, hatte er ihn schon wieder - das Zusammenspiel seines hechelnden Atems und seiner hastenden Schritte, wunderbar in seiner Schlichtheit.

Drei Meilen noch nach Banbury Cross, dachte er. Nach Hause. Genau wie wir Duddits an diesem Tag nach Hause gebracht haben.

(Wenn ihr irgendwem erzählt, dass ich das gemacht habe, spreche ich kein Wort mehr mit euch.)

Henry kehrte zu diesem Oktobernachmittag zurück wie in einen Traum. Er fiel so schnell und so tief in den Brunnen der Vergangenheit, dass er die Wolke zunächst nicht bemerkte, die auf ihn zuraste, die Wolke, die nicht aus Worten oder Gedanken oder Schreien bestand, sondern nur aus ihrem rotschwarzen Selbst, einem Ding, das Ziele und Pläne hatte.

Biber tritt vor, zögert noch einen Moment, kniet sich dann hin. Der Behinderte sieht ihn nicht; er schreit und weint immer noch, die Augen zugepresst, die schmale Brust bebend. Seine Unterhose sieht genauso lächerlich aus wie Petes alte Motorradjacke mit den vielen Reißverschlüssen dran, aber keiner der Jungs lacht. Henry will nur, dass der Kleine aufhört zu weinen. Dieses Weinen bringt ihn um.

Biber rutscht auf den Knien ein bisschen nach vorn und nimmt den weinenden Jungen dann in die Arme.

»Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht...«

Henry hat Biber noch nie singen hören, höchstens mal zum Radio mitsingen - die Clarendons sind ganz bestimmt keine Kirchgänger -, und ist verblüfft über die klare, schöne Tenorstimme seines Freunds. Ein gutes Jahr später wird der Biber in den Stimmbruch kommen, und anschließend wird seine Stimme kaum noch bemerkenswert sein, aber jetzt, auf der mit Unkraut überwucherten Freifläche hinter dem leer stehenden Gebäude, sind sie alle berührt davon und erstaunt darüber. Und auch der behinderte Junge reagiert darauf; er hört auf zu weinen und schaut Biber verwundert an.

»Mit Näglein besteckt, schlupf unter die Deck'. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt. Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.«

Als das Lied verklingt, hält für einen Moment die ganze Welt vor lauter Schönheit den Atem an. Henry ist den Tränen nah. Der behinderte Junge schaut Biber an, der ihn im Takt des Lieds in den Armen gewiegt hat. Sein tränenüber-strömtes Gesicht zeigt glückseliges Erstaunen. Er hat seine aurgerissene Lippe vergessen und die Schramme auf seiner Wange, seine fehlende Kleidung und die verlorene Lunchbox. Zu Biber sagt er Eehr, eine Silbe, die alles Mögliche bedeuten könnte, aber Henry versteht ihn auf Anhieb und sieht, dass auch Biber ihn versteht.

»Mehr kann ich nicht«, sagt der Biber. Er bemerkt, dass er immer noch den Arm um die nackten Schultern des Jungen gelegt hat, und lässt ihn los.

Sofort verdüstert sich das Gesicht des Jungen, nicht vor Angst oder Bockigkeit, sondern schlicht vor Traurigkeit. Tränen treten ihm in die so erstaunlich grünen Augen und laufen in sauberen Spuren die schmutzigen Wangen hinab. Er nimmt Bibers Hand und legt sich Bibers Arm wieder um die Schultern. »Eehr! Eehr!«, sagt er.

Biber schaut ihn panisch an. »Das ist das Einzige, was mir meine Mutter je vorgesungen hat«, sagt er. »Ich bin immer gleich eingeschlafen.«

Henry und Jonesy schauen einander an und brechen in Gelächter aus. Keine gute Idee, das jagt dem Jungen möglicherweise Angst ein, und dann fängt er wieder mit diesem schrecklichen Weinen an, aber sie können es sich einfach nicht verkneifen. Und der Junge weint auch nicht. Vielmehr lächelt er Henry und Jonesy an, ein heiteres Lächeln, das zwei Reihen dicht gedrängter Zähne zeigt, und schaut dann wieder Biber an. Weiter hält er Bibers Arm fest um seine Schultern gelegt. »Eeehr!«, befiehlt er.

»Ach, was soll's, sing es halt noch mal«, sagt Pete. »Den Teil, den du kennst.«

Biber singt es schließlich noch dreimal, bis der Junge ihn damit aufhören lässt und den Jungs gestattet, ihm seine Hose und das zerrissene Trikot anzuziehen, das mit der Nummer von Richie Grenadeau drauf. Henry hat diesen schwermütigen Liederfetzen nie vergessen, und später ist er ihm bei den merkwürdigsten Gelegenheiten wieder eingefallen: nachdem er bei einer Verbindungsparty an der University of New Hampshire seine Unschuld verloren hatte, während ein Stockwerk tiefer Smoke on tbe Water aus den Boxen dröhnte; nachdem er die Zeitung auf der Seite mit den Nachrufen aufgeschlagen hatte und Barry Newman dort recht nett über seinem Doppel- und Vierfachkinn hatte lächeln sehen; als er seinen Vater gefüttert hatte, der im absolut unfairen Alter von dreiundfünfzig an Alzheimer erkrankt war, und sein Vater darauf bestanden hatte, Henry sei jemand namens Sam. »Ein echter Mann bezahlt seine Schulden, Sammy«, hatte sein Vater gesagt, und als er den nächsten Löffel Haferflocken in den Mund nahm, lief ihm Milch übers Kinn. Bei solchen Gelegenheiten fällt ihm das, was er Bibers Wiegenlied nennt, immer wieder ein und tröstet ihn vorübergehend. Kein Prall, kein Spiel.

Schließlich haben sie den Jungen bis auf einen roten Turnschuh fertig angezogen. Er versucht, ihn sich selbst anzuziehen, hält ihn dabei aber falsch herum.

Er ist nun wirklich ein verkorkster junger Amerikaner, und für Henry ist es unbegreiflich, wie die drei großen Jungs ihn so drangsalieren konnten. Selbst einmal von dem Weinen abgesehen, einem Weinen, wie Henry es noch nie gehört hat -weshalb sollte man so fies sein?

»Lass mich mal machen, Mann«, sagt Biber.

»Was mahn?«, fragt der Junge so lustig verdutzt, dass Henry, Jonesy und Pete wieder in Gelächter ausbrechen. Henry weiß, dass man nicht über Behinderte lachen soll, aber er kann es sich einfach nicht verkneifen. Der Junge hat einfach von Natur aus ein lustiges Gesicht, wie eine Zeichentrickfigur.

Biber lächelt nur. »Deinen Schuh, Mann.«

»Pass nich?«

»Nein, den kannst du so rum nicht anziehen, das ist im-posible, Senor.« Biber nimmt ihm den Turnschuh ab, und der Junge sieht sehr aufmerksam zu, wie Biber seinen Fuß hineinschiebt, die Schnürsenkel vor der Schuhzunge straff zieht und den Schuh dann mit einer Schleife zubindet. Als er damit fertig ist, schaut sich der Junge noch für einen Moment die Schleife an und sieht dann zu Biber hoch. Dann legt er Biber die Arme um den Hals und setzt ihm einen dicken, lauten Schmatz auf die Wange.

»Wenn ihr das irgendwem erzählt -«, setzt Biber an, lächelt dann aber eindeutig erfreut.

»Ja, ja, dann redest du kein Wort mehr mit uns, du blöder Wichser«, sagt Jonesy grinsend. Er hat die Lunchbox mitgebracht, kniet sich jetzt vor den Jungen und hält sie ihm hin. »Ist das deine?«

Der Junge grinst vergnügt, als würde er einen alten Freund wiedertreffen, und schnappt sich die Box. »Uubi-uhbi-duh, wo bissuh?«, singt er. »Wih ham-etz wassu tun!«

»Stimmt«, sagt Jonesy. »Wir haben wirklich was zu tun. Wir müssen dich jetzt schnell nach Hause bringen. Douglas Cavell, so heißt du doch, oder?

Der Junge hält sich mit beiden schmutzigen Händen die Lunchbox vor die Brust. Dann knutscht er sie, genau wie er Bibers Wange geknutscht hat. »Ich Duddits!«, kräht er.

»Gut«, sagt Henry. Er nimmt eine Hand des Jungen, und Jonesy nimmt die andere, und gemeinsam helfen sie ihm hoch. Die Maple Lane ist nur drei Ecken weiter, und sie können in zehn Minuten da sein, immer vorausgesetzt, Richie und seine Freunde lauern ihnen nicht auf. »Wir bringen dich nach Hause, Duddits. Deine Mom macht sich bestimmt schon Sorgen.«

Doch erst schickt Henry Pete zur Ecke des Gebäudes, die Auffahrt auszuspähen. Als Pete wiederkommt und meldet, die Luft sei rein, gehen sie bis dorthin. Sobald sie erst mal auf dem Bürgersteig sind, wo man sie sehen kann, sind sie in Sicherheit. Aber bis dahin gehen sie kein Risiko ein. Henry schickt Pete ein zweites Mal los. Er soll die ganze Strecke bis zur Straße auskundschaften und pfeifen, wenn alles roger ist. »Die sin weck«, sagt Duddits.

»Kann schon sein«, sagt Henry, »aber mir ist wohler, wenn Pete mal nachsieht.«

Duddits steht da ganz gelassen zwischen ihnen und betrachtet die Bilder auf seiner Lunchbox, während Pete loszieht, um sich umzusehen. Henry hat keine Skrupel, ihn loszuschicken. Er hat mit Petes Schnelligkeit nicht übertrieben; wenn Richie und seine Freunde versuchen sollten, ihn zu überfallen, wird Pete seinen Düsenantrieb anwerfen, und dann haben sie nicht den Hauch einer Chance.

»Magst du die Serie, Mann?«, fragt Biber und nimmt ihm die Lunchbox ab. Er spricht ganz ruhig mit ihm. Henry schaut interessiert zu und wartet gespannt, ob der behinderte Junge nach seiner Lunchbox schreien wird. Er schreit nicht.

»Inn Uuhbih-Duhs!«, sagt der behinderte Junge. Er hat goldenes, lockiges Haar. Henry wüsste immer noch nicht zu sagen, wie alt er ist.

»Ich weiß, das sind die Scooby Doos«, sagt der Biber geduldig. »Aber die ziehen sich nie um. Da hat Pete Recht. Ich meine, das ist doch arschkrass, oder etwa nicht?«

»Eenau!« Er streckt die Hände aus, und Biber gibt ihm die Lunchbox wieder. Der behinderte Junge schließt die Schachtel in die Arme und strahlt sie dann alle an. Er hat ein schönes Lächeln, denkt Henry und lächelt jetzt selber. Man muss dabei unwillkürlich daran denken, wie kalt einem ist, wenn man längere Zeit im Meer geschwommen ist, und wie warm einem wird, wenn man sich draußen dann ein Handtuch um die knochigen Schultern und den gänsehäutigen Rücken wickelt.

Jonesy lächelt ebenfalls. »Duddits«, sagt er, »welcher von denen ist denn der Hund?«

Der behinderte Junge schaut ihn an, immer noch lächelnd, jetzt aber auch verdutzt.

»Der Hund«, sagt Henry. »Welcher ist der Hund?«

Jetzt schaut der Junge Henry an und wirkt noch verdutzter.

»Welcher ist Scooby, Duddits?«, fragt Biber, und Duddits' Gesicht klart sich auf. Er zeigt auf den Hund. »Uuhbie! Uuhbie-uuhbie-duh! Eris ein Hunt!« Sie brechen alle in schallendes Gelächter aus, und Duddits

lacht auch, und dann pfeift Pete. Sie gehen los und haben schon gut ein Viertel der Auffahrt hinter sich, als Jonesy sagt: »Wartet! Wartet mal!«

Er läuft zu einem der schmutzigen Bürofenster und späht hinein, schirmt sich dabei die Augen mit den Händen ab, und mit einem Mal fällt Henry wieder ein, weshalb sie eigentlich hier sind. Wegen der Pussi von dieser Tina Jean Soundso. Das alles kommt ihm vor, als wäre es tausend Jahre her.

Zehn Sekunden später ruft Jonesy: »Henry! Biber! Kommt her! Lasst den Jungen da!«

Biber läuft hin und stellt sich neben Jonesy. Henry wendet sich an den behinderten Jungen und sagt: »Bleib hier stehen, Duddits. Du bleibst mit deiner Lunchbox einfach hier, ja?«

Duddits sieht mit leuchtenden grünen Augen zu ihm hoch. Die Lunchbox hält er vor der Brust. Dann nickt er, und Henry läuft zu seinen Freunden an das Fenster. Sie müssen sich aneinander drängen, um alle sehen zu können, und Biber grummelt, jemand würde ihm auf die Füße treten, aber schließlich gelingt es ihnen. Eine Minute später oder so gesellt sich Pete, der vergebens am Bürgersteig auf sie gewartet hat, zu ihnen und schiebt sein Gesicht zwischen Henrys und Jonesys Schultern durch. Hier stehen vier Jungs an einem schmutzigen Bürofenster, drei schirmen sich die Augen vor dem Sonnenschein mit den Händen ab, und ein fünfter Junge steht hinter ihnen auf der mit Unkraut überwucherten Auffahrt, hält seine Lunchbox vor der schmalen Brust und schaut zum weißen Himmel hoch, wo die Sonne versucht, durch die Wolken zu dringen. Hinter der schmutzigen Fensterscheibe befindet sich ein leer stehendes Zimmer. Über den Boden verstreut liegen einige platt getretene weiße Kaulquappen, die Henry als Präser erkennt. An der Wand genau gegenüber hängt ein schwarzes Brett. Daran hängen eine Landkarte von Nord-Neuengland und das Polaroidfoto einer Frau, die ihren Rock hochhält. Ihre Pussi kann man allerdings nicht sehen, nur eine weiße Unterhose. Und sie ist auch kein Schulmädchen mehr. Sie ist alt, mindestens dreißig-»Gütiger Gott«, sagt Pete schließlich und wirft Jonesy einen empörten Blick zu. »Und deshalb sind wir hierher gekommen?«

Für einen Moment ist Jonesy in die Defensive gedrängt, doch dann grinst er und zeigt mit dem Daumen hinter sich. »Nein«, sagt er. »Wegen dem da sind wir hierher gekommen. «

6

Henry wurde durch eine erstaunliche und völlig unerwartete Erkenntnis aus seinen Erinnerungen gerissen: Er hatte fürchterliche Angst, und das schon seit geraumer Zeit. Etwas Neues lauerte knapp unterhalb seiner Bewusstseinsschwelle, zurückgedrängt durch die lebhaften Erinnerungen daran, wie sie Duddits kennen gelernt hatten. Und jetzt war es mit einem Furcht einflößenden Schrei vorgestürmt und hatte sich bemerkbar gemacht.

Er blieb schlitternd mitten auf der Straße stehen, mit den Armen fuchtelnd und die Balance haltend, um nicht wieder in den Schnee zu fallen, und stand dann einfach nur da, keuchend und mit großen Augen. Was jetzt? Er war nur noch zweieinhalb Meilen von ihrer Hütte entfernt, war schon fast da, also: was, um Himmels willen, jetzt?

Da ist eine Wolke, dachte er. Irgendeine Art von Wolke, das ist es. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich kann es spüren -m meinem ganzen Leben habe ich noch nichts so deutlich gespürt. Zumindest seit ich erwachsen bin. Ich muss von der ra< e runter muss /7/er weg. Ich muss raus aus diesem film. In der Wolke ist ein Film. Einer dieser Filme, die Jonesy immer guckt. Ein gruseliger.

»Das ist Blödsinn«, murmelte er und wusste doch, dass das nicht stimmte.

Er hörte das näher kommende Wespengesumm eines Motors. Es kam aus Richtung ihrer Hütte und näherte sich schnell, der Motor eines Schneemobils, bestimmt das Artic Cat, das sie im Camp hatten ... aber es war auch die rotschwarze Wolke, in der der Film ablief, eine entsetzliche schwarze Kraft, die auf ihn zuraste. Das war nicht einfach nur ein Klick in seinem Kopf; es war wie die Faust eines versehentlich Beerdigten, die an den Sargdeckel pochte.

Für einen Augenblick war Henry starr vor hundert kindlichen Schrecken, Dinge unterm Bett und in Särgen, sich windende Würmer unter umgedrehten Steinen und das pelzige Gelee, das von einer längst zu Tode gebackenen Ratte übrig geblieben war, als sein Vater damals den Herd von der Wand gerückt hatte, um sich den Stecker anzusehen. Und vor Schrecken, die alles andere als kindlich waren: sein Vater, wie er sich in seinem eigenen Zimmer nicht mehr zurechtfand und vor Angst schrie; Barry Newman, der mit entsetztem Gesichtsausdruck aus Henrys Sprechzimmer stürmte, weil man ihn aufgefordert hatte, sich etwas zu stellen, das er sich nicht eingestehen wollte oder konnte; um vier Uhr früh mit einem Glas Scotch in der Hand dazusitzen, die ganze Welt wie eine Steckdose, aus der kein Saft mehr kam, sein eigenes Hirn wie eine tote Steckdose, und, o Baby, noch tausend Jahre bis zum Morgengrauen, und alle Wiegenlieder abgesagt. Das alles war in der rotschwarzen Wolke, die auf ihn zuraste wie das fahle Pferd aus der Bibel, das alles und noch mehr. Alles Böse, das er je gemutmaßt hatte, kam jetzt auf ihn zu, nicht auf einem fahlen Pferd, sondern auf einem alten Schneemobil mit rostiger Motorhaube. Nicht der Tod, sondern etwas Schlimmeres als der Tod. Es war Mr. Gray.

Runter von der Straße!, schrie es in seinem Kopf. Sofort runter von der Straße! Versteck dich!

Für einen Moment konnte er sich nicht bewegen - seine

Füße waren schwer wie Blei. Die Wunde in seinem Oberschenkel, die der Blinkerhebel hinterlassen hatte, brannte fürchterlich. Jetzt wusste er, wie sich ein Hirsch fühlen muss-te der im Scheinwerferlicht erstarrte, oder ein Backenhörnchen, das vor einem näher kommenden Rasenmäher dumm auf und ab hüpfte. Die Wolke hatte ihm die Fähigkeit geraubt, sich zu helfen. Er stand dort, wo sie jeden Moment langrasen würde, wie versteinert da.

Was ihn dann doch dazu brachte, sich zu bewegen, waren merkwürdigerweise ausgerechnet seine Selbstmordabsichten. Hatte er sich in fünfhundert schlaflosen Nächten zu dieser Entscheidung durchgerungen, nur um sich diese Möglichkeit dann von so einer blöden Schreckensstarre nehmen zu lassen? Nein, bei Gott, nein, das durfte nicht sein. Das Leiden war schon schlimm genug; aber es seinem verschreckten Körper zu gestatten, sich über dieses Leiden lustig zu machen, indem er sich versteifte, einfach nur dastand und sich von einem Dämon überfahren ließ ... nein, das konnte er nicht zulassen.

Deshalb bewegte er sich, aber es war, als würde er sich in einem Albtraum bewegen, würde sich durch Luft kämpfen müssen, die plötzlich die Konsistenz von Toffee hatte. Seine Beine hoben und senkten sich mit der Trägheit eines Unterwasser-Balletts. War er diese Straße entlanggelaufen? Wirklich gelaufen? Das erschien ihm jetzt unmöglich, egal wie deutlich er sich auch daran erinnerte.

Trotzdem bewegte er sich weiter, während das Motorengeräusch näher kam und zu stotterndem Heulen anwuchs. Er konnte sich in den Waldrand südlich der Straße retten. Er kam vielleicht fünf Meter weit, wo keine Schneeschicht mehr lag und die duftenden orangebraunen Nadeln nur von Schnee bestäubt waren. Dort fiel Henry auf die Knie, schluchzend vor Todesangst, und hielt sich die Hände vor den Mund, denn was war, wenn er das Schluchzen hörte? Es war Mr. Gray, die Wolke war Mr. Gray, und was war, wenn er es hörte?

Er kroch hinter den bemoosten Stamm einer Fichte, hielt sich daran fest und spähte am Stamm vorbei durch den wirren Schleier seiner verschwitzten Haare. Er sah ein helles Funkeln im dunklen Nachmittagslicht. Es zitterte, flackerte, wurde voller. Es wurde ein Scheinwerfer daraus.

Henry fing an, ohnmächtig zu stöhnen, als die Schwärze näher kam. Es schien wie eine Sonnenfinsternis auf seinem Geist zu lasten, alle Gedanken zu verdunkeln und durch schreckliche Bilder zu ersetzen: Milch auf dem Kinn seines Vaters, der entsetzte Blick Barry Newmans, dürre Leiber und starrende Augen hinter Stacheldraht, ausgepeitschte Frauen und gehenkte Männer. Für einen Moment schien sein Weltverständnis wie eine umgedrehte Hosentasche von innen nach außen gekehrt, und ihm wurde klar, dass alles infiziert war ... oder sich infizieren ließ. Alles. Seine Gründe, einen Selbstmord zu erwägen, waren lächerlich angesichts dessen, was da auf ihn zuraste.

Er presste seinen Mund an den Baumstamm, um sich am Schreien zu hindern, spürte, wie seine Lippen einen Kussmund in das weiche Moos prägten, tief hinein, bis dort, wo es feucht war und nach Borke schmeckte. In diesem Moment rauschte das Schneemobil vorbei, und Henry erkannte die Gestalt darauf, die Person, von der die rotschwarze Wolke ausging, die Henrys Kopf nun wie ein Fieber erfüllte.

Er biss ins Moos, schrie gegen den Baum an, inhalierte Moospartikel, ohne es zu merken, und schrie dann wieder. Dann kniete er einfach da und hielt sich schlotternd am Baumstamm fest, während das Motorengeräusch des Schneemobils im Osten verklang. So hockte er immer noch, als nur noch ein lästiges Summen zu hören war; hockte dort immer noch, als es vollkommen verklungen war.

Pete ist da irgendwo, dachte er. Ich gehe zu Pete und der Frau.

Henry torkelte zurück auf die Straße und bekam gar nicht mit, dass er wieder aus der Nase blutete und dass er weinte.

Er ging weiter in Richtung ihrer Hütte, obwohl er jetzt bestenfalls noch humpeln konnte. Aber das spielte nun auch keine Rolle mehr, denn im Camp war sowieso alles vorbei. Was auch immer er an Schrecklichem gefühlt hatte - es war geschehen. Einer seiner Freunde war tot, einer lag im Sterben und einer, Gott stehe ihm bei, war ein Filmstar geworden.

KAPITEL 7 Jonesy und der Biber


Biber sagte es noch mal. Das war jetzt kein Biberismus, sondern einfach nur das Wort, das einem auf Anhieb einfiel, wenn man völlig fassunglos war und das Grauen, das man sah, nicht anders auszudrücken wusste. »Ach du Scheiße, Mann -Scheiße. «

Welche Schmerzen McCarthy auch gelitten hatte - er hatte sich die Zeit genommen, die beiden Leuchtstoffröhren neben dem verspiegelten Arzneischränkchen und die ringförmige Neonröhre unter der Decke anzuschalten. Das Licht war grell, und im Badezimmer sah es aus wie auf einem kriminalpolizeilichen Tatortfoto ... und dabei hatte es auch etwas leicht Surreales, denn das Licht schien nicht gleichmäßig; es flackerte eben genug, um daran zu erinnern, dass der Strom von einem Generator kam und nicht aus einer Leitung der Derry and Bangor Hydroelectric.

Die Bodenfliesen waren himmelblau. In der Nähe der Tür waren nur Blutflecken und -spritzer zu sehen, aber als sie der Toilette neben der Badewanne näher kamen, liefen die Flecken zu einem roten Rinnsal zusammen. Scharlachrote Kapillaren breiteten sich davon aus. Auf den Fliesen zeigten sich nun auch die Abdrücke ihrer Stiefel, die weder Jonesy noch Biber ausgezogen hatten. Auf dem Duschvorhang aus blauem Vinyl waren vier verschmierte Fingerabdrücke, und Jonesy dachte: Er muss sich wohl am Vorhang festgehalten haben, als er sich zum Hinsetzen umgedreht hat.

Ja, aber das war nicht das Schlimme. Viel schlimmer war, was Jonesy vor seinem geistigen Auge sah: wie McCarthy über die himmelblauen Fliesen getrippelt war, eine Hand am Hintern, und versucht hatte, etwas drinzubehalten.

»Ach du Scheiße!«, sagte Biber wieder, schluchzte förmlich. »Ich will das nicht sehn, Jonesy - Mann, ich kann das nicht sehn.«

»Wir müssen.« Er hörte sich selbst wie aus weiter Ferne sprechen. »Wir schaffen das, Biber. Wenn wir damals Richie Grenadeau und seinen Freunden gewachsen waren, dann stehen wir das hier auch durch.«

»Ich weiß nicht, Mann, ich weiß nicht ...«

Jonesy war sich da, ehrlich gesagt, auch nicht so sicher, nahm aber Biber an der Hand. Bibers Finger packten panisch fest zu, und gemeinsam gingen sie einen Schritt weiter. Jonesy versuchte dem Blut auszuweichen, aber das war schwierig; überall war Blut. Und nicht nur Blut.

»Jonesy«, sagte Biber mit trockener, fast flüsternder Stimme. »Siehst du das Zeug da am Duschvorhang?«

»Ja.« Auf den verschmierten Fingerabdrücken wuchsen Klümpchen rötlich goldenen Schimmels wie Mehltau. Auf dem Boden, nicht in dem breiten Blutrinnsal, sondern auf den schmalen Fugenstreifen, war noch mehr davon zu sehen. »Was ist das?«

»Keine Ahnung«, sagte Jonesy. »Das gleiche Zeug, das er auch im Gesicht hat, schätze ich mal. Sei jetzt mal still.« Dann: »Mr. McCarthy? ... Rick?«

McCarthy, der dort auf der Toilette saß, reagierte nicht. Aus irgendeinem Grund hatte er sich seine orangefarbene Mütze wieder aufgesetzt, deren Schirm nun etwas schräg vorragte. Davon abgesehen war er nackt. Sein Kinn lag, wie um eine Denkerpose zu parodieren, auf seinem Brustbein (aber vielleicht war es ja auch keine Parodie, wer wusste das schon?). Seine Augen waren fast geschlossen. Die Hände le 1 er uber seinem Unterleib zusammengepresst. Blut lief in stetem Strom am Toilettenbecken hinab, aber an McCarthy selbst konnte Jonesy kein Blut entdecken.

Dafür sah er etwas anderes: Die Haut über McCarthys Bauch hing in zwei schlaffen Lappen herab. Dieser Anblick erinnerte Jonesy an etwas, und einen Moment später fiel es ihm ein: So hatte Carlas Bauch immer ausgesehen, wenn sie gerade eines ihrer vier Kinder zur Welt gebracht hatte. Über McCarthys Hüfte, wo ein schmaler Rettungsring zu sehen war (und das Fleisch etwas ausgeleiert wirkte), war die Haut nur gerötet. Quer über den Bauch aber war sie in schmalen Striemen aufgeplatzt. Wenn McCarthy mit irgendwas schwanger gegangen war, dann musste es irgendeine Art von Parasit gewesen sein, ein Bandwurm oder Hakenwurm oder so etwas Ähnliches. Nur dass dort etwas aus seinem vergossenen Blut wuchs, und was hatte er noch gesagt, als er in Jonesys Bett gelegen und sich die Decke unters Kinn gezogen hatte? Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Und Jonesy wünschte, er hätte nie auf dieses Anklopfen reagiert. Ja, er wünschte, er hätte McCarthy erschossen. Ja. Jetzt sah er da klarer. Er verfügte jetzt über die Hellsichtigkeit, die einen bei abgrundtiefem Entsetzen manchmal befällt, und in diesem Zustand wünschte er, er hätte McCarthy eine Kugel ver-passt, bevor er die orangefarbene Mütze und die Warnweste gesehen hatte. Es hätte nicht schaden können und wäre vielleicht sogar gut gewesen.

»Von wegen - ich stehe an der Tür und klopfe an«, murmelte Jonesy.

»Jonesy? Lebt er noch?«

»Ich weiß nicht.«

Jonesy ging noch einen Schritt vor und spürte, wie Biber seine Hand losließ; der Biber war McCarthy offenbar so nah gekommen, wie er nur konnte.

»Rick?«, fragte Jonesy mit gedämpfter Stimme. Es war ein Weck-das-Baby-nicht-auf-Ton. Ein Ton wie bei einer Totenwache. »Rick, sind Sie -«

Unter dem Mann dort auf der Toilette erscholl ein lauter, widerlich feucht klingender Furz, und augenblicklich war das Zimmer erfüllt vom Gestank von Exkrementen und Modellbaukleber, der einem Tränen in die Augen trieb. Jonesy wunderte sich, dass sich der Duschvorhang dabei nicht auflöste.

Aus der Toilettenschüssel erklang ein Platschen. Nicht das Aufplatschen von Scheiße - glaubte zumindest Jonesy. Es klang eher nach einem umherspringenden Fisch.

»Allmächtiger! Stinkt das!«, rief Biber. Er hielt sich die Fland vor Mund und Nase, und seine Worte waren gedämpft. »Aber wenn er furzen kann, muss er doch noch am Leben sein. Oder, Jonesy? Dann muss er doch noch -«

»Still«, sagte Jonesy ganz ruhig. Er staunte selbst, wie ruhig er war. »Sei still, ja?« Und der Biber schwieg.

Jonesy beugte sich vor. Jetzt konnte er alles sehen: den kleinen Blutfleck auf McCarthys rechter Augenbraue, die rote Wucherung auf seiner Wange, das Blut auf dem blauen Kunststoffvorhang, das Witzschild - lamars denkstätte -, das dort schon gehangen hatte, als hier lediglich ein Chemieklo stand und man die Dusche vollpumpen musste, ehe man sie benutzen konnte. Er sah das matte, eisige Schimmern zwischen McCarthys Augenlidern und die Risse in seinen Lippen, die bei diesem Licht lila und leberkrank wirkten. Er roch den widerlichen Gestank des Gases, das McCar-thy von sich gegeben hatte, und konnte es förmlich sehen, wie es in schmutzig dunkelgelben Schwaden aufstieg wie Senfgas. »McCarthy? Rick? Hören Sie mich?«

Lr schnipste vor den fast geschlossenen Augen mit den Fingern. Nichts. Er leckte sich den Handrücken an und hielt ihn McCarthy erst unter die Nase, dann vor den Mund. Nichts.

"Er ist tot, Biber«, sagte er und wich zurück.

»Red keinen Stuss«, entgegnete Biber. Er klang schroff,

absurderweise beleidigt, als hätte McCarthy damit sämtliche Regeln der Gastfreundschaft missachtet. »Er hat doch gerade noch ’ne Wurst gelegt, das hab ich doch gehört.«

»Ich glaube nicht, dass das eine -«

Biber ging an ihm vorbei und stieß dabei Jonesys schlimme Hüfte so an das Waschbecken, dass es wehtat. »Jetzt reicht's, Mann!«, brüllte Biber. Er packte McCarthys runde, sommersprossige Schulter und rüttelte daran. »Reiß dich mal zusammen! Hey!«

McCarthy kippte langsam Richtung Badewanne, und für einen Moment dachte Jonesy, Biber hätte doch Recht gehabt, und der Mann wäre noch am Leben und würde versuchen aufzustehen. Dann fiel McCarthy vom Thron in die Badewanne und stieß dabei gegen den Duschvorhang, der sich blau blähte. Die orangefarbene Mütze fiel ihm vom Kopf. Sein Schädel knackte, als er auf dem Porzellan aufschlug, und dann schrien Jonesy und Biber und umklammerten einander, und ihre entsetzten Schreie waren in dem kleinen, gefliesten Raum ohrenbetäubend laut. McCarthys Hintern glich einem schiefen Vollmond mit einem riesigen blutigen Krater in der Mitte, so als wäre dort etwas mit großer Wucht eingeschlagen. Jonesy sah das nur für eine Sekunde, ehe McCarthy mit dem Gesicht voran in die Badewanne fiel und ihn der zurückfallende Duschvorhang verdeckte; aber in dieser einen Sekunde kam es ihm vor, als wäre dieses Loch mindestens dreißig Zentimeter groß. Konnte das sein? Dreißig Zentimeter? Unmöglich.

In der Toilettenschüssel platschte es wieder, diesmal so heftig, dass blutige Wasserspritzer auf der ebenfalls blauen Klobrille landeten. Biber war schon drauf und dran, sich vorzubeugen und hineinzugucken, aber Jonesy knallte instinktiv den Deckel auf die Brille. »Nein«, sagte er.

»Nein?«

»Nein.«

Biber wollte sich einen Zahnstocher aus der Brusttasche seines Overalls nehmen, bekam ein halbes Dutzend zu fassen und ließ sie auf den Boden fallen. Sie kullerten wie Mikadostäbe über die blutigen blauen Fliesen. Der Biber schaute sich das an und sah dann wieder zu Jonesy hoch. Er hatte Tränen in den Augen. »Wie Duddits, Mann«, sagte er.

»Um Himmels willen, wovon redest du?«

»Weißt du nicht mehr? Er war auch fast nackt. Diese Scheißkerle haben ihm sein Hemd und seine Hose weggenommen und nur seine Unterhose gelassen. Aber wir haben ihn gerettet.« Biber nickte energisch, als hätte Jonesy - oder irgendeine zweifelnde Stimme in ihm selbst - dem widersprochen.

Jonesy widersprach keineswegs, obwohl ihn McCarthy nicht im Mindesten an Duddits erinnerte. Er sah McCarthy immer noch vor sich, wie er schräg in die Badewanne kippte, wie ihm die orangefarbene Mütze vom Kopf fiel und die Fettpolster auf seiner Brust schwabbelten (Fettlebetitten nannte Henry die immer, wenn er sah, wie sie sich bei irgendeinem Mann unterm Polohemd abzeichneten). Und dann kehrte sich sein Arsch nach oben ins Licht - ins grelle Neonlicht, das nichts verbarg, sondern mit monotoner Stimme alles ausplauderte. Dieser kalkweiße unbehaarte Männerarsch, der eben anfing zu erschlaffen und sich auf die hinteren Oberschenkel zu senken; er hatte Tausende solcher Ärsche in den diversen Umkleideräumen gesehen, in denen er sich an- und ausgezogen und geduscht hatte, und bekam allmählich selbst so einen (oder hatte vielmehr so einen bekommen, doch sein Unfall hatte die Gestalt seines Hinterns wahrscheinlich für alle Zeit verändert), aber nie hatte er einen in dem Zustand gesehen, in dem sich McCarthys nun befand, einen, der aussah, als hätte darin etwas eine Leuchtkugel oder eine Schrotpatrone abgefeuert, um - tja, wozu?

In der Toilette erklang wieder ein dumpfes Platschen. Etwas rammte von unten gegen den Klodeckel. Da hatte er seine Antwort. Um herauszukommen natürlich.

Um herauszukommen.

»Setz dich drauf«, sagte Jonesy zu Biber.

»Ha?«

»Setz dich drauf!« Diesmal brüllte Jonesy, und Biber ließ sich schnell auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen und schaute verwirrt. In dem nichts verbergenden Licht der Neonröhren sah Bibers Haut aschfahl aus und glich jede Bartstoppel einem Leberfleck. Seine Lippen waren lila. Über seinem Kopf hing das alte Witzschild lamars denkstätte. Seine blauen Augen waren weit aufgerissen und blickten verängstigt.

»Ich sitze, Jonesy. Okay?«

»Ja, tschuldige, Biber. Bleib da einfach sitzen, ja? Was auch immer er in sich drin hatte - jetzt ist es gefangen. Das kann jetzt nur noch in den Klärbehälter. Ich bin gleich wieder da -«

»Wo willst du hin? Ich will nicht, dass du mich hier im Scheißhaus mit einem Toten allein lässt, Jonesy. Wenn wir weglaufen -«

»Wir laufen nicht weg«, sagte Jonesy mit grimmiger Miene. »Das ist unsere Hütte, und hier laufen wir nicht weg.« Was tapfer klang, womit er aber wenigstens einen Aspekt der Situation verschwieg: Vor allem befürchtete er, dass das Ding, das da jetzt im Klo steckte, schneller laufen konnte als sie. Oder sich schneller voranschlängeln. Oder was auch immer. Bildschnipsel aus hunderten Horrorfilmen - Der Killerparasit, Allen, Parasiten-Mörder - rasten ihm im Zeitraffer durch den Kopf. Carla kam nicht mit ins Kino, wenn so ein Film lief, und wenn er einen auf Video mitbrachte, musste er damit nach unten gehen und ihn sich in seinem Arbeitszimmer ansehen. Aber möglicherweise konnte ihnen beiden einer dieser Filme -oder etwas, das er in einem dieser Filme gesehen hatte - jetzt das Leben retten. Jonesy schaute kurz zu dem rötlich goldenen schimmelartigen Zeug hinüber, das auf Mc-Carthys blutigem Handabdruck wuchs. Konnte sie jedenfalls vor diesem Ding in der Toilette retten. Dieses schimmelartige Zeug ... wer wusste das schon, um Gottes willen?

Das Ding in der Kloschüssel sprang wieder gegen den Deckel, aber Biber hielt ihn problemlos zu. Das war gut. Vielleicht würde es da drin ertrinken; aber Jonesy glaubte nicht, dass sie sich darauf verlassen konnten; es hatte ja schließlich auch in McCarthy gelebt, nicht wahr? Es hatte geraume Zeit in dem ollen Mr. Siehe-ich-stehe-vor-der-Tür-und-klopfe-an gelebt, vielleicht die ganzen vier Tage lang, die er durch den Wald geirrt war. Es hatte anscheinend das Wachstum von McCarthys Bart gehemmt und dafür gesorgt, dass ihm einige Zähne ausfielen; und es hatte bei McCarthy Fürze ausgelöst, die wahrscheinlich auch in der allerhöflichsten Gesellschaft nicht ignoriert worden wären - Fürze wie Giftgas, um es mal ganz deutlich zu sagen -, aber dem Ding selbst ging es anscheinend gut... es war putzmunter... und wuchs ...

Jonesy hatte plötzlich lebhaft das Bild vor Augen, wie ein weißer, sich windender Bandwurm aus einem Haufen rohen Fleisches auftauchte. Ihm kam die Galle hoch.

»Jonesy?« Der Biber wollte schon aufstehen. Er sah besorgter aus denn je.

»Biber, setz dich wieder hin!«

Und das tat Biber, eben noch rechtzeitig. Das Ding im Klo sprang hoch und schlug mit lautem, dumpfem Knall gegen den Toilettendeckel. Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an.

»Weißt du noch, wie sich in Lethal Weapon Mel Gibsons Partner nicht getraut hat, vom Pott aufzustehen?«, fragte Biber. Er lächelte, aber sein Tonfall war trocken, und aus seinem Blick sprach fürchterliche Angst. »Das ist hier genauso, was?«

»Nein«, sagte Jonesy. »Hier fliegt nichts in die Luft. Außerdem bin ich nicht Mel Gibson, und du bist viel zu weiß ur Danny Glover. Hör zu, Biber. Ich gehe jetzt raus in den Schuppen-«

»Neenee, auf keinen Fall, lass mich hier nicht allein -«

»Sei still und hör zu. Da draußen haben wir doch irgendwo Isolierband, oder?«

»Ja, hängt da an ’nem Nagel, glaube ich -«

»Es hängt da an einem Nagel. Genau. Bei den Farbdosen, glaube ich. Eine dicke, breite Rolle. Die hole ich, komme dann wieder und klebe damit den Klodeckel zu. Und dann -«

Es stieß wild gegen den Deckel, als hätte es alles gehört und verstanden. Tja, wer sagt denn, dass es uns nicht verstehen kann?, dachte Jonesy. Als es mit dumpfem Knall gegen den Deckel prallte, zuckte der Biber zusammen.

»Und dann haun wir hier ab«, schloss Jonesy.

»Mit dem Cat?«

Jonesy nickte, obwohl er eigentlich gar nicht an das Schneemobil gedacht hatte. »Ja, mit dem Cat. Und dann treffen wir uns mit Flenry und Pete -«

Der Biber schüttelte den Kopf. »Quarantäne - das hat der Typ im Flubschrauber gesagt. Deshalb sind sie wahrscheinlich noch nicht wieder da, meinst du nicht auch? Die sind wahrscheinlich aufgehalten worden -«

Rumms!

Biber zuckte zusammen. Jonesy auch.

»- wegen der Quarantäne.«

»Könnte sein«, sagte Jonesy. »Aber, hör zu, Biber - ich bin lieber mit Pete und Flenry in Quarantäne als hier mit ... na, als hier. Du nicht auch?«

»Spülen wir's doch einfach runter«, sagte Biber. »Wieso nicht?«

Jonesy schüttelte den Kopf.

»Und warum nicht?«

»Weil ich das Loch gesehen habe, das es beim Rauskommen gemacht hat«, sagte Jonesy. »Du hast das auch gesehen. Ich weiß nicht, was es ist, aber wir werden es nicht los, wenn wir einfach auf die Spülung drücken. Dafür ist es zu groß.« »Mist.« Biber schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.

Jonesy nickte.

»Also gut, Jonesy. Hol das Klebeband.«

An der Tür blieb Jonesy stehen und sah sich um. »Biber ...?«

Der Biber runzelte die Augenbrauen.

»Schön sitzen bleiben.«

Biber fing an zu kichern. Jonesy auch. Sie sahen einander an, Jonesy in der Tür und Biber auf dem Toilettendeckel, und prusteten los. Dann rannte Jonesy durch den großen Hauptraum (immer noch kichernd - schön sitzen bleiben, je länger er darüber nachdachte, desto lustiger kam es ihm vor) zur Küchentür. Ihm war heiß, und er fühlte sich fiebrig, er war ebenso entsetzt wie übermütig. Schön sitzen bleiben. Heilige Filzlaus!

Biber hörte Jonesy kichern, während er den Raum durchquerte, und hörte ihn immer noch kichern, als er die Hütte verließ. Trotz allem war Biber froh, dieses Geräusch zu hören. Für Jonesy war es wegen seines Unfalls ein schlimmes Jahr gewesen - zuerst hatten sie alle eine Zeit lang gedacht, er würde nicht durchkommen, und das war schrecklich, der arme Jonesy war noch nicht mal achtunddreißig. Es war auch ein schlimmes Jahr für Pete gewesen, der zu viel trank, ein schlimmes Jahr auch für Henry, der manchmal so gespenstisch abwesend wirkte, was Biber nicht verstand und was ihm gar nicht gefiel ... Und jetzt konnte man wohl auch sagen, dass es auch für Biber Clarendon ein schlimmes Jahr war. Es war natürlich nur einer von 365 Tagen, aber man stand ja nicht einfach morgens auf und rechnete damit, dass nachmittags ein Toter nackt in der Badewanne lag und man selber auf dem Toilettendeckel hockte, um etwas, das man noch nicht mal gesehen hatte, daran zu hindern -

»Nein«, sagte Biber. »Daran denkst du jetzt nicht, okay? Daran denkst du jetzt einfach nicht.«

Und das musste er ja auch nicht. Jonesy würde in ein oder zwei, allerhöchstens drei Minuten mit dem Isolierband wiederkommen. Fragte sich nur, woran er denken wollte, bis Jonesy wiederkam? Wohin konnte er mit seinen Gedanken, wo fühlte er sich wohl?

Zu Duddits. Wenn er an Duddits dachte, ging es ihm immer gut. Und zu Roberta. Es war auch schön, an sie zu denken. Ja, zweifellos.

Biber erinnerte sich lächelnd an die kleine Frau in dem gelben Kleid, die an jenem Tag vor ihrem Flaus in der Maple Lane gestanden hatte. Und sein Lächeln wurde breiter, als er sich daran erinnerte, wie die Frau sie erblickt hatte. Auch sie nannte ihren Sohn so. Sie nannte ihn

»Duddits!«, ruft sie, eine kleine, schon grau werdende, zierliche Frau in einem Kleid mit Blumenmuster, und läuft dann auf dem Gehsteig auf sie zu.

Duddits ist bis dahin frohgemut mit seinen neuen Freunden gegangen und hat dabei wie ein Weltmeister vor sich hin geschwatzt, hat seine Scooby-Doo-Lunchbox in der linken Hand gehalten und mit der rechten Jonesys Hand, und hat sie freudig vor und zurück geschaukelt. Sein Gebrabbel scheint fast ausschließlich aus offenen Vokallauten zu bestehen. Und Biber erstaunt am meisten, wie viel er davon versteht.

Als er jetzt die Frau, die so zart wie ein Vögelchen wirkt, erblickt, lässt Duddits Jonesys Hand los und läuft auf sie zu, sie laufen beide aufeinander zu, und das erinnert Biber an ein Musical über ein paar Sänger, die Von Cripps oder Von Crapps oder so was in der Richtung. »Ah-mieh! Ah-mieh!«, ruft Duddits überschwänglich - Mommy! Mommy!

»Wo warst du denn? Wo warst du denn, du böser Junge, du böser, böser Duddits!«

Sie treffen aufeinander, und Duddits ist so viel kräftiger gebaut - und auch ein paar Zentimeter größer -, dass Biber zusammenzuckt und schon erwartet, dass die zierliche Frau gleich umgeworfen wird, so wie der Coyote in den Roadrun-ner-Trickfilmen immer geplättet wird. Doch stattdessen hebt sie ihn hoch und wirbelt ihn herum, seine Füße mit den Turnschuhen fliegen hinter ihm her, und er strahlt vor freudiger Verzückung übers ganze Gesicht.

»Ich wollte eben schon die Polizei anrufen, du schlimmer, böser Zuspätkommer, du schlimmer, böser D -«

Da sieht sie Biber und seine Freunde und setzt ihren Sohn ab. Ihr erleichtertes Lächeln ist verschwunden; sie ist ganz ernst, als sie über das Himmel-und-Hölle-Spielfeld irgendeines kleinen Mädchens auf sie zugeht - so grausam es ist, denkt Biber, nicht mal das wird Duddits je verstehen. Tränen schimmern noch auf ihren Wangen, schimmern im Licht der Sonne, die endlich durch die Wolken gedrungen ist.

»Au Backe«, sagt Pete. »Jetzt kriegen wir was zu hören.«

»Immer cool bleiben«, flüstert Flenry hastig. »Lasst sie schimpfen. Ich erkläre das dann.«

Aber da haben sie Roberta Cavell falsch eingeschätzt -haben sie eingeschätzt wie so viele andere Erwachsene, die Jungen ihres Alters anscheinend grundsätzlich für schuldig halten, bis das Gegenteil bewiesen ist. Roberta Cavell ist nicht so, und ihr Mann Alfie auch nicht. Die Cavells sind anders. Duddits hat dafür gesorgt, dass sie anders sind.

»Jungs«, sagt sie wieder. »Ist er vom Weg abgekommen? Flat er sich verlaufen? Ich habe solche Angst, ihn alleine gehen zu lassen, aber er will es so, damit er ein richtiger Junge ist...«

16 gibt Biber einen kräftigen Fländedruck mit der einen und Pete mit der anderen Fland. Dann lässt sie sie los, nimmt

Jonesys und Henrys Hand und unterzieht sie der gleichen Prozedur.

»Ma'am -«, setzt Henry an.

Mrs. Cavell sieht Henry sehr konzentriert an, als versuche sie, seine Gedanken zu lesen. »Nicht einfach nur verlaufen«, sagt sie. »Und auch nicht einfach nur vom Weg abgekommen.«

»Ma'am ...« Henry versucht es erneut und gibt es dann auf, ihr irgendwas vorzumachen. Es ist Duddits' grünäugiger Blick, der da aus ihrem Gesicht zu ihm hochschaut, bloß eben intelligent und aufmerksam und kritisch. »Nein, Ma'am.« Henry seufzt. »Nicht einfach nur vom Weg abgekommen. «

»Normalerweise kommt er nämlich gleich nach Hause. Er sagt, er kann sich nicht verlaufen, denn er sieht ja die Linie. Wie viele waren es?«

»Ach, ein paar«, sagt Jonesy und wirft Henry hastig einen Blick zu. Neben ihnen hat Duddits auf dem Rasen des Nachbarn ein paar letzte Pusteblumen entdeckt, liegt jetzt auf dem Bauch, pustet drauf und sieht zu, wie die flauschigen Samen im Wind davonsegeln. »Ein paar Jungs haben ihn geärgert, Ma'am.« »Große Jungs«, sagt Pete.

Wieder schaut sie sie aufmerksam an, erst Jonesy, dann Pete, dann Biber und dann wieder Henry. »Kommt doch mit uns ins Haus«, sagt sie. »Ich will alles darüber hören. Duddits trinkt nachmittags immer ein großes Glas ZaRex - das ist sein Lieblingsgetränk -, aber ihr mögt ja bestimmt lieber Eistee, nicht wahr?«

Die drei schauen Henry an, der es sich überlegt und dann nickt. »Ja, Ma'am. Eistee wäre prima.«

Und so führt die Frau sie zu dem Haus, in dem sie in den nächsten Jahren so viel Zeit verbringen werden - dem Haus Maple Lane Nr. 19 -, aber eigentlich ist es Duddits, der sie da anführt, hüpfend und tanzend, und dabei seine gelbe

Scooby-Doo-Lunchbox manchmal über den Kopf hält, und dabei fällt Biber auf, dass er ganz gerade, immer im gleichen Abstand zum Grünstreifen zwischen Gehsteig und Straße geht. Jahre später, nach der Sache mit der kleinen Rinkenhauer, wird er darüber nachdenken, was Mrs. Cavell gesagt hat. Sie alle werden darüber nachdenken. Er sieht die Linie.

»Jonesy?«, rief Biber.

Keine Antwort. Mensch, es kam ihm vor, als wäre Jonesy schon lange weg. Das stimmte wahrscheinlich nicht, aber Biber konnte es unmöglich feststellen; er hatte an diesem Morgen vergessen, seine Armbanduhr umzubinden. Das war dumm gewesen - aber schließlich war er ja schon immer dumm gewesen, und allmählich hätte er sich mal dran gewöhnen können. Verglichen mit Jonesy und Henry waren Pete und er immer dumm gewesen. Nicht dass Jonesy oder Henry sie das je hatten spüren lassen - das war auch so was Tolles bei ihnen.

»Jonesy?«

Immer noch nichts. Wahrscheinlich fand er nur das Klebeband nicht gleich.

Eine fiese, leise Stimme in Bibers Hinterkopf sagte ihm, das hätte nichts mit dem Klebeband zu tun, Jonesy hätte gerade Reißaus genommen und ihn hier auf der Toilette sitzen lassen wie Danny Glover in diesem Film, aber er hörte nicht auf diese Stimme, denn so etwas würde Jonesy nie tun. Sie waren Freunde bis ans Ende.

Stimmt, sagte die fiese Stimme. Ihr wart Freunde. Und das ist das Ende.

»Jonesy? Bist du da, Mann?«

Immer noch keine Antwort. Vielleicht war das Klebeband von dem Nagel gefallen, an dem es gehangen hatte.

Und auch von unten kam nichts. Und, hey, es war doch eigentlich auch nicht möglich, dass McCarthy irgendein Monster in ihr Klo geschissen hatte, oder? Dass er das - o Schreck! — Klomonster geboren hatte? Das hörte sich eher nach einer Horrorfilmparodie aus Saturday Night Live an. Und selbst wenn, dann war das Klomonster wahrscheinlich mittlerweile ertrunken - ertrunken oder untergetaucht. Ein Vers aus einem Buch fiel ihm plötzlich ein, aus dem sie Duddits vorgelesen hatten - immer abwechselnd, und glücklicherweise waren sie zu viert, denn wenn Duddits etwas mochte, konnte er nie genug davon bekommen.

»lies Duuhl!«, rief Duddits dann und lief zu einem von ihnen, das Buch hoch über den Kopf erhoben, genau wie er am ersten Tag seine Lunchbox nach Hause getragen hatte, »lies Duuhl! lies Duuhl!« Was in diesem Fall bedeutete: Lies Pool! Lies Pool! Das Buch war McGilligot's Pool von Dr. Seuss, und die ersten beiden Verse lauteten: »Junger Mann, das sag ich dir gleich: / es sind keine Fische in diesem Teich.« Aber es hatte darin durchaus Fische gegeben, zumindest in der Fantasie des kleinen Jungen in der Geschichte. Jede Menge Fische. Große Fische.

Aber keine Platscher mehr unter ihm. Und auch keine Schläge mehr an den Toilettendeckel. Und das schon seit einer ganzen Weile. Vielleicht konnte er einen schnellen Blick wagen, einfach nur kurz den Deckel heben und wieder zuknallen, wenn irgendwas -Aber schön sitzen bleiben war das Letzte, was Jonesy zu ihm gesagt hatte, und daran wollte er sich halten.

Jonesy ist wahrscheinlich mittlerweile schon eine Meile von der Hütte entfernt, schätzte die fiese Stimme. Er ist schon eine Meile entfernt und gibt weiter Gas.

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Biber. »Nicht Jonesy.«

Er rutschte ein wenig auf dem Toilettendeckel hin und her und lauerte darauf, dass das Ding hochsprang, aber das tat es nicht. Mittlerweile mochte es schon sechzig Meter entfernt sein und mit den Kackwürsten im Klärbehälter schwimmen. Jonesy hatte zwar gesagt, es sei zu groß, um unterzugehen, aber da keiner von ihnen es gesehen hatte, konnte man das unmöglich einschätzen, nicht wahr? Doch in jedem Fall würde Monsieur Biber Clarendon schön sitzen bleiben. Weil er es versprochen hatte. Weil die Zeit immer langsamer zu vergehen schien, wenn man sich Sorgen machte oder Angst hatte. Und weil er Jonesy vertraute. Jonesy und Henry hatten ihn nie gekränkt und sich nie über ihn lustig gemacht, weder über ihn noch über Pete. Und keiner von ihnen hatte auch je Duddits gekränkt oder sich über ihn lustig gemacht.

Biber prustete los. Duddits mit seiner Scooby-Doo-Lunch-box. Duddits auf dem Bauch, Pusteblumen pustend. Duddits, wie er durch den Garten lief, froh wie ein Vogel in den Bäumen, ja, und Leute, die Kinder wie ihn als Sorgenkinder bezeichneten, hatten im Grunde keine Ahnung. Er war jemand Besonderes, war ein Geschenk, das eine beschissene Welt ihnen gemacht hatte, in der man sonst aber auch gar nichts geschenkt bekam. Duddits war jemand ganz Besonderes für sie gewesen, und sie hatten ihn geliebt.

Sie sitzen in der sonnigen Küchensitzecke - die Wolken haben sich wie von Zauberhand verzogen -, trinken Eistee und sehen Duddits zu, der mit drei, vier großen Schlucken sein ZaRex trinkt (ein scheußlich aussehendes orangefarbenes Zeug) und dann wieder zum Spielen hinausläuft.

Henry hat größtenteils das Reden übernommen und erzählt Mrs. Cavell, die Jungs hätten Duddits »nur so rumge-cnubst«.

Er sagt, sie seien ein bisschen grob zu ihm gewesen und hätten sein Hemd zerrissen, und deshalb hätte Duddits ngst bekommen und angefangen zu weinen. Er erwähnt

nicht, dass Richie Grenadeau und seine Freunde ihm die Hose ausgezogen haben, und auch nicht, was für einen widerlichen Nachmittags-Snack sie Duddits essen lassen wollten, und als Mrs. Cavell sie fragt, ob sie wüssten, wer denn diese großen Jungs gewesen seien, zögert Henry kurz und sagt dann, nein, ein paar große Jungs von der High School halt, sie hätten keinen von ihnen gekannt und wüssten nicht, wie sie hießen. Sie schaut Biber, Jonesy und Pete an, und die schütteln alle den Kopf. Das ist vielleicht nicht richtig - und langfristig gesehen vielleicht auch gefährlich für Duddits -, aber sie können die Regeln, die ihr Leben bestimmen, nicht so weit übertreten. Biber weiß schon gar nicht mehr, wie sie überhaupt die Traute aufgebracht haben, sich da einzumischen, und das werden die anderen später auch sagen. Sie wundern sich über ihren Mut; und sie wundern sich auch, dass sie nicht im Krankenhaus gelandet sind.

Mrs. Cavell schaut die Jungs für einen Moment traurig an, und Biber wird klar, dass sie vieles von dem weiß, was sie ihr verschweigen, wahrscheinlich genug, um heute Nacht kein Auge zuzubekommen. Dann lächelt sie. Sie lächelt Biber an, und dabei empfindet er ein Kribbeln bis in die Zehenspitzen. »Du hast aber viele Reißverschlüsse an deiner Jacke!«, sagt sie.

Biber lächelt. »Ja, Ma'am. Das ist meine Fonzie-Jacke. Die hat früher meinem Bruder gehört. Die Jungs machen sich immer darüber lustig, aber ich mag sie trotzdem.«

»Happy Days«, sagt sie. »Das schaun wir auch gern. Duddits guckt das gern. Vielleicht magst du ja abends mal rüberkommen und es mit uns gucken. Mit ihm.« Ihr Lächeln hat jetzt etwas Wehmütiges, als wüsste sie, dass so etwas nie stattfinden wird.

»Ja, das wäre nett«, sagt Biber.

»Das wäre es wirklich«, pflichtet Pete bei.

Sie sitzen für eine Weile da und sagen nichts und schauen ihm nur zu, wie er im Garten spielt. Da steht eine Dop-pelschaukel. Duddits steht hinter den beiden Schaukelbrettern, stößt sie an und lässt sie alleine schwingen. Ab und zu hört er damit auf, verschränkt die Arme vor der Brust, hebt das zeigerlose Zifferblatt seines Gesichts gen Himmel und lacht.

»Scheint ja alles wieder gut zu sein«, sagt Jonesy und trinkt seinen Eistee aus. »Er hat das bestimmt schon alles vergessen.«

Mrs. Cavell wollte eben aufstehen. Jetzt setzt sie sich wieder hin und wirft ihm einen fast entsetzten Blick zu. »O nein, im Gegenteil«, sagt sie. »Er erinnert sich. Vielleicht nicht so wie du und ich, aber er erinnert sich durchaus. Heute Nacht wird er wahrscheinlich Albträume haben, und wenn wir -sein Vater und ich - in sein Zimmer kommen, wird er es nicht erklären können. Das ist für ihn das Schlimmste; er kann nicht erzählen, was er sieht und denkt und fühlt. Ihm fehlt dazu der Wortschatz.«

Sie seufzt.

»Aber diese Jungs werden das mit ihm ja nicht vergessen. Was ist, wenn sie ihm jetzt auflauern? Und was ist, wenn sie euch jetzt auflauern?«

»Wir können uns wehren«, sagt Jonesy und klingt dabei zwar beherzt, schaut aber beklommen aus der Wäsche.

»Kann sein«, sagt sie. »Aber was ist mit Duddits? Ich kann ihn zur Schule bringen — das habe ich früher immer gemacht, und jetzt muss ich das wohl eine Zeit lang wieder tun -, aber er geht doch so gerne alleine nach Hause.«

»Dann fühlt er sich wie ein großer Junge«, sagt Pete.

Sie langt über den Tisch und berührt Petes Hand, und er wird rot. »Ja, das stimmt, dann fühlt er sich wie ein großer Junge.«

»Wissen Sie«, sagt Henry, »wir könnten ihn zur Schule bringen. Wir gehen alle zur Junior High, und aus der Kansas treet wäre es kein großer Umweg für uns, hier vorbeizukommen.«

Roberta Cavell sitzt nur da und sagt nichts, eine kleine, zierliche Frau in einem bunten Kleid, und schaut Henry aufmerksam an, als würde sie auf die Pointe eines Witzes warten.

»Wäre Ihnen das recht, Mrs. Cavell?«, fragt Biber. »Wir machen das gern. Aber vielleicht wollen Sie das ja nicht.«

Da geht etwas Kompliziertes mit Mrs. Cavells Gesicht vor sich - viele kleine Zuckungen, größtenteils tief unter der Haut. Ein Auge blinzelt fast, und dann blinzelt das andere tatsächlich. Sie zieht ein Taschentuch hervor und schneuzt sich. Biber denkt: Sie gibt sich Mühe, uns nicht auszulachen. Als er Henry das auf dem Heimweg erzählt, Jonesy und Pete haben sich schon von ihnen verabschiedet, wird Henry ihn absolut verwundert ansehen. Sie hat sich Mühe gegeben, nicht zu weinen, wird er sagen ... und dann, nach einer Pause, liebevoll: Trottel.

»Das würdet ihr tun?«, fragt sie, und als Henry für sie alle nickt, formuliert sie die Frage um. » Warum würdet ihr das tun?«

Henry sieht sich um, wie um zu sagen: Kann das bitte schön mai wer anders beantworten?

Pete sagt: »Weil wir ihn mögen, Ma'am.«

Jonesy nickt. »Ich mag es, wie er sich die Lunchbox über den Kopf hält -«

»Ja, das ist geil«, sagt Pete. Henry verpasst ihm unterm Tisch einen Tritt. Pete führt sich vor Augen, was er gesagt hat - dabei kann man ihm zusehen - und wird knallrot.

Mrs. Cavell hat es anscheinend nicht bemerkt. Sie sieht Henry durchdringend an. »Er muss um Viertel vor acht los«, sagt sie.

»Um die Zeit kommen wir hier sowieso immer vorbei«, erwidert Henry. »Nicht wahr, Jungs?«

Und obwohl 7.45 Uhr wirklich ein bisschen früh für sie ist, nicken sie alle und sagen ja, stimmt, klar, sowieso.

»Das würdet ihr tun?«, fragt sie wieder, und diesmal hat

Biber keine Schwierigkeiten, ihren Ton einzuschätzen; sie kann es einfach nicht fassen.

»Klar«, sagt Henry. »Es sei denn, Duddits hat... na ...«

»Hat was dagegen«, schließt Jonesy.

»Seid ihr verrückt?«, fragt sie. Biber denkt, sie führt ein Selbstgespräch und will sich davon überzeugen, dass diese Jungs tatsächlich in ihrer Küche sitzen und das alles hier tatsächlich passiert. »Mit den großen Jungs zur Schule gehen? Den Jungs, die, wie Duddits immer sagt, zur nichtigen Schu-le< gehen? Er würde sich fühlen wie im siebten Himmel.«

»Okay«, sagt Henry. »Wir kommen um Viertel vor acht vorbei und bringen ihn zur Schule. Und wir bringen ihn auch wieder nach Hause.«

»Er hat Schulschluss um -«

»Ah, wir wissen, wann die Behindi-Akademie Schluss hat«, sagt Biber vergnügt und bemerkt eine Sekunde bevor er die bedrückten Blicke der anderen sieht, dass er etwas viel Schlimmeres als geil gesagt hat. Er hält sich die Hände vor den Mund. Und macht große Augen. Jonesy tritt ihm unterm Tisch so heftig ans Schienbein, dass Biber fast hintenüber kippt.

»Hören Sie nicht auf ihn, Ma'am«, sagt Henry. Er spricht schnell, und das macht er bloß, wenn er sich geniert. »Er hat nur -«

»Das stört mich nicht«, sagt sie. »Ich weiß, wie die Leute dazu sagen. Manchmal nennen Alfie und ich sie auch so.« Erstaunlicherweise scheint dieses Thema sie kaum zu interessieren. »Wieso?«, fragt sie noch mal.

Und obwohl sie Henry dabei anschaut, antwortet Biber, trotz seiner rot glühenden Wangen. »Weil er cool ist«, sagt er- Die anderen nicken.

Während der nächsten fünf Jahre bringen sie Duddits zur Schule und wieder nach Hause, wenn er nicht gerade krank ist oder sie auf ihrer Jagdhütte sind; und später geht Duddits dann nicht mehr auf die Mary M. Snowe alias Behindi-Aka-demie, sondern auf die Berufsschule, wo er lernt, Kekse zu backen (Tsetse hatten, sagt er dazu), Autobatterien auszutauschen, Wechselgeld herauszugeben und sich selbst die Krawatte zu binden (der Knoten ist immer perfekt, auch wenn er ihn manchmal vor der Brust trägt). Da ist dann die Sache mit Josie Rinkenhauer schon längst passiert, Schall und Rauch, von allen vergessen, nur von Josies Eltern nicht, die es nie vergessen werden. In diesen Jahren, in denen sie ihn zur Schule und nach Hause bringen, schießt Duddits in die Höhe, bis er der Größte von ihnen ist, ein schlaksiger, hoch aufgeschossener Teenager mit einem eigenartig schönen Kindergesicht. Da haben sie ihm mittlerweile beigebracht, Parcheesi und eine vereinfachte Form von Monopoly zu spielen; da haben sie längst das Duddits-Spiel erfunden und spielen es ständig und lachen dabei manchmal so laut, dass Alfie Cavell (der größer als seine Frau war, aber auch wie ein Vögelchen wirkte) oben in der Küche an den Treppenabsatz kam, der Treppe, die hinunter zum Freizeitraum führte, und zu ihnen hinunterrief, was denn los sei, was denn so lustig sei. Und dann versuchten sie ihm zu erklären, dass Duddits für Henry nicht zwei, sondern vierzehn Punkte gesteckt hatte, oder dass Duddits für Pete fünfzehn Punkte rückwärts markiert hatte, aber Alfie schien das nie zu verstehen; er stand da am Treppenabsatz mit seiner Zeitung in der Hand und lächelte perplex; und schließlich sagte er dann immer: Einen Tick leiser, Jungs, machte die Tür zu und ließ sie weiterspielen ... und von all diesen Spielen war das Duddits-Spiel das beste, affentittengeil, wie Pete gesagt hätte. Manchmal dachte Biber wirklich, er würde platzen vor Lachen, und Duddits saß die ganze Zeit auf dem Teppich vor dem großen, alten Cribbage-Brett, die Füße untergeschlagen, und lächelte versonnen wie ein Buddha. Was für ein Heidenspaß! Aber das liegt noch alles vor ihnen. Jetzt sitzen sie in der Küche, die Sonne scheint erstaunlicherweise, und Duddits schubst draußen die Schaukeln an. Duddits, der ihnen einen solchen Gefallen damit erwiesen hatte, dass er in ihr Leben getreten ist. Duddits, der - das wissen sie von Anfang an - anders ist als alle Menschen, die sie kennen.

»Ich verstehe nicht, wie die das tun konnten«, sagt Pete mit einem Mal. »So wie er geweint hat. Ich verstehe nicht, wie sie ihn da weiter hänseln konnten.«

Roberta Cavell schaut ihn traurig an. »Ältere Jungs können ihn so nicht hören«, sagt sie. »Hoffentlich versteht ihr das nie.«

6

»Jonesy!«, rief Biber. »Hey, Jonesy!«

Diesmal kam eine Antwort, leise, aber nicht zu überhören. Der Schneemobilschuppen war so eine Art Dachboden zu ebener Erde, und dort lag auch eine altmodische Hupe, wie die Fahrradboten sie in den Zwanzigern oder Dreißigern an der Lenkstange hatten. Jetzt hörte Biber es: Uugah! Hau-uugah! Ein Geräusch, bei dem Duddits bestimmt gelacht hätte, bis ihm die Tränen gekommen wären - er stand doch wirklich auf lärmende, extravagante Geräusche, der alte Duds.

Der dünne blaue Duschvorhang raschelte, und Biber bekam Gänsehaut auf den Armen. Für einen Moment wäre er fast aufgesprungen, weil er dachte, es wäre McCarthy, doch dann wurde ihm klar, dass er selbst den Vorhang mit dem Ellenbogen berührt hatte - es war eng hier drin, so richtig eng -, und da beruhigte er sich wieder. Unter ihm hatte sich aber immer noch nichts getan; dieses Ding, was es auch war, war entweder abgehauen oder tot. Ganz sicher.

Na ja ... fast sicher.

Der Biber griff hinter sich, nestelte kurz am Spülhebel herum und ließ ihn dann wieder los. Schön sitzen bleiben, hatte Jonesy gesagt, und daran würde sich Biber halten, aber wieso kam Jonesy nicht endlich wieder? Wenn er das Klebeband nicht finden konnte, weshalb kam er dann nicht einfach ohne wieder? Er war doch jetzt schon mindestens zehn Minuten weg, oder nicht? Und es kam ihm echt vor wie eine Stunde. Währenddessen hockte er hier auf dem Klo, und nebenan in der Badewanne lag ein Toter, der aussah, als wäre sein Arsch mit Dynamit gesprengt worden, Mann, und angeblich hatte er ja nur mal kacken müssen -

»Hup wenigstens noch mal«, grummelte Biber. »Hup noch mal mit dem Ding da, und zeig mir, dass du noch da bist.« Aber das tat Jonesy nicht.

Jonesy konnte das Klebeband nicht finden.

Er hatte überall gesucht und konnte es nirgends finden. Er wusste, dass es da sein musste, aber es hing an keinem der Nägel und lag auch nicht auf der mit Werkzeug überhäuften Werkbank. Es war nicht hinter den Farbdosen und hing auch nicht an dem Haken unter den alten Atemmasken, die dort an ihren vergilbten Gummibändern baumelten. Er schaute unter der Werkbank nach, suchte in den Schachteln, die an der Wand gegenüber aufgestapelt waren, und dann im Fach unter dem Fahrersitz des Arctic Cat. Dort fand er einen Ersatzscheinwerfer, noch verpackt, und ein halbes Päckchen knochentrockener Eucky Strikes, aber nicht das verfluchte Klebeband. Er spürte die Minuten verstreichen. Einmal meinte er, der Biber hätte nach ihm gerufen, aber er wollte nicht ohne das Klebeband umkehren, und deshalb trötete er mit der alten Hupe, die auf dem Boden lag, drückte auf den rissigen schwarzen Gummibalg, der ein Uugah-Uugah von sich gab, ein Geräusch, das Duddits bestimmt geliebt hätte.

Je länger er das Klebeband suchte und nicht fand, desto dringender erschien es ihm. Da war ein Knäuel Bindfaden, aber wie um Himmels willen sollte er denn einen Toilettendeckel mit Bindfaden zubinden? Und in einer der Küchenschubladen war auch Tesafilm, da war er ziemlich sicher, aber das Ding in der Toilette hatte sich kräftig angehört, wie ein größerer Fisch oder so. Und Tesafilm war einfach nicht reißfest genug.

Jonesy stand neben dem Schneemobil, schaute sich angestrengt um, fuhr sich mit den Händen durchs Haar (er hatte sich die Handschuhe nicht wieder angezogen und war jetzt schon so lange hier draußen, dass er kaum noch Gefühl in den Fingern hatte) und atmete große weiße Dampfschwaden aus.

»Wo zum Henker?«, fragte er laut und schlug mit der Faust auf die Werkbank. Ein Stapel Schachteln mit Nägeln und Schrauben fiel um, und dahinter tauchte das Isolierband auf, eine dicke, breite Rolle. Er musste es ein Dutzend Mal übersehen haben.

Er schnappte es sich, steckte es sich in die Manteltasche -wenigstens hatte er daran gedacht, den Mantel anzuziehen, auch wenn er sich nicht die Zeit genommen hatte, den Reißverschluss zu schließen - und wandte sich zum Gehen. Und in diesem Moment fing Biber an zu schreien. Seine Rufe waren leise, kaum hörbar gewesen, aber die Schreie hörte Jonesy problemlos. Sie waren laut, kräftig, schmerzerfüllt.

Jonesy lief zur Tür.

8

Bibers Mutter hatte immer gesagt, die Zahnstocher würden ihn eines Tages noch umbringen, aber so hatte sie sich das nicht vorgestellt.

Dort auf dem Toilettendeckel sitzend, suchte Biber in der

Brusttasche seines Overalls nach einem Zahnstocher, an em er nerumkauen konnte, aber es war keiner mehr da -

sie lagen alle über den Boden verstreut. Zwei oder drei waren nicht im Blut gelandet, aber er hätte von der Toilette aufstehen müssen, um sie greifen zu können — hätte aufstehen und sich vorbeugen müssen.

Biber haderte mit sich. Schön sitzen bleiben, hatte Jonesy gesagt, aber das Ding in der Toilette war ja bestimmt längst verschwunden; tauchen, tauchen, tauchen, wie es in den U-Boot-Kriegsfilmen immer hieß. Und auch wenn nicht, würde er seinen Hintern ja nur für ein, zwei Sekunden anheben. Sollte das Ding springen, dann konnte Biber sein ganzes Gewicht schnell genug wieder einsetzen und ihm dabei vielleicht den schuppigen kleinen Hals brechen (immer vorausgesetzt, es hatte überhaupt einen).

Er schaute sehnsüchtig zu den Zahnstochern hinüber. Drei oder vier lagen so nah, dass er sie einfach hätte aufheben können, aber er wollte sich keinen blutigen Zahnstocher in den Mund stecken, und schon gar nicht, wenn er bedachte, woher das Blut kam. Und da war noch etwas. Dieses eigenartige flaumige Zeug, das in dem Blut wuchs, wuchs nun auch auf dem Fugenkitt zwischen den Fliesen - er sah es jetzt deutlicher als zuvor. Es wuchs auch auf einigen Zahnstochern ... aber nicht auf denen, die nicht im Blut gelandet waren. Die waren weiß und sauber, und wenn er denn je im Leben den Trost gebraucht hatte, etwas im Mund zu haben, ein kleines Holzstäbchen, an dem er kauen konnte, dann jetzt.

»Scheiß drauf«, murmelte der Biber, beugte sich vor und streckte die Hand aus. Seine ausgestreckten Finger reichten fast bis zum nächsten sauberen Zahnstocher. Er spannte die Oberschenkelmuskeln, und sein Hintern hob sich vom Toilettensitz. Seine Finger schlössen sich um den Zahnstocher -hab ich dich -, und genau in diesem Moment rammte etwas von unten den Toilettendeckel, traf ihn mit beängstigender Wucht, schlug ihm den Deckel in die ungeschützten Eier und stieß ihn nach vorn. Biber packte in einem allerletzten Versuch, das Gleichgewicht zu wahren, den Duschvorhang, dessen Ringe aber mit metallischem Klick-Klack-Klonk von der Stange rissen. Seine Stiefel glitten auf dem Blut aus, und er stürzte bäuchlings zu Boden, als hätte er auf einem Schleudersitz gesessen. Hinter sich hörte er den Toilettendeckel mit solcher Wucht hochschlagen, dass der Spülkasten aus Porzellan davon brach.

Etwas Feuchtes, Schweres landete auf Bibers Rücken. Etwas, das sich wie ein Schwanz oder ein Wurm oder ein muskulöser, gegliederter Greifarm anfühlte, schlängelte sich zwischen seine Beine und umschlang, fest wie eine Python, seinen ohnehin schon schmerzenden Sack. Biber schrie, hob das Kinn von den blutbeschmierten Fliesen (ein rotes Kreuzmuster blieb schwach darauf zurück), und die Augen traten ihm aus dem Kopf. Das Ding lag ihm wie eine lebende Teppichrolle feucht und kalt und schwer vom Genick bis runter ins Kreuz, und jetzt stieß es ein fieberhaftes, schrilles Kreischen aus, das sich anhörte wie von einem tollwütigen Affen.

Biber schrie wieder, robbte Richtung Tür, kämpfte sich dann auf alle viere und versuchte, das Ding abzuschütteln. Das muskulöse Seil zwischen seinen Beinen quetschte kräftiger, und dann folgte ein leiser, platzender Knall, der irgendwo aus dem Schmerzbrei drang, der nun sein Unterleib war.

O Gott, dachte der Biber. Gütiger Gott, ich glaube, das war eins meiner Eier.

Kreischend und schwitzend, tat Biber das Einzige, was ihm einfiel: Er drehte sich auf den Rücken und versuchte das Was-es-auch-war zwischen seinem Rückgrat und den Kacheln zu zerquetschen. Es kreischte ihm ins Ohr, fast ohrenbetäubend, und fing an, sich wie wild zu winden. Biber packte den Schwanz, der sich zwischen seinen Beinen schlängelte und vorne glatt und unbehaart und darunter dornig war -wie überzogen mit Haken aus verklebtem Haar. Und feucht war er. Wasser? Blut? Beides?

»Aaah! Aaab! O Gott, lass los! Lass los, du Scheißteil! Herrgott! Mein Sack! O Gott!«

Ehe er den Schwanz zu packen bekam, biss ihn ein Mund voller Nadeln seitlich in den Hals. Er bäumte sich brüllend auf, und dann war das Ding weg. Biber versuchte aufzustehen. Er musste sich mit den Händen aufhelfen, denn in den Beinen hatte er keine Kraft, und seine Hände rutschten immer wieder aus. Neben McCarthys Blut war der Badezimmerboden nun auch mit dem trüben Wasser aus dem geborstenen Spülkasten bedeckt, und die Fliesenfläche glich einer Rutschbahn.

Als er schließlich hochkam, sah er, wie etwas auf halber Höhe am Türrahmen hing. Es sah aus wie ein mutiertes Wiesel -ohne Beine, aber mit einem dicken rötlich goldenen Schwanz. Es hatte keinen richtigen Kopf, nur einen glitschig aussehenden Knoten, aus dem ihn zwei schwarze Augen erregt anstarrten.

Die untere Hälfte des Knotens platzte auf und entblößte einen Satz Zähne. Das Ding schnappte wie eine Schlange nach Biber und hielt sich dabei mit dem unbehaarten Schwanz am Türpfosten fest. Biber schrie und hielt sich eine Hand vors Gesicht. Drei seiner Finger - alle bis auf den kleinen und den Daumen - verschwanden. Er spürte keinen Schmerz - oder der Schmerz des abgerissenen Hodens war stärker. Er wollte zurückweichen, stieß aber schon mit den Kniekehlen an die Toilettenschüssel. Er konnte nirgends hin.

Das war in ihm drin?, dachte Biber. Für diesen einen Gedanken war Zeit. Das war in ihm drin?

Dann wickelte es seinen Schwanz oder Greifarm oder was es auch immer war ab und sprang auf ihn zu. Die obere Hälfte seines rudimentären Kopfes bestand im Grunde nur aus diesen dümmlich wütend blickenden schwarzen Augen, die untere Hälfte war ein Paket knöcherner Nadeln. Weit entfernt, aus einem anderen Universum, in dem es vielleicht noch ein normales Leben gab, rief Jonesy seinen Namen, aber Jonesy kam zu spät, Jonesy kam viel zu spät.

Das Ding, das in McCarthy gesteckt hatte, landete mit einem klatschenden Schlag auf Bibers Brust. Es roch wie McCarthys Fürze - ein üppiger Gestank wie von Öl und Äther und Methan. Die muskulöse Peitsche, die seinen Unterkörper bildete, schlang sich um Bibers Taille. Sein Kopf stieß vor und verbiss sich in Bibers Nase.

Schreiend und mit Fäusten danach schlagend, fiel Biber rückwärts auf die Toilette. Brille und Deckel waren an den Spülkasten geknallt, als das Ding herausgekommen war. Der Deckel war so stehen geblieben, die Brille war wieder heruntergeklappt. Jetzt landete der Biber darauf, zerbrach sie und sank mit dem Arsch voran in die Kloschüssel, während dieses Wiesel-Ding seine Taille umschlang und sein Gesicht auffraß. »Biber! Biber, was -«

Biber spürte, wie sich das Ding an ihm versteifte - es wurde buchstäblich steif wie ein Penis. Der Tentakel umschlang seine Taille erst fester und löste sich dann. Das Ding riss sein schwarzäugiges, idiotisch blickendes Gesicht herum, in die Richtung, aus der Jonesys Stimme kam, und Biber sah seinen alten Freund durch einen Nebel aus Blut und mit trüber werdenden Augen. Jonesy stand mit heruntergeklappter Kinnlade im Türrahmen, eine Rolle Isolierband in der Hand (das brauchen wir jetzt nicht mehr, dachte Biber, vergiss es). Jonesy stand da völlig wehrlos, schockiert und entsetzt. Die nächste Mahlzeit für dieses Ding.

»Hau ab, Jonesy!«, rief Biber. Seine Stimme klang feucht, drang aus einem Mund voller Blut. Er spürte, wie das Ding zum Sprung ansetzte, und schlang die Arme um den pulsierenden Leib wie um eine Geliebte. »Raus! Mach die Tür zu! Ver -« Verbrenn es, hatte er sagen wollen. Schließ es ein, schließ uns beide ein, verbrenn es, verbrenn es bei lebendigem Leib, ich sitze hier mit dem Arsch in der Kloschüssel u "Me es fest, und wenn ich riechen kann, wie es ver-schmort, dann sterbe ich gern. Aber das Ding wehrte sich zu e lg, und der blöde Jonesy stand einfach nur da, mit der

Rolle Isolierband in der Hand und heruntergeklappter Kinnlade, und verdammt noch eins, wenn er nicht aussah wie Duddits, dumm geboren und nichts dazugelernt. Dann wandte sich das Ding wieder dem Biber zu, und ehe dieser ohren- und nasenlose Kopf vorschnellte und die Welt zum letzten Mal explodierte, hatte Biber noch Zeit für einen letzten Gedankensplitter: Diese Zahnstocher, so ein Mist, Mama hat immer gesagt -

Dann das explodierende Rot und das erblühende Schwarz und irgendwo weit in der Ferne seine eigenen Schreie - die letzten.

9

Jonesy sah Biber in der Toilette hängen, und etwas, das wie ein riesiger rotgoldener Wurm aussah, umklammerte ihn. Er rief ihm zu, und das Ding drehte sich zu ihm um. Es hatte keinen richtigen Kopf, nur die schwarzen Augen eines Hais und einen Mund voller Zähne. Und zwischen diesen Zähnen hing etwas, das einfach nicht die zermalmten Überreste von Biber Clarendons Nase sein konnten, es aber doch wohl waren.

Lauf weg!, schrie es in ihm, und dann: Rette ihn! Rette Biber!

Die Befehle waren gleich mächtig, und das führte dazu, dass er starr im Türrahmen stehen blieb und sich vorkam, als wöge er tausend Pfund. Das Ding in Bibers Armen gab ein Geräusch von sich, ein schrilles Kreischen, das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging und bei dem er an etwas denken musste, etwas, das lange zurücklag, er wusste bloß nicht genau, was es war.

Dann rief ihm der Biber, der da im Klo hing, zu, er solle abhauen und die Tür zumachen, und als das Ding seine Stimme hörte, wandte es sich wieder dem Biber zu, als würde es sich an etwas erinnern, das es vorübergehend vergessen hatte und machte sich über seine Augen her, über seine Augen, und Biber krümmte sich und schrie und versuchte sich zu wehren, während das Ding schnatterte und kreischte und biss und sich sein Schwanz, oder was das war, rhythmisch um Bibers Taille schloss, ihm das Hemd aus dem Overall zerrte und darunter glitt, auf die nackte Haut. Bibers Füße zuckten auf den Fliesen, seine Stiefelabsätze spritzten blutiges Wasser auf, sein Schatten fuchtelte über die Wand, und dieses moosartige Zeug war jetzt überall, es wuchs so unglaublich schnell -Jonesy sah, wie sich Biber in einem letzten Aufbäumen nach hinten warf; sah, wie das Ding von ihm abließ und sich von ihm löste und der Biber aus der Toilette kippte und mit dem Oberkörper auf McCarthy in die Badewanne fiel, auf den ollen Mr. Siehe-ich-stehe-an-der-Tür-und-klopfe-an. Das Ding klatschte auf den Fußboden, wirbelte herum - Mann, war das schnell - und ging auf Jonesy los. Jonesy trat einen Schritt zurück und knallte die Badezimmertür zu. Einen Augenblick später prallte das Ding dagegen. Es hörte sich genauso an wie der Knall, mit dem es den Klodeckel gerammt hatte. Der Aufprall war so heftig, dass die Tür in den Angeln zitterte. Unter der Tür flackerte das Licht, während sich das Ding rastlos über die Kacheln bewegte, und dann prallte es wieder gegen die Tür. Jonesys erster Gedanke war, loszulaufen und einen Stuhl zu holen, den er unter den Türknauf klemmen konnte, aber wie konnte man nur so doof sein, wie seine Kinder immer sagten, das wäre ja völlig hirnverbrannt gewesen, denn die Tür ging ja nach innen auf, nicht nach außen. Entscheidend war eher, ob dieses Ding wusste, wie ein Türknauf funktionierte, und ob es da rankam.

Als hätte es seine Gedanken gelesen - und wer sagte denn, aass das nicht möglich war? -, hörte er hinter der Tür ein Rutschen und Gleiten und spürte, wie am Türknauf gedreht urde. Was das auch immer für ein Ding war - es war un-

glaublich stark. Jonesy hatte den Knauf mit der rechten Hand gehalten; nun packte er auch noch mit der linken zu. Es gab einen entsetzlichen Moment, als der Druck auf den Knauf immer stärker wurde und Jonesy sicher war, dass das Ding da drinnen, obwohl er mit beiden Händen zupackte, den Türknauf umdrehen konnte, und da wäre Jonesy fast in Panik ausgebrochen, hätte sich fast umgedreht und wäre weggerannt.

Ihn hielt davon ab, dass ihm wieder einfiel, wie schnell das Ding war. Das würde mich einholen, ehe ich den Raum auch nur halb durchquert hätte, dachte er und fragte sich dabei insgeheim, wieso dieses Zimmer denn überhaupt so beschissen groß sein musste. Es würde mich einholen, mir am Bein hochflitzen und dann direkt hinein in meinen —

Jonesy packte den Türknauf mit doppelter Kraft, Sehnen zeichneten sich an seinen Unterarmen und seitlich am Hals ab. Und die Hüfte tat ihm weh. Die verdammte Hüfte. Wenn er tatsächlich versuchen würde wegzulaufen, würde ihn die Hüfte noch zusätzlich bremsen, und das hatte er diesem emeritierten Professor zu verdanken, diesem blöden, vergreisten Arschloch, das überhaupt nicht mehr hätte Auto fahren dürfen, herzlichen Dank auch, Prof, dich hab ich echt gefressen. Und wenn er weder die Tür zuhalten noch weglaufen konnte - was dann?

Dann blühte ihm natürlich das Gleiche wie Biber. Es war Bibers Nase gewesen, die da in den Zähnen festgehangen hatte wie Kebab.

Stöhnend hielt Jonesy den Türknauf fest. Für einen Augenblick nahm der Druck sogar noch zu, und dann ließ er plötzlich nach. Hinter der dünnen Holzplatte der Badezimmertür jammerte das Ding wütend. Jonesy roch das ätherartige Aroma von Startfix.

Wie hielt es sich da fest? Es hatte keine Gliedmaßen, Jonesy hatte jedenfalls keine gesehen, nur diesen rötlichen Schwanz, also wie -

Auf der anderen Seite der Tür hörte er das Holz leise splittern und aufplatzen, dem Geräusch nach direkt vor seinem Gesicht, und da wusste er: Es hielt sich mit den Zähnen fest. Dieser Gedanke löste bei Jonesy blindes Entsetzen aus. Dieses Ding war in McCarthy drin gewesen, daran hatte er nicht den mindesten Zweifel. In McCarthy war es wie ein riesiger Bandwurm aus einem Horrorfilm herangewachsen. Wie ein Karzinom, aber mit Zähnen. Und als es dann groß genug war, als es dann sozusagen zu neuen Ufern aufbrechen wollte, hatte es sich einfach den Weg nach draußen freigebissen.

»Nein, o nein«, sagte Jonesy, den Tränen nah.

Der Knauf der Badezimmertür drehte sich andersrum. Jonesy sah das Ding auf der anderen Seite der Badezimmertür förmlich vor sich, wie ein Blutegel ins Holz verbissen, den Schwanz oder Fangarm um den Türknauf gewunden, wie ein Seil, das in eine Henkerschlinge auslief, und daran drehte -

»Nein, nein, nein«, keuchte Jonesy und hielt den Türknauf mit aller Kraft fest. Nicht mehr lange, und er würde ihm aus den Händen rutschen. Auf seinem Gesicht und seinen Handflächen spürte er den Schweiß.

Vor seinen vortretenden, entsetzten Augen tauchte im Holz ein Muster aus Hubbein auf. Dort hatte es seine Zähne hineingeschlagen und biss immer tiefer zu. Bald würden sie es durchs Holz schaffen (falls Jonesy nicht überhaupt vorher der Türknauf entglitt), und dann würde er sich den Zähnen gegenüber sehen, die seinem Freund die Nase abgerissen hatten.

Da wurde es ihm bewusst: Biber war tot. Sein alter Freund.

»Du hast ihn umgebracht!«, schrie Jonesy das Ding hinter der Tür an. Seine Stimme bebte vor Kummer und Entsetzen. »Du hast den Biber umgebracht!«

Seine Wangen glühten, und die Tränen, die ihm nun hinunterliefen, fühlten sich noch heißer an. Biber mit seiner schwarzen Lederjacke (Du hast aber viele Reißverschlüsse!, hatte Duddits' Mutter an dem Tag gesagt, als sie sie kennen gelernt hatten), Biber hickehackevoll bei ihrem Abschlussball, als er wie ein Kosak getanzt hatte, die Arme vor der Brust verschränkt und die Füße werfend, der Biber bei Jonesys und Carlas Hochzeitsempfang, wie er Jonesy umarmt und ihm feurig ins Ohr geflüstert hatte: »Du musst glücklich sein, Mann. Du musst für uns alle glücklich sein.« Und so hatte er erfahren, dass der Biber wirklich noch nie -Henry und Peter, natürlich, bei denen hatte das nie in Frage gestanden, aber der Biber? - Und jetzt war Biber tot, lag da mit dem Oberkörper in der Badewanne, lag nasenlos auf dem bekloppten Mr. Richard Siehe-ich-stehe-an-der-Tür-und-klopfe-an-McCarthy.

»Du hast ihn umgebracht, du Schwein!«, schrie er die Hubbel in der Tür an - erst waren es sechs gewesen, und jetzt waren es neun, nein, schon ein Dutzend.

Wie erstaunt über seine Wut, ließ der Druck auf den Türknauf von der anderen Seite wieder nach. Jonesy sah sich hektisch nach irgendwas um, das ihm helfen könnte, konnte aber nichts entdecken und sah dann zu Boden. Da lag die Rolle Isolierband. Er konnte sich vielleicht bücken und sie aufheben - aber was dann? Er würde beide Hände brauchen, um das Band abzurollen, beide Hände und seine Zähne, um einen Streifen abzubeißen, und selbst wenn ihm das Ding die Zeit dafür ließ - was sollte es nützen, wenn er ohnehin kaum den Türknauf halten konnte?

Und jetzt fing der Türknauf wieder an sich zu bewegen. Stöhnend hielt Jonesy ihn fest, aber allmählich ging ihm die Kraft aus, der Adrenalinspiegel seiner Muskeln sank und ließ sie bleiern werden, seine Handflächen waren glitschiger denn je, und der Geruch, dieser ätherartige Gestank, war jetzt deutlicher wahrzunehmen und irgendwie reiner, nicht vermengt mit den Fäkalien und Gasen in McCarthys Leib, aber wie konnte es denn auf dieser Seite der Tür so stinken? Das war doch höchstens möglich, wenn - r

In der knappen halben Sekunde, die noch blieb, bis die Achse brach, die den Türknauf innen mit dem Türknauf außen verband, merkte Jonesy, dass es dunkler geworden war. Nur ein bisschen. Als hätte sich jemand von hinten an ihn herangeschlichen und stünde jetzt zwischen ihm und dem Licht, zwischen ihm und der Hintertür -

Die Achse brach. Der Knauf in Jonesys Hand löste sich, und die Badezimmertür wurde augenblicklich ein Stück weit aufgerissen, gezogen von dem Gewicht des aalartigen Wesens, das daran hing. Jonesy kreischte auf und ließ den Türknauf fallen, der auf der Rolle Isolierband landete und davon abprallte.

Jonesy drehte sich um und wollte weglaufen, und da stand ein grauer Mann.

Er - es - war ein Fremder, andererseits aber überhaupt nicht fremd. Jonesy hatte ihn in hunderten Fernsehsendungen über »unerklärliche Phänomene« gesehen, auf den Titelseiten lausender Boulevardzeitungen (von der Sorte, die einem ihre tragikomischen Horrorgeschichten entgegen plärrten, wenn man gefangen in der Schlange an der Supermarktkasse stand), in Filmen wie ET und Unheimliche Begegnungen der dritten Art und Feuer am Himmel; Mr. Gray war das Ausgangsmaterial für Akte X.

Und bei allen Darstellungen waren zumindest die Augen gut getroffen, diese riesigen schwarzen Augen, genau wie die Augen des Dings, das sich aus McCarthys Arsch freigebissen hatte, und der Mund war auch fast getroffen, ein kümmerlicher Schlitz, mehr nicht - aber seine graue Haut hing in losen Falten und Wülsten herab wie die Haut eines altersschwachen Elefanten. Aus den Hautfalten sickerten Ströme einer gelblich weißen, eitrigen Substanz, und das gleiche Zeug lief ihm auch wie Tränen aus den Winkeln seiner ausdruckslos blickenden Augen. Klumpen und Schmierflecken davon waren über den Boden des großen Zimmers verteilt, quer über den Navajo-Teppich unter dem Traumfänger bis zur Küchentür, durch die er hereingekommen war. Wie lange war Mr. Gray schon hier? War er draußen gewesen und hatte zugesehen, wie Jonesy vom Schneemobilschuppen zur Hintertür gelaufen war, in der Hand die nutzlose Rolle Isolierband?

Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass Mr. Gray gerade starb und dass er an ihm vorbei musste, denn das Ding im Badezimmer war eben mit dumpfem Knall auf dem Boden gelandet. Und jetzt würde es auf ihn losgehen.

Marcy, sagte Mr. Gray.

Er sprach absolut deutlich, obwohl sich der rudimentäre Mund überhaupt nicht bewegte. Jonesy hörte das Wort mitten in seinem Kopf, genau an der Stelle, an der er Duddits immer hatte weinen hören.

»Was wollen Sie?«

Das Ding aus dem Badezimmer schlängelte sich über seine Füße, doch Jonesy bemerkte das kaum. Bemerkte auch kaum, wie es sich zwischen den nackten, zehenlosen Füßen des grauen Mannes wand.

Hört auf, sagte Mr. Gray in Jonesys Kopf. Es war der Klick. Mehr noch: Es war die Linie. Manchmal sah man die Linie, und manchmal hörte man sie, genau wie er damals Defuniaks schuldbewusste Gedanken gehört hatte. Ich hält's nicht mehr aus, gebt mir 'ne Spritze, wo ist Marcy?

Der Tod hat mich an diesem Tag verfolgt, dachte Jonesy. Er hat mich auf der Straße verfehlt, hat mich im Krankenhaus verfehlt - wenn auch nur um ein oder zwei Zimmer -und hat seitdem weiter nach mir gesucht. Und jetzt hat er mich gefunden.

Und dann platzte diesem Ding der Kopf, wurde weit aufgerissen und gab eine rot orangefarbene Wolke von nach Äther riechenden Partikeln frei.

Jonesy atmete sie ein.

KAPITEL 8 Roberta


Mit jetzt gänzlich ergrautem Haar und mit achtundfünfzig schon verwitwet (aber immer noch eine zierliche Frau, die gern Kleider mit Blumenmuster trug, das hatte sich nicht geändert), saß Duddits' Mutter vor dem Fernseher in ihrer Parterrewohnung in West Derry Acres, wo sie nun mit ihrem Sohn lebte. Das Haus in der Maple Lane hatte sie nach Ai-fies Tod verkauft. Sie hätte es sich leisten können, es zu halten - Alfie hatte ihr viel Geld hinterlassen, die Lebensversicherung hatte noch viel mehr gezahlt, und dann war da auch noch ihr Anteil an dem Laden für importierte Autoersatzteile, den er 1975 noch zusätzlich aufgemacht hatte -, aber es war zu groß, und über und unter dem Wohnzimmer, in dem Duddits und sie sich meistens aufhielten, gab es zu viele Erinnerungen. Oben war das Schlafzimmer, in dem Alfie und sie geschlafen und miteinander geredet, in dem sie Pläne geschmiedet und sich geliebt hatten. Unten war das Freizeitzimmer, in dem Duddits und seine Freunde so viele Nachmittage und Abende verbracht hatten. Aus Robertas Sicht waren sie Freunde gewesen, die der Himmel geschickt hatte, Engel mit gütigem Herzen und losem Mundwerk, die ihr doch tatsächlich hatten einreden wollen, dass Duddits, als er anfing Fut zu sagen, eigentlich Fudd meinte, was, wie sie ihr allen Ernstes erklärten, der Name von Petes neuem Hund sei - Eimer Fudd, kurz Fudd genannt. Und sie hatte natürlich so getan, als würde sie es ihnen abkaufen.

Zu viele Erinnerungen, zu viele Geister aus glücklicheren Zeiten. Und dann war Duddits eben auch krank geworden. Seit zwei Jahren war er nun krank, und keiner seiner alten Freunde wusste davon, denn sie kamen ihn nicht mehr besuchen, und Roberta hatte es nicht übers Herz gebracht, zum Telefon zu greifen und Biber anzurufen, der den anderen Bescheid gesagt hätte.

Jetzt saß sie vor dem Fernseher. Die Nachrichtenleute des Lokalsenders hatten es endlich aufgegeben, die Nachmittagssendungen mit Sondermeldungen zu unterbrechen, und hatten das Programm ganz übernommen. Roberta hörte zu und fand es gleichwohl beängstigend wie faszinierend, was dort oben im Norden geschah. Das Unheimlichste daran war, dass anscheinend niemand genau wusste, was vor sich ging und wie die Sache überhaupt einzuschätzen war. In einer abgelegenen Gegend von Maine, hundertfünfzig Meilen nördlich von Derry, wurde ein Dutzend Jäger vermisst. So weit war es klar. Roberta war sich zwar nicht absolut, aber doch relativ sicher, dass die Reporter über Jefferson Tract sprachen, wo die Jungs immer auf die Jagd gingen und dann mit blutrünstigen Geschichten heimkehrten, die Duddits ebenso faszinierten wie ängstigten.

Waren diese Jäger nur durch einen Alberta-Clipper-Sturm, der über die Gegend hinweggezogen war und zwölf bis fünfzehn Zentimeter Schnee hinterlassen hatte, von der Außenwelt abgeschnitten worden? Schon möglich. Das konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, aber eine Vierergruppe, die in der Gegend von Kineo auf die Jagd gegangen war, war anscheinend wirklich verschwunden. Bilder von ihnen flackerten über den Schirm, und ihre Namen wurden mit ernster Stimme verlesen: Otis, Roper, McCarthy, Shue. Shue, das war eine Frau.

Dass Jäger vermisst wurden, war nicht so wichtig, als dass man deswegen die Nachmittags-Soaps unterbrochen hätte, aber da waren ja auch noch andere Dinge. Man hatte seltsame mehrfarbige Lichter am Himmel gesehen. Zwei Jäger aus Millinocket, die zwei Tage zuvor in der Gegend von Kineo gewesen waren, behaupteten, sie hätten ein zigarrenförmiges Flugobjekt gesehen, das über einer Stromleitungs-Schnei-se im Wald schwebte. Das Fluggerät habe keine Rotoren gehabt, sagten sie, und auch keine anderen sichtbaren Antriebsmechanismen. Es habe dort einfach keine zehn Meter über der Stromleitung geschwebt und ein tiefes Brummen von sich gegeben, das einem durch Mark und Bein gegangen sei. Und durch die Zähne, wie es schien. Beide Jäger behaupteten, Zähne verloren zu haben, aber als sie den Mund aufgemacht hatten, um die Zahnlücken zu zeigen, fand Rober-ta, dass ihre übrigen Zähne auch so aussahen, als würden sie bald ausfallen. Die Jäger waren in einem alten Chevy-Pick-up unterwegs gewesen, und als sie näher heranfahren wollten, um besser sehen zu können, war ihnen der Motor abgesoffen. Einer der Männer hatte eine batteriebetriebene Armbanduhr, die nach diesem Ereignis ungefähr drei Stunden lang rückwärts gegangen war und dann gänzlich den Geist aufgegeben hatte (die Armbanduhr des anderen, ein altmodisches Modell zum Aufziehen, hatte nicht gelitten). Nach Angaben der Reporter hatten auch mehrere andere Jäger und Anwohner seit etwa einer Woche unidentifizierte Flugobjekte gesehen - manche zigarrenförmig, andere in der eher herkömmlichen Untertassen-Form.

Vermisste Jäger und UFOs. Das hörte sich spannend an und war sicherlich gut genug für den Aufmacher bei Live um Sechs (»Vor Ort! Aktuell! Aus Ihrer Stadt und unserem Bundesstaat!«), aber da war noch mehr. Und es war schlimmer. Sicherlich bisher nur Gerüchte, und Roberta hoffte stark, sie würden sich als unzutreffend erweisen, aber sie waren doch so unheimlich, dass sie hier seit fast zwei Stunden schon vor dem Fernseher saß, zu viel Kaffee trank und immer ängstlicher und nervöser wurde.

Die unheimlichsten Gerüchte rankten sich um Berichte, dass etwas in den Wäldern abgestürzt sei, nicht weit von der Stelle entfernt, an der die Männer angeblich das zigarrenförmige Flugobjekt über der Stromleitung gesehen hatten. Beinahe ebenso beunruhigend waren Berichte, dass ein recht großer Teil des Aroostook County - gut zweihundert Quadratmeilen, die größtenteils im Besitz eines Papierherstellers und der Bundesregierung waren - unter Quarantäne gestellt worden sei.

Ein großer, blasser Mann mit tiefliegenden Augen sprach auf dem Stützpunkt der Air National Guard in Bangor kurz mit Reportern (er stand dabei vor einem Schild mit der Aufschrift home OF thé maniacs) und sagte, an den Gerüchten sei nichts dran, man würde allerdings »eine Reihe widersprüchlicher Berichte« überprüfen. In der eingeblendeten Textzeile stand einfach nur abraham kurtz. Roberta konnte nicht feststellen, welchen Dienstgrad er hatte und ob er überhaupt ein Militär war. Er trug nur einen schlichten grünen Overall mit Reißverschluss. Wenn ihm kalt war - und das hätte man vermutet, da er nichts weiter als diesen Overall trug -, dann ließ er es sich nicht anmerken. Es lag etwas in seinem Blick, in seinen Augen, die sehr groß und von weißen Wimpern umrahmt waren, das Roberta gar nicht gefiel. Ihr kamen sie wie die Augen eines Lügners vor.

»Können Sie wenigstens bestätigen, dass das abgestürzte Flugobjekt weder ausländischer noch ... noch außerirdischer Herkunft ist?«, fragte ein jung klingender Reporter.

»ET nach Hause telefonieren«, sagte Kurtz und lachte. Die meisten anderen Reporter lachten mit, und außer Roberta, die hier in ihrer Wohnung in West Derry Acres diesen Filmbeitrag sah, schien niemand zu bemerken, dass das überhaupt keine Antwort war.

»Können Sie bestätigen, dass die Gegend von Jefferson Tract nicht unter Quarantäne gestellt wurde?«, fragte ein anderer Reporter.

»Das kann ich gegenwärtig weder bestätigen noch dementieren«, sagte Kurtz. »Wir nehmen die Angelegenheit sehr ernst. Ihre Regierung tut heute mal wirklich was für Sie, meine Damen und Herren.« Dann ging er zu einem Hubschrauber, dessen Rotorblätter sich langsam drehten und auf dessen Seite in großen weißen Lettern ANG stand.

Dieser Beitrag war, sagte die Nachrichtensprecherin, um 9.45 Uhr aufgezeichnet worden. Der folgende Beitrag -wackliges Bildmaterial, aus der Hand mit einer Videokamera aufgenommen - war von einer Cessna aus gefilmt worden, die Channel Nine gechartert hatte, um Jefferson Tract damit zu überfliegen. Es hatte offenbar Turbulenzen gegeben und heftig geschneit, aber nicht genug, um die beiden Hubschrauber zu verbergen, die aufgetaucht waren und die Cessna rechts und links flankiert hatten wie riesige braune Libellen. Es hatte einen Funkspruch gegeben, der so unverständlich war, dass Roberta die Abschrift mitlesen musste, die in gelben Buchstaben am unteren Bildschirmrand eingeblendet wurde: »Sie befinden sich über Sperrgebiet Wir befehlen Ihnen, zu Ihrem Startflugplatz zurückzukehren. Ich wiederhole: Sie befinden sich über Sperrgebiet Drehen Sie ab.«

Bedeutete Sperrgebiet unweigerlich auch Quarantänegebiet? Roberta Cavell meinte schon, und dass Kerle wie dieser Kurtz das wohl bestreiten würden. Die Kennung an den beiden Hubschraubern war deutlich sichtbar: ANG. Einer davon hätte durchaus der sein können, in dem Abraham Kurtz nach Norden geflogen war.

Der Pilot der Cessna: »Wer hat bei diesem Einsatz die Befehlsgewalt;1«

Funkspruch: »Kehren Sie um, Cessna, oder Sie werden zur Umkehr gezwungen. «

Die Cessna war umgekehrt. Sie habe sowieso nicht genug Treibstoff gehabt, sagte die Nachrichtensprecherin, als würde das irgendwas erklären. Seither hatten sie immer nur Wiederholungen gesendet und das als letzten Stand der Dinge bezeichnet. Die großen Sender hatten vermutlich schon Korrespondenten losgeschickt.

Sie stand eben auf, um den Fernseher abzuschalten - das Zusehen machte ihr allmählich Angst -, als Duddits schrie. Roberta blieb das Herz erst stehen, dann hämmerte es los. Sie wirbelte herum, stieß mit dem La-Z-Boy-Sessel, der Ai-fies Lieblingsplatz gewesen war und nun der ihre war, an den Tisch und kippte dabei ihre Kaffeetasse um. Der Kaffee ergoss sich über die Fernsehzeitschrift und ertränkte die Besetzungsliste der Sopranos in einer braunen Pfütze.

Dem Schrei folgten schrille, hysterische Schluchzer, die Schluchzer eines Kindes. Aber so war das mit Duddits: Er war jetzt Mitte dreißig, würde aber als Kind sterben, ehe er die Vierzig erreichte.

Für einen Augenblick konnte sie einfach nur dastehen. Schließlich setzte sie sich in Bewegung und wünschte sich, Alfie wäre da ... oder besser noch einer der Jungs. Die waren jetzt natürlich keine Jungs mehr; nur Duddits war immer noch ein Junge; das Downsyndrom hatte einen Peter Pan aus ihm gemacht, und bald würde er im Never-Never-Land sterben.

»Ich komme, Duddie!«, rief sie, und das tat sie dann auch, obwohl sie sich alt vorkam, als sie den Flur entlang zum hinteren Schlafzimmer eilte, das Herz ihr unstet an die Rippen pochte und Arthritis sie in der Hüfte kniff. Ihr stand kein Never-Never-Land bevor.

»Ich komme! Mami kommt!«

Schluchzend und noch mal schluchzend, als wäre sein Herz gebrochen. Er hatte zum ersten Mal aufgeschrien, als er mitbekommen hatte, dass sein Zahnfleisch blutete, nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, aber richtig geschrien hatte er nie, und es war Jahre her, dass er so geweint hatte, mit diesem hemmungslosen Schluchzen, das einem nicht mehr aus dem Kopf ging und einen schier wahnsinnig machte.

»Duddie, was ist denn?«

Sie platzte in sein Zimmer, schaute ihn mit großen Augen an und ging zunächst davon aus, dass er blutete, dass sie tatsächlich Blut sah. Aber da war nur Duddits, der in seinem hochgekurbelten Krankenhausbett vor und zurück schaukelte, die Wangen tränenüberströmt. Seine Augen zeigten noch dasselbe strahlende Grün, aber sonst war alle Farbe aus ihm gewichen. Sein Haar war auch verschwunden, das hübsche blonde Haar, das sie immer an den jungen Art Garfunkel erinnert hatte. Sein Schädel schimmerte im matten Winterlicht, das durchs Fenster drang und auch auf die Flaschen schien, die auf dem Nachttisch aufgereiht standen (Tabletten gegen Infektionen und Tabletten gegen Schmerzen, aber keine Tabletten, die aufgehalten oder auch nur verlangsamt hätten, was mit ihm geschah), schimmerte auch auf dem Infusionsständer, der zurzeit nicht benutzt wurde, nur zu bald aber wieder in Gebrauch sein würde.

Aber sie konnte ihm nichts ansehen. Nichts, was seinen schon fast grotesk schmerzverzerrten Gesichtsausdruck erklärt hätte.

Sie setzte sich zu ihm, nahm seinen sich unablässig schüttelnden Kopf und hielt ihn sich an die Brust. Obwohl er so aufgewühlt war, fühlte sich seine Haut kühl an; sein ausgelaugtes, sterbendes Blut konnte seinem Gesicht keine Wärme spenden. Sie musste daran denken, wie sie vor langer Zeit auf der High School Dracula gelesen hatte und das wohlige Gruseln gar nicht mehr so wohlig gewesen war, sobald sie im Bett lag, das Licht gelöscht war und Schatten ihr Zimmer erfüllten. Sie wusste noch, dass sie heilfroh gewesen war, dass es in Wirklichkeit gar keine Vampire gab. Heute wusste sie es besser. Einen Vampir gab es durchaus, und der war viel angsteinflößender als irgendein Graf aus Transsilvanien; und er hieß nicht Dracula, sondern Leukämie, und man konnte ihm keinen Pfahl durchs Herz rammen.

»Duddits, Duddie, Schatz, was ist denn?«

Und da schrie er, als er so an ihrer Brust lag, und ließ sie alles vergessen, was sich möglicherweise oben in Jefferson Tract abspielte, jagte ihr einen kalten Schauer über die Kopfhaut und eine Gänsehaut über den ganzen Körper, »leba-od! leba-od! Q-Amma, leba-od!« Es war unnötig, ihn zu bitten, es zu wiederholen oder noch einmal deutlicher zu sagen; sie hatte ihm sein ganzes Leben lang zugehört und verstand ihn auf Anhieb:

Biber ist tot! Biber ist tot! O Mama, Biber ist tot!

Pete und Becky


Pete lag schreiend in der zugeschneiten Fahrspur, in die er gestürzt war, bis er nicht mehr schreien konnte, und dann lag er dort einfach nur noch eine Zeit lang und versuchte, mit dem Schmerz klarzukommen. Es gelang ihm nicht. Es waren erbarmungslose Schmerzen, Blitzkriegsqualen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass es solche Schmerzen überhaupt geben konnte - und hätte er es gewusst, dann wäre er bestimmt bei der Frau geblieben. Bei Marcy, nur dass sie gar nicht Marcy hieß. Ihr richtiger Name lag ihm fast auf der Zunge, aber was machte das schon? Er war es, der hier in Schwierigkeiten steckte. Der Schmerz stieg in glühend heißen, schrecklichen Krämpfen von seinem Knie auf.

Er lag zitternd auf der Straße, die Plastiktüte neben sich.

DANKE, DASS SIE BEI UNS EINGEKAUFT HABEN! Stand darauf.

Pete langte hinein und wollte sehen, ob vielleicht ein oder zwei Flaschen darin nicht zerbrochen waren, und als er sein Bein verlagerte, schössen ihm Todesqualen vom Knie durch den ganzen Körper. Verglichen damit waren die Schmerzen bisher nur ein leichtes Stechen gewesen. Pete schrie wieder auf und fiel in Ohnmacht.

Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht, wie lange er weggetreten gewesen war - dem Licht nach nicht sehr lange, aber seine Füße waren gefühllos vor Kälte und seine Hände, trotz der Handschuhe, auch schon fast.

Pete lag auf der Seite, die Biertüte als eben zufrierende bernsteingelbe Pfütze neben sich. Der Schmerz in seinem Knie hatte ein wenig nachgelassen - wahrscheinlich wurde es auch schon vor Kälte gefühllos -, und ihm fiel auf, dass er wieder klar denken konnte. Das war gut, denn das war ja nun wirklich eine absolute Scheißsituation, in die er sich hier gebracht hatte. Er musste zurück zu dem Unterstand und dem Feuer, und das musste er alleine schaffen. Wenn er einfach hier liegen blieb und darauf wartete, dass Henry mit dem Schneemobil wiederkam, konnte er damit rechnen, Tiefkühlpete zu sein, wenn Henry dann kam - Tiefkühlpete mit einer Tüte voll geplatzter Bierflaschen neben sich, danke, dass Sie bei uns eingekauft haben, du Scheiß-Alki, herzlichen Dank auch. Und dann musste er auch noch an die Frau denken. Auch sie würde vielleicht sterben, und das nur, weil Pete Moore ja so dringend ein paar Bier hatte zischen müssen.

Er betrachtete die Tüte mit Widerwillen. Er konnte sie nicht in den Wald werfen; er konnte es nicht riskieren, sein Knie wieder aufzuwecken. Also schob er Schnee darüber, so wie ein Hund seinen Kot verscharrt, und krabbelte dann los.

Das Knie war anscheinend doch nicht so steif gefroren. Pete kroch mit den Ellenbogen voran und stieß sich mit seinem gesunden Fuß ab. Er biss die Zähne zusammen, und das Haar hing ihm in die Augen. Keine Tiere mehr; der Exodus war vorbei, und er war ganz allein - seine keuchenden Atemzüge und das gedämpfte, schmerzerfüllte Stöhnen, wenn er mit seinem Knie irgendwo anstieß. Er spürte den Schweiß über seine Arme und seinen Rücken laufen, aber seine Füße blieben gefühllos und seine Hände auch.

Er hätte vielleicht aufgegeben, aber auf der Hälfte des geraden Stücks erblickte er das Feuer, das er mit Henry entfacht hatte. Es war schon ziemlich heruntergebrannt, brannte aber immerhin noch. Pete kroch darauf zu, und jedes Mal, wenn er sich das Bein stieß und der Schmerz ihn durchfuhr, versuchte er ihn in die orangefarbenen Funken des Feuers zu projizieren. Dorthin wollte er. Es tat wirklich höllisch weh, sich zu bewegen, aber wie gern wollte er dorthin. Er wollte nicht hier im Schnee erfrieren.

»Ich schaff das schon, Becky«, murmelte er. »Ich schaff das schon, Becky.« Er sprach ihren Namen ein halbes Dutzend Mal aus, bis er merkte, dass er ihn kannte.

Während er so dem Feuer allmählich näher kam, hielt er kurz inne, schaute auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Laut seiner Uhr war es 11.40 Uhr, und das konnte nicht sein - er erinnerte sich, auf die Uhr gesehen zu haben, bevor er zum Scout aufgebrochen war, und da war es zwanzig nach zwölf gewesen. Ein zweiter Blick klärte die Ursache der Verwirrung: Seine Uhr lief rückwärts, der Sekundenzeiger drehte sich unregelmäßig zuckend gegen den Uhrzeigersinn. Pete sah sich das nicht sonderlich erstaunt an. Ihm war die Fähigkeit abhanden gekommen, sich noch über irgendwas zu wundern. Nicht einmal seinem Bein galt mehr seine Hauptsorge. Ihm war sehr kalt, und heftige Schauer überliefen ihn, während er sich mit den Ellenbogen vorankämpfte und sich mit seinem zusehends ermüdenden gesunden Bein abstieß und so die letzten fünfzig Meter zu dem erlöschenden Feuer zurücklegte.

Die Frau saß nicht mehr auf der Plane. Sie lag nun auf der anderen Seite des Feuers, als wäre sie zum Feuerholz gekrochen und dort zusammengebrochen.

»Hallo, Schatz, ich bin wieder da«, keuchte er. »Mein Knie hat ziemliche Zicken gemacht, aber jetzt bin ich wieder da. Das mit dem Scheiß-Knie ist sowieso deine Schuld, Becky, also beschwer dich nicht, j a ? Becky - so heißt du doch, oder ?«

Vielleicht schon, aber sie antwortete nicht. Lag einfach nur glotzend da. Er konnte immer nur eines ihrer Augen sehen, wusste aber nicht, ob es dasselbe war wie zuvor. Ihr Blick kam ihm nicht mehr so unheimlich vor, aber vielleicht lag das auch daran, dass er jetzt andere Sorgen hatte. Das Feuer zum Beispiel. Es flackerte zwar nur noch, hatte aber noch tüchtig Glut, und er kam wohl gerade noch rechtzeitig. Leg etwas Holz nach, Baby, schür es ordentlich und leg dich dann zu dieser Becky (aber bitte gegen den Wind, diese Knatterfürze waren wirklich schlimm). Warte ab, bis Henry wiederkommt. Wäre nicht das erste Mal, dass ihm Henry die Kastanien aus dem Feuer holte.

Pete krabbelte auf die Frau und den kleinen Holzhaufen hinter ihr zu, und als er ihr nahe kam — nahe genug, um wieder diesen ätherartigen chemischen Gestank wahrzunehmen -, verstand er, warum ihr Blick ihn nicht mehr störte. Dieser unheimliche Blick wie von einem Auto war erloschen. Wie die ganze Frau. Sie war halb ums Feuer herum gekrochen und dort gestorben. Die Schneeschicht auf ihrer Taille und Hüfte war dunkelrot.

Pete hielt einen Moment lang inne, auf seine schmerzenden Arme gestützt, und schaute sie an, aber er hatte an ihr, ob nun tot oder lebendig, nicht mehr Interesse als an seiner rückwärts gehenden Armbanduhr. Er wollte einzig und allein etwas Holz auf das Feuer legen und sich wärmen. Über die Frau konnte er immer noch nachdenken. Nächsten Monat vielleicht, wenn er mit einem Gipsverband ums Knie und einer Tasse heißen Kaffee bei sich zu Hause im Wohnzimmersaß.

Er schaffte es bis zum Holz. Nur noch vier Stücke waren übrig, aber es waren große Stücke. Henry würde bestimmt zurück sein, bevor sie niedergebrannt waren, und würde Nachschub sammeln, ehe er weiterfuhr, um Hilfe zu holen. Der gute alte Henry. Trug immer noch seine beknackte Hornbrille, und das im Zeitalter von weichen Kontaktlinsen und Laserchirurgie. Aber man konnte sich auf ihn verlassen.

Petes Gedanken wollten schon zum Scout zurückkehren, wie er da in den Wagen gekrochen war und Henrys Parfüm gerochen hatte, das Henry gar nicht getragen hatte, aber das ließ er nicht zu. Wir gehen da nicht hin, wie die Kinder immer sagten. Als wäre die Erinnerung ein Ort. Kein Geister-Parfüm mehr und keine Erinnerungen an Duddits. Kein Prall mehr und kein Spiel. Er hatte schon genug am Hals.

Er warf Ast um Ast ins Feuer, hantierte dabei unbeholfen mit dem Holz, zuckte zusammen, wenn sein Knie wieder schmerzte, und freute sich daran, wie die Funken wie verrückte Glühwürmchen unter das schräg stehende Wellblechdach des Schuppens wirbelten, ehe sie verglimmten.

Henry würde bald wieder da sein. An diesem Gedanken musste man sich festhalten. Einfach nur zusehen, wie das Feuer aufloderte, und sich an diesem Gedanken festhalten.

Nein, er kommt nicht wieder. Denn in der Hütte ist was Schreckliches passiert. Es hat etwas zu tun mit -

»Rick«, sagte er und sah zu, wie die Flammen über das frische Holz leckten. Bald würden sie es fressen und groß und stark davon werden.

Er zog sich die Handschuhe aus, half dabei mit den Zähnen nach, und wärmte sich die Hände am Feuer. Die Schnittwunde an seinem rechten Handballen, wo ihn die zerbrochene Flasche erwischt hatte, war lang und tief. Da würde eine Narbe Zurückbleiben, aber na und? Was waren schon ein, zwei Narben unter Freunden? Und sie waren doch Freunde, nicht wahr? Ja. Die alte Kansas-Street-Gang, die roten Korsaren, mit ihren Plastikschwertern und batteriebetriebenen Krieg-der-Sterne-Laserkanonen. Einmal hatten sie etwas Heldenhaftes getan - zweimal, wenn man das mit der kleinen Rinkenhauer mitzählte. Damals war sogar ein Foto von innen in der Zeitung gewesen. Was machten da schon ein paar Narben? Und was machte es schon, dass sie einmal vielleicht - und nur vielleicht - jemanden umgebracht hatten? Denn wenn jemand den Tod verdient hatte, dann -Aber dorthin würde er auch nicht gehen. Vergiss es, Baby.

Aber er sah die Linie. Ob es ihm nun gefiel oder nicht, er sah die Linie, deutlicher als seit Jahren. Vor allem sah er Biber ... und hörte ihn auch. Mitten im Kopf.

Jonesy? Bist du da, Mann?

»Nicht aufstehen, Biber«, sagte Pete und sah zu, wie die Flammen prasselnd größer wurden. Das Feuer war jetzt heiß, schlug ihm Wärme ins Gesicht, lullte ihn ein. »Bleib, wo du bist. Einfach nur... na, du weißt schon: schön sitzen bleiben.«

Was war denn hier los? Was soll das Jobba-Nobba hier?, wie der Biber manchmal gefragt hatte, als sie noch Kinder waren, ein Nonsense-Satz, bei dem sie immer lachen mussten. Pete ahnte, dass er es erfahren konnte, wenn er denn wollte, so leuchtend hell war die Linie. Er erhaschte einen Blick auf blaue Fliesen, einen hauchdünnen blauen Duschvorhang, eine leuchtend orangefarbene Mütze - Ricks Mütze, McCarthys Mütze, die Mütze von Mr. Siehe-ich-stehe-an-der-Tür - und ahnte, dass er auch alles Übrige erfahren konnte, wenn er denn wollte. Er wusste nicht, ob es die Zukunft war, die Vergangenheit oder das, was genau in diesem Augenblick geschah, aber er konnte es erfahren, wenn er denn -»Aber ich will nicht«, sagte er und schob es beiseite.

Es waren nur noch ein paar Stöcker und Zweige übrig. Pete legte sie ins Feuer und betrachtete dann die Frau. Ihr offenes Auge hatten nichts Beängstigendes mehr an sich. Ihr Blick war trüb, wie bei einem eben erlegten Hirsch. Das ganze Blut um sie herum ... Vermutlich war sie verblutet. Irgendwas in ihr war geplatzt. So was Dummes aber auch. Vermutlich hatte sie so was geahnt und sich auf die Straße gesetzt, damit sie gesehen wurde, wenn jemand vorbeikam. Und es war jemand vorbeigekommen, und jetzt schau sich einer an, was dabei herausgekommen war. Das arme Dreckstück. Die arme dumme Sau.

Pete lehnte sich vorsichtig nach links, bis er den Rand der Plane zu fassen bekam, und beugte sich dann wieder vor. Die Plane war ihr improvisierter Schlitten gewesen; nun konnte sie ihr provisorisches Leichentuch sein. »Tut mir Leid«, sagte er. »Becky oder wie immer du auch heißt, es tut mir wirklich Leid. Aber ich hätte dir auch nicht helfen können, wenn ich hier geblieben wäre, weißt du; ich bin kein Arzt; ich bin bloß ein jämmerlicher Autoverkäufer. Du warst sowieso -«

- von Anfang an im Arsch, hatte er schließen wollen, aber das blieb ihm im Halse stecken, als er sie von hinten sah. Ihre Rückseite hatte er nicht sehen können, bis er näher gekommen war, denn sie war mit dem Gesicht zum Feuer gestorben. Ihr Hosenboden war aufgeplatzt, als hätte sie es aufgegeben, Gase zu furzen, und wäre zu Dynamit übergegangen. Jeansfetzen flatterten im Wind. Und außerdem flatterten da auch Fetzen der Kleidungsstücke, die sie darunter trug, mindestens zwei lange Unterhosen - eine aus weißem Doppel-ripp, die andere aus lila Seide. Und etwas wuchs auf ihren beiden Hosenbeinen und hinten auf ihrem Mantel. Es sah wie Mehltau aus oder wie eine Art Pilz. Es war rotgolden, aber vielleicht war das auch nur der Widerschein des Feuers.

Etwas war aus ihr herausgeplatzt. Etwas -Ja. Etwas. Und das beobachtet mich jetzt.

Pete sah hinüber in den Wald. Nichts. Es kamen keine Tiere mehr. Er war allein.

Nein, bin ich nicht.

Nein, war er nicht. Etwas war da draußen, etwas, dem die Kälte nicht bekam, etwas, das es lieber feuchtwarm hatte. Nur dass -

Nur dass es zu groß geworden ist. Und es nichts mehr zu fressen hatte.

»Bist du da irgendwo?«

I ete dachte, er würde sich bescheuert dabei Vorkommen, so etwas zu rufen, aber so war es nicht. Vielmehr ängstigte es ihn nur noch mehr.

Sein Blick blieb an einer schwachen Spur aus diesem mehltauartigen Zeug hängen. Sie führte von Becky fort - ja, sie hieß Becky, na klar, wer so aussah, musste einfach Becky heißen - und hinter den Unterstand. Einen Augenblick später hörte Pete ein schuppiges Kratzen, und etwas glitt über das Wellblechdach. Er richtete sich auf und schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam,

»Hau ab«, flüsterte er. »Hau ab, lass mich in Ruhe. Ich bin ... Ich bin im Arsch.«

Dann hörte man das Ding noch kurz das Wellblechdach hochrutschen. Ja, er war im Arsch. Aber dummerweise war er auch essbar. Das Ding da oben rutschte weiter. Vermutlich würde es sich nicht lange gedulden, konnte sich gar nicht lange gedulden; es war wie ein Gecko in einem Kühlschrank. Es würde sich auf ihn stürzen. Und jetzt fiel es ihm siedendheiß ein: Er war so auf das Bier fixiert gewesen, dass er die Waffen völlig vergessen hatte.

Sein erster Impuls bestand darin, tiefer in den Unterstand hineinzukriechen, aber das konnte.sich als Fehler erweisen, als Sackgasse. Stattdessen packte er das hervorstehende Ende eines Astes, den er gerade ins Feuer gelegt hatte. Er zog ihn nicht heraus, noch nicht, hielt ihn nur fest. Das andere Ende brannte lichterloh. »Komm doch her«, sagte er zum Wellblechdach hinauf. »Du hast es gern warm? Ich hab hier was Warmes für dich. Komm und hol's dir. Leckerlecker.«

Keine Reaktion. Jedenfalls nicht vom Dach. Von einer der Kiefern hinter ihm rauschte leise der Schnee, den die unteren Äste nicht mehr tragen konnten. Pete packte die improvisierte Fackel fester und hob sie halbwegs aus dem Feuer. Dann ließ er sie in einem kleinen Funkenregen wieder sinken. »Komm doch her, du Schwein. Ich bin warm, ich bin lecker, und ich warte auf dich.«

Nichts. Aber es war da oben. Es konnte nicht lange warten, da hatte er keinen Zweifel. Bald würde es kommen.

Die Zeit verging. Pete wusste nicht recht, wie viel, denn seine Uhr hatte den Geist nun ganz aufgegeben. Ab und zu kam es ihm so vor, als würden seine Gedanken stärker, so wie das manchmal gewesen war, wenn sie mit Duddits zusammengehockt hatten (aber das war auch immer seltener vorgekommen, als sie älter wurden und Duddits immer der Gleiche blieb - es war, als beherrschten ihre sich wandelnden Hirne und Körper den Trick nicht mehr, Duddits' eigenartige Signale zu empfangen). Das hier war so ähnlich, aber doch etwas anders als damals. Vielleicht etwas Neues. Vielleicht hatte es sogar mit den Lichtern am Himmel zu tun. Er war sich bewusst, dass Biber tot war und dass Jone-sy etwas Schreckliches zugestoßen war, wusste aber nicht, was.

Was auch immer geschehen war - Pete dachte, dass auch Henry davon wusste, wenn auch nicht so deutlich; Henry war tief in seinen eigenen Gedanken versunken und dachte: Banbury Cross, Banbury Cross, auf einem Steckenpferd nach Banbury Cross.

Der Stock brannte herunter, und das Feuer kam seiner Hand näher, und Pete fragte sich, was er tun sollte, wenn er so weit niederbrannte, dass er nicht mehr zu gebrauchen war, und ihm das Ding da oben doch so lange auflauern konnte. Und dann kam ihm ein neuer Gedanke, taghell und knallrot vor Panik. Er konnte an nichts anderes mehr denken, und er fing an, ihn laut herauszuschreien und hörte deshalb nicht, wie das Ding von da oben schnell das Dach hinunterglitt.

»Bitte tut uns nichts! Ne nous blessez pas!«

Aber das würden sie, das würden sie, denn ... was?

Denn das sind keine hilflosen kleinen ETs, Jungs, die nur darauf warten, dass man ihnen eine Telefonkarte der New ngland Tel gibt, damit sie nach Hause telefonieren können,

sie sind eine Krankheit. Sie sind Krebs, gelobt sei der Herr, und wir, Jungs, sind eine große, hoch dosierte, radioaktive Chemotherapie-Injektion. Hört ihr mich, Jungs?

Pete wusste nicht, ob sie ihn hörten, die Jungs, zu denen die Stimme sprach, aber er hörte sie. Sie kamen, die Jungs kamen, die roten Korsaren kamen, und kein Flehen der Welt würde sie aufhalten. Und doch flehten sie, und Pete flehte mit ihnen.

»Bitte tut uns nichts! Bitte! S'il vous plait! Ne nous blessez pas! Ne nous faites pas mal, sommes sans defense!« Jetzt winselten sie. »Bitte! Um der Liebe Gottes willen! Wir sind wehrlos!«

Vor seinem geistigen Auge sah er die Hand, die Hundekacke, den weinenden, fast nackten Jungen. Und die ganze Zeit über rutschte und glitt das Ding vom Dach, sterbend, aber nicht wehrlos, dumm, aber so dumm nun auch wieder nicht, und schlich sich hinter Pete, während er schrie, während er auf der Seite neben der toten Frau lag und lauschte, wie ein apokalyptisches Gemetzel begann.

Krebs, sagte der Mann mit den weißen Wimpern.

»Bitte nicht!«, schrie er. »Bitte nicht, wir sind wehrlos!«

Doch ob das nun gelogen war oder nicht - es war zu spät.

Das Schneemobil hatte Henrys Versteck passiert, ohne abzubremsen, und jetzt verklang das Motorengeräusch in westlicher Richtung. Er hätte wieder hervorkommen können, die Luft war rein, aber Henry kam nicht hervor. Konnte nicht hervorkommen. Die Intelligenz, die an Jonesys Stelle getreten war, hatte ihn nicht aufgespürt. Entweder war sie abgelenkt gewesen, oder Jonesy hatte irgendwie - konnte irgendwie immer noch -

Aber nein. Die Idee, in dieser entsetzlichen rotschwarzen

Wolke könne auch nur noch irgendwas von Jonesy übrig sein, war reines Wuschdenken.

Und jetzt, da das Ding weg war - oder zumindest verschwand -, waren da die Stimmen. Sie füllten Henrys Kopf aus, machten ihn fast wahnsinnig mit ihrem Gebrabbel, wie Duddits' Weinen ihn auch fast immer wahnsinnig gemacht hatte, zumindest bis die Pubertät diesem Schwachsinn größtenteils ein Ende bereitet hatte. Eine der Stimmen war eine Männerstimme, und sie sagte etwas über einen Pilz (geht schnell ein, es sei denn, er findet einen lebenden Wirt)

und dann etwas über eine Telefonkarte der New England Tel und über ... Chemotherapie? Ja, eine große, hoch dosierte, radioaktive Injektion. Es war die Stimme, dachte Henry, eines Wahnsinnigen. Von denen hatte er, weiß Gott, genug erlebt, um das beurteilen zu können.

Die anderen Stimmen waren es, die ihn an seiner eigenen geistigen Gesundheit zweifeln ließen. Er kannte sie nicht alle, aber einige kannte er durchaus: Walter Cronkite, Bugs Bunny, Jack Webb, Jimmy Carter, eine Frauenstimme, die sich sehr nach Margaret Thatcher anhörte. Die Stimmen sprachen abwechselnd Englisch und Französisch.

»II n'y a pas d'infection ici«, sagte Henry und fing dann an zu weinen. Er war erstaunt darüber und berauscht davon, dass er immer noch Tränen aufbringen konnte, wo er doch schon gedacht hatte, alle Tränen und alles Gelächter -alles wahre Gelächter - hätten ihn verlassen. Tränen des Entsetzens, Tränen des Mitleids, Tränen, die den steinigen Boden der zwanghaften Nabelschau aufweichten und den Fels darunter sprengten. »Wir haben nichts Ansteckendes, bitte,0 Gott, hört auf, nicht, nicht, sommes sans defense, NOUS SOMMES SANS -«

Und dann begann im Westen der Donner von Menschenhand, und Henry hielt sich den Kopf und hatte das Gefühl, 15 Schreie und Schmerzen darin würden ihn zum Platzen bringen. Diese Schweine -

Diese Schweine schlachteten sie ab.

Pete saß am Feuer, achtete nicht auf die brüllenden Schmerzen in seinem lädierten Knie und auch nicht darauf, dass er den brennenden Ast nun auf Schläfenhöhe hielt. Die Schreie in seinem Kopf konnten das Maschinengewehrfeuer im Westen nicht ganz übertönen. Es waren schwere Maschinengewehre, Kaliber 50. Jetzt gingen die Schreie - tut uns bitte nichts, wir sind wehrlos, wir haben nichts Ansteckendes - in Panik über; es half nichts, nichts half mehr, die Sache war erledigt.

Pete nahm eine Bewegung wahr und drehte sich eben in dem Moment um, als das Ding, das auf dem Dach gewesen war, auf ihn losging. Verschwommen sah er einen schlanken, wieselartigen Leib, den anscheinend ein muskulöser Schwanz und nicht irgendwelche Beine fortbewegten, und dann verbiss es sich in seinen Fußknöchel. Er kreischte auf und riss sein gesundes Bein so abrupt hoch, dass er sich fast das Knie unters Kinn gerammt hätte. Das Ding kam mit, hing an ihm fest wie ein Blutegel. Das waren die Viecher, die um Gnade flehten? Da war drauf geschissen, wenn die das waren. Die konnten was erleben!

Spontan packte er das Ding mit der rechten Hand, mit der er sich auch an der Bud-Flasche geschnitten hatte; die Fackel hielt er weiter mit der gesunden Linken neben seinem Kopf. Er bekam etwas zu greifen, das sich wie kaltes, pelziges Gelee anfühlte. Das Ding ließ augenblicklich von seinem Knöchel ab, und Pete erhaschte einen kurzen Blick auf ausdruckslos blickende Augen - Hai-Augen, Adleraugen -, ehe es das Nadelkissen seiner Zähne in Petes Hand versenkte und sie an der alten Schnittwunde entlang weit auf riss.

Dieser Schmerz war wie das Ende der Welt. Der Kopf des Dings - wenn es denn einer war - verbiss sich in die Hand, riss sie auf, zerfetzte sie, grub sich förmlich hinein. Blut spritzte fächerförmig, als Pete versuchte, es abzuschütteln, spritzte auf den Schnee und die mit Sagemehl überzogene Plane und den Mantel der toten Frau. Tropfen flogen auch ins Feuer und zischten auf wie Fett in einer heißen Pfanne. Jetzt gab das Vieh ein wildes, schnatterndes Kreischen von sich. Sein Schwanz, so dick wie der Leib einer Muräne, umschlang Petes herumwirbelnden Arm und versuchte ihn ruhig zu stellen.

Pete setzte die Fackel nicht bewusst ein, denn er hatte sie ganz vergessen; er dachte nur noch daran, mit der linken Hand dieses entsetzliche beißende Vieh von seiner rechten Hand loszureißen. Als es dann Feuer fing und aufloderte, so heiß und hell wie eine Rolle Zeitungspapier, verstand er erst gar nicht, was da vor sich ging. Dann schrie er, vor Schmerz, aber auch vor Triumph. Er sprang auf und kam auf die Beine -zumindest vorläufig tat sein geschwollenes Knie überhaupt nicht mehr weh - und schwang seinen rechten Arm mit dem Vieh daran in einer weit ausholenden Bewegung gegen einen Stützpfosten des Unterstands. Es krachte, und statt des schnatternden Kreischens war nun ein gedämpftes Quietschen zu hören. Einen endlosen Moment lang vergrub sich dieser Knoten aus Zähnen nur noch tiefer in seine Hand. Dann ließ es davon ab, und das brennende Wesen löste sich und fiel auf den gefrorenen Boden. Pete trampelte darauf herum, spürte, wie es sich unter seinem Absatz wand, und verspürte für einen Moment reinen, ungebändigten Triumph, ehe sein überlastetes Knie endgültig aufgab, sein Bein wegknickte und die Bänder rissen.

Er stürzte auf die Seite und landete Gesicht an Gesicht mit Beckys tödlichem blindem Passagier. Dabei merkte er nicht, dass der Unterstand ins Wanken geraten war, dass sich der Pfosten, gegen den er das Vieh geschlagen hatte, langsam nach außen neigte. Für einen Moment war das primitive

esicht des Wieselwesens nur fünf Zentimeter von Petes Gesicht entfernt. Sein brennender Leib zuckte und schlug gegen Petes Jacke. Seine schwarzen Augen kochten. Etwas so hoch Entwickeltes wie einen Mund hatte es nicht, aber als sich der Knoten oben an seinem Körper auflöste und die Zähne zeigte, schrie Pete es an - »Nein! Nein! Nein!« - und schleuderte es ins Feuer, wo es sich weiter wand und sein wildes, affenartiges Kreischen von sich gab.

Mit dem linken Fuß schob er das Ding weiter ins Feuer. Mit der Stiefelspitze erwischte er den sich schon neigenden Pfosten, der eben beschlossen hatte, das Dach noch etwas zu halten. Aber das war nun zu viel, und der Pfosten brach und stürzte mit dem halben Wellblechdach ein. Ein, zwei Sekunden später brach auch der andere Pfosten. Das restliche Dach fiel ins Feuer und ließ die Funken stieben.

Für einen Moment war es das. Dann fing das hingestürzte rostige Wellblech an, sich zu heben und wieder zu senken, als atmete es. Einen Augenblick später kroch Pete darunter hervor. Sein Blick war glasig. Er war kreidebleich vor Schock. Der linke untere Ärmel seiner Jacke stand in Flammen. Pete glotzte das einen Moment lang an, während seine Beine noch bis zu den Knien unter dem eingestürzten Dach begraben lagen, hob seinen Ärmel dann vors Gesicht, holte tief Luft und blies das Feuer aus, das darauf brannte, als wäre es eine riesige Geburtstagstortenkerze.

Aus westlicher Richtung näherte sich das Surren eines Schneemobilmotors. Jonesy ... oder was noch von ihm übrig war. Die Wolke. Pete glaubte nicht, dass sie ihm gnädig gesinnt war. Es war hier in Jefferson Tract nicht der Tag für Gnade. Er hätte sich verstecken sollen. Aber die Stimme, die ihm dazu riet, klang sehr fern und kam ihm unerheblich vor. Eines aber war schön: Er hatte so das Gefühl, dass er endlich mit dem Trinken aufgehört hatte.

Er hielt sich seine zerbissene rechte Hand vors Gesicht. Ein Finger war ab und steckte dem Ding vermutlich jetzt in der Kehle. Von zwei weiteren war nicht viel mehr als zerfetzte Sehnen übrig. Er sah das rötlich goldene Zeug schon aus den tiefsten Wunden wachsen - aus denen, die das Monster ihm geschlagen hatte, und der, die er sich selbst beigebracht hatte, als er auf der Suche nach dem Bier zurück in den Scout gekrochen war. Er hatte ein komisches, juckendes Gefühl in der Hand, als nährte sich jetzt dieses Zeug, was auch immer es war, von seinem Fleisch und Blut.

Mit einem Mal dachte Pete, er könne gar nicht schnell genug sterben.

Das Rattern der Maschinengewehre im Westen war verklungen, aber es war da drüben noch nicht alles vorbei, noch längst nicht. Und als hätte dieser Gedanke es heraufbeschworen, übertönte eine mächtige Explosion alles andere, auch das wespenhafte Summen des näher kommenden Schneemobils. Alles, bis auf das rege Kribbeln in seiner Hand. In seiner Hand ließ dieses widerliche Zeug es sich schmecken, genau wie der Krebs, der seinen Vater umgebracht hatte, indem er sich den Magen und die Lunge des alten Mannes hatte schmecken lassen.

Pete fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und bemerkte dort mit einem Mal Lücken.

Er schloss die Augen und wartete ab.

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