5. Kapitel Der Schlund

1

Tally schrie. Der Wind riß ihr die Laute von den Lippen, aber sie schrie weiter, bis ihre Kehle vor Schmerzen zu zerreißen schien. Ihr Herz jagte. Ihre Finger krallten sich mit solcher Macht in den Bootsrumpf, daß ihre Nägel brachen. Blut lief an ihren Händen herab. Sie merkte es nicht einmal.

Das Boot wurde schneller und schneller. Himmel und Erde drehten sich um sie herum; kippten nach rechts und links und oben und unten, wie in einem irrsinnigen Tanz. Die Klippe war ein Schatten in schmutzigem Grau, halb aufgelöst hinter einem Vorhang aus sprühendem Wasser, dann nur noch ein Schemen; dann nichts mehr. Schwärze hüllte sie ein, nur durchbrochen vom Schreien der anderen und ihren verzweifelten, sinnlosen Bewegungen. Unter ihnen war das Nichts, ein entsetzlicher, fünf Meilen tiefer Abgrund, in den sie stürzten, schnell und ohne eine Chance, den Fall aufzuhalten.

Panik übermannte sie. Sie hörte Karan etwas rufen, ohne die Worte verstehen zu können, hörte Hrhons helles, angstvolles Zischen und spürte, wie Angella in ihren Händen zu zappeln begann. Ihre Hände glitten in einer Bewegung blinder Furcht an Tallys Gesicht empor und krallten sich in ihre Haut. Blut lief Tally in die Augen. Ein scharfer Schmerz schoß durch ihre linke Schläfe.

Blindlings schlug sie mit der flachen Hand zu. Angella keuchte, suchte nun gezielt mit den Fingernägeln nach Tallys Augen und handelte sich einen zweiten, weit härteren Schlag ein. Sie erschlaffte, sackte nach hinten und fiel schwer gegen Tally.

Wie lange dauerte dieser entsetzliche Sturz? dachte Tally. Sie hatte das Gefühl, schnell wie ein Pfeil in die Tiefe zu jagen, aber ihr bizarres Gefährt wurde immer noch schneller. Der Wind schnitt wie mit Messern in ihre Augen. Sie konnte kaum mehr atmen.

Und endlich begriff sie, daß sie nicht fielen.

Sie stürzten, aber sie fielen nicht. Das Boot – das alles war, nur kein Boot!, dachte Tally entsetzt – war von der Wucht der Strömung getragen ins Nichts hinausgeschossen, aber wo der Sturz beginnen sollte, schloß sich ein jähes, aber lange nicht lotrechtes Gleiten an.

Das Brüllen des Wasserfalles blieb hinter ihnen zurück, aber dafür hüllten sie das Heulen des Windes und eisige Kälte ein, und ein hoher, pfeifender Laut, wie ihn Tally noch niemals zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Trotzdem erinnerte er sie an etwas. Sie wußte nur nicht, woran.

Und plötzlich wurde es hell. Ihr bizarres Gefährt glitt, wie ein Vogel mit reglos ausgestreckten Schwingen auf dem Wind reitend, aus dem Schatten der Klippe heraus, und Sternenschein hüllte es ein. Es war nur ein Schimmer von Licht, aber nach der absoluten Dunkelheit zuvor glaubte Tally doch erstaunlich viele Einzelheiten zu erkennen. Vielleicht arbeiteten ihre Sinne auch nur mit größerer Schärfe, wie es oft in Momenten extremer Gefahr geschah.

Was sie sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln – so heftig, daß sie für einen Moment die Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zog, in Wahrheit längst tot zu sein und dies alles nicht wirklich zu erleben. Aber es war wahr: Sie schwebten!!!

Das Boot stürzte nicht, sondern ritt auf dem Wind, steil nach vorne und zugleich ein wenig zur Seite geneigt, bockend und schüttelnd wie ein richtiges Boot auf einem richtigen, mit Wasser gefülltem See. Und trotzdem war es schwerelos, einem Papiersegler gleich, wie ihn sich Kinder bauten, aber zehn Meter lang und aus Holz – eine vollkommene Unmöglichkeit, die jeder Logik eine lange Nase drehte und sich einfach weigerte, abzustürzen, wie es sich gehörte. Sie schwebten! SIE SCHWEBTEN!!!

Obwohl sie vor Angst und Entsetzen schier den Verstand zu verlieren drohte, zwang sie sich, Angellas regloses Gewicht nach vorne zu schieben und an ihr vorbei nach rechts zu sehen. Im schwachen Licht der Sterne sah sie zum ersten Male das, was sie für ein Schiff gehalten hatte.

Es war kein Schiff. Es war nichts, was sie jemals gesehen hätte. Es war eine gigantische, im Sternenlicht knochenweiß glänzende Konstruktion aus Holz und Metall und dünnen Seilen, die so straff gespannt waren, daß sie sangen.

Der Bootsrumpf war nur ein winziger Teil des sinnverdrehenden Dings, ein schmaler, spitz zulaufender Zylinder, dessen oberes Drittel weggeschnitten worden war, und der zwischen zwei gigantische, unregelmäßige Dreiecke aus Holz eingebettet war, jedes mindestens fünfzehn Meter lang, dabei aber nicht viel stärker als ihr Arm. Das ganze unmögliche Etwas erinnerte sie an eine gigantische Pfeilspitze.

Und es flog.

Es war unmöglich, aber es flog.

»Karan!« schrie sie über das Heulen des Windes hinweg. »Was ist das?«

Karan reagierte nicht. Wahrscheinlich hatte er ihre Worte gar nicht gehört; vielleicht hatte er auch keine Zeit zu antworten. Tally erkannte ihn nur als dunklen, formlos wirkenden Schatten vor sich, zusammengekauert und mit beiden Händen an einem der Hebel zerrend, die vor ihm aus dem Boden ragten.

Weller, der direkt hinter ihm saß, wimmerte vor Angst und hatte sich zu einem Ball zusammengerollt, der halb unter Hrhon begraben lag. Der Waga hatte Kopf und Gliedmaßen in seinen Panzer zurückgezogen und sah nun wirklich aus wie eine übergroße Schildkröte. Die einzige, die außer Tally noch einen halbwegs klaren Kopf behalten zu haben schien, war Angella; denn sie hatte sich wieder aufgerichtet und blickte an Tally vorbei in die Tiefe. Vielleicht hatte sie Tallys Schlag auch nur halb betäubt. Ihre Augen waren glasig. Blut lief aus ihrer aufgeplatzten Lippe.

»Wir sind zu schwer!« schrie Karan plötzlich. Für einen ganz kurzen Moment drehte er den Kopf, und Tally sah die Furcht in seinen Augen. »Wir stürzen!« Verzweifelt begann er an seinem Hebel zu zerren, wobei er sich mit beiden Beinen gegen den Boden stemmte, um mehr Kraft zu haben. Für einen winzigen Moment glaubte Tally, den Bug des Schiffes sich heben zu sehen. Die Sterne über ihr tanzten.

»Werft Ballast ab!« brüllte Karan. »Werft alles über Bord, was ihr könnt, oder wir zerschellen!«

Aber Tally hätte nicht einmal reagieren können, werm sie es gewollt hätte. Das Boot war hoffnungslos überfüllt; von der Hüfte abwärts war sie eingeklemmt. Das einzige, was sie über Bord hätte werfen können, wäre Angella gewesen...

»Bei den Dämonen der Tiefe – werft irgend etwas hinaus!!« brüllte Karan mit überschnappender Stimme.

»Wir sind zu schwer!« Diesmal war der Ton in seiner Stimme Panik.

Wieder einmal war es Hrhon, der sie rettete. Der Waga steckte vorsichtig den Kopf aus seinem Panzer, sah Karan einen Moment lang ausdruckslos an – und stemmte sich mit ungeheurer Kraft in die Höhe. Das zerbrechliche Boot erbebte wie unter einem Hammerschlag. Hrhon wankte wild hin und her, durch die jähe Bewegung aus dem Gleichgewicht gebracht. Karan brüllte irgend etwas, und Hrhon griff fester zu. Das fliegende Boot hörte auf zu taumeln.

»Die Säcke, Weller!«

Weller reagierte nicht. Karan fluchte und versetzte ihm einen derben Tritt in die Rippen, und der Schmerz trieb ihn hoch. Mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht zerrte er einen der schweren Leinensäcke unter Hrhons Körper hervor, wuchtete ihn hoch und warf ihn aus dem Boot. Mit einem dumpfen Laut prallte er auf die hölzerne Schwinge, schlitterte nach hinten und verschwand in die Tiefe. Tally versuchte seinen Sturz zu verfolgen, aber er verschwand in der Dunkelheit, lange ehe er auf dem Boden aufschlug.

»Mehr!« schrie Karan. »Alle! Werft sie alle hinaus!«

»Aber wir brauchen die Ausrüstung!« rief Tally. »Du hast selbst gesagt –«

»Wenn wir nicht leichter werden, brauchen wir überhaupt nichts mehr!« unterbrach sie Karan. »Hilf ihm!« Tally wußte hinterher selbst nicht mehr, wie sie es geschafft hatte – in der Enge des Bootes schien es unmöglich, auch nur einen Finger zu rühren; geschweige denn, die fast mannsgroßen Leinensäcke herauszuheben. Aber irgendwie gelang es Weller und ihr, die Gepäckstücke eines nach dem anderen unter ihren Körpern hervorzuzerren und in die Tiefe zu werfen. Und schließlich war nichts mehr da, was sie abwerfen konnten.

»Wir sind immer noch zu schnell!« brüllte Karan. In seiner Stimme war nun ein deutlicher Unterton von Panik.

»Der Gleiter ist überladen! Er ist für zwei gebaut, und wir sind fünf – sechs, wenn Karan dieses Ungeheuer doppelt zählt!« Er wies mit einer Kopfbewegung auf Hrhon. »Wir werden abstürzen!«

»Aber... aber das... das tun wir doch schon!« stammelte Weller. »Wir werden sterben! Wir... wir –«

»Halt endlich das Maul, du Idiot«, unterbrach ihn Angella. »Hast du immer noch nicht begriffen, daß wir fliegen?« Sie stöhnte, hob die Hand an die aufgeplatzte Lippe und betrachtete einen Moment lang das Blut, das plötzlich auf ihren Fingern war. Dann starrte sie Tally an.

»Das zahle ich dir heim, Schätzchen«, sagte sie drohend. Tally sah sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Zorn an. Zorn, daßAngella nicht einmal in diesem Moment aus ihrer Haut herauskonnte, und Verwirrung über das, was sie zu Weller gesagt hatte.

»Fliegen?« murmelte sie verstört. »Aber das ist... unmöglich...«

»So?« Angella schnaubte verächtlich. »Dann spring doch über Bord. Vielleicht haben wir dann eine Chance.« Tally ignorierte ihre Worte. Einen Moment lang starrte sie Karan an, dann drehte sie sich herum, so weit es die Enge des Bootes zuließ.

»Karan, was... was ist das?« stammelte sie. »Was ist das für ein Ding?!«

»Sssauberei«, zischelte Hrhon. »Whirhr sssind verlhohren! Dasss issst Sssauberei!«

»Es ist ein Gleiter, und keine Zauberei, du blödes Fischgesicht!« schrie Karan zurück. »Und zwar einer, mit dem Karan und ihr sich die Hälse brechen werden! Wir sind noch immer zu schwer!«

Aber entgegen seiner Worte hatte ihr rasender Sturz schon viel an Schnelligkeit verloren. Aus dem jähen indie-Tiefe-Schießen war ein zwar noch immer schnelles, aber nicht mehr sehr steiles Gleiten geworden. Tally konnte spüren, wie das bizarre Gefährt auf dem Wind ritt, wie ein Stein, der flach über das Wasser geschleudert worden war. Mit klopfendem Herzen beugte sie sich nach rechts und starrte in die Tiefe.

Einen Moment lang glaubte sie ein machtvolles, düsteres Wogen und Schweben unter sich wahrzunehmen. Dann begriff sie, daß es nur ihre eigene Angst war, die ihr Dinge vorgaukelte, die nicht da waren. Wenn es unter ihnen überhaupt so etwas wie einen Boden gab, so war er noch unsichtbar.

»Kannst du dieses Ding steuern?« fragte sie.

»Ein wenig«, antwortete Karan. Seine Stimme klang gepreßt. Trotz des eisigen Windes war sein Gesicht voller Schweiß. Die Anstrengung, den (wie hatte er das Ding genannt? Gleiter?) Gleiter zu lenken, mußte alles von ihm verlangen.

»Dann steuere es nach Norden!« sagte Tally. »Hundertfünfzig Meilen nach Norden, und –«

»Hundertfünfzig Meilen?« Karan lachte schrill. »Du bist von Sinnen! Karan ist froh, wenn er fünfzehn Meilen weit kommt! Außerdem ist es gleich, wie weit er fliegt, bevor er an den Bäumen zerschellt! Der Gleiter ist zu schnell!«

»Aber wir fliegen doch!« antwortete Tally.

»Und?« schrie Karan zurück. »Was heißt das? Hast du schon einmal auf einem durchgehenden Pferd gesessen?«

»Warum?«

»Wie bist du abgestiegen?« fragte Karan.

Tally antwortete vorsichtshalber nicht.

Eine Zeitlang jagten sie schweigend dahin, und Tally versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen, das hinter ihrer Stirn tobte. Ein wenig zweifelte sie immer noch an ihrem Verstand, aber andererseits – sie hatte Frauen gesehen, die auf fünfzig Meter großen Drachen ritten, war intelligenten Insekten begegnet, die ihre Gedanken lasen, hatte eine Waffe erbeutet, deren Feuer heißer war als das der Sonne – warum also sollten sie nicht fliegen? Sah man davon ab, daß es unmöglich war, sprach nichts dagegen ...

Tally beschloß, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Statt dessen drehte sie sich mühsam herum und blickte in die Richtung zurück, in der die Klippe liegen mußte. Die hölzerne Haifischflosse des nach oben deutenden Ruders schnitt die Welt hinter ihr in zwei Teile. Tally sah jetzt, daß sie sich bewegte, wie eine wirkliche Fischflosse manchmal nach rechts, manchmal nach links schwenkte, und jedesmal machte das fliegende Gefährt die Bewegung mit. Unbeschadet seiner eigenen Worte schien es Karan doch gelungen zu sein, den Gleiter irgendwie unter Kontrolle zu bringen.

Dahinter lag die Küste. Die Klippe selbst war unsichtbar, nur ein dunklerer Schatten vor dem Schwarz der Nacht. Aber sie konnte die Stadt sehen, wie ein Diadem aus tausend mal tausend mal tausend Lichtern, das über einen gewaltigen Bereich der Küste verstreut war. Seltsamerweise lag sie unter ihnen...

Eine geraume Weile verging, bis Tally klar wurde, was diese Beobachtung bedeutete.

»Wir... wir steigen!« rief sie aus. »Karan – wir steigen nach oben!«

»Natürlich«, antwortete Karan. »Es gibt starke Aufwinde hier an der Küste. Das ist es nicht, was Karan Sorge macht!«

»Wasss sssonst?» wisperte Hrhon.

Karan wies mit einer Kopfbewegung auf die schwarze Wand, in die sie hineinschossen. »Der Gleiter ist zu schnell. Karan wird ihn nicht landen können, ohne daß er zerbricht!«

Tally wollte etwas darauf antworten, doch in diesem Moment traf ein harter Schlag den Gleiter. Die gewaltigen Schwingen ächzten wie unter einem Hieb. Tally wurde nach vorne geschleudert, prallte heftig gegen Angellas Gesicht und schmeckte Blut, als sie sich auf die Zunge biß.

Dann überschlugen sie sich.

Tallys Herz blieb stehen, als das ganze, gewaltige Gefährt eine Drehung um seine eigene Achse machte, einen entsetzlich endlosen Sekundenbruchteil lang kopfüber durch die Luft schoß und sich mit quälender Langsamkeit wieder aufrichtete.

Als sie die Augen wieder öffnete, waren der Himmel und der schreckliche schwarze Abgrund unter ihnen verschwunden. Der Gleiter schoß durch eine wogende Unendlichkeit. Flockiger grauer Nebel wich mit der gleichen Geschwindigkeit vor ihnen zurück, in der sie hindurchjagten. Plötzlich wurde es kalt, entsetzlich kalt. Ein feuchter, prickelnd-kalter Film legte sich auf Tallys Gesicht und Hände. Das weiße Holz des Gleiters begann zu glänzen, als wäre es lackiert.

»Die Wolken!« schrie Karan. »Haltet euch fest. Es ist nicht mehr weit!«

Als wäre sein Ruf ein Stichwort gewesen, tauchte der Gleiter durch die Wolkendecke hindurch, und unter ihnen lag eine gewaltige, schwarz-braun-grün gemusterte Ebene, eine Landschaft aus Farben, die so schnell ineinanderflossen, daß Tally zum ersten Mal eine Vorstellung von der unglaublichen Geschwindigkeit bekam, mit der sie sich fortbewegten. Plötzlich verstand sie Karans Angst.

Der Gleiter glitt in einem flachen Bogen nach unten, jagte einen Moment lang waagerecht dahin und schoß dann wieder in die Höhe, auf die brodelnde weißgraue Wolkendecke zu. Aber kurz, bevor er sie erreichte, senkte sich seine spitze Nase wieder. Die riesigen hölzernen Schwingen ächzten, als Karan den Hebel mit aller Kraft an sich heranzog. Tally konnte hören, wie sich das Haifischruder hinter ihr bewegte. Das Holz stöhnte, als litte es Schmerzen.

Wieder glitten sie nach unten, etwas weiter als beim ersten Mal, und wieder nahm ihre Geschwindigkeit zu. Aber wieder riß Karan das bizarre Gefährt in die Höhe, und wieder herab, und wieder hoch...

Tally glaubte zu verstehen, warum Karan das tat. Sie kamen dem braunschwarzen Etwas unter ihnen jedesmal ein Stück näher, aber mit jeder Steigung sank ihr Tempo auch etwas mehr, als bei Sturz in die Tiefe zunahm. Karan versuchte offensichtlich, die Geschwindigkeit des Gleiters auf diese Weise allmählich zu vermindern. Mehr als eine halbe Stunde mußte auf diese Weise vergehen. Keiner von ihnen sprach; selbst Angella starrte Tally nur voller Zorn an. Und ganz allmählich kamen sie tiefer. Trotz der geschlossenen Wolkendecke, unter der sie dahinjagten, war es hell, sogar heller als oben im Licht der Sterne, als leuchteten die Wolken aus sich heraus, so daß Tally erkennen konnte, was unter ihnen war.

Es war Wald.

Ein gigantischer, kompakter Wald, der so dicht war, daß der Gleiter über einen Ozean aus Schwarz und Grün dahinzuschießen schien. Tally fragte sich, wie tief der eigentliche Boden noch unter diesem Blätterdach liegen mochte.

Plötzlich schrie Angella auf, hob den Arm und deutete mit schreckgeweiteten Augen auf einen Punkt irgendwo hinter und über ihr. Tally fuhr herum...

... und erstarrte vor Schrecken.

Sie hatte es immer für eine bloße Redensart gehalten – aber in diesem Moment spürte sie die eisige Hand ganz real, die nach ihrem Herzen griff.

Über ihnen teilte sich der Himmel, Und aus der brodelnden Wolkendecke hervor senkte sich die Nacht auf den Gleiter herab.

Sie tat es in Gestalt einer gigantischen, fliegenden Kreatur, einem ungeheuerlichen Scheusal aus geronnenener Schwärze und fleischgewordener Bosheit, einem Ungeheuer, fünfzig Meter lang und mit riesigen, schlagenden Lederschwingen, Haß in den Augen und loderndes Feuer in dem gewaltigen, halb geöffneten Maul.

Der Drache schoß mit der Schnelligkeit eines stürzenden Felsens auf den Gleiter herunter, verfehlte ihn um wenige Meter und fing seinen Sturz mit geradzu spielerischer Leichtigkeit ab. Seine riesigen Krallen hatten das zerbrechliche Fahrzeug verfehlt – aber der Sturmwind seiner Schwingen traf es wie ein Hammerschlag.

Tally schrie auf, als der Gleiter jäh zur Seite kippte, einen Moment lang in schier unmöglicher Schräglage in der Luft hing und dann zu trudeln begann. Wolken und Wald begannen einen irrsinnigen Tanz rings um sie herum aufzuführen. Etwas Schwarzes, Gigantisches, huschte durch ihr Blickfeld und verschwand wieder. Für einen winzigen Moment glaubte sie den Blick eines tückischen, absurd kleinen Augenpaares aufzufangen. Dann kippte der Gleiter zur anderen Seite, richtete sich schwerfällig wieder auf und sackte mit einem entsetzlichen Schlag durch, hundert, hundertfünfzig Meter senkrecht nach unten wie ein Stein, bis Karan das Gefährt wieder unter seine Kontrolle zwang. Tally wurde nach vorne geschleudert, prallte zum zweitenmal unsanft gegen Angellas Gesicht und stöhnte vor Schmerz, als sich der Bootsrand in ihre Rippen bohrte.

Als sie das Gesicht aus Angellas Haaren nahm, war der Drache über ihnen. Wie ein Dämon aus einem Alptraum glitt er über und ein Stück hinter dem Gleiter dahin, eine schwarzgeschuppte Bestie, glänzend wie lackiertes Leder, die beiden Reiterinnen in seinem Nacken zur Lächerlichkeit zusammengeschrumpft. Der Gleiter tanzte auf dem Wind wie ein Boot im Orkan, als das Ungeheuer mit den Flügeln schlug.

»Karan!« brüllte Tally. »Tu etwas!«

Sie hatte selbst nicht damit gerechnet – aber Karan reagierte tatsächlich. Als die gigantischen Schwingen des Drachen das nächste Mal die Luft peitschten, sackte der Gleiter nicht mehr nach unten, sondern schwang sich wie ein bizarrer hölzerner Vogel auf die Sturmwoge, machte einen gewaltigen Satz nach vorne und oben und schoß dicht vor dem schuppigen Kopf des Ungeheuers in die Höhe.

Ein zorniger, unglaublich lauter Schrei marterte Tallys Ohren. Für eine unendlich kurzen, aber auch unendlich schrecklichen Moment befanden sie sich auf gleicher Höhe mit dem droschkengroßen Schädel der Bestie. Tally spürte Hitze; einen Gestank wie nach Schwefel und brennendem Fleisch und Fäulnis, sah die winzigen tückischen Augen des Ungeheuers und seine um so größeren Zähne, spitz und schwarz wie geschliffene Kohlen. Und dann kam das Feuer.

Es ging so schnell, daß Tally nicht sah, was der Drache tat, obwohl sie für den Bruchteil einer Sekunde direkt in sein zornig aufgerissenes Maul blickte. Von einer Sekunde auf die andere wich die Nacht einer gleißenden, verzehrenden Lohe. Hitze, ungeheure, quälende Hitze streichelte Tallys Gesicht wie eine glühende Hand. Sie hörte Angella und Karan schreien, schrie selbst vor Schmerz und versuchte die Hände vor das Gesicht zu heben, roch das brennende Holz des Gleiters und den entsetzlichen Gestank verschmorender Haare. Der Gleiter kippte haltlos zur Seite. Plötzlich war der Himmel über ihnen voller Licht und brüllendem, verzehrendem Feuer. Die Wolken selbst schienen in Flammen zu stehen. Karans Haar brannte. Angella krümmte sich vor Schmerz, und Weller war abermals in sich zusammengesunken, hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Sein Hemd schwelte.

Wieder zerriß das wütende Schreien des Drachen die Luft. Und Tally reagierte, ohne zu denken. Ihre Hände glitten ohne ihr Zutun zum Gürtel, fanden das kühle, schwere Metall und schlossen sich darum. Der riesige Schädel des Drachen hob und senkte sich über ihnen, klaffte auseinander...

... und Tally war den Bruchteil eines Herzschlages schneller. Ein dünner, aber unerträglich gleißender Blitz stach in die Nacht hinaus, fraß eine rauchende Spur in den schwarzgeschuppten Hals der Bestie und explodierte in seiner Schulter.

Die rechte Schwinge des Ungeheuers verwandelte sich in eine Flamme. Für einen unendlich kurzen Moment glaubte Tally das riesige, an eine übergroße Fledermaus erinnernde Knochengerüst des Ungeheuers unter der schwarzen Lederhaut zu erkennen, nachgezeichnet in weiß und rot glühenden Linien, dann flammte der schiffsgroße Flügel des Monsters auf.

Der Schrei des Drachen war voller entsetzlichem Schmerz, und seine eigene, tausendmal heißere Flammenzunge schoß weit an dem Gleiter vorbei. Die Druckwelle warf das winzige Gefährt herum wie eine unsichtbare Keule, aber Tally sah trotzdem, wie sich der Drache in irrsingem Schmerz krümmte, die brennende Schwinge auf und nieder schlagend, wie die beiden Reitergestalten in seinem Nacken plötzlich ihren Halt verloren und stürzten, die eine hinein in den Teppich aus Feuer, die andere herab in die Tiefe, die sie verschlang. Für einen winzigen Moment glaubte sie sogar die gellenden Schreie der Sterbenden zu hören.

Dann begannen das Ungeheuer und der von Menschenhand geschaffene Vogel gleichzeitig in die Tiefe zu rasen. Tally sah nicht, wer das tödliche Rennen gewann. Der Wald sprang auf sie zu, schnell, viel zu schnell, war ihr letzter Gedanke... Dann traf eine Riesenfaust den Gleiter und zerschmetterte ihn in der Luft.

2

Es war noch immer Nacht, als sie erwachte. Zumindest war es dunkel. Die verrücktesten Gedanken schossen ihr durch den Kopf: Erleichterung, noch am Leben zu sein, fast unmittelbar gefolgt von der durch und durch realen Angst, daß es vielleicht gar nicht so wäre und die Schwärze, in der sie sich wiederfand, die des Todes sei. Dann spürte sie Schmerz: einen betäubenden Druck auf ihre gesamte rechte Körperhälfte und den Geschmack von Blut im Mund. Sie war also noch am Leben. Tote spüren keinen Schmerz – wenigstens hoffte sie es.

Sie glaubte Bilder zu sehen, völlig absurde Bilder, die trotzdem etwas erschreckend Reales hatten: sie sah einen brennenden Himmel, aus dem brennende Dinge stürzten: ein Drache, ein zweiter, hölzerner Vogel, dann ihr eigenes Gesicht, ins Absurde vergrößert, Flammen in den Augen. Eine Stimme rief ihren Namen. Wellers Stimme.

Sie stöhnte. Der Schmerz in ihrer Seite wurde stärker. Plötzlich hatte sie Angst, blind zu sein, denn sie sah noch immer nichts, obwohl sie die Augen weit aufgerissen hatte. Über ihr war nicht einfach nur Dunkelheit, sondern absolute Schwärze, eine Dunkelheit, die tiefer zu sein schien als die bloße Abwesenheit von Licht. Stöhnend hob sie die Hand, tastete über ihr Gesicht und stellte fest, daß dort weder ein Verband noch sonst etwas war, was sie am Sehen hinderte.

»Keine Sorge, Tally. Du bist nicht blind. Es ist so dunkel hier.«

Die Stimme war dicht neben ihrem linken Ohr, und nach kurzem Nachdenken erkannte sie sie auch. Sie gehörte Karan. Aber etwas war mit ihrem Kopf nicht in Ordnung. Jetzt, als sie es versuchte, spürte sie, wie schwer es ihr fiel, sich zu erinnern. Nicht unmöglich, aber sehr schwer. Es gelang ihr nicht, zu Karans Stimme und Namen das passende Gesicht zu assoziieren. Als sie es versuchte, sah sie nur Flammen.

»Karan...?« murmelte sie. Ihre eigene Stimme klang fremd. Gedämpft und ohne die fast unhörbaren Echos, die ihren Klang sonst begleiteten; ganz gleich, wo man war. Es war, als spräche sie in eine Mauer aus Watte hinein. Umständlich versuchte sie sich aufzusetzen, spürte, wie der Boden unter ihr zu zittern begann und ließ sich hastig wieder zurücksinken.

»Karan?« wiederholte sie. »Bist du auch da?«

»Karan ist hier«, antwortete Karan. »Und auch dein Waga.«

»Hrhon? Bist du verletzt?«

»Nhissst ssslimm«, zischelte der Waga. »Nhur ein paar Krassser.«

»Gut.« Tally empfand eine rasche, heftige Erleichterung. Dann fiel ihr wieder ein, was Karan gesagt hatte.

»Kannst du Gedanken lesen?« fragte sie.

Karan lachte leise. »Nein. Aber die anderen haben Karan die gleiche Frage gestellt, als sie erwachten. Und auch er selbst, als er das erste Mal hier war. Keine Sorge. In einer Stunde geht die Sonne auf. Dann wirst du sehen.«

Tally stöhnte. Der Blutgeschmack in ihrem Mund wurde stärker. Vorsichtig tastete sie mit der Zungenspitze nach seiner Quelle und spürte einen jähen, stechenden Schmerz. Einer ihrer Backenzähne fehlte. Ihr Gesicht fühlte sich geschwollen an.

»Was ist geschehen?« murmelte sie. Die Schwärze über ihr begann sich zu drehen. Ihr wurde übel. »Wo sind die anderen? Wo zum Teufel sind wir?«

»Geschehen ist, was Karan prophezeite«, antwortete Karan. »Der Gleiter war zu schwer. Er ist abgestürzt, ohne daß Karan etwas dagegen tun konnte.« Er seufzte. Irgendwie, fand Tally, klang es wie ein Lachen. »Und du bist, wohin Karan dich bringen sollte. Im Schlund. Du wirst es bereuen«, fügte er hinzu.

Tally ignorierte den letzten Teil seiner Antwort. Ganz vorsichtig drehte sie sich in die Richtung, aus der seine Stimme kam, tastete mit den Fingerspitzen über den Boden und fühlte federnden, feuchtwarmen Widerstand. Aus einem Grund, den Tally selbst nicht in Worte zu fassen vermochte, fühlte er sich unangenehm an. Weich und pelzig, fast, als läge sie auf dem Rücken einer gigantischen Spinne. Trotzdem gelang es ihr diesmal, sich in eine halb sitzende Lage hochzustemmen, als sie es versuchte. Es war sehr warm. Die Luft roch... sonderbar. Nach Wald und Leben und noch etwas, das sie nicht kannte. Aber was immer es war, es machte ihr Angst.

»Der Drache«, murmelte sie. »Was ist mit ihm?«

Karan antwortete nicht. Es war auch nicht nötig, denn im Grund war ihre Frage überflüssig gewesen. Sie hatten alle gesehen, wie er abgestürzt war.

»Wieso ist es so dunkel?« fragte sie nervös.

Karan bewegte sich irgendwo in der Dunkelheit links neben ihr. Sie konnte ihn nicht sehen, aber die Geräusche verrieten ihr, daß er sich wie sie aufsetzte und den Arm hob, wie um eine weit ausgreifende Bewegung zu machen. Die Geräusche waren so deutlich, daß sie für einen Moment fast glaubte, ihn sehen zu können.

»Du bist im Schlund«, sagte er, als wäre dies Antwort genug. »Der Gleiter hat den Wipfel durchbrochen und ist gestürzt. Karan fürchtet, sehr tief.« Tally hörte das Schaudern in seiner Stimme. »Vielleicht bis zu seinem Grund.«

»Da wollte ich doch hin, oder?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Karan. »Dorthin wolltest du nicht. Aber Karan weiß nicht, ob es wirklich so ist. Die Dunkelheit macht ihm Sorgen.«

»Und wieso?« Tally versuchte sich zu bewegen. Sofort begann der Boden unter ihr stärker zu zittern. Sie erstarrte wieder.

»Du solltest nicht reden«, sagte Karan ernst. – »Der Schlund hat Bewohner, die gute Augen haben, aber schlechte Ohren. Und solche, die schlechte Augen haben, aber scharfe Ohren. Der Aufprall des Gleiters hat alles Leben verjagt, aber es kann wiederkommen.«

»Und die anderen?« fragte Tally, Karans Warnung bewußt ignorierend. »Was ist mit ihnen?«

»Weller ist tot«, antwortete Karan. In seiner Stimme war nicht die geringste Spur von Mitleid. »Und auch Karan und du und Angella werden sterben. Der Waga mag eine Chance haben. Er ist stark.«

»Tot?« murmelte Tally. »Weller – tot?« Aber das war unmöglich! Sie hatte seine Stimme gehört!

»Er muß es sein«, antwortete Karan. »Er wurde aus dem Gleiter geschleudert, als er zerbrach. Du, Angella und der Waga und Karan selbst hatten Glück, aber er fiel hinaus. Wenn der Sturz ihn nicht getötet hat, so wird er sterben, ehe es hell ist.«

»Dann hast du nicht gesehen, wie er starb?« vergewisserte sich Tally. Sie empfand eine absurde Erleichterung. Wahrscheinlich war es kindisch – aber solange sie Wellers Leiche nicht mit eigenen Augen sah, konnte sie sich wenigsten einreden, daß er noch am Leben war. Plötzlich spürte sie, daß sie Weller mehr mochte, als sie bisher zuzugeben bereit gewesen war.

»Nein«, antwortete Karan. »Aber du kannst Karans Worten glauben – der Schlund tötet jeden, der zu tief in ihn eindringt. Auch uns.«

»Wenn der Kerl nicht bald aufhört, vom Tod zu reden, nehme ich seinem verdammten Schlund die Arbeit ab«, mischte sich eine Stimme aus der Dunkelheit heraus ein, Tally sah auf und versuchte die Richtung zu erkennen, aus der Angellas Stimme gekommen war. Es gelang ihr nicht. Die sonderbare, schallschluckende Akustik ihrer Umgebung machte es fast unmöglich, irgendeine Richtung zu bestimmen.

»Angella?« fragte sie.

Ein spöttisches Lachen antwortete ihr. »Wer denn sonst? Erwartest du noch Gäste?«

»Ihr solltet still sein«, sagte Karan noch einmal. »Es ist nicht gut, hier zu viel zu reden.«

»Ach, halt das Maul«, sagte Angella grob. »Verrat uns lieber, was das hier ist.« Tally hörte Geräusche, noch immer, ohne ihre genaue Quelle bestimmen zu können, aber mit einem Male war Angellas Stimme sehr viel näher. Dann hatte sie das intensive Gefühl eines Körpers, der dicht hinter ihr war. Es war erstaunlich, dachte sie, wie rasch andere Sinne einsprangen, wenn einer ausfiel.

»Unser kleiner Liebling wird uns schon heraushauen, mit seiner Wunderwaffe, nicht wahr, Tallyschätzchen?« fuhr Angella fort. »Weiß du, wenn wir nicht schon so gut wie tot wären, käme ich jetzt glatt in Versuchung, dich umzubringen.«

Tally blickte in die Richtung, in der sie Angella spürte.

»Was muß noch passieren, damit du endlich Vernunft annimmst?« fragte sie ärgerlich.

Angella lachte leise, und obwohl es ein sehr abfälliges, ja, bewußt kaltes Lachen war, war es ein Laut, der Tally auf sonderbare Weise gut tat. »Aber ich bin doch vernünftig«, sagte sie. »Wenn das nicht so wäre, wärst du jetzt tot, Liebling.«

»So?« fragte Tally spöttisch.

Sie hörte, wie Angella nickte. »Ich hätte dir dein hübsches Lockenköpfchen von den Schultern schneiden können, wenn ich gewollt hätte. Frag Karan, wer von uns als erster wach war.«

»Sssie sssagt die Whahrheit, Herrin«, wisperte Hrhon auf der anderen Seite der Dunkelheit. »Sssie whar esss, die Eusss ausss dem Ghleiter ssserrte. Kharan uhnd isss waren unter dhem Whrack eingheklemmt.«

»Stimmt das?« entfuhr es Tally.

»Es ist die Wahrheit«, antwortete Karan.

»Ich... danke dir«, sagte Tally zögernd. Sie war verwirrt. Daß Angella ihr bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Kehle durchschnitt, konnte sie sich vorstellen. Aber daß sie ihr das Leben rettete...? Angella zuckte hörbar die Achseln. »Vergiß es«, sagte sie, während sie sich neben Tally auf den Boden hockte.

»Ich weiß selbst nicht genau, warum ich es getan habe. Wahrscheinlich«, fügte sie nach sekundenlangem Zögern hinzu, »weil es mir zu schnell gegangen wäre. Ich will dich leiden sehen, Süße.«

»Hör endlich auf«, murmelte Tally. Aber in ihrer Stimme war kein echter Zorn mehr. Eigentlich zum erstenmal, seit sie Angella kennengelernt hatte, kam ihr zu Bewußtsein, wie jung das Mädchen mit dem Narbengesicht noch war – nicht viel mehr als ein Kind. Ein mörderisches Kind vielleicht, aber trotzdem ein Kind. Möglicherweise hatte sie das Recht, so zu reagieren, einfach durch ihre Jugend. »Was ist das hier?« fragte sie, wieder an Karan gewandt. »Wenn wir uns schon nicht bewegen können, solange es dunkel ist, sollten wir die Zeit nutzen. Erklär uns, wo wir sind.«

»Im Schlund«, murmelte Karan niedergeschlagen.

Offenbar hatte er es aufgegeben, Tally und Angella zum Schweigen zu ermahnen. Trotzdem war in seiner Stimme ein Klang, der Tally alarmierte, obwohl sie ihn nicht einordnen konnte. »Karan weiß nicht genau, wo der Gleiter abstürzte. Der Flug war sehr schnell. Und er hat die Richtung verloren, als der Drache angriff.«

»Aber du findest sie wieder?«

»Natürlich«, antwortete Karan. »Sobald es hell ist. Wenn wir dann noch leben.«

Tally seufzte. Ein ganz kleines bißchen konnte sie Angella fast verstehen. Auch ihr begann Karans unablässiges Gerede von Tod und Sterben allmählich auf die Nerven zu gehen. Aber wahrscheinlich war es einfach seine Art, mit der Angst fertig zu werden.

»Sobald es hell ist«, sagte sie, »suchen wir Weller. Vielleicht lebt er noch.«

»Unmöglich!« widersprach Karan. »Selbst, wenn –«

»Der Wald hat unseren Aufprall gedämpft, oder?« unterbrach ihn Tally. »Warum soll er nicht ebensogut Weller aufgefangen haben?«

»Du kennst diesen Wald nicht«, sagte Karan. »Karan kennt ihn. Er weiß, wovon er spricht.«

»Gut«, sagte Tally. »Dann wird uns Karan ja auch helfen können, Weller wiederzufinden.«

Angella lachte leise. »Habe ich dir schon gesagt, daß du mir gefällst, Tallyschätzchen?«

»Ja«, grollte Tally. »Und wenn du mich noch einmal Tallyschätzchen oder Liebling oder Kleines nennst, befehle ich Hrhon, dir sämtliche Zähne einzuschlagen, Angellaliebling.«

Angella lachte erneut, sagte aber nichts mehr, und Tally wandte sich wieder an Karan. »Also? Was ist das hier? Wieso ist es so dunkel?«

»Der Wald«, antwortete Karan. »Er ist sehr dicht. An seinem Grunde herrscht immer Nacht. Doch ihr seid nicht dort.«

»Woher willst du das wissen?« fragte Angella. »Kannst du im Dunkeln sehen wie eine Katze?«

»Das kann Karan nicht«, erwiderte Karan beleidigt.

»Aber er kennt den Wald. Es gibt den Wipfel, das Dazwischen und den Boden. Der Boden tötet.«

»Die anderen Teile nicht?« fragte Angella spöttisch.

»Nicht so schnell«, erwiderte Karan ernst. »Manchmal wenigstens. Der Boden tötet sofort. Nichts lebt dort.«

»Gar nichts?« fragte Angella. »Auch nicht das, was tötet?« Sie lachte, bewegte sich im Dunkeln und stieß einen halblauten, erschrockenen Ruf aus. Ein dumpfes Knistern und Brechen war zu hören, dann die Geräusche von etwas Schwerem, das in die Tiefe stürzte und dabei unentwegt gegen Holz und Blattwerk schlug.

»Angella?« fragte Tally erschrocken.

»Ich bin noch da«, antwortete Angella. Ihre Stimme klang gepreßt. »Keine verfrühte Freude, Tally. So schnell wirst du mich nicht los.«

»Damit wäre die Frage beantwortet, wo wir sind«, sagte Tally ruhig. »Wir –«

»Sss!« zischte Hrhon. »Etwasss khohmmt!«

Sie erstarrten zur Reglosigkeit. Tally lauschte gebannt. Im ersten Moment hörte sie nichts außer dem dumpfen Rauschen ihres eigenen Blutes und den schnellen Atemzügen der drei anderen, aber sie wußte, daß der Waga über viel schärfere Sinne verfügte als ein Mensch, und verhielt sich weiterhin ruhig. Und nach einer Weile hörte sie es auch: Irgend etwas kroch durch die Baumwipfel. Etwas Großes, etwas sehr, sehr Schweres, das sich rücksichtslos Bahn brach, dem Splittern von Holz nach zu schließen.

Ihr Herz begann zu hämmern. Der Boden, auf dem sie hockte, vibrierte jetzt ganz sacht, und obwohl sie sich gegen die Erkenntnis zu wehren versuchte, mußte sie nach einer Weile gestehen, daß er im Rhythmus der Schritte – oder was immer es war – erzitterte.

Das unsichtbare Ding kam näher. Das Splittern wuchs zu einem ungeheuren Bersten und Krachen an, als walze eine ganze Armee von Hornbestien neben ihnen durch den Wald, und plötzlich spürte Tally einen scharfen, unendlich fremden Geruch, der bald so intensiv wurde, daß er zur Übelkeit reizte.

»Ein Läufer!« keuchte Karan plötzlich. »Bei allen Dämonen der Tie –«

Der Rest seiner Worte ging in einem urgewaltigen Splittern und Bersten unter. Tally fühlte sich wie von einer unsichtbaren Faust gepackt und in die Höhe gerissen. Dann streifte irgend etwas, das mindestens so groß sein mußte wie die Klippe den Baum, kippte ihn halb um und überlegte es sich im letzten Moment anders. Der Boden tief unter ihnen zitterte, und Tally spürte das machtvolle Aufstampfen von mindestens einem Dutzend Beinen.

Aber sie hatte noch einmal Glück. Nach einer Ewigkeit, die in Wahrheit wohl nur Sekunden gedauert hatte, wurde das Bersten und Krachen leiser; die Welt hörte auf, wie betrunken auf und ab zu schwanken. Trotzdem blieb Tally, an den erstbesten Halt geklammert und zur Reglosigkeit erstarrt, noch eine geraume Weile sitzen, ehe sie es wagte, wenigstens den Kopf zu heben.

»Hrhon?« fragte sie. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, antwortete Hrhon – mit einer Stimme, die verriet, daß ganz und gar nichts in Ordnung war.

»Karan?«

»Karan lebt noch«, antwortete Karan. »Aber es war nur Glück.«

»Gut«, sagte Tally erleichtert. »Was... was war das, um Himmels willen?«

»Ein Läufer«, antwortete die Stimme aus der Dunkelheit. »Der größte Bewohner des Schlundes, den Karan kennt. Er und ihr hattet Glück. Sie sind gefährlich und böse, aber Menschen sind zu klein, eine lohnende Beute für sie zu sein.«

»Oh«, sagte Tally nur.

»Danke, ich lebe auch noch«, meldete sich Angella.

»Eure Sorge ist rührend, aber unbegründet.«

»Wovon leben die Läufer, wenn ein Mensch als Beute für sie zu klein ist?« fragte Tally vorsichtig.

»Von anderen Wesen«, antwortete Karan. »Solchen, die Menschen sehr wohl fressen. Und die gute Ohren haben.«

»Oh«, sagte Tally noch einmal. Und das war das letzte Wort, das sie oder einer der anderen für eine geraume Weile sprach.

Trotzdem wurde es nicht still. Das Splittern und Bersten des Läufers war noch lange zu hören, und auch der Wald war nicht still – über ihnen, in den unsichtbaren Wipfeln, rauschte der Wind, und auch aus der Tiefe drang ein gedämpftes, unablässiges Murmeln und Flüstern zu ihnen herauf... Es war ein unheimlicher, angstmachender Laut. Wenn Tally lange genug hinhörte, dann glaubte sie fast so etwas wie ein wirkliches Flüstern darin zu erkennen. Eine Stimme, die ihr auf entsetzliche Weise gleichermaßen fremd wie sehr vertraut erschien – und die ihren Namen zu flüstern schien.

Natürlich war das Unsinn, wie sie sehr wohl wußte. Es war nur ihre eigene Angst, die sie Dinge hören ließ, die nicht da waren. Sie verscheuchte die Vorstellung endgültig, zog die Knie an den Körper und unterdrückte ein Schaudern. Ihr war kalt, obwohl der sonderbar weiche Boden unter ihr eine angenehme Wärme ausstrahlte. Fast, ohne es selbst zu merken, rutschte sie ein Stückchen näher an Angella heran, bis ihre Schulter deren Brust berührte.

Angella lachte leise. »Angst, Liebling?«

»Ja«, gestand Tally. Die Verärgerung, mit der sie Angellas Worte erfüllen sollten, kam nicht. »Du etwa nicht?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Angella. »Noch nicht.« Sie seufzte. »Ich glaube, ich sollte Angst haben. Aber ich habe mich noch nicht entschieden, vor wem ich mehr Angst habe – vor dem Schlund oder dir.«

»Ich bin nicht dein Feind«, antwortete Tally. »Wäre es nach mir gegangen, hätten wir keinen Streit.«

»Manchmal kommt es eben anders«, sagte Angella achselzuckend. »Nicht? Du bist eine gefährliche Frau, Tally. Und du hast noch gefährlichere Feinde.« Tally spürte, wie sie den Kopf schüttelte. Sie seufzte. »Woher kennst du Jandhi?«

»Ich kenne sie nicht«, erwiderte Tally.

»Dann frage ich mich, warum sie so scharf darauf war, dich mitzunehmen.«

»Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem du mich töten wolltest?» schlug Tally vor.

Angella lachte erneut, aber es klang nicht sehr amüsiert. »Wohl kaum.«

»Es tut mir leid, daß ich dich da mit hineingezogen habe«, sagte Tally unvermittelt. Im ersten Moment wußte sie selbst nicht, warum sie es tat – aber irgendwie erschien es ihr mit einem Male wichtig, Angella dies zu sagen. Und es war ehrlich gemeint.

»Hineingezogen ist wohl der richtige Ausdruck«, sagte Angella amüsiert. »Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber mach' dir nichts draus. Ich lebe noch, oder? Und ich habe mir schon lange einmal gewünscht hierherzukommen.«

»Du wirst nie wieder nach Schelfheim zurück können«, sagte Tally. »Selbst nicht, wenn wir das hier überleben sollten.«

»Das macht nichts«, erwiderte Angella. »Das Leben dort begann sowieso allmählich langweilig zu werden. Früher oder später hätte mich Jandhi wahrscheinlich erledigen lassen. Sie duldet niemanden in ihrer Stadt, der zu mächtig ist. Warum ist sie hinter dir her?«

Die Frage kam so schnell und in so beiläufigem Ton, daß Tally um ein Haar ganz automatisch geantwortet hätte.

»Das... ist eine lange Geschichte«, sagte sie ausweichend.

»Wir haben viel Zeit.«

Tally schwieg, und Angella besaß genug Gespür, die Frage kein zweites Mal zu stellen.

Sie versanken wieder in dumpfes Schweigen, das nur dann und wann unterbrochen wurde, wenn sich einer von ihnen bewegte. Sie alle sehnten den Tag herbei, aber als er dann kam, war er vor allem eine Enttäuschung.

Was Tally sah, war fremdartig und bizarr und erschreckend, aber es war nichts von alledem, was sie erwartet hatte. Es war im Grunde überhaupt nichts: ein verwaschenes Konglomerat blasser Farben und nur angedeuteter Umrisse, in das ein winziger Ausschnitt der Welt eingebettet war. Vielleicht, überlegte sie, war es mit dem Schlund wie mit vielen wirklichen großen Geheimnissen – sie verloren ihren Zauber, wenn man sie lüftete.

Die Dämmerung kam sehr schnell, aber sie nahm kein Ende, und kurz darauf begann es zu regnen: zwei Dinge, die Tally kannte, die aber hier unten, fünf Meilen näher an der Hölle, eine völlig neue Bedeutung bekamen. Die absolute Finsternis, in der Tally erwacht war, wich einem sonderbaren, graugrünen Halblicht, das nur Dinge genau erkennen ließ, die nicht mehr zwei oder drei Meter entfernt lagen. Alles Dahinterliegende war verschwommen, große finstere Umrisse mit halb aufgelösten Konturen, unwirklich und drohend zugleich. Und auch der Regen, der fast gleichzeitig mit dem Tag begann, war sonderbar: fein wie sprühender Nebel und so warm, daß Tally seine Berührung kaum spürte, ehe sie bis auf die Haut durchnäßt war. Zusammen mit dem unwirklichen graugrünen Licht gab er ihr das Gefühl, sich unter Wasser zu befinden.

Mit einer müden Bewegung strich sie sich eine Strähne ihres naß gewordenen Haares aus dem Gesicht, drehte sich halb herum und sah Karan an. Er hockte nur wenige Meter neben ihr, halb gegen den Stamm eines Baumes gelehnt, der so absurd groß war, daß Tally erst gar nicht versuchte, seinen Umfang zu schätzen. Trotzdem konnte sie sein Gesicht nicht richtig erkennen. Es war nur ein hellerer Schatten in dem wogenden Etwas, in dem sich die Wirklichkeit aufzulösen begann. Er war verletzt, aber das waren sie alle – Kratzer, die jeder für sich genommen nicht gefährlich waren, aber an ihren Kräften zehren würden.

»Wann können wir weiter?« fragte sie.

Karan schrak sichtlich zusammen, und auch Angella, die ein Stück neben ihm hockte, blickte Tally fast erschrocken an, und Tally fügte hinzu: »Ich meine, wann wird es endlich hell! Ich habe keine Lust, hier zu überwintern, weißt du?«

»Es ist hell«, antwortete Karan knapp.

Tally blinzelte. »Willst du sagen, daß das alles ist?« fragte sie ungläubig. Sie deutete nach oben. Wo der Himmel sein sollte, erstreckte sich eine geschlossene Decke aus wucherndem Grün und Braun. Kein Himmel. Nicht das kleinste Stückchen Himmel, dachte sie schaudernd.

»Es wird nicht heller?« vergewisserte sie sich.

»Nicht hier«, antwortete Karan. »Vielleicht später, wenn Karan eine Lichtung oder eine Schneise findet. Hier nicht. Dies hier ist das Dazwischen, von dem Karan erzählt hat. Weiter unten ist ewige Nacht. Im Wipfel herrscht Tag.«

»Dann sollten wir versuchen, in den Wipfel hinaufzukommen«, schlug Angella vor.

»Und zu sterben?« fragte Karan matt.

Angella gab einen ärgerlichen Laut von sich. »Hast du nicht vor weniger als einer Stunde behauptet, nur der Boden wäre tödlich?« fauchte sie.

»Der Schlund tötet überall«, erwiderte Karan ungerührt. »Aber an manchen Stellen tötet er schneller.« Er stand auf. Tally bemerkte, wie unsicher und langsam seine Bewegungen waren.

Auch Tally stand auf, machte einen Schritt in Karans Richtung und blieb sehr abrupt wieder stehen, als sie sah, worauf sie überhaupt ging. Für einen Moment sehnte sie die Dunkelheit fast zurück.

Der Boden war kein Boden, sondern ein erschreckend dünnes Geflecht von Ästen, ineinandergewachsenen Luftwurzeln und Blättern, ein riesiges Netz, das fest genug gewesen war, den stürzenden Gleiter aufzufangen, in dem aber gewaltige Löcher gähnten. Sie mußten ein ganzes Batallion erstklassiger Schutzengel auf ihrer Seite gehabt haben, daß während der Nacht keiner von ihnen in eine dieser Fallgruben gestolpert und in die Tiefe gestürzt war.

«Kommt her«, sagte Karan müde. »Karan zeigt euch einen sicheren Weg. Es ist nicht so gefährlich, wie es aussieht.« Er versuchte sogar zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz. Als Tally näher kam, sah sie, daß sein Gesicht grau geworden war. Dann fiel ihr auf, wie unnatürlich er den linken Arm hielt.

»Was ist mit dir?« fragte sie erschrocken. »Du bist verletzt!«

»Das ist nichts«, antwortete Karan. »Es wird heilen. Jetzt kommt und folgt Karan.«

Er wollte sich umwenden und davongehen, aber Angella vertrat ihm rasch den Weg, riß ihn grob an der Schulter herum und griff nach seinem Arm. Karan keuchte vor Schmerz, als sie sein Handgelenk berührte.

»Der Arm ist gebrochen«, stellte Angella fest. »Und du sagst, das ist nichts?« Sie sah Karan vorwurfsvoll an und schüttelte den Kopf. »Hier unten kann dieses nichts deinen Tod bedeuten, alter Mann.«

»Karan wußte, daß er sterben wird, wenn er hierher zurückkehrt«, antwortete Karan, sehr leise, aber mit sehr großem Ernst. »Es spielt keine Rolle. Vielleicht... vielleicht ist es sogar gut so. Und nun kommt, ehe ihr zu Beute werdet.«

Er löste seinen Arm mit sanfter Gewalt aus Angellas Griff, sah sich suchend um und deutete in die Richtung, in der sich der zerschmetterte Gleiter als weißer Schemen in der ewigen Dämmerung erhob. »Dorthin.«

»Was ist dort?« fragte Tally.

»Norden.« Karan nickte, um seine Worte zu bekräftigen. »Du wolltest nach Norden, oder?«

»Woher willst du das wissen?« fragte Angella mißtrauisch. »Es kann genausogut Süden sein, oder Westen oder Osten.«

»Es ist Norden«, beharrte Karan. »Karan weiß es. Er wird vorausgehen. Folgt ihm in zehn Schritten Abstand. Und du, Tally, hältst deine Waffe bereit.«

Wieder wollte er losgehen, aber diesmal war es Tally, die ihn zurückhielt. »Einen Moment noch, Karan«, sagte sie. »Was soll das? Wir hatten vereinbart, Weller zu suchen, und –«

»Niemand hat das vereinbart«, unterbrach sie Karan.

»Du hast es gesagt, aber es ist unmöglich.«

Er blickte sie einen Moment ernst an, aber etwas in ihrem Gesicht schien ihm zu sagen, daß sich Tally mit dieser Erklärung allein nicht zufrieden geben würde; denn nach einem weiteren Augenblick seufzte er, wandte sich um und ging an Tally vorbei bis zu einer der gewaltigen Lücken im Netzboden. »Komm.«

Tally zögerte. Allein die Airstellung, sich dem gewaltigen Schlund zu nähern, erfüllte sie mit Entsetzen. Dann überwand sie ihre Furcht und trat, wenn auch sehr vorsichtig, neben ihn. Angella und Hrhon folgten ihr. Ein Schwall feuchtwarmer, nach Fäulnis riechender Luft schlug ihnen entgegen. Unter ihnen, entsetzlich tief unter dem Netz, glitzerte schwarzer, sumpfiger Boden, eine schier unendliche Ebene wie aus geschmolzenem Teer, auf der sich nur hier und da ein verirrter Lichtstrahl brach.

Tally schätzte, daß sie mindestens hundert Meter hoch waren. Es war ein bizarrer Anblick: sie standen buchstäblich im Nichts, achtzig oder mehr Manneslängen über dem Boden, im Herzen eines ungeheuerlichen, vor Leben schier überquellenden Waldes – aber unten ihnen war nichts. Nichts als eine Kathedrale aus Schwärze, in der die blattlosen Stämme der Riesenbäume wie titanische Stützpfeiler aufragten. Das Leben hatte den Waldboden geflohen und sich auf eine zweite, höher – und sicherer – gelegene Ebene zurückgezogen. Der Anblick war unglaublich niederschmetternd. Unter ihnen war Wald, der Urquell allen Lebens, aber etwas hatte ihn in das genaue Gegenteil davon verwandelt.

»Großer Gott«, murmelte Angella. »Wie hoch sind diese Bäume, Karan?«

»Sehr hoch«, antwortete Karan. »Über euch noch einmal so hoch wie unter euch. Dort unten ist der Tod, Angella. Wenn Weller dort hinabgestürzt ist, lebt er nicht mehr. Nichts lebt dort unten.«

Angella schauderte sichtlich, beugte sich aber trotzdem neugierig vor und blinzelte in die Tiefe hinab. »Was ist das?« murmelte sie. »Ein Sumpf?«

Karan nickte. »Auch das«, sagte er. »Karan war nur ein einziges Mal dort unten, und er hat...« Er zögerte, sehr lange, und als er weitersprach, hatte Tally das sichere Gefühl, daß er in Wahrheit etwas ganz anderes hatte sagen wollen. »Er hat großes Glück gehabt, davonzukommen. Nichts lebt dort unten, außer den Läufern und den Bäumen.« Er sah Tally an. »Weller ist tot. Und auch du wirst sterben, wenn du ihn suchen willst, dort unten.«

Tally schwieg. Trotz der schwülen Wärme, die sie einhüllte, fror sie plötzlich wieder. Ein schlechter Geschmack breitete sich auf ihrer Zunge aus. Ganz langsam stand sie auf, drehte sich herum und starrte den zertrümmerten Gleiter an. Das Gefährt hing mit zerborstenen Schwingen zwischen den Ästen, gefangen von dem ungeheuerlichen Netz, auf das sich das Leben zurückgezogen hatte, und fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Das Heck mit dem bizarren Ruder war verkohlt. In diesem Moment kam es Tally mehr denn je wie ein Symbol vor – ein Symbol für das Unglaubliche, das sie geschafft hatten. Und die Sinnlosigkeit dessen, was sie noch tun wollten. Für einen Moment, einen winzigen Moment nur, war sie nahe daran, einfach aufzugeben. Dann regte sich ihr alter Trotz wieder in ihr. Sie lächelte. »Geh voraus«, sagte sie.

3

Zeit hatte keine Bedeutung in der graugrünen Dämmerung des Dazwischen. Hinterher begriff Tally, daß es Stunden gewesen sein mußten, die sie Karan über den schmalen Grat zwischen Tag und Nacht gefolgt waren, aber während sie es tat, schien die Zeit einfach stehenzubleiben. Jeder Schritt war mühsamer als der vorangegangene, und es spielte keine Rolle, wie viele sie taten – ihre Umgebung war immer gleich, ein dünnes, schwankendes Netz auf halbem Wege zwischen Himmel und Hölle. Der Regen hörte nicht auf.

Zumindest gewöhnte sie sich allmählich an die unheimliche Beleuchtung, so daß sie nach einer Weile mehr Einzelheiten erkennen konnte. Die Zwischenetage des Waldes war nicht so bar jeden Lebens, wie sie bei Tagwerden gedacht hatte – wohin sie auch blickte, huschte und bewegte es sich; es gab große, knorrige Nester voller gepanzerter Insekten, kleine pelzige Etwasse, um die Karan einen respektvollen Bogen schlug, und Kreaturen, die halb Pflanze, halb Tier zu sein schienen.

Einmal begegnete ihnen etwas, das wie ein Hornkopf aussah, nur größer, bizarrer und sehr viel wilder. Aber Karan hob nur beruhigend die Hand und ging einfach an ihm vorüber, und nach kurzem Zögern folgten ihm auch Tally und Angella. Das Rieseninsekt hockte einfach reglos da und starrte ihnen nach.

Doch es gab auch Stellen, an denen Karans Nervosität zu purer Angst wurde – so gerieten sie einmal in einen Bereich des Dazwischen, in dem die Zwischenräume zwischen den Bäumen von großen, silbern glänzenden Netzwerken ausgefüllt waren; Spinnennetze, die keine Bewohner hatten, Karan aber mit unübersehbarem Entsetzen erfüllten. Weder Tally noch Angella widersprachen, als er sie hastig aufforderte, kehrt zu machen und den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren.

Nicht immer bewegten sie sich über das Netz. Manchmal gähnten gewaltige Löcher in dem hängenden Boden, so daß sie über die vom Regen glitschig gewordenen Äste der Riesenbäume balancieren mußten, was vor allem Hrhon vor große Probleme stellte. Und mehr als einmal waren sie gezwungen, umzukehren und zurückzugehen, um unüberwindbare Abgründe zu umgehen.

Gegen Mittag – Tally vermutete zumindest, daß es Mittag sein mußte – rasteten sie. Sie hatten keinerlei Nahrungsmittel, aber das Wasser, das noch immer unablässig aus dem lebenden Himmel über ihnen strömte, stillte zumindest ihren Durst. Angella fragte Karan, ob es jagdbares Wild im Schlund gäbe. Karan antwortete nicht einmal darauf. Nach einer Stunde gingen sie weiter.

Kurz darauf wurde es vor ihnen hell. In die dunkelgrüne Dämmerung mischte sich ein erster Schimmer von Sonnenlicht, und Karan blieb plötzlich stehen. Er sagte nichts, hob aber mahnend die Hand, als Angella und Tally zu ihm aufschlossen. Der Ausdruck auf seinen Zügen war sehr besorgt.

»Laßt den Waga vorausgehen«, befahl er.

Tally wollte widersprechen, aber Hrhon schien ohnehin nur auf dieses Stichwort gewartet zu haben. Mit einer fast beiläufigen Bewegung schob er Karan zur Seite und balancierte über den schwankenden Boden los. Augenblicke später hatte ihn das Dickicht verschluckt.

»Was ist dort vorne?« fragte Tally. »Eine Lichtung?«

»Möglicherweise«, erwiderte Karan. Er sah sie nicht an. »Aber Licht bedeutet Gefahr. Wartet, bis der Waga zurück ist.«

Ihre Geduld wurde auf keine sehr harte Probe gestellt. Schon nach wenigen Augenblicken tauchte Hrhon wieder aus dem grünverschlungenen Dickicht auf, erregt mit beiden Armen wedelnd und so schnell, wie es seine kurzen Beine und der schwankende Boden zuließen.

»Kohmmt!« zischte er. »Sssnell!« Er fuhr mitten im Schritt herum, wedelte wieder ungeduldig mit den Armen und lief los, noch ehe Tally und Angella ihn ganz eingeholt hatten. Und kaum eine Minute später sahen sie, was der Grund für Hrhons Erregung war:

Der Wald lichtete sich stärker, und nach weniger als zwei Dutzend Schritten erreichten sie eine Stelle, an der der Himmel sichtbar war. Aber Tally sah schon auf den zweiten Blick, daß es keine natürlich entstandene Lichtung war – etwas hatte das gewaltige Blätterdach durchschlagen, Äste und Baumstämme geknickt und ein ungeheuerliches, fast kreisrundes Loch in den Wald gestanzt, ehe es hundert Meter unter ihnen zerschmettert war. Es war der Drache.

Das Ungeheuer mußte mit der Gewalt eines vom Himmel stürzenden Sternes in den Dschungel gefallen sein. Sein Körper war fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, zerfetzt und zerbrochen und von abgebrochenen Ästen durchbohrt wie von riesigen Pfeilen. Eine seiner Schwingen war verschwunden, das lächerlich dürre, brandgeschwärzte Knochengerüst, verdreht, aber wie durch ein Wunder noch in einem Stück, wie eine Skeletthand über den Boden ausgebreitet. Überall in den Bäumen hingen gewaltige, schwarze Hautfetzen. Selbst nach all der Zeit roch die Luft noch verbrannt.

Tally schauderte. Sie hätte Triumph empfinden müssen beim Anblick des toten Kolosses. Absurderweise war alles, was sie spürte, Angst.

Und Mitleid. Sie verstand ihre Gefühle selbst nicht, und ihre Verwirrung wuchs noch, als sie sich ihrer vollends bewußt wurde: sie hatte allen Grund, diese Ungeheuer zu hassen, und doch tat ihr der erschlagene Titan unter ihr einfach nur leid.

Eine Hand berührte sie an der Schulter. Erschrocken senkte sie die Hand zum Gürtel und fuhr herum, erkannte im letzten Moment Karan und entspannte sich sichtlich.

»Das solltest du nicht tun«, sagte sie kopfschüttelnd.

»Meine Nerven sind nicht mehr die besten, weißt du?«

»Geht vom Waldrand zurück«, antwortete Karan. »Es ist gefährlich.«

Tally sah ihn fragend an, und Karan hob die Hand und deutete nach oben. Tallys Blick folgte der Bewegung. Und einen Moment später begriff sie, wie Karans Worte gemeint gewesen waren.

Es war nicht so, daß sie irgendwelche Einzelheiten erkannte; über ihnen spannte sich der Himmel in einem nach Stunden endloser Dämmerung fast schmerzhaft intensivem Blau, das das Blättergewirr darunter dunkler erscheinen ließ, als es war. Tally sah jetzt, daß der Wipfelbereich des Waldes eine Stärke von gut siebzig, achtzig Metern haben mußte – und er war voller Bewegung.

Nichts war wirklich zu erkennen, nichts einzeln auszumachen. Überall huschte und zuckte es, flitzten kleine und große Körper hin und her, schnappten rasiermesserscharfe Fänge oder klebrige Zungen, schlossen sich tödliche Blüten um ahnungslose Opfer...

Tally stand fast fünf Minuten vollkommen reglos da und blickte in die Höhe, ohne auch nur einen einzigen Bewohner dieses tödlichen Waldes wirklich zu erkennen. Aber sie begriff, daß dieser Wald kein Wald war, sondern nichts anderes, als ein einziger großer Magen – das Leben rings um sie herum war ein unablässiges Fressen und Gefressen werden, eine Orgie des Tötens, in der es aus irgendeinem Grunde eine sehr schmale, ruhige Zone gab, in der sie standen.

»Begreifst du nun?« fragte Karan, als sie sich endlich wieder von dem bizarren Anblick löste.

Tally nickte.

»Aber ich nicht«, sagte Angella. Karan und Tally sahen sie fragend an, und Angella deutete mit einer fast zornigen Kopfbewegung in die Tiefe. »Du hast behauptet, dort unten wäre kein Leben«, fuhr sie fort. »Dann erklär' mir, was das ist.«

Als Tally auf den Drachen herabsah, begriff sie, was Angella meinte. Sie war absolut sicher, daß das tote Ungeheuer vor wenigen Minuten noch vollkommen reglos dagelegen hatte. Jetzt hatte sich der Anblick vollkommen verändert.

Der Drache bewegte sich. Genauer gesagt, dachte Tally schaudernd – etwas ihn ihm bewegte sich, kroch unter seiner Haut entlang, ließ längst erstarrte Muskeln noch einmal zucken, das gewaltige Maul sich noch einmal öffnen und wieder schließen...

Angeekelt wandte sie sich ab.

»Das ist kein Leben«, sagte Karan ruhig. »Es sieht nur so aus.«

»So?« Angellas Stimme war sehr scharf. Sie sah jetzt wieder aus wie ein zorniges Kind. »Dann erklär mir, was es ist. Wovor –«

»Karan kann dir nichts erklären, was er selbst nicht weiß«, unterbrach sie Karan hart. »Du kannst hierbleiben, wenn du willst. Karan jedenfalls wird gehen. Er kennt einen Ort, nicht weit von hier, wo ihr sicher seid.« Er wollte sich umdrehen und gehen, aber Angella riß ihn grob zurück. Karans Lippen zuckten vor Schmerz, als sie seinen gebrochenen Arm berührte.

»Du wirst jetzt stehenbleiben und antworten!« schrie sie. »Du –«

Tally schlug ihre Hand herunter. »Laß das!« sagte sie warnend. »Wir haben andere Sorgen, als uns gegenseitig an die Kehle zu gehen!« Sie schüttelte den Kopf, seufzte, und fügte etwas ruhiger hinzu: »Was ist los mit dir? Warum bist du so aggressiv? Hast du Angst?«

Angella schnaubte. »Warum fragst du das nicht Karan?« Sie machte eine Ärgerliche Handbewegung.

»Was bist du, Liebling? Einfach nur naiv, oder auch dumm? Du hast diesen verdammten Wald gesehen, oder?«

»Und?« fragte Tally. Sie verstand in diesem Moment wirklich nicht, worauf Angella hinauswollte.

»Und?« äffte Angella ihre Frage nach und zog eine Grimasse. »Und? Und? Zum Teufel, Tally, dieser Wald ist kein Wald, sondern ein einziges großes Maul, das nichts anderes tut als Fressen.«

»Das ist mir aufgefallen«, sagte Tally ärgerlich.

»Und mir ist aufgefallen, daß wir noch leben«, erwiderte Angella. »Findest du es nicht auch komisch, daß wir seit einem halben Tag durch diese Hölle marschieren und noch nicht einmal von einer Mücke gestochen worden sind?« Sie spie aus, trat ein Stück zurück und funkelte Karan zornig an. »Irgend etwas stimmt hier nicht!« behauptete sie. »Entweder mit diesem Wald, oder mit unserem sogenannten Führer!«

»Wäre es dir lieber, wir wären schon aufgefressen worden?« fragte Tally. Aber der spöttische Ton, den ihre Worte verlangten, wollte ihr nicht recht gelingen. Angellas Worte hatten sie mehr getroffen, als sie zugeben wollte – für einen Moment fragte sie sich, wieso sie selbst nicht schon längst auf den gleichen Gedanken gekommen war.

»Dann wüßte ich wenigstens, woran wir sind«, murrte Angella. »Ach zum Teufel, hätte ich dich doch nie getroffen. Oder dir gleich die Kehle durchgeschnitten«, fügte sie böse hinzu.

»Du hast es versucht, oder?« erwiderte Tally.

Angella zog eine Grimasse, fuhr auf der Stelle herum und entfernte sich ein paar Schritte, blieb aber stehen, ehe sie vollends außer Sicht kommen konnte.

»Es... tut mir leid«, sagte Tally langsam, zu Karan gewandt. »Sie ist nervös.«

Karan nickte. »Aber sie hat recht«, sagte er. »Karan hat sich schon gefragt, wie lange es dauert, bis ihr es merkt.« Er versuchte zu lächeln, aber irgendwie gelang es ihm nicht richtig. »Auch Karan hat sich diese Frage gestellt, beim ersten Mal. Und auch er hat keine Antwort gefunden.« Er machte ein weit ausholende Handbewegung.

»Dieser Bereich des Waldes ist sicher. Frag Karan nicht, warum es so ist. Es ist einfach so.«

Er log. Tally konnte nicht sagen wieso, aber sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß er log, im gleichen Moment, in dem sie die Worte hörte. Er log, oder zumindest verschwieg er ihr etwas, etwas Wichtiges.

Aber sie sprach nichts von alledem aus, sondern zwang sich zu einem neuerlichen, um Vergebung heischenden Lächeln. Dann deutete sie auf Karans Arm.

»Tut es sehr weh?«

»Ja«, sagte Karan. »Aber Schmerz bedeutet nichts. Er ist gut. Er sagt uns, daß wir leben.«

»Du solltest Hrhon nach deinem Arm sehen lassen«, sagte Tally. »Er versteht sich auf das Versorgen von Wunden.« Sie lächelte. »Mich hat er schon mehr als einmal zusammengeflickt.«

»Das ist nicht nötig.« Karan wich ein ganz kleines Stück von ihr zurück und legte die Hand auf den verletzten Arm. »Karan wird sterben, so oder so. Aber vorher wird er euch hier herausbringen.«

»Unsinn«, widersprach Tally gereizt. »Hör endlich auf, von nichts anderem als dem Tod zu reden, du alter Schwachkopf. Wir schaffen es schon.«

Sie fühlte sich hilflos. Ihre Gereiztheit war nicht echt, sondern nur Ausdruck der tiefen Betroffenheit, mit der sie Karans Worte erfüllte. Und er schien es zu spüren, denn als Antwort auf ihre scharfen Worte lächelte er plötzlich.

»Was schreckt dich so an dem Gedanken, sterben zu müssen?« fragte er. »Karan hat es immer gewußt. Er wußte, daß er den Tod finden würde, wenn er hierher zurückkehrt. Er ist dem Schlund einmal entwischt, aber niemand bekommt eine zweite Chance.«

»Hast du... dich deshalb geweigert, uns zu führen?« fragte Tally.

Karan nickte. »Euch und andere, ja. Aber du mußt dir nichts vorwerfen – es ist gut, so wie es gekommen ist.«

»Was ist gut daran, zu sterben?«

»Manchmal ist es besser«, erwiderte Karan. »Du wirst Karans Worte verstehen, wenn du gelernt hast, den Schlund zu verstehen, Tally. Du –«

Angella stieß einen erschrockenen Laut aus.

Tally fuhr herum, die linke Hand auf dem Schwert, die andere auf dem Griff des Lasers. Aber es gab nichts, wogegen sie die eine oder andere Waffe hätte ziehen können. Keines von all den Alptraummonstern, deren Bilder ihre überreizte Phantasie ihr in dem Sekundenbruchteil vorgaukelte, ehe sie sich zu Angella herumgedreht hatte, war wirklich da – das Mädchen mit dem Narbengesicht stand da, die rechte Hand ausgestreckt und auf den toten Drachen gerichtet. Ihre Lippen zitterten.

»Was ist los?« fragte Tally alarmiert. Angella reagierte nicht, sondern starrte weiter in die Tiefe. Ihre Augen waren unnatürlich weit und dunkel vor Furcht.

»Verdammt noch mal – was ist passiert?!« schrie Tally. Wütend trat sie auf Angella zu und riß sie an der Schulter herum. »Rede!« befahl sie.

»Es... es war...« Angella atmete hörbar ein, streifte Tallys Hand ab und suchte Zuflucht in einem unsicheren Lächeln. »Für... für einen Moment dachte ich, ich hätte etwas gesehen« sagte sie.

»Etwas?« Tally hob zweifelnd die linke Augenbraue. Wenn Angella vor Schrecken die Beherrschung verlor und aufschrie, dann hatte sie ganz entschieden mehr als etwas gesehen. »Zum Teufel, Angella – was hast du gesehen?« fragte sie scharf. »Was war es?«

»Ich... ich dachte, es wäre... Weller«, stammelte Angella.

»Weller?« Tally keuchte vor Unglauben. »Dort unten?« Angella nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.

»Ich muß mich getäuscht haben«, sagte sie, eine Spur zu hastig. »Ich... ich dachte, er wäre es, aber gleichzeitig war es...«

Sie brach ab, atmete hörbar ein und blickte unsicher an Tally vorbei nach unten. »Es war entsetzlich«, flüsterte sie. »Es war Weller, und gleichzeitig war es etwas... etwas anderes.«

»Das ist unmöglich!« mischte sich Karan ein. »Vollkommen ausgeschlossen! Dort unten lebt nichts.«

»Woher willst du das wissen?« Tally fuhr herum und starrte Karan an. »Ich denke, du warst niemals dort?«

»Karan weiß es«, beharrte Karan. »Weller kann nicht mehr am Leben sein. Er wurde aus dem Gleiter geschleudert. Wenn ihn das Feuer des Drachen nicht getötet hat, so hat es der Sturz getan. Ihr seid Meilen von der Absturzstelle entfernt. Wie soll er hierherkommen? Er muß tot sein. Und wenn nicht, so wäre es besser für ihn, er wäre tot.«

»Jetzt reicht es«, sagte Tally, sehr leise, aber voller Wut. »Vielleicht habe ich mich geirrt, als ich dich vorhin in Schutz genommen habe. Gestern wußtest du noch, daß dort unten nichts lebt. Jetzt lebt er vielleicht, aber es wäre besser für ihn, er wäre tot!« Sie trat drohend auf Karan zu. »Welches Spiel spielst du mit uns, Karan? Was ist dort unten?«

»Der Tod«, sagte Karan. »Nicht der Tod, wie du oder Angella ihn kennen, Tally. Etwas, das tausendmal schlimmer ist.«

»Das reicht mir nicht«, sagte Tally. »Ich will jetzt eine klare Antwort von dir, Karan. Sag mir, was dort unten ist, oder ich schwöre dir, daß ich hinuntergehen und nachsehen werde. Und du wirst mich begleiten.«

»Niemals!«

Tally hob schweigend die Hand, und Hrhon trat mit einem raschen Schritt hinter Karan und legte eine seiner mächtigen Pranken auf seine Schultern.

»Niemals!« beharrte Karan. Seine Stimme zitterte, und sein Blick flackerte vor Angst. Aber es war nicht die Angst vor Hrhon, das begriff Tally plötzlich. Ganz gleich, was der Waga ihm antun mochte, es konnte nicht annähernd so schlimm sein wie das, was dort unten auf sie lauerte.

»Hört auf!« sagte Angella plötzlich.

Tally starrte sie wütend an. »Misch dich nicht ein!« sagte sie. »Ich –«

»Vielleicht wirfst du einmal einen Blick nach oben«, unterbrach sie Angella, »bevor du etwas sagst, was dir später leid tut.«

Tally starrte sie eine Sekunde lang verwirrt an, hob aber den Blick und sah in den kreisrunden Flecken blauen Himmels hinauf, der über dem Wald sichtbar geworden war.

Er war nicht mehr leer. Auf dem strahlenden Azurblau waren eine Anzahl weißer, wie hingetupft wirkender Wolken erschienen. Und darüber, sehr hoch darüber, aber nicht so hoch, daß sie nicht mehr sichtbar gewesen wären, kreisten drei gewaltige, nachtschwarze Drachen.

»Das... das ist doch unmöglich«, wisperte Tally. Der Anblick lähmte sie. »Das... das kann nicht sein... Sie können nicht wissen, daß wir hier sind!«

»Das wissen sie auch nicht«, sagte Angella nachdenklich. Sie deutete nach unten, auf den toten Drachen, und sie tat es, ohne hinabzusehen, wie Tally sehr wohl registrierte. »Sie suchen das da!«

»Du hast recht...« Tally nickte – eigentlich gegen ihre Überzeugung – fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen und deutete in den Wald zurück.

»Laßt uns verschwinden, ehe sie uns wirklich sehen können.«

Hastig wichen sie in die Deckung des Waldes zurück, weit genug, um von den Reitern, die zweifellos auf den Rücken der drei Drachen saßen, nicht mehr gesehen werden zu können, aber noch nicht ganz bis in den Bereich ewiger Dämmerung hinein.

»Und jetzt?« fragte sie.

Karan deutete in die grüngraue Dämmerung hinein.

»Nach Norden. Karan weiß einen sicheren Platz für die Nacht.«

Ohne ein weiteres Wort gingen sie los.

4

Karans sicherer Platz für die Nacht war ein Alptraum. Stunde um Stunde waren sie durch das schwindelndmachende Halblicht der Dämmerungszone gelaufen. Mal waren sie über titanische Äste balanciert, mal hatten sie sich an jäh aufklaffenden Abgründen entlanggetastet; die meiste Zeit jedoch waren sie über das gewaltige Netz aus Pflanzenfasern und Gestrüpp gegangen, das sich hundert Meter über dem Boden spannte, einem zweiten, nach oben verlegten Waldboden gleich, eingehüllt von unheimlichem Licht und Stille und dem beständig strömenden Regen. Bald schien es Tally, als könne sie sich schon gar nicht mehr erinnern, wie es war, nicht bis auf die Haut durchnäßt zu sein und zu frieren. Aber ganz, wie Karan es prophezeit hatte, hörte der Regen nicht auf, sondern fiel unablässig, bis es dunkel wurde.

Mit dem letzten Licht des Tages schließlich erreichten sie den verbrannten Baum. Obwohl es oben über dem Wald bereits dämmerte, wurde es vor ihnen noch einmal heller; denn das Blätterdach des Wipfels war hier nicht so vollends geschlossen wie anderswo – das geschwärzte Skelett des Riesenbaumes ragte wie eine vielfingrige Knochenhand in den Himmel hinauf. Sein Stamm, der den Durchmesser eines Hauses hatte, glänzte vor Feuchtigkeit wie poliertes schwarzes Eisen, und allein sein Anblick ließ Tally einen Moment im Schritt verharren. Er wirkte... böse.

Es war nicht einfach nur ein toter Baum, dachte Tally schaudernd. Irgendwann einmal vor einem oder auch hundert Jahren mußte ihn der Blitz getroffen und gespalten haben, und irgend etwas war mit ihm geschehen, was die Rückkehr des Lebens nachhaltig verhinderte. Auf der borkigen Rinde aus zu Stein gewordenem Holz war nicht der winzigste Flecken Moos zu sehen; keine der Millionen Parasitenpflanzen, die auf den anderen Stämmen wucherten; nichts. Der Baum war tot, und er war so nachhaltig tot, daß alles Leben seine Nähe zu fliehen schien. Selbst das Netzwerk des Dazwischen war unterbrochen. Der Baum stand inmitten des Waldes wie ein zerbrochener Riesenspeer, der in den Boden gerammt worden war. Und er war Teil jenes entsetzlichen nichtWaldes dort tief unter ihnen. Den Hauch des abgrundtief Bösen, den sie gespürt hatte, als Karan ihr das erste Mal den Boden zeigte, fühlte sie auch jetzt. Wie einen Pesthauch, den das schwarze Monstrum ausstrahlte.

Im Nachhinein erschien es Tally wie ein Wunder, daß sie alle die waghalsige Kletterei unbeschadet überstanden hatten, die nötig gewesen war, die letzten Meter zu überwinden. Nicht, daß sie auch nur noch einen einzigen Gedanken daran verschwendet hätte, als sie es geschafft hatten... Ihre Aufmerksamkeit wurde voll von dem in Anspruch genommen, was sie in seinem Inneren erwartete ...

Sie war nicht sehr überrascht, den Baum hohl vorzufinden.

Hohl – nicht leer.

Nur wenig mehr als einen Meter unter der Stelle, an der Karan sie durch den zerborstenen Stamm führte, spannte sich ein gewaltiges, silbernweißes Spinnennetz. Seine Fäden waren absurd dünn, verglichen mit der ungeheuerlichen Größe des Gebildes – Tally schätzte seinen Durchmesser auf gut zwanzig Meter –, nicht sehr viel stärker als normale Spinnweben. Aber es waren Millarden.

»Wenn... das ein Witz sein sollte, war es kein Guter, Karan«, sagte Angella. Ihre Stimme zitterte vor Ekel.

»Was soll das?«

»Es ist ein sicherer Platz«, beharrte Karan. »Geht hinein – keine Sorge, es ist fest genug, selbst den Waga zu tragen.«

Angella keuchte. »Hinein?« wiederholte sie ungläubig. Ihre Stimme wurde schrill. »Du bist völlig übergeschnappt, was?«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan ruhig. »Die Wesen, die es geschaffen haben, sind fort.«

»Es sieht ziemlich neu aus«, sagte Tally. Auch sie mußte all ihre Beherrschung aufbieten, um wenigstens äußerlich ruhig zu erscheinen. Die Vorstellung, dieses ungeheuerliche Spinnennetz zu berühren, erfüllte sie mit unbeschreiblichem Ekel. Ihre Augen begannen sich allmählich an das schwache Licht hier drinnen zu gewöhnen, und sie sah zahllose, in helle Spinnenseide eingeschlossene Kokons unterschiedlicher Größe. Beute. In manchen von ihnen bewegte sich etwas. Das Gefühl von Ekel in Tallys Magen steigerte sich zu echter körperlicher Übelkeit. Sauer schmeckender Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge.

»Sie sind fort«, beharrte Karan. »Sie werden nicht kommen, solange wir hier sind.«

Tally sah ihn zweifelnd an. Karan lächelte aufmunternd – und sprang mit einem Satz auf das Netz herunter! Ein Laut wie von einer ungeheuer großen, gläsernen Harfe erklang; Augenblicke später antwortete ein Echo aus der unsichtbaren Tiefe. Aber das Netz, so zerbrechlich es aussah, hielt.

»Kommt schon«, sagte Karan auffordernd. »Es ist wirklich sicher hier!«

Tally bezweifelte das nicht einmal. Aber sie hätte sich im Moment wohl eher den rechten Arm abhacken lassen, als dieses widerwärtige Netz auch nur zu berühren.

»Jemand sollte Wache halten«, sagte sie.

Karan sah sie nur schweigend an, während Angella hörbar die Luft ausstieß. »Und dieser Jemand bist natürlich du«, sagte sie.

»Wer sonst?« Tally drehte sich abrupt herum und ging wieder ins Freie. Sie spürte echte körperliche Erleichterung, aus der Nähe des Netzes verschwinden zu konnen. Außerdem hatte sie keine Lust, sich mit Angella zu streiten.

Es war vollends dunkel geworden, als sie ins Freie hinaustrat. Der Himmel über dem Wald war schwarz und leer, und es wurde empfindlich kalt. Tally rieb sich schaudernd die Oberarme mit den Händen, suchte sich eine windgeschützte Ecke in dem Gewirr aus versteinerten Ästen und hockte sich hin. Zumindest hatte der Regen aufgehört.

Tally war müde, so müde, daß es ihr schwer fiel, die Augen offen zu halten; sie war sich darüber im Klaren, daß sie kaum mehr in der Lage sein würde, wirklich zu wachen. Die Anstrengungen des vergangenen Tages forderten ihren Preis; jetzt, wo sie zur Ruhe kam. Aber sie wehrte sich auch nicht dagegen. Zum einen hatte es mit Sicherheit keinen Sinn, und zum anderen... nun, sie wollte auch nicht mehr.

Zum ersten Male in ihrem Leben war Tally des Kämpfens wirklich müde. Hätte sich in diesem Augenblick die Dunkelheit vor ihr geteilt und Jandhi oder eine der anderen Drachentöchter wäre hervorgetreten, sie hätte sich nicht mehr gewehrt. Es war ein Gefühl, das ihr fremd war, gegen das sie aber nicht anzukämpfen versuchte. Vielleicht der Einfluß des Schlundes.

»Tally...«

Tally sah auf; verwirrt, überrascht, aber auch alarmiert. Ganz automatisch kroch ihre Hand zum Gürtel und schmiegte sich um den Schwertgriff. Ihr Herz begann zu hämmern. Sie hatte ganz deutlich gehört, daß jemand ihren Namen gerufen hatte – aber sie war allein. Sehr vorsichtig stand sie auf, zog das Schwert aus dem Gürtel und sah sich noch einmal aufmerksamer um. Nein – Angella, Karan und Hrhon waren noch im Inneren des Baumes. Sie hatte den Eingang im Auge, dort, wo sie saß, und wenn sie auch halb eingeschlafen gewesen war, hätte sie doch gemerkt, wäre jemand herausgetreten... Einen Moment lang erwog sie die Möglichkeit, einem Trug zum Opfer gefallen zu sein, verwarf sie aber beinahe sofort wieder – nicht zuletzt, weil sie die Stimme in diesem Augenblick noch einmal hörte: dumpf, sehr weit entfernt, aber auch sehr deutlich: »Taaalllyyy...« Dann sah sie den Schatten.

Mit einer blitzartigen Bewegung wirbelte sie herum, hob das Schwert – und erstarrte.

»Du bist lebensmüde, wie?« fauchte sie, gleichermaßen erschrocken wie erleichtert. Fast unmittelbar darauf kam der Zorn. »Willst du, daß ich dir den Schädel spalte, oder warum schleichst du dich an mich an?«

Angella lächelte dünn. »Ich habe mich auf deine guten Reaktionen verlassen«, sagte sie. »Warum so nervös?« Tally atmete hörbar aus. Ganz langsam senkte sie das Schwert, sah Angella noch einen Moment kopfschüttelnd an und stieß die Waffe dann mit einem unnötig harten Ruck in den Gürtel zurück. »Dieser verdammte Wald macht mich verrückt«, murmelte sie. »Zum Teufel – was suchst du hier?«

»Dasselbe wie du«, erwiderte Angella. »Auch ich finde den Gedanken nicht erbaulich, in einem Spinnennetz zu schlafen.« Sie hockte sich mit untergeschlagenen Beinen hin.

Nach sekundenlangen Zögern tat es Tally ihr gleich.

»Hast du Angst, die Spinnen könnten zurückkehren?«

»Nein.« Die Antwort kam so schnell, daß Tally begriff, daß Angella nur auf diese Frage gewartet hatte. »Karan sagt die Wahrheit. Und gerade das ist es, was mir Sorge bereitet. Irgend etwas stimmt nicht mit diesem verdammten Wald. Und mit Karan.«

»Fang nicht schon wieder an«, seufzte Tally.

»Warum nicht?« Angella runzelte ärgerlich die Stirn.

»Du weißt so gut wie ich, daß Karan uns irgend etwas verschweigt? Zum Teufel, dieser ganze verdammte Wald ist eine Hölle, und wir wandern gemütlich hindurch, ohne auch nur von einem Moskito gestochen zu werden! Und du willst mir erklären, das wäre ganz in Ordnung so?«

»Vielleicht fliehen sie vor uns.«

»Ja, weil wir so unappetitlich aussehen«, sagte Angella böse. »Zum Teufel, Tally, ich habe Verständnis dafür, wenn du Karan in Schutz nimmst, aber ich habe mir dieses Netz dort drinnen angesehen.« Sie wies mit einer ärgerlichen Kopfbewegung auf den gespaltenen Baum.

»Es ist völlig intakt. In einigen Kokons ist noch lebende Beute! Die Biester, die es gebaut haben, sind vor allerhöchstens einer halben Stunde verschwunden! Irgend etwas schützt uns!«

»Und du denkst, es wäre Karan.«

»Ich bin es jedenfalls nicht«, fauchte Angella. Tally blickte sie schweigend an. Angellas Erregung ärgerte sie, aber nur ein bißchen. Und im Grunde wußte sie sehr wohl, daß sie recht hatte – auch sie hatte längst begriffen, daß es ganz und gar kein Zufall sein konnte, daß sie bisher nicht ein einziges Mal angegriffen worden waren. Jegliches Leben in diesem Wald schien ihnen aus dem Weg zu gehen.

»Wir sind nervös«, murmelte sie. »Wahrscheinlich hat alles eine ganz normale Begründung, Angella. Aber nach dem, was passiert ist, ist es kein Wunder, wenn wir anfangen, Gespenster zu sehen.« Sie lachte unsicher.

»Kurz, bevor du gekommen bist, habe ich mir eingebildet, jemanden meinen Namen rufen zu hören.«

»Das war keine Einbildung«, erwiderte Angella.

Tally starrte sie an. »Das war –«

»Ich habe es auch gehört«, bestätigte Angella. »Und Hrhon und Karan auch. Karan hat nur so getan, als wäre nichts, und dein Waga ist zurückgeblieben, weil ich ihn gebeten habe, ein Auge auf unseren Freund zu werfen.« Sie nickte grimmig, um ihre Worte zu unterstreichen. Gleichzeitig begann sie ganz dünn zu lächeln, als sie sah, mit welchem Schrecken ihre Worte Tally erhielten.

»Und du hast auch... die Stimme erkannt?« fragte Tally zögernd.

»Ebenso wie du, Liebling«, bestätigte Angella. »Es war Weller. Aber der ist ja tot, nicht wahr?«

Tallys Hände begannen zu zittern. Ihr Blick bohrte sich in die Dunkelheit, die sich wie ein schwarzer Vorhang über den Wald gesenkt. Für einen Moment gaukelten ihre überreizten Nerven ihr Dinge vor, die nicht da waren. Schatten und huschende, pelzige Bewegung. Aber irgend etwas war dort. Es war unsichtbar, aber real. Fast greifbar.

»Du hast ihn doch auch gesehen, heute mittag.:

Angella schwieg einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich habe... irgend etwas gesehen.«

»Was?«

»Ach verdammt, ich weiß es nicht . Ein... Ding mit Wellers Gesicht. Aber es war kein Mensch. Es war...« Sie brach ab, hob in hilflosem Zorn die Hand und ließ sie auf ihren Oberschenkel klatschen. »Ach zum Teufel, ich weiß nicht, was es war. Dieser ganze verdammte Wald ist verhext. Ich bin froh, wenn wir endlich hinaus sind.« Sie sah Tally scharf an. »Wohin gehen wir überhaupt?«

»Nach Norden«, antwortete Tally ausweichend.

»Wenigstens hoffe ich es.«

»Und was ist im Norden?«

Tally zögerte. Irgend etwas – eine Art innere Stimme vielleicht – riet ihr davon ab, Angella mehr zu erzählen, als sie ohnehin schon wußte. Auf der anderen Seite sehnte sie sich einfach danach, mit einem Menschen zu reden.

»Die Drachen«, sagte sie schließlich. »Die Heimat der Drachen, Angella.«

»Hier – im Schlund?«

Angellas Zweifel war unüberhörbar.

»Auf einer Felseninsel, die so hoch wie der Schelf aus dem Schlund aufragt, hundertfünfzig Meilen von hier«, bestätigte Tally.

»Woher willst du das wissen?«

»Ich weiß es eben«, fauchte Tally. »Verdammt, du hättest dich nicht einmischen sollen, Angella. Ich wollte nicht, daß du mitkommst. Jetzt ist es zu spät. Du –« Sie verstummte, als Angella warnend die Hand hob. Auch sie hatte das Geräusch gehört – nicht sehr laut, aber deutlich. Und es war... falsch. Es paßte nicht in die Geräuschkulisse des Waldes.

Eine Sekunde später hörte sie es erneut. Sie stand auf. Ihre Hand glitt zum Schwert, löste sich nach sekundenlangem Zögern wieder von seinem Griff und schmiegte sich um den Griff des Lasers.

»Geh hinein und hole Hrhon und Karan«, sagte sie.

»Schnell.«

Angella widersprach nicht. Schnell und lautlos wie ein Schatten verschwand sie im Inneren des Baumes. Tally selbst huschte ein Stückweit zur Seite, bis sie in Deckung eines mannsdicken verbrannten Astes stand. Sie lauschte. Das Geräusch wiederholte sich nicht, aber irgend etwas hatte sich verändert.

Dann wußte sie, was es war: Seit sie in diesem Wald erwacht war, war seine Geräuschkulisse gleich geblieben – ein unablässiges, aber fast gleichmäßiges Lärmen und Toben, aus Tausenden von einzeln nicht wahrnehmbaren Lauten zusammengefügt, das den Kreis von Stille belagerte, der sie umgab. Jetzt war etwas da, das diesen Herzschlag des Schlundes störte: ein Quell hektischer Unruhe, nicht sehr weit entfernt, als...

... ja, als wäre etwas in den Wald eingedrungen, das nicht hineingehörte.

Angella kam zurück, dicht gefolgt von Hrhon und Karan.

»Jhemahnd khohmmt«, zischelte Hrhon, nachdem er kaum eine Sekunde lang mit schräggehaltenem Kopf gelauscht hatte.

»Das ist unmöglich!« widersprach Karan. Seine Stimme klang fast erschrocken. »Sie würden es nicht wagen, uns –« Tally brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Verstummen. »Geh und sieh nach, Hrhon«, befahl sie. »Aber sei vorsichtig. Ganz gleich, wer es ist, geh kein Risiko ein, hörst du?«

Hrhon versuchte ein Nicken nachzuahmen, schob sich an ihr vorbei und balancierte auf den Waldrand zu. Tally blickte ihm schweigend nach, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte. Das Lärmen und Toben in der Nacht hielt weiter an. Es kam nicht näher.

»Deine Freundin aus der Stadt?« erkundigte sich Angella beiläufig.

Tally sah sie ärgerlich an. »Woher soll ich das wissen?« schnappte sie. Angella setzte zu einer scharfen Antwort an, beließ es aber dann bei einem Seufzen und starrte an Tally vorbei in die Richtung, in der Hrhon verschwunden war.

Es dauerte fast zehn Minuten, bis der Waga zurückkam, und in dieser Zeit sprach keiner von ihnen ein Wort. Endlich tauchte Hrhons buckeliger Schatten wieder aus der Nacht auf. Aber er kam nicht ganz heran, sondern blieb auf dem vibrierenden Wurzelnetz stehen und hob winkend den rechten Arm.

»Khohmmt rhasss!!« rief er.

»Geht nicht!« rief Karan erschrocken aus. »Es ist gefährlich! Ihr werdet sterben, wenn ihr allein in den Wald geht!«

»So?« Angella lächelte böse. »Weißt du was, Karan – ich glaube dir sogar.«

»Ich auch«, fügte Tally hinzu. »Und das ist auch der Grund, aus dem Karan uns begleiten wird, nicht wahr, Angella?«

»Genau«, sagte Angella.

5

»Da!« Hrhons hornige Klaue bog einen dornengespickten Zweig beiseite und deutete gleichzeitig mit zwei ausgestreckten Fingern nach vorne. Tally kniff angestrengt die Lider zusammen. Es fiel ihr immer noch schwer, in der fast vollkommenen Dunkelheit unter dem Wipfeldach zu sehen, obwohl ihre Augen Zeit genug gehabt hatten, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Und doch hatte sie selbst jetzt noch Mühe, die drei in fließendes Schwarz gekleideten Gestalten als das er erkennen, was sie waren.

»Das ist doch nicht möglich!« flüsterte Angella, die neben sie getreten war. Sie schüttelte den Kopf, sah erst Tally, dann Hrhon und dann die drei schwarzglänzenden Gestalten an und schüttelte abermals den Kopf. »Das ist vollkommen ausgeschlossen.«

Tally schwieg. Angella sprach nur aus, was sie alle – ausgenommen vielleicht Karan – dachten: es war vollkommen ausgeschlossen, daß Jandhis Häscher ihre Spur in diesem Wald aufgenommen haben sollten.

Selbst, wenn die Reiter auf den drei Drachen, die sie am Mittag gesehen hatte, sie entdeckt haben sollten – es war einfach unmöglich, jemanden in diesem Gewirr aus Blättern und Gestrüpp aufzuspüren.

Und doch war es geschehen.

Zwei der drei Gestalten dort vor ihr waren Hornköpfe; große, selbst hinter dem Schleier der Nacht noch abrundtief häßliche Kreaturen. Die dritte war eine Frau, nicht sehr viel älter als Angella und in das lederne Schwarz der Töchter des Drachen gehüllt.

Und ebenso tot wie die Hornköpfe.

Tally stand vorsichtig auf, bedeutete Angella und Karan mit Gesten, zurückzubleiben, und näherte sich den drei schwarzgekleideten Gestalten. Verwesungsgeruch schlug ihr entgegen, der Gestank von Blut und Tod. Ihr Herz begann vor Erregung fast schmerzhaft zu hämmern.

Die drei Toten standen aufrecht da, mitten in der Bewegung erstarrt wie bizarre lebensgroße Statuen, gehalten von einem jener dünnen silbergrauen Netze, die Karan am Tage zuvor mit solchem Entsetzen erfüllt hatten. Tally warf nur einen raschen Blick dorthin, wo das Gesicht der Drachentochter sein sollte, und sah hastig wieder weg.

Aber auch die beiden Hornköpfe boten keinen wesentlich erfreulicheren Anblick: der Chitinpanzer des einen war geborsten, aber darunter war nichts mehr. Irgendetwas hatte ihn regelrecht leergefressen, so säuberlich, daß nicht einmal ein Tropfen Blut zu sehen war. Der Brustschild des dritten Kampfinsektes war von Millionen nadelfeiner Einstiche übersät. Darunter schien sich etwas zu bewegen.

»Das ging schnell«, murmelte Angella neben ihr. Natürlich war sie nicht zurückgeblieben, ebensowenig wie Karan. »Da hat jemand gründliche Arbeit geleistet.« Sie sah sich mit routiniertem Blick um. »Kein Kampf«, stellte sie fest. »Sie müssen in Sekunden tot gewesen sein.«

»Ich frage mich, was sie hier gesucht haben«, murmelte Tally. Sie fühlte sich unwohl, nicht nur durch den bloßen Anblick der drei Toten. Angella hatte recht – es gab nicht die geringsten Spuren eines Kampfes. Die drei Eindringlinge mußten binnen Sekunden gestorben sein.

»Das ist eine ziemlich dumme Frage«, sagte Angella.

»Dich. Genauer gesagt – uns.« Sie seufzte. »Aber woher wissen sie, wo wir sind?«

Aber darauf wußte Tally ebensowenig eine Antwort wie sie selbst.

Schaudernd sah sie sich um. Die Nacht war sehr dunkel, aber durch eine Lücke im Blätterdach fiel ein wenig blasser Sternenschein herein, so daß sie erkennen konnten, auf welchem Wege die junge Frau und ihre beiden Begleiter hergekommen waren: die Hand des toten Mädchens umklammerte noch immer den Griff des Lasers, mit dem sie die Bresche in das Geäst des Wipfelwaldes geschnitten hatte. Sie war nicht einmal mehr dazu gekommen, die Waffe abzuschalten. Das rote Licht in ihrem Griff funkelte wie ein blutiges Auge.

»Diese drei sind bestimmt nicht allein gekommen«, vermutete Angella. Sie entdeckte die Waffe in der Hand der Toten, runzelte überrascht die Stirn und trat auf sie zu.

»Nicht«, sagte Karan hastig. »Du bist tot, wenn du sie berührst.«

Angella erstarrte mitten im Schritt. Ihr Blick irrte zwischen Karans Gesicht und der aufrecht stehenden Toten hin und her. Mißtrauen und Schrecken spiegelten sich auf ihrem verbrannten Gesicht. Das Netz war nicht mehr als ein hauchzartes, graues Gespinst. Es sah so harmlos aus. Aber es umhüllte drei Tote, und zumindest zwei davon gehörten zu gefürchtesten Kämpfern, die es auf der Welt gab.

»Glaubst du nicht, daß du uns allmählich eine Erklärung schuldig bist?« fragte Angella.

»Karan kann nichts erklären, was er selbst nicht versteht«, antwortete Karan ruhig. Er schüttelte den Kopf.«

»Wenn sie versuchen, euch selbst hierher zu folgen, werden sie alle sterben. Das ist alles, was er weiß.« Plötzlich stockte er, legte den Kopf auf die Seite, wie um zu lauschen, und hob mahnend die Hand, als Angella weitersprechen wollte.

Dann hörten Tally und die anderen es auch: ein leises, metallisches Knistern, das sich in die Laute der Nacht gemischt hatte. Dann Stimmen, wie von weit, sehr seit her, von einem Geräusch wie von ferner Meeresbrandung überlagert. Und plötzlich ihr Name. Jemand rief ganz deutlich ihren Namen!

»Was ist das?« murmelte Angella. »Das... das ist Zauberei!«

Tally brachte sie mit einer ärgerlichen Geste zum Schweigen. Die Stimmen und Geräusche hielten an, und jetzt erkannte sie auch die Richtung, aus der sie kamen. Es war keine Zauberei, wie Angella glaubte, aber vielleicht etwas, das schlimmer war. Der Ursprung der Geräusche war ein kleines, rechteckiges schwarzes Kästchen im Gürtel der Toten, auf dessen Schmalseite ein grünes Licht aufgeflammt war. Tally streckte die Hand danach aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, als ihr Karans Warnung einfiel.

Unschlüssig betrachtete sie das Kästchen. Es glich dem sonderbaren Ding, in das Jandhi hineingesprochen hatte, als Angella sie und Tally im Schuppen überraschte. Und mit einiger Phantasie konnte man aus den verzerrten, von knisternden und pfeifenden Lauten halb überlagerten Worten auch Jandhis Stimme heraushören.

»Talianna, melde dich endlich! Ich weiß, daß du in der Nähe bist.«

»Das ist Zauberei!« beharrte Angella. Ihre Hand senkte sich auf das Schwert. »Sie kann uns nicht sehen! Niemand kann wissen, daß wir hier sind!«

»Sie schon«, antwortete Tally. Sie war nicht einmal besonders erschrocken. Mit der Spitze ihres Schwertes deutete sie auf den sprechenden Kasten im Gürtel der Toten. »Ein ähnliches Ding habe ich bei Jandhi gesehen.«

»Du wirst bald überhaupt nichts mehr sehen, wenn du nicht antwortest, Tally!« drang die Stimme aus dem Kasten.

Angella stieß einen krächzenden Laut aus und sprang ganz instinktiv zwei, drei Schritte zurück, während Tally den sonderbaren Apparat nur mit milder Verwunderung musterte. Offensichtlich übertrug er nicht nur Jandhis Stimme, sondern hörte auch jedes gesprochene Wort in einiger Umgebung.

»Jandhi?« fragte sie.

»Nett, daß du dich noch an mich erinnerst«, antwortete der Kasten mit Jandhis Stimme. »Wo bist du?« Tally lachte unsicher. »Eine gute Frage. Ich denke, du weißt es?«

Jandhi schnaubte ärgerlich. »Was ist mit Kehla? Ist sie tot?«

»Wenn du das Mädchen mit den beiden Hornköpfen meinst, das du hergeschickt hast – ja«, antwortete Tally.

»Hast du sie umgebracht?«

»Das war nicht nötig. Du schickst deine Leute in den Tod, Jandhi. Gib endlich auf.«

»Seltsam«, antwortete Jandhi. »Dasselbe wollte ich dir auch gerade raten. Das Versteckspiel mit dir kommt mich allmählich zu teuer. Ich habe mehr Leute bei der Jagd auf dich verloren als in den vergangen zwei Jahren beim Kampf gegen Angellas Halsabschneider. Gib auf.«

»Und wenn nicht?« fragte Tally.

»Dann töte ich dich«, antwortete Jandhi. »Ich habe den Auftrag, dich unschädlich zu machen, ganz egal, wie. Ich wollte dich lebend fangen, aber du läßt mir keine Wahl. Ich gebe dir noch genau fünf Minuten, dich zu ergeben. Kommt nach oben. Wir werden euch aufnehmen.«

Irgend etwas bewegte sich über dem Wald; etwas ungeheuer Großes und Finsteres, das die Lücke im Blätterdach für den Bruchteil eines Herzschlages verdunkelte. Und dann begriff Tally...

»Um Himmels willen!« schrie sie. »Weg! WEG HIER!« Ein sanftes, düster-rotes Glühen vertrieb die Schwärze der Nacht, als sie herumfuhr und davonstürzte, Angella und Karan einfach mit sich zerrend. Mit jedem Schritt, den sie taten, nahm es an Leuchtkraft und Gewalt zu, steigerte sich zu Orangerot, dann zu Gelb...

Die Zeit schien stehenzubleiben. Tally rannte wie von Furien gehetzt, blindlings, nur fort, fort von den drei Toten und dem sprechenden Kasten, die zu einer mörderischen Falle geworden waren. Aber das Licht und die Hitze folgten ihnen, schneller, viel schneller, als sie zu laufen vermochten. Eine brüllende Feuerwolke stieß durch das Blätterdach des Schlundwaldes, loderndheißer Drachenatem, der Holz und Blattwerk und alles Leben versengte und in Sekundenbruchteilen zu Asche verbrannte.

Eine glühende Hand schien ihren Rücken zu streicheln. Tally schrie vor Schmerz auf, ließ Angellas Hand los und fiel. Die Luft kochte. Unsichtbares Feuer verbrannte ihre Lungen, als sie zu atmen versuchte. Durch einen Schleier aus Tränen sah sie, wie die Flammenwolke tiefer in den Wald hinabstieß. Die Gestalten der beiden Hornköpfe und des Mädchens lösten sich auf, zerfielen zu Asche. Die Hitze war unbeschreiblich. Flammen züngelten aus dem Bodennetz, leckten knisternd aus Baumstämmen und Geäst und versengten Blattwerk und Blüten.

Angella riß sie in die Höhe. Ihr Haar schwelte. Ihr Gesicht war verzerrt, und Tally sah, wie sich ihre Lippen bewegten, als sie irgend etwas schrie. Die Worte gingen im Brüllen der Flammen unter. Angella versetzte ihr einen Stoß, der sie weitertaumeln ließ, fuhr noch einmal herum und riß Karan vom Boden hoch.

Hinter ihnen begann das Netz zu zerfallen. Mit einem Geräusch wie von Peitschenhieben zersprangen die fingerdicken Pflanzenfasern. Der Brand breitete sich aus. Die Nacht verwandelte sich in eine Hölle aus Hitze und Lärm und zuckenden roten und gelben Lichtblitzen. Und es begann erst.

Dem ersten Flammenstrahl folgte ein zweiter. Er war nicht so gut gezielt wie der erste und traf weit von ihnen entfernt in das Wipfeldach, aber der Wald erbebte wie unter einem Hammerschlag; dem Krachen und Bersten des Feuers folgte ein schriller Chor panikerfüllter Tierstimmen. Grellrotes Licht tauchte den Himmel in Blut.

»Sie... sie verbrennen den ganzen Wald!« schrie Angella über das Brüllen der Flammen hinweg. »Das war eine Falle, Tally!«

Tallys Antwort ging im Brüllen einer dritten, diesmal sehr viel näheren Explosion unter. Für einen Moment glaubte sie, den gesamten Wald unter ihren Füßen erbeben zu fühlen. Eine unsichtbare warme Hand streichelte ihr Gesicht.

Gehetzt sah sie sich um. Wo die Nacht nicht von Hammenschein durchbrochen wurde, war die Dunkelheit vollkommen. »Karan! Wir müssen hier weg! Gibt es ein Versteck? Irgend etwas, wo wir sicher sind?« Wie zur Antwort senkte sich zum vierten Male das Feuer der Drachen auf den Wald. Irgendwo, nicht sehr weit von ihnen entfernt, flammte ein Baum vom Wipfel bis zu den Wurzeln hinab auf und brannte sich für einen Moment als brüllende Feuersäule in die Nacht, ehe er zerbrach. Angella hatte recht, dachte Tally entsetzt. Jandhi schien entschlossen zu sein, den gesamten Wald niederzubrennen!

»Dorthin!« Tally deutete in die Richtung, in der die beiden ersten Blitze in den Wald geschlagen waren, und rannte los, ohne den anderen Gelegenheit zum Widerspruch zu geben. Es war der schiere Wahnsinn – der Wald brannte, und das Feuer nahm zu, in der Richtung, in der sie lief. Und doch war es wahrscheinlich ihre einzige Chance.

Jandhi konnte nicht wissen, wo sie waren. Vermutlich hatte sie mit ziemlicher Genauigkeit gewußt, wo das sonderbare Sprechgerät war, und es anvisiert – und das war wohl auch der einzige Grund, aus dem sie mit Tally gesprochen hatte. Jetzt ließ sie ihre Drachen offensichtlich wahllos Feuer in den Wald speien.

Sie lief etwas langsamer, um Karan und vor allem Hrhon Gelegenheit zu geben, zu ihr aufzuschließen. Die Nacht war mittlerweile vollends einem unruhigen Flackern oder Rot und Orange gewichen. Der Wald war in Panik. Überall brannte es. Schatten huschten hin und her. Etwas Großes, Stacheliges streifte Tallys Wade und verschwand in kopfloser Flucht in der Nacht. Ein Blatt klatschte wie eine große nasse Hand in ihr Gesicht. Sie schlug es zur Seite, sprang über ein mannsbreites Loch im Netz hinweg und kam federnd auf. Ein brennender Ast löste sich aus dem Wipfeldach über ihren Köpfen, prallte dicht neben Angella auf und setzte den Boden in Brand. Angella versuchte die Flammen auszutreten, aber es gelang ihr nicht.

»Sinnlos!« keuchte Tally. »Karan! Der hohle Baum – weißt du die Richtung?«

Karan nickte, und Tally versetzte ihm einen Stoß zwischen die Schultern, der ihn in die Richtung stolpern ließ, in die er gedeutet hatte.

Es war ein Wettlauf gegen den Tod, und noch bevor sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten, begriff Tally, daß sie ihn verlieren würden. Die Drachen fuhren fort, Feuer in den Wald zu speien, und sie taten es nicht so wahllos, wie sie im ersten Augenblick angenommen hatte. Die Flammen folgten ihnen, nicht sehr gut gezielt, aber zu dicht, als daß es bloßer Zufall sein konnte. Zwei- oder dreimal entgingen Tally und die anderen dem Höllenfeuer nur um Haaresbreite. Die Hitze stieg, bis sie kaum mehr atmen konnten.

Und dann, ganz plötzlich, hörte es auf. Der Wald brannte weiter, denn das Höllenfeuer der Drachen mußte buchstäblich Hunderte von einzelnen Bränden entfacht haben, und das Feuer griff nun auch von selbst um sich, aber aus dem Himmel regneten keine weiteren Flammen mehr.

Tally blieb schwer atmend stehen. Ihre Hand spielte nervös mit dem Laser, den sie gezogen hatte. Der unsichtbare Schutzwall, der sie bisher umgeben hatte, war zerbrochen. Auch in ihrer unmittelbaren Nähe kroch und huschte und krabbelte es jetzt überall; Kreaturen, wie sie Tally noch nie zuvor im Leben gesehen hatte und die nur eine einzige Gemeinsamkeit zu haben schienen – sie waren ausnahmslos häßlich, und schienen ausnahmslos nur aus Zähnen und Krallen zu bestehen. Trotzdem kam ihnen keiner dieser mörderischen Waldbewohner wirklich nahe, und wenn, dann nur durch Zufall. Die Angst vor dem Feuer war stärker als Hunger und Jagdinstinkt. Sie befanden sich inmitten einer gewaltigen, panikerfüllten Flucht.

Karan deutete nach vorne. »Dort entlang. Es ist nicht mehr weit.«

Sie hasteten weiter. Ein brennender Baum verwehrte ihnen den Weg. Sie umgingen ihn, balancierten über schwelende Äste und unter einem Baldachin aus Flammen dahin, vorbei an gewaltigen, rauchenden Löchern, die plötzlich im Boden entstanden waren...

Tally erinnerte sich hinterher nicht mehr an alle Einzelheiten ihrer bizarren Flucht. Obwohl die Drachen aufgehört hatten, Flammen zu speien, nahm das Feuer zu, Jandhis Angriff hatte einen Waldbrand verursacht, der vielleicht den gesamten Schlund erfassen mochte, zumindest aber den Teil des Waldes, in dem sie waren. Aber ihre allerschlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht – der hohle Baum stand noch, und er schien sogar unversehrt zu sein. Seine nackten, zu Stein gewordenen Äste streckten sich wie eine verkohlte Kralle mit zu vielen Fingern in den Himmel.

Tally erstarrte, als sie die Drachen sah.

Es waren unglaublich viele... zwanzig, dreißig, vielleicht fünfzig der titanischen schwarzen Kreaturen, die wie ein Schwarm übergroßer häßlicher Krähen über dem Wald kreisten. Dann und wann stieß eines der schwarzen Ungeheuer herab, wie ein Adler, der eine Beute erspähte. Aber das gefürchtete Feuer blieb aus, und die Drachen war zu hoch und zu weit entfernt, als das Tally erkennen konnte, was sie wirklich taten.

»Bei den Dämonen der Tiefe, Tally – wer bist du eigentlich?« flüsterte Angella. Ihre Stimme klang eher ehrfurchtsvoll als erschrocken. »Was hast du getan, daß sie dich mit all ihrer Macht verfolgen.«

»Das beginne ich mich allmählich selbst zu fragen«, murmelte Tally. »Vielleicht... nimmt es mir Jandhi einfach nur übel, daß ich sie blamiert habe.«

Sie lachte, aber es klang nicht sehr echt, und Angella antwortete gar nicht darauf. Statt dessen blickte sie konzentriert zu den kreisenden Drachen hinauf.

»Irgend etwas geht dort vor«, murmelte sie. »Sie... großer Gott! Schaut euch das an!«

Tally und Karan erkannten im gleichen Moment, was Angella gemeint hatte. Von den riesigen, dreieckigen Schatten der Drachen begannen sich winzige dunkle Punkte zu lösen; schwarzer Regen, der absurd langsam in die Tiefe fiel und dabei auseinanderfächerte.

»Hornköpfe...«. murmelte Angella. »Verdammter Dreck, Tally – das sind Hornköpfe! Hunderte!«

Tally antwortete nicht, aber sie wußte, daß Angella nur zu recht hatte. Warum hatte sie diese Möglichkeit nicht selbst in Betracht gezogen, verdammte Närrin, die sie war?! Der schwarze Regen war mittlerweile tief genug gefallen, daß sie die großen, mattglänzenden Chitinkörper erkennen konnte, aus denen er in Wahrheit bestand – eine Armee ins Absurde vergrößerter, fliegender Käfer, die sich auf den brennenden Wald herabsenkte, blitzenden Stahl in den Händen.

Plötzlich begriff sie, daß Jandhi nicht ernsthaft erwartet hatte, sie und die anderen zu verbrennen – das Feuer hatte nur dem Zweck gedient, alles Leben aus dem Wipfelwald zu vertreiben. Jandhi hatte aus dem Schicksal ihrer Kriegerin und der beiden Hornköpfe gelernt.

»Auf jeden Fall nehme ich noch ein paar von diesen Bestien mit«, versprach Angella. »Lebend bekommen sie uns nicht.«

»Sie bekommen uns überhaupt nicht«, antwortete Tally. Ihre Stimme klang matt, gleichzeitig sehr entschlossen. Sie erschrak selbst, als sie ihren Klang hörte.

»Nein?« Angella lachte bitter. »Dann verrate mir, wohin wir noch fliehen sollen!« Wütend hob sie den Arm und machte eine weit ausholende Bewegung. Der Wald brannte, in welche Richtung sie auch wies. Das Feuer der Drachen hatte einen meilenbreiten Ring in den Wipfel gebrannt.

»Eine Richtung gibt es noch.« Tally drehte sich langsam herum und wies erst auf Karan, dann nach unten.

»Du kennst den Weg.«

»Nein!« sagte Karan. Es klang wie ein Schrei.

Tally lächelte. Ganz langsam hob sie den Laser, richtete den Lauf auf Karans Stirn und senkte den Daumen auf das rote Auge in seinem Griff.

Für die Dauer von zwei, drei endlosen schweren Herzschlägen starrte Karan sie nur an. Und irgend etwas in ihrem Blick schien in davon zu überzeugen, daß sie es ernst meinte.

»Du weißt nicht, was du tust«, sagte er.

Tally schwieg. Und nach einigen weiteren Sekunden drehte sich Karan wütend herum und deutete auf den versteinerten Baum. »Folgt mir.«

6

Der Abstieg hatte nicht einmal sehr lange gedauert. Karan hatte sie ein Stückweit zurück in den Wald geführt, bis sie eine Stelle erreichten, an der einer der Baumgiganten gestürzt war, vom Blitz, vielleicht auch von einer der gigantischen Läufer-Kreaturen gefällt, deren Schritte sie in der ersten Nacht so in Furcht versetzt hatten. Der Baum war nicht vollends niedergebrochen: seine Äste hatten sich im Gewirr des Wipfelwaldes verfangen, so daß sie über den Stamm wie über eine schräge, mit einiger Vorsicht aber durchaus begehbare Rampe nach unten gelangen konnten.

Tally sah sich schaudernd um. Über ihren Köpfen brannte es noch immer. Der Himmel über dem Wald loderte noch immer rot im Widerschein der Flammen. Hier unten aber, hundert Meter unter der Ebene, auf die sich das Leben auf der Flucht vor dem namenlosen Schrecken des Schlundes zurückgezogen hatte, herrschte ein sonderbares, dunkelgraues Licht, das Tally mit Unbehagen erfüllte; einem fast körperlichen Unwohlsein, gegen das sie wehrlos war. Je intensiver sie versuchte, sich dagegen zu wehren, desto stärker schien es im Gegenteil zu werden. Es war ein Licht, das an Krankheit und Fäulnis erinnerte.

Sie hatte Angst.

Noch hatten sie den eigentlichen Boden nicht erreicht – Karan hatte angehalten, als der schwarze Sumpf des Grundes noch zwei, drei Schritte unter ihnen lag, und niemand, auch Angella nicht, hatte ihn zum Weitergehen gedrängt. Plötzlich verstanden sie alle, wovor Karan solch panische Angst hatte, Es waren keine Ungeheuer, keines der tausend gefräßigen Monster; die dieser Wald beherbergen mochte – es war der Wald selbst.

Was Tally oben, beim Anblick des versteinerten Baumes, schon einmal und nur sehr flüchtig gespürt hatte, das fühlte sie hier hunderttausendmal heftiger. Das Böse. Der Sumpf lag schwarz und tot und glatt wie ein Meer aus erstarrtem Pech unter ihnen, aber sie spürte das finstere, durch und durch böse Etwas, das seine trügerisch glatte Oberfläche verbarg, ein Etwas, für das es keine Begriffe in der menschlichen Sprache gab, ein Ding jenseits ihrer Vorstellungskraft, finster und lauernd und böse... Wenn es so etwas wie negatives Leben gab, dachte sie fröstelnd, dann war es das hier.

Angella berührte sie sacht an der Schulter und deutete nach rechts. Tallys blick folgte der Geste. Sie sah, daß der Boden nicht so leer war, wie Karan ihnen hatte glauben machen wollen: in einiger Entfernung erhoben sich eine Anzahl übermannshoher, bleicher Gebilde aus dem schwarzen Morast, Dinge von schwer zu erfassender Form, die sie erst nach einiger Zeit als gigantische Pilzgewächse zu identifizieren glaubte. Das unheimliche, kranke Licht, das diese bizarre Welt unter dem Wald erhellte, kam von diesen Gebilden. Irgend etwas bewegte sich im bleichen Schein der Verwesung.

»Schaut nicht hin«, flüsterte Karan, dem ihre Blicke nicht entgangen waren. »Es mag sein, daß ihr Dinge seht, die nicht gut sind.«

Weder Tally noch Angella widersprachen. Beinahe hastig sahen sie weg. Tally hatte nur noch Angst.

»Wie... geht es weiter?« fragte Angella mit zitternder Stimme. Ihre Hand schmiegte sich so fest um den Schwertgriff, daß ihre Knöchel knackten. Es war eine Geste ohne jede Bedeutung. Gegen die Gefahren, die hier unten auf sie lauern mochten, waren ihre Waffen wirkungslos.

»Es gibt... Wege durch den Sumpf«, murmelte Karan. »Aber sie sind gefährlich. Ein falscher Schritt...«

Er seufzte, drehte sich zu Tally herum und blickte nach oben. Der Wald und das gewaltige Netz schwebten wie ein geronnener schwarzer Himmel über ihnen, ein Netz aus Finsternis und braunen und grünen Strängen, durch dessen Lücken düsterroter Hammenschein wie Blut tropfte.

»Und wenn wir hier bleiben?« schlug Tally vor. Sie deutete nach unten, auf den gewaltigen Baumstamm, auf dem sie standen. »Vielleicht finden sie uns nicht.« Karan schüttelte den Kopf. »Sie werden es nicht wagen, Karan und euch hierher zu folgen«, sagte er.

»Aber hier zu verweilen, bedeutet den Tod. Ihr seid schon zu lange an einem Fleck. Nur Bewegung kann euch retten.«

Er atmete hörbar aus, drehte sich wieder herum und blickte konzentriert nach unten. Dann deutete er nach links, hinein in das schattenerfüllte graue Licht, das wie Nebel über dem Sumpf hing.

»Dort entlang. Folgt Karan. Geht genau in seiner Spur. Weicht nicht davon ab, was immer auch geschehen sollte!«

»Und wenn Karan einen Fehltritt macht?« fragte Angella nervös.

»Dann sterbt ihr mit ihm«, antwortete Karan ruhig.

»Kommt!«

Alles in Tally schien sich wie in einem entsetzlichen Krampf zusammenzuziehen, als erst Karan und dann Angella auf den Boden heruntersprangen und die Reihe an sie kam, ihnen zu folgen. Es war nicht nur einfache Angst – es war, als wehre sich ihr Körper ganz eigenständig dagegen, dem unsichtbaren finsteren Etwas auch nur nahe zu kommen, als kämpfe irgend etwas in ihrer Natur gegen das nicht-Leben an, dem sie sich näherten. Sie war Feuer, das ins Wasser getaucht werden sollte und dies spürte. Als sie den Boden berührte und bis über die Knöchel in die widerwärtige weiche Masse einsank, hätte sie am liebsten geschrieen.

»Rasch jetzt!« befahl Karan. Seine Stimme war schrill und drohte überzukippen. Im bleichen Licht der Faulpilze sah sein Gesicht aus wie das eines Toten. Tally hörte, wie Hrhon hinter ihr auf den Boden herabsprang, aber sie hatte nicht den Mut, sich herumzudrehen. Angst saß ihr wie eine unsichtbare fette Spinne im Nacken. Es war wie in einem jener entsetzlichen Alpträume, in denen sie rannte und rannte und rannte und doch genau wußte, daß sie den namenlosen Schrecken nicht abschütteln konnte, der sie verfolgte; einen Schrecken zudem, der sie einholen würde, im gleichen Moment, in dem sie sich herumdrehte und ihm ins Angesicht sah.

Sie rannten. Karan hetzte in scheinbar sinnlosem Zickzack vor ihnen her, hakenschlagend und manchmal fast grotesk aussehende Sätze und Hüpfer vollführend; Bewegungen, die Tally unter anderen Umständen zum Lachen getrieben hätten, ihre Angst aber jetzt nur noch schürten.

Eine weitere Ansammlung der formlosen grauweißen Riesenpilze tauchte vor ihnen auf, dazwischen ein Gespinst aus dünnen, totenweißen Fäden. Karan hielt direkt darauf zu, wich erst im letzten Moment zur Seite und rannte noch schneller. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt. Torkelnd und durch den morastigen Boden, der sich bei jedem Schritt saugend um seine Knöchel schloß, zu einer grotesken vorgebeugten Haltung gezwungen, hielt er auf einen der gewaltigen Baumstämme zu, die aus dem Sumpf emporwuchsen. Erst, als sie ihm ganz nahe waren, erkannte Tally die knorrigen schwarzen Wurzeln, die den ansonsten wie glattpoliert aussehenden Stamm umgaben – Karans Ziel.

Schweratmend erreichte er den Stamm, zog sich hastig auf das Wurzelgeflecht hinauf und gestikulierte ihnen, ihm zu folgen. Tally und Angella erreichten den Baum fast gleichzeitig, während Hrhon, der ohnehin ein Stück zurückgefallen war, erhebliche Mühe hatte, das Geflecht aus Wurzeln und zu Stein erstarrtem Holz zu erklimmen.

»Sind wir hier sicher?« fragte Angella.

Karan schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen sicheren Platz hier«, sagte er. »Ihr müßt Kräfte sammeln. Der Weg wird schwieriger.«

»Whiessso?» fragte Hrhon.

»Er wird jedes Mal schwieriger«, antwortete Karan. Selbst diesen wenigen Worten war deutlich anzuhören, welche Überwindung es ihn kostete, überhaupt zu sprechen. »Sprecht nicht. Spart eure Kräfte.«

»Wohin führst du uns?« wollte Angella wissen.

»Hinauf«, erwiderte Karan unwillig. »Karan bringt euch wieder nach oben, in sicherer Entfernung zu Jandhi und ihren Drachen. Wenn ihm Zeit genug bleibt, heißt das. Weiter jetzt!«

Und damit stürmte er weiter, noch deutlich und nervöser, mit noch mehr Angst als beim ersten Mal. Wieder rannten sie im Zickzack durch den Sumpf, Karans scheinbar sinnlos gewähltem Weg folgend und getrieben von einer an Panik grenzenden Furcht, die keinen sichtbaren Grund hatte, aber von Augenblick zu Augenblick schlimmer wurde. Und wieder waren es nur wenige hundert Schritte bis zum nächsten Baum, dessen Wurzeln wie eine Insel aus dem Sumpf aufragten und ihnen für Augenblicke wenigstens das Gefühl gaben, sicheren Boden unter den Füßen zu haben.

Auf diese Weise ging es weiter. Karan rannte im Zickzack von Baum zu Baum, und jedes Mal, wenn sie ihren Weg fortsetzen, schien es schwieriger zu werden. Und da war noch etwas. Tally bemerkte es im ersten Moment nicht einmal, denn die Angst wühlte wie ein entsetzlicher Schmerz in ihren Gedanken – aber das Vorwärtskommen wurde nicht nur scheinbar schwieriger, sondern ganz konkret...

Waren ihre Beine während der ersten Minuten nur bis zu den Knöcheln in den klebrigen Sumpf eingesunken, so versackte sie bald bei jedem Schritt bis an die Waden, dann darüber hinaus, schließlich bis fast an die Knie, so daß jeder einzelne Schritt mehr Kraft kostete als der Vorhergehende. Und irgend etwas näherte sich ihnen... Es war mehr als ein bloßes Gefühl, mehr als ein weiterer Schrecken, mit dem sie ihre eigene Angst narrte – es war das absolut sichere Wissen, ein heftiger und schlimmer werdendes Gefühl der Nähe, der Nähe von etwas Gigantischem, absolut Entsetzlichem, das unter dem Sumpf herankroch, langsam, aber unbarmherzig, fast im gleichen Tempo wie sie selbst, aber eben nur fast... Und sie war nicht allein mit dieser Furcht.

Auch Angellas Gesicht war vor Entsetzen verzerrt, und die Blicke, die Karan in immer kürzerem Abstand nach rechts und links warf, sprachen Bände. Sie hatten das Ungeheuer geweckt, das diesen entsetzlichen Nachtwald beherrschte, das begriff Tally plötzlich, und es kam näher.

»Wie weit... ist es noch?« keuchte Tally, als sie wieder eine der kurzen, beinahe schon kräftezehrenden Pausen einlegten.

Karan blickte nach oben. Der lebende Himmel über ihnen loderte noch immer im düsteren Rot der Brände, aber die Wut des Feuers hatte merklich nachgelassen; sie hatten den Bereich, über dem die Drachen kreisten, fast überwunden.

»Nicht mehr weit«, sagte Karan schließlich. »Sobald Karan eine Stelle findet, an der der Aufstieg möglich ist, müßt ihr es riskieren. Ihr seid schon viel zu lange hier!« Tally sah sich voller Angst um. Sie war nicht sicher, ob es wirklich das war oder ob sie nur einer weiteren Halluzination erlag – aber seit einer Weile schon glaubte sie eine schwere, wellenförmige Bewegung wahrzunehmen, die durch den schwarzen Morast lief, ein schwerfälliges Heben und Senken, das sie auf entsetzliche Weise an die Atemzüge eines gigantischen Lebewesens erinnerte... Sie sahen es alle im gleichen Moment: etwas Massiges, mehr als Mannsgroßes näherte sich ihnen, schwebend und geschwind und in fast lächerlichem Zickzack dem willkürlichen Kurs folgend, den Karan eingeschlagen hatte. Und es war nicht allein.

»Jandhi!« keuchte Angella. »Das sind Jandhis Häscher!«

Es war lächerlich – aber in diesem Moment empfand Tally nichts anderes als Erleichterung. Das riesige Etwas, das dort wie ein zu groß geratener Käfer herangetorkelt kam, war nichts anderes als ein gewaltiger, schwarzglänzender Hornkopf, ein zwei Meter langes Fluginsekt, über dessen auseinanderklaffendem Rückschild filigrane Insektenflügel schlugen. Nicht der namenlose Schrecken des Schlundes.

»Aber das ist unmöglich!« Karan schrie vor Entsetzen.

»Sie können Karans Spur nicht gefolgt sein!«

Seine Stimme schallte weit durch die umheimliche Stille des Sumpfes, und der häßliche Schädel des Hornkopfes flog mit einem Ruck herum. Seine kleinen, ausdruckslosen Facettenaugen richteten sich auf die drei Menschen und den Waga, die wie Gestrandete auf einer Insel auf der Baumwurzel saßen.

Hinter dem Hornkopf wuchsen die Schatten von weiteren fliegenden Rieseninsekten heran. Einige von ihnen wirkten buckelig und mißgestaltet, bis Tally erkannte, daß auf ihren Rücken Reiterinnen hockten. Es waren sehr viele – zwanzig, dreißig, vielleicht noch mehr. Und die Dunkelheit spie immer noch mehr und mehr aus.

»Das war's dann wohl«, sagte Angella leise. Ihr Blick streifte Tallys Hand, die ganz automatisch zum Gürtel gekrochen war. Sie schüttelte sanft den Kopf, und Tally zog die Hand zurück.

»Whenn isss sssie angreife«, zischelte Hrhon, »habht ihr vielleissst eine Sssanssse...«

»Nein!« Karan keuchte vor Schrecken. »Rührt euch nicht. Vielleicht... vielleicht ist das die Rettung.« Tally sah ihn überrascht an. Aber sie fragte ihn nicht nach der Bedeutung seiner Worte, denn die Armee der fliegenden Hornköpfe war fast heran. Kurz, bevor das erste Ungeheuer sie erreichte, schwenkte es zur Seite, wobei es gleichzeitig langsamer wurde. Seine durchsichtigen Flügel schlugen wie rasend, um den tonnenschweren Körper in der Luft zu halten. Ein unangenehmes, vibrierendes Summen erfüllte die Luft, als mehr und mehr der schwarzgepanzerten Giganten herankamen und scheinbar schwerelos in der Luft verharrten. Nach kaum einer halben Minute sahen sich Tally und die anderen einem lebenden Wall aus Chitin und drohend geöffneten Mandibeln gegenüber.

Dann teilte sich der schwankende Wall, um einem besonders großen Exemplar der fliegenden Hornköpfe Platz zu machen. In seinen faustgroßen Kristallaugen schien eine boshafte Intelligenz zu schlummern, und sein Panzer war mit leuchtenden roten und grünen Streifen verziert. Auf seinem Rücken saß eine menschliche Gestalt.

Tally spannte sich. Das Gesicht der Insektenreiterin war hinter dem geschlossenen Visier ihres Helmes verborgen, so daß sie sie nicht erkennen konnte. Aber sie war zu groß, um Jandhi zu sein. Tallys Hand kroch zur Waffe.

Die Fremde machte eine fast beiläufige, aber sehr schnelle Bewegung, und einer der Hornköpfe schoß vor. Seine Mandibeln schnappten Zentimeter vor Tallys Gesicht in der Luft zusammen. Tally zog die Hand rasch zurück. Der Sumpf unter dem Halbkreis aus schwebenden Hornköpfen begann Wellen zu schlagen.

»Ich sehe, du bist vernünftig«, sagte die Fremde. Ihre Stimme klang sehr unangenehm, denn der geschlossene Helm verzerrte sie. »Du bist Tally.«

Sie nickte.

»Du hast uns viel Ärger gemacht«, fuhr die Fremde fort. »Aber damit ist es jetzt vorbei. Steig auf!« Wieder hob sie die Hand. Ein zweiter buntbemalter Riesenkäfer schwebte herbei und näherte sich torkelnd der Wurzelinsel. Auf seinem Rücken war ein lederner Sattel befestigt.

»Was ist mit... mit meinen Freunden?« fragte Tally, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Was soll mit ihnen sein?« Die Fremde lachte leise.

»Wir wollen nur dich. Mit den anderen haben wir keinen Streit. Sie können gehen.«

»Ihr wollt sie hier zurücklassen?« Tally ballte in hilflosem Zorn die Faust. »Das bedeutet ihren Tod!«

»Niemand hat euch gebeten hierherzukommen«, erwiderte die Fremde unwillig. »Möglicherweise sterben sie, möglicherweise auch nicht.«

»Rede weiter«, wisperte Karans Stimme an Tallys Ohr.

»Nur ein paar Augenblicke noch!«

»Ich gehe nicht ohne die anderen!« beharrte Tally. Irgend etwas Gigantisches, Formloses kroch unter dem Sumpf heran. Hier und da glitzerte fauliges Weiß unter dem Schwarz des Morastes. »Richte Jandhi aus, wenn sie mich haben will, muß sie uns schon alle hier herausholen.« Die Frau mit der schwarzen Gesichtsmaske stieß einen wütenden Laut aus und beugte sich im Sattel vor. Ihr Fluginsekt taumelte, als sie das Gewicht verlagerte. Eines seiner Beine berührte den Sumpf.

»Du mißverstehst deine Lage, Tally!« sagte sie wütend.

»Du hast nichts zu fordern! Ich gebe dir noch zehn Sekunden, dann erschieße ich deine Freunde – vielleicht kommst du dann mit!« Sie zog eine Laserwaffe aus dem Gürtel und legte auf Karan an, um ihren Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen.

Es war die letzte Bewegung ihres Lebens.

Angella schleuderte ein Messer. Die Klinge zuckte wie ein verschwommener silberner Blitz durch die Luft, traf das Handgelenk der Fremden und durchbohrte es. Die Frau schrie vor Schmerz und Schrecken auf, kippte nach hinten und fiel mithaltlos rudernden Armen in den Sumpf. Der schwarze Morast begann zu brodeln wie Säure, in die man Wasser geschüttet hatte. Einen Moment lang ragten Hände und Schultern der Fremden noch aus dem Sumpf hervor, dann war es, als packe sie eine unsichtbare Faust und zerre sie mit einem Ruck in die Tiefe. Für eine Sekunde schloß sich die schwarze Masse wie ein Leichentuch über ihr, dann...

Der Sumpf schien an einem Dutzend Stellen gleichzeitig zu explodieren. Klebriger schwarzer Morast schoß zehn, fünfzehn Meter weit in die Luft, traf die fliegenden Insekten und schleuderte sie wie Spielzeuge herum. Und aus dem Sumpf brach...

Etwas Entsetzliches.

Obwohl Tally jede Einzelheit mit geradezu phantastischer Klarheit sah, konnte sie sich hinterher nicht mehr erinnern, was sie wirklich gesehen hatte.

Es war, als weigere sich etwas in ihr, das grauenerregende Bild als wahr zu akzeptieren, weil es etwas war, das ihren Verstand zerbrechen mußte, hätte sie es wirklich erkannt.

Es war gigantisch. Ein riesiges, bleiches Etwas mit Gesichtern und Mündern und peitschenden Tentakeln, bleich wie faulendes Fleisch und tödlich, ein weißes Gewimmel wie übergroße Maden, gleichzeitig ein Körper, Arme, reißende Fänge und matte blinde Augen. Dünne, peitschende Tentakel schossen aus dem Sumpf, trafen die fliegenden Insekten und umschlangen sie, zerfetzten filigrane Flügel, zerrissen und zerbrachen Panzerplatten und Glieder und zerrten in die Tiefe, was sie nicht in der Luft zerbrechen konnten. Noch immer schoß Schlamm in die Höhe, und immer mehr und mehr der widerwärtigen weißen Madenwürmer bäumten sich auf, griffen mit schnappenden Mäulern nach den Hornköpfen und ihren Reiterinnen, töteten, zerfetzten, zerrten in die Tiefe...

»Lauft!« schrie Karan mit überschnappender Stimme. Wie von Sinnen rannten sie los. Hinter ihnen kochte der Sumpf. Die unheimliche Stille war einem Chor gellender Schreie und entsetzlicher, splitternder Laute gewichen. Schwarzer Schlamm regnete vom Himmel, und als Tally von der Wurzel heruntersprang und bis an die Knie einsank, spürte sie schrecklichen, schleimig-weichen Widerstand unter den Füßen. Etwas Helles, Dünnes zuckte aus dem Boden und wickelte sich um ihren Arm. Mit der Kraft der Verzweiflung zerfetzte sie es, streifte das zappelnde Ende angeekelt ab und hetzte weiter.

Trotz des entsetzlichen Gemetzels, dessen Zeuge sie waren, blieben sie fast unbehelligt. Die furchtbaren Angreifer schienen sich – aus einem Grund, über den Tally gar nicht erst nachzudenken wagte – einzig auf die Hornköpfe und ihre Reiterinnen zu konzentrieren. Trotzdem rannte Karan wie von Furien gehetzt, und auch Tally und Angella stolperten durch den klebrigen Morast, so schnell sie nur konnten. Selbst Hrhon, der normalerweise schon Mühe hatte, mit einem normal gehenden Menschen Schritt zu halten, fiel nicht merklich zurück. Tally warf einen Blick über die Schulter zurück, und was sie sah, ließ sie ihr Tempo noch mehr steigern. Der Morast kochte. Das stumpfe Schwarz war zu einem brodelnden Muster aus Schwarz und fauligem Weiß und widerwärtigen, sich windenden madenartigen Körpern geworden, aus dem buchstäblich Tausende von dünnen, peitschenden Tentakeln hervorwuchsen, ein zitternder Wald, der die Hornköpfe verschlang. Nur den allerwenigsten der fliegenden Insekten war die Flucht gelungen. Tally sah eines der Ungeheuer torkelnd durch die Luft schießen; in seinem Nacken etwas Großes, Weißes, das sich in seinen Leib hineinfraß.

»Dort vorne!« Karan deutete auf einen verschwommenen Umriß, der sich vor ihnen aus dem bleichen Licht zu schälen begann. Nach einigen Sekunden erkannte Tally, daß es ein Baum war, niedergestürzt und vom Wipfelwald gehalten wie der, über den sie heruntergekommen waren, nur sehr viel älter und von Fäulnis und Verwesung schon beinahe zerfressen.

Der Anblick gab ihr noch einmal neue Kraft. Keuchend stolperte sie weiter, erreichte die ersten Ausläufer der Wurzeln und zog sich daran in die Höhe. Etwas Kleines, Weißes berührte ihre Hand und huschte lautlos davon. Irgend etwas berührte ihre Wade. Tally schrie auf wie unter Schmerzen, griff mit beiden Händen zu und zog sich mit letzter Kraft in die Höhe.

Aber sie waren noch nicht in Sicherheit. Der Stamm führte in steilem Winkel nach oben, und Rinde und Holz waren so morsch, daß sie bei jedem zweiten Schritt einzubrechen drohten. Trotzdem gestattete ihnen Karan keine Rast, sondern hetzte unbarmherzig weiter, bis der Sumpf zehn, zwölf Meter unter ihnen lag. Erst dann blieb er stehen, drehte sich schweratmend um und sank erschöpft auf die Knie.

»Sind wir... in... Sicherheit?« fragte Angella schweratmend.

»Noch nicht«, stöhnte Karan. Er wollte sich aufrichten, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu und sank wieder auf Hände und Knie herab. »Aber Karan wird... es merken, wenn... wenn ein Angriff erfolgt. Ruht euch... einen Moment aus.«

Tally schwindelte. Sie hatte auf den wenigen Schritten hierher alles gegeben, was sie geben konnte. Ihr Körper war ausgepumpt, leer, aller Kraft beraubt. Und den anderen erging es nicht besser. Selbst Hrhons Schuppengesicht wirkte grau vor Anstrengung. Trotzdem stemmte sie sich mit letzter Kraft in die Höhe, kroch auf Karan zu und ergriff ihn an der Schulter.

»Was ist das hier, Karan?« stöhnte sie. Selbst diese wenigen Worte bereiteten ihr Mühe. »Was bedeutet das alles! Ich will jetzt endlich eine Antwort!«

»Später.« Karan versuchte ihre Hand abzustreifen, aber seine Kraft reichte nicht. »Karan wird euch alles erklären, aber nicht –« Er stockte. Seine Augen wurden rund vor Entsetzen, während sein Blick an Tally vorbei in die Tiefe fiel.

Tally schrie auf, als sie sich herumdrehte.

Nur wenige Schritte neben dem Baumstamm ragte eine Anzahl der fahlen Riesenpilze aus dem Boden, und zwischen ihnen, bis zur Taille im schwarzen Morast versunken und mit schmerzverzerrtem Gesicht, stand...

»Weller!«

Angellas Schrei und Tallys Bewegung waren eines. Von einer Sekunde auf die andere waren alle Furcht und Erschöpfung vergessen. Nur noch mit einem winzigen Teil ihres Bewußtseins registrierte sie, wie Karan ebenfalls aufschrie und sie festzuhalten versuchte, dann war sie herum und sprang blindlings in die Tiefe.

Der weiche Morast dämpfte ihren Sturz. Sie fiel, kam, von ihrem eigenen Schwung nach vorne gerissen, wieder auf die Füße und taumelte auf Weller zu. Über ihr begann Karan schrill und wie unter Folterqualen zu schreien; sie verstand die Worte nicht, und hätte sie sie verstanden, sie hätte nicht darauf reagieren können. Ein winziger Teil ihres logischen Denkens funktionierte noch – ein Teil, der ihr zuflüsterte, daß das, was sie zu sehen glaubte, vollkommen unmöglich war – sie waren Meilen von der Absturzstelle entfernt. Weller konnte den Sturz nicht überlebt haben, und wenn doch, so war es unmöglich, ihn hier wiederzusehen.

Aber sie stolperte blindlings weiter, unfähig, auf Karans Schreie und die drängende Stimme in ihrem Innern zu hören. Für einen Moment verlor sie Weller aus dem Blick und sah nur noch die gewaltigen bleichen Pilze. Der Boden dazwischen kochte. Etwas Schlankes, Massiges wie eine faulende weiße Schlange bewegte sich darin, ein faustgroßes blindes Auge starrte sie an. Dann sah sie Weller wieder. Er war etwas weiter in den Boden eingesunken, sein Gesicht verzerrt vor namenlosem Grauen. Und er schrie: hohe, entsetzliche Töne, wie sie eine menschliche Kehle kaum hervorbringen konnte und die sie doch verstand.

Er schrie ihren Namen. »Tally!« brüllte er. »Um Gottes Willen, hilf mir! so hilf mir doch!«

Und dann sah sie, was es wirklich war.

Es war Weller – oder wenigstens etwas, das wie Weller aussah, eine Weller-Kopie aus weichem Brei, perfekt bis zur Brust und den Ellbogen hinab, darunter aus der Form geraten, zerlaufend, fließend... Seine Hände waren bereits verschwunden, die Unterarme lösten sich auf wie Wachs, das in der Sonnenglut schmolz und in zähen Fäden zu Boden tropfte, dann begann sich seine Brust aufzulösen. Hals und Schultern sanken ein, und mit einem Mal begann sein Gesicht Blasen zu schlagen. Augen und Nase verschwanden, krochen auf entsetzliche Weise in die flacher werdende Stirn zurück, nur noch der Mund war da, ein zerfranstes, aufgerissenes Loch, aus dem diese schreckliche Stimme noch immer ihren Namen brüllte: »Hilf mir! Tally, so hilf mir doch!!!!« Tally stand noch immer da und schrie, als Hrhon und Angella neben ihr anlangten. In blinder Panik schlug sie um sich, hörte Angella stürzen und fühlte sich plötzlich von Hrhons übermenschlich starken Händen gepackt. Wie von Sinnen trat sie zu, hämmerte mit den Fäusten auf Hrhons Schädel ein und versuchte sogar an ihre Waffe zu kommen.

Angella entwand ihr den Laser, holte aus und versetzte ihr einen Schlag mit der flachen Hand, der sie halb besinnungslos in sich zusammensinken ließ. Aber sie schrie immer noch weiter, bäumte sich mit aller Kraft gegen Hrhons Griff auf, versuchte ihm die Augen auszukratzen und trat nach Angella.

Wie in einer entsetzlichen Vision, auf die sie selbst keinen Einfluß hatte, hörte sie sich schreien, ununterbrochen Wellers Namen rufend, und als Antwort noch immer das hohe, schrille Kreischen des Weller-Dinges, Laute, die nichts mehr mit einer menschlichen Stimme gemein hatten und die doch ihren Namen brüllten, erfüllt von einer Furcht, die die Grenzen des Vorstellbaren sprengte.

Dann brach ein peitschendes weißes Etwas aus dem Sumpf, unmittelbar neben Hrhon. Schwarzer Morast besudelte sie; ein nur kleinfingerstarker, aber ungemein kräftiger Strang wickelte sich wie eine Peitschenschnur um Hrhons Körper. Der Waga brüllte vor Zorn und Schmerz und versuchte ihn zu zerreißen, aber selbst seine ungeheuerlichen Kräfte versagten. Neben ihr schrie Angella wie unter Schmerzen auf, hob den Laser und versuchte vergeblich, die Waffe einzuschalten. Auch zwischen ihren Füßen zerbarst der Sumpf. Ein ganzes Gespinst weißer, glitzernder Fäden schoß in die Höhe, wickelte sich um Angellas Arme, ihre Schultern, . und ihren Körper, legte sich wie ein klebriges Gespinst über ihr Gesicht und erstickte ihre Schreie. Tally spürte, wie sich Hrhon noch einmal aufbäumte und mit aller Gewalt an dem entsetzlichen Geflecht zerrte, das ihn in die Tiefe reißen wollte.

Und plötzlich war Karan da. Blindlings und ohne auf die Gefahr zu achten, in die er sich selbst begab, sprang er zu ihnen herab, warf sich mit einem Schrei auf Angella und begann das erstickende Wurzelgeflecht von ihrem Gesicht herunterzuzerren.

Was Hrhon mit seinen übermenschlichen Kräften nicht geschafft hatte – ihm gelang es. Die weißen Fäden zerrissen wie Spinnweben. Plötzlich war Angellas Gesicht wieder frei; sie konnte atmen. Karan zerrte und riß weiter, befreite auch ihre Schultern und Arme und hielt plötzlich den Laser in der Hand.

Ein dünner, unerträglich gleißender Blitz fuhr aus der Waffe und brannte ein rauchendes Loch in den Boden, nur wenige Handbreit vor Angellas Füßen.

Tally glaubte das qualvolle Zusammenziehen des unglaublichen Wesens wie einen eigenen Schmerz zu fühlen. Mit einem Male waren sie frei. Die dünnen Stränge, die Hrhon und sie gepackt und in den Boden hinabzuziehen versucht hatten, fielen kraftlos herab. Hrhon stieß einen erleichterten Schrei aus und stürmte los, während Karan hinter ihnen herumfuhr und Angella in die Höhe riß, mit einer Kraft, die er einfach nicht haben konnte.

Sie erreichten den Baumstamm. Hrhon warf sie wie eine leblose Last auf das morsche Holz hinauf, fuhr noch einmal herum und streckte die Pranken aus, um Karan und Angella zu helfen.

Aber Tally registrierte all dies nur mit einem winzigen Teil ihres Bewußtseins. Sie war fast besinnungslos, und fast wahnsinnig vor Angst – und sie hörte noch immer Wellers entsetzliche Schreie.

Die Alptraumgestalt war längst verschwunden, eins geworden mit dem gigantischen protoplasmischen Ungeheuer, das sich unter dem schwarzen Sumpf des Bodens verbarg, aber Tally sah sie noch immer. Wohin sie auch blickte, glaubte sie das fürchterliche, zerlaufende Gesicht zu erkennen, den hilflos aufgerissenen Mund, aus dem gellende Hilfeschreie drangen. Sie war nicht mehr Herrin ihres Willens. Während Hrhon sich abmühte, Karan und Angella auf die rettende Insel hinaufzuzerren, stemmte sie sich hoch, kroch auf Händen und Knien zurück, zurück zum Sumpf, zu Weller, den sie retten mußte, der ein Recht darauf hatte, gerettet zu werden, von ihr gerettet zu werden, denn sie war es gewesen, die ihn hierhergebracht hatte, die...

Sie sah Hrhon über sich aufragen, versuchte ihn beiseitezustoßen und spürte nur noch, wie seine gewaltige Pranke sie beinahe sanft im Nacken berührte.

7

Es war hell, als sie erwachte. Sie spürte, daß sie nur Minuten ohne Bewußtsein gewesen sein konnte. Unter ihr war der schuppige Panzer Hrhons, der sie trug, auf ihrem Rücken seine Hand. Ihr Herz jagte, als wäre sie um ihr Leben gerannt, und sie erinnerte sich vage an einen Traum, einen entsetzlichen, nicht enden wollenden Traum, der Stunden gedauert zu haben schien, obwohl sie mit einem anderen, klar gebliebenen Teil ihres Bewußtseins begriff, daß sie nur Augenblicke ohne Bewußtsein gewesen war, ein Traum, in dem sie selbst ein Rolle spielte, und eine fürchterliche Kreatur, die Weller war und doch nicht Weller, und die...

Die Erkenntnis, daß es kein Traum war, ließ sie aufschreien. Sie fuhr hoch, schlug in blinder Furcht um sich und spürte, wie ihre Handgelenke gepackt und festgehalten wurden. Die Dunkelheit über ihr zersplitterte zu einem zackigen Muster aus Schwarz und Grün und loderndem Rot, als Hrhon sie wenig sanft von der Schulter hob und zu Boden legte.

In ihren Ohren war noch immer der gellende Schrei der Weller-Kreatur, seine Hilferufe, die sich unauslöschlich tief in ihre Seele gebrannt hatten, zu tief, als daß sie sie jemals wieder vergessen konnte. Sie schrie, bäumte sich auf und spürte, wie eine Hand in ihr Gesicht klatschte. Der Schmerz war seltsam irreal.

Mühsam öffnete sie die Augen. Es war noch immer Nacht. Das Licht kam von den Bränden, die irgendwo, nicht mehr sehr weit über ihnen, den Himmel verzehrten. Dann erkannte sie Angella.

»Nimmst du freiwillig Vernunft an, oder muß ich sie dir einprügeln?« fragte Angella. Sie lächelte, aber ihr Blick war sehr ernst.

Tally nickte mühsam. Ihre Wange brannte, wo sie Angellas Hand getroffen hatte. »Laß... mich los«, sagte sie. »Ich bin in Ordnung.« Das Reden fiel ihr schwer. Da war etwas gewesen, in ihrem Traum oder dem entsetzlichen Erlebnis, das sie für einen Traum gehalten hatte. Sie wußte nicht mehr, was es war, aber es war wichtig gewesen. Lebenswichtig. Eine Erkenntnis. Ein jähes Wissen, das alles erklärte. Aber es war verschwunden. Und je mehr sie versuchte, es zurückzuzwingen, desto rascher schien es ihr zu entgleiten.

Angella schien ihr nicht zu glauben, denn sie lockerte den Griff um ihre Handgelenke zwar ein wenig, ließ aber noch nicht los. »Wie fühlst du dich?«

»Gut, verdammt noch mal.« Tally riß sich ärgerlich los, setzte sich vollends auf und sah sich um.

Im ersten Moment erkannte sie nichts als Schwärze, durchzuckt von roten und dunkelgelben Blitzen aus Licht. Dann begriff sie, daß der zerbrochene Himmel. über ihr das gewaltige Netz war, das Karan das Dazwischen genannt hatte.

Aber das Licht war nicht das sinnverwirrende grüngraue Halblicht der Dämmerungszone, sondern flackernder Feuerschein, der durch Lücken und rauchende Löcher in der Pflanzendecke fiel. Es gab sehr viele solcher Lücken, wie Tally mit einem raschen Blick feststellte. Das Blätterdach über ihnen war zerfetzt. Blätter und Pflanzen hingen als verkohlte Strünke von den geschwärzten Stämmen der Riesenbäume. Hier und da tropfte flüssiges Feuer in die Tiefe wie brennender Regen. Die Luft roch verbrannt. Sie waren nicht mehr weit von der Stelle entfernt, an der sie in die Unterwelt herabgestiegen waren.

»Was ist passiert?« fragte sie mühsam.

Angella zuckte mit den Schultern. »Karan hat uns rausgebracht«, antwortete sie. »Was sonst?« Ein ärgerliches Stirnrunzeln huschte über den nicht verbrannten Teil ihres Gesichts. »Wäre es anders, wärst du kaum noch in der Lage, eine derartig dumme Frage zu stellen.«

»Zum Teufel, das meine ich nicht«, fauchte Tally.

»Was ist mit den Hornköpfen und Karan?«

»Komm, komm, Tally«, sagte Angella ärgerlich. »Du warst ein paar Sekunden weggetreten, keine zehn Tage – also was soll das? Deine hornigen Freunde sind tot – wenigstens hoffe ich es. Und was Karan angeht – frag ihn selbst. Seit wir hier sind, schweigt er wie ein Grab. Er will nur mit dir reden.« Sie deutete mit einer wütenden Geste über die Schulter zurück auf Karan, der mit untergeschlagenen Beinen dahockte und ins Leere starrte. Tally stand auf. Im ersten Moment schwindelte ihr. Die Tiefe unter ihr schien zu locken, und da war die Stimme... Wellers Stimme, zu einem entsetzlichen, kreischenden Etwas verzerrt, das tief in ihrer Seele wühlte und grub...

Sie verscheuchte den Gedanken.

»Alles in Ordnung?« fragte sie.

Karan hob müde den Blick. In seinen Augen stand ein Ausdruck von vagen Schmerz. Er nickte. »Du verlangst jetzt sicher eine Erklärung von Karan«, sagte er.

»Es wäre an der Zeit, meinst du nicht?« fauchte Angella.

Tally hob ärgerlich die Hand und gab ihr ein Zeichen, zu schweigen. »Was war das?« fragte sie. »Dieses... dieses Ding, Karan?« Selbst die bloße Erinnerung an ihr schreckliches Erlebnis bereitete ihr fast körperliche Übelkeit.

»Nichts«, antwortete Karan ausweichend. Er sah Tally nicht an. »Nur ein Trugbild. Einer der zahllosen Schrecken, mit denen der Schlund seine Opfer narrt.«

Aber sie spürte, daß er log, und Karan mußte seinerseits spüren, daß es so war, denn er wich ihrem Blick noch immer aus. »Nur ein Trugbild, Tally«, sagte er noch einmal.

»Warum hattest du dann solche Angst davor?« fragte sie. »Was ist das dort unten, Karan? Die... die Ungeheuer, die die Hornköpfe vernichtet haben – was sind sie?«

Wieder hatte sie das deutliche Gefühl, daß Karan nach einer Ausflucht suchte, nach irgendeiner plausiblen, aber falschen Erklärung für das Entsetzliche, das sie erlebt hatten. Dann lächelte er plötzlich; rasch und voller Schmerz und Resignation. Einen Moment lang sah er sie an, dann stand er auf, drehte sich halb herum und deutete nach oben.

»Ihr müßt fort«, sagte er. »Eure Feinde sind noch in der Nähe, Karan kann sie spüren.«

»Das ist keine Antwort!« fauchte Angella. Aber Karan reagierte gar nicht auf ihre Worte, sondern deutete nur abermals nach oben, legte den Finger auf die Lippen und bedeutete ihnen mit Grimassen, still zu sein. Widerwillig – und eigentlich nur aus dem einzigen Grund, daß sie gar keine andere Wahl hatte – folgte ihm Tally, als er weiterging. Er ging vorsichtig und stark nach vorne gebeugt, wie ein Mann, der gegen einen unsichtbaren Sturmwind ankämpfte.

Es wurde ein wenig heller, als sie das Netz durchstießen, aber es war noch immer nicht das Licht des Tages, sondern flackernder Feuerschein. Wie Tally befürchtet hatte, hatte der Brand um sich gegriffen. Mit dem nächsten Regen würde er erlöschen, aber zumindest jetzt noch brannte der Wipfelwald überall. Die Luft schmeckte bitter und nach Rauch. Ein unglaublicher Lärm schlug über ihnen zusammen.

Karan blieb stehen, sah sich einen Moment lang unschlüssig um und deutete dann in die Richtung, in der das Muster aus Rot und Orange nicht ganz so dicht war.

»Dort entlang!«

Tally warf einen letzten Blick in die Tiefe, ehe sie losging. Sie schauderte. Unter ihr war nichts. Das bleiche Totenlicht des Schlundes war verschwunden, als wäre es nur für sie sichtbar, die ohnehin in seine unsichtbaren Fänge gerieten, aber sie spürte die Verlockung, das lautlose Wispern in ihrem Innern, die Stimme Wellers, die sie nie, nie wieder vergessen würde. Sie war es gewesen, die ihn hierhergebracht hatte, die die Schuld an seinem Tod (Tod? Nein – etwas tausendfach Schlimmeres!) trug. Diesmal kostete es sie ungeheure Überwindung, den Gedanken zurückzudrängen und sich Karan und den beiden anderen anzuschließen.

Es war wie eine getreuliche Fortsetzung des Alptraumes, der mit dem Abend seinen Anfang genommen hatte. Der Wald brannte an zahllosen Stellen. Dann und wann regnete Feuer aus dem Wipfelwald über ihren Köpfen, und mehr als einmal mußte Karan umkehren, weil es den Weg, den er kannte, nicht mehr gab. Sie marschierten eine halbe Stunde lang durch eine Hölle aus flackerndem Licht und Hitze und Feuer, das jäh vom Himmel fiel, aus Rauch und unbeschreiblichem Lärm, und sie legten in dieser Zeit nicht mehr als eine Meile zurück; vielleicht weniger, denn mehr als einmal mußten sie große Umwege in Kauf nehmen.

Plötzlich blieb Karan stehen, hob warnend die Hand und deutete mit der anderen auf eine Stelle dicht vor ihnen.

»Was ist?« fragte Tally.

Karan zuckte die Achseln, bedeutete ihnen mit Gesten, zurückzubleiben, und ging allein weiter, sehr viel vorsichtiger als bisher. Trotz seiner Warnung folgten ihm Tally und Angella, während Hrhon ein Stück zurückblieb, um ihren Rücken zu decken.

Tally verspürte einen eisigen Schauer von Furcht und Ekel, als sie sah, was Karan entdeckt hatte.

Es war ein Hornkopf; eine der gigantischen fliegenden Käferkreaturen, denen sie um ein Haar zum Opfer gefallen wären. Er war tot. Ein Teil seines Rückenpanzers war weggerissen, das verwundbare Hügelgespinst darunter zerfetzt und wie verbrannt. Etwas Weißes, Formloses hatte sich in das verwundbare Fleisch darunter gefressen.

Dann sah sie die verkrümmte Gestalt, die neben dem Rieseninsekt lag.

Ganz instinktiv blieb sie stehen. Die Frau war tot, mußte tot sein, so, wie sie zwischen den geschwärzten Ästen lag, mit unnatürlich verrenkten Gliedern, über und über mit ihrem eigenen und dem Blut des Hornkopfes besudelt, aber Tallys Instinkte waren stärker als ihr logisches Denken. Sie blieb stehen, trat ein winziges Stück zur Seite und senkte die Hand zum Gürtel, wo der Laser sein sollte. Erst dann fiel ihr ein, daß Angella ihr die Waffe fortgenommen hatte – und danach Karan.

»Nicht«, sagte Karan warnend. »Geht nicht näher.« Auch er schien die Gefahr zu spüren, die die tote Drachenreiterin wie ein übler Geruch umgab.

Nicht so Angella. Sie schnaubte abfällig, trat an Tally vorbei und kniete neben der Toten nieder. Mit einer groben Bewegung drehte sie sie auf den Rücken.

Die Hand der Toten bewegte sich. Ein winziges, rotes Dämonenauge starrte Angella an.

Tally reagierte, ohne zu denken. Mit weit ausgebreiteten Armen warf sie sich vor, umschlang Angellas Taille und riß sie zu Boden. Gleichzeitig stieß-ihr Fuß nach der Hand der Drachenreiterin. Sie traf, aber nicht richtig; der Laser prallte zurück, wurde seiner Besitzerin aber nicht aus der Hand geschleudert, sondern entlud sich mit einem peitschenden Knall.

Es ging unglaublich schnell, aber Tally sah jedes noch so winzige Detail mit entsetzlicher Klarheit.

Gleichzeitig schien sich die Luft in einen zähen Sirup zu verwandeln, der ihre Glieder daran hinderte, sich mit der gewohnten Schnelligkeit zu bewegen. Sie war hilflos, nur noch Zuschauerin des Entsetzlichen, das geschah: Der Blitz fuhr kaum eine Handbreit an ihrem Rücken vorbei, sengte eine flammende Spur in den Wald und explodierte in Karans Schulter. Karans rechter Arm flammte auf wie eine Fackel. Feuer sprang auf sein Gesicht über, ergriff sein Haar und sein Hemd, plötzlich verstummten seine Schreie; ein Mantel aus weißroten Flammen hüllte ihn ein. Er taumelte, blieb einen Moment reglos stehen, in grotesker, vorgebeugter Haltung, als wehre sich etwas in ihm noch mit verzweifelter Kraft, dann brach er zusammen.

Angella schrie auf, stieß Tally zurück und warf sich auf die Drachenreiterin. Ein Dolch blitzte in ihrer Hand. Ihr Gesicht war verzerrt vor Haß.

»Nicht!« schrie Tally. »Tu es nicht, Angella!«

Aber es war zu spät. Der Laser in der Hand der Sterbenden bewegte sich, aber Angella war schneller. Mit einem Tritt fegte sie die Waffe beiseite, hob den Arm und stieß zu, einmal, zweimal, dreimal, wie in einem schrecklichen Blutrausch gefangen, immer und immer wieder, bis Tally endlich über ihr war und ihren Arm zurückriß.

Angella versuchte auch nach ihr zu stechen. Tally wich dem Dolch aus, packte ihr Handgelenk und verdrehte es, bis sie die Waffe fallen ließ. Dann versetzte sie ihr eine schallende Ohrfeige.

»Verdammte Närrin?« schrie sie. »Was ist in dich gefahren?!« Sie schlug ein zweites Mal zu – diesmal nicht mehr, weil es nötig war, sondern schlicht und einfach, weil sie etwas brauchte, an dem sie ihre Wut auslassen konnte –, zerrte Angella grob von der Brust der Toten herunter und versetzte ihr einen Stoß, der sie abermals zu Boden fallen ließ. »Du verdammte Närrin!« schrie sie, außer sich vor Zorn. »Warum hast du sie umgebracht! Sie hätte uns wertvolle Informationen geben können. Sie –«

Sie sprach nicht weiter, als sie den Ausdruck in Angellas Gesicht sah.

Angella war totenbleich geworden. Der Abdruck von Tallys Hand zeichnete sich rot auf ihrer Wange ab. Ihr Mund stand halb offen, wie zu einem Schrei, und ihre Augen schienen vor Entsetzen schier aus den Höhlen quellen zu wollen. »Ka... ran!« stammelte sie.

Tally drehte sich herum.

Das erste, was sie sah, war Hrhon, und obwohl sie ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde anblickte, begriff sie doch, daß sie den Waga zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich fassungslos sah, erstarrt vor ungläubigem Schrecken und geschüttelt vor Angst.

Dann sah sie Karan.

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Und es war unmöglich.

Sie hatte gesehen, wie der Laserblitz Karan traf. Sie wußte, welche Verheerung diese schreckliche Waffe ausrichten konnte, und sie hatte gesehen, wie sein Körper wie ein Stück trockener Holzkohle ausgeflammt war. Großer Gott, sie hatte es GESEHEN!

Aber er war nicht tot.

Karan hockte, mit verzerrtem Gesicht und stierem Blick zwar, aber unverletzt, auf den Boden, den rechten Arm gegen den Leib gepreßt. Sein Wams war zu Asche verkohlt, aber die Haut darunter war glatt und unversehrt, rosig wie die eines Neugeborenen, ohne die winzigste Wunde, ohne die allergeringste Spur der Höllenglut, die sie vor Tallys Augen versengt hatte.

Und dann, endlich, begriff sie.

Alle Angst fiel von ihr ab. Plötzlich hatte sie keine Furcht mehr, allein, weil sie begriff, daß das Geheimnis, dem sie gegenüberstand, zu groß war, als daß sie irgendwelche menschlichen Gefühle als Maßstab anlegen konnte. Sie... schauderte. Die Tiefe der Erkenntnis, die sie überfiel, ließ irgend etwas in ihr beinahe ehrfürchtig erzittern. Es fiel ihr selbst schwer, zu sprechen.

»Das also war es«, murmelte sie.

Karan nickte. Er stand auf. Sein Arm, der vor Tallys Augen zu schwarzer Schlacke geworden war, hob sich, unversehrt, glatt neugeboren. Nein – neugeschaffen, verbesserte sie sich in Gedanken. Was für eine Närrin war sie doch gewesen, es nicht schon vorher zu merken.

»Was... was bedeutete das?« stammelte Angella.

Ihre Stimme war schrill. Zitterte. Tally hörte den Ton beginnender Hysterie darin. »Was bedeutet das, Tally?« kreischte sie.

»Schweig«, sagte Karan sanft. »Deine Angst ist verständlich, aber unbegründet. Karan ist nicht euer Feind. Er wird euch hier herausbringen, wie er es versprochen hat.« Er stockte einen fast unmerklichen Moment. »Er wird euch einen Weg zeigen, auf dem ihr aus dem Wald herauskommt. Aber zuvor wird er deine Frage beantworten, Tally.« Er seufzte. Als er weitersprach, klang seine Stimme verändert. Flach und tonlos wie die eines Mannes, der in Trance sprach.

»Das dort unten ist der Schlund, Tally«, sagte er. Seine Hand wies nach unten, auf das unsichtbare, schlingende Etwas unter dem Netz. Zum ersten Male glaubte Tally zu begreifen, wie wahr der Name war, den die Menschen der Welt unter der Welt gegeben hatten. »Das Leben.«

»Leben?« Angella ächzte. »Ich hatte einen eher gegenteiligen Eindruck, Karan.«

»Es ist das Leben«, beharrte Karan. »Leben in seiner reinsten, ursprünglichsten Form.« Er wandte sich wieder an Tally. »Karan hat dir einmal die Geschichte den Schlundes erzählt, Tally, den kleinen Teil davon, den er selber kennt, und der weiterzugeben ihm erlaubt ist. Dies alles hier war einmal ein Meer, ein Ozean, der den größten Teil dieser Welt umspannte. Alles Leben begann in ihm, und hier wird noch Leben sein, wenn der Rest dieses Planeten längst zu einer toten Staubkugel geworden ist. Es war immer hier, es ist hier, und es wird immer hier sein. Es ist die große Mutter, Gäa, der Ursprung allen Lebens.«

»Die große Mutter?« Angella lachte bitter. »Eine ziemlich rabiate Mutter, findest du nicht?« Ihre Stimme schwankte immer stärker. Tally begriff, daß sie kurz davor war, schlichtweg den Verstand zu verlieren.

»Du verstehst noch immer nicht«, antwortete Karan.

»Der Schlund ist kein Wesen wie du oder Tally oder selbst der Waga hier. Er denkt nicht. Er fühlt nicht. Er lebt. Das ist alles.«

»Und deshalb tötet er?«

»Der Sinn des Lebens ist das Leben, sonst nichts«, erwiderte Karan beinahe sanft. »Dinge wie gut und böse sind Erfindungen der Menschen. Der Schlund kennt diese Gefühle nicht. Sie hindern nur und nutzen nicht. Der Schlund ist Leben, in absoluter Perfektion. Nichts kann ihn vernichten. Er kennt keine Schmerzen. Keine Skrupel. Kein Gewissen.«

»Dann ist er nicht mehr als ein Plasmaklumpen«, sagte Angella. Sie wimmerte leise. Tally blickte rasch zu ihr zurück und sah, daß ihr Gesicht noch immer verzerrt war. Ihr Blick flackerte. Sie sprach, ohne wirklich zu wissen, was sie sagte. Ihre Hände vollführten kleine, eigenständige Bewegungen. »Nicht mehr als ein Ding, das frißt und sich fortpflanzt.«

»Und damit den Sinn des Lebens erfüllt«, beharrte Karan. Er lächelte milde. »Du verstehst nicht, Angella – und wie könntest du auch? Niemand, der den Schlund nicht so kennengelernt hat wie Karan, kann begreifen, was er ist.«

»Du weißt es«, sagte Tally. Plötzlich war ihr kalt. Entsetzlich kalt. Sie trat dicht an Karan heran und versuchte zu lächeln, aber der bloße Gedanke an das, dem sie wirklich gegenüberstand, ließ es zu einer Grimasse werden. »Deshalb also hattest du solche Angst davor, hierher zurückzukehren«, fuhr sie fort.

Karan nickte. »Ja. Aber diese Angst war falsch, das weiß Karan jetzt. Er hätte schon viel früher zurückkehren sollen. Er dankt dir, daß du ihn gezwungen hast, es zu tun.«

»Was zum Teufel redet ihr da?« fragte Angella. Sie sah abwechselnd Tally und Karan an. »Was soll dieser Unsinn bedeuten?«

»Es ist kein Unsinn.« Tally antwortete, ohne den Blick von Karans Gesicht zu nehmen. In den Augen des alten Mannes stand ein Ausdruck, der sie schaudern ließ. Es war Schmerz, Furcht, sicher, aber auch... ja – aber auch Glück. Glück und Erleichterung. »Du hast gefragt, wie es kommt, daß wir von keinem Bewohner dieses Waldes angegriffen worden sind, Angella«, fuhr sie fort, aber noch immer, ohne sie anzusehen. »Du hast vermutet, daß es Karan ist, der uns schützt, nicht wahr? Aber wir wußten nicht, wie er es getan hat.«

»Und du weißt es jetzt?« Angella klang unsicher. Tally nickte. »Ja. Sie fürchten ihn, weil sie den Schlund fürchten, nicht wahr, Karan? Und weil er ein Teil davon ist.«

Ganz langsam zog sie ihr Messer aus dem Gürtel, setzte die Spitze auf Karans Unterarm und sah ihn fragend an. Karan nickte.

»Was tust du?« rief Angella erschrocken.

Aber Tally antwortete nicht. Statt dessen führte sie die Messerklinge in einem raschen, aufwärts gerichteten Bogen über Karans Arm. Seine Haut klaffte auseinander. Karan zuckte nicht einmal mit den Wimpern.

Die Wunde blutete nicht.

Und darunter kam keinlebendes Fleisch zum Vorschein, sondern eine weißliche, glänzende Masse aus Millionen und Abermillionen mikroskopisch feiner, ineinandergesponnener Fäden, menschliche Knochen und Venen und Muskeln nachahmend.

Angella keuchte. Ihre Augen weiten sich entsetzt.

»Was...«, stammelte sie.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Karan milde.

»Karan ist nicht euer Feind.«

»Und du?« fragte Tally.

»Ich bin ein Teil von ihm«, erwiderte Karan. »So wie Karan ein Teil von mir ist. Er wird zurückkehren, jetzt, wo er den Ruf der Urmutter vernommen hat, aber noch bleibt ihm ein wenig Zeit. Und er wird euch hier herausbringen, zum Dank, daß ihr ihm geholfen habt, dorthin zurückzukehren, wo er hingehört.«

»Du... du willst doch nicht etwa diesem Ungeheuer trauen?« keuchte Angella. »Hast du vergessen, was es mit den Hornköpfen gemacht hat? Hast du... hast du Weller schon vergessen?«

»Auch Weller ist Teil des Schlundes geworden«, antwortete Karan an Tallys Stelle. »Dein Mitgefühl ist verständlich, Angella, doch unbegründet. Er ist glücklich, dort, wo er jetzt ist.« Er zögerte. Dann: »Auch ihr solltet Karan folgen. Ihr wäret aller Schmerzen und Sorgen ledig.« Er lächelte, schüttelte den Kopf und beantwortete seine Frage selbst. »Aber ihr werdet es nicht tun. Auch Karan hätte es nicht getan, bevor ihr ihm die Augen geöffnet habt. Der Teil von euch, der Mensch ist, ist noch zu stark in euch.«

»Aber Weller hat... hat mich gerufen!« sagte Tally verstört. »Er hat um Hilfe geschrien, Karan. Er leidet!« Karan lächelte. Die Wunde auf seinem Arm begann sich zu schließen. »Nur ein Teil von ihm. Schmerz und Leid sind Bestandteile des menschlichen Lebens, Tally. Sie werden vergehen, wie sein Körper verging. Er wird glücklich sein.«

Er log. Tally hatte Wellers Schreie gehört, das entsetzliche Flehen und Rufen in der Nacht zuvor. Sie hatte die Furcht in seinen Augen gesehen, das namenlose Entsetzen im Blick jenes Dinges, in das er sich verwandelt hatte. Karan log, wenigstens in diesem Punkt und vielleicht nicht einmal bewußt. Aber sie sprach nichts davon aus, sondern starrte ihn nur weiter an.

Etwas geschah mit ihm, erkannte Tally schaudernd. Karans Gesicht begann sich zu verändern. Die Falten und Linien, die die Jahrzehnte hineingegraben hatten, glätteten sich zusehends; seine Haut wurde heller. Er wurde nicht etwa jünger, aber irgend etwas schien seine Persönlichkeit zu verwischen. Karan verwandelte sich nicht in ein Monster, wie Weller zuvor; er blieb Mensch, wenigstens äußerlich. Aber er war nur noch Mensch, eine bloße Erscheinungsform, ohne Persönlichkeit, ohne Individualität, eine willkürliche Form, die das Leben gewählt hatte. Plötzlich glaubte Tally zu spüren, welch ungeheure Anstrengung es ihn gekostet haben mußte, diese Erscheinung all die Zeit hindurch aufrecht zu erhalten.

»Wohin bringst du uns?« fragte sie. Ihre Stimme brach fast.

Abermals deutete Karan nach Norden. »Hinaus aus dem Wald. Dorthin, wo dein Ziel ist, Tally.«

»Und die Drachen?«

»Sie werden euch nicht folgen«, antwortete Karan.

»Nicht auf dem Weg, auf dem Karan euch führen wird.« Seine Hand deutete nach unten. Er lächelte rasch, als er Tallys und Angellas Erschrecken bemerkte. »Keine Sorge«, sagte er. »Karan wird euch schützen, so, wie er euch vor den Gefahren des Waldes beschützte.«

»Vorhin konntest du das noch nicht«, sagte Angella mißtrauisch.

»Es war der Mensch Karan, der euch nicht schützen konnte«, antwortete Karan. »Seine Furcht war zu groß. Sein Drang nach dem, was er für Leben hielt, machte ihn blind. Er fürchtete, und das machte ihn schwach. Jetzt fürchtet sich Karan nicht mehr. Aber er ist auch noch genug Mensch, euch zu beschützen. Wenn auch nicht mehr für lange Zeit.«

»Und... für wie lange?«

»Lange genug«, antwortete Karan. Sein Gesicht war verschwunden; eine ebene Fläche, aus der heraus zwei blinde Augen Tally und Angella anstarrten. »Kommt.«

Es war die Tatsache, daß die Frau aufgehört hatte zu reden, die das Mädchen weckte. Es war eingeschlafen, nicht zum erstenmal in dieser Nacht, und nicht zum letztenmal – aber das wurde ihm eigentlich erst jetzt (und mit Schrecken gemischter Verwirrung) klar – hatte die Frau weitergesprochen, war in ihrer Erzählung von Tally und ihren Abenteuern fortgefahren, und sie hatte die Worte verstanden, obwohl sie schlief. Vielleicht besser.

Es war ein sehr sonderbares Gefühl, dachte das Mädchen. Als erinnere es sich an einen Traum, nur daß es ein Traum von ungemeiner Klarheit war. Die Worte der dunkelhaarigen Frau waren von einer Eindringlichkeit, die es dem Kind immer schwerer werden ließ, sie als bloße Geschichte abzutun, obwohl gerade der letzte Teil so phantastisch war, daß er nun wirklich nichts anderes mehr sein konnte.

Müde setzte es sich auf, rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und sah erst die Frau an, dann blickte es in die Richtung, in der die Stadt lag. Der Wald verbarg sie vor ihren Blicken, aber der Himmel war voller Rauch. Die Stadt schwelte noch immer.

»Ist die Geschichte jetzt vorbei?« fragte es.

»Möchtest du, daß sie vorbei ist?« erwiderte die Frau. Eigentlich wollte das Mädchen das nicht. Es wollte nach Hause – nicht, daß es nicht gewußt hätte, daß sein Zuhause nur noch ein Haufen rauchender Trümmer und ausgeglühter Steine war, aber das war ihm in diesem Moment gleich. Es war müde und verschreckt und hatte Hunger und Durst und wollte einfach nach Hause – aber gleichzeitig war es auch begierig darauf, das Ende von Tallys Abenteuern zu erfahren. Es wünsche sich, die Geschichte würde nicht mehr lange dauern. Als es aufsah, um genau dies der Frau zu sagen, sah es, daß die Fremde wieder in den Himmel blickte, und diesmal hatte sie ihre Züge nicht ganz so perfekt unter Kontrolle wie bisher: das Mädchen erkannte Ungeduld darauf, aber auch eine ganz sachte Spur von Angst.

»Erzähl weiter«, bat es schließlich. »Aber ich...« Es stockte. Die Frau sah es an, lächelte. »Ja?«

»Ich habe Hunger«, sagte das Mädchen.

»Ich weiß.« Die Fremde seufzte. »Aber ich habe nichts. Soll ich ein paar Beeren für dich sammeln?«

Das Mädchen schüttelte rasch den Kopf. Die Beeren hier im Wald waren größtenteils giftig, das wußte es von seinen Eltern.

»Es wird nicht mehr lange dauern«, versprach die Frau.

»Bald bekommst du zu essen, Aber die Zeit reicht noch, dir die Geschichte von Tally und den anderen zu Ende zu erzählen. Und es ist sehr wichtig, daß du zuhörst – verstehst du?« Das Kind verstand nicht, aber es nickte trotzdem.

»Hat Karan sein Wort gehalten?« fragte es.

»Natürlich, Dummchen«, sagte die Frau lächelnd. »Sonst könnte ich kaum weitererzählen, nicht wahr?« Sie lachte leise, als sie sah, wie das Mädchen betroffen den Blick senkte, streckte die Hand aus und strich ihr über das Haar. »Er brachte Tally und Hrhon und auch Angella aus dem Wald heraus. Der Weg war sehr weit – sie brauchten mehr als vier Tage, ihn zurückzulegen – und so entsetzlich, daß ich dir diesen Teil der Geschichte nicht erzählen kann, denn du würdest mir nicht glauben. Aber schließlich erreichten sie den Rand des Waldes, und vor ihnen lag das, wonach Tally so unendlich lange gesucht hatte...

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