Sie war so müde, daß es ihr schwerfiel, dem Treiben in der Schänke die gebührende Aufmerksamkeit zu zollen. Weller hatte sie gewarnt, hier hinein zu gehen, selbst in Begleitung, und erst recht, allein hier zu bleiben, aber sie hatte auf die eine Warnung so wenig gehört wie auf die andere. Sie hatte zwei Tage und eine Nacht nicht geschlafen, hatte eine mittlere Schlacht miterlebt, um ihr Leben kämpfen und stundenlang vor einem Feuer davonlaufen müssen – mehr, als selbst jemand mit ihrer nicht unbeträchtlichen Kondition so einfach wegstecken konnte, ohne dafür früher oder später zahlen zu müssen. Sie wollte einfach ausruhen, und ein Ort wie dieser schien ihr noch immer geeigneter als die Straße; denn zumindest in diesem Punkt hatte sie Weller uneingeschränkt recht geben müssen: der Norden Schelfheims war eine Gegend, in der selbst sie es sich gründlich überlegte, nach Dunkelwerden allein auf die Straße hinauszutreten.
Nicht, daß dieses Gasthaus sehr viel vertrauenerweckender gewesen wäre. Der Raum war zu klein, zu niedrig und zu schlecht belüftet, um mehr als ein stickiges Loch sein zu können, und das Dutzend zerlumpter Gestalten, das an der Theke herumlümmelte und sich mit billigem Fusel der einzigen Sorte vollaufen ließ, die der Wirt feilbot, hätte geradewegs aus den Bleiminen von Curan entsprungen sein können. Aber hier hatte sie ihre Umgebung wenigstens im Auge, und sie hatte einen Platz in der hintersten Ecke der Kaschemme gewählt, so daß sie vor einem Angriff aus dem Hinterhalt sicher war. Andererseits glaubte sie nicht, daß die Gefahr ganz so groß war, wie Weller behauptete. Sie war oft genug auch in Gegenden wie dieser gewesen, um zu wissen, nach welchen Spielregeln das Leben hier ablief. Selbst in einer Gesellschaft aus Verbrechern lief nicht jeder zweite herum und schnitt seinem Nachbarn aus purem Übermut die Kehle durch. Es gab ein paar sehr einfache Regeln, am Leben zu bleiben und überflüssigen Ärger zu vermeiden, und Tally bildete sich ein, sie zu beherrschen.
Eine von diesen Regeln lautete, sich in nichts einzumischen, was einen nichts anging – was praktisch alles war – die andere, sich immer einen Fluchtweg offenzuhalten und als erster zuzuschlagen, wenn es schon sein mußte. Auch was dies anging, hatte Tally vorgesorgt: das einzige Fenster der Kaschemme lag nur knapp zwei Schritte neben ihr, und sie hatte das Schwert gezogen und unter dem Tisch quer über ihre Beine gelegt.
Der Wirt kam, trug den Becher mit schal gewordenem Bier fort, der vor ihr auf dem Tisch stand, und knallte ihr einen neuen Tonkrug hin. Eine schmierige, fette Hand mit zu kurzen Fingern streckte sich aus; Tally griff in ihren Beutel, nahm eine kleine Kupfermünze heraus und ließ sie hineinfallen. Der Wirt antwortete mit einem Grunzen und entfernte sich.
Tally blickte ihm finster nach. Sie verabscheute Neppmethoden wie diese im allgemeinen, und sie ließ normalerweise keine Gelegenheit aus, dies sehr deutlich klarzumachen (im Zweifelsfalle mit einem Fausthieb oder einem Tritt), aber sie war einfach zu müde, sich wegen einer solchen Kleinigkeit zu ereifern – und sie hatte Wellers Warnung keineswegs vergessen. Sie war eine Frau, und sie war allein, und beides war nicht unbedingt dazu angetan, ihre Position sicherer zu machen. Das Geräusch der Tür ließ sie aufsehen. Ein halbes Dutzend ausnahmslos hochgewachsener, abenteuerlich gekleideter Burschen betrat das Lokal, gefolgt von einer etwas kleineren, dunkelhaarigen Gestalt in einem bodenlangen schwarzen Cape. Tally hob gelangweilt ihr Bier, stockte plötzlich mitten in der Bewegung und sah noch einmal und etwas genauer hin.
Sie hatte sich nicht getäuscht; die Gestalt in dem schwarzen Mantel war eine Frau, und sie hatte sie schon einmal gesehen; vor nicht einmal einer Stunde, es war die Amazone mit dem Narbengesicht. Tallys Müdigkeit machte vagem Schrecken und einer kribbelnden Anspannung Platz. Sie fragte sich, ob es Zufall war, daß die Frau ausgerechnet hier auftauchte. Schelfheim war eigentlich zu groß für ein solch zufälliges Wiedersehen.
Aber vielleicht hatte sie die unabhängige Flucht, auf der sie sich seit mehr als einem Jahr befand, auch schon ein wenig dem Verfolgungswahn nahegebracht. Aber gleich, ob Zufall oder nicht – das Mädchen mit dem Narbengesicht hatte schon bei ihrem ersten, flüchtigen Zusammentreffen Tallys Neugier geweckt, sie beschloß, die Gelegenheit zu nutzen, sich eine typische Einwohnerin Schelfheims aus der Nähe zu besehen. Fast behutsam stellte sie ihren Krug auf den Tisch zurück, zog das Kopftuch noch ein wenig tiefer in die Stirn und versuchte, möglichst unauffällig auszusehen, während sie die Amazone gleichzeitig aufmerksam musterte.
Die dunkelhaarige Frau war an die Theke getreten und hatte ein Getränk bestellt, und obwohl sie ein gutes Stück kleiner als die Männer neben ihr – und zudem eine Frau – war, fiel Tally sofort auf, daß sie mit sichtlichem Respekt behandelt wurde. In den Blicken des Wirtes zum Beispiel erkannte sie eindeutig Angst, als er auf sie zutrat und das Bier vor ihr abstellte. Und er tat es weitaus höflicher, als er Tally bedient hatte.
Tally blickte nervös zur Tür. Weller hatte versprochen, in längstens einer Stunde zurückzusein, egal ob er Karan nun fand oder nicht. Wenn ihr Zeitgefühl nicht vollends durcheinandergeraten war, mußte diese Frist längst verstrichen sein. Aber von Weller war noch keine Spur. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, das Gasthaus zu verlassen und auf eigene Faust nach Karan zu suchen, sah aber rasch ein, wie wenig sinnvoll ein solches Unterfangen war. Wenn Weller Karan nicht fand, hatte sie als Fremde schon gar keine Chance, dafür aber gute Aussichten, auch noch ihn zu verlieren und sich plötzlich ganz allein wiederzufinden.
Tally registrierte überrascht, wie sehr sie dieser Gedanke erschreckte. Sie war wenig länger als vierundzwanzig Stunden mit Weller zusammen, und doch hatte sie sich bereits an seine Gegenwart gewöhnt – obwohl sie sich immer noch nicht vollkommen sicher war, ob sie ihm nun traute oder nicht. Vielleicht war sie wirklich zu lange allein gewesen.
Statt zu gehen, hob sie den Arm und winkte den Wirt herbei, legte aber rasch die Hand auf ihren erst halb geleerten Krug. Das Bier schmeckte nicht nur wie Pferdepisse, es enthielt auch mehr Alkohol, als im Moment für Tally gut war. Das letzte, was sie sich im Moment leisten konnte war, sich zu betrinken.
»Was hast du zu essen?« fragte sie.
»Braten«, antwortete der Wirt. »Und frisches Gemüse. Aber die Küche ist zu.«
»Dann mach sie wieder auf«, sagte Tally grob. »Ich bezahle.«
»Nichts zu machen«, antwortete der Wirt. »Hättest eher kommen müssen. Aber ich weiß nicht, ob du überhaupt –«
Eine schmale, aber sehr kräftige Hand legte sich auf seine Schulter und drückte zu, und der Wirt verstummte mitten im Worte. Tally sah, wie sein Gesicht unter der Kruste aus Schmutz erbleichte. Hinter ihm stand die dunkelhaarige Frau. Die Narben in ihrem Gesicht ließen ihr Lächeln zu einer Grimasse werden.
»Mach keinen Ärger, Sverd, und bring der Kleinen etwas zu essen«, sagte sie ruhig. »Und mir auch. Ich bin ebenfalls hungrig.«
Sverd nickte hastig. Sein Blick irrte unstet zwischen Tally und der dunkelhaarigen Fremden hin und her, und Tally hatte das Gefühl, daß er etwas ganz Bestimmtes sagen wollte. Aber statt dessen nickte er nur noch einmal – und noch hastiger – trat einen Schritt herum und stürmte fluchtartig davon.
Tally blickte die junge Frau aufmerksam an. Jetzt, als sie sie aus der Nähe sah, erkannte sie, daß sie noch jünger war, als sie bisher angenommen hatte – keine zwanzig Jahre, ein wenig kleiner als sie, aber von sehr kräftigem Wuchs. Ihr Haar fiel lang und glatt bis auf den Rücken heran und hatte die Farbe glänzenden Rabengefieders, bis auf eine handbreite, schlohweiße Strähne, die über ihrer linken Schläfe begann und sich bis zum Scheitel hinaufzog. Ihr Gesicht mußte einmal sehr schön gewesen sein – bis jemand Säure hineingeschüttet oder es verbrannt hatte.
»Gefällt dir, was du siehst?« fragte sie scharf. Tally schrak schuldbewußt zusammen, als ihr klar wurde, daß sie die Fremde angestarrt hatte. »Verzeih«, sagte sie hastig. »Ich... ich wollte dich nicht verletzen. Danke.«
»Schon gut.« Die Schwarzhaarige machte eine herrische Handbewegung. »Ich weiß, daß ich keine Schönheit bin. Ich bin Angella. Und du?«
»Nora«, antwortete Tally, eine halbe Sekunde, ehe sie ganz automatisch ihren wirklichen Namen nennen konnte und in einem Ton, der selbst dem Dümmsten klar machen mußte, daß dies ganz eindeutig nicht ihr wirklicher Name war. Angella runzelte auch prompt die Stirn, beließ es aber dann bei einem Achselzucken, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich rittlings darauf. »Du bist hübsch«, sagte sie, während sie die Arme auf die Rückenlehne legte.
Tally lächelte. »Danke.«
»Was tust du in einer Gegend wie dieser?« fuhr Angella fort.
Tally antwortete nicht gleich. Sie sah Angella aufmerksam an, aber ihr entging auch keineswegs, daß sie nicht die einzige war. Die Männer, die in Angellas Begleitung gekommen waren, hatten ihr Gespräch unterbrochen und blickten gebannt zu ihnen herüber. Tally hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl. »Ich... warte auf meinen Bruder«, antwortete sie, nach einer geraumen Weile und stockend, wie jemand, der nur mit Mühe seine Angst unterdrückte.
»Dein Bruder?« wiederholte Angella. »Der Mann, der vorhin mit dir zusammen war?« Tally nickte, und Angella fuhr fort: »Er muß verrückt sein, dich allein in dieser Kaschemme zurückzulassen. Das hier ist eine üble Gegend, weiß er das denn nicht?«
Tally nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. Ihre rechte Hand näherte sich unter dem Tisch dem Schwertgriff. Dieses Mädchen war nicht nur hier, um mit ihr zu reden, das spürte sie.
»Sieh dir die Burschen nur an«, fuhr Angella mit einer Kopfbewegung hinter sich fort. »Das sind noch die Harmlosesten von denen, die hier herumlaufen. Einem kleinen Mädchen wie dir kann hier weiß-Gott-was zustoßen, wenn es allein ist.«
»Ich habe keine Angst«, sagte Tally ruhig. »Ich tue niemandem etwas, warum sollte also mir jemand etwas antun wollen?«
Angella lachte schallend. »Bist du so naiv, oder willst du mich auf den Arm nehmen, Nora?« fragte sie. »Du bist hier schneller tot, als du deinen falschen Namen buchstabieren kannst – wenn du niemanden hast, der auf dich aufpaßt, heißt das. Aber den hast du ja nun«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu.
Tally tat ihr nicht den Gefallen, sie zu fragen, wie ihre Worte gemeint waren, sondern sah sie nur weiter mit gespieltem Unverständnis an.
»Du gefällst mir«, fuhr Angella fort, als sie auch nach weiteren Sekunden nicht reagierte. »Ich denke, ich werde auf dich aufpassen, bis dein Bruder zurück ist. Aber das kann dauern, vor allem in einer Gegend wie dieser.« Sie lächelte, streckte den Arm aus und legte die Hand unter Tallys Kinn. »Ich wüßte etwas, womit wir uns die Wartezeit vertreiben könnten, Liebes.«
Tally schlug ihre Hand beiseite. Angellas Augen verdunkelten sich vor Zorn, und Tally sah, wie ihre Rechte zum Schwert zuckte; gleichzeitig spannte sich das halbe Dutzend Gestalten, das mit ihr hereingekommen war, und mit einem Male war es sehr still.
Aber Angella führte die begonnene Bewegung nicht zu Ende, sondern atmete nur hörbar ein, starrte Tally noch einen Herzschlag lang eisig an und stand dann mit einer so heftigen Bewegung auf, daß ihr Stuhl umschlug. Tally konnte die Spannung beinahe sehen, die sich mit einem Male in der Gaststube ausbreitete.
Aber der gefährliche Moment ging vorüber, ohne daß irgend etwas geschah. Angella trat zu ihren Begleitern an die Theke zurück, deutete mit einer komplizierten Handbewegung auf Tally und sagte ein Wort, das Tally nicht verstand, unter den zerlumpten Gestalten aber ein gröhlendes Gelächter auslöste. Mit einer herrischen Geste bestellte sie ein weiteres Bier und leerte den Krug mit einem einzigen, gewaltigen Zug.
Tally atmete erleichtert auf. Sie hatte keine Angst gehabt – nicht vor diesem Kind – aber sie war nicht hier, um sich in eine Wirtshausschlägerei verwickeln zu lassen. Außerdem war Angella nicht allein.
Wo blieb nur Weller?
Nach einer Weile kam der Wirt und brachte einen Teller mit halbverbranntem Fleisch und einer hölzernen Schüssel mit der unappetitlichen Pampe, von der er behauptet hatte, es sei frisches Gemüse. Unfreundlich knallte er beides vor Tally auf den Tisch, streckte die Hand aus und verlangte einen Silberheller.
»Besser du tust, was sie von dir verlangt, Kind«, raunte er ihr zu, als sie die Münze in seine Hand fallen ließ. »Du weißt nicht, wer diese Frau ist.«
Tally schwieg – schon, um dem Wirt nicht als Dank für seine Warnung Ärger zu machen. Aber seine Worte hatten das ungute Gefühl in ihr noch verstärkt. Nein – sie war jetzt ziemlich sicher, daß Angella sie nicht so ohne weiteres gehen lassen würde. Und sie konnte nicht ewig hier sitzen bleiben. Wenn Weller nicht kam, bis sie ihr Mahl beendet hatte, würde sie sich auf die Suche nach ihm machen – schlimmstenfalls über Angellas Leiche.
Sie aß schweigend, spülte den schlechten Geschmack, den das Essen auf ihrer Zunge hinterließ, mit dem Rest Bier in ihrem Becher herab und verbarg das Schwert unter ihrem Mantel, ehe sie aufstand und ohne sichtliche Hast auf die Theke zuging. Angella blickte bei ihrer Annäherung erwartungsvoll auf, sagte aber nichts, und auch ihre Begleiter traten schweigend zur Seite, um Tally Platz zu machen.
»Mein Bruder verspätet sich wohl«, sagte sie, an den Wirt gewandt. »Ich werde mich allein auf den Weg machen, um nach unserem Freund zu suchen. Sollte er noch kommen, richtet ihm aus, wir treffen uns dort.«
»Du solltest nicht allein hinausgehen, Nora«, sagte Angella freundlich. »Die Straßen sind gefährlich. Darf ich dir meinen Schutz anbieten?«
Tally ignorierte sie, nickte dem Wirt grüßend zu und wandte sich zur Tür. Alle ihre Sinne waren bis zum Zerreißen angespannt. Sie wirkte äußerlich weiter ruhig, aber ihr entging nicht der mindeste Laut in ihrer Umgebung. Und es waren Geräusche, die Bände sprachen. Als sie die Tür fast erreicht hatte, vertrat ihr einer von Angellas Begleitern den Weg. »Hast du nicht gehört, was Angella gesagt hat?« fragte er grinsend.
Tally nickte. »Doch«, sagte sie. »Aber ich denke, ich komme ganz gut allein zurecht. Gib den Weg frei – bitte.«
Das Grinsen des Burschen wurde noch breiter. »Und wenn nicht?« fragte er. Hinter Tally waren Schritte. Das Gefühl von mindestens zwei, vielleicht drei Männern, die sich ihr näherten. In den Augäpfeln des Burschen vor ihr spiegelte sich das Blitzen von Metall.
»Du solltest besser tun, was Angella vorschlägt«, fuhr er fort. »Es sei denn, du legst Wert darauf, daß ich dich vom Hals bis zu deinem hübschen Hintern aufschneide, Schätzchen. Nun?«
Tally zuckte die Achseln. »Warum eigentlich nicht?« Sie schlug zu, ehe der Mann überhaupt begriff, was sie tat.
Ihre Handkante traf seinen Kehlkopf mit tödlicher Präzision und zermalmte ihn. Gleichzeitig fuhr sie herum, riß das Schwert unter dem Mantel hervor und verschaffte sich mit einem gewaltigen, beidhändig geführten Hieb Luft. Sie traf nicht und hatte es auch nicht gewollt, aber die beiden Kerle, die sich in ihren Rücken geschlichen hatten, brachten sich mit grotesken Hüpfern in Sicherheit, und auch Angella selbst, die nur wenig hinter ihnen stand, prallte mitten im Schritt zurück.
Aber der Schock über Tallys jähe Verwandlung hielt nur einen Bruchteil eines Herzschlages an; dann verzerrte sich das Gesicht des einen Burschen vor Haß, er schrie auf, riß ein schartiges, aber dafür um so längeres Schwert in die Höhe und drang mit einem gellenden Schrei auf sie ein.
Tally wich dem ersten Hieb aus, trat einen halben Schritt zur Seite und riß ihre Klinge hoch, als der Mann das zweite Mal zuschlug. Die Schwerter prallten funkensprühend gegeneinander. Tallys Klinge rutschte an der des Angreifers herab, prallte gegen ihren Handschutz, federte zurück und beschrieb einen unglaublich engen, rasend schnellen Halbkreis, und plötzlich flog das Schwert des anderen im hohen Bogen davon. Zusammen mit der Hand, die es gehalten hatte.
Diesmal hielt das entsetzliche Schweigen länger an. Der Bursche dessen Hand sie abgeschlagen hatte, starrte aus hervorquellenden Augen auf seinen blutenden Armstumpf. Kleine, krächzende Laute drangen aus seinem Mund. Dann schrie er auf – nur ein einziges Mal und nicht sehr laut – umklammerte den Armstumpf mit der anderen Hand und brach wie vom Blitz getroffen zusammen.
Tally wechselte ihr Schwert blitzschnell von der rechten in die linke Hand und wieder zurück, schlug ihren Mantel vollends beiseite und machte eine drohende, halbkreisförmige Bewegung mit der Waffe. »Noch jemand?« fragte sie leise.
Keiner der vier Burschen reagierte, die ihr noch gegenüberstanden, und auch Angella selbst blickte sie nur mit einer Mischung aus Unglauben und langsam aufkeimender Wut an. Tally ihrerseits fühlte sich nicht halb so sicher, wie sie mit ihren Worten glauben machen wollte. Sie rechnete sich keine Chancen aus, es wirklich mit fünf Gegnern gleichzeitig aufnehmen zu können – nicht hier drinnen und so erschöpft und müde, wie sie war. Und nicht jetzt, wo Angella und ihre Begleiter wußten, daß sie es nicht mit der wehrlosen dummen Gans zu tun hatten, für die sie sie bisher gehalten haben mochten. Aber wenn sie auch nur eine Spur von Schwäche oder Furcht zeigte, war es aus.
Plötzlich lächelte Angella, wenn auch auf eine Art, die Tally einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ.
»Sieh an«, sagte sie. »Eine Schwester im Geiste, wie? Warum hast du das nicht gleich gesagt, Noraschätzchen?« Ganz langsam zog sie ihr Schwert aus dem Gürtel, scheuchte mit einer Handbewegung die Männer zurück, die damit begonnen hatten, einen Halbkreis um Tally zu bilden, und hob den Arm. Einer ihrer Männer trat herbei und befestigte einen runden, nur tellergroßen Schild an ihrer freien Hand.
»Schade«, sagte sie lächelnd. »Ich hatte eigentlich vor, mich auf andere Weise mit dir zu amüsieren, Schätzchen. Aber bitte – wie du willst.«
Tally wich einen weiteren Schritt zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. Angella folgte ihr, machte aber noch keine Anstalten, anzugreifen.
»Ich habe keinen Streit mit dir, Angella«, sagte Tally.
»Wenn du mich gehen läßt, ist die Sache erledigt. Ich will dich nicht töten.«
Angella schüttelte den Kopf. »Daraus wird nichts. Du hast zwei meiner Männer erledigt. Ich kann dich nicht gehen lassen.«
Ihr Angriff kam so schnell, daß Tally ihn kaum sah. Angellas Schwert zuckte in einer unglaublich raschen, schlängelnden Bewegung vor, unterlief ihre Deckung und zog eine flammende Spur aus Schmerz über ihren Oberschenkel; gleichzeitig schlug sie mit dem Schild nach Tallys Kopf und zwang sie so, in genau die Richtung zurückzuweichen, in der sie sie haben wollte – fort von der Tür und auf die Theke und ihre Begleiter zu, die zweifellos nur darauf warteten, Tally in den Rücken zu fallen.
Der zweite Hieb traf sie in den Oberarm; nicht sehr tief, aber so schmerzhaft, daß sie aufschrie und um ein Haar das Gleichgewicht verlor. Angella heulte triumphierend auf, setzte ihr nach und fiel auf ein Knie herab, als Tally nicht weiter zurückwich, sondern ihr im Gegenteil entgegensprang und ihr mit aller Kraft vors Schienbein trat. Trotzdem besaß sie noch genug Geistesgegenwart, den linken Arm hochzureißen und Tallys nachgesetzten Schwerthieb aufzufangen. Der Hieb war so gewaltig, daß der kleine Metallschild in zwei Teile zerbrach. Angella fiel mit einem schrillen Schmerzlaut auf die Seite und preßte den Arm gegen den Leib.
Aber Tally blieb keine Zeit, auch nur so etwas wie Triumph zu empfinden, denn statt Angella griffen nun die vier Kerle an, die in ihrer Begleitung waren. Und sie taten Tally nicht noch einmal den Gefallen, sie zu unterschätzen.
Der Kampf war aussichtslos. Ihre Klinge war den schartigen Waffen der Angreifer überlegen, und sie war zweifellos auch die bessere Schwertkämpferin – aber sie waren zu viert, und der Begriff Fairneß schien in ihrem Wortschatz nicht vorzukommen. Tally wehrte sich verbissen, konnte aber nicht verhindern, daß sie mehrmals getroffen wurde, und wenn die Wunden auch nicht schwer waren, so behinderten sie sie doch merklich. Schon nach wenigen Augenblicken wurde sie zurückgedrängt, bis sie mit dem Rücken gegen die niedrige Theke stieß und es nichts mehr gab, wohin sie sich zurückziehen konnte. Sie hätte wohl kaum die nächsten zehn Sekunden überlebt, hätte sich nicht Angella in diesem Moment mit schmerzverzerrtem Gesicht aufgerichtet und ihren Männern zugeschrien, sie lebend zu fangen. Die Angreifer zögerten einen winzigen Moment – und Tally nutzte die Chance. Blitzschnell trat sie einem der Burschen die Beine unter dem Leib weg, stieß sich in der gleichen Bewegung nach hinten und rollte über die niedrige Theke.
Ein Schwert hämmerte in das morsche Holz und verfehlte sie. Dann stürzte sie auf der anderen Seite der Theke herab, rollte herum und sah einen Schatten über sich aufragen. Blindlings stieß sie die Klinge nach oben, traf auf Widerstand und hörte einen gurgelnden Schrei. Als sie sich aufrichtete, brach einer der vier Angreifer mit durchschnittener Kehle zusammen.
Die drei anderen versuchten gleichzeitig, über die Theke zu springen. Tally packte den mittleren Burschen beim Schopf, knallte sein Gesicht wuchtig auf das harte Holz und sprang über seinen Rücken hinweg – und um ein Haar in Angellas Schwert hinein.
Die junge Frau hatte sich taumelnd aufgerichtet. Ihr Gesicht war aschfahl, und ihr linker Arm schien gebrochen zu sein, denn er hing nutzlos herab, und ihr Mund war vor Schmerz zu einem dünnen blutleeren Strich geworden. Aber ihre Augen flammten vor Haß, und schon ihr erster Hieb bewies Tally, daß sie höchstens noch gefährlicher geworden war.
Angella griff rücksichtslos an. Ihre Hiebe kamen so schnell und kraftvoll, daß Tally plötzlich alle Hände voll zu tun hatte, nicht getroffen zu werden und an ein Zurückschlagen nicht einmal denken konnte. Und die Geräusche hinter ihr bewiesen sehr deutlich, daß die drei Halsabschneider bereits dabei waren, erneut über die Theke zu klettern und ihr in den Rücken zu fallen. Tally setzte alles auf eine Karte. Als Angella das nächste Mal zu einem Hieb ausholte, fing sie das Schwert nicht mit der eigenen Klinge auf, sondern drehte sich blitzschnell zur Seite, spürte einen entsetzlichen, reißenden Schmerz in der Schulter und stieß gleichzeitig zu. Angella keuchte. Ihre Augen wurden dunkel vor Schmerz. Eine halbe Sekunde lang stand sie einfach reglos da und starrte auf das Schwert, das ihre Brust dicht unterhalb des Herzens durchbohrt hatte. Dann taumelte sie zurück, fiel auf die Knie herab und preßte beide Hände gegen den Leib. Dunkles Blut sickerte zwischen ihren Fingern hindurch.
Tally hörte einen gellenden Schrei hinter sich, dann das Zischen einer Waffe. Sie federte zur Seite, setzte mit einem gewaltigen Sprung über Angella hinweg und rannte auf die Tür zu. Ein Dolch flog an ihr vorbei, bohrte sich in die Tür und blieb zitternd stecken. Tally fuhr mitten in der Bewegung herum, prallte gegen den Mann, der sie einzuholen versuchte, und rannte ihn kurzerhand nieder. Mit zwei, drei gewaltigen Schritten lief sie auf das Fenster zu, stieß sich mit aller Kraft ab und sprang. Inmitten eines wahren Hagels aus Glas- und Holzsplittern landete sie auf der Straße, rollte über die Schulter ab und schrie vor Schmerz, als die Wunde, die ihr Angellas Schwert geschlagen hatte, noch weiter aufriß. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, auf die Füße zu kommen. Taumelnd erreichte sie die gegenüberliegende Wand der schmalen Gasse, auf der sie gelandet war, ließ sich dagegenfallen und schloß für eine Sekunde die Augen. Der Schmerz in ihrer Schulter wurde fast unerträglich. Ihr schwindelte, und in ihrem Mund breitete sich ein bitterer Geschmack aus.
Aber ihr blieb keine Zeit, der Schwäche nachzugeben. Der Lärm aus dem Gasthaus nahm zu. Irgend jemand begann mit schriller, überschnappender Stimme zu schreien: »Sie hat Angella umgebracht!« und als sie die Augen öffnete, sah sie einen massigen Schatten, der ungeschickt durch das zerborstene Fenster zu klettern versuchte.
Tally atmete noch einmal tief ein, stieß sich von der Wand ab und begann wie von Furien gehetzt zu rennen.
Es war pures Glück, das sie die nächsten Stunden überleben ließ. Tally rannte blindlings los, bis sie einfach nicht mehr weiter konnte. Eine Zeitlang waren noch die Schritte ihrer Verfolger hinter ihr, aber irgendwie gelang es ihr, sie abzuschütteln, und irgendwie gelang es ihr sogar, nicht vollends die Orientierung zu verlieren und zumindest die Richtung beizubehalten, in der Weller Karan vermutete – Norden. Aber schließlich wurden Schwäche und Übelkeit so stark, daß sie stürzte und minutenlang einfach dort liegenblieb, wo sie war. Sie war in diesen Augenblicken so hilflos wie niemals zuvor, aber wieder hatte sie Glück: die Gasse, in der sie sich befand, war menschenleer, und das einzige Leben, das sich regte, war eine halbverhungerte Katze, die Tallys Gesicht beschnüffelte und sich trollte, als das Kitzeln ihrer Barthaare die junge Frau stöhnen, die Augen öffnen und sich umsehen ließ.
Es war sehr kalt geworden. Es mußte Mitternacht sein, wenn nicht später, und der Himmel hatte sich wieder mit Wolken bezogen. Weit im Norden über dem Schlund fiel Schnee, und ein eisiger Wind wehte durch die Straßen. Tallys Beine fühlten sich abgestorben und taub vor Kälte an. Als sie aufstehen wollte, gelang es ihr nicht sofort; sie fiel mit einem Schmerzlaut wieder auf die Knie herab, blieb einen weiteren Moment hocken und raffte das bißchen Kraft zusammen, das sie noch in ihrem geschundenen Körper fand, ehe sie sich mit zusammengebissenen Zähnen wieder in die Höhe stemmte.
Die Gasse umgab sie wie eine Schlucht aus Schwärze. Für einen Moment drohte sie vollends die Orientierung zu verlieren; sie wußte nicht einmal mehr, in welcher Richtung Norden lag. Dann klärte sich ihr Blick ein klein wenig, und sie ging los.
Zum erstenmal, seit sie die Gaststube verlassen hatte, nahm sie ihre Umgebung bewußt wahr; zumindest das, was die Dunkelheit sie sehen ließ. Es war wenig genug: Schelfheim hatte sich in eine schweigende Herde buckeliger schwarzer Schatten verwandelt, zwischen denen sich manchmal etwas zu bewegen schien, aber stets verschwand, wenn sie genauer hinsah.
Es wurde auch nicht besser, als sie die Gasse verließ und auf den kleinen, halbrunden Platz hinaustrat, auf den sie mündete. Die Häuser – manche von ihnen schienen auf sonderbare Weise schräg dazustehen, als hätte der Boden begonnen, sie aufzusaugen – lagen dunkel da; nur hier und da sickerte ein wenig Licht durch vorgelegte Läden oder unter einer Tür hindurch. Aber Tally verwarf den Gedanken, an eine dieser Türen zu klopfen und um Hilfe zu bitten, beinahe ebenso rasch wieder, wie er ihr gekommen war. Ihr Bedarf an Begegnungen mit den Bewohnern dieses Stadtteiles war fürs erste mehr als gedeckt.
Aber sie brauchte Hilfe. Allein hatte sie nicht die mindeste Chance, Karan zu finden.
Wieder blieb sie stehen, lehnte sich erschöpft gegen eine Wand und schloß für einen Moment die Augen. Müdigkeit und Schwäche wollten sie erneut übermannen, aber diesmal gab sie ihnen nicht nach. Sie wartete nur, bis das Zittern ihrer Hände und Knie halbwegs aufgehört hatte, dann öffnete sie ihren Mantel, streifte das Kleidungsstück ab und begann schmale Streifen aus dem Saum ihres Kleides zu reißen.
Sorgfältig verband sie all die kleineren und größeren Wunden, die sie davongetragen hatte, und umwickelte zum Schluß auch ihre nackten Füße mit zusammengedrehten Stoffstreifen – alles andere als ein Ersatz für Schuhe, aber immerhin ein gewisser Schutz vor der Kälte. Schließlich streifte sie ihren Mantel wieder über, legte den linken Arm in die provisorische Schlinge, die sie geknotet hatte, und ging weiter.
Eine Stunde später erreichte sie den Rand der Welt. Die Straße hörte so jäh auf, daß Tally mit einem erschrockenen Laut zurückprallte. Es gab keine Mauer, kein Geländer, keine irgendwie geartete Warnung: wo sie stand, war der eiskalte glatte Fels des Kopfsteinpflasters, und zwei Schritte weiter gähnte das Nichts, ein fünf oder auch fünfzig Meilen tiefer Abgrund, der schon nach wenigen Schritten mit der Nacht verschmolz.
Tally starrte mit klopfendem Herzen in die Leere hinaus. Das also war der Schlund, das große Nichts, die Klippe, an der die Welt aufhörte. Sie hatte ihn schon einmal gesehen, am Morgen desselben Tages, vom Rücken des Trägers aus, aber selbst da hatte noch eine halbe Meile zwischen ihr und dieser Alptraumklippe gelegen. Sie war sicher gewesen; der Schlund ein Alptraum, der entsetzlich, aber ungefährlich war. Jetzt war sie ihm ganz nahe.
Sie spürte den Sog der Tiefe, das Zittern der Milliarden Tonnen Fels unter ihren Füßen, an denen der Wind und die Ewigkeit zerrten, und das leise, verlockende Wispern am Grund ihrer Seele... Fast ohne es selbst zu merken, ging sie die zwei Schritte bis zur Klippe und blieb erst stehen, als vor ihren nackten Zehen nichts mehr war. Unter ihr lag Schwärze, eine so tiefe, allumfassende Schwärze, wie sie sie niemals zuvor erblickt hatte. Etwas schien sich in dieser Dunkelheit zu bewegen, ein gewaltiger Strudel aus Nichts, der sich schwarz auf noch dunklerem Hintergrund drehte, der lockte und rief...
»Ich würde das nicht tun«, sagte eine Stimme hinter ihr. Tally fuhr erschrocken zusammen, wurde sich plötzlich der Gefahr bewußt, in der sie sich befand, und trat hastig einen Schritt von der Klippe zurück. Erst dann drehte sie sich herum. Unter dem Mantel tastete ihre Hand nach dem Schwert. Aber sie spürte, daß sie einen weiteren Kampf jetzt nicht mehr durchstehen würde.
»Wer... ist da?« fragte sie stockend.
Ein dunkler, nicht sehr großer Umriß löste sich aus den Schatten der Häuser. Tally erkannte hellblondes, kurzgeschnittenes Haar, ein Paar dunkler, durchaus freundlicher Augen, eine Hand, die lose auf einem Schwert lag.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte der Fremde. Er lachte leise. »Aber ich glaube, du hast sowieso vor nichts mehr Angst, wie?«
Tally verstand nicht, was die Worte des Fremden bedeuteten. Aber sie glaubte zu spüren, daß er wirklich nichts übles wollte.
»Es geht mich zwar nichts an«, fuhr er fort, »aber wenn du meine Meinung hören willst, wäre es falsch.« Er machte eine Kopfbewegung auf den Schlund. »Und es ist nicht einmal so leicht, wie die meisten glauben. Der Sturz dauert sehr, sehr lange.«
Endlich begriff Tally. Aus irgendeinem Grunde war der Fremde wohl der Ansicht, sie wäre hierher gekommen, um in den Schlund zu springen – in einer Stadt wie Schelfheim sicherlich eine sehr beliebte Methode, seinem Leben ein Ende zu bereiten.
»Du täuschst dich«, sagte sie. »Ich... ich bin nicht hier, um zu springen.«
Einen Moment lang blickt der Fremde sie durchdringend an, dann begann er zu lächeln. »Dann habe ich mich blamiert«, sagte er verlegen. »Die meisten kommen hierher, um zu springen, weißt du?«
Er kam näher, blieb wieder stehen, als Tally erschrocken zusammenfuhr, und deutete auf den Arm, den sie in der Schlinge trug. »Was ist passiert? Hat dich dein Mann geschlagen und auf die Straße hinausgejagt, oder bist du überfallen worden?«
»Ich habe keinen Mann«, antwortete Tally ausweichend.
»Dann solltest du nicht allein in dieser Gegend herumlaufen«, fuhr der andere fort. »Nicht, wenn du wirklich am Leben bleiben willst. Hast du einen Platz zum Schlafen?«
»Ich fürchte, ich habe mich verirrt«, gestand Tally. »Ich suche jemanden.«
»Und wen?« Der Fremde lächelte, als Tally zögerte, zu antworten. »Wahrscheinlich hast du Grund, mißtrauisch zu sein«, sagte er. »Aber ich kenne mich hier aus. Wenn dein Freund hier im Norden lebt, kenne ich ihn.«
»Karan«, antwortete Tally. »Sein Name ist Karan.«
»Karan?« Der Blonde runzelte verwundert die Stirn. Plötzlich glaubte Tally so etwas wie Mißtrauen in seinem Blick zu erkennen. »Karan ist ein Freund von dir?«
»Eher der Freund eines Freundes«, antwortete Tally ausweichend. »Oder sagen wir: der Bekannte eines Bekannten. Wir wollten uns bei ihm treffen. Weißt du, wo er zu finden ist?«
Der andere nickte. »Sicher. Es ist nicht einmal weit. Ich bringe dich hin.«
Tally zögerte. »Es... es reicht, wenn du mir den Weg beschreibst«, sagte sie.
»Nichts leichter als das«, antwortete der andere grinsend. »Du gehst zwei Stunden nach Süden, biegst am hungrigen Löwen nach rechts ab, gehst durch das Gebiet der Haie, bis du auf Olannorys Hehlerei triffst, dann über den Platz des Roten Feuers und –«
»In Ordnung«, unterbrach ihn Tally. »Führe mich hin. Aber ich kann dich nicht bezahlen.«
»Das brauchst du auch nicht«, sagte der Blonde. Er grinste. »Eigentlich bin ich Straßenräuber, weißt du? Tagsüber schneide ich den Leuten die Kehle durch. Aber ab und zu macht es mir Spaß, eine gute Tat zu tun.« Tally war nicht sicher, ob die Worte des Blonden tatsächlich so scherzhaft gemeint waren, wie sie klangen. Aber sie fragte ihn auch nicht danach. Sie war einfach froh, in dieser Stadt voller Wahnsinniger und Mörder auf einen Menschen getroffen zu sein, der freundlich zu ihr war.
Sie sprachen sehr wenig, während sie sich wieder vom Schlund entfernten, obwohl Tally zu spüren glaubte, daß ihr vermeintlicher Retter vor Neugier schier aus den Nähten platzte. Aber ihr fielen auch die raschen, nervösen Blicke auf, die er immer wieder in die Runde warf, und die Art, auf die er die Hand auf dem Schwert ruhen ließ. Das Viertel, durch das sie sich bewegten, schien nicht halb so harmlos zu sein, wie es wirkte.
Aber sie erreichten unbehelligt den Platz, von dem er gesprochen hatte, und kurz darauf erneut den Schlund. Tally begriff, daß sie einen Halbkreis geschlagen hatten. Aber der Rand der Welt unterschied sich hier doch gewaltig von dem, an dem sie zusammengetroffen waren. Hier gab es eine Mauer, zwar nur brusthoch, aber beinahe ebenso dick, und zwischen ihr und den letzten Häusern lag ein gut zehn Schritte breiter unbebauter Streifen kopfsteingepflasterten Bodens. Sie fragte den Mann nach dem Grund des gewaltigen Umweges, den sie gemacht hatten.
»Die Gegend dort hinten ist nicht sicher«, antwortete er. »Es ist das Gebiet der Geier.«
»Geier?«
»Du bist nicht aus Schelfheim, wie?« Er lächelte verzeihend. »Eine Straßenbande. Die meisten sind noch Kinder, aber das macht sie nicht weniger gefährlich. Ich hatte meine Gründe, anzunehmen, daß du springen wolltest. Die Stelle dort ist so beliebt, daß die Selbstmörder manchmal Schlange stehen müssen«, fuhr er mit einem leisen Lachen fort. »Die Geier haben sich auf sie eingestellt, weißt du? Sie lauern ihnen auf und plündern sie aus, ehe sie springen können.«
»Und wer gar nicht springen wollte, dem helfen sie nach, wie?« vermutete Tally.
Der Blonde grinste. »Manchmal. Aber hier sind wir sicher. Und es ist nicht mehr sehr weit bis zu Karans Haus. Bist du schwindelfrei?«
Tally blickte ihn verwundert an, ehe sie bemerkte, daß seine Hand auf eine gut meterbreite Lücke in der Mauer wies, nur noch wenige Schritte vor ihnen. »Du willst... dort hinunter?« fragte sie ungläubig.
»Ich nicht. Aber du – wenn du wirklich zu Karan willst, heißt das.«
Tally antwortete nicht. Statt dessen trat sie mit einem raschen Schritt an die Mauer heran, beugte sich vor und blickte aus angestrengt zusammengepreßten Augen in die Tiefe. Die Dunkelheit war hier nicht weniger umfassend als weiter im Westen, aber sie erkannte trotzdem den schmalen, aus Holz und Tauen gebauten Steg, der unter ihr schräg in die Tiefe führte. An seinem Ende erhob sich ein massiges Etwas aus der Schwärze.
»Karan ist ein komischer Kauz«, erklärte ihr Begleiter.
»Er lebt tatsächlich dort unten. Er behauptet, es wäre der einzige Ort auf der Welt, an dem er sich sicher fühlt. Also?«
Tally zögerte. Allein der Gedanke, auf den schwankenden Steg hinauszutreten, erfüllte sie mit Übelkeit. Aber sie hatte keine große Wahl, wenn sie Weller wiedersehen wollte. Sie nickte.
Der Weg nach unten war ein Alptraum. Der Steg war noch schmaler, als sie geglaubt hatte. Die hölzernen Stufen waren feucht geworden und so schlüpfrig wie Eis. Ein straffgespanntes, allerdings kaum fingerdickes Tau erfüllte die Funktion eines Geländers, aber als Tally sich daran festhalten wollte, begann die gesamte Konstruktion zu zittern und schwanken, so daß sie die Hand hastig zurückzog und sich statt dessen gegen die Felswand preßte.
Sie hatte behauptet, schwindelfrei zu sein, und bisher hatte das auch gestimmt – aber bisher war sie auch niemals an einem fünf Meilen tiefen Abgrund entlangbalanciert. Die Schwärze unter ihr begann sich zu drehen. Ihr wurde übel. Voller Neid blickte sie auf ihren Führer hinab, der sich mit geradezu unverschämter Sicherheit auf dem schwankenden Steg bewegte.
Aber schließlich hatten sie es geschafft. Vor Tally ragte plötzlich eine graue, schräg nach außen geneigte Wand auf, in der sich eine Tür öffnete. Ihr Begleiter trat rasch hindurch, drehte sich herum und zog Tally mit einer kraftvollen Bewegung zu sich. Tally atmete hörbar auf, als unter ihren Füßen wieder massiver Stein war. Die Vorstellung, daß sich unter diesem Stein nichts mehr befand, versuchte sie zu verdrängen.
»Willkommen in Karans Haus«, sagte der Blonde.
Tally sah ihn verwirrt an. »Bist du... Karan?« fragte sie.
»Ich?« Der junge Mann schüttelte heftig den Kopf.
»Gott bewahre, nein! Mein Name ist Jan. Aber ich kenne ihn sehr gut. Willst du gleich zu ihm, oder willst du erst einen Moment ausruhen? Du siehst erschöpft aus.«
»Gleich«, sagte Tally, machte einen Schritt, fiel erschöpft auf die Knie herab und fügte hinzu: »Sobald ich mich erholt habe. Beim Schlund, wie kann ein Mensch hier leben?«
»Es ist sicherer als oben«, antwortete Jan lächelnd.
»Und so, wie du aussiehst, solltest du das wissen. Du bist Tally, nicht wahr?«
»Woher weißt du das?« entfuhr es Tally.
»Weil ich dich gesucht habe«, antwortete Jan. »Als ich hörte, daß dieser Idiot Weller dich im Grünen Frosch zurückgelassen hat, habe ich mich auf den Weg gemacht. Nach dem, was ich dort gesehen habe, dachte ich schon, ich käme zu spät.« Er beugte sich vor, half ihr auf die Füße und blickte sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Sorge an. »Weißt du eigentlich, wen du da erledigt hast?« fragte er.
Tally schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Und es interessiert mich auch nicht. Bring mich zu Karan.« Jan zögerte, zuckte aber dann nur die Achseln und wies mit einer einladenden Geste hinter sich, wo eine weitere, diesmal allerdings aus massivem Stein gebaute Treppe in die Tiefe führte. An ihrem Ende glomm warmes gelbes Licht, und als Tally der Einladung folgte und die Stufen hinabging, fühlte sie die prickelnde Berührung angenehm warmer Luft.
Weller und Karan saßen an einem Tisch und debattierten erregt, als Tally den Raum betrat. Karan – wenigstens vermutete sie, daß der verkrüppelte Alte Karan war – reagierte überhaupt nicht, aber Weller sprang auf, starrte sie einen Moment betroffen an und kam dann mit hastigen Schritten auf sie zu. »Tally!« keuchte er. »Was tust du hier? Du solltest auf mich warten! Bist du lebensmüde?«
»Das wäre sie wohl, hätte sie getan, was du verlangt hast, du Idiot«, sagte Jan kalt. »Wenn ich sie nicht gefunden hätte, wäre sie jetzt wahrscheinlich tot.«
Weller setzte zu einer wütenden Entgegnung an. Aber dann wich der Zorn in seinem Blick jähem Erschrecken, als er Tallys bandagierten Arm sah, und den erbarmungswürdigen Zustand, in dem sie sich befand. »Was ist passiert?« fragte er.
»Nichts«, murmelte Tally. Plötzlich spürte sie die Wärme überdeutlich, beinahe schon unangenehm. Das Haus schien unter ihren Füßen zu wanken. Müdigkeit schlug wie eine lähmende Woge über ihr zusammen. Sie fühlte, daß ihr gleich übel werden würde. »Eine kleine... Meinungsverschiedenheit, mehr nicht.«
»Sie hat Angella und drei ihrer Männer erschlagen«, sagte Jan ruhig.
Zum erstenmal, seit sie das Zimmer betreten hatten, zeigte nun auch Karan eine Reaktion: in seinem Blick erschien ein Ausdruck von Unglauben, dann schierem Entsetzen, und auch Weller erbleichte noch weiter. Aber Tally registrierte all dies nur noch am Rande. Plötzlich fühlte sie sich nur noch schwach und müde. Jan konnte gerade noch hinzuspringen und sie auffangen, als sie das Bewußtsein verlor.
Sie verschlief die Nacht, den nächsten Tag und die darauffolgende Nacht, und hätte Weller sie nicht schließlich geweckt, hätte sie wahrscheinlich auch noch den nächsten Tag mit Schlafen zugebracht. Und trotzdem fühlte sie sich nur müde, als sie erwachte, und fast noch erschlagener als zuvor.
Es fiel ihr schwer, sich auf alles zu besinnen, was geschehen war, und als Weller sie ansprach, reagierte sie nur mit einem gereizten Knurren, das ihn davon abhielt, sie abermals in ein Gespräch verwickeln zu wollen. Übellaunig fragte sie ihn nach einer Waschgelegenheit, tastete sich auf unsicheren Beinen hinter ihm her und verbrachte fast eine halbe Stunde damit, Gesicht und Handgelenke immer wieder in das eiskalte Wasser zu tauchen, bis die Benommenheit ganz allmählich zu weichen begann.
Jemand hatte ihre Wunden versorgt, während sie geschlafen hatte. Die meisten waren ohnehin nur Kratzer gewesen, die in wenigen Tagen von selbst verheilt sein würden, nur der Schnitt in ihrer Schulter mußte sehr tief sein, denn sie konnte den Arm kaum bewegen, und wenn, dann nur unter erheblichen Schmerzen.
Der Anblick des straffen, sehr sauberen Verbandes weckte die Erinnerungen, und je weiter sich die Benommenheit, die von zu langem Schlaf herrührte, von ihrem Bewußtsein hob, desto mehr besann sie sich darauf, was geschehen war. Die Erinnerungen erfüllten sie nicht unbedingt mit Wohlbehagen – sicher, sie lebte und war als Siegerin aus dem Kampf hervorgegangen, aber sie hatte alles andere als eine gute Figur gemacht. Um ein Haar wäre sie von einem Kind erschlagen worden.
Tally beendete ihre Morgentoilette, sah sich nach irgend etwas um, das sie anziehen konnte, und gewahrte zu ihrer großen Freude ihre eigenen, sauber gewaschenen Kleider auf einem Hocker gleich neben der Tür. Rasch zog sie sich an, zwängte ihre noch immer geschwollenen Füße in die Stiefel und band den Waffengurt um. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sie sich nicht mehr schutzlos und nackt.
Das Haus war sehr still, als sie die kleine Waschhaube verließ und sich auf die Suche nach Weller und Karan machte. Das Zimmer, in dem sie aufgewacht war, hatte kein Fenster, sondern nur einen verglasten runden Lichtschacht unter der Decke, aber als sie es durchquerte und die nach oben führende Treppe hinaufstieg, sah sie eine Art Schießscharte, dreieckig und an der breitesten Stelle kaum breiter als ihre Hand. Neugierig blieb sie stehen und blickte hinaus.
Eine Sekunde später wünschte sie sich, es nicht getan zu haben.
Unter ihr war – nichts.
Ihr Erinnerungsvermögen schien noch nicht vollends wiederhergestellt zu sein, denn sie besann sich erst jetzt darauf, auf welch abenteuerliche Weise sie Karans Haus erreicht hatte – das Haus, das wie ein Schwalbennest an die Klippe geklebt war, zehn Meter unter ihrer oberen und vermutlich ebensoviel Meilen über ihrer unteren Kante.
Tally schwindelte, als sie auf die gigantische blauweiße Einöde unter sich hinabblickte. Das Wetter hatte aufgeklart, und es war Tag, aber sie sah trotzdem kaum mehr als in der Nacht. Irgendwo, unendlich tief unter ihr, war etwas, etwas Grünes und Blaues und Weißes, aber sie konnte nicht sagen, was. Dafür hatte sie plötzlich erneut das Gefühl, den Boden unter ihren Füßen schwanken zu fühlen.
Hastig trat sie vom Fenster zurück, fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht und ging weiter. Ihre Knie zitterten.
Karan und Weller erwarteten sie in dem Zimmer, in dem sie sie auch das erste Mal angetroffen hatte. Im Kamin prasselte ein behagliches Feuer, und der Tisch war reich gedeckt. Das benutzte Geschirr vor Weller und dem alten Mann verriet, daß die beiden mit dem Frühstück nicht auf sie gewartet hatten, aber der Anblick der Speisen ließ Tally auch spüren, wie hungrig sie war. Ohne große Umstände setzte sie sich, zog einen Teller und die Brotschale heran und begann zu essen. Weller beobachtete sie stirnrunzelnd, während Karan mit ausdrucksloser Mine an ihr vorbei durch das große Fenster blickte, unter dem sich der Schlund ausbreitete. Tally blickte ganz bewußt nicht in die gleiche Richtung. Es vergingen gute zehn Minuten, bis sie ihren ärgsten Hunger gestillt hatte und den Teller zurückschob. Weller beobachtete sie noch immer, und auch Karan hatte den Blick endlich vom Fenster losgerissen und blickte sie an. Zum erstenmal sah Tally den alten Mann wirklich aus der Nähe.
Sie revidierte ihre Meinung, was sein Alter anging, um etliche Jahre nach unten. Karan war alt – sicherlich fünfzig Jahre – aber sein Gesicht war so wettergegerbt und von Runzeln und tief eingegrabenen Linien durchzogen, daß er auf den ersten Blick viel älter wirkte. Er schien ein sehr harter Mann zu sein, ohne dadurch unsympathisch zu wirken. Auf seinem Kopf waren nur noch wenige, spärliche Haare, aber dafür trug er einen um so gewaltigeren Bart. Außerdem hatte er Segelohren.
»Hat es geschmeckt?« fragte er, als Tally keine Anstalten machte, das Gespräch zu eröffnen, sondern ihn nur unverblümt anstarrte.
Tally nickte. »Es war sehr gut. Entschuldige, wenn ich unhöflich war. Aber ich war sehr hungrig. Du bist Karan?«
Karan machte eine weit ausholende Handbewegung.
»Du hast Karans Haus gesucht und es gefunden«, sagte er. »Du hast in seinem Bett geschlafen, hast sein Essen gegessen und wärmst dich an seinem Feuer. Also bin ich Karan.«
Tally blinzelte.
»Mach dir nichts draus«, sagte Weller. »Er spricht immer so komisch. Habe ich dir schon gesagt, daß er verrückt ist?«
Karan schenkte ihm einen bösen Blick und wandte sich wieder an Tally. »Dieser Narr da sagt, du und dein Waga habt mich gesucht?«
»Hrhon?« entfuhr es Tally. »Hrhon ist hier? Wo?« Ganz instinktiv sah sie sich um, aber natürlich war der Waga nicht hier im Zimmer.
»Nicht hier«, sagte Karan kopfschüttelnd. »Kein Schildkrötengesicht betritt mein Haus. Aber er war da und wird wiederkommen, wenn ich nach ihm rufe.« Weller warf ihr einen warnenden Blick zu – der Karan keineswegs entging – und Tally schluckte die wütende Antwort herunter, die ihr auf der Zunge lag. »Zuerst einmal möchte ich mich für deine Hilfe bedanken, Karan«, sagte sie. »Ohne dich und den jungen Mann –«
»Jan«, unterbrach sie Karan. »Er ist Karans Sohn, und sein Name ist Jan.«
»Ohne dich und Jan«, fuhr Tally fort, »wäre ich jetzt vielleicht tot.«
»Nicht vielleicht«, korrigierte sie Karan. »Ganz bestimmt. Und Schuld daran ist dieser Narr da. Selbst ein Kind weiß, daß man kein Mädchen allein läßt, in Angellas Gebiet.«
»Angella«, wiederholte Tally nachdenklich. »Das Mädchen mit dem Narbengesicht, das ich getötet habe. Wer war sie?«
»Frage Karan lieber, wer sie ist«, sagte Karan. Tally seufzte. Karans Art, von sich selbst in der dritten Person zu reden, begann ihr auf die Nerven zu gehen. Erst dann begriff sie, was seine Worte bedeuteten.
»Sie... lebt?« fragte sie zweifelnd.
Karan nickte. »Und sie tobt vor Wut. Du hast sie erniedrigt, Mädchen, und du hast sie besiegt, vor den Augen ihrer eigenen Leute. Das kann sie nicht hinnehmen. Sie wird dich töten.«
»Wer ist diese Frau?« fragte Tally, an Weller gewandt. Weller seufzte. »Die weibliche Ausführung von Braku«, antwortete er. »Nur zehnmal so schlimm. Sie tötet aus reinem Spaß, weißt du? Selbst die Garde hat Angst vor ihr. Der Stadthalter fragt sie um Erlaubnis, wenn er oder seine Leute hier in den Norden müssen. Und er bekommt sie nicht immer. Sie ist so etwas wie die unumschränkte Herrscherin über den Norden Schelfheims.«
»Aber sie ist ein Kind!« sagte Tally.
Karan schnaubte. »Dasselbe würde mancher auch von dir behaupten, wenn er dich sähe, Tally.«
»Tally?« Tally wandte vorwurfsvoll den Blick. »Du hast ihm verraten, wer ich bin?«
»Das war nicht nötig«, verteidigte sich Weller. »Er wußte es bereits. Beim Schlund, die halbe Stadt weiß, daß du auf dem Wege hierher bist.«
»Aber keiner weiß, daß du Karan gesucht hast«, sagte Karan. »Auch Angella nicht. Du bist in Sicherheit, solange du das Haus nicht verläßt. Aber Weller hat recht – sie suchen dich. Dich und deinen Begleiter, den Waga. Was suchst du hier?«
»Dich«, antwortete Tally. »Ich habe von dir gehört, Karan. Ein Mann namens Sagor nannte mir deinen Namen.«
»Du suchst Karan, du hast Karan gefunden«, deklamierte Karan. »Also sage, was du von ihm willst.« Tally zögerte. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, um nur hierher zu kommen, erschien es ihr beinahe zu einfach. »Ich... das heißt, wir«, begann sie, »Hrhon und ich, brauchen deine Hilfe.«
»Wobei braucht ihr Karans Hilfe?« fragte Karan.
»Braucht ihr Waffen? Rauschgift? Gedungene Mörder oder falsche Papiere? Sprich ruhig. Wenn der Preis stimmt, dann gibt es nichts, was Karan nicht besorgen kann.«
»Ich brauche nichts von alledem«, sagte Tally zögernd. Nervös blickte sie erst Weller, dann Karan an, stand schließlich auf und trat ans Fenster. Aber sie blickte nicht in den Schlund hinab, sondern in den Himmel, der sich wie eine gigantische blaue Kuppel darüber spannte. Trotzdem glaubte sie die Nähe des riesigen Abgrundes zu spüren. Ganz leicht wurde ihr schwindelig.
»Ich habe lange nach einem Mann wie dir gesucht, Karan«, begann sie vorsichtig. Sie war nervös. Sie wußte, wie wichtig die nächsten Worte waren. Aber sie hatte niemals gelernt, mit Worten umzugehen.
Mit einem Ruck drehte sie sich herum, ohne auf den stechenden Schmerz in ihrer Schulter zu achten, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen das glatte Glas des Fensters. »Wir brauchen einen Führer, Karan«, sagte sie. »Einen Mann, der Hrhon und mich dort hinunter bringt. Man sagte mir, du wärest der einzige, der das kann.«
Wellers Unterkiefer klappte herunter, aber Karans Gesicht blieb ausdruckslos. Nicht einmal in seinen Augen war so etwas wie Überraschung zu erkennen. Er mußte wohl geahnt haben, warum Tally wirklich hier war.
»Nein«, sagte er ruhig.
Tally seufzte. Sie hatte geahnt, daß die Schwierigkeiten jetzt erst wirklich begannen. »Du hast es schon einmal getan«, sagte sie.
»Karan ist nicht der einzige.«
»Aber du bist der einzige, der zurückgekommen ist«, beharrte Tally.
»Und wenn? Es bleibt bei Karans nein.«
»Du weißt ja noch gar nicht, was ich dir biete, Karan«, sagte Tally. »Und warum ich es will.«
»Warum du es willst, ist deine Sache«, sagte Karan.
»Und was kannst du Karan bieten, was er nicht hätte? Er hat ein Haus, er hat Geld und er hat einen Sohn. Und er lebt. Wenn er mit dir dort hinunterginge, würde er sterben.«
»Du hast es schon einmal überlebt.«
»Karan hatte Glück«, sagte Karan ruhig. »Und etwas von ihm ist gestorben, dort unten. Auch von dir würde etwas sterben, gingen wir dorthin. Willst du das?«
»Ich –«
»Du«, unterbrach sie Karan, »bist nicht die erste, die mit dieser Bitte zu Karan kommt. Viele haben ihn gebeten, viele haben ihm Geld geboten, sehr sehr viel Geld, und manche haben ihn bedroht. Keinen hat er hinuntergeführt. Er kann dir den Weg beschreiben, aber das kostet Geld.«
»Verdammt noch mal das können andere auch«, sagte Tally heftig. »Ich habe tausend idiotische Ratschläge bekommen, Karan, angefangen von dem, einfach zu springen bis zu dem, mir Flügel wachsen zu lassen. Ich brauche jemanden, der schon einmal dort war. Jemanden, der sich dort unten auskennt. Der mich zu meinem Ziel führen kann! Verrückte, die versucht haben, den Schlund zu erkunden, gibt es genug. Aber du bist der einzige, der zurückgekommen ist! Es ist wichtig für mich, Karan! Wichtiger als mein Leben!«
»Nein«, beharrte Karan. Er stand auf. »Du kannst dir deinen Atem sparen, Tally. Niemand wird Karan bewegen, jemals wieder dort hinunterzugehen. Und wenn du ihn weiter bedrängst, dann wird er dich bitten müssen, sein Haus zu verlassen.« Damit wandte er sich um und verließ den Raum so schnell, daß Tally nicht einmal Gelegenheit fand, ihn zurückzurufen.
Wütend starrte sie ihm nach. Sie hatte geahnt, daß es schwer werden würde – aber jetzt hatte sie das Gefühl, daß es schlichtweg unmöglich war. Karan gehörte ganz eindeutig nicht zu den Menschen, die sich durch irgend etwas umstimmen ließen.
»Das ist dein Ernst, wie?« murmelte Weller verstört.
»Du... du willst wirklich dort hinunter? Deshalb hast du Karan gesucht?« Er stand auf, kam auf sie zu und blieb wieder stehen, als Tally ihn zornig anstarrte.
»Du... du bist völlig verrückt!« fuhr er fort. »Hättest du mir gesagt, was du von ihm willst, dann hätten wir uns das alles sparen können! Karan hat schon Hunderte abgewiesen, die mit der gleichen Bitte zu ihm kamen!«
»Aber ich muß dort hinunter«, beharrte Tally. Sie war wütend. Und sie war sich des Umstandes durchaus bewußt, daß sie sich wie ein störrisches Kind benahm, das seinen Willen nicht durchsetzen konnte.
»Und warum?« fragte Weller.
»Das geht dich nichts an.«
»Oh doch, das tut es!« behauptete Weller aufgebracht. »Immerhin hast du mich gezwungen, dich zu begleiten. Um ein Haar wäre ich umgebracht worden, und ob ich jemals lebend hier herauskomme, weiß ich noch immer nicht.« Er zog eine Grimasse. »Was immer du dort unten suchst, es ist nicht da«, sagte er mit einer Geste aus dem Fenster. »Glaube mir, Tally, dort unten ist nichts als der Tod.«
»Warst du dort?« fragte Tally spitz.
»Nein«, antwortete Weller wütend. »Niemand war da, außer Karan vielleicht, und auch nur vielleicht.«
»Du glaubst ihm nicht?«
Weller hob wütend die Schultern. »Was weiß ich. Er kann eine Menge behaupten, wenn niemand da ist, der das Gegenteil beweisen kann. Aber selbst wenn – er wird dich nicht hinunterbringen.«
»Ich könnte ihn zwingen«, sagte Tally.
»Du redest Unsinn«, schnaubte Weller. »Du kannst ihn zu einer ganzen Menge zwingen, aber nicht dazu.«
»Bist du sicher?« fragte Tally böse.
»Ganz sicher«, sagte Weller. »Und das weißt du ganz genau. Willst du wirklich in die Hölle gehen, mit einem Führer, dem du nicht trauen kannst?«
Tally starrte ihn an. Äußerlich wirkte sie ruhig, aber das war für jemanden, der sie kannte, allerhöchstens ein Alarmzeichen. Hinter der Maske aus Gelassenheit und Ruhe brodelte es. Beim Schlund – sie war nicht hierhergekommen, um sich mit einem Nein abspeisen zu lassen, einfach so, weil ein alter Mann zu stur war, sie überhaupt anzuhören.
»Sieh ein, daß es keinen Sinn hat, Tally«, fuhr Weller fort, der ihr Schweigen so falsch deutete, wie es nur ging.
»Ich kenne Karan. Wenn er einmal nein sagt, bleibt es dabei. Keine Macht der Welt kann ihn umstimmen. Und wenn du ihn verärgerst«, fügte er hinzu, »wird er uns rauswerfen. »Du –«
Aber Tally hörte schon gar nicht mehr zu. Sie fuhr wütend herum, stapfte aus dem Raum und ging in das Zimmer zurück, in dem sie geschlafen hatte.
Es dauerte nicht lange, bis Karan zu ihr kam. Tally hatte halbwegs damit gerechnet, halbwegs hatte sie es aber auch befürchtet; denn sie ahnte, daß es kaum möglich war, den alten Sonderling umzustimmen. Trotzdem empfing sie ihn so freundlich, wie sie konnte – was angesichts ihrer momentanen Verfassung nicht sonderlich freundlich war.
»Du bist enttäuscht«, begann Karan das Gespräch, »weil Karan dir deinen Wunsch nicht erfüllt.«
Tally schwieg. Sie hatte das bestimmte Gefühl, daß der Alte nicht nur gekommen war, um ein paar Belanglosigkeiten mit ihr auszutauschen. Er war nicht der Typ, der um des Reden willens redete. Aufmerksam sah sie ihn an.
»Du weißt nicht, was du von Karan verlangst.«
»Doch«, widersprach Tally. »Ich weiß es. Aber es ist wichtig für mich.«
»Wichtig?« Karan lächelte auf eigentümliche Art.
»Wichtiger als dein Leben?«
»Ja«, antwortete Tally, so impulsiv, daß Karan sie einen Moment fast erschrocken anstarrte, ehe er abermals lächelte, diesmal aber sehr dünn und fast traurig.
»Du bist ein Kind«, sagte er. »Eine Frau, und trotzdem ein Kind. Dein Leben hat noch nicht einmal richtig begonnen, und du willst es wegwerfen. Warum? Was treibt dich?« Er seufzte, drehte sich auf der Stelle herum und machte eine einladende Geste mit der Linken.
»Komm mit, dummes Kind. Karan will dir etwas zeigen.«
Widerstrebend stand Tally auf und folgte dem Alten. Sie gingen die Treppe hinunter und durchquerten das Kaminzimmer, in dem sie zuvor miteinander gesprochen hatten. Von Weller war keine Spur mehr zu sehen, und auch Jan, Karans Sohn, ließ sich nicht blicken. Überhaupt war das Haus sehr still, dachte Tally. Sie wußte nicht, warum, aber die Vorstellung, mit dem halbverrückten Alten allein in diesem Haus über dem Nichts zu sein, erfüllte sie mit Unbehagen.
Karan trat an das große Fenster, tat etwas, das Tally nicht genau erkannte, und plötzlich glitt ein Teil der mannshohen Glasscheibe mit einem kaum hörbaren Summen zur Seite. Dahinter kam ein kaum meterbreiter, von einer zierlichen schmiedeeisernen Brüstung begrenzter Balkon zum Vorschein. Karan trat mit einem raschen Schritt hinaus, lächelte ihr zu und wiederholte seine auffordernde Handbewegung.
Tally zögerte. Ihr Herz begann zu hämmern. Unter dem Balkon lag der Schlund. Das absolute Nichts. Ein Meilen tiefer Abgrund.
»Was hast du?« fragte Karan spöttisch. »Angst? Noch vor Stundenfrist hast du Karan gebeten, dich dort hinunterzubringen. Und jetzt hast du Angst davor, den Schlund auch nur zu betrachten.« Er schüttelte den Kopf.
»Du bist ein Kind«, beharrte er.
Seine Worte ärgerten Tally so sehr, daß sie mit einem zornigen Schritt neben ihn trat und die Hände auf das Geländer legte – und genau das sollten sie ja wohl auch. Tally schwindelte, als sie so unversehens in den Abgrund hinabblickte; gleichzeitig wurde sie sich des Umstandes bewußt, daß sie sich wahrhaftig wie ein Kind benahm. Karan spielte mit ihr, und es bereitete ihm nicht einmal besondere Mühe.
»Du bist also Tally«, sagte Karan leise. »Die Frau, die von den Töchtern des Drachen und jedem Halsabschneider und Mörder im Lande gesucht wird. Auf deinen Kopf steht ein Vermögen, weißt du das?«
»Ich wäre kaum noch am Leben, wenn ich es nicht wüßte«, antwortete Tally scharf. »Was willst du? Mir erklären, daß ich in Gefahr bin?«
»Mit dir reden«, antwortete Karan ruhig. »Du bist nicht die erste, die mit diesem Wunsch zu Karan kommt. Die anderen habe ich fortgeschickt, ohne zu fragen. Du interessierst mich.«
»Welche Ehre«, murmelte Tally böse. »Vielleicht interessiere ich dich ja so sehr, daß du ihn mir erfüllst.« Karan blieb ernst. »Du willst es wirklich«, sagte er leise. »Du willst dort hinunter.« Er deutete in das gigantisch saugende Nichts herab, ohne den Blick von Tally zu wenden. »Du hast all dies nur auf dich genommen, um zu sterben.«
»Nein«, antwortete Tally heftig. »Ich will dort hinunter, aber lebend. Und dazu brauche ich dich.«
»Es ist dasselbe«, erwiderte Karan ruhig. »Der Schlund ist der Tod.«
»Du bist der lebende Beweis, daß es nicht so ist«, sagte Tally erregt. Sie spürte, daß sie schon wieder dabei war, die Beherrschung zu verlieren, aber es war ihr gleich. Wenn es sein mußte, würde sie Karan zwingen, ihr zu helfen. »Ich muß dort hinunter, Karan, egal, wie, und –«
»Warum?« unterbrach sie Karan ruhig. »Was glaubst du, dort zu finden, Tally? Ruhm?« Er schüttelte den Kopf. »Sieh Karan an. Er war dort, aber er hat keinen Ruhm gefunden. Reichtum?« Wider schüttelte er den Kopf. »Dort unten gibt es nichts von Wert. Nichts, was du mitnehmen könntest. Abenteuer?« Zum dritten Male das Kopfschütteln. Tally hatte plötzlich den sicheren Eindruck, daß Karan genau diese Worte mit genau diesen Gesten schon tausendmal gesprochen hatte, und an genau dieser Stelle. Eine einstudierte Szene, die er allen Narren vorspielte, die hierherkamen. »Es gibt keine Abenteuer dort unten. Nur den Tod. Was also treibt dich?«
»Nichts, was dich etwas anginge«, erwiderte Tally zottlig.
Karan lachte. »Du verlangst von Karan, daß er dich dort hinunterführt, und meinst, es ginge ihn nichts an, warum?«
»Wirst du es tun, wenn ich es dir sage?« fragte Tally. Karan verneinte. »Aber vielleicht hilft er dir anders«, fügte er hinzu. »Du wirst hinuntergehen, ob mit oder ohne Karans Hilfe. Und er weiß viel. Aber er gibt sein Wissen nicht jedem preis. Was also suchst du dort, wenn nicht den Tod?«
»Den Tod schon«, antwortete Tally leise. »Aber nicht meinen.« Fast erschrak sie selbst über ihre Worte. Sie hatte ihr Geheimnis bisher mit niemandem geteilt, und sie hatte bei ihrem Leben geschworen, es auch nicht zu tun. Aber sie hatte das sichere Gefühl, daß Karan eine Lüge erkennen würde.
»Rache also«, sagte Karan. Er schüttelte den Kopf, seufzte. »Wen haben sie getötet?« fragte er. »Deinen Liebsten? Deine Eltern? Deine Familie?«
»Alle«, antwortete Tally heftig.
»Und sie sind dort unten?«
»Ich denke, du kennst den Schlund?« fragte Tally mißtrauisch.
Karan lächelte. »O Kind«, sagte er, »wie kann ein Mann das da kennen?« Wieder deutete er in das Nichts hinab, drehte sich aber diesmal herum und stützte sich schwer mit den Unterarmen auf das eiserne Geländer.
»Karan war dort, aber was er gesehen hat, war nur ein kleiner Teil der Ewigkeit. Selbst wenn er dich hinabführte, könntest du dein Leben lang suchen, ohne zu finden. Was weißt du über den Schlund?«
Tally schwieg einen Moment. Sie wußte eine Menge über das große Nichts hinter der Welt – eine Menge Unsinn. Konkret gab es niemanden, der zu sagen wußte, was sich unter der blauweißgrün gemusterten Decke tief unter ihnen verbarg. Außer Karan vielleicht.
»Nichts«, sagte sie leise.
»Dann weißt du so viel wie alle«, lächelte Karan.
»Karan wird dich nicht hinabführen, aber er wird dir vom Schlund erzählen – wenn du willst. Willst du?« Seltsamerweise zögerte Tally. Sie brannte darauf, das große Geheimnis zu lüften, das zum Greifen nahe vor ihr lag – und gleichzeitig hatte sie Angst davor. Vielleicht war es die Angst, daß aus dem Traum jäh ein Alptraum werden konnte, daß sie erkennen mußte...
Ja, dachte sie, das war es. Sie hatte Angst, daß Karan sie überzeugte. Was, wenn er ihr bewies, daß es unmöglich war, dort hinunter zu gehen?
Trotzdem nickte sie nach einer Weile.
»Dann sieh hinab«, sagte Karan. »Sieh hinab und spüre die Weite.«
Tally gehorchte, obgleich sie nicht so ganz begriff, was Karan überhaupt meinte. Die Vorstellung, sich von einem verrückten alten Mann zum Narren machen zu lassen, gefiel ihr nicht. Aber welche Wahl hatte sie schon?
Und nach einer Weile glaubte sie sogar zu spüren, was Karan meinen mochte. Sie spürte nichts von Weite und Erhabenheit und Ehrfurcht, nichts von alledem, was Karan von ihr erwarten mochte, aber zum erstenmal in ihrem Leben blickte sie wirklich in die Unendlichkeit hinab. Es gab keinen Horizont, ja, es war, als lösten sich nach einer Weile alle bekannten Begriffe auf. Es gab kein Hier oder Dort, kein Oben, Unten, Rechts oder Links – der Schlund war einfach da, und er war gewaltig. Richtungen spielten keine Rolle, wenn es nichts gab, was sie begrenzte.
»Was weißt du über die Geschichte unserer Welt?« fragte Karan nach einer Weile.
»Nicht viel«, erwiderte Tally. Es fiel ihr schwer zu sprechen. Der Anblick der ungeheuerlichen Weite unter ihr lähmte sie. Sie sah eine ungeheuerliche, weißgetupfte Masse, tief, unglaublich tief unter sich, und noch tiefer darunter etwas Grünes und Blaues und Braunes. Was war das? dachte sie entsetzt.
»Sie ist alt, Kind«, fuhr Karan fort, mit leiser, fast tonloser Stimme, als führe er Selbstgespräche. Wahrscheinlich tat er es. »Sie war schon alt, als der Mensch noch ein Gedanke in der Unendlichkeit war. Manche behaupten, daß sie stirbt, und daß wir die letzten sind, denen sie Heimat ist. Früher einmal, vor undenklichen Zeiten, war sie reich und fruchtbar, ein Paradies, das allen Wesen Raum bot. Es gab reiche Länder, fruchtbare Ebene, größer, als du dir vorstellen kannst, und Meere, so gewaltig, daß ein Schiff ein Jahr lang segeln konnte, ohne auf Land zu stoßen.« Er deutete nach unten. »Der Schlund war früher ein Meer.«
Tally sah ihn zweifelnd an. Der Schlund – ein Meer? Sie kannte Meere – den östlichen Salzsee, der so groß war, daß ein Mann in einem Ruderboot zehn Tage brauchte, um ihn zu überqueren, das große Meer im Westen mit seinen schwimmenden Städten – aber der Schlund?! Unmöglich.
»Du glaubst Karan nicht«, sagte der Alte. »Und doch war es so. Einstmal war all dies dort Wasser, eine so ungeheuerliche Menge von Wasser, daß niemand sie sich vorzustellen vermag. Karan weiß nicht, ob es Schelfheim damals schon gab, doch wenn, so lag es nicht an der Klippe, sondern war ein Hafen, in den Schiffe einliefen und nach Norden segelten. Dies alles war gefüllt mit Wasser, und der Schlund, die Hölle, war der Grund eines Meeres.«
Tally schwindelte allein bei der Vorstellung, aber sie hatte auch keinen triftigen Grund, Karans Worte zu bezweifeln. Im Gegenteil – jetzt, als er es ihr einmal gesagt hatte, klangen sie fast einleuchtend. Was nicht hieß, daß Tally es etwa schon wirklich begriffen hätte. Die Vorstellung sprengte einfach ihre Phantasie, »Aber wo... wo ist es hin?« murmelte sie. »Ich meine, wenn... wenn du die Wahrheit sagst, wohin ist all dieses Wasser verschwunden? Es kann doch nicht ausgetrocknet sein!«
»Das weiß niemand«, antwortete Karan. »Manche sagen, es ist einfach verschwunden, so wie ein See austrocknet, in einem heißen Jahr. Andere behaupten, die Menschen hätten die Götter gefrevelt, und sie hätten ihnen zur Strafe das Wasser genommen. Wieder andere sagen, der Mensch hätte nach den Sternen gegriffen und ihre Macht entfesselt, so lange, bis er ihr selbst nicht mehr Herr geworden wäre. Wer will sagen, was nun stimmt? Karan kann es nicht.« Er lachte leise. »Manche behaupten gar, es wäre noch da, nur tief unter dem Boden des einstigen Meeres, gefangen in gewaltigen Höhlen, die aufbrachen, als der Mensch nach verbotenem Wissen griff.«
»Und was ist wirklich dort unten?« fragte Tally leise.
»Die Hölle«, antwortete Karan. »Oder das Paradies.« Tally sah ihn fragend an.
»Es gibt sie noch, diese Welt, von der Karan gesprochen hat«, fuhr Karan fort. »Eine Welt voller Leben. Siehst du das Grün?«
Tally nickte.
»Es ist Leben«, sagte Karan. »Ein Leben, wie du es dir nicht einmal vorzustellen vermagst. Aber es ist gefährlich. Es ist böse, und es tötet dich, noch ehe du es bemerkst. Es gibt Wälder dort unten, größer als unsere Welt, und so dicht, daß das Licht der Sonne nicht den Boden erreicht.«
»Dann warst du wirklich dort«, murmelte Tally.
Karan lächelte. »Hast du daran gezweifelt?« fragte er, beinahe sanft. »Karan war dort, aber er hat geschworen, es nie wieder zu tun. Für nichts auf der Welt.«
»War es so schlimm?« fragte Tally.
»So schön«, erwiderte Karan ernst. »Es ist das Paradies, Tally. Aber Karan kann nicht darin leben, so wenig wie du oder irgendein anderer. Und es ist die Hölle, wenn du es siehst, und niemals erreichen kannst.«
»Lebst du deshalb hier?« fragte Tally. Karan nickte.
»Dann beneide ich dich nicht um dein Leben«, fuhr Tally fort. »Es muß... schrecklich sein.«
»Manchmal«, gestand Karan. »Und doch kann Karan nirgendwo anders leben als hier. Irgendwann, wenn seine Zeit gekommen ist, wird er sein Ende hier finden.«
Tally wollte antworten, aber irgend etwas hielt sie zurück. Sie hatte zu viel erfahren in den letzten Minuten, zu viel, was sie noch gar nicht begriff, um mit Karan reden zu können. Ihr schwindelte, aber es war jetzt nicht mehr allein die ungeheuerliche Höhe, die sie schwindeln ließ. Sie hatte in wenigen Minuten mehr über die Geschichte dieser Welt erfahren als in den fünfundzwanzig Jahren ihres Lebens zuvor.
»Wie... wie tief ist es?« fragte sie – nicht aus wirkligern Interesse, sondern nur, um überhaupt irgend etwas zu sagen, das entsetzliche Schweigen des Abgrundes zu brechen.
»Unendlich tief«, erwiderte Karan. »Viele haben versucht, die Klippe hinabzusteigen. Es gibt Wege nach unten. Aber alle führen ins Nichts. Manche sind zurückgekehrt, nach einer Woche in der Wand, aber die meisten nicht. Sie sind tot.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Tally. »Wer sagt dir, daß sie nicht unten angekommen sind?« Sie sprach schnell, und eine Spur zu laut. Ihre Worte waren im Tonfall der Verteidigung vorgebracht, die sie auch waren.
»Wo ist der Unterschied?« fragte Karan sanft. »Der Schlund tötet dich. Du steigst zehn Tage in die Tiefe und kommst an eine Stelle, an der es nicht weiter geht, aber du kannst nicht mehr zurück, weil deine Kräfte nicht reichen. Oder du stürzt ab, wenn der Fels bricht. Oder du erreichst den Boden, und der Schlund tötet dich erst dort.« Er machte eine vage Handbewegung. »Und jetzt sag Karan, was du dort unten suchst, wenn nicht den Tod.«
»Aber du bist zurückgekommen!« begehrte Tally auf.
»Du kennst den Weg! Du kannst ihn mir zeigen!«
Karan schwieg.
Und auch Tally sagte nichts mehr, sondern warf nur einen letzten, sehr langen Blick auf die blauweiße Unendlichkeit unter dem Fenster und ging mit hängenden Schultern zurück zu ihrem Zimmer, um ihre wenigen Habseligkeiten zu holen. Der dumpfe Schmerz erst halb begriffener Enttäuschung wühlte in ihr.
Aber sie erreichte ihr Zimmer nicht. Auf halber Strecke hörte sie ein sonderbares, halb wimmerndes, halb seufzendes Geräusch, blieb alarmiert stehen und blickte sich um.
Im ersten Moment fiel ihr nichts Außergewöhnliches auf, aber dann hörte sie den seufzenden Laut erneut, und als sie in die Richtung blickte, aus der er kam, sah sie, daß ein Teil der vermeintlich massiven Wand zur Rechten in Wahrheit von einem Vorhang gebildet wurde, straff gespannt und von der Farbe der Felsen, so daß er bei flüchtigem Hinsehen nicht auffiel.
Neugierig – aber auch ein bißchen beunruhigt – trat sie hinzu, streckte behutsam die Hand aus und schlug den Stoff beiseite. Dahinter kam ein kaum einen Meter im Quadrat messender, halbhoher Verschlag zum Vorschein.
Was Tally sah, erschreckte sie zutiefst.
Im ersten Moment glaubte sie, es wäre ein Mensch, aber das konnte nicht stimmen – seine Proportionen waren falsch, und er war zu klein für den gewaltigen, aufgedunsenen Schädel. Die Haut der Kreatur war grau, ein sehr helles, unangenehmes Grau, wie Leichenhaut, und die Glieder geradezu absurd dünn. Das Wesen war nackt, und Karan oder Jan hatten es mit dünnen ledernen Riemen so festgebunden, daß es sich kaum zu rühren vermochte. Sein Kopf ruhte in einem regelrechten Netz von dünnen Bändern, und seine Arme waren so gebunden, daß es sie bewegen, sein Gesicht aber nicht damit erreichen konnte.
Tally unterdrückte den Ekel, den der Anblick in ihr wachrief, sah hastig den Gang hinab und schlug den Vorhang vollends beiseite, als sie erkannte, daß sie noch allein war.
Zögernd trat sie vollends in den Verschlag hinein und ließ sich vor der bedauernswerten Kreatur in die Hocke sinken, wobei sie allerdings sorgsam darauf achtete, nicht in die Reichweite der dürren Hände zu geraten. Karan mochte seine Gründe haben, das Wesen so zu fesseln.
»Wer bist du?« fragte sie schaudernd.
Sie hatte selbst kaum damit gerechnet – aber sie bekam Antwort. Irgendwo in der teigigen Masse, die das Gesicht des Wesens darstellte, öffnete sich ein Paar erstaunlich großer, klarer Augen. Der dünne Mund verzog sich zu einem Idiotenlächeln.
»Beit«, sagte der Krüppel. Seine Stimme war überraschend klar.
»Beit?« wiederholte Tally. »Ist das dein Name?« Das Ding antwortete nicht. Seine Augen schlossen sich wieder.
»Was tust du hier, Beit?« fragte Tally. »Hält Karan dich gefangen? Warum?«
Keine Antwort. Tally seufzte, steckte die Hand aus, wie um den Krüppel zu berühren, tat es aber dann doch nicht, weil ihre der Gedanke, diese grauweiße Leichenhaut unter den Fingern zu spüren, beinahe körperliche Übelkeit bereitete. »Warum antwortest du nicht?« fragte sie. »Ich bin nicht dein Feind.«
Beit starrte sie an, lächelte erneut sein Idiotenlächeln und begann zu sabbern. Schaumiger Speichel rann an seinem Kinn herab. Tally versuchte das, Ekelgefühl zu ignorieren, das der Anblick in ihr hervorrief.
»Du kannst Vertrauen zu mir haben, Beit«, sagte sie. Vielleicht handelte es sich bei Beit wirklich um einen Schwachsinnigen, überlegte sie. Sie hatte nicht viel Erfahrung im Umgang mit Idioten, aber sie glaubte sich zu erinnern, daß man die größten Aussichten auf Erfolg hatte, wenn man mit ihnen sprach wie mit einem sehr kleinen Kind.
»Sag mir, warum Karan dich gefangen hält«, fuhr sie fort, so ruhig sie konnte und mit dem freundlichsten Lächeln, das sie aufzubringen imstande war. »Ich kann dir vielleicht helfen.«
Beit grinste blöd.
»Wie alt bist du, Beit?« fragte Tally.
»Siebenunddreißig Jahre, neun Monate und vier Tage«, antwortete der Krüppel.
Tally starrte ihn mit offenem Mund an. »Du kannst also doch sprechen«, sagte sie schließlich. »Und du verstehst, was ich sage. Warum antwortest du nicht?« Beit schwieg. Seine großen, dunklen Augen musterten sie voller Leere. Tally war nicht sicher, ob der Schwachsinnige sie überhaupt wahrnahm.
»Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben«, fuhr sie schließlich fort. »Im Gegenteil.« Sie lächelte erneut, drängte ihren Widerwillen mit aller Macht zurück und strich mit den Fingerspitzen über Beits Schädel. Die Berührung zeigte nicht die mindeste Reaktion auf seinem Gesicht. Seine Haut war kalt wie Stein und schien sehr dünn zu sein. Tally konnte den raschen Schlag seines Herzens darunter spüren.
»Wenn ich nur wüßte, wie ich mit dir reden kann«, murmelte sie, mehr zu sich selbst gewandt. »Du scheinst mich zu verstehen, aber du antwortest nicht.«
»Er antwortet nur auf direkte Fragen«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Tally fuhr so abrupt herum und in die Höhe, daß sie sich an der Decke des niedrigen Verschlages den Schädel anstieß, fluchte ungehemmt und trat so hastig wieder auf den Gang hinaus, daß Jan unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Trotzdem lächelte er amüsiert, als sie die Hand an den Schädel hob und die schmerzende Stelle rieb.
»Was ist das dort drinnen?« fragte sie gereizt. »Karans und dein finsteres Geheimnis? Ein verkrüppelter unehelicher Sohn, den er vor aller Welt versteckt?«
Jan wirkte ehrlich verblüfft. Dann begann er zu lachen, so laut und schallend, daß Tally ihn nun ihrerseits verblüfft anstarrte. »Hast du denn noch nie einen Erinnerer gesehen?« fragte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte und halbwegs zu Atem gekommen war.
»Einen... Erinnerer?« Tally drehte sich verblüfft herum, starrte auf den verkrüppelten Zwerg herab und sah dann wieder Jan an. »Nein«, gestand sie. »Nicht so einen.«
»Beit ist einer der besten«, behauptete Jan. »Und bevor du fragst – wir binden ihn nicht aus Grausamkeit fest, sondern zu seinem eigenen Schutz. Der, den wir vorher hatten, hat sich eines Tages die Augen ausgekratzt und ist gestorben, einfach so.« Er seufzte, ging vor Beit in die Hocke und legte die Hand auf seine Schulter. Mit der anderen deutete er auf Tally.
»Das ist Tally, Beit«, sagte er. »Sieh sie dir an. Sie ist unser Gast und hat Zugang zu allen Informationen, die nicht ausdrücklich als geheim gekennzeichnet sind. Registrieren und bestätigen.«
»Tally«, wiederholte Beit. »Gast des Hauses mit Zugang zu allen nicht geheimen Informationen. Registriert und bestätigt.«
»Gut«, sagte Jan. »Ihre Anwesenheit hier ist geheim. Registrieren.«
»Registriert«, sagte Beit.
Jan nickte zufrieden, stand wieder auf und wandte sich um. Lächelnd trat er zur Seite und wies mit einer einladenden Handbewegung auf den Krüppel. »Frag ihn etwas«, sagte er. »Sein Wissen wird dich überraschen.« Tally war der kurzen Unterhaltung zwischen ihm und dem Erinnerer mit wachsender Verblüffung gefolgt. Es fiel ihr schwer, zu glauben, was sie sah. Natürlich wußte sie, daß es so etwas wie Erinnerer gab; aber sie hatte niemals einen gesehen. Sie hatte nicht gewußt, wie entsetzlich sie waren.
Jan, der ihr Zögern falsch deutete, lächelte erneut und wandte sich wieder an den Krüppel. »Schelfheim«, sagte er. »Kurzbeschreibung und Einwohnerzahl. Antwort.«
»Schelfheim«, antwortete Beit mit seiner volltönenden, angenehmen Stimme. Größte Stadt des nördlichen Schelfs. Untersteht dem Kommando der Töchter des Drachen. Einwohnerzahl offiziell zweihundertundfünfzigtausend,,geschätzte realistische Zahl jedoch-fast doppelt so hoch. Zentraler Handelsknotenpunkt für –«
»Abbruch«, sagte Jan scharf. Beit verstummte.
»Der Schelf«, sagte Jan. »Allgemeiner Abriß. Antwort.«
»Schelf«, antwortete Beit. »Größtenteils unfruchtbarer, aber dichtbesiedelter sandiger Streifen, zwischen dem Hochland und dem sogenannten Schlund gelegen.
Seine Breite schwankt zwischen fünf Meilen im Norden und hundertfünfzig Meilen im Süden. Größte Stadt ist Schelfheim. Regierungs –«
»Aufhören!« keuchte Tally, aber Beit fuhr fort: » bereiche der der drei großen Reiche des Hochlandes überschneiden sich im –«
»Abbruch«, befahl Jan hart. Beit verstummte mitten im Wort.
»Er reagiert nur auf bestimmte Worte«, sagte Jan lächelnd. »Du mußt sie dir merken, wenn du...« Er sprach nicht weiter, sondern runzelte die Stirn, als er sah, wie bleich Tally geworden war.
»Was hast du?« fragte er. »Erschreckt dich sein Anblick so sehr? Er ist harmlos, glaube ich. Und sehr nützlich. Du müßtest fünf Häuser wie diese von oben bis unten mit Büchern füllen, um nur die Hälfte des Wissens anzuhäufen, das er im Kopf hat.«
»Das... das ist entsetzlich«, stammelte Tally. Für einen Moment drohte der Ekel sie vollends zu übermannen. Sie mußte all ihre Kraft aufwenden, dem Anblick Breits überhaupt noch stand zu halten. Sie hatte Schrecklicheres gesehen: Bestien, bei deren bloßem Anblick andere schreiend davongelaufen wären, und Menschen, die schlimmer verkrüppelt waren. Aber das...
»Was ist entsetzlich?« fragte Jan verwirrt.
»Dieses... dieses Ding«, antwortete Tally mit einer Geste auf den Erinnerer. »Es ist unmenschlich, Jan.«
»Unmenschlich?« Jans Unverstehen war nicht gespielt. »Was soll das heißen, Tally? Er ist kein Mensch.«
»Was dann?« fragte Tally heftig. »Eine Maschine?« Sie machte eine zornige Handbewegung. »Er ist ein lebendes Wesen, Jan. Es ist grausam, ihn so zu behandeln.«
»Unsinn», widersprach Jan. »Er bekommt zu Essen, und wir binden ihn nur zu seinem eigenen Schutz. Diese Kreaturen sind dumm. Sie haben ein phantastisches Gedächtnis, aber sie sind dumm wie Steine.« Er kam einen Schritt auf sie zu und blieb wieder stehen, als Tally instinktiv um die gleiche Strecke zurückwich.
»Ich sage dir die Wahrheit«, versicherte er. »Glaube mir. Beit ist kein lebendes Wesen, das dein Mitleid verdiente. Ebensogut könntest du Mitleid mit einem Hornkopf haben.«
»Das ist etwas anderes«, widersprach Tally. »Er... er ist ein Mensch. Oder war es wenigstens einmal, ehe ihr... das da aus ihm gemacht habt!«
»Das ist er nicht«, widersprach Jan, nun schon etwas heftiger. »Glaube mir, der Unterschied zwischen ihm und einem Hornkopf ist nicht so groß, wie du denkst. Sie sind große, dumme Tiere, die zum Kämpfen und Arbeiten geschaffen worden sind, und er ist nichts anderes. Sein Aussehen erschreckt dich vielleicht, aber es täuscht. Er atmet, und er ißt, aber das ist auch alles, was an ihm lebt. Er denkt nicht. Er erinnert sich, das ist alles.« Tally antwortete nicht mehr, sondern drehte sich nach einem letzten, von Entsetzen erfüllten Blick herum und lief davon, so schnell sie konnte.
Eine Stunde nach ihrem Gespräch mit Jan rief sie Karan zum Essen. Tally zögerte zuerst, überhaupt auf die Einladung zu reagieren; aber sie sah sehr schnell ein, daß es niemandem etwas brachte, wenn sie sich wie ein störrisches Kind benahm und schmollend in ihrem Zimmer blieb; ihr selbst am allerwenigsten. Außerdem hatte sie schlicht und einfach Hunger. So stand sie nach einer Weile auf und ging hinab ins Kaminzimmer, wo Karan und sein Sohn bereits auf sie warteten.
Weller fehlte, und als Tally sich setzte, fiel ihr auch auf, daß nur drei Gedecke aufgetragen waren. Auf ihre entsprechende Frage hin erklärte Karan einsilbig, daß er sich verabschiedet habe, um zu seinem Versteck in der Klippe zurückzukehren. Tally kam diese Antwort ein wenig sonderbar vor, nach allem, und auch Jan sah einen Moment auf, als wolle er etwas ganz anderes sagen, beließ es dann aber bei einem wortlosen Achselzucken und konzentrierte sich wieder ganz auf sein Essen. Der Himmel über dem Schlund begann sich dunkel zu färben, während sie aßen, und nach einer Weile begann es tief unter ihnen zu wetterleuchten; Tally glaubte ein sehr weit entferntes, aber auch sehr machtvolles Grollen zu hören. Wenn Karan die Wahrheit gesagt hatte, dachte sie schaudernd, dann mußten die weißen Flecken dort unten, die sich jetzt grau gefärbt hatten, Wolken sein. Die Vorstellung, sich eine oder auch mehrere Meilen über einem Gewitter zu befinden wie ein bizarrer Gott auf einem noch bizarreren Thron, ließ sie schaudern.
»Du hast nachgedacht über das, was dir Karan gesagt hat«, sagte Karan plötzlich.
Tally fuhr erschrocken zusammen und begriff, daß sie in die Leere hinausgestarrt hatte, ohne es überhaupt zu bemerken. Sehr lange. Sie nickte.
»Aber du willst noch immer gehen«, fuhr Karan fort. Tally nickte abermals, schwieg aber weiter.
»Auch Karan hat nachgedacht«, sagte Karan plötzlich.
»Über das, was du ihm gesagt hast. Und über das, was ihm sein Sohn berichtete.«
Tally sah mit einer Mischung aus Schrecken und Zorn zu Jan hinüber. Sie hatte keinen Grund – schließlich war es nur natürlich, daß Jan seinem Vater von dem Zwischenfall vor Beits Quartier erzählt hatte – aber sie nahm es ihm übel wie eine persönliche Beleidigung. Es war ihr peinlich, ohne daß sie selbst sagen konnte, warum.
»Du bist fremd in dieser Welt«, fuhr Karan fort, als sie keinerlei Anstalten machte, das Gespräch von sich aus fortzusetzen. »Du kommst aus dem Süden, aus den Ländern jenseits der großen Wüste. Der Schelf ist eine fremde Welt für dich. Du verstehst nichts. Du begreifst nichts. Alles erschreckt dich. Dabei ist er ein Stück deiner Welt. Wenn du nicht einmal hier leben kannst, wie kannst du es dann im Schlund?«
Tally sah ihn scharf an, schwieg aber weiter.
»Aus diesem Grund«, sagte Karan, »hat Karan beschlossen, dir nicht zu helfen. Er wird dir den Weg nicht zeigen. Es wäre dein Tod.«
»Und wenn ich dich zwinge?« fragte Tally ruhig. Jan spannte sich, aber sein Vater brachte ihn mit einer raschen, fast nicht wahrnehmbaren Bewegung zur Ruhe.
»Wie?« fragte er.
»Ich könnte dich töten, wenn du es nicht tust«, sagte Tally.
Karan lächelte. »Nein«, sagte er. »Das würdest du nicht tun.«
»Bist du sicher?«
»Karan ist sicher«, antwortete Karan. »So sicher, daß er dich bittet, noch einige Tage hier bei ihm zu bleiben.«
»Warum sollte ich das tun?« fragte Tally zornig. »Ich habe genug Zeit verloren.«
»Um dich zu erholen«, antwortete Karan. »Dein Körper braucht Ruhe. Und du weißt viele Dinge, die Karan interessieren. Du könntest mit ihm reden. Er lebt von Informationen.«
Tally dachte an das leichenhäutige, sabbernde Ding draußen in seinem Verschlag. Ganz leicht wurde ihr übel. Oh ja, sie konnte sich vorstellen, daß Karan von Informationen lebte. Jetzt, wo sie wußte, wo er sie unterbrachte.
»Er bezahlt gut«, fuhr Karan fort. »Wissen gegen Wissen.«
»Wissen gegen Wissen?« Tally schnaubte. »Was könntest du mir bieten, alter Mann? Das, was ich von dir will –«
»Kein Wissen über den Schlund«, unterbrach sie Karan. »Doch sonst alles. Viel, was wertvoll für dich sein kann. Bedenke, wie Jan dich fand. Fast wärest du gestorben, aus reiner Unwissenheit. Vielleicht ist Karans Sohn das nächste Mal nicht da, um dir beizustehen. Der Weg zurück in deine Heimat ist weit und voller Gefahren. Karan kennt andere Wege.«
Tally überlegte einen Moment. Ganz impulsiv hatte sie eher Lust, Karan den Rest ihrer Mahlzeit ins Gesicht zu schütten, als ein Geschäft mit ihm einzugehen. Aber sie brauchte ihn, ihn und sein Wissen. Und er hatte recht. Ohne Jan wäre sie vielleicht so lange ziellos durch die Stadt geirrt, bis Angellas Männer sie geschnappt und getötet hätten. Im Grunde, dachte sie niedergeschlagen, war ihre Reise nach Schelfheim zu einem Fiasko geworden, einer Flucht, die in der ersten Minute begonnen und bis jetzt nicht wirklich aufgehört hatte, und...
... und plötzlich wußte sie, was sie tun mußte. Der Gedanke überfiel sie mit solcher Wucht, daß sie an sich halten mußte, ihn nicht vor lauter Verblüffung gleich auf der Stelle laut auszusprechen. Oder zu hastig in die Tat umzusetzen. Und er war so einleuchtend, daß sie sich fragte, warum beim Schlund sie zwei volle Tage gebraucht hatte, darauf zu kommen.
Gezwungen ruhig wandte sie sich an Jan. »Dieses Mädchen«, begann sie. »Angella...«
Jan sah auf. »Mädchen?« fragte er mit gerunzelter Stirn. »Ich wüßte eine Menge Bezeichnungen, die besser auf sie passen.«
Tally schnitt ihm das Wort mit einer ungeduldigen Geste der Hand ab. »Sie lebt«, sagte sie. »Stimmt das?« Jan nickte. Er wirkte betrübt. »Ich fürchte, ja«, antwortete er. »Du hättest gründlicher zustoßen sollen; am besten ein dutzendmal. Mein Vater hat vollkommen recht – du bist tot, wenn du dieses Haus verläßt. Angellas Männer durchsuchen die ganze Stadt. Und wenn sie dich finden, wirst du dir wünschen, niemals geboren zu sein.«
»Ich kann nicht hierbleiben, bis sie an Altersschwäche stirbt«, sagte Tally.
»Natürlich nicht. Die Aufregung wird sich legen. Wahrscheinlich schon in ein paar Tagen. Aber im Moment wäre es gefährlich für dich, dich draußen sehen zu lassen. Für uns übrigens auch«, fügte er hinzu. »Sie ist nachtragend, weißt du? Wenn sie erfährt, daß wir dir geholfen haben...« Er sprach nicht weiter, sondern fuhr sich bezeichnend mit dem Zeigefinger an der Kehle entlang und grinste.
Tally tat so, als dächte sie einen Moment lang angestrengt nach. Dann nickte sie. »Vielleicht habt ihr recht«, sagte sie. »Aber ich bin nicht allein. Hrhon wird nervös werden, wenn er nichts von mir hört.« Karan schwieg, und Tally fügte hinzu: »Er könnte beginnen, sich Sorgen um mich zu machen. Oder gar glauben, daß ich in Gefahr bin. Hast du schon einmal einen wütenden Waga erlebt, Karan?«
»Kein Fischgesicht betritt Karans Haus«, sagte der Alte.
»Das ist auch nicht nötig«, sagte Tally rasch. »Vielleicht könnte Jan ihm eine Nachricht überbringen?«
»Warum nicht?« Jan zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht genau, wo er ist, aber ich werde ihn finden. Wagas sind selten hier. Sie fallen auf. Was soll ich ihm sagen?«
»Es würde nicht viel nutzen, ihm etwas zu sagen«, sagte Tally. Sie zögerte einen ganz kurzen Moment. Karan war nicht dumm. Sie mußte vorsichtig sein. Ein falsches Wort, und sie verspielte ihre letzte Chance. »Er würde denken, du lügst«, fuhr sie fort. »Er würde dir nicht glauben. »Ich... muß beweisen, daß es mir wirklich gut geht.«
»Und wie?« Jan sah sie an, sehr aufmerksam, aber ohne die geringste Spur von Mißtrauen.
»Ich werde dir eine schriftliche Nachricht für ihn mitgeben«, sagte Tally. »Nur ein paar Zeilen, die beweisen, daß ich lebe und nicht gefangen gehalten werde. Und es wäre gut, wenn du sie ihm bald bringst«, fügte sie hinzu.
»Bevor er auf die Idee kommt, selbst hierherzukommen und nachzusehen, wie es mir geht.«
Jan stand auf. »Ich hole Papier und Feder«, sagte er.
Tally verschlief den halben Nachmittag, aber als sie erwachte – es begann bereits dunkler zu werden –, fühlte sie sich müder als zuvor. All die kleinen Verletzungen und Wunden aus dem Kampf mit Angella und ihren Männern (und vor allem die, die sie sich selbst beim Sprung durch das Fenster zugezogen hatte – es waren mehr) schmerzten jetzt heftiger als am Vortage. Sie konnte ihren Arm kaum bewegen. Als sie aufstand und zu Karan und seinem Sohn zurückging, fühlte sie sich wie eine alte Frau.
Karan hatte recht gehabt, dachte sie matt. Es würde noch Tage dauern, ehe sie sich auch nur halbwegs wieder erholt hatte. Einen zweiten Kampf wie den mit Angella würde sie nicht durchstehen.
Das Abendessen verlief so einsilbig wie das zum Mittag. Jan war nicht da, und Karan, der ganz genau zu spüren schien, wie wenig Tally nach Reden zumute war, bemühte sich nach Kräften, sie zu ignorieren. Als sie fertig waren, verließ er wortlos das Zimmer, und Tally war allein.
Die Dunkelheit kroch in den Raum. Es war das erste Mal, daß Tally einen Sonnenuntergang über dem Schlund beobachtete, und es war ein grandioser Anblick: grandios, aber auch erschreckend, weil er ihr deutlich machte, wie winzig und unwichtig sie war.
Die Wolken, über denen Karans Haus schwebte, begannen sich ganz allmählich grau, dann schwarz zu färben. Tally konnte beobachten, wie das Licht erlosch, fünf oder mehr Meilen unter ihnen, während der Himmel darüber noch von strahlendem Blau war. Fünf Meilen unter ihr, in der Welt unter der Welt, unter einem Himmel, der seinerseits von einem zweiten Himmel überspannt wurde, war bereits Nacht.
Die Vorstellung verwirrte Tally. Sie hatte das, was Karan ihr erzählt hatte, längst noch nicht in letzter Konsequenz begriffen, und vielleicht würde sie es niemals. Sie fragte sich, ob es dort unten denkendes Leben gab, und wenn ja, ob es die Titanenklippe, die seine Welt an allen Seiten umschloß, wohl mit der gleichen Ehrfurcht betrachtete wie die Bewohner des Hochlandes den Schlund.
Die Vorstellung ließ sie schwindeln – eine Wand, die eine ganze Welt umschloß, an allen Seiten, so hoch, daß der Blick ihr Ende nicht erreichen konnte. Sie kam sich klein vor, vollkommen unwichtig. Was sie tun wollte, war so lächerlich. Welche Rolle spielte es, ob sie lebte oder nicht?
Sie spürte einen schwachen Anflug von Zorn; denn sie begriff, daß Karan ihr wohl all dies aus genau jenem Grund erzählt hatte: damit sie diese Gedanken dachte und vielleicht in letzter Konsequenz von ihren Plänen abließ.
Sie stand auf. Sie war müde genug, sich auf der Stelle wieder niederlegen und weiterschlafen zu können, aber sie wollte es nicht. Zeit war kostbar.
Auf der anderen Seite – was konnte sie tun? Hier herumsitzen und sich selbst zerfleischen? Oder mit Karan reden, was nichts weiter als neuerliche Enttäuschung einbringen mußte?
Dann fiel ihr ein, daß es noch jemanden gab, mit dem sie reden konnte. Auch diese Vorstellung erfüllte sie nicht unbedingt mit Freude, aber vielleicht war es besser, als hier zu sitzen und zu warten, bis Karans Gift wirkte. Sie stand auf, ging zu Beit zurück und starrte den verkrüppelten Erinnerer fast fünf Minuten lang wortlos an, ehe sie sich so weit überwinden konnte, auf ihn zuzutreten und die Hand auf seine Schulter zu legen, wie sie es bei Jan gesehen hatte.
Die Augen des Erinnerers öffneten sich langsam. Sein Gesicht verzog sich zu dem schon bekannten, schrecklichen Idiotenlächeln, aber sein Blick blieb klar.
»Ich bin Tally«, sagte Tally. »Du erkennst mich? Antwort.«
»Tally«, wiederholte Beit. »Frageberechtigt bei allen Informationen, die nicht ausdrücklich dem Bereich geheim unterliegen.«
Tally schauderte. Beits Art zu sprechen entsetzte sie. Sie hatte das Gefühl, mit einer Maschine zu reden. Aber vor ihr saß ein lebender Mensch. Trotzdem schob sie ihre Hemmungen beiseite, setzte sich etwas bequemer hin und begann:
»Der Schlund, Beit. Alle Informationen. Antwort.«
»Informationen unterliegen zum Teil der Geheimhaltung«, antwortete Beit.
»Dann die, die du herausgeben darfst«, sagte Tally. Als Beit nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Antwort.«
»Der Schlund«, begann Beit. »Volkstümlicher Begriff für den Rand des ehemaligen Kontinentalschelfs. Mittlere Höhe dreieinhalb Meilen, größte bekannte Tiefe sieben Meilen. Auf seinem...«
Und Beit erzählte. Er sprach eine Stunde lang, ohne zu stocken, und das allermeiste von dem, was Tally hörte, bestand aus unverständlichen Zahlen und Begriffen. Begriffen aus einer Wissenschaft, die so tot war wie die Völker, denen sie gedient hatte, Zahlen aus einer Mathematik, von der Tally niemals gehört hatte. Sie verstand wenig, nichts von den Daten und Maßen, die Beit hervorsprudelte, und wenig von den Fakten; noch viel weniger von dem, was sich aus dem Gehörten ergeben mochte. Aber was sie verstand, erschreckte sie zutiefst. Vielleicht, weil es so viel war. Für sie – wie für fast alle Menschen und nicht-Menschen – war der Schlund ein Geheimnis, das größte und düsterste Mysterium der Welt. Die Hölle. Niemand wußte etwas darüber.
Aber das Wissen war da. Und es war nicht einmal geheim. Jan hatte Beit ja in ihrem Beisein verboten, ihr irgendwelche Geheimnisse anzuvertrauen, und Tally hatte es nicht vergessen. Das war es, was sie am meisten entsetzte: das Große Geheimnis war keines. Es lag da, offen und für jedermann greifbar – und doch schien es, als interessiere sich niemand wirklich dafür.
Länger als eine Stunde hörte Tally dem Erinnerer zu, und selbst als sie sich schließlich erhob und Beit mit einem scharfen »Abbruch« zum Verstummen brachte, schien er noch lange nicht am Ende seines Wissens angekommen zu sein.
Aufs tiefste verwirrt zog sie sich in ihr Zimmer zurück und legte sich angezogen aufs Bett. Zwei Stunden nach Sonnenuntergang, hatte in ihrem kurzen Brief an Hrhon gestanden. Sie hatte keine Möglichkeit, die Zeit zu messen – was ihr wie eine Stunde vorgekommen war, mochte viel länger, aber auch viel kürzer sein. Aber so oder so konnte nicht mehr allzuviel Zeit vergehen, bis der Waga kam.
Tally lächelte in stummer Vorfreude auf die unangenehme Überraschung, die sie sich für Karan und seinen Sohn ausgedacht hatte. Die Töchter des Drachen waren nicht die einzigen, die sich auf das Spinnen von Intrigen verstanden.
Aber als dann plötzlich unter ihr im Haus Lärm laut wurde, da war es nicht der Waga, der kam, sondern Weller. Sie erkannte seine Stimme, noch ehe sie die Treppe hinunter und ins Kaminzimmer geeilt war, und obwohl sie die Worte nicht verstand, spürte sie doch die Aufregung, die aus ihnen sprach.
Als sie ins Zimmer trat, verstummte Weller mitten im Wort und sah sie mit einer sonderbaren Mischung aus Zorn und Schrecken an. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und sein Atem ging sehr schnell. Tally begriff, daß er über eine lange Strecke hinweg gelaufen sein mußte.
Ganz instinktiv sah sie auch Jan und dessen Vater an. Karans Gesicht wirkte wie eine Maske aus Falten und grauem Stein, wie immer, aber auf Jans Zügen war deutliche Bestürzung abzulesen; wenn auch keine Sorge oder gar Angst. Welche Botschaft Weller auch immer brachte, dachte Tally, sie hatte Karan und seinen Sohn überrascht, aber nicht erschreckt.
»Was ist geschehen«, begann sie übergangslos.
»Das fragst du?« Weller schnaubte. »Die halbe Stadt steht Kopf«, fuhr er zornig fort. »Deinetwegen. Sie suchen dich überall. Die Belohnung ist verdoppelt worden. Jandhi selbst leitet die Suchtrupps.«
»Und deshalb bist du zurückgekommen?« fragte Tally spöttisch. »Willst du dir die Belohnung verdienen, oder mich warnen? Das eine ist nicht möglich, das andere nicht nötig.«
Weller machte eine ärgerliche Handbewegung. »Hör endlich auf, die Naive zu spielen«, sagte er. »Ich...« Er brach ab, seufzte, und ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. Auf einen Wink Karans hin brachte Jan ihm einen Becher Wein, den er mit tiefen, gierigen Zügen leerte. Erst dann sprach er weiter.
»Es ist schlimmer, als du denkst, Tally«, sagte er ernst.
»Sie wissen alles. Ich mietete mir einen Träger, um zurückzureiten, aber ich bin nicht einmal bis zur Hälfte gekommen. Sie suchen dich – und sie suchen auch mich. «
Es dauert einen Moment, bis Tally begriff. »Dich?« vergewisserte sie sich.
Weller nickte. »Ja. Ich habe einen Vertrauten in der Garde, der mir alles erzählt hat. Wäre er nicht gewesen, wäre ich ihnen direkt ins offene Messer gelaufen. Sie haben die Brücke abgeriegelt, und eine ganze Hundertschaft Gardisten hat meine Höhle oben in der Klippe besetzt.«
»Aber wie –«, begann Jan, wurde aber sofort wieder von Weller unterbrochen.
»Ich bin noch nicht fertig, Jan. Sie wissen alles. Wenn mein Freund nicht gelogen hat – und warum sollte er?
- dann wußten sie, daß wir kommen, noch bevor wir Schelfheim auch nur erreichten.«
Tally sah ihn ungläubig an, aber Weller nickte nur, um seine Worte zu bekräftigen. »Sie kennen dich, sie kennen Hrhon, und sie wissen von mir«, sagte er noch einmal.
»Frag' mich nicht, woher, aber sie wissen alles.« Er grinste schief. »Es war kein Zufall, daß die Stadtgarde auftauchte, als Barok und seine Klorschas uns gestellt hatten, Tally. Sie haben auf uns gewartet. Wäre das Feuer nicht ausgebrochen, wären wir nicht einmal in die Stadt hineingekommen. Wenn ich nur wüßte, wie sie es erfahren haben.«
»Das kann ich dir beantworten«, murmelte Tally. Weller blinzelte überrascht, aber Tally nickte abermals. Es war so klar, daß sie sich fragte, warum sie nicht schon vor Tagen von selbst darauf gekommen war. »Hrhon hatte recht«, sagte sie. »Erinnerst du dich, wie er reagiert hat, in deiner Höhle?«
Weller nickte verwirrt. Gleich darauf schüttelte er den Kopf. »Wieso?«
»Deine Hornköpfe«, erklärte Tally. »Er sagte, irgend etwas stimme nicht mit ihnen. Du hast ihm nicht geglaubt, und ich auch nicht. Aber es ist die einzige Erklärung. Niemand wußte, daß wir zu dir wollten, und niemand wußte, wann wir Schelfheim erreichen würden, nicht einmal ich selbst. Außer dir und mir wußten es nur die Termiten.«
»Aber das ist doch Unsinn«, sagte Weller. »Sie sind Tiere. Du sprichst von ihnen, als wären es denkende Wesen.«
»Manche Hornköpfe sind es«, sagte Tally.
Weller machte eine ärgerliche Handbewegung. »Das mag sein, aber nicht sie. Sie sind Tiere. Strohdumme Tiere.«
»Die man dressieren kann, nicht wahr?«
Diesmal war Wellers Selbstsicherheit nur noch gespielt, und noch dazu schlecht. »Sie arbeiten seit zehn Jahren für mich«, sagte er gepreßt. »Es ist... unmöglich, daß ich nichts gemerkt haben sollte.«
»Hast du selbst mir nicht erzählt, daß nicht alle deine Gäste in Schelfheim ankommen?« fragte Tally. »Wer weiß – vielleicht ist es kein so großer Zufall, wie du glaubst. Möglicherweise hat der Stadthalter das Netz weit genug gelassen, nur die wirklich großen Fische zu fangen.«
»Es ist trotzdem Unsinn«, beharrte Weller. »Selbst, wenn du recht hättest – sie hätte niemals vor uns in der Stadt sein können. Der einzige Weg außer dem, den wir gegangen sind, ist dreimal so lang. Und sie sind langsam.«
»Wer sagt, daß sie in die Stadt gehen mußten?« sagte Karan leise. »Karan hat von Hornköpfen gehört, die Gedanken lesen.«
»Das stimmt«, bestätigte Jan ernst. »Sie sind selten, aber es gibt Telepathen unter ihnen. Gezielte Mutationen. Die Feldherren des Ostens setzen sie ein, Nachrichten in Sekundenschnelle über gewaltige Entfernungen hinweg zu übermitteln.«
»Dann wissen sie alles«, murmelte Weller niedergeschlagen. »Du weißt, was das heißt? Ich kann nicht mehr zurück. Sieht so aus, als hättest du einen neuen Verbündeten, Tally. In Schelfheim kann ich mich nicht mehr sehen lassen.« Er blickte zu Karan auf. »Du wirst drei in den Schlund hinabführen müssen, Karan.«
»Karan führt niemanden in den Schlund«, sagte Karan ruhig.
Tally schnaubte. »Bist du so stur, oder verstehst du einfach nicht, Karan? Wenn sie alles wissen, dann wissen sie auch, daß ich hier bin. Auch du bist nicht mehr sicher.«
»Niemand wird Karan etwas zuleide tun«, beharrte Karan. »Du wirst gehen.«
»Natürlich«, sagte Tally rasch. »Aber ich würde mich nicht darauf verlassen, daß sie dann das Interesse an dir verlieren, Karan. Du –«
»Spar dir deinen Atem«, unterbrach sie Jan.
Tally fuhr ärgerlich herum. »Was soll das heißen?« fauchte sie. »Ich versuche dir und deinem sturen alten Vater das Leben zu retten, und du –«
»Du versuchst uns hereinzulegen«, sagte Jan, beinahe freundlich. Er kam auf sie zu, griff unter sein Wams und zog ein zusammengefaltetes Stück Papier hervor. Tally erkannte es als die Botschaft, die sie für Hrhon aufgeschrieben hatte.
»Du hast sie ihm nicht gebracht?« fragte sie verwirrt.
»Natürlich nicht«, antwortete Jan ungerührt. »Nicht, nachdem ich sie gelesen habe.« Plötzlich verdunkelte sich sein jugendlich glattes Antlitz vor Zorn. »Für wie dumm hältst du uns, Tally? Ich wurde schon mißtrauisch, als du nach Papier und Tinte fragtest. Aber als du in einer Sprache zu schreiben begannst, die niemand im Umkreis von tausend Tagesritten lesen kann, wußte ich Bescheid.« Er deutete eine spöttische Verbeugung an.
»Mein Kompliment, Tally. Der Plan war nicht schlecht. Niemand hier beherrscht die Schriftsprache der Waga. Du mußt lange gebraucht haben, sie zu lernen.«
»Niemand außer dir, nicht?« sagte Tally eisig.
Jan verneinte. »O nein. Aber du hast Beit vergessen. Er kann sie.« Er zuckte die Achseln und knüllte das Pergament zu einem Ball zusammen. »Ich ließ sie mir von ihm übersetzen, ehe ich ging«, sagte er. »Wie gesagt – mein Kompliment. Möglicherweise wären Vater und ich sogar darauf hereingefallen, wenn dein schuppengesichtiger Freund in ein paar Minuten hier aufgetaucht und von Soldaten erzählt hätte, die ihn verfolgen.«
Karan starrte sie an. Tally hielt seinem Blick einen Moment lang stand, dann fuhr sie ärgerlich herum und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Verdammt, begreift ihr denn nicht?« schrie sie. »Wenn Jandhi Hornköpfe in ihrem Dienst hat, die Gedanken lesen können, weiß sie wirklich, wo ich bin! Und daß ihr mir geholfen habt!«
»Wenn, ja«, bestätigte Karan ungerührt. »Aber das hat sie nicht. Wäre es so, wäre sie längst hier. Du vergißt, daß du seit drei Tagen Karans Gast bist.« Er hob rasch die Hand, als Tally auffahren wollte. »Überlege selbst, Tally – Weller hat Karan erzählt, wie du mit Jandhi zusammengetroffen bist. Sie wird Verdacht geschöpft haben, doch wäre dieser Verdacht Gewißheit gewesen, wäret ihr niemals hierher gekommen.«
Er schüttelte abermals den Kopf, um seine Worte zu bekräftigen. »Karan nimmt dir den Versuch nicht übel, ihn zu überlisten«, sagte er ernst. »Er wäre überrascht, hättest du es nicht getan, denn er weiß, daß dir viel daran liegt, in den Schlund zu gehen. Doch du kannst nicht hier bleiben. Wenn es die Töchter des Drachen persönlich sind, die dich suchen, so werden sie hierher kommen, früher oder später, und in einem hast du recht – es wäre um Karan geschehen, fänden sie dich bei ihm. Bist du nicht da, ist er nicht in Gefahr.«
»Ich hoffe, du täuschst dich nicht«, sagte Tally, sehr scharf, aber ohne die mindeste Spur einer Drohung.
»Was soll geschehen?« fragte Karan ruhig. »Sie werden kommen und nach dir fragen, und Karan wird sagen, was war – daß eine verletzte Frau bei ihm war und um Hilfe bat. Er wird sagen, daß sie ihn bat, sie in den Schlund zu führen, und daß er ihre Bitte abschlug. Sie werden wieder gehen.«
»Und... wir?« fragte Weller.
»Karan kennt Wege aus der Stadt, die selbst den Töchtern des Drachen verborgen sind«, erwiderte Karan ernst. »Er wird euch einen davon zeigen. »Ihr werdet in Sicherheit sein, lange bevor sie kommen.«
»Sie werden dich töten, Karan«, sagte Tally ernst.
»Glaube mir. Du kannst sie nicht belügen. Sie... sie haben Hornköpfe, die das merken. Ich selbst bin einem solchen Wesen begegnet.«
Aber Karan schien ihre Worte nicht zu hören. Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Du wirst gehen und dein Freund auch. Es bleibt euch überlassen, ob ihr Karans Hilfe annehmen wollt. Aber gehen werdet ihr. Jetzt.«
Tally preßte wütend die Lippen aufeinander. Sie wußte, daß ihre letzte Chance dahin war, die letzte Möglichkeit, Karan zu überzeugen, schlimmstenfalls zu zwingen, wenn sie auch selbst nicht wußte, wie. Aber nicht einmal mehr dieser letzte Ausweg war ihr geblieben.
Tally tauschte einen fast verzweifelten Blick mit Weller. Aber auch er war so ratlos wie sie. Zum erstenmal, seit sie zusammengetroffen waren, glaubte sie wirklich Angst in einem Blick zu erkennen.
Sie wollte noch etwas sagen, sich in einem letzten, verzweifelten Versuch an Karan wenden, von dem sie schon vorher wußte, daß es vergebens sein würde, aber in diesem Moment erscholl über ihren Köpfen ein splitterndes Krachen und Bersten, und Augenblicke später hörten sie schwere, polternde Schritte die Treppe hinunterkommen.
Karan rührte sich nicht, aber Jan und Weller fuhren wie ein Mann herum und griffen nach ihren Waffen, und auch Tally legte die Hand auf das Schwert, während sie sich zur Tür wandte.
Einen Augenblick später erschien ein vierhundert Pfund schweres Paket aus Muskeln und Panzerplatten am Ende der Treppe, walzte wie eine lebende Lawine auf Tally zu und begann hektisch mit den Armen zu wedeln, noch ehe sie vollends zum Stehen gekommen war.
»Hrhon!« rief Tally überrascht. »Was –«
»Ghefahr!« unterbrach sie der Waga. »Du mussst fliehehn! Sssie khommen!«
»Was tut dieses Ding in Karans Haus?« fragte Karan scharf. »Schick es fort, Tally! Karan befiehlt es!«
»Gut gespielt«, fügte Weller hinzu. »Kompliment, Waga.«
Tally seufzte nur.
Hrhon starrte sie der Reihe nach aus seinen kleinen, ausdruckslosen Schildkrötenaugen an. »Ssseid ihr ahllhe vohn Sssinnen?« lispelte er. »Ihr ssseid ihn Gehefhar! In whenigen Augenblicken isst die Ssstadtgarde hier: Isss konnte sssie nissst aufhhalten. Esss sind sssu vhiele!«
»Spar dir deinen Atem, Hrhon«, sagte Tally lächelnd.
»Karan hat den Schwindel durchschaut. Er –« Sie verstummte mitten im Wort, starrte Hrhon einen Herzschlag lang verstört an und fuhr dann mit einem Ruck um.
»Was soll das heißen, Jan?« fragte sie. »Ich denke, du hast ihm meine Nachricht nicht gebracht?!«
Jan antwortete nicht. Statt dessen blickte er verdutzt von dem Waga auf das zu einem Ball zusammengeknüllte Pergament, das er noch immer in der linken Faust hielt, und wieder zurück.
»Whiessso Ssswindedl?« zischelte Hrhon aufgeregt.
»Versssteht ihr dhenn nhicht? Sssie kohmmen!«
»Beim Schlund, ich glaube, das Fischgesicht spricht die Wahrheit«, flüsterte Weller. Er war noch blasser geworden.
Und wie, um seine Worte zu unterstreichen, erscholl in diesem Moment zum zweiten Mal ein ungeheueres Krachen und Bersten vom oberen Ende der Treppe. Kalk und Staub und Steintrümmer polterten die Stufen herunter, gefolgt von einem schwarzen Alptraum aus schnappenden Kiefern und wie rasend wirbelnden Beinen. Es war Hrhon, der der Tür am nächsten stand, und es war auch Hrhon, der als erster reagierte. Mit einer Schnelligkeit, die selbst Tally verblüffte, fuhr er herum, stürmte dem Hornkopf entgegen und hob die Arme. Seine Faust fuhr mit vernichtender Kraft zwischen den zuschnappenden Mandibeln des Rieseninsekts hindurch, krachte auf seinen Schädel und zertrümmerte ihn. Der Hornkopf schlitterte noch ein Stück weiter, getragen vom Schwung seiner eigenen Bewegung, und brach tot in der Tür zusammen. Sein riesiger, schwarzglänzender Panzerleib ragte halb ins Zimmer hinein und blockierte den Durchgang. Aber nicht weit genug, daß Tally und die anderen nicht die schwarzglänzenden Ungeheuer erkennen konnten, die hinter ihm herangelaufen kamen. Weller fluchte ungehemmt, zog unsinnigerweise sein Schwert aus dem Gürtel und wich rückwärts gehend bis zur gegenüberliegenden Wand zurück. Auch Jan zog seine Waffe, während sein Vater weiter reglos stehenblieb. Nicht einmal auf seinem Gesicht zeigte sich irgendeine Reaktion auf den plötzlichen Überfall.
Aus dem Treppenschacht erscholl ein schriller, pfeifender Laut, und irgend etwas Schwarzes, Glänzendes, versuchte über den toten Hornkopf hinwegzukriechen und sich durch den schmalen Spalt zu zwängen, der zwischen seinem Rücken und der Decke blieb. Hrhon wartete, bis der Hornkopf wie ein Korken im Flaschenhals in der Lücke steckte. Dann erschlug er ihn. Aber Tally und die anderen wußten sehr wohl, daß sie nur Sekunden gewonnen hatten. Der kurze Blick, den sie in den Schacht hineingeworfen hatten, hatte gezeigt, daß er von Chitin erfüllt war.
Ein harter Ruck ging durch den Leib des erschlagenen Hornkopfes. Die erschlafften Antennen des Rieseninsektes erzeugten raschelnde, unangenehme Geräusche auf dem steinernen Boden, als der Kadaver ein Stückweit nach hinten gezerrt wurde.
»Halt sie auf, Hrhon!«, befahl Tally hastig. Während Hrhon mit einem kampflustigen Zischeln nach dem Schädel des toten Hornkopfes griff und sich mit aller Macht dagegenstemmte, wandte sich Tally an Karan:
»Gibt es noch einen Ausgang aus diesem Haus?«
Karan nickte. »Einen geheimen Gang direkt in die Wand hinein. Aber sie werden ihn finden. Es sei denn...«
»Es sei denn was?« fragte Tally ungeduldig, als Karan nicht weitersprach.
Aber der Alte antwortete nicht, sondern drehte sich mit einem Ruck herum und wies auf einen Vorhang, dicht neben der Stelle, an der Weller versuchte, sich in den gewachsenen Felsen hineinzupressen. »Dort entlang. Und schnell«, befahl er.
Die beiden letzten Worte wären kaum mehr nötig gewesen – Weller hatte den Vorhang bereits zur Seite gerissen und stürmte hindurch, noch bevor Karan sie vollends zu Ende sprechen konnte. Und auch Karan selbst und sein Sohn folgten ihm mit großer Hast, während sich Tally noch einmal zu Hrhon herumdrehte. Der Anblick war beinahe lächerlich – der Waga stemmte sich mit aller Kraft in den Boden und versuchte, den Kadaver des Hornkopfes festzuhalten, an dem unsichtbare Gewalten zerrten. Der Chitinpanzer des Rieseninsekts ächzte hörbar. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, dachte Tally, bis das bizarre Tauziehen beendet war – einfach, weil der Hornkopf in Stücke gebrochen war.
»Hrhon!« befahl sie scharf. »Hierher!«
Der Waga gehorchte sofort. Der tote Hornkopf rutschte ein gutes Stück zurück und kam wieder zur Ruhe, zitternd und bebend, als wäre mit einem Male wieder Leben in ihm. Tally wechselte ihr Schwert von der Rechten in die Linke und streckte fordernd die freie Hand aus. Hrhon verstand sofort. Seine Linke verschwand in seinem Panzer, etwas knisterte, und Augenblicke später kam die Pranke des Waga erneut zum Vorschein. Aber die war nicht mehr leer, sondern hielt nun eine der schrecklichen Drachenwaffen, die sie im Turm erbeutet hatten.
Obwohl im Moment nichts so kostbar war wie Zeit, zögerte Tally sichtlich, danach zu greifen. Sie war sich der Gefahr durchaus bewußt, die sie einging, benutzte sie diese Waffe. Bei dem Kampf im Slum war das Risiko gering gewesen, und sie hatte nicht gewußt, gegen wen sie kämpfte. Jetzt aber... sie würde den Kampf auf ein neues Niveau ziehen, wenn sie Jandhi zeigte, mit welch harten Bandagen sie zu kämpfen bereit war.
Aber dann schob sie die Bedenken beiseite, gebot Hrhon mit einer Kopfbewegung, den beiden anderen zu folgen, und richtete die Waffe auf den Treppenschacht.
Der Hornkopf blockierte den Eingang noch immer, aber über seinen Rücken hinweg tasteten bereits armdicke glänzende Dinge, und plötzlich erscholl ein fürchterliches, mahlendes Geräusch; der Schädel des Hornkopfes brach ab und kollerte ein Stückweit auf Tally zu, und über seinen zerborstenen Panzer hinweg krabbelte eine zwei Meter lange, spinnenähnliche Scheußlichkeit, bewaffnet mit gleich drei Schwertern und Mordlust in den Augen. Tally drückte ab.
Der Hornkopf verschwand, und mit ihm die Tür. Eine brüllende, weißglühende Feuerzunge schoß in den Treppenschacht hinauf, versengte alles, was lebte, und ließ Stein knackend zerspringen. Das kampflustige Pfeifen der Hornköpfe wandelte sich in einen Chor schriller Todesschreie.
Tally feuerte noch einmal, fuhr herum und stürmte hinter den anderen her. Der Boden unter ihren Füßen zitterte. Eine unsichtbare Hitzewelle folgte ihr, versengte ihren Rücken und ließ den Vorhang auflodern. Das Halbdunkel um sie herum wurde vom zuckenden Rot jäh aufflammender Brände vertrieben.
Der Gang endete nach weniger als einem Dutzend Schritten vor einem niedrigen, mit einer gewaltigen Metallplatte verschlossenen Durchgang. Von Weller und Jan war keine Spur mehr, aber Karan und der Waga erwarteten sie neben dem Fluchttunnel. Zum erstenmal, seit sie Karan kennengelernt hatte, war seine Selbstsicherheit erschüttert. Sein Blick flackerte, als er die Waffe in ihrer Hand sah.
»Tut mir leid«, sagte Tally lächelnd. »Ich mußte dein Haus ein wenig ansengen. Aber die Typen werden allmählich lästig.«
Karan blieb ernst. »Das macht nichts«, sagte er, und es hörte sich an, als meinte er es auch so. Er deutete auf den Stollen. »Geht dort hinein und lauft bis zur ersten Biegung. Dort wartet ihr auf Karan.«
Tally wollte widersprechen, zuckte aber dann nur mit den Achseln und duckte sich hinter Hrhon in den niedrigen Gang. Irgendwo vor ihnen glomm das trübe Auge einer Fackel, aber der Gang wäre auch sonst nicht dunkel gewesen – an den Wänden fluoreszierten die gleichen leuchtenden Schmierpflanzen, wie sie sie im Turm in der Wüste gesehen hatten. Tallys Hochachtung vor Karan stieg.
So schnell sie konnten, hielten sie auf die Fackel zu. Der Gang erweiterte sich nach wenigen Schritten, so daß auch Hrhon aufrecht gehen konnte und sie schneller vorankamen. Nach wenigen Augenblicken schlossen sie zu Jan und Weller auf, die vor der Gangbiegung halt gemacht hatten.
»Was ist passiert?« empfing sie Weller. »Wo ist Karan, und –« Er verstummte. Seine Augen wurden groß, als er die Waffe in Tallys Hand sah.
»Du... du hast mich belogen!« sagte er vorwurfsvoll.
»Habe ich das?«
Weller deutete auf Tallys Hand. »Du hast behauptet, du hättest sie verloren!« sagte er.
»Das stimmt auch«, erwiderte Tally ungerührt. »Du hast mich niemals gefragt, ob ich noch eine zweite besitze, oder?«
Weller schluckte hörbar, starrte Tally finster an und atmete tief ein, beließ es aber dann bei einem resignierenden Seufzen. »Hast du noch mehr solcher Überraschungen auf Lager?« fragte er.
Tally nickte. »Ja. Aber wenn ich sie dir verriete, wären es keine Überraschungen mehr, oder?« Sie lächelte kalt, drehte sich mit einem Ruck herum und sah zu Karan zurück, der nun ebenfalls nachkam; schnell, aber ohne zu rennen.
»Was hast du getan?« fragte sie.
»Nichts«, antwortete Karan. »Noch nichts. Aber sie werden Karans Haus nicht ungestraft angegriffen haben, das schwört er. Kommt mit. Karan braucht eure Hilfe.«
Sie gingen weiter. Der Gang führte für zehn, zwölf Schritte schräg nach oben und endete jäh vor einer nur drei Stufen zählenden Treppe, hinter der sich eine weitere, aus massivem Eisen errichtete Tür erhob. Karan löste einen kompliziert aussehenden Schlüssel vom Gürtel, sperrte das Schloß auf und winkte ihnen ungeduldig, nachzukommen.
Tally hatte mit einer Fortsetzung des Stollens gerechnet, vielleicht mit einem Kellerraum, einer Treppe – aber die Tür führte ins Freie hinaus. Über ihren Köpfen und an beiden Seiten erhob sich der in der Nacht schwarze Fels der Klippe, aber vor ihnen, nur ein halbes Dutzend Schritte entfernt, war das Nichts. Sie standen in einer nach Norden offenen Höhle.
Tally schauderte. Was hatte Karan vor?
Aber der Alte gab ihr keine Gelegenheit, ihre Sorge in irgendeine Frage zu kleiden. Hastig schlurfte er zum Rand der Felsplatte, ließ sich auf ein Knie herabsinken und winkte Tally befehlend, ihm zu folgen. Mit klopfendem Herzen gehorchte sie.
Der Anblick war so, wie sie erwartet hatte – nur hundertfach schlimmer. Sie kniete über dem Nichts, aber anders als auf Karans Balkon gab es hier kein schützendes Geländer. Direkt unter ihr gähnte der Schlund. Zum allerersten Male in ihrem Leben begriff sie die wahre Bedeutung dieses Namens.
»Sieh!« Karans Hand wies schräg nach unten. Mit wild hämmerndem Herzen beugte sich Tally weiter vor und erkannte, daß sie sich nur wenige Meter oberhalb seines Hauses befanden. In der Schwärze der Nacht wirkte es mehr denn je wie ein Schwalbennest, das direkt an den Felsen geklebt worden war.
»Sie haben es gewagt«, sagte Karan. Seine Stimme bebte. »Sie haben das heilige Gesetz der Gastfreundschaft gebrochen, das in Karans Haus gilt. Sie werden dafür bezahlen.«
Tally sah den Alten verwirrt an. Was sie in Karans Stimme gehört hatte, war eindeutig Haß – ein Gefühl, das sie ihm bis zu diesem Augenblick nicht einmal zugetraut hatte. Und doch konnte sie ihn verstehen, als sie abermals zum Haus hinabsah. Durch die Fenster lohte roter Flammenschein, und davor bewegten sich Schatten. Sehr viele, sehr schwarze Schatten. Das Klicken und Rascheln horngepanzerter Glieder war selbst hier oben deutlich zu vernehmen.
Karan stand auf und ging mit zwei schnellen Schritten zur rechten Wand der Höhle. Tally sah erst jetzt, daß dort ein gewaltiger, eiserner Hebel aus dem Fels ragte.
»Waga!« befahl Karan scharf. »Hilf mir!«
Hrhon sah sie fragend an. Tally nickte. Schwerfällig ging Hrhon auf Karan zu, drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück und legte seine mächtigen Pranken auf den Hebel, bewegte ihn aber noch nicht.
»Was tust du, Karan?« fragte Tally.
»Karan tut, was Karan tun muß«, antwortete der Alte entschlossen. »Sie brechen die uralten Gesetze. Sie wollen Krieg. Sie werden ihn bekommen. Zieh den Hebel, Waga!«
Hrhon gehorchte. Seine gewaltigen Muskeln spannten sich. Der Hebel ächzte hörbar, verbog sich knirschend – und senkte sich mit einem Ruck nach unten.
Im ersten Moment geschah nichts. Dann glaubte Tally, irgendwo tief unter ihren Füßen ein mächtiges Knirschen und Rumoren zu hören, und plötzlich begann der buckelige Umriß des Hauses vor ihren Augen zu verschwimmen. Holz splitterte. Irgendwo zerbrach etwas, und die Nacht sog die Trümmer des schmalen Stegs auf, der zu Karans Haus führte.
Dann stürzte das gesamte Gebäude ab.
Es ging sehr schnell, und beinahe lautlos, aber Tally sah alles mit phantastischer Klarheit. Karans Haus zerbrach wie ein Ei, das von einem Faustschlag getroffen wird. Gewaltige Stücke lösten sich aus seinen Wänden, dann beugte sich seine gesamte westliche Hälfte grotesk langsam zur Seite, kippte in den Schlund und zerbrach in Tausende einzelner Trümmerstücke, ehe es vollends in der Nacht verschwand.
Irgendwo zwischen den Trümmern des verbliebenen Restes blitzte es auf. Ein kurzer, sonderbar trockener Knall wehte zu Tally empor, und plötzlich quoll eine Wolke aus Feuer und Rauch und zerfetzten Chitinleibern und Trümmern aus der Klippe. Ein ungeheuerliches Donnern erscholl, das noch am anderen Ende Schelfheims zu hören sein mußte.
Als es verklang, war von Karans schwebendem Haus keine Spur mehr geblieben. Wo es gewesen war, gähnte ein gewaltiges, schwarzverkohltes Loch in der Felswand. Tally stand langsam auf und drehte sich herum. Es war zu dunkel, als daß sie die anderen deutlicher denn als schwarze Schatten erkennen konnte, aber sie spürte den Schrecken, den Weller empfand, und die Betroffenheit, die von Jan Besitz ergriffen hatte. Unter ihnen war mehr zerstört worden als ein Haus. Viel mehr.
»Und nun?« fragte sie schließlich.
»Weiter«, antwortete Karan. »Dieser Ort ist nicht sicher. Sie werden nach euch und Karan suchen. Sie werden merken, daß ihr und er noch leben. Aber wir werden nicht mehr da sein. Karan bringt euch an einen Ort, an dem ihr sicher seid.«
Tally seufzte. »Ich weiß nicht, ob es mich freut, recht behalten zu haben, Karan«, sagte sie, leise und mit ehrlichem Bedauern. »Aber jetzt wirst du uns helfen müssen. Von Moment an jagen sie nicht nur mich, sondern uns alle.«
Karan schwieg.
Wie Karan versprochen hatte, führte er sie auf verborgenen Wegen tiefer in die Stadt hinein. Als sie eine oder auch zwei Stunden später, das wußte Tally nicht zu sagen, wieder ans Tages- bzw. Mondlicht heraustraten, da war nicht nur Tally zum Umfallen erschöpft. Auch die anderen wankten, und selbst Hrhon bewegte sich schleppender als gewohnt. Ihn, der die Geschicklichkeit nicht unbedingt gepachtet hatte, mußte das Gehen in den meistens nur halbhohen Gängen und Stollen besonders viel Kraft gekostet haben. Und Tally wußte nicht, was er in den Tagen zuvor durchgemacht hatte. Plötzlich spürte sie, wie sehr ihr der Waga gefehlt hatte. Sie kamen am nördlichen Ende eines großen, halbrunden Platzes heraus. Die Nacht war still, und selbst das Donnern des Wasserfalles war nicht mehr zu hören. Sie mußten sich ein gehöriges Stück vom Schlund entfernt haben. Es war sehr kalt. Das Kopfsteinpflaster glänzte vor Nässe, und in der Luft lag noch der Geruch von Regen.
»Scheint alles ruhig zu sein«, murmelte Weller. Er war der erste, der das nur von heftigen Atemzügen untermalte Schweigen brach, und seine Stimme klang matt und erschöpft. »Wo sind wir?«
»Nicht weit vom Hafen entfernt«, antwortete Jan. »Der Wind steht gegen uns«, fügte er hinzu, als er Wellers fragenden Blick bemerkte. »Deshalb hört man nichts. Wir haben Freunde hier in der Gegend.« Er sah seinen Vater erlaubnisheischend an, und Tally bemerkte, daß Karan fast unmerklich nickte, ehe Jan fortfuhr: »Wir werden bei ihnen Unterschlupf suchen, wenigstens für den Rest der Nacht. Der Weg aus der Stadt heraus ist zu weit. Wir müssen im Vollbesitz unserer Kräfte sein.«
Tally wollte eine Frage stellen, aber Karan drehte sich rasch um und begann den Platz zu überqueren, so daß sie ihm folgen mußten, ob sie wollten oder nicht. Mit Ausnahme Karans hatten sie alle ihre Waffen gezogen. Es war sehr still, aber Tally hatte ja am eigenen Leibe erfahren, wie täuschend gerade diese Art der Stille sein konnte.
Nach einer Weile fiel ihr auf, wie sonderbar die Schatten der Häuser aussahen, zwischen denen sie sich bewegten – manche von ihnen waren absurd niedrig, so daß die untere Fensterreihe fast den Boden berührte, einige schienen gar schräg zu stehen. Sie fragte Weller danach.
»Das hier ist die Altstadt Schelfheims«, erklärte Weller.
»Die wirkliche Altstadt. Die Leute, die damals hierher kamen, wußten nichts von dem Grund, auf den sie bauten.«
Tally sah ihn fragend an.
»Die Häuser waren zu schwer«, fügte Weller lächelnd hinzu. »Sie versanken im Boden. Ganz langsam. Manche stürzten ein, aber die meisten sackten einfach in die Tiefe.« Er machte eine rasche Handbewegung nach unten. »Es gibt Häuser hier, die fünf Stockwerke weit in den Boden hinabreichen. Manchmal bauen sie einfach eine Etage obendrauf, bevor sie die unterste aufgeben. Verrückt, nicht?«
Tally fand die Vorstellung eher erschreckend, aber Karan hinderte sie daran, ihre Gefühle in Worte zu kleiden, indem er Weller und sie anherrschte, gefälligst ruhig zu sein. Schuldbewußt verstummten sie.
Nach einer Weile blieben sie stehen. Karan sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, ehe er an eines der dunkel daliegenden Häuser trat und gegen die Tür klopfte. Er mußte sehr lange klopfen und immer lauter, ehe irgendeine Reaktion erfolgte – zum Schluß hämmerte er mit der Faust gegen die Tür, daß Tally fast glaubte, er wolle sie einschlagen. Aber endlich glomm in dem schmalen Sehschlitz im Holz ein trübgelbes Licht auf, und Augenblicke später lugte ein bärtiges Gesicht von schwer zu schätzendem Alter zu ihnen heraus.
»Karan!« Der Schrecken, der in diesem einen Wort lag, war nicht zu überhören. Trotzdem polterte ein Riegel, und Sekunden später schwang die Tür auf. Karan trat ohne ein Wort an dem Mann vorbei, winkte ihnen, ihm zu folgen, und legte eigenhändig den Riegel wieder vor, nachdem der letzte das Haus betreten hatte.
Tally sah sich rasch um. Der schmale Korridor, in dem sie standen, bot nicht viel Interessantes – eine Tür an seinem Ende, eine Treppe nach oben, eine zweite, die in die Tiefe führte. Interessanter war schon der Mann, der ihnen aufgetan hatte: er war ein Riese, noch größer als Weller und von massigem Körperbau, der sich aber so krumm hielt, daß sich sein Gesicht fast auf gleicher Höhe mit dem Tallys befand. Seine Augen flackerten vor Angst.
»Was tust du hier, Karan?« stammelte er. »Und wer sind diese Leute?« Er deutete nervös auf Tally, Weller und Hrhon.
»Freunde von Karan«, antwortete Karan. »Sie und er brauchen deine Hilfe.«
»Das geht nicht.« Die Worte des Riesen kamen zu schnell, als daß er darüber nachgedacht haben konnte. Tally begriff, daß ihn ihr Auftauchen nicht überraschte, sondern daß er es im Gegenteil befürchtet hatte. Als er begriff, was er selbst gesagt hatte, lächelte er verlegen.
»Sie suchen euch«, fügte er hinzu, in etwas leiserem Tonfall. »Überall. Sie waren auch schon hier. Und sie werden wiederkommen.« Er seufzte. »Aber gut, kommt erst einmal herein. Eine Mahlzeit und eine kurze Rast sind ja auch nicht schlecht, oder?«
Karan schwieg, und auch der Riese sprach nicht weiter, sondern drehte sich überhastet herum und schlurfte gebückt auf die nach unten führende Treppe zu.
»Wer ist das?« wandte sich Tally an Jan, während sie dem Riesen folgten.
»Ein Freund meines Vaters«, erwiderte Jan. Er wirkte erschreckt. »Ein sehr guter Freund. Karan hat ihm und seiner gesamten Familie einmal das Leben gerettet.« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Es muß schlimmer sein, als ich bisher annahm.«
Ihr Führer wandte sich im Gehen um und sah schuldbewußt zu ihnen zurück; er hatte jedes Wort gehört. Und auch Karan sah seinen Sohn strafend an.
»Still«, sagte er. »Was Karan mit seinen Freunden zu regeln hat, das bereinigt er selbst.«
Sie erreichten das Ende der Treppe, traten jedoch nicht auf den sich anschließenden Korridor hinaus, sondern nahmen eine zweite, schließlich eine dritte, steil nach unten führende Treppe in Angriff. Tally schätzte, daß sie sich gute fünfzehn Meter unter dem Niveau Schelfheims befinden mußten, als die hölzernen Stufen endlich aufhörten. Vor ihnen lag ein sehr niedriger, von blakenden Fackeln erhellter Gang, von dem zahlreiche Türen abzweigten.
Ihr Führer zögerte wieder, dann deutete er mit einer Kopfbewegung auf eine der Türen, trat hindurch und steckte seine Fackel in einen eisernen Halter, der neben der Tür an der Wand angebracht war.
Tally sah sich neugierig um. Das Zimmer war klein und spartanisch eingerichtet: ein Tisch und eine Anzahl niedriger hölzerner Hocker bildeten zusammen mit einer gewaltigen Truhe die gesamte Möblierung. An der westlichen Seite gab es ein Fenster, aus dem vor hundert Jahren das Glas herausgefallen war. Dahinter lag der steinhart zusammengebackene, weiße Sand des Schelfs. Der Raum war so niedrig wie der Gang draußen – sie verstand jetzt, warum der Riese sich so krumm hielt, denn die Decke war kaum hoch genug, daß sie selbst aufrecht stehen konnte. Ganz instinktiv fragte sie sich, was das für ein Leben sein mußte, wie ein Molch in einer Höhle hier unten zu vegetieren. Die Vorstellung ließ sie schaudern.
»Wartet hier«, sagte der Riese. »Ich hole Wein und Brot.«
Karan nickte, und ihr Führer entfernte sich so hastig, daß jedem klar sein mußte, wie froh er war, aus ihrer Nähe zu verschwinden.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Jan, kaum daß die Tür hinter ihm zugefallen war. »Nors ist dein treuester Verbündeter. Er würde sein Leben opfern, um deines zu retten.«
Karan, dem die Worte galten, nickte. »Er hat Angst«, sagte er. »Karan liest große Furcht in seiner Seele.« Sein Blick suchte den Tallys. »Du hast mächtige Feinde, Tally.«
»Ich fürchte, nicht nur ich«, sagte Tally. »Oh verdammt, Karan, das wollte ich nicht. Hätte ich geahnt, daß ich euch alle mit ins Verderben reiße...«
»Dann wärst du trotzdem gekommen«, unterbrach sie Karan. »Du überschätzt dich. Es liegt nicht in deiner Macht, irgend etwas zu tun oder zu ändern, was das Schicksal anders entschieden hat. Alles kommt, wie es kommen muß. Wir sind nur Werkzeuge. Kann das Beil sich weigern, den Baum zu spalten?«
»Manchmal«, sagte Tally ernst, »fährt es in das Bein dessen, der es schwingt.«
»Nur wenn er ungeschickt ist.« Karan machte eine abschließende Geste. »Wir würden auch nicht hier bleiben, wenn Nors es uns anböte«, fuhr er in verändertem Tonfall fort. »Eine Stunde Rast, vielleicht auch zwei, und ein wenig Nahrung, das ist alles, was Karan von ihm verlangt.« Er drehte sich herum, nahm auf einem der unbequemen Hocker Platz und sah demonstrativ zu Boden.
Nach einer Weile kam Nors zurück. Er war nicht mehr allein, sondern befand sich in Begleitung einer ältlichen, ebenfalls sehr hochgewachsenen Frau, die sich so krumm wie er hielt. Die beiden trugen Wein und Brot und sogar ein Tablett mit rohem Fleisch auf, das sie Hrhon vorsetzten. Dann zog sich die Frau zurück, während sich Nors mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Tür lehnte und ihnen stumm beim Essen zusah.
Tally brannten tausend Fragen auf der Zunge. Aber sie hatte das sehr sichere Gefühl, daß es besser war, Karan reden zu lassen. Nors hatte Angst. Panische Angst. Karan tunkte sein letztes Stück Brot in eine Schale mit kalter, nach Tallys Meinung widerwärtig schmeckender Soße, kaute beides mit sichtlichem Genuß durch und fuhr sich mit der Hand über den Mund, ehe er sich wieder an Nors wandte.
»Nun erzähle, Freund«, begann er. »Was ist geschehen, daß du solche Angst hast, Karan die Freundschaft zu verweigern, auf die er Anspruch hat?«
Nors lächelte nervös. »Du... du hast nichts gehört?«
»Karan hatte anderes zu tun, als zu hören«, erwiderte Karan lächelnd. »Er wurde angegriffen und mußte fliehen. Sie haben die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft gebrochen.«
»Sie werden noch etwas ganz anderes brechen, wenn sie dich in ihrer Begleitung finden.« Nors deutete anklagend auf Tally. »Zum Beispiel deinen Hals, Karan. Sie suchen euch überall.«
Tally spannte sich, aber Jan legte ihr rasch und beruhigend die Hand auf den Unterarm. Tally schwieg.
»Erzähle«, sagte Karan noch einmal.
»Sie durchsuchen die ganze Stadt«, sagte Nors. »Männer der Garde, und diese verdammten Hornköpfe.«
»Unmöglich!« behauptete Weller. »Das würden sie nicht wagen! Keiner von ihnen würde lebend hier herauskommen!«
»Und wenn ich dir sage, daß zwei dieser Speichellecker vor Stundenfrist bei mir waren, und nach Karan und euch gefragt haben?« sagte Nors. Wütend preßte er die Lippen aufeinander, sah Karan an und deutete mit einer Geste auf Tally und Hrhon. »Kann man ihnen trauen?«
»Sprich«, sagte Karan ruhig.
»Gut.« Nors blickte noch einmal nervös zu Tally.
»Ich... soll dir folgendes ausrichten: die Töchter des Drachen hegen keine Feindschaft gegen dich und deinen Sohn. Was in deinem Haus geschehen ist, soll vergessen sein. Sie sind sogar bereit, Wiedergutmachung zu leisten – wenn du sie auslieferst.« Er deutete wieder auf Tally.
»Die Frau und den Waga. Weller interessiert sie nicht.«
»Lächerlich«, sagte Jan. Karan aber schwieg, wie Tally sehr wohl registrierte.
»Sie erzählen es jedem«, fuhr Nors fort. »Und sie sind überall. Ihr müßt vorsichtig sein, wenn ihr weitergeht. Die Stadt ist nicht mehr sicher. Wo du hinblickst, sind Soldaten und Hornköpfe. Im Westen wird gekämpft«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu.
»Gekämpft?« Weller runzelte die Stirn.
»Ein paar der Straßenbanden haben die Garde angegriffen«, bestätigte Nors. »Die Garde hat große Verluste, aber sie rücken weiter vor. Es heißt, der Stadtkommandant hätte sich geweigert, seine Krieger hierher zu schicken, aber Jandhi habe ihn gezwungen.«
»Dann bleibt Karan nur noch ein Weg«, murmelte Karan.
Tally sah ihn aufmerksam an. »Und welcher?«
»Es geht nicht um ihn«, sagte Karan anstelle einer direkten Antwort. »Es geht um seine Freunde, um diese Stadt. Hier im Norden herrschte Frieden, seit langer Zeit.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Tally säuerlich und hob die Hand zu ihrer schmerzenden Schulter.
»Ein blutiger Frieden vielleicht, mit grausamen Regeln, aber trotzdem Frieden«, beharrte Karan. »Dein Auftauchen hat ihn beendet.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Du ziehst eine Spur von Blut hinter dir her, Tally. Karans Freunde werden sterben, vielleicht wird diese Stadt zerstört. «
»Du übertreibst.«
»Nein.« Weller schüttelte heftig den Kopf. »Hast du vergessen, was ich dir über den Norden der Stadt erzählt habe, Tally? Dies hier ist Schelfheim, aber nicht das Schelfheim der Mächtigen. Hier regieren andere. Der Stadthalter hat hier so wenig zu sagen wie du oder ich. Wenn er seine Krieger hierher schickt, ist das keine normale Patrouille, sondern Krieg. Die Banden werden es nicht hinnehmen. Möglicherweise schlagen sie zurück und legen das schöne piekfeine Schelfheim des Stadthalters ein wenig in Schutt und Asche.«
»Und alles meinetwegen, nicht wahr?« sagte Tally zornig. »Das soll es doch bedeuten, oder?«
»Das soll es«, sagte Karan an Wellers Stelle. »Aber es bedeutet nicht, daß Karan dich verrät. Du warst nur der Auslöser. Gebrochen haben andere die Regeln.«
»Und was wirst du tun?« fragte Tally leise.
»Was die Mächtigen wollen«, antwortete Karan. »Karan wird ihnen sagen, wo du zu finden bist. Aber du wirst nicht mehr da sein.«
Tallys Hand kroch zum Schwert, aber Karan lächelte nur, als er die Bewegung sah. »Nicht, was du denkst, dummes Kind«, sagte er milde. »Karan hat geschworen, es nicht zu tun, doch jetzt bleibt ihm keine Wahl. Er wird dir den Weg zeigen, den du gehen mußt.«
Es dauerte einen Moment, bis Tally begriff. Dann sprang sie vor lauter Erregung auf. »Der Schlund!« keuchte sie.
»Du bringst uns hinunter?«
»Nein«, sagte Karan ruhig. »Aber Karan wird euch zeigen, wie ihr dorthin kommt. Ihr braucht keinen Führer. Sein Geheimnis ist nur, wie es zu tun ist, nicht, es zu tun.«
»Sprich nicht in Rätseln, alter Mann«, sagte Tally drohend.
»Es sind keine Rätsel.« Karan lächelte. »Noch ehe die Nacht zu Ende ist, wirst du wissen, was Karan meint. Er wird euch nicht begleiten, aber er wird dir zeigen, was zu tun ist.« Er seufzte, brach noch ein kleines Stück Brot ab und führte es zum Mund, biß aber nicht hinein.
»Du wirst viel Mut brauchen, Mädchen«, sagte er.
»Den habe ich.«
Aber ganz sicher war sie plötzlich nicht mehr. Ganz und gar nicht.
Wieder waren sie unterwegs, nach Norden und damit in gerader Linie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Nach Tallys Zeitgefühl mußte es Mitternacht sein, aber sicher war sie da nicht: seit sie diese Stadt voller Wahnsinniger betreten hatte, lebte sie nicht mehr nach dem gewohnten Rhythmus. Ihre innere Uhr war ebenso durcheinandergeraten, wie ihre Gefühle es waren. Der Himmel war nicht zu sehen. Es regnete zwar nicht mehr, aber die Wolken waren schwarz und dicht, wie Fäuste, die sich über den Dächern der Stadt ballten und den Mond und die Sterne verbargen. Tally wäre auch nicht erstaunt gewesen, wäre in diesem Moment die Dämmerung hereingebrochen. Trotzdem ihr Zeitgefühl war durcheinander, aber wenn sie noch auf ihre Schätzung vertrauen konnte, so mußte es Mitternacht sein. Eine gute Zeit, zur Hölle zu fahren, dachte sie sarkastisch.
»Wohin gehen wir?« fragte sie.
»Zurück zum Hafen.« Jan antwortete, ohne sie anzusehen. Sein Gesicht war angespannt. Müdigkeit kennzeichnete seine Bewegungen. »Mein Vater besitzt einen Schuppen am mittleren Becken. Dort findet ihr alles, was ihr braucht.«
Tally registrierte sehr deutlich, daß er ihr gesagt hatte, nicht wir. Aber welche Rolle spielte es schon, ob sie allein ging oder in Karans Begleitung? Wahrscheinlich wären der verrückte Alte und sein kaum weniger beschränkter Sohn nur eine Last für Hrhon und sie, wenngleich auf der anderen Seite ihre Kenntnisse unten im Schlund von enormer Wichtigkeit sein mochten. Aber sie hatte ohnehin das Gefühl, daß sie längst keinen Einfluß mehr auf die Geschehnisse hatte.
»Der Weg in den Schlund führt über den Fluß?« fragte Weller stirnrunzelnd.
»Nur ein kurzes Stück«, erwiderte Jan. »Aber im Schuppen ist alles, war ihr braucht. Die Ausrüstung ist sehr umfangreich. Unser Haus wäre zu klein, sie aufzunehmen.«
Ausrüstung? Das war interessant. Jans Bemerkung bestätigt zwar ihren Verdacht nicht, aber sie war ein weiteres Stück des Puzzlespiels, das sie seit Tagen vergeblich zu lösen versuchte: nämlich die Frage, wie Karan diese Wahnsinnsklippe überwinden wollte. Daß Klettern unmöglich war, hatte er ihr ja praktisch schon bestätigt. Aber wie dann?
Sie verschob die Lösung dieses Problems auf später, schloß mit wenigen raschen Schritten zu Hrhon auf, der die Spitze der kleinen Kolonne bildete, wobei er immer wieder stehenblieb und fragend zu Karan zurückblickte. Hrhon blickte sie ausdruckslos an, aber für einen kurzen Moment glaubt Tally trotzdem, so etwas wie Freude in seinen Augen zu erkennen. Auch, wenn sie wußte, daß es unmöglich war, versuchte sie sich es zumindest einzureden.
Eine weitere halbe Stunde marschierten sie schweigend nach Norden zurück. Das dumpfe Grollen des Wasserfalls nahm allmählich an Macht zu. Die Luft schmeckte feucht. Einmal glaubte Tally Kampflärm zu hören, aber der Wind drehte sich und trug das Geräusch davon, ehe sie sicher sein konnte, und ein andermal sah sie deutlich Feuerschein über den Dächern im Westen aufflammen – ein kurzer, blendendheller Blitz, wie ihn nur ein Ding auf der Welt verursachen konnte, das sie kannte. Instinktiv glitt ihre Hand zum Gürtel und schmiegte sich um die so harmlos aussehende Waffe. Karan hatte recht, dachte sie bitter: sie hatte mit ihrer Ankunft hier Dinge in Bewegung gesetzt, die sie längst nicht mehr aufhalten konnte.
Und sie war keineswegs unverwundbar, wie sie wenig später auf sehr drastische Weise erfahren sollte. Sie hatten sich dem Hafen so weit genähert, daß das Tosen des Wasserfalls eine normale Unterhaltung bereits unmöglich machte und der Boden unter ihren Füßen zitterte. Die wenigen Menschen, die ihnen unterwegs begegnet waren, waren entweder so in Eile gewesen, daß sie keinerlei Notiz von ihnen genommen hatten, oder in heller Panik davongelaufen, als sie die vier bewaffneten Menschen und ihren gepanzerten Begleiter sahen, der zwar keinerlei Waffe trug, aber eine war. Doch ganz plötzlich hatte Tally das Gefühl – nein, nicht Gefühl. Die Gewißheit – beobachtet zu werden. Abrupt blieb sie stehen.
»Was ist los?« fragte Weller. »Warum gehst du nicht weiter?«
Tally zuckte zur Antwort mit den Achseln, zog das Schwert unter dem Mantel hervor und ließ den Blick ihrer angestrengt zusammengepreßten Augen über die Häuserreihe zur Rechten gleiten. Nichts. Nur Schatten. Und doch...
»Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich... ich glaube, jemand beobachtet uns.«
»Nissst jhemahnd«, zischte Hrhon. »Vhielhe. Sssehn. Vhielleissst fünfssehn.«
Tally blickte den Waga mit einer Mischung aus Schrecken und Ärger an. »Bist du sicher?«
»Nhein«, antwortete Hrhon ruhig. »Esss khöhnnen auch ssswansssig sssein.«
Weller erbleichte vor Schrecken, aber Tally schnitt ihm mit einer raschen Geste das Wort ab. »Wie lange schon?« fragte sie. Sie zweifelte keinen Augenblick an der Wahrheit von Hrhons Worten. Wenn ein Waga sagte, daß sie verfolgt wurden, dann wurden sie verfolgt.
»Eine Wheile«, antwortete Hrhon. »Ssssie khommen nissst nhäher.«
»Eine Weile«, murmelte Tally besorgt. »Und sie kommen nicht näher. Was bedeutet das?« Sie sah Karan an.
»Jandhis Leute? Oder Angella?«
»Was ist dir lieber?« fragte Karan. Tally verzichtete auf eine Antwort, tauschte aber vorsichtshalber das Schwert gegen die Drachenwaffe. Sie war sich darüber im klaren, daß selbst dieses entsetzliche Ding ihr nicht helfen würde, wenn es wirklich die Töchter des Drachen waren, die sie verfolgten. Aber ihr Gewicht beruhigte sie. Seltsam, dachte sie. Noch vor wenigen Tagen erst hatte sie sich geschworen, die Waffe niemals gegen Menschen zu verwenden. Jetzt fieberte sie fast danach, den kurzen Lauf auf Jandhi zu richten und abzudrücken.
»Wenn es Jandhi ist, frage ich mich, wie sie so schnell unsere Spur aufnehmen konnte«, murmelte Weller. Er sah Karan an. »Kann es sein, daß dein Freund –«
»Karans Freunde sind keine Verräter«, unterbrach ihn Karan scharf. »Und selbst wenn«, fügte Jan hinzu, »könnte er nichts sagen. Niemand außer mir und Karan selbst weiß von dem Lagerhaus.« Er machte eine ärgerliche Handbewegung. »Wenn wir noch lange hier herumstehen und reden, finden wir sicher heraus, wer uns verfolgt. Beeilt euch – es ist nicht mehr weit.« Tatsächlich lagen die fünf hintereinandergestaffelten Hafenbecken Schelfheims unter ihnen, als sie die nächste Gasse durchquert hatten. Das Donnern des Wasserfalls, der weniger als eine halbe Meile nördlich über die Kante der Welt hinausschoß, machte eine Unterhaltung unmöglich, wenn sie nicht schreien wollten, aber Jan deutete mit dem Arm nach links, auf das kleinste, unmittelbar hinter der Klippe gelegene Becken. Tally konnte in der Dunkelheit keine Einzelheiten ausmachen, aber sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein gewaltiges Schleusentor in der Zyklopenmauer gab, die dem Wasser seine Wucht nahm. Jetzt erblickte sie auf der landeinwärts gewandten Seite des Beckens nichts als eine kompakte, finstere Masse. Wenn Karan sie mit einem Boot aus Schelfheim herausschaffen wollte, mußte jemand die Schleuse öffnen. Aber wie?
Sie bekam keine Gelegenheit, ihre Frage in Worte zu kleiden, denn Karan führte sie in raschem Tempo weiter – eine gewundene, vom Spritzwasser schlüpfrig gewordene Steintreppe hinab, über einen kurzen Steg und eine weitere Treppe, die direkt zum Becken herunter führte, dann ein Stückweit auf den Schlund zu, bis sie auf der Krone der Staumauer entlangliefen. Der Felsen unter ihren Füßen zitterte und bebte unter den Hammerschlägen des Wassers.
Der Wasserspiegel lag gut vier Meter unter ihnen; trotzdem spritzte die Gischt so hoch, daß Tally und die anderen schon nach wenigen Schritten bis auf die Haut durchnäßt waren. Sie vermied es krampfhaft, in die Tiefe zu blicken. Trotz der Dunkelheit war das Wasser weiß, so gewaltig war der Sog, der es gegen den Damm trieb. Ein Fehltritt, dachte sie schaudernd, und sie hatte keine Zeit mehr, zu ertrinken. Wer in diesen Strudel geriet, mußte auf der Stelle zermalmt werden.
Aber sie erreichten unbehelligt das gegenüberliegende Ufer des Beckens. Tally blieb stehen, um einen Moment Atem zu schöpfen, aber Karan trieb sie unbarmherzig weiter. Das Tosen des Wassers war hier so gewaltig, daß sie sich nicht einmal mehr schreiend verständigen konnten, aber sein hastiges Gestikulieren war eindeutig genug.
Eine Reihe flacher, aus Stein gebauter Lagerhäuser tauchte vor ihnen auf, eingehüllt in sprühende Gischt und ganz offensichtlich sehr alt. Manche von ihnen waren nicht mehr als Ruinen, andere standen leer. Die großen, weit offenstehenden Türen erinnerten Tally in der Dunkelheit an aufgerissene Mäuler.
Das Laufen fiel ihr jetzt immer schwerer. Die Luft war so mit Feuchtigkeit geschwängert, daß ihre Kleider wie Zentnerlasten an ihr zerrten und sie das Gefühl hatte, Wasser zu atmen. Mehr als einmal glitt sie auf dem schlüpfrigen Stein aus und kämpfte mit grotesk hüpfenden Schritten um ihr Gleichgewicht. Aber Karan gönnte ihnen nicht die geringste Pause, sondern lief im Gegenteil eher noch schneller. Tally begann sich zu fragen, woher dieser alte Mann die Kraft nahm, nicht einfach auf der Stelle zusammenzubrechen.
Schließlich wurde auch er langsamer – wenn auch nicht vor Erschöpfung, sondern weil sie ihr Ziel erreicht hatten.
Es war ein kleiner, halb über die Kante des Hafenbeckens hinausgebauter Schuppen, zum Wasser hin nicht aus Stein, sondern aus Holz erbaut und irgendwo in der Tiefe mit den schäumenden Fluten verschmelzend: eine raffinierte Mischung aus Schuppen und Bootshaus, wie Tally beim Näherkommen feststellte.
Karan eilte zu einer schmalen Seitentür, nestelte einen Moment lang am Schloß herum und stieß die Tür auf. Er selbst verschwand als erster im Haus, hantierte einen Moment lautstark im Dunkeln herum und tauchte schließlich wieder auf, eine Fackel in der Hand, die nicht richtig brannte und mehr Ruß und Gestank als Helligkeit verbreitete. Es schien in diesem Teil der Stadt nichts zu geben, was sich nicht mit Feuchtigkeit vollgesogen hatte.
»Kommt!« sagte er ungeduldig. »Tally und Weller! Der Waga soll Wache halten.«
Hrhon gehorchte wortlos. Während sich Weller und Tally an Karan vorbei in den Schupppen zwängten, ging er ein Stückweit den Weg zurück und verschmolz mit den Schatten eines Lagerhauses. Nur Jan rührte sich nicht, sondern sah seinen Vater fragend an.
Karan erwiderte seinen Blick. Sehr lange, sehr ernst und sehr nachdenklich.
»Eine halbe Stunde«, sagte er schließlich. »Nicht früher.«
»Kein Zeichen?« Jan klang besorgt.
»Kein Zeichen. Genau in einer halben Stunde.«
Jan nickte, drehte sich herum und verschwand im Laufschritt in der Dunkelheit, während Karan seine Fackel senkte und zu Tally und Weller in den Schuppen trat. Beißender Qualm und der Gestank brennenden feuchten Holzes stieg ihnen in die Nasen. Wesentlich heller wurde es nicht.
»Was war das für eine Geheimsprache, Karan?« fragte Weller mißtrauisch. »Wo ist Jan hingegangen?«
»Jemand muß die Schleuse öffnen, oder?« fragte Karan ruhig. »Es sei denn, du willst das Boot über die Mauer heben.«
»Was für ein Boot?« fragte Tally rasch, ehe Weller vollends auffahren konnte. »Wohin fahren wir?«
»Wir nirgendwohin«, erwiderte Karan. »Du und dein Freund und –« Er deutete auf Weller. » – er, wenn er will. Karan wird euch sagen, was ihr zu tun habt. Es ist leicht.«
»So leicht, daß es außer dir noch keiner geschafft hat, wie?« fragte Weller mißtrauisch.
»Weil es niemand weiß«, sagte Karan. »Jetzt kommt. Die Zeit ist knapp bemessen. Wir haben viel zu tun.«
»Und was?« Weller rührte sich nicht von der Stelle.
»Ihr müßt das Boot beladen«, antwortete Karan. »Hinter euch sind Fackeln. Entzündet so viele, wie ihr könnt.« Weller wollte abermals widersprechen, aber Tally versetzte ihm einen so derben Stoß mit dem Ellbogen, daß aus seinem geplanten Protest ein ersticktes Keuchen wurde. Karan lächelte flüchtig, gab ihr seine eigene Fackel und verschwand in der Dunkelheit.
Schweigend taten sie, was Karan ihnen befohlen hatte. Tally entzündete ein gutes Dutzend Pechfackeln, die Weller in große, in Kopfhöhe an der Wand befestigten Halterungen steckte, und nach einer Weile wich die erstickende Schwärze einem schattenerfüllten Halbdunkel, in dem sie zwar noch immer nicht richtig sehen, ihre Umgebung aber halbwegs erraten konnten.
Der Schuppen bestand aus einem einzigen, gewaltigen Raum, und er war zu mehr als vier Fünfteln mit Wasser gefüllt. Tally und Weller standen auf einem kaum drei Schritte messenden gemauerten Streifen, unter dem das Wasser des Hafenbeckens sprudelte. Selbst hier drinnen schien es noch zu kochen. Das kleine, sonderbar schlank geformte Boote, das in der Mitte des Beckens lag, hüpfte wild auf und ab. Irgend etwas Großes, Helles bewegte sich unter Wasser.
Als sie alle Fackeln entzündet hatten, deutete Karan auf eine Anzahl großer, in Segeltuch eingeschlagene und sehr schwer aussehender Bündel, die am Ufer aufgestapelt waren. »Bringt sie an Bord«, sagte er.
Weller runzelte die Stirn und deutete auf das Boot.
»Und wie?« Das kleine Schiffchen – es war nicht sehr viel größer als ein Kanu und schien kaum lang genug, drei oder vier Passagieren Platz zu bieten – lag genau in der Mitte des kleinen Beckens: das Heck war gute fünf Meter vom Ufer entfernt. Und das Wasser brodelte selbst hier drinnen so, daß an ein Schwimmen nicht einmal zu denken war.
Statt einer Antwort hob Karan selbst eines der kleineren Bündel an, warf es sich über die Schulter – und trat mit einem entschlossenen Schritt ins Wasser hinab. Er ging nicht unter.
Seine Beine versanken bis über die Waden hinab im Wasser, und Tally konnte sehen, welche Mühe es ihm bereitete, gegen den enormen Sog des Wassers anzukämpfen, aber er ging nicht unter. Irgend etwas war dicht unter der Wasseroberfläche. Wieder sah sie einen gewaltigen hellen Umriß durch den spritzenden Schaum blitzen. Wie ein Segel, dachte sie, das unter Wasser gespannt war. Oder ein Ausleger. Aber wenn, dann . einer von gewaltigen Ausmaßen. Mitsamt den unter Wasser liegenden Teilen mußte das Boot das ganze Becken einnehmen.
Eine sehr ungute Ahnung stieg in ihr auf, wozu ein Boot mit solch gewaltigen Auslegern gut sein mochte, aber sie vertrieb sie, bevor sie zur Gewißheit werden konnte. Entschlossen bückte sie sich nach einem der Bündel, hob es ächzend auf die Schultern und sprang zu Karan ins Wasser hinab.
Es war ein Schock. Wie der Alte zuvor sank sie nur bis dicht über die Waden ein, aber unter ihren Füßen war kein fester Boden, sondern etwas zwar Hartes, aber Schwankendes, auf und ab Hüpfendes, das sie wie ein bockendes Pferd abzuwerfen versuchte, und das Wasser war eisig. Mit unsichtbaren Krallen riß und zerrte es an ihren Beinen. Es kostete sie all ihre Kraft, die kaum fünf Meter bis zu Karans Boot zurückzulegen. Sie fiel mehr hinein, als sie ging.
Trotzdem registrierte sie, daß der Rumpf des sonderbaren Schiffchens aus einem Holz erbaut war, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien unglaublich leicht zu sein und sehr dünn; eher eine Art straffgespannter, steifer Stoff als Holz. Sie fragte sich vergeblich, wie ein solches Spielzeug gegen die Strömung des Flusses ankämpfen sollte, ohne zu zerbrechen. Aber sie verschob auch diese Frage auf später, ging unsicher zum Ufer zurück und lud sich das nächste Bündel auf die Schulter.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis das Boot auf diese Weise beladen war – Weller und sie gingen jeweils dreimal zum Ufer und zurück. Als sie fertig waren, war der schmale Innenraum des Kanus so vollgestopft, daß sich Tally fragte, wo um alles in der Welt noch drei Passagiere darin Platz nehmen sollten.
»Und jetzt?« fragte sie schweratmend.
»Das Tor, öffnet es.« Karan deutete auf eine komplizierte Anordnung aus Ketten und Rollen, die an der Wand befestigt war. Tally hatte keine Ahnung, wie der Mechanismus funktionierte, aber Weller trat ohne zu zögern hinzu, zerrte an einer herabhängenden Kette und befahl ihr mit einer Kopfbewegung, ihm zu helfen. Irgendwo unter der Decke begann etwas ganz entsetzlich zu quietschen und klirren.
Es kostete ihre gesamte Kraft, die hölzernen Tore gegen den Druck des Wassers zu öffnen; denn Karans Mechanismus war offensichtlich seit Jahren nicht mehr benutzt worden und eingerostet. Trotzdem schwangen die deckenhohen Tore ganz langsam nach außen. Trübes Mondlicht strömte herein und vermischte sich mit dem düsteren Rot ihrer Fackeln. Das Hafenbecken lag wie ein Bottich mit kochendem Teer vor ihnen.
»Das genügt«, sagte Karan schließlich. »Jetzt kommt her. Karan muß euch erklären, was ihr zu tun habt.«
»Das wird kaum mehr nötig sein, mein Freund«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit. Tally kannte diese Stimme. Sie hatte sie nur einmal in ihrem Leben gehört, aber sie würde sie niemals vergessen. Sie klang ruhig, beinahe erheitert, und sie behielt diesen fast freundlichen Ton auch bei, als sie hinzufügte: »Und dir, Tally, würde ich raten, die Hand vom Laser zu nehmen, wenn du noch ein paar Sekunden leben willst.«
Tally erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre Finger waren nur noch Millimeter vom Griff der Drachenwaffe (wie hatte Jandhi sie genannt? Laser?) entfernt, aber sie wußte, daß sie trotzdem keine Gelegenheit haben würde, sie zu ziehen. Bisher hatte sie es für dummes Gerede gehalten, aber es stimmte tatsächlich – man spürte es, wenn der Lauf einer Waffe auf seinen Rücken deutete.
Ganz langsam drehte sich sich herum, nahm die Hände in Schulterhöhe und sah zu der in schwarzes Leder gekleideten Gestalt hoch. Jandhi lächelte. Der rote Kristall im Griff ihrer Waffe funkelte wie ein gieriges Dämonenauge. Karans Daumen schwebte dicht darüber.
»Habe ich dir nicht gesagt, daß wir uns wiedersehen, Schätzchen?« fragte sie. Ihr Lächeln wurde noch freundlicher, aber ihre Augen blieben kalt dabei. »Ich halte mein Wort immer, weißt du.«
Tally schwieg. Was hätte sie schon sagen können! Sie hatte das Bedürfnis, vor lauter Enttäuschung und Zorn einfach loszuheulen, aber dazu war sie zu stolz. Dabei war sie nicht einmal erschrocken. Irgendwie hatte sie damit gerechnet. Trotz allem war es zu glatt gegangen, bisher.
»Wie hast du mich gefunden?« fragte sie schließlich.
»Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Jandhi.
»Aber ich erzähle sie dir. Später. Jetzt komm her. Und ganz langsam.«
Tally gehorchte. Sie spürte, daß Jandhi sie nicht töten wollte – nicht jetzt – aber sie war ebenso sicher, daß sie es tun würde, wenn sie sie dazu zwang.
»Den Laser«, verlangte Jandhi.
Ganz langsam senkte Tally die Hand zum Gürtel, zog die Waffe hervor und reichte sie Jandhi. Aber die Drachentochter machte keinerlei Anstalten, danach zu greifen, sondern schüttelte nur den Kopf. »Wirf ihn zu Boden«, sagte sie. »Ich habe gehört, daß es gefährlich ist, dir zu nahe zu kommen.«
Sie lachte leise, wartete, bis Tally die Waffe zu Boden gelegt und auf ein Zeichen von ihr hin mit dem Fuß davongeschossen hatte, dann wich sie mit ein paar schnellen Schritten bis zur rückwärtigen Wand zurück und löste einen kleinen, rechteckigen Gegenstand vom Gürtel. Tally sah, wie sie ihn zum Mund führte und hineinsprach.
»Und jetzt?« fragte sie. »Was hast du jetzt vor, Jandhi? Willst du mich umbringen?«
»Nein«, antwortete Jandhi ungerührt. »Wenigstens jetzt noch nicht. Aber du wirst mich begleiten, und dein schuppiger Freund draußen auch. Wir werden dafür sorgen, daß du nicht noch mehr Schaden anrichtest, als du bereits getan hast.« Sie machte eine Handbewegung, deren Bedeutung Tally nicht kannte. »Wären wir nicht Feinde, würde ich dir meine Hochachtung ausdrücken, Kindchen. So viel Ärger wie du hat uns noch niemand bereitet.«
»Uns?« fragte Tally. »Wer ist das?«
Jandhi lachte. »Nicht doch«, sagte sie. »Du wirst Gelegenheit genug bekommen, Fragen zu stellen. Und wer weiß, vielleicht beanworte ich sie sogar. Aber nicht jetzt. Ich mag keine melodramatischen Szenen, weißt du?«
»Laß wenigstens Karan gehen«, sagte Tally. »Und Weller. Sie haben nichts mit unserem Streit zu tun.«
»Wie edel«, sagte Jandhi spöttisch. »Aber leider ein wenig zu spät.« Für einen Moment sah sie Karan an, der noch immer im Wasser stand, wandte ihre Aufmerksamkeit aber wieder Tally zu, ehe diese den Augenblick ausnutzen und sich auf sie stürzen konnte.
»Nein«, sagte sie noch einmal. »Daraus wird nichts, fürchte ich. Die beiden stecken zu tief drinnen in der Sache.«
»Dann willst du sie auch umbringen?«
»Umbringen?« Jandhi runzelte die Stirn, als hätte sie etwas vollkommen Unsinniges gefragt. »Wer spricht vom Töten, Talianna? Nein, nein – sie werden mich begleiten, und für eine Weile bei uns bleiben, das ist alles. Wenn sie zurück kommen, werden sie loyale Untertanen sein, mein Wort darauf.« Ihr Blick wurde hart. »Und jetzt Schluß. In wenigen Minuten wird Nil mit ein paar Männern hier sein, und dann hat...« Sie brach ab, als vor der Tür Schritte laut wurden, runzelte flüchtig die Stirn und drehte sich kurz herum, ohne Tally jedoch länger als eine halbe Sekunde aus den Augen zu lassen. Ein hochgewachsener Schatten war unter dem Eingang erschienen, gefolgt von einem zweiten und dritten, die sich langsam auf sie zubewegten.
»Nil!« sagte sie überrascht. »Ihr seid schneller, als...« Der Schatten trat ins Licht der Fackeln hinein und wurde zu einer schlanken, schwarzhaarigen Frau mit einem Gesicht aus Narben.
»Als was?« fragte Angella belustigt.
Jandhi starrte sie an. »Du?« murmelte sie. »Was... was tust du hier?«
»Oh, das gleiche wollt ich dich gerade fragen«, erwiderte Angella ruhig. Langsam trat sie auf Jandhi zu, drückte den Lauf ihrer Waffe herunter, als handele es sich um ein harmloses Kinderspielzeug, und deutete mit der Linken auf Tally. »Du hast da etwas, das mir gehört«, sagte sie ruhig. »Vielen Dank, daß du es aufgehoben hast. Aber nun bin ich ja da. Du kannst gehen, Jandhi.« Jandhi wurde bleich. Angellas Worte klangen fast harmlos, aber sie waren es nicht. Es gab etwas, was ihnen gehörigen Nachdruck verlieh – das gute Dutzend Bewaffneter, das hinter Angella in den Schuppen drängte nämlich.
Aber Jandhis Unsicherheit währte nur einen Moment. Dann blitzte es in ihren Augen zornig auf. Sie schlug Angellas Hand beiseite, wich zwei, drei Schritte vor ihr zurück und hob drohend die Waffe.
»Was fällt dir ein?« fauchte sie. »Das hier geht dich nichts an! Verschwinde auf der Stelle!«
Es war sehr schwer, auf Jandhis vernarbten Zügen irgendeine Regung zu erkennen, aber für einen Moment war Tally fast sicher, einen Ausdruck abgrundtiefen Hasses in ihren Augen zu sehen. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.
»Verzeiht, edle Herrin«, sagte sie spöttisch. »Aber Ihr täuscht Euch. Das hier geht mich sehr wohl etwas an. Muß ich dich wirklich daran erinnern, daß du hier in meinem Gebiet bist, Jandhi? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung.«
Sie seufzte. Tally sah jetzt, daß sie sich nicht mit der gewohnten Geschmeidigkeit bewegte. Die Haltung, in der sie dastand, wirkte ein ganz kleines bißchen verkrampft. Dann fiel ihr wieder ein, wie tief der Stich gewesen war, den sie ihr versetzt hatte. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, daß sie überhaupt die Kraft aufbrachte, zu stehen.
»Ich warne dich, Angella«, sagte Jandhi leise. »Ich habe dich und dein Gesindel bisher stillschweigend geduldet, aber du solltest den Bogen nicht überspannen.«
»Sonst?« fragte Angella spöttisch. »Sätze, wie der, den du gerade gesprochen hast, pflegen mit einem >... sonst wird dies oder das passieren< zu enden.«
»Meine Leute werden gleich hier sein«, sagte Jandhi gepreßt. Sie hatte jetzt eindeutig Angst. »Wenn du verschwunden bist, ehe sie auftauchen, vergesse ich den Zwischenfall.«
»Deine Leute, so?« Angella kicherte böse, »Falls du diese Narren von der Stadtgarde meinst«, sagte sie beinahe freundlich, »kannst du lange warten. Was von deiner sogenannten Armee noch lebt, versucht gerade verzweifelt sein Leben zu retten. Ich habe dich gewarnt, Jandhi, hierherzukommen. Es ist gut möglich, daß ich deinen Besuch erwidere.«
»Verzeihung, wenn ich mich einmische«, sagte Tally.
»Hättet ihr etwas dagegen, wenn ich gehe, während ihr euch streitet, wer mich nun umbringen darf?« Sie lächelte, nahm die Hände herunter und trat einen halben Schritt auf den Laser zu, den sie fallengelassen hatte. Jandhi warf ihr einen haßerfüllten Blick zu, während Angella ganz leise lachte – und die Waffe mit einem fast beiläufigen Tritt ins Wasser beförderte.
Tally blickte ihr enttäuscht nach, sah Angella an und hob resignierend die Schultern. »Nichts für ungut. Ich habe es versucht.«
»Das ist dein Fehler, Tally«, sagte Angella kalt. »Du versuchst zu viel.«
»Stimmt«, antwortete Tally. »Ich hätte nicht nur versuchen sollen, dich umzubringen; ich hätte das Schwert besser noch zweimal herumgedreht.«
Für einen ganz kurzen Moment entgleisten Angellas Gesichtszüge. Sie hob die Hand, als wolle sie Tally schlagen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Statt dessen wandte sie sich mit einem Ruck zu einem ihrer Begleiter um. »Bringt den Waga!« befahl sie. »Und dann ersäuft dieses Vieh vor ihren Augen.«
»Ich warne dich noch einmal«, sagte Jandhi. Ihre Stimme bebte vor Aufregung. »Diese beiden gehören uns.«
Angella reagierte gar nicht, und auch Tally schenkte Jandhi nur einen beinahe mitleidigen Blick. Sie hatte überhaupt keine Angst, was sie selbst ein wenig verwunderte – vielleicht, weil die Situation einfach zu absurd war.
»Es geht hier nicht mehr um deine Rache, Angella«, sagte Jandhi erregt. »Ich weiß nicht, was Tally dir angetan hat, aber du begehst einen schweren Fehler, wenn du sie nicht auslieferst.«
Ihre Hand kroch zum Gürtel, näherte sich dem kleinen, rechteckigen Kasten, in den sie hineingesprochen hatte. Ihr Daumen drückte eine winzige Vertiefung auf seiner Oberfläche. Ein kleines, grünes Licht begann an seiner Schmalseite zu leuchten. Jandhi deckte es hastig mit der Hand ab.
»Du hast Tally gefangengenommen, und mich dazu«, fuhr Jandhi fort, sehr laut und mit sonderbar übertriebener Betonung. »Wir sind in Karans Lagerschuppen und deine Geiseln. Du kannst Lösegeld von mir haben, wenn du willst. Aber selbst das Dutzend Leute, das du bei dir hast, wird dich –«
»Was tust du da?« unterbrach sie Angella zornig. Jandhi verstummte mitten im Wort, lächelte verlegen und drückte ein zweites Mal auf ihren sonderbaren Kasten. Tally sah, wie das grüne Licht unter ihren Fingern erlosch. »Nichts«, sagte sie mit gespielter Niedergeschlagenheit. »Ich dachte nur, ich appelliere ein letztes Mal an deine Vernunft. Aber es scheint sinnlos zu sein.« Tallys Gedanken überschlugen sich. Was hatte Jandhi getan? Sie hatte in diesen Kasten hineingesprochen, bevor Angella und ihre Leute aufgetaucht waren, aber was hatte sie jetzt getan?
Sie fing einen fast beschwörenden Blick Jandhis auf und sah rasch in eine andere Richtung. Was immer geschah – in Jandhis Gewalt würde sie wengistens am Leben bleiben, und solange sie lebte, konnte die kämpfen oder fliehen. Angella würde sie umbringen. Sehr langsam.
Zwei von Angellas Männern brachten Hrhon herein. Der Waga war mit Ketten gebunden, und über seiner linken Schläfe war seine Haut aufgeplatzt. Einer seiner Begleiter hatte einen Dolch an seinen Hals gesetzt und so verkantet, daß sich Hrhon selbst die Kehle aufschlitzen mußte, wenn er versuchte, den Schädel in den Panzer zurückzuziehen.
Der Anblick erfüllte Tally mit jähem Entsetzen. Sie schrie auf, stieß Angella beiseite und stürmte auf den Waga zu, ohne auf das Dutzend Waffen zu achten, das sich ihr drohend entgegenreckte. Aus den Augenwinkel sah sie, wie zwei von Angellas Männern auf sie zustürzen wollten und Angella selbst sie mit einer raschen Geste zurückrief. Das Mädchen mit dem Narbengesicht genoß offensichtlich jede einzelne Sekunde. Tally verlängerte die Liste der Dinge, die sie ihr antun würde, in Gedanken um einige Punkte.
»Hrhon!« rief sie entsetzt. »Großer Gott, was haben sie dir getan?«
Angellas Männer stießen den Waga grob zu Boden. Hrhon fiel, wälzte sich schwerfällig herum und stieß ein tiefes, schmerzerfülltes Stöhnen aus. Dunkles Echsenblut sickerte aus seinem Panzer. »Esss issst... nichtsss«, stöhnte er. Seine Stimme war viel tiefer als gewohnt, und es war ein Klang darin, der Tally frieren ließ. Die Vorstellung, daß Hrhon sterben konnte, erfüllte sie mit Panik.
Hastig kniete sie neben ihm nieder, versuchte vergeblich, seine vierhundert Pfund herumzudrehen und legte schließlich die Hand auf seine flache Stirn. Hrhons Schuppenhaut fühlte sich heiß und trocken an. »Was haben sie dir getan?« murmelte sie noch einmal. Plötzlich erfüllte sie heißer, kaum mehr zu bändiger Zorn. Aus schmalen Augenschlitzen sah sie zu Angella auf.
»Du Bestie!« zischte sie. »Dafür wirst du bezahlen.«
»So?« Angella lächelte. »Habe ich deinem Schoßhündchen weh getan? Aber keine Sorge – er wird bald von seinen Leiden erlöst sein. Packt ihn!« Die letzten Worte galten den beiden Männern, die den Waga hereingebracht hatten.
Die beiden wollten gehorchen, aber Tally fuhr mit einer so wütenden Bewegung herum, daß sie mitten im Schritt stockten und unsicher zu Angella aufsahen.
»Einen Augenblick noch, Angella«, sagte Tally. »Ich bitte dich. Er ist mein Freund.« Ihr Gaumen war trocken vor Aufregung. Sie konnte kaum sprechen. Ihre Chancen standen eins zu tausend, das wußte sie. Aber sie hatte keine Wahl.
Und zu ihrer eigenen Überraschung nickte Angella nach ein paar Sekunden. In ihren Augen blitzte es spöttisch.
»Wie rührend«, sagte sie. »Aber bitte – nimm Abschied von deinem Freund. Es ist ja nicht für lange – falls du an ein Leben nach dem Tode glaubst, heißt das.«
Tally schluckte die Bemerkung herunter, die ihr auf der Zunge lag. Sie hatte so erbärmlich wenig Zeit, daß sie es sich nicht leisten konnte, auch nur eine einzige Sekunde davon zu verschwenden.
»Es... es tut mir so unendlich leid, Hrhon«, sagte sie, leise, aber nicht so leise, daß Angella die Worte nicht hören konnte. »Ich wollte noch so viel mit dir erleben. Und jetzt endet es so.«
Hrhon blickte sie an. Seine Augen waren trüb vor Schmerz. Verstand er sie? Sie betete, daß sein Geist nicht bereits so umnebelt war, daß er nicht begriff.
»Wir werden uns wiedersehen, mein Freund«, sagte sie lächelnd. »In einer anderen Welt. Und du gehst nicht allein. Hast du noch die beiden Andenken, die wir aus dem Turm mitgebracht haben?«
Angella sog hörbar die Luft ein und fuhr auf der Stelle herum. Sie hatte begriffen.
Aber so schnell sie war – Hrhon war schneller.
Seine Arme verschwanden mit einem scharrenden Laut im Inneren seines übergroßen Schildkrötenpanzers. Und als sie wieder auftauchten, hielt er in jeder Hand eine der kleinen tödlichen Drachenwaffen.
Angella schrie zornig auf und griff zum Schwert, und neben Tally war plötzlich eine rasche, erschrockene Bewegung. Ein Schwert blitzte.
Tally ließ sich zur Seite fallen, trat dem Mann gezielt in den Leib und warf sich abermals herum, als er zusammenbrach. Sie versuchte gar nicht erst, aufzuspringen, denn sie wußte, daß sie im gleichen Moment von einem halben Dutzend Klingen durchbohrt sein würde, sondern ließ sich nach hinten kippen, Hrhons gewaltigen Panzer als Deckung über sich, richtete die beiden Waffen auf Angella und die Männer neben ihr und stieß einen schrillen, unartikulierten Schrei aus.
Angella erstarrte mit einer Plötzlichkeit, die mehr als alle Worte deutlich machten, daß sie die Wirkung der Laserwaffen nur zu gut kannte. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Haß und Wut. Aber sie stand starr wie eine Statue. Nur in ihren Augen war noch Leben.
»Wenn ich du wäre, Angella«, sagte Tally gezwungen ruhig, »würde ich meinen Männern befehlen, die Waffen zu senken.« Sie wedelte drohend mit einem der beiden Laser. »Wahrscheinlich können sie mich umbringen, ehe ich Hallo sagen kann«, fuhr sie fort. »Aber ich bin sicher, ich kann vorher noch abdrücken.«
Angella schwieg verbissen. Ihre Zungenspitze fuhr nervös über ihre Lippen. Tally konnte direkt sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.
»Ich würde tun, was sie sagt«, sagte Jandhi ruhig. »Sie schießt, Angella. Sie hat nicht mehr viel zu verlieren, weißt du?«
»Du kommst nie hier heraus«, sagte Angella gepreßt.
»Auch mit diesen Dingern nicht.«
»Möglich«, antwortete Tally. »Aber du auch nicht. Also?«
Wieder vergingen endlose Sekunden, in denen Angella sie nur voller stummem Haß anstarrte. Dann nickte sie. Tally sah, wie schwer ihr die Bewegung fiel.
»Gut«, sagte sie. »Aber wenn du überhaupt noch eine Chance hattest, am Leben zu bleiben, hast du sie gerade verspielt, Liebling.«
Tally ignorierte sie, »Was ist hinter mir, Weller?« fragte sie.
»Ein Kerl mit einer Axt«, antwortete Weller ruhig. »Soll ich sie ihm in den Hals schieben?«
Tally unterdrückte ein Lächeln. »Nein«, sagte sie.
»Aber wenn er sie nicht sofort wegwirft, hackst du ihm ein paar Zehen damit ab.«
Hinter ihr klirrte Metall auf Stein.
»Du kannst aufstehen«, sagte Weller.
Ganz vorsichtig erhob sich Tally; nicht ohne vorher einen raschen Blick in die Runde geworfen zu haben. Was sie sah, gefiel ihr nicht – Angellas Männer standen allesamt wie zur Salzsäule erstarrt da. Manche von ihnen hatten noch immer die Waffen erhoben, aber niemand schien ernsthaft den Gedanken zu erwägen, sich auf sie oder Weller zu stürzen. Dabei hatte Tally weitaus mehr den Eindruck, daß es Sorge um das Leben ihrer Anführerin war als Angst vor den Waffen, die sie in Händen hielt.
Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf ein Schwert, das einer der Männer fallengelassen hatte. Weller verstand den Wink und hob die Waffe auf. Tally wich ein paar Schritte zum Beckenrand zurück, drehte sich halb im Kreis und musterte das Dutzend Bewaffneter finster. Ihr Rücken war frei, und abgesehen von der Stelle, an der Hrhon sich schwerfällig zu erheben versuchte, hatte sie freies Schußfeld. Trotzdem fühlte sie sich alles andere als sicher.
»Weller, Hrhon – ins Boot!« befahl sie scharf.
Weller sprang auf den unsichtbaren Widerstand unter der Wasseroberfläche herab, ehe sie die Worte vollends ausgesprochen hatte, während der Waga nur langsam und schwankend auf die Füße kam. Er mußte schlimmer verletzt sein, dachte Tally besorgt, als sie bisher angenommen hatte.
Angella folgte den Bewegungen des Waga aus Augen, die vor Haß sprühten. »Mistvieh, sagte sie halblaut.
»Das zahle ich dir heim.«
»Dazu wirst du keine Gelegenheit mehr haben, Angellaliebling«, sagte Tally freundlich. »Ich glaube nicht, daß wir uns wiedersehen.« Sie lächelte und deutete auf Hrhon. »Manchmal ist es ganz praktisch, eine lebende Waffenkammer bei sich zu haben, nicht?«
»Ja«, fauchte Angella. »Das nächste Mal schneide ich seinen Panzer auf und sehe nach, was darunter ist.« Sie ballte zornig die Faust. »Du kommst hier nicht heraus. Meine Männer haben den Schuppen umstellt. Und selbst wenn, kommst du nicht aus der Stadt.«
»Wir werden sehen«, sagte Tally lächelnd. »Auf jeden Fall –« Sie brach ab, als sich Hrhon nicht neben ihr ins Wasser plumpsen ließ und die ganze unter der Wasserobefläche verborgene Konstruktion zu zittern und beben begann. Karan stieß ein erschrockenes Keuchen aus.
»Heda!« rief er. »Das geht nicht. Für solche Lasten ist das Boot nicht ausgelegt.«
»Dann mach' es leichter«, antwortete Tally lakonisch.
»Wirf ein paar der Säcke über Bord.« Karan wollte abermals widersprechen, aber Tally schnitt ihm mit einer wütenden Bewegung das Wort ab und richtete wie durch Zufall einen der beiden Laser auf ihn. »Beeil' dich lieber«, sagte sie.
Karan preßte die Lippen aufeinander, tat aber, was sie ihm befohlen hatte.
»Angella hat recht«, sagte Jandhi plötzlich. »Du hast keine Chance, ihren Männern zu entkommen. Bleib hier, bis meine Krieger hier sind, dann bist du sicher.«
»Wie in Abrahams Schoß, wie?« fragte Tally spöttisch.
»Jedenfalls werde ich dich nicht zu Tode foltern lassen«, erwiderte Jandhi ernst.
Tally antwortete gar nicht, sondern sah ungeduldig zu Karan zurück, der bereits einen der schweren Leinensäcke über Bord geworfen hatte und sich mit einem zweiten abquälte. Hrhon hatte das kleine Boot mittlerweile ebenfalls erreicht, machte aber keine Anstalten, Karan zu helfen. Er hatte kaum mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten.
»Du schießt ja doch nicht«, sagte Angella plötzlich. In ihren Augen erschien ein warnendes Funkeln. »Wenn du diese Waffe hier drinnen abfeuerst, stirbst du auch.«
»Möglich«, erwiderte Tally lakonisch. »Aber nicht allein. Ich war schon immer ein geselliger Mensch, weißt du?« Sie lachte hart. »Und ich schwöre dir, daß du vor mit stirbst, Angella.«
»Gib auf, Tally«, sagte nun auch Jandhi. »Angella hat recht – du hast keine Chance. In ein paar Minuten sind Nil und meine Krieger hier. Dann bist du in Sicherheit!
»In ein paar Minuten?« wiederholte Tally. Sie wandte sich an Karan und Weller. »Ihr habt es gehört. Beeilt euch lieber.«
Wellers Bewegungen wurden eindeutig hastiger, während Karan sie nur voller stummer Wut anstarrte und sich in das Boot hinabbeugte. Einen Moment lang hantierte er schnaubend darin herum, dann hob er ein gewaltiges, spitzes Dreieck aus Holz hervor, drehte sich herum und balancierte, unter seiner Last schwankend, zum Heck des Schiffes und darüber hinaus.
Es war ein fast absurder Anblick – in der herrschenden Dunkelheit sah es wirklich so aus, als wandele er über das Wasser. Erst als er die kleine Kaimauer fast erreicht hatte, blieb er stehen, setzte das hölzerne Dreieck vorsichtig ab, wobei er sein Gewicht mit dem Knie stützte, und patschte eine Weile mit der Hand im Wasser herum, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. Tally sah jetzt, daß sich am unteren Ende des Dreiecks ein hölzerner Zapfen befand, den er offensichtlich unter Wasser in eine dazu geschaffene Vertiefung einpaßte.
»Was ist das?« fragte Tally, wobei sie Karans Konstruktion mit einer Mischung aus Staunen und Mißtrauen musterte. Seine äußere Form erinnerte sie vage an eine Haifischflosse.
»Das Ruder«, knurrte Karan.
»Ruder?« Tally schwieg einen Moment. Dann sagte sie:
»Verzeih, wenn ich eine dumme Frage stelle, Karan – aber müßte es nicht eigentlich unter Wasser sein?«
»Das hier nicht«, knurrte Karan.
Tally seufzte, ging aber nicht weiter auf Karans Worte ein. »Bist du fertig?« fragte sie nur.
Karan nickte abgehackt. »Ja. Geh ins Boot, damit Karan dir zeigen kann, wie es zu steuern ist.«
Tally schüttelte den Kopf. »Das wird nicht nötig sein«, sagte sie. »Karan wird es nämlich selbst steuern, weiß du?«
Karan riß erschrocken die Augen auf. »Du –«
»Du täuschst dich«, unterbrach ihn Tally hart, »wenn du denkst, ich lasse dich hier zurück. Angella würde dich in Stücke schneiden. Ganz langsam.«
»Das stimmt«, sagte Angella haßerfüllt. »Aber nicht halb so langsam wie dich, du Miststück. In einer Stunde habe ich dich. Spätestens.« Sie spie aus. »Selbst, wenn du hier herauskommst, nutzt dir das nichts. Meine Männer haben das gesamte Becken umstellt.«
Tally schwieg einen Moment. Sie glaubte nicht, daß Angella die Wahrheit sagte – schließlich hatte sie nicht damit rechnen können, sich urplötzlich in Tallys Gefangenschaft zu finden, statt umgekehrt. Andererseits wäre Angella sicherlich nie zu dem geworden, was sie war, wenn sie so leicht zu übertölpeln wäre. Vielleicht war es besser, vorsichtig zu sein.
»Du hast recht, Angella«, sagte sie. »Es würde mir wohl nicht viel nutzen, hier herauszukommen. Allein. Deshalb wirst du uns begleiten.«
Angella erbleichte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Das ist nicht dein Ernst«, keuchte sie.
»Und ob«, bestätigte Tally. »Aber ich verspreche dir, dich unversehrt wieder laufen zu lassen – wenn deine Männer vernünftig sind und nichts tun, was du bereuen müßtest, heißt das. Komm jetzt!«
Sie unterstrich ihre Worte mit einer befehlenden Geste, und diesmal gehorchte Angella. Ihr Gesicht war wie Stein, als sie behutsam ins Wasser herabstieg und dicht neben Tally auf den schwankenden Bootsrumpf zuging.
»Du bist wahnsinnig!« keuchte Karan. »Das Boot wird zerbrechen! Solche Lasten hält es nicht aus.«
»Es wird es müssen«, sagte Tally ungerührt. »Oder wir sind alle tot.« Rückwärts gehend wich sie vom Ufer zurück, bis sie die gewölbte Wandung des eigentlichen Bootes hinter sich spürte. Etwas platschte hörbar. Offensichtlich hatte Weller oder Hrhon einen weiteren Sack über Bord geworfen, um Platz für ihre Gefangene zu schaffen.
Tally sah rasch hinter sich. Angella war ins Boot geklettert und saß direkt zwischen Weller und Hrhon. Die gewaltigen Pranken des Waga lagen wie in einer vertrauten Geste auf ihren Schultern. Tally war jetzt sicher, daß Angella ihnen keine Schwierigkeiten bereiten würde. Sie mußte wissen, daß Hrhon ihr Genick wie einen dünnen Ast brechen konnte; selbst in seinem momentanen Zustand.
Sie wartete, bis auch Karan – wenn auch mit sichtlichem Widerwillen – an Bord geklettert war, dann zwängte sie sich selbst auf den letzten, verbliebenen Platz, der normalerweise kaum mehr für ein Kind ausgereicht hätte.
»Los jetzt«, befahl sie.
Karan zögerte noch immer. »Du bringst uns alle um«, behauptete er. »Es wird zerbrechen!«
»Wenn wir hierbleiben, sterben wir garantiert«, antwortete Tally ernst. »Und wahrscheinlich auf wesentlich unangenehmere Art.« Gegen ihre Überzeugung lächelte sie plötzlich. »Mach schon. Wir werden es schaffen. Ich spüre es.«
Karan schnaubte, drehte sich aber mit einem Ruck um und griff nach einem von drei unterschiedlich großen Hebeln, die vor ihm aus der Bootswand ragten.
Ein harter Schlag ging durch das Schiffchen. Dicht unter der Wasseroberfläche zerriß ein Tau mit solcher Plötzlichkeit, daß sein zerfetztes Ende wie eine Schlange aus dem Wasser hervorbrach und nach den Männern auf der Mauer hieb.
Das Boot schoß wie ein Pfeil aus dem Schuppen.
Und dann brach schier die Hölle los.
Drinnen in Karans Bootshaus war das Wasser fast still gewesen; seine Mauern hatten die größte Wucht der Strömung gebrochen. Hier draußen aber war das winzige Boot den tobenden Gewalten schutzlos ausgeliefert. Eine Reihe harter, unglaublich harter Schläge traf seinen Rumpf und schüttelte seine Insassen durch. Gischt spritzte meterhoch und überschüttete Tally mit eisiger Kälte. Hastig ließ sie die Waffen sinken und klammerte sich am dünnen Holz des Rumpfes fest. Trotzdem hatte sie das Gefühl, jeden Moment im hohen Bogen ins Wasser katapultiert werden zu müssen. Das Schiff bockte und stampfte wie ein durchgehendes Pferd. Ein tiefes, beinahe schmerzhaft klingendes Ächzen drang aus dem unter Wasser liegenden Teil des Schiffes. Karan begann zu schreien.
Tally war fast blind. Himmel und Wasser verschwanden hinter einer Mauer aus sprühender weißer Gischt; trotzdem erkannte sie noch, daß sie sich mit geradezu phantastischer Geschwindigkeit vom Schuppen entfernten – und geradewegs auf die Staumauer zuschossen!
»Wo sind die Ruder!« brüllte sie. »Karan, zum Teufel – wie lenkt man dieses Ding!«
»Überhaupt nicht«, schrie Karan zurück. »Halt dich fest und bete, daß Jan die Schleuse öffnet, ehe wir an der Wand zerschellen!«
Tally betete nicht, aber sie versuchte verzweifelt, durch den Schleier aus sprühender weißer Gischt hindurchzusehen. Für einen Moment glaubte sie, winzige hastende Gestalten am Ufer zu erkennen, die sich flußaufwärts bewegten, auf die Wehrmauer zu, die sie durchqueren mußten. Angellas Männer. Selbst, wenn es Jan gelang, die Schleuse zu öffnen – sie würden sich hindurchkämpfen müssen.
Wenn sie dann noch lebten – denn das Boot schaukelte und bockte jetzt immer mehr. Tally konnte die dünnen Spanten unter ihrem Körper ächzen hören. Noch drei, vier dieser entsetzlichen Erschütterungen, dachte sie, und das Schiff würde wirklich zerbrechen. Das Knirschen des überlasteten Rumpfes hörte sich an wie Schmerzensschreie.
Aber sie sah auch, daß sie sich jetzt nicht mehr in gerader Linie auf die dem Schlund zugewandte Seite des Beckens zubewegten, sondern eine sehr langgezogene Spirale begonnen hatten.
Und sie begriff beinahe zu spät, was diese jähe Kursänderung bedeutete...
Das Boot jagte mit der Geschwindigkeit eines Pfeiles in den Strudel hinein, tauchte für eine endlose, schreckliche Sekunde vollends unter und brach schäumend wieder aus dem Wasser hervor.
Für einen ganz kurzen Moment hatte Tally den Eindruck, zwei gigantische weiße Dinge zu sehen, die zu beiden Seiten des Rumpfes aus dem Schiff ragten, absurde Konstruktionen wie hölzerne Segel, riesig und spitz zulaufend, aber unsinnigerweise so angebracht, daß sie normalerweise unter der Wasseroberfläche liegen mußten. Aber sie hatte Augen und Mund voller Wasser und war viel zu sehr damit beschäftigt, nach Atem zu ringen, um richtig hinsehen zu können, und im nächsten Moment klatschte das Schiff mit einem so ungeheuerlichen Schlag ins Wasser zurück, daß sie mit dem Kopf gegen die Bordwand prallte und sekundenlang benommen hocken blieb.
»Die Schleuse!« schrie Karan. »Sie geht auf! Jan hat es geschafft. Sie geht auf!«
Tally stemmte sich mühsam hoch und blickte nach Süden. Die Mauer des Hafenbeckens lag weiter wie ein fett gemalter Tuschestrich vor ihr. Schatten bewegten sie darauf, Metall blitzte, aber sie konnte nicht die mindeste Lücke in der nachtschwarzen Barriere erblicken, die zwischen ihnen und der Freiheit lag.
Dann begann sich das Boot zu bewegen. Und es waren keine willkürlichen wilden Stöße mehr, sondern ein fast sanftes Drehen, als es von einer neuen, sehr machtvollen Strömung gepackt wurde...
... und den spitzen Bug nach Norden richtete.
Direkt auf den Schlund.
Tally schrie in heller Panik auf, als sie begriff. Wo Sekunden zuvor noch das gewaltige eiserne Schleusentor gewesen war, gähnte eine Lücke, aus der Entfernung betrachtet nicht breiter als ihre Hand, und mit hoch aufschießendem, gischtenden Wasser gefüllt. Aber sie wurde breiter, im gleichen Maße, in dem die Geschwindigkeit ihres Schiffes zunahm.
Und dahinter lag der Wasserfall, eine Glocke aus sprühendem Nebel und Donner, die Kante der Welt, über die der Fluß hinausschoß, um sich in der Leere zu verlieren.
»Dieser Idiot!« brüllte Weller. »Er hat das falsche Tor geöffnet!«
Tally wollte antworten, aber sie konnte es nicht. Sie war gelähmt. Der Anblick paralysierte sie, lähmte ihren Körper, ihre Gedanken, ihre Seele. Das Boot schoß, schneller und schneller werdend, auf die sich öffnende Schleuse zu, und plötzlich begann Karan wie besessen an seinen Hebeln zu zerren und zu reißen. Immer weiter und weiter stieg ihre Geschwindigkeit. Die Schleuse jagte auf sie zu, wuchs von einer handbreiten Spalte zu einem gewaltigen klaffenden Maul und nahm für einen unendlich kurzen Moment die gesamte Welt ein.
Dann waren sie hindurch, und vor ihnen lag nichts mehr als eine halbe Meile Wasser, das so schnell dahinschoß, daß es zu Glas zu werden schien. Gischt und Donner blieben hinter ihnen zurück. Das Boot beschleunigte noch weiter, wurde schneller und schneller und schneller und schien sich schließlich gar ein Stückweit aus dem Wasser zu herauszuheben.
»Festhalten!« brüllte Karan.
Seine Worte gingen im urgewaltigen Tosen des Wasserfalles unter. Das Schiff schoß mit der Schnelligkeit eines Pfeiles in die Glocke aus sprühendem Wasser und Lärm hinein, jagte auf den Rand der Welt zu und ritt noch einen Moment auf dem glitzernden Strom, der fünfzig, hundert Meter weit ins Nichts hinausführte, ehe er sich senkte und zu feuchtem Staub wurde, der fünf Meilen weit in die Tiefe stürzte.
Dann war unter ihnen nichts mehr. Die Zeit schien stehenzubleiben. Tally sah winzige, glitzernde Wassertropfen, die schwerelos in der Luft zu schweben schienen, den gewaltigen donnernden Strom, der sie hinausgerissen hatte, die Klippe, die plötzlich nicht mehr vor, sondern für einen unendlich kurzen Moment neben und dann hinter ihnen lag, und dann...
... und dann begann sich der Bug des Schiffes langsam zu senken.
Und der Sturz in die Hölle begann.
»Dann hat sie also auch Karan und den anderen den Tod gebracht.« Die Stimme des Mädchens bebte vor Schrecken. Es war hell geworden, und das Kind war müde, so müde wie niemals zuvor in seinem Leben, aber die Worte der dunkelhaarigen Fremden hatten es so in Bann geschlagen, daß es jetzt einfach unmöglich war, einzuschlafen. Gleich, wie lange es dauerte, sie wollte sie zu Ende hören.
Nach einer Weile nickte die Frau, gleichzeitig schüttelte sie den Kopf. »Ja. Aber erst später.«
»Später?« Das Mädchen begriff nur zögernd, daß die Geschichte noch nicht zu Ende war. Gleichzeitig war es erleichtert.
»Viel später«, antwortete die Fremde. Sie lächelte, sah wieder
- wie zahllose Male zuvor im Laufe dieser Nacht – zum Himmel empor und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch sie wirkte jetzt müde. Ihre Art zu sprechen, war in den letzten Stunden schleppender geworden. Ihre Stimme klang matt. Aber das Lächeln in ihren Augen war so sanft und warm wie zu Anfang.
»Ihre Geschichte könnte jetzt zu Ende sein«, sagte sie leise.
»Möchtest du das?«
Das Mädchen überlegte nur einen Sekundenbruchteil, dann schüttelte es so heftig den Kopf, daß seine Haare flogen. Es wollte ganz entschieden nicht, daß Tallys Geschichte jetzt zu Ende war; zum einen, weil es ein Kind war, und es auf die Fortsetzung der Erzählung brannte. Aber da gab es noch einen anderen, sehr viel wichtigeren Grund, den es selbst in dieser Klarheit nicht begriff, aber sehr deutlich spürte. Ja, es hatte direkt Angst davor, daß die Fremde nun sagen könne, Tally und die anderen hätten sich zu Tode gestürzt. Es wäre eine Ende, sicher, aber kein befriedigendes. Nach der Meinung des Kindes brauchte jede Geschichte ein Ende, nicht unbedingt ein gutes, aber einen Abschluß. Eine Geschichte wie die Tallys durfte nicht so enden, denn das hätte nichts anderes bedeutet, als daß sie wahr war. Geschichten, die man sich ausdachte, endeten anders; nur die Wirklichkeit war grausam genug, eine jahrzehntelange Anstrengung zu einem Witz herabzusetzen. Zum ersten Mal, seit das Mädchen der Fremden zuhörte, bekam sie Angst, daß Tallys Abenteuer mehr als eine Geschichte sein konnten.
»Sie haben den Schlund erreicht?« fragte das Mädchen. Seine Stimme bebte vor Angst.
Die Fremde nickte. »Das haben sie, Kind. Und mehr. Sie haben gefunden, wonach Tally gesucht hatte, all die Zeit.«
»Aber wie?« fragte das Mädchen. »Der Abgrund war fünf Meilen tief!«
»Sicher.« Zur Enttäuschung des Kindes sprach die Fremde nicht weiter, sondern stand auf, reckte ihre vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder und gähnte ungeniert, ohne die Hand vor den Mund zu heben. Ihr Benehmen war dem Kind peinlich. Ihre Mutter hätte sie für ein solches Betragen gescholten, und nun tat diese Frau genau das, was ihr, dem Kind, bei Strafe verboten war.
»Erzähl mir, wie es weiterging.«
Die Frau nickte. Ihr Gesicht wirkte grau vor Müdigkeit. Das Mädchen glaubte zu spüren, daß sie Angst hatte. »Sicher«, sagte sie. »Aber nicht hier!« Sie sah sich suchend um, blickte abermals in den Himmel und deutete schließlich auf den kleinen Buchenhain, der sich zwei Meilen entfernt erhob.
»Laß uns dorthin gehen«, sagte sie. »Der Tag wird heiß. Vielleicht finden wir dort drüben ein wenig Schatten und Wasser.«
Das Mädchen stand gehorsam auf, und während sie Seite an Seite den grasbewachsenen Hang hinabgingen, begann die Frau wieder zu erzählen:
»Im ersten Moment waren alle starr vor Schreck. Wahrscheinlich dachten sie an den Tod, jeder auf seine Weise, und Tally tat es ganz bestimmt. Der Sturz schien endlos zu dauern, und...