Der Himmel sah aus wie eine schmutzige Wolldecke, grau und zerknittert und so tief, daß man meinte, ihn anfassen zu können, wenn man nur den Arm ausstreckte. In der Luft lag der schwere Geruch eines bevorstehenden Gewitters. Dunkle Wolken ballten sich weit draußen über dem Meer zusammen. Der Wind nahm zu, in wenigen Minuten würde er zum Sturm werden. Haushohe Brecher schmetterten mit solcher Wucht gegen die Klippen, daß die Gischt fast bis zur Uferstraße hinaufspritzte. Es war kalt. Der Sturm hatte die Möwen vom Himmel gewischt. Selbst das Licht wirkte grau.
Besorgt sah Torian auf das Meer hinaus, wo sich immer gewaltigere Wolkengebirge auftürmten, die den Tag schon am frühen Vormittag zur Nacht werden ließen. Selbst hier, noch Meilen vom Zentrum des Sturmes entfernt, begannen die Schatten schon finsterer zu werden.
Er sog ein paarmal prüfend die Luft ein und beobachtete weiter die heranjagenden Wolken. Am Horizont zeigte sich erstes Wetterleuchten, und dann und wann glaubte er das schwache Echo eines noch weit entfernten, aber mächtigen Donners zu hören. Auf See tobte das Unwetter bereits. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es mit aller Macht über das Land hereinbrach. Er hatte kein besonderes Verlangen danach, dann noch hierzusein.
Garth drängte sein Pferd näher an ihn heran und rief etwas. Der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen, so daß Torian nur Fetzen verstand.
»...zu weit... schaffen... nicht... Versteck...«
Torian nickte. Garth hatte vollkommen recht – sie mußten irgendwo einen Unterschlupf finden, und zwar schnell. Er hatte die Gewalt solcher Küstengewitter noch nicht selbst erlebt, aber er hatte genug darüber gehört, um auf diese Erfahrung getrost verzichten zu können. Armar lag noch gute zwei Meilen entfernt; eine lächerliche Entfernung, wenn man die weit mehr als hundert Meilen bedachte, die sie in den vergangenen Tagen zurückgelegt hatten, aber mindestens eineinhalb Meilen zuviel, um die Stadt rechtzeitig zu erreichen und hinter ihren Mauern Schutz vor dem Unwetter zu finden.
Er blickte zu Shyleen zurück. Die ehemalige Priesterin war ein Stück zurückgefallen. Sie litt am meisten unter der Anstrengung des Gewaltrittes. Sie bemuhte sich fast krampfhaft, nicht zu zeigen, daß sie es nicht gewohnt war, lange im Sattel zu sitzen. Torian bewunderte ihre Willenskraft insgeheim, wenn er sich auch hütete, sich von seinen Gefühlen etwas anmerken zu lassen. Jede andere Frau mit Shyleens Vorgeschichte und körperlicher Verfassung hatte langst aufgegeben, doch die Expriesterin hatte bisher nicht einmal einen Laut der Klage hören lassen. Wahrend der ersten Tage hatte Torian mit fast diebischem Vergnügen beobachtet, wie sie sich aus falsch verstandenem Stolz besonders aufrecht hielt, wodurch ihre Muskeln noch schneller als normal verkrampften. Doch mittlerweile war sein Vergnügen einer flüchtigen Hochachtung gewichen, weil sie kein einziges Mal um eine längere Pause oder ein langsameres Tempo gebeten hatte, obwohl sie langst wundgeritten sein mußte und ihr wahrscheinlich jeder einzelne Knochen im Leib weh tat.
Er verscheuchte den Gedanken und lenkte sein Pferd mit sanftem Schenkeldruck von der gepflasterten Uferstraße hinunter. Wenn sie irgendwo einen Unterschlupf finden konnten, dann nur in den Hügeln, die die Straße zum Land hin säumten.
Der Regen holte sie ein. Die ersten Tropfen fielen und wurden binnen weniger Sekunden zu einer wahren Sintflut aus eisigem Wasser. Der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet. Das Wasser fiel wie eine nebelige Wand, die die Sicht auf wenige Meter begrenzte. Der Boden unter den Hufen ihrer Pferde verwandelte sich binnen Augenblicken in sumpfigen Morast, und dort, wo die Erde zu hart war, das Wasser aufzusaugen, entstanden kleine, rasende Sturzbäche. Torian zog die Kapuze weiter in die Stirn. Tief über den Hals des Pferdes gebeugt, ritt er weiter. Zwischendurch richtete er sich immer wieder kurz auf, schirmte die Augen mit der Hand ab und blickte sich nach einem geschützten Platz um. Die Regentropfen stachen wie winzige Nadeln in seine Haut. Es tat weh, wenn sie seine Augen trafen. Allmählich begann er zu begreifen, warum Garth ihn so eindringlich gewarnt hatte. Obwohl er bereits bis auf die Haut durchnäßt war, war das alles nur eine Kostprobe; das Unwetter hatte sie mit seinen Ausläufern kaum gestreift, wie die langen Pausen zwischen Blitz und Donner zeigten.
Seine Kleider waren binnen Augenblicken durchnäßt, und die Kälte ließ ihn den eisigen Biß des Windes doppelt schmerzhaft spüren. Torian duckte sich noch tiefer über den Hals seines Pferdes. Der Sturm zerrte an seinen Haaren und Kleidern und war inzwischen so stark geworden, daß er ihn fast aus dem Sattel wehte. Für einen Moment versuchte er sich vorzustellen, welche Gewalten erst im Zentrum des Unwetters toben mochten, verdrängte den Gedanken aber sofort wieder. Vielleicht war es besser, sich darauf zu konzentrieren, einen Unterschlupf zu finden. Und zwar schnell.
Trotzdem wäre er um ein Haar an der Höhle vorbeigeritten, denn die Sicht wurde immer schlechter. Dazu kam das Heulen des Windes, das rasch zu einem solchen Getöse anwuchs, daß eine Verständigung – selbst schreiend – kaum mehr möglich war. Die drei Reiter tasteten sich fast blind durch ein Chaos aus beinahe waagerecht peitschenden Regenschleiern und Kälte und grauem Licht und dem Gebrüll des Sturmes. Erst im allerletzten Moment entdeckte Torian den länglichen, kaum zehn Schritte entfernten Riß in der dem Meer abgewandten Flanke eines Hügels und zugehe sein Pferd.
Er schirmte die Augen mit der Hand ab und sah genauer hin. Der Riß im feuchtglänzenden Gestein war schmal, aber offensichtlich sehr tief, und er mußte ein gutes Stück in den Hügel hineinführen. Torian begriff plötzlich, welches Glück sie gehabt hatten, ihn überhaupt zu sehen. Normalerweise mußte er so gut wie unsichtbar sein, verborgen hintermannshohem Gestrüpp und ineinander verschlungenen Dornenranken, aber der Regen hatte das Unkraut niedergeknüppelt und der Sturm die Ranken zur Seite gerissen. Für einen ganz kurzen Moment kam ihm dieser Zufall beinahe etwas zu groß vor, aber dann schalt er sich selbst in Gedanken einen Idioten. Zuviel Mißtrauen konnte ebenso tödlich sein wie zuwenig.
Mühsam richtete er sich im Sattel auf und blickte zurück. Der Sturm traf ihn wie ein Faustschlag, als er ihm das Gesicht zuwandte. Er preßte die Hand vor die Augen und blinzelte zwischen den Fingern hindurch, konnte aber trotzdem kaum sehen. Wind und nadelspitze Regentropfen trieben ihm die Tränen in die Augen, und für einen ganz kurzen Moment wurde es so schlimm, daß er kaum mehr atmen konnte.
Shyleen und Garth waren dicht hinter ihm; zwei über ihren Pferden zusammengesunkene Gestalten, die von der Wand aus fallendem Wasser zu verschwimmenden Silhouetten verzerrt wurden.
Stumm deutete er auf die Höhle und hoffte, daß die beiden die Geste sahen und richtig verstanden. Es war unmöglich, sich mit Worten zu verständigen.
Garth hob den Kopf und änderte seine Richtung, während Shyleen überhaupt nicht reagierte. Torian ritt das kurze Stück zurück, packte die Zügel ihres Reittieres und zwang es herum. Der plötzliche Ruck ließ das Mädchen fast aus dem Sattel stürzen, aber es gelang ihr gerade noch rechtzeitig, sich an der zottigen Mähne des Pferdes festzuklammern. Erschrocken sah sie zu ihm auf. Torian gestikulierte erneut in die Richtung, in die Garth bereits ritt, und diesmal verstand Shyleen. Aber sie reagierte nicht. Vielleicht war ihre Kraft einfach aufgebraucht.
Die letzten zehn Meter wurden die schwersten ihres bisherigen Weges. Shyleen erwachte endlich aus ihrem Dämmerzustand und leistete wenigstens keinen Widerstand mehr, aber es war, als versuche das Unwetter noch einmal mit aller Kraft, sie am Erreichen der Höhle zu hindern.
Eine brüllende Wand aus Sturm schlug ihnen entgegen und zwang sie zur Seite. Diesmal konnte sich selbst Torian nur mit knapper Not auf dem Rücken seines Pferdes halten, während es Shyleen nicht mehr gelang. Ihr Pferd scheute. Shyleen schrie auf – Torian hörte es nicht, aber er sah, wie sich ihr Mund öffnete und ihr Gesicht zu einer Grimasse des Schreckens verzerrte, dann verloren ihre Finger endgültig den Halt, und sie wurde aus dem Sattel geschleudert. Noch während sie fiel, packte sie der Sturm mit unsichtbaren Händen und wirbelte sie durch die Luft, bevor sie unsanft in den Morast stürzte und reglos liegenblieb. Ihr Pferd stob in wilder Panik davon und verschwand im Sturm.
Torian stieß einen wütenden Fluch aus, packte Garth am Arm und drückte ihm die Zügel seines Reittieres in die Finger. Er sank bis zu den Knöcheln im aufgeweichten Boden ein und mußte sich mühsam gegen den Wind vorwärtskämpfen, der wie mit Eisfäusten auf sein Gesicht einschlug. Geduckt arbeitete er sich zu Shyleen vor. Sie war bewußtlos. Auf ihrem Gesicht war Blut, und in ihrem rechten Arm klaffte ein Riß, der heftig blutete. Aber zumindest lebte sie noch, und das war bei einem so üblen Sturz wie dem ihren schon fast mehr, als man erwarten konnte. Wäre sie statt in den weichen Morast auf einen Felsen gestürzt...
Torian zog es vor, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen, hob Shyleen statt dessen hoch und taumelte hinter Garth her. Wie ein letzter bösartiger Hieb traf ihn eine weitere Bö und schleuderte ihn mehr durch den Felsriß, als daß er aus eigener Kraft ging. Keuchend sank er dicht hinter dem Höhleneingang in die Knie, kämpfte einen Moment lang vergeblich um sein Gleichgewicht und spürte kaum noch, wie ihm Garth seine reglose Last abnahm.
Es dauerte lange, bis sich sein hämmernder Pulsschlag wieder so weit beruhigt hatte, daß er die Kraft aufbrachte, sich umzusehen. Viel war es allerdings nicht, was er erkannte; die Dunkelheit hier drinnen war fast vollkommen. Die Höhle war größer, als er erwartet hatte. Ein Hohlraum von mehr als zwanzig Fuß Breite und gut zehn Fuß Höhe, der sich wie ein Schlauch in den Hügel hineinwand und dabei verengte, ehe er in Ungewissem Dunkel verschwand. Sie fanden nicht nur selbst darin Schutz, sondern auch die Pferde. Torian fragte sich beunruhigt, ob sie wohl die einzigen waren, die in diesem Felsriß Schutz vor dem Orkan gesucht hatten. Ganz instinktiv tastete seine Hand nach dem Schwert an seiner Seite.
Das Toben des Sturmes war hier nur noch als gedämpftes Heulen zu vernehmen, aber wie zum Ausgleich begann der Boden unter ihnen nun ganz leicht, aber in schnellem Rhythmus zu vibrieren. Der Orkan war heftig genug, die ganze Küste zu erschüttern. Torian war plötzlich fast froh, daß sie nicht in Armar waren. Er war nicht mehr sicher, ob die Stadtmauern einem solchen Sturm trotzen konnten...
Garth legte Shyleen wenig sanft auf dem Boden ab, zog eine Fackel aus den Satteltaschen und entzündete sie, während sich Torian um die Bewußtlose kümmerte. Ihr Arm blutete noch immer heftig, aber die Wunde sah schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit war. Sie hatte sich einen langen, aber nicht besonders tiefen Riß zugezogen, der rasch heilen und vermutlich nicht einmal eine Narbe zurücklassen würde. Aber das war nur eine von zahllosen kleinen Wunden, und ihr Allgemeinzustand war schlecht.
»Gib mir etwas Brennmoos«, bat er. »Wir müssen die Wunde reinigen.«
Garth reichte ihm einige Stränge der grauen Masse. Torian zog sie mit spitzen Fingern auseinander, beugte sich über Shyleen und preßte das Moos auf die Wunde.
Der Schmerz war stark genug, Shyleen aus ihrer Ohnmacht zu reißen. Stöhnend schlug sie die Augen auf und versuchte instinktiv, seine Hand abzustreifen. Ihr Gesicht war grau vor Schmerz und Erschöpfung. Sie sah plötzlich sehr viel älter aus, als sie war. »Bleib liegen«, sagte Torian und drückte sie mit der freien Hand auf den Boden zurück. »Der Schmerz läßt gleich nach. Es muß sein.«
Shyleen nickte und biß die Zähne zusammen. Wieder mußte Torian ihre Kraft bewundern. Das Brennmoos trug seinen Namen wirklich zu Recht. Es gab kaum etwas Besseres, eine Wunde zu reinigen und Brand oder Entzündungen zu verhindern, aber er wußte auch aus eigener Erfahrung, wie sehr seine Berührung schmerzte. Trotzdem gab Shyleen nicht den kleinsten Laut von sich. Erst als er fertig war und aus einem Streifen Stoff einen behelfsmäßigen Verband anlegte, atmete sie hörbar auf.
»Endlich fertig, du Schlächter?« stöhnte sie. Sie versuchte zu lächeln, aber es mißlang kläglich. »Warum bist du nicht Heilkundiger geworden, wenn es dir solchen Spaß macht, hilflose junge Mädchen zu quälen?«
Torian lächelte pflichtschuldig, streifte seinen Umhang von den Schultern und legte ihn zusammengerollt unter Shyleens Kopf, ehe er aufstand und zum Ausgang der Höhle zurückging.
»Das hätten wir uns alles sparen können, wenn ihr auf mich gehört hättet«, brummte Garth.
Torian antwortete nichts, sondern blickte schweigend in den Regen hinaus. Das Unwetter war noch schwerer geworden. Der Regen war in Hagel übergegangen; taubeneigroße Körner, die beim Aufprall kleine Krater in die schlammige Erde rissen und einen neuen Ton in das Konzert des Orkanes brachten: ein dumpfes, rasendes Hämmern wie Huf schlag. Torian schauderte, als ihm abermals klar wurde, welches Glück sie gehabt hatten. Ungeschützt hätten sie diesen Hagelsturm kaum unverletzt überstanden. Möglicherweise gar nicht. Der Sturm fegte über die Hügel, entwurzelte Büsche und sogar ganze Bäume. Blitz auf Blitz zuckte vom Himmel und zerriß die Dunkelheit. Fast ununterbrochen grollte der Donner, so laut, daß Torian glaubte, die Erde beben zu spüren. Es klang wie das Brüllen eines zornigen Drachen.
Gedankenverloren starrte er in die tobenden Gewalten hinaus und zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er hatte Garth nicht einmal kommen hören.
»Ich habe schon manches Küstengewitter erlebt«, sagte Garth kopfschüttelnd. Er mußte schreien, um sich überhaupt verständlich zu machen. »Aber das hier übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe. Verdammt, ich glaube, die Welt geht unter.«
Torian wandte sich um. Begriff Garth denn nicht, daß er sich nicht unterhalten wollte? »Wir müssen ein Feuer machen«, sagte er. »Ich sehe nach, ob ich etwas Brennbares finde.«
Hastig entzündete er eine weitere Fackel und trat einige Schritte tiefer in die Höhle hinein. Es war nicht mehr als eine Flucht, und er versuchte nicht mal sonderlich geschickt, das zu verbergen. Auf dem Boden lag genug trockenes Holz und Reisig, doch in Wahrheit ging es ihm gar nicht um Brennmaterial. Er wollte einfach nur ein paar Minuten allein sein. Garth hatte mit seinem Vorwurf recht, aber Torian war zu stolz, seinen Fehler einzugestehen. Er hatte Armar so schnell wie möglich erreichen wollen, doch jetzt, wo das Ziel in greifbarer Nähe lag, wünschte er sich plötzlich, noch weit, weit entfernt zu sein. Im Grunde war die Hafenstadt gar kein Ziel, sondern nur eine Zwischenstation. Sein Leben bestand nur aus Flucht, so weit er sich erinnern konnte. Zumindest, so weit er sich erinnern wollte. Wie hatte Garth erschrocken gesagt, als er erkannt hatte, mit wem er es zu tun hatte? Torian Carr Conn, der berüchtigste Killer im Umkreis von zehntausend Meilen!
Er hatte das Entsetzen, das bei diesen Worten in seinem Blick gewesen war, nicht vergessen.
Die Höhle verengte sich rasch zu einem schmalen Stollen, der in vielen Windungen tiefer in den Hügel hineinführte. Ein paarmal glaubte Torian aus den Augenwinkeln heraus huschende, blitzartige Bewegungen wahrzunehmen, doch sobald er genauer hinsah, stellte er fest, daß es sich nur um das Fackellicht handelte, das sich an Kanten und Vorsprüngen brach und ihm einen Streich spielte. Seine Nerven waren überreizt, und der anstrengende Ritt hatte auch ihn stärker erschöpft, als er sich bislang einzugestehen bereit gewesen war. Aber viel schlimmer als die körperliche Erschöpfung war die Müdigkeit in seinem Inneren, der Wunsch, sich endlich irgendwo in Frieden niederlassen zu können.
Frieden...
Torian lachte, sehr leise und sehr sehr bitter. Offenbar hatten die Götter ihm ein anderes Schicksal zugedacht.
Der erste Abschnitt seiner Flucht hatte ein Ende gefunden, als er sich als Söldner für das scroothische Heer anwerben ließ. Aber seine Abteilung war vernichtet worden, und er hatte sich mit Garth zusammengetan, dem einzigen Überlebenden auf tremonischer Seite, ein Mann, der sein Feind gewesen war und von dem er sich wünschte, daß er jetzt sein Freund war. Garth, genannt »Die Hand«, ein steckbrieflich gesuchter Dieb. Gemeinsam hatten sie die Flucht fortgesetzt; erst vor den Kriegstreibern beider Länder und, seit sie Shyleen aus dem Tempel des Toten Gottes befreit hatten, auch vor den Schwarzen Magiern.
Bei ihren menschlichen Haschern würden sie irgendwann in Vergessenheit geraten, aber die Magier würden sie bis zu ihrem Tode jagen, das war ihm klar. Und vielleicht noch darüber hinaus. Ihre einzige Chance bestand darin, möglichst weit aus diesem Teil der Welt zu fliehen, wenn sie nicht Selbstmord begehen wollten.
Wieder versuchte Torian, die trüben Gedanken abzuschütteln, und konzentrierte sich auf das wenige, was er im blassen Licht der Fackeln von seiner Umgebung erkennen konnte.
Die Höhle erinnerte ihn auf unangenehme Weise an die Gänge und Grotten im Tempel des Toten Gottes, doch sie waren zugleich ganz anders. Auch hier gab es Spuren künstlicher Bearbeitung, aber sie waren uralt, und das Gestein war wirklicher Fels und nicht das vor Äonen zu Stein erstarrte Fleisch einer dämonischen Kreatur. Die Ähnlichkeit hatte andere Ursachen. Etwas war hier sonderbar falsch, ohne daß Torian das Gefühl in Worte fassen konnte. Er entdeckte Winkel und Krümmungen, die nicht auf natürliche Weise entstanden sein konnten und sonderbar falsch wirkten, ohne daß er sagen konnte, warum, sinnverwirrende Linien, wie sie den Bauwerken der Alten Rasse eigen waren. Einen Herzschlag lang fragte sich Torian, ob es wirklich Zufall war, daß er innerhalb kürzester Zeit mehrfach auf Spuren der vor mehr als tausend Jahren untergegangenen Alten Rasse stieß, während er noch vor wenigen Wochen nicht einmal gewußt hatte, daß es sie gab. Der Gedanke kam ihm fast lächerlich vor, aber – hatten sie irgend etwas geweckt in Rador? Allein die Erinnerung an die Geisterstadt ließ ihn wieder vorsichtiger werden; er war in den letzten Minuten sträflich nachlässig gewesen. Auch wenn es im Augenblick keine Anzeichen für eine konkrete Gefahr gab, bedeutete das nicht, daß die Höhle völlig harmlos war. Wenn es überhaupt nur eine Höhle war.
Als wäre der Gedanke ein Auslöser, entdeckte er vor sich auf dem Boden einen Haufen verblichener Knochen. In einem automatischen Reflex zuckte seine Hand zum Schwert und zog es aus der Scheide. Das Schleifen des Metalls hallte überlaut von den schwarzen Felswänden zurück. Vorsichtig ging Torian in die Hocke, hob die Fackel ein wenig höher und berührte den Knochenhaufen mit der Spitze seines Schwertes.
Es waren die Knochen eines nicht besonders großen Tieres, vermutlich eines Hundes, dem aber der Schädel fehlte, so daß er nicht völlig sicher sein konnte. Sie mußten schon lange hier liegen, denn das Fleisch war restlos verwest.
Oder abgenagt...
Torian schauderte. Sicher – es gab harmlose Insekten, die einen Kadaver innerhalb weniger Stunden skelettieren konnten, aber auch eine Menge sehr viel weniger harmloser Wesen, die das in noch kürzerer Zeit fertigbrachten; und denen es herzlich egal war, ob sie einen streunenden Hund oder einen flüchtigen tremonischen Deserteur zwischen die Zähne — oder was auch immer — bekamen. Torian stocherte mit der Schwertspitze in dem Haufen herum, aber er fand keinerlei Spuren, keinen Hinweis, weder auf die eine noch auf die andere Möglichkeit. Es mochte sein, daß sich das Tier zum Sterben in die Höhle zurückgezogen hatte, wie es gelegentlich geschah, aber er wußte nicht, ob dies auch Hunde taten. Ebensogut war möglich, daß es hier getötet oder bereits tot hierhergeschleppt worden war. Er stand auf, hob die Fackel ein wenig höher und ging weiter, allerdings sehr viel langsamer als bisher.
Nach ein paar Schritten fand er einen weiteren Knochenhaufen. Diesmal handelte es sich um den Kadaver eines Pferdes, und er war ebenso säuberlich abgenagt wie der erste.
Kurze Zeit darauf einen dritten, der ihn sehr unangenehm an die Überreste eines Menschen erinnerte...
Nein – das war kein Zufall mehr. Und auch die aasfressenden Insekten erschienen ihm jetzt wenig wahrscheinlich. Im günstigsten Fall mußte die Höhle einem Raubtier als Unterschlupf gedient haben.
Und in allen weniger günstigen Fällen...
Torian packte sein Schwert fester und schwenkte die Fackel über seinem Kopf, um auch die entferntesten Ecken und Winkel auszuleuchten. Er lauschte. Abgesehen vom fernen Grollen des Donners, das nur gedämpft hierherdrang, war es totenstill, aber das war kein Beweis dafür, daß die Höhle wirklich verlassen war. Es wäre bodenloser Leichtsinn, allein weiterzugehen. Ein Raubtier, das schnell genug war, ein Pferd zu fangen, und stark genug, es zu töten, stellte auch für einen Menschen eine Gefahr dar. Selbst für einen Menschen, der eine gut einen Meter lange Überraschung aus Stahl für den hungrigen Bewohner dieser Höhle in der Hand hielt.
Und trotzdem kehrte er nicht um.
Er konnte es nicht.
Alles in ihm schrie danach, auf der Stelle kehrtzumachen und zu Garth und Shyleen zurückzugehen, aber statt dessen tat er einen Schritt nach vorne, dann einen weiteren und noch einen. Er konnte nicht zurück. Etwas, das stärker war als seine Vernunft, zog ihn mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts, tiefer in die Ungewisse Dunkelheit hinein, die das rote Licht seiner Fackel aufsog wie ein Schwamm das Wasser. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und er hielt das Schwert kampfbereit in der Hand, aber trotzdem entdeckte er die Falle erst zu spät. Wieder nahm er aus den Augenwinkeln eine vage Bewegung wahr, aber diesmal war sie real.
Mit unheimlicher Präzision fiel das Netz auf ihn herab.
Verzweifelt versuchte Torian, sich zur Seite zu werfen. Er ließ die Fackel fallen und hieb mit dem Schwert zu, war aber trotzdem zu langsam. Wie ein Schleier hüllte ihn das Netz ein. Die Fäden klebten sofort an seiner Haut und Kleidung fest, als wären sie mit Leim bestrichen. Mit aller Kraft zerrte Torian daran, ohne einen einzigen Faden zerreißen zu können. Obwohl kaum halb so dick wie sein kleiner Finger, waren sie fest wie Draht. Die Maschen waren zu eng geknüpft, als daß er sein Schwert einsetzen konnte. Mit jeder Bewegung verstrickte er sich mehr in das Netz, bis er plötzlich das Gleichgewicht verlor und zu Boden stürzte.
Torian zwang sich mit aller Kraft zur Ruhe und versuchte seine Hand so zu drehen, daß er mit der Schwertklinge an die Fäden herankam, um sie durchzuschneiden. Sein Herz jagte. Für einen Moment drohte ihn Panik zu übermannen; er wollte schreien, dachte im letzten Moment daran, daß vielleicht gerade dies den Besitzer dieses Netzes endgültig herbeirufen konnte, und zwang sich mit aller Willenskraft zur Ruhe.
Torian war sicher, daß diese Falle nicht von Menschen aufgestellt worden war. Ein entsetzlicher Verdacht stieg in ihm auf, aber er verdrängte den Gedanken sofort wieder. Es gab einen Grund für diese Falle, wenn nämlich im Hintergrund der Höhle etwas verborgen war, das zu schützen die Mühe lohnte. Er klammerte sich an diese Hoffnung, obwohl eine bösartige Stimme in seinem Kopf ihm zuflüsterte, daß er sich selbst zu betrügen versuchte.
Dann sah er, wie sich vor ihm ein Paar gewaltiger Facettenaugen aus der Finsternis schälten, und seine verzweifelte Hoffnung brach wie ein Kartenhaus zusammen. Gierig starrten ihn die im Widerschein der Flamme rötlich glühenden Augen an. Hinter ihnen schien die Dunkelheit zu widerlich pulsierendem, finsterem Leben er wacht zu sein. Nachtschwarz hob sich der monströse Körper der Kreatur gegen die Felswand ab.
Torian begann gellend zu schreien.
Das Wesen war eine Blutspinne!
Eine Woge grauer Panik fegte auch den letzten Rest klaren Denkens beiseite. Torian schrie, warf sich herum, zerrte wie von Sinnen an den klebrigen Fäden des Spinnennetzes; mit dem einzigen Ergebnis allerdings, daß er sich immer fester und fester in das feinmaschige Gespinst einspann. Verzweifelt versuchte er sein Schwert freizubekommen. Es gelang ihm genausowenig wie vorher. So dünn und lächerlich das blaßweiße Netz aussah, seine Fäden waren so fest, als wäre es aus Stahl. Ein Teil der widerwärtigen Masse bedeckte sein Gesicht, so daß er kaum noch atmen konnte.
Die Blutspinne wußte offensichtlich um seine Hilflosigkeit. Sie kam näher, aber sie bewegte sich völlig ohne Hast, ja fast gemächlich. Der tonnenartige, von schwarzglänzenden Hornschuppen bedeckte Körper ruhte auf acht dichtbehaarten Beinen, jedes so dick und fast doppelt so lang wie das eines Menschen und mit zahllosen, sich in geheimnisvollem Takt bewegenden Gelenken, die dem Gang der Spinne einen Anschein von Unbeholfenheit verliehen, der nur zu falsch war. Ohne sichtbaren Hals wuchs der gigantische, ebenfalls gepanzerte Kopf mit den bösartig funkelnden Facettenaugen aus dem Panzerleib hervor. Die dünnen, wie die Beine vielfach geknickten Fühler über den beiden großen und sechs kleinen Augen des Ungeheuers zitterten, als nehme es damit Witterung auf. Wahrscheinlich tat es genau dies.
Die Kreatur stieß einen hohen, halb zischenden, halb fauchenden Laut aus, kam gemächlich näher gekrochen und verhielt. Ihre blitzenden Facettenaugen musterten Torian mit einem Ausdruck, der eine fast menschliche Neugier zu beinhalten schien. Als sie ihr Maul öffnete, züngelte ein dünner Schlauch mit einwärts gebogenen Widerhaken hervor wie eine monströse Zunge: der Säugrüssel des Ungeheuers. Plötzlich verstand Torian, was die drei Skelette, die er gefunden hatte, so überaus penibel gesäubert hatte. Etwas, das er in wenigen Augenblicken am eigenen Leibe kennenlernen würde, wenn kein Wunder geschah.
Torian schrie noch immer wie von Sinnen, auch wenn er wußte, daß Garth ihn unmöglich hören konnte. Das massive Gestein verschluckte jeden Laut, und wenn doch etwas bis zum Eingang der Höhle vordringen sollte, so wurde es vom Lärm des Sturmes übertönt. Nein – Hilfe durfte er keine erwarten. Er hatte alle Warnungen seines Verstandes mißachtet und war blindlings in die Falle der Spinne gelaufen.
Mühsam kämpfte er die Panik zurück, hörte auf, sich gegen das Netz zu stemmen, und versuchte sich zu erinnern, was er über Blutspinnen wußte. Viel war es nicht – eigentlich kaum mehr, als daß sie als ausgestorben galten. Nun, das mochte durchaus daran liegen, daß es nur wenige Menschen gab, die eine Begegnung mit ihnen überlebten und davon berichten konnten. Den größten Teil ihres Lebens verbrachten Blutspinnen in tiefem Schlaf. Sie lebten fast nur in unterirdischen Höhlen und krochen wie Schildkröten in ihren nahezu unzerstörbaren Panzer, wenn sie sich bedroht fühlten. Nur wenn ein Opfer zufällig in ihre unmittelbare Nähe geriet oder sich gar ein Idiot wie er in ihrem Netz verfing, erwachten sie, töteten ihre Beute und verfielen anschließend wieder in manchmal jahrelangen Tiefschlaf.
Sein dürftiges Wissen nutzte Torian nichts, denn leider hatte er wenig darüber erfahren, wie man Blutspinnen abschrecken oder gar töten konnte. Wenn man es überhaupt konnte. Und je länger Torian das häßliche Ungeheuer anstarrte, desto mehr bezweifelte er dies. Selbst wenn er nicht in diesem verdammten Netz gefangen gewesen wäre und sein Schwert und seine volle Bewegungsfreiheit gehabt hätte, wären seine Chancen eher erbärmlich gewesen, diese Bestie zu töten...
Und dazu kam noch etwas.
Wenn er einen schwachen Punkt hatte, etwas, das stärker war als jedes klare Denken, so waren es Spinnen. Er haßte sie, haßte sie wie die Pest und mit jeder Faser seiner Seele. Es war keine gewöhnliche Furcht, sondern schlichte, grundlose panische Angst, die sein Denken lahmte. Schon eine normale Spinne ließ ihn vor Ekel schaudern. Der Anblick der hundertfach größeren – und entsprechend gefährlicheren – Blutspinne trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Etwas in ihm erstarrte beim Anblick des widerlichen Tieres zu Eis.
Noch einmal zerrte er mit aller Kraft an den Maschen, um seine Schwerthand wenigstens ein bißchen freier bewegen zu können. Die Fäden dehnten sich wie zähes Gummi, und für einen Moment flackerte noch einmal die Hoffnung in ihm auf, sie überdehnen und zerreißen zu können. Aber er schaffte es nicht. Die Kraft für den letzten, entscheidenden Ruck fehlte. Nach einigen Sekunden mußte er erschöpft aufgeben.
Währenddessen starrte ihn die Blutspinne unverwandt an, auf eine Art und Weise, als amüsiere sie sich über seine sinnlosen Anstrengungen. Fast glaubte Torian, in ihren Augen so etwas wie boshafte Intelligenz funkeln zu sehen. Dann kam sie – ganz langsam – näher, blieb wieder stehen und machte einen weiteren Schritt. Zögernd streckte sie einen Fühler aus und berührte ihn beinahe sanft, tastete wie prüfend über seinen Körper und stieß erneut dieses schreckliche zischelnde Fauchen aus, während sie weiterkroch und sich langsam über ihn schob.
Der Anblick brachte Torian fast um den Verstand. Allein der Gedanke, daß es sich bei dem sanften Tasten um die Berührung eines Spinnenfühlers handelte, ließ unbeschreiblichen Ekel in ihm aufsteigen. Wie besessen wand er sich hin und her, schlug und trat um sich, soweit es die Fäden zuließen, ohne auch nur zu begreifen, daß er sich dadurch noch hilfloser machte. Immer noch schrie er so laut und gellend, wie er nur konnte, und registrierte fast verwundert, daß er immer noch nicht über den schmalen Grat gestürzt war, der ihn noch vom Wahnsinn trennte.
Die alptraumhafte Kreatur stand jetzt direkt über ihm. Das Fell ihrer Beine streifte sein Gesicht, und diese Berührung allein reichte fast aus, ihn verrückt werden zu lassen: sie war weich und sanft wie das Streicheln von Katzenfell, gleichzeitig aber auch unbeschreiblich ekelhaft. Die Spinne öffnete das Maul und entblößte erneut den furchtbaren Rüssel, von dessen Ende eine wasserklare, ätzend riechende Flüssigkeit herabtropfte. Wie eine schuppige augenlose Schlange bewegte er sich vor Torians Gesicht auf und ab, schien nach einer Stelle zu suchen, an der er in den Körper seines hilflosen Opfers eindringen und sein ätzendes Gift versprühen konnte.
Aber das Ungeheuer griff nicht an.
Statt dessen klafften einige Schuppen an seinem Leib auseinander. Ein dolchspitzer Stachel glitt wie ein Speer dazwischen hervor. Auch an seinem Ende glitzerte ein Tropfen jener wasserhellen, nach Säure und Tod riechenden Flüssigkeit.
Torians Schrei brach ab, als das Entsetzen ihm die Kehle zuschnürte. Wie hypnotisiert starrte er auf den schwarz glänzenden Stachel und schloß schließlich die Augen.
Das also ist das Ende! dachte er. Er war beinahe dankbar. In den letzten Sekunden hatte er begriffen, daß es durchaus Dinge gab, die schlimmer waren als der Tod. Viel schlimmer.
Mit spielerischer Leichtigkeit drang der Stachel durch sein stählernes Kettenhemd und bohrte sich dicht über dem Herzen in seine Brust.
Es tat nicht einmal weh. Torian fühlte die hornige Spitze, die wenige Zentimeter tief in seine Haut und dann sein Fleisch eingedrungen war, biß die Zähne zusammen und wartete darauf, daß der Schmerz begann, der unweigerlich kommen mußte, wenn das ätzende Gift der Riesenspinne sein Fleisch auflöste, vielleicht auch – wenn das Schicksal gnädig war –, daß es seinem Leben mit einem kurzen, heftigen Stich ein Ende setzte.
Doch nichts von alledem geschah. Einige endlos lange Sekunden verharrte die Blutspinne völlig bewegungslos über ihm, als wäre sie erstarrt. Dann glitt der Stachel wieder aus seinem Fleisch heraus, abermals ohne daß er auch nur den mindesten Schmerz spürte.
Vorsichtig hob Torian die Lider – und blickte genau in die starren Facettenaugen des Tieres. Wieder wollte er schreien, doch etwas Körperloses schien mit dem Blick der übergroßen Augen in seinen Geist zu kriechen und ihn...
»Torian!«
Mit einem wütenden Fauchen hob die Spinne den Kopf und prallte zurück, als der Schrei durch den steinernen Gang hallte. Mit dem Schwert in der einen und einer Fackel in der anderen Hand bog Garth um die Krümmung.
Er erstarrte, als er die gigantische Kreatur erblickte, doch seine Lähmung währte kaum einen Herzschlag lang. Mit einem gellenden Kampfschrei auf den Lippen und mit gesenkten Schultern wie ein angreifender Stier sprang er vor und stieß mit Fackel und Schwert gleichzeitig nach dem riesigen achtbeinigen Tier.
Die Blutspinne wich weiter zurück. In maßloser Wut peitschten ihre Fühler durch die Luft. Aber sie griff nicht an, obwohl selbst ein Riese wie Garth kaum ein ernst zu nehmender Gegner für sie gewesen wäre. Das unerwartete Auftauchen eines zweiten Gegners schien sie zu verwirren. Ein paarmal schlug sie mit ihren Fühlern und Beinen in Garths Richtung, doch waren das keine entschlossenen Angriffe, sondern Warnungen. Was Torian über diese Tiere gehört hatte, schien zu stimmen – sie waren groß und ungeheuer stark, aber nicht sonderlich mutig.
Mühelos wich Garth den peitschenden Fühlern aus und schlug mit der Fackel zu. Funken stoben auf, als er eines der Beine traf, und ein durchdringender Gestank nach verschmortem Fell breitete sich aus.
Noch einmal fauchte die Blutspinne, wenn auch nur vor Wut, denn auch unter dem schwarzen Fell ihrer Beine befanden sich stahlharte Panzerplatten. Dann floh sie. Langsam, ohne Garth auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen, kroch sie rückwärts in den Stollen zurück, bis sie hinter einer Biegung verschwand.
Garth war mit einem Satz neben Torian, legte vorsichtig die Fackel aus der Hand – wobei er sorgfältig darauf achtete, daß sie nicht ausging – und zerrte mit beiden Händen an dem klebrigen Gespinst, das Torian einhüllte wie ein weißer Kokon.
Aber selbst seine ungeheuerlichen Körperkräfte kapitulierten vor der Festigkeit des so täuschend feinen Gewebes. Er fluchte, hob das Schwert und ließ die Klinge mit aller Gewalt dicht neben Torians Gesicht auf den Fels krachen. Funken stoben auf, und ein Metallsplitter traf Torians Wange und riß eine dünne blutige Wunde hinein.
Das Netz zerriß nicht.
»Die Fackel!« stöhnte Torian. »Versuch es... zu verbrennen!
Schnell! Sie... sie wird zurückkommen.«
Seine eigene Stimme kam ihm wie die eines Fremden vor; er verstand kaum mehr, woher er noch die Kraft hatte, überhaupt zu reden. Alles in ihm war Ekel und panische Angst. Er konnte nicht mehr denken.
Garth knurrte etwas, das er nicht verstand, schwang abermals sein Schwert und schlug noch einmal und mit noch größerer Kraft zu. Diesmal gelang es ihm, ein paar der dünnen Fäden zu zerschneiden, aber sein Schwert bekam einige deutliche Scharten ab; die Waffe würde zerbrechen, lange ehe er Torian auf diese Weise befreit hatte. Garth schnaubte, schob sein Schwert mit sichtbarem Widerwillen in den Gürtel zurück und griff nach der Fackel. Ein bedrohliches Schaben von Hörn erklang aus dem hinteren Teil des Stollens.
Garth fuhr zusammen, wurde blaß und berührte hastig mit der Fackel eine der Maschen.
Der Erfolg war ebenso verblüffend wie gespenstisch: Mit leisem Knistern fing die Masse Feuer. Blitzartig fraß sich die Glut weiter, griff in Sekundenschnelle auf das gesamte Netz über und ließ es aufflammen wie eine Karbidflamme, hell und weiß und fast ohne spürbare Hitze. Zurück blieb nur pulverige Asche. Alles ging so schnell, daß Torian kaum etwas davon spürte, selbst als die Flammen sein Gesicht und seine Hände streiften.
»Schnell jetzt!« Garth warf die Fackel fort und riß ihn auf die Füße. »Bevor das Vieh zurückkommt!«
Torian lief los – genauer gesagt, er versuchte es.
Die Schwäche sprang ihn an wie ein Raubtier. Schwindel überwältigte ihn und ließ den Stollen einen irrsinnigen Tanz um ihn herum vollführen. Seine Beine gaben unter dem Gewicht seines Körpers nach, er taumelte, griff haltsuchend um sich und fiel wieder auf die Knie nieder. Übelkeit stieg in ihm auf. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und ein dumpfer Druck machte sich hinter seiner Stirn breit. In seinen Gliedern lastete eine bleierne, betäubende Schwere. Er krümmte sich, schlug Garths hilfreich ausgestreckte Hand beiseite und übergab sich würgend, immer und immer wieder, bis sein Magen längst leer war und er nur noch bittere Galle hervorwürgte.
Selbst hinterher nahm die Übelkeit nicht ab; im Gegenteil. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt, als hätte er tagelang mit schwerem Fieber dagelegen. Alles drehte sich vor seinen Augen. Noch einmal, diesmal wesentlich vorsichtiger als beim ersten Mal, stemmte er sich hoch.
»Was ist?« fragte Garth besorgt und griff zu, um ihn zu stützen. »Nichts«, stöhnte Torian. »Es ist... nichts.« Er schüttelte benommen den Kopf. Mühsam quälte er sich auf die Beine und machte ein paar zögernde Schritte. Allmählich gewann er seine Kraft und die Kontrolle über seine Glieder zurück. Nur die Angst blieb. Diese entsetzliche Angst. »Ich kann allein gehen«, stöhnte er.
Garth musterte ihn skeptisch, ließ ihn aber nach einigen Sekunden los. »Wir müssen an den Eingang zurück«, sagte er knapp. »Hier behindern wir uns bei einem Kampf nur gegenseitig.« Er lächelte humorlos. »Vielleicht kommt deine haarige Freundin ja zurück.«
Sie gingen los. Auf den ersten Metern mußte sich Torian an den Wänden abstützen. Er preßte die Zähne so fest zusammen, daß es schmerzte, um die Benommenheit zu vertreiben. Hinter ihnen erscholl wieder das Schaben von Hörn. Die Blutspinne hatte ihre Flucht entdeckt und folgte ihnen.
Der Gedanke verlieh Torian neue Kraft. Die Angst trieb ihn schneller voran. Trotzdem mußte Garth immer wieder stehenbleiben und auf ihn warten.
»Du kannst von Glück sagen, daß ich nachsehen wollte, wo du so lange bleibst«, murmelte er mit einem furchtsamen Blick in die Dunkelheit hinter ihnen. Seine Stimme zitterte. »Das war eine Blutspinne, nicht wahr?«
Torian nickte, und Garth fuhr fort: »Aber das kann nicht sein. Sie sind seit Jahrhunderten ausgestorben!«
»Sag das der Spinne«, fauchte Torian. »Vielleicht glaubt sie dir ja und sieht ein, daß sie nur noch eine Legende ist.«
Garth bedachte ihn mit einem sehr sonderbaren, beinahe besorgten Blick, zog es aber vor, nichts mehr darauf zu antworten. Sie hasteten weiter.
Auf dem Hinweg war Torian der Stollen nicht annähernd so lang vorgekommen wie jetzt. Der Stollen schien kein Ende zu nehmen, und ein paarmal glaubte er Felsformationen zu erkennen, die auf dem Weg hierher ganz bestimmt nicht dagewesen waren. Aber schließlich wurde es vor ihm hell, und dann wichen die Wände seitlich zurück. Er taumelte noch ein paar Schritte weit in die Höhle hinein und brach neben dem Feuer zusammen. Nur schwach registrierte er, daß Shyleen wach war und zusammengekauert neben dem Feuer hockte. Seltsamerweise sah sie nicht einmal auf, als er neben ihr auf die Knie fiel, aber er war viel zu benommen, um diesem Gedanken Beachtung zu schenken. Die Übelkeit kam zurück. Und der Ekel.
Das Mädchen sprang erschrocken auf und rief etwas, das er nicht verstand. Sein Herz raste; jeder Atemzug brannte wie Feuer in seiner Lunge, als atme er flüssige Lava. Schon der kurze Lauf hatte ihn so sehr erschöpft, daß sich dunkle Schleier vor seine Augen senkten. Aber es war eine Dunkelheit, in der sich etwas bewegte. Etwas Haariges, Schwarzes.
Mit einem kehligen Schrei riß Torian die Augen auf und fuhr hoch. Der schwarze Spinnenleib verschwand und wurde zu Shyleens Gesicht, das besorgt auf ihn herabblickte. Großer Gott, was geschah mit ihm? Verlor er jetzt wirklich den Verstand?
»Alles in Ordnung?« Garth trat zögernd neben Shyleen und blickte auf ihn hinunter. Er musterte ihn besorgt, aber sein Blick wanderte auch immer wieder mit noch größerer Sorge in das Dunkel im hinteren Teil der Höhle. Er hatte die Spinne sowenig vergessen wie Torian.
Torian nickte mühsam, auf eine Art, die sowohl Zustimmung als auch das genaue Gegenteil ausdrücken konnte — und das war es auch genau, was er empfand. In Ordnung? Er wußte nicht, ob er überhaupt jemals wieder in Ordnung kommen würde. Im Moment hatte er sogar Angst davor, die Augen zu schließen.
Garth reichte ihm eine Decke. Torian wickelte sich zitternd hinein, kroch ein Stück näher an das Feuer heran und fuhr erschrocken hoch.
»Die Spinne! Sie...«
»Sie wird nicht kommen«, unterbrach ihn Garth. »Blutspinnen sind Fallensteller, keine Jäger.«
Shyleen hob müde den Kopf und blickte ihn an, aber ihre Augen waren leer. Alles Leben schien daraus gewichen zu sein. Sie sah ihn an, aber Torian war sicher, daß sie ihn nicht erkannte. Diesmal erschrak er wirklich.
»Was ist mit ihr?« fragte er.
Garth zuckte mit den Achseln und blickte erneut zum Stollen zurück, ehe er antwortete. Offensichtlich war er sowenig von seinem Wissen über ausgestorbene Riesenspinnen überzeugt wie Torian. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ihr Zustand hat sich verschlechten:, kaum daß du weggegangen warst. Das war auch der Hauptgrund, aus dem ich dir gefolgt bin.« Er deutete mit einer Kopibewegung auf sie hinunter. »Sie hat eine üble Platzwunde am Hinterkopf. Muß wohl auf einen Stein geschlagen sein, als sie vom Pferd fiel.«
Torian wickelte sich zitternd aus seiner Decke, hob die Hand und tastete behutsam über Shyleens Kopf. Haut und Haare waren mit klebrigem Morast verschmiert, ab es gelang ihm, die Wunde durch vorsichtiges Tasten zu finden. Wieder stöhnte Shyleen auf.
»Komm mal her mit der Fackel«, bat Torian.
Garth gehorchte. Torian strich vorsichtig Shyleens Haar zur Seite. Die Wunde war da, wie Garth gesagt hatte. Sie war nicht einmal besonders groß, aber was besagte das schon?
»Nun?« fragte Garth.
Torian antwortete nicht gleich. Er war kein Heilkundiger, aber sein Leben als Krieger brachte es mit sich, daß er sich ein wenig mit Verletzungen aller Art auskannte. Und man mußte kein Arzt sein, um zu erkennen, daß Shyleen sich mindestens eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Vielleicht Schlimmeres.
Der Gedanke, daß sie möglicherweise sterben konnte, erschreckte ihn mehr, als er erwartet hatte. Behutsam tupfte er Blut und Schmutz von den Wundrändern.
»Was hat sie?« fragte Garth noch einmal. »Der Schädelknochen... ist er gebrochen?«
»Ich weiß es nicht.« Hilflos hob Torian die Schultern. »Vielleicht ja, vielleicht nein. Ich bin kein Heiler. Ich habe mehr Erfahrung darin, Schädel einzuschlagen, weißt du?« fügte er wütend hinzu. Er sah, wie Garth zusammenfuhr und etwas in seinem Blick erlosch, und seine Worte taten ihm im selben Augenblick wieder leid.
»Es war nicht so gemeint«, fuhr er fort, in sehr viel versöhnlicherem Tonfall. »Aber wir sollten sie so schnell wie möglich zu einem Heiler bringen.«
Seine Stimme klang rauh und fremd in seinen Ohren, und es lag nur zu einem Teil an der seltsamen Akustik in der Höhle. Er hatte die Worte mehr zu seiner eigenen Beruhigung gesprochen, als daß er wirklich daran glaubte. Wenn der Schädelknochen wirklich gebrochen war, konnte kein Heiler der Welt Shyleen noch helfen. Dann war es ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebte.
Und er, Torian, trug die Schuld an allem. Er war es gewesen, der Garths Warnung vor dem heraufziehenden Unwetter im wahrsten Sinne des Wortes in den Wind geschlagen hatte, um Armar noch an diesem Tag zu erreichen; und er war froh gewesen, dabei noch von Shyleen unterstützt worden zu sein, auch wenn er genau gewußt hatte, daß nur Trotz und kindischer Stolz aus ihren Worten sprachen. Der alberne Wunsch, ihnen zu beweisen, daß sie die gleichen Strapazen wie ein Mann zu ertragen vermochte.
Torian machte sich bittere Vorwürfe, daß er nicht auf Garth gehört hatte. Shyleen war ein dummes Kind, trotz allem, aber er, der erfahrene Krieger, hätte die Gefahr erkennen müssen. Wenn überhaupt, dann hätte er verdient, mit eingeschlagenem Schädel dort zu liegen.
Mechanisch reinigte er die Wunde weiter und versuchte, wenigstens die Blutung zu stillen. Es war das einzige, was er im Augenblick für sie tun konnte. Noch während er damit beschäftigt war, schlug Shyleen abermals die Augen auf, doch es war wieder nicht viel mehr als ein Reflex. Ihr Blick blieb weiter verschleiert und auf entsetzliche Weise leer. Ein qualvolles Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. Sie hustete. Nach kaum einer Minute sank sie wieder zurück und verlor erneut das Bewußtsein. Ihr Atem ging ebenso flach und unregelmäßig wie ihr Herzschlag.
Torian richtete sich auf und schloß müde die Augen. Er versuchte sich darüber klarzuwerden, was das Mädchen ihm wirklich bedeutete. Doch wie schon sooft in den letzten Tagen schienen seine Gedanken gegen eine Mauer zu prallen, sobald er über diese Frage nachdachte. Zusammen mit ihrem Vater hatte sie Garth und ihn belogen, sie wie Figuren auf einem Spielfeld hin und her geschoben und als Werkzeug im Kampf gegen eine Kreatur der Alten mißbraucht. Um ein Haar hätte Garth dabei das Leben verloren. Torian müßte sie hassen oder zumindest verachten, aber wie zuvor gelang ihm weder das eine noch das andere.
Liebte er sie?
Kaum.
Er war kein Mann, der sich verliebte, zumindest nicht so schnell. In seinem Leben war kein Platz für Liebe. Und selbst wenn – Shyleen war nicht einmal der Typ Frau, den er bevorzugte. Sie war nicht einmal besonders hübsch. Und trotzdem fühlte er sich auf sonderbare Art zu ihr hingezogen. Das Gefühl verwirrte ihn, und zumeist verbarg er es hinter Spott und derben Worten, aber der Anblick ihres reglosen, leichenblassen Gesichtes erfüllte ihn mit Schmerz. Er stand auf, sah noch einmal in die Höhle zurück und trat schließlich an den Ausgang. Das Unwetter hatte nachgelassen und zog langsam weiter. In einigen Stunden würde der Himmel wahrscheinlich wieder so klar wie am Morgen sein. Am liebsten wäre Torian schon jetzt in den Regen hinausgerannt. Er wollte weg von Shyleen, um ihrem Leiden nicht länger zusehen zu müssen; und er wollte auch weg von Garth, dessen Verzweiflung ihm wie ein Spiegelbild seiner eigenen Hilflosigkeit erschien, er wollte...
Ja, zum Teufel, was wollte er eigentlich? Vielleicht vor sich selbst davonlaufen?
Lange, sehr lange stand er einfach so da und starrte in den Regen hinaus, dann ging er zurück zu Shyleen und Garth und setzte sich mit untergeschlagenen Beinen ans Feuer. Die Flammen vertrieben die Kälte aus seinen Gliedern, aber sie ließen ihn auch seine Schwäche und Erschöpfung um so deutlicher spüren. Bleierne Müdigkeit breitete sich in ihm aus. Mit aller Macht kämpfte er dagegen an, konnte aber nicht verhindern, daß ihm der Kopf immer wieder auf die Brust sank. Er hatte Angst davor, die Augen zu schließen. Angst, daß die Spinne zurückkam, und sei es nur in seinen Träumen.
Irgendwann schlief er trotz der unbequemen Stellung ein.
Und natürlich träumte er – in wirren, unzusammenhängenden Bildern und in den düsteren Farben der Furcht. In seinen Träumen begegnete er erneut der Blutspinne, spürte ihren Stachel, der ihm seine Kraft raubte, doch sie veränderte sich, wurde zu etwas gänzlich anderem. Er befand sich wieder im Tempel des Toten Gottes. Das Gestein pulsierte wie finsteres Fleisch, wurde zu einer Wolke aus gestaltgewordener Schwärze, die ihn einhüllte und in ihn hineinkroch. Er wurde eins mit der Dunkelheit; seine Gedanken krochen wie bösartige, kleine, eigenständige Wesen auf den klebrigen Fäden eines unvorstellbar großen Spinnennetzes umher, drangen immer weiter vor und breiteten sich wie ein verderblicher Hauch über ganz Caracon aus. Dann sah er Shyleen, umschlang sie mit rauchigen Schattenfingern und spürte, wie die Lebenskraft aus ihrem Körper strömte und in seinen eindrang. Eine ungeheure Macht war in ihm. Sie wuchs mit jeder Sekunde.
Mit einem leisen Schrei fuhr Torian hoch. Es dauerte einen Moment, bis er begriff, daß er geträumt hatte, aber er begriff auch im selben Moment, daß dieser Traum anders gewesen war als die meisten anderen: er konnte sich an alle Einzelheiten erinnern. Und trotz seiner völlig unlogischen, widersinnigen Handlung war er auf entsetzliche Weise real gewesen.
Mit dem Handrücken wischte er sich über die Augen, um den Rest von Schlaf daraus zu vertreiben, und blickte zum Ausgang. Es hatte aufgehört zu regnen, und wenn sich das Unwetter auch noch nicht völlig verzogen hatte, so war die Wolkendecke doch so weit aufgerissen, daß hier und da bereits die Sonne durchschien. Sie stand bereits tief am Horizont.
»Drei oder vier Stunden«, sagte Garth, als hätte er Torians Frage geahnt. Es war auch nicht schwer gewesen, sie zu erraten. Torian richtete sich auf und drehte sich mühsam zu Garth um.
Der Dieb saß neben Shyleen auf der anderen Seite des heruntergebrannten Feuers und starrte in die Glut. Er sah sehr müde aus. »Warum hast du mich nicht geweckt?« fragte Torian matt.
Garth sah nicht einmal auf. »Ich habe dich schlafen lassen, weil du es wohl nötiger hattest als ich. Es hat gerade erst aufgehört zu regnen.«
»Danke«, murmelte Torian. Jedes weitere Wort war überflüssig. Und der Schlaf hatte ihm wirklich gutgetan. Er fühlte sich frischer und fast ausgeruht, als hätte er einen ganzen Tag und eine Nacht hindurch geschlafen, auch wenn er wußte, daß dieses Gefühl nur eine trügerische – und gefährliche – Illusion war. Er hatte seinen Traum noch nicht ganz abgeschüttelt. Ein paar der grauen Spinnenfäden schienen sich in seinem Geist verfangen zu haben und sein Denken zu behindern. Nur langsam fand er wieder in die Wirklichkeit zurück. Einen Moment lang fragte er sich, ob nicht vielleicht alles nur ein Traum gewesen war. Aber dann fuhr seine Hand über die winzige Wunde in seiner Brust. Sie war da. Träume pflegten in den allerwenigsten Fällen zu stechen.
Garths Blick folgte der Bewegung. »Bist du verletzt?« fragte er. Torian schüttelte den Kopf und senkte hastig die Hand. »Es ist nichts«, antwortete er. »Nur ein Kratzer.« Und nur um Garth daran zu hindern, sich den Kratzer vielleicht ansehen zu wollen, fuhr er fort: »Woher hat die Blutspinne eigentlich ihren Namen?«
»Keine Ahnung«, erklärte Garth achselzuckend. »Wieso interessierst du dich dafür?«
Torian winkte ab. Er kannte die Antwort, hatte sie in seinem Traum gesehen, und sie war so einfach wie schrecklich: Was er für einen Stachel gehalten hatte, war in Wirklichkeit ein Rüssel gewesen. Die Spinne hatte ihm einen Teil seines Blutes ausgesaugt wie ein großer achtbeiniger Vampir. Daher auch seine Schwäche. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal mehr aus eigener Kraft aufstehen können, wenn Garth ein paar Sekunden später gekommen wäre.
»Vergiß es. Wie geht es ihr?« wechselte Torian mit einem Blick auf Shyleen das Thema.
Garth zuckte abermals mit den Achseln. »Unverändert«, antwortete er. »Wir werden sie auf dem Pferd festbinden müssen. Aber selbst wenn wir eine Bahre bauen, bezweifle ich, daß sie den Transport überleben wird. Trotzdem müssen wir sie nach Armar bringen.«
»Und wenn einer von uns losreitet und einen Heiler holt?« schlug Torian vor.
Garth schüttelte den Kopf. »Keine Chance. In ein, zwei Stunden geht die Sonne unter. Kein wirklicher Heiler wird um diese Zeit noch die Stadt verlassen, und mit einem Quacksalber ist uns nicht gedient. Das Mädchen muß nach Armar.«
Torian stand auf und reckte sich. Die Schwäche war vollends aus seinen Gliedern verschwunden, er fühlte sich wieder fast so kräftig wie vor ihrer Flucht in die Höhle. Ein wenig wunderte er sich selbst über diese erstaunliche Regeneration, verscheuchte den Gedanken aber sofort. Vielleicht sollte er aufhören, hinter allem und jedem eine Falle zu wittern, und einfach dankbar für die kleinen Geschenke sein, die einem das Schicksal dann und wann machte.
Wortlos begann er, feste Äste zusammenzusuchen. Mit dem Zaumzeug des Pferdes band er sie zu einem Gestell zusammen, das man mit viel Phantasie und noch mehr gutem Willen als Bahre bezeichnen konnte, das Shyleen aber immerhin eine etwas bequemere Lage auf dem Pferderücken verschaffen würde.
Vorsichtig banden sie das Mädchen darauf fest und verließen die Höhle.
Sie kamen nur langsam vorwärts. Das Unwetter hatte die Straße überschwemmt, und das abfließende Wasser hatte einen Teil des lehmigen Erdreiches mit sich fortgerissen. Die Straße hatte sich schon vorher in keinem besonders guten Zustand befunden – jetzt war sie über große Strecken hinweg einfach verschwunden.
Immer wieder musterte Torian besorgt das bewußtlose Mädchen. Jeder Hufschlag rief neue Erschütterungen hervor, die sie wie ein Hammerschlag treffen mußten. Ihr Gesicht glänzte fiebrig, und ihr Körper wurde von Krämpfen und Schüttelfrost gebeutelt. Sie hatten Shyleen in Decken gehüllt und mit Lederriemen locker auf der Bahre festgebunden. Als sie trotzdem von dem Gestell zu rutschen drohte, griff Torian zu und legte sie wieder in die alte Position. Ihre Haut fühlte sich heiß und trocken an, als er dabei ihr Gesicht berührte.
»Wir sind zu langsam«, sagte Garth besorgt. Er blinzelte zur Sonne hinauf. Die Wolken waren fast vollends verschwunden, aber in ihrem Gefolge kroch Nebel vom Meer her auf das Land zu. Trüber, grauer Nebel, der beständig zunahm, die Brandung bereits unter einem milchigen Tuch begraben hatte und lautlos an den Klippen in die Höhe kletterte. »Bei Sonnenuntergang werden die Stadttore geschlossen.«
»Noch knapp eine Stunde«, überlegte Torian. Das Sonnenlicht tat seinen Augen weh. Nach der Dunkelheit in der Höhle hatte er sich immer noch nicht daran gewöhnt. Seine Augen brannten bei jedem Lidschlag, und er brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, daß sie entzündet waren. Eine Nachwirkung des kurzen Schlafes, der ihn eher Kraft gekostet als ihm neue verliehen hatte. Das trügerische Gefühl von Stärke war längst aufgezehrt, und nun spürte er seine Müdigkeit noch deutlicher als zuvor.
»Gehen wir durch die Hügel«, schlug er vor. »Das Pferd wird mit dem Morast besser fertig als mit den Steinen. Außerdem dämpft er die Erschütterungen.«
Nach kurzem Zögern stimmte Garth zu.
Sie kamen nicht viel schneller voran, denn bei jedem Schritt sanken sie bis über die Knöchel in das sumpfige Erdreich ein, und schon nach kurzer Zeit begannen Torians Beine unter der Anstrengung zu schmerzen. Aber das Pferd bewegte sich ruhiger, so daß Shyleen nicht mehr auf der Bahre hin und her rutschte.
Torian behielt recht mit seiner Schätzung. Nach fast genau einer Stunde berührte die Sonne mit ihrem unteren Rand die Hügel und versank so rasch dahinter, daß man ihre Bewegung mit bloßem Auge verfolgen konnte. Der Nebel hatte die Klippen inzwischen erklommen, flutete über die Uferstraße und bewegte sich in wabernden Schwaden auf die Hügelkette und das dahinter liegende Land zu.
Mit den letzten Strahlen der Sonne sah Torian von einem Hügel aus ein Stück vor und schräg unter sich die Dächer Armars glänzen. Und er sah, wie die wuchtigen Stadttore geschlossen wurden.
Die Sonne ging unter, aber es wurde noch nicht richtig dunkel. Der Himmel glühte in einem düsteren, beinahe blutigen Rot nach und tauchte das Land in trübes Zwielicht und tiefe, beinahe lebendig wirkende Schatten, die Torians Augen wohltaten, aber die Furcht in seiner Seele ins Unerträgliche steigerten.
»Und nun?« fragte er niedergeschlagen – und eigentlich nur, um überhaupt etwas zu sagen und sich nicht außer durch die Dämmerung auch noch durch die Stille verängstigen zu lassen. »Irgendeine Idee, du Meisterdieb? Wir können wohl schlecht an die Tore klopfen und um Einlaß betteln.« Sein Spott traf nicht, weil seine Stimme zitterte und sein Gesicht so blaß war, daß Garth es selbst im flackernden Dämmerlicht sehen mußte.
»Nein, bestimmt nicht«, erwiderte der Dieb grimmig. »Es sind mit Sicherheit Schwarze Magier in der Stadt, und ich habe keine Lust, sie sofort auf uns aufmerksam zu machen. Aber es gibt noch andere Wege nach Armar. Schließlich bin ich nicht umsonst Garth, Die Hand, der berüchtigtste Dieb in ganz...« Er brach ab, als er sah, wie Torian die Augen verdrehte. »Schon gut«, maulte er. »Auf jeden Fall weiß ich einen Weg in die Stadt.«
Torian blickte besorgt auf die reglose Shyleen, ehe er sich wieder an Garth wandte. »Und wie?«
Garth machte eine komplizierte Handbewegung auf Armar zu.
»Es gibt geheime Zugänge. Gelegentlich kommt es vor, daß jemand ganz dringend und heimlich aus der Stadt verschwinden muß, weißt du?«
»Was ist mit den Wachen?«
»Welche Wachen?« Garth schüttelte den Kopf. »Wir befinden uns im Herzen von Tremon. Hier gibt es keine Feinde, vor denen sich die Stadt schützen müßte. Gefahr droht allerhöchstens vom Meer her, aber kein Pirat wäre so verrückt, die Stadt anzugreifen, und jede feindliche Flotte würde lange vor ihrer Ankunft entdeckt. Wachen wären völlig überflüssig.« Er lachte leise und unecht. »Sie müßten höchstens die Umgebung vor dem Gesindel in der Stadt schützen.«
Torian gab es auf. Er war fremd hier und kannte sich weder mit den örtlichen Gegebenheiten noch den Sitten und Gebräuchen der Menschen aus. Was blieb ihm anderes übrig, als Garth einfach zu vertrauen? Und wenn er ehrlich zu sich war, dann hätte er sich im Moment wahrscheinlich auch mit dem Teufel persönlich eingelassen, um Shyleens Leben zu retten. Sie gingen weiter.
Als sie nahe genug herangekommen waren, konnte er sehen, in welch schlechtem Zustand die Mauern waren; trotz ihrer beeindruckenden Höhe und Massigkeit. Armar mochte früher einmal eine gewaltige Festung gewesen sein, aber das mußte ein Menschenalter oder länger zurückliegen. Heute war es wenig mehr als eine Ruine, wenn auch eine gewaltige Ruine. Seine Mauern waren zerklüftet und mit Moos, Grasbüscheln und kleinen, drahtigen Büschen bewachsen, vielfach waren Steine aus dem Wall herausgebrochen, und an einer Stelle hatte gar eine Krüppelkiefer ihre Wurzeln in das Mauerwerk gekrallt, ohne daß sich jemand die Mühe gemacht hätte, sie zu entfernen. Für einen geschickten Kletterer wäre es kein Problem hinaufzuklettern. Trotzdem war nirgendwo auf der Mauerkrone eine Bewegung zu bemerken, soweit sie inmitten der treibenden Nebelschwaden überhaupt noch zu erkennen war. Garth schien recht zu haben. Es gab keine Wachen.
Der Nebel erwies sich jetzt als ein unerwarteter Verbündeter, denn er verschluckte den Hufschlag des Pferdes und breitete seinen schweren Mantel über sie, der sie auch vor zufälliger Entdeckung schützte. Dennoch blieb Torian weiterhin mißtrauisch. Dies alles hier schien ihm beinahe zu einladend. Eine friedliche Stadt, die den Krieg allenfalls vom Hörensagen kannte, stellte fast so etwas wie eine fremde Welt für ihn dar.
Eine Weile zogen sie am Fuß der Mauer entlang, bis Garth plötzlich stehenblieb und den Arm hob. Seine Hand deutete auf eine Stelle im Nebel, an der Torian absolut nichts Außergewöhnliches erkennen konnte.
»Hier ist es«, sagte er. Obwohl Torian dicht an die Wand herantrat, konnte er nichts Besonderes entdecken. Garth hob einen Stein auf und schlug damit in einem bestimmten Rhythmus gegen das Mauerwerk. Die Schläge hallten merkwürdig hohl, ein Zeichen, daß das Gestein nicht so massiv war, wie es auf den ersten Blick aussah.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Einer der Steine wurde nach innen weggezogen, so daß ein Guckloch entstand. Ein junges, mißtrauisch dreinblickendes Gesicht kam dahinter zum Vorschein. Garth wechselte einige Worte in einer Torian fremden Sprache mit dem Unbekannten und begann heftig zu gestikulieren. Polternde Schritte klangen auf, dann erschien ein anderes, bärtiges Gesicht hinter der Öffnung.
»Garth!« brüllte der Mann.
Im nächsten Moment öffnete sich eine verborgene Tür in der Mauer. Der Bärtige, ein wohlbeleibter Hüne und kaum kleiner als Garth, schloß den Dieb in die Arme und klopfte ihm lachend auf die Schultern. Jeder dieser freundschaftlichen Schläge hätte ausgereicht, einen Mann von anderer Statur als Garth zu Boden gehen zu lassen, wie Torian nicht ohne ein leichtes Schaudern registrierte. Als sich der Mann mit ausgebreiteten Armen zu ihm umwandte, trat er sicherheitshalber einen Schritt zurück. Sein Verhalten mochte unhöflich erscheinen, in jedem Fall war es seiner Gesundheit wohl zuträglicher. Gegenüber den beiden Hünen kam er sich geradezu winzig vor, obwohl er selbst immerhin noch um einige Fingerbreit größer war als die meisten anderen Menschen.
»Der Kleine heißt Torian«, stellte Garth vor. »Und das ist Boron, ein... äh, Kollege.«
»Garths Freunde sind auch meine Freunde«, versicherte Boron. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
»Ich fürchte auch weniger deine Feinschaft als deine Freundschaft«, antwortete Torian. Vorsichtshalber trat er noch einen Schritt zurück und fügte mit einem leisen Lächeln hinzu: »Ein Zwerg wie ich muß auf seine Schultern aufpassen.«
Boron starrte ihn einen Moment verblüfft an, ließ dann plötzlich die Arme sinken und begann schallend zu lachen. »Kommt endlich herein«, forderte er. »Du mußt mir erzählen, wie es dir in den letzten Jahren ergangen ist, Garth. Ich habe gehört, du wärest tot.«
»War ich auch«, erwiderte Garth ernsthaft. »Zumindest für gewisse Leute, die... ahm, darauf brannten, mich wiederzusehen.« Er grinste, wurde schlagartig wieder ernst und deutete auf die Bahre, auf der Shyleen lag. »Ich erzähle dir alles«, fuhr er in sehr viel ernsterem Tonfall fort. »Später. Jetzt müssen wir uns um sie kümmern. Sie ist schwer verletzt und braucht die Hilfe eines guten Heilers.«
»Wer ist sie?« fragte Boron, noch immer lächelnd, aber mit dem gleichen plötzlichen Ernst in der Stimme wie Garth.
»Eine Freundin«, sagte Torian rasch, ehe Garth antworten konnte. Boron sah irritiert auf, maß erst ihn und dann wieder Shyleen mit einem langen Blick und nickte schließlich. »Ich werde jemanden finden, der sich ihrer annimmt.«
»Nicht jemanden«, sagte Torian scharf. »Einen Heiler, Boron. Einen guten Heiler, keinen Quacksalber.«
Zu seiner eigenen Überraschung ignorierte Boron seinen aggressiven Ton. »Arkela wird sich um sie kümmern«, sagte er. Er gab einigen Männern, die hinter im standen, einen Wink. »Arkela ist zwar selbst keine Heilerin, aber dafür war es ihr Bruder«, erklärte er, als er die Zweifel in Torians Gesicht bemerkte. »Sie ist viele Jahre mit ihm durch das Land gezogen und versteht mindestens ebensoviel von Heilkräften wie er.«
»Vertrau ihm«, zischte Garth hastig, als Torian abermals auffahren wollte. »Wenn ihr jemand helfen kann, dann Boron. Ihm gehört praktisch die Stadt.«
Torians Zweifel waren damit keineswegs beseitigt, aber er sträubte sich nicht länger und folgte Boron durch das Tor. Dahinter lag eine Art Stall. Durch eine Tür gelangten sie in einen karg eingerichteten Wohnraum, während hinter ihnen einige Burschen vorsichtig Shyleens Bahre losbanden und behutsam forttrugen.
»Setzt euch«, ermunterte Boron. »Ich lasse etwas zu essen und zu trinken bringen. Ihr seht aus, als könntet ihr beides gebrauchen.«
»Wer ist der Kerl?« fragte Torian, nachdem Boron gegangen war. »Wohin sind wir hier überhaupt geraten?«
»Boron ist das Oberhaupt der Diebesgilde«, erklärte Garth seufzend. »Zumindest war er es, bis es dem Statthalter von Armar in einem Handstreich gelang, fast die gesamte Organisation zu zerschlagen.« Er spie aus. »Bei dieser Gelegenheit preßte man mich und die meisten anderen ins tremonische Heer. Was du hier siehst, sind die traurigen Überreste unserer Gilde.«
»Gerade hast du noch behauptet, ihm gehöre die Stadt«, sagte Torian mißtrauisch.
»Tut sie auch«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Aber man hat sie mir gestohlen – was soll ich machen?«
Torian fuhr erschrocken herum und sah, daß Boron bereits zurück war. Trotz seiner Größe hatte er sich so leise bewegt, daß Torian es nicht einmal gehört hatte.
»Du belauschst uns?« fragte er anklagend.
Boron grinste. »Ach woher. Ich bin größer als du. Also habe ich auch größere Ohren.« Er lud ein Tablett mit Wein und Brot und dünnen Scheiben kalten Bratens vor Torian ab und fuhr mit einer erklärenden Geste auf Garth und an dessen Worte anknüpfend fort: »Wir haben uns wieder einigermaßen gefangen, aber von unserer früheren Macht und unserem Reichtum sind wir noch weit entfernt. Aber das heißt nicht, daß wir wehrlos wären. Nur fehlen uns solche Meisterdiebe wie Die Hand. Da du nun wieder da bist, wird sich vieles ändern.«
»Daraus wird nichts«, widersprach Torian impulsiv.
Garth sah ihn überrascht an, und auch zwischen Borons Brauen entstand eine steile Falte. »Was bist du?« fragte er. »Sein Freund oder seine Amme?«
»Etwas von beidem«, antwortete Torian kalt. »Wir haben Wichtigeres zu tun, Boron. Nichts gegen euch und euren Streit mit dem Statthalter, aber...«
»Torian hat recht«, fiel ihm Garth ins Wort. »Wir wären nur eine Gefahr für euch. Man hält mich zwar für tot, aber der Boden hier ist mir trotzdem zu heiß. Wir sind nur hier, um eine Schiffspassage in die westlichen Länder zu suchen.«
»Darüber... reden wir noch«, sagte Boron zögernd. Er gab sich keine besondere Mühe, seine Enttäuschung zu verhehlen. »Du kannst uns nicht gleich wieder im Stich lassen, nachdem du gerade erst zurückgekommen bist.«
»Ich fürchte, uns bleibt nichts anderes übrig«, antwortete Garth kauend. »Sobald sich herumspricht, daß ich noch lebe, wird man erneut Jagd auf mich machen. Wir haben beide, nun ja, Feinde.«
Torian warf ihm einen mahnenden Blick zu, aber Boron schien die besondere Betonung des letzten Wortes entgangen zu sein. »Wie du meinst«, sagte er. »Es ist eure Entscheidung.« Plötzlich hellte sich sein Gesicht auf. »Aber zumindest werdet ihr bleiben müssen, bis eure Freundin gesund ist.«
»Ein paar Tage, ja«, knurrte Torian. »Allerhöchstens.«
Boron zuckte mit den Schultern. »Das ist mehr als nichts. Wer ist dieses Mädchen?«
»Eine Bekannte«, antwortete Torian rasch. Es war unnötig, Boron allzuviel zu verraten. Er kannte Boron nicht, und Garth war für seinen Geschmack bereits viel zu vertrauensselig. »Sie ist vom Pferd gestürzt und mit dem Kopf aufgeschlagen.«
»Arkela wird alles Menschenmögliche für sie tun«, versicherte Boron. »Ihr braucht euch keine Sorgen um sie zu machen. Und was eine Passage betrifft, solltet ihr euch bei Kaam umhören. Bei ihm findet ihr auch eine Unterkunft. Das ist sicherer als hier.«
»Wer ist dieser Kaam?«
»Er besitzt eine Schenke«, antwortete Garth. »Und nebenbei ist er noch der größte Hehler und Schmuggler Armars. Das schlimmste Schlitzohr, das du dir vorstellen kannst, aber er ist absolut diskret und besitzt die denkbar besten Kontakte.« Er gähnte ungeniert und leerte seinen Weinkrug in einem Zug. »Am besten brechen wir direkt auf. Ich bin hundemüde. Morgen können wir über alles sprechen.«
»Was wird aus Shyleen?« Torian rührte sich nicht.
»Sie kann hierbleiben«, bot Boron an. »In ihrem Zustand könnt ihr sie nicht durch die halbe Stadt schleppen.«
Torian zögerte. Es gefiel ihm gar nicht, das Mädchen allein zurückzulassen. Aber Boron hatte recht, und so nickte er schließlich. »Vorher will ich sie noch einmal sehen.«
»Dann kommt.«
Sie folgten Boron über einen Flur, bis sie eine kleine Kammer erreichten, wo man Shyleen ein Lager errichtet hatte. Eine alte Frau mit schlohweißem Haar befand sich bei ihr.
»Wie geht es ihr?« fragte Torian.
Arkela wandte ihm ihr runzeliges Gesicht zu. Trotz ihres hohen Alters – Torian schätzte sie auf mindestens achtzig Jahre – war der Blick ihrer Augen klar. Ein fast jugendliches Feuer brannte darin. »Sie hat ungeheures Glück gehabt. Der Knochen scheint unverletzt zu sein, aber sie braucht viel Ruhe. Ein oder zwei Wochen lang wird sie nicht aufstehen können, und auch dann muß sie sich noch sehr schonen.«
»Ein oder zwei Wochen?« echote Torian erschrocken. »Das ist völlig unmöglich!« Mißtrauisch wandte er sich an Boron. »Hast du...?«
»Natürlich«, antwortete Boron ernsthaft. »Ich habe nicht nur große Ohren, sondern auch die Fähigkeit, mich zu teilen, wobei meine zweite Hälfte unsichtbar bleibt. Die habe ich vorgeschickt, um Arkela zu instruieren, weißt du?«
Torian hielt seinem Blick einen Herzschlag lang stand, dann lächelte er verlegen und wandte sich wieder um. Er war ein Narr, diesem Mann Vorwürfe zu machen, statt sich darüber zu freuen, daß Shyleen außer Gefahr war. Ein oder zwei Wochen...? Nun, man würde sehen.
Er betrachtete Shyleens blasses Gesicht einige Sekunden lang und wandte sich dann abrupt ab.
»Gehen wir!« sagte er.
Wie graue Watte aus Spinnweben hing der Nebel zwischen den Häusern und tränkte die Luft mit Feuchtigkeit. In dichten Schwaden trieb er durch die menschenleeren Gassen und formte gespenstische Fratzen, wenn er von einem Windstoß für wenige Sekunden zu quirlendem Leben erweckt wurde, schien mit faserigen vielfingrigen Händen nach Torian und Garth zu greifen und bildete vergängliche Formen und Umrisse, die alles oder auch nichts bedeuten konnten. Die Straßen waren mit Schmutz und Unrat übersät, und überall lagen zerborstene Lehmziegel, die das Unwetter von den Häusern gerissen hatte. Alles war feucht und klamm und wirkte auf sehr unangenehme Art klebrig. Die Kälte war nicht einmal sehr intensiv, aber sie kroch unaufhaltsam durch jedes noch so dicke Kleidungsstück. Wasser schwappte in Torians Schuhe. Der Regen hatte das Erdreich selbst hier, hinter den schützenden Mauern der Stadt, in schlammigen Morast verwandelt, in den sie bei jedem Schritt bis an die Knöchel einsanken, so daß das Gehen zur Qual wurde und große Kraft kostete. Der Nebel verschluckte das saugende Schmatzen ihrer Schritte in den engen Straßenschluchten. Hier und da war er so dicht, daß Torian kaum die jenseitige Häuserwand erkennen konnte. Immerhin erkannte er, daß es sich um kleine heruntergekommene Baracken handelte, die so verschachtelt erbaut waren, daß sie an eine Herde von Tieren erinnerten, die sich schutzsuchend aneinanderdrängten. Sehr schmutzige Tiere und sehr ängstliche. Gelegentlich fiel irgendwo ein schwacher Streifen Licht wie ein Gruß aus einer anderen Welt zwischen den Läden oder den Brettern hervor, die an ihrer Stelle vor die Fenster genagelt waren. So beeindruckend und groß Armar von weitem erschien, als so erbärmlich entpuppte es sich von innen. Wenn diese Stadt jemals so etwas wie eine Blütezeit erlebt hatte, dann mußte sie lange, sehr lange vorüber sein. »Mir gefällt das nicht«, flüsterte Torian, von einer unerklärlichen Scheu gepackt, laut zu sprechen. Fröstelnd zog er den Mantel noch enger um die Schultern. Der Nebel war allgegenwärtig. Mit Macht mußte er gegen die verrückte Vorstellung ankämpfen, daß er nicht nur unter seine Kleidung kroch, sondern auch in seinen Körper eindrang. »Ich komme mir vor wie in einer unbewohnten Geisterstadt.« Wenn sie das wenigstens wäre, fügte er in Gedanken hinzu: Unbewohnt.
Garth hob die Schultern und sah sich unbehaglich um, aber es war ein ganz anderes Unbehagen als das, das Torian gepackt hatte. »Wir befinden uns im Elendsviertel«, sagte er, als wäre das bereits Erklärung genug. »Nachts treiben sich hier höchstens ein paar Halsabschneider herum«, fügte er nach einigen Sekunden hinzu. »Hast du Angst?«
»Unsinn«, knurrte Torian barsch. »Wenn es hier wenigstens noch ein paar Halsabschneider gäbe, würde ich mich wohler fühlen. Aber hier sind ja nicht einmal Ratten.« Er sah sich demonstrativ um, ohne indes mehr als ein paar graue Fetzen und schwarzen, feuchtglänzenden Stein zu erblicken. »Ich kenne genügend Elendsviertel in allen möglichen Städten«, fuhr er fort. »Nirgendwo ist es um diese Zeit so ruhig, nicht einmal bei solchem Wetter.«
Die Menschen – wenn es in diesem Teil der Stadt überhaupt so etwas wie Menschen gab – schienen sich geradezu verkrochen zu haben. Als hätten sie panische Angst vor irgend etwas. Dem Nebel? Garth zuckte nervös mit den Achseln und sah weg.
»Wie weit ist es noch?« fragte Torian nach einer Weile.
»Ein ganzes Stück«, gab Garth gedämpft zurück. »Bei allen finsteren Göttern, ich wünschte allmählich auch, wir wären schon da.«
Schweigend schritten sie weiter die morastige Straße entlang. Torian ertappte sich dabei, daß seine Hand immer wieder zum Schwertknauf kroch. Irgendwo begann eine Katze lautstark ihren Liebeskummer zu beklagen. Wie jeder Laut klang es unheimlich und verzerrt, fast wie der Schrei eines Kindes. Dennoch atmete Torian nach dem ersten Schrecken erleichtert auf. Das ganz profane Liebeswerben der Katze machte ihm bewußt, daß Armar trotz allem eine lebendige Stadt war, die sich wahrscheinlich bei Tage von einer anderen Seite präsentierte als in dieser nebeldurchwobenen Dunkelheit.
»Hier entlang.« Garth deutete in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern. Torian nickte und folgte ihm; doch bevor er in die Gasse trat, blickte er noch einmal zurück; warum, wußte er selbst nicht genau zu sagen.
Der Anblick traf ihn wie ein Schlag.
Sie waren nicht mehr allein.
Ein Windstoß riß die Nebelwand für einige Sekunden ein wenig auf; gerade genug, um ein Dutzend Schritte weit sehen zu können. Inmitten der durcheinanderwirbelnden Schwaden zeichneten sich fünf Gestalten ab, zu weit und zu undeutlich, um sie genauer zu erkennen, aber auch zu nahe und zu deutlich, um nur ein Trugbild zu sein.
Blitzartig griff Torian zum Schwert und riß die Waffe aus der Scheide. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß er sich völlig falsch verhielt. Er hatte die Straßenräuber durch seine überhastete Reaktion gewarnt, statt sie herankommen und in eine Falle laufen zu lassen.
Aber noch während er sich selbst einen Narren schalt, wußte er bereits, daß sie es nicht mit gewöhnlichen Dieben zu tun hatten. Er konnte sich nicht erklären, woher er das wußte, er wußte es einfach; es war ein so untrügliches Gefühl, daß es nicht nur an Sicherheit grenzte, sondern war. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – er die Gestalten nur schemenhaft erkennen konnte, strahlte etwas Unheimliches von ihnen aus, eine stumme, fast körperlich spürbare Bedrohung. Ihre Konturen blieben unscharf und zerfranst, flössen wie huschende Schatten ineinander und verzerrten sich wieder zu etwas völlig anderem, Fremdem. Es sah aus, als hätte die Dunkelheit selbst auf gespenstische Art Gestalt angenommen. Und lautlos und schwebend wie Gespenster kamen die Schatten näher; Kreaturen des Nebels, die kaum mehr Substanz als dieser hatten.
Torian versuchte sich selbst mit dem Gedanken zu beruhigen, daß dieser Eindruck nur vom Nebel hervorgerufen wurde, aber er war machtlos gegen das eisige Entsetzen, das ihn gepackt hatte. Er war unfähig, auch nur einen Schritt zu tun. Seine Reflexe versagten. Er hatte nur noch Angst.
Garths Hand krampfte sich schmerzhaft fest um seinen Schwertarm.
»Was... was ist das?« stieß der Dieb hervor.
Wie zur Antwort flaute der Wind ab. Der Nebel senkte sich wieder wie ein milchiger Vorhang auf die Gestalten herab und verbarg sie vor ihren Blicken, doch Torian wußte, daß sie immer noch da waren und lautlos näher geschlichen kamen. Nun, da er sie nicht mehr sehen konnte, fiel auch die Erstarrung von ihm ab. »Weg hier!« keuchte er und versetzte Garth einen Stoß.
Sie rannten die Gasse entlang, die nach wenigen Metern in eine breite, gepflasterte Straße mündete. Soweit es im Nebel zu erkennen war, waren die Häuser hier größer, und ihre Fassaden sahen etwas weniger heruntergekommen aus. Sie hatten das Elendsviertel verlassen, und wenn sie auch nicht gerade eine der noblen Prachtalleen erreicht hatten, so wirkte die Umgebung doch sehr viel vertrauenerweckender. Es schien Torian fast, als hätten sie mit der Grenze zu den Slums zugleich auch ein unsichtbares Portal durchschritten, an dessen Schwelle die Aura des Schweigens und der Angst hinter ihnen zurückblieb.
Trotzdem sah er immer wieder zurück. Aber die Straße hinter ihnen war leer.
Sie war nicht verlassen. Vereinzelt hasteten Menschen an ihnen vorbei. Der Nebel machte auch aus ihnen gesichtslose, anonyme Schemen, aber ihnen fehlte die Ausstrahlung des Bedrohlichen, die von den fünf unheimlichen Gestalten ausgegangen war. Fast erschien es Torian sogar, als wären die Schwaden hier weniger dicht als im Elendsviertel.
Eine Gruppe patrouillierender Soldaten kam ihnen entgegen.
Auch wenn Torian gewöhnlich um alles, was mit Uniformen zu tun hatte, einen möglichst großen Bogen machte, erleichterte ihr Anblick ihn jetzt beinahe. Niemand kannte ihn hier, und auch Garth wurde für tot gehalten. In dem Nebel konnte sie ohnehin niemand erkennen, so daß ihnen keine unmittelbare Gefahr drohte. Trotzdem wandten sie die Gesichter ab, bis die Patrouille vorbei war. Kurze Zeit später verklang auch das Hallen der schweren Stiefel hinter ihnen. Torian atmete hörbar auf, und auch Garth entspannte sich.
»Dort ist es«, sagte Garth und deutete auf ein Eckhaus, das wie der Rammsporn eines gemauerten Schiffes ein wenig aus dem Häuserblock hervorwuchs.
Ein von einer flackernden Öllampe dürftig beleuchtetes Schild schwang über der Tür knarrend hin und her. Die Schrift darauf war längst verblaßt und so unleserlich geworden, daß sich die Buchstaben nicht einmal mehr erahnen ließen. Gedämpftes Stimmengemurmel und vereinzeltes Lachen drang aus dem Inneren der Schenke. Torian stieß die Holztür auf und trat ein.
Ein Duft, gemischt aus Schweiß, gebratenem Fleisch, Tabakrauch, Wein und abgestandenem Bier, schlug ihnen entgegen, der unbeschreibliche Gestank einer Hafenkneipe, der überall auf der Welt gleich war. In diesem Moment begrüßte Torian ihn fast, obgleich er ihm auf der anderen Seite beinahe den Magen umdrehte. Aber er war nach allem ein Stück Realität, etwas, das er kannte und einschätzen konnte und das nicht mit dürren Spinnenbeinen der Furcht nach seiner Seele griff und ihn lahmte.
In der Schenke waren überraschend viele Menschen, die meisten mit Gesichtern und Händen, wie man sie in einer Hafenstadt anzutreffen erwartete: von Wind und Salzwasser gegerbt und grob, viele in den typischen Kleidern von Fischern oder Matrosen. Einige wandten die Köpfe und warfen Torian gelangweilte, aber auch abschätzende Blicke zu. Das Interesse an den beiden Neuankömmlingen verging allerdings so rasch, wie es gekommen war. Jedermann erkannte wohl, daß bei diesen beiden nicht viel zu holen war, außer einem eingeschlagenen Schädel vielleicht.
Garth drängte sich an Torian vorbei und bahnte ihnen mit seinen Schultern und Ellenbogen einen Weg zum Tresen. Zum Ausgleich kassierte auch Torian von den Umstehenden einige unsanfte Knüffe, die er aber wohlweislich ignorierte. Da an der Theke kein Platz frei war, schob Garth kurzerhand zwei der Männer zur Seite. Angesichts seiner massigen Statur verzichteten sie auf jeden Protest und beschränkten sich darauf, ihm einige böse Blicke zuzuwerfen. Torian runzelte die Stirn, schwieg aber. Es mochte sein, daß Garth besser als er wußte, wie man sich hier zu benehmen hatte, aber er hielt nicht viel davon, unnötigen Streit zu provozieren.
Der Wirt kam herbeigeschlurft, ein langer, unglaublich dürrer Kerl, der aussah, als ob ihn jeder Windstoß aus den Schuhen heben würde. Auf seinem Gesicht lag ein überaus dämliches Grinsen, und er hielt die Augen halb geschlossen, als würde er jeden Moment im Stehen einschlafen.
»Was soll’s sein«, nuschelte er so undeutlich, daß Torian seine Worte mit viel Phantasie gerade noch verstehen konnte.
»Zwei Bier und einen ordentlichen Braten«, bestellte Garth.
»Aber ein gutes Stück. Rind oder Schwein. Laß dir nicht einfallen, uns deinen üblichen Rattenbraten zu servieren.«
Der Hagere, bei dem es sich nur um Kaam handeln konnte, schüttelte träge den Kopf. »Wir ham nur Fisch.«
»Hätte ich mir denken können«, seufzte Garth. »Dann eben Fisch. Aber schnell.« Der Wirt verdrehte ergeben die Augen und entfernte sich.
»Das ist Kaam«, erklärte Garth, nachdem sie beide einen Krug Bier bekommen hatten. »Laß dich von seinem blöden Grinsen nicht täuschen. Er ist genauso intelligent, wie er dumm aussieht. Außerdem habe ich noch nie jemanden gesehen, der geschickter mit einem Wurfmesser umgehen kann.«
»Dafür scheint es mit seinem Gedächtnis nicht zum besten bestellt zu sein«, erwiderte Torian. »Oder seine Wiedersehensfreude hält sich sehr in Grenzen.«
Garth zog eine Grimasse. »Unsinn! Natürlich hat er mich erkannt. Aber bei so vielen neugierigen Ohren ringsum ist es manchmal besser, so etwas nicht offen zu zeigen, weißt du? Wir sollten selbst auch nicht davon sprechen.«
Torian blickte sich unauffällig um. Die Menschen saßen und standen in Gruppen zusammen, würfelten, lachten und grölten Seemannslieder. Niemand schien von den beiden Fremden Notiz zu nehmen, aber was besagte das schon? Er wäre schon ein dutzendmal umgebracht worden, hätte er sich auf den Schein verlassen. Spelunken wie diese waren ein Paradies für Gauner und Spitzel, die nichts weiter taten als lauschen und die jede noch so unwichtige Information in bare Münze zu verwandeln verstanden. Die Nachricht, daß Garth noch lebte, wäre einigen Leuten mit Sicherheit einen ganz hübschen Batzen Geld wert.
Ein Betrunkener kam herangetaumelt, stolperte dicht vor Torian und klammerte sich haltsuchend an ihm fest, bevor er mit einer gemurmelten Entschuldigung weitertorkelte. Garth grinste und wog einen Lederbeutel in der Hand, in dem einige Münzen klimperten. »Sei froh, daß du nichts Wertvolles bei dir hast«, sagte er kopfschüttelnd und ließ den Beutel in der Tasche verschwinden. »Der Kerl hat recht geschickte Finger, aber ansonsten ist er ein absoluter Amateur. Findet nichts und läßt sich selbst noch beklauen. Boron kann einem leid tun, wenn er auf solche Leute angewiesen ist.«
»Ich habe nicht mal gesehen, daß du ihn berührt hast«, sagte Torian. »Verstößt es nicht gegen deine Berufsehre, einen Kollegen zu beklauen?«
Garth kicherte. »Im Gegenteil. Ich beklaue nur Reiche oder andere Diebe. Das stellt wenigstens eine sportliche Anforderung dar. Noch so ein paar Anfänger, und wir haben das Geld für die Schiffspassage zusammen.«
Torian verkniff sich eine Antwort. Gegen Garths Argumentation – so fadenscheinig sie war – kam er ohnehin nicht an. Er trank einen Schluck. Das Bier schmeckte dünn und schal. Es befand sich zuviel Wasser darin, aber dafür war der Krug auch nur zu zwei Dritteln gefüllt. Außerdem war es warm.
Seufzend leerte er ihn und bestellte einen neuen, nachdem er sich den Schaum vom Mund gewischt hatte.
Ein junges Mädchen, das Kaam hinter der Theke half, brachte ihnen das Essen. Ihrer aufreizenden Kleidung und den Falten zufolge, die sich trotz ihrer Jugend bereits in ihr Gesicht gegraben hatten, schienen Bier und Fisch nicht das einzige zu sein, was sie zu verkaufen hatte.
Unschlüssig betrachtete Torian seinen Teller. Er hatte Fisch noch nie sonderlich gemocht, probierte einen Happen und verzog angewidert das Gesicht. »Jetzt weiß ich auch, wieso hier so viel los ist«, sagte er mit gespieltem Ernst. »Kaam vergiftet seine Gäste, damit niemand erzählen kann, was für einen Fraß er hier verkauft.«
»Und zu welchem Preis«, fügte Garth im gleichen Tonfall hinzu. Mißtrauisch beäugte er seinen Fisch, drehte ihn mit spitzen Fingern herum und roch daran. »Der ist wohl auch schon ein bißchen länger tot«, kommentierte er, riß dann aber doch einen großen Streifen Fleisch ab und stopfte ihn sich in den Mund. »Was soll’s, ist ja quasi geschenkt.«
Torian würgte noch einige Bissen gegen den schlimmsten Hunger hinunter, dann schob er den Teller von sich und spülte den schlechten Geschmack des Fisches mit dem etwas weniger schlechten Geschmack des Bieres hinunter. Garth rülpste ungeniert. Von seinem Fisch waren nur noch ein paar Gräten übrig.
»Kümmern wir uns um unsere Passage. Kaam wird schon auf uns warten«, sagte er und wischte sich die fettigen Finger an der Hose ab. Er deutete unauffällig auf eine Tür im Hintergrund des Raumes. »Wir müssen außen rum, damit es nicht auffällt.«
Sie drängten sich durch die Menge zum Ausgang und verließen die Schenke. Nach der stickigen Wärme im Inneren kam Torian die frische Nachtluft eisig vor, obwohl der Nebel immer noch wie eine Glocke über der Stadt lastete. Er atmete ein paarmal tief durch. Was er roch, waren Meer und Kälte und Nebel. Aber auch noch etwas anderes... Er verscheuchte den Gedanken.
»Hier lang«, sagte Garth und führte ihn um das Gebäude herum in eine schmale Gasse, bis sie ein kleines Tor an der Seitenwand erreichten. Noch bevor er die Hand hob, um anzuklopfen, wurde es von dem Mädchen geöffnet. »Kommt herein.«
Sie gelangten auf einen mit Schmutz und Unrat übersäten Hof und von dort aus wieder ins Haus hinein. Das Mädchen führte sie in ein Zimmer, wo Kaam bereits auf sie wartete.
»Kümmere dich so lange allein um die Gäste«, befahl er mit barscher Stimme, bevor er sich an Garth wandte. Er schüttelte den Kopf. Von dem verschlafenen Ausdruck in seinem Blick war nichts mehr geblieben.
»Garth, Die Hand. Freut mich, dich wiederzusehen, ehrlich. In letzter Zeit treibt sich nur noch primitives Gesindel in der Stadt herum. Die ganze Arbeit macht keinen Spaß mehr. Aber ich habe nie geglaubt, daß du tot bist. Es wäre ein schlechter Witz, wenn ein Mann von deiner Begabung ausgerechnet auf einem Schlachtfeld sterben würde.«
Jetzt, wo sie allein waren, erwies sich Kaam als ebenso geschwätzig, wie er sich vorher wortkarg gegeben hatte. Er sprach schnell – und fast, ohne Luft zu holen –, aber wenigstens waren seine Worte jetzt klar zu verstehen. Auch machte er nicht mehr den Eindruck, als ob er jeden Moment einschlafen würde. Im Gegenteil, er wirkte so hellwach, wie er es wahrscheinlich die ganze Zeit über gewesen war. »Hast du schon mit Boron gesprochen?« erkundigte er sich und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten: »Er wird sich freuen, dich zu sehen. Der Alte hat die Hoffnung auf bessere Zeiten noch nicht aufgegeben. Aber kommen wir zu dir. Du bist doch bestimmt nicht mit leeren Händen gekommen. Was hast du...«
»Nichts«, unterbrach Garth seinen Redefluß. »Ich habe Boron schon getroffen. Das Geschäft sieht schlecht aus, aber ich habe keine Lust, mich wieder in Armar niederzulassen. Mach dir keine falschen Hoffnungen.«
»Du willst nicht...« Kaam schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst. Trinken wir erst einmal auf das Wiedersehen. Kyla, bring uns Wein. Aber einen guten Tropfen.«
Das Mädchen brachte eine bauchige Flasche und drei Becher herein. Torian kostete einen Schluck. Der Wein war trocken und schmeckte ein wenig harzig. Kein Spitzenwein, aber um ein Vielfaches besser als der gesüßte Essig, den Boron ihnen vorgesetzt hatte. Trotzdem trank er nur wenig. Er spürte bereits die Wirkung des ungewohnten Alkohols und wollte einen klaren Kopf behalten.
»Also, warum bist du gekommen?« fragte Kaam.
»Zunächst mal brauchen Torian und ich ein Quartier für ein paar Tage«, erklärte Garth.
»Kein Problem, du weißt doch, mein Haus steht dir immer offen. Sogar zu einem Freundschaftspreis.«
Garth ignorierte den letzten Satz. »Dann brauchen wir eine Schiffspassage. Entweder zu den freien Städten im Süden oder in die Westländer. Der Statthalter ist nicht gut auf mich zu sprechen, und vom Krieg haben wir die Schnauze voll.«
»Kann ich verstehen«, brummte Kaam nach einer kurzen Pause und versuchte vergeblich, seiner Stimme einen mitfühlenden Unterton zu verleihen. »Eine Schiffspassage – hmmm. Laß mich überlegen. Es liegen eine Menge Schiffe im Hafen, aber an eurer Stelle würde ich auf keines auch nur einen Fuß setzen. Kriegsschiffe oder Seelenverkäufer, kannst es dir aussuchen. Bei einigen könnte es euch auch passieren, daß ihr ganz gegen euren Willen plötzlich zur Mannschaft gehört. Da gibt es einige Kapitäne, die rekrutieren ihre...«
»Erspar uns die Einzelheiten«, schnitt Torian ihm das Wort ab. »Kannst du uns etwas vermitteln oder nicht?«
Kaam musterte ihn, als hätte er ein seltenes Tier vor sich. »Nicht gerade sehr höflich, dein Freund«, sagte er, an Garth gewandt. »An deiner Stelle würde ich mir meine Freunde...«
»Torian hat recht. Wir haben eine weite Reise hinter uns und sind müde.« Garth lächelte verzeihend. »Wie sieht es aus mit der Passage?«
»Mal sehen. Soweit ich gehört habe, wird Harlon mit seiner NOVATAN in den nächsten Tagen einlaufen. Er könnte euch nach Tais bringen. Von dort kommt ihr mühelos in die Westländer weiter.«
»Harlon?« Garth schluckte. »Der Verrückte? Bist du von Sinnen, Kaam? Ich habe keine Lust, auf einer fünftägigen Reise zehn Handelsschiffe zu überfallen.«
»Aber, aber, so darfst du das nicht sehen«, widersprach Kaam grinsend. »Harlon überfällt keine Schiffe, sondern sichert ihnen gegen ein kleines Entgelt die freie Weiterfahrt. Etwas Besseres kann ich euch zur Zeit nicht bieten.«
Garth leerte seinen Becher und stand auf.
»Am besten unterhalten wir uns morgen weiter. Was ist mit dem Quartier?«
Kaam seufzte. »Nicht, daß ich dir nicht traue, Garth, das darfst du nicht denken. Aber falls die Soldaten dich erwischen sollten, stehe ich dumm da. Eine kleine Vorauszahlung wäre da wohl angebracht.«
»Halsabschneider«, knurrte der Dieb und warf ihm den Lederbeutel zu. Mit geschickten Fingern zählte Kaam die Münzen und betrachtete den Beutel genauer.
»Den kenne ich doch! Woher...«
»Du mußt dich täuschen«, unterbrach ihn Garth. »Es gibt viele Beutel wie den da.«
Kaam seufzte erneut, ehe er den Beutel in der Tasche verschwinden ließ. »Na, mir soll’s egal sein, ich bin nur gespannt, wie Krön seine Zeche heute zahlen will. Da siehst du, was du für einen stümperhaften Nachwuchs hinterlassen hast. Willst du es dir nicht vielleicht doch noch einmal...«
»Das Zimmer«, erinnerte Garth sanft.
»Schon gut. Die Fürstensuite ist leider schon belegt, aber mal sehen, was ich machen kann«, sagte Kaam mit einem süffisanten Lächeln. »Kyla, bring meine Freunde auf ihr Zimmer.«
Das Mädchen kam mit einer Kerze in der Hand herangehuscht.
Es verbeugte sich scheu und wischte sich die Hände an der Schürze ab, bevor es sie die eine nur dürftig erleuchtete Treppe hinaufführte und eine Tür aufschloß.
»Ich hoffe, es gefällt euch«, sagte sie in einem Ton, der die Hoffnung ausdrückte, sie möchten ihren Unmut über die miserable Kaschemme nicht an ihr auslassen. Es gab zwei einfache Lager, deren Stroh dem Gestank nach schon seit geraumer Zeit auf den Misthaufen gehört hätte; außerdem einen morschen Tisch mit einer Schüssel, deren Wasser ebenfalls alles andere als frisch und sauber war, wie Torian mit einem mißbilligenden Blick feststellte.
»Was war das hier früher?« fragte Torian. »Ein Schweinestall?«
»Das ist noch das beste Zimmer«, versicherte Kyla rasch und stellte die Kerze auf den Tisch. »Wenn ich noch etwas für euch tun kann...«
»Schon gut«, entgegnete Garth und drückte ihr eine Münze in die Hand. Mit einem erleichterten Aufatmen wandte sich das Mädchen um und schloß beinahe hastig die Tür hinter sich.
»Wirklich eine fürstliche Unterkunft«, knurrte Torian. Er hielt sich demonstrativ die Nase zu, während er seinen Umhang auf einem Lager ausbreitete und sich darauf sinken ließ. »Wenn das das beste Zimmer ist, möchte ich die anderen nicht erst sehen.«
»Wenigstens sind wir hier sicher untergebracht«, antwortete Garth.
»Hoffentlich.« Torian legte das Schwert griffbereit neben sich, wie er es sich seit vielen Jahren angewöhnt hatte, ließ sich aufs Bett sinken und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er war müde, aber mit einem Male hatte er wieder Angst einzuschlafen. »Ist dieser Harlon wirklich so schlimm, wie du behauptet hast?« fragte er in die Dunkelheit hinein.
Die einzige Antwort bestand in einem lautstarken Schnarcher, der ganz und gar nicht echt war, aber deutlich machte, daß Garth jetzt nicht mehr reden wollte.
Torian seufzte, drehte sich auf die Seite und schloß die Augen. Es dauerte nicht einmal eine Minute, bis er eingeschlafen war. Auch in dieser Nacht wurde er wieder von Alpträumen heimgesucht, und wie zuvor geschah es in unzusammenhängenden Bildern.
Torian sah sich selbst am Grund einer Schlucht stehen, so tief, daß das Sonnenlicht ihren Boden niemals erreichte. Neben ihm ragten zyklopische Felswände auf, die sich mit wachsender Höhe gegeneinander zu neigen schienen, so daß nur ein schmaler Streifen Himmel sichtbar war, wenn er den Kopf ganz in den Nacken legte. Die Wände schienen zu pulsieren, und es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, daß es nicht nur Einbildung war. Die Felsen bewegten sich wirklich aufeinander zu, so daß der schmale Lichtstreifen immer kleiner wurde und schließlich ganz verschwand. Dennoch konnte Torian sehen, daß die Felsen immer noch weiter miteinander verschmolzen, rings um ihn herum in rasendem Tempo zusammenwuchsen und ihn unter Tausenden Tonnen Gestein zu begraben drohten. Spinnengleich kroch er durch winzige Spalten und Höhlen, um dem Gefängnis doch noch zu entrinnen.
Das Bild wechselte. Er sah sich auf dem Gipfel des Berges stehen und sah etwas aus den zerklüfteten Felsen herauskriechen, etwas, von dem er im ersten Moment glaubte, er wäre es selbst, doch dann kam es näher und er sah, daß das Ding nichts mehr mit...
Mit einem Ruck fuhr er hoch. Diesmal brauchte er nicht länger als eine Sekunde, um die klebrigen Traumfäden abzuschütteln und in die Realität zurückzufinden.
Etwas hatte ihn geweckt.
Im Zimmer herrschte das zwielichtige Halbdunkel der Morgendämmerung. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging. Trotz der frühen Stunde war es bereits warm und stickig. Aber da war noch etwas...
Aufmerksam lauschte er.
Das Geräusch wiederholte sich. Es lag dicht am Rande des gerade noch Wahrnehmbaren; ein leises Tappen wie von weichen, feuchten
Füßen, das vom Gang her an seine Ohren drang.
In einer einzigen geschmeidigen Bewegung sprang Torian auf und griff nach dem Schwert. Er zog es aus der Scheide, wobei er das Geräusch dämpfte, indem er die Klinge zwischen den Fingern hindurchgleiten ließ. Mit einem Schritt war er bei Garth und weckte ihn durch ein leichtes Rütteln an der Schulter. Schlaftrunken richtete sich der Dieb auf.
»Was...«
Unter der Wucht eines ungeheuer harten Trittes flog die Tür auf, wurde halb aus den Angeln gerissen und prallte krachend gegen die Wand. Zwei, drei, schließlich fünf schemenhafte Gestalten glitten aus der Dunkelheit des Flures ins Zimmer.
Torian war nicht mal besonders überrascht, als er die Männer wiedererkannte, die ihnen am vergangenen Abend durch den Nebel gefolgt waren. Er konnte sie auch jetzt nicht wirklich sehen. Etwas war immer noch um sie, das sie mehr zu Schemen denn zu Menschen werden ließ. Sie waren von Kopf bis Fuß in enganliegende braune Kleidung gehüllt, die ihnen selbst jetzt noch etwas Schattenhaftes verlieh. Selbst ihre Gesichter waren hinter dunklem Stoff verborgen, der nicht einmal Schlitze für die Augen frei ließ, so daß Torian sich fragte, wie sie überhaupt sehen konnten. In ihren Händen funkelten Schwerter, die keinen Zweifel an dem Grund ihres Eindringens ließen.
Torian sprang aus dem Stand vor. Noch bevor die Eindringlinge ihre Waffen hochgerissen hatten, traf sein Fuß den ersten gegen die Brust. Er warf sich noch im Sprung herum und hieb nach dem Schwert des zweiten. Die Waffen prallten aufeinander. Unter der Wucht des Hiebes zersprang die Klinge des Unbekannten wie Glas, der Mann taumelte zurück, prallte schwer gegen die Wand und umklammerte sein geprelltes Handgelenk mit der Linken.
Torian rollte sich ab, trat nach dem Bein eines weiteren Angreifers und kam mit einer geschmeidigen Bewegung wieder auf die Füße. Alles hatte wenig länger als eine Sekunde gedauert.
Die Männer wurden von der ungestümen Gewalt seines Angriffs völlig überrascht. Sie hatten geglaubt, auf schlafende, wehrlose Opfer zu treffen, doch sie überwanden ihren Schock blitzschnell und bewiesen, daß sie durchaus zu kämpfen verstanden.
Torian duckte sich unter einem Hieb durch und parierte einen weiteren mit dem Schwert. Es gelang ihm nicht ganz, die Waffe in die richtige Position zu bringen; statt an seiner Klinge abzugleiten, explodierte die ganze ungeheure Wucht des Schlages in seinem Handgelenk und lahmte es für Sekunden. Er schrie auf, als ein furchtbarer Schmerz durch seinen Arm raste. Blitzschnell wechselte er die Waffe in die andere Hand, sprang ein paar Schritte zurück und wäre um ein Haar über sein eigenes Bett gestolpert. Einem zweiten, nach seinem Kopf gezielten Schlag konnte er nur entgehen, indem er sich fallen ließ. Das Schwert zischte dicht über seinen Kopf hinweg. Instinktiv fing Torian den Sturz mit den Händen ab, und erneut zuckte ein feuriger Schmerz durch seinen Arm, als das verletzte Handgelenk unter seinem Körper wegknickte. Sofort wälzte er sich auf den Rücken. Direkt über sich sah er einen der Schatten aufwachsen, das Schwert bereits zum Schlag erhoben, und mit entsetzlicher Deutlichkeit wurde Torian klar, daß er nicht mehr ausweichen konnte.
Etwas Silbernes, Kleines fegte über ihm durch die Luft, fand mit tödlicher Präzision den schmalen Spalt zwischen Brustpanzer und Gesichtsschutz des Mannes und tötete ihn auf der Stelle. So lautlos, wie er gekämpft hatte, brach der Angreifer in die Knie und fiel zur Seite. Aus seiner Kehle ragte der zitternde Griff eines kleinen Wurfdolches.
Erst jetzt konnte Torian seine Lähmung abschütteln und sich zur Seite rollen. Der Unbekannte brach kaum eine Handbreit neben ihm zusammen. Garth schleuderte einen weiteren Dolch, doch diesmal verfehlte er sein Ziel. Die Waffe hämmerte wirkungslos in die Wand. Der Dieb sprang vor, trieb zwei weitere Angreifer mit wuchtigen Streichen zurück und zog Torian mit einem Ruck auf die Beine.
Torian tänzelte zwei, drei Schritte zurück und griff unvermittelt wieder an. Er täuschte einen geraden Stich vor, riß die Klinge in einer unmöglich anmutenden Bewegung herum und stieß sie einem Angreifer in die Schulter. Der Mann taumelte zurück und riß im Fallen noch einen weiteren Angreifer mit sich zu Boden.
Torian gewann für einige Sekunden Luft. Er schlug ein Schwert beiseite, das auf Garth gezielt war, dann mußte er sich wieder seinen eigenen Gegnern zuwenden. Trotz des zahlenmäßigen Ungleichgewichts begriff er nicht, wieso auch nur einer der Männer noch auf den Beinen stand. Sie hatten alle mehr oder minder schwere Verletzungen davongetragen, doch mit Ausnahme des Toten war niemandem auch nur eine Behinderung anzumerken. Selbst der Mann mit der durchbohrten Schulter wechselte lediglich das Schwert in die andere Hand und kämpfte ohne einen Laut des Schmerzes weiter.
Der Kampf begann gespenstische Formen anzunehmen. Torian hatte es längst aufgegeben, seine Gegner nur verletzen zu wollen. Wenn es überhaupt Menschen waren, gegen die sie fochten, dann solche, die das Wort Schmerz nicht kannten. Immer weiter wurde Garth zurückgedrängt, und auch Torian erging es nicht anders, obwohl sie immer wieder Ausfälle machten und den Unbekannten neue Wunden schlugen, die jeden anderen Gegner zumindest kampfunfähig gemacht hätten. Trotz der Tücher vor dem Gesicht schienen sie in dem herrschenden Halbdunkel ohne jede Schwierigkeit sehen zu können. Gegen was kämpften sie?
Torian spürte, wie seine Kräfte allmählich nachließen. Nur noch mit Mühe brachte er sein Schwert hoch, um die unermüdlich auf ihn einprasselnden Hiebe zu parieren. Mehr als einmal hatte er den Unbekannten schon Gelegenheit geboten, ihn zu töten, aber sie hatten ihre Chance stets einen Sekundenbruchteil zu spät erkannt, so daß er sich doch noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Niemand hörte den Lärm; offensichtlich waren sie die einzigen Gäste in diesem Flügel des Hauses, so daß sie nicht auf Hilfe von außen hoffen durften.
Gehetzt sah er sich nach Garth um. Es war dem Dieb gelungen einen der Unbekannten in die Ecke neben der Tür zu drängen. Er hob das Schwert zu einem vernichtenden Hieb, fuhr dann aber blitzschnell herum und schlug statt dessen nach seinem zweiten Gegner.
Er sah die Falle zu spät. Der Unbekannte wich mit unglaublicher Schnelligkeit zur Seite und schmetterte dem Dieb die Breitseite seines Schwertes gegen den Hinterkopf. Garth keuchte, taumelte einen halben Schritt zur Seite und brach wie ein gefällter Baum zusammen.
»Garth!« brüllte Torian. Er wollte herumfahren, um Garth zu Hilfe zu eilen, aber er kam nicht mehr dazu. Seine sekundenlange Unachtsamkeit rächte sich. Es gelang ihm, dem tödlichen Stoß auszuweichen, aber die Klinge traf seinen linken Arm. Es war nur eine unbedeutende Fleischwunde, kaum mehr als ein Kratzer, den er normalerweise kaum gespürt hätte, doch jetzt zuckte ein unbeschreiblicher Schmerz durch seinen Arm.
Er begriff selbst nicht, was geschah. Der Schmerz war unvorstellbar, gräßlicher, als würde sein Arm in siedendes Öl getaucht. Torian öffnete den Mund zu einem Schrei, brachte aber nur ein wimmerndes Stöhnen zustande. Das verwüstete Zimmer und die vier lederbraunen Angreifer begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Dafür spürte er, wie etwas anderes, etwas in ihm auf den Schmerz reagierte und lautlos zu schreien begann. Der Schrei gellte in seinen Gedanken auf, durchzog seinen gesamten Körper und brachte ihn zum Vibrieren.
Etwas in ihm zerbrach.
Erwachte...
Alles ging so schnell, daß Torian selbst kaum begriff, was mit ihm geschah. Die Bewegungen seiner Gegner schienen zu gefrieren, als liefe die Zeit für sie um ein Vielfaches langsamer ab. Sein Schwert zuckte hoch, fuhr um die Waffe eines der Unbekannten herum, züngelte nach seinem Gesicht und tötete ihn auf der Stelle. Gleichzeitig riß Torian das Bein hoch, brach mühelos durch die Deckung eines zweiten und schleuderte seinen Kopf so kraftvoll in den Nacken, daß das Genick mit einem widerlichen Knacken brach.
Alles, was er noch empfand, war Haß; gräßlicher, alles verzehrender Haß, gepaart allerhöchstens mit Unverständnis und einem ganz schwachen Entsetzen über die Kraft, die plötzlich in ihm war. Nicht mehr die Kraft eines Menschen.
Er wirbelte einmal um die eigene Achse, wich geradezu mühelos einem Schwertstreich aus und enthauptete den Mann mit einem einzigen Hieb.
Der letzte überlebende Angreifer begriff endlich, daß er auf verlorenem Posten stand, und versuchte sein Leben zu retten. Ohne einen Laut von sich zu geben, warf er sich herum und hetzte auf die Tür zu.
Torian hechtete mit einem gewaltigen Satz hinter ihm her, kam dicht hinter ihm auf und rollte sich ab. Den ganzen Schwung der Drehung ausnutzend, trieb er dem Unbekannten das Schwert bis zum Heft in den Rücken und riß es wieder zurück. Der Mann starb lautlos und schnell, aber der Anblick brachte Torian schier um den Verstand. Einen Herzschlag lang spürte er das unbändige Verlangen, sein Gesicht in das Blut zu tauchen und...
Es war diese Vorstellung, die ihn in die Wirklichkeit zurückriß. Mit aller Kraft kämpfte er gegen das Fremde an und drängte es in einer letzten gewaltigen Anstrengung dorthin zurück, wo es hergekommen war.
Im selben Moment begriff Torian, was er getan hatte, und fast im selben Moment erlosch auch seine Kraft, als wäre es nur das Fremde, Böse in ihm gewesen, das sie ihm geliehen hatte.
Das Schwert schien plötzlich Tonnen zu wiegen. Er taumelte zurück, ließ die Waffe angeekelt fallen und begann seine Hände an der Hose zu reiben, immer und immer wieder und ohne daß er imstande gewesen wäre, die Bewegung aufzuhalten; fast, als fühle er sich schon durch die Berührung mit der Waffe besudelt. Keuchend sank er in die Knie und barg das Gesicht in den Händen.
Was hatte er getan ?!
Er hatte schon viele Männer getötet, Starke und Schwache, Gute und Schlechte, aber noch niemals so! Nie zuvor hatte er einen Fliehenden von hinten abgeschlachtet. Genau das war es gewesen: ein Schlachten, das nichts mehr mit einem Kampf zu tun hatte. Die Männer hatten nicht den Hauch einer Chance gehabt gegen das, was plötzlich aus ihm herausgebrochen war. Und das allerschlimmste war: er hatte es genossen!
Torian stöhnte, als er sich an die Schwärze zu erinnern versuchte, die so plötzlich Macht über ihn erlangt hatte. Er hatte derartiges noch nie erlebt, und er begriff auch jetzt nicht, was geschehen war. Aber allein die Erinnerung ließ ihn erneut schaudern. Wie ein eigenständiges Wesen kroch seine Hand zur linken Schulter und tastete unter den Harnisch; ohne daß er wußte, warum, fühlte er nach der Stelle, an der ihn der Stachel der Spinne durchbohrt hatte.
Da... war etwas. Eine kleine Schwellung, die unter seinen Fingerspitzen in unstetem Rhythmus pochte und wie ein winziges zweites Herz pulsierte, im gleichen Takt wie sein eigenes, aber schneller, aggressiver.
»Nein!« keuchte Torian. Ein entsetzlicher Verdacht keimte in ihm auf, ohne daß er in der Lage war, ihn wirklich zu verstehen; geschweige denn, in Worte zu fassen. Der Gedanke entglitt ihm schneller, als er ihn zu fassen vermochte, aber er verschwand nicht vollends. Zurück blieben Leere und das flüchtige Gefühl, etwas Wichtiges verloren zu haben. Dort, wo sein Gedächtnis sein sollte, gähnte nur ein tiefes schwarzes Loch, das sich langsam mit Panik und abgrundtiefem Ekel zu füllen begann. Was geschah mit ihm? WAS?!
Zutiefst verstört wankte Torian ins Zimmer zurück und sah sich um. Die fünf Männer waren tot, waren von ihm in einem verzweifelten Kampf unter Aufbietung aller Kräfte besiegt worden. Es gab nichts Unheimliches daran. Er hatte Glück gehabt, das war alles. Er beugte sich über einen der Toten und riß ihm das Tuch vom Gesicht. Was er im Licht der nun immer rascher heraufziehenden Morgendämmerung sah, ließ ihn aufstöhnen.
Das Gesicht des Mannes wirkte auf erschreckende Art... unfertig.
Der Unbekannte hatte Mund und Nase und Augen, aber seine Züge waren nur angedeutet, nicht ausgeprägt. Es sah aus, als hätte man den Schädel eines Säuglings so weit vergrößert, bis er auf den Körper eines Erwachsenen paßte. Und noch etwas fiel Torian auf. Die Haut des Mannes war so bleich, als wäre er schon seit Tagen tot. Sie sah abstoßend weiß und schwammig aus, ihr fehlte jede noch so winzige Nuance natürlicher Sonnenbräune. Kein Bartwuchs.
Torian hob widerstrebend die Hand und berührte das fremdartige Gesicht. Es war ein Gefühl, als ob er in aufgequollenen Hefeteig gegriffen hätte. Er überwand seinen Abscheu und versuchte die wimperlosen Augen des Mannes zu öffnen.
Es ging nicht.
Verwirrt hob Torian die Hand, schüttelte den Kopf und versuchte es noch einmal.
Das Ergebnis war das gleiche. Es ging nicht.
Der Mann hatte keine Augen...
Eine eisige Hand schien über Torians Rücken zu fahren, als er begriff, daß es nicht nur ein böser Scherz war, den ihm seine überreizten Nerven spielten. Wo sich bei einem normalen Menschen die Lider befanden, gab es nur eine durchgehende Hautfläche, die nahtlos mit der Haut an Stirn und Wangen verwachsen war.
Der Unbekannte war blind, mehr noch – er hatte niemals Augen gehabt!
Torian kroch zu einem anderen Mann und riß auch ihm das Tuch vom Gesicht. Das Bild war das gleiche.
Aber das war... unmöglich! dachte er hysterisch. Völlig ausgeschlossen! Er zweifelte nicht daran, daß auch die anderen drei Männer blind waren, aber das änderte nichts daran, daß das einfach nicht möglich war. Es war undenkbar, daß sich die Natur gleich fünfmal hintereinander den gleichen bösen Scherz erlaubt haben sollte. Zauberei?
Torian schluckte nervös. Obgleich er mehr als genug Beweise für das Gegenteil bekommen hatte, weigerte er sich immer noch, wirklich an Zauberei und Schwarze Magie zu glauben.
Nein – irgend etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Und er würde herausfinden, was.
Die Männer waren blind gewesen, das stand fest. Aber wieso hatten sie kämpfen können?
Hatten sie... gehört, was er tat?
Alles in Torian sträubte sich gegen diese Vorstellung, aber es war die einzige logische Erklärung. Dadurch erklärten sich auch ihr gelegentliches Zögern und ihre Unfähigkeit, seine Blößen auszunutzen, wenn es ihm nicht gelungen war, sein Schwert schnell genug hochzureißen. Sie hatten immer nur ungefähr gewußt, wo er sich befand.
Trotzdem blieb es unfaßbar.
Er stand auf, um zu Garth hinüberzugehen, als die Sonne über den Dächern Armars aufging. Sein Blick streifte das Fenster. Und er schrie auf.
Das Licht stach wie ein Speer aus gleißender Helligkeit in seine Augen. Noch nie zuvor war ihm Licht so grell vorgekommen. Keuchend vor Schmerz und Überraschung riß er die Arme vors Gesicht. Er war es gewohnt, Schmerzen stumm zu ertragen, aber dies war fast mehr, als er aushaken konnte. Seine Augen brannten, als wären sie mit Säure verbrannt. Rasender Schmerz pochte zwischen seinen Schläfen.
Blind taumelte er im Zimmer umher und merkte kaum, daß er stürzte und hart auf dem Boden aufschlug. Er fand nicht mehr die Kraft, sich aufzurichten, sondern kroch weiter, bis er den toten Winkel neben dem Fenster erreichte, den einzigen Ort, an dem er nicht direkt den unerträglich grellen Strahlen ausgesetzt war. Winselnd kauerte er sich in die Ecke und wartete darauf, daß der entsetzliche Schmerz endlich aufhörte.
Blind tastete er mit der freien Hand über die Wand, bis er den Vorhang zu fassen bekam. Torian zerrte daran, bis er das Fenster weitgehend verdeckte und ihm wenigstens ein klein wenig Linderung brachte.
Ganz langsam nur ließ der Schmerz nach; zumindest so weit, daß er wieder denken konnte. Schon am vergangenen Abend hatte er das Licht schlecht vertragen können. Aber diesmal lag es nicht am fehlenden Schlaf. Etwas war mit seinen Augen geschehen, daß das Sonnenlicht ihm solche unerträglichen Qualen bereitete.
Er hob den Kopf aus der Armbeuge und öffnete vorsichtig die Lider. Sofort stach der Schmerz wieder in seine Pupillen, nicht mehr ganz so unerträglich wie vorher, aber immer noch schlimm genug, ihm die Tränen in die Augen zu treiben. Trotzdem zwang er sich, das Gesicht nicht mit den Händen zu bedecken. Statt dessen ließ er sich nach vorne fallen, genau in das sengende Sonnenlicht hinein. Der Schmerz steigerte sich ins Unermeßliche. Torian hatte das Gefühl, bei lebendigem Leibe zu verbrennen. In rasender Agonie schlug und trat er um sich, hämmerte schreiend mit den Fäusten auf den Boden und versuchte, sich in den schützenden Schatten zurückzuwälzen. Er wußte selbst nicht, woher er die Kraft nahm, die Hände von seinem Gesicht fernzuhalten. Über seine Lider besaß er längst keine Kontrolle mehr, aber das Licht fraß sich mühelos durch seine zusammengekniffenen Lider hindurch, weißglühende Lanzen, die tief in seinen Schädel drangen.
Es dauerte nur wenige Herzschläge, bis die Schmerzen wieder nachließen, doch Torian kamen sie wie Ewigkeit vor. Stöhnend vor Schmerz zwang er sich, die Lider zu öffnen. Tränen schössen ihm in die Augen und woben einen nebeligen Schleier vor seinem Blick. Tief in sich vernahm er einen gellenden Schrei – und dann war der Schmerz schlagartig verschwunden.
Was immer es war, er hatte es besiegt. Für dieses Mal.
Stöhnend massierte er seine Schläfen. Was auch immer ihm den entsetzlichen Schmerz zugefügt hatte, war nicht vernichtet. Er hatte es bezwungen, es aus seinem Bewußtsein verdrängt, aber es lauerte immer noch irgendwo tief in ihm und wartete auf einen Moment, in dem es erneut über ihn herfallen konnte; ein schleichendes Gift, das Zeit brauchte, um seine volle Wirkung zu entfalten.
Aber der Moment würde kommen. Und Torian fürchtete ihn so, wie er noch nie im Leben etwas gefürchtet hatte.
Vielleicht, weil er jetzt wußte, was es war. Nicht bewußt – das Wissen war da, deutlich formuliert und mit gnadenloser Klarheit, aber etwas in ihm hinderte ihn noch daran, danach zu greifen. Vielleicht schützte es ihn auch nur davor, die Wahrheit wirklich zu begreifen und auf der Stelle den Verstand zu verlieren.
Aber wie lange noch?
Garth hatte eine mächtige Beule, aber er war nicht schwer verletzt; Torian rüttelte ihn ein paarmal an der Schulter und weckte ihn schließlich mit einer sanften Ohrfeige aus seiner Benommenheit. Garth schlug stöhnend die Augen auf, hob die Hand an den Kopf und fuhr zusammen, als er die Schwellung unter seinem Haar berührte.
»O verdammt«, murmelte er. »Was... was ist passiert?«
»Das siehst du doch«, knurrte Torian, setzte sich zurück und massierte seinen Arm. »Ich habe etwas aufgeräumt, nachdem du dich wieder schlafen gelegt hast.«
Garth blinzelte verstört, fuhr mit einem Ruck hoch und sog scharf die Luft ein, als er sah, daß sich das Zimmer in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. »Sie...«
»Sie sind tot«, unterbrach ihn Torian, noch immer lächelnd, aber mit einer ganz genau berechneten Spur von Kälte in der Stimme. »Ich hatte keine Wahl.«
Garth schwieg, aber es war unschwer zu erkennen, wie sehr ihn der Anblick erschütterte.
»Kanntest du diese Männer?« fragte Torian.
Garth schüttelte benommen den Kopf. »Nein«, sagte er sehr leise und erst nach einer geraumen Weile. »Ich habe keine Ahnung, wer... Großer Gott, Torian, du hast sie... alle getötet?«
Seine Worte – und vor allem die Betonung, in der er sie sprach – trafen Torian wie eine Ohrfeige. Und schlimmer war vielleicht noch das, was er nicht aussprach. »Was hast du erwartet?« erwiderte er kalt. »Ich bin Torian Carr Conn.«
Diesmal war es Garth, der betroffen zusammenfuhr. »Verzeih«, sagte er hastig. »Ich... ich habe es nicht so gemeint. Aber es wäre besser gewesen, wenn wenigstens einer von ihnen...«
»Überlebt hätte?« fragte Torian, als Garth nicht weitersprach. »Wozu? Um Fragen zu beantworten?«
Garth nickte, und Torian lachte bitter. »Das hätten sie kaum getan«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob sie sprechen konnten.«
»Wie meinst du das?«
»Schau sie dir genauer an«, sagte Torian ruhig.
Garth starrte ihn noch einen Herzschlag lang irritiert an, dann erhob er sich auf Hände und Knie, kroch zu einem der Toten hinüber und sog erschrocken die Luft ein. Plötzlich fuhr er hoch, hastete zu einem zweiten, dritten.
»Sie sind blind«, murmelte er. »Sie sind... alle blind! Aber wie ist das möglich? Sie haben doch wie Besessene gekämpft!«
Torian seufzte. »Ich hatte gehofft, daß du die Antwort wüßtest«, sagte er. »Verdammt, ich habe keine Ahnung, wer die Männer sind, wer sie geschickt hat und erst recht nicht, warum sie uns umbringen wollten. Allmählich begreife ich überhaupt nichts mehr. Aber offenbar ist die Unterkunft hier doch nicht so sicher, wie du geglaubt hast.«
Kopfschüttelnd richtete Garth sich auf und kam zu ihm zurück. »Soldaten der Stadtwache sind das jedenfalls nicht«, sagte er überzeugt. »Und auch keine einfachen gedungenen Mörder. Ich habe noch nie von blinden Killern gehört, die besser als mancher Krieger zu kämpfen verstehen.« Er zögerte einen Moment und dachte nach. »Es sind die fünf, die wir gestern abend gesehen haben, nicht wahr?«
Torian nickte. »Ich glaube schon.«
»Ich war mir sicher, wir hätten sie im Nebel abgeschüttelt«, fuhr Garth fort. »In dieser Brühe können sie uns nicht einmal gehört haben. Ich möchte wissen, wie sie unsere Spur wiedergefunden haben.«
»Vielleicht mußten sie das gar nicht«, murmelte Torian. »Diese Schenke hier ist dein Stammlokal, nicht?«
»Niemand hier weiß, daß ich noch lebe«, erwiderte Garth, eine Spur zu überzeugt, wie Torian fand.
»Irgendwer in der Schenke hat uns erkannt und verraten«, behauptete Torian. »Ob man dich nun für tot hielt oder nicht. Aber das«, fügte er mit leicht erhobener Stimme und einer besänftigenden Geste hinzu, als Garth abermals auffahren wollte, »erklärt noch nicht, wieso sie uns überhaupt gefolgt sind. Sie waren hinter uns her, bevor wir hierherkamen, vergiß das nicht. Vielleicht schon vom Haus deines sogenannten Freundes aus.«
»Boron hat nichts damit zu tun«, widersprach Garth heftig. »Ich kenne ihn seit Jahren. Er würde mich niemals verraten.«
»Auch nicht, wenn er es muß?«
»Auch dann nicht«, sagte Garth.
Torian öffnete den Mund, schluckte seine Entgegnung dann aber doch hinunter. Er spürte, daß es sinnlos war, mit Garth über diesen Punkt zu diskutieren. Offenbar konnte Garth sich einen Verrat Borons ebensowenig vorstellen, wie er selbst es bei Garth vermocht hätte.
»Vielleicht haben sie auch schon vor unserer Ankunft auf uns gewartet«, sagte er deshalb, obwohl er selbst spürte, wie dünn diese Erklärung klang. »Immerhin haben wir mächtige Feinde. Wir sollten zusehen, daß wir so schnell wie möglich wieder aus der Stadt verschwinden. Offenbar haben wir ein Talent, zielsicher in jedes erreichbare Wespennest zu stechen.«
»Wir?« brummte Garth. »Du hat dieses Talent. Du scheinst ein Naturtalent zu sein. Und ich ein Idiot, dich nicht längst zur Hölle geschickt zu haben. Vielleicht sollte ich mich besser freiwillig dem Kommandanten stellen und wieder in die Söldnerlisten eintragen lassen. So ein gemütlicher Krieg ist die reinste Entspannung gegen ein paar Tage in deiner Nähe.«
Er verdrehte die Augen, seufzte übertrieben und wurde dann übergangslos ernst. »Zeig mir deinen Arm. Du blutest.«
Torian hatte gar nicht mehr an die Verletzung gedacht, die einer der Unbekannten ihm beigebracht hatte. Erst jetzt, nachdem Garth ihn daran erinnert hatte, spürte er das Brennen der Wunde wieder, lange nicht mehr so entsetzlich wie am Anfang, aber noch immer schlimm genug. Sein Arm war blutüberströmt.
Der Dieb streckte die Hand nach seinem Arm aus, aber Torian schüttelte nur den Kopf und riß einen Stoffstreifen aus seinem Umhang, den er zu einem provisorischen Verband knotete. »Nur ein Kratzer«, erklärte er und winkte ab.
Garth runzelte die Stirn, schwieg aber. Er stand auf. »Kaam muß uns helfen, die Leichen zu beseitigen. Ich möchte überhaupt gerne wissen, wo er steckt.«
Sie verließen das Zimmer. Das Sonnenlicht fügte Torian zwar keine Schmerzen mehr zu, aber es bereitete ihm auch jetzt noch Unbehagen. Das Halbdunkel des Flures kam ihm vor wie eine lindernde Hand aus Schatten.
Doch er spürte auch, wie das finstere Etwas in ihm schlagartig an Macht gewann und das Dämmerlicht mit einem stummen, freudigen Schrei willkommen hieß. Dürre Spinnenfinger tasteten nach seinem Geist, während sie die Treppe hinunterschritten. Torian krampfte die Hände so fest zu Fäusten zusammen, daß die Nägel in sein Fleisch schnitten, und er begrüßte den Schmerz, der ihm half, gegen die unverständlichen, fremden Gedanken anzukämpfen und sie wieder tief in sich zu vergraben. Was, um alles in der Welt, geschah bloß mit ihm?
Unauffällig musterte er Garth. Er wollte dem Dieb von dem Ding in seinem Inneren und den Schmerzen, die das Sonnenlicht ihm zugefügt hatte, erzählen, aber wie schon mehrmals zuvor konnte er es nicht. Etwas, das stärker war als sein Wille, hielt ihn davon ab.
Vielleicht wäre es ihm sogar gelungen, wenn sie nicht in diesem Moment den Schankraum erreicht hätten und über Kaam gestolpert wären.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Er lag reglos auf dem Boden, gekleidet in ein fremdartig aussehendes, schreiend buntes Nachtgewand aus glänzender Seide, das sich langsam mit dem Blut tränkte, das eine große Lache unter seinem Körper bildete. Noch im Tode hielt er die Faust um einen Wurfdolch gekrampft. Nicht einmal seine Schnelligkeit im Umgang mit diesen Waffen hatte ihm etwas gegen die blinden Mörder genutzt. Sie hatten ihm die Kehle durchgeschnitten.
Schaudernd wandte Torian den Blick ab. Und fuhr erschrocken zusammen. »Das Mädchen!«
Garth stürmte durch die Tür hinter der Theke. Als er nach einigen Sekunden zurückkehrte, war sein Gesicht blaß. »Diese Bestien haben auch sie umgebracht. Wir müssen...«
Ein wuchtiger Schlag ließ die Tür erbeben. Torian und Garth fuhren in einer einzigen Bewegung herum; eine halbe Sekunde, ehe auch hinter ihren Rücken das Geräusch splitternden Holzes laut wurde und auf sehr drastische Weise bewies, daß das Haus umstellt war.
»Im Namen des Statthalters, aufmachen!« brüllte jemand. »Wir wissen, daß du dort drinnen bist, Garth. Komm heraus, oder wir brechen die Tür auf!«
Mit zwei raschen Sätzen erreichte Torian eines der Fenster neben der Tür und spähte zwischen den vorgelegten Läden hindurch. Obwohl das grelle Sonnenlicht auf der Straße ihn auch jetzt wieder peinigte und ihn so stark blendete, daß er außer verschwommenen Schemen und bunten Kreisen kaum etwas sah, wandte er den Kopf nicht ab. Seine Augen tränten, aber nach einigen Sekunden schälten sich die Umrisse eines guten Dutzends uniformierter Soldaten aus der gleißenden Lichtflut.
»Es sind zu viele«, sagte er kopfschüttelnd. »Sinnlos, zu kämpfen.«
»Zu spät.« Garth deutete auf die Tür, deren Holz von wuchtigen Schwerthieben gespalten wurde, und duckte sich.
»Hier rein.« Er riß einen kleinen Verschlag unter der gedrungenen Theke auf und stieß Torian hinein, bevor er selbst hinterherkletterte.
Der Verschlag war für Wein- und Bierfässer gedacht; ein kleines, nur halb unterirdisches Loch, das man kaum als Raum bezeichnen konnte. Sie kauerten sich auf dem festgestampften Lehmboden zusammen, während die Soldaten die Tür kurzerhand aus den Angeln schlugen. Der Holzboden bebte unter den Schritten schwerer Stiefel. Torian wagte kaum zu atmen. Auch über ihren Köpfen waren jetzt polternde Schritte, dann hörte Torian einen gedämpften, sehr erschrockenen Schrei.
»Sie haben Kaam umgebracht«, rief eine Stimme.
»Durchsucht das Haus!« befahl eine andere, wohl die des Kommandanten des Trupps. »Sie müssen noch hier sein.«
Einige Soldaten polterten die Treppe hinauf, die anderen durchsuchten die Räume im Erdgeschoß. Noch kam niemand auf die Idee, unter der Theke nachzusehen, aber lange würde auch dieses Versteck nicht unentdeckt bleiben, darüber war sich Torian im klaren. Seine Hand tastete im Dunkeln nach dem Schwert und schmiegte sich darum, und...
Nein! dachte er entsetzt. Nicht schon wieder! Er konnte dieses Etwas in sich nicht noch einmal entfesseln. Nicht einmal, wenn sein Leben davon abhinge. Er war nicht sicher, ob er noch einmal die Kraft aufbringen würde, es zurückzudrängen.
Es dauerte nicht lange, bis die Soldaten zurückkehrten und Bericht erstatteten. Torian konnte nicht verstehen, was sie sagten, aber ihr kleinlauter, beinahe ängstlicher Tonfall und die ungehemmten Flüche, mit denen der Kommandant darauf antwortete, machten es überflüssig, die Worte zu verstehen. Torian begriff, daß sie von diesen Männern keine Gnade zu erwarten hatten, wenn sie ihnen in die Hände fielen. Er konnte es ihnen nicht einmal verdenken nach dem, was sie oben gesehen haben mußten.
»Das ist ein verdammtes abgekartetes Spiel«, flüsterte er. »Die stempeln uns zu Massenmördern, wenn sie uns schon nicht kriegen können.«
»Und wir werden kaum Gelegenheit haben, alles aufzuklären«, gab Garth zurück. Torian spürte, wie er in der Dunkelheit neben ihm nickte. »Die hängen uns, bevor wir ein Wort sagen können. Jemand möchte uns anscheinend ganz wahnsinnig gern tot sehen.
Wir...«
»Still!« zischte Torian. Garth verstummte mitten im Wort. Er atmete nicht mal mehr.
Die Schritte zweier Männer näherten sich der Theke. Torian hörte, wie eine Hand auf das schartige Holz klatschte. Einer der Männer sagte etwas, das er nicht verstand, und der andere antwortete mit einem halblauten, rauhen Lachen darauf.
Torian spannte sich. Wenn es sein mußte, würden sie kämpfen – aber er flehte alle Götter an, daß er nicht noch einmal gezwungen sein würde zu töten, nicht auf diese entsetzliche Art.
Möglicherweise wurde sein Gebet erhört; wahrscheinlich aber war es nur Zufall und die Folge von Kaams Feigheit. Torian verlagerte sein Körpergewicht, um in die richtige Position für einen raschen Sprung ins Freie zu kommen, lehnte sich mit der Schulter gegen die Tür – und unterdrückte im allerletzten Moment einen erschrockenen Ausruf, als der Boden unter seinen Füßen nachgab. Was er für natürlich gewachsenen Erdboden gehalten hatte, das entpuppte sich als eine dünne Lehmschicht, unter der der Zugang zu einem schmalen Stollen verborgen war. Torians Hände ertasteten eine verrottete, fast senkrecht in die Tiefe führende Holzleiter. Ein Schwall faulig riechender Luft schlug ihm entgegen, als er sich nach unten beugte und vergeblich versuchte, mehr als schwarze Schatten zu erkennen.
»Was, zum Teufel, ist das?« flüsterte er.
Garth bewegte sich unruhig neben ihm. »Vielleicht ein Vorratsraum«, wisperte er. »Oder ein Fluchttunnel. Kaam ist ein vorsichtiger Mann. Oder war es.«
Über ihnen scharrte Metall über das Holz der Theke, und der Laut brachte Torian davon ab, sich länger den Kopf über das »was« dieses jäh aufgetauchten Fluchtweges zu zerbrechen. Sie mußten es einfach riskieren.
Entschlossen rollte er ein zentnerschweres Faß zur Seite- und so, daß es die Klappe wenigstens für Augenblicke blockieren würde, sollten die Soldaten den Verschlag entdecken und ihn durchsuchen wollen –, tastete im Dunkeln mit dem Fuß nach der obersten Sprosse und begann rasch die Leiter hinunterzusteigen. Die altersschwache Konstruktion bebte und zitterte unter seinem Gewicht, als wolle sie jeden Moment zusammenbrechen, und er hoffte inständig, daß Garth ihm nicht unmittelbar folgte.
Glücklicherweise führte der Weg nur ein knappes Dutzend Stufen weit in die Tiefe, ehe unter seinem tastenden Fuß wieder fester Lehmboden war. Torian trat rasch einen Schritt von der Leiter zurück, gab Garth mit einem halblauten Ruf zu verstehen, daß er ihm folgen konnte, und sah sich um.
Es war nicht vollständig dunkel. Es gab keine direkte Lichtquelle, aber ein blasses, graues Leuchten hing in der Luft, in dem er seine Umgebung zwar mehr erahnte, als er sie wirklich sah, zumindest aber nicht vollständig blind war. Er erkannte, daß die Leiter in einem roh ausgeschachteten Hohlraum endete, der vollständig leer war. An der gegenüberliegenden Wand befand sich der Durchgang zu einem weiteren Tunnel, der allerdings so niedrig war, daß man darin nur kriechen konnte. Es war ein Fluchtweg, den Kaam für alle Fälle angelegt hatte. Ihm nutzte er nichts mehr, aber Garth und ihm würde er vielleicht das Leben retten.
Ungeduldig wartete er, bis Garth zu ihm herabgestiegen war, dann deutete er wortlos auf den Stollen. Garth blinzelte verwirrt. Er mußte nicht einmal etwas sagen, damit Torian begriff, daß er den Gang nicht sah. Mehr noch – er sah überhaupt nichts...
Aber wieder kam er nicht dazu, irgendwelche Einwände vorzubringen, denn über ihnen wurde es laut. Überraschte Schreie klangen auf, dann das Splittern von Holz. Die Soldaten hatten den Verschlag entdeckt.
Torian zögerte nicht länger, sondern ergriff Garth kurzerhand am Arm und riß ihn einfach mit sich. Mit purer Gewalt zwang er ihn auf die Knie herab und versetzte ihm einen Stoß, der ihn halbwegs in den Tunnel hineinschleuderte. Garth prallte unsanft mit dem Schädel gegen die Wand, grunzte überrascht – und begann ganz automatisch loszukriechen. Erneut fiel Torian auf, wie eng der Fluchttunnel geraten war. Er war für einen Mann von Kaams Statur gemacht, nicht für einen breitschultrigen Riesen wie Garth, und einen Moment lang rechnete er ernsthaft damit, daß der Dieb wie ein Korken im Flaschenhals einfach darin steckenbleiben würde.
Aber sie hatten Glück: Garth ächzte und schnaubte, aber er blieb nicht stecken.
Torian sah nervös zur Leiter zurück, ehe er dem Dieb folgte. Die Stimmen über ihnen wurden lauter. Noch folgte ihnen niemand, aber es konnte nur noch Augenblicke dauern. Er zögerte einen Moment, dann zog er mit einem entschlossenen Ruck seine Waffe aus dem Gürtel und ließ die Klinge wuchtig auf das morsche Holz krachen. Die Leiter zerbarst schon unter dem ersten Hieb. Lange würden sich die Verfolger davon sicher nicht aufhalten lassen, aber vielleicht waren wenige Minuten schon die Frist, die über Leben und Tod entschied. Torian steckte seine Waffe ein und folgte Garth.
Auch das letzte bißchen Licht verschwand, nachdem er wenige Schritte tief in den Stollen eingedrungen war. Er hörte Garth dicht vor sich schnaubend entlangkriechen, und ab und zu lösten sich kleine Steine von der Decke und rieselten auf ihn herab, aber auch er war jetzt vollkommen blind.
Er wußte nicht, wie lange sie durch den engen Stollen krochen, jeden Moment darauf gefaßt, an eine Stelle zu kommen, an der der Gang zu eng wurde, um weiterzukriechen, oder von einem Pfeil oder einem Schwert in den Rücken getroffen zu werden – was war, wenn die Soldaten den Stollen entdeckten und vorsichtshalber erst einmal ein paar Pfeile hineinschossen, ehe sie ihnen folgten?-, aber es konnten nur Minuten gewesen sein, obgleich sie ihnen hinterher wie Stunden vorkamen. Nach einer Weile begann der Boden unter ihren Händen und Knien sanft anzusteigen, und kurz darauf wurde es vor ihnen wieder hell. Dann begann sich der Stollen auszuweiten, und ganz plötzlich war wieder Holz unter ihnen.
Garth richtete sich mit einem erleichterten Seufzer wieder auf. Sie waren in einem kleinen, mit Kisten und Fässern und großen in Leinen eingeschlagenen Bündeln vollgestopften Raum, offensichtlich Kaams Keller, in dem er nicht nur seine Lebensmittelvorräte, sondern vor allem seine Hehlerware verstaute. Garth verschenkte allerdings an all die aufgehäuften Kostbarkeiten keinen Blick, sondern deutete stumm auf eine kleine Klappe, die in die Decke eingelassen war. Es gab keine Leiter, aber der Raum war so niedrig, daß Garth nur die Hände auszustrecken brauchte, um sie zu erreichen. Mit einem einzigen Ruck riß er den Riegel auf, griff nach oben und zog sich mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe. Augenblicke später tauchte seine Hand auf und streckte sich nach Torian aus. Torian packte sie und stieß sich vom Boden ab. Er fand mit dem Fuß Halt an der Wand und hangelte sich vollends durch die Öffnung.
Sie befanden sich in einem schmalen, an einen Kamin gemahnenden senkrechten Schacht. Rostige Steigeisen in der Wand führten weiter in die Höhe, und von oben schimmerte helles Tageslicht, das wie dünne weiße Nadeln in Torians Augen stach.
Hastig kletterten sie weiter und fanden sich nach wenigen Augenblicken auf dem Dachboden des Hauses wieder. Torian zollte Kaam im stillen Respekt für diesen Fluchtweg – wer würde schon auf dem Dachboden nach jemandem Ausschau halten, der in der Erde verschwunden war? Er seufzte. Leider hatte Kaam all seine List wenig genutzt. Und wenn sie Pech hatten, ihnen auch nicht.
Mißtrauisch sah er sich um. Es gab keinen sichtbaren Ausgang, aber er konnte sich auch nicht vorstellen, daß der Weg einfach im Nichts endete. Hölzerne Pfosten stützten den spitzen Giebel des mit Strohbündeln gedeckten Daches. Garth schlug ein paarmal kraftvoll auf die Bündel ein, bis er eine ausreichend große Öffnung geschaffen hatte, daß er sich hindurchzwängen konnte. Torian schüttelte den Kopf, folgte dem Dieb dann aber. Kaam würde sich kaum bei ihnen beschweren, daß sie sein Dach eingeschlagen hatten. Ein eisiger Wind schlug ihm entgegen, als er hinter Garth auf das Dach kletterte, und das Sonnenlicht trieb ihm die Tränen in die Augen. Stöhnend biß er die Zähne zusammen, richtete sich halb blind auf und balancierte hinter dem Dieb über das steile, abschüssige Dach, bis sie den Knick erreichten, an dem es in das des Nebengebäudes überging. Durch die schmale Blechrinne hasteten sie bis zur Dachkante. Torian warf einen Blick in die Tiefe – und riß den Kopf blitzschnell wieder zurück. Er konnte immer noch nicht richtig sehen, aber es gehörte wahrlich nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, worum es sich bei dem halben Dutzend finsterer Schatten dort unten auf der Straße handelte. Wenn einer von ihnen auch nur nach oben sah...
Torian ließ sich auf Hände und Knie nieder, um auf den glatten Strohbündeln besseren Halt zu finden. Garth schloß sich ihm wortlos an. Offensichtlich hatte er die Soldaten auch gesehen.
Es wurde zu einem verzweifelten Wettlauf mit dem Tod. Das Stroh war nicht nur glatt – es war wie eine vereiste Rutschbahn. Es dauerte ein paar kostbare Sekunden, in denen sie immer wieder zurückglitten, bis Garth die einzig praktikable Form fand, überhaupt von der Stelle zu kommen. Er stieß sein Schwert mit vorgestreckten Armen tief ins Dach hinein, zog sich daran in die Höhe und wiederholte die Prozedur. Der Vorgang war zeitraubend und kräftezehrend, aber immerhin kamen sie überhaupt voran.
Trotzdem glich es einem Wunder, daß sie den First unbeschadet erreichten und den Abstieg auf der anderen Seite beginnen konnten – auf die gleiche Weise und jetzt rückwärts, so daß das Ganze noch ein bißchen schwerer wurde. Um ein Haar wäre Torian über die hölzerne Regenrinne hinausgerutscht, hätte er nicht im letzten Moment mit den Füßen Halt gefunden. Er drehte sich um.
Unter ihnen erstreckte sich eine schmale Gasse. Das Gebäude auf der anderen Seite hatte ein Flachdach. Es lag nur knappe drei Meter entfernt und einen guten Meter tiefer. Keine unüberwindliche Distanz – aber das Dach war glatt wie Eis, und zu allem Überfluß waren da noch die Soldaten. Sie durften nicht das kleinste verräterische Geräusch machen.
»Das ist Wahnsinn«, keuchte Torian.
»Laß dir meinetwegen von den Kerlen den Schädel einschlagen«, knurrte Garth. »Die da unten werden keine Zeit zum Zielen haben. Wir können es schaffen.«
Torian blickte zurück. Ihnen blieb keine andere Wahl, als zu springen. Von den Soldaten war noch keine Spur zu sehen, aber sie müßten schon blind und dämlich sein, wenn sie nicht irgendwann hier oben auftauchten. Und leider waren sie wahrscheinlich weder das eine noch das andere.
Dicht neben ihnen befand sich ein Mauervorsprung, der unter dem Dach hervorragte. Sie arbeiteten sich dahin vor und kamen darauf zu stehen.
Torian ging in die Hocke und federte ein paarmal in den Knien, wobei er sich bemühte, sich ganz auf den Sprung zu konzentrieren. Gleichzeitig mit Garth stieß er sich ab und riß noch im Sprung die Arme nach vorne, um zusätzlichen Schwung zu bekommen.
Der Aufprall war fürchterlich. Torian hatte sich verschätzt, was die Entfernung und seinen eigenen Schwung anging. Seine Beine knickten ein, er fiel, prallte schmerzhaft auf, schlug mit dem Gesicht auf den Boden und schlitterte hilflos auf die Dachkante zu. Ein sengender Schmerz zuckte durch sein Rückgrat, dann prallte er erneut auf und überschlug sich ein paarmal, bis ein niedriges Mäuerchen ihn unsanft stoppte.
Sein Herz raste, als wolle es aus seiner Brust brechen. Keuchend blieb er liegen und fragte sich ein paar Herzschläge lang allen Ernstes, wieso er überhaupt noch am Leben war. Es schien keinen Knochen in seinem Körper zu geben, der nicht weh tat. Die Wunde an seinem Arm, die eben erst aufgehört hatte zu bluten, war wieder aufgebrochen, und sein verletztes Bein brannte höllisch; von den unzähligen Prellungen, Quetschungen und Hautabschürfungen, die er sich am ganzen Körper zugezogen hatte, gar nicht erst zu reden. Zögernd bewegte er Arme und Beine. Zumindest schien nichts gebrochen zu sein. Das Licht tat entsetzlich weh in seinen Augen. »Willst du hier überwintern?« fragte Garth grob und wies auf die Fenster der Schenke, die sich fast auf gleicher Höhe befanden. »Was glaubst du, wie lange sie brauchen, um uns zu sehen?«
Torian bedachte ihn mit einem zornigen Blick, stemmte sich hoch und schaute über das Mäuerchen. Kaum einen Meter tiefer lag ein weiteres Flachdach. Sie ließen sich hinuntergleiten und balancierten über eine Mauerkrone zu einem weiteren Dach. Die Häuser waren hier so verschachtelt und ineinander verwinkelt, daß sie ein regelrechtes Labyrinth bildeten. Als sie fast den gesamten Block von Dach zu Dach huschend überwunden hatten, sprang Garth behende in einen mit Schmutz und Unrat übersäten Hinterhof hinab, der auf drei Seiten von Hauswänden und an der vierten von einer Mauer begrenzt wurde, in der ein Torbogen gähnte. Ein paar Ratten quiekten protestierend und brachten sich rasch in Sicherheit. Es stank nach Moder, Urin und Verwesung.
Mit seinem geprellten Bein wagte es Torian nicht, Garth auf die gleiche Art zu folgen. Statt dessen ließ er sich vorsichtig an der Wand in die Tiefe gleiten, bis er nur noch mit den Fingerspitzen an der Kante hing und Garth seine Beine von unten umklammern konnte. Als er sich fallen ließ, fing der Dieb ihn mühelos auf. Torian ließ sich auf einem leeren Faß nieder und massierte stöhnend sein Bein. Er fühlte sich wie gerädert, als ob seine Kraft mit jedem Blutstropfen, der aus einem der unzähligen kleinen Kratzer und Abschürfungen sickerte, aus ihm herausfließen würde. Aber es lag nicht an den Verletzungen, und wenn, dann nur zum kleinsten Teil.
Es war die Sonne.
Die Sonne, die wie ein loderndes böses Auge am Himmel hing und immer noch erbarmungslos Helligkeit auf ihn herabsengte. Mit jeder Sekunde entzog sie ihm mehr Kraft und erfüllte seine Glieder mit lähmender Müdigkeit.
Alles in Torian schrie danach, sich in den kühlen Schatten der Mauer in seinem Rücken zurückzulehnen, doch er widerstand der Versuchung. Jedes Gefühl von Kraft wäre trügerisch gewesen und hätte in Wirklichkeit nur dem finsteren Ding in ihm genutzt. Schon jetzt begann es sich zu erholen, doch das Licht machte ihm schwerer zu schaffen als seinem Träger. Die Sonne half Torian, es zurückzudrängen und seinen freien Willen zu behalten. Aber es tat entsetzlich weh.
»Was nun?« fragte er mühsam.
»Wir müssen zu Boron. Inzwischen habe auch ich ein paar recht unangenehme Fragen an ihn«, grollte Garth. »Aber er ist der einzige, bei dem wir in Sicherheit sind.«
»So sicher wie bei Kaam?« fragte Torian. Seine Augen tränten. Er konnte kaum noch denken.
Der Dieb winkte unwirsch ab und sah sich um. Hinter einigen Fenstern waren huschende Bewegungen zu erkennen. Sie waren auch hier nicht wirklich sicher. »Wir müssen weiter. Es wird nicht lange dauern, bis die Soldaten den ganzen Block abgeriegelt haben. Kannst du mit deinem Bein laufen?«
»Ich muß wohl.« Torian stand auf, biß die Zähne zusammen und machte einen vorsichtigen Schritt. Es tat weh, aber es ging. Sie verließen den Hof und traten in eine Gasse hinaus.
Bei Tage machte Armar einen völlig anderen Eindruck als in der Nacht, wo nur vereinzelte Gestalten durch den Nebel gehuscht waren. Jetzt war die Straße von pulsierendem Leben erfüllt. Händler hatten Verkaufsstände aufgebaut und priesen lautstark ihre Waren an. Meist waren es Fischbuden, aus denen es nach Fischen und Innereien stank. An anderen Stellen wurde der Fisch gebraten oder geräuchert und verpestete die Luft mit einem nur wenig unangenehmeren Gestank. Die Hitze lastete wie eine Decke aus geschmolzenem Blei über der Stadt und hielt den Brodem der verschiedenen Gerüche in den Straßen. Und das Licht. Dieses entsetzliche Licht!
Torian schnaubte ein paarmal durch die Nase. Der Gestank ließ ihn fast ohnmächtig werden. Er war oft über Marktplätze geschlendert, aber noch niemals waren ihm die Gerüche so deutlich aufgefallen. Er roch alles, Fisch, angefaultes Gemüse, den Schweiß der Menschen, selbst den Kot, den Hunde am Straßenrand hinterlassen hatten. Alles drang mit überdeutlicher Intensität in seine Nase und ließ ihn schwindeln, als hätte sein Geruchssinn mit einem Mal um das Hundertfache an Schärfe zugenommen. Vielleicht nicht nur sein Geruchssinn. Es war erschreckend, aber im gleichen Maße, in dem es ihm immer schwerer fiel zu denken, schienen seine Instinkte an Schärfe zuzunehmen. Ich verwandele mich, dachte er hysterisch. Ich verwandele mich in ein Tier!
Zahlreiche Menschen drängten sich vor den Ständen, und schon nach wenigen Sekunden wurden Torian und Garth von der Menge aufgenommen und mitgerissen. Sie ließen sich treiben, das Menschengewirr schützte sie vor jeder Verfolgung. Torian widmete den Ständen nur einen flüchtigen Blick und versuchte, den Gestank aus seiner Nase zu verdrängen.
»Verstehst du nun, warum ich damals so lange hiergeblieben bin?« raunte Garth ihm zu. So schnell, daß Torian der Bewegung mit den Augen kaum folgen konnte, ließ er seine Hand unter das kostbar aussehende Gewand eines übergewichtigen Glatzkopfes gleiten. Als er sie wieder zurückzog, hielt er eine wohlgefüllte Börse in der Hand, die er in seinem Gürtel verstaute. »Das Geld liegt hier auf der Straße. Man braucht es nur aufzuheben. Und wir brauchen schließlich welches für die Schiffspassage«, fügte er mit einem fast entschuldigenden Seitenblick in Torians Richtung hinzu.
Ein paarmal sahen sie ein Stück entfernt Soldaten, die sich rücksichtslos durch die Menge drängten, und wechselten rasch die Richtung. Aber sie kamen niemals wirklich in Gefahr, was sichtlich auch daran lag, daß die Krieger nicht genau wußten, nach wem sie überhaupt suchten. Nach zahlreichen Umwegen – Torian hatte längst auch den letzten Rest Orientierung verloren und ließ sich allein von Garth führen – erreichten sie schließlich das Elendsviertel. Ebenso wie der Rest der Stadt zeigten auch die Slums bei Tage ein anderes Gesicht als in der Nacht, wenn es auch nicht unbedingt viel ansehnlicher war. Zwar fehlte der klamme Hauch der Angst, der mit dem Nebel herangekrochen war, aber dafür verbargen die undurchdringlichen Schwaden das Elend auch nicht mehr unter einem barmherzigen Mantel. Die Häuser waren in einem noch viel schlimmeren Zustand, als Torian in der Nacht geglaubt hatte. Die meisten waren nicht mehr als Ruinen, zerfallene Baracken, in denen der Gestank von Fäulnis, Krankheit und Tod nistete. Rattenlöcher, in denen keine Menschen hausen konnten, ohne zugrunde zu gehen.
In stinkende Lumpen gehüllte Frauen und alte Männer mit eingefallenen, von Hunger und Seuchen gezeichneten Gesichtern und ausgemergelten Körpern kauerten in den Gassen. Sie starrten die Fremden mit trüben Augen an, in denen der Funke des Lebens längst erloschen war. Einige streckten ihnen flehend die dürren Arme entgegen, aber die meisten waren selbst dafür zu apathisch. »Das ist der zweite Grund, weshalb ich so lange hiergeblieben bin«, sagte Garth mit belegter Stimme. »Und auch der Grund, weshalb wir Diebe niemals so reich geworden sind, wie viele glauben.«
Er zog den Beutel aus dem Gürtel und drückte einigen der Gestalten Münzen in die Hände. Torian widersprach mit keinem Won. Er hätte nicht anders gehandelt. Um die Passage konnten sie sich auch später noch kümmern.
Lange bevor sie ihr Ziel erreichten, war der Beutel leer.
Sie erreichten unbehelligt Borons Haus, und noch bevor sie an die Tür klopfen konnten, wurde sie bereits von innen geöffnet. Boron winkte sie herein und sah hastig auf die Straße, bevor er die Tür wieder schloß und einen gewaltigen Riegel vorlegte, der massiv genug schien, selbst dem Ansturm einer ganzen Armee standzuhalten. Erst dann wandte er sich Garth und Torian zu. Seine Augen blitzten vor Zorn.
»Seid ihr verrückt geworden, so offen hierherzukommen?« fauchte er. »Ich habe doch ausdrücklich gesagt, daß ich euch bei Kaam abholen lasse. Wollt ihr mir unbedingt die Soldaten auf den Hals hetzen?«
Kalte Wut schoß in Torian hoch. Er trat einen Schritt vor und packte Boron grob am Kragen seines Lederwamses.
Zumindest versuchte er es. Aber statt Boron zu sich herabzuzerren, verlor er plötzlich selbst den Boden unter den Füßen und fand sich hilflos im Griff des hünenhaften Diebes zappelnd. Boron drückte nicht einmal richtig zu, aber sein Griff war trotzdem hart genug, Torian die Luft abzuschnüren.
»Versuch das nicht noch einmal, du Zwerg«, sagte Boron. »Sonst werde ich nämlich ungemütlich, verstanden?«
»Hör auf!« befahl Garth. Er sprach nicht einmal sehr laut, aber in seiner Stimme war plötzlich eine schneidende Schärfe, wie Torian sie noch nie bei ihm erlebt hatte. Selbst Boron war so verdutzt, daß er Torian fast – aber eben nur fast – sanft auf den Boden sinken ließ. Torian wich hastig einen Schritt zurück und massierte seinen schmerzenden Hals. Er hatte sich schon oft gefragt, ob er eines Tages einem Mann begegnen würde, der noch stärker war als Garth. Mit Boron schien er diesen Mann gefunden zu haben.
»Uns ist niemand gefolgt«, fuhr Garth fort. »Dafür dürftest du mich gut genug kennen. Wir wären nicht hergekommen, wenn es nicht wirklich wichtig gewesen wäre.« Er legte eine ganz kleine, aber bedeutungsschwere Pause ein. »Kaam ist tot.«
»Tot?« Boron keuchte ungläubig. »Was sagst du da? Aber das ist unmöglich! Niemand würde es wagen...«
Garth schnitt ihm mit einer ärgerlichen Geste das Wort ab. »Jemand hat es gewagt«, sagte er bestimmt. »Kaam ist tot und seine Tochter auch. Und man macht uns dafür verantwortlich, nachdem seine Mörder erst versucht haben, uns ebenfalls die Kehle durchzuschneiden. Hast du dich jetzt endlich so weit abgekühlt, daß wir wie vernünftige Menschen miteinander sprechen können?«
Wortlos wandte sich Boron um und stapfte vor ihnen her in das Zimmer, in dem sie bereits am vergangenen Abend zusammengesessen hatten. Unwirsch scheuchte er einige Männer und Frauen hinaus, ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen und trank einen gewaltigen Schluck Wein direkt aus der Flasche, ehe er sich wieder an Garth wandte. Aller Zorn war aus seinem Blick gewichen. Er wirkte erschütten; nein, dachte Torian, mehr noch, verletzt. Es war schwer vorstellbar, bei zwei so ungleichen Männern wie Boron und Kaamaber Torian war sicher, daß sie mehr als nur Kollegen gewesen waren.
»Erzählt«, bat er, nachdem er die Flasche abgesetzt und sich mit der Hand über den Mund gewischt hatte. Sein Blick irrte zwischen Garths und Torians Gesicht hin und her. Er kämpfte sichtlich um seine Fassung. »Was ist passiert?«
»Genau das wollten wir eigentlich von dir erfahren«, erwiderte Garth ruhig. »Gestern abend haben sich fünf Gestalten auf unsere Fährte geheftet, gar nicht weit von hier entfernt. Wir haben sie im Nebel abschütteln können, aber heute früh haben sie die Schenke überfallen. Es waren keine einfachen Mörder, Boron. Sie waren... sonderbar.«
»Sonderbar?« Boron runzelte demonstrativ die Stirn. »Was soll das heißen?«
»Sie waren blind«, antwortete Torian an Garths Stelle. »Aber sie kämpften wie...«
»Blind?« Boron fuhr so heftig von seinem Stuhl hoch, daß das Möbelstück umfiel. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Was redest du da? Blind, sagst du?« Torian schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Borons Reaktion zeigte deutlich genug, daß die Männer keine Fremden für ihn waren. Und nicht unbedingt seine Freunde.
»Sie hatten keine Augen«, bestätigte er. »Du kennst sie?«
Boron nickte, schwieg aber. Sein Atem ging schnell.
»Was weißt du über sie?« fragte Garth. »Wer sind die Männer?«
Boron trank erneut einen Schluck. Seine Hände zitterten so stark, daß der Flaschenhals gegen seine Zähne klapperte. Ein Teil des Weines lief ihm wieder aus dem Mund, ohne daß er es merkte.
»Ich weiß nichts«, sagte er. »Ich...«
Torians Geduld war endgültig aufgebraucht. Bevor Boron auch nur eine Abwehrbewegung machen konnte, hatte Torian sein Schwert gezogen und setzte ihm die Spitze auf die Kehle. Mit einem Schrei prallte der Dieb zurück, doch Torian vollzog die Bewegung unbarmherzig mit.
»Vielleicht frischt das deine Erinnerung etwas auf«, sagte er kalt. »Du weißt etwas über diese Männer. Und du solltest möglichst schnell mit der Sprache herausrücken. Ich werde nämlich ziemlich nervös und ungeduldig, wenn man mich schon vor dem Frühstück aufzuschlitzen versucht, mußt du wissen. Das ist so eine Schwäche bei uns Zwergen.«
Boron warf einen hilfesuchenden Blick zu Garth hinüber, doch dieser machte keinerlei Anstalten, ihm zu helfen, sondern lächelte nur freundlich. Zwei weitere Diebe, von dem Schrei herbeigelockt stürmten ins Zimmer, erstarrten aber, als sie die Situation erkannten, und blieben neben der Tür stehen.
»Also gut«, gab Boron nach einigen Sekunden nach. »Ich sage euch, was ich weiß. Es ist nicht viel, und es bringt Unglück, darüber zu sprechen.«
»Red nicht lange um den Brei herum«, forderte Torian, ohne das Schwert zu senken oder die Diebe an der Tür auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Sonst bringt es nämlich dir Unglück, nicht darüber zu sprechen.«
»Es heißt, daß es unter der Stadt ein gewaltiges System von Katakomben gibt«, berichtete Boron. Seine Stimme war zu einem leisen Flüstern abgesunken. »Ich... ich weiß nicht, was davon wahr ist und was nicht. Aber es gibt viele, die behaupten, es gebe eine gigantische unterirdische Anlage, vielleicht größer als Armar selbst. Es soll Menschen dort unten geben, die Cra’thal. Ein ganzes Volk, das sich schon vor Jahrhunderten dorthin zurückgezogen und eine eigene Zivilisation gegründet hat.«
»Geschwätz«, knurrte Torian. »Wir sind nicht gekommen, um uns Ammenmärchen anzuhören. Wer waren die Blinden?«
»Laß ihn«, mischte sich Garth ein. »Ich kenne Boron. Er ist ein Schlitzohr, aber kein Lügner.« Er machte eine besänftigende Bewegung und wandte sich selbst an Boron. »Wieso habe ich von diesen Gerüchten nie etwas gehört? Ich war schließlich lange genug in der Stadt.«
»Es hat sich vieles in den letzten Jahren verändert«, fuhr Boron mit brüchiger Stimme fort. »Etwas geht in den letzten Monaten in Armar vor, aber niemand weiß, was es ist. Die Blinden sind mehrfach gesehen worden, und meist brachten sie nur Tod und Unheil. Es sind die Cra’thal, die Nachkommen der Menschen, die sich damals in den Katakomben verkrochen haben. Sie leben seit Generationen in völliger Finsternis, so daß sie ihr Augenlicht verloren haben. Ihre Augen verkümmerten, doch sie haben andere Fähigkeiten zur Orientierung ausgebildet. Man sagt, daß sie magische Fähigkeiten besitzen und trotz ihrer Blindheit unbesiegbare Kämpfer sind.«
»Nicht ganz«, brummte Torian. »Sie sterben nicht anders als normale Menschen auch.«
»Sie ster...« Boron krümmte sich zusammen, als hätte er einen Schlag bekommen. »Soll das heißen, daß ihr sie... getötet habt?«
»Genau das«, sagte Torian kalt.
»Ihr Narren!« Borons Stimme wurde zu einem schrillen Kreischen. »Dann seid ihr schon jetzt tot. Ihre Brüder werden nicht eher Ruhe geben, bis sie sich gerächt haben.«
»Noch sind wir am Leben, aber wir wären es wohl kaum noch, wenn wir diese Cra’thal nicht erschlagen hätten.«
»Sie werden sich rächen«, murmelte Boron, als hätte er Torians Worte überhaupt nicht gehört. »Und sie werden niemanden verschonen, der euch hilft. Ein einziges Mal ist es einem Krieger gelungen, einen Cra’thal zu töten. Einen Tag später war er tot, ebenso wie seine Familie und alle seine Freunde. Und ihr kommt ausgerechnet her zu mir! Geht, verlaßt mein Haus, sofort, bevor...«
»Du hast deine Geschichte noch nicht zu Ende erzählt«, unterbrach ihn Torian kalt und hob das Schwert ein wenig an, so daß die Spitze wieder direkt auf Borons Kehle wies. »Was hat es mit diesen Cra’thal auf sich?«
Boron starrte ihn einen Herzschlag lang haßerfüllt an, dann senkte er den Blick.
»Ihr Name heißt übersetzt Die Jünger der Letzten Nacht«, berichtete er mit furchterfüllter Stimme. »Es heißt, sie stünden mit finsteren Mächten im Bunde. Ein Heer der Finsternis, das irgendwann aus den Katakomben aufsteigen und Caracon verwüsten wird, wenn die Letzte Nacht, der Weltuntergang, gekommen ist. In letzter Zeit sind einige von ihnen in Armar aufgetaucht und haben Chaos und Verwirrung gestiftet, besonders in den Slums. Immer kamen sie nachts. Die Menschen haben panische Angst und verkriechen sich bei Einbruch der Dämmerung in ihren Häusern. Bitte, geht jetzt, bevor ihr mich mit ins Verderben reißt. Seht zu, daß ihr so schnell wie möglich aus Armar flieht, dann habt ihr vielleicht noch eine Chance. Ich...«
Etwas warnte Torian. Er spürte die Gefahr den Bruchteil einer Sekunde, bevor es geschah, aber wieder kam seine Reaktion zu spät. Lautlos wie Schatten glitten die Gestalten in den Raum.
Wieder waren es fünf, und wieder waren sie auf die gleiche Weise gekleidet wie ihre toten Kameraden. Die beiden Diebe neben der Tür kamen nicht mal dazu, sich dem neuen Feind zuzuwenden, bevor sie blutüberströmt zusammenbrachen. Sie waren tot, noch bevor sie auf dem Boden aufschlugen.
Instinktiv ließ sich Torian zur Seite fallen. Ein Schwerthieb spaltete die Rückenlehne des Stuhles, vor dem er gestanden hatte. Aus den Augenwinkeln sah er ein weiteres Schwert heranpfeifen, riß seine eigene Waffe hoch und parierte den Hieb noch im Fallen. Er keuchte, als die Klingen funkenstiebend aufeinandertrafen und ihm das Schwert fast aus der Hand geprellt worden wäre. Wieder spürte er die ungeheuerliche Kraft der blinden Krieger.
Blindlings trat er um sich, traf einen der Cra’thal und brachte ihn zu Fall, während er selbst auf die Beine federte.
Auch Garth und Boron hatten zu ihren Waffen gegriffen, doch sie wurden von den Angreifern mit wuchtigen Streichen zurückgedrängt. Trotz ihrer gewaltigen Kräfte besaßen sie keine Chance gegen die unheimlichen, übermenschlich schnellen Katakombenwesen.
Es geschah wieder. Torian wollte sich dagegen wehren, aber die finstere Macht in seinem Inneren war stärker. Wie schon beim Kampf in ihrem Nachtquartier schien die Zeit plötzlich langsamer abzulaufen. Die Bewegungen der Angreifer wirkten abgehackt und hatten mit einem Male nichts mehr von ihrer tödlichen Schnelligkeit.
Er unterlief einen Schwerthieb und tötete den Jünger mit einem raschen Stich. Eine weitere Klinge zischte von der linken Seite heran, doch es war nur ein Scheinangriff. Torian durchschaute die Finte und wich nicht zurück. Statt dessen sprang er auf den Mann zu, als dieser sein Schwert in die andere Hand wechselte, und erschlug ihn mit einem gewaltigen Hieb. Eine Kombination blitzschneller Schläge trieb die anderen Cra’thal zurück.
Boron rannte auf die Tür zu. Garth versuchte ihm zu folgen, doch einer der Cra’thal bekam ihn zu packen und versetzte ihm mit dem Schwertknauf einen Schlag gegen das Kinn, der Garth zusammenbrechen ließ.
Beinahe ohne irgendein Gefühl drang Torian weiter auf die Cra’thal ein. Er wußte, daß er ihnen überlegen war, und er nutzte die fremde Macht in seinem Inneren gnadenlos aus. Ihm ging es längst nicht mehr darum, sein Leben zu retten. Er wollte nur noch töten, jeden der Männer erschlagen, jeden der Cra’thal und jeden anderen, der sich ihm in den Weg stellen würde, sein Leben retten und vor allem das des...
Der Gedanke ließ ihn zusammenzucken. Entsetzt begriff er, was er tat und was geschehen würde, wenn er der fremden Macht weiterhin gestattete, sein Handeln zu bestimmen.
Die drei noch lebenden Cra’thal erkannten, daß irgend etwas in ihm vorging, und sie nutzten den Augenblick des Zögerns kaltblütig aus. Erst im letzten Moment konnte sich Torian mit einem raschen Sprung vor ihren Klingen in Sicherheit bringen. Er stolperte über die Leiche eines der Diebe, fand mit rudernden Armen sein Gleichgewicht wieder und parierte einen Streich, der ihm glatt den Kopf von den Schultern getrennt hätte.
»Wir müssen fliehen!« schrie Boron und packte seinen freien Arm. Etwas in Torian sträubte sich dagegen. Er wußte, daß er die Cra’thal töten konnte, wenn er es wirklich wollte und dem fremden Einfluß nachgab, aber er kämpfte dagegen an. Noch einmal trieb er die Blinden mit einem wütenden Gegenangriff zurück, dann warf er sich herum und folgte Boron. Hinter sich verriegelte er hastig die Tür, was ihnen ein paar Sekunden Vorsprung verschaffte.
Immer noch tobte in seinem Inneren ein erbitterter Kampf. Der finstere Einfluß war diesmal ungleich stärker als beim letzten Mal Wie in Trance taumelte Torian hinter Boron her. Die anderen Diebe und die wenigen Frauen, die sich bei ihrer Ankunft noch in dem Gebäude aufgehalten hatten, waren bereits in heller Panik geflohen. Torian schrie auf und krümmte sich, als Boron eine Tür öffnete und heller Sonnenschein hereinfiel. Diesmal war der Schmerz zu schlimm, als daß er ihn niederringen konnte, doch Boron packte ihn kurzerhand und zente ihn mit sich.
Die brodelnde Finsternis in Torians Gedanken wich zurück, aber der Schmerz blieb. Er schlug die Hände vors Gesicht und rannte blind weiter. So schnell, wie die Blinden sich zuvor bewegt hatten, hätten sie sie längst einholen müssen. Etwas war nicht so, wie es sein sollte, aber er war zu schwach, darüber nachzudenken. Sie hetzten durch menschenleere Gassen, bis Boron ihn in die wohltuende Dunkelheit einer verlassenen Ruine stieß, ihn eine steile Treppe hinunterführte und nach einigen hundert Metern schließlich losließ. Keuchend und dicht am Rande einer Ohnmacht brach Torian zusammen. Es dauerte lange, eine halbe Ewigkeit, wie es ihm erschien, bis er wieder halbwegs bei Verstand war.
Gerade noch im richtigen Moment, um den Schlag kommen zu sehen.
Aber nicht mehr rechtzeitig genug, um ihm auszuweichen.
Er blieb nicht sehr lange bewußtlos. Als er erwachte, lag er im Dunkeln, eingehüllt in eine Decke aus wohltuender Schwärze, die so vollkommen war, daß er nicht einmal seine Hand sah, als er sie dicht vors Gesicht hielt. Die Finsternis hätte ihm allen Erfahrungen der letzten Stunden zufolge neue Kraft spenden müssen, aber sie tat es nicht, sondern erfüllte ihn mit einem Unbehagen, das dicht an der Grenze zu unkontrollierbarer Angst lag.
Torian lauschte in sich hinein. Das Fremde war erloschen. Alles, was er fühlte, waren Müdigkeit und ein schwacher Nachhall des erlittenen Schmerzes.
Wie schon zuvor fand er auch jetzt keine Erklärung für das, was geschehen war. Seine Gedanken stießen an eine massive Mauer, sobald er sich in dieser Richtung zu konzentrieren versuchte. Er hatte Dinge getan, die er nicht begriff und für die er sich selbst verabscheute. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, den fremden Einfluß irgendwann wieder abzuschütteln, würde immer ein Schatten davon in seiner Seele zurückbleiben, und er würde nicht mehr derselbe sein wie früher.
Torian verdrängte den Gedanken.
»Boron!« rief er leise. Als dumpfes Echo hallte der Ruf von den Wänden wider und zeigte ihm, daß er sich in einer großen Halle befinden mußte. Aber er bekam keine Antwort; auch nicht, als er noch einmal rief.
In seinem Rücken befand sich eine kalte, rauhe Wand. Torian stand auf und ging einige Schritte weit in die entgegengesetzte Richtung, ohne die gegenüberliegende Wand zu erreichen. Um nicht in der Finsternis die Orientierung zu verlieren, kehrte er an seinen Ausgangspunkt zurück. Unter dem Mantel aus Schwärze mochten sich Gefahren verbergen, denen er wehrlos ausgeliefert war, solange er nicht sehen konnte. Boron würde zurückkehren, dessen war er sich sicher. Es wäre sinnlos, ihn hier allein zurückzulassen, es sei denn...
Torian versuchte sich den Weg ins Gedächtnis zurückzurufen, den sie gerannt waren. Es gelang ihm nicht. Das einzige, an das er sich noch erinnern konnte, war, daß sie eine lange steile Treppe hinuntergestiegen waren. Aber wo befand er sich jetzt? Im Keller eines der Häuser? Oder bereits in den Katakomben, von denen Boron erzählt hatte?
Hatte der Dieb ihn hierhergeführt und sich selbst überlassen, um ihn zu opfern, um vielleicht so die Rache der Cra’thal von sich abzuwenden?
Torian beschloß, nicht länger zu warten. Er tastete sich an der Wand entlang, den Boden vor sich bei jedem Schritt erst sorgfältig mit den Fußspitzen prüfend. Die Halle mußte wirklich gigantisch sein, ein gewaltiges unterirdisches Gewölbe, denn erst nachdem er mehr als hundert Schritte in eine Richtung gegangen war, erreichte er eine Ecke und tastete sich an einer weiteren Wand entlang. Irgendwo vor ihm war ein Geräusch.
Torian blieb stehen und lauschte mit angehaltenem Atem.
Schritte näherten sich ihm, doch sie waren noch weit entfernt, und was er hörte, war nur ein Echo, zu verzerrt und zu leise, um es zu identifizieren. Er zog sein Schwert und hastete noch schneller voran als bisher, bis er an eine Felskante gelangte und seine Hand ins Leere tastete. Er hatte die Mündung eines Stollens erreicht, aus dem die Schritte aufklangen. Als er die Hand vorstreckte, konnte er mit der Schwertspitze die gegenüberliegende Wand berühren.
Er starrte in die Dunkelheit, versuchte abzuschätzen, wie weit die Schritte noch entfernt waren. Es war unmöglich. Die Echos verzerrten jeden Laut zur Unkenntlichkeit. Jedes Geräusch mußte hier unten weithin hörbar sein, aber es war unmöglich zu erkennen. Alles war anders. Seine Erfahrungen und sein Wissen nutzten ihm hier nichts. Und wer immer sich ihm näherte, schien dies genau zu wissen, denn er gab sich keinerlei Mühe, besonders leise zu sein. Torian wußte, daß auch er selbst längst gehört worden war.
Trotzdem preßte er sich neben dem Stollen an die Wand.
Nach einer Weile konnte er immerhin erkennen, daß es sich um die Schritte einer einzelnen Person handelte. Dann fiel der schwache Lichtschein einer Fackel aus dem Stollen. Torian hielt den Atem an und hob sein Schwert. Entweder hatte der Unbekannte ihn wirklich noch nicht gehört, oder er fürchtete sich nicht.
»Torian?« Es war eine Stimme, die er kannte.
Borons Stimme.
Im ersten Moment wollte Torian aufatmen, aber dann trat der Dieb vollends aus dem Stollen.
Eine eisige Hand schien nach Torians Herz zu greifen. Er erkannte, daß die Gestalt nicht Boron war; zumindest nicht mehr. Anstelle des abgewetzten Lederwamses trug er nun eine Art Kutte; einen nachtschwarzen Mantel, der sich in ständiger unfaßbarer Bewegung zu befinden schien, fast als lebte er. Die Kapuze war zurückgeschlagen, so daß Torian das Gesicht sehen konnte. Es schien sich nicht verändert zu haben, bis ihn ein Blick aus den dunklen Augen traf, in denen ein lichtloses, verzehrendes Feuer zu lodern schien.
Boron machte sich nicht einmal die Mühe, seinem Hieb auszuweichen. Das böse Lächeln in seinen Augen nahm beinahe noch zu, als er sah, wie Torian das Schwert hob und nach ihm zu schlagen versuchte.
Die Klinge erreichte ihr Ziel niemals. Boron murmelte ein einzelnes, düster klingendes Wort, und alle Kraft wich aus Torians Armen. Die Waffe schien plötzlich Zentner zu wiegen. Er taumelte, verlor, durch den Schwung seiner eigenen Bewegung nach vorne gerissen, das Gleichgewicht und fiel dicht vor Boron auf die Knie. Das Schwert entglitt seinen Händen und klirrte auf den Boden.
»Narr«, sagte Boron kalt. Er lachte, hob den Fuß und versetzte Torian einen Stoß vor die Brust, der ihn haltlos nach hinten kippen ließ.
»Hast du wirklich geglaubt, einen Schwarzen Magier mit einem Schwert töten zu können?«
»Ich habe es schon einmal getan«, erwiderte Torian. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, und er war fast selbst überrascht, sich reden zu hören. Er war schockiert, so verstört und überrascht wie niemals zuvor in seinem Leben. Boron. Boron war ein Schwarzer Magier. Es war alles Lüge!
»Ich weiß«, antwortete Boron ungerührt. »Aus diesem Grund bist du hier.« Er trat einen Schritt zurück, machte eine ungeduldige Bewegung mit der Linken und wartete, bis sich Torian mühsam hochgestemmt hatte. Sein Blick war kalt, aber es lag auch ein gewisser, nicht mal widerwilliger Respekt darin. Offensichtlich wußte er ganz genau, mit wem er es zu tun hatte.
»Warum?« fragte Torian mit leiser, brüchiger Stimme. Das Reden fiel ihm noch immer schwer. Er hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Nicht nur aus rein körperlicher Schwäche lehnte er sich gegen die Wand.
Boron lachte; nicht auf die zynische, kalte Art, wie Torian es erwartet hatte, sondern fast väterlich wohlwollend.
»Du wirst alles erfahren«, sagte er. »Der Rat der Magier erwartet dich bereits. Kommst du freiwillig mit, oder willst du dein kleines Spielchen fortsetzen? Es ist nicht nötig«, fügte er rasch hinzu, »uns zu beweisen, wie gut du zu kämpfen verstehst, Torian Carr Conn. Wir kennen deinen Ruf.«
»Dann... dann sag mir wenigstens, wo Garth Und Shyleen sind«, sagte Torian. »Und was mit dem wahren Boron geschehen ist.«
Boron seufzte. »Du begreifst offenbar immer noch nichts, oder stellst du dich nur dumm? Ich bin Boron. Ich war es immer. Ich habe diese lächerliche Diebesgilde aufgebaut, weil ich auf diese Art am besten über alles unterrichtet bin, was in der Stadt geschieht.« Er lachte. Trotz allem klang es ehrlich amüsiert. »Du magst eine Menge vom Kämpfen und Überleben verstehen, Torian, aber von der Kunst der Intrige verstehst du nichts. Du kannst einen Gegner vernichten, indem du ihn bekämpfst. Oder ihn dir zunutze machen, indem du ihn für dich arbeiten läßt. Und was deine Freunde angeht«, er machte eine komplizierte Handbewegung, deren Bedeutung Torian nicht verstand, »sie sind in sicherem Gewahrsam. Ihnen ist nichts geschehen. Bisher.«
»Und Shyleen?«
Boron lächelte flüchtig. »Sie bedeutet dir viel«, behauptete er. »Aber sei beruhigt. Wir haben sie geheilt. Was ihr weiteres Schicksal angeht, das hängt auch von dir ab.«
»Du willst mich erpressen?« Torian legte soviel Verachtung in diese Worte, wie er noch konnte. Sehr viel war es allerdings nicht »Was sollte ein Magier wohl von einem schwachen Menschen wie mir wollen? Genügt nicht eine Handbewegung, um mich wie eine Puppe zu allem zu zwingen?« Sein Spott prallte an Boron ab. Der Magier musterte ihn nur geringschätzig.
»Du hast wirklich nichts begriffen«, sagte er. »Von dir wollen wir überhaupt nichts.«
»So?«
»So«, bestätigte Boron. »Du überschätzt dich, Torian Carr Conn. Du hast einen der Unseren getötet, das ist richtig, und dir unseren Zorn zugezogen, auch das ist richtig. Trotzdem würden wir kaum all unsere Macht einsetzen, nur um einen Mann zu stellen, der aus reinem Glück ein besonders leichtsinniges Mitglied unserer Gilde getötet hat. So etwas ist schon mehr als einmal vorgekommen, und es wird wieder passieren. Nein – wir wollen nichts von dir. Wir wollen das, was in dir ist.«
»Das, was...« Torian konnte nicht verhindern, daß sich der Schrecken auf seinem Gesicht deutlich widerspiegelte. »Du weißt von dem Ding?«
Boron verdrehte in übertrieben geschauspielertem Entsetzen die Augen. »Natürlich, und jetzt komm endlich. Meine Geduld ist bald erschöpft.«
Ohne ein weiteres Wort wandte er sich ab. Torian griff nach seinem Arm. Aber er versuchte es nur einmal.
Im selben Moment, in dem er Borons Umhang berührte, kroch eisige Kälte in seine Finger und ließ sie taub werden. Er riß seine Hand zurück. Boron lachte leise.
»Und wenn ich mich weigere?« fragte Torian trotzig. »Wenn du von dem Ding weißt, dann weißt du auch, daß ich dich vernichten könnte.«
»So? Könntest du das?« Boron lachte erneut. Diesmal klang es eindeutig mitleidig. »Warum versuchst du es nicht? Du wirst kaum meine eigene Kraft gegen mich einsetzen können.«
»Deine...«
Boron unterbrach ihn mit einer unwilligen Geste. »Genug jetzt. Du wirst alles erfahren, und je eher du mir folgst, um so schneller. Muß ich dich erst zwingen?«
Einen Moment lang war Torian ernsthaft versucht, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Aber dann begriff er, daß Boron jedes einzelne Wort so meinte, wie er es gesagt hatte. Ohne ein weiteres Wort trat er hinter den Schwarzen Magier.
Ohne sich der Bewegung überhaupt bewußt zu sein, griff er mit der Hand nach seiner Schulter. Die Schwellung, die sich dicht neben seinem Herzen unter der Haut gebildet hatte, war größer geworden. Sie war jetzt von ovaler, fast faustgroßer Form.
Ein wenig erinnerte sie an ein Ei...
Wieder war Torian unfähig, wahres Entsetzen zu empfinden, und wieder entglitt ihm der Gedanke fast schneller, als er ihn fassen konnte. Aber er wußte jetzt, daß er die Lösung die ganze Zeit über gewußt hatte. Nur war die Wahrheit einfach zu entsetzlich, als daß er sie akzeptieren konnte. Selbst jetzt noch.
Boron führte ihn durch ein wahres Labyrinth von Stollen, Treppen und Gewölben. Torian fiel auf, daß sie sich immer weiter nach unten bewegten, während sie in die lichtlosen Tiefen der Katakomben vordrangen. Längst schon mußten sie sich mehrere hundert Fuß tief unter der Erde befinden, und ein Ende des Weges war noch nicht abzusehen. Die Fackel riß immer nur einen winzigen Ausschnitt der Felswelt aus dem Dunkel, aber er war froh, daß er nicht mehr sah. Gelegentlich glaubte er einen Winkel oder eine Linie der gleichen sinnverwirrenden Geometrie zu entdecken, wie er sie in Rador und im Tempel des Toten Gottes gesehen hatte, die Geometrie der Alten, die nicht ganz menschlich war, aber auch nicht so fremd, daß seine Sinne sie gar nicht mehr wahrnehmen konnten. Er war fast sicher, daß die Fackel nur seinetwegen brannte und er genau das sehen sollte, was er sah: die Katakomben der Letzten Nacht, die möglicherweise noch gewaltiger waren, als Boron behauptet hatte, vielleicht eine zweite Stadt unter der Stadt, die auf ihre Art ebenso verwinkelt und unüberschaubar war wie die Gassen und Höfe Armars, nur fremder, feindseliger.
»Es ist eine Stadt«, sagte Boron unvermittelt. »Dies ist das eigentliche Armar, das vor mehr als tausend Jahren unterging. Auf seinen Trümmern wurde die neue Stadt errichtet.«
»Du... liest meine Gedanken?« fragte Torian alarmiert.
»Nein.« Boron schüttelte amüsiert den Kopf. »Aber es ist nicht schwer zu erraten, an was du denkst.« Er schwenkte die Fackel im Kreis, aber das Licht reichte trotzdem nicht aus, die Wände und die Decke des Gewölbes, das sie gerade durchquerten, sichtbar zu machen. »Armar, die Mächtige, untergegangen wie alle Bauwerke der Alten. Aber wir werden wieder über Caracon herrschen, eines Tages.«
Torian entging nicht, daß der Magier -wir gesagt hatte, aber er verfolgte den Gedanken nicht weiter. Garth hat recht gehabt, dachte er benommen. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, aber alles war so, wie Garth behauptet hatte, vielleicht noch schlimmer. Die Schwarzen griffen wirklich nach der Macht, nicht nur nach der Macht über Armar oder Scrooth oder Tremon, sondern über nichts weniger als die ganze Welt. Und die Menschen waren ahnungslos. Am Fürstenhof Tidores, der Hauptstadt Tremons, hielt man die Magier für treue Verbündete, ohne zu ahnen, daß sie längst die wahren Herrscher des Landes waren. Wo noch? Wie weit reichte der unsichtbare Arm der Magierkaste bereits?
Er wußte hinterher nicht, wie lange sie durch die untergegangene Stadt gingen, aber je tiefer sie kamen, desto deutlicher war zu erkennen, daß es sich nicht um ein Labyrinth aus Stollen und Grotten handelte. Es waren Gebäude und Straßen, wenn auch von absoluter Fremdartigkeit und begraben unter Tausenden und Abertausenden Tonnen von Gestein. Die Last des Felsenhimmels hatte die Gebäude wie die Faustschläge eines zornigen Riesen zusammengestaucht. Es war ein Wunder, daß sie überhaupt noch existierten, aber gerade dieser Umstand unterstrich ihre Fremdartigkeit noch. Der Lichtschein der Fackel reichte nicht weit, aber was er sah, weckte in Torian nicht die Neugier auf mehr. Diese Welt war nicht für Menschen bestimmt. Sie war nicht von Menschen gebaut und nicht dafür gedacht, von Menschen bewohnt zu werden. Es erschien ihm undenkbar, daß hier unten ein ganzes Volk leben sollte, aber vielleicht waren die Jünger der Letzten Nacht ja auch längst keine Menschen mehr, auch wenn sie so aussahen.
Irgendwann – nach Stunden, wie es Torian vorkam, aber sicher war er sich nicht, denn auch die Zeit schien in dieser lichtlosen Welt unter der Welt anderen Gesetzen zu gehorchen – gelangten sie in den bewohnten Teil der Katakomben. Es gab nur vereinzelte Hinweise: die Überreste eines Lagerfeuers oder einer Mahlzeit. Die Anzeichen eines normalen, alltäglichen Lebens hätten ihn beruhigen müssen, aber sie verstärkten in Torian nur den Eindruck der Fremdartigkeit. Keiner der Jünger war zu sehen, aber er spürte, daß sie da waren, daß sie irgendwo außerhalb des kleinen Lichtkreises lautlos wie Schatten durch die Finsternis schlichen.
Vor ihnen schälte sich ein gewaltiges Portal aus der Dunkelheit. Auf jeder Seite standen zwei der Blinden. Auf eine Handbewegung Borons hin sprangen sie vor und öffneten einen Flügel des Portals. Torian trat in eine große Halle, die von zahlreichen Fackeln beleuchtet wurde. Zwölf Gestalten, in die gleichen dunklen Kutten wie Boron gehüllt, saßen an einem langen halbrunden Tisch. Ein Platz in ihrer Mitte war noch frei. Zögernd trat Torian näher. Boron ging an ihm vorbei und setzte sich auf den freien Platz zwischen den anderen Magiern.
Minutenlang herrschte Schweigen, aber es war ein Schweigen sehr unangenehmer, beinahe beredter Art; eine Stille, als unterhielten sich die Magier auf eine ihm verschlossene Art. Torian ließ seinen Blick über die Reihe der versammelten Magier gleiten. Zumeist entdeckte er nur brodelnde Schwärze unter den Kapuzen, wo Gesichter sein sollten; gelegentlich, wenn das Licht der Fackeln dazu ausreichte, ein dunkles Augenpaar oder faltige, an altes Pergament erinnernde Haut. Eine Aura unsichtbarer, aber dafür um so deutlicher spürbarer Macht erfüllte die Luft.
Torian fühlte nur Leere in sich. Er kam sich vor, als wäre er in einem besonders realistischen Alptraum gefangen, hatte das Gefühl, in einen endlos tiefen Schacht zu stürzen. Vor wenigen Wochen erst hatte er zum ersten Mal einen Schwarzen Magier gesehen, und wenn es nach ihm gegangen wäre, wäre dies auch die einzige Begegnung geblieben.
Leider ging es nicht nach ihm. Statt dessen stand er nun gleich dreizehn Magiern gegenüber, Wesen mit einer Macht, die der von Göttern gleichkam, die durch einen Wink ganze Städte in Schutt und Asche legen konnten, mit einem Lidzucken ein Leben auslöschen. Er hatte zwei ihrer Brüder und eine ihrer dämonischen Götzenkreaturen getötet. Sie mußten ihn hassen, ganz gleich, was Boron behauptete, doch er spürte, daß die Blicke, die sie ihm unter den Kapuzen hervor zuwarfen, nicht feindselig waren. Sie betrachteten ihn eher auf die Art, auf die man ein besonders seltenes und interessantes Tier mustert.
Meistens, kurz bevor man es zertrat, fügte Torian in Gedanken düster hinzu.
Trotzdem hatte er keine Angst.
Es war seltsam – jeder der Schwarzen vermochte ihn schneller zu töten, als er sein Schwert ziehen könnte, und er hatte ihnen mehr als genug Gründe geliefert, es zu tun. Es war kein Zufall, daß man ihm die Waffe nicht einmal abgenommen hatte. Eine weitere Demonstration ihrer Überlegenheit.
Seine Ruhe erschreckte Torian beinahe selbst, wenn es auch eher eine Betäubung als echte Ruhe war. Es gab keinen Grund, Furcht zu empfinden, weil es keine Hoffnung mehr gab. Er war schon tot, auch wenn er es im Moment noch nicht merkte. Sein Todesurteil stand fest, seit Boron ihn in die Katakomben geführt hatte. Wenn man ihn noch nicht getötet hatte, dann nur, um ihn vor seinem Tode noch mehr zu demütigen. Nein, es konnte keine Hoffnung mehr geben. Selbst sein Haß war vergangen. Alles, was er noch wollte, waren Antworten.
»Also gut, hier bin ich«, sagte er, mühsam darum bemüht, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Warum bringt ihr mich nicht endlich um?«
Er hatte eine wütende Reaktion auf seine provozierende Frage erwartet, doch erst nach Sekunden, die ihm wie Ewigkeiten vorkamen, schüttelte Boron fast mitleidig den Kopf.
»Wir haben geglaubt, du wärst anders als die übrigen Menschen, Torian, doch du bist ein mindestens ebensolcher Narr wie sie«, sagte er. »Wofür hältst du uns?« Er starrte Torian durchdringend an. Als er weitersprach, klang seine Stimme fast vorwurfsvoll. »Für eiskalte Killer, denen das Töten Spaß macht? Glaubst du, ein nach Jahrhunderten währendes Leben würde nicht auch Weisheit und eine geistige Reife hervorbringen? Keinem von uns macht das Töten Spaß. Wir sind schließlich keine Menschen.« Die letzten Worte sprach er mit einer so beiläufigen Betonung aus, daß Torian ihren Sinn im ersten Augenblick gar nicht begriff.
Verwirrt starrte Torian ihn an. Er wußte selbst nicht, was er erwartet hatte, aber jedenfalls keine Antwort wie diese. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu sprechen. Und als er es tat, war es bloßer Trotz, der ihm die Worte diktierte. »Die Falle in Rador... Der Magier schwor, jeden Garianer zu töten. Ist das eure Reife?«
Boron machte eine abfällige Handbewegung.
»Sein Geist war verwirrt. Rache ist ein schlechtes Motiv. Du hast den Untergang Radors miterlebt. Hunderttausende von uns starben, wurden von den Garianern niedergemetzelt, gleich ob Frauen, Greise oder Kinder. Aber sollen wir jeden Menschen hassen, nur weil ihr von den Garianern abstammt und wir die letzten Überlebenden der Alten Rasse sind? Wir mögen hart erscheinen und müssen es wohl auch sein, aber wir sind nicht grausam. Manchmal müssen wir es sein, aber es bereitet uns sowenig Freude wie euch.«
»Nein«, sagte Torian mit einer Ruhe, von der er selbst nicht wußte, woher er sie nahm. »Grausam seid ihr nicht. Deshalb haben eure Jünger wohl auch Kaam die Kehle durchgeschnitten. Und deshalb mußten die beiden Diebe sterben. Und wahrscheinlich noch ein paar hundert andere Menschen.«
»Es war notwendig«, erklärte einer der Magier rechts neben Boron. Torian sog überrascht die Luft ein, als ihm bewußt wurde, daß es sich um eine Frau handelte. »Wir töten nicht aus Freude, sondern nur, wenn es nötig ist, und in diesem Fall war es nötig, denn wir mußten deinen Haß schüren, um das zu wecken, was du in dir trägst. Die Brut der Blutspinne.«
Die Brut der Blutspinne!
Dumpf hallten ihre Worte hinter Torians Stirn wider. Diesmal gab es nichts, was seine Gedanken beeinflußte und ablenkte, und doch dauerte es noch immer mehrere Sekunden, bis er endlich begriff.
Er hatte nie erfahren, wie Blutspinnen sich fortpflanzten – wozu auch? Nun wußte er es. Die Erklärung war so einfach wie gräßlich. Sie legten Eier.
In lebende Opfer.
Sie versenkten ihre Eier in die Körper ihrer Opfer. Hätte Garth ihn nicht befreit, wäre er hilflos im Netz der Spinne gefangen gewesen, bis ihre Brut herangewachsen war. Deshalb auch hatte ihn die Kreatur nicht getötet, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Sie brauchte ihn.
Als Amme...
Torian wurde übel. Seine Knie begannen zu zittern, so heftig, daß er sich an der Tischkante festhalten mußte, um nicht zu stürzen. »Nichts war Zufall«, fuhr die Magierin fort. »Wir haben den Sturm beschworen, und wir haben euch den Weg zu der Höhle gewiesen.«
»Sie gehört mit zu den Katakomben, nicht wahr?« murmelte Torian. Wieder erfaßte ihn Schwindel. Es war einfach zuviel. Er konnte, er wollte dies alles nicht wissen, versuchte selbst jetzt noch verzweifelt, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Er empfand nicht einmal mehr Staunen, als er sich die wahre Größe des unterirdischen Labyrinths vorzustellen versuchte. Immerhin lag die Höhle fast zwei Meilen von Armar entfernt.
»Aber warum alles?« murmelte er. »Warum... warum nicht irgendein Tier?«
»Es geht nicht nur um die Brut«, erklärte Boron sanft. Er sprach jetzt ganz leise, in fast väterlicher Art. »In einem Tierkörper würde sie heranwachsen und irgendwann schlüpfen. Sicher auch im Körper irgendeines Menschen. Wir... haben lange auf jemanden wie dich gewartet. Dein Geist ist stark, Torian Carr Conn. Stärker als der der meisten anderen. Auf seine Art so stark wie der unsere, wenn deine Begabungen auch gänzlich anderer Art sind.«
Torian lachte bitter. Es klang wie ein Schrei. »War ich... gutes Zuchtmaterial?« fragte er böse.
Boron ignorierte seine Frage. »Dein Bewußtsein ist stark genug, dies zu verhindern«, fuhr er ungerührt fort. »Die Brut wird in dir selbst aufgehen. Was du bisher verspürt hast, war erst ein Bruchteil der Macht, über die du einst verfügen wirst. Eine Macht, die stärker als die unsere sein wird, denn jeder von uns hat einen Teil seiner Kraft an die Blutspinne abgegeben. Seit Jahrzehnten warten wir auf jemanden, der geistig stark genug ist, diese Kraft zu beherrschen. Du hast bewiesen, daß du es kannst. Um dies zu erproben, schickten wir unsere Diener. Sie sollten dich angreifen, um die Macht der Spinne zu wecken.«
»Und wenn ich nicht stark genug gewesen wäre?« fragte Torian. Die Gedanken wirbelten wild in seinem Kopf durcheinander.
»Hätten sie dich getötet.« Boron sagte es ohne einen Funken von Gefühl in der Stimme. »Wahrscheinlich denkst du jetzt daran, diese Macht gegen uns einzusetzen. Versuche es nicht. Du wirst dich entscheiden müssen, und diese Entscheidung wird endgültig sein. Hast du dich einmal für uns entschieden, gibt es kein Zurück mehr. Aber du wirst es nicht bereuen. Wir werden diese Welt wieder beherrschen. Die alten Zeiten werden zurückkommen. Wir sind nur noch wenige, keine tausend und über ganz Caracon verstreut, aber eines Tages werden wir wieder eine starke Rasse sein. Es liegt an dir, ob du dann an unserer Seite herrschen willst. Du wirst reicher und mächtiger als jeder andere Mensch sein.«
Torian schwieg noch, als Boron geendet hatte. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Es dauerte lange, bis er sich so weit gefaßt hatte, daß er die Frage stellen konnte, die ihm auf der Zunge brannte. »Und wenn ich mich weigere?«
»Es wäre besser, du würdest es nicht tun«, antwortete einer der Magier. »Alles wäre einfacher, wenn du uns freiwillig helfen würdest, aber wir brauchen nur die Macht in dir, nicht deinen Verstand. Bevor wir ein Risiko eingingen, würden wir dein Bewußtsein auslöschen. Selbst als lallender Idiot wärest du für uns noch von Nutzen. Überlege es dir.«
Das Portal wurde geöffnet. Zwei Jünger packten Torian. Er wehrte sich nicht.
»Schafft ihn fort!« befahl Boron.
Ein weiteres Mal wurde Torian überrascht, als er sah, wohin man ihn brachte. Es war kein finsteres Verlies, wie er erwartet hatte, sondern ein großer, beinahe schon komfortabel eingerichteter Raum, der von mehreren Fackeln erleuchtet wurde. Was freilich nichts daran änderte, daß auch das nobelste Gefängnis letztlich nichts anderes als ein Gefängnis blieb.
Einer seiner unheimlichen augenlosen Begleiter streckte fordernd die Hand aus.
Torian begriff den Sinn der Geste. Er zögerte, verwarf den Gedanken an Widerstand aber sofort wieder. Er könnte die beiden Cra’thal ohne große Schwierigkeiten überwältigen – aber was würde ihm das wohl nutzen? Von den Magiern, die jeden Fluchtversuch sofort vereiteln würden, ganz abgesehen, hätte er sich schon nach wenigen Schritten in diesem Labyrinth hoffnungslos verirrt. Die Katakomben der Letzten Nacht waren ein Gefängnis, das keine Mauern brauchte.
So beschränkte er sich darauf, die beiden Männer so böse wie möglich anzustarren – was sie sicherlich ungeheuer beeindruckte, da sie es nicht sehen konnten –, während er einem von ihnen die Waffe überreichte. Ohne ein weiteres Wort zogen sie sich zurück. Er hörte, wie ein Riegel einrastete, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatten.
Neugierig sah er sich um. Sein Gefängnis war wirklich komfortabel – zehnmal sauberer, als es das stinkende Loch gewesen war, in dem sie in Kaams Schenke übernachtet hatten. Weiche Teppiche lagen auf dem Boden. Es gab einen mit kunstvollen Schnitzereien versehenen Tisch, auf dem ein Krug Wasser und eine Schale mit Früchten standen. Erst jetzt spürte Torian, wie hungrig und durstig er war. Mißtrauisch betrachtete er eine Frucht und biß nach kurzem Zögern hinein. Die Frucht schmeckte fremdartig, aber gut, und nachdem er den ersten Bissen hinuntergeschluckt hatte, schalt er sich selbst einen Narren. Die Magier waren sicherlich nicht darauf angewiesen, ihn zu vergiften.
In einer Ecke des Raumes stand ein bronzenes Bett mit dicken Federdecken. Darauf lag frische Kleidung; Hosen aus festem Stoff, lederne Stiefel, ein Kettenhemd, das sich überraschend leicht anfühlte, obwohl es aus festem Stahl bestand, und ein prachtvolles Cape. Die Magier verstanden zu leben, das mußte man ihnen lassen.
Torian zuckte ergeben mit den Achseln und streifte die zerschlissenen Fetzen ab, die er in letzter Zeit als Kleidung getragen hatte. Er war sich bewußt, daß die Magier ihm alles keineswegs aus Nächstenliebe boten, sondern um ihn zu ködern, aber das war ihm egal. Er wäre wirklich ein Narr, auf diese Annehmlichkeiten zu verzichten. Sollten Boron und die anderen ruhig denken, daß er sich durch ein paar freundliche Gesten auf ihre Seite ziehen ließ. Um den Preis eines Paares neuer Hosen war er jedenfalls nicht zu kaufen.
Während er sich umkleidete, betrachtete Torian die Schwellung, die sich an seiner Schulter gebildet hatte. Er betrachtete sie ohne Schrecken, sondern von einer fast wissenschaftlichen Neugier erfüllt. Die unsichtbare Wand in seinem Gehirn, die ihn bislang vor der Wahrheit geschützt hatte, war gefallen, aber dahinter war nur Leere. Der Gedanke, daß es sich bei der Schwellung um die Brut der Blutspinne handelte, die Brut, die in seinem Körper heranwuchs, war einfach zu abstrakt, als daß er ihn wirklich zu begreifen vermochte.
Torian kleidete sich neu an und ließ sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aufs Bett sinken. Er hatte kaum die Hälfte von dem verstanden, was die Magier ihm erzählt hatten, aber auch das hatte genügt, sein inneres Gleichgewicht gründlich zu erschüttern. Sonderbar – am wenigsten machten ihm noch sein eigenes Schicksal und die ihm zugedachte Rolle zu schaffen. Etwas in ihm wehrte sich instinktiv dagegen, darüber nachzudenken; vielleicht als Schutz vor dem drohenden Wahnsinn, der sich in diesen Gedanken verbarg. Vielleicht hatte er auch einfach bereits aufgegeben, auf einer tieferen Ebene seines Denkens. Sein Weltbild hatte Risse bekommen, und wenn die Magier das durch die Wahl ihrer Worte bezweckt hatten – woran er nicht zweifelte –, nun, so hatten sie zumindest dieses Ziel erreicht.
Bislang war für ihn völlig klargewesen, daß er auf der richtigen Seite stand: auf der der Menschen, die gegen eine unmenschliche Gefahr aus der Vergangenheit kämpften. Die Schwarzen waren ihm als Gruppe rachsüchtiger, von Haß zerfressener Wesen von übermenschlicher Stärke erschienen; eine tödliche Gefahr für alles Lebende, die es zu bekämpfen galt. Er wußte nicht, wer den vernichtenden Krieg in grauer Vorzeit angefangen hatte, und es war ihm auch herzlich egal, aber er hatte in Rador miterlebt, mit welcher Grausamkeit die Garianer—die Menschen, korrigierte er sich in Gedanken – gewütet hatten. Eine Weile wehrte er sich gegen den Gedanken, denn er tat weh – aber er mußte zugeben, daß er nicht mehr völlig sicher war, auf der richtigen Seite zu stehen. Es war keine besonders erhebende Vorstellung, zu den bösen Jungs zu gehören, ohne es auch nur zu wissen. Aber was er gesehen hatte, waren mordgierige, brennende Barbaren gewesen, die eine hochstehende Kultur vernichteten.
Trotzdem würde er den Magiern nicht helfen, Caracon zurückzuerobern, mochten sie hundertmal die Überlebenden eines Volkes sein, dem einst Unrecht geschehen war. Er konnte es nicht. Er wollte es auch nicht.
Vielleicht einfach deshalb, weil er selbst ein Mensch war. Und weil er selbst gespürt hatte, wie fremd die finstere Macht hinter den Magiern war. Nicht einmal böse, aber so fremd, so vollkommen anders, daß ein Zusammenleben, ja selbst eine friedliche Koexistenz, einfach ausgeschlossen war. Die Menschen und die Magier, das waren Feuer und Wasser, Licht und Dunkelheit. Beides zusammen war unmöglich. Und er hatte nicht einmal die Möglichkeit zu wählen.
Torians Gedanken verwirrten sich; begannen sich im Kreis zu drehen. Zu viel war in den letzten Stunden auf ihn eingestürmt. Er spürte, wie Müdigkeit sein Denken mehr und mehr auslöschte, bis er irgendwann selbst nicht mehr wußte, was er dachte, und in einen tiefen und traumlosen Schlaf sank.
Als er erwachte, war er nicht mehr allein. Er wußte es, noch bevor er die Augen aufschlug. Die gleiche Aura unbegreiflicher Macht, die er vor dem Rat der Magier gespürt hatte, erfüllte das Zimmer.
Boron saß auf einem Stuhl. Er hatte die Kapuze zurückgeschlagen und sah ihn an.
»Wie lange habe ich geschlafen?« fragte Torian verwirrt und blinzelte ein paarmal, um die Benommenheit abzuschütteln, bevor er sich aufsetzte und die Beine vom Bett schwang.
»Ein paar Stunden. Möchtest du etwas essen?«
»Nein.« Torian schüttelte den Kopf und stand ganz auf. »Was willst du? Eine Antwort auf eure Forderung?«
Boron lächelte milde.
»Das hat noch Zeit. Aber du solltest wirklich gründlich darüber nachdenken. Es hängt viel von deiner Antwort ab, in erster Linie für dich. Ich bin gekommen, um allein mit dir darüber zu sprechen.«
»Es gibt nichts zu besprechen. Du kannst dir deinen Atem sparen. Ich werde euch niemals freiwillig dienen.«
»Wie pathetisch«, sagte Boron lächernd. Er schüttelte den Kopf. »Aber es geht gar nicht darum, uns zu dienen«, erwiderte Boron ruhig. »Stolz ist eine feine Sache, wenn man ihn sich leisten kann. Was glaubst du mit deiner kleinen Rebellion zu erreichen? Es ist ein Kinderspiel für uns, deinen Willen zu brechen.«
»Dann tut es doch!« sagte Torian wütend.
»Aber wir wollen es nicht«, erwiderte Boron geduldig. »Was wir dir bieten, ist eine Partnerschaft. Es steht in deiner Macht, den Krieg zwischen Tremon und Scrooth zu beenden und unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Andernfalls wird Scrooth fallen und mit ihm alle anderen Länder, die sich uns widersetzen. Aber bis dahin wird es noch Tausende Tote auf allen Seiten geben.«
Die Gedankensprünge des Magiers verwirrten Torian. Boron jonglierte mit Worten, wie es ihm gefiel, und er beherrschte dieses Gebiet besser als Torian. Zum ersten Mal kam ihm in den Sinn, daß Worte vielleicht eine ebenso gefährliche Waffe sein mochten wie sein Schwert. Und daß Boron ein Meister in dieser Art des Kämpfens war.
»Es gibt Dinge, für die zu kämpfen sich lohnt«, stieß er hervor. »Beispielsweise für die Freiheit.«
»Freiheit«, wiederholte Boron verächtlich. Es klang wie ein Schimpfwort. »Ein leeres Wort, unter dem jeder etwas anderes versteht. Wir wollen Caracon nicht versklaven. Jede Gewaltherrschaft bricht eines Tages. Wenn es nichts weiter ist, kannst du den Thron von Scrooth haben und den der anderen Länder noch dazu. Herrsche, wie du es für richtig hältst, hart oder milde, es bleibt sich gleich. Laß zur Not das Volk in dem Glauben, selbst zu herrschen. Es gibt subtilere Formen der Unterdrückung als offene Tyrannei. Wir sind nicht an weltlicher Macht interessiert.«
»Ach nein, natürlich nicht«, höhnte Torian, obwohl er spürte, wie er mehr und mehr an Boden verlor. Boron drängte ihn mit Worten in die Ecke wie ein geschickter Fechter seinen Gegner mit dem Schwert. »Warum dann der ganze Krieg, wenn ihr ihn doch gar nicht gewinnen wollt?«
»Unsinn«, entgegnete Boron unwirsch. »Natürlich wollen wir ihn gewinnen, aber es geht uns nicht um Macht. Alles, was wir wollen, sind die...« Er brach ab und suchte einen Moment nach Worten. »Die Seelen der Menschen«, sagte er schließlich. »Das trifft die Sache am ehesten. Unsere Macht mag dir wie die von Göttern erscheinen, aber wir dienen selbst nur anderen, die noch viel mächtiger sind.«
»Ja, Ch’tuon und anderen Dämonen«, murmelte Torian.
»Du nennst sie Dämonen, aber sie sind ebensosehr Götter wie die der Menschen«, widersprach Boron. »Oder sowenig, wie du willst. Und sie sind Götter, die wirklich existieren. Sie mögen härter sein als die Wesen, die ihr anbetet, aber das ist nur eine Frage des Standpunktes. Das Starke allein wird überleben, während das Schwache untergeht. Dieses Gesetz hat die Natur gemacht, Torian, nicht wir. Unsere Götter leben, während ihr nicht einmal wißt, ob es eure Götter überhaupt gibt.«
»Ich glaube an überhaupt keine Götter«, sagte Torian ruhig.
»Aber ich weiß, was passiert, wenn Ch’tuon und seine Kreaturen aus ihrem Schlaf erwachen. Vielleicht würdet ihr die Menschheit nicht versklaven wollen, aber sie würden es tun, und ich werde nicht dazu beitragen.«
Er begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Boron musterte ihn spöttisch.
»Du versuchst dir selbst etwas vorzumachen«, sagte er nach einer Weile. »Vor allem geht es gar nicht darum, ob du uns nun freiwillig hilfst oder nicht. Das Ergebnis bleibt sich gleich. Wenn ich mit dir spreche, dann nur, um dir zu helfen.«
»Wie rührend«, knurrte Torian. »Warum schenkst du mir nicht gleich einen Blumenstrauß, um dich bei mir einzuschmeicheln? Wer weiß, vielleicht breche ich doch noch mit meinen Prinzipien und heirate dich.«
»Du glaubst mir nicht«, stellte Boron unbeeindruckt fest. »Das ist bedauerlich, aber verständlich. Nun gut, vielleicht kann ich dich doch noch überzeugen, daß wir nicht die menschenfressenden Ungeheuer sind, die du in uns siehst. Komm mit.«
Der Magier öffnete die Tür. Torian griff nach einer Fackel und folgte ihm mit gemischten Gefühlen in den Stollen hinaus, von dem er wußte, daß es sich in Wirklichkeit um eine uralte Straße handelte. Sein Mißtrauen Boron gegenüber war keineswegs geringer geworden, denn er wußte, daß alles, was der Magier tat und sagte, kühler Berechnung entsprang.
Vielleicht hatte er aber auch nur Angst davor, daß Boron im Recht sein könnte.
»Als ich dir erstmals von den Cra’thal erzählte, wolltest du mir nicht glauben, daß ein Volk hier unten wirklich existieren kann«, fuhr Boron fort, während sie durch das Straßenlabyrinth gingen. »Mittlerweile weißt du es, und ich möchte, daß du sie näher kennenlernst.«
»Was sind sie für Wesen?« erkundigte sich Torian. »Wirklich Menschen, die sich hier niedergelassen haben?«
»Nicht... ganz«, antwortete Boron gedehnt. Er lächelte. »Ich sagte schon, daß es nur noch wenige von uns gibt. Wir haben den Untergang der Alten Rasse aufgrund unserer Magie überlebt, aber wir haben einen hohen Preis für diese Kräfte zahlen müssen, denn wir sind unfähig, uns fortzupflanzen. Was glaubst du, warum es nur so wenige von uns gibt und warum beinahe nur Greise? Laß dich von meinem Äußeren nicht täuschen. Ich bin nicht jünger als die anderen. Einzig Ch’tuon kann uns helfen. Verstehst du nun, warum wir alles daransetzen, ihn aus seinem Schlaf zu reißen? Es ist allein eine Frage des Überlebens. Auch wir sind nicht unsterblich, wie du wohl am besten weißt.«
»Und diese Wesen hier...« Ein ungeheuerlicher Verdacht stieg in Torian auf.
Boron nickte.
»Ja. Wir haben auf magischem Wege versucht, unsere Gene in die Körper menschlicher Frauen zu verpflanzen. Das Experiment als solches gelang, aber es brachte nicht den gewünschten Erfolg Anscheinend sind sich unsere Rassen trotz der äußerlichen Ähnlichkeit doch zu fremd. Wir zeugten diese Zwitterwesen. Kreaturen, deren magische Kräfte sich darauf beschränken, daß sie ohne ihre verkümmerten Augen sehen können. Sie sind nicht viel intelligenter als Tiere, doch dafür sind sie uns treu ergeben. So, wir sind am Ziel.«
Boron blieb stehen, um Torian Gelegenheit zu geben, sich in aller Ruhe umzusehen. Sie hatten eine Art Dorf innerhalb der Katakomben erreicht. Große, bogenförmige Öffnungen klafften in den Wänden der Häuser, die sich um einen freien Platz herum gruppierten. Mehr als zwei Dutzend Cra’thal hielten sich dort auf, überwiegend Frauen, die einfachen, stupide anmutenden Tätigkeiten nachgingen. Keines der Wesen trug die hautengen braunen Kleidungsstücke, in denen Torian sie bisher nur gesehen hatte. Statt dessen waren sie in Lumpen gehüllt. In den Häusern entdeckte Torian primitive Lagerstätten. Der Gestank von Urin und Kot schlug ihm entgegen. Tiere, dachte er entsetzt. Die Cra’thal mochten menschliche Wesen sein, aber die Magier hielten sie wie Tiere. Es widerte ihn an, und dieses Gefühl weckte Schuld in ihm. Sein Zorn auf die Schwarzen Magier wuchs. Wie hatte Boron gesagt? Wir sind schließlich keine Menschen ?
Niemand nahm von ihm und dem Magier Notiz.
»Was ist das hier?« fragte er bitter. »Euer Zoo? Hast du mich hergeführt, um mir das zu zeigen?«
»Genau deshalb«, antwortete Boron. »Ich sagte dir schon, sie sind nicht sehr viel intelligenter als Tiere. Zwar haben sie gelernt zu kämpfen, aber ansonsten sind sie ohne jeden Nutzen für uns. Maschinen, wenn du so willst, nur aus Fleisch und Blut statt aus Stahl. Wenn wir wirklich grausam wären, hätten wir sie längst getötet, wie ihr Menschen es mit solchen Mißgeburten wahrscheinlich gemacht hättet. Aber wir haben ihnen Gelegenheit gegeben, hier eine Art eigener Zivilisation aufzubauen. Sie leben nach Regeln, die sie sich selbst gegeben haben, und wir lassen ihnen fast alle Freiheiten. Ist das nicht humaner als das, was du in den Slums des neuen Armar gesehen hast? Dort oben leben denkende Menschen, hier nur Tiere. Und trotzdem fühlen sich diese Tiere mit Sicherheit wohler und freier. Wir behandeln sie besser als ihr euch untereinander. Also erzähle nicht noch einmal, wir würden euch versklaven, wenn wir an die Macht kämen.«
Verwirrt schwieg Torian. Borons Argumentation enthielt einen fundamentalen Fehler, das spürte er, aber er war nicht in der Lage, den Finger darauf zu legen. So zog er es vor zu schweigen. Er folgte dem Magier über den Platz auf ein besonders großes Gebäude zu. »Es ist eine Art Tempel«, erklärte Boron, während er ein Stück Vorhang vor dem Eingang zur Seite schob. »Ein Heiligtum dieser Kreaturen. Du hast die ganze Zeit über nicht mehr nach deinen Freunden gefragt. Wenn ich dich schon nicht mit Worten überzeugen kann, dann wird das hier deine Entscheidung vielleicht beschleunigen.«
Er packte Torian und versetzte ihm einen heftigen Stoß, der ihn in das Gebäude taumeln ließ. Mit wild rudernden Armen fand Torian das Gleichgewicht wieder und sah sich um. Er befand sich in einem gewaltigen Gewölbe, das von Fackeln und mehreren offenen Feuern erleuchtet wurde. Die Halle war leer bis auf ein monströses Gebilde im Hintergrund, das er im ersten Moment nicht richtig erkennen konnte. Eigentlich wollte er es auch nicht.
»Geh ruhig näher heran«, sagte Boron.
Zögernd folgte Torian der Aufforderung. Erst als er fast die Hälfte der Halle durchquert hatte, erkannte er, daß es sich bei dem Gebilde um einen überdimensionalen Thron handelte.
Und darauf saß eine Gestalt.
Obwohl es sich um einen wahren Hünen handelte, wirkte er auf der steinernen Monstrosität winzig und verloren, und es dauerte Sekunden, bis Torian ihn überhaupt entdeckte. Und auch dann dauerte es noch einmal mehrere Sekunden, bis er die muskelbepackte, bis auf einen Lendenschurz nackte Gestalt erkannte.
»Garth«, preßte er hervor. Er wollte den Namen laut brüllen und auf den Dieb zulaufen, aber seine Kehle war wie zugeschnürt, und Boron hielt ihn mit eisernem Griff zurück.
Ein Stück neben dem Thron wurde eine Tür geöffnet, und eine weitere Gestalt trat in die Halle. Es handelte sich um ein junges Mädchen, auch sie fast nackt. Ohne aufzusehen, ging sie auf den Thron zu und ließ sich davor demütig auf die Knie sinken.
Es war Shyleen.
Torian erkannte sie sofort. In seinem Inneren tobte ein wahrer Orkan von Gefühlen, die Freunde wiedergefunden zu haben. Er wollte sich losreißen, doch Borons Griff war hart wie ein Schraubstock.
»Schau sie dir an«, sagte der Magier. »Ein einziger gedanklicher Befehl von uns hat gereicht, ihren Willen zu brechen. Garth genießt es, von den Cra’thal als Halbgott verehrt zu werden. Das Mädchen spielt seine Rolle als ergebene Sklavin wunderbar, nicht wahr? Was hältst du davon, wenn ich sie den Cra’thal zum Geschenk mache? Trotz allem kennen sie auch menschliche Bedürfnisse, und Shyleen ist ziemlich hübsch.«
»Bestie«, zischte Torian. »Ich wußte, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe. Du... du bist schlimmer als ein Tier.«
Boron lachte. Torians hilfloser Zorn schien ihn zu amüsieren. »Eine Bestie? Wie du meinst, aber ich habe nicht gelogen. Ein Wort von dir genügt, und deine Freunde sind wieder frei. Und wie würde es dir gefallen, selbst auf einem Thron zu sitzen und verehrt zu werden? Du wirst unsterblich und fast unbegrenzt mächtig sein. Oder, wenn du willst, auch ein gerechter und geliebter Herrscher. Du hast die Wahl. Andernfalls bleiben deine Freunde, was sie sind, und du wirst zu einem lallenden Idioten, der nicht mal weiß, daß er uns hilft.«
Von grenzenlosem Haß erfüllt, wandte Torian den Blick ab.
»Natürlich könnten deine Freunde auch sterben«, sprach Boron weiter. »Wie würde es dir gefallen, Garth selbst zu töten? Ich glaube, das wäre sogar eine recht gute Idee. Vielleicht würdest du dann vernünftig.«
Er machte eine knappe Geste. Der Dieb erhob sich von seinem Thron und kam mit raschen Schritten näher. Seine Augen zeigten keinerlei Gefühl, waren wie tote Glasmurmeln.
Boron griff unter seine Kutte. Als er den Arm wieder hervorzog, hielt er zwei Kurzschwerter in der Hand, von denen er Garth eines reichte und Torian das andere entgegenstreckte.
»Du bist verrückt«, keuchte Torian. »Glaubst du ernsthaft, ich würde...«
»Natürlich kannst du selbst sterben, wenn dir das lieber ist«, unterbrach Boron ihn kalt. Er warf Torian das Schwert vor die Füße und wandte sich an Garth. »Töte ihn!« befahl er.
Garth zögerte keinen Moment, dem Befehl zu folgen. Torian ließ sich blitzschnell zur Seite fallen, als er die Klinge in einem Halbkreis auf sich zufliegen sah. Er packte das auf dem Boden liegende Schwert, rollte sich ab und kam wieder auf die Beine.
Mit ein paar wilden Hieben verschaffte er sich Luft. Garth machte sich nicht einmal die Mühe, die Hiebe zu parieren, sondern wich nur ein paar Schritte zurück. Immer noch war sein Gesicht kalt und ausdruckslos wie das einer Puppe. Aber seine Bewegungen waren schnell und kraftvoll wie immer. Die ersten Schwerthiebe waren nicht mehr als eine Spielerei gewesen. Es würde keinen Kampf geben, kein langes Kreuzen der Klingen, sondern nur einen einzigen wirklichen Angriff, das begriff Torian plötzlich. Und er hatte keine sehr große Hoffnung, der Sieger in diesem ungleichen Kampf zu bleiben.
Sie hatten sich gegenseitig im Kampf gesehen und wußten, wie stark der andere war. Garths Vorteil an Körperkraft machte Torian mit seiner Schnelligkeit wett. Aber er wußte, daß er trotzdem verlieren würde. Er konnte den Dieb nicht töten, während Garth in seinem willenlosen Zustand keine Skrupel empfinden würde. Und er kämpfte ohne Rücksicht auf sich selbst, ohne Furcht vor Schmerzen oder dem Tod.
Wieder täuschte Garth einen Angriff vor, doch Torian durchschaute die Finte sofort. Er glitt einen Schritt zur Seite, riß sein Schwert hoch und wehrte den Streich ab. Blitzschnell warf er einen Blick zur Seite.
Boron hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete ihn amüsiert.
»Also gut!« brüllte Torian. »Was willst du? Ruf ihn zurück, und ich...«
Weiter gelangte er nicht. Alles ging so schnell, daß er selbst nicht richtig mitbekam, was geschah. Ein peitschender, dreifach nachhallender Knall erklang, ein Bündel schwarzer Schatten jagte zwischen ihm und Garth hindurch, und mit einem Male ragten drei zitternde Pfeile aus der Brust des Magiers.
Boron keuchte. Seine Augen wurden rund; er torkelte, hob die Hände und brach vollends zusammen, als ein weiterer Pfeil heranzischte und seinen Hals durchbohrte.
Der Angriff erfolgte so urplötzlich, daß Boron nicht einmal dazu kam, seine Magie zu entfesseln. Er war tot, ehe er vollends zu Boden stürzte.
Mehr als zwei Dutzend Cra’thal in ihrer braunen Kampfkleidung drangen durch das Portal, durch Fenster und selbst durch Öffnungen in der Decke in die Halle ein. Vorsichtig, mit gezückten Waffen, näherten sie sich dem Leichnam Borons und entspannten sich erst, als sie erkannten, daß der Magier wirklich tot war. Als Torian endlich begriff, was geschehen war, war bereits alles vorbei. Die Cra’thal wandten sich ihm zu, doch ihre Haltung war nicht mehr feindselig. Eine der Gestalten trat vor.
»Ihr Narren«, keuchte Torian. »Wißt ihr überhaupt, was ihr getan habt?«
»Es mußte sein«, antwortete der Mann vor ihm. Seine Stimme klang seltsam, nicht völlig fremd, aber auch nicht ganz menschlich. »Wir werden sie alle töten!«
Torian erstarrte.
»Du... kannst sprechen?« fragte er stockend. »Aber...«
»Natürlich kann ich sprechen. Was hat er dir erzählt? Daß wir dumme Tiere sind?« Er lachte bitter und nickte, um seine eigene Frage zu beantworten. »Sie sind Meister der Lüge, und sie unterdrücken unser Volk seit Jahrhunderten. Du wirst alles erfahren, aber jetzt müssen wir erst einmal hier weg. Komm.«
Wie betäubt wandte sich Torian um und wollte den Gestalten folgen, als sein Blick auf Garth und Shyleen fiel. Nach dem Tod Borons waren sie bewußtlos zu Boden gestürzt. Er kniete bei ihnen nieder und versuchte zuerst Garth, dann Shyleen aus ihrer Ohnmacht zu reißen. Es gelang ihm nicht.
»Wir müssen sie mitnehmen«, keuchte er.
»Dazu bleibt keine Zeit. Wir...«
»Entweder nehmen wir sie mit, oder ich bleibe hier«, unterbrach Torian den Cra’thal. Gespannt wartete er auf eine Reaktion. Er wußte so gut wie nichts über die Cra’thal und auch nichts über ihre Absichten, aber offensichtlich versprachen sie sich von ihm Hilfe. Nach einigen Sekunden nickte der Cra’thal. Zwei seiner Begleiter packten Garth und trugen ihn mit sich fort, ein weiterer lud sich Shyleen auf die Schulter, so mühelos, als wöge sie gar nichts. Die Wesen waren stark.
Sie verließen das Gebäude durch einen Hinterausgang. Wieder wurde Torian über eine Unzahl unterirdischer Straßen und Gassen geführt. Sie hasteten über endlos lange Treppen, und ein paarmal mußte er sich durch schmale Felsspalten zwängen. Längst schon hatte er völlig die Orientierung verloren, als sie schließlich einen Raum erreichten, in dem sich mehrere Dutzend der braungekleideten Gestalten aufhielten.
»Wo sind wir?« fragte er.
»In Sicherheit, zumindest vorläufig«, antwortete einer der Cra’thal und bedeutete ihm, auf dem Boden Platz zu nehmen. Da sich die Gestalten mit ihrer braunschwarzen Kleidung wie ein Ei dem anderen ähnelten, konnte Torian nicht erkennen, ob es derselbe war, mit dem er zuvor gesprochen hatte. Er setzte sich.
»Ihr müßt verrückt sein, die Magier anzugreifen«, sagte er. »Die anderen wissen längst, was passiert ist, und sie werden schon auf dem Weg hierher sein, um sich zu rächen.«
»Sie werden uns nicht finden«, widersprach der Cra’thal. »Und wenn doch, werden sie lange brauchen. Wir werden nicht mehr Hiersein, wenn sie kommen. Aber zuerst müssen wir wissen, ob du uns helfen wirst.«
»Helfen?« Torian schnaubte. »Ihr seid verrückt. Ich kann nichts für euch tun.«
»Du kannst«, widersprach der Cra’thal. »Du hast die Macht der .Spinne.«
Torian schluckte mühsam. Verwirrt starrte er das augenlose Gesicht vor sich an. »Ich... verstehe überhaupt nichts mehr«, gestand er.
»Das mußt du auch nicht.« In der Stimme des Cra’thal schwang keine Drohung mit, als er fortfuhr: »Ich will nur wissen, auf welcher Seite du stehst.«
»Nicht auf der der Magier«, sagte Torian impulsiv. »Gut – ich werde euch bei jedem Plan helfen, der meine Freunde und mich hier herausbringt und halbwegs Aussicht auf Erfolg bietet. Aber ich weiß nicht, ob ich es kann.«
»Wenn nicht du, dann keiner«, erwiderte der Cra’thal überzeugt. Er bemühte sich, ein menschliches Nicken nachzuahmen, und machte eine Handbewegung auf seine Brust. »Ich bin Argor«, fuhr er fort. Er zog das Tuch vom Gesicht. Nach dem Klang seiner Stimme hatte Torian einen jungen Mann erwartet, einen Krieger wie sich selbst, aber Argor erwies sich als alter Mann mit grauem Haar und tiefen Falten im Gesicht. Durch die unnatürliche Blässe seines Gesichts sah er noch älter aus, als er vermutlich war, aber Torian zweifelte nicht daran, daß ihn nur wenige Jahre vom Greisenalter trennten. Auch bei ihm fehlten die Augen, die Lider waren fest mit der Wangenhaut verwachsen, ebenso wie bei den anderen Cra’thal. Trotzdem hatte Torian das sonderbare Gefühl, daß Argor ihn ganz genau sah. Es war verwirrend.
Auf einen Wink Argors hin nahmen sie alle die Tücher ab. Torian sah Menschen allen Alters, viele waren Frauen, manche kaum mehr als Kinder. »Das dort ist Ygan, mein Sohn«, fuhr Argor fort. »Dort sitzen Korl, Huran, Graan und Kryla. Im Laufe der Zeit wirst du alle kennenlernen.«
»Warum tut ihr das?« wollte Torian wissen. »Jede Rebellion gegen die Schwarzen ist zum Scheitern verurteilt!«
»Nichts ist verloren!« rief Ygan temperamentvoll und sprang auf. Er war ein junger, kräftiger Mann von kaum zwanzig Jahren – jedenfalls wäre er das gewesen, hätte es sich um einen Menschen gehandelt. So konnte er genausogut zwei wie zweihundert Jahre alt sein. Torian gestand sich bedrückt ein, daß er so gut wie nichts über seine neuen Verbündeten wußte.
»Unser Volk ist lange genug geknechtet worden«, fuhr Ygan aufgebracht fort. »Jetzt werden wir endlich zurückschlagen. Wir werden jeden der Schwarzen töten.«
»Ich habe schon viele junge Narren wie dich reden hören«, sagte Torian scharf. »Die meisten von ihnen haben den nächsten Tag nicht mehr erlebt.«
Er sah, daß Ygan zornig auffahren wollte, aber Argor legte ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn wieder zu Boden.
»Mein Sohn ist noch jung, du darfst ihm nicht böse sein«, sagte er. »Die Schwarzen knechten unser Volk seit langer Zeit. Wir hassen sie. Sie behandeln uns wie Tiere.«
»Das sagte Boron sogar«, murmelte Torian. »Er erklärte, daß ihr keinerlei Intelligenz besitzt.«
»Wieder eine seiner Lügen«, sagte Argor grimmig. »Wahrscheinlich hat er dir auch einige unserer Brüder und Schwestern gezeigt, als Beweis für seine Behauptung. In diesem sogenannten Dorf leben nur wenige Cra’thal. Es sind die, die den Unwillen der Schwarzen erweckt haben. Die Magier haben ihr Denken zerstört.« Haß verzerrte sein faltiges Gesicht, ein Haß, der selbst Torian schaudern ließ. »Wir haben lange stillgehalten und alles ertragen, weil wir wußten, wie sinnlos jeder Widerstand wäre«, fuhr Argor fort. »Nun aber ist die Zeit zum Handeln gekommen. Mit deiner Hilfe können wir die Schwarzen schlagen.«
»Mit meiner Hilfe?« Torian begann schrill zu lachen. »Was erwartet ihr von mir? Daß ich hingehe und die Schwarzen einfach so erschlage? Ich habe einige von euch im Kampf erlebt. Ihr seid auf ein weiteres Schwert nicht angewiesen.«
»Es geht uns auch nicht um dein Schwert«, sagte Argor ruhig. »Du trägst die Brut der Blutspinne in dir. Wundere dich nicht, daß wir davon wissen. Wir haben die Falle selbst aufbauen müssen. Ich weiß, daß du deine Kraft nicht gegen die Schwarzen selbst einsetzen kannst, aber das haben wir auch nicht vor. Wir werden das Herz der Katakomben zerstören.«
»Das... was?«
Argor machte eine weit ausholende Geste.
»Schau dich um. Das alte Armar hätte längst aufhören müssen zu existieren, aber es besteht immer noch, weil es durch die Magie der Alten geschützt wird. Frag nicht, was dieses Herz Armars ist. Wir wissen nur, wo es liegt und daß die Schwarzen ihre Kraft von dort beziehen. Aber es ist uns unmöglich, bis dorthin vorzudringen. Du hingegen kannst es. Wirst du es tun?«
»Tun?« Torian unterdrückte ein hysterisches Lachen. »Und wie?«
Es dauerte einen Moment, bis Argor antwortete, und als er es tat, hatte Torian erneut das unangenehme Gefühl, von etwas in diesem augenlosen Gesicht angestarrt und durchdringend gemustert zu werden.
»Wir wissen es nicht«, antwortete der alte Cra’thal leise. »Oh«, sagte Torian.
Und das war für eine ganze Weile das letzte, was er sagte.
Falsch, dachte Torian. Irgend etwas war falsch, ganz entsetzlich falsch, aber er wußte nicht, was, und er wußte nicht einmal, woher dieses Gefühl kam.
Vielleicht war er einfach verwirrt. Zuviel war geschehen, seit sie Armar erreicht hatten. Er hatte ja nicht einmal Gelegenheit bekommen, auch nur einmal richtig Atem zu schöpfen, ehe die Hetzjagd weiterging, die vor Wochen in Rador im Herzen der Staubwüste ihren Anfang genommen hatte. Und Boron...
Etwas in ihm sträubte sich einfach gegen die Vorstellung, daß der Magier tot sein sollte. Es war... zu einfach gewesen.
Ja, vielleicht war es das, überlegte er, während er Argor durch die niedrigen Gänge des lichtlosen Labyrinthes folgte. Der Gedanke, daß Boron wirklich tot sein sollte, erschien ihm absurd. Ein Mann wie er wurde nicht einfach von ein paar Aufständischen erschossen.
Lächerlich.
Vielleicht...
Er kam nicht dazu, den Gedanken weiterzuverfolgen, denn in diesem Moment erreichten sie eine Stelle, an der mehrere niedrige Türen von dem halbrunden Gang abzweigten, und der Cra’thal blieb stehen und bedeutete ihm mit einer Geste, still zu sein und ihm zu folgen. Torian nickte, zum Zeichen, daß er verstanden hatte, bückte sich hinter Argor unter der niedrigen Tür hindurch und blinzelte, als grelles Licht schmerzhaft in seine Augen stach.
Dann bemerkte er, daß es nur eine winzige Fackel war, kaum mehr als ein Span, die in der niedrigen Höhle brannte und deren Licht noch zusätzlich durch einen Schirm aus dickem Ölpapier gedämpft wurde, und erst jetzt, im nachhinein, begriff er, daß er dem Cra’thal durch absolute Finsternis gefolgt war. Wieso hatte er sehen können?
Torian schauderte. Großer Gott, dachte er, wie weit geht die Veränderung bereits, die mit meinem Körper stattfindet?
Eine entsetzliche Vorstellung stieg in ihm hoch: Wie in einer gräßlichen Vision sah er sich selbst, wie er mehr und mehr seine Menschlichkeit verlor, schließlich selbst zum Tier wurde, einem grauenhaften Etwas, das eine absurde Mischung aus Mensch und Spinne war, bis der Parasit in seinem Körper ihn schließlich ausgehöhlt hatte, innerlich aufgefressen; er war nur noch eine leere Hülle, ein Kokon, aus dem die Brut der Spinne hervorbrechen würde.
Er verscheuchte die Vorstellung, aber er war machtlos gegen die Bewegung, als seine Hand unter sein Gewand kroch und nach der Schwellung über seinem Herzen tastete. Natürlich war sie nicht gewachsen in den letzten Stunden. Es würde noch Wochen dauern, vielleicht Monate, bis er so weit geschwächt war, daß er sich nicht mehr bewegen konnte. Aber was mochte mit ihm geschehen in all dieser Zeit, wenn das Ungeheuer sein Denken jetzt schon zu beeinflussen begann, nach wenigen Tagen?
Er versuchte, auch diese Frage zu ignorieren, aber er konnte es nicht.
»Wir werden dir beistehen, wenn es soweit ist«, sagte Argor plötzlich.
Torian fuhr erschrocken hoch und blickte in das augenlose flache Gesicht des Cra’thal. »Liest du meine Gedanken?« fragte er scharf. Argor schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe die Bewegung gespürt, als du nach deiner Schulter gegriffen hast. Und du hast Angst.«
»So?« sagte Torian unsicher. »Spürt man das?«
»Man kann es riechen«, erwiderte Argor ernsthaft. »Und man hört es. Du bist ein Mann von großer Selbstbeherrschung, aber deine Stimme ist voller Angst.«
Torian lächelte, aber er wirkte immer noch sehr ernst.
»Ich bewundere deine Tapferkeit, Torian Carr Conn«, fuhr Argor fort. »Aber es ist nichts Schlechtes daran, Angst zu haben.«
Torian antwortete nicht. Es hatte wenig Zweck, mit einem Mann zu diskutieren, der am Klang seiner Stimme hörte, was er dachte! »Wir werden dir beistehen, wenn es soweit ist«, sagte Argor noch einmal. »Ich weiß nicht, ob wir dich retten können, Torian. Aber ich verspreche dir zumindest einen schnellen Tod – wenn dies der einzige Ausweg ist.«
Torian schauderte erneut. Und trotzdem empfand er plötzlich ein Gefühl sehr tiefer, warmer Dankbarkeit. Vielleicht war ein Tod ohne Qualen – und ohne daß er hilflos mit ansehen mußte, wie er sich in ein Ungeheuer verwandelte, sowohl körperlich als auch seelisch – schon mehr, als er eigentlich noch vom Schicksal erwarten konnte.
»Warum... warum schneidet ihr sie nicht einfach aus mir heraus?« fragte er mit zitternder Stimme, obwohl er die Antwort kannte, noch bevor Argor sie aussprach.
»Weil du sterben würdest, würden wir das versuchen«, sagte der Cra’thal traurig. »Die Brut der Spinne weiß sich zu schützen. Eher tötet sie dich und nistet weiter in einem Leichnam, statt daß sie stirbt.«
Torian schwieg. Warum hatte er überhaupt gefragt? Natürlich konnte es nicht so einfach sein.
Er seufzte, straffte sich sichtbar und lächelte, ehe ihm einfiel, daß sein Gegenüber die Geste ja nicht sehen konnte. »Wohin bringst du mich?« fragte er.
Argor machte eine Handbewegung, deren Bedeutung Torian nicht begriff. »Nach unten«, sagte er. »Die Männer sind bereit.«
Torian erschrak, obwohl er es hätte wissen müssen. »Wir... brechen gleich auf?« fragte er stockend.
Es war das erste Mal, daß er einen Cra’thal lächeln sah. Bei einem augenlosen Gesicht wie seinem wirkte es gespenstisch. »Gibt es einen Grund, noch zu warten?« fragte Argor.
Wieder schüttelte Torian erst den Kopf, ehe er sich darauf besann, daß er in einer Welt der Geräusche war, nicht mehr in einer der Bilder. »Eigentlich nicht«, seufzte er. »Du hast recht. Aber ich...«
»Du möchtest deine Freunde noch einmal sehen«, führte Argor den Satz zu Ende, als er nicht weitersprach. Torian nickte, und diesmal schien der Cra’thal die Bewegung zu spüren, denn er drehte sich um und deutete auf einen niedrigen Durchgang in der Wand, der zu einer weiteren, nur halbhohen Höhle führte. Torian folgte ihm wortlos.
Shyleen und Garth lagen nebeneinander auf einem einfachen Lager aus Stroh. Sie waren beide ohne Bewußtsein, und ihre Gesichter sahen aus wie die von Toten. Jedes Leben schien daraus gewichen. Zwei Cra’thal kümmerten sich um Garths Wunden, während ein weiblicher Jünger damit beschäftigt war, Shyleens Lippen mit einem wassergetränkten Tuch zu befeuchten.
Torian blieb zwei Schritte vor dem Lager stehen, blickte einen Moment lang auf die beiden reglosen Körper hinab und drehte sich dann mit einem Ruck um. Argor spürte die Bewegung und wandte ihm das Gesicht zu.
»Der Anblick tut weh, ich weiß«, sagte er. »Ich wollte ihn dir ersparen.«
»Werden sie...«
»Sterben?« fragte Argor, als Torian auch dieses Mal nicht weitersprach. »Ich weiß es nicht. Garth Die Hand sicher nicht. Er ist kräftig. Das Mädchen... ich weiß es nicht. Wir tun für sie, was wir können.«
Torian wollte noch mehr sagen, tausend Fragen stellen, aber seine Kehle war mit einem Male wie zugeschnürt. Und was hätte er schon sagen können?
»Gehen wir, Argor«, flüsterte er. »Ich kann doch nichts für sie tun.«
Aber ganz stimmte das nicht. Etwas gab es, das er für seine Freunde noch tun konnte, selbst wenn sie starben. Er konnte dafür sorgen, daß sie ein würdevolles Grab bekamen.
Zum Beispiel eine ganze Stadt.
»Gehen wir«, sagte er, und mit einem Male verspürte er weder Zorn noch Schmerz. Nur noch Kälte. Und eine Entschlossenheit, die ihn fast selbst erschreckte.
Mit einem beinahe zornigen Ruck wandte er sich um und folgte dem Cra’thal.
Der Weg hinab zum Herz der Katakomben war weit; sehr viel weiter, als Torian geglaubt hatte. Sie brachen noch in derselben Stunde auf; er selbst, Argor, sein Sohn Ygan und gut zwei Dutzend weitere weitere augenlose Gestalten, deren Namen ihm Argor nannte, die er aber gleich wieder vergaß.
Es war schwer, das Verstreichen der Zeit hier unten zu schätzen, denn es gab weder einen Wechsel von Hell nach Dunkel oder zurück oder eine Sonne, deren Stand ihm die Zeit verraten konnte. Der Himmel über ihnen war aus Stein, und das einzige Licht, das sie hatten – nur seinetwegen –, war ein glimmender Span, der trübe rote Helligkeit und Schatten verbreitete, die sie lautlos flankierten. Aber es vergingen Stunden, Stunden und Stunden und Stunden, in denen sie monoton weitergingen, durch scheinbar immer gleiche, scheinbar endlose Korridore, manchmal über Treppen oder jäh in die Tiefe führende Rampen, manchmal auch über schmale steinerne Brücken, unter denen bodenlose Abgründe klafften und die niemals so etwas wie ein Geländer gehabt hatten. Torian begann die Cra’thal schon bald zu beneiden, daß sie nicht sahen, wo sie entlanggingen, denn manchmal waren es nur halbe Fingerbreiten, die sie zwischen sich und dem Sturz ins Nichts hatten.
Sie rasteten dreimal. Einmal, um zu schlafen, die beiden anderen Male, um etwas zu essen. Torian schätzte, daß oben auf der Erde ein ganzer Tag vergangen sein mußte, als sie das dritte Mal aufbrachen. Sie mußten sich meilenweit unter Armar befinden; vielleicht sogar schon unter dem Meer.
Dann – wieder waren sie Stunden um Stunden gelaufen – begann sich etwas zu ändern. Torian vermochte im ersten Moment nicht einmal zu sagen, was – aber ihre Umgebung war plötzlich anders.
Etwas lag in der Luft, das er nicht hörte oder sah, aber dafür um so deutlicher fühlte. Vielleicht waren es die Instinkte der Spinne, die ihn warnten, vielleicht auch die Magie der Schwarzen, die gegen seinen Willen in ihm war, aber gleich, was es sein mochte – sie näherten sich dem Herz.
Und etwas später – nicht sehr viel – begriff er, warum die Cra’thal das Zentrum dieser Anlage so genannt hatten.
Er hörte es.
Das Geräusch war im ersten Moment so leise, daß er es wohl eher spürte, aber es wuchs rasch an: ein dumpfes, sehr langsames Dröhnen, das sich wirklich anhörte wie das Schlagen eines ungeheuerlichen dumpfen Herzens, das tief unter seinen Füßen im gewachsenen Fels der Erde hämmerte.
Dann sah er das Licht.
Es war ein Lichtschein, wie er ihn niemals zuvor erblickt hatte: ein sehr helles, fast schattenloses Licht von silberner Farbe, das wie eine leuchtende Flüssigkeit aus der Tiefe zu ihnen heraufquoll und jede noch so winzige Ritze, jede Spalte und jeden Winkel erreichte und ausfüllte. Vermutlich war es ein Licht, das er mit seinen normalen menschlichen Augen gar nicht wahrgenommen hätte, denn selbst jetzt erschien es ihm mild und fast wohltuend, und er konnte so gut sehen wie schon seit Tagen nicht mehr. Der Lichtschein pulsierte, und nach einer Weile fiel ihm auf, daß er es im gleichen Rhythmus tat wie das dumpfe Hämmern unter seinen Füßen.
Als sie in den Bereich des silbernen Lichtes eindrangen, blieben die Cra’thal stehen. Torian war nicht sonderlich überrascht – schließlich hatten sie es ihm gesagt-, aber er erschrak. Der Gedanke, sich der Quelle dieses Leuchtens und des dumpfen Hämmerns allein zu nähern, trieb ihm den kalten Angstschweiß auf die Stirn. Was, zum Teufel, sollte er gegen das Herz tun?
Eine Gestalt trat auf ihn zu, die im silbernen Widerschein des unheimlichen Lichtes nur als Umriß zu erkennen war; ihr Gesicht war wie eine Ebene aus gehämmertem Metall, in die die Schatten die Illusion nicht vorhandener Augen zauberten. Es war Argor, aber Torian erkannte ihn erst, als er sprach. Das unheimliche Licht ließ alle Dinge anders aussehen. Fremd. Falsch.
»Von hier ab mußt du allein weitergehen, Torian«, sagte der Cra’thal. »Wir können dir nicht folgen.«
Torian fragte nicht, warum. Er selbst spürte das Unheimliche, Fremde überdeutlich, das von jedem Atom seiner Umgebung Besitz ergriffen zu haben schien. Es kam aus der Tiefe, mit dem Licht und dem hämmernden Herzschlag, und es wurde stärker mit jeder Sekunde. Vermutlich war es nur die Macht der Spinne, die ihn schützte.
»Wir werden hier auf dich warten«, fuhr der Cra’thal fort, als Torian nicht antwortete. »Für eine Zeit, die einem Tag eurer Rechnung entspricht. Bist du bis dahin nicht zurück, gehen wir.«
Und das war dann sein Todesurteil, dachte Torian matt. Allein hatte er nicht die Spur einer Chance, den Weg zurück aus den Katakomben der Letzten Nacht zu finden.
Aber wenn er nach vierundzwanzig Stunden nicht zurück war, fügte er in Gedanken hinzu, dann bedeutete das ohnehin, daß er nicht mehr lebte. Er wollte noch etwas sagen, aber nicht zum ersten Mal, seit er diese Welt der Dunkelheit betreten hatte, fehlten ihm einfach die Worte.
»Meine Brüder und ich werden uns um deine Freunde kümmern, solltest du nicht zurückkommen«, sagte Argor, als hätte er seine Gedanken gelesen. Plötzlich lächelte er. »Ich weiß«, fuhr er fort, wobei er die Hand hob und Torians Schulter berührte, dicht über der Stelle, an der das Ei pulsierte, »daß es ein schwacher Trost ist, aber solltest du das Herz vernichten und dabei den Tod finden, dann wisse, daß du deine Freunde trotzdem rettest. Die Schwarzen beziehen ihre Macht aus dem Herz. Ist es zerstört, erlischt der Bann, der über Garths und Shyleens Geist liegt.«
Torian sah den Cra’thal sehr ernst an. »Ist dir klar, was du da sagst, Argor?« fragte er leise. »Wenn diese Katakomben nur noch existieren, weil das Herz da ist...«
»Kann es sein, daß wir alle den Tod finden, wenn es aufhört zu schlagen«, sagte Argor ruhig. »Wir wissen es. Aber wir sind vorbereitet. Es gibt große Höhlen in der Erde, die auf natürliche Weise entstanden sind. Unser Volk ist dort sicher, sollte die Verheerung über die Katakomben hereinbrechen. Außerdem«, er versuchte ein menschliches Lächeln nachzuahmen, aber es mißlang so kläglich wie beim ersten Mal, »wird es nicht so schnell gehen. Vielleicht dauert es Tage, bis die Katakomben zerstört werden. Vielleicht Jahre.«
»Vielleicht auch nur Sekunden«, sagte Torian ernst.
Argor nickte. »Vielleicht auch nur Sekunden. Unser Volk ist vorbereitet. Und nun geh, Torian Carr Conn.«
Torian ging. Es gab nichts mehr, was er noch hätte sagen können. Das Herz lag unter ihm, nur noch wenige Dutzend Schritte entfernt, und für länger als fünf Minuten konnte Torian nichts anderes tun, als wie gelähmt dazuhocken und das monströse Gebilde aus silberglänzendem Licht anzustarren. Der Anblick war so phantastisch – und zugleich erschreckend –, daß er nicht nur seine Gedanken, sondern ganz konkret auch seinen Körper lahmte.
Es war ein Herz.
Ein gigantisches, mehr als mannsgroßes Herz aus reinem Licht, das im Zentrum einer kreisrunden Grube drei Meter unter ihm schwebte, von nichts gehalten und aus nichts bestehend, aber real und schlagend und ungeheuer mächtig. Torian konnte die Ausstrahlung ungeheurer magischer Energien spüren wie das Knistern unsichtbarer Blitze rings um sich herum; sie machte das Atmen schwer, ließ jedes einzelne Härchen an seinem Körper sich aufstellen und hinderte ihn am Denken.
Mit aller Kraft versuchte er den lähmenden Einfluß zurückzudrängen, aber es gelang ihm nur zum Teil. Er konnte sich jetzt wieder bewegen, aber über seinen Gedanken schien eine erstickende Decke zu liegen, etwas, das verhinderte, daß er an irgend etwas anderes denken konnte als an das monströse Ding da unter ihm. Er erinnerte sich kaum daran, wie er den Abstieg geschafft hatte. Er war noch unerwartet weit gewesen, soviel wußte er, und unerwartet schwierig. Mehr als einmal hatte er sich, nur mit Finger- und Zehenspitzen Halt in winzigen Rissen und Felsspalten findend, über bodenlose Abgründe getastet, und einmal hatte er eine lotrecht in die Tiefe stürzende Felswand von gut hundert Manneslängen Höhe überwinden müssen. Er wußte nicht, wie, aber er glaubte sich vage zu erinnern, streckenweise kopfüber geklettert zu sein, wie eine menschliche Spinne mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen, Halt an einer Fläche findend, an der es einfach keinen Halt gab.
Vielleicht war das der wahre Grund, aus dem die Cra’thal niemals bis hierher vorgedrungen waren – weil es unmöglich war. Selbst er, der sehen konnte und über die Macht der Spinne verfügte, hätte es beinahe nicht geschafft. Für ein Wesen, das nicht sehen konnte, konnte dieser Weg nur in den Tod führen.
Und auch für ihn führte er nicht mehr zurück.
Torian hatte schon auf halber Strecke begriffen, daß er den Rückweg unmöglich bewältigen konnte. Selbst wenn es ihm gelang, das Herz zu vernichten – was unwahrscheinlich war –, und selbst wenn es ihm gelang, darüber hinaus auch noch am Leben zu bleiben – was noch unwahrscheinlicher war-, würde er nie wieder zurückkommen. Der Abstieg hatte ihn all seine Kräfte gekostet; allein die Vorstellung, diese entsetzliche Wand hinaufsteigen zu wollen, war lächerlich.
Aber vielleicht wollte er das gar nicht mehr.
Torian lauschte in sich hinein, während er auf das gewaltige strahlende Herz hinabblickte. Da war nichts. Das finstere fremde Ding in ihm schwieg, und für einen Moment – so absurd es ihm selbst vorkam – hatte er fast Angst, daß es nicht mehr dasein könnte und alles umsonst gewesen wäre. Aber das war natürlich Unsinn. Es war da und stärker als je. Allein die Tatsache, daß er den Weg bis hierher geschafft hatte, bewies dies zur Genüge.
Seine Hand tastete zum Schwert, aber dann führte er die Bewegung nicht zu Ende, als ihm bewußt wurde, wie ungemein lächerlich die Waffe in diesem Moment war. Was willst du tun, du Narr? dachte er. Mit einer Waffe aus Stahl gegen dieses Ding kämpfen ? Das war schon nicht mehr lächerlich – dafür mußte er ein neues Wort erfinden.
Vorsichtig richtete er sich auf, suchte auf dem geröllübersäten Untergrund nach einem festen Stand und balancierte mit weit ausgebreiteten Armen weiter auf die Grube zu, in deren Zentrum das weiße Herz aus Licht schlug.
Der Anblick verlor nichts von seiner Gespenstigkeit, als er näher kam. Im Gegenteil – was er sah, erschien ihm mit jedem Moment unheimlicher, und zu dem Gefühl des Fremden und Feindseligen, das er verspürte, gesellte sich nun ganz profane Angst.
Das Herz war sehr viel größer als ein Mann, das erkannte er, als er sich näherte. Es hatte wirklich – ungefähr – die Form eines menschliehen Herzens, und es pulsierte wie ein solches, wenn auch in einem sehr, sehr viel langsameren, irgendwie arhythmischen Takt. Es hing schwerelos zwei Handbreit über dem Boden einer vielleicht drei Meter tiefen und gut zehnmal größeren kreisrunden Grube, deren Boden wie glasiert wirkte und mit einem verwirrenden Muster aus roten und schwarzen Linien verziert war.
Behutsam näherte sich Torian dem Rand dieser Grube, ging in die Hocke und stützte sich mit beiden Händen auf dem Fels ab, ehe er sich vorbeugte, um mehr erkennen zu können. Der Felsen war warm, und er erzitterte wie steinhartes Fleisch, jedesmal, wenn das riesige Herz schlug.
Wie, zum Teufel, sollte er dieses Ding vernichten?!
Er beugte sich weiter vor, spürte, wie der Rand der Grube unter seinen Fingern zu bröckeln begann, und richtete sich hastig wieder auf. Torian kroch ein kleines Stück zurück, rutschte in eine etwas bequemere Position, ohne aus der Hocke aufzustehen, und dachte angestrengt nach. Er konnte jetzt erkennen, daß es außer dem dumpfen Pulsieren des Herzens noch einen zweiten Rhythmus gab: das Herz dehnte sich aus, ganz langsam, so daß man die Bewegung mit dem bloßen Auge kaum verfolgen konnte, aber beständig.
Wahrscheinlich würde es die ganze Grube ausfüllen, wenn es seine größte Ausdehnung erreicht hatte, und sich anschließend wieder zusammenziehen.
Aber auch das, dachte er mürrisch, war noch keine Antwort auf die Frage, wie, um alles in der Welt, er dieses Ding zerstören sollte. Er mußte...
Torian sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, aber seine Reaktion kam zu spät. Mit einem Fluch fuhr er hoch und herum, führte die Drehung aber nur halb zu Ende, dann traf ihn ein heftiger Schlag gegen die Brust und ließ ihn rückwärts taumeln.
Einen Moment lang kämpfte er mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht, versuchte auf dem unsicheren Boden irgendwo festen Stand zu finden –
— und trat ins Leere.
Der Aufprall raubte ihm fast das Bewußtsein, denn der Boden, auf den er drei Meter tiefer aufschlug, schimmerte nicht nur wie Glas, er war auch ebenso hart. Einen Moment lang blieb er mit geschlossenen Augen liegen und versuchte den hämmernden Schmerz in seinem Rücken und seinen Schultern zu ignorieren, dann hob er vorsichtig die Lider.
Er war dem Herzen ganz nahe.
Sein Sturz hatte ihn fast bis in die Mitte der Grube geschleudert, und der Ball aus leuchtendem Silberlicht war kaum noch eine Armeslänge von ihm entfernt; wenn er sich bei einem seiner mühsamen Pulsschläge ausdehnte, sogar nur noch eine Handbreit. Das Gefühl, mit dem ihn die unmittelbare Nähe des Herzens erfüllte, war sehr unangenehm, aber mit Worten nicht zu beschreiben, denn es glich nichts, was Torian je erlebt hatte.
Hastig stemmte er sich hoch, kroch rückwärts vor dem pulsierenden Ball aus Helligkeit davon und stand erst auf, als er den glasierten Fels der Grube hinter sich fühlte. Er hatte plötzlich das unangenehme Gefühl, ziemlich genau zu wissen, was den Stein zu Glas zerschmolzen hatte.
Ein Schatten erschien am gegenüberliegenden Rand der Grube, und erst jetzt erinnerte er sich wieder an den Schlag, der ihn getroffen und hier heruntergeschleudert hatte.
Dann erkannte er die Gestalt, die, in einen schwarzen Mantel gehüllt, über ihm stand und ihn aus kalten Augen musterte, und für die nächsten fünf Sekunden dachte er gar nichts mehr.
Über ihm stand Boron.
Der Mann, der vor seinen Augen erschossen worden war.
»Du täuschst dich nicht, Torian«, sagte der Magier ruhig, fast als hätte er seine Gedanken gelesen. Es war wohl kein besonderes Kunststück, sie von seinem Gesicht abzulesen in diesem Moment. »Aber das ist...«
»Unmöglich?« fragte Boron, als Torian nicht weitersprach. Er lächelte – auf eine sehr kalte, sehr falsche Art –, schüttelte den Kopf und hob die Hand. Eine zweite, kleinere, in hauteng anliegendes braunes Leder gehüllte Gestalt trat neben ihn, dann eine dritte, vierte, fünfte...
Sie waren zu weit entfernt, als daß Torian ihre Gesichter erkennen konnte, aber er sah zumindest, daß es Gesichter ohne Augen waren, und jetzt endlich begriff er, wie grausam Boron ihn getäuscht hatte. »Argor?« murmelte er, noch immer fassungslos, wenn auch jetzt eher vor Zorn als vor Unglauben. »Und... Ygan? Ihr...«
»Es war nicht ihre Schuld«, sagte Boron lächelnd. »Sie gehören nicht zu der Art von Kreaturen, die an irgend etwas schuld sein können.«
Zorn stieg in Torian auf. Er machte einen wütenden Schritt auf den Magier zu und blieb wieder stehen, als Argor drohend seinen Speer hob.
»Dann war alles gelogen«, sagte er. »Die kleine Revolution war nichts als Lüge.«
»Natürlich«, sagte Boron beinahe freundlich. »Ich dachte mir, daß es dir Freude bereitet, gegen mich zu kämpfen. Torian gegen den Rest der Welt, das war doch immer dein Motto, oder?«
Torian ignorierte die Frage. »Warum? Verdammt noch mal, ich hätte es freiwillig getan!«
»So?« Boron schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Du hast gesehen, wie schwierig der Weg hier herab war, Torian. Es ist beinahe unmöglich, einen Mann gegen seinen Willen hier herunterzubringen, schon gar nicht einen Mann wie dich. Nein, nein, ich fürchte, du hättest bei der ersten sich bietenden Gelegenheit versucht, mich zu töten oder zumindest zu fliehen. Vor allem, wenn du gewußt hättest, was dich erwartet.«
Torian blickte rasch zum Herzen hinüber, ehe er sich wieder dem Magier zuwandte. Der lodernde Ball aus Licht war deutlich größer geworden. Keine zehn Minuten mehr, schätzte er, und er würde die Grube völlig ausfüllen. Torian fragte sich schaudernd, was geschehen würde, wenn das silberne Licht ihn berührte.
»Du wirst sterben, Torian Carr Conn«, sagte Boron, der seinem Blick gefolgt war. »Im selben Moment, in dem du das Herz berührst. Ich glaube kaum, daß du freiwillig hier herabgekommen wärst.«
Torians Blick irrte zwischen dem Gesicht des Magiers und dem Herzen hin und her. Borons Worte überraschten ihn nicht besonders – schließlich stand er auf einem Felsen, der von der Hitze des silbernen Lichts zu Glas zerschmolzen war. Obwohl er dem Herzen sehr nahe war, spürte er keine Wärme; aber der glasierte Stein, auf dem er stand, bewies das Gegenteil.
Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte nicht mehr viel Zeit, und die Auswahl dessen, was er tun konnte, war reichlich bescheiden; um nicht zu sagen, gleich Null... Sicherlich war der Rand der Grube nicht zu hoch, daß er ihn nicht mit einem entschlossenen Satz ergreifen könnte – wären da nicht die Cra’thal gewesen. Selbst ein Kind mit leeren Händen hätte ihn daran hindern können, die Grube zu verlassen. Und Argor und seine Leute waren weder Kinder, noch waren ihre Hände leer.
»Wozu das alles, Boron?« fragte er. »Nur aus Grausamkeit?«
»Grausamkeit?« Boron wirkte ehrlich betroffen. »Du enttäuschst mich, Torian. Grausamkeit ist ein gutes Werkzeug, aber niemals Selbstzweck. Wir wollen nicht dich. Sieh es als Zufall an, daß ausgerechnet du der Überbringer der Macht sein wirst. Das Herz«, er deutete auf den pulsierenden Ball aus Licht, der schon wieder größer geworden war, »schlägt, aber es ist alt, seine Kraft ist verbraucht. Die Macht, die in dir ist, wird es zu neuem Leben erwecken. Armar wird wieder uns gehören.«
»Und bald die ganze Welt, wie?« knurrte Torian.
Boron zuckte gleichmütig mit den Achseln. »Möglich. Wer will schon die ganze Welt. Für dich spielt es keine Rolle. Du wirst sterben, sobald du das Herz berührst.« Er beugte sich vor und grinste hämisch. »Nimm einen guten Rat von mir an, Torian, und wehre dich nicht. Tritt hinein. Ein kurzer Schmerz, und du bist erlöst.«
Hinter ihm bewegte sich etwas. Etwas wie ein Schatten, aber größer, finsterer und voller glitzernder Panzerschuppen. Und gleichzeitig regte sich etwas in Torian. Was war das?
»Du hast Angst?« fragte Boron, der sein Erschrecken zwar bemerkte, aber völlig falsch verstand. Der Schatten hinter ihm wuchs weiter heran, ohne mehr Gestalt anzunehmen, aber plötzlich glaubte Torian zu wissen, was er bedeutete.
»Jeder hat Angst vor dem Tod«, sagte Torian lahm, nur um überhaupt zu antworten und Borons Aufmerksamkeit gefangenzuhalten. Er mußte Zeit gewinnen. Vielleicht hatte er doch noch eine winzige Chance.
»Wir auch«, sagte Boron ernsthaft. »Willst du es uns übelnehmen, daß wir alles in unserer Macht Stehende tun, um zu überleben?«
»Ja«, antwortete Torian. »Wenn ihr bedenkenlos das Leben anderer opfert, um dies zu erreichen.« Der Schatten war Boron jetzt ganz nahe. Ein gewaltiges, fast mannslanges Spinnenbein schob sich in das silberne Licht, kaum eine Handspanne vom Arm eines der Cra’thal entfernt. Der Jünger bemerkte es nicht. Es war, dachte Torian schaudernd, als wisse die Spinne ganz genau, daß die Cra’thal blind waren, und bewege sich deshalb vollkommen lautlos. Boron seufzte. »Wie viele Männer hast du getötet, um zu überleben, Torian?«
»Das war etwas anderes«, widersprach Torian. »Ich habe niemals jemanden ermordet. Meine Gegner hatten eine faire Chance.«
»Gegen dich?« Boron lachte. »Narr! Welche Chance hat ein normaler Mensch in einem Schwertkampf mit dir f Wir tun nichts anderes als du, nur mit unseren Waffen. Du kämpfst mit dem Schwert, wir mit Zauberei.«
»Das ist nicht wahr!« behauptete Torian. Gleichzeitig preßte er sich so eng gegen die glasierte Wand in seinem Rücken, wie er nur konnte. Das Herz war weiter gewachsen. Der leuchtende Ball füllte jetzt mehr als die Hälfte der Grube aus, und in seinem Inneren glaubte Torian etwas Dunkles, hektisch Pulsierendes zu erkennen. Etwas wie Hitze, das aber nicht warm war, streifte sein Gesicht und ließ die feinen Härchen in seinem Nacken sich aufstellen. Nur noch Augenblicke, und dieses kalte tödliche Feuer hätte ihn erreicht. »Das ist nicht wahr!« sagte er noch einmal, nur um Zeit zu gewinnen und Borons Aufmerksamkeit irgendwie weiter zu fesseln. »Das war etwas anderes. Du...«
Die gigantische Blutspinne trat mit einer einzigen, ungeheuer kraftvollen Bewegung aus den Schatten heraus, und Torian sprang. Es war ein Satz, wie ihn nur die schiere Kraft der Verzweiflung möglich machte. Ohne Ansatz federte er aus dem Stand hoch, riß die Arme in die Höhe und bekam den oberen Rand der Grube zu fassen. Einer der Cra’thal trat mit erhobenem Speer auf ihn zu, aber plötzlich traf ihn ein Schlag in den Rücken; nicht hart genug, ihn zu töten oder in die Grube hinabzuschleudern, aber heftig genug, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und auf die Knie hinabfallen zu lassen. Die Speerspitze, die auf Torians Hände gezielt hatte, zerbrach klirrend unweit daneben auf dem Boden.
Torian zog sich mit einer verzweifelten Bewegung vollends aus der Grube heraus, kam mit einer Rolle auf die Füße und griff nach seinem Schwert.
Die Bewegung war zu langsam. Er sah Argors schlanke Gestalt wie einen braunschwarzen Schatten vor sich emporwachsen, duckte sich im allerletzten Moment unter der heranzischenden Klinge weg und trat automatisch nach den Beinen des Cra’thal. Er traf, aber er hatte die unheimliche Kraft dieser blinden Männer ja schon zur Genüge kennengelernt – Argor strauchelte, machte einen ungeschickten Schritt zurück und fand sein Gleichgewicht fast sofort wieder. Aber die kurze Pause reichte Torian immerhin, seine eigene Waffe zu ziehen und sich hastig ein paar Schritte weit vom Grubenrand zurückzuziehen. Gehetzt sah er sich um.
Es war ein bizarrer Anblick, der sich ihm bot. Argor und der andere Cra’thal waren allein auf dieser Seite der Herzgrube. Boron lag reglos auf der anderen Seite der Grube – bewußtlos oder tot –, und über ihm stand die Spinne, ein schwarzer Gigant, so häßlich wie die Nacht und doppelt so groß, wie sie Torian in Erinnerung hatte. Sie hatte sich auf die beiden hinteren ihrer drei Beinpaare aufgerichtet, die vorderen Gliedmaßen und die armlangen gefährlichen Zangen schlugen mit rasenden Bewegungen nach dem guten Dutzend Cra’thal, das sie mit Speeren und Schwertern attackierte. Die Jünger schienen nicht die mindeste Furcht vor der gigantischen Kreatur zu empfinden. Wieder – und nicht zum ersten Mal – mußte Torian an Maschinen denken, als er den kämpfenden braungekleideten Gestalten zusah; bizarren, menschenähnlichen, perfekten Maschinen, die weder Furcht noch sonst irgendein anderes menschliches Gefühl kannten.
Aber ihm blieb kaum eine Sekunde, um dem ungleichen Kampf zuzusehen, denn Argor und der zweite Cra’thal griffen fast sofort wieder an.
Sie hatten jetzt beide ihre Schwerter gezogen und kamen mit langsamen, wiegenden Bewegungen näher. Ihre augenlosen Gesichter starrten ihn an, und obwohl sie blind waren, war Torian doch sicher, daß sie jede noch so winzige’Bewegung wahrnahmen, die er machte. Vorsichtig glitt er einen Schritt nach links. Argor vollzog die Bewegung getreulich nach, und der zweite Cra’thal tat einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Ihre Schwerter waren unverrückbar auf sein Gesicht gerichtet.
Torian duckte sich instinktiv.
Die Schwerter blieben oben.
Torian keuchte überrascht, und fast sofort senkten sich die Klingen der beiden Cra’thal wieder.
Und eine phantastische Idee begann in Torian zu reifen. Es war schierer Wahnsinn, völlig unmöglich- aber er hatte gar keine andere Chance, als es zu versuchen. Mit seinen normalen, menschlichen Kräften war er nicht einmal einem der Cra’thal gewachsen, geschweige denn gleich zwei.
Torian rückte einen Schritt nach rechts, setzte den Fuß hörbar auf und zog ihn lautlos wieder zurück. Argor erstarrte mitten in der Bewegung, und der zweite Cra’thal machte einen Schritt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
Torian erstarrte zur Salzsäule. Er bewegte sich nicht mehr, ja, er atmete nicht einmal mehr. Die beiden Cra’thal zögerten, kamen wieder näher, zögerten wieder. Sie wirkten verwirrt, unsicher, aber nicht ängstlich. Ein angespannter, lauschender Ausdruck lag auf Argors Zügen. Das Schwert in seiner Hand bewegte sich von rechts nach links und wieder zurück.
Torians Lungen begannen zu schmerzen. Er hatte nicht besonders viel Übung darin, den Atem anzuhalten, aber er mußte es, denn er war im selben Augenblick verloren, in dem er Luft holte. Er erinnerte sich gut daran, wie unglaublich scharf das Gehör der Jünger entwickelt war. Solange er nicht atmete, war er unsichtbar für sie – aber wie lange noch?
Als wäre allein der Gedanke ein Auslöser gewesen, begannen seine Lungen stärker zu schmerzen. Ein dumpfer, rhythmisch klopfender Schmerz erwachte in seiner Brust. Noch eine Minute, schätzte er, dann würde er atmen müssen, sehr laut atmen.
Der Kampflärm vom gegenüberliegenden Rand der Grube verstärkte sich. Torian drehte millimeterweise den Kopf, um der bizarren Auseinandersetzung zuzusehen. Der Kampf schien eine Art Unentschieden erreicht zu haben, in dem keine Seite so recht weiterkam : die Spinne, die – eine andere Erklärung fand Torian nicht – aus Sorge um ihre Brut hier heruntergekommen war, thronte wie ein häßlich aufgedunsener wagengroßer Panzersack über dem bewußtlosen Magier. Ihre Augen flammten vor Zorn, und ihr vorderes Beinpaar und die tödlichen Scheren peitschten immer wieder nach den Angreifern. Aber die Cra’thal waren schnell, und sie waren zäh genug, selbst einen Hieb der mörderischen Spinnenbeine zu verkraften.
Torian wußte nicht so recht, welcher Seite er den Sieg gönnen sollte, und vermutlich war es für ihn ohnehin egal – der Tod, der ihm als lebende Vorratskammer für die Spinne bevorstand, war wahrscheinlich weit qualvoller als der im Herzen, und die Cra’thal waren trotz allem noch Menschen oder waren es wenigstens einmal gewesen.
Sein Luftvorrat war aufgebraucht. Torian hatte das Gefühl, daß seine Lungen platzen wollten. Noch Sekunden, und er würde die Besinnung verlieren.
Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Argor und dem zweiten Cra’thal zu. Die beiden waren nicht näher gekommen, sondern standen wie er reglos da, mit erhobenen Schwertern und wie lauschend zur Seite gelegten Köpfen. Sie wußten ganz genau, was er tat, dachte er erschrocken. Sie wußten auch genau, daß er es nur noch wenige Sekunden durchhalten konnte.
Er griff an, ohne vorher Atem zu schöpfen. All seine Kraft und Schnelligkeit lag in diesem einen, geraden Stich, einer Bewegung, die der Cra’thal zwar noch hörte, die aber selbst für seine überschnellen Reflexe zu rasch kam. Torians Klinge schrammte an seinem Arm entlang, riß eine breite blutige Wunde hinein und biß tief in seine Schulter. Der Cra’thal schrie auf und brach zusammen. Torian holte mit einem erstickten Keuchen Luft, und Argor schlug zu.
Torians Abwehrbewegung kam zu spät. Argors Klinge traf sein Schwert, prellte ihm die Waffe aus der Hand und berührte ganz flüchtig seinen Arm, aber schon dieses fast sanfte Streicheln reichte aus, einen entsetzlichen Schmerz durch Torians Arm zucken zu lassen. Er schrie, brach in die Knie und fiel kraftlos nach vorne, als seine Arme unter dem Gewicht seines Körpers nachgaben. Er konnte nicht mehr richtig sehen. Rote Nebel aus Schmerz verschleierten seinen Blick.
Das Ding in ihm erwachte wieder.
Torian konnte spüren, wie sich tief in ihm etwas regte, etwas Körperloses und ungemein Finsteres, etwas, das sich von seiner Angst nährte wie ein Vampir von seinem Blut. Torian versuchte den geistigen Einfluß der Spinne mit verzweifelter Macht zurückzudrängen, aber seine Anstrengungen bewirkten eher das Gegenteil. Das Ding in ihm würde nicht zulassen, daß er getötet würde.
Aber er wußte auch, daß er nie wieder er selbst werden würde, wenn er nachgab. Der fremde Geist in ihm war zu stark geworden. Er würde nicht zulassen, daß Torian noch einmal die Kontrolle über seinen Willen zurückerlangte.
Alles ging unglaublich schnell, und doch schien die Zeit stehenzubleiben. Argor bewegte sich plötzlich lächerlich langsam; so träge, als wären sie unter Wasser, und die spitzen Kampfschreie der Cra’thal wurden dumpf und zu einem langgezogenen Heulen. Torian fühlte... Kraft. Eine Kraft von nie gekanntem Ausmaß, eine im wahrsten Sinne des Wortes übermenschliche Stärke, die ihn durchpulste und jeden Schmerz, jede Schwäche aus seinen Gliedern vertrieb.
Mit einer Bewegung, die eigentlich vollkommen unmöglich war, sprang er auf die Beine, tauchte fast gemächlich unter Argors Schwerthieb hindurch und entriß dem Cra’thal die Waffe. Er fühlte nicht einmal Widerstand, als er das Schwert mit beiden Händen ergriff und in zwei Teile zerbrach. Alles war wie in einem Alptraum, in dem er nur Zuschauer war, ein unbeteiligter Gast, der keinen Einfluß mehr auf das Geschehen hatte. Er sah, wie sich Argors augenloses Gesicht vor Schrecken und Furcht verzerrte, spürte ein neuerliches Aufwallen dieser ungeheuren, gnadenlosen Stärke in sich und begriff, daß es zu spät war. Sein Wille war bereits ausgelöscht. Die Spinne war erwacht, und sie würde sich nicht wieder vertreiben lassen. Voller Entsetzen sah er, wie seine Hände vorzuckten, den Cra’thal ergriffen und wie ein Spielzeug in die Höhe hoben. Argor schrie, aber sein Brüllen ging im lautlosen Triumphgeschrei des Ungeheuers in Torian unter.
Mit einer einzigen wütenden Bewegung fuhr er herum und schleuderte Argor in die Grube hinab.
Der Cra’thal schrie. Schwer prallte er auf dem Boden auf, versuchte in die Höhe zu federn und wurde von seinem eigenen Schwung weitergerissen.
Direkt in das silberne Licht des Herzens hinein.
Es ging ganz schnell; so rasch, daß Torian nicht einmal richtig sah, was geschah. Argors Körper schien für den Bruchteil einer Sekunde durchsichtig zu werden, bestand plötzlich auch nur noch aus Licht und kaltem silbernem Feuer – und war verschwunden.
Zweierlei geschah: Das Ding in Torian zog sich noch einmal zurück, wie ein Raubtier, das seine Beute geschlagen hatte und für einen Moment seinen Triumph genießt, und der Kampf auf der anderen Seite der Grube kam zum Stillstand.
Die Blutspinne zog sich mit einem rasselnden Zischen zurück, und auch die Cra’thal ließen wie auf ein geheimes Kommando hin ihre Waffen sinken. Der Blick der Spinne war starr auf Torian gerichtet. In den Augen des riesigen Tieres glomm noch immer dieses unheimliche Feuer, aber es waren jetzt keine Furcht und kein Zorn mehr, die er in ihrem Blick las, sondern... etwas anderes. Etwas, das er gar nicht genau erkennen wollte und das ihn mit purem Entsetzen erfüllte.
Erst jetzt sah er, daß Boron noch lebte. Der Magier hatte sich mühsam auf Hände und Knie erhoben und kroch ein Stück von der gewaltigen Spinne fort. Der Blick des Ungeheuers folgte ihm kalt, aber selbst Torian spürte, daß sie ihn nicht angreifen würde. Sie war hier, um ihre Brut zu schützen, mehr nicht. Blutspinnen waren keine Kämpfer. Trotz ihrer Größe und ihrer Beinahe-Unverwundbarkeit waren sie feige.
Langsam stemmte sich Boron in die Höhe, wich so weit von der gewaltigen Spinne zurück, wie es der Platz überhaupt zuließ, und drehte sich erst dann zu Torian um. In seinem Blick lag Angst, aber auch ein böser, zynischer Triumph. Langsam hob er die Hand und machte eine rasche, flatternde Bewegung.
Die Front der Cra’thal wandte sich von der Spinne ab und Torian zu.
Und das Ding in ihm wurde wieder stärker. Noch übernahm es seinen Willen nicht, aber es war bereit. Er hatte keine Chance, es zurückzuhalten.
»Nun, Torian?« fragte Boron lauernd. »Was wirst du tun? Leben und so werden wie sie«, er deutete auf die Spinne, die ein fürchterliches Rasseln ausstieß, sich aber nicht bewegte, »oder sterben und mir damit zur Macht verhelfen?« Er kicherte. Es klang wie das Lachen eines Wahnsinnigen. »Entscheide dich, du Held. Aber bedenke, daß alles, was du tun wirst, falsch ist. Packt ihn!«
Die beiden letzten Worte galten den Cra’thal, die sich gehorsam auf Torian zu in Bewegung setzten, allerdings ohne sonderliche Hast.
»Kämpfe«, sagte Boron. Seine Stimme war leise, aber von suggestiver Kraft. »Kämpfe, Torian Carr Gönn. Du kannst sie besiegen. Wenn es einen Mann auf der Welt gibt, der es kann, dann du!«
Hinter ihm regte sich die Spinne. Boron machte eine knappe, fast nicht sichtbare Handbewegung, und das gewaltige Tier erstarrte wieder.
Und endlich begriff Torian.
Die Erkenntnis stand so klar und plastisch vor seinem inneren Auge, daß er eine kostbare Sekunde damit verschwendete, sich zu fragen, wieso er Borons niederträchtiges Spiel nicht von Anfang an durchschaut hatte.
Nichts – aber auch gar nichts – von allem war Zufall. Boron hatte alles geplant, selbst das Auftauchen der Spinne, die wie die Cra’thal seinem Willen gehorchte, und sein scheinbares Entkommen aus der Grube. Er durfte gar nicht in dieses silberne Licht geraten, sollte er nicht sterben wie Argor vor ihm. Alles hatte nur einen einzigen Sinn: die Macht in ihm.
Sie war es, die Boron wollte. Es war die finstere Kraft der Spinne, dieses uralte, böse Etwas, das in ihm heranreifte. Sie war es, die das Herz zu neuem Leben erwecken würde, nicht sein Tod. Wenn er sie hier entfesselte, hatte Boron gewonnen.
Und Caracon war verloren.
Armar war nur der Anfang, das begriff er plötzlich. Der Stein, der die Lawine ins Rollen bringen konnte, eine Lawine, die vielleicht diese ganze Welt und ihre Kultur verschlingen mochte. Es war eine Kausalkette von brutaler Klarheit: Wenn die Cra’thal ihn erreichten – in zwei, allerhöchstens drei Sekunden – und wenn sie ihn angriffen – woran kein Zweifel bestand –, würde das Ungeheuer in ihm vollends erwachen. Vielleicht würde es gnädig sein und sein Bewußtsein auslöschen, vielleicht ihn auch grausam am Leben lassen, als Gefangener in seinem eigenen Körper, der hilflos mit ansehen mußte, wie er erst seelisch und dann auch körperlich zu einem Ungeheuer wurde.
Boron hatte recht. So oder so – er war verloren. Vielleicht würde er noch eine Weile weiterexistieren, auf die eine oder andere Weise – aber nicht mehr leben.
Aber es gab noch etwas, was er tun konnte.
Langsam, den Blick starr auf die näher rückenden Cra’thal gerichtet, drehte sich Torian herum.
Und sprang in die Grube hinab.
Ein ungläubiger Aufschrei entrang sich Borons Kehle, und auch die Cra’thal fuhren wie unter einem Hieb auseinander. Das Ding in Torian bemerkte den Verrat im letzten Moment, aber nicht einmal seine Reaktion kam schnell genug. Torian spürte, wie sich seine Muskeln gegen seinen Willen bewegten, wie sein Körper versuchte, die einmal begonnene Bewegung aufzuhalten und rückgängig zu machen.
Es gelang ihm nicht. Aus dem federnden Satz wurde ein haltloses Stolpern, aus seiner eleganten Bewegung ein grotesker Hüpfer mit rudernden Armen; aber er stürzte trotzdem hinab in die Grube, drei Meter tief und auf Stein, der hart wie Glas war.
Der Aufprall betäubte ihn fast. Wie aus weiter Ferne hörte er Borons gellenden Schrei, und plötzlich war da noch ein Geräusch, ein unglaublich lautes, unglaublich angstvolles Zischeln und Rascheln, und ein ungeheuerlicher Schatten wuchs über dem Rand der Grube auf.
Torian versuchte, sich hochzustemmen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Sein Sprung war nicht zielsicher gewesen – statt ins Zentrum des ätzenden silbernen Lichtes war er eine Handbreit neben den pulsierenden Ball aus Silber geschleudert worden, und das Ding in ihm hinderte ihn mit Macht, weiter darauf zuzukriechen, das einzige zu tun, was ihm blieb: sich zu töten.
Aber das war auch nicht nötig. Das Herz pulsierte, ganz sacht nur, aber es war jetzt groß genug, um bei seinem nächsten Aufblähen die Grube zur Gänze auszufüllen, und...
Der monströse Riesenschatten über ihm wuchs weiter heran, und wieder hörte er dieses ungeheuerliche, panische Kreischen, einen Laut, wie ihn kein anderes lebendes Wesen hervorbringen konnte, zugleich Borons entsetzten Schrei, der im allerletzten Moment begriff, was geschah, aber nichts mehr tun konnte.
Das Herz dehnte sich mit einem lautlosen Schlag aus. Das silberne Licht berührte Torians Hände mit kalter Hitze, und die Spinne sprang.
Ihr droschkengroßer Körper tauchte in den lodernden Ball aus Silberschein ein und flammte auf, begann in einem unheimlichen inneren Licht zu glühen wie Argor zuvor, aber gleich, wie schnell es ging, die Auflösung brauchte Zeit. Die Blutspinne war nur mehr ein flackernder Schemen mit wirbelnden Beinen, als sie das dunkle, pulsierende Zentrum des Herzens berührte, aber im selben Moment, in dem sie es tat, schien die Welt zu explodieren.
Torian sah noch einen kurzen, unerträglich grellen weißen und orangefarbenen Blitz, der das Universum von einem Ende zum anderen spaltete.
Und dann nichts mehr.
Es war sehr still, als er erwachte. Das silberne Licht war erloschen, und die gewaltige Grube glühte düster im Widerschein normaler Flammen, deren Knistern das einzige war, was die unheimliche Stille durchbrach, die sich über der Höhle ausgebreitet hatte. Torian registrierte, daß er noch lebte, aber er empfand weder Freude noch Erleichterung. Eigentlich, dachte er und auch diesen Gedanken ohne eine Spur irgendeiner Emotion, empfand er gar nichts. Er lebte, und das war eine Tatsache, und er registrierte sie. Mehr nicht.
Vorsichtig richtete er sich auf. Sein Körper schmerzte an unzähligen Stellen, aber er spürte auch fast sofort, daß er nicht ernsthaft verletzt war. Eine Menge blauer Flecken und Hautabschürfungen und Prellungen, aber keine gebrochenen Knochen, die hier unten das sichere Todesurteil bedeutet hätten.
Er stand auf, wunderte sich wieder ein wenig über die sonderbare Kälte, mit der er all dies dachte, und lenkte seine Konzentration auf seine Umgebung.
Er war noch in der Grube, und er konnte nicht allzulange bewußtlos gewesen sein, denn die Spinne – oder was von ihr übrig war – brannte noch. Es war nicht sehr viel: nichts mehr von der monströsen Kreatur, die Boron für seine Zwecke ausgenutzt hatte, sondern ein verschmortes Etwas, das wie ein Haufen brennender Lumpen aussah und dort lag, wo das Zentrum des Herzens gewesen war. Vielleicht war es auch nicht die Spinne, sondern das dunkle Ding, das das eigentliche Herz gewesen war. Er wußte es nicht. Und er wollte es auch gar nicht wissen.
Torian betrachtete den brennenden Haufen undefinierbarer Schwärze einen Moment lang, dann wandte er sich um, sammelte das bißchen Kraft, das noch in ihm war, und sprang nach dem oberen Grubenrand.
Er brauchte drei Versuche, ehe es ihm gelang, denn er war vollkommen erschöpft, aber auch dies erschreckte ihn nicht. Er fühlte sich...
Leer.
Kalt.
Ausgebrannt. Das war es. Das Ungeheuer in ihm war verstummt, aber es war, als wäre alles Menschliche mit ihm aus Torian herausgerissen worden. Er fühlte sich ein bißchen so, wie die Cra’thal ausgesehen hatten: kalt und ohne Empfindungen, lebendig, aber vielleicht nicht mehr ganz menschlich.
Selbst diese Erkenntnis erschreckte ihn nicht mehr, und das war vielleicht das Schlimmste von allem.
Er richtete sich auf, sah sich sehr ruhig um und entdeckte ein weiteres dunkles Lumpenbündel am entgegengesetzten Rand der Grube. Von den Cra’thal war nichts mehr zu entdecken. Sie mußten geflohen sein, als Borons Zauberbann brach.
Langsam näherte sich Torian dem reglosen Magier, sah einen Moment nachdenklich auf ihn hinab und drehte ihn schließlich mit dem Fuß herum. Der Körper unter dem schwarzen Umhang fühlte sich erstaunlich leicht an.
Dann sah er, warum das so war.
Boron war tot, so tot, wie ein Wesen nur sein konnte, und das seit mindestens hundert Jahren.
Vor ihm lag eine Mumie, ein ausgemergeltes Etwas, kaum mehr als ein mit papierner Haut überzogenes Skelett, das der wahre Boron gewesen sein mußte. Alles andere war Lug und Trug, Illusion, die einzige, aber zugleich furchtbare Waffe der Schwarzen Magier.
Es war nicht schwer zu erraten, was geschehen war. Boron hatte eine Heimtücke zuviel ersonnen. Vielleicht hatte er die Spinne einzig zu dem Zweck herbeizitiert, Torians Qual noch ein bißchen zu verlängern, aber er hatte nicht damit gerechnet, daß ihre Mutterinstinkte stärker sein konnten als seine Magie.
Sie waren es gewesen. Das Tier (war es wirklich nur ein Tier gewesen? überlegte Torian) hatte die Gefahr gespürt, die seiner Brut drohte, und sein eigenes Leben geopfert, um die Nachkommenschaft zu sichern. Ein Urinstinkt, so alt wie das Leben selbst. Und stärker als alle Magie der Welt.
Torian empfand keinen Triumph. Nicht einmal Zufriedenheit.
Seine Hand glitt vorsichtig an der Schulter hinauf und fühlte nach der kleinen, hornharten Erhebung über seinem Herzen. Sie war noch da, aber er spürte kein Leben mehr dann. Vielleicht – nur vielleicht – war der Parasit gestorben, im selben Moment, in dem die magische Energie erlosch, mit der Boron und die zwölf anderen Magier ihn vollgepumpt hatten.
Das würde er später herausfinden.
Jetzt gab es Wichtigeres zu tun.
Torian überlegte einen Moment, ob er dem verschrumpelten Etwas zu seinen Füßen einen Tritt versetzen und es in die Grube hinabschleudern sollte, dann fand er, daß es der Mühe einfach nicht wert war, und wandte sich in die Richtung, aus der er gekommen war.
Er wußte jetzt, was er tun mußte.
Es war ganz einfach – und zugleich so absurd, daß er hell aufgelacht hätte, wäre er in diesem Moment dazu fähig gewesen, so etwas wie Sarkasmus zu empfinden:
Sie würden ihn nie in Ruhe lassen. Ganz egal, wie weit er floh, der Fluch der Magier würde ihn einholen, vielleicht morgen, vielleicht in fünfzig Jahren erst.
Aber er würde nicht mehr fliehen. Er würde hinaufgehen und Garth und Shyleen holen – falls sie noch lebten –, sich um die Spinne in seiner Schulter kümmern und – falls er das überlebte – sich nach Scrooth wenden.
Dorthin, wo die Magier regierten.
Die Welt war nicht groß genug für sie und ihn.