ZWEITER TEIL Das goldene Zeitalter

1

„Dies ist der Tag!“ flüsterten die Radios in Hunderten Sprachen. „Dies ist der Tag“, kündeten die Schlagzeilen von Tausenden Zeitungen. „Dies ist der Tag!“ dachten die Kameraleute, während sie immer wieder ihre Geräte nachsahen, die um den riesigen freien Platz aufgestellt waren, wo Karellens Schiff landen würde.

Jetzt schwebte nur dieses einzige Schiff über New York. In der Tat waren, wie die Welt soeben entdeckt hatte, die Schiffe über den andern Städten der Menschen nie vorhanden gewesen. Am Tage zuvor hatte sich die große Flotte der Overlords in nichts aufgelöst und war verschwunden wie Nebel unter der Morgensonne.

Die Versorgungsschiffe, die fern draußen im Weltraum kamen und gingen, hatte es wirklich gegeben, die Silberwolken aber, die ein Leben lang über den Hauptstädten der Erde geschwebt hatten, waren nur Trugbilder. Wie sie zustande gekommen waren, konnte niemand sagen, es schien aber, als sei jedes dieser Schiffe nichts weiter gewesen als eine Spiegelung von Karellens eigenem Schiff. Dennoch war es viel mehr gewesen als nur ein Spiel mit Lichtstrahlen, denn die Radargeräte hatten sich ebenfalls täuschen lassen, und es lebten noch jetzt Menschen, die schworen, das Kreischen in den Lüften gehört zu haben, als die Flotte sich vom Himmel der Erde näherte.

Es war nicht wichtig. Wichtig war nur, daß Karellen es nicht mehr notwendig fand, diese Machtentfaltung zu zeigen. Er hatte seine psychologischen Waffen beiseite gelegt.

„Das Schiff bewegt sich!“ wurde gerufen, und dieser Ruf drang sogleich in alle Winkel des Planeten. „Es fliegt westwärts.“

Mit weniger als tausend Stundenkilometern bewegte sich das Schiff, das sich langsam aus den leeren Höhen der Stratosphäre niedersenkte, zu den großen Ebenen und zu seiner zweiten Be gegnung mit der Geschichte. Es landete gehorsam vor den wartenden Kameras und den Tausenden von Zuschauern, von denen sehr wenige so viel sehen konnten wie die Millionen, die um die Fernsehapparate versammelt waren.

Der Boden hätte unter dem gewaltigen Gewicht krachen und zittern müssen, aber das Schiff war noch in der Gewalt der Kräfte, die es zwischen den Sternen antrieben. Es berührte den Boden so sanft wie eine fallende Schneeflocke. Der geschwungene Rumpf, der zwanzig Meter über dem Boden war, schien zu gleißen und zu schimmern. Wo eben noch eine glatte Oberfläche blinkte, war jetzt eine große Öffnung erschienen. Nichts war darin sichtbar, auch nicht für das suchende Auge der Kameras. Sie war so dunkel wie der Eingang zu einer Höhle.

Aus der Öffnung schob sich selbsttätig eine breite, glänzende Landungstreppe heraus und strebte zielbewußt dem Boden zu. Es schien ein fester Metallstreifen mit Geländern an beiden Seiten zu sein. Stufen hatte dieser Streifen nicht. Er war so steil und glatt wie eine Rutschbahn, und man hätte es für unmöglich halten können, auf gewöhnliche Art hinauf- oder hinabzugelangen.

Die Welt beobachtete die dunkle Öffnung, in der sich noch immer nichts bewegte. Dann strömte die selten gehörte, aber unvergeßliche Stimme Karellens leise aus irgendeiner verborgenen Quelle. Seine Worte hätten schwerlich unerwarteter sein können.

„Am Fuß der Landungstreppe stehen einige Kinder. Ich möchte gern, daß zwei von ihnen heraufkommen, um mich zu begrüßen.“

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann stürmten ein Junge und ein Mädchen aus der Menge nach vorn und gingen wie selbstverständlich auf die Landungstreppe zu und in die Geschichte ein. Andere folgten, wurden aber aufgehalten, als Karellens Stimme vom Schiff ertönte: „Zwei genügen.“

In eifriger Vorfreude auf das Abenteuer sprangen die etwa sechsjährigen Kinder auf das metallene Band. Da geschah das erste Wunder.

Während sie der Menge unten und ihren besorgten Eltern munter zuwinkten, die, zu spät, wahrscheinlich an das Märchen vom Rattenfänger erinnert wurden, begannen die Kinder schnell die steile Bahn hinaufzusteigen. Aber ihre Beine bewegten sich nicht, und bald bemerkte man, daß ihre Körper rechtwinkelig auf dem merkwürdigen Steg standen. Er besaß eine eigene Schwerkraft, eine Schwerkraft, die von der Erde unabhängig war. Die Kinder genossen noch dieses neue Erlebnis und zerbrachen sich den Kopf, was sie hinaufzog, als sie schon im Schiff verschwanden.

Ein ungeheures Schweigen lag zwanzig Sekunden lang über der ganzen Welt, obwohl hinterher niemand glauben konnte, daß die Zeit so kurz gewesen war. Dann schien sich die Dunkelheit der großen Öffnung vorwärtszubewegen, und Karellen trat in das Sonnenlicht hinaus. Der Knabe saß auf seinem linken Arm, das Mädchen auf dem rechten. Sie waren beide viel zu sehr damit beschäftigt, mit Karellens Flügeln zu spielen, um auf die beobachtende Menge zu achten.

Dank der Psychologie der Overlords und den Jahren der sorgfaltigen Vorbereitung wurden nur wenige Menschen ohnmächtig. Aber überall in der Welt gab es noch manche, die einen furchtbaren Augenblick lang das alte Entsetzen auf die Seele einstürmen fühlten, bis der Verstand es für immer verbannte.

Ein Irrtum war nicht möglich. Die lederartigen Flügel, die kleinen Hörner, der buschige Schwanz, alles war vorhanden. Die schrecklichste aller Legenden war aus unbekannter Vergangenheit lebendig geworden. Aber jetzt stand sie in dunkler Majestät da, während das Sonnenlicht auf dem gewaltigen Körper blinkte und auf ihren Armen vertrauensvoll zwei Kinder ruhten.

2

Fünfzig Jahre sind eine genügend lange Zeit, um eine Welt und ihre Bevölkerung fast bis zur Unkenntlichkeit zu verwandeln. Für diese Aufgabe ist nichts weiter erforderlich als eine gesunde Kenntnis der sozialen Aufbauarbeit, ein klarer Blick für das erstrebte Ziel — und Macht.

Diese Dinge besaßen die Overlords. Obwohl ihr Ziel verborgen war, waren ihre Kenntnisse offenkundig und ebenso ihre Macht.

Diese Macht nahm viele Formen an, von denen wenige von den Völkern, deren Schicksale die Overlords jetzt regierten, erkannt wurden. Die in ihren großen Schiffen verkörperte Macht war für jedes Auge deutlich genug sichtbar gewesen. Aber hinter dieser Entfaltung schlummernder Kraft standen andere und feinere Waffen.

„Alle politischen Probleme“, hatte Karellen einmal zu Stormgren gesagt, „können durch die richtige Anwendung der Macht gelöst werden.“

„Das klingt wie eine ziemlich zynische Bemerkung“, hatte Stormgren zweifelnd erwidert. „Es klingt etwas zu sehr nach: ›Macht ist Recht.‹ In unserer eigenen Vergangenheit blieb die Anwendung der Macht bemerkenswert erfolglos.“

„Das entscheidende Wort ist ›richtig’. Sie haben niemals wirkliche Macht oder die Kenntnisse besessen, die nötig sind, um sie anzuwenden. Wie in allen Problemen, gibt es wirksame und unwirksame Behandlungsweisen. Nehmen Sie zum Beispiel an, daß eine Ihrer Nationen unter Führung eines fanatischen Herrschers sich gegen mich zu empören versuchte. Die höchst unwirksame Antwort auf eine solche Bedrohung wären einige Milliarden PS in Gestalt von Atombomben. Wenn ich genügend Bomben anwendete, wäre die Lösung vollständig und endgültig. Sie würde aber auch, wie ich bemerkte, unwirksam sein, wenn sie keine andern Mängel besäße.“

„Und die wirksame Lösung?“

„Die erfordert etwa soviel Kraft wie ein kleiner Radiosender und eine ähnliche Geschicklichkeit, ihn zu bedienen. Denn es kommt auf die Anwendung der Macht an, nicht auf ihren Umfang. Wie lange, glauben Sie, würde wohl die Laufbahn eines Diktators dauern, wenn ständig, wo er auch wäre, eine Stimme leise in seinem Ohr flüsterte? Oder wenn ein gleichbleibender Ton, laut genug, um alle andern Geräusche zu ersticken und ihn am Schlafen zu hindern, Tag und Nacht sein Gehirn erfüllte? Nichts Brutales, das werden Sie zugeben. Aber in der endgültigen Wirkung genauso unwiderstehlich wie eine Tritiumbombe.“

„Ich verstehe“, hatte Stormgren gesagt, „und es würde keinen Ort geben, wo man sich verbergen könnte?“

„Keinen Ort, wohin ich nicht meine Helfer schicken könnte, wenn ich mich stark genug dazu fühlte. Und deshalb werde ich niemals wirklich harte Maßnahmen anzuwenden brauchen, um meine Stellung zu behaupten.“

Damals hatten die großen Schiffe nur als Symbole gedient, und jetzt wußte die Welt, daß alle außer einem Trugbilder waren. Aber durch ihre bloße Anwesenheit hatten sie die Geschichte der Erde verändert. Jetzt war ihre Aufgabe erfüllt, und ihre Leistung würde durch die Jahrhunderte widerhallen.

Karellens Berechnungen waren zutreffend gewesen. Die Betroffenheit über die Begegnung war schnell vorbeigegangen, obwohl viele, die auf ihr Freisein von Aberglauben stolz waren, niemals imstande gewesen wären, einem der Overlords ins Gesicht zu sehen. Hier war irgend etwas Sonderbares, etwas, was jenseits aller Vernunft oder Logik war. Im Mittelalter hatten die Menschen an den Teufel geglaubt und ihn gefürchtet. Aber dies war das einundzwanzigste Jahrhundert. Konnte es sein, daß es eben doch so etwas wie ein Rassengedächtnis gab?

Es wurde natürlich allgemein angenommen, daß die Overlords oder Wesen der gleichen Art in heftigen Konflikt mit den Menschen der alten Zeit geraten seien. Der Zusammenstoß mußte in ferner Vergangenheit erfolgt sein, denn er hatte in der bekannten Geschichte keine Spuren hinterlassen. Hier war ein weiteres Rätsel, und Karellen würde nicht zu seiner Lösung beitragen.

Obwohl die Overlords sich jetzt den Menschen gezeigt hatten, verließen sie selten ihr einziges Schiff. Vielleicht fanden sie es wegen ihrer Größe unbequem auf der Erde, und das Vorhandensein der Flügel wies darauf hin, daß sie von einer Welt mit viel geringerer Schwerkraft kamen. Sie wurden nie ohne einen Gürtel gesehen, der mit allerlei komplizierten Geräten ausgestattet war, die nach der allgemeinen Annahme ihr Gewicht regelten und sie befähigten, sich miteinander zu verständigen. Das unmittelbare Sonnenlicht war ihnen unangenehm, und sie hielten sich nie länger als einige Sekunden darin auf. Wenn sie für längere Zeit ins Freie gehen mußten, trugen sie dunkle Brillen, die ihnen ein etwas groteskes Aussehen gaben. Obwohl sie imstande zu sein schienen, irdische Luft zu atmen, trugen sie bisweilen kleine Gaszylinder bei sich, aus denen sie sich gelegentlich erfrischten.

Vielleicht erklärten diese rein körperlichen Probleme ihr Sichfernhalten. Nur ein kleiner Teil der menschlichen Rasse war jemals wirklich einem leibhaftigen Overlord begegnet, und niemand konnte ahnen, wie viele von ihnen sich in Karellens Schiff befanden. Nicht mehr als fünf waren jemals gleichzeitig zusammen gesehen worden, aber es konnten Hunderte, ja sogar Tausende von ihnen an Bord des gewaltigen Raumschiffes sein.

In mancher Hinsicht hatte das Erscheinen der Overlords mehr Fragen aufgeworfen als gelöst. Ihr Ursprung war noch immer unbekannt, ihre Biologie ein Gegenstand endloser Erwägungen. Über viele Dinge gaben sie freimütig Auskunft, aber in anderen Punkten konnte ihr Verhalten nur als geheimnisvoll bezeichnet werden. Im ganzen aber erregte das bei niemandem Anstoß außer bei den Wissenschaftlern. Der Durchschnittsmensch war, obwohl er den Overlords vielleicht lieber nicht begegnete, ihnen doch dankbar für das, was sie für seine Welt getan hatten.

Im Vergleich mit der Lebensweise aller früheren Zeitalter herrschte jetzt ein utopischer Zustand. Unwissenheit, Krankheit, Armut und Furcht gab es tatsächlich nicht mehr. Die Erinnerung an den Krieg verschwand in der Vergangenheit, wie ein Alptraum mit dem Morgendämmern vergeht. Bald würde die Kriegserinnerung außerhalb der Erfahrung aller lebenden Menschen liegen.

Indem die Kräfte der Menschheit in konstruktive Bahnen gelenkt wurden, war das Gesicht der Welt neu gestaltet worden. Es war, fast buchstäblich, eine neue Welt. Die Städte, die für frühere Generationen gut genug gewesen waren, hatte man umgebaut oder geräumt, und man benützte sie als Museumsstücke, wenn sie keinen besseren Zweck mehr erfüllten. Schon viele Städte waren auf diese Weise geräumt worden, denn das ganze System von Industrie und Handel hatte sich völlig verändert. Die Produktion erfolgte zum großen Teil automatisch: Die Roboterfabriken erzeugten in so unendlichen Strömen Waren, daß alle gewöhnlichen Bedarfsartikel sozusagen umsonst zur Verfügung standen. Die Menschen arbeiteten für die Luxusdinge, die sie zu haben wünschten, oder sie arbeiteten überhaupt nicht.

Es war eine Welt. Die alten Namen der alten Länder wurden noch benutzt, waren aber nichts weiter als bequeme postalische Einteilungen. Es gab auf der Erde niemanden, der nicht Englisch sprechen, der nicht lesen konnte, der nicht einen Fernsehapparat besaß, der nicht in vierundzwanzig Stunden auf die andere Seite des Planeten gelangen konnte.

Verbrechen kamen praktisch nicht mehr vor. Sie waren unnötig und unmöglich geworden. Wenn niemand irgend etwas entbehrt, hat es keinen Sinn, zu stehlen. Überdies wußten alle etwaigen Verbrecher, daß sie der Wachsamkeit der Overlords nicht entgehen konnten. In den früheren Tagen ihrer Herrschaft hatten diese zum Schutz von Gesetz und Ordnung so wirksam eingegriffen, daß diese Lehre nie vergessen worden war.

Obwohl Verbrechen aus Leidenschaft nicht ganz ausgestorben waren, hörte man nur selten von ihnen. Jetzt, nach der Beseitigung so vieler psychologischer Probleme, war die Menschheit viel gesünder und weniger unvernünftig.

Eine der bemerkenswertesten Veränderungen war eine Verlangsamung des wahnsinnigen Tempos, das für das zwanzigste Jahrhundert so charakteristisch gewesen war. Das Leben lief jetzt mit mehr Muße ab als seit Generationen. Es hatte daher weniger Reiz für die Wenigen, aber mehr Ruhe für die Vielen. Der westliche Mensch hatte wieder gelernt, was die übrige Welt nie vergessen hatte: daß in der Muße nichts Sündiges ist, solange sie nicht in Faulheit ausartet.

Welche Probleme die Zukunft auch bringen würde, noch empfand die Menschheit die Zeit nicht als Last. Die Ausbildung war jetzt viel gründlicher und dauerte viel länger. Wenige Menschen verließen die Schule vor ihrem zwanzigsten Jahr, und das war nur der erste Abschnitt, da sie normalerweise mit fünfundzwanzig für mindestens drei weitere Jahre in die Schule zurückkehrten, nachdem Reisen und Erfahrungen ihren Gesichtskreis erweitert hatten. Und selbst später pflegten sie für den Rest ihres Lebens gelegentlich Wiederholungslehrgänge in den Fächern zu besuchen, die sie besonders interessierten.

Eine andere große Veränderung war die außerordentliche Beweglichkeit der neuen Gesellschaft. Dank der Vervollkommnung des Luftverkehrs konnte jedermann ohne weiteres überall hinreisen. Am Himmel war mehr Platz, als je auf den Straßen gewesen war, und das einundzwanzigste Jahrhundert hatte in größerem Maßstab die gewaltige amerikanische Leistung, eine Nation zu motorisieren, wiederholt: Es hatte der Welt Flügel gegeben.

Allerdings nicht buchstäblich. Das gewöhnliche Privatflugzeug oder Luftauto hatte überhaupt keine Flügel oder irgendwelche sichtbaren Fortbewegungsmittel. Selbst die plumpen Rotoren der alten Hubschrauber waren verbannt worden. Noch hatte der Mensch die Antischwerkraft nicht entdeckt: nur die Overlords besaßen dieses äußerste Geheimnis. Ihre Luftautos wurden von Kräf ten angetrieben, die die Gebrüder Wright verstanden hätten. Düsenantrieb bewegte die Flugzeuge und hielt sie in der Luft. Was keine Gesetze oder Erlässe der Overlords fertiggebracht hätten, geschah: Die allgegenwärtigen kleinen Luftautos hatten die letzten Grenzen zwischen den verschiedenen Stämmen der Menschheit beseitigt.

Tiefere Dinge waren auch entschwunden. Es war ein völlig weltliches Zeitalter. Von den Religionen, die vor dem Kommen der Overlords dagewesen waren, blieb nur eine Form eines geläuterten Buddhismus, vielleicht der strengsten aller Religionen, erhalten. Die Glaubensbekenntnisse, die auf Wundern und Offenbarungen beruhten, waren völlig zusammengebrochen. Mit der zunehmenden Bildung hatten sie sich bereits langsam aufgelöst, aber eine Weile hatten die Overlords in dieser Sache nichts unternommen. Obwohl Karellen oft gebeten wurde, seine Ansichten über Religion zu äußern, pflegte er nichts weiter zu sagen, als daß der Glaube eines Menschen seine eigene Angelegenheit sei, solange die Freiheit der andern nicht beeinträchtigt werde.

Vielleicht hätten die alten Religionen noch Generationen überdauern können, wäre die menschliche Neugier nicht gewesen. Es war bekannt, daß die Overlords Zugang zu der Vergangenheit hatten, und mehr als einmal hatten Historiker Karellen ersucht, einen alten Streitfall zu schlichten. Es mag sein, daß er solche Anfragen satt bekam, wahrscheinlicher aber ist, daß er genau wußte, welche Wirkung seine Großmut haben würde.

Das Gerät, das er der Stiftung für Weltgeschichte leihweise zur Verfügung stellte, war nichts anderes als ein Fernsehapparat mit fein ausgearbeiteten Vorrichtungen, um die Koordinate in Zeit und Raum zu bestimmen. Er mußte irgendwie an einen viel verwickeiteren Apparat in Karellens Schiff angeschlossen sein, der nach Prinzipien arbeitete, die sich niemand vorstellen konnte. Man brauchte die Kontrollen nur einzustellen, und ein Fenster in die Vergangenheit tat sich auf. Fast die ganze menschliche Geschichte der vergangenen fünftausend Jahre wurde in einem Augenblick zugänglich. Weiter in die Vergangenheit hinein reichte der Apparat nicht, und überall waren verblüffende Lücken. Sie mochten eine natürliche Ursache haben oder waren auf eine absichtliche Zensur der Overlords zurückzuführen.

Obwohl es immer jedem vernünftigen Geist klar gewesen war, daß nicht alle religiösen Schriften der Welt wahr sein konnten, war der Schock dennoch tiefgreifend. Hier war eine Offenbarung, die niemand anzweifeln oder leugnen konnte: Hier, gesehen durch eine unbekannte Magie der Wissenschaft der Overlords, war der wahre Beginn aller großen Religionen der Welt. Die meisten von ihnen waren edel und begeisternd, aber das war nicht genug. Alles Gute und alles Schlimme, was sie gebracht hatten, war plötzlich in die Vergangenheit hineingefegt worden und konnte die Gemüter der Menschen nicht mehr berühren.

Die Menschheit hatte ihre alten Götter verloren: Jetzt war sie alt genug, keiner neuen zu bedürfen.

Obwohl wenige es bisher bemerkt hatten, war der Sturz der Religion von einem Abnehmen der Wissenschaft begleitet gewesen. Es gab sehr viele Technologen, aber wenige schöpferische Arbeiter, die die Grenzen menschlichen Wissens erweiterten. Die Wißbegier blieb erhalten, und die Muße, sich ihr hinzugeben, war vorhanden, aber der grundlegenden wissenschaftlichen Forschung war das Herz genommen. Es erschien nutzlos, ein Leben lang nach Geheimnissen zu suchen, die die Overlords wahrscheinlich schon vor langen Zeiten entdeckt hatten.

Dieser Rückgang war teilweise durch eine ungeheure Blüte der beschreibenden Wissenschaften verhüllt worden, wie der Zoologie, Botanik und Astronomie. Es hatte nie so viele Laien gegeben, die zu ihrem Vergnügen Tatsachen sammelten, aber es gab wenige Theoretiker, die diese Tatsachen zueinander in Verbindung brachten.

Die Beendigung von Streitigkeiten und Konflikten aller Art hatte auch das tatsächliche Ende der schöpferischen Kunst bedeutet. Es gab Myriaden von Künstlern, jedoch waren seit einer Generation keine wirklich hervorragenden neuen Werke der Literatur, Musik, Malerei oder Bildhauerkunst geschaffen worden. Die Welt zehrte noch von dem Ruhm einer Vergangenheit, die nie zurückkehren konnte.

Niemand außer einigen Philosophen machte sich Sorgen darüber. Die Rasse war zu sehr darauf bedacht, die neugewonnene Freiheit zu genießen, um über die Genüsse der Gegenwart hinauszublicken. Endlich war Utopia Wirklichkeit geworden; seine Neuheit war noch nicht von dem schlimmsten Feind aller utopischen Reiche, der Langeweile, angegriffen.

Vielleicht hatten die Overlords darauf eine Antwort, wie auf alle andern Probleme. Niemand kannte, so wenig wie sie selbst, ein Lebensalter nach ihrer Ankunft ihr endgültiges Ziel. Die Menschheit hatte gelernt, ihnen zu vertrauen und ohne Fragen die übermenschliche Selbstlosigkeit hinzunehmen, die Karellen und seine Gefährten so lange von ihrer Heimat fernhielt.

Falls es wirklich Selbstlosigkeit war. Denn immer noch fragten sich einige, ob die Politik der Overlords stets mit dem wahren Wohl der Menschheit übereinstimmen würde.

3

Als Rupert Boyce die Einladungen zu seiner Gesellschaft verschickte, war deren Reichweite eindrucksvoll. Um nur das erste Dutzend Gäste zu nennen, waren da: die Familien Forster aus Adelaide, Schönberger aus Haiti, Farran aus Stalingrad, Moravia aus Cincinnati, Ivanko aus Paris und Sullivan aus der Nähe der Osterinsel, aber annähernd vier Kilometer tief auf dem Meeresgrund. Es war sehr schmeichelhaft für Rupert, daß über vierzig Gäste erschienen, obwohl er nur dreißig eingeladen hatte. Bloß die Familie Krause ließ ihn im Stich, aber nur weil sie nicht an die Datumsdifferenz gedacht hatte und deshalb vierundzwanzig Stunden zu spät ankam.

Gegen Mittag hatte sich eine eindrucksvolle Gruppe von Flugzeugen im Park angesammelt, und die später Eintreffenden würden eine ganze Strecke zu gehen haben, wenn sie irgendwo einen Landungsplatz gefunden hatten. Die versammelten Fahrzeuge reichten von Ein-Mann-Kabinen bis zu Familien-Cadillacs, die eher wie Luftpaläste als wie vernünftige Flugzeuge aussahen. In diesem Zeitalter konnte man jedoch aus den Beförderungsmitteln keine Schlüsse auf die gesellschaftliche Stellung der Gäste ziehen.

„Es ist ein sehr häßliches Haus“, sagte Jean Morrel, als der Meteor in einer Spirale auf den Boden hinunterging. „Es sieht beinahe aus wie eine Schachtel, die jemand breitgetreten hat“, fügte sie hinzu.

George Greggson, der eine altmodische Abneigung gegen selbsttätige Landungen hatte, stellte den Abstiegsregulator ein, ehe er antwortete.

„Es ist ziemlich schwierig, von hier aus das Haus zu beurteilen“, erwiderte er vernünftig. „Vom Boden aus mag alles ganz anders aussehen.“

George wählte einen Landeplatz, und sie gingen zwischen einem andern Meteor und irgend etwas nieder, was keiner von ihnen identifizieren konnte. Es sah sehr schnell und, nach Jeans Meinung, sehr unbequem aus. Einer der mit Rupert befreundeten Ingenieure hatte es wahrscheinlich selbst gebaut, dachte sie. Sie hatte die Vorstellung, daß solche Dinger gesetzlich verboten sein müßten.

Die Hitze schlug ihnen wie der Hauch einer Lötlampe entgegen, als sie das Flugzeug verließen. Sie schien die Feuchtigkeit aus ihren Körpern zu saugen, und George hatte fast das Gefühl, als berste seine Haut. Es war natürlich zum Teil ihre eigene Schuld. Sie hatten Alaska vor drei Stunden verlassen und hätten daran denken müssen, die Kabinentemperatur entsprechend zu regeln.

„Wie kann man hier leben!“ stöhnte Jean. „Ich dachte, das Klima hier würde kontrolliert!“

„So ist es“, erwiderte George. „Früher einmal war hier nur Wüste, und sieh es dir jetzt an! Komm weiter — im Hause wird es erträglich sein.“

Ruperts Stimme, lauter als gewöhnlich, dröhnte ihnen heiter in die Ohren. Ihr Gastgeber stand neben dem Flugzeug, ein Glas in jeder Hand, und blickte mit schalkhafter Miene auf sie nieder. Er blickte aus dem einfachen Grunde auf sie nieder, weil er dreieinhalb Meter groß war; er war auch fast transparent. Man konnte ohne große Schwierigkeit durch ihn hindurchsehen.

„Du spielst deinen Gästen ja einen netten Streich“, sagte George vorwurfsvoll. Er griff nach den Getränken, die er eben noch erreichen konnte. Seine Hand ging natürlich gerade durch sie hindurch. „Ich hoffe, du hast etwas Kompakteres, wenn wir ins Haus kommen!“

„Mach dir keine Sorge“, sagte Rupert lachend. „Bestell jetzt gleich, was du haben willst, dann wird es bereit sein, wenn du hereinkommst.“

„Zwei große Bier, in flüssiger Luft gekühlt“, sagte George auf der Stelle. „Wir kommen sofort.“

Rupert nickte, stellte eines seiner Gläser auf einen unsichtba ren Tisch, bewegte einen ebenfalls unsichtbaren Hebel und entschwand sogleich ihren Blicken.

„Oh!“ sagte Jean, „das ist das erstemal, daß ich einen dieser Apparate in Tätigkeit gesehen habe. Wie ist Rupert dazu gekommen? Ich dachte, nur die Overlords hätten sie.“

„Hast du je erlebt, daß Rupert nicht alles bekommen hat, was er haben wollte?“ erwiderte George. „Das ist genau das richtige Spielzeug für ihn. Er kann bequem in seinem Arbeitszimmer sitzen und durch halb Afrika wandern. Keine Hitze, keine Käfer, keine Anstrengung, und der Kühlschrank immer in Reichweite. Ich frage mich, was wohl Stanley und Livingstone gedacht hätten!“

Die Sonne machte, bis sie das Haus erreicht hatten, jeder weiteren Unterhaltung ein Ende. Als sie sich der Haustür näherten, die von der übrigen Glaswand vor ihnen nicht leicht zu unterscheiden war, öffnete sie sich selbsttätig mit einer Trompetenfanfare. Jean ahnte mit Recht, daß sie diese Fanfare, ehe der Tag überstanden war, noch herzlich satt bekommen würde.

Die jetzige Frau Boyce begrüßte sie in der köstlichen Kühle der Halle. Sie war in Wirklichkeit der Hauptanziehungspunkt für viele Gäste. Etwa die Hälfte wäre auf jeden Fall gekommen, um Ruperts neues Haus zu sehen; die Zögernden hatten sich auf Grund der Berichte über Ruperts neue Frau dazu entschlossen.

Es gab nur ein Adjektiv, das sie angemessen kennzeichnete: Sie war atemberaubend. Selbst in einer Welt, wo Schönheit fast alltäglich war, pflegten die Männer die Köpfe zu recken, wenn sie den Raum betrat. Sie war nach Georges Schätzung etwa zu einem Viertel Negerin. Ihre Gesichtszüge waren griechisch, und ihr Haar lang und glänzend. Nur die dunkle Färbung ihrer Haut — das abgenutzte Wort „Schokolade“ war das einzige, das sie richtig bezeichnete — verriet ihr Mischblut.

„Sie sind Jean und George, nicht wahr?“ sagte sie und streckte ihre Hand aus. „Ich freue mich so, Sie kennenzulernen. Rupert macht irgend etwas Schwieriges mit den Getränken. Kommen Sie mit, ich möchte Sie allen vorstellen.“

Ihre Stimme war ein vollklingender, tiefer Alt, der George leise Schauer über den Rücken jagte, so als spiele jemand auf seinem Rückgrat Flöte. Er sah nervös zu Jean hin, die es fertiggebracht hatte, sich zu einem etwas künstlichen Lächeln zu zwingen, und fand endlich seine Stimme wieder.

„Es — es ist sehr schön, Sie kennenzulernen“, sagte er unbeholfen. „Wir haben uns auf diese Gesellschaft gefreut.“

„Rupert gibt immer so hübsche Gesellschaften“, warf Jean ein.

An der Art, wie sie das „Immer“ betonte, merkte man ganz genau, was sie dachte: immer, wenn er sich verheiratete. George errötete leicht und warf Jean einen vorwurfsvollen Blick zu, aber ihre Gastgeberin verriet durch kein Zeichen, ob sie die Anspielung bemerkte. Sie war die Freundlichkeit selbst, als sie die beiden in den Hauptraum führte, der mit einer glanzvollen Versammlung von Ruperts zahlreichen Freunden schon halb gefüllt war. Rupert selbst saß an einem Fernsehapparat, der, wie George annahm, zu ihrer Begrüßung sein Bild nach draußen projiziert hatte. Er führte eifrig vor, wie er nun zwei weitere Ankömmlinge überraschte, als sie den Parkplatz betraten, hielt aber kurz inne, um Jean und George zu begrüßen und sich zu entschuldigen, weil er ihre Getränke irgend jemandem gegeben habe.

„Ihr findet dort drüben massenhaft andere“, sagte er, während er eine Hand unbestimmt nach hinten ausstreckte und mit der andern an den Schaltern drehte. „Tut, als wenn ihr zu Hause seid! Ihr kennt die meisten Leute hier — Maja wird euch den übrigen vorstellen. Nett, daß ihr gekommen seid.“

„Nett von dir, uns einzuladen“, sagte Jean ohne große Überzeugung. George hatte sich schon zur Bar auf den Weg gemacht, und sie folgte ihm, wobei sie ab und zu jemanden begrüßte, den sie kannte. Etwa drei Viertel der Anwesenden waren völlig Fremde, was bei Ruperts Gesellschaften der Normalzustand war.

„Wir wollen auf Entdeckungen ausgehen“, sagte sie zu George, nachdem sie sich erfrischt und allen zugewinkt hatten, die sie kannten. „Ich möchte mir das Haus ansehen!“

George folgte ihr nach einem kaum verhohlenen Blick auf Maja Boyce. In seinen Augen lag etwas Fernes, was Jean durchaus nicht gefiel. Es war schon schrecklich, daß Männer im Grunde polygam waren. Anderseits, wenn sie es nicht wären… Ja, vielleicht war es so doch besser.

George wurde schnell wieder normal, während sie die Wunder von Ruperts neuem Heim besichtigten. Das Haus erschien für zwei Menschen sehr groß, aber es war gerade rich tig für die häufigen Gästeversammlungen, die es aufzunehmen hatte. Es hatte zwei Stockwerke, von denen das obere beträchtlich größer war, so daß es vorsprang und das Erdgeschoß beschattete. Das Haus war in erheblichem Maße automatisiert, und die Küche erinnerte stark an die Kanzel eines Luftschiffes.

„Arme Ruby!“ sagte Jean, „ihr hätte dieses Haus gefallen!“

„Soviel ich gehört habe“, erwiderte George, der keine große Sympathie für die vorige Frau Boyce hatte, „ist sie völlig glücklich mit ihrem australischen Freund.“

Das war so allgemein bekannt, daß Jean schwerlich widersprechen konnte; sie änderte also das Thema. „Sie ist auffallend hübsch, nicht wahr?“

George war klug genug, die Falle zu vermeiden. „Vermutlich“, erwiderte er gleichgültig. „Das heißt natürlich, wenn man Brünette liebt.“

„Was du, nehme ich an, nicht tust“, sagte Jean sanft.

„Sei nicht eifersüchtig, Liebling“, sagte George lachend und streichelte ihr platinblondes Haar. „Wir wollen uns die Bibliothek ansehen. In welchem Stockwerk mag sie sich wohl befinden?“

„Sie muß hier oben sein; unten ist kein Raum mehr. Außerdem paßt es zu dem allgemeinen Plan: Wohnen, Essen, Schlafen im Erdgeschoß. Hier oben ist der Teil für Unterhaltung und Spiele, obwohl ich es noch immer für eine närrische Idee halte, im ersten Stock ein Schwimmbecken anzulegen.“

„Es wird schon seinen Grund haben“, sagte George und öffnete auf gut Glück eine Tür. „Rupert muß einen fachmännischen Berater gehabt haben, als er dieses Haus baute. Ich bin überzeugt, daß er es nicht selbst gemacht hat.“

„Du hast wahrscheinlich recht. Wenn er es selbst entworfen hätte, so wären hier Zimmer ohne Türen und Treppen, die nirgendwohin führen. Tatsächlich würde ich mich scheuen, ein Haus zu betreten, das Rupert ganz allein entworfen hätte.“

„Da sind wir“, sagte George mit dem Stolz eines Seefahrers, der Land sichtet. „Die berühmte Boyce-Sammlung in ihrem neuen Heim. Ich möchte wissen, wie viele von ihnen Rupert wirklich gelesen hat.“

Die Bibliothek nahm die ganze Breite des Hauses ein, war aber mit Hilfe der großen Buchenregale in ein halbes Dutzend kleiner Räume eingeteilt. Die Regale enthielten, wenn George sich recht erinnerte, etwa fünfzehntausend Bände, fast alles von Bedeutung, was je auf den geheimnisvollen Gebieten der Magie, der psychischen Forschung, der Wahrsagerei, Gedankenübertragung und der ganzen Reihe von schwer greifbaren, in der Paraphysik zusammengefaßten Erscheinungen veröffentlicht worden war. Es war ein sehr seltsames Steckenpferd in diesem Zeitalter der Vernunft. Vermutlich war es einfach Ruperts besondere Form, sich abzuschließen.

George bemerkte im selben Augenblick, als er eintrat, den Geruch. Er war schwach, aber durchdringend, weniger unangenehm als verwirrend. Jean hatte ihn ebenfalls bemerkt; ihre Stirn hatte sich in der Anstrengung, ihn zu identifizieren, zusammengezogen. Essigsäure, dachte George. Das kommt ihm am nächsten. Aber es ist noch etwas anderes dabei.

Die Bibliothek endete in einem kleinen freien Raum, gerade groß genug für einen Tisch, zwei Stühle und einige Kissen. Hier pflegte Rupert wahrscheinlich zu lesen. Auch jetzt las hier jemand, bei unnatürlich schwacher Beleuchtung.

Jean stieß ein leises Ächzen aus und umklammerte Georges Hand. Ihr Verhalten war vielleicht entschuldbar. Es war etwas anderes, auf dem Fernsehschirm ein Bild zu sehen, als ihm in Wirklichkeit zu begegnen. George, der selten durch irgend etwas überrascht werden konnte, zeigte sich sofort der Situation gewachsen.

„Ich hoffe, wir haben Sie nicht gestört, mein Herr“, sagte er höflich. „Wir hatten keine Ahnung, daß jemand hier ist. Rupert hat uns nichts gesagt.“

Der Overlord legte das Buch nieder, sah sie prüfend an und begann dann wieder zu lesen. Es war nichts Unhöfliches in diesem Verhalten, da es sich hier um ein Wesen handelte, das gleichzeitig lesen, sprechen und wahrscheinlich noch mehrere andere Dinge tun konnte. Aber auf menschliche Beobachter wirkte dies nichtsdestoweniger beunruhigend schizophren.

„Mein Name ist Raschaverak“, sagte der Overlord liebenswürdig. „Ich fürchte, ich bin nicht sehr gesellig, aber von Ruperts Bibliothek kann man sich schwer trennen.“

Jean brachte es fertig, ein nervöses Kichern zu unterdrücken.

Ihr unerwarteter Mitgast las, wie sie bemerkte, alle zwei Sekunden eine Seite. Sie zweifelte nicht daran, daß er jedes Wort in sich aufnahm, und sie fragte sich, ob er wohl mit jedem Auge ein Buch lesen könne. Und dann könnte er natürlich, dachte sie bei sich, noch die Blindenschrift lernen, so daß er die Finger auch noch zum Lesen benutzen könnte. Diese Vorstellung war zu komisch, um sich dabei aufzuhalten. Sie versuchte sie also zu unterdrücken, indem sie an der Unterhaltung teilnahm. Schließlich hatte man nicht jeden Tag Gelegenheit, mit einem der Herren der Erde zu sprechen.

George ließ sie plaudern, nachdem sie einmal damit angefangen hatte, und hoffte, daß sie nichts Taktloses sagen würde. Ebenso wie Jean hatte er noch nie einen leibhaftigen Overlord gesehen. Obwohl diese gesellschaftlich mit Regierungsbeamten, Wissenschaftlern und andern zusammenkamen, die geschäftlich mit ihnen zu tun hatten, hatte er noch nie gehört, daß einer auf einer gewöhnlichen Privatgesellschaft zugegen gewesen sei. Man konnte daraus den Schluß ziehen, daß diese Gesellschaft nicht so privat war, wie sie erschien. Auch daß Rupert einen Apparat besaß, wie er zu der Ausrüstung der Overlords gehörte, deutete daraufhin, und George begann sich zu fragen, was eigentlich hinter den Kulissen vorging. Er würde Rupert ausfragen, wenn er ihn unter vier Augen sprechen könnte.

Da die Stühle für Raschaverak zu klein waren, saß er auf dem Fußboden, anscheinend ganz bequem, da er die nur einen Meter danebenliegenden Kissen unbeachtet gelassen hatte. Infolgedessen war sein Kopf nur zwei Meter über dem Fußboden, und George hatte eine einzigartige Gelegenheit, außerirdische Biologie zu studieren. Da er unglücklicherweise auch über irdische Biologie wenig wußte, konnte er nicht viel Neues erfahren. Nur der sonderbare und keineswegs unangenehme Säuregeruch fiel ihm auf. Er fragte sich, wie wohl die Menschen für die Overlords röchen, und hoffte das Beste.

Raschaverak hatte nichts eigentlich Menschliches an sich. George konnte verstehen, daß man die Overlords, wenn sie aus der Entfernung von unwissenden, erschrockenen Wilden gesehen worden waren, für geflügelte Menschen halten konnte, wodurch das herkömmliche Bild des Teufels entstanden war. Jedoch so in der Nähe schwand einiges von dieser Augentäuschung. Die kleinen Hörner — was für einem Zweck mochten sie wohl dienen, fragte sich George — waren wie in der Beschreibung, aber der Körper war weder wie der eines Menschen noch wie der irgendeines Tieres, das die Erde je gekannt hatte. Die Overlords, die von einem völlig fremden Stammbaum kamen, waren weder Säugetiere, Insekten, noch Reptilien. Es war nicht einmal sicher, daß sie Wirbeltiere waren. Ihr harter äußerer Panzer konnte sehr wohl ihr einziges stützendes Gerüst sein.

Raschaveraks Flügel waren zusammengelegt, so daß George sie nicht deutlich sehen konnte, aber sein Schwanz, der wie ein Stück gepanzertes Rohr aussah, war zierlich unter ihm zusammengeringelt. Das berühmte Büschel war nicht so sehr eine Pfeilspitze als vielmehr ein großer, flacher Rhombus. Sein Zweck war, wie jetzt allgemein angenommen wurde, beim Flug Stabilität zu geben, wie die Schwanzfedern eines Vogels. Aus derartigen mageren Tatsachen und Vermutungen hatten die Gelehrten den Schluß gezogen, daß die Overlords aus einer Welt geringer Schwerkraft und sehr dichter Atmosphäre kämen.

Plötzlich ertönte Ruperts Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher: „Jean! George! Wo, zum Teufel, steckt ihr? Kommt herunter, und schließt euch der Gesellschaft an. Die Leute beginnen zu reden!“

„Vielleicht sollte ich auch lieber hinuntergehen“, sagte Raschaverak und stellte sein Buch in das Regal zurück. Er tat das mit großer Leichtigkeit, ohne vom Boden aufzustehen, und George bemerkte zum erstenmal, daß er zwei gegenüberstehende Daumen hatte mit fünf Fingern dazwischen. Ich möchte nicht gern nach einem auf Vierzehn beruhenden System rechnen, dachte George.

Als Raschaverak aufgestanden war, bot er ein eindrucksvolles Bild, und als er sich bückte, um nicht gegen die Decke zu stoßen, begriff man, daß, selbst wenn die Overlords sich gern unter menschliche Wesen mischen wollten, die praktischen Schwierigkeiten erheblich sein würden.

Noch einige Fuhren mit Gästen waren in der letzten halben Stunde angekommen, und der Raum war jetzt ziemlich voll. Raschaveraks Kommen machte die Sache noch viel schlimmer, weil alle aus den Nebenzimmern herbeigeeilt kamen, um ihn zu sehen. Rupert war augenscheinlich entzückt über die Sensation. Jean und George waren viel weniger befriedigt, weil niemand ihnen irgend welche Beachtung schenkte. Überhaupt konnten nur sehr wenige Leute sie sehen, da sie hinter dem Overlord standen.

„Kommen Sie hierher, Raschy, ich möchte Ihnen ein paar Leute vorstellen“, rief Rupert. „Setzen Sie sich auf diesen Diwan, dann brauchen Sie die Decke nicht anzukratzen!“

Raschaverak, der den Schwanz über die Schulter gelegt hatte, bewegte sich durch den Raum wie ein Eisbrecher, der sich durch Packeis hindurcharbeitet. Als er sich neben Rupert niedergelassen hatte, schien das Zimmer sich wieder zu vergrößern, und George stieß einen erleichterten Seufzer aus.

„Ich kam mir vor wie im Gefängnis, als er stand. Ich möchte wissen, wie Rupert zu ihm gekommen ist. Dies könnte eine interessante Gesellschaft werden.“

„Stell dir vor, daß Rupert ihn so auch in der Öffentlichkeit anredet. Aber er schien es nicht übelzunehmen. Es ist alles sehr sonderbar.“

„Ich wette, daß es ihm unangenehm war. Das Schlimme an Rupert ist, daß er sich gern hervortut und kein Taktgefühl hat. Und das erinnert mich an einige der Fragen, die du gestellt hast.“

„Zum Beispiel?“

„Nun: ›Wie lange sind Sie schon hier? Wie kommen Sie mit Oberkontrolleur Karellen aus? Gefällt es Ihnen auf der Erde? ‹ Wirklich, Liebling, so kann man mit Overlords nicht sprechen.“

„Ich sehe nicht ein, warum nicht. Es wird Zeit, daß jemand es tut.“

Ehe ihre Unterhaltung scharf werden konnte, wurden sie von Schönbergers angesprochen, und sie trennten sich rasch. Die beiden Damen gingen fort, um über Frau Boyce zu sprechen, die Männer entfernten sich nach einer andern Richtung und taten genau das gleiche, wenn auch von einem andern Standpunkt. Benny Schönberger, einer von Georges ältesten Freunden, wußte allerlei über dieses Thema zu berichten.

„Um Himmels willen, sag es niemandem!“ bat er. „Ruth weiß es nicht, aber ich habe sie mit Rupert bekannt gemacht.“

„Ich finde“, bemerkte George neidisch, „daß sie viel zu gut für Rupert ist. Aber es kann ja unmöglich lange dauern. Sie wird ihn bald satt bekommen.“ Dieser Gedanke schien ihn außerordentlich zu erfreuen.

„Das glaube nur ja nicht! Sie ist nicht nur eine Schönheit, son dern eine wirklich nette Person. Es ist höchste Zeit, daß jemand sich Ruperts annimmt, und dafür ist sie gerade die richtige Frau.“

Rupert und Maja saßen jetzt neben Raschaverak und empfingen ihre Gäste feierlich. Ruperts Gesellschaften hatten selten irgendeinen Brennpunkt, sondern bestanden gewöhnlich aus einem halben Dutzend unabhängiger Gruppen, die sich für ihre eigenen Angelegenheiten interessierten. Diesmal jedoch hatte die ganze Versammlung einen gemeinsamen Anziehungspunkt gefunden. George hatte Mitleid mit Maja. Dies hätte ihr Tag sein müssen, aber Raschaverak hatte sie teilweise in den Schatten gestellt.

„Hör mal“, sagte George, während er ein Brötchen verspeiste, „wie, zum Teufel, hat Rupert einen Overlord erwischt? Ich habe noch nie so etwas gehört, aber er scheint es für selbstverständlich zu halten. Er hat es nicht einmal erwähnt, als er uns einlud.“

Benny lachte. „Eine seiner üblichen kleinen Überraschungen. Du solltest besser ihn fragen. Aber es ist schließlich nicht das erstemal vorgekommen. Karellen war auf Gesellschaften im Weißen Haus, im Buckingham-Palast und.“

„Das ist etwas anderes. Rupert ist ein ganz gewöhnlicher Bürger!“

„Und vielleicht ist Raschaverak ein sehr kleiner Overlord. Am besten fragst du Rupert selbst.“

„Das werde ich tun“, sagte George, „sobald ich seiner habhaft werden kann.“

„Dann mußt du noch lange warten.“

Benny hatte recht, aber da die Gesellschaft jetzt aufzutauen begann, war es nicht schwer, geduldig zu sein. Die leichte Erstarrung, die sich bei Raschaveraks Erscheinen über die Gesellschaft gelegt hatte, war jetzt verschwunden. Noch immer umdrängte eine kleine Gruppe den Overlord, aber anderswo hatte die übliche Absonderung stattgefunden, und alle benahmen sich ganz natürlich.

Ohne den Kopf wenden zu müssen, konnte George einen berühmten Filmproduzenten sehen, einen nicht sehr bedeutenden Dichter, einen Mathematiker, zwei Schauspieler, einen Atomphysiker, einen Forstminister, den Chefredakteur einer Wochenschrift, einen Statistiker der Weltbank, einen Geiger, einen Professor der Archäologie und einen Astrophysiker. Es waren keine andern Vertreter von Georges eigenem Beruf, der Bühnenausstattung für Fernsehspiele, anwesend, was ihm sehr lieb war, da er nicht fachsimpeln wollte. Er liebte seine Arbeit; in diesem Zeitalter arbeitete zum erstenmal in der menschlichen Geschichte ja auch niemand an Aufgaben, für die er nichts übrig hatte. Aber George war ein Mann, der am Ende des Tages die Studiotüren hinter sich schließen konnte.

Er fand Rupert endlich in der Küche, wo er Cocktails mixte. Es tat einem fast leid, ihn auf die Erde zurückzuholen, wenn seine Augen diesen abwesenden Blick hatten, aber George konnte, wenn es nötig war, rücksichtslos sein.

„Hör mal, Rupert“, begann er und setzte sich auf den nächsten Tisch, „ich glaube, du bist uns allen irgendeine Erklärung schuldig.“

„Hm“, sagte Rupert nachdenklich und ließ die Zunge um seinen Mund gleiten, „ein kleines bißchen zu viel Gin, fürchte ich.“

„Mache keine Ausflüchte, und tu nicht, als ob du nicht nüchtern wärst, denn ich weiß genau, daß du es bist. Wo kommt dein Freund, der Overlord, her, und was macht er hier?“

„Habe ich es dir nicht gesagt?“ fragte Rupert. „Ich dachte, ich hätte es allen erklärt. Aber natürlich, du warst ja nicht dabei, du hattest dich oben in der Bibliothek verkrochen.“ Er lachte in einer Art, die George kränkend fand. „Wegen der Bibliothek, weißt du, ist Raschy hergekommen.“

„Wie merkwürdig!“

„Warum?“

George zögerte, weil er sich sagte, daß hier Takt erforderlich war. Rupert war sehr stolz auf seine eigenartige Büchersammlung. „Nun ja, wenn man bedenkt, wie weit die Overlords auf dem Gebiet der Wissenschaft sind, kann ich mir kaum denken, daß sie an psychischen Phänomenen und diesem ganzen Unsinn interessiert sein sollten.“

„Unsinn oder nicht“, erwiderte Rupert, „sie interessieren sich für menschliche Psychologie, und ich besitze einige Bücher, aus denen sie eine Menge lernen können. Kurz bevor ich hierher übersiedelte, setzte sich irgendein stellvertretender Unter-Overlord oder Ober-Unterlord mit mir in Verbindung und fragte, ob sie etwa fünfzig von meinen kostbaren Büchern entleihen könnten. Wahrscheinlich hatte ihn einer der Bibliothekare der Bücherei des Briti schen Museums an mich verwiesen. Natürlich kannst du dir vorstellen, was ich sagte.“

„Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“

„Nun, ich erwiderte sehr höflich, daß es mich zwanzig Jahre gekostet hätte, meine Bibliothek zusammenzubringen. Sie könnten sehr gern meine Bücher studieren, aber das müßten sie hier tun. Also ist Raschy gekommen und hat etwa zwanzig Bände täglich in sich aufgenommen. Ich möchte wissen, was er damit anfängt.“

George überlegte, dann zuckte er verächtlich die Schultern. „Offen gesagt“, erklärte er, „sinken die Overlords in meiner Wertschätzung. Ich dachte, sie könnten Besseres mit ihrer Zeit anfangen.“

„Du bist ein unverbesserlicher Materialist, nicht wahr? Ich glaube nicht, daß Jean deiner Meinung ist. Aber selbst von deinem ach wie praktischen Standpunkt hat es doch noch einen Sinn. Du würdest doch auch den Aberglauben einer primitiven Rasse studieren, wenn du mit ihr zu tun hättest.“

„Vermutlich“, sagte George, nicht ganz überzeugt. Die Tischplatte war hart, deshalb erhob er sich. Rupert hatte jetzt die Getränke zu seiner Zufriedenheit gemixt und wollte zu den Gästen zurückkehren. Man konnte schon murrende Stimmen hören, die seine Anwesenheit verlangten.

„Halt!“ widersprach George, „ehe du verschwindest, habe ich noch eine andere Frage. Wie bist du zu dem Fernsehapparat gekommen, mit dem du uns zu erschrecken versuchtest?“

„Ein Zufallstreffer. Ich habe angedeutet, wie wertvoll ein solcher Apparat für eine Arbeit wie die meine sein würde, und Raschy hat meinen Vorschlag an die richtige Stelle weitergeleitet.“

„Verzeih, daß ich so dumm bin, aber was ist deine neue Arbeit? Ich vermute natürlich, daß sie irgend etwas mit Tieren zu tun hat.“

„Das stimmt. Ich bin Oberveterinär. Meine Praxis umfaßt etwa zehntausend Quadratkilometer Dschungel, und da meine Patienten nicht zu mir kommen, muß ich mich nach ihnen umsehen.“

„Das kann man eine Vollbeschäftigung nennen.“

„Oh, natürlich braucht man sich praktisch nicht um die kleinen Tiere zu kümmern, nur um Löwen, Elefanten, Rhinozerosse und so weiter. Jeden Morgen stelle ich die Apparate auf eine Höhe von etwa hundert Metern ein, setze mich vor den Bildschirm und durchquere die Gegend. Wenn ich ein krankes Tier finde, steige ich in mein Flugzeug und hoffe, daß ich auf diese Weise helfen kann. Manchmal ist es etwas schwierig. Bei Löwen und solchen Tieren ist es einfach, aber ein Rhinozeros aus der Luft mit einem Betäubungspfeil zu treffen, ist eine verteufelte Sache.“

„Rupert!“ schrie jemand aus dem Nebenzimmer.

„Da siehst du, was du angerichtet hast. Du bist schuld, daß ich meine Gäste vergessen habe. Hier, nimm dieses Tablett. Darauf sind die Cocktails mit Wermut, ich möchte nicht, daß sie verwechselt werden.“

Kurz vor Sonnenuntergang fand George seinen Weg aufs Dach hinauf. Aus mehreren Gründen hatte er leichte Kopfschmerzen und wollte dem Lärm und Trubel unten entfliehen. Jean, die viel besser tanzte als er, schien sich noch großartig zu amüsieren und weigerte sich, aufzubrechen. Das ärgerte George, der anfing, sich durch den Alkohol verliebt zu fühlen, und er beschloß, eine Weile allein unter den Sternen zu schmollen.

Man erreichte das Dach, indem man mit der Rolltreppe zum ersten Stock fuhr und dann die Wendeltreppe hinaufstieg, die um die Klimaanlage herumführte. Schließlich kam man durch eine Luke auf das breite flache Dach. An einem Ende war Ruperts Flugzeug geparkt; der mittlere Teil war ein Garten, der schon zu verwildern begann, und das übrige war einfach eine Beobachtungsplattform mit einigen Liegestühlen. George ließ sich in einem dieser Stühle nieder und betrachtete mit Herrscherblick die Umgebung. Er fühlte sich ganz als Herrscher aller Dinge, die er überblicken konnte.

Es war, bescheiden ausgedrückt, wirklich ein Anblick! Ruperts Haus war am Rande eines großen Beckens gebaut worden, das nach Osten in fünf Kilometer entfernte Sümpfe und Seen abfiel. Nach Westen zu war das Land flach, und der Dschungel reichte fast bis an Ruperts Hintertür. Aber hinter dem Dschungel, in einer Entfernung von mindestens fünfzig Kilometern, zog sich eine Gebirgskette wie eine große Mauer nach Norden und Süden hin. Ihre Gipfel waren mit Schnee bedeckt, und die Wolken darüber flammten einige Minuten wie Feuer, als die Sonne nach ihrer Tagesreise unterging. Während George zu jenen fer nen Welten hinüberblickte, empfand er einen Schauer, der ihn plötzlich nüchtern machte.

Die Sterne, die in dem Augenblick, als die Sonne untergegangen war, in so unpassender Eile hervortraten, waren ihm völlig fremd. Er hielt nach dem Kreuz des Südens Ausschau. Obwohl er sehr wenig von Astronomie wußte und nur vereinzelte Sternbilder bestimmen konnte, störte ihn das Fehlen vertrauter Freunde. Auch waren die Töne, die vom Dschungel herüberklangen, unangenehm nah. Jetzt habe ich genug von der frischen Luft, dachte George. Ich gehe zurück zur Party, ehe ein Vampir oder etwas gleich Angenehmes angeflogen kommt, um Untersuchungen anzustellen.

Er wollte eben den Rückweg antreten, als ein anderer Gast durch die Luke herauskam. Es war jetzt so dunkel, daß George nicht sehen konnte, wer es war; deshalb rief er: „Hallo, haben Sie auch genug gehabt?“

Sein unsichtbarer Gesellschafter lachte. „Rupert zeigt jetzt einige seiner Filme. Ich habe sie alle schon gesehen.“

„Nehmen Sie eine Zigarette?“ fragte George.

„Ja, danke.“

Im Schein des Feuerzeugs — George liebte solche altmodischen Dinger — konnte er jetzt seinen Gefährten erkennen, einen auffallend hübschen jungen Neger, dessen Namen man George genannt, den er aber sofort vergessen hatte, ebenso wie die Namen der zwanzig andern völlig fremden Gäste. Dieser junge Mann jedoch kam ihm irgendwie bekannt vor, und plötzlich kam George darauf.

„Ich glaube, wir haben uns noch nicht wirklich kennengelernt“, sagte er, „aber sind Sie nicht Ruperts neuer Schwager?“

„Allerdings, ich bin Jan Rodricks. Jeder sagt, daß Maja und ich uns sehr ähnlich sehen.“

George fragte sich, ob er Jan wegen seines neuen Verwandten bedauern solle. Er beschloß jedoch, es den armen Jungen allein herausfinden zu lassen; schließlich war es ja möglich, daß Rupert diesmal seßhaft bleiben würde. „Ich bin George Greggson. Sie sind zum erstenmal auf einer von Ruperts berühmten Gesellschaften?“

„Ja. Man lernt sicherlich auf diese Art eine Menge neue Menschen kennen.“

„Und nicht nur Menschen“, fugte George hinzu. „Ich hatte hier zum erstenmal Gelegenheit, einem Overlord gesellschaftlich zu begegnen.“

Der andere zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete, und George fragte sich, welche empfindliche Stelle er getroffen habe. Aber die Antwort verriet nichts.

„Ich hatte auch noch keinen gesehen, außer natürlich im Fernsehen.“

Hier erlahmte die Unterhaltung, und nach einem Augenblick begriff George, daß Jan allein sein wollte. Es wurde auch kalt, und so verabschiedete er sich und begab sich wieder zur Gesellschaft.

Der Dschungel war jetzt still. Als Jan sich gegen die gewölbte Wand der Klimaanlage lehnte, konnte er kein Geräusch weiter hören, als das leise Raunen des Hauses, das durch seine mechanischen Lungen atmete. Er fühlte sich sehr einsam, was er sein wollte. Er fühlte sich aber auch sehr enttäuscht, und das war etwas, wonach er durchaus kein Verlangen hatte.

4

Kein Utopien kann irgend jemanden auf die Dauer befriedigen. Sobald ihre materielle Lage sich bessert, steigern die Menschen ihre Ansprüche und werden unzufrieden mit den Machtbefugnissen und Besitztümern, an die sie früher in ihren kühnsten Träumen nicht einmal zu denken gewagt hätten. Und selbst wenn die Außenwelt alles gegeben hat, was sie vermag, so bleibt immer noch das Suchen des Geistes und die Sehnsucht des Herzens.

Obwohl Jan Rodricks selten sein Glück zu schätzen wußte, wäre er in einem früheren Zeitalter noch unzufriedener gewesen. Vor hundert Jahren wäre seine Farbe ein furchtbarer, vielleicht sogar erdrückender Nachteil gewesen. Heute bedeutete sie nichts. Wenn die Neger zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein gewisses Gefühl der Überlegenheit gehabt hatten, so war dieses bereits vergangen. Das bequeme Wort „Nigger“ war in höflicher Gesellschaft nicht mehr tabu, sondern wurde von allen ohne Verlegenheit be nutzt. Es hatte keinen anderen Gefühlsinhalt als Republikaner oder Methodist, Konservativer oder Liberaler.

Jans Vater war ein bezaubernder, aber etwas schwächlicher Schotte gewesen, der sich als Berufsmagier einen bedeutenden Namen gemacht hatte.

Sein Tod im frühen Alter von fünfundvierzig Jahren war durch übermäßigen Genuß des berühmtesten Erzeugnisses seines Landes verursacht worden. Obwohl Jan seinen Vater nie betrunken gesehen hatte, war er nicht überzeugt, ihn jemals nüchtern gesehen zu haben.

Frau Rodricks, die noch sehr lebendig war, lehrte an der Universität Edinburgh Höhere Wahrscheinlichkeitstheorie. Es war typisch für die außerordentliche Beweglichkeit der Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, daß Frau Rodricks, die kohlschwarz war, in Schottland geboren worden war, während ihr aus seinem Vaterland ausgewanderter blonder Mann fast sein ganzes Leben auf Haiti verbracht hatte. Maja und Jan hatten nie ein richtiges Zuhause gehabt, sondern waren zwischen den Familien ihrer Eltern wie zwei kleine Federbälle hin- und hergeflogen. Dieser Zustand war spaßig gewesen, hatte aber nicht dazu beigetragen, die Unbeständigkeit auszumerzen, die sie beide von ihrem Vater geerbt hatten.

Mit siebenundzwanzig Jahren hatte Jan noch immer mehrere Studienjahre vor sich, ehe er ernsthaft über seine Laufbahn nachzudenken brauchte. Er hatte ohne jede Schwierigkeit sein Abschlußexamen gemacht, und zwar auf Grund eines Studienplanes, der hundert Jahre vorher sehr sonderbar erschienen wäre. Seine Hauptfächer waren Mathematik und Physik gewesen, aber als Nebenfächer hatte er Philosophie und Musik gewählt. Selbst nach den hohen Anforderungen der Zeit war er ein erstklassiger Amateurpianist.

In drei Jahren würde er seinen Doktor der Physik machen, mit Astronomie als zweitem Fach. Das würde sehr harte Arbeit erfordern, aber Jan war damit ganz zufrieden. Er studierte an der vielleicht am schönsten gelegenen Universität der Welt: an der Universität Kapstadt am Fuß des Tafelberges.

Er hatte keine materiellen Sorgen, und doch war er unzufrieden und sah keinen Ausweg aus seiner Lage. Um alles noch schlimmer zu machen, hatte Majas eigenes Glück, obwohl er es ihr nicht im mindesten neidete, die Hauptursache seiner eigenen Nöte hervorgehoben.

Denn Jan litt noch immer an der romantischen Illusion, der Ursache von so viel Elend und so viel Poesie, daß jeder Mensch nur eine wirkliche Liebe in seinem Leben hat. In ungewöhnlich spätem Alter hatte er sein Herz zum ersten Male verloren, an eine Dame, die mehr wegen ihrer Schönheit als wegen ihrer Beständigkeit bekannt war. Rosita Tsien behauptete, völlig wahrheitsgemäß, das Blut der Mandschu-Kaiser in ihren Adern zu haben. Sie hatte noch immer viele Untertanen, darunter den größten Teil der Wissenschaftlichen Fakultät in Kapstadt. Jan war von ihrer zarten, blumenhaften Schönheit gefangengenommen worden, und die Angelegenheit war weit genug vorgeschritten, um ihre Beendigung um so bitterer zu machen. Er konnte sich nicht denken, was schiefgegangen war.

Er würde natürlich darüber hinwegkommen. Andere Männer hatten ähnliche Katastrophen überlebt, ohne nicht wiedergutzumachenden Schaden zu nehmen, und hatten sogar einen Punkt erreicht, an dem sie sagen konnten: „Ich bin überzeugt, ich hätte es bei einer solchen Frau nie wirklich ernst meinen können.“ Aber eine solche Einstellung lag noch in ferner Zukunft, und im Augenblick stand Jan mit dem Leben auf ganz schlechtem Fuß.

Sein anderer Kummer war weniger leicht zu heilen, denn er betraf die Einengung seines eigenen Ehrgeizes durch die Overlords. Jan war ein Romantiker, nicht nur im Herzen, sondern mit dem Verstand. Gleich so vielen andern jungen Männern hatte er, seit die Eroberung der Luft gesichert war, seine Träume und Phantasien die unerforschlichen Ozeane des Weltraums durchschweifen lassen.

Vor hundert Jahren hatte der Mensch seinen Fuß auf die Leiter gesetzt, die ihn zu den Sternen führen konnte. Gerade in diesem Augenblick — konnte es ein Zufall sein? — war ihm die Tür zu den Planeten vor der Nase zugeschlagen worden. Die Overlords hatten nur wenige Verbote für menschliche Betätigungen erlassen — das Verbot, Krieg zu führen, war vielleicht die große Ausnahme — aber die Forschung auf dem Gebiet des Weltraumflugs hatte einfach aufgehört. Der Vorsprung, den die Overlords durch ihre Wissenschaft erlangt hatten, war zu groß. Für den Augenblick wenigstens hatte der Mensch den Mut verloren und sich daher anderen Tätigkeitsgebieten zugewendet. Es hatte keinen Sinn, Raketen zu entwickeln, wenn die Overlords unendlich überlegene Fortbewegungsmittel hatten, die auf Prinzipien beruhten, über die sie nirgends etwas verlauten ließen.

Einige wenige hundert Menschen hatten den Mond besucht, um ein Mondobservatorium zu errichten. Sie waren als Passagiere in einem kleinen, von den Overlords geliehenen Schiff mit Raketenantrieb gereist. Es lag auf der Hand, daß man aus dem Studium dieses primitiven Gefährts wenig lernen konnte, selbst wenn die Besitzer es vorbehaltlos den wißbegierigen irdischen Gelehrten überließen.

Der Mensch war daher noch immer ein Gefangener auf seinem eigenen Planeten. Es war ein viel schönerer, aber viel kleinerer Planet als vor hundert Jahren. Als die Overlords Krieg, Hunger und Krankheit abschafften, hatten sie auch das Abenteuer abgeschafft.

Der aufgehende Mond begann den östlichen Himmel mit einem blassen, milchigen Schein zu übergießen. Dort oben, im Bereich des Pluto, das wußte Jan, war der Hauptstützpunkt der Overlords. Obwohl die Versorgungsschiffe seit mehr als siebzig Jahren verkehrt haben mußten, war erst zu Jans Lebzeiten jede Verheimlichung fallengelassen worden, und sie waren in voller Sicht der Erde abgefahren. In dem zweihundertzölligen Teleskop konnte man die Schatten der großen Schiffe deutlich sehen, wenn die Morgen- oder Abendsonne sie meilenlang über die Ebenen des Mondes warf. Da alles, was die Overlords taten, von ungeheurem Interesse für die Menschheit war, beobachtete man ihr Kommen und Gehen sorgfältig, und die Art ihres Verhaltens — wenn auch nicht die Ursache — begann deutlich zu werden. Einer dieser großen Schatten war vor wenigen Stunden verschwunden. Das bedeutete, wie Jan wußte, daß irgendwo in der Nähe des Mondes ein Overlord-Schiff im Raum lag und irgendwelche Vorkehrungen traf, die nötig waren, bevor es zu seiner fernen, unbekannten Heimat reisen konnte.

Er hatte nie eines dieser heimkehrenden Schiffe den Sternen zusteuern sehen. Wenn die Bedingungen gut waren, konnte man es in der halben Welt sehen, aber Jan hatte immer Pech gehabt. Man konnte nie genau sagen, wann die Abreise erfolgte, und die Overlords kündigten sie nicht an. Er beschloß, noch zehn Minuten zu warten und dann zu der Gesellschaft zurückzugehen.

Was war das? Nur ein Meteor, der durch den Eridanus abwärts glitt. Jan entspannte sich, bemerkte, daß seine Zigarette ausgegangen war, und zündete sich eine neue an.

Er hatte sie halb zu Ende geraucht, als eine halbe Million Kilometer entfernt der Start erfolgte. Aus dem Herzen des sich verbreiternden Mondscheins begann ein winziger Funke zum Zenit emporzusteigen. Zuerst war seine Bewegung so langsam, daß sie kaum wahrzunehmen war, aber Sekunde für Sekunde nahm sie an Schnelligkeit zu. Während der Funke höherstieg, wuchs seine Leuchtkraft, dann plötzlich entschwand er den Blicken. Einen Augenblick später erschien er wieder und nahm an Schnelligkeit und Helle zu. In einem seltsamen Rhythmus zu- und abnehmend, stieg er noch schneller am Himmel empor und zog einen ununterbrochenen Lichtstreifen zwischen den Sternen. Auch wenn man seine wirkliche Entfernung nicht kannte, war der Eindruck seiner Schnelligkeit atemberaubend; wenn man wußte, daß das abreisende Schiff irgendwo jenseits des Mondes war, schwindelte es dem Geist angesichts der Schnelligkeit und Energie, die sich hier offenbarten.

Es war ein unwichtiges Nebenerzeugnis dieser Energien, was er jetzt sah, das wußte Jan. Das Schiff selbst war unsichtbar, diesem emporsteigenden Licht schon weit voraus. Wie ein hochfliegendes Düsenflugzeug einen Dampfschweif hinterlassen kann, so hinterließ das abreisende Schiff der Overlords seine eigene, besondere Spur. Die allgemein angenommene Theorie, an deren Richtigkeit man kaum zweifeln konnte, lief darauf hinaus, daß die ungeheure Beschleunigung der Sternenfahrt eine örtliche Verzerrung des Raumes verursachte. Was Jan sah, war, wie er wußte, nichts weniger als das Licht ferner Sterne, das in seinem Auge gesammelt wurde, sobald die Bedingungen längs der Bahn des Schiffes günstig waren. Es war ein sichtbarer Beweis für die Relativität, die Beugung des Lichts in Anwesenheit eines ungeheuren Gravitationsfeldes.

Jetzt schien sich das Ende der riesigen, bleistiftdünnen Linse langsamer zu bewegen, aber das lag nur an der Perspektive. In Wirklichkeit steigerte das Schiff seine Schnelligkeit immer noch, sein Weg wurde nur in der Verkürzung gezeichnet, während es sich selbst zu den Sternen hinausschleuderte. Viele Teleskope würden seine Bahn begleiten, das wußte Jan, da die Wissenschaftler der Erde die Geheimnisse der Fahrt zu entdecken versuchten. Dutzende von Schriften waren bereits über dieses Thema veröffentlicht worden; ohne Zweifel hatten die Overlords sie mit größtem Interesse gelesen.

Das gespenstische Licht begann zu verschwinden. Jetzt war es ein erlöschender Strich, auf das Herz des Sternbildes Carina gerichtet, wie Jan vorausgesehen hatte. Die Heimat der Overlords mußte irgendwo dort draußen sein, aber das Schiff konnte irgendeinen der Tausende von Sternen in jenem Teil des Weltraumes ansteuern. Seine Entfernung vom Sonnensystem konnte man nicht feststellen.

Jetzt war alles vorbei. Obwohl das Schiff seine Reise kaum angetreten hatte, war nichts mehr da, was menschliche Augen sehen konnten. Aber in Jans Geist brannte noch die Erinnerung an den leuchtenden Pfad, ein Signal, das nie erlöschen würde, so lange er Ehrgeiz und Streben besaß.

Die Gesellschaft war vorbei.

Fast alle Gäste waren zum Himmel emporgestiegen und zerstreuten sich jetzt nach den vier Himmelsrichtungen. Es gab jedoch einige Ausnahmen.

Eine dieser Ausnahmen war Norman Dodsworth, der Dichter, der unangenehm betrunken, aber vernünftig genug gewesen war, ohnmächtig zu werden, bevor sich irgendeine Gewaltanwendung als notwendig erwies. Er war, nicht sehr sanft, auf den Rasen gelegt worden, wo, wie man hoffte, eine Hyäne ihm zu einem jähen Erwachen verhelfen würde. Für alle praktischen Zwecke konnte er daher als abwesend betrachtet werden.

Die andern noch verbliebenen Gäste waren George und Jean. Dies war durchaus nicht nach Georges Sinn: Er wollte nach Hause. Er mißbilligte die Freundschaft zwischen Rupert und Jean, wenn auch nicht aus den üblichen Gründen. George hielt sich voll Stolz für einen praktischen Charakter mit gesundem Verstand und betrachtete das Interesse, das Jean und Rupert zueinanderzog, nicht nur als kindisch in diesem Zeitalter der Wissenschaft, sondern eher als ziemlich ungesund. Daß irgend jemand noch den geringsten Glauben an das Übernormale haben sollte, erschien ihm ungewöhnlich, und daß er Raschaverak hier getroffen, hatte sein Vertrauen in die Overlords erschüttert.

Es war jetzt unverkennbar, daß Rupert irgendeine Überraschung geplant hatte, wahrscheinlich mit Jeans Billigung. George fand sich verdrießlich damit ab, daß irgendein Unsinn kommen würde.

„Ich habe alles mögliche versucht, bevor ich hierauf gekommen bin“, sagte Rupert stolz. „Das große Problem ist, die Reibung zu vermindern, so daß man völlige Freiheit der Bewegung hat. Die altmodische Methode mit dem Tischrücken ist nicht schlecht, aber man hat sie jetzt seit Jahrhunderten benutzt, und ich war überzeugt, daß die moderne Wissenschaft etwas Besseres finden könnte. Und hier ist das Ergebnis. Zieht eure Stühle heran. Sind Sie ganz sicher, daß Sie nicht mitmachen möchten, Raschy?“

Der Overlord schien den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. Dann schüttelte er den Kopf. Ob sie diese Gewohnheit auf der Erde gelernt hatten? fragte sich George.

„Nein, danke“, erwiderte er. „Ich möchte lieber zusehen. Ein andermal vielleicht.“

„Gut — Sie haben viel Zeit, später Ihre Meinung zu ändern.“

Ob wir viel Zeit haben? dachte George und sah finster auf seine Uhr.

Rupert hatte seine Freunde zu einem kleinen, aber massiven, völlig kreisrunden Tisch geführt, der eine glatte Platte aus Kunststoff hatte. Diese Platte hob er ab, so daß man einen glitzernden See aneinandergelegter Kugellager sah. Der ziemlich hohe Tischrand hinderte sie am Herunterfallen, und George konnte sich unmöglich vorstellen, welchen Zweck sie haben sollten. Die Hunderte von reflektierten Lichtpunkten bildeten ein faszinierendes und hypnotisch wirkendes Muster, und er hatte das Gefühl eines leichten Schwindels.

Als sie ihre Stühle heranzogen, griff Rupert unter den Tisch und zog eine Scheibe von etwa zehn Zentimetern Durchmesser heraus, die er auf die Kugellager legte. „So“, sagte er. „Jetzt legt eure Finger auf diese Scheibe, und sie bewegt sich ohne jeden Widerstand.“

George sah die Vorrichtung mit tiefem Mißtrauen an. Er bemerkte, daß die Buchstaben des Alphabets in regelmäßigen Abständen, aber ohne besondere Anordnung, am Außenrand des Tisches angebracht waren. Außerdem waren die Zahlen Eins bis Neun wahllos zwischen den Buchstaben verstreut, und zwei mit „Ja“ und „Nein“ beschriebene Karten befanden sich an entgegengesetzten Seiten des Tisches.

„Mir kommt das wie Hokuspokus vor“, murmelte er. „Es wundert mich, daß in diesem Zeitalter jemand so etwas ernst nimmt.“ Er fühlte sich etwas wohler, nachdem er diesen sanften Protest geäußert hatte, der sich ebensosehr gegen Jean wie gegen Rupert richtete. Rupert gab nicht vor, mehr als ein gewisses wissenschaftliches Interesse für diese Phänomene zu haben. Er war vorurteilslos, aber nicht leichtgläubig. Jean andererseits — nun, George machte sich zuweilen einige Sorgen um sie. Sie schien wirklich anzunehmen, daß hinter Gedankenübertragung und Hellsehen etwas steckte.

Erst als George seine Bemerkung gemacht hatte, wurde ihm klar, daß sie auch eine Kritik Raschaveraks einschloß. Er sah sich nervös um, aber der Overlord schien unberührt. Was natürlich überhaupt nichts bewies.

Alle hatten jetzt ihre Plätze eingenommen. In Uhrzeigerrichtung saßen Rupert, Maja, Jan, George und Benny Schönberger um den Tisch. Ruth Schönberger saß außerhalb des Kreises mit einem Notizbuch. Sie hatte augenscheinlich etwas dagegen, an dem Versuch teilzunehmen, was Benny zu einigen spöttischen Bemerkungen über Leute veranlaßt hatte, die den Talmud noch ernst nähmen. Jedoch schien sie durchaus bereit zu sein, als Protokollführerin mitzuwirken.

„Hört jetzt zu“, begann Rupert. „Skeptikern wie George wollen wir es ganz deutlich erklären. Einerlei, ob es hier irgend etwas Übernormales gibt oder nicht — es funktioniert! Ich persönlich glaube, daß es eine rein mechanische Erklärung gibt. Wenn wir die Hände auf die Scheibe legen — auch wenn wir es zu vermeiden versuchen, ihre Bewegungen zu beeinflussen — beginnt uns das Unterbewußtsein allerlei Streiche zu spielen. Ich habe unzählige dieser Seancen analysiert, und ich habe nie Antworten bekommen, die nicht irgendeiner in der Gruppe gewußt oder erraten haben könnte, obwohl er sich bisweilen dieser Tatsache nicht bewußt war. Ich möchte jedoch das Experiment unter diesen ziemlich — hm — sonderbaren Umständen durchführen.“

Der „sonderbare Umstand“ beobachtete sie schweigend, aber zweifellos nicht gleichgültig. George fragte sich, was Raschaverak wohl über diese Possen denken mochte. Waren seine Empfindungen die eines Anthropologen, der irgendeinen primitiven religiösen Brauch beobachtete? Der ganze Apparat war tatsächlich geradezu phantastisch, und George kam sich so närrisch wie nie in seinem Leben vor.

Wenn die anderen sich ebenso töricht vorkamen, so verbargen sie ihre Gefühle. Nur Jean glühte vor Erregung, aber vielleicht kam das auch von den Cocktails.

„Alles in Ordnung?“ fragte Rupert. „Gut.“ Er machte eine eindrucksvolle Pause, dann rief er, ohne sich an irgendeinen Bestimmten zu wenden: „Ist jemand hier?“

George konnte die Scheibe unter seinen Fingern leise zittern fühlen. Das war nicht überraschend in Anbetracht des Drucks, der von den sechs Leuten im Kreise auf die Scheibe ausgeübt wurde. Sie glitt in einer kleinen Acht herum und blieb dann im Mittelpunkt wieder still liegen.

„Ist hier jemand?“ wiederholte Rupert. Mehr im Unterhaltungston fügte er hinzu: „Es dauert oft zehn oder fünfzehn Minuten, bis wir anfangen können. Aber manchmal — “ „Still!“ flüsterte Jean. Die Scheibe bewegte sich. Sie begann, in einem weiten Bogen zwischen den Karten mit der Aufschrift „Ja“ und „Nein“ zu schwingen. Mit einiger Mühe unterdrückte George ein Lachen. Was würde es denn beweisen, fragte er sich, wenn die Antwort Nein wäre?

Aber die Antwort war „Ja“. Die Scheibe kehrte rasch zum Mittelpunkt des Tisches zurück. Irgendwie schien sie jetzt lebhaft auf die nächste Frage zu warten. Wider Willen begann George beeindruckt zu werden.

„Wer bist du?“ fragte Rupert. Ohne Zögern wurden jetzt die Worte buchstabiert. Die Scheibe schwirrte wie ein denkendes Wesen über den Tisch und bewegte sich so schnell, daß es George bisweilen schwerfiel, seine Finger darauf zu lassen. Er konnte schwören, daß er zu ihrer Bewegung nicht beitrug. Bei einem raschen Rundblick vermochte er in den Gesichtern seiner Freunde nichts Verdächtiges zu sehen. Sie schienen ebenso gespannt und erwartungsvoll wie er selbst.

„Jamall“, buchstabierte die Scheibe und kehrte zu ihrem Gleichgewichtspunkt zurück.

„I am all, ich bin alles“, wiederholte Rupert. „Das ist eine typische Antwort. Ausweichend, aber anregend. Es bedeutet wahrscheinlich, daß hier nichts ist außer unseren vereinigten Geistern.“ Er hielt einen Augenblick inne, wobei er offenbar seine nächste Frage überlegte. Dann fragte er wieder in die Luft hinein: „Hast du eine Botschaft für irgendeinen hier Anwesenden?“

„Nein“, erwiderte die Scheibe sofort.

Rupert warf einen Blick in die Runde. „Jetzt liegt es bei uns. Zuweilen gibt es freiwillig Auskünfte, aber diesmal müssen wir bestimmte Fragen stellen. Möchte jemand beginnen?“

„Wird es morgen regnen?“ sagte George scherzend.

Plötzlich begann sich die Scheibe zwischen „Ja“ und „Nein“ hin- und herzubewegen.

„Das ist eine törichte Frage“, tadelte Rupert. „Denn irgendwo wird es regnen, und anderswo wird es trocken sein. Ihr dürft keine Fragen stellen, auf die man doppelsinnig antworten kann.“

George fühlte sich gebührend in Verlegenheit gesetzt und beschloß, die nächste Frage einem andern zu überlassen.

„Welches ist meine Lieblingsfarbe?“ fragte Maja.

„Blau“, kam sofort die Antwort.

„Das stimmt genau.“

„Aber es beweist nichts. Mindestens drei Leute hier haben das gewußt“, bemerkte George.

„Welches ist Ruths Lieblingsfarbe?“ fragte Benny.

„Rot.“

„Stimmt das, Ruth?“

Die Protokollführerin blickte von ihrem Notizbuch auf. „Ja, das stimmt, aber Benny weiß es, und er sitzt mit im Kreis.“

„Ich habe es nicht gewußt“, widersprach Benny.

„Du müßtest es aber wissen, ich habe es dir oft genug gesagt!“

„Unterbewußtes Gedächtnis“, murmelte Rupert. „Das kommt oft vor. Aber können wir nicht, bitte, etwas intelligentere Fragen stellen? Da es so gut begonnen hat, möchte ich es nicht gern verplempern.“

Sonderbarerweise begann die Trivialität der Erscheinung auf George Eindruck zu machen. Er war überzeugt, daß es keine übernatürliche Erklärung gab. Wie Rupert gesagt hatte, reagierte die Scheibe einfach auf unbewußte Muskelbewegungen. Aber die Tatsache an sich war überraschend und eindrucksvoll. Er hätte nie geglaubt, daß man so genaue, rasche Antworten erlangen könne. Einmal versuchte er, die Scheibe zu beeinflussen, indem er sie seinen eigenen Namen buchstabieren ließ; er bekam das G, aber das war alles. Das übrige war Unsinn. Er kam zu der Erkenntnis, daß es tatsächlich unmöglich war, daß eine einzelne Person die Führung übernahm, ohne daß der übrige Kreis es wußte.

Nach einer halben Stunde hatte Ruth mehr als ein Dutzend Antworten aufgeschrieben, darunter ziemlich lange. Zuweilen waren orthographische und grammatikalische Schnitzer in den Sätzen, aber nur wenige. Auf jeden Fall war George jetzt überzeugt, daß er an den Antworten nicht bewußt mitwirkte, welche Erklärung es nun auch geben mochte. Mehrmals, wenn ein Wort buchstabiert wurde, hatte er den nächsten Buchstaben vorausgeahnt und damit auch den Sinn des Satzes. Aber jedesmal hatte die Scheibe eine ganz andere Richtung genommen und ein ganz anderes Wort buchstabiert. Zuweilen schien auch die ganze Antwort, da zwischen dem Ende eines Wortes und dem Beginn des nächsten keine Pause gemacht wurde, sinnlos, bis der Satz vollständig war und Ruth ihn vorgelesen hatte.

Das ganze Experiment gab George den unheimlichen Eindruck, mit irgendeinem zielbewußten, unabhängigen Geist in Verbindung zu stehen. Und doch gab es keinen wirklich schlüssigen Beweis. Die Antworten waren so trivial, so vieldeutig. Was konnte man zum Beispiel mit dem Satz anfangen: „Glaubtdemmenschennaturistmiteuch.“

Aber zuweilen hörte man Andeutungen von tiefen, sogar verwirrenden Wahrheiten: „Bedenktmenschistnichtalleinnahemenschistlandvonandern.“

Natürlich wußte das jeder, aber konnte man mit Sicherheit wissen, daß die Botschaft sich nur auf die Overlords bezog?

George wurde müde. Es war höchste Zeit, dachte er schläfrig, daß sie aufbrächen. Dies alles war sehr verwirrend, aber es führte zu keinem Ziel, und man konnte auch von etwas Gutem zu viel bekommen. Er blickte in die Runde. Benny sah aus, als empfinde er ungefähr das gleiche. Maja und Rupert hatten beide etwas verglaste Augen, und Jean — ja, sie hatte es die ganze Zeit zu ernst genommen. Ihre Miene beunruhigte George. Es war fast, als hätte sie Angst, aufzuhören und doch auch Angst, weiterzumachen.

Es blieb nur Jan übrig. George fragte sich, was Rupert über die Absonderlichkeiten seines Schwagers denken mochte. Der junge Ingenieur hatte keine Fragen gestellt und keine Überraschung über irgendeine der Antworten gezeigt. Er schien die Bewegung der Scheibe wie ein wissenschaftliches Phänomen zu studieren.

Rupert entriß sich der Schläfrigkeit, die ihn befallen zu haben schien. „Wir wollen noch eine Frage stellen“, sagte er, „dann wollen wir aufhören. Wie ist es mit dir, Jan? Du hast noch nichts gefragt.“

Überraschenderweise zögerte Jan nicht. Es war, als habe er sich schon lange darauf vorbereitet und nur auf eine Gelegenheit gewartet. Er blickte flüchtig auf den gleichmütig dasitzenden massigen Körper Raschaveraks, dann fragte er mit klarer, fester Stimme: „Welcher Stern ist die Sonne der Overlords?“

Rupert unterdrückte einen überraschten Pfiff. Maja und Benny reagierten überhaupt nicht. Jean hatte die Augen geschlossen und schien eingeschlafen zu sein. Raschaverak hatte sich vorgebeugt, so daß er über Ruperts Schulter auf den Kreis hinunterblicken konnte.

Und die Scheibe begann sich zu bewegen.

Als sie wieder zur Ruhe kam, gab es eine kurze Pause. Dann fragte Ruth mit verwunderter Stimme: „Was bedeutet NGS 549.672?“

Sie bekam keine Antwort, denn im selben Augenblick rief George besorgt:

„Helft mir! Ich fürchte, Jean ist ohnmächtig geworden.“

5

„Dieser Boyce!“ sagte Karellen. „Berichte mir alles über ihn!“

Der Oberkontrolleur bediente sich natürlich nicht tatsächlich dieser Worte, und die Gedanken, die er wirklich ausdrückte, waren viel scharfsinniger. Ein menschlicher Zuhörer hätte eine kurze Folge von raschen Tönen vernommen, nicht unähnlich einem in Tätigkeit befindlichen Hochfrequenz-Morsesender. Obwohl man viele Beispiele der Sprache der Overlords aufgenommen hatte, erwies sich bei allen infolge ihrer außerordentlichen Kompliziertheit eine Analyse als unmöglich. Die Schnelligkeit der Übertragung sorgte dafür, daß kein Dolmetscher, selbst wenn er die Sprache völlig beherrscht hätte, jemals den Overlords bei ihrer normalen Unterhaltung folgen konnte.

Der Oberkontrolleur für die Erde stand mit dem Rücken zu Raschaverak und blickte über die vielfarbige Schlucht des Grand Canyon hin. In zehn Kilometern Entfernung, aber kaum durch den Abstand verschleiert, fingen die terrassenartig ansteigenden Hänge die volle Kraft der Sonne auf. Ein paar hundert Meter tiefer, an der schattigen Bergwand, an deren Rand Karellen stand, bewegte sich ein Mauleselzug in langsamen Windungen in das Tal hinab. Seltsam, dachte Karellen, daß so viele menschliche Wesen noch jede Gelegenheit ergriffen, sich primitiv zu verhalten. Sie konnten den Grund der Schlucht in einem Bruchteil der Zeit und viel bequemer erreichen, wenn sie wollten. Und doch zogen sie es vor, auf Wegen, die wahrscheinlich genau so unsicher waren, wie sie aussahen, dahinzuholpern.

Karellen machte eine unmerkliche Handbewegung. Das große Panorama entschwand den Blicken, und es blieb nur eine nebelige Leere von unendlicher Tiefe. Die Wirklichkeiten seines Amtes und seiner Stellung stürmten wieder einmal auf den Oberkontrolleur ein.

„Rupert Boyce ist ein etwas merkwürdiger Charakter“, erwiderte Raschaverak. „Beruflich ist ihm das Wohlergehen der Tiere in einem wichtigen Teil der afrikanischen Schutzgebiete anvertraut. Er ist sehr tüchtig und an seiner Arbeit interessiert. Da er mehrere tausend Quadratkilometer zu überwachen hat, besitzt er einen der fünfzehn Fernsehapparate, die wir bisher verliehen haben, natürlich unter den üblichen Vorsichtsmaßnahmen. Es ist zufällig der einzige mit vollen Projektionsvorrichtungen. Er hat ihre Notwendigkeit für ihn ausreichend dargelegt, so daß wir ihm den Apparat überlassen haben.“

„Was für Gründe hat er angegeben?“

„Er wollte sich verschiedenen wilden Tieren zeigen, damit sie sich an seinen Anblick gewöhnen und ihn nicht angreifen sollten, wenn er körperlich anwesend wäre. Diese Theorie hat sich bei Tieren bewährt, die sich mehr auf das Auge als auf den Geruch verlassen, obwohl der Mann wahrscheinlich schließlich doch getötet wird. Und natürlich gab es noch einen anderen Grund, warum wir ihm den Apparat überlassen haben.“

„Es machte ihn mehr zu einer Zusammenarbeit geneigt?“

„Allerdings. Ich hatte mich ursprünglich mit ihm in Verbindung gesetzt, weil er über Parapsychologie und verwandte Themen eine der besten Sammlungen von Büchern hat, die es in der Welt gibt. Er lehnte es höflich, aber energisch ab, irgendeines der Bücher auszuleihen, so daß nichts übrigblieb, als ihn zu besuchen. Ich habe jetzt etwa seine halbe Bibliothek gelesen. Es war eine ziemliche Arbeit.“

„Das kann ich mir denken“, sagte Karellen trocken. „Haben Sie unter all dem Kram irgend etwas entdeckt?“

„Ja — elf klare Fälle von teilweisen Durchbrüchen und siebenundzwanzig wahrscheinliche. Das Material ist jedoch so ausgewählt, daß man es nicht als Muster benutzen kann. Und die Beweise sind mit Mystizismus vermengt — vielleicht die ursprüngliche Abweichung des menschlichen Geistes.“

„Und wie ist Boyces Einstellung dazu?“

„Er behauptet, aufgeschlossen und skeptisch zu sein, aber es ist klar, daß er für dieses Gebiet nie so viel Zeit und Mühe aufgewandt hätte, wenn er nicht irgendeinen unterbewußten Glauben besäße. Ich habe ihm das auf den Kopf zugesagt, und er hat zugegeben, daß ich wahrscheinlich recht habe. Er möchte irgendeinen überzeugenden Beweis bekommen. Deshalb macht er immer diese Experimente, obwohl er behauptet, daß es nur eine Spielerei ist.“

„Sie sind überzeugt, daß er nicht argwöhnt, Ihr Interesse könne mehr als akademisch sein?“

„Fest überzeugt. In vieler Hinsicht ist Boyce bemerkenswert töricht und einfältig. Das macht seine Versuche, ausgerechnet auf diesem Gebiet Forschungen anzustellen, geradezu rührend. Es liegt keine Notwendigkeit vor, irgendwelche Schritte gegen ihn zu unternehmen.“

„Ich verstehe. Und was ist mit der Frau, die ohnmächtig wurde?“

„Das ist das Aufregendste an der ganzen Angelegenheit. Jean Morrel war fast mit Sicherheit das Medium, durch das die Auskunft gegeben wurde. Aber sie ist sechsundzwanzig, viel zu alt, um selbst den ursprünglichen Kontakt zu bilden, nach all unsern früheren Erfahrungen zu urteilen. Es muß daher jemand sein, der eng mit ihr verbunden ist. Die Schlußfolgerung liegt auf der Hand. Wir können nicht mehr viele Jahre zu warten haben. Wir müssen sie in die Purpurne Kategorie versetzen. Sie kann das wichtigste lebende menschliche Wesen sein.“

„Dafür werde ich sorgen. Und was ist mit dem jungen Mann, der die Frage gestellt hat? War es einfach Neugier? Oder hatte er irgendeinen andern Grund?“

„Er ist zufällig dorthin gekommen. Seine Schwester hat sich kürzlich mit Rupert Boyce verheiratet. Er hatte vorher keinen der andern Gäste gekannt. Ich bin überzeugt, daß die Frage völlig unüberlegt war, veranlaßt durch die ungewöhnliche Situation und wahrscheinlich durch meine Anwesenheit. Wenn man diese Umstände berücksichtigt, ist es kaum überraschend, daß er so handelte. Sein großes Interesse ist die Astronautik. Er ist Sekretär der Arbeitsgruppe für Weltraumfahrten an der Universität Kapstadt und beabsichtigt offenbar, dieses Fach zu seiner Lebensarbeit zu machen.“

„Seine Laufbahn dürfte interessant sein. Aber was wird er nach Ihrer Meinung unternehmen, und was sollen wir in Hinblick auf ihn tun?“

„Er wird zweifellos, sobald er kann, gewisse Feststellungen machen. Aber er kann auf keine Art die Richtigkeit seiner Information beweisen, und auf Grund ihres sonderbaren Ursprungs kann er sie auch schwerlich veröffentlichen. Und würde es, selbst wenn er es tut, die Sache im geringsten berühren?“

„Ich werde beide Situationen untersuchen lassen“, erwiderte Karellen. „Obwohl unsere Anweisung dahin geht, unsern Stützpunkt nicht bekanntzugeben, könnte die Auskunft doch in keiner Weise gegen uns benutzt werden.“

„Ich bin der gleichen Meinung. Rodricks besitzt eine Information, deren Wahrheit ungewiß ist und die keinen praktischen Wert hat.“

„So scheint es“, sagte Karellen. „Aber wir wollen nicht allzu unbesorgt sein. Menschliche Wesen sind bemerkenswert erfinderisch und oft sehr hartnäckig. Man sollte sie nie unterschätzen, und es ist interessant, Rodricks Laufbahn zu verfolgen. Ich muß über diese Dinge nachdenken.“

Rupert Boyce kam der Sache nie wirklich auf den Grund. Als seine Gäste sich, weniger lärmend als gewöhnlich, entfernt hatten, schob er den Tisch nachdenklich in seine Ecke zurück. Der leichte alkoholische Nebel hinderte ihn, das Geschehene gründlich zu durchdenken, und selbst die Tatsachen hatten sich schon etwas verwischt. Er hatte die unklare Vorstellung, daß irgend etwas von großer, aber nicht recht greifbarer Bedeutung geschehen sei, und fragte sich, ob er mit Raschaverak darüber sprechen solle. Bei genauerem Überlegen erschien ihm das jedoch taktlos. Schließlich hatte sein Schwager die Verwirrung verursacht, und Rupert war etwas ärgerlich auf den jungen Jan. Aber war es Jans Schuld? Hatte irgend jemand die Schuld? Mit einigen Gewissensbissen erinnerte sich Rupert, daß es sein Experiment gewesen war. Er beschloß, sehr erfolgreich, die ganze Sache zu vergessen.

Vielleicht hätte er etwas tun können, wenn man die letzte Seite von Ruths Notizen hätte finden können, aber sie war in der Aufregung verschwunden. Jan stellte sich unschuldig, und Raschaverak konnte man ja nicht gut bezichtigen. Und niemand würde sich jemals genau erinnern, was da buchstabiert worden war, abgesehen davon, daß es keinen Sinn zu geben schien.

Der am unmittelbarsten Betroffene war George Greggson gewesen. Er konnte nie das Gefühl des Entsetzens vergessen, als Jean in seine Arme sank. Ihre plötzliche Hilflosigkeit verwandelte sie in jenem Augenblick aus einer amüsanten Gefährtin in einen Gegenstand der Zärtlichkeit und Liebe. Frauen waren seit undenklichen Zeiten ohnmächtig geworden, nicht immer ohne Vorbedacht, und Männer hatten unveränderlich in der gewünschten Art und Weise darauf reagiert. Jeans Zusammenbruch war ganz plötzlich gekommen, hätte aber nicht besser geplant sein können. In jenem Augenblick war George, wie er später begriff, zu einem der wichtigsten Entschlüsse seines Lebens gekommen. Jean war endgültig die Frau, auf die es ihm ankam, trotz ihrer sonderbaren Einfälle und ihrer noch sonderbareren Freunde. Er hatte nicht die Absicht, Naomi oder Joy oder Elsa oder — wie hieß sie doch? — Denise völlig zu verlassen, aber jetzt war die Zeit für etwas Beständigeres gekommen. Er zweifelte nicht, daß Jean ihm zustimmen würde, denn ihre Gefühle waren von Anfang an ganz klar gewesen.

Hinter seinem Entschluß stand noch ein anderer Umstand, über den er sich nicht klar war. Das Erlebnis dieses Abends hatte seine Verachtung und seinen Skeptizismus in bezug auf Jeans eigentümliche Interessen geschwächt. Er würde diese Tatsache nie zugeben, aber es war so, und damit war die letzte Schranke zwischen ihnen beseitigt.

Er sah Jean an, wie sie blaß, aber gefaßt im Liegesessel des Flugzeugs lehnte. Unter ihnen war Dunkelheit, über ihnen Sterne. George hatte keine Vorstellung, wo sie sich befinden mochten, und es kümmerte ihn auch nicht. Das war die Aufgabe des Roboters, der ihr Flugzeug nach Hause steuerte und, wie die Schalttafel anzeigte, in siebenundfünfzig Minuten mit ihnen landen würde.

Jean erwiderte sein Lächeln und zog sanft ihre Hand aus der seinen. „Laß mich nur mal den Blutkreislauf wiederherstellen“, bat sie, sich die Finger reibend. „Du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich mich jetzt wieder völlig wohl fühle.“

„Was meinst du denn, was geschehen ist? Du erinnerst dich doch sicherlich an irgend etwas?“

„Nein — es ist eine völlige Leere. Ich hörte Jan seine Frage stellen, und dann machtet ihr alle so viel Lärm um mich. Es war bestimmt eine Art Trance. Schließlich.“

Sie hielt inne; dann beschloß sie, George nicht zu sagen, daß ihr so etwas schon öfter geschehen war. Sie wußte, wie er über diese Dinge dachte, und wollte ihn nicht weiter aufregen und — vielleicht völlig abschrecken.

„Schließlich? Was meinst du?“ fragte George.

„Ach, nichts! Ich frage mich nur, was der Overlord bei der ganzen Sache gedacht haben mag. Wir haben ihm wahrscheinlich mehr Material geliefert, als er überhaupt haben wollte.“

Jean erschauerte leicht, und ihre Augen verschleierten sich. „Ich habe Angst vor den Overlords, George. Oh, ich meine nicht, daß sie böse sind, oder sonst etwas Törichtes. Ich bin überzeugt, daß sie es gut meinen und das tun, was nach ihrer Meinung das beste für uns ist. Ich frage mich nur, was für Pläne sie in Wirklichkeit mit uns haben.“

George rückte unbehaglich auf seinem Platz hin und her. „Das fragen sich die Menschen, seit die Overlords auf die Erde gekommen sind“, erwiderte er. „Sie werden es uns sagen, wenn wir reif dafür sind, und offen gestanden bin ich nicht neugierig. Außerdem habe ich Wichtigeres zu bedenken.“ Er wandte sich zu Jean und ergriff ihre Hände. „Was meinst du, ob wir morgen zum Archiv gehen und einen Vertrag über — sagen wir fünf Jahre unterzeichnen?“

Jean sah ihn fest an und kam zu der Überzeugung, daß ihr im ganzen gefiel, was sie sah. „Sagen wir über zehn Jahre“, erwiderte sie.

Jan wartete seine Zeit ab. Er hatte keine Eile, und er wollte nachdenken. Es war fast, als scheue er sich, irgendwelche Prüfungen vorzunehmen, damit die phantastische Hoffnung, die in seinen Geist eingedrungen war, nicht allzuschnell zerstört würde. Solange er noch im Ungewissen war, konnte er wenigstens träumen.

Außerdem, um überhaupt etwas unternehmen zu können, müßte er mit der Bibliothekarin des Observatoriums sprechen. Sie kannte ihn und seine Interessen aber zu gut und würde sicherlich durch seine Bitte beunruhigt sein. Wahrscheinlich würde es keinen Unterschied machen, aber Jan war entschlossen, nichts dem Zufall zu überlassen. In einer Woche würde die Gelegenheit besser sein. Er war übervorsichtig, das wußte er, aber das steigerte seinen schülerhaften Eifer. Jan fürchtete auch die Lächerlichkeit genau so sehr wie irgend etwas, was die Overlords tun könnten, um seine Pläne zu durchkreuzen. Falls er sich da auf ein törichtes Unternehmen einließ, sollte niemand jemals etwas davon erfahren.

Er hatte einen triftigen Grund, nach London zu reisen. Die Vorbereitungen waren schon vor Wochen getroffen worden. Obwohl er zu jung war und noch nicht die genügenden Eigenschaften besaß, als Delegierter hinzugehen, war er doch einer der drei Studenten, die es fertiggebracht hatten, in die offizielle Gruppe aufgenommen zu werden, die zum Kongreß der Internationalen Astronomischen Union fuhr. Jetzt hatte er Ferien, und es wäre sträflich, die Gelegenheit ungenutzt zu lassen, da er London seit seiner Kindheit nicht besucht hatte. Er wußte, daß sehr wenige der Dutzende von Schriften, die man der Internationalen Astronomischen Union vorlegen würde, für ihn das geringste Interesse hätten, selbst wenn er sie verstehen könnte. Wie ein Delegierter bei irgendeinem wissenschaftlichen Kongreß würde er die Vorträge hören, die ihm wichtig erschienen, und würde die übrige Zeit damit verbringen, mit anderen Enthusiasten zu sprechen, oder würde sich einfach London ansehen.

London hatte sich in den letzten fünfzig Jahren ungeheuer verändert. Dort waren jetzt kaum zwei Millionen Menschen und hundertmal soviel Maschinen. Es war kein großer Hafen mehr, denn da jedes Land fast seinen ganzen Bedarf selbst erzeugte, hatte sich das ganze System des Welthandels verändert. Es gab einige Waren, die bestimmte Länder noch immer am besten herstellten, aber sie wurden auf dem Luftwege unmittelbar an ihren Bestimmungsort gebracht. Die Handelswege, die einstmals in den großen Häfen und später auf den Flugplätzen zusammengelaufen waren, hatten sich schließlich zu einem verwickelten Spinnennetz erweitert, das die ganze Welt umfaßte und keine größeren Knotenpunkte hatte.

Aber einige Dinge hatten sich nicht verändert. Die City war noch immer ein Mittelpunkt für Regierung, Kunst und Studium. In dieser Beziehung konnte keine Hauptstadt des Kontinents mit ihr wetteifern, nicht einmal Paris, so sehr es auch das Gegenteil behauptete. Ein Londoner aus dem vorigen Jahrhundert hätte sich noch immer — wenigstens im Zentrum der Stadt — ohne Schwierigkeiten zurechtfinden können. Neue Brücken führten über die Themse, aber an den alten Stellen. Die großen häßlichen Bahnhöfe waren verschwunden, in die Vororte verbannt. Aber das Parlamentsgebäude war unverändert. Nelsons Auge blickte noch immer auf Whitehall, die Sankt-Pauls-Kathedrale erhob sich noch immer auf Ludgate Hill, obwohl ihr jetzt höhere Bauten die Vorherrschaft streitig machten.

Und die Wache marschierte noch immer vor dem Buckingham-Palast auf und ab.

All diese Dinge, dachte Jan, konnten warten. Es war Ferienzeit, und er wohnte mit seinen beiden Studiengenossen in einem der Studentenhäuser der Universität. Bloomsbury hatte in den letzten hundert Jahren seinen Charakter ebenfalls nicht verändert; es war noch immer eine Insel von Hotels und Pensionshäusern, obwohl sie sich nicht mehr so nahe zusammendrängten oder so endlose, gleichförmige Reihen von rußbedeckten Mauern bildeten.

Erst am zweiten Tag des Kongresses fand Jan seine Chance. Die Hauptschriften verlas man in dem großen Versammlungsraum des Wissenschaftszentrums, nicht weit von der Konzerthalle, die so viel dazu getan hatte, London zur Musikmetropole der Welt zu machen. Jan wollte den ersten Vortrag dieses Tages hören, der, wie das Gerücht ging, die gängige Theorie von der Bildung der Planeten völlig zerstören sollte.

Vielleicht tat er das wirklich, aber Jan war kaum klüger, als er nach der Pause ging. Er eilte hinunter und sah sich auf dem Plan an, wohin er sich begeben mußte.

Ein humorvoller Beamter hatte die Königlich Astronomische Gesellschaft im obersten Stock des Gebäudes untergebracht, eine Maßnahme, die die Mitglieder des Rates voll zu schätzen wußten, da sie ihnen einen prachtvollen Blick auf die Themse und den ganzen nördlichen Teil der Stadt sicherte. Hier schien niemand zu sein. Jan aber, der seine Mitgliedskarte wie einen Paß bereit hielt, falls man ihn anhalten sollte, hatte keine Schwierigkeit, die Bibliothek zu finden.

Er brauchte fast eine Stunde, um das zu finden, was er sehen wollte, und um zu begreifen, wie man die großen Sternenkataloge mit ihren Millionen von Eintragungen benutzte. Er zitterte ein wenig, als er sich dem Ende seiner Suche näherte, und war froh, daß niemand hier war, der seine Nervosität bemerkte.

Er stellte den Katalog in seine Reihe zurück und saß lange Zeit ganz still, während er auf die Bücherwand vor sich blickte, ohne sie zu sehen. Dann ging er langsam auf die stillen Gänge hinaus, vorbei am Sekretariat — dort war jetzt jemand, der emsig Bücherpakete öffnete — und stieg die Treppen hinunter. Er vermied den Fahrstuhl, denn er wollte frei und unbeschränkt sein. Er hatte noch einen zweiten Vortrag hören wollen, aber das war jetzt nicht mehr wichtig.

Seine Gedanken wirbelten noch immer durcheinander, als er zur Kaimauer hinüberging und seine Blicke die Themse auf ihrem gemächlichen Lauf zum Meer folgen ließ. Für einen Menschen, der wie er in orthodoxer Wissenschaft geschult war, hielt es schwer, sich mit dem Beweis zufriedenzugeben, der ihm jetzt in die Hände gefallen war. Seine Wahrheit würde er nie feststellen können, aber die Wahrscheinlichkeit war überwältigend. Während er langsam an der Flußmauer entlangging, ordnete er die Tatsachen eine nach der anderen.

Erste Tatsache: Niemand auf Ruperts Gesellschaft hatte wissen können, daß er diese Frage stellen würde. Er hatte es selbst nicht gewußt. Es war eine plötzliche Reaktion auf die Umstände gewesen. Daher hatte niemand eine Antwort vorbereiten oder schon im Sinn haben können.

Zweite Tatsache: „NGS 549.672“ sagte wahrscheinlich keinem Menschen etwas, außer einem Astronomen. Obwohl die große Nationale Geographische Vermessung vor einem halben Jahrhundert vollendet worden war, wußten nur ein paar tausend Fachleu te von ihrer Existenz. Und wenn man irgendeine beliebige Zahl herausgriff, hätte niemand sagen können, wo sich dieser besondere Stern am Himmel befand.

Aber — und das war die dritte Tatsache, die er erst in diesem Augenblick entdeckt hatte — der als NGS 549.672 bekannte kleine und unbedeutende Stern stand genau am richtigen Platz. Er stand im Herzen des Sternbildes Carina, am Ende jener schimmernden Lichtspur, die Jan selbst vor wenigen Nächten gesehen hatte, und die vom Sonnensystem durch die Tiefen des Weltraums führte.

Es konnte unmöglich ein zufälliges Zusammentreffen sein. Auf NGS 549.672 mußte sich die Heimat der Overlords befinden. Aber diese Tatsache anzuerkennen, hieß Jans Vorstellung von wissenschaftlichen Methoden über den Haufen werfen. Gut, mochten sie über den Haufen geworfen werden! Er mußte die Tatsache hinnehmen, daß Ruperts phantastisches Experiment eine bisher unbekannte Wissensquelle angezapft hatte.

Raschaverak? Das mochte die wahrscheinlichste Erklärung sein. Der Overlord hatte nicht im Kreis gesessen, aber das war weniger bedeutsam. Jan machte sich jedoch keine Gedanken über die paraphysikalischen Vorgänge; er interessierte sich nur dafür, die Ergebnisse zu benutzen.

Über NGS 549.672 war sehr wenig bekannt. Nichts hatte diesen Stern von einer Million anderer unterschieden. Aber der Katalog gab seine Größe an, seine Koordinate und seine Spektralanalyse. Jan würde einige Nachforschungen anstellen und etliche Berechnungen machen müssen, und dann würde er, wenigstens annähernd, wissen, wie weit die Welt der Overlords von der Erde entfernt war.

Ein leises Lächeln glitt über Jans Gesicht, als er sich von der Themse abwandte und zu der leuchtendweißen Fassade des Zentrums der Wissenschaften zurückkehrte. Wissen war Macht, und er war der einzige Mensch auf der Erde, der den Ursprung der Overlords kannte. Wie er dieses Wissen anwenden würde, konnte er sich nicht vorstellen. Es würde in seinem Geist sicher bewahrt liegen und auf den Augenblick des Schicksals warten.

6

Die menschliche Rasse sonnte sich weiterhin in dem langen, wolkenlosen Sommernachmittag des Friedens und Gedeihens. Würde es je wieder einen Winter geben? Das war undenkbar. Das Zeitalter der Vernunft, vor zweieinhalb Jahrhunderten von den Führern der Französischen Revolution vorzeitig begrüßt, war jetzt endlich gekommen. Diesmal war es kein Irrtum.

Es gab natürlich Schattenseiten, aber sie wurden bereitwillig hingenommen. Man mußte schon sehr alt sein, um zu erkennen, daß die Zeitungen, die der Fernschreiber in jedem Heim druckte, eigentlich ziemlich langweilig waren. Vorbei waren die Krisen, die einstmals Riesenschlagzeilen geliefert hatten. Es gab keine geheimnisvollen Morde, die die Polizei vor ein Rätsel stellten und in Millionen Herzen die moralische Entrüstung weckten, die oft unterdrückter Neid war. Die Morde, die jetzt vorkamen, waren niemals geheimnisvoll. Man brauchte nur an einem Knopf zu drehen, und man konnte die Wiederholung des Verbrechens sehen. Daß es Apparate gab, die so etwas fertigbrachten, hatte zunächst unter völlig gesetzestreuen Menschen eine erhebliche Panik hervorgerufen. Dies hatten die Overlords, die die meisten, aber nicht alle Wunderlichkeiten der menschlichen Psychologie kannten, nicht vorausgesehen. Es mußte genau erklärt werden, daß kein solcher „Spion“ imstande wäre, die Menschen zu belauern, und daß die sehr wenigen in menschlichen Händen befindlichen Apparate unter strenger Kontrolle sein würden. Rupert Boyces Projektor zum Beispiel konnte nicht über die Grenzen des Reservationsgebietes hinaus wirken, so daß er und Maja die einzigen Personen innerhalb seiner Reichweite waren.

Selbst die wenigen ernsthaften Verbrechen, die sich ereigneten, wurden in den Zeitungen und Nachrichten nicht besonders beachtet. Denn wohlerzogene Menschen tragen kein Verlangen danach, über die gesellschaftlichen Entgleisungen anderer zu lesen.

Die durchschnittliche Arbeitswoche betrug jetzt zwanzig Stunden, aber diese zwanzig Stunden waren keine leichte Sache. Es gab nur noch wenige Arbeiten rein mechanischer Art. Die Gehirne der Menschen waren zu wertvoll, um sie für Aufgaben zu verschwenden, die einige tausend Transistoren, etliche photoelektri sche Zellen und ein Kubikmeter gedruckter Schaltungen bewältigen konnten. Es gab Fabriken, die wochenlang arbeiteten, ohne von einem einzigen menschlichen Wesen besucht zu werden. Menschen wurden gebraucht, um Störungen zu beseitigen, um Entscheidungen zu treffen, um neue Unternehmungen zu planen. Das übrige besorgten die Roboter.

So viel Freizeit hätte noch vor hundert Jahren ein furchtbares Problem bedeutet. Die Erziehung hatte die meisten dieser Schwierigkeiten beseitigt, denn ein gutausgerüstetes Gehirn ist gegen Langeweile gesichert. Das allgemeine kulturelle Niveau wäre früher phantastisch erschienen. Es gab keine Beweise dafür, daß die Intelligenz der menschlichen Rasse sich verbessert hatte, aber zum erstenmal war einem jeden die Möglichkeit gegeben, das Gehirn, das er besaß, voll auszunutzen.

Die meisten Menschen hatten zwei Wohnsitze, in weit auseinanderliegenden Teilen der Welt. Nachdem jetzt die Polargebiete erschlossen waren, begab sich ein beträchtlicher Teil der menschlichen Rasse alle sechs Monate von der Arktis zur Antarktis, auf der Suche nach dem langen Polarsommer, der keine Nächte kannte. Andere waren in die Wüste gegangen, auf die Berge oder sogar ins Meer. Es gab keinen Ort auf dem Planeten, wo Wissenschaft und Technik einem nicht ein behagliches Heim schaffen konnten, wenn man es nur lebhaft genug wünschte.

Einige der ausgefallensten Wohnsitze lieferten die wenigen Sensationsberichte in den Zeitungen. Auch in der bestgeordneten Gesellschaft wird es immer Unfälle geben. Vielleicht war es ein gutes Zeichen, daß die Leute es lohnend fanden, wegen eines hübschen Hauses nahe dem Gipfel des Mount Everest oder hinter dem Gischt der Viktoriafälle ihr Leben zu wagen und sich gelegentlich auch den Hals zu brechen. Infolgedessen mußte immer irgend jemand von irgendwo gerettet werden. Es war eine Art Spiel geworden, fast ein planetarischer Sport.

Die Menschen konnten sich solchen Launen hingeben, weil sie Zeit und Geld hatten. Die Abschaffung der bewaffneten Streitkräfte hatte mit einem Schlage den tatsächlichen Reichtum der Welt fast verdoppelt, und die vermehrte Produktion hatte das übrige getan. Infolgedessen konnte man den Lebensstandard der Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts schwer mit dem irgendwelcher ihrer Vorgänger vergleichen. Alles war so billig, daß man die Din ge, die man zum Leben brauchte, als eine Dienstleistung des Staates umsonst bekam, so wie früher Straßen, Wasser, Straßenbeleuchtung und Kanalisation geliefert worden waren. Ein Mensch konnte reisen, wohin er wollte, essen, was er mochte — ohne irgendwie Geld dafür zu zahlen. Er hatte dieses Recht dadurch erworben, daß er ein produktives Mitglied der Gemeinschaft war.

Es gab natürlich einige Drohnen, aber die Anzahl der Menschen, die einen genügend starken Willen haben, um sich einem Leben völliger Trägheit hinzugeben, ist viel kleiner, als im allgemeinen angenommen wird. Die Erhaltung solcher Schmarotzer war eine erheblich geringere Belastung als die Heere der Fahrkartenkontrolleure, der Verkäufer, der Bankangestellten, der Makler und so weiter zu versorgen, deren Hauptaufgabe, genau betrachtet, darin bestand, Summen von einem Buch ins andere zu übertragen.

Fast ein Viertel der Gesamttätigkeit der menschlichen Rasse wurde, wie berechnet worden war, jetzt für verschiedene Sportarten aufgewandt, die von so seßhaften Beschäftigungen wie Schach bis zu so halsbrecherischen Unternehmungen wie Schilaufen in den Bergen reichten. Eine unerwartete Folge davon war das Aussterben des berufsmäßigen Sportsmannes. Es gab zu viele glänzende Amateure, und die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen ließen das frühere System veraltet erscheinen.

Nächst dem Sport war die Unterhaltung in allen ihren Zweigen die größte Industrie. Länger als hundert Jahre hatte es Menschen gegeben, die Hollywood für den Mittelpunkt der Welt hielten. Sie konnten diese Behauptung jetzt besser begründen als je zuvor, aber man konnte ruhig sagen, daß ihnen die meisten Filme des Jahres 2050 im Jahre 1950 geistig viel zu hoch erschienen wären. Es hatte einen Fortschritt gegeben: Die Eintrittskasse war nicht mehr entscheidend für die Produktion.

Aber bei all den Zerstreuungen und Ablenkungen auf einem Planeten, der auf dem besten Wege schien, ein einziger riesiger Spielplatz zu werden, gab es immer noch einige Menschen, die Zeit fanden, eine alte und niemals beantwortete Frage zu wiederholen: „Wohin gehen wir eigentlich?“

Jan lehnte sich gegen den Elefanten, und seine Hände ruhten auf der Haut, die rauh war wie die Rinde eines Baumes. Er blickte zu den großen Stoßzähnen und dem geschwungenen Rüssel auf, der durch die Geschicklichkeit des Ausstopfenden im Augenblick der Herausforderung oder der Begrüßung festgehalten war. Was für noch unheimlichere Geschöpfe, fragte er sich, aus welchen unbekannten Welten, würden eines Tages diesen von der Erde Verbannten betrachten?

„Wie viele Tiere habt ihr den Overlords geschickt?“ fragte er Rupert.

„Mindestens fünfzig, aber natürlich ist dies hier das größte. Er ist prachtvoll, nicht wahr? Die meisten andern waren recht klein. Schmetterlinge, Schlangen, Affen und so weiter. Aber voriges Jahr habe ich ein Flußpferd bekommen.“

Jan verzog das Gesicht zu einem Lächeln. „Es ist ein krankhafter Gedanke, aber ich vermute, sie haben jetzt schon eine ansehnliche ausgestopfte Gruppe des Homo sapiens in ihrer Sammlung. Ich überlege, wer wohl beehrt wurde.“

„Du hast wahrscheinlich recht“, sagte Rupert ziemlich gleichgültig. „Man könnte es leicht durch die Krankenhäuser bewerkstelligen.“

„Was würde geschehen“, fuhr Jan nachdenklich fort, „wenn jemand freiwillig als lebendes Musterstück mitginge? Angenommen natürlich, daß für später eine Rückkehr garantiert wäre.“

Rupert lachte, nicht ohne Anteilnahme. „Ist das ein Angebot? Soll ich es an Raschaverak weiterleiten?“

Einen Augenblick erwog Jan diesen Gedanken mehr als nur halb ernsthaft. Dann schüttelte er den Kopf. „Hm — nein. Ich habe nur laut gedacht. Sie würden bestimmt ablehnen. Triffst du übrigens Raschaverak in diesen Tagen?“

„Er rief mich vor etwa sechs Wochen an. Er hatte gerade ein Buch gefunden, hinter dem ich her war. Sehr nett von ihm.“

Jan ging langsam um das ausgestopfte Riesentier herum und bewunderte die Geschicklichkeit, die es für immer in diesem Augenblick größter Kraft festgehalten hatte.

„Hast du je herausgefunden, was er sucht?“ fragte er. „Ich meine, man kann die Wissenschaft der Overlords schwer mit einem Interesse an dem Okkulten vereinen.“

Rupert sah Jan etwas argwöhnisch an und fragte sich, ob sein Schwager sich über sein Steckenpferd lustig mache. „Seine Erklärung erschien glaubhaft. Als Anthropologe interessiert er sich für jede Seite unserer Kultur.

Bedenke, daß sie ungeheuer viel Zeit haben. Sie können sich viel mehr in die Einzelheiten vertiefen, als dies ein menschlicher Forscher jemals könnte. Wenn Raschy meine ganze Bibliothek gelesen hat, war das für ihn wahrscheinlich nur eine geringe Anstrengung.“

Das mochte die Antwort sein, aber Jan war nicht überzeugt. Bisweilen hatte er daran gedacht, Rupert sein Geheimnis anzuvertrauen, aber seine natürliche Vorsicht hielt ihn zurück. Wenn Rupert seinen Freund, den Overlord wieder traf, würde er ihm wahrscheinlich etwas verraten — die Versuchung wäre zu groß.

„Übrigens“, sagte Rupert und wechselte plötzlich das Thema, „wenn du dies für eine große Sache hältst, so solltest du den Auftrag sehen, den Sullivan bekommen hat. Er hat versprochen, die beiden größten Geschöpfe überhaupt zu liefern: einen Pottwal und einen Riesentintenfisch. Man wird sie im tödlichen Kampf zeigen. Das ist ein Schauspiel!“

Einen Augenblick antwortete Jan nicht. Der Gedanke, der sich in seinem Kopf entzündet hatte, war zu gewaltig, zu phantastisch, um ernst genommen zu werden. Aber gerade wegen seiner Kühnheit könnte es gelingen.

„Was ist?“ sagte Rupert besorgt. „Greift die Hitze dich an?“

Jan zwang sich in die Wirklichkeit zurück. „Ich bin völlig in Ordnung“, sagte er. „Ich überlegte nur, wie die Overlords so ein kleines Paket befördern werden.“

„Oh“, sagte Rupert, „da kommt eines ihrer Transportschiffe, öffnet eine Luke und nimmt es auf.“

„Genau das hatte ich mir auch gedacht“, erwiderte Jan.

7

Es hätte die Kabine eines Raumschiffes sein können, aber sie war es nicht. Die Wände waren mit Meßgeräten und Instrumenten bedeckt. Fenster waren nicht darin, nur ein großer Bildschirm vor dem Piloten. Das Schiff konnte sechs Passagiere aufnehmen, aber im Augenblick war Jan der einzige.

Er beobachtete gespannt den Bildschirm und nahm jede Einzelheit dieser sonderbaren und unbekannten Region, während sie vor seinem Auge vorbeiglitt, in sich auf. Unbekannt war sie, ja, so unbekannt wie irgend etwas, was er jenseits der Sterne sehen würde, wenn sein toller Plan glückte. Er begab sich jetzt in ein Reich von Geschöpfen, die wie aus Alpträumen stammten, die einander in einer seit Anbeginn der Welt ungestört gebliebe nen Finsternis belauerten. Es war ein Reich, über das die Menschen Jahrtausende lang dahingefahren waren: Es lag nicht mehr als tausend Meter unter dem Kiel ihrer Schiffe, aber bis vor hundert Jahren hatten sie weniger darüber gewußt als über das sichtbare Antlitz des Mondes.

Der Pilot ging von der Oberfläche des Ozeans in die noch unerforschten Tiefen des südlichen Pazifiks hinunter. Jan wußte, daß er der unsichtbaren Führung der Schallwellen folgte, die von den auf dem Grunde des Ozeans angebrachten Apparaten erzeugt wurden. Noch befand sich das Schiff so hoch über dem Meeresgrund wie die Wolken über der Erdoberfläche.

Es gab sehr wenig zu sehen. Die Sucher des Unterseebootes durchforschten die Gewässer vergeblich. Die durch seine Düsen hervorgerufene Störung hatte wahrscheinlich die kleineren Fische verscheucht: Wenn irgendein Geschöpf sich näherte, um die Störung zu untersuchen, so würde es so groß sein, daß es den Begriff Furcht nicht kannte.

Die kleine Kabine vibrierte von Kraft, jener Kraft, die das ungeheure Gewicht des Wassers über ihren Köpfen meistern und diese kleine Blase von Licht und Luft schaffen konnte, in der Menschen zu leben vermochten. Wenn diese Kraft versagte, dachte Jan, so würden sie Gefangene in einem Metallsarge sein, tief im Schlamm des Ozeangrundes begraben.

„Zeit, eine Messung zu machen“, sagte der Pilot. Er drehte an einigen Schaltern, und das Unterseeboot kam langsam zum Stillstand, als die Düsen den Antrieb einstellten. Das Schiff lag regungslos da und schwamm in völligem Gleichgewicht, wie ein Ballon in der Atmosphäre.

Es dauerte nur einen Augenblick, mit Hilfe der Schallwellen ihre Position festzustellen. Als der Pilot seine Instrumente abgelesen hatte, bemerkte er: „Ehe wir die Motoren wieder anstellen, wollen wir versuchen, ob wir irgend etwas hören können.“

Der Lautsprecher erfüllte den stillen kleinen Raum mit einem leisen, andauernden Gemurmel von Tönen. Es gab darin kein auffallendes Geräusch, das Jan von den übrigen hätte unterscheiden können. Es war ein gleichmäßiger Hintergrund, in dem alle einzelnen Töne ineinander übergingen. Jan wußte, daß er hier dem Gespräch der Myriaden von Meerestieren miteinander lauschte. Es war, als stände er mitten in einem Walde, der von Leben strotzte, nur daß er dort einige Stimmen erkannt hätte. Hier konnte nicht ein einziger Faden des Tongewebes herausgelöst und identifiziert werden. Es war so fremd, so fern allem, was Jan je erlebt hatte, daß sein Schädel zu brummen begann. Und doch war dies ein Teil seiner eigenen Welt…

Der Schrei durchschnitt den vibrierenden Hintergrund wie ein Blitz, der in einer dunklen Gewitterwolke aufzuckt. Er verebbte rasch in einem trauervollen Klagen, einem Geheul, das leiser wurde und erstarb, jedoch einen Augenblick später aus einer entfernteren Quelle wiederholt wurde.

Dann brach ein Chor von Schreien los, ein Pandämonium, das den Piloten veranlaßte, rasch nach dem Lautstärkeregler zu greifen.

„Um Himmels willen, was war das?“ ächzte Jan.

„Unheimlich, nicht wahr? Es ist ein Walschwarm, etwa zehn Kilometer entfernt. Ich wußte, daß sie in der Nachbarschaft wären und dachte mir, daß Sie sie gern hören würden.“

Jan schüttelte sich. „Und ich habe immer gedacht, das Meer wäre still! Warum machen sie so einen Krach?“

„Sie reden miteinander, vermute ich. Sullivan könnte es Ihnen sagen — man behauptet, er könne die einzelnen Wale an der Stimme erkennen, obwohl ich das kaum glauben kann. Hallo, wir haben Gesellschaft bekommen!“

Ein Fisch mit unglaublich hervorstehenden Kiefern wurde auf dem Bildschirm sichtbar. Er schien ziemlich groß zu sein, aber da Jan den Maßstab des Bildes nicht kannte, konnte er es schwer beurteilen. Von einer Stelle dicht unter den Kiemen hing eine lange Ranke herunter, die in einem nicht zu bestimmenden glockenförmigen Organ endete.

„Wir sehen es im Infrarot“, sagte der Pilot. „Wir wollen uns das normale Bild ansehen.“

Der Fisch verschwand völlig. Nur das Gehänge blieb sichtbar, da es mit seiner eigenen Leuchtkraft schimmerte. Dann konnte man für einen Augenblick die Gestalt des Geschöpfes sehen, als eine Lichtpunktreihe seinen Körper entlangglitt.

„Es ist ein Seeteufel: Die Lichter sind der Köder, den er benutzt, um andere Fische zu fangen. Phantastisch, nicht wahr? Was ich nicht verstehe: Warum lockt sein Köder nicht Fische an, die groß genug sind, ihn zu fressen? Aber wir können hier nicht den ganzen Tag warten. Passen Sie auf, wie er davonrast, wenn ich die Düsen anstelle.“

Wieder erzitterte die Kabine, als das Schiff sich langsam in Bewegung setzte. Der große, leuchtende Fisch ließ plötzlich all seine Lichter aufzucken, wie zu einem heftigen Alarmsignal, und schoß wie ein Meteor in die Finsternis der Tiefe hinein.

Nach weiteren zwanzig Minuten langsamen Abstiegs ertasteten die unsichtbaren Finger der Suchstrahlen die erste Spur des Meeresgrundes. Weit unten in der Tiefe glitt eine Reihe von niedrigen Hügeln mit seltsam sanften und gerundeten Umrissen vorbei. Die Unregelmäßigkeiten, die sie vielleicht einstmals besessen haben mochten, waren längst durch den unaufhörlichen Regen aus den wässerigen Höhen über ihnen ausgelöscht worden. Selbst hier, mitten im Pazifik, fern von den großen Flußmündungen, die langsam die Kontinente ins Meer hinausschwemmten, hörte dieser Regen niemals auf. Er kam von den sturmgepeitschten Hängen der Anden, von den Körpern der Milliarden von Lebewesen, vom Staub der Meteore, die lange Zeit durch den Raum gewandert und endlich zur Ruhe gekommen waren. Hier in der ewigen Nacht bildete dieser Regen die Fundamente der künftigen Länder.

Die Hügel blieben hinter ihnen zurück. Sie waren, wie Jan auf den Karten sehen konnte, die Grenzposten einer weiten Ebene, die in zu großer Tiefe lag, als daß die Suchstrahlen sie erreichen könnten.

Das Unterseeboot setzte seinen langsamen Abstieg fort. Jetzt begann sich ein anderes Bild auf dem Schirm zu formen: Wegen des Blickwinkels dauerte es einige Zeit, bis Jan erkennen konnte, was er sah. Dann merkte er, daß sie sich einem Unterwasserberg näherten, der von der verborgenen Ebene aufstieg.

Das Bild war jetzt deutlicher: In dieser kurzen Entfernung verbesserte sich die Arbeit der Suchstrahlen, und das Bild wurde fast so klar, als würde es von Lichtwellen geformt. Jan konnte Einzelheiten sehen, konnte die seltsamen Fische beobachten, die einander zwischen den Felsen verfolgten. Einmal schwamm ein bösartig aussehendes Geschöpf mit aufgesperrten Kiefern langsam über eine halbverborgene Kluft. So rasch, daß das Auge der Bewegung nicht folgen konnte, schnellte ein langer Fühler heraus und zog den sich wehrenden Fisch in sein Verhängnis.

8

„Jetzt sind wir fast am Ziel“, sagte der Pilot. „In einer Minute werden Sie das Laboratorium sehen können.“

Sie glitten langsam über eine Felsenkette dahin, die sich am Fuß des Berges erhob. Jetzt wurde die darunterliegende Ebene sichtbar. Jan erriet, daß sie sich nicht mehr als einige hundert Meter über dem Meeresgrund befanden. Dann sah er, etwa einen Kilometer entfernt, eine Gruppe von Kugeln, die auf Dreifüßen standen und durch verbindende Röhren vereinigt waren. Es sah genau aus wie die Tanks irgendeiner chemischen Fabrik und war in der Tat nach den gleichen Grundprinzipien erbaut. Der einzige Unterschied war, daß hier der Druck, dem Widerstand geleistet werden mußte, außen lag, nicht innen.

„Was ist das?“ sagte Jan plötzlich erschrocken. Er deutete mit zitternden Fingern auf die nächste Kugel. Das sonderbare Linienmuster auf ihrer Oberfläche hatte sich in ein Netz von riesigen Fangarmen aufgelöst. Als das Unterseeboot näher herankam, konnte er sehen, daß sie in einem großen schwammigen Sack endeten, aus dem zwei ungeheure Augen herausspähten.

„Das“, sagte der Pilot gleichmütig, „ist wahrscheinlich Luzifer. Jemand hat ihn wieder gefuttert.“ Er drehte an einem Schalter und beugte sich über den Schalttisch. „S 2 ruft Labor. Ich komme. Nehmt euer Haustier weg!“

Die Antwort ertönte unmittelbar. „Labor an S 2. Alles in Ordnung. Kommt nur. Lucy macht euch Platz.“

Die gerundeten Metallwände begannen den Bildschirm zu füllen. Jan fing noch ein letztes Bild von einem riesigen, mit Saugnäpfen besetzten Arm auf, der bei ihrem Näherkommen weggezogen wurde. Dann gab es einen dumpfen Aufprall und eine Reihe kratzender Geräusche, als die Klammern nach ihren Haltepunkten auf dem glatten, ovalen Rumpf des Unterseebootes suchten, In wenigen Minuten war das Schiff dicht gegen die Wand des Stützpunktes gepreßt, die beiden Eintrittspforten waren zusammengeschlossen worden und bewegten den Rumpf des Unterseeboots weiter vorwärts bis an das Ende einer riesigen hohlen Schraube. Dann kam das Signal, daß der Druck ausgeglichen sei, die Klammern wurden gelöst und der Weg in das Tiefseelaboratorium Nummer Eins stand offen.

Jan fand Professor Sullivan in einem kleinen, unordentlichen Raum, der als Büro, Werkstatt und Laboratorium zugleich zu dienen schien. Der Forscher spähte durch ein Mikroskop in etwas hinein, was wie eine kleine Bombe aussah. Wahrscheinlich war es eine Druckkapsel, die irgendein Tiefseelebewesen enthielt, das noch glücklich unter seinem normalen Quadratzentimetertonnengewicht umherschwamm.

„Nun“, sagte Sullivan und blickte von dem Okular auf, „wie geht es Rupert? Und was können wir für Sie tun?“

„Rupert geht es gut“, erwiderte Jan. „Er läßt bestens grüßen und sagt, er würde Sie gern besuchen, wenn er nicht fürchtete, hier an Platzangst zu erkranken.“

„Dann würde er sich hier unten etwas unglücklich fühlen, wenn fünftausend Meter Wasser über ihm sind. Macht es Ihnen übrigens nichts aus?“

Jan zuckte die Schultern. „Nicht mehr, als wenn ich in einem Stratosphärenflugzeug bin. Wenn irgend etwas schiefginge, wäre das Ergebnis in beiden Fällen das gleiche.“

„Das ist ein vernünftiger Standpunkt, aber es ist erstaunlich, wie wenige Menschen es so ansehen.“ Sullivan spielte an den Schaltern seines Mikroskopes, dann warf er Jan einen forschenden Blick zu.

„Es wird mir eine große Freude sein, Sie herumzuführen“, sagte er, „aber ich muß gestehen: Ich war etwas überrascht, als Rupert mir Ihre Bitte vortrug. Ich konnte nicht begreifen, warum einer von euch Weltraumfahrern sich für unsere Arbeit interessieren sollte. Gehen Sie nicht nach der falschen Richtung?“ Er lachte belustigt. „Persönlich habe ich nie begriffen, warum Sie es so eilig hatten, in den Weltraum hinauszukommen. Es wird noch Jahrhunderte dauern, bis wir in den Ozeanen alles fein säuberlich aufgezeichnet und rubriziert haben.“

Jan holte tief Luft. Er war froh, daß Sullivan das Thema selbst angeschnitten hatte, denn dadurch wurde seine Aufgabe sehr erleichtert. Trotz jenes Witzes hatten der Fisch forscher und er vieles gemeinsam. Es dürfte nicht zu schwierig sein, eine Brücke zu bauen und sich Sullivans Anteilnahme und Hilfe zu sichern. Sullivan war ein phantasievoller Mann, sonst wäre er nie in diese Unterwasserwelt eingedrungen. Aber Jan würde vorsichtig sein müssen, denn die Bitte, die er vorbringen wollte, war, gelinde gesagt, etwas unüblich.

Aber ein Umstand beruhigte ihn. Selbst wenn Sullivan sich weigern sollte, gemeinsame Sache mit ihm zu machen, so würde er doch sicherlich Jans Geheimnis wahren. Und hier in diesem stillen kleinen Büro auf dem Grunde des Pazifiks schien keine Gefahr zu bestehen, daß die Overlords, so seltsame Kräfte sie auch besitzen mochten, ihrer Unterhaltung zuhören konnten.

„Professor Sullivan“, begann er, „wenn Sie sich für den Ozean interessieren, die Overlords Ihnen aber verböten, sich ihm zu nähern — was für ein Gefühl würden Sie dann haben?“

„Ich würde zweifellos äußerst ärgerlich sein.“

„Davon bin ich überzeugt. Und angenommen, Sie hätten eines Tages eine Möglichkeit, Ihr Ziel zu erreichen, ohne daß die Overlords es wüßten — was würden Sie dann tun? Würden Sie die Gelegenheit ergreifen?“

„Natürlich. Und ich würde später dafür eintreten.“

Nun habe ich ihn in der Hand, dachte Jan. Jetzt kann er nicht zurück — falls er nicht vor den Overlords Angst hat. Und ich bezweifle, daß Sullivan vor irgend etwas Angst hat. Jan beugte sich über den hochbeladenen Tisch und schickte sich an, seinen Fall vorzutragen.

Professor Sullivan war kein Narr. Ehe Jan sprechen konnte, schürzten sich seine Lippen zu einem sarkastischen Lächeln. „Also darauf läuft es hinaus?“ sagte er langsam. „Sehr, sehr interessant! Jetzt schießen Sie los und sagen Sie mir, wobei ich Ihnen helfen soll.“

Ein früheres Zeitalter hätte die Arbeiten Professor Sullivans als kostspieligen Luxus angesehen. Seine Arbeiten kosteten so viel wie ein kleiner Krieg. Tatsächlich konnte er mit einem General verglichen werden, der einen ständigen Kampf gegen einen nie zurückweichenden Feind führt. Professor Sullivans Feind war die See, und sie bekämpfte ihn mit den Waffen der Kälte, der Finsternis und vor allem des Drucks. Er seinerseits trat seinem Gegner mit Klugheit und technischer Geschicklichkeit entgegen. Er hatte viele Siege errungen, aber die See war geduldig. Sie konnte warten. Eines Tages, das wußte Sullivan, würde er einen Fehler machen. Wenigstens hatte er den Trost, zu wissen, daß er nie ertrinken könnte, dazu würde es viel zu schnell gehen.

Er hatte sich, als Jan seine Bitte vortrug, geweigert, sich sogleich nach irgendeiner Seite festzulegen, aber er wußte, wie seine Antwort sein würde. Hier bot sich die Gelegenheit zu einem höchst interessanten Experiment. Schade, daß er das Ergebnis nie erfahren würde; jedoch das kam in der wissenschaftlichen Forschung oft genug vor, und er selber hatte andere Vorhaben in Angriff genommen, deren Durchführung Jahrzehnte erfordern würde.

Professor Sullivan war ein tapferer und ein intelligenter Mann, aber wenn er auf seine Laufbahn zurückblickte, war er sich bewußt, daß sie ihm nicht den Ruhm gebracht hatte, der den Namen eines Gelehrten durch die Jahrhunderte trägt. Hier bot sich eine völlig unerwartete und dadurch nur um so reizvollere Gelegenheit, wirklich in die Bücher der Geschichte einzugehen. Diesen Ehrgeiz hätte er nie irgendeinem Menschen eingestanden, aber, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Er hätte Jan auch geholfen, selbst wenn seine Rolle bei dem Unternehmen für immer unbekannt bleiben würde.

Jan mußte jetzt alles noch reiflich durchdenken. Der Schwung seiner ursprünglichen Entdeckung hatte ihn ohne Anstrengung bis hierher gebracht. Er hatte seine Nachforschungen angestellt, hatte aber keine ernsthaften Schritte unternommen, um seinen Traum zu verwirklichen. In wenigen Tagen jedoch mußte er seine Wahl treffen. Wenn Professor Sullivan sich zur Mitarbeit erklärte, so konnte Jan nicht mehr zurück. Er mußte der Zukunft, die er gewählt hatte, mit all ihren Folgen ins Auge blicken.

Was schließlich die Entscheidung brachte, war der Gedanke, daß er es sich nie verzeihen würde, wenn er diese unglaubliche Gelegenheit vorbeigehen ließe. Sein ganzes übriges Leben würde in vergeblichem Bedauern verbracht werden, und nichts konnte schlimmer sein als das.

Sullivans Antwort erreichte ihn wenige Stunden später, und Jan wußte, daß die Würfel gefallen waren. Langsam, da er noch viel Zeit hatte, begann er seine Angelegenheiten zu ordnen.

„Liebe Maja“, begann der Brief, „dies wird, gelinde ausgedrückt, eine Überraschung für Dich sein. Wenn Du diesen Brief bekommst, bin ich nicht mehr auf der Erde. Damit meine ich nicht, daß ich zum Mond gegangen bin, wie viele andere. Nein, ich bin auf dem Wege zur Heimat der Overlords. Ich werde der erste Mensch sein, der je das Sonnensystem verlassen hat.

Ich übergebe diesen Brief dem Freunde, der mir hilft: Er wird ihn behalten, bis er weiß, daß mein Plan geglückt ist, wenigstens in seinem ersten Teil, und daß es für die Overlords zu spät ist, ihn zu verhindern. Ich werde so weit entfernt sein und so schnell reisen, daß ich bezweifle, ob irgendeine Rückberufungsnachricht mich einholen könnte. Selbst wenn das der Fall wäre, ist es höchst unwahrscheinlich, daß das Schiff zur Erde zurückzukehren vermöchte. Und ich bezweifle sehr, daß ich überhaupt so wichtig bin.

Zuerst will ich erklären, wie dies alles gekommen ist. Du weißt, daß ich mich stets für Weltraumflüge interessiert habe, und ich war immer enttäuscht, weil man uns nie erlaubt hat, zu den anderen Planeten zu reisen oder irgend etwas über die Zivilisation der Overlords zu erfahren. Wenn sie sich nie eingemischt hätten, so wären wir jetzt sicherlich schon zum Mars und zur Venus gekommen. Ich gebe zu, daß es ebenso wahrscheinlich ist, daß wir uns mit Kobaltbomben und den anderen Massenzerstörungswaffen, die das zwanzigste Jahrhundert entwickelte, selbst vernichtet hätten. Aber manchmal wünsche ich doch, wir hätten eine Möglichkeit gehabt, auf unseren eigenen Füßen zu stehen.

Wahrscheinlich haben die Overlords ihre Gründe dafür gehabt, uns nicht aus der Kinderstube herauszulassen, und wahrscheinlich sind es ausgezeichnete Gründe gewesen. Aber selbst wenn ich wüßte, aus welchem Grunde es geschah, bezweifle ich, daß es meine Gefühle oder Taten wesentlich verändern würde.

In Wirklichkeit hat es damals auf Ruperts Gesellschaft begonnen. Er weiß übrigens nichts hiervon, obwohl er mich auf die richtige Spur gebracht hat. Du erinnerst Dich an die alberne Seance, die er veranstaltete, und wie sie endete, als die Dame — ich habe ihren Namen vergessen — ohnmächtig wurde? Ich hatte gefragt, von welchem Stern die Overlords gekommen seien, und die Antwort war ›NGS 549 672‹. Ich hatte keine Antwort erwartet und bis dahin die ganze Sache als Spaß angesehen. Aber als ich feststellte, daß dies eine Nummer in einem Sternkatalog war, beschloß ich, die Sache genauer zu untersuchen. Ich entdeckte, daß der Stern sich im Sternbild Carina befindet, und einige der wenigen Tatsachen, die wir über die Overlords wissen, ist, daß sie aus jener Richtung kommen.

Ich will nun nicht behaupten, daß ich begreife, wie diese Auskunft zu uns gekommen ist oder woher sie stammte. Hat irgend jemand Raschaveraks Gedanken gelesen? Selbst wenn das der Fall gewesen wäre, ist es kaum wahrscheinlich, daß Raschaverak die Nummer seiner Sonne in einem unserer Kataloge kannte. Es ist ein völliges Rätsel, und ich überlasse die Lösung Leuten wie Rupert, wenn sie dazu fähig sind. Mir genügt es, mich der Auskunft zu bedienen und entsprechend zu handeln.

Wir wissen jetzt durch unsere Beobachtung ihrer Abflüge einiges über die Schnelligkeit der Schiffe der Overlords. Sie verlassen das Sonnensystem mit so ungeheurer Beschleunigung, daß sie in weniger als einer Stunde die Lichtgeschwindigkeit erreichen. Das bedeutet, daß die Overlords irgendein Antriebsmittel besitzen müssen, das auf jedes Atom ihrer Schiffe gleichmäßig wirkt, weil sonst alles an Bord sofort zertrümmert würde. Ich frage mich, warum sie eine so ungeheure Schnelligkeit anwenden, da sie doch den ganzen Weltraum zur Verfügung haben und sich Zeit lassen könnten, ihre Schnelligkeit allmählich zu steigern. Meine Theorie ist, daß sie irgendwie die Kraftfelder der Sterne ausnutzen können, und deshalb starten und stoppen müssen, wenn sie nahe bei einer Sonne sind. Aber das alles ist nur nebensächlich.

Wichtig war für mich, zu wissen, wie weit sie reisen müssen und wie lange die Reise dauert. NGS 549.672 ist vierzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Die Schiffe der Overlords erreichen mehr als 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit, so daß die Fahrt vierzig Jahre unserer Zeit dauern muß. Unserer Zeit, das ist das Verzwickte an der Sache.

Wie Du vielleicht gehört hast, geschehen sonderbare Dinge, wenn man sich der Lichtgeschwindigkeit nähert. Die Zeit selbst beginnt in einem anderen Tempo zu vergehen, sich zu verlangsamen, so daß Monate auf der Erde auf den Schiffen der Overlords nur wie Tage sein würden. Diese Wahrheit steht fest: Sie wurde von dem großen Einstein vor mehr als hundert Jahren entdeckt.

Ich habe Berechnungen angestellt und die wohlbegründeten Ergebnisse der Relativitätstheorie benutzt. Für die Passagiere eines der Overlord-Schiffe dauert die Reise zum NGS 549.672 nicht länger als zwei Monate, wenn auch nach unseren irdischen Begriffen vierzig Jahre vergehen werden. Ich weiß, daß dies paradox klingt, und wenn es Dir ein Trost ist, kann ich Dir sagen, daß es die besten Köpfe der Welt beschäftigt hat, seit Einstein es verkündete.

Vielleicht zeigt Dir dieses Beispiel, was für Dinge geschehen können, und es wird Dir ein klareres Bild von der Situation geben. Wenn die Overlords mich sofort zur Erde zurückschicken, so werde ich daheim nur um vier Monate älter geworden ankommen. Aber auf der Erde selbst werden achtzig Jahre vergangen sein. Du verstehst also, Maja: Was auch geschieht, dies ist ein Lebewohl.

Ich habe hier wenig, was mich bindet, was Du ja weißt; ich kann also mit ruhigem Gewissen gehen. Ich habe es unserer Mutter noch nicht gesagt, sie würde sich schrecklich aufregen, und das könnte ich nicht mit ansehen. Es ist besser so. Obwohl ich versucht habe, seit dem Tode unseres Vaters Nachsicht zu üben — nun, es hat keinen Sinn, über das alles jetzt wieder zu reden.

Alles ist geregelt, und Du brauchst Dir über nichts Sorgen zu machen.

Vielleicht hältst Du mich für närrisch, da es unmöglich erscheint, daß irgend jemand eines der Schiffe der Overlords betreten kann. Aber ich habe einen Weg gefunden. Er bietet sich nicht sehr oft und nach diesem Vorfall vielleicht nie wieder, denn ich bin überzeugt, daß Karellen den gleichen Fehler nie zweimal macht. Kennst Du die Sage von dem hölzernen Pferd, das die griechischen Soldaten in die Stadt Troja brachte? Aber es gibt im Alten Testament eine Erzählung, die der Sache noch näher kommt.“

„Sie werden es sicherlich viel bequemer haben als Jonas“, sagte Sullivan. „Man hat nie gehört, daß er elektrisches Licht und sanitäre Anlagen zur Verfügung hatte. Aber Sie werden eine, Menge Vorräte brauchen, und ich sehe, daß Sie Sauerstoff mitnehmen. Können Sie für eine zweimonatige Reise in so kleinem Raum genügend mitnehmen?“

Er deutete mit dem Finger auf die sorgfältigen Zeichnungen, die Jan auf den Tisch gelegt hatte. Das Mikroskop diente an dem einen Ende als Briefbeschwerer, der Schädel irgendeines unwahrscheinlichen Fisches hielt das andere Ende fest.

„Ich hoffe, der Sauerstoff wird nicht nötig sein“, sagte Jan. „Wir wissen, daß sie unsere Atmosphäre atmen können, aber sie scheinen sie nicht gerade zu lieben, und ich bin vielleicht nicht imstande, mit der ihren zurechtzukommen. Was die Nahrung betrifft, so wird diese Frage dadurch gelöst, daß ich Narkosamin nehme. Das ist völlig sicher. Wenn wir unterwegs sind, gebe ich mir eine Spritze, die mich für sechs Wochen und ein paar Tage bewußtlos macht, also fast bis zu meiner Ankunft dort. Übrigens betraf meine Sorge weniger die Nahrung und den Sauerstoff als vielmehr die Langeweile.“

Professor Sullivan nickte nachdenklich. „Ja, Narkosamin ist eine sichere Sache und kann sehr genau dosiert werden. Aber sorgen Sie dafür, daß Sie viel Nahrung bereit haben — Sie werden heißhungrig sein, wenn Sie erwachen, und so schwach wie ein Kätzchen. Wenn Sie nun verhungern müssen, weil Sie nicht die Kraft haben, einen Dosenöffner zu benutzen?“

„Daran habe ich gedacht“, sagte Jan etwas gekränkt. „Ich werde mich auf übliche Weise durch Traubenzucker und Schokolade wieder zu Kräften bringen.“

„Gut. Ich freue mich, daß Sie alles gründlich überlegt haben und es nicht als einen besseren Jux ansehen, aus dem Sie wieder aussteigen können, wenn Ihnen nicht alles paßt. Es ist Ihr Leben, mit dem Sie spielen, aber mir wäre es schrecklich, wenn ich das Gefühl haben müßte, daß ich Ihnen half, Selbstmord zu begehen.“

Er ergriff den Fischschädel und wog ihn gedankenlos in der Hand. Jan hielt den Plan fest, damit er sich nicht zusammenrollte.

„Glücklicherweise“, fuhr Professor Sullivan fort, „ist die Ausrüstung, die Sie brauchen, durchaus normal, und unsere Werkstatt kann sie in wenigen Wochen zusammenstellen. Und wenn Sie doch noch Ihren Entschluß ändern sollten.“

„Das werde ich nicht tun“, sagte Jan.

„Ich habe alle Gefahren, denen ich mich aussetze, erwogen, und der Plan scheint keinen Fehler zu haben. Nach sechs Wochen melde ich mich wie irgendein blinder Passagier. Dann wird — nach meiner Zeit gerechnet — die Reise fast beendet sein. Wir werden im Begriff stehen, auf der Welt der Overlords zu landen. Was dann geschieht, liegt natürlich in ihrer Hand. Wahrscheinlich werde ich mit dem nächsten Schiff nach Hause zurückgeschickt, aber immerhin kann ich erwarten, wenigstens einiges zu sehen. Ich nehme eine Vier-Millimeter-Kamera und ein paar tausend Meter Film mit. Es wird nicht meine Schuld sein, wenn ich sie nicht benutzen kann. Schlimmstenfalls habe ich bewiesen, daß man Menschen auf die Dauer nicht in Quarantäne halten kann. Ich habe dann einen Präzedenzfall geschaffen, der Karellen zwingen wird, irgend etwas zu unternehmen.

Dies, meine liebe Maja, ist alles, was ich Dir zu sagen habe. Ich weiß, Du wirst mich nicht sehr vermissen. Wir wollen ehrlich zugeben, daß wir nie sehr stark miteinander verbunden waren, und nachdem Du Rupert geheiratet hast, wirst Du in Deiner eigenen privaten Welt vollkommen glücklich sein. Wenigstens hoffe ich das.

Also leb wohl und viel Glück! Ich freue mich darauf, Deinen Enkeln zu begegnen. Bitte sorge dafür, daß sie etwas von mir wissen.

Dein Dich liebender Bruder Jan.“

9

Als Jan es das erstemal sah, konnte er sich kaum vorstellen, daß er nicht den Rumpf eines kleinen Luftschiffes vor sich hatte, das zusammengefügt wurde. Das Metallgestell war zwanzig Meter lang, stromlinienförmig und von einem leichten Gerüst umgeben, auf dem die Arbeiter mit ihren Werkzeugmaschinen herumkletterten.

„Ja“, sagte Sullivan als Antwort auf Jans Frage, „wir wenden die übliche aeronautische Technik an, und die meisten dieser Leute kommen aus der Flugzeugindustrie. Es ist kaum zu glauben, daß ein Ding dieser Größe lebendig sein könnte, nicht wahr? Oder daß es aus dem Wasser herausschnellen kann, wie ich es gesehen habe.“

Es war alles sehr fesselnd, aber Jan hatte andere Dinge im Kopf. Seine Augen schweiften über den riesigen Rumpf, um einen geeigneten Platz für seine kleine Zelle, den „Sarg mit Luftloch“, wie Sullivan sie getauft hatte, zu finden. In einem Punkt fühlte er sich sofort beruhigt. Was den Platz anbetraf, so würde hier Raum für ein Dutzend blinder Passagiere sein.

„Das Skelett sieht fast fertig aus“, sagte Jan. „Wann werden Sie die Haut überziehen? Ich vermute, Sie haben Ihren Wal schon gefangen, denn sonst wüßten Sie nicht, wie groß Sie den Rumpf machen müßten.“

Sullivan schien durch diese Bemerkung sehr belustigt zu sein.

„Wir haben nicht die geringste Absicht, einen Wal zu fangen.

Übrigens haben Wale kein Häute im eigentlichen Sinn des Wortes. Es wäre kaum möglich, eine Decke aus zwanzig Zentimeter dickem Speck über dieses Gerüst zu spannen. Nein, das ganze Ding wird mit Kunststoff belegt und dann sorgfältig angemalt. Wenn es fertig ist, wird niemand den Unterschied sehen können.“

Dann, dachte Jan, wäre es doch für die Overlords das vernünftigste gewesen, Fotos aufzunehmen und das lebensgroße Modell auf ihrem Heimatplaneten selbst herzustellen. Aber vielleicht kehrten ihre Versorgungsschiffe leer zurück, und ein kleines Ding wie ein zwanzig Meter langer Pottwal würde kaum bemerkt werden. Wenn man so viel Kraft und so viele Hilfsquellen besaß, konnte einem nicht an kleineren Ersparnissen liegen.

Professor Sullivan stand neben einer der großen Plastiken, die seit Entdeckung der Osterinsel für die Archäologie ein so großes Rätsel gewesen waren. Wen sie nun auch darstellen mochte, ob König, ob Gott, ihre blinden Augen schienen seinem Blick zu folgen, während er auf seine Arbeit schaute. Er war stolz auf sein Werk; es war bedauerlich, daß es bald für immer dem menschlichen Betrachter entzogen wurde.

Dieses Gebilde hätte das Werk irgendeines wahnsinnigen Künstlers im Rauschgiftdelirium sein können. Und doch war es eine sorgfältige Kopie des Lebens: Hier war die Natur selbst die Künstlerin. Dieses Schauspiel hatten bis zur Entwicklung des Unterwasserfernsehens nur wenige Menschen jemals gesehen, und selbst dann nur für Sekunden bei den seltenen Gelegenheiten, wenn diese riesigen Gegner sich zur Oberfläche hinaufarbeiteten. Diese Kämpfe wurden in der endlosen Nacht der Ozeantiefen ausgefochten, wo die Pottwale ihre Beute erjagten, eine Beute, die sich heftig dagegen wehrte, lebend verschlungen zu werden.

Der lange, mit Sägezähnen besetzte Unterkiefer des Wals war weit geöffnet, bereit, die Beute zu packen. Der Kopf des Riesenpolypen war fast versteckt unter dem Netzwerk von weißen, schwammigen Armen, mit denen er verzweifelt um sein Leben kämpfte. Bläuliche Saugmale mit einem Durchmesser von zwanzig Zentimetern oder mehr hatten die Haut des Wals überall da, wo diese Arme sich angeklammert hatten, gefleckt. Ein Fangarm war schon verstümmelt, und über den endgültigen Ausgang des Kampfes konnte es keinen Zweifel geben. Wenn die beiden größten Tie re der Erde miteinander kämpften, war der Wal immer der Sieger. Trotz der ungeheuren Kraft der unzähligen Fangarme lag die einzige Hoffnung des Polypen darin, zu entkommen, bevor der geduldig mahlende Kiefer ihn in Stücke zersägt hatte. Seine großen, ausdruckslosen Augen, einen halben Meter voneinander entfernt, starrten seinen Vernichter an, obwohl höchstwahrscheinlich in der Finsternis der Tiefe kein Geschöpf das andere sehen konnte.

Das ganze Ausstellungsstück war über dreißig Meter lang und jetzt von einem Aluminiumkäfig umgeben, an dem der Hebekran befestigt war. Alles war bereit, man wartete nur auf die Weisung der Overlords. Sullivan hoffte, daß sie schnell handeln würden; der Aufschub begann unbehaglich zu werden.

Jemand war aus dem Büro in den hellen Sonnenschein hinausgetreten, offenbar um ihn zu suchen. Sullivan erkannte seinen Sekretär und ging ihm entgegen. „Nun, Bill, was ist los?“

Der andere hielt ein Fernschreiben in der Hand und sah sehr erfreut aus. „Gute Nachricht, Herr Professor. Man ehrt uns. Der Oberkontrolleur möchte selbst herkommen und sich unser Werk ansehen, ehe es verfrachtet wird. Denken Sie nur, was das für eine Reklame für uns ist! Das wird uns sehr nützen, wenn wir neue Zuwendungen beantragen. Ich hatte auf so etwas gehofft.“

Professor Sullivan schluckte heftig. Er hatte nichts gegen Reklame, aber diesmal fürchtete er, es könne zuviel des Guten werden.

Karellen stand neben dem Kopf des Wals und blickte zu dem großen, plumpen Maul und den mit Elfenbeinzähnen besetzten Kiefern auf. Sullivan, der sein Unbehagen verbarg, fragte sich, was der Oberkontrolleur wohl denken mochte. Sein Verhalten hatte auf keinen Argwohn schließen lassen, und der Besuch war leicht als ganz normal zu erklären. Aber Sullivan würde froh sein, wenn er vorbei wäre.

„Wir haben nicht so große Geschöpfe wie diese auf unserem Planeten“, sagte Karellen. „Das ist einer der Gründe, warum wir Sie gebeten haben, diese Gruppe zu schaffen. Meine — hm — Landsleute werden sie sehr aufregend finden.“

„Ich nahm an“, erwiderte Sullivan, „daß Sie bei Ihrer niedrigen Schwerkraft einige sehr große Tiere hätten. Sehen Sie doch, wieviel größer Sie sind als wir!“

„Ja, aber wir haben keine Ozeane. Und wenn es um die Größe geht, kann das Land nie mit dem Meer wetteifern.“

Das war durchaus richtig, dachte Sullivan. Und soviel er wußte, war dies eine bisher unbekannte Tatsache über die Welt der Overlords. Das würde den verwünschten Jan sehr interessieren.

In diesem Augenblick saß der junge Mann in einer einen Kilometer entfernten Baracke und beobachtete besorgt durch ein Fernglas die Besichtigung. Er sagte sich, daß nichts zu fürchten sei. Auch bei noch so eingehender Besichtigung des Wals konnte dessen Geheimnis nicht entdeckt werden. Aber es gab immerhin die Möglichkeit, daß Karellen irgend etwas ahnte — und mit ihnen spielte.

Dieser Verdacht steigerte sich bei Sullivan, als der Oberkontrolleur in den höhlenartigen Rachen des Wals blickte.

,In Ihrer Bibel“, sagte Karellen, „steht eine bemerkenswerte Geschichte von einem hebräischen Propheten, einem gewissen Jonas, der von einem Walfisch verschluckt und wohlbehalten an Land getragen wurde, nachdem er von einem Schiff ins Meer geworfen worden war. Glauben Sie, daß eine solche Sage auf Tatsachen beruhen könnte?“

„Ich glaube“, erwiderte Sullivan vorsichtig, „daß es wirklich einmal vorgekommen sein kann, daß ein Walfischfänger verschluckt und dann, ohne Schaden genommen zu haben, wieder ausgespien wurde. Natürlich, wenn er länger als einige Sekunden in dem Wal gewesen wäre, würde er erstickt sein. Und er muß großes Glück gehabt haben, daß er nicht von den Zähnen erfaßt wurde. Es ist eine fast unglaubliche Geschichte, aber nicht ganz unmöglich.“

„Sehr interessant“, sagte Karellen. Er blickte noch einen Augenblick auf den riesigen Kiefer, dann trat er zu dem Polypen, um ihn ebenfalls zu besichtigen. Sullivan hoffte, daß Karellen seinen Seufzer der Erleichterung nicht hörte.

„Wenn ich gewußt hätte, was ich durchmachen müßte“, sagte Professor Sullivan, „hätte ich Sie aus meinem Büro hinausgeworfen, sobald Sie den Versuch machten, mich mit Ihrem Wahnsinn anzustecken.“

„Es tut mir leid“, erwiderte Jan, „aber wir sind ja glücklich davongekommen.“

„Ich hoffe es. Jedenfalls alles Gute! Wenn Sie sich anders besinnen wollen, so haben Sie ja noch wenigstens sechs Stunden Zeit.“

„Ich brauche sie nicht. Nur Karellen kann mich jetzt aufhalten. Ich danke Ihnen für alles, was Sie getan haben. Wenn ich je zurückkomme und ein Buch über die Overlords schreibe, werde ich es Ihnen widmen.“

„Das wird mir viel nützen“, brummte Sullivan. „Dann bin ich schon viele Jahre tot.“ Zu seiner Überraschung und leisen Bestürzung, denn er war kein sentimentaler Mann, bemerkte er, daß dieser Abschied ihm naheging. Er hatte Jan in den Wochen, da sie zusammen Pläne schmiedeten, liebgewonnen. Überdies hatte er angefangen zu fürchten, daß er vielleicht Hilfestellung für einen komplizierten Selbstmord leistete.

Er hielt die Leiter, als Jan in das große Maul hineinkletterte, wobei er sorgfältig eine Berührung der Zahnreihen vermied Im Licht der Taschenlampe sah Sullivan, wie Jan sich umdrehte und winkte, ehe er in der Höhle verschwand. Man hörte das Geräusch der sich öffnenden und wieder schließenden Luftschleuse, und danach herrschte Stille.

Im Mondlicht, das den erstarrten Kampf in ein Bild aus einem Alptraum verwandelte, kehrte Professor Sullivan in sein Büro zurück. Er überlegte, was er getan hatte und wohin es führen konnte. Aber das würde er natürlich nie erfahren. Jan würde vielleicht eines Tages wieder hier über diesen Boden gehen, nachdem er nicht mehr als ein paar Monate seines Lebens dafür hingegeben hatte, zur Heimat der Overlords zu reisen und wieder zur Erde zurückzukehren. Gleichviel, falls er dies tat, würde es jenseits der unüberschreitbaren Zeitgrenze sein, denn es wäre erst in achtzig Jahren.

Die Lichter in dem kleinen Metallzylinder flammten auf, sobald Jan die Innentür der Luftschleuse geschlossen hatte. Er ließ sich keine Zeit zum Überlegen, sondern machte sich sofort an die routinemäßige Kontrolle, die er bereits in allen Einzelheiten ausgearbeitet hatte. Alle Vorräte und Bedarfsgegenstände waren schon vor Tagen verladen worden, aber die endgültige Kontrolle würde ihn in die richtige Verfassung versetzen, indem sie ihm die Gewißheit gab, daß nichts ungetan geblieben war.

Eine Stunde später war er davon überzeugt. Er legte sich auf das Schaumgummilager und überdachte nochmals sein Vorhaben. Das einzige Geräusch war das leise Surren der elektrischen Kalenderuhr, die ihm mitteilen würde, wenn die Reise sich ihrem Ende näherte.

Er wußte, daß er erwarten konnte, hier in seiner Zelle nichts zu spüren, denn die gewaltigen Kräfte, die die Schiffe der Overlords antrieben, mußten völlig ausgeglichen sein. Sullivan hatte das festgestellt, indem er darauf verwies, daß sein Werk zusammenfiele, wenn es auch nur ganz wenigen Gravitäten ausgesetzt würde. Seine „Kunden“ hatten ihm versichert, daß in dieser Hinsicht keine Gefahr bestehe.

Es würde jedoch eine erhebliche Veränderung des Luftdrucks eintreten. Das war unwichtig, da die hohlen Modelle durch mehrere Öffnungen „atmen“ konnten. Bevor Jan seine Zelle verließ, mußte er den Luftdruck ausgleichen, denn er hatte angenommen, daß die Luft im Overlord-Schiff für ihn nicht zu atmen sei. Eine einfache Sauerstoffmaske würde dem abhelfen; es waren keine großen Vorkehrungen nötig. Wenn er ohne technische Hilfe atmen konnte, um so besser!

Es hatte keinen Sinn, länger zu warten: Es würde nur seine Nerven beunruhigen. Er holte die kleine Spritze heraus, die bereits mit der sorgfältig vorbereiteten Lösung gefüllt war. Narkosamin war bei Erforschung des Winterschlafs der Tiere entdeckt worden: Man konnte nicht sagen, daß es, wie vielfach angenommen wurde, das Leben suspendieren könne. Es hatte keine weiteren Wirkungen, als die Lebensvorgänge sehr zu verlangsamen, jedoch so, daß der Stoffwechsel in vermindertem Maße noch erhalten blieb. Es war, als hätte jemand das Feuer des Lebens zugeschüttet, so daß es unter der Asche noch glimmte. Aber wenn nach Wochen oder Monaten die Wirkung des Mittels nachließ, so flammte das Leben auf, und der Schläfer kam wieder zu sich. Narkosamin war völlig sicher. Die Natur hatte es seit Jahrmillionen benutzt, um viele ihrer Kinder vor dem nahrungslosen Winter zu schützen.

Jan schlief also. Er spürte nicht den Ruck der Kabel, als das riesige Metallgerüst in den Laderaum des Transportschiffs der Overlords gehoben wurde. Er hörte nicht, wie sich die Schleusentore schlössen, um sich erst nach dreihundert Millionen mal Millionen Kilometern wieder zu öffnen. Er hörte 127

Millionen Kilometern wieder zu öffnen. Er hörte nicht, fern und schwach durch die mächtigen Wände, das protestierende Kreischen der Erdatmosphäre, als das Schiff rasch zu seinem natürlichen Element emporstieg.

Und er spürte nicht, wie die Fahrt verlief.

10

Der Konferenzraum war bei diesen wöchentlichen Versammlungen immer gefüllt, aber heute war er so gedrängt voll, daß die Reporter kaum Platz zum Schreiben hatten. Zum hundertstenmal murrten sie untereinander über Karellens konservative Art und seinen Mangel an Rücksicht. Überall in der Welt hätten sie Fernsehkameras, Tonbandgeräte und alle andern Werkzeuge ihres hochtechnisierten Berufs mitbringen können, aber hier mußten sie sich mit so vorzeitlichen Hilfsmitteln wie Papier und Bleistift begnügen und sogar, so unglaublich es klingt, mit Stenographie.

Man hatte natürlich verschiedentlich versucht, Tonbandgeräte einzuschmuggeln. Sie waren erfolgreich wieder hinausgeschmuggelt worden, aber ein einziger Blick auf ihr rauchendes Inneres hatte die Nutzlosigkeit dieses Versuchs gezeigt. Damals hatten alle begriffen, warum sie immer ermahnt worden waren, in ihrem eigenen Interesse Uhren und andere Metallgegenstände nicht mit in den Konferenzraum zu nehmen.

Um die Situation noch ungerechter zu machen, nahm Karellen selbst die ganzen Unterredungen auf Tonband auf. Berichterstatter, die sich der Nachlässigkeit oder gar einer falschen Wiedergabe schuldig machten — obwohl dies sehr selten vorkam — waren zu kurzen und unangenehmen Konferenzen mit Karellens Untergebenen geladen und ersucht worden, aufmerksam der Wiedergabe dessen zuzuhören, was der Oberkontrolleur wirklich gesagt hatte. Diese Lektion brauchte nie wiederholt zu werden.

Es war seltsam, wie diese Gerüchte sich verbreiteten. Es gab keine vorherige Ankündigung, und doch war das Haus immer voll, wenn Karellen eine wichtige Mitteilung zu machen hatte, was durchschnittlich zwei- oder dreimal jährlich vorkam.

Stille senkte sich über die murmelnde Menge, als die große Tür sich öffnete und Karellen die Tribüne betrat. Die Beleuchtung hier war matt, ohne Zweifel dem Licht der weit entfernten Sonne der Overlords ähnlich, so daß der Oberkontrolleur die dunkle Brille abgelegt hatte, die er für gewöhnlich trug, wenn er im Freien war.

Er antwortete auf den Chor der Begrüßungen mit einem formellen: „Guten Morgen allseits“, dann wandte er sich zu der schlanken, vornehmen Gestalt in der vordersten Reihe. Auf den Doyen des Presseklubs, Golde, hätte die Meldung des Dieners gepaßt: Zwei Reporter und ein Gentleman von der „Times“. Er kleidete und benahm sich wie ein Diplomat der alten Schule. Niemand würde je zögern, ihm zu vertrauen, und niemand hatte es in der Folge je bereut.

„Sehr voll heute, Herr Golde. Wahrscheinlich mangelt es an Neuigkeiten.“

Der Herr von der „Times“ lächelte und räusperte sich. „Ich hoffe, Sie können dem abhelfen, Herr Oberkontrolleur.“

Er beobachtete Karellen gespannt, während dieser seine Antwort überlegte. Es war unangenehm, daß die maskenhaften Gesichter der Overlords keine Spur von Erregung verrieten. Die großen, weitgeöffneten Augen, deren Pupillen selbst in diesem matten Licht scharf zusammengezogen waren, starrten unergründlich in die unverkennbar neugierigen menschlichen Augen. Die doppelten Atmungsöffnungen auf jeder Wange, wenn man die zerfurchten und gekräuselten erstarrten Wölbungen Wangen nennen konnte, gaben ein ganz leises Pfeifen von sich, wenn Karellens vermutliche Lungen in der dünnen Luft der Erde atmeten. Golde konnte genau erkennen, wie der Vorhang von feinen weißen Haaren hin und her flatterte und sich im Einklang mit Karellens raschem, doppeltwirkendem Atmungskreislauf hielt. Man nahm im allgemeinen an, daß sie Staubfilter wären, und es hatten sich weitschweifige Theorien über die Atmosphäre in der Heimat der Overlords auf diese gebrechlichen Fundamente gestützt.

„Ja, ich habe einige Neuigkeiten für Sie. Wie Sie zweifellos wissen, hat eines meiner Versorgungsschiffe kürzlich die Erde verlassen, um zu seinem Stützpunkt zurückzukehren. Wir haben soeben entdeckt, daß ein blinder Passagier an Bord war.“

Hundert Bleistifte hielten plötzlich an. Hundert Augenpaare richteten sich auf Karellen.

„Ein blinder Passagier, sagen Sie, Herr Oberkontrolleur?“ fragte Golde. „Dürfen wir erfahren, wer es war und wie er an Bord ge kommen ist?“

„Sein Name ist Jan Rodricks. Er ist Student des Maschinenbaus an der Universität Kapstadt. Weitere Einzelheiten können Sie zweifellos durch Ihre eigenen, sehr guten Kanäle feststellen.“ Karellen lächelte. Das Lächeln des Oberkontrolleurs war eine seltsame Sache. Der größte Teil seiner Wirkung lag tatsächlich in den Augen: Der unbewegliche, lippenlose Mund bewegte sich kaum. War dies wieder eine der menschlichen Gewohnheiten, die Karellen mit so großer Geschicklichkeit nachgeahmt hatte? fragte sich Golde. Denn die Gesamtwirkung war zweifellos die eines Lächelns, und man nahm es bereitwillig als solches auf.

„Wie er es angestellt hat“, fuhr der Oberkontrolleur fort, „ist von zweitrangiger Bedeutung. Ich kann Ihnen und allen unternehmungslustigen Astronauten versichern, daß es keine Möglichkeit gibt, diese Heldentat zu wiederholen.“

„Was wird diesem jungen Mann geschehen?“ beharrte Golde. „Wird er zur Erde zurückgeschickt werden?“

„Das steht außerhalb meiner Entscheidung, aber ich erwarte, daß er mit dem nächsten Schiff zurückkommt. Er würde dort, wohin er gereist ist, die Bedingungen zu — fremd finden, um sich wohl zu fühlen. Und das bringt mich auf den Hauptzweck unserer heutigen Versammlung.“

Karellen machte eine Pause, und die Stille wurde noch tiefer.

„Unter den jüngeren und romantischeren Elementen Ihrer Bevölkerung sind oft Klagen erhoben worden, weil Ihnen der Weltraum verschlossen ist. Wir hatten dabei eine Absicht. Wir erlassen nicht zu unserem Vergnügen Verbote, aber haben Sie je überlegt, was ein Mann aus Ihrer Steinzeit, wenn Sie mir diesen wenig schmeichelhaften Vergleich verzeihen wollen, empfunden hätte, wenn er plötzlich in eine moderne Stadt versetzt worden wäre?“

„Sicherlich“, protestierte die „Herald Tribüne“, „gibt es da einen grundlegenden Unterschied. Wir sind an die Wissenschaft gewöhnt. In Ihrer Welt gibt es zweifellos viele Dinge, die wir nicht verstehen, aber sie würden uns nicht wie Zauberei erscheinen.“

„Sind Sie dessen ganz sicher?“ fragte Karellen so leise, daß man seine Worte kaum hören konnte. „Nur hundert Jahre liegen zwischen dem Zeitalter der Elektrizität und dem Zeitalter des Dampfes, aber was hätte ein Ingenieur der viktorianischen Zeit mit einem Fernsehapparat oder Elektronengehirn angefangen? Und wie lange hätte er leben müssen, wenn er anfinge, ihre Arbeitsweise zu erforschen? Die Kluft zwischen zwei Technologien kann leicht so groß werden, daß sie — tödlich wird.“

(„Hallo“, flüsterte „Reuter“ der „BBC“ zu, „wir haben Glück. Er wird eine große politische Erklärung abgeben. Ich kenne die Anzeichen.“)

„Und es gibt noch andere Gründe, warum wir die menschliche Rasse auf die Erde beschränkt haben. Passen Sie auf!“

Das Licht wurde noch matter und erlosch. Dann bildete sich in der Mitte des Raums eine milchige Masse. Sie formte sich zu einem Wirbel von Sternen, einem Spiralnebel, gesehen von einem Punkt weit außerhalb seiner äußersten Sonne.

„Kein menschliches Auge hat bisher jemals dieses Bild gesehen“, ertönte Karellens Stimme aus der Dunkelheit. „Sie sehen Ihr eigenes Universum, die Milchstraßeninsel, der Ihre Sonne angehört, aus einer Entfernung von einer Million Lichtjahren.“

Ein langes Schweigen folgte. Dann fuhr Karellen fort, und jetzt hatte seine Stimme etwas, was nicht ganz Mitleid und nicht geradezu Verachtung war.

„Ihre Rasse hat eine bemerkenswerte Unfähigkeit an den Tag gelegt, mit den Problemen Ihres eigenen, ziemlich kleinen Planeten fertig zu werden. Als wir hierherkamen, waren Sie im Begriff, sich selbst mit den Kräften zu vernichten, die die Wissenschaft Ihnen übereilt gegeben hatte. Ohne unsere Einmischung wäre die Erde heute eine radioaktive Wüste.

Jetzt haben Sie eine friedliche Welt und eine geeinte Rasse. Bald werden Sie zivilisiert genug sein, Ihren Planeten ohne unsern Beistand zu verwalten. Vielleicht könnten Sie unter Umständen die Probleme eines ganzen Sonnensystems meistern, sagen wir von fünfzig Monden und Planeten. Aber bilden Sie sich wirklich ein, daß Sie jemals mit diesem fertig werden könnten?“

Der Nebel dehnte sich aus. Jetzt rasten die einzelnen Sterne vorbei, erschienen und verschwanden so schnell wie Funken eines Schmiedefeuers. Und jeder dieser vergänglichen Funken war eine Sonne mit wer weiß wie vielen kreisenden Welten.

„In dieser unserer Milchstraße“, murmelte Karellen, „gibt es siebenundachtzigtausend Millionen Sonnen. Selbst diese Zahl gibt nur eine schwache Vorstellung von der Unermeßlichkeit des Weltraums. Wollten Sie diesen Versuch machen, wären Sie wie Ameisen, die alle Sandkörner in allen Wüsten der Welt verzeichnen und klassifizieren wollten.

Ihre Rasse kann auf ihrer jetzigen Entwicklungsstufe diese ungeheure Aufgabe nicht meistern. Eine meiner Pflichten war es, Sie gegen die Mächte und Kräfte zu schützen, die zwischen den Sternen liegen, Kräfte jenseits von allem, was Sie sich überhaupt vorstellen können.“

Das Bild der wirbelnden Feuernebel der Milchstraße verschwand: Das Licht kehrte in die plötzliche Stille des großen Raums zurück.

Karellen wendete sich zum Gehen; die Konferenz war vorbei.

An der Tür blieb er stehen und blickte auf die stumm gewordene Menge zurück. „Es ist ein bitterer Gedanke, aber Sie müssen ihm ins Auge sehen. Die Planeten können Sie eines Tages besitzen.

Aber die Sterne sind nichts für den Menschen.“

„Die Sterne sind nichts für den Menschen.“ Ja, es würde sie kränken, daß man ihnen die himmlischen Tore vor der Nase zugeschlagen hatte, aber sie mußten lernen, der Wahrheit ins Auge zu sehen — soweit man ihnen die Wahrheit aus Barmherzigkeit offenbaren konnte.

Von den einsamen Höhen der Stratosphäre blickte Karellen auf die weit und die Menschen nieder, die in seine Hut gegeben waren. Er dachte an alles, was bevorstand, und an das, was diese Welt in kaum einem Jahrzehnt sein würde.

Sie würden nie wissen, wie glücklich sie gewesen waren. Eine Generation lang hatte die Menschheit so viel Glück erreicht, wie nur irgendeine Rasse je besitzen kann. Es war das Goldene Zeitalter gewesen. Aber Gold war auch die Farbe des Sonnenuntergangs, des Herbstes, und nur Karellens Ohren konnten das erste Klagen der Winterstürme hören.

Und nur Karellen wußte, mit welch unerforschlicher Schnelligkeit das Goldene Zeitalter seinem Ende zustürmte.

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