Teil 3

Begrub mit meinen eigenen Händen fünf meiner Kinder in einem einzigen Grab… Keine Glocken. Keine Tränen. Dies ist das Ende der Welt.

AGNIOLA DIE TURA

SIENA, 1347

24

Dunworthy verbrachte die nächsten zwei Tage damit, daß er in regelmäßigen Abständen bei den Technikern anrief und in der übrigen Zeit in Schottland herumtelefonierte und eine weitere Krankenstation einrichtete. Von den Einquartierten waren weitere fünfzehn Personen an der Influenza erkrankt, unter ihnen Mrs. Taylor, die neunundvierzig Schläge vor einem vollen Geläut zusammengebrochen war.

»Ließ ihren Glockenstrang los und fiel ohnmächtig um wie ein Klotz«, berichtete Finch. »Die Glocke schlug einen Ton, als wollte sie den Weltuntergang einläuten, und das Seil schlug wie ein lebendes Wesen um sich. Wickelte sich mir um den Hals und erwürgte mich beinahe. Mrs. Taylor wollte weitermachen, als sie wieder zu sich kam, aber dafür war es natürlich zu spät. Es wäre schön, wenn Sie mit ihr sprechen würden, Mr. Dunworthy. Sie ist ganz niedergeschlagen und untröstlich. Sagt, sie werde sich nie verzeihen, daß sie die anderen im Stich gelassen habe. Ich sagte ihr, es sei nicht ihre Schuld, manchmal gerieten die Dinge einfach außer Kontrolle, nicht wahr?«

Dunworthy nickte.

Es war ihm nicht gelungen, einen Techniker zu erreichen, geschweige denn zu überreden, daß er nach Oxford käme, und auch seine Suche nach Basingame war erfolglos geblieben. Er und Finch hatten alle Hotels, Gasthäuser und Ferienhausvermieter angerufen. Er hatte Einblick in Basingames Terminkalender genommen, aber dort gab es keine Hinweise auf eine Zimmervorbestellung in irgendeinem entlegenen schottischen Nest, wie er gehofft hatte, und nach dem 15. Dezember überhaupt keine Eintragungen.

Das Telefonsystem wurde immer störanfälliger. Die Bildwiedergabe fiel abermals aus, und die automatische Ansage mit der Auskunft, daß wegen der Epidemie alle Leitungen besetzt seien, unterbrach fast jeden Anruf, den er durchzubringen suchte, nach nur zwei Nummern.

Seine Sorge um Kivrin war nicht mehr so akut wie in den ersten Tagen, mehr eine schwere innere Last, die auf sein Unterbewußtsein drückte, während er immer wieder Telefonnummern drückte, auf Krankenwagen wartete, Mrs. Gaddsons Beschwerden anhörte. Andrews hatte nicht zurückgerufen, oder wenn er es getan hatte, war es ihm nicht gelungen, durchzukommen. Badri murmelte endlos von Tod, und die Schwestern bemühten sich nach Kräften, seine wirren Reden auf Zetteln festzuhalten. Während er auf die Techniker oder einen Anruf aus Schottland wartete oder hoffte, daß am anderen Ende der Leitung jemand abnehmen würde, studierte er die Zettel mit Badris Worten und suchte nach Anhaltspunkten. »Schwarz«, hatte Badri gesagt, und »Laboratorium«, und »Europa.«

Statt sich um eine Behebung der Mängel zu kümmern, ließ man das Telefonsystem weiter verkommen. Die automatische Ansage unterbrach ihn oft schon nach dem Wählen der ersten Nummer, und mehrmals konnte er kein Amtszeichen bekommen. Er gab einstweilen auf und arbeitete die Listen der Kontaktpersonen durch. Mary hatte ihm entgegen ihrer ärztlichen Schweigepflicht die vertraulichen Krankenblätter der Primärkontakte überlassen, die er jetzt nach Röntgenbehandlungen durchforschte. Einer der Primärkontakte hatte eine Röntgenuntersuchung machen lassen, aber bei genauerem Hinsehen zeigte sich, daß sie schon am 23., also nach dem Ausbruch der Epidemie, stattgefunden hatte.

Er trug die Blätter zurück ins Krankenhaus, um die dort liegenden Primärkontakte, soweit sie ansprechbar waren, nach Haustieren zu fragen, oder ob sie in letzter Zeit auf Entenjagd gewesen waren. Die Korridore standen voller Krankenbetten, und alle waren belegt. Rollwagen mit Bahren, auf denen frisch eingelieferte Patienten lagen, stauten sich in der Notaufnahme und vor dem Aufzug. Er nahm die Treppe.

Am Eingang zur Isolierstation begegnete ihm Williams blonde Praktikantin. Sie trug einen weißen Stoffkittel und eine Schutzmaske. »Ich fürchte, Sie können nicht hereinkommen«, sagte sie und hielt eine behandschuhte Hand hoch.

Badri ist tot, dachte er. »Geht es Mr. Chaudhuri schlechter?«

»Nein. Tatsächlich scheint er ruhiger zu sein. Aber wir haben keine Schutzkleidung mehr. London versprach uns für morgen eine Sendung, und das Personal behilft sich mit Stoffkitteln, aber für Besucher haben wir nichts mehr.« Sie zog einen Zettel aus der Tasche und reichte ihn ihm. »Ich habe seine Worte aufgeschrieben, obwohl das meiste unverständlich ist. Er sagt Ihren Namen und einen anderen — Kivrin. Ist das richtig?«

Er nickte.

»Manchmal auch einzelne Wörter, aber das meiste ist Unsinn.«

Sie hatte versucht, seine Äußerungen phonetisch niederzuschreiben, und wenn sie ein Wort klar verstanden hatte, unterstrich sie es. »Kann nicht«, hatte er gesagt, und »Ratten«, und »die Sorge«.

Bis zum Sonntagmorgen war die Hälfte der Einquartierten erkrankt, und alle, die es bisher verschont hatte, wurden zum Pflegedienst herangezogen. Dunworthy und Finch hatten alle Vorstellungen aufgegeben, sie in Krankenzimmern zusammenzufassen, nicht zuletzt, weil ihnen die Feldbetten ausgegangen waren. Sie ließen die Erkrankten in ihren provisorischen Schlafräumen oder schafften sie mit ihren Betten in freie Räume im Studentenwohnheim, um den Hilfspflegern allzu weite Wege zu ersparen.

Die Schellenläuter fielen eine nach der anderen der Infektion zum Opfer, und Dunworthy half bei ihrer Unterbringung in der alten Bibliothek. Mrs. Taylor, bei der die Krankheit einen leichteren Verlauf nahm, bestand darauf, sie zu besuchen. »Es ist das mindeste, was ich tun kann, nachdem ich sie so im Stich gelassen habe«, sagte sie, obwohl der Gang über den Korridor sie schon erschöpft hatte.

Dunworthy geleitete sie zurück zu ihrem Krankenbett und deckte sie zu. »Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach«, sagte er.

Er fühlte sich selbst schwach, übermüdet und erschöpft vom Mangel an Schlaf und den ständigen Niederlagen. Zwischen der Zubereitung von Tee und dem Spülen von Bettpfannen war es ihm endlich gelungen, bei einer Technikerin des Magdalen Colleges durchzukommen. »Sie ist im Krankenhaus«, sagte ihre Mutter in bekümmertem Ton.

»Wann ist sie erkrankt?«

»Am Weihnachtstag.«

Neue Hoffnung regte sich. Vielleicht war die Technikerin vom Magdalen College die Infektionsquelle. »Können Sie mir sagen, welche Symptome Ihre Tochter hat?« fragte er eifrig. »Kopfschmerzen? Fieber? Desorientierung?«

»Nein, nein, sie ist mit einer Blinddarmentzündung eingeliefert worden.«

Bis zum Montagmorgen waren drei Viertel der Einquartierten erkrankt. Wie Finch prophezeit hatte, ging das Bettzeug aus, Schutzmasken waren beim Gesundheitsamt keine mehr zu bekommen, und die Bestände an Antibiotika und Aspirin waren fast aufgebraucht. Aus London angekündigte Lieferungen trafen nur schleppend ein. »Ich versuchte in der Klinik noch etwas zu bekommen«, sagte Finch, als er Dunworthy eine Liste der benötigten Artikel übergab, »aber die Telefonleitungen sind alle tot. Vielleicht können Sie bei Dr. Ahrens etwas erreichen.«

Dunworthy ging mit der Liste zur Klinik, um die benötigten Dinge zu holen. Vor der Notaufnahme hatte sich ein Stau von Krankenwagen und Taxis und Demonstranten gebildet, die ein großes Transparent entfaltet hatten: »Die Regierung läßt uns sterben.« Als er sich durch das Gedränge hineinschlängelte, begegnete ihm Colin. Sein Gesicht war von der Kälte gerötet, und seine rote Nase tropfte.

»Die Telefone sind ausgefallen«, sagte er. »Eine Überlastung, wie es heißt. Ich erledige Botengänge.« Er zog ein unordentliches Bündel gefalteter Papiere aus der Manteltasche. »Gibt es jemanden, dem Sie eine Botschaft zukommen lassen wollen?«

Ja, dachte er. Andrews. Basingame. Kivrin.

»Danke, mein Junge.«

Colin steckte die Botschaften wieder ein. »Dann laufe ich jetzt los. Wenn Sie meine Großtante suchen, sie ist in der Notaufnahme. Fünf neue Fälle sind gerade gekommen. Eine Familie. Der Säugling war tot.« Er lief hinaus durch den Verkehrsstau.

Dunworthy fragte sich zu Mary durch und zeigte ihr die Liste, und sie beauftragte einen Assistenzarzt, mit ihm zum Magazin zu gehen und das Nötigste auszuhändigen. Die Korridore waren voller Betten: inzwischen standen sie zu beiden Seiten aufgereiht, so daß nur ein schmaler Durchgang zwischen ihnen blieb. Über eines der Krankenbetten beugte sich eine Schwester mit rosa Schutzmaske und las der Patientin aus einem Buch vor.

»Der Herr wird Hungersnot und Pestilenz über euch bringen«, hörte er sie sagen und bemerkte zu spät, daß es Mrs. Gaddson war, aber sie war so auf ihr Lesen konzentriert, daß sie nicht aufblickte. »Und er wird nicht ruhen, bis er euch vom Land getilgt hat.«

Dir selbst wünsche ich die Pestilenz an den Hals, dachte er bei sich, und der Gedanke brachte ihn auf Badri. »Es waren die Ratten«, hatte Badri gesagt. »Es tötete sie alle. Halb Europa.«

Sie konnte nicht in der Zeit des Schwarzen Todes sein. Andrews hatte die maximale Verschiebung mit fünf Jahren angegeben. Um 1325 hatte die Seuche nicht einmal in China begonnen. Und Andrews hatte gesagt, daß die einzigen zwei Faktoren, die eine Absetzoperation nicht automatisch unterbrochen haben würden, die Verschiebung und die Koordinaten seien, und Badri hatte die Koordinaten überprüft, das stand außer Zweifel.

Er folgte dem Assistenzarzt ins Lager. Der Schreibtisch des Magazinverwalters war unbesetzt. Der Arzt drückte auf die Klingel.

Jedesmal, wenn Dunworthy ihn gefragt hatte, hatte Badri bestätigt, daß die Koordinaten stimmten. Aber was hatte dieses nervöse Herumtasten auf der Bettdecke zu bedeuten gehabt, als wollte er die Fixierung eingeben. Das kann nicht stimmen. Etwas ist nicht in Ordnung.

Wieder läutete der Arzt die Tischglocke, und zwischen den Regalen erschien eine Krankenschwester. Anscheinend war sie auf Grund der Epidemie aus dem Ruhestand zurückgerufen worden. Sie war mindestens neunzig, und ihr steif gestärkter weißer Kittel schien die schmächtige Gestalt wie ein Exoskelett zu stützen. Sie nahm seine Liste und überflog sie.

»Haben Sie einen Anforderungsschein mit Genehmigungsvermerk?«

Sie schob ihm die Liste über den Tisch und legte ein Formblatt darauf. »Alle Anforderungen müssen von der zuständigen Stationsschwester gegengezeichnet werden.«

»Wir haben keine Stationsschwester«, brauste er auf. »Wir haben keine Station. Wir haben fünfzig erkrankte Zwangseinweisungen in zwei Schlafsälen und keine Medikamente.«

»In diesem Fall muß der Genehmigungsvermerk vom zuständigen Arzt gegeben werden.«

»Die zuständige Ärztin hat mich hergeschickt, mit diesem Kollegen hier. Sie hat keine Zeit, Genehmigungsvermerke zu machen. Sie hat ein Krankenhaus voller Patienten, um die sie sich kümmern muß. Wir haben eine Epidemie.«

»Das ist mir wohlbekannt«, sagte die Schwester frostig. »Alle Anforderungen müssen vom zuständigen Arzt gegengezeichnet werden.« Damit machte sie kehrt und verschwand zwischen den Regalen.

Er ging zurück zur Notaufnahme. Mary war nicht mehr dort. Der Stationsarzt schickte ihn hinauf zur Isolierstation, aber auch dort war sie nicht. Er spielte mit dem Gedanken, Marys Unterschrift zu fälschen, aber er wollte sie sprechen und über die Unmöglichkeit unterrichten, die Techniker zu erreichen und das Netz unter Umgehung Gilchrists zu öffnen. Er konnte nicht einmal Aspirin bekommen, und es war schon der 3. Januar.

Endlich erreichte er Mary im Laboratorium. Sie sprach ins Telefon, das offenbar wieder funktionierte, obwohl die Sichtverbindung nichts als Schnee war. Sie beobachtete die Konsole, deren Bildschirm die Verzweigungen der infizierten Kontaktpersonen zeigte. »Was genau ist die Schwierigkeit?« sagte sie gerade. »Nach Ihrer letzten Auskunft hätte es schon vor zwei Tagen hier sein sollen.«

Es folgte eine Pause, während die Person am anderen Ende anscheinend die Verzögerung erklärte.

»Was heißt das: es wurde zurückgeschickt?« sagte sie in ungläubigem Ton. »Ich habe hier tausend Infektionsfälle.«

Wieder entstand eine Pause. Mary tippte etwas in die Konsole, und eine andere Übersicht erschien.

»Nun, dann schicken Sie es noch einmal«, rief sie aufgebracht. »Ich brauche es jetzt! Ich habe sterbende Patienten hier! Ich muß es bis — hallo? Sind Sie noch da?« Der Bildschirm erlosch. Sie wandte den Kopf und sah Dunworthy.

Sie winkte ihn zu sich. »Sind Sie noch da?« sagte sie ins Telefon. »Hallo?« Sie knallte den Hörer aufs Gerät. »Die Telefone funktionieren nicht, die Hälfte unseres Personals ist erkrankt, und der Impfstoff ist nicht da, weil irgendein Idiot den Transport wegen fehlender Begleitpapiere nicht in die Quarantänezone durchgelassen hat.«

Sie setzte sich vor die Konsole und rieb ihre Schläfen mit den Fingerspitzen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Es war ein ziemlich schlechter Tag. Allein am Nachmittag drei Todesfälle. Einer war sechs Monate alt.«

Sie trug noch den Stechpalmenzweig im Knopfloch ihres Laborkittels. Dieser sah mittlerweile arg mitgenommen aus, und Mary selbst war offensichtlich völlig übermüdet: die Falten um ihren Mund und die Augen schnitten tief in die bleiche, schlaffe Gesichtshaut. Er fragte sich, wann sie zuletzt geschlafen haben mochte, und ob sie es überhaupt wußte.

Sie seufzte. »Man kann sich nicht an die Vorstellung gewöhnen, daß man machtlos ist.«

»Nein.«

Sie blickte zu ihm auf, als hätte sie inzwischen vergessen, daß er da war. »Brauchten Sie nicht etwas, James?«

Sie kam nicht zum Schlafen, hatte zu wenig Hilfe und drei Todesfälle an einem Nachmittag, darunter einen Säugling. Sie hatte genug, was ihr Gemüt beschwerte. Wozu ihr seine Sorge um Kivrin aufbürden?

»Nichts als Ihre Unterschrift unter den Anforderungsschein«, sagte er und gab ihr das Formular.

Sie signierte es, ohne hinzusehen. »Heute früh war ich bei Gilchrist«, sagte sie, als sie ihm das Blatt zurückgab.

Er war so überrascht und gerührt, daß ihm die Worte fehlten.

»Ich dachte, ich könnte ihn überzeugen, das Netz früher zu öffnen. Ich erklärte, daß es nicht nötig sei, zu warten, bis volle Immunisierung erreicht sei. Immunisierung eines kritischen Prozentsatzes des Virusreservoirs begrenzt wirksam das Ansteckungsrisiko.«

»Aber Ihre Argumente machten auf ihn nicht den geringsten Eindruck.«

»Nein. Er ist überzeugt davon, daß der Erreger aus der Vergangenheit durchkam.« Mary seufzte wieder. »Er hat Tabellen der zyklischen Mutationsmuster von Myxoviren des Typs A zusammengestellt. Aus diesen geht hervor, daß ein 1318-19 existierender Myxovirus Typ A ein H9N2 war.« Sie rieb sich wieder die Schläfen. »Er wird das Laboratorium nicht öffnen, bis volle Immunisierung erreicht und die Quarantäne aufgehoben wird.«

»Und wann wird das sein?« fragte er, obwohl er eine gute Vorstellung hatte.

»Die Quarantäne muß bis sieben Tage nach der vollen Immunisierung in Kraft bleiben, beziehungsweise vierzehn Tage nach dem Auftreten des letzten Krankheitsfalles.«

Letztes Auftreten. Zwei Wochen ohne neue Krankheitsfälle. »Und wie lange wird die allgemeine Immunisierung in Anspruch nehmen?«

»Sobald wir hinreichende Mengen Impfstoff haben, nicht lange. Nach der Pandemie hatten wir die Immunisierung innerhalb von achtzehn Tagen erreicht.«

Achtzehn Tage. Nachdem ausreichende Mengen des Impfstoffes hergestellt waren. Ende Januar. »Das ist zu spät«, sagte er.

»Ich weiß. Wir müssen den Ursprung des Erregers positiv identifizieren, das ist alles.« Sie wandte sich der Konsole zu. »Die Antwort ist hier drinnen, wissen Sie. Wir suchen bloß am falschen Ort.« Sie drückte Tasten, und eine neue Tabelle erschien. »Ich habe Querverbindungen und Wechselbeziehungen untersucht, Veterinärstudenten, Primärkontakte, die in der Nähe eines Zoos leben, ländliche Anschriften. Unter den Sekundärinfektionen haben wir einen, der zur Moorhuhnjagd geht. Aber mit Wasservögeln hat keiner zu tun gehabt, außer in Form der Weihnachtsgans.«

Sie rief die Tabelle der Primärkontakte ab. Badris Name stand noch immer an erster Stelle. Sie saß da und blickte lange in den Bildschirm, so vertieft wie Montoya in ihre ausgegrabenen Knochen.

»Als erstes muß ein Arzt lernen, nicht zu hart mit sich selbst ins Gericht zu gehen, wenn er einen Patienten verliert«, sagte sie. Er wußte nicht, ob sie Kivrin oder Badri meinte.

»Ich werde das Netz aufbringen«, sagte er.

»Hoffen wir es.«

Die Antwort lag nicht in den Tabellen der Kontaktpersonen oder den Allgemeinheiten. Sie lag in Badri, der trotz aller Fragen, die sie den Sekundärpersonen gestellt hatten und trotz aller falschen Fährten die Primärquelle geblieben war. Badri war der Indexfall, und nirgendwann in den vier bis sechs Tagen vor der Absetzoperation war er mit einem Reservoir des Erregers in Berührung gekommen.

Er ließ sich von Mary einen Schutzanzug aus Papier geben und ging hinauf in die Isolierstation, um ihn zu besuchen. In der Station saß ein Krankenpfleger am Schreibtisch, ein großer, nervöser junger Mann, der nicht älter als siebzehn aussah.

»Wo ist…?« fing Dunworthy an und merkte, daß er den Namen der blonden Praktikantin nicht wußte.

»Sie hat sich angesteckt«, sagte der Pfleger. »Sie ist schon die Zwanzigste vom Pflegepersonal, und sie haben keine ausgebildeten Schwestern mehr. Das Gesundheitsamt hat Medizinstudenten vom sechsten Semester aufwärts dienstverpflichtet. Ich bin tatsächlich erst im zweiten Semester, habe aber eine Ausbildung in Erster Hilfe.«

»Wann ist Ihre Vorgängerin erkrankt?«

»Gestern.«

Gestern. Ein ganzer Tag war vergangen, und niemand hatte Badris Äußerungen aufgezeichnet. »Erinnern Sie sich an irgend etwas, was Badri sagte, während Sie bei ihm im Zimmer waren?« fragte er ohne viel Hoffnung. Ein Student im zweiten Semester. »Irgendwelche Worte oder Sätze, die Sie verstehen konnten?«

»Sie sind Mr. Dunworthy, nicht wahr?« sagte der Pfleger. »Eloise sagte, Sie wollten alles wissen, was der Patient sagt.«

Dunworthy legte den neu eingetroffenen Schutzanzug an. Er war weiß und entlang der Rückenöffnung mit winzigen schwarzen Kreuzen markiert.

»Es ging ihr ziemlich schlecht, aber sie sagte immer wieder, wie wichtig es sei.«

Der junge Mann führte Dunworthy in Badris Krankenzimmer, überprüfte die Kontrollanzeigen und beugte sich zu Badri. Wenigstens sieht er den Patienten an, dachte Dunworthy.

Badri hatte die Hände auf der Bettdecke und zupfte daran mit Händen, die denen in Colins Abbildung vom Sarkophag des Ritters glichen. Seine eingesunkenen Augen waren offen, aber er sah weder den Pfleger noch Dunworthy oder die Bettdecke, die seine unruhigen Hände anscheinend nicht greifen konnten.

»Ich habe in der Fachliteratur darüber gelesen«, sagte der junge Mann, »aber bisher nie einen Fall gesehen. Es ist bei Infektionen der Atmungsorgane ein verbreitetes Finalsymptom.« Er ging zur Konsole, gab etwas ein und zeigte zum Bildschirm. »Ich habe alles festgehalten.«

Er hatte, sogar das unverständliche Gefasel. Das hatte er phonetisch wiedergegeben mit Ellipsen zur Kennzeichnung von Pausen und Fragezeichen hinter Wörtern, die nicht verständlich waren. »Verschiebung«, hatte er geschrieben, und »Helfer?« und »Warum kommt er nicht?«

»Das ist hauptsächlich von gestern«, sagte er. Er bewegte einen Markierungspfeil zum unteren Drittel des Bildschirms. »Heute morgen hat er ein bißchen geredet. Jetzt sagt er natürlich nichts mehr.«

Dunworthy setzte sich neben Badri und nahm seine Hand. Sogar durch den Gummihandschuh fühlte sie sich kalt an. Er blickte zur Temperaturanzeige. Badri hatte kein Fieber mehr, und mit ihm war die dunkle Röte aus seinem Gesicht gewichen. Er schien alle Farbe verloren zu haben. Seine Haut war grau wie nasse Asche.

»Badri«, sagte er, »ich bin Mr. Dunworthy und gekommen, Ihnen ein paar Fragen zu stellen.«

Keine Reaktion. Die kalte Hand lag schlaff in Dunworthys behandschuhten Fingern, die andere zupfte weiter an der Bettdecke.

»Dr. Ahrens glaubt, Sie könnten Ihre Krankheit von einem Tier haben, einer Wildente oder Gans.«

Der junge Pfleger blickte interessiert von Dunworthy zu Badri und zurück, als hoffte er, Zeuge eines weiteren, bisher unbeobachteten medizinischen Phänomens zu werden.

»Badri, können Sie sich erinnern? Hatten Sie in der Woche vor der Absetzoperation irgendeinen Kontakt mit Enten oder Gänsen?«

Badris Hand bewegte sich. Dunworthy sah sie stirnrunzelnd an und überlegte, ob der Kranke versuchte, ihm etwas mitzuteilen, doch als er seinen Griff ein wenig lockerte, zupften die dünnen, skeletthaften Finger nur ziellos an seiner Handfläche, an den Fingern und am Handgelenk.

Plötzlich schämte er sich, daß er hier saß und Badri mit Fragen quälte, obwohl er jenseits allen Hörens war, jenseits aller Wahrnehmung.

Er legte Badris Hand auf die Bettdecke zurück. »Ruhen Sie sich aus«, sagte er und klopfte mit den Fingerspitzen leicht darauf. »Versuchen Sie zu ruhen.«

»Ich bezweifle, daß er Sie hören kann«, sagte der Pfleger. »Wenn sie so weit hinüber sind, ist kein Bewußtsein mehr da.«

»Ich weiß«, sagte Dunworthy, aber er blieb am Bett sitzen.

Der Pfleger kontrollierte den Tropf, beobachtete ihn nervös und stellte ihn ein. Er blickte besorgt zu Badri, justierte den Tropf ein drittes Mal und ging endlich hinaus. Dunworthy blieb sitzen und sah Badris Finger mechanisch an der Decke zupfen, sie zu greifen, ohne es zu können. Sich festzuhalten. Hin und wieder murmelte er etwas, zu leise, als daß Dunworthy es verstehen konnte. Er begnügte sich damit, behutsam den Arm des Kranken zu reiben. Nach einer Weile verlangsamte sich die zupfende Bewegung der Finger, aber Dunworthy wußte nicht, ob es ein gutes Zeichen war oder nicht.

»Friedhof«, sagte Badri.

»Nein«, sagte Dunworthy. »Nein.«

Er saß noch eine Weile länger, rieb Badris Arm, aber diesmal schien es seine Unruhe zu verschlimmern. Er stand auf. »Versuchen Sie zu ruhen«, sagte er und ging hinaus.

Der Pfleger saß am Schreibtisch und las in einem Lehrbuch für Schwesternschülerinnen über die richtige Behandlung und Pflege bettlägeriger Patienten.

»Bitte verständigen Sie mich, wenn…«, sagte Dunworthy und merkte, daß er den Satz so nicht zu Ende bringen konnte. »Bitte verständigen Sie mich.«

»Ja, Sir«, sagte der junge Mann. »Wo sind Sie zu erreichen?«

Er suchte in der Tasche nach einem Stück Papier zum Beschreiben und brachte die Medikamentenliste zum Vorschein. Er hatte sie beinahe vergessen. »Im Balliol College«, sagte er. »Wenn Sie telefonisch nicht durchkommen, schicken Sie einen Boten.« Und er ging hinunter zum Magazin.

»Sie haben das Formular nicht ausgefüllt«, sagte die alte Frau nach einem Blick auf das Formblatt.

»Ich habe die Unterschrift«, sagte er und gab ihr seine Liste. »Füllen Sie es selbst aus.«

Kopfschüttelnd überflog sie die Liste der aufgeführten Artikel. »Wir haben weder Schutzmasken noch Thermometer.«

Sie nahm eine kleine Flasche Aspirin vom Regal. »Synthamycin und AZI sind ausgegangen.«

Das Fläschchen Aspirin enthielt vielleicht zwanzig Tabletten. Er steckte es in die Tasche, verließ das Krankenhaus und ging zur Apotheke in die High Street. Vor dem Eingang stand eine Gruppe aufgebrachter Leute, und er hörte die Worte »unfair« und »Preiswucher!« aus dem erregten Stimmengewirr. Er ging hinein. Schutzmasken waren ausgegangen, Thermometer zum Ankleben und Aspirin unerhört teuer. Er kaufte alles, was sie davon hatten.

Er verbrachte den Abend mit der Verteilung der Medikamente und dem Studium von Badris Krankenblatt, um irgendeinen Hinweis auf den Ursprung des Virus zu finden. Badri hatte am 10. Dezember in Ungarn eine Absetzoperation ins 19. Jahrhundert vorgenommen, aber aus den verfügbaren Unterlagen ging nicht hervor, wo in Ungarn, und William wußte es nicht, und die Telefone waren noch immer außer Betrieb.

Sie waren es auch noch am Morgen, als Dunworthy im Krankenhaus anrufen wollte, um sich über Badris Zustand zu unterrichten. Er konnte nicht einmal ein Amtszeichen bekommen, aber sobald er den Hörer aufgelegt hatte, läutete das Telefon.

Es war Andrews. Dunworthy konnte seine Stimme durch die Störungen kaum verstehen. »Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, sagte er, und dann noch etwas, was gänzlich verlorenging.

»Ich kann Sie kaum verstehen«, sagte Dunworthy.

»Ich sagte, ich hatte Schwierigkeiten, durchzukommen. Die Telefonleitungen…« Weitere Störungen. »Ich habe die Parameter überprüft, mit drei verschiedenen Ausgangspunkten und einer Triangulation…« Der Rest ging wieder verloren.

»Was war die maximale Verschiebung?« rief er ins Telefon.

Die Leitung war momentan störungsfrei. »Sechs Tage.«

»Das war mit einer…« Neuerliche Störungen. »Ich rechnete die Wahrscheinlichkeiten durch, und das mögliche Maximum für eine Verschiebung innerhalb eines Umkreises von fünfzig Kilometern war noch immer fünf Jahre.« Die Störungen nahmen wieder überhand, und die Verbindung ging verloren.

Dunworthy legte den Hörer auf. Er hätte sich beruhigt und ermutigt fühlen sollen, schien jedoch außerstande, eine Gefühlsregung aufzubringen. Gilchrist hatte nicht die Absicht, das Netz am 6. zu öffnen, ob Kivrin da war oder nicht.

Er griff zum Telefon, um das Schottische Fremdenverkehrsamt anzurufen, und im selben Augenblick läutete es wieder.

»Dunworthy hier«, sagte er und blinzelte in den Bildschirm, aber es war nur Schneetreiben zu sehen.

»Wer?« fragte eine Frauenstimme, die heiser oder angetrunken klang. »Tut mir leid«, murmelte sie, »ich wollte…« und etwas Unverständliches, dann legte sie auf.

Er wartete, um zu sehen, ob es erneut läuten würde, dann ging er hinüber zum Studentenwohnheim. Die Glocke vom Magdalen College schlug die volle Stunde. Im regnerischen Grau klang es wie eine Totenglocke. Auch Mrs. Piantini schien sie gehört zu haben. Sie stand im Nachthemd auf dem Hof und hob feierlich die Arme in ungehörtem Rhythmus. »Eins und zwei und eins und zwei«, sagte sie, als Dunworthy sie erreichte.

Finch erschien. Er sah verhärmt und aufgeregt aus. »Es sind die Glocken, Sir«, sagte er und ergriff Mrs. Piantini beim Arm. »Das Läuten regt sie auf. Ich glaube, unter den Umständen sollte man auf das Glockenläuten verzichten.«

Dunworthy nahm ihren freien Arm, um sie zusammen mit Finch wieder ins Haus zu führen, aber Mrs. Piantini riß sich los. »Jeder muß ohne Unterbrechung an seiner Glocke bleiben!« rief sie zornig.

»Ganz recht«, sagte Finch. Er packte ihren Arm, als wäre er das Seil einer tonnenschweren Glocke und führte sie hinein.

Drinnen begegnete ihm Colin, naß wie gewöhnlich und blaugefroren. Sein Mantel war offen, und Marys grauer Schal hing ihm nutzlos vom Hals. Er gab Dunworthy einen Zettel. »Von Badris Pfleger«, sagte er. Dann nutzte er die Ruhepause, um eine Bonbontüte aufzureißen und sich einen hellblauen Lutschbonbon in den Mund zu stecken.

Auch der Zettel war naß. Der Text lautete: »Badri verlangt nach Ihnen«, doch war das Wort »Badri« so verwischt, daß er nicht mehr als das B erkennen konnte.

»Sagte er, ob es Badri schlechter geht?«

»Nein, ich soll Ihnen nur die Nachricht bringen. Und Tante Mary sagt, daß Sie Ihre T-Zellen-Verstärkung kriegen, wenn Sie kommen. Sie weiß noch nicht, wann der Impfstoff eintreffen wird.«

Dunworthy half Finch, die widerstrebende Mrs. Piantini in ihr Bett niederzuringen, und eilte zur Klinik und die Treppen hinauf zur Isolierstation. Dort erwartete ihn eine neue Schwester, eine Frau mittleren Alters mit geschwollenen Füßen. Sie hatte die Beine auf einem zweiten Stuhl hochgelegt und verfolgte ein Fernsehprogramm, stand aber sofort auf, als er hereinkam.

»Sind Sie Mr. Dunworthy?« fragte sie. »Dr. Ahrens sagte, Sie sollten gleich zu ihr hinunterkommen.«

Sie sagte es ruhig, sogar freundlich, und er dachte, daß sie ihm Badris Anblick ersparen wollte. Mary sollte es ihm zuerst schonend beibringen. »Es handelt sich um Badri, nicht wahr? Er ist tot.«

Sie sah ihn ehrlich überrascht an. »O nein, es geht ihm heute morgen viel besser. Haben Sie meine Notiz nicht bekommen? Er kann aufrecht sitzen.«

»Aufrecht sitzen?« Er starrte sie an; war sie am Ende selbst ein Opfer des Fiebers?

»Natürlich ist er noch sehr schwach, aber seine Temperatur ist normal, und er ist bei Bewußtsein. Sie sollen zu Dr. Ahrens in die Notaufnahme kommen. Sie sagte, es sei dringend.«

Er blickte verwundert zur Tür des Krankenzimmers. »Sagen Sie Badri, daß ich ihn so bald wie möglich besuchen werde«, sagte er und eilte hinaus.

Unten begegnete ihm Colin, der anscheinend gerade hereingekommen war. »Was tust du hier?« fragte er den Jungen. »Hat einer der Techniker angerufen?«

»Tante Mary sagt, sie traue Ihnen nicht, daß Sie von selbst zur T-Zellen-Verstärkung kommen. Ich soll Sie zu ihr bringen.«

»Das geht jetzt nicht. Ich werde in der Notaufnahme erwartet«, sagte er und ging rasch weiter. Colin rannte neben ihm her. »Nun, dann eben danach. Sie sagte, ich soll Sie nicht gehen lassen.«

In der Notaufnahme wurden sie von Mary erwartet. »Wir haben einen weiteren Fall«, sagte sie mit grimmiger Miene. »Montoya. Kommen Sie mit. Sie wird gerade von Witney hereingebracht.«

»Montoya? Das ist unmöglich. Sie war allein draußen bei der Ausgrabung.«

Sie stieß die Flügeltüren auf. »Anscheinend nicht.«

»Aber sie sagte — sind Sie sicher, daß es die Influenza ist? Sie hat die ganze Zeit in Kälte und Regen gearbeitet. Vielleicht ist es eine andere Krankheit.«

Mary schüttelte den Kopf. »Im Krankenwagen haben sie eine Voruntersuchung gemacht. Es ist derselbe Erreger.« Sie ging zum Aufnahmeschalter und fragte: »Sind sie schon da?«

»Nein. Sie sind gerade durch die Absperrung gekommen.«

Sie gingen zum Eingang und schauten auf die Straße hinaus. »Heute früh bekamen wir einen Anruf von ihr, ganz verwirrt«, sagte sie. »Ich telefonierte mit dem Krankenhaus in Norton, das der Ausgrabungsstätte am nächsten ist, und sagte ihnen, sie sollten einen Krankenwagen hinschicken, aber dort erwiderte man mir, die Ausgrabungsstätte stehe von Amts wegen unter Quarantäne. Ich konnte keinen von unseren Wagen bekommen und mußte schließlich das Gesundheitsamt überreden, eine Sondergenehmigung für einen auswärtigen Krankenwagen zu erteilen.« Sie spähte wieder hinaus. »Wann ist sie zur Ausgrabungsstätte gegangen?«

»Hm…« Dunworthy überlegte. Sie hatte ihn am Weihnachtstag wegen Basingame angerufen und dann noch einmal am selben Nachmittag, um zu sagen, daß es sich erledigt habe, wahrscheinlich, weil sie beschlossen hatte, Basingames Unterschrift zu fälschen. »Am Weihnachtstag«, sagte er. »Wenn das Gesundheitsamt geöffnet hatte. Sonst am 27. Und seither hat sie niemanden gesehen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Als ich mit ihr sprach, beklagte sie sich, daß sie die Ausgrabung nicht ohne Hilfe auspumpen könne. Sie bat mich, beim Gesundheitsamt anzurufen und um Studenten als Helfer zu bitten.«

»Wann war das?«

»Vor zwei — nein, drei Tagen«, sagte er. Wenn man nie ins Bett kam, gingen die Tage ineinander über.

»Konnte sie nach dem Gespräch mit Ihnen jemanden auf der Farm gefunden haben?«

»Im Winter ist niemand dort.«

»Wenn Montoya Hilfe braucht, rekrutiert sie jeden, der in Reichweite kommt. Vielleicht konnte sie irgendwelche Wanderer oder Spaziergänger als Helfer gewinnen.«

»Sie sagte, dort gäbe es keine. Die Ausgrabung sei sehr abgelegen.«

»Jedenfalls muß sie jemand gefunden haben. Seit sieben Tagen ist sie draußen bei ihrer Ausgrabung, und die Inkubationszeit beträgt nur zwölf bis achtundvierzig Stunden.«

»Der Krankenwagen ist da!« sagte Colin.

Mary stieß die Flügeltür auf und trat hinaus, gefolgt von Dunworthy und Colin. Zwei Krankenträger mit Schutzmasken hoben eine Bahre heraus und setzten sie auf ein Fahrgestell. Dunworthy erkannte einen von ihnen; er hatte Badri gebracht.

Als die Bahre zum Eingang gefahren wurde und die Träger bei Mary haltmachten, beugte Colin sich interessiert über Montoya, die mit geschlossenen Augen lag. Ihr Kopf war in zusätzliche Kissen gebettet, ihr Gesicht ebenso stark gerötet wie Dunworthy es bei Mrs. Breen gesehen hatte. Als Colin mit neugierig gerecktem Hals über sie gebeugt stand, hustete sie ihm direkt ins Gesicht.

Dunworthy faßte den Jungen beim Kragen und zog ihn fort von der Bahre. »Geh weg da! Versuchst du das Virus einzufangen? Warum trägst du deine Schutzmaske nicht?«

»Es gibt keine mehr.«

»Du solltest überhaupt nicht hier sein. Ich möchte, daß du sofort zurück zum College gehst und…«

»Ich kann nicht. Ich habe den Auftrag, dafür zu sorgen, daß Sie Ihre T-Zellen-Verstärkung kriegen.«

»Dann setz dich da drüben hin«, sagte Dunworthy und führte ihn zu einem Stuhl in der Eingangshalle, »und halte dich von den Patienten fern.«

»Versuchen Sie bloß nicht, mir zu entwischen«, sagte Colin warnend, aber er setzte sich, zog sein Kaubonbon aus der Tasche und wischte es am Jackenärmel ab.

Dunworthy kehrte zurück zur Bahre. »Lupe«, sagte Mary gerade, »wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Wann sind Sie krank geworden?«

»Heute morgen«, sagte Montoya. Ihre Stimme war heiser, und Dunworthy merkte plötzlich, daß sie die Person gewesen sein mußte, die ihn angerufen hatte. »Gestern abend bekam ich furchtbare Kopfschmerzen…« - sie hob eine lehmige Hand und fuhr sich mit dem Rücken über die Augenbrauen -, »aber ich dachte, es sei eine Folge der Überanstrengung meiner Augen.«

»Wer war mit Ihnen draußen bei der Ausgrabung?«

»Wieso, niemand.« Montoya schien überrascht.

»Was ist mit Lieferungen? War jemand aus Witney da, um Ihnen Lebensmittel oder sonst etwas zu bringen?«

Sie wollte den Kopf schütteln, aber es schmerzte offenbar, und sie ließ es sein. »Nein. Ich nahm alles selber mit.«

»Und Sie hatten niemanden bei sich, der Ihnen bei der Arbeit half?«

»Nein. Ich ersuchte Mr. Dunworthy, dem Gesundheitsamt zu sagen, daß man mir Helfer schicken sollte, aber er hat es nicht getan.« Mary blickte zu Dunworthy, und Montoya folgte ihrem Blick. »Schicken sie jemand?« fragte sie ihn. »Sie werden es nie finden, wenn sie nicht bald jemanden hinausschicken.«

»Was finden?« fragte er.

»Die Ausgrabung ist jetzt halb unter Wasser«, sagte sie.

»Was finden?«

»Kivrins Aufzeichnungsgerät.«

Plötzlich sah er wieder Montoya vor sich, wie sie beim Sarkophag gestanden und Knochen sortiert hatte, die wie kleine Steine ausgesehen hatten. Handknochen. Es waren Knochen vom Handgelenk gewesen, und sie hatte die ungleichmäßigen Kanten nach einem Knochen untersucht, der in Wirklichkeit ein Aufnahmegerät war. Kivrins Aufnahmegerät.

»Ich habe noch nicht alle Gräber ausgegraben«, sagte Montoya, »und es regnet beinahe ständig. Sie müssen sofort jemanden hinschicken, damit das Wasser abgepumpt werden kann.«

»Gräber?« fragte Mary mit verständnislosem Blick. »Wovon redet sie?«

»Sie hat einen mittelalterlichen Friedhof ausgegraben und sucht nach Kivrins Gebeinen«, sagte er mit Bitterkeit. »Und das Aufnahmegerät, das Sie in Kivrins Handgelenk implantierten.«

Mary hörte nicht zu. »Ich brauche die Listen der Kontaktpersonen«, sagte sie zum Stationsarzt. Wieder zu Dunworthy gewandt, fragte sie: »War Badri nicht auch draußen bei der Ausgrabung?«

»Ja.«

»Wann?«

»Am 18. und 19. Dezember«, sagte er.

»Hat er auf dem Friedhof gearbeitet?«

»Ja. Er und Montoya öffneten den Sarkophag eines Ritters.«

»Einen Sarkophag«, sagte Mary, als sei es die Antwort auf eine Frage. Sie beugte sich über Montoya. »War der Sarkophag datiert?«

»1318«, sagte Montoya.

»Haben Sie in dieser Woche am Sarkophag des Ritters gearbeitet?«

Montoya versuchte zu nicken, hielt inne. »Mir wird so schwindlig, wenn ich den Kopf bewege«, sagte sie entschuldigend. »Ich muß das Skelett bergen. Wasser ist in den Sarkophag eingedrungen.«

»An welchem Tag arbeiteten Sie an dem Sarkophag?«

Montoya runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht genau erinnern. Ich glaube, am Silvestertag.«

Dunworthy fragte: »Haben Sie seitdem daran gearbeitet?«

Sie deutete wieder ein Kopfschütteln an.

»Die Kontaktlisten sind da«, sagte der Stationsarzt.

Mary ging mit ihm in die Station und beugte sich mit ihm über die Konsole. Sie tippte mehrere Tasten, starrte auf den Bildschirm, tippte weiter.

Dunworthy ging zu ihr. »Was gibt es?«

»Wie sind die Bedingungen auf dem Friedhof?« fragte Mary.

»Bedingungen? Es ist schlammig. Sie hat den ausgegrabenen Teil mit Planen und Folien abgedeckt, aber es kam noch immer eine Menge Regenwasser hinein.«

»Warm?«

»Ja, richtig. Sie zog sich die Jacke aus, weil ihr warm war. Sie hatte mehrere elektrische Heizstrahler angeschlossen. Wieso?«

Sie fuhr mit dem Finger suchend über den Bildschirm. »Viren sind außerordentlich widerstandsfähige Organismen«, sagte sie. »Sie können über lange Zeiträume inaktiv liegen, um dann beim Auftreten günstiger Bedingungen von neuem virulent zu werden. Lebende Viren sind ägyptischen Mumien entnommen worden.«

Ihr Finger kam zur Ruhe. »Ich dachte es mir! Badri war vier Tage vor seiner Erkrankung draußen bei der Ausgrabung.«

Sie wandte sich zum Stationsarzt. »Wir müssen sofort eine Arbeitsgruppe zur Untersuchung der Ausgrabungsstätte bilden«, sagte sie zu ihm. »Beschaffen Sie uns die Genehmigung der Gesundheitsbehörde. Geben Sie als Begründung an, daß wir möglicherweise den Ursprungsort des Virus gefunden haben.« Sie drückte eine Taste und ließ die Namensliste weiter über den Bildschirm scrollen, folgte dem Namen mit dem Finger, gab ein anderes Signal ein und lehnte sich zurück, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. »Wir hatten vier Primärinfektionen ohne positive Verbindung mit Badri. Zwei von ihnen waren vier Tage vor ihrer Erkrankung an der Ausgrabungsstätte. Ein anderer war drei Tage vorher dort.«

»Der Erreger ist in der Ausgrabung?« fragte Dunworthy.

»Ja.« Sie schenkte ihm ein halb belustigtes, halb klägliches Lächeln. »Ich fürchte, Gilchrist hatte doch recht. Der Erreger kam tatsächlich aus der Vergangenheit. Aus dem Sarkophag des Ritters.«

»Kivrin war am Ausgrabungsort«, sagte er.

Nun blickte sie ihn verständnislos an. »Wann?«

»Am 19. Dezember, dem Sonntag vor der Absetzoperation.«

»Sind Sie sicher?«

»Sie sagte es mir, bevor sie durchging. Sie wollte, daß ihre Hände authentisch aussähen.«

»Ach du lieber Gott«, sagte sie. »Wenn sie vier Tage vor dem Absetzen dem Virus ausgesetzt war, hatte sie ihre T-Zellen-Verstärkung noch nicht. Der Erreger konnte also Gelegenheit gehabt haben, sich zu vermehren und ihren Organismus zu überschwemmen. Es ist möglich, daß sie daran erkrankt ist.«

Dunworthy ergriff sie beim Arm. »Aber das kann nicht geschehen sein, Mary! Das Netz hätte sie nicht durchgelassen, wenn eine Gefahr bestanden hätte, daß sie die Zeitgenossen am Absetzort infizieren würde.«

»Wen sollte sie infizieren?« entgegnete Mary. »Wenn der Erreger aus dem Sarkophag des Ritters kam, wenn er 1318 daran starb, gab es niemanden zu infizieren. Die Zeitgenossen hatten die Krankheit bereits hinter sich. Sie waren immunisiert.« Sie stand auf und ging hinaus zu Montoya. »Arbeitete Kivrin am oder beim Sarkophag, als sie am Ausgrabungsort war?«

»Ich weiß nicht«, sagte Montoya. »Ich war nicht dort. Ich hatte eine Besprechung mit Gilchrist.«

»Wer würde es wissen? Wer war an dem Tag sonst noch dort?«

»Niemand. Alle waren in die Weihnachtsferien gegangen.«

»Woher wußte sie, was sie zu tun hatte?«

»Die freiwilligen Helfer hinterließen einander Notizen am Schwarzen Brett, wenn sie gingen.«

»Wer war an dem betreffenden Morgen dort?« fragte Mary.

»Badri«, sagte Dunworthy und machte sich auf den Weg zur Isolierstation.

Er marschierte ohne Aufenthalt in Badris Krankenzimmer. Die Schwester, mit den geschwollenen Füßen auf der Konsole überrascht, rief: »Sie können ohne Schutzkleidung nicht hinein!« und wollte ihm nach, aber er war schon drinnen.

Badri lag halb sitzend auf Kissen gestützt. Er sah sehr bleich aus, als hätte die Krankheit alle Farbe aus seiner Haut gebleicht, und schwach, doch blickte er auf, als Dunworthy hereinplatzte und ohne Vorrede zu sprechen begann.

»Hat Kivrin am Sarkophag des Ritters gearbeitet?«

»Kivrin?« Seine Stimme war beinahe zu schwach, um hörbar zu sein.

Die Schwester stieß die Tür auf. »Mr. Dunworthy, es ist Ihnen nicht erlaubt, ohne Schutzkleidung hier…«

»Am Sonntag«, sagte Dunworthy, »sollten Sie ihr eine Botschaft hinterlassen und notiert haben, was zu tun war. Haben Sie ihr gesagt, daß sie am Sarkophag arbeiten solle?«

»Mr. Dunworthy, Sie setzen sich der Ansteckungsgefahr aus!« sagte die Schwester.

Mary kam herein, ein Paar Gummihandschuhe überziehend. »Sie dürfen ohne Schutzkleidung nicht hier in der Station sein, James.«

»Ich habe es ihm zweimal gesagt, Dr. Ahrens«, sagte die Schwester, »aber er stürmte vorbei, ohne auf mich zu hören…«

»Haben Sie Kivrin am Ausgrabungsort eine Nachricht hinterlassen, daß sie am Sarkophag arbeiten solle?« drängte Dunworthy.

Badri nickte matt.

»Dann war sie dem Virus ausgesetzt«, sagte Dunworthy zu Mary. »Am Sonntag. Vier Tage vor dem Absetzen.«

»Gott, nein!« hauchte Mary.

»Was ist? Was ist passiert?« fragte Badri und stützte sich mit beiden Armen im Bett auf. »Wo ist Kivrin?« Er blickte von Mary zu Dunworthy. »Sie zogen sie heraus, nicht? Als Sie merkten, was geschehen war? Haben Sie sie nicht herausgeholt?«

»Was soll geschehen sein?« fragte Mary. »Wovon reden Sie?«

»Sie müssen sie herausgeholt haben«, sagte Badri. »Sie ist nicht im Jahr 1320. Sie ist im Jahr 1348.«

25

»Unmöglich«, sagte Dunworthy.

»Was sagen Sie da, 1348?« sagte Mary verwirrt. »Das kann nicht sein. Das ist das Jahr des Schwarzen Todes.«

Sie kann nicht in 1348 angekommen sein, dachte Dunworthy. Alle Koordinaten waren richtig, Badri hatte die Verschiebung als minimal bezeichnet, und Andrews gesagt, die maximale Verschiebung betrage fünf Jahre.

»1348?« sagte Mary. Er sah sie zu den Kontrollanzeigen an der Wand blicken, als ob sie hoffte, daß er noch an Wahnvorstellungen leide. »Sind Sie sicher?«

Badri nickte. »Ich wußte, daß etwas nicht stimmte, sobald ich die Verschiebung sah…«

»Es konnte nicht genug Verschiebung gegeben haben, daß sie 1348 durchkam«, unterbrach ihn Dunworthy. »Ich habe von Andrews die Parameter überprüfen lassen. Er sagte, die maximale Verschiebung betrage nur fünf Jahre.«

Badri schüttelte den Kopf. »Es war nicht die Verschiebung«, sagte er mit gequälter Miene. »Die machte nur vier Stunden aus. Sie war zu klein. Die minimale Verschiebung bei Ferndistanz-Operationen dieser Art sollte mindestens achtundvierzig Stunden ausmachen.«

Die Verschiebung war nicht zu groß gewesen, sondern zu klein. Dunworthy hatte Andrews nicht nach der minimalen Verschiebung gefragt, nur nach der maximalen.

»Ich weiß nicht, was passierte«, sagte Badri. »Ich hatte solche Kopfschmerzen. Die ganze Zeit, während ich das Netz einstellte, hatte ich diese rasenden Kopfschmerzen.«

»Das war das Virus«, sagte Mary. »Kopfschmerzen und Desorientierung sind die ersten Symptome.« Sie ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett sinken und schüttelte benommen den Kopf. »1348!«

1348. Sein Verstand weigerte sich, dies hinzunehmen. Er hatte sich Sorgen gemacht, daß Kivrin das Virus eingefangen haben könnte, er hatte eine zu große Verschiebung befürchtet, und unterdessen war sie die ganze Zeit im Jahr 1348. Die Pest hatte Oxford 1348 erreicht. Um die Weihnachtszeit.

»Als ich sah, wie geringfügig die Verschiebung war, dachte ich mir, daß etwas nicht stimmen könne«, sagte Badri. »Also rief ich die Koordinaten ab…«

»Sie sagten, Sie hätten Puhalskis Koordinaten überprüft!« sagte Dunworthy in anklagendem Ton.

»Er ist Lehrling. Er hatte noch nie eine Ferndistanz-Operation selbständig durchgeführt. Und Gilchrist konnte die Arbeit des Technikers natürlich nicht kontrollieren. Ich versuchte es Ihnen zu sagen. War sie nicht am Absetzort?« Er sah Dunworthy an. »Warum haben Sie sie nicht herausgeholt?«

»Wir wußten es nicht«, sagte Mary, noch immer wie betäubt auf dem Stuhl sitzend. »Sie waren nicht imstande, uns etwas zu sagen. Sie redeten unzusammenhängendes Zeug, waren im Fieberwahn.«

»Die Seuche tötete fünfzig Millionen Menschen«, sagte Dunworthy. »Sie tötete halb Europa.«

»James«, sagte Mary.

»Ich versuchte es Ihnen zu sagen«, sagte Badri. »Darum kam ich, es Ihnen zu sagen. Damit wir sie herausholen könnten, bevor sie den Absetzort verließ.«

Er hatte es versucht, war ohne Mantel durch den Regen zum Pub gelaufen, um es ihm zu sagen, hatte sich durch das Weihnachtspublikum mit seinen Einkaufstaschen und Schirmen gedrängt und war naß und halb erfroren angekommen, zähneklappernd vom Fieber. Etwas stimmt nicht.

Ich versuchte es Ihnen zu sagen. Zuverschiedenen Zeiten hatte er gesagt, es habe halb Europa getötet, es seien die Ratten gewesen. Und er hatte nach dem Jahr gefragt. Sicherlich hatte er versucht, es ihm zu sagen.

»Wenn es nicht die Verschiebung war, muß es ein Irrtum in den Koordinaten gewesen sein«, sagte Dunworthy. Er beugte sich vor und umfaßte mit beiden Händen die Querstange am Fußende des Bettes.

Badri schrak wie ein in die Enge getriebenes Tier in die Kissen zurück. »Sie sagten, Puhalskis Koordinaten seien richtig gewesen.«

»James«, sagte Mary warnend.

»Die Koordinaten sind der einzige andere Faktor, wo etwas schiefgehen konnte«, rief er. »Alle anderen Fehler oder Irrtümer hätten die Absetzoperation von Anfang an blockiert. Sie sagten, sie hätten die Koordinaten zweimal überprüft. Sie sagten, Sie hätten keine Fehler finden können.«

»Ich konnte keine finden«, sagte Badri. »Aber ich vertraute ihnen nicht. Ich fürchtete, er hätte einen Fehler in den siderischen Berechnungen gemacht, der unerkannt bleiben würde.« Sein Gesicht wurde womöglich noch blasser. »Ich gab die Koordinaten selbst noch einmal ein. Am Morgen der Absetzoperation.«

Am Morgen der Absetzoperation. Als er die furchtbaren Kopfschmerzen gehabt hatte. Als er schon fieberte und desorientiert war. Dunworthy erinnerte sich, wie er an der Konsole gesessen und stirnrunzelnd auf den Bildschirm gestarrt hatte. Er hatte dabeigestanden und zugesehen, wie er Kivrin ins Jahr des Schwarzen Todes geschickt hatte.

»Ich weiß nicht, was geschah«, murmelte Badri. »Ich muß wohl…«

»Die Pest entvölkerte ganze Dörfer«, sagte Dunworthy. »So viele Menschen starben, daß niemand übrig war, sie zu begraben.«

»Lassen Sie ihn in Ruhe, James«, sagte Mary. »Es ist nicht seine Schuld. Er war krank.«

»Krank!« sagte er. »Kivrin war Ihrem Virus ausgesetzt. Weil Sie aus einer richtigen eine fehlerhafte Berechnung machten, ist sie im Jahr 1348 gestrandet.«

»James«, sagte Mary.

Er wollte nichts mehr hören. Er riß die Tür auf und stürzte hinaus.

Colin balancierte im Korridor auf einem Stuhl, kippte ihn zurück, daß die vorderen Stuhlbeine vom Boden abhoben. »Da sind Sie ja«, sagte er.

Dunworthy schritt rasch an ihm vorbei.

»Wohin gehen Sie?« rief Colin und ließ den Stuhl mit einem Knall nach vorn fallen. »Großtante Mary sagte, ich soll bei Ihnen bleiben, bis Sie Ihre Verstärkung bekommen haben.« Er sprang auf, stolperte über seine Füße, fing den Sturz mit den Händen auf und kam wieder auf die Füße. »Warum tragen Sie Ihren Schutzanzug nicht?«

Dunworthy stieß die Türflügel zum Treppenhaus auf und ging durch.

Colin kam im Laufschritt hinterher, schlitterte durch die zufallenden Türflügel. »Großtante Mary sagte, ich darf Sie nicht gehen lassen.«

»Ich habe keine Zeit für Impfungen«, knurrte Dunworthy. »Sie ist im Jahr 1348.«

»Wer?« Er marschierte weiter.

»Kivrin?« Colin mußte rennen, um ihn einzuholen. »Das kann nicht wahr sein. Das war die Zeit der Pest, nicht?«

Dunworthy lief die Treppe hinunter, immer zwei Stufen auf einmal überspringend.

»Verstehe ich nicht«, sagte Colin. »Wie konnte sie 1348 durchkommen?«

Dunworthy kam im Erdgeschoß an und fischte, während er durch den Korridor zur Telefonzelle marschierte, in der Manteltasche nach dem Taschenkalender, den Colin ihm gegeben hatte.

»Wie wollen Sie sie herausholen?« fragte Colin. »Das Laboratorium ist gesperrt.«

Dunworthy erreichte das Telefon und begann im Taschenkalender zu blättern. Er hatte Andrews’ Nummer hinten hineingeschrieben.

»Mr. Gilchrist wird Sie nicht hineinlassen. Wie wollen Sie ins Laboratorium kommen? Er sagte, er würde es nicht erlauben.«

Andrews’ Nummer war auf der letzten Seite. Er nahm den Hörer auf.

»Wenn er Sie doch einläßt, wer wird das Netz bedienen? Mr. Chaudhuri?«

»Andrews«, sagte Dunworthy und drückte die Nummer.

»Ich dachte, er würde nicht kommen. Wegen der Ansteckungsgefahr.«

Dunworthy hob den Hörer ans Ohr. »Ich werde sie nicht dortlassen.«

Eine Frauenstimme meldete sich. »H. F. Shepherd’s GmbH.«

Dunworthy schaute verdutzt auf den Taschenkalender in seiner Hand. »Ich versuche Ronald Andrews zu erreichen«, sagte er. »Welche Nummer haben Sie?«

»24.837«, sagte sie ungeduldig. »Hier gibt es niemanden dieses Namens.«

Er hängte ein. »Idiotischer Telefondienst«, stieß er hervor und wählte die Nummer noch einmal.

»Selbst wenn er einverstanden ist, zu kommen, wie wollen Sie sie finden?« fragte Colin. Er spähte ihm über die Schulter. »Sie wird nicht am Absetzort sein, oder? Der Rückholtermin ist erst in drei Tagen.«

Dunworthy lauschte dem Läuten des Telefons am anderen Ende und fragte sich, was Kivrin getan haben mochte, als sie gemerkt hatte, wo sie war. Sicherlich war sie zum Absetzort zurückgekehrt und hatte dort gewartet. Wenn sie dazu in der Lage gewesen war. Wenn sie nicht krank war. Wenn die Zeitgenossen sie nicht beschuldigt hatten, die Pest nach Skendgate gebracht zu haben.

»H. F. Shepherd’s GmbH«, sagte dieselbe Frauenstimme.

»Welche Nummer haben Sie?« rief Dunworthy.

»24.837«, sagte sie.

»24.837«, wiederholte Dunworthy. »Das ist die Nummer, die ich zu erreichen versuche.«

»Nein, ist es nicht«, sagte Colin und langte an ihm vorbei, um auf Andrews’ Nummer auf der Seite zu zeigen. »Sie haben die Nummern verwechselt.« Er nahm Dunworthy den Hörer weg. »Hier, lassen Sie mich versuchen.« Er wählte die Nummer und gab den Hörer zurück.

Das Läuten am anderen Ende hörte sich anders an, weiter entfernt. Dunworthys Gedanken kamen nicht von Kivrin los. Die Seuche hatte nicht gleichzeitig überall zugeschlagen. Sie war um Weihnachten in Oxford ausgebrochen, aber kein Mensch wußte, wann sie Skendgate erreicht hatte.

Niemand meldete sich. Er ließ das Telefon zehnmal läuten, elfmal. Er konnte sich nicht erinnern, aus welcher Richtung die Pest eingeschleppt worden war. Bekannt war nur, daß sie aus Frankreich über den Kanal gebracht worden war. Das bedeutete, von Osten her. Und Skendgate lag westlich von Oxford. Vielleicht war sie dort erst nach Weihnachten aufgetreten.

»Wo ist das Buch?« fragte er Colin.

»Was für ein Buch? Ihr Terminkalender, meinen Sie? Der ist hier.«

»Das Buch, das ich dir zu Weihnachten schenkte. Warum hast du es nicht?«

»Hier?« fragte Colin verwirrt. »Das wiegt mindestens anderthalb Kilo.«

Niemand meldete sich. Dunworthy hängte ein, nahm den Taschenkalender und ging zur Tür. »Ich erwarte, daß du es immer bei dir hast. Weißt du nicht, daß wir eine Epidemie haben?«

»Fehlt Ihnen was, Mr. Dunworthy?«

»Geh und hol es«, sagte Dunworthy.

»Was, jetzt gleich?«

»Geh zurück zum Balliol und hol es! Ich möchte wissen, wann die Pest Oxfordshire erreichte. Nicht die Stadt. Die Dörfer. Und aus welcher Richtung sie sich ausbreitete.«

»Wohin gehen Sie?« fragte Colin. Er mußte laufen, um mit ihm Schritt zu halten.

»Gilchrist dazu bringen, daß er das Laboratorium öffnet.«

»Wenn er es wegen der Influenza nicht öffnet, wird er es für die Pest erst recht nicht tun«, sagte Colin.

Dunworthy öffnete die Tür und ging hinaus. Es regnete stark. Die EG-Protestler hatten unter dem Vordach der Klinik Zuflucht gesucht. Einer kam auf ihn zu und hielt ihm ein Flugblatt hin. Colin hatte recht. Gilchrist den Ursprung des Erregers zu erklären, würde wirkungslos bleiben. Er würde weiterhin überzeugt sein, daß das Virus durch das Netz gekommen sei. Aus Furcht, auch die Pest würde durchkommen, würde er es erst recht nicht öffnen.

»Gib mir ein Blatt Papier«, sagte er und fummelte unter dem Mantel nach seinem Schreibstift.

»Ein Blatt Papier?« sagte Colin. »Wozu?«

Dunworthy nahm dem EG-Protestler das Flugblatt aus der Hand und begann die Rückseite zu beschreiben. »Mr. Basingame genehmigt das Offnen des Netzes«, sagte er.

Colin las mit schiefgelegtem Kopf von der Seite mit. »Das wird er nie glauben, Mr. Dunworthy. Auf der Rückseite eines Flugblattes?«

»Dann bring mir ein Blatt Papier!« rief er zornig.

Colins Augen weiteten sich. »Ja, gut. Warten Sie hier, ja?« Er sagte es beschwichtigend. »Gehen Sie nicht fort.«

Er lief wieder hinein und kam gleich darauf mit mehreren Blättern Schreibmaschinenpapier zurück. Dunworthy nahm sie ihm aus der Hand und schrieb die Anweisung und setzte nach dem Gedächtnis Basingames Namen darunter. »Geh und hol dein Buch. Wir treffen uns im Brasenose College.«

»Wollen Sie Ihren Mantel nicht anziehen?«

»Dafür ist jetzt keine Zeit«, sagte er. Er faltete das Blatt zweimal kreuzweise und steckte es in die Brusttasche seines Jacketts.

»Es regnet. Sollten Sie nicht ein Taxi nehmen?«

»Es gibt keine Taxis.« Er machte sich auf den Weg.

»Tante Mary wird mich umbringen, wissen Sie«, rief Colin ihm nach. »Sie sagte, es sei meine Verantwortung, dafür zu sorgen, daß Sie Ihre Impfung bekommen.«

Er hätte doch ein Taxi nehmen sollen. Bis er Brasenose erreichte, goß es in Strömen, ein kalter, schräg niederprasselnder Regen, der innerhalb einer Stunde in Graupeln übergehen würde. Dunworthy war durchgefroren und naß bis auf die Haut.

Wenigstens hatte der Regen die Demonstranten vertrieben. Vor dem Tor lagen nur noch ein paar nasse Flugblätter, die sie zurückgelassen hatten. Die Toreinfahrt war mit einem Scherengitter verschlossen. Der Pförtner hatte sich in seine Loge zurückgezogen und den Rolladen heruntergelassen.

»Aufmachen!« rief Dunworthy. Er rüttelte kräftig am Scherengitter. »Machen Sie sofort auf!«

Der Portier zog den Rolladen hoch und schaute heraus. Als er Dunworthy erkannte, zeigte er sich alarmiert, dann kriegerisch. »Brasenose steht unter Quarantäne«, sagte er. »Das College ist geschlossen.«

»Öffnen Sie sofort das Tor!« sagte Dunworthy.

»Ich fürchte, das kann ich nicht tun, Sir«, sagte er. »Mr. Gilchrist hat Anweisung gegeben, daß niemand eingelassen werden darf, bis der Ursprung des Virus festgestellt ist.«

»Wir kennen den Ursprung«, sagte Dunworthy. »Öffnen Sie das Tor!«

Der Pförtner ließ den Rolladen herunter, und nach einer Minute kam er aus der Loge und herüber zum Tor. »Waren es die Weihnachtsdekorationen?« fragte er. »Es hieß, der Christbaumschmuck sei infiziert gewesen.«

»Nein«, sagte Dunworthy. »Öffnen Sie endlich das Tor und lassen Sie mich ein!«

»Ich weiß nicht, ob ich das tun sollte, Sir«, sagte der Pförtner unbehaglich. »Mr. Gilchrist…«

»Mr. Gilchrist ist nicht mehr mit der Leitung beauftragt.« Er zog das gefaltete Papier aus dem Jackett und steckte es durch das Scherengitter.

Der Pförtner entfaltete und las es.

»Mr. Gilchrist ist nicht länger amtierender Dekan«, sagte Dunworthy. »Mr. Basingame hat mich autorisiert, die Absetzoperation zu leiten. Öffnen Sie das Tor!«

»Mr. Basingame«, sagte der Pförtner, auf die bereits vom Regen verwischte Unterschrift starrend. »Warten Sie, ich hole die Schlüssel.«

Er verschwand mit dem Papier in der Pförtnerloge. Dunworthy stand mit eingezogenen Schultern an das Scherengitter gedrückt, um dem eiskalten Regen zu entgehen, und fröstelte.

Er hatte sich gesorgt, daß Kivrin auf dem kalten Boden würde schlafen müssen, und sie war inmitten eines Holocaust, wo die Menschen erfroren, weil niemand mehr die Kraft hatte, Holz zu hacken, und die Tiere in den Ställen und auf den Feldern starben, weil niemand am Leben war, sie zu füttern oder die Weidetore zu öffnen. Achtzigtausend Tote in Siena, dreihunderttausend in Rom, mehr als hunderttausend in Florenz. Die Hälfte von Europa.

Endlich kam der Pförtner mit einem großen Schlüsselring heraus und zum Tor. »Einen Augenblick, Sir«, sagte er, während er den richtigen Schlüssel heraussuchte.

Kivrin war sicherlich zum Absetzort zurückgekehrt, sobald sie bemerkt hatte, daß es das Jahr 1348 war. Dort würde sie die ganze Zeit ausgeharrt und gewartet haben, daß das Netz geöffnet wurde, in Angst und Sorge, daß sie nicht gekommen waren, sie zurückzuholen.

Wenn sie es bemerkt hatte. Wie konnte sie in einem entlegenen Dorf wissen, daß sie sich im Jahr 1348 befand? Badri hatte ihr gesagt, daß mit einer Verschiebung von mehreren Tagen zu rechnen sei. Sie würde das Datum mit den Adventsonntagen verglichen und gedacht haben, daß sie genau dort sei, wo sie sein sollte. Sie konnte überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen sein, nach dem Jahr zu fragen. Sie würde glauben, daß es 1320 sei, und unterdessen brach ringsumher die Seuche aus.

Das Schloß schnappte auf, und Dunworthy stieß das Scherengitter weit genug auf, um sich durchzuzwängen. »Bringen Sie die Schlüssel mit«, sagte er zum Pförtner. »Ich brauche sie zum Aufsperren des Laboratoriums.«

»Dieser Schlüssel ist nicht hier«, sagte der Pförtner und verschwand wieder in der Loge.

In der Tordurchfahrt war es eiskalt, und der Regen fegte schräg herein, noch kälter als vorher, wie es ihm schien. Dunworthy stand zitternd bei der Tür des Pförtnerhauses, versuchte etwas Wärme aus dem Inneren aufzufangen und rammte die geballten Fäuste in die Jackentaschen, um das Zittern zu unterdrücken.

Er hatte sich Sorgen wegen der Diebe und Halsabschneider gemacht, dabei war sie in einer Zeit, wo man die Toten auf den Straßen gestapelt, wo man in der Panik und allgemeinen Hysterie Juden und Fremde als Brunnenvergifter verdächtigt und auf Scheiterhaufen verbrannt hatte.

Er hatte sich gesorgt, daß Gilchrist keine Parameterüberprüfungen hatte vornehmen lassen, hatte Badri mit seiner Sorge angesteckt, und Badri, schon fiebernd, hatte neue und falsche Koordinaten eingegeben.

Der Pförtner blieb ungewöhnlich lang aus, und Dunworthy begann zu argwöhnen, daß er Gilchrist warnte.

Er wollte zur Tür hinein, doch im gleichen Augenblick kam der Pförtner mit einem Schirm heraus und klagte über die Kälte. Er bot Dunworthy die Hälfte des Schirms.

»Ich bin schon durchnäßt«, sagte Dunworthy und schritt vor ihm her über den Hof.

Die Tür zum Laboratorium war mit einem gelben Plastikstreifen versiegelt. Dunworthy riß ihn ab, während der Pförtner seine Taschen nach dem Schlüssel für die Alarmanlage durchsuchte und dabei den Schirm von einer Hand in die andere nahm.

Dunworthy blickte über die Schulter zu Gilchrists Räumen hinauf. Von dort konnte man das Laboratorium sehen, und im Wohnzimmer brannte Licht, aber Dunworthy konnte keine Bewegung ausmachen.

Der Pförtner fand den flachen Schlüssel, der die Alarmanlage ausschaltete. Er tat es und begann nach dem Türschlüssel zu suchen, den er kurz zuvor eingesteckt hatte. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen ohne Mr. Gilchrists Genehmigung das Laboratorium aufsperren sollte«, sagte er.

»Mr. Dunworthy!« rief Colin über den Hof. Sie blickten beide auf. Colin kam durch den Regen gerannt, das in den Schal gewickelte Buch unter den Arm geklemmt. »Sie hat — Teile — von Oxfordshire — erst im März erreicht«, keuchte er. »Verzeihung. Ich bin — die ganze -Strecke gerannt.«

»Welche Teile?« fragte Dunworthy.

Colin reichte ihm das Buch und bückte sich, die Hände auf den Knien, um wieder zu Atem zu kommen. »Steht nicht — darin.«

Dunworthy wickelte den Schal vom Buch und schlug es an der Stelle auf, die Colin mit einem Eselsohr angemerkt hatte, aber seine Brillengläser waren so mit Regentropfen beperlt, daß er nicht lesen konnte, und die aufgeschlagenen Seiten waren im Nu naß.

»Darin steht, daß die Pest in Melcombe ausbrach und sich nordwärts nach Bath und gegen Osten ausbreitete«, sagte Colin. »Sie war um Weihnachten in Oxford, aber Teile von Oxfordshire erreichte sie erst im Frühling, und ein paar abgelegene Dörfer blieben bis Juli verschont.«

Dunworthy starrte wie blind auf die unleserlichen Seiten. »Das sagt uns nichts«, murmelte er.

»Ich weiß.« Colin richtete sich auf, stieß schnaufend den Atem aus. »Aber wenigstens steht nicht darin, daß die Pest um Weihnachten in ganz Oxfordshire war. Vielleicht ist sie in einem der Dörfer, die erst im März an der Reihe waren.«

Dunworthy wischte die nassen Seiten mit dem baumelnden Ende des Schals und klappte das Buch zu. »Die Pest breitete sich von Bath ostwärts aus«, sagte er leise. »Skendgate liegt ein kleines Stück südlich der Straße von Bath nach Oxford.«

Der Pförtner hatte den Schlüssel endlich gefunden und stieß ihn ins Schloß.

»Ich rief wieder bei Andrews an, aber dort meldet sich noch immer niemand.«

Der Pförtner öffnete die Tür.

»Wie wollen Sie das Netz ohne einen Techniker handhaben?« fragte Colin.

»Das Netz handhaben?« sagte der Pförtner, den Schlüssel noch in der Hand. »Ich verstand Sie so, daß Sie Daten vom Computer abzufragen wünschten. Mr. Gilchrist wird nicht erlauben, daß Sie das Netz ohne Genehmigung in Betrieb nehmen.« Er zog das Blatt mit Basingames gefälschter Unterschrift hervor und überlas den Text.

»Ich genehmige es«, sagte Dunworthy und schritt an ihm vorbei ins Laboratorium.

Der Pförtner wollte ihm nach, blieb mit dem offenen Schirm am Türrahmen hängen und bemühte sich, das Schirmgestell zusammenzuklappen.

Colin duckte sich unter dem Schirm durch und folgte Dunworthy hinein.

Gilchrist mußte die Heizung ausgeschaltet haben. Im Laboratorium war es kaum wärmer als draußen, aber Dunworthys Brillengläser beschlugen sich trotzdem, naß wie sie waren. Er nahm sie ab und versuchte sie am nassen Anzugjackett abzuwischen.

»Hier«, sagte Colin und gab ihm eine zusammengerollte Länge Toilettenpapier. »Es ist Klopapier, das ich für Mr. Finch gesammelt habe. Die Sache ist die, es wird schwierig genug sein, sie zu finden, wenn wir am richtigen Ort landen, und Sie sagten selbst, daß es furchtbar kompliziert ist, die genaue Zeit und den richtigen Ort zu bekommen.«

»Wir haben beides schon«, sagte Dunworthy. Er wischte die Brillengläser am Toilettenpapier und setzte die Brille wieder auf. Die Sicht war noch immer unscharf.

»Ich fürchte, ich muß Sie bitten, zu gehen«, sagte der Pförtner. »Ich kann Sie hier ohne Mr. Gilchrists Genehmigung nicht einlassen.«

»Oh, verdammt«, stieß Colin hervor. »Da ist Mr. Gilchrist.«

»Was hat das zu bedeuten?« fragte Gilchrist. »Was tun Sie hier?«

»Ich werde Kivrin zurückholen«, sagte Dunworthy.

»Wer hat Sie bevollmächtigt?« konterte Gilchrist. »Dies ist das Netz des Brasenose College, und Sie haben sich unberechtigt Zutritt verschafft.« Er wandte sich zum Pförtner. »Ich gab Ihnen Anweisung, daß Mr. Dunworthy keine Erlaubnis zum Betreten des Grundstücks hat.«

»Mr. Basingame hat ihn bevollmächtigt«, sagte der Pförtner. Er übergab ihm das feuchte Papier.

Gilchrist nahm es ihm mit einem Ruck aus den Fingern. »Basingame!« Er starrte darauf. »Das ist nicht Basingames Unterschrift«, sagte er erbost. »Hausfriedensbruch und nun Urkundenfälschung. Mr. Dunworthy, ich beabsichtige, Anzeige zu erstatten. Und wenn Mr.

Basingame zurückkehrt, werde ich ihn von diesem dreisten Übergriff unterrichten.«

Dunworthy trat einen Schritt auf ihn zu. »Und ich werde Mr. Basingame unterrichten, daß sein Stellvertreter sich weigerte, eine Absetzoperation abzubrechen, daß er absichtlich eine Historikerin gefährdete, daß er den Zugang zu diesem Laboratorium verweigerte, und daß der zeitliche Aufenthalt der Historikerin infolgedessen nicht bestimmt werden konnte.« Er fuchtelte zur Konsole hinüber. »Wissen Sie, was diese Fixierung sagt? Diese Fixierung, die Sie meinen Techniker zehn Tage lang nicht lesen lassen wollten? Wissen Sie, was diese Fixierung besagt? Daß Kivrin nicht im Jahr 1320 ist, sondern im Jahr 1348, mitten im Schwarzen Tod.« Wieder gestikulierte er zum Bildschirm. »Und sie ist seit zwei Wochen dort. Wegen Ihrer Dummheit. Wegen…«, er brach ab.

»Sie haben kein Recht, so zu mir zu sprechen«, sagte Gilchrist. »Und kein Recht, in diesem Laboratorium zu sein. Ich verlange, daß Sie es augenblicklich verlassen.«

Dunworthy antwortete nicht. Er trat einen Schritt auf die Konsole zu.

»Rufen Sie den Proktor«, sagte Gilchrist zum Pförtner. »Ich wünsche, daß die beiden hinausgeworfen werden.«

Der Bildschirm war nicht nur leer, sondern auch dunkel, und das gleiche galt für die Funktionsleuchten auf der Konsole. Die Stromzufuhr war ausgeschaltet. »Sie haben den Strom abgeschaltet«, sagte Dunworthy und seine Stimme klang so alt wie Badris sich angehört hatte. »Sie haben das Netz stillgelegt.«

»Jawohl«, sagte Gilchrist, »und es war auch gut so, da Sie glauben, Sie hätten das Recht, ohne Genehmigung hier einzudringen.«

Er streckte eine Hand zum leeren Bildschirm aus und wankte ein wenig. »Sie haben das Netz stillgelegt«, wiederholte er.

»Fehlt Ihnen was, Mr. Dunworthy?« fragte Colin. Er trat einen Schritt näher.

»Ich dachte mir, daß Sie imstande sein würden, einzubrechen und das Netz zu öffnen«, sagte Gilchrist, »da die Autorität des Fachbereiches für Sie keine Bedeutung zu haben scheint. Ich unterbrach die Stromzufuhr, um derartige Versuche zu verhüten, und wie man sieht, tat ich das Richtige. Im übrigen kann es sich nur um ein unverantwortliches Versagen Ihres Technikers handeln, wenn beim Absetzen eine Verschiebung von achtundzwanzig Jahren eingetreten ist.«

Dunworthy kannte die Redensart, jemand sei von einer schlechten Nachricht »erschlagen« worden. Badris Geständnis, er habe Kivrin ins Jahr 1348 geschickt, war ihm in seiner vollen Bedeutung erst nach und nach klar geworden, aber diese Nachricht schien ihn mit einer körperlichen Gewalt zu treffen, ihm den Atem herauszupressen, daß er nicht Luft holen konnte. »Sie haben das Netz stillgelegt«, sagte er. »Sie haben die Fixierung verloren.«

»Die Fixierung verloren?« sagte Gilchrist. »Unsinn! Ihr Techniker wird doch wohl die Koordinaten gespeichert haben, wenn er sie schon falsch berechnete, nicht wahr? Wenn der Strom wieder eingeschaltet wird…«

»Bedeutet das, daß wir nicht wissen, wo Kivrin ist?« fragte Colin.

»Ja«, sagte Dunworthy und dachte, als er fiel, ich werde wie Badri über die Konsole fallen, aber er tat es nicht. Er fiel beinahe sanft, wie jemand, der in sich zusammensinkt, und glitt mit einknickenden Knien, einer Liebenden gleich, in Gilchrists ausgestreckte Arme.

»Ich wußte es«, hörte er Colin sagen. »Das ist nur gekommen, weil Sie Ihre T-Zellen-Verstärkung nicht bekommen haben. Großtante Mary wird mich umbringen.«

26

»Das ist unmöglich«, sagte Kivrin. »Es kann nicht 1348 sein.« Aber es paßte alles zusammen. Daß Imeynes Kaplan gestorben war, daß sie keine Diener hatten, daß Eliwys nicht nach Oxford hatte schicken wollen, um zu erfahren, wer Kivrin war. Frau Yvolde hatte erwähnt, daß es dort viel Krankheit gebe, und der Schwarze Tod hatte Oxford um Weihnachten 1348 erreicht. »Was ist geschehen?« fragte sie, und ihre Stimme stieg zu einem unkontrollierten Winseln an. »Was ist geschehen? Ich sollte nach 1320! Mr. Dunworthy sagte, ich solle es bleiben lassen, die Mediävisten wüßten nicht, was sie täten, aber sie konnten mich nicht in das falsche Jahr geschickt haben!« Sie brach ab. »Ihr dürft hier nicht bleiben! Es ist der Schwarze Tod!«

Sie alle sahen sie so verständnislos an, daß sie dachte, der Dolmetscher müsse sie wieder im Stich gelassen haben, und vielleicht war es besser so. »Es ist der Schwarze Tod«, wiederholte sie. »Die Blaukrankheit.«

»Nein«, sagte Eliwys leise, aber Kivrin nickte bekräftigend und sagte: »Eliwys, Ihr müßt Frau Imeyne und Pater Roche hinunter in die Diele führen.«

»Es kann nicht sein«, sagte sie, nahm aber ihre Schwiegermutter beim Arm und führte sie hinaus. Imeyne hielt noch immer den Umschlag mit beiden Händen vor sich, als wäre es ihr Reliquiar. Maisry eilte den beiden nach.

»Auch Ihr müßt gehen«, sagte Kivrin zu Pater Roche. »Ich werde bei dem Kranken bleiben!«

»Druuuu…«, murmelte der Sekretär, und Roche wandte sich zu ihm. Der Kranke machte Anstrengungen, hochzukommen, und Roche trat zu ihm.

Kivrin hielt ihn am Ärmel zurück. »Nein! Ihr dürft nicht in seine Nähe gehen.« Sie schob sich zwischen ihn und das Bett. »Die Krankheit des Sekretärs ist ansteckend«, sagte sie. »Sie wird von Flöhen verbreitet und…« sie zögerte, überlegte, wie sie Tröpfcheninfektion beschreiben sollte, »durch das Husten und Ausatmen der Kranken. Es ist eine tödliche Krankheit, die fast alle umbringt, die in die Nähe eines Kranken kommen.« Sie beobachtete ihn besorgt. Es war nicht zu erkennen, ob er etwas von dem verstand, was sie gesagt hatte. Im Mittelalter hatte man nichts von Bakterien und unsichtbaren Krankheitserregern gewußt, keine Kenntnis von der Art und Weise besessen, wie Krankheiten sich ausbreiteten. Die Zeitgenossen hatten den Schwarzen Tod für eine Strafe Gottes gehalten. Sie hatten geglaubt, er werde von giftigem Dunst verbreitet, der über das Land trieb, vom bösen Blick, durch Zauberei.

»Vater«, sagte der Sekretär, und Roche versuchte an Kivrin vorbeizukommen, aber sie versperrte ihm den Weg.

»Wir können sie nicht in ihrer Todesnot verlassen«, sagte er.

Aber sie taten es, dachte sie. Sie liefen davon und überließen die Kranken ihrem Schicksal. Eltern ließen ihre eigenen Kinder im Stich, und Ärzte weigerten sich, zu den Kranken zu kommen, und alle Priester flohen.

Sie bückte sich und hob einen der Leinenstreifen auf, die Frau Imeyne für ihren Umschlag gerissen hatte. »Ihr müßt Mund und Nase damit bedecken«, sagte sie.

Sie gab ihm den Stoff, und er blickte stirnrunzelnd darauf, dann legte er ihn zusammen und hielt ihn vor Mund und Nase.

»Wir binden ihn fest«, sagte Kivrin und nahm einen zweiten Leinenstreifen. Sie faltete ihn diagonal und hielt ihn wie eine Banditenmaske über Mund und Nase und verknotete ihn im Nacken. »So.«

Roche gehorchte, fummelte mit dem Knoten, und blickte erwartungsvoll zu Kivrin. Sie trat beiseite, und er beugte sich über den Kranken und legte ihm die Hand auf die Brust.

»Nicht…«, sagte sie, und er blickte über die Schulter zu ihr auf. »Berührt ihn nicht mehr als Ihr müßt.«

Sie sah mit angehaltenem Atem zu, wie Pater Roche ihn untersuchte, in Sorge, daß der Sekretär plötzlich wieder auffahren und Roche packen würde, aber er rührte sich nicht. Aus der Beule unter seinem Arm sickerten jetzt Blut und ein dickflüssiger, grünlicher Eiter.

Kivrin legte Pater Roche die Hand auf den Arm. »Nicht berühren«, sagte sie. »Die Beule muß aufgebrochen sein, als wir mit ihm rangen.« Sie wischte Blut und Eiter mit einem von Imeynes Stoffstreifen ab und umwickelte die Wunde mit einem zweiten, den sie über der Schulter verknotete. Der Sekretär zuckte weder zusammen, noch gab er einen Laut von sich, und als sie in sein Gesicht blickte, sah sie ihn bewegungslos zur Decke starren.

»Ist er tot?« fragte sie.

Pater Roche verneinte, die Hand wieder auf seiner Brust, und Kivrin konnte ihr schwaches Heben und Senken sehen. »Ich muß die Sterbesakramente bringen«, sagte Pater Roche durch die Maske.

In Kivrin kam wieder die Panik auf. Was sollte sie tun, wenn er wieder aufsprang und sich wie ein Wilder gebärdete?

Pater Roche richtete sich auf. »Fürchtet nichts«, sagte er. »Ich werde wiederkommen.«

Er ging schnell hinaus und ließ die Tür offen; Kivrin ging, um sie zu schließen. Von unten drangen Stimmen herauf — Eliwys und Pater Roche. Sie hätte ihm einschärfen sollen, zu niemandem davon zu sprechen. Agnes rief: »Ich will bei Kivrin bleiben«, und begann zu heulen, und Rosemund antwortete ihr zornig und übertönte das Weinen.

»Das werde ich Kivrin sagen!« rief Agnes empört und schluchzend, und Kivrin schloß eilig die Tür und verriegelte sie.

Agnes durfte nicht hereinkommen, auch nicht Rosemund oder sonst jemand. Sie durften der Ansteckung nicht ausgesetzt werden. Es gab kein Heilmittel gegen die Pest. Die einzige Möglichkeit, sie zu schützen, bestand darin, Ansteckung zu vermeiden. Sie suchte sich zu erinnern, was sie über die Pest gelesen hatte. Natürlich hatte sie die Pestepidemie als herausragendes Ereignis des 14. Jahrhunderts studiert, und Dr. Ahrens hatte darüber gesprochen, als sie Kivrin ihre Impfungen verabreicht hatte.

Es gab zwei verschiedene Typen von Erregern, nein, drei — einer ging unmittelbar in die Blutbahn und tötete das Opfer innerhalb von Stunden. Beulenpest wurde durch Rattenflöhe übertragen, und das war der Erregertyp, der die Beulen erzeugte. Der dritte Typ war der Erreger der Lungenpest, und hier traten keine Beulen auf. Das Opfer hustete und spuckte Blut, und dabei wurde der Erreger durch Tröpfcheninfektion verbreitet. Er war ungeheuer ansteckend. Aber der Sekretär hatte die Beulenpest, und die war nicht so ansteckend. Die bloße Nähe zum Kranken reichte nicht aus — der Floh mußte von einer Person zur anderen gelangen.

Sie mußte daran denken, wie der Kranke auf Rosemund gefallen und sie zu Boden gerissen hatte. Wie, wenn er sie angesteckt hatte? Es durfte nicht sein. Es gab kein Heilmittel.

Der Sekretär regte sich, und Kivrin kam an seine Seite.

»Durst«, lallte er mit seiner geschwollenen Zunge, leckte sich die Lippen. Sie brachte ihm einen Becher mit Wasser, und er trank gierig ein paar Schlucke, dann würgte er und spie es über sie.

Sie wich zurück, riß den nassen Atemschutz vom Gesicht. Es ist die Beulenpest, sagte sie sich, um die Panik zu unterdrücken, in der sie sich Brust und Arme abwischte. Dieser Typ wird nicht durch Tröpfcheninfektion verbreitet. Und du kannst die Pest nicht bekommen, du wurdest geimpft. Aber sie hatte auch ihre antiviralen Impfungen und T-Zellen-Verstärkung bekommen und hätte nicht erkranken dürfen. Außerdem hätte sie nicht im Jahr 1348 landen dürfen.

Sie fragte sich, was geschehen sein mochte.

Es konnte nicht die Verschiebung sein. Mr. Dunworthy hatte sich darüber erregt, daß keine Tests zur Prüfung des Verschiebungsfaktors gemacht worden waren, aber die Absetzoperation hätte schlimmstenfalls um Wochen neben dem geplanten Termin liegen können, nicht um Jahre. Etwas mußte mit dem Netz schiefgegangen sein.

Sie erinnerte sich des unerfreulichen Streites zwischen Mr. Dunworthy und Mr. Gilchrist. Etwas war jedenfalls schiefgegangen, und sie war nach 1348 durchgekommen, aber warum hatten sie die Absetzoperation nicht abgebrochen, sobald sie den Fehler erkannt hatten? Mr. Dunworthy mit seinen übertriebenen Befürchtungen und seiner Fürsorglichkeit hätte sicherlich alles getan, um sie herauszuholen. Er hatte sie von Anfang an von diesem Projekt fernhalten wollen. Warum hatte er das Netz nicht wieder geöffnet?

Weil ich nicht mehr da war, dachte sie. Es hätte mindestens zwei Stunden erfordert, die genaue Fixierung zu bekommen. Zu dem Zeitpunkt aber hatte sie den Absetzort schon verlassen. Dennoch hätte er das Netz offengehalten; er hätte es nicht wieder geschlossen und auf den Rückholtermin gewartet. Er hätte es für sie offengehalten.

Von plötzlicher Panik ergriffen, lief sie zur Tür und stieß den Riegel zurück. Sie mußte Gawyn finden. Sie mußte erfahren, wo der Absetzort war.

Der Sekretär richtete sich auf und schwang ein bloßes Bein über die Bettkante, als wollte er mit ihr gehen. »Helft mir!« krächzte er und versuchte das andere Bein nachzuziehen.

»Ich kann Euch nicht helfen«, sagte sie in hastiger Erregung. »Ich gehöre nicht hierher. Ich muß Gawyn finden.« Kaum waren die Worte heraus, fiel ihr ein, daß er nicht da war, daß er mit dem Gesandten des Bischofs und Sir Bloet nach Courcy geritten war. Mit dem Gesandten des Bischofs, der es so eilig gehabt hatte, wegzukommen, daß er beinahe Agnes niedergeritten hätte.

Sie wandte sich zurück zu ihm. »Hatten die anderen die Krankheit?« fragte sie ihn. »Hatte der Gesandte des Bischofs die Blaukrankheit?« Sie dachte an seine graue Gesichtsfarbe, und wie er gefröstelt und den Umhang fest um sich gezogen hatte. Er würde sie alle infizieren. Bloet und seine hochmütige Schwester und die plappernden Mädchen. Und Gawyn. Zornig legte sie den Riegel wieder vor. »Ihr wußtet, daß Ihr die Blaukrankheit hattet, als Ihr zu uns kamt, nicht wahr? Ist es nicht so?«

Der Sekretär streckte die Arme wie ein Kind steif nach ihr aus. »Helft mir«, wiederholte er, dann fiel er zurück, Kopf und Schulter beinahe neben dem Bett.

»Ihr habt nicht verdient, daß man Euch hilft! Ihr brachtet die Pest hierher.«

Jemand klopfte an die Tür.

»Wer ist da?«

»Roche«, rief er durch die Tür, und sie fühlte, wie eine Woge von Erleichterung, von Freude durch sie ging, daß er gekommen war, aber sie blieb am Bett stehen und blickte auf den Kranken, der noch immer in Gefahr, herunterzufallen, auf der Bettkante lag. Ein Arm hing heraus, der Mund stand offen, und die geschwollene Zunge füllte ihn gänzlich aus.

»Laßt mich ein«, sagte Pater Roche. »Ich muß seine Beichte hören.«

Seine Beichte. »Nein«, sagte Kivrin.

Er klopfte wieder, lauter.

»Ich kann Euch nicht einlassen«, sagte Kivrin. »Er ist ansteckend. Ihr könntet auch erkranken.«

»Er ist in Todesgefahr«, sagte Pater Roche. »Er muß die letzte Ölung bekommen, damit er in den Himmel eingehen kann.«

Er wird nicht in den Himmel eingehen, dachte Kivrin. Er brachte die Pest über uns.

Der Sekretär öffnete die geschwollenen Lider. Seine Augen waren blutunterlaufen, in sein Atmen kam ein leises Röcheln. Er stirbt, dachte sie.

»Katherine«, sagte Pater Roche.

Er lag im Sterben, fern von seiner Heimat. Wie sie selbst. Auch sie hatte eine Krankheit gebracht, und wenn ihr niemand erlegen war, konnte sie es sich nicht als Verdienst anrechnen. Sie hatten ihr alle geholfen, Eliwys und Imeyne und Pater Roche. Sie hätte leicht alle anstecken können. Pater Roche hatte ihr die letzte Ölung gegeben, ihr die Hand gehalten.

Kivrin hob behutsam den Kopf des Kranken und legte ihn gerade ins Bett, sie schob ihn mehr zur Mitte des Strohsacks und legte den Arm an seine Seite. Dann ging sie zur Tür.

»Ihr könnt ihm die Sterbesakramente geben«, sagte sie durch den Türspalt, »aber zuerst muß ich mit Euch sprechen.«

Pater Roche hatte sein Chorhemd über die Soutane gezogen und die Maske abgenommen. In einem Korb trug er das heilige Öl und das letzte Abendmahl bei sich. Er stellte den Korb auf die Truhe am Fußende des Bettes und trat zu dem Kranken, dessen Atmung Zusehens mühsamer wurde. »Ich muß ihm die Beichte abnehmen«, sagte er.

»Erst wenn ich Euch gesagt habe, was nötig ist«, erwiderte Kivrin. Sie holte tief Atem. »Der Sekretär hat die Beulenpest«, sagte sie. »Es ist eine furchtbare Krankheit. Beinahe alle, die daran erkranken, sterben in kurzer Zeit. Sie wird von Ratten und ihren Flöhen verbreitet, und vom Atem der Kranken, ihren Kleidern und Habseligkeiten.«

Sie sah ihn besorgt und um Verständnis heischend an. Auch er sah besorgt aus, und verwirrt.

»Es ist eine furchtbare Krankheit«, wiederholte sie. »Sie ist nicht wie Typhus oder Cholera. Sie hat schon Hunderttausende von Menschen in Italien und Frankreich getötet, in manchen Orten so viele, daß niemand übrig blieb, die Toten zu begraben.«

Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Ihr habt Euch erinnert, wer Ihr seid, und woher Ihr kamt«, sagte er, und es war keine Frage.

Er denkt, ich sei vor der Pest geflohen, als Gawyn mich im Wald fand, überlegte sie. Sage ich ja, wird er glauben, ich sei diejenige, die sie hierher brachte. Aber in seinem Blick war keine Anklage, und sie mußte erreichen, daß er verstand.

»Ja«, sagte sie, und wartete.

»Was müssen wir tun?« fragte er.

»Ihr müßt die anderen von diesem Raum fernhalten, und Ihr müßt ihnen sagen, daß sie den Gutshof nicht verlassen und niemanden einlassen dürfen. Ihr müßt den Dorfbewohnern sagen, daß sie im Umkreis ihres Dorfes bleiben müssen, und daß sie, wenn sie eine tote Ratte sehen, nicht in die Nähe gehen dürfen. Es darf kein Schmausen und Tanzen auf dem Dorfanger geben. Die Dorfbewohner sollen einander nach Möglichkeit nicht besuchen und nicht in den Gutshof oder zur Kirche kommen. Sie dürfen sich nirgendwo versammeln.«

»Ich werde Frau Eliwys bitten, daß sie Agnes und Rosemund im Haus behält«, sagte er. »Und den Dorfbewohnern werde ich sagen, daß sie für sich in ihren Häusern bleiben sollen.«

Der Sekretär machte ein würgendes Geräusch, und sie wandten sich zu ihm um.

»Gibt es nichts, was wir tun können, um jenen zu helfen, die an dieser Pest erkrankt sind?« sagte er mit undeutlich lallender Stimme.

Sie hatte sich ins Gedächtnis zurückgerufen, was die Zeitgenossen getan hatten, um sich zu schützen. Sie hatten Räucherwerk angezündet und Blumensträuße getragen, hatten pulverisierte Edelsteine zu sich genommen und Blutegel an die Pestbeulen gesetzt, und die Pestärzte hatten Schnabelmasken getragen, die ihnen das Aussehen unheimlicher Vögel verliehen hatten, aber all diese Maßnahmen waren nutzlos gewesen, und Dr. Ahrens hatte ihr gesagt, daß es ganz gleich gewesen wäre, was sie versucht hätten, denn außer Antibiotika wie Tetracyclin und Streptomycin hätte nichts geholfen, und diese Mittel seien erst im 20. Jahrhundert entdeckt worden.

»Wir müssen ihm genug Flüssigkeit geben und ihn warm halten«, sagte sie.

Pater Roche sah den Kranken mitleidig an. »Sicherlich wird Gott seinem Diener helfen.«

Das wird er nicht tun, dachte sie. Er ließ halb Europa umkommen. »Es ist gut, auf Gott zu vertrauen«, sagte sie, »aber wir dürfen nicht denken, daß wir untätig bleiben können, weil Er uns schon helfen wird. Der Schwarze Tod ist eine Krankheit der Ratten und Mäuse, die auf uns Menschen übergehen kann.«

Pater Roche nickte und nahm die Flasche mit dem geweihten Öl aus seinem Korb.

»Ihr müßt Eure Maske vor Mund und Nase tun«, sagte Kivrin und kniete nieder, um den letzten Stoffstreifen aufzuheben. Sie band ihn ihm über Mund und Nase. »Das müßt Ihr immer tun, wenn Ihr ihn pflegt«, sagte sie und hoffte, daß er nicht bemerken würde, daß sie ihren Atemschutz nicht trug.

»Ist es Gott, der uns dies als Strafe geschickt hat?« fragte Pater Roche.

»Nein«, sagte Kivrin. »Nein.«

»Hat es dann der Teufel geschickt?«

Es war verlockend, ja zu sagen. Wo man nicht an eine Strafe Gottes geglaubt hatte, da hatte man Satan für den Schwarzen Tod verantwortlich gemacht. Und man hatte nach den Abgesandten und Agenten des Teufels gesucht, Juden und Leprakranke hingerichtet, alte Frauen gesteinigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

»Niemand hat sie geschickt«, sagte Kivrin. »Wie ich sagte, es ist eine Krankheit und niemandes Schuld. Sehen wir sie als eine Zeit der Prüfung, in der jeder sich bewähren kann, im Leben wie im Sterben.«

»Und wir müssen an Seiner statt handeln?« fragte Pater Roche.

»Ja.«

Er kniete neben dem Bett nieder, beugte den Kopf über die gefalteten Hände und hob ihn wieder. »Ich wußte, daß Gott Euch aus einem guten Grund zu uns geschickt hat«, sagte er.

Auch sie kniete nieder und faltete die Hände.

»Mittere digneris sanctum Angelum«, betete Pater Roche. »Sende uns deinen heiligen Engel vom Himmel, um alle zu bewahren und zu schützen, die in diesem Haus versammelt sind.«

»Laß nicht zu, daß Pater Roche erkrankt«, murmelte Kivrin ins Aufnahmegerät. »Laß nicht zu, daß Rosemund und Agnes erkranken. Laß den Sekretär sterben, bevor die Pest seine Lungen erreicht.«

Pater Roches betende Stimme war genauso wie sie gewesen war, als Kivrin im Fieber gelegen hatte, und sie hoffte, daß der Kranke den gleichen Trost darin finden würde, den sie gefunden hatte. Sie konnte es ihm nicht ansehen. Er war außerstande, die Beichte abzulegen, und die Ölung schien ihn zu schmerzen. Er zuckte, als das Öl seine Handflächen berührte, und sein röchelndes Atmen schien lauter zu werden, während Pater Roche betete. Überall an den Armen des Kranken zeigten sich jetzt die kleinen purpurblauen Blutergüsse, die das Platzen der feinen Adern unter der Haut anzeigten.

Roche richtete sich auf, wandte den Kopf und sah Kivrin an. »Sind dies die letzten Tage?« fragte er. »Das Ende der Welt, wie Gottes Apostel es weissagten?«

Ja, dachte Kivrin. »Nein«, sagte sie. »Nein. Es ist nur eine schlechte Zeit. Eine furchtbare Zeit, aber nicht alle werden sterben. Und es wird wundervolle Zeiten nach dieser geben. Die Renaissance und das Ende der Leibeigenschaft und Musik. Wundervolle Zeiten. Es wird neue Heilmittel geben, und die Menschen werden nicht mehr an dieser Krankheit, an Pocken oder Lungenentzündung sterben müssen. Und alle werden genug zu essen haben, und ihre Häuser werden auch im Winter warm sein.« Sie dachte an Oxford in der Vorweihnachtszeit, mit den beleuchteten und geschmückten Straßen und Schaufenstern. »Überall wird es Lichter geben, und Glocken, die man nicht läuten muß.«

Ihre Worte hatten den Sekretär beruhigt. Seine Atmung ging leichter, und er schien einzuschlafen.

»Ihr müßt jetzt aus seiner Nähe gehen«, sagte Kivrin und führte Pater Roche zum Fenster. Sie brachte ihm die Schüssel. »Ihr müßt Euch die Hände waschen, nachdem Ihr ihn berührt habt.«

In der Schüssel war kaum noch Wasser. »Wir müssen die Schalen und Löffel waschen, mit denen wir ihm Essen einflößen«, sagte sie, ihm beim Händewaschen zusehend, »und wir müssen die Stoffe und Verbandstreifen verbrennen. Die Pest ist in ihnen.«

Er wischte sich die Hände am Chorhemd und ging hinunter, Eliwys zu sagen, was sie zu tun hatte. Nach einer Weile kam er mit einem Streifen Leinenstoff und einer Schüssel mit frischem Wasser zurück. Kivrin riß das Leinen in breite Streifen und band sich einen über Mund und Nase.

Das Wasser kam gerade recht. Der Kranke erwachte aus seinem Schlummer und bat wieder um einen Trunk. Kivrin hielt ihm den Becher an die Lippen, bemüht, Pater Roche nach Möglichkeit von ihm fernzuhalten.

Pater Roche ging, das Vespergebet zu sprechen und die Glocke zu läuten. Kivrin schloß die Tür hinter ihm und lauschte nach Geräuschen von unten, konnte jedoch nichts hören. Vielleicht schliefen sie alle, dachte sie, oder waren erkrankt. Sie dachte an Imeyne, wie sie sich mit dem Umschlag über den Kranken gebeugt hatte, an Agnes, wie sie am Fußende des Bettes gestanden hatte, an Rosemund, Gesicht an Gesicht mit dem Delirierenden.

Wahrscheinlich war es schon zu spät; sie waren alle mit dem Kranken in Berührung gekommen. Wie lang war die Inkubationszeit? Zwei Wochen? Nein, das war die Frist zwischen der Schutzimpfung und dem Eintreten ihrer Wirksamkeit. Drei Tage? Zwei? Sie konnte sich nicht erinnern, aber sicherlich war er bei seiner Ankunft schon krank gewesen. Sie suchte sich zu besinnen, neben wem er beim Weihnachtsschmaus gesessen, mit wem er gesprochen hatte, aber sie hatte ihn nicht beobachtet; ihre Aufmerksamkeit war auf Gawyn konzentriert gewesen. Nur einmal hatte sie zufällig beobachtet, wie der Sekretär Maisry ins Hemd gegriffen hatte.

Sie öffnete die Tür und rief: »Maisry!«

Niemand antwortete, aber das hatte nichts zu bedeuten. Maisry schlief wahrscheinlich, oder hatte sich versteckt, und der Sekretär hatte die Beulen-, nicht die Lungenpest, und sie wurde von Flöhen verbreitet. Es bestand die Aussicht, daß er niemanden infiziert hatte; doch als Pater Roche zurückkehrte, ließ sie ihn bei dem Kranken und trug das Kohlenbecken hinunter, um frische Glut zu holen. Und sich zu vergewissern, daß sie gesund waren.

Rosemund und Eliwys saßen beim Herdfeuer und beschäftigten sich mit Näharbeiten. Frau Imeyne las in ihrem Stundenbuch, und Agnes spielte mit ihrem Wagen, schob ihn auf den Steinplatten hin und her und redete mit ihm. Maisry schlief auf einer der Bänke am großen Tisch; sie machte noch im Schlaf ein verdrießliches Gesicht.

Agnes stieß mit dem Spielzeugwagen gegen Imeynes Fuß, und die alte Frau ließ das Buch sinken, blickte zu ihr herab und sagte: »Ich werde dir dein Spielzeug wegnehmen, wenn du nicht ruhig damit spielen kannst, Agnes«, und die Schärfe ihres Tadels, Rosemunds hastig unterdrücktes Lächeln, die gesunde Rosigkeit ihrer Gesichter im Feuerschein — alles das wirkte auf Kivrin unsäglich ermutigend. Es hätte ein Abend wie jeder andere sein können.

Eliwys legte ihre Näharbeit beiseite, nahm ein Stück Leinenstoff und schnitt es mit ihrer Schere in lange Streifen. Kivrin bemerkte, daß sie ständig zur Tür blickte. Imeynes halblaut aus dem Stundenbuch lesende Stimme hatte Obertöne von Nervosität, und Rosemund warf ihrer Mutter besorgte Blicke zu. Schließlich stand Eliwys auf und ging hinaus auf den Hof, als hätte sie jemand kommen hören, aber nach einer Minute kehrte sie schweigend an ihren Platz zurück und machte sich wieder an die Arbeit.

Kivrin ging leise die Stufen hinunter, aber nicht leise genug. Agnes ließ ihren Wagen stehen und sprang auf. »Kivrin!« rief sie und rannte auf sie zu.

»Vorsicht!« sagte Kivrin, die Kleine mit der freien Hand abwehrend. »Das sind heiße Kohlen.«

Natürlich waren sie nicht mehr heiß; andernfalls wäre sie nicht gekommen, sie gegen frische Glut auszutauschen, aber Agnes wich ein paar Schritte zurück.

»Warum trägst du eine Maske?« fragte sie. »Wann erzählst du mir eine Geschichte?«

Auch Eliwys war aufgestanden, und Imeyne blickte von ihrem Buch auf. »Wie geht es dem Sekretär des Bischofs?« fragte Eliwys.

Er leidet Qualen, wollte sie sagen, begnügte sich aber mit: »Sein Fieber ist ein wenig gesunken. Ihr müßt mir alle fernbleiben. Die Ansteckung kann in meinen Kleidern sein.«

Darauf standen sie alle auf, sogar Imeyne, die ihr Stundenbuch mit dem Reliquiar einmerkte, und traten vom Herdfeuer zurück.

Kivrin nahm den Deckel vom Kohlenbecken und schüttete die graue Holzkohlenasche am Rand des Herdfeuers aus. Feine Aschenteilchen wirbelten hoch, und ein Stück Holzkohle fiel auf die Steinplatten und kollerte, von Kivrins Fuß unabsichtlich getroffen, über den Boden.

Agnes lachte, und bis auf Eliwys, die sich wieder der Beobachtung des Durchgangs zugewandt hatte, verfolgten alle das Stück Holzkohle, bis es unter einer Bank liegenblieb.

»Ist Gawyn mit den Pferden zurückgekehrt?« fragte Kivrin, um gleich darauf ihre Voreiligkeit zu bedauern. Eliwys’ angespannte Miene war Antwort genug, aber die Frage gab Imeyne Anlaß, ihre Schwiegertochter mit kaltem Blick zu mustern.

»Nein«, sagte Eliwys, ohne den Kopf zu wenden. »Meinst du, daß auch die anderen vom Hof des Bischofs krank waren?«

Kivrin dachte an das graue Gesicht des Gesandten, an die Unmäßigkeit ihres Trinkens. »Ich weiß es nicht«, sagte sie.

»Das Wetter wird kalt«, sagte Rosemund. »Vielleicht überredeten sie ihn, die Nacht dort zu bleiben.«

Eliwys antwortete nicht. Kivrin kniete beim Herdfeuer nieder und stocherte mit dem schweren Schürhaken in den Kohlen, um die rote Glut nach oben zu bringen. Sie versuchte die Stücke mit dem Schürhaken in das Kohlenbecken zu manövrieren, gab es aber bald auf und kehrte sie mit dem Deckel zusammen.

»Du hast dies über uns gebracht«, sagte Imeyne.

Kivrin blickte mit plötzlichem Herzklopfen auf, aber Imeyne sah sie nicht an. Ihr Blick war auf Eliwys gerichtet. »Deine Sünden sind es, die diese Strafe hervorgerufen haben.«

Eliwys wandte den Kopf zurück zu Imeyne, und Kivrin erwartete Zorn oder Schrecken in ihrem Gesicht, aber keines von beiden war darin zu erkennen. Sie sah ihre Schwiegermutter beinahe gleichgültig an, als wären ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt.

»Der Herr straft Ehebrecher und ihr ganzes Haus«, sagte Imeyne, »wie Er jetzt dich straft.« Sie schwang das Stundenbuch vor ihrem Gesicht. »Deine Sünde ist es, die uns die Pest gebracht hat.«

»Du warst es, die zum Bischof schickte«, erwiderte Eliwys kalt. »Du warst mit Pater Roche nicht zufrieden. Du brachtest sie hierher, und die Pest mit ihnen.«

Sie wandte sich um und ging zum Durchgang hinaus.

Imeyne stand steif, als hätte man sie geschlagen, dann ließ sie sich bei der Bank, auf der sie gesessen hatte, auf die Knie nieder, nahm das Reliquiar aus ihrem Buch und ließ den Rosenkranz durch ihre Finger gehen.

»Erzählst du mir jetzt eine Geschichte«, sagte Agnes.

Imeyne stützte die Ellbogen auf die Bank und drückte die Hände gegen ihre Stirn.

»Erzähl mir die Geschichte von dem bösen Mädchen«, sagte Agnes.

»Morgen«, sagte Kivrin. Sie erhob sich mit dem Kohlenbecken und trug es die Treppe hinauf.

Das Fieber des Kranken war wieder gestiegen. Er phantasierte, stieß mit lallender, krächzender Stimme die lateinischen Gebete der Totenmesse hervor, als wären es Flüche. Wiederholt bat er um Wasser, und Kivrin mußte wieder hinunter zum Hof, um frisches Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen.

Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinunter, den Holzeimer und eine Kerze in den Händen und beseelt von der Hoffnung, daß Agnes sie nicht sehen würde, aber alle bis auf Frau Imeyne schliefen. Sie kniete betend am Feuer, steif und unversöhnlich. Du hast dies über uns gebracht.

Kivrin tappte hinaus auf den dunklen Hof. Zwei Glocken läuteten in der Ferne, nicht ganz im Gleichtakt miteinander, und sie überlegte, ob sie zur Vesper läuteten oder zu Begräbnissen. Beim Brunnentrog stand ein zur Hälfte gefüllter Holzeimer, aber sie ließ ihn stehen und zog mit ihrem Eimer frisches Wasser herauf. Sie stellte den Eimer neben dem Eingang zum Küchenhaus ab und ging hinein, um etwas zu essen mitzunehmen. Die schweren Tücher, die man zum Zudecken der Speisen verwendete, wenn sie ins Herrenhaus getragen wurden, lagen am Ende des Tisches, der als Anrichte diente. Sie legte Brot und ein Stück kaltes Fleisch auf eines der Tücher und band die vier Zipfel zusammen. Als sie mit dem Bündel und dem Eimer den Hof überquerte, begegnete ihr Pater Roche, der von der Kirche zurückkam. Gemeinsam trugen sie Wasser und Essen hinauf in die Kammer, setzten sich vor das Kohlenbecken auf den Boden und aßen. Schon nach den ersten Bissen fühlte sie sich besser.

Der Zustand des Sekretärs schien sich nicht verschlechtert zu haben. Er schlief wieder, hatte dann aber einen Schweißausbruch. Kivrin befeuchtete das derbe Tuch aus der Küche und wischte ihm den Schweiß damit ab, und er seufzte und schlief wieder ein. Als er erwachte, hatte das Fieber nachgelassen. Sie schoben die Truhe neben das Bett, stellten ein Talglicht darauf, und sie und Pater Roche saßen abwechselnd bei ihm und ruhten auf der Bank am Fenster. Es war zu kalt, um wirklich zu schlafen, aber Kivrin rollte sich zusammen und schlummerte wiederholt für kurze Zeit ein. Als sie an der Reihe war, die Krankenwache zu übernehmen, schien der Zustand des Sekretärs sich weiter gebessert zu haben. Er lag ruhig und schlief.

Sie hatte gelesen, daß die Pestärzte des Mittelalters durch das Aufschneiden der Pestbeulen bisweilen einen Patienten gerettet hatten. Die Beule unter dem Arm des Sekretärs entließ kein Eiter mehr, und das Röcheln war aus seinem Atem gewichen. Vielleicht würde er doch nicht sterben.

Manche Historiker waren der Auffassung, der Schwarze Tod habe nicht so viele Menschen getötet, wie die mittelalterlichen Aufzeichnungen angaben. Mr. Gilchrist hielt die Zahlen für stark übertrieben und machte dafür die Furcht und den niedrigen Bildungsstand der Zeitgenossen verantwortlich, aber auch die unwissenschaftliche Neigung der meisten Menschen, die Bedeutung eines Ereignisses durch viel zu hoch angesetzte Schätzungen zu steigern. Selbst wenn die Statistiken richtig waren, hatte die Pest nicht alle Dörfer gleich verheerend heimgesucht. In manchen Orten war weniger als ein Drittel der Bevölkerung an der Seuche gestorben, in einigen Orten hatte es nur wenige Fälle gegeben. Verschiedene abgelegene Dörfer waren sogar ganz verschont geblieben.

Sie hatten den Sekretär isoliert, sobald sie erkannt hatten, woran er erkrankt war, und es war ihr gelungen, Pater Roche die meiste Zeit von ihm fernzuhalten. Sie hatten alle unter den Umständen mögliche Vorsichtsmaßregeln getroffen. Und es war kein Fall von Lungenpest daraus geworden. Vielleicht war das genug, und sie hatten der Ausbreitung der Seuche noch rechtzeitig Einhalt geboten. Sie mußte Pater Roche sagen, daß es nun darauf ankam, das Dorf gegen Fremde abzuschließen und niemanden hereinzulassen. Vielleicht würde die Pest an ihnen vorübergehen. Das war vorgekommen. Ganze Dörfer waren unberührt geblieben, weil die Bewohner die Zugangswege unpassierbar gemacht und die Gemeindegrenzen überwacht hatten. So war in Teilen Schottlands das Einschleppen der Seuche verhindert worden.

Sie mußte am Krankenbett eingenickt sein. Als sie erwachte, dämmerte der Morgen, und Pater Roche war fort. Der Sekretär lag ganz still, die Augen starr und aufgerissen, und sie dachte, er sei gestorben und Pater Roche fortgegangen, sein Grab auszuheben, dann aber sah sie das leichte Heben und Senken seiner Brust unter der Decke. Als sie ihm den Puls fühlte, ging er schnell und so schwach, daß sie ihn kaum fühlen konnte.

Im Dorf begann die Glocke zu läuten. Pater Roche mußte gegangen sein, um die Frühmesse zu lesen. Sie zog ihre behelfsmäßige Schutzmaske über Mund und Nase und beugte sich über das Bett. Sie sprach ihn mit leiser Stimme an, doch gab er keinerlei Zeichen, daß er sie gehört hatte. Behutsam legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Das Fieber schien wieder nachgelassen zu haben, aber das konnte mit der Tageszeit zusammenhängen, und seine Haut fühlte sich nicht normal an. Sie war trocken und papieren, und die Blutergüsse unter der Haut seiner Arme und Beine waren dunkler und hatten sich weiter verbreitet. Seine geschwollene Zunge zwängte sich zwischen seinen Zähnen hervor, gräßlich purpurn.

Ein übler Geruch ging von ihm aus, so widerwärtig, daß sie ihn selbst durch die Maske gefiltert kaum aushalten konnte. Sie stieg auf die steinerne Bank am Fenster und band das gewachste Leinen los. Die frische Luft roch wundervoll, kalt und rein, und sie beugte sich hinaus und atmete tief.

Der Hof war leer, doch als sie in der kleinen Fensteröffnung lehnte und die frische Luft einsog, erschien Pater Roche in der Tür des Küchenhauses. Er trug eine dampfende Schüssel hinüber zur Tür des Herrenhauses, und kurz bevor er sie erreichte, erschien Eliwys. Sie sprach zu ihm, und er wollte nähertreten, schien dann aber an ihre Ermahnungen zu denken und zog seine Behelfsmaske über Mund und Nase, bevor er ihr antwortete. Er bemühte sich, andere Menschen vor der Gefahr seiner Nähe zu schützen. Kivrin war gerührt. Er verschwand im Herrenhaus, und Eliwys ging zum Brunnen.

Kivrin band das Leinen an der Seite des Fensters zurück und sah sich nach etwas um, was als Fächer geeignet wäre. Sie sprang von der Bank, nahm das grobe Tuch, das sie aus der Küche mitgenommen hatte, und stieg wieder auf die Steinbank.

Eliwys war noch am Brunnen und zog den Eimer hoch. Plötzlich hielt sie inne, das Seil in den Händen, und blickte zum Tor. Dort war Gawyn in Sicht gekommen. Er ging zu Fuß und führte sein Pferd am Zaum.

Als er sie sah, blieb er wie gebannt stehen, und Gringolet drängte vorwärts und warf ungeduldig den Kopf auf. Gawyns Gesichtsausdruck war so, wie er immer gewesen war, wenn er Eliwys angesehen hatte, voller Hoffnung und Verlangen, und Kivrin spürte einen Anflug von Zorn, daß er sich nicht einmal jetzt geändert hatte. Aber vielleicht tat sie ihm unrecht; er war gerade eben aus Courcy zurückgekehrt und wußte nicht, was sich ereignet hatte.

Eliwys zog den Eimer hoch, und Gawyn kam noch ein paar Schritte näher, ohne Gringolets Zaumzeug loszulassen, dann blieb er wieder stehen.

Er weiß doch Bescheid, dachte Kivrin. Der Gesandte des Bischofs ist daran krank geworden, und er ist nach Haus geritten, um sie zu warnen. Plötzlich fiel ihr auf, was sie gleich hätte sehen müssen: er hatte die anderen Pferde nicht mitgebracht. Der Gesandte oder der Mönch sind an der Pest erkrankt, dachte sie, oder alle beide, und die anderen haben die Flucht ergriffen.

Er sah Eliwys den Eimer aus dem Brunnentrog heben, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er würde alles für sie tun, dachte Kivrin; er würde sie gegen hundert Räuber und Halsabschneider verteidigen, aber vor diesem Unheil kann er sie nicht schützen.

Gringolet schüttelte den Kopf, daß die Mähne flog. Gawyn legte ihm die Hand auf die Nüstern, um ihn zu beruhigen, aber es war zu spät. Eliwys hatte ihn gesehen.

Sie ließ den Eimer los. Er landete mit einem Aufklatschen im Brunnen, und dann war Eliwys in seinen Armen. Kivrin schlug die Hand vor den Mund.

Jemand klopfte leicht an die Tür. Kivrin sprang von der Steinbank, sie zu öffnen. Es war Agnes.

»Kannst du mir jetzt eine Geschichte erzählen?« fragte sie. Sie sah sehr ramponiert aus. Niemand hatte ihr seit gestern das Haar ausgekämmt und die Zöpfe geflochten. Es schaute wirr unter ihrer leinenen Kappe hervor, und sie hatte offensichtlich beim. Herdfeuer geschlafen. Ein Ärmel war voll Asche.

Kivrin widerstand der Regung, sich der Kleinen anzunehmen, die Asche vom Ärmel zu klopfen und ihre Haare in Ordnung zu bringen. »Du darfst nicht herein«, sagte sie durch den Türspalt, »sonst wirst du auch krank.«

»Niemand spielt mit mir«, quengelte Agnes. »Mutter ist fort, und Rosemund schläft noch.«

»Deine Mutter ist nur Wasserholen gegangen«, sagte sie mit freundlicher Festigkeit. »Wo ist deine Großmutter?«

»Sie betet.« Sie streckte die Hand nach Kivrins Röcken aus, und Kivrin zog sich außer Reichweite zurück.

»Du darfst mich nicht anfassen.«

Agnes’ Miene wurde weinerlich, sie machte einen Schmollmund. »Warum bist du bös mit mir?«

»Ich bin nicht bös mit dir«, sagte Kivrin in sanfterem Ton. »Aber du kannst nicht hereinkommen. Der Sekretär ist sehr krank, und alle, die ihm nahekommen, können auch krank werden.«

Agnes versuchte durch den Türspalt zum Bett zu spähen. »Wird er sterben?«

»Ich fürchte es.«

»Und du?«

»Nein«, sagte sie, und sie begriff, daß sie sich nicht mehr fürchtete. »Rosemund wird bald aufwachen. Bitte sie, daß sie dir eine Geschichte erzählt oder mit dir spielt. Frag sie, ob sie dir die Haare kämmen und Zöpfe flechten kann.«

»Wird Pater Roche sterben?«

»Nein. Geh und spiel mit deinem Wagen, bis Rosemund aufwacht.«

»Wirst du mir eine Geschichte erzählen, wenn der Sekretär tot ist?«

»Ja. Nun geh hinunter.«

Agnes ging zögernd drei Stufen hinunter, mit einer Hand an die Wand gestützt. »Werden wir alle sterben?« fragte sie.

»Nein«, sagte Kivrin. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Sie schloß die Tür und lehnte sich dagegen.

Der Kranke lag in bewußtloser Starre, als sei sein ganzes Wesen nach innen gekehrt, um mit einem Feind zu ringen, den sein Immunsystem bis dahin nie gesehen und gegen den es keine Abwehrmittel hatte.

Das Klopfen wiederholte sich.

»Geh hinunter, Agnes«, sagte Kivrin, aber es war Pater Roche mit der Schüssel Brühe, die er aus der Küche gebracht hatte, und einer tönernen Schale, in der er rotglühende Holzkohle hatte. Er schüttete sie in das Kohlenbecken, kniete daneben nieder und blies in die Glut.

Kivrin hob die Schüssel auf. Die Brühe war lauwarm und roch bitter. Sie fragte sich, ob er Weidenborke hineingetan hatte, um das Fieber zu senken.

Pater Roche stand auf und nahm die Schüssel, und gemeinsam bemühten sie sich, dem Kranken etwas von der Brühe einzulöffeln, aber sie rann ihm von der dick geschwollenen Zunge und die Mundwinkel herab.

Jemand klopfte.

»Agnes, ich sagte dir, du kannst nicht hereinkommen«, sagte Kivrin, mit dem Abwischen der Brühe vom Kissen beschäftigt.

»Großmutter schickt mich, dir zu sagen, daß du kommen sollst.«

»Ist sie krank?« sagte Pater Roche. Er wollte zur Tür.

»Nein. Es ist Rosemund.«

Etwas wie ein eiserner Ring legte sich Kivrin um die Brust und preßte sie zusammen.

Pater Roche öffnete die Tür, aber Agnes kam nicht herein. Sie stand auf dem Absatz und starrte seine Maske an.

»Ist Rosemund krank?« fragte er besorgt.

»Sie ist gefallen.«

Kivrin lief an ihnen vorbei und die Treppe hinunter.

Rosemund saß auf einer der Bänke beim Herdfeuer, und Frau Imeyne stand bei ihr.

»Was ist geschehen?«

»Ich bin gefallen«, sagte Rosemund. Sie schien verblüfft. »Ich schlug mir den Arm auf.« Sie streckte ihn Kivrin mit abgewinkeltem Ellenbogen hin.

Frau Imeyne murmelte etwas.

»Wie bitte?« fragte Kivrin und merkte verspätet, daß die alte Frau betete. Sie sah sich nach Eliwys um, aber sie mußte noch auf dem Hof sein. Nur Maisry saß ängstlich zusammengekauert beim Feuer, und Kivrin schoß der Gedanke durch den Sinn, daß Rosemund über sie gestolpert sein müsse.

»Bist du über etwas gefallen?« fragte sie.

»Nein«, antwortete Rosemund, noch wie benommen. »Mein Kopf schmerzt.«

»Hast du ihn angestoßen?«

Sie schüttelte den Kopf und streifte ihren Ärmel hoch. »Ich muß mir den Ellbogen auf den Steinplatten aufgeschlagen haben.«

Kivrin untersuchte ihn. Die Haut war oberflächlich geschürft, aber es blutete nicht. Kivrin überlegte, ob sie sich den Arm gebrochen haben könnte; sie hielt ihn in einem so ungewöhnlichen Winkel. Sie nahm den Unterarm mit einer Hand und bewegte ihn vorsichtig. »Schmerzt es?«

»Nein.«

Sie drehte den Unterarm leicht nach innen. »Und jetzt?«

»Nein.«

»Kannst du die Finger bewegen?«

Rosemund ließ sie einzeln herabhängen, den Arm noch angewinkelt. Kivrin betrachtete ihn stirnrunzelnd. Bei einem Bruch hätte sich ein Bluterguß oder eine Anschwellung gebildet, aber vielleicht war es nur eine leichte Prellung oder Verstauchung, aber dann könnte Rosemund den Arm sicherlich nicht so leicht bewegen. »Frau Imeyne«, sagte sie, »würdet Ihr Pater Roche holen?«

»Er kann uns nicht helfen«, sagte Imeyne in geringschätzigem Ton, aber sie ging zur Treppe.

»Ich glaube nicht, daß er gebrochen ist«, sagte Kivrin zu Rosemund.

Das Mädchen ließ den Arm sinken, keuchte und riß ihn wieder hoch. Die Farbe wich aus ihrem Gesicht, und Schweißperlen bildeten sich auf der Oberlippe.

Es mußte doch ein Bruch sein, überlegte Kivrin, und griff wieder nach dem Arm. Rosemund zog ihn weg und fiel, bevor Kivrin merkte, was geschah, von der Bank auf den Boden.

Diesmal hatte sie den Kopf angeschlagen. Kivrin hörte das dumpfe Geräusch auf dem Stein. Sie sprang über die Bank und kniete neben ihr nieder. »Rosemund, Rosemund«, sagte sie. »Kannst du mich hören?«

Sie rührte sich nicht. Im Fallen hatte sie den verletzten Arm instinktiv ausgestreckt, um sich abzufangen, und als Kivrin ihn berührte, zuckte sie zusammen, ohne jedoch die Augen zu öffnen. Kivrin sah sich in Panik nach Imeyne um, aber die alte Frau war nicht auf der Treppe. Sie richtete sich auf.

Rosemund öffnete die Augen. »Verlaß mich nicht«, sagte sie.

»Ich muß Hilfe holen«, murmelte Kivrin. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu.

Rosemund schüttelte den Kopf.

»Pater Roche!« rief Kivrin, obwohl sie wußte, daß er sie durch die schweren Planken der Tür nicht hören konnte. Aber nun kam Eliwys vom Hof herein und lief über die Steinplatten zum Herdfeuer.

»Hat sie die Blaukrankheit?«

Nein. »Sie ist gefallen«, sagte Kivrin. Sie legte die Hand auf Rosemunds bloßen, ausgestreckten Arm. Er fühlte sich heiß an. Das Mädchen hatte wieder die Augen geschlossen und atmete langsam und gleichmäßig, als wäre es eingeschlafen.

Kivrin schob den Ärmel aus dickem Wollstoff höher und über Rosemunds Schulter. Sie drehte den Arm aufwärts, um die Achselhöhle zu sehen, und Rosemund versuchte sich ihrem Griff zu entziehen, aber Kivrin hielt sie fest.

Sie war nicht so groß wie die des Sekretärs gewesen war, aber sie war hellrot und fühlte sich bereits hart an. Nein, dachte Kivrin. Nein. Rosemund stöhnte und suchte ihr den Arm zu entziehen, und Kivrin legte ihn sanft nieder und zog den Ärmel herunter.

»Was ist geschehen?« fragte Agnes von der Mitte der Treppe. »Ist Rosemund krank?«

Ich kann es nicht geschehen lassen, dachte Kivrin. Ich muß Hilfe holen. Sie sind alle der Ansteckung ausgesetzt gewesen, sogar Agnes, und hier gibt es keine Hilfe. Antibiotika werden erst in sechshundert Jahren entdeckt.

»Deine Sünden haben dies gebracht«, sagte Imeyne.

Kivrin blickte auf. Eliwys sah zu Imeyne hinüber, die mit Agnes auf der Treppe stand, aber ihr Blick war abwesend, als hätte sie nicht gehört.

»Deine und Gawyns Sünden«, sagte Imeyne.

Gawyn, dachte Kivrin. Er konnte ihr zeigen, wo der Absetzort war, und sie konnte gehen und Hilfe holen. Dr. Ahrens würde wissen, was zu tun war. Und Mr. Dunworthy. Dr. Ahrens würde ihr Impfstoff und Streptomycin bringen.

»Wo ist Gawyn?« fragte sie.

Eliwys wandte ihr das Gesicht zu. Es war voller Sehnsucht, voller Hoffnung. Er hat endlich ihre Aufmerksamkeit gefunden, dachte Kivrin. »Gawyn«, wiederholte sie. »Wo ist er?«

»Fort«, sagte Eliwys.

»Fort wohin? Ich muß ihn sprechen. Wir müssen Hilfe holen.«

»Es gibt keine Hilfe«, sagte Imeyne. Sie kam heran, kniete neben Rosemund nieder und faltete die Hände. »Es ist die Strafe Gottes.«

Kivrin stand auf. »Wohin gegangen?«

»Nach Bath«, sagte Eliwys. »Meinen Mann holen.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(070114–070526)

Ich habe beschlossen, mir dies alles von der Seele zu reden und aufzuzeichnen. Mr. Gilchrist sagte, er hoffe, daß wir mit der Öffnung des Mittelalters in der Lage sein werden, einen zuverlässigen Augenzeugenbericht aus der Zeit des Schwarzen Todes zu erhalten, und ich denke, hier ist er schon.

Der erste Seuchenfall hier war der Sekretär, der mit dem Gesandten des Bischofs kam. Ich weiß nicht, ob er bei ihrer Ankunft schon krank war oder nicht. Es kann der Fall gewesen sein, und ich vermute, daß sie deshalb hierherkamen, statt nach Oxford weiterzureisen: um ihn loszuwerden, bevor er sie ansteckte. Als sie am Weihnachtsmorgen überstürzt aufbrachen, war er bereits so krank, daß er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, was darauf schließen läßt, daß er mit hoher Wahrscheinlichkeit schon am Abend zuvor ansteckend war, als er mit mindestens dem halben Dorf Kontakt hatte.

Er hat Rosemund, die Tochter des Hausherrn, angesteckt, die am… sechsundzwanzigsten erkrankte? Ich habe alles Gefühl für den Zeitablauf eingebüßt. Beide haben die klassischen Pestbeulen. Eine des Sekretärs ist aufgebrochen und entläßt Blut und Eiter. Rosemunds sind hart und vergrößern sich. Sie haben annähernd die Größe einer Walnuß erreicht. Die Haut ringsum ist entzündet. Beide haben hohes Fieber und sind nur zeitweilig bei Besinnung.

Pater Roche und ich haben sie in der Schlafkammer isoliert und allen Dorfbewohnern geraten, in den Häusern zu bleiben und jeden Kontakt miteinander zu meiden, doch fürchte ich, daß es bereits zu spät ist. Fast alle Einwohner nahmen mit den Fremden an der Christmette teil und feierten gemeinsam auf dem Dorfanger, und hier war die ganze Familie mit dem Kranken zusammen.

Ich wollte, ich wüßte, ob die Krankheit ansteckend ist, bevor die Symptome auftreten, und wie lang die Inkubationszeit ist. Mir ist bekannt, daß die Pest in drei Erscheinungsformen auftritt: als Beulenpest, Lungenpest und Pest-Sepsis, und ich weiß, daß Lungenpest am ansteckendsten ist, weil sie durch Tröpfcheninfektion und Berührung übertragen werden kann. Der Sekretär und Rosemund scheinen beide die Beulenpest zu haben.

Ich bin so in Angst, daß ich nicht einmal denken kann. Es überschwemmt mich in Wellen. Ich kann meine Arbeit tun und mich um die Kranken kümmern, und dann überkommt mich plötzlich die Angst, und ich muß mich am Bettgestell festhalten, um nicht hinauszurennen, aus dem Haus, aus dem Dorf, fort von allem.

Zwar bin ich gegen Pest geimpft, aber ich hatte auch meine T-Zellen-Verstärkung und meine antivirale Vorbeugung, und ich bin trotzdem hier krank geworden, und jedesmal, wenn ich mit dem Sekretär in Berührung komme, stockt mir unwillkürlich der Atem. Pater Roche vergißt immer wieder, seine provisorische Schutzmaske zu tragen, und ich bin in der größten Sorge, daß er sich anstecken wird, oder Agnes. Und ich fürchte, daß der Sekretär sterben wird. Und Rosemund. Auch fürchte ich, daß jemand im Dorf die Lungenpest bekommen wird, und bin in Sorge, daß Gawyn nicht zurückkommen wird, und daß ich den Absetzort nicht vor dem Rückholtermin finden werde.


(Unterbrechung)

Ich fühle mich etwas ruhiger. Es scheint zu helfen, diese Aufnahme zu machen und zu Ihnen zu sprechen, ob Sie mich hören können oder nicht.

Rosemund ist jung und kräftig. Und die Pest tötete nicht alle. In manchen Dörfern starb überhaupt niemand daran.

27

Sie trugen Rosemund in die Kammer hinauf und bereiteten ihr in dem engen Raum neben dem Bett des Kranken ein Lager aus einem Strohsack. Pater Roche bezog ihn mit einem Leintuch und ging hinaus zum Dachboden, um Bettdecken zu holen.

Kivrin hatte sich gesorgt, daß Rosemund beim Anblick des Sekretärs mit seiner dunkel geschwollenen Zunge und der sich schwärzlich verfärbenden Haut Widerstand leisten würde, aber sie schenkte ihm kaum einen Blick. Sie nahm das Übergewand ab, zog ihre Schuhe aus und streckte sich dankbar auf das schmale Lager. Kivrin nahm die Decke aus Kaninchenfell und legte sie auf sie.

»Werde ich schreien und wie er auf die Leute losgehen?« fragte Rosemund.

»Nein«, sagte Kivrin und versuchte zu lächeln. »Du mußt nur ausruhen. Schmerzt es irgendwo?«

»Mein Magen«, sagte sie und legte die Hand auf ihre Mitte. »Und mein Kopf. Sir Bloet sagte mir, das Fieber bringe Männer zum Tanzen. Ich dachte, es sei eine Geschichte, mit der er mir Angst machen wollte. Er sagte, sie tanzten, bis ihnen das Blut aus dem Mund käme, und dann stürben sie. Wo ist Agnes?«

»Auf dem Dachboden, mit deiner Mutter«, sagte Kivrin. Sie hatte Eliwys geraten, Agnes und Imeyne mit sich auf den Dachboden zu nehmen und einzuschließen, und Eliwys hatte es getan, ohne sich auch nur nach Rosemund umzusehen.

»Mein Vater kommt bald«, sagte Rosemund.

»Du mußt jetzt still sein und ausruhen.«

»Großmutter sagt, es sei eine Todsünde, den eigenen Mann zu fürchten, aber ich kann nichts daran ändern. Er berührt mich in einer Art und Weise, die sich nicht ziemt, und erzählt mir Geschichten von Dingen, die nicht wahr sein können.«

Ich hoffe, er ist schon infiziert, dachte Kivrin.

»Mein Vater ist schon unterwegs«, sagte Rosemund.

»Du mußt versuchen, zu schlafen.«

»Wenn Sir Bloet jetzt hier wäre, würde er nicht wagen, mich anzurühren«, sagte sie und schloß die Augen. »Er würde derjenige sein, der sich fürchtet.«

Pater Roche kam herein, beladen mit Bettzeug, und ging wieder hinaus. Kivrin schob Rosemund ein Kissen unter den Kopf, deckte sie noch einmal zu und legte die Felldecke, die sie vom Bett des Sekretärs genommen hatte, wieder über ihn.

Er lag ganz still, aber das Röcheln in seinem Atmen hatte wieder angefangen, und hin und wieder hustete er. Sein Mund hing offen, und der Rücken seiner dicken, schwärzlichen Zunge trug einen weißen, pelzigen Belag.

Sie durfte nicht zulassen, daß Rosemund dies zustieß. Sie war erst zwölf. Es mußte etwas geben, das sie für das Kind tun konnte. Irgend etwas. Der Pesterreger war eine Bakterie. Tetracycline und Sulfonamide konnten ihn abtöten, aber sie war nicht in der Lage, diese Mittel selbst herzustellen, und sie wußte nicht, wo der Absetzort war.

Und Gawyn war nach Bath geritten. Eliwys war auf ihn zugelaufen, sie hatte die Arme um ihn geworfen, und er wäre für sie überallhin gegangen, hätte alles für sie getan, selbst wenn es bedeutete, ihren Mann nach Hause zu bringen.

Sie versuchte zu überlegen, wie lang Gawyn brauchen würde, um nach Bath und zurück zu reiten. Es waren siebzig Kilometer. Wenn er sich sputete, konnte er es in anderthalb Tagen schaffen. Drei Tage, hin und zurück. Wenn er nicht aufgehalten wurde, wenn er Guillaume d’Iverie finden konnte, wenn er nicht krank wurde. Dr. Ahrens hatte gesagt, daß unbehandelte Pestkranke innerhalb von vier oder fünf Tagen starben, aber sie sah nicht, wie der Sekretär so lange aushalten könnte. Sein Fieber war wieder gestiegen.

Sie hatte Frau Imeynes Arzneikasten unter das Bett geschoben, als sie Rosemunds Lager bereitet hatte. Nun zog sie es wieder hervor und untersuchte die getrockneten Kräuter und Pulver darin. Die Zeitgenossen hatten Hausmittel wie Johanniskraut und Bittersüß zur Pestbekämpfung verwendet, aber sie waren so nutzlos gewesen wie die pulverisierten Edelsteine und Kröten.

Flohkraut mochte helfen, aber sie konnte keine der rosa oder purpurnen Blüten in den kleinen Leinensäckchen finden.

Als Pater Roche zurückkam, bat sie ihn, Weidenzweige vom Bach zu holen, schälte die Rinde und goß sie zu einem bitteren Tee auf, den sie lange ziehen ließ. »Was für ein Gebräu ist dies?« fragte Pater Roche, nachdem er davon gekostet und ein Gesicht gezogen hatte.

»Ein Mittel gegen das Fieber«, sagte Kivrin. »Hoffe ich.«

Roche flößte dem Sekretär davon ein, den es nicht mehr kümmerte, wie etwas schmeckte, und es schien seine Temperatur ein wenig zu senken, aber Rosemunds Fieber stieg den ganzen Nachmittag, und gleichzeitig befiel sie Schüttelfrost. Als Pater Roche am Spätnachmittag ging, um die Vesperglocke zu läuten und zu beten, war sie beinahe zu heiß zum Anfassen.

Kivrin deckte sie auf, tauchte zusammengelegte Leinenstreifen in kaltes Wasser und versuchte ihre Arme und Beine abzureiben, um das Fieber zu senken, aber Rosemund setzte sich heftig zur Wehr. »Es ziemt sich nicht, daß Ihr mich so berührt, Sir«, sagte sie durch klappernde Zähne. »Ich werde es meinem Vater sagen, wenn er zurückkommt.«

Pater Roche blieb länger aus. Kivrin zündete die Talglichter an, versorgte die Kranken, so gut sie konnte, und überlegte, was ihn aufgehalten haben mochte.

Im rauchigen Licht sah Rosemund noch schlechter aus als im trüben Tageslicht des verhängten Fensters. Ihr Gesicht war blaß und eingefallen, sie murmelte zu sich selbst, wiederholte Agnes’ Namen mehrmals und fragte einmal angstvoll: »Wo ist er? Er müßte längst hier sein.«

Er müßte längst hier sein, dachte Kivrin. Vor einer halben Stunde hatte die Vesperglocke geläutet. Vielleicht war er im Küchenhaus und bereitete eine Suppe. Oder er war zum Dachboden hinauf, um Eliwys über Rosemunds Befinden zu unterrichten. Er war nicht krank. Gleichwohl stand sie auf und stieg auf die Steinbank unter dem Fenster und blickte auf den Hof hinaus. Es wurde kälter, und der dunkle Himmel war bedeckt. Der Hof lag menschenleer, nirgendwo war ein Lichtschein zu sehen oder ein Geräusch zu hören.

Pater Roche öffnete die Tür, und sie sprang lächelnd von der Bank herab. »Wo seid Ihr gewesen? Ich hatte…« Sie brach ab.

Pater Roche trug sein Meßgewand und hatte den Korb mit geweihtem Öl und Abendmahl bei sich. Ach nein, dachte sie mit einem Blick zu Rosemund. Es darf nicht sein. »Ich bin bei Ulf dem Dorfvorsteher gewesen«, sagte er, »und habe ihm die Beichte abgenommen.«

Ihre erste Reaktion war Erleichterung, daß er nicht Rosemunds wegen gekommen war; dann wurde ihr klar, was er sagte. Die Pest war im Dorf.

»Habt Ihr Gewißheit?« fragte sie. »Habt Ihr die Pestbeulen gesehen?«

»Ja.«

»Wie viele andere sind in dem Haushalt?«

»Seine Frau und zwei Söhne«, sagte er mit müder Stimme. »Ich bat sie, eine Maske zu tragen, und schickte ihre Söhne, Weidenzweige zu schneiden, um aus der Rinde Tee zu bereiten.«

»Gut«, sagte sie. Es war nichts Gutes daran. Nein, das war nicht richtig. Wenigstens war es Beulenpest, und nicht Lungenpest, also bestand noch immer eine Aussicht, daß die Frau und zwei Söhne nicht angesteckt würden. Aber wie viele andere Menschen hatte Ulf infiziert, und wer hatte ihn angesteckt? Ulf konnte kaum mit dem Sekretär des Bischofs zusammengekommen sein. Er mußte sich bei einem der Knechte angesteckt haben. »Sind andere im Dorf krank?«

Er verneinte.

Das hatte nicht viel zu bedeuten. Sie schickten nur zum Pfarrer, wenn sie sehr krank waren und um ihr Leben fürchteten. Es mochte bereits drei oder vier weitere Fälle im Dorf geben. Oder ein Dutzend.

Sie setzte sich unter das Fenster und überlegte, was zu tun sei. Nichts, dachte sie. Es gab nichts, was sie für die Leute tun konnte. Die Pest überschwemmte ein Dorf nach dem anderen, rottete ganze Familien, ganze Ortschaften aus. Ein Drittel bis die Hälfte von Europa.

»Nein!« schrie Rosemund und kämpfte sich von ihrem Lager hoch.

Kivrin und Pater Roche sprangen hinzu, aber sie sank von selbst wieder zurück. Sie deckten sie zu, und Rosemund stieß die Decke wieder von sich. »Ich werde es Mutter sagen, Agnes, du böses Kind«, murmelte sie. »Laß mich los!«

Im Laufe der Nacht wurde es kälter. Pater Roche brachte glühende Holzkohle für das Kohlenbecken herauf und Kivrin stieg wieder auf die Steinbank am Fenster, um das gewachste Leinen an den Rahmen zu binden, aber es war trotzdem eiskalt. Sie und Pater Roche kauerten am Kohlenbecken, versuchten ein wenig zu schlafen und erwachten zitternd vor Kälte.

Der Sekretär zitterte nicht, aber er klagte lallend wie ein Betrunkener über die Kälte. Seine Hände und Füße waren kalt und ohne Gefühl.

»Sie müssen ein Feuer haben«, sagte Pater Roche. »Wir müssen sie in den Herdraum hinunterbringen.«

Er verstand nicht. Ihre einzige Hoffnung lag darin, daß die Patienten isoliert und eine Ausbreitung der Infektion nicht zugelassen wurde. Aber sie hatte sich bereits ausgebreitet, und wie sollte ein Mann wie Ulf in seiner ärmlichen Hütte, die aus nur einem Raum bestand, isoliert werden? Und was nützte ein Feuer? Sie hatte in einer ihrer armen Hütten am Feuer gesessen, während der kalte Wind durch alle Ritzen und Löcher eingedrungen war. Das kleine Feuer hätte keine Katze wärmen können.

Auch die Katzen starben, dachte sie, und ihr Blick ging zu Rosemund. Der Schüttelfrost quälte ihren armen, dünnen Körper, und ihr Gesicht schien bereits abgemagert, wie vom Fieber verzehrt.

»Das Leben verläßt sie«, sagte Pater Roche.

»Ich weiß«, sagte sie und machte sich daran, das Bettzeug aufzuheben. »Sagt Maisry, daß sie am Boden des Herdraumes Stroh ausbreiten soll.«

Der Sekretär war zu Kivrins Überraschung imstande, von ihr und Roche gestützt, die Stufen hinunterzugehen, aber Rosemund mußte getragen werden. Eliwys und Maisry breiteten Stroh auf der anderen Seite des Herdfeuers aus. Agnes schlief noch, aber Imeyne war auch heruntergekommen und kniete, wo sie am Abend zuvor gebetet hatte, die Hände steif vor dem Gesicht gefaltet.

Pater Roche legte Rosemund auf den Strohsack, und Eliwys deckte sie zu. »Wo ist mein Vater?« fragte Rosemund heiser durch die schnatternden Zähne. »Warum ist er nicht hier?«

Agnes kam vom Dachboden herunter. Sie würde jeden unbeobachteten Augenblick benutzen, um auf Rosemunds Strohsack zu klettern oder den Sekretär anzugaffen. Es mußte ein Mittel geben, um Agnes sicher von den Kranken fernzuhalten. Kivrin sah sich suchend um, dann zog sie Bänke heran, legte sie auf die Seiten und stellte sie zu einer Barrikade zusammen. Pater Roche und Eliwys kamen ihr zu Hilfe, und zusammen hoben sie die Tischplatte von den Schragen und lehnten sie gegen die Bänke.

Eliwys setzte sich zu Rosemund. Das Mädchen schlief, und der rötliche Widerschein des Herdfeuers spielte über ihr Gesicht und verlieh ihm den trügerischen Anschein von Gesundheit.

»Ihr müßt auch eine Maske tragen«, sagte Kivrin.

Eliwys nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. Sie strich Rosemund das wirre Haar zurück und sagte: »Sie war der Liebling meines Mannes.«

Rosemund verbrachte eine halbwegs ruhige Nacht und verschlief den halben Vormittag. Kivrin warf frische Scheite auf das Feuer und deckte dem Sekretär die Füße auf, damit sie die Hitze fühlten.

Während des Schwarzen Todes hatte der Leibarzt des Papstes diesen in einen Raum zwischen zwei große Feuer gesetzt, und er hatte nicht die Pest bekommen. Manche Historiker glaubten, die Hitze habe den Pestbazillus getötet, andere meinten, die Feuer hätten die Höhe von ihm ferngehalten. Wahrscheinlicher war, daß ihn die Isolation von seinen höchst ansteckenden Schäflein gerettet hatte, aber es lohnte sich, den Versuch zu machen. Alles lohnte einen Versuch, dachte sie, als sie die schlafende Rosemund beobachtete. Sie warf mehr Scheite ins Feuer.

Pater Roche ging die Morgenmesse lesen, obwohl der Vormittag schon weit fortgeschritten war. Die Glocke machte Agnes munter, die im Arm ihrer Mutter wieder eingeschlafen war. Nun rannte sie zur Barrikade. »Wer hat die Bänke aufeinandergestellt?«

»Du darfst nicht an diesem Zaun vorbei«, sagte Kivrin, die einen guten Schritt hinter der Barrikade stand. »Du mußt bei deiner Mutter bleiben oder zu deiner Großmutter gehen.«

Agnes stieg auf eine Bank und spähte über die Tischplatte. »Ich sehe Rosemund«, sagte sie. »Ist sie tot?«

»Sie ist sehr krank«, sagte Kivrin in ernstem Ton. »Du darfst uns nicht nahekommen. Geh und spiel mit deinem Wagen.«

»Ich möchte zu Rosemund«, sagte sie und hob ein Bein über die aufgestellte Tischplatte.

»Nein!« rief Kivrin. »Geh und setz dich zu deiner Großmutter!«

Agnes starrte sie verblüfft an, dann brach sie in Tränen aus. »Ich möchte zu Rosemund!« quengelte sie, ging dann aber hinüber und setzte sich schmollend neben Imeyne.

Pater Roche kam zurück. »Ulfs älterer Sohn ist krank«, sagte er. »Er hat die Beulen.«

Im Laufe des Vormittags wurden zwei weitere Fälle gemeldet, und einer am Nachmittag. Dieser war die Frau des Verwalters. Alle hatten Pestbeulen oder kleine, samenkornähnliche Gewächse an den Lymphdrüsen, bis auf die Frau des Verwalters.

Kivrin ging mit Pater Roche zu ihr. Sie stillte ihren Säugling. Das schmale, scharfgeschnittene Gesicht wirkte jetzt spitz, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. Sie hustete oder erbrach nicht, und Kivrin hoffte, daß die Beulen sich einfach noch nicht entwickelt hatten. »Tragt Leinenbinden als Masken vor Mund und Nase«, instruierte sie den Verwalter. »Gebt dem Säugling Milch von der Kuh. Haltet die Kinder von ihr fern.« Sie hatte keine Hoffnung. Sechs Kinder in zwei kleinen Räumen. Lieber Gott, betete sie, laß es nicht die Lungenpest sein. Laß sie nicht alle krank werden.

Wenigstens war Agnes sicher. Sie war nicht mehr in die Nähe der Barrikade gekommen, seit Kivrin sie angefahren hatte. Sie hatte eine Weile bei ihrer Großmutter gesessen und Kivrin mit einer finsteren Miene angestarrt, die so wild war, daß es unter anderen Umständen komisch gewesen wäre, dann war sie zum Dachboden hinaufgestiegen, um ihren Wagen zu holen. Sie setzte sich damit an den großen Tisch und vertiefte sich in ihr Spiel.

Als Rosemund erwachte, bat sie mit heiserer Stimme um Wasser, und sobald Kivrin es ihr gegeben hatte, schlief sie ruhig wieder ein. Selbst der Sekretär schlief, und das leise Röcheln seines Atmens hörte sich wie Schnarchen an. Kivrin setzte sich neben Rosemund, dankbar für die Ruhepause.

Sie hätte aufstehen und Pater Roche mit den Kindern des Verwalters helfen sollen, wenigstens Sorge tragen, daß der Mann die Maske trug und sich die Hände wusch, aber sie fühlte sich plötzlich zu müde und erschöpft, um sich vom Fleck zu rühren. Wenn ich mich nur eine Minute hinlegen könnte, dachte sie, würde mir vielleicht etwas einfallen.

»Ich möchte Blackie sehen«, sagte Agnes.

Kivrin fuhr auf und herum, aufgeschreckt aus dem Zustand des Einnickens. Agnes hatte ihren roten Umhang und die Haube angelegt und stand der Barrikade so nahe wie sie sich traute. »Du hast versprochen, daß du mich zum Grab führen würdest, daß ich sehen kann, wo mein Hund ist.«

»Leise, du wirst deine Schwester wecken.«

Agnes fing an zu weinen, nicht das laute Winseln, das sie einsetzte, wenn sie ihren Willen durchsetzen wollte, sondern ein stilles Schluchzen. Auch sie hatte ihre Grenzen erreicht, dachte Kivrin. Den ganzen Tag alleingelassen, Rosemund und Pater Roche und ich unzugänglich, alle anderen beschäftigt und zerstreut und ängstlich. Armes Ding.

»Du hast es versprochen«, sagte Agnes mit bebenden Lippen.

»Ich kann dich jetzt nicht zu deinem Blackie bringen«, sagte Kivrin freundlich, »aber ich werde dir eine Geschichte erzählen. Wir müssen es aber sehr leise machen.« Sie legte den Finger an die Lippen. »Wir dürfen Rosemund oder den Sekretär nicht wecken.«

Agnes wischte sich die tropfende Nase mit dem Handrücken. »Erzählst du mir die Geschichte von dem Mädchen im Wald?« fragte sie in ihrem Bühnenflüstern.

»Ja.«

»Darf mein Wagen zuhören?«

»Ja«, flüsterte Kivrin, und Agnes rannte durch die Diele, um das kleine Spielzeugfuhrwerk zu holen, lief damit zurück und kletterte auf die Bank, bereit, die Barrikade zu erklimmen.

»Du mußt am Boden neben der Tischplatte sitzen«, sagte Kivrin, »und ich werde hier auf der anderen Seite sitzen.«

»Dann kann ich dich nicht hören«, sagte Agnes, und ihre Miene umwölkte sich wieder.

»Bestimmt wirst du mich hören, wenn du ganz still bist.«

Agnes stieg von der Bank und setzte sich an die Tischplatte, stellte den Wagen neben sich auf den Fußboden. »Du mußt ganz still sein«, sagte sie zu ihm.

Nach einem Blick zu ihren Patienten lehnte Kivrin sich von der anderen Seite gegen die Tischplatte und schloß erschöpft die Augen.

»In einem fernen Land«, fing Agnes an.

»In einem fernen Land war einmal ein kleines Mädchen. Es wohnte am Rand eines großen Waldes…«

»Der Vater sagte: ›Geh nicht in den Wald‹, aber sie war unartig und hörte nicht auf ihn«, sagte Agnes.

»Sie war unartig und hörte nicht«, sagte Kivrin. »Sie warf ihren Umhang über die Schultern…«

»Ihren roten Umhang mit einer Kapuze«, sagte Agnes. »Und sie ging in den Wald, obwohl ihr Vater gesagt hatte, daß sie es nicht tun sollte.«

Obwohl ihr Vater gesagt hatte, daß sie es nicht tun sollte. »Es wird mir an nichts fehlen«, hatte sie Mr. Dunworthy gesagt. »Ich kann auf mich achtgeben.«

»Sie hätte nicht in den Wald gehen sollen, oder?« sagte Agnes.

»Sie wollte sehen, was es dort gab. Sie dachte, sie würde nur ein kleines Stück gehen«, sagte Kivrin.

»Sie hätte nicht sollen«, urteilte Agnes. »Ich würde es nicht tun. Der Wald ist finster.«

»Der Wald ist sehr finster, und voller Geräusche, die einen das Fürchten lehren.«

»Wölfe«, sagte Agnes, und Kivrin merkte, wie sie auf der anderen Seite näherrückte, um Kivrin so nahe zu sein wie sie konnte. Kivrin konnte sie vor sich sehen, gegen die Tischplatte geschmiegt, die Knie angezogen, den kleinen Wagen an sich gedrückt.

»Das Mädchen sagte sich: ›Hier gefällt es mir nicht‹, und kehrte um. Aber es konnte den Weg nicht sehen, so dunkel war es, und plötzlich sprang etwas auf sie zu!«

»Ein Wolf«, hauchte Agnes.

»Nein«, sagte Kivrin. »Es war ein Bär. Und der Bär sagte: ›Was tust du in meinem Wald?‹«

»Das Mädchen hatte Angst«, sagte Agnes mit kleiner, ängstlicher Stimme.

»Ja. ›Oh, bitte friß mich nicht, Bär‹, sagte das Mädchen. ›Ich habe mich verlaufen und kann meinen Heimweg nicht finden.‹ Nun war der Bär aber ein freundlicher Bär, obwohl er bösartig aussah, und sagte: ›Ich werde dir helfen, den Weg aus dem Wald zu finden‹, und das Mädchen sagte: ›Wie? Es ist so dunkel.‹ ›Wir werden die Eule fragen‹, sagte der Bär. ›Sie kann in der Dunkelheit sehen.‹«

Sie erzählte weiter, erfand im Sprechen ihre Geschichte und fühlte sich seltsam getröstet. Agnes hörte auf, sie zu unterbrechen, und nach einer Weile stand Kivrin mitten in ihrer Erzählung auf und blickte über die Barrikade. »›Kennst du den Weg aus dem Wald?‹ fragte der Bär die Krähe. ›Ja‹, sagte die Krähe.«

Agnes schlief an die Tischplatte gelehnt, den Umhang um sich gebreitet und den Wagen an sich gedrückt.

Sie sollte zugedeckt sein, dachte Kivrin, wagte es aber nicht. Alles Bettzeug, das sie aus der Krankenstube heruntergeschafft hatten, war voll von Pesterregern. Sie hob den Blick zu Frau Imeyne, die mit abgewandtem Gesicht im Winkel betete. »Frau Imeyne«, rief sie mit gedämpfter Stimme, aber die alte Frau gab kein Zeichen, daß sie gehört hatte.

Kivrin legte Holz nach und setzte sich, Kopf und Rücken an die Tischplatte gelehnt. »›Ich kenne den Weg aus dem Wald‹, sagte die Krähe, ›und ich werde ihn dir zeigen‹«, sagte Kivrin, »aber sie flog so schnell über die Baumwipfel davon, daß sie ihr nicht folgen konnten.«

Sie mußte eingeschlafen sein, denn das Feuer war heruntergebrannt, als sie die Augen aufschlug, und ihr Nacken schmerzte. Rosemund und Agnes schliefen noch, aber der Sekretär war wach. Er gurgelte unverständliche Worte. Der pelzige weiße Belag überzog inzwischen seine ganze Zunge, und sein Atem war so widerwärtig, daß Kivrin den Kopf zur Seite wenden mußte. Seine Pestbeule war wieder aufgegangen und entließ eine dickflüssige dunkle Masse, die nach verfaulendem Fleisch stank. Kivrin legte einen neuen Verband an und mußte dabei die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu würgen. Den alten warf sie ins Feuer, dann ging sie hinaus und wusch ihre Hände am Trog, goß sich eiskaltes Wasser aus dem Eimer erst über eine Hand und dann über die andere, sog mit tiefen Zügen die kalte, reine Luft ein.

Pater Roche kam in den Hof. »Ulric, Hals Sohn«, sagte er, als sie zusammen ins Haus gingen, »und einer der Söhne des Verwalters, der Älteste, Walthef.« Er ließ sich auf die der Tür nächsten Bank fallen.

»Ihr seid erschöpft«, sagte Kivrin. »Ihr solltet Euch niederlegen und ausruhen.«

Auf der anderen Seite des Herdfeuers stand Imeyne unbeholfen auf, als wären ihr die Beine eingeschlafen, und kam zu ihnen herüber.

»Ich kann nicht bleiben. Ich bin gekommen, um ein Messer zum Schneiden der Weidenzweige zu holen«, sagte Pater Roche, aber er blieb beim Feuer sitzen und starrte stumpf hinein.

»So ruht wenigstens eine kleine Weile aus«, sagte Kivrin. »Ich werde Euch etwas Bier bringen.« Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Ihr habt diese Krankheit gebracht«, sagte Frau Imeyne.

Kivrin hielt inne. Die alte Frau stand mitten in der Diele und durchbohrte Pater Roche mit ihrem feindseligen Blick. Sie hielt mit beiden Händen das Stundenbuch an die Brust, und ihr Rosenkranz baumelte von den knochigen Fingern. »Eure Sünden sind es, die dieses Übel hierhergebracht haben.«

Sie wandte sich zu Kivrin. »Am Tag des heiligen Eusebius sagte er die Litanei für den St. Martinstag. Sein Chorhemd ist schmutzig.« Es hörte sich an, als beklagte sie sich bei Sir Bloets Schwester, und ihre Finger zupften nervös am Rosenkranz, zählten seine Sünden an den Perlen auf. »Letzten Mittwoch ließ er die Kirchentür nach der Vesper offen.«

Kivrin mußte keine Psychologin sein, um zu sehen, daß die Frau sich zu rechtfertigen und ihre eigene Schuld abzuwälzen suchte. Sie hatte dem Bischof geschrieben und um einen neuen Kaplan gebeten, sie hatte ihm verraten, wo sie waren. Nun wurde ihr das Wissen, daß sie geholfen hatte, die Pest einzuschleppen, unerträglich, aber sie konnte kein Mitleid aufbringen. Gleichwohl hatte sie kein Recht, Pater Roche verantwortlich zu machen, der alles in seinen Kräften Stehende getan hatte, während sie nur in einem Winkel gekniet und gebetet hatte.

»Gott hat diese Seuche nicht als Strafe gesandt«, erwiderte sie kalt. »Es ist eine Krankheit.«

»Er vergaß das Confiteor«, sagte Imeyne, aber sie drehte um und humpelte zurück zu ihrem Winkel, wo sie sich auf die Knie niederließ. »Er stellte die Altarkerzen auf die Chorschranke.«

Kivrin kam zurück zu Pater Roche. »Niemand ist schuldig«, sagte sie.

Er starrte erschöpft ins Feuer. »Wenn Gott uns straft«, sagte er, »muß es für eine furchtbare Sünde sein.«

»Keine Sünde«, widersprach sie. »Es ist keine Strafe.«

»Dominus«, rief der Sekretär. Er versuchte sich aufzustützen und stieß ein angestrengtes, schütterndes Husten aus, das sich anhörte, als wollte es ihm die Brust aufsprengen, aber er förderte nichts zutage. Die harten Stöße seines Hustens weckten Rosemund, und sie begann zu wimmern. Es mochte keine Strafe sein, dachte Kivrin, aber es sah ganz gewiß wie eine aus.

Der Schlaf hatte Rosemund nicht gekräftigt. Ihr Fieber war nicht zurückgegangen, und ihre Augen sahen eingesunken aus. Bei der geringsten Bewegung zuckte sie wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

Es bringt sie um, dachte Kivrin. Ich muß etwas tun.

Als Maisry mit geschnittenen Weidenzweigen hereinkam und sie mit dem Messer neben Pater Roche niederlegte, stieg Kivrin zur Schlafkammer hinauf und brachte Imeynes Arzneikasten herunter. Imeyne beobachtete sie mit lautlosen Lippenbewegungen aus den Augenwinkeln, doch als Kivrin den Kasten vor sie hinstellte und fragte, was in den Leinenbeuteln sei, hob sie die gefalteten Hände vors Gesicht und schloß die Augen.

Kivrin erkannte einige wenige von ihnen. Dr. Ahrens hatte sie mit Heilkräutern vertraut gemacht, aber hier waren keine frischen Blätter oder Blüten; alles war getrocknet und zerkleinert, und sie konnte sich nur auf ihren Geruchssinn verlassen. Sie identifizierte Schwarzwurz, Lungenkraut und Wegwarte. In einem kleinen Lederbeutel war pulverisiertes Quecksilbersulfid, das kein vernünftiger Mensch einem anderen geben würde, sowie ein Päckchen gepreßter Blüten und Blätter vom Fingerhut, der beinahe genauso schlimm war.

Sie ging ins Küchenhaus, kochte Wasser und tat von jedem Kraut, das sie kannte, etwas hinein und ließ die Mischung ziehen. Der Duft war wundervoll, wie ein Hauch des Sommers, und es schmeckte nicht schlechter als der Tee aus Weidenrinde, aber es half auch nicht. Als es Abend wurde, hustete der Sekretär unausgesetzt, und auf Rosemunds Bauch und an den Armen begannen rote Flecken zu erscheinen. Ihre Pestbeule hatte die Größe eines Eies und war ebenso hart. Als Kivrin sie berührte, schrie Rosemund vor Schmerz.

Mittelalterliche Pestärzte hatten die Pestbeulen mit Umschlägen und Zugpflastern behandelt oder sie aufgeschnitten. Aber sie hatten die Kranken auch zur Ader gelassen und mit Arsenik behandelt, dachte sie, obwohl es dem Sekretär nach dem Aufplatzen seiner Pestbeulen besser zu gehen schien; jedenfalls lebte er noch. Aber das Aufschneiden der Beule mochte zur Verbreitung der Infektion beitragen oder, schlimmer noch, die Erreger in den Blutkreislauf bringen und zur Sepsis führen.

Wieder erhitzte sie Wasser und bereitete Lappen vor, um sie naß aufzulegen, doch obwohl das Wasser lauwarm war, schrie Rosemund schon bei der ersten Berührung. Kivrin mußte zu kaltem Wasser zurückkehren, was nicht half. Sie konnte tun, was sie wollte, dachte sie, als sie den nassen kalten Umschlag gegen Rosemunds Achselhöhle hielt, nichts davon taugte.

Sie mußte den Absetzort finden, es war die einzige Hoffnung. Aber die Wälder erstreckten sich meilenweit, mit Tausenden von Eichen, Dutzenden von Lichtungen. Ohne Anleitung würde sie die Stelle niemals finden. Und sie konnte Rosemund nicht verlassen.

Vielleicht würde Gawyn umkehren. In einigen Städten hatte man die Tore geschlossen — es war möglich, daß sie ihn nicht einlassen würden, oder vielleicht begegnete er unterwegs Leuten aus Bath und begriff, daß der Hausherr tot sein mußte. Komm zurück, dachte sie inständig, beeil dich! Komm zurück!

Sie machte sich abermals über Imeynes Kräuter her und kostete vom Inhalt der Beutel, die sie nicht zu deuten wußte. Das gelbe Pulver war Schwefel. Auch den hatten mittelalterliche Ärzte in Epidemien verwendet, ihn verbrannt, um die Luft durchzuräuchern, und sie erinnerte sich, gelesen zu haben, daß Schwefel tatsächlich gewisse Bakterien abtötete, doch ob dies nur in den schwefligen Verbindungen der Fall war, erinnerte sie nicht. Immerhin schien die Methode sicherer als das Aufschneiden der Pestbeulen.

Sie streute versuchsweise ein wenig ins Feuer, und gleich darauf entstand eine gelbe Wolke, die sich ausbreitete und sogar durch die Stoffmaske in Kivrins Kehle brannte. Der Sekretär schnappte nach Luft, und Imeyne bekam in ihrem Winkel einen trockenen Hustenanfall.

Kivrin hatte angenommen, der Geruch von faulen Eiern werde sich in ein paar Minuten verflüchtigen, aber der gelbe Rauch hing wie Dunstschwaden in der Luft und brannte in Augen und Kehle. Maisry lief, in ihre Schürze hustend, auf den Hof hinaus, und Eliwys zog sich mit Imeyne und Agnes auf den Dachboden zurück, um dem beißenden Gestank zu entgehen.

Kivrin öffnete die Tür, und fächelte die Luft mit einem der Küchentücher, und nach einer Weile klärte sich die Luft ein wenig, obwohl Kivrins Kehle noch immer wie ausgedörrt brannte. Der Sekretär hustete weiter, doch hatte er dies auch vorher getan. Aber Rosemund kam zur Ruhe, und ihr Puls verlangsamte sich, bis Kivrin ihn kaum noch fühlen konnte.

Pater Roche kam hüstelnd herein.

»Es ist der Schwefel«, sagte sie. »Rosemund geht es schlechter. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe alles versucht.«

Er beugte sich über die Kranke und hielt ihr das heiße, trockene Handgelenk, dann ging er wieder hinaus, und Kivrin nahm es als ein gutes Zeichen. Er hätte Rosemund nicht verlassen, wenn es wirklich schlecht um sie stünde.

Doch kurze Zeit später kam er in seinem Meßgewand zurück und brachte das Öl und das Abendmahl für die Sterbesakramente.

»Was gibt es?« fragte Kivrin. »Ist die Frau des Verwalters gestorben?«

Er schüttelte den Kopf und blickte an ihr vorbei zu Rosemund.

»Nein«, brach es aus Kivrin hervor. Sie sprang auf, um zwischen ihn und Rosemund zu treten. »Ich kann es nicht zulassen.«

»Sie darf nicht ohne Beichte und letzte Ölung sterben.«

»Rosemund stirbt nicht!«

Aber sie sah bereits tot aus; ihre vom Fieber schorfigen Lippen waren halb geöffnet, ihre Augen starr und wie blind. Ihre Haut hatte eine gelbliche Tönung angenommen und war straff über ihr schmales Gesicht gespannt. Nein, dachte Kivrin in Verzweiflung. Ich muß etwas tun, um dies zu verhüten. Sie ist erst zwölf.

Pater Roche kam mit dem Kelch zu ihr, und Rosemund hob den Arm wie in einer Bitte und ließ ihn wieder fallen.

»Wir müssen die Pestbeule öffnen«, sagte Kivrin. »Wir müssen das Gift herauslassen.«

Sie dachte, er werde sich weigern und darauf bestehen, zuerst Rosemunds Beichte zu hören, aber er tat es nicht. Er stellte den Kelch und das Salbölgefäß auf die Steinplatten und ging ein Messer holen.

»Ein scharfes«, rief sie ihm nach.

»Und bringt Wein mit.« Sie stellte den Wassertopf wieder aufs Herdfeuer. Als er mit dem Messer zurückkam, wusch sie es mit Wasser aus dem Eimer und kratzte den verkrusteten Schmutz nahe dem Heft mit den Fingernägeln weg. Sie hielt das Messer ins Feuer, dann übergoß sie die Klinge mit kochendem Wasser, dann mit Wein und wieder mit dem Wasser.

Sie zogen Rosemunds Strohsack näher zum Feuer, um für die Operation so viel Licht wie möglich zu haben, und Pater Roche kniete bei Rosemunds Kopf nieder.

Kivrin zog ihr den Arm behutsam aus dem Hemd und bündelte den Stoff und schob ihn als ein zusätzliches Kissen unter sie. Roche ergriff ihren Arm und drehte ihn so, daß die Anschwellung bloßgelegt war.

Sie war beinahe von der Größe eines Apfels, und ihr ganzes Schultergelenk war entzündet und geschwollen. Die Ränder der Beule waren weich und beinahe schwammig, aber die Mitte war noch hart.

Kivrin entkorkte den Krug Wein, den Roche gebracht hatte, goß etwas auf ein Stück Stoff und tupfte die Beule vorsichtig damit ab. Sie fühlte sich wie ein Stein an, eingebettet in Gelatine. Es war zweifelhaft, ob das Messer überhaupt hineinschneiden würde.

Sie nahm das Messer zur Hand, befühlte die Schneide und hielt es über die Anschwellung, in Angst, eine Arterie anzuschneiden, die Infektion auszubreiten, es schlimmer zu machen.

»Sie ist über Schmerz hinaus«, sagte Pater Roche.

Kivrin blickte auf die Kranke. Sie hatte sich nicht bewegt, nicht einmal als Kivrin auf die Beule gedrückt hatte. Sie starrte an beiden vorbei auf etwas Schreckliches, wie eine furchtbare Vision. Ich kann es nicht schlimmer machen, dachte Kivrin. Selbst wenn ich sie umbringe, ich kann es nicht schlimmer machen.

»Haltet ihr den Arm«, sagte sie, und Pater Roche drückte ihren Arm mit beiden Händen flach gegen den Boden. Rosemund rührte sich noch immer nicht.

Zwei schnelle, saubere Schnitte, dachte Kivrin. Sie holte tief Luft und setzte das Messer an die Beule.

Rosemunds Arm verkrampfte sich, ihre Schulter suchte sich dem Messer zu entziehen, die dünne Hand ballte sich zur Faust. »Was tut Ihr?« stieß sie heiser hervor. »Ich werde es meinem Vater sagen.«

Kivrin zog das Messer zurück. Pater Roche drückte den Arm wieder gegen den Boden, und Rosemund versuchte mit der anderen Hand nach ihm zu schlagen.

»Ich bin die Tochter Guillaume d’Iveries«, sagte sie. »Ihr könnt mich nicht so behandeln.«

Kivrin zog sich aus ihrer Reichweite zurück und stand auf, bemüht, das Messer von jeder Berührung freizuhalten. Pater Roche beugte sich vor und hielt beide Handgelenke des Mädchens mühelos mit einer Hand nieder. Rosemund zappelte und stieß schwächlich mit dem Fuß nach Kivrin. Der Kelch fiel um, und Wein ergoß sich in einer dunklen Pfütze auf die Steinplatten.

»Wir müssen sie binden«, sagte Kivrin und sah, daß sie das Messer wie zum Zustoßen in die Höhe hielt. Wie eine Mörderin. Sie wickelte es in einen der Leinenstreifen, die Eliwys gerissen hatte, und gab Pater Roche einen weiteren Streifen, mit dem er Rosemund die Handgelenke über dem Kopf zusammenband, während Kivrin ihr die Fußknöchel an das Bein einer der umgelegten Bänke band. Rosemund wehrte sich nicht, aber als Roche ihr das Hemd wieder von der Schulter zog, sagte sie: »Ich kenne dich. Du bist der Wegelagerer, der Katherine überfiel.«

Pater Roche hielt ihre Arme nieder, und Kivrin beugte sich über die Kranke und schnitt die Beule auf.

Blut sickerte hervor, kam dann in einem Schwall, und Kivrin dachte in einem schreckerfüllten Augenblick, sie habe eine Arterie getroffen. Sie und Roche griffen gleichzeitig zu den bereitgelegten Stoffstreifen, und drückten ein Bündel davon gegen die Wunde. Das Leinen sog sich augenblicklich voll, und als sie den Stoff wegnahm, um das Bündel auf die Schnittwunde zu drücken, das Pater Roche ihr reichte, sah sie das Blut aus der Wunde sprudeln. Sie drückte das zweite Stoffbündel darauf, und als dieses durchtränkt war, den Saum ihres Überrockes. Rosemund wimmerte, ein kleines, hilfloses Geräusch wie von Agnes’ Welpen, und schien in sich zusammenzusinken.

Ich habe sie umgebracht, dachte Kivrin.

»Ich kann die Blutung nicht stillen«, sagte sie, aber sie hatte bereits aufgehört. Sie zählte stumm bis hundert, dann hob sie vorsichtig den Rocksaum von der Wunde.

Noch immer quoll Blut aus dem Schnitt, aber es war vermischt mit dickem, gelblichgrauem Eiter. Pater Roche wollte ihn wegtupfen, aber Kivrin hielt seinen Arm zurück. »Nein, es ist voll von Pestkeimen«, sagte sie. »Ihr dürft es nicht berühren.«

Mit dem blutdurchtränkten Stoff wischte sie den eklig aussehenden Eiter fort. Er sickerte nach, gefolgt von einem wässerigen Serum. »Ich glaube, das ist alles«, sagte sie zu Pater Roche. »Gebt mir den Wein.« Sie sah sich nach einem reinen Stoffstreifen um, um ihn darauf zu gießen.

Es war keiner mehr da. Sie hatten alle aufgebraucht, um die Blutung zu stillen. Sorgsam neigte sie den Weinkrug und ließ die dunkle Flüssigkeit in die Schnittwunde tröpfeln. Rosemund regte sich nicht. Ihr Gesicht war grau, als sei sie gänzlich ausgeblutet. Und beinahe so war es. Kivrin grämte sich, daß sie ihr keine Transfusion geben konnte. Aber sie hatte nicht einmal einen reinen Lappen.

Pater Roche band Rosemunds Hände los. Er nahm ihre schlaffe Hand in seine großen Hände und nickte. »Ihr Herz schlägt jetzt kräftig.«

»Wir brauchen mehr Leinen«, sagte Kivrin. Sie schluchzte, mit ihrer Nervenkraft am Ende.

»Mein Vater wird Sorge tragen, daß ihr dafür gehängt werdet«, murmelte Rosemund.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(071145–071862)

Rosemund ist bewußtlos. Gestern abend versuchte ich ihre Pestbeule aufzuschneiden und die Infektion abzuleiten, doch fürchte ich, daß ich die Dinge nur schlechter machte. Sie verlor viel Blut, und nun ist sie sehr bleich, der Puls so schwach, daß ich ihn in ihrem dünnen Handgelenk nicht finden kann.

Der Zustand des Sekretärs hat sich gleichfalls verschlechtert. Die Blutergüsse breiten sich aus, und es wird deutlich, daß er nicht mehr lange zu leben hat. Ich erinnere mich, daß Dr. Ahrens sagte, eine unbehandelte Beulenpest führe in vier bis fünf Tagen zum Tode, aber er wird kaum so lang aushalten.

Eliwys, Imeyne und Agnes sind noch gesund, doch scheint Imeyne in ihrem krankhaften Bestreben, Schuldige zu finden, allmählich den Verstand zu verlieren. Heute früh schlug sie auf Maisry ein und schrie, Gott bestrafe uns alle für ihre Faulheit und Dummheit.

Maisry ist faul und dumm, das läßt sich nicht leugnen. Man kann Agnes keine fünf Minuten ihrer Obhut anvertrauen, und als ich sie heute früh Wasserholen schickte, um Rosemund zu säubern, blieb sie länger als eine halbe Stunde aus und kam ohne Wasser zurück.

Ich sagte nichts. Ich wollte nicht, daß Frau Imeyne sie ein weiteres Mal prügelte, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die alte Frau mich zur Zielscheibe ihrer Schuldzuweisungen machen wird. Ich sah, daß sie mich über ihr aufgeschlagenes Stundenbuch hinweg beobachtete, als ich das Wasser holen ging, das Maisry vergessen hatte, und ich kann mir gut vorstellen, was sie dachte — daß ich zuviel über die Pest weiß, um nicht vor ihr geflohen zu sein, daß ich mein Gedächtnis verloren habe, um Fragen nach meiner Identität vorzubeugen, daß ich nicht verletzt, sondern krank war.

Wenn sie auf solche Anschuldigungen verfällt, muß ich damit rechnen, daß sie Eliwys überzeugen wird, ich sei die Ursache, und statt auf meine ketzerischen Reden zu hören, sollten sie die Barrikade forträumen und zusammen Gott um Verschonung bitten.

Und wie soll ich mich verteidigen? Indem ich sage, daß ich aus der Zukunft komme, wo wir alles über die Pest wissen, nur nicht, wie sie ohne Tetracyclin geheilt werden kann und wie wir wieder zurückkommen können?

Gawyn ist bisher ausgeblieben. Eliwys sagt nichts, doch muß sie vor Sorge am Verzweifeln sein. Als Pater Roche den Hof verließ, um die Vesperglocke zu läuten und zu beten, stand sie ohne Umhang und Kopftuch am Tor und sah auf die Straße hinaus. Ich frage mich, ob ihr der Gedanke gekommen sein mag, daß er die Krankheit schon in sich hatte, als er nach Bath ritt. Er begleitete den Gesandten des Bischofs nach Courcy, und als er zurückkam, wußte er bereits von der Pest.


(Unterbrechung)

Der Dorfvorsteher Ulf ist dem Tod nahe, und seine Frau und einer seiner Söhne sind an der Pest erkrankt. Keine Beulen, aber die Frau hat mehrere kleine Anschwellungen wie Samenkörner an der Innenseite der Schenkel. Pater Roche muß ständig erinnert werden, seine Maske zu tragen und die Kranken nicht mehr als unbedingt nötig zu berühren.

Die Geschichtsdarstellungen schreiben den Zeitgenossen blinde Panik und feiges Verhalten während des Schwarzen Todes zu. Sie bemängeln, daß die Menschen davonliefen, die Kranken im Stich ließen, statt sie zu pflegen, und daß die Priester am schlimmsten von allen gewesen seien, aber nach meinen Beobachtungen ist es ganz und gar nicht so.

Alle sind in Angst und Schrecken, aber die armen Leute tun, was sie können, und Pater Roche ist bewundernswert. Während ich die Frau des Dorfvorstehers untersuchte, saß er bei ihr und hielt ihre Hand und tröstete sie, und er schreckt nicht vor den niedrigsten und widerwärtigsten Arbeiten zurück — offene Pestbeulen waschen, Nachttöpfe ausleeren, den Sekretär waschen. Er scheint keine Furcht zu kennen. Ich weiß nicht, woher er seinen Mut nimmt.

Dabei vernachlässigt er seine geistlichen Pflichten nicht. Er hält die Morgen- und Abendandachten, liest jeden Tag die Messe und betet, berichtet Gott von Rosemund und wer neuerlich erkrankt ist, erläutert ihre Symptome und sagt, was wir für sie tun, als ob Er ihn wirklich hören könnte. So wie er zu mir spricht.

Ist Gott auch da, frage ich mich, aber von uns getrennt durch etwas Schlimmeres als die Zeit, etwas Undurchdringliches, so daß er uns nicht finden kann?


(Unterbrechung)

Wir können die Pest jetzt hören. In den Dörfern wird zu jedem Begräbnis die Totenglocke geläutet, neun Schläge für einen Mann, drei für eine Frau, einer für ein Kind. Esthcote hatte heute vormittag zwei Begräbnisse, und die Glocke von Osney ist seit gestern kaum verstummt. Die Glocke im Südwesten, die ich bei meiner Ankunft hören konnte, ist verstummt. Ich weiß nicht, ob das bedeutet, daß die Pest dort erloschen ist oder ob niemand übrig geblieben ist, die Glocke zu läuten.


(Unterbrechung)

Lieber Gott, bitte laß Rosemund nicht sterben. Bitte laß nicht zu, daß Agnes angesteckt wird. Und laß Gawyn zurückkehren.

28

Der Junge, der vor Kivrin fortgelaufen war, als sie, von Krankheit geschwächt, den Absetzort gesucht hatte, wurde in der Nacht pestkrank. Seine Mutter stand vor der Kirchentür und wartete auf Pater Roche, als er am Morgen kam, die Frühmesse zu halten. Der Junge hatte eine Pestbeule am Rücken, und Kivrin schnitt sie auf, während Roche und die Mutter ihn festhielten.

Sie tat es widerstrebend. Der Junge war mager, von Skorbut geschwächt, und Kivrin hatte keine Ahnung, ob unter den Schulterblättern Arterien verliefen. Rosemunds Zustand schien sich nicht gebessert zu haben, obgleich Pater Roche behauptete, ihr Puls sei kräftiger. Sie war so weiß, als wäre kein Tropfen Blut mehr in ihr, und so still. Und der Junge sah nicht so aus, als ob er einen Blutverlust überstehen könnte.

Aber er blutete kaum, und die Farbe kehrte bereits in seine Wangen zurück, bevor Kivrin mit dem Reinigen des Messers fertig war.

»Gebt ihm Hagebuttentee«, sagte Kivrin mit dem Gedanken, daß es wenigstens gegen die Skorbut helfen würde. »Und Tee von Weidenrinde.« Sie hielt die gewaschene Messerklinge über das Feuer. Es brannte nicht höher als an dem Tag, als sie davor gesessen hatte, zu schwach, um auch nur den Waldrand zu erreichen. Es würde den Jungen niemals warmhalten. »Du mußt Brennholz sammeln, der Junge braucht Wärme«, sagte sie zu der Frau. »Aber geh nicht zu den Nachbarn und halte dich von anderen fern.« Ob die Frau sie verstanden hatte und ihren Rat befolgen würde, blieb ungewiß.

Vom Weihnachtsschmaus war noch Essen übrig, aber alles andere ging rasch zur Neige. Den Großteil des zu Scheiten gehackten Brennholzes hatten sie verfeuert, um Rosemund und den Sekretär warmzuhalten, und es gab niemanden, den sie bitten konnte, die vor dem Küchenhaus zuhauf liegenden Klötze zu spalten. Der Dorfvorsteher war krank, der Verwalter pflegte seine kranke Frau und den Sohn und mußte die übrigen Kinder versorgen.

Kivrin nahm einen Armvoll Holzscheite und ein paar lose Rindenstücke zum Anzünden und trug sie über den Dorfanger zu der Hütte des kranken Jungen; sie mochte sich nicht auf die Initiative der Mutter verlassen. Gern hätte sie den Jungen mit zum Herrenhaus genommen, aber Eliwys hatte den Sekretär und Rosemund zu versorgen und schien selbst dem Zusammenbruch nahe. Die ganze Nacht hatte sie bei Rosemund gesessen, ihr Tee aus Weidenrinde eingeflößt und die Wunde neu verbunden. Sie hatten keinen Verbandstoff mehr, und Eliwys hatte ihr Kopftuch abgenommen und in Streifen gerissen. Sie saß stets so, daß sie den Eingang sehen konnte, und alle paar Minuten stand sie auf und ging zur Tür, als hätte sie Hufgetrappel oder Stimmen gehört. Nun, da ihr das dunkle Haar offen auf die Schultern hing, sah sie kaum älter aus als Rosemund.

Als Kivrin in die Hütte kam, sah sie auf den ersten Blick, daß ihre Befürchtung berechtigt gewesen war. Die Frau war nicht zum Brennholzsammeln in den Wald gegangen. Kivrin lud ihre Last auf den gestampften Lehmboden neben dem Rattenkäfig ab. Die Ratte war fort, wahrscheinlich getötet, und nicht einmal schuldig. »Der Herr hat uns gesegnet«, sagte die Frau zu ihr. Sie kniete beim Feuer und begann sorgfältig Scheite nachzulegen.

Kivrin ermahnte sie noch einmal, im nahen Wald Brennholz zu sammeln, da sie ihr nichts mehr bringen könne, und untersuchte den Jungen. Aus seiner Pestbeule rann eine wäßrige Flüssigkeit, was sie für ein gutes Zeichen nahm. Rosemunds Beule hatte die halbe Nacht Flüssigkeit abgesondert und dann angefangen, wieder anzuschwellen und hart zu werden. Und ich kann sie nicht wieder aufschneiden, dachte Kivrin. Noch mehr Blutverlust hält sie nicht aus.

Unterwegs zum Gutshof, beschäftigt mit der Überlegung, ob sie Eliwys helfen oder sich im Holzhacken versuchen solle, begegnete sie Pater Roche, der aus dem Haus des Verwalters kam und Nachricht brachte, daß zwei weitere Kinder des Verwalters erkrankt waren.

Es waren die zwei kleinen Jungen, und sie hatten offensichtlich die Lungenpest. Beide husteten, und die Mutter würgte und erbrach in Abständen wässerigen Auswurf. »Herr erbarme dich unser«, sagte Pater Roche.

Kivrin kehrte zurück ins Haus. Die Luft war noch dunstig vom Schwefel, und im gelblichen Feuerschein sahen die Arme des Sekretärs beinahe schwarz aus. Das Feuer war weit heruntergebrannt und im Verhältnis zur Größe des Raumes nicht besser als das in der Hütte, von der sie gekommen war. Kivrin trug den Rest des geschnittenen Holzes herein und sagte Eliwys, sie solle sich hinlegen. Sie, Kivrin, werde Rosemund pflegen.

Eliwys wollte davon nichts wissen, und der Blick, den sie zur Tür gehen ließ, machte den Grund deutlich. Als ob es noch einer Erklärung bedürfte, sagte sie: »Er ist seit drei Tagen unterwegs.«

Diese Zeit benötigte er mindestens, um die Strecke nach Bath in beiden Richtungen zurückzulegen. Wenn es ihm gelungen war, dort ohne längeres Suchen seinen Herrn zu finden und zur Abreise zu bewegen, konnte er heute zurückkommen. Es sei denn, er oder Herr Guillaume wären erkrankt…

Agnes machte leise summende Geräusche und spielte mit ihrem Wagen. Sie hatte ein Halstuch wie eine Decke darübergelegt und machte Bewegungen, als füttere sie ihn mit imaginärer Nahrung. »Er hat die Blaukrankheit«, vertraute sie Kivrin an.

Diese verbrachte den Rest des Tages mit Hausarbeiten, trug Wasser herein, bereitete Fleischbrühe von den Bratenresten, leerte die Nachttöpfe. Die Kuh des Verwalters kam muhend in den Hof, das Euter geschwollen, folgte Kivrin und stieß sie auffordernd mit den Hörnern, bis Kivrin nachgab und sie molk. Zwischen Krankenbesuchen beim Verwalter und dem Jungen hackte Pater Roche Holz und als Kivrin ihre anderen Arbeiten verrichtet hatte, versuchte sie es ihm gleichzutun und hackte, ärgerlich, daß sie es nicht gelernt hatte, unbeholfen auf den großen Kloben herum.

Kurz vor Dunkelwerden kam der Verwalter und bat um Hilfe für seine jüngere Tochter. Das ist der bisher achte Fall, dachte Kivrin. Das Dorf zählte nur vierzig Einwohner. Ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung Europas, so hieß es, war der Pest zum Opfer gefallen, und Mr. Gilchrist hielt diese Zahl auf Grund seines Quellenstudiums für übertrieben. Ein Drittel, das würden dreizehn Fälle sein, nur noch fünf. Selbst bei fünfzig Prozent würden nur zwölf weitere Erkrankungen zu verzeichnen sein, und die Kinder des Verwalters waren wie er selbst dem Erreger ausgesetzt gewesen.

Sie ging mit ihm und sah sie an, die ältere Tochter stämmig und dunkelhaarig wie ihr Vater, den jüngsten Sohn, der das schmale, scharfgeschnittene Gesicht der Mutter hatte, den beängstigend mageren Säugling. Sie waren alle verloren, und das ließ in ihrer Rechnung noch acht Fälle offen.

Sie schien ausgelaugt, unfähig, etwas zu empfinden, selbst als der Säugling zu weinen begann und das Mädchen ihn in den Arm nahm und ihm den schmutzigen Finger in den Mund steckte. Dreizehn, betete sie. Höchstens zwanzig, lieber Gott.

Sie konnte auch nichts für den Sekretär empfinden, obwohl sich immer deutlicher abzeichnete, daß er die Nacht nicht überleben würde. Lippen und Zunge waren mit einem braunen Schleim bedeckt, und er hustete wässerigen, mit Blut durchsetzten Speichel. Sie versorgte ihn mechanisch, ohne Gefühl.

Es ist der fehlende Schlaf, dachte sie; er macht uns alle stumpf und taub. Sie legte sich am Feuer nieder und versuchte zu schlafen, doch schien ihre Übermüdung den Punkt erreicht zu haben, wo sie keine Ruhe finden konnte. Noch acht Leute, dachte sie, und addierte die möglichen Kandidaten zu den Erkrankten. Die Mutter des Jungen, Frau und Kinder des Verwalters, vielleicht er selbst. Blieb ein Rest von drei bis vier, deren Gefährdung noch nicht akut schien. Wenn es nur nicht Agnes sein würde, oder Eliwys. Oder Pater Roche.

Am Morgen fand Pater Roche die Köchin halb erfroren und Blut hustend im Schnee vor ihrer Hütte. Neun, dachte Kivrin.

Die Köchin war eine Witwe, ohne Angehörige, die sie versorgen konnten, also trugen sie sie in den Herdraum des Herrenhauses und legten sie neben dem Sekretär ins Stroh, der zu Kivrins Verwunderung und Entsetzen noch immer lebte. Die Blutergüsse hatten inzwischen auf seinen ganzen Körper übergegriffen, sein Leib war bedeckt mit blauschwarzen Flecken, Arme und Beine fast durchgehend schwarz. Ein schwarzer Stoppelbart überzog seine Wangen und sah irgendwie auch einem Symptom gleich, und die Augen waren von dunklen Blutergüssen fast zugeschwollen.

Rosemund lag nach wie vor bleich und still auf der Schneide zwischen Leben und Tod, und Eliwys pflegte sie mit leiser Behutsamkeit, als könnte jede unbedachte Bewegung, jedes unnötige Geräusch ihr Schicksal besiegeln. Kivrin ging auf Zehenspitzen zwischen den Strohlagern umher, und Agnes, welche die Notwendigkeit des Stillschweigens spürte, es aber nicht ertragen konnte, geriet ganz und gar außer sich. Sie winselte und quengelte, sie hing an der Barrikade, sie bettelte Kivrin ein halbes Dutzend Male, mit ihr zu Blackies Grab zu gehen, ihr Pony zu besuchen, ihr etwas zu essen zu bringen, ihr die Geschichte von dem bösen Mädchen im Wald fertig zu erzählen.

»Wie geht die Geschichte aus?« quengelte sie in einem Ton, daß Kivrin die Zähne zusammenbeißen mußte, um sie nicht anzufahren. »Fressen die Wölfe das Mädchen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Kivrin nach dem vierten Mal. »Geh und setz dich zu deiner Großmutter.«

Agnes blickte verächtlich zu Frau Imeyne, die in ihrem Winkel kniete und allen den Rücken zukehrte. Sie hatte die ganze Nacht dort verbracht. »Großmutter spielt nicht mit mir.«

»Nun, dann spiel mit Maisry.«

Das tat sie und quälte Maisry während der nächsten fünf Minuten so unablässig, daß es der anderen zuviel wurde und Agnes brüllend zurückkam und schrie, daß Maisry sie gezwickt habe.

»Ich kann es ihr nicht verdenken«, sagte Kivrin und schickte beide hinauf zum Dachboden.

Sie ging, nach dem kranken Jungen zu sehen, dessen Befinden sich so gebessert hatte, daß er aufrecht sitzen konnte, und als sie zurückkam, lag Maisry im Lehnstuhl des Hausherrn und schlief.

»Wo ist Agnes?« fragte Kivrin.

Eliwys blickte aufgestört umher. »Ich weiß nicht. Sie waren auf dem Dachboden.«

»Maisry«, sagte Kivrin und ging zu ihr. »Wach auf. Wo ist Agnes?«

Maisry blinzelte einfältig zu ihr auf.

»Du hättest sie nicht allein lassen sollen«, sagte Kivrin. Sie erstieg die Leiter zum Dachboden, aber Agnes war nicht dort. Auch in den Schlafkammern war sie nicht.

Maisry hatte den Lehnstuhl verlassen und kauerte mit ängstlicher Miene an der Wand. »Wo ist sie?« verlangte Kivrin zu wissen.

Maisry hielt eine Hand abwehrend über ihr Ohr und gaffte sie an.

»Du hast mich richtig verstanden«, sagte Kivrin. »Ich werde dich ohrfeigen, daß dir Hören und Sehen vergeht, wenn du mir nicht sagst, wo sie ist.«

Maisry barg ihr Gesicht in den Röcken.

»Wo ist sie?« fragte Kivrin und riß sie am Arm hoch. »Du solltest auf sie achtgeben. Sie war dir anvertraut!«

Maisry begann zu heulen, ein schrilles, dünnes Gewinsel wie von einem Tier.

»Hör auf damit!« befahl Kivrin. »Zeig mir, wohin sie gegangen ist!« Sie stieß Maisry vor sich her zum Durchgang.

Pater Roche kam herein und sah sie fragend an.

»Es ist Agnes«, sagte Kivrin. »Wir müssen sie suchen. Sie könnte ins Dorf gegangen sein.«

Pater Roche schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen. Sie wird in einem der Nebengebäude sein.«

»Im Stall!« sagte Kivrin erleichtert. »Sie sagte, daß sie ihr Pony besuchen wollte.«

Sie war nicht in den Ställen. »Agnes!« rief sie in das nach Mist riechende Halbdunkel, »Agnes!«

Agnes’ Pony wieherte und zog an seinem Strick rückwärts aus der Stallbox, die es nicht verlassen konnte, und Kivrin fragte sich, wann es zuletzt Futter bekommen hatte, und wo die Hunde waren. »Agnes!« Sie blickte in alle Boxen und hinter die Futterraufen, in alle Winkel, wo ein kleines Mädchen sich versteckt halten mochte. Oder eingeschlafen war.

Vielleicht war sie in der Scheune. Kivrin stopfte dem Pony einen Armvoll Heu in die Raufe, schüttete ihm Hafer vor und goß Wasser aus einem Holzkübel in die Tränke. Als sie den Stall verließ, mußte sie die Augen gegen die jähe Helligkeit beschirmen. Pater Roche kam gerade aus dem Küchenhaus. »Habt Ihr sie gefunden?« rief Kivrin über den Hof, aber er hörte sie nicht. Er blickte zum Tor und hatte den Kopf schiefgelegt, als lausche er.

Kivrin horchte, konnte jedoch nichts hören. »Was ist?« fragte sie. »Könnt Ihr sie hören?«

»Es ist der Herr«, sagte er und eilte zum Tor.

Kivrin lief ihm nach. Als sie ihn einholte, öffnete er gerade das Tor. Nun hörte auch sie die Hufschläge.

Ein Pferd galoppierte auf das Herrenhaus zu, die Hufschläge klangen hell und laut auf dem gefrorenen Boden. Endlich ist Eliwys’ Mann heimgekommen, dachte Kivrin, und dann, mit einem hoffnungsvollen Erschauern: Es ist Mr. Dunworthy. Wir brauchen Tetracyclin und Desinfektionsmittel, und er muß Rosemund mitnehmen und ins Krankenhaus bringen. Sie braucht eine Transfusion.

Pater Roche hatte das Tor entriegelt und stieß die Flügel auf.

Und Impfstoff, dachte sie fieberhaft. Am besten den zum Einnehmen. Wo ist Agnes? Er muß Agnes in Sicherheit bringen.

Das Pferd war nur noch wenige Meter vom Tor entfernt, bevor sie zur Besinnung kam. »Nein!« rief sie. »Er darf nicht hier herein!« Hastig blickte sie umher, etwas zu finden, womit sie ihn abwehren konnte. »Er wird sich die Pest holen!«

Nachdem sie Blackie begraben hatte, hatte sie den hölzernen Spaten beim leeren Schweinestall zurückgelassen. Sie rannte ihn holen. »Laßt ihn nicht in den Hof!« rief sie, und Pater Roche riß die Arme hoch, aber der Reiter war bereits durch das Tor.

Pater Roche ließ die Arme sinken. »Gawyn!« sagte er, und der Rappenhengst sah wirklich wie Gawyns aus, aber im Sattel saß ein Junge. Er konnte kaum älter als Rosemund sein, und sein Gesicht und seine Kleider waren mit Schlamm bespritzt. Auch das Pferd war beschmutzt, schnaufte und dampfte, und der Junge schien nicht weniger außer Atem als sein Reittier. Nase und Ohren waren rot vor Kälte. Er wollte absitzen und starrte sie an, als Kivrin mit dem erhobenen Spaten fuchtelte.

»Du darfst nicht näherkommen«, sagte sie. »In diesem Dorf ist die Pest.« Sie richtete den Spaten wie ein Gewehr auf ihn.

Der Junge hatte ein Bein bereits über die Pferdekruppe gehoben, aber nun setzte er sich wieder in den Sattel.

»Die Blaukrankheit«, fügte sie hinzu, falls er nicht verstand, aber er nickte schon.

»Sie ist überall«, sagte er und drehte den Oberkörper, um etwas aus der Satteltasche zu nehmen. »Ich bringe eine Botschaft.« Er streckte Pater Roche eine lederne Mappe hin, und er trat näher, sie entgegenzunehmen.

»Nein, nein!« sagte Kivrin und trat näher, den Spaten vor ihm in die Luft stoßend. »Laß die Botschaft auf den Boden fallen«, sagte sie. »Du darfst uns nicht berühren.«

Der Junge zog eine verschnürte und gesiegelte kleine Rolle Schreibpergament aus der Mappe und warf sie Pater Roche vor die Füße.

Der hob sie auf, löste das Band und entrollte sie. »Was sagt die Botschaft?« fragte er den Jungen. Natürlich, dachte Kivrin, er kann nicht lesen.

»Ich weiß nicht«, sagte der Junge. »Der Bischof von Bath hat sie gesiegelt. Ich soll sie zu allen Pfarreien bringen.«

»Möchtet Ihr, daß ich sie lese?« fragte Kivrin.

»Vielleicht ist sie vom Herrn«, sagte Pater Roche. »Vielleicht schickt er Nachricht, daß er aufgehalten wurde.«

»Ja.« Kivrin nahm ihm die Rolle aus der Hand, aber sie wußte, daß seine Vermutung nicht zutraf.

Die Botschaft war lateinisch und in kunstvollen Unzialen geschrieben, die schwierig zu lesen waren, aber das machte nichts. Sie hatte dies oder ein gleiches Pergament schon früher gelesen. In der Bodleian-Bibliothek.

Sie lehnte den Spaten an ihre Schulter, las die Botschaft und dolmetschte das Latein.

»Die ansteckende Pestilenz dieser Tage, die sich in Nah und Fern ausbreitet, hat viele Pfarreien unserer Diözese ihrer Priester beraubt und die Pfarrkinder ohne geistlichen Beistand gelassen.«

Sie blickte zu Pater Roche. Nein, nicht hier, dachte sie. Ich werde nicht zulassen, daß dies hier geschieht.

Die Priester waren tot oder geflohen, und niemand konnte überredet werden, ihren Platz einzunehmen, und die Pfarrkinder starben »ohne das Sakrament der Buße«.

Sie las weiter, und vor ihren Augen standen nicht die schwarzen Buchstaben, sondern die bräunlich verblaßten, die sie in der Bodleian-Bibliothek entziffert hatte. Damals hatte sie das bischöfliche Rundschreiben wichtigtuerisch und lächerlich gefunden. »Überall starben die Menschen«, hatte sie Mr. Dunworthy empört erzählt, »und der Bischof hatte keine anderen Sorgen als das Kirchenprotokoll!« Jetzt aber, als sie es dem erschöpften Jungen und Pater Roche vorlas, hörte sich auch die Botschaft erschöpft und hilflos an. Und verzweifelt.

»Wenn sie dem Tode nahe sind und sich nicht des Beistandes eines Priesters versichern können«, las sie, »dann sollten sie einander die Beichte ablegen und von ihren Sünden lossprechen. Im Namen unseres Herrn Jesu Christi bitten Wir euch, in diesen Zeiten der Not so zu verfahren.«

Weder der Junge noch Pater Roche sagte etwas, als sie die Botschaft verlesen hatte. Vielleicht hatte der Junge nicht gewußt, was er überbrachte. Sie rollte das Pergament wieder zusammen und gab es ihm zurück.

Der Junge hing mehr im Sattel als daß er saß. »Ich bin drei Tage geritten«, sagte er. »Kann ich hier nicht eine Weile ausruhen?«

»Es ist gefährlich«, sagte Kivrin mitleidig. »Wir werden dir Nahrung für dich und dein Pferd mitgeben.«

Pater Roche wandte sich, zum Küchenhaus zu gehen, und Kivrin besann sich auf ihre Suche. »Hast du im Dorf ein kleines Mädchen gesehen?« fragte sie den Jungen. »Ein fünfjähriges Kind mit einem roten Umhang und einer Haube?«

»Nein«, sagte der Junge, »aber es sind viele auf den Straßen. Sie fliehen die Pestilenz.«

Als Kivrin in die Scheune ging und für das Pferd einen Sack mit Hafer füllte, kam Eliwys aus dem Haus gelaufen, daß ihre Röcke sich zwischen den Beinen verfingen und das offene Haar im Wind flog.

»Nicht zu nahe kommen!« rief Kivrin von der Scheuneneinfahrt, aber Eliwys hatte die Hand bereits am Zaumzeug des Pferdes.

»Woher kommst du?« fragte sie den Jungen und faßte mit der freien Hand nach seinem Ärmel. »Hast du nichts vom Gefolgsmann meines Gemahls gesehen?«

Der Junge sah sie verwirrt und furchtsam an. »Ich komme aus Bath, mit einer Botschaft vom Bischof«, sagte er und zog an den Zügeln. Das Pferd wieherte und warf den Kopf auf.

»Was für einer Botschaft?« fragte Eliwys wie von Sinnen. »Ist sie von Gawyn?«

»Ich kenne den Mann nicht, von dem Ihr sprecht«, sagte der Junge.

»Er reitet einen schwarzen Hengst mit silberbeschlagenem Sattel«, beharrte sie. Ihre Hand zog an der Trense. »Er ist nach Bath geritten, meinen Gemahl zu holen, der als Zeuge beim Geschworenengericht geladen ist.«

»Niemand geht nach Bath«, sagte der Junge. »Alle, die können, fliehen es.«

Eliwys strauchelte und mußte sich an der Pferdeschulter halten.

»Es gibt kein Gericht, und kein Gesetz«, sagte der Junge. »Die Toten liegen auf den Straßen, und alle, die sie auch nur anschauen, sterben auch. Manche sagen, es sei der Weltuntergang.«

Eliwys ließ die Trense los und wich einen Schritt zurück. Sie wandte sich um und blickte halb flehend, halb hoffnungsvoll zu Kivrin und Pater Roche. »Dann werden sie sicherlich bald daheim sein. Es ist gewiß, daß du sie nicht auf der Straße gesehen hast? Er reitet einen schwarzen Hengst.«

»Es sind viele Reiter unterwegs, und viele, die zu Fuß flohen.« Er lenkte das Pferd zu Pater Roche, der ihm einen Leinensack mit Lebensmitteln hinaufreichte und Kivrin half, den Hafersack mit einem Hanfstrick hinter dem Sattel festzubinden. Als sie fertig waren, dankte der Junge, lenkte den Rappen herum und hätte beinahe Eliwys zu Boden gestoßen, welche wie erstarrt stand, ohne aus dem Weg zu gehen.

Kivrin trat zu ihm und ergriff einen Zügel. »Reite nicht zurück zum Bischof«, sagte sie. Er riß den Zügel hoch. Ihr Anblick schien ihm noch mehr Furcht einzuflößen als Eliwys’.

Sie ließ nicht los. »Reite nach Norden«, sagte sie. »Dort ist die Pest noch nicht.«

Mit einem Ruck befreite er den Zügel aus ihrer Hand. Er stieß dem Hengst die Fersen in die Flanken und galoppierte vom Hof.

»Halte dich von den Hauptstraßen fern«, rief Kivrin ihm nach. »Sprich mit niemandem.«

Eliwys stand noch immer am selben Fleck.

»Kommt«, sagte Kivrin, »wir müssen Agnes suchen.«

»Mein Mann und Gawyn werden zuerst nach Courcy geritten sein, um Sir Bloet zu warnen«, sagte sie und ließ sich von Kivrin ins Haus führen.

Kivrin ließ sie beim Herdfeuer zurück und ging hinaus, die Scheune zu durchsuchen. Agnes war nicht da, aber sie fand ihren eigenen Umhang auf der Tenne, den sie in der Christnacht dort zurückgelassen hatte. Sie warf ihn über und durchsuchte alle Winkel des Heubodens. Sie suchte im Brauhaus, und Pater Roche durchsuchte den Geräteschuppen und das Backhaus, aber sie fanden sie nicht. Während sie mit dem Boten gesprochen hatten, war ein kalter Wind aufgekommen, und es roch nach Schnee.

»Vielleicht ist sie im Haus«, meinte Pater Roche. »Habt Ihr hinter dem Lehnstuhl nachgesehen?«

Sie suchte noch einmal das Haus ab, schaute hinter dem Lehnstuhl und unter die Betten in den Kammern. Maisry kauerte noch am selben Fleck und fing an zu wimmern, als Kivrin zurückkam, und sie mußte der Versuchung widerstehen, ihr einen Fußtritt zu versetzen. Sie ging zu Frau Imeyne, die an der Wand kniete, und fragte sie, ob sie Agnes gesehen habe.

Die alte Frau ließ den Rosenkranz durch die Finger gehen, bewegte stumm die Lippen und ignorierte sie.

Kivrin schüttete ihre Schulter. »Habt Ihr sie hinausgehen sehen?«

Frau Imeyne wandte den Kopf und sah mit böse glitzernden Augen zu ihr auf. »Sie ist schuld«, sagte sie.

»Agnes?« Kivrin war entrüstet. »Wie könnte es ihre Schuld sein?«

Imeyne schüttelte den Kopf und machte eine Kopfbewegung zu Maisry. »Gott straft uns für Maisrys Bosheit.«

»Agnes ist fort, und es wird dunkel«, sagte Kivrin. »Wir müssen sie finden. Habt Ihr nicht gesehen, wohin sie ging?«

»Schuld«, flüsterte die alte Frau und wandte sich ab.

Es wurde spät, und der Wind pfiff um das Haus. Kivrin rannte hinaus über den Hof und durch die Zufahrt auf den Dorfanger.

Es war wie der Tag, als sie auf eigene Faust versucht hatte, den Absetzort zu finden. Kein Mensch war auf dem schneebedeckten Anger, und der Wind zerrte an ihren Kleidern und ließ die Röcke flattern, als sie über die freie Fläche lief. Weit im Nordosten läutete irgendwo eine Glocke mit den dünnen, gleichmäßigen Tönen eines Totengeläutes.

Agnes hatte den Glockenturm geliebt. Kivrin ging hinein und rief die hölzerne Stiege hinauf, obwohl sie durch die offenen Stufen und am Seil aufwärts bis zum Glockenstuhl sehen konnte. Wieder draußen, stand sie im Schnee, blickte zu den Hütten hinüber und überlegte, wohin Agnes gegangen sein könnte.

Nicht zu den Hütten, es sei denn, sie hätte sehr gefroren. Blackie. Sie hatte das Grab ihres Welpen sehen wollen. Kivrin hatte ihr nicht gesagt, daß sie ihn am Waldrand begraben hatte und Agnes war darauf aus gewesen, ihn auf dem Friedhof zu begraben. Der Friedhof lag so verlassen wie der Dorfanger, aber Kivrin ging durch die Pforte hinein.

Agnes war dagewesen. Die Abdrücke ihrer kleinen Stiefel führten von Grab zu Grab und dann weiter zur Nordseite der Kirche. Kivrin blickte die ansteigende Wiese zum Waldrand hinauf. Konnte sie in den Wald gegangen sein? Dann würde es sehr schwierig werden, sie zu finden, denn es begann bereits zu dunkeln.

Sie folgte der kleinen Fährte halb um die Kirche und im Bogen wieder zurück und zur Kirchentür. Im Inneren war es fast dunkel und kälter als auf dem windgepeitschten Friedhof. »Agnes!« rief sie in die schwer lastende Dunkelheit.

Es kam keine Antwort, aber hinter der Chorschranke entstand ein leises Geräusch wie von einer Ratte, die über die Steinplatten davonhuschte. »Agnes?« sagte Kivrin und spähte in die Dunkelheit der Seitenschiffe und hinter dem Sarkophag. »Bist du hier?«

»Kivrin?« sagte eine halberstickte kleine Stimme.

»Agnes!« Sie rannte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Wo bist du?«

Sie war bei der Statue der heiligen Katharina, kauerte in ihrem roten Umhang und der Haube an den rauhen Stein der Statue geschmiegt zwischen den kalten Talgkerzen, die Augen groß und ängstlich. Ihr Gesicht war gerötet und von Tränen naß. »Kivrin!« rief sie und warf sich ihr in die Arme.

»Was machst du hier, Agnes?« Kivrin war vor Erleichterung zornig und glücklich zugleich. Sie drückte den kleinen Körper fest an sich. »Überall haben wir dich gesucht.«

Sie barg ihr nasses Gesicht an Kivrins Hals. »Versteckt«, sagte sie. »Ich nahm den Wagen mit, um ihm meinen Hund zu zeigen, und fiel hin.« Sie wischte sich mit der Hand die Nase. »Ich rief und rief dich, aber du kamst nicht.«

»Ich wußte ja nicht, wo du warst, Kindchen«, sagte Kivrin, ihr das Haar streichelnd. »Warum bist du in die Kirche gekommen?«

»Ich versteckte mich vor dem bösen Mann.«

»Welchem bösen Mann?« fragte Kivrin stirnrunzelnd.

Die schwere Kirchentür wurde wieder aufgestoßen, und Agnes umklammerte Kivrins Hals mit ihren kleinen Armen. »Es ist der böse Mann!« flüsterte sie angstvoll.

»Pater Roche!« rief Kivrin. »Ich habe sie gefunden. Sie ist hier.« Die Tür wurde geschlossen, und sie hörte seine Schritte näherkommen. »Es ist Pater Roche«, sagte sie zu Agnes. »Auch er hat dich gesucht. Wir wußten nicht, wohin du gegangen warst.«

Ihre Umklammerung lockerte sich ein wenig. »Maisry sagte, der böse Mann würde kommen und mich holen.«

Pater Roche kam in der Dunkelheit heran, schnaufend wie ein Tier, und Agnes barg ihr Gesicht wieder an Kivrins Hals. »Ist sie krank?« fragte seine besorgte Stimme.

»Ich glaube nicht«, antwortete Kivrin. »Aber durchgefroren.« Sie öffnete ihren Umhang und schlug ihn um Agnes.

»Ich versteckte mich vor dem bösen Mann«, sagte Agnes zu ihm.

»Welchem bösen Mann?« fragte Pater Roche.

»Vor dem bösen Mann, der dich in die Kirche jagte«, sagte sie. »Maisry sagte, er kommt und holt einen und macht, daß man die Blaukrankheit bekommt.«

»Es gibt keinen bösen Mann«, sagte Kivrin und nahm sich vor, Maisry zu schütteln, bis sie mit den Zähnen rasselte. Sie stand auf. Agnes Arme schlossen sich fester um sie.

Pater Roche öffnete die Tür zur Sakristei, und Kivrin folgte ihm hinaus und ins Freie.

»Maisry sagte, er hat meinen Hund«, sagte Agnes. Sie fröstelte. »Aber er hat mich nicht gekriegt. Ich versteckte mich.«

Kivrin dachte an den schwarzen kleinen Hund, schlaff in ihren Händen. Nein, dachte sie und trug Agnes mit schnellen Schritten über den verschneiten Dorfanger zurück. Agnes fröstelte nur, weil sie zu lange in der eiskalten Kirche ausgeharrt hatte. Ihr Gesicht drückte sich heiß gegen Kivrins Hals. Das ist nur vom Weinen, sagte sich Kivrin und fragte sie, ob sie Kopfschmerzen habe.

Agnes schüttelte oder nickte an Kivrins Hals und wollte nicht antworten. Nein, dachte Kivrin und ging schneller, begleitet von Pater Roche, vorbei am Haus des Verwalters und in die Zufahrt zum Hof.

»Ich bin nicht in den Wald gegangen«, sagte Agnes, als sie am Haus anlangten. »Das böse Mädchen ging hinein, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Kivrin, trug sie zum Herdfeuer. »Aber es ging alles gut aus. Der Vater fand sie und brachte sie heim. Und sie lebten froh und zufrieden.« Sie setzte Agnes auf die Bank, kniete bei ihr nieder und band ihren Umhang los.

»Und sie ging nie wieder allein in den Wald«, sagte sie.

»Nie wieder.« Kivrin zog ihr die nassen Schuhe und Strümpfe aus. »Du mußt dich hinlegen«, sagte sie und breitete den Umhang neben dem Feuer aus. »Ich werde dir warme Suppe bringen.« Agnes legte sich gehorsam auf den Umhang, und Kivrin schlug die Seiten davon über sie.

Sie brachte ihr Suppe, aber Agnes wollte keine und schlief beinahe sofort ein.

»Sie hat sich erkältet«, sagte sie beinahe heftig zu Eliwys. »Sie war den ganzen Nachmittag draußen. Sie hat sich erkältet.« Aber nachdem Pater Roche gegangen war, das Vespergebet zu sagen, deckte sie Agnes auf und fühlte unter ihren Armen, an den Leisten und drehte sie sogar um und suchte zwischen den Schulterblättern nach einer Beule, wie sie sie bei dem Jungen gesehen hatte.

Pater Roche war nicht gegangen, die Vesperglocke zu läuten. Er kam mit einer zerrissenen wollenen Bettdecke zurück, die offensichtlich von seinem eigenen Bett war, legte sie zu einer Art Matratze zusammen und hob Agnes darauf.

Die anderen Vesperglocken läuteten. Oxford und Godstow und die Glocke aus dem Südwesten. Den Doppelschlag der beiden Glocken von Courcy konnte Kivrin nicht hören. Sie blickte besorgt zu Eliwys, die aber nicht darauf zu hören schien; sie saß auf der anderen Seite des Herdfeuers bei Rosemund und blickte zum Durchgang.

Die Glocken verstummten eine nach der anderen, und dann fingen die Glocken von Courcy zu läuten an. Sie klangen seltsam, gedämpft und langsam. Kivrin blickte fragend zu Pater Roche. »Ist es ein Totengeläute?«

»Nein. Es ist ein heiliger Tag.«

Sie hatte den Ablauf der Tage aus dem Auge verloren. Der bischöfliche Gesandte war am Weihnachtsmorgen abgereist, und am Nachmittag hatte sie entdeckt, daß der zurückgebliebene Sekretär an der Pest erkrankt war, und von da an schien alles wie ein endloser Tag. Vier Tage, dachte sie, vier Tage sind vergangen.

Sie hatte zu Weihnachten kommen wollen, weil es in dieser Zeit so viele Feiertage gab, daß selbst die Bauern wissen würden, welcher Tag es war, und sie den Rückholtermin nicht versäumen konnte. Gawyn ist nach Bath geritten, Hilfe zu holen, Mr. Dunworthy, dachte sie bei sich, und der Gesandte des Bischofs hat alle Pferde mitgenommen, und ich weiß noch immer nicht, wo der Absetzort war.

Auf einmal stand Eliwys auf und hob lauschend den Kopf. »Sind das nicht die Glocken von Courcy?« fragte sie Pater Roche.

»Ja«, sagte er. »Fürchtet nichts. Es ist das Fest der Unschuldigen Kinder.«

Das Fest der Unschuldigen Kinder, dachte Kivrin und ließ den Blick auf Agnes ruhen. Sie schlief fest und zitterte nicht mehr, fühlte sich aber noch heiß an.

Die Köchin rief etwas, und Kivrin umging die Barrikade zu ihr. Sie saß auf ihrem Strohsack und bemühte sich, in die Höhe zu kommen. »Muß nach Haus gehen«, sagte sie.

Kivrin überredete sie, sich wieder hinzulegen, und brachte ihr einen Trunk Wasser. Der Eimer war nahezu leer, und sie hob ihn auf und wollte mit ihm hinaus.

»Sagt Kivrin, daß sie zu mir kommen soll«, sagte Agnes. Sie setzte sich auf.

Kivrin stellte den Eimer ab und kam. »Ich bin hier«, sagte sie und kniete neben ihr nieder. »Ich bin bei dir.«

Agnes schaute sie an, das Gesicht gerötet und zornig. »Der böse Mann wird mich holen, wenn Kivrin nicht kommt«, sagte sie. »Sagt ihr, sie soll jetzt kommen.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(073453–074912)

Ich habe den Rückholtermin verpaßt. Das Gefühl für den Ablauf der Tage ist mir abhanden gekommen. Ich mußte Rosemund pflegen und mich um andere Kranke kümmern, und mußte Agnes suchen, und ich wußte immer noch nicht, wo der Absetzort war.

Sie müssen krank vor Sorge sein, Mr. Dunworthy. Wahrscheinlich denken Sie, ich sei unter Halsabschneider und Mörder gefallen. Nun, so ist es. Und jetzt haben sie Agnes.

Sie hat Fieber, aber keine Pestbeulen, und sie hustet oder erbricht nicht. Nur das Fieber. Es ist sehr hoch — sie erkennt mich nicht und ruft ständig nach mir. Pater Roche und ich versuchten, sie mit kalten Kompressen zu behandeln und das Fieber zu senken, aber es steigt immer wieder an.


(Unterbrechung)

Frau Imeyne ist auch an der Pest erkrankt. Pater Roche fand sie heute früh in ihrem Gebetswinkel am Boden. Es kann sein, daß sie die ganze Nacht dort lag. Schon die beiden letzten Nächte hatte sie sich geweigert, zu Bett zu gehen, fast die ganze Zeit auf den Knien verbracht und zu Gott gebetet, daß er sie und den Rest der Gottesfürchtigen vor der Pest bewahre.

Er hat sie nicht erhört. Sie hat die Lungenpest, hustet und erbricht mit Blut durchsetzten Schleim.

Sie läßt sich nicht von Pater Roche oder mir pflegen. »Sie trägt die Schuld daran«, sagte sie zu ihm und zeigte auf mich. »Seht Euch ihr Haar an. Sie ist keine unverheiratete Jungfrau. Seht Euch ihre Kleider an.«

Meine Kleider sind das Wams und die ledernen Beinkleider eines halbwüchsigen Jungen, die ich in einer der Truhen auf dem Dachboden fand. Meine Kleider wurden ruiniert, als Imeyne sich über mich erbrach. Ich mußte sie verbrennen und mein Hemd in Streifen reißen, um Verbandstoff zu bekommen.

Pater Roche versuchte ihr einen Aufguß von Weidenrinde einzuflößen, doch sie spuckte ihn aus. Sie sagte: »Sie log, als sie sagte, sie sei im Wald überfallen worden. Sie wurde hierher geschickt, um uns zu töten.«

Blutiger Speichel troff ihr beim Sprechen vom Kinn, und Pater Roche wischte ihn ab. »Es ist die Krankheit, die Euch diese Dinge glauben macht«, sagte er freundlich.

»Sie wurde hierher geschickt, uns zu vergiften«, beharrte Imeyne. »Seht nur, wie sie meines Sohnes Kinder vergiftet hat. Und nun will sie mich vergiften, aber ich werde nicht zulassen, daß sie mir zu essen oder zu trinken gibt.«

»Still«, sagte Pater Roche streng. »Ihr dürft nicht schlecht von jemand sprechen, der Euch zu helfen sucht.«

Sie schüttelte den Kopf, indem sie ihn heftig von einer Seite zur anderen drehte. »Sie trachtet uns allen nach dem Leben. Ihr müßt sie verbrennen. Sie ist eine Dienerin des Teufels.«

Ich hatte ihn bis dahin nie zornig gesehen. Er sah beinahe wieder wie ein Halsabschneider aus. »Ihr wißt nicht, wovon Ihr redet«, sagte er heftig. »Gott ist es, der sie geschickt hat, uns zu helfen.«

Ich wünschte, es wäre wahr, und ich könnte ihnen in irgendeiner Weise helfen, aber ich kann es nicht. Agnes schreit nach mir, und Rosemund liegt da, als wäre sie unter einem Zauberbann, und der Sekretär wird schwarz, und es gibt nichts, was ich für sie tun kann. Nichts.


(Unterbrechung)

In der Familie des Verwalters sind jetzt alle erkrankt. Der jüngste Sohn, Lefric, war der einzige mit einer Pestbeule, und ich habe ihn hierher gebracht und sie aufgeschnitten. Für die anderen gibt es keinerlei Hilfe. Sie haben alle Lungenpest.


(Unterbrechung)

Der Säugling des Verwalters ist tot.


(Unterbrechung)

Die Glocken von Courcy läuten. Neun Schläge. Welcher von ihnen ist es? Der Gesandte des Bischofs? Der fette Mönch, der mitgemacht hat, unsere Pferde zu stehlen? Oder Sir Bloet? Hoffentlich alle drei.


(Unterbrechung)

Schrecklicher Tag. Die Frau des Verwalters und der magere Junge, der vor mir davonlief, als ich den Absetzort suchte, starben beide heute nachmittag. Der Verwalter, selbst erkrankt, will die Gräber für sie ausheben, doch ist der Boden so beinhart gefroren, daß ich nicht sehe, wie er ihn aufbrechen will. Rosemunds und Lefrics Zustand hat sich verschlechtert. Rosemund kann kaum schlucken, und ihr Puls ist schwach und unregelmäßig. Agnes geht es nicht so schlecht, aber ich kann ihr Fieber nicht herunterbringen. Pater Roche sprach das Vespergebet heute abend hier in der Diele.

Nach den vorgeschriebenen Gebeten sagte er: »Guter Jesus, ich weiß, du hast uns Hilfe geschickt, aber ich fürchte, sie vermag gegen diese schwarze Pest nicht die Oberhand zu gewinnen. Die heilige Dienerin Katherine sagt, dieser Schrecken sei eine Krankheit, aber wie kann es sein? Denn sie geht nicht von einem Menschen zum anderen, sondern ist überall zur gleichen Zeit.«

So ist es.


(Unterbrechung)

Ulf, der Dorfvorsteher.

Sibbe, Tochter des Verwalters.

Joan, Tochter des Verwalters.

Die Köchin (Ich weiß ihren Namen nicht).

Walthef, ältester Sohn des Verwalters.


(Unterbrechung)

Mehr als fünfzig Prozent der Dorfbewohner sind erkrankt. Lieber Gott, bitte verschone Eliwys und Pater Roche.

29

Er rief um Hilfe, doch niemand kam, und er dachte, daß alle anderen gestorben seien und er als einziger übriggeblieben, wie der Mönch John Clyn im Franziskanerkloster, wo er den Tod erwartet hatte.

Er wollte den Knopf drücken und die Krankenschwester rufen, konnte ihn aber nicht finden. Auf dem Nachttisch neben dem Bett gab es eine Handglocke, und er streckte die Hand danach aus, aber in seinen Fingern war keine Kraft, und sie klirrte auf den Boden. Sie machte ein gräßliches, endloses metallisches Geräusch, wie der Alptraum einer Glocke, aber niemand kam.

Als er das nächste Mal erwachte, stand die Handglocke wieder auf dem Nachttisch, also mußte jemand dagewesen sein, während er geschlafen hatte. Er blinzelte verschwommen die Glocke an und überlegte, wie lange er geschlafen hatte. Eine lange Zeit.

Im Raum gab es nichts, was darüber Aufschluß hätte geben können. Das diffuse Tageslicht hatte keinen Einfallwinkel und warf keine Schatten. Es konnte Vormittag oder Nachmittag sein. Weder auf dem Nachttisch noch an der Wand gab es eine Uhr oder Zeitanzeige, und er hatte nicht die Kraft, sich umzuwenden und die Wand hinter ihm zu untersuchen. Das Tageslicht fiel durch ein Fenster ein, doch um hinauszusehen und vielleicht irgendeine Orientierung zu finden, hätte er sich aufrichten müssen. Immerhin sah er, daß es regnete. Es hatte auch geregnet, als er zum Brasenose College gegangen war — also konnte es derselbe Nachmittag sein. Vielleicht war er nur ohnmächtig geworden, und sie hatten ihn zur Beobachtung hierher gebracht.

»Auch dies werde ich euch antun«, sagte jemand. Dunworthy öffnete die Augen und tastete nach seiner Brille, aber sie war nicht da. »Ich werde Schrecken auf euch herabrufen, Schwindsucht und brennendes Fieber.«

Es war Mrs. Gaddson. Sie saß auf dem Stuhl neben seinem Bett und las aus der Bibel. Sie trug weder Schutzkleidung noch Atemmaske, doch schien die Bibel noch in Plastik gehüllt. Dunworthy blinzelte kurzsichtig zu ihr hin.

»Und wenn ihr in euren Städten versammelt seid, werde ich die Pestilenz über euch bringen.«

»Welchen Tag haben wir?« fragte Dunworthy.

Sie hielt inne, blickte neugierig zu ihm her und fuhr dann geduldig fort: »Und ihr sollt dem bösen Feind in die Hände fallen.«

Er konnte nicht sehr lang hier gewesen sein. Mrs. Gaddson hatte die Patienten mit ihren düsteren alttestamentarischen Drohungen erfreut, als er gegangen war, Gilchrist aufzusuchen. Vielleicht war es noch derselbe Nachmittag, und Mary war bloß noch nicht dazu gekommen, Mrs. Gaddson hinauszuwerfen.

»Können Sie schlucken?« fragte die Krankenschwester. Es war die reaktivierte uralte Schwester aus dem Magazin. »Ich muß Ihnen etwas geben«, krächzte sie. »Können Sie schlucken?«

Er öffnete den Mund, und sie legte ihm eine Kapsel auf die Zunge, stützte seinen Kopf nach vorn, daß er trinken konnte, und wartete. Ihr steif gestärkter Kittel knisterte bei jeder Bewegung.

Sie ließ seinen Kopf ein wenig zurücksinken. »Haben Sie geschluckt?«

Die Kapsel steckte unten in seiner Kehle, aber er nickte. Die Anstrengung bereitete ihm Kopfschmerzen.

»Gut. Dann kann ich dies abnehmen.« Sie zog etwas mit Klebeband Befestigtes von seinem Oberarm.

»Wie spät ist es?« fragte er und schluckte, um die Kapsel nicht heraufzuhusten.

»Zeit, daß Sie schlafen«, sagte sie und richtete den Blick ihrer zusammengekniffenen Augen auf die Kontrollablesungen der Instrumente hinter seinem Kopf.

»Welchen Tag haben wir?« sagte er, aber sie war bereits hinausgehinkt. »Welchen Tag haben wir?« fragte er Mrs. Gaddson, aber auch sie war fort.

Er konnte noch nicht lange hier sein. Er hatte immer noch Kopfschmerzen und Fieber, welches frühe Symptome von Influenza waren. Vielleicht war er erst seit ein paar Stunden krank. Ja, vielleicht war es noch derselbe Nachmittag, und er war aufgewacht, als sie ihn in den Raum geschoben hatten und bevor sie noch Zeit gehabt hatten, einen Notrufknopf anzuschließen oder ein Fieberthermometer anzubringen.

»Zeit zum Fiebermessen«, sagte die Schwester. Es war eine andere, die hübsche blonde Schwester, die ihn über William Gaddson ausgefragt hatte.

»Ich habe vorhin schon eine Kapsel geschluckt.«

»Das war gestern«, sagte sie. »Kommen Sie, schlucken Sie schon.«

Jemand hatte ihm erzählt, daß sie krank sei. »Ich dachte, Sie hätten das Virus«, sagte er.

»Das stimmt, aber es geht mir schon besser, und Sie werden auch bald gesund sein.« Sie schob die Hand hinter seinen Kopf und stützte ihn, daß er einen Schluck Wasser nehmen konnte.

»Welchen Tag haben wir?« fragte er.

»Den Elften«, sagte sie. »Ich mußte erst überlegen. Zum Schluß ging es ein bißchen hektisch zu. Beinahe das gesamte Personal war krank, und die anderen arbeiteten in doppelten Schichten. Ich wußte gar nicht mehr, welchen Tag und welches Datum wir hatten.« Sie tippte etwas in die Konsole und blickte mit gerunzelter Stirn zu den Kontrollanzeigen auf.

Er hatte es bereits gewußt, bevor sie es ihm gesagt hatte, bevor er versucht hatte, die Tischglocke zu erreichen und um Hilfe zu läuten. Das Fieber machte einen einzigen endlosen regnerischen Nachmittag aus all den im halbbetäubten Fieberwahn verbrachten Nächten und von Drogen benebelten Vormittagen, an die er sich nicht erinnern konnte, aber sein Körper war dem Zeitablauf auf der Spur geblieben, hatte die Stunden und die Tage geläutet, so daß er im Bilde gewesen war, noch bevor sie es ihm gesagt hatte. Er hatte den Rückholtermin versäumt.

Es gab keine Rückholtermin, sagte er sich voll Bitterkeit. Gilchrist hat das Netz abgeschaltet. Wäre er zur Stelle und nicht krank gewesen, hätte es keinen Unterschied gemacht. Das Netz war geschlossen, und er hätte nichts tun können.

Der 11. Januar. Wie lange hatte Kivrin am Absetzort gewartet? Einen Tag? Zwei Tage? Drei Tage, bevor sie angefangen hatte zu zweifeln, ob das Datum falsch sein könnte, oder der Ort? Hatte sie die ganze Nacht an der Landstraße von Oxford nach Bath gewartet, eingewickelt in ihren pelzgefütterten Umhang, aus Furcht, das Licht könnte Räuber oder Diebe anlocken, ohne ein wärmendes Feuer? Und wann war ihr schließlich klar geworden, daß niemand kommen und sie holen würde?

»Kann ich Ihnen was bringen?« fragte die Schwester. Sie stieß eine Spritze in die Kanüle.

»Ist das ein Schlafmittel?« fragte er.

»Ja.«

»Gut«, sagte er und schloß dankbar die Augen.

Er schlief entweder ein paar Minuten oder einen Tag oder einen Monat lang. Das Licht, der Regen, das Fehlen der Schatten waren unverändert, als er erwachte. Colin saß auf dem Stuhl neben dem Bett und las in dem Buch, das Dunworthy ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Und er lutschte an etwas. Es kann nicht so viel Zeit vergangen sein, dachte Dunworthy, der den Jungen nur verschwommen wahrnahm, er lutscht noch immer an den Dingern, die ich ihm zu Weihnachten gab.

»Ah, gut«, sagte Colin und schlug das Buch zu. »Diese gräßliche Schwester sagte, ich könnte nur bleiben, wenn ich versprechen würde, Sie nicht zu wecken.

Und das tat ich auch nicht. Werden Sie ihr sagen, daß Sie von selbst aufgewacht sind, bitte?«

Er nahm aus dem Mund, was er lutschte, betrachtete es und steckte es in die Tasche. »Haben Sie sie gesehen? Sie muß schon im Mittelalter gelebt haben. Sie ist beinahe so nekrotisch wie Mrs. Gaddson.«

Dunworthy blinzelte zu ihm hin. Er hatte eine neue Jacke an, eine grüne, und der graue Plaidschal um seinen Hals sah in dieser Kombination noch düsterer aus, und Colin wirkte älter, als ob er gewachsen wäre, während Dunworthy geschlafen hatte.

Colin runzelte die Stirn. »Ich bin es, Colin. Erkennen Sie mich nicht?«

»Ja, natürlich kenne ich dich. Warum trägst du keine Schutzmaske?«

Colin grinste. »Ich brauche nicht. Und jedenfalls sind Sie nicht mehr ansteckend. Wollen Sie Ihre Brille?«

Dunworthy nickte vorsichtig, um die Kopfschmerzen nicht wieder zu wecken.

»Als Sie die anderen Male aufwachten, erkannten Sie mich überhaupt nicht.« Er suchte in der Schublade des Nachttisches und gab Dunworthy seine Brille. »Sie waren furchtbar schlecht drauf. Ich dachte schon, Sie würden einpacken. Sie nannten mich immer Kivrin.«

»Welchen Tag haben wir?«

»Den Zwölften«, sagte Colin ungeduldig. »Das fragten Sie mich erst heute früh. Erinnern Sie sich nicht?«

Dunworthy setzte die Brille auf. »Nein.«

»Erinnern Sie sich an nichts von dem, was passiert ist?«

Ich erinnere mich, wie ich Kivrin im Stich ließ, dachte er. Ich erinnere mich, daß ich sie im Jahr 1348 ihrem Schicksal auslieferte.

Colin schob den Stuhl näher und legte das Buch auf das Bett. »Die Schwester sagte mir, Sie würden sich nicht erinnern, des Fiebers wegen«, sagte er, und es hörte sich an, als sei er ärgerlich über Dunworthy, als ob es seine Schuld wäre. »Sie wollte mich nicht zu Ihnen lassen und wollte mir nichts sagen. Ich finde das absolut unfair. Sie lassen einen im Wartezimmer sitzen und sagen einem, man solle nach Hause gehen, hier gebe es nichts zu tun, und wenn man Fragen stellt, sagen sie: ›Der Arzt wird gleich mit dir reden‹, und wollen einem nichts sagen. Sie behandeln einen wie ein Kind. Ich meine, irgendwann muß man doch etwas erfahren, nicht? Wissen Sie, was die Schwester heute morgen tat? Sie setzte mich an die Luft. Sie sagte: ›Mr. Dunworthy ist sehr krank gewesen. Ich möchte nicht, daß du ihn aufregst.‹ Als ob ich das tun würde.«

Er machte ein empörtes Gesicht, aber Dunworthy sah auch, daß er müde und besorgt war, und er mußte daran denken, wie der Junge sich tagelang in den Korridoren herumgetrieben und im Wartezimmer gesessen hatte, um etwas zu erfahren. Kein Wunder, daß er älter aussah.

»Und gerade eben sagte Mrs. Gaddson, ich solle Ihnen nur gute Nachrichten erzählen, weil schlechte Nachrichten sehr wahrscheinlich zu einem Rückfall führen würden, an dem Sie sterben könnten, und dann würde es meine Schuld sein.«

»Mrs. Gaddson hält immer noch die Moral aufrecht, wie ich sehe«, sagte Dunworthy. Er lächelte Colin zu. »Es besteht wohl keine Aussicht, daß das Virus sie zu Boden streckt?«

Colin schüttelte den Kopf. »Die Epidemie ist zum Stillstand gekommen«, sagte er. »Nächste Woche wird die Quarantäne aufgehoben.«

Dann hatte Marys ständiges Drängen doch noch Erfolg gehabt und der Impfstoff war eingetroffen. Er fragte sich, ob er noch rechtzeitig gekommen war, um Badri zu helfen, und ob das vielleicht die schlechte Nachricht war, die Mrs. Gaddson ihm vorenthalten wollte. Die schlechte Nachricht, dachte er bei sich, habe ich bereits erhalten. Die Fixierung ist verloren, und Kivrin ist im Jahr 1348.

»Erzähl mir ein paar gute Neuigkeiten«, sagte er.

»Ja, seit zwei Tagen ist niemand krank geworden«, sagte Colin, »und endlich klappt es auch mit der Versorgung, so daß wir anständig zu essen bekommen.«

»Du hast auch neue Sachen bekommen, wie ich sehe.«

Colin blickte an sich herab auf die grüne Jacke. »Das ist eines der Weihnachtsgeschenke meiner Mutter. Sie schickte sie, nachdem…« Er brach ab und runzelte die Stirn. »Sie schickte mir auch ein paar Videos, und einen Satz Gesichtsmasken.«

War es möglich, daß sie tatsächlich gewartet hatte, bis die Epidemie vorüber war, bevor sie sich der Mühe unterzogen hatte, Colins Geschenke abzuschicken? Was mochte Mary dazu gesagt haben?

Colin stand auf. »Sehen Sie, die Jacke schließt sich automatisch. Man drückt nur den Knopf hier, so. Sie brauchen mir nicht mehr zu sagen, daß ich den Reißverschluß zumachen soll.«

Die Schwester kam hereingeraschelt. »Hat er Sie aufgeweckt?« fragte sie.

»Sehen Sie«, sagte Colin. »Bestimmt nicht, Schwester. Ich war so still, daß Sie nicht mal das Umblättern gehört hätten.«

»Er hat mich nicht geweckt, und er stört mich nicht«, sagte Dunworthy, bevor sie die nächste Frage stellen konnte. »Er erzählt mir nur gute Neuigkeiten.«

»Du solltest Mr. Dunworthy überhaupt nichts erzählen, er muß ruhen«, sagte sie und hängte einen Plastikbeutel mit klarer Flüssigkeit an den Tropf. »Mr. Dunworthy ist immer noch zu krank, um von Besuchern belästigt zu werden.« Sie drängte Colin aus dem Zimmer.

»Wenn Sie so besorgt sind, daß Mr. Dunworthy von Besuchern belästigt wird, warum hindern Sie dann nicht Mrs. Gaddson daran, ihm ihre Horrorstellen aus der Bibel vorzulesen?« protestierte Colin. »Damit kann sie jeden krank machen.« Er blieb in der Türöffnung stehen und starrte die Schwester herausfordernd an. »Morgen werde ich wiederkommen. Mr. Dunworthy, gibt es etwas, was Sie gern hätten?«

»Wie geht es Badri?« fragte Dunworthy, auf alles gefaßt.

»Besser«, sagte Colin. »Er war beinahe gesund, hatte aber einen Rückfall. Jetzt ist er aber wieder ziemlich gut beisammen. Er möchte Sie sprechen.«

»Nein«, sagte Dunworthy, aber die Schwester hatte bereits die Tür geschlossen.

Natürlich war es nicht Badris Schuld. Desorientierung war eines der Frühsymptome. Er dachte an sich selbst, unfähig, Andrews’ Nummer zu wählen, an Mrs. Piantini, die beim Schellenläuten einen um den anderen Fehler gemacht und sich immer wieder entschuldigt hatte.

Nein, es war nicht Badris Schuld gewesen. Es war seine Schuld. Er war so unruhig und besorgt über die Berechnungen des Technikerlehrlings gewesen, daß er Badri mit seinen Ängsten angesteckt und keine Ruhe gegeben hatte, bis dieser beschlossen hatte, die Koordinaten neu zu berechnen und einzugeben. So war durch seine eigene Nervosität aus einer richtigen eine falsche Berechnung geworden.

Colin hatte sein Buch auf dem Bett zurückgelassen. Dunworthy zog es zu sich her. Es kam ihm unmöglich schwer vor, so schwer, daß sein Arm von der Anstrengung, es offen zu halten, zitterte, aber er stützte es gegen die Wand und blätterte die aus seinem Blickwinkel beinahe unlesbaren Seiten, bis er fand, wonach er suchte.

Die Pest war in Oxford um Weihnachten ausgebrochen, hatte zur Schließung der Universität geführt und alle, die dazu imstande waren, veranlaßt, in die umliegenden Dörfer zu fliehen und damit unfreiwillig für die Ausbreitung der Seuche zu sorgen. In der Stadt waren die Menschen zu Tausenden gestorben, so daß »niemand übrig war, seinen Besitz zu halten, und sich nicht genug Gesunde fanden, die Toten zu begraben«. Und die wenigen, die verschont blieben, verbarrikadierten sich in ihren Häusern, verbargen sich und suchten nach Schuldigen.

Er schlief mit der Brille auf der Nase ein, aber als die Schwester sie abnahm, wachte er auf. Es war die Praktikantin, und sie lächelte ihm zu.

»Tut mir leid«, sagte sie, als sie die Brille in die Schublade tat. »Ich wollte Sie nicht wecken.«

Dunworthy blinzelte sie an. »Colin sagt, die Epidemie sei vorbei.«

»Ja«, sagte sie, den Blick auf den Kontrollanzeigen hinter ihm. »Man fand den Ursprung des Erregers und bekam gerade noch rechtzeitig den Impfstoff. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte eine Sterblichkeitsrate von 8,5 Prozent trotz Antibiotika und T-Zellen-Verstärkung errechnet, und dabei waren die Versorgungsmängel und der Ausfall von Pflegepersonal nicht berücksichtigt. Inzwischen ist errechnet worden, daß wir eine Sterblichkeitsrate von 19 Prozent hatten, und viele Fälle sind noch kritisch.«

Sie ergriff sein Handgelenk und blickte zur Temperaturanzeige hinter seinem Kopf. »Ihr Fieber ist ein wenig gesunken«, sagte sie. »Sie können von Glück sagen, wissen Sie. Der Impfstoff wirkt nicht bei denen, die bereits infiziert sind. Dr. Ahrens…« Sie brach ab. Er fragte sich, was Mary gesagt hatte. Daß er eingehen würde? »Sie haben großes Glück gehabt«, sagte sie. »Versuchen Sie jetzt zu schlafen.«

Er schlief, und als er wieder erwachte, stand Mrs. Gaddson an seinem Bett, bereit zum Angriff mit ihrer Bibel.

»Der Herr wird euch mit den sieben Plagen Ägyptens schlagen«, sagte sie, sobald er die Augen geöffnet hatte, »alle Krankheiten und Seuchen wird er euch senden, bis ihr vernichtet seid.«

»Und ihr sollt dem bösen Feind in die Hände fallen«, murmelte Dunworthy.

»Was?«

»Nichts.«

Sie hatte ihre Stelle verloren, blätterte hin und her, suchte nach Pestilenzen und begann zu lesen: »Darum sandte Gott seinen erstgeborenen Sohn in die Welt.«

Gott hätte ihn nie geschickt, wenn er gewußt hätte, was geschehen würde, dachte Dunworthy. Herodes und der Mord an den unschuldigen Kindern und Gethsemane.

»Lesen Sie mir Matthäus, Kapitel 26, Vers 39«, sagte er.

Mrs. Gaddson hielt irritiert inne und blätterte zum Evangelium des Matthäus. »Er ging ein wenig vorwärts, fiel auf Sein Antlitz nieder und betete: ›Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst.‹«

Gott wußte nicht, wo Sein Sohn war, dachte Dunworthy. Er hatte seinen Sohn in die Welt gesandt, und etwas war mit der Fixierung schiefgegangen, jemand hatte das Netz abgeschaltet, so daß Er nicht zu ihm durchkommen konnte, und sie hatten ihn festgenommen und eine Dornenkrone aufgesetzt und ans Kreuz genagelt.

»Kapitel 27«, sagte er. »Vers 46.«

Sie schürzte unwillig die Lippen und blätterte um. »Ich glaube wirklich nicht, daß dies geeignete Bibelstellen für…«

»Lesen Sie!« sagte er.

»Und um die neunte Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: ›Eli, eli, lama sabakthani?‹ das heißt, mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«

Kivrin würde keine Ahnung haben, was geschehen war. Sie würde sich am falschen Ort oder in der falschen Zeit wähnen und glauben, sie habe über den Aufregungen der Seuchenzeit die Übersicht verloren und die Tage nicht richtig gezählt. Sie würde sich im Stich gelassen fühlen.

»Noch weitere Wünsche?« fragte Mrs. Gaddson.

»Nein.«

Sie blätterte zurück zum Alten Testament. »Denn sie sollen fallen durch das Schwert, durch die Hungersnot und Pestilenz«, las sie. »Wer fern von seinem Heim ist, wird an der Pestilenz zugrunde gehen.«

Trotz allem schlief er und erwachte endlich zu etwas anderem als einem endlosen Nachmittag. Zwar regnete es noch oder schon wieder, aber es gab Schatten im Zimmer, und gerade läuteten die Glocken vier Uhr. Die Praktikantin half ihm zur Toilette. Das Buch war verschwunden; anscheinend war Colin dagewesen und hatte es mitgenommen, während er geschlafen hatte, doch als die Schwester die Tür des Nachttisches öffnete, um seine Pantoffeln herauszunehmen, sah er es dort liegen. Er bat sie, sein Bett hochzukurbeln, daß er darin sitzen könne, und als sie gegangen war, setzte er die Brille auf und nahm sich wieder das Buch vor.

Die Pest hatte sich so willkürlich ausgebreitet und so verheerend gewütet, daß es den Zeitgenossen unmöglich gewesen war, eine natürliche Krankheit in ihr zu sehen. Sie hatten Leprakranke und alte Frauen und geistig Behinderte beschuldigt, Brunnen vergiftet und das Volk verflucht zu haben. Bei allem Aberglauben und aller Unwissenheit sagte ihnen ein gesunder und sicherer Instinkt, daß die Gefahr von außen kam, und so war es nur folgerichtig, daß jeder Ortsfremde verdächtig war. Man stellte Wachen auf und schloß die Stadttore — in der Regel freilich zu spät -, vertrieb fahrende Händler vom Gemeindeland und schreckte auch vor Gewalttaten nicht zurück. In Sussex hatte man zwei Reisende gesteinigt, in Yorkshire eine junge Frau als Hexe verbrannt.

»Da ist es also hingekommen«, sagte Colin beim Eintreten. »Ich dachte, ich hätte es verloren.«

Er trug seine grüne Jacke und war ziemlich naß. »Ich mußte die Kästen mit den Handglocken für Mrs. Taylor zur Heiligen Reformierten Kirche hinübertragen und es gießt mal wieder in Strömen.«

Die Erwähnung von Mrs. Taylors Namen erfüllte ihn mit Erleichterung und er merkte, daß er aus Furcht, schlechte Nachrichten zu erhalten, nicht nach den Zwangseinquartierten gefragt hatte.

»Dann ist Mrs. Taylor also gesund?«

Colin berührte den Knopf unten an seiner Jacke, und sie öffnete sich und versprühte Regenwasser. »Ja. Am Fünfzehnten wollen sie ein Schellenläuten veranstalten.«

Dunworthy schloß das Buch und gab es ihm. »Und die übrigen Schellenläuter? Mrs. Piantini?«

Colin nickte. »Die ist noch im Krankenhaus. Sie ist so dünn, daß Sie sie nicht wiedererkennen würden.« Er schlug das Buch auf. »Sie haben über den Schwarzen Tod gelesen, nicht?«

»Ja«, sagte Dunworthy. »Mr. Finch ist nicht krank geworden, oder?«

»Nein. Er ist für Mrs. Piantini eingesprungen. Er ist sehr aufgeregt. Mit der Lieferung aus London ist kein Toilettenpapier gekommen, und er sagte den Leuten, sie sollten Zeitungspapier nehmen. Er hatte deswegen Streit mit dem Gallenstein.« Er legte das Buch aufs Bett zurück. »Was wird aus Ihrem Mädchen?«

»Ich weiß nicht«, sagte Dunworthy.

»Können Sie etwas tun, um sie herauszuholen?«

»Nein.«

»Der Schwarze Tod war fürchterlich«, sagte Colin. »So viele Leute starben, daß sie nicht einmal begraben wurden. Man ließ sie einfach in großen Haufen liegen.«

»Ich kann nicht zu ihr, Colin. Wir verloren die Fixierung, als Gilchrist das Netz abschaltete.«

»Ich weiß, aber die Koordinaten müssen eingespeichert sein, nicht? Gibt es nichts, was wir tun können?«

»Nein.«

»Aber…«

»Ich werde mit dem Arzt über die Einschränkung Ihrer Besuche sprechen«, sagte die Schwester streng. Sie nahm Colin ohne Umschweife beim Kragen und zog ihn mit sich.

»Dann fangen Sie damit an, daß Sie Mrs. Gaddson nicht hereinlassen«, sagte Dunworthy. »Und sagen Sie Mary, daß ich sie sprechen möchte.«

Mary kam nicht, aber Montoya besuchte ihn, offensichtlich frisch von der Ausgrabung. Sie war bis zu den Knien mit Schlamm bespritzt, und ihre dunklen Locken waren verschmiert, wo sie mit den Fingern hineingefahren war. Colin kam mit ihr wieder herein.

»Wir sind an ihr vorbeigeschlichen, als sie ins Nebenzimmer mußte«, sagte Colin.

Montoya hatte sehr abgenommen. Ihre Hände waren sehr schmal, und die Digitaluhr an ihrem Arm saß lose.

»Wie fühlen Sie sich?« fragte sie.

»Besser«, log er, in die Betrachtung ihrer Hände versunken. Unter ihren Fingernägeln war lehmige Erde. »Und Sie?«

»Besser«, sagte sie.

Sie mußte nach ihrer Entlassung vom Krankenhaus direkt zur Ausgrabungsstätte gefahren sein. Und nun war sie — anscheinend genauso direkt — zu ihm gekommen.

»Sie ist tot, nicht wahr?« sagte er.

»Ich fürchte, ja.«

Kivrin war also doch am richtigen Ort gewesen. Die örtlichen Koordinaten waren nur ein paar Kilometer oder ein paar hundert Meter daneben gewesen, und es war ihr gelungen, die Straße von Oxford nach Bath und das Dorf Skendgate zu finden. Und dort war sie gestorben, ein Opfer der Influenza, mit der sie sich vor der Absetzoperation infiziert hatte. Oder sie war nach der Seuche an Hunger und Entbehrungen zugrunde gegangen, oder an Verzweiflung. Sie war seit siebenhundert Jahren tot.

»Dann haben Sie es also gefunden«, sagte er, und es war keine Frage.

»Was gefunden?« fragte Colin.

»Kivrins Aufnahmegerät.«

»Nein«, sagte Montoya.

Er fühlte keine Erleichterung. »Aber Sie werden es finden«, sagte er.

Ihre Hände zitterten ein wenig, und sie legte sie ineinander. »Kivrin bat mich darum«, sagte sie. »Am Tag ihrer Abreise. Sie war diejenige, die vorgeschlagen hatte, daß das Aufnahmegerät wie ein Knochenstück aussehen sollte, damit die Aufzeichnung überleben würde, selbst wenn sie bei dem Unternehmen umkommen sollte. ›Mr. Dunworthy macht sich unnötige Sorgen‹, sagte sie, ›aber wenn etwas schiefgehen sollte, werde ich versuchen, im Friedhof begraben zu werden, damit Sie nicht halb England ausgraben müssen.‹«

Dunworthy schloß die Augen.

»Aber Sie wissen nicht, daß sie tot ist, wenn Sie das Aufnahmegerät nicht gefunden haben«, platzte Colin heraus. »Sie sagten, Sie wüßten nicht einmal, wo sie war. Wie können Sie sicher sein, daß sie tot ist?«

»Die Gesundheitsbehörde hat auf unserer Ausgrabungsstätte Tierversuche mit Ratten durchgeführt. Für die Infektion mit dem Virus genügt eine Viertelstunde Aufenthalt im Infektionsbereich. Kivrin war über drei Stunden lang der Infektionsquelle unmittelbar ausgesetzt. Die Wahrscheinlichkeit, daß sie infiziert wurde, beträgt 75 Prozent, und in Anbetracht der begrenzten medizinischen Hilfsmittel, die im 14. Jahrhundert zur Verfügung standen, wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu Komplikationen gekommen sein.«

Begrenzte medizinische Hilfsmittel! Es war ein Jahrhundert, in dem man Krankheiten mit pulverisierten Kröten, mit Blutegeln und Aderlässen behandelte, wo man nichts von Krankheitserregern oder T-Zellen oder Desinfektion gehört hatte. Wenn Kivrin Glück gehabt und Hilfe gefunden hatte, würde man sie mit schmutzigen Breiumschlägen behandelt, zur Ader gelassen und Gebete gemurmelt haben.

»Ohne unterstützende Therapie mit Antibiotika und T-Zellen-Verstärkung«, sagte Montoya, »beträgt die Sterblichkeitsrate bei dieser Viruserkrankung 49 Prozent. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung…«

»Wahrscheinlichkeitsrechnung!« sagte Dunworthy bitter. »Sind das Gilchrists Zahlen?«

Montoya warf Colin einen Seitenblick zu, und eine Falte erschien zwischen ihren Brauen. »Die Wahrscheinlichkeit, daß Kivrin infiziert wurde, beträgt 75 Prozent, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie vom Pesterreger infiziert wurde, 86 Prozent. Die Sterblichkeitsrate bei Beulenpest beträgt 91 Prozent, und bei…«

»Sie hat die Pest nicht bekommen«, sagte Dunworthy. »Sie bekam ihre Schutzimpfung. Hat Dr. Ahrens oder Gilchrist Ihnen das nicht gesagt?«

Montoya blickte wieder zu Colin.

»Sie sagten, daß ich es ihm nicht erzählen dürfe«, sagte Colin, der ihren Blick trotzig erwiderte.

»Was erzählen? Ist Gilchrist krank?« Er erinnerte sich, daß er in Gilchrists Arme gefallen war. Vielleicht hatte er ihn dabei infiziert.

Montoya sagte: »Mr. Gilchrist starb vor drei Tagen an der Influenza.«

Dunworthy blickte zu Colin. »Was sollst du mir sonst noch vorenthalten?« fragte er ihn. »Wer starb noch, während ich krank war?«

Montoya hob ihre dünne Hand, als wollte sie Colin zurückhalten, aber es war zu spät.

»Großtante Mary«, sagte er.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(077076–078924)

Maisry ist davongelaufen. Pater Roche und ich suchten sie überall, in Sorge, daß sie erkrankt sei und sich in irgendeinen Winkel verkrochen haben würde, aber der Verwalter sagte, er habe sie auf Agnes’ Pony zum Wald reiten sehen, während er den gefrorenen Boden für Walthefs Grab aufhackte.

Sie wird die Pest nur verbreiten und nicht weiter als zu irgendeinem Nachbardorf kommen, das bereits von der Seuche befallen ist. Sie muß jetzt überall um uns sein. Wenn abends zur Vesper geläutet wird, klingen die Glocken anders als sonst, wie aus dem Takt geraten, als ob die Glockenläuter verrückt geworden wären. Es ist unmöglich, auszumachen, ob es neun Schläge oder drei sein sollen. Die beiden Glocken von Courcy läuteten heute früh nur einmal, und ich fragte mich, ob es eines der plappernden Mädchen ist, die mit Rosemund spielten.

Sie ist noch ohne Bewußtsein, ihr Puls sehr schwach. Agnes schreit und zappelt in ihrem Delirium. Immer wieder ruft sie nach mir, doch wenn ich komme, will sie mich nicht zu sich lassen. Wenn ich zu ihr spreche, zappelt und schreit sie wie in einem Wutanfall.

Eliwys erschöpft sich in der Pflege der beiden Mädchen und ihrer Schwiegermutter, die »Teufel in!« schreit, wenn ich in ihre Nähe komme, und mir erst heute morgen beinahe ein blaues Auge verpaßte. Der einzige, der mich in seine Nähe läßt, ist der Sekretär, der jenseits aller Sorgen und Ängste ist. Er wird den Tag schwerlich überleben. Er riecht so entsetzlich, daß wir ihn zum anderen Ende des Raumes schleppen mußten. Seine Pestbeule hat wieder angefangen zu eitern.


(Unterbrechung)

Gunni, der zweite Sohn des Verwalters.

Die Frau mit den Skrofulosenarben am Hals.

Maisrys Vater (?)

Cob, der Stalljunge und Pater Roches Meßdiener.


(Unterbrechung)

Frau Imeyne geht es schlecht. Pater Roche wollte ihr die Sterbesakramente spenden, aber sie weigert sich, die Beichte abzulegen.

»Ihr müßt Euren Frieden mit Gott machen, bevor Ihr sterbt«, sagte er, aber sie kehrte das Gesicht zur Wand und erwiderte: »Er trägt die Schuld daran.«


(Unterbrechung)

Einunddreißig Fälle. Mehr als 75 Prozent. Pater Roche weihte heute früh einen Teil des Dorfangers, weil der Friedhof nahezu voll ist.

Maisry ist nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich schläft sie im Himmelbett irgendeines Herrenhauses, dessen Bewohner geflohen sind, und wenn dies alles vorbei ist, wird sie die Ahnfrau einer alten Adelsfamilie werden.

Vielleicht ist es das, was an unserer Zeit faul ist, Mr. Dunworthy: sie wurde begründet von Leuten wie Maisry und dem Gesandten des Bischofs und Sir Bloet. Und all die wertvollen Menschen, die blieben und zu helfen suchten, wie Pater Roche, bekamen die Pest und starben.


(Unterbrechung)

Frau Imeyne hat das Bewußtsein verloren, und Pater Roche gibt ihr die letzte Ölung. Ich bat ihn darum.

»Es ist die Krankheit, die aus ihr spricht«, sagte ich. »Ihre Seele hat sich nicht gegen Gott gekehrt.« Das trifft vielleicht nicht zu, und vielleicht verdient sie keine Vergebung, aber sie verdient auch dies nicht, die Vergiftung und Fäulnis ihres Körpers, und ich kann sie kaum verdammen, daß sie in ihrer Enttäuschung und Verzweiflung Gott schuldig sprach. Und niemand ist verantwortlich. Es ist eine Krankheit.

Der Meßwein ist ausgegangen, und es gibt kein Olivenöl mehr. Pater Roche verwendet ranziges Öl aus dem Küchenhaus, das er geweiht hat. Wo er Imeynes Schläfen und Handflächen berührte, ist die Haut schwarz geworden.

Es ist eine Krankheit.


(Unterbrechung)

Agnes’ Befinden hat sich verschlechtert. Es ist herzzerreißend, zusehen zu müssen, wie sie da liegt, keuchend wie ihr armer Welpe und schreit: »Sag Kivrin, sie soll kommen und mich holen. Ich mag hier nicht sein!«

Selbst Pater Riche kann es nicht ertragen. »Warum straft Gott uns so?« fragte er mich.

»Er straft uns nicht. Es ist eine Krankheit«, sagte ich, was keine Antwort ist, und so fügte ich hinzu: »Ich weiß nicht, warum Er sie nicht abgewendet hat. Wir müssen sie als eine Prüfung sehen.«

Ganz Europa weiß es, und die Kirche weiß es auch. Sie wird noch jahrhundertelang nach Erklärungen suchen und nach Begründungen, aber sie kommt nicht an der entscheidenden Tatsache vorbei — daß Er dies geschehen ließ.


(Unterbrechung)

Die Glocken sind verstummt. Pater Roche fragte mich, ob ich dächte, es sei ein Zeichen dafür, daß die Pest aufgehört habe. »Vielleicht ist Gott uns doch noch zu Hilfe gekommen«, sagte er.

Ich glaube es nicht. In Tournai gaben die Kirchenoberen Anweisung, das Glockenläuten einzustellen, weil der Klang die Bevölkerung ängstige. Vielleicht hat der Bischof von Bath eine ähnliche Anweisung ergehen lassen.

Das ständige Glockenläuten war wirklich angsteinflößend, aber die Stille ist schlimmer. Sie ist wie das Ende der Welt.

30

Mary war schon zu Beginn seiner Krankheit gestorben. Am selben Tag, als der Impfstoff eingetroffen war, hatten sich bei ihr die ersten Symptome gezeigt. Sehr schnell war eine Lungenentzündung dazugekommen, und am zweiten Tag schon hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Am 6. Januar. Dreikönig.

»Du hättest es mir sagen sollen«, sagte Dunworthy.

»Ich sagte es Ihnen«, protestierte Colin. »Erinnern Sie sich nicht?«

Er hatte keinerlei Erinnerung daran, wußte nicht mehr, wann Mrs. Gaddson mit ihren biblischen Drohungen und Colin mit seinen spärlichen Informationen bei ihm gewesen war. Es war ihm nicht einmal sonderbar vorgekommen, daß Mary ihn nicht besucht hatte.

»Ich sagte Ihnen, als sie krank wurde«, sagte Colin. »Ich sagte es Ihnen auch, als sie starb, aber Sie waren so krank, daß Ihnen alles gleich war.« Er dachte daran, wie Colin vor ihrem Krankenzimmer auf Nachricht gewartet hatte und dann zu ihm ans Bett gekommen war, um es ihm zu sagen. »Entschuldige, Colin.«

»Sie konnten nichts dafür, daß Sie krank waren«, sagte Colin. »Es war nicht Ihre Schuld. Alle waren sehr nett zu mir, bis auf die Schwester. Sie wollte nicht erlauben, daß ich es Ihnen sagte, selbst nachdem es Ihnen besser ging, aber alle anderen waren nett, außer der Gallenstein. Sie las mir ständig aus der Bibel vor, wie Gott die Ungerechten und Sündhaften straft. Mr. Finch rief meine Mutter an, aber sie konnte nicht kommen, und so übernahm er alle Vorbereitungen für die Beerdigung. Er war sehr nett und hilfsbereit. Auch die Amerikanerinnen waren nett. Sie versorgten mich mit Süßigkeiten.«

»Es tut mir leid«, sagte Dunworthy, und nachdem Colin gegangen war, hinausbefördert von der alten Hilfsschwester, noch einmal: »Es tut mir leid.«

Colin kam nicht zurück, und Dunworthy wußte nicht, ob die Schwester ihn aus der Abteilung verbannt hatte, oder ob Colin ihm trotz allem, was er sagte, gram war, daß er ihn im Stich gelassen hatte.

Und er hatte Colin im Stich gelassen, war urplötzlich von der Bühne abgetreten und hatte ihn Mrs. Gaddson und der Krankenschwester und Ärzten preisgegeben, die ihm nichts sagen wollten. Er hatte sich an einen Ort zurückgezogen, wo er unerreichbar gewesen war, so unerreichbar wie Basingame, der an irgendeinem Fluß in Schottland Lachse angelte. Und ganz gleich, was Colin sagte, er mußte gedacht haben, daß Dunworthy, wenn er wirklich gewollt hätte, für ihn dagewesen wäre, um ihm zu helfen, krank oder nicht.

»Sie glauben, daß Kivrin tot ist, nicht?« hatte Colin ihn gefragt, nachdem Montoya gegangen ist. »Genauso wie Mrs. Montoya?«

»Ich fürchte, ja.«

»Aber Sie sagten, Kivrin könne die Pest nicht bekommen. Wie, wenn sie nicht tot ist? Wenn sie jetzt am Absetzort ist und auf Sie wartet?«

»Sie war mit Influenza infiziert, Colin.«

»Aber das waren Sie auch, und tausend andere, die nicht gestorben sind. Vielleicht hat sie es ebenso überstanden. Ich glaube, Sie sollten mit Badri sprechen und sehen, ob er eine Idee hat. Vielleicht kann er die Koordinaten wieder abrufen. Warum sollte mit dem Abschalten des Netzes der Speicher gelöscht worden sein?«

»Du verstehst nicht, Colin. Es ist nicht wie eine Taschenlampe. Die Fixierung kann nicht wieder eingeschaltet werden.«

»Gut, aber dann kann er sie vielleicht wiederholen. Eine neue Fixierung nach den vorhandenen Koordinaten vornehmen. Zur selben Zeit, zum selben Ort.«

Zur selben Zeit. Eine Absetzoperation erforderte selbst mit bekannten Koordinaten Tage der Vorbereitung. Und Dunworthy argwöhnte, daß Badri die Koordinaten nicht haben würde, weil er in seinem Zustand versäumt hatte, sie einzuspeichern. In diesem Fall hätte er nur das Datum. Er könnte auf dieser Basis einen neuen Satz Koordinaten berechnen, wenn die Ortsbestimmung unverändert blieb, wenn Badri sie in seinem Fieber nicht auch durcheinandergebracht hatte, und wenn die Paradoxien überhaupt eine zweite Absetzoperation erlauben würde.

Er sah sich außerstande, dies alles Colin zu erklären oder ihm klarzumachen, daß Kivrin die Influenza in einem Jahrhundert, wo der Aderlaß die ärztliche Standardbehandlung war, nicht gut überlebt haben konnte. »Es wird nicht klappen, Colin«, hatte er gesagt, plötzlich zu müde, um etwas zu erläutern. »Tut mir leid.«

»Also wollen Sie sie einfach dort lassen? Ob sie tot ist oder nicht? Sie wollen nicht einmal Badri fragen?«

»Colin…«

»Tante Mary tat alles für Sie. Sie gab nicht auf!«

»Was geht hier vor?« Die Schwester war hereingekommen. »Ich werde dich hinausschicken müssen, wenn du den Patienten weiter in Unruhe versetzt.«

»Ich wollte sowieso gehen«, hatte Colin gesagt und war hinausgelaufen.

Er war an diesem Tag nicht zurückgekommen, und auch nicht am nächsten Vormittag.

»Darf ich Besuche empfangen?« erkundigte sich Dunworthy bei der Praktikantin, als sie ihren Dienst antrat.

»Ja«, sagte sie nach einem Blick auf die Ablesungen. »Draußen wartet schon jemand und möchte Sie sprechen.«

Es war Mrs. Gaddson. Sie hatte ihre Bibel bereits aufgeschlagen.

»Lukas, Kapitel 23, Vers 33«, sagte sie mit einem pestilenzartig vernichtenden Blick. »Da Sie so sehr an der Kreuzigung interessiert sind. ›Als sie zu dem Ort, der Schädelstätte heißt, gekommen waren, schlugen sie Ihn ans Kreuz.‹«

Wenn Gott gewußt hätte, wo Sein Sohn war, hätte Er es niemals zugelassen, dachte Dunworthy. Er hätte das Netz überprüft und ihn herausgezogen, Er wäre gekommen und hätte ihn gerettet.

Während des Schwarzen Todes hatten die Menschen sich von Gott verlassen geglaubt. »Warum wendest du dein Angesicht von uns?« hatten sie geschrieben. »Warum mißachtest du unser Rufen?« Aber vielleicht hatte Er sie nicht gehört. Vielleicht war Er bewußtlos und krank im Himmel gewesen, selber hilflos und unfähig zu kommen.

»Da legte sich auf das ganze Land eine Finsternis, die bis zur neunten Stunde dauerte«, las Mrs. Gaddson, »weil die Sonne sich verfinsterte…«

Die Zeitgenossen hatten geglaubt, es sei der Weltuntergang, und Satan habe schließlich triumphiert. Das hatte er, dachte Dunworthy. Er hatte das Netz ausgeschaltet. Er hatte die Fixierung verloren.

War Gilchrist vor seinem Tod klargeworden, was er getan hatte, oder hatte er in besinnungsloser Vergessenheit gelegen, ohne zu wissen, daß er Kivrin dem Verderben ausgeliefert hatte?

»Jesus führte sie sodann bis nach Bethanien hinaus und erhob segnend Seine Hände«, las Mrs. Gaddson. »Und segnend schied Er von ihnen und fuhr zum Himmel auf.«

Er schied von ihnen und fuhr zum Himmel auf. Gott kam doch noch, ihn zu holen, dachte Dunworthy. Aber zu spät. Zu spät.

Sie las weiter, bis die Praktikantin ihren Dienst antrat. »Zeit für ein Nachmittagsschläfchen«, sagte sie in munterem Ton, faßte Mrs. Gaddson am Arm und schob sie hinaus. Sie kam an sein Bett, zog ihm das Kissen unter dem Kopf heraus und schüttelte es auf.

»Ist Colin gekommen?« fragte er.

»Ich habe ihn seit gestern nicht gesehen«, sagte sie. »Sie sollen jetzt versuchen, ein wenig zu schlafen.« Sie schob ihm das Kissen wieder unter den Kopf.

»Mrs. Montoya ist nicht dagewesen?«

»Nicht seit gestern.« Sie gab ihm eine Kapsel und einen Pappbecher.

»Sind irgendwelche Botschaften überbracht worden?«

»Keine Botschaften«, sagte sie. Sie nahm den leeren Becher zurück. »Schlafen Sie jetzt.«

Keine Botschaften. Kivrin hatte zu Montoya gesagt, sie werde versuchen, auf dem Friedhof begraben zu werden, aber auf den Friedhöfen war es zu eng geworden. Sie hatten die Pestopfer in Gräben und Flüsse geworfen, und zuletzt waren sie unbestattet auf den Straßen liegengeblieben. Man hatte sie auf Scheiterhaufen verbrannt oder auf Karren geladen und hinausgefahren und irgendwo verscharrt.

Montoya würde das Aufnahmegerät niemals finden. Und sollte sie es doch finden, was würde die Botschaft sein? »Ich ging zum Absetzort, aber das Netz wurde nicht geöffnet. Was ist geschehen?« Kivrins Stimme, vorwurfsvoll, in schriller Panik: »Warum hast du mich verlassen?«

Als Essenszeit war, kam die Praktikantin, half ihm aus dem Bett auf einen Stuhl und setzte ihm sein Tablett mit dem Essen vor. Als er sein Pflaumenkompott aß, kam Finch herein.

»Obstkonserven haben wir schon lange nicht mehr«, sagte er mit einem Blick auf Dunworthys Schale. »Und auf Toilettenpapier warten wir noch immer. Ich habe keine Ahnung, wie wir das Semester beginnen sollen.« Er setzte sich auf das Fußende des Bettes. »Die Universität hat den Semesterbeginn auf den Fünfundzwanzigsten festgesetzt, aber bis dahin können wir nicht fertig sein. Wir haben noch immer fünfzehn Patienten im Studentenwohnheim, die allgemeinen Schutzimpfungen haben gerade erst angefangen, und ich bin ganz und gar nicht überzeugt, daß wir die letzten Influenzafälle gesehen haben.«

»Wie geht es Colin?« fragte Dunworthy.

»Gut, Sir. Er war etwas melancholisch, nachdem Dr. Ahrens gestorben war, aber seit es mit Ihnen aufwärts geht, ist er schon viel munterer geworden.«

»Ich möchte Ihnen danken, daß Sie ihm geholfen haben«, sagte Dunworthy. »Colin sagte mir, Sie hätten das Begräbnis vorbereitet.«

»Oh, ich freute mich, helfen zu können, Sir. Er hatte sonst niemanden, wissen Sie. Ich war ganz sicher, daß seine Mutter kommen würde, nun, da die Gefahr vorüber ist, aber sie sagte, es sei zu schwierig, so kurzfristig Vorbereitungen zu treffen. Sie schickte allerdings sehr hübsche Blumen, Lilien und Chrysanthemen. Wir hielten den Gottesdienst in der Kapelle unseres Balliol Colleges.« Er rückte auf dem Bett. »Übrigens, da wir von der Kapelle sprechen, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, daß ich dem Geistlichen der Heiligen Reformierten Kirche Erlaubnis gegeben habe, sie am Fünfzehnten für ein Handglocken-Konzert zu verwenden. Die amerikanischen Schellenläuter wollen Rimbauds ›Wenn endlich mein Erlöser kommt‹ aufführen, und die Kirche der Heiligen Reformierten ist vom Gesundheitsamt als Impfstation beschlagnahmt worden. Ich hoffe, daß es Ihnen recht ist.«

»Ja, natürlich«, sagte Dunworthy. Er mußte an Mary denken, wann das Begräbnis gewesen war und ob sie eine würdige Trauerfeier bekommen hatte.

»Wenn Ihnen lieber ist, daß sie das Konzert in St. Mary geben, kann ich es ihnen sagen«, sagte Finch besorgt.

»Nein, nein, lassen Sie nur«, sagte Dunworthy. »Die College-Kapelle ist ganz in Ordnung. Sie haben in meiner Abwesenheit offensichtlich gute Arbeit geleistet.«

»Nun, ich versuche mein Möglichstes zu tun, Sir. Es ist manchmal schwierig, mit Mrs. Gaddson.« Er stand auf. »Ich möchte Sie nicht von Ihrer Ruhe abhalten. Gibt es etwas, das ich Ihnen bringen kann, was ich für Sie tun kann?«

»Nein danke«, sagte Dunworthy. »Es gibt nichts, was Sie für mich tun können.«

Finch ging zur Tür und machte noch einmal halt. »Ich hoffe, Sie werden mein Beileid annehmen, Mr. Dunworthy«, sagte er, etwas unbehaglich. »Ich weiß, wie eng Sie mit Dr. Ahrens befreundet waren.«

Eng befreundet, dachte er, nachdem Finch gegangen war. Ich war überhaupt nicht eng mit ihr befreundet. Er versuchte sich zu erinnern, wie Mary sich über ihn beugte, ihm das Fieberthermometer gab, besorgt zu den Instrumentenablesungen aufblickte, suchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, wie Colin in seiner neuen Jacke neben dem Bett gestanden hatte, den grauen Schal um den Hals gewickelt, und gesagt hatte: »Tante Mary ist tot. Tot. Können Sie mich nicht hören?« Aber solch eine Erinnerung war nicht da. Nichts.

Die Schwester kam herein und hängte einen neuen Beutel an den Tropf, der ihn alsbald ins Land der Träume beförderte, und als er aufwachte, fühlte er sich viel besser.

»Das ist Ihre T-Zellen-Verstärkung, die sich jetzt auswirkt«, sagte die Praktikantin. »Wir haben das bei vielen anderen Fällen beobachtet. Manche von ihnen haben sich geradezu wunderbar erholt.«

Sie ließ ihn zur Toilette gehen, und nach dem Essen auf den Korridor. »Je weiter Sie gehen, desto besser«, sagte sie.

Ich gehe nirgendwohin, dachte er. Gilchrist hat das Netz abgeschaltet.

Sie schnallte ihm seinen Tropfbeutel an die Schulter, schloß den batteriebetriebenen Motor an und half ihm in seinen Bademantel. »Sie müssen sich wegen der Depression keine Sorgen machen«, sagte sie, als sie ihm aus dem Bett half. »Das ist ein verbreitetes Symptom nach Influenza. Sie wird verschwinden, sobald Ihr biochemisches Gleichgewicht wiederhergestellt ist.«

Sie ging mit ihm in den Korridor hinaus. »Vielleicht möchten Sie einen Ihrer Freunde besuchen?« fragte sie. »Am Ende des Korridors liegen zwei Patienten vom Balliol College. Mrs. Piantini ist im vierten Bett. Sie könnte eine Aufmunterung vertragen.«

»Ist Mr. Latimer…«, sagte er und hielt inne. »Ist Mr. Latimer noch Patient hier?«

»Ja«, sagte sie, und er konnte ihrem Ausdruck und ihrer Stimme entnehmen, daß Latimer sich von seinem Schlaganfall nicht erholt hatte. »Er liegt zwei Türen weiter.«

Er schlurfte den Korridor entlang zu Latimers Krankenzimmer. Er hatte Latimer nach dessen Einlieferung nicht besucht, weil er in der Intensivstation gelegen und weil Mary gesagt hatte, er sei durch den Schlaganfall vollständig paralysiert und habe alle Funktionen eingebüßt.

Er öffnete die Tür zum Krankenzimmer. Es war ein Einzelzimmer, und Latimer lag mit ausgestreckten Armen, angeschlossen an eine Menge Überwachungsgeräte und den Tropf. Schlauchleitungen führten in seine Nase und durch die Kehle, und Brust und Kopf waren über angeklebte Kontakte mit den Kontrollanzeigen verbunden. Sein Gesicht war von diesem Dickicht halb verdeckt, doch ließ er nicht erkennen, daß es ihn störte.

Dunworthy trat neben das Bett und räusperte sich. »Latimer?«

Der andere zeigte keine Reaktion. Seine Augen waren offen, aber sie bewegten sich nicht beim Klang der Stimme, und das Gesicht unter dem Gewirr der Leitungen blieb ausdruckslos wie von einer Wachspuppe. Er sah geistesabwesend aus, als sänne er einer Gedichtzeile von Chaucer nach.

»Mr. Latimer«, sagte Dunworthy etwas lauter und beobachtete die Kontrollanzeigen. Auch sie zeigten keine Veränderung.

Er war ohne Bewußtsein. Dunworthy stützte sich auf die Stuhllehne und sagte: »Sie wissen nicht, was geschehen ist, nicht wahr? Mary ist tot, Kivrin ist im Jahr 1348.« Er beobachtete die Kontrollanzeigen. »Und Sie wissen nichts davon. Gilchrist schaltete das Netz ab.«

Nichts veränderte sich auf den Bildschirmen der Kontrollanzeigen. Die Linien fuhren fort, mit minimalen Ausschlägen gleichmäßig über die Bildschirme zu wandern.

»Sie und Gilchrist schickten sie in den Schwarzen Tod«, rief er, »und Sie liegen hier und…« Er brach ab und sank auf den Stuhl. Er war ungerecht. Latimer traf kein Verschulden. Er war für die Fixierung nicht verantwortlich gewesen.

Colin hatte ihn von Marys Tod unterrichten wollen, aber er war zu krank gewesen, hatte wie Latimer dagelegen, unbeteiligt, blind gegen alles.

Der Junge wird seiner Mutter nie vergeben, daß sie nicht zum Begräbnis gekommen ist, dachte er. Was hatte Finch gesagt, daß sie es zu schwierig gefunden hatte, so kurzfristig Vorbereitungen zu treffen? Er sah Colin allein beim Begräbnis, vor sich die Lilien und Chrysanthemen, die seine Mutter geschickt hatte, in der Gewalt von Mrs. Gaddson und den Schellenläutern. Er hatte gesagt, seine Mutter habe nicht kommen können, aber es war klar, daß er es nicht geglaubt hatte. Selbstverständlich hätte sie kommen können, wenn sie es wirklich gewollt hätte.

Er wird immer das Gefühl haben, ich hätte ihn im Stich gelassen, dachte er. Und Kivrin wird mir nie vergeben. Sie ist älter als Colin und wird sich alle möglichen mildernden Umstände ausdenken, vielleicht sogar den wahren. Aber in ihrem Herzen, ausgeliefert Gott weiß was für Halsabschneidern und Dieben und Pestilenzen, wird sie nicht glauben, daß ich nicht kommen konnte, sie zu holen. Wenn ich es wirklich gewollt hätte.

Dunworthy stand mühevoll auf, indem er sich auf den Sitz und die Stuhllehne stützte, und schlurfte, ohne Latimer oder die Kontrollanzeigen noch einmal anzusehen, hinaus auf den Korridor. Draußen stand ein leerer Bahrenwagen an der Wand, an den er sich einen Moment lang lehnte.

Mrs. Gaddson kam aus seinem Zimmer. »Da sind Sie ja, Mr. Dunworthy«, sagte sie. »Ich wollte gerade kommen und Ihnen aus der Bibel lesen.« Sie schlug sie auf. »Dürfen Sie schon auf sein?«

»Ja.«

»Nun, ich muß sagen, es freut mich, daß Sie sich endlich erholen. Seit Sie krank sind, hat einfach nichts mehr richtig geklappt.«

»So?«

»Wegen Mr. Finch müssen Sie wirklich etwas unternehmen, wissen Sie. Er läßt die Amerikanerinnen zu allen Tages- und Nachtstunden mit ihren Glocken üben, und als ich mich bei ihm darüber beschwerte, war er sehr unhöflich. Und er hat meinem Willy Dienst als Krankenpfleger zugewiesen. Pflegedienst! Wo Willy immer so empfänglich für Krankheiten gewesen ist. Für mich kommt es einem Wunder gleich, daß er noch nicht an der Influenza erkrankt ist.«

Es ist ein Wunder, dachte Dunworthy, in Anbetracht der Zahl wahrscheinlich ansteckender junger Frauen, mit denen er während der Epidemie Kontakt gehabt hatte. Welche Chancen, daß er unversehrt davonkommen würde, hätte ihm die Wahrscheinlichkeitsrechnung zugebilligt?

»Und was die Verpflichtung zum Pflegedienst angeht«, sagte Mr. Gaddson, »so erlaubte ich es natürlich nicht. ›Ich lasse nicht zu, daß Sie Willys Gesundheit in dieser unverantwortlichen Weise gefährden lassen‹, sagte ich zu Mr. Finch. ›Ich kann nicht untätig beiseite stehen, wenn mein Kind in Lebensgefahr ist‹, sagte ich. Aber stellen Sie sich vor, was Mr. Finch erwiderte! Er sagte, Willy sei volljährig, und er habe unter den Notstandsbedingungen das Recht, einen Studenten des Colleges auch gegen meinen Willen zum Pflegedienst zu verpflichten!«

»Ich muß Mrs. Piantini besuchen«, sagte Dunworthy.

»Sie sollten wieder zu Bett gehen. Sie sehen schrecklich aus.« Sie schüttelte die Bibel vor seiner Nase. »Es ist skandalös, wie dieses Krankenhaus geleitet wird. Den Patienten zu erlauben, daß sie sich herumtreiben! Sie werden noch einen Rückfall bekommen und sterben, und niemand als Sie selbst wird dafür verantwortlich sein.«

»Ganz recht«, sagte Dunworthy, stieß die Tür zum Krankenzimmer auf und ging hinein. Er hatte erwartet, daß es fast leer sein würde, die Patienten alle nach Hause geschickt, aber alle Betten waren belegt. Die meisten Patienten saßen halb aufrecht in ihren Betten, lasen oder hatten ihre transportablen Fernseher eingeschaltet. Einer saß in einem Rollstuhl neben seinem Bett und blickte hinaus in den verhangenen Tag.

Es dauerte einen Augenblick, bis Dunworthy ihn wiedererkannte. Colin hatte gesagt, er habe einen Rückfall erlitten, aber dies hatte er nicht erwartet. Er sah wie ein alter Mann aus, das dunkelhäutige Gesicht fahlgrau, mit tief eingegrabenen Falten zu beiden Seiten des Mundes und unter den Augen. Sein Haar war völlig weiß geworden. »Badri«, sagte er.

Der Mann drehte sich mit dem Rollstuhl herum. »Mr. Dunworthy.«

»Ich wußte nicht, daß Sie in diesem Zimmer sind.«

»Man verlegte mich hierher, sobald es wieder aufwärts ging.« Er zögerte. »Ich hörte, daß es Ihnen besser ginge.«

»Ja.«

Dunworthy glaubte es nicht länger ertragen zu können. Wie geht es Ihnen? Besser, danke. Und Ihnen? Danke, auch besser. Natürlich hing es mit der Depression zusammen, aber die war, wenn man den Ärzten Glauben schenken wollte, ein normales postvirales Symptom.

Badri drehte seinen Rollstuhl wieder zum Fenster. Und Dunworthy überlegte, ob er es auch nicht ertragen könne.

»Ich machte einen Fehler in den Koordinaten, als ich sie neu eingab«, sagte Badri, den Blick in den regengrauen Tag gerichtet. »Ich gab die falschen Daten ein.«

Sie waren krank, Sie hatten Fieber, hätte er sagen sollen. Desorientierung und Verwirrung seien frühe Symptome der Infektion. Es war nicht Ihre Schuld, hätte er sagen sollen. Er sagte nichts.

»Ich erkannte nicht, daß ich krank war«, sagte Badri. Er zupfte nervös an seinem Morgenmantel, wie er im Delirium an der Bettdecke gezupft hatte. »Ich hatte Kopfschmerzen, schrieb sie aber der Arbeit am Netz zu. Ich hätte erkennen müssen, daß etwas mit mir nicht stimmte, und das Absetzen unterbrechen sollen.«

Und ich hätte mich weigern sollen, ihr Rat und Unterstützung zu geben. Ich hätte darauf bestehen sollen, daß Gilchrist Parameterprüfungen durchführen ließ. Ich hätte ihn dazu bringen sollen, das Netz zu öffnen, als Badri anfing, Anzeichen von Verwirrung zu zeigen.

»Ich hätte das Netz am dem Tag öffnen sollen, als Sie krank wurden, ohne auf den Rückholtermin zu warten«, sagte Badri. Er drehte den Gürtel seines Morgenmantels zwischen den Fingern. »Aber Sie wissen ja, wie schlecht es mir ging. Ich war zu nichts in der Lage.«

Dunworthy blickte gewohnheitsmäßig zur Wand über Badris Bett, aber dort gab es keine Kontrollanzeigen. Badri trug nicht einmal ein Anklebethermometer. War es möglich, daß er von Gilchrists Entscheidung, das Netz abzuschalten, nichts wußte? Vielleicht hatten sie es Badri aus Sorge um seine Erholung vorenthalten, wie sie ihm die Nachricht von Marys Tod vorenthalten hatten.

»Man weigert sich bis heute, mich aus dem Krankenhaus zu entlassen«, sagte Badri wie zu seiner Rechtfertigung. »Ich hätte einfach gehen und die Verantwortung für einen möglichen Rückfall auf mich nehmen sollen.«

Dunworthy dachte, daß er es ihm sagen sollte. Aber er tat es nicht. Er stand schweigend da, sah zu, wie Badris nervöse Finger den Stoffgürtel drehten und drehten, und hatte Mitleid mit ihm.

»Mrs. Montoya zeigte mir die Wahrscheinlichkeitsstatistik«, sagte Badri. »Glauben Sie, daß Kivrin tot ist?«

Ich hoffe, sie starb am Virus, bevor sie begriff, wo sie war. Bevor sie begriff, daß wir sie dort sich selbst überlassen hatten. »Es war nicht Ihre Schuld«, sagte er.

»Ich war nur zwei Tage zu spät, als ich das Netz öffnete. Ich war überzeugt, sie würde dort sein und warten. Nur zwei Tage.«

»Was?«

»Am Sechsten versuchte ich Erlaubnis zum Verlassen des Krankenhauses zu bekommen, aber sie weigerten sich, weil ich schwach war und noch etwas Fieber hatte. Erst am Achten ließen sie mich schließlich gehen. Ich öffnete das Netz, sobald ich konnte, aber sie war nicht dort.«

»Was reden Sie da?« sagte Dunworthy. »Wie konnten Sie das Netz öffnen? Gilchrist hatte es abgeschaltet.«

Badri blickte zu ihm auf. »Ich hatte die Daten gespeichert«, sagte Badri. »Sie waren so besorgt über die Art und Weise, wie die Absetzoperation lief, daß ich die Fixierung speicherte. Das hätte ich wahrscheinlich auch so getan, für den Fall, daß etwas schiefginge. Am Dienstagnachmittag kam ich zum Balliol College, um Sie zu fragen, aber Sie waren nicht da. Ich hinterließ Ihnen eine Notiz, daß ich Sie sprechen müßte.«

»Eine Notiz«, sagte Dunworthy, »ich habe keine gesehen.«

»Das Laboratorium war offen. Ich machte sicherheitshalber eine zusätzliche Fixierung durch unser Netz am Balliol College.«

Dunworthy schienen plötzlich die Kräfte zu verlassen. Er setzte sich auf das Bett.

»Ich versuchte es Ihnen zu sagen«, sagte Badri, »aber es ging mir so schlecht, daß ich mich nicht verständlich machen konnte.«

Es hatte die ganze Zeit eine Fixierung gegeben. Er hatte Tage und Tage mit Bemühungen vergeudet, Gilchrist zum Aufsperren des Laboratoriums zu bringen, hatte nach Basingame geforscht, auf Polly Wilson gewartet, daß sie einen Schleichweg in den Universitätscomputer ausfindig mache… Und die ganze Zeit war die Fixierung im Balliol gespeichert gewesen!

»Können Sie das Netz wieder öffnen?«

»Natürlich, die Koordinaten sind eingegeben. Aber selbst wenn sie nicht die Pest bekommen hat…«

»Hat sie nicht«, unterbrach Dunworthy. »Sie wurde geimpft.«

»… würde sie nicht mehr dort sein. Seit dem Rückholtermin sind acht Tage vergangen. Sie kann unmöglich die ganze Zeit dort gewartet haben.«

»Kann jemand anders durchgehen?«

»Jemand anders?«

»Ja, um sie zu suchen. Könnte jemand anders die gleiche Absetzoperation benutzen, um durchzugehen?«

»Ich weiß nicht.«

»Wie lang würden Sie brauchen, um alles für einen Versuch vorzubereiten?«

»Höchstens zwei Stunden. Wie gesagt, die Koordinaten sind eingegeben, aber ich weiß natürlich nicht, wie viel Verschiebung es diesmal geben würde.«

Die Tür sprang auf, und Colin kam herein. »Ah, hier sind Sie«, sagte er. »Die Schwester sagte, Sie seien spazieren gegangen, aber ich konnte Sie nirgends finden. Dachte schon, Sie hätten sich verlaufen.«

»Bestimmt nicht«, sagte Dunworthy. »Inzwischen kenne ich mich hier besser aus als mir lieb ist.«

»Sie sagte, daß ich Sie zurückbringen soll«, sagte Colin. Er nahm Dunworthy beim Arm und half ihm auf. »Daß Sie nicht übertreiben sollen.« Er führte ihn zur Tür.

Dort angekommen, blieb Dunworthy stehen. »Welches Netz gebrauchten Sie, als Sie es am Achten öffneten?« fragte er Badri.

»Balliols. Ich fürchtete, ein Teil der Daten könnte gelöscht worden sein, als Brasenoses Netz abgeschaltet wurde, und es war keine Zeit, um ein Schadenfeststellungsprogramm laufen zu lassen.«

Colin hielt die Tür auf. »In einer halben Stunde kommt die andere Schwester zum Dienst. Wenn die sieht, daß Sie auf sind, können Sie was erleben.« Er zog Dunworthy durch die Tür und ließ sie zufallen. »Tut mir leid, daß ich nicht früher gekommen bin, aber ich mußte Impfpläne nach Godstow hinausbringen.«

Dunworthy lehnte schwach an der Tür. Es mochte zuviel Verschiebung geben, und der Techniker saß im Rollstuhl, und er war nicht sicher, ob er bis zum Ende des Korridors, geschweige denn zurück zu seinem Krankenzimmer gehen konnte. Was hatte er sich für Sorgen gemacht. Und die ganze Zeit hatte es eine zweite Fixierung gegeben.

»Fehlt Ihnen was?« fragte Colin. »Haben Sie einen Rückfall oder was?«

»Nein, es geht schon.«

»Haben Sie Mr. Chaudhuri gefragt, ob er die Fixierung nach den gespeicherten Daten neu anlegen kann?«

»Ich brauchte ihn nicht zu fragen«, sagte er. »Er hatte eine zweite Fixierung vorgenommen, sicherheitshalber.«

»Eine zweite Fixierung?«

»Heißt das, daß Sie sie retten können?«

Er blieb stehen und stützte sich auf den Bahrenwagen. »Ich weiß nicht.«

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte Colin. »Was soll ich tun? Ich tue alles, was Sie sagen. Ich kann Botengänge machen und Dinge für Sie holen. Sie brauchen überhaupt nichts zu tun.«

»Es könnte sein, daß es nicht klappt«, sagte Dunworthy. »Die Verschiebung kann bei dem zeitlichen Abstand fünf Jahre ausmachen…«

»Aber Sie werden es versuchen, nicht? Nicht wahr?«

Mit jedem schlurfenden Schritt zog sich ein eiserner Reifen enger um seine Brust, und Badri hatte bereits einen Rückfall erlitten, und selbst wenn sie es schafften, war noch nicht gesagt, daß das Netz ihn durchschicken würde.

»Ja«, sagte er, »ich werde es versuchen.«

»Apokalyptisch«, sagte Colin.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(078926–079064)

Frau Imeyne, Mutter von Guillaume d’Iverie.


(Unterbrechung)

Mit Rosemund geht es abwärts. Ich kann ihren Puls nicht mehr fühlen, und ihre Haut sieht gelb und wächsern aus, was ein schlechtes Zeichen ist. Agnes kämpft schwer. Sie hat noch keine Beulen und muß nicht erbrechen, was mir Hoffnung macht. Eliwys mußte ihr das Haar abschneiden. Sie zerrte ständig daran und rief, ich solle kommen und ihr Zöpfe flechten.


(Unterbrechung)

Pater Roche hat Rosemund die letzte Ölung gespendet. Sie konnte natürlich keine Beichte ablegen. Agnes scheint es ein wenig besser zu gehen, obwohl sie vor einer Weile Nasenbluten hatte. Sie bat um ihre Glocke.


(Unterbrechung)

Ich werde nicht zulassen, daß du sie holst, verfluchter Teufel. Sie ist noch ein Kind. Aber das ist deine Spezialität, nicht? Die Unschuldigen abschlachten? Du hast schon den Säugling des Verwalters und Agnes’ Welpen und den Jungen umgebracht, der Hilfe holen ging, als ich krank war, und das ist genug. Ich werde nicht erlauben, daß du sie auch noch umbringst, Satan! Ich lasse es nicht zu!

31

Agnes starb am Tag nach Neujahr, und bis zuletzt rief sie nach Kivrin.

»Sie ist hier«, sagte Eliwys und drückte ihre Hand. »Katherine ist hier.«

»Sie ist nicht hier«, winselte Agnes. Ihre Stimme war heiser, aber noch immer kräftig. »Sag ihr, daß sie kommen soll.«

»Ich sage es ihr«, versprach Eliwys, und dann blickte sie mit hilflosem Ausdruck zu Kivrin auf. »Geht und holt Pater Roche«, sagte sie.

»Was gibt es?« fragte Kivrin. Er hatte Agnes schon an jenem ersten Abend die Sterbesakramente gespendet, und Agnes hatte sich schreiend und zappelnd zur Wehr gesetzt, als ob sie einen Wutanfall hätte, und seither hatte sie ihn nicht in ihre Nähe gelassen. »Seid Ihr krank?«

Eliwys schüttelte den Kopf. »Was werde ich meinem Mann sagen, wenn er kommt?« sagte sie und legte Agnes die kleinen Hände auf der Brust zusammen, und erst dann erkannte Kivrin, daß sie tot war.

Sie wusch den kleinen Körper, der fast ganz mit bläulich roten Blutergüssen bedeckt war. Als Eliwys ihr die Hand gehalten hatte, war die Haut vollständig schwarz geworden. Sie sah aus, als hätte sie schreckliche Prügel bekommen. Und so war es, dachte Kivrin. Geschlagen und gequält. Und ermordet. Der Mord an den unschuldigen Kindern.

Agnes’ Kleid und Hemd waren ruiniert, eine steif gewordene Masse von Blut und Erbrochenem, und ihr Alltagskleid aus Leinen war längst in Streifen gerissen. Kivrin warf die beschmutzten Sachen ins Feuer und hüllte den Körper in ihren eigenen weißen Umhang, und Pater Roche und der Verwalter begruben sie.

Eliwys ging nicht mit ihnen. »Ich muß bei Rosemund bleiben«, sagte sie, als Kivrin ihr sagte, daß es Zeit sei.

Es gab nichts, was sie für Rosemund tun konnte — das Mädchen lag noch immer so still, als wäre es unter einem Zauberbann, und Kivrin fürchtete, daß das Fieber einen Gehirnschaden verursacht haben müsse. »Und Gawyn könnte kommen«, fügte Eliwys hinzu.

Es war sehr kalt. Pater Roche und der Verwalter stießen dichte weiße Atemwolken aus, als sie Agnes ins Grab senkten, das sie mit Äxten und Schaufeln in den gefrorenen Boden gehackt hatten, und der Anblick ihres dampfenden Atems erbitterte Kivrin, ohne daß sie zu sagen wußte, warum. Sie wiegt nichts, dachte sie, ihr könntet sie in einer Hand tragen.

Der Anblick aller frischen Gräber machte sie zornig. Der Friedhof war voll, und beinahe der ganze Teil des Dorfangers, den Pater Roche geweiht hatte. Frau Imeynes Grab befand sich unmittelbar am Fußpfad zur Friedhofspforte, und der Säugling des Verwalters hatte kein eigenes Grab; Pater Roche hatte ihn zu Füßen seiner Mutter begraben, obwohl er noch nicht getauft gewesen war.

Bald würde Pater Roche ein weiteres Stück des Dorfangers zum Friedhof weihen müssen, dachte Kivrin. Der jüngste Sohn des Verwalters war noch nicht begraben, und der Sekretär. Der Schwarze Tod sollte nur ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung dahingerafft haben. Nicht die ganze.

»Requiescat in pace. Amen«, sagte Pater Roche, und der Verwalter begann die gefrorenen Erdbrocken auf das kleine Bündel zu schaufeln.

Sie hatten recht, Mr. Dunworthy, dachte Kivrin in bitterer Resignation. Weiß wird nur schmutzig. Sie haben in allem recht, nicht wahr? Sie sagten mir, ich solle nicht in diese Zeit gehen, Schreckliches würde geschehen. So ist es gekommen, und Sie können nicht erwarten mir zu sagen: Das habe ich Ihnen gleich gesagt. Aber Sie werden diese Befriedigung nicht haben, weil ich nicht weiß, wo der Absetzort ist, und weil die einzige Person, die es mir sagen könnte, wahrscheinlich tot ist.

Sie wartete nicht ab, bis das Grab eingeebnet war und bis Pater Roche seine Sterbegebete beendet hatte Sie ging über den Dorfanger davon, wütend auf alle, auf den Verwalter, weil er mit seinem Spaten und der Axt dastand, als könnte er es nicht erwarten, weitere Gräber auszuheben, auf Eliwys, weil sie nicht mitgekommen war, auf Gawyn, weil er nicht zurückkehrte. Niemand kommt, dachte sie. Niemand.

»Katherine!« rief Pater Roche.

Sie wandte sich um, und er eilte ihr nach. Sein Atem war wie eine Wolke um ihn.

»Was ist?«

Er blickte ihr ernst ins Auge. »Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben«, sagte er.

»Warum nicht?« erwiderte sie mutlos. »Die meisten sind gestorben, und die Seuche ist noch lange nicht vorüber. Der Sekretär liegt in den letzten Zügen, Rosemund wird ihm bald folgen, wir alle sind der Ansteckung ausgesetzt gewesen. Warum sollte ich die Hoffnung nicht aufgeben?«

»Gott hat uns nicht gänzlich verlassen«, sagte er. »Agnes ist geborgen in Seinen Armen.«

Geborgen, dachte sie. In der Erde. In der Kälte. In der Dunkelheit. Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Sie ist im Himmel, wo die Pest sie nicht erreichen kann. Und Gottes Liebe ist immer mit uns«, sagte er. »Nichts kann uns von ihr trennen, nicht der Tod, noch das Leben, noch gegenwärtige Dinge…«

»Noch kommende Dinge«, sagte Kivrin.

»Weder Höhen noch Tiefen, noch irgendein Geschöpf«, sagte er. Er legte seine große Hand auf ihre Schulter, sanft, wie wenn er ihr die letzte Ölung spenden wollte. »Seine Liebe war es, die Euch aussandte, uns zu helfen.«

Sie legte ihre Hand auf die seine, wo sie auf ihrer Schulter ruhte, und drückte sie fest. »Wir müssen einander helfen«, sagte er.

So standen sie eine lange Minute, dann sagte Pater Roche: »Ich muß gehen und die Glocke läuten, damit Agnes’ Seele eine sichere Überfahrt habe.«

Sie nickte und nahm ihre Hand weg. »Ich werde mich um Rosemund und die anderen kümmern«, sagte sie und ging zurück zum Gutshof.

Eliwys hatte gesagt, sie müsse bei Rosemund bleiben, doch als Kivrin das Haus betrat, war sie nirgendwo in ihrer Nähe. Sie lag zusammengerollt auf Agnes’ Strohsack, eingehüllt in ihren Umhang und beobachtete die Tür. »Vielleicht wurde sein Pferd von denen gestohlen, die vor der Pest fliehen«, sagte sie, »und das ist der Grund, warum er so lang auf sich warten läßt.«

»Agnes ist begraben«, sagte Kivrin kühl und ging weiter zu Rosemund.

Sie war wach und bei Bewußtsein. Als Kivrin bei ihr niederkniete, blickte sie ernst zu ihr auf und tastete nach ihrer Hand.

»Ach, Rosemund«, sagte Kivrin, und Tränen brannten ihr in den Augen. »Liebes Kind, wie fühlst du dich?«

»Hungrig«, sagte Rosemund. »Ist mein Vater gekommen?«

»Noch nicht«, antwortete Kivrin, und es schien ihr sogar möglich, daß er noch kommen würde. »Ich werde dir Brühe bringen. Bleib ruhig liegen, bis ich zurückkomme. Du bist sehr krank gewesen.«

Rosemund schloß gehorsam die Augen. Sie sahen weniger eingesunken aus, obwohl sie noch von dunklen Blutergüssen umgeben waren. »Wo ist Agnes?« fragte sie.

Kivrin strich ihr das wirre dunkle Haar aus dem Gesicht. »Sie schläft.«

»Gut«, sagte Rosemund. »Ich mag nicht, wenn sie schreit und herumspringt. Sie ist zu laut.«

»Ich werde dir die Brühe bringen«, sagte Kivrin. Sie ging hinüber zu Eliwys. »Ich habe gute Nachricht«, sagte sie, »Rosemund ist wach.«

Eliwys erhob sich auf einen Ellbogen und schaute zu ihr hinüber, aber zerstreut, als dächte sie an etwas anderes, und gleich darauf legte sie sich wieder zurück.

Besorgt streckte Kivrin die Hand aus und legte sie der anderen auf die Stirn. Sie fühlte sich warm an, aber Kivrins Hände waren noch kalt vom Aufenthalt im Freien, und sie konnte es nicht mit Gewißheit sagen. »Seid Ihr krank?« fragte sie.

Eliwys verneinte, aber noch immer war es, als ob ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt wären. »Was soll ich ihm sagen?«

»Ihr könnt ihm sagen, daß es Rosemund besser geht«, sagte sie, und diesmal schien die Botschaft anzukommen. Eliwys erhob sich und ging zu Rosemund und setzte sich zu ihr. Doch als Kivrin mit der warmen Brühe vom Küchenhaus hereinkam, war Eliwys zu Agnes’ Strohsack zurückgekehrt und lag wie vorher zusammengerollt unter dem pelzbesetzten Umhang.

Rosemund schlief, aber es war nicht der beängstigend totengleiche Schlaf von vorher. Ihre Farbe war besser, obwohl die Gesichtshaut noch immer straff über die Backenknochen gespannt war.

Auch Eliwys schlief oder tat so, als ob sie schliefe, und es war ihr genauso recht. Während sie im Küchenhaus gearbeitet hatte, war der lebende Leichnam des Sekretärs von seinem Strohsack und halb über die Barrikade gekrochen, schwarz und bedeckt mit schwärenden Beulen. Kivrin versuchte ihn zurückzuziehen, und er schlug wild und ungezielt mit den Armen nach ihr. Sie mußte gehen und Pater Roche holen, daß er ihr half, den verwirrten Kranken zu bändigen.

Sein rechtes Auge war ein einziger Eiterherd, als fräße die Pest sich von innen nach außen, und er krallte mit beiden Händen in zwanghafter Wildheit darin herum. In seinem Mund, den er nicht mehr schließen konnte, bewegte sich steif die schwarze und rissige Zunge. »Domine Jesu Christe«, lallte er, »fedelium defunctorium de poenis infermis.«

Ja,betete Kivrin, mit seinen krallenden Fingern ringend, erlöse ihn jetzt.

Sie durchsuchte abermals Imeynes Arzneien, um vielleicht ein schmerzstillendes Mittel zu finden. Es gab kein Opiumpulver unter ihren Kräutern, und Kivrin wußte nicht, ob im England des Jahres 1348 Opium überhaupt bekannt war. Sie fand ein paar orangefarbene Streifen, die ausgetrocknet wie Papier waren und ein wenig wie Mohnblüten aussahen, und um irgend etwas zu tun, goß sie sie mit heißem Wasser auf, aber der Sekretär konnte den Aufguß nicht trinken. Sein Mund war eine einzige schwärende offene Wunde, Zähne und Zunge verklebt mit getrocknetem Blut und Eiter.

Das hat er nicht verdient, dachte Kivrin. Selbst wenn er die Pest hierherbrachte. Niemand hat solch ein grauenhaftes Leiden verdient. »Bitte«, betete sie, und war nicht sicher, was sie erbat.

Was es auch war, es wurde nicht gewährt. Der Sekretär begann dunklen, mit Blut gestreiften Schleim zu erbrechen, und es schneite zwei Tage lang, und Eliwys’ Zustand verschlechterte sich stetig. Es schien nicht die Pest zu sein. Sie hatte keine Beulen und mußte weder husten noch erbrechen, und Kivrin überlegte, ob es eine Krankheit sei oder vielmehr durch Kummer oder Schuldgefühle ausgelöste Symptome. »Was soll ich ihm sagen?« sagte Eliwys wieder und wieder. »Er schickte uns hierher, um uns in Sicherheit zu bringen.«

Kivrin befühlte ihre Stirn. Sie war warm. Es sah so aus, als würden sie alle die Pest bekommen. Ihr Mann hatte sie in die Abgeschiedenheit des Dorfes geschickt, weil er sie hier sicher wähnte, aber das war ein Trugschluß. Der Besuch des bischöflichen Gesandten und seines Gefolges hatte alles verändert. Sie waren alle zum Tode verurteilt. Kivrin wußte nicht, was sie in dieser Lage tun sollte. Der einzige Schutz vor der Pest war Flucht, aber sie rettete nur den, der noch nicht infiziert war. Eine Flucht mit Kranken wie Rosemund und Eliwys konnte nur ins Verderben führen.

Aber Rosemund wurde mit jedem Tag kräftiger, dachte Kivrin, und Eliwys schien nicht die Pest zu haben, sondern nur ein Fieber. Vielleicht die Grippe. Und wenn die Familie noch einen anderen Landsitz hatte, womöglich im Norden, könnten sie dorthin gehen.

Die Pest war noch nicht in Yorkshire. Sie könnte darauf achten, daß sie auf Distanz zu den anderen Leuten auf den Straßen blieben, daß sie nicht angesteckt wurden.

Sie fragte Rosemund, ob sie einen Landsitz in Yorkshire hätten. Rosemund schüttelte den Kopf. Sie saß an eine der Bänke gelehnt. »In Dorset«, sagte sie, aber das war nutzlos. Die Pest war bereits dort. Und Rosemund war trotz der leichten Besserung ihres Zustandes noch immer zu schwach, um länger als ein paar Minuten aufrecht zu sitzen. Sie konnte auf keinen Fall ein Pferd reiten, und Pferde waren ohnedies keine mehr da.

»Mein Vater hatte auch ein Haus in Surrey«, sagte Rosemund. »Dort waren wir, als Agnes geboren wurde.« Sie richtete den Blick auf Kivrin. »Ist Agnes gestorben?«

»Ja.«

Sie nickte, als sei sie nicht überrascht. »Ich hörte sie schreien.«

Kivrin wußte darauf nichts zu sagen.

»Mein Vater ist auch tot, nicht wahr?«

Darauf gab es auch nichts zu sagen. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit tot, und Gawyn auch. Acht Tage waren vergangen, seit er nach Bath aufgebrochen war. Eliwys, immer noch fiebernd, hatte am Morgen gesagt: »Nun, da der Sturm vorbei ist, wird er kommen«, aber sie schien es selbst nicht zu glauben.

»Er kann noch immer kommen«, sagte Kivrin. »Der Schnee wird ihn aufgehalten haben.«

Der Verwalter kam herein, stellte seinen Spaten im Durchgang ab und kam in den Herdraum. Er war jeden Tag hereingekommen, um seinen Sohn zu sehen, aber jetzt warf er ihm nur einen kurzen Blick zu, dann wandte er sich und starrte Kivrin und Rosemund an.

Seine Mütze und die Schultern waren schneebedeckt, und Kivrin sah Erde und Schnee am Spatenblatt haften. Er hatte ein weiteres Grab ausgehoben. Wessen?

»Ist jemand gestorben?« fragte sie.

»Nein«, sagte er und fuhr fort, Rosemund anzustarren.

Kivrin stand auf. »Gibt es noch etwas?«

Er sah sie leer an, als könne er die Frage nicht verstehen, dann ging sein Blick zurück zu Rosemund. »Nein«, sagte er, machte kehrt, nahm den Spaten und ging wieder hinaus.

»Geht er Agnes’ Grab ausschaufeln?« fragte Rosemund.

»Nein«, sagte Kivrin sanft. »Sie hat schon ihren Platz auf dem Friedhof.«

»Geht er dann, mein Grab zu schaufeln?«

»Nein, nein«, erwiderte Kivrin. »Du wirst nicht sterben. Dir geht es besser. Du warst sehr krank, aber das Schlimmste ist vorüber. Nun mußt du ruhen, viel essen und schlafen, damit du ganz gesund wirst.«

Rosemund streckte sich gehorsam aus und schloß die Augen, doch nach einer Minute öffnete sie sie wieder. »Wenn mein Vater tot ist, wird die Krone über meine Mitgift verfügen«, sagte sie. »Glaubst du, daß Sir Bloet noch lebt?«

Ich hoffe nicht, dachte Kivrin. Armes Kind, hat sie sich die ganze Zeit wegen ihrer Ehe gesorgt? Armes kleines Mädchen. Sein Tod wäre das einzige Gute, was bei der Epidemie herauskäme. »Du mußt dich jetzt nicht um ihn sorgen. Du mußt ausruhen und wieder zu Kräften kommen.«

»Manchmal respektiert der König eine vorausgegangene Verlobung«, sagte Rosemund. Ihre dünnen Finger zupften an der Decke. »Wenn beide Parteien einverstanden sind.«

Du brauchst mit nichts einverstanden zu sein, dachte Kivrin. Er ist tot. Der Gesandte des Bischofs und seine Begleiter haben in Courcy alle umgebracht.

»Wenn keine Einigung zustande kommt, wird der König mir befehlen, zu heiraten, wen er will«, sagte Rosemund, »und Sir Bloet ist mir wenigstens bekannt.«

Kivrin wußte, daß das Mädchen in seinem Fieberwahn schlimmere Schrecken als Sir Bloet erlebt hatte, Alpträume von Ungeheuern und Halsabschneidern, und Kivrin wußte, daß es solche gab.

Rosemund würde an irgendeinen Adligen verkauft, dem der König eine Gefälligkeit schuldete oder dessen Unterstützung er zu kaufen suchte, vielleicht einen der lästigen Gefolgsleute des Schwarzen Prinzen, und weiß Gott wohin und in welche Verhältnisse gebracht.

Es gab Schlimmeres als einen lüsternen alten Mann und eine boshafte Schwägerin. Baron Garnier hatte seine Frau zwanzig Jahre lang in Ketten gehalten. Der Graf von Anjou hatte die seine lebendig verbrannt. Und Rosemund würde keine Familie haben, keine Freunde, die sie beschützten und pflegten, wenn sie krank war.

Ich werde sie mitnehmen, dachte Kivrin plötzlich, an einen Ort, wo Bloet sie nicht finden kann und wo wir vor der Pest sicher sein werden.

Es gab keinen solchen Ort. Die Pest war bereits in Bath und Oxford und verbreitete sich nach Süden und Osten über London nach Kent, nordwärts durch Mittelengland nach Yorkshire und zurück über den Kanal nach Deutschland und den Niederlanden. Sie war sogar nach Norwegen gekommen, mit einem angetriebenen Schiff voll toter Männer. Es gab keinen sicheren Ort.

»Ist Gawyn hier?« fragte Rosemund. Sie hörte sich wie ihre Mutter oder ihre Großmutter an. »Ich möchte, daß er nach Courcy reitet und Sir Bloet sagt, daß ich zu ihm kommen würde.«

»Gawyn?« sagte Eliwys von ihrem Strohsack. »Kommt er?«

Nein, dachte Kivrin. Niemand kommt. Nicht einmal Mr. Dunworthy.

Es war unwichtig, daß sie den Rückholtermin verpaßt hatte. Es wäre ohnehin niemand dort gewesen, weil sie nicht wußten, daß sie im Jahr 1348 war. Hätten sie es gewußt, so würden sie sie niemals hier gelassen haben.

Etwas mußte mit dem Netz schiefgegangen sein. Mr. Dunworthy war sehr besorgt drüber gewesen, daß man sie ohne Parameterüberprüfungen so weit in die Vergangenheit schicken wollte. Er hatte von unvorhergesehenen Komplikationen bei solchen Ferndistanzen gesprochen. Vielleicht war es eine unvorhergesehene Komplikation gewesen, welche die Fixierung verändert oder bewirkt hatte, daß die Koordinaten verlorengegangen waren, und nun suchten sie sie verzweifelt im Jahr 1320. Sie hatte den Rückholtermin um fast dreißig Jahre verpaßt.

»Gawyn?« murmelte Eliwys wieder und versuchte sich aufzurichten.

Sie konnte nicht. Ihr Befinden verschlechterte sich gleichmäßig, obwohl sie noch immer keine Kennzeichen der Pest trug. Als der Schneefall eingesetzt hatte, war sie erleichtert gewesen. »Er wird jetzt nicht kommen, sondern erst, wenn der Sturm vorüber ist«, hatte sie gesagt und war aufgestanden, um sich zu Rosemund zu setzen, aber schon am Nachmittag hatte sie sich niederlegen müssen, und ihr Fieber war von Tag zu Tag gestiegen.

Pater Roche nahm ihr die Beichte ab. Er sah übermüdet und verbraucht aus. Sie waren alle verbraucht.

Wenn sie sich setzten, um auszuruhen, schliefen sie innerhalb von Sekunden ein. Der Verwalter, selbst unter Frühsymptomen der Krankheit leidend, war vor ein paar Tagen im Stehen eingeschlafen, und Kivrin war beim Nachlegen von Scheiten eingenickt und hatte sich schlimm die Hand verbrannt.

Wir können so nicht weitermachten, dachte sie, als sie Pater Roche das Kreuzzeichen über Eliwys machen sah. Er wird an Erschöpfung sterben. Oder sein aller Widerstandskraft beraubter Körper wird der Pest zum Opfer fallen.

Vielleicht gab es wirklich keine andere Lösung als fortzugehen. Die Pest kam nicht in alle Gegenden. Es gab Dörfer, die völlig unberührt blieben. Die Pest war nicht nach Polen und Böhmen vorgedrungen, und im Norden Schottlands gab es Landstriche, die es nie erreicht hatte.

»Agnus dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis«, sagte Pater Roche. Seine Stimme klang so gut und tröstlich wie damals, als sie im Sterben gelegen hatte, und sie begriff, daß alle Gedanken an Flucht, so verständlich sie sein mochten, hoffnungslos waren.

Er würde seine Pfarrkinder niemals verlassen. Die Geschichte des Schwarzen Todes wußte von vielen Priestern zu berichten, die ihre Gemeinden im Stich gelassen hatten, die sich geweigert hatten, Pestkranken die Sterbesakramente zu spenden und an Begräbnissen teilzunehmen, die sich in ihren Kirchen und Klöstern eingesperrt hatten oder davongelaufen waren. Sie fragte sich jetzt, ob jene Berichte nicht verallgemeinert worden waren.

Und selbst wenn sie eine Möglichkeit fände, sie alle mitzunehmen, würde Eliwys, die sich sogar während ihrer Beichte umwandte und zur Tür blickte, darauf bestehen, die Ankunft Gawyns oder ihres Mannes abzuwarten, und sie würde die Hoffnung auf ihr Kommen niemals aufgeben.

»Ist Pater Roche ihm entgegengegangen?« fragte sie Kivrin, als der Pfarrer mit seinem Korb zur Kirche zurückgegangen war. »Er wird bald hier sein. Er ist gewiß zuerst nach Courcy geritten, um sie vor der Pest zu warnen, und von dort ist es nur eine halbe Tagesreise.« Sie bestand darauf, daß Kivrin ihren Strohsack ein Stück weiterziehe, damit sie von ihrem Lager aus die Tür im Auge behalten könne.

Während Kivrin die Barrikade abbaute und die Bänke so anordnete, daß die Zugluft von der Tür abgehalten wurde, stieß der Sekretär plötzlich einen Schrei aus und verfiel in krampfhafte Zuckungen. Sein ganzer Körper wurde wie von Stromstößen geschüttelt, sein Gesicht verzerrte sich zu einer grausigen starren Maske, aus der das vereiterte Auge blind zur Decke stierte.

»Laß ihn endlich sterben«, murmelte Kivrin entsetzt. »Hat er noch nicht genug durchgemacht?«

Plötzlich erschlaffte sein Körper, und ein dünnes Rinnsal schwarzen Schleims rann aus seinem Mundwinkel.

Er ist tot, dachte sie, und konnte es nicht glauben. Sie beugte sich über das geschwollene Gesicht, geschwärzt unter dem Stoppelbart, das gesunde Auge halb geöffnet. Die Fäuste lagen noch geballt an seinen Seiten. Er sah nicht menschlich aus, wie er dalag, und Kivrin zog ihm die grobe Wolldecke über den Kopf, um Rosemund seinen Anblick zu ersparen.

»Ist er tot?« fragte Rosemund. Sie saß neugierig auf.

»Ja«, sagte Kivrin. »Gott sei Dank.« Sie stand auf. »Ich muß gehen und Pater Roche Bescheid sagen.«

»Ich möchte nicht, daß du mich hier allein läßt«, sagte Rosemund.

»Deine Mutter ist hier, und der Junge des Verwalters, und ich werde nur ein paar Minuten ausbleiben.«

»Ich fürchte mich«, sagte Rosemund.

Ich mich auch, dachte Kivrin, als ihr Blick auf die Gestalt fiel, die sich unter der groben Decke abzeichnete.

Er war tot, doch selbst das schien sein Leiden nicht beendet zu haben. Er sah nicht entspannt aus, sondern noch immer gequält und nicht mehr menschenähnlich. Die Qualen der Hölle.

»Bitte verlaß mich nicht«, sagte Rosemund.

»Ich muß es Pater Roche sagen«, erwiderte Kivrin, aber dann setzte sie sich zwischen den Toten und Rosemund und wartete, bis sie schlief, bevor sie aufstand und hinausging.

Er war nicht im Hof und nicht im Küchenhaus. Die Kuh des Verwalters war in der Scheuneneinfahrt und fraß Heu, und als Kivrin vorbeiging, folgte sie ihr gemächlich durch die Zufahrt und auf den Dorfanger.

Der Verwalter war auf dem Friedhof und grub mit Hacke und Schaufel ein Grab. Es war bereits brusttief. Er weiß es schon, dachte sie, aber das war unmöglich. Angst faßte ihr ans Herz.

»Wo ist Pater Roche?« rief sie, aber der Verwalter antwortete weder, noch blickte er auf. Die Kuh kam an ihre Seite und muhte.

»Geh weg!« sagte sie und eilte hinüber zum Verwalter.

Das Grab war nicht auf dem Friedhof, es war auf dem hinteren Teil des Dorfangers, und daneben waren zwei weitere Gräber anscheinend schon fertig, denn die ausgehobene Erde lag in dunklen Haufen neben ihnen auf dem Schnee.

»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie. »Wessen Gräber sind das?«

Der Verwalter warf eine Schaufelvoll Erde auf den Haufen. Nur die obersten zehn oder fünfzehn Zentimeter waren hartgefroren, die Erde darunter war braun und fett.

»Wer ist gestorben?« fragte sie. »Für wen sind diese drei Gräber?« Die Kuh stieß ihre Schulter mit dem Horn an. Sie entzog sich ihr. »Wer ist gestorben?«

Der Verwalter stieß den Spaten in die Erde und richtete sich auf. In seinen Augen flackerte das Fieber. »Es sind die letzten Tage, Junge«, sagte er, und Kivrin begriff, daß er sie in ihren Jungenkleidern nicht erkannt hatte.

»Ich bin es, Katherine«, sagte sie.

Er blickte wieder auf und nickte. »Es ist das Ende der Zeit«, sagte er. »Wer noch nicht gestorben ist, wird sterben. Wer weiß, ob ich morgen noch die Kraft haben werde, ein Grab auszuheben.« Er beugte sich wieder über seine Schaufel.

Die Kuh versuchte ihren Kopf unter Kivrins Arm zu stecken.

»Geh weg!« sagte sie und gab ihr einen Stoß. Die Kuh zog sich behutsam zurück und wanderte um die Gräber, und Kivrin bemerkte jetzt, daß sie nicht alle von gleicher Größe waren.

Das erste war groß, das zweite aber nicht viel länger als Agnes’ Kindergrab, und das dritte, in dem er stand, schien auch nicht für einen Erwachsenen bestimmt. Sie hatte Rosemund versichert, daß er nicht ihr Grab ausheben würde, aber anscheinend tat er es.

»Das ist nicht richtig«, sagte sie. »Deinem Sohn und Rosemund geht es besser. Und Eliwys ist nur müde und krank vor Kummer. Sie werden nicht sterben.«

Der Verwalter blickte mit ausdrucksloser Miene auf, und ihr kam der Gedanke, daß er bei Rosemund für ihr Grab Maß genommen hatte, als er in den Herdraum gekommen war. »Pater Roche sagt, du seist geschickt worden, um uns zu helfen, aber was kannst du gegen das Ende der Welt ausrichten?« Er stieß wieder die Schaufel in die Erde. »Wir werden diese Gräber brauchen. Alle, alle werden sterben.«

Die Kuh kam von der anderen Seite des Grabes näher, den Kopf gesenkt, daß er auf einer Ebene mit dem des Verwalters war, und muhte ihn an, aber er schien es nicht zu bemerken.

»Sie werden nicht sterben«, sagte sie. »Die Pest tötete nur ein Drittel bis eine Hälfte der Zeitgenossen. Wir haben unsere Quote schon erreicht.«

Er grub weiter, als hörte er nicht, und vielleicht war es besser so, denn Kivrin spürte, daß sie die Fassung verlor und imstande war, plötzlich in Tränen auszubrechen oder unkontrolliertes Zeug zu reden.


In der folgenden Nacht starb Eliwys. Der Verwalter mußte Rosemunds Grab für sie verlängern, und als sie sie gegraben, sah Kivrin, daß er ein weiteres Grab angefangen hatte.

Ich muß sie fortbringen, dachte sie, als sie den Verwalter auf den Spaten gestützt sah, keuchend vor Schwäche, aber wie besessen von der fixen Idee, Gräber zu schaufeln. Sobald er Eliwys’ Grab aufgefüllt hatte, fing er wieder mit dem nächsten an. Ich muß sie fortbringen, bevor sie angesteckt werden.

Denn der Ansteckung konnten sie nicht entgehen. Sie lag überall auf der Lauer, in den Bakterien an ihren Kleidern und im Bettzeug, in der Luft, die sie atmeten. Und wenn sie durch ein Wunder davon nicht angesteckt wurden, würde die Pest im Frühjahr Wiederaufleben und ganz Oxfordshire überziehen, ohne einen Unterschied zwischen Dorfbewohnern und Boten und fahrendem Volk und bischöflichen Gesandten zu machen. Sie konnten nicht hier bleiben.

Schottland, dachte sie, als sie zum Herrenhaus zurückging. Ich könnte sie nach Nordschottland bringen. Dorthin ist die Pest nicht gekommen. Der Sohn des Verwalters könnte auf dem Esel reiten, und für Rosemund würden sie eine Tragbahre machen.

Das Mädchen saß auf dem Strohsack. »Der Junge des Verwalters hat dich gerufen«, sagte sie, als Kivrin hereinkam.

Er hatte blutigen Schleim erbrochen. Sein Strohsack war davon beschmutzt, und als Kivrin ihn säuberte, war er zu schwach, um den Kopf zu heben. Selbst wenn Rosemund reiten könnte, dachte sie verzweifelnd, er konnte es nicht. Sie würden nicht bis zum nächsten Dorf kommen.

In der Nacht dachte sie an das Fuhrwerk, das am Absetzort gewesen war. Vielleicht konnte der Verwalter ihr helfen, den Wagen zu reparieren und zusammenzusetzen, und Rosemund könnte darin liegen. Sie entzündete ein Binsenlicht an der Glut des Herdfeuers und schlüpfte zum Stall hinaus, um sich den Wagen anzusehen. Pater Roches Esel begrüßte ihr Eintreten mit rauhem Geschrei, und sie vernahm ein vielfaches huschendes Rascheln, als sie das rauchende Licht in die Höhe hielt.

Die eingeschlagenen Kisten und die Körbe lagen wie eine Barrikade aufgestapelt vor dem Fuhrwerk, und als sie einen Teil davon weggeräumt hatte, mußte sie erkennen, daß es nicht gehen würde. Das Fuhrwerk war zu groß. Der Esel konnte es nicht ziehen, außerdem fehlte die hölzerne Achse. Irgendein unternehmender Zeitgenosse mußte sie fortgetragen haben, um einen Zaun auszubessern oder Brennholz daraus zu machen. Oder um den eigenen Wagen damit instandzusetzen.

Es war pechschwarze Nacht, als sie auf den Hof hinauskam, und die Sterne standen hell und scharf am Himmel, wie sie es am Weihnachtsabend getan hatten. Sie mußte daran denken, wie Agnes an ihrer Schulter geschlafen hatte, die Messingglocke an ihrem kleinen Handgelenk, und wie von überall die Glockentöne über das Land gehallt hatten.

Sie lag noch lange wach, beschäftigt mit Überlegungen zu einem anderen Plan. Vielleicht ließ sich eine Art Sänfte zum Schleifen machen, die der Esel ziehen konnte, wenn der Schnee nicht zu tief war. Oder vielleicht konnten sie beide Kinder rechts und links wie Traglasten auf dem Esel festmachen und das Gepäck selbst tragen.

Endlich schlief sie ein, und wurde beinahe augenblicklich, wie es ihr vorkam, wieder geweckt. Es war noch dunkel, und Pater Roche beugte sich über sie. Die Glut des sterbenden Herdfeuers leuchtete sein Gesicht von unten an, so daß er aussah wie damals auf der Lichtung, als sie ihn für einen Halsabschneider gehalten hatte, und noch im Halbschlaf streckte sie die Hand aus und legte sie sanft an seine Wange.

»Katherine«, sagte er leise, und sie wurde wach. Es ist Rosemund, dachte sie und wandte den Kopf, aber das Mädchen schlief ruhig, die schmale Hand unter der Wange.

»Was gibt es?« fragte sie. »Seid Ihr krank?«

Er schüttelte den Kopf, öffnete den Mund und schloß ihn wieder.

»Ist jemand gekommen?« fragte sie und krabbelte auf die Füße.

Wieder schüttelte er den Kopf.

Wer sollte krank geworden sein? Es war kaum noch jemand übrig. Sie blickte zu den Decken bei der Tür, wo der Verwalter schlief, aber er war nicht da. »Ist der Verwalter zusammengebrochen?«

»Der Junge des Verwalters ist tot«, sagte er in einem seltsamen, benommenen Ton, und sie sah, daß auch der Junge von seinem Strohsack verschwunden war. »Ich ging zur Kirche, um das Stundengebet zu sprechen«, sagte Pater Roche, und seine Stimme versagte. »Ihr müßt mit mir kommen«, fügte er hinzu, richtete sich auf und ging hinaus.

Kivrin hob ihre zerlumpte Decke auf, legte sie sich um die Schultern und eilte ihm nach auf den Hof.

Es konnte nicht später als sechs sein. Die erste Ahnung des kommenden Tages lag als eine dunkelgraue, schwache Aufhellung am Osthorizont, dessen Konturen eben sichtbar waren. Pater Roche verschwand bereits in der Zufahrt zum Dorfanger. Kivrin beschleunigte ihre Schritte und lief ihm nach.

Die Kuh des Verwalters war wieder in der Scheuneneinfahrt und zog das Heu aus dem im Herbst eingelagerten großen Haufen hinter der hüfthohen seitlichen Trennwand. Als sie Kivrin sah, hob sie den Kopf und muhte.

»Bleib, wo du bist!« sagte Kivrin und klatschte in die Hände, aber sie muhte wieder und kam aus der Einfahrt.

»Ich habe keine Zeit, dich zu melken«, sagte sie und lief weiter.

Pater Roche war halb über den Dorfanger, bevor sie ihn einholte. »Was gibt es? Könnt Ihr es mir nicht sagen?« fragte sie, aber er blieb nicht stehen, sah sie nicht einmal an. Er wandte sich zu der Gräberreihe am Rand des Dorfangers, und sie dachte in plötzlicher Erleichterung, daß der Verwalter versucht habe, seinen Sohn selbst zu begraben, ohne einen Priester.

Das kleine Grab war zugeschüttet, der Erdhügel darüber festgeklopft, und neben Rosemunds fertigem Grab war ein anderes, größeres in Arbeit. Die Schaufel ragte heraus, der Stiel lehnte am Rand.

Pater Roche blieb am Rand dieses neuen Grabes stehen und sagte im gleichen benommenen Ton. »Ich ging zur Kirche, um das Stundengebet zu sprechen…« - und Kivrin blickte in das Grab.

Der Verwalter hatte offenbar versucht, sich selbst mit Hilfe der Schaufel zu begraben, aber der Umgang mit ihr hatte sich in dem engen Raum als schwierig erwiesen, und so hatte er sie an den Rand gelehnt und angefangen, die Erde mit den Händen herabzuziehen. In seiner erstarrten Hand war noch ein großer Klumpen.

Seine Beine waren mit Erde bedeckt, was ihm ein seltsam unanständiges Aussehen verlieh, als läge er in der Badewanne. »Wir müssen ihn richtig begraben«, sagte sie und griff zur Schaufel.

Pater Roche schüttelte den Kopf. »Es ist geweihte Erde«, murmelte er, und sie verstand, daß er dachte, der Verwalter habe sich selbst getötet.

Es spielt keine Rolle, dachte sie, aber trotz aller Schrecken war Roche in seinem Glauben standhaft und unerschütterlich. Trotz seiner Übermüdung war er im Dunkeln aufgestanden, um in der Kirche das Stundengebet zu sprechen, als er den Verwalter gefunden hatte, und selbst wenn sie alle stürben, würde er weiter seine täglichen Gebete sagen und seine geistlichen Pflichten erfüllen und nichts Widersinniges daran finden.

»Es ist die Krankheit«, sagte Kivrin, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob es sich so verhielt oder nicht. »Die Pest-Sepsis muß es gewesen sein. Sie infiziert das Blut.«

Er sah sie verständnislos an.

»Ich sah gestern schon, daß er krank war«, sagte sie. »Er muß während der Arbeit überwältigt worden sein«, erklärte sie. »Die Pest-Sepsis vergiftet das Gehirn. Er war nicht bei klarem Verstand.«

»Wie Frau Imeyne«, sagte er, und es klang beinahe froh.

Er wollte ihn nicht außerhalb des geweihten Bezirks begraben, dachte Kivrin, obwohl er nach der Kirchenlehre dazu verpflichtet war.

Sie half ihm den Leichnam des Verwalters auszustrecken, obwohl er bereits steif war. Sie versuchten nicht, ihn zu bewegen oder in eine Decke zu hüllen. Pater Roche legte ihm ein dunkles Tuch übers Gesicht, und abwechselnd schaufelten sie die Erde auf ihn. Die gefrorenen Brocken, die zuletzt auf den flachen Grabhügel fielen, klapperten wie Steine.

Pater Roche ging nicht in die Sakristei, um sein Chorhemd überzuziehen oder das Missale zu holen. Er stellte sich zuerst an das Grab des Jungen, dann an das des Verwalters und sprach die Totengebete. Kivrin, die mit gefalteten Händen neben ihm stand, dachte über das tragische Schicksal dieses Mannes nach, der seine Frau und sieben Kinder begraben und fast alle, die er kannte, um sich her hatte sterben sehen. Er hatte gespürt, daß er krank war, und wenn er in sein offenes Grab gekrochen war, um lieber zu erfrieren als auf den elenden Pesttod zu warten, dann war es kein Zeichen von Geistesverwirrung. Er hatte Besseres verdient als ein Grab, sei es ein geweihtes oder ein Selbstmördergrab.

Wir können jetzt nach Schottland gehen, dachte sie bei sich. Rosemund kann auf dem Esel reiten, und Pater Roche und ich können die Decken und den Proviant tragen. Sie blickte zum Himmel auf. Inzwischen war es Tag geworden, die Wolkendecke sah leichter aus, als könnte sie im Laufe des Vormittags aufreißen. Wenn sie sich frühzeitig auf den Weg machten, konnten sie um die Mittagszeit den Wald hinter sich haben und die Straße von Oxford nach Bath erreichen. Und gegen Abend würden sie schon auf der Straße nach York sein.

»Agnus dei, qui tollis peccata mundi«, sagte Pater Roche, »dona eis requiem.«

Wir müssen Hafer für den Esel mitnehmen, dachte sie. Und die Axt, um Feuerholz zu schlagen. Und Decken.

Er beendete seine Gebete. »Dominus vobiscum, et cum spiritu tuo«, sagte er. »Requiescat in pace. Amen.« Er wandte sich um und ging langsam hinüber zum Glockenturm, um die Totenglocke zu läuten.

Befeuert von ihrem Plan, machte Kivrin sich auf den Rückweg zum Herrenhaus. Sie konnte halb zusammengepackt haben, bis Pater Roche das Grabgeläute beendete, und dann konnte sie ihm ihren Plan erklären, und er konnte den Esel beladen, und schon wären sie auf und davon. Sie rannte über den Hof und ins Haus, beschäftigt mit der Überlegung, welche Dinge unbedingt mitgenommen werden müßten.

Rosemund schlief noch. Das war gut. Es hatte keinen Sinn, sie zu wecken, bevor sie reisefertig wären. Sie huschte auf Zehenspitzen an ihr vorbei, nahm Imeynes Arzneikasten und leerte ihn aus. Sie stellte ihn zum Feuer, um für die Reise Holzkohlenglut hineinzutun, und wollte hinaus zur Küche, als sie den Strohsack rascheln hörte.

»Ich wachte auf, und du warst nicht da«, sagte Rosemund. Sie saß auf ihrem Lager. »Ich hatte Angst, du seiest fortgegangen.«

»Wir werden alle zusammen gehen, Rosemund«, sagte Kivrin. »Wir werden nach Schottland gehen.« Sie kam zu ihr und kauerte nieder. »Du mußt für die Reise ausruhen. Ich werde gleich zurück sein.«

»Wohin gehst du?«

»Nur in die Küche. Bist du hungrig? Ich werde dir etwas Haferbrei bringen. Nun leg dich wieder hin und schlaf noch ein wenig.«

»Ich mag nicht allein sein«, sagte Rosemund. »Kannst du nicht ein bißchen bei mir bleiben?«

Lieber Himmel, dachte Kivrin, dafür habe ich jetzt keine Zeit! »Ich gehe nur ins Küchenhaus. Und Pater Roche ist da. Kannst du ihn nicht hören? Er läutet die Glocke. Ich bleibe nur ein kleines Weilchen aus. Einverstanden?« Sie lächelte ihr aufmunternd zu, und Rosemund nickte zögernd.

Sie rannte beinahe hinaus. Das Sterbegeläute hallte langsam und gleichmäßig durch den stillen Morgen. Beeil dich, dachte sie, wir haben nicht viel Zeit. Sie durchsuchte das Küchenhaus und legte die Vorräte auf den Tisch. Es war noch ein runder Käse da, und viele Fladenbrote, die sie wie Teller stapelte und in einen leinenen Sack tat. Sie steckte den Käse mit hinein und trug ihn hinaus.

Rosemund stand in der Haustür und hielt sich am Pfosten. »Kann ich nicht bei dir im Küchenhaus sitzen?« fragte sie. Sie hatte ihren Überrock und ihre Schuhe angezogen, fröstelte aber in der kalten Luft.

Kivrin lief zu ihr. »Es ist zu kalt, und in der Küche brennt noch kein Feuer«, sagte sie. »Und du mußt ausruhen.«

»Wenn du fort bist, habe ich Angst, daß du nicht zurückkommen wirst.«

»Ich bin ja hier«, sagte Kivrin, aber sie lief hinein und holte Rosemunds Umhang und ein paar Pelze.

»Du kannst hier auf der Türschwelle sitzen und mir beim Packen zusehen«, sagte sie. Sie legte ihr den Umhang um die Schultern, drückte sie mit sanfter Gewalt auf die Stufe nieder und legte die Pelze wie ein Nest um sie. »Ist es gut so?«

Das Geschenk Sir Bloets steckte noch am Umhang. Rosemund fummelte mit der Nadel, und Kivrin sah ihre dünnen Hände zittern. »Gehen wir nach Courcy?« fragte sie.

Kivrin schüttelte den Kopf. Sie steckte ihr die Brosche fest. »Wir gehen nach Schottland. Dort werden wir vor der Pest sicher sein.«

»Meinst du, daß mein Vater an der Pest gestorben ist?«

Kivrin zögerte.

»Meine Mutter sagte, er sei nur aufgehalten worden oder unfähig zu kommen. Sie sagte, vielleicht seien meine Brüder krank geworden, und er würde kommen, sobald sie sich erholt hätten.«

»Das kann sein«, sagte Kivrin und wickelte einen Pelz um die Füße des Mädchens. »Wir werden ihm einen Brief zurücklassen, so daß er wissen wird, wohin wir gegangen sind.«

Rosemund schüttelte den Kopf. »Wenn er noch lebte, wäre er gekommen.«

Kivrin seufzte. »Ich weiß es nicht, aber er kann durch vielerlei Dinge aufgehalten worden sein. Nun muß ich Proviant für uns zusammensuchen.«

Rosemund nickte, und Kivrin ging hinüber zum Küchenhaus. Drinnen lehnte ein Sack Zwiebeln an der Wand und ein zweiter mit Äpfeln. Sie waren schon runzlig, und die meisten hatten braune Flecken, aber Kivrin schleppte den Sack hinaus. Sie brauchten nicht gekocht zu werden, und bis zum Frühling würden sie alle Vitamine nötig haben.

»Möchtest du einen Apfel?« fragte sie Rosemund.

Das Mädchen bejahte, und Kivrin suchte im Sack herum, bis sie einen rötlich-grünen fand, der noch fest und frisch aussah. Sie rieb ihn gewohnheitsmäßig an ihrem ledernen Wams und brachte ihn Rosemund, lächelnd bei der Erinnerung, wie gut ihr ein Apfel geschmeckt haben würde, als sie krank gewesen war.

Aber nach dem ersten Biß schien Rosemund das Interesse zu verlieren. Sie lehnte sich an den Türpfosten und blickte still zum Himmel auf, lauschte den gleichmäßigen Glockentönen.

Kivrin trug den Sack mit den Äpfeln zurück ins Küchenhaus. Er war zu schwer, um alle mitzunehmen; sie mußte diejenigen heraussuchen, die mitzunehmen lohnte. Die Frage war, wieviel der Esel tragen konnte. Sie mußten auch Hafer für ihn mitnehmen, denn das dürre Gras unter dem Schnee würde nicht genügen, um ihn bei Kräften zu halten.

»Deine Leute sind nie gekommen, dich zu suchen«, bemerkte Rosemund.

Kivrin blickte zu ihr hinüber. Sie saß immer noch auf der Stufe vor der Tür, den angebissenen Apfel in der Hand.

Sie sind gekommen, dachte Kivrin, aber ich war nicht da. »Nein.«

»Glaubst du, die Pest hat sie getötet?«

»Wer weiß«, sagte Kivrin, und sie dachte, daß es immerhin ein Trost sei, sie nicht irgendwo tot oder hilflos vermuten zu müssen. Wenigstens wußte sie, daß sie wohlauf und in Sicherheit waren.

»Wenn ich zu Sir Bloet gehe, werde ich ihm sagen, wie du uns geholfen hast«, sagte Rosemund. »Ich werde ihn ersuchen, daß ich dich und Pater Roche bei mir behalten darf.«

Sie hob stolz den Kopf. »Ich habe ein Recht auf meine eigene Begleitung und einen Hauskaplan.«

»Danke«, sagte Kivrin.

Als sie die Äpfel sortiert hatte, war der Sack nur noch halb so schwer. Sie stellte ihn neben den mit Käse und Brot. Die Glocke verstummte, ihr letzter Ton hing noch lange in der kalten, stillen Luft. Sie nahm den Eimer und ließ ihn in den Brunnen. Es wurde Zeit, daß sie Haferbrei kochte und einige der aussortierten Äpfel hineinschnitt. Das würde eine gute und kräftigende Grundlage für den Reisetag abgeben.

Rosemunds Apfel rollte über das leicht abschüssige Kopfsteinpflaster zur Mitte des Hofes und blieb unweit vom Brunnentrog liegen. Kivrin bückte sich und hob ihn auf. Er zeigte nur einen kleinen Biß, weiß im Rot der Schale. Kivrin wischte ihn am Wams sauber. »Magst du deinen Apfel nicht?« fragte sie und wandte sich um.

Ihre Hand war noch offen, als hätte sie sich vorbeugen und ihn fangen wollen, als er ihren Fingern entfallen war. »Ach, Rosemund«, sagte Kivrin.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(079110–079239)

Pater Roche und ich gehen nach Schottland. Es hat keinen Sinn, Ihnen das zu sagen, da Sie niemals hören werden, was dieses Aufnahmegerät aufgezeichnet hat, aber vielleicht wird eines Tages jemand im Moor darauf stoßen, oder Mrs. Montoya wird eine Ausgrabung im Norden Schottlands vornehmen, wenn sie mit Skendgate fertig ist, und wenn das geschieht, soll die Nachwelt wissen, was mit uns geschehen ist.

Ich weiß, daß Flucht die schlechteste Antwort ist, aber ich muß Pater Roche von hier fortbringen. Das ganze Herrenhaus ist kontaminiert mit dem Bettzeug und den Kleidern der Pestkranken, und die Ratten sind überall. Ich sah eine in der Kirche, als ich in die Sakristei ging, um Pater Roches Chorhemd und Stola für Rosemunds Begräbnis zu holen. Und selbst wenn er sich nicht an diesen Dingen infiziert, ist die Seuche überall um uns, und ich werde ihn niemals überzeugen können, daß er bleiben soll. Er wird gehen und anderswo helfen wollen.

Wir werden die Landstraßen meiden und die Dörfer umgehen. Unser Proviant reicht für eine Woche, und dann werden wir weit genug im Norden sein, daß wir irgendwo in einer Stadt Lebensmittel kaufen können. Der Sekretär hatte einen Lederbeutel mit Silbermünzen bei sich. Und seien Sie unbesorgt, es wird uns an nichts fehlen. Wie Mr. Gilchrist sagen würde: »Ich habe alle Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«

32

Apokalyptisch war sicherlich die passende Bezeichnung für die bloße Vorstellung, er könne Kivrin retten, dachte Dunworthy. Als Colin ihn in sein Krankenzimmer zurückgeleitet hatte, war er erschöpft, seine Temperatur wieder gestiegen. Colin mußte ihm ins Bett helfen. »Ruhen Sie sich aus«, sagte er. »Sie dürfen keinen Rückfall haben, wenn Sie Kivrin retten wollen.«

»Ich muß mit Badri reden«, sagte er. »Und mit Finch.«

»Ich werde mich um alles kümmern«, sagte Colin und lief hinaus.

Er würde für sich und Badri eine Beurlaubung erreichen müssen, und für den Fall, daß Kivrin krank war, brauchte er medizinische Unterstützung. Er brauchte auch eine Schutzimpfung gegen Pest. Er fragte sich, wie lange sie benötigte, um wirksam zu werden. Mary hatte Kivrin geimpft, als sie zur Implantation ihres Aufnahmegerätes im Krankenhaus gewesen war, also zwei Wochen vor der Absetzoperation. Aber vielleicht trat die Immunität schon früher ein.

Die Schwester kam, seine Temperatur zu kontrollieren. »Ich habe jetzt Dienstschluß«, sagte sie.

»Wann kann ich entlassen werden?« fragte er.

»Entlassen?« Sie sah ihn überrascht an. »Anscheinend fühlen Sie sich wirklich besser.«

»So ist es«, sagte er. »Wann?«

Sie legte die Stirn in Falten. »Das müssen Sie den Arzt fragen. Aber es ist ein großer Unterschied, ob man ein bißchen im Korridor hin und her gehen kann, oder ob man bereit ist, nach Hause zu gehen.« Sie regulierte den Tropf. »Sie müssen jede Überanstrengung vermeiden.«

Damit ging sie hinaus, und ein paar Minuten später kam Colin mit Finch und dem Buch herein, das Dunworthy ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. »Ich dachte, Sie würden das vielleicht brauchen, für die Kostümierung und alles.« Er legte es Dunworthy auf die Decke. »Ich gehe schnell Badri holen.« Er rannte hinaus.

»Sie sehen schon viel besser aus, Sir«, meinte Finch. »Das freut mich wirklich. Ich fürchte, Sie werden im College dringend gebraucht. Es ist Mrs. Gaddson. Sie hat Balliol wegen fahrlässiger Gesundheitsgefährdung angezeigt und will sich außerdem beim Dekan beschweren, daß ihr Sohn während der Weihnachtsferien Petrarca lesen mußte und als Pfleger dienstverpflichtet wurde. Die Doppelbelastung habe seine Gesundheit ruiniert.«

»Sagen Sie ihr, daß ich ihr dazu viel Glück wünsche; sie wird in beiden Fällen die verdiente Abfuhr bekommen«, sagte Dunworthy. »Sie müssen für mich herausbringen, wie lang die Frist zwischen einer Schutzimpfung gegen die Pest und dem Eintreten der Immunisierung ist, und dann müssen Sie mir das Laboratorium für eine Absetzoperation vorbereiten.«

»Wir nutzen es gegenwärtig als Lageraum«, sagte Finch. »Endlich sind mehrere Lieferungen aus London eingetroffen, allerdings war kein Toilettenpapier dabei, obwohl ich in meiner Anforderung eigens darauf hingewiesen hatte…«

»Schaffen Sie die Vorräte in einen der freigewordenen Räume oder in den Korridor«, sagte Dunworthy. »Ich möchte, daß das Netz so bald wie möglich einsatzbereit ist.«

Colin öffnete die Tür mit dem Ellbogen und schob Badri mit Hilfe seines anderen Armes und eines Knies herein. »Ich mußte ihn an der Stationsschwester vorbeimogeln«, sagte er atemlos. Er schob den Rollstuhl zum Bett.

»Ich möchte…«, sagte er und brach ab, als er Badri ansah. Die Sache war unmöglich. Badri war nicht in einer Verfassung, Koordinaten zu berechnen und das Netz zu handhaben. Er sah erschöpft aus, als ob die bloße Fahrt mit dem Rollstuhl ihn mitgenommen hätte, und seine Finger fummelten nervös an der Tasche seines Bademantels, wie sie letztes Mal an seinem Gürtel gezogen und gedreht hatten.

»Wir werden zwei Probeläufe für Messungen und einen Zugang brauchen«, sagte Badri. Seine Stimme klang so erschöpft wie er aussah, aber die Verzweiflung war nicht mehr herauszuhören. »Und wir werden Genehmigungen für die Absetzoperation und das Rückholmanöver brauchen.«

»Was ist mit den Protestlern, die vor dem Brasenose College aufgezogen waren?« fragte Dunworthy. »Sind sie noch da und werden sie versuchen, die Operation zu verhindern?«

»Nein«, sagte Colin. »Die Protestaktionen sind jetzt beim Amt für Denkmalschutz. Seit bekannt geworden ist, daß der Erreger bei der Ausgrabung des Friedhofs freigeworden ist, verlangen sie die Schließung der Ausgrabungsstätte.«

Gut, dachte Dunworthy. Montoya wird zu sehr damit beschäftigt sein, ihren Friedhof gegen Plakatträger und Protestler zu verteidigen, um sich einzumischen. Zu beschäftigt mit der Suche nach Kivrins Aufnahmegerät.

»Was werden Sie noch brauchen?« fragte er Badri.

»Die eingespeicherten Daten von Brasenose zum Vergleich, und eine Parallelschaltung.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und überflog es. »Und einen Fernanschluß, damit ich Parameterprüfungen vornehmen kann.«

Er gab die Liste Dunworthy, der sie an Finch weiterreichte. »Wir brauchen auch medizinische Versorgung für Kivrin«, sagte Dunworthy. »Und ich möchte einen Telefonanschluß in diesem Zimmer.«

Finch las stirnrunzelnd die Liste.

»Erzählen Sie mir nicht, wir hätten dies oder jenes nicht«, sagte Dunworthy, bevor der andere protestieren konnte. »Leihen oder stehlen Sie, was wir nicht haben.«

Er wandte sich zu Badri. »Werden Sie sonst noch etwas brauchen?«

»Meine Entlassung aus dem Krankenhaus«, sagte Badri. »Ich fürchte, die wird das größte Hindernis sein.«

»Wer ist Ihr Arzt?«

»Dr. Gates«, sagte Badri, »aber…«

»Wir müssen ihm die Situation erklären«, sagte Dunworthy. »Ihm klarmachen, daß es ein Notfall ist.«

Badri schüttelte den Kopf. »Wir können ihm auf keinen Fall die gleiche Begründung geben, mit der ich ihn während Ihrer Krankheit überredete, mich zu entlassen, damit ich das Netz öffnen könne. Er meinte damals, ich sei nicht gesund genug, ließ es aber zu, und dann hatte ich den Rückfall…«

Dunworthy betrachtete ihn sorgenvoll. »Sind Sie sicher, daß Sie in der Lage sein werden, das Netz zu bedienen? Vielleicht kann ich nun, da die Epidemie unter Kontrolle ist, Andrews bekommen.«

»Es ist nicht genug Zeit«, sagte Badri. »Und es war meine Schuld. Ich möchte die Operation durchführen. Vielleicht kann Mr. Finch einen anderen Arzt finden, der meine Entlassung verantwortet.«

»Ja«, sagte Dunworthy. »Und sagen Sie meinem Stationsarzt, daß ich ihn sprechen muß.« Er griff zu Colins Buch. »Und noch etwas, Mr. Finch. Ich brauche ein Kostüm.« Er blätterte auf der Suche nach einer Illustration mittelalterlicher Kleidung herum. »Keine Klettverschlüsse, keine Reißverschlüsse, keine Knöpfe.« Endlich fand er eine Abbildung, die Boccaccio zeigte, und hielt sie Finch hin. »Rufen Sie am besten beim Theater an, ob sie in der Requisitenkammer etwas Passendes haben.«

»Ich werde mein Möglichstes tun, Sir«, sagte Finch und betrachtete runzelnd und zweifelnd die Illustration.

Die Tür flog auf, und die Schwester kam entrüstet hereingestürmt. »Mr. Dunworthy, das ist völlig unverantwortlich«, sagte sie in einem Ton, der geeignet war, einen Herzinfarkt auszulösen. »Wenn Sie schon nicht bereit sind, auf Ihre eigene Gesundheit achtzugeben, dann sollten Sie wenigstens nicht die der anderen Patienten gefährden.« Sie fixierte Finch mit einem durchbohrenden Blick. »Mr. Dunworthy wird keine Besuche mehr empfangen.«

Ihr zorniger Blick schwenkte zu Colin, dann nahm sie die Handgriffe des Rollstuhls und schwang ihn so scharf herum, daß Badris Kopf zurückgerissen wurde. »Was können Sie sich bloß gedacht haben, Mr. Chaudhuri? Sie haben bereits einen Rückfall erlitten. Ich werde nicht zulassen, daß es noch einmal dazu kommt.« Und sie schob ihn hinaus.

»Ich sagte ja, daß wir ihn nie hinausbringen würden«, meinte Colin.

Sie stieß die Tür wieder auf. »Keine Besucher!« sagte sie zu Colin.

»Ich komme wieder«, flüsterte Colin und schlüpfte an ihr vorbei.

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht, solange ich hier etwas zu sagen habe.«

Anscheinend hatte sie etwas zu sagen. Colin kehrte erst zurück, nachdem sie Dienstschluß hatte und nach Haus gegangen war, und dann nur, um Badri eine Fernbedienung zu bringen und Dunworthy über die Pestschutzimpfung zu unterrichten. Finch hatte das Gesundheitsamt angerufen. Nach der Schutzimpfung waren zwei Wochen erforderlich, bis die volle Immunität erreicht war, und sieben Tage für einen teilweisen Schutz. »Und Mr. Finch möchte wissen, ob Sie nicht auch gegen Cholera und Typhus geimpft werden sollten.«

»Es ist nicht genug Zeit«, sagte er. Es war auch nicht genug Zeit für eine Pestimpfung. Kivrin war bereits über drei Wochen dort, und jeder Tag verminderte ihre Überlebenschancen. Und er war der Entlassung nicht nähergekommen.

Als Colin gegangen war, läutete er der Schwester — es war die Praktikantin — und sagte ihr, er wolle den Stationsarzt sprechen. »Ich bin reif für die Entlassung«, sagte er.

Sie lachte.

»Ich bin völlig wiederhergestellt«, versicherte er ihr. »Heute vormittag bin ich zehn Minuten im Korridor herumgelaufen.«

Sie schüttelte den blonden Kopf. »Rückfälle sind bei diesem Virus ungewöhnlich häufig vorgekommen. Ich kann das Risiko einfach nicht verantworten.« Sie lächelte ihm zu. »Wohin müssen Sie denn so dringend? Gefällt es Ihnen nicht bei uns? Wer oder was immer solche Anziehungskraft auf Sie ausübt, kann sicherlich noch eine Woche ohne Sie überleben.«

»Es ist Semesterbeginn«, sagte er, und das entsprach der Wahrheit. »Bitte sagen Sie meinem behandelnden Arzt, daß ich ihn sprechen möchte.«

»Dr. Warden wird Ihnen nur sagen, was ich Ihnen gesagt habe«, sagte sie, doch anscheinend gab sie die Bitte weiter, denn am späten Nachmittag kam er zu ihm.

Offensichtlich hatte man ihn aus dem Ruhestand geholt, um die krankheitsbedingten Personalausfälle während der Epidemie auszugleichen. Er erzählte Dunworthy eine lange Geschichte über die medizinischen Verhältnisse während der Epidemie und verkündete dann mit brüchiger Stimme: »Zu meiner Zeit behielten wir die Patienten im Krankenhaus, bis sie ganz wiederhergestellt waren.«

Dunworthy versuchte nicht, mit ihm zu argumentieren. Er wartete, bis der Arzt und die alte Aushilfsschwester im gestärkten Kittel, Erinnerungen an den Hundertjährigen Krieg austauschend, den Korridor hinuntergehinkt und außer Sicht waren, dann schnallte er seinen tragbaren Tropf an und ging zur öffentlichen Telefonzelle bei der Notaufnahme, um sich von Finch über den Stand der Dinge unterrichten zu lassen.

»Die Schwester erlaubt kein Telefon in Ihrem Zimmer«, sagte Finch, »aber ich habe gute Nachricht, was die Pest betrifft. Ein paar Injektionen Tetracyclin können zusammen mit Gammaglobulin und T-Zellen-Verstärkung eine vorübergehende Immunität erzeugen. In diesem Fall ist der Schutz schon nach zwölf Stunden gewährleistet.«

»Gut«, sagte Dunworthy. »Besorgen Sie mir einen Arzt, der mir diese Injektionen gibt und meine Entlassung aus der Klinik autorisiert. Einen jungen Arzt. Und schicken Sie Colin herüber. Ist das Netz fertig?«

»Beinahe, Sir. Ich habe die erforderlichen Genehmigungen erhalten und eine Fernschaltung ausfindig gemacht. Ich wollte sie gerade holen.«

Er legte auf, und Dunworthy ging zurück zu seinem Krankenzimmer. Er hatte die Schwester nicht belogen, er fühlt sich von Stunde zu Stunde kräftiger, obwohl es noch eine Beengung um die unteren Rippen gab, wenn er sich länger außerhalb seines Bettes aufhielt. Als er ins Krankenzimmer kam, fand er zu seiner nicht geringen Verwunderung Mrs. Gaddson, die auf der Suche nach Androhungen von Seuchen, Wechselfieber und Erblindung eifrig in ihrer Bibel blätterte.

»Lesen Sie mir Lukas 11, 9 vor«, sagte Dunworthy.

Sie schlug die Stelle auf. »Und ich sage euch: Bittet, und es wird euch gegeben werden«, las sie mit einem argwöhnischen Blick zu ihm. »Suchet, und ihr werdet finden, klopfet an, und es wird euch aufgetan werden.«

Am Ende der Besuchszeit kam Mrs. Taylor, die ein Maßband bei sich hatte. »Colin schickte mich, Ihre Maße zu nehmen«, sagte sie. »Die Schwester draußen will ihn nicht in die Station einlassen.« Sie legte ihm das Maßband um die Mitte. »Ich mußte ihr weismachen, daß ich zu Mrs. Piantini wolle. Bitte halten Sie den Arm gerade ausgestreckt.« Sie maß seine Armlänge. »Es geht ihr viel besser. Vielleicht gelingt es ihr sogar, mit uns am Fünfzehnten an der Aufführung von Rimbaud teilzunehmen. Wir wollten es in der Heiligen Reformierten Kirche aufführen, wie Sie wissen, aber das Gesundheitsamt hat die Räume dort übernommen, und Mr. Finch war so freundlich, uns die Kapelle des Balliol College zur Verfügung zu stellen. Welche Größe tragen Sie?«

Sie schrieb seine Maße auf, sagte ihm, daß Colin am nächsten Tag kommen würde, und daß das Netz nahezu fertig sei. Dann ging sie hinaus, um Mrs. Piantini zu besuchen und kehrte einige Minuten später mit einer Botschaft von Badri zurück.

»Mr. Dunworthy, ich habe vierundzwanzig Parameterüberprüfungen vorgenommen«, hatte er ihm geschrieben. »Alle vierundzwanzig zeigen minimale Verschiebungen, elf sogar von weniger als einer Stunde. Ich mache jetzt Divergenzprüfungen, um festzustellen, was es damit auf sich hat.«

Ich weiß, was es ist, dachte Dunworthy. Es ist der Schwarze Tod. Die Funktion der Verschiebung war, Wechselwirkungen zu verhüten, die sich auf den Gang der Geschichte auswirken könnten. Kurze Verschiebungszeiten bedeuteten, daß es keine Anachronismen gab, keine kritischen Begegnungen, die das Kontinuum verhindern mußte. Es bedeutet, daß die Absetzoperation in ein unbewohntes Gebiet erfolgte. Es bedeutete, daß die Pest dort gewesen und alle Zeitgenossen tot waren.

Colin kam am nächsten Vormittag nicht, und nach dem Mittagessen ging Dunworthy wieder zur Telefonzelle und rief Finch an. »Es ist mir nicht gelungen, einen Arzt zu finden, der bereit ist, neue Patienten anzunehmen«, berichtete dieser. »Ich habe alle praktizierenden Ärzte innerhalb des Quarantänebereiches angerufen. Nicht wenige von ihnen sind immer noch krank«, sagte er, »und einige von ihnen…«

Er ließ den Rest ungesagt, aber Dunworthy wußte, was gemeint war. Mehrere von ihnen waren gestorben, darunter diejenige, die sicherlich geholfen haben würde, die ihm die Schutzimpfung gegeben und Badri entlassen hätte.

Mary hätte nicht aufgegeben, dachte er, trotz der Schwester und Mrs. Gaddson und einer schmerzhaften Beengung im unteren Brustkorb. Wenn sie noch lebte, hätte sie ihm in jeder Weise geholfen.

Er ging zurück ins Krankenzimmer. An der Tür hatte die Schwester ein Plakat mit der Inschrift »Kein Zutritt für Besucher!« angebracht. Aber sie war nicht an ihrem Schreibtisch im Stationszimmer, noch in seinem Krankenzimmer. Dort wartete aber Colin, der ein großes, feuchtes Paket mitgebracht hatte.

»Die Schwester ist anderweitig im Einsatz«, sagte Colin grinsend. »Mrs. Piantini erlitt im richtigen Augenblick einen Ohnmachtsanfall. Sie hätten sie sehen sollen. Sie ist sehr gut darin.« Er schnürte das Paket auf. Es war voller Kleider: Dunworthys Blick fiel auf einen langen schwarzen Rock mit verkürzten Schößen und schwarzen Kniehosen, beides nicht annähernd mittelalterlich, und eine schwarze Trikothose für Damen.

»Was haben sie dir da angedreht?« sagte Dunworthy. »Aus einer Barockoper?«

»Richard III.«, sagte Colin. »Der bekannte Schauspieler Keble ist damit aufgetreten. Sie haben den Buckel herausgenommen.«

»Ist wenigstens ein Umhang dabei?« fragte Dunworthy, die Kleider durchsuchend. »Finch soll mir einen Umhang besorgen. Einen langen, der alles bedeckt.«

»In Ordnung«, sagte Colin. Er beschäftigte sich mit dem Verschluß seiner grünen Jacke. Plötzlich sprang er auf, und Colin streifte sie von den Schultern. »Nun? Was meinen Sie?«

Er hatte seine Sache nicht schlecht gemacht. Die Stiefel waren falsch — sie sahen wie die Gummistiefel eines Gärtners aus -, aber die formlosen graubraunen Hosen und der braune Kittel aus Sackleinwand sahen wie die Illustration eines Leibeigenen in Colins Buch aus.

»Die Hose hat einen Reißverschluß«, sagte Colin, »aber den sieht man nicht unter dem Kittel. Ich habe die Abbildung aus dem Buch kopiert und als Muster mitgenommen. Wissen Sie was? Ich gehe als Ihr Schildknappe.«

Das hätte er sich denken sollen. »Colin«, sagte er, »du kannst nicht mit mir gehen.«

»Warum nicht?« sagte Colin. »Ich kann Ihnen helfen, sie zu finden. Ich bin gut im Suchen.«

»Das ist unmöglich. Die…«

»Ach, jetzt werden Sie mir erzählen, wie gefährlich es im Mittelalter ist, nicht? Nun, hier ist es auch ziemlich gefährlich, oder? Denken Sie nur an Tante Mary. Sie wäre im Mittelalter besser aufgehoben gewesen, nicht? Ich habe viele gefährliche Sachen unternommen. Medizin zu Kranken gebracht und in den Krankenzimmern Plakate angeklebt. Während Sie krank waren, habe ich alle möglichen gefährlichen Sachen getan, von denen Sie nicht mal wissen…«

»Colin…«

»Sie sind zu alt, um allein zu gehen. Und Großtante Mary sagte mir, daß ich mich um Sie kümmern soll. Angenommen, Sie haben einen Rückfall?«

»Colin…«

»Meiner Mutter ist es egal, ob ich gehe oder nicht.«

»Aber mir nicht. Ich kann dich nicht mit mir nehmen.«

»Also soll ich hier sitzen und warten«, sagte er bitter, »und niemand wird mir etwas sagen, und ich werde nicht wissen, ob Sie lebendig oder tot sind.« Er hob seine Jacke auf. »Es ist nicht fair.«

»Ich weiß.«

»Kann ich wenigstens mit ins Laboratorium?«

»Ja.«

»Ich glaube doch, daß Sie mich gehen lassen sollten«, sagte er. Er begann die Kleidungsstücke zusammenzulegen. »Soll ich Ihr Kostüm hier lassen?«

»Lieber nicht. Die Schwester könnte es konfiszieren.«

»Was hat das alles zu bedeuten, Mr. Dunworthy?« fragte Mrs. Gaddson.

Beide schraken zusammen. Sie kam mit ihrer Bibel herein.

»Colin hat bei der Kleidersammlung mitgemacht«, sagte Dunworthy und half ihm, die Kleidungsstücke zu einem Bündel zusammenzupacken. »Für die Zwangseinquartierten.«

»Kleider von einer Person zu einer anderen weiterzugeben, ist eine ausgezeichnete Methode zur Verbreitung von Infektionen«, sagte sie zu Dunworthy.

Colin wickelte sein Paket wieder ein und schlüpfte hinaus.

»Und daß Sie einem Kind erlauben, daß es ständig hierherkommt und jede Art von Ansteckung riskiert! Als ich gestern abend das Krankenhaus verließ, traf ich ihn unten, und er bot mir an, mich zu begleiten. Ich sagte, ich würde nicht zulassen, daß er seine Gesundheit für mich riskiert!«

Sie setzte sich ohne Umschweife auf den Stuhl neben dem Bett und schlug ihre Bibel auf. »Es ist reine Nachlässigkeit, diesen Jungen ständig hierherkommen zu lassen. Aber ich nehme an, daß man von jemand, der sein College leitet, wie Sie es tun, nicht mehr erwarten kann. Mr. Finch ist in Ihrer Abwesenheit zu einem ausgemachten Tyrannen geworden. Gestern fiel er in einem regelrechten Wutanfall über mich her, als ich ihn um eine zusätzliche Rolle Toilettenpapier bat…«

»Ich möchte William sprechen«, sagte Dunworthy.

»Hier!« sprudelte sie. »Im Krankenhaus?« Sie klappte die Bibel vernehmlich zu. »Das erlaube ich nicht. Es ist schlimm genug, daß man Willy als Pfleger dienstverpflichtet hat, aber es gibt noch immer eine Menge ansteckender Fälle, und ich lasse nicht zu, daß der arme Willy mehr als unbedingt notwendig mit ihnen in Berührung kommt.«

»Ich glaube, er ist sowieso im Hause«, sagte er. »Sagen Sie ihm, daß ich ihn so bald wie möglich zu sehen wünsche.«

Sie schwang die Bibel gegen ihn wie Moses den Stab, als er die sieben Plagen über die Ägypter brachte. »Ich werde mich beim Dekan der Historischen Fakultät über Ihre gefühllose Gleichgültigkeit gegen das Wohlbefinden Ihrer Studenten beschweren!« rief sie und stürmte hinaus.

Er hörte, wie sie sich draußen auf dem Korridor laut bei jemandem beklagte, vermutlich bei William selbst, der ihr gerade in die Quere gekommen sein mußte, denn gleich darauf erschien er mit verlegener Miene und fuhr sich über das zersauste Haar.

»Ich brauche Injektionen von Tetracyclin und Gammaglobulin«, sagte Dunworthy. »Außerdem muß ich meine Entlassung aus dem Krankenhaus erreichen, ebenso wie Badri Chaudhuri.«

Er nickte. »Ich weiß. Colin sagte mir, Sie wollten versuchen, Ihre Historikerin zu bergen.« Er machte ein nachdenkliches Gesicht. »Ich kenne hier eine Medizinstudentin, die ihr Praktikum macht…«

»Sie darf die Injektionen nicht ohne Genehmigung eines Arztes vornehmen, sonst kann sie Schwierigkeiten bekommen, und auch die Entlassungen müssen genehmigt werden.«

»Ich habe einen Freund oben in der Verwaltung. Wann brauchen Sie es?«

»So bald wie möglich.«

»Ich werde mich gleich darum kümmern. Es kann zwei oder drei Tage dauern«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Ich habe Kivrin einmal gesehen, sie war gerade im Balliol College, um Sie zu sprechen. Sie ist recht hübsch, nicht?«

Ich muß daran denken, sie vor ihm zu warnen, dachte Dunworthy, und es wurde ihm klar, daß er tatsächlich angefangen hatte zu glauben, er könnte imstande sein, sie trotz allem zu retten. Halte durch, dachte er, ich komme. Zwei oder drei Tage.

Den Nachmittag verbrachte er mit Auf- und Abgehen im Korridor, um sich zu kräftigen. In Badris Station war an allen Türen Besuchsverbot angeschlagen, und die Stationsschwester ließ ihn nicht aus den scharfen blauen Augen, wenn er sich näherte.

Colin kam naß und atemlos mit einem Paar Stiefel für Dunworthy. »Sie paßt höllisch auf«, sagte er. »Mr. Finch läßt ausrichten, daß das Netz fertig ist, bloß kann er niemanden finden, der medizinische Unterstützung leistet.«

»Frag William, ob er das arrangieren kann«, sagte er. »Er kennt jemanden in der Verwaltung und kümmert sich um die Entlassungen und die Tetracyclin-Injektion.«

»Ich weiß schon. Ich muß Badri eine Nachricht von ihm bringen. Bis später.«

Er kam nicht zurück, und auch William ließ sich nicht blicken. Als Dunworthy zum Telefon ging, um im College anzurufen, fing die Schwester ihn auf halbem Weg ab und geleitete ihn zurück zu seinem Zimmer. Entweder schlossen ihre verschärften Abwehrmaßnahmen auch Mrs. Gaddson aus, oder die letztere ärgerte sich noch über William. Sie blieb den ganzen Nachmittag aus.

Gegen fünf kam eine hübsche Krankenschwester, die er bis dahin nicht gesehen hatte, mit einer Spritze herein. »Ihre Schwester wurde zu einer Notversorgung gerufen«, sagte sie.

Er machte eine Kopfbewegung zu der Spritze. »Was ist das?«

Sie tippte mit einem Finger ihrer freien Hand auf der Tastatur der Konsole, blickte auf den Bildschirm, tippte wieder ein paar Zeichen ein und kam zum Bett, um ihm die Spritze zu setzen. »Tetracyclin« sagte sie. Sie wirkte weder nervös noch verstohlen, was darauf schließen ließ, daß es William irgendwie gelungen war, die Genehmigung zu erhalten. Sie injizierte den Inhalt der ziemlich groß aussehenden Spritze in die Kanüle, lächelte ihm zu und ging hinaus. Sie hatte die Konsole eingeschaltet gelassen. Er stand auf und ging hin, um zu lesen, was auf dem Bildschirm stand.

Es war sein Krankenblatt. Er erkannte es, weil es wie Badris aussah und ebenso unleserlich war. Die letzte Eintragung lautete: ICU15802691 14-1-55 1805 50/RPT 1800CRS IMSTMC 4ML/g6h NHS40-211-7 M AHRENS.

Er setzte sich auf die Bettkante. Ach, Mary.

William mußte über seinen Freund ihren Zugangs-Code erhalten und in den Computer eingegeben haben. Die Verwaltung war zweifellos weit im Rückstand, überschwemmt vom Papierkrieg der Epidemie und noch nicht dazu gekommen, Marys Zugangs-Code zu löschen. Irgendwann würden sie auf den Irrtum stoßen, doch hatte der wendige William sicherlich schon die Löschung vorbereitet.

Er ließ sein Krankenblatt rückwärts über den Bildschirm scrollen. Eintragungen mit AHRENS fanden sich bis zum 8. Januar, ihrem Todestag. Sie mußte sich um ihn gekümmert haben, bis sie nicht mehr stehen konnte. Kein Wunder, daß ihr Herz der Belastung nicht standgehalten hatte.

Er schaltete die Konsole aus, damit die reguläre Schwester nicht auf die Eintragung aufmerksam werden konnte, und legte sich ins Bett. William war imstande, ihren Namen auch unter die Entlassungsscheine zu setzen, aber ob das gutgehen konnte? Sicherlich wäre es in Marys Sinn gewesen; sie hätte gern geholfen.

Den ganzen Abend blieb er ohne Besuch. Die Schwester kam und überprüfte die Kontrollanzeigen und gab ihm seine Tabletten, und Dunworthy hielt den Atem an, als sie an der Konsole die Eingabe machte, doch schien sie nichts zu bemerken. Um zehn kam eine zweite Schwester herein, wiederholte die Tetracyclin-Injektion und gab ihm eine mit Gammaglobulin.

Sie ließ den Bildschirm eingeschaltet, und als sie gegangen war, verließ Dunworthy wieder das Bett, um sich zu vergewissern, ob auch diese unter Marys Namen verabreicht worden waren. Er grunzte befriedigt, schaltete die Konsole aus und tappte zurück zum Bett. Er dachte nicht, daß er würde schlafen können, aber unversehens lösten sich seine Gedanken in Träume auf, und er sah sich in Ägypten und im Tal der Könige, obwohl er nie dort gewesen war.

»Mr. Dunworthy, wachen Sie auf«, flüsterte Colin. Er leuchtete ihm mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

»Was ist los?« murmelte Dunworthy, ins Licht blinzelnd. Er tastete auf dem Nachttisch nach der Brille. »Wer… was ist?«

»Ich bin es, Colin«, flüsterte der Junge. Er drehte die Taschenlampe um und beleuchtete sein eigenes Gesicht. Aus irgendeinem unbekannten Grund trug er einen weißen Kittel, und sein Gesicht sah angespannt aus, unheimlich im aufwärtsgerichteten Lichtkegel.

»Wie kommst du hierher? Was ist mit dir?«

»Nichts«, flüsterte Colin. »Sie werden entlassen.«

Dunworthy hakte sich die Brille über die Ohren. Er konnte noch immer nichts sehen. »Wie spät ist es?« flüsterte er zurück.

»Vier Uhr.« Er schob ihm die Pantoffeln hin und richtete die Taschenlampe auf den Schrank. »Beeilen Sie sich!« Er nahm Dunworthys Bademantel vom Haken und warf ihn aufs Bett. »William hat die Nachtschwester abgelenkt, aber sie kann jeden Augenblick zurückkommen.«

Dunworthy fummelte mit Bademantel und Pantoffeln, versuchte aufzuwachen und fragte sich, warum sie um diese nachtschlafende Zeit entlassen wurden und wo die Schwester sein mochte.

Colin ging zur Tür und lugte hinaus. Er schaltete die Taschenlampe aus, steckte sie in die Tasche des zu großen Laborkittels und schloß die Tür. Nachdem er eine Weile mit angehaltenem Atem gelauscht hatte, öffnete er sie einen Spalt breit und spähte wieder hinaus. »Alles klar.« Er winkte Dunworthy. »William hat sie ins Wäschezimmer gelockt.«

»Wen, die Schwester?« fragte Dunworthy, noch nicht klar bei Sinnen. »Wer hat draußen Dienst?«

»Die Nachtschwester. William hält sie im Wäschezimmer zurück, bis wir fort sind.«

»Mit Gewalt?«

»Wenn Sie so wollen: mit ganz sanfter.« Er lachte und öffnete die Tür ganz. Draußen stand ein Rollstuhl, den er bei den Handgriffen nahm.

»Ich kann gehen«, sagte Dunworthy.

»Es ist nicht genug Zeit«, flüsterte Colin. »Und wenn jemand uns sieht, kann ich sagen, daß ich Sie zur Röntgenabteilung bringe.«

Dunworthy setzte sich und ließ sich von Colin durch den Korridor und am Wäschezimmer vorbeischieben. Colin schob den Rollstuhl auf Zehenspitzen bis zum Ende des Korridors, dann sauste er in einem Tempo los, wie es kein Pfleger anschlagen würde, der einen Patienten zum Röntgen bringt, durch einen weiteren Korridor, um eine Ecke und zum rückwärtigen Lieferanteneingang, wo sie das letzte Mal von Plakatträgern angesprochen worden waren, die ihnen die Endzeit verheißen hatten.

Draußen war es stockdunkel und regnerisch. Dunworthy konnte nur undeutlich den Krankenwagen ausmachen, der ohne Beleuchtung am Straßenrand hielt. Colin schlug mit der Faust gegen die Hecktür, und eine Gestalt sprang heraus. Es war die Ärztin, die mit ihrem Kollegen Badri eingeliefert hatte. »Können Sie einsteigen?« fragte sie, und es schien Dunworthy, daß sie errötete.

Er nickte und stand auf.

»Zieh die Türen fest zu«, sagte sie zu Colin und ging nach vorn zum Fahrerhaus.

Dunworthy schaute ihr nach. »Erzähl mir bloß nicht, daß sie auch eine Freundin von William ist.«

»Natürlich«, sagte Colin. »Sie fragte mich, was ich von Mrs. Gaddson halte und ob es ein Auskommen mit ihr ist.« Er half ihm die Tritte hinauf und in den Krankenwagen.

Dunworthy wischte sich die Regentropfen von der Brille. »Wo ist Badri?«

Colin zog schnaufend den Rollstuhl an Bord, dann schloß er die Türen. »Im Balliol. Wir brachten ihn zuerst hin, damit er das Netz herrichten kann.«

Dunworthy blickte besorgt aus dem Heckfenster. »Hoffentlich schlägt die Nachtschwester nicht Alarm, bevor wir weg sind.«

»Da würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte Colin lachend.

Er hatte Williams Wirkung auf Frauen offensichtlich unterschätzt. Wahrscheinlich saß die Nachtschwester im Wäschezimmer auf seinem Schoß, und er hatte ihr längst den Kittel oder sogar schon die Bluse aufgeknöpft.

Colin schaltete die Taschenlampe ein und beleuchtete die Bahre. »Ich habe Ihr Kostüm mitgebracht«, sagte er. Es war der schwarze Rock mit den abgeschnittenen Schößen und der Kniehose.

Dunworthy legte den Bademantel ab und zog die Sachen an. Der Krankenwagen fuhr ohne Warnung los, und der Ruck riß ihn beinahe zu Boden. Er setzte sich auf die seitliche Bank, stemmte den Rücken gegen die schwankende Außenwand und zog die schwarze Kniehose an.

Die Ärztin hatte keine Sirene eingeschaltet, fuhr aber in einem Tempo, daß sie es hätte tun sollen. Dunworthy mußte sich mit einer Hand festhalten, während er mit der anderen am Hosenbund zog, und Colin, der ihm die Stiefel herüberziehen wollte, fiel dabei vornüber.

»Wir haben einen Umhang für Sie gefunden«, sagte Colin. »Mr. Finch borgte ihn vom Theaterverein.« Er schüttelte ihn aus. Es war ein langer, weiter Umhang, anscheinend im viktorianischen Stil, schwarz und mit roter Seide gefüttert. Er legte ihn Dunworthy um die Schultern.

»Für welche Inszenierung haben sie den gebraucht? Dracula?«

Der Krankenwagen hielt, die Ärztin ging nach hinten und riß die Türen auf. Colin half Dunworthy hinunter und hielt den Saum des voluminösen Umhangs wie ein Page. Sie retteten sich unter das Tor. Der Regen tanzte auf dem Pflaster und plätscherte in den Ablaufrohren, aber durch sein gleichförmiges Rauschen drangen metallische Töne.

»Was ist das?« Dunworthy spähte in den dunklen Hof.

»Wenn endlich mein Erlöser kommt, oder so ähnlich«, sagte Colin. »Die Amerikanerinnen proben für eine kirchliche Sache. Nekrotisch, nicht?«

»Mrs. Gaddson sagte, daß sie zu allen Stunden übten, aber ich hatte keine Ahnung, daß sie damit fünf Uhr früh meinte.«

»Die Aufführung ist heute abend«, sagte Colin.

»Heute abend?« Dunworthy begriff, daß es der Fünfzehnte war. Nach dem Julianischen Kalender der Sechste. Der Dreikönigstag.

Finch kam mit einem Schirm über den Hof geeilt. »Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, und hielt ihn fürsorglich über Dunworthy, »aber ich konnte keinen Schirm finden. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele von den Einquartierten weggehen und fremde Schirme mitnehmen. Und andere lassen sie stehen. Besonders die Amerikanerinnen…«

Sie gingen über den Hof. »Ist alles bereit?« fragte Dunworthy.

»Die medizinische Unterstützung ist noch nicht da«, sagte Finch, bemüht, den Schirm über Dunworthys Kopf zu halten, »aber William Gaddson rief gerade an und sagte, alles sei geregelt, und sie werde bald hier sein.«

Dunworthy wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er gesagt hätte, die Nachtschwester hätte sich freiwillig für das Unternehmen gemeldet. »Ich hoffe wirklich, daß William sich niemals entschließen wird, sich einer Verbrecherlaufbahn zuzuwenden.«

»O nein, das wird er sicher nicht tun, Sir. Seine Mutter würde es nie erlauben. Mr. Chaudhuri hat die Koordinaten bereits festgelegt und Probeläufe gemacht. Und Mrs. Montoya ist hier.«

Er blieb stehen. »Montoya? Was will sie hier?«

»Ich weiß es nicht, Sir. Sie sagte nur, sie habe Informationen für Sie.«

Nicht jetzt, dachte er. Nicht, wenn wir dem Ziel so nahe sind.

Er betrat das Laboratorium. Baldri saß an der Konsole, und Montoya, in lehmbeschmierter Jeans und ihrer weiten Jacke, beugte sich über ihn und beobachtete den Bildschirm. Badri sagte etwas, und sie schüttelte den Kopf und sah auf ihre Digitaluhr. Dann blickte sie auf und sah Dunworthy, und ein mitleidiger Ausdruck kam in ihre Züge. Sie richtete sich auf und griff in die Tasche ihres Holzfällerhemdes.

Nein, dachte Dunworthy.

Sie kam auf ihn zu. »Ich wußte nicht, daß Sie diese Aktion planen«, sagte sie, ein gefaltetes Stück Papier in den Fingern. »Aber ich kann Ihnen helfen. Schauen Sie her.« Sie entfaltete das Papier und zeigte es ihm. »Diese Information hatte Kivrin, als sie durchging.«

Er sah, daß es eine Kartenskizze war.

»Hier ist der Absetzort.« Sie zeigte auf ein Kreuz an einer schwarzen Linie. »Und dies ist Skendgate. Sie werden es an der Kirche erkennen. Sie ist normannisch, mit Wandmalereien über den Jochbögen und einem Lettner und einer Statue des heiligen Antonius.« Sie lächelte. »Der Schutzpatron aller, die sich verlaufen haben. Ich fand sie gestern.«

Sie zeigte auf mehrere andere Kreuze. »Sollte Kivrin durch irgendeinen Zufall nicht nach Skendgate gegangen sein, sind die wahrscheinlichsten Dörfer im Umkreis Esthcote, Henefelde und Shrivendun. Ich habe die kennzeichnenden Landmarken auf der Rückseite aufgeführt.«

Badri stand auf und kam zu ihnen. Er sah noch gebrechlicher aus als im Krankenzimmer, wenn das möglich war, und bewegte sich langsam wie der alte Mann, der er geworden war. »Ich bekomme noch immer minimale Verschiebung, gleichgültig, welche Variablen ich eingebe«, sagte er. Er hielt sich die Seite unter den Rippen. »Ich werde das Netz in Abständen von zwei Stunden für jeweils fünf Minuten öffnen. Auf diese Weise können wir die Öffnungszeit auf vierundzwanzig Stunden ausdehnen, sogar auf sechsunddreißig, wenn wir Glück haben.«

Dunworthy fragte sich, wie viele von diesen zweistündigen Intervallen Badri durchhalten würde. Er sah bereits jetzt ziemlich erledigt aus.

»Wenn Sie den Schimmer beginnender Feuchtigkeitskondensation sehen, gehen Sie hinein«, sagte Badri.

»Und wenn es dunkel ist?« fragte Colin. Er hatte den Laborkittel ausgezogen, und Dunworthy sah, daß er ein Schildknappenkostüm anhatte.

»Wenn es dunkel ist, sollte man trotzdem den Schimmer sehen können, und wir werden rufen«, sagte Badri. Er grunzte leise und hielt sich wieder die Seite. »Sie sind immunisiert?«

»Ja.«

»Gut. Dann brauchen wir nur noch auf die medizinische Unterstützung zu warten.« Er musterte Dunworthy mit kritischem Blick. »Sind Sie sicher, daß Sie für diese Operation gesund genug sind?«

»Sind Sie es?« fragte Dunworthy zurück.

Die Tür ging auf, und die Praktikantin kam im Regenmantel herein. Sie errötete ein wenig, als sie Dunworthy sah. »William sagte, Sie brauchten medizinische Unterstützung. Wo soll ich mich aufstellen?«

Ich darf nicht vergessen, Kivrin vor ihm zu warnen, dachte Dunworthy. Badri zeigte ihr, wo er sie haben wollte, und Colin lief hinaus, ihre Ausrüstung zu holen.

Montoya führte Dunworthy zu einem mit Kreide gezogenen Kreis unter den Abschirmungen. »Wollen Sie Ihre Brille tragen?«

»Ich muß«, sagte er. »Sie können sie in Ihrem Friedhof ausgraben.«

»Ich bin ganz sicher, daß sie nicht da sein wird«, erwiderte sie. »Möchten Sie sitzen oder liegen?«

Er dachte, wie Kivrin am Boden gelegen hatte, den Arm über dem Gesicht, hilflos und blind. »Ich werde stehen«, sagte er.

Colin kam mit einem Kabinenkoffer zurück. Er stellte ihn bei der Konsole ab und ging zum Netz. »Es kommt nicht in Frage, daß Sie allein gehen«, erklärte er.

»Ich muß allein gehen, Colin.«

»Warum?«

»Weil es zu gefährlich ist. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es während der Pest war.«

»Doch, ich kann. Ich habe das Buch zweimal durchgelesen, und ich hatte meine…« Er brach ab. »Ich weiß alles über den Schwarzen Tod. Außerdem sollten Sie auf keinen Fall allein gehen, wenn es so schlimm ist. Ich werde Ihnen nicht im Weg sein, das verspreche ich.«

»Colin«, sagte er hilflos, »ich bin für dich verantwortlich. Ich kann das Risiko nicht auf mich nehmen.«

Badri kam herüber und begann mit seinen Messungen. »Die Schwester braucht Hilfe mit dem Rest ihrer Ausrüstung«, sagte er.

»Wenn Sie nicht zurückkommen, werde ich nie erfahren, was mit Ihnen geschehen ist«, sagte Colin. Er drehte um und rannte hinaus.

Badri schritt langsam einen Kreis um Dunworthy ab und machte Messungen. Er runzelte die Stirn, nahm ihn beim Ellbogen, machte weitere Messungen. Die Praktikantin kam mit einer Spritze. Dunworthy schob den Ärmel seines Rockes hoch.

»Sie sollen wissen, daß ich dies alles ganz und gar nicht billige«, sagte sie, während sie ihm die Armbeuge mit einem alkoholgetränkten Wattebausch abrieb. »Sie gehören beide ins Krankenhaus.« Sie verabfolgte ihm die Injektion und ging zurück zu ihrem Kabinenkoffer.

Badri wartete, während Dunworthy den Ärmel herunterließ und glattstrich, dann faßte er ihn am Arm, bewegte ihn ein kleines Stück, machte weitere Messungen. Colin trug ein Anzeigegerät herein und verschwand wieder, ohne Dunworthy anzusehen.

Dunworthy sah die Kontrollschirme ihre Zahlen ändern und wieder ändern, während Badri seine Messungen und Einstellungen vornahm. Durch die geschlossene Tür konnte er von ferne die Schellenläuter üben hören; aus dieser Distanz hörte es sich beinahe musikalisch an. Colin öffnete die Tür, und sofort wurden die metallischen Klänge unangenehm. Der Junge manövrierte einen zweiten Kabinenkoffer durch die Tür.

Er zog ihn zu der Stelle, wo die Praktikantin sich einrichtete, und stellte sich zu Montoya, um die Zahlen auf den Bildschirmen zu beobachten. Dunworthy wünschte, er hätte ihnen gesagt, daß er sitzend durchgehen wolle. Die steifen Stiefel drückten, und allein schon die Anstrengung des Stillstehens hatte ihn bereits erschöpft.

Badri sprach wieder ins Mikrophon, und die Abschirmungen kamen herunter, berührten den Boden und legten sich ein wenig um. Colin sagte etwas zu Montoya, und sie blickte auf und nickte dann und wandte sich zurück zum Bildschirm. Colin ging zum Netz.

»Was machst du da?« fragte Dunworthy.

»Eines von den Vorhangdingern hat sich verfangen.« Er ging zur anderen Seite und zupfte an der Falte.

»Fertig«, sagte Badri.

»Ja«, sagte Colin und zog sich zur Tür zurück. »Nein, warten Sie.« Er kam wieder zur Abschirmung. »Sollten Sie nicht die Brille abnehmen, Mr. Dunworthy? Für den Fall, daß jemand Sie durchkommen sieht?«

Dunworthy nahm die Brille ab und steckte sie in die Rocktasche.

»Wenn Sie nicht zurückkommen, gehe ich Sie suchen«, sagte Colin und trat zurück. »Fertig«, rief er.

Dunworthy blickte zu den Bildschirmen. Sie waren nichts als verschwommene helle Flecken. Montoya, die sich über Badris Schulter gebeugt hatte, war nur noch eine schemenhafte Gestalt. Sie sah auf ihre Uhr. Badri sprach ins Mikrophon.

Dunworthy schloß die Augen. Er konnte in der Ferne die Schellenläuter hörten, wie sie ihr Stück probten. Er öffnete die Augen.

»Jetzt«, sagte Badri. Er drückte einen Knopf, und Colin sprang durch die Abschirmungen und direkt in Dunworthys Arme.

33

Sie legten Rosemund in das Grab, das der Verwalter für sie ausgehoben hatte. Er hatte gesagt, daß sie diese Gräber benötigen würden, und er hatte recht gehabt. Es war ihnen schwer ums Herz, als sie das Mädchen zum Dorfanger hinaustrugen, und schwer wurde ihnen die leichte Last.

Sie legten die Tote neben dem Grab auf die Erde. Sie sah unglaublich dünn und zerbrechlich aus, wie sie in ihrem Umhang dalag, abgemagert zu einem Nichts. Die Finger ihrer rechten Hand, immer noch gekrümmt, wie sie den Apfel gehalten hatten, waren nichts als Haut und Knochen.

»Habt Ihr ihre Beichte gehört?« frage Pater Roche.

Kivrin nickte, und es schien ihr nicht die Unwahrheit zu sein. Rosemund hatte bekannt, daß sie sich vor der Dunkelheit und der Pest und dem Alleinsein fürchtete, daß sie ihren Vater geliebt und gewußt hatte, daß sie ihn nicht wiedersehen würde. Alles Dinge, die sie selbst nicht bekennen konnte.

Kivrin zog die Nadel der Brosche heraus, die Sir Bloet dem Mädchen geschenkt hatte, und wickelte Rosemund so in den Umhang, daß er ihren Kopf bedeckte. Pater Roche nahm sie in die Arme wie ein schlafendes Kind und stieg hinunter ins Grab.

Er hatte Mühe, wieder herauszuklettern, und Kivrin mußte seine großen Hände ergreifen und ihn herausziehen. Und als er die Gebete für die Tote begann, sagte er: »Domine, ad adjuvandum me festina.«

Kivrin sah ihn besorgt an. Wir müssen fort von hier, bevor auch er angesteckt wird, dachte sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren.

»Dormiunt in sommo pacis«, sagte Pater Roche und er hob die Schaufel auf und begann das Grab zuzuschütten.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern. Kivrin löste ihn ab und hackte an dem angefrorenen Erdhaufen und versuchte zu überlegen, wie weit sie bis zum Abend kommen würden. Es war noch nicht Mittag. Wenn sie bald aufbrachen, konnten sie durch den Wychwood und über die Straße von Oxford nach Bath auf die Ebene kommen. Innerhalb einer Woche, sagte sie sich, konnten sie in Schottland sein, in der Nähe von Invercassley oder Dornoch, wohin die Pest nie gekommen war.

»Pater Roche«, sagte sie, als er anfing, den Grabhügel mit der flachen Schaufel festzuklopfen. »Wir müssen nach Schottland gehen.«

»Schottland?« fragte er, als ob er nie davon gehört hätte.

»Ja«, sagte sie. »Wir müssen fort von hier. Wir müssen den Esel nehmen und nach Schottland ziehen.«

Er nickte. »Wir müssen die Sakramente mit uns nehmen, und bevor wir gehen, muß ich die Totenglocke für Rosemund läuten, daß ihre Seele sicher in den Himmel gelange.«

Sie war nahe daran, es ihm auszureden, ihm zu sagen, daß die Zeit drängte, daß sie jetzt aufbrechen mußten, unverzüglich, aber sie nickte. »Ich werde Balaam holen«, sagte sie.

Roche ging zum Glockenturm, und sie lief über den Dorfanger zurück zum Stall, den Esel herauszuholen. Sie war wie besessen von dem Wunsch, fortzukommen, jetzt gleich, bevor noch etwas geschah, als ob die Pest auf der Lauer läge, um sie anzuspringen, aus der Kirche oder dem Brauhaus oder der Scheune.

Sie rannte keuchend über den Hof und in den Stall und führte den Esel heraus. Sie lief wieder in den Stall und holte die Tragkörbe und das Geschirr heraus.

Die Glocke läutete einmal, dann blieb sie still, und Kivrin hielt inne, die Gurte des Traggeschirrs in der Hand, und lauschte, wartete auf die nächsten Glockenschläge. Drei Schläge für eine Frau, dachte sie, dann fiel ihr ein, warum er aufgehört hatte. Ein Schlag für ein Kind. Ach, Rosemund.

Sie stellte die Tragkörbe neben die bereitgelegten Gegenstände und Vorräte, um zu prüfen, wie sie sich am besten gleichmäßig füllen ließen. Sie waren zu klein, um alles aufzunehmen. Sie würde dem Esel die Säcke mit Hafer und Äpfeln auf den Rücken binden müssen. Zuerst mußte sie einen Sack mit Hafer füllen. Sie fand einen im Stall, trug ihn zum Kornspeicher und hob die Körner mit den zusammengelegten Händen aus dem Haferkasten und in den Sack. Dabei verstreute sie mehrere Händevoll auf den gestampften Lehmboden, und als sie die Menge für ausreichend hielt, verknotete sie den Sack mit einem derben Strick, der neben der Box von Agnes’ Pony hing. Der Strick war dort mit einem dicken Knoten angebunden, den sie nicht lösen konnte. Schließlich mußte sie ins Küchenhaus laufen, um ein Messer zu holen und den Strick abzuschneiden.

Sie tat es und teilte ihn in kürzere Stücke, ließ das Messer am Boden liegen und ging hinaus zum Esel. Er war dabei, ein Loch in den Hafersack zu beißen. Sie legte ihm das Traggeschirr auf, zog den breiten Gurt unter dem Bauch fest und band ihm die Säcke mit den kurzen Stricken auf den Rücken. Dann hängte sie die Körbe rechts und links ein, band sie am Traggeschirr fest und füllte sie möglichst gleichmäßig mit den Dingen, die sie mitnehmen wollte. Schließlich führte sie den Esel aus dem Hof und über den Dorfanger zur Kirche.

Pater Roche war nirgendwo in Sicht. Kivrin mußte noch die Decken und die Kerzen holen, aber zuvor wollte sie die Sakramente in den Körben unterbringen. Proviant, Hafer, Decken, Kerzen. Hatte sie noch etwas vergessen?

Pater Roche erschien in der Kirchentür. Er hatte nichts in den Händen.

»Wo sind die Sakramente?« rief sie ihm zu.

Er antwortete nicht, stand ein paar Augenblicke an die Kirchentür gelehnt, starrte zu ihr herüber, und der Ausdruck in seinem Gesicht war der gleiche wie an jenem Tag, als er gekommen war, ihr vom ersten Pestopfer im Dorf zu berichten. Aber sie sind alle gestorben, dachte sie. Es ist keiner mehr übrig.

»Ich muß die Glocke läuten«, sagte er und ging über den Friedhof zum Glockenturm.

»Ihr habt sie bereits geläutet«, sagte sie. »Es ist keine Zeit für das Grabgeläute. Wir müssen aufbrechen.« Mit kältesteifen Fingern band sie den Esel an die Friedhofspforte und eilte ihm nach. Noch vor dem Glockenturm erreichte sie ihn und hielt ihn am Ärmel zurück. »Was ist geschehen?«

Er wandte sich beinahe heftig zur ihr um, und sein Gesichtsausdruck erschreckte sie. Er sah wie ein Halsabschneider, ein Mörder aus. »Ich muß die Vesperglocke läuten«, sagte er und schüttelte ihre Hand ab.

Lieber Gott, nein, dachte Kivrin.

»Es ist erst Mittag«, sagte sie. »Es ist noch nicht Zeit für die Vesper.« Er ist bloß müde, dachte sie. Wir sind beide so müde, daß wir nicht klar denken können. Wieder griff sie nach seinem Ärmel. »Kommt, Pater Roche. Wir müsse gehen, wenn wir bis Dunkelwerden den Wald hinter uns bringen wollen.«

»Es ist schon zu spät«, sagte er, »und ich habe noch nicht geläutet. Frau Imeyne wird zornig sein.«

Lieber Gott, nein, dachte sie wieder. Laß es nicht geschehen.

»Ich werde die Glocke läuten«, sagte sie und trat vor ihn hin, um ihm den Weg zu sperren. »Ihr müßt Euch niederlegen und ausruhen.«

»Es wird dunkel«, sagte er ungeduldig. Er öffnete den Mund, als wollte er sie anschreien, und ein Schwall von Erbrochenem und Blut ergoß sich aus ihm und über Kivrins Wams.

Er blickte bestürzt auf ihre beschmutzte Kleidung.

Alle Heftigkeit war so plötzlich aus seinen Zügen gewichen, wie sie hineingekommen war.

»Kommt, Ihr müßt Euch niederlegen«, sagte sie und dachte, daß sie es niemals bis zum Herrenhaus schaffen würden.

»Bin ich krank?« sagte er, noch immer auf ihr mit blutigem Mageninhalt bedecktes Wams starrend.

»Nein, Ihr seid nur müde, müßt ruhen.«

Sie führte ihn zur Kirche. Er stolperte, und sie dachte: Wenn er fällt, bringe ich ihn nie mehr auf die Beine. Sie half ihm hinein, hielt die schwere Tür mit dem Rücken auf und setzte ihn an der Wand nieder.

»Ich fürchte, die Arbeit hat mich ermüdet«, sagte er und ließ den Kopf gegen den kalten Stein zurücksinken. »Ich würde gern ein wenig schlafen.«

»Ja, schlaft«, sagte Kivrin. Sobald er die Augen geschlossen hatte, lief sie zurück zum Herrenhaus, um Decken und ein Polster für ein Lager zu machen. Als sie mit den Sachen außer Atem zurückkehrte, war er nicht da.

»Pater Roche!« Sie spähte in das dunkle Kirchenschiff. »Wo seid Ihr?«

Niemand antwortete. Sie lief wieder hinaus, das Bettzeug an ihr nasses, mit Brunnenwasser notdürftig gesäubertes Lederwams gedrückt, aber er war weder im Glockenturm noch auf dem Friedhof, und bis zum Haus konnte er es schwerlich geschafft haben. Sie eilte zurück in die Kirche und durch das Kirchenschiff nach vorn, und da war er, kniete vor der Statue der heiligen Katharina.

»Ihr mußt Euch niederlegen«, sagte sie und breitete die Decken am Boden aus.

Er legte sich gehorsam auf das provisorische Lager, und sie schob ihm das Polster unter den Kopf. »Es ist die Pest, nicht wahr?« fragte er, zu ihr aufblickend.

»Nein«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Ihr seid nur sehr müde, das ist alles. Versucht zu schlafen.«

Er drehte sich auf die Seite, weg von ihr, aber schon ein paar Minuten später richtete er sich auf und stieß die Decken von sich. »Ich muß die Vesperglocke läuten«, sagte er anklagend, und Kivrin hatte alle Mühe, ihn am Aufstehen zu hindern. Als er eindämmerte, zündete sie die Talglichter vor der Statue an.

»Tue ihm das nicht an«, murmelte sie wieder und wieder, ohne es zu wissen. »Bitte, lieber Gott, bitte! Tue ihm das nicht an.«

Er öffnete die Augen. »Sicherlich muß Gott solch inständige Gebete erhören«, sagte er und sank in tieferen, ruhigeren Schlaf.

Kivrin lief hinaus, nahm dem Esel die Traglast ab und band ihn los, öffnete den Hafersack und ließ ihn den Kopf hineinstecken. Dann trug sie den Proviant und die Laterne in die Kirche. Pater Roche schlief noch. Sie verließ ihn abermals und rannte über den Dorfanger zum Hof, wo sie einen Eimer frisches Wasser aus dem Brunnen zog.

Er schien noch immer nicht erwacht zu sein, aber als Kivrin einen Streifen Stoff, den sie vom Altartuch gerissen hatte, in kaltem Wasser ausdrückte und ihm auf die Stirn legte, sagte er, ohne die Augen zu öffnen: »Ich fürchtete, daß Ihr fortgegangen wäret.«

Sie wischte ihm das verkrustete Blut vom Kinn. »Ich würde nicht ohne Euch nach Schottland gehen.«

»Nicht nach Schottland«, sagte er. »Zum Himmel.«

Sie aß ein wenig hartes Fladenbrot und Käse aus dem Proviantsack und versuchte zu schlafen, aber es war zu kalt. Im Schein der Talglichter stand ihr der Atem in einer Dampfwolke vor dem Gesicht. Sie ging hinaus, brach den Stangenzaun vor einer der Hütten ab und machte ein Feuer vor dem Lettner, aber es füllte den Kirchenraum bald mit Rauch, obwohl sie die Tür mit einem Stein offenhielt. Pater Roche hustete und mußte wieder erbrechen. Diesmal war beinahe alles Blut. Sie löschte das Feuer und unternahm zwei weitere Gänge zum Gutshof, um alles an Pelzen und Decken herbeizuschaffen, was sie finden konnte, und aus ihnen eine Art Nest zu machen.

Im Laufe der Nacht stieg sein Fieber. Er versuchte sich von den Decken zu befreien und wütete im Fieberwahn gegen ungesehene Feinde, meistens mit Worten, die ihr unverständlich blieben, doch einmal sagte er mit klarer Stimme: »Geh, sei verflucht!« und immer wieder: »Es wird dunkel.«

Kivrin brachte die Altarleuchter mit den Kerzen und nahm die Lichter vom Chorgitter und stellte sie alle vor der Katharinenstatue auf. Als seine Fieberphantasien über die Dunkelheit noch zunahmen, zündete sie alle an und deckte ihn wieder zu, und es schien ein wenig zu helfen. Sein Fieber stieg, und trotz der Felle und Decken, in die er dick eingehüllt war, klapperte er hörbar mit den Zähnen. Es schien Kivrin, daß seine Haut bereits dunkel von Blutergüssen wurde, und sie betete wieder: Tue ihm dies nicht an, bitte, lieber Gott, verschone ihn!

Am Morgen fühlte er sich besser. Seine Haut war doch nicht schwarz geworden, es war nur das ungewisse Licht der Kerzen gewesen, das den Anschein fleckiger Blutergüsse hervorgerufen hatte. Sein Fieber war ein wenig gesunken, und er schlief ruhig und ohne zu erbrechen bis in den Nachmittag. Sie ging fort, mehr Wasser zu holen, bevor es dunkel wurde.

Manche Menschen erholten sich spontan, und manche wurden durch Gebete gerettet. Nicht alle, die infiziert waren, starben an der Pest. Die Todesrate betrug bei Lungenpest nur neunzig Prozent.

Als sie zurückkehrte, lag er wach. Sie kniete bei ihm nieder, hob seinen Kopf an und hielt ihm einen Becher Wasser an die Lippen, daß er trinken konnte.

»Es ist die Blaukrankheit«, sagte er, als sie seinen Kopf zurücksinken ließ.

»Ihr werdet nicht sterben«, sagte sie. Zehn Prozent der Erkrankten überlebten. Zehn Prozent.

»Ihr müßt mir die Beichte abnehmen.«

Nein, er durfte nicht sterben. Sie würde ganz allein hier zurückblieben. Unfähig zu sprechen, schüttelte sie den Kopf.

»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, begann er auf Latein.

Er hatte nicht gesündigt. Er hatte ohne Rücksicht auf sich selbst die Kranken gepflegt, den Sterbenden die letzte Ölung gespendet, die Toten begraben. Gott war es, der ihn um Vergebung bitten sollte.

»…in Gedanken, Worten, Taten und Unterlassungen. Ich war zornig auf Imeyne. Ich war ungeduldig und schrie Maisry an.« Er schluckte. »Ich hatte fleischliche Gedanken an eine Heilige des Herrn.«

Fleischliche Gedanken.

»Ich erbitte demütig deine Verzeihung und Lossprechung, Vater, wenn du mich für würdig hältst.«

Es gibt nichts zu vergeben, wollte sie ihm sagen. Deine Sünden sind keine Sünden. Fleischliche Gedanken. Wir bändigten einen in Raserei verfallenen Kranken, trieben einen müden und hungrigen Jungen aus dem Dorf, pflegten Sterbende und begruben die Toten. Es ist das Ende der Welt. Sicherlich sind dir ein paar fleischliche Gedanken erlaubt.

Hilflos hob sie die Hand, unfähig, die Worte der Absolution zu sprechen, aber er schien es nicht zu bemerken. »Ach, mein Gott«, sagte er, »ich bin von Herzen traurig, daß ich Dich beleidigt habe.«

Dich beleidigt. Du bist der Heilige des Herrn, wollte sie ihm sagen, und wo, zum Teufel, ist Er? Warum kommt Er nicht und rettet dich?

Es war kein geweihtes Öl mehr vorhanden. Sie tauchte die Finger in den Eimer und machte das Kreuzzeichen über seinen Augen und Ohren, über Nase und Mund und über den Händen, die ihre Hand gehalten hatte, als sie dem Tode nahe gewesen war.

»Quid quid deliquiste«, sagte er, und sie tauchte wieder die Hand ins Wasser und machte das Kreuzzeichen auf seine Fußsohlen.

»Libera nos, quaesumus domine«, betete er.

»Ab omnibus malis«, sagte Kivrin, »praeteritis, praesentibus et futuris.« Erlöse uns, wir bitten Dich, o Herr, von allem Übel, vergangenem, gegenwärtigem und kommendem.

»Perducat te ad vitam aeternam«, murmelte er.

Und führe dich zum ewigen Leben. »Amen«, sagte Kivrin und beugte sich schnell über ihn, das Blut aufzufangen, das sich aus ihm ergoß.

Den Rest der Nacht und den folgenden Tag erbrach er in Abständen noch mehrmals Blut und Schleim, bis er am Nachmittag in Bewußtlosigkeit sank. Sein Atem ging hechelnd und unregelmäßig. Kivrin saß neben ihm und legte ihm kalte Umschläge auf die erhitzte Stirn. »Du darfst nicht sterben«, sagte sie, als sein Atem stockte und mühsamer wieder in Gang kam. »Du darfst nicht sterben«, wiederholte sie leise. »Was werde ich ohne dich tun? Ich werde ganz allein sein.«

»Du mußt nicht hierbleiben«, sagte er unerwartet. Er öffnete die Augen ein wenig. Sie waren blutunterlaufen und geschwollen.

»Ich dachte… ich dachte, du schliefest«, sagte sie mit Bedauern. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Du mußt wieder zum Himmel auffahren«, sagte er, »und für meine Seele im Fegefeuer beten, daß meine Zeit dort kurz sein möge.«

Fegefeuer. Als ob Gott ihn noch länger leiden lassen würde, als er schon gelitten hatte.

Sie drückte ihm die Hand. »Du wirst meiner Gebete nicht bedürfen.«

»Du mußt zu dieser Stelle zurückkehren, von der du kamst«, sagte er angestrengt, und seine Hand machte eine unbestimmte Bewegung vor seinem Gesicht, als versuchte er einen Schlag abzuwehren.

Kivrin ergriff seine Hand und hielt sie wieder, aber behutsam, um keine Blutergüsse auszulösen, und legte sie an ihre Wange.

Sie müsse zu der Stelle zurückkehren, von der sie gekommen war. Ich wollte, ich könnte es, dachte sie. Wie lange mochten sie das Netz offengehalten haben, bevor sie aufgegeben hatten? Vier Tage? Eine Woche? Vielleicht war es noch offen. Mr. Dunworthy würde niemals zulassen, daß sie es schlossen, solange noch ein Rest Hoffnung blieb. Aber es gibt keine Hoffnung, dachte sie. Ich bin nicht im Jahr 1320. Ich bin hier in den Jahren des Schwarzen Todes, in der Zeit des Untergangs.

»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich weiß den Weg nicht.«

»Du mußt versuchen, dich zu erinnern«, sagte Pater Roche, machte seine Hand los und wedelte damit ins Leere. »Jenseits der Gabel.«

Kivrin erhob sich auf die Knie, um bereit zu sein, wenn er unruhig wurde und sich aufzurichten versuchte, um zu erbrechen.

»Wo du fielst«, sagte er und stützte die in der Luft wedelnde Hand, indem er die andere Hand unter den Ellbogen legte, und Kivrin merkte, daß er den Weg weisen wollte. »Jenseits der Gabel.«

Er meinte die Weggabelung.

»Was ist jenseits der Gabel?« fragte sie.

»Der Ort, wo ich dich zuerst fand, als du vom Himmel fielst «, sagte er und ließ die Arme sinken.

»Ich dachte, Gawyn hätte mich gefunden.«

»Ja«, sagte er, als sähe er keinen Widerspruch darin, »ich traf ihn auf dem Weg, als ich dich zum Herrenhaus brachte.«

Er hatte ihn unterwegs getroffen!

»Die Stelle, wo Agnes fiel«, sagte er, um ihrer Erinnerung aufzuhelfen. »An dem Tag, als wir die Stechpalmenzweige suchten.«

Warum sagtest du es mir nicht, als wir dort waren? dachte Kivrin, aber sie wußte die Antwort. Er hatte mit dem Esel alle Hände voll zu tun gehabt, der auf der Anhöhe stehengeblieben und nicht zum Weitergehen zu bewegen war.

Nun wurde ihr auch klar, warum der Esel störrisch geworden war. Weil er sie hatte durchkommen sehen und von der Lichterscheinung und dem Glitzern der Kondensation erschreckt worden war. Er hatte sich erinnert und eine Wiederholung befürchtet. Und Pater Roche hatte auf der Lichtung über ihr gestanden und sie angesehen, als sie dagelegen hatte, einen Arm über dem Gesicht. Ich hörte ihn, dachte sie. Ich sah seinen Fußabdruck.

»Du mußt zu der Stelle zurückkehren, und von dort wieder zum Himmel«, sagte er und schloß die Augen.

Er hatte sie durchkommen sehen, war gekommen und hatte vor ihr gestanden, als sie mit geschlossenen Augen dagelegen hatte, und später war er wiedergekommen, hatte sie krank vorgefunden und auf seinen Esel geladen. Und sie war nie auf den Gedanken gekommen, nicht einmal, als sie ihn in der Kirche gesehen hatte, nicht einmal, als Agnes ihr erzählt habe, er glaube, daß sie eine Heilige sei.

Weil Gawyn ihr gesagt hatte, er habe sie gefunden. Gawyn, der gern prahlte und alles tat, um Eliwys zu beeindrucken. Vielleicht hatte er seine Behauptung nicht einmal als eine Lüge betrachtet. Der Dorfpfarrer war schließlich ein Niemand. Und die ganze Zeit, als Rosemund krank gewesen und Gawyn nach Bath fortgeritten und das Netz geöffnet und dann für immer geschlossen worden war, hatte Pater Roche die Stelle gekannt.

»Es ist nicht nötig, auf mich zu warten«, sagte er. »Sicherlich sehnen sie sich nach deiner Rückkehr.«

»Still«, sagte sie sanft. »Versuch zu schlafen.«

Er sank wieder in einen unruhigen Schlummer, doch blieben seine Hände in rastloser Bewegung, zupften an den Decken herum und schienen etwas anzuzeigen. Er schob die Decken fort und fühlte seinen Unterleib. Der arme Mann, dachte Kivrin, es sollte ihm keine Unwürdigkeit erspart bleiben.

Sie legte ihm die Hände auf die Brust und deckte ihn zu, aber er stieß sie wieder von sich und zog den Saum seiner Soutane über die Hosen herauf. Er griff an seinen Unterleib und erschauerte und ließ los, und etwas an der Bewegung erinnerte Kivrin an Rosemund.

Sie überlegte. Er hatte Blut gespuckt. Dieser Umstand und das Stadium, das die Epidemie erreicht hatte, hatten sie zu dem Schluß kommen lassen, daß er die Lungenpest habe, und sie hatte keine Beulen unter seinen Armen gefühlt. Sie schlug seine Soutane auseinander, daß seine aus grobem Wollstoff gewebte Hose offen lag. Sie war um seine Mitte mit einem einfachen Strick zusammengebunden, aber sie würde niemals imstande sein, ihm die Hose auszuziehen, ohne ihn zu heben, und sehen konnte sie nichts.

Sie legte die Hand vorsichtig an seine Hüfte, denn sie erinnerte sich, wie empfindlich Rosemunds Haut im Umkreis der Beule gewesen war. Er zuckte, erwachte aber nicht, als sie ihre Hand zur Leistengegend führte, kaum mehr als den Stoff berührend. Darunter war es heiß. »Vergib mir«, sagte sie und fühlte weiter.

Er schrie und zog in einer krampfhaften Bewegung die Knie an, aber Kivrin hatte die Hand bereits zurückgezogen. Die Beule war gigantisch und fühlte sich wie rotglühend an. Sie hätte sie schon vor Stunden aufschneiden sollen.

Selbst als er geschrien hatte, war Pater Roche nicht aufgewacht. Sein Gesicht war fleckig, sein Atem ging rasselnd, aber gleichmäßig. Seine ruckartige Bewegung hatte die Decken wieder abgeworfen. Sie zog sie heran und deckte ihn zu. Wieder kamen seine Knie hoch, aber weniger heftig und sie packte ihn ein, so gut es ging, nahm dann die letzte Kerze vom Chorgitter, setzte sie in die Laterne ein und zündete sie und ging hinaus.

Sie brauchte die Laterne nicht, denn draußen war es noch hell, obwohl der Abend nicht mehr fern war. Der Himmel zeigte sich bedeckt, aber es war beinahe windstill und schien draußen wärmer als in der Kirche. Sie lief über den Dorfanger und beschirmte die Kerzenflamme in der offenen Laterne, um sie vor dem Ausblasen zu bewahren.

Im Stall lag ein scharfes Messer, und um es wiederzufinden, brauchte sie die Laterne. Sie hatte es benutzt, um den Strick zu zerschneiden, als sie die Traglast für den Esel vorbereitet hatte. Sie würde es sterilisieren müssen, bevor sie die Beule aufschnitt. Es war notwendig, den geschwollenen Lymphknoten zu öffnen, bevor er aufbrach. Die Pestbeule war in gefährlicher Nähe der Oberschenkelarterie. Selbst wenn Pater Roche nicht sofort verblutete, würde das Infektionsgift augenblicklich in seine Blutbahn gelangen. Die Beule hätte schon vor Stunden geöffnet werden müssen.

Sie rannte zwischen der Scheune und dem leeren Schweinestall durch und über den Hof. Die Stalltür stand offen, und im Innern hörte sie Geräusche. Jemand war im Stall! Ihr Herzschlag setzte aus. »Wer ist da?« sagte sie und hielt die Laterne hoch, um hineinzuleuchten.

Die Kuh des Verwalters stand in der Box von Agnes’ Pony und riß das Heu aus der Futterraufe. Sie wandte den Kopf zu Kivrin und muhte, schob sich rückwärts aus der Box und kam zu ihr. »Ich hab keine Zeit«, sagte Kivrin. Sie fand das Messer, wo sie es hingeworfen hatte, und lief hinaus. Die Kuh folgte ihr schwerfällig und jämmerlich muhend. Ihr Euter war übervoll und mußte sie schmerzen.

»Geh weg«, sagte Kivrin, den Tränen nahe. »Ich muß ihm helfen, oder er stirbt.« Das Messer war schmutzig. Als sie es gefunden hatte, war es schon unsauber gewesen, und sie hatte es achtlos in den Mist und Schmutz des Stallbodens geworfen, nachdem sie den Strick in Stücke geschnitten hatte.

Sie ging zum Brunnen und hob den Eimer auf. Der Boden war mit kaum einem Zoll Wasser bedeckt, und es hatte bereits eine dünne Eisschicht gebildet. Es war nicht einmal genug, um das Messer zu bedecken, und ein Feuer anzuzünden, und Wasser zum Kochen zu bringen, würde eine Ewigkeit dauern. Dafür war keine Zeit. Die Pestbeule konnte jederzeit aufplatzen, vielleicht war es schon geschehen. Was sie brauchte, war Alkohol, aber den Wein hatten sie beim Aufschneiden der anderen Pestbeulen verbraucht. Dann fiel ihr der Krug ein, den der Sekretär in Rosemunds Schlafkammer gehabt hatte.

Die Kuh stieß sie unsanft an. »Nein, du mußt noch warten«, sagte sie mit fester Stimme. Die Laterne in der einen und das Messer in der anderen Hand, ging sie zum verlassenen Herrenhaus und stieß die Tür auf.

Im Durchgang war es halbdunkel, doch in Diele und Herdraum fiel noch einiges Licht durch die schmalen Fenster und zeigte ihr die kalte Herdstelle und den Tisch und den Sack mit aussortierten Äpfeln, von denen mehrere herausgerollt waren und auf dem Tisch verstreut lagen.

Die Ratten liefen nicht davon. Sie blickten auf, als Kivrin hereinkam, und sie sah ihre spitzen Nasen schnuppern und die kleinen runden Ohren zucken, und dann machten sie sich wieder über die Äpfel her. Beinahe ein Dutzend von ihnen mußte auf dem Tisch und im offenen Sack sein, wo es sich bewegte, und eine saß auf Agnes’ dreibeinigem Hocker und zog ihren langen Schnurrbart durch die zarten rosa Vorderpfoten. Es sah aus, als ob sie betete.

Kivrin stellte die Laterne auf den Boden. »Verschwindet!« schrie sie.

Die Ratten auf dem Tisch blickten nicht einmal auf. Die auf dem Hocker schaute sie über die erhobenen Pfoten hinweg mit den schwarzen Knopfaugen an, wie man einen ungebetenen Eindringling ansieht.

»Verschwindet von hier!« schrie sie und lief auf sie zu.

Sie flohen noch immer nicht. Zwei verschwanden hinter dem Sack, und eine ließ ein Stück von einem Apfel, den sie in den Vorderpfoten gehalten hatte, auf den Tisch fallen und huschte den beiden anderen nach. Nur eine sprang von der Tischkante auf den mit Binsen bestreuten Boden.

Kivrin hob das Messer. »Los, weg da!« Sie stieß mit dem Messer auf den Tisch nieder, und die Ratten spritzten auseinander. »Raus!« Sie holte wieder aus, dann fegte sie die Äpfel vom Tisch und auf den Boden, wo sie zwischen die Binsen rollten. Die Ratte, die auf Agnes’ Hocker gesessen hatte, rannte vor Überraschung oder Furcht direkt auf Kivrin zu. Sie warf mit dem Messer nach ihr, und die Ratte rannte zurück unter den Hocker und verschwand im Halbdunkel zwischen Bänken und Binsenstreu.

»Raus hier!« sagte Kivrin. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte sich.

»Mwaa«, sagte die Kuh vom Eingang.

»Es ist eine Krankheit«, flüsterte Kivrin durch die Finger. »Es ist niemandes Schuld.«

Sie bückte sich, hob das Messer auf und nahm die Laterne an sich. Die Kuh war mit der vorderen Hälfte durch die Tür hereingekommen und dann steckengeblieben. Sie muhte jämmerlich.

Kivrin überließ sie sich selbst und stieg die Treppe zur Kammer hinauf, ohne auf die huschenden, raschelnden Geräusche über ihr zu achten. In der Kammer war es eisig kalt. Der gewachste Leinenstoff, den Eliwys vor das Fenster gespannt hatte, war losgerissen und hing an einer Ecke. Auch der Bettvorhang war an einer Seite heruntergerissen, wo der Sekretär versucht hatte, sich hochzuziehen, und der Strohsack war halb vom Bett gerutscht. Darunter waren leise Geräusche zu hören, aber Kivrin versuchte nicht nachzusehen, woher sie kamen. Die Truhe stand noch offen, der geschnitzte Deckel lehnte am Fußende des Bettes, und der schwere purpurne Umhang des Sekretärs lag zusammengefaltet darin.

Der Weinkrug war unter das Bett gerollt. Kivrin legte sich auf den Bauch und griff unter das Bett, und der Krug rollte bei ihrer Berührung davon, und sie mußte halb unter das Bett kriechen, bevor sie ihn zu fassen bekam.

Der Korken war herausgefallen, wahrscheinlich als der Krug versehentlich unter das Bett gestoßen worden war. Ein kleiner Rest Wein haftete klebrig an der Öffnung.

Sie saß eine lange Minute hoffnungslos, den leeren Krug in der Hand.

In der Kirche gab es auch keinen Wein. Pater Roche hatte allen Meßwein für die Sterbesakramente verbraucht.

Plötzlich fiel ihr die Keramikflasche ein, die er ihr zur Behandlung von Agnes’ Knie gegeben hatte. Sie wand sich kriechend unter das Bett und tastete mit dem ausgestreckten Arm vorsichtig umher. In Sorge, sie könnte die Flasche umstoßen. Wieviel noch darin gewesen war wußte sie nicht, glaubte aber, daß der Rest für ihren Zweck ausreichen würde.

Trotz ihrer Sorgfalt hätte sie die Keramikflasche im dunklen Winkel unter dem Kopfende des Bettes beinahe umgestoßen und bekam sie gerade noch im Umkippen zu fassen. Rückwärtskriechend kam sie unter dem Bett hervor und schüttelte die Flasche. Sie mußte noch annähernd halbvoll sein. Sie steckte das Messer in die Lederschnur, die ihr Wams gürtete, nahm die Flasche in die eine und den Umhang des Sekretärs in die andere Hand und ging hinunter. Die Ratten hatten sich wieder über die Äpfel hergemacht, aber diesmal rannten sie davon, als Kivrin die Steinstufen herunterkam, und sie versuchte nicht nachzusehen, wohin sie sich verkrochen hatten.

Die Kuh klemmte mit dem Bauch in der Türöffnung und versperrte hoffnungslos den Weg. Kivrin legte im Durchgang auf den Boden, was sie bei sich hatte, stellte die Keramikflasche sorgsam aufrecht und stieß das unglücklich muhende Tier rückwärts hinaus.

Kaum war Kivrin auf dem Hof, kam die Kuh wieder zu ihr und stieß sie an. »Nein, jetzt nicht«, wehrte sie ab, ging aber hinüber zur Scheune, stieg auf die Tenne und warf ein paar Gabeln Heu hinunter. Dann nahm sie alles an sich und lief zurück zur Kirche.

Pater Roche lag in tiefer Bewußtlosigkeit. Sein Körper hatte sich entspannt, die kräftigen Arme und Beine lagen ausgestreckt, die Handflächen nach oben. Er glich einem Mann, der von einem harten Schlag auf den Rücken geworfen worden war. Er atmete schwer und bebend, als ob ihn fröstelte.

Kivrin deckte ihn warm zu und tätschelte seinen ausgestreckten Arm. »Ich bin gleich wieder da.« Er gab durch nichts zu erkennen, daß er sie gehört hatte.

Sie nahm den Windschutz von der Laterne und entzündete mit ihrer Flamme alle Kerzen und Talglichter, die noch nicht abgebrannt waren. Von Imeynes Kerzen waren noch drei vorhanden, alle zu mehr als der Hälfte niedergebrannt, aber vor der Statue der heiligen Katharina war noch die dicke Talgkerze, und zwei von den Talglichtern hatten noch Brennstoff in den steinernen Schalen. Sie stellte die Lichter so um Pater Roche auf, daß sie die untere Körperhälfte des Kranken so hell wie möglich beleuchteten.

»Ich werde die Hose herunterziehen müssen, um die Beule aufzuschneiden«, sagte sie, als sie die Decke zurückschlug. Er rührte sich nicht. Sie schnürte den Strick um seinen Hosenbund auf, und er zuckte nicht einmal bei ihrer Berührung, doch hörte sie ihn leise stöhnen, und es hörte sich gurgelnd an.

Sie zog an der Hose, um sie unter ihm herauszuzerren, dann bemühte sie sich, gleichzeitig seine Beine anzuheben, aber es war unmöglich; die Hose war zu eng, und sie mußte sie aufschneiden.

»Ich muß die Hose aufschneiden«, erläuterte sie, während sie das Messer und die Weinflasche heranzog. Sie schnüffelte an der Flasche, nahm einen kleinen Schluck und hustete. Gut. Er war alt und voll Alkohol. Nachdem sie die Messerklinge über einer Kerzenflamme hin und her gewendet und erhitzt hatte, wischte sie sie ab und goß ein wenig Wein über die Klinge, ließ aber genug in der Flasche, um die geöffnete Wunde damit auszuspülen.

»Beata«, murmelte Pater Roche. Seine Hand bewegte sich zum Unterleib.

»Es ist schon gut«, sagte Kivrin. Sie nahm mit der einen Hand das Hosenbein und schnitt mit der anderen den Wollstoff auf. »Ich weiß, daß es jetzt schmerzen wird, aber ich muß die Beule aufschneiden.« Sie zog das rauhe Gewebe auseinander, und es erwies sich als so mürbe, daß es noch weiter aufriß als ihr Schnitt reichte. Roche zog die Knie an. »Nein, nein, laß die Beine unten«, sagte Kivrin und suchte sie niederzudrücken. »Ich muß die Beule öffnen.«

Sie brachte die Beine nicht herunter und mußte sie einstweilen lassen wie sie waren. Ihre Finger zogen den aufgeschlitzten Stoff vorsichtig auseinander, und sie konnte die Pestbeule sehen. Sie war doppelt so groß wie Rosemunds und gänzlich schwarz. Sie hätte schon vor Stunden, vor Tagen aufgeschnitten werden müssen.

»Bitte streck die Beine aus«, sagte sie und verlagerte ihr ganzes Gewicht auf seine Knie. »Ich muß die Beule öffnen.«

Er reagierte nicht. Vielleicht konnte er nicht, vielleicht waren seine Muskeln in einer Weise verkrampft, daß sie seinem Willen nicht gehorchten, wie sie es beim Sekretär gesehen hatte. Sie konnte nicht warten, bis die Verkrampfung, wenn es eine war, sich gelöst hatte. Die Pestbeule konnte jeden Augenblick aufplatzen.

Sie kniete bei seinen Füßen nieder, stützte sich auf eines seiner angezogenen Knie und schob das Messer vorsichtig zwischen seinen Beinen vorwärts, bis es in der Position, die sie für die richtige hielt, die Beule berührte.

Er schnellte hoch, sein Tritt traf sie voll in die Rippen und warf sie rückwärts zu Boden. Das Messer flog ihr aus den Fingern und klapperte laut über den Steinboden. Der Stoß hatte ihr den Atem aus den Lungen gepreßt, und nun lag sie hilflos und schnappte mit kurzen, heftigen Zügen nach Luft. Als sie sich wieder aufrappelte, fuhr ihr ein stechender Schmerz durch die rechte Seite, und sie sank zurück, eine Hand gegen die Rippen gepreßt.

Roche stieß röchelnde Schreie aus, die an ein gequältes Tier erinnerten. Kivrin wälzte sich auf die linke Seite. »Tut mir leid«, flüsterte sie, »ich wollte nicht… Ich habe mich dumm angestellt.« Sie kroch auf den Knien, auf den linken Arm wie auf eine Krücke gestützt, an seinen Beinen vorbei zu ihm. Die Anstrengung verlangte tiefere Atemzüge, und jeder von ihnen durchbohrte ihre Seite mit einem Stich. »Es ist schon gut«, flüsterte sie. »Ich komme.«

Beim Klang ihrer Stimme zog er wieder krampfhaft die Beine an, und sie hielt sich vorsichtig zwischen ihm und der Wand, außer Reichweite. Er hatte eine der Kerzen umgestoßen, die brennend in einer kleinen gelben Wachspfütze lag. Kivrin stellte sie aufrecht, dann legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. »Es ist schon gut. Ich bin da«, sagte sie.

Er hörte auf zu schreien und lag still, die Augen halb geöffnet, und sein Atem röchelte durch zusammengebissene Zähne. »Es tut mir leid«, sagte sie, über ihn bebeugt. »Ich wollte dir keine Schmerzen bereiten. Ich versuchte die Beule aufzuschneiden.«

Er zog die Knie noch krampfhafter an sich. Kivrin hob eine Kerze auf und hielt sie so, daß ihr Schein die im Schatten des angezogenen Schenkels liegende Leistengegend beleuchtete. Die Pestbeule war schwarz und hart; sie hatte sie nicht einmal angeritzt. Sie hob die Kerze höher und hielt Ausschau nach dem Messer. Es mußte in der Richtung des Sarkophags liegen. Sie streckte die Hand mit der Kerze dorthin aus und erwartete ein metallisches Glänzen zu sehen, doch vergebens.

Sie machte vorsichtig Anstalten, aufzustehen, auf der Hut vor dem Schmerz, aber mitten in der Bewegung stach er zu, und sie schrie auf und krümmte sich vornüber.

»W-was gibt es?« murmelte Pater Roche. Er schien Schwierigkeiten zu haben, den Kopf seitwärts zu drehen, und aus seinem Mundwinkel rann etwas Blut. Seine Augen waren offen. »Habe ich dir Schmerzen zugefügt?«

»Nein«, sagte sie, ließ sich wieder auf die Knie sinken. »Nein. Du hast mir keine Schmerzen zugefügt.« Sie wischte ihm den Mund mit dem ledernen Ärmel ihres Wamses.

»Du mußt«, sagte er, und als er den Mund öffnete, kam mehr Blut heraus. Er schluckte. »Du mußt die Sterbegebete sprechen.«

»Du wirst nicht sterben.« Wieder wischte sie ihm Mund und Kinn. »Aber ich muß die Beule aufschneiden, bevor sie platzt.«

»Tu es nicht«, sagte er, und sie wußte nicht, ob er meinte, sie solle die Pestbeule nicht aufschneiden oder nicht gehen. Er biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten, und Blut sickerte zwischen ihnen hervor. Sie ließ sich vorsichtig auf die Fersen zurücksinken und nahm seinen Kopf auf den Schoß.

»Requiem aeternam dona eis«, sagte er mit gurgelnder Stimme, »et lux perpetua lucent eis.«

Sie stützte seinen Kopf höher ab, indem sie eine zusammengelegte Decke unterschob, wischte ihm wieder Mund und Kinn mit dem mittlerweile blutgetränkten Streifen vom Altartuch. »Tu es nicht«, sagte er.

»Gut«, sagte sie. »Ich bleibe bei dir.«

»Bete für mich«, sagte er und versuchte die Hände vor der Brust zu falten. »Requ…« Seine Stimme erstickte in einem Gurgeln.

»Requiem aeternam«, sagte Kivrin. Sie faltete die Hände. »Requiem aeternam dona eis, Domine.«

»Et lux…«, sagte er.

Die Kerze neben Kivrin erlosch, und der Duft von verbranntem Wachs breitete sich aus. Auch die anderen Lichter waren bis auf eine von Imeynes Wachskerzen ausgegangen, und auch diese war beinahe heruntergebrannt.

»Et lux perpetua…«, sagte Kivrin.

»… lucent eis«, sagte Pater Roche. Er hielt inne und versuchte sich die blutigen Lippen zu befeuchten. Seine Zunge war geschwollen und steif. »Requiescat in pace.« Er schluckte wieder und schloß die Augen.

»Amen«, sagte sie. »Laß ihn nicht noch mehr leiden«, setzte sie flüsternd hinzu. »Bitte. Es ist nicht gerecht.«

»Anima ejus et animae omnium fidelium defunctorum per misericordian Dei requiscant in pace«, murmelte er angestrengt.

»Amen.« Sie machte für ihn das Kreuzzeichen.

»In den letzten Tagen…«, sagte er undeutlich, behindert durch die geschwollene Zunge.

Sie beugte sich näher.

»…fürchtete ich, daß Gott uns ganz verlassen würde.«

Und das hat Er getan, dachte sie. Sie wischte ihm Mund und Kinn mit dem Zipfel ihres Wamses. Das hat Er getan.

Er schluckte wieder. »Aber in Seiner großen Barmherzigkeit hat Er es nicht getan, sondern sandte Seine Heilige zu uns.«

Er hob den Kopf und hustete, und ein Blutsturz übergoß seine Brust und ihre Knie. Unfähig, den Blutfluß aufzuhalten, hielt sie ihm verzweifelt den Kopf hoch und bemühte sich, das Blut wegzuwischen, konnte aber durch ihre Tränen kaum sehen, was sie tat. »Und ich bin keine Hilfe«, schluchzte sie.

»Warum weinst du?« fragte er.

»Du hast mir das Leben gerettet«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme, »und ich kann das deine nicht retten.«

»Alle Menschen müssen sterben«, sagte Pater Roche, »und niemand, nicht einmal Christus, kann sie retten.«

»Ich weiß.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften in sein Haar.

»Und doch hast du mich gerettet«, sagte er, und seine Stimme klang momentan klarer. »Vor Furcht und Unglauben.« Er tat einen rasselnden Atemzug.

Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und ergriff Pater Roches Rechte. Sie fühlte sich kalt und schon steif an.

»Ich bin gesegnet vor allen Menschen, dich hier zu haben«, sagte er leise und schloß die Augen.

Kivrin wagte ihre Stellung nicht zu verändern, weil sie befürchten mußte, einen neuerlichen Blutsturz auszulösen. Draußen war es dunkel geworden, und durch die schmalen Fenster drang kein Lichtschein mehr herein. Frau Imeynes Kerze flackerte und brannte wieder ruhig. Sie bewegte Pater Roches Kopf ein wenig, daß er nicht an ihre Rippen stieß, und er stöhnte, und seine Hand zuckte, wie um sich aus ihrer zu befreien, aber sie hielt fest. Die Kerzenflamme leuchtete in plötzlicher Helligkeit auf, erlosch und ließ sie in Dunkelheit versinken.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(082808–083108)

Ich glaube nicht, daß ich die Rückkehr schaffen werde, Mr. Dunworthy. Pater Roche sagte mir, wo der Absetzort ist, aber ich habe ein paar Rippen gebrochen, glaube ich, und alle Pferde sind fort, und ich sehe nicht, wie ich ohne Sattel und Steigbügel auf Peter Roches Esel steigen könnte.

Ich werde versuchen, dafür zu sorgen, daß Mrs. Montoya diese Aufzeichnungen findet. Sagen Sie Mr. Latimer, daß die adjektivische Beugung um 1348 noch vorherrschte. Und sagen Sie Mr. Gilchrist, daß er irrte. Die Statistiken waren nicht übertrieben.


(Unterbrechung)

Ich möchte nicht, daß Sie sich dieser Geschehnisse wegen Vorwürfe machen. Ich weiß, daß Sie gekommen wären, mich zu holen, wenn Sie eine Möglichkeit dazu gesehen hätten, aber ich hätte ohnedies nicht gehen können, jedenfalls nicht solange Agnes und Rosemund krank waren.

Ich wollte in diese Zeit, und wenn ich nicht gekommen wäre, würden sie ganz allein gewesen sein, und niemand würde je erfahren, wie mutig und unersetzlich diese Menschen bei all ihrer Furcht und Unwissenheit waren.


(Unterbrechung)

Es ist seltsam. Als ich den Absetzort nicht finden konnte und die Pest kam, schienen Sie so weit entfernt, als würde es niemals möglich sein, Sie wiederzufinden. Aber ich weiß jetzt, daß Sie die ganze Zeit hier waren, und daß nichts, nicht einmal die Pest oder siebenhundert Jahre oder der Tod oder kommende Dinge oder irgendein anderes Lebewesen mich jemals von Ihrer Fürsorge trennen könnte. Sie war jede Minute in mir.

34

»Colin!« stieß Dunworthy hervor, und mit schnellem Zugriff erwischte er Colins Arm, als der Junge geduckt durch die Abschirmung und in das Netz sprang. »Was, in Gottes Namen, soll das bedeuten?«

Colin entwand sich seinem Griff. »Ich glaube, daß Sie nicht allein gehen sollten!«

»Du kannst nicht einfach das Netz durchbrechen! Dies ist keine Quarantäneabsperrung. Wie, wenn das Netz sich geöffnet hätte? Du hättest dabei umkommen können!« Er faßte wieder nach Colins Arm und wandte sich zur Konsole. »Badri! Halten Sie an!«

Badri war nicht da. Dunworthy blinzelte kurzsichtig in die Richtung, wo die Konsole gewesen war. Sie waren in einem Wald, umgeben von Bäumen. Schnee lag auf dem Boden, und die Luft funkelte von Kristallen.

»Wer wird sich um Sie kümmern, wenn Sie allein gehen?« sagte Colin. »Was wollen Sie machen, wenn Sie einen Rückfall haben?« Er sah an Dunworthy vorbei, und sein Mund klappte auf. »Sind wir da?«

Dunworthy ließ Colins Arm los und suchte in seinem Rock nach der Brille. »Badri!« rief er. »Öffnen Sie das Netz!« Er setzte die Brille auf, aber die Gläser waren mit Frost bedeckt. Er riß die Brille wieder herunter und schabte an den Linsen. »Badri!«

»Wo sind wir?« fragte Colin.

Dunworthy hakte die Brille über die Ohren und hielt Umschau. Ringsum standen mächtige alte Bäume, der Efeu, der ihre Stämme umkleidete, hatte vom Rauhreif versilberte Blätter. Von Kivrin war nichts zu sehen.

Er hatte erwartet, daß sie hier sein würde, was absolut lächerlich war. Sie hatten bei den Proben bereits das Netz geöffnet und sie nicht gefunden, doch hatte er gehofft, daß sie zum Absetzort zurückkommen und warten würde, wenn sie begriff, wo sie war. Aber sie war nicht hier, und nichts deutete darauf hin, daß sie jemals hier gewesen war.

Der Schnee, in dem sie standen, war weich und glatt und frei von Fußabdrücken. Außerdem war er tief genug, um alle Spuren auszutilgen, die sie vor dem Schneefall zurückgelassen haben mochte, aber er war nicht tief genug, um den zerschlagenen Wagen und die umhergestreuten Kisten und Körbe zu verbergen. Und von der Straße von Oxford nach Bath war keine Spur zu sehen.

»Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagte er.

»Nun, ich weiß, daß es nicht Oxford ist«, sagte Colin und stapfte im Schnee herum. »Weil es nicht regnet.«

Dunworthy blickte durch das schneebeladene Geäst zum blassen, klaren Himmel auf. Wenn es die gleiche Verschiebung wie in Kivrins Absetzoperation gegeben hatte, würde es Vormittag sein.

Colin stampfte durch den Schnee davon auf ein Dickicht rötlicher Weiden zu.

»Wohin gehst du?«

»Eine Straße suchen. Der Absetzort soll an einer Straße sein, nicht?« Er arbeitete sich in das Dickicht und verschwand.

»Colin!« rief er und setzte sich in Bewegung. »Komm hierher zurück!«

»Da ist sie schon!« rief Colin von irgendwo jenseits des Weidendickichts. »Da ist die Straße!«

»Komm zurück hierher!« rief Dunworthy.

Colin kam wieder zum Vorschein, bog die Weidenzweige auseinander.

»Komm her«, sagte er in ruhigerem Ton.

»Die Straße führt eine Anhöhe hinauf«, sagte er, als er wieder auf die Lichtung herauskam. »Wir können hinaufgehen und sehen, wo wir sind.«

Sein brauner Rock war bereits mit herabgefallenem Schnee von den Weiden bedeckt, und er sah wachsam aus, auf schlechte Nachrichten gefaßt.

»Sie wollen mich zurückschicken, nicht wahr?«

»Ich muß«, sagte Dunworthy, aber bei der Aussicht darauf verließ ihn der Mut. Badri würde das Netz erst in zwei Stunden wieder öffnen, und er war nicht sicher, wie lange es offen bleiben würde. Er hatte nicht zwei Stunden Zeit, um hier zu warten und Colin durchzuschicken, und er konnte ihn nicht zurücklassen. »Du bist in meiner Verantwortung.«

»Und Sie in meiner«, erwiderte Colin eigensinnig. »Großtante Mary sagte mir, ich solle mich um Sie kümmern. Was soll geschehen, wenn Sie einen Rückfall haben und allein sind?«

»Du verstehst nicht. Der Schwarze Tod…«

»Das ist kein Problem. Wirklich nicht. Ich habe das Tetracyclin und das Gammaglobulin und alles bekommen. William hat seine Krankenschwester dazu überredet, und sie hat es mir gegeben. Sie können mich jetzt nicht zurückschicken, das Netz ist nicht offen, und außerdem ist es zu kalt, um zwei Stunden hier herumzustehen und zu warten. Sie würden garantiert einen Rückfall erleiden. Wenn wir uns jetzt auf die Suche nach Kivrin machen, könnten wir sie bis dahin schon gefunden haben.«

Er hatte insoweit recht, als sie nicht hier bleiben und warten konnten. Die Kälte drang bereits durch den weiten viktorianischen Umhang, und Colins Rock aus Sackleinwand bot noch weniger Schutz als seine grüne Jacke und war bereits voll Schnee.

»Wir werden auf die Anhöhe gehen«, sagte er, »aber zuerst müssen wir die Lichtung so markieren, daß wir sie wiederfinden können. Und du kannst nicht einfach losrennen. Ich wünsche, daß du zu allen Zeiten in Sichtweite bleibst. Ich habe nicht die Zeit, auch noch auf die Suche nach dir zu gehen.«

»Ich werde nicht verlorengehen«, sagte Colin. Er hatte sein Bündel aufgeschnürt, suchte darin herum und hielt ein flaches Rechteck in die Höhe. »Ich habe ein Ortungsgerät mitgebracht. Es muß nur noch auf diese Lichtung eingestellt werden.«

Nachdem er das getan hatte, ging er voraus, hielt Dunworthy die Weidenzweige auseinander, und sie kamen auf die Straße. Sie war allenfalls ein Ziehweg und mit frischem Schnee bedeckt, der keinerlei Spuren außer den Fährten von Eichhörnchen, Hasen und einem Hund oder vielleicht einem Wolf zeigte. Colin hielt sich gehorsam an Dunworthys Seite, bis sie die Anhöhe halb erstiegen hatten, dann konnte er sich nicht länger beherrschen und rannte voraus.

Dunworthy stapfte schnaufend hinterdrein. Die unangenehme Beengung der Brust hatte sich wieder eingestellt, und er tat sein Möglichstes, sie nicht zu beachten. Ein Stück unter der Anhöhe hörte der Wald auf, und wo die freien Rächen begannen, wehte ein beißend kalter Wind.

»Ich sehe das Dorf!« rief Colin zu ihm herunter.

Er kam zu dem Jungen und blieb schweratmend stehen. Der Wind war hier noch schlimmer, blies durch den gefütterten Umhang, als wäre er aus Seidenpapier, und trieb langgezogene Schichtwolken über den blassen Himmel. Weit im Süden stieg eine Rauchfahne auf, wurde in einiger Höhe vom Wind erfaßt und bog scharf nach Osten um.

»Sehen Sie?« Colin streckte den Arm aus.

Eine leicht gewellte Ebene lag unter ihnen, in gleißenden Schnee gehüllt, der das Auge blendete. Die kahlen Bäume hoben sich schwarz ab, und wo sie Reihen bildeten, ließen sich Fahrwege oder Straßen vermuten. Die da und dort unterbrochenen Baumreihen einer Allee markierten auch die Straße von Oxford nach Bath, welche die verschneite Ebene in gerader Linie durchzog. Zwischen verstreuten Ansammlungen von Bäumen und Büschen zeichneten sich die eckigen Umrisse schneebedeckter Strohdächer ab, und am Horizont lag die Stadt Oxford wie eine Bleistiftzeichnung. Über den dunklen Mauern konnte er die weißen Dächer und den klotzigen Turm von St. Michael erkennen. Vollkommene Stille lag über dem Land, unterbrochen nur vom leisen Sausen des Windes, das sich in Abständen zu bösartigem Fauchen verstärkte.

»Sieht nicht so aus, als ob der Schwarze Tod schon hier wäre, nicht?« sagte Colin.

Er hatte recht. Das Land ums alte Oxford lag ruhig und heiter vor ihnen. Es war unmöglich, sich dieses Land von der Pest entvölkert vorzustellen, mit Karren voller hochgetürmter Leichen, die durch die engen Straßen gezogen wurden, die Universität verlassen und mit Brettern vernagelt, und überall die Sterbenden und die Toten. Und genauso unmöglich war es, sich Kivrin irgendwo dort draußen vorzustellen, in einem dieser Dörfer, die man mehr ahnen als sehen konnte.

»Schauen Sie, dort«, sagte Colin, den Arm nach Süden gestreckt. »Hinter den Bäumen dort.«

Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Umrisse von Gebäuden zwischen den dichtgedrängten Bäumen auszumachen. Dort war ein dunklerer Umriß hinter den schneebedeckten Ästen, der Turm einer Kirche, vielleicht, oder der Klotz eines burgähnlichen Gutshauses.

»Da ist die Straße, die hinführt«, sagte Colin und zeigte zu einer schmalen, weißgrauen Linie, die irgendwo unter ihnen begann.

Dunworthy zog die Karte zu Rate, die Montoya ihm gegeben hatte. Es war nicht zu bestimmen, welches Dorf es war, nicht einmal anhand ihrer Skizze, solange sie nicht wußten, wie weit sie vom geplanten Absetzort entfernt waren. Wenn sie sich südlich davon befanden, lag das Dorf zu weit Östlich, um Skendgate zu sein, aber wo er dachte, daß es sein sollte, waren keine Bäume, nichts, nur eine ebene Schneefläche.

»Na?« fragte Colin. »Gehen wir hin?«

Es war das einzige Dorf im näheren Umkreis, wenn es ein Dorf war, und es schien nicht weiter als einen Kilometer entfernt zu sein. Wenn es nicht Skendgate war, so lag es doch in der etwa passenden Richtung, und wenn es eines oder mehrere von Montoyas »charakteristischen Merkmalen« aufwies, konnten sie es benutzen, um sich zu orientieren.

»Du mußt immer und unter allen Umständen bei mir bleiben und darfst mit niemandem sprechen, hast du verstanden?«

Colin nickte, hatte offensichtlich nicht zugehört. »Ich glaube, die Straße ist in der Richtung«, sagte er und rannte die andere Seite der Anhöhe hinunter.

Dunworthy folgte ihm. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie viele Dörfer es gab, wie wenig Zeit er hatte, wie müde er schon nach diesem bescheidenen Stück Weges war.

»Wie überredetest du William, daß er die Impfungen für dich arrangierte?« fragte er, als er Colin einholte.

»Er wollte Großtante Marys Nummern-Code, um die Genehmigungen zu fälschen. Ich wußte, daß er bei den Papieren in ihrer Börse war, und die war in ihrer Einkaufstasche.«

»Und du weigertest dich, ihm den Code zu geben, wenn er nicht einwilligte?«

»Ja, und ich sagte ihm, daß ich seiner Mutter von all den Mädchen erzählen würde, die er aufs Kreuz legte«, sagte er lachend und rannte wieder voraus.

Die vermeintliche Straße, die er gesehen hatte, erwies sich als eine Hecke. Dunworthy weigerte sich, querfeldein durch die Wiesen zu gehen, an die sie grenzte. »Wir müssen auf den Straßen bleiben«, sagte er.

»Dies ist schneller«, widersprach Colin. »Es ist nicht so, daß wir uns verlaufen könnten. Wir haben das Ortungsgerät.«

Dunworthy mochte nicht streiten. Er ging weiter und hielt Ausschau nach einer Wegbiegung. Die schmalen Felder wurden von Wald abgelöst, und der Weg bog zurück nach Norden.

»Und wenn es keine Straße gibt?« fragte Colin nach einem halben Kilometer, aber nach der nächsten Biegung stießen sie auf einen Weg.

Er war noch schmaler als der Ziehweg, der am Absetzort vorbeiführte und seit es geschneit hatte, war niemand hier gegangen. Sie warteten durch Anwehungen, brachen bei jedem Schritt durch die verharschte Kruste. Dunworthy hielt angestrengt Ausschau nach dem Dorf, aber die Waldstücke waren zu verfilzt, um hindurchzusehen.

Im Schnee kamen sie nur langsam voran, und er war schon wieder außer Atem. Die Beengung umschloß seine Brust wie ein eiserner Faßreifen.

»Was machen wir, wenn wir hinkommen?« fragte Colin. Er marschierte scheinbar mühelos durch den Schnee.

»Du bleibst außer Sicht und wartest auf mich«, sagte Dunworthy. »Ist das klar?«

»Ja. Sind Sie sicher, daß dies die richtige Straße ist?«

Er war ganz und gar nicht sicher. Der Weg war nach Nordwesten abgebogen, fort von der Richtung, in der er das Dorf vermutete, und ein kurzes Stück voraus machte er noch einmal eine Biegung in die falsche Richtung. Er spähte besorgt durch das Gewirr schneebedeckter Äste und Zweige, hoffte einen Blick auf Mauern oder Strohdächer zu erhaschen.

»Das Dorf war nicht so weit weg, da bin ich ganz sicher«, sagte Colin. Er rieb sich die Arme. »Wir sind schon Stunden unterwegs.«

Stunden waren es nicht, aber wenigstens eine Stunde, und sie hatten noch nicht einmal die Hütte eines Häuslers gesehen, geschweige denn ein Dorf. Es gab ein Dutzend Dörfer im Umkreis, aber wo?

Colin zog das Ortungsgerät hervor. »Sehen Sie«, sagte er und zeigte Dunworthy die Ablesung. »Wir sind zu weit nach Süden abgekommen. Ich glaube, wir sollten zu der anderen Straße zurückgehen.«

Dunworthy sah auf die Ablesung und dann auf die Kartenskizze. Sie waren annähernd südlich vom Absetzort und mehr als drei Kilometer von ihm entfernt. Sie mußten beinahe die ganze Strecke zurückgehen, ohne eine Aussicht, in dieser Zeit Kivrin zu finden, und am Ende dieser Wanderung würde er schwerlich imstande sein, noch weiter zu gehen. Er fühlte sich bereits erschöpft, der Eisenreif um seine Brust zog sich mit jedem Schritt enger, und in der Mitte seiner Rippen meldete sich von Zeit zu Zeit ein stechender Schmerz. Er wandte sich um und spähte voraus, versuchte zu einem Entschluß zu kommen.

»Meine Füße frieren ein«, sagte Colin. Er stampfte im Schnee herum, und plötzlich flog unweit von ihnen mit klatschenden Flügelschlägen ein Vogel auf und erschreckte sie nicht weniger, als sie ihn erschreckt hatten. Dunworthy blickte zum Himmel auf und runzelte die Stirn. Im Westen zog eine gleichförmig graue Wolkendecke auf.

»Wir hätten der Hecke nachgehen sollen«, sagte Colin. »Das wäre viel näher…«

»Still!« sagte Dunworthy.

»Was ist?« flüsterte Colin. »Kommt jemand?«

»Pst!« machte Dunworthy. Er zog Colin zu den Büschen am Wegrand und lauschte wieder. Er glaubte ein Pferd gehört zu haben, aber nun war es wieder völlig still. Vielleicht war es nur ein Vogel gewesen, oder eine Sinnestäuschung.

Er bedeutete Colin, hinter einem Baum in Deckung zu gehen. »Bleib hier!« raunte er und schlich vorwärts, bis er um die Wegbiegung sehen konnte.

Ein Rappenhengst war an einen Weißdorn gebunden. Dunworthy zog sich hastig hinter eine Kiefer zurück und stand still. Der Reiter konnte nicht weit sein, aber so angestrengt er lauschte und spähte, es war weit und breit kein Mensch zu entdecken. Er wartete, bemühte sich, sein eigenes Atmen zu beruhigen, um besser zu hören, aber niemand kam, und er hörte nichts als das vom Schnee gedämpfte Stampfen der Pferdehufe.

Das Tier war gesattelt, und das Zaumzeug mit Silber beschlagen. Aber es sah mager aus, und die Rippen waren deutlich zu sehen. Der Sattelgurt war locker, und der Sattel rutschte ein wenig auf die Seite, als das Pferd rückwärts zog. Offensichtlich versuchte es sich zu befreien, und als Dunworthy näherging, konnte er sehen, daß die Zügel nicht angebunden, sondern an Zweigen hängengeblieben waren und sich verheddert hatten.

Er trat auf den Weg. Der Hengst wandte ihm den Kopf zu und begann wild zu wiehern.

»Nur ruhig, es ist ja gut«, sagte er und trat vorsichtig von der Seite an das Pferd heran. Er legte ihm die Hand an den Hals, und es hörte auf zu wiehern und begann Dunworthy zu beschnüffeln und mit einem Vorderhuf um Futter zu betteln.

Er sah sich nach Gräsern um, die da und dort aus dem Schnee lugten, aber die Fläche um den Weißdorn war zerstampft und abgeweidet.

»Wie lange bist du schon hier gefangen, armer Kerl?« fragte er. War der Besitzer des Pferdes unterwegs ein Opfer der Pest geworden, oder war er gestorben, und das Tier war davongelaufen und suchte seinen heimatlichen Stall?

Er ging ein kleines Stück in den Wald, schlug einen Bogen und hielt nach Fußspuren Ausschau, aber es gab keine. Der Hengst fing von neuem an zu wiehern, und Dunworthy ging zurück, um ihn zu befreien. Unterwegs riß er ein paar Händevoll Gras ab, die sich durch ihre aus dem Schnee ragenden dürren Rispen verraten hatten.

»Ein Pferd! Apokalyptisch!« Colin kam gelaufen. »Wo haben Sie es gefunden?«

»Ich sagte dir, daß du bleiben solltest, wo du warst.«

»Ich weiß, aber ich hörte das Pferd wiehern und dachte, Sie wären in Schwierigkeiten geraten.«

»Ein Grund mehr für dich, mir zu gehorchen.« Er gab Colin das Gras. »Gib ihm das!«

Er arbeitete sich zwischen die dornigen Zweige und zog die Zügel heraus. In seinen Bemühungen, sich loszureißen, hatte der Hengst die Zügel hoffnungslos in die stark verästelten, dornigen Zweige gezerrt. Dunworthy mußte die Zweige mit einem Arm zurückhalten und mit der anderen Hand die Zügel freimachen. Innerhalb von Sekunden waren seine Hände und Unterarme mit Kratzern bedeckt.

»Wessen Pferd ist es?« fragte Colin, als er dem Pferd die Grasbüschel aus einer Entfernung von mehr als einem Meter hinhielt. Das ausgehungerte Tier stürzte sich darauf, und Colin ließ das Gras fallen und sprang zurück. »Sind Sie sicher, daß es zahm ist?«

Dunworthy hatte sich arge Kratzer zugezogen, als der Hengst sich auf das Gras gestürzt hatte, aber die Zügel waren freigekommen. Er wickelte sie um seine blutende Hand.

»Ja«, sagte er.

»Wem gehört es?« fragte Colin. Er streichelte ihm ängstlich die Nüstern.

»Uns.« Er zog den Sattelgurt fest, half Colin auf die Kruppe und saß auf.

Der Hengst hatte noch nicht begriffen, daß er frei war, und wandte anklagend den Kopf, aber als Dunworthy ihm behutsam die Absätze in die Flanken stieß, trabte er willig den verschneiten Weg entlang, froh über die wiedergewonnene Freiheit.

Colin umklammerte Dunworthys Mitte wie ein Ertrinkender, gerade an der Stelle, wo der Schmerz saß, doch als sie die ersten hundert Meter hinter sich gebracht hatten, ohne daß er heruntergefallen wäre, richtete er sich auf und ließ seiner Wißbegier freien Lauf. »Wie lenken Sie es?« und: »Was machen Sie, wenn es schneller gehen soll?« und »Wie bringen Sie es zum Stehen?«

In kurzer Zeit hatten sie den Fahrweg wieder erreicht. Colin wollte querfeldein der Hecke folgen, aber Dunworthy lenkte das Pferd in die andere Richtung. Nach einem knappen Kilometer gabelte sich die Straße, und er nahm die linke Abzweigung.

Sie war breiter und schien mehr begangen als die erste, doch war der Wald, durch den sie führte, noch undurchdringlicher. Mittlerweile hatte sich der Himmel ganz bezogen, und der zunehmende Wind wurde auch im Schutz der Bäume spürbar; er bewegte die Äste, daß der aufliegende Schnee in Schleiern herabsank.

»Ich sehe es!« sagte Colin und ließ mit einer Hand los, um an einer Gruppe von Eschen vorbei zu grauem Gemäuer und einem nur teilweise mit Schnee bedeckten dunklen Schieferdach vor dem grauen Himmel zu zeigen. Eine Kirche, vielleicht, oder ein Herrensitz. Das Gebäude lag ostwärts von der Straße, und bald zweigte eine schmale Fahrspur ab und führte mittels einer gebrechlichen Plankenbrücke über einen Bach und weiter am Rand eines schmalen Wiesenstreifens entlang.

Der Hengst spitzte weder die Ohren noch versuchte er schneller zu gehen, und aus diesem Verhalten schloß Dunworthy, daß er nicht aus dem Dorf sein konnte. Und das war gut so, denn im Mittelalter pflegte man Pferdediebe kurzerhand aufzuhängen. Wir würden schon am Galgen baumeln, bevor wir fragen könnten, wo Kivrin ist, dachte er. Dann sah er die Schafe.

Sie lagen auf den Seiten, Hügel aus schmutziger graubrauner Wolle, und einige von ihnen hatten sich bei den Bäumen zusammengedrängt und versucht, Schutz vor Wind und Schnee zu finden.

Colin hatte sie nicht gesehen. »Was tun wir, wenn wir hinkommen?« fragte er Dunworthys Rücken. »Schleichen wir uns an, oder reiten wir einfach vor das Haus und fragen jemand, ob sie Kivrin gesehen haben?«

Es wird niemand da sein, den wir fragen könnten, dachte Dunworthy. Er lenkte den Hengst an den Eschen vorbei und in das Dorf.

Es ähnelte nicht den Illustrationen in Colins Buch, wo die Häuser sich um die freie Fläche des freien Dorfangers scharten. Diese hier lagen zerstreut zwischen den Bäumen, jedes durch Hecken und Bäume abgesondert von den anderen und beinahe außer Sicht. Er sah verschneite Strohdächer, und ein Stück weiter, zwischen den Ästen alter Linden, die Kirche, aber hier, auf einer freien Fläche, die nicht größer war als die Lichtung des Absetzortes, standen nur ein Holzhaus und ein niedriger Schuppen.

Es war zu klein, um ein Herrenhaus zu sein — allenfalls die Wohnung des Verwalters, oder des Dorfvorstehers. Die Tür des Schuppens stand offen, und Schnee war hineingeweht. Kein Rauch stieg auf, kein Geräusch störte die Stille des Wintertages.

»Vielleicht sind sie geflohen«, sagte Colin. »Viele Menschen flohen, als sie hörten, daß die Seuche kam. So wurde sie ausgebreitet.«

Vielleicht waren sie geflohen. Der Schnee vor dem Haus war festgetrampelt, als ob viele Menschen und Pferde dagewesen wären.

»Bleib hier beim Pferd«, sagte er, nachdem sie abgesessen waren, gab Colin die Zügel in die Hand und ging zum Holzhaus. Auch hier war die Tür nicht verschlossen, aber beinahe zugezogen. Er drückte sie auf und mußte sich bücken, um durch die niedrige Türöffnung einzutreten.

Im Innern war es eisig, und nach der Helligkeit der Schneelandschaft draußen so finster, daß er außer der rotgefärbten Nachwirkung des zuletzt gesehenen Bildes anfangs nichts erkennen konnte. Er stieß die Tür ganz auf, aber noch immer lag alles in tiefem Halbdunkel und schien verschwommene rote Konturen zu haben.

Es war für die Verhältnisse der Zeit kein ärmliches Haus; vielleicht das Haus des Gutsverwalters. Es bestand aus zwei Räumen mit einer Zwischenwand aus Balken und hatte Strohmatten am Boden. Der Tisch war leer, das Feuer der Herdstelle seit Tagen ausgegangen. Der Geruch von kalter Asche erfüllte den kleinen Raum. Der Bewohner und seine Familie waren geflohen, und vielleicht auch der Rest der Dorfbewohner, und ohne Zweifel hatten sie die Pest mitgenommen. Und Kivrin.

Er lehnte sich an den Türrahmen. Die Beengung in seiner Brust war wieder zum Schmerz geworden. Bei all seinen Sorgen um Kivrin war ihm nie der Gedanke gekommen, daß sie fortgegangen sein könnte.

Er blickte in den anderen Raum. Colin steckte den Kopf zur Tür herein. »Das Pferd will aus einem Eimer trinken, der hier draußen steht. Soll ich es lassen?«

»Ja«, sagte Dunworthy und stellte sich so, daß Colin nicht in den Nebenraum sehen konnte. »Aber laß es nicht zuviel trinken. Es hat seit Tagen kein Wasser gehabt.«

»Es ist nicht allzu viel in dem Eimer.« Er blickte interessiert in den Raum. »Das ist eine der Hütten, wo die Leibeigenen wohnten, nicht wahr? Sie waren wirklich arm. Haben Sie etwas gefunden?«

»Nein. Geh und gibt auf das Pferd acht. Und laß es nicht davonlaufen.«

Colin ging hinaus, nachdem er sich den Kopf am Türsturz gestoßen hatte.

Der Säugling lag auf einem Sack mit Wollabfällen in der Ecke. Er hatte anscheinend noch gelebt, als seine Mutter gestorben war, sie lag auf einer Schilfmatte am nackten Lehmboden und hatte noch im Tod eine Hand zu ihrem Kind ausgestreckt. Beide waren dunkel, beinahe schwarz, und die Windeln des Säuglings waren steif von getrocknetem Blut.

»Mr. Dunworthy!« ertönte Colins aufgeregte Stimme, und er fuhr herum, besorgt, daß der Junge wieder hereingekommen sei, aber er war noch draußen bei dem Hengst, der sein Maul tief in den Holzeimer gesteckt hatte.

»Was ist?« fragte er aus der Türöffnung.

»Da drüben ist etwas am Boden«, sagte Colin und zeigte zu den Hütten. »Ich glaube, es ist ein Toter.« Er zog so hart an den Zügeln, daß der Eimer umgeworfen wurde und ein wenig Wasser im Schnee verlief.

»Warte«, sagte Dunworthy, aber Colin rannte schon hinüber zu den Bäumen. Der Hengst folgte ihm.

»Es ist ein…«, stieß Colin hervor und brach ab. Dunworthy eilte näher, eine Hand gegen seine Seite gedrückt.

Es war der Leichnam eines jungen Mannes. Er lag auf dem Rücken ausgestreckt im Schnee, umgeben von einer gefrorenen Lache schwarzer Flüssigkeit. Sein Gesicht und seine Kleider waren mit Schnee oder Rauhreif überstäubt. Seine Pestbeulen mußten aufgeplatzt sein, dachte Dunworthy und warf Colin einen Seitenblick zu, aber der Junge sah nicht den Toten an, sondern blickte an der Baumreihe vorbei zu einer Wiese, die anscheinend der Dorfanger war. An ihren Rändern stand ein halbes Dutzend Hütten, am anderen Ende die normannische Dorfkirche. Und in der Mitte, auf dem zertrampelten Schnee, lagen die Toten.

Man hatte keinen Versuch unternommen, sie zu begraben, obwohl bei der Kirche ein flacher Graben ausgehoben worden war, neben dem ein Hügel schneebedeckter Erde aufgeschüttet lag. Einige der Toten schien man zum Friedhof geschleift zu haben — es waren lange Schleifspuren im Schnee, die dorthin führten -, und mindestens einer war zur Tür seiner Hütte gekrochen. Er lag halb drinnen, halb draußen. »Fürchtet Gott«, murmelte Dunworthy, »denn die Stunde Seines Gerichts ist gekommen.«

»Es sieht wie nach einer Schlacht aus«, sagte Colin.

Dunworthy nickte.

Colin trat vorwärts, beugte sich über den Toten. »Glauben Sie, daß alle tot sind?«

»Nicht berühren«, sagte Dunworthy. »Geh auch nicht in ihre Nähe.«

»Ich habe das Gammaglobulin und alles«, sagte Colin, aber er trat von den Toten zurück. Dunworthy sah ihn schlucken.

»Tief durchatmen«, sagte er und legte Colin die Hand auf die Schulter. »Und schau nicht hin.«

»In dem Buch stand, daß es so war«, sagte Colin, während er entschlossen eine Eiche anstarrte. »Tatsächlich hatte ich Angst, daß es viel schlimmer sein könnte. Ich meine, es riecht nicht.«

»Ja.«

Er schluckte wieder. »Jetzt geht es wieder.« Er überblickte die Wiese. »Wo, meinen Sie, wird Kivrin am wahrscheinlichsten zu finden sein?«

Hoffentlich nicht hier, dachte Dunworthy.

»Sie könnte in der Kirche sein«, sagte er, »und wir müssen sehen, ob der Sarkophag dort ist. Es könnte das falsche Dorf sein.« Der Hengst warf den Kopf hoch und wieherte ängstlich, die Ohren zurückgelegt.

»Geh und bring ihn in den Schuppen«, sagte Dunworthy. Er nahm das Tier bei den Zügeln. »Er wittert das Blut und die Toten und fürchtet sich. Binde ihn an und sieh zu, ob du Heu oder Hafer für ihn findest.«

Er führte den Hengst zurück und gab die Zügel Colin, der sie ihm ohne Widerrede abnahm, dann ging er rasch über die Lichtung zur Kirche. In dem flachen Graben, einem wohl nicht mehr fertiggestellten Massengrab, lagen vier Tote, und daneben waren die flachen Hügel von zwei Einzelgräbern, die zugeschneit waren. Vielleicht bargen sie die ersten Seuchenopfer aus einer Zeit, als es noch Begräbnisse gegeben hatte. Er ging durch den Friedhof zur Kirchentür.

Vor ihm lagen lagen zwei Leichen übereinander auf den Gesichtern. Die eine gehörte einem alten Mann in abgerissener, ärmlicher Kleidung, die andere einer Frau mit zerlumpten Röcken und einem grob gewebten wollenen Umhang. Die Arme des Mannes lagen auf Kopf und Schultern der Frau.

Dunworthy hob einen Arm des Mannes, und der steifgefrorene Körper rollte zur Seite und zog den Umhang mit sich. Darunter kam ein schmutziger und mit Blut beschmierter Frauenrock zum Vorschein, dessen Saum in Fetzen hing, der aber von blauer Farbe war. Er zog behutsam die Kapuze zurück, um das Gesicht der Frau zu sehen. Um den Hals der Frau war ein Strick geknotet. Ihr langes blondes Haar war in die rauhen Hanffasern hineingezogen.

Man erhängte sie, dachte er ohne die geringste Überraschung.

Colin kam gerannt. »Ich bin darauf gekommen, was diese Schleifspuren im Schnee sind«, sagte er. »Man hat die Toten an Stricken zum Friedhof gezogen. Drüben liegt ein kleiner Junge mit einem Strick um den Hals.«

Dunworthy blickte auf den Strick, das wirre Haar. Es war so schmutzig, daß es kaum noch blond genannt werden konnte.

»Sie schleiften sie zum Friedhof, weil sie sie nicht mehr tragen konnten, wette ich«, ergänzte Colin.

»Hast du den Hengst in den Schuppen gebracht?«

»Ja. Ich band ihn an einen Balken. Er wollte mit mir kommen.«

»Ist dir nicht der Gedanke gekommen, daß er ausgehungert ist?« fragte Dunworthy. »Geh zurück zum Schuppen und gib ihm Heu.«

»Ist was passiert?« fragte Colin. »Sie haben keinen Rückfall, oder?«

Dunworthy dachte, daß Colin ihr Kleid von der Stelle, wo er stand, nicht sehen könne. »Nein«, sagte er. »Es sollte Heu im Schuppen sein. Oder Hafer. Geh und füttere das Tier!«

»In Ordnung«, sagte Colin widerwillig. Er lief zurück zum Schuppen, aber nicht halb so schnell, wie er gekommen war. Mitten auf dem Anger machte er halt und wandte sich um. »Ich brauche ihm das Heu nicht zu geben, oder?« rief er. »Kann ich es ihm einfach vorwerfen?«

»Ja, natürlich!« Dunworthy scheuchte ihn mit einem Wink weiter und beugte sich wieder über die Frau. Auch an ihrer Hand war Blut, und an der Innenseite ihres Handgelenks. Der Arm war abgewinkelt, als hätte sie versucht, einen Sturz abzufangen. Er konnte sie beim Ellbogen nehmen und ganz leicht auf den Rücken drehen. Es war dazu nur nötig, daß er sie beim Ellbogen faßte.

Er hob ihre Hand auf. Sie war kalt und steifgefroren. Unter dem Schmutz war die Haut rissig und an einem Dutzend Stellen aufgesprungen. Es konnte schwerlich Kivrins Hand sein, und wenn sie es doch war, was hatte sie in diesen zwei Wochen durchgemacht, daß sie in diesen Zustand geraten war?

Es würde alles aufgezeichnet sein. Er drehte die Hand vorsichtig um und suchte nach der Implantationsnarbe, aber das Handgelenk war zu sehr mit Erde und Schmutz verkrustet, als daß er etwas hätte sehen können, selbst wenn sie da war.

Und wenn sie es war, was dann? Sollte er Colin zurückrufen und losschicken, daß er irgendwo ein Messer besorgte, und ihr dann das Aufnahmegerät aus der toten Hand hacken und schneiden, damit sie später ihre Stimme hören könnten, wie sie von den Schrecken erzählte, die ihr widerfahren waren? Das konnte er nicht tun, genausowenig wie er den Leichnam umdrehen konnte, um sich zu vergewissern, daß es Kivrin war.

Er legte die Hand behutsam zurück, dann überwand er sich, faßte sie beim Ellbogen und wälzte sie herum.

Sie war an der Beulenpest gestorben. An der Seite ihres grob gewebten blauen Wollkleides zog sich eine große, ekelhaft aussehende gelblich-blutige Verfärbung herunter, wo die Pestbeule unter ihrem Arm aufgeplatzt und ausgelaufen war. Ihre Zunge war schwarz und so angeschwollen, daß sie wie ein abscheulicher, obszöner Gegenstand wirkte, der ihr zwischen die Zähne gestoßen worden war, um sie zu ersticken. Sie füllte den ganzen Mund aus, und ihr blasses Gesicht war geschwollen und verzerrt.

Es war nicht Kivrin. Er stand wankend auf, dann fiel ihm zu spät ein, daß er ihr Gesicht hätte zudecken sollen.

»Mr. Dunworthy!« Colin kam schon wieder gerannt, und Dunworthy blickte matt und hilflos zu ihm auf.

»Was ist los?« fragte Colin in anklagendem Ton. »Haben Sie sie gefunden?«

»Nein«, sagte er und stellte sich zwischen Colin und die Tote. Wir werden sie nicht finden, dachte er.

Colin versuchte an ihm vorbeizuspähen. Ihr Gesicht war bläulichweiß vor dem Hintergrund des Schnees und des beschmutzten blauen Kleides. »Sie haben sie gefunden, nicht? Ist sie das?«

»Nein«, sagte Dunworthy. Aber sie hätte es sein können. Und ich kann nicht noch mehr Leichen umdrehen, weil ich denke, es könnte sie sein. Seine Knie waren zitterig, als wollten sie ihn nicht mehr lange tragen. »Hilf mir zurück zum Schuppen«, sagte er.

Colin blieb eigensinnig stehen, wo er war. »Wenn es Kivrin ist, können Sie es mir ruhig sagen. Ich kann es ertragen.«

Aber ich nicht, dachte Dunworthy. Ich könnte es nicht ertragen, wenn sie tot ist.

Er machte sich auf den Rückweg zum Haus, eine Hand an der kalten Steinmauer der Kirche, und überlegte, wie er weitergehen sollte, wenn er in freies Gelände käme.

Colin eilte an seine Seite, nahm ihn beim Arm und blickte besorgt in sein Gesicht. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie einen Rückfall?«

»Ich muß nur ein bißchen ausruhen«, sagte er und fuhr beinahe gegen seinen Willen fort. »Kivrin trug ein blaues Kleid, als sie durchging.« Als sie sich auf den Boden legte und die Augen schloß, hilflos und vertrauend, und für immer in dieser Schreckenskammer verschwand.

Colin stieß die Tür zum Schuppen auf und half Dunworthy hinein. Er stützte seinen Arm mit beiden Händen. Der Hengst blickte von einem offenen Hafersack auf.

»Ich konnte kein Heu finden«, sagte Colin, »darum gab ich ihm das Korn. Pferde fressen das doch, oder?«

»Ja«, sagte Dunworthy. Er lehnte sich an ein paar andere Säcke, die an der Wand standen. »Aber laß ihn nicht alles fressen. In seinem Zustand würde er sich vollfressen, bis er platzt.«

Colin ging hin und begann den Sack aus der Reichweite des Pferdes zu ziehen. »Warum meinen Sie, daß es Kivrin war?« fragte er.

»Ich sah das blaue Kleid«, sagte Dunworthy. »Kivrins Kleid war von dieser Farbe.«

Der Sack war beinahe zu schwer für Colin. Er zerrte ruckartig mit beiden Händen daran, und plötzlich riß die Seite auf, und der Hafer ergoß sich auf das Stroh. Der Hengst machte sich eifrig darüber her. »Nein, ich meine, all diese Leute starben an der Pest, nicht wahr? Und sie war immunisiert. Also konnte sie die Pest nicht bekommen. Und woran sollte sie sonst gestorben sein?«

Daran, dachte Dunworthy. Niemand konnte dieses Elend mit ansehen und überleben. Zeuge sein, wie Säuglinge, Kinder, Mütter und Väter unter qualvollen Umständen zugrunde gingen, wie Tiere verreckten, um mit Stricken um die Hälse hinausgeschleift und in Gruben geworfen zu werden oder einfach liegenzubleiben, den Aasfressern und der Verwesung überlassen. Wie konnte sie das überlebt haben?

Colin hatte den halb ausgelaufenen Sack außer Reichweite des Pferdes manövriert und ließ ihn neben einer kleinen Truhe liegen. Er richtete sich schnaufend auf und kam an Dunworthys Seite. »Haben Sie wirklich keinen Rückfall?«

»Nein.« Aber er begann schon zu zittern.

»Vielleicht sind Sie bloß müde, haben sich zuviel zugemutet«, sagte Colin. »Ruhen Sie sich aus, ich komme gleich wieder.«

Er ging hinaus und zog die primitive Brettertür zu. Der Hengst fraß den verschütteten Hafer mit geräuschvoll mahlenden Zähnen. Dunworthy stand an den rohen Stützbalken gelehnt und sammelte Kraft, dann ging er zu der kleinen Truhe und bücke sich. Die Messingbeschläge waren angelaufen und das Leder des Deckels hatte eine kleine Kerbe, aber als er den Staub abgewischt hatte, sah er, daß sie ganz neu war.

Er öffnete den Deckel. Der letzte Eigentümer hatte sein Werkzeug darin aufbewahrt. Ein zusammengerolltes Lederseil war darin, der rostige Kopf einer Feldhacke, ein Hammer, geschmiedete Nägel, eine Zange und ein Meißel. Alles war abgenutzt von langem Gebrauch. Der blaue Stoff der Ausfütterung war zerrissen, wo die Hacke an der Innenwand gescheuert hatte. Kein Zweifel, es war die Nachbildung des Kastens aus dem Ashmolean-Museum, von der Gilchrist im Pub gesprochen hatte.

Colin kam wieder herein und schleppte den hölzernen Eimer. »Ich habe Wasser für Sie und das Pferd gebracht«, sagte er. »Ich habe es aus dem Bach geholt.« Er stellte den Eimer ab und suchte in seinen Taschen. »Ich habe nur zehn Aspirin, damit Sie keinen schlimmen Rückfall bekommen können. Ich mußte sie von Mr. Finch stehlen.«

Er brachte ein Arzneifläschchen zum Vorschein und schüttelte zwei Tabletten in seine Hand. »Ich habe auch etwas Synthomycion mitgehen lassen, aber ich fürchte, das war noch nicht erfunden. Ich dachte mir, Aspirin müßten die Leute damals schon gehabt haben.« Er gab Dunworthy die Tabletten und brachte den Eimer. »Sie werden aus der Hand trinken müssen. Die Schüsseln und Becher der Zeitgenossen waren sicherlich voller Pesterreger.«

Dunworthy schluckte die Aspirintabletten und schöpfte eine Handvoll Wasser aus dem Eimer, um sie hinunterzuspülen. »Colin«, sagte er.

Colin trug den Eimer zum Hengst. »Ich glaube nicht, daß dies das richtige Dorf ist. Ich ging in die Kirche, und der einzige Sarkophag darin war von einer Dame.« Er zog die Kartenskizze und das Ortungsgerät aus der Tasche. »Wir sind noch immer zu weit östlich. Ich glaube, wir sind hier…« - er zeigte auf eine von Montoyas Eintragungen -, »also müßten wir zu dieser anderen Straße zurückgehen und dann nach Osten…«

»Wir gehen zurück zum Absetzort«, sagte Dunworthy. Er richtete sich langsam auf, als sei er in Ungewißheit, ob er sich ohne Stütze auf den Beinen würde halten können.

»Warum? Badri sagte, wir hätten mindestens einen Tag, und wir haben erst ein Dorf überprüft. Es gibt mehrere Dörfer in dieser Gegend. Sie könnte in jedem von ihnen sein.«

Dunworthy wartete, bis der Hengst den Kopf aus dem Eimer hob, dann band er ihn los.

»Ich könnte das Pferd nehmen und mich auf die Suche nach ihr machen«, meinte Colin. »Ich könnte schnell reiten und all diese Dörfer durchsuchen und dann zurückkommen und Ihnen Bescheid sagen, sobald ich sie gefunden habe. Oder wir könnten uns die Arbeit teilen, und jeder übernimmt ein paar Dörfer, und wer sie zuerst findet, gibt ein Signal. Zum Beispiel ein Feuer oder was, und dann würde der andere es sehen und kommen.«

»Sie ist tot, Colin. Wir werden sie nicht finden.«

»Sagen Sie das nicht!« widersprach Colin, und seine Stimme klang hoch und dünn. »Sie ist nicht tot! Sie hatte ihre Schutzimpfungen!«

Dunworthy zeigte auf die kleine lederne Truhe. »Das ist das Ding, mit dem sie durchgekommen ist.«

»Na und?« sagte Colin. »Es konnte viele derartige Kästen gegeben haben. Oder sie ließ ihn am Absetzort zurück, als sie fortging, und jemand fand ihn und nahm ihn mit. Wir können nicht zurückgehen und sie einfach hierlassen, ohne Gewißheit zu haben! Angenommen, ich wäre hier und hätte mich verlaufen und wartete und wartete auf jemand, der kommen und mich holen würde, und niemand käme?« Seine Nase fing an zu laufen.

»Colin«, seufzte Dunworthy, »manchmal tut man alles, was man kann, und kann sie trotzdem nicht retten.«

»Wie Großtante Mary«, sagte Colin. Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken. »Aber nicht immer.«

Immer, dachte Dunworthy. »Nein«, sagte er. »Nicht immer.«

»Manchmal kann man sie retten«, sagte Colin hartnäckig.

»Ja. Gut.« Er band den Hengst wieder an. »Wir werden gehen und sie suchen. Gib mir noch zwei Aspirin und laß mich ein bißchen ausruhen, bis sie wirken, dann gehen wir und suchen sie.«

»Apokalyptisch«, sagte Colin. Er entzog den Eimer dem Pferd, das wieder den Kopf hineingesteckt hatte und soff. »Ich gehe frisches Wasser holen.«

Er rannte hinaus, und Dunworthy ließ sich am Stützbalken hinunter, bis er an die Wand gelehnt saß. »Bitte«, sagte er, »bitte laß sie uns finden.«

Die Tür ging langsam auf. Colin stand in der Öffnung und war wie von einem Strahlenkranz umgeben. »Haben Sie es gehört?« fragte er. »Horchen Sie.«

Es war ein leiser, ferner Klang, gedämpft von den Wänden des Schuppens. Und es waren lange Pausen zwischen den Glockenschlägen, aber er konnte sie hören. Er stand auf und ging hinaus.

»Es kommt von dort«, sagte Colin und zeigte nach Südwesten.

»Hol das Pferd heraus!« sagte Dunworthy.

»Sind Sie sicher, daß es Kivrin ist?« fragte Colin. »Es ist die falsche Richtung.«

»Es ist Kivrin«, sagte er.

35

Das Läuten hörte auf, ehe sie noch den Hengst gesattelt hatten. Dunworthy zog den Sattelgurt fest und richtete sich auf. Ihm schwindelte. »Wir müssen uns beeilen!«

»Es ist alles klar«, sagte Colin, den Blick auf der Kartenskizze. »Es läutete dreimal. Ich habe die Richtung fixiert. Es ist genau südwestlich von hier, richtig? Und dies muß Henefelde sein, sehen Sie?« Er hielt Dunworthy die Karte unter die Nase und zeigte abwechselnd auf jeden der beiden Orte. »Also muß es dieses Dorf hier sein.«

Dunworthy betrachtete die Skizze und blickte wieder nach Südwesten, bemüht, die Richtung der Glockenschläge in der Erinnerung festzuhalten. Schon war ihm die genaue Orientierung verlorengegangen, obwohl er die Nachschwingungen der Glockentöne noch in der Luft zu spüren glaubte. Wenn nur das Aspirin bald wirken würde.

»Dann kommen Sie«, sagte Colin. Er nahm den Zügel und zog den Rappen zur Tür des Schuppens und hinaus. »Steigen Sie auf, und wir reiten los!«

Dunworthy steckte einen Fuß in den Steigbügel und schwang das andere Bein über den Sattel. Augenblicklich kehrte das Schwindelgefühl zurück, und er mußte für einen Moment die Augen schließen. Colin blickte forschend zu ihm auf, dann sagte er: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich lenke«, und zog sich vor Dunworthy hinauf, der so weit zurückrutschte, wie es ging, so daß der Junge vor ihm im Sattel sitzen konnte.

Colin stieß dem Pferd die Fersen zu sanft in die Flanken und zog zu heftig an den Zügeln, aber der Hengst setzte sich erstaunlich folgsam in Bewegung und ging über den Anger und auf die Dorfstraße.

»Wir wissen, wo das Dorf ist«, sagte Colin voll Zuversicht. »Wir müsse nur noch eine Straße finden, die in diese Richtung führt.« Gleich darauf erklärte er schon, daß sie sie gefunden hätten. Es war ein ziemlich breiter Fahrweg, der einen sanften Abhang hinab und in einen Bestand von Tannen und Buchen führte, aber dort gabelte er sich schon nach wenigen Metern, und Colin sah sich fragend nach Dunworthy um.

Der Hengst zögerte keinen Augenblick. Gleichmütig stapfte er den rechts abzweigenden Fahrweg entlang. »Sehen Sie, er weiß, wohin es geht«, sagte Colin erfreut.

Dunworthy war froh, daß einer von ihnen den Weg wußte. Die um ihn schwankende Landschaft und der pulsierende Kopfschmerz hatten ihn schon kurz nach dem Verlassen des Dorfes gezwungen, die Augen zu schließen. Das Pferd, dem Colin die Zügel locker ließ, ging offensichtlich nach Hause, und Dunworthy war bewußt, daß er Colin das sagen sollte, aber die Krankheit fiel wieder über ihn her, und er scheute sich, Colins Mitte auch nur einen Augenblick loszulassen. Er fror so erbärmlich. Das war natürlich das Fieber, das Pulsieren im Kopf, das Schwindelgefühl, alles das waren Ausdrucksformen des Fiebers, und Fieber war ein gutes Zeichen, weil der Körper seine Abwehrkräfte zur Bekämpfung der Viren aufbot, seine Truppen versammelte. Das Frösteln war nur eine Begleiterscheinung des Fiebers.

»Verdammt, es wird kälter«, sagte Colin. Er zog mit einer Hand seinen Umhang fester. »Hoffentlich schneit es nicht.« Er ließ die Zügel ganz fahren und zog sich den Schal um Mund und Nase. Der Hengst bemerkte es nicht einmal. Er stapfte gleichmäßig durch tiefe Wälder dahin. Sie kamen zu einer zweiten und dann zu einer dritten Weggabelung, und jedesmal konsultierte Colin die Karte und das Ortungsgerät, aber Dunworthy wußte nicht zu sagen, welche Abzweigung er wählte oder ob das Pferd einfach in der Richtung weiterging, wo es sein Zuhause wußte.

Es begann leise zu schneien, oder sie ritten in den Schneefall hinein. Plötzlich segelten überall um sie her kleine weiße Flocken herab, die den Weg undeutlich machten und an seinen Brillengläsern schmolzen.

Allmählich begann das Aspirin zu wirken. Dunworthy saß gerader im Sattel und zog seinen weiten Umhang um sich, wischte mit einem Zipfel die Brillengläser. Seine Finger waren taub und hellrot. Er rieb die Hände aneinander und hauchte hinein. Noch immer waren sie im Wald, und der Weg war schmaler als am Anfang.

»Nach der Kartenskizze ist Skendgate fünf Kilometer von Henefelde entfernt«, sagte Colin. »Und wir sind wenigstens vier Kilometer geritten, also müssen wir gleich dort sein.«

Von einer Ortschaft war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Sie waren mitten im Wychwood, auf einer Art Trampelpfad oder gar Wildwechsel, der bei der Hütte eines Köhlers oder einer Salzlecke enden würde, oder auf einer Waldwiese, mit der das Pferd angenehme Erinnerungen verband.

»Sehen Sie, ich sagte es ja«, bemerkte Colin, und dort, hinter den Bäumen, war die Spitze eines Glockenturms zu sehen. Der Weg führte leicht abwärts, und der Hengst begann zu traben. »Halt«, sagte Colin und zog an den Zügeln. »Warte einen Augenblick.«

Dunworthy nahm ihm die Zügel aus der Hand und verlangsamte das Pferd zu einem widerwilligen Schritt, als sie aus dem Wald kamen, vorbei an einer schneebedeckten Wiese, und das Dorf vor sich liegen sahen, halb verdeckt von einer Gruppe hoher Eschen und vom Schneefall verschleiert, so daß sie nur graue Umrisse ausmachen konnten: Herrenhaus, Hütten, Kirche, Glockenturm. Es war nicht das richtige Dorf — Skendgate hatte, so Montoya, keinen Glockenturm -, aber wenn Colin es bemerkt hatte, sagte er nichts. Langsam ritten sie hinunter zum Dorf. Dunworthy hielt die Zügel und hielt angestrengt Ausschau.

Er konnte keine Toten sehen, aber es gab im Dorf auch keine lebenden Bewohner, und kein Rauch stieg von den Hütten auf. Der Glockenturm stand stumm und verlassen, und ringsumher waren keine Fußabdrücke zu sehen.

Auf halbem Weg sagte Colin plötzlich: »Da war eben etwas!« Auch Dunworthy hatte es durch die Tropfen an den Brillengläsern gesehen. Eine Bewegung, die von einem Vogel oder einem von der Schneelast befreiten, emporschnellenden Zweig herrühren mochte. »Da drüben«, sagte Colin und zeigte zu der zweiten Hütte. Zwischen den schneebedeckten Sträuchern und Strohdächern wanderte eine Kuh heraus auf die freie Fläche des Dorfangers, das Euter zum Platzen gefüllt, und Dunworthy fand seine Befürchtung bestätigt, daß die Pest auch hier gewesen war.

»Eine Kuh!« sagte Colin enttäuscht. Sie blickte zu ihnen her und kam ihnen muhend entgegengeschaukelt.

»Wo sind die Leute?« sagte Colin. »Jemand muß die Glocke geläutet haben.«

Sie sind alle tot, dachte Dunworthy. Er blickte zum Friedhof und sah die frischen Gräber mit den Erdhügeln darüber, die der Schnee noch nicht vollständig zugedeckt hatte. Hoffentlich sind sie alle auf diesem Friedhof begraben, dachte er, und dann sah er den ersten Toten. Es war ein Junge, der sitzend an einem Grabstein lehnte, als ob er ausruhte.

»He, da ist jemand«, sagte Colin, zog hart an den Zügeln und zeigte zu der Gestalt. »Hallo!«

Er drehte sich halb herum, um Dunworthy anzusehen. »Werden sie verstehen, was wir sagen? Was meinen Sie?«

»Er ist tot«, sagte Dunworthy.

Aber der Junge stand auf, zog sich mühsam hoch, eine Hand auf den Grabstein gestützt, und blickte umher, als suchte er eine Waffe.

»Wir tun dir nichts«, rief Dunworthy und überlegte nachträglich, wie es auf mittelenglisch heißen würde.

Er ließ sich vom Sattel gleiten, eine Hand am Sattelbogen, um sich des plötzlichen Schwindelgefühls zu erwehren. Dann richtete er sich auf, wandte sich um und streckte die Hand mit erhobener Handfläche dem Jungen entgegen.

Dessen Gesicht war schmutzig, streifig und verschmiert mit Erde und Blut, und sein ledernes Wams und die Beinkleider waren mit klebrigen Krusten von geronnenem Blut und Schmutz überzogen. Er bückte sich und hielt sich die Seite, als ob die Bewegung ihm Schmerzen bereitete, hob einen Stecken auf, der im Schnee gelegen hatte, und kam ein paar Schritte auf sie zu. »Belibet wec vone hiewert. Die blawe siecheit hat unsich anloufen.«

»Kivrin«, sagte Dunworthy und kam auf sie zu.

»Kommen Sie nicht näher«, sagte sie auf englisch und hielt den Stecken wie einen Speer vor sich. Das Ende war unregelmäßig abgebrochen.

»Ich bin es, Kivrin, Mr. Dunworthy«, sagte er und ging weiter auf sie zu.

»Nein!« sagte sie, zurückweichend, hob einen zerbrochenen Spaten auf und stieß mit dem Stiel in seine Richtung. »Sie verstehen nicht. Es ist die Pest.«

»Das ist schon gut, Kivrin. Wir sind geimpft.«

»Geimpft«, sagte sie, als wüßte sie nicht, was das Wort bedeutete. »Es war der Sekretär des Bischofs. Er hatte sie, als sie kamen.«

Colin kam gelaufen, und sie riß den Schaufelstiel wieder hoch.

»Es ist schon gut«, wiederholte Dunworthy. »Das ist Colin. Er ist auch geimpft worden. Wir sind gekommen, Sie heimzuholen.«

Eine lange Minute sah sie ihn ruhig an, während um sie her der Schnee fiel. »Mich heimzuholen«, sagte sie ohne Ausdruck in der Stimme und blickte auf das Grab zu ihren Füßen. Es war kürzer und schmaler als die anderen, ein Kindergrab.

Nach einer Weile blickte sie zu Dunworthy auf, und auch in ihrem Gesicht war kein Ausdruck. Ich bin zu spät gekommen, dachte er verzweifelnd, als er sie in ihrem blutigen Wams dastehen sah, umgeben von Gräbern. Sie haben sie schon gekreuzigt. »Kivrin«, sagte er.

Sie ließ den Schaufelstiel fallen. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie und machte kehrt und ging von ihnen fort auf die Kirche zu.

»Ist sie es wirklich?« flüsterte Colin.

»Ja«, sagte er.

»Was ist los mit ihr?«

Ich bin zu spät gekommen, dachte er und legte die Hand auf Colins Schulter, sich zu stützen. Sie wird mir nie vergeben.

»Fehlt Ihnen was?« fragte Colin. »Fühlen Sie sich wieder krank?«

»Nein«, sagte er, wartete aber einen Moment, bevor er seine Hand wegnahm.

Kivrin war bei der Kirchentür stehengeblieben und hielt sich wieder die Seite. Ein Frösteln überlief ihn. Sie hat es, dachte er. Sie hat die Pest. »Sind Sie krank?« fragte er.

»Nein.« Sie nahm die Hand von ihrer Seite und blickte darauf, als erwarte sie, daß sie mit Blut bedeckt sei. »Er trat mich.« Sie versuchte die Kirchentür aufzustoßen, verzog das Gesicht und ließ es Colin tun. »Ich glaube, er brach mir ein paar Rippen.«

Colin schob die schwere eichene Tür auf, und sie traten ein. Dunworthy schloß einen Moment lang die Augen, um ihnen die Anpassung an die Dunkelheit zu erleichtern. Durch die schmalen Fenster drang kaum Licht ins Innere, obwohl er die wesentlichen Merkmale des Raumes erkennen konnte. Die massigen Säulen mit den romanischen Würfel- und Kelchkapitellen und den Mauerbogen unter den Hochwänden des Mittelschiffes. Und vor der Chorschranke ein wuchtiger rechteckiger Umriß wie ein Klotz, aber dahinter und zu beiden Seiten war es völlig dunkel. Colin wühlte in seinen weiten Taschen.

Weit vorn im Chor klomm die matte Flamme des ewigen Lichts und erhellte nichts als sich selbst. Dunworthy ging langsam durch das Kirchenschiff nach vorn.

»Augenblick«, sagte Colin und schaltete eine Taschenlampe ein. Sie blendete Dunworthy und machte alles außerhalb ihres Lichtkegels so schwarz wie es gewesen war, als sie hereingekommen waren. Colin leuchtete in der Kirche herum, über die bemalten Wände, die schweren Säulen, den unebenen Steinplattenboden. Das Licht fiel auf den Klotz, den Dunworthy nicht hatte deuten können. Es war ein Steinsarkophag.

»Sie ist da oben«, sagte Dunworthy und zeigte zum Altar, und Colin zielte den Lichtkegel in die angegebene Richtung.

Kivrin kniete bei jemandem, der vor der Chorschranke am Boden lag. Es war ein Mann, sah Dunworthy im Näherkommen. Beine und Unterkörper waren mit einer purpurnen Decke zugedeckt, seine großen Hände auf der Brust gefaltet. Kivrin bemühte sich, mit einem Stück Holzkohle eine Kerze anzuzünden, diese aber war zu einem mißgestalteten, halb zerflossenen Wachsklumpen niedergebrannt und ging immer wieder aus. Sie schien dankbar, als Colin mit seiner Taschenlampe herankam. Er richtete den Lichtkegel voll auf sie und den Liegenden.

»Sie müssen mir mit Roche helfen«, sagte sie, ins Licht blinzelnd. Sie beugte sich über den Mann und ergriff seine Hand.

Sie denkt, er sei noch am Leben, dachte Dunworthy, aber sie sagte in dieser tonlosen, selbstverständlichen Stimme: »Er starb heute morgen.«

Die gefalteten Hände waren beinahe so purpurn wie die Decke, aber das Gesicht des Mannes war blaß und völlig friedlich.

»Was war er, ein Ritter?« fragte Colin verwundert.

»Nein«, sagte Kivrin. »Ein Heiliger.«

Sie hatte ihre Hand auf die seinen gelegt. Dunworthy sah, daß sie schwielig und blutig war, die Fingernägel schwarz, die Haut rissig und schrundig. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie.

»Womit helfen?« fragte Colin.

Dunworthy begriff, daß sie ihre Hilfe bei der Beerdigung des Toten wünschte, aber dazu sah er sich nicht imstande. Der Mann, den sie Roche genannt hatte, war vielleicht nicht mehr als mittelgroß, obwohl die Größe eines Liegenden schlecht einzuschätzen war, aber ungemein breit und kräftig gebaut. Selbst wenn sie ein Grab ausschaufeln konnten, würden sie ihn zu dritt nicht tragen können, und Kivrin würde niemals zulassen, daß sie ihm einen Strick um den Hals knoteten und ihn auf den Friedhof hinausschleiften.

»Womit helfen?« wiederholte Colin. »Wir haben nicht viel Zeit.«

Sie hatten überhaupt keine Zeit. Es war inzwischen Spätnachmittag, und nach Dunkelwerden würden sie niemals den Weg durch den Wald finden. Außerdem war schwer zu sagen, wie lang Badri die alle zwei Stunden wiederholte Öffnung des Netzes aufrechterhalten konnte. Zwar hatte er von vierundzwanzig Stunden gesprochen, dabei aber nicht kräftig genug ausgesehen, um ihrer zwei zu überdauern. Und annähernd acht Stunden waren bereits vergangen. Hinzu kam, daß der Boden gefroren war, daß Kivrin sich Rippen gebrochen hatte, und daß die Wirkung der Aspirintabletten nachließ. In der Kirche war es so eisig, daß er wieder vor Kälte zu zittern begann.

Wir können ihn nicht begraben, dachte er, den Blick auf der neben dem Toten knienden Kivrin. Aber wie konnte er ihr das sagen, nachdem er für alles andere zu spät gekommen war?

»Kivrin…«

Sie tätschelte sanft die kalte Hand des Toten. »Wir werden ihn nicht begraben können«, sagte sie in diesem ruhigen, ausdruckslosen Ton. »Wir mußten Rosemund in sein Grab legen, nach dem Verwalter…«

Sie blickte zu Dunworthy auf. »Heute früh versuchte ich ein neues Grab zu schaufeln, aber der Boden ist zu hart. Die Schaufel brach ab. Ich sprach die Totenmesse für ihn. Und ich versuchte die Glocke zu läuten.«

»Wir hörten sie«, sagte Colin. »So fanden wir Sie.«

»Es hätten neun Schläge sein sollen, aber ich mußte aufhören.« Sie legte die Hand in erinnertem Schmerz an ihre Seite. »Sie müssen mir helfen, das Totengeläute zu vollenden.«

»Warum?« fragte Colin. »Ich glaube nicht, daß irgendwo noch jemand am Leben ist, sie zu hören.«

»Das hat nichts zu sagen«, erwiderte Kivrin. Ihr Blick richtete sich auf Dunworthy.

»Wir haben keine Zeit«, sagte Colin. »Bald wird es dunkel, und der Absetzort ist…«

»Ich werde läuten«, sagte Dunworthy. »Sie bleiben hier«, ergänzte er, als sie Anstalten machte, aufzustehen. »Ich werde die Glocke läuten.« Er wandte sich um und ging durch das Kirchenschiff zurück.

»Es wird dunkel«, sagte Colin, der ihm nachtrabte. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tanzte wild über die Säulen und die Steinplatten des Bodens, »und Sie sagten, Sie wüßten nicht, wie lange Badri das Netz offenhalten kann. Warten Sie doch einen Augenblick!«

Dunworthy stieß die Tür auf, die Augen gegen die erwartete Helligkeit des Schnees zusammengekniffen, aber während sie in der Kirche gewesen waren, hatte die Dämmerung eingesetzt, und aus dem dunkelnden Himmel rieselte der Schnee. Er ging schnell über den Friedhof zum Glockenturm. Die Kuh, die Colin bei ihrer Ankunft gesehen hatte, war durch die Friedhofspforte gekommen und wanderte quer über die Gräber auf sie zu. Ihre Hufe versanken bis über die Fesseln im Schnee.

»Was nützt es, die Glocke zu läuten, wenn niemand da ist, sie zu hören?« sagte Colin. Er blieb stehen, um seine Taschenlampe auszuschalten, dann rannte er, ihn wieder einzuholen.

Dunworthy betrat den Glockenturm. Er war so dunkel und kalt wie das Kircheninnere, und roch nach Ratten. Die Kuh steckte ihren Kopf herein, und Colin zwängte sich an ihr vorbei und stand an der gekrümmten Wand.

»Sie sind derjenige, der ständig sagt, daß wir zum Absetzort zurück müssen, daß das Netz geschlossen wird und uns hier zurückläßt«, sagte er. »Sie sind es, der sagte, wir hätten nicht einmal mehr Zeit, Kivrin zu suchen.«

Dunworthy stand eine kleine Weile in der Mitte des dunklen, runden Raumes, ließ seinen Augen Zeit zur Anpassung und versuchte zu Atem zu kommen. Er war zu schnell gegangen, und die Beengung in seiner Brust machte sich wieder unangenehm bemerkbar. Er blickte zum Seil auf, das über ihren Köpfen in der Dunkelheit hing. Eine Elle über dem zerfransten Ende war ein fettig aussehender Knoten.

»Darf ich läuten?« fragte Colin.

»Du bist zu klein.«

»Bin ich nicht«, sagte er und sprang hoch, das Seil zu ergreifen. Er erwischte das Ende unter dem Knoten und hing mehrere Atemzüge daran, bevor er sich fallen ließ, aber das Seil gab kaum nach, und die Glocke gab nur einen schwachen, verstimmten Ton von sich, als hätte jemand mit einem Stein an ihre Seite geschlagen. »Ist die schwer«, sagte er.

Dunworthy reckte die Arme und ergriff das rauhe Hanfseil. Es war kalt und faserig. Er zog kräftig abwärts, keineswegs überzeugt, daß er Besseres als Colin zuwege bringen würde, und das Seil schnitt in seine Hände. Bong.

»Ist das laut!« sagte Colin, klappte die Hände über die Ohren und blickte begeistert in den dunklen Turm hinauf.

»Eins«, sagte Dunworthy. Eins und auf. Er erinnerte sich der Amerikanerinnen, beugte die Knie und zog am Seil abwärts. Zwei. Und auf. Und drei.

Er wunderte sich, daß es Kivrin gelungen war, mit ihren gebrochenen oder geprellten Rippen überhaupt einen Glockenton zu erzeugen. Die Glocke war viel schwerer und bei weitem lauter als er es sich vorgestellt hatte, und die Töne schienen in seinem Kopf und seiner beengten Brust zu vibrieren. Bong.

Er dachte an Mrs. Piantini, wie sie ihre sulzigen Knie beugte und dabei zählte. Fünf. Er hatte nicht zu würdigen gewußt, welch schwierige Arbeit es war. Jeder Zug am Glockenseil schien ihm den Atem aus den Lungen zu reißen. Sechs.

Er hätte gern aufgehört und eine Ruhepause eingelegt, wollte aber Kivrin, die in der Kirche kniete und lauschte, nicht denken lassen, daß er aufgegeben habe oder zu nachlässig sei, um die Zahl der Glockenschläge vollzumachen. Er festigte seinen Griff über dem Knoten und als er mit allen Kräften zog, entrang sich seiner Brust ein lautes Ächzen.

»Fehlt Ihnen was, Mr. Dunworthy?«

»Nein«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es schien ihm die Lungen aufzureißen. Sieben.

Die Glocke zog das Seil hinauf, und er ließ sich mit hochziehen. Mrs. Taylor kam ihm in den Sinn, wie sie, schon krank, die Schläge gezählt hatte, die zur Vollendung des Glockenspiels noch nötig waren, entschlossen, dem Fieber und den hämmernden Kopfschmerzen standzuhalten.

»Ich kann weitermachen«, sagte Colin, und Dunworthy konnte ihn kaum hören. »Ich kann Kivrin holen, und zusammen schaffen wir die beiden letzten Schläge. Wir ziehen zusammen am Seil.«

Dunworthy schüttelte den Kopf. Er zog mit aller Macht am Seil. Bong. Acht. »Jeder muß bei seiner Glocke bleiben«, sagte er atemlos. Er durfte das Seil nicht loslassen. Mrs. Taylor war ohnmächtig geworden, und die Glocke hatte das Seil hochgerissen, daß es wie eine Peitsche geschlagen hatte. Es hatte sich Finch um den Hals gewickelt und ihn beinahe erdrosselt. Er mußte festhalten, trotz allem.

Er ging in die Knie, stieß keuchend den angehaltenen Atem aus und ließ das Seil hochgehen. »Neun«, sagte er.

Colin beobachte ihn, eine steile Falte zwischen den Brauen. »Sie haben einen Rückfall, nicht?« sagte er argwöhnisch.

»Nein«, sagte Dunworthy und ließ das Seil los.

Die Kuh hatte ihren Kopf noch immer in der Tür. Er schob sie beiseite und ging zurück zur Kirche und hinein.

Kivrin kniete unverändert neben Roche, seine steife Hand in der ihrigen.

Er blieb vor ihr stehen. »Ich habe die Glocke geläutet.«

Sie blickte auf, ohne zu nicken.

»Meinen Sie nicht, daß wir jetzt gehen sollten?« sagte Colin. »Es wird dunkel.«

»Ja«, sagte Dunworthy. »Ich glaube auch, wir sollten…« Das Schwindelgefühl überwältigte ihn ganz unerwartet, und er schwankte und fiel beinahe über den Toten.

Kivrin streckte die Hand aus, und Colin sprang hinzu, daß das Licht seiner Taschenlampe wie wild über die Balkendecke zuckte, als er Dunworthys Arm ergriff.

Dunworthy ging taumelnd auf ein Knie nieder und mußte sich mit der flachen Hand am Boden abstützen. Die andere hatte er haltsuchend nach Kivrin ausgestreckt, aber sie war auf die Beine gekommen und zurückgewichen.

»Sie sind krank!« Es war eine Anklage, eine Verurteilung. »Sie haben die Pest bekommen, nicht?« sagte sie, und zum ersten Mal spiegelte sich eine Gefühlsregung in ihrer Stimme. »Ist es nicht so?«

»Nein«, sagte Dunworthy, »es ist…«

»Er hat einen Rückfall«, sagte Colin. Er steckte die Taschenlampe in die Armbeuge der Statue, um Dunworthy aus einer knienden Haltung aufzuhelfen. »Er hat meine Plakate nicht beachtet.«

»Es ist ein Virus«, sagte Dunworthy. Er setzte sich schwerfällig nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Statue. »Es ist nicht die Pest. Wir sind beide mit Tetracyclin und Gammaglobulin geimpft. Wir können die Pest nicht bekommen.« Er ließ den Kopf gegen die Statue zurücksinken. »Es ist ein Grippevirus. Es wird wieder vorbeigehen. Ich muß nur einen Augenblick ausruhen.«

»Ich sagte ihm, daß er nicht die Glocke läuten sollte«, sagte Colin. Er entleerte den Sack auf den Steinboden und legte ihn Dunworthy um die Schultern.

»Sind noch Aspirintabletten übrig?«

»Sie sollen nur alle drei Stunden welche nehmen«, sagte Colin, »und Sie sollen sie nicht ohne Wasser nehmen.«

»Dann bring mir Wasser.«

Colin blickte hilfesuchend zu Kivrin, aber sie stand noch auf der anderen Seite des Toten und beobachtete Dunworthy mit reservierter Aufmerksamkeit.

»Jetzt«, sagte Dunworthy, und Colin rannte hinaus, daß seine Stiefeltritte in der leeren Kirche widerhallten. Dunworthy blickte hinüber zu Kivrin, und sie wich einen Schritt zurück.

»Es ist nicht die Pest«, wiederholte er. »Es ist ein Virus. Wir befürchteten, daß auch Sie ihm ausgesetzt waren, bevor Sie durchkamen, und daran erkrankten. War es so?«

»Ja«, sagte sie und kniete neben Roche nieder. »Er rettete mir das Leben.«

Sie glättete die purpurne Decke, und Dunworthy sah jetzt erst, daß es ein Samtumhang war, der in der Mitte ein großes aufgenähtes seidenes Kreuz trug.

»Er sagte mir, ich solle mich nicht fürchten«, sagte sie. Sie zog ihm den Umhang über die Brust mit den gefalteten Händen, aber nun wurden seine Füße, die in derben, schlecht zum Samtumhang passenden Sandalen steckten, sichtbar. Dunworthy nahm sich den Sack von den Schultern und breitete ihn dem Toten über die Füße, dann stand er vorsichtig auf, eine Hand auf die Statue gestützt, um nicht noch einmal das Gleichgewicht zu verlieren.

Kivrin tätschelte Roches Hände durch den Samtstoff. »Er wollte mich nicht verletzen«, sagte sie.

Colin kam mit einem hölzernen Eimer zurück, der halb voll Wasser war. Dem Aussehen nach mußte er es aus einer Pfütze geschöpft haben. Er schnaufte angestrengt. »Die Kuh griff mich an!« sagte er, als er den Eimer abstellte. Er schüttelte Dunworthy die restlichen Aspirintabletten in die Hand. Es waren fünf.

Dunworthy nahm zwei davon, schöpfte mit einer Hand ein wenig Wasser und schluckte. Die übrigen Tabletten gab er Kivrin. Sie nahm sie mit ernster Miene an, ohne sich von den Knien zu erheben.

»Ich konnte keine Pferde finden«, sagte Colin. Er schob Kivrin den Eimer hin. »Nur ein Maultier.«

»Esel«, sagte Kivrin. »Maisry stahl Agnes’ Pony.« Sie schluckte die Tabletten und ergriff wieder Roches Hand. »Für alle läutete er die Glocke, damit ihre Seelen sicher zum Himmel auffahren konnten.«

»Meinen Sie nicht, daß wir gehen sollten?« flüsterte Colin. »Draußen ist es beinahe dunkel.«

»Sogar für Rosemund«, sagte Kivrin, als ob sie nicht gehört hätte. »Er war schon krank. Ich sagte ihm, wir hätten keine Zeit mehr, müßten nach Schottland aufbrechen.«

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Dunworthy, »bevor es ganz dunkel ist.«

Sie rührte sich nicht von der Stelle, ließ Roches Hand nicht los. »Er hielt mir die Hand, als ich im Sterben lag.«

»Kivrin«, sagte er freundlich.

Sie legte ihre Hand an die Wange des Toten und richtete sich auf. Dunworthy bot ihr die Hand, aber sie stand ohne seine Hilfe auf, eine Hand gegen die Seite gedrückt, und ging langsam durch das Kirchenschiff hinaus.

An der Tür wandte sie sich um und blickte zurück in die Dunkelheit. »Als er im Sterben lag, sagte er mir, wo der Absetzort war, damit ich zum Himmel zurückkehren kann. Er sagte mir, ich solle ihn verlassen und gehen, so daß ich bereits dort sein würde, wenn er käme«, sagte sie, und ging hinaus in den Schnee.

36

Der Schnee fiel lautlos und friedlich auf den Rappen und den Esel, die geduldig bei der Friedhofspforte standen. Dunworthy half Kivrin auf den Hengst, und sie schreckte vor seiner Berührung nicht zurück, wie er es befürchtet hatte, doch sobald sie im Sattel saß, entzog sie sich seinem Griff und nahm die Zügel. Er sah sie im Sattel zusammensinken und sich die Seite halten, sagte aber nichts.

Inzwischen zitterte er vor Kälte und mußte die Zähne zusammenbeißen, damit sie nicht hörbar aufeinanderschlugen. Erst beim dritten Versuch gelang es ihm, auf den Esel zu steigen, und er fürchtete jeden Augenblick herunterzurutschen.

»Ich glaube, ich führe Ihr Maultier«, sagte Colin mit einem mißbilligenden Blick.

»Wir haben nicht genug Zeit«, sagte Dunworthy. »Es ist schon fast dunkel. Reite hinter Kivrin.«

Colin führte den Hengst an die Friedhofsmauer, stieg hinauf und krabbelte von dort hinter Kivrin in den Sattel.

»Hast du das Ortungsgerät?« fragte Dunworthy. Er versuchte behutsam, den Esel mit den Fersen anzutreiben, ohne hinunterzufallen.

»Ich weiß den Weg«, sagte Kivrin.

Colin hielt das Ortungsgerät in die Höhe. »Da ist es. Und die Taschenlampe.« Er schaltete sie ein und leuchtete damit auf dem Friedhof umher, als suchte er etwas, das sie zurückgelassen haben könnten. Zum ersten Mal schien er die Gräber zu bemerken.

»Ist das hier, wo Sie alle begraben haben?« sagte er, den Lichtkegel auf den frisch verschneiten Grabhügeln.

»Ja«, sagte Kivrin.

»Sind sie schon lange tot?«

Sie wendete den Hengst und setzte ihn in Bewegung. »Nein.«

Die Kuh folgte ihnen ein Stück Weges. Ihr volles Euter schwang hin und her, und schließlich blieb sie auf dem Weg stehen und begann jämmerlich zu muhen. Dunworthy sah sich nach ihr um, bis sie unschlüssig kehrtmachte und langsam den Weg hinunter zum Dorf wanderte. Der Schnee hatte die Gräber vollständig zugedeckt und die Kirche war nur noch ein verschwommener steingrauer, Umriß in der schnee-erfüllten Dämmerung, der Glockenturm kaum noch zu erkennen.

Kivrin blickte nicht zurück. Sie saß jetzt sehr gerade im Sattel und hielt die Zügel mit beiden Händen. Colin wagte nicht, die Arme um ihre Mitte zu legen und sich an ihr festzuhalten, sondern umklammerte mit den Fingern den Sattelbogen hinter sich. Als sie in den Wald kamen, schien der Schneefall nachzulassen, aber allenthalben löste sich lockerer Neuschnee von Ästen und hochschnellenden Zweigen und fiel in lautlosen weißen Kaskaden herab.

Dunworthy folgte dem Pferd und mußte es dem Esel überlassen, mit der gleichmäßigen Gangart des Hengstes Schritt zu halten. Er selbst war vollauf damit beschäftigt, dem Fieber Widerstand zu leisten, das sich mit Schwindelgefühl und Desorientierung zurückmeldete. Das Aspirin wirkte nicht — er hatte es mit zu wenig Wasser genommen -, und er spürte, wie das Fieber ihn allmählich überwältigte und anfing, den Wald und den knochigen Eselsrücken und Colins Stimme aus seinem Bewußtsein zu drängen.

Der Junge redete munter auf Kivrin ein, erzählte ihr von der Epidemie, und wie er es darstellte, klang es wie ein Abenteuer. »Sie sagten, es sei Quarantäne, und wir müßten zurück nach London, aber das wollte ich nicht. Ich wollte Großtante Mary besuchen. Also schlüpfte ich durch die Absperrung, aber der Wächter sah es und rief. ›Du da! Halt!‹ und rannte hinter mir her, und ich lief die Straße hinunter und dann in eine Durchfahrt…«

Der Hengst hielt an, und Colin und Kivrin stiegen ab. Colin nahm seinen Schal ab, und sie zog ihr vom getrockneten Blut steifes Wams hoch und band sich den Schal um die Rippen. Die Schmerzen mußten stärker sein, als Dunworthy gedacht hatte, und er sagte sich, daß er wenigstens versuchen sollte, ihr zu helfen, fürchtete aber, daß er, wenn er vom Esel abstiege, nicht wieder hinaufkommen würde.

Kivrin und Colin saßen wieder auf — sie reichte ihm die Hand und half ihm in den Sattel -, und sie ritten langsam weiter. An jeder Biegung und Abzweigung verlangsamten sie, um die Richtung zu kontrollieren, Colin über die Leuchtanzeige des Ortungsgerätes gebeugt und mit dem ausgestreckten Arm zeigend, Kivrin mit dem Kopf nickend.

»Dies ist die Stelle, wo ich vom Esel fiel«, hörte Dunworthy sie sagen, als sie an einer Gabelung hielten. »Das war in der ersten Nacht. Ich war so krank, daß ich kaum bei Bewußtsein war. Ich hielt ihn für einen Halsabschneider.«

Sie kamen zu einer weiteren Weggabelung. Der Schneefall hatte nachgelassen, aber die Wolken zogen dunkel und schwer über den Wald hin. Colin zeigte auf den rechts abzweigenden Weg und fuhr fort, Kivrin von seinen Abenteuern zu erzählen.

»Mr. Dunworthy sagte: ›Sie haben die Fixierung verloren‹, und dann fiel er vornüber gegen Mr. Gilchrist, und beide gingen zu Boden. Mr. Gilchrist benahm sich, als ob Mr. Dunworthy es absichtlich getan hätte; er erlaubte nicht einmal, daß ich ihn zudeckte. Dabei zitterte er wie Espenlaub und hatte Fieber, und ich rief immer wieder: ›Mr. Dunworthy! Mr. Dunworthy!‹ aber er konnte mich nicht hören. Und Mr. Gilchrist sagte ständig: ›Ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich.‹«

Der Schneefall verstärkte sich wieder, und ein Wind kam auf. Dunworthy klammerte sich erschauernd an die steife Mähne des Esels.

»Sie wollten mir überhaupt nichts sagen«, erzählte Colin, »und als ich hinein wollte, Großtante Mary zu sprechen, sagten sie: ›Kinder haben hier keinen Zutritt.‹«

Sie ritten gegen den Wind. Die eisigen Böen bliesen ihm prickelnden Schnee ins Gesicht und fuhren durch seinen flatternden Umhang. Er beugte sich vornüber, bis er beinahe auf dem Hals des Esels lag.

»Der Arzt kam heraus«, sagte Colin, »und fing an, mit der Schwester zu flüstern, und da wußte ich, daß sie tot war«, und Dunworthy ging es wie ein Stich durchs Herz, als ob er es zum ersten Mal hörte. Ach, Mary, dachte er.

»Ich wußte nicht, was ich tun sollte«, sagte Colin, »also saß ich einfach da, und Mrs. Gaddson, diese absolut nekrotische Person, kam zu mir und fing an, aus der Bibel vorzulesen, daß es Gottes Wille sei, und so weiter. Ich hasse Mrs. Gaddson«, sagte er heftig. »Sie ist es, die verdiente, an der Influenza zu krepieren!«

Ihre Stimmen begannen in Dunworthys Ohren zu klingen und seltsam hallende Obertöne anzunehmen, so daß er sie kaum noch hätte verstehen dürfen, doch seltsamerweise erklangen sie in der kalten Luft klarer und klarer, und er dachte, daß man sie bis nach Oxford hören müsse, siebenhundert Jahre entfernt.

Auf einmal kam ihm der Gedanke, daß Mary nicht tot sei, daß sie hier in diesem fürchterlichen Jahr, in diesem Jahrhundert, das schlimmer war als eine Zehn, noch nicht gestorben war, und es schien ihm ein Segen zu sein, der alles überstieg, was zu erwarten er berechtigt war.

»Und das war, als wir die Glocke hörten«, sagte Colin. »Mr. Dunworthy sagte sofort, es sei ein Hilferuf von Ihnen.«

»Das war es auch«, sagte Kivrin. »So geht es nicht. Er wird herunterfallen.«

»Sie haben recht«, sagte Colin, und Dunworthy begriff, daß sie abgestiegen waren und neben dem Esel standen. Kivrin hielt das aus Stricken zusammengeknüpfte Zaumzeug.

»Wir müssen Sie auf das Pferd bringen«, sagte sie, eine Hand an Dunworthys Seite. »Sie fallen sonst vom Esel. Kommen Sie, steigen Sie ab. Ich helfe Ihnen.«

Sie mußten ihm gemeinsam hinunterhelfen, und er mußte es geschehen lassen, obwohl er wußte, daß es Kivrin Schmerzen bereitete.

»Wenn ich mich bloß einen Moment niedersetzen könnte«, sagte Dunworthy durch schnatternde Zähne.

»Wir haben nicht genug Zeit«, sagte Colin, aber sie stützten ihm zum Wegrand und ließen ihn an einem Stein nieder.

Kivrin suchte unter ihrem Wams und brachte drei Aspirintabletten zum Vorschein. »Hier, nehmen Sie die«, sagte sie und hielt sie ihm auf der offenen Handfläche hin.

»Die waren für Sie«, sagte er. »Ihre Rippen…«

Sie sah ihn ruhig an, ohne zu lächeln. »Ich komme schon zurecht«, sagte sie und ging, den Hengst an einen Strauch zu binden.

»Möchten Sie etwas Wasser?« fragte Colin. »Ich könnte Feuer machen und etwas Schnee schmelzen.«

»Es geht schon«, sagte Dunworthy. Er stopfte eine Handvoll Schnee in den Mund, wartete, bis er geschmolzen war, nahm die drei Aspirin dazu und schluckte sie hinunter.

Kivrin verlängerte die Steigbügel mit geübter Geschicklichkeit, knotete die Lederriemen neu und kam zu Dunworthy, um ihm aufzuhelfen. Sie schob ihm die Hand unter den Arm. »Fertig?«

»Ja.« Dunworthy versuchte aufzustehen.

»Das war ein Fehler«, meinte Colin nach dem ersten mißglückten Versuch. »Wir werden ihn nie hinaufbringen.« Aber dann gelang es ihnen doch, indem sie seinen Fuß in den Steigbügel setzten und seine Hände um den Sattelknopf legten und ihn gemeinsam stützten, und schließlich war er sogar in der Lage, Colin die Hand zu geben, daß er vor ihm aufsitzen konnte.

Er zitterte nun nicht mehr am ganzen Körper, war aber nicht sicher, ob er es als ein gutes Zeichen deuten sollte oder nicht, und als sie weiterzogen, Kivrin voraus auf dem Esel, Colin schon wieder beim Erzählen, lehnte er sich an den Rücken des Jungen und schloß die Augen.

»Wenn ich aus der Schule komme, werde ich nach Oxford an die Universität gehen und Historiker wie Sie werden«, sagte Colin. »In die Zeit des Schwarzen Todes will ich nicht zurück. Ich möchte lieber zu den Kreuzzügen.«

Er hörte sie reden, den Kopf an Colins Schulter. Es war Nacht geworden, und sie waren in einem Wald im Mittelalter, zwei Krüppel und ein Kind, und Badri, ein weiterer Krüppel und selbst rückfallgefährdet, versuchte das Netz offen zu halten. Aber er konnte keine Empfindungen aufbringen, weder Panik noch Sorge. Colin hatte das Ortungsgerät, und Kivrin wußte, wo der Absetzort war. Sie würden es schon schaffen.

Selbst wenn sie den Absetzort nicht finden konnten und für immer hier gefangen sein würden, selbst wenn Kivrin ihm nicht vergeben würde, ginge das Leben weiter. Sie würde mit ihnen nach Schottland gehen, wohin die Pest nie gekommen war, und Colin würde Angelhaken und eine Bratpfanne aus seiner Trickkiste zaubern, und sie würden Forellen und Lachse fangen und essen. Vielleicht würden sie sogar Basingame finden…

»Ich habe im Fernsehen Schwertfechter gesehen, und ich kann ein Pferd lenken«, sagte Colin, und dann: »Halt!«

Colin riß an den Zügeln, und der Hengst blieb stehen, die Nüstern an der Kruppe des Esels. Sie waren auf dem Rücken einer kleinen Bodenerhebung. Zu ihren Füßen war eine gefrorene Pfütze und ein Weidendickicht.

»Warum treiben Sie ihn nicht an?« fragte Colin, aber Kivrin war schon abgesessen.

»Weiter geht er nicht«, sagte sie und klopfte Balaam den Hals. »Das war schon einmal so. Er sah mich durchkommen. Das hat er nicht vergessen. Ich dachte damals, es sei Gawyn gewesen, aber es war die ganze Zeit Pater Roche.« Sie zog dem Esel das Zaumzeug aus Stricken über den Kopf und gab ihm einen Klaps, und er machte auf der Stelle kehrt und trottete den Weg zurück.

»Möchten Sie reiten?« fragte Colin, schon von Sattel kletternd.

Sie schüttelte den Kopf. »Das Aufsitzen und Absteigen schmerzt mehr als das Gehen.« Sie blickte über die Senke zum jenseitigen Höhenzug. Der Wald endete dort in halber Höhe, und darüber lagen die verschneiten Weideflächen. Es mußte zu schneien aufgehört haben, obwohl Dunworthy es nicht bewußt wahrgenommen hatte. Die Wolkendecke riß auf, und zwischen ihnen zeigte sich der Westhimmel lilarosa und orangefarben.

»Er hielt mich für die heilige Katharina«, sagte sie. »Er sah mich durchkommen, wie Sie es befürchtet hatten. Er dachte, ich sei von Gott gesandt worden, um ihnen in ihrer Stunde der Not beizustehen.«

»Ja, und das haben Sie getan, nicht?« sagte Colin. Er zog ungeschickt an den Zügeln, und der Hengst setzte sich in Bewegung. Kivrin ging neben ihm. »Sie hätten sehen sollen, wie furchtbar es in dem anderen Dorf aussah, wo wir waren. Überall Leichen, manchen hatten sie Stricke um die Hälse geknotet und sie durch den Schnee zum Friedhof gezogen. Aber ich glaube nicht, daß jemand ihnen geholfen und die Toten begraben hat.«

Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und gab Kivrin die Zügel. »Ich gehe nachsehen, ob das Netz offen ist«, sagte er und eilte davon. »Badri wollte es alle zwei Stunden öffnen.« Er brach durch das Weidendickicht und verschwand.

Kivrin brachte den Hengst am Fuß der Anhöhe zum Stehen und half Dunworthy herunter.

»Wir müssen ihm Sattel und Zaumzeug abnehmen«, sagte Dunworthy. »Als wir ihn fanden, war er halb verhungert, weil die Zügel sich in einem Weißdorn verfangen hatten.«

Zusammen lösten sie den Sattelgurt, nahmen ihm den Sattel ab, und Kivrin hakte die Trense auf, nahm dem Hengst das Zaumzeug ab und streichelte ihm den Kopf.

»Er wird schon durchkommen«, meinte Dunworthy.

»Vielleicht«, sagte sie.

Colin brach durch die Weiden, daß der Schnee von den Zweigen flog. »Es ist nicht da.«

»Es wird sich bald öffnen«, sagte Dunworthy.

»Nehmen wir das Pferd mit?« fragte Colin. »Ich weiß, daß Historiker nichts in die Zukunft mitnehmen dürfen, aber es wäre fein, wenn wir es machen könnten. Dann könnte ich den Hengst reiten, wenn ich an den Kreuzzügen teilnehme.«

Er blickte fragend von Kivrin zu Dunworthy. »Kommen Sie, das Netz kann jeden Augenblick aufgehen.«

Kivrin nickte. Sie gab dem Hengst einen Klaps auf die Flanke. Er ging ein paar Schritte und blieb dann stehen und blickte fragend zu ihnen zurück.

»Kommen Sie schon«, sagte Colin. Er arbeitete sich wieder in das Dickicht hinein.

Kivrin rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte die Hand an ihre Seite gelegt.

Dunworthy ging zu ihr. »Kann ich helfen?«

»Es wird schon gehen«, sagte sie und wandte sich ab, um die Weidenzweige auseinanderzubiegen.

Unter den Bäumen flossen die tiefen Schatten ineinander. Nur der schneebedeckte Waldboden verbreitete soviel Licht, daß man die einzelnen Stämme unterscheiden konnte. Colin schleppte den Sattel in die Mitte der Lichtung. »Für den Fall, daß wir die Öffnung gerade verpaßt haben und zwei Stunden warten müssen«, sagte er. Dunworthy ließ sich dankbar darauf nieder.

»Wie wissen wir, wo wir zu stehen haben, wenn das Netz geöffnet wird?« fragte Colin.

»Wir werden die Kondensation sehen können«, antwortete Kivrin. Sie ging zu einer großen Eiche und bückte sich, um den Schnee von ihren breiten Wurzelansätzen zu fegen.

»Sie meinen, wir können die Kondensation auch im Dunkeln sehen?«

Sie setzte sich vorsichtig unter den Baum, biß sich auf die Unterlippe, als sie sich auf der Wurzel niederließ.

Colin ging zwischen den beiden in die Hocke. »Wenn ich Zündhölzer mitgebracht hätte, könnte ich jetzt ein Feuer machen.«

»Es ist schon gut«, sagte Dunworthy.

Der Junge schaltete die Taschenlampe ein und wieder aus. »Ich glaube, es ist besser, die Batterie zu schonen, falls etwas schiefgeht.«

Vom Weidendickicht drangen Geräusche herüber. Colin sprang auf. »Ich glaube, es geht los!«

»Es ist der Hengst«, sagte Dunworthy. »Er sucht nach Futter.«

»Ach so.« Colin hockte sich nieder. »Sie glauben nicht, daß das Netz schon offen war und wir es bloß nicht gesehen haben, weil es dunkel ist?«

»Nein.«

»Vielleicht hatte Badri einen weiteren Rückfall und konnte das Netz nicht offenhalten.« Es klang mehr aufgeregt als ängstlich.

Sie warteten. Der Himmel war nun auch im Westen völlig dunkel, und zwischen den abziehenden Wolken kamen immer mehr Sterne hervor und blinzelten durch die Äste der Eiche. Colin kauerte neben Dunworthy und redete über die Kreuzzüge.

»Sie wissen alles über das Mittelalter«, sagte er zu Kivrin, »also dachte ich, Sie könnten mir vielleicht helfen, mich vorzubereiten, mir Unterricht zu geben, wissen Sie.«

»Du bist nicht alt genug«, sagte sie. »Es ist sehr gefährlich.«

»Ich weiß«, sagte Colin. »Aber ich möchte wirklich gehen. Sie müssen mir helfen. Bitte.«

»Es wird ganz anders sein, als du erwartest«, sagte sie. »Und zuerst solltest du deine Schulzeit hinter dich bringen und ein Studium anfangen. Dann wirst du auch für solche Unternehmungen alt genug sein.«

»Ist das Essen nicht nekrotisch? In dem Buch, das Mr. Dunworthy mir schenkte, habe ich gelesen, daß die Menschen verdorbenes Fleisch und Schwäne und alles mögliche aßen.«

Kivrin blickte eine lange Minute auf ihre Hände. »Das meiste war schrecklich«, sagte sie leise, »aber es gab auch ein paar wundervolle Dinge.«

Wundervolle Dinge. Dunworthy dachte an Mary, wie sie vom Tal der Könige gesprochen hatte. »Ich werde es nie vergessen«, hatte sie gesagt. Wundervolle Dinge.

»Wie ist es mit Rosenkohl?« fragte Colin. »Hat man im Mittelalter Rosenkohl gegessen?«

Kivrin lächelte beinahe. »Ich glaube, der war damals noch nicht gezüchtet.«

»Gut!« Er sprang auf. »Haben Sie das gehört? Ich glaube, es geht los. Es klingt wie eine Glocke!«

Kivrin hob den Kopf und lauschte. »Als ich durchkam, läutete eine Glocke«, sagte sie.

»Kommen Sie«, sagte Colin und zog Dunworthy auf die Beine. »Können Sie es hören?«

Es war eine Glocke, schwach und weit entfernt.

»Es kommt von hier«, sagte Colin und sprang zum Rand der Lichtung. »Kommen Sie!«

Mit einer Hand gegen die rauhe Borke der Eiche gestützt, die andere an ihrer Seite, stand Kivrin vorsichtig auf.

Dunworthy streckte die Hand nach ihr aus, aber sie nahm sie nicht an. »Es geht schon«, sagte sie leise.

»Ich weiß«, sagte er und ließ die Hand sinken.

Sie blieb noch eine Weile in Gedanken versunken gegen den Eichenstamm gestützt stehen, dann ließ sie ihn los und richtete sich auf.

»Ich habe alles aufgezeichnet«, sagte sie. »Alles, was geschah.«

Wie John Clyn, dachte er. Sein Blick streifte ihr verfilztes, abgeschnittenes Haar, das schmutzige Gesicht. Eine wahre Historikerin, die in der leeren Kirche, umgeben von Gräbern, ihre Aufzeichnungen machte. Und damit nicht Geschehnisse, die erinnert sein sollten, mit der Zeit untergehen und aus dem Gedenken derer verschwinden, die nach uns kommen sollen, habe ich, der so viele Übel gesehen hat, und die ganze Welt gleichsam in den Klauen des Bösen, all die Dinge, deren Zeuge ich geworden bin, schriftlich niedergelegt.

Kivrin drehte ihre Handflächen nach oben und sah in der Dunkelheit auf ihre Handgelenke. »Pater Roche und Agnes und Rosemund und alle anderen«, sagte sie. »Ich habe alles aufgezeichnet.«

Sie zog mit dem Finger eine Linie über ihr Handgelenk. »Io suiicien lui dami amo«, murmelte sie. »Du bist hier anstelle der Freunde, die ich liebe.«

»Kivrin«, sagte Dunworthy.

»Kommen Sie schon!« sagte Colin. »Es geht los. Hören Sie die Glocke?«

»Ja«, sagte Dunworthy. Es war Mrs. Piantini an der Tenorglocke, die den Auftakt zu »Wenn endlich mein Erlöser kommt« gab.

Kivrin kam herüber und stellte sich neben Dunworthy auf. Sie legte die Hände wie im Gebet zusammen.

»Ich sehe Badri!« sagte Colin aufgeregt. Er legte die Hände an den Mund, rief: »Sie ist da! Wir haben sie gerettet!«

Mrs. Piantinis Tenorglocke ertönte laut, und die anderen Glocken stimmten freudig ein. Die Luft begann zu glitzern, wie Schneeflocken im Licht.

»Apokalyptisch!« sagte Colin mit strahlendem Gesicht.

Kivrin ergriff Dunworthys Hand und drückte sie fest.

»Ich wußte, daß Sie kommen würden«, sagte sie, und das Netz öffnete sich.

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