Teil 2

Mitten im rauhen Winter

Stöhnte der frostige Wind,

Die Erde stand hart wie Eisen,

Wasser wie ein Stein;

Schnee war gefallen, Schnee auf Schnee,

Schnee auf Schnee,

Mitten im rauhen Winter,

Vor langer Zeit.

CHRISTINA ROSSETTI

10

Das Feuer war ausgegangen. Der Rauch war noch in der Luft, aber Kivrin wußte, daß er von einem Feuer kam, das irgendwo in einer Herdstelle brannte. Kein Wunder, dachte sie. Schornsteine erschienen in England erst gegen Ende des 14. Jahrhunderts, und dies ist erst das Jahr 1320. In dieser Zeit kennt man nur das Rauchhaus. Und sobald sich dieser Gedanke geformt hatte, wurde ihr alles andere bewußt. Ich bin im Mittelalter, und ich war krank. Ich hatte Fieber.

Eine Weile dachte sie nicht weiter als bis dahin. Es war angenehm und friedlich, einfach dazuliegen und zu ruhen. Sie fühlte sich erschöpft, als hätte sie Schweres durchgemacht, das ihre ganze Kraft in Anspruch genommen hatte. Ich dachte, sie wollten mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen, überlegte sie. Sie hatte sich zur Wehr gesetzt, und um sie her hatten die Flammen gelodert, nach ihren Händen geleckt, ihr Haar verbrannt.

Sie mußten mir das Haar abschneiden, dachte sie und fragte sich, ob das eine Erinnerung war oder etwas, das sie geträumt hatte. Sie war zu müde, um die Hand zu ihrem Haar zu heben, zu müde sogar für den Versuch der Erinnerung. Ich muß sehr krank gewesen sein, dachte sie. Sie gaben mir die letzte Ölung. »Es ist nichts zu fürchten«, hatte er gesagt. »Du gehst nur wieder heim.« Requiescat in pace. Darüber schlief sie ein. Als sie wieder erwachte, war es dunkel im Raum, und weit entfernt läutete eine Glocke. Kivrin bildete sich ein, daß sie schon lange geläutet habe, so wie die einsame Glocke geläutet hatte, als sie durchgekommen war, aber nach einer Minute stimmte eine zweite das Geläut mit ein, und dann eine, die so nahe war, daß sie gerade vor dem Fenster zu läuten schien und die anderen übertönte. Matutin, dachte Kivrin, und sie schien sich zu erinnern, solches Läuten schon einmal gehört zu haben, ein ungleichmäßiges, unreines Läuten, das mit dem Schlag ihres Herzens übereinstimmte, aber das war unmöglich.

Sie mußte es geträumt haben. Sie hatte geträumt, daß man sie auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Sie hatte geträumt, daß man ihr das Haar abgeschnitten hatte. Sie hatte geträumt, daß die Zeitgenossen sich einer Sprache bedienten, die sie nicht verstand.

Die nahe Glocke hörte auf zu tönen, aber die anderen läuteten noch eine Weile weiter, als freuten sie sich über die Gelegenheit, sich Gehör zu verschaffen, und auch daran erinnerte sich Kivrin. Wie lange war sie schon hier? Es war Nacht gewesen, und nun war es Morgen. Es kam ihr wie eine Nacht vor, doch nun fielen ihr die Gesichter ein, die sich über sie gebeugt hatten. Als die Frau ihr die Schale gebracht hatte, und als der Priester gekommen war, und mit ihm der Halsabschneider, hatte sie sie deutlich sehen können, ohne das Flackern des trügerischen Kienspans. Und dazwischen erinnerte sie Dunkelheit und den rauchigen Schein von Talglichtern, und die Glocken, immer wieder das Läuten und Verstummen der Glocken.

Auf einmal durchfuhr es sie heiß und kalt. Wie lange lag sie schon hier? Wie, wenn sie seit Wochen krank gewesen war und die Rückholung bereits versäumt hatte? Aber das war unmöglich. Man lag nicht wochenlang im Delirium, nicht einmal mit Typhus, und sie konnte nicht Typhus haben. Sie war dagegen geimpft.

Es war kalt in dem Raum, wo sie lag, weil das Feuer in der Nacht ausgegangen war. Sie tastete nach den Decken, und sofort kamen Hände aus der Dunkelheit und zogen ihr etwas Weiches über die Schultern.

»Danke«, sagte Kivrin und schlief wieder ein.


Auch das nächste Mal weckte sie die Kälte, und sie hatte das Gefühl, nur ein paar Augenblicke geschlafen zu haben, obwohl jetzt ein wenig Licht in den Raum fiel. Es kam aus einem schmalen, in die Steinwand eingelassenen Fenster. Jemand hatte den Fensterladen geöffnet, und von dort kam auch die Kälte.

Eine Frau stand auf Zehenspitzen auf der Steinbank unter dem Fenster und befestigte ein Stück Stoff über der Öffnung. Sie trug ein schwarzes Gewand und eine weiße Haube mit Kopftuch, und für einen Augenblick dachte Kivrin, sie sei in einem Kloster, bis ihr einfiel, daß verheiratete Frauen im Mittelalter ihr Haar bedeckten. Nur unverheiratete Mädchen trugen ihr Haar offen und unbedeckt.

Die Frau sah allerdings nicht alt genug aus, um verheiratet oder eine Nonne zu sein. Während ihrer Krankheit war eine Frau bei ihr gewesen, eine viel ältere Frau. Als Kivrin im Fieberwahn nach ihren Händen gegriffen hatte, hatten sie sich rauh und hart und runzlig angefühlt, und auch die Stimme der Frau war rauh gewesen, aber vielleicht war auch die Erinnerung Teil des Deliriums.

Die Frau lehnte sich in das Licht vom Fenster. Die weiße Haube war vergilbt, und es war kein Gewand, sondern ein Kittel wie Kivrins, mit einem dunkelgrünen Überrock. Er war schlecht gefärbt und sah aus, als wäre er aus Sackleinwand gemacht. Das Gewebe war so grob, daß Kivrin es selbst im trüben Licht gut erkennen konnte. Dann mußte sie eine Dienerin sein, aber Dienerinnen trugen keine Leinenkappen und auch kein Schlüsselbund wie das, welches am Gürtel der Frau hing. Sie mußte eine Person von einiger Bedeutung sein, vielleicht die Haushälterin.

Und dieses Haus war nicht die Hütte eines armen Mannes. Wahrscheinlich keine Burg, weil die Wand, an der ihr Strohsack lag, nicht aus Stein, sondern aus roh behauenem Holz war, aber sehr wahrscheinlich ein Herrensitz, wie er einem Landadeligen zukam, einem Ritter oder einem Baron. Sie lag in einem richtigen Bett mit erhöhtem hölzernen Rahmen und steifen Leintüchern, nicht bloß ein Strohsack am Boden, und die Decken waren Pelze. Auf der Steinbank unter dem Fenster lagen bestickte Polster.

Die Frau band den Stoff an steinerne Nasen zu beiden Seiten des schmalen Fensters, stieg von der Bank und beugte sich herüber, um etwas zu nehmen. Kivrin konnte nicht sehen, was es war, denn der Bettvorhang, der zugezogen ihr Lager wie ein Alkoven abschloß, behinderte ihre Sicht. Er war aus schwerem Stoff, beinahe wie ein Teppich, und war mit einer Art Tau zusammengebunden.

Die Frau richtete sich wieder auf, jetzt mit einer hölzernen Schale in der Hand, dann raffte sie ihre Röcke mit der freien Hand, stieg wieder auf die Steinbank und begann den Stoff mit etwas zu bestreichen. Öl, dachte Kivrin. Nein, Wachs. Gewachstes Leinen anstelle von Fensterglas. Nach den Erkenntnissen der Forschung war die Verwendung von Glas in Herrenhäusern des 14. Jahrhunderts üblich. Die Adeligen beförderten Glasfenster sogar mit dem Gepäck und den Möbeln, wenn sie von einem ihrer Wohnsitze zum anderen reisten.

Ich muß das aufzeichnen, dachte Kivrin, daß manche Herrensitze offenbar keine Glasfenster hatten, und sie hob die Hände und legte sie zusammen, aber die Anstrengung war zu groß, und sie ließ sie auf die Decke zurückfallen.

Die Frau sah über die Schulter zum Bett, dann wandte sie sich wieder dem Fenster zu und bestrich den Stoff mit langen, geübten Bewegungen. Ich muß auf dem Wege der Besserung sein, dachte Kivrin. Sie war die ganze Zeit, während ich krank war, bei meinem Bett. Der Gedanke führte wieder zu der Überlegung, wie lange sie krank gewesen war. Das mußte sie in Erfahrung bringen, und dann mußte sie den Absetzort finden.

Es konnte nicht sehr weit sein. Wenn dies das Dorf war, das sie gesucht hatte, dann konnte der Absetzort nicht viel mehr als eine Meile entfernt sein. Sie suchte sich zu besinnen, wie lang die Wanderung zum Dorf gedauert hatte. Es war ihr lang vorgekommen. Der Halsabschneider hatte sie auf einen Schimmel gesetzt, der kleine Glöckchen am Zaumzeug gehabt hatte. Aber er war kein Halsabschneider. Er war ein freundlich blickender junger Mann mit rotem Haar gewesen.

Sie würde sich nach dem Namen des Dorfes erkundigen müssen, wo sie war, und hoffen, daß es Skendgate sein würde. Doch selbst wenn es ein anderes Dorf war, würde ihr der Name verraten, wo sie in bezug auf den Absetzort war. Und natürlich konnten die Dorfbewohner ihr zeigen, wo es war, sobald ihr Zustand sich weiter gebessert hätte.

Wie ist der Name dieses Dorfes, in das ihr mich gebracht habt? Gestern abend war sie nicht fähig gewesen, die Frage zu formulieren, aber das hatte am Fieber gelegen, natürlich. Jetzt hatte sie keine Schwierigkeiten damit. Mr. Latimer hatte Monate damit verbracht, ihr die richtige Aussprache beizubringen. Sicherlich würden die Leute verstehen, wenn sie fragte: »In welich lande ben ic?« Oder auch: »Wasse ist dis eigen?« Selbst wenn der örtliche Dialekt Abweichungen zeigte, würde der Implantdolmetscher es automatisch korrigieren.

»Im welich dorfstat mih han gebranc?« fragte Kivrin.

Die Frau wandte sich erschrocken um. Sie stieg von der Steinbank, die Schüssel in einer Hand und die Auftragbürste in der anderen, aber es war ein eckig aussehender Holzlöffel oder Spachtel.

»Gottebae plaise tthar tleve«, sagte die Frau, Löffel und Schüssel zusammen vor sich haltend. »Bet naght agast.«

Der Implantdolmetscher sollte sofort übersetzen, was gesagt wurde. Vielleicht lag Kivrins Aussprache so weit daneben, daß die Frau dachte, sie spreche eine ausländische Sprache, und versuchte, ihr in unbeholfenem Französisch oder Niederdeutsch zu antworten.

»Wa hin ir mih han gebranc?« sagte sie langsam, um dem Implantdolmetscher Zeit zu geben.

»Wick londebay yae komen laudayke autreen godela deynorm andoar sic straunguwlondes. Spekefaw ic waenoot awfthy taloorbrede.«

»Lauyes sheress loostee?« sagte eine Stimme.

Die Frau wandte den Kopf zu einer Tür, die Kivrin nicht sehen konnte, und eine andere Frau trat ein, viel älter, mit einem runzligen Gesicht unter dem Kopftuch, und ihre Hände waren dieselben, an die sich Kivrin aus ihren Fieberträumen erinnerte, rauh und hart und faltig. Sie trug eine silberne Kette und hatte einen kleinen ledernen Kasten bei sich, ähnlich dem, den Kivrin mitgebracht hatte, nur war dieser kleiner und mit Eisen statt Messing beschlagen. Sie stellte den Kasten auf die Steinbank am Fenster.

»Auf specheryt darmayt?«

Sie erinnerte sich auch an die Stimme, rauh und beinahe zornig klingend. Sie sprach zu der Frau neben Kivrins Bett, als ob sie eine Dienerin wäre. Nun, vielleicht war sie es, und die Alte war die Dame des Hauses, obwohl ihr Kopftuch nicht weißer, Ihre Kleidung nicht feiner als die der anderen war. Aber sie hatte keine Schlüssel am Gürtel, und jetzt erinnerte sich Kivrin, daß nicht die Haushälterin die Schlüssel bei sich trug, sondern die Hausherrin.

Die Hausherrin in vergilbtem Leinen und schlecht gefärbter Sackleinwand, was bedeutete, daß Kivrins Kleidung ganz falsch war, genauso falsch wie Latimers Aussprache, genauso falsch wie Dr. Ahrens’ Zusicherungen, daß sie nicht krank würde.

»Ich hatte meine Schutzimpfungen«, murmelte sie, und beide Frauen schauten sie an.

»Ellavih swot wardesdoor feenden iss?« fragte die ältere Frau in scharfem Ton. War sie die Mutter der jüngeren Frau oder ihre Schwiegermutter? Kivrin hatte keine Ahnung. Keines der Worte, die sie gesagt hatte, schien ihr verständlich, nicht einmal ein Name oder eine Form der Anrede war herauszuhören.

»Maetinkerr woun dahest wexe hoordoumbe«, sagte die jüngere Frau, und die ältere antwortete: »Noc nayte baucows derouthe.«

Nichts. Kürzere Sätze sollten leichter zu übersetzen sein, aber Kivrin konnte nicht einmal unterscheiden, ob sie ein Wort oder mehrere sagte.

Die jüngere Frau hob den Kopf, und das Kinn in dem engen Kopftuch schob sich zornig vor. »Certessan, shreevadwom wolde nadae seyvous«, sagte sie mit deutlicher Schärfe.

Kivrin überlegte, ob sie stritten, und ob es mit ihr zu tun habe. Sie stieß mit den schwachen Händen gegen die Felle, als wollte sie sich von den Frauen wegstoßen, und die Jüngere der beiden stellte Schüssel und Löffel weg und kam sofort ans Bett.

»Spaegun yovor tongawn glais?« sagte sie, und soweit es Kivrin betraf, konnte es »Guten Morgen« oder »Fühlst du dich besser?« oder »Wir verbrennen dich bei Sonnenaufgang« heißen. Vielleicht behinderte ihre Krankheit die Funktionstüchtigkeit des Implantdolmetschers. Vielleicht würde sie, wenn ihr Fieber nachließe, alles verstehen, was sie sagten.

Die alte Frau kniete neben dem Bett nieder, ein kleines Silberkästchen am Ende der Kette zwischen den gefalteten Händen, und begann zu beten. Die junge Frau beugte sich näher, um Kivrins Stirn zu betrachten, dann griff sie ihr hinter den Kopf und tat etwas, was an Kivrins Haaren zog, und sie begriff, daß die Leute ihre Verletzung an der Schläfe verbunden haben mußten. Sie berührte den Stoff mit der Hand, dann fühlte sie am Hals nach ihren Locken, aber da war nichts mehr. Ihr Haar endete unter den Ohren in einem zerfransten Saum.

»Vae motten tiyez thynt«, sagte die junge Frau in besorgtem Ton. »Far thotywort wount sorr.« Kivrin hatte den Eindruck, daß sie ihr etwas erkläre, und obwohl sie nichts verstand, glaubte sie doch den Sinn zu erahnen: sie war sehr krank gewesen, so krank, daß sie gedacht hatten, ihr Haar stehe in Flammen. Sie erinnerte sich, daß jemand — die alte Frau? — versucht hatte, ihre Hände festzuhalten, als sie wild nach den Flammen geschlagen hatte. Es war ihnen nichts übrig geblieben als ihr das Haar abzuschneiden.

Kivrin war immer stolz auf die Fülle und Schönheit ihres langen blonden Haares gewesen, obwohl seine Wäsche und Pflege viel Zeit erfordert hatte, und oft hatte sie sich gesorgt, wie die Frauen des Mittelalters ihr Haar trugen, ob sie es zu Zöpfen flochten oder nicht, und hatte überlegt, wie in aller Welt sie zwei Wochen ohne Haarwäsche auskommen würde. Sie sollte froh sein, daß sie es ihr abgeschnitten hatten, doch konnte sie nur an Johanna von Orleans denken, die kurzes Haar gehabt hatte und auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.

Die junge Frau hatte ihre Hände vom Verband genommen und beobachtete Kivrin mit ängstlichem Ausdruck. Kivrin lächelte ihr ein wenig zittrig zu, und sie lächelte zurück. Auf der rechten Seite ihres Oberkiefers fehlten zwei Zähne, und der Zahn neben der Lücke war braun, aber wenn sie lächelte, sah sie nicht älter als achtzehn oder neunzehn aus.

Sie wickelte den Verband ab und legte ihn auf die Decke. Er war aus dem gleichen vergilbten Leinen wie ihr Kopftuch, aber in fransige Streifen gerissen und mit bräunlichem Blut befleckt. Es war mehr Blut, als Kivrin erwartet hatte. Mr. Gilchrists Alibiverletzung mußte wieder angefangen haben zu bluten.

Die Frau berührte nervös Kivrins Schläfe, als wüßte sie nicht recht, was zu tun sein. »Vexeyaw hongrut?« sagte sie, schob eine Hand hinter Kivrins Hals und half ihr den Kopf zu heben.

Ihr Kopf fühlte sich schrecklich leicht an. Das mußte daran liegen, daß ihr Haar abgeschnitten war, dachte sie.

Die Alte gab der anderen eine hölzerne Schale, und die junge Frau setzte sie Kivrin an die Lippen. Kivrin nippte vorsichtig vom Inhalt, denn in ihrem noch verwirrten Sinn glaubte sie, es sei dieselbe Schale, in der das Wachs gewesen war. Das war es nicht, und es war auch nicht der Trunk, den sie ihr vorher eingeflößt hatten. Es war ein dünner, körniger Haferschleim, weniger bitter als der Trunk letzte Nacht, und mit einem fettigen Nachgeschmack.

»Tasholde nayive gros vitalle towate«, sagte die Alte. Ihre harte Stimme klang kritisch und ungeduldig.

Bestimmt ihre Schwiegermutter, dachte Kivrin.

»Shimote lese hoor vourc«, antwortete die junge Frau geduldig.

Der Haferschleim schmeckte gut. Kivrin hätte ihn gern ausgetrunken, doch schon nach wenigen Schlucken fühlte sie sich erschöpft.

Ihre Pflegerin gab die Schale wieder der Alten, die auch ans Bett gekommen war, und ließ Kivrins Kopf behutsam herunter. Sie nahm den blutigen Verband, besah noch einmal Kivrins Schläfe, als sei sie unschlüssig, ob sie den Verband wieder anlegen sollte, und dann gab sie auch ihn der anderen Frau, die ihn und die Schale auf eine Truhe oder einen Tisch legte, die am Fußende des Bettes sein mußte.

»Lo, liget hsteallouw«, sagte die junge Frau mit ihm zahnlückigen Lächeln, und wenn Kivrin die Worte auch nicht verstehen konnte, Tonfall und Gesichtsausdruck waren nicht mißzuverstehen. Sie sollte ausruhen und schlafen. Kivrin schloß die Augen.

»Durmidde shaolausbrekkeynou«, sagte die alte Frau, und beide gingen hinaus und schlossen die Tür aus schweren Holzplanken.

Kivrin wiederholte die Worte langsam, soweit sie sie behalten hatte, bemüht, einen vertrauten Anklang herauszuhören. Der Implantdolmetscher sollte ihre Fähigkeit verbessern, Phoneme auszusondern und syntaktische Muster zu erkennen, nicht nur mittelalterliches Vokabular zu speichern, aber sie hätte geradesogut Serbisch hören können.

Und vielleicht war es so. Gott allein wußte, wohin man sie gebracht hatte. Sie war nicht bei Sinnen gewesen. Vielleicht hatte der Halsabschneider sie an Bord eines Schiffes gebracht und den Kanal überquert. Ihr Verstand sagte ihr freilich, daß das nicht möglich war. Sie erinnerte sich an den größten Teil der nächtlichen Wanderung, auch wenn ihr eine zusammenhanglose, traumähnliche Qualität eigen war. Sie war vom Pferd gefallen, und ein rothaariger Mann hatte sie aufgehoben. Und sie waren an einer Kirche vorbeigekommen.

Wenn sie sich nur erinnern könnte, in welche Richtung sie gezogen waren. Zuerst war es durch den Wald gegangen, dann auf einen Fahrweg, zu einer Gabelung, und dort war sie vom Pferd gefallen. Wenn es ihr gelänge, die Weggabelung wiederzufinden, würde sie von dort vielleicht den Absetzort erreichen können. Die Weggabelung war nicht weit vom Dorf.

Wenn aber der Absetzort so nahe war, dann mußte sie sich in Skendgate befinden, und die Frauen mußten Mittelenglisch sprechen. Warum konnte sie dann nichts verstehen?

Vielleicht hatte sie sich beim Sturz vom Pferd am Kopf verletzt, und dabei war der Implantdolmetscher beschädigt worden. Doch wenn sie sich recht erinnerte, war sie nicht auf den Kopf gefallen; sie hatte sich nicht mehr halten können und war seitwärts heruntergerutscht und halb auf dem Hinterteil, halb auf der Seite gelandet. Es war das Fieber. Irgendwie hinderte es den Implantdolmetscher daran, die Worte zu erkennen.

Andererseits hatte er das Latein erkannt, dachte sie, und in ihrer Brust zog sich etwas ängstlich zusammen. Das Latein hatte er richtig erkannt und interpretiert, und sie hatte es verstanden und beantwortet. Wie war es möglich, daß sie krank gewesen, nein, noch immer krank war? Sie hatte alle Impfungen bekommen. Sie mußte daran denken, wie die antivirale Schutzimpfung gejuckt und eine Anschwellung unter dem Arm gebildet hatte. Aber Dr. Ahrens hatte sie kurz vor dem Beginn der Absetzoperation überprüft und in Ordnung gefunden. Von allen anderen Schutzimpfungen hatte nur die gegen die Pest gejuckt, aber die Pest konnte sie nicht haben; sie zeigte keines der Symptome.

Pestkranke hatten große Beulen unter den Armen und an den Innenseiten der Schenkel. Sie erbrachen Blut, und die Adern unter der Haut platzten und verursachten schwärzliche Blutergüsse. Es war nicht die Pest, aber was war es dann, und wie hatte sie sich die Krankheit zugezogen? Man hatte sie gegen jede im Mittelalter verbreitete Krankheit geimpft, und außerdem war sie nach ihrer Ankunft keiner Ansteckungsquelle ausgesetzt gewesen. Die Symptome hatten sich kurz nach der Ankunft gezeigt, noch ehe sie einem Menschen begegnet war. Krankheitserreger aber schwebten nicht im Umkreis eines Absetzortes im Wald und warteten, daß jemand durchkäme. Sie mußten durch Kontakt oder Tröpfcheninfektion oder Flöhe übertragen werden. Die Pest war von Flöhen übertragen worden.

Es kann nicht die Pest sein, sagte sie sich mit Entschiedenheit. Menschen, die von der Pest befallen sind, überlegen nicht lange, ob sie sie haben; sie sind zu sehr mit Sterben beschäftigt.

Es war nicht die Pest. Die Flöhe, die sie verbreitet hatten, lebten auf Ratten und Menschen, nicht draußen im Wald, und der Schwarze Tod hatte England erst 1348 erreicht. Es mußte eine mittelalterliche Krankheit sein, von der Dr. Ahrens nichts gewußt hatte. Damals hatte es alle möglichen seltsamen Krankheiten gegeben — die Skrofulose und den Veitstanz und namenlose Fiebererkrankungen. Eine von denen mußte es sein, und ihr gekräftigtes Immunsystem hatte eine Weile gebraucht, bis es darauf gekommen war und den Kampf aufgenommen hatte. Aber nun hatte es gesiegt, ihr Fieber war zurückgegangen, und der Implantdolmetscher würde anfangen zu funktionieren. Sie brauchte nur auszuruhen und abzuwarten und zu Kräften zu kommen. Getröstet schloß sie die Augen und schlief.


Jemand berührte sie. Sie öffnete die Augen und sah die Schwiegermutter. Sie untersuchte Kivrins Hände, drehte sie von innen nach außen und wieder nach innen, fuhr mit ihrem schrundigen Zeigefinger über die Handrücken, betrachtete die Nägel. Als sie sah, daß Kivrins Augen offen waren, ließ sie die Hände wie angewidert los und sagte: »Sheavost ahvhegh parage attelest, baht hoore der wikkonassae haswfolletwe?«

Nichts. Kivrins hatte gehofft, daß der Dolmetscher während ihres Schlafes alles bis dahin Gehörte sortiert und entziffert haben würde. Aber was die alte Frau sagte, war noch immer unverständlich. Manches hörte sich ein wenig wie Französisch an, vor allem in den Betonungen, aber Kivrin hatte sich mit normannischem Französisch beschäftigt — Mr. Dunworthy hatte sie dazu gedrängt -, und sie konnte in dieser Sprache nichts davon wiederfinden.

»Hasto naydepesse?« sagte die Frau.

Es klang jedenfalls wie eine Frage.

Als Kivrin nicht zu antworten wußte, ergriff die alte Frau mit harter Hand ihren Arm und legte den anderen Arm um ihre Schultern, wie um ihr aufzuhelfen. Ich bin zu schwach, um aufzustehen, dachte Kivrin. Warum will sie, daß ich aufstehe? Um verhört zu werden? Verbrannt zu werden?

Die junge Frau kam mit einer Fußschüssel herein, die sie auf der Steinbank abstellte. Dann kam sie, um der Älteren zu helfen. »Hastonti natour yowrese?« fragte sie mit ihrem zahnlückigen Lächeln, und Kivrin kam der Gedanke, daß die beiden sie vielleicht zur Toilette führen wollten. Sie unternahm eine Anstrengung, aufzusitzen und die Beine vom Strohsack über die Bettkante zu schieben.

Augenblicklich überkam sie das Schwindelgefühl. Sie saß, ließ die bloßen Beine über die Seitenplanke der Bettstelle hängen und wartete, daß es verginge. Sie trug ihr leinenes Hemd und sonst nichts. Wo mochten ihre Kleider sein? Wenigstens hatte man ihr das Hemd gelassen. Soviel sie wußte, hatte man im Mittelalter keine Nachthemden gekannt.

Im Mittelalter hatte man auch keine Toiletten, dachte sie und hoffte, sie würde nicht hinaus zu einer Latrine im Freien gehen müssen. In Burgen gab es manchmal geschlossene Abtritte über einem Schacht oder Erker, die über eine Außenwand hinausragten, aber dies war keine Burg.

Die junge Frau legte Kivrin eine dünne, gefaltete Decke wie einen Schal um die Schultern, und gemeinsam halfen die beiden ihr vom Bett auf. Die Dielenbretter des Bodens waren eiskalt. Sie tat ein paar wankende Schritte, dann wurde ihr wieder schwindlig. Ich werde es nie bis hinaus schaffen, dachte sie.

»Wotan shay wootes nawdaor youse der jordane?« sagte die alte Frau, und Kivrin hörte eine Ähnlichkeit mit dem französischen jardin heraus, was Garten bedeutete. Sollte sie sich vielleicht im Garten entleeren?

»Tanwai maunhollp anhor«, sagte die junge Frau. Sie hatte Kivrin umfaßt und zog nun Kivrins Arm über die Schultern. Die andere packte Kivrins anderen Arm mit beiden Händen. Sie reichte Kivrin kaum über die Schulter, und die junge Frau konnte kaum mehr als neunzig Pfund wiegen, aber gemeinsam hielten sie Kivrin aufrecht und gingen mit ihr bis zum Ende des Bettes.

Ihr wurde mit jedem Schritt schwindliger, aber am Ende des Bettes blieben sie mit ihr stehen. Dort stand eine Truhe, ein niedriger hölzerner Kasten, in dessen Deckel ein Vogel oder vielleicht ein Engel geschnitzt war. Darauf stand eine mit Wasser gefüllte Holzschüssel, daneben waren Kivrins blutiger Verband und eine kleinere, leere Schale. Kivrin war ganz auf das Problem konzentriert, sich auf den Beinen zu halten, und erkannte nicht, was es war, bis die alte Frau sagte: »Swoune nawmaydar oupondre yorresette«, und andeutungsweise ihre schweren Röcke hob und die Bewegung des Niedersetzens machte.

Ein Nachttopf, dachte Kivrin dankbar. Mr. Dunworthy, in den Häusern von Landedelleuten um 1320 gab es Nachttöpfe! Sie nickte, um zu zeigen, daß sie verstanden habe, und ließ sich mit Hilfe der beiden auf die Schüssel nieder. Das Schwindelgefühl war so stark, daß sie sich an dem schweren Bettvorhang festhalten mußte, um nicht zu fallen, und als sie nach einer Weile wieder aufstehen wollte, durchbohrte ein so scharfer Schmerz ihre Brust, daß sie sich krümmte.

»Maisry!« rief die alte Frau zur Tür. »Maisry, kom undtvae holpoon!« und die Betonung machte deutlich, daß sie jemand zu Hilfe rief, aber niemand erschien, also irrte sie sich vielleicht auch darin.

Als der Schmerz nachgelassen hatte, richtete sie sich vorsichtig auf, versuchte dann noch einmal, aufzustehen, und der Schmerz blieb erträglich, aber die beiden Frauen mußten sie gleichwohl mehr zum Bett zurücktragen als daß sie aus eigener Kraft gehen konnte, und bis sie wieder im Bett unter der Decke lag, war sie völlig erschöpft und schloß die Augen.

»Slaeponpon donu paw daton«, sagte die junge Frau, und es mußte soviel wie »Ruhe dich aus« oder »Schlaf gut« heißen, aber verstehen konnte sie noch immer nichts. Der Dolmetscher ist hin, dachte sie, und das zusammenkrampfende Gefühl von Panik meldete sich von neuem, schlimmer als der Schmerz in ihrer Brust.

Der Dolmetscher konnte nicht zerbrochen sein, sagte sie sich. Es war keine Maschine, sondern ein chemischer Verstärker für das syntaktische Gedächtnis. Er war unempfindlich gegen äußere Einflüsse. Aber er konnte nur mit Wörtern in seinem Gedächtnis arbeiten, und Mr. Latimers Mittelenglisch war offensichtlich nutzlos. Mr. Latimers Aussprache lag offenbar so weit daneben, daß der Dolmetscher nicht als die gleichen Worte erkennen konnte, was er hörte, aber das bedeutete nicht, daß er funktionsunfähig war. Er mußte nur neue Daten sammeln, und die wenigen Sätze, die er bislang gehört hatte, waren nicht genug.

Das Latein hatte er erkannt, dachte sie, und abermals kam die Panik in ihr auf, aber sie widerstand ihr. Er hatte das Latein erkannt, weil das Sakrament der letzten Ölung feststehende Gebetsformeln verwendete. Sie selbst hatte gewußt, welche Worte dazu gehörten. Was die Frauen sagten, waren keine vorgeprägten Formeln, aber es mußte gleichwohl zu entziffern sein. Eigennamen, Anredeformen, Substantive und Verben und bestimmte Redewendungen mußten in bestimmten, öfter wiederholten Positionen erscheinen. Vermutlich ließen sie sich bald identifizieren, und dann konnte der Dolmetscher sie als Schlüssel zum Rest des Codes verwenden. Jetzt kam es nur darauf an, Daten zu sammeln, auf alles zu achten, was gesagt wurde, ohne sich besonders um das Verstehen zu bemühen, und den implantierten Dolmetscher arbeiten zu lassen.

»Tin keowre hoorwoun desmoortale?« fragte die junge Frau.

»Gote tallon wottes«, sagte die Alte.

Weit entfernt begann eine Glocke zu tönen. Kivrin öffnete die Augen. Beide Frauen blickten zum Fenster, obwohl sie nicht durch das gewachste Leinen sehen konnten.

»Bere wichebay gansanon«, sagte die junge Frau.

Die andere antwortete nicht. Sie starrte zum Fenster, als könnte sie durch die steife Bespannung sehen, und hielt die Hände wie im Gebet mit ineinandergesteckten Fingern vor sich.

»Aydreddit ister fayve riblaun«, sagte die junge Frau, und trotz ihres Vorsatzes versuchte Kivrin »Es ist Zeit für die Vesper« oder »Das ist die Vesperglocke« herauszuhören, aber es war nicht die Zeit. Die Glocke läutete weiter, und keine anderen Glocken stimmten ein. War es dieselbe Glocke, die sie schon einmal gehört hatte, einsam und wie verloren im späten Nachmittag?

Die alte Frau wandte sich abrupt vom Fenster. »Nayna, Elwiss, etbahn diwolffin.« Sie nahm den Nachttopf von der Truhe. »Gawynha thesspyd…«

Durch die Plankentür drangen unbestimmte Geräusche, dann rennende Tritte auf einer Holztreppe, und eine Kinderstimme schrie: »Modder! Eysmertemay!«

Ein kleines Mädchen platzte mit fliegenden blonden Zöpfen und Kappenbändern herein und prallte beinahe auf die alte Frau mit dem Nachttopf. Das runde Kindergesicht war rot und tränenverschmiert.

»Wol yadothoos sceme ahnyous!« knurrte die alte Frau und hob die Schüssel außer Reichweite. »Dowe maun naroonso inhus.«

Das kleine Mädchen beachtete sie nicht. Es rannte schluchzend auf die junge Frau zu. »Rawzamun hatt may smerte Modder!«

Modder. Das mußte »Mutter« sein.

Das kleine Mädchen hielt die Arme hoch, und seine Mutter, o ja, ganz bestimmt die Mutter, hob es auf. Das Kind umschlang den Hals der Mutter und begann zu heulen.

»Schhh, ahnyes schhh«, sagte Mutter. Dieser Gutturallaut ist ein G, dachte Kivrin. Ein abgehacktes, aber verschliffenes deutsches G. Agnes.

Das Kind auf den Armen, setzte die Mutter sich auf die Bank hinter dem Fenster. Sie wischte ihm mit dem Schleifenende ihres Kopftuches die Tränen ab. »Spekenaw dothass bifel, Agnes.«

Ja, die Kleine hieß eindeutig Agnes. Und speken war »sprechen«. Sag mir, was dir geschehen ist.

»Shayoss maysmerte!« sagte Agnes und zeigte zu einem anderen Kind, das gerade hereingekommen war. Das zweite Mädchen war beträchtlich älter, mindestens neun oder zehn. Es hatte langes braunes Haar, das ihm über den Rücken fiel und von einem dunkelblauen Tuch zusammengehalten wurde.

»Itgan naso, ahnyes«, sagte das Mädchen. »Tapighte rennin gan derstayges«, und die Mischung von Zuneigung und Geringschätzung in ihrem Ton war unverkennbar. Sie sah nicht wie das blonde kleine Mädchen aus, aber Kivrin hätte wetten mögen, daß sie die ältere Schwester der Kleinen war. »Shay pighte renninge ahndist eyres, Modder.«

Wieder »Mutter«, und shay war »sie«, und pighte mußte »fallen« sein. Der Tonfall hatte irgendwie französische Anklänge, aber der Schlüssel dieser Sprache war Deutsch, wahrscheinlich Niederdeutsch. Kivrin spürte, wie gut es paßte.

»Na traeste horr thusselwys«, sagte die ältere Frau. »Shay hathnau wunda. Hoor teres west vorniht mais gayn din pitye.«

»Hoor ney ganfel blodic«, sagte die Frau, aber Kivrin hörte sie nicht. Sie hörte statt ihrer Übersetzung des Dolmetschers, noch unbeholfen und offensichtlich mehr als einen Takt im Rückstand, aber endlich eine Übersetzung!

»Verhätschele sie nicht, Eliwys. Sie ist nicht verletzt. Sie weint nur, um deine Aufmerksamkeit zu heischen.«

Und die Mutter, deren Name Eliwys war: »Ihr Knie blutet.«

»Rossmunt, brangand oorwarsted vannekofre«, sagte sie und zeigte zum Fußende des Bettes und der Dolmetscher war ihr schon dicht auf den Fersen. »Rosemund, bring mir das Tuch von der Truhe.« Die Zehnjährige lief sofort zur Truhe am Fußende des Bettes.

Das ältere Mädchen war Rosemund, das kleine war Agnes, und die unmöglich junge Frau mit Haube und Kopftuch war Eliwys.

Rosemund brachte ihr einen ausgefransten Leinenstreifen, denselben, den Eliwys zuvor von Kivrins Stirn gewickelt hatte.

»Nicht anfassen! Nicht anfassen!« schrie Agnes, und dafür hätte Kivrin nicht einmal den Dolmetscher gebraucht. Er kam noch immer nicht ganz mit.

»Ich nehme den Stoff nur, um die Blutung zu stillen«, sagte Eliwys und nahm Rosemund den Lappen aus der Hand. Agnes versuchte ihn wegzustoßen. »Der Stoff wird dir nicht…« - es folgte eine Pause, als könnte der Dolmetscher sich nicht für ein Wort entscheiden, dann: »…Agnes.« Das fehlende Wort war offensichtlich »schaden« oder »weh tun« und Kivrin wunderte sich, daß der Dolmetscher das Wort nicht hatte und warum er nicht aus dem Zusammenhang eine Annäherung zustande gebracht hatte.

»Hit weerd wewe don!« rief Agnes, und der Dolmetscher hinkte hinterher: »Es wird…« und ließ wieder diese Leerstelle. Anscheinend geschah dies, damit sie das tatsächliche Wort hören und ihre eigene Vermutung über seine Bedeutung anstellen konnte. Es war keine schlechte Idee, aber der Dolmetscher war so weit im Rückstand, daß Kivrin das Wort nicht hören konnte, das sie hören sollte. Wenn er es jedesmal so machte, wenn er ein Wort nicht erkannte, würde es Schwierigkeiten geben.

»Es wird weh tun«, winselte Agnes und stieß die Hand der Mutter von ihrem Knie weg. »Es wird schmerzen«, flüsterte der Dolmetscher, und Kivrin war erleichtert, daß er jetzt doch mit etwas gekommen war.

»Wie konntest du so fallen?« fragte Eliwys, um Agnes abzulenken.

»Sie rannte die Treppe hinauf«, sagte Rosemund. »Sie rannte um dir zu sagen, daß… gekommen ist.«

Der Dolmetscher ließ wieder eine Leerstelle, aber diesmal griff Kivrin das Wort auf. Gawyn, was wahrscheinlich ein Eigenname war, und der Dolmetscher war offenbar zur gleichen Schlußfolgerung gelangt, denn als Agnes schrie: »Ich wollte Mutter sagen, daß Gawyn gekommen ist«, schloß er es in die Übersetzung mit ein.

»Ich wollte es sagen«, sagte Agnes weinerlich und vergrub das Gesicht am Hals der Mutter, die prompt die Gelegenheit nutzte, den Verband um Agnes’ Knie zu wickeln.

»Du kannst es mir jetzt sagen«, sagte sie.

Agnes schüttelte den Kopf, ohne ihn zu heben.

»Du bindest den Verband zu locker, Schwiegertochter«, sagte die alte Frau. »Er wird abfallen.«

Der Verband schien Kivrin fest genug zu sitzen, und jeder Versuch, ihn fester zu ziehen, würde offensichtlich zu erneutem Geschrei führen. Die alte Frau hielt noch immer den Nachttopf in beiden Händen. Kivrin fragte sich, warum sie nicht ging und ihn ausleerte.

»Schhh, schhh«, sagte Eliwys, schaukelte das kleine Mädchen sanft und tätschelte ihm den Rücken. »Ich würde es gern von dir hören.«

»Hochmut kommt vor dem Fall«, sagte die alte Frau, anscheinend entschlossen, Agnes wieder zum Weinen zu bringen. »Du bist selbst schuld, daß du gefallen bist. Du hättest nicht so rennen sollen.«

»Hat Gawyn einen Schimmel geritten?« fragte Eliwys.

Einen Schimmel. Konnte Gawyn der Mann sein, der ihr auf sein Pferd geholfen und sie zu diesem Haus gebracht hatte?

»Nein«, sagte Agnes in einem Ton, der erkennen ließ, daß ihre Mutter eine Art Scherz gemacht hatte. »Er ritt seinen schwarzen Hengst Gringolet. Und er kam zu mir geritten und sagte: ›Gnädiges Fräulein Agnes, ich würde gern mit Eurer Mutter sprechen.‹«

»Rosemund, deine Schwester verletzte sich wegen deiner Unaufmerksamkeit«, sagte die alte Frau. Es war ihr nicht gelungen, Agnes aus der Fassung zu bringen, also hatte sie beschlossen, sich ein anderes Opfer zu suchen. »Warum hast du nicht auf sie geachtet?«

»Ich war an meiner Stickerei«, sagte Rosemund mit einem hilfesuchenden Blick zur Mutter. »Maisry sollte auf sie achtgeben.«

Agnes hob den Kopf vom Hals der Mutter. »Maisry ist zu Gawyn hinausgegangen«, sagte sie.

»Und tändelt mit dem Stallburschen«, sagte die alte Frau. Sie ging zur Tür und rief: »Maisry!«

Maisry. Das war der Name, den die alte Frau schon einmal gerufen hatte, und jetzt ließ der Dolmetscher nicht einmal Leerstellen, wenn es um Eigennamen ging. Kivrin wußte nicht, wer Maisry war, wahrscheinlich eine Magd, aber wie die Dinge sich entwickelten, würde sie eine Menge Ärger bekommen.

Die alte Frau war entschlossen, ein Opfer zu suchen, und die abwesende Maisry schien hervorragend geeignet.

»Maisry!« rief sie wieder.

Rosemund nutzte die Gelegenheit, um zu ihrer Mutter zu gehen. »Gawyn bat uns, dir zu sagen, daß er gern kommen und mit dir sprechen würde.«

»Wartet er unten?« fragte Eliwys.

»Nein, er ging zuerst zur Kirche, um mit Pater Roche zu sprechen.«

»Warum wollte er Pater Roche sprechen?« Die alte Frau hatte kehrtgemacht und war wieder hereingekommen.

»Vielleicht hat er etwas von der Dame gefunden«, sagte Eliwys mit einem Blick auf Kivrin. Es war der erste Hinweis darauf, daß sie oder sonst jemand von Kivrins Anwesenheit Notiz nahm.

Kivrin schloß schnell die Augen, um sie glauben zu machen, daß sie schlafe, damit sie weiter über sie diskutierten.

»Gawyn ist heute morgen ausgeritten, um die Wegelagerer zu suchen«, sagte Eliwys. Kivrin blinzelte durch fast geschlossene Lider, aber die junge Frau blickte nicht mehr zu ihr hin. »Vielleicht hat er sie gefunden.« Sie bückte sich und band die von Agnes’ leinener Kappe herabhängende Bänder zu einer Schleife. »Agnes, geh mit Rosemund zur Kirche und sag Gawyn, daß wir in der Diele mit ihm sprechen wollen. Die Dame schläft. Wir dürfen sie nicht stören.«

Agnes eilte zur Tür und rief: »Ich werde es ihm sagen, Rosemund.«

»Rosemund, laß es deine Schwester sagen«, rief Eliwys ihnen nach. »Agnes, renn nicht so!«

Die Mädchen liefen zur Tür hinaus und die Treppe hinunter.

»Rosemund ist bald erwachsen«, sagte die alte Frau. »Es ziemt sich nicht für sie, den Knechten deines Mannes hinterherzulaufen. Wenn du deine Töchter unbeaufsichtigt läßt, wird Schlimmes daraus entstehen. Du würdest gut daran tun, nach Oxenford zu schicken und eine Kinderfrau kommen zu lassen.«

»Nein«, erwiderte Eliwys mit einer Festigkeit, die Kivrin nicht erwartet hatte. »Maisry kann auf sie achtgeben.«

»Maisry taugt nicht einmal zum Schafehüten. Wir hätten nicht in solcher Eile von Bath heimkommen sollen. Sicherlich hätten wir warten können bis…«

Der Dolmetscher ließ wieder eine Lücke, und Kivrin erkannte die Wendung nicht, aber sie hatte die wichtigsten Tatsachen verstanden. Sie waren aus Bath gekommen und lebten nicht weit von Oxford.

»Laß Gawyn eine Kinderfrau bringen. Und eine heilkundige Frau, die der Dame Blutegel ansetzen kann.«

»Wir werden niemand kommen lassen«, sagte Eliwys.

»Nach…« Wieder ein Ortsname, den der Dolmetscher nicht bewältigen konnte. »Freifrau Yvolde genießt einen guten Ruf als Heilkundige. Und sie würde uns gern eine ihrer Zofen als Kinderfrau leihen.«

»Nein«, sagte Eliwys, »wir werden sie selbst pflegen. Pater Roche…«

»Pater Roche«, sagte die Alte verächtlich, »weiß nichts von Medizin.«

Aber ich verstand alles, was er sagte, dachte Kivrin. Sie erinnerte sich seiner ruhigen Stimme, als er die Sterbegebete für sie gesprochen hatte, seine sanfte Berührung an ihren Schläfen, ihren Händen, den Fußsohlen. Er hatte ihr gesagt, es gebe nichts zu fürchten, und sie nach ihrem Namen gefragt. Und ihre Hand gehalten.

»Wenn die Dame von edler Geburt ist«, sagte die ältere Frau, »kannst du dir nicht nachsagen lassen, daß du sie von einem unwissenden Dorfpfarrer versorgen ließest. Freifrau Yvolde…«

»Wir werden niemand kommen lassen«, sagte Eliwys, und nun merkte Kivrin zum ersten Mal, daß sie sich fürchtete. »Mein Mann bat uns, hier zu bleiben und keinen Besuch zu empfangen, bis er käme.«

»Er hätte mit uns kommen können.«

»Du weißt, daß er es nicht konnte«, erwiderte Eliwys. »Er wird kommen, sobald er kann. Ich muß gehen und mit Gawyn sprechen«, fügte sie hinzu und ging an der alten Frau vorbei zur Tür. »Gawyn sagte mir, er werde die Stelle absuchen, wo er die Dame fand, um nach Fährten der Wegelagerer zu suchen. Vielleicht hat er etwas gefunden, was uns sagen wird, wer sie ist.«

Die Stelle, wo er die Dame fand. Gawyn war also der Mann, der sie gefunden hatte, der Rothaarige mit dem freundlichen Gesicht, der ihr auf sein Pferd geholfen und sie hierher gebracht hatte. Wenigstens das hatte sie nicht geträumt, obwohl sie den Schimmel geträumt haben mußte. Er hatte sie hergebracht und wußte, wo der Absetzort war.

»Warte!« sagte Kivrin. Sie stützte sich mit beiden Ellbogen und brachte den Oberkörper halb in die Höhe. »Wartet bitte. Ich möchte mit Gawyn sprechen.«

Die Frauen wandten sich überrascht um. Eliwys kam ans Bett und schaute besorgt.

»Ich würde gern mit dem Mann namens Gawyn sprechen«, sagte Kivrin langsam und deutlich, wartete mit jedem Wort, bis sie die Übersetzung hatte. Später würde der Prozeß automatisch ablaufen, aber einstweilen dachte sie das Wort und wartete dann, bis der Dolmetscher es übersetzte und laut wiederholte. »Ich muß diesen Ort wissen, wo er mich fand.«

Eliwys legte ihr die Hand auf die Stirn, aber Kivrin schob sie ungeduldig beiseite.

»Ich möchte Gawyn sprechen«, sagte sie.

»Sie hat kein Fieber, Imeyne«, sagte Eliwys zu der alten Frau, »und doch versucht sie zu sprechen, obwohl sie weiß, daß wir sie nicht verstehen können.«

»Sie spricht mit ausländischer Zunge«, sagte Imeyne in einem Ton, der es verbrecherisch erscheinen ließ. »Vielleicht ist sie eine französische Spionin.«

»Ich spreche nicht Französisch«, sagte Kivrin. »Ich spreche Mittelenglisch.«

»Vielleicht ist es Latein«, sagte Eliwys. »Pater Roche sagte, sie habe Lateinisch gesprochen, als er ihr die Beichte abnahm.«

»Pater Roche kann kaum sein Vaterunser sagen«, sagte Imeyne.

»Wir sollten… kommen lassen.« Wieder der unbekannte Name. Kersey? Courcy?

»Ich möchte mit Gawyn sprechen«, sagte Kivrin auf lateinisch.

»Nein«, sagte Eliwys. »Wir werden auf meinen Mann warten.«

Die alte Frau machte ärgerlich kehrt, daß etwas vom Inhalt des Nachttopfes über ihre Hand schwappte. Sie wischte es an ihren Röcken ab, ging zur Tür hinaus und warf sie hinter sich zu. Eliwys wollte ihr nach.

Kivrin ergriff ihre Hände. »Warum verstehst du mich nicht?« fragte sie. »Ich verstehe dich. Ich muß mit Gawyn sprechen. Er muß mir sagen, wo der Absetzort ist.«

Eliwys machte sich von Kivrins Hand los. »Nun, du brauchst nicht zu weinen«, sagte sie freundlich. »Versuch zu schlafen. Du mußt ausruhen, damit du heimgehen kannst.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000915–001284)

Ich bin in großen Schwierigkeiten, Mr. Dunworthy. Ich weiß nicht, wo ich bin, und ich kann die Sprache nicht sprechen. Etwas ist mit dem Dolmetscher nicht in Ordnung. Ich kann einiges davon, was die Einheimischen sagen, gut verstehen, aber sie verstehen mich überhaupt nicht. Und das ist nicht das Schlimmste.

Ich bin von einer Krankheit befallen und weiß nicht, was es ist. Es ist nicht die Pest, weil die Symptome andere sind und ich mich auf dem Weg der Besserung befinde. Außerdem wurde ich gegen Pest geimpft. Ich bekam alle Impfungen, die T-Zellen-Vermehrung und alles, aber etwas davon hat nicht gewirkt, oder dies ist eine mittelalterliche Krankheit, gegen die es in unserer Zeit keine Impfungen gibt.

Die Symptome sind Kopfschmerzen, Übelkeit, Fieber und Schwindelgefühl, und wenn ich mich bewege, Schmerzen in der Brust. Eine Zeit lang lag ich im Delirium, was erklärt, daß ich nicht weiß, wo ich bin. Ein Mann namens Gawyn brachte mich auf seinem Pferd hierher, aber ich erinnere mich nur an wenige Einzelheiten des Rittes, außer daß es dunkel war und Stunden zu dauern schien. Ich hoffe, daß dieser Eindruck falsch und durch das Fieber bedingt war, und daß ich doch in Mrs. Montoyas Dorf bin.

Es könnte Skendgate sein. Ich erinnere mich an eine Kirche, und dies scheint ein Herrenhaus zu sein. Ich bin in einer Schlafkammer im Obergeschoß, und es ist nicht nur ein Heuboden, weil es gemauerte Wände, ein Fenster und eine verschließbare Tür gibt. Daraus und aus der Beschäftigung von Dienstpersonal — mindestens drei Personen — schließe ich, daß es das Haus eines Landedelmannes ist. Sobald das Schwindelgefühl nachläßt, werde ich auf die Steinbank am Fenster steigen und feststellen, ob ich die Kirche sehen kann. Sie hat eine Glocke: gerade läutet sie zur Vesper. Die Kirche in Mrs. Montoyas Dorf hatte keinen Glockenturm, und das weckt in mir die Befürchtung, daß ich nicht im richtigen Dorf bin. Immerhin weiß ich, daß wir nicht weit von Oxford sind, denn eine der Frauen sprach davon, man solle einen Heilkundigen von dort holen. Auch liegt ein Dorf namens Kersey — oder Courcy — in der Nähe. Es ist keines der Dörfer auf Mrs. Montoyas Karte, die ich mir eingeprägt habe, aber es könnte auch der Name des Grundeigentümers sein.

Weil ich nicht bei Sinnen war, habe ich auch keine Gewißheit über meine zeitliche Einordnung. Ich habe versucht, mich zu erinnern, und glaube, daß ich nur zwei Tage ohne Bewußtsein gewesen bin, aber es könnten mehr sein. Und ich kann die Leute hier nicht nach dem Tag fragen, weil sie mich nicht verstehen, und ich kann nicht vom Bett aufstehen, ohne umzufallen, und sie haben mir das Haar abgeschnitten, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Was ist geschehen? Warum funktioniert der Dolmetscher nicht? Warum hat die Stärkung des Immunsystems nicht gewirkt?


(Unterbrechung)

Unter meinem Bett ist eine Ratte. Ich höre sie in der Dunkelheit trippeln und knabbern.

11

Sie konnten sie nicht verstehen. Kivrin hatte versucht, mit Eliwys ins Gespräch zu kommen und sich ihr verständlich zu machen, aber die junge Frau hatte nur freundlich und verständnislos gelächelt und Kivrin gesagt, sie solle ausruhen.

»Bitte geh nicht«, hatte Kivrin gebettelt, als Eliwys zur Tür gegangen war. »Es ist wichtig. Gawyn ist der einzige, der weiß, wo der Absetzort ist.«

»Schlaf«, sagte Eliwys. »Ich werde bald zurück sein.«

»Du mußt mich mit ihm sprechen lassen«, sagte Kivrin in Verzweiflung, aber Eliwys war schon an der Tür. »Ich weiß nicht, wo der Absetzort ist.«

Auf der Treppe wurden Schritte laut. Eliwys öffnete die Tür und sagte: »Agnes, ich sagte dir, du sollst gehen und…«

Sie brach ab und wich einen Schritt zurück. Sie sah nicht ängstlich oder auch nur aufgeregt aus, aber ihr Hand am Türsturz zuckte ein wenig, als hätte sie die Tür am liebsten zugeworfen, und Kivrin bekam Herzklopfen. Es ist so weit, dachte sie wild. Sie sind gekommen, mich zum Scheiterhaufen zu schleppen.

»Guten Morgen, Herrin«, sagte der Mann. »Deine Tochter Rosemund sagte mir, ich würde dich in der Diele finden, aber dort warst du nicht.«

Er kam herein. Kivrin konnte sein Gesicht nicht sehen. Er stand am Fußende des Bettes, durch den Bettvorhang von ihr getrennt. Sie schob den Kopf zur Seite, um ihn zu sehen, aber schon die unbedeutende Bewegung erzeugte Schwindelgefühl. Sie ließ den Kopf ins Kissen zurücksinken und hielt still.

»Ich dachte mir, daß ich dich bei der verwundeten Dame finden würde«, sagte der Mann. Er trug ein gefüttertes Wams und lederne Beinkleider. Und ein Schwert. Es klapperte metallisch in der Scheide, wenn er sich bewegte. »Wie geht es ihr?«

»Es geht ihr heute besser«, sage Eliwys. »Meine Schwiegermutter ist gegangen, ihr einen Absud von Ziest für ihre Verletzungen zu machen.«

Seine Bemerkung über »deine Tochter Rosemund« konnte nur bedeuten, daß dieser Mann Gawyn war, den sie geschickt hatte, um nach Spuren der Wegelagerer zu suchen, aber während er sprach, war Eliwys zwei weitere Schritte zurückgewichen, und ihr Gesichtsausdruck war vorsichtig und wachsam. Der Gedanke an Gefahr kam Kivrin wieder in den Sinn, und sie fragte sich, ob Mr. Dunworthys Halsabschneider am Ende doch kein Fiebertraum gewesen sei, und ob dieser Mann mit dem grausamen Gesicht Gawyn sein könne.

»Fandest du nichts, was uns Aufschluß über Namen und Herkunft der Dame geben könnte?« fragte Eliwys.

»Nein«, sagte er. »Ihre Habe ist gestohlen und die Pferde sind weggeführt worden. Ich hoffe, die Dame könnte mir etwas über ihre Angreifer sagen, wie viele es waren und aus welcher Richtung sie auf sie zukamen.«

»Ich fürchte, sie kann dir nichts sagen, Gawyn«, sagte Eliwys.

»Ist sie stumm?« Er tat zwei Schritte zur Seite, um sie sehen zu können.

Er war nicht so groß, wie Kivrin sich an ihn erinnerte, als er vor ihr gestanden hatte, und sein Haar war bei Tageslicht weniger rot und mehr blond, aber sein Gesicht sah noch immer so freundlich aus wie in der Nacht, als er sie auf sein Pferd gesetzt hatte.

Nachdem er sie auf der Lichtung gefunden hatte. Er war nicht der Halsabschneider — den hatte sie in ihrem Delirium geträumt, ebenso wie das weiße Pferd -, und sie mußte Eliwys Reaktionen mißverstehen, wie sie die Absicht der Frauen mißverstanden hatte, als sie ihr zum Nachttopf helfen wollten.

»Sie ist nicht stumm, spricht aber in einer fremden Zunge, die ich nicht kenne«, sagte Eliwys. »Ich fürchte, die Verletzungen haben ihren Verstand verwirrt.« Sie kam ans Bett, und Gawyn folgte ihr. »Liebes Fräulein«, sagte Gawyn. Er sprach langsam und überdeutlich, als dächte er, Kivrin sei taub.

»Er war es, der dich im Wald fand«, sagte Eliwys.

Wo im Wald? dachte Kivrin verzweifelt.

»Ich freue mich, daß deine Wunden heilen«, sagte Gawyn, jedes Wort betonend. »Kannst du mir etwas über die Männer sagen, die dich überfielen?«

Ich weiß nicht, ob ich dir irgend etwas sagen kann, dachte sie. Aus Sorge, er würde sie auch nicht verstehen, wagte sie nichts zu sagen. Es war aber wichtig, daß er sie verstand. Er wußte, wo der Absetzort war.

»Wie viele Männer waren es?« fragte Gawyn. »Waren sie beritten?«

Wo hast du mich gefunden? dachte sie und betonte die einzelnen Worte, wie Gawyn es getan hatte. Sie wartete, daß der Dolmetscher den ganzen Satz ausarbeite, achtete sorgfältig auf die Betonungen und verglich sie mit den Sprachlektionen, die Dr. Latimer und Mr. Dunworthy ihr erteilt hatten.

Gawyn und Eliwys sahen sie erwartungsvoll an. Sie holte tief Atem. »Wo hast du mich gefunden?«

Sie tauschten schnelle Blicke aus, er überrascht, sie mit dem Ausdruck der Selbstbestätigung: Siehst du?

»Genauso sprach sie an dem Abend«, sagte er. »Ich dachte, es sei ihre Verstörung nach dem Überfall, ihre Verletzung vielleicht, die sie so sprechen machte.«

»So dachte ich auch«, sagte Eliwys. »Die Mutter meines Mannes meint, sie sei aus Frankreich.«

Er schüttelte den Kopf. »Was sie spricht, ist nicht Französisch.« Er wandte sich wieder zu Kivrin. »Liebes Fräulein«, sagte er mit erhobener Stimme, »bist du aus einem anderen Land gekommen?«

Ja, dachte Kivrin, einem anderen Land, und der einzige Weg zurück ist der Absetzort, und du weißt, wo er ist.

»Wo hast du mich gefunden?« wiederholte sie.

»Ihre Habe wurde geraubt«, sagte Gawyn, »aber ihr Wagen war von feiner Bauart und sie hatte viele Kisten und Körbe.«

Eliwys nickte. »Ich fürchte, sie ist von vornehmer Geburt und ihre Leute suchen sie.«

»In welchem Teil des Waldes hast du mich gefunden?« fragte Kivrin, drängende Ungeduld in der Stimme.

»Wir beunruhigen sie«, sagte Eliwys. Sie beugte sich über Kivrin und tätschelte ihr die Hand. »Schhh. Alles ist gut. Ruh dich aus.« Sie wandte sich ab, und Gawyn mit ihr. Sie bewegten sich zur Tür.

»Soll ich nach Bath zu unserem Herrn Guillaume reiten?« fragte Gawyn, außer Sicht hinter dem Bettvorhang.

Eliwys trat zurück, wie sie es bei seinem Kommen getan hatte, als ob sie ihn fürchtete. Aber sie hatten nebeneinander am Bett gestanden, ihre Hände hatten sich fast berührt. Sie hatten wie alte Freunde miteinander gesprochen. Diese vorsichtige Wachsamkeit mußte eine andere Ursache haben.

»Möchtest du, daß ich deinen Mann hierher geleite?« fragte Gawyn.

»Nein«, sagte Eliwys und blickte auf ihre Hände. »Mein Herr hat genug Sorgen, und er kann vor dem Ende des Gerichtsverfahrens nicht abreisen. Und er bat dich, zu unserem Schutz bei uns zu bleiben.«

»Mit deiner Erlaubnis werde ich dann zu dem Ort zurückkehren, wo das Fräulein überfallen wurde, und weitersuchen.«

»Gut so«, sagte Eliwys und vermied es, ihn anzusehen.

»In ihrer Hast mögen die Räuber Dinge übersehen oder fallen gelassen haben, die uns Aufschluß über sie geben werden.«

Kivrin versuchte seine Worte aus der Übersetzung des Dolmetschers herauszuhören und sich einzuprägen. Der Ort, wo ich überfallen wurde.

»Ich verabschiede mich und reite wieder hinaus«, sagte Gawyn.

Eliwys blickte zu ihm auf. »Jetzt?« sagte sie. »Es wird dunkel.«

»Zeigt mir den Ort, wo ich überfallen wurde«, sagte Kivrin.

»Ich fürchte die Dunkelheit nicht, Eliwys«, sagte er und schritt hinaus.

»Nimm mich mit«, sagte Kivrin, aber es war zu spät. Sie waren bereits gegangen, und der Dolmetscher war defekt geworden. Sie hatte sich eingeredet, er sei funktionstüchtig. Nicht durch den Dolmetscher hatte sie verstanden, was diese Leute sagten, sondern dank den Sprachlektionen, die sie genommen hatte, und vielleicht bildete sie sich nur ein, daß sie alles verstand.

Vielleicht war es in ihrem Gespräch gar nicht um die Frage gegangen, wer sie war und woher sie kam, sondern um etwas völlig anderes, wie die Suche nach einem verlorenen Schaf oder die Vorbereitung ihres Hexenprozesses.

Eliwys hatte im Hinausgehen die Tür geschlossen, und durch die massiven Planken konnte Kivrin nichts hören. Draußen hatte das Glockenläuten aufgehört, und das spärliche Licht, das durch das gewachste Leinen drang, verblaßte zu einem matten Graublau. Es dunkelte.

Wenn das Fenster auf den Hof hinausging, konnte sie vielleicht sehen, in welche Richtung er ritt. Er hatte gesagt, daß es nicht weit sei. Wenn sie nur feststellen konnte, welche Richtung er einschlug, würde sie den Absetzort selbst wiederfinden.

Sie richtete sich auf dem Strohsack auf, aber schon diese geringe Anstrengung ließ den stechenden Schmerz in ihrer Brust wieder aufleben. Als sie dann die Beine über die Bettkante gleiten ließ, um aufzustehen, überkam sie der Schwindel mit solcher Gewalt, daß sie sich zurückfallen ließ und die Augen schloß. Sie war zu schwach.

Schwindelgefühl und Kopfschmerzen, Fieber und Stiche in der Brust. Von welcher Krankheit waren dies Symptome? Pocken begannen mit Fieber und Schüttelfrost, und die Pocken selbst erschienen erst am zweiten oder dritten Tag. Sie hob den Arm, um zu sehen, ob sich die Ausbildung von Pocken bemerkbar mache. Sie hatte keine Vorstellung, wie lang sie krank gewesen war, aber die Pocken konnten es nicht sein, weil die Inkubationszeit zwischen zehn und einundzwanzig Tagen betrug. Zehn Tage war sie in der Universitätsklinik von Oxford gewesen, wo der Pockenerreger seit annähernd hundert Jahren ausgestorben war.

In der Klinik war sie gegen alle Seuchen geimpft worden: Pocken, Typhus, Cholera, Pest. Wie könnte es also eine von diesen Krankheiten sein? Und wenn es keine von ihnen war, was war es dann? Der Veitstanz? Wieder begann sie zu überlegen, daß es eine Krankheit sein müsse, gegen die sie nicht geimpft worden war, aber sie hatte auch ein gestärktes Immunsystem, um jede andere Infektion abzuwehren.

Kleine Schritte tappten schnell die Treppe herauf. »Modder!« rief Agnes’ helle Kinderstimme. »Rosemund hat nicht gewartet!«

Diesmal stürmte sie nicht so wild herein, weil die schwere Tür geschlossen war und erst geöffnet werden mußte, aber sobald sie durchgeschlüpft war, rannte sie winselnd zur Steinbank am Fenster.

»Modder, ich wollte es Gawyn sagen«, schluchzte sie, dann hielt sie inne, als sie sah, daß ihre Mutter nicht im Zimmer war. Auch die Tränen versiegten sofort.

Agnes stand eine Weile beim Fenster, als könnte sie sich nicht klar werden, was nun geschehen sollte, dann flog sie herum und lief zurück zur Tür. Auf halbem Weg erspähte sie Kivrin und machte wieder halt.

»Ich weiß, wer du bist«, sagte sie und kam ohne Furcht näher. Sie war kaum groß genug, um über die Bettdecke zu sehen. Die Bänder ihrer Kappe waren wieder aufgegangen. »Du bist das Fräulein, das Gawyn im Wald fand.«

Kivrin befürchtete, daß ihre Antwort in der Form, wie der Dolmetscher sie offensichtlich verstümmelte, das kleine Mädchen ängstigen würde. Sie hob den Kopf ein wenig vom Kissen und nickte.

»Was geschah mit deinem Haar?« fragte Agnes. »Haben die Räuber es gestohlen?«

Kivrin schüttelte den Kopf und lächelte über die komische Idee.

»Maisry sagt, die Räuber haben deine Zunge gestohlen«, sagte Agnes. Sie zeigte auf Kivrins Stirn. »Tut es weh?«

Kivrin nickte.

»Ich habe ein schlimmes Knie«, sagte sie und zog es mit beiden Händen hoch, um Kivrin den schmutzigen Verband zu zeigen. Die alte Frau hatte recht gehabt. Er rutschte schon, und sie konnte die Wunde darunter sehen. Kivrin hatte angenommen, daß es nur eine Hautabschürfung sei, aber die Wunde sah ziemlich tief aus.

Agnes wankte auf einem Bein, ließ das Knie los und lehnte sich gegen das Bett. »Wirst du sterben?«

Ich weiß nicht, dachte Kivrin beim Gedanken an den Schmerz in ihrer Brust. Die Sterblichkeitsrate bei Pockenerkrankungen hatte im Mittelalter bei 75 Prozent gelegen, und wenn ihr verstärktes Immunsystem so wenig funktionierte wie der implantierte Dolmetscher…?

»Bruder Hubard ist gestorben«, sagte Agnes altklug. »Und Gilbert. Er fiel vom Pferd. Ich sah ihn liegen. Sein Kopf war ganz rot. Bruder Hubard starb an der Blaukrankheit, sagt Rosemund.«

Kivrin fragte sich, was die Blaukrankheit war — vielleicht Erstickung, oder ein Schlaganfall -, und ob er der Kaplan war, dessen Ablösung Eliwys’ Schwiegermutter so am Herzen lag. Pater Roche war anscheinend der Dorfpfarrer, wahrscheinlich ungebildet und möglicherweise sogar analphabetisch, obwohl sie sein Latein gut verstanden hatte. Und er war freundlich gewesen. Er hatte sie bei der Hand gehalten und ihr gesagt, daß es nichts zu fürchten gebe. Es gibt nette Leute im Mittelalter, Mr. Dunworthy, dachte sie. Pater Roche und Eliwys und Agnes.

»Mein Vater sagte, er würde mir eine Elster bringen, wenn er von Bath kommt«, sagte Agnes. »Adelica hat einen Falken. Manchmal darf ich ihn halten.« Sie hielt den gekrümmten Arm aufwärts und von sich, die kleine Faust geschlossen, als säße ein Falke auf ihrem imaginären Handschuh. »Ich habe einen Hund.«

»Hat dein Hund einen Namen?« fragte Kivrin.

»Ich nenne ihn Blackie«, sagte Agnes, doch Kivrin war überzeugt, daß dies nur die Version des Dolmetschers war. Wahrscheinlich hatte das Kind Blakkin gesagt. »Er ist schwarz. Hast du einen Hund?«

Kivrin war so überrascht, daß sie nicht gleich antworten konnte. Sie hatte gesprochen und sich verständlich gemacht. Agnes hatte nicht einmal zu erkennen gegeben, daß ihre Aussprache ungewöhnlich war. Sie hatte gesprochen, ohne an den Dolmetscher zu denken oder auf seine Übersetzung zu warten, und vielleicht war das das Geheimnis.

»Nein, ich habe keinen Hund«, sagte sie in banger Erwartung, ob es ihr gelingen würde, den Erfolg zu wiederholen.

»Ich werde meiner Elster das Sprechen beibringen. Ich werde ihr beibringen, daß sie sagt: Guten Morgen, Agnes.«

»Wo ist dein Hund?« fragte Kivrin in einem neuen Versuch. Die Worte klangen jetzt anders, leichter und mit der seltsam französisch anmutenden Betonung, die sie in der Sprache der Frauen gehört hatte.

»Willst du Blackie sehen? Er ist im Stall«, sagte sie. Es klang wie eine direkte Antwort, aber die sprunghafte kindliche Ausdrucksweise machte es schwierig, Gewißheit zu bekommen. Vielleicht plapperte Agnes nur drauflos. Um sicherzugehen, würde Kivrin sie etwas fragen müssen, was ganz außerhalb des Themas lag und nur eine Antwort zuließ.

Agnes streichelte das weiche Fell der Bettdecke und summte vor sich hin.

»Sag mir, wie du heißt«, sagte Kivrin und überließ es dem Dolmetscher, ihre Worte umzuwandeln. Ob er es richtig machte, blieb unklar, aber das Kind zögerte nicht.

»Agnes«, sagte das kleine Mädchen prompt. »Mein Vater sagt, ich darf auch einen Falken haben, wenn ich alt genug bin, ein Pferd zu reiten. Ich hab ein Pony.« Sie hörte auf, das Fell zu streicheln, stützte die Ellbogen auf das Bett und legte das Kinn in die kleinen Hände. »Ich kenne deinen Namen«, sagte sie selbstgefällig. »Er ist Katherine.«

»Was?« sagte Kivrin. Katherine. Wie war sie auf den Namen gekommen? Ihr angenommener Name sollte Isabel sein. War es möglich, daß sie zu wissen glaubten, wer sie war?

»Rosemund sagt, daß niemand deinen Namen kennt«, fuhr Agnes fort, »aber ich hörte Pater Roche zu Gawyn sagen, daß du Katherine genannt wirst. Rosemund sagt, du kannst nicht sprechen, aber du kannst es doch.«

Kivrin hatte ein plötzliches Vorstellungsbild des Priesters, wie er sich über sie beugte, das Gesicht verhüllt von den Flammen, die ständig vor ihr zu lodern schienen, und auf lateinisch sagte: »Wie ist dein Name, daß ich dir die Absolution erteilen kann?«

Und sie hatte sich bemüht, das Wort zu bilden, obwohl ihr Mund so trocken war, daß sie kaum sprechen konnte, in Angst, daß sie sterben und die anderen niemals erfahren würden, was mit ihr geschehen war.

»Heißt du Katherine?« fragte Agnes, und durch die Übersetzung des Dolmetschers konnte sie klar die Stimme des kleinen Mädchens hören. Es klang genau wie Kivrin.

»Ja«, sagte Kivrin. Ihr war zum Weinen zumute.

»Blackie hat ein…«, sagte Agnes. Der Dolmetscher hatte das Wort nicht aufgefangen. Karrette? Charrette? »Es ist rot. Magst du es sehen?« Und bevor Kivrin sie zurückhalten konnte, lief sie durch die halboffene Tür hinaus.

Kivrin wartete und hoffte, das Kind würde zurückkommen und ein Karrette oder Charrette nichts Lebendiges sein, und bedauerte, daß sie nicht gefragt hatte, wo sie war und wie lange sie schon im Haus war, obwohl Agnes wahrscheinlich zu jung war, um es zu wissen. Sie sah wie drei oder vier aus, obwohl sie natürlich viel kleiner war als ein dreijähriges Kind der Neuzeit. Dann also fünf, oder sogar sechs. Ich hätte sie nach ihrem Alter fragen sollen, dachte Kivrin, bevor ihr einfiel, daß die Kleine das auch nicht wissen würde. Nicht einmal Johanna von Orleans hatte gewußt, wie alt sie war, als die Inquisitoren sie bei ihrer Gerichtsverhandlung gefragt hatten.

Wenigstens konnte sie Fragen stellen, dachte Kivrin. Der Dolmetscher war doch nicht defekt. Er mußte vorübergehend funktionsunfähig gewesen sein, verwirrt von der seltsamen Dialektfärbung der Aussprache, oder irgendwie durch ihr Fieber beeinträchtigt, aber jetzt war er in Ordnung, und Gawyn wußte, wo der Absetzort war, und konnte ihn ihr zeigen.

Sie richtete sich auf, den Oberkörper auf die Ellbogen gestützt, um die Tür zu sehen. Die Anstrengung ließ den Schmerz in Brust und Kopf Wiederaufleben und machte sie schwindlig. Ängstlich befühlte sie Stirn und Wangen. Sie fühlten sich warm an, doch mochte das daran liegen, daß ihre Hände kalt waren. Es war eisig im Zimmer, und auf ihrem Ausflug zum Nachttopf hatte sie keine Spur von einem Kohlenbecken oder auch nur einer Wärmflasche gesehen.

Waren Wärmflaschen schon erfunden? Es mußte so sein. Wie hätten die Leute sonst die Kleine Eiszeit überleben sollen? Es war so kalt.

Sie begann heftig zu zittern. Das Fieber mußte wieder im Steigen begriffen sein. War das möglich? In ihrem medizinischen Selbstunterricht hatte sie gelesen, wie ein Fieber zurückging, nachdem es den Höhepunkt überschritten hatte, und daß der Patient danach geschwächt war, aber das Fieber kehrte nicht zurück, oder? Doch, das kam vor, zum Beispiel bei Malaria. Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Schweißausbrüche, wiederkehrende Fieber. Natürlich gab es das.

Nun, Malaria war es offensichtlich nicht. Malaria war in England niemals verbreitet gewesen, hier lebten mitten im Winter keine Moskitos und hatten nie gelebt, und die Symptome waren falsch. Sie hatte zu keinem Zeitpunkt geschwitzt, und das Zittern, unter dem sie jetzt wieder litt, war eine Begleiterscheinung des Fiebers.

Typhus erzeugte Kopfschmerz und hohes Fieber und wurde durch verunreinigtes Wasser, Essen oder durch Schmierinfektion übertragen. All diese Bedingungen waren im Mittelalter gegeben, aber die Inkubationszeit war mit acht bis vierzehn Tagen zu lang.

Bei Unterleibstyphus betrug die Inkubationszeit nur ein paar Tage, und auch hier traten Kopfschmerzen, Gliederschmerzen und hohes Fieber auf. Sie glaubte nicht, daß es ein wiederkehrendes Fieber war, erinnerte sich aber, daß von steilem Anstieg am Abend die Rede gewesen war, und das mußte bedeuten, daß es während des Tages niedriger war. Sie fühlte sich schläfrig, doch war auch das kein verläßliches Zeichen. Sie war von der Krankheit geschwächt und schlief mit Unterbrechungen die ganze Zeit.

Immerhin war Schläfrigkeit ein Symptom von Unterleibstyphus. Sie versuchte sich darauf zu besinnen, was Dr. Ahrens ihr über mittelalterliche Medizin gesagt hatte. Nasenbluten, bedeckte Zunge, rosa Ausschlag. Der Ausschlag sollte erst am siebten oder achten Tag erscheinen, aber Kivrin zog vorsichtshalber das Nachthemd hoch und untersuchte Bauch und Magengegend. Kein Ausschlag, also war es kein Unterleibstyphus. Auch Pocken schieden aus, denn sie zeigten sich am zweiten oder dritten Tag.

Sie fragte sich, wo Agnes blieb. Vielleicht war jemand verspätet auf den vernünftigen Gedanken gekommen, sie vom Krankenzimmer fernzuhalten, oder vielleicht gab die unzuverlässige Maisry tatsächlich acht auf sie. Wahrscheinlicher war, daß sie in den Stall gegangen war, ihren Hund zu besuchen, und darüber vergessen hatte, daß sie zu Kivrin kommen wollte.

Die Pest hatte mit Kopfschmerzen und Fieber angefangen. Es kann nicht die Pest sein, dachte Kivrin. Du hast keines der Symptome. Beulen, die bis Orangengröße erreichten, eine Zunge, die anschwoll, bis sie den ganzen Mund ausfüllte, subkutane Blutungen, die den ganzen Körper schwärzlich verfärbten. Du hast nicht die Pest.

Es mußte eine Art Grippe sein. Das war die einzige Krankheit, die so plötzlich kam, und Dr. Ahrens war beunruhigt gewesen, daß Mr. Gilchrist den Termin vorverlegt hatte, denn die antivirale Vorbeugung würde erst bis zum Fünfzehnten ihre volle Wirkung entfalten, und sie würde nur partielle Immunität genießen. Es mußte die Grippe sein. Wie behandelte man sie? Antivirale Mittel, Bettruhe, Vitamine, viel Flüssigkeit.

Also dann ruhe, sagte sie sich, und schloß die Augen.

Sie erinnerte sich nicht, eingeschlafen zu sein, mußte es aber, denn die beiden Frauen waren wieder im Zimmer und redeten miteinander, und Kivrin hatte keine Erinnerung an ihr Eintreten.

»Was sagte Gawyn?« fragte die alte Frau. Sie zerdrückte und verrieb mit einem Löffel etwas in einer Schale. Neben ihr stand der kleine eisenbeschlagene Kasten, und während Kivrin hinsah, nahm die Frau einen kleinen Stoffbeutel heraus, schüttete den Inhalt in die Schale und rührte weiter.

»Er fand nichts unter ihren Habseligkeiten, was uns ihre Herkunft verraten könnte. Was sie mit sich führte, wurde alles gestohlen, die Kisten aufgebrochen und von allem entleert, was uns Aufschluß geben könnte. Aber er sagte, ihr Wagen sei von feiner Bauart. Sicherlich kommt sie aus einer guten Familie.«

»Und sicherlich sucht ihre Familie sie«, sagte die alte Frau. Sie hatte die Schale weggestellt und zerriß mit lautem Geräusch Stoff. »Wir müssen nach Oxenford schicken und ihnen sagen, daß sie sicher bei uns liegt.«

»Nein«, sagte Eliwys, und Kivrin konnte den Widerstand in ihrer Stimme hören. »Nicht nach Oxenford.«

»Was hast du gehört?«

»Ich habe nichts gehört«, sagte Eliwys, »als daß mein Herr uns gebot, hierzubleiben. Wenn alles gut ausgeht, wird er binnen Wochenfrist bei uns sein.«

»Wenn alles gut gegangen wäre, würde er jetzt bei uns sein.«

»Die Verhandlung hatte kaum begonnen. Vielleicht ist er schon auf dem Heimweg.«

»Oder vielleicht wartet…« - wieder einer jener unübersetzbaren Namen; waren es Torkquil? - »auf den Galgen, und mein Sohn mit ihm. Er hätte sich nicht in solch eine Angelegenheit einmischen sollen.«

»Er ist ein Freund, und schuldlos an dem, dessen die Anklage ihn bezichtigt.«

»Er ist ein Dummkopf, und mein Sohn ein noch größerer Dummkopf, daß er für ihn Zeugnis ablegt. Ein Freund hätte ihm befohlen, Bath zu verlassen.« Sie drückte den Löffel gegen die Seite der Schale und rieb ihn hin und her. »Ich brauche Senf dazu«, sagte sie, stellte die Schale weg und trat an die Tür. »Maisry!« rief sie, dann fuhr sie fort, Stoff zu zerreißen. »Fand Gawyn keinen von den Begleitern des Fräuleins?«

Eliwys setzte sich unter das Fenster. »Nein, auch nicht ihre Pferde.«

Ein Mädchen, dem fettiges Haar ins pockennarbige Gesicht hing, kam herein. Sollte dies Maisry sein, die mit Stallburschen tändelte, statt auf ihre Schützlinge zu achten? Sie beugte das Knie in einem Knicks, der mehr ein Stolpern war, und sagte: »Wotwardstu, Lauttysin?«

Lieber Gott, nein, dachte Kivrin. Was ist jetzt mit dem Dolmetscher?

»Bring mir den Senftopf aus der Küche und säume nicht«, sagte die alte Frau, und das Mädchen wandte sich zur Tür. »Wo sind Agnes und Rosemund? Warum sind sie nicht bei dir?«

»Shayruthamay«, sagte sie mürrisch.

Eliwys stand auf. »Was gibt es, sprich.«

»Sie verbergen (etwas) vor mir.«

Es war kein Defekt des Dolmetschers. Es war lediglich der Unterschied zwischen dem normannisch-französisch überformten Altsächsisch der Oberschicht und dem noch urtümlichen altsächsischen Dialekt des einfachen Volkes. Keine der beiden Mundarten hatten Ähnlichkeit mit dem Mittelenglisch, das Dr. Latimer und Mr. Dunworthy sie gelehrt hatten. Es war ein Wunder, daß der Dolmetscher überhaupt etwas aufnahm.

»Ich suchte sie, als Frau Imeyne mich rief, gnädige Frau«, sagte Maisry, und der Dolmetscher nahm alles auf, obwohl es mehrere Sekunden dauerte. Seine Anstrengung verlieh Maisrys Sprache eine schwachsinnige Langsamkeit, die wahrscheinlich nicht ganz angemessen war.

»Wo hast du sie gesucht? Im Stall?« sagte Eliwys und schlug die Hände wie zwei Becken von beiden Seiten gegen Maisrys Kopf. Maisry jaulte und hob eine schmutzige Hand an ihr linkes Ohr. Kivrin drückte sich unwillkürlich tiefer ins Kissen.

»Geh und hol den Senf für Frau Imeyne und suche Agnes.«

Maisry nickte. Sie sah nicht sonderlich eingeschüchtert aus, hielt aber immer noch ihr Ohr. Nach einem weiteren strauchelnden Knicks ging sie hinaus, nicht schneller als sie hereingekommen war. Die plötzliche Gewalttätigkeit schien sie weniger zu erschrecken als Kivrin, und als diese sich gefaßt hatte, fragte sie sich, ob Frau Imeyne bald zu ihrem Senf kommen würde.

Die Schnelligkeit und Gemütsruhe, mit der die Züchtigung vorgenommen worden war, hatte sie überrascht. Eliwys hatte nicht einmal zornig gewirkt, und sobald Maisry gegangen war, setzte sie sich wieder unter das Fenster und sagte mit ruhiger Stimme: »Das Fräulein könnte nicht fortgeschafft werden, selbst wenn ihre Familie käme. Sie kann bei uns bleiben, bis mein Mann zurückkehrt. Er wird sicherlich bis Weihnachten hier sein.«

Auf der Treppe wurde Gepolter laut. Anscheinend hatte sie sich geirrt, dachte Kivrin, und die doppelte Ohrfeige hatte gefruchtet. Aber dann kam Agnes hereingestürzt, einen Gegenstand an die Brust gedrückt.

»Agnes!« sagte Eliwys. »Was tust du hier?«

»Ich bringe mein…« Der Dolmetscher hatte es noch immer nicht Karrette?

»Du bist ein unartiges Kind, daß du dich vor Maisry versteckst und hierher kommst, das Fräulein zu stören«, sagte Imeyne. »Sie leidet sehr unter ihren Verletzungen.«

»Aber sie sagte mir, daß sie es sehen will.« Sie hielt es hoch. Es war ein rot und gelb bemaltes Spielzeug, ein Wagen.

»Gott straft diejenigen, die falsches Zeugnis geben, mit immerwährender Pein«, sagte Frau Imeyne und packte das kleine Mädchen derb bei der Schulter. »Das Fräulein kann nicht sprechen. Du weißt es genau.«

»Zu mir hat sie gesprochen«, sagte Agnes unerschrocken.

Gut, dachte Kivrin. Immerwährende Pein. Wie kann man einem Kind mit solch schrecklichen Dingen drohen? Aber dies war das Mittelalter, eine Zeit, in der die Pfarrer ständig von der Apokalypse und dem Weltgericht predigten, von den Qualen der Verdammten in Hölle und Fegefeuer.

»Sie sagte mir, daß sie meinen Wagen sehen will«, sagte Agnes. »Sie sagte, daß sie keinen Hund hat.«

»Du erfindest Geschichten«, sagte Eliwys. »Das Fräulein kann nicht sprechen.«

Kivrin begriff, daß sie eingreifen mußte, sonst würden sie auch das kleine Mädchen ohrfeigen.

Sie stützte sich auf die Ellenbogen. Die Anstrengung machte sie atemlos. »Ich sprach mit Agnes«, sagte sie. Wenn nur der Dolmetscher tun würde, was von ihm erwartet wurde! Wenn er in diesem Augenblick wieder versagte, und Agnes Schläge bekäme, würde sie es sich nie verzeihen. »Ich bat sie, mir den Wagen zu zeigen.«

Beide Frauen wandten sich um und schauten sie an, Eliwys mit vor Überraschung geweiteten Augen. Die alte Frau sah verblüfft und dann zornig aus, als fühlte sie sich von Kivrin getäuscht.

»Ich habe es euch gesagt«, erklärte Agnes und kam mit dem Spielzeug ans Bett.

Kivrin sank erschöpft zurück. »Wo bin ich hier?« fragte sie.

Eliwys faßte sich. »Du ruhst sicher im Haus meines Herrn und Gemahls…« Der Dolmetscher hatte Schwierigkeiten mit dem Namen. Er klang wie Guillaume d’Iverie oder vielleicht Deveraux.

Eliwys beugte sich eifrig bemüht über sie. »Der Vertraute meines Mannes fand dich im Wald und brachte dich her. Du warst von Räubern überfallen und verletzt worden. Wer waren die Wegelagerer?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Kivrin.

»Ich werde Eliwys genannt, und dies ist die Mutter meines Mannes, Frau Imeyne. Wie heißt du?«

Und nun war es Zeit, ihnen die ganze sorgfältig recherchierte Geschichte zu erzählen. Sie hatte dem Pfarrer gesagt, ihr Name sei Katherine, aber Frau Imeyne hatte bereits deutlich gemacht, daß sie nichts von ihm hielt. Sie traute ihm nicht einmal zu, daß er Latein konnte. Kivrin könnte sagen, daß er sie mißverstanden habe, daß ihr Name Isabel de Beauvrier sei. Sie konnte ihnen erzählen, daß sie im Delirium den Namen ihrer Mutter oder ihrer Schwester gerufen habe. Oder daß sie die heilige Katharina angerufen habe.

»Von welcher Familie bist du?« fragte Frau Imeyne.

Es war eine sehr gute Geschichte. Sie würde ihre Identität und Position in der Gesellschaft nachweisen und sicherstellen, daß sie nicht versuchen würden, Boten zu ihrer Familie zu schicken. Yorkshire war zu weit entfernt und die Straße nach Norden im Winter unpassierbar.

»Wohin wolltest du fahren?« fragte Eliwys.

Der Fachbereich Mittelalter hatte das Wetter und die winterlichen Straßenverhältnisse so gründlich erforscht, wie es nur möglich war. Im Dezember hatte es zwei Wochen lang jeden Tag geregnet, und erst Ende Januar hatte scharfer Frost die verschlammten Straßen überfrieren lassen. Aber sie hatte die Straße nach Oxford gesehen, und sie war trocken und befahrbar gewesen. Ebenso hatte der Fachbereich die Farbe ihres Kleides gründlich recherchiert, desgleichen das Vorkommen von Glasfenstern in den Häusern der Oberschicht. Er hatte auch die Sprache gründlich erforscht.

Kivrin rieb sich die Stirn. »Ich erinnere mich nicht.«

»An nichts?« sagte Eliwys und wandte sich zur Schwiegermutter. »Sie erinnert sich an nichts. Es ist die Kopfwunde. Sie hat ihr Gedächtnis erschüttert.«

»Nein… nein…«, sagte Kivrin. Sie sollte nicht Amnesie vorspiegeln. Sie sollte sich als Isabel de Beauvrier aus East Riding ausgeben. Daß die Landstraßen hier trocken waren, bedeutete nicht, daß sie weiter nördlich in genauso gutem Zustand waren, und Eliwys wollte Gawyn nicht einmal nach Oxford reiten lassen, um Nachricht über die zu erhalten, oder nach Bath, um ihren Mann abzuholen. Sie würde ihn sicherlich nicht nach Yorkshire schicken.

»Erinnerst du nicht einmal deinen eigenen Namen?« sagte Frau Imeyne ungeduldig. Sie beugte sich so nahe zu Kivrin, daß ihr Atem über sie hinging. Er war sehr übelriechend, ein Fäulnisgestank. Sie mußte faulige Zähne haben.

»Wie heißt du?«

Mr. Latimer hatte gesagt, Isabel sei der um 1300 am meisten verbreitete weibliche Name gewesen. Wie verbreitet war Katherine? Wie, wenn Yorkshire doch nicht weit genug entfernt war und Frau Imeyne die Familie kannte? Sie würde den Namen Katherine de Beauvrier als einen weiteren Beweis ansehen, daß sie eine Spionin sei. Sie war gut beraten, bei dem ursprünglich gewählten Namen zu bleiben und ihnen zu sagen, daß sie Isabel de Beauvrier sei. Die alte Frau würde nur zu gern glauben, daß der Dorfpfarrer ihren Namen falsch verstanden hatte. Es wäre ein weiteres Zeichen seiner Unwissenheit, seiner Unfähigkeit, ein weiterer Grund, nach Bath zu schicken und den Bischof um einen neuen Pfarrer zu bitten. Aber er hatte Kivrin in ihrer Not beigestanden, ihre Hand gehalten, ihr gesagt, sie brauche sich nicht zu fürchten.

»Mein Name ist Katherine«, sagte sie.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(001300–002018)

Ich bin nicht die einzige, die hier Schwierigkeiten hat, Mr. Dunworthy. Ich glaube, gleiches gilt für die Zeitgenossen, die mich aufgenommen haben.

Der Herr des Hauses ist nicht hier. Er ist in Bath, um vor Gericht als Zeuge für einen Freund auszusagen, was anscheinend eine gefährliche Sache ist. Seine Mutter, Frau Imeyne, bezeichnete ihn als einen Dummkopf, weil er sich in die Angelegenheit eingemischt hatte, und seine Frau Eliwys scheint besorgt und nervös.

Anscheinend sind sie erst kürzlich hierhergekommen, in großer Eile und ohne Dienstpersonal. Edelfrauen des 14. Jahrhunderts hatten wenigstens eine Kammerzofe, aber wieder Eliwys noch Imeyne hat eine, und sie scheinen auch die Kinderfrau — Guillaumes zwei kleine Töchter sind hier — zurückgelassen zu haben. Imeyne wollte eine neue kommen lassen und einen Kaplan, aber Eliwys läßt es nicht zu.

Ich vermute, daß der Herr des Hauses Mißhelligkeiten erwartet und seine Familie hierhergeschickt hat, um sie in Sicherheit zu bringen. Möglicherweise hat es bereits Schwierigkeiten gegeben: Agnes, das kleinere der beiden Mädchen, erzählte mir vom Tod des Kaplans und eines Mannes namens Gilbert, dessen »Kopf ganz rot« war, so daß es vielleicht schon zu Blutvergießen gekommen ist, und die Frauen hierhergekommen sind, um ihm zu entgehen. Ein Vertrauter des Hausherrn ist mit ihnen gekommen und trägt immer ein Schwert an der Seite.

1320 gab es in Oxfordshire keine größeren Aufstände gegen Eduard II., obwohl niemand sehr glücklich über den König und seinen Günstling Hugh Despenser war, und es sonst überall Verschwörungen und kleinere Scharmützel gab. Zwei große Barone, Lancaster und Mortimer, nahmen den Despensers in diesem Jahr dreiundsechzig Landgüter weg. Es ist denkbar, daß Guillaume oder sein Freund an solchen Unternehmungen beteiligt sind.

Natürlich kann es sich auch um ganz andere Dinge handeln, einen Streit um Landbesitz oder ähnliches. Um 1300 verbrachten die Leute beinahe soviel Zeit mit Rechtsstreitigkeiten wie die Zeitgenossen im letzten Teil des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber ich glaube es nicht. Eliwys fährt bei jedem ungewohnten Geräusch auf, und sie hat Frau Imeyne verboten, benachbarten Familien von ihrer Anwesenheit Mitteilung zu machen.

In einer Weise ist das günstig für mich. Wenn sie niemandem sagen, daß sie hier sind, werden sie auch nichts über mich verlauten lassen und keine Boten aussenden, um herauszufinden, wer ich bin. Andererseits besteht die Gefahr, daß jeden Augenblick Bewaffnete die Tür eintreten. Oder daß Gawyn, der einzige, der den Absetzort kennt, bei der Verteidigung des Hauses getötet wird.


(Unterbrechung)

15. Dezember 1320 (alte Zeitrechnung). Der Dolmetscher arbeitet jetzt mehr oder weniger zufriedenstellend, und die Zeitgenossen scheinen zu verstehen, was ich sage, und auch ich kann sie verstehen, obwohl ihre Sprache keine Ähnlichkeit mit dem Mittelenglisch hat, das Mr. Latimer und Sie mich gelehrt haben. Die starken Beugungen und die Aussprache scheinen mehr vom Altsächsischen bewahrt zu haben als angenommen, während der weiche Tonfall auf französische Einflüsse schließen läßt.

Der Dolmetscher übersetzt, was die Zeitgenossen sagen, mit unveränderter Syntax, und zuerst versuchte ich genauso auszudrücken, was ich sagte, aber das ständige Überlegen ist tödlich — der Dolmetscher braucht ewig, um eine Übersetzung hervorzubringen, und ich stammele und kämpfe mit der Aussprache. So drücke ich mich einfach in meiner gewohnten Weise aus und hoffe, daß annähernd richtig ist, was aus meinem Mund kommt, und daß der Dolmetscher die Beugungen und Spracheigentümlichkeiten einigermaßen angleichen wird. Der Himmel allein weiß, wie ich mich anhöre. Wahrscheinlich wie eine französische Spionin.

Die Sprache ist nicht der einzige Punkt fehlerhafter Einschätzung durch uns. Meine Kleidung ist ebenfalls ganz falsch, von viel zu feiner Webart, und das Blau ist zu leuchtend, ob mit Färberwaid gefärbt oder nicht. Ich habe hier überhaupt noch keine leuchtenden Farben gesehen. Da ich eher klein bin, ist meine Größe hier richtig, aber meine Zähne sind zu gut, und meine Hände sind trotz der abgebrochenen, schmutzigen Nägel zu fein. Sie hätten nicht nur schmutziger und schwieliger sein sollen, sondern ich hätte auch Frostbeulen haben müssen. Alle hier haben Frostbeulen, zum Teil aufgekratzt, auch die Kinder. Schließlich ist es Dezember.

Ich wurde Zeugin einer Meinungsverschiedenheit zwischen Imeyne und Eliwys über die Bestellung eines neuen Kaplans, und Imeyne sagte: »Es ist mehr als genug Zeit. Bis zur Christinette sind es volle zehn Tage.« Also sagen Sie Mr. Gilchrist, daß ich wenigstens meine zeitliche Orientierung gesichert habe. Aber ich weiß nicht, wie weit entfernt vom Absetzort ich bin. Ich habe versucht, mich auf den Abend meiner Ankunft zu besinnen, als Gawyn mich hierher brachte, aber diese ganze Nacht ist hoffnungslos verwirrt, und manches von dem, an das ich mich erinnere, ist nicht wirklich geschehen. Ich erinnere mich an ein weißes Pferd mit Glöckchen am Zaumzeug, und die Glöckchen spielten Weihnachtsweisen, wie das Glockenspiel im Garfax-Turm.

Der 15. Dezember bedeutet, daß dort Weihnachtsabend ist, und daß Sie Ihren Sherry-Empfang geben und dann zum ökumenischen Gottesdienst nach St. Mary hinübergehen werden. Es ist schwer zu begreifen, daß Sie mehr als siebenhundert Jahre entfernt sind. Immer wieder habe ich das Gefühl, daß ich, wenn ich vom Bett aufstünde (was ich nicht kann, weil mir noch immer zu schwindlig ist — ich fürchte, mein Fieber ist wieder gestiegen) und die Tür öffnete, keine Holztreppe vorfinden würde, die in eine mittelalterliche Diele hinabführt, sondern das Laboratorium im Brasenose College, wo Sie alle auf mich warten, Badri und Dr. Ahrens und Sie, Mr. Dunworthy, der seine Brillengläser putzt und sagt: Habe ich es nicht gleich gesagt? Ich wünschte, es wäre so.

12

Frau Imeyne glaubte Kivrins Geschichte vom erlittenen Gedächtnisverlust nicht. Als Agnes ihren Hund brachte, der sich als ein kleiner schwarzer Welpe mit großen Füßen entpuppte, sagte sie: »Das ist mein Hund, Kivrin.« Sie hielt ihn mit beiden Händen um die Mitte und streckte ihn Kivrin hin. »Du darfst ihn streicheln. Erinnerst du dich, wie?«

»Ja«, sagte Kivrin, nahm den Welpen aus Agnes’ zu festem Griff und streichelte das weiche Fell. »Solltest du nicht bei deiner Näharbeit sein?«

Agnes nahm den Hund wieder an sich. »Großmutter ist gegangen, mit dem Verwalter zu schelten, und Maisry ist im Stall.« Sie drehte den Welpen herum, um ihm einen Kuß zu geben. »Also kam ich zu dir. Großmutter ist sehr böse. Der Verwalter und seine ganze Familie wohnten in der Diele, als wir herkamen.« Sie gab dem Welpen einen weiteren Kuß. »Großmutter sagt, seine Frau verlockt ihn, zu sündigen.«

Großmutter. Agnes hatte bestimmt nicht »Großmutter« gesagt. Das Wort kam erst um die Wende zum 15. Jahrhundert auf, aber der Dolmetscher machte jetzt große, verwirrende Sprünge, obwohl er Agnes’ falsche Aussprache von Katherine unverändert ließ und manchmal Worte nicht übersetzte, deren Bedeutung sich aus dem Zusammenhang zweifelsfrei ergeben sollte.

»Bist du eine Brecherin, Kivrin?« fragte Agnes.

»Eine was?«

»Eine Brecherin«, sagte Agnes. Der Welpe versuchte verzweifelt, sich ihrem festen Griff zu entwinden. »Großmutter sagt, du bist eine. Sie sagt, eine Frau, die zu ihrem Liebhaber flieht, würde guten Grund haben, sich an nichts zu erinnern.«

Eine Ehebrecherin! Nun, das war jedenfalls besser als eine französische Spionin. Oder Frau Imeyne hielt sie für beides.

Agnes küßte das Hündchen wieder. »Großmutter sagt, eine Frau hat keinen Grund, im Winter über Land zu reisen.«

Sie hatten beide recht, dachte Kivrin, Frau Imeyne und Mr. Dunworthy. Sie hatte noch immer nicht herausgefunden, wo der Absetzort war, obwohl sie gebeten hatte, mit Gawyn zu sprechen, als Eliwys am Morgen gekommen war, ihre Schläfe mit warmem Wasser zu betupfen.

»Er ist ausgeritten, die Wegelagerer zu suchen, die dich beraubten«, hatte Eliwys gesagt, während sie Kivrins gesäuberte Schläfe mit einer Salbe bestrichen hatte, die nach Knoblauch roch und brannte. »Erinnerst du dich an nichts von ihnen?«

Kivrin hatte den Kopf geschüttelt und gehofft, daß ihre vorgespiegelte Amnesie nicht zur Erhängung irgendeines armen Bauern führen würde. Sie konnte schwerlich sagen: »Nein, das ist nicht der Mann«, wenn sie sich angeblich an nichts erinnern konnte.

Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen. Die Wahrscheinlichkeit, daß diese Leute die de Beauvrier kannten, war sehr gering, und daß sie eine Erklärung schuldig geblieben war, hatte Imeyne offensichtlich noch mißtrauischer gegen sie gemacht.

Agnes versuchte dem jungen Hund ihre Kappe aufzusetzen. »Im Wald gibt es Wölfe«, sagte sie. »Gawyn erschlug einen mit der Axt.«

»Hat Gawyn dir erzählt, wie er mich fand, Agnes?« fragte Kivrin.

»Ja. Blackie mag meine Kappe tragen«, sagte sie und schnürte die Bänder zu einem würgenden Knoten.

»Dann würde er nicht so zappeln«, sagte Kivrin. »Wo hat Gawyn mich gefunden?«

»Im Wald«, sagte Agnes. Der Welpe befreite sich von der Kappe und fiel beinahe vom Bett. Sie setzte ihn mitten auf die Bettdecke und hob ihn bei den Vorderpfoten. »Blackie kann tanzen.«

»Laß mich halten«, sagte Kivrin, um das arme Tier zu retten. Sie nahm es behutsam in die Arme. »Wo im Wald hat Gawyn mich gefunden?«

Agnes stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Welpen zu sehen. »Blackie schläft«, flüsterte sie.

Tatsächlich schlief der Welpe, erschöpft von Agnes’ Aufmerksamkeiten. Kivrin legte ihn neben sich auf das Fell der Bettdecke. »War der Ort, wo er mich fand, weit von hier?«

Agnes bejahte, aber Kivrin merkte, daß sie keine Ahnung hatte.

So hatte es keinen Sinn. Agnes wußte offensichtlich nichts Genaueres. Kivrin würde mit Gawyn selbst sprechen müssen. »Ist Gawyn zurückgekommen?«

»Ja«, sagte Agnes und streichelte das schlafende Hündchen.

»Möchtest du mit ihm sprechen?«

»Ja«, sagte Kivrin.

»Bist du eine Brecherin?«

Es war anstrengend, sich auf Agnes’ Gedankensprünge einzustellen. »Nein«, sagte sie, bevor ihr einfiel, daß sie nicht in der Lage sein sollte, sich an irgend etwas zu erinnern. »Ich erinnere mich nicht, wer ich bin.«

»Großmutter sagt, nur eine Brecherin würde so frech verlangen, mit Gawyn zu sprechen.«

Die Tür ging auf, und Rosemund kam herein. »Sie suchen dich überall, Dummerchen«, sagte sie, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Ich spreche mit Kivrin«, sagte Agnes mit einem ängstlichen Blick zur Bettdecke, wo Blackie lag, beinahe unsichtbar auf dem Zobelfell. Offenbar durften Hunde nicht ins Haus. Kivrin zog die Decke so über ihn, daß Rosemund ihn nicht sehen konnte.

»Mutter sagt, das Fräulein muß ausruhen, damit ihre Wunden heilen«, sagte Rosemund streng. »Komm. Ich muß Großmutter sagen, daß ich dich gefunden habe.« Und sie führte das kleine Mädchen hinaus.

Kivrin sah ihnen nach und hoffte inständig, daß Agnes ihrer Großmutter nicht erzählen würde, daß sie wieder den Wunsch geäußert hatte, mit Gawyn zu sprechen. Sie hatte geglaubt, einen guten Vorwand für das Gespräch mit Gawyn zu haben, und auf Verständnis für ihren Wunsch gehofft, Näheres über ihr Gepäck und die Räuber zu erfahren. Aber für eine unverheiratete junge Dame von Stand war es unziemlich, den Wunsch nach einem Gespräch mit einem jungen Mann zu äußern.

Eliwys konnte mit ihm sprechen, weil sie während der Abwesenheit ihres Mannes die Hausherrin und seine Brotgeberin war, und Imeyne war die Mutter seines Herrn, aber Kivrin hätte warten sollen, bis er das Wort an sie richtete, um ihm dann mit aller Bescheidenheit und Züchtigkeit, die von einem jungen Mädchen erwartet wurde, zu antworten. Aber ich muß mit ihm reden, dachte sie. Er weiß als einziger, wo der Absetzort ist.

Agnes kam wieder hereingestürzt und riß den schlafenden Welpen an sich. »Großmutter war sehr böse. Sie dachte, ich wäre in den Brunnen gefallen«, sagte sie und rannte wieder hinaus.

Sicherlich hatte Maisry aus diesem Anlaß wieder Ohrfeigen bekommen, diesmal von der Großmutter, dachte Kivrin. Schon einmal hatte Maisry heute Verdruß bekommen, weil sie Agnes aus den Augen verloren hatte, die zu Kivrin gekommen war, um ihr Imeynes Silberkette zu zeigen, die sie »ein Rillieklary« nannte, ein Wort, vor dem der Dolmetscher kapitulierte. In dem kleinen Kasten, vertraute sie Kivrin an, sei ein Stück vom Grabtuch des heiligen Stephan. Frau Imeyne hatte Maisry die pockennarbigen Wangen geohrfeigt, weil sie Agnes nicht im Auge behalten und sie das Reliquiar hatte nehmen lassen — aber nicht, weil sie das kleine Mädchen ins Krankenzimmer gelassen hatte.

Niemand schien besorgt zu sein, daß die Mädchen Kivrin zu nahe kommen könnten, oder an die Möglichkeit einer Ansteckungsgefahr zu denken. Weder Eliwys noch Imeyne trafen irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen, wenn sie sie versorgten.

Die Zeitgenossen hatten die Mechanik der Krankheitsübertragung nicht verstanden — sie glaubten, Krankheit sei eine Konsequenz der Sünde, und Epidemien eine Strafe Gottes -, aber sie hatten von Ansteckung gewußt. In der Zeit des Schwarzen Todes hatte das Motto gelautet: »Geh schnell fort, wandere weit, verweile lang«, und Quarantänebestimmungen hatte es schon früher gegeben.

Aber nicht hier, dachte Kivrin, und was würde geschehen, wenn die kleinen Mädchen sich bei ihr infiziert hatten? Oder Pater Roche?

Er war während der schlimmsten Phase ihrer Krankheit bei ihr gewesen, hatte ihre Hand gehalten, sie nach ihrem Namen gefragt. Ihre Erinnerung an diese Zeit blieb getrübt und lückenhaft. Sie war vom Pferd gefallen, und dann war da ein Feuer gewesen. Nein, das hatte sie sich in ihrem Fieberwahn eingebildet. Und das weiße Pferd. Gawyns Pferd war schwarz.

Sie waren durch einen Wald und einen Hügel hinab an einer Kirche vorbeigeritten, und der Halsabschneider hatte… Es hatte keinen Zweck. Die Nacht war ein formloser Traum voller beängstigender Gesichter, Glocken und Flammen. Selbst die Erinnerung an den Absetzort war verschwommen und unklar. Große Eichen waren dort, und dichtes Unterholz, und sie hatte mit dem Rücken am Wagenrad gesessen, weil sie sich schwindlig gefühlt hatte, und der Halsabschneider… Nein, sie hatte sich den Halsabschneider eingebildet. Und das weiße Pferd. Vielleicht hatte sie sich auch die Kirche eingebildet. Sie würde Gawyn fragen müssen, wo der Absetzort war, aber nicht vor Frau Imeyne, die sie für eine flüchtige Ehebrecherin hielt. Vor allem mußte sie gesund werden, genug Kräfte sammeln, um aufzustehen und aus dem Haus zu gehen. Hinüber zum Stall, um Gawyn zu finden und allein mit ihm zu sprechen. Alles hing von ihrer Gesundung ab.

Zwar fühlte sie sich ein wenig kräftiger, doch war sie noch immer zu schwach, um ohne Hilfe zum Nachttopf zu gehen. Das Schwindelgefühl war mit dem Fieber vergangen, aber ihre Kurzatmigkeit dauerte an. Auch die anderen glaubten, daß sie sich auf dem Weg der Besserung befand. Sie hatten sie den größten Teil des Vormittags allein gelassen und Eliwys war nur so lange bei ihr geblieben, wie das Auftragen der übelriechenden Salbe gedauert hatte. Und ihre unziemlichen Fragen nach Gawyn.

Es kam jetzt darauf an, sich nicht zu sorgen, was Agnes ihr gesagt hatte, oder warum die antivirale Vorbeugung nicht gewirkt hatte oder wie weit es zum Absetzort war, sondern rasch wieder zu Kräften zu kommen. Den ganzen Nachmittag kam niemand zu ihr, und sie übte das Sitzen auf der Bettkante mit heraushängenden Beinen. Als Maisry später mit einem Kienspan kam, um ihr zum Nachttopf zu helfen, konnte sie ohne Hilfe zum Bett zurückgehen.

In der Nacht wurde es kälter, und als Agnes sie am Morgen besuchte, trug sie einen roten Umhang und eine sehr dicke wollene Kapuze und weiße Fäustlinge aus Kaninchenfell. »Möchtest du meine silberne Schnalle sehen? Sir Bloet hat sie mir geschenkt. Ich werde sie morgen bringen. Heute kann ich nicht kommen, denn wir gehen den Julblock schneiden.«

»Den Julblock?« fragte Kivrin. Der Julblock, der später in Brand gesetzt wurde, war traditionell am 24. geschnitten worden, und dies war erst der 17. Hatte sie Frau Imeyne falsch verstanden?

»Ja«, sagte Agnes. »Zu Haus gehen wir erst am Weihnachtsabend, aber es wird Sturm geben, und Großmutter möchte, daß wir ausreifen und ihn holen, solange noch gutes Wetter ist.«

Schlechtwetter, dachte Kivrin. Wie würde sie den Absetzort wiedererkennen, wenn es schneite? Das Fuhrwerk und ihre Kisten und Kästen waren noch dort, aber wenn es mehr als zehn Zentimeter schneite, würde sie Straße und Lichtung nicht wiedererkennen.

»Gehen alle mit, den Julblock zu schneiden?« fragte Kivrin.

»Nein. Pater Roche rief Mutter zu einem kranken Häusler.«

Das erklärte, warum Imeyne die Tyrannin spielte, Maisry und den Verwalter einschüchterte und Kivrin des Ehebruchs beschuldigte. »Geht deine Großmutter mit euch?«

»Ja«, antwortete die Kleine. »Ich werde mein Pony reiten.«

»Geht Rosemund mit?«

»Ja.«

»Und der Verwalter?«

»Ja«, sagte sie ungeduldig. »Das ganze Dorf geht.«

»Auch Gawyn?«

»Nein«, sagte sie, als ob das selbstverständlich wäre. »Ich muß zum Stall und Blackie Lebewohl sagen!«

Sie rannte fort.

Frau Imeyne ging, und der Verwalter, und Eliwys versorgte irgendwo einen kranken Bauern. Und Gawyn war aus einem Grund, der Agnes offensichtlich schien, aber nicht ihr, zu Haus geblieben. Vielleicht war er mit Eliwys gegangen, aber wenn er geblieben war, um auf Haus und Hof achtzugeben, konnte sie ungestört mit ihm sprechen.

Auch Maisry ging offensichtlich mit den anderen. Als sie Kivrin einen Gerstenbrei zum Frühstück brachte, trug sie einen braunen Umhang aus grobem Wollstoff und hatte die Beine mit ausgefransten Stoffstreifen umwickelt. Sie half Kivrin zum Nachttopf, trug ihn hinaus und brachte ein Becken mit glühenden Holzkohlen herauf. Bei alledem zeigte sie sich flinker und unternehmender als Kivrin sie bisher gesehen hatte.

Nachdem Maisry gegangen war, wartete Kivrin noch eine Stunde, bis sie überzeugt war, daß alle fort waren, dann stand sie auf, tappte zum Fenster und zog das gewachste Leinen zurück. Außer Zweigen und dunkelgrauem Himmel konnte sie nichts sehen, aber die Luft war noch kälter als die im Raum. Sie stieg auf die Steinbank, um besser hinaussehen zu können.

Sie war über dem Hof. Er lag verlassen, und das große hölzerne Tor stand offen. Die Steine auf dem Hof und die niedrigen, strohgedeckten Dächer der Nebengebäude sahen naß aus. Sie streckte die Hand hinaus, besorgt, der Regen würde bei der niedrigen Temperatur bald in Schnee übergehen, fühlte aber keine Tropfen auf der Haut. Sie stieg von der Steinbank, wobei sie sich an der eiskalten Mauer einhalten mußte, und kauerte beim Kohlenbecken nieder.

Die Holzkohlenglut war bereits am Erkalten und strahlte kaum noch Wärme aus. Kivrin umfaßte die Oberarme mit den Händen, zog die Schultern ein und zitterte in ihrem dünnen Nachthemd. Was mochte mit ihren Kleidern geschehen sein? Kleider wurden im Mittelalter an Pfosten neben dem Bett aufgehängt, aber hier hingen sie nicht, und es gab keine Kleiderhaken.

Ihre Kleider lagen säuberlich zusammengelegt in der Truhe am Fußende des Bettes. Sie nahm sie heraus, dankbar, daß ihre Stiefel noch da waren, dann setzte sie sich auf den geschlossenen Deckel der Truhe, um wieder zu Atem zu kommen.

Sie mußte diesen Morgen mit Gawyn sprechen, und wenn ihr Körper zu schwach war, mußte sie ihn mit einer Willensanstrengung zwingen. Es war das einzige Mal, daß alle fort waren. Und bald mußte es schneien; die kalte Luft roch nach Schnee.

Sie kleidete sich im Sitzen an, so gut es ging, und als sie aufstehen mußte, lehnte sie sich gegen das Bett. Als sie die Stiefel angezogen hatte, fühlte sie sich so erschöpft, daß sie zum Bett wankte. Ich werde ein wenig ausruhen, dachte sie, nur bis ich mich aufgewärmt habe — und schlief sofort ein.

Die Kirchenglocke weckte sie. Es war dieselbe, die sie im Südwesten gehört hatte, als sie durchgekommen war. Sie hatte gestern den ganzen Tag geläutet und dann aufgehört, und Eliwys war ans Fenster gegangen und hatte eine Weile still dort gestanden, wie um zu erspüren, was geschehen war. Das Licht vom Fenster war trüber, aber es lag nur daran, daß die Wolken sich verdichtet hatten und tiefer hingen. Kivrin legte ihren Umhang an und öffnete die Tür. Die Treppe war steil und an die Steinwand der Diele gebaut, und hatte kein Geländer. Agnes hatte Glück gehabt, daß sie sich nur das Knie aufgeschlagen hatte. Sie hätte Hals über Kopf auf den gestampften Lehmboden unten stürzen können. Kivrin hielt sich mit einer Hand an der Wand, um das Gleichgewicht zu wahren, und rastete auf halber Höhe und überblickte die Diele.

Ich bin wirklich hier, dachte sie. Es ist wirklich 1320. Diele und Herdraum waren eins. Die zusammengeschobene Glut der Herdstelle in der Mitte des Raumes glomm dunkelrot, und ein wenig Licht drang von außen durch das Rauchloch oben und die schmalen Fenster herein, aber der größte Teil des Raumes lag im Halbdunkel.

Kivrin spähte in der rauchigen Düsternis umher, um zu sehen, ob jemand da war. Um das Herdfeuer gruppiert waren die Sitzgelegenheiten: an der Rückwand, wo es am wenigsten zog, stand der schön geschnitzte Armstuhl des Hausherrn, daneben der etwas einfachere, seiner Frau, an die sich zu beiden Seiten die Sitzgelegenheiten der übrigen Familienmitglieder und des Gesindes anschlossen. An der Wand hinter dem Platz des Hausherren hing ein Wandteppich, und am anderen Ende des Raumes, wo der Ausgang war, führte eine Leiter durch eine Deckenöffnung zum Dachboden hinauf. An den Längswänden waren ein paar schwere hölzerne Tische mit einfachen, aber breiten Bänken aufgestellt, und an der Wand unter der Treppe stand eine schmalere Bank: die Bettlerbank. Und die Wand, an der sie stand, war die Schutzwand.

Kivrin stieg die letzten Stufen hinunter und lief auf Zehenspitzen hinüber zur Schutzwand; trotzdem raschelten ihre Schritte laut in den trockenen Binsen, mit denen der Boden bestreut war. Die Schutzwand war eine dünne innere Trennwand, hinter der sich kleine Schlafkammern mit Alkoven oder einfachen Kastenbetten befanden, aber zwischen diesen Kammern führte ein schmaler Durchgang mit Haken zum Aufhängen von Umhängen zu einem Seiteneingang. Jetzt waren die Haken leer. Gut, dachte Kivrin; sie sind alle fort.

Die Tür war offen. Neben ihr standen ein Paar Holzschuhe, ein hölzerner Eimer und Agnes’ Spielzeugwagen. Kivrin hielt inne, denn sie war wieder außer Atem und hätte sich gern niedergesetzt und ausgeruht, aber es gab keine Sitzgelegenheit, und nachdem sie vorsichtig Umschau gehalten hatte, trat sie auf den Hof hinaus.

In dem abgeschlossenen Geviert war niemand zu sehen. Der Hof war uneben und entlang den Gebäuden mit rundlichen gelbgrauen Steinen gepflastert, aber in der Mitte, wo neben dem Brunnen ein aus einem Baumstamm gehöhlter Wassertrog stand, war die aufgeweichte Erde zertrampelt und voll von Huf- und Fußabdrücken. Dazwischen standen mehrere braune Wasserpfützen. Ein mageres, struppig aussehendes Huhn trank furchtlos aus einer der Lachen. Hühner wurden zu dieser Zeit nur ihrer Eier wegen gehalten, erinnerte sie sich. Die wichtigsten Schlachtgeflügel waren um 1300 Tauben und Enten.

Und dort beim Tor war der Taubenschlag, und das kleine strohgedeckte Gebäude daneben mußte die Küche sein, und die anschließenden Gebäude, alle klein und ebenerdig, mußten Vorratsspeicher, Backhaus und Geräteschuppen sein. Gegenüber vom Wohnhaus lagen die Ställe mit mehreren Türen, dann folgte eine schmale Durchfahrt, und die vierte Hofseite wurde von der großen gemauerten Scheune eingenommen.

Als erstes versuchte sie ihr Glück in den Stallungen. Agnes’ junger Hund kam auf seinen unbeholfenen großen Füßen herausgesprungen, um sie mit glücklichem Gejapse zu begrüßen, und sie mußte ihn rasch wieder hineindrängen und die schwarze Tür aus Holzplanken schließen. Von Blackie spielerisch umsprungen, ging sie durch das ganze Stallgebäude, aber Gawyn war offensichtlich nicht da. Er war auch nicht in der Scheune, in der Küche oder einem der anderen Nebengebäude, deren ansehnlichstes sich als das Brauhaus erwies. Agnes hatte gesagt, er würde nicht mit der Prozession gehen, um den Julblock zu schlagen, als sei es eine Selbstverständlichkeit, und Kivrin hatte angenommen, er müsse bleiben, um Haus und Hof zu bewachen; nun fragte sie sich, ob er Eliwys zu dem kranken Häusler begleitet habe.

Wenn das der Fall ist, dachte sie, muß ich den Absetzort selbst suchen. Sie ging zurück zum Stall, blieb auf halbem Weg stehen. So schwach wie sie sich fühlte, würde es ihr nie gelingen, ohne Hilfe ein Pferd zu besteigen, und wenn sie es doch schaffte, würde das Schwindelgefühl zu stark sein, als daß sie sich auf dem Pferderücken würde halten, geschweige denn ausreifen und den Absetzort suchen können. Aber ich muß, dachte sie. Sie sind alle fort, und es wird Schnee geben.

Sie blickte zum Tor und dann zur Durchfahrt zwischen Stallgebäude und Scheune und überlegte, welchen Weg sie nehmen solle. Sie waren einen Hügel heruntergekommen, vorbei an einer Kirche. Sie erinnerte sich an den Klang der Glocke. Von dem Tor oder dem Hof hatte sie keine Erinnerung, aber das war der wahrscheinlichste Weg, auf dem sie hergekommen war.

Sie ging über das Kopfsteinpflaster, scheuchte das aufgeregt gluckende Huhn ungewollt unter den Wassertrog und blickte zum Tor hinaus auf die Straße. Diese überquerte einen schmalen Wasserlauf mit einer langen Brücke und verlor sich südwärts zwischen den Bäumen. Aber es gab keinen Hügel und keine Kirche, kein Dorf, keinen Hinweis, daß dies der Weg zum Absetzort war.

Es mußte eine Kirche geben. Im Bett hatte sie die Glocke gehört. Sie ging zurück durch den Hof und hinüber zur Durchfahrt. Hier führte ein Karrenweg an einem Flechtwerkzaun vorbei, hinter dem zwei schmutzige Schweine grunzten, und ihrem Auslauf gegenüber befand sich der Abort, unverkennbar durch seinen Geruch. Aber hinter ihm beschrieb der Weg eine Biegung und führte hinaus auf einen Dorfanger.

Und da war das Dorf. Und die Kirche, am anderen Ende des Angers, geradeso wie Kivrin sie in Erinnerung hatte, und dahinter lag die Anhöhe, die sie heruntergekommen waren.

Der Dorfanger sah nicht sehr eindrucksvoll aus. Er war eine unregelmäßige Grünfläche zwischen den Hütten der Dorfbewohner auf seiner Seite und dem mit Erlen und Kopfweiden bestandenen Bachufer auf der anderen. Eine Kuh weidete ab, was an Gras übrig geblieben war, und ein Stück weiter war eine Ziege an eine große, winterkahle Eiche gebunden. Die Hütten zogen sich in unregelmäßiger Reihe längs der Dorfstraße zwischen Heuschobern und Misthaufen hin und wurden kleiner und formloser, je weiter sie vom Herrenhaus entfernt waren, aber selbst die ihm nächste Hütte, in welcher der Verwalter hausen mußte, war nichts als eine elende Kate mit fauligem Strohdach und Wänden aus lehmverschmiertem Flechtwerk. Sie war kleiner und schmutziger und heruntergekommener als die neuzeitlichen Abbildungen und Rekonstruktionen. Nur die Kirche sah aus, wie sie sein sollte.

Der Glockenturm stand getrennt von ihr zwischen dem Friedhof und dem Dorfanger. Er war offensichtlich später errichtet worden als die Kirche mit ihren romanischen Rundbogenfenstern und grauen Steinquadern. Der Kirchturm war hoch und rund, und sein Mauerwerk aus gelblicherem Stein, beinahe golden.

Ein Karrenweg, nicht breiter als jener, der am Absetzort vorüberführte, verließ jenseits von Kirchturm und Friedhof das Dorf und zog sich hangaufwärts in den Wald hinein.

Das ist der Weg, den wir gekommen sind, dachte Kivrin, und schickte sich an, den Dorfanger zu überqueren, aber sobald sie aus dem Schutz der Bäume und Gebäude auf die freie Fläche kam, fiel sie der Wind an. Er fuhr durch ihren Umhang, als ob er nichts wäre, und schien sich in ihre Brust zu bohren. Sie zog den Umhang fest um sich, hielt ihn mit der flachen Hand gegen die Brust und ging langsam weiter.

Irgendwo im Südwesten begann wieder die Glocke zu läuten. Was es bedeutete, blieb ihr verborgen. Eliwys und Imeyne hatten darüber gesprochen, aber das war geschehen, bevor sie verstehen konnte, was die Einheimischen sagten, und als sie gestern wieder geläutet hatte, war Eliwys nicht einmal anzumerken gewesen, daß sie es gehört hatte. Vielleicht hatte es mit der Adventszeit zu tun. Am Weihnachtsabend sollten die Glocken während der Abenddämmerung läuten, und dann noch einmal eine Stunde vor Mitternacht. Vielleicht läuteten sie während der Adventszeit auch noch zu anderen Zeiten.

Der Weg war aufgeweicht und ausgefahren. Kivrins Brust begann zu schmerzen, aber sie drückte ihre Hand fester dagegen und ging weiter, so schnell sie konnte. Weit draußen, jenseits der Felder, konnte sie Bewegung ausmachen. Das mußten die Bauern sein, die mit dem Julblock zurückkamen oder die Tiere von der Weide heimtrieben. Sie konnte nichts Genaueres erkennen. Es war dunstig und es sah aus, als schneite es dort draußen bereits. Sie mußte sich beeilen.

Der Wind schlug ihr den Umhang um die Beine und fegte totes Laub vorüber. Die Kuh wanderte mit gesenktem Kopf über den Dorfanger in den Schutz der Hütten, wo sie ihren Stallverschlag haben mochte. Die Hütten sahen so niedrig aus, daß ein Erwachsener wahrscheinlich nur unter dem Firstbalken aufrecht stehen konnte, und die dürftig verschmierten Flechtwände unter den schadhaften Strohdächern konnten den Wind sicherlich nicht abhalten.

Die Glocke läutete weiter, langsam und gleichmäßig, und Kivrin merkte, daß sie ihren Schritt unwillkürlich dem Rhythmus der Glockenschläge angepaßt hatte. Sie sollte sich lieber beeilen. Jede Minute konnte es anfangen zu schneien. Aber wenn sie schneller ging, wurde der Schmerz in ihrer Brust so stechend, daß sie husten mußte. Und der Husten war so hart, daß sie wieder stehenbleiben und sich krümmen mußte.

Sie würde es nicht schaffen. Sei nicht albern, sagte sie sich, du mußt den Absetzort finden. Nein, du bist krank. Du mußt zurück und ins Bett. Geh bis zur Kirche, dann kannst du drinnen eine Weile ausruhen.

Sie ging mit einer Willensanstrengung weiter, versuchte den Husten zu unterdrücken, doch ohne Erfolg. Sie bekam keine Luft. Sie konnte es nicht bis zur Kirche schaffen, geschweige denn bis zum Absetzort. Du mußt, du mußt, hämmerte sie sich ein, um den Schmerz zurückzudrängen. Du mußt den Willen haben, es zu schaffen.

Wieder blieb sie stehen, beugte sich gegen den Schmerz vornüber. Sie war in Sorge gewesen, daß ein Bauer aus einer der Hütten kommen würde, aber nun wünschte sie sich, daß irgendwer kommen und ihr zum Herrenhaus zurückhelfen würde. Aber mit Wünschen war nichts getan. Niemand war im Dorf, alle waren in diesem eiskalten Wind draußen, brachten den Julblock ins Dorf und holten das Vieh von den Weiden. Sie blickte hinaus zu den Feldern. Die fernen Gestalten, die sie dort undeutlich gesehen hatte, waren verschwunden.

Sie erreichte die letzte Hütte in der Reihe. Weiter voraus standen scheinbar willkürlich verstreut windschiefe Hütten und Verschläge, in denen sicherlich niemand lebte. Es mußten Heuhütten, Kuhställe oder Schweinekoben sein, und auf der anderen Seite des Fahrweges, nicht mehr weit, erhob sich die Kirche. Wenn ich langsam gehe, dachte sie, schaffe ich es vielleicht, und sie setzte ihren Weg fort. Bei jedem Schritt gingen ihr die Stiche durch und durch. Sie machte halt, ein wenig wankend, und wehrte sich gegen die Vorstellung, ohnmächtig zu werden. Niemand wußte, wo sie war.

Sie wandte sich um und blickte zurück zum Gutshof. Wie sie sich fühlte, würde sie nicht einmal zurückgehen können. Sie mußte sich niedersetzen und rasten, doch überall war es naß, aufgeweicht und schmutzig. Eliwys kümmerte sich um einen kranken Häusler, Imeyne und die Mädchen und das ganze Dorf waren draußen und fällten den Julblock. Niemand wußte, wo sie war.

Der Wind nahm noch zu und kam jetzt nicht in Stößen, sondern in einem gleichmäßigen Blasen, das über die Felder heranfegte und die kahlen Äste der Bäume schüttelte. Kivrin begriff, daß ihr nichts übrig blieb als umzukehren, aber wie sollte sie es schaffen? Selbst das Stehen war jetzt eine zu große Anstrengung. Wenn es irgendwo eine Gelegenheit gäbe, würde sie sich setzen, aber zwischen dem Wegrand und den schiefen Flechtzäunen und zerrauften Hecken, hinter denen sich die Hütten duckten, gab es nur Schlamm und Wasserlachen. Sie würde in die Hütte gehen müssen.

Sie war von einem wackligen Flechtzaun umgeben, der ihr kaum bis zur Hüfte reichte und keine Katze ferngehalten hätte, nicht zu reden von den Kühen, Ziegen und Schafen, deren Eindringen er verhindern sollte. Nur das Tor hatte höhere Pfosten, und Kivrin lehnte sich gegen einen von ihnen. »Hallo!« rief sie. »Ist jemand da?«

Der Eingang zur Hütte war nur ein paar Schritte vom Tor entfernt, und die Hüttenwände konnten nicht schalldicht sein. Sie waren nicht einmal winddicht. Kivrin sah ein Loch, wo der Bewurf aus Lehm und kleingehacktem Stroh sich vom Flechtwerk darunter gelöst hatte und herabgefallen war. Sicherlich konnte man sie hören. Sie hob die Lederschlaufe, die das Tor zuhielt, ging hinein und klopfte an die niedrige Tür.

Keine Antwort, und sie hatte keine erwartet. »Ist jemand daheim?« rief sie, ohne zu horchen, wie der Dolmetscher es übersetzte, und versuchte den hölzernen Stangenriegel zu heben, der vorgelegt war. Er war zu schwer. Sie versuchte ihn seitwärts zu verschieben, doch auch das war nicht möglich. Die Hütte sah aus, als könnte sie keinem Sturm länger als eine Minute standhalten, und sie brachte die Tür nicht auf. Sie würde Mr. Dunworthy sagen müssen, daß mittelalterliche Bauernhütten nicht so gebrechlich waren, wie sie aussahen. Sie lehnte sich an die Tür, hielt den Umhang vor der Brust zusammen und verschnaufte. Wenigstens stand sie hier halbwegs windgeschützt.

Etwas machte ein Geräusch hinter ihr, und sie wandte sich um und sagte: »Verzeiht, daß ich in Euren Garten eingedrungen bin.« Es war die Kuh, die den Kopf über den Flechtzaun streckte und welkes Laub von einem Haselstrauch riß.

Sie würde zum Herrenhaus zurückgehen müssen. Sie schleppte sich zum Tor hinaus, hängte die Lederschlaufe wieder über den Pfosten und schob sich am knochigen Rücken der Kuh vorbei, die ein paar Schritte mit ihr ging, als dächte sie, Kivrin wolle sie zum Melken führen, dann wandte sie sich wieder dem Haselstrauch zu.

Die Tür einer der Heuhütten oder Ställe, in denen niemand leben konnte, ging auf, und ein barfüßiger Junge kam heraus. Er starrte herüber. Kivrin hatte das Gefühl, daß er sich fürchtete.

Sie richtete sich trotz ihrer Schmerzen auf. »Bitte« sagte sie, schwer atmend zwischen den Worten, »darf ich eine Weile in deinem Haus ausruhen?«

Der Junge starrte einfältig mit offenem Mund zu ihr her. Er war entsetzlich dünn, mit Armen und Beinen, die kaum dicker waren als die in den Zäunen verflochtenen Weidenzweige.

»Bitte lauf zum Herrenhaus und sag den Männern im Stall, daß sie kommen möchten. Sag ihnen, daß ich krank bin.«

Er kann so wenig laufen wie ich, dachte sie, sobald sie es gesagt hatte. Die Füße des Jungen waren blaugefroren, seine Lippen aufgesprungen und wund, und getrocknetes Blut aus der Nase war über die Wangen geschmiert. Der arme Kerl, dachte Kivrin, er ist schlechter daran als ich, aber sie sagte noch einmal: »Lauf zum Herrenhaus und bestell ihnen, daß sie kommen sollen.«

Der Junge bekreuzigte sich mit einer schrundigen, knochigen Hand. »Mihel emeurdroud ooghattund enblast barde«, sagte er und zog sich in die Hütte zurück.

Lieber Himmel, dachte Kivrin verzweifelnd, er kann mich nicht verstehen, und mir fehlt die Kraft, es mit Geduld und Phantasie zu versuchen. »Bitte hilf mir«, sagte sie, und der Junge sah beinahe aus, als hätte er das verstanden. Er trat einen Schritt näher, dann lief er plötzlich in die Richtung der Kirche davon.

»Warte!« rief Kivrin.

Er lief um den Zaun und verschwand hinter der Hütte, wenn man es so nennen konnte. Es sah mehr wie ein Heuschober aus — Gras und faulendes Stroh war in die Spalten zwischen den Stangen gestopft, und die Tür war eine Matte aus Stöcken, die mit einem schwärzlichen Strick zusammengebunden waren, und der Junge hatte sie offen gelassen. Kivrin schleppte sich hinüber, stieg über die erhöhte Schwelle und betrat gebückt die Hütte.

Drinnen war es dunkel und so rauchig, daß Kivrin nichts sehen konnte. Es roch fürchterlich, schlimmer als in einem Stall. Mit den Stallgerüchen vermischten sich moderige Feuchtigkeit, Qualm und der muffig-durchdringende Geruch von Ratten. Die Tür war kaum anderthalb Meter hoch gewesen, und als Kivrin sich drinnen aufrichtete, stieß sie mit dem Kopf gegen den dünnen, anscheinend aus einem Schößling geschnittenen Dachbalken.

Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie, daß es keine Sitzgelegenheit gab. Der Boden war bedeckt mit alter Sackleinwand und Werkzeugen, als wäre es doch eine Art Geräteschuppen, und bis auf einen wackligen Tisch, dessen rohe Beine ungleichmäßig gespreizt waren, gab es keine Möbel. Aber auf dem Tisch lagen eine hölzerne Schale und ein Kanten Brot, und in der Mitte der Hütte, dem einzigen freien Raum, brannte ein kleines Feuer in einem flachen, ausgegrabenen Loch.

Das Feuer war die Quelle des dichten Rauches, der nicht abziehen wollte, obwohl es im First ein kleines Rauchloch gab. Es war ein kleines Feuer aus dünnen Stecken, aber das Holz war feucht, und die Ritzen und Löcher in den ungleichmäßig gestopften Wänden und zwischen diesen und dem Strohdach zogen ebenfalls den Rauch, und der von überall hereinblasende Wind wirbelte ihn in der engen Hütte herum. Kivrin begann zu husten, und jedes krampfhafte Ausstoßen von Luft fühlte sich an, als wollte es ihr die Brust aufsprengen.

Sie biß die Zähne zusammen, um das Husten zu unterdrücken, und ließ sich, gestützt auf einen Spaten, auf einen Sack Zwiebeln nieder und lehnte sich gegen die zerbrechlich aussehende Wand. Sogleich fühlte sie sich besser, obwohl es so kalt war, daß ihr Atem dampfte.

Aber hier in Bodennähe war der Rauch weniger dicht, und der Hustenreiz ließ nach. Sie fragte sich, wie es hier erst im Sommer riechen mochte. Um sich warm zu halten, wickelte sie den fellgefütterten Umgang wie eine Decke um die angezogenen Knie.

Kalte Zugluft strich über den Boden hin. Durch Zusammenkauern bemühte sie sich, auch die Füße in den wärmenden Schutz des Umhangs mit einzubeziehen, dann hob sie ein Gartenmesser auf, das neben dem Zwiebelsack lag, und stocherte damit in dem dürftigen Feuer. Es flammte halbherzig auf, erhellte das Innere der Hütte und ließ es mehr denn je wie einen Geräteschuppen aussehen. An einer Seite befand sich ein niedriger Anbau, wahrscheinlich ein Stall, weil er vom Rest der Hütte durch einen niedrigen Flechtzaun abgeteilt war. Das Feuer brannte nicht hell genug, um in den Anbau hineinzusehen, aber Kivrin hörte ein scharrendes Geräusch, das von dort zu kommen schien.

Ein Schwein, vielleicht, obwohl die Bauern ihre Schweine schon Wochen vor Weihnachten zu schlachten pflegten, um Wurst zu machen und Speck zu räuchern. Oder vielleicht war es eine Milchziege. Sie legte Zweige aus dem kleinen Brennholzvorrat nach, um etwas mehr Helligkeit in den Raum zu bringen.

Das scharrende Geräusch kam nicht aus dem kleinen Anbau, sondern aus einem ansehnlichen, kuppelförmigen Metallkäfig vor der geflochtenen Abtrennung. Mit seinen glatt gebogenen Metallbändern, der komplizierten Tür und dem fein gearbeiteten Tragegriff wirkte der Käfig in diesem schmutzigen Winkel fehl am Platz. In dem Käfig war eine Ratte. Ihre schwarzen Augen glänzten im Feuerschein.

Sie saß auf den Keulen und hielt in den handähnlichen Pfoten ein Stück Käse, das sie vielleicht in die Gefangenschaft gelockt hatte, und beobachtete Kivrin. Am Käfigboden lagen mehrere andere bröckelnde und zum Teil schimmelnde Käsestückchen. Mehr Nahrung als in der ganzen Hütte, dachte Kivrin. Sie blieb still auf dem klumpigen Zwiebelsack sitzen und vermied jede hastige Bewegung. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, daß diese Leute etwas hatten, was vor einer Ratte zu schützen sich lohnte.

Sie hatte natürlich früher schon Ratten gesehen, in der medizinischen Fakultät und als man sie während ihres ersten Studienjahres auf Phobien getestet hatte, aber nicht von dieser Art. Niemand hatte in den letzten fünfzig Jahren Ratten dieser Art gesehen, wenigstens nicht in England. Es war tatsächlich ein sehr hübsches Tier, mit seidigem schwarzen Fell, nicht viel größer als die weißen Laboratoriumsratten und nicht annähernd so groß wie die braune Ratte, die bei ihrem Test verwendet worden war.

Sie sah auch viel sauberer als die braune Ratte aus, eine Wanderratte, die nicht nur ausgesehen hatte, als ob sie in die Abwasserkanäle und U-Bahntunnels gehörte, sondern mit ihrem glanzlosen graubraunen Fell und dem langen, obszön nackten Schwanz ohne Zweifel auch von dort gekommen war. Als Kivrin angefangen hatte, sich mit dem Mittelalter zu beschäftigen, hatte sie nicht verstehen können, daß die Menschen jener Zeit diese abscheulichen Tiere in ihren Scheunen und sogar Häusern geduldet hatten. Der Gedanke an die Ratte unter ihrem Bett oder in der Wand neben ihrem Bett hatte ihren Abscheu erregt. Aber diese Ratte sah tatsächlich sehr reinlich aus, mit ihren schwarzen Augen und dem glänzenden Fell. Ganz gewiß reinlicher als Maisry, und wahrscheinlich intelligenter. Sie sah harmlos aus.

Als wollte sie dies beweisen, hob die Ratte das Stückchen Käse mit beiden Pfoten zierlich unter die Schnurrbarthaare und begann wählerisch daran zu knabbern.

»Du bist aber nicht harmlos«, sagte Kivrin. »Du bist die Geißel des Mittelalters.«

Die Ratte ließ das Stück Käse fallen und tat einen Schritt näher. Sie schnupperte, daß die langen Schnurrbarthaare zuckten, dann hielt sie sich mit den rosigen Händen an zwei der Metallbänder fest und schaute flehend heraus.

»Ich kann dich nicht herauslassen, weißt du«, sagte Kivrin, und die Ratte stellte die Ohren auf, als verstünde sie jedes Wort. »Du frißt wertvolles Getreide und beschmutzt Nahrungsmittel und trägst Flöhe mit dir herum, und in achtundzwanzig Jahren werden deine Enkel und Urenkel halb Europa entvölkern. Wegen deinesgleichen sollte Imeyne sich sorgen, statt wegen französischer Spione und analphabetischer Pfarrer.« Die Ratte schaute sie an. »Ich würde dich gern freilassen, aber ich kann nicht. Der Schwarze Tod war schon so schlimm genug. Er brachte mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung unter die Erde. Wenn ich dich herauslasse, könnten deine Nachkommen es noch schlimmer machen.«

Die Ratte ließ sich auf alle viere fallen und lief im Käfig herum. Im Laufen stieß sie immer wieder gegen das Gitter und rannte in rasender, sinnloser Unruhe im Kreis herum.

»Ich würde dich herauslassen, wenn ich könnte«, sagte Kivrin. Das Feuer war beinahe ausgegangen. Sie stocherte es wieder auf, aber es war alles Asche. Die Tür, die sie in der Hoffnung offen gelassen hatte, daß der Junge jemanden zurückbringen würde, der bereit wäre, sich ihrer anzunehmen, schlug im Wind zu und tauchte das Innere der Hütte in Dunkelheit.

Sie werden nicht wissen, wo sie mich suchen sollen, dachte Kivrin, vermutete aber, daß sie noch nicht mit der Suche begonnen hatten. Alle dachten, daß sie oben in der Kammer schliefe und würden erst zur Essenszeit mit der Schale Gerstengrütze oder Hirsebrei zu ihr kommen. Mit der Suche würden sie frühestens nach der Vesper anfangen, und bis dahin würde es dunkel sein.

Es war ganz still in der Hütte. Der Wind mußte nachgelassen haben. Sie konnte die Ratte nicht mehr hören. In der Aschenglut knackte es, und Funken flogen auf den Boden.

Kein Mensch weiß, wo ich bin, dachte sie und legte die Hand an die Brust, wie um einer Wiederkehr des stechenden Schmerzes vorzubeugen. Niemanden kümmert es, wo ich bin. Nicht einmal Mr. Dunworthy.

Aber das war sicherlich nicht wahr. Inzwischen war Eliwys vielleicht nach Hause gekommen und war in die Kammer hinaufgegangen, um nach ihr zu sehen, oder Maisry war vom Stall hereingekommen, oder der Junge war gelaufen, um Leute von den Feldern zu holen, und sie konnten jede Minute bei ihr sein, auch wenn die Tür geschlossen war. Und selbst wenn sie erst nach der Abendvesper merkten, daß sie verschwunden war, konnten sie doch mit Fackeln und Laternen die Suche nach ihr aufnehmen, und die Eltern des Jungen würden kommen und sie finden und jemanden vom Herrenhaus holen. Ganz gleich, was geschieht, sagte sie sich, du bist nicht völlig allein, und das tröstete sie.

Denn sie war völlig allein. Sie hatte versucht, sich selbst einzureden, daß es nicht so sei, daß eine Ablesung auf den Bildschirmen des Netzes Gilchrist und Montoya verraten habe, daß etwas schiefgegangen war, daß Mr. Dunworthy den Techniker veranlaßt habe, alles noch einmal zu überprüfen, daß sie irgendwie wußten, was geschehen war, und den Absetzort offen hielten. Aber das war nicht der Fall. Sie wußten so wenig wie Agnes und Eliwys, wo sie war. Sie wähnten sie sicher in Skendgate beim Studium des Mittelalters, mit zweifelsfrei lokalisiertem Absetzort und dem Datenspeicher bereits halbvoll von Beobachtungen eigentümlicher Bräuche, landwirtschaftlicher Techniken und ethnischer Merkmale. Daß sie fort war, würde ihnen erst aufgehen, wenn sie in zwei Wochen wieder den Absetzort öffneten.

»Und bis dahin wird es dunkel sein«, sagte Kivrin.

Sie saß still und blickte ins Feuer. Es war schon wieder am Ausgehen, und sie legte ein paar Stecken nach, obwohl der Brennholzvorrat mehr als bescheiden war und kaum für einen Tag reichte. War der Junge zu Haus gelassen worden, um Reisig zu sammeln und hatte sich bei ihrem unerwarteten Erscheinen seiner Pflichten erinnert?

Sie saß allein in dieser elenden Hütte, und niemand wußte, wo sie war, ausgenommen die Ratte, die halb Europa umbringen würde. Es war sinnlos, hier zu bleiben, weil niemand sie finden würde. Sie stand auf, stieß sich wieder den Kopf, schob die Tür zurück und ging hinaus. Noch immer war weit und breit kein Mensch zu sehen. Der Wind war abgeflaut, und klar tönten von Südwesten her die Glockenschläge. Ein paar Schneeflocken trieben aus dem grauen Himmel. Die kleine Anhöhe, auf der die Kirche stand, war schon weiß überzuckert. Kivrin hielt auf die Kirche zu.

Eine weitere Glocke begann zu läuten. Sie war weiter südlich und näher, aber mit dem höheren, metallischeren Klang, der bedeutete, daß es eine kleinere Glocke war. Auch sie läutete gleichmäßig, blieb aber ein wenig hinter der ersten Glocke zurück, so daß sie wie ein Echo klang.

»Kivrin! Kivrin!« rief Agnes. »Wo bist du gewesen?« Sie kam herbeigerannt, das runde kleine Gesicht rot vor Anstrengung oder Kälte. Oder Aufregung. »Überall haben wir dich gesucht.« Sie lief zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, und schrie: »Ich hab sie gefunden! Ich hab sie gefunden!«

»Nein, hast du nicht«, sagte Rosemund. »Wir alle sahen sie.« Auch sie kam gelaufen und ließ Frau Imeyne und Maisry, die den zerlumpten Umhang um die Schultern gezogen hatte, zurück. Maisrys Ohren waren hellrot, und sie schaute mürrisch vor sich hin, was wahrscheinlich zu bedeuten hatte, daß man sie für Kivrins Verschwinden verantwortlich gemacht hatte, oder daß sie damit rechnete. Vielleicht war es auch nur die Kälte. Frau Imeyne sah zornig aus.

»Du wußtest nicht, daß es Kivrin war«, rief Agnes und rannte zurück an Kivrins Seite. »Du sagtest, du wußtest nicht genau, daß es Kivrin ist. Ich habe sie gefunden!«

Rosemund beachtete sie nicht und ergriff Kivrins Arm. »Was ist geschehen? Warum hast du dein Bett verlassen?« fragte sie besorgt. »Gawyn kam, um mit dir zu sprechen, und fand, daß du fortgegangen warst.«

Gawyn kam, dachte Kivrin entmutigt. Gawyn, der mir genau hätte sagen können, wo der Absetzort ist! Und ich war nicht da.

»Ja, er wollte dir sagen, daß er keine Spur von deinen Angreifern gefunden hat, und daß…«

Imeyne kam heran. »Wohin wolltest du?« fragte sie, und es klang wie eine Anklage.

»Ich konnte den Rückweg nicht finden«, sagte Kivrin ausweichend. Sie hatte sich nicht zurechtgelegt, womit sie ihr Umherwandern im Dorf erklären konnte.

»Gingst du, jemand zu treffen?« verlangte Imeyne zu wissen, und diesmal war die Anklage unüberhörbar.

»Wie könnte sie gehen, jemand zu treffen?« fragte Rosemund. »Sie kennt hier niemanden und erinnert sich an nichts von dem, was früher war.«

»Ich ging die Stelle suchen, wo ich gefunden wurde«, sagte Kivrin, bemüht, sich nicht auf Rosemund zu stützen. »Ich dachte, der Anblick meiner Sachen könnte vielleicht…«

»Helfen, dich zu erinnern?« sagte Rosemund. »Aber…«

»Du hättest deine Gesundheit nicht gefährden müssen, um das zu tun«, sagte Frau Imeyne. »Gawyn hat deine Sachen heute hergebracht.«

»Alles?«

»Ja«, sagte Rosemund. »Den Wagen und all deine Kisten und Körbe.«

Die zweite Glocke verstummte, und die erste läutete allein weiter, langsam und gleichmäßig. Sicherlich war es ein Begräbnis. In Kivrins Ohren klang es wie das Begräbnis ihrer Hoffnung. Gawyn hatte alles zum Gutshof gebracht!

»Es ist nicht gut, Fräulein Katherine in dieser Kälte stehen und reden zu lassen«, sagte Rosemund. Sie hörte sich wie ihre Mutter an. »Sie ist krank gewesen, wir müssen sie ins Haus bringen, bevor sie sich erkältet.«

Kivrin war wie betäubt. Sie konnte nur denken, daß Gawyn alles zum Gutshof gebracht und damit am Absetzort alle Spuren beseitigt hatte. Sogar den zerbrochenen Wagen hatte er fortgeschafft.

»Du bis schuld daran, Maisry«, sagte Imeyne und gab Maisry einen Stoß, daß sie Kivrin beim Arm nehme. »Du hättest sie nicht allein lassen sollen.«

Kivrin schreckte vor der schmutzigen Maisry zurück.

»Kannst du gehen?« fragte Rosemund. Sie gab schon unter Kivrins Gewicht nach. »Sollen wir das Pferd bringen?«

»Nein, danke«, sagte Kivrin. Irgendwie konnte sie die Vorstellung nicht ertragen, daß sie wie eine eingefangene Ausreißerin auf einem mit Schellen behängten Pferd zurückgebracht würde. »Nein«, wiederholte sie. »Ich kann gehen.«

Da sie in der Hütte ausgeruht hatte, brachte sie das erste Stück des Weges noch relativ gut hinter sich, doch bald waren ihre Kräfte erschöpft, und sie mußte sich schwer auf Rosemund und Maisrys schmutzigen Arm stützen, und es ging langsam voran. Vorbei an den Hütten und dem Haus des Verwalters und in den Hof. Auf dem Kopfsteinpflaster vor der Scheune lag der ausgegrabene Wurzelstock einer großen Esche; auf ihren verschlungenen Wurzeln sammelten sich die Schneeflocken.

Imeyne gab Maisry ein Zeichen, die schwere hölzerne Tür zu öffnen. »Sie wird sich mit ihrer Unvernunft den Tod geholt haben«, sagte sie. »Nun wird sie ohne Zweifel einen Rückfall erleiden.«

Es begann ernstlich zu schneien. Maisry öffnete die Tür. Sie hatte einen Fallriegel wie die kleine Tür am Rattenkäfig. Ich hätte sie freilassen sollen, dachte Kivrin, Geißel oder nicht. Ich hätte ihr die Freiheit geben sollen.

Maisry kam auf Imeynes Geheiß zurück, um Kivrin beim Arm zu nehmen, aber Kivrin schüttelte den Kopf und ging allein und ohne Hilfe durch die Tür und in die Dunkelheit des Hauses.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(005982–013198)

18. Dezember 1320 (alter Zeitrechnung). Ich glaube, ich habe Lungenentzündung. Ich versuchte hinauszugehen und den Absetzort zu finden, aber ich schaffte es nicht und habe eine Art Rückfall erlitten. Bei jedem Atemzug meldet sich ein stechender Schmerz unter meinen Rippen, und wenn ich huste, was beinahe ständig der Fall ist, habe ich das Gefühl, alles in mir müsse in Stücke gehen. Als ich vor einer Weile im Bett aufsitzen wollte, war ich augenblicklich in Schweiß gebadet, und nach meinem Eindruck ist auch das Fieber wieder gestiegen. Dies alles sind Symptome, die nach Dr. Ahrens auf Lungenentzündung hindeuten.

Eliwys ist noch nicht zurückgekommen. Ihre Schwiegermutter hat einen fürchterlich riechenden Breiumschlag um meine Brust gemacht und dann nach der Frau des Verwalters geschickt. Ich dachte, sie wolle sie ausschelten, weil sie mit ihrer Familie das Herrenhaus usurpiert habe, doch als die Verwaltersfrau kam, ihren sechs Monate alten Säugling im Arm, erklärte Imeyne ihr: »Die Wunde hat ihr das Lungenfieber gebracht«, und die Verwaltersfrau schaute sich meine Schläfe an und ging dann hinaus und kam ohne den Säugling und mit einer Schale bitter schmeckenden Tees zurück. Es mußte Weidenborke oder was darin gewesen sein, denn mein Fieber ist zurückgegangen, und der stechende Schmerz beim Einatmen hat etwas nachgelassen.

Die Frau des Verwalters ist dünn und klein, mit einem schmalen, scharfgeschnittenem Gesicht und aschblondem Haar. Frau Imeyne hat wahrscheinlich recht darin, daß sie diejenige sei, die den Verwalter »zur Sünde« verleite. Sie kam in einem pelzbesetzten Mantel mit so langen Ärmeln, daß sie fast am Boden schleiften, und der Säugling war in eine fein gewebte Wolldecke gewickelt, und sie spricht mit einem seltsam verschliffenen Akzent, der wohl ein Versuch ist, Frau Imeynes Sprache nachzuahmen.

Die embryonale Mittelschicht, wie Mr. Latimer sagen würde, neureich und in Erwartung ihrer Chance, die sie in dreißig Jahren bekommen wird, wenn der Schwarze Tod zuschlägt und ein Drittel des Adels auslöscht.

»Ist das die Frau, die im Wald gefunden wurde?« fragte sie Imeyne, als sie hereinkam, und es war keine »scheinbare Bescheidenheit« in ihrem Verhalten. Sie lächelte Imeyne zu, als ob sie alte Freundinnen wären, und kam herüber zum Bett.

»Ja«, sagte Frau Imeyne und brachte es fertig, Ungeduld, Geringschätzung und Widerwillen in einer einzigen Silbe unterzubringen.

Die Frau des Verwalters war blind gegen solche Feinheiten. Sie trat ans Bett und wich dann zurück: die erste Person, die durch ihr Verhalten zu erkennen gab, daß sie an mögliche Ansteckungsgefahr dachte. »Hat sie das… Fieber?« Der Dolmetscher fing das Wort nicht auf, und ich konnte es wegen ihres eigentümlichen Akzents auch nicht verstehen. Florentiner?

»Sie hat eine Kopfverletzung«, sagte Imeyne in scharfem Ton. »Davon hat sie das Lungenfieber bekommen.«

Die andere nickte. »Pater Roche erzählte uns, wie er und Gawyn sie im Wald fanden.«

Imeynes Haltung versteifte sich bei diesem beiläufig-familiären Gebrauch von Gawyns Namen, und diesmal entging es der Frau des Verwalters nicht und sie eilte hinaus, um den Absud von Weidenborke zu bereiten. Sie deutete sogar eine schnelle Verbeugung an, als sie hinausging.

Nachdem Imeyne gegangen war, kam Rosemund und setzte sich zu mir. Ich glaube, sie wurde beauftragt, achtzugeben, daß ich nicht wieder zu entwischen versuche. Ich fragte sie, ob es wahr sei, daß Pater Roche dabei war, als Gawyn mich fand.

Sie schüttelte den Kopf. »Gawyn traf Pater Roche auf der Straße, als er dich herbrachte, und ließ dich in seiner Obhut, um den Wegelagerern nachzusetzen, aber er fand nichts von ihnen, und sie brachten dich hierher. Du brauchst dich nicht darum zu sorgen. Gawyn hat deine Sachen hierher geschafft.«

Ich erinnere mich nicht, daß Pater Roche da war, außer an meinem Krankenbett, aber wenn es wahr ist und Gawyn ihm nicht allzuweit vom Absetzort begegnete, weiß er vielleicht, wo es ist.


(Unterbrechung)

Ich habe über Imeynes Bemerkung nachgedacht, daß meine Kopfwunde zum Lungenfieber geführt habe. Sie sehen meine Schwäche und mein Fieber als unmittelbare Folgen der Kopfverletzung und nicht als Zeichen einer Krankheit. Sie lassen die Mädchen die ganze Zeit ins Krankenzimmer, und niemand scheint die geringste Furcht vor Ansteckung zu haben, ausgenommen die Frau des Verwalters, und als Imeyne ihr erzählte, ich habe »Lungenfieber«, kam sie ohne zu zögern an mein Bett.

Offensichtlich aber sorgte sie sich, daß mein Zustand ansteckend sei, und als ich Rosemund fragte, warum sie ihre Mutter nicht zu dem kranken Häusler begleitet habe, sagte sie, als sei es selbstverständlich: »Sie erlaubte es mir nicht. Der Häusler ist krank.«

Daraus schließe ich, daß sie in meinem Zustand keine Krankheit erkennen. Ich hatte keine offensichtlichen Symptome wie Pocken oder Hautausschlag, und meine Verletzungen mochten ihnen eine ausreichende Erklärung für Fieber und Delirium sein. Wundinfektionen sind nicht selten, ebensowenig wie Fälle von Blutvergiftung. Es gibt keinen vernünftigen Grund, die kleinen Mädchen von einer verletzten Person fernzuhalten.

Und niemand von ihnen wurde angesteckt. Es müssen jetzt fünf Tage sein, daß ich krank bin, und wenn es ein Virus ist, sollte die Inkubationszeit nur zwölf bis achtundvierzig Stunden betragen. Dr. Ahrens sagte mir, die größte Ansteckungsgefahr bestehe, bevor Symptome auftreten, also war ich vielleicht nicht mehr so ansteckend, als die kleinen Mädchen anfingen, mich zu besuchen. Oder vielleicht ist dies eine Krankheit, die sie alle schon gehabt haben und gegen die sie immun sind. Die Frau des Verwalters fragte, ob ich das »Florentiner(?) Fieber« habe, und Mr. Gilchrist ist auf Grund seiner Forschungen überzeugt, daß es 1320 eine Influenzaepidemie gab. Vielleicht ist sie es, die mich erwischt hat.

Es ist Nachmittag. Rosemund sitzt auf der Steinbank unter dem Fenster und näht ein Stück Leinen mit dunkelroter Wolle, und Blackie schläft neben mir. Ich habe überlegt, wie recht Sie hatten, Mr. Dunworthy. Ich war überhaupt nicht vorbereitet, und alles ist ganz anders, als ich erwartet hatte. Aber Sie irrten mit Ihrer Prophezeiung, daß es nicht wie ein Märchen sei.

Wohin ich auch blicke, überall sehe ich Dinge aus Märchengeschichten. Agnes’ roter Umhang und die Haube, und den Rattenkäfig, und Holzschalen mit Haferbrei, und die strohgedeckten Hütten des Dorfes, die aussehen, als könnte man sie umblasen.

Der Glockenturm sieht wie der aus, in dem Rapunzel eingekerkert war, und Rosemund, über ihre Stickerei gebeugt, sieht mit ihrem dunklen Haar, der weißen Kappe und den roten Wangen wie Schneewittchen aus.


(Unterbrechung)

Ich glaube, mein Fieber ist wieder gestiegen. Ich rieche Holzrauch, und Imeyne kniet mit ihrem Stundenbuch neben dem Bett und betet. Rosemund sagte mir, sie hätten wieder nach der Frau des Verwalters geschickt. Frau Imeyne verabscheut sie. Ich muß wirklich sehr krank sein, daß Imeyne sie kommen läßt. Ich frage mich, ob sie auch nach dem Pfarrer schicken werden. Sollte er kommen, muß ich ihn fragen, ob er weiß, wo Gawyn mich gefunden hat. Es ist so heiß hier drinnen. Dieser Teil ist überhaupt nicht wie ein Märchen. Sie schicken nur nach dem Pfarrer, wenn jemand im Sterben liegt, aber nach Mr. Gilchrists Untersuchungen liegt die Wahrscheinlichkeit, daß ein an Lungenentzündung Erkrankter stirbt, im 14. Jahrhundert bei 72 Prozent. Ich hoffe, der Pfarrer wird bald kommen, um mir zu sagen, wo der Absetzort ist, und mir die Hand zu halten.

13

Zwei weitere Fälle, beides Studenten, wurden eingeliefert, während Mary ihren Neffen fragte, wie er durch die Quarantäne gekommen sei.

»Es war einfach«, sagte Colin wegwerfend. »Sie sind vollauf damit beschäftigt, die Leute am Verlassen der Stadt zu hindern und achten dabei nicht so sehr auf welche, die herein wollen.« Als er anfing, die Einzelheiten zu berichten, kam die Schwester von der Anmeldung herein.

Mary ließ sich von Dunworthy zur Notaufnahme begleiten, um zu sehen, ob er sie identifizieren könne. »Und du bleibst hier«, sagte sie zu Colin. »Du hast uns für eine Nacht genug Scherereien bereitet.«

Die beiden Neueinlieferungen waren Dunworthy unbekannt, aber das machte nichts. Sie waren bei vollem Bewußtsein und bereits dabei, dem Stationsarzt die Namen ihrer Kontaktpersonen zu geben, als Mary und er zu ihnen kamen. Er musterte die beiden eingehend, dann schüttelte er den Kopf. »Sie können zu der Menschenmenge in der High Street gehört haben, aber das kann ich nicht sagen.«

»Macht nichts«, meinte sie. »Sie können nach Hause gehen, wenn Sie wollen.«

»Ich dachte, ich würde besser hier bis zur Blutprobe warten«, sagte er.

»Ja, aber die ist erst…« Sie sah auf ihre Uhr. »Großer Gott, es ist schon sechs vorbei.«

»Ich werde hinaufgehen und bei Badri hineinschauen«, sagte er, »und anschließend im Warteraum sein.«

Badri schliefe, sagte die Stationsschwester. »Ich würde ihn nicht wecken.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Dunworthy und ging hinunter in den Warteraum.

Colin saß mit untergeschlagenen Beinen am Boden und suchte in seiner Tasche herum. »Wo ist Großtante Mary?« fragte er. »Sie ist ein bißchen sauer, daß ich aufgetaucht bin, nicht?«

»Sie dachte, du seist wieder in London und in Sicherheit«, sagte Dunworthy. »Deine Mutter erzählte ihr, daß dein Zug in Barton angehalten wurde.«

»Wurde er auch. Alle mußten aussteigen und mit einem Gegenzug zurückfahren.«

»Und du gingst beim Umsteigen verloren?«

»Nein. Ich hörte diese Leute über die Quarantäne sprechen, und daß diese schreckliche Krankheit ausgebrochen sei und alle sterben müßten und so weiter…« Er entleerte den Inhalt seiner Tasche auf den Boden: Kassetten und ein Taschenvideo, Kleingeld, Kaugummi, ein Taschenmesser, zerknitterte Fahrscheine und ein Paar schmutzige und abgestoßene Laufschuhe. Er war offensichtlich mit Mary verwandt. »Und ich wollte nicht über die Feiertage mit Eric herumsitzen und die ganze Aufregung versäumen.«

»Eric?«

»Der Untermieter meiner Mutter.« Er befreite seine große rote Kaugummikugel von anhaftenden Fasern und steckte sie in den Mund. Sie machte eine mumpsartige Beule in seiner Wange. »Er ist absolut nekrotisch«, sagte er kauend. »Er hat diese Wohnung unten in Kent, und da gibt es absolut nichts zu tun.«

»Also bist du in Barton ausgestiegen. Was hast du dann gemacht? Bist du zu Fuß nach Oxford gegangen?«

Er nahm den Kaugummi aus dem Mund. Er war nicht mehr rot, sondern von einer fleckig bläulichgrünen Farbe. Colin betrachtete ihn kritisch von allen Seiten und steckte ihn wieder in den Mund. »Natürlich nicht. Barton ist weit von Oxford. Ich nahm ein Taxi.«

»Natürlich«, sagte Dunworthy.

»Dem Fahrer sagte ich, daß ich für unsere Schulzeitung über die Quarantäne berichte und Videos von der Blockade machen wollte. Ich hatte meine Kamera bei mir, also war es die logische Erklärung.« Er hielt die kleine Videokamera hoch, um sein Argument zu unterstreichen, dann steckte er sie wieder in die Tasche und begann darin zu graben.

»Hat er dir geglaubt?«

»Ich denke schon. Er fragte mich nämlich, in welche Schule ich gehe, aber ich sagte bloß, ganz beleidigt: ›Das sollten Sie aber sehen‹, und er sagte St. Edward’s, und ich sagte: ›Natürlich‹. Er muß mir geglaubt haben. Schließlich brachte er mich bis zu den Absperrungen.«

Und ich sorgte mich, was Kivrin tun würde, wenn kein freundlicher Reisender des Weges käme, dachte Dunworthy. »Was hast du dann gemacht, der Polizei die gleiche Geschichte aufgebunden?«

Colin zog einen grünen Wollpullover aus der Reisetasche, legte ihn zusammen und deponierte ihn auf dem Mantel. »Nein. Als ich darüber nachdachte, war es doch eine ziemlich lahme Geschichte, ich meine, was gibt es schon zu sehen, um Aufnahmen davon zu machen? Es ist ja nicht wie ein Feuer, nicht? Also ging ich einfach auf den Posten zu, als ob ich ihn etwas über die Quarantäne fragen wollte, und dann sprang ich im letzten Augenblick zur Seite und unter der Schranke durch.«

»Liefen sie dir nicht nach?«

»Natürlich. Aber nicht weiter als ein paar Straßen. Denen kommt es darauf an, keine Leute herauszulassen. Wer hinein will, ist selbst schuld. Und dann ging ich eine Weile herum, bis ich ein Telefon fand.«

Wahrscheinlich hatte es während dieser Ereignisse die ganze Zeit geregnet, aber Colin hatte nichts davon erwähnt, und ein Taschenschirm war nicht unter den Gegenständen, die er ausgeräumt hatte.

»Der schwierigste Teil war, Großtante Mary zu finden«, sagte er. Er streckte sich aus und schob den Mantel unter seinen Kopf. »Ich ging zu ihrer Wohnung, aber sie war nicht da. Ich dachte, daß sie vielleicht noch in der U-Bahnstation auf mich wartete, aber die war geschlossen.« Er richtete sich auf, brachte den Wollpullover in eine günstigere Position und legte sich wieder hin. »Und dann dachte ich, daß sie ja Ärztin ist, und ich sagte mir, sie wird im Krankenhaus sein.«

Er richtete sich abermals auf, brachte den Mantel in eine andere Form, streckte sich aus und schloß die Augen. Dunworthy lehnte sich in dem unbequemen Sessel zurück und beneidete den Jungen. Colin schlief wahrscheinlich schon, nicht im mindesten aufgeregt oder beunruhigt über seine Abenteuer. Er war mitten in der Nacht in Oxford herumgelaufen, oder vielleicht hatte er weitere Taxis genommen oder ein zusammenklappbares Fahrrad aus seiner Tasche gezogen, ganz allein in einer kalten und regnerischen Winternacht, und er fand nicht einmal etwas dabei.

Kivrin konnte für sich selbst aufkommen. Wenn das Dorf nicht war, wo es sein sollte, würde sie gehen, bis sie es gefunden hätte, oder ein Taxi nehmen, oder sich irgendwo hinlegen, mit dem zusammengefalteten Umhang als Kopfkissen, und den furchtlosen Schlaf der Jugend schlafen.

Mary kam herein. »Beide waren gestern bei einer Tanzveranstaltung in Headington«, sagte sie mit gedämpfter Stimme.

»Auch Badri war dort«, flüsterte Dunworthy zurück.

»Ich weiß. Sie waren dort von neun bis zwei, was auf eine Inkubationszeit von fünfundzwanzig bis dreißig Stunden hinausläuft, wenn Badri derjenige war, der sie infizierte.«

»Sie meinen, er war es nicht?«

»Ich halte es für wahrscheinlicher, daß alle drei von derselben Person infiziert wurden.«

»Ein Überträger?«

Sie schüttelte den Kopf. »Im allgemeinen tragen die Leute keine Myxoviren mit sich herum, ohne selbst daran zu erkranken, aber er oder sie könnte eine nur leichte Manifestation gehabt oder die Symptome ignoriert haben.«

Dunworthy dachte, wie Badri an der Konsole zusammengebrochen war, und fragte sich, wie es möglich sei, die Symptome zu ignorieren.

»Und wenn diese Person«, fuhr Mary fort, »vor vier Tagen in South Carolina war…«

»Dann haben Sie Ihre Verbindung mit dem amerikanischen Virus.«

»Und Sie können aufhören, sich um Kivrin zu sorgen. Sie war nicht zum Tanzen in Headington«, sagte sie. »Natürlich ist die Verbindung wahrscheinlicher über mehrere Bindeglieder zustandegekommen.«

Sie runzelte die Stirn, und Dunworthy wußte, woran sie dachte. Mehrere Bindeglieder, die nicht in ein Krankenhaus eingeliefert wurden und vielleicht nicht einmal einen Arzt gerufen hatten. Mehrere Bindeglieder, die womöglich alle ihre Krankheitssymptome ignoriert hatten.

»Ihre Schellenläuter«, sagte Mary. »Wann sind sie in England angekommen?«

»Ich weiß es nicht. Aber sie kamen erst heute nachmittag in Oxford an, nachdem Badri am Netz war.«

»Fragen Sie sie trotzdem. Wann sie landeten, wo sie waren, ob jemand von ihnen krank geworden ist. Die eine oder andere von ihnen könnte Verwandte in Oxford haben und vor den anderen gekommen sein. Haben Sie amerikanische Studenten im College?«

»Nein. Montoya ist Amerikanerin.«

»Daran hatte ich nicht gedacht. Seit wann ist sie hier?«

»Das ganze Semester. Aber sie könnte mit Besuchern aus Amerika zusammengekommen sein.«

»Ich werde sie fragen, wenn sie zur Blutentnahme kommt«, sagte sie. »Und Sie fragen bitte Badri nach irgendwelchen amerikanischen Bekanntschaften, oder Studenten, die im Austausch in den Staaten waren.«

»Er schläft.«

»Das sollten Sie auch tun«, sagte sie. »Natürlich nicht jetzt.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Aber es ist nicht nötig, bis sieben zu warten. Ich werde jemanden hereinschicken, um die Blutproben zu nehmen, und dann können Sie nach Hause gehen und schlafen.« Sie nahm sein Handgelenk und sah auf die Uhr. »Unwohlsein? Frösteln?«

»Nein.«

»Kopfschmerzen?«

»Ja.«

»Das ist ein Zeichen von Erschöpfung.« Sie ließ sein Handgelenk los. »Ich werde gleich jemanden schicken.« Sie stand auf und blickte zu Colin, der ausgestreckt am Boden schlief. »Ihn müssen wir auch untersuchen. Seit er hier in der Klinik ist, besteht ein Infektionsrisiko.«

Colin schlief mit offenem Mund, aber der Kaugummi steckte fest in seiner Wange. »Wie soll es mit Ihrem Neffen weitergehen?« fragte Dunworthy. »Sie werden jetzt wenig Zeit für ihn haben. Soll ich ihn zum Balliol College mitnehmen?«

Sie sah ihn erleichtert und dankbar an. »Würden Sie das tun? Es ist mir sehr unangenehm, Sie mit ihm zu belasten, aber ich werde kaum nach Haus kommen, bis wir diese Geschichte unter Kontrolle haben.« Sie seufzte. »Armer Junge. Ich hoffe, sein Weihnachten wird nicht ganz verpfuscht sein.«

»Ich würde mir deswegen nicht zu viele Sorgen machen«, sagte Dunworthy.

»Nun, ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte sie. »Und ich werde mich gleich um die Blutentnahmen kümmern.«

Sie ging. Colin setzte sich sofort aufrecht.

»Was für Blutentnahmen?« fragte er. »Bedeutet das, daß ich das Virus kriegen könnte?«

»Ich hoffe nicht«, sagte Dunworthy. Er mußte an Badris dunkel gerötetes Gesicht denken, sein beschwerliches Atmen.

»Aber es könnte sein, nicht?«

»Die Gefahr ist gering«, sagte Dunworthy. »Reine Vorsichtsmaßnahme. Ich würde mir an deiner Stelle keine Gedanken machen.«

»Ich mache mir keine.« Er streckte den Arm aus. »Ich glaube, ich kriege Hautausschlag«, sagte er und zeigte auf eine gerötete Stelle.

»Das ist kein Symptom der Viruserkrankung«, sagte Dunworthy. »Pack deine Sachen zusammen. Nach der Blutentnahme nehme ich dich mit nach Haus.« Er nahm seinen Schal und den Mantel von den Stühlen, über die er sie gehängt hatte, und trug sie zur Garderobe.

»Wie sind die Symptome?«

»Fieber und Schwierigkeiten beim atmen«, sagte Dunworthy. Marys Einkaufstasche stand am Boden neben Latimers Stuhl. Er entschied, daß er sie am besten mitnehmen würde.

Die Schwester kam mit ihrem Tablett und den Instrumenten.

»Mir ist heiß«, sagte Colin. Er faßte sich mit dramatischer Gebärde an die Kehle. »Ich kriege keine Luft.«

Die Schwester wich erschrocken einen Schritt zurück. Auf dem Tablett klirrten die Glasfläschchen.

Dunworthy nahm Colins Arm. »Erschrecken Sie nicht«, sagte er zur Schwester. »Es ist nur ein Fall von Kaugummivergiftung.«

Colin grinste und entblößte furchtlos den Arm für die Blutentnahme, dann stopfte er den Pullover in die Tasche und zog Jacke und Mantel an, während Dunworthy sich die Blutprobe nehmen ließ.

»Dr. Ahrens sagte, Sie brauchen auf die Ergebnisse nicht zu warten«, sagte die Schwester und ging.

Dunworthy zog seinen Mantel an, nahm Marys Einkaufstasche und führte Colin den Korridor entlang und durch die Notaufnahme hinaus. Er konnte Mary nirgendwo sehen, aber sie hatte gesagt, daß sie nicht zu warten brauchten, und er war auf einmal so müde, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Sie verließen die Klinik. Draußen dämmerte der Morgen, und es regnete noch immer. Dunworthy zögerte unter dem Vordach und überlegte, ob er ein Taxi bestellen solle, aber er hatte kein Verlangen, womöglich Gilchrist zu begegnen, wenn er zur Blutentnahme käme, während sie noch warteten, und sich seine Pläne anzuhören, wie er Kivrin in die Zeit des Schwarzen Todes und zur Schlacht von Agincourt schicken würde. Er fischte Marys zusammenklappbaren Schirm aus ihrer Einkaufstasche und spannte ihn auf.

Montoya kam auf einem Fahrrad und bremste, daß das Hinterrad ins Rutschen kam und Wasser verspritzte. »Gut, daß Sie noch da sind. Ich muß Basingame finden.«

Den suchen wir alle, dachte Dunworthy und fragte sich, wo sie während all der Telefongespräche gewesen war.

Sie stieg ab, schob das Fahrrad in den Ständer und sperrte es ab. »Seine Sekretärin sagt, kein Mensch wisse, wo er ist. Können Sie das glauben?«

»Ja«, antwortete er. »Ich habe gestern den halben Tag mit Versuchen verbracht, ihn zu erreichen. Er macht Urlaub irgendwo in Schottland, niemand weiß genau, wo. Seine Frau sagt, er sei angeln.«

»Angeln? Um diese Jahreszeit?« sagte sie. »Wer würde im Dezember zum Angeln nach Schottland fahren? Sicherlich weiß seine Frau, wo er wirklich ist, oder hat eine Nummer, wo man ihn erreichen kann.«

Dunworthy schüttelte den Kopf.

»Das ist lächerlich! Ich nehme alle Mühen und Schwierigkeiten auf mich, um vom Gesundheitsamt freien Zugang zu meiner Ausgrabungsstätte zu erwirken, und Basingame ist in Urlaub!« Sie griff unter ihren Regenumhang und brachte ein Bündel farbiger Papiere zum Vorschein. »Das Gesundheitsamt ist bereit, mir eine Ausnahmegenehmigung zu erteilen, wenn der Dekan der Fakultät eine Erklärung unterschreibt, daß die Ausgrabung ein notwendiges Projekt und wesentlich für die Arbeit der Universität ist. Wie kann er einfach verschwinden, ohne jemandem zu sagen, wo er ist?« Sie schlug das Papierbündel gegen ihr Hosenbein, und Regentropfen flogen in alle Richtungen. »Ich muß das unterschreiben lassen, bevor die ganze Ausgrabung wegschwimmt. Wo ist Gilchrist?«

»Er sollte bald hier sein, um die Blutentnahme machen zu lassen«, sagte Dunworthy. »Sollte es Ihnen gelingen, Basingame zu erreichen, sagen Sie ihm bitte, daß er sofort zurückkommen muß. Sagen Sie ihm, daß wir hier eine Quarantäne haben, nicht wissen, wo eine Historikerin ist, und aus dem Techniker nichts herausbringen können, weil er zu krank ist.«

»Angeln!« sagte Montoya kopfschüttelnd und ging zum Eingang der Notaufnahme. »Wenn meine Grabung ruiniert ist, wird er es zu verantworten haben.«

»Kommt mit«, sagte Dunworthy zu Colin, denn ihm lag daran, fort zu sein, bevor noch jemand kam. Er hielt den Schirm so, daß er auch Colin Schutz gewährte, gab aber bald auf, weil Colin entweder vorauslief und dabei in jede Pfütze patschte, oder zurückblieb, um in Schaufenster zu sehen oder gestrandete Regenwürmer vom Pflaster aufzusammeln und unter die Sträucher der Vorgärten zu schlenkern.

Die Straßen lagen menschenleer, doch ob es eine Folge der Quarantäne war oder an der frühen Stunde lag, vermochte Dunworthy nicht zu sagen. Vielleicht schlafen sie alle, dachte er, und wir können hineinschlüpfen und gleich zu Bett gehen.

»Ich dachte, es wäre mehr los«, sagte Colin enttäuscht. »Sirenen und Krankenwagen und alles.«

»Und Leichenkarren, die mit dem Ruf ›Bringt eure Toten heraus!‹ durch die Straßen gezogen werden?« sagte Dunworthy. »Du hättest mit Kivrin gehen sollen.

Im Mittelalter war Quarantäne viel aufregender als dieses sein wird, mit nur vier Erkrankungsfällen und einem Impfserum, das schon von den Vereinigten Staaten eingeflogen wird.«

»Wer ist Kivrin?« fragte Colin. »Ihre Tochter?«

»Sie ist eine Studentin von mir. Sie ist gerade ins Jahr 1320 gegangen.«

»Zeitreise? — Apokalyptisch!«

Sie bogen um die Ecke der Broad Street. »Das Mittelalter«, sagte Colin. »Das ist Napoleon, nicht? Trafalgar und das alles?«

»Es ist der Hundertjährige Krieg«, sagte Dunworthy, und Colin schaute verständnislos. Was brachten sie den Kindern heutzutage in den Schulen bei? »Ritter und Damen und Burgen.«

»Die Kreuzzüge?«

»Die Kreuzzüge waren ein bißchen früher.«

»Dahin möchte ich gern. In die Zeit der Kreuzzüge.«

Sie erreichten das Tor vom Balliol College. »Still jetzt«, sagte Dunworthy. »Alle werden schlafen.«

Im Pförtnerhäuschen war niemand, und der vordere Hof lag menschenleer. In der Halle waren Lichter an, wahrscheinlich frühstückten die Schellenläuter, aber im Salvin und im Klubzimmer des Lehrkörpers war alles dunkel. Wenn sie ungesehen die Treppe hinaufkämen und ohne daß Colin plötzlich verkündete, er habe Hunger, könnten sie es ungefährdet zu seinen Räumen schaffen.

»Pst«, sagte er, rückwärts zu Colin gewandt, der auf dem Hof stehengeblieben war, um den Kaugummi herauszunehmen und seine Farbe zu untersuchen, die jetzt der eines frischen Blutergusses glich. »Wir wollen nicht alle wecken«, sagte er, den Finger an den Lippen, wandte sich um und sah sich einem Paar gegenüber, das gerade aus dem Durchgang kam.

Beide trugen Regenmäntel, und bevor sie auf den Hof herauskamen, umarmte der junge Mann seine Partnerin, ohne Dunworthys Annäherung zu beachten, aber das junge Mädchen machte sich los und sah ängstlich und verlegen aus. Sie hatte kurzes rotes Haar und trug eine Schwesternuniform unter ihrem Regenmantel. Der junge Mann war William Gaddson.

»Ihr Benehmen ist der Zeit und dem Ort unangemessen«, sagte Dunworthy streng. »Öffentlich Schaustellungen von Zärtlichkeit sind im College strikt untersagt. Sie sind auch unklug, da Ihre Mutter jeden Augenblick eintreffen kann.«

»Meine Mutter?« Seine Bestürzung schien nicht geringer als Dunworthys gewesen war, als er sie mit dem Koffer durch den Korridor hatte kommen sehen. »Hier? In Oxford? Was macht sie hier? Ich dachte, wir stünden unter Quarantäne.«

»So ist es, aber Mutterliebe kennt keine Grenzen. Sie sorgt sich um Ihre Gesundheit, was auch ich tue, in Anbetracht der Umstände.« Er sah William und das junge Mädchen stirnrunzelnd an. »Ich schlage vor, Sie begleiten Ihre Mittäterin nach Hause und treffen dann Vorbereitungen für die Ankunft Ihrer Mutter.«

»Vorbereitungen?« sagte er schreckerfüllt. »Sie meinen, sie wird bleiben?«

»Es bleibt ihr nichts anderes übrig, fürchte ich. Wir stehen unter Quarantäne.«

Im Treppenhaus ging das Licht an, und gleich darauf kam Finch heraus. »Gott sei Dank, daß Sie hier sind, Mr. Dunworthy!«

Er hatte ein Bündel farbiger Papiere in der Hand, mit dem er Dunworthy zuwinkte. »Das Gesundheitsamt hat uns gerade weitere dreißig zurückgehaltene Personen geschickt. Ich erklärte, daß wir keinen Platz mehr haben, aber sie wollten nicht auf mich hören, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir haben einfach nicht die notwendigen Vorräte für all diese Menschen.«

»Toilettenpapier«, sagte Dunworthy.

»Ja!« bekräftigte Finch. »Und Lebensmittelvorräte.

Allein heute morgen ist die Hälfte unserer Vorräte an Speck und Eiern draufgegangen.«

»Speck und Eier?« sagte Colin. »Sind noch welche übrig?«

Finch blickte fragend von ihm zu Dunworthy.

»Er ist Dr. Ahrens Neffe«, sagte dieser, und bevor Finch wieder loslegen konnte: »Er wird bei mir bleiben.«

»Nun, das ist gut, denn ich habe einfach keinen Platz mehr für eine weitere Person.«

»Wir sind beide die ganze Nacht aufgewesen, Mr. Finch, also…«

»Hier ist die Vorratsliste nach dem Stand von heute morgen.« Er gab Dunworthy ein feuchtes blaues Papier. »Wie Sie sehen können…«

»Mr. Finch, ich weiß Ihre Sorgen um die Vorräte zu würdigen, aber das kann sicherlich warten bis…«

»Dies ist eine Liste Ihrer Anrufer. Diejenigen, die mit Sternchen markiert sind, wollen Sie bitte zurückrufen. Und dies ist eine Liste Ihrer Verabredungen. Der Vikar bittet, daß Sie sich um Viertel nach sechs in St. Mary einfinden, um für die Christmette zu üben.«

»Ich werde all diese Anrufe erwidern, aber erst nachdem ich…«

»Dr. Ahrens rief zweimal an. Sie wollte wissen, was Sie über die Schellenläuter in Erfahrung gebracht haben.«

Dunworthy gab auf. »Bringen Sie die neu zugewiesenen Personen in den renovierten Räumen unter, immer drei in einem Zimmer. Im Keller sind zusätzliche Feldbetten.«

Finch öffnete den Mund zum Protest.

»Den Geruch von Farbe werden sie in Kauf nehmen müssen.«

Er reichte Colin die Einkaufstasche und den Schirm. »Das Gebäude dort drüben, wo im Speisesaal das Licht brennt«, sagte er und zeigte zur Tür. »Sag den Dienern, daß du ein Frühstück möchtest. Danach soll einer von ihnen dir die Tür zu meinen Räumen aufsperren.«

Er wandte sich zu William, der seine Hände in den Regenmantel der jungen Krankenschwester gesteckt hatte. »Mr. Gaddson, rufen Sie ein Taxi für Ihre Mittäterin und gehen Sie dann zu den Studenten, die während der Ferien hier gewesen sind und erkundigen Sie sich, ob sie in der vergangenen Woche in den Staaten gewesen sind oder Kontakt mit jemandem hatten, der oder die von dort gekommen ist. Legen Sie eine Liste an. Sie sind nicht kürzlich in den Staaten gewesen, nicht wahr?«

»Nein, Sir«, sagte er und ließ von der Krankenschwester ab. »Ich bin die ganzen Ferien dagewesen und habe Petrarca gelesen.«

»Ah, ja, Petrarca«, sagte Dunworthy. »Fragen Sie die Studenten auch, was sie über Badri Chaudhuris Aktivitäten von Montag an wissen und befragen Sie auch das Personal. Ich muß wissen, wo er war und mit wem. Einen gleichen Bericht brauche ich über Kivrin Engle.

Wenn Sie gründliche Arbeit leisten und sich weiterer öffentlicher Schaustellungen von Zärtlichkeit enthalten, werde ich dafür sorgen, daß Ihrer Mutter ein Raum zugewiesen wird, der von Ihrem so weit wie möglich entfernt ist.«

»Danke, Sir«, sagte William. »Das würde mir sehr viel bedeuten, Sir.«

»Nun, Mr. Finch, wenn Sie mir sagen können, wo ich Mrs. Taylor finden kann?«

Finch gab ihm weitere Blätter mit einer Aufstellung der Räume, die er ihnen zugewiesen hatte, aber Mrs. Taylor war nicht dort. Sie befand sich mit ihren Schellenläutern und den, wie es schien, noch nicht untergebrachten Personen, die das Gesundheitsamt geschickt hatte, im Clubzimmer des Lehrkörpers.

Er hatte den Raum kaum betreten, als eine imposante Frau in einem Pelzmantel auf ihn zusteuerte. »Haben Sie dies hier unter sich?« verlangte sie zu wissen.

Bestimmt nicht, dachte Dunworthy. »Ja«, sagte er.

»Nun, was gedenken Sie zu tun, um uns eine Schlafgelegenheit zu verschaffen? Wir sind die ganze Nacht aufgewesen.«

»Ich auch, Madam«, sagte Dunworthy. Er ahnte bereits, daß er es mit Mrs. Taylor zu tun hatte. Am Telefon hatte sie dünner und weniger gefährlich ausgesehen, aber Bildwiedergaben konnten trügerisch sein, besonders im Kleinformat, und der Akzent wie die Haltung waren unverkennbar. »Sie sind nicht vielleicht Mrs. Taylor?«

»Ich bin Mrs. Taylor«, sagte eine Frau in einem der Lehnstühle. Sie stand auf. In ihrer Wirklichkeit sah sich noch dünner aus als am Telefon, und anscheinend weniger erbost. »Ich sprach mit Ihnen am Telefon«, sagte sie in einem Ton, als hätten sie freundschaftlich über die Feinheiten des Schellenläutens geplaudert. »Dies ist Mrs. Piantini, unser Tenor«, sagte sie mit einem Blick zu der Frau im Pelzmantel.

Mrs. Piantini sah aus, als könnte sie eine Glocke von zweihundert Zentnern aus ihrem Glockenstuhl reißen. Sie hatte in letzter Zeit offensichtlich keine Viruskrankheiten gehabt.

»Könnte ich Sie einen Moment unter vier Augen sprechen, Mrs. Taylor?« Er führte sie in den Korridor hinaus. »Konnten Sie Ihr Konzert in Ely absagen?«

»Ja. Und in Norwich. Die Leute waren sehr verständnisvoll.« Sie beugte sich mit besorgtem Ausdruck näher. »Trifft es zu, daß es Cholera ist?«

Dunworthy starrte sie an. »Cholera?«

»Eine der Frauen, die unten am Bahnhof war, sagte, es sei die Cholera. Jemand habe sie aus Indien eingeschleppt, und die Leute fielen auf der Straße um und stürben wie die Fliegen.«

Anscheinend war es nicht ein guter Nachtschlaf gewesen, sondern die nackte Angst, welche die Änderung in ihrem Verhalten bewirkt hatte. Wenn er ihr erzählte, daß es nur vier Fälle gab, würde sie sehr wahrscheinlich verlangen, sofort mit einem Bus nach Ely gebracht zu werden.

»Der Krankheitserreger ist anscheinend ein Myxovirus«, sagte er vorsichtig. »Wann ist Ihre Gruppe nach England gekommen?«

Ihre Augen weiteten sich. »Sie meinen, wir hätten die Krankheit eingeschleppt? Wir waren nicht in Indien.«

»Es besteht die Möglichkeit, daß es der gleiche Myxovirus ist, wie er aus South Carolina gemeldet wurde. Gibt es in Ihrer Gruppe Mitglieder, die von dort kommen?«

»Nein«, sagte sie. »Wir sind alle aus Colorado, bis auf Mrs. Piantini. Sie ist aus Wyoming. Und keine von uns ist krank gewesen.«

»Wie lange sind Sie schon in England?«

»Drei Wochen. Wir haben alle traditionellen Domkapitel besucht und Schellenkonzerte gegeben. Das sind Handglocken«, fügte sie erklärend hinzu. »Wir gaben ein Bostoner Wechselgeläute auf sieben Glocken in St. Katherine, und einen Zapfenstreich mit drei von den Schellenläutern aus Bury St. Edmunds, aber das waren natürlich keine neuen Glockenspiele. Ein Moll-Dreiklang wie die Chicagoer Überraschung…«

»Und Sie sind alle gestern morgen in Oxford eingetroffen?«

»Ja.«

»Niemand von Ihnen kam schon früher, um etwas zu besichtigen oder Freunde zu besuchen?«

»Nein«, sagte sie, und es klang schockiert. »Wir sind auf Tournee, Mr. Dunworthy, nicht auf einer Urlaubsreise.«

»Und Sie sagten, daß keine der Damen Ihrer Gruppe krank gewesen ist?«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir können es uns nicht leisten, krank zu werden. Wir sind nur sieben.«

»Ich bedanke mich für Ihre Hilfe«, sagte Dunworthy und schickte sie zurück in den Clubraum.

Er rief Mary an, die nicht zu finden war, hinterließ eine Botschaft und machte die Anrufe, die Finch auf seiner Liste mit Sternchen versehen hatte. Er rief im Andrews College, im Jesus College und in St. Mary an, ohne durchzukommen, und auch sein Anruf bei Mr. Basingames Sekretärin blieb ohne Erfolg. Er legte auf, wartete fünf Minuten lang und fing von vorn an. Während einer der Pausen rief Mary an.

»Warum sind Sie noch nicht im Bett?« fragte sie. »Sie sehen erschöpft aus.«

»Ich habe die Schellenläuter befragt«, sagte er. »Sie sind seit drei Wochen hier in England. Keine von ihnen kam vor gestern nachmittag nach Oxford, und keine ist krank. Soll ich in die Klinik zurückkommen und mit Badri sprechen?«

»Es wird nichts nützen, fürchte ich. Er ist nicht bei klarem Verstand.«

»Ich versuche beim Jesus College durchzukommen und zu erfahren, was sie dort von seinem Umgang und seinen Lebensgewohnheiten wissen.«

»Gut«, sagte sie. »Fragen Sie auch seine Vermieterin. Und legen Sie sich aufs Ohr. Ich möchte nicht, daß Sie auch krank werden.« Sie machte eine Pause. »Wir haben sechs weitere Fälle.«

»Jemand aus South Carolina?«

»Nein. Und niemand, der nicht mit Badri in Berührung gekommen sein konnte. Also ist er noch immer die Schlüsselfigur. Ist Colin bei Ihnen?«

»Er frühstückt«, sagte er. »Es geht ihm gut. Sorgen Sie sich nicht um ihn.«

Er kam erst nach halb zwei am Nachmittag ins Bett. Zwei Stunden benötigte er allein, um alle mit Sternchen versehenen Namen auf Finchs Liste zu erreichen, und eine weitere Stunde, um zu entdecken, wo Badri wohnte. Seine Vermieterin war nicht zu Hause, und als Dunworthy zurückkam, bestand Finch darauf, die gesamte Inventarliste der Vorräte mit ihm durchzugehen.

Schließlich entfloh Dunworthy mit dem Versprechen, die Gesundheitsbehörde anzurufen und zusätzliche Lebensmittel und Toilettenpapier für die einquartierten Personen zu verlangen.

Colin lag zusammengerollt auf der Polsterbank am Fenster und hatte sich mit einem Laborkittel zugedeckt, der, bedingt durch den Rückenschlitz, nicht einmal seine Beine bedeckte. Dunworthy nahm eine Decke vom Fußende des Bettes und deckte ihn zu, dann setzte er sich auf das Sofa gegenüber, um sich die Schuhe auszuziehen. Er war beinahe zu müde, um auch nur das zu tun, obwohl ihm klar war, daß er es bedauern würde, wenn er sich mit seinen Kleidern ins Bett legte. Das war Sache der Jungen und Nichtarthritiker. Colin würde trotz der beengenden Ärmel und Knöpfe erfrischt aufwachen. Kivrin konnte sich in ihren gefütterten Umhang wickeln und den Kopf an einen Baumstumpf lehnen und trotz der winterlichen Temperaturen gesundschlafen, aber wenn er auch nur ein Kissen wegließ oder das Hemd anbehielt, würde er steif und verkrampft aufwachen. Und wenn er hier mit den Schuhen in der Hand sitzen bliebe, würde er überhaupt nicht ins Bett kommen.

Er hievte sich vom Sofa, die Schuhe in der Hand, und tappte ins Schlafzimmer. Er zog den Pyjama an und schlug die Bettdecke zurück. Das Bett sah unglaublich einladend aus.

Ich werde schlafen, ehe mein Kopf auf dem Kissen liegt, dachte er beim Abnehmen der Brille. Er stieg ins Bett und zog die Decke über sich. Zum Fenster drang kaum Licht herein, nur ein stumpfes Grau, das durch das dunklere Geflecht des wilden Weins schien. Der Regen raschelte leise auf die vertrockneten Blätter, die sich da und dort gehalten hatten. Ich hätte die Vorhänge zuziehen sollen, dachte er, war aber zu müde, um noch einmal aufzustehen.

Wenigstens brauchte Kivrin nicht den Regen zu ertragen. Wo sie war, herrschte die Kleine Eiszeit, und wenn es Niederschläge gab, würden sie als Schnee fallen. Die Zeitgenossen hatten zusammengedrängt um das Herdfeuer geschlafen, bis endlich jemandem der Gedanke gekommen war, den Kamin und den gemauerten Ofen zu erfinden, und das war in den Dörfern dieser Gegend erst um die Mitte des 15. Jahrhunderts geschehen. Aber Kivrin würde es nichts ausmachen; sie würde sich wie Colin zusammenrollen und den festen, den nicht gebührend gewürdigten Schlaf der Jugend schlafen.

Der Regen schien allmählich in ein Nieseln überzugehen, denn er hörte ihn nicht mehr an die Fensterscheibe klopfen. Es war so dunkel, und doch zu früh, um schon Abend zu werden. Er zog die Hand unter der Decke hervor und sah auf die Leuchtziffern seiner Digitaluhr. Erst zwei. Wo Kivrin war, würde es sechs Uhr nachmittags sein. Sobald er aufwachte, mußte er sich noch einmal die Fixierung durchgeben lassen, so daß sie genau wissen würden, wo und wann sie war.

Badri hatte von minimaler Verschiebung gesprochen, und daß er die Koordinaten des Technikerlehrlings überprüft und richtig gefunden hatte, aber Dunworthy wollte sich zusätzlich vergewissern. Gilchrist hatte keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, und selbst mit Vorsichtsmaßnahmen konnte etwas schiefgehen. Der heutige Tag hatte es bewiesen.

Badri hatte alle Schutzimpfungen bekommen. Colins Mutter hatte ihren Sohn zur Bahn gebracht und ihm zusätzlich Geld gegeben. Als Dunworthy das erste Mal in London gewesen war, wäre ihm die Rückkehr beinahe nicht gelungen, und sie hatten endlose Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.

Es war ein einfaches Hin und Zurück gewesen, um das Netz am Absetzort zu erproben. Nur ein Sprung von dreißig Jahren. Dunworthy sollte zum Trafalgar Square gehen, die U-Bahn von Charing Cross nach Paddington und dann den Zug nach Oxford nehmen, wo das Hauptnetz offen sein würde. Sie hatten reichlich Zeit eingerechnet, das Netz wieder und wieder überprüft, die alten Fahrpläne studiert und die Daten auf Banknoten und Hartgeld kontrolliert. Und als er zum Bahnhof Charing Cross gekommen war, hatte er die U-Bahnstation geschlossen vorgefunden. Die Lichter in den Fahrkartenschaltern waren aus, der Eingang mit einem Scherengitter vor den hölzernen Drehkreuzen verschlossen.

Er zog die Decke bis zum Kinn. Alles mögliche konnte schiefgegangen sein, Dinge, an die keiner auch nur gedacht hatte. Wahrscheinlich war Colins Mutter nie der Gedanke gekommen, daß der Zug in Barton angehalten würde. Niemand hätte sich träumen lassen, daß Badri plötzlich über die Konsole fallen würde.

Mary hat recht, dachte er, du bist nicht besser als Mrs. Gaddson mit ihrer krankhaften Fürsorglichkeit. Kivrin überwand alle Hindernisse, um den Sprung ins Mittelalter zu tun. Selbst wenn etwas schiefgehen sollte, sie kann damit fertig werden. Colin hatte sich von einer Kleinigkeit wie einer Quarantäne nicht aufhalten lassen. Und Dunworthy war schließlich sicher aus London zurückgekehrt.

Er hatte gegen das geschlossene Scherengitter geschlagen, dann war er die Treppe wieder hinaufgerannt, um die Schilder noch einmal zu lesen, weil er dachte, er habe vielleicht den falschen Eingang genommen. Es war der richtige gewesen. Er hatte nach einer Uhr Ausschau gehalten. Vielleicht war die Verschiebung größer gewesen, als die Überprüfungen außer Betrieb. Aber die Uhr über dem Eingang zeigte neun Uhr fünfzehn.

»Unfall«, sagte ein heruntergekommen aussehender Mann mit einer schmierigen Mütze. »Sie haben dichtgemacht, damit sie aufräumen können.«

»Aber ich muß die Linie nach Bakerloo nehmen«, stammelte er. Der Mann schlurfte davon.

Er stand da, starrte den dunklen Stationseingang an und wußte nicht, was er tun sollte. Für ein Taxi reichte das mitgebrachte Geld nicht und Paddington war weit entfernt. Er würde den 10:48 Uhr-Zug nie erreichen.

»Wo willst’n hin, Alter?« fragte ihn ein junger Mann in einer schwarzen Lederjacke, das grüne Haar wie ein Hahnenkamm aufgestellt. Dunworthy mußte sich erst besinnen, mit wem er es zu tun hatte. Ein Punker, dachte er. Der junge Mann schob sich drohend näher.

»Paddington«, sagte er, und es kam als ein jämmerliches Quäken heraus.

Der Punker griff in seine Jackentasche, um, wie Dunworthy vermutete, sein Klappmesser zu ziehen, brachte statt dessen aber eine laminierte U-Bahn-Monatskarte zum Vorschein und studierte den Streckenplan auf der Rückseite.

»Kannst die Ringlinie vom Themsekai nehmen«, sagte er. »Die Craven Street runter und dann links.«

Er war die ganze Strecke gerannt, überzeugt, daß die Bande des Punkers ihn aus einer Durchfahrt oder einem Hauseingang anfallen und ihm das echte historische Geld abnehmen würde, und als er zur Station Themsekai gekommen war, hatte er nicht gewußt, wie er den Fahrkartenautomaten bedienen sollte.

Eine Frau mit zwei Kleinkindern hatte ihm gezeigt, wie man den Zielort drückte, den angezeigten Betrag einwarf und dann die ausgegebene Fahrkarte richtig herum in den Schlitz steckte. So war er nicht nur rechtzeitig zum Bahnhof Paddington gekommen, sondern hatte noch Zeit übrig gehabt.

Kivrin hatte ihn gefragt, ob es denn keine netten Leute im Mittelalter gebe, und natürlich mußte es welche geben. Junge Männer mit Klappmessern und Streckenplänen der U-Bahn hatte es zu allen Zeiten gegeben. Auch Mütter mit Kleinkindern und Latimers und Mrs. Gaddsons. Und Gilchrists.

Er wälzte sich auf die andere Seite. Sie wird ohne weiteres zurechtkommen, sagte er sich. Das Mittelalter ist für eine tüchtige, entschlossene und umsichtige Person wie sie kein Problem. Meine beste Schülerin. Er zog sich die Decke über die Schulter und schloß die Augen, dachte an den jungen Mann mit der grünen Irokesenfrisur, wie er sich über den Streckenplan gebeugt hatte. Aber das Bild, das vor sein inneres Auge trat, war das des Scherengitters zwischen ihm und den Drehkreuzen, und der im Dunkeln liegenden Station dahinter.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(015104–016615)

19. Dezember 1320 (alter Zeitrechnung). Ich fühle mich besser und kann schon drei oder vier vorsichtige Atemzüge hintereinander tun, ohne zu husten, und heute früh war ich wirklich hungrig, wenn auch nicht nach der fettigen Hafergrütze, die Maisry mir brachte. Für einen Teller Spiegeleier auf Speck könnte ich jemanden umbringen.

Und für ein Bad. Ich bin völlig verdreckt. Außer meiner Stirn ist seit meiner Ankunft nichts gewaschen worden, und die beiden letzten Tage hat Frau Imeyne mir Umschläge aus Leinenstreifen, die mit einem abscheulich riechenden Brei bedeckt waren, auf die Brust geklebt. Diese Umschläge, meine Ungewaschenheit, die wiederkehrenden Schweißausbrüche und das Bettzeug (das seit dem 13. Jahrhundert nicht gewechselt worden ist) — alles vermischt sich zu einem abscheulichen Gestank, und mein Haar, so kurz es ist, krabbelt nur so von Läusen. Dabei bin ich hier noch die sauberste Person.

Dr. Ahrens hatte recht mit ihrem Vorschlag, meine Nase zu kauterisieren. Alle, sogar die kleinen Mädchen, riechen fürchterlich, und das bei Eiseskälte mitten im Winter. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es erst im August sein muß. Alle haben Flöhe und Läuse. Frau Imeyne bricht sogar mitten im Gebet ab, um sich zu kratzen, und als Agnes den Rocksaum hob, um mir das Knie zu zeigen, war das ganze Bein mir roten Bissen bedeckt.

Eliwys, Imeyne und Rosemund haben vergleichsweise saubere Gesichter, aber sie waschen sich nicht die Hände, auch nicht nach dem Entleeren des Nachttopfes, und die Vorstellung, den Wollabfall in den Kissen und die Füllungen der Strohsäcke auszuwechseln, muß erst noch den Weg in die Gehirne finden. Von Rechts wegen müßten sie alle längst an Infektionen gestorben sein, doch außer Skorbut und vielen schlechten Zähnen scheinen alle bei guter Gesundheit zu sein. Sogar Agnes’ Knie heilt sehr schön. Jeden Tag kommt sie, mir die Kruste zu zeigen. Und ihre silberne Schnalle, und den hölzernen Ritter, und den armen, übermäßig geliebten Blackie.

Sie ist ein Schatzkästlein von Information, und das meiste gibt sie von sich aus zum besten, ohne daß ich danach frage. Rosemund ist »in ihrem dreizehnten Jahr«, was bedeutet, daß sie zwölf ist, und der Raum, wo sie mich untergebracht haben und pflegen, ist ihr Damengemach. Es ist schwer vorstellbar, daß sie im heiratsfähigen Alter ist und so ein privates Gemach hat, aber im Mittelalter wurden Mädchen oft mit dreizehn und vierzehn verheiratet. Eliwys kann kaum älter gewesen sein, als sie heiratete. Agnes verriet mir auch, daß sie drei ältere Brüder hat, die alle bei ihrem Vater in Bath sind.

Die Glocke im Südwesten ist Swindone. Agnes kann alle Glocken nach ihrem Klang bestimmen. Die entfernte Glocke, die immer zuerst läutet, ist die von Osney, die zwei Glocken sind in Courcy, wo Sir Bloet wohnt, und die beiden nächsten sind Witenie und Esthcote. Das heißt, daß ich nahe bei Skendgate bin, daß dieser Ort sehr gut Skendgate sein kann. Er hat die Eschenbäume, ist ungefähr von der richtigen Größe, und die Kirche steht an der richtigen Stelle. Die Kirche der Ausgrabung hatte keinen Glockenturm, aber vielleicht hat Mrs. Montoya seine Fundamentreste einfach noch nicht gefunden. Unglücklicherweise ist der Name des Dorfes der eine Punkt, über den Agnes mir nichts sagen kann.

Sie wußte aber, wo Gawyn war. Sie sagte mir, er sei ausgeritten, um meine Angreifer zu jagen. »Und wenn er sie findet, wird er sie mit seinem Schwert erschlagen. So«, sagte sie und demonstrierte es mit Blackie. Natürlich bin ich nicht sicher, daß ihre Auskünfte immer verläßlich sind. Sie erzählte mir, König Eduard sei in Frankreich, und daß Pater Roche den Teufel gesehen habe, ganz in Schwarz gekleidet und auf einem Rappenhengst.

Dieses letztere ist möglich. (Daß Pater Roche ihr das erzählt hat, nicht daß er den Teufel sah.) Die Grenze zwischen der geistigen und der physikalischen Welt erfuhr erst in der Renaissance eine genaue Festlegung, und die Zeitgenossen hatten ständig Visionen von Engeln, dem Jüngsten Gericht, der Jungfrau Maria.

Frau Imeyne beklagt bei jeder Gelegenheit die Unwissenheit, das Analphabetentum und die Unfähigkeit Pater Roches. Nach wie vor versucht sie Eliwys zu überzeugen, daß Gawyn nach Osney geschickt werden muß, um einen Mönch zu holen.

Als ich sie fragte, ob sie nach ihm schicken würde, damit er mit mir beten könne (Ich fand, daß diese Frage nicht als unziemlich oder frech betrachtet werden könne), hielt sie mir einen halbstündigen Vortrag über die Unzulänglichkeiten des Dorfpfarrers: wie er einen Teil der Epistel vergessen habe, die Altarkerzen, statt sie am brennenden Docht auszudrücken, auszublasen pflege, wobei »viel Wachs vergeudet« werde, und die Köpfe der Knechte und Mägde mit abergläubischem Geschwätz fülle (zweifellos über den Teufel und sein Pferd).

Mittelalterliche Dorfpfarrer waren Bauern, denen die Messe durch bloße Übung und Auswendiglernen der lateinischen Liturgie vertraut gemacht worden war. Für mich riechen sie alle gleich, aber der Adel betrachtete seine Diener und leibeigenen Bauern als Menschen einer völlig anderen Art, und ich bin überzeugt, daß der tiefere Grund von Imeynes Mißvergnügen ihre Abneigung ist, vor diesem gesellschaftlich unter ihr stehenden »Schelm« die Beichte abzulegen.

Er ist sicherlich abergläubisch und analphabetisch wie sie behauptet. Aber er ist nicht unfähig. Er hielt mir die Hand und tröstete mich, als ich im Sterben lag. Er sagte mir, es sei nichts zu fürchten. Und ich fürchtete mich nicht.


(Unterbrechung)

Mein Befinden bessert sich geradezu sprunghaft. Heute nachmittag saß ich eine halbe Stunde aufrecht, und heute abend ging ich zum Essen hinunter. Eliwys brachte mir einen braunen Frauenrock aus grober Wolle, einen senffarbenen Überrock und eine Art Kopftuch, um mein abgeschnittenes Haar zu bedecken (keine Haube mit Schleier, also muß sie mich noch immer für eine unverheiratete Jungfrau halten, trotz Imeynes Reden über Ehebrecherinnen). Ich weiß nicht, ob meine eigenen Kleider unpassend oder einfach zu schön waren, um jeden Tag getragen zu werden. Eliwys sagte nichts. Sie und Imeyne halfen mir beim Ankleiden. Ich wollte fragen, ob ich mich waschen könne, bevor ich die neuen Kleider anlegte, möchte aber alles vermeiden, was Imeyne noch argwöhnischer machen kann.

Sie beobachtete mich beim Binden des Kopftuches und beim Anziehen der Schuhe und behielt mich während der ganzen Mahlzeit im Auge. Ich saß zwischen den Mädchen und teilte ein Schneidbrett mit ihnen. Der Verwalter wurde ans Ende der Tafel verbannt, und Maisry war nicht zu sehen. Nach Mr. Latimers Feststellungen pflegte der Priester der Pfarrei am Tisch des Grundherren zu essen, aber Frau Imeyne schätzt wahrscheinlich auch Pater Roches Tischsitten nicht.

Es gab Fleisch, ich glaube Wild, und Brot. Das Wildbret schmeckte nach Zimt, Salz und längerer Lagerung, und das Brot war steinhart, aber es war besser als Gerstengrütze, und ich glaube nicht, daß ich gegen die Tischsitten verstieß.

Andererseits ist mir klar, daß ich die ganze Zeit Fehler machen muß, und sie sind es, die Frau Imeyne so mißtrauisch machen. Meine Kleider, meine Hände, wahrscheinlich auch mein Satzbau sind ein wenig (oder nicht nur ein wenig) abweichend von der Norm dieser Zeit, und alles zusammen läßt mich ausländisch, eigenartig und verdächtig erscheinen.

Eliwys ist zu sehr in Sorge um ihren Mann und sein Gerichtsverfahren, um meine Fehler zu bemerken, und die Mädchen sind zu jung. Imeyne aber bemerkt alles und legt wahrscheinlich eine Liste wie jene an, die sie von den Fehlern Pater Roche zusammengestellt hat. Es ist ein Glück, daß ich mich nicht als Isabel de Beauvrier ausgab. Sie wäre selbst nach Yorkshire geritten, Winter oder nicht, nur um mich zu überführen.

Gawyn kam nach dem Abendessen herein. Maisry, die schließlich mit einem feuerroten Ohr und einer hölzernen Schale Bier hereingeschlüpft war, hatte die Bänke zur Herdstelle gezogen und mehrere Scheite harzreiches Kiefernholz ins Feuer gelegt, und die Frauen nähten in seinem gelben, flackernden Licht.

Gawyn hängte seinen Umhang und die Mütze in den Durchgang neben der inneren Schutzwand. Anscheinend war er gerade von einem Ausritt zurückgekehrt, und zuerst bemerkte ihn niemand. Rosemund saß über ihre Stickerei gebeugt, Agnes schob ihren Karren mit dem hölzernen Ritter darin hin und her, und Eliwys sprach mit Imeyne über den kranken Häusler, dessen Zustand offenbar nicht sehr gut ist. Der Rauch vom Feuer zog in meine Richtung und schmerzte in den Bronchien, und um nicht husten zu müssen, wandte ich den Kopf weg und sah Gawyn neben dem Durchgang stehen und zu Eliwys blicken.

Kurz darauf fuhr Agnes mit ihrem Karren gegen Imeynes Fuß, und die alte Frau sagte ihr, sie sei des Teufels eigenes Kind, und Gawyn kam in die Diele. Ich schlug den Blick nieder und hoffte, er werde mich ansprechen.

Das tat er, nachdem er vor meinem Platz das Knie gebeugt hatte. »Gnädiges Fräulein«, sagte er, »ich bin froh, Euch wiederhergestellt zu sehen.«

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf sagen sollte oder ob eine Erwiderung überhaupt schicklich war. So beugte ich den Kopf tiefer und schwieg.

»Ich hörte, daß Ihr Euch nicht an die Angreifer erinnert, Fräulein Katherine. Ist es so?«

»Ja«, murmelte ich.

»Noch an Eure Diener, und wohin sie geflohen sein mögen?«

Ich schüttelte den Kopf, den Blick niedergeschlagen.

Er wandte sich zu Eliwys. »Ich habe Neuigkeit von den Räubern, Eliwys. Ich habe ihre Fährte gefunden. Es waren viele von ihnen, und sie hatten Pferde.«

Ich hatte befürchtet, er würde sagen, daß er irgendeinen armen Bauern beim Holzsammeln gefangen und aufgehängt habe.

»Ich bitte um Erlaubnis, sie zu verfolgen und Fräulein Katherine zu rächen«, sagte er, zu Eliwys gewandt.

Eliwys sah unbehaglich und wachsam aus. Ich hatte diesen Ausdruck vorher schon bei ihr gesehen, wenn er gekommen war. »Mein Mann bat uns, hierzubleiben, bis er kommt«, sagte sie, »und er bat dich, zu unserem Schutz bei uns zu bleiben.«

»Du hast noch nicht gegessen«, sagte Frau Imeyne in einem Ton, der die Angelegenheit erledigte.

»Ich danke Euch für Eure Freundlichkeit, Gawyn«, sagte ich schnell, bevor er sich abwandte. »Ich weiß, daß Ihr es wart, der mich im Wald fand.« Ich holte Atem und hustete. »Wollt Ihr mir bitte sagen, an welcher Stelle Ihr mich fandet?« Ich hatte versucht, zu viel zu schnell zu sagen. Nun begann ich zu husten, holte dabei zu tief Luft und krümmte mich vor Schmerzen.

Als der Hustenanfall endlich vorüber war, hatte Imeyne Fleisch und Käse auf den Tisch gebracht und Gawyn vorgesetzt, und Eliwys hatte sich wieder an ihre Näharbeit gemacht, und so weiß ich noch immer nichts.

Nein, das ist nicht ganz richtig. Ich weiß, warum Eliwys so wachsam und unbehaglich aussah, als er hereinkam, und warum er eine Geschichte über eine Räuberbande erzählte. Und warum über Ehebrecherinnen gesprochen wurde.

Ich sah ihn dort im Durchgang stehen und Eliwys ansehen und ich brauchte keinen Dolmetscher, um in seinem Gesicht zu lesen. Er liebt offensichtlich die Frau seines Herren und Freundes.

14

Dunworthy schlief bis zum Morgen durch.

»Ihr Sekretär wollte Sie wecken, aber ich ließ ihn nicht«, sagte Colin. »Er sagte, ich solle Ihnen diese geben.« Er hielt ihm ein unordentliches Bündel Papiere hin.

»Wie spät ist es?« sagte Dunworthy und setzte sich ächzend im Bett aufrecht.

»Halb neun«, sagte Colin. »Alle Schellenläuter und Quarantäneopfer sind im Speisesaal und frühstücken Haferbrei.« Er machte ein würgendes Geräusch. »Absolut nekrotisch. Ihr Sekretär sagt, die Eier und der Speck müßten wegen der Quarantäne rationiert werden.«

»Halb neun Uhr früh?« fragte Dunworthy und blinzelte kurzsichtig zum Fenster. Draußen war es so düster und trübe wie am Nachmittag, als er eingeschlafen war. »Großer Gott, ich hätte ins Krankenhaus gehen und Badri aufsuchen sollen!«

»Ich weiß«, sagte Colin. »Großtante Mary sagte, ich solle Sie schlafen lassen, und Sie könnten ihn sowieso nicht befragen, weil Untersuchungen vorgenommen werden.«

»Sie rief an?« Dunworthy tastete auf dem Nachttisch nach seiner Brille.

»Ich war vorhin drüben in der Klinik. Wegen der Blutuntersuchung. Großtante Mary sagte, ich solle Ihnen ausrichten, daß wir nur einmal am Tag zu den Blutsenkungen kommen müssen.«

Er hakte die Brille über die Ohren und sah Colin an. »Hat sie gesagt, ob das Virus identifiziert ist?«

»Nhn nhn«, sagte Colin um einen Klumpen in seiner Wange. Dunworthy fragte sich, ob er das Ding die ganze Nacht im Mund gehabt hatte. »Sie schickt Ihnen die Liste der Kontakte.« Er streckte ihm wieder die Papiere hin. »Auch die Dame, die wir vor der Klinik sahen, rief an. Die mit dem Fahrrad.«

»Montoya?«

»Ja. Sie wollte wissen, ob Sie eine Ahnung haben, wie man mit Mr. Basingames Frau in Verbindung kommen kann. Ich sagte ihr, Sie würden zurückrufen. Wissen Sie, wann die Post kommt?«

»Die Post?« Dunworthy blätterte in den Papieren.

»Mama hatte meine Geschenke nicht rechtzeitig gekauft, um sie mir mitzugeben«, sagte Colin. »Sie sagte, sie würde sie mit der Post schicken. Glauben Sie, daß die Quarantäne es verzögern wird?«

Einige der Blätter, die Colin ihm gegeben hatte, klebten aneinander, zweifellos bedingt durch Colins periodische Untersuchungen der Kaugummis und Bonbons, die er ständig im Mund hatte, und die meisten schienen nicht die Kontaktblätter zu sein, sondern verschiedene Mitteilungen und Notizen von Finch. Ein Belüftungsschacht der Warmluftheizung im Studentenheim Salvin war verstopft. Das Gesundheitsamt forderte alle Bewohner von Oxford und Umgebung auf, Kontakt mit infizierten Personen zu meiden. Mrs. Basingame war über Weihnachten in Torquay. Der Bestand an Toilettenpapier ging zur Neige.

»Das glauben Sie nicht, oder? Daß es deswegen Verzögerungen gibt?« fragte Colin.

»Was für Verzögerungen?«

»Bei der Post!« sagte Colin. »Die Quarantäne wird das Paket nicht verzögern, oder? Um welche Zeit wird die Post zugestellt?«

»Der Briefträger kommt um zehn«, sagte Dunworthy. Er sortierte alle Notizen und Mitteilungen aus und öffnete einen großen Manilaumschlag. »Um die Weihnachtszeit wird es gewöhnlich etwas später, wegen all der Weihnachtskarten und Pakete.«

Die zusammengehefteten Blätter im Umschlag waren auch nicht die Kontaktlisten. Sie waren William Gaddsons Bericht über Badris und Kivrins Aufenthalte, sauber getippt und unterteilt in den Vormittag, Nachmittag und Abend eines jeden Tages. Es sah viel sauberer aus als jede Arbeit, die er bisher eingereicht hatte. Erstaunlich, was für einen begrüßenswerten Einfluß eine Mutter haben konnte.

»Ich sehe nicht, warum es bei der Post Verzögerungen geben sollte«, meinte Colin. »Schließlich sind Postsendungen keine Leute, nicht, also können sie nicht ansteckend sein. Wohin wird sie gebracht, in den Speisesaal?«

»Wer?«

»Die Post.«

»Zum Pförtnerhaus«, sagte Dunworthy, schon vertieft in den Bericht über Badri. Am Dienstagabend war er vom Balliol College zurück zum Netz gegangen. Finch hatte um zwei Uhr mit ihm gesprochen, als er gefragt hatte, wo Mr. Dunworthy sei, und noch einmal kurz vor drei, als Badri ihm die Notiz gegeben hatte. Irgendwann zwischen zwei und drei hatte John Yi, ein Student im sechsten Semester, ihn über den Hof zum Laboratorium gehen sehen, anscheinend auf der Suche nach jemandem.

Um drei hatte der Portier vom Brasenose College Badris Ankunft eingetragen. Er hatte bis halb acht am Netz gearbeitet und war dann nach Hause gegangen, um sich für die Tanzveranstaltung umzuziehen.

Dunworthy rief Latimer an. »Wann waren Sie Dienstagnachmittag am Netz?«

Aus dem Bildschirm zwinkerte er Dunworthy verwirrt an. »Dienstag?« Er blickte umher, als hätte er etwas verlegt. »War das gestern?«

»Am Tag vor dem Absetzen«, antwortete Dunworthy. »Sie gingen am Nachmittag in die Bodleian-Bibliothek.«

Er nickte. »Richtig. Ich überprüfte verschiedene Wendungen, die sie gebrauchen wollte. Zum Beispiel: ›Helft mir, denn ich bin von Räubern überfallen worden.‹«

Dunworthy vermutete, daß er mit »sie« Kivrin meinte. »Sind Sie in der Bibliothek oder im Brasenose mit Kivrin zusammengekommen?«

Er rieb sich grübelnd das Kinn. »Wir mußten bis spät am Abend arbeiten, um eine Entscheidung über die geeignete Form der Pronomen zu finden. Der Verfall der pronominalen Beugung war um 1300 schon fortgeschritten, aber noch nicht vollständig. Außerdem waren die hier gebräuchlichen Dialektformen zu berücksichtigen.«

»Kam Kivrin zum Netz, um Sie zu sprechen?«

»Zum Netz?«

»Zum Laboratorium im Brasenose«, sagte Dunworthy ungeduldig.

»Brasenose? Die Christmette findet nicht im Brasenose statt, nicht wahr?«

»Die Christmette?«

»Der Vikar bat mich, das Dankgebet zu lesen«, sagte Latimer. »Wird sie im Brasenose gehalten?«

»Nein. Sie kamen am Dienstagnachmittag mit Kivrin zusammen, um an ihrer sprachlichen Vervollkommnung zu arbeiten. Wo trafen Sie mit ihr zusammen?«

»Das Wort ›Räuber‹ ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Ursprünglich wohl roubari, entwickelte es verschiedene landschaftlich bedingte Formen…«

Es war zwecklos. »Die Christmette findet um sieben in St. Mary statt«, sagte er und legte auf.

Er rief den Pförtner vom Brasenose College an, der noch immer mit dem Aufputzen seines Weihnachtsbaumes beschäftigt war, und ließ ihn nachsehen, ob er Kivrin eingetragen hatte. Sie war am Dienstagnachmittag nicht dort gewesen.

Er gab die Kontaktlisten in die Konsole ein und fügte die Ergänzungen aus Williams Bericht hinzu. Kivrin hatte Badri am Dienstag nicht gesehen. Dienstagfrüh war sie in der Klinik gewesen und dann bei Dunworthy. Den Nachmittag hatte sie bei Latimer verbracht, und Badri mußte zur Tanzveranstaltung nach Headington gefahren sein, bevor die beiden die Bodleian-Bibliothek verließen. Am Montag war sie von drei Uhr an in der Klinik gewesen, aber zwischen zwölf und halb drei konnte sie an diesem Tag mit Badri zusammengetroffen sein, weil für diesen Zeitraum keine Beobachtung vorlag.

Er überflog noch einmal die Kontaktlisten, die sie ausgefüllt hatten. Montoyas war nur ein paar Zeilen lang. Sie hatte ihre Kontaktpersonen vom Mittwochvormittag eingetragen, aber keine für Montag und Dienstag, und Information über Badri fehlte ganz. Er fragte sich, warum, dann erinnerte er sich, daß sie erst hereingekommen war, nachdem Mary die Instruktionen zum Ausfüllen der Formblätter gegeben hatte.

Vielleicht hatte Montoya den Techniker vor dem Mittwochmorgen gesehen, oder wußte, wo er am Montag zwischen zwölf und halb drei gewesen war.

»Hat Mrs. Montoya dir ihre Telefonnummer gesagt, als sie anrief?« fragte er Colin. Es gab keine Antwort. Er blickte auf. »Colin?«

Er war nicht im Schlafzimmer, auch nicht im Wohnzimmer, obwohl seine Tasche am Boden lag und ihr Inhalt über den Teppich verstreut war.

Er suchte Montoyas Nummer im Brasenose College heraus und rief an, ohne eine Antwort zu erwarten. Wenn sie noch immer auf der Suche nach Basingame war, bedeutet es, daß sie nicht die Erlaubnis erhalten hatte, zu ihrer Ausgrabungsstätte hinauszufahren. Dann war sie jetzt zweifellos beim Gesundheitsamt oder bei der Behörde für Denkmalschutz, um sie zu überreden, den Ausgrabungsort zu einer Stätte »von unersetzlichem Wert« zu erklären.

Er zog sich an und ging hinüber zum Speisesaal, um Colin zu suchen. Es regnete nach wie vor, der Himmel war von dem gleichen trüben Grau wie die Pflastersteine und die Rinde der Birken. Er hoffte, daß die Schellenläuter und Zwangseinquartierten frühzeitig gefrühstückt haben und wieder in die ihnen zugewiesenen Räume gegangen sein würden, aber es war eine übertriebene Hoffnung. Er war noch auf dem Hof, als er schon das hohe Stimmengewirr hörte.

»Gott sei Dank, daß Sie da sind, Sir«, sagte Finch, der ihn an der Tür empfing. »Gerade rief das Gesundheitsamt an. Wir sollen weitere zwanzig Personen aufnehmen.«

»Sagen Sie ihnen, daß wir nicht können«, sagte Dunworthy. Er überblickte die Menge. »Wir haben Anweisung, Kontakt mit infizierten Personen zu meiden. Haben Sie Dr. Ahrens’ Neffen gesehen?«

»Er war gerade hier«, sagte Finch. Er spähte über die Köpfe der Frauen hinweg, aber Dunworthy hatte den Jungen bereits ausgemacht. Er stand am Ende der Tafel, an der die Schellenläuter saßen, und bestrich mehrere Scheiben Toast mit Butter.

Dunworthy arbeitete sich zu ihm durch. »Sagte Mrs. Montoya, wo sie zu erreichen ist, als sie anrief?«

»Die mit dem Fahrrad?« fragte Colin. Er war damit beschäftigt, Marmelade auf die Toastscheiben zu streichen.

»Ja.«

»Nein, sie sagte nichts.«

»Möchten Sie Frühstück, Sir?« fragte Finch. »Ich fürchte, Spiegeleier und Speck gibt es nicht, und mit der Marmelade geht es auch bald zu Ende…« - er funkelte Colin an -, »aber es gibt Haferbrei und…«

»Bloß Tee«, sagte Dunworthy. »Sie erwähnte auch nicht, von wo sie anrief?«

»So setzen Sie sich doch«, sagte Mrs. Taylor. »Ich wollte mit Ihnen über unser Programm sprechen.«

»Was genau sagte Mrs. Montoya?« drängte Dunworthy.

»Daß kein Mensch sich einen Teufel darum schert, ob ihre Ausgrabung zerstört wird und eine unschätzbare Verbindung mit der Vergangenheit verlorengeht, und wie jemand auf die Idee kommen kann, mitten im Winter angeln zu gehen«, sagte Colin. Er kratzte Marmelade von den Seiten der Schüssel.

»Mit dem Tee ist auch bald Schluß«, sagte Finch, als er kam und Dunworthy eine Tasse sehr blassen Tees einschenkte.

Dunworthy setzte sich. »Möchtest du Kakao, Colin? Oder ein Glas Milch?«

»Milch ist fast keine mehr da«, sagte Finch.

»Ich brauche nichts, danke«, sagte Colin und legte immer zwei Scheiben Marmeladentoast aufeinander. »Die nehme ich mit zum Tor und warte dort auf die Post.«

»Der Vikar rief an«, sagte Finch. »Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie erst um halb sieben dort zu sein brauchen, um die Gottesdienstordnung durchzugehen.«

»Soll die Christmette trotz der Quarantäne gehalten werden?« fragte Dunworthy. »Man sollte meinen, daß unter den Umständen niemand kommen würde.«

»Er sagte, der ökumenische Ausschuß habe dafür gestimmt, sie auf jeden Fall zu halten, ungeachtet der gegenwärtigen Situation.« Finch goß einen Viertel Teelöffel Milch in den blassen Tee und stellte ihm die Tasse hin. »Er meinte, wenn sie wie gewöhnlich weitermachten, würde es die Moral der Menschen stärken.«

»Wir werden mehrere Stücke für die Handglocken aufführen«, sagte Mrs. Taylor. »Es ist natürlich kaum ein Ersatz für ein weihnachtliches Glockenspiel, aber doch sehr hörenswert. Übrigens wird der Pfarrer der Heiligen Reformierten Kirche aus der Messe in Zeiten der Pestilenz lesen.«

»Ah«, sagte Dunworthy, »das sollte freilich helfen, die Moral zu stärken.«

»Muß ich mitgehen?« fragte Colin.

»Er hat bei diesem Wetter draußen nichts verloren«, sagte Mrs. Gaddson, die wie eine Harpyie mit einer großen Schüssel grauen Haferbreies erschien, die sie Colin vorsetzte. »Außerdem kann man den Jungen nicht in einer zugigen Kirche den Krankheitskeimen aussetzen. Es ist besser, er bleibt während des Gottesdienstes hier bei mir.« Sie stieß ihm einen Stuhl in die Kniekehlen. »Setz dich hin und iß deinen Haferbrei.«

Colin blickte flehentlich zu Dunworthy auf.

»Colin, ich vergaß Mrs. Montoyas Telefonnummer auf meinem Schreibtisch«, sagte Dunworthy. »Würdest du sie mir holen?«

»Ja!« sagte Colin, nahm seine Toastscheiben und sauste wie der Blitz davon.

»Wenn dieses Kind die indische Grippe bekommt«, sagte Mrs. Gaddson, »werden Sie sich hoffentlich daran erinnern, daß Sie es waren, der ihn in seinen schlechten Eßgewohnheiten bestärkte. Es ist mir klar, was zu dieser Epidemie führte. Fehlernährung und ein völliger Mangel an Disziplin. Die Art und Weise, wie dieses College geführt wird, läßt sehr zu wünschen übrig. Ich bat darum, bei meinem Sohn William untergebracht zu werden, statt dessen hat man mir ein Zimmer in einem ganz anderen Gebäude zugewiesen, und…«

»Ich fürchte, das werden Sie Mr. Finch vortragen müssen«, sagte Dunworthy. Er trank schnell seinen Tee aus und stand auf. »Ich werde in der Klinik gebraucht«, sagte er und entkam, ehe Mrs. Gaddson wieder anfangen konnte.

Er kehrte in seine Wohnung zurück und rief Andrews an. Die Nummer war belegt. Er rief bei der Ausgrabungsstätte an, falls Montoya vielleicht doch ihre Ausnahmegenehmigung erhalten hatte, doch es meldete sich niemand. Er versuchte es noch einmal mit Andrews, und diesmal war erstaunlicherweise frei. Es läutete dreimal, dann wurde automatisch zu einem Auftragsdienst umgeschaltet.

»Hier Dunworthy«, sagte er. Er zögerte, dann nannte er seine Nummer. »Ich muß dringend mit Ihnen sprechen. Es ist wichtig.«

Er legte auf, nahm seinen Schirm und ging hinaus und über den Hof.

Colin kauerte im Schutz der Durchfahrt beim Tor und blickte erwartungsvoll die Straße entlang.

»Ich gehe zur Klinik, um mit meinem Techniker und deiner Großtante zu sprechen«, sagte Dunworthy. »Möchtest du mitgehen?«

»Nein, danke«, sagte Colin. »Ich möchte die Post nicht versäumen.«

»Nun, um Himmels willen, geh und hol deine Jacke, sonst kommt Mrs. Gaddson heraus und hält dir eine Gardinenpredigt.«

»Der Gallenstein war schon hier«, sagte Colin. »Sie wollte, daß ich einen Schal umbinde. Einen Schal!« Er warf einen weiteren besorgten Blick die Straße hinunter. »Ich beachtete sie einfach nicht.«

»Zur Mittagszeit sollte ich wieder zu Hause sein«, sagte Dunworthy. »Wenn du etwas brauchst, frag Mr. Finch.«

»Mhmm.« Colin hörte offensichtlich nicht zu. Dunworthy wunderte sich, was seine Mutter ihm schicken konnte, das solche Hingabe verdiente. Offensichtlich keinen Schal.

Er zog seinen eigenen Schal fester um den Hals und machte sich durch den Regen auf zur Klinik. Auf den Straßen waren nur wenige Menschen, und es schien ihm, als gingen sie einander aus dem Weg, eine Frau trat sogar vom Bürgersteig, um Dunworthy nicht zu nahe zu kommen.

Hätte nicht das Glockenspiel »Vom Himmel hoch« gespielt, würde man keine Ahnung gehabt haben, daß Heiligabend war. Niemand trug Geschenke oder Weihnachtsbäume, überhaupt trug niemand ein Paket. Es war, als hätte die Quarantäne die Erinnerung an Weihnachten völlig aus den Köpfen verdrängt.

Nun, und war es nicht so? Er hatte nicht daran gedacht, Geschenke einzukaufen oder einen Baum zu besorgen. Er dachte an Colin, der zusammengekauert am Tor zum Balliol College saß, und hoffte, daß die Mutter des Jungen wenigstens nicht vergessen hatte, seine Geschenke zu schicken. Auf dem Heimweg mußte er Colin ein kleines Geschenk kaufen, ein Spielzeug oder eine Videokassette oder was, außer einem Schal.

Im Krankenhaus angelangt, wurde er sofort in die Isolierstation geführt und abgeordnet, die neuen Fälle zu befragen. »Es ist wesentlich, daß wir eine amerikanische Verbindung nachweisen«, sagte Mary. »Beim Grippezentrum hat es ein unerwartetes Hindernis gegeben. Wegen der Feiertage ist niemand im Dienst, der eine virologische Sequenz bearbeiten kann. Natürlich wird erwartet, daß sie zu allen Zeiten in voller Bereitschaft sind, aber anscheinend gilt das nicht für Weihnachten. Im Gesundheitsamt sagte man mir, daß sie die Probleme gewöhnlich erst nach Weihnachten bekommen — Lebensmittelvergiftungen und übermäßiger Verbrauch von Genußmitteln, die als Virusinfektionen erklärt werden. Darum geben sie den Leuten vorher frei. Jedenfalls hat man in Atlanta versprochen, dem Grippezentrum einen Vakzin-Prototyp ohne eine positive S-Identifikation zu schicken. Mit der Herstellung kann aber erst nach Vorliegen einer definitiven Verbindung begonnen werden.«

Sie führte ihn durch einen abgesperrten Korridor. »Die Fälle folgen alle dem Profil des South Carolina-Virus: hohes Fieber, Gliederschmerzen, sekundäre Lungenkomplikationen, aber unglücklicherweise ist das noch kein Beweis.« Sie blieb vor einem Krankenzimmer stehen. »Sie haben keine amerikanische Verbindung für Badri gefunden, oder?«

»Nein, aber es gibt immer noch einige Lücken. Soll ich auch mit ihm sprechen?«

Sie zögerte.

»Es geht ihm schlechter?«

»Er hat eine Lungenentzündung entwickelt. Ich weiß nicht, ob er in der Lage sein wird, Ihnen etwas zu sagen. Sein Fieber ist noch immer sehr hoch, was dem Profil folgt. Wir behandeln ihn mit Tetracyclin und begleitender Therapie, auf die das South Carolina-Virus angesprochen hat.« Sie öffnete die Tür zum Krankenzimmer. »Die Tabelle führt alle eingelieferten Fälle auf. Fragen Sie die Stationsschwester, wer in welchem Bett liegt.« Sie tippte etwas in die Konsole beim ersten Krankenbett, und der Bildschirm zeigte eine komplizierte tabellarische Übersicht, die wie ein Stammbaum verzweigt war. »Macht es Ihnen was aus, Colin noch eine Nacht bei sich zu behalten?«

»Nicht im mindesten.«

»Ach, wie gut! Ich bezweifle sehr, daß ich in der Lage sein werde, vor morgen nachmittag nach Hause zu kommen, und es wäre mir nicht recht, wenn er allein in der Wohnung bliebe. Anscheinend bin ich aber die einzige, die hier aushält«, sagte sie ärgerlich. »Endlich konnte ich Deirdre unten in Kent erreichen. Sie war nicht einmal besorgt. ›Ach, gibt es dort eine Quarantäne?‹ sagte sie. ›Ich bin so im Streß gewesen, daß ich keine Zeit hatte, die Nachrichten zu hören‹, und dann erzählte sie mir alles über die Pläne, die sie und ihr Untermieter haben, mit der klaren Implikation, daß sie überhaupt keine Zeit für Colin haben würde und froh ist, ihn los zu sein. Es gibt Zeiten, da bin ich überzeugt, daß sie nicht meine Nichte ist.«

»Wissen Sie, ob sie Colin Weihnachtsgeschenke geschickt hat? Er sagte, sie wollte sie ihm mit der Post schicken.«

»Ich bin überzeugt, daß sie viel zu sehr ›im Streß‹ war, um überhaupt welche zu kaufen, geschweige denn, ihm zu schicken. Als Colin letztes Mal Weihnachten bei mir war, kamen seine Geschenke erst zum Dreikönigsfest. Ach, was mich erinnert: Wissen Sie, was aus meiner Einkaufstasche geworden ist? Ich hatte meine Geschenke für Colin darin.«

»Ich habe sie bei mir abgestellt«, sagte er.

»Ah, gut. Ich wurde mit meinen Einkäufen nicht fertig, aber wenn Sie den Schal und die anderen Sachen einwickeln könnten, würde er wenigstens etwas unter dem Baum haben, nicht?« Sie stand auf. »Sollten Sie auf eine mögliche Verbindung stoßen, sagen Sie es mir gleich. Wie Sie sehen können, haben wir bereits mehrere der Sekundärkontakte auf Badri zurückgeführt, aber das könnten auch Querverbindungen sein, und die eigentliche Verbindung mag eine ganz andere Person sein.«

Sie ging, und er setzte sich neben das Bett, in dem die Eigentümerin des lavendelfarbenen Regenschirms lag.

»Mrs. Breen?« sagte er. »Ich fürchte, ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Ihr Gesicht war stark gerötet, und ihre Atmung klang wie Badris, aber sie beantwortete seine Fragen prompt und klar. Nein, sie war im letzten Monat nicht in Amerika gewesen. Nein, sie kannte keine Amerikaner und niemanden, der in Amerika gewesen war. Aber sie war mit der U-Bahn von London heraufgekommen, um einzukaufen. »Bei Blackwells, wissen Sie«, und sie sei in ganz Oxford herumgelaufen, und dann in der U-Bahn-Station, und es gebe mindestens fünfhundert Menschen, mit denen sie Kontakt gehabt habe und die für die gesuchte Verbindung in Frage kämen.

Es war zwei Uhr vorbei, als er mit den Primärkontakten fertig war und sie der Liste hinzufügte, aber keine von ihnen war die Verbindung, nach der Mary Ausschau hielt, obwohl er herausgebracht hatte, daß zwei weitere Personen bei der Tanzveranstaltung in Headington gewesen waren.

Obwohl er nicht viel Hoffnung hatte, daß Badri in der Lage sein würde, seine Fragen zu beantworten, ging er zu ihm, und tatsächlich schien Badris Befinden sich gebessert zu haben. Er schlief, als Dunworthy seine schmale Kammer betrat, aber dann berührte Dunworthy seine Hand, und Badri öffnete die Augen und sah ihn an.

»Mr. Dunworthy«, sagte er. Seine Stimme war schwach und heiser. »Was machen Sie hier?«

Dunworthy setzt sich. »Wie fühlen Sie sich?«

»Es ist komisch, was man so träumt. Ich dachte… Ich hatte solche Kopfschmerzen…«

»Ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen, Badri. Erinnern Sie sich, wen Sie bei der Tanzveranstaltung in Headington trafen?«

»Da waren so viele Leute«, sagte Badri und schluckte, als hätte er Halsschmerzen. »Die meisten waren mir unbekannt.«

»Erinnern Sie sich, mit wem Sie tanzten?«

»Elizabeth…«, krächzte er. »Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr«, flüsterte er. »Und Mira… Mira Bhai.«

Eine grimmig blickende Stationsschwester kam herein. »Zeit für die Röntgenaufnahme«, sagte sie, ohne Badri anzusehen. »Sie werden hinausgehen müssen, Mr. Dunworthy.«

»Könnte ich noch ein paar Minuten haben? Es ist wichtig«, sagte er, aber sie tippte schon an der Konsole.

Er beugte sich über das Bett. »Badri, als Sie die Fixierung bekamen, wieviel Verschiebung gab es?«

»Mr. Dunworthy!« sagte die Schwester.

Er beachtete sie nicht. »Gab es mehr Verschiebung als Sie erwartet hatten?«

»Nein«, sagte Badri heiser. Er faßte sich an die Kehle.

»Wie viel Verschiebung gab es?«

»Vier Stunden«, flüsterte Badri, und Dunworthy ließ sich hinausdrängen.

Vier Stunden. Kivrin war um halb eins durchgegangen. Das würde sie um halb fünf an Ort und Stelle gebracht haben, gegen Sonnenuntergang, aber noch bei ausreichendem Tageslicht, um zu sehen, wo sie war und wenn nötig nach Skendgate zu gehen.

Er machte sich auf die Suche nach Mary, um ihr die Namen der Mädchen zu geben, mit denen Badri getanzt hatte. Mary verglich sie mit der Liste der Neuzugänge. Keine der beiden befand sich unter ihnen, und Mary sagte ihm, er könne nach Hause gehen, maß seine Temperatur und machte eine Blutsenkung, so daß er nicht würde zurückkommen müssen. Er war im Begriff, heimzugehen, als sie Elizabeth Fairchild einlieferten, wie sich herausstellte, eine von Badris Tanzpartnerinnen. Er kam erst zum Nachmittagstee nach Hause.

Colin war weder am Tor noch im Speisesaal, wo Finch das Schwinden der Vorräte von Zucker und Butter beklagte. »Wo ist Dr. Ahrens’ Neffe?« fragte Dunworthy ihn.

»Er wartete den ganzen Vormittag beim Pförtnerhaus«, sagte Finch. »Die Post kam erst nach eins, und dann ging er hinüber zur Wohnung seiner Großtante, um zu sehen, ob die Pakete dorthin geschickt worden waren. Anscheinend war das nicht der Fall, denn er kam sehr mißmutig zurück, und dann, vor vielleicht einer halben Stunde, sagte er plötzlich ›Gerade fällt mir was ein‹, und schoß hinaus. Vielleicht war ihm ein anderer Ort eingefallen, wo das Paket angekommen sein könnte.«

Aber nicht angekommen ist, dachte Dunworthy. »Um welche Zeit schließen die Geschäfte heute?« fragte er Finch.

»Heiligabend? Oh, sie sind schon geschlossen, Sir. Am Heiligabend schließen sie immer frühzeitig, die meisten schon mittags, denn später geht kein Geschäft mehr. Ich habe eine Anzahl von Botschaften, Sir…«

»Die werden warten müssen«, sagte Dunworthy, nahm seinen Schirm und ging wieder hinaus. Wie sich zeigte, hatte Finch recht: Die Läden waren alle geschlossen. Er ging hinunter zu Blackwells, weil er dachte, dort würde man sicherlich länger geöffnet haben, aber es war ebenfalls geschlossen. Immerhin hatte man bereits die verkaufsfördernden Aspekte der Situation erkannt. Im Schaufenster waren inmitten der schneebedeckten Häuser der viktorianischen Spielzeugstadt medizinische Ratgeber zur Selbsthilfe, Arzneimittelverzeichnisse und ein buntes Taschenbuch mit dem Titel Lachen Sie sich zur vollkommenen Gesundheit ausgelegt.

Schließlich fand er einen geöffneten Kiosk in einer Nebenstraße der High Street, aber dort gab es nur Zigaretten, billige Süßigkeiten, Zeitungen und ein Gestell mit Weihnachtskarten, aber keine geeigneten Geschenke für zwölfjährige Jungen. Er ging hinaus, ohne etwas zu kaufen, dann ging er wieder hinein und kaufte für ein Pfund Karamelbonbons, ein Kaubonbon von der Größe eines Asteroiden, und mehrere Päckchen einer Süßigkeit, die wie Seifentabletten aussahen. Es war nicht viel, aber Mary hatte gesagt, sie habe einige andere Dinge für den Jungen gekauft.

Die anderen Dinge erwiesen sich als ein Paar graue Wollsocken, noch nüchterner als der Schal, und eine Videokassette zur Erweiterung des Vokabulars. Wenigstens gab es noch Knallbonbons und er hatte ein paar Bogen Weihnachtspapier, aber ein Paar Socken, ein grauer Wollschal und eine Handvoll Süßigkeiten konnten kaum ein Weihnachten ergeben. Er hielt in seinem Arbeitszimmer Umschau und überlegte, was er an geeigneten Dingen hatte.

Colin hatte »apokalyptisch« gesagt, als Dunworthy ihm von Kivrins Aufenthalt im Mittelalter erzählt hatte. Nun nahm Dunworthy Das Zeitalter des Rittertums aus dem Regal. Das Buch hatte nur Illustrationen, keine Holos, aber es war das Beste, was er kurzfristig tun konnte. Er wickelte das Buch und die übrigen Geschenke hastig in Weihnachtspapier, zog sich um und eilte hinüber nach St. Mary; im plötzlich zunehmenden Regen lief er über den verlassenen Hof der Bodleian-Bibliothek und suchte die überfließenden Rinnsteine zu umgehen.

Kein vernünftiger Mensch würde bei diesem Wetter hinausgehen. Voriges Jahr war die Kirche bei trockener Witterung nur halb voll gewesen. Kivrin hatte ihn begleitet. Sie war über die Ferien dageblieben, um ihre Studien fortzusetzen, und er hatte sie in der Boldeian gefunden und darauf bestanden, daß sie zu seinem Sherry-Empfang komme und dann mit ihm in die Kirche gehe. »Ich sollte das nicht tun«, hatte sie ihm unterwegs anvertraut. »Ich sollte an meiner Arbeit sitzen.«

»Das können Sie in St. Mary tun. 1139 erbaut und alles noch genauso wie es im Mittelalter war, einschließlich der Heizungsanlagen.«

»Der ökumenische Gottesdienst ist auch authentisch, nehme ich an«, hatte sie gesagt.

»Ich zweifle nicht daran, daß er im Geist so wohlmeinend und mit Torheit befrachtet ist wie jede mittelalterliche Messe«, hatte er gesagt.

Er eilte den schmalen Weg entlang und öffnete die Tür zu St. Mary, wo ihm warme Luft entgegenschlug. Sofort beschlug sich seine Brille. Er blieb in der Vorhalle stehen und wischte die Gläser mit dem Schal trocken, aber sie waren kalt und beschlugen sich gleich wieder.

»Der Vikar sucht Sie«, sagte Colin. Er trug ein Hemd und eine Jacke, und sein Haar war gekämmt. Von einem Stoß, den er in den Händen hielt, gab er Dunworthy eine Gottesdienstordnung.

»Ich dachte, du wolltest zu Haus bleiben«, sagte Dunworthy.

»Mit Mrs. Gaddson? Was für ein nekrotischer Gedanke! Da ist sogar die Kirche besser, deshalb sagte ich Mrs. Taylor, daß ich ihr helfen würde, die Glocken herüberzutragen.«

»Und der Vikar gab dir Arbeit«, sagte Dunworthy, noch bemüht, seine Brillengläser zu putzen. »Bist du schon welche von den Dingern losgeworden?«

»Machen Sie Witze? Die Kirche ist gerammelt voll.«

Dunworthy spähte ins Kirchenschiff. Tatsächlich waren die Bänke bereits voll besetzt. Dahinter und an den Seiten wurden für die Stehenden Klappstühle aufgestellt.

Der Vikar kam geschäftig mit einem Armvoll Gesangbüchern herbeigeeilt. »Ach wie gut, daß Sie da sind. Leider ist es etwas heiß hier. Das liegt an der Heizungsanlage. Das Amt für Denkmalpflege läßt nicht zu, daß wir eine neue Warmluftheizung einbauen, dabei ist es fast unmöglich, Ersatzteile für eine Heizungsanlage aufzutreiben, die mit fossilen Brennstoffen arbeitet. Im Moment ist es der Thermostat, der defekt ist. Die Heizung ist entweder an, und dann voll, oder aus.« Er zog zwei Zettel aus seiner Soutane und warf einen prüfenden Blick darauf. »Sie haben Mr. Latimer noch nicht gesehen, oder? Er sollte das Dankgebet lesen.«

»Nein«, sagte Dunworthy. »Aber ich erinnerte ihn an die Zeit.«

»Ja, nun, letztes Jahr brachte er die Dinge durcheinander und kam eine Stunde zu früh.« Er händigte Dunworthy einen der Zettel aus. »Das ist Ihr Text. Er ist dieses Jahr dem Buch der Könige entnommen. Die Kirche des Tausendjährigen Reiches bestand darauf, aber wenigstens ist es nicht aus dem anglikanischen Gebetbuch wie letztes Jahr. Das Buch der Könige mag archaisch sein, aber wenigstens ist es nicht kriminell.«

Die äußere Tür wurde geöffnet, und eine Gruppe von Leuten, alle damit beschäftigt, Schirme zusammenzuklappen und Hüte abzuschütteln, kam herein, wurde von Colin versorgt und ging weiter ins Kirchenschiff.

»Ich dachte mir gleich, daß wir hätten die Christ Church nehmen sollen«, sagte der Vikar.

»Was wollen sie alle hier?« fragte Dunworthy. »Begreifen sie nicht, daß wir uns mitten in einer Epidemie befinden?«

»Es ist immer so«, sagte der Vikar. »Ich erinnere mich an den Beginn der letzten großen Epidemie. Die größte Kollekte, die wir jemals eingenommen haben. Später bringen Sie die Leute nicht mehr aus ihren Häusern, aber jetzt suchen sie Trost in der Gemeinschaft.«

»Und es ist aufregend«, sagte der eben hinzugekommene Priester der Heiligen Reformierten. Er trug einen schwarzen Rollkragenpullover, Hosen und ein Chorhemd aus rotem und grünem Plaid. »In Kriegszeiten sieht man die gleiche Erscheinung. Gefahr und Angst stärken den Glauben, und die Leute flüchten sich in die Gemeinschaft. Aber sie kommen auch wegen der Dramatik des Geschehens.«

»Und verbreiten die Infektion doppelt so schnell, sollte ich meinen«, sagte Dunworthy. »Hat ihnen niemand gesagt, daß das Virus ansteckend ist?«

»Ich habe die Absicht, es zu tun«, sagte der Vikar. »Ihre Lesung folgt unmittelbar auf die Schellenläuter. Der Text ist geändert worden. Wieder die Kirche des Tausendjährigen Reiches. Lukas 2.1 bis 19.« Er ging weiter, seine Gesangbücher zu verteilen.

»Wo ist Ihre Studentin, Kivrin Engle?« fragte der Priester. »Ich vermißte sie in der lateinischen Messe.«

»Sie ist im Jahr 1320, hoffentlich im Dorf Skendgate und hoffentlich nicht draußen im Regen.«

»Ah, gut«, sagte der Priester. »Sie wünschte es sich so sehnlich. Und welch ein Glück, daß ihr dies alles erspart bleibt.«

»Ja«, sagte Dunworthy. »Bitte entschuldigen Sie mich, ich denke, ich sollte meinen Text wenigstens einmal überfliegen, bevor ich ihn vorlese.«

Er betrat das Kirchenschiff. Hier war es noch wärmer, und die Luft roch stark nach feuchter Wolle und feuchtem Stein. Kerzen flackerten matt in den Fenstern und auf dem Altar. Die Schellenläuter stellten vor der Kommunionbank zwei große Tische auf und bedeckten sie mit schwerem, rotem Wollstoff. Dunworthy trat ans Lesepult und schlug die angegebene Textstelle des Lukasevangeliums auf.

»In jenen Tagen erging ein Erlaß des Kaisers Augustus, daß das ganze Land geschätzt werde.« Die von Jakob I. veranlaßte englische Bibelübersetzung ist archaisch, dachte er. Und wo Kivrin ist, wird man sie erst in zweihundertfünfzig Jahren kennen.

Er ging wieder in die Vorhalle hinaus zu Colin. Noch immer strömten Menschen herein. Der Priester der Heiligen Reformierten Kirche und der moslemische Imam gingen weitere Klappstühle holen, und der Vikar beschäftigte sich mit den Thermostaten der Heizungsanlage.

»Ich habe uns zwei Sitze in der zweiten Reihe reserviert«, sagte Colin. »Wissen Sie, was Mrs. Gaddson beim Tee machte? Sie warf mein Kaubonbon weg. Sie sagte, es sei voller Krankheitskeime. Ich bin froh, daß meine Mutter nicht so ist.«

Er ordnete seinen Stoß gefalteter Gottesdienstordnungen, der erheblich geschrumpft war. »Ich glaube, ihre Geschenke kamen wegen der Quarantäne nicht durch, wissen Sie. Ich meine, wahrscheinlich mußten Lebensmittel und Medikamente vordringlich befördert werden.«

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Dunworthy. »Wann möchtest du deine anderen Weihnachtspäckchen öffnen? Heute abend oder morgen früh?«

Colin versuchte nonchalant auszusehen. »Am Weihnachtsmorgen, bitte.« Er beschenkte eine Dame in gelbem Regenumhang mit einer Gottesdienstordnung und einem blendenden Lächeln.

»Na«, sagte sie und entriß ihm das Papier, »es freut mich zu sehen, daß jemand noch in Weihnachtsstimmung ist, obwohl wir von einer tödlichen Epidemie bedroht sind.«

Dunworthy ging ins Kirchenschiff und setzte sich auf den freigehaltenen Platz. Die Bemühungen des Vikars mit den Thermostaten schienen nichts bewirkt zu haben. Er zog den Mantel aus, nahm den Schal ab und legte beides über den Stuhl neben sich.

Letztes Jahr war es eiskalt gewesen. »Extrem authentisch«, hatte Kivrin ihm zugeflüstert, »und erst das Weihnachtsevangelium! ›Damals luden die Politiker den Steuerzahlern zur Veranlagung einen Marsch auf‹«, hatte sie die neuzeitliche Bibelübersetzung zitiert und grinsend hinzugefügt: »Im Mittelalter war die Bibel wenigstens in einer Sprache, die die Leute nicht verstanden.«

Colin kam und setzte sich auf Dunworthys Mantel und Schal. Der Priester der Heiligen Reformierten Kirche zwängte sich an den Tischen der Schellenläuter vorbei zum Altar. »Lasset uns beten«, sagte er.

Es gab ein allgemeines Geraschel von Kleidern und Knarren von Bänken, und alle knieten nieder.

»O Gott, der uns diese Prüfung gesandt hat, sage zu Deinem Racheengel, halt ein und lasse das Land nicht veröden und vernichte nicht jede lebende Seele. Wie in jenen Tagen, als der Herr eine Pestilenz über Israel kommen ließ und von Dan bis Bersheba siebzigtausend Menschen starben, so sind auch wir heute vom Leid umgeben und flehen Dich an, nimm die Geißel Deines Zornes von dem Gläubigen.«

Die Rohre der alten Heizungsanlage begannen dröhnend zu klappern, aber es schien den Priester nicht zu stören. Er fuhr gute fünf Minuten lang fort, eine Anzahl von Fällen aufzuzählen, in denen Gott die Ungerechten und Sündhaften geschlagen und »Seuchen über sie gebracht« habe, dann forderte er alle auf, sich zu erheben und »Gott hüte und beschütze uns, halt Not und Schrecken fern« zu singen.

Montoya kam hereingeschlüpft und zwängte sich zwischen Dunworthy und Colin. »Ich habe den ganzen Tag im Gesundheitsamt verbracht und versucht, eine Ausnahmegenehmigung zu bekommen«, flüsterte sie. »Die Leute scheinen zu glauben, ich hätte die Absicht, herumzulaufen und das Virus zu verbreiten. Ich sagte ihnen immer wieder, daß ich nur zur Ausgrabung fahren würde, daß es dort draußen niemanden gibt, den ich infizieren könnte, aber glauben Sie, die würden auf einen hören?«

Sie wandte sich zu Colin. »Wenn ich die Ausnahmegenehmigung bekomme, werde ich freiwillige Helfer brauchen. Hättest du Lust, Skelette auszugraben?«

»Das geht nicht«, sagte Dunworthy hastig. »Seine Großtante würde es nicht erlauben.« Er beugte sich näher und flüsterte ihr ins Ohr: »Wir versuchen zu ermitteln, wo Badri Chaudhuri sich am Montag zwischen zwölf und halb drei aufgehalten hat. Haben Sie ihn gesehen?«

»Schhh«, machte eine Frau in der Bank hinter ihnen.

Montoya schüttelte den Kopf. »Ich war mit Kivrin zusammen. Wir beschäftigten uns mit der Karte und dem Lageplan von Skendgate«, flüsterte sie zurück.

»Wo? Bei der Ausgrabung?«

»Nein, im Brasenose.«

»Und Badri war nicht dort?« fragte er, aber tatsächlich hatte es für Badri keinen Grund gegeben, im College zu sein. Er hatte Badri erst im Laufe eines Gesprächs mit ihm nach halb drei gebeten, die Absetzoperation durchzuführen.

»Nein«, flüsterte Montoya.

»Schhh!« zischte die Frau.

»Wie lange waren Sie mit Kivrin zusammen?«

»Von zehn bis sie zur Untersuchung in die Klinik mußte; um drei, glaube ich«, flüsterte Montoya.

»SCHHH!«

»Ich muß gehen und ein ›Gebet an den Großen Geist‹ verlesen«, flüsterte Montoya, stand auf und schlängelte sich durch die Bankreihe hinaus.

Sie las ihr indianisches Gebet, worauf die Schellenläuter, die weiße Handschuhe und entschlossene Mienen zur Schau trugen, »So komm herab, o Jesu Christ« läuteten, was dem metallisch schlagenden Geräusch in den Heizungsrohren nicht unähnlich klang.

»Die sind absolut nekrotisch, nicht?« flüsterte Colin hinter seiner Gottesdienstordnung.

»Das ist atonal. Spätes 20. Jahrhundert«, flüsterte Dunworthy zurück. »Es soll scheußlich klingen.«

Als die Schellenläuter fertig zu sein schienen, betrat Dunworthy das Lesepult und las aus dem Lukasevangelium: »In jenen Tagen erging ein Erlaß des Kaisers Augustus, daß das ganze Land geschätzt werde…«

Montoya hatte sich ins Seitenschiff verdrückt und war zum Seiteneingang hinausgeschlüpft. Er hatte sie fragen wollen, ob sie Badri überhaupt am Montag oder Dienstag gesehen hatte oder von irgendwelchen Amerikanern wüßte, mit denen er zusammengekommen sein könnte.

Er konnte sie am nächsten Tag fragen, wenn sie zur Blutuntersuchung gingen. Das Wichtigste hatte er jedenfalls festgestellt: daß Kivrin am Montagnachmittag nicht mit Badri zusammengetroffen war. Montoya hatte gesagt, sie sei von zehn bis drei mit ihr zusammengewesen und dann sei Kivrin zur Klinik gegangen. Um diese Zeit aber war Badri bereits bei ihm im Balliol College gewesen, außerdem war er erst um zwölf aus London gekommen, folglich konnte er sie nicht infiziert haben.

»Der Engel aber sprach zu ihnen: ›Fürchtet euch nicht. Seht, ich verkünde euch eine große Freude, die allem Volke zuteil werden soll…‹«

Niemand schien seiner Lesung Aufmerksamkeit zu schenken. Die Frau, die vorher gezischt hatte, mühte sich aus ihrem Mantel, und alle anderen hatten ihre Mäntel bereits abgelegt und fächelten sich mit ihren Exemplaren der Gottesdienstordnung Luft zu.

Er dachte an Kivrin, an den ökumenischen Gottesdienst des vergangenen Jahres, wie sie in der kalten Kirche gekniet und während seiner Lesung in hingerissener Spannung zu ihm geblickt hatte. Aber auch sie hatte nicht zugehört. Sie hatte sich den Weihnachtsabend im Jahre 1320 vorgestellt, als das Evangelium auf lateinisch gelesen worden war, aber sonst alles ziemlich ähnlich gewesen sein mußte.

Ob es so ist, wie sie es sich vorgestellt hat? dachte er, dann kam ihm zu Bewußtsein, daß dort nicht Heiligabend war. Wo sie sich befand, war Weihnachten noch zwei Wochen entfernt. Wenn sie wirklich dort war.

»›…Maria aber bewahrte alle diese Begebenheiten und überdachte sie in ihrem Herzen‹«, endete Dunworthy und kehrte zu seinem Platz zurück.

Der Imam gab die Zeiten der Weihnachtsgottesdienste in allen Kirchen bekannt und verlas die Bekanntmachung der Gesundheitsbehörde über die Vermeidung von Kontakten mit infizierten Personen. Der Vikar begann mit seiner Predigt.

»Es gibt jene«, sagte er mit einem scharfen Blick zum Priester der Heiligen Reformierten Kirche, »die Krankheiten für eine Strafe Gottes halten, doch verbrachte Christus sein Leben damit, die Kranken zu heilen, und wäre er hier, so würde er sicherlich auch die Menschen heilen, welche von diesem Virus befallen wurden, geradeso wie er den leprakranken Samariter heilte«, und ließ einen zehnminütigen Vortrag über vorbeugende Maßnahmen zum Schutz gegen Influenza folgen. Er zählte die Symptome auf und wies auf die Tröpfcheninfektion hin.

»Nehmen Sie viel Flüssigkeit zu sich und ruhen Sie«, sagte er und breitete die Hände über der Kanzelbrüstung aus, als wäre es eine Segnung, »und rufen Sie beim ersten Anzeichen dieser Symptome Ihren Arzt an.«

Die Schellenläuter zogen wieder ihre weißen Handschuhe an und begleiteten die Orgel in »Engel aus dem Reich der Herrlichkeit«, was ihnen tatsächlich bis zur Kenntlichkeit gelang.

Der Geistliche der Bekehrten Unitarier bestieg die Kanzel. »An diesem selben Abend vor mehr als zweitausend Jahren sandte Gott Seinen Sohn, Sein kostbares Kind, in unsere Welt. Können Sie sich vorstellen, welche unglaubliche Liebe erforderlich gewesen sein mußte, um das zu tun? In dieser Nacht verließ Jesus sein himmlisches Heim und ging in eine Welt voller Gefahren und Krankheiten. Er ging als ein hilfloser Neugeborener, der nichts von dem Übel, von dem Verrat wußte, dem er begegnen sollte. Wie konnte Gott Seinen einzigen Sohn in solche Gefahr geschickt haben? Die Antwort ist Liebe. Liebe.«

»Oder Fahrlässigkeit«, murmelte Dunworthy.

Colin blickte von der Untersuchung seines Kaubonbons auf und starrte ihn an.

Und nachdem Er ihn ausgesandt hatte, sorgte Er sich jede Minute um ihn, dachte Dunworthy. Ich frage mich, ob Er dagegen ankämpfte.

»Es war Liebe, die Christus in die Welt sandte, und Liebe, die Christus bereitwillig, nein, voll Verlangen zu uns kommen ließ.«

Es hat alles geklappt, dachte er bei sich. Die Koordinaten waren richtig. Es gab nur vier Stunden Verschiebung. Sie war dem Influenzaerreger nicht ausgesetzt. Sie ist sicher in Skendgate, der Rückholtermin steht fest, und ihr Datenspeicher muß schon zur Hälfte mit Beobachtungen gefüllt sein. Sie wird gesund und voller Elan und Aufnahmebereitschaft sein und ist allem, was uns hier Kopfschmerzen bereitet, selig entrückt.

»Er wurde in die Welt geschickt, um uns in unseren Prüfungen und Leiden zu helfen«, sagte der Geistliche.

Der Vikar signalisierte Dunworthy, der sich erhob und zu ihm kam. »Ich habe soeben Nachricht erhalten, daß Mr. Latimer erkrankt ist«, flüsterte der Vikar. Er steckte Dunworthy ein gefaltetes Blatt Papier in die Hand. »Können Sie das Dankgebet lesen?«

»…ein Bote Gottes, ein Abgesandter der Liebe«, sagte der Geistliche und verließ die Kanzel.

Dunworthy ging zum Lesepult. »Wollen Sie sich bitte zum Dankgebet erheben?« sagte er, entfaltete das Papier und überflog es mit einem Blick. Es war eher ein Bittgebet, denn es begann: »O Herr, gebiete Einhalt Deinem gerechten Zorn…«

Dunworthy hängte noch eine Bitte daran. »Barmherziger Vater«, sagte er, »beschütze jene, die von uns getrennt sind und geleite sie sicher heim.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(035850–037745)

20. Dezember 1320. Ich bin beinahe ganz wiederhergestellt. Meine vermehrten T-Zellen oder die antiviralen Schutzimpfungen müssen endlich ihre Wirkung entfaltet haben. Ich kann einatmen, ohne daß es schmerzt, mein Husten ist vergangen, und ich habe das Gefühl, als könnte ich die ganze Strecke bis zum Absetzort gehen, wenn ich wüßte, wo er ist.

Auch die Verletzung an meiner Schläfe ist ausgeheilt. Eliwys untersuchte sie heute früh, dann ging sie, holte Imeyne und ließ sie von ihr untersuchen. »Es ist ein Wunder«, sagte Eliwys erfreut, aber Imeyne machte nur ein mißtrauisches Gesicht. Als nächstes wird sie zu dem Schluß kommen, daß ich eine Hexe bin.

Nun, da ich nicht mehr krank und invalide bin, ist sofort deutlich geworden, daß ich ein Problem bin. Abgesehen davon, daß Imeyne glaubt, ich spioniere oder stehle die Löffel, besteht die Schwierigkeit meiner Identität — wer ich bin, welches mein Status ist und wie ich behandelt werden sollte -, und Eliwys hat weder die Zeit noch die Energie, sich damit zu befassen.

Sie hat genug Probleme. Ihr Gemahl ist noch immer nicht gekommen, sein Gefolgsmann und Vertrauter liebt sie, bedrängt sie womöglich, und Weihnachten steht vor der Tür. Sie hat das halbe Dorf, dessen Einwohnerschaft anscheinend aus Hörigen besteht, zu Dienstleistungen herangezogen, und es fehlt an Vorräten wichtiger Lebensmittel, die Imeyne aus Oxford oder Courcy holen lassen will. Agnes, die sich ständig Maisrys Aufsicht entzieht und ihrer Mutter im Weg ist, macht es ihr nicht leichter.

»Du mußt zu Sir Bloet schicken und ihn um eine Kammerfrau bitten«, sagte Imeyne, als sie Agnes nach längerer Suche auf dem Heuboden entdeckt hatten, wo sie spielte. »Und um Gewürze, Pökelsalz und weißes Mehl. Wir haben nichts für die Verfeinerung der Speisen und für die Honigkuchen.«

Eliwys seufzte mit deutlichem Überdruß. »Mein Gemahl hieß uns…«

»Ich werde auf Agnes achtgeben«, sagte ich mit der Hoffnung, daß der Dolmetscher »Kammerfrau« richtig übersetzt hatte und daß die Geschichtsdarstellungen stimmten und die Stellung einer Kinderfrau manchmal auch von Standespersonen eingenommen wurde. Anscheinend verhält es sich so. Eliwys sah sogleich erleichtert und dankbar aus, und Imeyne blickte nicht finsterer als sonst. Also habe ich Agnes zu beaufsichtigen. Und anscheinend Rosemund, die mich heute morgen um Hilfe bei ihrer Stickerei bat.

Der Vorteil, ihre Kinderfrau zu sein, besteht darin, daß ich sie alles über ihren Vater und das Dorf fragen, in den Stall hinaus und zur Kirche gehen kann, um mit Gawyn und dem Pfarrer zu sprechen. Der Nachteil ist, daß den Kindern vieles vorenthalten wird. Einmal unterbrach Eliwys ihr Gespräch mit Imeyne, als ich mit Agnes in die Diele kam, und als ich Rosemund fragte, warum sie hierher gekommen seien, um zu bleiben, sagte sie: »Mein Vater meint, die Luft in Ashencote sei gesünder.«

Dies ist das erste Mal, daß jemand den Namen des Dorfes erwähnt hat. Auf der Karte oder im Doomsday Book gibt es kein Ashencote. Ich vermute, daß es sich um ein weiteres »verlorenes Dorf« handeln könnte. Mit einer Bevölkerung von nur vierzig Seelen könnte es in der Zeit des Schwarzen Todes leicht ausgestorben oder von einer der benachbarten Ortschaften aufgesogen worden sein, aber ich glaube noch immer, daß es Skendgate ist.

Ich fragte die Mädchen, ob sie von einem Dorf namens Skendgate wüßten, und Rosemund antwortete, sie habe nie davon gehört, was freilich nichts beweist, weil sie nicht aus dieser Gegend sind, aber Agnes erkundigte sich anscheinend bei Maisry, und auch sie hat nie davon gehört. Der erste schriftliche Hinweis auf Skendgate stammt erst aus dem Jahre 1360, und viele der alten angelsächsischen Orts- und Flurnamen waren um diese Zeit schon durch normannisierte Namen ersetzt oder nach ihren neuen Eigentümern benannt worden. Das bedeutet nichts Gutes für Guillaume d’Iverie und für die Gerichtsverhandlung, von der er noch immer nicht zurückgekehrt ist. Es sei denn, dies wäre ein völlig anderes Dorf. Was nichts Gutes für mich bedeuten würde.


(Unterbrechung)

Gawyns Gefühle ritterlicher Minne für Eliwys hindern ihn anscheinend nicht an Liebeleien mit dem Dienstpersonal. Ich ging mit Agnes hinaus zum Stall, um ihr Pony zu besuchen, weil ich hoffte, daß Gawyn dort sein würde. Das war er auch, mit Maisry in einer der Pferdeboxen, wo er ganz unritterlich grunzende Geräusche machte, während er sie mit kräftigen Stößen von hinten nahm. Maisry sah nicht ängstlicher als sonst aus. Sie hielt ihre gerafften Röcke in einem Knäuel vor der Brust und reckte ihm ihren nackten Hintern entgegen. Es war also ganz offensichtlich keine Vergewaltigung. Aber es war auch nicht ritterliche Minne.

Ich mußte Agnes schnell ablenken und aus dem Stall bugsieren, also sagte ich ihr, ich wolle über den Dorfanger gehen und den Glockenturm anschauen. Wir gingen hinein und betrachteten das dicke Seil.

»Pater Roche läutet die Glocke, wenn jemand stirbt«, sagte Agnes. »Wenn er nicht läutet, kommt der Teufel und nimmt die Seele mit, und dann kann sie nicht in den Himmel kommen.« Das wird auch zu dem abergläubischen Geschwätz gehören, das Frau Imeyne irritiert.

Agnes wollte die Glocke läuten, aber ich überredete sie, statt dessen in die Kirche zu gehen und Pater Roche aufzusuchen.

Er war nicht da. Agnes meinte, er sei wahrscheinlich noch bei dem kranken Häusler, »der nicht stirbt, obwohl er die letzte Ölung bekommen hat«, oder anderswohin gegangen sei, um zu beten. »Pater Roche hat die Gewohnheit, im Wald zu beten«, sagte sie, als wir durch den Lettner zum Altar spähten.

Die Kirche ist normannisch, mit drei Schiffen und Sandsteinsäulen und einem mit Steinplatten belegten Boden. Die Fenster sind sehr schmal und klein, bunt gefärbt und lassen kaum Licht ein. Im vorderen Teil des Mittelschiffs und noch vor dem Lettner ist ein Sarkophag, der vielleicht derselbe ist, an dem ich draußen bei der Ausgrabung arbeitete. Auf der Deckplatte befindet sich die Darstellung eines Ritters in voller Rüstung, die Arme mit den Panzerhandschuhen auf der Brust gekreuzt, das Schwert an der Seite. Die seitlich umlaufende Inschrift lautet »Requiescat cum Sanctis tuis in aeternam«. Möge er in Ewigkeit mit Deinen Heiligen ruhen. Der Sarkophag in der Ausgrabung hatte eine Inschrift, die mit »Requiescat« begann, aber das war alles, was davon ausgegraben war, als ich ihn sah.

Agnes erzählte mir, es sei das Grabmal ihres Großvaters, der »vor langer Zeit« an einem Fieber gestorben sei, aber der Sarkophag sieht beinahe neu aus, und darum sehr verschieden von dem der Ausgrabung. Er ist auch mit einer Anzahl von Schmuckornamenten verziert, die der andere nicht hatte, aber vielleicht sind sie nur abgebrochen oder durch die Einwirkung der Elemente verwittert und abgetragen.

Bis auf den Sarkophag, den geschnitzten Lettner und eine wenig kunstvoll gearbeitete Statue ist das Kirchenschiff vollständig leer. Die Zeitgenossen standen oder knieten während des Gottesdienstes, so daß es keine Kirchenbänke gibt, und reichen Figurenschmuck, wie man ihn zu dieser Zeit in größeren Kirchen findet, konnte sich die kleine und arme Gemeinde wahrscheinlich nicht leisten.

Ein geschnitzter Lettner, 12. Jahrhundert, trennt das Kirchenschiff von der halbdunklen Apsis mit Chor und Altar. Darüber, zu beiden Seiten des Kruzifixes, sind zwei primitive Wandfresken, die das Jüngste Gericht darstellen. Eines zeigt die Seligen beim Einzug in den Himmel, das andere den Höllensturz der Sünder, aber beide sehen ziemlich ähnlich aus, sind in grellen roten und blauen Tönen gehalten, und die Mienen der Seligen wie der Verdammten zeigen den gleichen Schrecken.

Der Altar ist einfach, bedeckt mit einem weißen Leinentuch und zwei versilberten Leuchtern auf beiden Seiten. Die Statue stellt nicht, wie ich angenommen hatte, die Jungfrau Maria dar, sondern die heilige Katharina von Alexandria. Sie hat den verkürzten Körper und den großen Kopf provinzieller romanischer Bildhauerkunst und eine seltsam eckige Haube, die bis knapp unter die Ohren reicht. Sie hat einen Arm um ein Kind von Puppengröße gelegt und hält mit der anderen Hand ein Rad. Zu ihren Füßen stehen ein gelblicher Kerzenstummel und zwei Öllampen am Boden.

»Kivrin, Pater Roche sagt, du bist eine Heilige«, sagte Agnes, als wir wieder hinausgingen.

Es war leicht zu sehen, wie es diesmal zu der Begriffsverwirrung gekommen war, und ich fragte mich, ob es sich mit der Glocke und dem Teufel auf dem schwarzen Pferd ähnlich verhalten mochte.

»Ich bin nach der heiligen Katharina von Alexandria benannt«, sagte ich, »genauso wie du nach der heiligen Agnes benannt bist, aber wir selbst sind keine Heiligen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Er sagt, in den letzten Tagen wird Gott seine Heiligen zu den sündigen Menschen schicken. Er sagt, wenn du betest, sprichst du mit Gottes eigener Zunge.«

Ich habe mich bemüht, vorsichtig zu sein, wenn ich in das Aufnahmegerät spreche, um meine Beobachtungen festzuhalten. Ich tue es nur, wenn ich allein im Raum bin, weiß aber nicht, wie es in der Zeit meiner Krankheit war. Ich erinnere mich, daß ich ihn immer wieder bat, mir zu helfen, und Sie bat, zu kommen und mich herauszuholen. Und wenn Pater Roche mich in der Sprache meiner Zeit sprechen hörte, konnte er ohne weiteres geglaubt haben, ich spräche in Zungen. Wenigstens hält er mich für eine Heilige und nicht für eine Hexe, aber Frau Imeyne war auch oft im Krankenzimmer. Ich werde noch vorsichtiger sein müssen.


(Unterbrechung)

Ich ging wieder zum Stall hinüber (nachdem ich mich vergewissert hatte, daß Maisry in der Küche war), aber Gawyn war nicht da, und Gringolet auch nicht. Im halb offenen Geräteschuppen daneben fand ich jedoch meine Kisten und Körbe und die auseinandergenommenen Reste des Fuhrwerks. Gawyn mußte mehrere Fahrten gemacht haben, um alles hierher zu schaffen. Ich sah die Gegenstände durch, konnte aber den kleinen messingbeschlagenen Kasten nicht finden. Ich hoffe, daß er ihn übersehen hat und daß er noch am Straßenrand liegt, wo ich ihn zurückließ. In diesem Fall ist er jetzt wahrscheinlich im Schnee begraben, aber heute ist die Sonne herausgekommen, und es beginnt ein wenig zu tauen.

15

Kivrins Erholung kam so plötzlich, daß sie überzeugt war, etwas sei geschehen, was ihr Immunsystem endlich aktiviert habe. Der Schmerz in ihrer Brust verging, sie hörte auf zu husten, und ihre Schläfenverletzung heilte vollständig aus.

Imeyne untersuchte sie argwöhnisch, als verdächtigte sie Kivrin, die Verletzung vorgetäuscht zu haben, und Kivrin war unendlich froh, daß die Wunde nicht mit kosmetischen Mitteln nachgeahmt worden war. »Du mußt Gott danken, daß er dich geheilt hat«, sagte Imeyne mißbilligend und kniete neben dem Bett nieder, um mit ihr zu beten.

Sie war zur Messe gewesen und trug ihr silbernes Reliquienkästchen. Sie legte es zwischen die gefalteten Hände und betete das Vaterunser, dann zog sie sich mühsam in die Höhe.

»Ich wünschte, ich hätte mit dir zur Messe gehen können«, sagte Kivrin.

Imeyne rümpfte die Nase. »Ich hielt dich für zu krank«, sagte sie mit einer vielsagenden Betonung auf dem Wort »krank«, »und es war bloß eine armselige Messe.«

Und sie begann mit einer Aufzählung von Pater Roches Sünden: er habe die Epistel vor dem Kyrie gelesen, sein Chorhemd sei mit Kerzenwachs befleckt, er habe einen Teil des Confiteor vergessen. Die Beschäftigung mit seinen Sünden schien sie in bessere Stimmung zu versetzen, und als sie fertig war, tätschelte sie Kivrins Hand und sagte: »Du bist noch nicht ganz geheilt. Bleib noch einen Tag im Bett.«

Kivrin tat es und nutzte die Zeit, um ihre Beobachtungen in das Aufnahmegerät zu sprechen. Sie beschrieb das Herrenhaus und das Dorf und alle Personen, denen sie bisher begegnet war. Der Verwalter kam mit einer Schale des bitteren Tees, den seine Frau bereitet hatte, ein dunkler, stämmiger Mann, der sich in seinem Sonntagswams und dem zu feinen silberbeschlagenen Gürtel unwohl zu fühlen schien, und ein Junge etwa in Rosemunds Alter kam herein, um Eliwys zu sagen, daß an ihrem Pferd eines der vorderen Hufeisen fehle. Aber der Pfarrer kam nicht wieder. »Er ist gegangen, dem Häusler die Ölung zu geben«, erzählte Agnes ihr.

Das kleine Mädchen erwies sich weiterhin als eine ausgezeichnete Informantin, beantwortete sämtliche Fragen Kivrins bereitwillig, ob sie die Antworten wußte oder nicht, und gab unaufgefordert alle möglichen Informationen über das Dorf und seine Bewohner. Rosemund war stiller und sehr darauf bedacht, erwachsen zu erscheinen. »Agnes, es ist kindisch, so zu sprechen. Du mußt lernen, deine Zunge im Zaum zu halten«, sagte sie wiederholt, eine Bemerkung, die auf Agnes glücklicherweise ohne Wirkung blieb. Rosemund sprach jedoch über ihre Brüder und ihren Vater, der »versprochen hat, daß er Weihnachten bestimmt zu uns kommen wird«. Offensichtlich verehrte und vermißte sie ihn. »Ich wollte, ich wäre ein Junge geworden«, sagte sie, als Agnes Kivrin den Silberpfennig zeigte, den Sir Bloet ihr gegeben hatte. »Dann bliebe ich mit Vater in Bath.«

Von den beiden Mädchen und aus Brocken der Gespräche zwischen Eliwys und Imeyne, die sie durch eigene Beobachtungen ergänzte, konnte sie sich Stück für Stück ein ziemlich klares Bild von den Verhältnissen im Dorf machen. Es war kleiner als Montoya für Skendgate errechnet hatte, klein sogar für ein mittelalterliches Dorf. Kivrin vermutete, daß es einschließlich der Familie des Gutsherrn und des Verwalters nicht mehr als vierzig Menschen beherbergte. Der Verwalter hatte fünf Kinder »und einen neugetauften Säugling«, wie Rosemund sagte.

Es gab zwei Schäfer und mehrere Bauern, die alle dem Gutsbesitzer hörig waren, aber es war »die ärmste von allen Besitzungen« ihres Sohnes, sagte Imeyne. Sie beklagte sich beinahe jeden Tag, daß sie Weihnachten hier verbringen müßten. Der Verwalter und seine Frau waren die sozialen Aufsteiger des Dorfes, und Maisrys Familie zählte zu den Ärmsten, die nichts besaßen und es nie zu etwas bringen würden. Kivrin zeichnete alles auf, Zahlenangaben und Klatsch, und faltete die Hände im Gebet, wann immer sie die Gelegenheit hatte.

Der Schneefall, der eingesetzt hatte, als sie zum Herrenhaus zurückgebracht worden war, hatte die ganze Nacht und den nächsten Tag bis in den Nachmittag angedauert und eine fast dreißig Zentimeter hohe Schneedecke hinterlassen. Am ersten Tag, den Kivrin ganz außerhalb des Bettes verbrachte, regnete es, und sie hoffte, daß der Regen den Schnee schmelzen würde, aber er härtete die Kruste nur zu Eis.

Als die Tage vergingen, verstärkten sich ihre Befürchtungen, daß sie den Absetzort ohne das Fuhrwerk und die Kisten nicht wiedererkennen würde. Sie mußte Gawyn dazu bringen, daß er ihn ihr zeigte, aber das war leichter gesagt als getan. Er kam nur in die Diele, um zu essen oder um Eliwys etwas zu fragen, und immer war auch Imeyne da, deren scharfen Blick nichts entging, und so wagte sie nicht, sich an ihn zu wenden.

Kivrin unternahm kleine Ausflüge mit den Mädchen — in den Umkreis des Gutshofes, hinaus ins Dorf — um vielleicht zufällig mit ihm zusammenzutreffen, aber ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Weder im Stall noch in der Scheune war er anzutreffen, und Gringolet war auch nicht da. Kivrin fragte sich, ob er trotz Eliwys’ Anweisung den Räubern nachgeritten sei, aber Rosemund sagte, er sei auf der Jagd, um Wildbret für das Weihnachtsmahl zu erlegen.

Niemanden schien es zu kümmern, wohin sie mit den beiden Mädchen ging oder wie lang sie ausblieben. Eliwys nickte nur geistesabwesend, wenn Kivrin fragte, ob sie mit den Kindern dahin oder dorthin gehen dürfe, und Frau Imeyne forderte Agnes nicht einmal auf, ihren Umhang zu schließen oder die Fäustlinge anzuziehen. Es war, als hätten sie die Kinder in Kivrins Obhut gegeben und dann vergessen.

Sie waren vollauf beschäftigt mit Weihnachtsvorbereitungen. Eliwys hatte alle jungen Mädchen und alten Frauen des Dorfes zum Backen und Kochen und Wurstmachen rekrutiert. Zwei Schweine wurden geschlachtet und mehr als die Hälfte der Tauben getötet und gerupft. Der Hof war voll von Federn und dem Geruch frisch gebackenen Brotes.

Im 14. Jahrhundert war Weihnachten zwei Wochen lang mit Schmausereien, Spielen und Tanzen gefeiert worden, aber Kivrin war überrascht, daß Eliwys dies alles unter den gegenwärtigen Umständen tat. Sie mußte überzeugt sein, daß ihr Mann wirklich zu Weihnachten kommen würde, wie er versprochen hatte.

Imeyne beaufsichtigte die Reinigung der Diele und beklagte sich dabei fortgesetzt über die armseligen Verhältnisse und den Mangel an brauchbaren Hilfskräften. An diesem Morgen hatte sie den Verwalter und einen anderen Mann kommen lassen, daß sie die schweren Tischplatten von den Wänden nehmen und auf Schrägen legen sollten. Dann beaufsichtigte sie Maisry und eine Frau mit fleckigen weißen Skrofulosenarben am Hals, während sie die Tischplatten mit Sand und harten Bürsten schrubbten.

»Wir haben keinen Lavendel«, sagte sie zu Eliwys, »und nicht genug neue Binsen für den Boden.«

»Dann werden wir uns mit dem behelfen müssen, was wir haben.«

»Wir haben auch keine Gewürze für den Honigkuchen, und keinen Zimt. In Courcy sind sie reichlich mit allem versehen. Man würde uns willkommen heißen.«

Kivrin zog Agnes die Stiefel an, um mit ihr in den Stall zu gehen. Sie blickte alarmiert auf.

»Es ist nur eine halbe Tagesreise«, sagte Imeyne. »Freifrau Ivoldes Kaplan wird wahrscheinlich die Messe lesen, und…«

Kivrin konnte den Rest nicht hören, weil Agnes dazwischenrief. »Mein Pony heißt Sarazene.«

»Mhm«, murmelte Kivrin, bemüht, das Gespräch mitzuhören. Weihnachten war eine Zeit, in der die Familien des Landadels einander gern besuchten. Daran hätte sie vorher denken sollen. Gewöhnlich wurde der gesamte Haushalt mitgenommen, und dann blieben sie wochenlang wenigstens bis zum Dreikönigstag. Wenn sie nach Courcy gingen, würden sie bis lange nach dem Rückholtermin dort bleiben.

»Vater taufte ihn Sarazene, weil er ein heidnisches Herz hat«, sagte Agnes.

»Sir Bloet wird es übel aufnehmen, wenn er erfährt, daß wir die ganze Julzeit hier verbracht haben, ohne ihn zu besuchen«, sagte Imeyne. »Er wird denken, die Verlobung sei in die Brüche gegangen.«

»Wir können zum Julfest nicht nach Courcy gehen«, sagte Rosemund. Sie hatte Kivrin und Agnes gegenüber am Feuer gesessen und genäht, aber nun stand sie auf. »Vater versprach, daß er ohne Fehl zum Fest heimkommen würde. Er wird unzufrieden mit uns sein, wenn er kommt und findet, daß wir fortgegangen sind.«

Imeyne wandte sich und blitzte Rosemund an. »Er wird unzufrieden sein, wenn er findet, daß seine Töchter so übermütig und selbstvergessen geworden sind, daß sie sprechen, wann sie wollen, und sich in Angelegenheiten einmischen, die sie nicht betreffen.« Sie wandte sich wieder Eliwys zu, die besorgt dreinschaute. »Mein Sohn würde sicherlich soviel Verstand haben, uns in Courcy zu suchen.«

»Mein Mann bat uns, hierzubleiben und zu warten, bis er kommt«, sagte Eliwys. »Er wird erfreut sein, daß wir getan haben wie er uns hieß.« Sie nahm Rosemunds Nähzeug an sich und stand auf. Damit war der Fall entschieden.

Aber nicht für lange, dachte Kivrin, die Imeyne verstohlen beobachtete. Die alte Frau schürzte zornig die Lippen und zeigte auf einen Fleck auf der Tischplatte. Die Frau mit den Skrofulosenarben kam sofort mit Sand und Bürste.

Imeyne würde es nicht damit bewenden lassen. Sie würde es wieder zur Sprache bringen und ein Argument um das andere vorbringen, daß sie zu Sir Bloet gehen sollten, der Gewürze und Zimt und Binsen und Pökelsalz hatte. Und einen gebildeten Kaplan, die Weihnachtsmesse zu lesen. Anscheinend war sie entschlossen, nicht die von Pater Roche gehaltene Messe zu hören. Und Eliwys wurde von Tag zu Tag besorgter. Sie mochte plötzlich beschließen, nach Courcy zu gehen, um Hilfe zu erbitten oder sogar nach Bath zurückzukehren. Kivrin mußte den Absetzort finden.

Sie knüpfte die Bänder von Agnes’ Kappe zu einer Schleife und zog ihr die Kapuze des Umhangs über den Kopf.

»In Bath habe ich jeden Tag Sarazene geritten«, erzählte Agnes. »Ich wollte, wir könnten hier ausreiten. Ich würde meinen Hund mitnehmen.«

»Hunde reiten nicht auf Pferden«, sagte Rosemund. »Sie laufen nebenher.«

Agnes schob die Unterlippe vor. »Blackie ist zu klein, um zu laufen.«

»Warum könnt ihr hier nicht ausreiten?« fragte Kivrin, um einen Streit abzuwenden.

»Es ist niemand da, uns zu begleiten«, sagte Rosemund. »In Bath ritten unsere Kinderfrau und einer von Vaters Gefolgsmännern mit uns.«

Einer von Vaters Gefolgsmännern. Gawyn könnte sie begleiten, und für sie böte sich nicht nur eine Gelegenheit, ihn nach dem Absetzort zu fragen, sondern sich von ihm zeigen zu lassen, wo er war. Gawyn war auf dem Gutshof. Sie hatte ihn am Morgen auf dem Hof gesehen, weshalb sie den Spaziergang vorgeschlagen hatte, aber ihn zum Begleiter zu haben, wäre noch besser.

Imeyne kam herüber zu Eliwys. »Wenn wir hier bleiben, müssen wir Wild für die Weihnachtspastete haben.«

»Ich werde dem Verwalter und seinem ältesten Sohn sagen, daß sie auf die Jagd gehen«, erwiderte sie ruhig.

»Dann wird niemand da sein, den Efeu und die Stechpalmenzweige zu bringen.«

»Pater Roche geht heute hinaus, sie zu sammeln«, sagte Eliwys.

»Er sammelt sie für die Kirche«, sagte Imeyne. »Willst du keine für den Schmuck der Diele haben?«

»Wir können sie holen«, sagte Kivrin.

Eliwys und Imeyne wandten sich nach ihr um und sahen sie erstaunt an. Ein Fehler, dachte Kivrin. Sie war so sehr darauf bedacht, die Möglichkeit zu einem Gespräch mit Gawyn zu finden, daß sie alles andere vergessen hatte, und nun hatte sie unaufgefordert gesprochen und sich »in Angelegenheiten eingemischt«, die sie offensichtlich nicht betrafen. Frau Imeyne würde mehr denn je überzeugt sein, daß sie nach Courcy gehen und eine ordentliche Kinderfrau für die Mädchen bekommen sollten.

»Entschuldigt, wenn ich mich einmische«, sagte sie. »Ich weiß, daß es viel zu tun und wenige Hände gibt. Agnes und Rosemund und ich könnten leicht in den Wald reiten, um Efeu und Stechpalmenzweige zu holen.«

»O ja«, rief Agnes eifrig. »Ich könnte mein Pony reiten.«

Ehe Eliwys etwas sagen konnte, kam Imeyne ihr zuvor. »Hast du denn keine Angst vor dem Wald, obwohl du erst jetzt von deinen Verletzungen genesen bist?«

Fehler über Fehler. Sie hatte sich als Opfer eines Raubüberfalls ausgegeben, das von den Wegelagerern für tot liegengelassen worden war, und nun erbot sie sich, zwei Kinder in denselben Wald zu führen.

»Ich meinte nicht, daß wir allein gehen sollten«, sagte sie schnell. »Agnes erzählte mir, daß sie in Bath mit einem Gefolgsmann ausritt, der sie beschützte.«

»Ja«, rief Agnes. »Gawyn kann mit uns reiten, und mein Hund Blackie.«

»Gawyn ist nicht hier«, sagte Imeyne, dann kehrte sie ihnen den Rücken und ging zu den Frauen, die die Tischplatten schrubbten.

»Wohin ist er gegangen?« fragte Eliwys mit ruhiger Stimme, aber ihre Wangen waren plötzlich hellrot.

Imeyne nahm Maisry den Lumpen aus der Hand und begann an einer Stelle der Tischplatte zu reiben. »Er hat einen Botengang für mich unternommen.«

»Du hast ihn nach Courcy geschickt«, sagte Eliwys, und es war eine Feststellung, keine Frage.

Imeyne blickte über die Schulter zu ihr hin. »Es ist nicht schicklich, daß wir Sir Bloet so nahe sind und ihm nicht unseren Gruß entbieten. Er wird sagen, wir hätten den Verkehr mit ihm abgebrochen, und wir können es uns in diesen Zeiten schwerlich leisten, einen so mächtigen Mann wie Sir Bloet zu erzürnen.«

»Mein Mann befahl uns, niemandem zu sagen, daß wir hier sind.«

»Mein Sohn befahl uns nicht, Sir Bloet zu kränken, daß er ihm seine Freundschaft und seinen guten Willen gerade jetzt entzieht, wenn sie am dringendsten gebraucht werden mögen.«

»Was trugst du ihm für Sir Bloet auf?«

»Ich befahl ihm, unsere freundschaftlichen Grüße zu entbieten«, sagte Imeyne, den Putzlappen in den Händen wringend. »Ich trug ihm auf, zu sagen, daß wir uns freuen würden, sie zum Julfest zu empfangen.« Sie hob trotzig das Kinn. »Wir können nichts anderes tun, nachdem unsere beiden Familien so bald durch eine Ehe verbunden sein sollen. Sie werden Vorräte für das Fest mitbringen, und Diener…«

»Und Ivoldes Kaplan zum Lesen der Messe?« fragte Eliwys kalt.

»Kommen sie wirklich hierher?« fragte Rosemund. Sie war wieder aufgestanden, und ihr Nähzeug lag zu ihren Füßen am Boden.

Eliwys und Imeyne sahen sie verständnislos an, als ob sie vergessen hätten, daß außer ihnen noch jemand in der Diele war. Dann richtete Eliwys den Blick auf Kivrin und sagte mit einiger Schärfe: »Katherine, wolltest du nicht die Kinder mitnehmen, um Efeu und Stechpalmenzweige zu sammeln?«

»Wir können ohne Gawyn nicht gehen«, sagte Agnes.

»Pater Roche kann mit euch reiten«, sagte Eliwys.

Kivrin nahm Agnes bei der Hand, um sie hinauszuführen.

»Kommen sie hierher?« fragte Rosemund, und ihre Wangen waren beinahe so rot wie die ihrer Mutter.

»Ich weiß es nicht«, sagte Eliwys. »Geh mit deiner Schwester und Katherine.«

»Ich werde reiten!« rief Agnes, riß sich von Kivrins Hand los und rannte hinaus.

Rosemund machte ein Gesicht, als wollte sie noch etwas sagen, dann ging sie mit Kivrin und nahm ihren Umhang vom Haken im Durchgang.

»Maisry«, sagte Eliwys, »die Tischplatte sieht gut genug aus. Geh und hol das Salzfäßchen und die Silberschüssel aus der Truhe auf dem Dachboden.«

Die Frau mit den Skrofulosenarben wartete nicht, bis auch sie fortgeschickt wurde, und eilte hinaus, und sogar Maisry säumte nicht, die Leiter hinaufzusteigen. Kivrin zog ihren Umhang über und band ihn hastig zu, besorgt, daß Frau Imeyne noch eine Bemerkung über den vorgetäuschten Überfall im Wald machen würde, aber keine der beiden Frauen sagte etwas. Sie standen einander gegenüber, Imeyne noch immer den Putzlappen zwischen den Händen wringend, und warteten offensichtlich, daß Kivrin und Rosemund hinausgingen.

»Wird…?« sagte Rosemund, dann flog sie herum und rannte hinter Agnes hinaus.

Kivrin eilte ihnen nach. Gawyn war fort, aber sie hatte Erlaubnis mit den Mädchen in den Wald zu reiten und den Pfarrer als Begleiter mitzunehmen. Rosemund hatte erzählt, daß Gawyn ihm auf der Straße begegnet sei, als er sie zum Herrenhaus gebracht hatte. Vielleicht hatte Gawyn ihm die Lichtung gezeigt oder erzählt, wo er sie gefunden hatte.

Sie lief über den Hof zum Stallgebäude, beflügelt von dem Gedanken, daß Eliwys sich eines anderen besinnen und sie in letzter Minute zurückrufen würde.

Die Mädchen hatten offenbar ähnliche Befürchtungen. Agnes saß bereits auf ihrem Pony, und Rosemund zog den Sattelgurt bei ihrem Pferd zu. Das Pony war kein echtes Pony, sondern ein kräftiger Rotfuchs, kaum kleiner als Rosemunds Stute, und Agnes saß in dem vorn und hinten hochgezogenen Sattel in beängstigender Höhe. Der Stalljunge, der Eliwys vom verlorengegangenen Hufeisen berichtet hatte, hielt die Zügel.

»Steh nicht herum und halt Maulaffen feil, Cob«, fuhr Rosemund ihn an. »Sattle den Rotschimmel für Fräulein Katherine!«

Gehorsam ließ er die Zügel los. Agnes beugte sich weit nach vorn, um sie aufzunehmen.

»Nicht Mutters Pferd!« sagte Rosemund. »Den Roncin!«

»Wir werden zur Kirche reiten, Sarazene«, sagte Agnes, »und Pater Roche sagen, daß wir mit ihm gehen wollen, und dann werden wir ausreiten. Sarazene reitet gern aus.« Sie beugte sich viel zu weit vor, um den Hals und die kurzgeschnittene Mähne des Rotfuchses zu tätscheln, und Kivrin mußte sich zurückhalten, um nicht hinzuspringen und nach ihr zu greifen.

Agnes war offensichtlich das Reiten gewohnt — weder Rosemund noch der Stalljunge, der Kivrins Pferd sattelte, schenkte ihr einen Blick -, aber sie sah so winzig aus, wie sie dort oben im Sattel saß, die weichsohligen Stiefel in den verkürzten Steigbügeln, und sie war sicherlich ebensowenig imstande, vorsichtig zu reiten wie langsam zu gehen.

Cob sattelte den Rotschimmel, führte ihn hinaus und stand wartend da.

»Cob!« sagte Rosemund. Er bückte sich und machte eine Stufe aus seinen ineinandergesteckten Händen. Rosemund benutzte sie als Tritt und schwang sich in den Sattel. »Steh nicht herum wie ein Dummkopf! Hilf Fräulein Katherine.«

Er eilte unbeholfen hinüber, um Kivrin in den Sattel zu helfen. Sie zögerte erstaunt über Rosemunds barsches Benehmen. Die Nachricht, daß Gawyn zu Sir Bloet geritten war, hatte sie offensichtlich aus der Fassung gebracht. Wie es schien, hatte sie nichts über die Gerichtsverhandlung ihres Vaters gewußt, aber vielleicht hatte sie sich mehr zusammengereimt als Kivrin, ihre Mutter und ihre Großmutter dachten.

»Ein so mächtiger Mann wie Sir Bloet«, hatte Imeyne gesagt, und daß seine Freundschaft und sein guter Wille dringend gebraucht wurden. Vielleicht war Imeynes Einladung nicht so eigennützig wie es schien. Vielleicht bedeutete sie, daß Guillaume d’Iverie in einer noch kritischeren Lage war, als Eliwys dachte. Und Rosemund, still über ihre Näharbeit gebeugt und ihren eigenen Gedanken nachhängend, hatte sich das ausgerechnet.

»Cob!« fuhr Rosemund den Stalljungen an, obwohl er nur darauf wartete, daß Kivrin aufsitze. »Durch deine Trödelei werden wir noch Pater Roche verpassen!«

Kivrin sagte nichts, lächelte dem Jungen aufmunternd zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Reitunterricht hatte zu den ersten Aufgaben gehört, die Mr. Dunworthy ihr gestellt hatte, und sie war gut damit zurechtgekommen. Der Damensattel war erst um 1400 eingeführt worden, was ein Segen war, und mittelalterliche Sättel hatten hochgezogene Sattelbogen und Hinterzwiesel. Dieser Sattel war hinten noch höher als der, auf dem sie reiten gelernt hatte.

Aber wahrscheinlich werde ich diejenige sein, die herunterfällt, nicht Agnes, dachte sie mit einem Blick zu der Kleinen, die zuversichtlich auf ihrem Rotfuchs saß. Sie hielt sich nicht einmal fest, sondern hatte sich zurückgewandt und fummelte an etwas in der Satteltasche hinter ihr herum.

»Laßt uns endlich losreiten!« sagte Rosemund ungeduldig.

»Sir Bloet sagt, daß er mir ein silbernes Zaumzeug mitbringen wird«, sagte sie, noch immer mit den Händen in der Satteltasche.

»Agnes! Hör auf zu trödeln und komm«, sagte Rosemund.

»Sir Bloet sagt, er wird es bringen, wenn er zu Ostern kommt.«

»Agnes!« sagte Rosemund. »Komm jetzt! Es wird noch Regen geben.«

»Nein, bestimmt nicht«, sagte Agnes unbesorgt. »Sir Bloet…«

Rosemund wandte sich wütend gegen ihre Schwester. »Ach, du kannst jetzt schon das Wetter beruhigen? Du bist nichts als ein Säugling! Ein quängelnder Säugling!«

»Rosemund!« sagte Kivrin. »Sprich nicht so zu deiner Schwester.« Sie trat zu ihr und ergriff die lose hängenden Zügel. »Was ist los, Rosemund? Beunruhigt dich etwas?«

Rosemund zog die Zügel mit einem Ruck straff. »Nur daß wir hier herumtrödeln, während der Säugling plappert.«

Kivrin ließ die Zügel stirnrunzelnd los, ging zurück zu ihrem Pferd und ließ sich von Cob mit den ineinandergesteckten Fingern einen Tritt zum Aufsitzen machen. Sie hatte Rosemund nie so ungeduldig und nervös gesehen.

Sie ritten aus dem Hof, vorbei am jetzt leeren Schweineauslauf und hinaus über den Dorfanger. Es war ein blaugrauer Tag mit einer tiefhängenden, schweren Wolkendecke, aber ganz windstill. Rosemund hatte recht mit ihrer Erwartung, daß es Regen geben würde. Die kalte Luft roch nach Nässe und Nebel. Sie trieb ihr Pferd zu schnellerer Gangart an.

Auch im Dorf schien man mit Weihnachtsvorbereitungen beschäftigt. Aus jeder Hütte stieg Rauch, und am anderen Ende des Dorfangers hackten zwei Männer Holz und warfen die Scheite auf einen schon mächtig angewachsenen Haufen. Ein großes, geschwärztes Stück Fleisch — die Ziege? — wurde neben dem Haus des Verwalters am Spieß gebraten. Die Frau des Verwalters war draußen und molk die knochige Kuh, die Kivrin über ihrem ersten Ausflug ins Dorf kennengelernt hatte. Sie und Mr. Dunworthy waren über die Frage in Streit geraten, ob sie lernen müsse, mit der Hand zu melken. Sie hatte ihm gesagt, daß im Mittelalter während des Winters keine Kühe gemolken werden, daß man sie trocken gehen ließ und für die Käsezubereitung Ziegenmilch verwendete. Sie hatte ihm auch gesagt, daß Ziegen keine Fleischtiere waren.

»Agnes!« sagte Rosemund zornig.

Kivrin blickte auf. Agnes hatte haltgemacht und sich wieder in ihrem Sattel umgewandt. Gehorsam setzte sie ihr Pferd wieder in Bewegung, aber Rosemund sagte: »Ich warte nicht länger auf dich, du Schlafmütze«, und stieß ihr Pferd mit den Fersen, bis es zu traben begann, die Hühner vom Anger scheuchte und beinahe ein barfüßiges kleines Mädchen mit einem Armvoll Reisig niederritt.

Kivrin rief ihr nach, aber Rosemund war schon außer Hörweite, und Kivrin wollte nicht Agnes’ Seite verlassen, um ihr nachzujagen.

»Ist deine Schwester wütend, daß sie Efeu und Stechpalmenzweige sammeln soll?« fragte sie die Kleine. Sie wußte, daß es nicht der Grund war, hoffte aber, daß Agnes von sich aus die wahre Ursache preisgeben würde.

»Sie ist immer eigensinnig«, sagte Agnes. »Großmutter wird erzürnt sein, daß sie so kindisch reitet.« Sie ließ ihr Pony im geziemenden Schritt über den Dorfanger gehen, ein Inbegriff von Reife, und nickte den Dorfbewohnern zu.

Das kleine Mädchen mit dem Reisigbündel war stehengeblieben und starrte sie mit offenem Mund an. Die Frau des Verwalters blickte auf, als sie vorbeiritten, und lächelte ihnen zu, bevor sie weitermolk, und als sie die Holzacker passierten, nahmen die Männer ihre Kappen ab und verbeugten sich.

Sie kamen an der Hütte vorbei, wo Kivrin in ihrer Schwäche Zuflucht gesucht hatte. Der Hütte, in der sie sterbensmatt vor der qualmenden Glut gekauert war, ohne zu ahnen, daß Gawyn ihre Sachen zum Gutshof schaffte.

»Agnes«, sagte sie, »war Pater Roche bei euch, als ihr den Julblock aus dem Wald brachtet?«

»Ja, freilich. Er mußte ihn ja segnen.«

»Oh«, sagte Kivrin enttäuscht. Sie hatte gehofft, daß er vielleicht mit Gawyn gegangen wäre, ihre Sachen zu holen, und dadurch mit dem Absetzort vertraut war. »Hat jemand Gawyn geholfen, meine Sachen zum Gutshof zu bringen?«

Agnes verneinte, aber es war schwierig zu beurteilen, ob sie es wirklich wußte oder nicht. »Gawyn ist sehr stark. Er hat mit seinem Schwert vier Wölfe erschlagen.«

Das klang ziemlich unwahrscheinlich, aber daß er mitten in der Wildnis ein ohnmächtiges Mädchen gefunden und gerettet hatte, hörte sich gewiß nicht glaubwürdiger an. Außerdem würde er alles tun, wenn er glaubte, es würde ihm Eliwys’ Herz gewinnen. Dafür hätte er das zerbrochene Fuhrwerk sogar eigenhändig ins Dorf gezogen.

»Pater Roche ist stark«, sagte Agnes.

»Pater Roche ist fort«, sagte Rosemund, die schon abgesessen war. Sie hatte ihr Pferd an die Friedhofspforte gebunden und stand zwischen den Grabsteinen, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Hast du in der Kirche nachgesehen?« fragte Kivrin.

Rosemund schüttelte verdrießlich den Kopf. »Aber hast du gemerkt, wie kalt es wird? Pater Roche wird mehr Verstand haben, als hier zu warten, bis es schneit.«

»Wir werden in der Kirche nachsehen«, sagte Kivrin, saß ab und hielt die Arme für Agnes auf. »Komm, Agnes.«

»Nein«, sagte die Kleine, beinahe so eigensinnig wie ihre Schwester. »Ich warte hier mit Sarazene.« Sie klopfte dem Pony die Mähne.

»Sarazene wird dir nicht weglaufen«, sagte Kivrin. Sie streckte die Arme aus und hob das kleine Mädchen herunter. »Komm mit, wir werden zuerst in der Kirche nachschauen.« Sie nahm ihre Hand und öffnete die Friedhofspforte.

Agnes protestierte nicht, blickte aber besorgt über die Schulter zu den Pferden. »Sarazene mag nicht gern allein bleiben.«

Rosemund wandte sich zu ihnen um und faßte Agnes ins Auge. »Was hast du versteckt, du böses Mädchen? Hast du Äpfel gestohlen und in deine Satteltasche getan?«

»Nein!« sagte Agnes erschrocken, aber Rosemund marschierte bereits auf das Pony zu. »Laß die Hände davon! Es ist nicht dein Pony!« rief Agnes.

Nun, dachte Kivrin, wir werden den Pfarrer nicht suchen müssen. Wenn er hier ist, wird er herauskommen, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten hat.

Rosemund schnallte die Ledergurte der Satteltasche auf. »Da haben wir’s!« sagte sie und zog Agnes’ jungen Hund beim Nackenfell heraus.

»Aber Agnes!« sagte Kivrin.

»Du bist ein böses Mädchen«, sagte Rosemund. »Ich sollte ihn zum Fluß tragen und ertränken.« Sie tat, als wollte sie zum Ufer gehen.

»Nein!« winselte Agnes und rannte ihr nach. Sofort hielt Rosemund den jungen Hund hoch, daß Agnes ihn nicht erreichen konnte.

Das ist entschieden weit genug gegangen, dachte Kivrin. Sie trat zwischen die beiden und nahm Rosemund den jungen Hund weg. »Agnes, hör auf zu heulen. Deine Schwester wird Blackie nichts tun.« Der junge Hund krabbelte an Kivrins Schulter hoch, versuchte ihr die Wange zu lecken. »Agnes, Hunde können nicht reiten. Und in deiner Satteltasche bekommt Blackie nicht genug Luft.«

»Ich konnte ihn nicht tragen«, sagte Agnes, aber nicht sehr hoffnungsvoll. »Er wollte reiten.«

»Er hatte einen weiten Ritt bis zur Kirche«, sagte Kivrin mit Entschiedenheit, »und er wird einen schönen Ritt zurück zum Stall bekommen.« Er versuchte an ihrem Ohr zu kauen, und sie gab ihn Rosemund, die ihn wieder am Nackenfell packte. »Er ist noch ein Baby, Agnes. Er muß jetzt zurück zu seiner Mutter und schlafen.«

»Du bist das Baby, Agnes«, sagte Rosemund so ergrimmt, daß Kivrin zu zweifeln begann, ob sie ihr vertrauen konnte, den kleinen Hund zurückzubringen. »Einen Hund mit auf ein Pferd zu nehmen! Und nun müssen wir noch mehr Zeit verschwenden und ihn zurückbringen. Bin ich froh, wenn ich einmal erwachsen sein werde und nichts mehr mit Babies zu tun haben muß!«

Sie saß auf, den Welpen noch immer am Nackenfell haltend, doch sobald sie im Sattel saß, wickelte sie ihn beinahe zärtlich in ein Stück ihres Umhangs und hielt ihn an ihrer Brust. Mit der freien Hand nahm sie die Zügel und wendete das Pferd. Mit einem ärgerlichen Blick über die Schulter sagte sie: »Pater Roche ist inzwischen bestimmt fort!« und galoppierte davon.

Kivrin befürchtete, daß sie wahrscheinlich recht hatte. Der Lärm, den sie gemacht hatten, war beinahe hinreichend gewesen, die Toten unter den Grabsteinen zu wecken, aber aus der Kirche war niemand gekommen. Er mußte schon vor ihrer Ankunft gegangen und längst im Wald sein, aber Kivrin nahm Agnes bei der Hand und führte sie in die Kirche.

»Rosemund ist ein böses Mädchen«, sagte Agnes.

Kivrin war geneigt, ihr zuzustimmen, konnte das aber schwerlich sagen; da sie andererseits kein Verlangen hatte, Rosemund zu verteidigen, schwieg sie.

»Ich bin auch kein Baby«, sagte Agnes und blickte um Bestätigung heischend zu Kivrin auf, aber auch dazu gab es nichts zu sagen. Kivrin stieß die schwere Tür auf und blickte in die Kirche.

Niemand war da. Im Chor war es beinahe finster, und auch das Kirchenschiff lag in tiefem Halbdunkel, weil der graue Tag draußen nur wenig Licht durch die schmalen, farbigen Fenster dringen ließ, aber durch die halboffene Tür fiel genug Licht ein, um zu sehen, daß die Kirche leer war.

»Vielleicht ist er im Chor«, sagte Agnes. Sie drückte sich an Kivrin vorbei zum Mittelgang, kniete nieder, bekreuzigte sich und blickte dann ungeduldig über die Schulter zurück zu Kivrin.

Der Pfarrer war auch nicht im Chor. Sie konnte von der Tür aus sehen, daß auf dem Altar keine Kerzen brannten, aber Agnes würde erst zufrieden sein, wenn sie die ganze Kirche durchsucht hätten. Kivrin kniete neben ihr nieder und bekreuzigte sich, dann gingen sie durch das Halbdunkel vor zum Lettner. Die Kerzen vor der Statue der heiligen Katharina waren gelöscht. Der Geruch vom Rauch der Talglichter hing noch in der Luft. Sie fragte sich, ob Pater Roche die Lichter gelöscht hatte, bevor er gegangen war. Feuergefahr war sicherlich ein großes Problem, sogar in einer aus Feldsteinen gemauerten Kirche, und es gab keine Glasschalen oder Becher, in denen die Talglichter sicher niederbrennen konnten.

Agnes lief zum geschnitzten Lettner, drückte ihr Gesicht gegen das Gitterwerk und rief: »Pater Roche!« Gleich darauf wandte sie sich um und verkündete: »Er ist nicht hier, Kivrin. Vielleicht ist er in seinem Haus.« Damit rannte sie durch die Sakristei ins Freie.

Kivrin war sicher, daß Agnes das nicht durfte, aber es blieb ihr nichts übrig als der Kleinen über den Friedhof zum Pfarrhaus zu folgen.

Es mußte das Pfarrhaus sein, denn Agnes stand bereits vor der Tür und schrie: »Pater Roche!« und natürlich stand das Pfarrhaus neben der Kirche, doch war Kivrin gleichwohl überrascht.

Das Haus war so bescheiden und baufällig wie die anderen Hütten, und nicht viel größer. Dem Dorfpfarrer sollte der Kirchenzehnte zustehen, ein Zehntel von jedermanns Ernte und Vieh, aber in dem schmalen Hof gab es außer ein paar mageren Hühnern keine Tiere, und neben dem Eingang war weniger als ein Armvoll Brennholz gestapelt.

Agnes begann an die Tür zu schlagen, die so schwach wie jene der anderen Hütten aussah, und Kivrin befürchtete, sie würde sie aufstoßen und einfach hineingehen, doch ehe es dazu kam, wandte Agnes sich um und sagte: »Vielleicht ist er im Glockenturm.«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Kivrin und nahm Agnes bei der Hand, damit sie nicht wieder durch den Friedhof davonrannte. Sie gingen zurück zur Pforte. »Pater Roche läutet erst wieder zur Vesper.«

»Er könnte aber«, sagte Agnes und neigte lauschend den Kopf auf die Seite.

Auch Kivrin lauschte unwillkürlich, aber es war nichts zu hören, und auf einmal merkte sie, daß die Glocke im Südwesten nicht mehr läutete. Sie hatte beinahe unaufhörlich geläutet, während Kivrin Lungenentzündung gehabt hatte, und als sie das zweite Mal zum Stall hinausgegangen war und nach Gawyn Ausschau gehalten hatte, war das Geläute an ihr Ohr gedrungen, aber sie erinnerte sich nicht, ob es seither verstummt war oder nicht.

»Hast du das gehört, Kivrin?« sagte Agnes. Sie entzog ihre kleine Hand Kivrins Finger und lief davon, nicht zum Glockenturm, sondern um die Kirche zur Nordseite. »Siehst du?« krähte sie und zeigte auf etwas, das sie gefunden hatte. »Er ist nicht fort.«

Es war der graue Esel des Dorfpfarrers, der genügsam an den dürren Stauden rupfte, die aus dem Schnee schauten.

Er trug ein Zaumzeug aus zusammengeknoteten Seilen und mehrere Säcke, die über seinen Rücken gelegt waren, offensichtlich leer und offensichtlich für den Efeu und die Stechpalmenzweige gedacht.

»Ich weiß, er ist im Glockenturm«, sagte Agnes und rannte den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Kivrin folgte ihr um die Kirche und in den Friedhof und sah Agnes im Turm verschwinden. Sie wartete und überlegte, wo sie sonst suchen könnten. Vielleicht kümmerte sich der Pfarrer in einer der Hütten des Dorfes um Kranke.

Eine winzige Bewegung hinter einem Kirchenfenster fand ihre Aufmerksamkeit. Ein Licht. Vielleicht war er zurückgekommen, während sie nach dem Esel gesehen hatten. Sie stieß die Tür auf und spähte hinein. Vor der Statue der heiligen Katharina war ein Licht angezündet worden.

»Pater Roche?« rief sie leise. Keine Antwort. Sie betrat die Kirche, ließ die Tür hinter sich zufallen und ging hinüber zu der Statue.

Die Kerze stand zwischen den plump behauenen Füßen der Statue. Gesicht und Haar der heiligen Katharina, beide in primitiv stilisierter Steinmetzarbeit, waren im Schatten und ragten schützend über die kleine Gestalt, die ein Mädchen darstellen sollte. Sie kniete nieder und hob die Kerze auf. Sie war gerade entzündet worden. Die Flamme hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, den Talg um den Docht zu schmelzen.

Kivrin blickte durch das Kirchenschiff. Wenn sie die Kerzen vor sich hielt, konnte sie nichts sehen. Der Lichtschein erhellte den Boden und St. Katharinas kastenartiges Kopftuch und ließ den Rest der Kirche um so dunkler erscheinen.

Sie ging ein paar Schritte durch das Kirchenschiff, die Kerze in der Hand. »Pater Roche?«

Es war völlig still in der Kirche, genauso still wie es an jenem Abend ihrer Ankunft im Wald gewesen war. Zu still, als ob jemand da wäre, neben dem Sarkophag oder hinter einer der Säulen stand und wartete.

»Pater Roche?« rief sie mit klarer Stimme. »Seid Ihr da?«

Keine Antwort, nur diese lautlose, wartende Stille. Es war niemand im Wald gewesen, sagte sie sich und ging ein paar Schritte ins tiefe Halbdunkel. Niemand war neben dem Sarkophag. Imeynes Gemahl lag mit auf der Brust gefalteten Händen, das Schwert an der Seite, friedlich und stumm. Auch bei der Tür war niemand. Sie konnte sie jetzt trotz des blendenden Scheins der Kerze sehen. Niemand stand dort.

Dennoch pochte ihr das Blut dumpf in den Schläfen, wie es das im Wald getan hatte, so laut, daß es das Geräusch von Schritten, von Atemzügen übertönen konnte. Sie fuhr herum, daß die Kerze eine feurige Spur durch die Luft zog.

Er war direkt hinter ihr. Die Kerze ging beinahe aus.

Die Flamme flackerte, dann beruhigte sie sich und beleuchtete sein Halsabschneidergericht von unten, wie es die Laterne getan hatte.

»Was willst du?« sagte Kivrin, so atemlos, daß beinahe kein Ton herauskam. »Wie bist du hier hereingekommen?«

Der Halsabschneider antwortete ihr nicht. Er starrte sie einfach an, genauso wie er es auf der Lichtung getan hatte. Ich hatte ihn nicht geträumt, dachte sie angsterfüllt.

Er war dort. Er hatte vorgehabt — was vorgehabt? Sie zu berauben? Zu vergewaltigen? Gawyns Erscheinen hatte ihn verjagt.

Sie trat einen Schritt zurück. »Ich sagte, was willst du? Wer bist du?«

Sie hörte ihre Stimme in dem kalten steinernen Raum widerhallen, und es kam ihr so vor, als sei der Dolmetscher ausgefallen. Sie zwang sich, langsamer zu sprechen und hörte ihre Stimme sagen: »Wasse weltu vone mier?«

Er streckte die Hand nach ihr aus, eine riesige Hand, schmutzig und gerötet, eines Halbsabschneiders Hand, als wollte er ihr kurzgeschnittenes Haar berühren.

»Geh weg!« sagte sie, wich wieder zurück und stieß gegen den Sarkophag. Die Kerze ging aus. »Ich weiß nicht, wer du bist oder was du willst.« Er wollte sie berauben, umbringen, und wo war der Pfarrer? »Pater Roche!« rief sie verzweifelt. »Pater Roche!«

An der Tür entstand ein Geräusch, ein Schlagen, und dann das Kratzen von Holz auf Stein, und Agnes stieß die Tür auf. »Da bist du ja!« rief sie fröhlich. »Ich habe dich überall gesucht.«

Der Halsabschneider blickte zur Tür.

»Agnes!« rief Kivrin. »Lauf!«

Das kleine Mädchen erstarrte, die Hand noch an der schweren Plankentür.

»Lauf weg von hier!« rief Kivrin.

Der Halsabschneider trat wieder einen Schritt auf sie zu. Sie wich gegen den Sarkophag zurück.

»Renne! Fliehe, Agnes!« rief sie, und dann schlug die Tür zu, und Kivrin rannte durch den Mittelgang und hinter ihr zur Tür hinaus, ließ unterwegs irgendwo die Kerze fallen.

Agnes war beinahe an der Friedhofspforte, blieb aber stehen, sobald Kivrin herauskam und zu ihr lief.

»Nein!« rief Kivrin und winkte sie weiter. »Lauf!«

»Ist es ein Wolf?« fragte Agnes mit großen Augen.

Es war keine Zeit für Erklärungen. Die Männer, die Holz gehackt hatten, waren verschwunden. Sie nahm Agnes auf die Arme und lief mit ihr zu den Pferden. »Es war ein böser Mann in der Kirche!« schnaufte sie, als sie Agnes aufs Pferd setzte.

»Ein böser Mann?« fragte Agnes. Sie achtete nicht auf die Zügel, die Kivrin ihr hinhielt. »War es einer von denen, die dich im Wald überfielen?«

»Ja«, sagte Kivrin. Mit fliegenden Fingern band sie die Zügel ihres Pferdes los. »Du mußt zum Gutshof zurückreiten, so schnell du kannst. Halte nicht an.«

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagte Agnes.

Das war gut möglich. Als sie von draußen hereingekommen war, konnte sie im düsteren Innenraum zuerst nichts gesehen haben.

»War es der Mann, der deine Sachen gestohlen und dir den Kopf aufgeschlagen hatte?«

»Ja«, sagte Kivrin. Sie nahm die Zügel und bemühte sich, den Knoten aufzuziehen.

»War der böse Mann im Grab versteckt?«

»Was?« sagte Kivrin. Sie konnte das steife Leder nicht aufknoten. Ängstlich blickte sie zurück zur Kirchentür.

»Ich sah dich und Pater Roche beim Grab. War der böse Mann in Großvaters Grab versteckt?«

16

Pater Roche!

Der steife Knoten ging plötzlich auf. »Pater Roche?«

»Ich ging in den Glockenturm, aber er war nicht dort. Er war in der Kirche«, sagte Agnes. »Warum war der böse Mann in Großvaters Grab versteckt, Kivrin?«

Pater Roche. Aber das konnte nicht sein. Pater Roche hatte ihr die letzte Ölung gegeben. Er hatte ihr die Schläfen und die Hände gesalbt.

»Wird der böse Mann Pater Roche überfallen?« fragte Agnes.

Er konnte nicht Pater Roche sein. Pater Roche hatte ihre Hand gehalten. Er hatte ihr gesagt, sich nicht zu fürchten. Sie suchte sich das Gesicht des Pfarrers ins Gedächtnis zurückzurufen. Er hatte sich über sie gebeugt und sie nach ihrem Namen gefragt, aber sie hatte sein Gesicht wegen des Rauches und der schlechten Beleuchtung nicht sehen können.

Und während er ihr das Sterbesakrament gegeben hatte, hatte sie den Halsabschneider gesehen, sie hatte sich gefürchtet, weil sie ihn ins Zimmer gelassen hatten, hatte versucht, sich ihm zu entziehen. Aber es war überhaupt kein Halsabschneider gewesen, sondern Pater Roche.

»Kommt der böse Mann?« fragte Agnes mit einem furchtsamen Blick zur Kirchentür.

Es ergab alles einen Sinn. Der Halbsabschneider über sie gebeugt auf der Lichtung. Der Halsabschneider, der sie aufs Pferd gehoben hatte. Für sie war es eine Vision aus ihrem Fiebertraum gewesen, aber ihr Gedächtnis hatte nicht getrogen. Es war Pater Roche gewesen, gekommen, um Gawyn zu helfen.

»Der böse Mann kommt nicht«, sagte Kivrin. »Es gibt dort keinen bösen Mann.«

»Versteckt er sich noch in der Kirche?«

»Nein, ich irrte mich. Es gibt keinen bösen Mann.«

Agnes schien nicht überzeugt. »Du hast geschrien«, sagte sie.

Kivrin konnte sich vorstellen, wie Agnes ihrer Großmutter erzählte: »Lady Katherine und Pater Roche waren zusammen in der Kirche und sie schrie und rannte hinaus.« Frau Imeyne würde dies mit Vergnügen Pater Roches Sündenregister hinzufügen. Und ihrer Liste von Kivrins verdächtigen Handlungen.

»Ich weiß, daß ich geschrien habe«, sagte Kivrin. »Es war dunkel in der Kirche. Plötzlich kam Pater Roche von rückwärts, und ich bekam einen Schreck und schrie vor Angst.«

»Aber es war Pater Roche«, sagte Agnes, als könne sie sich nicht vorstellen, daß jemand Angst vor ihm habe.

»Wenn du mit Rosemund Versteck spielst, und sie springt plötzlich hinter einem Baum auf dich zu, schreist du auch«, sagte Kivrin.

»Einmal versteckte sie sich auf dem Heuboden, als ich mit meinem Hund spielte. Plötzlich sprang sie herunter. Ich hatte solche Angst, daß ich laut schrie. So«, sagte Agnes und stieß ein gellendes Kreischen aus. »Und ein anderes Mal war es dunkel in der Diele, und Gawyn sprang aus dem Durchgang und sagte ›Pfui!‹, und ich schrie und…«

»Siehst du?« sagte Kivrin. »In der Kirche war es auch dunkel.«

»Ist Pater Roche herausgesprungen und hat ›Pfui‹ gesagt?«

Ja, dachte Kivrin. Er beugte sich über mich, und ich dachte, er sei ein Halsabschneider. »Nein«, sagte sie. »Er hat nichts getan.«

»Gehen wir immer noch mit Pater Roche den Efeu holen?«

Wenn ich ihn nicht verscheucht habe, dachte Kivrin. Wenn er nicht gegangen ist, während wir hier standen und redeten.

Sie hob Agnes vom Pferd. »Komm mit. Wir müssen ihn suchen.«

Sie wußte nicht, was sie tun würde, wenn er wirklich fortgegangen wäre. Sie konnte nicht mit Agnes zum Herrenhaus zurückkehren und Imeyne erzählen, wie sie geschrien hatte. Und sie konnte nicht zurückgehen, ohne Pater Roche den Sachverhalt zu erklären. Welchen Sachverhalt? Daß sie ihn für einen Räuber, einen Wüstling gehalten hatte? Daß sie gedacht hatte, er sei ein Alptraum aus ihrem Delirium?

»Müssen wir wieder in die Kirche gehen?« fragte Agnes widerwillig.

»Es ist alles in Ordnung. Es ist außer Pater Roche niemand dort.«

Trotz ihrer Zusicherungen war Agnes abgeneigt, in die Kirche zurückzugehen. Sie verbarg ihren Kopf in Kivrins Röcken, als diese die Tür öffnete, und klammerte sich an ihr Bein.

»Es ist schon gut«, sagte Kivrin. Sie spähte ins Kirchenschiff. Er war nicht mehr beim Sarkophag. Die Tür fiel schleifend hinter ihr zu, und sie stand da und wartete, daß ihre Augen sich an das schlechte Licht gewöhnten. Agnes drängte sich an sie. »Es ist nichts zu fürchten.«

Er ist kein Halsabschneider, sagte sie sich. Es gibt keinen Grund zur Ängstlichkeit. Er gab dir die letzte Ölung. Er hielt dir die Hand. Aber das Herz schlug ihr im Halse.

»Ist der böse Mann da?« flüsterte Agnes aus ihren Rockfalten.

»Es gibt keinen bösen Mann«, sagte sie, und dann sah sie Pater Roche. Er stand vor der Statue der heiligen Katharina und hielt die Kerze, die Kivrin fallen gelassen hatte, in den Händen. Während sie hinsah, bückte er sich und stellte sie wieder vor die Statue, dann richtete er sich auf.

Sie hatte gedacht, daß Kerzenschein und Dunkelheit und das Spiel der Schatten in dem von unten beleuchteten Gesicht ihr womöglich einen Streich gespielt hätten, und daß er doch nicht der Halsabschneider war, aber er war derselbe Mann. Im Wald hatte er eine Kapuze über den Kopf gezogen, so daß sie seine Tonsur nicht hatte sehen können, aber jetzt stand er gebeugt vor der Statue, wie er über sie gebeugt gewesen war. Ihr Herzklopfen verstärkte sich wieder.

»Wo ist Pater Roche?« Agnes hob den Kopf aus ihren Rockfalten. »Da ist er!« rief sie und lief auf ihn zu.

»Nein…«, sagte Kivrin und ging ihr nach. »Nicht…«

»Pater Roche!« schrie Agnes. »Pater Roche! Wir haben dich gesucht!« Anscheinend hatte sie den bösen Mann vergessen. »Wir suchten in der Kirche und riefen vor dem Haus, aber du warst nicht da!« Sie rannte in vollem Lauf auf ihn zu. Er wandte sich um und bückte sich, fing Agnes auf und hob sie in einer geschmeidigen Bewegung auf seine Arme.

»Ich suchte dich im Glockenturm, aber du warst nicht da«, sagte Agnes ohne die leiseste Spur von Furcht. »Rosemund sagte, du seist fortgegangen.«

Kivrin blieb bei der letzten Säule stehen und versuchte zur Ruhe zurückzufinden.

»Hattest du dich versteckt?« fragte Agnes. Sie legte ihm einen Arm vertrauend um den Hals. »Einmal versteckte sich Rosemund in der Scheune und sprang auf mich herunter. Ich schrie, so laut ich konnte.«

»Warum bist du gekommen, Agnes?« fragte er. »Ist jemand krank?«

Er hatte ungefähr den gleichen Akzent wie die Leute aus dem Dorf, und der Dolmetscher übersetzte mit kurzer Verzögerung, was er gesagt hatte. Kivrin war ein wenig überrascht, daß sie ihn nicht sofort verstand. Im Krankenzimmer hatte sie trotz ihres Zustandes keine Schwierigkeiten gehabt.

Er mußte Latein gesprochen haben, dachte sie, denn seine Stimme war unverkennbar dieselbe. Es war die Stimme, die für sie die Sterbegebete gesprochen und ihr gesagt hatte, sie solle sich nicht fürchten. Und sie fürchtete sich nicht. Beim Klang seiner Stimme hörte ihr Herzklopfen plötzlich auf.

»Nein, niemand ist krank«, sagte Agnes. »Wir wollen mit dir gehen und Efeu und Stechpalmen sammeln. Lady Kivrin und Rosemund und Sarazene und ich.«

Bei dem Wort »Kivrin« wandte Roche sich um und sah sie bei der Säule stehen. Er setzte Agnes ab.

Kivrin legte eine Hand an die Säule, um sich zu stützen. »Ich bitte um Vergebung, ehrwürdiger Vater«, sagte sie. »Es tut mir aufrichtig leid, daß ich schrie und vor Euch davonlief. Es war dunkel, und ich erkannte Euch nicht…«

»Sie weiß nichts«, unterbrach Agnes. »Der böse Mann schlug sie auf den Kopf, und sie erinnert sich an nichts als ihren Namen.«

»Ich hatte das gehört«, sagte er, den Blick noch immer auf Kivrin. »Ist es wahr, daß Ihr keine Erinnerung habt, warum Ihr hierher unter uns gekommen seid?«

Sie verspürte das gleiche Verlangen, ihm die Wahrheit zu sagen, das sie gefühlt hatte, als er sie nach ihrem Namen gefragt hatte. Ich bin eine Historikerin, wollte sie sagen, ich bin hergekommen, die Menschen hier zu beobachten, aber ich wurde krank und weiß nicht, wo der Absetzort ist.

»Sie erinnerte sich nicht mal, wer sie ist«, sagte Agnes. »Sie konnte nicht mal sprechen. Ich mußte es ihr beibringen.«

»Ihr erinnert Euch nicht, wer Ihr seid?« fragte er.

Sie verneinte.

»Und nicht an Eure Ankunft hier?«

Wenigstens das konnte sie wahrheitsgemäß beantworten. »Nein«, sagte sie. »Nur, daß Ihr und Gawyn mich zum Gutshof brachtet.«

Das Gespräch begann Agnes zu langweilen. »Können wir jetzt mit dir gehen und Efeu und Stechpalmen sammeln?«

Er schien sie nicht zu hören, streckte die Hand aus, als wolle er Kivrin segnen, berührte statt dessen aber ihre Schläfe, und sie erkannte, daß er dies auch vorher hatte tun wollen, neben dem Sarkophag. »Ihr habt keine Wunde«, sagte er.

»Sie ist verheilt«, sagte sie.

»Wir wollen jetzt gehen«, sagte Agnes und zog an seinem Arm.

Er hob die Hand, als wollte er wieder ihre Schläfe berühren, dann zog er sie zurück. »Ihr habt nichts zu fürchten«, sagte er. »Gott hat Euch zu einem guten Zweck zu uns gesandt.«

Nein, hat er nicht, dachte Kivrin. Er hat mich überhaupt nicht hierher gesandt. Das war der Fachbereich Mediävistik. Aber sie fühlte sich getröstet.

»Danke«, sagte sie.

»Ich will gehen!« sagte Agnes und zog an Kivrins Arm. »Geh und hol deinen Esel«, sagte sie Pater Roche, »dann holen wir Rosemund.«

Sie ging durch das Kirchenschiff zum Ausgang, und Kivrin blieb nichts übrig als mit ihr zu gehen, um sie nicht allein davonlaufen zu lassen. Kurz bevor sie den Ausgang erreichten, schlug die Tür zurück, und Rosemund blickte angestrengt blinzelnd herein.

»Es regnet. Habt ihr Pater Roche gefunden?«

»Hast du Blackie in den Stall gebracht?« fragte Agnes zurück.

»Ja. Ihr wart zu spät, und Pater Roche ist fort?«

»Nein. Er ist hier, und wir gehen mit ihm. Er war in der Kirche, und Kivrin…«

»Er ist gegangen, seinen Esel zu holen«, sagte Kivrin, um Agnes keine Gelegenheit zu geben, den ganzen Hergang zu schildern.

»Ich hatte solche Angst damals, als du vom Heuboden sprangst, Rosemund«, sagte Agnes, aber ihre Schwester hatte schon kehrtgemacht und ging zu ihrem Pferd.

Es regnete nicht, aber in der Luft lag ein feiner Dunst. Kivrin half Agnes in den Sattel und bestieg den Fuchs mit Hilfe der Friedhofspforte. Pater Roche führte den Esel heraus zu ihnen, und sie ritten auf dem Fahrweg an der Kirche vorbei und aufwärts durch die kleine Baumreihe dahinter, am Rand einer schneebedeckten Wiese entlang und weiter in den Wald.

»Es gibt Wölfe in diesem Wald«, sagte Agnes. »Gawyn tötete einen.«

Kivrin hörte sie kaum. Sie beobachtete Pater Roche, der neben seinem Esel ging, und suchte sich der Nacht zu erinnern, als er sie zum Herrenhaus gebracht hatte. Rosemund hatte gesagt, Gawyn sei ihm unterwegs begegnet, und er habe Gawyn geholfen, sie den Rest des Weges zum Gutshof zu bringen, aber das konnte nicht richtig sein.

Er hatte sich über sie gebeugt, als sie am Boden gesessen hatte, gegen das Wagenrad gelehnt. Er hatte etwas zu ihr gesagt, was sie nicht verstanden hatte, und sie hatte gesagt, er möge Mr. Dunworthy sagen, daß er kommen und sie holen solle.

»Rosemund reitet nicht, wie es sich für ein Mädchen geziemt«, sagte Agnes affektiert. Ihre Schwester war vorausgeritten und wartete in einer Wegbiegung, beinahe außer Sicht, daß sie nachkämen.

Kivrin rief sie, und Rosemund kam im Galopp zurück, streifte beinahe den Esel und zügelte ihr Pferd.

»Können wir nicht schneller gehen?« fragte sie, wendete das Pferd und ritt wieder nach vorn. »Wir werden niemals fertig, bevor es zu regnen anfängt.«

Sie ritten jetzt durch dichten Wald. Die Straße war kaum breiter als ein Saumpfad; von beiden Seiten hingen die Zweige der Sträucher über die ausgefahrenen Wagengleise. Kivrin sah sich um und betrachtete die Bäume, um zu sehen, ob sie Erinnerungen in ihr wachriefen. Sie passierten ein Weidendickicht, aber es säumte die Ufer eines Wasserlaufes, der in ihrer Erinnerung nicht vorkam.

Auf der anderen Seite des Weges stand ein mächtiger Bergahorn auf einer kleinen, offenen Fläche. In seinen Zweigen hatten sich Misteln angesiedelt. Ein Stück weiter stand eine Reihe von Eisbeerbäumen in so gleichmäßigen Abständen, daß sie hätten gepflanzt sein können. Auch an diese konnte sie sich nicht erinnern.

Der Dorfpfarrer und Gawyn hatten sie auf diesem Weg ins Dorf gebracht, aber nichts half ihrer Erinnerung auf, nichts sah vertraut aus. Es war zu dunkel und sie war zu krank gewesen.

Alles, an was sie sich wirklich erinnerte, war der Absetzort, obwohl ihm die gleiche verschwommene, unwirkliche Qualität eigen war wie dem Ritt zum Gutshof. Es war eine kleine Lichtung gewesen, mit einer oder zwei großen Eichen am Rand und einem Weidendickicht. Und Pater Roches Gesicht hatte sich über sie gebeugt.

Er mußte mit Gawyn dagewesen sein, als er sie fand, oder Gawyn hatte ihn zum Absetzort gebracht. Und auf dem Weg ins Dorf war sie bei der Weggabelung vom Pferd gefallen.

Bis jetzt waren sie an keine Weggabelung gekommen. Nicht einmal Fußpfade waren von diesem Fahrweg abgezweigt, obwohl es welche geben mußte, die von einem Dorf zum anderen und zu abseits gelegenen Feldern und Weiden führten.

Sie erreichten den Rücken eines niedrigen Hügels, und Pater Roche blickte zurück, um zu sehen, ob sie folgten. Er wußte, wo der Absetzort war. Kivrin hatte gehofft, daß er eine Vorstellung davon habe, daß Gawyn ihm die Stelle beschrieben habe, aber das war überflüssig gewesen. Pater Roche wußte, wo der Absetzort war. Er war selbst dort gewesen.

Agnes und Kivrin erreichten die Anhöhe, aber alles was sie sehen konnte, waren Bäume, und mehr Bäume in der Talsenke darunter. Sie mußten im Wald von Wychwood sein, aber wenn es sich so verhielt, gab es mehr als hundert Quadratkilometer, in denen der Absetzort verborgen sein konnte. Auf eigene Faust würde sie ihn niemals finden. Das Unterholz war so dicht, daß man kaum zehn Meter weit sehen konnte, obwohl alles kahl war und der Schnee nicht allzu dick auf den Zweigen lag.

Kivrin war erstaunt über die Dichte des Waldes, als sie die andere Seite des Hügels hinabritten. Nirgendwo gab es einen Pfad, und wenn es Lichtungen zwischen den Bäumen gab, waren sie angefüllt mit gefallenen Ästen und undurchdringlichem Buschdickicht und Schnee.

Daß sie nichts wiedererkannte, war nicht ganz richtig — sie kannte diesen Wald. Es war der Wald, wo Schneewittchen sich verlaufen hatte, und Hänsel und Gretel, und all die Prinzen. Es gab Wölfe darin, und Bären, und vielleicht sogar Hexenhäuschen, denn das Mittelalter war schließlich die Zeit, in der all diese Märchengeschichten ihren Ursprung hatten. Und kein Wunder: jeder konnte sich hier verlaufen.

Roche hielt an und stand neben seinem Esel, während Rosemund im Trab zu ihm zurückkam und Kivrin und Agnes ihn einholten. Kivrin fragte sich schon, ob er sich verlaufen habe, aber sobald sie bei ihm waren, brach er seitwärts durch das Gesträuch und kam auf einen noch schmaleren Pfad, der von der Straße nicht sichtbar war.

Rosemund konnte Pater Roche und seinen Esel nicht überholen, ohne sie beiseite zu stoßen, aber sie folgte dichtauf, daß ihr Pferd dem Esel beinahe auf die Hinterhufe trat, und Kivrin überlegte wieder, was sie so unruhig und reizbar machte. Frau Imeyne hatte gesagt, daß Sir Bloet viele mächtige Freunde habe, hatte ihn einen Verbündeten genannt, doch fragte sich Kivrin, ob er wirklich einer war, oder ob Rosemunds Vater ihr etwas über ihn verraten hatte, was ihr die Aussicht auf seinen Besuch in Ashencote vergälte.

Sie zogen ein Stück den Pfad entlang, vorbei an einem Weidendickicht, das dem beim Absetzort ähnelte, und verließen dann den ausgetretenen Weg. Sie arbeiteten sich durch ein Kieferngehölz und kamen bei einer Stechpalme heraus.

Kivrin hatte Stechpalmensträucher erwartet, ungefähr wie die in den Anlagen um den Hof des Brasenose College, aber dies war ein Baum. Er ragte mindestens zehn oder zwölf Meter hoch, breitete seine Äste zwischen den Kiefernstämmen aus und hatte eine Menge leuchtend roter Beeren zwischen den Massen glänzender Blätter.

Pater Roche nahm die Säcke vom Rücken des Esels. Agnes versuchte ihm zu helfen. Rosemund zog ein kurzes Messer mit breiter Klinge aus dem Gürtel und hackte damit auf die unteren Zweige mit ihren stachligen Blättern ein.

Kivrin watete durch den Schnee zur anderen Seite des Baumes. Sie hatte dort etwas gesehen, was das Birkengehölz sein mochte, aber es war nur ein Ast, halb herabgefallen und zwischen zwei Bäumen verklemmt, mit Schnee bedeckt.

Agnes erschien, und hinter ihr kam Roche mit einem gefährlich aussehenden Dolch. Kivrin hatte gedacht, daß das Wissen, wer er war, eine Verwandlung bewirken würde, aber er sah noch immer wie ein Halsabschneider aus.

Er gab Agnes einen der grob gewebten Säcke. »So mußt du den Sack offenhalten«, sagte er und bückte sich, um ihr zu zeigen, wie der Rand des Sackes zurückgefaltet werden sollte. »Dann kann ich die Zweige gut hineinstecken.« Er begann sie abzuhauen, ohne sich um die stachligen Blätter zu kümmern. Kivrin sammelte die Zweige auf und tat sie vorsichtig in den Sack, damit die steifen Blätter nicht brachen.

»Pater Roche«, sagte sie, »ich wollte Euch danken, daß Ihr mir geholfen habt, als ich krank lag, und daß Ihr mich zum Gutshof brachtet, als ich…«

»Als Ihr gefallen wart«, sagte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.

Sie hatte sagen wollen: »Als ich von Räubern überfallen wurde«, und seine Erwiderung überraschte sie. Es war ihr nicht klar, wie er es meinte, aber mit Spekulationen kam sie nicht weiter.

»Kennt Ihr die Stelle, wo Gawyn mich fand?« fragte sie und hielt den Atem an.

»Freilich«, sagte er, ohne sich umzuwenden.

Ihre Erleichterung war so groß, daß sie sich plötzlich schwach fühlte. Er wußte, wo der Absetzort war. »Ist es weit von hier?«

»Nein.« Er brach einen angeschnittenen Zweig ab.

»Würdet Ihr mich hinführen?«

»Warum willst du hingehen?« fragte Agnes. Sie breitete die Arme weit aus, um den Sack aufzuhalten. »Was machst du, wenn die bösen Männer noch dort sind?«

Pater Roche sah sie an, als beschäftigte ihn die gleiche Überlegung.

»Ich dachte, daß ich mich vielleicht erinnern könnte, wer ich bin und woher ich kam, wenn ich die Stelle sehe.«

Er gab ihr den Zweig und hielt ihn so, daß sie ihn nehmen konnte, ohne gestochen zu werden. »Ich werde Euch hinführen«, sagte er.

»Ich danke Euch«, sagte Kivrin. Dem Himmel sei Dank. Sie steckte den Zweig zu den anderen, und Pater Roche band den Sack zu und hob ihn auf die Schulter.

Rosemund kam und schleifte ihren Sack hinter sich durch den Schnee. »Seid ihr noch nicht fertig?«

Pater Roche nahm ihr den Sack ab, schnürte ihn zu und band ihn mit dem anderen auf den Rücken des Esels. Kivrin hob Agnes auf ihr Pony und half Rosemund aufsitzen, und Pater Roche machte mit seinen großen Händen einen Tritt, daß Kivrin den Steigbügel erreichen konnte.

Er hatte ihr auf den Schimmel geholfen, als sie herabgefallen war. Sie erinnerte sich, wie seine großen Hände sie gestützt hatten. Aber das war ziemlich weit vom Absetzort geschehen, und warum sollte Gawyn den Pfarrer die ganze Strecke zurück zum Absetzort geführt haben? Das Fieber hatte ihre Erinnerung an diese Stunden so getrübt und verwirrt, daß sie die Vorgänge nicht rekonstruieren konnte. Der Weg mußte ihr weiter vorgekommen sein als er war.

Roche führte den Esel zurück durch das Kieferngehölz und auf den Pfad, den sie gekommen waren. Rosemund ließ ihn ein Stück voraus gehen, dann sagte sie in einem Tonfall wie Imeyne: »Wohin geht er jetzt? Der Efeu ist in dieser Richtung nicht zu finden.«

»Wir gehen uns die Stelle anschauen, wo Kivrin überfallen wurde«, sagte Agnes.

Rosemund sah Kivrin erstaunt und mißtrauisch an. »Warum willst du dorthin? Deine Sachen sind schon zum Herrenhaus gebracht worden.«

»Sie meint, daß sie sich an etwas erinnern wird, wenn sie die Stelle wiedersieht«, sagte Agnes. »Kivrin, wenn du dich erinnerst, wer du bist, mußt du dann nach Haus zurückkehren?«

»Sicherlich«, sagte Rosemund. »Sie muß zurück zu ihrer Familie. Sie kann doch nicht immer bei uns bleiben.« Sie sagte es nur, um Agnes zu provozieren, und es wirkte.

»Doch, sie kann!« sagte Agnes. »Sie wird unsere Kinderfrau sein.«

»Warum sollte sie bei so einem wimmernden Baby bleiben wollen?« Rosemund stieß ihrem Pferd die Fersen in die Flanken und trabte davon.

»Ich bin kein Baby!« rief Agnes ihr nach. »Du bist das Baby!« Dann sah sie sich nach Kivrin um. »Ich will nicht, daß du mich verläßt!«

»Ich werde dich nicht verlassen«, sagte sie. »Komm, Pater Roche wartet.«

Er war auf der Straße, und sobald sie zu ihm stießen, ging er weiter. Rosemund war bereits weit voraus, sprengte den verschneiten Weg entlang, daß der Schnee spritzte.

Sie überquerten einen Bach und kamen zu einer Weggabelung. Dort wartete Rosemund und ließ ihr Pferd stampfen und den Kopf aufwerfen, um seine und ihre Ungeduld auszudrücken.

An einer Weggabelung war sie vom Schimmel gefallen. Kivrin sah sich um, ob die Bäume, der Weg oder der Bach irgendeine Erinnerung in ihr wachriefen. Zwar mußte es entlang den Wegen, die den Wald von Wychwood durchquerten, Dutzende von Weggabelungen geben, aber anscheinend war dies diejenige, an die sie sich erinnerte. Pater Roche wandte sich nach rechts, um den Weg schon nach wenigen Metern zu verlassen. Wo er seinen Esel in den Wald führte, war kein Weidendickicht, und auch kein Hügel. Sie folgten ihm durch dichtes, unübersichtliches Waldgelände und mußten bald absitzen und ihre Pferde führen. Pater Roche folgte keinem erkennbaren Weg. Er stapfte durch den Schnee, duckte sich unter tiefhängenden Zweigen durch, die ihn mit Schnee überschütteten, und umging ein stacheliges Schwarzdorndickicht.

Kivrin versuchte sich die Gegend und ihre besonderen Merkmale einzuprägen, um allein den Weg hierher zu finden, doch sie war nicht in und mit der Natur aufgewachsen, und in ihren Augen war alles von einer entmutigenden Gleichförmigkeit. Solange Schnee lag, konnte sie der Fährte nachgehen, die sie jetzt hinterließen. Sie würde allein hierher zurückkommen müssen, bevor er schmolz, und die Fährte mit Kerben in den Baumstämmen, Stecken oder Stoffetzen markieren. Oder mit Brotkrumen, wie Hänsel und Gretel.

Es war leicht zu sehen, wie sie und Schneewittchen und die vielen anderen Märchengestalten sich im Wald verirrt hatten. Sie hatten kaum ein paar hundert Meter zurückgelegt, und schon war es Kivrin trotz der Spuren im Schnee nicht mehr möglich, die Richtung zu bestimmen, in der die Straße lag.

Pater Roche führte den Esel zur Seite und band ihn an eine Erle. »Dies ist der Ort.«

Es war nicht der Absetzort. Es war nicht einmal eine Lichtung, nur eine Stelle, wo eine Eiche ihre Äste ausbreitete und die anderen Bäume am Aufwachsen hinderte. Das dürre Laub an ihren Zweigen bildete eine Art Zelt, unter dem der Boden nur mit Schnee überpudert war.

Agnes lief zu den Resten eines Lagerfeuers. Jemand hatte einen toten, abgebrochenen Ast als Sitzgelegenheit hingeschleift. »Können wir ein Feuer machen?« fragte sie. »Mir ist kalt.«

Sie scharrte mit dem Fuß in den geschwärzten Überresten.

Es hatte nicht sehr lange gebrannt. Das Reisigholz war kaum verkohlt. Jemand hatte Erde darauf geworfen, um es auszulöschen. Pater Roche hatte vor ihr gekauert, den flackernden Widerschein des Feuers im Gesicht.

»Nun?« fragte Rosemund ungeduldig. »Erinnerst du dich an etwas?«

Sie war hier gewesen. Das Feuer war Teil ihrer Erinnerung. Sie hatte sich eingebildet, es würde für den Scheiterhaufen angezündet. Vor allem aber verwirrte sie eines: Pater Roche war am Absetzort gewesen. Er hatte sich über sie gebeugt, als sie an das Wagenrad gelehnt, vom ersten Fieberanfall geschüttelt worden war.

»Dies ist der Ort, wo Gawyn mich fand?«

»Ja.« Er runzelte die Stirn.

Agnes zog einen der angebrannten Zweige aus der kalten Asche und schwang ihn in der Luft. »Wenn der böse Mann kommt, werde ich ihn mit meinem Dolch abwehren.« Das geschwärzte Ende brach ab. Agnes kauerte nieder und zog einen anderen geschwärzten Stecken aus der Asche, schlug beide gegeneinander, daß Stücke davon in alle Richtungen flogen.

Kivrin überlegte. Sie hatte dort am Boden gesessen, an den Ast gelehnt, während sie das Feuer angezündet hatten. In seinem Licht hatte sie Gawyn gesehen, das Haar rot im Feuerschein, und er hatte etwas zu ihr gesagt, das ihr unverständlich geblieben war. Und dann hatte er das Feuer ausgelöscht, mit den Stiefeln Erde hineingestoßen, und der Rauch war ihr in die Augen gestiegen und hatte sie geblendet.

»Hast du dich erinnert, wie es war?« fragte Agnes. Des Spiels müde, warf sie die Hölzer wieder in die Asche.

Pater Roche beobachtete sie noch immer mit gerunzelter Stirn. »Seid Ihr krank, Fräulein Katherine?«

Sie versuchte zu lächeln. »Nein, es war nur… Ich hatte gehofft, daß ich mich erinnern könnte, wenn ich den Ort sähe, wo ich überfallen wurde.«

Er sah sie einen Moment lang ernst an, wie er es in der Kirche getan hatte, dann machte er kehrt und ging zu seinem Esel. »Kommt«, sagte er.

»Hast du dich erinnert?« fragte Agnes und schlug ihre pelzgefütterten Fäustlinge zusammen. Sie waren rußgeschwärzt.

»Agnes!« sagte Rosemund. »Siehst du nicht, wie du deine Handschuhe beschmutzt hast?« Sie zog ihre Schwester unsanft auf die Beine. »Und deinen Umhang hast du im Schnee naß und schmutzig gemacht, du ungezogenes Kind!«

Kivrin zog die beiden Mädchen auseinander. »Rosemund, binde Agnes’ Pony los«, sagte sie. »Es ist Zeit, daß wir gehen, den Efeu zu sammeln.« Sie klopfte den Schnee von Agnes’ Umhang und wischte erfolglos an den Pelzhandschuhen.

Pater Roche stand bei seinem Esel und wartete auf sie, noch immer mit dem ernsten, nüchternen Gesichtsausdruck.

»Wir werden deine Fäustlinge zu Haus saubermachen«, sagte sie hastig. »Komm, wir müssen mit Pater Roche gehen.«

Kivrin nahm ihr Pferd am Zügel und folgte den Mädchen und Pater Roche ein kurzes Stück zurück und dann in eine andere Richtung, die sie schon nach wenigen Metern auf einen Fahrweg brachte. Sie war nun gänzlich verwirrt. Von der Weggabelung war nichts zu sehen, und ob sie ein Stück weiter auf derselben oder auf einer ganz anderen Straße waren, war nicht festzustellen. Alles sah gleich aus — Unterholz und Eichen, kleine Lichtungen und Dickichte von Weiden und Erlen, wo Staunässe im Boden war.

Es schien jetzt klar, was geschehen war. Gawyn hatte versucht, sie zum Herrenhaus zu bringen, aber sie war zu krank gewesen und war von seinem Pferd gefallen. Also hatte er sie an dieser Stelle an den Ast gelehnt, ein Feuer angezündet und sie zurückgelassen, während er Hilfe geholt hatte.

Oder er hatte das Feuer angezündet, um bis zum Morgen bei ihr zu bleiben, und Pater Roche hatte den Feuerschein gesehen und war zu Hilfe gekommen, worauf die beiden sie gemeinsam zum Herrenhaus gebracht hatten. Pater Roche hatte keine Ahnung, wo der Absetzort war. Er hatte angenommen, Gawyn habe sie hier unter der Eiche gefunden.

Die Erinnerung, daß Pater Roche sich über sie gebeugt hatte, als sie, fiebernd und matt gegen das Wagenrad gelehnt, kaum noch bei Besinnung gewesen war, mußte Teil ihres Fieberwahns sein. Sie hatte es im Krankenbett geträumt, wie sie auch die Schellen und den Scheiterhaufen und den Schimmel geträumt hatte.

»Wohin will er jetzt?« fragte Rosemund in verdrießlichem Ton. Kivrin hätte ihr am liebsten eine Ohrfeige gegeben. »Efeu gibt es näher beim Dorf. Und es regnet.«

Sie hatte recht. Der feuchte Dunst war in unmerklich einsetzenden Nieselregen übergegangen.

»Wir hätten längst fertig und wieder zu Haus sein können, wenn Agnes nicht ihren Welpen mitgenommen hätte!« Sie galoppierte wieder voraus, und Kivrin machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

»Rosemund ist eine flegelhafte Person«, sagte Agnes.

Kivrin verbiß sich ein Lachen. »Ja, das ist wahr. Weißt du, was mit ihr los ist?«

»Es ist wegen Sir Bloet«, sagte Agnes. »Sie soll ihn heiraten.«

»Was?« Imeyne hatte etwas von einer Hochzeit gesagt, aber Kivrin hatte angenommen, eine von Sir Bloets Töchtern solle einen von Guillaumes Söhnen heiraten. »Wie kann Sir Bloet Rosemund heiraten? Ist er nicht schon mit Frau Ivolde verheiratet?«

»Nein«, sagte Agnes. »Frau Ivolde ist Sir Bloets Schwester.«

»Aber Rosemund ist zu jung«, sagte Kivrin in einer ersten, gefühlsmäßigen Reaktion. Aber sie wußte, daß es im Mittelalter üblich gewesen war, Mädchen schon im Kindesalter zu verheiraten, bisweilen schon bei der Geburt. Eheschließungen waren rein wirtschaftliche und politische Rechtsgeschäfte gewesen, ein Mittel, um Ländereien zu erwerben, Macht zu vergrößern und das Ansehen zu erhöhen. Rosemund war unzweifelhaft schon in Agnes’ Alter ausersehen worden, jemanden wie Sir Bloet zu heiraten. Aber Kivrin mußte auch an die Geschichten von blutjungen Mädchen denken, die mit zahnlosen, ausschweifenden alten Männern verheiratet worden waren.

»Mag Rosemund Sir Bloet?« fragte sie. Natürlich mochte sie ihn nicht. Seit sie gehört hatte, daß er kommen wollte, war sie wie ausgewechselt, mißgelaunt, haßerfüllt, beinahe hysterisch.

»Ich mag ihn«, sagte Agnes. »Er hat mir ein silberbeschlagenes Zaumzeug versprochen, wenn sie heiraten.«

Kivrin blickte voraus zu Rosemund, die in weiter Entfernung wartete. Es war nicht gesagt, daß Sir Bloet alt und ausschweifend war. Sie nahm das genauso an, wie sie angenommen hatte, daß Frau Ivolde seine Frau sei. Vielleicht war er noch jung, und Rosemunds schlechte Laune konnte Ausdruck ihrer Nervosität sein. Oder sie würde ihre Einstellung zu ihm bis zur Hochzeit noch ändern. Die eigentliche Hochzeit fand gewöhnlich erst statt, wenn die Mädchen vierzehn oder fünfzehn waren, jedenfalls nicht, bevor sie anfingen, Zeichen von Reife zu zeigen.

»Wann sollen sie heiraten?« fragte sie Agnes.

»Zu Ostern.«

Sie kamen zu einer weiteren Weggabelung. Diese war viel schmaler, die beiden Fahrwege verliefen über hundert Meter beinahe parallel, bevor derjenige, den Rosemund genommen hatte, eine niedrige Anhöhe hinaufführte.

Zwölf Jahre alt und in drei Monaten verheiratet. Kein Wunder, daß Eliwys Sir Bloet nicht hatte wissen lassen wollen, daß sie hier waren. Vielleicht billigte sie nicht, daß Rosemund so jung heiratete, und vielleicht war Rosemund ihm nur versprochen worden, um ihrem Vater aus den Schwierigkeiten herauszuhelfen, in denen er steckte.

Rosemund ritt bis auf den Rücken der Anhöhe und kam dann zurückgaloppiert. »Wohin führst du uns?« fragte sie ihn. »Bald kommen wir in offenes Gelände.«

»Wir sind beinahe da, Rosemund«, sagte Pater Roche.

Sie wendete ihr Pferd und galoppierte wieder voraus und über den Hügel, wo sie kurze Zeit außer Sicht blieb, kam wieder zum Vorschein, galoppierte auf die anderen zu, warf das Pferd herum und ritt wieder voraus. Wie die Ratte im Käfig, dachte Kivrin, verzweifelt nach einem Ausweg suchend.

Das Nieseln verstärkte sich zu Graupeln. Pater Roche zog sich die Kapuze über den Kopf und führte den Esel die leichte Steigung hinauf. Er ging willig hinauf, blieb aber stehen, sobald er die Höhe erreicht hatte. Pater Roche zog am Strick, und der Esel zog zurück.

Kivrin und Agnes holten ihn ein. »Was hat er?« fragte Kivrin.

»Komm, Balaam«, sagte Pater Roche und ergriff den Strick mit beiden Händen, aber der Esel gab nicht nach. Er stemmte die Hufe in den Boden und lehnte sich gegen den Zug rückwärts, bis er beinahe auf der Hinterhand saß.

»Vielleicht mag er den Regen nicht«, sagte Agnes.

»Können wir helfen?« fragte Kivrin.

Er schüttelte den Kopf und winkte sie vorbei. »Reitet nur voraus. Es wird besser mit ihm gehen, wenn die Pferde nicht hier sind.«

Er wickelte sich den Strick um die Hand und ging um den Esel herum nach hinten, als wollte er ihn schieben. Kivrin ritt langsam mit Agnes weiter, sah sich aber immer wieder um, weil sie befürchtete, der Esel könnte plötzlich ausschlagen und seinen Kopf treffen. Dann ritten sie auf der anderen Seite hinunter, und Pfarrer und Esel kamen außer Sicht.

Der Wald vor ihnen war in Regenschleier gehüllt. Der Schnee schmolz bereits von der Straße, und am Fuß des Hügels waren die tief eingeschnittenen Wagengleise mit schlammigen Wasserlachen gefüllt. Zu beiden Seiten war dichtes, schneebedecktes Gebüsch. Rosemund hielt weit voraus auf der nächsten Bodenerhebung. Sie war nur bis zur Hälfte bewaldet, und darüber dehnten sich Schneeflächen. Und dahinter, dachte Kivrin, sieht man über die weite Ebene bis zur Straße nach Oxford.

»Wohin willst du, Kivrin? Warte!« rief Agnes. Aber Kivrin war bereits die Anhöhe hinunter und abgesessen und schüttelte die schneebedeckten Büsche, um zu sehen, ob es Weiden waren. Es waren welche, und hinter ihnen konnte sie die ausladende Krone einer großen Eiche sehen. Sie warf die Zügel des Rotfuchses über die Weidenzweige und arbeitete sich ins Dickicht hinein. Nasser Schnee plumpste auf sie herab. Ein Schwarm kleiner Vögel flog mit aufgeregtem Gezwitscher auf. Sie kämpfte sich durch das verschneite Dickicht bis zur Lichtung, die dort sein mußte. Und sie war dort.

Und da war die Eiche, und jenseits davon, der Straße entgegengesetzt, die Birkenstämme, die so ausgesehen hatten, als lichte sich der Wald. Es mußte der Absetzort sein.

Dennoch sah er nicht richtig aus. War die Lichtung nicht kleiner gewesen? Und die Eiche hatte mehr dürres Laub getragen, mehr Nester. Auf einer Seite der Lichtung war ein Schwarzdorn, dessen mattblaue Schlehenbeeren zwischen den bösartigen langen Dornen hervorschauten. An diesen Strauch erinnerte sie sich nicht, obwohl sie die Lichtung umrundet hatte. Er wäre ihr sicherlich nicht entgangen.

Es ist der Schnee, dachte sie, er läßt die Lichtung größer erscheinen. Er lag hier annähernd einen halben Meter hoch und war glatt, unberührt. Nichts deutete darauf hin, daß jemals ein Mensch hier gewesen war.

»Ist das die Stelle, wo wir Efeu sammeln sollen?« Rosemund arbeitete sich durch das Dickicht zu ihr durch. Sie blickte umher. »Hier gibt es keinen Efeu.«

Aber es hatte Efeu gegeben, nicht wahr, am dicken Eichenstamm, und Pilze, oder trog die Erinnerung? Es ist der Schnee, dachte sie. Der Schnee hat alle Merkmale zugedeckt. Und die Spuren, die Gawyn beim herausziehen des Fuhrwerks und der Kisten hinterlassen haben mußte.

Der Kasten — Gawyn hatte den Kasten nicht zum Gutshof zurückgebracht. Er hatte ihn nicht gesehen, weil sie ihn in den Weiden am Straßenrand versteckt hatte.

Sie drängte sich an Rosemund vorbei durch das Weidengebüsch, ohne auf den Schnee zu achten, der in Klumpen auf sie herabfiel. Der messingbeschlagene Kasten würde auch im Schnee begraben sein, aber am Straßenrand war er nicht so tief, und der Kasten war so groß, daß er leicht zu finden sein mußte.

»Katherine!« rief Rosemund dicht hinter ihr. »Wohin willst du jetzt?«

»Kivrin!« rief Agnes. Sie hatte versucht, mitten auf dem Fahrweg von ihrem Pferd zu steigen, war aber mit dem Fuß im Steigbügel hängengeblieben. »Kivrin, komm und hilf mir!«

Kivrin blickte zu ihr, dann den Weg hinauf.

Pater Roche war noch immer auf der Anhöhe und kämpfte mit dem Esel. Anscheinend hatte er ihn ein Stück vorangebracht, aber nun war wieder Schluß. Sie mußte den Kasten finden, bevor er kam. »Bleib auf deinem Pferd, Agnes«, sagte sie und bückte sich, um den Schnee unter den Weidenbüschen zu durchfühlen.

»Was suchst du?« fragte Rosemund. »Hier ist kein Efeu!«

»Kivrin, komm jetzt!« rief Agnes.

Vielleicht hatte die Schneelast die Weidenzweige gebeugt, und der Kasten war weiter unter ihnen. Sie bückte sich tiefer, hielt sich an den dünnen, biegsamen Zweigen und versuchte den Schnee beiseite zu räumen. Aber der messingbeschlagene Kasten war nicht da. Sie sah es gleich, weil die Weidensträucher das Unkraut und den Boden darunter vom Schnee freigehalten hatten; dort lag er nur ein paar Zentimeter hoch. Aber wenn dies der Absetzort war, mußte der Kasten hier sein, dachte Kivrin, wie betäubt vor Enttäuschung. Wenn dies der Ort ist.

Wieder rief Agnes sie beim Namen, und Kivrin blickte zurück. Die Kleine war abgestiegen und kam auf sie zugerannt.

»Lauf nicht!« rief Kivrin, aber die Worte waren kaum heraus, da stolperte Agnes über irgendein Hindernis und schlug auf den Boden.

Der Aufprall preßte ihr die Luft aus den Lungen, und Kivrin und Rosemund waren beide bei ihr, bevor sie zu weinen begann. Kivrin nahm sie in die Arme und richtete sie auf, daß sie Luft holen konnte.

Agnes keuchte, schnappte nach Luft und begann zu schreien.

»Geh und schau, wo Pater Roche bleibt«, sagte Kivrin zu Rosemund. »Er ist oben auf der Anhöhe. Sein Esel wollte nicht weiter.«

»Er kommt schon«, sagte Rosemund. Kivrin wandte den Kopf. Er kam schwerfällig den Weg heruntergelaufen, ohne den Esel, und Kivrin war nahe daran, auch ihm »Lauf nicht!« zuzurufen, aber Agnes schrie so laut, daß es alles übertönt hätte.

»Schhh«, sagte Kivrin. »Es fehlt dir gar nichts. Es ist bloß der Schreck, und daß du keine Luft bekommen hast.«

Pater Roche kam zu ihnen, und Agnes warf sich ihm sofort in die Arme. Er drückte sie an sich. »Still, Agnes«, murmelte er in seiner wundervoll beruhigenden Stimme. »Sei ganz ruhig.« Ihr Geschrei ging in Schluchzen über.

Kivrin klopfte ihr den Schnee vom Umhang. »Wo hast du dich verletzt? Hast du dir die Hände aufgeschürft?«

Pater Roche drehte sie in seinen Armen herum, daß Kivrin ihr die Fäustlinge ausziehen konnte. Ihre Hände waren gerötet, aber unverletzt. »Wo tut es weh?«

»Sie ist nicht verletzt«, sagte Rosemund. »Sie schreit, weil sie ein Baby ist!«

»Ich bin kein Baby!« sagte Agnes mit solcher Heftigkeit, daß sie beinahe Pater Roches Armen entglitt. »Ich bin mit dem Knie aufgeschlagen.«

»Mit welchem?« fragte Kivrin. »Mit dem, das schon verletzt war?«

»Ja! Nicht hinschauen!« sagte sie, als Kivrin sich bückte, um ihr Bein zu untersuchen.

»Schon gut, ich werde es nicht tun«, sagte Kivrin. Die Knieverletzung war verschorft. Wahrscheinlich hatte der Aufprall den Schorf losgerissen. Wenn es nicht so stark blutete, daß es ihre wollenen Beinlinge und die Umwicklung durchtränkte, hatte es keinen Sinn, sie hier im Schnee auszuziehen und der Kälte preiszugeben. »Aber daheim mußt du es mich anschauen lassen.«

»Können wir jetzt heimgehen?« fragte Agnes weinerlich.

Kivrin blickte hilflos zum Dickicht hinüber. Das mußte die Stelle sein. Die Weiden, die Lichtung, der baumlose Höhenzug. Es mußte der Absetzort sein. Vielleicht hatte sie den Kasten tiefer unter die Weiden geschoben als sie dachte, und der Schnee…

»Ich will jetzt heim!« quengelte Agnes und begann zu schluchzen. »Mir ist kalt!«

Kivrin nickte. Agnes’ Fäustlinge waren zu naß, um sie ihr wieder anzuziehen. Kivrin zog ihre geborgten Handschuhe aus und gab sie ihr. Sie reichten halb über Agnes’ Unterarme, was sie begeisterte, und Kivrin dachte schon, sie habe ihr Knie vergessen, aber als Pater Roche sie auf ihr Pony setzen wollte, schluchzte sie: »Ich möchte mit dir reiten.«

Kivrin nickte wieder und saß auf. Pater Roche reichte ihr Agnes herauf und führte Agnes’ Pony zurück auf die Anhöhe. Oben stand der Esel am Straßenrand und weidete das Gras und die Kräuter ab, die unter den Sträuchern aus dem dünnen Schnee schauten.

Als Pater Roche bei ihm anlangte und den Strick nahm, versteifte sich der Esel augenblicklich und stemmte die Hufe in den Boden, doch sobald Pater Roche den Kopf wandte und mit Agnes’ Pony weiter die Straße zurück und den jenseitigen Hang hinunterging, trottete er ihm bereitwillig nach.

Kivrin blickte durch den Regen zurück zum Dickicht und suchte die Lichtung auszumachen. Es ist bestimmt die Stelle, sagte sie sich, aber sie war nicht sicher. Selbst die Anhöhe sah von ihrem Standort irgendwie falsch aus.

Der Regen verwandelte den Schnee allmählich in Matsch, und Rosemunds Pferd geriet ins Schlittern, als sie es im Galopp die gerade Strecke zur Weggabelung zurücktrieb. Sie mußte es im Trab gehen lassen.

Bei der nächsten Abzweigung schlug Roche den Weg nach links ein. Er war begleitet von Weidendickichten und Eichen, und verschlammten Wagengleisen in jeder Senke zwischen den Bodenwellen.

»Reiten wir jetzt heim, Kivrin?« fragte Agnes. Kivrin fühlte, wie der kleine Körper an ihr zitterte.

»Ja«, sagte sie und zog das Ende ihres Umhangs nach vorn über Agnes. »Schmerzt dein Knie noch?«

»Nein. Wir haben keinen Efeu gesammelt.« Sie richtete sich auf und wandte den Kopf, um Kivrin anzusehen. »Konntest du dich erinnern, als du Stelle sahst?«

»Nein«, sagte Kivrin.

»Gut«, sagte Agnes und lehnte sich mit einem zufriedenen Seufzer wieder an sie. »Jetzt mußt du immer bei uns bleiben.«

17

Andrews rief Dunworthy erst am Spätnachmittag des Weihnachtstages an. Colin hatte natürlich darauf bestanden, seine wenigen Geschenke zu unchristlicher Stunde zu öffnen.

»Wollen Sie den ganzen Tag im Bett bleiben?« hatte er wissen wollen, während Dunworthy nach einer Brille getastet hatte. »Es ist gleich acht.«

Tatsächlich war es Viertel nach sechs, draußen pechschwarze Nacht, sogar zu dunkel, um zu sehen, ob es noch regnete. Natürlich hatte Colin viel länger schlafen können als er. Nach dem ökumenischen Gottesdienst hatte Dunworthy ihn nach Haus ins Balliol College geschickt und war in die Klinik gegangen, um sich nach Latimer zu erkundigen.

»Er hat Fieber, aber die Lunge ist bisher nicht angegriffen«, hatte Mary ihm berichtet. »Er kam um fünf und sagte, er habe um ein Uhr herum Kopfschmerzen bekommen und Benommenheit gefühlt. Genau achtundvierzig Stunden. Es ist wirklich nicht nötig, ihn auszufragen, von wem er die Infektion hat. Wie fühlen Sie sich?«

Er hatte zur Untersuchung bleiben müssen, und dann war ein neuer Fall eingeliefert worden, und er hatte gewartet, um zu sehen, ob er ihn identifizieren könne. Erst gegen eins war er ins Bett gekommen.

Colin gab Dunworthy einen Knallbonbon und bestand darauf, daß er daran ziehe, die Krone aus gelbem Seidenpapier aufsetze und sein Motto laut vorlese. Es hieß: »Wann ist die Wahrscheinlichkeit am größten, daß St. Nikolaus hereinkommt? Wenn die Tür offen ist.«

Colin trug bereits eine rote Papierkrone. Er saß am Boden und öffnete seine Geschenke. Die Seifentabletten waren ein großer Erfolg. »Sehen Sie«, sagte Colin und streckte die Zunge aus, »sie bekommen verschiedene Farben.« Sie färbten auch seine Zähne und die Ränder seiner Lippen.

Er schien sich über das Buch zu freuen, obwohl offensichtlich war, daß ihm Holos statt der Abbildungen lieber gewesen wären. Er blätterte darin herum und betrachtete die Illustrationen.

»Sehen Sie sich das an«, sagte er und hielt den Band Dunworthy hin, der noch bemüht war, sich aus dem Schlaf zu lösen.

Es war der Sarkophag eines Ritters, auf der Deckplatte die übliche gemeißelte Reliefdarstellung des Verblichenen in voller Rüstung, Gesicht und Haltung das Bild ewiger Ruhe, aber auf der Seite des Sarkophags hatte der Steinmetz die Illusion einer Art Fensteröffnung geschaffen, in welcher der Leichnam des toten Ritters zu sehen war, wie er den Sargdeckel hochstieß und herauszusteigen versuchte, das verwesende Fleisch in Fetzen von den Knochen hängend, die skelettierten Hände zu Krallen gekrümmt, das Gesicht ein Totenschädel mit leeren Augenhöhlen, Maden krochen um seine Beine, über sein Schwert und die halb bloßgelegten Rippe. »Oxfordshire, ca. 1350«, lautete die Bildunterschrift. »Ein Beispiel für die makabre Ausschmückung der Grabmäler, wie sie nach der Pestepidemie gebräuchlich wurde.«

»Apokalyptisch, was?« sagte Colin begeistert.

Noch höflicher war er, als er den Schal ausgepackt hatte. »Die gute Absicht ist es, die zählt, nicht wahr?« sagte er und hielt den Schal an einem Ende in die Höhe, um nach einer Minute hinzuzufügen: »Vielleicht kann ich ihn bei Krankenbesuchen tragen. Denen macht es nichts aus, wie er aussieht.«

»Welche Kranken willst du besuchen?« fragte Dunworthy.

Colin stand vom Boden auf, ging zu seiner Tasche und begann darin zu wühlen. »Der Vikar fragte mich gestern abend, ob ich Botengänge für ihn übernehmen könnte, Leute besuchen und ihnen Medizin und anderes bringen.«

Er fischte einen Papierbeutel aus der Tasche. »Das ist Ihr Geschenk«, sagte er und gab ihn Dunworthy. »Es ist nicht eingewickelt«, ergänzte er überflüssigerweise. »Mr. Finch sagte, wir sollten wegen der Epidemie Papier sparen.«

Dunworthy griff in den Papierbeutel und zog ein dünnes rötliches Buch heraus.

»Es ist ein Terminkalender«, sagte Colin. »Da können Sie die Tage abhaken, bis Ihr Mädchen zurückkommt.« Er schlug die erste Seite auf. »Sehen Sie, ich suchte einen aus, der noch den Dezember hat.«

»Danke, mein Junge«, sagte Dunworthy und schlug ihn auf. Weihnachten. Das Fest der Unschuldigen Kinder. Neujahr. Dreikönig. »Das war sehr aufmerksam von dir.«

»Eigentlich wollte ich Ihnen ein Modell vom Carfax-Turm kaufen, das die Melodie ›Ich hörte die Glocken am Weihnachtstag‹ spielt«, sagte Colin, »aber es kostete zwanzig Pfund!«

Das Telefon läutete, und Colin und Dunworthy stürzten sich beide darauf. »Ich wette, es ist meine Mutter«, sagte Colin.

Es war Mary, die aus der Klinik anrief. »Wie fühlen Sie sich?«

»Verschlafen«, sagte Dunworthy.

Colin grinste ihn an.

»Wie geht es Latimer?« fragte Dunworthy.

»Gut«, sagte Mary. Sie trug noch ihren weißen Kittel, hatte aber ihr Haar gekämmt und sah munter aus. »Er scheint mit einer sehr leichten Form davonzukommen. Wir haben eine Verbindung mit dem Virus aus South Carolina festgestellt.«

»Latimer war in South Carolina?«

»Nein. Einer der Studenten, die Sie gestern abend befragten… großer Gott, ich meine, vorgestern abend. Ich verliere jedes Zeitgefühl. Einer von denen, die in Headington bei der Tanzveranstaltung waren. Er log zuerst, weil er aus seinem College verduftet war, um sich mit einem Mädchen zu treffen, und sich von einem Freund hatte in die Anwesenheitsliste eintragen lassen.«

»Nach South Carolina verduftet?«

»Nein, London. Aber das Mädchen war aus den Staaten. Sie war aus Texas gekommen und in Charleston, South Carolina, in die Maschine nach London umgestiegen. Nun wird versucht, festzustellen, welche Fälle am Flughafen waren. Lassen Sie mich mit Colin sprechen. Ich möchte ihm frohe Weihnachten wünschen.«

Dunworthy gab ihm den Hörer, und der Junge zählte prompt seine Geschenke auf, bis hin zu dem Motto in seinem Knallbonbon. »Mr. Dunworthy schenkte mir ein Buch über das Mittelalter.« Er hielt es hoch, daß sie es sehen konnte »Wußtest du, daß Diebe hingerichtet und ihre Köpfe auf der London Bridge auf Pfähle gespießt wurden?«

»Bedanke dich für den Schal und erzähl ihr nicht, daß du Botengänge für den Vikar machst«, raunte Dunworthy ihm zu, aber Colin hielt ihm schon den Hörer hin. »Sie will wieder mit Ihnen sprechen.«

»Es ist klar, daß Sie sich gut um ihn gekümmert haben«, sagte Mary. »Ich bin sehr dankbar. Wissen Sie, ich bin bis jetzt noch nicht zu Haus gewesen, und es wäre mir schrecklich, ihn über Weihnachten allein zu wissen. Ich nehme an, die versprochenen Geschenke von seiner Mutter sind nicht eingetroffen?«

»Nein«, sagte Dunworthy mit einem Blick zu Colin, der die Bilder im Buch über das Mittelalter betrachtete.

»Und auch nicht telefoniert«, sagte sie mißbilligend. »Die Frau hat keine Spur von Muttergefühl. Schließlich könnte Colin mit vierzig Fieber im Krankenhaus liegen, nicht?«

»Wie geht es Badri?« fragte Dunworthy.

»Das Fieber war heute früh ein wenig gesunken, aber er kämpft noch immer mit den Lungenkomplikationen. Wir geben ihm jetzt Synthamycin. Die South Carolina-Fälle haben sehr gut darauf angesprochen.« Sie versprach, alles zu tun, um zum Weihnachtsessen zu kommen, und legte auf.

Colin blickte von seinem Buch auf. »Wußten Sie, daß sie im Mittelalter Leute auf dem Scheiterhaufen verbrannten?«

Mary kam weder, noch telefonierte sie, und Andrews auch nicht. Dunworthy schickte Colin in den Speisesaal zum Frühstücken und versuchte den Techniker zu erreichen, aber alle Leitungen waren belegt, »wegen des Ferienansturms«, wie die Computerstimme sagte, die seit dem Beginn der Quarantäne offensichtlich noch nicht umprogrammiert worden war. Sie riet ihm, alle unwichtigen Anrufe bis zum nächsten Tag aufzuschieben. Er versuchte es noch zweimal, mit dem gleichen Ergebnis.

Finch kam mit einem Tablett herüber. »Alles in Ordnung, Sir?« fragte er in besorgtem Ton. »Sie fühlen sich nicht krank?«

»Ich fühle mich nicht krank. Ich warte, daß ein Ferngespräch durchkommt.«

»Gott sei Dank, Sir. Als Sie nicht zum Frühstück herüberkamen, fürchtete ich das Schlimmste.« Er nahm die mit Regentropfen beperlte Schutzhaube vom Tablett. »Ich fürchte, es ist ein etwas ärmliches Weihnachtsfrühstück, aber wir haben fast keine Eier mehr. Ich weiß nicht, wie es mit dem Abendessen aussehen wird. Im ganzen Quarantänegebiet ist keine einzige Gans mehr aufzutreiben.«

Es schien tatsächlich ein recht ansehnliches Frühstück zu sein, bestehend aus einem gekochten Ei, Bückling und Semmeln mit Butter und Marmelade.

»Ich versuchte einen Weihnachtspudding für Sie zu bekommen, Sir, aber mit dem Brandy sind wir auch am Ende«, sagte Finch. Er zog einen Plastikumschlag unter dem Tablett hervor und gab ihn Dunworthy.

Der öffnete ihn. Zuoberst war ein Informationsblatt des Gesundheitsamtes mit der Überschrift: »Frühe Influenza-Symptome. 1. Desorientierung. 2. Kopfschmerzen. 3. Muskelschmerzen. Meiden Sie Infektionsgefahr. Tragen Sie zu allen Zeiten Ihre vorschriftsmäßige Gesichtsmaske.«

»Gesichtsmaske?« fragte Dunworthy.

»Das Gesundheitsamt hat sie heute früh verteilt«, sagte Finch. »Ich weiß nicht, wie wir dem Reinlichkeitsbedürfnis der Leute Rechnung tragen sollen. Es ist fast keine Seife mehr da.«

Es gab noch vier andere Merkblätter, alle ähnlich in Ton und Inhalt, und eine Notiz von William Gaddson über Badris Aktivitäten am Montag, den 20. Dezember zwischen zwölf und halb drei Uhr. Danach hatte Badri Weihnachtseinkäufe gemacht: vier Taschentücher in Blackwells Buchhandlung, einen roten Schal und ein Digital-Miniaturglockenspiel bei Debenham. Großartig. Das bedeutete, daß es Dutzende von weiteren Kontaktpersonen gab.

Colin kam herein. Er hatte vom Frühstück Semmeln in eine Papierserviette gewickelt und mitgebracht. Er trug noch immer seine Papierkrone, die vom Regen aufgeweicht war.

»Es würde allen Mut machen, Sir«, sagte Finch, »wenn Sie nach Ihrem Anruf in den Speisesaal hinüberkommen könnten. Insbesondere Mrs. Gaddson ist überzeugt, daß Sie am Virus erkrankt seien. Sie sagte, Sie hätten sich die Infektion durch die schlechte Belüftung der Schlafräume zugezogen.«

»Ich werde in Erscheinung treten«, versprach Dunworthy.

Finch ging zur Tür und kam noch einmal zurück. »Was Mrs. Gaddson betrifft, Sir. Sie benimmt sich schrecklich, kritisiert das College und verlangt, daß sie bei ihrem Sohn einquartiert werde. Sie unterminiert die Moral.«

»Übrigens«, sagte Colin und legte die Semmeln auf den Tisch, »sagte mir der Gallenstein, weiße Semmeln seien schlecht für mein Immunsystem.«

»Gibt es nicht irgendeine freiwillige Arbeit, die sie tun könnte, im Krankenhaus zum Beispiel?« fragte Finch. »Um sie vom College fernzuhalten?«

»Wir können sie schwerlich auf arme, hilflose Influenzaopfer loslassen. Es könnte sie umbringen. Haben Sie schon den Vikar gefragt? Er suchte Freiwillige für Botengänge.«

»Den Vikar?« sagte Colin. »Haben Sie ein Herz, Mr. Dunworthy. Ich arbeite für den Vikar.«

»Der Priester von der Heiligen Reformierten Kirche, dann«, sagte Dunworthy. »Ihm macht es Freude, zur Hebung der Moral die Messe in Zeiten der Pestilenz zu lesen. Die beiden sollten wunderbar miteinander auskommen.«

»Ich rufe ihn gleich an«, sagte Finch und ging.

Dunworthy aß sein Frühstück bis auf eine Semmel, die Colin sich aneignete, dann trug er das leere Tablett zum Speisesaal hinüber, nachdem er Colin angewiesen hatte, ihn augenblicklich zu holen, sollte der Techniker anrufen. Es regnete noch immer, die Bäume standen schwarz und tropfend, und die Lichter des Weihnachtsbaumes schimmerten trübe herüber.

Als er den Speisesaal betrat, waren alle noch an den Tisch, ausgenommen die Schellenläuter, die sich abseits versammelt hatten, die Handglocken auf einem Tisch vor sich. Sie hatten ihre weißen Handschuhe angezogen. Finch demonstrierte das vorschriftsmäßige Aufsetzen und Befestigen der Gesichtsmasken, indem er die Klebestreifen auf beiden Seiten abzog und an seine Wangen drückte.

»Sie sehen aber gar nicht gut aus, Mr. Dunworthy«, sagte Mrs. Gaddson. »Und kein Wunder. Die Verhältnisse in diesem College sind erschreckend. Ich wundere mich nur, daß es nicht schon früher eine Epidemie gegeben hat. Schlechte Entlüftung und äußerst abweisendes Personal. Ihr Mr. Finch war regelrecht grob zu mir, als ich ihn auf meinen Umzug in das Zimmer meines Sohnes ansprach. Er sagte mir, ich hätte beschlossen, während einer Quarantäne in Oxford zu sein, und müsse mit der Unterbringung vorliebnehmen, die mir geboten würde.«

Colin stürmte herein und kam schlitternd zum Stehen. »Jemand ist am Telefon für Sie«, sagte er.

Dunworthy wollte an ihr vorbei, aber sie vertrat ihm entschlossen den Weg. »Ich sagte Mr. Finch, daß er sich vielleicht damit zufriedengeben würde, zu Hause zu bleiben, wenn sein Sohn in Gefahr ist, ich aber jedenfalls nicht.«

»Ich fürchte, ich werde am Telefon verlangt.«

»Ich sagte ihm, keine wirkliche Mutter könne untätig bleiben, wenn ihr Kind allein und krank an einem entfernten Ort sei.«

»Mr. Dunworthy«, sagte Colin, »kommen Sie!«

»Natürlich haben Sie ganz offensichtlich keine Ahnung, wovon ich rede. Sehen Sie sich dieses Kind an!« Sie packte Colin beim Arm. »Läuft ohne Mantel im strömenden Regen herum!«

Dunworthy nutzte ihre veränderte Position, um an ihr vorbeizukommen.

»Offensichtlich kümmert es Sie nicht, ob Ihr Junge die indische Grippe bekommt«, sagte sie. Colin riß sich los. »Sie lassen zu, daß er sich mit Semmeln vollstopft und bis auf die Haut durchnäßt herumläuft.«

Dunworthy eilte über den Hof, auf den Fersen gefolgt von Colin.

»Es würde mich nicht wundern, wenn sich herausstellen sollte, daß dieses Virus hier im College seinen Ursprung hat«, rief Mrs. Gaddson ihnen nach. »Reine Nachlässigkeit, das ist es. Reine Nachlässigkeit!«

Dunworthy stürzte ins Zimmer und nahm den Hörer auf. Es gab kein Bild. »Andrews«, rief er, »sind Sie da? Ich kann Sie nicht sehen.«

»Das Telefonsystem ist überlastet«, sagte Montoya. »Sie haben die Bildübertragung eingestellt. Ich bin es, Lupe Montoya. Angelt Mr. Basingame auf Lachs oder Forelle?«

»Was?« Dunworthy starrte stirnrunzelnd in den leeren Bildschirm.

»Ich habe den ganzen Morgen in Schottland herumtelefoniert, wenn ich durchkommen konnte. Alle sagen, wohin er gegangen ist, hänge davon ab, ob er auf Lachs oder Forelle angelt. Wie ist es mit seinen Freunden? Gibt es jemanden in der Universität, mit dem er angeln geht und der Bescheid wissen könnte?«

»Keine Ahnung«, sagte Dunworthy. »Mrs. Montoya, ich fürchte, ich warte auf einen äußerst wichtigen…«

»Ich habe es überall versucht — Hotels, Gasthäuser, Bootsvermieter, sogar seinen Friseur. Ich erwischte seine Frau unten in Torquay, aber sie sagte, er habe ihr nicht gesagt, wo er sich aufhalten würde. Ich hoffe, das bedeutet nicht, daß er irgendwo mit einer Frau unterwegs und in Wirklichkeit überhaupt nicht in Schottland ist.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, daß Mr. Basingame…«

»Ja, gut, aber warum weiß dann niemand, wo er ist? Und warum hat er nicht angerufen, nachdem er inzwischen erfahren haben muß, daß wir Quarantäne haben. Fernsehnachrichten und Zeitungen sind voll davon.«

»Mrs. Montoya, ich…«

»Ich sehe schon, ich werde es weiter versuchen müssen. Sie hören von mir, wenn ich ihn finde.«

Sie legte endlich auf, und Dunworthy tat desgleichen und starrte das Telefon an, überzeugt, daß Andrews angerufen hatte, während Montoya seine Leitung blockiert hatte.

»Sagten Sie nicht, daß es im Mittelalter eine Menge Epidemien gab?« fragte Colin. Er hatte sich mit dem Buch zum Fensterplatz zurückgezogen und aß die mitgebrachten Semmeln.

»Ja.«

»Ich kann sie in diesem Buch nicht finden. Wie buchstabiert man es?«

»Versuch es unter Schwarzer Tod«, sagte Dunworthy.

Er wartete eine unruhige Viertelstunde und versuchte dann noch einmal, Andrews anzurufen. Alle Leitungen waren noch blockiert.

»Wußten Sie, daß der Schwarze Tod in Oxford war?« sagte Colin. Er hatte die Semmeln verdrückt und fing mit den Seifentabletten an. »Zu Weihnachten. Genau wie jetzt.«

»Influenza ist mit der Pest nicht zu vergleichen«, sagte er, ohne das Telefon aus den Augen zu lassen, als könnte er es durch eine Willensanstrengung zum Läuten bringen. »Der Schwarze Tod brachte ein Drittel bis die Hälfte der europäischen Bevölkerung um.«

»Ich weiß«, sagte Colin, »und die Pest war viel interessanter. Sie wurde von Ratten verbreitet, und man kriegte diese riesigen Beulen in den Achselhöhlen und den Leisten, die dann schwarz wurden und anschwollen, und dann starb man daran! Die Grippe hat nichts dergleichen.« Es klang enttäuscht.

»Nein.«

»Und die Grippe ist nur eine Krankheit, nicht? Es gab drei Arten von Pest. Beulenpest, Lungenpest, die in die Lungen ging, bis man Blut hustete, und Septikämie, die in die Blutbahn überging und einen in drei Stunden tötete, wobei der Körper ganz schwarz wurde! Apokalyptisch, nicht?«

»Ja.«

Kurz nach elf läutete das Telefon, und Dunworthy riß den Hörer wieder an sich, aber es war Mary, die sich entschuldigte, daß sie es nicht zum Weihnachtsessen würde schaffen können. »Wir haben heute vormittag fünf neue Fälle bekommen.«

»Sobald mein Ferngespräch durchgekommen ist, werden wir in die Klinik kommen«, versprach Dunworthy. »Ich warte auf den Anruf eines meiner Techniker. Ich möchte, daß er kommt und die Fixierung liest.«

Mary seufzte. »Haben Sie das mit Gilchrist besprochen?«

»Gilchrist! Er beschäftigt sich schon mit Plänen, Kivrin in die Zeit des Schwarzen Todes zu schicken!«

»Trotzdem meine ich, Sie sollten dies nicht tun, ohne ihn zu unterrichten. Er ist in Basingames Abwesenheit Leiter der Fakultät, und deshalb hat es keinen Sinn, sich ihn zum Gegner zu machen. Sollte etwas schiefgegangen sein, und Andrews muß die Absetzoperation abbrechen, werden Sie seine Mitwirkung brauchen. Aber wir werden das diskutieren, wenn Sie kommen. Und wenn Sie hier sind, möchte ich Sie impfen.«

»Ich dachte, Sie warteten auf den amerikanischen Impfstoff?«

»Das tat ich, aber ich bin nicht zufrieden mit der Reaktion der Primärfälle auf die von Atlanta empfohlene Behandlung. Einige zeigen eine leichte Besserung, aber Badri geht es womöglich noch schlechter als zuvor. Ich möchte, daß alle Personen mit erhöhtem Infektionsrisiko T-Zellen-Verstärkung bekommen.«

Es wurde Mittag, und Andrews hatte noch immer nicht angerufen. Dunworthy schickte Colin in die Klinik, um sich impfen zu lassen. Er kam mit schmerzlicher Miene zurück.

»So schlimm war es?« fragte Dunworthy.

»Schlimmer«, sagte Colin. Er warf sich auf das Sofa beim Fenster. »Als ich zurückkam, fing mich Mrs. Gaddson ab. Ich rieb mir den Arm, und sie wollte wissen, wo ich gewesen war und warum ich geimpft wurde, und nicht ihr Sohn.« Er warf Dunworthy einen vorwurfsvollen Blick zu. »Ich sage Ihnen, es tut weh! Mrs. Gaddson sagte, wenn jemand ein erhöhtes Infektionsrisiko habe, dann sei es der arme William, und daß ich geimpft wurde und nicht er, sei nur auf die an der Universität herrschende Nekrophilie zurückzuführen.«

»Nepotismus, wolltest du sagen.«

»Ja, Nepotismus. Ich hoffe, der Priester findet eine absolut leichenhafte Beschäftigung für sie.«

»Hast du deine Großtante gesehen?«

»Nein. Sie waren alle furchtbar beschäftigt, Betten im Korridor und alles.«

Colin und Dunworthy gingen abwechselnd zum Weihnachtsessen hinüber in den Speisesaal, um das Telefon nicht unbeaufsichtigt zu lassen. Colin war nach knapp fünfzehn Minuten wieder zurück. »Die Schellenläuter fingen an zu spielen«, sagte er. »Mr. Finch läßt Ihnen ausrichten, daß Zucker und Butter ausgegangen sind, und Schlagrahm beinahe.« Er zog ein Stück Geleetorte aus der Jackentasche. »Wie kommt es, daß ihnen der Rosenkohl nie ausgeht?«

Dunworthy gab ihm Anweisung, sofort zu kommen und ihn zu verständigen, sollte Andrews anrufen, und alle anderen Nachrichten zu notieren, und ging zum Essen. Die Schellenläuter waren eben im Begriff, einen Kanon von Mozart zu malträtieren.

Finch brachte Dunworthy einen Teller, auf dem hauptsächlich Rosenkohl lag. »Ich fürchte, es ist nur noch wenig Truthahn da, Sir«, sagte er. »Ich bin froh, daß Sie gekommen sind. Es ist beinahe Zeit für die Weihnachtsbotschaft der Königin.«

Die Schellenläuter beendeten ihre Darbietung und ernteten begeisterten Beifall, und Mrs. Taylor kam herüber, noch mit ihren weißen Handschuhen. »Da sind Sie ja, Mr. Dunworthy«, sagte sie. »Ich vermißte Sie beim Frühstück, und Mr. Finch sagte, Sie seien derjenige, mit dem ich sprechen müsse. Wir brauchen einen Übungsraum.«

Er war versucht, zu sagen: »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie üben.« Er aß einen Rosenkohl, um Zeit zu gewinnen. »Einen Übungsraum?«

»Ja. Ich habe mit dem Dekan des Christ Church College verabredet, daß wir dort am Neujahrstag unser Glockenspiel ertönen lassen, aber wir müssen einen Raum zum Üben haben. Ich sagte Mr. Finch, daß der große Raum drüben im Nachbargebäude hervorragend geeignet wäre…«

»Das ist das Clubzimmer des Lehrkörpers.«

»Aber Mr. Finch sagte, er würde als Lagerraum für Vorräte genutzt.«

Was für Vorräte? dachte er. Finch zufolge war beinahe alles bis auf Rosenkohl ausgegangen oder nur noch in Resten vorhanden.

»Und er sagte, die Vorlesungs- und Seminarräume seien beschlagnahmt, um Kranke aufzunehmen, und müßten freigehalten werden. Wir brauchen einen ruhigen Ort, wo wir uns konzentrieren können. Viele unserer Einstudierungen sind sehr schwierig und kompliziert. Die Reihenveränderungen und mehrstimmigen Inventionen verlangen absolute Konzentration.«

»Natürlich.«

»Der Raum braucht nicht groß zu sein, aber er muß abgeschieden sein. Wir haben hier im Speisesaal geübt, aber die ganze Zeit herrscht ein Kommen und Gehen, und der Tenor verfehlt immer wieder seinen Einsatz.«

»Ich bin sicher, daß wir etwas finden können.«

»Mit sieben Glocken sollten wir natürlich triplieren, aber das Nordamerikanische Konzil läutete voriges Jahr hier in Oxford Philadelphia-Triples und gab, wie ich hörte, eine sehr klägliche Vorstellung. Der Tenor einen vollen Zähler im Rückstand, und eine schauerliche Schlagtechnik. Was ein weiterer Grund dafür ist, daß wir einen guten Übungsraum haben müssen. Die Schlagtechnik ist so wichtig.«

»Natürlich«, sagte Dunworthy.

Mrs. Gaddson erschien auf der anderen Seite des Saales in der Türöffnung. Sie sah wie ein gereiztes Muttertier aus, grimmig und ungestüm. »Entschuldigen Sie, aber ich erwarte ein dringendes Ferngespräch«, sagte er und stellte sich so, daß Mrs. Taylor zwischen ihm und Mrs. Gaddson war.

»Ferngespräch?« Mrs. Taylor schüttelte den Kopf. »Ihr Engländer! Ich verstehe nicht was Ihr die ganze Zeit zu reden habt.«

Dunworthy entkam durch die Kantinentür, nachdem er versprochen hatte, einen Übungsraum zu suchen, und kehrte zurück in seine Räume. Andrews hatte nicht angerufen. Es gab eine Nachricht von Montoya. »Ich soll Ihnen sagen, Sie sollen sich nichts daraus machen«, sagte Colin.

»Das war alles? Sonst sagte sie nichts?«

»Nein. Sie sagte: ›Sag Mr. Dunworthy, er soll sich nichts daraus machen.‹«

Er fragte sich, ob sie durch irgendein Wunder Basingame ausfindig gemacht und seine Unterschrift erlangt habe, oder ob sie bloß herausgebracht habe, ob er »auf Lachs« oder »auf Forelle« angelte. Er überlegte, ob er zurückrufen solle, befürchtete jedoch, daß Andrews ausgerechnet in dem Augenblick durchkommen würde.

Gegen vier war es endlich soweit. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich Sie nicht eher anrufen konnte«, sagte Andrews.

Es gab noch immer kein Bild, aber Dunworthy hörte Musik und Stimmen im Hintergrund. »Ich war bis gestern abend fort und hatte dann Schwierigkeiten, zu Ihnen durchzukommen«, sagte Andrews. »Die Leitungen waren ständig belegt, die vielen Feiertagsanrufe, wissen Sie. Ich habe immer wieder versucht…«

»Ich brauche Sie in Oxford«, unterbrach Dunworthy. »Sie müssen mir eine Fixierung lesen.«

»Selbstverständlich, Sir«, sagte Andrews prompt. »Wann?«

»So bald wie möglich. Heute abend?«

»Oh«, sagte er, weniger prompt. »Würde es morgen auch noch gehen? Meine Freundin wird heute abend erst spät kommen, und wir hatten geplant, unser Weihnachten morgen zu feiern, aber ich könnte am Nachmittag oder Abend einen Zug nehmen. Reicht das, oder gibt es eine Grenze bei der Aufnahme der Fixierung?«

»Die Fixierung ist bereits durchgeführt, aber der Techniker liegt mit einer Viruserkrankung und hohem Fieber in der Klinik, und ich brauche jemanden, der sie liest«, sagte Dunworthy. Am anderen Ende war ein plötzlicher Ausbruch von Gelächter zu hören, und Dunworthy hob die Stimme: »Um welche Zeit, meinen Sie, können Sie hier sein?«

»Ich bin nicht sicher. Kann ich morgen zurückrufen und Ihnen sagen, wann ich mit der U-Bahn kommen werde?«

»Ja, aber Sie können mit der U-Bahn nur bis Barton fahren. Von dort werden Sie ein Taxi zum Sperrkreis nehmen müssen. Ich werde dafür sorgen, daß man Sie durchläßt. In Ordnung, Andrews?«

Er antwortete nicht, aber Dunworthy konnte die Musik immer noch hören. »Andrews? Sind Sie noch da?« Es war entnervend, nicht sehen zu können.

»Ja, Sir«, sagte Andrews, aber wachsam. »Was, sagten Sie, soll ich tun?«

»Eine Fixierung lesen. Sie ist bereits durchgeführt worden, aber der Techniker…«

»Nein, das andere. Daß ich den Zug bis Barton nehmen soll.«

»Ja. Nehmen Sie den Zug bis Barton«, sagte Dunworthy laut und deutlich. »Weiter fährt er nicht. Von dort werden Sie ein Taxi zum Quarantäne-Sperrkreis nehmen müssen.«

»Quarantäne?«

»Ja.« Dunworthy war irritiert. »Ich werde Sorge tragen, daß Sie in das Quarantänegebiet eingelassen werden.«

»Was für eine Quarantäne?«

»Eine Viruserkrankung«, sagte er. »Sie haben nicht davon gehört?«

»Nein, Sir. Ich machte eine Absetzoperation in Florenz und bin erst heute nachmittag angekommen. Ist es ernst?« Er hörte sich nicht ängstlich an, nur interessiert.

»Einundachtzig Fälle, bisher«, sagte Dunworthy.

»Zweiundachtzig«, sagte Colin vom Fenstersitz.

»Aber sie haben ihn identifiziert, und der Impfstoff ist unterwegs. Es hat keine Todesopfer gegeben.«

»Aber viele unglückliche Leute, die über Weihnachten zu Hause sein sollten, kann ich mir denken«, sagte Andrews. »Dann werde ich Sie morgen vormittag anrufen, sobald ich weiß, um welche Zeit ich ankommen werde.«

»Ja«, rief Dunworthy, um sicherzugehen, daß Andrews ihn im Hintergrundlärm hören konnte. »Ich werde hier sein.«

»In Ordnung«, sagte Andrews. Es gab eine weitere Lachsalve, dann Stille. Er hatte aufgelegt.

»Kommt er?« fragte Colin.

»Ja. Morgen.« Er wählte Gilchrists Nummer.

Plötzlich wurde der Bildschirm hell und Gilchrist erschien. Er saß an seinem Schreibtisch und machte ein kriegerisches Gesicht. »Mr. Dunworthy, wenn dieser Anruf zum Zweck hat, Miss Engle zurückzuholen…«

Ich würde, wenn ich könnte, dachte Dunworthy. Begriff Gilchrist wirklich nicht, daß Kivrin den Absetzort längst verlassen hatte und nicht dort sein würde, wenn sie das Netz öffneten?

»Nein«, sagte er. »Ich habe einen Techniker ausfindig gemacht, der kommen und die Fixierung lesen kann.«

»Mr. Dunworthy, darf ich Sie erinnern…«

»Ich bin mir völlig darüber im klaren, daß Sie diese Absetzoperation unter sich haben«, sagte Dunworthy, bemüht, die Beherrschung zu wahren. »Ich versuchte bloß zu helfen. Da mir bekannt ist, welche Schwierigkeiten es bereitet, während der Ferienzeit Techniker ausfindig zu machen, rief ich einen in Reading. Er kann morgen hier sein.«

Gilchrist schürzte mißbilligend die Lippen. »Dies alles wäre überflüssig, wenn Ihr Techniker nicht krank geworden wäre, aber da er nun einmal krank ist, werden wir uns behelfen müssen. Veranlassen Sie, daß er sich nach seiner Ankunft gleich bei mir meldet.«

Dunworthy brachte es fertig, sich höflich zu verabschieden, aber sobald der Bildschirm erlosch, knallte er den Hörer aufs Telefon, riß ihn wieder hoch und begann Nummern zu wählen. Er würde Basingame finden, und wenn es den ganzen Nachmittag erforderte.

Aber der Computer meldete sich und informierte ihn, daß alle Leitungen wieder belegt seien. Er legte auf und starrte auf den leeren kleinen Bildschirm.

»Warten Sie auf einen neuen Anruf?« fragte Colin.

»Nein.«

»Können wir dann zur Klinik hinübergehen? Ich habe ein Geschenk für Großtante Mary.«

Und ich kann veranlassen, daß Andrews durch den Sperrkreis in die Quarantänezone gelassen wird, dachte er. »Ausgezeichnete Idee. Du kannst deinen neuen Schal tragen.«

Colin stopfte ihn in die Manteltasche. »Erst wenn wir dort sind«, sagte er grinsend. »Ich will nicht, daß jemand mich unterwegs damit sieht.«

Es war niemand da, der sie hätte sehen können. Die Straßen lagen völlig verlassen, nicht einmal Fahrräder oder Taxis waren unterwegs. Dunworthy dachte an die Bemerkung des Vikars, daß die Leute sich in ihren Häusern verkriechen würden, wenn die Epidemie erst um sich griffe. Entweder das, oder die Klänge des Glockenspiels vom Carfax-Turm hatten sie von den Straßen vertrieben, das nicht nur unausgesetzt Weihnachtslieder spielte, sondern in den leeren Straßen auch viel lauter schien und hallende Echos erzeugte. Oder die Leute schliefen, nachdem sie sich an der Weihnachtsgans überessen hatten. Oder sie waren einfach klug genug, nicht im Regen herumzulaufen.

Sie sahen keine Menschenseele, bis sie zum Krankenhaus kamen. Vor der Notaufnahme stand eine Frau in einem Burberry-Wettermantel und hielt ein Plakat mit der Aufschrift »VERHINDERT DAS EINSCHLEPPEN VON KRANKHEITEN«. Ein Mann mit vorschriftsmäßiger Schutzmaske öffnete ihnen die Tür und gab Dunworthy ein feucht gewordenes Flugblatt.

Dunworthy meldete sich am Schalter, und während er auf Mary wartete, las er das Flugblatt. Darauf stand in Fettdruck zu lesen: BEKÄMPFT INFEKTIONEN, STIMMT FÜR DIE TRENNUNG VON DER EG. Darunter war ein längerer Text. »Warum müssen Sie diese Weihnachten getrennt von ihren Lieben verbringen? Warum sind Sie gezwungen, in Oxford zu bleiben? Warum sind Sie in Gefahr, krank zu werden und zu sterben? Weil die EG mit Einführung der ungehinderten Freizügigkeit nicht nur allen kriminellen Elementen der Welt Tür und Tor öffnet, sondern auch infizierte Ausländer und Seuchenträger nach England einläßt, ohne daß England dabei ein Wort mitzureden hat. Einwanderer aus aller Herren Länder, behaftet mit todbringenden Krankheitserregern…«

Dunworthy drehte das Blatt um. Auf der Rückseite stand: »Eine Stimme für die Lostrennung von der EG ist eine Stimme für die Gesundheit. Vereinigung für ein Unabhängiges Großbritannien.«

Mary kam herein, und Colin riß schnell seinen Schal aus der Tasche und wickelte ihn hastig um den Hals. »Frohe Weihnachten«, sagte er. »Danke für den Schal. Soll ich deinen Knallbonbon für dich aufreißen?«

»Ja, bitte«, sagte Mary. Sie sah müde aus und hatte denselben Arztkittel an, den sie seit zwei Tagen trug. Jemand hatte ihr ein paar Stechpalmenblätter ins Knopfloch gesteckt.

Colin riß den Knallbonbon auf. Er entfaltete eine blaue Papierkrone. »Die mußt du aufsetzen«, sagte er.

»Konnten Sie ein bißchen Ruhe finden?« fragte Dunworthy.

»Ein bißchen, ja«, sagte sie und setzte die Krone auf ihr unordentliches graues Haar. »Seit heute mittag haben wir dreißig neue Fälle, und ich habe den größten Teil des Tages damit verbracht, die Sequenzen vom Grippezentrum zu bekommen, aber die Leitungen sind blockiert.«

»Ich weiß«, sagte Dunworthy. »Kann ich zu Badri?«

Sie runzelte die Stirn. »Nur für eine oder zwei Minuten. Er reagiert überhaupt nicht auf das Synthamycin, und das gleiche gilt für die beiden Studenten, die in Headington an der Tanzveranstaltung teilnahmen. Beverly Breen geht es etwas besser. Es macht mir Sorge. Sind Sie schon geimpft worden?«

»Noch nicht. Colin hat seine Impfung bekommen.«

»Und es hat verdammt weh getan«, sagte Colin. Er entfaltete den Papierstreifen, der im Knallbonbon gewesen war. »Soll ich dir dein Motto vorlesen?«

Sie nickte.

»Ich muß morgen einen Techniker in die Quarantänezone bringen, daß er Kivrins Fixierung liest«, sagte Dunworthy. »Was ist dafür erforderlich?«

»Nichts, soweit mir bekannt ist. Man versucht die Leute am Verlassen der Zone zu hindern, nicht am Betreten.«

Die Stationsschwester nahm Mary beiseite und sprach leise und eindringlich auf sie ein.

»Ich muß gehen«, sagte Mary. »Bitte gehen Sie nicht, bevor Sie Ihre T-Zellen-Verstärkung bekommen haben. Kommen Sie wieder hierher, wenn Sie Badri gesehen haben. Colin, du wartest hier auf Mr. Dunworthy.«

Dunworthy ging hinauf zur Isolierstation. Der Stationsraum war unbesetzt, also arbeitete er sich unaufgefordert in einen Schutzanzug aus Papier und dachte sogar daran, die Handschuhe als letztes überzuziehen. Dann ging er hinein.

Die hübsche Schwesternschülerin, die sich für William interessiert hatte, nahm Badri den Puls und beobachtete dabei die Ablesungen. Dunworthy trat ans Fußende des Bettes. Mary hatte gesagt, daß Badri auf die letzte Behandlung nicht reagiert habe, und so war er mit geringen Erwartungen gekommen, doch der Anblick des Kranken erschreckte ihn nichtsdestoweniger. Sein Gesicht war wieder dunkel vom Fieber, und seine Augen waren wie von Blutergüssen umgeben, als ob jemand ihn geschlagen und er ein Brillenhämaton davongetragen hätte. Sein rechter Arm lag in einer komplizierten Schienenkonstruktion zur Befestigung der intravenösen Schläuche. In seiner Armbeuge hatte sich ein purpurblauer Bluterguß gebildet. Der andere Arm sah noch schlimmer aus und war vom Handgelenk bis zum Ellbogen schwarz.

»Badri?« sagte er.

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Sie können nur einen Augenblick bleiben.«

Dunworthy nickte.

Sie nahm ihre Finger von Badris schlaffem Handgelenk, tippte etwas in die Konsole und ging hinaus.

Dunworthy setzte sich neben das Bett und blickte zu den Bildschirmanzeigen auf. Sie sahen unverändert aus, noch immer nicht entzifferbar, Kurven und Ausschläge und Zahlenreihen, die ihm nichts sagten. Er blickte zu Badri, der wie das Opfer einer Wirtshausrauferei dalag, zerschlagen und erledigt. Er klopfte ihm leicht mit den Fingerspitzen auf den Handrücken und stand auf, um zu gehen.

»Es waren die Ratten«, murmelte Badri.

»Badri?« sagte Dunworthy. »Ich bin es, Dunworthy.«

»Mr. Dunworthy…«, sagte Badri, ohne die Augen zu öffnen. »Ich muß sterben, nicht?«

Er erschrak von neuem. »Nein, natürlich nicht«, sagte er munter. »Wie kommen Sie denn darauf?«

»Es ist immer tödlich«, sagte Badri.

»Was ist tödlich?«

Badri antwortete nicht. Dunworthy blieb bei ihm sitzen, bis die Schwesternschülerin wieder hereinkam, aber der Kranke sagte nichts mehr.

»Mr. Dunworthy«, sagte sie. »Er braucht Ruhe.«

»Ich weiß.« Er ging zur Tür und blickte noch einmal zurück zu Badri, die Hand auf der Klinke.

»Es tötete sie alle«, sagte Badri. »Halb Europa.«

Als er zurückkam, sah er Colin am Empfangsschalter stehen, wo er der diensttuenden Schwester von seinen Weihnachtsgeschenken erzählte. »Die Geschenke von meiner Mutter kamen wegen der Quarantäne nicht an. Der Postbote ließ sie nicht durch.«

Dunworthy unterrichtete die Schwester von der T-Zellen-Verstärkung, und sie nickte und meinte, es werde nur einen Augenblick dauern.

Sie setzten sich und warteten. »Ich kam nicht dazu, meiner Großtante ihr Motto vorzulesen«, sagte Colin. »Möchten Sie es hören?« Er wartete nicht auf die Antwort. »Wo war der Weihnachtsmann, als die Lichter ausgingen?« Er wartete gespannt.

Dunworthy schüttelte den Kopf.

»Im Dunkeln.« Er zog ein Kaubonbon aus der Tasche, wickelte ihn aus und steckte ihn in den Mund. »Sie machen sich Sorgen um Ihre Studentin, nicht?«

»Ja.«

Er faltete das Einwickelpapier zu einem winzigen Paket. »Ich verstehe nicht, warum Sie nicht hingehen können, sie zu holen?«

»Sie ist nicht dort. Wir müssen auf den Rückholtermin warten.«

»Nein, ich meine, warum können Sie nicht zur selben Zeit zurückgehen, in die sie geschickt wurde, und sie herausholen, solange sie noch an Ort und Stelle war, bevor etwas passierte? Ich meine, Sie können doch in jede beliebige Zeit, nicht?«

»Nein, du kannst einen Historiker in jede beliebige Zeit schicken, aber sobald er oder sie dort ist, kann das Netz nur in Realzeit operieren. Hast du in der Schule gelernt, was ein Paradoxon ist?«

Colin bejahte, aber es klang ungewiß.

»Das Raum-Zeit-Kontinuum erlaubt keine Paradoxien«, sagte Dunworthy. »Es wäre aber paradox, wenn Kivrin etwas geschehen ließe, was nicht geschehen ist, oder wenn sie einen Anachronismus verursachte.«

Er sah, daß Colin noch immer nicht verstanden hatte.

»Eine der Paradoxien ist, daß niemand an zwei Orten gleichzeitig sein kann. Sie ist bereits seit vier Tagen in der Vergangenheit gewesen. Daran können wir nichts ändern. Es ist schon passiert.«

»Wie kommt sie dann zurück?«

»Als sie durchging, führte der Techniker durch, was eine Fixierung genannt wird. Sie verrät ihm genau, wo sie ist und wirkt als ein Bindeglied zwischen den beiden Zeiten, so daß das Netz zu einem vorher abgestimmten Zeitpunkt wieder geöffnet und sie aufgenommen werden kann.«

»Wie eine Verabredung zu einer bestimmten Zeit?«

»Genau. Kivrins Rückholtermin ist in zwei Wochen, am 28. Dezember. An diesem Tag wird der Techniker das Netz öffnen und Kivrin kann wieder durchkommen.«

»Sagten Sie nicht, es sei dort die gleiche Zeit? Wie kann der 28. Dezember in zwei Wochen sein?«

»Im Mittelalter verwendete man einen anderen Kalender. Dort ist erst der 17. Dezember. Nach unserer Rechnung ist der 6. Januar Rückholtermin. Wenn sie dort ist. Wenn ich einen Techniker finde, der das Netz öffnet.«

Colin nahm den Kaubonbon aus dem Mund und betrachtete es nachdenklich. Er war von einem fleckigen Bläulichweiß und ähnelte einer Karte des Mondes. Er steckte es wieder in den Mund.

»Wenn ich also am 26. Dezember ins Mittelalter ginge, könnte ich Weihnachten zweimal haben.«

»Ja, das ist richtig.«

»Apokalyptisch!« Er entfaltete das Einwickelpapier und faltete es von neuem zu einem noch winzigeren Paket zusammen. »Anscheinend hat man Sie vergessen, nicht?«

»Es sieht allmählich danach aus«, meinte Dunworthy. Als das nächste Mal ein Arzt vorbeikam, hielt Dunworthy ihn an und sagte ihm, daß er auf eine T-Zellen-Verstärkung warte.

Der Arzt sah ihn überrascht an. »So? Ich werde sehen, was sich machen läßt.« Er verschwand in der Notaufnahme.

Sie warteten weiter. »Es waren die Ratten«, hatte Badri gesagt. Und in der ersten Nacht hatte er Dunworthy nach dem Jahr gefragt. Aber er hatte bei klarer Besinnung erklärt, daß es nur eine minimale Verschiebung gegeben habe, vier Stunden oder so. Er hatte die Berechnungen des anderen Technikers als richtig bezeichnet.

Colin nahm wieder das Kaubonbon heraus und untersuchte es auf Farbveränderungen. »Angenommen, es geschieht etwas Schlimmes«, sagte er, das schleimig glänzende Kaubonbon mit zusammengekniffenen Augen musternd. »Könnten Sie dann nicht gegen die Regeln verstoßen? Angenommen, die Studentin würde bei einem Unfall den Arm verlieren oder umkommen, oder eine Bombe würde sie zerreißen oder was?«

»Es sind keine Regeln, Colin, es sind Naturgesetze. Wir könnten sie nicht aufheben, selbst wenn wir es versuchten. Wenn wir Ereignisse, die bereits eingetreten sind, rückgängig machen wollten, würde das Netz sich nicht öffnen.«

Colin spuckte das Kaubonbon in das zerknitterte Einwickelpapier und hüllte es sorgsam darin ein. »Ganz bestimmt fehlt Ihrem Mädchen nichts.« Er steckte das eingewickelte Kaubonbon in die Jackentasche und zog ein klumpiges Päckchen hervor. »Ich vergaß Großtante Mary ihr Weihnachtsgeschenk zu geben«, sagte er, sprang auf und eilte in die Notaufnahme, bevor Dunworthy ihn daran hindern konnte. Er verschwand in der Tür und kam einen Augenblick später wieder herausgestürzt. »Verdammt! Der Gallenstein ist da! Er kommt hierher!«

Dunworthy stand auf. »Das hat uns noch gefehlt.«

»Hier entlang«, sagte Colin. »Am ersten Abend kam ich zum Hintereingang.« Er rannte in die andere Richtung davon. »Kommen Sie mit!«

Dunworthy konnte nicht rennen, aber er ging mit schnellen Schritten Colin nach durch die Korridore und durch einen Lieferanteneingang hinaus auf eine Seitenstraße. Draußen stand ein Plakatträger im Regen. Die Inschrift lautete. »DAS UNHEIL, DAS WIR FÜRCHTETEN, IST ÜBER UNS GEKOMMEN.«

»Ich werde mich vergewissern, daß sie uns nicht gesehen hat«, sagte Colin und lief zur nächsten Ecke, um die Vorderseite zu überblicken.

Der Mann gab Dunworthy ein Flugblatt. »DAS ENDE DER ZEIT IST NAHE!« verkündete es in feurigen Großbuchstaben. »›Fürchtet Gott, denn die Stunde des Gerichts ist gekommen.‹ Offenbarung 14, 7.«

Colin winkte Dunworthy von der Ecke zu. »Alles klar«, sagte er, etwas außer Atem. »Sie ist drinnen und schreit in der Anmeldung herum.«

Dunworthy gab dem Mann das Flugblatt zurück und folgte Colin. Als sie um den Block zur Vorderfront der Klinik kamen, hielt Dunworthy besorgt Ausschau nach dem Eingang zur Notaufnahme, konnte aber niemanden sehen, nicht einmal die Anti-EG-Demonstranten.

Colin lief noch einen Block weiter, um zu sehen, ob die Luft rein sei, dann kam er zurück. Er zog die Packung Karamelbonbons aus der Tasche und bot Dunworthy einen an. Als dieser ablehnte, bediente Colin sich selbst und sagte, nicht allzu deutlich: »Das sind die besten Weihnachten, die ich je hatte.«

Dunworthy grübelte über diese Aussage mehrere Blocks weit nach. Das Glockenspiel massakrierte »Es ist ein Ros entsprungen«, und die Straßen lagen noch immer verlassen, aber als sie in die Broad Street einbogen, kam ihnen eine gegen den Regen gebeugte, vertraute Gestalt entgegengeeilt.

»Es ist Mr. Finch«, sagte Colin.

»Lieber Gott«, sagte Dunworthy. »Was wird nun ausgegangen sein?«

»Hoffentlich der Rosenkohl.«

Finch hatte beim Klang ihrer Stimmen aufgeblickt. »Da sind Sie ja, Mr. Dunworthy. Gott sei Dank. Ich habe überall nach Ihnen gesucht.«

»Was gibt es«, fragte Dunworthy. »Ich sagte Mrs. Taylor, daß ich mich um einen Übungsraum kümmern würde.«

»Das ist es nicht, Sir. Es sind die Zwangseinquartierten. Zwei von ihnen sind am Virus erkrankt.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(082631–084122)

21. Dezember 1320 (alte Zeitrechnung). Pater Roche weiß nicht, wo der Absetzort ist. Ich bewog ihn, mich zu der Stelle zu führen, wo er mit Gawyn zusammentraf, doch selbst als ich auf der Lichtung stand, blieb die erhoffte Erinnerung aus. Es liegt auf der Hand, daß Gawyn ihn erst traf, als er ein weites Stück vom Absetzort entfernt war, und zu diesem Zeitpunkt war ich kaum noch bei Besinnung.

Und heute wurde mir klar, daß es mir niemals gelingen wird, den Absetzort auf eigene Faust zu finden. Der Wald ist zu ausgedehnt und hat viele von Natur aus offene Stellen wie kleine Lichtungen, alte Eichen und Weidendickichte, die nun, da es geschneit hat, alle gleich aussehen. Ich hätte den Absetzort mit noch etwas anderem als dem messingbeschlagenen Kasten markieren sollen.

Gawyn wird mir die richtige Stelle zeigen müssen, und er ist noch nicht zurückgekehrt. Rosemund sagte mir, es sei nur ein halber Tagesritt nach Courcy, doch werde er wegen des Regens wahrscheinlich die Nacht dort verbringen.

Seit unserer Rückkehr hat es ziemlich stark geregnet, und ich denke, ich solle mich darüber freuen, weil die Erwärmung den Schnee zum Schmelzen bringt, aber die Nässe und die grundlosen Wege machen es mir unmöglich, hinauszugehen und weiterzusuchen, und im Herrenhaus ist es eiskalt. Alle tragen ihre Umhänge und kauern um das Feuer.

Ich frage mich, was die Dorfbewohner tun. Ihre Hütten können nicht einmal den Wind fernhalten, und in derjenigen, wo ich unterkroch, war nicht einmal eine Decke zu sehen. Sie müssen schrecklich frieren, und Rosemund sagte, der Verwalter habe prophezeit, daß es bis zum Weihnachtsabend regnen werde.

Rosemund entschuldigte sich für ihr schlechtes Benehmen während unseres Rittes in den Wald und sagte mir zur Erklärung, sie sei zornig auf ihre Schwester gewesen.

Agnes hatte nichts damit zu tun — was sie aus der Fassung brachte, war offensichtlich die Nachricht, daß ihr Verlobter zu Weihnachten eingeladen wurde, und als ich eine Gelegenheit hatte, allein mit Rosemund zu sprechen, fragte ich sie, ob sie wegen ihrer Eheschließung in Sorge sei.

»Mein Vater hat es arrangiert«, sagte sie und fädelte ihre Nadel ein. »Wir wurden einander am Martinstag versprochen, und Ostern sollen wir heiraten.«

»Und geschieht es mit deiner Zustimmung?«

»Es ist eine gute Partie«, sagte sie. »Sir Bloet ist eine hochgestellte Persönlichkeit, und er hat Besitzungen, die an Besitzungen meines Vaters grenzen.«

»Magst du ihn?«

Sie stieß die Nadel in den über einen Holzrahmen gespannten Leinenstoff.

»Mein Vater würde mich niemals zu Schaden kommen lassen«, sagte sie und zog den langen Faden durch.

Mehr gab sie nicht preis, und alles, was ich aus Agnes herausbekommen konnte, war, daß Sir Bloet nett sei und ihr einen Silberpfennig gebracht habe, wahrscheinlich als Teil der Verlobungsgeschenke.

Agnes war zu sehr mit ihrem Knie beschäftigt, um mir mehr zu sagen. Auf halbem Weg nach Haus hörte sie auf, darüber zu klagen, aber dann hinkte sie übertrieben, als sie vom Pferd gestiegen war. Ich dachte, sie versuchte bloß, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch als ich nachschaute, war der Schorf ganz losgerissen. Die Haut ringsherum ist gerötet und angeschwollen.

Ich wusch das Knie vorsichtig, umwickelte es mit dem saubersten Stoff den ich finden konnte (ich fürchte, es könnte eines von Imeynes Kopftüchern gewesen sein; es war in der Truhe am Fuß meines Bettes), und ließ sie still am Feuer sitzen und mit ihrem Ritter spielen, aber ich mache mir Sorgen. Wenn sich eine Infektion entwickelt, könnte es ernst werden. In dieser Zeit gibt es keine antibakteriellen Mittel.

Auch Eliwys ist in Sorge. Offensichtlich erwartete sie Gawyn heute abend zurück, und ich sah, daß sie immer wieder zur Tür hinausschaute. Es ist mir nicht gelungen, herauszubringen, wie sie zu ihm steht. Manchmal, wie heute, denke ich, daß sie ihn liebt und sich fürchtet, was es für sie beide bedeutet. Ehebruch war in den Augen der Kirche eine Todsünde, und oft eine gefährliche. Bei anderen Gelegenheiten habe ich wieder den Eindruck, daß seine Liebe unerwidert bleibt, daß die Sorge um ihren Mann in ihrem Denken und Fühlen keinen Platz für anderes läßt.

Die reine, unerreichbare Dame war das Ideal höfischer Romanzen, aber es ist klar, daß er nicht weiß, ob seine Liebe erwidert wird oder nicht. Daß er mich im Wald rettete, war wie seine Geschichte von den berittenen Räubern nur ein Versuch, sie zu beeindrucken — und es wäre natürlich viel eindrucksvoller gewesen, wenn die zwanzig Räuber tatsächlich existiert hätten, bewaffnet mit Schwertern und Streitäxten und Keulen. Er würde zweifellos alles tun, um sie zu gewinnen, und Frau Imeyne weiß es. Ich glaube, daß er darum nach Courcy geschickt worden ist.

18

Als sie zum Balliol College zurückkehrten, waren weitere zwei der eingewiesenen Personen erkrankt. Dunworthy schickte Colin zu Bett und half Finch, die Erkrankten in den vom Gesundheitsamt beschlagnahmten Räumen zusammenzulegen, und rief im Krankenhaus an.

»Alle Krankenwagen sind unterwegs«, sagte der Arzt in der Notaufnahme. »Es muß erst geklärt werden, ob wir die Leute hier unterbringen können oder ob sie bei Ihnen bleiben müssen.«

Die Klärung erfolgte nach Mitternacht, als die Erkrankten abgeholt wurden. Dunworthy kam erst gegen eins ins Bett. Colin schlief auf dem Sofa, neben sich Das Zeitalter des Rittertums. Dunworthy überlegte, ob er das Buch an sich nehmen solle, wollte aber nicht riskieren, ihn zu wecken. Er legte sich schlafen.

Kivrin konnte unmöglich in die Pestzeit geraten sein. Badri hatte eine Verschiebung von vier Stunden genannt, und die Pest hatte England erst um 1348 heimgesucht. Kivrin befand sich im Jahr 1320.

Er drehte sich auf die andere Seite und schloß die Augen. Sie konnte nicht in der Seuchenzeit sein, außerdem war sie geimpft. Badri war nicht bei klarer Besinnung. Er hatte alles mögliche geredet, nicht nur über Ratten, und nichts davon ergab einen Sinn. Es war das Fieber, das aus ihm sprach. Er hatte ihm imaginäre Notizen gegeben. Nichts davon hatte etwas zu bedeuten. Und es sah ihm, Dunworthy, ähnlich, daß er die Erwähnung der Ratten zum Anlaß nahm, sich wider alle Vernunft neue Sorgen zu machen.

»Es waren die Ratten«, hatte Badri gesagt. Die Zeitgenossen hatten natürlich nicht gewußt, daß die Pest von Rattenflöhen verbreitet wurde. Sie hatten keine Ahnung von der Ursache gehabt. Aber sie hatten instinktiv alle verdächtigt, die von auswärts zu ihnen kamen, und versucht, sich durch Quarantänemaßnahmen gegen Fremde zu schützen. Dieser gesunde Instinkt hatte sie freilich nicht daran gehindert, auch andere zu beschuldigen — Juden und Hexen und Geisteskranke. Sie hatten Schwachsinnige getötet und alte Frauen gehängt. Sie hatten Fremde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Er stand auf und tappte ins Wohnzimmer. Auf Zehenspitzen schlich er ums Sofa und zog Das Zeitalter des Rittertums unter Colins Kopfkissen hervor. Colin bewegte sich unruhig, erwachte aber nicht.

Dunworthy schlug nach, was über den Schwarzen Tod geschrieben war. Er hatte um 1333 von China seinen Ausgang genommen und war von Handelsschiffen westwärts nach Messina auf Sizilien und von dort nach Pisa gelangt. Er hatte sich durch Italien und Frankreich ausgebreitet — achtzigtausend Tote in Siena, hunderttausend in Florenz, dreihunderttausend in Rom -, aber bevor er den Kanal übersprungen hatte. 1348 war die Seuche in England ausgebrochen, »kurz vor dem Fest Johannes des Täufers«, dem 24. Juni.

Das würde eine Verschiebung von achtundzwanzig Jahren bedeuten. Badri hatte sich wegen einer zu großen Verschiebung Gedanken gemacht, aber er hatte von Tagen, höchstens von Wochen gesprochen, nicht von Jahren.

Er ging wieder hinaus ins Wohnzimmer, beugte sich über das Sofa zum Bücherschrank und nahm Fitzwillers Pandemien heraus.

»Was tun Sie da?« fragte Colin schläfrig.

»Ich lese über den Schwarzen Tod nach«, flüsterte er. »Schlaf nur weiter.«

»So nannten sie es nicht«, murmelte Colin. Er wälzte sich herum, zog die Decke über sich. »Sie nannten es das Blaue Fieber.«

Dunworthy nahm beide Bücher mit und legte sich wieder ins Bett. Fitzwiller gab als Datum des Ausbruches der Seuche in England Peter und Paul an, den 29. Juli 1348. Im Dezember hatte die Pest Oxford erreicht, London erst im Oktober 1349, und hatte sich dann nordwärts ausgebreitet und war zurück über den Kanal in die Niederlande und nach Norwegen gewandert. Sie hatte alle Teile Europas mit Ausnahme Böhmens und Polens erfaßt, die eine Quarantäne eingeführt hatten und verschonte seltsamerweise auch Teile Schottlands.

Wohin sie gekommen war, hatte sie das Land wie ein Todesengel durchzogen, ganze Dörfer und Landstriche entvölkert, niemanden verschont, keinen übrig gelassen, der die Sterbesakramente hätte spenden oder die Toten begraben können.

In einem Kloster waren alle Mönche bis auf einen gestorben. Der einzige Überlebende, John Clyn, hatte eine Aufzeichnung der Ereignisse hinterlassen. »Und damit Dinge, die erinnert sein sollten, nicht mit der Zeit untergehen und aus dem Gedächtnis jener verschwinden, die nach uns kommen werden«, hatte er geschrieben, »habe ich, der so viele Übel und die ganze Welt im Zugriff des Bösen gesehen und selbst wie unter den Toten gelegen und auf den Tod gewartet, alle Dinge niedergeschrieben, deren Zeuge ich wurde.«

Er hatte alles niedergeschrieben, ein wahrer Historiker, und war dann anscheinend selbst gestorben, ganz allein. Sein Manuskript blieb unvollendet, und darunter hatte eine andere Hand geschrieben: »Hier, so scheint es, starb der Verfasser.«

Jemand klopfte an die Tür. Es war Finch in seinem Bademantel, verschlafen und zerzaust. »Wieder eine von den Zwangseingewiesenen, Sir.«

Dunworthy legte den Finger an die Lippen und trat mit ihm vor die Tür hinaus. »Haben Sie die Klinik angerufen?«

»Ja, Sir, aber sie sagten, es würde einige Stunden dauern, bevor sie einen Krankenwagen schicken können. Wir sollen die Kranke isolieren und ihr Dimantadin und Orangensaft geben.«

»Der vermutlich ausgegangen ist«, sagte Dunworthy irritiert.

»Ja, Sir, aber das ist nicht das Problem. Sie ist nicht ansprechbar.«

Dunworthy ließ ihn vor der Tür warten, während er sich ankleidete und seine Schutzmaske anlegte, dann gingen sie über den Hof. Eine Gruppe von Einquartierten stand bei der Tür, Mäntel und Decken über einem merkwürdigen Sortiment der verschiedensten Arten von Unterwäsche. Nur wenige von ihnen trugen ihre Schutzmasken. Bis übermorgen werden sie alle angesteckt sein, dachte Dunworthy.

»Gott sei Dank, daß Sie hier sind«, sagte einer der Einquartierten. »Wir können nichts mit ihr anfangen.«

Finch führte ihn in das Zimmer, wo die Erkrankte aufrecht im Bett saß. Es war eine alte Frau mit spärlichem weißen Haar, und Dunworthy fiel der gleiche fiebernde Blick auf, den er an jenem ersten Abend bei Badri gesehen hatte, die gleiche rastlose Unruhe.

»Gehen Sie weg!« schrillte sie, als sie Finch sah, und machte abwehrende Bewegungen. Dann fand der Blick ihrer brennenden Augen Dunworthy, und sie rief »Papa!« und schob schmollend die Unterlippe vor. »Ich weiß, daß ich ungezogen war«, sagte sie in kindischem Ton. »Ich hab den ganzen Geburtstagskuchen gegessen, und nun hab ich Bauchweh.«

»Sehen Sie, was ich meine, Sir?« sagte Finch.

»Kommen die Indianer, Papa«, fragte die alte Frau. »Ich fürchte mich. Sie haben Bogen und Pfeile.«

Es ging bereits gegen Morgen, als die Frau endlich zur Ruhe gebracht und in ein Zimmer für sich verlegt hatten, und als das geschehen war, kam der Krankenwagen. »Papa!« jammerte sie, als die Hecktüren geschlossen wurden. »Laß mich hier nicht allein!«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Finch, als der Krankenwagen davonfuhr. »Die Frühstückszeit ist schon vorbei. Ich hoffe, sie haben nicht allen Schinken gegessen.«

Er ging fort, um die Vorräte zu rationieren, und Dunworthy kehrte zurück in seine Räume, um auf Andrews’ Anruf zu warten. Auf der Treppe begegnete ihm Colin, der ein Stück Toast aß und seine Jacke überzog. »Der Vikar möchte, daß ich bei der Kleidersammlung für die Zwangseingewiesenen mithelfe«, sagte er mit vollem Mund. »Großtante Mary rief an. Sie möchten zurückrufen.«

»Aber nicht Andrews?«

»Nein.«

»Ist die Bildübertragung wieder in Ordnung?«

»Nein.«

»Du mußt deine Schutzmaske tragen«, rief Dunworthy ihm nach. »Und binde dir den Schal um!«

Er rief Mary an und wartete ungeduldig annähernd fünf Minuten, bis sie an den Apparat kam.

»James?« sagte Marys Stimme. »Ich rufe wegen Badri an. Er möchte Sie sprechen.«

»Dann geht es ihm besser?«

»Nicht sehr. Sein Fieber ist noch immer ziemlich hoch, und er ist ganz aufgeregt, ruft immer wieder Ihren Namen und besteht darauf, daß er Ihnen etwas zu sagen habe. Durch die Aufregung verschlechtert er seinen Zustand. Wenn Sie kommen und mit ihm sprechen könnten, würde es ihn vielleicht beruhigen.«

»Hat er was über die Pest gesagt?«

»Die Pest?« sagte sie in verändertem Ton. »Sagen Sie bloß nicht, auch Sie seien von diesen lächerlichen Gerüchten angesteckt, die in Umlauf gekommen sind, James, — daß es die Cholera sei, das Gelbfieber, ein Wiederaufleben der Pandemie…«

»Nein, nicht ich, sondern Badri«, sagte Dunworthy. »Gestern abend sagte er, es habe halb Europa getötet, und es seien die Ratten gewesen.«

»Er redet im Fieberwahn, James. Das hat nichts zu bedeuten.«

Sie hatte recht. Die alte Frau hatte von Indianern mit Bogen und Pfeilen gefaselt, und er hatte deswegen nicht angefangen, nach Sioux-Kriegern Ausschau zu halten. Sie hatte einen Geburtstagskuchen erfunden, um ihr Unwohlsein zu erklären, und Badri hatte die Pest beschworen. Es war ohne Belang.

Trotzdem versprach er sofort hinüberzugehen und machte sich auf die Suche nach Finch. Andrews hatte keinen Zeitpunkt für seinen Anruf genannt, aber Dunworthy konnte nicht riskieren, das Telefon unbeaufsichtigt zu lassen. Wahrscheinlich würde Finch im Speisesaal sein und den Schinken mit seinem Leben schützen. Dunworthy nahm den Hörer ab, so daß ein Anrufer das Besetztzeichen hören würde, und ging über den Hof zum Speisesaal.

Mrs. Taylor begegnete ihm an der Tür. »Ich wollte gerade zu Ihnen«, sagte sie. »Man erzählt sich, daß einige der Einquartierten letzte Nacht erkrankt sind.«

»Das ist richtig«, sagte er und spähte an ihr vorbei in den Speisesaal.

»Ach du lieber Gott. Also nehme ich an, daß wir alle infiziert worden sind.«

Er konnte Finch nirgendwo entdecken.

»Wie lang ist die Inkubationszeit?« fragte Mrs. Taylor.

»Zwölf bis achtundvierzig Stunden.« Er reckte den Hals, um über die Köpfe der Frühstücksgäste zu sehen.

»Das ist ja furchtbar«, sagte Mrs. Taylor. »Wie, wenn eine von uns während der Vorstellung erkrankt? Wir sind traditionell, wissen Sie, nicht wie das Konzil. Die Regeln sind sehr streng.«

Er fragte sich, warum traditionell, was immer das bei Schellenläutern bedeuten mochte, und was für Regeln es im Falle plötzlicher Erkrankungen geben konnte.

»Regel drei«, sagte Mrs. Taylor. »Jedes Mitglied muß ohne Unterbrechung bei seiner Glocke bleiben. Wenn eine von uns plötzlich umkippt, können wir sie nicht mitten in der Vorstellung ersetzen. Und es würde den Rhythmus ruinieren.« In seiner Vorstellung sah er eine der Schellenläuterinnen mit ihren weißen Handschuhen plötzlich zusammenbrechen und mit Fußtritten aus dem Weg geschafft werden, um den Rhythmus nicht zu stören.

»Gibt es keine warnenden Anzeichen?« fragte Mrs. Taylor.

»Nein.«

»Dieses Merkblatt vom Gesundheitsamt erwähnte Desorientierung, Fieber und Kopfschmerzen, aber das taugt nicht viel. Das Schellenläuten bringt immer Kopfschmerzen mit sich.«

Kann ich mir vorstellen, dachte er. Er hielt nach William Gaddson oder einem der anderen Studenten Ausschau, die er für den Telefondienst verpflichten könnte.

»Wenn wir Konzil wären, würde es natürlich nichts ausmachen. Die lassen überall Leute einspringen. Bei einem Glockenspielkonzert in York hatten sie neunzehn Schellenläuter. Neunzehn! Ich sehe nicht, wie man das ein Glockenspiel nennen kann.«

Keiner von seinen Studenten schien im Speisesaal zu sein, Finch hatte sich zweifellos in der Kantine verbarrikadiert, und Colin nahm an der Kleidersammlung teil. »Brauchen Sie immer noch einen Übungsraum?« fragte er Mrs. Taylor.

»Ja, es sei denn, eine von uns würde krank. Natürlich gibt es auch Stücke für sechs Glocken, aber das würde kaum das gleiche sein, nicht wahr?«

»Ich überlasse Ihnen heute vormittag mein Wohnzimmer, wenn Sie Telefonanrufe beantworten und Botschaften für mich notieren. Ich erwarte ein wichtiges Ferngespräch, also ist es wesentlich, daß zu jeder Zeit jemand im Raum ist.«

Er führte sie hinüber zu seinen Räumen.

»Oh, es ist nicht sehr groß, nicht wahr?« sagte sie. »Ich weiß nicht, ob Raum genug ist, um an unserer Erhebung zu arbeiten. Können wir die Möbel verschieben?«

»Sie können tun, was Sie wollen, solange Sie Telefonanrufe entgegennehmen und Botschaften notieren. Ich erwarte insbesondere einen Anruf von einem Mr. Andrews. Sagen Sie ihm, daß er keine Sondergenehmigung braucht, um die Quarantänezone zu betreten. Sagen Sie ihm, er solle direkt zum Brasenose College kommen, wo ich ihn erwarten werde.«

»Also gut«, sagte sie, als täte sie ihm einen Gefallen. »Wenigstens ist es besser als dieser zugige Speisesaal.«

Er verließ sie, ganz und gar nicht überzeugt, daß es eine gute Idee sei, ihr diese Aufgabe anzuvertrauen, und eilte zur Klinik, um Badri zu sprechen. Der Mann hatte ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.

Der Regen hatte fast aufgehört und einen feinen, nässenden Dunst zurückgelassen, und die Anti-EG-Demonstranten vor dem Krankenhaus hatten sich verstärkt. Eine Anzahl Jungen in Colins Alter hatte sich ihnen angeschlossen. Sie trugen Streifen aus schwarzgefärbtem Heftpflaster in den Gesichtern und riefen: »Laßt uns gehen!«

Einer von ihnen hielt Dunworthy an, als er vorbeigehen wollte. Er schob sein gestreiftes Gesicht ganz nahe an Dunworthys Schutzmaske und rief: »Die Regierung hat kein Recht, Sie gegen Ihren Willen hier festzuhalten!«

»Sei nicht einfältig«, erwiderte Dunworthy. »Willst du eine weitere Pandemie auslösen?«

Der Junge sah ihn verwirrt an und trat zurück, und Dunworthy entkam in die Klinik.

Die Notaufnahme war voll von Patienten, deren Tragbahren auf Rollwagen gesetzt waren. Einer stand vor dem Aufzug, begleitet von einer imposanten Krankenschwester in Schutzkleidung. Sie las dem Patienten aus einem in Kunststoff gebundenen Buch vor.

»Wer ging als Unschuldiger zugrunde?« sagte sie, und Dunworthy erkannte mit Bestürzung, daß es keine Krankenschwester war. Es war Mrs. Gaddson.

»Oder wurden die Rechtschaffenen zu Tode gebracht?« las sie.

Sie hielt inne und blätterte durch die dünnen Seiten der Bibel, offenbar auf der Suche nach einer weiteren aufmunternden Passage, und er schlüpfte in den Seitenkorridor und nahm die Treppe, erfüllt von dankbaren Empfindungen für das Gesundheitsamt, weil es Schutzmasken ausgegeben hatte.

»Der Herr wird euch mit Schwindsucht schlagen«, intonierte sie, und ihre Stimme hallte ihm nach durch den Korridor, »mit Fieber und Entzündung.«

Und er wird euch schlagen mit Mrs. Gaddson, dachte er, und sie wird euch aus der Heiligen Schrift lesen, um euch Mut zu machen.

Er stieg die Treppe zur Isolierstation hinauf, die inzwischen den größten Teil des ersten Stocks einnahm.

»Da sind Sie ja«, sagte die Schwester. Es war wieder die hübsche blonde Praktikantin. Er überlegte, ob er sie vor Mrs. Gaddson warnen sollte.

»Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben«, sagte sie. »Er hat den ganzen Morgen nach Ihnen gerufen.« Sie gab ihm einen Schutzanzug, und er legte ihn an und folgte ihr ins Krankenzimmer.

»Noch vor einer halben Stunde war er wie wild nach Ihnen«, flüsterte sie. »Beharrte immer wieder, daß er Ihnen etwas zu sagen habe. Jetzt ist er ein bißchen ruhiger geworden.«

Badri sah viel besser aus als das letzte Mal. Er hatte die dunkle, beängstigende Röte verloren, und obwohl er unter seiner braunen Haut noch immer eine ungesunde graue Blässe zeigte, schien er beinahe wiederhergestellt. Er saß, von mehreren Kissen gestützt, halb aufrecht, hatte die Knie angezogen und ließ die Hände auf ihnen ruhen. Seine Augen waren geschlossen.

»Badri.« Die Schwester legte ihre behandschuhte Hand auf seine Brust und beugte sich zu ihm. »Mr. Dunworthy ist hier.«

Er schlug die Augen auf. »Mr. Dunworthy?«

»Ja.« Sie nickte zum Fußende des Bettes. »Ich sagte Ihnen, daß er kommen würde.«

Badri nahm die Hände von den Knien und stützte den Oberkörper ab, um sich im Bett aufzurichten, aber er blickte starr zur Tür.

»Ich bin hier, Badri«, sagte Dunworthy und trat näher. »Was wollten Sie mir sagen?«

Badri blickte weiter starr geradeaus, streckte die Beine von sich und fuhr mit den Händen unruhig auf der Decke umher. Dunworthy warf der Schwester einen Blick zu.

»Das tut er immer wieder«, sagte sie. »Ich glaube, er tippt.« Sie kontrollierte noch einmal die Ablesungen und ging hinaus.

Er tippte wirklich. Seine Finger bewegten sich auf der Decke wie über eine Tastatur. Dabei blickte er unverwandt auf etwas vor ihm — einen Bildschirm? -, und nach einer Weile runzelte er die Stirn. »Das kann nicht richtig sein«, murmelte er und begann wieder zu tippen.

»Was gibt es, Badri?« fragte Dunworthy. »Wo fehlt es?«

»Es muß ein Irrtum sein«, sagte Badri. Er beugte sich ein wenig zur Seite und sagte: »Ich brauche eine Ablesung Zeile für Zeile vom TAA.«

Dunworthy merkte, daß er ins Mikrophon der Konsole sprach. Konnte es sein, daß er die Fixierung las? »Was muß ein Irrtum sein, Badri?«

»Die Verschiebung«, sagte Badri, den Blick auf dem imaginären Bildschirm. »Ablesung überprüfen«, sagte er. »Das kann nicht stimmen.«

»Was ist mit der Verschiebung?« fragte Dunworthy. »War sie größer als erwartet?«

Badri antwortete nicht. Er tippte eine Weile, hielt inne, beobachtete angespannt den Bildschirm, tippte hastig weiter.

»Wie viele Verschiebung gab es, Badri?«

Badri tippte eine volle Minute auf der Decke, dann blickte er zu Dunworthy auf. »Ich mache mir Sorgen«, sagte er nachdenklich.

»Sorgen worüber, Badri?«

Plötzlich stieß Badri die Decke zurück und griff nach dem Bettgeländer. »Ich muß Mr. Dunworthy suchen«, sagte er. Er zerrte an den Schlauchleitungen, bis das Klebeband nachgab und die in seiner Armbeuge befestigten Kanülen herausgerissen wurden.

Die Kontrollanzeigen hinter ihm wurden wild, zeigten steile Ausschläge und piepten. Draußen ging irgendwo eine Alarmklingel los.

»Das dürfen Sie nicht tun«, sagte Dunworthy. Er beugte sich über das Bett, um Badri zurückzuhalten.

»Er ist im Pub«, sagte Badri. Ehe Dunworthy ihn daran hindern konnte, riß er sich die Kontakte der Instrumente zur Überwachung der Elementarfunktionen von Oberkörper und Armen los. Die Kontrollanzeigen gingen auf Null, die bis dahin so lebhaften Ausschläge glätteten sich abrupt zu einer geraden Linie. »Unterbrechung«, sagte eine Computerstimme. »Unterbrechung.«

Die Praktikantin platzte herein. »Ach du liebe Zeit, das ist das zweite Mal, daß er das getan hat! Mr. Chaudhuri, Sie dürfen das nicht tun. Sie schaden sich selbst.«

»Holen Sie schnell Mr. Dunworthy«, sagte er, als habe er nichts verstanden. »Da stimmt etwas nicht.« Aber dann ließ er sich ins Kissen zurückdrücken und hielt still, während die Schwester die Kontakte wieder anbrachte und die beiden Kanülen von neuem in seine Armvene einführte und befestigte. »Warum kommt er nicht?« murmelte er.

Dunworthy wartete, bis die Praktikantin die Kanülen eingeführt und befestigt und die Anzeigen der Kontrollinstrumente überprüft hatte. Die Phase unruhiger Erregung schien Badri erschöpft zu haben, er wirkte jetzt apathisch. Über der Einsichtstelle in der Armbeuge bildete sich bereits ein neuer Bluterguß.

»Ich hole ein Beruhigungsmittel für den Tropf«, sagte die Praktikantin. »Bitte geben Sie inzwischen acht, Mr. Dunworthy, daß er sich nicht wieder alles herausreißt.«

Sobald sie gegangen war, sagte Dunworthy: »Badri, ich bin es, Mr. Dunworthy. Sie wollen mir etwas sagen. Sehen Sie mich an, Badri. Was gibt es? Was stimmt nicht?«

Badri sah ihn an, doch ohne Interesse, als würde er ihn nicht erkennen.

»Gab es zuviel Verschiebung? Ist Kivrin in der falschen Zeit?«

»Zeit?« sagte Badri. »Ich habe keine Zeit. Ich war Samstag und Sonntag draußen.« Seine Finger fingen wieder an, unruhig über die imaginäre Tastatur auf der Decke zu fliegen. »Das kann nicht richtig sein.«

Die Schwester kam mit einer frischen Tropfflasche zurück. »Ah, gut«, sagte er, und sein Gesichtsausdruck entspannte und löste sich, als wäre eine schwere Last von ihm genommen. »Ich weiß nicht, was mit mir los war. Ich hatte so schreckliche Kopfschmerzen.«

Er schloß die Augen, ehe sie noch den Tropf angeschlossen hatte, und begann kurz darauf sanft zu schnarchen.

Die Schwester führte ihn hinaus. »Wo kann ich Sie erreichen, wenn er aufwacht und wieder nach Ihnen ruft?« fragte sie.

Er gab ihr die Nummer. »Können Sie sich genau erinnern, was er sagte, bevor ich kam?«

»Er rief immer wieder Ihren Namen, und sagte, er müsse Sie suchen, er habe Ihnen etwas Wichtiges zu sagen.«

»Sagte er etwas über Ratten?«

»Nein. Einmal sagte er, er müsse Karen suchen — oder Katherine.«

»Kivrin.«

Sie nickte. »Ja, er sagte: ›Ich muß Kivrin suchen. Ist das Laboratorium offen?‹ Und dann sagte er etwas von einem Lamm, aber nichts über Ratten, soviel ich weiß. Die meiste Zeit kann man nicht verstehen, was er redet.«

Er warf die papierene Schutzkleidung in den Abfallbehälter. »Ich möchte, daß Sie alles aufschreiben, was er sagt. Natürlich nicht die unverständlichen Tele«, fügte er hinzu, bevor sie Einwände machen konnte. »Aber alles andere. Ich komme heute nachmittag wieder.«

»Ich habe noch andere Patienten zu betreuen«, sagte sie, »und kann nicht ständig bei ihm sein. Aber ich werde es versuchen, wenn er in meiner Anwesenheit etwas sagt. Das meiste ist allerdings Unsinn.«

Er ging die Treppe hinunter. Das meiste war Unsinn, wirre Reden im Fieberwahn, die nichts bedeuteten, aber Dunworthy war entschlossen, der Sache nachzugehen. Er lief hinaus, um ein Taxi zu bekommen, so schnell wie möglich zum College zurückzukehren und Andrews Beine zu machen, daß er so rasch wie möglich die Fixierung lesen konnte.

»Das kann nicht stimmen«, hatte Badri gesagt, und er mußte die Verschiebung gemeint haben. Konnte er die Zahlen falsch gelesen und gedacht haben, es handle sich bloß um vier Stunden, um dann zu entdecken, daß es vier Jahre waren? — Oder achtundzwanzig?

»Zu Fuß werden Sie schneller ans Ziel kommen«, sagte jemand. Es war der Junge mit den schwarzen Gesichtsstreifen. »Wenn Sie auf ein Taxi warten, können Sie ewig hier stehen. Die sind alle von der verdammten Stadtverwaltung beschlagnahmt worden.« Er zeigte zu einem, das gerade am Eingang zur Notaufnahme vorfuhr. Im Seitenfenster war ein Plakat vom Gesundheitsamt befestigt.

Dunworthy dankte dem Jungen und machte sich auf den Weg zum Balliol College. Es regnete wieder, und er schritt schnell dahin, beflügelt von der Hoffnung, daß Andrews bereits angerufen habe und schon auf dem Weg sei. Badri hatte es eilig gehabt, ihm etwas mitzuteilen, und offensichtlich hatte er gerade seine Handlungen nach Erhalt der Fixierung wieder durchlebt, als er durch den Regen zum Pub gelaufen war, ihn zu holen. »Das kann nicht stimmen«, hatte er gesagt.

Im Laufschritt überquerte er den Hof und sprang die Treppe hinauf zu seinen Räumen. Er sorgte sich, daß Mrs. Taylor das Telefon im Gebimmel ihrer Schellenläuter überhört haben könnte, aber als er die Tür öffnete, sah er sie mit ihren Schutzmasken in einem Kreis in der Mitte seines Wohnzimmers stehen, die Arme erhoben und die Hände wie in flehender Anrufung gefaltet. Während er erstaunt zusah, nahmen sie die gefalteten Hände in Gebetshaltung herunter und beugten eine nach der anderen in feierlicher Stille das Knie.

Mrs. Taylor stand auf und wandte sich zu ihm um. »Mr. Basingames Sekretär rief an und sagte, seines Wissens sei Mr. Basingame irgendwo im Hochland. Und Mr. Andrews sagte, Sie möchten zurückrufen. Er rief gerade an.«

Dunworthy wählte die Nummer, ungemein erleichtert. Während er auf Andrew wartete, beobachtete er den seltsamen Tanz und versuchte das zugrunde liegende Muster auszumachen. Mrs. Taylor schien ihre Knickse in halbwegs regelmäßigen Abständen zu machen, aber für die anderen schien es weder eine Reihenfolge noch einen Rhythmus oder irgendeine Ordnung zu geben, die er erkennen konnte. Die größte der Damen, Mrs. Piantini, wie er sich zu erinnern glaubte, zählte für sich selbst und runzelte dabei angestrengt die Stirn.

»Ich habe für Sie die Genehmigung zum Betreten der Quarantänezone erhalten. Wann können Sie kommen?« sagte er, sobald der Techniker sich meldete.

»Das ist die Sache, Sir«, sagte Andrews. Es gab eine Bildübertragung, aber sie war zu verschwommen, um seinen Gesichtsausdruck zu lesen. »Ich glaube, ich sollte es lieber nicht tun. Ich habe im Fernsehen alles über die Quarantäne gehört und gesehen, Sir. Die Fachleute sagen, diese indische Influenza sei äußerst gefährlich.«

»Sie brauchen mit keinem der Fälle in Berührung zu kommen«, sagte Dunworthy. »Ich kann arrangieren, daß Sie direkt zum Laboratorium des Brasenose College gebracht werden. Sie werden völlig sicher sein. Es ist außerordentlich wichtig.«

»Ja, Sir, aber im Fernsehen wurde gesagt, der Erreger sei möglicherweise durch das Heizungssystem der Universität verbreitet worden.«

»Das Heizungssystem?« sagte Dunworthy. »Die Universität hat kein Heizungssystem, und die einzelnen Anlagen der verschiedenen Colleges sind über hundert Jahre alt und unfähig zu heizen, geschweige denn Infektionen zu verbreiten.« Die Schellenläuter wandten die Köpfe und starrten ihn an, fuhren dabei aber in ihrem Ritual fort. »Es hat absolut nichts mit dem Heizungssystem zu tun. Oder mit Indien, oder dem Zorn Gottes. Es begann in South Carolina. Der Impfstoff ist bereits auf dem Weg. Es ist völlig ungefährlich.«

Seine Argumente schienen Andrews nicht zu beeindrucken. »Wie dem auch sei, Sir, ich glaube nicht, daß es klug sein würde, unter diesen Umständen zu kommen.«

Die Schellenläuter brachen plötzlich ab. »Tut mir leid«, sagte Mrs. Piantini, und sie fingen wieder an.

»Diese Fixierung muß gelesen werden. Wir haben eine Historikerin im Jahr 1320 und wissen nicht, wieviel Verschiebung es gegeben hat. Ich werde dafür sorgen, daß Sie einen Gefahrenzuschlag erhalten«, sagte Dunworthy, dann wurde ihm klar, daß dies genau die falsche Zugangsweise war. »Ich kann veranlassen, daß Sie isoliert werden oder Schutzkleidung bekommen oder…«

»Ich könnte die Fixierung von hier aus lesen«, sagte Andrews. »Ich habe eine Freundin, die in der Lage wäre, die nötigen Zugangsverbindungen herzustellen. Sie ist Studentin in Shrewsbury.« Er machte eine Pause. »Das ist alles, was ich tun kann. Tut mir leid.«

»Tut mir leid«, sagte Mrs. Piantini wieder.

»Nein, nein, Sie läuten an zweiter Stelle«, sagte Mrs. Taylor. »Sie übergehen zwei-drei Auf und Ab und drei-vier Ab, und dann spielen Sie einen ganzen Zug vor. Und behalten Sie die anderen im Auge und schauen Sie nicht auf den Boden. Eins-zwei-und-los!« Sie fingen wieder mit ihrem Menuett an.

»Ich kann das Risiko einfach nicht auf mich nehmen«, sagte Andrews.

Es war klar, daß er sich nicht überzeugen ließ. »Wie heißt Ihre Freundin in Shrewsbury?« fragte Dunworthy.

»Polly Wilson«, sagte Andrews. Es klang erleichtert. Er gab Dunworthy ihre Nummer. »Sagen Sie ihr, daß Sie eine Fernablesung brauchen. Überprüfung und Brückenübertragung. Ich bin weiter unter dieser Nummer zu erreichen.« Er wollte auflegen.

»Warten Sie!« rief Dunworthy. Die Schellenläuter blickten mißbilligend zu ihm her. »Was würde nach Ihrer Einschätzung die maximale Verschiebung bei einer Absetzoperation nach 1320 sein?«

»Keine Ahnung«, sagte Andrews prompt. »Verschiebungen sind schwierig vorauszusagen. Es gibt so viele Faktoren.«

»Eine Schätzung«, sagte Dunworthy. »Könnte sie achtundzwanzig Jahre betragen?«

»Achtundzwanzig Jahre?« Das Erstaunen war unüberhörbar und durchströmte Dunworthy mit einem Gefühl von Erleichterung. »Nein, das kann ich mir nicht denken. Je weiter man zurückgeht, desto stärker ist zwar die allgemeine Tendenz zu größeren Verschiebungen, aber die Zunahme ist nicht exponential.

Die Parameterprüfungen werden Ihnen Aufschluß geben.«

»Es sind keine gemacht worden.«

»Sie haben eine Historikerin ohne Parameterprüfungen zurückgeschickt?« Es klang schockiert.

»Ohne Parameterprüfungen, ohne unbemannte Erprobungen, ohne Aufklärung«, sagte Dunworthy. »Darum ist es notwendig, daß ich diese Fixierung gelesen bekomme. Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun.«

Andrews Miene wurde ablehnend.

»Sie brauchen nicht hierherzukommen um es zu tun«, sagte er schnell. »Das Jesus College hat eine Netzverbindung an Ort und Stelle in London. Ich möchte, daß Sie hingehen und Parameterprüfungen für eine Absetzoperation zum 13. Dezember 1320 mittags zwölf Uhr machen.«

»Wie sind die örtlichen Koordinaten?«

»Ich weiß es nicht. Ich werde sie bekommen, wenn ich ins Brasenose hinübergehe. Bitte rufen Sie mich hier an, sobald Sie die maximale Verschiebung bestimmt haben. Können Sie das machen?«

»Ja«, sagte er, machte aber mehr ein bedenkliches Gesicht.

»Gut. Ich werde Polly Wilson anrufen. Fernablesung, Nachforschung, Brückenübertragung. Ich rufe Sie zurück, sobald sie die Verbindung mit Brasenose hergestellt hat.« Dunworthy legte auf, bevor Andrews es sich anders überlegen konnte.

Bevor er den Hörer wieder aufnahm, beobachtete er die Schellenläuter. Die Reihenfolge veränderte sich jedesmal, aber Mrs. Piantini kam anscheinend nicht mehr aus dem Tritt.

Er rief Polly Wilson an und gab wieder, was Andrews gesagt hatte, und fragte sich, ob auch sie die Fernsehmeldungen verfolgt hatte und sich vor dem Heizungssystem des Brasenose College fürchten würde, aber sie sagte prompt: »Ich muß erst einen Durchgang finden. In fünfundvierzig Minuten kann ich bei Ihnen sein.«

Er verließ die knicksenden Schellenläuter und ging hinüber zum Brasenose. Der Regen hatte wieder nachgelassen, ein feiner Dunst lag über der Stadt, und die Straßen waren belebter als zuvor, obwohl viele Geschäfte geschlossen hatten. Wer immer das Glockenspiel im Carfax-Turm unter sich hatte, war entweder ein Opfer der Grippe geworden oder hatte wegen der Quarantäne seine Pflicht vergessen. Es spielte unaufhörlich »O Tannenbaum«.

Vor einem indischen Spezialitätengeschäft waren drei Plakatträger, und am Eingang zum Brasenose College ein weiteres Dutzend mit einem großen Transparent, das die Aufschrift trug: »ZEITREISEN IST GESUNDHEITSGEFÄHRDEND«. In der jungen Frau, die eine Stange des Transparents hielt, erkannte er die Ärztin, die Badri mit dem Krankenwagen abgeholt hatte.

Heizungssystem und die EG und Zeitreisen. Während der Pandemie waren es das amerikanische Programm zur bakteriologischen Kriegführung und die Klimaanlagen gewesen. Im Mittelalter hatte man Satan und das Erscheinen von Kometen für die Epidemien verantwortlich gemacht. Wenn sich herumsprach, daß dieses Virus in South Carolina seinen Ursprung genommen hatte, würde man zweifellos der Konföderation oder der dort beheimateten Brathähnchenkette Southern Fried Chicken die Schuld geben.

Er ging durch das Tor zum Pförtner. Der Weihnachtsbaum stand an einem Ende des Tresens, der Engel schwebte auf der Spitze. »Ich bin mit einer Studentin aus Shrewsbury verabredet, die mich hier erwartet, um eine Kommunikationsanlage aufzubauen«, sagte er dem Portier. »Dazu brauchen wir Einlaß ins Laboratorium.«

»Das Laboratorium ist gesperrt«, sagte der Portier.

»Gesperrt?«

»Ja, Sir. Es wurde abgeschlossen, und niemand hat Zutritt.«

»Warum? Was ist geschehen?«

»Es ist wegen der Epidemie.«

»Der Epidemie?«

»Ja, Sir. Vielleicht sollten Sie lieber mit Mr. Gilchrist sprechen.«

»Vielleicht wäre es am besten. Sagen Sie ihm, daß ich hier bin und in das Laboratorium muß.«

»Ich fürchte, er ist nicht da.«

»Wo finde ich ihn?«

»In der Klinik, glaube ich. Er…«

Dunworthy wartete den Rest nicht ab. Auf halbem Weg zum Krankenhaus fiel ihm ein, daß Polly Wilson auf ihn würde warten müssen, ohne eine Ahnung, wohin er gegangen war, und als er die Klinik erreichte, kam ihm in den Sinn, daß Gilchrist dort sein mochte, weil er vom Virus befallen war.

Gut, dachte er, geschieht ihm recht, aber Gilchrist war gesund und munter in dem kleinen Warteraum, trug eine vorschriftsmäßige Schutzmaske und krempelte gerade den Ärmel auf, um sich von einer bereitstehenden Schwester impfen zu lassen.

»Ihr Portier sagte mir, das Laboratorium sei gesperrt«, sagte er und trat zwischen die beiden. »Ich muß hinein. Ich habe einen Techniker gefunden, der Kivrins Fixierung lesen kann.«

Gilchrist musterte ihn mit Abneigung. »Für mich war es eine ausgemachte Sache, daß Ihr Techniker die Fixierung gelesen hatte, bevor er krank wurde.«

»Das stimmt, aber sein Zustand erlaubt ihm nicht, uns zu sagen, wie sie war.« Und etwas stimmt nicht damit, dachte er.

»Andrews hat sich bereit erklärt, eine Fernablesung zu machen, aber wir müssen die Kommunikationsanlage aufbauen.«

»Ich fürchte, das ist unmöglich«, sagte Gilchrist. »Das Laboratorium steht unter Quarantäne, bis der Ursprung des Virus bestimmt ist.«

»Der Ursprung des Virus?« wiederholte Dunworthy ungläubig. »Das Virus stammt aus South Carolina.«

»Wir werden das erst mit Gewißheit sagen können, wenn wir eine positive Identifikation haben. Bis dahin halte ich es für richtig, alle möglichen Risiken für die Universität zu minimieren, indem ich den Zugang zum Laboratorium sperre. Nun, wenn Sie mich entschuldigen wollen, ich bin hier, um meine T-Zellen-Verstärkung zu bekommen.« Er wollte an Dunworthy vorbei zur Krankenschwester.

Dunworthy streckte den Arm aus, um ihn aufzuhalten. »Was für Risiken?«

»Es hat beträchtliche öffentliche Beunruhigung gegeben, daß das Virus durch das Netz übertragen wurde.«

»Öffentliche Beunruhigung? Meinen Sie diese fünf oder sechs Leute, die mit dem Spruchband vor Ihrem Tor stehen?« rief er.

»Dies ist ein Krankenhaus, Mr. Dunworthy«, sagte die Schwester. »Bitte beherrschen Sie sich.«

Er ignorierte sie. »Es hat auch ›beträchtliche öffentliche Beunruhigung‹, wie Sie es nennen, wegen der Behauptung gegeben, daß liberale Einwanderungsgesetze das Einschleppen des Virus ermöglicht hätten«, sagte er. »Wollen Sie das Land deswegen von der EG lostrennen?«

Gilchrist reckte das Kinn, und um seine Nase erschienen die wohlbekannten scharfen Linien, sichtbar sogar durch die Maske. »Als amtierender Dekan der Historischen Fakultät betrachte ich es als meine Pflicht und Verantwortung, im Interesse der Universität zu handeln. Unsere Stellung in der Gemeinde ist davon abhängig, daß wir den guten Willen der Bevölkerung bewahren, wie Ihnen sicherlich bewußt sein wird. Ich hielt es für wichtig, die Befürchtungen der Öffentlichkeit zu zerstreuen, indem ich das Laboratorium bis zum Vorliegen eindeutiger Beweise schloß. Sobald sich herausstellt, daß das Virus zweifelsfrei aus South Carolina stammt, wird das Laboratorium natürlich unverzüglich wieder geöffnet.«

»Und was ist in der Zwischenzeit mit Kivrin?«

»Wenn Sie sich nicht mäßigen können«, sagte die Schwester, »werde ich gezwungen sein, Sie bei Dr. Ahrens zu melden.«

»Ausgezeichnet. Gehen Sie und holen Sie sie!« erwiderte Dunworthy. »Ich möchte, daß sie Mr. Gilchrist sagt, wie lächerlich er sich macht. Dieses Virus kann unmöglich durch das Netz gekommen sein.«

Die Schwester marschierte hinaus.

»Wenn Ihre Protestler zu unwissend sind, um die Gesetze der Physik zu verstehen«, sagte Dunworthy, »können sie sicherlich die einfache Tatsache begreifen, daß dies eine Absetzoperation war. Das Netz war nur nach 1320 hin offen, nicht von dort. Nichts konnte aus der Vergangenheit durchkommen.«

»Wenn das der Fall ist, dann befindet sich Miss Engle in keinerlei Gefahr, und es wird nicht schaden, das Vorliegen der Sequenz abzuwarten.«

»Nicht in Gefahr? Sie wissen nicht einmal, wo sie ist!«

»Ihr Techniker berechnete die Fixierung und erklärte, die Absetzoperation sei erfolgreich und es habe nur eine minimale Verschiebung gegeben«, sagte Chilchrist. Er krempelte den Ärmel herunter und knöpfte die Manschette zu. »Ich gehe davon aus, daß Miss Engle dort ist, wo sie sein soll.«

»Nun, ich nicht. Und ich werde nicht zufrieden sein, bis ich weiß, daß Kivrin sicher durchgekommen ist.«

»Ich sehe, ich muß Sie wieder daran erinnern, daß Miss Engle meine Verantwortung ist, nicht die Ihrige, Mr. Dunworthy.« Er zog seinen Mantel an. »Ich muß tun, was ich für das Beste halte.«

»Und Sie halten es für das Beste, das Laboratorium unter Quarantäne zu stellen, um eine Handvoll Hysteriker zu beruhigen«, sagte er voll Bitterkeit. »Es gibt auch ›beträchtliche öffentliche Beunruhigung‹, daß das Virus eine Strafe Gottes sei. Was haben Sie vor, um den guten Willen der Bevölkerung zu erhalten? Wollen Sie wieder anfangen, Märtyrer auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen?«

»Diese Bemerkung nehme ich Ihnen übel. Und ich verwahre mich gegen Ihre ständige Einmischung in Angelegenheiten, die Sie nichts angehen. Sie sind von Anfang an entschlossen gewesen, unseren Fachbereich zu unterminieren, ihn daran zu hindern, Zugang zu Zeitreisen zu erhalten, und nun sind Sie entschlossen, meine Autorität zu unterminieren. Sie sind der Hysteriker, mit Ihren pathologischen Befürchtungen um das Wohl eines Mädchens, an dem Sie einen Narren gefressen haben! Darf ich Sie nochmals daran erinnern, daß ich in Mr. Basingames Abwesenheit amtierender Dekan der Fakultät bin und als solcher…«

»Sie sind ein ignoranter, eingebildeter Dummkopf, dem man niemals den Fachbereich Mittelalter hätte anvertrauen dürfen, geschweige denn Kivrins Sicherheit!«

»Ich sehe keinen Grund, diese Diskussion fortzusetzen«, sagte Gilchrist. »Das Laboratorium ist unter Quarantäne und wird es bleiben, bis wir die Untersuchungsergebnisse vorliegen haben.« Er ging hinaus.

Dunworthy wollte ihm nach und prallte beinahe mit Mary zusammen. Sie trug Schutzkleidung und las ein Krankenblatt.

»Sie werden nicht glauben, was Gilchrist jetzt getan hat«, klagte er. »Eine Gruppe Protestler mit einem Spruchband überzeugte ihn, daß das Virus durch das Netz kam, und er hat das Laboratorium geschlossen.«

Sie sagte nichts, blickte nicht einmal von ihrem Blatt auf.

»Badri sagte heute morgen, daß die Zahlen der Verschiebung nicht stimmen können. Er sagte wiederholt, daß etwas nicht stimmt.«

Sie blickte zerstreut zu ihm auf und wieder auf das Krankenblatt.

»Ich habe einen Techniker gefunden, der bereit ist, eine Fernablesung der Fixierung vorzunehmen, aber Gilchrist hat die Türen zugesperrt«, sagte er. »Sie müssen mit ihm reden, ihm erklären, daß die Herkunft des Virus aus South Carolina zweifelsfrei feststeht.«

»Das ist nicht der Fall.«

»Was soll das heißen, es ist nicht der Fall? Ist das Untersuchungsergebnis eingetroffen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das Grippezentrum hat seine Leute ausfindig gemacht, aber sie sind noch an der Arbeit. Das vorläufige Ergebnis läßt aber darauf schließen, daß es nicht das South Carolina-Virus ist.« Sie blickte zu ihm auf. »Und ich weiß, daß er es nicht ist.« Sie blickte wieder auf das Krankenblatt. »Das South Carolina-Virus hat eine Sterblichkeitsquote von Null.«

»Wie meinen Sie das? Ist Badri etwas zugestoßen?«

»Nein«, sagte sie, legte das Krankenblatt zusammen und hielt es an ihre Brust. »Beverly Breen.«

Er mußte sie verständnislos angesehen haben. Er hatte gedacht, sie würde »Latimer« sagen.

»Die Frau mit dem lavendelfarbenen Schirm«, sagte sie in ärgerlichem Ton. »Sie ist gerade gestorben.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(046381–054957)

22. Dezember 1320 (alte Zeitrechnung). Agnes’ Knie hat sich verschlimmert. Es ist rot und druckempfindlich (eine Beschönigung — sie schreit, wenn ich nur versuche, es zu berühren), und sie kann kaum gehen. Ich weiß nicht, was ich tun soll — wenn ich es Frau Imeyne sage, wird sie einen ihrer Umschläge auflegen und es noch schlimmer machen, und Eliwys ist vor Sorge zerstreut und unruhig.

Gawyn ist noch nicht zurückgekehrt. Er hätte gestern mittag daheim sein sollen, und als er zum Vesperläuten noch nicht zurückgekehrt war, beschuldigte Eliwys ihre Schwiegermutter, ihn nach Oxford geschickt zu haben.

»Ich habe ihn nach Courcy geschickt, wie ich dir sagte«, verteidigte sich Imeyne. »Sicherlich hält ihn der Regen zurück.«

»Nur nach Courcy?« entgegnete Eliwys zornig. »Oder hast du ihn um einen neuen Kaplan anderswohin geschickt?«

Imeyne richtete sich auf. »Pater Roche ist nicht fähig, die Weihnachtsmessen zu halten, wenn Sir Bloet und seine Gesellschaft kommt«, sagte sie. »Möchtest du dich vor Rosemunds Verlobtem beschämen lassen?«

Eliwys wurde leichenblaß. »Wohin hast du ihn geschickt?«

»Ich habe ihn mit einer Botschaft zum Bischof geschickt, in der ich sagte, daß wir dringend eines Kaplans bedürfen.«

»Nach Bath?!« sagte Eliwys. Sie riß die Hand hoch, als wollte sie zuschlagen.

»Nein. Nur nach Cirencester. Der Archidiakonus sollte über die Julzeit in der Abtei sein. Ich befahl Gawyn, ihm die Botschaft zu übergeben. Einer seiner Kleriker wird sie dem Bischof überbringen. Obwohl die Dinge in Bath sicherlich nicht so schlecht stehen, daß Gawyn nicht selbst ohne Schaden dorthin gehen könnte, denn andernfalls hätte mein Sohn den Ort verlassen.«

»Dein Sohn wird wenig erfreut sein, zu erfahren, daß wir ihm nicht gehorcht haben. Er wies uns und Gawyn an, bis zu seiner Rückkehr auf dem Gutshof zu bleiben.«

Sie war noch immer wütend, und als sie die Hand sinken ließ, ballte sie sie zur Faust, als hätte sie Imeyne am liebsten von beiden Seiten auf die Ohren geschlagen, wie sie es bei Maisry machte. Aber sobald Imeyne »Cirencester« gesagt hatte, war die Farbe in ihre Wangen zurückgekehrt, und ich hatte den Eindruck, daß sie ein wenig erleichtert war.

»Sicherlich stehen die Dinge in Bath nicht so schlecht, daß Gawyn nicht ungefährdet hingehen könnte«, sagte Imeyne noch einmal, »aber mir ist klar, daß Eliwys anders darüber denkt.« Befürchtet sie, daß er in eine Falle reiten oder die Feinde ihres Mannes hierher locken könnte? Und stehen die Dinge in Bath so schlecht, daß Guillaume die Stadt nicht verlassen kann?

Vielleicht trifft alles zugleich zu. Eliwys ist an diesem Vormittag mindestens ein Dutzend Male zur Tür gegangen, um in den Regen hinauszuspähen, und sie ist so reizbar, wie Rosemund es im Wald war. Gerade eben fragte sie Imeyne, ob sie denn Gewißheit habe, daß der Archidiakon in Cirencester sei. Offensichtlich ist sie besorgt, daß Gawyn die Botschaft andernfalls selbst nach Bath gebracht hat.

Ihre Befürchtungen haben alle angesteckt. Frau Imeyne ist mit ihrem Reliquiar in einen Winkel geschlichen, um zu beten, Agnes winselt, und Rosemund sitzt mit ihrer Stickerei auf dem Schoß, starrt darauf, ohne einen Finger zu rühren.


(Unterbrechung)

Heute nachmittag brachte ich Agnes zu Pater Roche. Ihr Knie ist noch schlimmer geworden. Sie konnte nicht mehr gehen, und über dem Knie war eine Rötung, die wie der Anfang eines roten Streifens aussah. Ich konnte es nicht mit Gewißheit sagen — das ganze Knie ist rot und geschwollen -, aber ich wagte nicht länger zu warten.

Um 1320 gab es keine Heilung bei Blutvergiftung, und es ist meine Schuld, daß ihr Knie infiziert ist. Hätte ich nicht darauf bestanden, den Absetzort zu suchen, wäre sie nicht gefallen. Ich weiß, daß die Paradoxien nicht zulassen, daß meine Anwesenheit hier irgendeine Auswirkung darauf hat, was den Zeitgenossen widerfährt, aber ich konnte dieses Risiko nicht tragen. Schließlich hätte auch ich nicht krank werden dürfen.

Als Imeyne sich zum Beten zurückzog, trug ich Agnes hinüber zur Kirche, um ihn zu bitten, daß er sie behandle. Unterwegs fing es an zu gießen, aber Agnes jammerte nicht, daß sie naß wurde, und das ängstigte mich mehr als der rote Streifen.

In der Kirche war es dunkel und roch nach Moder. Ich hörte Pater Roches Stimme aus dem vorderen Teil des Kirchenschiffes, und es hörte sich an, als spräche er mit jemand. »Herr Guillaume ist noch immer nicht aus Bath eingetroffen. Ich fürchte für seine Sicherheit«, sagte er.

Ich dachte, vielleicht sei Gawyn zurückgekehrt, und wollte hören, was sie über das Gerichtsverfahren sagten, also ging ich nicht näher, sondern blieb mit Agnes auf dem Arm beim Eingang stehen und lauschte.

»Seit zwei Tagen hat es geregnet«, sagte Roche, »und es weht ein scharfer Wind von Westen. Wir mußten die Schafe von den Feldern hereinbringen.«

Nachdem ich eine Weile angestrengt in das düstere Kirchenschiff gespäht hatte, sah ich ihn endlich. Er kniete vor dem Lettner und hatte die großen Hände im Gebet gefaltet.

»Der Säugling des Verwalters hat eine Kolik und kann seine Milch nicht bei sich behalten. Dem Häusler Tabort geht es schlecht.«

Er betete nicht auf lateinisch, und in seiner Stimme war nichts vom salbungsvollen Ton des Priesters der Heiligen Reformierten Kirche oder vom Singsang des Vikars. Es klang geschäftsmäßig und nüchtern, wie ich diese Worte spreche.

Für die Zeitgenossen um 1300 war Gott sehr real und gegenwärtig, lebendiger als die natürliche Welt, in der sie lebten. Als ich im Sterben lag, tröstete Pater Roche mich, daß ich ja nur wieder heimkehren würde, und bei uns ist die Meinung verbreitet, daß die Menschen des Mittelalters in dem Glauben gelebt hätten, das diesseitige Leben sei illusorisch und unbedeutend, allenfalls eine von Gott auferlegte Prüfung, und das wahre Leben sei jenes der ewigen Seele, aber ich habe nicht viele Beweise dieser Einstellung gefunden. Eliwys murmelt pflichtbewußt ihre Gebete am Morgen, vor den Mahlzeiten und zum Vesperläuten, aber dann steht sie auf und klopft den Staub von ihren Röcken, als hätten ihre Gebete nichts mit den Sorgen um ihren Mann oder die Mädchen oder Gawyn zu schaffen. Und Imeyne ist trotz Reliquiar und Stundenbuch nur um ihr gesellschaftliches Ansehen besorgt. Bis ich in der feuchtkalten Kirche stand und Pater Roche lauschte, hatte ich keinen Hinweis darauf gefunden, daß Gott ihnen in irgendeiner Weise real und gegenwärtig wäre.

Ich frage mich, ob er Gott und den Himmel in seiner Vorstellung so klar vor Augen hat wie ich Sie und Oxford, den Hof im Regen und Ihre beschlagene Brille, die Sie abnehmen müssen, um sie am Schal zu putzen. Ob sie ihm so nahe und zugleich so unerreichbar scheinen wie mir die Welt, aus der ich komme.

»Bewahre unsere Seelen vor dem Übel und geleite uns sicher in den Himmel«, sagte Roche, und als ob es ein Stichwort gewesen wäre, richtete Agnes sich in meinen Armen auf und sagte: »Ich will zu Pater Roche.«

Er stand auf und kam auf uns zu. »Was gibt es? Wer ist dort?«

»Katherine«, sagte ich. »Ich habe Agnes gebracht. Ihr Knie ist…« Was? Infiziert? »Ich möchte Euch bitten, ihr Knie anzuschauen.«

Er versuchte es zu tun, aber in der Kirche war es zu dunkel, also trug er sie hinüber zu seinem Haus. Dort war es kaum heller. Sein Haus ist nicht viel größer als die Hütte, in der ich Unterschlupf suchte, und gleicht auch in seiner Ärmlichkeit den Behausungen der übrigen Dorfbewohner. Als wir drinnen waren, mußte er die ganze Zeit gebückt stehen, um nicht mit dem Kopf gegen die Dachsparren zu stoßen.

Er öffnete den Laden am einzigen Fenster, das die Regenluft hereinblasen ließ, entzündete ein Binsenlicht und setzte Agnes auf den grob gezimmerten Tisch. Er wickelte den Verband ab, und sie zuckte vor ihm zurück.

»Sitz schön still, Agnes«, sagte er, »und ich werde dir erzählen, wie Christus vom fernen Himmel auf die Erde kam.«

»Am Weihnachtstag«, sagte Agnes.

Roche befühlte die Umgebung der Wunde, drückte vorsichtig auf die geschwollenen Stellen und erzählte dabei. »Und die Hirten fürchteten sich, denn sie wußten nicht, was dieses Licht war. Und Geräusche hörten sie, wie von Glocken, die im Himmel geläutet wurden. Aber sie sahen, daß es Gottes Engel war, der zu ihnen herabkam.«

Agnes hatte geschrien und meine Hände fortgestoßen, wenn ich versuchte, ihr Knie zu berühren, aber von Pater Roches großen Fingern ließ sie das rotgeschwollene Knie abtasten und drücken. Der Anfang eines roten Streifens war deutlich erkennbar. Roche befühlte ihn vorsichtig und hielt das Binsenlicht näher.

»Und es kamen aus einem fernen Land«, sagte er, ins Licht blinzelnd, »drei Könige, die Geschenke brachten.« Wieder berührte er den roten Streifen, dann faltete er die Hände, als wolle er beten, und ich dachte: Bete nicht, tu etwas.

Er ließ die Hände sinken und blickte zu mir her. »Ich fürchte, die Wunde ist vergiftet«, sagte er. »Ich werde einen Aufguß von Ysop machen, um das Gift herauszuziehen.« Er ging hinüber zur Herstelle, stocherte ein paar lauwarm aussehende Holzkohlen auf und schüttete Wasser aus einem hölzernen Eimer in einen eisernen Topf.

Der Eimer war schmutzig, der Topf war schmutzig, die Hände, mit denen er Agnes’ Wunde befühlt hatte, waren schmutzig, und als ich ihn den Topf auf das frisch entfachte Feuer stellen und ihn in einem schmierigen Beutel graben sah, bedauerte ich, daß ich gekommen war. Er war nicht besser als Imeyne. Ein Aufguß von Blättern und Samen würde eine Blutvergiftung so wenig heilen wie einer von Imeynes Umschlägen, und seine Gebete würden auch nicht helfen, selbst wenn er zu Gott sprach, als ob er wirklich da wäre.

Beinahe hätte ich ihn gefragt, ob das alles sei, was er tun könne, aber dann begriff ich noch rechtzeitig, daß ich Unmögliches erwartete. Wundinfektionen behandelte man mit Penicillin, T-Zellen-Verstärkung und antiseptischen Mitteln, aber von alledem hatte er nichts in seinem alten Leinwandbeutel.

Ich erinnere mich, wie Mr. Gilchrist in einer seiner Vorlesungen über mittelalterliche Medizin sprach. Danach gab es eine hochentwickelte Kräuterheilkunde, die sich jedoch in den Händen der Ärzte mit allerlei unsinnigen, abergläubischen und oftmals schädlichen Praktiken verband.

So wurden Kranke bei den verschiedensten Leiden zur Ader gelassen, mit Arsen und Quecksilber behandelt und bekamen unter anderem pulverisierte Kröten und Ziegenurin als Arznei. Aber was konnte man erwarten? Niemand wußte, was Krankheiten verursachte. Wie Pater Roche jetzt dastand und getrocknete Blüten und Blätter zwischen seinen schmutzigen Fingern zerkrümelte, tat er sein Bestes.

»Habt Ihr Wein?« fragte ich ihn. »Alten Wein?«

Das in der Gegend gebraute Dünnbier enthält kaum Alkohol, und der Wein ist sauer, aber er ist durchgegoren, und je länger er lagert, desto höher der Alkoholgehalt, und Alkohol wirkt antiseptisch.

»Ich erinnere mich, daß alter Wein, in eine Wunde gegossen, manchmal Infektionen hemmen kann«, sagte ich.

Er fragte mich nicht, was »Infektion« sei, oder wie ich mich daran erinnern konnte, wenn ich andererseits behauptete, das Gedächtnis verloren zu haben und mich an nichts anderes zu erinnern. Er ging sofort hinüber in die Sakristei und brachte einen kleinen irdenen Krug mit stark riechendem Wein, mit dem ich die Wunde auswusch und den Verbandstoff durchtränkte.

Ich verschloß den Krug mit einem Leinwandstopfen und nahm ihn mit nach Hause. Hier habe ich ihn unter dem Bett versteckt — sollte es sich nämlich um Meßwein handeln, würde Imeyne den Vorfall benutzen, um Pater Roche als Häretiker anzuklagen -, damit ich die Wunde weiter mit dem Wein behandeln kann. Bevor Agnes zu Bett ging, goß ich noch etwas vom Wein in die Wunde.

19

Es regnete bis zum Weihnachtsabend, ein harter, winterlich kalter Regen, der durch den Rauchabzug im Dach kam und im Feuer zischte.

Kivrin behandelte Agnes’ Knie bei jeder Gelegenheit mit Wein, und am Nachmittag des 23. Dezember sah es ein wenig besser aus. Es war noch geschwollen, aber der rote Streifen war verschwunden. Kivrin lief hinaus und über die Gemeindewiese zur Kirche, den Umhang über den Kopf, um es Pater Roche zu berichten, aber er war nicht da.

Weder Imeyne noch Eliwys hatten von Agnes’ Knieverletzung mehr als flüchtig Notiz genommen. Sie waren mit hektischen Vorbereitungen zum Empfang Sir Bloets und seiner Familie beschäftigt, säuberten den Dachboden, der als Schlafraum für die Frauen hergerichtet wurde, bestreuten die Binsen in der Diele mit den Blütenblättern von Rosen, buken eine erstaunliche Vielfalt von Gebäck, Pasteten und Kuchen, darunter eine groteske Schöpfung in der Form des Christuskindes in der Krippe mit geflochtenen Teigstreifen als Windeln.

Am Nachmittag kam Pater Roche zum Herrenhaus, durchnäßt und zitternd vor Kälte. Er war im kalten Regen hinausgegangen, um Efeu für die Dielenausschmückung zu holen. Imeyne war nicht da — sie war in der Küche, wo das Christkind gebacken wurde -, und Kivrin bat Pater Roche herein und ließ ihn seine Kleider am Feuer trocknen.

Sie rief Maisry, und als sie nicht kam, ging sie über den Hof hinaus zur Küche und holte ihm einen Krug mit warmem Bier. Als sie damit zurückkam, saß Maisry neben Pater Roche auf der Bank, hielt mit einer Hand ihr wirres, schmutziges Haar zurück, während Pater Roche ihr Ohr mit Gänsefett behandelte. Als sie Kivrin sah, schlug sie vor Schreck die Hand aufs Ohr und machte wahrscheinlich zunichte, was Pater Roches Behandlung an Gutem bewirkt hatte, und rannte hinaus.

»Agnes’ Knie ist besser«, sagte Kivrin zu ihm. »Die Anschwellung ist zurückgegangen, und es bildet sich eine neue Kruste.«

Er schien nicht überrascht, und Kivrin fragte sich, ob sie sich geirrt habe und es gar keine Blutvergiftung gewesen sei.

Im Laufe der Nacht ging der Regen in Schnee über. »Sie werden nicht kommen«, sagte Eliwys am nächsten Morgen. Sie schien erleichtert.

Kivrin mußte ihr zustimmen. Es hatte während der Nacht annähernd dreißig Zentimeter Neuschnee gegeben, und noch immer schneite es ununterbrochen. Selbst Imeyne schien sich damit abzufinden, daß der Besuch ausbleiben würde, obwohl sie mit den Vorbereitungen fortfuhr, Zinngeschirr vom Dachboden holte und von Maisry putzen ließ.

Um die Mittagszeit hörte der Schneefall plötzlich auf, und um zwei klarte der Himmel auf und Eliwys befahl allen, ihre guten Kleider anzulegen. Kivrin zog die Mädchen an, erstaunt über die feinen seidenen Hemden, die sie hatten. Agnes hatte einen dunkelroten Samtrock und ihre silberne Gürtelschnalle, und Rosemunds blattgrünes Kleid hatte lange Schlitzärmel und einen Ausschnitt, der die Stickerei auf ihrem gelben Hemd zeigte. Zu Kivrin hatte niemand gesagt, was sie tragen solle, aber nachdem sie den Mädchen die Zöpfe geöffnet und das Haar über die Schultern ausgekämmt hatte, sagte Agnes: »Du mußt deinen blauen Rock anziehen«, und holte ihre Sachen aus der Truhe am Fuß des Bettes. Neben den Festtagskleidern der Mädchen nahmen ihre Sachen sich weniger fehl am Platz aus, doch war das Gewebe ihres Rockes noch immer zu fein, die Farbe zu blau.

Sie wußte nicht, was sie mit ihrem Haar anfangen sollte. Unverheiratete Mädchen trugen das Haar bei festlichen Anlässen offen, nur durch ein Band oder eine Schmuckspange im Nacken zusammengehalten, aber ihr Haar war dafür zu kurz, und nur verheiratete Frauen bedeckten ihr Haar. Sie konnte es nicht einfach unbedeckt lassen; es sah zu schrecklich aus.

Anscheinend war Eliwys der gleichen Meinung. Als sie sah, wie Kivrin mit den Mädchen die Treppe herunterkam, biß sie sich auf die Unterlippe und schickte Maisry auf den Dachboden, um einen dünnen, beinahe durchsichtigen Schleier zu holen, den sie mit Kivrins Haarband so am Hinterkopf befestigte, daß das Haar vorn zu sehen blieb, die unregelmäßig abgeschnittenen Enden hinten aber verborgen waren.

Mit der Wetterbesserung nahm die allgemeine Nervosität wieder zu. Eliwys schrak zusammen, als Maisry von draußen hereinkam, dann ohrfeigte sie sie, weil Maisry Schmutz vom Hof hereingetragen hatte. Plötzlich fiel ihr ein Dutzend Dinge ein, die nicht vorbereitet waren, und hatte an allen etwas auszusetzen. Als Frau Imeyne zum zehnten Mal anfing: »Wenn wir nach Courcy gegangen wären…«, fuhr Eliwys sie mit ungewohnter Heftigkeit an.

Kivrin hatte sich gleich gedacht, daß es eine schlechte Idee sei, Agnes vor der letzten möglichen Minute anzukleiden, und tatsächlich waren die bestickten Ärmel der Kleinen schon am Nachmittag schmutzig, und sie hatte eine Seite ihres Samtrocks mit Mehl überschüttet.

Am Spätnachmittag war Gawyn noch immer nicht zurückgekehrt, und jedermanns Nerven waren dem Zerreißen nahe. Maisrys Ohren leuchteten hellrot aus den fettigen Haarsträhnen, und als Frau Imeyne Kivrin beauftragte, sechs Bienenwachskerzen zu Pater Roche in die Kirche zu bringen, war sie froh über die Gelegenheit, die Mädchen aus dem Haus zu bekommen.

»Sagt ihm, sie müssen für beide Messen reichen«, sagte Imeyne in gereiztem Ton. »Es werden ohnehin armselige Messen zum Fest der Geburt unseres Herrn sein. Wir hätten nach Courcy gehen sollen.«

Kivrin half Agnes in ihren Umhang und rief Rosemund, und zusammen stapften sie durch den Schnee hinaus zur Kirche. Pater Roche war nicht da. Eine große gelbliche Kerze, mit Bändern markiert, stand unangezündet auf dem Altar. Pater Roche würde sie gebrauchen, um den Gang der Stunden bis Mitternacht zu verfolgen. Auf den Knien in der eiskalten Kirche.

Er war auch nicht in seinem Haus. Kivrin ließ die Kerzen auf dem Tisch zurück. Auf dem Rückweg über den Dorfanger sahen sie Pater Roches Esel bei der Friedhofspforte im Schnee scharren.

»Wir vergaßen die Tiere zu füttern«, sagte Agnes.

»Die Tiere zu füttern?« Kivrin dachte mit Schrecken an die feinen Kleider der Mädchen.

»Es ist Heiligabend«, sagte Agnes. »Füttert ihr zu Hause nicht die Tiere?«

»Sie erinnert sich nicht«, sagte Rosemund. »Am Heiligabend füttern wir die Tiere zu Ehren unseres Herrn, der in einem Stall geboren wurde.«

»Erinnerst du dich dann überhaupt nicht an Weihnachten?« fragte Agnes.

»Ein wenig«, sagte Kivrin, und sie dachte an Oxford am Heiligabend, an die mit Tannengrün aus Plastik und Laserlichtern dekorierten Geschäfte, in denen sich die Leute drängten, um in letzter Minute noch Weihnachtseinkäufe zu machen, die High Street voller Fahrräder, der Turm von St. Magdalen undeutlich im schneeerfüllten Himmel.

»Zuerst werden die Glocken geläutet, und dann gibt es zu essen, und dann die Messe, und dann der Julblock«, sagte Agnes.

»Du hast alles umgedreht«, sagte Rosemund. »Zuerst zünden wir den Julblock an und dann gehen wir zur Messe.«

»Zuerst die Glocken«, trotzte Agnes, »und dann die Messe.«

Sie gingen zur Scheune, luden einen Sack Hafer und eine Masse Heu auf einen Schubkarren und schafften beides hinüber zu den Ställen, um die Rinder und Pferde zu füttern. Gringolet war nicht in seiner Box, was bedeutete, daß Gawyn noch nicht zurück war. Sie mußte mit ihm sprechen, sobald er zurückkehrte. Der Rückholtermin war weniger als eine Woche entfernt, und sie hatte noch immer keine Ahnung, wo der Absetzort war. Und mit der erwarteten Ankunft des Hausherrn konnte sich alles ändern.

Eliwys hatte die Entscheidung über sie nur bis zur Rückkehr ihres Mannes aufgeschoben und den Mädchen erst an diesem Morgen gesagt, daß sie ihn heute noch erwarte. Er konnte leicht beschließen, Kivrin nach Oxford oder London zu bringen, um dort Erkundigungen über ihre Familie einzuholen, oder Sir Bloet mochte sich erbötig machen, sie mit sich nach Courcy zu nehmen. Es war wichtig, bald mit ihm zu sprechen. Wenn Gäste im Haus waren, würde es viel einfacher sein, ihn allein anzutreffen, und in all der Geschäftigkeit und Unruhe der Festtage mochte es ihr sogar gelingen, ihn zu überreden, daß er ihr die Stelle zeigte.

Kivrin verweilte im Stall, solange es nur ging, immer in der Hoffnung, daß Gawyn doch noch kommen werde, aber Agnes begann sich zu langweilen und wollte die Hühner mit Korn füttern. Kivrin schlug vor, daß sie gehen und die Kuh des Verwalters füttern sollten.

»Es ist nicht unsere Kuh«, widersprach Rosemund.

»Sie half mir an dem Tag, als ich krank war«, sagte sie und mußte daran denken, wie sie an dem Tag, als sie auf eigene Faust den Absetzort hatte suchen wollen, in ihrer Ermattung an der mageren Kuh Halt und Stütze gefunden hatte. »Ich möchte ihr für ihre Freundlichkeit danken.«

Sie gingen vorbei am Schweineauslauf, wo vor kurzem noch jeder Vorbeigehende mit fröhlichem Grunzen begrüßt worden war, und Agnes sagte: »Arme Schweinchen. Jetzt würde ich ihnen Äpfel hineinwerfen.«

»Im Norden wird es dunkel«, sagte Rosemund. »Ich glaube, sie werden nicht kommen.«

»Freilich werden sie kommen«, sagte Agnes. »Sir Bloet hat mir ein Schmuckstück versprochen.«

Die Kuh des Verwalters war fast an derselben Stelle, wo Kivrin sie gefunden hatte, hinter der vorletzten Hütte, beim Abweiden schwärzlich verwelkter Erbsenpflanzen.

»Frohe Weihnachten, Frau Kuh«, sagte Agnes und hielt der Kuh eine Handvoll Heu einen guten Meter vor das Maul.

»Sie sprechen nur um Mitternacht«, sagte Rosemund.

»Ich würde gern kommen und sie um Mitternacht sehen, Kivrin«, sagte Agnes. Die Kuh kam näher. Agnes wich zurück.

»Das geht nicht, Dummchen«, sagte Rosemund. »Um Mitternacht wirst du in der Christmette sein.«

Die Kuh streckte den Hals vor und tat einen großen Schritt vorwärts. Agnes zog sich zurück. Kivrin gab der Kuh das Heu.

Agnes sah neidisch zu. »Wenn alle in der Christmette sind, wie können sie dann wissen, daß die Tiere sprechen?« fragte sie.

Gute Logik, dachte Kivrin.

»Pater Roche sagt, daß es so ist«, antwortete Rosemund.

Agnes wagte sich hinter Kivrins Rock hervor und hob eine frische Handvoll Heu auf. »Was sagen sie?« Sie zeigte mit dem Heu in die Richtung der Kuh.

»Sie sagen, daß du nicht verstehst, wie man sie füttert«, sagte Rosemund.

»Das sagen sie nicht!« sagte Agnes und streckte die Hand aus. Die Kuh kam heran, öffnete das Maul, daß die großen gelben Zähne zu sehen waren. Agnes warf ihm die Handvoll Heu entgegen und suchte Schutz hinter Kivrins Rücken. »Sie preisen unseren Herrn. Das sagte Pater Roche.«

Gedämpfte Hufschläge und Stimmen drangen herüber, und Agnes rannte zwischen den Hütten vor zur Straße. »Sie sind gekommen!« rief sie. »Sir Bloet ist hier. Ich hab sie gesehen. Sie reiten gerade durch das Tor.«

Kivrin warf der Kuh den Rest des Heues vor. Rosemund nahm eine Handvoll Hafer aus dem Sack und hielt ihn der Kuh auf dem flachen Handteller hin. Die Kuh zog den Hafer mit breiter, schleimiger Zunge ins Maul.

»Komm, Rosemund!« rief Agnes. »Sir Bloet ist hier!«

Rosemund rieb sich den Speichel der Kuh und die restlichen Haferkörner von der Hand. »Ich will noch Pater Roches Esel füttern«, sagte sie und ging hinüber zur Kirche, ohne auch nur in die Richtung des Herrenhauses zu blicken.

»Aber sie sind gekommen, Rosemund!« schrie Agnes und rannte ihr nach. »Willst du nicht sehen, was sie mitgebracht haben?«

Offensichtlich nicht. Rosemund erreichte den Esel, der an der Friedhofsmauer ein Büschel Fuchsschwanzgras entdeckt hatte, das aus dem Schnee hervorschaute. Sie bückte sich und hielt dem Esel eine Handvoll Hafer unter die Nüstern, stieß aber auf völliges Desinteresse. Sie stand auf, legte ihm die Hand auf den Rücken, und ihr langes dunkles Haar verbarg ihr Gesicht.

»Rosemund!« rief Agnes, das Gesicht rot vor Anstrengung und Frustration. »Hast du nicht gehört? Sie sind gekommen!«

Der Esel schob den Hafer aus dem Weg und schloß die gelben Zähne um das Gras. Rosemund ließ sich nicht entmutigen und hielt ihm wieder den Hafer hin.

»Rosemund«, sagte Kivrin, »ich werde den Esel füttern. Du mußt gehen und deine Gäste begrüßen.«

»Sir Bloet sagte, daß er mir ein Schmuckstück mitbringen will«, sagte Agnes.

Rosemund öffnete die Hand und ließ den Hafer zu Boden fallen. »Wenn er dir so gut gefällt, kannst du ja Vater fragen, ob er dich Sir Bloet heiraten läßt«, sagte sie. Sie wandte sich ab und ging langsam zurück zum Gutshof.

»Ich bin zu klein«, sagte Agnes.

Auch Rosemund ist noch zu klein, dachte Kivrin, nahm Agnes bei der Hand und folgte ihrer Schwester. Rosemund ging nun schneller, das Kinn erhoben, ohne sich die Mühe zu machen, ihre schleifenden Röcke aus dem Schnee zu heben. Sie ließ Agnes’ wiederholte Bitten, auf sie zu warten, unbeachtet.

Die Gesellschaft war bereits im Hof, und Rosemund näherte sich dem anderen Ende des Dorfangers. Kivrin beschleunigte ihren Schritt, zog Agnes mit sich, daß sie laufen mußte.

So kamen sie beinahe gleichzeitig auf den Hof. Dort machte Kivrin überrascht halt.

Sie hatte eine förmliche Begrüßung erwartet, die Familie mit steifen Ansprachen und höflichem Lächeln an der Tür, aber hier ging es ganz zwanglos zu — alle trugen Kästen und Körbe und Säcke hinein, begrüßten einander mit Ausrufen und Umarmungen, redeten durcheinander, lachten. Man hatte Rosemund noch nicht einmal vermißt. Eine große, dicke Frau mit einer riesigen gestärkten Haube packte Agnes mit beiden Händen, hob sie in die Höhe und küßte sie, und drei junge Mädchen drängten sich quietschend und lachend um Rosemund.

Bedienstete, auch sie offensichtlich in Festtagskleidung, trugen gedeckte Körbe und eine riesengroße Gans in die Küche und führten die Pferde in den Stall. Gawyn, noch auf Gringolet, beugte sich aus dem Sattel und sprach mit Imeyne. Kivrin hörte ihn sagen: »Nein, der Bischof ist in Wiveliscombe«, aber Imeyne sah nicht unglücklich aus, also mußte er die Botschaft dem Archidiakon übergeben haben.

Sie wandte sich, einer jungen Frau in einem leuchtendblauen Umhang, der noch auffallender als Kivrins war, vom Pferd zu helfen, und führte sie zu Eliwys. Beide lächelten.

Kivrin versuchte auszumachen, wer von den Ankömmlingen Sir Bloet war, aber sie zählte mindestens ein halbes Dutzend Berittene, alle mit silberbeschlagenem Zaumzeug und pelzbesetzten Umhängen. Glücklicherweise sah keiner von ihnen hinfällig und altersschwach aus, und ein paar kamen Kivrin recht ansehnlich vor. Sie wandte sich zu Agnes, um sie zu fragen, aber die Kleine war noch im Griff der gestärkten Haube, die ihr immer wieder den Kopf tätschelte und sagte: »Du bist so gewachsen, daß ich dich kaum wiedererkannte.« Kivrin unterdrückte ein Lächeln. Das Menschliche blieb sich immer gleich.

Mehrere der Besucher hatten rotes Haar, darunter auch eine Frau, die annähernd so alt wie Imeyne sein mußte, ihr verblichenes rotes Haar jedoch wie ein junges Mädchen offen trug. Sie hatte einen verkniffenen, unglücklich aussehenden Mund und war offensichtlich unzufrieden mit der Art und Weise, wie die Bediensteten das Gepäck abluden. Sie entriß einen überladenen Korb den Händen eines Dieners, der sich damit abmühte, und stieß ihn einem dicken Mann in einem grünen Samtrock in die Arme.

Auch er hatte rotes Haar, ebenso wie die am nettesten aussehenden der jüngeren Männer, und ein rundes, offenes, sommersprossiges Gesicht von gutartigem Ausdruck.

»Sir Bloet!« rief Agnes, rannte an Kivrin vorbei und gegen die Beine des dicken Mannes.

Ach nein, dachte Kivrin. Sie hatte angenommen, der Dicke sei mit der Frau in der gestärkten Haube verheiratet. Er war mindestens fünfzig und mußte annähernd zweieinhalb Zentner wiegen, und als er Agnes anlächelte, zeigte er große braun angefaulte Zähne.

»Hast du mir was mitgebracht?« fragte Agnes, beide Hände um seinen Rocksaum geschlossen, um ihn nicht entkommen zu lassen.

»Ja freilich«, sagte er mit einem Blick zu Rosemund, die mit den anderen Mädchen schwatzte. »Für dich und deine Schwester.«

»Ich hole sie«, sagte Agnes und rannte hinüber zu Rosemund, bevor Kivrin sie halten konnte. Bloet stapfte ihr nach. Die Mädchen kicherten und machten Platz, als er herankam, und Rosemund schoß Agnes einen mörderischen Blick zu, dann lächelte sie und reichte ihm die Hand. »Guten Tag und willkommen, Sir«, sagte sie.

Ihr Kinn war so hoch, wie sie es recken konnte, und ihre blassen Wangen zeigten zwei fiebrig rote Flecken, aber Bloet nahm diese anscheinend für Schüchternheit und Aufregung. Er nahm ihre zarten Finger in seine fetten und sagte: »Sicherlich wirst du deinen Mann im kommenden Frühjahr nicht mit solcher Förmlichkeit begrüßen.«

Die Flecken wurden röter. »Es ist noch Winter, Sir.«

»Es wird bald genug Frühling sein«, sagte er und fletschte die braunen Zähne in einem Lachen.

»Wo ist mein Mitbringsel?« verlangte Agnes zu wissen.

»Agnes, sei nicht so habgierig«, sagte Eliwys. Sie trat zwischen ihre Töchter. »Es ist ein schlechtes Willkommen, von einem Gast Geschenke zu verlangen.« Sie lächelte ihm zu, und wenn sie diese Heirat fürchtete, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie sah entspannter aus als Kivrin sie bisher gesehen hatte.

»Ich versprach meiner künftigen Schwägerin ein Mitbringsel«, sagte er, griff in seinen zu engen Gürtel und brachte einen kleinen Stoffbeutel zum Vorschein. »Und meiner Verlobten ein Brautgeschenk.« Er steckte zwei Wurstfinger in den kleinen Beutel und zog eine mit Edelsteinen besetzte Brosche heraus. »Ein Unterpfand der Liebe für meine Braut«, sagte er und hakte die Schließe auf. »Du mußt an mich denken, wenn du sie trägst.« Er trat schnaufend näher, um sie Rosemund an den Umhang zu stecken. Kivrin hoffte, daß ihn der Schlag treffen würde. Rosemund stand stocksteif und mit hochroten Wangen, während seine dicken Hände an ihrem Hals fummelten.

»Rubine«, sagte Eliwys erfreut. »Bedankst du dich bei deinem Verlobten nicht für sein kostbares Geschenk, Rosemund?«

»Ich danke dir für die Brosche«, sagte Rosemund mit tonloser Stimme.

»Wo ist mein Mitbringsel?« rief Agnes. Sie tanzte von einem Fuß auf den anderen, während er wieder in den kleinen Beutel griff und etwas herauszog, das er in der Faust verbarg. Er bückte sich schwer atmend, bis er in Augenhöhe mit Agnes war, und öffnete die Hand.

»Eine Glocke!« sagte Agnes erfreut. Sie hielt sie in die Höhe und schüttelte sie. Sie war rund und aus Messing, wie die Schlittenglocke eines Pferdes, und hatte oben einen Metallbügel.

Agnes bestand darauf, daß Kivrin mit ihr ins Damengemach gehe, um ein Band zu holen, das sie durch den Glockenbügel ziehen und um den Hals oder am Arm tragen könne. »Mein Vater brachte mir dieses Band vom Jahrmarkt«, sagte Agnes, als sie es aus der Truhe zog, in der Kivrins Kleider verwahrt worden waren. Das Band war fleckig eingefärbt und so steif, daß Kivrin Schwierigkeiten hatte, es sauber durch den Bügel der kleinen Glocke zu ziehen. Selbst die billigsten Bänder bei Woolworth zum Verpacken von Weihnachtsgeschenken waren besser als dieses augenscheinlich hochgeschätzte Schmuckband.

Kivrin band es mit einer Schleife um Agnes’ Handgelenk, und sie gingen wieder hinunter. Die Geschäftigkeit des Abiadens und Verstauens hatte sich ins Innere des Hauses verlagert. Bedienstete trugen Kisten, Körbe, Bettzeug und frühe Versionen von Reisetaschen in die Diele. Sie hätte sich nicht zu sorgen brauchen, daß Sir Bloet und seine Reisegesellschaft sie mitnehmen würden. Allem Anschein nach waren sie gekommen, um wenigstens den Winter hier zu verbringen.

Auch ihre Sorgen, daß man über ihr Schicksal diskutieren würde, waren offenbar unbegründet. Niemand hatte ihr auch nur einen Blick geschenkt, nicht einmal, als Agnes darauf bestand, zu ihrer Mutter zu gehen und ihr Armband vorzuzeigen. Eliwys war in ein Gespräch mit Bloet, Gawyn und dem gutaussehenden Mann vertieft, der ein Sohn oder Neffe sein mußte, und Kivrin sah, daß Eliwys in nervöser Unruhe die Hände rang. Die Nachrichten aus Bath mußten schlecht sein.

Frau Imeyne war am anderen Ende der Diele und sprach mit der stämmigen Frau und einem bleich aussehenden Mann im Gewand eines Klerikers. Ihr Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß sie sich über Pater Roche beklagte.

Kivrin nutzte das geräuschvolle Durcheinander, um Rosemund beiseitezunehmen und zu fragen, wer die Besucher waren. Der bleiche Geistliche war Sir Bloetes Kaplan, was sie schon vermutet hatte. Die Dame in dem leuchtendblauen Umhang war seine Stieftochter. Die dicke, stämmige Matrone mit der gestärkten Haube war Sir Bloets Schwägerin aus Dorset, die sich zu Besuch bei ihm aufgehalten hatte. Die beiden rothaarigen jungen Männer und die kichernden Mädchen waren allesamt ihre Kinder. Sir Bloet hatte keine Kinder.

Was natürlich der Grund dafür war, daß er eins heiratete, offenbar mit allgemeiner Billigung. Dem Fortbestand des Adelsgeschlechtes und seiner genealogischen Linie kam absolut vorrangige Bedeutung zu. Je jünger die Frau, desto günstiger die Aussicht, genug Nachkommen in die Welt zu setzen, daß wenigstens ein männlicher Erbe das Erwachsenenalter erreichte.

Die ältere Frau mit dem verkniffenen Mund und dem verblichenen roten Haar war, Schrecken aller Schrecken, Frau Yvolde, seine unverheiratete Schwester. Sie wohnte mit ihm in Courcy, und als Kivrin beobachtete, wie sie die arme Maisry anschrie, wie sie einen Korb hatte fallen lassen, sah sie einen Schlüsselbund an ihrem Gürtel. Das bedeutete, daß sie den Haushalt führte, oder es bis Ostern tun würde. Die arme Rosemund würde keine Chance haben.

»Wer sind all die anderen?« fragte Kivrin. Sie hoffte, daß sich unter ihnen wenigstens eine Verbündete für Rosemund finden würde.

»Bedienstete«, sagte Rosemund, als ob es offensichtlich wäre, und lief zurück zu den Mädchen.

Es gab mindestens zwanzig Bedienstete, die Pferdeknechte nicht mitgezählt, die im Stall mit der Unterbringung und Fütterung der Pferde beschäftigt waren, und niemand, nicht einmal die nervöse Eliwys, schien von ihrer Zahl überrascht. Kivrin hatte gelesen, daß die Haushalte von Landedelleuten über Dutzende von Bediensteten verfügten, diese Zahlen aber für übertrieben gehalten. Eliwys und Imeyne hatten kaum Dienstpersonal mitgebracht und die Leibeigenen des ganzen Dorfes zur Arbeit heranziehen müssen, um das Julfest vorzubereiten, und obwohl sie diesen minimalen Aufwand zum Teil dem Umstand zugeschrieben hatte, daß die Familie in Schwierigkeiten war und sich vielleicht hier verbergen mußte, hatte der Mangel an Dienstpersonal sie in ihrer Auffassung bestärkt, daß die in verschiedenen Quellen genannten Zahlen der Bediensteten ländlicher Herrensitze übertrieben gewesen sein mußten. Aber sie waren es offensichtlich nicht.

Bald durchschwärmten die Bediensteten Diele und Herdraum, um das Abendessen zu servieren. Kivrin hatte nicht gewußt, ob sie überhaupt zu Abend essen würden, weil Heiligabend ein Fasttag war, doch sobald der bleiche Kaplan das Vespergebet gelesen hatte, kam die Herde der Bediensteten herein, offenbar auf Frau Imeynes Befehl, und brachte Brot, gewässerten Wein und Stockfisch, der in Laugenwasser eingeweicht und dann gebraten worden war.

Agnes war so aufgeregt, daß sie keinen Bissen hinunterbrachte, und als die Mahlzeit beendet war, wollte sie nicht kommen und still am Feuer sitzen, sondern rannte in der Diele herum, läutete ihre Glocke und drangsalierte die Hunde.

Sir Bloets Diener und der Verwalter schleppten den Julblock herein und warfen ihn auf das Herdfeuer, daß die Funken in alle Richtungen flogen. Die Frauen wichen lachend zurück, und die Kinder kreischten vor Vergnügen. Als ältestes Kind des Hauses zündete Rosemund den Block mit einem Scheit an, der vom Julblock des vergangenen Jahres aufbewahrt worden war. Sie berührte mit dem flammenden Ende des Scheites die Spitze einer der gekrümmten Wurzeln. Es gab Gelächter und Applaus, als sie Feuer fing, und Agnes schwenkte wild ihren Arm, um die Glocke erklingen zu lassen.

Rosemund hatte zuvor gesagt, daß die Kinder zur Mitternachtsmette aufbleiben dürften, aber Kivrin hatte gehofft, sie würde wenigstens Agnes dazu bewegen können, sich auf die Bank neben sie zu legen und ein wenig zu schlafen. Statt dessen wurde Agnes im Laufe des Abends wilder und wilder, kreischte und läutete ihre Glocke, bis Kivrin sie ihr wegnehmen mußte.

Die Frauen saßen beim Herdfeuer und sprachen ruhig miteinander. Die Männer standen in kleinen Gruppen beisammen, die Arme vor der Brust verschränkt, und mehrere Male gingen sie mit Ausnahme des Kaplans alle hinaus und kamen lachend und den Schnee von den Füßen stampfend wieder herein. Ihre geröteten Gesichter und Imeynes mißbilligende Blicke machten deutlich, daß sie draußen im Brauhaus bei einem Faß Bier gewesen waren und ihr Fasten gebrochen hatten.

Als sie das dritte Mal hereinkamen, setzte sich Bloet ans Herdfeuer, streckte die Beine von sich und beobachtete die Mädchen. Die drei kichernden Besucherinnen und Rosemund spielten Blindekuh. Als Rosemund mit verbundenen Augen den Bänken nahe kam, streckte Bloet den Arm aus und zog sie auf seinen Schoß. Alle lachten.

Imeyne verbrachte den langen Abend im Gespräch mit dem Kaplan und zählte ihm ihre Beschwerden über Pater Roche auf. Er sei unwissend, er sei unbeholfen, er habe letzten Sonntag bei der Messe das Confiteor vor dem Adjutorum gesprochen. Und er kniete dort draußen in der eiskalten Kirche, dachte Kivrin, während der Kaplan sich die Hände am Feuer wärmte und mißbilligend den Kopf schüttelte.

Das hochlodernde Feuer des brennenden Julblocks sank in sich zusammen. Rosemund glitt von Bloets Schoß und lief zurück zum Spiel. Gawyn erzählte die Geschichte, wie er sechs Wölfe getötet habe, und beobachtete dabei Eliwys. Der Kaplan erzählte eine Geschichte von einer Sterbenden, die unwahr gebeichtet hatte. Als der Kaplan ihre Stirn mit dem geweihten Öl berührt habe, sei ihre Haut vor seinen Augen schwarz geworden und habe geraucht.

Während der Kaplan seine Geschichte erzählte, stand Gawyn auf, rieb sich die Hände über dem Feuer und ging hinüber zur Bettlerbank. Dort setzte er sich und zog seine Stiefel aus.

Nach einer kleinen Weile erhob sich Eliwys und ging hinüber zu ihm. Kivrin konnte nicht hören, was sie zu ihm sagte, aber Gawyn sprach lauter und deutlicher als sie.

»Das Gerichtsverfahren ist wieder verschoben worden«, hörte Kivrin ihn sagen. »Der Richter, der die Parteien anhören sollte, ist krank geworden.«

Sie hörte nicht, was Eliwys erwiderte, aber Gawyn nickte und sagte: »Es ist gute Nachricht. Der neue Richter ist aus Swindon und König Eduard weniger freundlich gesinnt«, aber sie machten beide keine Mienen, als ob es gute Nachricht wäre. Eliwys war beinahe so bleich wie bei Imeynes Eröffnung, sie habe Gawyn nach Courcy geschickt.

Eliwys drehte nervös an ihrem schweren Ehering. Gawyn setzte sich wieder, streifte die Binsen von seinen Füßen und zog den eben ausgezogenen Stiefel wieder an. Dann blickte er zu ihr auf und sagte etwas. Eliwys wandte den Kopf zur Seite, daß Kivrin ihren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte, aber sie sah Gawyns.

Und alle anderen im Raum konnten ihn sehen, dachte Kivrin und ließ ihren Blick rasch in die Runde gehen, um zu sehen, ob das Paar beobachtet worden war. Imeyne war in ihr Gespräch mit dem Kaplan vertieft, aber Sir Bloets Schwester beobachtete die beiden mit zusammengepreßten Lippen, und von der anderen Seite des Feuers blickten auch Bloet und die anderen Männer herüber.

Kivrin hatte auf die Gelegenheit zu einem Gespräch mit Gawyn gehofft, aber das ließ sich unter all diesen wachsamen Leuten offensichtlich nicht bewerkstelligen. Eine Glocke läutete, und Eliwys schrak zusammen und blickte zur Tür.

»Es ist des Teufels Grabgeläute«, sagte der Kaplan ruhig, und selbst die Kinder hielten in ihrem Spielen inne, um zu lauschen.

In manchen Dörfern hatten die Bewohner die Gewohnheit angenommen, ihre Kirchenglocke für jedes seit der Geburt Christi vergangene Jahr einmal zu läuten. In den meisten Dörfern wurde nur während der Stunde vor Mitternacht geläutet, und Kivrin bezweifelte, ob Roche oder der Kaplan weit genug zählen konnte, um die Jahre zu läuten, aber wie unter einem inneren Zwang zählte sie mit.

Drei Diener kamen mit Brennholz herein und legten nach. Nicht lange, und das Feuer loderte prasselnd auf und warf riesige, verzerrte Schatten auf die Wände. Agnes sprang auf und zeigte hin, und einer von Sir Bloetes Neffen machte mit seinen Händen ein Kaninchen.

Mr. Latimer hatte ihr erklärt, daß die mittelalterlichen Menschen in den Schatten, die der brennende Julblock warf, die Zukunft gelesen hatten. Was mochte die Zukunft für diese Menschen bereithalten? Der Hausherr vor einem Gerichtsverfahren mit ungewissem Ausgang, und sie alle in Gefahr, ihrer Besitzungen verlustig zu gehen, wenn sie im Falle einer Verurteilung vom König eingezogen wurden. Vielleicht würden sie gezwungen sein, in Frankreich zu leben, oder von Sir Bloets Barmherzigkeit, und Zurücksetzungen und Demütigungen aller Art zu ertragen.

Oder der Hausherr würde noch heute nacht mit guten Nachrichten und einem Falken für Agnes zurückkehren, und sie alle würden glücklich leben bis ans Ende ihrer Tage. Bis auf Eliwys. Und Rosemund. Was sollte aus ihr werden?

Es ist bereits geschehen, dachte Kivrin. Das Urteil ist bereits gesprochen, und der Hausherr ist heimgekommen und hat das Verhältnis seiner Frau mit Gawyn aufgedeckt. Rosemund ist bereits Sir Bloet angetraut worden, und Agnes ist herangewachsen, hat geheiratet und ist im Kindbett gestorben, oder an Blutvergiftung, oder Cholera, oder Lungenentzündung.

Sie sind alle gestorben, dachte sie und brachte es nicht über sich, daran zu glauben. Sie sind alle seit mehr als siebenhundert Jahren tot.

»Schaut hin!« schrie Agnes. »Rosemund hat keinen Kopf!« Sie zeigte zu den verzerrten Schattenspielen, die das Feuer auf die Wände malte. Rosemunds Schatten, grotesk verlängert, endete bei den Schultern.

Einer der rothaarigen Jungen rannte hinüber zu Agnes. »Ich habe auch keinen Kopf!« sagte er und stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Form des Schattens zu verändern.

»Du hast keinen Kopf, Rosemund«, rief Agnes fröhlich. »Du wirst sterben, bevor das Jahr um ist.«

»Sag nicht solche Dinge«, wies Eliwys sie zurecht. Alle merkten auf.

»Kivrin hat einen Kopf«, sagte Agnes. »Ich habe einen Kopf, aber die arme Rosemund hat keinen.«

Eliwys nahm Agnes bei beiden Armen. »Das sind nichts als törichte Spiele«, sagte sie. »Sag nicht solche Dinge.«

»Der Schatten…«,sagte Agnes, und es sah aus, als würde sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.

»Setz dich zu Lady Katherine und sei still!« sagte Eliwys. Sie führte ihre Tochter zu Kivrin und stieß sie auf die Bank. »Du bist zu wild heute abend.«

Agnes hockte neben Kivrin auf der Bank und versuchte sich klar zu werden, ob sie weinen sollte oder nicht. Kivrin war mit ihrer Zählung der Glockenschläge durcheinander gekommen, und so zählte sie weiter, wo sie aufgehört hatte. Sechsundvierzig, siebenundvierzig…

»Ich will meine Glocke«, sagte Agnes und kletterte von der Bank.

»Nein, wir müssen still sitzen«, sagte Kivrin. Sie nahm Agnes auf den Schoß.

»Erzähl mir von Weihnachten.«

»Ich kann nicht, Agnes. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Erinnerst du dich an nichts, was du mir erzählen kannst?«

Ich erinnere mich an alles, dachte Kivrin. Die Läden sind voll von Bändern aus Seide und Samt und Kunstfaser, rot und gold und blau, noch leuchtender als mein natürlich gefärbter Umhang, und überall ist Licht, hört man Musik. Die Glocken der Stadt, und Weihnachtslieder.

Sie dachte an das Glockenspiel im Carfax-Turm und die müden alten Tonbandaufnahmen der Weihnachtslieder in den Läden entlang der High Street. Diese Weihnachtslieder sind noch nicht einmal geschrieben, dachte Kivrin, und sie spürte eine plötzliche Aufwallung von Heimweh.

»Ich möchte meine Glocke läuten«, sagte Agnes und zappelte, um von Kivrins Schoß zu kommen. »Gib sie mir.« Sie streckte ihr das Handgelenk hin.

»Ich werde sie dir anbinden, wenn du dich ein wenig neben mir auf die Bank legst.«

Agnes machte wieder einen Schmollmund. »Muß ich schlafen?«

»Nein. Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte Kivrin. Sie band die Glocke von ihrem Handgelenk, wo sie sie verwahrt hatte. »Es war einmal…«, sagte sie und überlegte hastig, was für Geschichten die Zeitgenossen ihren Kindern erzählten. Geschichten von Wölfen und von Hexen, deren Haut schwarz wurde, wenn sie die letzte Ölung bekamen?

»Es war einmal ein Mädchen«, sagte sie und knüpfte das Band der Glocke um Agnes’ dickes kleines Handgelenk. Das Band franste bereits an den Rändern aus. Viele weitere Knoten und Schleifen würde es nicht vertragen. Sie beugte sich darüber. »Ein Mädchen, das lebte…«

»Ist dies das Mädchen?« fragte eine Frauenstimme.

Kivrin blickte auf. Es war Bloets Schwester Yvolde, begleitet von Imeyne. Sie musterte Kivrin mit mißbilligend verzogenem Mund, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, das ist nicht Ulurics Tochter«, sagte sie. »Das Mädchen war klein und dunkelhaarig.«

»Auch nicht de Ferrers Mündel?« fragte Imeyne.

»Das ist tot«, antwortete Yvolde. »Erinnert Ihr Euch nicht, wer Ihr seid?« fragte sie Kivrin.

»Nein, gnädige Frau«, sagte Kivrin. Zu spät fiel ihr ein, daß sie den Blick bescheiden niederzuschlagen hatte.

»Sie wurde auf den Kopf geschlagen«, erläuterte Agnes.

»Doch Ihr erinnert Euren Namen und könnt sprechen. Seid Ihr von guter Familie?«

»Ich erinnere mich meiner Familie nicht, gnädige Frau«, sagte sie bescheiden.

Die Frau rümpfte die Nase. »Nach ihrer Sprache kommt sie aus dem Westen. Hast du um Neuigkeiten nach Bath geschickt?«

Imeyne verneinte. »Meine Schwiegertochter möchte auf Guillaumes Ankunft warten. Du hast nichts aus Oxenford gehört?«

»Nein, aber es gibt dort viel Krankheit«, sagte Yvolde.

Rosemund kam zu ihnen. »Kennt Ihr Fräulein Katherines Familie, Frau Yvolde?« fragte sie.

Yvolde richtete ihren scharfen Blick auf sie. »Nein. Wo ist die Brosche, die mein Bruder dir gab?«

»Ich… sie ist an meinem Umhang«, stammelte Rosemund.

»Ehrst du seine Geschenke nicht genug, um sie zu tragen?«

»Geh und hol sie«, sagte Frau Imeyne. »Ich möchte diese Brosche betrachten.«

Rosemund reckte trotzig das Kinn, aber sie ging hinüber zum Durchgang, wo die Umhänge aufbewahrt wurden.

»Sie zeigt nach den Geschenken meines Bruders so wenig Verlangen wie nach seiner Gegenwart«, sagte Yvolde.

»Beim Abendessen hat sie kein einziges Mal zu ihm gesprochen.«

Rosemund kam mit ihrem grünen Umhang zurück. Die Brosche funkelte rot und golden im Feuerschein. Rosemund hielt sie Imeyne wortlos zur Inspektion hin. »Ich möchte sie auch sehen«, sagte Agnes, und Rosemund beugte sich, sie ihr zu zeigen.

Die Brosche bestand aus einem goldenen, mit Rubinen besetzten Ring und der Nadel in der Mitte. Sie hatte keinen Hacken; die Nadel mußte von oben durch den Stoff gesteckt werden. Die Außenseite des Rings trug eine Inschrift: Io suiicien lui dami amo.

»Was heißt das?« fragte Agnes und zeigte auf die eingegrabenen Buchstaben.

»Ich weiß es nicht«, sagte Rosemund in einem Ton, der klar zu verstehen gab, daß es ihr auch gleichgültig sei.

Yvolde biß die Kiefer zusammen, und Kivrin sagte hastig: »Es heißt ›Du bist hier anstelle des Freundes, den ich liebe‹, Agnes«, und dann erkannte sie mit einem flauen Gefühl im Magen, was sie getan hatte. Sie blickte zu Imeyne auf, doch schien diese nichts bemerkt zu haben.

»Solche Worte sollten auf deiner Brust sein, statt an einem Haken zu hängen«, sagte Imeyne. Sie zog die Brosche vom Umhang und steckte sie Rosemund ans Kleid.

»Und du solltest an der Seite meines Bruders sein, wie es sich für seine Verlobte geziemt«, sagte Yvolde, »statt kindische Spiele zu spielen.« Sie streckte die Hand in Richtung des Herdfeuers aus, wo Bloet saß, nach all den Ausflügen ins Brauhaus offensichtlich angetrunken und am Einnicken. Rosemund blickte Kivrin flehend in die Augen.

»Geh und danke Sir Bloet für sein großzügiges Geschenk«, sagte Imeyne kalt.

Rosemund gab Kivrin ihren Umhang und ging zum Herdfeuer.

»Komm, Agnes«, sagte Kivrin. »Du mußt ruhen.«

»Ich möchte des Teufels Grabgeläut hören«, sagte Agnes.

»Lady Katherine«, sagte Yvolde mit ironischer Betonung, »Ihr sagtet uns, daß Ihr Euch an nichts erinnert. Aber Ihr habt Rosemunds Brosche mit Leichtigkeit gelesen. Könnt Ihr also lesen?«

Ich kann lesen, dachte Kivrin, aber weniger als ein Viertel der Zeitgenossen konnten es, und von den Frauen noch weniger.

Sie blickte zu Imeyne, die sie ansah, wie sie es am Morgen nach Kivrins Ankunft beim Befingern ihrer Kleider und der Untersuchung ihrer Hände getan hatte.

Kivrin blickte Yvolde ins Auge. »Nein, ich fürchte, ich kann nicht einmal das Vaterunser lesen. Euer Bruder sagte uns, was die Worte bedeuteten, als er Rosemund die Brosche gab.«

»Nein, das ist nicht wahr«, sagte Agnes.

»Du hast nur an dein Mitbringsel gedacht und nicht aufgepaßt«, sagte Kivrin in Verzweiflung. Das würde Frau Yvolde niemals glauben. Sie würde ihren Bruder fragen, und der würde ihr versichern, daß er nie zu ihr gesprochen habe.

Aber Yvolde schien zufriedengestellt. »Ich dachte mir, daß so eine wie sie nicht würde lesen können«, sagte sie zu Imeyne. Sie gab ihr die Hand, und die beiden gingen hinüber zu Sir Bloet.

Kivrin sank auf die Bank zurück.

»Ich möchte meine Glocke haben«, sagte Agnes.

»Ich werde sie dir nicht umbinden, wenn du dich nicht niederlegst.«

Agnes kroch ihr in den Schoß. »Zuerst mußt du mir die Geschichte erzählen. Es war einmal ein Mädchen.«

»Es war einmal ein Mädchen«, sagte Kivrin. Verstohlen blickte sie zu Imeyne und Yvolde hinüber. Sie hatten sich zu Sir Bloet gesetzt und sprachen mit Rosemund. Sie sagte etwas, hatte das Kinn wieder trotzig erhoben und feuerrote Wangen. Sir Bloet lachte, und seine Hand schloß sich über der Brosche und glitt dann abwärts über Rosemunds Brust.

»Es war einmal ein Mädchen…«, wiederholte Agnes.

»… das lebte am Rande eines großen Waldes«, sagte Kivrin. »Geh nicht allein in den Wald, sagte der Vater…«

»Aber sie hörte nicht auf ihn«, sagte Agnes und gähnte.

»Nein, sie hörte nicht auf ihn. Ihr Vater liebte sie und sorgte sich nur um ihre Sicherheit, aber sie wollte nicht auf ihn hören.«

Agnes kuschelte sich an Kivrin. »Was war in dem Wald?«

Kivrin zog Rosemunds Umhang über sie. Halsabschneider und Diebe, dachte sie. Und lüsterne alte Männer und ihre zänkischen Schwestern. Und unerlaubte Liebhaber. Und Ehemänner. Und Richter. »Alle möglichen Gefahren.«

»Wölfe«, sagte Agnes schläfrig.

»Ja, Wölfe.« Sie blickte zu Imeyne und Yvolde. Die beiden steckten die Köpfe zusammen, beobachteten sie und flüsterten.

»Was geschah mit ihr?« fragte Agnes. Die Augen fielen ihr bereits zu.

Kivrin nahm sie in die Arme. »Ich weiß nicht«, murmelte sie. »Ich weiß es nicht.«

20

Agnes konnte nicht länger als fünf Minuten geschlafen haben, als die Glocke verstummte, um dann von neuem einzusetzen, heftiger als zuvor, und sie zur Messe rief.

»Pater Roche beginnt zu früh. Es ist noch nicht Mitternacht«, sagte Frau Imeyne, aber sie hatte noch nicht ausgeredet, als die anderen Glocken zu läuten begannen: Wychlade und Bureford und, weit entfernt im Osten, zu fern, um mehr als der Hauch eines Echos zu sein, die Glocke von Oxford.

Da sind die Glocken von Osney, dachte Kivrin, und da ist Carfax, und wieder überkam sie ein seltsam unwirkliches Gefühl von Nähe und Heimweh.

Sir Bloet wuchtete seinen massigen Leib in die Höhe, dann half er seiner Schwester auf. Einer ihrer Diener eilte mit ihren Umhängen und einem mit Eichhörnchenfell gefütterten Mantel herbei. Die schwatzenden Mädchen zogen ihre Umhänge unter den anderen hervor und schwatzten weiter, während sie sie anlegten und die Schließen zumachten. Frau Imeyne schüttelte Maisry, die auf der Bettlerbank eingeschlafen war, und befahl ihr, das Stundenbuch zu bringen, und Maisry schlurfte gähnend zur Leiter, die auf den Dachboden führte. Rosemund kam herüber und griff mit übertriebener Vorsicht nach ihrem Umhang, der Agnes von den Schultern geglitten war.

Agnes war fest eingeschlafen. Kivrin wollte sie nicht wecken, aber es war so gut wie sicher, daß nicht einmal erschöpfte Fünfjährige von der Teilnahme an dieser Messe ausgenommen waren. »Agnes«, sagte sie leise.

»Du wirst sie zur Kirche tragen müssen«, sagte Rosemund. Sie bemühte sich, Sir Bloets goldene Brosche wieder an ihren Umhang zu stecken. Der jüngste Sohn des Verwalters kam mit Agnes’ weißem Umhang und blieb vor Kivrin stehen.

»Agnes«, sagte Kivrin noch einmal und stieß sie ein wenig an. Es war erstaunlich, daß die Kirchenglocke sie nicht geweckt hatte. Sie ertönte lauter und näher, als Kivrin sie bis dahin gehört hatte, und übertönte mit ihren dröhnenden Schlägen die anderen, entfernteren Glocken.

Agnes’ Augen flogen auf. »Du hast mich nicht geweckt«, sagte sie schläfrig zu Rosemund, und dann, als sie wach wurde, noch lauter: »Du hattest versprochen, mich zu wecken.«

»Zieh deinen Umhang an«, sagte Kivrin. »Wir müssen zur Kirche gehen.«

»Kivrin, ich möchte meine Glocke tragen.«

»Du trägst sie ja«, sagte Kivrin. Sie bemühte sich, Agnes’ Umhang zu befestigen, ohne sie mit der Schließe in den Hals zu zwicken.

Agnes untersuchte ihren Arm. »Nein, ich habe sie nicht! Ich will meine Glocke tragen!«

»Da ist sie«, sagte Rosemund und hob sie vom Boden auf. »Sie muß dir vom Handgelenk gefallen sein. Aber es ist nicht schicklich, sie jetzt zu tragen. Wir werden zur Messe gerufen. Die Weihnachtsglocken kommen danach.«

»Ich werde nicht läuten«, sagte Agnes. »Ich möchte sie nur tragen.«

Kivrin glaubte nicht daran, aber sie mußte vermeiden, daß Agnes einen Auftritt machte und losheulte, denn alle anderen waren fertig. Einer von Sir Bloets Dienern entzündete die Hornlaternen mit einem Scheit vom Feuer und gab sie den anderen Bediensteten. Hastig band Kivrin die Glocke um Agnes’ Handgelenk, dann nahm sie die beiden Mädchen bei der Hand.

Eliwys legte ihre Hand in Sir Bloets Armbeuge, Frau Imeyne bedeutete Kivrin, ihnen mit den Mädchen zu folgen, und die anderen schlossen sich feierlich an, als wäre es eine Prozession. Frau Imeyne ging mit Sir Bloets Schwester, und ihnen schloß sich Sir Bloets übriges Gefolge an. Eliwys und Sir Bloet führten den Zug hinaus auf den Hof, durch das Tor und auf dem Fahrweg zum Dorfanger.

Der Schneefall hatte aufgehört, und die Sterne waren herausgekommen. Das Dorf lag still unter seiner weißen Decke. Gefroren in der Zeit, dachte Kivrin. Die elenden Hütten, die schiefen und umgesunkenen Zäune und zerzausten Hecken sahen verändert aus, geglättet und verschönert vom Schnee. Die Laternen ließen die kristallinen Facetten der Schneeflocken aufblitzen, aber es war der Sternhimmel, der Kivrin den Atem verschlug: Tausende von Sternen, und alle funkelten in der eisigen Schwärze des Himmels wie Juwelen. »Es glitzert«, sagte Agnes, aber es war nicht klar, ob sie den Schnee oder den Sternenhimmel meinte.

Die Glocke läutete ruhig und gleichmäßig, ihr Klang hier draußen in der frostigen Luft war wieder anders, nicht lauter, aber voller und irgendwie klarer. Kivrin lauschte in die Winternacht und konnte jetzt auch all die anderen Glocken hören und wiedererkennen, Esthcote und Witenie und Wychlade, obwohl auch sie anders klangen. Sie lauschte in die Richtung von Swindon, dessen Glocke die ganze Zeit geläutet hatte, konnte sie aber nicht hören. Auch die Glocken von Oxford waren nicht zu hören. Entweder hatte der Wind gedreht, oder sie hatte sich nur eingebildet, sie wiederzuerkennen.

»Du läutest deine Glocke, Agnes«, sagte Rosemund.

»Tue ich nicht«, widersprach Agnes. »Ich gehe nur.«

»Seht euch die Kirche an«, sagte Kivrin. »Ist sie nicht schön?«

Sie erstrahlte wie ein Leuchtfeuer am anderen Ende des Dorfangers, beleuchtet von innen und außen. Die farbigen Glasfenster warfen rubinrote und saphirblaue Lichter auf den Schnee, und auch um die Kirche brannten Lichter und erhellten den Friedhof bis zum Glockenturm. Pechfackeln. Sie nahm ihren teerigen Rauch wahr. Weitere Fackeln, schwankend bewegt, kamen über die stillen weißen Felder jenseits des Dorfes und vom Hügel hinter der Kirche. Wieder mußte Kivrin an Oxford am Heiligabend denken, an die für späte Käufer geöffneten Geschäfte und das gelbe Licht in den Fenstern des Brasenose College, wenn man über den Hof ging. Und an den Weihnachtsbaum im Balliol College mit seinen vielfarbigen Laserlichtern.

»Ich wollte, daß wir zum Julfest zu euch gekommen wären«, sagte Frau Imeyne zu Yvolde. »Dann hätten wir einen ordentlichen Priester für den Gottesdienst. Der Pfarrer, den wir hier haben, kann kaum das Paternoster aufsagen.«

Der Pfarrer, den sie hier hatten, hatte gerade stundenlang in einer eiskalten Kirche gekniet und gebetet, in Beinkleidern, deren Knie durchgewetzt waren, und nun läutete er seit einer Stunde eine schwere Glocke und mußte bald eine komplizierte Zeremonie vollziehen, die er auswendig lernen mußte, weil er nicht lesen konnte.

»Ich fürchte, es wird eine armselige Messe und eine armselige Predigt sein«, maulte Imeyne.

»Leider gibt es heutzutage viele, die Gott nicht lieben«, erwiderte Yvolde, »aber wir müssen zu Gott beten, daß Er die Welt in Ordnung bringen und die Menschen zur Tugend zurückführen möge.«

Kivrin bezweifelte, daß es die Antwort war, die Frau Imeyne hören wollte.

»Ich habe zum Bischof von Bath geschickt, daß er uns einen Kaplan sende«, sagte Imeyne, »aber er ist noch nicht gekommen.«

»Mein Bruder sagt, daß es in Bath viel Verdruß und Unannehmlichkeit gibt«, sagte Yvolde.

Sie kamen zum Friedhof, und Kivrin konnte die Gesichter der Gemeinde ausmachen, erhellt von den rauchigen Pechfackeln und den kleinen Öllampen, die einige der Frauen trugen. Die Gesichter, gerötet und von unten beleuchtet, sahen irgendwie finster und unheilvoll aus. Mr. Dunworthy würde denken, es sei ein zorniger Mob, dachte Kivrin, zusammengeströmt, um einen armen Märtyrer auf dem Schafott zu verbrennen. Aber es war die Beleuchtung. Im Fackelschein sah jeder wie ein Halsabschneider aus. Kein Wunder, daß die Elektrizität erfunden werden mußte.

Als sie durch den Friedhof gingen, erkannte Kivrin einige der Leute bei der Kirchentür: den Jungen mit der Skorbut, der vor ihr davongelaufen war, zwei von den jungen Mädchen, die beim Backen geholfen hatten, den Stallknecht Cob. Die Frau des Verwalters trug einen Umhang mit einem weißen Pelzkragen und trug eine eiserne Laterne mit vier winzigen Scheiben von echtem Glas. Sie redete lebhaft auf die Frau mit den Skrofulosenarben ein, die bei der Ausschmückung der Diele mit den Stechpalmenzweigen geholfen hatte. Alle redeten und stampften mit den Füßen und gingen umher, um sich warm zu halten, und ein schwarzbärtiger Mann krümmte sich so sehr vor Lachen, daß seine Fackel dem Kopftuch der Verwaltersfrau gefährlich nahe kam.

Die Kirchenbehörden hatten die Mitternachtsmetten wegen der vorausgehenden Trinkgelage und Ausschweifungen nach und nach abschaffen müssen, erinnerte sich Kivrin, und einige von diesen Gemeindemitgliedern machten den Eindruck, daß sie den Abend damit verbracht hatten, das Fastengebot weidlich zu übertreten. Der Verwalter sprach leibhaft mit einem rauhbeinig aussehenden Mann, den Rosemund als Maisrys Vater bezeichnete. Beide hatten Gesichter, die von der Kälte oder dem Fackelschein oder dem Alkohol oder allen dreien stark gerötet waren, aber sie schienen eher fröhlich als gefährlich. Der Verwalter unterstrich seine Rede in kurzen Abständen mit einem energischen Schulterklopfen, das Maisrys Vater jedesmal mit fröhlichem, unbändigem Lachen quittierte. Es vermittelte Kivrin den Eindruck, daß er viel klüger war, als sie angenommen hatte.

Die Frau des Verwalters zog ihren Mann am Ärmel, und er schüttelte sie ab, doch sobald Eliwys und Sir Bloet zur Friedhofspforte hereinkamen, traten er und Maisrys Vater prompt zurück, um den Weg zur Kirchentür freizugeben. Alle anderen taten es ihnen nach und verstummten, als das Gefolge durch den Friedhof und in die Kirche zog. Dann begannen sie wieder zu reden, aber ruhiger und weniger unbekümmert, als sie den Herrschaften in die Kirche folgten.

Sir Bloet schnallte sein Schwert ab und gab es einem Diener, und er und Eliwys knieten nieder, als sie das Kirchenschiff betraten. Kivrin und die Mädchen folgten. Als Agnes sich bekreuzigte, bimmelte ihre Glocke hell in die Stille. Kivrin überlegte, ob sie am Sarkophag von Imeynes Ehemann aus der Prozession treten und Agnes die Glocke abnehmen sollte, getraute sich aber nicht, Unordnung in den feierlichen Ablauf zu bringen. Zumal Imeyne mit Sir Bloets Schwester hinter ihnen waren.

Sie führte die Mädchen bis vor den Lettner. Sir Bloet war schwerfällig wieder aufgestanden. Eliwys blieb ein wenig länger auf den Knien, erhob sich dann und wurde von Sir Bloet zur Nordseite der Kirche geleitet, wo er sich leicht verbeugte und zurückging, um seinen Platz auf der Männerseite einzunehmen.

Kivrin kniete mit den Mädchen nieder. Diesmal bekreuzigte sich Agnes ohne allzuviel Lärm, doch als sie aufstand, trat sie auf ihren Rocksaum und fing sich mit einem Geklirr, das beinahe so laut war wie die Glocke, die draußen noch immer läutete. Kivrin empfing einen unmutsvollen Blick von Frau Imeyne.

Nun ging Kivrin mit den Mädchen auf die Frauenseite und nahm neben Eliwys Aufstellung. Imeyne kniete nieder, aber Frau Yvolde begnügte sich mit einer Verbeugung, bis ein Diener herbeieilte und ihr ein mit dunklem Samt bezogenes Kissen zum Niederknien vor die Füße legte. Ein zweiter Diener hatte Sir Bloet auf der Männerseite mit einem Polster versehen und half ihm, darauf niederzuknien. Sir Bloet schnaufte und klammerte sich an den Arm des Dieners, als er seine Leibesfülle darauf niederließ, und sein Gesicht lief rot an.

Nicht ohne Neid betrachtete Kivrin Frau Yvoldes Kniepolster. Erst jetzt verstand sie, welch ein Segen die harten hölzernen Gebetsstühle in St. Marys mit ihren kunststoffbezogenen Kniebänken waren. Die Steinplatten am Boden waren kalt wie Eisschollen. Kalt war es auch in der Kirche, trotz der zahlreichen Lichter; so kalt, daß ihnen der Atem in dichten Wolken vor den Gesichtern hing. Pater Roche hatte an den Wänden und vor der mit Stechpalmenzweigen geschmückten Statue der heiligen Katharina Öllampen aufgestellt, und in jedem der Fenster stand eine dünne, gelbliche Talgkerze, doch war die Wirkung wahrscheinlich nicht so, wie Pater Roche sie beabsichtigt hatte. Die Kerzenflammen ließen die farbigen Glasscheiben nur dunkler erscheinen, beinahe schwarz.

Weitere Talgkerzen standen in den silbernen Leuchtern auf dem mit Efeu und Stechpalmenzweigen bekränzten Altar. Der obere Abschluß des Lettners war in gleicher Weise geschmückt, und dort hatte Pater Roche Frau Imeynes Bienenwachskerzen zwischen die scharfen, glänzenden Stechpalmenblätter gesetzt. Die Art, wie er die Kirche ausgeschmückt hatte, sollte sogar Frau Imeyne erfreuen, dachte Kivrin. Sie warf ihr einen Seitenblick zu.

Imeyne hielt ihr Reliquiar zwischen den gefalteten Händen, aber statt in Andacht versunken zu sein, starrte sie mit mißbilligend zusammengepreßten Lippen zum oberen Abschluß des Lettners hinauf. Vermutlich hatte sie die Kerzen dort nicht haben wollen, aber es war der ideale Platz für sie. Sie erhellten das Kruzifix und die Darstellung des Jüngsten Gerichts und spendeten sowohl dem Chor als auch dem Kirchenschiff zusätzlich Licht. Sie ließen die ganze Kirche anheimelnder, vertrauter erscheinen, wie St. Mary am Heiligabend. Im vergangenen Jahr war sie mit Dunworthy zum ökumenischen Gottesdienst gegangen, nachdem sie eigentlich beabsichtigt hatte, die Christmette der Traditionalisten zu besuchen, um die Messe in lateinischer Sprache zu hören, aber der Priester war gebeten, im ökumenischen Gottesdienst die Predigt zu halten und hatte die Christmette auf vier Uhr nachmittags vorverlegt.

Agnes machte sich wieder an ihrer Glocke zu schaffen. Frau Imeyne wandte den Kopf und blickte tadelnd an den gefalteten Händen vorbei, und Rosemund beugte sich an Kivrin vorbei und machte »Schhh«.

»Du darfst nicht mit deiner Glocke läuten, bis die Messe vorbei ist«, flüsterte Kivrin, zu Agnes’ Ohr gebeugt.

»Ich habe nicht geläutet«, flüsterte Agnes so laut zurück, daß man es in der ganzen Kirche hören konnte. »Das Band ist zu eng. Siehst du?«

Kivrin konnte nichts dergleichen sehen. Wäre das Band zu eng, hätte die Glocke bei jeder Bewegung läuten müssen, aber sie konnte und wollte nicht mit einem übermüdeten Kind diskutieren, wenn jeden Augenblick die Messe beginnen konnte. Sie nahm sich den Knoten vor.

Agnes mußte versucht haben, die Glocke über die Hand zu ziehen. Das schon ausgefranste Band hatte sich zu einem festen kleinen Knoten zusammengezogen. Kivrin zupfte mit den abgebrochenen Fingernägeln daran und behielt zugleich das Kirchenschiff im Auge. Der Gottesdienst begann mit dem Einzug des Priesters. Pater Roche und seine Meßdiener, wenn er welche hatte, würden mit dem Weihwasser durch den Mittelgang kommen, die Gläubigen besprengen und das Asperges me singen.

Der Knoten war nicht ohne weiteres zu lösen. Kivrin nahm das Band zu beiden Seiten des Knotens und zog es mit aller Kraft auseinander, um es zu dehnen. Dabei wurde der Knoten noch fester gezogen, so daß keine Hoffnung bestand, ihn je wieder zu lösen, ohne ihn zu durchschneiden. Das Band war nun etwas lockerer, aber noch nicht weit genug, um es über die Hand zu streifen. Sie blickte zurück zur Kirchentür. Das Läuten hatte aufgehört, aber von Pater Roche war noch nichts zu sehen. Die Dorfbewohner waren inzwischen hereingekommen und füllten das Kirchenschiff, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite. Jemand hatte ein Kind auf den Sarkophag gehoben und stützte es dort, damit es besser sehen könne, aber es gab noch nichts zu sehen.

Sie machte sich wieder an die Arbeit mit der Glocke, bekam zwei Finger unter das Band und zog es aufwärts, um es noch weiter zu dehnen.

»Zerreiß es nicht«, sagte Agnes in ihrem weithin hörbaren Bühnenflüstern. Kivrin ergriff die Glocke und zog sie herum, daß sie in Agnes’ Handfläche lag.

»Halte sie so«, flüsterte sie und bog Agnes Finger darum. »Fest.«

Agnes ballte gehorsam ihre kleine Faust, und Kivrin faltete Agnes’ andere Hand über die Faust, daß es ungefähr einer Beterhaltung entsprach, und sagte leise: »Halt die Glocke fest, dann wird sie nicht läuten.«

Agnes drückte die Hände in einer Haltung engelsgleicher Frömmigkeit an die Stirn.

»Gutes Kind«, sagte Kivrin und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie blickte zurück zum Eingang. Die Tür war noch geschlossen. Sie atmete erleichtert auf und wandte sich dem Altar zu, der durch das geschnitzte Gitterwerk des Lettners gut zu sehen war.

Pater Roche stand dort. Er mußte den Chor durch die Sakristei betreten haben, trug eine bestickte weiße Stola und ein vergilbtes weißes Chorhemd, dessen Saum sehr viel mehr ausgefranst war als Agnes’ Band, und hielt ein Buch in den Händen. Offensichtlich hatte er auf sie gewartet und sie die ganze Zeit beobachtet, während sie sich um Agnes gekümmert hatte, aber es war kein Tadel in seinem Gesicht, nicht einmal Ungeduld. Seine Züge zeigten einen gänzlich anderen Ausdruck, und sie fühlte sich plötzlich an Mr. Dunworthy erinnert, wie er dastand und sie durch die gläserne Trennwand beobachtete.

Frau Imeyne räusperte sich vernehmlich, und er schien zu sich zu kommen. Er übergab das Buch Cob, der ein schmieriges altes Chorhemd und ein Paar zu große Lederschuhe trug und seitlich vor dem Altar kniete. Dann nahm er das Buch zurück und begann das Stufengebet.

Kivrin sprach die lateinischen Worte leise mit und hörte das Echo der Übersetzung durch den Dolmetscher.

»Sende mir Dein Licht und Deine Wahrheit, daß sie zu Deinem heiligen Berg mich leiten und mich führen in Dein Zelt.« Einige aus der Gemeinde, die das Gebet auswendig wußten, antworteten, angeführt von Imeyne und Yvolde: »Dort darf ich zum Altare Gottes treten, zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf.«

Pater Roche tat den Mund auf, dann sah er stirnrunzelnd zu Kivrin.

Er hat vergessen, wie es weitergeht, dachte sie. Besorgt blickte sie zu Imeyne, hoffte, diese würde nichts bemerkt haben, aber sie hatte den Kopf erhoben und blickte finster zu ihm hin, den Unterkiefer im seidenen Kopftuch vorgeschoben.

Pater Roche stand noch immer mit gerunzelter Stirn und sah Kivrin an. »Dann will ich Dich mit Harfenspiel lobpreisen, Gott, mein Gott«, sagte er, und Kivrin seufzte erleichtert. »Wie kannst du da bekümmert sein, mein Herz?«

Das war nicht richtig. Sie machte die Lippenbewegungen der nächsten Worte, als wollte sie sich einem Taubstummen verständlich machen: »Wie mich mit Kummer quälen?«

Er gab nicht zu erkennen, daß er gesehen hatte, was sie sagte, obwohl er sie unverwandt ansah. Wie kannst du, meine Seele… Er brach ab.

»Wie kannst du da noch trauern, meine Seele, wie mich mit Kummer quälen?« flüsterte Kivrin mit überdeutlichen Lippenbewegungen. Am Rande ihres Gesichtsfeldes sah sie, daß Frau Imeyne den Kopf zu ihr wandte.

»Heute sollt ihr wissen: der Herr kommt, uns zu erlösen«, sagte Roche, und das stimmte auch nicht, aber Frau Imeyne richtete ihren Blick wieder nach vorn, um ihren Unmut auf Roche zu konzentrieren.

Zweifellos würde der Bischof davon hören, und von den Kerzen, und von dem zerschlissenen Saum des Chorhemdes und von allen anderen Irrtümern und Verstößen, die er womöglich begangen hatte.

»Dem Herrn gehört die Welt und ihre ganze Fülle«, sagte Kivrin ihm mit lautlosen Lippenbewegungen vor, und er schien plötzlich zu sich zu kommen.

»Dem Herrn gehört die Welt und ihre ganze Fülle«, sagte er mit klarer Stimme, »der Erdkreis und alle, die ihn bewohnen.«

Darauf ging es ziemlich glatt weiter, er begann das Confiteor, und Kivrin flüsterte es mit ihm, aber er brachte es fehlerlos zu Ende, und sie begann sich ein wenig zu entspannen, obwohl sie ihn mit besorgter Aufmerksamkeit beobachtete, als er die Stufen zum Altar erstieg, um nach kurzem Stillgebet mit dem Eingangslied fortzufahren.

Er trug eine schwarze Soutane unter dem Chorhemd, und beide sahen aus, als seien sie einst von feiner Machart gewesen. Für Roche waren sie jedoch ein gutes Stück zu kurz.

Wenn er sich über den Altar beugte, konnte sie mindestens zehn Zentimeter seiner gestopften braunen Strümpfe unter dem Saum der Soutane hervorschauen sehen. Wahrscheinlich hatten die Kleidungsstücke einmal seinem Amtsvorgänger gehört oder waren abgelegte Stücke von Imeynes Kaplan.

Der Priester der Traditionalisten hatte einen baumwollenen Chorrock mit Spitzen und weiten Ärmeln über dem gegürteten schwarzen Talar getragen. Er hatte Kivrin versichert, daß die Messe völlig authentisch sei, auch wenn sie am Nachmittag gehalten werde. Die durch ihre versuchte Popularisierung fragwürdige Liturgiereform mit der Abschaffung des Lateinischen werde von seiner Kirche nach wie vor strikt abgelehnt. Aber sein Gotteshaus war ein umgewandeltes Schreibwarengeschäft gewesen, als Altar hatte ein Klapptisch dienen müssen, und das Glockenspiel vom Carfax-Turm draußen den Gottesdienst arg gestört.

»Kyrie eleison«, sagte Cob, mit gefalteten Händen auf den Altarstufen kniend.

»Kyrie eleison«, sagte Pater Roche.

»Christe eleison«, sagte Cob.

»Christe eleison«, sagte Agnes munter.

Kivrin machte »schhh« und legte den Finger an die Lippen. Herr erbarme dich unser, Christus erbarme dich unser. Auch beim ökumenischen Gottesdienst hatten sie das Kyrie verwendet, wahrscheinlich, weil der Priester der Traditionalisten vom Vikar eine Gegenleistung für das Verschieben der Gottesdienstzeit verlangt hatte, aber der Geistliche der Kirche des Tausendjährigen Reiches hatte sich geweigert, es mitzubeten und in kalter Mißbilligung zugesehen, wie Frau Imeyne es jetzt tat.

Pater Roche schien seine anfängliche Unsicherheit überwunden zu haben; er las das Gloria, die Epistel und das Graduale ohne zu stocken und begann das Evangelium »Sequentia sancti Evangelii secundum Lucam«, schlug das Buch auf und fing an, mühsam die lateinischen Worte zu lesen. »In jener Zeit erging vom Kaiser Augustus der Befehl, das ganze Land aufzuzeichnen.«

Der Vikar hatte in St. Mary das gleiche Evangelium aus der »überarbeiteten und dem neuzeitlichen Sprachgebrauch angeglichenen« Volksbibel gelesen, worauf die Kirche des Tausendjährigen Reiches bestanden hatte, aber es schien nicht nur Jahrhunderte in der Zeit, sondern Welten in der Gesinnung und dem Glauben entfernt von dem Evangelium, das Pater Roche mühevoll vortrug.

»Und plötzlich war bei dem Engel eine große himmlische Heerschar, die Gott lobte und sang: ›Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die guten Willens sind.‹« Pater Roche verbeugte sich und küßte das Evangelienbuch. »Per evangelica dicta deleantur nostro delicta.«

Als nächstes sollte die Predigt kommen, wenn es eine gab. In den meisten Dorfkirchen predigten die Pfarrer nur zu den Hochämtern, und selbst dann war es gewöhnlich nicht mehr als eine Lektion aus dem Katechismus, die Aufzählung der sieben Todsünden oder eine Erläuterung des jeweiligen Evangeliums. Wahrscheinlich würde die Predigt erst im Hochamt am Weihnachtstag gehalten.

Aber Pater Roche trat durch die Chorschranke vor den Mittelgang im Kirchenschiff und begann zu sprechen.

»In den Tagen, als Christus vom Himmel zur Erde kam, sandte Gott ein Zeichen, daß die Menschen von seinem Kommen wissen sollten, und auch in den letzten Tagen wird es Zeichen geben. Es wird Hungersnöte und Pestilenz geben, und Satan wird im Land umgehen.«

Ach nein, dachte Kivrin, erzähl uns nicht, du habest den Teufel auf einem schwarzen Pferd gesehen. Sie blickte zu Imeyne. Die alte Frau sah wütend aus, aber es kam vermutlich nicht darauf an, was der Pfarrer sagte; sie war entschlossen, Fehler und Versäumnisse zu finden, die sie dem Bischof hinterbringen konnte. Frau Yvolde schien ein wenig irritiert, und alle anderen, die Kivrin sehen konnte, zeigten jenen Ausdruck müder Geduld, den die Menschen immer bekamen, wenn sie einer Predigt lauschten, gleich in welchem Jahrhundert. Letzte Weihnachten hatte Kivrin die gleichen Mienen in St. Mary gesehen.

In St. Mary hatte die Predigt von Müllverwertung gehandelt, und der Dechant von Christ Church hatte sie mit den Worten begonnen: »Das Christentum nahm seinen Anfang in einem Stall. Wird es in einer Kläranlage enden?«

Aber das hatte nichts ausgemacht. Es war Mitternacht gewesen, und in St. Mary gab es einen Steinfußboden und einen richtigen alten Altar, und wenn sie die Augen geschlossen hatte, war es ihr möglich gewesen, den Teppichboden im Mittelgang des Kirchenschiffes, die Lautsprecher und Laserkerzen, die Regenschirme und die Fußbodenheizung auszuschließen. Sie war vor der gepolsterten Kniebank niedergekniet und hatte sich vorgestellt, wie es im Mittelalter sein würde.

Mr. Dunworthy hatte sie aufgeklärt, daß es anders als alles sein würde, was sie sich vorgestellt habe, und er hatte natürlich recht. Aber nicht im Fall dieser Messe. Genauso hatte sie es sich vorgestellt, den Fußboden aus unebenen Steinplatten, das lateinisch gemurmelte Gebet, die Gerüche von Weihrauch und Talgkerzen und ungewaschenen Menschen und kalter Mauerfeuchtigkeit.

»Der Herr wird mit Feuer und Pestilenz kommen, und alle werden zugrunde gehen«, sagte Roche, »aber selbst in diesen letzten Tagen wird Gottes Barmherzigkeit uns nicht verlassen. Er wird uns Hilfe und Trost senden und uns sicher in den Himmel bringen.«

Sicher in den Himmel. Sie dachte an Mr. Dunworthy. »Gehen Sie nicht«, hatte er gesagt. »Es wird weit von dem entfernt sein, was Sie sich denken.« Und er hatte recht. Er hatte immer recht.

Aber selbst er, mit all seinen Zwangsvorstellungen und Ängsten vor Pocken und Halsabschneidern und Hexenverbrennungen, würde sich niemals gedacht haben, daß sie verlorengegangen war. Daß sie nicht wußte, wo der Absetzort war, und das weniger als eine Woche vor dem Rückholtermin. Sie blickte über den Mittelgang hin zu Gawyn, schlug den Blick aber sofort nieder, als sie sah, daß er herüber zu Eliwys schaute. Wenn es irgend möglich war, mußte sie nach der Messe mit ihm sprechen.

Pater Roche kehrte an den Altar zurück und setzte den Gottesdienst fort. Agnes lehnte sich gegen Kivrin, die ihr einen Arm um die Schultern legte. Das arme Kind, sie mußte erschöpft und übermüdet sein. Seit dem frühen Morgen auf den Beinen, und all dieses wilde Herumtollen. Sie überlegte, wie lang die Messe dauern würde.

Der ökumenische Gottesdienst in St. Mary hatte ein-einviertel Stunden gedauert, und schon während des Offertoriums war Dr. Ahrens’ Signalgeber angegangen. »Eine Geburt«, hatte sie Dunworthy und Kivrin zugeflüstert, bevor sie hinausgeeilt war. »Wie passend.«

Sie stellte sich vor, daß in Oxford jetzt alle in der Kirche sein würden, bevor ihr einfiel, daß dort Weihnachten längst vorbei war. Sie hatten dort drei Tage nach ihrer Ankunft hier Weihnachten gefeiert, während sie noch krank gewesen war. Was für ein Tag würde es sein? Der 2. Januar, kurz vor dem Ende der Weihnachtsferien und alle Dekorationen bereits entfernt.

Allmählich erwärmten die vielen Menschen im Kirchenschiff die kalte Luft, aber der Steinboden und die gemauerten Wände strahlten unverminderte Kälte aus. Hinter ihr hörte sie Füßescharren, Rascheln und Husten, während Pater Roche die liturgischen Stationen der heiligen Messe zelebrierte, und Agnes sank mehr und mehr gegen sie. Sie war froh, als das Sanctus erreicht war und sie niederknien konnte.

Wieder gingen ihre Gedanken nach Oxford, und sie stellte sich die Stadt am 2. Januar vor, die Schaufenster der Geschäfte voller Reklame für den Neujahrsverkauf, das Glockenspiel vom Carfax-Turm endlich verstummt. Dr. Ahrens würde sich in der Klinik mit nachfesttäglichen Lebensmittelvergiftungen befassen, und Mr. Dunworthy würde sich auf die kommenden Seminare und Vorlesungen vorbereiten. Nein, vielleicht nicht, dachte sie und sah ihn hinter der gläsernen Trennwand stehen. Er wird sich Sorgen um mich machen.

Pater Roche hob den Kelch mit beiden Händen, kniete nieder, küßte den Altar. In das Füßescharren und Husten mischte sich ein Flüstern von der Männerseite des Kirchenschiffes, und sie blickte hinüber. Gawyn hatte sich auf die Fersen zurücksinken lassen und schaute gelangweilt drein. Sir Bloet war eingeschlafen und wurde von einem Diener gestützt.

Auch Agnes schlief. Sie war so schlaff gegen Kivrin gesackt, daß es kaum möglich sein würde, sie zum Paternoster auf die Beine zu stellen. Kivrin versuchte es nicht einmal. Als alle anderen aufstanden, nahm sie die Gelegenheit wahr, Agnes enger an sich zu ziehen und ihren Kopf bequemer zu betten. Ihre Knie begannen zu schmerzen. Sie mußte in der Fuge zwischen zwei Steinplatten gekniet sein. Sie rutschte ein kleines Stück zurück, verlagerte das Gewicht und schob den Saum ihres Umhanges unter die Knie.

Pater Roche brach die Hostie über dem Kelch, machte drei Kreuzzeichen mit dem kleinsten Teil und sprach »Pax Domini sit semper vobiscum.«

Darauf knieten alle zum Agnus dei nieder. »Agnus dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis«, sang er. »Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünden der Welt, erbarme dich unser.«

Kivrin lächelte auf Agnes nieder. Sie schlief fest, lag wie ein totes Gewicht an Kivrins Seite und hatte den Mund offen, aber ihre Faust war noch immer um die kleine Glocke geschlossen. Mein Lamm, dachte Kivrin.

Als sie in St. Mary auf dem steinernen Boden gekniet hatte, hatte sie sich die Kerzen und die Kälte vorgestellt, aber nicht Frau Imeyne, die Pater Roche belauerte, daß er einen Fehler mache, nicht Eliwys oder Gawyn oder Rosemund. Und auch nicht Pater Roche mit seinem Halsabschneidergesicht und den abgenutzten, gestopften Strümpfen.

Nicht in hundert Jahren, nicht in siebenhundertvierunddreißig Jahren hätte sie sich Agnes vorgestellt, mit ihrem jungen Hund und ihren Eigenwilligkeiten und ihrem infizierten Knie. Ich bin froh, daß ich gekommen bin, dachte sie. Trotz allem.

Pater Roche machte das Kreuzeszeichen mit dem Kelch und trank daraus. »Dominus vobiscum«, sagte er, und hinter Kivrin entstand eine allgemeine Unruhe. Der Hauptteil der Messe war vorüber, und einzelne Teilnehmer gingen schon jetzt, um dem Gedränge am Ausgang zu entgehen. Anscheinend gab es kein Vorrecht der Grundherrschaft, wenn es um das Verlassen der Kirche ging. Viele warteten nicht einmal, bis sie draußen waren, bevor sie miteinander zu sprechen begannen. Sie konnten kaum die Entlassung hören.

»Ite, missa est«, sagte Pater Roche in die allgemeine Unruhe, und ein vielstimmiger Chor antwortete: »Deo gratias.«

Schon im Aufbruch begriffen, harrten die meisten Gläubigen noch aus, um den Segen zu empfangen. Pater Roche küßte nach stillem Gebet den Altar, erhob die Hände, verneigte sich vor dem Altarkreuz und wandte sich dem Volk zu.

»Benedicat vos omnipotens Deus, Pater, et Filius et Spiritus Sanctus.«

Mit dem »Amen« hob ein allgemeines Drängen zur Kirchentür an, und Frau Imeyne war, das »Amen« auf den Lippen, schon im Mittelgang, bevor der Pfarrer die zum Segen erhobene Hand sinken ließ. Sie sah aus, als ob sie entschlossen wäre, augenblicklich nach Bath und zum Bischof abzureisen.

»Hast du die Talgkerzen am Altar gesehen?« sagte sie zu Yvolde. »Ich befahl ihm, die Bienenwachskerzen zu nehmen, die ich ihm gab.«

Frau Yvolde schüttelte den Kopf und blickte unheilverheißend zu Pater Roche, und die beiden wandten sich zum Gehen, auf den Fuß gefolgt von Rosemund, die anscheinend vermeiden wollte, mit Sir Bloet zum Herrenhaus zurückzugehen. Schon einen Augenblick später verschwanden die drei im Strom der Dorfbewohner, die schwatzend und lachend hinter ihnen aufschlossen. Bis Sir Bloet prustend und schnaufend auf die Füße käme, würden sie schon unterwegs zum Herrenhaus sein.

Kivrin hatte selbst Mühe mit dem Aufstehen. Ein Fuß war ihr eingeschlafen, und Agnes wußte nichts mehr von der Welt. »Agnes«, sagte sie und richtete die Kleine auf. »Du mußt aufwachen. Es ist Zeit zum Heimgehen.«

Sir Bloet hatte sich mit der Unterstützung eines Dieners erhoben, purpurrot vor Anstrengung, und kam herüber, Eliwys den Arm zu bieten. »Eure Tochter ist eingeschlafen«, bemerkte er.

Eliwys blickte zu Agnes. »Ja.« Sie legte die Hand in seinen Arm, und sie schlossen sich den anderen an.

»Euer Gemahl ist nicht gekommen, wie er versprochen hatte.«

»Nein«, hörte Kivrin Eliwys sagen.

Draußen begannen die Glocken in nah und fern wieder zu läuten, ein ungestümes, unregelmäßiges Läuten. Es klang herrlich. »Agnes!« Kivrin schüttelte sie. »Jetzt ist es Zeit, deine Glocke zu läuten.«

Sie regte sich nicht einmal. Kivrin hob das schlafende Kind auf die Schulter. Agnes’ Arme hingen schlaff hinten herunter, und die Glocke bimmelte.

»Die ganze Nacht hast du gewartet, deine Glocke zu läuten«, sagte Kivrin und erhob sich auf ein Knie. »Wach auf, Lamm!«

Sie hielt Ausschau nach jemandem, der ihr aufhelfen würde, aber der vordere Teil des Kirchenschiffes hatte sich fast geleert. Cob machte die Runde und löschte die Öllampen und Kerzenflammen mit den schrundigen Fingern. Gawyn und Sir Bloets Neffen waren am hinteren Ende des Kirchenschiffes und schnallten ihre Schwerter um. Pater Roche war nirgends zu sehen, also mußte er derjenige sein, der mit solcher Begeisterung die Glocke läutete.

Der eingeschlafene Fuß begann zu prickeln. Sie bewegte die Zehen in dem dünnen Schuh und verlagerte das Gewicht auf ihn. Es fühlte sich schrecklich an, aber sie konnte darauf stehen. Sie schob Agnes weiter über die Schulter und versuchte aufzustehen. Dabei trat sie auf ihren Rocksaum und fiel vornüber.

Gawyn kam zu ihr, als sie, mit einer Hand am Boden abgestützt und mit der anderen die schlafende Agnes auf der Schulter haltend, vergebens hochzukommen suchte.

»Fräulein Katherine, meine Herrin Eliwys befahl mir, Euch zu helfen«, sagte er. Er nahm ihr Agnes ab und auf seine Schulter, zog Kivrin in die Höhe und schritt hinaus. Kivrin hinkte eilig neben ihm her.

»Ich danke Euch«, sagte sie, als sie das Gedränge auf dem Kirchhof hinter sich ließen. »Meine Arme fühlten sich an, als wollten sie abfallen.«

»Sie ist ein kräftiges Kind«, sagte er.

Agnes’ Glocke glitt ihr vom Handgelenk und fiel in den Schnee. Kivrin hob sie auf. Der Knoten war so klein, daß er kaum zu sehen war, und die abstehenden Enden des Bandes waren zu dünnen Fäden zerfranst, doch nachdem sie im Gehen eine Weile mit den Fingernägeln daran gezupft und genestelt hatte, ging der Knoten auf, und sie band die Glocke mit einer kleinen Schleife wieder um Agnes’ baumelndes Handgelenk.

»Ich freue mich, einer Dame in Bedrängnis behilflich zu sein«, sagte er, aber sie hörte ihn nicht.

Sie waren ganz allein auf dem Dorfanger. Der Rest der Familie hatte die Einfahrt zum Gutshof fast erreicht. Der Verwalter hielt die Laterne für Imeyne und Yvolde, und Sir Bloets Diener hatten ihre Pechfackeln wieder angezündet. Viele Leute standen noch in Gruppen auf dem Friedhof beisammen, und jemand hatte neben der Straße ein Feuer angezündet. Dort standen ein paar Dorfbewohner beisammen, wärmten sich die Hände und ließen eine hölzerne Schale mit etwas die Runde machen, aber hier, mitten auf dem Dorfanger, waren sie ganz allein. Die Gelegenheit, an die sie schon nicht mehr geglaubt hatte, war gekommen.

»Ich wollte Euch danken, daß Ihr versucht habt, diese Räuber zu finden, und daß Ihr mich im Wald gerettet und hierher gebracht habt«, sagte sie. »Als Ihr mich fandet, wie weit von hier war das? Könntet Ihr mich zu dem Ort hinführen?«

Er blieb stehen und schaute sie an. »Haben sie es Euch nicht gesagt? All Eure Sachen, die gefunden wurden, brachte ich zum Gutshof. Die Räuber nahmen alles mit, was in den Kisten und Körben war, und obwohl ich ihnen nachritt, fand ich leider nichts.« Er setzte sich wieder in Bewegung.

»Ich weiß, daß Ihr meine Kisten und den Wagen hierher brachtet. Ich danke Euch dafür. Aber das war nicht der Grund, warum ich die Stelle sehen wollte, wo Ihr mich fandet«, sagte Kivrin. Sie sprach schnell, in Sorge, sie würden die anderen einholen, bevor sie ihr Anliegen vorgebracht hätte.

Frau Imeyne war stehengeblieben und blickte zu ihnen zurück. Sie mußte die Sache regeln, bevor Imeyne den Verwalter zurückschickte, um zu sehen, was sie aufhielt.

»Ich verlor mein Gedächtnis, als ich bei dem Überfall verletzt wurde«, sagte sie. »Ich dachte, ich könnte die Erinnerung wiederfinden, wenn ich den Ort sehen würde, wo Ihr mich fandet.«

Er war wieder stehengeblieben und blickte hinüber zur Straße oberhalb der Kirche. Dort näherten sich rasch die schwankenden Lichter von Pechfackeln.

»Ihr seid der einzige, der weiß, wo die Stelle ist«, sagte Kivrin, »sonst würde ich Euch nicht bemühen, aber wenn Ihr mir nur sagen könntet, wo es ist, würde ich…«

»Da ist nichts«, sagte er vage, den Blick noch immer auf den Lichtern. »Ich brachte Euren Wagen und die Kisten zum Gutshof.«

»Ich weiß«, sagte Kivrin, »und ich danke Euch, aber…«

»Sie sind in der Scheune«, sagte er. Er wandte sich ab, als dumpfes Hufgetrappel herüberdrang. Die tanzenden Lichter waren Laternen, die von Berittenen getragen wurden. Sie galoppierten an der Kirche vorbei und durch das Dorf, wenigstens ein halbes Dutzend, und zügelten ihre Pferde, wo Eliwys und die anderen bei der Einfahrt zum Gutshof standen.

Es ist ihr Mann, dachte Kivrin, und bevor sie den Gedanken artikulieren konnte, hatte Gawyn ihr Agnes in die Arme gedrückt und war losgerannt; im Laufen zog er das Schwert.

Kivrin eilte ihm nach, behindert durch Agnes’ Gewicht und bedrängt von schlimmen Befürchtungen. Es war nicht Eliwys’ Mann. Es waren seine Häscher, die ihn verfolgten, die wahre Ursache, daß sie sich hier verbargen, daß Eliwys so zornig auf Imeyne gewesen war, weil sie Sir Bloet über ihre Anwesenheit hier unterrichtet hatte.

Die Männer mit den Laternen und Fackeln waren abgestiegen. Eliwys ging auf einen von drei Reitern zu, die in den Sätteln geblieben waren, und fiel im Schnee auf die Knie, als wäre sie geschlagen worden.

Mein Gott, nein, dachte Kivrin, schon außer Atem.

Agnes’ Glocke bimmelte wild an ihrem schlenkernden Arm.

Gawyn erreichte die Fremden, ließ das blitzende Schwert sinken und fiel neben Eliwys auf die Knie. Sie erhob sich wieder und trat auf die Berittenen zu, die Arme in einem Willkommensgruß erhoben.

Kivrin blieb schnaufend stehen und sah Sir Bloet auf die Fremden zukommen, niederknien und aufstehen. Die Reiter schlugen ihre Kapuzen zurück. Sie trugen Hüte irgendwelcher Art, oder Kronen. Gawyn stieß sein Schwert in die Scheide, bevor er sich wieder erhob. Einer der Reiter streckte die Hand aus, und etwas glitzerte.

»Was ist?« fragte Agnes schläfrig.

»Ich weiß nicht.«

Agnes drehte sich in Kivrins Armen, bis sie sehen konnte. »Es sind die heiligen drei Könige«, sagte sie staunend.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(064996–065537)

Heiligabend 1320 (alte Zeitrechnung). Ein Gesandter des Bischofs ist eingetroffen, zusammen mit zwei anderen Geistlichen. Sie kamen kurz nach der Christmette ins Dorf geritten. Frau Imeyne ist hocherfreut, glaubt sie doch, sie seien in Beantwortung ihrer Botschaft gekommen, mit der sie einen neuen Kaplan erbat, aber ich bin nicht davon überzeugt. Sie sind nur mit dem nötigsten Reisegepäck versehen, und in ihrem Verhalten ist Nervosität spürbar, als ob sie in einer geheimen, eiligen Mission unterwegs wären.

Es muß unseren Hausherrn betreffen, obwohl das Geschworenengericht ein weltliches und kein geistliches Gericht ist. Vielleicht ist der Bischof ein Freund von Guillaume d’Iverie oder von König Eduard II., und sie sind gekommen, um mit Eliwys irgendein Abkommen auszuhandeln, das ihm die Freiheit sichern soll.

Was immer der Grund ihres Besuches ist, sie verstehen es, auch auf Reisen stilvoll aufzutreten. Als Agnes sie zuerst sah, glaubte sie die heiligen drei Könige vor sich zu haben, und sie sehen wirklich wie Könige aus. Der Gesandte des Bischofs hat ein schmales, aristokratisches Gesicht, und alle sind sie auf das feinste gekleidet. Einer von ihnen trägt einen purpurnen Samtvorhang mit einem am Rücken aufgenähten Kreuz aus weißer Seide.

Frau Imeyne machte sich sofort mit ihrer traurigen Geschichte an ihn heran, wie unwissend, ungeschickt und insgesamt unmöglich Pater Roche sei, und daß er keine Pfarrei verdiene.

Unglücklicherweise (und glücklicherweise für Pater Roche) war er nicht der Gesandte, sondern nur sein Sekretär. Der Gesandte war der im roten Umhang, auch sehr eindrucksvoll, mit Goldstickerei und Zobelfell gesäumt.

Der dritte ist ein Mönch oder Abt der Zisterzienser — wenigstens trägt er das weiße Ordensgewand, obwohl es aus noch feinerer Wolle als mein Umhang gemacht und mit einer seidenen Kordel gegürtet ist. An jedem seiner dicken Finger trägt er einen Ring, der einem König Ehre gemacht hätte, aber er benimmt sich nicht wie ein Mönch. Er und der Gesandte verlangten beide Wein, bevor sie noch abgesessen waren, und es ist kaum zu übersehen, daß der Sekretär bereits ziemlich viel getrunken hatte, bevor er hierher kam. Nach dem Absitzen bewegte er sich recht unsicher und mußte von dem dicken Mönch untergefaßt werden, als sie ins Haus gingen.


(Unterbrechung)

Anscheinend irrte ich mich über den Grund ihres Kommens. Sobald sie ins Haus kamen, gingen Eliwys und Sir Bloet mit dem Gesandten des Bischofs in einen Winkel, wo sie unbelauscht sein konnten, aber sie sprachen nur wenige Minuten miteinander, und danach hörte ich sie zu Imeyne sagen: »Sie haben nichts von Guillaume gehört.«

Diese Nachricht schien Imeyne weder zu überraschen noch sonderlich zu bekümmern. Offensichtlich glaubt sie, die Gesandtschaft sei gekommen, ihr einen neuen Kaplan zu bringen und sie tut ein Übriges, um ihnen gefällig zu sein. Sie besteht darauf, daß sofort das Weihnachtsessen angerichtet werde und daß der Gesandte des Bischofs den Platz des Hausherren einnehme. Die Besucher schienen jedoch mehr am Trinken als am Essen interessiert. Imeyne brachte ihnen eigenhändig Becher mit Wein, die sie im Nu austranken, um nach mehr zu rufen. Der Sekretär erwischte Maisrys Röcke, als sie den Krug brachte, zog sie näher und steckte ihr die Hand ins Hemd. Sie schlug natürlich die Hände zusammen.

Das einzig Gute an ihrem Aufenthalt hier ist, daß sie die allgemeine Verwirrung noch erheblich steigern. Ich hatte nur ein paar Minuten Zeit, um mit Gawyn zu sprechen, aber morgen oder übermorgen wird es mir sicherlich gelingen, ihn unbeobachtet beiseite zu nehmen — dies um so mehr, als Imeynes Aufmerksamkeit ganz auf den Gesandten konzentriert ist, der Maisry gerade den Krug weggenommen und sich den Wein selbst eingeschenkt hat — und zu überreden, daß er mir den Absetzort zeigt. Es ist noch reichlich Zeit. Ich habe noch fast eine Woche.

21

Am 28. starben zwei weitere Personen, beide Sekundärinfektionen, die an der Tanzveranstaltung in Headington teilgenommen hatten. Und Latimer erlitt einen Schlaganfall.

»Er entwickelte eine Herzmuskelentzündung, die eine Embolie verursachte«, hatte Mary bei ihrem Anruf gesagt. »Gegenwärtig ist er ohne Bewußtsein.«

Mehr als die Hälfte der Einquartierten war an der Influenza erkrankt, und in der Klinik war nur noch Platz für die ernstesten Fälle. Dunworthy und Finch und einer der Einquartierten, der eine Krankenpflegerausbildung genossen hatte, versorgten die Kranken rund um die Uhr, maßen ihnen das Fieber und gaben Orangensaft aus. Dunworthy stellte Feldbetten auf und besorgte und verteilte Medikamente.

Und sorgte sich weiter. Als er Mary von Badris Äußerungen »Das kann nicht stimmen« und »Es waren die Ratten« erzählt hatte, war sie unbeeindruckt geblieben. »Es ist das Fieber, James. Das hat keinen Zusammenhang mit der Realität. Ich hatte mal einen Patienten, der ständig von den Elefanten der Königin redete.« Aber er konnte sich die Vorstellung, daß Kivrin im Jahr 1348 gelandet sei, nicht aus dem Kopf schlagen.

An jenem ersten Abend hatte Badri sich nach dem Jahr erkundigt und gesagt, das könne nicht stimmen. Nach seinem Streit mit Gilchrist hatte Dunworthy Andrews angerufen und ihm mitgeteilt, er könne den Zugang zum Netz im Brasenose College nicht erhalten.

»Macht nichts«, hatte Andrews darauf gesagt. »Die örtlichen Koordinaten sind nicht so kritisch wie die zeitlichen. Die örtlichen Koordinaten kann ich über die Ausgrabung vom Jesus College bekommen. Ich habe bereits mit ihnen über die Parameterprüfungen gesprochen, und sie sind einverstanden.«

Die Bildübertragung war wieder defekt gewesen, aber er hatte sich nervös angehört, als hätte er befürchtet, daß Dunworthy wieder mit seinem Drängen anfangen würde, er solle nach Oxford kommen. »Ich habe mich eingehend mit Verschiebungen beschäftigt«, sagte er. »Theoretisch gibt es keine Grenzen, aber in der Praxis tritt meist nur eine minimale Verschiebung auf. Die maximale Verschiebung ist niemals über fünf Jahre hinausgegangen, und das waren alles unbemannte Operationen. Die größte Verschiebung bei einer bemannten Absetzoperation war eine Ferndistanz im 17. Jahrhundert und betrug zweihundertsechsundzwanzig Tage.«

»Könnte es etwas anderes geben?« hatte Dunworthy sich erkundigt. »Könnte außer der Verschiebung etwas nicht planmäßig verlaufen sein?«

»Nichts, wenn die Koordinaten stimmen«, hatte Andrews gesagt und versprochen, ihm Meldung zu machen, sobald er die Parameterprüfungen vorgenommen hätte.

Fünf Jahre war 1325. Die Pest war damals noch nicht einmal in China aufgetreten, und Badri hatte Gilchrist bei klarer Besinnung gesagt, die Verschiebung sei minimal. Und es konnten nicht die Koordinaten sein. Badri hatte sie überprüft, bevor er erkrankt war. Aber die Befürchtungen nagten weiter in ihm, und die wenigen freien Augenblicke, die er erübrigen konnte, verbrachte er mit Telefongesprächen, um einen Techniker zu finden, der bereit war zu kommen und die Fixierung abzulesen, sobald der Impfstoff eingetroffen wäre und Gilchrist das Laboratorium wieder öffnete. Die Sendung aus den Vereinigten Staaten hätte schon am Vortag eintreffen sollen, doch als Mary anrief, hatte sie noch darauf gewartet.

Am Spätnachmittag läutete sie wieder an. »Können Sie noch ein Krankenzimmer einrichten?« fragte sie. Die Bildübertragung war wieder in Ordnung. Ihre Schutzkleidung sah aus, als ob sie darin geschlafen hätte, und die Atemmaske baumelte ihr an einem Band vom Hals.

»Ich habe bereits eine Krankenstation eingerichtet«, sagte er. »Sie ist voll von Einquartierten, wie Sie wissen. Bis jetzt haben wir einunddreißig Fälle.«

»Haben Sie Räumlichkeiten für mehr? Ich brauche sie jetzt noch nicht«, sagte sie in erschöpftem Ton, »aber wenn es so weitergeht, wird es bald soweit sein. Wir haben unsere Kapazität nahezu ausgeschöpft, und mehrere Leute vom Personal sind entweder selbst erkrankt oder weigern sich, von außerhalb in die Quarantänezone zu kommen.«

»Und der Impfstoff ist noch nicht da?«

»Nein. Das Grippezentrum hat gerade angerufen. Sie hatten beim ersten Durchgang ein fehlerhaftes Resultat und mußten noch einmal anfangen. Morgen soll die Sendung hier sein. Man vermutet jetzt, daß das Virus aus Uruguay eingeschleppt wurde.« Sie lächelte matt. »Ist Badri vielleicht mit jemandem aus Uruguay zusammengekommen? Wann können Sie die Betten bereitstellen?«

»Bis heute abend«, sagte Dunworthy, aber Finch informierte ihn, daß fast keine zusammenklappbaren Feldbetten mehr zur Verfügung stünden, und er mußte zum Gesundheitsamt gehen und ihnen ein Dutzend abschwatzen. Erst am Morgen hatten sie die neue Krankenstation in zwei Seminarräumen eingerichtet.

Finch, der ihm geholfen hatte, die Betten zusammenzusetzen und zu beziehen, stellte fest, daß sie fast kein sauberes Bettzeug, Schutzmasken und Toilettenpapier mehr hatten. »Es hat schon für die Einquartierungen nicht gereicht«, sagte er, »geschweige denn für all diese Patienten, die wir hereinbekommen. Und Verbandmaterial haben wir überhaupt nicht.«

»Es ist kein Krieg«, sagte Dunworthy. »Ich glaube nicht, daß es Verwundete geben wird. Haben Sie feststellen können, ob eines der anderen Colleges einen Techniker hier in Oxford hat?«

»Ja, Sir, ich telefonierte mit allen, aber es ist keiner da.« Er klemmte sich ein Kissen unter das Kinn, steckte das Bettlaken unter die Matratze und zog es glatt. »Ich habe Mitteilungen ausgehängt, in denen alle gebeten werden, mit Toilettenpapier zu sparen, wie Sie wissen, aber es hat nichts genützt. Die Amerikanerinnen sind besonders verschwenderisch. Andererseits tun sie mir leid. Helen ist gestern abend krank geworden, und sie haben keinen Ersatz.«

»Helen?«

»Mrs. Piantini. Sie hat 39,7 Fieber. Nun werden sie Teile ihres einstudierten Programmes streichen müssen.«

Was wahrscheinlich ein Segen ist, dachte Dunworthy. »Erkundigen Sie sich, ob sie weiterhin mein Telefon überwachen können, selbst wenn sie nicht mehr üben«, sagte er. »Ich erwarte mehrere wichtige Anrufe. Hat Andrews sich gemeldet?«

»Nein, Sir, noch nicht. Und die Bildübertragung ist wieder ausgefallen.« Er schüttelte das Kissen auf. »Das mit dem Glockenspiel ist zu dumm. Sie können natürlich den Stedman spielen, aber das ist ein alter Hut. Wirklich ein Jammer, daß es keine Alternativlösung gibt.«

»Haben Sie die Liste der Techniker?«

»Ja, Sir«, sagte Finch und machte eine Kopfbewegung. »Drüben bei der Wandtafel.«

Dunworthy nahm die Blätter auf und überflog das zuoberst liegende. Es war mit Zahlenkolonnen vollgeschrieben, alle mit den Digitalen eins bis sechs in unterschiedlicher Reihenfolge.

»Das ist es nicht«, sagte Finch und nahm ihm die Papiere aus der Hand. »Das sind die Variationen für das Stück ›Chicago Surprise‹, das nun ausfallen muß.« Er gab Dunworthy ein einzelnes Blatt. »Das ist sie. Ich habe die Techniker mit Anschriften und Telefonnummern nach Colleges getrennt aufgeführt.«

Colin kam in seinem nassen Mantel herein, eine Rolle Klebeband und ein mit Plastikfolie geschütztes Bündel in den Händen. »Der Vikar sagte, daß ich diese Plakate in allen Krankenzimmern anbringen soll«, sagte er. Er schlug die Plastikfolie zurück und nahm ein Plakat heraus. Der Text lautete: »Fühlen Sie sich desorientiert? Verwirrt? Geistige Verwirrung kann ein erstes Anzeichen der Influenza sein.«

Er riß einen Streifen Klebeband ab und befestigte das Plakat an der Wandtafel. »Ich war gerade dabei, diese Plakate im Krankenhaus anzubringen, und was meinen Sie, was der Gallenstein tat?« sagte er beim Heraussuchen eines weiteren Plakates. Hier lautete der Text: »Tragen Sie Ihre Schutzmaske.« Er befestigte es an einer leeren Wand. »Sie las den Patienten aus der Bibel vor.« Er steckte das Klebeband ein. »Hoffentlich erwischt es mich nicht auch noch.« Er steckte das Bündel der übrigen Plakate unter den Arm und ging hinaus.

»Tragen Sie Ihre Schutzmaske«, sagte Dunworthy.

Colin grinste von der Tür zurück. »Genau das sagte der Gallenstein. Und, daß der Herr jeden zerschmettern würde, der nicht auf die Worte der Rechtschaffenen hört.« Er zog den grauen Plaidschal hervor und wickelte ihn sich im Stil eines Wegelagerers um die untere Gesichtshälfte. »Den trage ich statt einer Schutzmaske.«

»Stoff kann Viren nicht fernhalten.«

»Ich weiß. Es ist die Farbe. Die schreckt sie ab.« Er schlüpfte hinaus.

Dunworthy rief Mary an, um ihr zu sagen, daß die Krankenstation eingerichtet sei, kam aber nicht durch, also ging er hinüber zur Klinik. Der Regen hatte ausgesetzt, und auf den Straßen waren wieder Menschen zu sehen. Die meisten trugen Schutzmasken bei ihren Einkäufen. Vor der Apotheke stand eine Schlange. Dennoch wirkten die Straßen unnatürlich still.

Endlich hat jemand das Glockenspiel ausgeschaltet, dachte Dunworthy. Vielleicht ist es das.

Mary war in ihrem Büro und starrte auf einen Bildschirm. »Endlich liegt die genaue Bestimmung vor«, sagte sie, bevor er ihr von der Krankenstation berichten konnte.

»Haben Sie Gilchrist informiert?«

»Nein«, sagte sie. »Es ist nicht das Virus aus Uruguay. Auch nicht das aus South Carolina.«

»Was ist es dann?«

»Es ist ein H9N2. Das South Carolina- und das Uruguay-Virus waren beide H3.«

»Woher ist er dann gekommen?«

»Das Grippezentrum weiß es nicht. Es ist kein bekanntes Virus. Bisher nicht klassifiziert.« Sie zeigte ihm einen Ausdruck. »Es hat eine hohe Mutationsrate, sieben Punkte, was erklärt, warum er tödlich wirkt.«

Der Ausdruck war wie Finchs Liste der Variationen mit Zahlenkolonnen bedeckt und ebenso unverständlich. »Von irgendwo muß der Erreger aber doch gekommen sein.«

»Nicht unbedingt. Ungefähr alle zehn Jahre gibt es eine größere antigene Verlagerung mit epidemischen Potential, also könnte der Erreger in Badri seinen Ursprung haben.« Sie nahm den Ausdruck zurück. »Wissen Sie, ob er in der Nähe von Bauernhöfen mit Viehhaltung lebt?«

»Viehhaltung? Er lebt in einer Wohnung in Headington.«

»Mutationen entstehen bisweilen durch die Kreuzung bei Vögeln vorkommender Arten mit solchen, die mehr auf Menschen spezialisiert sind. Das Grippezentrum wünscht, daß wir mögliche Kontakte mit Vögeln und Einwirkung von Röntgenstrahlen überprüfen. Virale Mutationen werden manchmal durch Röntgenbestrahlung verursacht.« Sie studierte den Ausdruck, als ergäbe er einen Sinn. »Es ist jedenfalls eine ungewöhnliche Mutation. Es gibt keine Rekombination der Hämagglutinin-Gene, nur eine extrem große Punktmutation.«

Kein Wunder, daß sie Gilchrist nicht verständigt hatte. Er hatte angekündigt, daß er das Laboratorium öffnen würde, sobald die genetische Entschlüsselung der Viren gelungen und ein Impfstoff hergestellt sei, aber diese Nachricht würde ihn nur in seinen lächerlichen Theorien bestärken.

»Wann wird es ein Gegenmittel geben?«

»Sobald ein Analogon hergestellt werden kann. Und ein Impfstoff. Die Arbeit am Prototyp hat bereits begonnen.«

»Wie lang wird es dauern?«

»Drei bis fünf Tage, um einen Prototyp hervorzubringen, dann mindestens weitere fünf für die Herstellung, vorausgesetzt, es entstehen keine Schwierigkeiten bei der Duplizierung der Proteine. Um den 10. Januar herum sollten wir in der Lage sein, mit Impfungen zu beginnen.«

Um den 10. Januar herum. Und das wäre erst der Anfang der Immunisierung. Wie lange würde es dauern, die gesamte Quarantänezone zu immunisieren? Eine Woche? Zwei? Bis Gilchrist und die Protestler es für ungefährlich hielten, das Laboratorium zu öffnen?

»Das ist zu lang«, sagte er.

Mary seufzte. »Ich weiß. Man darf nicht daran denken, wie viele Fälle wir bis dahin haben werden. Heute morgen hat es bereits fünf neue gegeben.«

»Glauben Sie, daß es eine mutierte Art ist?«

Sie dachte darüber nach. »Nein. Ich halte es für viel wahrscheinlicher, daß Badri den Erreger bei dieser Tanzveranstaltung in Headington von jemandem einfing. Es können Jaina oder Leute der Earth First-Bewegung oder andere dagewesen sein, die von antiviralen Mitteln und der ganzen modernen Medizin nichts halten. Die kanadische Gänseinfluenza von 2010 wurde, wenn Sie sich erinnern, zu einer landwirtschaftlichen Genossenschaft zurückverfolgt, die von einer strikt antimodernistischen christlichen Sekte betrieben wird. Es gibt eine Quelle, und wir werden sie finden.«

»Und was soll inzwischen mit Kivrin geschehen? Wie, wenn die Quelle bis zum Rückholtermin nicht gefunden wird? Kivrin soll am 6. Januar zurückkommen. Werden Sie die Quelle bis dahin gefunden haben?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie müde. »Vielleicht mag sie nicht in ein Jahrhundert zurück, dessen Entwicklung rasch in die Richtung auf eine Einstufung in Klasse 10 geht. Vielleicht bleibt sie lieber im Mittelalter.«

Er ging hinauf, Badri zu besuchen. Soweit dem Personal bekannt war, hatte er seit Heiligabend nicht mehr von Ratten gesprochen und auch keine auffallende Unruhe gezeigt. »Laboratorium?« murmelte er, als er Dunworthy sah. Er versuchte ihm mit zittriger Hand eine Notiz zu geben, dann schien er in erschöpften Schlaf zu sinken.

Dunworthy blieb nur ein paar Minuten und suchte dann Gilchrist auf.

Es regnete wieder, als er das Brasenose College erreichte. Die Demonstranten hatten bis jetzt ausgehalten und standen mit eingezogenen Schultern fröstelnd und naß unter ihrem Spruchband.

Der Portier war gerade dabei, den Weihnachtsschmuck von seinem kleinen Christbaum zu nehmen. Als er Dunworthy sah, zeigte er sich alarmiert. Dunworthy ging an ihm vorbei und durch das Tor.

»Sie können nicht hinein, Mr. Dunworthy!« rief ihm der Pförtner nach. »Das College ist gesperrt.«

Dunworthy kümmerte sich nicht darum und ging in den Hof. Gilchrists Räume waren in dem Gebäude hinter dem Laboratorium. Er beschleunigte seinen Schritt, da er vermutete, daß der Pförtner ihm nachlaufen und versuchen würde, ihn aufzuhalten.

Am Eingang des Laboratoriums war ein großes gelbes Schild mit der Aufschrift: »Gesperrt. Kein Zutritt ohne Genehmigung.« Die Tür war mit einer elektronischen Alarmanlage versehen.

Gilchrist schritt durch den Regen auf ihn zu. Der Portier mußte ihn alarmiert haben. »Mr. Dunworthy. Das Laboratorium ist gesperrt und nicht zugänglich.«

»Ich wollte Sie sprechen«, sagte Dunworthy.

Der Portier kam herbeigeeilt. »Soll ich den Ordnungsdienst der Universität rufen, Mr. Gilchrist?«

»Das wird nicht erforderlich sein. Kommen Sie mit hinauf«, sagte er zu Dunworthy. »Ich habe etwas, das ich Ihnen zeigen möchte.«

Er führte Dunworthy in sein Büro, setzte sich an den mit Papieren beladenen Schreibtisch und setzte eine komplizierte Schutzmaske mit besonderen Filtern auf.

»Ich habe eben mit dem Grippezentrum gesprochen«, sagte er. Seine Stimme klang hohl und gedämpft, wie aus einiger Entfernung. »Der Erreger ist ein bisher genetisch nicht entschlüsseltes Virus, dessen Ursprung unbekannt ist.«

»Seine genetische Struktur ist inzwischen entschlüsselt«, sagte Dunworthy, »und Analogon und Impfstoff werden innerhalb weniger Tage zur Verfügung stehen. Dr. Ahrens hat veranlaßt, daß Brasenose mit Vorrang immunisiert wird, und ich versuche einen Techniker ausfindig zu machen, der die Fixierung lesen kann, sobald eine Immunisierung stattgefunden hat.«

»Ich fürchte, das wird nicht so einfach sein«, erwiderte Gilchrist. »Ich habe mich mit dem Auftreten der Influenza in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts beschäftigt. Es gibt klare Hinweise, daß in den ersten Jahrzehnten nach 1300 eine Serie von Influenzaepidemien die Bevölkerung schwächte und dadurch ihre Widerstandsfähigkeit gegen den Schwarzen Tod verminderte.«

Er nahm ein Buch vom Schreibtisch, das wie eine alte Chronik aussah. »Ich habe sechs verschiedene Hinweise auf Ausbrüche zwischen Oktober 1318 und Februar 1321 gefunden.« Er blickte kurz zu Dunworthy auf und begann zu lesen: »Nach der Erntezeit kam über ganz Dorset ein so heftiges Fieber, daß viele daran starben. Dieses Fieber begann mit Schmerzen im Kopf und den Gliedern, mit Verwirrung und Schwäche. Man suchte die Krankheit durch Aderlässe, Umschläge und Kräuteraufgüsse zu heilen, aber viele starben trotzdem.«

Ein Fieber. In einem Zeitalter von Fieberkrankheiten wie Typhus und Cholera und Masern, die allesamt ähnliche Symptome zeigten.

Gilchrist hob ein anderes Buch in die Höhe. »1319. Die Sitzungen des Geschworenengerichts in Bath mußten abgesagt werden. Eine Krankheit der Brust befiel das Gericht, so daß niemand, weder Richter noch Geschworene, übrig blieben, die Fälle zu verhandeln.« Gilchrist blickte Dunworthy mit hochgezogenen Brauen an. »Sie erklärten, daß die Befürchtungen der Öffentlichkeit wegen einer Infektion über das Netz hysterisch und unbegründet seien. Es scheint jedoch, daß sie auf handfesten historischen Tatsachen beruhen.«

Auf handfesten historischen Tatsachen. Hinweise auf Fieber und Krankheiten der Brust, die alles sein konnten, Lungenentzündung oder Typhus oder hundert andere namenlose Infektionen. Alles das ging an der Sache vorbei.

»Das Virus kann nicht durch das Netz gekommen sein«, sagte er. »Es wurden Absetzoperationen in Seuchenzeiten und auf Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges durchgeführt, wo Senfgas eingesetzt wurde, nach Tel Aviv. Der Fachbereich 20. Jahrhundert schickte Meß- und Untersuchungsinstrumente zwei Tage nach einem oberirdischen Atomtest zum Explosionsort. Nichts kommt durch.«

»Das sagen Sie.« Er hielt einen Computerausdruck hoch. »Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ergibt unter Berücksichtigung aller Faktoren, daß in 0,08 Prozent aller Fälle mit der Möglichkeit einer Übertragung von Mikroorganismen durch das Netz gerechnet werden muß. Und daß bei der Öffnung des Netzes die Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins aktiver Myxoviren im kritischen Bereich 22,1 Prozent betrug.«

»Woher, in Gottes Namen, haben Sie diese Zahlen?« fragte Dunworthy. »Aus dem Hut gezaubert? Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung«, sagte er mit ironischer Betonung des Wortes, »lag die Möglichkeit, daß jemand anwesend sein würde, wenn Kivrin durchginge, bei nur 0,4 Prozent, eine Wahrscheinlichkeit, die Sie für statistisch bedeutungslos erklärten.«

»Viren sind außerordentlich widerstandsfähige Organismen«, sagte Gilchrist. »Es ist bekannt, daß sie lange Zeiträume im Ruhezustand überdauern können, Zeiträume, in denen sie extremen Temperaturen, Trockenheit und Feuchtigkeit ausgesetzt sind, und trotzdem lebensfähig bleiben. Unter bestimmten Bedingungen bilden sie Kristalle, die ihre Struktur sogar unbegrenzte Zeit erhalten. Werden sie dann wieder in eine Lösung überführt, erweist sich ihre Virulenz als ungebrochen. Lebensfähige Kristalle des Tabakmosaikvirus sind entdeckt worden, die aus dem 16. Jahrhundert datieren.

Es besteht offensichtlich ein nicht zu unterschätzendes Risiko, daß Viren übertragen werden, wenn das Netz geöffnet wird, und unter den Umständen kann ich eine Öffnung des Netzes unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht gestatten.«

»Das Virus kann nicht durch das Netz gekommen sein«, sagte Dunworthy.

»Warum sind Sie dann so begierig, die Fixierung lesen zu lassen?«

»Weil…« Dunworthy brach ab, um seine Beherrschung zu wahren. »Weil die Ablesung uns verraten wird, ob die Absetzoperation wie geplant verlief oder ob etwas schiefging.«

»Ach, Sie geben also zu, daß die Möglichkeit eines Irrtums besteht?« sagte Gilchrist. »Warum dann nicht ein Irrtum, der das Eindringen von Viren durch das Netz erlauben würde? Solange diese Möglichkeit besteht, wird das Laboratorium gesperrt bleiben. Ich bin ganz sicher, daß Mr. Basingame meine Vorgehensweise billigen wird.«

Basingame, dachte Dunworthy. Darum allein ging es ihm. Es hatte nichts mit dem Virus oder den Demonstranten oder »Krankheiten der Brust« im Jahre 1318 zu tun. Alles war nur darauf abgestellt, sein Handeln vor Basingame zu rechtfertigen.

Gilchrist war in Basingames Abwesenheit amtierender Dekan. In dieser Eigenschaft hatte er die Einstufung geändert und die Absetzoperation überstürzt, offensichtlich mit der Absicht, Basingame vor ein brillantes fait accompli zu stellen. Aber das war nun in Gefahr, denn eine Epidemie war dazwischengekommen, die Stadt stand unter Quarantäne, Leute demonstrierten vor dem College, und nun kam es ihm vor allem darauf an, sein Handeln zu rechtfertigen und sich unbeschadet aus der Affäre zu ziehen.

»Was ist mit Kivrin? Billigt sie Ihre Handlungsweise?« sagte er.

»Miss Engle war sich der Risiken vollauf bewußt, als sie sich freiwillig meldete, in das Jahr 1320 zu gehen.«

»War ihr bewußt, daß Sie sie unter Umständen aufgeben würden?«

Gilchrist stand auf. »Dieses Gespräch ist beendet, Mr. Dunworthy. Ich werde das Laboratorium öffnen, sobald die Herkunft des Virus’ geklärt und zu meiner Zufriedenheit erwiesen ist, daß er keinesfalls durch das Netz gekommen ist.«

Er führte Dunworthy zur Tür. Draußen wartete der Portier.

»Ich habe nicht die Absicht, zuzulassen, daß Sie Kivrin aufgeben«, sagte Dunworthy.

»Und ich habe nicht die Absicht, zuzulassen, daß Sie die Gesundheit dieser Gemeinde gefährden!« Er wandte sich zum Pförtner. »Geleiten Sie Mr. Dunworthy zum Tor! Sollte er versuchen, wieder das Brasenose College zu betreten, rufen Sie die Polizei!« Er schlug die Tür zu.

Der Pförtner geleitete Dunworthy über den Hof. Er beobachtete ihn wachsam aus den Augenwinkeln, als rechne er damit, daß er plötzlich gewalttätig werden könnte.

Ich wäre dazu imstande, dachte Dunworthy. »Ich möchte telefonieren«, sagte er, als sie das Tor erreichten. »Dienstlich.«

Der Pförtner machte ein mißtrauisches Gesicht, stellte ihm aber ein Telefon in das Schalterfenster des Pförtnerhauses und sah zu, wie Dunworthy die Nummer vom Balliol College drückte. Als Finch sich meldete, sagte er: »Wir müssen Basingame ausfindig machen. Es ist ein Notfall. Rufen Sie bei der Schottischen Regionalverwaltung das Amt für die Vergabe von Anglerlizenzen an. Und lassen Sie sich vom Fremdenverkehrsverband über Fax eine Liste sämtlicher Hotels und Gaststätten durchgeben. Haben Sie noch Polly Wilsons Nummer?«

Er schrieb die Nummer auf, bedankte sich und legte auf. Nachdem er angefangen hatte, Polly Wilsons Nummer zu wählen, besann er sich eines Besseren und rief Mary an.

»Ich möchte helfen, den Ursprung des Virus’ festzustellen«, sagte er.

»Gilchrist wollte Ihnen das Netz nicht öffnen?«

»Nein. Was kann ich tun, um den Ursprung des Erregers zu ermitteln?«

»Was Sie vorher mit den Primärinfektionen getan haben. Gehen Sie den Kontakten nach, erkundigen Sie sich nach den Dingen, die ich Ihnen sagte: Röntgenbestrahlung, Nähe zu Vögeln oder Vieh, Religionszugehörigkeit, die eine Anwendung von antiviralen Mitteln ausschließt. Dazu werden Sie die Listen der Kontaktpersonen brauchen.«

»Ich werde Colin schicken, daß er sie holt«, sagte er.

»Und ich werde sie zusammenstellen lassen. Sie sollten Badris Kontakte über vier bis sechs Tage zurückverfolgen, falls der Erreger in ihm entstand. Die Inkubationszeit von einem Reservoir kann länger sein als die Inkubationszeit bei einer Infektion von Person zu Person.«

»Damit werde ich William beauftragen«, sagte er. Er schob das Telefon dem Pförtner zu, der sofort herauskam und mit ihm bis vor das Tor ging. Dunworthy wunderte sich, daß er ihm nicht bis zum Balliol College folgte.

Sobald er dort anlangte, rief er Polly Wilson an. »Gibt es eine Möglichkeit, Zugang zur Netzkonsole zu finden, ohne in das Laboratorium zu kommen?« fragte er sie. »Können Sie durch die EDV-Anlage der Universität direkt hineingehen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Die EDV-Anlage der Universität ist abgeschirmt und gesichert. Ich könnte vielleicht eine Überrumpelung versuchen, oder mich vom Balliol-Datenanschluß hineinschlängeln. Es müßte zuerst geklärt werden, wie die Sicherungen aussehen. Haben Sie einen Techniker, der die Fixierung lesen kann, wenn ich eine Verbindung zustande bringe?«

»Ich besorge einen«, sagte er.

Colin kam eine frische Rolle Klebeband holen. »Wußten Sie, daß die genetische Sequenz entschlüsselt ist und daß es sich bei dem Virus um eine Mutation handelt?«

»Ja«, sagte Dunworthy. »Ich möchte, daß du zur Klinik gehst und dir von deiner Großtante die Listen der Kontaktpersonen geben läßt.«

Colin legte seine Ladung Plakate ab. Das oberste trug die Überschrift »Vermeiden Sie einen Rückfall.«

»Die Leute sagen, es sei eine Art biologischer Kampfstoff«, sagte Colin. »Eine Züchtung, die aus einem Geheimlaboratorium freigesetzt worden sei.«

Jedenfalls nicht aus Gilchrists, dachte er bitter. »Weißt du, wo William Gaddson ist?«

Colin machte ein Gesicht. »Wahrscheinlich schmust er irgendwo in einem Treppenhaus herum.«

Tatsächlich war Gaddson in der Kantine, wo er an einer freiwilligen Helferin herumfummelte. Dunworthy beauftragte ihn mit Nachforschungen über Badris Aufenthalte und Aktivitäten von Donnerstag bis Sonntagmorgen und ging zurück in seine Räume, um Techniker anzurufen.

Einer war in Moskau bei einer Absetzoperation ins neunzehnte Jahrhundert, und zwei machten Skiurlaub. Die anderen waren nicht zu Hause oder vielleicht waren sie von Andrews gewarnt und meldeten sich nicht.

Colin brachte die Listen der Kontaktpersonen. Sie waren eine Katastrophe. Kein Versuch war unternommen worden, die darin enthaltenen Informationen außer auf mögliche amerikanische Verbindungen aufeinander zu beziehen, und es gab zu viele Kontaktpersonen. Die Hälfte der Primärkontakte war bei der Tanzveranstaltung in Headington gewesen, zwei Drittel von ihnen hatten Weihnachtseinkäufe gemacht, alle bis auf zwei waren mit der U-Bahn gefahren. Es war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

Er verbrachte die halbe Nacht mit der Überprüfung von Religionszugehörigkeiten und möglichen Querverbindungen. Zweiundvierzig gehörten der Anglikanischen Kirche an, neun der Heiligen Reformierten, siebzehn waren in keiner Glaubensgemeinschaft. Acht waren Studenten am Shrewsbury College, elf waren bei Debenham gewesen, um den Weihnachtsmann zu sehen, neun hatten an Montoyas Ausgrabungsstätte gearbeitet, dreißig waren in Blackwell’s einkaufen gewesen.

Einundzwanzig hatten Kontakte mit mindestens zwei Sekundärpersonen gehabt, und der Weihnachtsmann von Debenham hatte mit zweiunddreißig Kontakt gehabt (mit allen bis auf elf in einer Wirtschaft nach Arbeitsschluß), aber keiner von ihnen konnte mit anderen Primärinfektionen außer Badri in Verbindung gebracht werden.

Am Morgen brachte Mary die Fälle, die im Krankenhaus nicht mehr untergebracht werden konnten. Sie trug Schutzkleidung, aber keine Maske. »Sind die Betten fertig?« fragte sie.

»Ja. Wir haben zwei Räume mit je zehn Betten.«

»Gut. Ich werde alle brauchen.«

Sie halfen den Pflegern bei der Unterbringung der Patienten in den behelfsmäßigen Krankenzimmern und übergaben sie der Obhut von Williams Lehrschwester. »Die bettlägerigen Patienten werden herübergebracht, sobald wir einen Krankenwagen frei haben«, sagte Mary, als sie mit Dunworthy über den Hof hinausging.

Der Boden begann abzutrocknen, und der Himmel war heller, als wollte es endlich aufklaren.

»Wann kann mit der Synthetisierung gerechnet werden?« fragte er.

Sie hob die Schultern. »Einige Tage wird es bestimmt noch dauern.«

Als sie das Tor erreichten, lehnte sie sich an den gemauerten Pfeiler und fuhr sich über das graue Haar. »Wenn das alles vorbei ist, werde ich durch das Netz gehen«, sagte sie. »In ein Jahrhundert, wo es keine Epidemien gibt, wo es kein Warten und hilfloses Dabeistehen gibt. Ein Jahrhundert, das keine Zehner-Einstufung hat.« Sie lächelte. »Bloß gibt es keins, nicht?«

Er schüttelte den Kopf.

»Habe ich Ihnen schon vom Tal der Könige erzählt?« sagte sie.

»Sie sagten, Sie seien während der Pandemie dort gewesen.«

Sie nickte. »Über Kairo war die Quarantäne verhängt worden, also flogen wir nach Luxor und nahmen ein Taxi zum Tal der Könige, um Tut-ench-Amuns Grab zu sehen«, erzählte sie. »Es war ziemlich töricht von uns, denn die Pandemie hatte Luxor bereits erreicht, und wir entgingen nur um Haaresbreite der Quarantäne. Außerdem wurden wir zweimal beschossen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir hätten ums Leben kommen können. Meine Schwester weigerte sich, den Wagen zu verlassen, aber ich ging die Treppe hinunter und bis zur Grabkammer und dachte mir: Genauso war es, als Carter das Grab entdeckte.«

Sie blickte versonnen ins Leere. »Als sie die Grabkammer fanden, war sie verschlossen, und sie hätten warten müssen, bis die zuständigen Behörden sie öffneten. Carter bohrte ein Loch durch die Tür und schaute durch. Carnavon sagte: ›Können Sie was sehen?‹ und Carter sagte: ›Ja. Wundervolle Dinge.‹«

Sie schloß die Augen. »Ich habe den Augenblick nie vergessen, wie ich dort vor der geschlossenen Tür stand. Ich sehe es noch jetzt ganz klar vor mir.« Sie öffnete die Augen. »Das werde ich vielleicht tun, wenn dies vorbei ist. Zur Öffnung von Tut-ench-Amuns Grab.«

Sie beugte sich zum Tor hinaus. »Ach du liebe Zeit, anscheinend gibt es wieder Regen. Ich muß zurück.« Sie musterte ihn mit scharfem Blick. »Warum tragen Sie Ihre Schutzmaske nicht?«

»Wenn ich sie trage, beschlägt meine Brille. Warum tragen Sie Ihre nicht?«

»Wir haben bald keine mehr. Sie haben Ihre T-Zellen-Verstärkung bekommen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte keine Zeit.«

»Nehmen Sie sich die Zeit«, sagte sie. »Und tragen Sie Ihre Maske. Sie werden Kivrin nicht helfen können, wenn Sie krank werden.«

Ich kann ihr auch jetzt nicht helfen, dachte er, als er zurück zu seinen Räumen ging. Ich kann nicht ins Laboratorium, ich finde keinen Techniker, der nach Oxford kommt, ich kann Basingame nicht finden. Er überlegte, wen er sonst noch fragen sollte. Er hatte alle Reiseveranstalter überprüft, die Angelurlaub in Schottland im Programm hatten, hatte alle Bootsvermieter in Schottland angerufen. Der Mann schien spurlos verschwunden. Vielleicht hatte Montoya recht, und er war überhaupt nicht in Schottland, sondern mit einer Frau irgendwo in den Tropen.

Montoya. Er hatte sie vollständig vergessen. Seit der Christmette hatte er sie nicht gesehen, und auch sie hatte alles mögliche unternommen, um Basingame zu finden, damit er eine Ausnahmegenehmigung für sie erwirkte, und dann hatte sie am Weihnachtstag angerufen und gefragt, ob Basingame auf Forelle oder Lachs angle. Und beim nächsten Anruf nur gesagt, es mache nichts aus. Was bedeuten konnte, daß sie nicht nur herausgebracht hatte, ob er Lachse oder Forellen fing, sondern vielleicht auch, wo er selbst steckte.

Er hielt Ausschau nach einem Telefon, erinnerte sich, daß es im Korridor vor dem Warteraum eins gab, und ging hin. Wenn Montoya den Dekan ausfindig gemacht und ihre Sondergenehmigung erhalten hatte, würde sie sofort zur Ausgrabungsstätte gefahren sein. Sie hätte sich nicht damit aufgehalten, anderen davon zu erzählen. Wahrscheinlich wußte sie nicht einmal, daß auch er Basingame suchte.

Andererseits wäre Basingame sicherlich zurückgekehrt, sobald Montoya ihm von der Quarantäne berichtet hätte, es sei denn, er wäre von schlechtem Wetter oder unpassierbaren Straßen aufgehalten worden. Es war auch denkbar, daß Montoya ihm nichts von der Quarantäne gesagt hatte. Besessen, wie sie von der Ausgrabung war, mochte sie ihm lediglich gesagt haben, daß sie seine Unterschrift benötige.

Mrs. Taylor, ihre vier gesunden Schellenläuter und Finch waren in seinem Wohnzimmer, standen im Kreis und beugten die Knie. Finch hielt mit einer Hand ein Papier und zählte halblaut mit. Als er Dunworthy hereinkommen sah, richtete er sich auf und sagte verlegen: »Ich wollte gerade zur Krankenstation und Pfleger oder Pflegerinnen rekrutieren. Da ist William Gaddsons Bericht.« Er nahm ihn vom Tisch, gab ihn Dunworthy und eilte hinaus.

Mrs. Taylor und ihr Quartett hoben ihre Glockenfutterale auf. »Eine Miss Wilson rief an«, sagte Mrs. Taylor. »Sie bat mich, Ihnen auszurichten, daß es mit einer Überrumpelung nicht gehen wird. Sie würden es über den Datenanschluß vom Balliol versuchen müssen.«

Dunworthy bedankte sich, und sie ging hinaus, im Gänsemarsch gefolgt von ihren vier Schellenläutern.

Er rief die Ausgrabungsstätte an. Keine Antwort. Er versuchte Montoya in ihrer Wohnung zu erreichen, in ihrem Büro im Brasenose College und noch einmal bei der Ausgrabung. Niemand meldete sich. Er versuchte es noch einmal mit ihrer Wohnung und ließ es läuten, während er Williams Bericht überflog. Badri hatte den ganzen Samstag und den Sonntagvormittag bei der Ausgrabung mitgearbeitet. Um das zu erfahren, mußte William mit Montoya gesprochen haben.

Die Ausgrabungsstätte selbst kam ihm in den Sinn. Sie war draußen auf dem Land bei Witney, in der Nähe einer Museumsfarm, die dem Denkmalpflegeamt gehörte. Vielleicht gab es dort Enten und Hühner, oder Schweine, oder alle drei. Und Badri hatte anderthalb Tage dort gearbeitet, in der Erde gegraben, eine perfekte Gelegenheit, um mit einem Reservoir in Berührung zu kommen.

Colin kam mit leeren Händen herein. »Es gibt keine Plakate mehr«, sagte er. »Aus London sollen morgen wieder welche kommen.« Er wühlte in seiner Reisetasche, grub ein Kaubonbon aus und schob es in den Mund. »Wissen Sie, wer draußen auf der Treppe steht?«

Er warf sich auf den Fenstersitz und schlug sein Buch über das Mittelalter auf. »William und ein Mädchen. Nichts als Geknutsche und Liebesgeflüster. Ich konnte kaum vorbei.«

Dunworthy eilte hinaus. William löste sich widerwillig von einer kleinen Blondine in einem Wettermantel und kam herein.

»Wissen Sie, wo Mrs. Montoya ist?« fragte Dunworthy.

»Nein. Das Gesundheitsamt sagte, sie sei draußen bei der Ausgrabung, aber sie geht nicht ans Telefon. Wahrscheinlich ist sie draußen auf dem Friedhof oder irgendwo auf dem Ausgrabungsgelände und hört es nicht. Ich dachte daran, einen Signalverstärker einzusetzen, aber dann fiel mir dieses Mädchen ein, das Archäologie studiert…« Er nickte der kleinen Blondine zu. »Sie erzählte mir, sie hätte draußen bei der Ausgrabung die Arbeitsblätter gesehen, und Badri sei für Samstag und Sonntag eingetragen gewesen.«

»Ein Signalverstärker? Was ist das?«

»Man hängt ihn in die Leitung ein, und er verstärkt das Läuten am anderen Ende. Wenn der Teilnehmer draußen im Garten oder unter der Dusche ist.«

»Können Sie einen an diesem Apparat anbringen?«

»Das ist ein bißchen zu kompliziert für mich. Ich kenne aber eine Studentin, die es machen könnte. Ich habe ihre Nummer bei mir im Zimmer.« Er ging, Hand in Hand mit der Blondine.

»Wenn Mrs. Montoya am Ausgrabungsort ist, könnte ich Sie durch die Absperrung bringen, wissen Sie«, sagte Colin. Er nahm das Kaubonbon aus dem Mund und betrachtete es. »Es wäre einfach. Es gibt viele Stellen, die nicht überwacht werden. Die Posten stehen nicht gern draußen im Regen herum.«

»Ich habe nicht die Absicht, die Quarantäne zu durchbrechen«, sagte Dunworthy. »Wir wollen diese Epidemie zum Stillstand bringen, nicht verbreiten.«

»So wurde die Pest in der Zeit des Schwarzen Todes verbreitet«, sagte Colin. »Sie versuchten vor ihr davonzulaufen, nahmen sie aber bloß mit sich.«

William steckte den Kopf zur Tür herein. »Sie sagt, die Installation würde zwei Tage in Anspruch nehmen, aber sie hätte einen an ihrem Telefon, wenn Sie davon Gebrauch machen wollen.«

Colin griff nach seinem Mantel. »Kann ich mitgehen?«

»Nein«, sagte Dunworthy. »Zieh lieber deine nassen Sachen aus. Ich will nicht, daß du die Grippe bekommst.« Er ging mit William und dem Mädchen die Treppe hinunter.

»Sie ist Studentin«, sagte William, als sie auf den Hof hinauskamen. Der Regen hatte wieder eingesetzt. Colin holte sie ein, als sie den Hof noch nicht überquert hatten. »Ich kann mich nicht anstecken. Ich habe meine Verstärkung bekommen«, sagte er. »Damals hatten sie keine Quarantäne, deshalb verbreitete sich die Seuche überallhin.« Er zog den Schal aus der Manteltasche. »Eine gute Stelle, um durch die Absperrung zu kommen, ist die Botley Road. An der Ecke bei der Absperrung ist ein Pub, und der Wächter geht öfters hinein, um sich aufzuwärmen.«

»Knöpf deinen Mantel zu«, sagte Dunworthy.

Die Studentin, stellte sich heraus, war Polly Wilson. Sie berichtete, daß sie verschiedene Methoden ausprobiert habe, um über die EDV-Anlage der Universität in die Konsole vom Brasenose College vorzudringen, aber noch keinen Erfolg gehabt habe. Dunworthy rief die Ausgrabungsstätte an, aber dort meldete sich niemand.

»Lassen Sie es läuten«, sagte Polly. »Vielleicht hat sie einen langen Weg, um an den Apparat zu kommen. Der Signalverstärker hat eine Reichweite von fünfhundert Metern.«

Er ließ es zehn Minuten lang läuten, legte auf, wartete fünf Minuten lang, versuchte es wieder und ließ es eine Viertelstunde lang läuten, bevor er aufgab. Polly liebäugelte mit William, und Colin fröstelte in seiner feuchten Kleidung. Dunworthy brachte ihn nach Haus und steckte ihn ins Bett.

»Oder ich könnte durch die Absperrung schlüpfen und ihr sagen, daß sie Sie anrufen soll«, sagte Colin. »Wenn Sie glauben, Sie seien zu alt, um es selbst zu tun. Ich bin sehr gut im Überwinden von Sperren.«

Am nächsten Morgen ging Dunworthy wieder zu Polly Wilson und machte einen weiteren Versuch, doch ohne Ergebnis. »Ich werden den Apparat so einstellen, daß er den Anruf in halbstündigen Abständen wiederholt«, sagte Polly, als sie ihn hinausbegleitete. »Ah… Sie wissen nicht zufällig, ob William andere Freundinnen hat?«

»Nein«, sagte Dunworthy.

Aus der Richtung des Christ Church College drang plötzlich lautes Glockengeläute. Polly horchte mit gerunzelter Stirn in die diesige Luft. »Hat jemand dieses gräßliche Glockenspiel wieder eingeschaltet?«

»Nein«, sagte er, »es müssen die Amerikanerinnen sein.« Auch er wandte den Kopf in die Richtung, aus der die Klänge kamen, und suchte zu bestimmen, wie viele Glocken es waren. Es mußten sechs sein, die alten Glocken von Osney. Douce und Gabriel und Marie, eine nach der anderen, und Clement, Hautclerc und Taylor. »Und Finch.«

Sie klangen bemerkenswert gut, ganz und gar nicht wie das digitalgesteuerte Glockenspiel mit seinen modernen Disharmonien. Sie ertönten klar und feierlich, und Dunworthy konnte die Läutenden vor sich sehen, wie sie unten im Turm ihren Kreis gebildet hatten, die Knie beugten und die Arme an den Glockensträngen streckten, Finch womöglich mit seiner Zahlenliste in einer Hand.

»Jeder muß ohne Unterbrechung an seiner Glocke bleiben«, hatte Mrs. Taylor gesagt. Er hatte nichts als Unterbrechungen erleben müssen, doch fühlte er sich gleichwohl seltsam aufgemuntert. Es war ihr nicht gelungen, mit ihren Schellenläutern am Weihnachtsabend nach Norwich zu fahren, aber sie waren ihren Glocken treu geblieben und ließen sie jetzt dröhnend erschallen, wie zu einer Feier, zu einem Sieg. Wie am Weihnachtsmorgen. Er würde Montoya finden. Und Basingame. Oder einen Techniker, der die Quarantäne nicht fürchtete. Er würde Kivrin finden.

Als er nach Hause kam, läutete das Telefon. Er galoppierte die letzten Stufen hinauf und in die Wohnung, hoffte, daß es Polly sei. Es war Montoya.

»Dunworthy?« sagte sie. »Hi. Lupe Montoya hier. Was geht vor?«

»Wo sind Sie?« fragte er.

»Bei der Ausgrabung«, sagte sie, aber das war bereits offensichtlich. Sie stand vor den Ruinen des Kirchenschiffes im halb ausgegrabenen mittelalterlichen Friedhof. So winzig das Bild war, ließ es doch erkennen, warum sie es so eilig gehabt hatte, zur Ausgrabung zurückzukommen. Überall standen große und augenscheinlich tiefe Pfützen. Sie hatte die Ausgrabung provisorisch mit einem bunt zusammengesuchten Sortiment von Planen und Plastikfolien abgedeckt, aber der Regen mußte an Dutzenden von Stellen eindringen, und wo die regenschwer durchhängenden Abdeckungen aneinanderstießen, rann das Wasser in Bächen herab. Die Grabsteine, die batteriebetriebenen Lampen, die sie an die Stützen der Abdeckung geklemmt hatte, die an der Wand gestapelten Schaufeln, alles war mit lehmigem Schlamm bedeckt.

Auch Montoya war mit Schlamm bedeckt. Sie trug ihre Terroristenjacke und hüfthohe Anglerstiefel, wie sie Basingame tragen mochte, wo immer er war, und sie waren bis oben naß und schmutzig. Die Hand, in der sie den Hörer hielt, war mit getrocknetem Schlamm überkrustet.

»Seit Tagen versuche ich Sie zu erreichen«, sagte Dunworthy.

»Wenn die Pumpe läuft, kann ich das Telefon nicht hören.« Sie machte eine Handbewegung zu etwas außerhalb des Bildes, wahrscheinlich der Pumpe, obwohl er außer dem leisen Rauschen des Regens und dem Plätschern der Rinnsale von den Abdeckungen nichts hören konnte. »Gerade ist der Treibriemen gerissen, und ich habe keinen anderen. Bedeutet das Glockenläuten, daß die Quarantäne aufgehoben ist?«

»Kaum«, sagte er. »Wir sind mitten in einer ausgewachsenen Epidemie. Siebenhundertachtzig Fälle und sechzehn Tote. Haben Sie die Zeitung nicht gelesen?«

»Seit ich hierherkam, habe ich nichts und niemanden gesehen. Die letzten sechs Tage habe ich mit Bemühungen verbracht, diese verdammte Ausgrabung über Wasser zu halten, aber ich schaffe es nicht allein. Und ohne Pumpe schon gar nicht.« Sie streifte sich mit der schmutzigen Hand ihr schweres schwarzes Haar aus der Stirn. »Wozu läuten sie dann die Glocken, wenn die Quarantäne nicht aufgehoben ist?«

»Sie läuten einen Stedman oder was.«

Sie schaute gereizt aus dem Bildschirm. »Wenn die Lage so schlecht ist, warum tun sie nicht etwas Nützliches? Hier draußen hätte ich jede Menge Arbeit für sie.« Sie sah beinahe so müde aus wie Mary. »Ich hatte wirklich gehofft, die Quarantäne sei aufgehoben worden, dann könnte ich ein paar Helfer hierher bringen. Wie lange, meinen Sie, wird es noch dauern?«

Zu lange, dachte er und sah dem Regenwasser zu, das zwischen den Planen durch und in die Ausgrabung plätscherte. Du wirst die Hilfe, die du brauchst, niemals rechtzeitig bekommen.

»Ich brauche Information über Basingame und Badri Chaudhuri«, sagte er. »Wir versuchen den Ursprung des Erregers festzustellen und müssen wissen, mit wem Badri Kontakt hatte. Er arbeitete am 18. und am Vormittag des 19. in Ihrer Ausgrabung. Wer war außer ihm noch dort?«

»Ich.«

»Wer noch?«

»Niemand. Es war schrecklich schwierig, im Dezember Hilfe zu bekommen. Meine Studenten fuhren alle nach Haus, als die Ferien anfingen, und ich mußte Freiwillige zusammenkratzen, wo ich konnte. Aber wer hat eine Woche vor Weihnachten schon Zeit?«

»Sie sind sicher, daß sie nur zu zweit dort waren?«

»Ja. Ich weiß es, weil wir am Samstag den Sarkophag öffneten und soviel Mühe hatten, den Deckel zu heben. Gillian Ledbetter war für die Arbeit am Samstag mit eingeteilt, aber sie sagte in letzter Minute ab. Sie habe eine Verabredung.«

Mit William, dachte Dunworthy. »War am Sonntag noch jemand da?«

»Er war nur am Vormittag hier, und wir waren wieder allein. Dann mußte er nach London. Aber ich muß jetzt gehen. Wenn ich nicht bald Hilfe bekomme, muß ich eben selbst versuchen, die Ausgrabung vor dem Absaufen zu bewahren.« Sie nahm den Hörer vom Ohr.

»Warten Sie!« rief Dunworthy. »Hängen Sie nicht ein.«

Sie schürzte ungeduldig die Lippen, legte aber den Hörer wieder ans Ohr.

»Ich muß Ihnen noch einige Fragen stellen. Es ist sehr wichtig. Je eher wir diesem Virus auf die Spur kommen, desto eher wird die Quarantäne aufgehoben und Sie können Helfer für Ihre Ausgrabung bekommen.«

Das ließ sie unbeeindruckt, aber sie drückte einen Code, hängte ein und sagte: »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich arbeite, während wir sprechen?«

»Nein, keineswegs«, sagte Dunworthy erleichtert.

Sie entfernte sich aus dem Bild, kam zurück und drückte etwas anderes am Apparat. »Tut mir leid, es klappt nicht mit der Reichweite«, sagte sie, und der Bildschirm zeigte verschwommene, bewegte Konturen, während sie das Telefon anscheinend zu ihrem Arbeitsplatz trug. Als das Bild sich wieder klärte, kauerte Montoya in einer verschlammten Grube vor einem Steinsarkophag. Wahrscheinlich war es der gleiche, dessen Deckplatte sie und Badri mit soviel Mühe abgenommen hatten.

Der Deckel trug die in Stein gemeißelte Darstellung eines Ritters in voller Rüstung, die Hände auf der gepanzerten Brust gefaltet und das Schwert an der Seite. Er lehnte in gefährlicher Schräglage an der Seite des Sarkophags, und von den kunstvoll gemeißelten gotischen Buchstaben der Randinschrift konnte er nur »Requiesc« sehen. Requiescat in pace. »Ruhe in Frieden«, ein Segenswunsch, der dem Ritter offensichtlich nicht gewährt worden war. Sein schlafendes Gesicht unter dem Helm blickte streng und mißbilligend.

Montoya hatte eine dünne Plastikfolie über den offenen Sarkophag gelegt. Sie war mit Regenwasser beperlt. Dunworthy fragte sich, ob die andere Seite des Sarkophags vielleicht eine Reliefdarstellung von Tod und Verwesung zeigte, wie die Beispiele in Colins Buch, und ob sie so gräßlich sei wie die Wirklichkeit. Von der Planenabdeckung troff Regenwasser herab in den Sarkophag und zog die Plastikfolie hinab.

Montoya richtete sich auf, einen flachen Kasten in der Hand, der mit Schlamm gefüllt schien. Sie legte ihn schräg über die Ecke des Sarkophags. »Nun, was ist?« fragte sie. »Sie sagten, Sie hätten weitere Fragen?«

»Ja«, sagte er. »Sie sagten, außer Ihnen sei sonst niemand hier gewesen, als Badri Ihnen half.«

Sie wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn. »Richtig. Hui, es ist dumpfig hier unter der Plane.« Sie zog die Jacke aus und hängte sie über den Sarkophagdeckel.

»Was ist mit Einheimischen? Leuten, die nicht mit der Grabung in Verbindung stehen?«

»Wenn jemand dagewesen wäre, hätte ich ihn rekrutiert.« Sie durchsuchte den Schlamm im Kasten mit den Fingern und brachte mehrere braune Steine zum Vorschein. »Der Deckel wog eine Tonne, und wir hatten ihn kaum heruntergeschoben, als der Regen anfing. Mir wäre jede Hilfe recht gewesen, das können Sie mir glauben, aber die Ausgrabung ist zu weit draußen, als daß jemand zufällig vorbeikommen würde.«

»Und das Personal vom Denkmalschutzamt?«

Sie hielt die Steine unter ein Wasserrinnsal, um sie zu reinigen. »Die Leute sind nur den Sommer über hier.«

Er hatte gehofft, daß jemand an der Ausgrabungsstelle sich als der Ursprung des Erregers erweisen würde, daß Badri mit einem Einheimischen in Berührung gekommen sei, einem Beauftragten des Denkmalschutzamtes oder einem Entenjäger. Aber Myxoviren hatten keine Infektionsträger. Der geheimnisvolle Einheimische hätte die Krankheit selbst haben müssen, und die Gesundheitsbehörden hätten von jedem in England auftretenden Fall benachrichtigt werden müssen. Bisher waren außerhalb des Quarantänebereiches keine Fälle aufgetreten.

Montoya hielt die Steine nacheinander unter das Batterielicht, das an eine der Stützen geklemmt war, drehte sie im Licht zwischen den Fingern und untersuchte die noch lehmbehafteten Ränder.

»Was ist mit Vögeln?«

»Vögeln?« Sie blickte verständnislos auf, und er begriff die Doppeldeutigkeit dessen, was er gesagt hatte. Sie schüttelte den Kopf und begann zu grinsen.

»Der Erreger kann durch Vögel verbreitet worden sein. Enten, Gänse, Hühner«, sagte er rasch, obwohl er nicht sicher war, daß Hühner als Reservoir in Betracht kamen. »Gibt es welche im Umkreis der Ausgrabung?«

»Hühner?« sagte sie und fuhr fort, die Steine zu untersuchen.

»Virusmutationen entstehen manchmal durch die Kreuzung tierischer und menschlicher Viren«, erläuterte er. »Geflügel ist das verbreitetste Reservoir, aber auch Fische kommen in Frage. Oder Schweine. Gibt es Schweine dort bei der Ausgrabung?«

Sie sah ihn an, als zweifle sie an seinem Verstand.

»Die Ausgrabungsstätte liegt auf dem Gelände einer Museumsfarm, nicht wahr?«

»Ja, aber die ist drei Kilometer weit entfernt. Wir sind mitten in einem Gerstenfeld. Es sind keine Schweine in der Nähe, auch keine Vögel oder Fische.«

Keine Vögel. Keine Schweine. Keine Einheimischen. Der Ursprung des Erregers war auch nicht hier am Ausgrabungsort. Möglicherweise war er nirgendwo, und Badris Influenza ging auf eine spontane Mutation zurück, die, so Mary, gelegentlich vorkam und in diesem Fall wie aus heiterem Himmel über Oxford hereingebrochen war, ganz wie die Pest über die ahnungslosen Bewohner dieses Friedhofs hereingebrochen war.

Montoya hielt die Steine wieder ins Licht, kratzte mit den Fingernägeln an anhaftendem Lehm und rieb an der Oberfläche, und er erkannte plötzlich, daß es Knochen waren, die sie untersuchte. Rückenwirbel vielleicht, oder die Zehenknochen des Ritters. Requiescat in pace.

Einer von ungleichmäßiger Form und der Größe einer Walnuß, mit gekrümmter Seite, schien ihr Interesse zu finden. Sie tat die anderen zurück in den Kasten, zog eine Zahnbürste mit kurzem Stiel aus der Tasche ihrer Jacke und putzte stirnrunzelnd die konkaven Ränder.

Gilchrist würde eine spontane Mutation als Ursprung des Erregers niemals akzeptieren. Er war zu sehr auf die Theorie fixiert, daß irgendein Virus des 14. Jahrhunderts durch das Netz gekommen sei. Und zu sehr fixiert auf seine Autorität als amtierender Dekan der Historischen Fakultät, um nachzugeben, selbst wenn Dunworthy in den Pfützen des Friedhofs schwimmende Enten gefunden hätte.

»Ich muß mich mit Mr. Basingame in Verbindung setzen«, sagte er. »Wo ist er?«

Sie betrachtete stirnrunzelnd den Knochen. »Basingame? Keine Ahnung.«

»Aber… ich dachte, Sie hätten ihn gefunden! Als Sie am Weihnachtstag anriefen, sagten Sie, Sie müßten ihn ausfindig machen, um Ihre Sondergenehmigung vom Gesundheitsamt zu erwirken.«

»Ich weiß. Zwei volle Tage verbrachte ich damit, sämtliche Fischereivereine und Hotels in Schottland anzurufen, bis ich entschied, daß ich nicht länger warten konnte. Wenn Sie mich fragen, ist er überall, nur nicht in Schottland.« Sie zog ein Taschenmesser aus ihren Jeans und begann an der rauhen Kante des Knochens zu schaben. »Da wir schon vom Gesundheitsamt sprechen, würden Sie etwas für mich tun? Ständig rufe ich dort an, aber es ist immer belegt. Würden Sie hingehen und sagen, daß ich mehr Hilfe brauche? Sagen Sie Ihnen, daß die Ausgrabung von unersetzlichem historischem Wert ist und daß es ein unwiederbringlicher Verlust wäre, wenn die Ausgrabung im Regen absaufen würde. Ich brauche eine Sondergenehmigung für wenigstens fünf Hilfskräfte. Und eine Pumpe.« Das Messer verhakte sich. Sie setzte es wieder an und schabte weiter.

»Wie konnten Sie Basingames Unterschrift bekommen, wenn Sie nicht wußten, wo er ist? Ich dachte, Sie sagten, daß der Antrag auf eine Sondergenehmigung seiner Unterschrift bedürfe.«

»So ist es«, sagte sie. Ein Knochensplitter löste sich plötzlich und flog davon. Sie untersuchte den Knochen und ließ ihn wieder in den Kasten fallen. »Ich fälschte sie.«

Sie kauerte wieder beim Sarkophag nieder und suchte nach weiteren Knochenresten. Er fragte sich, ob sie sich überhaupt erinnerte, daß Kivrin in eben der Vergangenheit war, die sie hier ausgrub, oder ob sie sie vergessen hatte, wie sie die Epidemie vergessen zu haben schien.

Er legte auf und ging zur Klinik, um Mary zu erläutern, was er herausgefunden hatte, und um auf der Suche nach dem Ursprung des Virus noch einmal die Sekundärinfektionen zu befragen. Es regnete wieder heftiger. Aus den Wasserspeiern ergossen sich wahre Kaskaden und spülten Dinge von unersetzlichem historischem Wert fort.

Die Schellenläuter und Finch mußten noch immer in der Kirche von Osney am Werk sein, denn das Geläute ließ alle Variationen des Glockenspiels in festgelegter Reihenfolge ertönen. Er stellte sich vor, wie sie an den Glockenseilen hingen und abwechselnd die Knie beugten, genauso selbstvergessen in ihr Tun vertieft wie Montoya. Die Glocken dröhnten bleiern und dumpf durch den rauschenden Regen, wie Hilferufe.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(066440–066879)

Heiligabend 1320 (alte Zeitrechnung). Ich habe nicht soviel Zeit, wie ich dachte. Als ich gerade von der Küche hereinkam, sagte mir Rosemund, daß Frau Imeyne nach mir gefragt habe. Die alte Frau war in ein ernstes Gespräch mit dem Gesandten des Bischofs vertieft, und ihre Miene ließ vermuten, daß sie wieder Pater Roches Sünden und Versäumnisse aufzählte, doch als ich mit Rosemund zu ihnen kam, zeigte sie auf mich und sagte: »Das ist die Frau, von der ich sprach.«

Frau, nicht Fräulein, und ihr Ton war kritisch, beinahe anklagend. Ich überlegte, ob sie den Gesandten womöglich erzählt habe, ich sei eine französische Spionin.

»Sie sagt, sie erinnere sich an nichts«, sagte Imeyne. »Dennoch kann sie sprechen und lesen.« Sie richtete den Blick auf Rosemund. »Wo ist deine Brosche?«

»An meinem Umhang. Ich legte ihn oben in meine Truhe.«

Imeyne schickte sie, die Brosche zu holen, und sobald Rosemund widerstrebend gegangen war, sagte Imeyne: »Sir Bloet brachte meiner Enkelin als Verlobungsgeschenk eine Brosche mit Worten in lateinischer Sprache.« Sie warf mir einen triumphierenden Blick zu. »Diese Frau erklärte ihre Bedeutung, und heute abend sprach sie in’ der Christmette die Worte der Messe, bevor der Priester sie gesagt hatte.«

»Wer lehrte Euch die Buchstaben?« fragte der Gesandte des Bischofs mit vom Wein lallender Stimme.

Ich dachte daran, zu sagen, daß Sir Bloet mir die Bedeutung der Worte erklärt habe, fürchtete aber, daß er es bereits geleugnet hatte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Seit ich im Wald von Räubern überfallen und auf den Kopf geschlagen wurde, habe ich keine Erinnerung an mein Leben.«

»Als sie zuerst erwachte, sprach sie in einer Zunge, die niemand verstehen konnte«, sagte Imeyne, als ob es ein weiterer Beweis wäre, aber ich hatte keine Ahnung, wessen sie mich zu überführen suchte oder was der Gesandte des Bischofs damit zu tun hatte.

»Ehrwürdiger Vater, geht Ihr nach Oxenford, wenn Ihr uns verlaßt?« fragte sie ihn.

Er bejahte, aber es klang wachsam. »Wir können nur einige Tage hierbleiben.«

»Ich würde Euch bitten, sie mit Euch zu nehmen und zu den gottesfürchtigen Schwestern nach Godstow zu bringen.«

»Wir gehen nicht nach Godstow«, sagte er, was offensichtlich ein Vorwand war. Das Nonnenkloster war nicht einmal fünf Meilen von Oxford entfernt. »Aber ich werde nach meiner Rückkehr den Bischof fragen, ob Nachricht über die Frau gekommen ist, und Euch davon Mitteilung machen.«

»Ich bin überzeugt, daß sie eine Nonne ist, weil sie Lateinisch spricht und die Worte der Messe auswendig weiß«, sagte Imeyne. »Ich möchte Euch bitten, sie in ein Kloster zu bringen, daß man dort unter den Nonnenklöstern Umfrage halten kann, wer sie ist und woher sie kommt.«

Der Gesandte des Bischofs zeigte deutliches Unbehagen, stimmte aber zu. Also bleibt mir noch Zeit bis zu ihrer Abreise. Ein paar Tage, wie der Gesandte des Bischofs sagte, und mit etwas Glück bedeutet dies, daß sie erst nach dem Fest der Unschuldigen Kinder abreisen werden. Aber ich habe vor, so bald wie möglich mit Gawyn zu sprechen.

22

Es ging gegen Morgen, als es Kivrin endlich gelang, Agnes zu Bett zu bringen. Die Ankunft der »drei Könige«, wie sie sie nannte, hatte ihre Müdigkeit verscheucht, und aus Sorge, sie könnte etwas versäumen, weigerte sie sich standhaft, schlafen zu gehen. Obwohl sie offensichtlich erschöpft war.

Als Kivrin sich nützlich zu machen suchte und Eliwys half, das Essen für das Festmahl aufzutragen, hängte Agnes sich an ihre Röcke und jammerte, daß sie hungrig sei, um dann, als die Tische endlich gedeckt waren und die Mahlzeit begann, jede Speise zu verweigern.

Kivrin hatte keine Zeit, sich mit ihr abzugeben. Es war ein Gang nach dem anderen von der Küche über den Hof zu bringen, Tranchierbretter voll Wildbret und Schweinebraten, Gänsebraten und Fasan, und eine enorme Fleischpastete. Nach dem Priester der Traditionalisten galt das Fastengebot zwischen der Christmette und dem Hochamt am ersten Weihnachtstag, aber alle, auch der Gesandte des Bischofs, aßen nach Herzenslust Schweinebraten und Gans und Fasan in Safransoße und tranken dazu Unmengen Bier und Wein. Besonders die »drei Könige« riefen ständig nach mehr Wein.

Sie hatten bereits mehr als genug getrunken. Der Mönch verfolgte Maisry mit lüsternen Blicken, und der Sekretär, schon bei der Ankunft angetrunken, sank beinahe unter den Tisch. Der Gesandte des Bischofs trank noch mehr als die beiden, konnte anscheinend aber eine Menge vertragen; er ließ sich ständig nachschenken, doch wurden auch seine Gesten immer ausholender, seine Stimme lauter und lallender.

Um so besser, dachte Kivrin. Vielleicht betrank er sich so sehr, daß er sein Versprechen, sie ins Nonnenkloster nach Godstow zu bringen, vergessen würde. Soweit ihre Pflichten es zuließen, behielt sie Gawyn unauffällig im Auge, bereit, jede Gelegenheit zu einem Wort unter vier Augen wahrzunehmen, aber er saß zusammen mit Sir Bloets Gefolgsleuten, zechte und lachte und rief nach mehr Fleisch und Bier. Als Kivrin sich wieder um Agnes kümmern konnte, war die Kleine eingeschlafen, den Kopf auf den Armen. Kivrin hob sie vorsichtig auf und trug sie hinauf in Rosemunds Kammer.

Oben begegnete ihr Eliwys, die Arme voll Bettzeug. »Katherine«, sagte sie, »ich bin froh, daß du hier bist. Ich brauche deine Hilfe.«

Agnes regte sich.

»Bring die Leintücher vom Dachboden«, sagte Eliwys. »Die geistlichen Herren werden in diesen Betten schlafen, und Sir Bloets Schwester und ihre Frauen auf dem Dachboden.«

»Wo soll ich schlafen?« fragte Agnes, und entwand sich Kivrins Armen.

»Wir werden in der Scheune schlafen«, sagte Eliwys. »Aber du mußt nicht warten, bis wir die Betten gemacht haben, Agnes. Geh und spiel.«

Es hätte der Aufforderung kaum bedurft. Schon sprang Agnes die Stufen hinunter, schwenkte den Arm und ließ ihre Glocke bimmeln.

Eliwys lud das Bettzeug in Kivrins Arme ab. »Trag dies auf den Dachboden und bring die graue Pelzdecke von der geschnitzten Truhe meines Mannes mit herunter.«

»Wie viele Tage, meinst du, wird der Gesandte des Bischofs mit seinen Herren bleiben?«

Eliwys machte ein besorgtes Gesicht. »Ich weiß es nicht, hoffe aber, nicht länger als zwei Wochen, sonst wird uns das Fleisch nicht reichen. Sieh zu, daß du die guten Polster nicht vergißt.«

Zwei Wochen waren mehr als genug, weit über den Rückholtermin hinaus, aber der Gesandte hatte Imeyne gegenüber geäußert, daß sie nur ein paar Tage Zeit hätten.

Als Kivrin mit Leintüchern und Kissen beladen vom Dachboden herabstieg, sah sie den Gesandten des Bischofs im Lehnstuhl des Hausherrn schnarchen, und sein Sekretär war vom Stuhl gesunken und lag halb unter dem Tisch. Der Mönch hatte eine von Sir Bloets Bediensteten in einen Winkel gezogen und spielte mit ihrem Halstuch. Gawyn war nirgends zu sehen.

Kivrin trug ihre Last zu Eliwys und machte sich erbötig, Bettzeug zur Scheune hinauszutragen. »Agnes ist sehr müde«, sagte sie. »Ich möchte sie bald zu Bett bringen.«

Eliwys nickte abwesend, mit dem Aufschütteln der schweren Polster beschäftigt, und Kivrin ging hinunter und lief in den Hof hinaus. Gawyn war weder im Stall noch im Brauhaus. Sie verweilte in der Nähe der Latrine, bis zwei der rothaarigen jungen Männer herauskamen und sie neugierig musterten, dann ging sie weiter zur Scheune. Vielleicht war Gawyn wieder mit Maisry in einer der Boxen, oder er nahm an der Julfeier der Dorfbewohner auf dem Anger teil. Von dort drangen Feuerschein und Gelächter herüber, während sie Stroh auf die Tenne trug und auf den nackten Holzplanken verteilte.

Sie legte die Pelze und Decken auf das Stroh, dann stieg sie hinunter und verließ den Hof durch die Einfahrt, um zu sehen, ob er auf dem Dorfanger war. Die Leute hatten außerhalb des Friedhofs ein Julfeuer entzündet und standen darum, wärmten sich und tranken aus großen Trinkhörnern. Im Näherkommen erkannte sie die im Feuerschein oder vom Bier geröteten Gesichter von Maisrys Vater und dem Dorfvorsteher, aber Gawyn war nicht bei ihnen.

Er war auch nicht im Hof. Rosemund stand beim Tor, in ihren Umhang gehüllt.

»Was tust du hier draußen in der Kälte?« fragte Kivrin.

»Ich warte auf meinen Vater«, sagte Rosemund.

»Gawyn sagte mir, er werde vor Tagesanbruch kommen.«

»Hast du Gawyn gesehen?«

»Ja. Er ist im Stall.«

»Es ist zu kalt, um hier draußen zu warten. Du solltest ins Haus gehen, und ich werde Gawyn sagen, daß er dir Bescheid gibt, wenn dein Vater kommt.«

»Nein, ich werde hier warten«, sagte Rosemund. »Er versprach, daß er Weihnachten zu uns kommen würde.« Ihre Stimme bebte ein wenig.

Kivrin hielt ihre Laterne hoch. Rosemund weinte nicht, aber ihre Wangen waren gerötet. Vielleicht war etwas mit Sir Bloet vorgefallen, was Rosemund Anlaß gegeben hatte, sich vor ihm zu verstecken. Oder vielleicht war es der Mönch, der sie geängstigt hatte. Oder der betrunkene Sekretär. Kivrin nahm sie beim Arm. »Du kannst gerade so gut in der Küche warten, und dort ist es warm«, sagte sie.

Rosemund nickte. »Mein Vater versprach, daß er ohne Fehl kommen würde.«

Was mochte sie sich davon erhoffen? Daß er die geistlichen Herren hinauswerfen würde? Oder Rosemunds Verlobung mit Sir Bloet aufkündigen? »Mein Vater würde niemals zulassen, daß ich zu Schaden komme.« So oder ähnlich hatte sie einmal zu Kivrin gesagt. Aber er war kaum in einer Position, die es ihm erlauben würde, die Verlobung aufzulösen, wenn der Heiratsvertrag bereits unterzeichnet worden war, denn das mußte ihm Sir Bloet entfremden, der »viele mächtige Freunde« hatte.

Kivrin begleitete Rosemund in die Küche, wo sie Maisry antraf und beauftragte, einen Becher Wein für sie zu wärmen. »Ich werde Gawyn sagen, daß er kommen und dich holen soll, sobald dein Vater eintrifft«, sagte sie und ging hinüber zum Stall, aber Gawyn war weder dort noch im Brauhaus.

In wachsender Unruhe ging sie wieder ins Haus, bedrückt von der Vorstellung, daß Imeyne ihn wieder mit einer ihrer Missionen beauftragt und fortgeschickt habe. Aber sie saß neben dem offensichtlich unfreiwillig erwachten Gesandten, auf den sie mit Entschiedenheit einredete, und Gawyn saß am Feuer, umringt von Sir Bloets Männern, einschließlich der beiden, die zuvor aus der Latrine gekommen waren. Sir Bloet saß mit Eliwys und seiner Schwägerin ihnen gegenüber am Herdfeuer.

Kivrin ließ sich auf die Bettlerbank neben der Zwischenwand sinken. Es gab keine Möglichkeit, auch nur in seine Nähe zu kommen, geschweige denn nach dem Absetzort zu fragen.

»Gib ihn mir!« winselte Agnes. Sie und die anderen Kinder waren bei der Treppe zu den Schlafgemächern, und die kleinen Jungen nahmen einer nach dem anderen Blackie auf die Arme, streichelten ihn und spielten mit seinen Ohren. Agnes mußte in den Stall hinübergegangen sein, den Welpen zu holen, während Kivrin draußen in der Scheune gewesen war.

»Er ist mein Hund«, sagte Agnes und wollte ihm das Tier entreißen. Der kleine Junge wollte ihn nicht wiedergeben. »Ich will ihn haben!«

Kivrin stand auf.

»Als ich durch den Wald ritt, stieß ich auf ein Mädchen«, erzählte Gawyn mit lauter Stimme. »Sie war von Räubern überfallen worden und arg verletzt, der Kopf aufgeschlagen und voll Blut.«

Kivrin zögerte, blickte zu Agnes, die mit der Faust auf den Arm des kleinen Jungen schlug, dann setzte sie sich wieder.

»›Schönes Fräulein‹, sagte ich, ›wer hat Euch dies angetan?‹ aber sie konnte wegen ihrer Verletzungen nicht sprechen.«

Agnes hatte ihren Welpen zurückerobert und drückte ihn an sich. Kivrin sollte hingehen und das arme Tier retten, aber sie blieb, wo sie war und rückte nur ein wenig weiter, um am Kopftuch der Schwägerin vorbeisehen zu können. Erzähl ihnen, wo du mich fandest, beschwor sie ihn in Gedanken. Sag ihnen, wo im Wald.

»›Ich bin Euer Lehnsmann und werde diese Schelme finden‹, sagte ich, ›aber ich möchte Euch nicht in solch trauriger Lage verlassen‹«, sagte er mit einem Blick zu Eliwys, »aber sie hatte sich erholt und bat mich, die Räuber zu suchen, die sie zu Schaden gebracht hatten.«

Eliwys stand auf und ging zur Tür. Sie stand dort eine Weile, blickte mit sorgenvoller Miene hinaus, dann kam sie zurück und setzte sich wieder.

»Nein!« kreischte Agnes. Einer von Sir Bloets rothaarigen Neffen hatte ihr Blackie abgenommen und hielt ihn in einer Hand hoch über seinem Kopf. Wenn Kivrin das arme Tier nicht bald rettete, würden sie es noch zu Tode drücken, und es hatte keinen Sinn, sich weiteres Jägerlatein über die Rettung des Mädchens im Wald anzuhören, das offensichtlich nicht der Schilderung der Ereignisse diente, sondern Eliwys beeindrucken sollte. Sie ging hinüber zu den Kindern.

»Die Räuber waren noch nicht lange fort, und ich fand mit Leichtigkeit ihre Fährte und ritt ihnen nach.«

Sir Bloets Neffe hatte Blackie bei den Vorderpfoten und ließ ihn baumeln, und der junge Hund winselte mitleiderregend.

»Kivrin!« schrie Agnes und sprang auf sie zu. Sir Bloets Neffe übergab ihr sofort den jungen Hund und zog sich zurück, und die übrigen Kinder liefen auseinander.

»Du hast Blackie gerettet!« sagte Agnes und streckte die Arme nach ihm aus.

Kivrin schüttelte den Kopf. »Es ist Zeit, schlafen zu gehen.«

»Ich bin nicht müde!« widersprach Agnes in einem weinerlichen Ton, der kaum überzeugend war. Sie rieb sich die Augen.

»Blackie ist müde«, sagte Kivrin und kauerte neben Agnes nieder, »und er wird nicht schlafen gehen, wenn du dich nicht mit ihm niederlegst.«

Dieses Argument schien sie zu interessieren, und bevor sie einen Makel daran finden konnte, gab Kivrin ihr Blackie zurück, legte ihn wie ein Säugling in ihre Arme, und hob sie beide auf. »Blackie möchte, daß du ihm eine Geschichte erzählst«, sagte Kivrin und ging zum Ausgang.

»Bald sah ich mich in einer Gegend, die mir unbekannt war«, sagte Gawyn, »mitten im finsteren Wald.«

Kivrin trug ihre Schützlinge hinaus und über den Hof. »Blackie mag Geschichten über Katzen«, sagte Agnes. Sie wiegte den Welpen sanft in den Armen.

»Dann mußt du ihm eine Geschichte über eine Katze erzählen«, sagte Kivrin. Sie nahm den Hund, während Agnes die Leiter zum Heuboden hinaufkletterte. Der Welpe schlief schon, erschöpft von all der Unruhe und dem Gezerre. Kivrin legte ihn neben Agnes’ Lager ins Stroh.

»Über eine böse Katze«, sagte Agnes und zog ihn wieder an sich. »Ich werde nicht schlafen. Ich lege mich nur mit Blackie hin, also brauche ich meine Kleider nicht auszuziehen.«

»Nein, das brauchst du nicht«, sagte Kivrin und deckte die beiden mit einem schweren Pelz zu. In der Scheune war es zu kalt, um sich auszuziehen.

»Blackie würde gern meine Glocke tragen«, sagte sie und versuchte sogleich, ihm das Band über den Kopf zu ziehen.

»Nein, er mag sie nicht, weil er schlafen möchte«, sagte Kivrin. Sie beschlagnahmte die Glocke, kroch neben der Kleinen unter den Pelz und zog einen zweiten über sich. Agnes schmiegte ihren kleinen Körper an sie.

»Es war einmal eine böse Katze«, sagte Agnes, von Gähnen unterbrochen. »Ihr Vater sagte ihr, sie solle nicht in den Wald gehen, aber sie hörte nicht auf ihn.«

Sie wehrte sich tapfer gegen das Einschlafen, rieb sich die Augen und erfand Abenteuer für die böse Katze, aber die Dunkelheit und die Wärme unter dem Pelz überwältigten sie bald.

Kivrin blieb liegen, bis sie merkte, daß Agnes’ Atem leicht und gleichmäßig ging, dann nahm sie ihr Blackie aus den Armen und legte ihn ins Stroh. Agnes tastete im Schlaf nach ihm, und Kivrin legte einen Arm um sie. Sie sollte aufstehen und zusehen, daß sie Gawyn irgendwo abfangen konnte. Der Rückholtermin war in weniger als einer Woche.

Agnes regte sich und kuschelte sich enger an sie, das Haar an Kivrins Wange.

Und wie soll ich dich verlassen? dachte Kivrin. Und Rosemund? Und Pater Roche? Und sie schlief ein.


Als sie erwachte, dämmerte schon der Morgen, und Rosemund war neben Agnes unter die Decken gekrochen. Kivrin ließ sie schlafen, stieg von der Tenne hinunter und ging über den grauen Hof, in Sorge, daß sie die Glocke zum Kirchgang verschlafen haben könnte, aber Gawyn saß noch immer beim Herdfeuer und erzählte, und der Gesandte des Bischofs saß im Lehnstuhl des Hausherrn und hörte schläfrig Frau Imeynes Redefluß zu.

Der Mönch saß in einem Winkel und hatte den Arm um Maisry gelegt, aber der Sekretär war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er im Vollrausch eingeschlafen und zu Bett gebracht worden.

Auch die Kinder mußten schlafen, und einige der Frauen hatten sich gleichfalls zurückgezogen. Sir Bloets Schwester und die Schwägerin aus Dorset waren nicht mehr in der Diele.

»›Halt, Spitzbube!‹ rief ich«, erzählte Gawyn. »›Denn ich werde dir im ritterlichen Zweikampf das Lebenslicht ausblasen.‹« Kivrin fragte sich, ob dies noch immer die Rettung des Mädchens aus der Hand der Räuber war, oder eines von Ritter Lancelots Abenteuern. Es war schwer zu sagen, und wenn seine Geschichte den Zweck hatte, Eliwys zu beeindrucken, war es vergebliche Liebesmüh, denn sie war nicht in der Diele. Auch seine Zuhörer schienen wenig beeindruckt. Zwei von ihnen gaben sich auf der Bank zwischen ihnen dem Würfelspiel hin, zwei andere waren gegangen, und Sir Bloet schlief, das Doppelkinn auf der breiten Brust.

Kivrin hatte offensichtlich keine Gelegenheit verpaßt, mit Gawyn zu sprechen, und wie es aussah, würde sich vorläufig keine ergeben. Sie hätte genauso gut bei Agnes auf der Tenne bleiben können. Es würde ihr nichts übrig bleiben als eine Gelegenheit zu schaffen — Gawyn auf dem Weg zur Latrine abzufangen oder ihm auf dem Weg zur Messe zuzuflüstern: »Ich erwarte Euch nachher im Stall.«

Die geistlichen Herren sahen nicht so aus, als ob sie abreisen würden, solange noch Wein im Hause war, aber es war riskant, zu lange zu warten. Die Männer mochten den Entschluß fassen, auf die Jagd zu gehen, oder das Wetter konnte umschlagen, und ob der Gesandte des Bischofs und sein Gefolge abreisten oder nicht, bis zum Rückholtermin waren es nur noch fünf Tage. Nein, vier. Der Weihnachtstag war bereits angebrochen.

»Er holte zu einem wilden Schlag aus«, erzählte Gawyn und stand auf, um die Schilderung durch die Gesten zu verdeutlichen, »und wäre es keine Finte gewesen, sondern ein ernsthaft geführter Schlag, hätte er mir den Schädel gespalten.«

»Fräulein Katherine«, sagte Imeyne und winkte ihr. Der Gesandte des Bischofs blickte interessiert herüber, und sie bekam Herzklopfen. Was für eine Bosheit konnten sie jetzt ausgeheckt haben? Bevor Kivrin zu ihnen hinübergehen konnte, stand Imeyne auf und kam ihr mit einem in Leinen gewickelten Bündel entgegen.

»Bitte tragt diese für die Messe zu Pater Roche«, sagte sie und entfaltete das Leinen, so daß Kivrin die Wachskerzen darin sehen konnte. »Sagt ihm, er soll diese auf den Altar stellen, und sagt ihm auch, daß er die Flammen der Kerzen nicht ausdrücken soll, denn dabei brechen die Dochte. Er soll die Kirche so herrichten, daß der Gesandte des Bischofs die Weihnachtsmesse halten kann. Ich möchte, daß die Kirche wie ein Gotteshaus aussieht, nicht wie ein Schweinestall. Und sagt ihm, er soll ein sauberes Gewand anlegen.«

Also sollte sie doch die ihr geziemende Messe bekommen. Kivrin eilte über den Hof und den Fahrweg entlang zum Dorfanger. Imeyne hatte Sorge getragen, daß sie den Gutshof verlassen mußte, nun brauchte sie nur noch Pater Roche loszuwerden, indem sie den Gesandten des Bischofs überredete, ihn seines Amtes zu entheben oder in die Abtei von Bicester zu schicken.

Der Dorfanger lag menschenleer. Das erlöschende Feuer flackerte bleich im grauen Licht des frühen Morgens, und der ringsum geschmolzene Schnee gefror zu eisigen Pfützen. Die Dorfbewohner mußten sich längst schlafengelegt haben, und sie überlegte, ob auch Pater Roche noch schlief. Aber aus seinem Haus stieg kein Rauch, und als sie an die Tür klopfte, regte sich nichts. Sie ging den Pfad entlang und betrat die Kirche durch die Seitentür. Drinnen war es noch dunkel, und kälter als es um Mitternacht gewesen war.

»Pater Roche«, rief Kivrin mit leiser Stimme.

Er antwortete nicht, aber sie konnte das Gemurmel seiner Stimme hören. Als ihre Augen sich der Dunkelheit angepaßt hatten, sah sie ihn hinter dem Chorgitter des Lettners vor dem Altar knien.

»Geleite jene, die diese Nacht weit gereist sind, sicher nach Haus und beschütze sie auf dem Weg vor Gefahr und Krankheit«, sagte er, und seine weiche Stimme erinnerte sie an die Nacht am Krankenbett, als sie diese Stimme so ruhig und tröstend durch die Flammen gehört hatte. Sie wiederholte ihren Ruf nicht, sondern blieb bei der Statue der heiligen Katharina stehen und lauschte in der Dunkelheit seiner Stimme.

»Sir Bloet und seine Familie kamen von Courcy zur Messe, und all ihre Diener«, sagte er, »und Theodulf Freeman von Henefelde. Der Schneefall hörte gestern abend auf, und der Himmel zeigte sich klar für die Nacht von Christi heiliger Geburt«, fuhr er in dem gleichen sachlichen Ton fort, in dem sie in das Aufnahmegerät sprach. Die Anwesenheitsliste für die Christmette und der Wetterbericht.

Allmählich begann Licht durch die bunten Glasfenster zu sickern, und sie sah ihn deutlicher durch das geschnitzte Chorgitter, das fadenscheinige und um den Saum schmutzige Gewand, das derbe und grausam aussehende Gesicht — jedenfalls verglichen mit dem aristokratischen Gesandten und dem schmalgesichtigen Sekretär.

»In dieser gesegneten Nacht, als die Messe endete, kam ein Bote vom Bischof, und mit ihm kamen zwei Priester, alle drei von großer Gelehrsamkeit und Güte«, betete Pater Roche.

Laß dich nicht von dem Gold und den feinen Kleidern täuschen, dachte Kivrin. Du bist mehr wert als zehn von ihnen. »Der Gesandte des Bischofs wird die Weihnachtsmesse lesen«, hatte Imeyne gesagt, und es schien sie keineswegs zu stören, daß er weder gefastet noch die Mühe auf sich genommen hatte, zur Kirche zu kommen und die Festtagsmesse selbst vorzubereiten. Du bist mehr wert als fünfzig von ihnen, dachte Kivrin. Hundert.

»Aus Oxenford gibt es Nachricht von Krankheit. Dem Häusler Tord geht es besser, aber ich sagte ihm, er solle nicht so weit zur Messe kommen. Uctreda war zu schwach, um zur Christmette zu kommen. Ich brachte ihr Suppe, aber sie aß sie nicht. Walthef fiel und erbrach sich nach dem Tanz, weil er zuviel Bier getrunken hatte. Gytha brannte sich die Hand am Julfeuer, als sie einen Feuerbrand herausnehmen wollte. Ich werde mich nicht fürchten, obwohl die letzten Tage kommen, die Tage des Zorns und des Jüngsten Gerichts, denn Du hast viel Hilfe gesandt.«

Viel Hilfe. Er würde überhaupt keine Hilfe haben, wenn sie noch länger hier stand und ihn belauschte. Die Sonne war aufgegangen, und im waagerecht einströmenden rosigen und goldenen Licht konnte sie auf dem Altar die Talgkerzen mit den anhängenden erstarrten Tropfen, die dunkel angelaufenen Leuchter und einen großen Talgfleck auf dem Altartuch erkennen. Der Tag des Zorns und des Gerichts wäre die passende Beschreibung dessen, was geschehen würde, wenn die Kirche noch so aussehen würde, wenn Imeyne zur Messe käme.

»Pater Roche«, sagte sie.

Er wandte sich sofort um, dann versuchte er aufzustehen, aber seine Beine waren offensichtlich steif vor Kälte. Er sah erschrocken, sogar ängstlich aus, und Kivrin sagte schnell: »Ich bin es, Katherine«, und trat vorwärts in das Licht von einem der Fenster, daß er sie sehen könne.

Er bekreuzigte sich, noch immer furchtsam, und sie fragte sich, ob er seine Gebete im Halbschlaf verrichtet habe und noch nicht ganz wach sei.

»Frau Imeyne schickte mich mit Kerzen«, sagte sie und trat zögernd durch die Öffnung im Chorgitter. »Sie gab mir den Auftrag, Euch zu sagen, daß sie zu beiden Seiten des Altars in die silbernen Leuchter gesteckt werden sollen. Sie gab mir Auftrag, Euch zu sagen…« Sie brach ab, schämte sich, Imeynes Anweisungen weiterzugeben. »Ich bin gekommen, Euch bei der Vorbereitung der Kirche für die Messe zu helfen. Was wünscht Ihr, daß ich tun soll? Soll ich die Kerzenleuchter putzen?« Sie hielt ihm das Bündel Kerzen hin.

Er nahm es nicht und sagte auch nichts, und sie überlegte ratlos, ob sie in ihrem Eifer, ihn vor Imeynes Zorn zu bewahren, irgendeine Regel durchbrochen habe. Frauen war es nicht gestattet, die Gegenstände oder Gefäße der Messe zu berühren. Vielleicht durften sie auch nicht die Leuchter anfassen.

»Ist es mir nicht erlaubt, zu helfen?« fragte sie. »Hätte ich nicht in den Altarraum kommen sollen?«

Pater Roche schien plötzlich zu sich zu kommen. »Es gibt keinen Ort, den Gottes Diener nicht betreten dürften«, sagte er. Er nahm ihr die Kerzen ab und legte sie auf den Altar. »Aber jemand wie Ihr sollte nicht solch niedrige Arbeit tun.«

»Es ist gottgefällige Arbeit«, sagte sie munter. Sie trat zum Altar und zog die halb abgebrannten Talgkerzen aus den schweren Leuchtern. Der Talg war an den Seiten herabgeronnen und fest geworden. »Wir werden Sand brauchen«, sagte sie. »Und ein Messer, um den Talg abzukratzen.«

Er ging sofort die genannten Dinge holen, und während er fort war, nahm sie hastig die Wachskerzen von der Chorschranke und ersetzte sie durch Talgkerzen.

Er kam mit dem Sand, einer Handvoll schmutziger Lappen und einem armseligen Messer, das gerade noch taugte, den Talg von den Leuchtern zu kratzen. Kivrin nahm sich zuerst das Altartuch vor und versuchte den Talgfleck abzuschaben, besorgt, daß die Zeit nicht reichen würde. Der Gesandte des Bischofs hatte es nicht eilig gehabt, sich aus dem Lehnstuhl zu erheben und für die Messe bereitzumachen, aber es war schwer zu sagen, wie lange er sich gegen Imeynes Eifer würde behaupten können.

Ich habe auch nicht mehr viel Zeit, dachte sie, als sie mit dem Reinigen der Leuchter begann. Sie hatte sich gesagt, es sei noch reichlich Zeit, aber nun wurde sie unruhig. Die ganze Nacht hatte sie mit Versuchen zugebracht, Gawyn in einem unbeobachteten Moment abzufangen, und sie war nicht einmal in seine Nähe gekommen. Und morgen mochte er auf die Idee kommen, zur Jagd auszureiten oder schöne Jungfrauen zu retten oder der Gesandte des Bischofs und seine Begleiter mochten allen Wein austrinken, auf der Suche nach mehr anderswohin aufbrechen und sie mitschleppen.

Pater Roche hatte gemeint, es gebe keinen Ort, wohin die Diener Gottes nicht gehen dürften.

Sie rieb die Leuchter energisch mit nassem Sand ab, dann löste sie mit dem alten Messer hartgewordene Talgreste vom oberen Rand, dabei flog ein Stück davon und traf Pater Roche, der die Kerzen schabte. »Verzeiht«, sagte sie. »Frau Imeyne…«

Sie brach ab. Es hatte keinen Sinn, ihm zu erzählen, daß sie fortgeschickt wurde. Wenn er versuchte, sich bei Frau Imeyne für sie einzusetzen, würde es die Sache nur noch schlimmer machen. Und sie wollte vermeiden, daß er für den Versuch, ihr zu helfen, in ein Kloster oder Schlimmeres verbannt würde.

Er wartete, daß sie ihren Satz beende. »Frau Imeyne beauftragte mich, Euch zu sagen, daß der Gesandte des Bischofs die Weihnachtsmesse lesen wird«, sagte sie.

»Es wird ein Segen sein, am Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus solche Heiligkeit zu hören«, erwiderte er und beugte den Kopf.

Der Geburtstag unseres Herrn Jesus Christus. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es an diesem Morgen in St. Mary aussehen würde, die Musik und die Wärme, die Laserkerzen, die in den Leuchtern aus Edelstahl glitzerten, aber es war wie etwas, das sie sich nur eingebildet hatte, trübe und unwirklich.

Sie stellte die vier Leuchter in gleichmäßigen Abständen auf den Altar. Sie schimmerten matt im farbigen Licht der Fenster. Sie steckte Imeynes Kerzen auf und rückte sie zurecht, bis die Abstände gleichmäßig waren. Es gab nichts, was sie an Pater Roches Priestergewand ausrichten konnte, welches, wie Imeyne recht gut wußte, sein einziges war. Er hatte nassen Sand am Ärmel, den sie ihm mit der Hand abwischte.

»Ich muß gehen und Agnes und Rosemund für die Messe wecken«, sagte sie, dann fuhr sie fort, fast ohne es zu wollen: »Frau Imeyne hat den Gesandten des Bischofs ersucht, mich zum Nonnenkloster nach Godstow zu bringen, wenn sie ihre Reise fortsetzen.«

»Gott hat Euch zu diesem Ort gesandt, uns zu helfen«, sagte er. »Er wird nicht zulassen, daß Ihr von ihm fortgenommen werdet.«

Ich wünschte, ich könnte dir glauben, dachte Kivrin, als sie über den Dorfanger zurückging. Noch immer lag das Dorf menschenleer, aber aus einigen Dächern drang Rauch, und die Kuh war herausgelassen worden. Sie weidete das spärliche Gras im Umkreis des Julfeuers, wo der Schnee geschmolzen war. Vielleicht schliefen im Herrenhaus noch alle, und sie konnte Gawyn wecken und nach dem Absetzort fragen, doch als sie in den Hof kam, sah sie Rosemund und Agnes vor der Scheune stehen. Beide sahen ziemlich mitgenommen aus. Rosemunds laubgrünes Samtkleid war zerdrückt und mit Strohhalmen und Heustaub behaftet, und Agnes hatte obendrein noch die Haare voll davon. Sobald sie Kivrin sah, ließ sie Rosemund stehen und rannte zu ihr.

Kivrin machte sich daran, sie von Halmen zu befreien und ihre Kleider abzuklopfen. »Warum schlaft ihr nicht mehr?«

»Es sind Männer gekommen«, sagte Agnes. »Sie weckten uns.«

Kivrin blickte forschend zu Rosemund auf. »Ist euer Vater gekommen?«

Rosemund schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer sie sind. Ich glaube, es müssen Diener des Gesandten sein.«

So war es. Die Ankömmlinge waren vier Mönche, allerdings nicht vom Rang des Zisterziensers, und zwei beladene Esel; sie hatten ihre Herren offenbar erst jetzt eingeholt. Während Kivrin und die Mädchen zusahen, luden sie zwei Kästen, mehrere Säcke aus grober Wolle und zwei kleine ovale Weinfässer ab.

»Sie müssen die Absicht haben, länger zu bleiben«, sagte Rosemund.

Kivrin nickte. Sie sei von Gott gesandt, hatte Pater Roche gesagt, und Gott würde nicht zulassen, daß man sie fortbringe. »Kommt«, sagte sie munter, »ich werde euch das Haar auskämmen.«

Sie ging mit ihnen hinein und brachte sie in Ordnung. Der kurze Nachtschlaf hatte Agnes’ Stimmung nicht gebessert, und sie wollte nicht stillhalten, während Kivrin sie kämmte. Sie brauchte bis zur Messe, um alle Heuhalme und Knoten herauszukämmen, und Agnes quengelte den ganzen Weg zur Kirche.

Im Gepäck der Gäste waren außer Wein anscheinend auch Meßgewänder gewesen. Der Gesandte des Bischofs trug ein Meßgewand aus schwarzem Samt über dem blendendweißen, mit Spitzen besetzten Chorhemd, und der Mönch hatte zu seinem weißen Zisterzienserhabit einen prachtvollen Überwurf mit Goldstickerei angelegt. Der Sekretär des Gesandten war nirgends zu sehen, und Kivrin hielt vergeblich Ausschau nach Pater Roche, der wegen seiner schmutzigen Gewänder wahrscheinlich aus seiner Kirche verbannt worden war. Kivrin hoffte ihn unter den Gläubigen im hinteren Teil des Kirchenschiffes zu entdecken, da man ihm schwerlich verweigern konnte, von dort aus Zeuge all dieser prunkvollen Heiligkeit zu sein, aber er war unter den Dorfbewohnern nicht zu sehen.

Auch sie sahen ziemlich mitgenommen aus, und einige von ihnen waren offensichtlich stark verkatert. Übernächtig und verkatert sah auch der Gesandte des Bischofs aus. Er rasselte die Worte der Meßfeier mit tonloser Stimme und einem Akzent herunter, den Kivrin kaum verstehen konnte. Er hatte wenig Ähnlichkeit mit Pater Roches Latein, noch mit dem, was Latimer und der Priester der Traditionalisten sie als das »wahre Latein« gelehrt hatten. Und es mußte das wahre Latein gewesen sein, dachte sie. »Ich werde dich nicht verlassen«, hatte Pater Roche an ihrem Krankenbett gesagt. »Fürchte dich nicht.« Und sie hatte ihn verstanden.

Die Messe nahm ihren Fortgang, und der Gesandte des Bischofs, assistiert vom Zisterziensermönch als Meßdiener, schien das Tempo der heiligen Handlung noch zu beschleunigen, als ob ihm dringend daran gelegen wäre, die Sache hinter sich zu bringen. Frau Imeyne schien es nicht zu bemerken. In dem Wissen, Gutes zu tun, stellte sie eine Miene selbstgerechter Heiterkeit zur Schau und nickte zustimmend zu der Predigt, die sich mit Entsagung und der Aufgabe weltlicher Dinge befaßte.

Als die Gemeinde nach dem Gottesdienst die Kirche verließ, machte sie jedoch vor dem Kirchenportal halt und blickte zum Glockenturm, die Lippen mißbilligend geschürzt. Was nun? dachte Kivrin. Liegt Staub auf der Glocke?

»Hast du gesehen, wie die Kirche aussah, Yvolde?« sagte Imeyne zu Sir Bloets Schwester. »Er hatte keine Kerzen in die Chorfenster gestellt, nur bäurische Talglichter.« Sie hielt inne, als die Glocke zu läuten begann. »Ich muß noch bleiben und ihn zur Rede stellen. Er hat unser Haus vor dem Bischof entehrt.«

Sie marschierte zum Glockenturm hinüber, das Gesicht erstarrt zu einer Grimasse rechtschaffenen Zorns. Und wenn er Kerzen in die Fenster gestellt hätte, dachte Kivrin, wäre es auch falsch gewesen. Oder er hätte sie nicht richtig gelöscht. Sie hätte Pater Roche gern gewarnt, aber Imeyne hatte die Strecke zum Glockenturm schon halb hinter sich, und Agnes zog beharrlich an Kivrins Hand.

»Ich bin müde«, jammerte sie. »Ich möchte schlafen.«

Kivrin schlängelte sich mit ihr zwischen den Dorfbewohnern durch, frische Scheite waren zuhauf in die zusammengekehrte und mit Asche zugedeckte Glut des Feuers geworfen worden, und die jungen Frauen und Mädchen des Dorfes hatten einander bei den Händen gefaßt und umtanzten das aufprasselnde Feuer im Reigen. Kivrin hätte den weiteren Verlauf gern beobachtet, aber Agnes hörte nicht auf zu quengeln und an ihrer Hand zu zerren, und so brachte sie sie zurück zur Scheune. Agnes legte sich bereitwillig auf ihr Strohlager und ließ sich zudecken, war aber wieder auf den Beinen und die Leiter herunter, bevor Kivrin den Hof überqueren und ins Haus gehen konnte.

»Agnes!« sagte Kivrin streng, die Hände in die Seiten gestemmt. »Warum bist du auf? Du sagtest, du willst schlafen.«

»Blackie ist krank.«

»Krank?« fragte Kivrin. »Was fehlt ihm?«

»Er ist krank«, wiederholte Agnes. Sie nahm Kivrins Hand und führte sie zurück zur Scheune, und sie stiegen zur Tenne hinauf. Blackie lag im Stroh, ein lebloses Bündel. »Machst du ihm einen Umschlag?«

Kivrin hob den Welpen auf und legte ihn vorsichtig zurück. Er war schon steif. »Ach, Agnes! Er ist tot.«

Agnes kauerte nieder und betrachtete ihn interessiert. »Großmutters Kaplan war auch tot«, sagte sie. »Hatte Blackie ein Fieber?«

Blackie hatte zuviel verständnislose Behandlung, dachte Kivrin. Er war von Hand zu Hand gegangen, war gedrückt, halb erwürgt, vor lauter Liebe umgebracht worden. Und ausgerechnet in der Heiligen Nacht, obwohl Agnes nicht sonderlich bekümmert schien.

»Gibt es ein Begräbnis?« fragte sie und berührte Blackies Ohr mit einem Finger.

Nein, dachte Kivrin. Im Mittelalter gab es keine Hundebegräbnisse in Schuhkartons. Die Zeitgenossen entledigten sich toter Tiere, indem sie sie ins Unterholz oder in einen Fluß warfen. »Wir werden ihn im Wald begraben«, sagte sie, obgleich sie keine Ahnung hatte, wie sie das im gefrorenen Boden bewerkstelligen sollte. »Unter einem Baum.«

Zum ersten Mal sah Agnes unglücklich aus. »Pater Roche muß Blackie auf dem Friedhof begraben.«

Pater Roche würde beinahe alles für Agnes tun, aber Kivrin konnte sich nicht vorstellen, daß er einwilligen würde, einem Tier ein christliches Begräbnis zu geben. Die Erkenntnis, daß höhere Tiere wie Warmblüter bewußten Denkens und Leidens fähig sind und die Achtung und Rücksicht des Menschen verdienen, war erst im 19. Jahrhundert allmählich aufgekommen, aber christliche Begräbnisse für Hunde, Katzen oder Pferde hatte es nie gegeben.

»Ich werde das Totengebet sprechen«, sagte Kivrin.

Agnes verzog weinerlich das Gesicht. »Pater Roche muß ihn auf dem Friedhof begraben! Und dann muß er die Glocke läuten.«

»Wir können Blackie erst nach Weihnachten begraben«, sagte Kivrin. »Nach Weihnachten werde ich Pater Roche fragen, was zu tun ist.«

Einstweilen konnte sie den toten Hund nicht liegen lassen, wo die Mädchen schliefen. »Komm, wir bringen Blackie nach unten«, sagte sie. Sie nahm den Welpen und trug ihn die Leiter hinunter, dann hielt sie in der Scheune und im Geräteschuppen nach einem Kasten oder einem Stück Leinwand Ausschau, konnte aber nichts finden. Schließlich legte sie Blackie in einen Winkel hinter abgestellte hölzerne Rechen und Heugabeln und ließ Agnes ein Bündel Stroh bringen, um ihn damit zuzudecken.

Agnes warf das Stroh auf ihn. »Wenn Pater Roche nicht die Glocke für ihn läutet, kommt er nicht in den Himmel«, sagte sie und brach in Tränen aus.

Es kostete Kivrin eine halbe Stunde, sie wieder zu beruhigen. Sie wiegte die Kleine in den Armen, wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und machte besänftigende Geräusche.

Vom Hof drangen Stimmengewirr und Geräusche herein. Es hörte sich an, als ob die Julfeier in den Gutshof verlegt worden wäre. Oder als ob die Männer zur Jagd ausritten. Hufschläge und das Wiehern von Pferden machten letzteres wahrscheinlich.

»Komm, laß uns sehen, was auf dem Hof geschieht«, sagte sie. »Vielleicht ist dein Vater gekommen.«

Agnes setzte sich aufrecht und wischte sich die Nase. »Ich will ihm von Blackie erzählen«, sagte sie und rutschte von Kivrins Schoß.

Sie gingen hinaus. Der Hof war voll von Menschen und Pferden. »Was tun sie?« fragte Agnes.

»Ich weiß nicht«, sagte Kivrin, aber was sie taten, war nur zu klar. Cob führte den Schimmelhengst des Gesandten aus dem Stall, und die Bediensteten trugen die Säcke und Kästen heraus, die sie erst am Morgen ins Haus geschafft hatten. Eliwys stand in der Tür und blickte mit besorgter Miene in den Hof.

»Reisen sie ab?« fragte Agnes.

»Nein«, sagte Kivrin. Nein, sie dürfen nicht abreisen. Ich weiß nicht, wo der Absetzort ist.

Der Mönch kam aus dem Haus; er hatte den Umhang über seine weiße Kutte gelegt. Cob verschwand wieder im Stall und führte die Stute heraus, die Kivrin geritten hatte, als sie ausgezogen waren, Efeu und Stechpalmenzweige zu suchen. Er trug einen Sattel auf der Schulter.

»Sie reisen doch ab«, stellte Agnes fest.

»Ich weiß«, sagte Kivrin. »Ich sehe es.«

23

Sie nahm Agnes bei der Hand und zog sie mit sich in die Sicherheit der Scheune. Sie mußte sich verstecken, bis sie fort waren. »Wohin willst du?« fragte Agnes.

Zwei von Sir Bloets Dienern trugen eine Kiste zum Hof heraus. Kivrin wich ihnen aus und eilte weiter. »Zur Tenne.«

Agnes blieb stehen und stemmte sich gegen ihre Hand. »Ich will nicht schlafen!« winselte sie. »Ich bin nicht müde!«

»Fräulein Katherine!« rief jemand über den Hof.

Kivrin nahm Agnes auf die Arme und eilte weiter zur Scheune. »Ich bin nicht müde!« kreischte Agnes. »Ich will nicht schlafen!«

Rosemund kam gelaufen. »Katherine! Hast du nicht gehört? Mutter sucht dich. Der Gesandte des Bischofs reist ab.« Sie nahm Kivrin beim Arm und drehte sie herum, daß sie zum Haus blickte.

Eliwys stand noch an der Tür, schaute jetzt herüber, und der Gesandte des Bischofs stand in seinem roten Umhang neben ihr. Imeyne war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war sie im Haus damit beschäftigt, Kivrins Kleider einzupacken.

»Der Gesandte des Bischofs hat dringende Geschäfte in der Priorei von Bernecestre«, sagte Rosemund. Sie zog Kivrin mit sich zum Haus, »und Sir Bloet geht mit ihnen.« Sie lächelte Kivrin glücklich zu. »Sir Bloet sagt, er will sie nach Courcy begleiten, daß sie dort übernachten und morgen in Bernecestre eintreffen können.«

Bernecestre. Bicester. Wenigstens war es nicht Godstow. Aber Godstow lag nicht weit abseits. »In welchen Geschäften?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Rosemund in einem Ton, als wäre es absolut unwichtig, und Kivrin vermutete, daß es das für sie war. Sir Bloet reiste ab, und das war alles, worauf es ihr ankam. Fröhlich lief Rosemund durch das Wirrwarr von Bediensteten, Pferden und Gepäck zu ihrer Mutter.

Der Gesandte des Bischofs sprach zu einem seiner Diener, und Eliwys beobachtete ihn stirnrunzelnd. Niemand würde sie sehen, wenn sie kehrtmachte und schnell in der offenen Stalltür verschwand. Aber Agnes hielt sie bei der Hand und zog in die Richtung ihrer Mutter.

»Agnes, ich muß zurück in die Scheune. Ich habe meinen Umhang vergessen«, fing sie an.

»Mutter!« rief Agnes und zerrte sie noch einen Schritt weiter, ließ dann ihre Hand los und rannte zu Eliwys und beinahe in eines der Pferde. Es wieherte und warf den Kopf auf, und ein Pferdeknecht sprang hinzu und nahm es beim Zaumzeug.

»Agnes!« rief Rosemund erschrocken, und es war zu spät. Eliwys und der Gesandte des Bischofs hatten sie bereits gesehen, und Eliwys kam herüber.

»Du darfst nicht zwischen die Pferde laufen«, sagte Eliwys, als sie Agnes aus dem Gefahrenbereich gezogen hatte. Sie drückte die Kleine an sich.

»Mein Hund ist tot«, sagte Agnes.

»Das ist kein Grund, blindlings durch die Gegend zu rennen«, erwiderte Eliwys, und Kivrin merkte, daß sie Agnes nicht zugehört hatte. Schon wandte sie sich wieder zum Gesandten des Bischofs um.

»Sagt Eurem Gemahl, daß wir dankbar für die Ausleihe Eurer Pferde sind, damit unsere für den Ritt nach Bernecestre ausruhen können«, sagte er. Auch er wirkte zerstreut. »Ich werde sie mit einem Knecht von Courcy zurückschicken.«

Agnes zupfte an den Röcken ihrer Mutter. »Möchtest du meinen Hund sehen?«

»Sei still«, sagte Eliwys.

»Mein Sekretär reitet heute nachmittag nicht mit uns«, sagte er. »Ich fürchte, er war gestern abend zu vergnügt und spürt nun die Schmerzen im Übermaß genossenen Weines. Ich bitte um Eure Duldung, daß er bleiben darf, bis er sich erholt hat und uns folgen kann.«

»Selbstverständlich darf er bleiben«, sagte Eliwys. »Können wir etwas tun, ihm zu helfen? Die Mutter meines Gemahls…«

»Nein. Laßt ihn in Ruhe schlafen. Einem schmerzenden Kopf kann nichts außer Schlaf helfen. Er wird bis zum Abend wiederhergestellt sein«, sagte er. Auch ihm war anzusehen, daß er in der Christnacht zu vergnügt gewesen war. Er schien nervös und unaufmerksam, verzog immer wieder das Gesicht wie unter schädelspaltenden Kopfschmerzen, und sein schmales, aristokratisches Gesicht war im hellen Morgenlicht grau und faltig. Er fröstelte und zog den Umhang fester um sich.

Er hatte Kivrin kaum eines Blickes gewürdigt, und in ihr keimte die Hoffnung, daß er in der Eile des Aufbruchs sein Frau Imeyne gegebenes Versprechen vergessen habe. Besorgt blickte sie über den Hof zur Einfahrt. Konnte es sein, daß sie noch bei der Kirche war und Pater Roche tadelte, so wenig dies dem armen Dorfpfarrer zu wünschen war? Jetzt hing alles davon ab, daß sie nicht plötzlich auftauchte und den Gesandten an seine Zusage erinnerte.

»Ich bedaure, daß mein Gemahl nicht hier ist«, sagte Eliwys, »und daß wir Euch kein besseres Willkommen bereiten konnten. Mein Gemahl…«

»Verzeiht, aber ich muß nach meinen Bediensteten sehen«, unterbrach er sie. Er hielt ihr die Hand hin, und Eliwys ließ sich auf ein Knie nieder und küßte ihm den Ring. Bevor sie sich erheben konnte, war er zum Stall hinübergegangen. Eliwys schaute ihm sorgenvoll nach.

»Willst du ihn sehen?« fragte Agnes.

»Nicht jetzt«, erwiderte Eliwys. »Rosemund, du mußt dich von Sir Bloet und Frau Yvolde verabschieden.«

»Er ist so kalt«, sagte Agnes.

Eliwys wandte sich zu Kivrin. »Katherine, weißt du, wo Frau Imeyne ist?«

»Sie blieb in der Kirche zurück«, sagte Rosemund.

»Vielleicht ist sie noch bei ihren Gebeten.« Eliwys stellte sich auf Zehenspitzen und überblickte das Gewimmel auf dem Hof. »Wo ist Maisry?«

Sie tut, was ich gleich hätte tun sollen, dachte Kivrin, und hält sich versteckt.

»Soll ich sie suchen?« fragte Rosemund.

»Nein, du mußt dich von Sir Bloet verabschieden. Katherine, geh hinüber zur Kirche und geleite Frau Imeyne hierher, daß sie sich vom Gesandten des Bischofs verabschieden kann. Rosemund, was stehst du noch da? Du mußt deinem Verlobten Lebewohl sagen.«

»Ich werde Frau Imeyne suchen«, sagte Kivrin. Wenn sie erst vom Hof wäre und Imeyne sich noch bei der Kirche aufhielt, könnte sie an den Hütten vorbeischlüpfen und sich im Wald in Sicherheit bringen, bis die Luft rein wäre.

Sie wandte sich zum Gehen. Ein Diener führte ein unruhig tänzelndes Pferd vorbei, und Kivrin schlug einen Bogen, um ihm nicht zu nahe zu kommen.

Einen Augenblick später war Rosemund bei ihr und faßte sie beim Ärmel. »Warte, Katherine! Du mußt mit mir kommen und Sir Bloet verabschieden.«

Kivrin blickte zur Einfahrt. Jeden Augenblick konnte Frau Imeyne dort erscheinen, das Stundenbuch an die hagere Brust gedrückt.

»Bitte!« sagte Rosemund. Sie sah blaß und ängstlich aus.

»Rosemund…«

»Es wird nur einen Augenblick dauern, dann kannst du Großmutter holen.« Sie zog Kivrin zum Stall hinüber. »Komm. Jetzt, solange seine Schwägerin bei ihm ist.«

Sir Bloet sah zu, wie sein Pferd gesattelt wurde und sprach zu der Dame mit der erstaunlichen Haube. Sie war an diesem Morgen nicht weniger eindrucksvoll, aber offenbar in Eile aufgesetzt worden, denn sie neigte sich bedrohlich nach einer Seite.

»Von welcher Art sind diese dringenden Geschäfte des bischöflichen Gesandten?« hörte Kivrin sie sagen.

Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, dann lächelte er Rosemund zu und trat vorwärts. Sie wich zurück, eine Hand an Kivrins Arm.

Seine Schwägerin nickte Rosemund zu und fuhr fort: »Hat er Nachrichten aus Bath erhalten?«

»Seit gestern abend ist kein Bote gekommen«, antwortete er.

»Wenn keine Botschaft gekommen ist, warum sprach er dann nicht von diesen dringenden Geschäften, als er kam?« fragte die Schwägerin.

»Ich weiß nicht«, sagte er ungeduldig. »Warte. Ich muß meiner Verlobten Lebewohl sagen.« Er griff nach Rosemunds Hand, und Kivrin merkte, welche Überwindung es sie kostete, ihre Hand nicht zurückzuziehen.

»Lebt wohl, Sir Bloet«, sagte sie steif.

»So willst du dich von deinem Mann verabschieden?« fragte er. »Willst du ihm nicht einen Abschiedskuß geben?«

Rosemund trat schnell näher, erhob sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange, dann trat sie ebenso schnell zurück und aus seiner Reichweite. »Ich danke dir für dein Geschenk«, sagte sie.

Bloets Blick ging von ihrem weißen Gesicht zum Kragen ihres Umhangs. »Du bist hier anstelle des Freundes, den ich liebe«, sagte er. Er hob eine Hand und befingerte die Brosche.

»Sir Bloet! Sir Bloet!« Agnes kam gerannt, und er fing sie auf und schwang sie einmal herum und auf die Arme.

»Ich bin gekommen, dir Lebewohl zu sagen«, sagte sie. »Mein Hund ist gestorben.«

»Ich werde dir zur Hochzeit einen Hund bringen«, sagte er, »wenn du mir einen Kuß gibst.«

Agnes warf ihm die Arme um den Hals und pflanzte auf jede rote Wange einen schmatzenden Kuß.

»Du bist mit deinen Küssen nicht so sparsam wie deine Schwester«, sagte er mit einem Blick zu Rosemund. Er stellte Agnes auf den Boden. »Oder willst du deinem Mann auch zwei Küsse geben?«

Rosemund sagte nichts.

Er trat näher und befingerte wieder die Brosche. »Io suiicien lui dami amo«, sagte er. Er legte beide Hände auf ihre Schultern. »Du mußt an mich denken, wann immer du meine Brosche trägst.« Er beugte sich zu ihr und küßte ihren Hals.

Rosemund zuckte nicht zurück, aber ihr Gesicht wurde womöglich noch bleicher.

Er ließ sie los. »Zu Ostern werde ich dich holen kommen«, sagte er, und es klang wie eine Drohung.

»Wirst du mir einen schwarzen Hund mitbringen?« fragte Agnes.

Frau Yvolde kam zu ihnen und fragte, wer ihren Reiseumhang gesehen habe.

»Ich werde ihn holen«, sagte Rosemund, flog herum und lief über den Hof zum Haus, Kivrin im Schlepptau.

Sobald sie in sicherer Entfernung von Sir Bloet waren, sagte Kivrin: »Ich muß Frau Imeyne suchen. Sieh nur, sie sind schon am Aufbrechen.«

Und so war es. Das Durcheinander von Dienern, Gepäckstücken, Pferdeknechten und Reittieren hatte sich zu einer Prozession geordnet, und Cob hatte das Tor geöffnet. Die Pferde, auf denen die drei Könige in der Nacht gekommen waren, waren jetzt mit Gepäck beladen, ihre Zügel zusammengebunden. Sir Bloets Schwägerin und ihre Töchter waren bereits aufgesessen, und der Gesandte des Bischofs stand neben Eliwys’ Stute und zog den Sattelgurt an.

Nur noch ein paar Minuten, dachte Kivrin. Lieber Gott, laß sie noch ein paar Minuten in der Kirche bleiben, dann sind sie fort.

»Deine Mutter befahl mir, Frau Imeyne zu suchen«, sagte Kivrin.

»Zuerst mußt du mit mir in die Diele kommen«, erwiderte Rosemund. Die Hand, mit der sie Kivrins Arm festhielt, zitterte noch.

»Rosemund, es ist keine Zeit mehr…«

»Bitte! Was soll ich tun, wenn er in die Diele kommt und mich findet?«

Kivrin dachte an Sir Bloet, wie er ihr den Hals geküßt hatte. »Ich komme mit dir«, sagte sie, »aber wir müssen eilen.«

Sie liefen über den Hof, durch die Tür und prallten beinahe mit dem fetten Mönch zusammen. Er kam die Treppe von den oberen Gemächern herab und sah zornig oder auch nur verkatert aus. Ohne die beiden eines Blickes zu würdigen, stapfte er zum Durchgang hinaus.

Niemand sonst war in Herdraum und Diele. Auf dem Tisch standen noch Becher und Bretter mit angeschnittenem Fleisch, und das Feuer, ungewartet, brannte qualmend vor sich hin.

»Frau Yvoldes Umhang ist auf dem Dachboden«, sagte Rosemund. »Warte auf mich.« Sie hastete die Leiter hinauf, als wäre Sir Bloet hinter ihr her.

Kivrin ging zurück zum Durchgang und blickte zur Tür hinaus. Sie konnte die Einfahrt nicht sehen. Der Gesandte des Bischofs stand neben Eliwys’ Pferd, eine Hand auf dem Sattel, und hörte mit schiefgelegtem Kopf dem Mönch zu, der sich beim Sprechen nahe zu ihm beugte. Kivrin blickte die Treppe zur geschlossenen Tür hinauf und überlegte, ob der Sekretär wirklich unter den Folgen einer durchzechten Nacht litt, oder ein Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten gehabt hatte.

Die Gesten, mit denen der Mönch seine Reden begleitete, verrieten jedenfalls Unruhe.

»Da ist er«, sagte Rosemund. Sie kam die Leiter herunter, in einer Hand den Umhang, in der anderen die Leitersprossen.

»Bitte bring du ihn zu Frau Yvolde, Katherine. Es wird nur eine Minute dauern.«

Es war die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. »Gut«, sagte sie, nahm Rosemund den schweren Reiseumhang ab und ging hinaus, entschlossen, den Umhang dem nächstbesten Bediensteten in die Hand zu drücken, daß er ihn Sir Bloets Schwester bringe, und zur Einfahrt zu laufen. Lieber Gott, betete sie, laß Imeyne noch ein paar Minuten in der Kirche bleiben, daß ich es bis zum Dorfanger schaffe. Aber als sie zur Tür hinaus wollte, stand Frau Imeyne vor ihr.

»Warum seid Ihr nicht reisefertig?« fragte Imeyne mit einem Blick zu dem Umhang in ihren Armen. »Wo ist Euer Umhang?«

Kivrin blickte an ihr vorbei zum Gesandten des Bischofs. Er hatte beide Hände am Sattel und einen Fuß im Steigbügel. Der Mönch war bereits aufgesessen.

»Mein Umhang ist in der Kirche«, sagte Kivrin. »Ich werde ihn holen.«

»Es ist nicht genug Zeit. Sie reisen ab.«

Kivrin blickte verzweifelt auf dem Hof umher, aber sie waren alle außer Reichweite. Eliwys stand mit Gawyn bei den Stallungen, Agnes war mit einer von Sir Bloets Nichten beschäftigt, Rosemund nirgends zu sehen, wahrscheinlich noch im Haus versteckt.

»Frau Yvolde bat mich, ihr den Umhang zu bringen«, sagte Kivrin.

»Das kann Maisry tun«, sagte Imeyne. »Maisry!«

Wenn sie nur in ihrem Versteck bliebe! dachte Kivrin.

»Maisry!« rief Imeyne, und Maisry kam aus dem Brauhaus, eine Hand am Ohr. Imeyne riß den Umhang aus Kivrins Armen und lud ihn Maisry auf. »Hör auf, wehleidig zu tun, und bring dies Frau Yvolde«, fuhr sie das Mädchen an. Dann packte sie Kivrin beim Handgelenk. »Kommt!« sagte sie und steuerte den bischöflichen Gesandten an. »Ehrwürdiger Vater, Ihr habt Fräulein Katherine vergessen, die nach Godstow zu bringen Ihr verspracht.«

»Wir gehen nicht nach Godstow«, sagte er und schwang sich mit ächzender Anstrengung in den Sattel. »Wir reisen nach Bernecestre.«

Gawyn hatte Gringolet bestiegen und ritt zum Ende der Kolonne. Er reitet mit ihnen, dachte Kivrin. Vielleicht kann ich ihn auf dem Weg nach Courcy überreden, daß er mich zum Absetzort führt. Oder daß er mir wenigstens sagt, wo er ist. Dann kann ich mich von ihnen davonmachen und ihn selbst finden.

»Kann sie dann nicht mit Euch nach Bernecestre reiten, daß ein Mönch sie von dort nach Godstow geleitet? Ich möchte, daß sie zu ihrem Kloster zurückkehrt.«

»Wir haben keine Zeit«, sagte er und nahm die Zügel auf.

Imeyne ergriff den Saum seines scharlachroten Umhanges. »Warum verlaßt Ihr uns so plötzlich, ehrwürdiger Herr? Hat jemand Euch beleidigt?«

Er blickte zu dem Mönch, der wartend auf dem Pferd saß, die Zügel in der Hand. »Nein.« Er machte ein unbestimmtes Kreuzzeichen über Imeyne. »Dominus vobiscum«, murmelte er. Er sah sie an, dann ihre Hand an seinem Saum.

»Könnt Ihr mir einen neuen Kaplan schicken?« drängte Imeyne.

»Ich lasse meinen Sekretär zurück, daß er Euch als Kaplan diene«, sagte er.

Kivrin hatte das sichere Gefühl, daß er log, und blickte scharf zu ihm auf. Er tauschte einen weiteren Blick mit dem Mönch, und Kivrin kam der Gedanke, daß ihre dringenden Geschäfte vielleicht nur darin bestanden, von dieser unzufriedenen alten Frau und ihren lästigen Klagen und Forderungen wegzukommen.

»Euren Sekretär?« sagte Frau Imeyne erfreut und ließ den Umhang los.

Der Gesandte trieb sein Pferd an und ritt im raschen Trab über den Hof und in die Zufahrt, gefolgt vom Zisterzienser. Hinter dem Wassertrog ritt er beinahe Agnes nieder, die ihm von der Seite her in den Weg lief und sich mit knapper Not zu Kivrin rettete, um den Kopf in ihren Röcken zu bergen.

»Gott mit Euch, ehrwürdiger Vater«, rief Frau Imeyne ihm nach, aber er war schon zum Tor hinaus.

Und dann waren sie alle fort, Gawyn als letzter im schneidigen Galopp, um vor Eliwys zu glänzen, und sie hatten sie nicht nach Godstow und außer Reichweite des Absetzortes mitgenommen. Kivrin war so erleichtert, daß sie sich nicht einmal Gawyns wegen sorgte. Nach Courcy war es nur ein halber Tagesritt. Vielleicht konnte er bis Dunkelwerden schon zurück sein.

Alle schienen erleichtert, oder es war nur die Ermattung nach der Geschäftigkeit und Aufregung des Festes, die ihnen seit dem Morgen des Vortags kaum Ruhe gegönnt hatten. Niemand machte Anstalten, die Tische abzuräumen, auf denen noch immer die benutzten Tranchierbretter, halbvollen Schüsseln und Trinkbecher standen. Eliwys sank in den Lehnstuhl ihres Mannes, ließ die Arme über die Seiten herabhängen und blickte müde über den Tisch hin. Nach ein paar Minuten rief sie nach Maisry, doch als das Mädchen nicht antwortete, unterließ sie es, noch einmal zu rufen. Sie lehnte den Kopf an die geschnitzte Lehne und schloß die Augen.

Rosemund stieg zum Dachboden hinauf, um sich hinzulegen, und Agnes setzte sich neben Kivrin ans Herdfeuer, legte den Kopf in ihren Schoß und spielte mit ihrer Glocke.

Nur Frau Imeyne weigerte sich, der Erschlaffung und Abgespanntheit nachzugeben. »Ich werde mit meinem neuen Kaplan sprechen, daß er die Vesper liest«, sagte sie und ging hinauf, um an die Tür der Schlafkammer zu klopfen. Eliwys erwiderte halbherzig und mit geschlossenen Augen, daß der bischöfliche Gesandte gesagt habe, sie sollten den Sekretär nicht stören, aber Imeyne klopfte mehrmals vernehmlich und ohne Ergebnis. Sie wartete ein paar Minuten, klopfte wieder und kam dann die Treppe wieder herunter, um an ihrem Fuß niederzuknien und ihr Stundenbuch zu lesen. Dabei konnte sie die Tür im Auge behalten und den Sekretär des Gesandten abfangen, sobald er sich zeigte.

Agnes gähnte ausgiebig, dann stieß sie mit einem Finger an ihre Glocke und brachte sie leise zum Erklingen. Ihre Augen waren am Zufallen.

»Warum gehst du nicht auf den Dachboden und legst dich mit deiner Schwester schlafen?« sagte Kivrin.

Agnes richtete sich auf. »Ich bin nicht müde. Erzähl mir, was mit dem bösen Mädchen geschah.«

»Nur wenn du dich hinlegst«, sagte Kivrin und begann die Geschichte. Agnes überdauerte keine zwei Sätze.


Am Spätnachmittag erinnerte Kivrin sich des Welpen. Alle schliefen inzwischen, sogar Frau Imeyne, die den Sekretär einstweilen aufgegeben und sich in ihre Kammer zurückgezogen hatte. Irgendwann war Maisry hereingekommen und unter einen Tisch gekrochen. Sie schnarchte vernehmlich.

Kivrin zog ihre Knie vorsichtig unter Agnes’ Kopf heraus und verließ die Diele, um den jungen Hund zu begraben. Der Hof lag menschenleer, und vom Dorfanger drangen keine Stimmen mehr herüber. Auch die Dorfbewohner mußten sich der weihnachtlichen Nachmittagsruhe hingegeben haben.

Kivrin nahm Blackies starren Körper an sich und ging in den Stall, um nach einem Spaten zu suchen. Nur Agnes’ Pony stand in seiner Box, und Kivrin betrachtete es nachdenklich: wie sollte der Sekretär dem Gesandten nach Courcy folgen, wenn kein Pferd für ihn da war? Vielleicht hatte er doch nicht gelogen und den Sekretär als neuen Kaplan zurückgelassen, ob es ihm gefiel oder nicht.

Im Geräteschuppen fand Kivrin einen hölzernen Spaten und trug Blackies steifen Leichnam über den Dorfanger und zur Nordseite des Friedhofes. Dort legte sie ihn ab und begann außerhalb der Einfriedungsmauer ein Loch in den verharschten Schnee zu stechen.

Der Erdboden darunter war buchstäblich steinhart. Der hölzerne Spaten drückte ihn nicht einmal ein, obwohl sie ihr ganzes Gewicht darauf verlagerte. Sie erstieg die Anhöhe bis zum Waldrand, scharrte am Fuß einer Esche den Schnee auf und begrub Blackie in der lockeren Deckschicht aus vermoderndem Laub und Moos.

»Requiescat in pace«, sagte sie, um Agnes versichern zu können, daß der Welpe ein christliches Begräbnis erhalten habe, und machte sich auf den Rückweg.

Während sie langsam über den Dorfanger ging, stellte sie sich vor, wie praktisch es wäre, wenn Gawyn jetzt geritten käme. Sie könnte ihn bitten, daß er sie zum Absetzort bringe, während alle anderen noch schliefen. Wahrscheinlich würde er die Straße nehmen. Sie lehnte den Spaten an den Flechtzaun des Schweineauslaufes und lauschte eine Weile nach Hufschlägen, aber alles lag in tiefer Stille.

Das Licht begann zu schwinden. Wenn Gawyn nicht bald käme, würde es zu dunkel sein, um zum Absetzort hinauszureiten. In einer halben Stunde würde Pater Roche zur Vesper läuten, und das mußte alle aufwecken. Für einen Ausritt in den Wald war es einfach zu spät, ganz abgesehen davon, daß Gawyn nach der Rückkehr aus Courcy kaum geneigt sein würde, ihr zuliebe noch einmal auszureiten. Aber er würde sein Pferd versorgen müssen, ganz gleich, um welche Zeit er zurückkehrte, und sie könnte zum Stall hinausschlüpfen und ihn bitten, daß er sie am Morgen zum Absetzort bringe.

Notfalls genügte es auch, wenn er ihr beschrieb, wo die Stelle war, vielleicht eine Skizze zeichnete, so daß sie selbst den Weg finden konnte. Das würde sie der Peinlichkeit entheben, allein mit ihm in den Wald gehen zu müssen, und wenn Frau Imeyne ihn am Tag des Rückholtermins zu einem weiteren Botendienst fortschickte, könnte sie eines der Pferde nehmen und selbst hinausreiten.

Sie wartete beim Tor, bis ihr zu kalt wurde, dann kehrte sie in den Hof zurück. Noch immer war niemand zu sehen, aber im Durchgang zum Herdraum war Rosemund in ihrem Umhang.

»Wo bist du gewesen?« sagte sie. »Ich habe dich überall gesucht. Der Sekretär…«

Kivrin krampfte sich das Herz zusammen. »Was ist mit ihm? Will er abreisen?« Sicherlich hatte er seinen Rausch ausgeschlafen und wollte fort. Und Frau Imeyne hatte, da sie ihn nicht halten konnte, überredet, Kivrin mit sich nach Godstow zu nehmen…

»Nein«, sagte Rosemund und ging voraus in die Diele. Sie war leer. Eliwys und Imeyne mußten bei ihm in der Schlafkammer sein. Das Mädchen öffnete Sir Bloets Brosche und nahm den Umhang ab. »Er ist krank. Pater Roche schickte mich, dich zu suchen.« Sie stieg die Treppe hinauf.

»Krank?«

»Ja. Großmutter schickte Maisry hinauf, um ihm zu essen zu bringen.« Und ihn an seine Pflichten zu erinnern, dachte Kivrin. Sie folgte ihr die Treppe hinauf. »Und Maisry fand ihn krank?«

»Ja. Er hat ein Fieber.«

Er hat einen Kater, dachte Kivrin. Aber Pater Roche würde die Auswirkungen eines Rausches sicherlich von einem Fieber unterscheiden können, selbst wenn Frau Imeyne es nicht konnte oder wollte.

Ein schrecklicher Gedanke kam ihr in den Sinn. Er hatte in ihrem Bett geschlafen und sich mit ihrem Virus angesteckt.

Rosemund öffnete die Tür.

Die kleine Kammer bot kaum genug Platz für alle. Pater Roche stand neben dem Bett, und etwas hinter ihm stand Eliwys und hatte die Hand auf Agnes’ Kopf gelegt. Maisry stand beim Fenster, und Frau Imeyne war am Fuß des Bettes über ihren Arzneikasten gebeugt, den sie auf die Truhe gestellt hatte. Sie war mit der Zubereitung eines ihrer übelriechenden Umschläge beschäftigt, aber es hing noch ein anderer Geruch in dem engen Raum, widerwärtig und so stark, daß er den Senf- und Lauchgeruch des Umschlags zurückdrängte.

Alle bis auf Agnes hatten besorgte und ängstliche Gesichter. Agnes sah interessiert aus, wie sie zuvor den steifen Blackie interessiert betrachtet hatte, und Kivrin dachte: Er ist tot, er hat sich mit meinem Virus infiziert und ist daran gestorben. Aber das war lächerlich. Sie war seit Mitte Dezember hier. Das würde eine Inkubationszeit von annähernd zwei Wochen bedeuten, und niemand sonst war daran erkrankt, weder Pater Roche noch Eliwys, die während ihrer Krankheit ständig bei ihr gewesen waren.

Sie reckte den Hals und sah den Sekretär. Er lag aufgedeckt im Bett, nur in ein Nachthemd von gelber Seide gekleidet. Seine Tageskleidung war über das Fußbrett des Bettes drapiert, der purpurne Umhang schleifte am Boden. Die Bänder seines Nachthemdes waren offen und gaben seine Brust zur Hälfte frei, aber sie bemerkte weder seine haarlose Haut noch die Hermelinstreifen an den Ärmeln seines Nachthemdes. Er war wirklich krank. Ich war niemals so krank, dachte Kivrin, nicht einmal, als ich im Sterben lag.

Sie trat näher zum Bett, und ihr Fuß stieß gegen eine halbleere irdene Weinflasche, die mit Gepolter umfiel und unter das Bett rollte. Der Sekretär zuckte zusammen. Eine weitere Flasche, noch versiegelt, stand am Kopfende des Bettes.

»Er hat zuviel fettes Essen verzehrt«, sagte Frau Imeyne. Sie zerkleinerte und verrührte etwas in ihrem steinernen Mörser, aber was dem Mann fehlte, war sicherlich weder ein verdorbener Magen noch Fleischvergiftung. Auch nicht zuviel Alkohol, trotz der Weinflaschen. Er war nicht verkatert, sondern krank. Sehr krank.

Er atmete schnell durch den offenen Mund, japste wie der arme Blackie, und streckte dabei die Zunge heraus. Sie sah hellrot und geschwollen aus. Sein Gesicht war von einem noch dunkleren Rot, sein Ausdruck verzerrt, als hätte er Schmerzen oder schreckliche Angst.

War es möglich, daß man ihn vergiftet hatte? Der bischöfliche Gesandte war ziemlich überstürzt abgereist und hatte Eliwys zuvor gesagt, sie solle ihn nicht stören. Die mittelalterliche Kirche war über derlei Praktiken nicht erhaben gewesen. Mysteriöse Todesfälle in Klöstern und unter der römischen Kurie. Todesfälle, die gelegen kamen.

Aber das ergab keinen rechten Sinn. Der Gesandte des Bischofs und sein Begleiter wären nicht so eilig abgereist und hätten nicht Anweisung gegeben, das Opfer ungestört zu lassen, wenn der ganze Sinn einer Vergiftung darin lag, ihr den Anschein von Bauchfellentzündung oder einer der vielen anderen unerklärlichen Krankheiten zu geben, an denen die Menschen des Mittelalters gestorben waren. Und warum sollte der bischöfliche Gesandte einen seiner eigenen Untergebenen vergiften, wenn er ihn degradieren und in ein Kloster stecken konnte, wie Frau Imeyne Pater Roche zu degradieren wünschte?

»Ist es die Cholera?« sagte Eliwys.

Kivrin versuchte sich auf die Symptome zu besinnen. Durchfall und Erbrechen mit starkem Verlust von Körperflüssigkeit. Eingefallene Züge, bläuliche Verfärbung der Haut infolge Sauerstoffmangels im Blut, quälender Durst.

»Seid Ihr durstig?« fragte sie.

Der Sekretär gab nicht zu erkennen, daß er gehört hatte. Seine Augen waren halb geschlossen, und auch die Lider schienen geschwollen.

Kivrin legte ihm die Hand auf die Stirn. Er zuckte ein wenig, seine geröteten Augen öffneten und schlossen sich wieder.

»Er hat hohes Fieber«, sagte Kivrin. Soviel sie wußte, war Cholera nicht mit so hohem Fieber verbunden. »Gebt mir ein in Wasser getauchtes Tuch.«

»Maisry!« sagte Eliwys, aber Rosemund war schon mit dem schmutzigen Lappen neben ihr, den sie auch bei ihr verwendet haben mußten.

Wenigstens war er kühl. Kivrin legte ihn zu einem Rechteck zusammen und beobachtete die Züge des Kranken. Er atmete weiter keuchend, und sein Gesicht verzog sich, als sie ihm den Lappen auf die Stirn legte, als litte er Schmerzen. Er hatte eine Hand auf dem Bauch, und sie sah, daß die Fingerspitzen fest in die Haut eingedrückt waren. Blinddarmentzündung? Sie war zwar von Fieber begleitet, aber nicht so hohem. Typhus und Fleckfieber konnten Temperaturen bis vierzig Grad erzeugen, aber gewöhnlich nicht schon beim Ausbruch. Andererseits führte Fleckfieber zur Vergrößerung der Milz, was häufig mit Leibschmerzen verbunden war.

»Habt Ihr Schmerzen?« fragte sie. »Wo schmerzt es?«

Seine Augen öffneten sich wieder zur Hälfte, seine Hände bewegten sich unruhig auf dem Nachthemd. Dieses unruhige Zupfen und Streichen war ein Symptom von Fleckfieber, wenn sie sich recht erinnerte, aber nur in den letzten Stadien, acht oder neun Tage nach Ausbruch der Krankheit. War es möglich, daß der Mann bei seiner Ankunft bereits krank gewesen war?

Er war beim Absitzen gestolpert, und der Mönch hatte ihn stützen und ins Haus führen müssen. Kivrin hatte es als Trunkenheit gedeutet. Außerdem hatte er beim Festschmaus eine Menge gegessen und getrunken und Maisry ins Hemd gegriffen. Er konnte also nicht sehr krank gewesen sein. Typhus setzte allmählich ein, beginnend mit Kopfschmerzen und nur leicht erhöhter Temperatur. Neununddreißig Grad erreichte es erst in der dritten Woche.

Kivrin beugte sich näher und zog sein offenes Nachthemd beiseite, um nach dem rosafarbenen Hautausschlag zu suchen, der eine Begleiterscheinung bei Typhus war. Der Mann war frei davon. Die Seite seines Halses schien leicht geschwollen, aber Lymphdrüsenschwellungen gingen mit fast allen Infektionen einher. Sie zog seinen Ärmel hoch. Auch die Arme waren frei von rosa Flecken, aber seine Fingernägel zeigten eine bläulichbraune Verfärbung, die auf Sauerstoffmangel hindeutete. Und Sauerstoffmangel im Blut war ein Cholerasymptom.

»Hat er erbrochen oder Durchfall gehabt?«

»Nein«, sagte Frau Imeyne. Sie schmierte eine grünliche Paste aus ihrem Mörser auf ein Stück steifes Leinen. »Er hat zuviel Zuckerwerk und Gewürz gegessen, das hat sein Blut fiebrig gemacht.«

Ohne Erbrechen konnte es nicht Cholera sein, und in jedem Fall war das Fieber zu hoch. Vielleicht war es doch ihr Virus, aber sie hatte keine Leibschmerzen gehabt, und ihre Zunge war nicht in dieser Weise angeschwollen.

Der Sekretär hob die Hand und stieß den Lappen von seiner Stirn, dann ließ er den Arm zurückfallen. Kivrin nahm den Lappen vom Kissen. Er war völlig trocken. Und was, außer einem Virus, konnte so hohes Fieber verursachen? Das einzige, was ihr dazu einfiel, war Typhus.

»Hat er aus der Nase geblutet?« fragte sie Pater Roche.

»Nein«, sagte Rosemund. Sie nahm Kivrin den Lappen aus der Hand. »Ich habe kein Blut gesehen.«

»Tauche den Lappen in kaltes Wasser, aber wringe ihn nicht aus«, sagte Kivrin. »Pater Roche, helft mir, ihn zu heben.«

Roche schob seine Hände unter die Schultern des Kranken und richtete ihn auf. Unter seinem Kopf war kein Blut auf Kissen oder Laken.

Pater Roche ließ ihn vorsichtig zurücksinken. »Glaubt Ihr, es ist das Fleckfieber?« fragte er, und sie fand es seltsam, daß es beinahe hoffnungsvoll klang.

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

Rosemund reichte ihr den Lappen. Sie hatte Kivrin wörtlich genommen. Er troff von eiskaltem Wasser.

Kivrin beugte sich über ihn und legte den Lappen auf die Stirn des Kranken. Der riß plötzlich die Arme hoch, stieß den Lappen rückwärts aus Kivrins Hand, dann richtete er sich auf und schlug mit beiden Händen und stieß mit den Füßen nach ihr. Seine Faust traf ihre Hüfte und brachte sie aus dem Gleichgewicht, daß sie beinahe über ihn gefallen wäre.

»Verzeiht, verzeiht«, sagte Kivrin, bemüht, das Gleichgewicht wiederzufinden und seine Hände festzuhalten. »Verzeiht mir.«

Seine blutunterlaufenen Augen waren jetzt weit offen und starrten geradeaus. »Gloriam tuam«, lallte er mit einer seltsam hohen Stimme, die beinahe ein Schrei war.

»Ihr müßt Euch niederlegen«, sagte Kivrin. Sie ergriff sein Handgelenk und wollte ihn sanft zurückdrehen, aber sein anderer Arm schoß heraus und traf sie voll vor die Brust.

»Requiem aeternam dona eis«, schrie er, erhob sich auf die Knie und dann auf die Füße, daß er mitten im Bett stand. »Etlux perpetua lucent eis.«

Kivrin begriff plötzlich, daß er die Totenmesse zu singen versuchte.

Pater Roche faßte nach seinem Nachthemd, und der Sekretär stieß mit dem Fuß nach ihm und stieß weiter, bis er wie ein tanzender Derwisch im Bett herumsprang.

»Miserere nobis.«

Er war der Wand zu nahe, als daß sie ihn hätten erreichen können, schlug mit den Füßen und den fuchtelnden Armen gegen die Wand und die Holzverkleidung, ohne es anscheinend zu bemerken. »Wenn er in Reichweite kommt, müssen wir ihn bei den Knöcheln fassen und niederwerfen«, sagte Kivrin.

Pater Roche nickte, außer Atem. Die anderen standen starr, ohne einen Versuch, den Tobenden zur Ruhe zu bringen. Imeyne war zur Truhe zurückgewichen, den Mörser und ihren Umschlag noch in den Händen. Maisry zwängte sich in die Fensternische, hatte die Augen fest zusammengekniffen und die Hände über die Ohren gelegt. Rosemund hatte den nassen Lappen aufgehoben und hielt ihn in der ausgestreckten Hand, als dächte sie, Kivrin könnte versuchen, ihn wieder auf die Stirn des Kranken zu legen. Agnes starrte mit offenem Mund auf den halb entblößten Körper des Sekretärs.

Der Kranke warf sich herum, daß er ihnen zugewandt war. Seine Hände krallten unkoordiniert nach den Bändern seines Nachthemdes, wie um sie loszureißen.

»Jetzt«, sagte Kivrin.

Pater Roche und sie griffen nach seinen Knöcheln. Der Sekretär fiel auf ein Knie, dann stieß er sich mit ausgebreiteten Armen ab und warf sich vom hohen Bett direkt auf Rosemund. Sie hielt instinktiv die Hände mit dem Lappen hoch, und er prallte auf sie und riß sie mit sich zu Boden.

»Packt ihn bei den Armen, bevor er sie verletzt«, sagte Kivrin, aber der Sekretär hatte plötzlich aufgehört, um sich zu schlagen. Er lag bewegungslos auf Rosemund, die Arme schlaff ausgebreitet, den Mund fast auf ihrem.

Pater Roche faßte einen der erschlafften Arme und wälzte den Mann von Rosemund. Er fiel auf die Seite und atmete schnell und kurz, aber nicht mehr keuchend.

»Ist er tot?« fragte Agnes. Als hätte der Klang ihrer Stimme die anderen aus der Erstarrung gelöst, drängten sie alle vorwärts. Frau Imeyne hielt sich am Bettpfosten fest.

»Blackie ist gestorben«, sagte Agnes, an die Röcke ihrer Mutter geklammert.

»Er ist nicht tot«, sagte Imeyne. Sie kniete neben ihm nieder. »Aber das Fieber in seinem Blut ist zum Gehirn gegangen. So geschieht es oft.«

Kivrin war ratlos. Es war kein Krankheitssymptom, von dem sie je gehört hatte. Was konnte es sein? Veitstanz, Epilepsie? Spinale Hirnhautentzündung?

Sie kauerte neben Rosemund nieder. Das Mädchen lag steif am Boden, die Augen zugedrückt, die Hände zu weißen Fäusten geballt. »Hat er dich verletzt?«

Rosemund schlug die Augen auf. »Er stieß mich zu Boden«, sagte sie. Ihre Stimme bebte.

»Kannst du stehen?«

Rosemund nickte, und Eliwys, der Agnes noch am Rock hing, faßte mit an, und sie halfen Rosemund auf die Beine.

»Mein Fuß schmerzt«, sagte sie, auf ihre Mutter gestützt, aber bald konnte sie darauf stehen. »Er… auf einmal…«

Eliwys führte sie zum Ende des Bettes und setzte sie auf die geschnitzte Truhe. Agnes kletterte zu ihr hinauf. »Der Sekretär des Bischofs ist auf dich gesprungen«, sagte sie.

Der Kranke murmelte etwas, und Rosemund schaute angstvoll zu ihm. »Wird er wieder aufstehen?«

Eliwys schüttelte den Kopf, aber sie stützte Rosemund und führte sie zur Tür. »Geh mit deiner Schwester hinunter zum Herdfeuer und bleib bei ihr«, befahl sie Agnes.

Agnes nahm Rosemund bei der Hand und führte sie hinaus. »Wenn der Mann stirbt, werden wir ihn auf dem Friedhof begraben«, konnte Kivrin sie sagen hören, als sie die Treppe hinunterstieg. »Wie Blackie.«

Der Sekretär sah bereits wie ein Toter aus. Seine Augen waren halb offen, zeigten aber nur das blutunterlaufene Weiße. Pater Roche kniete neben ihm nieder und hob ihn scheinbar mit Leichtigkeit über die Schulter, daß der Kopf und die Arme des Kranken schlaff herabhingen, geradeso wie Kivrin Agnes von der Christmette nach Haus getragen hatte. Kivrin zog die Decke zurück, und Roche ließ den Mann wieder ins Bett sinken.

»Wir müssen ihm das Fieber aus dem Gehirn ziehen«, sagte Frau Imeyne. »Es sind die Gewürze, die sein Gehirn fiebrig gemacht haben.« Sie kehrte zu ihrem Umschlag zurück.

»Nein«, flüsterte Kivrin. Der Kranke lag auf dem Rücken, die Arme neben sich ausgestreckt, die Handflächen nach oben gekehrt. Das dünne seidene Nachthemd war vorn halb aufgerissen und gab die linke Schulter frei, so daß der ausgestreckte Arm bis zum Ellbogen bloß lag. Unter dem Arm war eine rote Anschwellung. »Nein«, hauchte sie.

Die Anschwellung war hellrot und beinahe so groß wie ein Hühnerei. Hohes Fieber, geschwollene Zunge, Intoxikation des Nervensystems, Beulen unter den Armen und an den Leisten.

Kivrin trat unwillkürlich vom Bett zurück. »Das kann es nicht sein«, sagte sie. »Es ist etwas anderes.« Es mußte etwas anderes sein, vielleicht ein Blutgeschwür. Sie streckte den Arm aus, um den Ärmel von der anderen Schulter zu ziehen.

Die Hände des Kranken zuckten. Roche ergriff seine Handgelenke und drückte sie nieder. Auch unter dem anderen Arm war eine ähnliche Anschwellung. Sie fühlte sich hart an, und in ihrem Umkreis zeigte die Haut ein geflecktes Purpurschwarz.

»Es kann nicht sein«, murmelte sie. »Das ist unmöglich.«

»Dies wird das Fieber herausziehen«, sagte Imeyne. Sie hielt den Umschlag mit beiden Händen vor sich. »Zieht ihm das Nachthemd weiter herunter, daß ich ihm den Umschlag auflegen kann.«

Kivrin hob abwehrend die Hände. »Nein! Bleibt weg! Ihr dürft ihn nicht berühren!«

»Ihr sprecht wirr«, sagte Imeyne. Sie blickte zu Pater Roche. »Es ist nichts als ein Fieber, das vom Leib ausgegangen ist.«

»Es ist kein Fieber!« sagte Kivrin. Sie wandte sich zu Pater Roche. »Laßt seine Hände los und geht weg von ihm. Es ist kein Fieber. Es ist die Pest.«

Pater Roche und Imeyne und Eliwys schauten sie ebenso verständnislos an wie Maisry.

Sie wußten nicht einmal, was es ist, weil es noch nicht existierte. In dieser Zeit gab es den Schwarzen Tod noch nicht. Erst 1333 nahm er von China seinen Ausgang. Und er erreichte England nicht vor 1348. »Aber es ist die Pest«, sagte Kivrin, mehr zu sich selbst als zu den anderen. »Er hat alle Symptome. Die Beulen und die geschwollene Zunge und die Blutergüsse unter der Haut.«

»Es ist nichts als ein Bauchfieber«, sagte Imeyne und drängte sich an Kivrin vorbei zum Bett.

»Nein…«, murmelte Kivrin, aber Imeyne war schon bei ihm und hielt den Umschlag über seine nackte Brust.

»Der Herr sei uns gnädig«, stieß sie dann hervor und wich zurück, den Umschlag noch immer in den Händen.

»Ist es die Blaukrankheit?« fragte Eliwys ängstlich.

Und auf einmal fiel es Kivrin wie Schuppen von den Augen. Sie waren nicht wegen des Gerichtsverfahrens hier, oder weil der Hausherr mit dem König Schwierigkeiten hatte. Er hatte sie hierher geschickt, weil in Bath die Pest ausgebrochen war.

Agnes hatte gesagt, daß ihre Kinderschwester gestorben sei. Und Frau Imeynes Kaplan, Bruder Hubard. Agnes hatte ihr erzählt, er sei an der Blaukrankheit gestorben. Und Sir Bloet hatte erwähnt, daß das Gerichtsverfahren verschoben werden mußte, weil der Richter erkrankt sei. Darum hatte Eliwys keine Nachricht nach Courcy schicken wollen und war so zornig gewesen, als Imeyne gegen ihren Willen Gawyn zum Bischof geschickt hatte. Weil die Pest in Bath war. Aber es konnte nicht sein. Der Schwarze Tod hatte Bath erst im Herbst 1348 erreicht.

»Welches Jahr haben wir?« fragte Kivrin.

Die Frau sah sie einfältig an, als hätte sie nicht verstanden. Kivrin wandte sich zu Pater Roche. »Welches Jahr haben wir?«

»Seid Ihr krank, Fräulein Katherine?« sagte er besorgt. Er griff nach ihren Handgelenken, wie wenn er befürchtete, daß auch sie einen Anfall bekommen würde.

Sie entzog ihm die Hände. »Sagt mir das Jahr.«

»Es ist das einundzwanzigste Jahr der Regierung Eduards des Dritten«, sagte Eliwys.

Eduard der Dritte, nicht der Zweite! In ihrer Panik konnte sie sich nicht entsinnen, wann er regiert hatte. »Sagt mir das Jahr, bitte.«

»Anno domini«, sagte der Sekretär vom Bett. Er versuchte sich die Lippen mit der geschwollenen Zunge zu befeuchten. »Eintausenddreihundert- undachtundvierzig.«

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