Connie Willis Die Jahre des Schwarzen Todes

Für Laura und Cordelia — meine Kivrins


»Und damit nicht Geschehnisse, die erinnert sein sollten, mit der Zeit untergehen und aus dem Gedenken derer verschwinden, die nach uns kommen sollen, habe ich, der so viele Übel gesehen hat, und die ganze Welt gleichsam in den Klauen des Bösen, so daß ich wie unter den Toten bin, während ich auf den Tod warte, all die Dinge, deren Zeuge ich geworden bin, schriftlich niedergelegt.

Und damit die Schrift nicht mit dem Verfasser zugrunde gehe und das Werk mit dem Arbeiter, hinterlasse ich Pergament zur Fortführung dieser Arbeit, wenn etwa einer überlebt und einer vom Geschlecht Adams dieser Pestilenz entgeht und die Arbeit weiterführt, die ich begonnen habe…«

Bruder John Clyn, 1349

Teil 1


Wasein Glockenläuter am meisten braucht, ist nicht Kraft, sondern die Fähigkeit, das richtige Zeitmaß zu halten… Er muß diese beiden Dinge im Bewußtsein zusammenbringen und für dort für immer bewahren — Glocken und Zeit, Glocken und Zeit.

RONALD BLYTHE

AKENFIELD

1

Mr. Dunworthy öffnete die Tür zum Laboratorium, und sofort beschlugen seine Brillengläser.

»Bin ich zu spät?« fragte er, nahm die Brille ab und blinzelte Mary zu.

»Schließen Sie die Tür«, sagte sie. »Ich kann Sie im Getöne dieser schauderhaften Weihnachtslieder nicht verstehen.«

Dunworthy schloß die Tür, aber das konnte die vom Hof hereindringenden Klänge von »Ihr Kinderlein kommet« nicht gänzlich aussperren. »Bin ich zu spät?« fragte er wieder.

Mary schüttelte den Kopf. »Gilchrists Ansprache ist alles, was Sie versäumt haben.« Sie lehnte sich im Stuhl zurück, um Dunworthy in den schmalen Beobachtungsraum vorbeizulassen. Sie hatte ihren Mantel ausgezogen und mit dem wollenen Hut und einer großen Einkaufstasche voller Päckchen auf dem einzigen anderen Stuhl abgelegt. Ihr graues Haar war in Unordnung, als hätte sie versucht, es nach dem Abnehmen des Hutes aufzulockern. »Eine sehr lange Ansprache über die Jungfernfahrt des Fachbereichs Mittelalter in die Zeit«, sagte sie, »und daß das Brasenose College seinen rechtmäßigen Platz als das Juwel in der Krone der Geschichtsschreibung einnehmen werde. Regnet es noch?«

»Ja«, sagte er, mit dem Putzen der Brillengläser an seinem Schal beschäftigt. Er hakte das Drahtgestell der Brille über die Ohren und ging hinauf zu der dünnen gläsernen Trennwand, um das Netz anzusehen. In der Mitte des Laboratoriums war ein zerbrochenes kleines Fuhrwerk, umgeben von durcheinandergeworfenen Reisekisten und Körben. Darüber hingen die Schutzschirme des Netzes, drapiert wie ein Fallschirm aus dünnem Flor.

»Wo ist Kivrin?« fragte Dunworthy.

»Ich habe sie nicht gesehen«, sagte Mary. »Nun kommen Sie und setzen Sie sich. Das Absetzen ist erst für heute mittag geplant, und ich bezweifle sehr, daß sie sie bis dahin auf den Weg bringen werden. Schon gar nicht, wenn Gilchrist noch eine Rede hält.«

Sie hängte ihren Mantel über die Lehne ihres eigenen Stuhles und stellte die Einkaufstasche mit den Päckchen neben sich auf den Boden. »Ich hoffe wirklich, daß es nicht den ganzen Tag dauern wird. Um drei muß ich meinen Großneffen Colin abholen. Er kommt mit der U-Bahn.«

Sie kramte in ihrer Einkaufstasche. »Meine Nichte Deirdre ist über die Feiertage nach Kent gefahren und hat mich gebeten, den Jungen bei mir aufzunehmen. Ich hoffe nur, daß es nicht die ganze Zeit regnen wird, solange er hier ist«, sagte sie, mit beiden Händen in der Einkaufstasche suchend. »Er ist zwölf, ein netter Junge, sehr intelligent, aber leider hat er das schrecklichste Vokabular. Alles ist entweder nekrotisch oder apokalyptisch. Und Deirdre erlaubt ihm entschieden zu viele Süßigkeiten.«

Sie grub weiter im Inhalt ihrer Einkaufstasche. »Das habe ich für ihn zu Weihnachten gekauft.« Sie zog ein schmales, rot und grün gestreiftes Päckchen hervor. »Ich hatte gehofft, den Rest meiner Einkäufe zu erledigen, bevor ich hierher käme, aber es goß in Strömen, und ich kann diese schauderhafte digitale Glockenspielmusik in der High Street immer nur für kurze Zeit ertragen.«

Sie öffnete die Schachtel und faltete das Seidenpapier zurück. »Ich habe keine Ahnung, was Dreizehnjährige heutzutage tragen, aber ein wollener Schal ist zeitlos, meinen Sie nicht, James? — James?«

Er erwachte aus seiner Geistesabwesenheit und wandte den Kopf. »Was?«

»Ich sagte, ein Schal ist immer ein passendes Weihnachtsgeschenk für einen Jungen, finden Sie nicht?«

Er sah den Schal an, den sie zur Begutachtung in die Höhe hielt. Er war aus dunkelgrauer Plaidwolle. Er hätte sich als Junge nicht ums Verrecken damit sehen lassen mögen, und das war vor fünfzig Jahren gewesen. »Ja«, sagte er und wandte sich wieder der Glasscheibe zu.

»Was gibt es? Ist etwas nicht in Ordnung?«

Latimer hob ein messingbeschlagenes Kästchen auf und blickte dann unbestimmt suchend umher, als hätte er vergessen, was er damit vorhatte. Montoya schaute ungeduldig auf ihre Digitaluhr.

»Wo ist Gilchrist?« sagte Dunworthy.

»Er ist da hinaus«, sagte Mary und zeigte zu einer Tür auf der anderen Seite des Netzes. »Er predigte über die Stellung des Mittelalters in der Geschichte, sprach eine Weile mit Kivrin. Der Techniker führte ein paar Erprobungen durch, und dann gingen Gilchrist und Kivrin da hinaus. Ich nehme an, er ist noch mit ihr dort drinnen und bereitet sie vor.«

»Bereitet sie vor«, murmelte Dunworthy.

»James, nun kommen Sie endlich und setzen Sie sich, und sagen Sie mir, wo es fehlt«, sagte sie, steckte den Schal in seine Schachtel und stopfte diese in die Einkaufstasche. »Und wo Sie gewesen sind. Ich erwartete Sie hier, als ich kam. Schließlich ist Kivrin Ihre Lieblingsschülerin.«

»Ich versuchte den Dekan der Historischen Fakultät zu erreichen«, sagte Dunworthy, ohne den Blick vom Geschehen im Nebenraum zu wenden.

»Basingame? Ich dachte, der sei in die Weihnachtsferien gefahren.«

»So ist es. Und Gilchrist brachte es fertig, während seiner Abwesenheit zum stellvertretenden Dekan ernannt zu werden, so daß er das Mittelalter für Zeitreisen öffnen konnte. Er hob die hinderliche Einstufung zehn auf und setzte für jedes Jahrhundert eigenmächtig eine Neueinstufung fest. Wissen Sie, welche er dem 14. Jahrhundert zuwies? Eine Sechs. Eine Sechs! Wäre Basingame hier gewesen, er hätte es nie erlaubt. Aber der Mann ist unauffindbar!« Er blickte hoffnungsvoll zu Mary. »Sie wissen nicht vielleicht, wo er ist?«

»Nein«, sagte sie. »Irgendwo in Schottland, nehme ich an.«

»Irgendwo in Schottland«, sagte er bitter. »Und Gilchrist schickt Kivrin unterdessen in ein Jahrhundert, das eindeutig eine Zehn ist, ein Jahrhundert, das von Skrofulose und der Pest heimgesucht wurde und Johanna von Orleans auf dem Scheiterhaufen verbrannte.«

Er blickte zu Badri, der in das Mikrofon der Konsole sprach. »Sie sagten, Badri habe Erprobungen vorgenommen. Worin bestanden sie? Einer Überprüfung der Koordination? Einer Feldprojektion?«

»Ich weiß es nicht.« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung zu den Kontrollschirmen mit ihren ständig wechselnden Mustern und Zahlenkolonnen. »Ich bin nur Ärztin, kein Netztechniker. Aber dieser Techniker kommt mir bekannt vor. Er ist vom Balliol College, nicht?«

Dunworthy nickte. »Er ist der beste Techniker, den Balliol hat«, sagte er, während er Badri beobachtete, der die Tasten der Konsole eine Zeit berührte, den Blick auf den wechselnden Ablesungen. »Alle Techniker des New College waren in die Weihnachtsferien gegangen. Gilchrist hatte die Absicht, einen Technikerlehrling im ersten Lehrjahr zu gebrauchen, der noch nie eine Person abgesetzt hatte. Ein Lehrling im ersten Jahr für eine Ferndistanz! Ich überredete ihn, Badri einzusetzen. Wenn ich dieses Unternehmen nicht verhindern kann, will ich wenigstens dafür sorgen, daß es von einem fähigen Techniker durchgeführt wird.«

Badri blickte stirnrunzelnd in den Bildschirm, zog ein Meßgerät aus der Tasche und ging zu dem Fuhrwerk.

»Badri!« rief Dunworthy.

Badri gab durch nichts zu erkennen, daß er ihn gehört hatte. Er ging um die Kisten und Körbe herum und blickte auf sein Meßgerät. Er verschob eine der Kisten etwas nach links.

»Er kann Sie nicht hören«, sagte Mary.

»Badri!« rief er. »Ich muß mit Ihnen reden.«

Mary war aufgestanden. »Er kann Sie nicht hören, James«, sagte sie. »Die Trennwand ist schalldicht.«

Badri sagte etwas zu Latimer, der immer noch den messingbeschlagenen Kasten hielt. Latimer schaute verwirrt drein. Badri nahm ihm den kleinen Kasten aus den Händen und legte ihn auf die Kreidemarkierung.

Dunworthy hielt Ausschau nach einem Mikrofon. Er konnte keines sehen. »Wie war es Ihnen möglich, Gilchrists Ansprache zu hören?« fragte er Mary.

»Gilchrist drückte auf der anderen Seite auf einen Kopf«, sagte sie und deutete zu einer Schalttafel an der Wand neben dem Netz.

Badri hatte sich wieder an die Konsole gesetzt und sprach ins Mikrofon. Die Netzabschirmungen begannen sich herabzusenken. Badri sagte wieder etwas, und sie wurden in die frühere Position aufgezogen.

»Ich sagte Badri, er solle alles nachprüfen, das Netz, die Berechnungen des Lehrlings, alles«, sagte er, »und das Absetzen sofort unterbrechen, sollte er irgendwelche Fehler finden, ganz gleich, was Gilchrist sagen würde.«

»Aber Gilchrist würde niemals Kivrins Sicherheit gefährden«, protestierte Mary. »Er sagte mir, er habe alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen…«

»Alle Sicherheitsvorkehrungen! Er hat keine Aufklärungstests oder Parameterprüfungen durchgeführt. Im 20. Jahrhundert machten wir zwei Jahre lang unbemannte Aufklärungstests, bevor wir jemanden absetzten. Er hat nichts dergleichen getan. Badri sagte ihm, er solle das Absetzen verschieben, bis er wenigstens einen unbemannten Test gemacht hätte; statt dessen verlegte er den Termin um zwei Tage vor. Der Mann ist völlig unfähig.«

»Aber er erklärte, warum das Absetzen heute erfolgen müsse«, sagte Mary. »In seiner Ansprache erläuterte er, daß die Zeitgenossen um 1300 nicht auf Daten achteten, außer auf Aussaat- und Erntezeiten und Kirchenfeiertage. Er sagte, die Konzentration der Feiertage sei um Weihnachten am größten, und darum habe der Fachbereich Mittelalter entschieden, Kivrin jetzt zu entsenden. So könne sie die Adventfeiertage nutzen, um ihre zeitliche Position zu bestimmen und sicherzustellen, daß sie am 28. Dezember wieder am Absetzort sein würde.«

»Daß er sie jetzt schickt, hat nichts mit Advent oder Feiertagen zu tun«, sagte er, ohne Badri aus den Augen zu lassen. Er tippte wieder mit einem Finger auf der Tastatur herum und runzelte die Stirn. »Er könnte sie nächste Woche schicken und Dreikönig als Rückholtermin festsetzen. Er könnte sechs Monate lang unbemannte Tests machen und sie dann mit Zeitverkürzung schicken. Aber Gilchrist setzt sie jetzt ab, weil Basingame in Ferien ist und ihn nicht an seinem Vorhaben hindern kann.«

»Ach du liebe Zeit«, sagte Mary. »Ich dachte mir auch, daß er die Dinge überstürzt. Als ich ihm sagte, wie lange ich Kivrin im Krankenhaus brauchte, versuchte er es mir auszureden. Ich mußte ihm erklären, daß ihre Schutzimpfungen Zeit benötigen, um wirksam zu werden.«

»Ein Rückholtermin am 28. Dezember«, sagte Dunworthy mit Bitterkeit. »Wissen Sie, was für ein Feiertag das ist? Das Fest der Unschuldigen Kinder, die Herodes abschlachten ließ. Was angesichts der Umstände, wie dieses Absetzen gehandhabt wird, durchaus passend sein mag.«

»Warum können Sie es nicht verhindern?« sagte Mary. »Sie können Kivrin die Teilnahme verbieten, nicht wahr? Sie sind ihr Studienleiter.«

»Nein, bin ich nicht«, sagte er. »Sie studiert am Brasenose College. Latimer ist ihr Studienleiter.« Er winkte in die Richtung, wo Latimer den messingbeschlagenen Kasten wieder aufhob und hineinspähte. »Sie kam zum Balliol College und bat mich, sie inoffiziell zu unterrichten.«

Er starrte stirnrunzelnd durch das dünne Glas der Trennscheibe. »Ich sagte ihr gleich, daß sie nicht gehen könne.«

Kivrin war schon als Studienanfängerin zu ihm gekommen. »Ich möchte ins Mittelalter gehen«, hatte sie gesagt. Sie war nicht mal einsfünfzig groß, und ihr blondes Haar war in Zöpfe geflochten. Sie hatte nicht alt genug ausgesehen, um allein die Straße zu überqueren.

»Das geht nicht«, hatte er gesagt, sein erster Fehler. Er hätte sie zum Fachbereich Mittelalter zurückschicken und ihr sagen sollen, daß sie die Sache mit ihrem Studienleiter besprechen solle. »Das Mittelalter ist geschlossen. Es hat eine Einstufung von zehn.«

»Eine Unterdrückungszehn«, sagte Kivrin, »die es nicht verdient, sagt Mr. Gilchrist. Er sagt, daß diese Einstufung einer Jahr-für-Jahr-Analyse niemals standhalten würde. Sie beruhe auf der Sterblichkeitsrate der Zeitgenossen, die hauptsächlich auf schlechte Ernährung und fehlende medizinische Versorgung zurückzuführen sei. Die Einstufung würde für einen Historiker, der gegen Krankheiten geimpft ist, nicht annähernd so hoch sein. Mr. Gilchrist beabsichtigt die Geschichtswissenschaftliche Fakultät um eine Neubewertung der Einstufung und die Öffnung eines Teils des 14. Jahrhunderts zu ersuchen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Fakultät ein Jahrhundert öffnet, das nicht nur den Schwarzen Tod und die Cholera hatte, sondern auch den Hundertjährigen Krieg«, sagte Dunworthy.

»Aber es könnte sein, und wenn es geschieht, möchte ich gehen.«

»Es ist unmöglich«, sagte er. »Selbst wenn es geöffnet würde, könnte der Fachbereich Mittelalter keine Frau entsenden. Eine unbegleitete Frau war im 14. Jahrhundert unerhört. Nur Frauen der untersten Schicht gingen allein, und sie waren Freiwild für jeden Mann und jedes Tier, denen sie begegneten. Frauen des Adels und sogar des aufkommenden Bürgertums wurden ständig von ihren Vätern oder Ehemännern oder ihren Dienern begleitet, gewöhnlich von allen dreien, und selbst wenn Sie keine Frau wären, Sie sind eine Studentin. Das 14. Jahrhundert ist viel zu gefährlich, als daß der Fachbereich daran denken könnte, einen Studenten zu schicken. Er würde einen erfahrenen Historiker absetzen.«

»Es ist nicht gefährlicher als das 20. Jahrhundert«, sagte Kivrin. »Senfgas und Bombenteppiche und Autounfälle. Wenigstens wird niemand eine Bombe auf mich fallen lassen. Und wer ist ein erfahrener Historiker für das Mittelalter? Niemand hat praktische Erfahrungen an Ort und Stelle gesammelt, und Ihre auf das 20. Jahrhundert spezialisierten Historiker hier im Balliol College wissen überhaupt nichts vom Mittelalter. Niemand weiß etwas. Es gibt kaum verläßliche Aufzeichnungen außer Kirchenbüchern und Steuerlisten, und kein Mensch weiß wirklich, wie das Leben der Menschen war. Darum möchte ich gehen. Ich möchte in Erfahrung bringen, wie sie waren und wie sie lebten. Wollen Sie mir nicht bitte dabei helfen?«

Schließlich sagte er: »Ich fürchte, Sie werden mit dem Fachbereich Mittelalter darüber sprechen müssen«, aber es war zu spät.

»Das habe ich bereits getan«, sagte sie. »Dort wissen sie auch nichts über das Mittelalter. Ich meine, nichts Praktisches. Mr. Latimer lehrt mich Mittelenglisch, aber das ist nichts als pronominale Beugungen und Lautverschiebungen. Er hat mir nicht beigebracht, etwas zu sagen. Aber ich muß die Sprache und die Gebräuche wissen«, sagte sie und beugte sich über Dunworthys Schreibtisch. »Ich muß über das Geld und die Tischsitten und so weiter Bescheid wissen. Wußten Sie, daß sie keine Teller verwendeten? Sie hatten flache Brotfladen, die Manchets genannt wurden, und wenn sie das Fleisch davon gegessen hatten, brachen sie sie in Stücke und aßen sie. Ich brauche jemanden, der mir solche Dinge beibringt, damit ich keine Fehler mache.«

»Ich bin als Historiker auf das 20. Jahrhundert spezialisiert, kein Mediävist. Ich habe mich seit vierzig Jahren nicht intensiv mit dem Mittelalter beschäftigt.«

»Aber Sie kennen die Dinge, die ich wissen muß. Wenn Sie mir bloß sagen, welche es sind, kann ich sie nachschlagen und lernen.«

»Was ist mit Gilchrist?« fragte er, obwohl er Gilchrist für einen wichtigtuerischen Hanswurst hielt.

»Er arbeitet an der Neueinstufung und hat keine Zeit.«

Was nützt die Neueinstufung, wenn er keine Historiker hat, die er aussenden kann? dachte Dunworthy. »Und die amerikanische Gastprofessorin, Montoya? Sie arbeitet draußen in der Nähe von Witney an einer mittelalterlichen Ausgrabung, nicht? Sie sollte etwas über die Sitten und Bräuche wissen.«

»Mrs. Montoya hat auch keine Zeit; sie ist ganz von dem Versuch in Anspruch genommen, Leute für die Ausgrabung in Skendgate zu gewinnen. Die sind alle nutzlos, verstehen Sie? Sie sind der einzige, der mir helfen kann.«

Er hätte sagen sollen: »Nichtsdestoweniger sind sie Mitglieder der Fakultät von Brasenose, und ich bin es nicht«, doch statt dessen hatte er sein boshaftes Vergnügen gehabt, von ihr zu hören, was er schon lange gedacht hatte: daß Latimer ein tatteriger alter Mann war, und Montoya eine verhinderte Archäologin, und daß Gilchrist unfähig war, Historiker auszubilden. Er hatte sie gebrauchen wollen, um denen von Brasenose zu zeigen, wie man es machte.

»Wir werden Sie mit einem Implantdolmetscher ausrüsten«, hatte er gesagt. »Und ich möchte, daß Sie zusätzlich zu Mr. Latimers Mittelenglisch Kirchenlatein, normannisches Französisch und Mittelhochdeutsch lernen«, und sie hatte sofort einen Bleistift und ein Übungsheft aus der Tasche gezogen und angefangen, eine Liste zu machen.

»Sie werden praktische Erfahrung in der Landwirtschaft brauchen — Kühe und Ziegen mit der Hand melken, Eier sammeln, Gemüse anbauen«, sagte er und zählte die einzelnen Punkte an den Fingern ab. »Ihr Haar ist nicht lang genug. Sie werden Cortixidil nehmen müssen. Und sehen Sie zu, daß Sie spinnen lernen, mit einer Handspindel, nicht mit einem Spinnrad. Das Spinnrad war noch nicht erfunden. Und Sie werden reiten lernen müssen.«

Endlich zur Besinnung gekommen, hatte er sich unterbrochen. »Wissen Sie, was Sie lernen müssen?« hatte er gesagt und beobachtet, wie sie ernst über die Liste gebeugt saß, die sie zusammenstellte, die Zöpfe über die Schulter baumelnd. »Wie man offene Stellen und infizierte Wunden behandelt, wie man ein totes Kind für die Beerdigung vorbereitet, wie man ein Grab aushebt. Die Sterblichkeitsrate wird immer noch eine Zehn verdienen, selbst wenn es Gilchrist irgendwie gelingen sollte, die Einstufung zu ändern. Um 1300 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei achtunddreißig Jahren. Sie haben dort nichts zu suchen.«

Kivrin hatte aufgeblickt, den Bleistift schreibbereit über dem Papier. »Wohin sollte ich gehen, um Tote zu sehen?« hatte sie ernsthaft gefragt. »In der Leichenhalle? Oder sollte ich Dr. Ahrens im Krankenhaus fragen?«

»Ich sagte ihr, sie dürfe nicht gehen«, sagte Dunworthy, noch immer durch die Glasscheibe ins Leere starrend, »aber sie wollte nicht auf mich hören.«

»Ich weiß«, sagte Mary. »Auf mich auch nicht.«

Dunworthy setzte sich mit steifen Bewegungen neben sie. Der Regen und all das Hin und Her, um Basingame zu erreichen, hatten seine Arthritis verschlimmert. Er hatte seinen Mantel noch an. Jetzt zog er ihn aus und wickelte den Schal von seinem Hals.

»Ich wollte ihr die Nase kauterisieren«, sagte Mary. »Ich machte ihr klar, daß die Gerüche des 14. Jahrhunderts wirklich unerträglich sein können, daß wir in unserer Zeit einfach nicht den Gestank von Exkrementen und verdorbenem Fleisch und Fäulnis gewohnt sind. Ich warnte sie, daß ihre Funktionsfähigkeit ernstlich durch Übelkeit beeinträchtigt sein würde.«

»Aber sie wollte nicht hören«, sagte Dunworthy.

»Nein.«

»Ich versuchte ihr zu erklären, daß das Mittelalter gefährlich sei, und daß Gilchrist keine ausreichenden Vorsichtsmaßnahmen treffe, und sie sagte mir, ich machte mir unnötige Sorgen.«

»Vielleicht tun wir es«, sagte Mary. »Schließlich wird das Absetzen von Badri geleitet, nicht von Gilchrist, und Sie sagten, er würde das Unternehmen abbrechen, wenn irgendwelche Probleme auftauchten.«

»Ja«, sagte er und beobachtete Badri durch die Trennscheibe. Er tippte wieder in die Tastatur, den Blick auf dem Bildschirm. Badri war der beste Techniker nicht nur Balliols, sondern der Universität. Und er hatte Dutzende von Absetzoperationen über die Ferndistanz durchgeführt.

»Und Kivrin ist gut vorbereitet. Sie haben ihr alles Wissenswerte beigebracht, und ich habe den letzten Monat im Krankenhaus damit verbracht, sie körperlich vorzubereiten. Sie ist geschützt gegen Cholera und Typhus und alles andere, was um 1320 vorhanden war, was übrigens auf die Pest, die Ihnen solche Sorgen bereitet, nicht zutrifft. In England gab es keine Fälle, bis der Schwarze Tod 1348 das Land erreichte. Ich habe ihr den Blinddarm entfernt und ihr Immunsystem gekräftigt. Ich habe ihr Breitband-Antivirale gegeben und einen Kurzlehrgang in mittelalterlicher Medizin veranstaltet. Und sie hat selbst eine Menge Arbeit geleistet. Während sie im Krankenhaus war, studierte sie Heilkräuter.«

»Ich weiß«, sagte Dunworthy. Die letzten Weihnachtsferien hatte sie damit verbracht, sich lateinische Messen einzuprägen und weben und sticken zu lernen, und er hatte ihr alles beigebracht, was ihm in den Sinn gekommen war. Aber war es genug, um sie vor einem durchgehenden Pferd zu schützen, oder vor Vergewaltigung durch einen betrunkenen Ritter auf dem Heimweg von den Kreuzzügen? Um 1320 hatte man Menschen wegen vergleichsweise geringfügiger Delikte auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es gab keine Impfung, die sie dagegen schützte, oder verhinderte, daß jemand sie durchkommen sah und sie für eine Hexe hielt.

Er blickte wieder durch die Glasscheibe. Latimer hob die Reisekiste zum dritten Mal auf und stellte sie wieder ab. Montoya sah wieder auf ihre Uhr. Der Techniker drückte die Tasten und runzelte die Stirn.

»Ich hätte mich weigern sollen, sie zu unterweisen«, sagte er. »Ich tat es nur, um Gilchrist als den Unfähigen bloßzustellen, der er ist.«

»Unsinn«, sagte Mary. »Sie taten es Kivrin zuliebe. Sie finden sich selbst in ihr wieder — intelligent, findig, entschlossen.«

»Ich war nie so leichtsinnig.«

»Natürlich waren Sie es. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, als Sie es nicht erwarten konnten, die Luftangriffe auf London 1940 mitzuerleben und sich Bomben auf den Kopf fallen zu lassen. Und ich scheine mich an einen gewissen Vorfall zu erinnern, der die alte Bodleian-Bibliothek betraf…«

Die Tür zum Vorbereitungsraum flog auf, und Kivrin und Gilchrist kamen herein. Kivrin raffte ihre langen Röcke, als sie über die herumgesteuerten Kisten und Körbe stieg. Sie trug den mit weißem Kaninchenfell gefütterten Umhang und den hellblauen Kittel, den sie ihm gestern gezeigt hatte. Sie hatte ihm erzählt, der Umhang sei handgewebt. Er sah aus wie eine alte Wolldecke, die jemand ihr um die Schultern gelegt hatte, und die Ärmel des Kittels waren zu lang. Sie bedeckten beinahe ihre Hände. Ihr langes blondes Haar wurde von einer Kopfbinde aus der Stirn gehalten und fiel offen auf ihre Schultern. Sie sah nicht alt genug aus, um allein über die Straße zu gehen.

Dunworthy stand auf, bereit, wieder an die Scheibe zu klopfen, sobald sie in seine Richtung blicken würde, aber sie blieb mitten im Durcheinander stehen, noch immer halb abgewandt, betrachtete die Markierungen am Boden, trat ein Stück vor und ordnete die am Boden schleifenden Röcke um sich.

Gilchrist ging hinüber zu Badri, sagte etwas zu ihm und nahm eine Klemmtafel an sich, die auf der Konsole lag. Er begann mit dem Leuchtstift einzelne Punkte abzuhaken.

Kivrin sagte etwas zu ihm und zeigte auf den messingbeschlagenen Kasten. Montoya, die sich über Badris Schulter gebeugt hatte, richtete sich ungeduldig auf und ging kopfschüttelnd auf Kivrin zu. Diese sagte etwas, ziemlich entschieden, und Montoya kniete nieder und rückte die Reisekiste ein Stück näher zum Wagen.

Gilchrist überprüfte einen weiteren Punkt auf seiner Liste, sagte etwas zu Latimer, und Latimer ging und holte einen flachen Metallkasten, den er Gilchrist aushändigte. Gilchrist sagte etwas zu Kivrin, und sie legte die Handflächen vor der Brust zusammen. Sie neigte den Kopf darüber und begann zu sprechen.

»Läßt er sie Beten üben?« sagte Dunworthy. »Das wird nützlich sein, denn Gottes Hilfe mag die einzige Hilfe sein, die sie während dieses Praktikums erhoffen kann.«

Mary schneuzte sich wieder. »Sie überprüfen das Implantat.«

»Was für ein Implantat?«

»Ein besonderes Chip-Aufnahmegerät, so daß sie ihre Feldarbeit aufzeichnen kann. Die meisten Zeitgenossen können nicht lesen und schreiben, also implantierte ich ein kleines Aufnahmegerät mit Mikrofon in ein Handgelenk und einen Gedächtnisspeicher in das andere. Sie aktiviert sie, indem sie die Handballen gegeneinanderdrückt. Wenn sie hineinspricht, sieht es aus, als ob sie bete. Die Chips haben eine Kapazität von 2,5 Gigabyte, also wird sie in der Lage sein, ihre Beobachtungen während der gesamten zweieinhalb Wochen aufzuzeichnen.«

»Sie hätten auch einen Signalgeber implantieren sollen, damit sie um Hilfe rufen kann.«

Gilchrist befingerte den flachen Metallkasten. Er schüttelte den Kopf, dann hob er Kivrins gefaltete Hände ein wenig höher. Der zu lange Ärmel rutschte zurück. Ihre Hand hatte eine Schnittwunde. Eine dünne bräunliche Linie getrockneten Blutes markierte sie.

»Etwas stimmt da nicht«, sagte Dunworthy, zu Mary gewandt. »Sie ist verletzt.«

Kivrin sprach wieder in ihre gefalteten Hände. Gilchrist nickte. Kivrin blickte zu ihm auf, sah Dunworthy und warf ihm ein erfreutes Lächeln zu. Auch ihre Schläfe war blutig. Das Haar unter der Kopfbinde war blutverklebt. Gilchrist folgte ihrer Blickrichtung mit den Augen, sah Dunworthy und eilte auf die gläserne Trennwand zu. Er sah gereizt aus.

»Sie ist noch nicht mal fort und schon verletzt! Und die dort drinnen scheren sich nicht darum!« Dunworthy schlug gegen die Trennscheibe.

Gilchrist drückte einen Schalter an der Seite, dann kam er herüber und stand vor Dunworthy. »Mr. Dunworthy«, sagte er. Er nickte Mary zu. »Dr. Ahrens, ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, Kivrin zu verabschieden.« Er verlieh den letzten Worten einen leichten Nachdruck, so daß sie wie eine Drohung klangen.

»Was ist mit Kivrin geschehen?« fragte Dunworthy.

»Geschehen?« sagte Gilchrist, offenbar überrascht. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Kivrin kam auch zur Trennwand herüber, die Röcke mit blutiger Hand gerafft. An ihrer Wange war eine rötliche Prellung zu sehen.

»Ich möchte mit ihr sprechen.«

»Ich fürchte, dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Gilchrist. »Wir müssen uns an den Fahrplan halten.«

»Ich verlange sie zu sprechen.«

Gilchrist schürzte die Lippen, und zwei weiße Streifen erschienen zu beiden Seiten seiner Nase. »Darf ich Sie daran erinnern, Mr. Dunworthy«, sagte er kühl, »daß diese Absetzoperation vom Brasenose College durchgeführt wird, nicht von Balliol. Ich weiß natürlich die Hilfe zu schätzen, die Sie uns mit der Ausleihe Ihres Technikers geleistet haben, und ich respektiere Ihre langjährigen Erfahrungen als Historiker, aber ich versichere Ihnen, daß ich alles gut in der Hand habe.«

»Warum ist Ihre Historikerin dann verletzt, noch ehe sie abgesetzt wird?«

»Ach, Mr. Dunworthy, ich bin so froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Kivrin, die zu Gilchrist an die Trennscheibe kam. »Ich fürchtete, es würde mir nicht möglich sein, mich von Ihnen zu verabschieden. Ist es nicht aufregend?«

Aufregend. »Sie bluten«, sagte Dunworthy. »Was ist passiert?«

»Nichts«, sagte Kivrin, befühlte vorsichtig ihre Schläfe und blickte dann auf ihre Fingerspitzen. »Es ist Teil der Kostümierung.« Sie sah an ihm vorbei zu Mary. »Dr. Ahrens, auch Sie sind gekommen! Ich bin so froh.«

Mary war aufgestanden, ihre Einkaufstasche in den Händen. »Ich möchte Ihre antivirale Impfung sehen«, sagte sie. »Hat es außer der Anschwellung irgendeine andere Reaktion gegeben? Ein Jucken, zum Beispiel?«

»Es sieht gut aus, Dr. Ahrens«, sagte Kivrin. Sie schob den Ärmel zurück und ließ ihn wieder fallen, bevor Mary die Unterseite ihres Armes richtig begutachten konnte. An Kivrins Unterarm aber war eine weitere rötliche Prellung, die sich bereits schwarz und blau verfärbte.

»Es würde zweckdienlicher sein, sie zu fragen, warum sie blutet«, sagte Dunworthy.

»Es ist Teil der Kostümierung, wie ich sagte. Ich bin Isabel de Beauvrier, und ich wurde auf der Reise von Räubern überfallen«, sagte Kivrin. Sie wandte sich zur Seite und zeigte zu den Kisten und Körben und dem zerschlagenen Fuhrwerk. »Meine Sachen wurden gestohlen und ich für tot liegengelassen. Die Idee stammte von Ihnen, Mr. Dunworthy«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Ich habe gewiß niemals vorgeschlagen, daß Sie die Reise blutig und zerschlagen antreten«, sagte Dunworthy.

»Theaterblut war unpraktisch«, sagte Gilchrist. »Es gab keine statistisch bedeutsame Wahrscheinlichkeit, daß niemand sich um ihre Verletzungen kümmern würde.«

»Und es kam Ihnen nie der Gedanke, eine realistische Verletzung nachzuahmen? Statt dessen zogen Sie ihr eins über den Kopf?« sagte Dunworthy zornig.

»Mr. Dunworthy, darf ich Sie erinnern…?«

»Daß dies ein Brasenose-Projekt ist, nicht eines von Balliol? Da haben Sie verdammt recht. Wenn es ins 20. Jahrhundert ginge, würden wir versuchen, die Historikerin vor Verletzungen zu bewahren, statt ihr selbst welche zuzufügen. Ich möchte mit Badri sprechen. Ich möchte wissen, ob er die Berechnungen des Lehrlings überprüft hat.«

Gilchrist schürzte wieder die Lippen. »Mr. Dunworthy, Mr. Chaudhuri mag Ihr Netztechniker sein, aber dies ist mein Projekt. Ich versichere Ihnen, daß wir jede Möglichkeit in Betracht gezogen haben…«

»Es ist bloß ein Kratzer«, sagte Kivrin. »Schmerzt nicht einmal. Ich fühle mich gut, wirklich. Bitte, regen Sie sich nicht auf, Mr. Dunworthy. Die Idee, verletzt zu sein, war meine eigene. Ich erinnerte mich daran, daß Sie sagten, wie verwundbar eine Frau im Mittelalter war, und da dachte ich mir, es wäre eine gute Idee, wenn ich verwundbarer aussehen würde als ich bin.«

Armes Mädchen, dachte Dunworthy, es würde dir unmöglich sein, verwundbarer auszusehen als du bist.

»Wenn ich mich bewußtlos stelle, kann ich hören, was die Leute über mich sagen, und sie werden nicht eine Menge Fragen stellen, wer ich bin, denn es wird offensichtlich sein, daß…«

»Es ist Zeit, daß Sie Ihre Position einnehmen«, sagte Gilchrist und ging hinüber zur Schalttafel an der Wand.

»Ich komme«, sagte Kivrin, ohne sich von der Stelle zu rühren.

»Wir sind bereit, das Netz einzustellen.«

»Ich weiß«, sagte sie fest. »Ich komme, sobald ich mich von Mr. Dunworthy und Dr. Ahrens verabschiedet habe.«

Gilchrist nickte knapp und stieg wieder zwischen die herumliegenden Kisten. Latimer fragte ihn etwas, und er antwortete kurz.

»Was bringt es mit sich, wenn Sie Ihre Position einnehmen?« fragte Dunworthy. »Gibt er Ihnen eines mit dem Knüppel, weil es eine statistische Möglichkeit gibt, daß jemand nicht glauben wird, ob Sie wirklich bewußtlos sind?«

Kivrin grinste. »Es bringt nur mit sich, daß ich mich hinlege und die Augen schließe«, sagte sie. »Machen Sie sich keine Sorgen.«

»Es gibt keinen Grund, warum Sie nicht bis morgen warten und Badri wenigstens Zeit geben könnten, die Parameter zu überprüfen«, sagte Dunworthy.

»Ich möchte die Impfstelle noch einmal sehen«, sagte Mary.

»So hören Sie doch auf, sich zu sorgen!« sagte Kivrin. »Die Impfstelle juckt nicht, die Schnittwunde schmerzt nicht, Badri hat den ganzen Vormittag mit Überprüfungen verbracht. Ich weiß, Sie sorgen sich um mich, aber tun Sie es nicht. Ich werde auf der Hauptstraße von Oxford nach Bath abgesetzt, nur zwei Meilen von Skendgate. Wenn niemand des Weges kommt, werde ich ins Dorf gehen und den Leuten erzählen, daß ich von Wegelagerern überfallen worden bin. Nachdem ich den Absetzort bestimmt habe, so daß ich ihn wiederfinden kann.« Sie hob ihre Hand an die Trennscheibe. »Ich möchte Ihnen beiden nur für alles danken, was Sie getan haben. Ich habe mehr als alles in der Welt gewünscht, ins Mittelalter zu gehen, und nun ist es tatsächlich so weit.«

»Sie werden nach dem Absetzen wahrscheinlich Kopfschmerzen und Müdigkeit verspüren«, sagte Mary. »Das sind normale Auswirkungen der Zeitverzögerung.«

Gilchrist kam zur Trennscheibe zurück. »Es ist Zeit, daß Sie Ihre Position einnehmen«, sagte er.

»Ich muß gehen«, sagte sie und raffte ihre schweren Röcke. »Ich danke Ihnen beiden so sehr. Hätten Sie mir nicht geholfen, würde ich heute nicht hier sein.«

»Alles Gute«, sagte Mary.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Dunworthy.

»Das werde ich«, sagte Kivrin, aber Gilchrist hatte bereits den Knopf gedrückt, und Dunworthy konnte sie nicht mehr hören. Sie lächelte, hob die Hand zu einem kleinen Winken und ging hinüber zum zerbrochenen Fuhrwerk.

Mary setzte sich wieder und suchte in der Einkaufstasche nach einem Taschentuch. Gilchrist verlas die Liste auf seiner Klemmtafel, und Kivrin nickte zu jedem Punkt, worauf er ihn mit dem Leuchtstift nochmals abhakte.

»Wie, wenn Sie von dieser Schnittwunde an der Schläfe Blutvergiftung bekommt?« sagte Dunworthy, der noch immer an der Scheibe stand.

»Sie wird keine Blutvergiftung bekommen«, erwiderte Mary. »Ich habe ihr Immunsystem gekräftigt.« Sie schneuzte sich.

Kivrin und Gilchrist argumentierten über etwas. Die weißen Streifen entlang seiner Nase waren deutlich ausgeprägt. Sie schüttelte den Kopf, und nach einer kleinen Weile hakte er mit einer abrupten, ärgerlichen Bewegung den nächsten Punkt ab.

Gilchrist und die übrigen Mediävisten mochten unfähig sein, aber Kivrin war es nicht. Sie hatte Mittelenglisch und Kirchenlatein und Angelsächsisch gelernt. Sie hatte sich die lateinischen Messen eingeprägt, hatte Sticken und Kühe melken gelernt. Sie hatte sich eine Identität und einen vernünftigen Grund zurechtgelegt, daß sie allein auf der Landstraße zwischen Oxford und Bath war, und sie hatte den Implantdolmetscher und ein gekräftigtes Immunsystem und keinen Blinddarm.

»Sie wird es mit Leichtigkeit schaffen«, sagte Dunworthy. »Was Gilchrist lediglich überzeugen wird, daß seine Methoden nicht nachlässig und gefährlich sind.«

Gilchrist ging an die Konsole und gab Badri die Klemmtafel. Kivrin faltete wieder die Hände, diesmal näher am Gesicht, daß sie die Fingerspitzen beinahe mit dem Mund berührte, und begann zu sprechen.

Mary kam näher und stand neben Dunworthy, das Taschentuch in der Hand. »Als ich neunzehn war — das war, mein Gott, vor vierzig Jahren, es kommt einem nicht so lang vor -, reisten meine Schwester und ich in ganz Ägypten herum«, sagte sie. »Es war während der Epidemie. Überall wurden Quarantänebestimmungen erlassen, und die Israelis erschossen jeden, der sie mißachtete, sogar Amerikaner, aber uns kümmerte das alles nicht. Ich glaube, es kam uns nicht einmal in den Sinn, daß wir in Gefahr sein könnten, daß wir erwischt werden oder für Amerikanerinnen gehalten werden könnten. Wir wollten die Pyramiden sehen.«

Kivrin betete nicht mehr. Badri verließ seine Konsole und kam herüber zu ihr. Er sprach mehrere Minuten lang mit ihr, immer mit gerunzelter Stirn. Sie kniete nieder und legte sich dann neben dem Fuhrwerk so auf den Rücken, daß ein Arm über den Kopf gestreckt und die Röcke um ihre Beine gebreitet waren. Der Techniker arrangierte ihre Röcke so, daß es natürlicher aussah, zog das Lichtmeßgerät hervor und ging um sie herum, schritt zurück zur Konsole und sprach ins Mikrofon. Kivrin lag ganz still. Das Blut an ihrer Schläfe war unter dem Licht beinahe schwarz.

»Ach du lieber Gott, wie jung sie aussieht«, sagte Mary.

Badri sprach ins Mikrofon, betrachtete mit finsterer Miene die Ergebnisse am Bildschirm, kam zurück zu Kivrin. Er stieg über sie und bückte sich, um ihren Ärmel zurechtzuzupfen. Er machte eine Messung, bewegte ihren Arm so, daß er über ihrem Gesicht lag, als wollte sie einen Schlag von ihren Angreifern abwehren, machte eine weitere Messung.

»Haben Sie die Pyramiden gesehen?« fragte Dunworthy.

»Was?«

»Als Sie in Ägypten waren. Als Sie mit Ihrer Schwester den Nahen Osten bereisten, ohne die Gefahren zu beachten. Gelang es Ihnen, die Pyramiden zu sehen?«

»Nein. An dem Tag, als wir landeten, wurde Kairo unter Quarantäne gestellt.« Sie wandte den Blick nicht von Kivrin, die malerisch hingestreckt am Boden lag. »Aber wir sahen das Tal der Könige.«

Badri bewegte Kivrins Arm einen Zentimeter, stand da und blickte stirnrunzelnd auf sie hinab und ging dann zurück zur Konsole. Gilchrist und Latimer folgten ihm. Montoya trat zurück, um ihnen allen um den Bildschirm Platz zu machen. Badri sprach ins Mikrofon, und die halb durchsichtigen Abschirmungen begannen sich abzusenken und umhüllten die Szene mit Kivrin wie ein Schleier.

»Wir waren froh, daß wir die Reise gemacht hatten«, sagte Mary. »Wir kamen ohne einen Kratzer nach Hause.«

Die Abschirmungen berührten den Boden, machten Falten wie Kivrins zu lange Röcke, kamen zum Stillstand.

»Sei vorsichtig, Mädchen«, flüsterte Dunworthy. Mary ergriff seine Hand.

Latimer und Gilchrist standen gebeugt vor dem Bildschirm und beobachteten die plötzliche Explosion von Zahlen. Montoya sah auf ihre Digitaluhr. Badri öffnete das Netz. Die Luft innerhalb der Abschirmung glitzerte von jäher Kondensation.

»Geh nicht«, sagte Dunworthy.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000008–000242)

Erste Eintragung. 22. Dezember 2054, Oxford. Dies wird eine Aufzeichnung meiner historischen Beobachtungen vom Leben in Oxfordshire, England, zwischen dem 13. Dezember 1320 und dem 28. Dezember 1320 (alter Zeitrechnung) sein.


(Unterbrechung)

Mr. Dunworthy, ich nenne dies das ›Doomsday Book‹, weil es eine Aufzeichnung des Lebens im Mittelalter sein soll, als welche sich auch das Grundbuch Wilhelms des Eroberers erwies, obwohl er es als eine Methode eingeführt hatte, die sicherstellen sollte, daß er jede Unze Gold bekäme, die seine Untertanen ihm als Steuern schuldeten.

Ich nenne es auch das ›Doomsday Book‹, weil ich mir vorstelle, daß Sie es gerne so nennen würden. Sie sind so fest überzeugt davon, daß mir Schreckliches geschehen wird. Ich sehe Sie in diesem Augenblick hinter der Trennscheibe, wo Sie der armen Dr. Ahrens die schrecklichen Gefahren des 14. Jahrhunderts schildern. Sie können sich die Mühe ersparen. Dr. Ahrens hat mich bereits vor den Folgen der Zeitverzögerung gewarnt und jede mittelalterliche Krankheit bis in die grausigste Einzelheit geschildert, obwohl ich angeblich gegen alle immunisiert bin. Und sie warnte mich vor der Häufigkeit von Vergewaltigungen im Mittelalter. Und wenn ich ihr sage, daß ich ausgezeichnet zurechtkommen werde, hört sie auch nicht auf mich. Ich werde ausgezeichnet zurechtkommen, Mr. Dunworthy.

Wenn Sie dies hören, werden Sie natürlich bereits wissen, daß ich in einem Stück und ganz fahrplanmäßig zurückgekommen bin, also wird es Ihnen nichts ausmachen, daß ich Sie ein wenig aufziehe. Ich weiß, daß Sie nur besorgt um mich sind, und ich weiß sehr gut, daß ich es ohne all Ihre Hilfe und Vorbereitung nicht schaffen würde, zurückzukommen, weder in einem Stück noch überhaupt.

Darum widme ich dieses Doomsday Book Ihnen, Mr. Dunworthy. Wenn Sie nicht gewesen wären, würde ich nicht in Kittel und Umhang hier stehen und in dieses Aufnahmegerät sprechen und warten, daß Badri und Mr. Gilchrist ihre endlosen Berechnungen beenden, und wünschen, daß sie sich beeilen würden, so daß ich gehen kann.


(Unterbrechung)

Ich bin hier.

2

»Nun«, sagte Mary mit einem langen Seufzer, »könnte ich einen kräftigen Schluck vertragen.«

»Ich dachte, Sie müssen Ihren Großneffen abholen«, sagte Dunworthy, den Blick noch immer auf der Stelle, wo Kivrin gewesen war. Die Luft glitzerte von den Eispartikeln innerhalb der Abschirmung. In Bodennähe hatte sich an der Innenseite der gläsernen Trennscheibe Frost gebildet.

Die unheiligen drei Mediävisten beobachteten nach wie vor die Bildschirme, obwohl dort nichts zu sehen war als die ebene Linie der Ankunft. »Ich brauche Colin erst um drei abzuholen«, sagte Mary. »Sie sehen aus, als könnten auch Sie eine Stärkung vertragen, und das Pub ist bloß ein Stück die Straße hinunter.«

»Ich möchte warten, bis er die Fixierung hat«, sagte Dunworthy, der den Techniker beobachtete.

Die Bildschirme zeigten noch immer keine Daten. Badri runzelte die Stirn. Montoya sah auf ihre Uhr und sagte etwas zu Gilchrist. Gilchrist nickte, und sie nahm eine Tasche, die halb unter der Konsole gelegen hatte, winkte Latimer zum Abschied zu und ging zur Seitentür hinaus.

»Anders als Montoya, die es offensichtlich nicht erwarten kann, zu ihrer Ausgrabung zurückzukehren, würde ich gern bleiben, bis ich Gewißheit habe, daß Kivrin ohne Zwischenfall durchgekommen ist«, sagte Dunworthy.

»Ich schlage nicht vor, daß Sie zum College zurückgehen sollen«, sagte Mary, während sie sich in ihren Mantel mühte, »aber die Fixierung wird mindestens eine Stunde dauern, wenn nicht zwei, und Ihr Herumstehen und Warten wird nichts beschleunigen. Das Pub ist nicht weit von hier, sehr klein und recht nett, ohne Weihnachtsdekorationen oder künstliche Glockenspielmusik.« Sie hielt ihm seinen Mantel hin. »Wir trinken ein Glas und essen was, und dann können Sie wieder hierherkommen und den Bodenbelag abnutzen, bis die Fixierung hereinkommt.«

»Ich möchte hier warten«, sagte er, noch immer zum leeren Netz hinausblickend. »Warum hat Basingame keinen Signalgeber bei sich, von einem Funktelefon ganz zu schweigen? Der Dekan der Historischen Fakultät kann doch nicht einfach in Ferien gehen und nicht einmal eine Nummer hinterlassen, wo er zu erreichen ist.«

Gilchrist richtete sich vor dem noch unveränderten Bildschirm auf und schlug Badri auf die Schulter. Latimer blinzelte, als wüßte er nicht recht, wo er war. Gilchrist schüttelte ihm mit breitem Lächeln die Hand. Dann wandte er sich um und kam mit selbstgefälliger Miene auf die Trennwand zu.

»Gehen wir«, sagte Dunworthy, nahm ihr seinen Mantel aus der Hand und öffnete die Tür. Aus dem Hof schlug ihm »Die Hirten auf dem Felde wachten« entgegen. Mary eilte zur Tür hinaus und weiter, als ob sie auf der Flucht wäre, und Dunworthy schloß die Tür hinter ihnen und folgte Mary durch den Hof und zum Tor des Brasenose College hinaus.

Es war bitterkalt, regnete aber nicht mehr. Andererseits sah es aus, als könnte es jeden Augenblick wieder anfangen, und die Passanten, die sich auf dem Gehsteig drängten, ahnten offenbar, daß es so kommen würde. Eine Frau mit einem großen roten Schirm und beiden Armen voller Pakete prallte mit Dunworthy zusammen. »Können Sie nicht aufpassen, wo Sie gehen?« sagte sie und eilte weiter.

»Die Weihnachtsstimmung«, sagte Mary, knöpfte sich mit einer Hand den Mantel zu und hielt mit der anderen ihre Einkaufstasche fest. »Das Pub ist gleich da unten, hinter der Drogerie«, sagte sie und deutete mit einem Nicken zur anderen Straßenseite hinüber. »Es sind diese gräßlichen Glockenspiele, glaube ich. Sie ruinieren jede Stimmung.«

Sie marschierte voraus durch das Labyrinth der Regenschirme. Dunworthy überlegte, ob er den Mantel anziehen solle, dann entschied er, daß es für ein so kurzes Stück nicht der Mühe wert sei. Er eilte ihr nach, versuchte den Regenschirmen auszuweichen und zu bestimmen, welches Weihnachtslied jetzt geschlachtet wurde. Es klang wie eine Kreuzung zwischen einem Ruf zu den Waffen und einem Grabgesang, war aber höchstwahrscheinlich Jingle Bells.

Mary stand gegenüber der Drogerie am Straßenrand und wühlte wieder in ihrer Einkaufstasche. »Was soll dieser schauderhafte Lärm sein?« sagte sie und brachte einen Taschenschirm zum Vorschein. »Zu Bethlehem im Stalle?«

»Jingle Bells«, sagte Dunworthy und trat auf die Straße hinaus.

»James!« sagte Mary und packte ihn am Ärmel.

Der Fahrradlenker verfehlte ihn um Zentimeter, und das Pedal streifte sein Schienbein. Der Fahrer machte einen Schlenker und schrie: »Kannst du nicht die Augen aufmachen, Trottel?«

Dunworthy wich erschrocken zurück und stieß mit einem etwa sechsjährigen Kind zusammen, das einen Plüschnikolaus im Arm hielt. Die Mutter des Kindes funkelte ihn an.

»Bitte geben Sie acht, James«, sagte Mary.

Sie überquerten die Straße, Mary voran. Gerade in diesem Augenblick begann es wieder zu regnen. Mary brachte sich unter dem Vordach der Drogerie in Sicherheit und versuchte ihren Schirm zu öffnen. Das Schaufenster war mit grünem und goldenem Flitterkram geschmückt. Zwischen den Parfüms stand ein Schild mit der Aufschrift: »Rettet die Glocken der Pfarrkirche von Marston. Spendet für den Restaurierungsfonds.«

Das Glockenspiel hatte mit Jingle Bells aufgehört und arbeitete jetzt an »Drei Könige aus dem Morgenland«. Dunworthy erkannte es an der Molltonart.

Mary brachte ihren Schirm nicht auf. Sie steckte ihn in die Einkaufstasche zurück und marschierte weiter, gefolgt von Dunworthy, der sich bemühte, Kollisionen zu vermeiden, vorbei an einem Papiergeschäft und einem Tabakwarenladen, der mit roten und grünen Blinklichtern geschmückt war, und dann durch die Tür, die Mary ihm aufhielt.

Seine Brille beschlug sich augenblicklich. Er nahm sie ab, um die Gläser am Kragen seines Mantels abzuwischen. Mary schloß die Tür und führte ihn in verschwommenes Braun und köstliche Stille.

»Ach du liebe Zeit«, sagte Mary. »Und ich sagte Ihnen, daß dies ein Lokal von der Sorte sei, wo sie keine Weihnachtsdekorationen anbringen.«

Dunworthy setzte seine Brille wieder auf. Die Regale hinter der Theke waren mit Girlanden aus blaßgrünen, rosa und blaßblauen Blinklichtern behängt. Auf der Thekenecke stand ein großer Weihnachtsbaum aus Plastik auf einem Drehteller.

Außer einem muskulös aussehenden Mann hinter der Theke war niemand in dem schmalen Raum. Mary quetschte sich zwischen zwei leeren Tischen durch und setzte sich in die Ecke.

»Wenigstens können wir hier drinnen nicht dieses elende Glockenspiel hören«, sagte sie und stellte ihre Einkaufstasche neben sich auf die Holzbank. »Nein, ich werde die Getränke besorgen. Setzen Sie sich. Dieser Radfahrer hätte Sie beinahe umgefahren.«

Sie kramte ein paar zerdrückte Pfundnoten aus der Einkaufstasche und ging zur Theke. »Zwei Pint Bitter«, sagte sie zum Barkeeper.

»Möchten Sie etwas essen?« fragte sie Dunworthy über die Schulter. »Es gibt belegte Brote und Käsesemmeln.«

»Haben Sie gesehen, wie Gilchrist in die Konsole grinste? Er sah nicht mal nach, ob Kivrin fort war oder ob sie noch da lag, halbtot.«

»Sagen wir, zwei Pint Bitter und einen doppelten Whisky«, sagte Mary.

Dunworthy setzte sich. Auf dem Tisch stand eine kleine Krippe, mit winzigen Plastikschafen und einem halbnackten Jesuskind. »Gilchrist hätte sie vom Ausgrabungsort fortschicken sollen«, sagte er. »Die Berechnungen für eine Ferndistanz sind ungleich komplizierter als für ein Absetzen an Ort und Stelle. Ich glaube, ich sollte dankbar sein, daß er sie nicht auch noch mit Zeitverzögerung schickte. Der Lehrling hätte die Berechnungen nicht machen können. Als ich ihm Badri auslieh, fürchtete ich, Gilchrist würde sich für Zeitverzögerung anstelle von Realzeit entscheiden.«

Er schob eines der Plastikschafe näher zum Hirten. »Wenn ihm überhaupt bewußt ist, daß es einen Unterschied gibt«, sagte er.

»Wissen Sie, was er sagte, als ich ihm vorschlug, er solle mindestens eine unbemannte Erprobung durchführen? Er sagte: ›Sollte irgendein unglückliches Mißgeschick passieren, können wir in der Zeit zurückgehen und Miss Engle herausholen, bevor es geschieht, nicht wahr?‹ Der Mann hat keine Vorstellung davon, wie das Netz funktioniert, keine Vorstellung von den Paradoxien, keine Vorstellung davon, daß Kivrin dort ist, und daß alles, was ihr widerfährt, wirklich und unwiderruflich ist.«

Mary manövrierte sich zwischen den Tischen durch, den Whisky in einer Hand, die beiden Biergläser in der anderen balancierend. Sie stellte den Whisky vor ihn auf den Tisch. »Das ist meine Standardverschreibung für Opfer von Fahrradunfällen und überängstliche Väter. Haben Sie sich am Bein verletzt?«

»Nein.«

»Ich hatte letzte Woche einen Fahrradunfall. Einer von Ihren 20.-Jahrhundert-Leuten. Kam gerade aus dem Ersten Weltkrieg zurück. Zwei Wochen unversehrt in den flandrischen Materialschlachten und dann lief er in ein Hochrad.« Sie ging zurück zur Theke, um ihre Käsesemmel zu holen.

»Ich hasse Parabeln«, sagte Dunworthy. Er nahm die Marienfigur zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie war weiß gekleidet mit einem blauen Umhang. »Wenn er sie mit Zeitverzögerung geschickt hätte, wäre sie wenigstens nicht in Gefahr gewesen, zu erfrieren. Sie hätte etwas Wärmeres als ein Futter aus Kaninchenfell haben müssen, oder war Gilchrist nicht bekannt, daß die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts als die Kleine Eiszeit bekannt war?«

»Gerade habe ich gedacht, an wen Sie mich erinnern«, sagte Mary, als sie ihren Teller und eine Serviette vor sich plazierte. »An William Gaddsons Mutter.«

Das war eine wirklich unfaire Bemerkung. William Gaddson war einer seiner Erstsemester. Seine Mutter war während dieses Semesters sechsmal nach Oxford gekommen, das erste Mal, um ihrem Sohn Ohrenschützer zu bringen.

»Er erkältet sich, wenn er sie nicht trägt«, hatte sie Dunworthy gesagt. »Willy ist schon immer anfällig für Erkältungen gewesen, und nun ist er so weit von zu Hause und alles. Sein Tutor kümmert sich nicht ausreichend um ihn, obwohl ich wiederholt mit ihm gesprochen habe.«

Willy war groß und stark wie eine Eiche und sah für Erkältungen so anfällig wie eine aus. »Ich bin überzeugt, daß er auf sich achtgeben kann«, hatte er Mrs. Gaddson gesagt, was ein Fehler gewesen war, denn prompt hatte sie Dunworthy mit auf die Liste der Personen gesetzt, die sich weigerten, ihrem Willy die nötige Fürsorge angedeihen zu lassen, und von da an war sie alle zwei Wochen gekommen, um Vitamintabletten zu bringen und bei Dunworthy darauf zu bestehen, daß Willy aus der Rudermannschaft genommen werde, weil er sich überanstrenge.

»Ich würde meine Sorge um Kivrin kaum in eine Kategorie mit Mrs. Gaddsons übertriebener Fürsorglichkeit einordnen«, sagte er. »Das 14. Jahrhundert ist voll von Halsabschneidern und Dieben. Und Schlimmerem.«

»Das sagte Mrs. Gaddson über Oxford«, erwiderte Mary gleichmütig. Sie trank von ihrem Bier. »Ich sagte ihr, sie könne ihren Sohn nicht vor dem Leben schützen. Und Sie können Kivrin nicht beschützen. Sie sind nicht Historiker geworden, indem Sie sicher zu Hause bleiben. Sie müssen lernen, sie gehen zu lassen, selbst wenn es gefährlich ist. Jedes Jahrhundert hat eine Einstufung von zehn verdient, James.«

»In diesem Jahrhundert gibt es keine Pest.«

»Es hatte die Pandemie, die fünfundsechzig Millionen Menschen tötete. Und die Pest war 1320 nicht in England«, sagte sie. »Sie erreichte das Land erst 1348.« Sie stellte ihr Bierglas auf den Tisch, und die Marienfigur fiel um. »Aber selbst wenn die Pest schon 1320 in England verbreitet wäre, könnte Kivrin sie nicht bekommen. Ich habe sie gegen Beulenpest immunisiert.« Sie lächelte Dunworthy zu. »Wissen Sie, ich habe manchmal selbst Anwandlungen von Gaddsonitis. Außerdem würde Kivrin niemals die Pest bekommen, weil wir uns beide um sie sorgen. Außerdem geschieht fast niemals das, was einem Sorgen bereitet. Dafür passiert das, woran man nie gedacht hat.«

»Sehr tröstlich.« Er stellte die blau-weiße Maria neben die Gestalt Josephs. Sie fiel wieder um. Er stellte sie sorgsam wieder auf.

»Es sollte tröstlich sein, James«, sagte sie. »Denn es ist offensichtlich, daß Sie an jede nur mögliche Gefahr gedacht haben, die Kivrin zustoßen könnte. Was bedeutet, daß sie gut gerüstet ist. Wahrscheinlich sitzt sie schon in einer Burg und bekommt Pfauenpastete zum Mittagessen, obwohl ich annehme, daß dort nicht die gleiche Tageszeit sein wird.«

Er schüttelte den Kopf. »Es wird eine Verschiebung gegeben haben — Gott allein weiß, um wieviel, weil Gilchrist keine Parameterüberprüfungen vorgenommen hat. Badri meinte, sie würde mehrere Tage ausmachen.«

Oder mehrere Wochen, dachte er, und wenn es Mitte Januar wäre, würde es keine Feiertage geben, die Kivrin zur Bestimmung des Datums heranziehen könnte. Sogar eine Diskrepanz von mehreren Stunden könnte sie mitten in der Nacht auf die Landstraße von Oxford nach Bath setzen.

»Ich hoffe, die Verschiebung wird nicht bedeuten, daß sie Weihnachten versäumen wird«, sagte Mary. »Sie war so sehr daran interessiert, einer mittelalterlichen Christmette beizuwohnen.«

»Dort sind es noch zwei Wochen bis Weihnachten«, sagte er. »Sie benutzen noch den Julianischen Kalender. Der Gregorianische Kalender wurde hier erst 1752 eingeführt.«

»Ich weiß. Mr. Gilchrist ging in seiner Ansprache ausführlich auf das Thema des Julianischen Kalenders ein. Und auf die Geschichte der Kalenderreform und die Diskrepanz der Daten zwischen der alten Zeitrechnung und dem Gregorianischen Kalender. Einmal dachte ich schon, er würde ein Diagramm zeichnen. Welcher Tag ist dort?«

»Der 13. Dezember.«

»Vielleicht ist es ganz gut, daß wir die genaue Zeit nicht wissen. Deirdre und Colin waren ein Jahr in den Staaten, und ich war krank vor Sorge um sie, aber ganz unsynchronisiert. Ständig stellte ich mir vor, daß Colin gerade auf dem Schulweg von einem Auto überfahren würde, während es dort tatsächlich Mitternacht war. Sich Sorgen machen funktioniert erst richtig, wenn man sich das Unheil in alle Einzelheiten vorstellen kann, einschließlich des Wetters und der Tageszeit. Eine Zeitlang grämte ich mich, weil ich nicht wußte, worüber ich mir Sorgen machen sollte, und dann machte ich mir überhaupt keine Sorgen. Vielleicht wird es mit Kivrin genauso sein.«

Sie hatte recht. Er hatte sich Kivrin vorgestellt, wie er sie zuletzt gesehen hatte, inmitten der umhergeworfenen Gegenstände am Boden liegend, die Schläfe blutig, aber das war wahrscheinlich alles falsch. Sie war vor annähernd einer Stunde durchgegangen. Selbst wenn noch kein Reisender des Weges gekommen war, würde es auf der Straße empfindlich kalt werden, und er konnte sich nicht vorstellen, daß Kivrin, im Mittelalter angekommen, folgsam stundenlang mit geschlossenen Augen daliegen würde.

Als er das erste Mal in der Vergangenheit abgesetzt worden war, hatte er drei Durchgänge hin und zurück gemacht, während sie die Fixierung eingestellt hatten. Sie hatten ihn mitten in der Nacht auf dem Hof abgesetzt, und er hatte dort stehen sollen, während sie die Berechnungen zur Fixierung machten und ihn wieder zurückholten. Aber er war im Oxford des Jahres 1956 gewesen, und die Überprüfung sollte mindestens zehn Minuten dauern. So war er vier Blocks die Straße hinuntergelaufen, um die alte Bodleian-Bibliothek zu sehen, und hätte der Technikerin beinahe einen Herzschlag verschafft, als sie das Netz geöffnet und ihn nicht gefunden hatte.

Nein, Kivrin würde nicht mit geschlossenen Augen dort liegen bleiben, wenn die mittelalterliche Welt vor ihr ausgebreitet lag. Er sah sie plötzlich vor sich, wie sie in diesem lächerlichen Umhang, dem Kittel und den langen Röcken dastand und die Landstraße entlangspähte, bereit, sich von einem Augenblick zum anderen wieder auf den Boden zu werfen, falls ein ahnungsloser Reisender in Sicht käme, und inzwischen alles in sich aufnahm, die Hände in einem Gebet von Ungeduld und Begeisterung gefaltet, und er fühlte sich plötzlich ermutigt.

Sie würde schon zurechtkommen. In zwei Wochen würde sie wieder durch das Netz zurückkehren, schmutzig und verlaust, voller Geschichten über haarsträubende Abenteuer und Gefahren, denen sie um Haaresbreite entgangen war, grauenvollen Geschichten, die ihm noch Wochen danach Alpträume bereiten würden.

»Sie wird da gut durchkommen, wissen Sie, James«, sagte Mary und musterte ihn stirnrunzelnd.

»Ich weiß«, sagte er. Er ging und brachte ihr und sich selbst noch eine halbe Pint. »Wann sollte der Großneffe ankommen?«

»Um drei. Colin bleibt eine Woche, und ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen soll. Außer mir Sorgen zu machen, natürlich. Vielleicht könnte ich mit ihm ins Ashmolean Museum gehen. Kinder interessieren sich immer für Museen, nicht wahr? Pocahontas’ Kleider und alles?«

Dunworthy erinnerte sich an Pocahontas’ Kleider als an ein völlig uninteressantes Ding aus steifem grauen Material, ähnlich dem Schal, den sie Colin zugedacht hatte. »Ich würde das Museum für Naturgeschichte vorschlagen.«

Von der Tür ertönte ein Ding Dong, und als Dunworthy hinspähte, sah er seinen Sekretär auf der Schwelle stehen und ins Lokal blinzeln.

»Vielleicht sollte ich Colin auf den Carfax-Turm steigen und das Glockenspiel in Stücke schlagen lassen«, sagte Mary.

»Da ist Finch«, sagte Dunworthy und hob die Hand, daß er sie bemerkte, aber Finch war bereits unterwegs zu ihrem Tisch. »Ich habe Sie überall gesucht, Sir«, sagte er. »Etwas ist schiefgegangen.«

»Mit der Fixierung?«

Sein Sekretär sah ihn verständnislos an. »Der Fixierung? Nein, Sir, es sind die Amerikaner. Sie sind verfrüht eingetroffen.«

»Was für Amerikaner?«

»Die Glockenläuter. Aus Colorado. Die Frauengilde der Glockenspieler und Schellenläuter der Westlichen Staaten.«

»Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten noch mehr Weihnachtsglocken importiert«, sagte Mary.

»Ich dachte, die sollten am zweiundzwanzigsten kommen«, sagte Dunworthy zu Finch.

»Es ist der Zweiundzwanzigste«, erwiderte Finch. »Sie sollten heute nachmittag kommen, aber ihr Konzert in Exeter wurde abgesagt, also sind sie ihrem Fahrplan etwas voraus. Ich rief bei den Mediävisten an, aber Sie waren nicht mehr dort. Mr. Gilchrist sagte mir, er glaube, Sie seien ausgegangen, um zu feiern.« Er blickte zu Dunworthys leerem Bierglas.

»Ich feiere nicht«, sagte Dunworthy. »Ich warte auf eine Fixierung.« Er sah auf seine Uhr. »Es wird noch mindestens eine weitere Stunde dauern.«

»Sie versprachen, daß Sie für die Gruppe eine Führung zu den hiesigen Glocken veranstalten würden, Sir.«

»Es gibt wirklich keinen Grund, warum Sie hier sein müßten«, sagte Mary. »Ich kann Sie im Balliol anrufen, sobald wir die Fixierung haben.«

»Ich werde kommen, wenn wir die Fixierung haben«, sagte Dunworthy mit einem ärgerlichen Seitenblick zu Mary. »Zeigen Sie ihnen das College und geben Sie ihnen dann ein Mittagessen. Das sollte eine Stunde dauern.«

Finch machte ein unglückliches Gesicht. »Sie sind nur bis vier Uhr hier. Sie haben heute abend ein Schellenkonzert in Ely, und sie wollen unbedingt die Glocken vom Christ Church College sehen.«

»Dann führen Sie sie hin. Zeigen Sie ihnen den Großen Tom. Führen Sie sie auf den Turm von St. Martin. Oder machen Sie eine Führung durch das New College. Ich werde kommen, sobald ich kann.«

Finch sah aus, als wolle er noch etwas fragen, besann sich dann aber eines anderen. »Ich werde ihnen sagen, daß Sie innerhalb einer Stunde dort sein werden, Sir«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Auf halbem Weg machte er halt und kam zurück. »Ich hätte beinahe vergessen, Sir, daß der Vikar anrief und fragte, ob Sie bereit sein würden, beim ökumenischen Gottesdienst am Heiligabend die Weihnachtsbotschaft zu lesen. Der Gottesdienst soll dieses Jahr in St. Mary stattfinden.«

»Sagen Sie ihm ja«, sagte Dunworthy, dankbar, daß Finch in der Angelegenheit der Glockenspieler aufgegeben hatte. »Und sagen Sie ihm, daß wir heute nachmittag in den Glockenturm müssen, damit ich diesen Amerikanerinnen die Glocken zeigen kann.«

»Ja, Sir«, sagte er. »Wie wäre es mit Iffley? Meinen Sie, ich sollte sie nach Iffley führen? Die Glocken dort sind ein sehr schönes elftes Jahrhundert.«

»Auf jeden Fall«, sagte Dunworthy. »Bringen Sie sie nach Iffley. Ich werde zurück sein, sobald ich kann.«

Finch öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »Jawohl, Sir«, sagte er und ging hinaus.

»Sie waren ein wenig hart mit ihm, finde ich«, sagte Mary. »Schließlich können Amerikaner schrecklich sein. Und erst Amerikanerinnen…«

»In fünf Minuten wird er wieder da sein und mich fragen, ob er sie zuerst ins Christ Church College führen solle«, sagte Dunworthy. »Der Mann hat absolut keine Initiative.«

»Ich dachte, das bewunderten Sie bei jungen Leuten«, sagte Mary. »Jedenfalls wird er nicht ins Mittelalter davonlaufen.«

Die Tür ging wieder auf. »Das wird er sein. Wahrscheinlich will er wissen, was er ihnen zum Mittagessen geben soll.«

»Gekochtes Rindfleisch und in Wasser gekochtes Gemüse«, sagte Mary. »Amerikaner erzählen so gern Geschichten über unsere fürchterliche Küche. Ach du lieber Gott.«

Dunworthy sah sich zur Tür um. Gilchrist und Latimer standen dort, eingerahmt vom grauen Licht des Dezembertages. Gilchrist lächelte breit und sagte etwas über die Glocken. Latimer mühte sich mit einem großen schwarzen Schirm ab, der sich nicht schließen lassen wollte.

»Ich nehme an, wir müssen höflich sein und sie einladen, sich zu uns zu setzen«, sagte Mary.

Dunworthy griff zum Mantel. »Seien Sie höflich, wenn Sie wollen. Ich habe nicht die Absicht, mir diese zwei anzuhören, wie sie einander beglückwünschen, daß sie ein unerfahrenes junges Mädchen in Gefahr gebracht haben.«

»Sie hören sich wieder wie Sie-wissen-schon-wer an«, sagte Mary. »Sie würden nicht hier sein, wenn etwas schiefgegangen wäre. Vielleicht hat Badri schon die Fixierung.«

»Dafür ist es zu früh«, sagte er, setzte sich jedoch wieder. »Wahrscheinlicher ist, daß er sie hinauswarf, um mit seiner Arbeit voranzukommen.«

Gilchrist hatte ihn anscheinend gesehen, als er aufgestanden war. Er wandte sich halb um, wie um wieder hinauszugehen, aber Latimer steuerte bereits auf den Tisch zu. Gilchrist folgte ihm. Er lächelte nicht mehr.

»Ist die Fixierung da?« fragte Dunworthy.

»Die Fixierung?«

»Ja, die Fixierung«, sagte Dunworthy. »Die genaue Bestimmung des Absetzortes und der Absetzzeit, die es möglich macht, Kivrin wieder herauszuziehen.«

»Ihr Techniker sagte, es würde mindestens eine Stunde erfordern, die Koordinaten zu bestimmen«, sagte Gilchrist verdrießlich. »Braucht er immer so lang? Er sagte, er würde kommen und uns Bescheid sagen, wenn er fertig wäre, die vorläufigen Ablesungen ließen jedoch erkennen, daß das Absetzen planmäßig und mit nur minimaler Verschiebung abgelaufen sei.«

»Was für eine gute Nachricht!« sagte Mary, sichtlich erleichtert. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Wir haben auch auf die Fixierung gewartet und eine Pint getrunken. Möchten Sie auch etwas trinken?« fragte sie Latimer, der den Schirm endlich zusammengeklappt hatte und das Band mit dem Druckknopf verschloß.

»Ja, ich glaube, ich werde mir auch etwas gönnen«, sagte er. »Schließlich ist es ein großer Tag. Ein Glas Brandy, denke ich. ›Her wirt, tragent her nu win! Vrolich suln wir bi dem sin.‹« Er fummelte mit dem Schirmband, dessen Druckknopf immer wieder aufsprang, so daß die Schirmrippen sich immer wieder abspreizten. »Endlich haben wir die Gelegenheit, den Verlust der adjektivischen Beugung und die Verschiebung zum Nominativ Singular aus erster Hand zu beobachten.«

Ein großer Tag, dachte Dunworthy, aber er fühlte sich gegen seinen Willen erleichtert. Die Verschiebung war seine größte Sorge gewesen. Sie war der unberechenbarste Teil einer Absetzoperation, auch wenn Parameterüberprüfungen gemacht wurden.

Die Theorie besagte, daß es der Sicherheits- und Unterbrechungsmechanismus des Netzes selbst sei, die Methode der Zeit, sich vor Paradoxien des Kontinuums zu schützen. Die Verschiebung vorwärts in der Zeit verhinderte vermutlich Kollisionen oder Begegnungen oder Handlungen, welche die Geschichte beeinflussen würden, schleusten den Historiker am kritischen Augenblick vorbei, in dem er eine unbedachte Handlung mit weitreichenden Folgen begehen könnte.

Aber die Netztheorie hatte niemals bestimmen können, welches diese kritischen Augenblicke waren oder wieviel Verschiebung eine gegebene Absetzoperation zur Folge haben würde. Die Parameterüberprüfungen ergaben Wahrscheinlichkeiten, aber Gilchrist hatte keine durchgeführt. Kivrins Absetzen mochte um zwei Wochen oder einen Monat neben dem anvisierten Zeitpunkt liegen. Soviel Gilchrist wußte, konnte sie im April durchgekommen sein, mit ihrem pelzgefütterten Umhang und dem Winterkittel.

Aber Badri hatte von minimaler Verschiebung gesprochen. Das bedeutete, daß Kivrin nicht mehr als ein paar Tage abgekommen war, und so war reichlich Zeit, das Datum herauszufinden und die Rückholung vorzubereiten.

»Mr. Gilchrist?« sagte Mary. »Kann ich Ihnen einen Brandy bringen?«

»Nein danke«, sagte er.

Mary suchte nach einer weiteren zerdrückten Pfundnote und ging zur Theke.

»Ihr Techniker scheint ganz passable Arbeit geleistet zu haben«, sagte Gilchrist, zu Dunworthy gewandt. »Wir würden ihn gern für unsere nächste Absetzoperation ausleihen. Dann werden wir Miss Engle in das Jahr 1355 schicken, um die Auswirkungen des Schwarzen Todes zu beobachten. Zeitgenössische Berichte sind absolut unzuverlässig, besonders auf dem Gebiet der Sterblichkeitsraten. Die angenommene Zahl von fünfzig Millionen Toten ist sicherlich ungenau, und Schätzungen, daß ein Drittel bis die Hälfte der europäischen Bevölkerung von der Seuche dahingerafft wurde, sind offensichtlich übertrieben. Mir liegt daran, daß Miss Engle geschulte Beobachtungen macht.«

»Ist das nicht ziemlich voreilig?« sagte Dunworthy. »Vielleicht sollten Sie erst einmal abwarten, ob es Kivrin gelingt, diese Absetzoperation zu überleben oder wenigstens sicher nach 1320 durchzukommen.«

Gilchrists Gesicht nahm seinen verkniffenen Ausdruck an. »Es kommt mir ein wenig ungerecht vor, daß Sie ständig annehmen, der Fachbereich Mittelalter sei unfähig, eine erfolgreiche Absetzoperation auszuführen«, sagte er. »Ich versichere Ihnen, daß wir sie in jedem Aspekt sorgfältig durchdacht haben. Die Methode von Kivrins Ankunft ist in allen Einzelheiten erforscht und untersucht worden.

Nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung beträgt die Frequenz von Reisenden auf der Landstraße von Oxford nach Bath einen alle 1,6 Stunden, und sie läßt erkennen, daß Kivrins Geschichte von einem Überfall mit einer Gewißheit von 92 Prozent als glaubwürdig betrachtet wird. Ein Wanderer in Oxfordshire kann im Winter mit 42,5 Prozent Gewißheit damit rechnen, Opfer eines Raubüberfalls zu werden, im Sommer mit 58,6 Prozent. Das sind natürlich Durchschnittswerte. Die Wahrscheinlichkeit lag in Teilen von Otmoor und Wychwood und auf den kleineren Straßen noch wesentlich darüber.«

Dunworthy wunderte sich, wie in aller Welt diese Wahrscheinlichkeitsrechnungen zustande gekommen waren. Das Doomsday Book führte keine Diebe und Räuber auf, mit der möglichen Ausnahme der königlichen Steuereintreiber, die manchmal mehr nahmen, als der Krone zustand, und die Halsabschneider der damaligen Zeit hatten sicherlich keine Aufzeichnungen über die Zahl derer hinterlassen, die sie beraubt und ermordet hatten, geschweige denn Angaben über Ort und Zeit ihrer Untaten. Beweise für Todesfälle fern der Heimat waren beinahe ausschließlich de facto gewesen: der oder die Betreffende war nicht zurückgekehrt. Und wie viele Leichen Erschlagener hatten in den Wäldern gelegen, unentdeckt und von niemandem bestattet?

»Ich kann Ihnen versichern, daß wir jede nur denkbare Vorsichtsmaßnahme getroffen haben, um Kivrin zu schützen«, sagte Gilchrist.

»Wie Parameterüberprüfungen?« entgegnete Dunworthy. »Und unbemannte Erprobungen und Symmetrietests?«

Mary kam zurück. »Da sehen Sie, Mr. Latimer«, sagte sie und setzte ihm ein Glas Brandy vor. Sie hängte Latimers nassen Regenschirm über die Rückenlehne der Holzbank und setzte sich zu ihm.

»Ich versicherte Mr. Dunworthy gerade, daß jeder Aspekt dieser Absetzoperation auf das gründlichste erforscht und vorbereitet worden ist«, sagte Gilchrist. Er nahm die Plastikfigur eines der Heiligen drei Könige auf, die einen goldenen Kasten trug. »Das messingbeschlagene Kästchen in ihrem Wagen ist eine genaue Nachbildung einer Schmuckschatulle im Ashmolean Museum.« Er stellte die Figur wieder zurück. »Sogar ihr Name wurde sorgfältig recherchiert. Isabel ist der Frauenname, der in den Gerichtsakten und der Regista Regum zwischen 1295 und 1320 am häufigsten aufgeführt ist.«

»Es handelt sich um eine Abwandlung von Elisabeth«, sagte Latimer, als befände er sich in einer seiner Vorlesungen. »Sein verbreiteter Gebrauch in England nach dem 12. Jahrhundert wird auf Isabel von Angoulême zurückgeführt, der Gemahlin König Johanns.«

»Kivrin erzählte mir, sie habe eine tatsächliche Identität bekommen, daß Isabel de Beauvrier eine der Töchter eines Edelmannes aus Yorkshire gewesen sei«, sagte Dunworthy.

»So ist es«, bestätigte Gilchrist. »Gilbert de Beauvrier hatte vier Töchter von ungefähr passendem Alter, aber ihre Vornamen waren in den Verzeichnissen nicht aufgeführt. Das war eine übliche Praxis. Frauen wurden häufig nur mit Nachnamen und Verwandtschaftsverhältnis angegeben, sogar in Kirchenregistern und auf Grabsteinen.«

Mary legte eine hemmende Hand auf Dunworthys Arm. »Warum wählten Sie Yorkshire?« fragte sie schnell. »Das entfernt sie doch ungewöhnlich weit von ihrer Heimat, nicht?«

Sie ist siebenhundert Jahre von der Heimat entfernt, dachte Dunworthy, in einem Jahrhundert, das Frauen nicht einmal soviel Wert beimaß, daß ihre Vornamen angegeben wurden, wenn sie starben.

»Miss Engle schlug das selbst vor«, sagte Gilchrist.

»Sie meinte, ein so entfernter Familiensitz würde sicherstellen, daß kein Versuch unternommen würde, die Familie zu verständigen.«

Oder um sie dorthin zu schaffen, viele Meilen vom Absetzort entfernt. Kivrin hatte es vorgeschlagen. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Sache vorgeschlagen und Steuerlisten und Kirchenregister nach einer Familie durchforscht, die eine Tochter passenden Alters, keine Verbindungen zum Hof hatte und so weit entfernt lebte, daß der Schnee und die unpassierbaren Landstraßen es unmöglich machen würden, einen Boten auszusenden und der Familie zu sagen, daß eine vermißte Tochter gefunden worden sei.

»Die gleiche sorgfältige Aufmerksamkeit haben wir jedem Detail dieses Vorhabens gewidmet«, sagte Gilchrist, »bis hin zum Vorwand ihrer Reise, der Erkrankung ihres Bruders. Wir vergewisserten uns, daß es in diesem Teil von Gloucestershire 1319 eine Grippeepidemie gegeben hatte, obwohl Krankheit während des Mittelalters eine ständige und überall verbreitete Erscheinung war. Genauso leicht hätte er sich die Cholera oder eine Blutvergiftung zuziehen können.«

»James«, sagte Mary warnend.

»Miss Engles Kleider wurden mit der Hand genäht. Der blaue Stoff wurde mit der Hand gefärbt, und es wurde Färberwaid verwendet, das nach einem mittelalterlichen Rezept hergestellt wurde. Und Miss Montoya erforschte das Dorf Skendgate, wo Kivrin die zwei Wochen verbringen wird, auf das gründlichste.«

»Wenn sie es bis dahin schafft«, sagte Dunworthy.

»James«, sagte Mary.

»Welche Vorkehrungen haben Sie getroffen, um sicherzugehen, daß der freundliche Reisende, der alle 1,6 Stunden des Weges kommt, sich nicht entschließt, sie ins Kloster nach Godstow oder in ein Bordell in London zu bringen, oder sie durchkommen sieht und für eine Hexe hält? Welche Vorkehrungen haben Sie getroffen, um sicherzugehen, daß der freundliche Reisende tatsächlich freundlich und nicht einer der Halsabschneider ist, die 42,5 Prozent aller Vorübergehenden überfallen?«

»Die Wahrscheinlichkeit, daß sich zum Zeitpunkt des Absetzens jemand am Absetzort befindet, wurde mit 0,04 Prozent errechnet.«

»Oh, da ist ja schon Badri«, sagte Mary, stand auf und schob sich zwischen Dunworthy und Gilchrist. »Das ist aber schnell gegangen, Badri. Haben Sie die Fixierung bekommen?«

Badri war ohne seinen Mantel gekommen. Sein Laborkittel war naß, sein Gesicht vor Kälte halb erfroren. »Sie sehen richtig durchgefroren aus«, sagte Mary. »Kommen Sie und setzen Sie sich.« Sie machte eine einladende Handbewegung zu dem leeren Platz auf der Holzbank neben Latimer. »Ich bringe Ihnen einen Brandy.«

»Haben Sie die Fixierung bekommen?« fragte Dunworthy.

Er war nicht nur naß, er war durchnäßt. »Ja«, sagte er, und seine Zähne fingen an zu klappern.

»Gut gemacht«, sagte Gilchrist, stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich dachte, Sie sagten, es würde eine Stunde erfordern. Darauf müssen wir anstoßen. Haben Sie Champagner?« rief er dem Barkeeper zu, dann klopfte er Badri wieder auf die Schulter und ging hinüber zur Theke.

Badri stand da, schaute ihm nach und rieb sich fröstelnd die Oberarme. Er schien unaufmerksam, wie benommen.

»Sie haben die Fixierung tatsächlich bekommen?« fragte Dunworthy.

»Ja«, sagte er, ohne den Blick von Gilchrist zu wenden.

Mary kam mit dem Brandy an den Tisch zurück. »Das wird Sie ein bißchen aufwärmen«, sagte sie und drückte ihm das Glas in die Hand. »Da. Trinken Sie es mit einem Zug aus. Ärztliche Anweisung.«

Er starrte stirnrunzelnd auf das Glas, als wüßte er nicht, was es war. Seine Zähne schlugen noch immer aufeinander.

»Was gibt es?« fragte Dunworthy. »Ist mit Kivrin alles gutgegangen?«

»Kivrin«, sagte er, das Glas anstarrend, und dann schien er plötzlich zu sich zu kommen. Er stellte das Glas auf den Tisch. »Sie müssen mitkommen«, sagte er, machte kehrt und wand sich zwischen den Tischen durch zur Tür.

»Was ist geschehen?« Dunworthy sprang auf. Die Krippenfiguren fielen um, und eines der Schafe rollte über die Tischkante und fiel zu Boden.

Badri öffnete schon die Tür. Von draußen drangen die Töne des Glockenspiels herein: »Frohlocket, ihr Christen.«

»Warten Sie, Badri, wir müssen anstoßen«, sagte Gilchrist, der mit einer Flasche Champagner und einer Handvoll Gläser zum Tisch zurückkam.

Dunworthy griff zum Mantel.

»Was gibt es?« fragte Mary. Ihre Hand tastete schon zur Einkaufstasche. »Hat er die Fixierung nicht bekommen?«

Dunworthy antwortete nicht. Den Mantel in der Hand, eilte er Badri nach und zur Tür hinaus. Der Techniker war bereits ein gutes Stück voraus, stieß und drängte sich durch die Passanten mit ihren Weihnachtseinkäufen, als wären sie nicht da. Es regnete stark, aber auch das schien Badri nicht zu bemerken. Dunworthy zog im Gehen den Mantel an und kämpfte sich durch den Passantenstrom.

Etwas war schiefgegangen. Es hatte schließlich doch eine Verschiebung gegeben, oder der Lehrling hatte einen Fehler in den Berechnungen. Vielleicht war etwas mit dem Netz selbst nicht in Ordnung. Aber es hatte Sicherungen und Unterbrecher. Wenn es einen Defekt im Netz gegeben hätte, wäre Kivrin nicht durchgegangen. Und Badri hatte gesagt, er habe die Fixierung.

Es mußte die Verschiebung sein. Das war das einzige, was bei einer geglückten Absetzoperation schiefgegangen sein konnte.

Weit voraus überquerte Badri die Straße, entging mit knapper Not einem Radfahrer. Dunworthy stürmte zwischen zwei Frauen durch, deren Einkaufstaschen noch größer als Marys waren, stolperte beinahe über einen weißen Terrier an einer Leine und bekam Badri zwei Häuser weiter wieder zu Gesicht.

»Badri!« rief er. Der Techniker wandte sich halb um und prallte gegen eine Frau mittleren Alters mit einem großen geblümten Regenschirm.

Die Frau war gegen den Regen vorgebeugt und hielt den Schirm schräg vor sich, so daß sie Badri offensichtlich auch nicht gesehen hatte. Der mit Veilchen bedruckte Schirm schien aufwärts zu explodieren, dann fiel er auf das Pflaster. Badri lief blindlings in den Schirm und kam beinahe zu Fall.

»Geben Sie gefälligst acht, wohin Sie laufen!« sagte die Frau zornig. Sie faßte nach dem Rand des Regenschirmes. »Überhaupt ist das hier keine Rennbahn, nicht?«

Badri sah sie und den Schirm mit dem gleichen benommenen Blick an, der Dunworthy im Lokal aufgefallen war. »Tut mir leid.« Dunworthy sah, wie er sich bückte, um den Schirm aufzuheben. Die beiden schienen einen Augenblick vor dem Hintergrund der Veilchen miteinander zu ringen, bis Badri den Handgriff zu fassen bekam und den Schirm aufrichtete. Er gab ihn der Frau, deren fleischiges Gesicht rot vor Zorn oder dem kalten Regen oder beidem war.

»Es tut Ihnen leid?« sagte sie und hob den Schirm über den Kopf, als wollte sie ihn damit schlagen. »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?«

Er hob die Hand zur Stirn, und dann schien ihm einzufallen, wo er war, und er eilte im Laufschritt weiter. Beim Tor des Brasenose College bog er ein, und Dunworthy folgte ihm über den Hof, durch einen Korridor und ins Laboratorium. Badri saß schon über die Konsole gebeugt und starrte stirnrunzelnd auf den Bildschirm.

Dunworthy hatte befürchtet, ein unsinniges Durcheinander darauf zu finden, oder — was noch schlimmer wäre — ein leeres Geflimmer, aber der Bildschirm zeigte die geordneten Zahlenkolonnen einer Fixierung.

»Sie haben die Fixierung?« keuchte Dunworthy.

»Ja«, sagte Badri. Er wandte sich und blickte zu Dunworthy auf. Seine Stirn war jetzt glatt, doch zeigte sein Gesicht einen seltsam geistesabwesenden Ausdruck, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren.

»Wann war…«, sagte er und begann zu zittern. Seine Stimme verlor sich, als hätte er vergessen, was er sagen wollte.

Die Tür flog auf, und Gilchrist und Mary kamen hereingeeilt, gefolgt von Latimer, der mit seinem Schirm kämpfte. »Was gibt es? Was ist passiert?« sagte Mary.

»Wann war was, Badri?« verlangte Dunworthy zu wissen.

»Ich habe die Fixierung«, sagte Badri. Er schaute zum Bildschirm.

»Ist sie das?« sagte Gilchrist und beugte sich über seine Schulter. »Was haben all diese Symbole zu bedeuten? Sie müssen es für uns Laien übersetzen.«

»Wann war was?« wiederholte Dunworthy.

Badri faßte sich an die Stirn. »Da stimmt was nicht«, sagte er.

»Was?« rief Dunworthy. »Verschiebung? Ist es die Verschiebung?«

»Verschiebung?« sagte Badri. Er fröstelte so sehr, daß er das Wort kaum heraus bekam.

»Badri«, sagte Mary. »Ist Ihnen nicht gut?«

Badri bekam wieder den seltsam geistesabwesenden Blick, als könne er sich nicht auf die Antwort besinnen.

»Nein«, sagte er und fiel vornüber auf die Konsole.

3

Sie hörte die Glocke schlagen, als sie durchkam. Es klang dünn und blechern, wie die Klänge des Glockenspiels vom Tonband, die sie für Weihnachten spielten. Das Laboratorium sollte schalldicht sein, aber jedesmal wenn jemand von außen die Tür zum Vorzimmer öffnete, hatte sie die leisen, geisterhaften Töne des Glockenspiels hören können.

Dr. Ahrens war zuerst hereingekommen, dann Mr. Dunworthy, und beide Male war Kivrin überzeugt gewesen, daß sie gekommen seien, um ihr zu sagen, daß sie nun doch nicht gehen könne. Schon im Krankenhaus, als Kivrins antivirale Impfung zu einer riesigen roten Schwellung an der Unterseite ihres Armes geführt hatte, hätte Dr. Ahrens das Projekt beinahe abgesagt. »Sie werden nirgendwohin gehen, solange die Schwellung nicht zurückgeht«, hatte Dr. Ahrens gesagt und ihr die Entlassung aus dem Krankenhaus verweigert. Der Arm juckte noch immer, aber das würde sie Dr. Ahrens nicht sagen, denn die könnte es Mr. Dunworthy weitererzählen, der von einem Entsetzen ins andere gefallen war, seit er erfahren hatte, daß sie gehen würde.

Schon vor zwei Jahren sagte ich ihm, daß ich gehen wollte, dachte Kivrin. Vor zwei Jahren, und als sie ihm gestern ihre Kleider gezeigt hatte, hatte er noch immer versucht, es ihr auszureden.

»Mir gefällt die Art und Weise nicht, wie diese Mediävisten das Absetzen handhaben«, hatte er gesagt. »Und selbst wenn sie die gebotenen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätten, hat eine junge Frau allein im Mittelalter nichts zu suchen.«

»Es ist alles genau ausgearbeitet«, hatte sie ihm gesagt. »Ich bin Isabel de Beauvrier, die Tochter von Gilbert de Beauvrier, eines Edelmannes, der von 1276 bis 1332 in East Riding lebte.«

»Und was suchte die Tochter eines Edelmannes aus Yorkshire allein auf der Landstraße von Oxford nach Bath?«

»Ich war nicht allein. Ich war in Begleitung meiner Diener, unterwegs nach Evesham, um meinen Bruder abzuholen, der dort krank im Kloster liegt. Aber wir wurden von Räubern überfallen.«

»So so, von Räubern«, sagte er und zwinkerte ihr durch seine Brille zu.

»Das war Ihre Idee. Sie sagten, daß junge Frauen im Mittelalter nicht allein reisten, daß sie immer in Begleitung waren. Also war ich in Begleitung, aber meine Diener liefen davon, als wir angegriffen wurden, und die Wegelagerer nahmen die Pferde und all meine Sachen. Mr. Gilchrist findet die Geschichte überzeugend. Er sagte, die Wahrscheinlichkeit, daß…«

»Die Geschichte ist einleuchtend, weil das Mittelalter voll von Dieben und Halsabschneidern war.«

»Ich weiß«, sagte sie ungeduldig, »und voll von Bazillenträgern und Raubrittern und anderen gefährlichen Typen. Gab es im Mittelalter überhaupt keine netten Leute?«

»Die waren alle damit beschäftigt, Hexen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.«

Sie hatte es zweckmäßig gefunden, das Thema zu wechseln. »Ich bin gekommen, Ihnen meine Kostümierung zu zeigen«, hatte sie gesagt und sich langsam um ihre Achse gedreht, daß er ihren blauen Kittel und den mit weißem Kaninchenfell gefütterten Umhang sehen konnte. »Mein Haar wird beim Absetzen offen sein.«

»Es hat keinen Sinn, daß Sie im Mittelalter Weiß tragen«, hatte er gesagt. »Es wird bloß schmutzig.«

An diesem Morgen war es auch nicht besser mit ihm gewesen. Wie ein werdender Vater war er in dem schmalen Beobachtungsraum hinter der Trennscheibe hin und her gelaufen. Sie hatte sich den ganzen Morgen gesorgt, daß er plötzlich versuchen würde, das ganze Vorhaben doch noch zu Fall zu bringen.

Es hatte Verzögerungen und wieder Verzögerungen gegeben. Mr. Gilchrist mußte ihr noch einmal erklären, was für eine Bewandtnis es mit dem Doomsday Book habe, als ob sie eine Anfängerin wäre. Keiner von ihnen hatte Vertrauen in sie, außer vielleicht Badri, und selbst der war zum Aus-der-Haut-fahren vorsichtig gewesen, hatte die Netzfläche immer wieder ausgemessen und einmal eine ganze Serie von Koordinaten gelöscht und neu eingetragen.

Sie hatte gedacht, es würde nie der Augenblick kommen, da sie sich endlich in Position begeben würde, und als es dann so weit gewesen war, hatte sie es noch schlimmer gefunden, mit geschlossenen Augen dazuliegen und sich zu fragen, was vorging. Latimer sagte Gilchrist, er sei besorgt wegen der Schreibweise des Namens, den sie für sie gewählt hatten, als ob damals jemand hätte lesen oder schreiben können. Montoya kam und stand über ihr und erklärte ihr, daß sie Skendgate anhand der Fresken in der Dorfkirche identifizieren könne; sie zeigten das Jüngste Gericht mit dem Höllensturz. Das hatte sie Kivrin vorher schon mindestens ein Dutzend Male erzählt.

Jemand, sie glaubte Badri, weil er der einzige war, der keine Anweisungen für sie hatte, beugte sich über sie und bewegte ihren Arm ein wenig zum Körper und zupfte ihre Röcke zurecht. Der Boden war hart, und etwas bohrte sich unter den Rippen in ihre Seite. Mr. Gilchrist sagte etwas, und wieder hörte man von draußen das Glockenspiel.

Bitte, dachte Kivrin, bitte. Sie fragte sich, ob Dr. Ahrens plötzlich entschieden habe, daß sie eine weitere Impfung benötige, oder ob Dunworthy endlich Basingame erreicht und überredet hatte, die Einstufung wieder auf zehn zu ändern.

Der Betreffende — wer es auch war — hielt die Tür offen; sie konnte wieder das Glockenspiel hören, obwohl die Melodie nicht zu erkennen war. Es war auch keine Melodie, vielmehr ein langsames, gleichmäßiges Läuten, das kurz verstummte und dann wieder anfing, und Kivrin dachte: Ich bin durch!

Sie lag auf der linken Seite, die Beine unbeholfen in die Röcke verheddert, als wäre sie von den Räubern niedergeschlagen worden, den Arm halb über dem Gesicht, um die Schläge abzuwehren, von denen einer ihre Schläfe getroffen hatte, wo das Blut in einem dünnen Rinnsal über ihre Gesichtshälfte geronnen war. Die Haltung ihres Armes ermöglichte ihr, unbemerkt die Augen zu öffnen, aber das wagte sie noch nicht. Sie lag ganz still und lauschte.

Bis auf die fernen Glockentöne war nichts zu hören. Wenn sie am Rand einer Landstraße des 14. Jahrhunderts lag, sollten wenigstens Vogelstimmen zu hören sein. Aber vielleicht hatte ihr plötzliches Erscheinen oder der Lichthof des Netzes alle Vögel aus der näheren Umgebung verscheucht. Immerhin hinterließ der Lichthof mehrere Minuten lang schimmernde frostähnliche Partikel in der Luft.

Nach einer langen Minute hörte sie einen Vogel zwitschern, und dann noch einen. Etwas raschelte in ihrer Nähe, hielt inne und raschelte wieder. Ein Eichhörnchen oder eine Waldmaus des 14. Jahrhunderts. Jetzt vernahm sie auch ein dünneres Rascheln, das wahrscheinlich vom Wind in den Zweigen der Bäume herrührte, obwohl sie keine Brise im Gesicht fühlte.

Sie fragte sich, warum die ferne Kirchenglocke so anhaltend läutete. Vielleicht zur Vesper. Oder es war das Mittagläuten. Badri hatte ihr gesagt, er habe keine Ahnung, wieviel Verschiebung es geben würde. Er hatte das Absetzen verschieben und eine Serie von Überprüfungen der Parameter machen wollen, aber Mr. Gilchrist hatte gesagt, die Wahrscheinlichkeitsrechnung habe eine maximale Verschiebung von 6,4 Stunden vorausgesagt.

Sie wußte nicht, zu welcher Zeit sie durchgekommen war. Es war Viertel vor elf gewesen, als sie ins Laboratorium gekommen war — sie hatte Mrs. Montoya nach der Uhrzeit gefragt -, aber sie konnte nicht sagen, wie lang es danach gedauert hatte. Ihr war es wie Stunden vorgekommen.

Das Absetzen war für die Mittagszeit geplant gewesen. Wenn sie rechtzeitig durchgekommen war und die Wahrscheinlichkeitsrechnung stimmte, würde es sechs Uhr nachmittags sein, also zu spät für die Vesper. Und warum wurde so anhaltend geläutet?

Es konnte zur Messe läuten, oder für ein Begräbnis oder eine Hochzeit. Soviel sie wußte, hatten im Mittelalter beinahe ständig Glocken geläutet: um vor Feinden oder Feuersgefahr zu warnen, um einem Kind, das sich verlaufen hatte, den Weg zurück zum Dorf zu weisen, sogar um Unwetter abzuwehren. Diese Glocke konnte ohne besonderen Grund läuten.

Wenn Mr. Dunworthy hier wäre, würde er überzeugt sein, daß es ein Begräbnis war. »Um 1300 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung achtunddreißig Jahre«, hatte er ihr erklärt, als sie ihn das erste Mal mit ihrem Wunsch bekannt gemacht hatte, ins Mittelalter zu gehen, »und man lebte nur so lange, wenn man Cholera und Pocken und Blutvergiftung überlebte, und wenn man kein verdorbenes Heisch aß, kein verseuchtes Wasser trank und nicht von einem Pferd niedergetrampelt wurde. Oder als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.«

Oder erfror, dachte Kivrin. Sie fühlte sich schon steif vor Kälte, obwohl sie erst eine kleine Weile auf der Straße lag. Was sich so schmerzhaft in ihre Seite bohrte, fühlte sich mittlerweile an, als wäre es durch den Brustkorb gegangen und durchbohre nun ihre Lunge. Mr. Gilchrist hatte ihr eingeschärft, mehrere Minuten lang liegenzubleiben und sich dann mühsam aufzurappeln und langsam auf die Füße zu kommen, als sei sie aus Bewußtlosigkeit erwacht. Kivrin hatte gemeint, daß mehrere Minuten kaum ausreichend sein würden, vor allem im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeitsberechnung der Zahl der Reisenden auf dieser Straße. Sicherlich würden mehr als mehrere Minuten vergehen, bevor ein Wanderer des Weges käme, und sie wollte den Vorteil ihrer scheinbaren Bewußtlosigkeit nicht voreilig aufgeben.

Und es war ein Vorteil, trotz Mr. Dunworthys Vorstellung, daß eine Hälfte Englands sich auf eine bewußtlose Frau stürzen würde, um sie zu vergewaltigen, während die andere Hälfte in der Nähe mit dem Scheiterhaufen wartete, auf dem sie sie zu verbrennen beabsichtigte. War sie bei Bewußtsein, würden ihre Retter Fragen stellen. War sie aber ohne Besinnung, würden sie über sie und über andere Dinge diskutieren. Sie würden beraten, wohin sie sie bringen sollten, und spekulieren, wer sie sei und woher sie gekommen sein mochte, Spekulationen, in denen sehr viel mehr Informationen steckten als in der simplen Frage »Wer bist du?«

Aber nun spürte sie einen überwältigenden Drang zu tun, was Mr. Gilchrist vorgeschlagen hatte — aufzustehen und sich umzusehen. Der Boden war eiskalt, ihre Seite schmerzte, und in ihrem Kopf fing im Gleichklang mit der Glocke ein pulsierender Schmerz an zu pochen. Dr. Ahrens hatte ihr gesagt, daß das geschehen würde. Eine Reise so weit in die Vergangenheit würde die Symptome der Zeitverzögerung auftreten lassen — Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und eine allgemeine Störung des Tag-Nacht-Rhythmus. Sie fror jämmerlich. War auch das ein Symptom der Zeitverzögerung, oder war der Boden, auf dem sie lag, so gefroren, daß die Kälte innerhalb von Minuten ihren pelzgefütterten Umhang durchdringen konnte? Oder war die Verschiebung stärker, als der Techniker gedacht hatte, und es war wirklich mitten in der Nacht?

Sie überlegte, ob sie auf der Landstraße liege. Wenn es sich so verhielt, sollte sie nicht liegen bleiben. Eines der Fuhrwerke, die diese Wagengeleise ausgefahren hatten, könnte sie in der Dunkelheit überrollen.

Mitten in der Nacht läuten keine Glocken, sagte sie sich, und es drang zuviel Licht durch ihre geschlossenen Augenlider, als daß es finster sein könnte. Aber wenn die Kirchenglocke zur Vesper läutete, bedeutete es, daß es dunkel wurde, und sie tat gut daran, aufzustehen und sich umzusehen, bevor es Nacht wurde.

Wieder lauschte sie den Vögeln, dem Wind in den Zweigen, einem gleichmäßig scharrenden Geräusch. Die Kirchenglocke hörte auf zu läuten. Ihr Echo verklang leise in der Luft, und dann hörte sie ein kleines Geräusch, wie ein rasches Einatmen oder das Auftreten eines Fußes in feuchtem, zerfallendem Laub, ganz nahe.

Kivrin spannte sich unwillkürlich und hoffte dann, die Bewegung bliebe unter dem Umhang unsichtbar. Sie wartete, aber es gab weder Schritte noch Stimmen. Und keine Vögel. Jemand oder etwas stand über ihr, sie war dessen sicher. Sie konnte das Atmen hören, den Atem auf sich fühlen. Es stand lange Zeit da, ohne sich zu bewegen. Nach scheinbar endloser Zeit merkte Kivrin, daß sie den Atem anhielt, und ließ ihn langsam ausströmen. Sie lauschte, doch nun konnte sie über dem Pochen des eigenen Pulsschlags in den Schläfen nichts hören. Sie tat einen tiefen, seufzenden Atemzug und stöhnte.

Nichts. Was es auch war, es rührte sich nicht, machte kein Geräusch, und Mr. Dunworthy hatte recht gehabt: Bewußtlosigkeit vorzutäuschen, war nicht die Art, in ein Jahrhundert einzutreten, wo noch Wölfe durch die Wälder streiften. Und Bären. Plötzlich fingen die Vögel wieder an zu zwitschern, was bedeutete, daß kein Wolf da war, oder daß er sich verzogen hatte. Kivrin lauschte wieder, und öffnete die Augen.

Sie konnte nichts als ihren Ärmel sehen, der über ihrer Nase lag, aber das bloße Öffnen der Augen verstärkte ihre Kopfschmerzen. Sie schloß die Augen wieder, wimmerte leise und regte sich. Dabei bewegte sie den Arm so weit, daß sie, wenn sie die Augen wieder öffnete, etwas würde sehen können. Wieder stöhnte sie und öffnete ein wenig die Augen.

Niemand stand über ihr, und es war nicht mitten in der Nacht. Der Himmel über den dicht verzweigten Ästen der Bäume war von einem blassen Graublau. Sie setzte sich auf und blickte umher.

Ungefähr das erste, was Mr. Dunworthy ihr gesagt hatte, als sie ihm ihren Wunsch, ins Mittelalter zu gehen, anvertraut hatte, war: »Sie waren schmutzig und von Krankheiten geplagt, es war das Dreckloch der Geschichte, und je eher sie sich alle märchenhaften Vorstellungen über die Zeit aus dem Kopf schlagen, desto besser.«

Und er hatte recht. Natürlich hatte er recht. Aber hier war sie in einem märchenhaften Wald. Sie und das Fuhrwerk und der Rest waren in einem kleinen offenen Raum durchgekommen, der zu klein und schattig war, um eine Lichtung genannt zu werden. Hohe, dicke Bäume breiteten ihre mächtigen Äste darüber.

Sie lag unter einer Eiche. An den kahlen Zweigen hoch über ihr hingen noch ein paar braune, runzlige Blätter. Die Eiche war voller Vogelnester vom vergangenen Frühjahr, jetzt verlassen. Die Vögel im Umkreis waren wieder still, vielleicht hatte ihre Bewegung sie verscheucht. Das Unterholz bestand aus dichtem Gebüsch, einem undurchdringlichen Gewirr von Zweigen, welken Blättern, Brombeerranken, dürren Stauden, übersponnen von Waldreben mit ihren flaumigen weißen Samenköpfchen. Das harte Ding, das Kivrin in die Seite gedrückt hatte, war ein abgebrochener Eichenzweig. Aus dem fahlen Gras bei den knorrigen Wurzeln einer Eiche schauten die roten und weißen Schirme von Fliegenpilzen. Sie und alles andere in der kleinen Lichtung — die Baumstämme, das Fuhrwerk, Efeu und Waldreben — glitzerten von der frostigen Kondensation des Lichthofes.

Es war offensichtlich, daß niemand hier gewesen war, jemals hier gewesen war, und ebenso offensichtlich, daß dies nicht die Landstraße von Oxford nach Bath war, und daß kein Reisender in 1,6 Stunden des Weges kommen würde. Oder irgendwann. Die mittelalterlichen Landkarten, die sie verwendet hatten, um den Absetzort festzulegen, waren anscheinend so ungenau gewesen, wie Mr. Dunworthy gesagt hatte. Die Straße mußte weiter nördlich verlaufen als die Karten gezeigt hatten, und sie war südlich davon, im Wald von Wychwood.

»Vergewissern Sie sich sofort Ihres genauen räumlichen und zeitlichen Standortes«, hatte Dr. Gilchrist gesagt. Sie fragte sich, wie sie das tun sollte. Hier konnte sie nur die Vögel fragen, und diese waren zu hoch über ihr, um zu verraten, welchen Arten sie angehörten, und weil es sich nur um heimische Arten handeln konnte, würde ihre Gegenwart ohnehin nicht auf eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort hinweisen.

Sie setzte sich aufrecht hin, und hinter ihr stob mit wildem Geflatter ein Schwarm kleiner Vögel aus den Sträuchern. Sie hielt still, bis das Geräusch sich entfernt hatte, dann erhob sie sich auf die Knie. Das Geflatter fing wieder an, diesmal in den Baumwipfeln. Sie faltete die Hände, drückte die Handballen zusammen und schloß die Augen, damit der Reisende, der sie finden sollte, wenn er vorbeikäme, den Eindruck gewinnen würde, daß sie betete.

»Ich bin hier«, sagte sie, dann brach sie ab. Wenn sie meldete, daß sie mitten in einem Wald gelandet war, statt auf der Landstraße von Oxford nach Bath, würde es nur bestätigen, was Mr. Dunworthy dachte, nämlich, daß Mr. Gilchrist nicht gewußt habe, was er tat, und daß sie allein nicht zurechtkommen könne, und dann fiel ihr ein, daß es überhaupt nichts ausmachte, weil niemand ihren Bericht hören würde, bevor sie sicher zurückgekehrt wäre.

Wenn sie sicher zurückkehrte, was vielleicht nicht der Fall sein würde, wenn sie bei Dunkelwerden noch in diesem Wald wäre. Sie stand auf und blickte umher. Es war entweder Spätnachmittag oder früher Morgen, mehr war hier im Wald nicht zu erkennen, und selbst wenn sie in offenes Gelände käme und den Himmel überblicken könnte, blieb ungewiß, ob sie es am Sonnenstand würde ablesen können. Mr. Dunworthy hatte ihr erzählt, daß manche Leute während ihres gesamten Aufenthaltes in der Vergangenheit hoffnungslos desorientiert blieben. Er hatte ihr geraten, die Schatten zu beobachten, aber um das zu tun, mußte sie die Uhrzeit wissen, und außerdem hatte sie keine Zeit mit Überlegungen zu vergeuden, welche Richtung welche war. Sie mußte den Weg aus diesem Wald finden. Er lag fast ganz im Schatten.

Von einer Straße oder auch nur einem Pfad war nichts zu sehen. Kivrin umging den Wagen und die umhergestreuten Kisten und Körbe und hielt Ausschau nach einem Durchlaß zwischen den Bäumen. In der Richtung, die sie instinktiv für Westen hielt, schien der Wald etwas lichter, doch als sie in diese Richtung ging, immer wieder zurückblickend, um sicherzugehen, daß sie noch das verwitterte Blau vom Verdeck des Fuhrwerks sehen konnte, war es nur ein Birkengehölz, dessen weiße Stämme die Illusion von Licht und Raum hervorriefen. Sie ging zurück zum Fuhrwerk und versuchte ihr Glück in der entgegengesetzten Richtung, obwohl der Wald dort dunkler aussah.

Die Landstraße war nur hundert Schritte entfernt. Kivrin überkletterte einen umgestürzten Stamm und arbeitete sich durch ein Weidendickicht und sah sich am Rand der Straße. Eine Landstraße, hatte es geheißen, aber so sah sie nicht aus. Was vor ihr lag, war mehr ein Ziehweg mit ausgewaschenen Spurrinnen. Oder ein Weideweg für Rinder. Dies also waren die Fernstraßen im England des 14. Jahrhunderts, die den Handel förderten und Horizonte erweiterten.

Die Straße war kaum breit genug für ein Fuhrwerk, obwohl die tief eingeschnittenen Spurrinnen zeigten, daß sie hin und wieder befahren wurde. Hier und dort stand schwarzes Wasser in den Wagenspuren und bildete Pfützen am Wegrand. Der Wind hatte Laub darübergestreut und stellenweise zu knietiefen Haufen zusammengefegt. Auf einigen der Wasserlachen hatte sich dünnes Eis gebildet.

Kivrin stand in einer Talsenke zwischen zwei sanft abfallenden Höhenzügen. In beiden Richtungen stieg die Straße gleichmäßig an, und in der Richtung, die nach ihrem Gefühl Norden sein mußte, endete der Wald auf halber Höhe. Sie wandte sich um und blickte zurück. Es war möglich, von ihrem Standort das Fuhrwerk zu sehen — einen verwaschenen blauen Fleck -, aber niemand würde ihn sehen, wenn er nicht danach suchte. Zu beiden Seiten schob sich der Wald bis unmittelbar an die Straße heran und machte die Strecke vorzüglich geeignet für Überfälle von Halsabschneidern und Räubern.

Es war genau der richtige Ort, um ihrer Geschichte Glaubwürdigkeit zu verleihen, aber Reisende würden sie niemals sehen, wenn sie hier vorbeieilten, oder wenn sie den verwaschenen blauen Fleck der Wagenplane bemerkten, würden sie denken, es sei ein Schlupfwinkel von Wegelagerern, und ihre Pferde anspornen.

Auf einmal kam Kivrin der Gedanke, daß sie sich durch ihr Herumstehen hier im Wald verdächtig machen würde, statt eines unschuldigen jungen Mädchens, das kurz zuvor niedergeschlagen und beraubt worden war, selbst eine von den Halsabschneidern zu sein.

Sie trat auf die Straße und hielt sich mit einer Hand die Schläfe. »O ir friunt, ic pitte, daz ir mir hilflich send!« rief sie.

Der Implantdolmetscher sollte alles, was sie sagte, automatisch in mittelalterliche Sprache übersetzen, aber Mr. Dunworthy hatte darauf bestanden, daß sie ihre ersten Äußerungen auswendig lerne. Sie und Mr. Latimer hatten mit ihr den ganzen Nachmittag die Aussprache geübt.

»Hilfa, ir here, denn ic bin gislagan von roubaere!« rief sie.

Sie dachte daran, sich auf dem Weg zu werfen, doch nun, da sie einen weiteren Überblick hatte, konnte sie sehen, daß es noch später als vermutet war und der Sonnenuntergang nicht mehr fern sein konnte. Und wenn sie sehen wollte, was jenseits des Höhenrückens lag, tat sie gut daran, nicht länger zu warten. Als erstes aber mußte sie den Absetzort mit irgendeinem Zeichen markieren.

Die Sträucher entlang der Straße zeichneten sich durch keine Besonderheiten aus. Kivrin hielt Ausschau nach einem größeren Stein, um ihn an die Stelle zu legen, wo sie noch das Fuhrwerk sehen konnte, aber es war keiner zu finden. Schließlich arbeitete sie sich durch das Dickicht zurück, blieb mit Haaren und Umhang in den Zweigen hängen, hob das messingbeschlagene kleine Kästchen auf, das die Kopie eines anderen im Ashmolean Museum war, und trug es zurück zum Straßenrand.

Es war keine vollkommene Lösung, denn das Kästchen lud jeden Wanderer und Reisenden ein, es an sich zu nehmen, aber sie wollte nur bis zur Kuppe des Höhenzuges gehen. Wenn sie sich dort entschloß, zum nächsten Dorf zu gehen, würde sie vorher zurückkommen und eine dauerhaftere Markierung anbringen. Und nach dem Zustand des Weges zu urteilen, war nicht so bald mit Reisenden zu rechnen. Die steilen Ränder der Wagengeleise waren hartgefroren, das Laub lag unberührt, und das dünne Eis auf den Pfützen war ungebrochen. Hier war den ganzen Tag niemand gegangen oder gefahren, vielleicht die ganze Woche nicht.

Sie verbarg das Kästchen im welken Gras und legte einen Zweig darüber, dann stieg sie die Anhöhe hinauf. Bis auf die gefrorenen Schlammlöcher in der Talsenke war die Straße ebener als Kivrin zuerst gedacht hatte; anscheinend wurde sie in der warmen Jahreszeit öfter begangen als ihre gegenwärtige Verlassenheit vermuten ließ.

Es war ein leichter Anstieg, aber Kivrin fühlte sich schon nach wenigen Schritten müde, und der dumpfe Kopfschmerz begann wieder zu pochen. Sie hoffte, daß die Zeitverzögerungssymptome sich nicht verschlimmern würden — sie konnte bereits sehen, daß sie weit von irgendeiner Siedlung entfernt war. Oder vielleicht war das nur eine Täuschung. Sie hatte sich noch immer nicht ihres »genauen zeitlichen Standortes« vergewissert, und an diesem Waldweg und dem Wald selbst war nichts, was eindeutig auf 1320 hinwies.

Die einzigen Zeichen von Zivilisation waren diese tiefen Spurrinnen, die aber nicht mehr besagten als daß sie in jeder beliebigen Zeit nach der Erfindung des Rades und vor dem Aufkommen gepflasterter und geteerter Straßen sein konnte, und nicht einmal das: In ländlichen Gegenden gab es noch heute Ziehwege wie diesen, und keine fünf Meilen von Oxford wurden genau solche Wege für die japanischen und amerikanischen Touristen liebevoll instandgehalten.

Womöglich war sie nirgendwo hingekommen, und auf der anderen Seite dieses Höhenrückens würde sie die Autobahn finden, oder Mrs. Montoyas Ausgrabungsstätte, oder eine Raketenstellung. Es war ein schrecklicher Gedanke, ihren zeitlichen Standort dadurch zu bestimmen, daß sie von einem Fahrrad oder Auto angefahren würde, und sie wich unwillkürlich zum Straßenrand aus. Aber warum hatte sie diese elenden Kopfschmerzen und das Gefühl, keine zehn Schritte mehr gehen zu können, wenn sie nirgendwohin gekommen war?

Sie erreichte den Höhenrücken und blieb stehen, außer Atem. Sie hätte sich nicht am Straßenrand zu halten brauchen. Bislang war noch kein Wagen vorbeigekommen, auch kein Pferdewagen, und sie war, wie sie gedacht hatte, weit von irgendeiner Siedlung entfernt. Hier oben standen keine Bäume, und sie konnte weite Strecken des Landes überblicken. Der Wald, in dem sie abgesetzt worden war, endete auf halber Höhe des Hügels und erstreckte sich unabsehbar weit nach Süden und Westen. Wäre sie tiefer in seinem Inneren durchgekommen, hätte sie sich ohne Kompaß wirklich hoffnungslos verlaufen.

Wald gab es auch fern im Osten, wo er einem Flußlauf folgte, dessen silbrige Oberfläche sie da und dort blinken sah — die Themse? der Cherwell? -, und das ganze Land dazwischen war durchzogen von Hecken, Baumgruppen, Gehölzen und vereinzelt stehenden Bäumen, mehr als es nach ihrem Wissen je in England gegeben hatte. Das Doomsday Book von 1086 hatte nicht mehr als 15 Prozent des Landes als bewaldet angegeben, und die Forschung war davon ausgegangen, daß Waldrodungen und Siedlungen diesen Prozentsatz bis 1300 auf 12 Prozent verringert haben würde. Wie es schien, hatten die Forscher oder schon die Männer, die das Doomsday Book geschrieben hatten, die Waldflächen unterschätzt. Überall gab es Bäume.

Kivrin konnte keine Dörfer sehen. Die Wälder standen entlaubt, die Zweige reckten sich schwarzgrau in den dämmernden Spätnachmittag, und sie sollte in der Lage sein, Kirchtürme und Häuser zu sehen, aber es war weit und breit nichts zu entdecken, das wie eine Siedlung aussah.

Dennoch mußte es Siedlungen geben, denn es gab Felder, und es waren schmale Streifenfelder, die entschieden mittelalterlich waren. Auf einigen der abgeernteten Felder weideten Schafe, aber so angestrengt sie auch spähte, ein Hirte war nicht zu entdecken. Fern im Osten war im Dunst ein ungewisser grauer Umriß, der Oxford sein mußte. Wenn sie die Augen zusammenkniff, war sie beinahe imstande, die Mauern und den gedrungenen Carfax-Turm auszumachen, doch konnte sie die Türme von St. Frideswide und Osney im schwindenden Licht nicht sehen.

Der Abend dämmerte. Der Himmel über ihr war von einem blassen Lavendelblau mit einer Andeutung von Rosa nahe dem westlichen Horizont, und seit sie hier oben stand, hatte die Dämmerung merklich zugenommen.

Kivrin bekreuzigte sich, dann faltete sie die Hände im Gebet, die zusammengelegten Finger vor dem Gesicht. »Nun, Mr. Dunworthy, ich bin hier und scheine mehr oder weniger am rechten Ort zu sein. Ich bin nicht auf der Landstraße von Oxford nach Bath abgesetzt worden, sondern ungefähr fünfhundert Schritte südlich von ihr auf einer Seitenstraße. Ich kann Oxford sehen. Es liegt nach meiner Schätzung zehn Meilen entfernt.«

Sie beschrieb ihre Eindrücke von der Jahres- und Tageszeit und schilderte, was sie sah, dann hielt sie inne und drückte das Gesicht gegen die Hände. Sie sollte jetzt zu Protokoll geben, was sie zu tun beabsichtigte, aber sie wußte nicht, was das war. Auf der leicht gewellten Ebene westlich von Oxford sollte es ein Dutzend Dörfer geben, aber sie konnte keines davon sehen, obwohl die bestellten Felder, die zu ihnen gehörten, vorhanden waren, auch die Straße.

Niemand war auf der Straße. Sie zog sich in einem Bogen auf der anderen Seite des Höhenrückens hinunter und verschwand in einem dichten Gehölz, aber eine halbe Meile weiter verlief die Landstraße, wo sie hätte abgesetzt werden sollen, verhältnismäßig breit und eben und von einem blassen Graugelb. Soweit sie die Straße überblicken konnte, war niemand auf ihr unterwegs.

Weit zu ihrer Linken und halbwegs über die Ebene gegen Oxford nahm sie eine entfernte Bewegung wahr, aber es war nur eine Reihe von Kühen, die heimwärts zu einer größeren Baumgruppe zogen, unter der sich ein Dorf verstecken mußte. Es konnte aber nicht das Dorf sein, das Mrs. Montoya ihr als Zielort angegeben hatte — Skendgate lag südlich der Landstraße.

Es sei denn, sie war in einer völlig falschen Gegend, und das war nicht der Fall. Dort im Osten war eindeutig Oxford zu sehen, und südlich davon zog die Themse ihre Schleifen dem bräunlichgrauen Dunst entgegen, der London sein mußte, aber nichts davon verriet ihr, wo das Dorf war. Es mochte zwischen ihrem Standort und der Landstraße sein, verborgen hinter Bäumen und Hecken, oder es lag in der anderen Richtung, an einem anderen Nebenweg. Die Zeit reichte nicht, um sich zu vergewissern.

Es wurde rasch dunkler. In einer halben Stunde würden vielleicht da und dort Lichter glimmen, an denen sie sich orientieren konnte, aber sie durfte nicht länger warten. Die rosa Tönung am Westhimmel war bereits blaugrau gedunkelt, und über ihr war der Himmel beinahe purpurn. Und es wurde kälter. Ein unangenehmer Wind kam auf und schlug ihr die Falten des Umhanges um die Beine, und sie zog ihn enger um sich. Sie hatte kein Verlangen, eine Dezembernacht mit quälenden Kopfschmerzen und womöglich einem Wolfsrudel im Wald zu verbringen, aber sie mochte ebensowenig draußen auf der Landstraße liegen und warten, daß irgendwer vorbeikäme.

Sie konnte sich auf den Weg nach Oxford machen, doch war nicht daran zu denken, daß sie mehr als einen Bruchteil der Strecke hinter sich bringen konnte, bevor es Nacht wurde. Wenn sie nur ein Dorf sehen könnte, irgendein Dorf, dann würde sie die Nacht dort verbringen und sich später auf die Suche nach Mrs. Montoyas Skendgate machen. Sie blickte die Straße hinunter, die sie heraufgestiegen war, versuchte irgendwo Lichtschein oder den Rauch eines Herdfeuers oder irgendein anderes Zeichen menschlicher Siedlung zu erspähen, aber es gab nichts. Sie fröstelte, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen.

Und die Glocken begannen zu läuten. Zuerst die Glocke vom Carfax-Turm: sie klang wie immer, obwohl sie seit 1300 mindestens dreimal neu gegossen sein mußte, und dann, bevor die ersten Schläge verhallt waren, stimmten die anderen ein, als hätten sie auf das Signal von Oxford gewartet. Natürlich war es das Vesperläuten, das die Menschen von den Feldern hereinrief, sie aufforderte, die Arbeit einzustellen und zum Gebet zu kommen.

Und die Glocken verrieten ihr, wo die Dörfer waren. Sie läuteten alle gleichzeitig, dennoch konnte Kivrin jede einzelne hören, weil die verschiedenen Entfernungen und Richtungen eine Unterscheidung ermöglichten. Manche waren so fern, daß nur ein schwaches Echo bis zu ihr drang. Aber dort, hinter dieser Baumreihe, und dort, und dort. Das Dorf, zu dem die Kühe gingen, lag hinter dieser niedrigen Bodenwelle zwischen Bäumen versteckt. Die Kühe beschleunigten beim Klang der Glocken ihren gemächlichen Schritt.

Zwei Dörfer lagen praktisch vor ihrer Nase — eines auf der anderen Seite der Landstraße, das andere mehrere Felder entfernt am Ufer eines kleinen, von Bäumen gesäumten Bachlaufes. Skendgate, Mrs. Montoyas Dorf, mußte dort liegen, wo sie es zuerst vermutet hatte, in der Richtung, aus der sie gekommen war, durch die Talsenke und über den jenseitigen niedrigen Höhenzug, wahrscheinlich mehr als zwei Meilen entfernt.

Kivrin faltete die Hände. »Eben habe ich herausgefunden, wo das Dorf ist«, sagte sie und fragte sich, ob die Glockenklänge in die Aufzeichnung mit eingehen würden. »Es liegt an diesem Nebenweg. Ich werde zum Fuhrwerk gehen und es auf die Straße herausziehen, und dann werde ich ins Dorf wanken, bevor es dunkel wird, und vor jemandes Haustür zusammenbrechen.«

Eine der Glocken war weit im Südwesten und tönte so schwach, daß Kivrin sie kaum hören konnte. Sie überlegte, ob es die Glocke sei, die sie früher gehört hatte, und warum sie geläutet hatte. Vielleicht hatte Dunworthy recht, und es war ein Begräbnis. »Es geht mir gut, Mr. Dunworthy«, sagte sie in ihre Hände. »Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich bin seit mehr als einer Stunde hier, und soweit ist nichts Schlimmes geschehen.«

Die Glockentöne verklangen nach und nach, die Glocke aus Oxford als erste, obwohl ihr tiefer Klang noch lange danach in der Luft zu hängen schien. Der Himmel verfärbte sich violettblau, und im Südosten kam ein Stern heraus. Kivrins Hände waren noch immer im Gebet gefaltet. »Es ist schön hier.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000249–000614)

Nun, Mr. Dunworthy, ich bin hier und scheine mehr oder weniger am rechten Ort zu sein. Ich bin nicht auf der Landstraße von Oxford nach Bath abgesetzt worden, sondern ungefähr fünfhundert Schritte südlich von ihr auf einer Seitenstraße. Ich kann Oxford sehen. Es liegt nach meiner Schätzung zehn Meilen entfernt.

Ich weiß nicht genau, wann ich durchkam, aber wenn es wie geplant Mittag war, dann hat es ungefähr vier Stunden Verschiebung gegeben. Die Jahreszeit ist richtig. Die Bäume sind größtenteils entlaubt, aber die Blätter am Boden sind noch mehr oder weniger unversehrt, und erst ein Drittel der abgeernteten Felder ist umgepflügt. Ich werde nicht imstande sein, meinen genauen zeitlichen Standort zu nennen, bis ich das Dorf erreiche und jemanden fragen kann, welchen Tag wir haben.

Sie wissen wahrscheinlich besser als ich, wo und wann ich hier angekommen bin, jedenfalls werden Sie es wissen, sobald Sie die Fixierung haben.

Aber ich weiß, daß ich im richtigen Jahrhundert bin. Von der Anhöhe, auf der ich stehe, kann ich Felder sehen. Es sind die klassischen mittelalterlichen Streifenfelder mit den abgerundeten Enden, wo die Ochsen umdrehen. Die Weiden sind mit Hecken eingegrenzt, und ungefähr ein Drittel davon sind sächsische Baumhecken, während der Rest normannische Weißdornhecken sind. Die Forschung gab das Verhältnis für 1300 mit 25 zu 75 Prozent an, aber diese Zahlen wurden für Suffolk ermittelt, das weiter östlich liegt.

Im Süden und Westen ist Wald — Wychwood? -, ausschließlich Laubwald, soweit ich es beurteilen kann. Im Osten ist die Themse zu sehen. Ich kann beinahe London ausmachen, obwohl ich weiß, daß es unmöglich ist. Um 1320 muß es mehr als fünfzig Meilen entfernt gewesen sein, nicht wahr, statt der zwanzig Meilen in unserer Zeit. Ich glaube trotzdem, daß ich es sehen kann. Die Stadtmauern von Oxford und der Carfax-Turm sind deutlich zu erkennen.

Eben habe ich herausgefunden, wo das Dorf ist. Es liegt an diesem Nebenweg. Ich werde zum Fuhrwerk gehen und es auf die Straße herausziehen, und dann werde ich ins Dorf wanken, bevor es dunkel wird, und vor jemandes Haustür zusammenbrechen. Es geht mir gut, Mr. Dunworthy. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich bin seit mehr als einer Stunde hier, und soweit ist nichts Schlimmes geschehen.

Es ist schön hier. Ich habe nicht das Gefühl, siebenhundert Jahre entfernt von Ihnen zu sein. Oxford ist dort drüben, zu Fuß erreichbar, und ich bringe die Vorstellung nicht aus dem Kopf, daß ich Sie alle im Laboratorium von Brasenose antreffen würde, wo Sie auf die Fixierung warten, wenn ich diesen Hügel hinunter und durch die Ebene in die Stadt gehen würde: Badri stirnrunzelnd vor dem Bildschirm, Mrs. Montoya voll Ungeduld, zu ihrer Ausgrabung zurückzukehren, und Sie, Mr. Dunworthy, besorgt gluckend wie eine Henne. Ich fühle mich überhaupt nicht von Ihnen getrennt, oder auch nur sehr weit entfernt.

4

Badris Hand sank von seiner Stirn, bevor er vornüber fiel, und sein Unterarm schlug auf die Konsole und verhinderte, daß er mit dem Gesicht darauf prallte. Dunworthy blickte erschrocken auf den Bildschirm, in Sorge, er könne dabei versehentlich Tasten gedrückt und die ganze Darstellung durcheinandergebracht haben. Badri rutschte vom Stuhl und blieb wie leblos am Boden liegen.

Latimer und Gilchrist machten ebensowenig wie Dunworthy einen Versuch, ihn aufzufangen. Latimer schien nicht einmal zu merken, daß etwas geschehen war. Mary sprang sofort hinzu, aber sie stand hinter den anderen und konnte Badri nur noch am Ärmel erwischen. Im nächsten Augenblick war sie neben ihm auf den Knien, streckte ihn auf dem Rücken aus und zog sich einen Kopfhörer über die Ohren.

Sie suchte in ihrer Tasche, brachte ein Aufnahmegerät zum Vorschein und drückte volle fünf Sekunden auf den Rufknopf. »Badri?« sagte sie mit erhobener Stimme, und jetzt erst merkte Dunworthy, wie totenstill es im Raum war. Gilchrist hatte sich nicht von der Stelle gerührt, seit Badri gefallen war. Er sah wütend aus. Auf dieses unvorhergesehene Problem war er offensichtlich genauso wenig gefaßt wie alle anderen.

Mary ließ den Knopf los und schüttelte behutsam Badris Schulter. Es gab keine Reaktion. Sie zog seinen Kopf zurück und beugte sich über sein Gesicht, das Ohr an seinem offenen Mund, und drehte den Kopf so, daß sie seine Brust sehen konnte. Er hatte nicht aufgehört zu atmen. Dunworthy konnte aus zwei Metern Distanz sehen, daß seine Brust sich hob und senkte, und auch Mary konnte es nicht entgehen. Sie hob den Kopf, drückte auf das Aufnahmegerät, legte zwei Finger an seine Halsschlagader und hob das Aufnahmegerät zum Mund.

»Wir sind in der historischen Fakultät von Brasenose«, sagte sie. »Fünf-zwei. Kollaps. Bewußtlosigkeit. Kein Hinweis auf Schlaganfall.« Sie nahm die Hand vom Aufnahmeknopf und zog Badris Augenlider hoch.

»Was ist los?« fragte Gilchrist. »Was ist geschehen?«

Sie blickte gereizt zu ihm auf. »Er ist ohnmächtig geworden«, sagte sie und wandte sich zu Dunworthy. »Geben Sie mir mein Handwerkszeug«, sagte sie zu Dunworthy. »In der Einkaufstasche.«

Sie hatte die Tasche umgestoßen, als sie das Aufnahmegerät herausgezogen hatte. Dunworthy fummelte zwischen den Schachteln und Päckchen, fand einen harten Plastikkasten, der die richtige Größe zu haben schien, und öffnete ihn. Er war voll von Knallbonbons in roter und grüner Alufolie. Er stopfte den Kasten wieder in die Tasche. »Machen Sie schon«, sagte Mary, während sie Badris Arbeitskittel aufknöpfte. »Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Ich kann nichts finden«, begann Dunworthy.

Sie nahm ihm die Tasche weg und schüttelte sie aus. Die Knallbonbons rollten über den Boden, die Schachtel mit dem Schal ging auf, und der Schal fiel heraus. Mary nahm ihre Handtasche aus dem Durcheinander, zog den Reißverschluß auf und nahm eine große flache Ledermappe heraus. Dieser entnahm sie einen Blutdruckmesser, den sie um Badris Arm schnallte; dann prüfte sie die Ablesungen. Die wellenförmige Wiedergabe sagte Dunworthy nichts, und Marys Reaktion war nicht zu entnehmen, was sie davon hielt. Badri hatte nicht aufgehört zu atmen, sein Herz hatte nicht aufgehört zu schlagen, und er blutete nicht. Vielleicht hatte er nur einen Schwächeanfall erlitten. Andererseits fiel man nicht einfach um, außer in Büchern oder im Fernsehen. Er mußte krank oder verletzt sein. Als er ins Wirtshaus gekommen war, hatte er einen sonderbar geistesabwesenden Eindruck gemacht, als ob er unter einem Schock stünde. Konnte es sein, daß er von einem Rad angefahren worden war, wie es Dunworthy beinahe passiert war, und nicht gleich bemerkt hatte, daß er verletzt war? Das würde sein geistesabwesendes Verhalten bei gleichzeitiger Unruhe erklären.

Aber nicht den Umstand, daß er ohne Mantel losgegangen war, daß er gesagt hatte, Dunworthy müsse kommen und es sei etwas nicht in Ordnung.

Dunworthy wandte sich um und blickte auf den Bildschirm der Konsole. Er zeigte noch immer die gleichen Zahlen und Zeichen. Ihre Bedeutung blieb Dunworthy verschlossen, aber es sah wie eine normale Fixierung aus, und Badri hatte gesagt, Kivrin sei gut durchgekommen. Aber etwas mußte passiert sein.

Mary klopfte Badris Arme, die Seiten seines Oberkörpers und die Beine mit flachen Händen ab. Badris Augenlider zuckten, blieben aber geschlossen.

»Wissen Sie, ob Badri gesundheitliche Probleme hatte?«

»Er ist Mr. Dunworthys Techniker«, sagte Gilchrist. »Von Balliol. Er war uns nur ausgeliehen«, fügte er hinzu, und es hörte sich an, als sei Dunworthy irgendwie für dieses Ereignis verantwortlich, habe womöglich den Kollaps des Technikers arrangiert, um das Projekt zu sabotieren.

»Mir ist von gesundheitlichen Problemen nichts bekannt«, sagte Dunworthy. »Er wird an den üblichen Vorsorgeuntersuchungen teilgenommen haben, nehme ich an.«

Mary machte ein unzufriedenes Gesicht. Sie legte ihr Stethoskop an und lauschte eine lange Minute seinen Herztönen, überprüfte die Blutdruckmessung, nahm wieder seinen Puls. »Und Sie wissen nichts von einer Krankheitsgeschichte? Epilepsie? Diabetes?«

Dunworthy verneinte.

»Hat er jemals Drogen oder illegale Endorphine genommen?«

Sie wartete seine Antwort nicht ab und drückte wieder auf den Knopf ihres Aufnahmegerätes. »Ahrens hier. Puls 110. Blutdruck 100 zu 60. Ich mache eine Blutuntersuchung.« Sie riß ein Päckchen auf, wischte den Arm mit Desinfektionslösung, suchte eine Kanüle heraus.

Drogen oder illegale Endorphine. Das würde freilich sein aufgeregtes Benehmen erklären, seine zusammenhanglose Sprache. Aber wenn er Drogen nahm, hätte es bei den regelmäßigen Untersuchungen auffallen müssen. Außerdem hätte er als Drogenabhänger nicht die komplizierten Berechnungen für das Netz machen können. Mary wischte noch einmal den Arm und schob die Kanüle unter die Haut. Badris Augenlider zuckten, öffneten sich.

»Badri«, sagte Mary. »Können Sie mich hören?« Sie griff in die Manteltasche und nahm eine hellrote Kapsel heraus. »Ich muß ihre Temperatur messen«, sagte sie und hielt ihm die Kapsel an die Lippen, aber er gab nicht zu erkennen, daß er sie verstanden hatte.

Sie steckte die Kapsel wieder ein und suchte in ihrer Ledertasche. »Sagen Sie mir, wenn die Ablesungen von dieser Kanüle kommen«, sagte sie zu Dunworthy, während sie alles aus der Tasche nahm und dann wieder hineintat. Sie legte sie weg und durchsuchte ihre Handtasche. »Ich dachte, ich hätte ein Thermometer zum Ankleben bei mir.«

»Die Ablesungen sind da«, sagte Dunworthy.

Mary nahm das Aufnahmegerät und gab die Zahlen ein.

Badri öffnete die Augen. »Sie müssen…«, sagte er und schloß sie wieder. »So kalt«, murmelte er.

Dunworthy zog seinen Mantel aus, aber dieser war zu naß, um ihn als Decke zu benutzen. Hilflos hielt er im Raum nach etwas zum Zudecken Ausschau. Badris Jacke war in das Ablagefach unter der Konsole gestopft. Dunworthy legte sie seitwärts über ihn.

»Kalt«, murmelte Badri. Er zitterte sichtbar.

Mary, noch mit der Eingabe von Daten beschäftigt, blickte scharf auf. »Was hat er gesagt?«

Badri murmelte wieder etwas und sagte dann mit klarer Stimme: »Kopfschmerzen.«

»Kopfschmerzen«, sagte Mary, »fühlen Sie Übelkeit?«

Er bewegte den Kopf ein wenig hin und her, um zu verneinen. »Wann war…«, sagte er und umfaßte ihren Arm.

Sie legte ihre Hand stirnrunzelnd auf seine und die andere an seine Stirn.

»Er hat Fieber«, stellte sie fest.

»Etwas ist nicht in Ordnung«, sagte Badri und schloß die Augen. Seine Hand ließ ihren Arm los und fiel zurück auf den Boden.

Mary sah auf die Ablesungen und befühlte wieder seine Stirn. »Wo ist dieses verdammte Hautthermometer?« sagte sie und begann wieder in ihrer Tasche zu suchen.

Das Aufnahmegerät piepte. »Sie sind hier«, sagte sie. »Vielleicht kann jemand hinuntergehen und ihnen den Weg zeigen.« Sie tätschelte Badris Brust. »Liegen Sie schön still.«

Sie waren bereits an der Tür, als Dunworthy sie öffnete. Zwei Ärzte aus dem Krankenhaus drängten sich an ihm vorbei, beladen mit Taschen wie Kabinenkoffer.

»Sofortige Einweisung«, sagte Mary, bevor sie ihre Koffer öffnen konnten. Sie stand auf. »Lassen Sie die Bahre bringen«, sagte sie zu der Ärztin. »Und geben Sie mir ein Hautthermometer und einen Succosetropf.«

»Ich nahm an, das Balliol-Personal wird auf Drogen und Endorphine überprüft«, sagte Gilchrist.

Einer der Ärzte drängte sich mit dem Tropf in der Hand an ihm vorbei.

»Im Brasenose würden wir niemals zulassen…« Er mußte aus dem Weg gehen, als die Sanitäter mit der Bahre kamen.

»Ist das ein Drogenfall?« fragte der Arzt mit einem Blick zu Gilchrist.

»Nein«, sagte Mary. »Haben Sie das Hautthermometer?«

»Wir haben keines bei uns«, sagte er. Er verband den Zuleitungsschlauch mit der Kanüle. »Wir werden warten müssen, bis wir ihn in der Station haben.« Er hielt den Plastikbeutel mit der Lösung eine Minute in die Höhe, bis der Flüssigkeitsdruck den kleinen Pumpenmotor in Gang setzte. Dann klebte er den Beutel Badri auf die Brust.

Die Ärztin nahm Badris Jacke weg und zog eine graue Decke über ihn. »Kalt«, sagte Badri. »Sie müssen…«

»Was muß ich tun?« sagte Dunworthy.

»Die Fixierung…«

»Eins — und zwei«, sagten die Sanitäter wie aus einem Munde und hoben Badri mit einem Schwung auf die Bahre.

»James, Mr. Gilchrist, ich muß Sie bitten, mit mir in die Klinik zu kommen, um sein Aufnahmeformular auszufüllen«, sagte Mary. »Und ich werde seine Krankengeschichte brauchen, falls eine vorhanden ist. Einer von Ihnen kann im Krankenwagen mitfahren und der andere folgen.«

Dunworthy wartete nicht, um mit Gilchrist zu streiten, wer von ihnen im Krankenwagen mitfahren sollte. Er folgte den Krankenträgern mit der Bahre, stieg ein und setzte sich zu Badri, der angestrengt atmete, als ob die Beförderung auf der Bahre zuviel Anstrengung für ihn gewesen wäre.

»Badri«, sagte er mit gedämpfter Stimme, aber in drängenden Ton, »Sie sagten, etwas sei nicht in Ordnung. Meinten Sie, mit der Fixierung sei etwas schiefgegangen?«

»Ich bekam die Fixierung«, sagte Badri mit zusammengezogenen Brauen.

Der Arzt, bisher damit beschäftigt, Badri an eine einschüchternde Reihe von Anzeigeinstrumenten anzuschließen, blickte irritiert zu Dunworthy.

»Hat der Lehrling die Koordinaten falsch berechnet? Es ist wichtig, Badri. Hat er sich bei den Entfernungskoordinaten geirrt?«

Mary kletterte in den Krankenwagen.

»Als stellvertretender Dekan der Fakultät sollte ich derjenige sein, der den Patienten im Krankenwagen begleitet«, hörte Dunworthy Gilchrist sagen.

»Sie erreichen uns in der Notaufnahme der Klinik«, sagte Mary und zog die Hecktüren zu. »Haben Sie schon die Temperatur gemessen?« fragte sie den Arzt.

»Ja. Er hat 39,5. Blutdruck 90 zu 55, Puls 115.«

»Gab es einen Irrtum in den Koordinaten?« fragte Dunworthy, über Badri gebeugt.

»Alles fertig hinten?« fragte der Fahrer über das Mikrofon.

»Ja«, sagte Mary. »Code eins.«

»Ist Puhalski in den Standortkoordinaten der Ferndistanz ein Irrtum unterlaufen?«

»Nein«, sagte Badri. Plötzlich hob er die Hand und packte Dunworthy beim Mantelaufschlag.

»Ist es die Verschiebung?«

»Ich muß…«, sagte Badri. »So in Sorge.«

Die Sirenen schmetterten los und übertönten den Rest seines Gemurmels. »Sie müssen was?« rief Dunworthy durch das ohrenbetäubende Tatü, Tatü.

»Etwas verkehrt«, sagte Badri und sank wieder in Bewußtlosigkeit.

Etwas verkehrt. Es mußte die Verschiebung sein. Außer den Koordinaten war sie das einzige, was bei einer Absetzoperation schiefgehen konnte, ohne diese selbst zu unterbrechen, und er hatte gesagt, die Standortkoordinaten seien richtig gewesen. Aber wieviel Verschiebung? Badri hatte ihm gesagt, es könnten bis zu zwei Wochen sein, und er wäre nicht im strömenden Regen ohne seinen Mantel bis zum Wirtshaus gelaufen, wenn es nicht viel mehr gewesen wäre. Wieviel mehr? Ein Monat? Drei Monate? Andererseits hatte er Gilchrist gesagt, daß die vorläufigen Ergebnisse eine minimale Verschiebung gezeigt hätten.

Mary schob ihn beiseite und befühlte wieder Badris Stirn. »Geben Sie Natriumthiosalycilat in den Tropf«, sagte sie. »James, gehen Sie aus dem Weg.«

Dunworthy schob sich an ihr vorbei und setzte sich auf die Bank beim rückwärtigen Einstieg.

Mary nahm wieder ihr Aufnahmegerät und drückte auf den Sendeknopf. »Ahrens hier. Bereiten Sie eine Serotypie vor.«

»Pyelitis?« mutmaßte der Arzt beim Ablesen der Instrumente. »Blutdruck 96 zu 60, Puls 120, Temperatur 39,5.«

»Kann ich mir nicht denken«, sagte Mary. »Der Patient scheint keine Bauchschmerzen zu haben, aber bei dieser Temperatur ist es offensichtlich eine Infektion.«

Plötzlich gingen die Sirenen in der Frequenz herunter und verstummten. Der Arzt zog die Anschlüsse aus den Wandinstrumenten.

Mary tätschelte dem Kranken die Brust. »Wir sind da, Badri. Bald werden Sie wieder auf den Beinen sein.«

Er gab nicht zu erkennen, daß er sie gehört hatte. Mary zog ihm die Decke bis zum Kinn und legte die Kabel darauf. Der Fahrer öffnete die Hecktüren, und zusammen mit seinem Kollegen zogen sie die Bahre heraus. »Ich möchte eine vollständige Blutuntersuchung«, sagte Mary beim Aussteigen zum Arzt. »Blutbild, chemische, serologische und bakteriologische Blutuntersuchung.« Dunworthy kletterte hinter ihr hinaus und folgte ihr in die Notaufnahme.

»Ich brauche eine Krankengeschichte«, sagte sie bei der Anmeldung. »Von Badri — wie ist sein Nachname, James?«

»Chaudhuri«, sagte er.

»Krankenversicherungsnummer?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Er ist am Balliol College angestellt.«

»Würden Sie so gut sein und den Namen buchstabieren?«

»C-H-A-U-«, sagte er. Mary verschwand in der Abteilung. Er wollte ihr nach, hatte aber kein Glück.

»Tut mir leid, Sir«, sagte die Schwester im Empfang, sprang von ihrer Konsole auf und versperrte ihm den Weg. »Bitte bleiben Sie sitzen…«

»Ich muß mit dem Patienten sprechen, den Sie gerade aufgenommen haben«, sagte er.

»Sind Sie ein Angehöriger?«

»Nein«, sagte er. »Er ist bei mir beschäftigt. Es ist sehr wichtig.«

»Er wird gerade untersucht«, sagte sie. »Ich werde um Erlaubnis bitten, daß Sie ihn sehen können, sobald die Untersuchung abgeschlossen ist.« Sie setzte sich vorsichtig an ihre Konsole, blieb aber sprungbereit, um jeden Durchbruchsversuch seinerseits zu vereiteln.

Dunworthy dachte daran, sich gewaltsam Zugang zur Untersuchung zu verschaffen, wollte aber kein Hausverbot riskieren, und außerdem war Badri ohnehin nicht in der Lage, Fragen zu beantworten. Er war bewußtlos gewesen, als sie ihn aus dem Krankenwagen getragen hatten. Bewußtlos und mit 39,5 Fieber. Etwas war verkehrt.

Die Schwester blickte mißtrauisch zu ihm auf. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, diesen Namen noch einmal zu buchstabieren?«

Er buchstabierte Chaudhuri für sie, dann fragte er, wo er telefonieren könne.

»Dort den Korridor entlang«, sagte sie. »Alter?«

»Weiß ich nicht«, sagte er. »Vielleicht fünfundzwanzig? Er arbeitet seit vier Jahren im Balliol College.«

Er beantwortete den Rest ihrer Fragen so gut er konnte, dann spähte er zur Tür hinaus, um zu sehen, ob Gilchrist gekommen war, und ging durch den Korridor zu den Telefonen und rief Brasenose an. Er bekam den Pförtner, der auf seinem Tresen einen künstlichen Weihnachtsbaum schmückte.

»Ich muß Puhalski sprechen«, sagte Dunworthy.

»Der ist nicht hier«, sagte der Pförtner. Mit der freien Hand drapierte er eine silberne Schmuckgirlande über die Zweige.

»Bitte sagen Sie ihm, sobald er zurückkommt, daß ich dringend mit ihm sprechen muß. Es ist sehr wichtig. Er muß eine Fixierung für mich ablesen. Unter folgender Nummer zu erreichen…«

Dunworthy wartete pointiert, bis der Pförtner die Girlande angebracht hatte und die Nummer aufschrieb, was er endlich auf den Deckel einer Schachtel mit Weihnachtsschmuck tat. »Wenn er mich unter dieser Nummer nicht erreichen kann, soll er die Notaufnahme der Universitätsklinik anrufen. Wann wird er zurückkommen?«

»Das ist schwer zu sagen«, sagte der Pförtner. Er wickelte einen Engel aus. »Manche kommen ein paar Tage früher zurück, aber die meisten nehmen die Weihnachtsferien bis zum letzten Tag.«

»Wie meinen Sie das? Ist er nicht im College?«

»Er war. Er wollte das Netz für den Fachbereich Mittelalter übernehmen, aber als er hörte, daß er nicht gebraucht wurde, fuhr er nach Haus.«

»Dann brauche ich seine Privatanschrift und die Telefonnummer.«

»Es ist irgendwo in Wales, glaube ich. Da müßten Sie mit dem Sekretariat sprechen, aber die Sekretärin ist jetzt auch nicht im Haus.«

»Wann wird sie zurück sein?«

»Kann ich nicht sagen, Sir. Sie fuhr nach London, Weihnachtseinkäufe machen.«

Dunworthy gab ihm eine weitere Botschaft, während der Pförtner die Flügel des Engels gerade richtete, dann legte er auf und überlegte, ob es in Oxford noch andere Techniker gab, die in Frage kamen. Offensichtlich nicht, sonst hätte Gilchrist nicht auf einen Lehrling zurückgegriffen.

Er rief trotzdem beim Magdalen College an, bekam aber keine Antwort. Er hängte ein, überlegte eine Minute lang und rief dann Balliol an. Auch dort meldete sich niemand. Finch mußte noch unterwegs sein und den amerikanischen Schellenläutern die Glocken zeigen. Er sah auf die Armbanduhr. Es war erst halb drei. Vielleicht waren sie noch beim Mittagessen.

Er rief die zweite Nummer vom Balliol College an, aber auch das war vergebens. Er kehrte zurück zum Wartebereich der Notaufnahme, wo er Gilchrist erwartete, aber nicht antraf. Dafür waren die beiden Arzte da und sprachen mit einer Krankenschwester. Wahrscheinlich war Gilchrist ins Brasenose zurückgegangen, um seine nächste Absetzoperation zu planen, oder die danach. Vielleicht würde er Kivrin nächstesmal geradewegs in die Zeit des Schwarzen Todes schicken, um direkte Beobachtungen zu machen.

»Da sind Sie ja«, sagte die Krankenschwester. »Ich dachte schon, Sie seien gegangen. Wenn Sie bitte mit mir kommen wollen.«

Dunworthy hatte gedacht, sie meine nur ihn, aber die Ärzte folgten ihr auch hinaus und durch einen Korridor.

»Da wären wir«, sagte sie und hielt ihnen eine Tür auf. Die Ärzte gingen durch. »Auf dem Rolltisch ist Tee, und ein WC ist gleich hinter der Tür dort.«

»Wann kann ich Badri Chaudhuri sehen?« fragte Dunworthy, eine Hand an der Tür, damit sie sie nicht schließen konnte.

»Dr. Ahrens wird gleich zu Ihnen kommen«, sagte sie und schloß die Tür mit energischem Druck.

Die Ärztin hatte sich in einen Sessel fallen lassen, die Hände in den Taschen des Kittels. Ihr Kollege war beim Rollwagen und schloß den Elektrotopf an. Sie hatten der Krankenschwester unterwegs durch den Korridor keine Fragen gestellt, also war dies vielleicht nur eine willkommene Ruhepause für sie, denn Dunworthy konnte sich nicht vorstellen, warum sie warten sollten, Badri zu sehen.

Dieser Raum war in einem anderen Flügel als die Notaufnahme. Es gab die gleichen rückgratzerstörenden Sessel wie dort, die gleichen Tische mit ausgelegten Informationsschriften, die gleichen Girlanden aus farbiger Metallfolie, befestigt an künstlichen Stechpalmensträußen. Es gab jedoch keine Fenster, nicht einmal in der Tür. Es war ein isolierter, abgesonderter Raum, wo die Leute auf schlechte Nachrichten warteten.

Dunworthy setzte sich nieder, plötzlich müde. Schlechte Nachrichten. Eine Infektion. Blutdruck 96, Puls 120, Temperatur 39,5. Der einzige andere Techniker in Wales, und die Sekretärin bei Weihnachtseinkäufen in London. Und Kivrin irgendwo im Jahre 1320, Tage oder sogar Wochen entfernt vom geplanten Absetztermin. Oder Monate.

Der Arzt verrührte Milch und Zucker in einer Tasse und wartete auf kochendes Wasser. Seine Kollegin hatte sich zurückgelehnt und schien zu schlafen.

Dunworthy starrte sie an und dachte über die Verschiebung nach. Badri hatte gesagt, die vorläufigen Berechnungen deuteten auf eine minimale Verschiebung hin, aber sie waren eben nur vorläufig. Und Badri hatte ihm gesagt, er halte zwei Wochen Verschiebung für wahrscheinlich, und das leuchtete ein.

Je weiter ein Historiker in die Vergangenheit geschickt wurde, desto größer war die durchschnittliche Verschiebung. Operationen im 20. Jahrhundert hatten gewöhnlich nur ein paar Minuten, solche im 18. Jahrhundert ein paar Stunden. Das Magdalen College, das noch immer unbemannte Erprobungen in der Renaissance durchführte, verzeichnete Verschiebungen von drei bis sechs Tagen.

Aber das waren nur Durchschnittswerte. Die Verschiebung variierte von Person zu Person, und es war unmöglich, für eine gegebene Absetzoperation Voraussagen zu machen. Im 19. Jahrhundert hatte es einmal eine Verschiebung von achtundvierzig Tagen gegeben, während es in unbewohnten Gegenden oft überhaupt keine Verschiebung gab.

Und in vielen Fällen schien die Verschiebung willkürlich, unberechenbar. Als sie in den zwanziger Jahren die ersten Absetzoperationen im 20. Jahrhundert vorgenommen hatten, war er in den leeren Innenhof des Balliol College gegangen und hatte sich zum 14. September 1956 um zwei Uhr früh schicken lassen. Die Verschiebung hatte nur drei Minuten betragen. Aber als sie ihn um zwei Uhr acht wieder durchschickten, hatte die Verschiebung annähernd zwei Stunden betragen, und er war beinahe vor einem Studenten durchgekommen, der nach auswärts verbrachter Nacht zum Schlafsaal geschlichen war.

Kivrin mochte sechs Monate vom vorgesehenen Zeitpunkt entfernt sein, ohne eine Vorstellung, wann die Rückholung stattfinden sollte. Und Badri war zum Pub gelaufen, um ihm zu sagen, er müsse sie herausholen.

Mary kam herein, noch im Mantel. Dunworthy stand auf. »Was ist mit Badri?« Er merkte, daß er die Antwort fürchtete.

»Er ist vorerst in der Unfallmedizin«, sagte sie. »Wir brauchen seine Krankenversicherungsnummer und können seine Unterlagen in den Personalakten von Balliol nicht finden.«

Ihr graues Haar war wieder in Unordnung, aber sonst schien sie so geschäftsmäßig wie sie es zu sein pflegte, wenn sie mit Dunworthy über seine Studenten diskutierte.

»Er ist kein Mitglied des College«, sagte Dunworthy mit einiger Erleichterung. »Techniker werden den einzelnen Colleges zugeordnet, sind aber offiziell Angestellte der Universität.«

»Dann müßten seine Unterlagen in der Registratur sein. Gut. Wissen Sie, ob er im vergangenen Monat England verlassen hat?«

»Vor zwei Wochen war er in Ungarn, wo er eine Absetzoperation ins 19. Jahrhundert durchführte. Seither ist er in England gewesen.«

»Hat er Besuche von Verwandten aus Pakistan bekommen?«

»Er hat dort keine. Lebt schon in der dritten Generation in England. Haben Sie herausbekommen, was ihm fehlt?«

Sie hörte nicht zu. »Wo sind Gilchrist und Montoya?« fragte sie.

»Sie sagten Gilchrist, er solle uns hier treffen, aber er war nicht in der Notaufnahme, solange ich dort wartete.«

»Und Montoya?«

»Sie ging, sobald die Absetzoperation beendet war«, sagte Dunworthy.

»Haben Sie eine Ahnung, wohin sie gegangen sein könnte?«

Nicht mehr Ahnung als du, dachte Dunworthy. Du sahst sie auch gehen.

»Ich nehme an, sie fuhr wieder nach Witney zu ihrer Ausgrabung. Dort verbringt sie den größten Teil ihrer Zeit.«

»Ihre Ausgrabung?« sagte Mary, als hätte sie nie davon gehört.

Was ist los? dachte er. Wo fehlt es? »In Witney«, sagte er. »Sie gräbt ein mittelalterliches Dorf aus. Ein vom National Trust finanziertes Unternehmen.«

»Witney?« sagte sie und machte ein unglückliches Gesicht. »Sie wird sofort herkommen müssen.«

»Soll ich versuchen, sie telefonisch zu erreichen?« sagte Dunworthy, aber Mary war bereits zu dem Arzt hinübergegangen, der beim Teewagen stand.

»Ich brauche Sie, daß Sie mir jemanden aus Witney holen«, sagte sie zu ihm. Er stellte Tasse und Untertasse ab und fuhr in seine Jacke. »Von der National Trust-Ausgrabung. Lupe Montoya.« Sie ging mit ihm zur Tür hinaus.

Er hatte erwartet, daß sie gleich darauf zurückkommen würde, und als sie ausblieb, ging er ihr nach. Sie war nicht im Korridor. Auch der Arzt war nirgendwo zu sehen, aber er stieß auf die Schwester der Unfallstation.

»Tut mir leid, Sir«, sagte sie und vertrat ihm den Weg, wie ihre Kollegin in der Notaufnahme es getan hatte. »Dr. Ahrens sagte, Sie möchten hier auf sie warten.«

»Ich will nicht fort, aber ich muß meine Sekretärin anrufen.«

»Ich hole Ihnen gern ein Telefon, Sir«, sagte sie. Sie wandte sich um und blickte durch den Korridor.

Gilchrist und Latimer kamen. »… hoffe, Miss Engle hat die Gelegenheit, einen Todesfall zu beobachten«, sagte Gilchrist. »Die Einstellung zum Tod war im Mittelalter eine ganz andere als heute. Der Tod war ein gewohnter und akzeptierter Teil des Lebens, und die Menschen empfanden Verlust und Kummer bei weitem nicht so tief.«

Die Krankenschwester zupfte an seinem Ärmel. »Mr. Dunworthy, wenn Sie drinnen warten wollen, bringe ich Ihnen ein Telefon.«

Sie ging Gilchrist und Latimer entgegen. »Bitte kommen Sie mit mir«, sagte sie und führte sie in den Warteraum.

»Ich bin stellvertretender Dekan der Historischen Fakultät«, sagte Gilchrist mit einem unfreundlichen Blick zu Dunworthy. »Badri Chaudhuri ist meine Verantwortlichkeit.«

»Ja, Sir«, sagte die Schwester und ging zur Tür. »Dr. Ahrens wird gleich zu Ihnen kommen.«

Latimer hängte seinen Schirm über einen der Sessel und stellte Marys Einkaufstasche daneben. Anscheinend hatte er alle Weihnachtspakete aufgesammelt, die Mary auf den Boden entleert hatte. Dunworthy sah die Schachtel mit dem Schal und eines der Knallbonbons herausschauen. »Wir konnten kein Taxi finden«, schnaufelte er und ließ sich in den nächstbesten Sessel fallen. »Wir mußten die U-Bahn nehmen.«

»Wo ist der Technikerlehrling, den Sie für die Absetzoperation verwenden wollten — Puhalski heißt er, glaube ich?« sagte Dunworthy. »Ich muß mit ihm sprechen.«

»Worüber, wenn ich fragen darf? Oder haben Sie den Fachbereich Mittelalter in meiner Abwesenheit gänzlich übernommen?«

»Es ist wichtig, daß jemand die Fixierung liest und sich vergewissert, daß sie stimmt.«

»Sie würden sich freuen, wenn etwas schiefgehen sollte, nicht wahr? Sie haben von Anfang an versucht, dieses Projekt zu vereiteln.«

»Schiefgehen sollte?« sagte Dunworthy ungläubig. »Es ist bereits schiefgegangen. Badri liegt bewußtlos im Krankenhaus, und wir haben keine Ahnung, ob Kivrin den vorgesehenen räumlichen und zeitlichen Absetzort erreicht hat. Sie haben Badri gehört. Er sagte, etwas mit der Fixierung sei nicht in Ordnung. Wir müssen einen Techniker herbeischaffen, um herauszubringen, was es ist.«

»Ich würde dem, was einer unter dem Einfluß von Drogen oder Endorphinen oder was immer er genommen hat, von sich gibt, schwerlich Glauben schenken«, sagte Gilchrist. »Und darf ich Sie erinnern, Mr. Dunworthy, daß das einzige, was bei dieser Absetzoperation schiefgegangen sein kann, der Anteil des Fachbereichs 20. Jahrhundert daran ist. Mr. Puhalski leistete völlig einwandfreie Arbeit. Auf Ihr Beharren erlaubte ich jedoch Ihrem Techniker, ihn zu ersetzen. Es liegt auf der Hand, daß ich das nicht hätte tun sollen.«

Die Tür ging auf, und alle wandten sich um. Die Schwester brachte ein Telefon herein, gab es Dunworthy und schlüpfte wieder hinaus.

»Ich muß Brasenose anrufen und sagen, wo ich bin«, sagte Gilchrist.

Dunworthy beachtete ihn nicht, klappte den Bildschirm hoch und rief im Sekretariat an. »Ich brauche die Namen und privaten Telefonnummern Ihrer Techniker«, sagte er der Rektoratssekretärin, als sie auf dem Bildschirm erschien. »Keiner von ihnen ist über Weihnachten hier, nicht wahr?«

So war es. Er notierte die Namen und Nummern auf eine der ausliegenden Informationsschriften, bedankte sich, unterbrach die Verbindung und machte sich daran, die Nummern seiner Liste anzuwählen.

Die erste Nummer, die er wählte, war besetzt. Die anderen brachten ihm schon Besetztzeichen, als er die Vorwahlnummern der Ortsnetze gewählt hatte, und bei der letzten Nummer meldete sich eine Computerstimme und sagte: »Alle Leitungen sind belegt. Bitte versuchen Sie es später noch einmal.«

Er rief im Balliol College an, sowohl beim Pförtner wie auch in seinem eigenen Büro. Niemand meldete sich. Finch mußte die Amerikanerinnen nach London gebracht haben, um sie Big Ben hören zu lassen.

Gilchrist wartete noch immer auf die Benutzung des Telefons. Latimer war zum Teewagen gegangen und versuchte den Elektrotopf anzuschließen. Die Ärztin erwachte aus ihrem Dämmerzustand und half ihm. »Sind Sie fertig mit dem Telefon?« fragte Gilchrist.

Dunworthy verneinte und versuchte ein weiteres Mal, Finch zu erreichen. Er hatte kein Glück.

»Ich möchte, daß Sie Ihren Techniker nach Oxford zurückrufen und Kivrin herausholen lassen. Jetzt, bevor sie den Absetzort verlassen hat.«

»Sie möchten?« sagte Gilchrist. »Darf ich Sie daran erinnern, daß dies mein Projekt ist, und nicht das Ihre.«

»Es spielt keine Rolle, wessen Projekt es ist«, sagte Dunworthy mit unterdrückter Erregung. »Es war schon immer die Politik der Universität, ein Projekt abzubrechen, wenn Probleme auftreten.«

»Darf ich Sie auch erinnern, daß das einzige Problem, das bei diesem Projekt aufgetreten ist, darin besteht, daß Sie es unterlassen haben, Ihren Techniker auf Drogenmißbrauch zu überprüfen.« Er griff zum Telefon. »Ich werde entscheiden, ob und wann dieses Projekt abgebrochen werden muß.«

Das Telefon läutete.

»Hier Gilchrist«, sagte er. »Einen Moment, bitte.« Er gab Dunworthy das Telefon zurück.

»Mr. Dunworthy«, sagte Finch mit gequältem Ausdruck. »Gott sei Dank. Ich habe überall herumtelefoniert. Sie können sich nicht vorstellen, welche Schwierigkeiten ich gehabt habe.«

»Ich bin aufgehalten worden«, sagte Dunworthy, bevor Finch mit einer Aufzählung seiner Schwierigkeiten anfangen konnte. »Hören Sie gut zu. Sie müssen in die Registratur gehen und Badri Chaudhuris Personalakte holen. Dr. Ahrens braucht sie in der Universitätsklinik. Rufen Sie sie an. Sie ist hier in der Unfallstation. Bestehen Sie darauf, mit ihr zu sprechen. Sie wird Ihnen dann sagen, welche Informationen aus der Personalakte sie braucht.«

»Ja, Sir«, sagte Finch. Er nahm Papier und Bleistift und notierte etwas.

»Sobald Sie das getan haben, gehen Sie bitte zum New College und melden sich beim Tutor. Sagen Sie ihm, ich müsse ihn augenblicklich sprechen, und geben Sie ihm diese Telefonnummer. Sagen Sie ihm, es sei von größter Bedeutung, daß wir Basingame ausfindig machen. Er müsse sofort nach Oxford zurückkommen.«

»Glauben Sie, er wird dazu in der Lage sein, Sir?«

»Wie meinen Sie das? Gibt es Nachricht von Basingame? Ist ihm etwas zugestoßen?«

»Nicht daß ich wüßte, Sir.«

»Nun, dann wird er selbstverständlich in der Lage sein, zurückzukommen. Er ist nur auf Angelurlaub. Es ist nicht so, daß er anderwärts Termine hätte. Nachdem sie mit dem Tutor gesprochen haben, fragen Sie beim Personal herum. Vielleicht hat jemand eine Ahnung, wo Basingame sich aufhält. Und während Sie dort sind, stellen Sie fest, ob einer von ihren Technikern hier in Oxford ist.«

»Ja, Sir«, sagte Finch. »Aber was soll ich mit den Amerikanern tun?«

»Sie werden ihnen sagen müssen, daß ich bedaure, sie verpaßt zu haben, aber daß ich durch unerwartete und unvermeidbare Ereignisse aufgehalten wurde. Sie sollen um vier nach Ely abfahren, nicht wahr?«

»So war es geplant, ja, aber…«

»Aber was?«

»Nun, Sir, ich führte sie herum, zeigte ihnen unsere Glockentürme und die alte Dorfkirche von Marston und alles, aber als ich mit ihnen nach Iffley hinausfahren wollte, wurden wir angehalten.«

»Angehalten? Von wem?«

»Von der Polizei, Sir. Sie hatte Straßensperren errichtet. Nun sind die Amerikaner in heller Aufregung wegen ihres Schellenkonzerts.«

»Barrikaden«, sagte Dunworthy.

»Ja, Sir. Auf der Bezirksstraße. Soll ich die Amerikaner einstweilen in Salvin unterbringen, Sir?«

»Ich verstehe nicht«, sagte Dunworthy. »Warum wurden Sie aufgehalten?«

Finch sah ihn überrascht an. »Wegen der Quarantäne.

Ich könnte sie im Studentenwohnheim unterbringen. Zwar ist dort während der Weihnachtsferien die Heizung abgestellt worden, aber sie könnten die offenen Kamine in Betrieb nehmen.«


AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000618–000735)

Ich bin zum Absetzort zurückgekehrt. Er ist ein Stück von der Straße entfernt, aber ich werde versuchen, das Fuhrwerk bis zur Straße zu ziehen, um meine Aussichten, gesehen zu werden, zu verbessern. Wenn bis Dunkelwerden niemand kommt, habe ich vor, nach Skendgate zu gehen, das ich dank dem Glockenläuten zur Abendvesper ausfindig gemacht habe.

Die Auswirkungen der Zeitverzögerung machen mir zu schaffen. Meine Kopfschmerzen sind ziemlich stark, und ich fröstele ständig. Die Symptome sind stärker als mir von Badri und Dr. Ahrens gesagt wurde, besonders die Kopfschmerzen. Ich bin froh, daß das Dorf nicht weit ist.

5

Quarantäne. Natürlich, dachte Dunworthy. Der Arzt, der losgeschickt wurde, Montoya zu holen, Marys Fragen über pakistanische Verwandte, und daß sie alle hier in diesen isolierten Raum gesetzt wurden, dessen Tür eine Krankenschwester bewachte. Natürlich.

»Soll ich die Amerikaner dann im Wohnheim unterbringen?« fragte Finch.

»Sagte die Polizei, warum eine Quar…« Er brach ab. Gilchrist beobachtete ihn, aber Dunworthy glaubte nicht, daß er von seinem Standort den kleinen Bildschirm des Telefons sehen konnte. Latimer war noch drüben beim Teewagen und öffnete ein Paket Würfelzucker. Die Ärztin hatte sich wieder in den Sessel gesetzt und die Augen geschlossen. »Sagte die Polizei, warum diese Maßnahmen getroffen wurden?«

»Nein, Sir. Nur, daß Oxford und die unmittelbare Umgebung davon betroffen seien, und daß wir uns für weitere Instruktionen an das Gesundheitsamt wenden sollten.«

»Haben Sie das getan?«

»Nein, Sir. Ich habe es versucht, kann aber nicht durchkommen. Alle Hauptleitungen sind überlastet. Die Amerikaner haben versucht, in Ely anzurufen und ihr Konzert abzusagen, aber alle Leitungen sind blockiert.«

Oxford und Umgebung. Das bedeutete, daß sie auch die U-Bahn stillgelegt hatten, und den Schnellzug nach London, und alle übrigen Straßen sowieso. Kein Wunder, daß die Telefonleitungen überlastet waren. »Wann geschah das? Als Sie nach Iffley hinausfuhren?«

»Es war kurz nach drei, Sir. Seitdem telefoniere ich herum und versuche Sie zu finden, und dann dachte ich, daß Sie vielleicht schon davon wüßten.«

Ich wußte noch nicht davon, dachte Dunworthy. Er versuchte sich auf die Bedingungen zu besinnen, die erfüllt sein mußten, um eine Quarantäne zu verhängen. Ursprünglich waren unmittelbare Seuchengefahr oder das endemische Auftreten einer unbekannten Krankheit Voraussetzung für eine so einschneidende Maßnahme gewesen, aber diese Bestimmungen waren in der ersten Aufregung nach der Pandemie erlassen worden und seither alle paar Jahre ergänzt und verwässert worden, so daß Dunworthy keine Ahnung hatte, wie sie jetzt waren.

Er wußte aber, daß man vor ein paar Jahren die Verhängung einer Quarantäne von der »zweifelsfreien Bestimmung einer gefährlichen Infektionskrankheit« abhängig gemacht hatte, nachdem das Lassafieber drei Wochen lang ungehemmt in einer spanischen Stadt gewütet hatte. Die einheimischen Ärzte hatten das aus Schwarzafrika eingeschleppte Virus nicht rechtzeitig identifiziert, und die allgemeine Aufregung hatte zu verstärktem Druck der Öffentlichkeit geführt, die Bestimmungen zu verschärfen, aber er hatte keine Ahnung, ob daraus etwas geworden war.

»Sollte ich ihnen dann Räume im Wohnheim zuweisen, Sir?« fragte Finch wieder.

»Ja. Nein. Sie sollen einstweilen im Schlafsaal untergebracht werden. Dort können sie dann mit ihrem Glockenspiel üben oder was immer sie tun. Besorgen Sie Badris Personalakte und rufen Sie Dr. Ahrens an. Wenn die Leitungen alle besetzt sind, wählen Sie am besten diese Nummer. Ich werde hier sein, selbst wenn Dr. Ahrens nicht erreichbar sein sollte. Und dann bringen Sie heraus, wo Basingame ist. Es ist wichtiger denn je, daß wir ihn ausfindig machen. Um die Amerikaner können Sie sich später kümmern.«

»Sie sind sehr aufgeregt.«

Das bin ich auch, dachte Dunworthy. »Sagen Sie ihnen, daß ich bemüht bin, Näheres über die Situation in Erfahrung zu bringen, und zurückrufen werde.« Er sah den kleinen Bildschirm erlöschen.

»Sie können es nicht erwarten, Basingame darüber zu informieren, was Sie für einen Fehler meines Fachbereichs halten, nicht wahr«, sagte Gilchrist. »Und das ungeachtet der Tatsache, daß es Ihr Techniker war, der dieses Absetzen durch den Konsum von Drogen oder Endorphinen gefährdet hat — einer Tatsache allerdings, von der ich Mr. Basingame bei seiner Rückkehr informieren werde. Dessen können Sie versichert sein.«

Dunworthy sah auf seine Digitaluhr. Es war halb fünf. Finch hatte gesagt, sie seien kurz nach drei aufgehalten worden. Anderthalb Stunden. Oxford hatte in den vergangenen Jahren nur zwei kurzzeitige Quarantänefälle erlebt. Beim ersten hatte der Anlaß sich als eine allergische Reaktion erwiesen, und der zweite war auch ein blinder Alarm gewesen. Beide waren aufgehoben worden, sobald die Resultate der Blutuntersuchungen vorgelegen hatten. Mary hatte schon im Krankenwagen Blut entnommen, und Dunworthy hatte gesehen, wie der Arzt die Probe noch in der Notaufnahme einem Laboranten übergeben hatte. Sie hatten reichlich Zeit gehabt, die Ergebnisse zu bekommen.

»Ich bin sicher, Mr. Basingame wird es auch interessieren, daß die unterlassene Überprüfung Ihres Technikers durch Sie zur Gefährdung dieses Projekts geführt hat«, sagte Gilchrist.

Dunworthy grübelte weiter und ließ ihn reden. Im Krankenwagen hatte Mary gesagt, daß Badris hohe Temperatur auf eine Infektion hindeute, aber er hatte angenommen, daß sie eine lokale Infektion gemeint hatte, vielleicht einen entzündeten Blinddarm. Aber welche Krankheit konnte es sein? Pocken und Typhus waren schon im 20. Jahrhundert ausgelöscht worden, und Tuberkulose in diesem. Bakterielle Infektionen hatten keine Chance gegen neuzeitliche Medikamente, und die antiviralen Mittel wirkten so sicher, daß niemand mehr Erkältungskrankheiten hatte.

»Es scheint entschieden seltsam, daß Sie nicht die offensichtliche Sicherheitsvorkehrung trafen, Ihren Techniker auf Drogenkonsum zu überprüfen, sich andererseits aber so besorgt um die Sicherheitsvorkehrungen des Fachbereichs Mittelalter geben, daß Sie vor keiner Einmischung zurückschrecken«, fuhr Gilchrist fort.

Es mußte eine Krankheit aus der Dritten Welt sein. Mary mußte den Verdacht gehabt haben, sonst hätte sie nicht gefragt, ob Badri im Ausland gewesen sei oder Besuch pakistanischer Verwandter gehabt habe. Aber Pakistan war nur bedingt der Dritten Welt zuzurechnen, und Badri hätte die Europäische Gemeinschaft nicht ohne eine ganze Serie von Impfungen verlassen können. Und er hatte sie nicht verlassen. Außer dem ungarischen Aufenthalt war er das ganze Semester in England gewesen.

»Ich würde gern telefonieren«, sagte Gilchrist. »Ich bin ganz Ihrer Meinung, daß wir Basingame hier brauchen, um die Dinge in die Hand zu nehmen.«

Dunworthy hielt das Telefon noch immer in der Hand. Er sah es überrascht an.

»Wollen Sie mich daran hindern, Basingame anzurufen?« fragte Gilchrist.

Latimer stand auf. »Was gibt es?« sagte er, die Hände halb vorgestreckt, als befürchtete er, Dunworthy könnte vornüber fallen. »Was ist los?«

»Badri nimmt keine Drogen«, sagte Dunworthy zu Gilchrist. »Er ist krank.«

»Ich sehe nicht, wie Sie das behaupten können, ohne ein Untersuchungsergebnis zu haben«, sagte Gilchrist. Er blickte auffordernd zum Telefon.

»Wir sind unter Quarantäne«, sagte Dunworthy. »Es ist irgendeine ansteckende Krankheit.«

»Es ist ein Virus«, sagte Mary von der Tür her. »Wir haben es noch nicht identifiziert, aber die vorliegenden Ergebnisse zeigen, daß es sich um eine Virusinfektion handelt.«

Sie hatte ihren Kittel aufgeknöpft, und er wehte hinter ihr, als sie in den Raum geeilt kam. Sie trug ein Tablett, das mit Instrumenten, Watte und Papiertüchern beladen war.

»Die Untersuchungen deuten darauf hin, daß es wahrscheinlich ein Myxovirus ist«, sagte sie. Sie stellte das Tablett auf einen Tisch. »Badris Symptome stimmen damit überein: hohes Fieber, Desorientierung, Kopfschmerz. Es ist eindeutig kein Retrovirus oder Picornavirus, was eine gute Nachricht ist, aber es wird noch einige Zeit dauern, bis wir eine vollständige und genaue Diagnose haben werden.«

Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch heraus und setzte sich. »Wir haben die Gesundheitsbehörden und das Institut für Grippeerkrankungen in London verständigt und Proben zur Kontrolle eingesandt. Bis wir eine endgültige Identifikation haben, ist nach den Bestimmungen der Gesundheitsbehörden für Fälle mit möglicher epidemischer Gefahr eine zeitweilige Quarantäne verhängt worden.« Sie zog ein paar Gummihandschuhe an.

»Epidemische Gefahr!« Gilchrist schoß einen zornigen Blick zu Dunworthy, als wollte er ihn anklagen, die Quarantäne herbeigeführt zu haben, um den Fachbereich Mittelalter in Mißkredit zu bringen.

»Mögliche epidemische Gefahr«, sagte Mary. »Es gibt vorläufig keine Epidemie. Badri ist bisher der einzige Fall. Wir haben über den medizinischen Datenverbund festgestellt, daß im Stadtbereich keine anderen Fälle mit Badris Profil gemeldet worden sind, was auch eine gute Nachricht ist.«

»Wie kann er zu einer unbekannten Virusinfektion gekommen sein?« fragte Gilchrist, ohne den zornigen Blick von Dunworthy zu wenden. »Ich nehme an, Mr. Dunworthy hat sich auch nicht der Mühe unterzogen, seinen Techniker darauf überprüfen zu lassen.«

»Badri ist Angestellter der Universität«, sagte Mary. »Er sollte an den üblichen turnusmäßigen Untersuchungen und Vorsorgemaßnahmen teilgenommen haben.«

»Sie wissen es nicht?« fragte Gilchrist.

»Die Registratur ist über Weihnachten geschlossen«, antwortete sie. »Es ist mir nicht gelungen, dort jemanden zu erreichen, und ohne seine Krankenversicherungsnummer kann ich Badris Krankengeschichte nicht abrufen.«

»Ich habe meinen Sekretär beauftragt, nachzusehen, ob wir Kopien der Personalakte haben«, sagte Dunworthy. »Dann sollten wir wenigstens seine Versicherungsnummer erfahren.«

»Gut«, sagte Mary. »Wir werden mehr über den Virustyp wissen, mit dem wir es zu tun haben, wenn wir wissen, welche Virusschutzimpfungen Badri hatte, und wann. Vielleicht hat er eine Krankengeschichte anomaler Reaktionen, außerdem besteht die Möglichkeit, daß er eine Nachimpfung verpaßt hat. Wissen Sie etwas über seine Religionszugehörigkeit, Mr. Dunworthy? Ist er womöglich ein Neuer Hindu?«

Dunworthy schüttelte den Kopf. »Er ist Anglikaner.« Er wußte, worauf Mary abzielte. Die Neuen Hindus glaubten, daß alles Leben heilig sei, und lehnten die Abtötung von Bakterien und Viren ab. Sie verweigerten auch Schutzimpfungen und Behandlungen mit Antibiotika und antiviralen Mitteln. Die Universität befreite sie aus religiösen Gründen von der Teilnahme an den vorgeschriebenen Impfaktionen, aber sie durften nicht in den Studentenwohnheimen leben. »Badri muß die vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt haben, sonst hätte er nicht am Netz arbeiten dürfen.«

Mary nickte, als wäre sie bereits zu dieser Schlußfolgerung gelangt. »Wie ich sagte, wahrscheinlich liegt eine Anomalie vor.«

Gilchrist wollte etwas sagen, unterließ es aber, als die Tür geöffnet wurde und die Schwester hereinkam, die draußen Wache gehalten hatte. Sie trug eine Schutzmaske vor Mund und Nase und hatte ein Bündel Papiere und Schreibstifte in den behandschuhten Händen.

»Als Sicherheitsvorkehrung müssen wir alle Personen, die mit dem Patienten in Berührung gekommen sind, auf Antikörper untersuchen. Dazu benötigen wir Blutproben und Temperaturmessungen. Außerdem bitten wir Sie, alle Kontaktpersonen aufzulisten, mit denen Sie und Mr. Chaudhuri in Verbindung gekommen sind.«

Die Schwester gab Dunworthy einen Stift und mehrere Blätter Papier. Das oberste Blatt war ein Aufnahmeformular des Krankenhauses. Das darunter trug die Überschrift »Kontaktpersonen« und war unterteilt in Spalten mit den Kennzeichnungen »Name, Ort, Zeit«. Das unterste Blatt war wie das zweite, nur lautete die Überschrift »Mögliche sekundäre Kontaktpersonen«.

»Da Badri unser einziger Fall ist«, sagte Mary, »betrachten wir ihn als den Musterfall. Wir haben noch keine Kenntnis von der Art der Übertragung, darum müssen Sie bitte alle Personen aufführen, die in irgendeiner Weise mit Badri zusammengekommen sind, auch wenn es nur kurzzeitig der Fall war. Kontaktperson ist jede, mit der er gesprochen, die er berührt hat und mit der er in einem Raum gewesen ist.«

Von Dunworthys innerem Auge beugte sich Badri über Kivrin, ordnete ihre Röcke, bewegte ihren Arm.

»Jede Person, die irgendwie mit ihm in Berührung gekommen sein mag«, sagte Mary.

»Wir alle mit eingeschlossen«, sagte die Ärztin.

Mary nickte bekräftigend.

»Und Kivrin«, sagte Dunworthy.

Einen Augenblick schaute sie drein, als hätte sie keine Ahnung, wer Kivrin sei.

»Miss Engle hat eine Breitspektrum-Antiviralbehandlung mit zusätzlicher Stärkung des Immunsystems bekommen«, sagte Gilchrist. »Sie wird kaum in Gefahr sein, nicht wahr?«

Mary zögerte nur eine Sekunde. »Nein. Sie ist vor heute morgen nicht mit Badri zusammengekommen, oder?«

»Mr. Dunworthy bot mir erst vor zwei Tagen die Dienste seines Technikers an«, sagte Gilchrist. Er riß die Papiere und den Schreibstift der Schwester beinahe aus der Hand. »Ich ging natürlich davon aus, daß Mr. Dunworthy seine Techniker den gleichen Gesundheitskontrollen unterziehen würde, die bei uns üblich sind. Es ist jedoch offensichtlich geworden, daß er es nicht getan hat, und Sie können sich darauf verlassen, Mr. Dunworthy, daß ich Mr. Basingame von Ihrer Vernachlässigung unterrichten werde.«

»Wenn Kivrins erster Kontakt mit Badri heute morgen stattfand, war sie vollkommen geschützt«, sagte Mary. »Mr. Gilchrist, wenn Sie so gut sein wollen.« Sie zeigte auf den Stuhl neben ihr, und er kam und setzte sich.

Bevor sie sich ihm zuwandte, nahm sie der Krankenschwester einen Formularsatz aus der Hand und hielt das zweite Blatt allen sichtbar in die Höhe. »Jede Person, mit der Badri Kontakt hatte, ist ein Primärkontakt. Auf dieses Blatt schreiben Sie bitte alle Kontakte, die Sie in den letzten drei Tagen mit Badri Chaudhuri hatten, sowie alle Kontakte von ihm mit anderen, von denen Sie wissen.« Sie hielt das dritte Blatt in die Höhe. »In diese Spalten tragen Sie bitte alle Kontakte ein, die Sie seither hatten. Beginnen Sie mit der Gegenwart und arbeiten Sie rückwärts.«

Sie steckte Gilchrist eine Thermometerkapsel in den Mund, zog einen Monitor von seinem Papierstreifen und klebte ihn ihm ans Handgelenk. Die Krankenschwester verteilte die Formulare. Dunworthy setzte sich und füllte seine aus.

Das Aufnahmeformular wollte seinen Namen, das Geburtsdatum, die Krankenversicherungsnummer und eine vollständige Krankheitsgeschichte wissen, die unter der Versicherungsnummer zweifellos vollständiger abgerufen werden konnte als er sie erinnerte. Krankheiten, chirurgische Eingriffe, Impfungen. Wenn Mary noch immer auf Badris Versicherungsnummer wartete, bedeutete es, daß er noch bewußtlos war.

Dunworthy hatte keine Ahnung, wann seine letzte Impfung gewesen war. Er machte ein Fragezeichen in das entsprechende Feld, nahm das nächste Blatt hervor und schrieb seinen eigenen Namen an die Spitze der Kolonne. Latimer, Gilchrist, die beiden Ärzte, die Krankenträger. Er kannte die Namen nicht, und die Ärztin hatte wieder die Augen geschlossen. Sie hielt ihre Papiere in einer Hand und hatte die Arme über der Brust verschränkt. Dunworthy überlegte, ob er die Ärzte und Krankenschwester mit aufführen sollte, die Badri in Empfang genommen hatte, dann schrieb er »Personal der Notaufnahme« und versah die Eintragung mit einem Fragezeichen. Dann folgte Montoya.

Und Kivrin, die nach Marys Auskunft freilich geschützt war. Badri hatte gesagt, daß etwas nicht in Ordnung sei. Hatte er vielleicht diese Infektion gemeint? Hatte er gefühlt, daß er krank wurde, während er versucht hatte, die Fixierung zu bekommen? Und war er daraufhin zum Pub gelaufen, um ihnen zu sagen, daß er Kivrin womöglich angesteckt habe?

Das Pub. Außer dem Barkeeper war niemand dort gewesen. Finch war gegangen, bevor Badri eingetroffen war. Dunworthy hob das Blatt und trug Finchs Namen unter den Sekundärkontakten ein, dann nahm er sich wieder das erste Blatt vor und schrieb: »Barkeeper Zum Lamm und Kreuz«. Die Gaststube war leer gewesen, aber nicht die Straße. Er sah Badri vor sich, wie er sich durch die Menge der Passanten gedrängt und gegen die Frau mit dem geblümten Regenschirm geprallt war, wie er den alten Mann und den kleinen Jungen mit dem weißen Terrier angerempelt hatte. Alle Personen, mit denen er Kontakt hatte, hatte Mary gesagt.

Er blickte über den Tisch zu ihr. Sie hielt Gilchrists Handgelenk und machte Eintragungen in eine Karteikarte. Wollte sie von allen Leuten auf diesen Listen Blutproben nehmen und ihre Temperatur messen? Es war unmöglich. Außerdem hatte Badri Dutzende von Passanten auf der Straße berührt oder gestreift oder mit seinem Atem getroffen, und niemand würde sie wiedererkennen. Und auf dem Weg von Brasenose war er mit ebenso vielen oder noch mehr Passanten in Berührung gekommen.

Er schrieb »Große Zahl von Passanten, High Street (?)«, zog eine Linie und versuchte sich der anderen Gelegenheiten zu besinnen, die ihn mit Badri zusammengeführt hatten. Er hatte ihn erst vor zwei Tagen gebeten, das Netz zu übernehmen, als er von Kivrin erfahren hatte, daß Gilchrist einen Lehrling einsetzen wollte.

Badri war gerade aus London zurückgekehrt, als Dunworthy mit ihm telefoniert hatte. Kivrin war an diesem Tag zu ihrer letzten Untersuchung in der Klinik gewesen, was insofern gut war, als sie keinen Kontakt mit ihm gehabt haben konnte, und vorher war er in London gewesen.

Am Dienstag war Badri zu Dunworthy gekommen, um ihm zu sagen, daß er die Koordinaten des Lehrlings und das ganze System überprüft habe. Dunworthy war nicht im Büro gewesen, darum hatte Badri ihm eine Notiz hinterlassen. Kivrin war am gleichen Dienstag ins Balliol College gekommen, um ihm ihre Kostümierung zu zeigen, aber das war am Morgen gewesen. Badri hatte in seiner Notiz angegeben, daß er den ganzen Vormittag am Netz verbracht habe. Und Kivrin hatte gesagt, daß sie am Nachmittag zu Latimer in die Bodleian-Bibliothek gehen wollte. Aber sie konnte danach im Laboratorium gewesen sein, oder auch schon vor ihrem Besuch bei ihm.

Die Tür ging auf, und die Krankenschwester führte Montoya herein. Ihre Terroristenjacke und ihre Jeans waren naß. Es mußte immer noch regnen. »Was geht vor?« sagte sie zu Mary, die gerade ein Fläschchen mit Gilchrists Blut etikettierte.

»Es scheint«, sagte Gilchrist, nachdem er die Innenseite seines Arms mit Watte betupft hatte und aufgestanden war, »daß Mr. Dunworthy seinen Techniker nicht auf die vorgeschriebenen Impfungen und Vorbeugungsmaßnahmen überprüfte, bevor er das Netz bediente, und nun liegt er mit 39,5 Fieber hier in der Klinik. Anscheinend hat er irgendeine exotische Infektionskrankheit.«

»Fieber?« Montoya blickte verwirrt umher. »Ist 39,5 nicht niedrig?«

»Es entspricht 103 Grad Fahrenheit«, sagte Mary und steckte das Fläschchen in seinen Träger. »Badris Infektion ist möglicherweise ansteckend. Ich muß Untersuchungen vornehmen, und Sie schreiben bitte alle Kontakte mit Badri und Dritten auf diese Blätter.«

»Okay«, sagte Montoya. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Gilchrist geräumt hatte, und zog ihre Jacke aus. Mary desinfizierte ihr die Innenseite des Armes und versah ein neues Fläschchen mit einer Punktionskanüle. »Bringen wir es hinter uns. Ich muß zurück zu meiner Ausgrabung.«

»Sie können nicht zurück«, sagte Gilchrist. »Haben Sie nicht gehört? Wir stehen unter Quarantäne, dank Mr. Dunworthys Nachlässigkeit.«

»Quarantäne?« Sie richtete sich so plötzlich auf, daß Mary ihren Arm mit der Kanüle verfehlte. Die Vorstellung, daß sie sich eine Krankheit zuziehen könnte, hatte sie nicht im mindesten beeindruckt, aber die Erwähnung der Quarantäne zeigte Wirkung. »Ich muß aber zurück«, sagte sie. »Soll das heißen, daß ich hier bleiben muß?«

»Bis wir die Ergebnisse der Blutuntersuchungen haben«, sagte Mary. Sie versuchte eine Ader für die Punktion zu finden.

»Wie lange wird das dauern?« fragte Montoya. Sie versuchte auf ihre Digitaluhr zu sehen, aber Mary arbeitete noch an ihrem Arm. »Der Kerl, der mich hierher brachte, ließ mich nicht einmal die Grabung zudecken oder die Wärmestrahler abschalten, und es regnet da draußen wie verrückt. Ich habe einen Friedhof, der voll Wasser laufen wird, wenn ich nicht hinaus kann.«

»So lange wie ich brauche, um von Ihnen allen Blutproben zu nehmen, sie zu untersuchen und einen Antikörpertest zu machen«, sagte Mary, und Montoya schien die Botschaft zu verstehen, denn sie streckte ihren Arm aus und hielt still. Mary machte die Punktion, gab ihr die Thermometerkapsel und machte eine Blutdruckmessung. Dunworthy sah zu und fragte sich, ob sie die Wahrheit sagte. Sie hatte nicht gesagt, daß Montoya gehen könne, sobald die Untersuchungsergebnisse vorlägen, sondern nur, daß sie dableiben müsse, bis sie kämen. Und was dann? Würden sie alle zusammen oder getrennt in eine Isolierstation gebracht? Oder mit Medikamenten behandelt? Oder würde es weitere Untersuchungen geben?

Mary nahm Montoya die Manschette ab und gab ihr den letzten Formularsatz. »Mr. Latimer? Sie sind der nächste.«

Latimer stand auf, die Formulare in der Hand. Er sah sie mit konfusem Ausdruck an, dann legte er sie auf den Stuhl, wo er gesessen hatte, und kam herüber zu Mary. Unterwegs machte er kehrt und ging zurück, um Marys Einkaufstasche zu holen. »Die haben Sie bei uns vergessen«, sagte er und hielt sie Mary hin.

»Oh, vielen Dank«, sagte sie. »Bitte stellen Sie sie neben den Tisch. Meine Handschuhe sind steril.«

Latimer tat wie geheißen und lehnte die Tasche gegen ein Tischbein. Das Ende des Schals hing ein Stück heraus, und er steckte es sorgsam wieder hinein.

»Ich hatte völlig darauf vergessen«, sagte Mary. »In all der Aufregung…« Sie schlug die behandschuhte Hand vor den Mund. »Ach du lieber Gott! Colin! Ich hatte ihn ganz vergessen. Wie spät ist es?«

»Fünf Uhr acht«, sagte Montoya, ohne auf ihre Digitaluhr zu schauen.

»Er sollte schon um drei ankommen«, sagte sie, stand auf und fummelte in nervöser Geistesabwesenheit mit den Fläschchen der Blutproben.

»Vielleicht ist er zu Ihrer Wohnung gegangen, als Sie nicht da waren«, sagte Dunworthy.

Sie schüttelte den Kopf. »Er war noch nie in Oxford. Darum hatte ich ihm gesagt, daß ich ihn am Bahnhof abholen würde. Erst jetzt ist es mir wieder eingefallen.«

»Nun, dann wird er immer noch dort sein und warten«, sagte Dunworthy. »Soll ich gehen und ihn holen?«

»Nein«, sagte sie. »Sie sind eine Kontaktperson.«

»Dann werde ich den Bahnhof anrufen. Sie können ihm sagen, daß er von dort ein Taxi nehmen soll. In welcher Station wollten Sie ihn abholen? Cornmarket?«

»Ja, Cornmarket.«

Dunworthy rief die Auskunft an, kam beim dritten Versuch durch, erhielt die Nummer und rief die Station an. Die Leitung war besetzt. Er drückte auf die Taste und wählte noch einmal.

»Ist Colin Ihr Enkel?« sagte Montoya. Sie hatte ihre Formulare beiseite gelegt. Die anderen schienen dieser neuesten Entwicklung keine Beachtung zu schenken. Gilchrist füllte mit finsterer Miene seine Formulare aus, als handle es sich um eine weitere Dokumentation von Nachlässigkeit und Unfähigkeit. Latimer saß geduldig mit aufgekrempeltem Ärmel neben dem Tablett. Die Ärztin lag noch immer mit geschlossenen Augen im Sessel.

»Er ist mein Großneffe«, sagte Mary. »Er sollte von London heraufkommen, um Weihnachten mit mir zu verbringen.«

»Um welche Zeit wurde Quarantäne verhängt?«

»Zehn nach drei«, sagte Mary.

Dunworthy hielt zum Zeichen, daß er durchgekommen war, die Hand in die Höhe. »Ist dort die U-Bahn-Station Cornmarket?« sagte er. Anscheinend war es so. Er konnte die Schalter und eine Menschenmenge hinter einem nervös aussehenden Stationsvorsteher sehen. »Ich rufe wegen eines Jungen an, der um drei Uhr aus London gekommen ist. Er ist zwölf.« Dunworthy hielt die Hand über die Sprechmuschel und fragte Mary: »Wie sieht er aus?«

»Er ist blond und hat blaue Augen. Er ist groß für sein Alter.«

»Groß und blond«, sagte Dunworthy mit erhobener Stimme, denn der Lärm der Menschenmenge war vernehmlich. »Sein Name ist Colin…«

»Templer«, sagte Mary. »Deirdre sagte, er würde um eins von Marble Arch losfahren.«

»Colin Templer. Haben Sie ihn gesehen?«

»Was, zum Teufel, soll das heißen, ob ich ihn gesehen habe?« rief der Stationsvorsteher. »Ich habe hier fünfhundert Leute, und Sie wollen wissen, ob ich einen kleinen Jungen gesehen habe. Sehen Sie sich dieses Durcheinander an.«

Das Bild zeigte plötzlich eine wogende Menschenmenge. Dunworthy spähte in die Gesichter, versuchte einen großen Zwölfjährigen mit blondem Haar und blauen Augen auszumachen, aber gleich darauf kam wieder der Stationsvorsteher ins Bild.

»Es ist eine Quarantäne verhängt worden«, rief er durch den Lärm der Menge, der von Minute zu Minute zuzunehmen schien, »und ich habe die Station voller Menschen, die wissen wollen, warum die Züge nicht mehr fahren und warum ich nichts dagegen unternehme. Ich habe die größte Mühe, sie daran zu hindern, daß sie mir die ganze Station auseinandernehmen. Ich kann mich nicht um einen Jungen kümmern.«

»Sein Name ist Colin Templer«, rief Dunworthy. »Seine Großtante sollte ihn abholen.«

»Warum hat sie es dann nicht getan und mir ein Problem erspart? Ich habe hier eine Menge aufgebrachter Leute, die wissen wollen, wie lange die Quarantäne dauern wird und warum ich nichts unternehme…« Plötzlich war die Verbindung unterbrochen. Dunworthy fragte sich, ob er aufgelegt oder ob jemand ihm das Telefon entrissen hatte.

»Hat der Stationsvorsteher ihn gesehen?« fragte Mary.

»Nein. Sie werden jemand hinschicken müssen.«

»Ja, gut. Ich werde jemand vom Personal schicken«, sagte sie und lief hinaus.

»Die Quarantäne wurde um zehn Minuten nach drei verhängt, und er sollte um drei ankommen«, sagte Montoya. »Vielleicht gab es eine Verspätung.«

Daran hatte Dunworthy nicht gedacht. Wenn die Quarantäne vor der Ankunft des Zuges in Oxford verhängt worden war, würde er in der nächsten Station angehalten worden sein, und man hätte die Passagiere umgeleitet oder nach London zurückgeschickt. »Rufen Sie noch mal die Station an«, sagte er und reichte ihr das Telefon. Er zeigte ihr die Nummer. »Sagen Sie, der Zug habe Marble Arch um eins verlassen. Ich werde Mary sagen, daß sie ihre Nichte anrufen soll. Vielleicht ist Colin schon wieder zu Hause.«

Er ging hinaus in den Korridor, um die Schwester nach Marys Verbleib zu fragen, aber sie war nicht da. Mary mußte sie zum Bahnhof geschickt haben.

Der Korridor lag menschenleer. Am anderen Ende war die Telefonzelle, die er vorher benutzt hatte; er eilte hin und wählte die Nummer vom Balliol College. Es war zwar nicht wahrscheinlich, aber doch möglich, daß Colin sich durchgefragt hatte und Marys Wohnung gefunden hatte. Finch konnte ihn dort suchen und dann, wenn er Colin nicht antraf, zur Station hinuntergehen. Wahrscheinlich war mehr als eine Person nötig, um Colin in diesem Gewühl zu finden.

»Hi«, sagte eine Frauenstimme.

Dunworthy blickte stirnrunzelnd auf die Nummer, aber er hatte sich nicht verwählt. »Ich versuche Mr. Finch vom Balliol College zu erreichen.«

»Der ist gerade nicht hier«, sagte die Frau, offenbar eine Amerikanerin. »Ich bin Mrs. Taylor. Kann ich etwas ausrichten?«

Es mußte eine der Schellenläuterinnen sein. Sie war jünger, als er erwartet hatte, nicht weit über dreißig, und sah zierlich aus. »Würden Sie ihm bitte sagen, daß er Mr. Dunworthy in der Klinik anrufen soll, sobald er zurückkehrt?«

»Mr. Dunworthy.« Sie notierte es und blickte scharf auf. »Mr. Dunworthy«, sagte sie in völlig verändertem Tonfall, »sind Sie dafür verantwortlich, daß wir hier gefangengehalten werden?«

Darauf gab es keine gute Antwort. Er hätte nie im Studentenheim anrufen sollen.

»Die Gesundheitsbehörden haben wegen des Auftretens einer nicht identifizierten Krankheit eine einstweilige Quarantäne verhängt. Es ist eine Sicherheitsmaßnahme. Ich bedaure, daß Ihnen dadurch Ungelegenheiten entstanden sind. Ich habe meinen Sekretär angewiesen, Ihnen den Aufenthalt so bequem wie möglich zu machen, und wenn es noch etwas gibt, das ich für Sie tun kann…«

»Tun? Tun? Sie können uns nach Ely bringen, das können Sie tun! Meine Schellenläuterinnen sollten um acht Uhr ein Konzert vor der Kathedrale geben, und morgen müssen wir in Norwich sein. Wir veranstalten dort ein Weihnachtsläuten am Heiligen Abend.«

Er fühlte sich nicht berufen, ihr zu erklären, daß sie morgen nicht in Norwich sein würden. »Ich bin sicher, daß Ely bereits über die Situation unterrichtet ist, aber ich werde gern die Kathedrale anrufen und erklären…«

»Erklären! Vielleicht können Sie es auch mir erklären. Ich bin es nicht gewohnt, mich in dieser Form meiner persönlichen Freiheit berauben zu lassen. In Amerika würde es niemandem im Traum einfallen, Ihnen zu sagen, wohin Sie gehen oder nicht gehen dürfen.«

Und wegen dieses Denkens waren während der Pandemie mehr als dreißig Millionen Amerikaner gestorben. »Ich kann Ihnen versichern, Mrs. Taylor, daß die Quarantäne allein zu Ihrem Schutz ist, und daß all Ihre Konzertpartner gern bereit sein werden, die Termine umzuplanen. Jedenfalls ist das Balliol College erfreut, Sie zu Gast zu haben, und ich freue mich darauf, Sie persönlich kennenzulernen. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«

Wenn das wahr wäre, dachte er, hätte ich euch schon auf die erste Anfrage geantwortet, daß Oxford unter Quarantäne stehe.

»Es ist unmöglich, ein Weihnachtsläuten am Heiligabend auf einen anderen Termin zu verlegen. Wir wollten ein neues Geläut vortragen. Das Domkapitel von Norwich rechnet fest mit uns, und wir haben die Absicht…«

Er legte auf. Finch war wahrscheinlich in der Registratur und suchte nach Badris Personalakte, aber Dunworthy wollte nicht riskieren, eine weitere Schellenläuterin ans Telefon zu bekommen. Statt dessen suchte er die Nummer vom Regionalverkehr heraus und wählte. Er war noch dabei, als die Tür am Ende des Korridors geöffnet wurde und Mary hereinkam.

Dunworthy winkte sie zu sich. »Ich versuche gerade, die Direktion des Regionalverkehrs zu erreichen.« Er wählte den Rest der Nummer und gab ihr den Hörer.

Sie wehrte lächelnd ab. »Es ist alles in Ordnung. Ich habe gerade mit Deirdre gesprochen. Colins Zug wurde in Barton angehalten. Die Passagiere mußten mit der U-Bahn zurück nach London. Sie geht hinunter zur Station Marble Arch, um ihn abzuholen.« Sie seufzte. »Deirdre war nicht sehr glücklich, als er wieder nach Hause kam. Sie hatte vor, Weihnachten mit der Familie ihres neuen Lebensgefährten zu verbringen, und ich glaube, sie wollte Colin gern aus dem Weg haben, aber es läßt sich nicht ändern. Ich bin nur froh, daß er nicht in diese Sache hineingezogen wurde.«

Sie war sichtlich erleichtert. Er legte den Hörer auf. »Ist es so schlimm?«

»Wir haben gerade die vorläufige Identifizierung des Erregers bekommen. Es ist eindeutig ein Myxovirus vom Typ A. Influenza.«

Er hatte etwas Schlimmeres erwartet, irgendein Drittweltfieber oder einen Retrovirus. In den Tagen vor der Einführung antiviraler Medikamente hatte er selbst die Grippe gehabt. Er hatte sich schrecklich elend gefühlt, fiebrig und benommen, mit Halsschmerzen und Husten, aber nach ein paar Tagen Bettruhe und Hustensaft war er darüber hinweggekommen.

»Dann werden sie die Quarantäne aufheben, wie?«

»Erst wenn wir Badris Krankengeschichte haben«, sagte sie. »Ich hoffe immer noch, daß er die letzte Schutzimpfung versäumt hat. Wenn nicht, werden wir warten müssen, bis wir die Quelle lokalisieren können.«

»Aber wenn es nur die Grippe ist?«

»Wenn es nur eine kleine antigene Verschiebung um einen oder zwei Punkte ist, dann ist es bloß die Grippe«, erwiderte sie. »Wenn es eine größere Verschiebung ist, dann müssen wir von Influenza ausgehen, und das ist eine andere Sache. Die Pandemie der spanischen Grippe von 1918 war ein Myxovirus. Er tötete zwanzig Millionen Menschen. Viren mutieren alle paar Monate. Die Antigene an ihrer Oberfläche verändern sich so, daß das Immunsystem sie nicht erkennt. Deshalb sind regelmäßige vorbeugende Impfungen notwendig. Aber sie können nicht vor einer größeren Verschiebung schützen.«

»Und darum handelt es sich hier?«

»Ich bezweifle es. Größere Mutationen kommen nur alle zehn Jahre oder so vor. Ich halte es für wahrscheinlicher, daß Badri seine vorbeugende Schutzimpfung versäumt hat. Wissen Sie, ob er im ersten Teil des Semesters eine Absetzoperation durchgeführt hat?«

»Nein. Es ist gut möglich.«

»In diesem Fall wurde er damals schon geimpft und könnte den üblichen Termin einfach vergessen haben. Dann hat er bloß die diesjährige Wintergrippe.«

»Und Kivrin?«

»Sie ist voll geschützt, wie ich sagte.«

»Auch wenn es Influenza ist?«

Sie zögerte nur einen Augenblick. »Wenn sie heute früh durch Badri dem Virus ausgesetzt wurde, ist sie vollkommen geschützt.«

»Und wenn sie ihn vorher schon getroffen hat?«

»Wenn ich Ihnen das sage, werden Sie sich nur Sorgen machen, und ich bin überzeugt, daß solche Sorgen unbegründet sind.« Sie holte tief Luft. »Der antivirale Schutz und die Stärkung des Immunsystems wurden so gegeben, daß sie während der Absetzoperation größtmögliche Sicherheit genießt.«

»Und Gilchrist hat den Termin um zwei Tage vorverlegt«, sagte Dunworthy mit Bitterkeit.

»Ich hätte dem Mädchen nicht erlaubt, durchzugehen, wenn ich nicht überzeugt gewesen wäre, daß es in Ordnung ist.«

»Aber Sie hatten nicht damit gerechnet, daß Kivrin noch vor Beginn der Operation einem Influenzavirus ausgesetzt sein würde.«

»Nein, aber das ändert nichts. Sie hat Teilimmunität, und wir sind nicht einmal sicher, daß sie einer Infektion ausgesetzt war. Badri war kaum in ihrer Nähe.«

»Und wie, wenn sie schon vorher einer Infektion ausgesetzt war?«

Mary seufzte. »Ich hätte es Ihnen nicht sagen sollen, das dachte ich mir gleich. Die meisten Myxoviren haben eine Inkubationszeit zwischen zwölf und achtundvierzig Stunden. Selbst wenn Kivrin vor zwei Tagen einer Infektion ausgesetzt wurde, würde sie ausreichend Immunität gehabt haben, um das Virus an einer Vermehrung zu hindern, die mehr als unbedeutende Symptome verursachen kann. Aber es ist nicht Influenza.« Sie klopfte ihm auf den Arm. »Und Sie vergessen eins: wäre Ansteckungsgefahr von ihr ausgegangen, hätte das Netz sie nicht durchgelassen.«

Sie hatte recht. Krankheitsträger konnten nicht durch das Netz, wenn die Gefahr bestand, daß sie die Zeitgenossen am Absetzort infizierten. Das Netz hätte sich nicht geöffnet.

»Wie sind die Aussichten, daß die Bevölkerung von 1320 immun ist?«

»Gegen ein Virus unserer Tage? Gleich Null. Es gibt achtzehnhundert mögliche Mutationspunkte. Die Zeitgenossen müßten genau das gleiche Virus gehabt haben, oder sie würden verwundbar sein.«

»Ich möchte Badri sprechen«, sagte er. »Als er ins Pub kam, sagte er, daß etwas nicht in Ordnung sei. Unterwegs in die Klinik wiederholte er es.«

»Es ist etwas nicht in Ordnung«, sagte sie. »Er hat eine ernste Virusinfektion.«

»Oder er weiß, daß er Kivrin infizierte. Oder er bekam die Fixierung nicht.«

Sie sah ihn mitleidig an. »Er sagte, er habe die Fixierung. Ich fürchte, es ist nutzlos, Ihnen zu sagen, Sie sollten sich nicht um Kivrin sorgen. Sie wissen, was ich eben von Colin sagte, und es ist mein Ernst: die beiden sind sicherer, wenn sie in diese Sache nicht hineingezogen werden. Kivrin ist dort, wo sie ist, viel besser daran als sie es hier sein würde, selbst unter den Halsabschneidern und Dieben, die Ihre Phantasie sich so hartnäckig ausmalt. Wenigstens braucht sie sich nicht um Quarantänebestimmungen zu kümmern.«

Er lächelte. »Oder amerikanische Schellenläuter. Wo sie ist, hat man Amerika noch nicht entdeckt.«

Die Tür am Ende des Korridors flog auf, und eine große dicke Frau mit einem Koffer marschierte durch.

»Da sind Sie ja, Mr. Dunworthy«, rief sie durch den Korridor. »Ich habe Sie überall gesucht.«

»Ist das eine Ihrer Schellenläuterinnen?« fragte Mary.

»Schlimmer«, sagte Dunworthy. »Das ist Mrs. Gaddson.«

6

In der Talsenke unter den Bäumen wurde es schon dunkel. Kivrins Kopfschmerzen nahmen wieder zu, als sie zu den eisbedeckten Pfützen und hartgefrorenen Spurrinnen kam, als ob sie mit winzigen Veränderungen des Luftdrucks oder Lichtes zu tun hätten.

Sie konnte das Fuhrwerk nicht mehr sehen, obwohl sie unmittelbar vor dem kleinen Kasten stand, und das angestrengte Spähen durch das in tiefer Dämmerung versinkende Dickicht schien ihren Kopf geradezu zum Platzen zu bringen. Wenn das eine der »unbedeutenden« Begleiterscheinungen der Zeitverzögerung war, wie mochte dann eine schwerere aussehen?

Als sie sich durch das Dickicht kämpfte, beschloß sie mit Dr. Ahrens über diesen Punkt zu sprechen. Offenbar unterschätzte man, in welchem Maß solche Nebenwirkungen Wohlbefinden und Arbeitsfähigkeit eines Historikers beeinträchtigen konnten. Der Weg zurück in die Talsenke hatte sie noch mehr außer Atem gebracht als vorher der Aufstieg, und ihr war so kalt, als hätte sie die ganze Zeit ohne Bewegung an einem Fleck verbracht.

Ihr Umhang und ihr Haar verfingen sich im Dickicht, und ein Schwarzdorn verhalf ihr zu einem langen Kratzer am Arm, der sofort auch zu schmerzen begann. Einmal strauchelte sie und wäre fast vornüber gefallen, und die Wirkung auf ihren Kopfschmerz war so, daß er vor Schreck wegblieb und dann mit verdoppelter Gewalt zurückkehrte.

Auf der kleinen Lichtung war es fast dunkel, aber die Umrisse zeigten sich noch klar, während die Farben sich zu Schwarz, Schwarzgrün, Schwarzgrau und Schwarzbraun vertieften. Die Vögel waren schon zur Ruhe gekommen. Nur vereinzelt war noch schläfriges Gezwitscher zu hören.

Kivrin hob die verstreuten Kisten und Körbe auf und warf sie auf die schief hängende Ladefläche des Fuhrwerks, dann ergriff sie mit beiden Händen die Deichsel und zog es unter Aufbietung aller Kräfte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Das Fuhrwerk knarrte und kratzte ein paar Zentimeter, glitt etwas leichter durch Moos und Laub, und blieb stecken. Kivrin stemmte sich in den Boden und zog wieder. Es schleifte einen weiteren halben Meter und neigte sich noch mehr. Eine der Kisten fiel herunter.

Kivrin hob sie wieder an Bord, ging um das Fuhrwerk herum und versuchte zu sehen, wo es festsaß. Das rechte Hinterrad stand an einer Baumwurzel, ließ sich aber darüber wegstoßen, wenn sie in die Speichen griff. Schlechter sah es mit dem anderen Hinterrad aus — die Mediävisten hatten diese Seite mit einer Axt bearbeitet, um den Eindruck zu erwecken, das Fuhrwerk sei beim Umstürzen zerbrochen, und sie hatten ganze Arbeit geleistet. Vom Radkranz und den Speichen war nur die Hälfte übrig und hatte sich in den Waldboden gebohrt, und auch das Wagenbrett war zersplittert. Sie bedauerte, daß Gilchrist ihr keine Handschuhe bewilligt hatte.

Sie ging wieder zur anderen Seite, griff in die Speichen und stieß. Obwohl es ein leicht gebautes Fuhrwerk war, brachte sie das Rad nicht über die Wurzel. Sie raffte Röcke und Umhang, kniete neben dem Rad nieder und versuchte das Wagenbrett mit der Schulter zu heben.

Der Fußabdruck war vor dem Rad, an einer weichen, moosigen Stelle, die der Wind vom Laub freigehalten hatte. Das Laub war zu beiden Seiten an die Eichenwurzeln geweht und sah im grauen Dämmerlicht unberührt aus, aber der Abdruck in der moosbedeckten Erde war vollkommen klar.

Es kann kein Fußabdruck sein, dachte Kivrin. Der Boden ist gefroren. Sie streckte die Hand aus und befühlte die Stelle mit den Fingerspitzen. Vielleicht war es eine optische Täuschung, hervorgerufen durch das trügerische Dämmerlicht und die verfließenden Schatten. Die gefrorenen Wagengeleise draußen auf der Straße hätten keinen Fußabdruck aufgenommen. Aber hier war die Erde weich und gab unter ihrer Hand nach, und der Abdruck war tief genug, um sich ertasten zu lassen.

Der Abdruck stammte von einem absatzlosen Schuh mit weicher Sohle, und der Fuß, der ihn hinterlassen hatte, war groß, der Fuß eines Mannes. Wenn sie berücksichtigte, daß die Männer im Mittelalter insgesamt kleiner gewesen waren, war dies geradezu ein Riesenfuß.

Vielleicht ist es ein alter Fußabdruck, dachte sie in plötzlicher Panik. Vielleicht ist es der Fußabdruck eines Holzfällers oder eines Bauern, der nach einem verlaufenen Schaf gesucht hatte. Vielleicht war dieser Wald königliches Jagdrevier, und eine Jagdgesellschaft mit Treibern war hier durchgekommen. Aber der Fußabdruck schien nicht von jemandem zu stammen, der flüchtig vorbeigelaufen war; es war der Fußabdruck von jemandem, der längere Zeit unbeweglich hier gestanden und sie beobachtet hatte. Ich hörte ihn, dachte sie, und die Panik schnürte ihr plötzlich die Kehle zu. Ich hörte ihn hier atmen.

Sie war noch auf den Knien und hielt sich mit einer Hand am Rad fest. Wenn der Mann, wer immer es war, und es mußte ein Mann sein, ein Riese, noch hier auf dieser Lichtung war und sie beobachtete, mußte er wissen, daß sie den Fußabdruck gefunden hatte. Sie stand auf. »Heda!« rief sie und erschreckte die Vögel, die sich erst nach einigem Geflatter und Gekrächze beruhigten. »Ist ieman hie?«

Sie wartete, lauschte, und ihr schien, daß sie in der Stille wieder das Atmen hören konnte. »Spreha«, sagte sie. »Ic ben bedrangen, derwile mine dinaere send geflohen.«

So ist’s recht, dachte sie, noch während sie sprach. Sag ihm, daß du hilflos und ganz allein bist.

»Heda!« rief sie wieder und begann vorsichtig um die Lichtung zu gehen und zwischen die Bäume zu spähen. Wenn er noch dort stand, war es inzwischen so dunkel, daß sie ihn nicht sehen konnte. Außerhalb der kleinen Lichtung war nichts mehr zu erkennen. Sie konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, in welcher Richtung die Straße vorbeiführte. Wenn sie noch länger wartete, würde es vollständig dunkel sein, und sie würde das Fuhrwerk niemals auf die Straße bringen.

Aber sie konnte es nicht weiterbewegen. Wer immer zwischen den beiden Bäumen gestanden und sie beobachtet hatte, wußte, daß das Fuhrwerk hier war. Vielleicht hatte er es sogar durchkommen sehen, aus der funkelnden Luft geplatzt wie Zauberwerk. Wenn das der Fall war, dann hatte er wahrscheinlich das Weite gesucht, um die Dorfbewohner zusammenzurufen und sie, angeführt vom Dorfgeistlichen, zu dem Scheiterhaufen zu schleppen, den sie nach Dunworthys Überzeugung stets in Bereitschaft hielten. Aber wenn es so gewesen war, hätte er sicherlich einen Schreckensruf ausgestoßen, und sie hätte hören müssen, wie er flüchtend durch das Unterholz gebrochen war.

Er war aber nicht davongelaufen, was bedeutete, daß er nicht gesehen hatte, wie sie durchgekommen war. Er mußte danach auf sie gestoßen sein, als sie völlig unerklärlich mitten im Wald neben einem zerschlagenen Fuhrwerk gelegen hatte. Was mochte er gedacht haben? Daß sie auf der Straße überfallen und dann hierher geschleift worden war, um die Tat zu verbergen?

Warum hatte er dann nicht versucht, ihr zu helfen? Warum war er still wie ein Baum dagestanden, lange genug, um einen tiefen Fußabdruck zu hinterlassen, und dann wieder fortgegangen? Vielleicht hatte er sie für tot gehalten. Ihr vermeintlicher Leichnam, ohne Beichte und letzte Ölung der Wildnis preisgegeben, mochte ihn geängstigt haben. Bis ins 15. Jahrhundert hatte man geglaubt, daß die Seelen von Toten, die ohne Sterbesakramente beerdigt wurden oder unbestattet blieben, von bösen Geistern in Besitz genommen würden.

Oder vielleicht war er doch gegangen, Hilfe zu holen, in eines dieser Dörfer, deren Glocken sie gehört hatte, vielleicht sogar nach Skendgate, und war schon jetzt auf dem Weg zurück, begleitet von der halben Bevölkerung, alle mit Laternen in den Händen.

In diesem Fall sollte sie bleiben, wo sie war, und auf seine Rückkehr warten. Sie sollte sich sogar wieder hinlegen. Wenn die Dorfbewohner kamen, konnten sie über ihre Herkunft spekulieren und sie dann ins Dorf tragen. Dies würde ihr Gelegenheit geben, die Sprache zu hören und sich auf die Leute einzustellen, wie es von Anfang an geplant gewesen war. Wie aber, wenn er allein zurückkäme oder mit Freunden, die nicht daran dachten, ihr zu helfen?

Sie konnte nicht denken. Die Kopfschmerzen hatten sich von den Schläfen zur Stirn und hinter die Augen ausgebreitet. Und ihr war so kalt! Der Umhang war trotz seines Futters aus Kaninchenfell überhaupt nicht warm. Wie hatten die Menschen die Kleine Eiszeit überlebt, wenn sie im Winter nur Umhänge wie diesen trugen? Wie hatten die Kaninchen überlebt?

Wenigstens konnte sie etwas gegen die Kälte tun, nämlich Holz sammeln und ein Feuer in Gang bringen, und wenn der Fußabdruck-Mann mit üblen Absichten zurückkäme, könne sie ihn mit einem Feuerbrand abwehren. Und wenn er gegangen war, Hilfe zu holen, und in der Dunkelheit den Weg zurück nicht finden konnte, würde der Feuerschein ihn zu ihr führen.

Auf der Suche nach totem Holz machte sie einen zweiten Rundgang um die kleine Lichtung. Dunworthy hatte darauf bestanden, daß sie lerne, ohne Feuerstein und Zunder Feuer zu machen. »Gilchrist erwartet von Ihnen, daß Sie im Winter im Mittelalter herumlaufen, ohne zu wissen, wie man Feuer macht?« hatte er entrüstet gefragt, und sie hatte Gilchrist verteidigt und erläutert, daß von ihr nicht erwartet wurde, so viel Zeit im Freien zu verbringen. Das Leben der Frauen hätte sich damals größtenteils in den Häusern abgespielt. Aber sie hätten daran denken sollen, wie kalt es im Winter werden konnte.

Die aufgesammelten Zweige machten ihre Hände noch kälter, und jedesmal, wenn sie sich bückte, einen aufzuheben, verstärkte sich der pochende Kopfschmerz, bis sie dazu überging, sich nicht mehr zu bücken, sondern niederzukauern, um die Zweige aufzusammeln. Das half ein wenig, aber nicht viel. Vielleicht fühlte sie sich so elend, weil sie so fror. Vielleicht rührten Kopfschmerzen und Atemlosigkeit daher, daß ihr so kalt war. Sie mußte Feuer machen.

Das Holz fühlte sich eiskalt und feucht an. Auch das Laub war zu feucht, zumindest an der Oberfläche, um als Zunder zu dienen. Sie brauchte trockenes Anbrennholz und Laub und einen scharfen Stecken, um Feuer zu machen. Sie legte das gesammelte Holz in einem kleinen Bündel an die Wurzeln eines Baumes, ohne sich zu bücken, dann ging sie zurück zum Fuhrwerk.

Die zerbrochenen Teile des Fuhrwerks lieferten mehrere Stücke Holz, die zum Anbrennen geeignet waren. Sie zog sich zwei Splitter in die Hand, bevor es ihr gelang, das zähe Holz von den Planken zu reißen, aber wenigstens fühlte es sich trocken an, obwohl es auch kalt war. Über dem Rad war ein langes, spitz abgesplittertes Stück Holz, das sich als Feuerbohrer eignete, wenn es ihr gelang, die scharfen Kanten ein wenig abzuschleifen. Sie brach es mit einiger Anstrengung los, aber dann fiel sie beinahe vornüber, keuchend vor Schwindelgefühl und plötzlicher Übelkeit.

»Leg dich lieber hin«, sagte sie sich.

Mit einer Hand auf das Wagenrad gestützt, ließ sie sich vorsichtig nieder, bis sie saß. »Dr. Ahrens«, sagte sie ein wenig atemlos, »Sie sollten etwas gegen die Nebenwirkungen der Zeitverzögerung herausbringen. Sie sind furchtbar.«

Wenn sie sich nur ein wenig niederlegen könnte, würde das Schwindelgefühl vielleicht nachlassen und sie könnte das Feuer anmachen. Das aber war nicht möglich, ohne sich zu bücken, und der bloße Gedanke daran ließ die Übelkeit wieder aufkommen.

Sie zog die Kapuze über den Kopf und schloß die Augen, und sogar das schmerzte, weil es ihre Aufmerksamkeit nach innen lenkte. Da stimmte etwas nicht. Diese Symptome konnten keine Reaktion auf die Zeitverzögerung sein. Mit ein paar geringfügigen Symptomen, die innerhalb einer oder zwei Stunden nach ihrer Ankunft abklingen würden, sich aber nicht verschlimmerten, war gerechnet worden. Leichte Kopfschmerzen, etwas Müdigkeit, hatte Dr. Ahrens gesagt. Sie hatte nichts von Übelkeit, Schwindelgefühl und Schüttelfrost gesagt.

Die Kälte war schrecklich. Sie zog die Röcke und den Umhang wie eine Decke um sich, aber die Bewegungen schienen nur noch mehr kalte Luft einzulassen. Ihre Zähne schnatterten, wie sie es schon oben auf dem Hügel getan hatten, und ihre Schultern zitterten mit.

Ich werde hier noch erfrieren, dachte sie. Aber es läßt sich nicht ändern. Ich kann nicht aufstehen und Feuer machen. Ich kann nicht. Mir ist zu kalt. Zu dumm, daß Sie sich über die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts irrten, Mr. Dunworthy, dachte sie, und der bloße Gedanke verursachte ihr Schwindelgefühl.

Sie hätte nicht geglaubt, daß sie imstande sein würde, auf dem kalten Boden zusammengekauert einzuschlafen. Sie hatte keine sich ausbreitende Wärme bemerkt, und hätte sie es getan, wäre sie in Panik geraten, daß es die schleichende Gefühllosigkeit der Hypothermie sei, und hätte versucht, dagegen anzukämpfen. Aber sie mußte geschlafen haben, denn als sie die Augen wieder öffnete, war es tiefe Nacht, und frostige Sterne flimmerten im Netz der Äste über ihr, und sie lag am Boden und blickte zu ihnen auf.

Sie war im Schlaf umgesunken und lag mit dem Kopf am Wagenrad. Noch immer zitterte sie vor Kälte, aber ihre Zähne klapperten nicht mehr. Die Kopfschmerzen meldeten sich mit pulsierender, lähmender Heftigkeit, und ihr ganzer Körper schmerzte, besonders der Brustkorb, wo sie beim Holzsammeln die Zweige an sich gedrückt hatte.

Ich bin krank, dachte sie, und diesmal war der Gedanke von wirklicher Panik begleitet. Vielleicht hatte sie eine allergische Reaktion auf Zeitreisen? Gab es so etwas? Dunworthy hatte niemals von allergischen Reaktionen gesprochen, und er hatte sie vor ungefähr allem gewarnt: Vergewaltigung und Cholera und Typhus und Seuchen aller Art.

Sie fühlte im Umhang nach der Stelle unter dem Arm, wo sie die Schwellung von der antiviralen Schutzimpfung hatte. Sie war noch da, aber die Druckempfindlichkeit war vergangenen, und sie juckte nicht mehr. Vielleicht war das ein schlechtes Zeichen, dachte sie. Der Umstand, daß es nicht mehr juckte, mochte bedeuten, daß die Wirkung aufgehört hatte.

Sie versuchte den Kopf zu heben. Augenblicklich war das Schwindelgefühl wieder da. Sie ließ ihn zurücksinken und hob die Hände langsam und vorsichtig unter dem Umhang, weil jede rasche Bewegung die Übelkeit wieder aufkommen ließ. Sie faltete die Hände und hielt sie vor Gesicht. »Mr. Dunworthy«, sagte sie mit dünner Stimme, »ich glaube, Sie sollten lieber kommen und mich abholen.«

Sie schlief wieder ein, und als sie erwachte, konnte sie die schwachen, mißtönenden Klänge des weihnachtlichen Glockenspiels hören. Oh, gut, dachte sie, sie haben das Netz offen! Und sie bemühte sich, gegen das Rad gelehnt aufzusitzen.

»Ach, Mr. Dunworthy, ich bin so froh, daß Sie zurückgekommen sind«, sagte sie, die Übelkeit niederkämpfend. »Ich fürchtete, Sie würden meine Botschaft nicht bekommen.«

Das Glockenspiel wurde lauter, und sie konnte ein schwankendes Licht sehen. Sie zog sich ein wenig höher. »Sie haben das Feuer in Gang gebracht«, sagte sie. »Sie hatten recht, als Sie sagten, daß es kalt sein würde.« Das Wagenrad war eisig bereift, als sie sich daran hochziehen wollte. Ihre Zähne fingen wieder an zu klappern. »Dr. Ahrens hatte auch recht. Ich hätte warten sollen, bis die Anschwellung zurückging. Ich wußte nicht, daß die Reaktion so schlimm sein würde.«

Es war doch kein Feuer. Es war eine Laterne. Dunworthy trug sie in der Hand.

»Das bedeutet nicht, daß ich eine Virusinfektion habe, nicht wahr? Oder die Pest?« Sie hatte Schwierigkeiten, die Worte auszusprechen, so stark klapperten ihre Zähne. »Wäre das nicht schrecklich? Im Mittelalter zu sein und die Pest zu haben? Nun, wenigstens würde es ins Bild passen.«

Sie lachte, ein hohes, beinahe hysterisches Lachen, das Mr. Dunworthy wahrscheinlich zu Tode erschrecken würde. »Es ist schon gut«, sagte sie, konnte aber die eigenen Worte kaum verstehen. »Ich weiß, daß Sie sich um mich sorgten, aber es wird schon werden. Ich bin bloß…«

Er blieb vor ihr stehen. Die Laterne erhellte einen schwankenden Lichtkreis am Boden vor ihr. Sie konnte Dunworthys Füße sehen. Er trug formlose Lederschuhe von der Art, die den Fußabdruck hinterlassen hatten. Sie wollte etwas über die Schuhe sagen, ihn fragen, ob Mr. Gilchrist ihn veranlaßt habe, authentische mittelalterliche Kleidung anzulegen, nur um sie zu holen, aber die schwankende Bewegung des Lichtes machte sie wieder schwindlig.

Sie schloß die Augen, und als sie sie wieder öffnete, kniete er vor ihr. Er hatte die Laterne auf den Boden gestellt, und ihr Licht schien auf die Kapuze seines Umhangs und die gefalteten Hände.

»Es ist schon gut«, sagte sie. »Ich weiß, daß Sie sich Sorgen machten, aber es geht schon. Wirklich. Ich fühlte mich nur ein wenig schlecht.«

Er hob den Kopf. »Certes, ihte bei derlostuh dies vergat voretau getest hissahntes im aller«, sagte er.

Er hatte ein hartes, gefurchtes Gesicht, ein grausames Gesicht, das Gesicht eines Halsabschneiders. Er hatte sie beobachtet, dann war er fortgegangen und hatte gewartet, daß es Nacht würde, und nun war er zurückgekommen.

Kivrin wollte abwehrend die Hand heben, aber ihre Arme waren irgendwie im Umhang verstrickt. »Gehen Sie fort.« Ihre Zähne klapperten so sehr, daß sie die Worte nicht herausbrachte. »Gehen Sie.«

Er sagte etwas anderes, diesmal mit ansteigender Modulation am Ende, eine Frage. Sie verstand nicht, was er sagte. Konnte es Mittelenglisch sein? Drei Jahre hatte sie es studiert, und Dr. Latimer hatte ihr alles beigebracht, was es über die adjektivische Beugung zu wissen gab. Sie sollte in der Lage sein, es zu verstehen. Es ist das Fieber, dachte sie bei sich. Deshalb weiß ich nicht, was er sagt.

Er wiederholte die Frage oder stellte eine andere, sie konnte nicht einmal das unterscheiden.

Es lag daran, daß sie krank war. Sie konnte ihn nicht verstehen, weil sie sich so elend fühlte. »Guota here«, fing sie an, konnte sich aber nicht auf den Rest der Rede besinnen. »Hilfa mier«, sagte sie und versuchte zu überlegen, wie sie ihm ihren Zustand begreiflich machen sollte, aber außer dem Kirchenlatein wollte ihr nichts einfallen. »Domine, ad adjuvandum me festina«, sagte sie.

Er beugte den Kopf über die Hände und begann so leise zu murmeln, daß sie es nicht hören konnte, und dann mußte sie das Bewußtsein wieder verloren haben, denn er hatte sie aufgehoben und trug sie. Sie konnte noch immer die Töne des Glockenspiels aus dem offenen Netz hören und versuchte sich zu besinnen, aus welcher Richtung sie kamen, aber ihre Zähne klapperten so stark, daß sie nicht hören konnte.

»Ich bin krank«, murmelte sie, als er sie auf den Schimmel setzte. Sie sank vornüber und klammerte sich an der Pferdemähne fest, um nicht hinunterzufallen. Er hob die Hand an ihre Seite und stützte sie. »Ich weiß nicht, wie dies geschehen konnte«, sagte sie. »Ich habe keine Schutzimpfung versäumt.«

Er führte den Esel langsam zum Weg hinaus. Die kleinen Schellen an seinem Zaumzeug klingelten blechern.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000740–000751)

Mr. Dunworthy, ich glaube, Sie sollten lieber kommen und mich holen.

7

»Ich wußte es«, sagte Mrs. Gaddson, noch ehe sie bei ihnen anlangte. »Er hat sich irgendeine gräßliche Krankheit zugezogen, nicht wahr? Das kommt von all diesem Rudern.«

Mary vertrat ihr den Weg. »Sie dürfen hier nicht hinein«, sagte sie. »Das ist eine Isolierstation.«

Mrs. Gaddson blieb unbeeindruckt. Der transparente Regenumhang, den sie über ihrem Mantel trug, verspritzte Regentropfen, als sie auf sie zumarschierte und den Koffer wie eine Waffe schwang. »Sie können mich nicht so abwimmeln. Ich bin seine Mutter. Ich verlange ihn zu sehen.«

Mary hob die Hand wie ein Polizist. »Halt!« sagte sie mit der Entschiedenheit einer ergrauten Stationsschwester.

Mrs. Gaddson blieb tatsächlich stehen. »Eine Mutter hat das Recht, ihren Sohn zu sehen«, sagte sie etwas weniger kriegerisch. »Ist er sehr krank?«

»Wenn Sie Ihren Sohn William meinen, der ist überhaupt nicht krank«, sagte Mary, »wenigstens, soweit es mir bekannt ist.« Wieder hob sie die Hand. »Bitte kommen Sie nicht näher. Warum glauben Sie, William sei krank?«

»Ich wußte es in dem Augenblick, als ich von der Quarantäne hörte. Es ging mir wie ein Stich durch und durch, als der Bahnhofsvorsteher die Bekanntmachung durchgab.« Sie stellte den Koffer ab, um zu zeigen, wo der stechende Schmerz durchgegangen war. »Es ist, weil er seine Vitamine nicht nimmt. Ich bat das College, dafür zu sorgen«, sagte sie und warf Dunworthy einen Blick zu, der jenen Gilchrists in nichts nachstand, »und Sie sagten, er sei in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Nun, offensichtlich befanden Sie sich im Irrtum.«

»Ihr Sohn William ist nicht die Ursache der Quarantäne«, erwiderte Mary. »Ein Techniker der Universität ist an einer Virusinfektion erkrankt.«

Dunworthy vermerkte dankbar, daß sie nicht gesagt hatte: »Ein Techniker vom Balliol College.«

»Der Techniker ist der einzige Fall, und es gibt vorläufig keinen Hinweis, daß es weitere geben wird. Die Quarantäne ist eine reine Sicherheitsvorkehrung.«

Mrs. Gaddson schien nicht überzeugt. »Mein Willy ist immer kränklich gewesen, und er achtet einfach nicht auf seine Gesundheit. Er arbeitet viel zu angestrengt in diesem zugigen Zimmer, das er zugewiesen bekam«, sagte sie mit einem weiteren unheilvollen Blick zu Dunworthy. »Ich wundere mich nur, daß er nicht schon vorher an einer Virusinfektion erkrankt ist.«

Mary steckte die Hand in die Tasche ihres Kittels, wo sie ihr kombiniertes Funksprech- und Aufnahmegerät hatte. Dunworthy hoffte, daß sie Mrs. Gaddson von ein paar stämmigen Pflegern würde hinauskomplimentieren lassen.

»Am Ende eines einzigen Semesters am Balliol College war Willys Gesundheit völlig zugrunde gerichtet, und dann zwang sein Tutor ihn, über Weihnachten dazubleiben und Petrarca zu lesen«, fuhr Mrs. Gaddson fort. »Darum bin ich gekommen. Der Gedanke, daß er über Weihnachten ganz allein in diesem gräßlichen Ort sein muß, nicht ordentlich ißt und alles mögliche tut, was seine Gesundheit gefährdet, konnte ich als seine Mutter einfach nicht ertragen.«

Sie zeigte wieder auf die Stelle, wo ihr der Schmerz durch und durch gegangen war. »Und es ist ein Zeichen der Vorsehung, daß ich rechtzeitig kam. Beinahe hätte ich den Zug verpaßt, weil mein Koffer so hinderlich war, und beinahe dachte ich: Laß gut sein, du kannst den nächsten Zug nehmen, aber ich wollte zu meinem Willy und rief ihnen zu, die Türen offen zu halten, und kaum war ich in Cornmarket ausgestiegen, als der Stationsvorsteher die Durchsage machte, daß eine Quarantäne verhängt und der Zugverkehr vorübergehend eingestellt sei. Stellen Sie sich vor, ich hätte diesen Zug verpaßt und den nächsten genommen! Ich wäre durch die Quarantäne aufgehalten worden.«

»William wird sicherlich überrascht sein, Sie zu sehen«, sagte Dunworthy. Er hoffte, sie würde ihn suchen gehen.

»Ja«, sagte sie grimmig. »Wahrscheinlich sitzt er da und hat nicht mal seinen Schal um. Er wird diese Virusinfektion bekommen, ich weiß es. Alles zieht er sich zu. Als er klein war, hatte er den fürchterlichsten Hautausschlag. Er wird sich auch diese Krankheit zuziehen. Wenigstens ist seine Mutter hier, um ihn zu pflegen.«

Die Tür wurde aufgestoßen, und zwei Gestalten in Atemmasken, weißen Kitteln, Gummihandschuhen und Papiergaloschen über den Schuhen kamen im Laufschritt heraus. Sie verlangsamten ihre Gangart, als sie sahen, daß niemand zusammengebrochen war.

»Dieser Bereich muß abgesperrt und ein Schild aufgestellt werden, das ihn als Teil der Isolierstation kenntlich macht«, sagte Mary. Sie wandte sich zu Mrs. Gaddson. »Ich fürchte, es besteht eine Möglichkeit, daß Sie dem Virus ausgesetzt worden sind. Wir haben noch keine endgültige Klarheit über die Art und Weise der Übertragung und können nicht ausschließen, daß der Erreger mit der Atemluft übertragen wird«, sagte sie, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte Dunworthy, sie wollte Mrs. Gaddson zu ihnen in den Warteraum setzen.

»Würden Sie Mrs. Gaddson zu einem Isolierabteil führen?« fragte sie einen der Pfleger. »Wir müssen eine Blutuntersuchung machen und eine Liste ihrer Kontaktpersonen erstellen. Mr. Dunworthy, wenn Sie mit mir kommen wollen«, sagte sie und führte ihn in den Warteraum und schloß die Tür, bevor Mrs. Gaddson protestieren konnte. »So, nun können sie die Frau eine Weile festhalten und dem armen Willy ein paar letzte Stunden in Freiheit verschaffen.«

»Mit dieser Frau muß einer ja den Ausschlag kriegen«, sagte Dunworthy.

Alle bis auf die Ärztin hatten bei ihrem Eintreten aufgeblickt. Latimer saß noch geduldig mit aufgekrempeltem Ärmel am Tisch. Montoya mühte sich mit dem Telefon ab.

»Colins Zug wurde zurückgeschickt«, sagte Mary. »Er ist inzwischen sicher zu Hause.«

»Oh, gut.« Montoya legte den Hörer auf. Sofort griff Gilchrist zum Telefon.

»Mr. Latimer, es tut mir leid, daß ich Sie warten ließ«, sagte Mary. Sie zog ein frisches Paar Gummihandschuhe über und begann die Punktion vorzubereiten.

»Gilchrist hier. Ich möchte den Quästor sprechen«, sagte Gilchrist in den Hörer. »Ja. Ich versuche Mr. Basingame zu erreichen. Ja, ich werde warten.«

Der Quästor hatte keine Ahnung, wo Basingame war, und auch sonst niemand. Dunworthy hatte bereits mit allen in Frage kommenden Personen gesprochen, als er versucht hatte, die Absetzoperation aufzuhalten. Der Quästor hatte nicht einmal gewußt, daß Basingame sich in Schottland aufhielt.

»Ich bin froh, daß sie den Jungen gefunden haben«, sagte Montoya. Sie sah auf ihre Digitaluhr. »Wie lange werden Sie uns noch hier festhalten? Ich muß zurück zu meiner Ausgrabung, bevor sie sich in einen Sumpf verwandelt. Wir graben gerade den Friedhof von Skendgate aus. Die meisten Gräber datieren aus dem 15. Jahrhundert, aber wir haben auch ein paar Pestopfer und sogar einzelne Gräber, die aus der Zeit vor Wilhelm dem Eroberer stammen. Letzte Woche fanden wir das Grab eines Ritters mit einer schön gearbeiteten Grabplatte. Hervorragend erhalten. Ich frage mich, ob Kivrin schon dort ist?«

Dunworthy nahm an, daß sie das Dorf und nicht den Friedhof meinte. »Hoffen wir es«, sagte er.

»Ich bat sie, sofort mit der Aufzeichnung ihrer Beobachtungen in Skendgate anzufangen, im Dorf und in der Kirche. Besonders die Kirchengruft. Dort stand ein Sarkophag, von dem leider nur Bruchstücke erhalten sind. Die Inschrift ist nicht mehr zu rekonstruieren, aber das Datum ist noch lesbar — 1318.«

»Es ist ein Notfall«, sagte Gilchrist. Er hörte den anderen mit allen Zeichen von Ungeduld an, dann fuhr er dazwischen: »Ich weiß, daß er in Schottland angeln ist. Ich möchte wissen, wo.«

Mary klebte Latimer ein Pflaster in die Armbeuge und gab Gilchrist ein Zeichen. Er schüttelte den Kopf. Sie stand auf, ging zu der Ärztin und schüttelte sie wach. Die Frau folgte ihr schläfrig blinzelnd an den Tisch.

»Es gibt so vieles, was nur durch unmittelbare Beobachtung zu klären ist«, sagte Montoya. »Ich habe Kivrin eingeschärft, jedes Detail aufzuzeichnen. Hoffentlich reicht die Speicherkapazität des Aufnahmegeräts. Es ist so winzig.« Sie sah wieder auf ihre Uhr. »Natürlich mußte es klein sein. Haben Sie Gelegenheit gehabt, es zu sehen, bevor es implantiert wurde? Es sah wirklich wie ein Knochenstück aus.«

»Knochenstück?« sagte Dunworthy. Das Blut der Ärztin floß in das Fläschchen, und er wandte den Blick ab. »Das ist so, damit es keinen Anachronismus verursachen kann, selbst wenn es entdeckt wird. Es ist der Oberfläche des Kahnbeines auf der Innenseite der Hand angepaßt.«

Mary nickte Dunworthy zu, als die Ärztin aufstand und ihren Ärmel herunterrollte. Dunworthy nahm ihren Platz auf dem Stuhl ein. Mary zog die Rückseite von einem Monitor ab, klebte ihn an Dunworthys Puls und gab ihm eine Thermometerkapsel zum Lutschen.

»Der Quästor soll mich unter dieser Nummer anrufen, sobald er zurückkommt«, sagte Gilchrist und legte auf.

Montoya schnappte sich das Telefon, drückte eine Nummer und sagte: »Hallo. Können Sie mir sagen, welchen Umfang die Quarantänezone hat? Ich muß wissen, ob Witney innerhalb der Sperrzone liegt. Meine Ausgrabungsstelle ist dort.« Am anderen Ende sagte man ihr anscheinend nein. »Mit wem kann ich dann über eine Erweiterung der Quarantänezone sprechen? Es ist ein Notfall.«

Sie sorgen sich um ihre »Notfälle«, dachte Dunworthy, und keiner denkt auch nur daran, sich um Kivrin zu sorgen. Nun, was gab es schon groß zu sorgen? Ihr Aufzeichnungsgerät war so getarnt, daß es wie ein Knochenstück aussah, so daß es keinen Anachronismus verursachen würde, wenn die Zeitgenossen des 14. Jahrhunderts auf den Gedanken kamen, ihr die Hände abzuhacken, bevor sie sie auf dem Scheiterhaufen verbrannten.

Mary maß seinen Blutdruck und stieß ihm die Kanüle in den Arm. »Sollte das Telefon jemals wieder frei werden«, sagte sie, als sie ihm das Pflaster aufklebte und Gilchrist winkte, der mit ungeduldiger Miene neben Montoya stand, »könnten Sie William Gaddson anrufen und warnen, daß seine Mutter kommt.«

Montoya sagte: »Ja. Das Amt für Denkmalpflege«, legte auf und notierte eine Nummer auf eine der ausliegenden Informationsbroschüren.

Das Telefon trillerte. Gilchrist, schon unterwegs zu Mary, stürzte sich darauf und riß den Hörer hoch, bevor Montoya zugreifen konnte. »Nein«, sagte er und gab ihn widerwillig an Dunworthy weiter.

Es war Finch. Er war im Büro des Quästors. »Haben Sie Badris Personalakte mit der Krankengeschichte?« fragte Dunworthy.

»Ja, Sir. Die Polizei ist hier, Sir. Sie sucht nach Unterkünften für die vielen Leute, die hier zurückgehalten werden und nicht in Oxford wohnen.«

»Und sie wollen, daß wir sie im Balliol aufnehmen«, sagte Dunworthy.

»Ja, Sir. Wie viele, soll ich sagen, können wir aufnehmen?«

Mary hatte Gilchrist verarztet und signalisierte Dunworthy.

»Augenblick, bitte«, sagte er und legte die Hand über die Sprechmuschel.

»Will man zurückgehaltene Personen bei Ihnen einquartieren?« fragte sie.

»Ja.«

»Lassen Sie nicht all Ihre Räume belegen«, sagte sie. »Es kann sein, daß wir Platz für Kranke brauchen.«

Dunworthy nahm die Hand vom Hörer und sagte: »Sagen Sie ihnen, daß wir Leute im Fisher und in den Räumen unterbringen können, die im Salvin noch frei sind. Wenn Sie den Schellenläutern Räume zugewiesen haben, belegen Sie die Zimmer mit jeweils zwei Personen. Und sagen Sie der Polizei, daß die Klinik gebeten hat, Bulkeley-Johnson zur Notunterbringung von Kranken freizuhalten. Sagten Sie eben, Sie hätten Badris Unterlagen gefunden?«

»Ja, Sir. Es war höllisch schwierig, die Akte zu finden. Sie war unter dem Vornamen abgelegt, Badri Komma Chaudhuri, und die Amerikanerinnen…«

»Haben Sie seine Krankenversicherungsnummer gefunden?«

»Ja, Sir.«

»Ich übergebe an Dr. Ahrens«, sagte er, bevor Finch mit Geschichten von den Schellenläutern anfangen konnte. Er winkte Mary zu sich. »Sie können ihr die Information selbst geben.«

Mary versorgte Gilchrists Arm mit einem Pflaster und klebte ihm einen Monitor ans Handgelenk.

»Ich habe Verbindung mit Ely bekommen, Sir«, sagte Finch. »Ich informierte sie, daß das Glockenspielkonzert wegen der Quarantäne abgesagt werden muß, und sie waren sehr liebenswürdig, aber die Amerikanerinnen sind noch immer sehr unglücklich.«

Mary war mit ihrer Eintragung fertig, zog die Gummihandschuhe aus und kam herüber, um Dunworthy das Telefon abzunehmen.

»Mr. Finch? Dr. Ahrens hier. Geben Sie mir Badris Krankenversicherungsnummer.«

Dunworthy gab ihr ein Blatt Papier und einen Stift, und sie schrieb die Nummer auf und fragte dann nach Badris Impfzeugnissen und machte eine Anzahl Notizen, die Dunworthy nicht entziffern konnte.

»Irgendwelche Reaktionen oder Allergien?« Es gab eine Pause, dann sagte sie: »Gut, den Rest kann ich vom Computer abfragen. Ich rufe Sie wieder an, wenn ich zusätzliche Information brauche.« Sie gab den Hörer Dunworthy zurück. »Er möchte mit Ihnen sprechen«, sagte sie und ging mit dem Papier.

»Sie sind sehr unglücklich, hier festzusitzen«, sagte Finch. »Mrs. Taylor droht mit einer Klage wegen Freiheitsberaubung und Behinderung ihrer vertraglichen Verpflichtungen.«

»Wann hat Badri zuletzt antivirale Medikamente bekommen?«

Finch brauchte längere Zeit, um das Bündel der Ausdrücke, Schriftstücke und Zeugnisse durchzusehen, die Badris Personalakte ausmachten. »Hier ist es, Sir. Am 14. September.«

»Hat er die ganze Serie bekommen?«

»Ja, Sir.«

»Hatte er irgendwelche Reaktionen auf antivirale Impfungen oder Medikamente?«

»Sieht nicht so aus. Bei den Impfbescheinigungen ist nichts vermerkt. Das habe ich bereits Dr. Ahrens gesagt.«

Badri hatte an allen vorbeugenden Maßnahmen teilgenommen. Von allergischen Reaktionen war nichts bekannt.

»Waren Sie schon in New College?« fragte Dunworthy.

»Nein, Sir. Ich kann jetzt erst gehen. Wie soll ich es mit den Vorräten halten, Sir? Wir haben genug Seife auf Lager, aber Toilettenpapier ist nur sehr wenig da.«

Die Tür wurde geöffnet, aber es war nicht Mary, sondern der Arzt, der Montoya vom Ausgrabungsort geholt hatte. Er ging zum Teewagen und schloß den Elektrotopf an.

»Sollte ich das Toilettenpapier rationieren, Sir?« sagte Finch, »oder Zettel anbringen, auf denen alle um sparsamen Gebrauch gebeten werden?«

»Was Sie für richtig halten«, sagte Dunworthy und legte auf.

Es mußte noch immer regnen. Der Kittel des Arztes war naß, und als das Wasser zu sieden begann, hielt er seine roten Hände über den Dampf, um sie zu wärmen.

»Sind Sie fertig mit dem Telefonieren?« fragte Gilchrist.

Dunworthy gab ihm das Telefon. Wie mochte das Wetter sein, wo Kivrin war? Hatte Gilchrist auch die Wahrscheinlichkeit berechnen lassen, daß sie im Regen durchkommen würde? Ihr Umhang hatte nicht besonders wasserdicht ausgesehen, und der freundliche Reisende, der innerhalb von 1,6 Stunden des Weges kommen sollte, würde in einer Herberge oder Scheune Zuflucht gesucht haben, bis der Regen aufhörte.

Er hatte Kivrin beigebracht, wie man ein Feuer machte, aber mit nassem Anbrennholz und kältesteifen Fingern konnte es ihr schwerlich gelingen. Im 14. Jahrhundert hatte es kalte Winter gegeben. Vielleicht schneite es sogar. Die sogenannte Kleine Eiszeit hatte um 1320 gerade begonnen, und schließlich war es so kalt geworden, daß die Themse regelmäßig eine Eisdecke bildete. Die niedrigen Temperaturen und das unberechenbare Wetter hatten die Ernteergebnisse so beeinträchtigt, daß manche Historiker die Schrecken des Schwarzen Todes dem unterernährten Zustand der Landbevölkerung zuschrieben. Das Wetter war zweifellos schlecht gewesen. Im Herbst 1348 hatte es in einem Teil von Oxfordshire vom Michaelistag bis Weihnachten jeden Tag geregnet. Wahrscheinlich lag Kivrin jetzt auf der nassen Straße, halb tot vor Unterkühlung und Nässe.

Und Hautausschlag wird sie auch haben, dachte er, weil ihr übermäßig vernarrter Tutor sich zuviel um sie sorgte. Mary hatte recht. Er hörte sich wirklich wie Mrs. Gaddson an. Als nächstes würde er sich womöglich Hals über Kopf ins Jahr 1320 stürzen, wie Mrs. Gaddson sich in die U-Bahn gestürzt hatte, und Kivrin würde genauso froh sein, ihn zu sehen, wie William beim Anblick seiner Mutter. Und genau so hilfsbedürftig.

Kivrin war die intelligenteste und findigste Studentin, die er je gekannt hatte. Sie wußte sicherlich genug, um sich vor dem Regen zu schützen. Sie war imstande, ihre Ferien bei den Eskimos zu verbringen, um zu lernen, wie man ein Iglu baute.

Sie hatte sicherlich an alles gedacht, bis hin zu ihren Fingernägeln. Als sie gekommen war, ihm ihre Verkleidung zu zeigen, hatte sie ihm auch die Hände hingestreckt. Ihre Nägel waren abgebrochen und schmutzig gewesen. »Ich weiß, daß ich nach meiner angenommenen Identität zum niedrigen Landadel gehöre, aber auch dort mußten die Frauen viel Handarbeit im Hof und auf dem Feld verrichten, statt in der warmen Stube zu sitzen und Wandteppiche zu knüpfen, und bis um 1600 hatten die Damen keine Scheren. Darum verbrachte ich den Sonntagnachmittag in Montoyas Ausgrabung und scharrte zwischen den Grabsteinen und Gebeinen, um diesen Effekt zu bekommen.« Ihre Nägel hatten schrecklich ausgesehen, und völlig authentisch. Es gab sicherlich keinen Anlaß, sich wegen eines Details wie Schnee zu sorgen.

Aber er konnte nicht anders. Wenn er nur mit Badri sprechen und ihn fragen könnte, was er auf dem Herzen gehabt hatte, sich vergewissern, daß die Absetzoperation planmäßig verlaufen war und daß es nicht allzuviel Verschiebung gegeben hatte, würde er eher in der Lage sein, seine Sorgen zu vergessen. Aber Mary hatte Badris Krankenversicherungsnummer erst jetzt erfahren, und über Badris gegenwärtigen Zustand war ihm nichts bekannt. Vielleicht war er noch bewußtlos.

Er stand auf, ging zum Teewagen und bereitete sich eine Tasse Tee. Gilchrist war wieder am Telefon und sprach anscheinend mit dem Pförtner. Die Pförtner wußten auch nicht, wo Basingame war. Als Dunworthy mit ihm gesprochen hatte, hatte der Mann ihm gesagt, Basingame habe Loch Balkillan erwähnt, einen See, der, wie sich herausgestellt hatte, nicht existierte.

Dunworthy trank seinen Tee. Der Quästor rief Gilchrist an, dieser darauf den stellvertretenden Rektor, aber keiner von ihnen wußte, wohin Basingame gefahren war. Die Schwester, die zuvor die Tür bewacht hatte, kam herein und beendete die Blutuntersuchungen. Der Arzt mit den roten Händen nahm eine der Broschüren vom Tisch und begann darin zu lesen.

Montoya füllte ihr Anmeldeformular und die Listen der Kontaktpersonen aus. »Soll ich die Namen der Leute aufschreiben, mit denen ich heute zusammengekommen bin?« fragte sie Dunworthy.

»In den drei letzten Tagen«, sagte er.

Sie warteten. Dunworthy trank noch eine Tasse Tee. Montoya rief die Gesundheitsbehörde an und versuchte eine Sondererlaubnis zu erhalten, um zu ihrer Ausgrabung zurückzukehren.

Eine Krankenschwester schob einen Rollwagen mit dem Mittagessen herein. Während sie aßen, besprach Gilchrist mit Latimer seinen Plan, Kivrin als nächstes in die Zeit nach dem Schwarzen Tod zu senden. »Die historische Forschung geht allgemein davon aus, daß er die mittelalterliche Gesellschaft vollständig zerstörte«, erläuterte er beim Schneiden seines Roastbeefs, »aber meine Untersuchungen deuten darauf hin, daß er sich insgesamt eher reinigend als katastrophal auswirkte.«

Dunworthy überlegte, warum es so lang dauerte. Untersuchten sie wirklich die Blutproben, oder warteten sie einfach, daß einer von ihnen über dem Teewagen zusammenbrach, damit sie die Inkubationszeit bestimmen konnten?

Als er gegessen hatte, rief Gilchrist wieder im New College an und fragte nach Basingames Sekretärin.

»Sie ist nicht da«, sagte Dunworthy. »Sie ist über Weihnachten nach Devonshire zu ihrer Tochter gefahren.«

Gilchrist ignorierte ihn. »Ja. Ich muß ihr eine Nachricht übermitteln. Ich versuche Mr. Basingame zu erreichen. Es ist ein Notfall. Wir haben gerade eine Historikerin ins 14. Jahrhundert geschickt, und Balliol unterließ es, den Netztechniker ordnungsgemäß zu überprüfen. Nun hat der Mann eine ansteckende Virusinfektion und ist bewußtlos. Rufen Sie bitte zurück.« Er legte auf. »Wenn Mr. Chaudhuri sich den notwendigen Vorsorgemaßnahmen entzogen hat, mache ich Sie persönlich verantwortlich, Mr. Dunworthy.«

»Er hat im September das ganze Programm absolviert«, sagte Dunworthy.

»Können Sie das beweisen?« fragte Gilchrist.

»Ist er durchgekommen?« meldete sich die Ärztin zu Wort.

Alle anderen, sogar Latimer, sahen sie erstaunt an. Bis zu diesem Augenblick hatte sie mit geschlossenen Augen, das Kinn auf der Brust und verschränkten Armen im Sessel gelegen und den Eindruck erweckt, daß sie fest eingeschlafen sei.

»Sie sagten, Sie hätten jemanden ins Mittelalter geschickt«, sagte sie in kriegerischem Ton. »Ist er durchgekommen?«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht…«, sagte Gilchrist.

»Dieses Virus«, sagte sie. »Konnte es durch die Zeitmaschine gekommen sein?«

Gilchrist blickte nervös zu Dunworthy. »Das ist nicht möglich, nicht wahr?«

»Nein«, sagte Dunworthy. Es war offensichtlich, daß Gilchrist von den theoretischen Grundlagen nicht viel verstand. Der Mann war als stellvertretender Dekan ungeeignet. Er wußte nicht einmal, wie das Netz funktionierte, durch das er Kivrin so vergnügt geschickt hatte. »Das Virus kann nicht durch das Netz gekommen sein.«

»Dr. Ahrens sagte, der Inder sei der einzige Fall«, sagte die Ärztin. »Und Sie sagen…« - sie zeigte auf Dunworthy -, »daß er alle Schutzimpfungen und Vorsorgemaßnahmen erhalten habe. Wenn das zutrifft, kann er nicht von einem Virus angesteckt worden sein, es sei denn, es war eine eingeschleppte Krankheit von anderswo. Und das Mittelalter war voller Krankheiten, nicht wahr? Pocken und Pest und Cholera?«

Gilchrist sagte: »Ich bin überzeugt, daß eine Möglichkeit, Krankheitserreger aus der Vergangenheit einzuschleppen, nicht besteht…«

»Es ist ganz ausgeschlossen, daß ein Virus durch das Netz kommt«, sagte Dunworthy ungeduldig. »Das Raum-Zeit-Kontinuum läßt es nicht zu.«

»Sie schicken Leute durch«, beharrte sie, »und ein Virus ist viel kleiner als ein Mensch und sehr viel widerstandsfähiger.«

Dunworthy hatte dieses Argument zuletzt in den frühen Jahren des Netzes gehört, als die Theorie noch lückenhaft gewesen war.

»Ich versichere Ihnen, daß wir alle Vorsichtsmaßregeln beachtet haben«, sagte Gilchrist.

»Nichts, was den Gang der Geschichte beeinflussen könnte, kann durch ein Netz gehen«, sagte Dunworthy mit einem finsteren Blick zu Gilchrist. Der Mann ermutigte sie mit diesem Gerede von Sicherheitsvorkehrungen. »Strahlung, Gift, Mikroben, nichts davon ist je durch ein Netz gegangen. Sind sie vorhanden und geeignet, den Geschichtsablauf zu verändern, dann öffnet sich das Netz nicht.«

Die Ärztin schien nicht überzeugt.

»Ich versichere Ihnen…«, sagte Gilchrist, und Mary kam herein.

Sie trug ein Bündel verschiedenfarbiger Papiere. Gilchrist stand sofort auf. »Dr. Ahrens, besteht eine Möglichkeit, daß diese Virusinfektion, die Mr. Chaudhuri sich zugezogen hat, durch das Netz gekommen sein könnte?«

»Natürlich nicht«, sagte sie und runzelte die Stirn, als sei die Vorstellung absolut lächerlich. »Erstens können Krankheiten nicht durch das Netz kommen. Es würde die Paradoxien verletzen. Zweitens, wenn die Krankheit durchgekommen wäre, was nicht sein kann, würde Badri sie sich in weniger als einer Stunde nach ihrem Durchkommen zugezogen haben, was bedeuten würde, daß das Virus eine Inkubationszeit von einer Stunde hätte, eine absolute Unmöglichkeit. Und wenn es so wäre — was nicht sein kann -, würden Sie alle bereits krank sein, denn seit Sie ihr ausgesetzt wurden, sind mehr als drei Stunden vergangen.« Sie machte sich daran, die ausgefüllten Formulare und Listen einzusammeln.

»Als stellvertretender Dekan der Historischen Fakultät habe ich Verantwortlichkeiten, um die ich mich kümmern muß«, sagte Gilchrist. »Wie lange wollen Sie uns hier noch festhalten?«

»Nur lange genug, um Ihre Kontaktlisten einzusammeln«, sagte sie, »und Ihnen Instruktionen zu geben. Vielleicht fünf Minuten.«

Sie nahm Latimers Liste an sich. Montoya zog ihre noch einmal über den Tisch und begann hastig zu schreiben.

»Fünf Minuten? Dann können wir also gehen?«

»Auf Probe, ja«, sagte sie. Sie legte die Listen unter ihr Papierbündel und begann die oberen Blätter auszuteilen. Sie waren von einem geschmacklosen Rosa und schienen Entlassungsformulare zu sein, welche die Klinik von jeglicher Verantwortung freistellten.

»Wir haben die Blutuntersuchungen vorgenommen«, fuhr sie fort, »und keine der Proben zeigt einen erhöhten Spiegel von Antikörpern.«

Sie reichte Dunworthy ein blaues Blatt, dessen Inhalt die Gesundheitsbehörde von jeglicher Verantwortung freistellte und die Bereitschaft des zu Entlassenden bekräftigte, alle nicht von der staatlichen Krankenversicherung getragenen Behandlungskosten in voller Höhe innerhalb von dreißig Tagen zu bezahlen.

»Das Gesundheitsamt empfiehlt kontrollierte Beobachtung, ständige Überwachung der Temperatur und Blutproben in zwölfstündigen Abständen.«

Das Blatt, das sie nun verteilte, war grün und trug die Überschrift: »Anleitung für Primärkontakte«. Der erste Punkt war: »Vermeiden Sie Kontakt mit anderen.«

Dunworthy dachte an Finch und die Schellenläuter, die ihn mit allen möglichen Wünschen und Ansinnen überfallen würden, wenn er sich im Balliol blicken ließe, und an alle Passanten zwischen hier und dort.

»Messen Sie in halbstündigen Abständen Ihre Temperatur«, fuhr sie fort, während sie ein gelbes Formblatt verteilte. »Kommen Sie sofort, wenn Ihr Monitor eine deutliche Zunahme der Temperatur anzeigt. Eine gewisse Fluktuation ist normal. Im allgemeinen steigt die Körpertemperatur am Spätnachmittag und Abend. Jede Temperatur zwischen 36 und 37,4 ist normal. Kommen Sie aber sofort in die Klinik, wenn Ihre Temperatur über 37,4 steigt, oder wenn sie plötzlich ansteigt, oder wenn Sie irgendwelche Symptome bei sich feststellen — Kopfschmerzen, Beengung in der Brust, Benommenheit oder Schwindel.«

Alle schauten auf ihre Monitore und begannen wahrscheinlich erste Anzeichen von Kopfschmerzen zu verspüren. Dunworthy hatte schon den ganzen Nachmittag welche.

»Vermeiden Sie nach Möglichkeit Kontakte mit anderen«, sagte Mary. »Geben Sie sich sorgfältig Rechenschaft über alle Kontakte, die Sie haben. Die Übertragungsweise ist uns noch unklar, aber die meisten Myxoviren werden durch Tröpfcheninfektion und direkten Kontakt verbreitet. Waschen Sie sich die Hände häufig mit Wasser und Seife.«

Sie gab Dunworthy ein weiteres rosa Blatt. Allmählich gingen ihr die Farben aus. Dieses war ein Formular mit der Überschrift »Kontakte« und darunter den Spalten »Name, Anschrift, Art des Kontakts, Zeitpunkt«.

Es war Pech, daß Badris Virus nichts mit den Gesundheitsbehörden zu tun gehabt hatte. Er wäre niemals zur Tür hereingekommen.

»Sie müssen sich morgen früh um sieben wieder hier melden. In der Zwischenzeit würde ich ein gutes Abendessen und frühzeitige Nachtruhe empfehlen. Ruhe ist die beste Abwehr gegen jedes Virus. Sie haben dienstfrei«, sagte sie mit einem Blick zu den beiden Krankenhausärzten, »solange die Quarantäne andauert«. Sie verteilte die letzten farbigen Blätter, dann fragte sie munter: »Irgendwelche Fragen?«

Dunworthy blickte zu der Ärztin und wartete, daß sie Mary fragen würde, ob Krankheitserreger durch das Netz gekommen seien, aber sie blickte desinteressiert auf ihre Papiere.

»Kann ich zurück zu meiner Ausgrabung?« fragte Montoya.

»Nicht, solange die Ausgrabungsstelle außerhalb des Quarantänebereiches liegt«, sagte Mary.

»Na, wunderbar«, sagte sie und stopfte ihre Papiere zornig in die Brusttasche ihrer Jacke. »Während ich hier festsitze, wird das ganze Dorf fortgespült.« Sie stapfte hinaus.

»Noch weitere Fragen?« sagte Mary unerschütterlich. »Sehr gut. Dann sehen wir uns alle morgen früh um sieben.«

Die beiden Krankenhausärzte verließen den Raum zusammen; die Frau gähnte und reckte sich, als wollte sie den unterbrochenen Schlummer anderswo fortsetzen. Latimer blieb noch auf seinem Stuhl sitzen und untersuchte seinen Temperaturmonitor. Gilchrist machte eine spöttische Bemerkung, worauf Latimer sich erhob, den Mantel anzog und sich mit dem Schirm und dem Bündel seiner Formulare bewaffnete.

»Ich erwarte, daß Sie mich über jede Entwicklung auf dem laufenden halten«, sagte Gilchrist zu Mary. »Ich werde weiter bemüht sein, Mr. Basingame zu verständigen, daß er zurückkommen und die Dinge hier in die Hand nehmen muß.« Er marschierte hinaus, dann mußte er warten und die Tür für Latimer aufhalten, der zwei von seinen Papieren fallen gelassen hatte und wieder aufheben mußte.

»Seien Sie so gut und bringen Sie Dr. Latimer morgen früh mit«, sagte Mary. »Er wird sich sonst nie erinnern, daß er um sieben hier sein muß.«

»Ich möchte Badri sehen«, sagte Dunworthy. »Im Krankenwagen sagte er auf dem Weg hierher, etwas sei nicht in Ordnung. Es könnte eine Verschiebung gegeben haben. Wenn Kivrin weiter als eine Woche von der Absetzzeit entfernt ist, wird sie keine Ahnung haben, wann der Rückholtermin ist.«

Sie antwortete nicht und blätterte stirnrunzelnd in den ausgefüllten Formularen.

»Ich muß mich vergewissern, daß es bei der Fixierung keine Probleme gegeben hat«, sagte er.

Sie blickte auf und seufzte. »Diese Formblätter sind hoffnungslos. Ich dachte, sie würden Hinweise über Badris Aufenthalt während der letzten drei Tage geben, aber es bleiben große Lücken. Er ist der einzige, der uns sagen kann, wo er war und mit wem er zusammenkam. Also kommen Sie mit.« Sie ging voran durch den Korridor. »Ich habe eine Krankenschwester bei ihm gelassen, damit sie ihm Fragen stellen kann, wenn er bei Bewußtsein ist, aber sie sagte mir, er sei sehr desorientiert und fürchte sich vor ihr. Vielleicht wird er bei Ihnen nicht so ängstlich sein.«

Während sie beim Aufzug warteten, fügte sie hinzu: »Leider ist Badri jeweils nur ein paar Augenblicke zur Zeit bei Besinnung. Es kann lange dauern, bis Sie etwas aus ihm herausbekommen.«

»Das macht nichts«, sagte Dunworthy. »Ich werde sowieso keine Ruhe finden, solange ich nicht weiß, daß Kivrin sicher durchgekommen ist.«

Sie fuhren zwei Etagen aufwärts, durchwanderten einen weiteren Korridor und ließen eine Tür mit der Aufschrift ISOLIERSTATION. KEIN ZUTRITT hinter sich. Hinter der Tür saß eine grimmig blickende Stationsschwester und beobachtete einen Monitor.

»Ich bringe Dr. Dunworthy zu Mr. Chaudhuri«, sagte Mary zu ihr. »Wir werden Schutzkleidung brauchen. Wie geht es ihm?«

»Sein Fieber ist wieder gestiegen. 39,8«, sagte die Schwester und gab ihnen zwei in Plastik versiegelte Bündel mit Papierkleidung, bestehend aus Kitteln mit Rückenverschluß, Kappen, Atemmasken, galoschenartige Schuhfutterale und Gummihandschuhe. Dunworthy beging den Fehler, zuerst die Handschuhe anzuziehen, und brauchte eine Ewigkeit, bis es ihm gelang, den Kittel zu entfalten, anzulegen und die Schutzmaske anzubringen.

»Sie müssen ganz spezifische Fragen stellen«, sagte Mary. »Zum Beispiel, was er heute früh nach dem Aufstehen tat, ob er die Nacht mit jemandem verbrachte, wo er frühstückte, wer dabei war, und so weiter. Sein hohes Fieber bedeutet, daß er sehr desorientiert ist. Sie werden Ihre Fragen mehrmals wiederholen müssen.« Sie öffnete die Tür zum Krankenzimmer.

Es war kaum ein Zimmer zu nennen — der Platz reichte gerade für das Bett und einen schmalen Hocker. Nicht einmal einen Stuhl gab es. Die Wand hinter dem Bett war bedeckt mit Anzeigeinstrumenten, die Wand zur Linken hatte ein zugezogenes Fenster und weiteres Gerät. Nach einem kurzen Blick zu Badri begann Mary die Anzeigen zu überprüfen.

Dunworthy besah die Bildschirme auf der linken Seite. Derjenige, der ihm am nächsten war, zeigte eine Menge Zahlen und Buchstaben. Die unterste Zeile lautete ICU 14320691-22-12-54 1803 200/RPT 1800 CRS IMJPCLN 200MG/q6h NHS40-211-7 M AHRENS. Anscheinend die ärztliche Verschreibung.

Die anderen Bildschirme zeigten gezackte Linien und Zahlenkolonnen. Keiner von ihnen ergab irgendeinen Sinn, ausgenommen eine kleine Leuchtschriftanzeige weit rechts. Sie lautete: »Temp: 39,0«. Lieber Gott.

Er wandte sich zu Badri. Der Techniker lag auf dem Rücken, die Arme auf der Decke und an Tropfleitungen angeschlossen, die von Ständern hingen. Seine Augen waren geschlossen, das Gesicht sah dünn und eingefallen aus, als hätte er seit diesem Morgen viel Gewicht verloren. Seine dunkle Haut hatte eine seltsam purpurfarbene Tönung.

Mary beugte sich über den Kranken. »Badri! Können Sie uns hören?«

Er öffnete die Augen und sah sie an, aber es war kein Erkennen in dem Blick. Dies lag wahrscheinlich weniger am Fieber als an dem Umstand, daß sie von Kopf bis Fuß in Papier gehüllt waren.

»Das ist Mr. Dunworthy«, sagte Mary. »Er ist gekommen, Sie zu besuchen.« Der Signalgeber in ihrer Tasche begann zu piepen.

»Mr. Dunworthy?« stieß er heiser hervor. Er versuchte sich aufzurichten.

Mary drückte ihn ins Kissen zurück. »Mr. Dunworthy hat ein paar Fragen an Sie«, sagte sie und tätschelte seine Brust, wie sie es im Laboratorium von Brasenose getan hatte. Dann richtete sie sich auf und sagte nach einem Blick zu den Anzeigeinstrumenten über dem Kopfende seines Bettes: »Liegen Sie still. Ich muß jetzt gehen, aber Mr. Dunworthy wird bei Ihnen bleiben. Ruhen Sie sich aus und versuchen Sie seine Fragen zu beantworten.« Sie ging hinaus.

»Mr. Dunworthy?« sagte Badri wieder, aber es klang so, als bemühte er sich, einen Sinn in den Worten zu finden.

»Ja«, sagte Dunworthy. Er setzte sich auf den Hocker. »Wie fühlen Sie sich?«

»Wann erwarten Sie ihn zurück?« fragte Badri mit schwacher, angestrengter Stimme. Wieder wollte er sich aufrichten. Dunworthy streckte die Hand aus, um ihn daran zu hindern. »Muß ihn finden«, murmelte Badri. »Etwas ist nicht in Ordnung.«

8

Sie verbrannten sie auf dem Scheiterhaufen. Kivrin konnte die Flammen fühlen. Sie mußten sie bereits an den Pfahl gebunden haben, obwohl sie sich an den Vorgang nicht erinnern konnte. Aber sie erinnerte sich, daß sie das Feuer angezündet hatten. Sie war vom Schimmel gefallen, und der Halsabschneider hatte sie aufgehoben und hingetragen.

»Wir müssen zurück zum Absetzort«, hatte sie ihm gesagt.

Er hatte sich über sie gebeugt, und sie hatte im flackernden Feuerschein sein grausames Gesicht sehen können.

»Mr. Dunworthy wird das Netz öffnen, sobald er merkt, daß etwas nicht stimmt«, hatte sie ihm erzählt. Das hätte sie nicht sagen sollen. Er hatte sie für eine Hexe gehalten und hierher gebracht, wo der Scheiterhaufen brannte.

»Ich bin keine Hexe«, sagte sie, und gleich darauf kam eine Hand aus dem Nichts und ruhte kühl auf ihrer Stirn.

»Schhh«, sagte eine Stimme.

»Ich bin keine Hexe«, sagte sie, um langsame und deutliche Aussprache bemüht, damit sie sie verstünden. Der Halsabschneider hatte sie nicht verstanden. Sie hatte versucht, ihm klarzumachen, daß sie den Absetzort nicht verlassen sollten, doch er hatte dem keine Beachtung geschenkt, sie auf seinen Schimmel gesetzt und von der Lichtung durch das Birkengehölz in den dichtesten Teil des Waldes geführt.

Sie hatte auf die Richtung geachtet, die sie eingeschlagen hatten, um später zurückzufinden, aber die schwankende Laterne des Mannes hatte kaum mehr als den unmittelbaren Umkreis erhellt, und der wilde Tanz der Schatten und des Widerscheins auf Bäumen und Sträuchern hatte sie verwirrt und noch schwindliger gemacht. Darauf hatte sie die Augen geschlossen, und das war ein Fehler gewesen, denn die ungewohnte Gangart des Pferdes hatte sie um jedes Gleichgewichtsgefühl gebracht, und sie war hinuntergefallen.

»Ich bin keine Hexe«, wiederholte sie. »Ich bin Historikerin.«

»Hawey vond enyowuh thissla dey?« sagte die Frauenstimme wie aus weiter Ferne. Sie mußte nähergetreten sein, um ein Scheit ins Feuer zu legen, um dann wieder aus der Hitze zurückzutreten.

»Enwodes villenun gleydund sare destrayste«, sagte eine Männerstimme. Sie klang wie Mr. Dunworthys. »Ayin mynarmehs hoor alle op bider ybar.«

»Swelzes shay dumorte blawen?« sagte die Frau.

»Mr. Dunworthy«, sagte Kivrin und streckte die Arme nach ihm aus, »ich bin unter Halsabschneider gefallen.« Aber sie konnte ihn im erstickenden Rauch nicht sehen.

»Schhh«, machte die Frau, und Kivrin begriff, daß es später war, daß sie, so unmöglich es scheinen mochte, geschlafen hatte. Wie lange dauert es, bis man verbrennt, fragte sie sich. Das Feuer war so heiß, daß sie inzwischen zu Asche geworden sein sollte, aber als sie die Hand hob, sah sie unberührt aus, obwohl kleine rote Flammen an den Rändern der Finger entlangzüngelten. Das Licht der Flammen schmerzte ihren Augen. Sie schloß die Lider.

Hoffentlich falle ich nicht wieder vom Pferd, dachte sie. Sie hatte sich angeklammert, beide Arme um seinen Hals gelegt, aber die stoßende, ungleichmäßige Gangart hatte ihre Kopfschmerzen verschlimmert, und obwohl sie nicht losgelassen hatte, war sie heruntergefallen. Und das, obwohl Mr. Dunworthy darauf bestanden hatte, daß sie reiten lerne, und in einem Reitstall bei Woodstock Reitstunden für sie vereinbart hatte. Mr. Dunworthy hatte ihr gesagt, daß dies geschehen würde. Er hatte sie gewarnt, daß man sie auf dem Scheiterhaufen verbrennen würde.

Die Frau hielt ihr eine Schale an die Lippen. Es mußte Essig in einem Schwamm sein, dachte Kivrin, wie sie es den Märtyrern gaben. Aber es war kein Essig, sondern eine warme, saure Flüssigkeit. Die Frau mußte Kivrins Kopf anheben, daß sie davon trinken konnte, und jetzt erst wurde Kivrin klar, daß sie lag.

Ich werde Mr. Dunworthy berichten müssen, dachte sie, daß man die Leute liegend auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Sie wollte die Hände wie zum Gebet auf der Brust falten, um das Aufzeichnungsgerät zu aktivieren, aber das Gewicht der Flammen zog sie wieder herab.

Ich bin krank, dachte Kivrin, und verstand, daß die warme Flüssigkeit ein Arzneitrunk gewesen war, und daß er ihr Fieber ein wenig gesenkt haben mußte. Sie lag nicht am Boden, sondern in einem Bett in einem dunklen Raum, und die Frau, die sie beschwichtigt und ihr den Trunk gegeben hatte, war neben ihr. Sie konnte ihr Atmen hören. Kivrin versuchte den Kopf zu bewegen, um sie zu sehen, aber die Anstrengung verstärkte den Schmerz wieder. Die Frau mußte schlafen. Der Atem ging gleichmäßig und laut, beinahe wie ein Schnarchen. Auch das Hinhören verstärkte die Kopfschmerzen.

Ich muß im Dorf sein, dachte sie. Der rothaarige Mann muß mich hergebracht haben.

Sie war vom Pferd gefallen, und der Halsabschneider hatte ihr wieder hinaufgeholfen, aber als sie ihm ins Gesicht gesehen hatte, hatte er überhaupt nicht wie ein Halsabschneider ausgesehen. Er war noch nicht alt, mit rotem Haar und einem freundlichen Ausdruck, und er hatte sich über sie gebeugt, als sie an das Wagenrad gelehnt saß, hatte sich auf ein Knie niedergelassen und gefragt: »Wer bist du?«

Sie hatte ihn vollkommen klar verstanden.

»Canstawd ranken derwyn?« sagte die Frau und hob Kivrins Kopf noch etwas an, daß sie von der bitteren Flüssigkeit trinken konnte. Das Schlucken fiel Kivrin schwer, denn nun war das Feuer in ihrer Kehle. Sie fühlte die kleinen orangefarbenen Flammen, obwohl die Flüssigkeit sie hätte löschen sollen. Sie überlegte, ob er sie in ein fremdes Land gebracht habe, Spanien oder Griechenland, wo die Menschen sich einer Sprache bedienten, die nicht im Implantdolmetscher war.

Sie hatte den rothaarigen Mann richtig verstanden. »Wer bist du?« hatte er gefragt, und sie hatte geglaubt, daß der andere Mann ein Knecht oder Sklave sein müsse, den er von den Kreuzzügen mitgebracht hatte, ein Sklave, der Türkisch oder Arabisch sprach, was die Ursache war, daß sie ihn nicht verstehen konnte.

»Ich bin Historikerin«, hatte sie gesagt, doch als sie in sein freundliches Gesicht aufgeblickt hatte, war er es nicht. Es war der Halsabschneider.

Sie blickte in Panik umher, ob der Rothaarige in der Nähe sei, aber er war nicht da. Der Halsabschneider legte Stecken auf ein paar Steine, um Feuer zu machen.

»Mr. Dunworthy!« rief Kivrin in Verzweiflung, und der Halsabschneider kam und kniete vor ihr. Das Licht seiner Laterne flackerte über sein Gesicht.

»Vürthe niht«, sagte er. »Her wirde widerkomen zitec.«

»Mr. Dunworthy!« schrie sie, und der rothaarige Mann kam und kniete neben ihrem Lager.

»Ich hätte den Absetzort nicht verlassen sollen«, sagte sie zu ihm und beobachtete sein Gesicht, so daß es sich nicht in den Halsabschneider verwandeln würde. »Etwas muß mit der Fixierung schiefgegangen sein. Sie müssen mich dorthin zurückbringen.«

Er löste den Umhang, den er trug, schwang ihn von den Schultern und legte ihn über sie, und sie wußte, daß er verstand.

»Ich muß nach Hause«, sagte sie, als er sich über sie beugte. Er hatte eine Laterne bei sich, und sie erhellte sein freundliches Gesicht und flackerte wie Feuer auf seinem roten Haar.

»Godufadur«, rief er aus, und sie dachte, daß es der Name des Sklaven sein müsse. Er würde den Sklaven fragen, wo er sie gefunden hatte, und dann würde er sie zum Absetzort zurückbringen. Und Mr. Dunworthy würde außer sich sein, daß sie nicht dort war, als er das Netz öffnete. Es ist schon gut, Mr. Dunworthy, sagte sie sich im stillen, ich komme schon.

»Dreede nawmaydde«, sagte der rothaarige Mann und hob sie auf. »Fawrthah Galwinnath coam.«

»Ich bin krank«, sagte Kivrin zu der Frau, »darum kann ich euch nicht verstehen«, aber diesmal beugte sich niemand aus der Dunkelheit zu ihr, sie zu beruhigen. Vielleicht waren sie es müde geworden, sie brennen zu sehen, und waren fortgegangen. Es dauerte wirklich lange, obwohl das Feuer jetzt heißer zu werden schien.

Der rothaarige Mann hatte sie vor sich auf den Schimmel gesetzt und war in die Wälder geritten, und sie hatte gedacht, er müsse sie zurück zum Absetzort bringen. Das Pferd hatte jetzt einen Sattel und war mit Glöckchen behangen, die im Schritt des Pferdes bimmelten, und Kivrin kam es vor, als spielten sie eine Melodie. Es war »Ihr Kinderlein kommet«, und die Glöckchen wurden lauter und lauter, bis sie wie die Glocken von St. Mary dröhnten.

Sie ritten weit, und Kivrin dachte, sie müßten inzwischen sicherlich in der Nähe des Absetzortes sein.

»Wie weit ist es zum Absetzort?« fragte sie den Rothaarigen. »Mr. Dunworthy wird sich solche Sorgen machen«, aber er antwortete nicht. Er ritt aus den Wäldern und einen Hang hinunter. Der Mond war aufgegangen und schien bleich in den Zweigen eines kahlen Gehölzes und auf die Kirche am Fuß des Hügels.

»Das ist nicht die Stelle«, sagte sie und wollte in die Zügel greifen, um das Pferd zu wenden, aber sie wagte die Arme nicht von der Mitte des Rothaarigen zu nehmen, weil sie befürchtete, sie könnte fallen. Und dann waren sie an einer Tür, und sie öffnete sich, und es gab ein Feuer und Licht und Glockenklang, und sie wußte, daß er sie schließlich doch zum Absetzort zurückgebracht hatte.

»Shay boyen syke nighonn tdeeth«, sagte die Frau. Ihre Hände waren runzlig und rauh auf Kivrins Haut. Sie zog die Bettdecke über Kivrin und strich sie glatt. Pelz, Kivrin fühlte weichen Pelz im Gesicht, oder vielleicht war es ihr Haar.

»Wohin habt ihr mich gebracht?« fragte sie. Die Frau beugte sich ein wenig näher, als könne sie nicht hören, und Kivrin merkte, daß sie nicht auf ihre Sprache geachtet hatte. Der Implantdolmetscher funktionierte nicht. Sie sollte imstande sein, ihre Gedanken in den Sprachgebrauch des Mittelalters umzusetzen. Vielleicht war das der Grund, daß sie die Leute nicht verstehen konnte, weil der Implantdolmetscher nicht funktionierte.

Sie überlegte, wie es richtig heißen mußte. »Wa hin ir mih han gebranc?« Die Konstruktion war nicht richtig. Sie hätte fragen sollen: »Was für ein Ort ist dies?« Aber sie konnte sich nicht an die Worte erinnern.

Sie konnte überhaupt nicht denken. Die Frau legte immer mehr Decken und Felle auf sie, und je mehr es wurden, desto kälter wurde es Kivrin, als hätte die Frau das Feuer gelöscht.

Sie würden nicht verstehen, was sie meinte, wenn sie fragte: »War für ein Ort ist dies?« Sie war in einem Dorf. Der rothaarige Mann hatte sie in ein Dorf gebracht. Sie waren an einer Kirche vorbei und zu einem ziemlich großen Haus geritten. Sie mußte fragen: »Wie heißt dieses Dorf?«

Vielleicht sprachen sie noch eine Mundart des normannischen Französisch? Dann würden sie vermutlich die französische Satzkonstruktion gebrauchen.

»Dans quelle demeure m’avez vous apporter?« sagte sie laut, aber die Frau war fortgegangen, und es schien auch nicht richtig. Sie hatte nie gehört, daß sich das normannische Französisch länger als zweihundert Jahre in England gehalten hätte. Sie mußte die Frage auch umformulieren. »Wo ist das Dorf, in das ihr mich gebracht habt?« Aber was war das Wort für Dorf?

Mr. Dunworthy hatte ihr gesagt, daß sie sich vielleicht nicht auf den Implantdolmetscher würde verlassen können, daß sie Unterricht in Mittelenglisch, normannischem Französisch und Deutsch nehmen müsse, um Diskrepanzen in der Aussprache auszugleichen. Sie hatte sich seitenlang Texte von Chaucer eingeprägt. Nein, das half ihr auch nicht weiter. »Wo ist dieses Dorf, in das ihr mich gebracht habt?« Wie war das Wort für Dorf?

Er hatte sie in ein Dorf gebracht und an eine Tür geklopft. Ein alter Mann war an die Tür gekommen, eine Axt in den Händen. Natürlich, um Holz für das Feuer zu hacken. Ein alter Mann, und dann eine Frau, und sie hatten beide Worte gesprochen, die Kivrin nicht hatte verstehen können, und die Tür war zugefallen, und sie hatten draußen in der Dunkelheit gestanden.

»Mr. Dunworthy! Dr. Ahrens!« hatte sie gerufen, aber ihre Brust war so beengt und schmerzte so sehr, daß sie die Worte nicht herausbrachte. »Sie dürfen sie nicht nahe zum Absetzort führen«, hatte sie zu dem rothaarigen Mann gesagt, aber er hatte sich wieder in einen Halsabschneider, einen Räuber verwandelt.

»Nein«, hatte er gesagt, »sie ist bloß verletzt«, und dann war die Tür wieder geöffnet worden, und er hatte sie zur Verbrennung hineingetragen.

Ihr war so heiß.

»Thaumot goonawt plersoun rosbundt prayenum comt ithre«, sagte die Frau, und Kivrin suchte den Kopf zu heben, um zu trinken, aber die Frau hielt keine Schale in der Hand. Sie hielt eine Kerze vor Kivrins Gesicht. Zu nahe. Ihr Haar würde Feuer fangen.

»Der maydemot nedes dya«, sagte die Frau.

Die Kerze flackerte nahe an ihrer Wange. Ihr Haar brannte. Gelbe und rote Flammen huschten ihren Haarsaum entlang, erfaßten losgelöste Strähnen und kräuselten sie zu Asche.

»Schhh«, machte die Frau und wollte Kivrins Hände festhalten, aber Kivrin wehrte sich, bis sie die Hände frei bekam. Sie schlug nach ihrem Haar, um die Flammen zu löschen. Ihre Hände fingen Feuer.

»Schhh«, machte die Frau und hielt ihr die Hände fest. Es war nicht die Frau. Die Hände waren zu stark. Kivrin warf den Kopf von einer Seite zur anderen, um den Flammen zu entgehen, aber sie hielten ihr auch den Kopf fest. Ihr Haar flammte in einer Feuerwolke auf.


Es war rauchig im Raum, als sie erwachte. Das Feuer mußte ausgegangen sein, während sie geschlafen hatte. Das war auch einem der Märtyrer so ergangen, als sie ihn auf dem Scheiterhaufen verbrannt hatten. Seine Freunde hatten frisches, grünes Holz aufgeschichtet, so daß er im Rauch ersticken würde, bevor die Flammen ihn erreichten, aber statt dessen war das Feuer beinahe ausgegangen und er hatte stundenlang angebunden auf dem qualmenden Scheiterhaufen geschwelt.

Die Frau beugte sich über sie. Es war so rauchig, daß Kivrin nicht erkennen konnte, ob sie jung oder alt war. Der rothaarige Mann mußte das Feuer gelöscht haben. Er hatte seinen Umhang über sie gebreitet und war dann zum Feuer gegangen und hatte es mit Stiefeltritten auseinandergerissen und so gelöscht, aber der Rauch hatte den ganzen Raum erfüllt und ihr die Sicht genommen.

Die Frau tropfte Wasser auf sie, und die Tropfen zischten auf ihrer Haut. »Hauccaym anchi towoem denswil?« sagte die Frau.

»Ich bin Isabel de Beauvrier«, sagte Kivrin. »Mein Bruder liegt krank in Evesham.« Sie konnte sich nicht auf die Worte besinnen. Quelle demeure. »Wo bin ich?« fragte sie.

Ein Gesicht beugte sich näher. »Hau higtes towe?« sagte es. Es war das Halsabschneidergesicht aus dem verhexten Wald. Sie schrak ängstlich vor ihm zurück.

»Geh fort!« sagte sie. »Was willst du?«

»In nomine Patris, et Filii, et Spiritus sancti«, sagte er.

Latein, dachte sie dankbar. Es mußte hier einen Priester geben. Sie versuchte den Kopf zu heben, um an dem Halsabschneider vorbei zum Priester zu sehen, aber sie konnte nicht. Es war zu rauchig im Raum. Ich kann Latein, dachte sie. Mr. Dunworthy drängte mich, es aufzufrischen und mehr zu sprechen.

»Ihr hättet ihn nicht hereinlassen sollen«, sagte sie auf lateinisch. »Er ist ein Halsabschneider!« Ihre Kehle schmerzte, als hätte er sie bereits durchgeschnitten, und sie schien keinen Atem zu haben, um die Worte auszustoßen, aber nach der Art und Weise zu urteilen, wie der Halsabschneider erschrocken den Kopf hob, erkannte sie, daß er sie gehört hatte.

»Du mußt nicht ängstlich sein«, sagte der Priester, und sie verstand ihn ganz genau. »Du brauchst nur wieder heimzugehen.«

»Zum Absetzort?« fragte Kivrin. »Bringen Sie mich zum Absetzort?«

»Asperges me, Domine, hyssope et mundabor«, sagte der Priester. Besprenge mich mit Ysop, o Herr, und ich werde gereinigt sein. Sie konnte ihn gut verstehen.

»Hilf mir«, sagte sie auf lateinisch. »Ich muß an den Ort zurückkehren, von dem ich kam.«

»… nomen…«, murmelte der Priester so leise, daß sie nur dieses eine Wort verstand. Name. Etwas über ihren Namen. Sie hob den Kopf. Er fühlte sich eigentümlich leicht an, als hätte er mit dem Verbrennen ihres Haares die Hälfte des Gewichts verloren.

»Mein Name?« sagte sie.

»Kannst du mir deinen Namen sagen?« sagte er auf lateinisch.

Sie sollte ihm sagen, daß sie Isabel de Beauvrier sei, Tochter von Gilbert de Beauvrier aus East Riding, aber ihre Kehle schmerzte so, daß sie nicht glaubte, es herauszubringen.

»Ich muß zurück«, sagte sie. »Sie werden nicht wissen, wohin ich gegangen bin.«

»Confiteor Deo omnipotente«, sagte der Priester aus weiter Ferne. Sie konnte ihn nicht sehen. Wenn sie an dem Halsabschneider vorbeischauen wollte, konnte sie nur Flammen sehen. Sie mußten das Feuer wieder angezündet haben. »Beatae Mariae semper virgine…«

Er sprach das Confiteor, das Beichtgebet. Der Halsabschneider sollte nicht da sein. Während einer Beichte sollte außer dem Priester und dem Beichtenden niemand im Raum sein.

Nun war sie an der Reihe. Sie versuchte die Hände im Gebet zu falten und konnte es nicht, aber der Priester half ihr, und wenn sie die Worte nicht erinnern konnte, sprach er sie mit ihr. »Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich bekenne Gott dem Allmächtigen und dir, Vater, daß ich viel gesündigt habe, in Gedanken, Worten und Werken.«

»Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.« Durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine übergroße Schuld, aber das war nicht richtig, das war nur im Confiteor.

»Wie hast du gesündigt?« fragte der Priester.

»Gesündigt?« sagte sie.

»Ja«, sagte er mit freundlicher Stimme und beugte sich so nahe zu ihr, daß er fast in ihr Ohr flüsterte. »Daß du deine Sünden bekennst und Gottes Vergebung gewinnst und in das himmlische Königreich eingehst.«

Ich wollte nur ins Mittelalter, dachte sie. So angestrengt habe ich gearbeitet, die Sprachen und Sitten gelernt und alles getan, was Mr. Dunworthy mir sagte. Ich wollte nur eine Historikerin sein.

Sie schluckte, ein Gefühl wie Feuer. »Ich habe nicht gesündigt.«

Der Priester richtete sich auf, und sie dachte, er sei zornig fortgegangen, weil sie ihre Sünden nicht beichten wollte.

»Ich hätte auf Mr. Dunworthy hören sollen«, sagte sie. »Ich hätte den Absetzort nicht verlassen sollen.«

»In nomine Patris, et Filii, et Spiritus sancti«, sagte der Priester. Seine Stimme war freundlich, tröstend. Sie fühlte seine kühle Berührung an der Stirn.

»Quid quid deliquisti«, murmelte der Priester. »Durch diese heilige Salbung und Seine allergütigste Barmherzigkeit…« Er berührte ihre Augen, ihre Ohren und ihre Nase so leicht, daß sie seine Hand überhaupt nicht fühlen konnte, nur die kühle Berührung des Öls.

Das ist nicht Teil des Sakraments der Buße, dachte Kivrin. Das ist die letzte Ölung. Er sagt die Sterbegebete.

»Nicht…«, sagte Kivrin.

»Fürchte dich nicht«, sagte er. »Der allmächtige Gott erbarme sich deiner; Er lasse dir die Sünden nach und führe dich zum ewigen Leben. Amen«, sagte er und löschte das Feuer, das ihr die Fußsohlen verbrannte.

»Warum erhalte ich das Sterbesakrament?« fragte Kivrin, und dann fiel ihr ein, daß sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Ich werde hier sterben, dachte sie, und Mr. Dunworthy wird nie erfahren, was mit mir geschehen ist.

»Mein Name ist Kivrin«, sagte sie. »Sagt Mr. Dunworthy…«

»Mögest du deinen Erlöser von Angesicht zu Angesicht erblicken«, sagte der Priester, bloß war es der Halsabschneider, der sprach. »Und mögest du vor Ihm stehen und mit gesegneten Augen die geoffenbarte Wahrheit schauen.«

»Ich sterbe, nicht wahr?« fragte sie den Priester.

»Es ist nichts zu fürchten«, sagte er und nahm ihre Hand.

»Verlaß mich nicht«, sagte sie und umklammerte seine Finger.

»Das werde ich nicht tun«, sagte er, aber sie konnte ihn vor lauter Rauch nicht sehen. »Möge der allmächtige Gott dir gnädig sein und deine Sünden vergeben und dir das immerwährende Leben bringen«, sagte er.

»Bitte kommen Sie und holen Sie mich, Mr. Dunworthy«, sagte sie, und die Flammen loderten zwischen ihnen auf.


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000806–000882)

Domine, mittere digneris sanctum Anaelum tuum de caelis, qui custodiat, foveat, protegat, visitet, atque defendat omnes habitantes in hoc habitaculo.


(Unterbrechung)

Exaudi orationem meam et clamor meus ad te veniat.{Herr, lasse Dich herab, Deinen heiligen Engel vom Himmel zu senden, daß er alle, die in diesem Hause versammelt sind, behüte, hege, beschütze, besuche und verteidige. — Erhöre mein Gebet und laß mein Rufen zu Dir kommen.}

9

»Was ist es, Badri? Was ist schiefgegangen?« fragte Dunworthy.

»Kalt«, flüsterte Badri. Dunworthy beugte sich über ihn, zog Laken und Decke unter den Armen heraus und deckte ihn dann bis zum Kinn zu. Die Decke schien jämmerlich unzureichend, nicht viel dicker als das Nachthemd aus Papier, das Badri bekommen hatte. Kein Wunder, daß ihn fror.

»Danke«, murmelte Badri. Er schloß die Augen.

Dunworthy sah sich besorgt nach den Kontrollanzeigen um, aber sie waren inzwischen nicht verständlicher geworden. Die Temperaturanzeige blieb bei 39,7. Badris Hände hatten sich sogar durch die Gummihandschuhe sehr heiß angefühlt, und die Fingernägel eigenartig ausgesehen, beinahe dunkelblau. Auch Badris Hautfarbe schien dunkler als sonst, das Gesicht beinahe ausgemergelt.

Die Stationsschwester, deren Umrisse unter dem Kittel unangenehme Assoziationen mit Mrs. Gaddson wachriefen, kam herein und sagte barsch: »Die Liste der Primärkontakte ist eingespeichert.« Kein Wunder, daß Badri sich vor ihr fürchtete. »CH1«, sagte sie und zeigte zur Tastatur unter dem Datenanschluß.

Dunworthy gab die Kombination ein, und eine in Stundenblöcke unterteilte Tabelle erschien auf dem Bildschirm. Sein eigener Name, Marys und die der Krankenschwestern standen obenan, dahinter in Klammern ein Kürzel SK, vermutlich, um darauf hinzuweisen, daß sie Schutzkleidung trugen, wenn sie mit ihm in Berührung kamen.

Dunworthy ließ die Tabelle mit rückwärts laufender Zeiteinteilung über den Bildschirm wandern. Die Einlieferung, die Ambulanzärzte, das Netz, die letzten zwei Tage. Badri war am Montagvormittag in London gewesen und hatte im Jesus College eine Absetzoperation vorbereitet. Mittags war er mit der U-Bahn nach Oxford zurückgekehrt.

Um halb drei war er zu Dunworthy gekommen und bis vier geblieben. Dunworthy gab die Uhrzeiten ein. Badri hatte ihm bei der Gelegenheit erzählt, daß er in London gewesen sei, aber Dunworthy konnte sich nicht an Angaben über die Uhrzeit erinnern. Er ergänzte: »London — Jesus College wegen Ankunftszeit anrufen.«

»Bald ist er weg, bald ist er wieder da«, sagte die Krankenschwester mißbilligend. »Das ist das Fieber. Haben Sie ihm die Decke übergezogen?« Sie überprüfte die Schläuche und ihre Befestigungen, zog die Bettdecke mit einem Ruck glatt und marschierte hinaus.

Das Schließen der Tür schien Badri zu ermuntern. Seine Lider öffneten sich blinzelnd.

»Ich muß Ihnen einige Fragen stellen, Badri«, sagte Dunworthy. »Wir müssen herausbringen, mit wem Sie zusammen waren und gesprochen haben. Wir möchten Ansteckungsgefahr meiden, und dazu müssen Sie uns sagen, wer in Frage kommt.«

»Kivrin«, sagte er. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, aber seine Hand tastete nach Dunworthys und hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest. »Im Laboratorium.«

»Heute vormittag? Und haben Sie Kivrin gestern gesehen?«

»Nein.«

»Was haben Sie gestern gemacht?«

»Ich überprüfte das Netz.«

»Waren Sie den ganzen Tag damit beschäftigt?«

Er schüttelte den Kopf. Die Anstrengung erzeugte eine ganze Serie von Pieptönen und Ausschlägen auf den Kontrollschirmen. »Ich war bei Ihnen.«

Dunworthy nickte. »Sie hinterließen mir eine Nachricht. Was machten Sie danach? Haben Sie Kivrin gesehen?«

»Kivrin?« sagte er. »Ich überprüfte Puhalskis Koordinaten.«

»Waren Sie richtig?«

Er runzelte die Stirn. »Ja.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Ich überprüfte sie zweimal.« Er machte eine Pause, um Luft zu schöpfen. »Ich nahm eine interne Überprüfung vor, und eine am Komparator.«

Dunworthy war erleichtert. Also hatte es keinen Fehler in den Koordinaten gegeben. »Wie war es mit der Verschiebung? Wieviel Verschiebung gab es?«

»Kopfschmerzen«, murmelte Badri. »Heute früh. Muß bei der Tanzveranstaltung zuviel getrunken haben.«

»Welcher Tanzveranstaltung?«

Badri schloß die Augen und seufzte.

»Auf welcher Tanzveranstaltung waren Sie?« drängte Dunworthy. Er kam sich vor wie ein Inquisitor. »Wann war es? Montag?«

»Dienstag«, sagte Badri. »Trank zuviel.« Er drehte den Kopf auf die andere Seite.

»Ruhen Sie jetzt aus«, sagte Dunworthy. Er löste seine Hand behutsam aus Badris Fingern. »Versuchen Sie ein wenig zu schlafen.«

»Freut mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Badri und wollte wieder seine Hand ergreifen.

Dunworthy gab sie ihm und beobachtete abwechselnd den Schlafenden und die Kontrollanzeigen. Draußen regnete es. Hinter dem Vorhang zerplatzten die Tropfen mit leisem, unregelmäßigem Geräusch an der Fensterscheibe.

Er hatte nicht verstanden, wie krank Badri tatsächlich war, war zu sehr um Kivrin besorgt gewesen, um auch nur an ihn zu denken. Vielleicht sollte er nicht so kritisch gegen Montoya und die anderen sein; auch sie hatten ihre Voreingenommenheiten, und keiner von ihnen hatte darüber nachgedacht, was Badris Krankheit bedeutete, es sei denn im Hinblick auf die Schwierigkeiten und Unbequemlichkeiten, die sie ihnen bereitete. Selbst Mary, die davon redete, daß sie das Bulkeley-Johnson- Studentenwohnheim als Notkrankenhaus benötigten, falls es zum Ausbruch einer Epidemie kommen sollte, hatte sich gegen die Realität von Badris Krankheit und ihre Bedeutung verschlossen. Er hatte seine antiviralen Schutzimpfungen bekommen, an den Vorsorgeuntersuchungen teilgenommen, und doch lag er hier mit 39,7 Fieber.

Der Abend verging. Dunworthy lauschte dem Regen und dem Viertelstundenschlag von St. Hilda und, weiter entfernt, Christ Church. Die Stationsschwester teilte ihm in grimmigem Ton mit, daß sie Feierabend habe, und eine viel kleinere und freundlichere blonde Schwester, nach ihrem Abzeichen eine Studentin, die ihr Praktikum absolvierte, überprüfte den Tropf und die Kontrollanzeigen.

Badri rang sich mit beängstigender Anstrengung immer wieder zum Bewußtsein durch, und jedesmal schien er erschöpfter und weniger fähig, Dunworthys Fragen zu beantworten.

Aber Dunworthy ließ nicht locker. Die Tanzveranstaltung war in Headington gewesen. Anschließend war Badri in ein Pub gegangen, an deren Namen er sich nicht erinnerte. Am Montagabend hatte er allein im Laboratorium gearbeitet und Puhalskis Koordinaten überprüft. Er war mittags aus London zurückgekommen. Mit der U-Bahn. Es war unmöglich, den Kreis seiner Kontaktpersonen einzugrenzen. Fahrgäste, Pubbesucher und Tanzlustige, und alle, mit denen er in London zusammengekommen war. Es würde niemals möglich sein, ihnen allen auf die Spur zu kommen und sie zu überprüfen, selbst wenn Badri gewußt hätte, wer sie waren.

»Wie sind Sie heute morgen zum College gekommen?« fragte Dunworthy, als Badri wieder aus bewußtlosem Schlaf erwacht war.

»Morgen?« murmelte Badri. Er blickte zum verhängten Fenster, als erwarte er, daß es bereits Morgen sei. »Wie lange habe ich geschlafen?«

Dunworthy wußte nicht, wie er das beantworten sollte. Den ganzen Abend hatte er mit wachen Intervallen geschlafen. »Es ist jetzt zehn«, sagte er nach einem Blick auf seine Uhr. »Wir brachten Sie um halb zwei in die Klinik. Heute vormittag schickten Sie Kivrin durch das Netz. Erinnern Sie sich, wann Sie anfingen, sich krank zu fühlen?«

»Was für ein Datum haben wir?« fragte Badri.

»Den 22. Dezember. Sie sind noch nicht einmal einen Tag hier.«

»Und das Jahr?« fragte Badri mit einem matten Versuch, im Bett aufzusitzen. »Was für ein Jahr?«

Dunworthy blickte besorgt zu den Kontrollanzeigen. Die Temperatur betrug jetzt 39,9. »Das Jahr ist 2054«, sagte er und beugte sich näher, um ihn zu beruhigen. »Wir haben den 22. Dezember 2054.«

»Treten Sie zurück«, sagte Badri.

Dunworthy richtete sich auf und trat einen Schritt zurück.

»Zurück!« sagte er wieder. Er stützte sich auf die Ellenbogen und blickte verwirrt umher. »Wo ist Mr. Dunworthy? Ich muß mit ihm sprechen.«

»Ich bin hier bei Ihnen, Badri.« Dunworthy trat wieder einen Schritt näher und hielt inne, um ihn nicht zu erschrecken. »Was wollen sie mir sagen?«

»Wissen Sie, wo er dann sein könnte?« sagte Badri. »Würden Sie ihm diese Nachricht geben?« Er reichte ihm ein imaginäres Blatt Papier, und Dunworthy begann zu verstehen, daß er im Fiebertraum noch einmal den Dienstagnachmittag erlebte, als er ins Balliol gekommen war.

»Ich muß zurück zum Netz.« Er machte eine Bewegung, als wollte er auf die Armbanduhr sehen. »Ist das Laboratorium offen?«

»Weswegen wollten Sie mit Mr. Dunworthy sprechen?« fragte Dunworthy. »War es die Verschiebung?«

»Nein. Treten Sie zurück. Sie werden ihn fallen lassen. Den Deckel!« Er starrte Dunworthy aus fieberglänzenden Augen an. »Worauf warten Sie? Gehen Sie und holen Sie ihn!«

Die junge Krankenschwester kam herein.

»Er deliriert«, sagte Dunworthy.

Sie musterte Badri mit einen flüchtigen Blick und blickte dann zu den Kontrollanzeigen. Sie kamen Dunworthy unheilverkündend vor: ständig liefen Ziffern über die Bildschirme, zickzackten in drei Dimensionen, und da und dort gab es kräftige Ausschläge grüner und roter Linien, aber die Praktikantin schien nicht sonderlich besorgt. Sie überprüfte alle Ablesungen nacheinander und begann ruhig den Durchfluß am Tropf zu regulieren.

»Aber nun legen wir uns wieder hin, nicht wahr?« sagte sie, noch immer ohne Badri anzusehen, und erstaunlicherweise folgte er der Aufforderung sofort.

»Ich dachte, Sie seien weggegangen«, sagte er zu ihr, den Kopf wieder im Kissen. »Gott sei Dank, daß Sie hier sind.« Er schien in sich zusammenzusinken. Die Praktikantin hatte es nicht bemerkt. Sie regulierte noch den Tropf.

»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte Dunworthy.

Sie nickte und ging zum Datenanschluß, um die Ablesungen einzugeben. Badri, der unter seiner dunklen Haut totenbleich aussah, schenkte sie keinen Blick.

»Meinen Sie nicht, daß Sie einen Arzt rufen sollten?« fragte Dunworthy, und als wäre es ein Signal gewesen, ging die Tür auf und eine große Frau in Schutzkleidung kam herein.

Auch sie hatte für Badri keinen Blick übrig. Sie las die Kontrollanzeigen ab, dann fragte sie: »Anzeichen von Pleuritis?«

»Zyanose und Fieberfrost«, sagte die Praktikantin.

»Was bekommt er?«

»Myxabravin«, sagte sie.

Die Ärztin nahm ein Stethoskop von der Wand. »Hämoptoe?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Kalt«, sagte Badri. Keine von beiden schenkte ihm die geringste Aufmerksamkeit. Er begann zu zittern. »Nicht fallen lassen. Es war Porzellan, nicht wahr?«

»Fünfzig Kubikzentimeter in Wasser gelöstes Tetracyclin und Kreislaufstützung«, sagte die Ärztin. Sie richtete den am ganzen Leibe zitternden Badri im Bett auf und zog die Klettverschlüsse seines Papiernachthemdes auf. Dann preßte sie Badri das Stethoskop in einer Art und Weise, die Dunworthy grausam und rücksichtslos vorkam, gegen den Rücken. »Atmen Sie tief ein«, sagte sie, den Blick auf der Kontrollanzeige. Badri gehorchte. Seine Zähne schlugen aufeinander.

»Kleinere pleurale Verdichtung unten links«, sagte die Ärztin und bewegte das Stethoskop einen Zentimeter weiter. »Noch eine.« Sie setzte das Stethoskop noch mehrmals an, dann sagte sie: »Anzeichen interstitieller Pneunomie. Haben wir schon eine Bestimmung?«

»Myxovirus«, sagte die Praktikantin beim Aufziehen einer Spritze. »Typ A.«

»Sequenzanalyse?«

»Noch nicht.« Sie paßte die Spritze in die Kanüle ein und drückte den Kolben hinunter. Draußen läutete irgendwo ein Telefon.

Die Ärztin heftete die Klettverschlüsse von Badris Nachthemd zusammen, legte ihn wieder zurück und warf die Decke achtlos über eine untere Hälfte.

»Achten Sie auf Auswurf«, sagte sie und ging. Das Telefon läutete weiter.

Dunworthy drängte es, Badri richtig zuzudecken, aber die Praktikantin hängte einen weiteren Tropf an den Galgen. Er wartete, bis sie damit fertig und hinausgegangen war, dann ordnete er das Bettzeug und zog die Decke sorgsam über Badris Schultern und steckte sie an den Seiten ein.

»Ist das besser?« sagte er, aber Badri hatte aufgehört zu zittern und schlief. Dunworthy blickte zu den Kontrollanzeigen. Die Temperatur war schon auf 39,2 gesunken, und die vorher sichtbaren kräftigen Ausschläge auf den anderen Bildschirmen waren nun ruhig und gleichmäßig.

»Mr. Dunworthy«, sagte die Stimme der Praktikantin aus irgendeinem Wandlautsprecher, »da ist ein Anruf für Sie. Ein Mr. Finch.«

Dunworthy ging hinaus. Die Praktikantin, jetzt ohne ihre Schutzkleidung, bedeutete ihm, seinen Kittel abzulegen. Er tat es und warf die Kleidungsstücke in den großen Behälter, den sie ihm zeigte. »Ihre Brille, bitte«, sagte sie. Er gab sie ihr, und sie besprühte sie mit Desinfektionsmittel. Er nahm den Hörer ab und blinzelte in den Bildschirm.

»Mr. Dunworthy, ich habe Sie überall gesucht«, sagte Finch. »Es hat die unangenehmsten Komplikationen gegeben.«

»Was ist geschehen?« Dunworthy blickte auf seine Uhr. Es war zehn. Zu früh für weitere Krankheitsfälle, wenn die Inkubationszeit zwölf Stunden betrug. »Ist jemand erkrankt?«

»Nein, Sir. Es ist schlimmer. Mrs. Gaddson. Sie ist in Oxford. Hat es irgendwie geschafft, durch die Quarantäne zu kommen.«

»Ich weiß. Der letzte Zug. Sie ließ sich die Türen aufhalten.«

»Ja, nun, sie rief aus dem Krankenhaus an. Sie besteht darauf, im College zu bleiben und beschuldigte mich mangelnder Fürsorge, weil ich derjenige sei, der die Zuweisungen der Tutoren für ihren Sohn ausgeschrieben habe. Anscheinend hat einer ihn veranlaßt, während der Weihnachtsferien dazubleiben und Petrarca zu lesen.«

»Sagen Sie ihr, daß wir keinen Platz haben. Sagen Sie ihr, die Schlafsäle werden sterilisiert.«

»Das sagte ich, Sir, aber sie erwiderte, in diesem Fall würde sie das Zimmer ihres Sohnes mit ihm teilen. Das möchte ich ihm wirklich nicht antun, Sir.«

»Nein«, sagte Dunworthy. »Es gibt einige Dinge, die man nicht sollte ertragen müssen, nicht einmal während einer Epidemie. Haben Sie William gesagt, daß seine Mutter kommt?«

»Nein, Sir. Ich versuchte es, aber er ist nicht im College. Tom Gailey sagte mir, er besuche eine junge Dame in Shrewsbury, also rief ich dort an, aber es meldete sich niemand.«

»Zweifellos sind sie irgendwo draußen und lesen Petrarca«, sagte Dunworthy. Er fragte sich, was geschehen würde, wenn Mrs. Gaddson unterwegs zum College auf das nichtsahnende Paar stoßen sollte.

»Ja, gut, wenn Mrs. Gaddson eintrifft, bringen Sie sie im Kaninchenbau unter.«

Die Praktikantin blickte vom Putzen ihrer Brillengläser auf.

»Das ist wenigstens auf der anderen Hofseite. Geben Sie ihr ein Zimmer ohne Ausblick. Und sehen Sie in der Sanitätsstation nach, ob wir einen Vorrat von Salbe gegen Hautausschlag haben.«

»Ja, Sir«, sagte Finch. »Inzwischen erreichte ich die Quästorin vom New College. Sie erzählte mir, Mr. Basingame habe ihr vor seiner Abreise gesagt, daß er ›frei von Ablenkungen‹ sein wolle, aber sie meinte, er müsse jemandem gesagt haben, wo er seinen Urlaub verbringen will. Sie wolle weiterhin versuchen, seine Frau zu erreichen.«

»Haben Sie nach ihren Technikern gefragt?«

»Ja, Sir. Alle sind über die Feiertage nach Hause gefahren.«

»Welcher von unseren Technikern wohnt Oxford am nächsten?«

Finch überlegte. »Das müßte Andrews sein, in Reading. Möchten Sie seine Nummer haben?«

»Ja, und machen Sie mir eine Liste mit den Anschriften und Telefonnummern der anderen.«

Finch gab die Nummer durch. »Ich habe Schritte eingeleitet, um in der Frage des Toilettenpapiers Abhilfe zu schaffen. Ich habe Hinweisschilder mit dem Motto angebracht: Verschwendung führt zu Mangel.«

»Großartig«, sagte Dunworthy. Er legte auf und versuchte Andrews’ Nummer. Sie war belegt.

Die Praktikantin gab ihm die Brille zurück und ein neues Bündel in Folie eingeschweißter Schutzkleidung. Er legte sie an und achtete diesmal darauf, die Schutzmaske vor der Kappe anzubringen und die Handschuhe erst zuletzt anzuziehen. Es dauerte noch immer unmäßig lange, bis er bereit war. Er hoffte, die Praktikantin würde mit einem Bruchteil der Zeit auskommen, wenn Badri um Hilfe läutete.

Als er in die Kammer zurückkehrte, lag Badri in unruhigem Schlummer. Die Temperaturanzeige stand bei 39,4.

Sein Kopf schmerzte. Er nahm die Brille ab und rieb die Nasenwurzel zwischen den Augen. Dann setzte er sich auf den Feldhocker und nahm sich die Liste der Kontakte vor, die er bisher zusammengebracht hatte. Man konnte es kaum eine Übersicht nennen, so viele Lücken waren darin. Der Name des Pubs, die Badri nach dem Tanz aufgesucht hatte. Wo Badri am Montagabend gewesen war. Und am Montagnachmittag. Er war mittags aus London gekommen, und Dunworthy hatte ihn angerufen und gebeten, um halb drei im Laboratorium zu sein. Wo war er in diesen zweieinhalb Stunden gewesen?

Und wohin war er am Dienstagnachmittag gegangen, als er das Balliol mit der Nachricht verlassen hatte, er habe eine Netzüberprüfung vorgenommen? Zurück zum Laboratorium? Oder in eine andere Kneipe? Vielleicht hatten auch andere im Balliol während Badris Aufenthalt dort mit ihm gesprochen. Wenn Finch wieder anrief, um ihn über die letzten Entwicklungen bei den amerikanischen Schellenläutern und dem Toilettenpapier zu unterrichten, würde er ihn beauftragen, alle zu fragen, die im College gewesen waren, ob sie Badri gesehen hatten.

Die Tür ging auf, und die Praktikantin kam in frischer Schutzkleidung herein. Dunworthy schaute automatisch zu den Kontrollanzeigen, sah aber keine dramatischen Veränderungen. Badri schlief noch. Die Praktikantin gab einige Zahlen ein, überprüfte den Tropf und zupfte an einem Deckenzipfel. Sie öffnete den Vorhang, und dann stand sie da und wickelte die Kordel um ihre Hand.

»Ich konnte nicht umhin, Ihr Telefongespräch mitzuhören«, sagte sie. »Sie erwähnten eine Mrs. Gaddson. Ich weiß, es ist schrecklich unhöflich von mir, danach zu fragen, aber könnte es William Gaddsons Mutter gewesen sein, mit der Sie sprachen?«

»Ja«, sagte er etwas überrascht. »William ist Student am Balliol College. Kennen Sie ihn?«

»Er ist ein Freund von mir«, sagte sie und errötete so rosig, daß er es trotz ihrer Schutzmarke sehen konnte.

»Ach so«, sagte er. Er fragte sich, wann William Zeit finden mochte, Petrarca zu lesen. »Seine Mutter ist hier in der Klinik«, sagte er. Er hatte das Gefühl, sie warnen zu sollen, wußte aber nicht recht, vor wem. »Es scheint, daß sie gekommen ist, ihn über Weihnachten zu besuchen.«

»Sie ist hier?« sagte die Praktikantin und errötete noch tiefer. »Ich dachte, wir befänden uns unter Quarantäne.«

»Sie kam mit dem letzten Zug aus London«, seufzte Dunworthy.

»Weiß William davon?«

»Mein Sekretär versucht ihn zu benachrichtigen«, sagte er, ohne auf die junge Dame ins Shrewsbury einzugehen.

»Er ist in der Bodleian-Bibliothek und liest Petrarca«, sagte sie. Sie ließ die Kordel los und ging hinaus, wahrscheinlich um in der Bibliothek anzurufen.

Badri regte sich im Schlaf und murmelte Unverständliches. Er sah gerötet aus, sein Atem ging mühsam.

»Badri?« sagte er.

Badri schlug die Augen auf. »Wo bin ich?«

Dunworthy blickte zu den Kontrollanzeigen. Das Fieber war ein wenig gesunken, und er schien wacher als zuvor.

»In der Universitätsklinik«, sagte er. »Sie erlitten im Laboratorium vom Brasenose College einen Zusammenbruch, als Sie am Netz arbeiteten. Erinnern Sie sich?«

»Ich erinnere mich, daß ich mich unwohl fühlte«, antwortete Badri. »Mich fror. Ich kam ins Pub, um Ihnen zu sagen, daß ich die Fixierung hätte…« Ein seltsamer, furchterfüllter Ausdruck kam in sein Gesicht.

»Sie sagten mir, daß etwas nicht in Ordnung sei«, sagte Dunworthy. »Was war es? Die Verschiebung?«

»Etwas nicht in Ordnung«, wiederholte Badri. Er versuchte sich auf einen Ellbogen zu stützen. »Was ist mit mir nicht in Ordnung?«

»Sie sind krank. Sie haben die Grippe.«

»Ich? Ich bin nie krank gewesen.« Er bemühte sich, aufrecht zu sitzen. »Sie starben, nicht wahr?«

»Wer starb?«

»Ich tötete sie alle.«

»Haben Sie näheren Kontakt mit anderen gehabt, Badri? Das ist wichtig. Sie könnten diese Kontaktpersonen mit dem Virus infiziert haben.«

»Virus?« Aus seiner Stimme war Erleichterung herauszuhören. »Habe ich ein Virus?«

»Ja. Eine Art Influenza. Es ist nicht besonders schlimm. Sie haben alle möglichen Gegenmittel bekommen und werden sich im Nu erholt haben. Können Sie sich denken, wo Sie sich angesteckt haben? Hatte jemand anders in Ihrem Bekanntenkreis die Grippe?«

»Nein.« Er ließ sich ins Kissen zurücksinken. »Ich dachte — oh!« Er blickte erschrocken zu Dunworthy auf. »Da ist was«, stieß er hervor.

»Was ist?« Er streckte die Hand nach der Klingel aus. »Was meinen Sie?«

Badris Augen waren angstgeweitet. »Es schmerzt!«

Dunworthy drückte den Klingelknopf. Gleich darauf kamen die Praktikantin und ein Arzt herein und begannen wieder mit ihrer Routine. Badri mußte aufrecht sitzen, sein Rücken wurde entblößt und er bekam das eisige Stethoskop zu spüren.

»Er klagte über Kälte und daß etwas schmerzt«, sagte Dunworthy.

»Wo schmerzt es?« fragte der Arzt.

»Hier«, sagte Badri und drückte die Hand an die rechte Brustseite. Er fröstelte wieder.

»Rippenfellentzündung unten rechts«, sagte der Arzt.

»Es schmerzt beim Atmen«, sagte Badri durch schnatternde Zähne. »Da ist was nicht in Ordnung.«

Nicht in Ordnung. Er hatte nicht die Fixierung gemeint. Er hatte gemeint, daß etwas mit ihm nicht in Ordnung war. Wie alt war er? In Kivrins Alter? Vor annähernd zwanzig Jahren hatte man angefangen, in größerem Umfang antivirale Medikamente gegen Grippeerkrankungen einzusetzen. Es war denkbar, daß er mit der Bemerkung, er sei nie krank gewesen, gemeint hatte, daß er niemals auch nur eine Erkältungskrankheit gehabt habe.

»Sauerstoff?« fragte die Praktikantin.

»Noch nicht«, sagte der Arzt, schon im Gehen. »Fangen Sie mit zweihundert Einheiten Chloramphenicol an.«

Die Praktikantin legte Badri wieder zurück, richtete ihm die Decke, brachte einen zusätzlichen Plastikbeutel am Tropf an, beobachtete die Temperaturanzeige eine Minute lang und ging hinaus.

Dunworthy blickte aus dem Fenster in die regnerische Nacht. Badri hatte nicht gesagt, daß er sich krank gefühlt habe. Wie war das zu erklären? Jemand, der nie eine Erkältung gehabt hatte, würde nicht wissen, was er von Fieber oder Schüttelfrost halten sollte. Er würde nur bemerken, daß etwas nicht stimmte. So war es mit Badri gewesen; er hatte das Netz verlassen und war zum Pub gelaufen, um es jemandem zu erzählen. Muß es Dunworthy sagen. Etwas ist nicht in Ordnung.

Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Das Desinfektionsmittel machte sie brennend. Er fühlte sich erschöpft. Er hatte gesagt, er könne sich nicht entspannen, bis er wisse, daß Kivrin wohlauf sei. Badri war wieder eingeschlafen; die Magie der Ärzte hatte seiner Atmung die Rauheit genommen. Und Kivrin schlief jetzt ach, siebenhundert Jahre entfernt in einem von Flöhen wimmelnden Bett. Oder sie war hellwach und beeindruckte die Zeitgenossen mit ihren Tischsitten und ihren schmutzigen Fingernägeln, oder sie kniete auf einem schmutzigen Steinboden und teilte ihren gefalteten Händen die bestandenen Abenteuer mit.

Er mußte eingenickt sein. Im Traum hörte er ein Telefon läuten. Es war Finch, der ihm sagte, die Amerikanerinnen drohten das College wegen unzureichender Versorgung mit Toilettenpapier zu verklagen, und daß der Vikar angerufen und auf die Heilige Schrift verwiesen habe. »Es ist Matthäus 2.11«, sagte Finch. »Verschwendung führt zu Mangel«, und in diesem Augenblick öffnete die Praktikantin die Tür und sagte ihm, daß Mary ihn in der Notaufnahme erwarte.

Er sah auf seine Armbanduhr. Es war zwanzig nach vier. Badri schlief noch immer und sah beinahe friedlich aus. Draußen erwartete ihn die Praktikantin mit dem Desinfektionsmittel in ihrer Sprühflasche und wies ihn an, den Aufzug zu nehmen.

Der Geruch des Desinfektionsmittels an seiner Brille half ihm, die Schläfrigkeit abzuschütteln. Als er im Erdgeschoß anlangte, war er beinahe wach. Mary erwartete ihn in Schutzkleidung und mit Atemmaske. »Wir haben einen weiteren Fall«, sagte sie und übergab ihm den nun schon vertrauten Plastikbeutel mit Schutzkleidung. »Es könnte eine Person aus der Menge der Passanten sein. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie versuchten, sie zu identifizieren.«

Er legte die Schutzkleidung so ungeschickt wie beim ersten Mal an und zerriß den Papierkittel beinahe bei den Bemühungen, die Klettstreifen auseinanderzuziehen. »Es waren Dutzende, vielleicht Hunderte von Passanten auf der High Street unterwegs«, sagte er beim Überstreifen der Gummihandschuhe, »und ich beobachtete Badri. Ich bezweifele, daß ich jemanden aus der Menge der Passanten wiedererkennen könnte.«

»Ich weiß.« Mary führte ihn den Korridor entlang und durch die Tür der Notaufnahme. Er hatte das Gefühl, Jahre seien vergangen, seit er zuletzt dort gewesen war.

Weiter voraus umringte eine Gruppe von Gestalten, alle anonym in Papierschutzkleidung, einen Rollwagen mit einer Bahre darauf. Der Stationsarzt, auch in Papier, befragte eine dünne, ängstlich blickende Frau in einem nassen Regenmantel und passendem Regenhut.

»Ihr Name ist Beverly Breen«, berichtete die Frau mit dünner Stimme. »Plover Way 226, Surbiton. Ich merkte gleich, daß etwas mit ihr nicht stimmte. Sie sagte ständig, wir müßten die U-Bahn nach Northampton nehmen.«

Sie trug einen Schirm und eine große Handtasche, und als der Stationsarzt sie um die Krankenversicherungsnummer der Patientin bat, lehnte sie den Schirm gegen den Aufnahmeschalter, öffnete die Handtasche und durchsuchte sie.

»Sie wurde gerade von der U-Bahnstation gebracht«, sagte Mary. »Sie klagte über Kopfschmerzen und Schüttelfrost. Anscheinend Fieber. Sie wartete in einer Schlange auswärtiger Besucher, die Notunterkünfte zugewiesen bekommen.«

Sie signalisierte dem Personal, den Bahrenwagen anzuhalten, und zog die Decke vom Oberkörper der Frau, damit er sie besser sehen könne, aber es war nicht nötig.

Die Frau im nassen Regenmantel hatte die Karte gefunden und reichte sie dem Stationsarzt, nahm den Schirm, die Handtasche und ein Bündel verschiedenfarbiger Papiere an sich und kam damit zum Bahrenwagen. Der Schirm war groß und bedruckt mit lavendelblauen Veilchen.

»Badri stieß auf dem Rückweg von dem Pub mit ihr zusammen«, sagte Dunworthy.

»Sind Sie ganz sicher?« fragte Mary.

Er zeigte zur Freundin der Frau, die sich inzwischen gesetzt hatte, um Formulare auszufüllen. »Ich habe sie am Schirm erkannt.«

»Und um welche Zeit war das?«

»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht halb zwei?«

»Von welcher Art war der Kontakt? Berührte er sie?«

»Er prallte mit ihr zusammen«, sagte er, bemüht, sich die Szene in Erinnerung zu rufen. »Er lief gegen den aufgespannten Schirm, dann entschuldigte er sich, und sie beschimpfte ihn. Er hob den Schirm auf und gab ihn ihr.«

»Hustete oder nieste er?«

»Das kann ich nicht sagen.«

Die Frau wurde weiterbefördert. »Sie muß in die Isolierstation«, sagte Mary und ging den anderen nach.

Die Freundin der Erkrankten stand auf, ließ eines der Formblätter fallen und drückte die anderen unbeholfen an ihren nassen Regenmantel. »Isolierstation?« sagte sie ängstlich. »Was fehlt ihr?«

»Bitte kommen Sie mit mir«, sagte Mary zu ihr und führte sie irgendwohin, um eine Blutprobe zu nehmen und den Schirm ihrer Freundin mit Desinfektionsmittel besprühen zu lassen, bevor Dunworthy sie fragen konnte, ob er auf sie warten solle. Schließlich setzte er sich müde auf einen der Stühle an der Wand. Auf dem benachbarten Stuhl lag ein Merkblatt mit dem beherzigenswerten Titel »Die Bedeutung eines guten Nachtschlafs«.

Sein Nacken schmerzte vom unbequemen Schlummer auf dem Feldhocker, und seine Augen brannten wieder. Er überlegte, ob er wieder zu Badri hinaufgehen sollte, war aber nicht sicher, daß er die Energie hatte, noch einmal die Schutzkleidung zu wechseln. Und es widerstrebte ihm, Badri zu wecken und zu fragen, wer sonst noch engeren Kontakt mit ihm gehabt habe.

Jedenfalls zählte Kivrin nicht zu diesem Personenkreis. Es war halb fünf. Badri war um halb zwei mit der Frau zusammengestoßen. Das bedeutete eine Inkubationszeit von ungefähr fünfzehn Stunden, und vor fünfzehn Stunden war Kivrin schon gegen Infektionen geschützt gewesen.

Mary kam zurück. Sie hatte die Kappe abgenommen, und ihre Atemschutzmaske baumelte vom Hals. Ihr Haar war in Unordnung, und sie sah so müde und erschöpft aus wie Dunworthy sich fühlte.

»Mrs. Gaddson wird entlassen«, sagte sie zu der Schwester in der Anmeldung. »Sie soll sich morgen früh nüchtern zur nächsten Blutprobe wieder hier melden.« Sie kam herüber zu Dunworthy. »Ich hatte sie ganz vergessen«, sagte sie lächelnd. »Sie war ziemlich aufgeregt. Sie drohte mir mit einer Klage wegen Freiheitsberaubung.«

»Sie sollte sich mit meinen Schellenläuterinnen gut verstehen. Sie haben mit der gleichen Klage gedroht.«

Mary fuhr sich durch das wirre Haar.

»Wir haben das Influenzavirus mit Hilfe des Zentrums für Infektionskrankheiten identifiziert.« Sie stand auf, als hätte sie plötzlich einen Zustrom frischer Energie erhalten. »Ich könnte eine Tasse Tee vertragen«, sagte sie. »Kommen Sie mit.«

Dunworthy blickte zu der Schwester am Empfangsschalter, die ihn und Mary aufmerksam beobachtete, und erhob sich müde.

»Ich bin im Wartezimmer der Chirurgie zu erreichen«, sagte Mary zu der Schwester am Empfangsschalter.

»Ja, Dr. Ahrens«, erwiderte die andere. »Ah… Sie sagten eben, Mrs. Gaddson werde entlassen, und dann hörte ich Sie den Namen William erwähnen. Ich überlegte gerade, ob Mrs. Gaddson vielleicht William Gaddsons Mutter ist.«

»Ja«, sagte Mary.

»Sie sind mit ihm befreundet?« fragte Dunworthy und wartete, daß sie wie die blonde Praktikantin erröten würde.

Sie tat es. »Ich habe ihn in diesen Ferien ziemlich gut kennengelernt. Er ist dageblieben, um Petrarca zu lesen.«

»Unter anderem«, sagte Dunworthy und steuerte Mary an dem Schild ISOLIERSTATION. KEIN ZUTRITT vorbei und den Korridor entlang.

»Was hatte das jetzt zu bedeuten?« fragte sie.

»Der kränkliche William ist noch selbstgenügsamer, als wir zuerst angenommen hatten«, sagte er und öffnete die Tür zum Wartezimmer.

Mary schaltete das Licht ein und ging zum Teewagen. Sie schüttelte den Elektrotopf und verschwand mit ihm in der Toilette. Er setzte sich. Jemand hatte das Tablett mit den Gerätschaften zur Blutentnahme entfernt und den hinteren Tisch an seinen Platz zurückgeschoben, aber Marys Einkaufstasche stand noch immer, wo sie sie zurückgelassen hatte. Er beugte sich hinüber und zog sie neben die Stühle.

Mary kam mit dem Elektrotopf zurück und schloß ihn an. »Konnten Sie von Badri etwas über seine Kontaktpersonen erfahren?«

»Nichts Genaueres. Er war gestern auf einer Tanzveranstaltung in Headington. Fuhr hin und zurück mit der U-Bahn. Wie schlimm ist es?«

Mary tat zwei Teebeutel in die Tassen. »Es gibt nur Milchpulver, fürchte ich. Wissen Sie, ob er in den letzten Tagen Kontakt mit jemandem aus den Staaten hatte?«

»Nein. Warum?«

»Nehmen Sie Zucker?«

»Wie schlimm ist es?«

Sie schüttete Milchpulver in die Tassen. »Die schlechte Nachricht ist, daß Badri sehr krank ist.« Sie gab Zucker dazu. »Er bekam seine Schutzimpfungen hier in der Universitätsklinik, war also noch besser geschützt als die Gesundheitsbehörde vorschreibt. Er sollte gegen Virusmutationen im Bereich von fünf Punkten vollständig und im Bereich von zehn Punkten teilweise geschützt sein. Aber er zeigt alle Symptome einer ausgeprägten Influenza, was auf eine größere Mutation schließen läßt.«

Das Wasser kochte. »Das heißt, daß mit einer Epidemie zu rechnen ist.«

»Möglicherweise. Wenn es nicht gelingt, sehr rasch einen Impfstoff zu entwickeln, oder wenn die Quarantäne nicht hält.«

Sie schüttete vom kochenden Wasser in die Tassen. »Die gute Nachricht ist, daß das Zentrum für Infektionskrankheiten glaubt, es handle sich um einen Influenzatyp, der in South Carolina seinen Ursprung hat.« Sie brachte Dunworthy eine Tasse. »In diesem Fall ist er bereits erforscht, es gibt einen Impfstoff, und er spricht auf symptomatische Behandlung an. Dann ist alles halb so schlimm.«

»Wie lang ist die Inkubationszeit?«

»Zwölf bis achtundvierzig Stunden.« Sie lehnte am Teewagen und nippte vorsichtig vom heißen Tee. »Das Zentrum schickt Blutproben zum Vergleich nach Atlanta, und vom Ergebnis wird die empfohlene Behandlung abhängen.«

»Wann kam Kivrin am Montag zur antiviralen Vorsorge in die Klinik?«

»Um fünfzehn Uhr«, sagte Mary. »Sie blieb bis zum nächsten Morgen um neun. Ich behielt sie über Nacht da, um sicherzustellen, daß sie ungestört schlafen konnte.«

»Badri sagt, er habe sie gestern nicht gesehen, aber er könnte am Montag mit ihr zusammengekommen sein, bevor sie in die Klinik ging.«

»Sie hätte vor ihrer antiviralen Impfung infiziert sein müssen, und das Virus müßte Gelegenheit gehabt haben, sich ungehemmt zu vermehren, James. Nur so hätte sie gefährdet sein können«, sagte Mary. »Selbst wenn sie Badri am Montag oder Dienstag traf, ist sie weniger als Sie in Gefahr, Symptome zu entwickeln.« Sie musterte ihn ernst über den Rand der Teetasse hinweg. »Sie sorgen sich noch immer wegen der Fixierung, ja?«

Er schüttelte zögernd den Kopf. »Badri sagt, er habe die Koordination des Lehrlings überprüft, und sie seien richtig gewesen, und er hatte Gilchrist bereits gesagt, daß die Verschiebung minimal sei.« Er bedauerte, daß Badri ihm nicht geantwortet hatte, als er ihn nach der Verschiebung gefragt hatte. So blieb ein Zweifel bestehen.

»Was kann sonst schiefgegangen sein?« fragte Mary.

»Ich weiß nicht. Nichts. Außer daß sie allein im Mittelalter ist.«

Mary stellte ihre Tasse auf den Teewagen. »Vielleicht ist sie dort sicherer als hier. Wir werden eine ganze Menge Patienten bekommen. Influenza breitet sich wie ein Buschfeuer aus, und die Quarantäne wird es nur noch schlimmer machen. Das medizinische Personal ist immer als erstes der Infektion ausgesetzt. Wenn unsere Leute erkranken oder die Versorgung mit geeigneten Medikamenten nicht ausreicht, könnte dieses Jahrhundert dasjenige sein, das eine Zehn verdient.«

Sie rieb sich mit müder Bewegung die Stirn. »Tut mir leid, aus mir spricht die Erschöpfung. Dies ist nicht das Mittelalter, es ist nicht einmal das 20. Jahrhundert. Wir haben eine ganze Palette von wirksamen Medikamenten, und wenn es das South Carolina-Virus ist, haben wir etwas Ähnliches und einen Impfstoff. Trotzdem bin ich froh, daß Colin und Kivrin aus dieser Sache heraus sind.«

»Sicher im Mittelalter«, sagte Dunworthy.

Mary lächelte ihm zu. »Bei den Halsabschneidern.«

Die Tür sprang auf. Ein großer blonder Junge mit großen Füßen und einem dicken Wollmantel kam herein und vertropfte Wasser auf dem Boden.

»Colin!«

»Hier also bist du«, sagte Colin. »Ich habe dich überall gesucht.«


ABSCHRIFT AUS DEM DOOMSDAY BOOK
(000893–000898)

Mr. Dunworthy, ad adjuvandum me festina.{Kommen Sie mir schnell zu Hilfe.}

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