Die NAUTILUS lag noch immer an der gleichen Stelle, an der sie sie nach dem Überfall am ersten Tag zurückgelassen hatten, so daß sie ein gutes Stück rudern mußten. Mike wurde immer nervöser. Nirgendwo in ihrer Nähe zeigte sich auch nur eine Spur von Leben; die Schiffswracks, an denen sie vorüberkamen, waren leer, und auch das Wasser lag vollkommen ruhig da. Von der Riesenqualle war keine Spur mehr zu sehen. Wahrscheinlich war sie wieder ins offene Meer hinausgeschwommen. Mikes Beunruhigung wuchs. Erst als sie die NAUTILUS erreichten und das Boot mit einem hörbaren Geräusch gegen den metallenen Rumpf des Unterseebootes stieß, begann er allmählich Hoffnung zu schöpfen.

Hintereinander kletterten sie auf die NAUTILUS hinauf und betraten kurz darauf den Turm. Einzig Singh begleitete sie nicht, sondern ruderte sofort zurück, um am Strand auf André und den Kater zu warten. Mike sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Er fragte sich, ob es wirklich richtig war, Singh immer die gefährlichsten Missionen ausführen zu lassen.

»Also los jetzt!« rief Trautman, während er mit raschen Schritten die Treppe hinunterzugehen begann. »Wir haben eine Menge zu tun. Wenn André kommt, müssen wir bereit zum Ablegen sein.« Auch wenn er es nicht laut aussprach, so glaubte Mike doch in diesen Worten einen leichten Unterton von Besorgnis zu hören. Offensichtlich rechnete auch Trautman nicht damit, daß weiter alles so gut ging wie bisher.

Sie erreichten den Salon, der zugleich der Steuerraum des Tauchbootes war, und Trautman machte sich zusammen mit Juan und Ben sofort daran, das Schiff startbereit zu machen. So phantastisch und weit entwickelt die Maschinen der NAUTILUS auch waren, es waren auch ungeheuer komplizierte Maschinen, die in der richtigen Reihenfolge gestartet werden mußten und ihre Zeit brauchten, um zum Leben zu erwachen.

Doch selbst wenn ihre Flucht gelang, stand ihnen das größte Problem ja noch bevor - die Riesenqualle, die zweifellos sofort wieder Jagd auf sie machen würde. Mikes Zutrauen in Trautmans Fähigkeiten war zwar nahezu unerschütterlich, aber er fragte sich trotzdem, wie sie damit fertig werden sollten. Das Tier hatte ja schon hinlänglich bewiesen, daß es sowohl schneller als auch stärker war als die NAUTILUS.

Die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Mike ertappte sich immer öfter dabei, wie er ungeduldig auf die Uhr an der Wand neben dem Eingang blickte, deren Zeiger sich einfach nicht von der Stelle bewegen wollten. Trautman mußte die NAUTILUS längst angeworfen haben, aber noch rührten sich die mächtigen Maschinen des Schiffes nicht.

Schließlich hörte er ein dumpfes Geräusch, das lang durch den gesamten Rumpf der NAUTILUS hallte. Im ersten Moment konnte er es sich nicht erklären, doch dann vernahm er Schritte, die auf dem stählernen Deck über ihren Köpfen polterten. Was er gehört hatte, war das Anlegen des Bootes. Singh kam mit Astaroth und André zurück. Endlich. Erleichtert wandte sich Mike zu Trautman um.

Aber es war dem weißhaarigen Steuermann immer noch nicht gelungen, die Motoren des Schiffes zu starten. Er versuchte zwar, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen, aber weder Mike noch den anderen Jungen entging es, daß seine Bewegungen immer fahriger wurden und seine Blicke, mit denen er die Instrumente auf dem Pult vor sich musterte, immer verzweifelter.

»Stimmt etwas nicht?« fragte Mike.

Trautman zuckte mit den Schultern. »Ich... verstehe das nicht«, sagte er. »Alles ist in Ordnung. Den Instrumenten zufolge mußten die Maschinen längst laufen. Ich kenne dieses Schiff fast mein ganzes Leben lang. Die Maschinen müssen anspringen! Ich verstehe das nicht!«

»Vielleicht fehlt Ihnen etwas Wichtiges«, sagte eine Stimme von der Tür her.

Trautman sah auf - und fuhr wie elektrisiert zusammen. Mike drehte sich herum.

Er konnte spüren, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.

Er hatte sich nicht getäuscht - die Geräusche, die er gehört hatte, waren die des anlegenden Bootes und seiner Insassen gewesen, die auf die NAUTILUS übergesetzt hatten. Aber es waren nicht Singh und André, die gekommen waren.

Unter der Tür stand Serena.

Sie lächelte, aber es war ein Lächeln, das Mike einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. In der rechten Hand, die sie in Trautmans Richtung ausgestreckt hatte, hielt sie etwas Kleines, Schimmerndes.

»Was... was willst du denn hier?« fragte Ben überrascht.

Serena ignorierte ihn und kam langsam näher. »Ich habe euch doch gesagt, daß das hier einmal mein Schiff war«, sagte sie spöttisch. »Und ich kenne mein Eigentum. Ohne diesen Steuerkristall fährt das Schiff nirgendwohin, wußtet ihr das etwa nicht?«

Mike erkannte nun, was Serena in der Hand hielt. Es war tatsächlich eine Art Kristall, wenn auch von sehr sonderbarer Form. In seinem Inneren pulsierte ein schwaches, bläuliches Licht. Es sah fast aus, als hielte Serena ein winziges, schlagendes Herz in der Hand.

»Nein«, antwortete Ben. Seine Stimme klang jetzt trotzig. »Aber vielen Dank, daß du es uns vorbeibringst.«

Er trat von seinem Platz neben Trautman herunter und ging mit energischen Schritten auf Serena zu. Das Mädchen blieb stehen und blickte ihn eisig an, und Ben stockte plötzlich im Schritt.

»Ihr wolltet also fliehen«, sagte Serena. In ihrer Stimme lag ein harter Klang. »Habt ihr wirklich gedacht, ich merke es nicht? Ihr müßt noch dümmer sein, als ich geglaubt habe!«

»Nicht annähernd so dumm wie du«, grollte Ben. Er gab sich einen sichtlichen Ruck und trat herausfordernd auf Serena zu. »Gib den Kristall her. Vielleicht lassen wir dich dann sogar laufen.«

»Ben!« sagte Trautman scharf.

Aber seine Warnung kam zu spät. Serena schloß die Faust um den Kristall, als Ben danach greifen wollte, und im gleichen Augenblick wurde Ben Wie von einer unsichtbaren Hand ergriffen und mit solcher Wucht quer durch den Salon geschleudert, daß er gegen die Wand prallte und hilflos zu Boden sackte. Serena würdigte ihn nicht einmal eines Blickes, sondern ging auf Trautman zu. Ihre Augen schienen zu brennen.

»Ihr Narren«, fuhr sie fort. »Dabei hättet ihr vielleicht sogar wirklich eine Chance gehabt, hättet ihr diese dumme Katze nicht zurückgeschickt.«

Also hatte Astaroth sie doch verraten, dachte Mike. Er war sehr enttäuscht. Er hatte dem Kater getraut.

Serena blieb stehen und wandte ihre Aufmerksamkeit nun ihm zu. Ein spöttisches Lächeln erschien auf ihren Lippen. »Du begreifst anscheinend noch schwerer, als ich dachte«, sagte sie. »Wenn es dich beruhigt - Astaroth hätte sich eher das Fell abziehen lassen, ehe er euch verraten hätte. Ich habe einfach seine Gedanken gelesen, weißt du?«

Mike starrte sie betroffen an. Natürlich, dachte er. Warum kamen sie eigentlich immer erst zum Schluß auf das Nächstliegende? Serena konnte Astaroths Gedanken ebenso mühelos lesen wie ihre. Er tat dem Kater im stillen Abbitte dafür, daß er ihn verdächtigt hatte, und Serena mußte wohl auch diesen Gedanken lesen, denn der Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde noch geringschätziger.

»Genug jetzt«, sagte sie. »Mit diesem verräterischen Katzenvieh beschäftige ich mich später. Jetzt zu euch.« Sie warf einen kalten Blick in die Runde. »Kommt ihr freiwillig mit zurück, oder muß ich euch zwingen?« Einen Moment lang war Mike ernsthaft in Versuchung, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen. Immerhin waren sie zu fünft, während Serena allein gekommen zu sein schien, soweit er erkennen konnte. Aber dann blickte er zu Ben hinüber, der sich stöhnend wieder aufrichtete, unverletzt, aber benommen, und er begriff, wie sinnlos es war.

»Stimmt«, sagte Serena abfällig. »Ebenso sinnlos wie diese Flucht. Was habt ihr eigentlich gedacht, wie weit ihr kommt?«

»Was hast du mit André und Singh gemacht?« fragte Mike anstelle einer Antwort.

»Keine Angst«, antwortete Serena. »Sie sind an einem Ort, an dem sie keinen Schaden mehr anrichten können. Aber ihnen ist nichts geschehen. Das könnte sich allerdings ändern, wenn ihr weiter so unvernünftig seid. Also?«

»Geh zum Teufel!« stöhnte Ben. »Lieber schwimme ich nach Hause, ehe ich mich dir ergebe!«

»Gar keine schlechte Idee«, antwortete Serena. »Du -«

»Genug!« unterbrach sie Trautman. »Wir kommen mit zurück. Du hast gewonnen.«


Wie sich zeigte, hatte Serena wohl doch nicht ausschließlich auf ihre magischen Kräfte vertraut, denn sie war nicht allein gekommen. Draußen auf dem Gang warteten vier Bewaffnete, und ein weiteres halbes Dutzend Männer hatte auf dem Deck der NAUTILUS Aufstellung genommen und geleitete sie zu dem Ruderboot, das neben dem Schiff angelegt hatte. Keiner von ihnen sprach, während sie die Strickleiter hinunterkletterten und sich im Heck des Bootes versammelten, aber Mike spürte auch so, wie wenig den Männern das gefiel, was sie tun mußten. Serena gebot vielleicht im Moment über eine kleine Armee, aber es war keine, die ihr gerne gehorchte. Trautman hatte recht - früher oder später würde sie begreifen müssen, daß sie diesem Volk nicht einfach ihren Willen aufzwingen konnte. Aber Mike begann zu fürchten, daß es dann vielleicht zu spät war. Irgend etwas Schreckliches würde geschehen, das spürte er einfach.

Und seine düstere Vorahnung sollte sich nur zu schnell erfüllen...

Sie erreichten den Strand und gingen noch immer wortlos von Bord. Die Männer, die Serena begleiteten, hielten einen fast respektvollen Abstand zu ihnen, und Mike war plötzlich auch beinahe sicher, daß sie sie nicht gewaltsam hindern würden, abermals zu fliehen. Aber welchen Sinn hätte das schon? Serena besaß noch immer den Kristall, der offensichtlich so etwas wie den Zündschlüssel der NAUTILUS darstellte, und ohne das Schiff hatte eine Flucht keinen Sinn - es gab nichts, wohin sie fliehen konnten.

»Ganz recht«, sagte Serena spöttisch. »Schade, daß du das erst jetzt einsiehst. Du hättest ein nützliches Mitglied unserer Gemeinschaft werden können.« Mike sah sie traurig an. Serenas Worte machten ihn nicht wütend, er empfand plötzlich etwas wie Mitleid mit dem Mädchen, das offensichtlich gar nicht begriff, was es sagte und was es mit seinen Worten und Taten anrichtete.

Serena mußte wohl auch diesen Gedanken gelesen haben, denn sie sah für einen Moment sehr betroffen drein. Dann blitzte es zornig in ihren Augen auf. Aber sie sagte zu Mikes Überraschung nichts mehr, sondern drehte sich mit einem Ruck um und ging weiter.

Sie waren gerade wieder einige Schritte gegangen, als plötzlich am Kopf der kleinen Kolonne Aufregung entstand: Ein Mann war zwischen den Korallenbäumen aufgetaucht und rannte heftig gestikulierend und lautstark Serenas Namen rufend auf sie zu. Mike registrierte erschrocken, daß er aus einer frischen Platzwunde im Gesicht blutete.

»Da stimmt etwas nicht!« sagte Trautman besorgt. »Verdammt, ich wußte, daß etwas passiert!«

Ohne darauf zu achten, ob Serena dies gefiel oder nicht, liefen sie dem Mann entgegen. Mike erkannte ihn jetzt - er hatte zu denen gehört, die den Fischmenschen ins Dorf gebracht hatten. Und er war so erschöpft und außer Atem, daß er keuchend vor Serena auf die Knie niedersank und sekundenlang nach Luft rang, ehe er überhaupt ein verständliches Wort herausbekam.

»... angegriffen«, stammelte er. »Sie haben uns... überfallen, gleich nachdem... Ihr fort wart, Herrin!«

»Was?« Serena machte eine ungeduldige Geste. »Sprich deutlich, Kerl! Was ist passiert?!«

Der arme Bursche duckte sich wie unter einem Hieb und sah Serena angstvoll an. Aber er riß sich zusammen und begann - zwar noch immer stockend, aber jetzt klar verständlich zu erzählen: »Die Fischmenschen, Herrin! Sie... sie haben die Stadt angegriffen, kurz nachdem Ihr weggegangen seid. Wir haben uns gewehrt, so gut wir konnten, aber es waren zu viele, und die Überraschung war auf ihrer Seite! Viele von uns sind... verletzt.«

»Die Fischmenschen?!« entfuhr es Serena. »Was haben sie getan? Was wollten sie?«

»Sie haben den Gefangenen befreit«, antwortete der Mann. »Sie kamen von allen Seiten! Es waren bestimmt fünfzig, und sie waren bewaffnet. Wir haben tapfer gekämpft, aber sie -«

»Und ihr habt sie wieder gehen lassen?« unterbrach ihn Serena. »Fünfzig von diesen... diesen Tieren gegen euch alle! Ihr seid mehr als zweihundert! Was seid ihr nur für erbärmliche Feiglinge!«

»Wir konnten nichts tun!« verteidigte sich der Mann. Seine Stimme zitterte noch immer, aber jetzt mehr vor Angst als aus Schwäche. »Sie sind schreckliche Krieger! Jeder von ihnen kämpft mit der Kraft von fünf Männern. Wir haben es versucht, aber Ihr... Ihr müßt mir glauben, daß wir es nicht konnten. Sie haben den Gefangenen befreit und...«

»Ja?« fragte Serena lauernd, als er nicht weitersprach.

Der Mann senkte den Blick. Die Furcht vor dem, was er berichten mußte, war ihm deutlich anzusehen. »Das ist nicht das Schlimmste«, murmelte er schließlich. »Sie... sie haben Malcolms Tochter Sarah mitgenommen. Und den fremden Jungen vom Schiff.«


Die Stadt bot einen chaotischen Anblick. Schon als sie aus dem Wald heraustraten, konnte Mike erkennen, daß die meisten der armseligen Behausungen vollends zerstört waren: Die Dächer waren eingebrochen, bei einigen gar die Wände zerstört, als wäre eine tollwütige Elefantenherde quer über die Lichtung gestampft.

Und auch den Bewohnern des Ortes war es schlecht ergangen. Mike erschrak bis ins Mark, als er sah, wie viele der Männer und Frauen verwundet waren - sie hockten am Boden und hielten sich die Köpfe, manche trugen blutige Verbände um Arme, Beine oder Schädel, und es gab kaum ein Haus, aus dem nicht zornige Stimmen oder Wehklagen zu ihnen herausdrangen.

Mit weit ausgreifenden Schritten, so daß Trautman und die anderen Mühe hatten, mit ihm mitzuhalten, rannte Mike quer über die Lichtung auf Malcolms Haus zu. Der Anblick, den es bot, ließ sein Herz einen erschrockenen Sprung in seiner Brust machen, denn es war zweifelsfrei klar, daß hier das Zentrum der Schlacht gewesen sein mußte. Das Gebäude, das noch am ehesten an ein richtiges Haus erinnert hatte, war völlig verwüstet. Drei oder vier Wände waren niedergebrochen, und zwischen den Trümmern sahen die traurigen Überreste der zerstörten Einrichtung hervor. Malcolms Frau stand mit leerem Gesicht dort, wo einmal die Tür gewesen war, und hielt die Scherben eines Tonkrugs in den Händen, und Malcolm selbst stand zusammen mit Denholm und einigen anderen Männern nur ein paar Schritte abseits. Einige von ihnen trugen Gewehre und Schwerter bei sich, andere nur Knüppel oder rostige Messer, aber alle waren bewaffnet. Und fast alle waren verletzt.

»Malcolm!« rief Mike schon von weitem. »Was ist hier geschehen? Wo ist André?«

Der Angesprochene drehte sich mit einer müde wirkenden Bewegung zu ihm herum. Trauer, Schmerz und verhaltener Zorn standen in seinem Gesicht geschrieben, aber er gab Mike keine Antwort.

Im nächsten Augenblick erschien Serena an Mikes Seite und fragte in befehlendem Ton: »Stimmt es, daß die Fischmenschen deine Tochter entführt haben?«

Malcolm schwieg noch immer, so daß Denholm schließlich an seiner Stelle antwortete: »Ja, Serena. Sie sind aufgetaucht, kaum daß du gegangen bist. Wir konnten nichts gegen sie ausrichten.«

Serena wurde blaß, sei es, daß ihr die respektlose Anrede aufgefallen war, die Denholm plötzlich benutzte, sei es, daß ihr erst jetzt richtig bewußt wurde, wie vernichtend die Niederlage des Volkes gewesen war. Mike konnte sehen, wie sie dazu ansetzte, Denholm eine scharfe Erwiderung zu geben, doch dieser kam ihr zuvor. »Ich glaube, sie haben im Wald versteckt abgewartet, bis du fort warst. Oder der Gefangene hat sie auf irgendeine Weise verständigt. Der Angriff war zu gut vorbereitet, als daß es Zufall gewesen sein kann.« Er schloß die Augen und seufzte tief. »Wir hatten keine Chance. Sie waren über uns, ehe wir auch nur richtig begriffen, was geschah.«

»Hat es... Tote gegeben?« fragte Juan leise.

Denholm verneinte. »Aber viele sind verletzt, und es ist alles zerstört.« Seine Stimme schwankte, und für einen Moment schien er mit den Tränen zu kämpfen.

Für diese Menschen hier, begriff Mike, waren die Hütten, die mehr Ruinen glichen, ihr Zuhause. Und gerade weil sie so wenig besaßen, mußte dieses wenige für sie ungleich kostbarer sein, als er auch nur ermessen konnte.

»Wir hätten ihn niemals hierbehalten dürfen«, sagte Malcolm düster. »Ich wußte, daß es in einer Katastrophe endet!«

In Serenas Augen blitzte es zornig auf. »Ihr hättet es niemals dazu kommen lassen dürfen!« widersprach sie. Sie machte eine weit ausholende Geste. »Das alles hier ist eure eigene Schuld! Ihr lebt seit Jahrhunderten hier, und in all der Zeit habt ihr geduldet, daß sie stärker und stärker wurden.«

Malcolm sah sie nur traurig an, aber Denholm widersprach. »Aber wir leben seit Generationen in Frieden mit ihnen. So etwas ist noch nie geschehen!«

»Weil sie auf eine günstige Gelegenheit gewartet haben, du Narr!« fuhr ihn Serena an.

»Ja - oder weil sie vorher keinen Grund hatten, diese Menschen hier anzugreifen«, sagte Ben. Und offensichtlich war das, was er aussprach, nicht alles, was er dabei dachte, denn Serena fuhr plötzlich wie von der Tarantel gestochen herum und funkelte ihn an.

»Was meinst du damit?« schnappte sie. Ben lächelte geringschätzig. Seine Haltung war plötzlich ein wenig angespannt - schließlich war es noch nicht lange her, daß er am eigenen Leibe gespürt hatte, wie wenig ratsam es war, Serena zu sehr zu reizen. Aber entweder war er mutiger, als Mike bisher angenommen hatte, oder zu zornig, um sich noch zu beherrschen. »Das weißt du doch genau, oder?« fragte er. »Aber ich kann es auch gerne laut aussprechen, wenn Euer Gnaden darauf bestehen!«

»Ben!« sagte Trautman warnend, aber diesmal ignorierte Ben seine Ermahnung.

»Die Fischmenschen und Denholms Leute leben seit Jahrhunderten in Frieden miteinander, nicht wahr?« fuhr er in herausforderndem Ton fort. »Und im gleichen Moment, in dem du hier auftauchst, endet dieser Frieden. Ich frage mich, ob das wirklich noch Zufall ist.«

Mike hielt erschrocken den Atem an. Er sah Ben in Gedanken bereits quer über die Lichtung fliegen oder bewußtlos zu Boden stürzen, aber zu seiner Verblüffung reagierte Serena vollkommen anders als erwartet auf Bens Worte. Sie sah den jungen Engländer nur sehr nachdenklich an, und dann nickte sie.

»Vielleicht hast du sogar recht«, sagte sie. »Vielleicht haben sie sich bisher sicher genug gefühlt, um der Meinung zu sein, daß es nicht nötig ist, eure Stadt anzugreifen. Aber nun wissen sie, daß ihr Ende gekommen ist.«

»Wie?« fragte Trautman alarmiert.

»Ja«, fuhr Serena fort, »ich denke, das ist die Erklärung. Sie sind zwar nur dumme Tiere, aber sie haben scharfe Instinkte. Sie spüren, daß ihr Ende naht, und versuchen sich natürlich zu wehren.« Sie legte eine kurze und - dessen war sich Mike sicher - ganz genau bemessene Pause ein, ehe sie mit leicht erhobener Stimme fortfuhr: »Aber ich werde das nicht hinnehmen. Sie werden für diesen Angriff bezahlen.«

»Was meinst du damit?« fragte Mike. Er wußte nur zu gut, was Serenas Worte bedeuteten, aber er weigerte sich noch, es zu glauben.

Serena maß ihn mit einem spöttischen Blick. »Wir werden sie angreifen«, sagte sie. »Wir werden nachholen, was diese gutgläubigen Narren hier schon vor Jahrhunderten hätten tun sollen, in die Alte Stadt gehen und diese Brut ausrotten.«

Nicht nur Mike fuhr erschrocken zusammen. Denholms Augen weiteten sich vor Schrecken, und in der Menge ringsum erhob sich ein ungläubiges, erschrockenes Raunen und Murmeln. Nur Malcolm sah das Mädchen vollkommen ausdruckslos an. Vielleicht hatte er geahnt, was Serena vorhatte.

»Aber das... das geht nicht!« entgegnete Denholm. »Es ist verboten, in die Alte Stadt zu gehen! Keiner, der es gewagt hat, ist von dort zurückgekehrt!«

»Weil ihr nie den Mut hattet, euch ihnen zu stellen, ja«, antwortete Serena. »Was wollt ihr? Weiter in Angst und Schrecken leben, jeden Tag darauf gefaßt, daß sie kommen und euch endgültig vernichten?« Sie hob die Stimme, so daß nun alle in weitem Umkreis ihre Worte hören konnten. »Seht euch um! Sie sind hierhergekommen und haben eure Stadt zerstört! Alles, wofür ihr gearbeitet und gelebt habt, liegt in Trümmern! Und sie werden wiederkommen, nun, da sie wissen, daß ihr schwach und hilflos seid und Angst vor ihnen habt! Wollt ihr das wirklich?« Sie lachte. »Ich zwinge euch nicht. Wenn es sein muß, gehe ich ganz allein hinüber und lösche diese Brut aus! Es ist eure Entscheidung.«

Mike starrte Serena entsetzt an. Das Mädchen sprach über die Fischmenschen... wie über Dinge, nicht wie über lebende Wesen. Und das war vielleicht nicht einmal das Schlimmste. Das Schlimmste war, daß er genau spürte, daß Serenas Worte nicht ungehört verhallten. Es war absurd - vor ihm stand ein nicht einmal fünfzehnjähriges Mädchen und rief ein Volk, das seit Jahrhunderten mit seinen Nachbarn in Frieden lebte, zum Krieg auf - und er spürte, daß die Menschen ringsum nur allzu bereit waren, diesem Aufruf auch zu folgen!

»Serena!« flüsterte er. »Das kannst du nicht ernst meinen! Es... es wird Tote geben, und -«

»Kaum«, unterbrach ihn Serena hochmütig. »Ich kenne diese Kreaturen. Mein Volk hat schon Jagd auf sie gemacht, ehe es das eure auch nur gab. Sie sind nicht mehr als Tiere.« Sie wandte sich wieder Denholm zu.

»Nun?«

»Wir... wir sind keine Krieger«, murmelte Denholm ausweichend. »Sie waren nicht einmal halb so viele wie wir, und wir hatten keine Chance. Sie -«

»- haben euch überrascht, und ich war nicht bei euch«, unterbrach ihn Serena. »Das wird nicht noch einmal geschehen.«

Denholm schwieg. Serena wartete einige Sekunden lang vergeblich auf eine Antwort, dann drehte sie sich zu Malcolm um, der die ganze Zeit über kein Wort gesagt hatte. »Und du?« fragte sie. Offensichtlich hatte auch sie längst gemerkt, daß Malcolms Wort in der Stadt fast ebensoviel galt wie das Denholms.

»Denholm hat recht«, sagte Malcolm. »Wir sind keine Krieger. Aber sie haben meine Tochter.«

Mike fuhr erschrocken zusammen. »Malcolm!« keuchte er. »Das kannst du nicht ernst meinen!«

»Sie haben Sarah entführt«, wiederholte Malcolm, nun an ihn gewandt. »Ich werde sie zurückholen, ganz gleich, ob allein oder zusammen mit den anderen. Und wenn sie ihr etwas angetan haben, dann werde ich nicht eher ruhen, als bis auch der letzte von ihnen tot ist, das schwöre ich!«

Und das war die Entscheidung. Niemand sagte etwas, aber Mike spürte regelrecht, wie die Stimmung umschlug. Die Menschen, die sie umstanden, hatten noch immer Angst, aber Furcht und Zorn liegen eng beisammen, und Serenas - und wohl vor allem Malcolms - Worte hatten diese Grenze verwischt.

»Also gut!« sagte Serena, nun wieder mit lauter, weithin hörbarer Stimme. »Dann macht euch bereit. Holt eure Waffen und stärkt euch noch einmal! Wir brechen in zwei Stunden auf. Sie sollen keine Gelegenheit haben, ihre Kräfte neu zu sammeln!«

Mike widersprach nicht mehr. Es war sinnlos. Er drehte sich herum und ging zu Juan und den beiden anderen Jungen zurück. Serena machte eine rasche, befehlende Geste, und einige von Denholms bewaffneten Begleitern bildeten einen Kreis um sie.

»Was soll das?« fragte Mike.

Die Männer gaben sich redliche Mühe, grimmig dreinzuschauen, doch sahen sie in Wahrheit mehr verlegen aus. Sie antworteten nicht, aber Serena sagte: »Nichts. Nur eine Vorsichtsmaßnahme - für alle Fälle.«

»Eine Vorsichtsmaßnahme?« wiederholte Mike. »Wie soll ich das verstehen?«

»Dir und deinen Freunden passiert nichts, keine Angst«, sagte Serena spöttisch. »Ich möchte nur verhindern, daß ihr euch im Wald verirrt und vielleicht rein zufällig wieder zum Strand hinunterlauft, während wir weg sind, weißt du?«

Mike spürte, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht stieg. »Du meinst, wir sind deine Gefangenen?« vergewisserte er sich.

»Wenn du so willst - ja«, antwortete Serena kalt. »Aber keine Sorge - nur, bis wir zurück sind. Es wird nicht sehr lange dauern.« Sie machte eine befehlende Geste.

»Bringt sie weg!«


Sie wurden in das einzige nicht zerstörte Gebäude der Stadt gebracht - in das »Museum«, das zuvor schon als Gefängnis für den Fischmenschen gedient hatte, und dort trafen sie auch Singh wieder. Der Inder hockte zusammengekauert neben dem steinernen Relief und trug einen blutgetränkten Verband um die Stirn. Als er Mike und die anderen gewahrte, sprang er hastig auf und eilte ihnen entgegen, und Mike sah, daß auch seine linke Hand dick verbunden war und er leicht humpelte. Der Anblick erfüllte Mike nicht nur mit Sorge um den Sikh-Krieger, sondern weckte auch sein schlechtes Gewissen. Während der ganzen Zeit, die sie draußen mit Serena gesprochen hatten, hatte er nicht einmal daran gedacht, wie es Singh bei dem Überfall wohl ergangen war!

»Singh!« sagte er erschrocken. »Du bist verletzt! Ist es schlimm?«

Der Sikh machte eine wegwerfende Geste mit der unverletzten Hand. »Das ist nichts«, behauptete er. »Ein paar Schrammen, die rasch verheilen werden. Aber ich habe versagt, Herr. Es... es tut mir leid.«

Im ersten Moment verstand Mike nicht, was Singh meinte. Dann schüttelte er verblüfft den Kopf. »Versagt? Du hast -«

»Es ist mir nicht gelungen, André zu beschützen«, unterbrach ihn Singh, ruhig und mit fast tonloser Stimme.

»Red nicht solch einen Unsinn!« erwiderte Mike scharf. »Was hättest du tun sollen! Sie ganz allein aufhalten?«

Singh nickte. »Ich habe es versucht«, sagte er. »Aber es waren zu viele. Und sie kämpfen gut.«

»Du bist noch am Leben, und das allein zählt«, sagte Mike entschieden. »Bist du schwer verletzt? Und was ist mit André? Was haben sie mit ihm gemacht?«

»Er hat versucht, das Mädchen zu beschützen«, sagte Singh. »Er hat tapfer gekämpft und sich heftiger gewehrt als die meisten hier. Aber am Schluß wurde er niedergerungen, genau wie ich. Sie haben ihn mitgenommen, aber ich glaube nicht, daß er schwer verletzt wurde.«

»Mitgenommen?« Trautman runzelte die Stirn. »Warum?«

»Er hat das Mädchen nicht losgelassen«, antwortete Singh. »Selbst als er das Bewußtsein verlor, hat er sich noch mit aller Macht an sie geklammert, so daß sie seinen Griff nicht lösen konnten, nicht einmal mit Gewalt.«

»Dann stellt sich nur noch die Frage, warum sie Sarah mitgenommen haben«, sagte Ben. »Ich meine: Haben sie sonst noch jemanden entführt?«

»Außer dem Mädchen?« Singh dachte einen Moment nach, dann schüttelte er zögernd den Kopf. »Ich bin nicht sicher, aber ich habe jedenfalls nichts gesehen.«

»Das ist seltsam«, sagte Juan. »Wenn sie gekommen sind, um ihren Mann zu befreien, warum haben sie dann das Mädchen mitgenommen? Und niemanden außer ihr?«

Weil sie Sarah verwechselt haben, sagte eine leise Stimme in Mikes Kopf.

Mike fuhr erschrocken zusammen. Er hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich herum. Nach einigen Sekunden gelang es ihm, mehr als nur die dunklen Schatten jenseits des steinernen Reliefs zu erkennen. Etwas bewegte sich darin.

»Astaroth?« fragte er laut. »Bist du das?«

Kennst du noch jemanden, der so dumm wäre, nach allem, was passiert ist, immer noch zu euch zu halten? fuhr die lautlose Stimme fort. Zugleich trat Astaroth mit gemessenen Schritten aus dem Schatten hervor. Mikes Augen weiteten sich erstaunt, als er sah, daß der Kater nicht allein war. Die kleine schwarzweiße Katze begleitete ihn, und nicht nur das - sie strich mit freundlich aufgestelltem Schwanz um ihn herum, rieb ihren Kopf an seiner Flanke und seinem Hals und schnurrte dabei lautstark. Astaroth ließ diese entwürdigende Behandlung ohne irgendein äußeres Anzeichen von Unruhe über sich ergehen, aber seine lautlose Stimme fuhr fort:

Ein einziger falscher Gedanke, und ich kratze dir die Augen aus.

Mike unterdrückte im letzten Moment ein spöttisches Lächeln, und es gelang ihm sogar, die entsprechenden Gedanken zu unterdrücken, wenn auch nur mit äußerster Mühe.

»Wie meinst du das: Sie haben Sarah verwechselt?« fragte er, laut, damit die anderen der Unterhaltung wenigstens teilweise folgen konnten.

So, wie ich es sage, antwortete Astaroth. Muß man denn immer alles dreimal erklären? Menschen!

»Astaroth, bitte!« sagte Mike. »Das ist nicht der Zeitpunkt für deine üblichen Scherze.«

Ich mache auch keine Scherze, antwortete Astaroth beleidigt. Nicht mit Zweibeinern. Ihr seid ja so schwer von Begriff - aber bitte: Sie hatten den Auftrag, ein blondes Menschenjunges zu holen, das zusammen mit einigen Fremden neu hier angekommen ist. Und dank eures Freundes, der sich wie ein Verrückter gewehrt hat, haben sie das falsche erwischt.

Mike blickte den Kater, dann das in Stein gemeißelte Ebenbild Serenas auf dem Relief an - und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. »Du... du meinst, sie wollten Serena?« sagte er verblüfft. »Sie sind hergekommen, um sie zu entführen, und sie haben Sarah mit ihr verwechselt?«

Ganz genau, antwortete der Kater. Ich habe ihre Gedanken gelesen. Vor einer Stunde hätte ich es noch nicht für möglich gehalten, aber sie sind tatsächlich noch begriffsstutziger als ihr. Sie haben sich einfach vertan.

»Moment mal«, mischte sich Juan ein. »Verstehe ich das richtig? Er meint, sie hätten Serena entführen wollen und nur aus Versehen an ihrer Stelle Sarah erwischt?«

»Ich glaube ja«, antwortete Mike. »Auch wenn es mir etwas komisch vorkommt.«

»Aber warum nicht?« meinte Trautman. »Wenn man nicht zu genau hinsieht, dann sieht sie ihr tatsächlich ein wenig ähnlich. Die Fischmenschen leben auf der anderen Seite der Bucht, vergeßt das nicht. Sie kennen die Menschen nicht genau.«

»Sie können ja auch nicht wissen, wie Serena aussieht!« warf Juan ein.

»Vielleicht doch«, murmelte Mike. Die anderen sahen ihn erstaunt an, aber er machte keine Anstalten, seine Worte zu erklären, sondern trat näher an das gewaltige Steinbildnis heran und betrachtete es. Genau wie beim ersten Mal hatte er das Gefühl, mehr als einem Kunstwerk gegenüberzustehen. Dieses Bild erzählte eine Geschichte - und sie war viel komplizierter und viel älter, als er bisher angenommen hatte. Es war ein unheimliches Gefühl - und ein sehr unangenehmes. Er war sicher, die Antworten auf all ihre Fragen zum Greifen nahe vor sich zu haben, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Er mußte eigentlich nur hinsehen.

Aber es gelang ihm nicht. Es war, als hätte er alle Teile eines gewaltigen Puzzles vor sich, ohne das Gesamtbild zu kennen und ohne es richtig zusammensetzen zu können. Es war zum Verrücktwerden!

»Natürlich!« sagte Trautman plötzlich. Er hob die Hand, als wolle er sich damit vor die Stirn schlagen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, sondern deutete auf das Relief. »Erinnert euch - Denholm hat es uns selbst erzählt! Dieser Stein war schon hier, als die ersten Menschen hierherkamen. Und das heißt, daß nicht sie, sondern andere ihn geschaffen haben.«

»Stimmt«, sagte Mike verständnislos. »Und?«

»Und welche anderen auß er dem Volk gibt es hier noch?« fragte Trautman.

Diesmal war es an Mike, ungläubig die Augen aufzureißen. »Die... die Fischmenschen!« murmelte er.

»Genau!« antwortete Trautman. Er deutete aufgeregt auf das steinerne Bild. »Und das bedeutet, daß sie dieses Relief erschaffen haben. Sie haben gewußt, daß Serena kommen wird - oder jemand wie sie. Wahrscheinlich haben sie es einfach gespürt!«

»Und sind gekommen, um sie zu holen«, flüsterte Juan schaudernd. »Weil sie ihr Feind ist.«

»Vielleicht«, sagte Trautman. »Ich muß die ganze Zeit über an etwas denken. Erinnert ihr euch, wie wir vor dem Sturm geflohen sind? Serena hatte diese Alpträume - und sie ist schreiend daraus aufgewacht und hat gesagt: die Alten. Auch dein Vater hat diese Alten erwähnt. Ich konnte mir nie einen Reim darauf machen, aber vielleicht...« Er seufzte. Ein Ausdruck von tiefer Sorge breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Diese Alten... vielleicht waren es die Feinde der alten Atlanter. Und möglicherweise sind sie nichts anderes als das, was Denholm und die anderen hier die Fischmenschen nennen.«

Mike wandete sich an Astaroth. »Stimmt das?« fragte er.

Vielleicht, antwortete Astaroth. Er versuchte ein menschliches Schulterzucken nachzuahmen. Das Ergebnis sah allerdings einigermaßen albern aus. Ich weiß sowenig wie ihr. Aber für einen Menschen ist dieser Gedanke ziemlich scharfsinnig.

»Seht mal!« sagte Chris plötzlich. Er war dichter an das Relief herangetreten und deutete mit dem ausgestreckten Finger auf eine kleine Zeichnung in der unteren linken Ecke. »Was ist denn das hier?«

Mike beugte sich neugierig vor. Das Bild war so klein, daß er es bisher nicht bemerkt hatte. Als er es genauer ansah, konnte er ein eisiges Schaudern nicht mehr ganz unterdrücken. Das Bild zeigte ein Ungeheuer, das wie eine bizarrre Kreuzung zwischen einem Menschen, einer Krake und einem häßlichen Vogel aussah. Etwas Düsteres und ungemein Drohendes schien von dieser Abbildung auszugehen, obwohl sie viel kleiner als die meisten anderen auf dem Bild und offensichtlich und mit nicht sehr viel Geschick in den Stein hineingekratzt worden war.

»Irgendein Unsinn«, sagte Ben. »Auf solchen Bildern wimmelt es doch immer von Dämonen und Geistern.«

Irgendwie spürte Mike, daß es nicht die Wahrheit war - und eine Sekunde später bekam er den Beweis für dieses Gefühl.

Auch Astaroth war neugierig herangekommen, um einen Blick auf das steinerne Relief zu werfen, und die kleine Schwarzweiße war keinen Schritt von seiner Seite gewichen. Im gleichen Moment jedoch, in dem ihr Blick auf das Bild des unheimlichen Krakenwesens fiel, stieß sie ein erschrockenes Fauchen aus und wich ein Stück zurück.

Mike sah das Tier überrascht an. Die Augen der Katze funkelten. Ihr Fell hatte sich gesträubt, und sie hatte drohend die Zähne gebleckt und die Krallen ausgefahren. Ein tiefes, warnendes Knurren drang aus ihrer Brust.

»Was hat sie?« fragte Mike. Die Frage galt Astaroth, der ebenfalls den Kopf gedreht hatte und die Schwarzweiße aus seinem einzelnen Auge durchdringend ansah.

Woher soll ich das wissen? antwortete Astaroth.

Mikes Geduld mit dem Kater neigte sich allmählich dem Ende zu. »Kannst du nun Gedanken lesen oder nicht?« fragte er unwillig.

Sie ist ein Tier! antwortete Astaroth beleidigt. Du willst mir doch nicht zumuten, die Gedanken eines Tieres zu lesen?

Mike packte blitzschnell zu, ergriff den Kater im Nacken und schüttelte ihn so derb, daß Astaroth ein erschrockenes Kreischen ausstieß und nach ihm schlug. Aber Mike hatte damit gerechnet und wich den Krallen des Katers ohne Mühe aus. »Ich mute dir gleich noch etwas ganz anderes zu!« sagte er drohend. »Spar dir deine Scherze für einen besseren Moment auf, Astaroth! Vielleicht steht das Leben jedes einzelnen Menschen in dieser Stadt auf dem Spiel!«

Ist ja schon gut! sagte Astaroth. Ich versuche es! Aber laß mich gefälligst herunter!

Mike gehorchte. Der Kater entfernte sich vorsichtshalber einige Schritte von ihm und maß ihn dabei mit einem Blick, der nichts Gutes verhieß. Aber schließlich blieb er wieder stehen und begann die schwarzweiße Katze zu fixieren. Seine Haltung verriet große Konzentration.

Eine ganze Weile verging, dann entspannte sich der Kater wieder und schüttelte sich.

»Nun?« fragte Mike ungeduldig.

Das war nicht leicht, sagte Astaroth. Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es ist, mit Wesen von geistig niedrigerem Stand Kontakt aufzunehmen. Schon bei euch -

»Astaroth!« sagte Mike warnend.

Schon gut, schon gut! antwortete Astaroth hastig. Du hattest recht. Sie hat Angst.

»Das ist mir auch aufgefallen!« sagte Mike. »Aber wovor?«

Vor dem Bild. Genauer gesagt vor dem, was es zeigt. Ich konnte nicht viel erkennen, aber ich glaube, sie...sie hat ein Wesen wie dieses schon einmal gesehen.

»Du meinst, in Wirklichkeit?« vergewisserte sich Mike - obwohl Astaroth im Grunde nur das aussprach, was er schon längst vermutet hatte. »Dieses Geschöpf... lebt es irgendwo?«

Ja. Sie ist ihm schon einmal begegnet.

Mike berichtete rasch, was er von Astaroth erfahren hatte, und Trautmans Gesichtsausdruck wurde noch besorgter. »Wenn dieses Wesen wirklich das ist, was ich glaube, dann ist die Lage noch viel schlimmer, als ich bisher befürchtet habe«, sagte er.

»Wieso?« erkundigte sich Mike.

Trautman deutete auf die ungeschickte Steinzeichnung. »Ich nehme an, das ist einer der Alten«, sagte er. »Und wenn er tatsächlich noch hier unten irgendwo lebt, dann sind Serena und die anderen in tödlicher Gefahr. Ihr könnt euch vorstellen, wo er lebt.«

»In der Alten Stadt«, murmelte Juan betroffen. Trautman nickte. »Ja«, sagte er düster.

»Und?« Ben verzog das Gesicht. »Ich glaube nicht, daß die Fischmenschen ihr gefährlich werden können. Immerhin habe ich am eigenen Leibe erfahren, wozu sie fähig ist.«

»Du warst allein«, erinnerte Juan. »Sie sind viele. Vielleicht Hunderte.«

Ben lachte trocken. »Na, dann denk doch bitte einmal daran, was sie mit der LEOPOLD angestellt hat. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte das Schiff mit Mann und Maus versenkt.«

»Du verstehst offenbar immer noch nicht«, sagte Trautman ernst. »Ich weiß nichts über die Alten, aber wenn sie tatsächlich die Feinde der Atlanter waren, dann müssen sie so mächtig gewesen sein wie sie. Serena war halb verrückt vor Angst, als sie aufwachte. Ich bin sicher, daß dieses Geschöpf gefährlich ist. Viel gefährlicher, als wir vielleicht ahnen.«

»Aber dann müssen wir sie warnen!« sagte Mike.

Trautmann schüttelte traurig den Kopf. »Das würde nichts nutzen«, sagte er. »Sie weiß, was sie erwartet.« Er deutete wieder auf das Bild. »Sie kennt dieses Bild ebenfalls und viel besser als wir.« Er schloß für einen Moment die Augen, und als er weitersprach, klang seine Stimme niedergeschlagen und vollkommen mutlos. »Ich glaube, sie hatte es von Anfang an gewußt.«

Die Bedeutung dieser Worte wurde Mike erst nach einigen Sekunden völlig bewußt. »Sie... Sie meinen, sie hat...«

»...von der ersten Sekunde an vorgehabt, in die Alte Stadt zu gehen und ihre Beherrscher zum Kampf zu stellen, ja«, führte Trautman den Satz zu Ende. »Der Überfall heute war wahrscheinlich nur ein willkommener Anlaß für sie.«

»Das glaube ich nicht!« sagte Mike impulsiv. »Das... das würde sie niemals tun!«

»Ich fürchte, doch«, sagte Trautman leise. »Sie sieht vielleicht aus wie ein ganz normales Mädchen, aber das ist sie nicht. Sie stammt aus einer Welt, die von der unseren vollkommen verschieden ist. Diese Wesen waren ihre Erzfeinde, und das vielleicht seit Jahrtausenden. Wer weiß - vielleicht sind sie sogar letzten Endes Schuld am Untergang ihres Volkes gewesen. Sie hat gar keine andere Wahl, als dorthin zu gehen und es zu vernichten. Jedenfalls glaubt sie das.«

»Aber das kann ihr Tod sein!« sagte Mike entsetzt.

»Und nicht nur ihrer«, murmelte Trautman. »Alle können dabei ums Leben kommen. Großer Gott, wenn dieses Geschöpf über die gleichen Kräfte verfügt wie Serena, dann kann diese ganze Welt vernichtet werden!«

»Und es gibt nichts, was wir dagegen tun können?« fragte Ben.

»Wir könnten Denholm und die anderen warnen«, schlug Chris vor. »Wenn sie erfahren, was ihnen bevorsteht, werden sie Serena niemals folgen.«

»Dann würde sie allein gehen«, sagte Trautman. »Und das Ergebnis wäre vermutlich dasselbe. Außerdem wird sie niemals zulassen, daß wir den anderen die Wahrheit sagen. Nein - ich fürchte, wir können wirklich nichts anderes tun als hierbleiben und beten.«

Wir können fliehen, sagte Astaroth.

Mike blickte ihn an, und eine wilde, fast verzweifelte Hoffnung machte sich in ihm breit. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, Astaroth«, sagte er, »das können wir nicht. Ich würde André niemals im Stich lassen.«

Lieber stirbst du? fragte Astaroth.

Darauf antwortete Mike nicht. Vielleicht weil er Angst hatte, sich dieser Frage wirklich zu stellen. Große Worte von Freundschaft bis in den Tod sprachen sich leicht, aber es war etwas ganz anderes, sie einlösen zu müssen. Und vielleicht nur, um sich selbst zu beruhigen, fuhr er nach einem Augenblick fort: »Und selbst, wenn wir es wollten - wir könnten gar nicht weg. Serena hat die NAUTILUS unbrauchbar gemacht.«

Sie hat den Steuerkristall ausgebaut, ich weiß, sagte Astaroth leichthin. Und wer sagt dir, daß es nur diesen einen gibt?

Mike blinzelte. Wollte Astaroth damit etwa andeuten, daß es einen zweiten Steuerkristall gab?

Glaubst du wirklich, daß es für ein so wichtiges Teil an Bord des Schiffes keinen Ersatz gäbe? fragte Astaroth in fast mitleidigem Ton.

»Ein zweiter Steuerkristall?« murmelte Mike ungläubig. Trautman fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und starrte ihn an, und auch die anderen waren wie vom Donner gerührt. Aber keiner von ihnen unterbrach sein stummes Zwiegespräch mit dem Kater.

Selbstverständlich, sagte Astaroth.

»Und du weißt, wo er ist?«

Selbstverständlich, sagte Astaroth noch einmal. In einem sicheren Versteck an Bord des Schiffes. Ich kenne es. Er lachte leise. Ich habe es in Serenas Gedanken gelesen, weißt du? Sie hält mich für ein dummes Tier, und deshalb ist sie gar nicht auf die Idee gekommen, daß ich ihre Gedanken ebenso deutlich lesen kann wie sie meine. Das ist wieder einmal typisch für euch Menschen. Ihr neigt dazu, andere immer für genauso dumm -

»Wo?!« unterbrach ihn Mike laut. Er streckte die Hand nach Astaroth aus. Der Kater wich hastig einen Schritt zurück und funkelte ihn mißtrauisch an.

Ist ja schon gut, sagte er. Ich zeige es euch. Sobald wir an Bord des Schiffes sind.

»Es gibt einen zweiten Steuerkristall!« sagte Mike aufgeregt. »Astaroth weiß, wo er ist.«

»Dann können wir fliehen?« fragte Ben. »Wir müssen nur warten, bis alle weg sind, und können -«

»So lange können wir nicht warten«, unterbrach ihn Trautman. Er schüttelte verblüfft den Kopf. »Warum bin ich nicht gleich darauf gekommen? Natürlich! Es gibt für alles und jedes an Bord der NAUTILUS Ersatz. Bei etwas so Wichtigem werden sie es kaum vergessen haben! Vielleicht haben wir doch noch eine Chance! Aber wir müssen uns beeilen.« Er deutete auf Chris. »Chris, geh zur Tür und paß auf, daß niemand kommt. Und ihr anderen helft mir. Wir müssen irgendwie hier heraus - am besten durch die Wand dort.« Er deutete auf eine der beiden Wände, die nicht aus massivem Stein bestanden. Wahrscheinlich war es wirklich kein großes Problem, dort einen gewaltsamen Ausgang zu schaffen.

Aber Mike - und auch Ben und Juan - zögerten, Trautmans Befehl nachzukommen. »Wozu diese Eile?« fragte Ben. »Es ist noch über eine Stunde Zeit, bis sie aufbrechen.«

»Wenn wir vorher fliehen, laufen wir nur Gefahr, wieder eingefangen zu werden«, fügte Juan hinzu.

»Das müssen wir riskieren«, erwiderte Trautman. »Sie würde sofort wissen, was wir planen, wenn sie noch einmal hierherkommt. Und ich bin fast sicher, daß sie das tut. Nein.« Er schüttelte entschlossen den Kopf und deutete erneut auf die Wand. »Wenn wir fliehen, dann jetzt sofort, ohne noch eine Sekunde zu verlieren. Außerdem glaube ich nicht, daß sie uns verfolgen läßt. Sie hat im Moment anderes zu tun. Schnell jetzt - helft mir!«

Das Material der Wände erwies sich als weitaus zäher, als Mike geglaubt hatte. Was wie brüchiges Holz aussah, entpuppte sich als steinharte Äste der Korallengewächse, aus denen der Wald draußen bestand. Sie benötigten ihre ganze Kraft, um eine Öffnung hineinzubrechen, durch die sie sich hindurchquetschen konnten - und die Aktion verursachte einen Lärm, daß sich Mike wunderte, daß nicht der halbe Ort zusammengelaufen kam, um nach seiner Ursache zu sehen. Aber schließlich hatten sie es geschafft, und Singh kroch als erster ins Freie, um sich umzusehen. Schon nach einem Augenblick streckte er den Arm wieder durch die Öffnung herein und winkte.

»Es ist alles ruhig«, sagte er. »Kommt.«

Nacheinander krochen sie durch die Öffnung ins Freie. Mike sah sich mit klopfendem Herzen um. Sie befanden sich auf der Rückseite des Hauses. Von den Bewohnern der Stadt war keine Spur zu entdecken, und der Waldrand war nur wenige Schritte entfernt. Es schien, als meinte es das Schicksal ausnahmsweise einmal gut mit ihnen.

Trotzdem klopfte sein Herz bis zum Zerreißen, als er Trautman und den anderen geduckt zum Waldrand folgte, und er wagte es erst, stehenzubleiben, als sie sich ein gutes Stück weit zwischen den sonderbaren, an Bäume erinnernden Korallengewächsen befanden. Jeden Moment rechnete er damit, einen warnenden Ruf zu hören oder gleich eine Horde bewaffneter Verfolger hinter sich auftauchen zu sehen. Aber weder das eine noch das andere geschah. Unbehelligt entfernten sie sich weiter von der Stadt und schlugen nach einer Weile wieder den direkten Weg zum Strand ein.

Sie erreichten ihn schon nach wenigen Minuten - und sie hatten ein zweites Mal Glück. Das Boot, mit dem sie zurückgebracht worden waren, lag noch da, wo sie es verlassen hatten. Im Laufschritt eilten sie darauf zu, und Trautman ging als erster an Bord, dicht gefolgt von Singh.

Mike, der den Abschluß bildete, wurde immer langsamer. Sein Blick suchte forschend den Waldrand ab, löste sich schließlich davon und blieb an den düsteren Umrissen der Alten Stadt auf der anderen Seite der Bucht hängen.

Und schließlich blieb er stehen. Er spürte wieder das Fremde, Unheimliche, das von den bizarren Mauern und Türmen ausging, aber jetzt war da noch mehr. André war dort drüben und Sarah auch. Und plötzlich wußte er, daß der Kater unrecht gehabt hatte. Ganz egal, was geschah, er würde seinen Freund niemals im Stich lassen.

»Worauf wartest du?« rief Ben vom Boot aus. Er hatte eines der großen Ruder ergriffen und stemmte es bereits in den Sand, um das Boot ins freie Wasser zu stoßen.

»Fahrt schon vor«, antwortete Mike. »Ich komme nach, sobald ich kann.«

»Was soll das heißen?« Ben ließ das Ruder wieder sinken, und auch Juan und Singh sahen Mike erschrocken an. Einzig Trautman wirkte nicht überrascht. »Wir haben keine Zeit für irgendwelchen Unsinn!«

»Ich gehe und hole André«, antwortete Mike entschlossen. Er deutete auf die Alte Stadt. »Macht die NAUTILUS seetüchtig. Ihr könnt André und mich dort drüben abholen. Ich werde euch schon finden.«

»Bist du verrückt geworden?« entfuhr es Ben. »Du weißt ja nicht einmal, ob er überhaupt noch am Leben ist!«

»Das werde ich schon herausfinden«, antwortete Mike. Er wandte sich um, lief aber noch nicht los, sondern tauschte einen Blick mit Trautman. Der weißhaarige alte Mann sah sehr besorgt drein, aber Mike las in seinen Augen, daß er nicht versuchen würde, ihn zurückzuhalten. Vielleicht war er der einzige, der spürte, daß Mike tat, was er tun mußte. Er würde es sich nie verzeihen können, wenn sie André jetzt einfach hier zurückließen.

»Ich schätze, ich brauche eine Stunde, um die Stadt zu erreichen«, fuhr er fort. »Gebt mir eine weitere Stunde. Wenn ich bis dahin nicht dort drüben bin, braucht ihr nicht mehr auf mich zu warten.«

Und damit lief er los, so schnell, daß weder Ben noch einem der anderen die Zeit blieb, ihn noch einmal zurückzurufen.


Er kam besser voran, als er gedacht hatte, so daß die Stunde, von der er gesprochen hatte, noch nicht einmal annähernd vorüber war, als er sich der Alten Stadt näherte. Der Weg war zwar weit, aber er blieb auf dem Strand, und er war ein ausdauernder Läufer, so daß er allmählich die Hoffnung zu fassen begann, vielleicht doch noch vor Serena und ihrer Armee anzukommen, um...

Ja, was eigentlich zu tun?

Mike hatte sich die Frage bis zu diesem Zeitpunkt ganz bewußt nicht gestellt, vielleicht, weil er gespürt hatte, daß er die Antwort darauf nicht so einfach finden würde. Aber nun, wo er sich den gewaltigen, einwärts geneigten Mauern der zyklopischen Stadt näherte, mußte er es, ob er wollte oder nicht.

Mikes Mut sank, während er sich vorsichtig an eine der zahllosen Lücken in der Stadtmauer heranschob und hindurchspähte. Von weitem hatte er sie für eine Art Festung gehalten, wuchtig und kompakt, aber nicht viel größer als die Stadt, in der Denholm und das Volk lebten. Aber das stimmte nicht. Die riesige Wand, die sich vor ihm scheinbar bis in den Himmel erhob, war eine Stadtmauer, hinter der sich ein wahres Labyrinth von Häusern, Türmen und sonderbaren, ineinanderverschachtelten Gebäuden erstreckte. Ihr Alter mußte unvorstellbar sein, und die Zeit hatte ihre Spuren darin hinterlassen: Hier gähnte eine Öffnung, durch die die NAUTILUS hätte hindurchfahren können, da ein Riß, der von weitem nur wie eine dünne Linie ausgesehen hatte, aber reichte, ihn bequem passieren zu lassen, dort war ein Loch hineingebrochen, als hätte jemand mit einem gigantischen Hammer auf die Wand eingeschlagen. In die Stadt hineinzukommen war nicht das Problem.

Aber wie um alles in der Welt sollte er André in diesem Irrgarten finden? Wenigstens war von den unheimlichen Bewohnern der Stadt nichts zu sehen - die schwarzen Straßen lagen wie ausgestorben vor ihm, nirgends war Bewegung, nirgends Leben. Trotzdem hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden.

Einen Moment später wurde aus diesem Gefühl Gewißheit, denn er hörte ein leises Rascheln, und dann tauchte ein schwarzer, struppiger Schatten neben ihm auf.

»Astaroth!« murmelte Mike überrascht. »Was machst du denn hier?«

Das frage ich mich auch, antwortete der Kater spöttisch. Wahrscheinlich das, was ich in letzter Zeit andauernd tun muß - ich helfe dir aus der Patsche.

Die Situation war zu ernst, als daß Mike Zeit damit verschwendet hätte, auf Astaroths herablassenden Ton einzugehen. Er war erleichtert wie selten zuvor, den Kater zu sehen. »Was ist mit der NAUTILUS?« fragte er. »Haben sie sie flottbekommen?«

Selbstverständlich, antwortete Astaroth. Mit dem Ersatzkristall war es gar kein Problem. Ich soll dir sagen, daß sie in genau einer Stunde hier sind. Serena wird vor Wut explodieren, wenn sie ihr Schiff davonfahren sieht. Schade, daß ich nicht dabeisein kann, um den Anblick zu genießen.

Mike wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Stadt zu, und erneut machte sich ein Gefühl von Mutlosigkeit in ihm breit. Die Stadt schien jedesmal größer zu werden, wenn er hinsah. Mike schätzte, daß sich in diesem Labyrinth einige zehntausend Menschen verstecken konnten, ohne daß er eine Chance hätte, sie zu finden.

Stimmt, sagte Astaroth in fast fröhlichem Ton. Wenn du mich nicht hättest, wärst du aufgeschmissen - aber das kennen wir ja schon.

»Soll das heißen, du weißt, wo er ist?« fragte Mike.

Nein, antwortete Astaroth. Aber ich weiß, wo der Alte ist. Ich habe die Gedanken der Beklop... na, du weißt schon, gelesen. Und ich verwette mein linkes Auge, daß André und das blonde Menschenjunge auch dort sind.

Astaroth hatte kein linkes Auge, was seinen Worten nicht gerade viel Überzeugungskraft gab, aber Mike war von sich aus schon zu dem gleichen Schluß gekommen wie der Kater. »Und wo?« fragte er.

Es gibt ein großes Gebäude genau im Zentrum der Stadt, erwiderte Astaroth. Es sieht aus wie eine Pyramide. Dort drinnen ist er. Er huschte zwischen Mikes Beinen hindurch und trat durch die Öffnung in der Stadtmauer. Kommst du mit, oder ziehst du es vor, mich allein die ganze Arbeit tun zu lassen?

Mike hätte das in diesem Moment tatsächlich liebend gerne getan. Alles in ihm sträubte sich dagegen, dem Kater zu folgen. Die bloße Nähe der Stadt erfüllte ihn mit Unbehagen, und der Gedanke, sie zu betreten, mit purer Angst. Von weitem hatte die Stadt unheimlich und düster gewirkt, aber aus der Nähe war sie ein zu Stein gewordener Alptraum. Die vorherrschende Farbe war Schwarz, aber es war ein Schwarz von einer Tiefe, die etwas in ihm zu berühren und zum Absterben zu bringen schien.

Die Architektur war fremd und furchteinflößend. Manche der Gebäude, an denen sie vorüberkamen, sahen beinahe normal aus, andere wiederum waren kaum als Häuser zu erkennen, sondern schienen vielmehr etwas Lebendiges zu sein. Die Welt, durch die sie sich bewegten, folgte auch nicht der gewohnten Geometrie. Alle Linien und Winkel stimmten irgendwie nicht, und jeder Fußbreit Boden strahlte ein Gefühl der Fremdartigkeit aus, das Mike schaudern ließ. Diese Stadt war nicht von Menschen errichtet worden, und vor allem: Sie war nicht für Menschen errichtet worden. Mike begriff plötzlich, warum Denholm und die anderen so weit von ihr entfernt auf der anderen Seite der Bucht lebten. Es hätte gar nichts mit den Fischmenschen zu tun. Sie hätten hier gar nicht leben können, selbst wenn es ihre unheimlichen Bewohner nicht gegeben hätte.

Irgend etwas ist hier. Es macht mir angst.

Plötzlich blieb Mike stehen. Er hatte eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, aber als er sich umdrehte und genauer hinsah, war da nichts.

Was ist? fragte Astaroth alarmiert.

»Nichts«, antwortete Mike. »Ich muß mich... getäuscht haben. Ich dachte, ich hätte etwas gesehen.«

»Aber das hättest du ja gespürt, oder?«

Zu seiner nicht geringen Beunruhigung antwortete Astaroth nicht, sondern begann sich nur ebenfalls mißtrauisch umzublicken, so daß Mike schließlich weiterging. Nach ein paar Schritten blieb er wieder stehen und hob die Hand. »Dort!« sagte er. »Das muß die Pyramide sein, von der du gesprochen hast.«

Er deutete auf ein schwarzes, gewaltiges Bauwerk, das sich über den Dächern der Häuser vor ihnen erhob und eigentlich nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einer Pyramide hatte. Aber obwohl Astaroth nicht auf seine Worte reagierte, wußte Mike, daß dies ihr Ziel war. Das Gebäude strahlte die gleiche Fremdartigkeit und Kälte aus wie die gesamt Stadt, nur viel intensiver. Es bereitete Mike schon Unbehagen, es nur anzusehen.

Das Gefühl wurde stärker, je weiter sie sich der Pyramide und damit dem Zentrum der Stadt näherten. Der Gedanke an sich mochte zwar vollkommen absurd sein, aber Mike war tief in sich immer mehr davon überzeugt, daß diese ganze Stadt irgendwie lebendig und die schwarze Pyramide im Zentrum so etwas wie ihr Herz war.

»Wo sind sie alle?« fragte er nach einer Weile.

Wer? erwiderte Astaroth.

»Die Fischmenschen«, antwortete Mike. »Sieh dich doch um. Diese Stadt ist groß genug für Zehntausende von ihnen. Wo um alles in der Welt sind sie?«

Es hatte nicht damit gerechnet, aber nach ein paar Sekunden antwortete Astaroth: Auf jeden Fall weit weg. Wären sie in der Nähe, würde ich ihre Gedanken spüren. Vielleicht sind sie Serena entgegengegangen.

Mike fuhr erschrocken zusammen. Auf diesen Gedanken war er noch gar nicht gekommen - obwohl er an sich nahe lag. Er wollte nicht daran denken, was das bedeuten würde - die Vorstellung, daß vielleicht alles, was Astaroth und er taten, schon vergebens sein könnte, war einfach zu schrecklich.

Noch ein paarmal glaubte Mike, eine Bewegung zu gewahren, und zumindest einmal war er vollkommen sicher, einen Schatten davonhuschen zu sehen, aber sie erreichten die schwarze Pyramide im Zentrum der Stadt unbehelligt, und schließlich lag der Eingang zu dem unheimlichen Gebäude vor ihnen.

Mike zögerte, es zu betreten. Es gab keine Wächter, kein Tor, nicht das mindeste Hindernis - aber schon der bloße Gedanke, einen Fuß in den verzerrten, von Schatten erfüllten Korridor jenseits der Tür zu setzen, erfüllte ihn mit fast körperlicher Übelkeit. Er spürte, daß diese Pyramide so sehr Teil einer fremden, nicht für Menschen geschaffenen Welt war, daß er darin nicht würde existieren können; wenigstens nicht lange, und nicht, ohne einen Preis dafür zu zahlen.

Willst du umkehren? flüsterte Astaroths Stimme in seinen Gedanken. Ich könnte es verstehen. Mir ist auch nicht besonders wohl bei der Vorstellung, dort hineinzugehen.

Einen Moment lang war Mike tatsächlich versucht, genau das zu tun - umzukehren und so weit und so schnell zu laufen, wie er nur konnte. Aber André war dort drinnen, und wenn er schon hier draußen halb verrückt vor Angst und Entsetzen wurde, wie mußte es dann erst seinem Kameraden ergehen, der irgendwo in diesem Alptraum aus Stein und Schwärze gefangengehalten wurde?

Statt zu antworten, trat er mit einem entschlossenen Schritt durch die Tür hindurch. Astaroth folgte ihm, wenn auch zögernd.

Langsam bewegten sie sich durch den Gang, der sich hinter der Tür erstreckte. Mikes Herz klopfte zum Zerspringen. Alle seine Sinne schienen verrückt zu spielen - ihm war gleichzeitig heiß und kalt. Seine Augen schmerzten, und es war ihm unmöglich, irgendeinen Punkt in seiner Umgebung länger als eine Sekunde zu fixieren. Der Gang erstreckte sich vollkommen gerade vor ihnen, und trotzdem behauptete sein Gleichgewichtssinn, daß er bergauf ging; dann wieder hatte er das irrsinnige Gefühl, kopfunter an der Decke entlangzumarschieren... Er durfte nicht zu lange hier drinnen bleiben, das wußte er, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, tatsächlich den Verstand zu verlieren.

Auch sein Zeitgefühl verließ ihn. Seine Logik behauptete, daß sie erst wenige Augenblicke hier drinnen sein konnten, allerhöchstens ein paar Minuten, aber ihm kam es vor, als wären Stunden vergangen, als sie endlich das Ende des Korridores erreichten. Vor ihnen lag eine mächtige Tür aus schwarzem Stein, in die bizarre Bilder und Muster eingraviert waren, deren Anblick Mike schwindeln ließ. Das größte Problem aber war, daß sich der Gang vor dieser Tür gabelte und sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite nach wenigen Schritten vor einer weiteren, ebenso mächtigen Tür endete. Und Mike wagte es nicht, auf gut Glück loszugehen - wenn sie sich hier drinnen verirrten, würden sie nie wieder herausfinden.

»Kannst du sie spüren?« fragte er.

Astaroth sah sich unsicher nach beiden Seiten um, machte einen Schritt nach rechts, dann nach links und kehrte schließlich wieder zu Mike zurück. Dort. Er wies mit einer Kopfbewegung auf die erste Tür. Er ist dort. Das Mädchen auch.

Mike überwand seine Furcht, trat dicht an das Portal heran und legte die Hand auf den schwarzen Stein. Er war darauf gefaßt, mit aller Gewalt drücken zu müssen, denn jeder der beiden gewaltigen Torflügel mußte Tonnen wiegen, aber er hatte sie kaum berührt, da schwangen sie vollkommen lautlos und wie von Geisterhand bewegt zur Seite.

Dahinter lag eine riesige, finstere Halle, die groß genug schien, Denholms gesamte Stadt aufzunehmen. Sie war vollkommen leer. Die Wände waren schwarz und glatt, schienen aber trotzdem auf unheimliche Weise zu leben; es war, als bewegten sie sich. Genau in der Mitte des Saales befand sich ein runder, bestimmt dreißig Meter durchmessender Schacht, aus dessen Tiefe ein unheimliches, blaßgrünes Leuchten heraufdrang. Und auf der anderen Seite dieses Schachtes, dicht an seinem Rand, befanden sich André und das Mädchen.

»André!« Mike rannte mit einem gellenden Schrei los.

André hob mühsam den Kopf und sah ihm entgegen. Er saß auf dem Boden und hatte Sarahs Kopf in seinen Schoß gebettet. Das Mädchen wies keine äußerlichen Verletzungen auf, aber es schien besinnungslos zu sein.

Andres linke Hand strich immer wieder über ihre Stirn, ohne daß er sich der Bewegung selbst bewußt zu sein schien.

»André! Was ist passiert?« Mike langte schweratmend bei dem Jungen an, fiel vor ihm auf die Knie und berührte ihn an den Schultern. »Bist du verletzt?«

André schüttelte schwach den Kopf. Sein Gesicht war kreidebleich, und seine Stimme so dünn und ausdruckslos, daß Mike Mühe hatte, die Worte überhaupt zu verstehen, als er antwortete.

»Nein. Er hat mir nichts getan. Aber Sarah. Er hat sie berührt, und... und seitdem ist sie so.«

»Er?« Mike sah André fragend an, dann beugte er sich zu Sarah hinab. Das Mädchen war am Leben, aber noch bleicher als André, und sein Atem war flach und kaum noch wahrnehmbar. »Wen meinst du mit er?«

Statt einer Antwort deutete André auf den Schacht, und Mike drehte sich herum und warf einen Blick in die Tiefe. Der Anblick ließ ihn schwindeln. Er wußte nicht, was Wirklichkeit und was ein weiteres Trugbild war, aber zumindest im ersten Moment glaubte er, in einen Abgrund von mindestens einer Meile Tiefe zu blicken. Seine Wände schienen zu pulsieren, und an seinem Grund brodelte ein See aus kochendem Wasser, das von einem unheimlichen grünen Licht durchdrungen war.

»Ich kann sie nicht wachbekommen«, murmelte André. Seine Stimme zitterte. »Ich weiß nicht, was er mit ihr gemacht hat. Sie... sie wacht einfach nicht auf.«

Mike streckte die Hände nach dem Mädchen aus, aber dann wagte er es doch nicht, es zu berühren. Sarah lag tatsächlich wie eine Tote in Andres Schoß, unbeschadet des Umstandes, daß sie noch atmete. Mike fühlte sich hilflos wie nie zuvor im Leben. Schließlich wandte er sich an Astaroth.

»Was ist mit ihr?« fragte er. »Kannst du etwas erkennen?«

Der Kater bewegte sich auf das Mädchen zu, sprang nach einem kurzen Zögern auf seine Brust und begann ihr Gesicht abzulecken. Er schnurrte leise, aber es war kein zufriedener Laut, sondern eher ein Geräusch, das Furcht auszudrücken schien.

Sie lebt, sagte er schließlich. Aber etwas ist mit ihr geschehen. Sie ist... verändert.

»Verändert?« fragte Mike.

Irgend etwas ist nicht mehr da, antwortete Astaroth. Ich weiß nicht, was, aber jetzt... ist sie wie ihr.

»Wie wir?« wiederholte Mike. »Was meinst du damit? War sie denn vorher anders?«

Ja, antwortete Astaroth. Viele hier sind anders. Mehr wie Serena als wie ihr.

»Mehr wie Serena als wir...« Die Worte schienen irgend etwas in Mike zu bewirken. Für einen Moment hatte er das Gefühl, ihre Bedeutung zu erkennen, aber dann entschlüpfte ihm der Gedanke wieder. Mit einem entschlossenen Ruck richtete er sich wieder auf und streckte André die Hand entgegen. »Komm!« sagte er.

»Wir müssen hier raus. Schnell. Trautman wartet draußen mit der NAUTILUS auf uns!«

André rührte sich nicht. Kurz entschlossen bückte sich Mike und hob Sarah auf die Arme. Das Mädchen war erstaunlich leicht, und es reagierte auf die Berührung und begann leise zu stöhnen, wachte aber nicht auf.

»Schnell jetzt!« keuchte Mike. »Nichts wie raus hier!«

Er fuhr herum - und im gleichen Moment wußte er, daß es zu spät war.

Mike spürte es, eine halbe Sekunde, bevor Astaroth mit einem entsetzten Kreischen zurückprallte und das Wasser auf dem Grund des Schachtes stärker zu brodeln begann. Etwas kam. Etwas Gewaltiges, unvorstellbar Altes und Mächtiges.

Das grüne Leuchten am Grunde des Schachtes verstärkte sich, bis die ganze Halle in einem unwirklichen, kalten grünen Feuer zu erstrahlen schien. Ein unheimliches, elektrisches Knistern erfüllte die Luft, und Mike hatte plötzlich das Gefühl, am ganzen Körper von unsichtbaren Spinnweben berührt zu werden.

Und dann erschien der Koloß.

Das grüne Feuer verdichtete sich unmittelbar vor Mike zu einem Ball aus reiner, lodernder Glut, in deren Zentrum sich ein massiger Körper bildete.

Es war das Geschöpf vom Relief, aber was vor Mike und André auftauchte, das war kein Bild, sondern ein lebendes, gewaltiges Wesen, ein Ding mit einem massigen, zweibeinigen Körper, einem riesigen Schädel und weit gespannten, ledrigen Schwingen, von denen glitzerndes Wasser wie geschmolzenes Metall herablief. Ein Dutzend riesiger Krakenarme wuchs wie ein Wald peitschender Schlangen aus dem aufgeblähten Schädel heraus, der ganz von einem Paar übergroßer, rot leuchtender Augen ohne Pupillen beherrscht wurde.

Mike hatte gewußt, daß der Alte groß war, obwohl er ihn nur als winzige Abbildung auf dem Stein gesehen hatte, aber was da vor ihm stand, das war kein Riese, sondern ein Gigant, mindestens fünf Meter groß und unvorstellbar stark. Seine Schwingen hatten die Größe von Segeln, und die zuckenden Krakenarme waren dicker als Mikes Oberschenkel.

Das Geschöpf war ein Ungeheuer, wie es entsetzlicher in keinem Alptraum vorkommen konnte, aber tausendmal schlimmer als das, was er sah, war das, was er spürte. Dieses Wesen war alt, unglaublich alt. Und es war so fremd und unverständlich wie diese Pyramide, denn sie waren beide Teile einer Welt, die sich vollkommen von der der Menschen unterschied, so sehr, daß beide zusammen an einem Ort nicht existieren konnten. Etwas in Mike krümmte sich vor Entsetzen, als sich die gewaltigen Krakenarme nach ihm ausstreckten, aber er war unfähig, davonzulaufen. Die bloße Nähe des Alten lahmte ihn vollkommen.

Dann berührten ihn die peitschenden Arme.

Er spürte... nichts.

Der Schmerz, vielleicht der Tod, auf den er gefaßt war, kam nicht. Die Haut des Ungeheuers war glatt, warm und trocken, und obwohl seine Kraft ausreichen mußte, einen Elefanten in Stücke zu reißen, war seine Berührung sanft, ein behutsames Tasten und Suchen statt des tödlichen Schlages, den Mike erwartete.

Und dieses Suchen ging tiefer als nur bis zu seiner Haut. Er spürte, wie eine zweite, unsichtbare Hand in seine Gedanken griff, seine Erinnerungen und sein Selbst, bis in die verborgensten Winkel seiner Seele vordrang - und sich wieder zurückzog. Einen Moment lang stand der Titan noch da und starrte ihn aus seinen unheimlichen, blutroten Augen an, dann begann er zu verblassen und zog sich wieder in jene andere Dimension zurück, aus der er gekommen war.

Mike taumelte. Plötzlich hatte er nicht mehr die Kraft, Sarah zu halten. Er fiel auf die Knie herab, ließ das Mädchen zu Boden gleiten und mußte sich im nächsten Moment mit beiden Händen abstützen, um nicht selbst zu fallen. In seinem Kopf drehte sich alles. Er fühlte sich ausgelaugt und leer. Jedes bißchen Kraft schien aus ihm gewichen zu sein. Für eine Sekunde mußte er mit aller Gewalt gegen eine Ohnmacht ankämpfen.

Als sich die grauen Schleier vor seinen Augen lichteten, stand André über ihm. »Alles in Ordnung?« fragte er.

Mike versuchte zu nicken, brachte aber kaum die Kraft dazu auf. »Was... was war das?« fragte er mühsam.

André zuckte mit den Achseln und sank auch auf die Knie, um nach Sarah zu sehen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Dasselbe hat er auch mit mir gemacht. Ich habe gedacht, mein Leben wäre zu Ende, aber er hat mir nichts getan. Als ob er kein Interesse an mir hätte.« In diesem Moment öffnete Sarah die Augen. Sie blinzelte ein paarmal, dann richtete sie sich mühsam auf und sah sich um, verwirrt und benommen, als hätte sie Mühe, sich zu erinnern, wo sie war.

»Sarah!« rief André. »Wie fühlst du dich? Bist du in Ordnung?«

Sarah nickte. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte langsam: »Was ist geschehen?«

»Du erinnerst dich nicht?« wollte André wissen.

Das Mädchen schüttelte wieder den Kopf, stöhnte und hob die Hand an die Stirn. »Ich weiß nicht«, murmelte es. »Da war... das Ungeheuer!« Sie stieß einen leisen Schrei aus, sprang auf die Füße und sah sich wild um.

Mike hob beruhigend die Hand. »Keine Sorge!« sagte er rasch. »Er ist fort. Er wird uns nichts mehr tun.« Diese Behauptung entsprang mehr seiner Hoffnung als wirklicher Überzeugung, aber sie schien das Mädchen trotzdem zu beruhigen. Sarah hörte auf zu zittern, aber sie sah Mike und André vollkommen verstört an.

»Versuch dich zu erinnern!« sagte Mike beschwörend. »Was ist geschehen? Was hat er mit dir gemacht?«

»Gemacht?« Sarah blickte ihn verständnislos an. »Ich verstehe nicht... was... was meinst du?«

Mike hätte vor Hilflosigkeit beinahe aufgeschrien. Er hatte das Gefühl, der Wahrheit ganz nahe zu sein. Aber immer, wenn er danach greifen wollte, huschte sie im letzten Augenblick davon.

Sie ist jetzt so wie ihr. Das war es, was Astaroth gesagt hatte. Nicht mehr wie Serena. Aber was um alles in der Welt hatte er damit gemeint?!

Sie ist jetzt so wie ihr, nicht mehr so wie Serena. Viele sind hier wie sie.

Und dann, ganz plötzlich, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen, wußte er es. Die Erkenntnis stand so klar und deutlich in seinem Bewußtsein, daß es keinen Zweifel daran gab.

»Um Gottes willen!« stöhnte er. »André, ich weiß jetzt, was das alles bedeutet.« Er fuhr herum und deutete auf den Ausgang. »Schnell! Wir müssen zu Serena und den anderen! Vielleicht können wird das Schlimmste noch verhindern!«

Er rannte los, ehe André auch nur den Mund aufmachen konnte, um eine Frage zu stellen.


Obwohl Mike rannte wie nie zuvor im Leben, hörte er schon von weitem, daß sie zu spät kamen. Der Lärm der Schlacht drang ihnen entgegen, als sie sich dem Stadttor näherten, ein Dröhnen und Klirren, in das sich immer wieder gellende Schreie mischten, und über der Mauer tobte ein Gewitter aus blauen Blitzen und knisternder, magischer Energie. Als sie durch das Tor stürmten, erwartete sie ein entsetzlicher Anblick.

Serena hatte sich nicht damit begnügt, die Männer mitzunehmen, die bei dem Überfall auf die NAUTILUS dabeigewesen waren, sie hatte jeden mitgebracht, der in der Lage war, eine Waffe zu halten - Männer, Frauen, aber auch Kinder und Alte. Von den knapp dreihundert Mitgliedern des Volkes waren sicher zweihundertfünfzig vor den Toren der alten Stadt erschienen, um Serena bei ihrem Krieg gegen die Fischmenschen zu unterstützen. Und wie es aussah, waren sie ihr geradewegs in den sicheren Tod gefolgt.

Der Platz vor dem Tor war eine Falle.

Es waren Hunderte und aber Hunderte von Fischmenschen, die Serena und ihrem zusammengewürfelten Heer hier aufgelauert hatten. Der Kampf konnte erst vor kurzem entbrannt sein, aber der Widerstand des Volkes begann schon jetzt zu erlahmen. Dutzende von ihnen lagen bereits reglos auf dem Boden, und das Häufchen Überlebender wurde unbarmherzig weiter zusammengetrieben. Die Menschen wehrten sich tapfer, mit Schwertern, Gewehren, Messern oder auch einfach nur Knüppeln, aber die Übermacht war einfach zu groß. Wäre Serena nicht gewesen, dann wären sie wahrscheinlich schon im ersten Augenblick einfach überrannt worden.

Das Mädchen stand im Zentrum des kleiner werdenden Kreises Verzweifelter, die den Ansturm der Fischmenschen aufzuhalten versuchten, und sie hatte ihre magischen Kräfte nunmehr vollends entfesselt. Direkt über ihr blitzte und wetterleuchtete es ununterbrochen in der Luft. Serenas Gestalt war von blauen Flammen umgeben. Sie stand da wie ein lebendig gewordener Racheengel, der gekommen war, um einen uralten Kampf zu Ende zu bringen. Ihre Hände spien blaue Funken, und wo immer diese einen der Angreifer trafen, wurde er von den Füßen gerissen und mit fürchterlicher Kraft zu Boden geschleudert.

Und trotzdem bestand am Ausgang des Kampfes nicht der geringste Zweifel. Die Übermacht war zu gewaltig. Mike entdeckte Denholm und auch Malcolm unmittelbar neben Serena. Beide wehrten sich mit verbissener Kraft gegen die Angreifer, denen es immer wieder gelang, den Ring der Verteidiger zu durchbrechen und Serena direkt zu attackieren, aber auch ihre Gegenwehr wurde bereits schwächer.

»Serena! Nein! Hör auf!« schrie Mike. Er rannte verzweifelt auf Serena zu, so schnell er konnte, und ihm wurde dabei nicht einmal bewußt, daß sich die Reihen der Fischmenschen vor ihm teilten. Keines der riesigen Geschöpfe, von denen jedes einzelne in der Lage gewesen wäre, ihn mühelos zu überwältigen, griff ihn an. Und auch Denholms Leute wichen vor ihm zurück, so daß er unbehelligt bis zu Serena vordringen konnte.

»Hört auf!« schrie er immer wieder. »Hört alle auf! Das ist doch Wahnsinn!«

Und etwas Unheimliches geschah. Als wären seine Worte ein Befehl gewesen, gegen den es keinen Widerspruch gab, erlosch der Kampf rings um ihn herum. Die Fischmenschen zogen sich ein Stück von ihren schon fast besiegten Gegnern zurück, und Denholms Krieger ließen ihre Waffen sinken. Es war, als hielte die Schlacht für einen Moment den Atem an.

Auch Serena hatte die Arme gesenkt. Ihre Hände hatten aufgehört, blaues Feuer zu verschleudern, aber ihre Gestalt war noch immer in einen Mantel knisternder, kalter Glut gehüllt. Ihre Augen schienen zu brennen, während sie Mike anstarrte.

»Du bist also immer noch da«, sagte sie hämisch. »Hast du dich endlich entschieden, zu welcher Seite du gehörst? Ich wußte, daß du ein Feigling bist, aber ich habe nicht geglaubt, daß du auch ein Verräter bist!«

»Serena!« Mike blieb zwei Schritte vor dem Mädchen stehen und rang keuchend nach Luft. »Ihr müßt aufhören!« fuhr er mühsam fort. »Sie sind nicht eure Feinde!«

»Ach?« Serena lachte böse. Sie deutete auf die reglosen, blutenden Gestalten auf dem Boden. »Und wie nennst du das?«

»Bitte, hör mir zu!« sagte Mike verzweifelt. »Ihr werdet alle sterben, wenn ihr diesen Kampf fortsetzt!«

»Dann sterben wir eben!« antwortete Serena. »Das ist immer noch besser, als Sklaven dieser Bestien zu sein!«

»Aber sie sind nicht eure Feinde!« antwortete Mike in beschwörendem Ton. »Sieh doch!«

Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf André und Sarah, die ihm gefolgt waren, jetzt aber in einiger Entfernung stehenblieben. »Sie haben ihnen nichts getan!«

Serena musterte André und Sarah verblüfft, und Malcolm stieß einen Schrei aus, rannte an Mike vorbei und schloß seine Tochter in die Arme.

»Das ist... ein Trick«, sagte Serena. »Ein Köder, damit wir uns ergeben und sie kampflos gewinnen!«

»Nein!« antwortete Mike. »Bitte, Serena, glaub mir. Sie sind nicht eure Feinde. Das sind sie nie gewesen. Das Wesen, das ihr den Alten nennt, will nicht euren Tod. Er will nur wiederhaben, was ihm gehört!«

Serena maß ihn mit einem langen, mißtrauischen Blick. Sie sagte nichts, und in ihren Augen glomm noch immer dieses verzehrende Feuer - aber darinnen war auch plötzlich noch etwas anderes, das Mike Mut machte, weiterzusprechen.

»Du hattest recht, als du behauptet hast, daß deine Vorfahren diese Stadt hier errichtet haben«, sagte er. »Aber sie haben sich dabei einer Kraft bedient, die ihnen nicht gehörte.«

»Unsinn!« widersprach Serena heftig, aber in einem Tonfall, der Mike endgültig davon überzeugte, daß er die Wahrheit sprach.

»Nein, Serena«, widersprach er. »Die magischen Kräfte der Atlanter haben nie ihnen gehört. Sie haben sie gestohlen. Sie haben den Weg in eine andere Welt gefunden und etwas von dort mitgebracht, was ihnen nicht gehörte. Und du weißt, daß es so ist.«

Serena schwieg. Auch die anderen sagten nichts, und ein fast atemloses Schweigen begann sich über dem Platz auszubreiten, der noch vor kurzem vom Lärm der Schlacht und den Schreien der Verletzten und Sterbenden widergehallt hatte.

»Dieser Ort hier ist das Tor in ihre Welt«, fuhr Mike fort, nun leiser, aber noch immer mit erhobener Stimme, so daß seine Worte weithin hörbar waren. »Es ist kein Zufall, daß ihr alle hier seid. Das Wesen, das uns hierhergebracht hat - das euch alle hergebracht hat - hat nach euch gesucht. Nach Menschen wie euch, in denen noch etwas vom Erbe der Atlanter schlummerte.«

Serena schwieg weiter. Der Ausdruck von Haß war aus ihrem Gesicht verschwunden.

»Sie alle sind in irgendeiner Form Nachkommen der alten Atlanter«, fuhr Mike fort. »Deshalb hat die Qualle die Schiffe angegriffen, auf denen sie waren, und sie hierhergebracht. Und deshalb hat sie auch die NAUTILUS angegriffen. Nicht vorher. Nicht in all den Monaten, in denen wir allein an Bord waren, und nicht in all den Jahren, in denen mein Vater auf ihr gefahren ist. Erst als du an Bord gekommen bist, hat sie sich auf unsere Spur geheftet. Du weißt, daß es so ist.«

»Und?« sagte Serena trotzig. »Was ändert das?«

»Alles«, antwortete Mike. Er deutete auf Sarah. »Sich sie dir an. Ihr ist nichts geschehen. Er hätte sie töten können, vollkommen mühelos. Aber er hat es nicht getan. Er hat sich nur genommen, was ihm gehört. Mehr will er nicht, und mehr hat er nie gewollt.« Er hob die Stimme noch ein wenig mehr. »Gebt ihm zurück, was ihm gehört, und er wird euch in Frieden gehen lassen, das verspreche ich euch. Er will nicht eure Leben. Er will nur die magische Kraft, die in euch schlummert. Er braucht sie, denn ohne sie kann er nicht leben.«

Mike schwieg eine Sekunde, dann atmete er tief ein und fuhr, wieder leiser, aber jetzt direkt an Serena gewandt, fort: »Und dasselbe gilt für dich. Er wird dir nichts tun. Wenn es dein Tod wäre, den er wollte, hätte er dich längst vernichtet.«

Serena riß die Augen auf. »Du weißt ja nicht, was du da redest!« keuchte sie. »Du verlangst tatsächlich von mir, daß ich... daß ich dort hineingehe und mich diesem... diesem Ungeheuer ausliefere? Dem Monster, das mein gesamtes Volk ausgelöscht hat?!«

»Aber das hat es nicht, Serena«, sagte Mike sanft. »Es waren die magischen Kräfte deiner Vorfahren, die ihnen am Ende zum Verhängnis wurden. Die Magie, die nicht die ihre war und mit der sie nicht richtig umzugehen verstanden.«

Serena schwieg. In ihrem Gesicht tobte ein Sturm einander widerstrebender Gefühle. Sie zitterte.

»Du weißt, daß ich die Wahrheit sage«, sagte Mike leise. »Du hast es die ganze Zeit über gewußt, nicht wahr? Bitte, Serena! Diese alte Feindschaft muß enden. Geh und gib ihm zurück, was ihm gehört, und all diese Menschen hier werden endlich in Frieden leben können. Du brauchst die Magie nicht. Keiner von uns braucht sie. Sie hat schon einmal zum Untergang eines Volkes geführt. Willst du wirklich, daß es wieder geschieht?«

Serena zitterte immer heftiger. »Nein«, flüsterte sie.

»Aber ich... ich kann nicht. Ich glaube dir nicht.«

Sie mußte in Mikes Gedanken längst gelesen haben, daß er die Wahrheit sagte. Aber Mike verstand auch, warum sie sich noch immer gegen diese Erkenntnis zu wehren versuchte. Niemals zuvor konnte ihr eine Entscheidung so schwer gefallen sein wie diese. »Dann frag ihn.« Mike deutete auf Astaroth. »Er war dabei. Er wird dir bestätigen, daß ich die Wahrheit sage.«

Serena blickte den Kater lange an. Sie rührte sich nicht, und auch Astaroth stand vollkommen reglos da, aber allen war klar, daß zwischen dem Mädchen und dem einäugigen Kater eine stumme Zwiesprache stattfand. Und schließlich drehte sich Serena wieder zu Mike herum und nickte.

»Also gut«, sagte sie. »Ich... gehe. Aber ich habe furchtbare Angst.«

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Sarah. Sie hatte sich aus der Umarmung ihres Vaters gelöst und kam auf Serena zu. »Ich werde dich begleiten. Er hat mir nichts getan, und er wird auch dir nichts tun. Ich weiß es.« Sie lächelte Serena aufmunternd zu und hielt ihr die ausgestreckte Hand entgegen, und nach einer Sekunde des Zögerns griff Serena danach. Die beiden Mädchen drehten sich Hand in Hand herum und begannen auf die Alte Stadt zuzugehen. Einer der Fischmenschen vertrat ihnen den Weg und streckte die Hand nach Serena aus. Mikes Herz machte einen Sprung in seiner Brust, und ein Gefühl eisigen Entsetztens breitete sich in ihm aus. Hatte er sich getäuscht? Hatte Serena am Ende recht gehabt, und dies alles war nur eine Falle gewesen? Aber da löste sich die gewaltige Hand des Fischmenschen wieder von Serenas Schulter, und das Mädchen trat mit einem hörbaren Seufzen zurück und ließ Sarahs Hand los.

»Was -?« begann Mike.

»Geht«, sagte Serena. Sie atmete mühsam ein und wiederholte mit erhobener Stimme: »Geht in die Stadt. Alle. Gebt ihm zurück, was ihm gehört. Mike hat recht. Er wird euch nichts zuleide tun.« Aber niemand rührte sich. Hundert Augenpaare starrten Serena an, und schließlich war es wieder Mike, der die entscheidende Frage stellte:

»Und du?«

Serena lächelte matt. »Ich komme nach«, sagte sie. »Ich habe hier noch etwas zu tun.« Sie deutete auf den Fischmenschen und sah Mike dabei fest an. »Er hat es mir gesagt. Keine Sorge. Wir... wir haben seine Kräfte so lange mißbraucht, daß es jetzt auf eine Stunde mehr oder weniger nicht mehr ankommt. Und vielleicht kann ich sie jetzt zum ersten Mal zum Guten einsetzen.«

Mike glaubte zu verstehen, was Serena meinte. Und nur einen Moment später wandte sie sich um, kniete neben einem der Verletzten nieder und legte ihm die Hand auf die Stirn. Wieder glühten ihre Finger in einem unwirklichen, blauen Licht, aber diesmal war es keine Zerstörung, die sie heraufbeschwor.

Während Das Volk, angeführt von Sarah und ihrem Vater Malcolm, die Stadt betrat und sich auf den Weg zu der schwarzen Pyramide im Zentrum machte, schritt Serena langsam über das Schlachtfeld und nutzte die geliehene Magie einer fremden Welt zum allerletzten Mal. Sie kniete neben jeder reglosen Gestalt nieder, berührte Männer, Frauen, Kinder, aber auch die gefallenen Fischmenschen, und der Strom von Magie, der aus ihren Händen floß, heilte Wunden, löschte den Schmerz und besiegte selbst den Tod.

Und schließlich, nachdem alle Verletzten aufgestanden waren, nachdem alle Wunden aufgehört hatten zu bluten und nachdem die unglaubliche Macht jener fremden, uralten Welt selbst die Toten wieder ins Leben zurückgeholt hatte, wandte sich die letzte Prinzessin von Atlantis um und betrat ebenfalls die Alte Stadt.

Es vergingen noch zwei Wochen, bis die Reparaturen an der NAUTILUS soweit beendet waren, daß sie die Stadt auf dem Meeresgrund ungefährdet wieder verlassen konnten. Zwei Wochen, in denen unglaublich viel geschehen war - Mike kamen sie im Rückblick vor wie zwei Jahre. Nicht nur Serena hatte sich in diesen beiden Wochen verändert. Auch das Leben des Volkes war nicht mehr, was es bisher gewesen war. Und würde es nie mehr sein.

Mikes Blick suchte die Silhouette der Alten Stadt auf der anderen Seite der Bucht. Sie sah noch immer sonderbar aus, aber der Atem des Fremden und vermeintlich Feindseligen, der bisher davon ausgegangen war, war erloschen. Der Schacht im Herzen der schwarzen Pyramide hatte sich geschlossen, im gleichen Moment, in dem Serena als letzte dem Alten gegenübergetreten war, um ihm zurückzugeben, was ihre Vorfahren ihm vor so langer Zeit gestohlen hatten, und mit ihm und dem Alten selbst waren auch die Fischmenschen verschwunden.

Die Stadt aber war geblieben. Mike war am Morgen dieses Tages - des Tages ihrer Abreise - noch einmal dort gewesen, und er staunte noch jetzt über die Veränderung, die mit der Stadt vor sich gegangen war. Die Gebäude wirkten noch immer bizarr, und vieles würde auf ewig unverständlich und auch erschreckend bleiben, aber nun war es ein Ort, an dem Menschen leben konnten. Denholm und seine Familie waren die ersten gewesen, die ihr Haus verlassen hatten und dorthin gezogen waren, und mittlerweile war ihnen fast das gesamte Volk gefolgt. Der kleine Ort inmitten des Korallenwaldes war verwaist, und schon bald würde die Natur das verlorene Terrain zurückerobert haben.

Jemand räusperte sich hinter Mike, und als er sich herumdrehte, begegnete er Trautmans Blick. Der weißhaarige Steuermann der NAUTILUS wirkte ein bißchen verlegen, aber in seinen Augen stand jetzt wieder das gewohnte, warme Lächeln.

»Es ist soweit«, sagte er. »Wir können losfahren.«

Mike nickte. Er wäre gerne noch geblieben, noch ein paar Tage, aber es gab etwas zu tun, was wichtiger war. Sie waren nicht mehr nur zu acht an Bord der NAUTILUS. Im Inneren des Schiffes hielten sich jetzt gut siebzig Männer, Frauen und Kinder auf, Mitglieder des Volkes, die beschlossen hatten, die Stadt auf dem Meeresgrund zu verlassen und in die Welt unter der Sonne zurückzukehren, aus der ihre Vorfahren stammten. Mike war erstaunt gewesen, daß es nicht mehr waren - er hatte ganz automatisch angenommen, daß alle Menschen ihnen hinauf auf die Erdoberfläche folgen würden, aber der weitaus größte Teil des Volkes wollte hierbleiben, in einer Welt, die viel kleiner, auch einfacher und ärmer war als die, aus der Mike und die anderen stammten, die aber trotzdem ihre Heimat war. So hatte sich schließlich nicht einmal ein Viertel von ihnen an Bord der NAUTILUS eingefunden.

Sarah und ihre Familie waren nicht unter ihnen. Das Mädchen stand Arm in Arm mit André neben Mike auf dem Deck der NAUTILUS, aber sie war nur gekommen, um sich zu verabschieden, nicht, um sie zu begleiten.

Mike lächelte ihr zu, ehe er sich an André wandte. Der junge Franzose erwiderte sein Lächeln, aber seine Augen schimmerten feucht. Mike war der letzte, von dem er sich noch nicht verabschiedet hatte, und es war ihm anzusehen, wie schwer ihm dies fallen würde.

»Du bist wirklich sicher, daß du hierbleiben willst?« fragte Mike. »Es kann lange dauern, bis wir zurückkommen. Vielleicht Jahre.«

»Und vielleicht nie, ich weiß«, sagte André. »Trotzdem, mein Entschluß steht fest.« Er schloß seinen Arm fester um Sarahs Schulter. »Ich bleibe hier. Vielleicht verschlägt es euch ja doch noch einmal hierher.«

»Bestimmt«, sagte Mike, obwohl er nicht sicher war, daß er dieses Versprechen wirklich halten konnte. Sie hatten sich fest vorgenommen, wiederzukommen, aber wer wußte schon, was die Zukunft brachte? Und wenn die NAUTILUS erst einmal abgefahren war, dann war André hier unten ebenso gefangen wie alle anderen.

Aber er sprach nichts davon aus. Der Anblick des Jungen und des blonden Mädchens, die eng aneinandergeschmiegt vor ihm standen, machte es ihm unmöglich. Vielleicht hätte er André tatsächlich überreden können, sie zu begleiten, aber er hatte nicht das Recht, sich in sein Leben zu mischen. André hatte sein Glück gefunden.

Plötzlich spürte er einen dicken Kloß im Hals. Seine Augen begannen zu brennen. »Ich hasse große Abschiedsszenen«, sagte er mühsam. »Also dann - macht es gut, ihr zwei.«

Und damit fuhr er herum und rannte so schnell zur Einstiegsluke des Schiffes zurück, daß André nicht einmal Zeit blieb, seine Worte zu erwidern. Mike vermied es, ihn und das Mädchen noch einmal anzusehen, sondern schloß den stählernen Deckel über sich, so rasch er nur konnte, und kletterte hastig die Leiter hinunter.

Trautman erwartete ihn bereits. Neben ihm standen Serena und ein dunkelhaariger Mann, den er in den letzten Tagen darin unterwiesen hatte, das Steuer der NAUTILUS zu bedienen, und zwischen den beiden hockte Astaroth.

»Sind sie fort?« fragte Trautman.

Mike nickte wortlos. Über ihnen polterten die Schritte Andres und Sarahs, als sie das Deck der NAUTILUS überquerten, um zu dem Boot zu gelangen, das an seiner Seite festgemacht hatte. Mike hatte bis jetzt geglaubt, sich in der Gewalt zu haben, aber es war ihm deutlich anzusehen, was er fühlte, denn Trautman streckte plötzlich den Arm aus und legte ihm mit einer väterlichen Geste die Hand auf die Schulter.

»Es tut weh, einen Freund zu verlieren«, sagte er. »Aber André weiß, was er tut. Er hört auf die Stimme seines Herzens, und das ist niemals falsch.«

»Ich weiß«, murmelte Mike. Nun liefen ihm wirklich die Tränen über das Gesicht, aber er kämpfte nicht dagegen an, und seltsam: Er schämte sich ihrer nicht einmal, obwohl Trautman, der Fremde und Serena dabei waren. Vielleicht weil er in den Augen des Mädchens dasselbe warme Lächeln entdeckte, das er auch in Andres und Sarahs Blicken gelesen hatte. Serena hatte sich wirklich verändert. Sie litt sicherlich schwer unter dem Verlust, den sie hatte hinnehmen müssen, denn sie war von einer Sekunde auf die andere von einer Prinzessin zu einem ganz normalen Mädchen, von einer Magierin zu einem ganz normalen Menschen geworden. Mike hatte es niemandem gesagt, aber im stillen bewunderte er die Stärke, mit der Serena diese Verwandlung verkraftet hatte.

»Immerhin sind wir noch genauso viele wie vorher«, sagte er mit einem erzwungenen Lächeln in Serenas Richtung. »Es bleibt doch dabei - du gehst nicht mit ihnen, sondern bleibst bei uns?«

»Aber natürlich.« Serena lächelte. »Das hier ist immer noch mein Schiff, hast du das vergessen?«

Trautman räusperte sich. »Also, darüber sollten wir noch reden«, sagte er. »Aber ich bin sicher, wir finden eine Lösung. Sobald wir einen Ort gefunden haben, an dem unsere Passagiere sicher an Land gehen können, besprechen wir das weitere Schicksal der NAUTILUS. Er wandte sich an den Mann am Steuerruder.«

»Fertig?« Der Dunkelhaarige nickte und deutete durch eines der beiden großen Fenster nach draußen. Das Boot, mit dem André und Sarah gekommen waren, hatte abgelegt und begann sich rasch von der NAUTILUS zu entfernen.

»Also dann«, sagte Trautman. »Tauchen.«

Tief im Rumpf der NAUTILUS begannen die Pumpen zu arbeiten, die die Tauchkammern des Schiffes mit Wasser füllten, und vor den Fenstern stieg der Wasserspiegel allmählich an, bis die Welt draußen wieder den gewohnten, dunkelgrünen Farbton angenommen hatte.

Das Schiff zitterte sacht, als die Maschinen anliefen und die NAUTILUS Fahrt aufnahm.

Mike wollte sich gerade umwenden, um zur Treppe und seiner Kabine hinunterzugehen, als er ein leises Miauen hinter sich hörte. Überrascht blieb er stehen und senkte den Blick. Astaroth saß noch immer zwischen Serena und Trautman, aber er hatte sich erschrocken aufgerichtet und die Ohren gespitzt. Von ihm war das Miauen ganz eindeutig nicht gekommen.

»Ach ja«, sagte Serena mit einem leichten Lächeln. »Nachdem alles so gut ausgegangen ist, habe ich mir gedacht, daß du auch eine Belohnung verdienst, mein lieber kleiner Wächter. Schließlich warst du nicht ganz unschuldig an allem, nicht wahr?«

Astaroth sprang mit einem Satz auf die Pfoten und sah sich wild um, und in diesem Moment erklang das Miauen erneut, und dann löste sich ein kleiner, schwarzweißer Umriß aus den Schatten und trat auf Astaroth zu.

Mike wußte zwar, daß es ganz und gar unmöglich war - aber er hätte in diesem Moment seine rechte Hand darauf verwettet, daß der Kater blaß wurde.

»Wir haben in letzter Minute noch einen zusätzlichen Passagier an Bord genommen«, fuhr Serena in spöttischem Ton fort. »Besser gesagt, eine Passagierin. Ich bin sicher, du freust dich genau wir wir alle, Astaroth.«

Bei Poseidon! kreischte Astaroths Stimme in Mikes Kopf. Die Bekloppte!

Und damit schoß er davon, dicht gefolgt von der kleinen, schwarzweißen Katze, die ein klägliches Miauen hören ließ, ihm aber an Geschwindigkeit kaum nachstand.

Trautman lachte so laut und herzhaft, daß ihm die Tränen über das Gesicht liefen, und nach einem Moment der Verblüffung fielen auch Mike und schließlich Serena in dieses Lachen ein. Ein wenig, dachte Mike, war Serena wohl doch noch die alte.

Aber nur ein wenig.


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