Der Anblick war seit einer Woche immer der gleiche, und trotzdem ähnelte kein Augenblick dem anderen. Der Himmel war ein silberner Spiegel, zerbrochen in Millionen und aber Millionen winziger sichelförmiger Splitter, die in ununterbrochener Bewegung waren, jeder für sich und doch alle gemeinsam einem großen, nicht ganz klar erkennbaren Rhythmus folgend.
Mike war in den letzten Tagen oft hierhergekommen, und manchmal stand er lange an dem fast mannsgroßen Bullauge und sah in den wogenden Himmel hinauf. Der Anblick erschreckte und faszinierte ihn zugleich. Das Bild war von großer Schönheit, aber zugleich spürte man auch die unvorstellbare zerstörerische Kraft, die hinter diesem vermeintlich sanften Gleiten und Wogen stand; eine Kraft, die alles Vorstellbare überstieg und ihn sich jedes Mal aufs neue klein und verwundbar fühlen ließ.
Das Geräusch von Schritten auf der metallenen Treppe, die in den Turm der NAUTILUS hinaufführte, riß ihn aus seinen Gedanken. Mike drehe sich herum und erkannte Trautman, der gebückt und mit schleppenden Schritten die Treppe heraufkam. Seine rechte Hand lag dabei fest auf dem Geländer, und seine Schultern waren weit nach vorne gebeugt. Er sah sehr alt aus. Nein, korrigierte sich Mike in Gedanken - er sah so alt aus, wie er war. Sie waren jetzt so lange mit Trautman zusammen, und sie hatten so sehr gelernt, sich auf seine Umsicht und Stärke zu verlassen, daß er manchmal einfach vergaß, daß Trautman sein Großvater sein könnte. »Hallo, Mike.« Das Lächeln, das auf Trautmans Gesicht erschien, als er Mike ansah, war freundlich und voller Wärme. Mike erwiderte es, und dann fiel ihm siedendheiß ein, warum Trautman gekommen war. Mike war schon ziemlich lange hier oben. Seine Wache unten im Kontrollraum hatte wahrscheinlich schon längst begonnen. »Ich sollte schon im Kontrollraum sein«, sagte er in schuldbewußtem Ton.
Trautman winkte ab. »Das macht nichts«, sagte er. »Deine Wache fällt heute aus. Ich übernehme das Ruder selbst.« Er schwieg einen Augenblick, dann fuhr er mit leiser Stimme fort: »Wir müssen auftauchen. Unsere Sauerstoffvorräte gehen zur Neige.«
»Aber der Sturm -«
»- hat vor einer Woche begonnen und nicht mehr aufgehört und wird es vermutlich auch so schnell nicht«, unterbrach ihn Trautman. »Jedenfalls hat es keinen Sinn, darauf zu warten. Aber es könnte ziemlich ungemütlich werden. Ich möchte dich bitten, nach Serena zu sehen, solange wir noch nicht aufgetaucht sind.«
»Jetzt gleich?« fragte Mike.
»Es gibt keinen Grund zu warten«, antwortete Trautman. »Im Gegenteil. Es sieht so aus, als ob der Sturm gerade ein bißchen abflauen würde.« Mike blickte zur Wasseroberfläche hoch. Das unablässige Hin und Her der silbernen Lichtsplitter hatte sich nicht verändert. Der Sturm tobte seit nunmehr acht Tagen mit ungebrochener Kraft. Sie hatten den größten Teil dieser Zeit unter Wasser zugebracht, um ihm zu entgehen, aber ein paarmal hatten sie eben doch auftauchen müssen, und Mike wußte nur zu gut, welche Gewalten dort oben herrschten. Er wußte aber nicht, warum. Dies war kein natürlicher Sturm. Nicht nur, daß er die ganze Zeit mit ungebrochener Kraft gewütet hatte - er folgte ihnen. Die NAUTILUS war während der letzten Tage mit Höchstgeschwindigkeit gefahren, und das war um einiges schneller, als jedes andere Schiff auf der Welt sich fortzubewegen imstande war, aber der Sturm war nicht hinter ihnen zurückgeblieben.
An diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt, zog Mike es vor, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Er gab sich einen Ruck.
»In Ordnung. Ich gehe gleich zu ihr.«
Trautman und er verließen hintereinander den Turm und gingen die Treppe hinab, die tiefer in den stählernen Leib der NAUTILUS hinunterführte. Der alte Steuermann und Singh, der sich als erstaunlich geschickter Mechaniker herausgestellt hatte, hatten die Tage, die der Sturm sie unter die Wasseroberfläche getrieben und zur Untätigkeit verdammt hatte, dazu genutzt, das Schiff gründlich durchzuchecken und auf Vordermann zu bringen. Und sie hatten dabei wahre Wunder vollbracht. Wie ein großes, mächtiges Tier, das allmählich aus dem Winterschlaf erwachte und die Kontrolle über seinen Körper langsam zurückgewann, gewannen die geheimnisvollen Maschinen und Geräte der NAUTILUS immer mehr an neuem Leben.
Mike lächelte, als ihm klar wurde, wie passend dieser Vergleich war. Die NAUTILUS trug nicht nur den Namen eines Meeresbewohners, mit ein bißchen Phantasie betrachtet, ähnelte sie ihm auch. Und nicht nur das: Das Schiff war tatsächlich vor noch nicht allzu langer Zeit aus einem Schlaf erwacht, der länger als ein Jahrzehnt gedauert hatte. Und wie immer, wenn Mike daran zurückdachte, überkam ihn eine Mischung aus Staunen und Ehrfurcht, das gleiche Gefühl, das er auch gehabt hatte, als er die NAUTILUS zum ersten Mal sah, und das er nie mehr verloren hatte.
Es war noch nicht lange her, da war Mike ein ganz normaler Schüler eines ganz normalen Internats in London gewesen. Aber dann, an jenem schicksalhaften Tag kurz vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1913, hatte er erfahren, daß er nicht der war, für den er sich bis zu jenem Tag gehalten hatte. Er hatte erfahren, daß sein Vater ihn unter einem falschen Namen und mit einer geschickt gefälschten Lebensgeschichte in jenem Internat in England untergebracht hatte, um seinem Sohn das Schicksal zu ersparen, das sein eigenes Leben bestimmt hatte: das Schicksal des Gejagten, des ewig Gehetzten, der immer auf der Flucht war und nirgendwo auf der Welt wirklich Ruhe zu finden vermochte. Denn Mikes Vater, den er selbst bis zu diesem Zeitpunkt für einen wohlhabenden indischen Fürsten gehalten hatte, der zusammen mit seiner englischen Frau kurz nach Mikes Geburt ums Leben gekommen war, war in Wahrheit niemand anders als der legendäre Kapitän Nemo gewesen.
Aber das Schicksal läßt sich nicht betrügen. Mike hatte nicht nur das Vermögen und den Titel seines Vaters geerbt, sondern anscheinend auch den Fluch, der auf dessen Leben gelastet hatte. Nach einer Reihe ungewöhnlicher und gefährlicher Abenteuer hatte es ihn und seine Freunde schließlich auf eine winzige Insel verschlagen, auf der sie das Wrack der NAUTILUS fanden, das vom letzten noch lebenden Freund seines Vaters - Trautman nämlich - bewacht und beschützt wurde. Und seither befanden sie sich ununterbrochen auf der Flucht. Sie hatten nicht nur Abenteuer erlebt, die er sich vor ein paar Monaten nicht einmal hätte vorstellen können, er hatte auch einen guten Freund verloren, und diese Erinnerung tat weh. Er schob die Gedanken beiseite, denn nun hatte er Serenas Kabine - die vor ein paar Tagen noch seine eigene gewesen war - erreicht.
Er klopfte an, wartete aber nicht, ob jemand antwortete, sondern trat sofort ein. Das war keine Unhöflichkeit; der einzige Bewohner, den die Kabine im Moment mit Ausnahme des schlafenden Mädchens hatte, konnte ihm nicht antworten. Wenigstens nicht laut.
Mike näherte sich dem Mädchen auf dem Bett sehr leise, obwohl er genau wußte, daß selbst der größte Lärm Serena nicht geweckt hätte. Aber es war mit diesem Mädchen ein bißchen so wie mit dem Schiff: Jedesmal, wenn er sie sah, überkam ihn eine Art... Ehrfurcht. Ein merkwürdiges Gefühl, ein Mädchen anzusehen, das weit über zehntausend Jahre zählte und außerdem eine leibhaftige Prinzessin war.
Na und? Du bist ein leibhaftiger Prinz. Wo ist der Unterschied? Die paar Jährchen!
Mike fuhr zusammen. Obwohl Astaroth genauso lange wie Serena an Bord war, erschrak Mike noch immer, wenn er unvermittelt dessen Stimme hörte. Es war wirklich nicht jedermanns Sache, eine Stimme direkt in seinem Kopf zu vernehmen. Noch viel weniger, wenn man bedachte, wem diese Stimme gehörte... »Das ist ein Unterschied«, sagte er laut. »Ich bin nur auf dem Papier ein Prinz. Wenn überhaupt noch, dann gehört mir ein winziges Stück von Indien. Nicht ganz Atlantis.«
Aber dein Königreich ist wenigstens nicht mit Mann und Maus im Meer versunken. Astaroth hab den Kopf, blickte Mike einen Moment lang aus seinem einzig sehenden Auge an und gähnte dann ungeniert und sehr ausgiebig. Der schwarze Kater hatte sich neben Serena auf dem Kopfkissen zusammengerollt. Sein buschiger Schwanz lag wie eine Stola um Serenas Hals und bildete so einen deutlichen Kontrast zur Blässe ihrer Haut. Serenas Gesicht war so bleich, daß es sich kaum von dem Kissen abhob, auf dem es lag. Es war die Blässe eines Menschen, der noch niemals die Sonne gesehen hatte.
Mike ging langsam weiter, setzte sich auf die Bettkante und griff nach Serenas Hand. Astaroths Blick folgte der Bewegung, aber er erhob keine Einwände. Mike war der einzige an Bord, der Serena berühren durfte, ohne daß der Kater ihn anfauchte oder gleich mit den Krallen nach ihm schlug.
»Wir tauchen bald auf«, sagte Mike. Er ergriff Serenas Hand fester. Ihre Haut fühlte sich so kalt und glatt wie weißes Porzellan an, und Mike überlief ein Schaudern. »Wir müssen die Sauerstofftanks auffüllen.«
Ich weiß, antwortete Astaroth auf seine lautlose Art.
Mike blickte den Kater vorwurfsvoll an.
»Du hast schon wieder meine Gedanken gelesen«, sagte er. »Ich hatte dich gebeten, das nicht mehr zu tun.«
Habe ich nicht, behauptete Astaroth.
»Lüg nicht auch noch!« sagte Mike scharf.
Ich lüge nicht, erwiderte Astaroth beleidigt. Menschen lügen. Katzen niemals.
»Ja, das Problem ist nur, daß du keine Katze bist!« erwiderte Mike. Astaroth hielt seinem Blick noch eine Sekunde lang stand, dann rollte er sich wieder auf dem Kissen zusammen und begann wohlig zu schnurren. Abgesehen von seiner Größe hätte man ihn so wirklich für ein harmloses kleines Kätzchen halten können, an dem absolut nichts Ungewöhnliches war. Aber das stimmt nicht. Er sah zwar aus wie eine Katze, aber er war mehr als das.
»Du liest also doch meine Gedanken!« wiederholte Mike laut.
Nur jetzt, behauptete Astaroth. Vorher nicht.
»Ach? Und woher hast du dann gewußt, daß wir auftauchen, noch bevor ich es dir gesagt habe?«
Von Trautman, antwortete Astaroth ungerührt. Ich habe seine Gedanken gelesen.
Mike gab auf. Es hatte sehr wenig Sinn, mit einer Katze zu diskutieren. Das war schon bei einer ganz normalen Katze ein fast aussichtsloses Unterfangen. Bei Astaroth bedeutete es reine Zeitverschwendung. Er wandte sich Serena zu.
Das Mädchen lag völlig reglos da, so wie es die ganze Zeit über dagelegen hatte - die Woche, die vergangen war, seit sie sie an Bord der NAUTILUS gebracht hatten, und auch die ungezählten Jahrhunderte zuvor, die sie schlafend in ihrer Kuppel auf dem Meeresgrund verbracht hatte. Er dachte wieder daran zurück, wie sie Serena in einem gläsernen Sarg schlafend gefunden hatten, und er fragte sich, ob es wirklich Zufall war, daß ihn das Bild so an das Märchen von Dornröschen erinnerte.
Vielleicht ist es genau anders herum, sagte Astaroth. Man sagt doch, daß jede Legende einen wahren Kern hat, oder? Denk mal darüber nach. Dann fügte er hinzu: Entschuldige.
Mike sah den Kater zwar böse an, aber er war wirklich verärgert. Es dauerte eben eine Weile, bis man sich an die Tatsache gewöhnt hatte, in der Gesellschaft eines Wesens zu sein, das jeden Gedanken so deutlich vernahm wie ein laut ausgesprochenes Wort. Mike lächelte dem Kater zu und legte Serenas Hand behutsam auf das Bett zurück. Sie reagierte auch darauf nicht, nur die Augen hinter den geschlossenen Lidern bewegten sich leicht, wie bei einem Menschen, der einen besonders intensiven Traum hat. Mike fragte sich, ob Serena träumte? Und wenn ja, was?
Das tut sie, sagte Astaroth. Oder was glaubst du sonst, woher der Sturm kommt, vor dem ihr seit einer Woche davonzurennen versucht?
Das war die Antwort auf eine andere Frage, die sich Mike insgeheim auch schon gestellt hatte, und diese Antwort führte zu einem schrecklichen Gedanken:
»Willst du damit sagen, daß sie die ganze Zeit über geträumt hat?« fragte er verstört. »Die ganzen Jahre?«
Darauf antwortete der Kater nicht. Aber sein Schweigen war Antwort genug, und das tiefe Entsetzen, das von Mike Besitz ergriffen hatte, wurde noch stärker.
Er war erleichtert, als in diesem Moment an der Tür geklopft wurde und Singh, der hünenhafte Sikh-Krieger, die Kabine betrat - übrigens ganz wie Mike zuvor, ohne eine Antwort auf sein Klopfen abzuwarten.
»Herr.« Singh machte eine tiefe Verbeugung. »Trautman bittet Euch, zu ihm in den Salon zu kommen.« Er warf einen nervösen Blick auf das Bett, und Mike war nicht ganz sicher, wem er galt: dem Mädchen oder seinem einäugigen schwarzen Beschützer. »Ich bleibe so lange hier und vertrete Euch.«
Das ist nicht nötig, sagte Astaroths Stimme in Mikes Gedanken. Ich passe auf sie auf. Sie wird nicht aufwachen.
Mike stand auf. »Ich komme«, sagte er. »Und vergiß bitte den Herrn.« Den letzten Satz hatte er rein automatisch hinzugefügt. Seit der Sikh in sein Leben getreten war und sich als sein Leibwächter, Beschützer und Diener vorgestellt hatte, versuchte Mike ihm sein unterwürfiges Benehmen abzugewöhnen; ebenso beharrlich, wie Ghunda Singh all diese Versuche ignorierte.
»Wie Ihr wünscht, Herr«, antwortete Singh mit einer abermaligen Verbeugung. Mike verdrehte die Augen, sparte sich aber jedes weitere Wort, was dieses Thema anging. Statt dessen sagte er: »Du brauchst nicht hierzubleiben. Astaroth paßt schon auf sie auf.«
Singh sagte nichts, aber Mike sah ihm seine Erleichterung deutlich an. Wie allen an Bord - Mike und vielleicht Trautman ausgenommen - waren sowohl der Kater als auch das Mädchen Singh ein wenig unheimlich. Wortlos wartete er, bis Mike die Kabine verlassen hatte, und folgte ihm dann.
Sie gingen die Treppe wieder ein kurzes Stück hinauf und wandten sich dann nach rechts, um in den Salon zu gelangen - ein Wort, hinter dem sich weit mehr verbarg als nur ein gemütlicher Aufenthaltsraum. Das war er auch, aber in ihm befanden sich auch das Steuer und die beiden Pulte mit den kompliziert anmutenden Kontrollinstrumenten der NAUTILUS - eine Unzahl von Schaltern, Hebeln, Skalen, Zeigern und allerlei anderen technischen Gerätschaften, bei deren bloßem Anblick einem schon schwindlig werden konnte. Unter Trautmans Anleitung hatten Mike und die anderen in den letzten Wochen gelernt, einige dieser Geräte zu bedienen, aber das bedeutete nicht, daß sie ihm deshalb weniger unheimlich gewesen wären.
Der Rest des Raumes wurde von einer Anzahl kleiner Tische und Sessel, behaglicher Sofas und Pulte beherrscht, die den Raum tatsächlich zu einem Salon machten, in dem man sich sofort wohl fühlte. Und schließlich war da das gewaltige, runde Fenster, das fast eine ganze Seite des Raumes einnahm. Jetzt war es durch einen schweren Samtvorhang verschlossen, aber wenn er aufgezogen war, bot sich dem Betrachter ein wahrhaft phantastischer Anblick. Durch das Fenster konnte man direkt ins Meer hinaussehen, in die Tiefen einer Welt, die vor ihnen vielleicht noch keines Menschen Auge erblickt hatte. Mike stand manchmal stundenlang hier und betrachtete das fremde, von vielfältigen Lebewesen bevölkerte Universum jenseits des zollstarken Glases.
Heute jedoch schenkte er dem Fenster nicht einmal einen flüchtigen Blick. Trautman und die anderen standen hinter den Instrumentenpulten. Auf Trautmans Gesicht lag ein besorgter Ausdruck.
»Was ist los?« fragte Mike. »Sind wir schon aufgetaucht?«
»Nein«, antwortete Trautman, ohne von seinen Instrumenten aufzublicken. »Und ich fürchte, das werden wir so schnell auch nicht.«
Mike durchquerte den Salon mit raschen Schritten und trat neben ihn. Chris, der jüngste seiner vier Freunde, die es zusammen mit ihm auf die NAUTILUS verschlagen hatte, nickte ihm flüchtig zu, während Ben, Juan und André keinerlei Notiz von ihm zu nehmen schienen. Sie alle starrten ebenso gebannt wie Trautman auf das Instrumentenpult.
»Was ist los?« fragte Mike noch einmal.
Anstelle einer Antwort deutete Ben mit einer Kopfbewegung auf die runde Glasscheibe, der ihrer aller Aufmerksamkeit galt. Das Bild, das in leuchtenden Grüntönen darauf zu sehen war, schien im ersten Augenblick keinen Sinn zu ergeben. Mike und die anderen jedoch konnten es entziffern, nachdem Trautman ihnen die Funktion des Gerätes erklärt hatte - für das übrigens jeder Seefahrer auf der Welt ohne Zögern seine rechte Hand gegeben hätte. Der kreisende Lichtstrahl, der von der Mitte des Schirmes ausging, zeigte die genaue Position und Größe von allem, was sich im Umkreis mehrerer Meilen um die NAUTILUS befand.
Mike zog überrascht die Augenbrauen hoch, als er den länglichen Lichtfleck sah, der in regelmäßigen Abständen am Rand der Scheibe aufleuchtete und wieder erlosch. Und dann wurde aus seinem Erstaunen jäher Schrecken, als er begriff, wie groß das sein mußte, was da als harmloser Lichtpunkt auf dem Schirm erschien. »Und ich dachte, wir wären ihn endlich los«, seufzte Ben. »Dieser Kerl wird allmählich wirklich lästig.«
Seine Worte bezogen sich auf Kapitän Winterfeld, den deutschen Kriegsschiffkommandanten, der sie - und vor allem die NAUTILUS - vom ersten Tag an gejagt hatte. Ihr letztes Zusammentreffen mit ihm lag eine gute Woche zurück, und sie waren ihm nur mit knapper Not entkommen.
»Du glaubst, das ist Winterfeld?« fragte Mike.
»Wer soll es sonst sein?« Ben schnaubte. Niemand an Bord mochte Winterfeld. Die meisten hier hatten Angst vor ihm, aber Ben haßte den Deutschen regelrecht. Mike nahm sich nicht zum ersten Mal vor, Ben irgendwann einmal zu fragen, warum er alle Deutschen so sehr verachtete. Aber jetzt war nicht der Moment dafür, und außerdem fuhr Ben bereits fort: »Wir hätten diesen Kerl mitsamt seinem Kahn auf den Meeresgrund schicken sollen, wo er hingehört.«
Mike ersparte sich eine Antwort. Der »Kahn«, von dem Ben sprach, war ein Schlachtschiff mit Dutzenden von Geschützen und einem Rumpf aus zentimeterdickem Stahl. Selbst für ein Schiff wie die NAUTILUS ein Gegner, der ein paar Nummern zu groß war.
»Das ist nicht die LEOPOLD«, sagte Trautman ruhig. Er wirkte sehr angespannt.
Ben blickte ihn zweifelnd an. »Was soll es sonst sein? Das Ding erscheint seit einer Woche immer wieder auf dem Schirm. Es folgt uns, eindeutig. Und außer Winterfeld weiß auf der ganzen Welt niemand, daß es uns überhaupt gibt.«
»Es kann nicht die LEOPOLD sein«, beharrte Trautman. »Es ist groß, aber nicht so groß. Und es ist viel zu schnell. Die LEOPOLD würde nicht einmal die Hälfte dieser Geschwindigkeit erreichen.«
»Soll das heißen, daß es uns einholen kann?« fragte Juan. Trautman sah immer noch nicht auf. »Ich fürchte«, sagte er. Er zögerte, und als er weitersprach, lag in seiner Stimme ein besorgter Ton. »Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist schneller als wir. Viel schneller.« Er atmete hörbar ein, hob nun den Blick und sah Mike und die vier anderen der Reihe nach an.
»Und es kommt genau auf uns zu.«
Trautman hatte errechnet, daß der Verfolger ungefähr drei Stunden benötigen würde, um die NAUTILUS einzuholen. Sie hatten einen Teil dieser Zeit mit Mutmaßungen zugebracht, um was es sich bei ihrem unheimlichen Verfolger wohl handeln mochte: angefangen von einem Tier bis zu einem anderen Unterseeboot, mit dem Winterfeld sie jagte - aber hätte er ein solches gehabt, würde er kaum mehr versuchen, die NAUTILUS in seine Gewalt zu bringen. Schließlich hatten sie es aufgegeben.
Nun war die Zeit beinahe um. Mike und die anderen hatten sich vor dem großen Fenster versammelt und blickten gebannt hinaus. Die NAUTILUS war höher gestiegen und befand sich jetzt nur noch fünf oder sechs Meter unter dem Meeresspiegel, hoch genug, daß das Wasser rings um sie herum von blauem Licht durchdrungen war und sie ihren Verfolger wenigstens sehen konnten, wenn er heran war, aber gerade noch tief genug, um nicht von der Gewalt des Sturmes durchgeschüttelt zu werden, der das Meer über ihnen immer noch aufpeitschte.
»Seltsam«, murmelte André. »Wir müßten ihn doch schon sehen.« Er wandte sich zu Trautman um, der hinter den Kontrollinstrumenten stand.
Der weißhaarige Steuermann der NAUTILUS zuckte mit den Schultern. »Es ist jedenfalls ganz nahe. Aber ich kann nicht genau feststellen, wie nahe.« Er runzelte die Stirn. »Das ist merkwürdig.«
»Was ist merkwürdig?« fragten Juan und Mike wie aus einem Mund. Sie drehten sich zugleich zu Trautman herum.
»Es... bewegt sich«, antwortete Trautman zögernd.
»Was für eine scharfsinnige Feststellung«, sagte Ben spöttisch. »Täte es das nicht, könnte es uns kaum einholen.«
»Das meine ich nicht«, antwortete Trautman ernst. »Es scheint sich... in sich zu bewegen, fast als...« Er brach ab, schüttelte den Kopf und lachte nervös. »Das ist Unsinn.«
Mike wollte ihn gerade fragen, was er damit meinte, doch in diesem Moment stieß Ben einen überraschten Schrei aus, und Mike wandte sich schnell zum Fenster. Natürlich glaubte er, Ben hätte ihren Verfolger entdeckt, doch der Schrei des Engländers hatte einen anderen Grund. Sein ausgestreckter Arm wies zur Meeresoberfläche hinauf, und als Mikes Blick ihm folgte, da gelang es auch ihm nicht, einen überraschten Laut zu unterdrücken.
Der Sturm hatte aufgehört. Noch vor wenigen Sekunden hatte das Meer über ihnen gekocht, aber jetzt lag die Wasseroberfläche so glatt wie ein silberner Spiegel über ihnen. Man konnte sogar den Umriß der NAUTILUS erkennen, der sich darauf spiegelte.
»Aber das ist doch unmöglich!« sagte Juan. »So schnell kann sich ein Sturm doch gar nicht legen...« Er fuhr mit einer hastigen Bewegung zu Trautman herum. »Wo ist er?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman. Er machte eine hilflose Geste. »Das Gerät muß defekt sein. Wenn das hier stimmt, dann hätte er uns bereits erreicht. Aber dort draußen ist nichts.«
Mike blickte mit wachsender Furcht aus dem Fenster. Das Wasser war glasklar, und sie konnten sicher zwei- oder auch dreihundert Meter weit sehen. Er glaubte nicht, daß das Gerät kaputt war - die NAUTILUS war eine phantastische Maschine, die ihren Dienst seit Tausenden von Jahren tat. Daß ein so wichtiger Teil ausgerechnet jetzt ausfallen sollte, war mehr als unwahrscheinlich.
»Seht mal«, sagte Ben plötzlich. Er deutete wieder nach draußen.
Mike blickte angestrengt in dieselbe Richtung, aber das Meer war noch immer leer. »Ich sehe nichts«, sagte er.
»Eben«, antwortete Ben. »Da draußen ist gar nichts. Kein einziger Fisch.«
Mike schauderte. Das Meer, durch das sie glitten, war leer. Vollkommen leer. Es ist, dachte er, als hätte irgend etwas jegliches Leben in weitem Umkreis vertrieben... Er sah nach rechts, nach links und dann noch einmal zur Wasseroberfläche hinauf, und als er das tat, wurde aus seiner Furcht schieres Entsetzen, das sich wie eine eiskalte Hand um sein Herz legte und es zusammenzupressen begann.
»Trautman«, sagte er. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Trotzdem klang seine Stimme ruhig. »Ja?«
»Wo ist es jetzt?«
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Trautman und sah auf. »Wenn die Anzeige hier recht hätte, dann müßte es überall um uns herum...«
Er sprach nicht weiter. Seine letzten Worte wurden zu einem erstickten Keuchen, als er in die gleiche Richtung sah wie Mike und die anderen.
Auf der Unterseite des Meeresspiegels war noch immer deutlich der Umriß der NAUTILUS zu erkennen. Aber nicht nur das: Ein ungeheuerlicher, formloser Schatten griff wie die Hand eines Riesen aus den Tiefen des Meeres empor und begann das Schiff zu verschlingen.
Die Maschinen der NAUTILUS liefen mit voller Kraft. Aus dem Wimmern war ein dumpfes Dröhnen geworden, so laut, daß sie schreien mußten, um sich über den Lärm hinweg zu verständigen. Das ganze Schiff vibrierte und ächzte, und manchmal flackerte das Licht, weil die elektrischen Motoren jedes bißchen Strom brauchten, den das Schiff aufbringen konnte.
»Das hat keinen Sinn mehr!« schrie Trautman über den tosenden Lärm hinweg. »Die Maschinen arbeiten fast mit dem Doppelten ihrer normalen Leistung! Ich schalte ab, ehe sie uns um die Ohren fliegen!« Die Motoren der NAUTILUS kämpften seit zehn Minuten mit aller Kraft gegen die unheimliche Macht, die das Schiff gepackt hatte, ohne daß sie auch nur einen Zentimeter von der Stelle gekommen wären. Alles was sie erreichen konnten, wenn sie weiter versuchten, sich mit Gewalt zu befreien, war wahrscheinlich, die NAUTILUS ernsthaft zu beschädigen. Die NAUTILUS war eine phantastische, sehr robuste Maschine, aber sie war nicht unzerstörbar. Das Dröhnen und Rumoren wurde leiser, sank binnen weniger Augenblicke zu einem Tuckern herab und erlosch dann ganz. Trautman hatte die Motoren abgeschaltet.
Mike drehte sich wieder zum Fenster herum. Der Anblick war seit zehn Minuten der gleiche, aber er hatte trotzdem nichts von seinem Schrecken verloren. Der lichtdurchflutete blaue Ozean war verschwunden und hatte einer unheimlichen, weißen Masse Platz gemacht, die das gesamte Fenster bedeckte. Keiner von ihnen wußte, was es war - das Zeug war nicht ganz glatt, sondern von unregelmäßigen Streifen in verschiedenen Weiß- und Grautönen durchzogen, und hier und da gewahrte er kleine, durchsichtige Blasen, die mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt zu sein schienen. Manchmal bewegte sich die weiße Mauer vor dem Fenster; auf eine gleitende, zähe Art, als bestünde sie aus Gummi.
»Was ist das bloß?« murmelte Ben kopfschüttelnd. Er verzog das Gesicht. »Es sieht... fast lebendig aus. Und ziemlich ekelhaft.«
Mike konnte ihm nur zustimmen. Und noch etwas: Er hatte das Gefühl, eigentlich genau zu wissen, was er da sah. »Warten wir, bis Singh und Juan zurück sind«, sagte er. »Vielleicht haben sie etwas herausgefunden.« Juan und der Inder hatten den Salon verlassen, um die NAUTILUS gründlich zu inspizieren.
Wie auf ein Stichwort hin tauchten die beiden in diesem Moment unter der Tür auf. Juans Gesicht war so finster, daß Mike sich die Frage sparte, ob es von irgendeinem Bullauge aus etwas anderes zu sehen gab als von hier. Singh wirkte völlig unbewegt, aber das hieß gar nichts. Singh hätte auch dann noch vollkommen ungerührt dreingesehen, wenn ihm der Himmel auf den Kopf gefallen wäre.
»Nun?« fragte Trautman.
»Nichts«, antwortete Juan mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln. »Ich war oben im Turm, aber da sieht es genauso aus wie hier. Ich fürchte, das Zeug ist um das gesamte Schiff herum.«
Trautmans Mine verdüsterte sich noch mehr. Er wandte sich an Singh.
»Unten ist es dasselbe«, sagte Singh in einem Ton, als hätte man ihn gefragt, wie das Wetter sei. »Die Bodenschleuse läßt sich zwar noch öffnen, aber draußen ist kein Wasser, sondern nur noch diese Masse.« Er hob die Hand. »Ich habe etwas davon mitgebracht, hier. Es ist ziemlich zäh. Ich hatte Mühe, es mit dem Messer herauszuschneiden.«
Mike verzog das Gesicht, als er den widerwärtigen Geruch verspürte, der von dem weißen Zeug in Singhs Hand ausging. Trotzdem trat auch er wie alle anderen neugierig näher, während Singh es zum Tisch trug und darauf ablegte.
Es sah tatsächlich wie eine Art Fleischklumpen aus, der ziemlich grob aus einem größeren Stück herausgeschnitten worden war. Er war weiß, fast durchsichtig, und aus den Schnittflächen sickerte eine farblose, zähe Flüssigkeit, die aber auch kein Wasser war. Der Gestank, den das Stück verstömte, war wahrhaft atemberaubend.
»Es hüllt die ganze NAUTILUS ein«, erklärte Singh weiter. »Bis jetzt ist es nirgendwo eingedrungen, aber es scheint auch keinen Weg hinaus zu geben.«
Mike mußte daran denken, wie sich der Schatten über den der NAUTILUS gelegt hatte. Es hatte tatsächlich so ausgesehen, als ob irgend etwas die NAUTILUS verschlang.
»Was ist das nur?« fragte Ben kopfschüttelnd. Er nahm ein Messer vom Tisch und berührte den weißen Brocken mit seiner Spitze. Er zuckte leicht, als wäre noch immer Leben in ihm. Ben zog eine Grimasse und trat wieder einen Schritt vom Tisch zurück. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Doch«, widersprach Mike. »Das hast du.« Plötzlich wußte er, wieso ihm dieses sonderbare Etwas draußen vor dem Bullauge bekannt vorgekommen war, trotz allem. Ben und die anderen blickten ihn erstaunt an.
»Wir alle haben es schon einmal gesehen. Nur größer.« Mike machte eine Kopfbewegung auf die weiße Masse auf dem Tisch. »Das da ist ein Stück von einer Qualle.« Ben, Juan und die beiden anderen Jungen rissen erstaunt die Augen auf, während Trautman die Hand hob, als ob er sich damit vor die Stirn schlagen wollte.
»Eine Qualle von der Größe der NAUTILUS?« Ben versuchte seiner Stimme einen spöttischen Klang zu verleihen, aber es gelang ihm nicht ganz. »Lächerlich.«
»Natürlich«, sagte Trautman kopfschüttelnd. »Wieso bin ich nicht schon längst darauf gekommen?«
»Weil es völlig verrückt ist!« sagte Ben aufgebracht. »Eine hundert Meter große Qualle! Das ist... lächerlich.«
Mike deutete auf das Fenster und sagte: »Sieh doch mal dorthin. Und dann lach weiter.«
Ben funkelte ihn an, aber Trautman unterbrach den drohenden Streit mit einer energischen Geste. »Hört auf, ihr beiden«, sagte er. »Das führt zu nichts. Laßt uns lieber gemeinsam darüber nachdenken, was wir tun können.«
»Aber wenn es doch nur eine Qualle ist, dann kann sie uns doch gar nichts tun, oder?« fragte Chris. »Ich meine, eine Qualle ist doch nicht gefährlich, oder?«
»Ich habe keine Ahnung, wie gefährlich eine Qualle von dieser Größe ist«, antwortete Trautman. »Ich glaube nicht, daß sie die NAUTILUS ernsthaft beschädigen könnte, wenn du das meinst.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, warum es uns angreift«, sagte Ben nachdenklich. »Ob es uns für... für eine Art Beute hält?«
»Das ist durchaus möglich«, antwortete Trautman.
»Für ein Geschöpf dieser enormen Größe könnten wir wohl eine lohnende Beute darstellen.« Er seufzte. »Es ist vollkommen sinnlos, über die Gründe für diesen Überfall zu diskutieren. Das können wir tun, wenn wir es irgendwie losgeworden sind.«
»Und wie?« fragte Mike. »So wie ich die Sache sehe, sind wir blind, taub und gelähmt. Wir können uns ja nicht einmal von der Stelle rühren.« Er blickte nervös zum Fenster. Jetzt, wo er zu wissen glaubte, was diese unheimliche weiße Masse war, machte sie ihm noch mehr angst.
Und wie sich schon in der nächsten Sekunde zeigen sollte, zu Recht.
Ein harter Ruck ging durch die NAUTILUS. Hastig griffen Mike und die anderen nach einem festen Halt oder kämpften mit rudernden Armen um ihr Gleichgewicht.
Ein unheimliches Knistern und Knirschen erscholl, gefolgt von einer Reihe dumpfer, lang nachhallender Schläge, die durch den Rumpf des Bootes liefen, und dann konnten sie spüren, wie sich das Schiff langsam zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite legte und sein Bug schließlich nach vorne kippte.
»Was ist denn jetzt -?« begann Trautman, fuhr dann mitten im Satz herum und war mit ein paar Schritten wieder bei den Kontrollinstrumenten. Mike konnte sehen, wie er vor Schrecken blaß wurde. »Wir sinken!« sagte er. »Es zieht uns mit nach unten!« Mike geriet in Panik. Auch die anderen waren zutiefst erschrocken und riefen wild durcheinander, und selbst Singh verlor etwas von seiner unerschütterlichen Ruhe. Und dann hörte Mike ein Geräusch, das ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: ein helles Knistern, irgendwo hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum - und stieß einen halblauten, entsetzten Schrei aus. Das Fenster hatte einen Riß bekommen. Nicht viel länger als Mikes Hand, aber noch während er hinsah, hörte er ein lautes Knacken, und der Riß wuchs um ein gutes Stück weiter nach unten.
»Nein!« keuchte Ben entsetzt. Sein ausgestreckter Arm wies auf das Fenster. Auch er hatte die furchtbare Gefahr bemerkt. »Seht doch! Die Scheibe!«
»Es zerquetscht uns!« fügte Juan mit fast überschnappender Stimme hinzu.
Mike fuhr mit einer heftigen Bewegung zu Trautman herum. »Tun Sie etwas!« schrie er. »Schnell!« In diesem Moment erscholl von draußen, dort, wo die Treppe zur unteren Etage mit Serenas Kabine lag, ein gellender Schrei.
Obwohl sie alle zugleich losgelaufen waren, erreichte Mike die Kabine vor den anderen. Er stieß die Tür auf, stürzte in den kleinen Raum - und blieb wie vom Donner gerührt stehen.
Serena war nicht mehr da. Das Bett war zerwühlt, Laken und Kissen heruntergerissen, aber das blonde Mädchen war verschwunden.
Ein weiterer Schlag ließ die NAUTILUS bis in die letzte Schweißnaht erzittern. Mike riß es nach vorne, er stolperte über etwas Weiches und fiel auf das leere Bett. Während er sich wieder aufrappelte, drängten sich Ben, Juan, André und Chris vor der Kabinentür. Hinter den Jungen war die hochgewachsene Gestalt Singhs zu erkennen.
Jetzt bemerkte Mike, daß er über Serena gestolpert war. Offensichtlich hatten die Erschütterungen des Schiffes sie aus dem Bett geworfen, und sie lag nun auf dem nackten Metallboden.
Der Anblick versetzte Mike einen jähen Schrecken. Mit einem einzigen Satz war er aus dem Bett und kniete neben dem Mädchen nieder. Serenas Augen waren noch immer geschlossen, aber sie lag nicht mehr still, sondern bewegte unruhig die Hände, und manchmal hörte Mike ein leises, qualvolles Wimmern, obwohl sich ihre Lippen nicht bewegten. Mike wollte nach ihren Händen greifen, um sie festzuhalten, aber sie riß sich mit erstaunlicher Kraft immer wieder los. »Was ist passiert?« fragte er. »Warum hat sie geschrien?« Die Frage galt Astaroth, der sie auch unverzüglich beantwortete:
Das weiß ich nicht. Sie ist plötzlich aufgewacht und hat zu schreien begonnen.
»Sie ist aufgewacht?« wiederholte Mike überrascht. Die anderen sahen abwechselnd ihn und den einäugigen Kater erschrocken an. Sie wußten alle, daß Mike und der Kater auf eine geheimnisvolle Weise miteinander zu reden imstande waren, auch wenn es dem einen oder anderen ein wenig unheimlich sein mochte.
Nur einen Moment, bestätigte der Kater. Ich wollte sie zurückhalten, aber sie hat mich weggestoßen.
»Und dann?« fragte Mike, als der Kater nicht weitersprach, sondern sich zu Serena herumdrehte und unter lautstarkem Schnurren ihr Gesicht abzulecken begann. Nichts und. Sie hat geschrien, und dann ist sie aus dem Bett gefallen, antwortete der Kater.
Mike erklärte hastig, was der Kater gesagt hatte. »Was hat sie geschrien?« fragte Juan.
Das habe ich nicht verstanden, antwortete Astaroth. Das heißt: verstanden schon, aber ich weiß nicht, was es bedeuten soll.
»Was war es?« fragte Mike ungeduldig. »Verdammt, laß dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!«
Niemand wird meine Nase be -
»Astaroth!« sagte Mike scharf.
Schon gut, antwortete Astaroth kleinlaut. Sie hat geschrien: Die Alten. Das war alles.
»Die Alten?« wiederholte Mike verwirrt. »Aber was soll das bedeuten?«
Keine Ahnung, sagte Astaroth.
Mike erklärte erneut, aber auch von den anderen konnte sich keiner einen Reim darauf machen. Sie diskutierten einige Augenblicke lang heftig, dann beendete Mike das Gespräch mit einer entschiedenen Handbewegung. »Das spielt jetzt keine Rolle«, sagte er. »Helft mir, sie wieder aufs Bett zu legen.«
Ben kam herein, beugte sich hinunter und streckte die Arme aus - und zog die Hände hastig wieder zurück, als Astaroth mit den Krallen nach ihm schlug. Der nicht! erklang die Stimme des Katers in Mikes Kopf. Ich will nicht, daß er sie anfaßt!
Mike sparte sich die Mühe, das den anderen zu sagen. Astaroth könne Ben ebensowenig leiden wie Ben umgekehrt den Kater. Jedermann an Bord der NAUTILUS wußte das. Ben zog sich mißgelaunt zurück, während Mike ebenso ungeschickt wie verbissen versuchte, Serena allein wieder auf das Bett zurückzuheben. Schließlich drängte sich Singh wortlos an den vier Jungen vorbei und hob Serena ohne sichtbare Mühe aufs Bett. Astaroth ließ es widerspruchslos geschehen.
»Wie geht es ihr jetzt?« fragte Mike. »Schläft sie wieder? Träumt sie noch?«
Ja, antwortete der Kater zögernd. Aber ihre Träume sind... anders.
»Was soll das heißen, anders?« fragte Mike. Anders eben, antwortete der Kater mürrisch. Sie... machen mir angst.
Das wiederum machte Mike angst. Plötzlich fiel ihm wieder etwas ein, was er beobachtet, aber in der Aufregung der letzten Minuten einfach vergessen hatte: Der Sturm hatte aufgehört, und zwar im gleichen Moment, in dem die Riesenqualle das Schiff angegriffen hatte. Zum ersten Mal kam Mike der Verdacht, daß dieses Monster dort draußen möglicherweise mehr war als ein hirnloses Meeresungeheuer, das die NAUTILUS mit einem fetten Fisch verwechselt hatte.
»Jedenfalls scheint sie jetzt wieder zu schlafen«, sagte Ben nervös. »Laßt uns in den Salon zurückgehen. Möglicherweise braucht Trautman unsere Hilfe.«
Das war sicher richtig. Die Sache mit Serena hatte die Tatsache, daß sie sich noch immer in einer lebensgefährlichen Situation befanden, in den Hintergrund gedrängt. Es war gut möglich, daß sie sich schon in ganz naher Zukunft keine Gedanken mehr darum zu machen brauchten, ob Serena träumte oder nicht. Um alles andere übrigens auch nicht. Trotzdem war ihm nicht wohl dabei, das Mädchen allein zu lassen.
Geht ruhig, sagte Astaroth. Ich passe schon auf sie auf.
Mike war noch immer nicht beruhigt, aber er wandte sich trotzdem zur Tür und gab den anderen einen Wink, ihm zu folgen. Astaroth hatte recht. Wenn es jemand an Bord des Schiffes gab, der dazu in der Lage war, über Serena zu wachen, dann er. Schließlich erfüllte er diese Aufgabe seit gut und gerne zehntausend Jahren. Trautman hörte in Ruhe an, was Mike zu berichten hatte, aber er gab keinen Kommentar dazu ab. Sein Gesichtsausdruck wurde immer besorgter, und das tiefe Seufzen, mit dem er sich wieder in seinen Stuhl zurücksinken ließ, sprach für sich. Mike vermutete wohl nicht zu Unrecht, daß ihn das Gehörte weit mehr erschreckte, als er eigentlich zugeben wollte.
»Hier sieht es leider auch nicht sehr viel besser aus«, sagte Trautman schließlich. Er wies auf das Fenster. »Wie ihr seht, sind wir noch immer in der Gewalt des Ungeheuers.«
»Dann... dann sind wir verloren«, murmelte Chris. »Es wird uns zerquetschen, oder wir werden ersticken, wenn unser Sauerstoff aufgebraucht ist.«
»So schnell geht es nun auch wieder nicht«, antwortete Trautman. »Nicht einmal ein Wesen dieser Größe kann die NAUTILUS so einfach zerquetschen. Und unsere Luft reicht noch eine ganze Weile. Vielleicht wird es bald ein bißchen ungemütlich hier drinnen, aber ersticken werden wir so schnell nicht, keine Angst.«
»Irgendwann wird dieses Ding schon kapieren, daß die NAUTILUS unverdaulich ist«, fügte André hinzu, wie Trautman ganz offensichtlich darum bemüht, Chris zu beruhigen - und genauso offensichtlich wie er nicht überzeugt von dem, was er sagte. »Spätestens dann wird es uns wieder loslassen.«
»Falls wir dann noch am Leben sind«, fügte Ben hinzu. »Und falls es bis dahin nicht so tief getaucht ist, daß uns der Wasserdruck einfach zerdrückt.«
Trautman verdrehte die Augen, und Mike warf Ben einen mordlüsternen Blick zu. Er hatte einmal gehört, daß Diplomatie eine Erfindung der Engländer war. Wenn das stimmte, dann stellte Ben wohl die berühmte Ausnahme dar, die die Regel bestimmte.
»Geht jetzt in eure Kabinen«, sagte Trautman befehlend, offenbar um einem eventuell ausbrechenden Streit vorzubeugen. »Ich sage auch sofort Bescheid, wenn es etwas Neues gibt.«
Chris gehorchte sofort, während Ben Trautman stirnrunzelnd ansah, sich aber dann achselzuckend abwandte und ebenfalls zur Tür ging. Auch Mike war verblüfft. Eigentlich war es nicht Trautmans Art, sie wie kleine Kinder ins Bett zu schicken, wenn es ihm beliebte. Im Gegenteil: Seit dem ersten Tag, an dem sie zusammen waren, hatte Trautman sie stets wie Gleichberechtigte behandelt. Sie hatten alle Probleme gemeinsam besprochen und gelöst. Niemals hatte er den Erwachsenen herausgekehrt. Das war auch einer der Gründe, aus denen der alte Mann den Jungen so ans Herz gewachsen war. Um so mehr überraschte Mike jetzt Trautmans Verhalten.
Aber Trautman wiederholte seine auffordernde Geste, und schließlich trollte sich auch Juan und der Franzose. Als Mike sich jedoch ebenfalls umdrehen und gehen wollte, hielt Trautman ihn mit einem Wink zurück. Gleichzeitig deutete er ihm, still zu sein. Mike warf einen Blick zur offenen Tür, durch die Juan und André gerade verschwunden waren. Ganz offensichtlich wollte Trautman nicht, daß die anderen merkten, daß er noch etwas mit ihm zu besprechen hatte, und auch das war ungewöhnlich. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander.
»Was... gibt es denn noch?« fragte er zögernd. Trautman ging an ihm vorbei und schloß die Tür, ehe er antwortete. »Entschuldige die Geheimnistuerei«, sagte er, »aber ich wollte die anderen nicht unnötig beunruhigen.«
Mike sagte nichts, aber er schluckte. Zumindest ihn hatte Trautman mit diesen Worten noch mehr beunruhigt.
»Serena hat wirklich nur das gesagt?« vergewisserte sich Trautman. »Die Alten?«
»Soviel ich weiß, ja«, antwortete Mike. »Astaroth hat mich noch nie belogen. Warum?«
Trautman antwortete nicht darauf, aber er tauschte einen Blick mit Singh, der als einziger zurückgeblieben war.
»Sie wissen, was dieses Wort bedeutet«, vermutete Mike.
»Dein Vater hat es ein paarmal erwähnt«, sagte Trautman. »Er hat mir nie gesagt, wer diese Alten sind. Aber jedesmal, wenn er dieses Wort aussprach, war er sehr ernst. So, als spräche er über etwas, was ihm furchtbare Angst macht.«
Mike spürte ein eisiges Frösteln. Astaroths Worte fielen ihm wieder ein: Ihre Träume machen mir angst.
Trautman ging zu dem großen Tisch in der Mitte des Salons, zog eine Schublade auf und nahm eine zusammengerollte Karte heraus, die er auf dem Tisch ausbreitete. Als Mike neben ihn trat, erkannte er, daß es sich um eine Karte des Atlantik handelte.
»Wir sind ungefähr hier«, sagte Trautman und deutete auf einen Punkt irgendwo zwischen der Halbinsel Florida und den Bermuda-Inseln. »Ich nehme nicht an, daß dir das etwas sagt?«
Mike verneinte. »Sollte es das?«
»Nur, wenn du dich für Seefahrt interessierst«, sagte Trautman. »Dieses Gebiet ist bei allen Seefahrern bekannt - und gefürchtet. Seit es Menschen gibt, die zur See fahren, verschwinden hier immer wieder Schiffe.«
»Verschwinden? Sie meinen: sinken?«
»Die meisten sicher«, antwortete Trautman. »Aber einige verschwinden auch einfach. Wenn ein Schiff sinkt, findet man fast immer irgend etwas: Überlebende, ein leeres Rettungsboot, Wrackteile, Trümmer... Aber hier nicht. In diesem Seegebiet verschwinden immer wieder Schiffe einfach spurlos, und niemand hat eine Erklärung dafür.«
»Bis jetzt«, murmelte Mike. »Sie meinen, es... es ist die Riesenqualle?«
»Die Vermutung liegt zumindest auf der Hand«, sagte Trautman.
»Und was hat das mit den Alten zu tun?« fragte Mike. »Das weiß ich nicht«, antwortete Trautman.
»Aber dieses Schiff stammt aus Atlantis. Dein Vater wußte das. Er wußte viel über das untergegangene Volk der Atlanter, wahrscheinlich mehr als irgendein anderer Mensch auf der Welt. Und jetzt haben wir eine echte Atlanterin an Bord. Auch sie hat von den Alten gesprochen, im gleichen Moment, in dem wir von diesem ... Ding angegriffen worden sind. Das kann kein Zufall mehr sein.«
»Und jetzt möchten Sie, daß ich sie wecke und sie frage, wer die Alten sind«, vermutete Mike.
Trautman nickte ernst. »Es ist vielleicht unsere einzige Chance.«
»Sie wissen, was passiert ist, als wir sie das letzte Mal geweckt haben«, sagte Mike.
»Das war etwas anderes«, behauptete Trautman. »Erstens haben wir sie nicht geweckt, und zweitens wurde sie angegriffen und glaubte sich verteidigen zu müssen. Außerdem - schlimmer kann es kaum noch kommen.«
»Wieso?« fragte Mike.
Trautman zögerte kurz. »Ich habe nicht ganz die Wahrheit gesagt«, gestand er schließlich. »Unsere Lage ist weitaus schlimmer, als die anderen ahnen.«
»Und wieso?« fragte Mike. Sein Herz begann heftiger zu klopfen.
»Der Sauerstoff«, sagte Trautman. »Unsere Luftvorräte reichen noch für eine Stunde. Danach werden wir langsam ersticken.«
Nein! sagte Astaroth energisch. Kommt überhaupt nicht in Frage!
»Astaroth, bitte, sei nicht stur!« flehte Mike.
Wieso? fragte Astaroth. Natürlich hatte er die Antwort längst in Mikes Gedanken gelesen, aber es machte ihm offensichtlich Spaß, Mike jedes Wort laut aussprechen zu lassen.
»Es ist wichtig! Wir werden alle sterben, wenn wir hier nicht herauskommen!« Er mußte sich mühsam beherrschen, um den Kater nicht anzuschreien. »Das weißt du ganz genau!«
So schnell stirbt es sich nicht, antwortete der Kater. Außerdem: Schrei mich nicht an, ja? »Ich schreie nicht!« antwortete Mike.
Aber du wolltest es.
Mike mußte den Impuls unterdrücken, den Kater zu packen und so lange zu schütteln, bis er Vernunft annahm. Astaroth, der dieses Bild natürlich in seinen Gedanken sah, wich ein Stück vor ihm zurück und fauchte drohend.
Komm mir bloß nicht so, sagte er. Ich bin schon mit ganz anderen Gegnern fertig geworden.
Mike fragte sich, welche Gegner außer der Langeweile der Kater wohl in der hermetisch abgeriegelten Kuppel auf dem Meeresgrund bekämpft haben mochte, in der er die vergangenen Jahrtausende zugebracht hatte, aber er sparte es sich, diesen Gedanken laut auszusprechen, nicht nur, weil Astaroth ihn sowieso las. Die Lage war ernst genug, er konnte nicht kostbare Zeit damit vertrödeln, mit einer Katze zu streiten.
Warum tust du es dann? fragte Astaroth.
»Weil -« Nein! Er würde sich nicht von Astaroth dazu bringen lassen, endlos über etwas zu reden, worüber er nicht reden wollte! »Bitte sei vernünftig, Astaroth«, sagte er, so ruhig er konnte. »Es geht um Leben und Tod. Übrigens auch um deines und das Serenas.«
Für einen Moment sah es tatsächlich so aus, als ob dieses Argument wirkte. Astaroth hörte auf, die Zähne zu fletschen und zu fauchen und blickte ihn erschrocken an. Aber dann schüttelte er den Kopf. Es war ein fast bizarrer Anblick, dieses menschliche Verhalten an einem Tier zu sehen, aber das änderte nichts an der Endgültigkeit.
Ich werde sie nicht wecken, sagte er. Etwas kleinlauter fügte er hinzu: Das kann ich nicht.
»Versuch es wenigstens!« flehte Mike.
Glaubst du denn wirklich, daß ich das nicht längst getan hätte? gab Astaroth zurück. Ein Dutzend Mal mindestens.
»Dann sag du mir, was du über die Alten weißt«, verlangte Mike. Er war der Verzweiflung nahe. Wenn es ihnen nicht gelang, irgendeinen Ausweg zu finden, dann waren sie in einer Stunde alle tot.
Ich weiß, sagte Astaroth traurig. Aber glaub mir - ich weiß nicht, wer die Alten sind. Ich habe dieses Wort noch nie gehört.
»Aber das... das kann doch nicht sein!« protestierte Mike. »Du stammst aus der gleichen Welt wie Serena. Und wenn sie solche Angst vor diesen Wesen hat -«
Vergiß nicht, daß ich ein ganz normales Tier war, bevor mich der Priester einfing und zu Serenas Wächter machte, antwortete Astaroth. Ich weiß wenig mehr über die Menschen von Atlantis als du und deine Freunde.
»Aber du bist dort geboren!« protestierte Mike.
Ich kann dir eine Menge über die Wälder von Atlantis erzählen, antwortete Astaroth. Und seine Tiere. Aber mehr nicht. Obwohl seine Stimme völlig lautlos war und direkt in Mikes Kopf erklang, glaubte er ehrlich empfundenes Bedauern darin zu hören. Glaub mir, Mike. Der Priester hat... etwas mit mir getan, was mich zu dem gemacht hat, was ich jetzt bin. Vielleicht wirklich zu etwas wie einem Menschen... aber er hat mir nicht die Erinnerungen eines Menschen gegeben.
Mike resignierte. Von allen Eingeständnissen, die der Kater bisher gemacht hatte, überzeugte ihn dies am meisten. Normalerweise sprang Astaroth jedem mit allen Krallen zusammen ins Gesicht, der es auch nur wagte, ihn mit einem menschlichen Wesen zu vergleichen. »Du warst unsere letzte Hoffnung«, sagte er traurig.
Ich weiß, antwortete Astaroth. Und ich würde euch helfen, wenn ich könnte. Weißt du, ich hänge genauso am Leben wie ihr.
»Auch wenn du neun Stück davon hast?« murmelte Mike. Er lächelte müde.
Ich fürchte, das eine oder andere habe ich wohl schon verbraucht, gab der Kater in sanftem Tonfall zurück.
Mike sah ihn traurig an, dann stand er auf und ging zur Tür. Aber bevor er die Kabine verließ, blieb er noch einmal stehen und blickte zu Serena zurück. Sie lag wieder mit geschlossenen Augen auf dem Bett und schlief, so wie sie die ganze vergangene Woche dagelegen hatte, und trotzdem kam ihm das Bild vollkommen verändert vor. Der Unterschied war nicht wirklich greifbar. Vielleicht gab es auch gar keinen, und er sah Serena jetzt nur mit anderen Augen. Sie kam ihm viel verwundbarer vor als bisher, viel zarter, wie sie so dalag, in ihrem weißen Kleid, mit ihren lockigen blonden Haaren und dem Gesicht, das so weiß und weich war wie frisch gefallener Schnee.
He, an dir ist ein Dichter verlorengegangen! spöttelte Astaroth. Du hast dich doch nicht etwa in sie verliebt?
»Blödsinn!« antwortete Mike heftig.
Du solltest nicht versuchen, jemanden zu belügen, der deine Gedanken liest, sagte Astaroth. Und wenn du einen guten Rat von mir willst -
»Will ich nicht«, sagte Mike.
- dann gib dich keiner falschen Hoffnung hin, fuhr Astaroth unbeeindruckt fort. Sie kann Jungs nicht ausstehen.
Mike spießte den Kater mit seinen Blicken regelrecht auf, aber Astaroth reagierte darauf nur mit seinem unverschämten Katergrinsen, zu dem von allen Katzen auf der Welt wahrscheinlich nur er fähig war. Mike verbrachte einige Sekunden damit, sich alle möglichen unangenehmen Dinge vorzustellen, die er dem Kater antun konnte, aber diesmal funktionierte der Trick nicht. Astaroth grinste nur noch breiter, und schließlich fuhr Mike wütend auf dem Absatz herum und stürmte hinaus.
Und Adelige schon gar nicht, fügte Astaroths lautlose Stimme in seinem Kopf noch hinzu.
Es war unheimlich still geworden. Nach dem gequälten Heulen der Maschinen waren nach und nach auch fast alle anderen Geräusche verstummt, nachdem Trautman die meisten elektrisch betriebenen Geräte abgestellt hatte, um Luft zu sparen. Sie selbst verbrauchten zwar keinen Sauerstoff, wohl aber die Generatoren, die den Strom erzeugten.
Trotzdem war die Luft bereits spürbar schlechter geworden. Mike redete sich das nicht nur ein, obwohl er es gerne geglaubt hätte. Aber es war wirklich stickig im Salon der NAUTILUS, und jedesmal, wenn er einatmete, spürte er ein leises Kratzen im Hals, so als kündigte sich eine Erkältung an. Sie sprachen sehr wenig. Trautman hatte ihnen nicht verboten zu reden, aber sie wußten alle, daß sie damit nur Sauerstoff vergeuden würden. Aber schließlich hielt Mike das Schweigen einfach nicht mehr aus.
»Wie tief sind wir?« fragte er.
Trautman hob die Schultern. Er warf einen Blick auf seine Instrumente und seufzte tief. Die Geräte waren nutzlos. Die riesige Qualle hüllte das Schiff vollkommen ein, so daß sie sozusagen blind und taub waren; ganz wie Mike es vorhin ausgedrückt hatte. Trotzdem antwortete Trautman nach einer Weile: »Ich weiß es nicht. Aber ich denke, sehr tief. Einige tausend Meter dürften es wohl sein.«
»Wie kommen Sie darauf?« wollte Ben wissen.
»Weil die Vermutung auf der Hand liegt«, antwortete Trautman. »Sie wird bestimmt in ihre angestammte Umgebung zurückkehren, sobald sie Beute gemacht hat. Und nach allem, was ich weiß, leben Tiere dieser Größe normalerweise nur sehr tief unten im Meer.«
»Wenn das alles nur ein schreckliches Mißverständnis ist«, sagte Ben kampflustig, »dann erklär mir doch mal einer, wieso dieses Ding uns eine Woche lang beharrlich verfolgt hat.«
Genau das hatte sich Mike auch schon gefragt, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu gelangen. Er glaubte nicht, daß das Wesen durch einen reinen Zufall ausgerechnet jetzt aufgetaucht war.
Es fiel ihm jetzt immer schwerer zu denken. Der Sauerstoffmangel begann sich deutlich bemerkbar zu machen. Ihm war schwindelig, und jede Bewegung fiel ihm schwer. Und wenn er auch nur halb so schlimm aussah wie die anderen, dann mußte er wirklich schlimm aussehen: Juans Augen waren gerötet und dunkel unterlaufen, und sein Gesicht war kreidebleich. Und auch die anderen boten keinen sehr viel erfreulicheren Anblick.
Vielleicht war es dieses Bild, das ihm endgültig vor Augen führte, wie ernst ihre Situation war. Wenn kein Wunder geschah, dann würden sie sterben. Nicht irgendwann und irgendwo, sondern hier und jetzt.
»Die Taucheranzüge!« sagte André plötzlich. »Wenn wir in die Anzüge steigen, haben wir noch Luft aus den Flaschen!«
»Die reichen nur für eine Stunde«, sagte Trautman.
»Aber wenn wir die NAUTILUS verlassen und mit den Anzügen zur Oberfläche hinaufschwimmen?«
»Das geht nicht«, antwortete Trautman traurig. »Dazu sind wir zu tief. Der Aufstieg zur Oberfläche würde Stunden dauern. Ganz davon abgesehen, daß uns der Druckausgleich umbringen würde. Außerdem haben wir gar nicht genug Anzüge. Zwei von uns müßten zurückbleiben.«
Damit endete die Diskussion, die ohnehin sinnlos gewesen war. Trautman hatte Mike schon vor längerer Zeit einmal erklärt, daß ein Mensch in einem Taucheranzug nicht nach Belieben ins Meer hinab- und wieder hinaufsteigen konnte. Der menschliche Körper brauchte eine gewisse Zeit, um sich an den veränderten Druck in großen Wassertiefen zu gewöhnen; und ebenso umgekehrt. Der Aufstieg aus einigen hundert Metern Tiefe konnte Stunden dauern, und der aus einigen tausend entsprechend Tage, wenn nicht Wochen. Außerdem hatte Trautman natürlich auch mit seinem zweiten Argument recht. Sie hatten zwei Taucheranzüge zuwenig. Wer von ihnen würde wohl in dem Bewußtsein in einen dieser Anzüge steigen wollen, damit einen der anderen zum sicheren Tode zu verurteilen?
Mikes Sinne begannen sich langsam zu verwirren. Er hatte ein Gefühl wie Fieber, und nach und nach schien er in einen dumpfen Traum abzudriften, hinter dem etwas Dunkles, Tiefes zu lauern schien, eine bodenlose Klippe, auf die er langsam zuschwebte, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Wenn das der Tod ist, dachte er, dann ist er sehr angenehm. Er hatte es sich qualvoller vorgestellt, langsam zu ersticken.
Jemand rüttelte an seiner Schulter. Die Bewegung setzte sich bis in seinen Traum hinein fort und störte den Frieden, der ihn ergriffen hatte. Mike versuchte die Hand abzuschütteln, die da so roh in seine Träume drang, aber es gelang ihm nicht. Im Gegenteil: Das Rütteln wurde stärker, und dann hörte er eine Stimme, die in fast verzweifeltem Tonfall seinen Namen rief.
»Mike, wach auf! Mike! Mike!«
»Verschwinde«, murmelte Mike. »Ich will sterben.«
»Gerne«, antwortete die Stimme, die er jetzt als die Trautmans identifizierte. »In sechzig oder siebzig Jahren. Jetzt machst du gefälligst die Augen auf und kommst mit. Oder soll ich alter Mann dich jungen Spund etwa tragen?«
Mike öffnete widerwillig die Augen. Trautman stand über ihn gebeugt da. Er rüttelte noch immer an seiner Schulter. Und - die NAUTILUS lag nicht mehr still. Das Schiff schwankte leicht hin und her. Und das konnte nur eines bedeuten ...
»Sind wir aufgetaucht?«
»So könnte man es nennen«, antwortete Trautman ausweichend.
»Was soll das heißen?« fragte Mike.
»Ich denke, es ist besser, wenn du es dir selbst ansiehst«, sagte Trautman. »Komm. Die anderen sind schon alle oben.«
Mehr von Trautman gezogen als aus eigener Kraft, stemmte sich Mike aus dem Sessel. Mit einem Gefühl leiser Verwunderung registrierte er, wie leicht ihm die Bewegung fiel. Und erst in diesem Augenblick fiel es ihm auf: ein kühler Lufthauch streifte sein Gesicht.
Der Luftzug wurde stärker, und als sie sich auf der Treppe nach oben befanden, war es ein regelrechter Wind, der ihnen in die Gesichter schlug; köstliche, saubere Luft, so kalt und rein, daß Mike gar nicht genug davon bekommen konnte und so hastig ein- und ausatmete, daß ihm wieder schwindelig wurde.
Durch die weit offenstehende Turmluke fiel helles Licht zu ihnen herein. Mike konnte die Schritte der anderen oben auf dem Deck hören und einen Moment später ihre Stimmen. Die Worte waren nicht zu verstehen, aber sie klangen ziemlich erregt. Sie waren tatsächlich aufgetaucht!
Aber irgend etwas stimmte nicht.
Es hatte mit dem Licht zu tun. Es war nicht so, wie Tageslicht sein sollte.
Dicht vor Trautman stieg er die eiserne Luke zum Turm hinauf und trat schließlich ins Freie.
Vollkommen fassungslos blieb er stehen.
Die NAUTILUS trieb auf dem Wasser eines riesigen, halbkreisförmig angelegten Hafenbeckens. Die Kaimauern erhoben sich erstaunlich hoch über die Wasseroberfläche, und die dahinter liegenden Gebäude kamen Mike irgendwie... sonderbar vor, ohne daß er genau hätte sagen können, warum.
Sie waren auch zu weit entfernt, um sie genau zu erkennen.
Was er hingegen ganz genau sehen konnte, waren die Schiffe, die an der Kaimauer vertäut waren oder in kleinen Gruppen aneinandergebunden davor auf dem Wasser trieben.
Es mußten an die hundert sein. Die meisten waren uralt und zum Großteil verfallen und vermodert, und es waren alle nur vorstellbaren Schifftstypen darunter - spanische Galeonen, die aussahen, als wären sie einem Buch mit historischen Illustrationen entsprungen, ebenso wie ganz moderne Dampfschiffe, kleine Ruderboote ohne Segel genauso wie gewaltige fünfmastige Kriegsschiffe. Schlanke Wikingerboote waren an plumpen Lastkähnen vertäut. Es waren Schiffe darunter, wie Mike sie noch nie zuvor gesehen hatte, aber auch ganz moderne, die er kannte.
»Unglaublich«, flüsterte Mike.
»Wenn dir das schon unglaublich erscheint, dann schau doch bitte mal nach oben«, sagte Ben.
Mike gehorchte - und riß zum zweiten Mal binnen kürzester Zeit ungläubig die Augen auf.
Der Anblick des Hafens war bizarr gewesen, aber der des Himmels war... absurd. Es war nämlich keiner.
Über dem Hafen spannte sich eine gewaltige, halbrunde Kuppel aus - Wasser!
»Aber das ist doch vollkommen unmöglich!« krächzte Mike.
»Du bist genau der fünfte, der das sagt«, erklärte Ben mit einem säuerlichen Grinsen. »Übrigens auch mit derselben Betonung. Wer weiß - vielleicht sind wir ja längst tot, und das hier ist die Hölle?«
»Laß das!« sagte Trautman streng. »Mit so etwas scherzt man nicht.«
»Es war auch nicht als Scherz gemeint«, antwortete Ben.
Mike hörte nicht mehr hin. Mühsam löste er den Blick von der gigantischen Wasserkuppel und sah zum Heck der NAUTILUS hin. Der halbrunde Himmel setzte sich auch dort fort, bis er in einer Entfernung von mindestens drei oder vier Meilen mit dem Wasser des Hafens verschmolz. Hinter ihnen befanden sich keine Schiffe mehr, aber irgend etwas trieb auf dem Wasser. Auf den ersten Blick sah es aus wie Fetzen von weißem Segeltuch, aber dazu war es zu groß, und es setzte sich zu weit unter Wasser fort. Es war die Qualle. Sie hatte die NAUTILUS zwar freigegeben, aber sie befand sich noch immer in ihrer unmittelbaren Nähe; vielleicht, um sofort zugreifen zu können, sollten sie einen Fluchtversuch wagen. Mike verspürte ein eisiges Frösteln, als er sah, wie gewaltig die Qualle wirklich war. Viel größer, als sie alle geglaubt hatten. Selbst die NAUTILUS mußte dagegen wie ein Zwerg erscheinen.
Mike drehte sich wieder zu den Schiffen herum. »Ob sie... wohl alle auf die gleiche Weise hierhergekommen sind?« fragte er stockend.
Trautman hob die Schultern. »Die Vermutung liegt nahe«, gab er zurück. »Und jetzt frag mich bloß nicht, warum.«
Das tat Mike auch nicht. Und er ersparte sich auch die andere Frage, die ihm auf der Zunge lag - nämlich, was mit den Besatzungen all dieser Schiffe geschehen war. Er kannte die Antwort. Sie hatten den Angriff der Qualle mit Müh und Not überlebt, aber nur, weil sie sich in einem Unterseeboot befanden, einem Schiff, das dazu gebaut war, in große Wassertiefen vorzustoßen. Die Männer und Frauen auf all diesen Schiffen hier mußten jämmerlich ertrunken sein.
»Ich denke, wir werden uns diesen sonderbaren Hafen einmal ein wenig genauer ansehen«, sagte Trautman. »Ihr bleibt hier oben. Haltet die Augen offen.« Er ging in den Turm zurück, in dem sich ein zweites Steuerruder befand, so daß er die NAUTILUS im Notfall auch von hier aus steuern konnte. Es verging nur ein Moment, bis sie hören konnten, wie die Motoren des Schiffes wieder ansprangen. Die NAUTILUS setzte sich in Bewegung.
Mike kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, während die NAUTILUS zwischen den miteinander vertäuten Schiffen hindurchglitt. Beim Näherkommen konnten sie sehen, daß sich die meisten Schiffe in einem sehr viel schlechteren Zustand befanden, als es von weitem den Anschein gehabt hatte. Spieren und Ruder waren geknickt und zersplittert, Masten gebrochen, und in dem einen oder anderen Rumpf gähnten gewaltige Löcher. Dicke Krusten aus Muscheln und Algen hatten das Holz überwuchert, es roch nach Fäulnis und Schimmel.
Plötzlich fuhr Juan zusammen.
»Was hast du?« fragte Mike alarmiert.
Juan starrte aus eng zusammengekniffenen Augen zur Reling eines riesigen Viermasters empor, dem sich die NAUTILUS näherte.
»Ich... dachte, ich hätte etwas gesehen«, antwortete er zögernd. »Aber ich muß mich wohl getäuscht haben.« Trotzdem ließ er das Schiff nicht aus den Augen, und auch Mike musterte das Kriegsschiff genauer. Flaggen und Segel waren längst weggefault, aber Mike erkannte den Schiffstyp jetzt wieder: Es handelte sich um ein spanisches Kriegsschiff aus dem sechzehnten Jahrhundert, eines jener gewaltigen Schiffe, denen die spanische Krone damals ihren Rang als Weltmacht verdankt hatte.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Juan. »Irgend etwas stimmt hier nicht.«
»Hier lebt niemand mehr«, antwortete Ben - in einem Ton, dem man anhörte, daß er diese Worte nur sagte, um sich selbst zu beruhigen.
»So?« fragte Juan. »Und wer hat dann die Schiffe aneinandergebunden? Und die Stadt gebaut? Etwa die Qualle?« Darauf antwortete Ben nicht. Aber auch er wurde deutlich nervöser.
Die NAUTILUS glitt weiter auf das Kriegsschiff zu. Es war mittels eines dicken Seiles mit einem kleineren, aber immer noch großen Schiff vertäut, so daß die verbleibende Durchfahrt gerade für die NAUTILUS reichte. Für eine Sekunde glaubte Mike, eine Bewegung hinter den offenstehenden Geschützluken des Linienschiffes zu erkennen. Aber als er genauer hinsah, war alles leer.
Einen Moment später sah er eine Gestalt, und dann ging alles so schnell, daß keinem von ihnen noch Zeit blieb, irgend etwas zu tun. Hinter der Reling der beiden Schiffe, zwischen denen sie hindurchfuhren, erschien plötzlich mehr als ein Dutzend zerlumpter, waffenschwingender Männer. Ein gewaltiges Gebrüll hob plötzlich an, und ehe Mike und die anderen wirklich begriffen, was vor sich ging, waren die Angreifer bereits dabei, die NAUTILUS zu entern. Sie sprangen von den höher liegenden Decks der Schiffe herunter, schwangen sich an Seilen herab und turnten mit affenartiger Geschicklichkeit an den Tauen entlang, zwei oder drei von ihnen verfehlten das Schiff und landeten mit einem gewaltigen Platsch im Wasser, aber die meisten setzten mit erstaunlichem Geschick auf dem schlüpfrigen Deck der NAUTILUS auf und fielen über deren vollkommen verblüffte Besatzung her.
Mike wurde gepackt und auf den Rücken geworfen. Eine wild aussehende Gestalt mit struppigem Bart und langem, verfilztem Haar kniete auf seiner Brust und hielt seine Handgelenke umklammert. Mike bäumte sich mit verzweifelter Kraft auf, aber er bekam keine Luft, denn der andere war mindestens doppelt so stark wie er und fast doppelt so schwer.
Gerade als er glaubte, in der nächsten Sekunde das Bewußtsein zu verlieren, wurde der Bursche von ihm herunter und in hohem Bogen ins Wasser geschleudert. An seiner Stelle tauchte Singh über Mike auf. In der einen Hand schwang er einen schartigen Säbel, den er offensichtlich von einem der Angreifer erbeutet hatte, die andere streckte er nach Mike aus, um ihm auf die Beine zu helfen.
Zwei weitere Angreifer stürmten auf sie los, diesmal mit gezückten Schwertern. Singh wehrte sie mit ein paar geschickten Hieben ab, durch die der eine seine Waffe verlor und der andere rücklings ins Wasser stürzte. Gleichzeitig riß er Mike in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn auf die offenstehende Luke zutaumeln ließ. Irgendwie schaffte es Mike, auf den Beinen zu bleiben, aber wie er die Treppe hinuntergelangte, ohne sich den Hals zu brechen, war ihm ein Rätsel. Hinter ihm klirrte Metall, dann hörte er einen gellenden Schrei, und einen Moment später landete Singh mit einem federnden Satz neben ihm. Er trug jetzt zwei Schwerter in der Hand.
»Trautman! Weg hier! Tauchen Sie!«
Aber es war zu spät. Hinter Singh drängten sich einige der zerlumpten Gestalten die Treppe herunter. Zwar gelang es dem Sikh, sie aufzuhalten, aber nicht, sie zurückzudrängen; dazu war die Übermacht zu groß. Und solange die Luke offenstand, konnten sie nicht tauchen.
»Flieht!« schrie Singh. »Ich halte sie auf!«
Trautman ergriff Mike am Arm und zerrte ihn mit sich, hinunter in den Rumpf der NAUTILUS. »In den Salon!« keuchte er. »Schnell! Vielleicht kommen wir von dort aus weiter!«
Mike begriff sofort, was Trautmans Plan war. Der Salon verfügte über die mit Abstand massivste Tür von allen Räumen an Bord der NAUTILUS. Auch sie würde den Angreifern nicht ewig standhalten, aber vielleicht verschaffte sie ihnen die Frist, die sie brauchten, um einen Plan zu fassen. Alles war so unheimlich schnell gegangen, daß Mike immer noch nicht richtig mitbekommen hatte, wie ihnen überhaupt geschah. Die zerlumpte Bande, die so jählings über sie hergefallen war, machte ganz den Eindruck von Piraten. Aber Mike weigerte sich, das zu glauben. Piraten, im zwanzigsten Jahrhundert, und hier, etliche tausend Meter unter dem Meer? Lächerlich!
Sie hatten das Ende der Treppe erreicht.
Mit weit ausgreifenden Schritten stürmten Trautman und Mike in den Salon und bemühten sich mit vereinten Kräften, die schwere Stahltür zu schließen. Es gelang ihnen im buchstäblich allerletzten Moment. Der schwere Riegel war kaum eingerastet, da erzitterte die Tür auch schon unter einer Reihe heftiger Schläge, die ihre andere Seite trafen und lang durch den gesamten Rumpf des Schiffes nachhallten.
»Jetzt sind wir eine Weile sicher vor ihnen«, sagte Trautman, während er mit erleichtertem Aufatmen zurücktrat.
»Und was ist mit Singh?« fragte Mike. Er konnte den Inder unmöglich dieser Bande draußen überlassen.
Trautman machte eine beruhigende Handbewegung. »Wenn er klug ist, gibt er auf, sobald er merkt, daß wir in Sicherheit sind«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß sie ihm etwas antun.«
»Nein. Sie sind sicher nur gekommen, um uns einen Höflichkeitsbesuch abzustatten«, antwortete Mike sarkastisch. »Auch wenn ich finde, daß sie eine etwas merkwürdige Art haben, hallo zu sagen.«
»Sie wollen bestimmt nicht unseren Tod«, beharrte Trautman. »Erinnere dich - keiner von ihnen hat seine Waffe gezogen, um dich und die anderen zu überwältigen.«
»Aber was wollen sie dann?«
Trautman hob die Schultern. »Ich habe keine Ahnung«, gestand er. »Piraten! Daß ich das noch erleben muß. Ich wünschte, ich wäre zwanzig Jahre jünger.«
»Das klingt, als wären Sie schon einmal mit Piraten zusammengetroffen.«
»Einmal?« Trautman lachte. »Dein Vater und ich haben sie quer über die Weltmeere gejagt. Früher war der Ozean voll von diesem Gesindel. Dein Vater hat sie gehaßt wie die Pest. Wir müssen zwei oder drei Dutzend von ihnen versenkt haben!«
Mike fröstelte plötzlich. Worüber Trautman da sprach, das klang im ersten Moment wie eine spannende Geschichte. Aber in Wahrheit redete er über den Tod von Menschen. Von vielen Menschen. Möglicherweise, dachte Mike, gab es da doch noch das eine oder andere Detail aus dem Leben seines Vaters, das er nicht kannte. Und auch nicht kennen wollte.
Wieder erzitterte die Tür unter einer Folge harter, lang nachhallender Schläge. Trautman fuhr erschrocken zusammen und deutete auf den hinteren Ausgang des Salons. »Schnell jetzt!« rief er. »Ehe sie auch von dort kommen!«
In panischer Hast verließen sie den Salon. Aber sie schafften es trotzdem nicht. Einige Piraten mußten in der oberen Etage schon weiter zum Heck der NAUTILUS vorgedrungen sein, denn vor ihnen klapperten plötzlich Schritte auf dem Metall des Gangbodens, und sie hörten aufgeregte, wild durcheinanderrufende Stimmen - und dann tauchten hintereinander vier, fünf, sechs der Piraten vor ihnen auf, die triumphierend zu brüllen begannen, als sie Trautman und Mike erblickten. Unverzüglich stürzten sie sich auf sie.
Trautman stellte sich schützend vor Mike und wehrte sich heftig, wurde aber binnen Sekunden überwältigt und zu Boden gezwungen. Dabei vermieden sie jede Brutalität. Keiner von ihnen schlug oder trat gar nach dem alten Mann - Trautman wurde einfach an den Armen gepackt und niedergehalten.
Zwei der Piraten versuchten nun dasselbe mit Mike. Obwohl er wußte, daß es vollkommen sinnlos war, setzte er sich mit erbitterter Kraft zur Wehr. Blitzschnell duckte er sich unter einer zupackenden Hand hinweg, versetzte dem Mann einen derben Stoß, der ihn zurücktaumeln ließ, und trat dem anderen Piraten so kräftig vor das Schienbein, daß dieser aufheulte und auf einem Bein zur Seite sprang.
Auf diese Weise verschaffte er sich für eine Sekunde Luft. Nicht, daß es ihm etwas nutzte.
Die Piraten rückten nun gemeinsam gegen ihn vor, und Mike wich Schritt für Schritt vor ihnen zurück, wobei er sich wild nach irgendeinem Versteck oder einem Fluchtweg umsah.
In diesem Moment ging die Tür zu seiner ehemaligen Kabine auf, und ein schwarzes, einäugiges Ungeheuer flog heraus und fiel fauchend und mit den Klauen um sich schlagend über die Piraten her. Einer der Burschen stürzte kreischend zu Boden und schlug beide Hände vor das Gesicht, und noch bevor seine Kameraden überhaupt begriffen, wie ihnen geschah, sprang Astaroth bereits einen zweiten an, biß ihm kräftig in die Unterlippe und benutzte anschließend sein Gesicht als Sprungschanze, um über einen dritten herzufallen.
Aber der Mann war vorbereitet. Als der Kater ihn ansprang, riß er schützend den Unterarm vor das Gesicht. Als Quittung verpaßte Astaroth ihm vier lange, blutige Kratzer vom Ellbogen bis zur Handwurzel, doch der Pirat nutzte die Chance, seinen Säbel zu ziehen. Mike stieß einen entsetzten Schrei aus, als die schartige Klinge aufblitzte, und reagierte ganz instinktiv.
Er sprang den Piraten an und umklammerte den Säbel mit beiden Händen.
Sein Angriff verblüffte den Piraten so sehr, daß dieser zurücktaumelte und seine Waffe losließ. Der Säbel fiel klappernd zu Boden, und Mike blieb sogar noch eine kurze Gnadenfrist, in der er triumphierend aufschrie.
Dann explodierte ein Schmerz in seinen Händen, der so grausam war, daß er nicht einmal mehr schreien konnte. Mike wurde schwarz vor den Augen. Er wankte, fiel auf die Knie herab und preßte die Handflächen gegen die Brust. Warmes Blut tränkte sein Hemd. Und der Schmerz wurde immer schlimmer. Mike krümmte sich wimmernd, kämpfte mit aller Macht gegen die Bewußtlosigkeit, die nach seinen Gedanken griff, und sah wie durch einen roten Nebel, daß der Pirat den Kater zu Boden warf und ihm einen Tritt verpaßte, der ihn wie einen lebenden Ball quer über den Gang und an die gegenüberliegende Wand schleuderte. Astaroth kreischte schrill und blieb liegen.
Wieder kamen die Piraten auf ihn zu. Mike hatte weder die Kraft noch den Willen, sich zu wehren. Ihm war übel, und er hätte alles gegeben, hätte das grausame Brennen und Stechen in seinen Händen nur nachgelassen.
Und dann geschah etwas, womit keiner von ihnen gerechnet hatte - Mike am allerwenigsten.
Unter der Tür seiner Kabine erschien eine blondhaarige, in ein weißes Gewand gekleidete Gestalt. Serenas Gesicht war so bleich, wie er es in Erinnerung hatte, und ihr Blick war benommen wie der eines Menschen, der jäh aus dem tiefsten Schlaf gerissen worden ist und noch nicht genau weiß, wo er sich überhaupt befindet. Einige Sekunden lang sah sie sich mit offenkundiger Verwirrung um, dann blieb ihr Blick an Mike hängen. Sie blinzelte und musterte dann der Reihe nach die Piraten, die bei ihrem Erscheinen ebenfalls erstarrt waren und das Mädchen anblickten.
»Was um alles in der Welt bedeutet dieser Lärm?« fragte Serena in ungeduldigem Tonfall. »Wer seid ihr überhaupt? Und was habt ihr auf meinem Schiff zu suchen?« Mike riß ungläubig die Augen auf, aber wenn er gedacht hatte, daß es nichts mehr gab, was ihn jetzt noch überraschen konnte, dann wurde er in der nächsten Sekunde eines Besseren belehrt.
Die Piraten reagierten jetzt auf Serenas Erscheinen - aber auf eine vollkommen andere Art und Weise, als Mike sich selbst im Traum hätte vorstellen können. Die Männer griffen sie nicht etwa an. Im Gegenteil.
Mike wurde übel, und er spürte, wie er endgültig in Ohnmacht fiel. Aber bevor ihm die Sinne gänzlich schwanden, sah er noch, wie die Piraten einer nach dem anderen vor Serena auf die Knie sanken und demütig das Haupt senkten ...
Die letzte Empfindung vor seiner Bewußtlosigkeit und die erste nach seinem Erwachen waren gleich: eine grenzenlose Verblüffung und ein heftiger, brennender Schmerz in beiden Händen, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Mike öffnete sie stöhnend und wollte die Arme heben - das hieß, er versuchte es nur. Seine Hände waren festgebunden. Sein Körper ebenfalls, aber das nahm er gar nicht wahr, denn das, was er erblickte, als er blinzelnd den Kopf wandte, war zu überraschend.
Er befand sich nicht an Bord der NAUTILUS, daran bestand gar kein Zweifel. Und Trautman und er waren nicht allein. Mike lag auf einer schmalen, sehr harten Pritsche, die in einem großen, hellen Raum stand, der nichts, aber auch gar nichts mit der NAUTILUS gemein hatte. Der Boden bestand aus festgestampftem Lehm oder Erdreich, und Wände und Decke schienen aus einer Art Bast gefertigt zu sein, die zahllose Ritzen und Spalten aufwies. Das Licht fiel nicht durch ein Fenster oder eine Tür herein, sondern sickerte durch die Bastwände, und es war ein sehr seltsames Licht - heller als das der Sonne, aber zugleich auch weicher und eher weiß als gelb. Die spärliche Einrichtung, die Mike auf den ersten Blick erkennen konnte, war aus einer Art Bambus grob zusammengezimmert und bestand nur aus ein paar Stühlen, einigen sehr unbequem aussehenden Betten und etwas, was man mit viel Phantasie als Tisch bezeichnen konnte. Juan, Chris und Trautman hockten auf drei dieser Stühle, und als Mike den Kopf wandte, erblickte er auf der anderen Seite auch Ben, André und schließlich Singh. Der Inder sah etwas mitgenommen aus und hatte einen frischen Verband um die Stirn, der wie eine Verlängerung seines Turbans ausgesehen hätte, wäre er nicht mit einem großen Blutfleck verunziert worden, schien aber ansonsten unverletzt zu sein. Von Astaroth oder gar Serena konnte er keine Spur entdecken.
»Er ist wach!« rief Chris plötzlich. Die gemurmelten Gespräche verstummten abrupt, und aller Aufmerksamkeit wandte sich Mike zu. Singh erhob sich unverzüglich von seinem Platz und eilte zu ihm.
Mike versuchte erneut, die Hände zu bewegen, und jetzt erst bemerkte er, daß er wie ein Weihnachtspaket verschnürt war.
»Wartet, Herr!« sagte Singh hastig. »Ich binde Euch los.« Mike faßte sich in Geduld, bis der Inder die breiten Stoffstreifen gelöst hatte, die ihn hielten, und nutzte die Zeit, seinen Körper einer kurzen Inspektion zu unterziehen. Seine Hände waren so dick verbunden, daß es aussah, als trüge er weiße Fäustlinge, und sie taten erbärmlich weh, aber ansonsten schien er ebenso unversehrt wie die anderen zu sein.
Damit war die Erinnerung an die letzten Augenblicke vor seiner Ohnmacht endgültig geweckt. »Trautman!« murmelte er. »Was ist mit -«
»Mir fehlt nichts«, unterbrach ihn Trautman rasch. »Keine Sorge. Mir geht es gut. Wesentlich besser jedenfalls als dir. Wie fühlst du dich?«
»Meinen Sie diese Frage ernst?« knurrte Mike. Singh hatte endlich die letzte Fessel gelöst und trat von seinem Lager zurück, und Mike richtete sich etwas auf. Ihm war ein bißchen schwindelig, und er fühlte sich sehr schwach.
»Durchaus«, antwortete Trautman. Er schüttelte den Kopf und maß Mike mit einem Blick, der ihm selbst angesichts seiner Heldentat an Bord der NAUTILUS nicht halb so bewundernd vorkam, wie es angemessen gewesen wäre. »Was du getan hast, war ziemlich tapfer -« Mike lächelte geschmeichelt, und Trautman fügte im gleichen Tonfall hinzu: »- aber auch ziemlich dumm.«
»So?« sagte Mike kleinlaut.
»Wenn du das nächste Mal kämpfen willst«, schlug Ben vor, »vergiß nicht wieder, ein Schwert zu benutzen.« Trautman brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Im Ernst«, fuhr er fort. »Fühlst du dich gut?«
»Ja«, antwortete Mike etwas ungeduldig. »Meine Hände tun weh, aber das ist auch alles.«
»Sei froh, daß du noch Hände hast, die dir weh tun können«, sagte Trautman ernst. »Eine Weile hatten wir ziemliche Angst um dich.«
»Habt ihr mich deshalb festgebunden?« fragte Mike. »Du hast geschrien und um dich geschlagen«, erklärte Trautman. »Und du hast immer wieder versucht, die Verbände herunterzureißen, so daß wir dich schließlich fesseln mußten. Du hattest ziemlich hohes Fieber.«
»Wie?« machte Mike verständnislos. Er kramte vergeblich in seinem Gedächtnis. Wenn er all das getan hätte, dann müßte er sich doch erinnern. Außerdem konnte er doch gar nicht so lange bewußtlos gewesen sein. Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Trautman in diesem Moment: »Du warst fast zwei Tage lang bewußtlos.«
»Zwei Tage?!« Mike richtete sich erschrocken auf und fiel sofort wieder zurück, denn das Schwindelgefühl hinter seiner Stirn wurde prompt heftiger. Zwei Tage! Kein Wunder, daß er sich so schlapp fühlte. Sehr viel vorsichtiger richtete er sich ein zweites Mal auf und sah erst Trautman, dann die anderen an.
»Was ist passiert?« fragte er. »Wo sind wir, und wo ist Serena?«
»Was passiert ist, weißt du ja selbst am besten«, antwortete Trautman. Er setzte sich auf die Kante von Mikes Bett und wartete, bis die anderen ebenfalls Platz genommen hatten. »Und wo wir sind, kann ich dir leider nicht sagen. Auch Das Volk weiß nichts über diesen Ort.«
»Das Volk?«
»Die Leute, die uns gefangengenommen haben«, antwortete Trautman. »Sie nennen sich selbst Das Volk. Sie sagen, sie brauchen keinen anderen Namen. Und eigentlich haben sie auch recht damit. Schließlich sind sie die einzigen hier unten... wenigstens die einzigen Menschen.«
Der letzte Satz weckte Mikes Neugier, aber Trautman sprach bereits weiter. »Serena ist bei ihnen. Keine Sorge, es geht ihr gut.«
Und da erinnerte sich Mike an den allerletzten Augenblick, bevor ihm die Sinne geschwunden waren. »Moment mal!« sagte er. »Wieso... wieso sind wir gefangen? Serena ist doch... ich meine, sie haben sie doch -«
Trautman unterbrach ihn. »Die Geschichte ist nicht ganz einfach, fürchte ich. Willst du etwas zu trinken?«
Mike war sehr durstig, und so nickte er. Singh reichte ihm eine hölzerne Schale mit etwas, was er für Wasser hielt, sich aber als eine Art klarer Fruchtsaft herausstellte, der nicht nur ausgezeichnet schmeckte, sondern auch den Durst viel besser löschte, als Wasser dies getan hätte. Trotzdem leerte er auch noch eine zweite Schale, ehe er sie an Singh zurückgab und Trautman mit einem entsprechenden Blick aufforderte, weiterzusprechen.
»Das beste wird wohl sein, wenn ich dir der Reihe nach erzähle, was wir in den letzten beiden Tagen in Erfahrung gebracht haben«, sagte Trautman. »Kannst du aufstehen?«
Mike versuchte es. Er war noch ein bißchen wackelig auf den Beinen, so daß Singh ihm helfen mußte, aber schon nach ein paar Schritten kehrten seine Kräfte zurück, und er konnte - wenn auch mühsam - allein gehen. Trautman und die anderen eilten voraus, und Chris öffnete eine Tür, die aus dem gleichen Material wie ihre gesamte Behausung bestand und sich knarrend in Angeln bewegte, die aus groben Stricken geflochten waren.
Mike war erstaunt. »Ich denke, wir sind Gefangene?« fragte er.
»Nicht wirklich«, antwortete Ben. »Du wirst gleich erfahren, warum.«
Das erste, was Mike sah, als sie das Haus verließen, war der Hafen. Die Basthütte lag auf einer etwa dreißig oder vierzig Meter hohen Klippe, die unmittelbar an das Wasser des halbrunden Hafenbeckens grenzen mußte, denn er konnte tief unter sich die sonderbare Flotte erkennen, die sie beim Auftauchen erblickt hatten. Er sah jetzt, daß sie in Wahrheit noch viel größer war, als sie auf den ersten Blick angenommen hatten - es mußten buchstäblich Hunderte von Schiffen sein. Und unter all diesen zum Teil vertrauten, zum Teil vollkommen fremdartigen Konstruktionen erblickte er auch die NAUTILUS. Sie war mit einem gewaltigen Seil am Heck des spanischen Kriegsschiffes vertäut, von dessen Deck aus die Piraten sie angegriffen hatten, und sah aus wie ein gefangener, stählerner Riesenfisch. Dieser Anblick gab Mike einen tiefen, schmerzhaften Stich, und offensichtlich spiegelten sich seine Empfindungen deutlich auf seinem Gesicht wider, denn Trautman sagte:
»Es ist nicht so schlimm, wie du vielleicht glaubst. Was dir passiert ist, war ein Unfall. Und das gleiche gilt für Singh. Es tut ihnen auch sehr leid. Aber das wird Denholm dir sicher noch selbst sagen.«
»Denholm?«
»Der Anführer des Volkes«, erklärte Trautman. »Du hast ihn bereits kennengelernt. Er war derjenige, den du... ähm... entwaffnet hast. Im Grunde sind es sehr freundliche Menschen.«
»Das habe ich gemerkt«, bemerkte Mike bissig.
Trautman lächelte. »Ich kann dich verstehen«, behauptete er. »Wir alle haben im ersten Moment so gedacht wie du - und das ist ja auch nicht weiter erstaunlich, nicht wahr? Aber sie haben es uns erklärt. Sie leben schon sehr lange hier unten, weißt du, und diese Art, Neuankömmlinge zu empfangen, hat sich nun einmal als die beste herausgestellt.«
»Sie zu überfallen?« fragte Mike ungläubig.
»Es war kein richtiger Überfall«, antwortete Trautman. »Ist dir nicht aufgefallen, daß sie versucht haben, keinen von uns zu verletzen?« Er machte eine erklärende Handbewegung zum Hafen hinunter. »Siehst du, all diese Schiffe sind auf die gleiche Weise wie wir hier heruntergekommen - sie wurden von der Qualle überfallen und hierhergebracht. Wir haben es nicht gemerkt, weil wir sowieso in einem luftdicht abgeschlossenen Schiff waren, aber das Tier hüllt seine Beute vollkommen ein, so daß die Menschen an Bord vor dem Wasser geschützt sind und nicht ertrinken müssen. Aber du kannst dir vorstellen, daß sie vollkommen verängstigt und zutiefst verstört sind, wenn sie hier ankommen. Es kam immer wieder vor, daß sie aus reiner Panik Denholms Männer angegriffen haben - weil sie glaubten, sie wären mit dem Ungeheuer im Bunde, das ihr Schiff verschlungen hatte. Es gab auf beiden Seiten Verletzte, manchmal auch Tote. Also haben sie beschlossen, alle Neuankömmlinge sofort und mit möglichst wenig Gewaltanwendung zu überwältigen und erst einmal auf diese Klippe zu bringen. Anscheinend funktioniert dieses System hervorragend - auf jeden Fall gibt es seit Jahren keine unnötigen Verluste an Menschenleben mehr.«
»Ach?« sagte Mike übellaunig. »Und dann?«
»Später nehmen wir sie in unsere Gemeinschaft auf. Sobald sie Zeit genug gehabt haben, sich an ihre neue Situation zu gewöhnen.«
Es war nicht Trautmans Stimme, die das sagte, sondern eine fremde, und Mike drehte sich hastig herum. Sie waren nicht mehr allein. Hinter Trautman und den anderen waren drei der zerlumpten Gestalten aufgetaucht. Zwei davon waren Mike vollkommen fremd, während ihm das Gesicht des dritten bekannt vorzukommen schien.
»Sie müssen dieser Denholm sein«, sagte er in unfreundlichem Ton.
»Stimmt«, antwortete der Fremde. »Aber es heißt: Du mußt Denholm sein. Wir duzen uns hier unten alle. Und du bist Mike.«
Mike verzichtete auf eine Antwort, sondern blickte Denholm feindselig an. Denholm war ein sehr großer, hagerer Mann, dessen Gesicht von der gleichen, fast unnatürlichen Blässe war wie das seiner beiden Begleiter, und er war in die hier offenbar üblichen Fetzen gehüllt, die kaum mehr als Kleidung zu erkennen waren. Sein Gesicht war scharf geschnitten und hatte einen sehr energischen Zug, und seinen dunklen, eng beieinanderstehenden Augen schien nicht die winzigste Kleinigkeit zu entgehen. Obwohl er sehr hager war, hatte er ungemein kräftige Hände. Und trotz allem wirkte er nicht unsympathisch.
Denholm ließ Mike Zeit, ihn in aller Ruhe zu mustern, und fuhr schließlich fort: »Um deine Frage vollends zu beantworten: Manche brauchen lange, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie nie wieder von hier weg können. Aber früher oder später akzeptieren sie es alle, und dann gibt es in unserer Stadt für jeden eine offene Tür. Oder auch einen Platz, um sich ein eigenes Heim zu errichten, falls sie das wollen.«
Mike war nicht sicher, ob er wirklich verstanden hatte, was Denholm ihm damit sagen wollte - und wenn, ob er es wirklich verstehen wollte. Im Augenblick jedenfalls hatte er keine Lust, näher darauf einzugehen.
»Was habt ihr mit Serena gemacht?« fragte er schroff. »Wo ist sie?«
Trautman sah ihn erschrocken an, aber Denholm schien ihm seinen aggressiven Ton nicht übelzunehmen. Er lächelte. »Du meinst die Atlanterin? Keine Angst - sie ist in Sicherheit.«
»Das glaube ich erst, wenn ich sie sehe«, antwortete Mike.
»Das wirst du«, erwiderte Denholm. »Deshalb bin ich hier - unter anderem.« Aber statt diese Andeutung zu erklären, drehte er sich zu Trautman herum. »Ihr könnt uns jetzt begleiten, wenn ihr wollt. Ihr könnt euch die Stadt ansehen.«
»Gerne«, antworteten Ben und André gleichzeitig. Chris schwieg, wie meistens, und Trautman warf einen fragenden Blick in Mikes Richtung.
»Ich fürchte, dein hitzköpfiger junger Freund muß noch ein wenig hierbleiben«, sagte Denholm lächelnd. »Wenigstens, bis er sich ganz erholt hat - und seine Wunden einigermaßen verheilt sind.«
»Ich werde bei Euch bleiben, Herr«, sagte Singh.
»Und ich auch - wenn du es möchtest«, fügte Trautman hinzu. Mike hätte seinen Vorschlag nur zu gerne angenommen. Schon der Gedanke, nach allem, was er gehört hatte, allein hier zurückbleiben zu sollen, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Aber er spürte auch, wie gerne Trautman und die anderen Denholms Angebot angenommen hätten, und letztendlich wollte er auch nicht als Feigling dastehen. Also schüttelte er den Kopf.
»Geht ruhig«, sagte er. »Denholm hat recht - ich fühle mich noch nicht sehr wohl. Und ich bin ja auch nicht allein. Singh wird schon auf mich aufpassen.«
Trautman warf ihm einen dankbaren Blick zu. »Es wird bestimmt nicht sehr lange dauern«, versprach er.
»Wir beeilen uns. Einverstanden?«
»Jaja«, murmelte Mike. »Schon in Ordnung. Nun geht schon, ehe ich es mir doch noch anders überlege.«
Singh und er kehrten in die Hütte zurück, nachdem Trautman und die anderen in Denholms Begleitung gegangen waren. Mike hatte nicht einmal übertrieben, wie er selbst geglaubt hatte: Er fühlte sich tatsächlich noch sehr schwach, und seine Hände begannen immer heftiger zu schmerzen, so daß er sich schon nach einigen Minuten wieder auf sein unbequemes Lager sinken ließ. Singh nahm auf einem Hocker neben ihm Platz, und nachdem er sich umständlich und mehrmals nach seinem Befinden erkundigt hatte und danach, ob er irgend etwas für ihn tun konnte, begann er Mike den Rest der Geschichte zu erzählen, die er und die anderen von Denholm erfahren hatten. Sie war nicht sehr lang - aber so phantastisch, daß es Mike schwerfiel, sie zu glauben - obwohl er den Beweis für ihre Wahrheit ja mit eigenen Augen gesehen hatte.
Das Volk lebte seit Urzeiten hier unten. Singh konnte nicht sagen, wie viele sie waren - auf diese Frage hatte Denholm beharrlich geschwiegen -, aber aus gewissen Andeutungen hatte Trautman wohl geschlossen, daß sie allerhöchstens nach Hunderten zählten, nicht nach Tausenden, und es handelte sich ausnahmslos um Nachkommen der Seefahrer, die mit ihren Schiffen hierher verschleppt worden waren. Niemand vermochte zu sagen, wann der erste Mensch in dieser unterseeischen Welt angekommen war, und niemand wußte, warum. Obwohl Denholms Vorfahren jahrhundertelang verbissen versucht hatten, dieses Geheimnis zu lösen, ebensowenig, wie sie sagen konnten, wer diese unglaubliche Stadt erschaffen hatte und zu welchem Zweck. Sie hatten sich eingerichtet, so gut es eben ging, und da es an Bord der Schiffe auch immer wieder Frauen gegeben hatte, war hier, auf dem Grund des Meeres, eine richtige kleine Gesellschaft entstanden, die nach ihren eigenen Regeln funktionierte und offensichtlich überlebensfähig war.
An diesem Punkt endete Singhs Geschichte auch schon wieder, und sie ließ Mike alles andere als befriedigt zurück. Was der Inder ihm erzählt hatte, hatte viel mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, und es hatte auch nicht dazu beigetragen, ihn zu beruhigen. Ganz im Gegenteil. Je länger er zuhörte, desto mehr machte sich eine neue, nagende Furcht in ihm breit. »Hat Trautman schon einen Plan?« fragte er, als Singh geendet hatte.
»Einen Plan?« wiederholte der Inder. »Ich fürchte, ich verstehe nicht...«
»Einen Plan, wie wir hier wieder herauskommen«, antwortete Mike ungeduldig. Er richtete sich wieder auf und sah den Inder erschrocken an. »Du willst mir doch nicht erzählen, daß ihr euch damit abgefunden habt, hierzubleiben, oder?«
»Ich... weiß es nicht, Herr«, antwortete Singh ausweichend. »Wir haben bisher nicht darüber gesprochen.«
Mike setzte zu einer scharfen Antwort an, aber in diesem Moment hörten sie ein Geräusch von der Tür her, und Mike fand gerade noch Zeit, sich herumzudrehen, da huschte auch schon ein struppiger schwarzer Blitz herein, war mit einem einzigen Satz auf dem Bett und sprang Mike so ungestüm an, daß dieser wieder zurückfiel und sich erst einmal sekundenlang des Katers zu erwehren versuchte, der auf seiner Brust hockte und ihm wie ein liebestoller Hund mit seiner rauhen Zunge das Gesicht abschleckte.
Mike! Mein dummer, kleiner Menschenfreund! Du lebst und bist gesund! Poseidon sei Dank!
Mike rang nach Atem, packte den Kater mit beiden Händen und schob ihn ein Stück weit von sich fort.
»Was ist denn in dich gefahren?« keuchte er. »Hältst du dich für einen Dackel?«
Ich wollte mich nur bedanken, antwortete Astaroth. Und was ist ein Dackel?
Ehe Mike es verhindern konnte, erschien das Bild dieses Tieres in seinen Gedanken, und Astaroth zog beleidigt die Nase kraus und löste sich aus seinem Griff.
Typisch Mensch, maulte er. Da läßt man sich einmal herab und will freundlich sein, und er dankt es einem mit einer Beleidigung.
»So war das nicht gemeint«, sagte Mike hastig. Plötzlich lachte er. »Ach, verdammt, ich bin genauso froh, dich zu sehen. Ich hatte schon Angst, daß es um dich geschehen ist.«
Wäre es auch fast, erwiderte Astaroth. Wenn du nicht eingegriffen hättest... Das war unbeschreiblich tapfer von dir - wenigstens für einen Menschen -
»Danke«, sagte Mike strahlend.
- aber auch unbeschreiblich dämlich, fuhr Astaroth fort. Seit wann greift man mit bloßen Händen nach einem scharfen Messer? Mike seufzte. Was hatte er eigentlich erwartet?
Aber ich bin nicht nur gekommen, um mich von dir beschimpfen zu lassen, erklärte Astaroth großzügig.
»Sondern?« fragte Mike.
Ich soll dir das Erscheinen einer hochgestellten Persönlichkeit ankündigen, antwortete der Kater. Er hob mit einer durch und durch menschlich anmutenden Geste die rechte Vorderpfote und deutete zur Tür. Prinzessin Serena, die rechtmäßige Herrscherin von Atlantis.
Mike sah zur Tür - und hielt die Luft an, als das Mädchen den Raum betrat. Und vermutlich hätte er das auch ohne Astaroths bombastischer Ankündigung getan, denn Serena bot einen wahrhaft atemberaubenden Anblick. Sie trug noch immer das einfache weiße Kleid, in dem er sie das erste Mal gesehen hatte, und ihr Gesicht war noch immer so bleich wie zuvor, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit der Serena, die er kannte, auch schon auf. Statt krank und leidend sah ihr Gesicht jetzt unglaublich lebendig aus. In ihren Augen glänzte ein Feuer, wie Mike es noch nie zuvor in denen eines Menschen erblickt hatte, und das blonde Haar umfloß ihr Gesicht und ihre Schultern wie eine Löwenmähne; es schien elektrisch geladen zu sein und funkelte, wenn das Sonnenlicht darauf fiel. Ihre Bewegungen waren so elegant und grazil wie die einer Katze. Serena strahlte eine Lebendigkeit und Stärke aus, die Mike schaudern ließ. Er hatte niemals zuvor einen Menschen gesehen, der mehr Kraft zu haben schien; auf eine Weise, die nichts mit körperlicher Stärke zu tun hatte.
Und so ganz nebenbei - der schöner gewesen wäre.
»Danke für das Kompliment«, sagte Serena. »Aber du hast meine Mutter nicht gekannt. Gegen sie wäre ich eine häßliche Kröte. Und außerdem mag ich keine Schmeicheleien.«
Mikes Unterkiefer klappte herunter. »Du... liest meine Gedanken?« keuchte er.
»Selbstverständlich tue ich das«, antwortete Serena. Sie machte ein fragendes Gesicht, dann fuhr sie fort: »Oh, entschuldige - ich habe ganz vergessen, daß ihr das ja nicht mögt. Ihr seid ein seltsames Volk.«
Mike starrte sie aus ungläubig aufgerissenen Augen an, dann riß er seinen Blick mühsam von ihr los und sah den Kater vorwurfsvoll an. »Davon hast du mir nichts gesagt!«
Astaroth grinste unverschämt. Du hast mich nie gefragt, antwortete er. Außerdem liebe ich Überraschungen.
»Soll das heißen, daß... daß alle Atlanter Gedanken lesen können?« fragte Mike fassungslos.
»Das soll es heißen«, antwortete Serena an Astaroths Stelle. Ihre Stimme klang ein wenig ungeduldig. »Aber was willst du eigentlich - dich mit dem Kater unterhalten oder mit mir?«
»Mit dir selbstverständlich«, antwortete Mike hastig. »Entschuldige. Es ist so -«
»Jaja, schon gut.« Serena machte eine ungeduldige Geste. Sie kam näher. Der Stuhl, auf dem Singh saß, stand ihr im Weg, aber sie machte keinerlei Anstalten, ihm auszuweichen, und so sprang der Inder im letzten Augenblick hoch und trat beiseite. Der Blick, mit dem er Serena dabei maß, war alles andere als freundlich. Seine Gedanken wohl auch nicht, denn Serena blieb schließlich doch stehen und sah den Sikh mit gerunzelter Stirn an. Sie sagte nichts, sondern wandte sich wieder Mike zu. Aber die Art, auf die sie dies tat, gefiel ihm nicht. Er hatte das Gefühl, daß Serena es einfach nicht der Mühe wert fand, sich mit Singh abzugeben.
»Astaroth hat mir erzählt, was du für mich getan hast«, sagte sie. »Und für ihn. Ich bin hergekommen, um mich dafür zu bedanken - und meine Schulden zu begleichen.«
Mike hörte die Worte kaum. Er starrte Serena unverwandt an. Je näher sie ihm kam, desto schöner erschien sie ihm. Er blickte in ihr Gesicht, und er konnte sich an dem, was er sah, einfach nicht satt sehen.
Serenas Stirnrunzeln vertiefte sich. »Wenn du noch ein bißchen weiter in die Richtung denkst, in die du gerade denkst, handelst du dir eine saftige Ohrfeige ein«, sagte sie. »Zeig mir deine Hände!«
Mike fuhr schuldbewußt zusammen, streckte aber gehorsam die Hände aus. Er wußte selbst nicht genau, woran er gerade gedacht hatte - hinter seiner Stirn purzelten die Gedanken wild durcheinander, und er hatte das Gefühl, daß er nur Unsinn reden würde, wenn er jetzt den Mund aufmachte.
»Nicht nur, wenn du den Mund aufmachst«, sagte Serena in leicht verärgertem Ton. Sie begann die Verbände von Mikes Händen zu lösen, sehr schnell, aber alles andere als zartfühlend. Nach ein paar Sekunden schon dachte Mike nicht mehr an die Schönheit Serenas, sondern raffte all seine Selbstbeherrschung zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen.
»Was tust du da eigentlich?« stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Halt still, und du siehst es gleich«, antwortete Serena. Sie schüttelte den Kopf. »Ihr seid ein ziemlich weinerliches Volk, wie?«
Mike ächzte - wenn auch jetzt eher vor Verblüffung als vor Schmerz. Weinerlich? Jetzt, wo die Verbände nicht mehr da waren, konnte er sehen, daß die Schnittwunden in seinen Handflächen bis auf die Knochen hinunterreichten. Kein Wunder, daß er um ein Haar gestorben wäre. Und Serena bezeichnete ihn als weinerlich, weil er Schmerzen verspürte?!
»Schmerz ist etwas, was man abschalten kann, wenn es lästig wird«, belehrte ihn Serena. »Man muß es nur wollen.«
Mike erwiderte vorsichtshalber nichts darauf. Die Unterschiede zwischen den Menschen und den Bewohnern des untergegangenen Atlantis schienen wohl größer zu sein, als er bisher angenommen hatte.
»Halt still!« sagte Serena noch einmal. »Es hört gleich auf.«
Und dann geschah etwas ganz und gar Unheimliches. Der Schmerz in Mikes Händen erlosch auf einmal, und an seiner Stelle machte sich ein Gefühl wohltuender Wärme breit. Mike verspürte ein sachtes Kribbeln, als liefen hundert Ameisen in Samtpantoffeln über seine Handflächen - und als Serena die Finger zurückzog und seine Hände freigab, waren die Wunden verschwunden. Nur zwei dünne, rote Linien zeigten, wo sie vor einer Sekunde gewesen waren.
Fassungslos hob Mike die Hände vor das Gesicht. Auch die dünnen Narben verblaßten, und es vergingen nur noch Sekunden, und seine Hände sahen so unverletzt und gesund aus, als wären sie niemals zerschnitten gewesen.
»Aber das ist doch... unmöglich!« flüsterte er. »Das ist Zauberei!«
Serena verzog geringschätzig die Lippen. »Das ist gar nichts«, sagte sie. »So etwas kann bei uns jedes Kind. Bei euch etwa nicht?«
Mike schüttelte den Kopf. Er war viel zu perplex, um den überheblichen Ton in Serenas Stimme wahrzunehmen. »Wie hast du das gemacht?« flüsterte er. »Also das kann ich dir wirklich nicht erklären«, antwortete Serena, und ihr Blick schien hinzuzufügen: Und du würdest es sowieso nicht verstehen.
»Aber du... du...« stammelte Mike, blickte auf seine auf so wunderbare Weise geheilten Hände hinunter und dann in Serenas Gesicht. Seit er vor nun mittlerweile mehr als einem halben Jahr England verlassen hatte, hatte er eine Menge Dinge erlebt, die er zuvor nicht einmal im Traum für möglich gehalten hätte. Aber das hier, das war... ein Wunder. Ein anderes Wort dafür gab es einfach nicht.
»Was für ein Unsinn«, sagte Serena verächtlich. »Fehlt dir sonst noch etwas?«
»Nein«, sagte Mike und dachte daran, wie miserabel er sich noch immer fühlte - sein Kopf tat weh, und er war so schwach und müde wie selten zuvor im Leben. Serena zog seufzend die Augenbrauen zusammen, streckte den Arm aus und legte die flache Hand auf seine Stirn. Das Gefühl war unbeschreiblich. Serenas Hand war so kühl, und schon ihre erste, flüchtige Berührung reichte, um das taube Gefühl und den Schmerz hinter seiner Stirn zu vertreiben. Nur einen Moment später konnte er regelrecht spüren, wie ein Strom neuer, pulsierender Kraft durch seinen Körper floß. Alle Müdigkeit war verschwunden, und er fühlte sich von einer Sekunde auf die andere so kräftig und frisch, als hätte er wochenlang geschlafen.
Ihm blieb nicht einmal die Zeit, sein Erstaunen darüber zu äußern, da richtete sich Serena wieder auf, blickte noch kurz mit einem sonderbaren Ausdruck auf ihn herunter und drehte sich dann ohne ein weiteres Wort herum und ging zur Tür. Erst als sie die Hütte schon beinahe verlassen hatte, überwand Mike seine Überraschung soweit, um sich mit einem Ruck aufzurichten und sie zurückzurufen. »Serena!«
Sie blieb tatsächlich stehen und drehte sich noch einmal um. Aber sie tat es widerwillig, und auf ihrem Gesicht erschien ein sehr ungeduldiger, beinahe schon ärgerlicher Ausdruck. »Was ist denn noch?« fragte sie.
»Ich... ich dachte, du...« stammelte Mike. Serenas Verhalten verwirrte ihn. »Warum willst du denn schon gehen?« fragte er.
»Ich habe getan, wozu ich gekommen bin«, antwortete Serena. »Du hast mir geholfen, und ich habe dir jetzt geholfen. Ich denke, wir sind quitt - oder?«
»Natürlich«, antwortete Mike hastig. »Ich dachte nur... ich meine...«
»Ja?« fragte Serena. Ihre Ungeduld war nun nicht mehr zu übersehen.
»Ich dachte, wir könnten miteinander reden«, murmelte Mike.
»Reden? Aber worüber denn?« Serena schürzte geringschätzig die Lippen und schüttelte heftig den Kopf. »Es tut mir leid, aber dafür habe ich jetzt wirklich keine Zeit. Wir sehen uns bestimmt später.«
Und damit ging sie, rasch und ohne ein weiteres Wort. Mike blieb vollkommen verwirrt zurück. Er starrte die Tür an, und für einen Moment mußte er mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfen, die ihm in die Augen steigen wollten. Er war... ja, was eigentlich? Enttäuscht?
Es gelang Mike nicht, die Gefühle wirklich in Worte zu kleiden, die in ihm tobten. Es war nicht nur Enttäuschung. Es war etwas, wofür er einfach keine Bezeichnung fand, vielleicht, weil es sich um etwas handelte, was ihm bisher vollkommen fremd gewesen war. Wie lange hatte er diesen Moment herbeigesehnt, in dem Serena endlich aus ihrem todesähnlichen Schlaf erwachen und ihn das erste Mal bewußt aus ihren schönen Augen ansehen würde, den Augenblick, in dem er das erste Mal ihre Stimme hören würde? Und wie vollkommen anders war dieser Augenblick dann gewesen.
Nein, er war nicht nur enttäuscht. Was Mike in diesem Moment empfand, das ging viel tiefer, und es tat viel heftiger weh, als bloße Enttäuschung es gekonnt hätte.
Es vergingen mehr als zwei Stunden, bis Trautman und die anderen zurückkehrten. Mike hatte die ganze Zeit auf seinem Bett zugebracht und die Decke über sich angestarrt. Vergeblich hatte er versucht, eine Erklärung für Serenas sonderbares Verhalten zu finden. Er nahm sich vor, Serena bei nächster Gelegenheit geradeheraus zu fragen, womit er sich ihren Zorn zugezogen hatte. Sicher war es nur ein Mißverständnis.
Es konnte die aufgeregten Stimmen der anderen hören, bevor sie die Hütte betraten, und auch wenn er die Worte nicht verstand, so verriet ihm doch ihr Klang, daß sie in ausgezeichneter Stimmung waren. Was immer Denholm ihnen gezeigt hatte, es konnte nichts Unangenehmes gewesen sein. Wer weiß - vielleicht hatten sie ja bereits einen Weg gefunden, um wieder aus dieser merkwürdigen Stadt herauszukommen. Er stand auf und zwang ein möglichst unbefangenes Lächeln auf sein Gesicht.
Trautman und die vier anderen staunten nicht schlecht, als sie die Hütte betraten und Mike, der noch vor wenigen Stunden todkrank und erschöpft auf seinem Bett gelegen hatte, ihnen fröhlich entgegenspaziert kam. Aber der Moment, auf den Mike sich am meisten gefreut hatte - nämlich der, in dem er ihnen seine vollkommen verheilten Hände präsentierte und sie eigentlich fassungslos Mund und Augen hätte aufreißen sollen, kam nicht. Trautman betrachtete seine Hände nur mit wenig Interesse, und Ben sagte ruhig: »Sie war also schon da.«
Mike begriff. Offensichtlich waren Serenas unheimliche Kräfte nur für ihn noch ein Geheimnis gewesen - aber schließlich hatten die anderen ja schon zwei Tage länger Gelegenheit gehabt, mit der Atlanterin zu sprechen und sie kennenzulernen. Wahrscheinlich war es genau umgekehrt gewesen, und Trautman und seine Freunde hatten ihm absichtlich nichts von Serenas Fähigkeiten erzählt, um ihn zu überraschen. Trotzdem war er ein wenig enttäuscht.
»Und?« fragte Ben, nachdem Mike eine Weile geschwiegen hatte. »Was hältst du von ihr? Jetzt, wo du das Vergnügen hattest, sie richtig kennenzulernen.«
Die Art, auf die Ben diese Frage stellte, gefiel Mike nicht. Er mußte sich beherrschen, um den jungen Engländer nicht anzufahren. »Sie ist... ein bißchen sonderbar«, antwortete er ausweichend. Ben legte die Stirn in Falten, und Juan und Trautman warfen sich einen vielsagenden Blick zu.
»Sonderbar, so«, wiederholte Ben. »Na, so kann man es auch nennen.«
»Sie ist bestimmt genauso verwirrt und durcheinander wie wir alle«, sagte Mike. »Immerhin hat sie jahrtausendelang geschlafen. Für sie muß das alles hier noch viel fremder und erschreckender sein als für uns.«
»Sie ist eine eingebildete Kuh«, sagte Ben ruhig.
Eine Sekunde lang starrte Mike Ben nur fassungslos an, aber dann brodelte heißer Zorn in ihm empor. »Das nimmst du zurück!« sagte er. »Du weißt ja nicht, was du da redest!«
»Okay, die Kuh nehme ich zurück«, sagte Ben grinsend. »Überhebliche Zimtzicke trifft es sowieso besser.«
Mike mußte sich beherrschen, um sich nicht auf der Stelle auf Ben zu stürzen und so lange auf ihn einzuprügeln, bis er diese Beleidigung zurücknahm. Ohne daß er es merkte, ballten sich seine Hände zu Fäusten, und er sah im wahrsten Sinne des Wortes rot.
»He, ihr beiden - aufgehört!« sagte Trautman scharf. »Reißt euch gefälligst zusammen!«
»Ich will, daß er das zurücknimmt!« sagte Mike. Seine Stimme zitterte. »Serena ist -«
»Wir wissen, was Serena ist«, unterbrach ihn Trautman in scharfem Ton. »Sie ist ein bißchen seltsam, wie du es bezeichnet hast.« Er kam auf Mike zu, ergriff ihn am Arm und schob ihn ein paar Schritte zur Seite. »Nimm es ihnen nicht übel, Mike«, fuhr Trautman fort. War es wirklich nur Zufall, daß er plötzlich so leise sprach, daß die anderen seine Worte kaum verstehen konnten? »Serena ist wirklich ein bißchen - äh... schwierig. Und es macht uns alle nervös, daß sie unsere Gedanken lesen kann.«
»Das tut Astaroth auch«, antwortete Mike. Er wußte selbst, wie albern dieser Vergleich war, und Trautman antwortete auch prompt:
»Das ist ein Unterschied, meinst du nicht?«
»Warum? Weil er ein Tier ist?«
»Weil er nicht ganz so rücksichtslos ist wie seine Herrin«, erwiderte Trautman. »Und weil er Geheimnisse besser für sich behalten kann. Und jetzt schlage ich vor, daß wir das Thema wechseln, einverstanden? Früher oder später werden wir uns schon an Serena gewöhnen.« Er machte eine Handbewegung, mit der er das Thema endgültig für beendet erklärte, und Mike akzeptierte dies. Er hatte das Gefühl, daß es im Moment vielleicht nicht gut war, zu sehr in Trautman zu dringen. Vielleicht würde ihm das, was Trautman tatsächlich von Serena dachte, nicht gefallen.
»Wie war es in der Stadt?« fragte er einsilbig.
»Interessant«, antwortete Trautman, und Ben sagte im gleichen Augenblick: »Stadt? Daß ich nicht lache!«
Trautman überging den Einwurf. »Sie ist anders, als du sie dir wahrscheinlich vorstellst«, sagte er. »Morgen früh gehen wir wieder hinunter, und Denholm hat mir versprochen, daß du uns dann begleiten darfst. Ich bin sicher, sie wird dir gefallen. Vor allem ihre Menschen. Sie sind ein sehr freundliches Volk.«
»Ja«, maulte Ben. »Vor allem ein sehr gastfreundliches Volk. Sie lieben Gäste so sehr, daß sie sie gar nicht wieder weglassen wollen.«
»Ben, das reicht«, sagte Trautman. »Was ist eigentlich in dich gefahren? Vor einer halben Stunde warst du noch bester Laune, und jetzt...«
»Da dachte ich auch noch, man könnte vernünftig mit diesem verliebten Gockel reden«, antwortete Ben patzig und wies auf Mike. »Aber das war wohl ein Irrtum.« Mike wollte auffahren, aber Trautman trat mit einem raschen Schritt zwischen ihn und Ben, ergriff Mike am Arm und zog ihn mit mehr oder weniger sanfter Gewalt mit sich. Erst als sie die Hütte verlassen hatten, ließ er ihn wieder los.
»Bitte, nimm es Ben nicht übel«, sagte er. »Er ist sehr enttäuscht, weißt du? Und das ist eben seine Art, damit fertig zu werden. Du kennst ihn ja.«
»Enttäuscht?« wiederholte Mike fragend. »Wieso?«
Trautman schwieg einen Moment. Schließlich drehte er sich herum und sah auf den Hafen herab. Sein Blick suchte die NAUTILUS, und ein trauriger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
»Du hast mit Serena gesprochen?« fragte er. »Ich meine, über unsere Lage hier?«
»Nein«, gestand Mike.
Trautman lächelte bitter. »Ja, das habe ich mir ge dacht. Sie wollte nicht mit dir reden, stimmt's?«
»Sie haben es auch gesagt«, antwortete Mike beinahe verzweifelt. »Sie braucht bestimmt noch eine Weile, um sich hier zurechtzufinden.«
Trautman warf ihm einen kurzen Blick zu und sah dann wieder auf den Hafen und die gefangene NAUTILUS hinab. »Hat sie dir erzählt, daß einige sie hier wie eine Göttin verehren?« fragte er.
»Nein«, antwortete Mike. Er erinnerte sich, wie die Piraten an Bord der NAUTILUS vor dem Mädchen auf die Knie gesunken waren.
»Sie tun es«, bestätigte Trautman, ohne ihn anzusehen. »Nicht alle, aber viele. Denholm gehört übrigens nicht zu ihnen. Morgen, wenn wir die Stadt besuchen, wirst du verstehen, warum das so ist.«
»Und was hat das mit Bens Enttäuschung zu tun?« fragte Mike.
»Na ja, da gibt es etwas über Serena, was du noch nicht weißt«, sagte Trautman. Mike spürte, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Erinnerst du dich, was sie als erstes gesagt hat, nachdem sie aufgewacht war?«
Mike schwieg. Er blickte Trautman an, und plötzlich hatte er ein sehr, sehr ungutes Gefühl.
»Was macht ihr auf meinem Schiff«, sagte Trautman. »Das war es doch, nicht?«
»Ich... glaube schon«, antwortete Mike zögernd. »Das hat sie nicht nur so dahingesagt«, sagte Trautman leise. »Siehst du, das Problem ist, daß es nur einen einzigen Weg gibt, von hier jemals wieder wegzukommen - und das ist die NAUTILUS.«
»Und wo ist das Problem?« fragte Mike. »Die Riesenqualle?«
»Nein«, antwortete Trautman. »Ich denke, mit der würden wir schon irgendwie fertig. Das Problem ist Serena. So, wie es aussieht, scheint die NAUTILUS tatsächlich irgendwann einmal ihr gehört zu haben. Und sie ist wohl der Meinung, daß das noch so ist.«
»Was soll das heißen?« fragte Mike alarmiert.
»Das soll heißen, daß sie nicht daran denkt, uns die NAUTILUS zu überlassen«, antwortete Trautman. »Ich habe sie gefragt. Sie hat mich schlicht ausgelacht.«
»Aber das würde ja bedeuten, daß -« begann Mike und verstummte, ehe er den Satz zu Ende bringen konnte. Er hatte einfach nicht den Mut, die letzten Worte auszusprechen.
Trautman hatte ihn. »Du warst so etwas wie unsere letzte Hoffnung, Mike«, sagte er. »Wir haben gehofft, daß Serena mit dir reden würde, wenn schon nicht mit uns. Aber wenn sie das nicht tut, dann sind wir gefangen wie alle anderen. Ohne die NAUTILUS kommen wir nie wieder von hier weg.«
Es war die erste Nacht, die Mike erlebte, die im Grunde gar keine war. Neben allen anderen Überraschungen hielt die seltsame Welt auf dem Meeresgrund noch eine für ihn bereit, auf die er eigentlich gefaßt hätte sein müssen, die ihn aber trotzdem im ersten Moment mehr als alles andere verblüffte: der Unterschied zwischen Tag und Nacht. Das milde weiße Licht, das aus dem Nirgendwo kam, war ja nicht das einer Sonne, die am Morgen auf- und am Abend wieder unterging, und so fiel es ihm sehr schwer, am »Abend« wie alle anderen zu Bett zu gehen und zu schlafen.
Doch dies war nicht der einzige Grund, aus dem er sich noch stundenlang auf seinem Lager herumwälzte und vergeblich darauf wartete, daß sich der Schlaf einstellte. Die Kraft, die ihm Serena gespendet hatte, hielt ihn nachhaltig wach, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hätten es wohl die Gedanken getan, die sich hinter seiner Stirn im Kreise drehten. Er wollte das, was Trautman ihm erzählt hatte, nicht begreifen. Er weigerte sich einfach, den Gedanken zu akzeptieren, daß sie für den Rest ihres Lebens hier unten festsitzen sollten.
Irgendwann fand er schließlich doch in einen unruhigen, von Träumen geplagten Schlaf, aus dem ihn Singh schließlich am nächsten Morgen mit besorgtem Gesichtsausdruck weckte.
Das Frühstück, das sie allesamt in gedrückter Stimmung einnahmen, bestand aus Früchten, Fisch und dem gleichen wohlschmeckenden Saft, den er schon gestern bekommen hatte. Und sie hatten kaum fertig gegessen, da erschienen Denholm und seine beiden Begleiter wieder, um sie zu dem Besuch in der Stadt abzuholen, von dem Trautman am vergangenen Abend gesprochen hatte.
Trotz allem war Mike sehr aufgeregt. Trautmans Andeutungen hatten ihm ja so gut wie nichts über die Stadt verraten, aber er hatte ihren phantastischen Anblick nicht vergessen. Von der Klippe aus war sie nicht zu sehen, aber das lag wohl daran, daß sie auf der anderen Seite des Hügels lag, auf dem sich ihr neues Zuhause erhob. Mike brannte darauf, sie endlich kennenzulernen.
Außerdem würde er Serena Wiedersehen. Er war mittlerweile ganz sicher, daß ihr eigentümliches Verhalten von gestern nur ein Mißverständnis gewesen sein konnte. Es würde sich bestimmt aufklären. Serena würde sie ganz bestimmt nicht dazu verurteilen, den Rest ihres Lebens als Gefangene auf dem Meeresgrund zu verbringen.
Er sollte enttäuscht werden - und das in jeder Beziehung.
Sie sahen die merkwürdige Riesenstadt wieder, als sie die Hütte umrundet hatten und den Hügel auf der gegenüberliegenden Seite hinunterzugehen begannen. Aus der Nähe betrachtet, wirkte sie noch unheimlicher und fremdartiger als vor drei Tagen, obwohl er noch immer keine Einzelheiten erkennen konnte. Die bizarren Türme und Gebäude blieben auch in der Nähe, was sie von weitem gewesen waren: verschwommene Schatten von sonderbar beunruhigendem Äußerem, die hinter einer Art Nebel verborgen zu sein schienen, der sich jedem direkten Blick entzog. Es war einfach so, daß das, was man ansehen wollte, immer gerade ein Stück hinter der Grenze des eben noch klar Erkennbaren zu liegen schien. Alles, was er wirklich erfassen konnte, war ein vager Eindruck von Größe, von gigantischen Mauern und noch gigantischeren Türmen und Gebäuden.
Und diese Stadt war eindeutig nicht ihr Ziel.
Mike begriff es erst, als sie schon fast die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Der Weg wand sich in engen Kehren und Schleifen den Hang hinab, und allmählich gerieten die Türme und Mauern der Riesenstadt außer Sicht. Anfangs war er auch noch viel zu sehr damit beschäftigt, ihre fremdartige Umgebung zu mustern: Was er gestern für Gras und ganz normale Büsche gehalten hatte, das entpuppte sich bei näherem Hinsehen als eine Vegetation, wie es sie nirgendwo sonst auf der Erde zu geben schien - zumindest hatte Mike niemals davon gehört. Was wie Gras aussah, das erwies sich als weicher, dicht gewebter Teppich aus einer Art Algen, auf dem sich sehr angenehm gehen ließ, der sich aber auch immer ein wenig feucht anfühlte und der bei jedem Schritt merklich unter ihrem Gewicht federte. Die Büsche waren große, in bunten Farben leuchtende Korallengewächse, und das gleiche galt für die Bäume: Es waren keine Bäume, sondern riesige Seeanemonen und -rosen, die in dichten Gruppen beieinanderstanden und eine Art Wald bildeten, der einen Großteil des Hügels bedeckte.
An seinem Fuß schlängelte sich ein schmaler, sehr schnell fließender Bach entlang, über den eine gemauerte Brücke führte. Als Denholm und seine Begleiter sie betraten, blieb Mike stehen und deutete dorthin, wo sich die Türme der Riesenstadt über die Wipfel des Korallenwaldes erhoben. Der Weg, der an die Brücke anschloß, führte genau in die entgegengesetzte Richtung.
»Wieso gehen wir nicht dort entlang?« fragte er.
Auch die anderen blieben stehen. Ein überraschter Ausdruck erschien auf Denholms Gesicht, als er erst ihn, dann Trautman ansah. »Du hast es ihm nicht erzählt?« fragte er.
»Es hat sich noch keine günstige Gelegenheit dazu ergeben«, antwortete Trautman ausweichend.
Denholm sah nicht besonders begeistert drein. Aber er ging nicht auf das ein, was Trautman gesagt hatte, sondern wandte sich direkt an Mike.
»Nein, wir gehen nicht dorthin«, sagte er. »Das ist die Alte Stadt. Wir betreten sie nie, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Es ist gefährlich.«
»Gefährlich?«
»Die Fischmenschen leben dort«, erklärte Denholm. »Sie sind unsere Feinde. Aber keine Angst«, fügte er schnell hinzu. »Sie kommen nur sehr selten hierher. Die Alte Stadt liegt auf der anderen Seite der Bucht, und der Weg ist sehr weit.«
»Eure Feinde, so«, murmelte Mike, als sie weitergingen. »Gibt es da vielleicht noch ein paar Kleinigkeiten, die Sie mir noch nicht erzählt haben, Trautman?«
»Ja«, gestand Trautman, ohne ihn anzusehen. »Aber du wirst gleich alles selbst sehen. Das ist viel einfacher, als es dir zu erklären.«
Das war nicht das, was Mike hören wollte - aber er kannte Trautman auch gut genug, um zu wissen, daß es das einzige war, war er jetzt hören würde, und so faßte er sich in Geduld, so schwer es ihm auch fiel.
Der Weg war nicht mehr sehr weit. Auf einer Strecke von fünf oder sechs Minuten wurde der seltsame Korallenwald noch einmal so dicht, daß sie schließlich am Grunde eines in den leuchtendsten Farben schimmernden Tunnels entlangzugehen schienen, dann traten die Bäume wieder auseinander, und vor ihnen breitete sich eine gut zwei Meilen messende, kreisrunde Lichtung aus, auf der Denholms Stadt lag.
Um ein Haar hätte Mike vor Enttäuschung laut aufgestöhnt.
Was Denholm in einem Anfall von Größenwahn als Stadt bezeichnet hatte, das war eine Ansammlung ärmlicher, primitiver Hütten, die aus Holz, Korallen, grünen Blättergewächsen, Treibholz und einer Menge anderer nur vorstellbarer abenteuerlicher Materialien zusammengesetzt war. Keine der Behausungen glich der anderen, keine war höher als ein Stockwerk, und keine hatte auch nur Ähnlichkeit mit etwas, was Mike mit gutem Gewissen als Haus bezeichnet hätte.
»Das ist... eure Stadt?« fragte er zögernd.
»Unsere Stadt«, korrigierte ihn Denholm. »Auch ihr werdet hier leben - wenn ihr es wollt. Natürlich könnt ihr euch auch woanders ansiedeln, aber die meisten ziehen es vor, sich einen Platz hier in der Stadt zu suchen. Unsere Gemeinschaft legt großen Wert auf Zusammenhalt, mußt du wissen. Aber wir zwingen niemanden.«
»Wie beruhigend«, murmelte Mike. Er wußte nicht, ob er in Tränen oder in schallendes Gelächter ausbrechen sollte. Aber er verstand jetzt, warum ihm Trautman bisher nichts von dieser Stadt erzählt hatte.
Offenbar hatte er sich nicht so gut in der Gewalt, wie er selbst glaubte, denn Denholm fuhr in entschuldigendem Tonfall fort: »Ich weiß, auf den ersten Blick sieht sie klein aus und ein wenig einfach. Aber du darfst dich nicht vom äußeren Anschein täuschen lassen. Wir haben hier alles, was wir brauchen - Wasser, ausreichend Nahrung und einen sicheren Platz für jeden. Und der Wald bietet uns einen besseren Schutz vor den Fischmenschen, als jede künstliche Festung es könnte. Du kannst dir alles in Ruhe ansehen und später entscheiden. Wir haben Zeit genug.«
Als sie weitergingen, erkannte Mike mehr Einzelheiten - aber wenig davon war dazu angetan, seine Stimmung zu heben. Die Stadt im Korallenwald bestand nach wie vor aus baufälligen Hütten, in denen ärmlich aussehende Menschen in zerlumpten Kleidern hausten. Das einzige, was nicht zu diesem Eindruck zu passen schien, war die fast überschäumende Fröhlichkeit der Menschen hier: Wohin Mike auch blickte, sah er in lachende oder zumindest lächelnde Gesichter, sah er spielende Kinder und Erwachsene, die beieinander standen und sich gutgelaunt unterhielten oder ihnen fröhlich zuwinkten. Scherzworte wurden Denholm zugerufen, und aus vielen Hütten drangen fröhliche Stimmen und Gelächter. Vielleicht war es gerade der krasse Unterschied zwischen der äußeren Armseligkeit des Anblickes, den die Stadt bot, und dem fröhlichen Wesen ihrer Bewohner, der ihn so verwirrte. Auf jeden Fall behielt er das, was ihm eigentlich auf der Zunge lag, als Denholm ihn nach einer Weile fragte, wie ihm denn die Stadt nun gefiele, erst einmal für sich und rettete sich in ein verlegenes Lächeln und ein Achselzucken. Das war zwar eindeutig nicht die Art von Antwort, die Denholm hatte hören wollen, aber der Anführer des Volkes lies sich seine Enttäuschung nicht anmerken und fuhr fort, Mike und die anderen herumzuführen und ihnen dies oder das zu erklären.
Es gab vier oder fünf Dutzend Häuser, in denen alles in allem nicht einmal dreihundert Menschen leben konnten. Und der Bach, den sie vorhin überquert hatten, floß am jenseitigen Ende der Lichtung dahin und versorgte die Menschen mit Frischwasser, und im umliegenden Korallenwald gab es Nahrung im Überfluß. Die sonderbaren Bäume trugen fremdartige, aber äußerst wohlschmeckende Früchte in solchen Mengen, daß davon auch noch die dreifache Anzahl von Menschen satt geworden wäre, und wem dies noch nicht reichte, der konnte zum Hafen hinuntergehen und dort fischen. Da es weder Jahreszeiten noch so etwas wie schlechtes Wetter gab, bestand auch keine Notwendigkeit, die Gebäude fester zu bauen, als sie es getan hatten.
Mikes Ungeduld wuchs von Minute zu Minute, und es fiel ihm immer schwerer, Denholm zuzuhören. Es war nicht so, daß ihn das, was dieser ihm sagte, nicht interessiert hätte. Aber das alles war nicht die Antwort auf die Fragen, die ihm auf der Seele brannten. Und schließlich unterbrach er den Redefluß ihres Führers und stellte die Frage, die ihn am meisten bewegte:
»Wo ist Serena? Du hast gesagt, ich würde sie Wiedersehen.«
Strenggenommen hatte Denholm das nicht, und er schien auch nicht bereit zu sein, über Serenas Aufenthaltsort Auskunft zu geben. »Ich weiß nicht, ob wir sie jetzt stören sollten«, sagte er ausweichend.
»Stören?« fragte Mike. »Wobei?«
Denholm wich seinem Blick aus. »Trautman hat mir bereits erzählt, daß du eine... sagen wir: besondere Verbindung zu ihr hast«, meinte er vorsichtig. »Aber weißt du, für uns ist sie auch etwas Besonderes. Etwas ganz Besonderes sogar.«
»Wieso?« fragte Mike.
»Komm mit«, sagte Denholm. »Am besten, du siehst es dir selbst an.« Er wandte sich um und ging auf einen runden, halb aus Holz und Korallengewächsen, zum Teil aber auch aus Stein errichteten Bau am südlichen Ende der Lichtung zu. Das Gebäude war Mike bereits aufgefallen, aber er hatte noch keine entsprechende Frage gestellt, denn er hatte angenommen, daß Denholm ihm schon noch von sich aus erzählen würde, welche Bewandtnis es damit hatte.
Trautman, Singh und Ben folgten ihnen, während Andre, Juan und auch Chris sich in die entgegengesetzte Richtung aufmachten. Mike warf ihnen einen fragenden Blick nach, den Trautman lächelnd beantwortete: »Wir treffen sie später wieder. Sie gehen sicher zu Malcolm und seiner Familie.«
»Malcolm?«
Diesmal war es Denholm, der antwortete, und zwar in hörbar stolzem Ton: »Deine Kameraden haben bereits Freunde hier bei uns gefunden. Ich bin sicher, daß es dir bald ebenso ergeht.«
Mike teilte diese Zuversicht nicht im mindesten. All diese lachenden Gesichter, die fröhlich spielenden Kinder, die freundlichen Erwachsenen... das alles war ihm beinahe schon zu viel. Aber vielleicht bin ich auch ungerecht, dachte er. Ich sollte diesen Leuten hier wenigstens eine Chance geben, meine Sympathie zu erringen.
Als sie das Gebäude betraten, konnte er im ersten Moment so gut wie gar nichts sehen. Das Dach war so weit wie alle anderen hier davon entfernt, dicht zu sein, so daß das künstliche Licht der unterseeischen Welt durch zahllose Ritzen und Spalten hereindrang, aber diese Beleuchtung hatte einen sehr sonderbaren Nebeneffekt: Das Licht, das in dünnen Streifen und Bahnen von der Decke strömte, zerschnitt den Raum in ein ungleichmäßiges Schachbrettmuster aus Hell und Dunkel, in dem Mike im ersten Moment überhaupt nichts erkannte. Erst als Denholm an ihm vorbeiging und ihn mit einer Geste aufforderte, ihm zu folgen, begann aus den Schatten Umrisse zu werden. Es war kein Wohnhaus, kein Gebäude für Menschen, sondern wohl viel mehr eine Art Lager. Mike erkannte eine Anzahl großer Kisten und Schränke, und an der Wand neben der Tür stand sogar eine uralte Glasvitrine, die wohl wie das meiste hier aus einem der gestrandeten Schiffe stammen mußte.
»Dies hier ist unser...« Denholm zögerte, und ehe er weitersprach, stahl sich ein flüchtiges Lächeln auf seine Lippen. »Museum, wenn du so willst. Wir haben in diesem Raum alles zusammengetragen, worauf sich unser Wissen über die ursprünglichen Bewohner dieser Welt stützt.«
Die Worte weckten Mikes Neugier, und so trat er an die gläserne Vitrine heran und betrachtete ihren Inhalt. Es war eine Enttäuschung. Was dort sorgsam auf kleinen blauen und roten Samtkissen ausgelegt war, das kam ihm auf den ersten Blick wie ein sinnloses Sammelsurium aus Stein- und Metallsplittern, aus verbogenen Trümmern und mit sinnlosem Gekrakel bedeckten Papierfetzen vor.
»Es ist nicht viel«, sagte Denholm. »Die ersten Menschen, die hier herunterkamen, fanden diese Welt fast so vor, wie du sie auch heute noch siehst. Vor uns müssen andere hiergewesen sein, aber sie haben nicht viel hinterlassen. Das da ist alles, was wir im Laufe der Jahrhunderte von ihnen gefunden haben.« Er machte eine ausholende Geste, die die Vitrine und das halbe Dutzend Truhen und Kisten einschloß, und Mike trat von dem Glasschrank zurück und begutachtete der Reihe nach auch den Inhalt der anderen Behältnisse. Es gab etwas, was an einen verbeulten und fast bis zur Unkenntlichkeit verrosteten Taucherhelm erinnerte, wie sie sie auch an Bord der NAUTILUS hatten, ein paar Fetzen eines seltsam metallisch schimmernden Stoffes und noch das eine oder andere, das ihm vage bekannt vorkam. Das allermeiste jedoch ergab für ihn weder einen Sinn, noch schien es in irgendeiner Weise interessant - und wirkte schon gar nicht wie die Hinterlassenschaft eines Volkes, das mächtig genug gewesen sein mußte, diese künstliche Welt am Grunde des Meeres zu schaffen.
»Und was«, begann er zögernd, »hat das alles mit Serena zu tun?«
Denholm lächelte. Er wies auf die hintere Wand des Gebäudes, die einzige, die aus gemauertem Stein bestand. Der Vorhang aus Licht und Schatten entzog sie noch immer Mikes Blicken, aber auf Denholms Aufforderung hin trat er langsam darauf zu.
Jetzt erlebte er wirklich eine Überraschung. Was ihm auf den ersten Blick wie die willkürlichen Unebenheiten der steinernen Oberfläche vorgekommen war, das entpuppte sich bei näherem Hinsehen als ein gewaltiges, mit großer Kunstfertigkeit in die zwei Meter hohe und sicherlich dreimal so breite Wand hineingemeißeltes Relief. Er sah Bilder von Menschen und Tieren, einige davon vertraut, andere aber so fremdartig und erschreckend, daß er sich weigerte zu glauben, daß es irgendwo auf dieser Welt Wesen wie die hier abgebildeten geben konnte, Bilder von Städten und Gebäuden, von Maschinen und Fahrzeugen, von Schiffen. Und dieses gewaltige Relief war mehr als nur ein beeindruckendes Kunstwerk. Es erzählte eine Geschichte. Und auch, wenn er sie nicht wirklich zu verstehen imstande war, so begriff er doch ihre Bedeutung.
Vielleicht, weil er vieles von dem, was er da vor sich hatte, kannte. Er hatte nichts davon jemals wirklich gesehen, und trotzdem war ihm das allerwenigste fremd.
Der Gedanke war so verwirrend, daß ihm im ersten Moment schwindelte. Wie konnte er sich an etwas erinnern, was er niemals gesehen hatte? Und als wäre dieser Gedanke ein Auslöser gewesen, begriff er plötzlich, daß das nicht stimmte. Er hatte diese Dinge schon einmal gesehen, nicht mit seinen eigenen Augen, aber in den Visionen, die ihn geplagt hatten, als er im Fieber lag und Astaroths Träume teilte. Was das Bild zeigte, das ähnelte verblüffend dem, was ihm der Geist des Katers über das versunkene Atlantis gezeigt hatte.
Zwei Dinge erregten seine besondere Aufmerksamkeit. Das eine war etwas, was er zuerst für die ungeschickte Abbildung eines großen Fisches hielt, bis es ihm wie Schuppen von den Augen fiel und ihm klar wurde, wieso ihm die schlanken Linien, die mächtige, kantige Schwanzflosse und der gezackte Speer an seinem vorderen Ende so vertraut vorkamen. Das Bild zeigte die NAUTILUS; oder zumindest ein Schiff, das ihr zum Verwechseln ähnlich sah. Aber noch ehe er aus dem Erstaunen heraus war, gewahrte er eine zweite Darstellung, die ihm noch viel vertrauter vorkam und bei deren Anblick er erschrocken zusammenfuhr.
Eine der menschlichen Figuren war übergroß. Sie befand sich genau in der Mitte des Bildes, und sie zeigte eine schlanke Frauengestalt in einem langen, fließenden Gewand und mit schulterlangem, gelocktem Haar - und mit Serenas Gesicht!
»Aber das ist doch nicht möglich!« murmelte er.
»Dieser große Stein stand bereits hier, als die ersten unserer Vorfahren eintrafen«, sagte Denholm. Er hatte die Stimme zu einem fast ehrfürchtig klingenden Flüstern gesenkt. »Niemand weiß, wer ihn hier aufgestellt hat und warum. Aber die Geschichte, die er erzählt, ist die des Volkes, das all das hier erschaffen hat.«
Mike starrte immer noch fassungslos die gemeißelte Gestalt an. Es war nicht Serena, das erkannte er jetzt. Das Bild zeigte eine erwachsene Frau, kein Mädchen von nicht ganz fünfzehn Jahren - und trotzdem trug sie so zweifelsfrei Serenas Züge, als hätte die atlantische Prinzessin dem unbekannten Künstler dieses Bildes Modell gestanden.
»Das... das ist phantastisch«, flüsterte Mike, und obwohl es ihm immer noch nicht gelang, den Blick von dem Relief zu lösen, sah er doch aus den Augenwinkeln, wie Denholm den Kopf schüttelte.
»Es ist mehr als das«, sagte er. »Es ist vielleicht der Grund, aus dem wir hier leben können.«
Mike riß sich von dem Bild los und sah Denholm verständnislos an. »Wie meinst du das?«
Denholm blickte ihn, dann die anderen, die ihnen gefolgt, jedoch vor der Tür stehengeblieben waren, sehr ernst und eindringlich an. »Glaubt bitte nicht, daß ich nicht weiß, wie ihr euch fühlt«, sagte er. »Ihr seid sehr tapfer und versucht, es euch nicht anmerken zu lassen, doch in Wahrheit seid ihr zutiefst verzweifelt. Ich weiß es, weil es jedem so ergeht, der hier herunterkommt. Niemand kann je wieder von hier fort, wißt ihr? Diese Welt bietet uns alles, was wir zum Überleben brauchen, aber sie ist auch ein Gefängnis. Und es ergeht allen, die hierherkommen, so wie euch.«
Mike wollte widersprechen, doch Denholm brachte ihn mit einer energischen Geste zum Verstummen. »Ich habe die Welt, aus der ihr stammt, nie selbst gesehen«, sagte er, »denn ich bin hier unten geboren worden. Doch ich kenne sie aus den Erzählungen derer, die vor euch kamen, gut genug, um zu wissen, wie euch das alles hier erscheinen muß. Doch ihr findet hier andere Menschen vor, Menschen, die euch helfen. Aber die allerersten unserer Vorfahren, die hierher gelangten, waren allein. Sie hatten niemanden, der ihnen half, niemanden, der sie aufnahm und ihr Freund sein wollte. Sie fanden sich gestrandet und eingesperrt an einem Ort, aus dem kein Weg wieder herausführt. Vielleicht hätten sie es nicht geschafft, zu überleben und all dies hier zu errichten, ohne dies.« Er wies auf das Bild, und Mikes Blick folgte der Geste. Erneut nahm ihn das Relief und vor allem die weibliche Gestalt in seiner Mitte sofort gefangen.
»Es ist die Geschichte, die dieses Bild erzählt, die uns Kraft gab«, fuhr Denholm fort. »Die Geschichte eines Volkes wie wir, das hierherkam und all diese Wunder erschuf und das wieder verschwand, lange bevor der erste von uns diesen Boden betrat. Aber wir haben immer gewußt, daß sie eines Tages zurückkehren würden. Es war dieses Wissen, das unseren Vorfahren die Kraft gab, zu überleben.«
Es fiel Mike schwer, Denholms Worten zu folgen. Er blickte die Frau mit Serenas Gesicht an, und ihm schossen Hunderte von möglichen Erklärungen für das eigentlich Unmögliche durch den Kopf, eine phantastischer als die andere. Und er erinnerte sich wieder daran, wie die Männer an Bord der NAUTILUS vor Serena auf die Knie gesunken waren, und als er begriff, warum sie es getan hatten, da überlief ihn ein eisiges Frösteln. »Du meinst, deine Leute...« Er hatte Hemmungen, die Worte auszusprechen. »... deine Leute beten Serena an?«
Denholm lächelte. »Nein«, sagte er. »Das sicher nicht. Doch wir haben stets gehofft, daß die, die diese Welt einst erschaffen haben, eines Tages zurückkehren würden. Einige von uns glauben, daß dieser Tag nun gekommen ist. Und damit das Ende unserer Gefangenschaft.«
Die besondere Formulierung entging Mike nicht. »Einige?« wiederholte er. »Du nicht?«
Denholm antwortete nicht gleich, und als er es tat, da sah er nicht Mike, sondern das Bild an. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, weißt du? Vielleicht... vielleicht weil ich Angst vor der Antwort habe.«
Mike konnte das sehr gut verstehen. Er glaubte Denholm, wenn er sagte, daß dieses Bild und die Hoffnung, die es versinnbildlichte, den Menschen hier unten über ungezählte Jahrhunderte hinweg Kraft gegeben hatten. Aber ein Symbol, so mächtig es auch war, vermochte nur Kraft zu spenden, solange es ein Symbol blieb. Die Kraft der Träume erlosch, wenn sie wahr wurden. Wovor Denholm Angst hatte, das war der Zweifel. Solange dieses Bild ein Bild und die Geschichte, die es erzählte, nichts als eine Geschichte gewesen war, hatte es den Menschen hier immer wieder neue Kraft und Hoffnung gegeben. Nun aber war das in Stein gemeißelte Versprechen wahr geworden. Und damit verwundbar.
Von draußen drangen plötzlich aufgeregte Rufe herein. Denholm fuhr erschrocken zusammen und drehte sich herum, und auch Mike wandte den Kopf und sah zur Tür. Die Stimmen wurden lauter, und einen Moment später stürzte ein Mann herein. Er mußte über eine weite Strecke gerannt sein, denn sein Atem ging so schnell, daß er Mühe hatte, überhaupt zu sprechen. »Schnell!« keuchte er. »Die Fischmenschen! Sie waren unten am Strand und haben die Männer überfallen, die zum Angeln gehen wollten!«
Mike und die anderen folgten Denholm, als dieser aus dem Haus stürmte und mit weit ausgreifenden Schritten den Platz zu überqueren begann. Sie hatten das Dorf jedoch noch nicht hinter sich zurückgelassen, als ihnen vom Waldrand her eine Gruppe von sechs, sieben Männern entgegenkam. Sie waren sehr aufgeregt, und einige schienen verletzt zu sein, wenn auch nicht sehr schwer, denn sie konnten aus eigener Kraft laufen. Zwei von ihnen zerrten eine sich heftig wehrende, hochgewachsene Gestalt zwischen sich mit, bei deren Anblick Mike ein eisiger Schauer über den Rücken lief. »Das muß einer von diesen Fischmenschen sein!« sagte Ben aufgeregt. »Kommt - das sehen wir uns genauer an!«
Aber daraus wurde nichts. Denholm hatte Bens Worte gehört und machte plötzlich eine rasche, befehlende Geste, und wie aus dem Nichts erschienen vier, fünf Mitglieder des Volkes, die Mike und den anderen den Weg vertraten. Ben wollte mit seinem üblichen Ungestüm einfach weiterlaufen, aber einer der Männer ergriff ihn am Arm und hielt ihn mit sanfter, aber nachdrücklicher Gewalt zurück.
»He, was soll das?« protestierte Ben.
»Bleibt zurück«, erwiderte Denholm. »Die Fischmenschen sind sehr gefährlich.«
Das glaubte ihm Mike aufs Wort. Sie waren noch gut zwanzig Meter von der Gruppe entfernt, die aus dem Wald herausgekommen war, und auf dem Stück dazwischen drängten sich immer mehr Männer und Frauen, so daß Mike den Fischmenschen nicht in allen Einzelheiten erkennen konnte. Aber was er sah, das reichte vollkommen, um ihn mit einem Gefühl erschrockener Ehrfurcht zu erfüllen.
Denholm hatte die Fischmenschen ja schon vorher erwähnt, doch Mike hatte gar nicht weiter über diese Worte nachgedacht, sondern es einfach für einen Namen gehalten, so wie sich Denholms Leute das »Volk« nannten. Aber das stimmte nicht. Der Fischmensch war tatsächlich nur zum Teil ein menschliches Wesen. Er war sehr groß, sicher zwei Meter, wenn nicht mehr, dabei aber von so zartem Wuchs, daß er schon wieder zerbrechlich wirkte, und seine Haut bestand aus kleinen, in einem sonderbar metallischen Grün glänzenden Schuppen, tatsächlich wie die eines Fisches. Er hatte kein Haar und keine sichtbare Nase, dafür aber einen übergroßen Mund mit dicken, wulstigen Lippen und kinderfaustgroße Augen, deren Blick hinter durchsichtigen Lidern hervor angstvoll über die drohend gestikulierenden Gestalten tastete, die ihn umgaben. In der Mitte seiner Stirn begann ein händbreiter Zackenkamm, der sich über seinen Schädel bis in den Nacken herab und weiter über seinen Rücken hinunter zog. Mike konnte seine Hände nicht erkennen, aber er war ziemlich sicher, daß er Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte.
»Was für ein Ungeheuer!« sagte Ben. Seine Stimme bebte, und sowohl darin als auch in seinem Blick war etwas, was Mike nicht gefiel. Auch er spürte ein unbehagliches Frösteln beim Anblick des bizarren Wesens, aber ihm kam es nicht wie ein Ungeheuer vor. Nur sehr fremd und sehr verängstigt. Trotz der Entfernung konnte er die Furcht, die das Wesen erfüllte, deutlich spüren. Er versuchte sich vorzustellen, wie es umgekehrt gewesen wäre - hätte er sich an der Stelle dieses Geschöpfes befunden und wäre von einem Dutzend erschreckend aussehender Kreaturen verschleppt worden.
»Was habt ihr mit ihm vor?« fragte Trautman.
»Nichts. Keine Sorge.« Denholm drehte sich herum und ging auf die Männer zu, die die schuppige Gestalt in ihrer Mitte hielten. »Was ist passiert?« fragte er.
»Wir waren unten am Strand, um zu angeln«, antwortete der Mann. »Fisch für das große Fest heute Abend. Sie tauchten plötzlich auf. Zwei oder drei aus dem Wald und zwei direkt aus dem Wasser.«
»Sie haben euch angegriffen?« fragte Denholm.
Der Mann zögerte mit seiner Antwort; gerade lange genug, um seinen Worten so viel von ihrer Glaubwürdigkeit zu nehmen, daß Mike - und wohl auch Denholm - mißtrauisch blieben. »Wir hätten keine Chance gegen sie gehabt, wären die anderen nicht aufgetaucht«, sagte er und deutete auf eine zweite, etwas kleinere Gruppe von Männern, die hinter der ersten aus dem Wald herausgetreten war. »Als sie sie sahen, haben sie die Flucht ergriffen. Aber diesen einen hier konnten wir überwältigen.«
Das war nicht unbedingt eine Antwort auf Denholms Frage, fand Mike. Denholm schien das wohl ebenso zu sehen, denn sein Gesicht verdüsterte sich noch mehr. Aber er beharrte nicht weiter auf diesem Punkt, sondern sah den Fischmenschen sehr nachdenklich an. Schließlich schüttelte er den Kopf und seufzte tief. »Das gefallt mir nicht«, sagte er. »Ihr hättet ihn nicht herbringen dürfen. Schafft ihn ins Museum. Und bewacht ihn gut. Ich werde entscheiden, was wir mit ihm machen.«
Während die Männer den Gefangenen fortbrachten und sich der Rest der Menge rasch zu zerstreuen begann, trat Mike auf Denholm zu. »Was bedeutet das alles?« fragte er. »Was ist das für ein Geschöpf?«
Denholm machte eine abwehrende Handbewegung. »Dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte er. »Das können dir deine Freunde erzählen. Jetzt habe ich Wichtigeres zu tun.« Er wandte sich an Trautman. »Geht zu Malcolm und seiner Familie, dort wird man sich um euch kümmern. Ich komme später nach. Sobald wir entschieden haben, was jetzt zu tun ist.«
Mike wollte protestieren, aber Denholm wandte sich um und ging mit raschen Schritten davon. Mike blickte ihm enttäuscht hinterher. Denholm hatte ihm versprochen, all seine Fragen zu beantworten, aber der bisherige Verlauf des Tages hatte wesentlich mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Und er hatte ihm etwas gezeigt, was ihn sehr erschreckte, auch wenn er es bereits geahnt hatte. Denholms Welt war nicht das kleine, aber sichere Paradies, als das dieser es ihm zu beschreiben versucht hatte.
»Gehen wir zu Malcolm«, sagte Trautman nervös. »André und Chris warten sicher schon auf uns.«
Mike hatte im Grunde wenig Lust, jetzt einen Höflichkeitsbesuch zu machen. Aber in Trautmans Stimme war auch ein drängender Ton gewesen, der ihm klarmachte, daß dies nicht der Moment für lange Diskussionen war, also folgte er ihm und den drei anderen wortlos.
Ihr Ziel war ein Haus ganz in der Nähe des Museums, das nun zu einem Gefängnis umfunktioniert worden war, wie die beiden grimmig dreinblickenden und mit langen Knüppeln bewaffneten Männer eindeutig bewiesen, die rechts und links der Tür Aufstellung genommen hatten. Das Haus war ein wenig größer als die meisten anderen Gebäude, und es sah nicht ganz so heruntergekommen und primitiv aus wie diese. So hatte es zum Beispiel eine richtige Tür, kein aus Schilfrohr und Korallen improvisiertes Etwas, die offensichtlich von einem der Schiffe unten im Hafen stammte und sich knarrend in groben, aus Holz geschnitzten Angeln bewegte. Trautman öffnete sie, ohne anzuklopfen, und sie betraten einen kleinen, aber behaglichen Raum, der anders als das Museum ein festes Dach und sogar ein richtiges Fenster hatte, so daß das Licht direkt hereinfiel. Wie die Haustür stammten die Möbelstücke im Inneren des Hauses ganz offensichtlich von einem Schiff; besser gesagt von mehreren, wie die unterschiedlichen Stilrichtungen und das sichtbar unterschiedliche Alter der einzelnen Stücke bewiesen.
André und Chris saßen zusammen mit einem vielleicht zwölfjährigen blonden Mädchen an einem großen Tisch unter dem Fenster, auf dem eine reichhaltige Mahlzeit aufgetragen worden war, während Malcolm und seine Frau, wahrscheinlich angelockt durch das Geräusch der Tür, gerade in diesem Moment aus einem angrenzenden Raum herauskamen.
Malcolms Gesicht zeigte die gleiche Blässe wie das aller Menschen hier unten, aber er war ordentlich frisiert und trug einen streng ausrasierten, kurzgeschnittenen Vollbart. Und er war auch nicht in Lumpen gekleidet, sondern trug eine dunkelblaue Kapitänsuniform, die zwar schon sehr alt sein mußte, sich aber in tadellosem Zustand befand.
Malcolm begrüßte Trautman, Singh und die beiden anderen Jungen mit einem flüchtigen, aber sehr warmen Lächeln, ehe er auf Mike zutrat und ihm die Hand entgegenstreckte.
»Du bist also Mike«, sagte Malcolm. »Deine Freunde haben mir schon eine Menge über dich erzählt. Ich freue mich, dich selbst kennenzulernen.«
Malcolms Händedruck war kräftig und warm und sein Lächeln offen und freundlich. »Das ist meine Frau Jennifer, und dort drüben am Tisch sitzt meine Tochter Sarah«, fuhr Malcolm mit einer entsprechenden Geste fort. »Warum gehst du nicht hin und begrüßt sie? Sie brennt schon darauf, sich mit dir zu unterhalten.«
Vor einem Augenblick noch hatte Malcolm Mike gesagt, wie sehr er sich freute, ihn zu sehen, und nun schickte er ihn praktisch fort - und der Blick, den er dabei mit Trautman tauschte, war beredt genug, um Mike klarzumachen, daß er und der Steuermann der NAUTILUS wohl etwas zu besprechen hatten, was vielleicht nicht für seine Ohren bestimmt war. In Mike wuchs die Überzeugung, daß Trautman und die anderen ihm irgend etwas sehr Wesentliches verschwiegen. Er nahm sich vor, Trautman bei nächster Gelegenheit zur Rede zu stellen. Jetzt wandte er sich um und ging gehorsam zu dem Tisch am Fenster. Während er es tat, verschwanden Malcolm, Trautman und einen kurzen Augenblick später auch Singh im angrenzenden Zimmer.
Malcolms Tochter sah ihm mit einem herzlichen Lächeln entgegen. Sie hatte große Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, und so wie diese und auch ihr Vater war sie nicht auf die hier unten anscheinend allgemein übliche Weise gekleidet, sondern trug ein rüschenbesetztes Kleid, dem man ansah, daß es ursprünglich für einen Erwachsenen gedacht und mühsam (und nicht besonders geschickt) auf die passende Größe zurechtgestutzt worden war.
»Ihr glaubt nicht, was gerade draußen passiert ist«, begann Ben aufgeregt, während Mike sich einen Stuhl heranzog und setzte.
André wies mit der Hand zum Fenster. »Wir haben alles gesehen«, sagte er. Ben blinzelte. »Auch das Ungeheuer?«
»Wenn du den Fischmenschen meinst - ja«, erwiderte Sarah. Sie lächelte noch immer, aber der tadelnde Ton, in dem sie diese Worte sagte, war nicht zu überhören. Ben legte die Stirn in Falten, ging aber nicht weiter darauf ein.
»Es scheint euch ja nicht besonders zu interessieren.«
»Mein Vater wird später mit Denholm sprechen«, erwiderte Sarah. »Er war sehr zornig, aber er meint, es wäre besser, ein wenig zu warten.« Sie drehte den Kopf und sah aus dem Fenster, und Mike folgte ihrem Blick. Man konnte von hier aus nicht nur den gesamten Platz, sondern auch das Gebäude sehen, in dem der Gefangene untergebracht war. Zu den beiden Wachen vor der Tür hatten sich zwei weitere Männer gesellt, und es begannen jetzt immer mehr Menschen herbeizuströmen. Sie waren zu weit entfernt, als daß Mike ihre Gesichter erkennen oder gar verstehen konnte, was sie sagten, aber er spürte deutlich, daß von der vorhin noch so fröhlichen Stimmung nichts mehr geblieben war. Die Menge wirkte erregt, ja fast aufgebracht.
»Diese Fischmenschen«, fragte er, »was sind das für Geschöpfe? Woher kommen sie, und was wollen sie von euch?«
»Niemand weiß wirklich, wer die Fischmenschen sind«, antwortete Sarah. »Sie leben drüben in der Alten Stadt, aber auch unten im Meer.«
»Und sie sind eure Feinde?« fragte Mike.
Sarah zögerte mit der Antwort. »Ich glaube, ja«, sagte sie schließlich. »Du glaubst?«
Das Mädchen hob die Schultern. Plötzlich wirkte sie merkwürdig hilflos. »Sie sind schon so lange hier, wie dieser Ort besteht. Manche glauben, daß sie schon vor den Menschen hier waren. Wir treffen sie selten. Manchmal tauchen sie unten im Hafen auf und versuchen, eines der Schiffe zu plündern, aber im allgemeinen gehen sie uns aus dem Weg, so wie wir ihnen. Es heißt, daß es einmal einen Krieg zwischen uns und ihnen gegeben haben soll, aber niemand weiß heute noch, ob das stimmt.«
»Aber die Männer erzählten, daß sie vorhin unten am Strand gewe -« begann Mike, aber Sarah unterbrach ihn, indem sie die Hand hob und ein paarmal den Kopf schüttelte.
»Das fragst du am besten meinen Vater«, sagte sie. »In den letzten Tagen ist... einiges geschehen. Vieles hat sich geändert.« Und nicht unbedingt zum Guten, fügte ihr Blick hinzu. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und wechselte das Thema. »Aber jetzt bist du dran, zu antworten. André hat mir schon so viel von dir erzählt, daß ich es kaum noch abwarten konnte, dich kennenzulernen. Das Schiff, mit dem ihr gekommen seid - kann es tatsächlich unter Wasser fahren?«
Ohne eine Sonne, die sich am Himmel bewegte, war es schwer, das Verstreichen der Zeit zu messen, aber Mike schätzte, daß sie länger als zwei Stunden dasaßen und redeten. Sarah erwies sich als sehr ungeduldige Zuhörerin, denn sie stellte unentwegt neue Fragen und ließ ihm kaum Zeit, sie zu beantworten, ehe sie ihn auch schon wieder unterbrach und etwas anderes wissen wollte. Am Anfang ging Mike dies auf die Nerven - eigentlich war er hierher gekommen, um Fragen zu stellen, nicht um welche zu beantworten. Aber er begriff bald, daß das, was er zu erzählen hatte, für das Mädchen ungleich faszinierender sein mußte als das, was er bisher von ihrer Welt gesehen hatte. Er fand kaum Gelegenheit, selbst eine Frage zu stellen, aber er erfuhr immerhin, daß Sarah - ebenso wie ihre Eltern - nicht mit einem Schiff hierhergekommen, sondern hier unten geboren war. Sie hatte zeit ihres Lebens niemals etwas anderes gesehen als diesen Ort, den Korallenwald und den schmalen, hügeligen Streifen, der diese Hälfte der unterseeischen Welt von der trennte, in der die Alte Stadt lag und die den Fischmenschen gehörte.
Sie hatte niemals mehr als diese wenigen Dutzend Menschen getroffen, und sie hatte niemals den Himmel gesehen. Sie wußte weder, was das Wort »Nacht« bedeutete, noch was Wolken waren, Regen, Schnee oder Kälte. Und so mußte jedes Wort, das Mike erzählte, völlig neu und faszinierend für sie sein. Obwohl sie das allermeiste von dem, was er von der Welt über dem Meer und ihren Bewohnern zu berichten hatte, sicher schon von André und den anderen gehört hatte, hingen ihre Blicke wie gebannt an seinen Lippen, und er konnte regelrecht spüren, wie sie jedes Wort wie einen kostbaren Schatz aufnahm, um ihn tief in sich für den Rest ihres Lebens zu bewahren.
Sosehr es Mike auch freute, mit dem Mädchen zu reden und ihre schier unstillbare Neugier zu befriedigen, erfüllte ihn das Gespräch doch bald mit Unbehagen und schließlich mit Trauer. Denn obwohl Sarah es nicht sagte - und ihm auch kaum Gelegenheit gab, selbst eine entsprechende Frage zu stellen -, wurde ihm wieder deutlich, was all diese Menschen hier unten waren: nichts anderes als Gefangene. Denholm - und seltsamerweise auch Trautman - hatte versucht, diese Welt unter dem Meer als so etwas wie ein kleines Paradies darzustellen, dessen Bewohner in Frieden und sorglos leben konnten. Aber diese Behauptung hatte ja nicht einmal Mikes erstem, noch flüchtigem Hinsehen standgehalten.
Schließlich hörte Mike auf, zu erzählen, und obwohl er Sarah deutlich ansehen konnte, wie sehr sie dies bedauerte, versuchte sie nicht, ihn zum Weiterreden zu bewegen, sondern kuschelte sich nur eng an Andres Schulter und schloß für einen Moment die Augen. Auf Andres Gesicht breitete sich ein leises, aber sehr warmes Lächeln aus. Mit einer ganz selbstverständlichen Bewegung legte er den Arm um die Schulter des Mädchens und hielt sie fest, und erst in diesem Moment begriff Mike wirklich, was Malcolm gemeint hatte, als er sagte, André könne ja schon einmal zu seinen Freunden gehen.
André war von allen Besatzungsmitgliedern der NAUTILUS - sah man einmal von Singh ab, der ohnehin nur sprach, wenn es unumgänglich war - vielleicht das schweigsamste. Mike hatte sich darüber niemals Gedanken gemacht, sondern es als ganz selbstverständlich hingenommen, aber nun fragte er sich, ob André eigentlich wirklich glücklich gewesen war während all der Monate, die sie sich an Bord der NAUTILUS befanden. Jetzt war er es, das hätte selbst ein Blinder gesehen. Und Sarah auch. Die beiden mußten sich sehr gerne haben.
Der Gedanke gab Mike einen tiefen, schmerzhaften Stich. Es war nicht etwa Eifersucht oder Neid - er gönnte den beiden ihr Glück, und er freute sich für André, der sich in Sarahs Nähe so offensichtlich wohl fühlte. Aber zugleich dachte er auch an Serena, für die er dasselbe empfand wie André für Malcolms Tochter, auch wenn er sich das bisher nicht hatte eingestehen wollen, und plötzlich war es ihm fast unerträglich, die beiden weiter anzusehen. Mit einem plötzlichen Ruck stand er auf und fragte in ungeduldigem Ton: »Wie lange wollen wir eigentlich noch hier herumsitzen und die Zeit vertrödeln? Ich will jetzt zu Serena.«
»Das geht nicht«, antwortete Juan. »Malcolm will -«
»- sowieso zu ihr«, ertönte Malcolms Stimme von der Tür her. »Ich muß mit Denholm reden, und wahrscheinlich ist er wieder bei ihr.«
Malcolm, Trautman und dann auch Singh betraten das Zimmer. Mike drehte sich zu ihnen herum.
»Dann begleite ich dich«, sagte er zu Malcolm.
»Das ist vielleicht keine so gute Idee«, sagte Trautman, aber Malcolm unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln.
»Warum nicht? Ich habe nichts dagegen. Ihr könnte alle mitkommen, wenn ihr möchtet.«
»Nein«, sagte Trautman. »Ich bin... ein wenig müde. Ich würde am liebsten zurück ins Haus auf der Klippe gehen. Was ist mit euch?«
Die Frage galt Juan, Ben und Chris, die einhellig nickten. Nur André fügte hinzu: »Ich bleibe noch hier, wenn ich darf. Ich komme dann später zusammen mit Mike nach.«
»Ihr müßt nicht zurück dorthin«, sagte Malcolm. »Das Haus ist nur für Neuankömmlinge gedacht. Ihr könnt hier in der Stadt bleiben, gleich jetzt, wenn ihr wollt.«
»Vielleicht... später«, antwortete Trautman. »Morgen oder übermorgen. Aber wir brauchen noch ein paar Tage, denke ich.«
Malcolm wirkte enttäuscht, versuchte aber nicht noch einmal, Trautman und die anderen zum Bleiben zu überreden. Auch Mike war überrascht - so gemütlich war die zugige Hütte auf der Klippe nun wieder nicht, daß er besonders wild darauf gewesen wäre, noch eine oder zwei weitere Nächte dort zu verbringen. Erneut hatte er das Gefühl, daß mit Trautman und den anderen irgend etwas nicht stimmte. Daß sie ihm etwas verheimlichten. Aber er schob den Gedanken auch diesmal beiseite. Allein die Aussicht, nun endlich mit Serena sprechen zu können, hob seine Laune bereits wieder merklich. Er war sicher, nun mit ein paar Worten das Mißverständnis von gestern aus der Welt schaffen zu können.
Mike hatte ganz automatisch damit gerechnet, daß Singh ihm folgen würde, denn der Inder ließ ihn normalerweise keinen Schritt tun, ohne ihn zu begleiten - was Mike manchmal ziemlich auf die Nerven ging, aber der Sikh nahm seine Aufgabe als Leibwächter nun einmal ernst. Aber zu seiner Überraschung blieb auch Singh bei Trautman und den anderen zurück. Mike war es allerdings nur recht. Was er mit Serena zu besprechen hatte, das ging auch den Inder nichts an. Aber er wunderte sich doch ein bißchen über den plötzlichen Sinneswandel seines Leibwächters.
Serena bewohnte eines der größten Gebäude der Stadt, das sich nahe des Waldrandes am gegenüberliegenden Rand der Lichtung erhob. Zwei mit altertümlichen Vorderladern bewaffnete Männer hielten vor der Tür Wache, traten aber beiseite, als Malcolm und Mike sich näherten. Dabei zögerten sie einen winzigen Moment, gerade lange genug, um Mike merken zu lassen, daß sie nicht ganz sicher waren, ob sie sie nun passieren lassen sollten oder nicht.
Im Inneren des Gebäudes war es so dunkel, daß er im ersten Moment kaum etwas sah. Dafür hörte er sofort die aufgeregten Stimmen von zwei oder drei Männern, die offenbar miteinander stritten. Bevor er jedoch auch nur ein Wort verstehen konnte, flitzte ein schwarzer Schatten auf ihn zu und sprang ihn mit solcher Wucht an, daß er rückwärts taumelte und wahrscheinlich gestürzt wäre, hätte Malcolm nicht schnell die Hand ausgestreckt und ihn gehalten. Mike griff instinktiv zu und hielt das schwarze Fellbündel fest, das sich mit spitzen Klauen in seine Brust gekrallt hatte - und schnurrend den Kopf an seinem Gesicht rieb.
»Astaroth!« keuchte er. »Würdest du... freundlicherweise... die Krallen... aus meiner Haut nehmen?«
Der Kater gehorchte allerdings nicht sofort, und er machte auch keine Anstalten, von Mikes Arm herunterzuspringen, sondern kuschelte sich ganz im Gegenteil gemächlich in seiner Armbeuge zusammen.
Schön, dich endlich wiederzusehen, sagte Astaroths lautlose Stimme in Mikes Gedanken. Ich habe schon gedacht, du kommst gar nicht mehr.
Mike war ziemlich überrascht. Daß Astaroth ihn mochte, war kein Geheimnis - aber der Kater war normalerweise viel zu stolz, um sich seine Gefühle - noch dazu für einen Menschen! - so deutlich anmerken zu lassen.
»Stimmt irgendwas nicht?« fragte Mike.
Astaroth blickte ihn aus seinem einzigen Auge scharf an. Da freut man sich, dich wiederzusehen, und du witterst gleich wieder Lug und Trug, sagte er beleidigt. Typisch Mensch! Aber was habe ich eigentlich erwartet?
Mike grinste flüchtig. Er war wohl doch etwas zu mißtrauisch gewesen. Das war ganz der alte, knurrige Astaroth, wie er ihn kannte und mochte. Mit einem Unterschied: Der Kater machte auch jetzt keine Anstalten, wieder zu Boden zu springen, sondern drehte sich auf den Rücken und begann wohlig zu schnurren, so daß Mike ihn wie ein Baby in der Armbeuge trug, als er Malcolm folgte, der mittlerweile weitergegangen war.
Er kam jedoch nur einen Schritt weit, denn er gewahrte abermals eine Bewegung aus den Augenwinkeln und blieb wieder stehen.
Mike riß überrascht die Augen auf, als er sah, was da vor ihm aufgetaucht war.
Es war eine Katze, ein wenig kleiner als Astaroth und von viel schlankerem Wuchs. Ihr Fell war etwas länger als das einer normalen Katze und so flauschig, daß sich in ihrer Ahnenreihe wohl irgendwo eine Angorakatze verbergen mußte. Sie war schwarzweiß gemustert, und ihr Gesicht erinnerte an das eines Harlekins: weiß mit schwarz umrandeten Augen und einem schwarzen Fleck auf dem Kinn. Sie schien von Mikes Anblick ebenso überrascht zu sein wie er von ihrem, denn sie blieb mitten in der Bewegung stehen und wich dann einen Schritt zurück. Ihr Schwanz bewegte sich nervös.
»Hallo!« sagte Mike überrascht. »Wer bist du denn?« Er ließ sich in die Hocke sinken und streckte die freie Hand nach der Katze aus, aber diese wich einen weiteren Schritt vor ihm zurück. Der Blick ihrer großen, leuchtendgrünen Augen verfolgte mißtrauisch jede von Mikes Bewegungen.
Jedenfalls war es das, was er im ersten Moment glaubte - bis ihm klar wurde, daß die Katze in Wahrheit wohl eher Astaroth anstarrte, nicht ihn. »Ihr beide habt euch wohl schon angefreundet, wie?« fragte er lächelnd. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Kleine. Astaroth und ich sind Freunde, weißt du?«
Er streckte wieder die Hand nach der Katze aus, aber sie reagierte darauf nur mit einem warnenden Fauchen.
»He!« sagte Mike. »Was ist los? Du fürchtest dich doch nicht etwa vor mir?«
Sag mal - sehe ich das richtig, daß du dich gerade mit einer Katze unterhältst? fragte Astaroth spöttisch. Anscheinend hast du doch mehr abbekommen, als ich dachte.
Mike warf dem Kater, den er auf dem Arm hatte und der sich darüber mokierte, daß er sich mit einer Katze unterhielt, einen ärgerlichen Blick zu, stand aber hastig auf und ging weiter. Er sah aus den Augenwinkeln, daß die schwarzweiße Katze ihm folgte, konzentrierte sich aber wieder auf die Stimmen, die aus dem Raum vor ihm drangen. Sie hatten bei Malcolms Eintreten nur einen Moment gestockt, sprachen aber jetzt noch lauter weiter. Und was Mike sah, als er ebenfalls den Raum betrat, das ließ ihn jeden Gedanken an den Kater auf der Stelle vergessen. Denholm, Malcolm und zwei weitere Männer standen sich wie Kampfhähne gegenüber. Es sah aus, als würden sie sich jeden Moment aufeinanderstürzen wollen.
»... völlig verrückt!« sagte Denholm gerade. »Die Fischmenschen sind unsere Feinde! Das sind sie schon immer gewesen, solange es Menschen hier gibt! Man kann nicht mit ihnen reden!«
»Und woher willst du das wissen?« fragte Malcolm in kaum weniger scharfem Ton. »Bisher hat es niemand versucht, oder?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Das einzig verrückte hier ist, den Fischmenschen dazubehalten! Wir müssen ihn freilassen, und zwar auf der Stelle!«
»Damit er mit seinen Brüdern und Schwestern zurückkommt und sie uns angreifen?« gab Denholm zornig zurück. »Das heute morgen am Strand -«
»War eine riesige Dummheit«, unterbrach ihn Malcolm. Er deutete auf einen der Männer, die neben Denholm standen. »Du solltest ihn bestrafen! Wir leben seit Jahren in Frieden mit den Fischmenschen. Das wird sich jetzt vielleicht ändern, nur weil dieser Hitzkopf geglaubt hat, den Helden spielen zu müssen!«
»Wir haben uns nur gewehrt!« verteidigte sich der Mann.
»Gewehrt?« Malcolm lachte. »Wer soll das glauben? Zwölf Männer gegen drei Fischmenschen, das nenne ich nicht gewehrt! Sie haben euch ja nicht einmal angegriffen!«
»Natürlich haben sie das!« protestierte der andere. »Sie sind plötzlich aus dem Meer aufgetaucht -«
»- und sofort mit Kriegsgeheul über euch hergefallen, wie? Immer einer gegen drei von euch, nehme ich an.« Malcolms Stimme troff vor Hohn. »Willst du das wirklich behaupten?«
Diesmal zögerte der andere einen Moment, zu antworten. Als er es tat, wich er Malcolms Blick aus, und seine Hände spielten nervös mit dem zerfransten Strick, den er anstelle eines Gürtels um die Hüften trug. »Nicht direkt«, gestand er, fügte aber nach einer Sekunde in fast trotzigem Ton hinzu: »Aber warum sollten sie sonst gekommen sein? Sie wissen genau, daß diese Seite der Bucht uns gehört, und kommen normalerweise nie hierher!«
»Eben!« sagte Malcolm zornig. »Ist dir vielleicht der Gedanke gekommen, daß sie sich möglicherweise nur verirrt haben oder Hilfe brauchten?« Er wartete die Antwort des anderen nicht ab, sondern fuhr in bitterem Ton fort: »Du Narr hast vielleicht unseren Untergang heraufbeschworen! Wenn sie ihn vorher nicht hatten - jetzt haben sie einen Grund, uns anzugreifen!«
»Das genügt!« unterbrach ihn eine scharfe, helle Mädchenstimme. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten im Hintergrund des Raumes, und Mike erkannte Serena, die bisher offenbar wortlos dabeigestanden und dem Streit zugehört hatte.
Der Anblick verschlug Mike schier die Sprache. Serena trug nicht mehr das einfache, weiße Gewand, sondern ein prachtvolles, mit goldenen und silbernen Stickereien verziertes Kleid, das aussah, als wäre es für eine Königin gemacht worden und das wahrscheinlich von einem der Schiffe unten im Hafen stammte. Dazu hatte sie ein prachtvolles Kollier um den Hals, das ihr etwas Majestätisches verlieh. Er hatte niemals, in seinem ganzen Leben nicht, ein schöneres Mädchen gesehen. So etwas solltest du nicht zu laut denken, warnte ihn Astaroth. Sie mag das nicht besonders. Mike dachte an seine letzte Begegnung mit Serena zurück und nahm sich vor, die Warnung des Katers zu beherzigen. Aber Serena war wohl im Moment ohnehin viel zu sehr damit beschäftigt, sich in den Streit zwischen Denholm und Malcolm einzumischen, als daß sie seine Gedanken hätte lesen wollen.
»Ich habe mir das jetzt lange genug mit angehört!« sagte sie. »Wie könnt ihr in meiner Gegenwart einen solchen Ton anschlagen?«
Malcolm fuhr zusammen, sagte aber nichts, während sich Denholm mit einem Ruck zu dem Mädchen herumdrehte. In seinem Gesicht tobte ein lautloser Kampf. Aber nach einer Sekunde senkte er demütig das Haupt und flüsterte: »Verzeiht, Herrin.«
Herrin? dachte Mike überrascht. Was geht hier vor?
»Nein, ich verzeihe nicht!« sagte Serena hochmütig. Ihre Augen blitzten. »Niemand wagt es, in meiner Gegenwart so zu reden!« Sie wandte sich Malcolm zu, und ihr Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. »Und du? Was fällt dir ein, diese tapferen Männer anzugreifen? Sie haben genau das Richtige getan! Sollten sie etwa abwarten, bis diese Ungeheuer hierherkommen und uns überfallen?«
Mike sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und drehte sich halb herum, aber es war nur die schwarzweiße Katze, die hinter ihm den Raum betreten hatte und Astaroth und ihn aufmerksam ansah. Der Kater regte sich auf seinem Arm, aber nicht, um zu Boden zu springen. Statt dessen kletterte er mit einer raschen Bewegung (unter Zuhilfenahme sämtlicher Krallen) auf Mikes Schulter hinauf und begann es sich dort bequem zu machen. Da er gute zehn oder zwölf Pfund wiegen mußte, war dies für Mike allerdings alles andere als angenehm.
»Verzeiht, Sere -«, begann Malcolm, biß sich auf die Unterlippe und setzte noch einmal neu an: »Verzeiht, Herrin, aber ich glaube nicht, daß Ihr wirklich versteht, worum es geht. Wir leben seit Jahrhunderten mit den Fischmenschen in Frieden, und -«
»Unsinn!« unterbrach ihn Serena. »Mit diesen Kreaturen kann man nicht in Frieden leben. Vielleicht haben sie euch bisher nicht angegriffen, aber dann nur, weil der Moment nicht günstig war. Oder sie glaubten, euch nicht fürchten zu müssen. Aber das wird sich nun ändern.« Sie schüttelte seufzend den Kopf. »Ich glaube, es war wirklich an der Zeit, daß ich hergekommen bin.«
»Ihr irrt Euch, Herrin«, antwortete Malcolm - in einem Ton, der dem Wort der Herrin seinen Sinn nahm. Denholm warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Malcolm ignorierte ihn und fuhr fort: »Ich will Euch nicht zu nahe treten, aber wir leben seit Jahrhunderten hier unten, während Ihr erst seit wenigen Tagen hier seid und nicht wissen könnt -«
»Ich weiß genug«, unterbrach ihn Serena. »Auf jeden Fall genug, um zu begreifen, daß ihr nichts als eine Bande von Feiglingen seid. Ihr habt euch mit den Fischmenschen arrangiert, scheint mir. Aber damit ist es nun vorbei.«
Es fiel Malcolm sichtbar schwer, die Beherrschung zu bewahren. Mike wunderte sich, daß es ihm noch gelang - die Situation erschien ihm geradezu absurd. Malcolm war ein erwachsener Mann, und Serena sprach in einem Ton mit ihm, als wäre er ihr Sklave. »Ja, wir haben uns arrangiert«, sagte er. »Es war das einzige, was uns blieb, müßt Ihr wissen. Am Anfang führten wir Krieg mit ihnen. Viele von uns sind dabei gestorben und viele von ihnen auch. Aber wir haben begriffen, daß das nur zu unserem Untergang führen konnte. Und sie wohl auch. Diese Welt ist groß genug für uns beide. Sie leben auf ihrer Seite der Bucht und wir auf unserer. Aber wenn wir den Gefangenen nicht freilassen, dann wird die alte Feindschaft wieder aufflammen.«
»Und wenn!« antwortete Serena. »Laßt sie nur kommen! Wir werden sie schlagen, und wenn es sein muß, dann werde ich es sogar ganz allein tun! Ihr seid doch nichts als erbärmliche Feiglinge!«
Malcolm wurde blaß. Er sagte nichts, aber das war auch nicht notwendig. Seine Gedanken blieben Serena nicht verborgen.
Ihre Augen weiteten sich, und ihr Gesicht verlor jede Farbe. »Was... was erdreistest du dich?« keuchte sie. »Weißt du überhaupt, wer ich bin? Weißt du, was ich bin?« Sie machte eine weit ausholende Handbewegung und trat herausfordernd auf den viel größeren und weit älteren Mann zu.
»Das alles hier gehört mir!« sagte sie. »Diese Stadt und dieser Hafen wurden von meinen Vorfahren erbaut! Meine Mutter war die Königin dieses Landes, und mein Vater sein König!«
»Das mag sein«, antwortete Malcolm ruhig. »Aber es ist lange her, und -«
»Zu lange, scheint mir!« fiel ihm Serena ins Wort. »Ihr scheint vergessen zu haben, daß ihr nichts als Gäste hier seid! Ich bin die rechtmäßige Herrscherin über diese Stadt, und ihr habt meinen Befehlen zu gehorchen! Und ich sage euch, daß wir mit diesen Ungeheuern aufräumen werden!«
»Serena!« sagte Mike. Eine innere Stimme warnte ihn, daß es vielleicht besser war, sich nicht einzumischen, aber er war viel zu überrascht und viel zu entsetzt über das, was er erlebt hatte, um sich zurückzuhalten.
Serena fuhr mit einem Ruck zu ihm herum. In ihren Augen blitzte es zornig, aber ihre Stimme klang eher belustigt, als sie antwortete: »Ach, unser kleiner Held ist ja auch da.« Ihr Blick ließ den Mikes los und fixierte den Kater auf seiner Schulter. »Und du?« fragte sie. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst in meiner Nähe bleiben? Komm sofort hierher!«
Astaroth sprang tatsächlich gehorsam von Mikes Schulter herunter und trottete zu Serena hinüber, aber Mike hatte das Gefühl, daß er es sehr unwillig tat. Die schwarzweiße Katze lief an ihm vorbei und versuchte Astaroth zu folgen, aber Serena verscheuchte sie mit einer Handbewegung, ehe sie sich wieder zu Denholm und den anderen herumdrehte.
»Der Gefangene bleibt, wo er ist«, sagte sie entschieden. »Ich werde bis morgen früh beschließen, was mit ihm zu geschehen hat.«
Malcolm versuchte ein letztes Mal, an Serenas Vernunft zu apellieren. »Bitte, tu das nicht!« sagte er beschwörend. »Die Folgen könnten unabsehbar -«
»Das reicht!« unterbrach ihn Serena. »Du wagst es, dich meinen Befehlen zu widersetzen? Gut, du hast es nicht anders gewollt! Nehmt ihn gefangen, und schafft ihn weg!«
Die Worte galten Denholm und seinen Begleitern. Aber die Männer zögerten, dem Befehl zu gehorchen. Erst als Denholm - wenn auch mit sichtlichem Widerwillen - nickte, traten sie neben Malcolm und ergriffen ihn an den Armen.
Malcolm riß sich mit einer Armbewegung los. »Das ist nicht nötig«, sagte er zornig. »Ich begleite euch freiwillig. Und ich bin euch auch nicht böse. Schließlich gehorcht ihr nur den Befehlen eurer Herrin.«
»Ja, das tun sie«, sagte Serena. »Anders als du, du Dummkopf. Und über das, was du gerade gedacht hast«, fügte sie hinzu, »reden wir später.«
Mike beobachtete vollkommen fassungslos, was sich vor seinen Augen abspielte. Denholm wandte sich wieder an Serena.
»Verzeiht, Herrin«, sagte er. »Es ist nicht so, daß ich Eure Befehle anzweifle, aber Malcolm ist einer der unseren. Er ist sehr angesehen, und er hat viele Freunde. Vielleicht ist es nicht so klug -«
»Was klug ist und was nicht, entscheide ich«, unterbrach ihn Serena. »Willst du dich mir vielleicht widersetzen?«
Wenn Mike den Ausdruck auf Denholms Gesicht richtig deutete, dann stand er tatsächlich kurz davor, ganz genau das zu tun. Aber schließlich beließ er es bei einem angedeuteten Kopfschütteln und gab den beiden Männern mit einer Geste zu verstehen, daß sie gehorchen sollten. Sie taten es, aber sie ergriffen Malcolm nicht wieder, sondern warteten ab, bis er ihnen aus freien Stücken folgte.
»Gut«, sagte Serena. »Dann geh jetzt auch, und kümmere dich darum, daß der Gefangene gut bewacht wird. Ich werde später mit ihm reden. Und du?« Sie wandte sich zu Mike um und sah ihn mit Erstaunen an. »Was willst du noch hier?«
»Ich... ich wollte... mit dir reden«, stotterte Mike. Serenas linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. »Reden?« wiederholte sie. »Ich wüßte nicht, was wir noch Wichtiges zu bereden hätten.«
»Aber ich -«
»Ich habe im Moment wirklich keine Zeit, um mich mit dir abzugeben«, unterbrach ihn Serena kühl. Sie machte eine ungeduldige Bewegung mit der Hand. »Geh zu deinen Freunden zurück. Ihr werdet doch sicher die eine oder andere nützliche Beschäftigung finden, bis ich entschieden habe, was mit euch geschieht, oder?«
Du solltest besser tun, was sie sagt, sagte Astaroths lautlose Stimme in seinen Gedanken. Serena war das nicht entgangen. Sie blickte den Kater ärgerlich an, und Astaroth hatte es plötzlich sehr eilig, sich in irgendeinem Winkel zu verkriechen. Mike registrierte beiläufig, daß die schwarzweiße Katze neugierig in Astaroths Richtung sah, es aber nicht wagte, sich ihm zu nähern - vielleicht, weil sie dazu dicht an Serena vorübermußte, die offenbar wenig für Katzen übrig hatte, nicht für ihre eigene, geschweige denn für eine fremde.
»Worauf wartest du noch?« fragte Serena. »Soll ich dich erst hinauswerfen lassen?«
Mike mußte plötzlich mit aller Macht gegen die Tränen ankämpfen, die ihm in die Augen steigen wollten. Eine Sekunde lang blickte er Serena traurig an, dann drehte er sich mit einem Ruck herum und lief so schnell aus dem Haus, daß es schon einer Flucht gleichkam.
Mike war so sehr mit seinen eigenen Gedanken und Grübeleien beschäftigt, daß er ganz vergaß, zu Malcolms Haus zurückzugehen, wo er ja mit André verabredet war. Lange irrte er durch den Ort und den umliegenden Wald, und es war wohl am Ende nichts weiter als Zufall, der seine Schritte wieder zurück zu dem Haus auf der Klippe lenkte, in dem Trautman und die anderen bereits auf ihn warteten.
Was er bei seinem Eintreten sah, das hob seine Laune auch nicht. Trautman, Ben, Chris, Juan und Singh saßen an dem niedrigen Tisch beisammen und redeten, aber als sie ihm bemerkten, verstummten sie abrupt. Trautman und Singh ließen sich nichts anmerken, aber Chris senkte betreten den Blick, und auch Juan sah ihn nicht an. Einzig Ben blickte ihm entgegen, aber nicht auf seine sonst so direkte Art. Die drei Jungen schienen das verkörperte schlechte Gewissen zu sein.
Mike hatte nun keine Lust mehr, darüber hinwegzugehen. Was er mit Serena erlebt hatte, war schlimm genug. Er würde es nun nicht mehr hinnehmen, daß ihn auch seine Freunde hintergingen. Aber bevor er eine entsprechende Frage stellen konnte, kam ihm Ben zuvor.
»Nun?« sagte er in fast fröhlichem Ton. »Wie war dein Rendezvous mit unserer kleinen Prinzessin?«
Mike antwortete nicht. Bens Ton ärgerte ihn, aber die Frage versetzte ihm auch einen tiefen, körperlich schmerzenden Stich.
»Nicht besonders erfreulich, wie?« fuhr Ben fort. Er lachte. »Ja, ja, sie ist ein richtiges Herzchen, nicht wahr?«
Allmählich reichte es Mike. »Sprich nicht so über sie!« sagte er scharf. »Sie ist -«
»- nicht das, was du erwartet hast«, unterbrach ihn Trautman.
Mike drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum. Für eine Sekunde brodelte heißer Zorn in ihm empor, und er war nahe daran, Trautman anzuschreien - aber dann sah er etwas in dessen Augen, was ihn allen Zorn auf der Stelle vergessen und sich seiner eigenen Unbeherrschtheit schämen ließ: ein tiefes, ehrlich empfundenes Mitgefühl, das frei von jedem Spott und jeglicher Schadenfreude war. Plötzlich begriff er, daß er nahe daran gewesen war, sich nicht anders zu benehmen als Serena vorhin Denholm gegenüber.
»Ich... weiß nicht«, gestand er unsicher. »Sie ist... so völlig anders, als ich dachte.«
»Ich kann verstehen, was du fühlst«, sagte Trautman. »Uns allen erging es nicht anders, auch wenn wir nicht so von Serena fasziniert waren wie du. Und vielleicht waren wir auch alle ein bißchen zu naiv. Immerhin ist sie die Tochter eines Königs, der unvorstellbar mächtig gewesen sein muß.«
»Deswegen braucht sie sich nicht so anmaßend aufzuführen«, knurrte Ben. Trautman lächelte verzeihend. »Ich bin sicher, sie meint es nicht so«, sagte er. Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »Denkt daran, daß ihre Vorfahren all das hier erschaffen haben. Und vielleicht noch viel mehr. Wir wissen nicht viel über das Volk der Atlanter, aber ich komme mehr und mehr zu der Überzeugung, daß sie weiter entwickelt waren als wir.«
»Etwas wie die NAUTILUS können wir jedenfalls bis heute nicht bauen«, pflichtete ihm Juan bei, aber Ben schnaubte nur abfällig.
»Das ist doch immer noch kein Grund, sich so zu benehmen«, sagte er.
»Natürlich nicht«, sagte Trautman. »Aber ich glaube nicht, daß sie es böse meint. Ich glaube, daß sie nicht einmal weiß, wie ihr Benehmen auf andere wirkt. Für sie ist das wahrscheinlich alles ganz selbstverständlich.«
»Was?« fragte Ben. »Vorlaut, unhöflich und herrschsüchtig zu sein?«
»Sich wie jemand zu gebärden, der die absolute Macht besitzt«, verbesserte ihn Trautman. »Sie ist so erzogen worden, verstehst du, Ben? Ihre Eltern waren absolute Herrscher, die von ihren Untertanen wahrscheinlich wie Götter verehrt wurden. Vermutlich ist ihr vom ersten Tag an jeder Wunsch von den Augen abgelesen worden. Sie weiß gar nicht, was es bedeutet, Widerspruch zu hören oder die Entscheidung eines anderen zu akzeptieren.«
»Dann wird es Zeit, daß sie es lernt«, stellte Ben fest. Sein Tonfall begann Mike nun doch wieder zu ärgern, aber er beherrschte sich und fügte mit einem Nicken hinzu: »Vielleicht sollte man es ihr wirklich erklären. Sie braucht möglicherweise mehr Zeit, um sich in unserer Welt zurechtzufinden.«
Trautman lächelte. »Das ist das Problem an der Sache, Mike. Strenggenommen ist das hier nicht unsere Welt, sondern vielmehr ihre. Und ich fürchte, sie glaubt tatsächlich, daß sie ihr gehört.«
Mike dachte an die häßliche Szene zurück, deren Zeuge er geworden war. Trautman war mit seiner Vermutung der Wahrheit nähergekommen, als er selbst ahnte. »Denholm und die anderen werden das nicht hinnehmen«, sagte er. »Früher oder später wird sie lernen müssen, daß sie keine Königin mehr ist.«
»Nein, das denke ich nicht«, sagte Trautman.
»Wieso?« fragte Mike beunruhigt.
»Nun, du hast erlebt, wie schnell sie deine Verletzungen geheilt hat«, antwortete Trautman. »Und erinnere dich, was sie auf der LEOPOLD getan hat. Serena verfügt über magische Kräfte.«
»Ich weiß«, antwortete Mike. »Und?« Er riß ungläubig die Augen auf. »Sie glauben doch nicht, daß sie sie gegen diese Leute hier einsetzen würde?«
»Ich fürchte doch«, sagte Trautman in ernstem Ton. »Ich fürchte sogar, sie hat es schon getan. Natürlich nicht so dramatisch wie auf der LEOPOLD, aber eindringlich genug, um zu demonstrieren, daß es nicht viel Sinn hätte, sich gegen sie zu stellen.«
»Das glaube ich nicht!« sagte Mike überzeugt. Trautman würde ihn nie belügen, aber er weigerte sich, zu glauben, was er hörte. Serena mochte ein wenig eigensinnig sein, aber sie würde doch niemals diesen Menschen hier etwas zuleide tun!
Er setzte dazu an, Trautman zu antworten, doch bevor er auch nur ein Wort herausbekam, hörte er einen so gellenden Hilfeschrei, daß er erschrocken in die Höhe sprang. Trautman und die anderen blickten alarmiert auf.
»Was ist los?« fragte Trautman. »Was hast du?«
»Was ich habe?« Mike starrte Trautman ungläubig an. »Aber... aber habt ihr es denn nicht gehört?«
»Was?« fragte Ben.
»Den Schrei!« antwortete Mike. »Jemand hat um Hilfe gerufen!«
Niemand antwortete, aber das war auch nicht nötig - ein einziger Blick in die Gesichter der anderen machte Mike sofort klar, daß er der einzige war, der den Hilferuf gehört hatte.
Genau in diesem Moment hörte er ihn wieder. Und jetzt begriff er, daß dieser Schrei nirgendwo anders als direkt in seinem Kopf ertönte!
»Astaroth!« keuchte er. »Das ist Astaroth!« Ehe einer der anderen reagieren konnte, fuhr er schon herum und rannte auf die Tür zu.
Es war eine fast getreuliche Wiederholung der Szene von vorhin. Astaroth raste durch die Tür herein, kurz bevor Mike sie erreichte, stieß sich mit einem gewaltigen Satz ab und prallte so heftig gegen Mike, daß dieser rückwärts taumelte und nun wirklich auf dem Hosenboden landete, den diesmal war niemand da, der ihn auffangen konnte. Der Kater krallte sich auch jetzt genauso heftig in Mikes Brust, kletterte unverzüglich an ihm empor und sprang schließlich auf seine Schultern. Hilf mir! schrie seine Stimme in Mikes Gedanken. Rette mich vor dieser Verrückten!
Einen Moment später erschien der Verfolger, vor dem Astaroth sich so wild in Mikes Arme geflüchtet hatte, unter der Tür - und es war niemand anders als die schwarzweiße Katze. Sie wich auch jetzt erschrocken zurück, als sie Mike erkannte, aber dann kam sie langsam, aber deutlich mutiger geworden näher.
Astaroth fauchte warnend. Die Katze blieb stehen, musterte erst ihn und dann Mike aus ihren großen, schönen Augen und setzte ihren Weg dann fort.
Jag sie weg! kreischte Astaroth, der einer Panik nahe schien. Scheuch dieses Ungeheuer fort!
Mike tat ihm tatsächlich den Gefallen, wenn auch nicht mit besonders viel Nachdruck. Er wedelte mit der Hand, und die Katze machte zwei Schritte rückwärts, blieb aber dann wieder stehen.
Jag sie weg! lamentierte Astaroth. Ich denke, du bist mein Freund! Dann hilf mir auch!
Allmählich wurde Mike die Sache zu dumm. Mit mehr oder weniger sanfter Gewalt bugsierte er Astaroth von seiner Schulter herunter und setzte ihn vor sich auf den Boden. »Was zum Teufel ist hier überhaupt los?« fragte er scharf.
Was los ist? antwortete Astaroth in schon fast hysterischem Ton. Das fragst du noch? Sieh doch hin, dann siehst du, was los ist! Diese Verrückte verfolgt mich, seit wir hierhergekommen sind!
Und erst jetzt begriff Mike wirklich. Das »Ungeheuer«, das Astaroth verfolgte, war nichts anderes als eine rollige Katze, die dem Kater nachstellte. Daß Astaroth kein normales Tier war, konnte die arme kleine Katze schließlich nicht wissen.
Sie versuchte auch jetzt wieder, sich Astaroth zu nähern, und sie schien wirklich großes Interesse an dem Kater zu haben, denn als Mike diesmal versuchte, sie mit einer Handbewegung zu verscheuchen, schlug sie blitzartig mit den Krallen nach ihm, so daß er sich einen blutigen Kratzer quer über den Handrücken einhandelte. Mike zog mit einem Fluch die Hand zurück, und Trautman griff rasch nach der Katze, nahm sie auf den Schoß und hielt sie mit einer Hand fest, während er sie mit der anderen zwischen den Ohren zu kraulen begann. In seinen Augen stand ein schwaches Lächeln. Offensichtlich hatte er die Situation viel schneller begriffen als Mike, ohne daß er dazu eigens mit dem Kater reden mußte.
Ben ebenso offensichtlich nicht, denn er fragte in völlig verständnislosem Ton: »Könnte mir jemand erklären, was hier los ist?«
»Nichts«, sagte Trautman rasch. »Astaroth hat nur mit den Tücken der Natur zu kämpfen.«
Den Tücken der Natur? keifte Astaroths lautlose Gedankenstimme in Mikes Kopf. Diese Bekloppte nennt er die Tücken der Natur? Menschen!
»Ist ja gut«, sagte Mike, der nun ebenfalls ein Lachen kaum noch unterdrücken konnte. »Wir werden dich vor dieser blutrünstigen Bestie beschützen, keine Angst.«
Keine Angst, keine Angst! wiederholte Astaroth wütend. Du hast gut reden! Schließlich wirst du auch nicht von einer Verrückten verfolgt. Aber du bist wahrscheinlich genauso verrückt wie sie.
Mike begriff sehr gut, was Astaroth damit meinte, und seine Laune sank schlagartig wieder. Aber er beherrschte sich. »Was machst du überhaupt hier?« fragte er. »Ich dachte, Serena hätte dir verboten, mit mir zu reden.«
Hat sie auch, antwortete Astaroth. Wenn sie wüßte, daß ich hier bin, würde sie explodieren.
»Aber sie weiß es nicht«, vermutete Mike. Sie hat im Moment Besseres zu tun, als auf ihr Schoßtier zu achten, antwortete Astaroth. Seine Stimme klang bitter, und Mike begann zu ahnen, wie es in dem Kater wirklich aussah. Der kurze Anflug von Schadenfreude, den er gerade verspürt hatte, tat ihm sofort wieder leid. Er erinnerte sich ja noch gut daran, wie enttäuscht er von seiner ersten Begegnung mit Serena gewesen war, und er hatte sie erst wenige Tage gekannt - wie mußte es da Astaroth ergehen, der das Mädchen jahrtausendelang bewacht hatte?
»Entschuldige bitte«, sagte er.
Schon gut, knurrte der Kater. Ich nehme es dir nicht übel. Schließlich bist du nur ein Mensch, da darf man nicht zuviel verlangen.
»Worüber redet ihr?« fragte Trautman. Bisher hatten er und die anderen Mikes Unterhaltung schweigend verfolgt, aber immer nur die eine Hälfte des Gespräches mitbekommen.
»Über nichts Besonderes«, sagte Mike ausweichend. Trautmans Blick machte deutlich, was er von dieser Antwort hielt. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern sagte: »Frag ihn, wie es in der Stadt aussieht.« Auch nicht anders als vorhin, antwortete Astaroth, ehe Mike die Worte wiederholen konnte. Sie streitet wieder mit Denholm. Aber ich fürchte, ihre Geduld wird bald am Ende sein, und dann möchte ich nicht in Denholms Haut stecken.
Mike übersetzte, und Trautman machte ein besorgtes Gesicht. »Und was ist mit André - und vor allem Malcolm? Sie haben ihn doch nicht tatsächlich festgenommen, oder?«
Nein, antwortete Astaroth. Deswegen ist sie ja so wütend. Ewern Freund geht es gut. Er wollte noch ein bißchen bei dem Menschenjungen bleiben.
Mike übersetzte wieder, wobei er den Begriff »Menschenjunges« aber vorsichtshalber durch das Wort »Mädchen« ersetzte.
»Ich fürchte, daß Ganze wird böse enden«, sagte Trautman kopfschüttelnd. »Und es gibt nichts, was wir tun können.«
»Vielleicht doch«, sagte Mike. »Ich werde noch einmal mit ihr reden. Vielleicht nimmt sie doch noch Vernunft an.«
Kaum, sagte Astaroth traurig. Dein Freund hat recht. Es wird ein böses Ende nehmen. Sie glaubt, daß das alles hier ihr gehört. Und glaube mir, sie ist durchaus in der Lage, ihren Willen durchzusetzen. Er ließ einen Laut hören, der fast wie ein menschliches Seufzen klang. Deswegen bin ich auch hier, fuhr er fort. Ich mag nicht mehr bei ihr sein. Außerdem braucht sie mich nicht mehr. Könntest du... deine Freunde fragen, ob sie mich mitnehmen?
Mike verstand im ersten Moment nicht, wovon der Kater sprach. »Du meinst, du willst nicht mehr bei ihr bleiben?« vergewisserte er sich.
Wozu? Meine Aufgabe ist erfüllt. Ich glaube, sie wird es nicht einmal merken, wenn ich weg bin.
Und erst jetzt verstand Mike den letzten Satz, den der Kater gesagt hatte. Eine Sekunde lang starrte er Astaroth an, dann hob er mit einem Ruck den Kopf und wandte sich wieder Trautman und den anderen zu.
»Was ist?« fragte Trautman. »Wieso siehst du so erschrocken drein? Was hat Astaroth gesagt?«
»Er hat mich gebeten, euch zu fragen, ob ihr ihn mitnehmt«, antwortete Mike langsam. »Was soll das heißen?«
Trautman fuhr zusammen, und Juan und Ben senkten betreten den Blick.
»Also doch«, sagte Mike. »Ihr verschweigt mir etwas. Was ist es?«
Trautman sagte noch immer nichts, aber das war auch nicht nötig. Ganz plötzlich war alles klar - so klar, daß Mike sich verblüfft fragte, wieso er eigentlich nicht schon längst von sich aus darauf gekommen war. »Ihr wollt fliehen«, sagte er. »Ihr habt vor, die Nautilus zu nehmen und von hier zu verschwinden, nicht wahr?«
»So... ungefähr«, sagte Trautman zögernd. »Aber -«
»Und ihr hattet vor, mich hier zurückzulassen!« unterbrach ihn Mike. »Deshalb die ganze Geheimnistuerei, stimmt's? Ihr wolltet nicht, daß ich es erfahre!«
»Selbstverständlich stimmt das nicht«, antwortete Trautman gekränkt. »Wir hätten es dir gesagt, aber noch nicht jetzt.«
»Ach - und warum nicht? Hattet ihr Angst, ich würde euch verraten?« Er konnte sehen, wie sehr seine Worte Trautman schmerzten, aber das war ihm in diesem Moment vollkommen egal.
»Ganz genau«, antwortete Ben ruhig. »Deshalb haben wir dir nichts gesagt. Aber keine Sorge - wir hätten dich schon mitgenommen. Obwohl ich mich zu fragen beginne, ob es sich überhaupt lohnt.«
Trautman warf dem jungen Engländer einen warnenden Blick zu und wandte sich dann an Mike. »Das ist Unsinn, Mike. Wir wissen, daß du uns niemals verraten würdest. Was Ben meint, ist, daß du es nicht wissen durftest, damit Serena es nicht erfährt.«
»Glauben Sie, ich hätte euch -«
»Sie hätte es in deinen Gedanken gelesen«, unterbrach ihn Trautman. »Im gleichen Augenblick, in dem du ihr gegenübergestanden hättest. Deshalb durftest du es nicht wissen, aus keinem anderen Grund.«
Plötzlich kam sich Mike schäbig und gemein vor. Der Verdacht, den er ausgesprochen hatte, war so ungeheuerlich, daß er sich plötzlich seiner eigenen Gedanken schämte. Er wußte, daß Trautman die Wahrheit sagte. Und das war wohl auch der Grund, aus dem er und die anderen Serena unten in der Stadt aus dem Weg gegangen waren. Verlegen senkte er den Blick.
»Es tut mir leid«, murmelte er.
»Schon gut.« Trautman winkte ab. »Ich kann dich verstehen. Mir selbst war auch nicht wohl dabei, dich zu hintergehen, aber wir hatten keine andere Wahl. Es ist schwer, ein Geheimnis zu wahren, wenn es jemanden gibt, der deine Gedanken lesen kann.«
»Aber ihr... ihr könnt die Leute hier doch nicht einfach im Stich lassen!« sagte Mike. »Ich meine, irgend etwas muß man doch für sie tun!«
Nein, antwortete Astaroth an Trautmans Stelle. Er hat recht, glaub mir. Ihr könnt nichts tun. Sie wird nicht zulassen, daß irgend jemand ihr die Macht hier streitig macht. Und sie weiß, wie gefährlich ihr für sie seid. Sie hat vor, euer Schiff zu zerstören.
»Stimmt das?« fragte Mike laut. »Astaroth sagt, daß sie die NAUTILUS zerstören will?«
»Ja«, antwortete Trautman traurig. »Sie hat Denholms Leuten befohlen, das Schiff auseinanderzubauen. Vielleicht ahnt sie, was wir vorhaben. Sie haben noch nicht damit begonnen, aber wenn sie es erst einmal tun, gibt es keinen Weg mehr hier heraus.« Seine Stimme wurde leiser, aber auch eindringlicher. »Wir müssen hier weg, Mike. Vielleicht... vielleicht können wir später noch einmal zurückkommen, aber im Augenblick ist unsere einzige Chance, mit der NAUTILUS von hier zu verschwinden. Ohne sie kommen wir nie wieder nach oben.«
»Und wann?« fragte Mike. »Habt ihr schon einen Plan?«
»Soweit man es so nennen kann«, antwortete Trautman. »Wir hatten vor, noch zwei oder drei Tage zu warten, aber ich fürchte, soviel Zeit bleibt uns nicht mehr. Ich war gestern auf der NAUTILUS und habe mich umgesehen. Sie hat ein paar kleinere Schäden abbekommen, aber im großen und ganzen ist sie in Ordnung. Mit ein bißchen Glück schaffen wir es bis zur Meeresoberfläche hinauf.«
»Und die Qualle?« fragte Mike.
Trautman zuckte mit den Schultern. »Wir müssen es eben versuchen. Vielleicht schaffen wir es irgendwie, ihr zu entkommen. Es ist gefährlich, ich weiß, aber wir sind fest entschlossen, es zu riskieren.«
Mike schwieg. Die Vorstellung, einfach wegzugehen und Denholm und die anderen ihrem Schicksal - und Serena! - zu lassen, war ihm unerträglich. Es kam ihm so feige vor.
Mut am falschen Platz ist manchmal Dummheit, sagte Astaroth.
»Also gut«, sagte Mike schweren Herzens. »Wann brechen wir auf?«
Trautman schwieg noch eine Sekunde. Dann sagte er: »Heute Abend!«
Das Volk wollte an diesem Abend ein Fest feiern, erklärte Trautman, und das wollten sie ausnutzen, sich an Bord der NAUTILUS schleichen und versuchen zu fliehen. Bis zum Beginn dieses Festes würden noch gute zwei Stunden vergehen, und Trautman wollte so lange abwarten, um auch wirklich sicher zu sein, daß sie keiner Wache oder einem verspäteten Besucher des Festes in die Hände liefen, wenn sie sich auf den Weg zum Hafen machten. Da Mike es nun nicht mehr riskieren konnte, ins Dorf zurückzugehen, hatte sich Astaroth angeboten, André zu holen, und alle hatten zugestimmt. Trautman hatte dem Kater einen Zettel ins Maul gesteckt, auf dem er André mit wenigen und bewußt vage gehaltenen Worten bat, zum Strand hinunterzukommen, wo sie sich treffen wollten. Selbst wenn dieser Zettel Serena oder einem Angehörigen des Volkes in die Hände fallen sollte, würden sie nichts damit anfangen können, denn sie konnten die heutige Schrift ja nicht lesen.
Endlich war es soweit, und sie verließen die Hütte auf der Klippe und machten sich wieder auf den Weg zum Korallenwald. Während sie den Hang hinuntergingen, blieb Mikes Blick wieder an den bizarren Türmen und Mauern der Alten Stadt hängen, die sich auf der anderen Seite der Bucht erhob. Der Anblick war noch unheimlicher als das erste Mal, jetzt, wo er wußte, welche Wesen diese Stadt bewohnten. Vielleicht war es Einbildung, aber er glaubte zu spüren, daß von dieser Stadt etwas Ungutes ausging, als wäre dort drüben irgend etwas, was lauerte und wartete, etwas Uraltes und Mächtiges, das einen unsichtbaren Schatten über die Bucht warf.
Sie waren nun am Fuße des Hügels und am Fluß angekommen, überschritten aber nicht die Brücke, sondern wandten sich nach rechts und folgten einem schmalen Weg, der durch den Korallenwald führte und schon nach wenigen Minuten am Strand endete.
Trautman deutete ihnen mit einer Geste, zurückzubleiben, und lief zusammen mit Singh los, um die Umgebung zu überprüfen. Trautman selbst kam schon nach ein paar Minuten zurück. Er sah nicht mehr so besorgt drein, blieb aber trotzdem angespannt und ermahnte auch die Jungen, sich ruhig zu verhalten und genau zu tun, was er ihnen sagte.
Mike beunruhigte dieses Verhalten mehr, als er im ersten Augenblick zugeben wollte. Der Strand lag zwar ruhig und menschenleer vor ihnen, aber das mußte ja nicht bedeuten, daß sich niemand im Korallenwald versteckt hatte. Doch sie erreichten unbehelligt das Wasser und stiegen in ein kleines Ruderboot, das dort auf sie wartete. Trautman hatte ihre Flucht offensichtlich gründlich vorbereitet.