Als das Bild auf dem Schirm verblaßte und er das Gerät automatisch abgeschaltet hatte, kehrten Mac Hoerwitz’ Gedanken allmählich in die Gegenwart zurück. Den letzten Akt hatte er kaum noch mitbekommen. Wenigstens wußte er es nicht so recht. Er kannte Shakespeares Der Sturm fast auswendig, so daß er nicht sicher sein konnte, ob er die letzten Worte Prosperos wirklich gehört hatte.
Zwei Dinge waren es, die seine Aufmerksamkeit zu sehr in Anspruch genommen hatten. Das eine war der Schmerz an jener Stelle, an der vorher noch der Nagel seines linken Zeigefingers gewesen war. Das andere war die nahezu ernsthafte Beschäftigung mit der Frage, ob Shakespeare jemals einen Charakter wie Mr. Smith geschaffen hatte. Zwischen beiden Problemen bestand ein enger Zusammenhang, wenn es auch nicht Smith gewesen war, der seinen Fingernagel entfernte, sondern Jones, dem er den Befehl dazu erteilt hatte.
Hoerwitz bezweifelte stark, daß Shakespeare mit einem Menschen wie Smith als Schurken zufrieden gewesen wäre — dazu war Smith zu einfach und unkompliziert. Der Kerl wußte, was er wollte, und er kümmerte sich einen Dreck darum, ob sich jemand daran stieß. Er war ein zu groß geratenes Kind, mehr nicht.
Shakespeare hätte ihn glaubhafter gestaltet.
Eine interessante Frage, die ihm jedoch nicht weiterhalf, denn seine augenblickliche Lage erinnerte ihn eher an eine Situation aus einem billigen Melodrama, als an ein sorgfältig durchdachtes Shakespeare-Stück. Der Held, von bewaffneten Banditen gefangengenommen, sah sich in einer aussichtslosen Situation und sollte nun gezwungen werden, bei einem grandiosen Diebstahl mitzuhelfen.
Sicher, nach gewissen literarischen Regeln hätte er jetzt den Helden spielen und sich selbstverständlich weigern müssen, dem Verlangen der Kerle nachzugeben. Aber Hoerwitz war kein Held.
Er war einundachtzig Jahre alt, knapp einsachtzig groß und wog hundert Pfund. Die Schwerkraft der Erde hätte ihn hilflos zu Boden gedrückt.
Trotz der Schmerzen an der linken Hand mußte er lächeln, als er an seine erste Begegnung mit Smith und seinen drei Freunden dachte. Ihre fassungslosen Gesichter würde er nie in seinem Leben vergessen.
Sie hatten sich große Mühe gegeben, möglichst unbemerkt heran-zukommen. Statt sich dem erdnahen Punkt der Station, dem Perigäum, zu nähern, zogen sie es vor, das Apogäum anzufliegen.
Das hatte natürlich zwei gute Gründe: Sie konnten ziemlich sicher sein, daß kein anderes Schiff sie bemerkte, und zweitens war es so gut wie unmöglich, von der Erde aus beobachtet zu werden. Selbst auf eine Entfernung von zweihundertfünfzigtausend Kilometern ist ein Asteroid von nahezu zwei Kilometern Durchmesser mit dem bloßen Auge zu erkennen. Ein Raumschiff aber wird in einem guten Teleskop erst dann sichtbar, wenn man weiß, wo man suchen muß.
Es handelte sich mehr um ein Rendezvous-Manöver als um eine richtige Landung, denn auf dem Asteroiden wog ein Mann nicht mehr als ein paar Gramm, auch wenn er einen schweren Raumanzug trug. Das Manöver war so vorsichtig und behutsam vor sich gegangen, daß Hoerwitz von der Erschütterung nichts merkte. Vielleicht hatte er sich auch zu sehr vom Hamlet fesseln lassen. Das Eindringen der Männer in die Kuppel bedeutete ebenfalls kein Problem, denn die Luftschleuse konnte auch von außen bedient werden — eine Vorsichtsmaßnahme für den Notfall.
Bisher war noch niemand auf die Idee gekommen, eine Asteroidenstation zu berauben.
So also gelangten Smith und seine drei Begleiter in das Innere der Station, segelten den Korridor entlang und kamen schließlich unangefochten bis zum ausgehöhlten Mittelpunkt des kleinen Himmelskörpers. Mac Hoerwitz wurde erst auf die Eindringlinge aufmerksam, als Fortinbras etwas hinter ihm sagte und er das Licht anschaltete.
Hamlet hatte plötzlich vier weitere Zuschauer. Und alle vier waren bis an die Zähne bewaffnet.
Er betrachtete sie verblüfft, und sie schienen genauso überrascht zu sein, als sie seine schmächtige Figur abschätzten.
Offensichtlich hatten sie mit einem kräftigeren Individuum gerechnet — nicht mit einem schmalen, alten Mann.
Smith steckte die Pistole weg, und die anderen folgten seinem Beispiel.
„Tut mir leid, wenn wir Sie stören, Mr. Hoerwitz“, sagte er.
„Ein gutes Stück, wirklich. Bei Gelegenheit werden wir es uns einmal ganz ansehen. Wir haben ja noch Zeit in den nächsten Tagen.“
Es war schwer für Mac, die Höflichkeit des Mannes mit seiner Bewaffnung in Einklang zu bringen.
„Wenn Sie sich nur meine Bildkonserven ansehen wollen, sind die Waffen überflüssig“, sagte er schließlich. „Ich wüßte auch nicht, was ich Ihnen sonst zu bieten hätte — außer einer Unterkunft und einer Funkapparatur. Haben Sie Ärger mit dem Schiff?
Vielleicht habe ich Ihren Notruf überhört? Zugegeben, ich war vielleicht ein wenig abgelenkt…“
„Es wäre eine schöne Enttäuschung für uns gewesen, wenn Sie uns zu früh bemerkt hätten, denn wir haben uns alle Mühe gegeben, so unauffällig wie möglich zu landen. Sie irren noch in einem weiteren Punkt: Sie haben uns mehr zu bieten als nur Unterkunft und Sender. Um es kurz zu machen: Unser Schiff wiegt viertausend Tonnen. Wenn wir diesen Asteroiden verlassen, wird es zehntausend wiegen. Sechstausend Tonnen werden aus Isotopen der Klasse IV bestehen.“
„Sie wollen sechstausend Tonnen nuklearen Treibstoff an Bord nehmen? Sie müssen verrückt geworden sein! Es würde allein sechzig Stunden dauern, alle Konverter umzuprogrammieren, denn nur einer von ihnen erzeugt im Augenblick Isotope der Klasse IV. Die übrigen sind mit anderen Programmen beschäftigt.
Es sind auch nicht genügend Rohstoffe vorhanden — es sei denn, Sie machen sich daran, hier in der Höhle Felsgestein zu schlagen und selbst zu den Konvertern zu bringen. Unter normalen Umständen würde es ein Jahr dauern, die von Ihnen verlangte Menge zu erzeugen, das bürokratische Beiwerk einbezogen.“
„Auf das verzichten wir, wie Sie inzwischen bemerkt haben dürften. Sie werden die Konverter umprogrammieren und uns auch die nötigen Rohstoffe aufbereiten. Ich würde Sie auch noch mit der Spitzhacke losschicken, aber ich gebe zu, daß zwischen Ungesetzlichkeit und Unmöglichkeit ein gewisser Unterschied besteht. Eines aber begreife ich nicht: Wie ist es möglich, daß man ein Wrack wie Sie auf einen so verantwortungsreichen Posten gesetzt hat?“
Mac Hoerwitz errötete. Eine ähnliche Einstellung war er gewohnt, denn er hatte viel mit jungen Menschen zu tun, aber sie verbargen ihr Erstaunen normalerweise unter einer Maske der Höflichkeit.
„Woanders kann ich nicht leben“, erklärte er kurz angebunden.
„Die normale Erdgravitation ist für mein Herz, meine Muskeln und Knochen lebensgefährlich. Andere Leute fürchten sich vor den medizinischen Auswirkungen der Schwerelosigkeit — ich nicht. Muskeln sind mir unwichtig, und mein Familienleben ist schon vor einem halben Jahrhundert zu Ende gegangen. Der Job hier ist gut genug für mich, und ich für ihn. Aus diesem Grund habe ich die Absicht, ihn zu behalten. Ich werde Ihren Wünschen also nicht entsprechen und die Konverter nicht umprogrammieren.
Ich wette, Sie können es ohne meine Hilfe nicht.“
Smith zog seine Pistole und betrachtete sie nachdenklich. Der alte Mann nickte und fuhr fort:
„Das ist natürlich ein Argument, zugegeben. Ich möchte noch nicht sterben, aber wenn Sie mich töten, bringt Sie das auch nicht weiter.“ Mac fand, daß er sich gar nicht so als Held fühlte, wie er sich gab. In seinem Magen zog sich etwas zusammen, als er die Waffe anstarrte. Immerhin mußte er sein Gegenüber überzeugt haben, denn mit einem Seufzer steckte Smith die Waffe wieder fort.
„Sie haben recht“, gab er zu. „Ich habe auch nicht die Absicht, Sie umzubringen, denn ich brauche Ihre Hilfe. Wir haben uns eine bessere Methode ausgedacht. Mr. Jones, würden Sie damit beginnen? Stufe Eins des Überredungsplans.“