plötzlich. Vor einer Sekunde war das Meer noch leer und dann waren sie da.« Mike trat langsam, mit zitternden Knien und klopfendem Herzen, näher an das Bullauge heran. «Wo ist Argos?«, fragte er. »Dort drüben, im hinteren Teil.« Serena trat neben ihn und deutete mit zitternder Hand auf das abgebrochene Heck des Schiffes. Ihr Gesicht war totenbleich und ihre Augen waren groß und dunkel vor Furcht. »Zusammen mit Singh«, fuhr sie fort. »Sie haben die beiden vorderen Trümmerstücke abgesucht und nichts gefunden«, erklärte Trautman vom Steuerpult her. »Aber kaum waren sie im Wrack, da tauchten die Haie auf. Als hätten sie auf uns gewartet.« »Mach dir keine Sorgen«, antwortete Mike, zu Serena gewandt. »Den beiden kann nichts passieren, solange sie im Schiff bleiben.« »Aber sieh dir diese Ungeheuer doch an!«, protestierte Serena. »Ein paar davon sind so groß, dass sie selbst in einem Taucheranzug nicht mehr vor ihnen sicher sind.« »Ja, aber die können nicht ins Schiff«, erwiderte Mike. Er wusste nicht, ob er Recht hatte oder nicht. Er wollte Serena nur beruhigen. Die abgrundtiefe Furcht, die er in ihren Augen las, schnürte ihm die Kehle zusammen. So fuhr er fort: »Und gegen die kleinen Haie bieten die UnterwasseranzügegenügendSchutz.« »Du sagst es, Mike -solange sie das Wrack nicht verlassen«, sagte Trautman. Er kam mit langsamen Schritten um das Steuerpult herum und trat zwischen Serena und ihn. Dabei legte er die rechte Hand auf Serenas Schulter, um sie zu trösten. Aber sie streifte seinen Arm ab und trat einen halben Schritt zur Seite. Trautmans Gesicht verdüsterte sich, doch er sagte nichts dazu, sondern fuhr fort: »Sie haben noch Sauerstoff für eine halbe Stunde. Und danachmüssensie herauskommen.«
»Wir müssen irgendetwas tun«, sagte Serena. »Wir müssen sie verscheuchen.« »Das ist unmöglich«, sagte Trautman leise. »Aber warum nicht?!«, fragte Serena. »Das Schiff ist bewaffnet! Und wir könnten « »Was?«, unterbrach sie Juan. »Mit Torpedos auf die Haie schießen? Oder in die Taucheranzüge steigen und sie mit Harpunen erlegen?« Er lachte hart. »Wenn es drei oder vier wären oder meinetwegen ein Dutzend ... aber so?« Mikes Gedanken überschlugen sich. Natürlich hatte Serena Recht: Sie mussten irgendetwas tun, um Argos und vor allem Singh! - aus dieser Gefahr zu befreien. Aber ein einziger Blick aus dem Fenster zeigte ihm auch, wie sinnlos jede Idee war, die ihm kommen wollte: Es waren Haie der verschiedensten Gattungen und Größe, die das Wrack am Meeresboden umkreisten; einige davon kaum so lang wie sein Arm, andere riesige, sieben oder acht Meter lange Giganten, vor deren Gebissen selbst die Unterwasseranzüge keinen Schutz mehr bieten würden. »Wir könnten die NAUTILUS ein gutes Stück näher heranbringen«, sagte Trautman leise. »Es ist nicht ganz ungefährlich. Der Meeresboden ist uneben hier und einige dieser Trümmerstücke könnten selbst das Schiff beschädigen, aber ich glaube, ich könnte sie auf zwanzig Meter heranmanövrieren.« Er ging zurück zum Steuerpult und sagte: »Sucht euch einen festen Halt. Es könnte ein bisschen holperig werden.« Alle mit Ausnahme Serenas und Mikes, der nicht von ihrer Seite weichen wollte, gehorchten seinem Rat. Juan gesellte sich zu Trautman, um ihm an den Kontrollinstrumenten zu helfen, während sich Ben und Chris mit beiden Händen am Tisch festklammerten. Es vergingen nur wenige Augenblicke, da hob die NAUTI-LUS scheinbar schwerelos vom Meeresboden ab und begann ganz langsam weiter auf das Wrack zuzugleiten.
Hier unten herrschte offenbar eine starke Strömung, denn das Schiff zitterte und bebte ununterbrochen und Mike konnte jetzt auch wieder hören, wie der Rumpf unter dem enormen Wasserdruck ächzte. Mehr als einmal schlug etwas mit einem harten, metallischen Geräusch gegen den Schiffsrumpf; die Laute hallten wie Glockenschläge im Schiff wider und ließen Mike erschauern. Und einmal schrammte etwas mit einem schrecklichen Geräusch unter dem Boden der NAUTI-LUS entlang: wie eine Messerklinge, die über Glas fuhr. Doch letzten Endes hielt das Schiff auch dieser weiteren Belastungsprobe stand und es gelang Trautman, die NAUTILUS tatsächlich nicht nur bis auf zwanzig, sondern allerhöchstens fünfzehn Meter an das abgebrochene Heck des Wracks heranzubringen, bevor das Unterseeboot wieder auf den Meeresboden herabsank. Für etliche Minuten waren sie so gut wie blind, denn ihr Manöver hatte den feinen Schlick vom Meeresboden aufsteigen lassen, der nun wie Nebel im Wasser hing und selbst das Licht der Scheinwerfer verschluckte. Aber in dem unwirklichen graubraunen Schleier, der sich vor dem Fenster ausgebreitet hatte, zuckten immer wieder schlanke, silberfarbene und weiße Schatten auf und die Haie kamen der NAUTILUS nun merklich näher als bisher. Etliche von ihnen strichen so dicht am Bullauge entlang, dass Mike direkt in ihre schwarzen, unergründlichen Augen sehen konnte. »Wie lange reicht ihr Sauerstoff noch?«, fragte Ben. Mike drehte sich nicht vom Fenster weg, als er Trautmans Stimme hörte. »Vielleicht zwanzig Minuten, wahrscheinlich weniger.«
»Und ... was tun wir nun?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman.
»Aber wir ... wir können doch nicht einfach dastehen
undnichtstun!«, flüsterte Serena.
»Das sagt ja auch keiner«, erwiderte Trautman. »Aber
wir helfen Singh und deinem Vater nicht, wenn wir einfach blindlings hinausstürmen und selbst dabei umkommen. Noch ist etwas Zeit. Ich bin sicher, dass uns etwas einfällt, wenn wir einen kühlen Kopf bewahren und jetzt nicht in Panik geraten.«»Einen kühlen Kopf bewahren?!«Serenas Stimme kippte fast über. »Sie werdensterben! Sie haben die Wahl, zu ersticken oder von diesen Ungeheuern getötet zu werden!« »Vielleicht könnten wir einen Art Schutz bauen«, schlug Juan vor. »In unseren Laderäumen liegt genug Material. Es sind nur zehn oder fünfzehn Meter. Wenn wir so eine Art Tunnel errichten, durch den wir zu dem Schiff kommen ...« »Eine gute Idee«, sagte Trautman, »aber dazu fehlt uns die Zeit.« Juan erwiderte irgendetwas, was Mike schon gar nicht mehr hörte. Serenas letzte Worte hallten hinter seiner Stirn wider.Sie werden sterben!Er konnte es nicht zulassen. Astaroth war gestorben, weil er nichts getan hatte, um ihm zu helfen, und nun trennten Singh nur mehr fünfzehn oder zwanzig Minuten vom sicheren Tod - wieder würde er dabeistehen und tatenlos zusehen. Nein! Er hatte einmal versagt, als einer seiner Freunde in höchster Not gewesen war, und das würde sich nicht wiederholen! Und wenn es sein eigenes Leben kostete! Während Serena, Juan, Ben und Trautman weiter miteinander diskutierten, trat er langsam vom Fenster zurück, drehte sich herum und verließ den Salon, ohne dass einer der anderen es auch nur merkte.
Mike überprüfte pedantisch den Sitz seines Unterwasseranzuges, tastete mit den Fingern ein letztes Mal sichernd über die schweren Messingbolzen, die den Helm verriegelten, und nickte dann zufrieden. In einer Wassertiefe wie dieser konnte er sich keine Unachtsamkeiten erlauben. Ein winziger Riss, ein noch so
kleiner Spalt -und das Wasser würde mit der Gewalt eines Schwerthiebes in seinen Anzug hineinschießen und ihn auf der Stelle töten. Unter dem Gewicht der drei Sauerstoffflaschen wankend, streckte er den Arm aus und betätigte den Schalter, der die Pumpen in Gang setzte. Die innere Tür der Schleuse hatte er bereits verriegelt und er hatte auch dafür gesorgt, dass niemand sie von außen öffnen konnte; zumindest nicht schnell genug, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Das Wasser schoss sprudelnd in die Kammer. Um Mikes Füße bildeten sich kleine Wirbel, die rasch höher stiegen, seine Waden, die Knie und dann die Hüften erreichten und binnen weniger als einer Minute war die Kammer bis unter die Decke mit eiskaltem Wasser gefüllt. Mike streckte ein zweites Mal die Hand aus, zögerte noch einen letztenHerzschlag lang und drückte dann entschlossen auf den Öffnungsknopf. Das äußere Schleusentor glitt auf und Mike blinzelte geblendet in das grelle Licht der Scheinwerfer, die den Meeresboden vor der NAUTILUS mehr als taghell erleuchteten. Sein Herz begann zu klopfen, als er sah, wie nahe die Haie waren. Eine Sekunde lang fragte er sich allen Ernstes, ob er den Verstand verloren hatte. Auch nur einen Schritt dort hinaus zu tun war glatter Selbstmord. Trotzdem tat er es. Der Meeresgrund war an dieser Stelle so weich, dass bei jedem Schritt unter seinen Füßen eine braungraue Sandwolke emporwirbelte, die fast bis zu seiner Brust stieg. Er hatte das Gefühl, durch zähen Sumpf zu laufen, der sich an seine Beine klammern wollte, und das Gewicht der Sauerstoffflaschen drückte ihn unbarmherzig nach vorne. Er machte drei, vier mühsame Schritte, bei denen er jedes Mal mehr Sand hochwirbelte, und es kam ihm vor, alsentferneer sich von dem Wrack, statt ihm näher zu kommen.
Wie durch ein Wunder hatten die Haie bisher noch keinerlei Notiz von ihm genommen. Sie umkreisten weiterhin das Wrack. Viele von ihnen kamen ihm dabei so nahe, dass sie mit Flossen oder Rücken über das rostig gewordene Metall streiften. Und tatsächlich versuchten nicht wenige der grauen Killer ins Innere des Schiffes vorzudringen. Allerdings war es so, wie er vermutet hatte: Nur die kleinen, relativ ungefährlichen Tiere waren in der Lage, in das Schiff hineinzuschwimmen. Noch waren Singh und Argos dort drinnen also in Sicherheit. Mike schleppte sich mühsam weiter. Er begann seine Schritte zu zählen und er hatte noch nicht die Hälfte der Entfernung zum Wrack zurückgelegt, als das geschah, was er insgeheim schon in der ersten Sekunde befürchtet hatte: Die Haie entdeckten ihn. Ein kleineres, kaum einen halben Meter langes Tier schoss plötzlich auf ihn los und schwenkte erst so dicht vor ihm zur Seite, dass Mike bereits alle Muskeln anspannte, um den erwarteten Anprall abzufangen. Dem ersten Tier folgte ein zweites, größeres, dann ein drittes und viertes; und plötzlich war auch Mike von einer wirbelnden Schar tanzender, das Wasser peitschender Haie unigeben -doch zu seinem großen Erstaunen griff ihn keines der Tiere direkt an. Mike versuchte den lebendigen Schutzwall, der sich rings um ihn herum aufgetürmt hatte, mit Blicken zu durchdringen. Es gelang ihm. Er sah das Schimmern von Licht auf Metall und setzte seinen Weg in diese Richtung fort. Schließlich hatte er es geschafft: Unter seinen tastenden Händen war plötzlich Metall. Die Haifische bedrängten ihn immer noch, aber er hatte das Wrack erreicht und dieser Erfolg gab ihm noch einmal neue Kraft. Er tastete sich weiter, versuchte die Haie davonzuscheuchen, und sah schließlich einen Einstieg vor sich.
Mit dem schweren Taucheranzug und der zusätzlichen Last der beiden Flaschen kostete es Mike all seine Kraft, nach dem Rand der Luke zu greifen und sich hinaufzuziehen. Als er es fast geschafft hatte, kam ihm ein grauer Schemen aus dem Schiff entgegengeschossen, traf seine Schulter und warf ihn zurück. Mike stürzte nach hinten, fiel in den Sand und blieb einen Moment hilflos wie eine auf den Rücken gefallene Schildkröte liegen, ehe es ihm irgendwie gelang, sich herumzuwälzen und auf Hände und Knie hochzustemmen. Er griff ein zweites Mal nach dem Rand der Luke, zog sich mit zusammengebissenen Zähnen und unter Aufbietung aller seiner Kräfte daran empor -und wieder schoss ein Hai heran und rammte ihm die stumpfe Schnauze in die Seite. Diesmal war es einer der großen, weißen. Ein mehr als vier Meter langes Exemplar, dessen Aufprall ihn wie ein Hammerschlag traf. Mike verlor seinen Halt, schrie gellend auf und überschlug sich zweimal, bevor er erneut, aber sehr viel härter, auf den Meeresboden krachte. Alles drehte sich um ihn. Als er wieder klar sehen konnte, bot sich ihm ein ganz und gar unglaubliches Bild: Er sah eine Gruppe von vier oder fünf ganz besonders großen Haien direkt auf sich zu schießen. Angeführt wurden sie von einem wahrhaft gigantischen Exemplar, einem Tier von der Größe eines kleinen Schiffes, das Tonnen wiegen musste, sich aber pfeilschnell durch das Wasser bewegte. Das aber war es nicht, was Mike schier an seinem Ver
stand zweifeln ließ. Es war der schwarze, einäugige Kater, der auf dem Rücken des Riesenhaies saß und
das Tier mit Fauchen und Krallenbewegungen ganz offen
sichtlich lenkte!
Mike blinzelte. Der Hai kam mit seinem ungewöhnli
chen Reiter näher, glitt kaum auf Armeslänge an ihm
vorbei und war dann verschwunden. Mühsam stemmte
sich Mike in die Höhe, drehte sich herum und versuch
te, ihm mit Blicken zu folgen, aber das Tier hatte den
Bereich greller Helligkeit, den die Scheinwerfer der NAUTILUS in die ewige Nacht hier unten warfen, bereits verlassen. Natürlich war das, was er gesehen hatte, vollkommen unmöglich. Astaroth war tot. Er war vor seinen Augen gestorben! Und selbst, wenn nicht, dann würde er wohl kaum in mehr als dreitausend Metern Wassertiefe rittlings auf einem Hai herankommen. Seine überreizten Nerven, seine Furcht und der Schmerz um den Verlust des Katers hatten ihm einen Streich gespielt, das war alles. Mühsam drehte er sich herum, schleppte sich zum Schiff zurück und versuchte zum dritten Mal, nach dem Lukenrand zu greifen. Es gelang ihm, aber seine Kraft reichte nicht mehr aus, sich selbst und das Gewicht der Ausrüstung nach oben zu ziehen. Plötzlich berührte ihn etwas an der Schulter. Mike senkte den Blick. Sein Herz machte einen erschrockenen Sprung, als er sah, dass sich ihm zwei Haifische von rechts und links gleichzeitig genähert hatten. Ihre stumpfen Schnauzen glitten über seinen Anzug; sicherlich aus keinem anderen Grund als dem, eine passende Stelle zu suchen, um zuzubeißen - und dann hoben die Tiere ihn vollkommen mühelos in die Höhe, bugsierten ihn auf die Luke zu und versetzten ihm einen Stoß, der ihn kopfüber in das Innere des Schiffes beförderte! Mike überschlug sich, prallte gegen eine Wand und schlitterte haltlos die schräge Ebene hinab, die einmal die Seitenwand des Korridors gewesen war. Scharfkantige Trümmerstücke kratzten über seinen Anzug, beschädigten ihn aber wie durch ein Wunder nicht. Und dann bremste irgendetwas sehr unsanft seinen Sturz. Mit klopfendem Herzen richtete Mike sich auf und sah sich um. Ringsum herrschte vollkommene Dunkelheit. Der Einstieg lag vier oder fünf Meter über ihm - ein vom Licht der Scheinwerfer hell erleuchtetes Rechteck, von dem
jedoch nicht genug Helligkeit ausging, um sich auch hier drinnen zu orientieren. Immerhin sah er jedoch, dass er nicht allein war. Vier oder fünf kleinere Haifische waren mit ihm hereingeschwommen und umkreisten ihn, neugierig oder auch lauernd - das vermochte er nicht zu sagen. Es spielte auch keine Rolle.DieseTiere waren keine Gefahr. Mike richtete sich weiter auf, suchte mit weit ausgebreiteten Armen nach Halt und tastete über die Wände. Wo waren Singh und Argos? Das abgebrochene Heck des Schiffes war nicht besonders lang. Acht, vielleicht zehn Meter, so dass von dem Korridor, der einmal der Mittelgang des Schiffes gewesen sein musste, nur drei oder vier Türen abgingen. Die erste, an der er rüttelte, war verschlossen, während sich die zweite so plötzlich bewegte, dass Mike mit einer erschrockenen Bewegung zurückprallte. Er hatte nicht vergessen, was ihm bei seinem ersten Besuch im Schiffswrack um ein Haar zugestoßen wäre. Dann jedoch sah er einen schwachen Lichtschimmer durch den Spalt einer anderen Tür fallen. Mühsam auf Händen und Knien kriechend, um auf der Schräge nicht wieder das Gleichgewicht zu verlieren und das ganze Stück zurückzurutschen, das er sich gerade erst so mühsam hinaufgekämpft hatte, bewegte er sich darauf zu, öffnete mit einiger Anstrengung die Tür und warf einen Blick in den dahinter liegenden Raum. Nur ein kurzes Stück hinter der Tür lagen zwei reglose Gestalten in Taucheranzügen. Mike kroch hastig durch die Tür und sprang die zwei Meter zum Boden hinab. So schnell er konnte, bewegte er sich auf die erste Gestalt zu, drehte sie mit einiger Mühe auf den Rücken und sah durch die Sichtscheibe des Helmes. Es war Argos. Der Atlanter hatte das Bewusstsein verloren. Die Innenseite der Scheibe war beschlagen -ein deutliches
Zeichen dafür, wie schlecht die Atemluft in seinen Tanks bereits war, und vielleicht lebte er auch schon gar nicht mehr. Mike verschwendete jedoch keine Zeit darauf, ihn zu untersuchen, sondern bewegte sich hastig weiter, erreichte Singh und streifte mit einer einzigen Bewegung die beiden Flaschen von den Schultern. Mit fliegenden Fingern schraubte er den Atemschlauch von Singhs Sauerstoffflasche, befestigte ihn am Ventil eines der frischen Tanks und drehte es auf. Erst dann kniete er neben Singh nieder und wälzte ihn mühsam auf den Rücken; mit klopfendem Herzen und fast verrückt vor Angst, einen Blick durch die Helmscheibe zu werfen und feststellen zu müssen, dass er zu spät gekommen war. Aber er war es nicht. Singh lebte. Er hatte die Augen geschlossen und schien bewusstlos zu sein wie Argos, doch sein Atem ging schnell und stoßweise und als der frische Sauerstoff zischend in seinen Helm strömte, da konnte Mike sehen, wie er tief und gierig einzuatmen begann. Schon nach wenigen Augenblicken flatterten Singhs Lider und er öffnete die Augen, blinzelte einen Moment lang, dann erkannte er Mike. »Argos ...«, murmelte er. »Hilf... ihm. Sein Sauerstoff ... geht zu Ende.« In der ersten Sekunde war Mike einfach fassungslos. Selbst jetzt schien Argos' geistiger Einfluss noch weit genug zu reichen, um Singhs ersten Gedanken ihm und nicht sich selbst gelten zu lassen. Trotzdem hatte der Inder natürlich Recht. Mike war nicht hierher gekommen, um ihn sterben zu lassen. So ging er rasch zu Argos hinüber, tauschte auch dessen verbrauchte Sauerstoffflasche gegen eine neue aus und öffnete das Ventil. Danach aber kehrte er sofort wieder zu Singh zurück. Sein ehemaliger Leibwächter hatte sich mittlerweile in eine halb sitzende Position hochgestemmt; der frische Sauerstoff, der nun in seinen Anzug strömte, schien wahre Wunder zu tun. Seine
Bewegungen wirkten noch ein bisschen benommen, aber als Mike ihm ins Gesicht sah, da waren seine Augen klar und sein Blick fest. »Wie kommst du hierher?«, fragte Singh. Bevor Mike antworten konnte, fuhr er kopfschüttelnd fort: »Ich hatte schon mit dem Leben abgeschlossen. Ich dachte, alles wäre aus. Ganz plötzlich waren die Haifische da, unvorstellbar viele.« »Ich weiß«, antwortete Mike. »Aber wo sind sie alle hergekommen? Und was wollten sie?« Mike zuckte nur mit den Schultern, drehte sich aber halb herum und warf einen bezeichnenden Blick auf Argos. Auch der Atlanter hatte sich mittlerweile zu bewegen begonnen, schien aber weitaus größere Schwierigkeiten zu haben als Singh, wieder zu klarem Bewusstsein zurückzufinden. »Sind sie fort?«, fuhr Singh fort. Mike sah ihn an. »Die Haie?« Singh nickte. Um nicht auf seine Frage antworten zu müssen, stellte Mike eine eigene: »Habt ihr die Männer gefunden?« »Drei von ihnen«, bestätigte Singh. »Für die anderen besteht wohl keine Hoffnung mehr. Sie müssen aus dem Schiff geschleudert worden sein, als es in Stücke gebrochen ist. Es ist zwecklos, nach ihnen zu suchen.« »Wo sindsie?« Singh deutete zur Tür, die sich jetzt über ihren Köpfen befand. »Im Raum gegenüber. Wir werden Werkzeuge und Tragen brauchen, um sie aus dem Schiff zu befreien. Sie sind zu schwer, um sie ohne diese Hilfe zur NAUTILUS zu schaffen.«
»Wir haben das Schiff näher herangebracht«, antwortete Mike. »Es sind nur noch fünfzehn Meter. Ruh dich erst einmal aus und versuche, wieder zu Kräften zu kommen.« Er zögerte einen Moment, in dem er sich zu Argos herumdrehte und ihm einen finsteren Blick zuwarf, dann fügte er etwas leiser hinzu: »Danach werde ich dir das eine oder andere über unseren Freund Argos erzählen.« Singh blickte ihn fragend an, aber Mike ging nicht weiter darauf ein, sondern drehte sich nun vollends zu Argos herum und ging vor ihm in die Hocke, so dass er durch seinen Helm sehen konnte, Argos' Gesicht war noch immer so unnatürlich blass und ausgezehrt wie zuvor. Er atmete schnell und stoßweise und Mike konnte sehen, dass an seinem Hals eine Ader pochte. Der frische Sauerstoff hatte ihn aus der Bewusstlosigkeit geweckt, doch es war deutlich zu erkennen, dass er am Ende seiner Kräfte war. Als er Mikes Blick spürte, hob er den Kopf und sah ihn ein oder zwei Sekunden lang wortlos an. Dann sagte er ganz leise: »Das wird nicht nötig sein.«Irgendetwasgeschah. Mike konnte fast körperlich spüren, wie sich in seiner Umgebung etwas Unsichtbares, aber sehr Starkes bewegte ... Nein: nicht bewegte.
Verschwand.
Und kaum eine Sekunde später sog Singh erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein und stieß einen kleinen, überraschten Laut aus. Eine weitere Sekunde darauf sprang er trotz des schweren Taucheranzuges mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe und trat drohend auf Argos zu. »Das haben Sie getan?!«, fuhr er den Atlanter an. Argos hob nun wieder den Kopf. »Es tut mir sehr Leid«, sagte er. »Es musste sein. Mir ist klar, dass Sie mir nicht glauben werden, aber ich sage die Wahrheit: Ich hatte keine andere Wahl.« »Oh, so einfach ist das?«, fauchte Singh. Seine Stimme zitterte. Trotz des Unterwasseranzuges konnte Mike sehen, unter welcher Spannung der Inder plötzlich stand. Er konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so wütend erlebt zu haben. »Sie haben uns alle in Lebensgefahr gebracht!« sagte er zornig. »Und nicht nur das. Sie haben -«
»Jetzt nicht, Singh«, sagte Mike. Zum allerersten Mal, seit er den Sikh kannte, war Singh ganz dicht davor, die Beherrschung zu verlieren und etwas zu tun, was er vielleicht später bereuen würde, das spürte Mike ganz genau. Aber noch vor wenigen Stunden war es ihm ja ganz genauso ergangen. »Was ist mit den anderen?«, fragte er in scharfem Ton, an Argos gewandt. »Sie sind frei«, erwiderte der Atlanter. »Alle?«, vergewisserte sich Mike. Argos nickte. Seine Schultern sanken erschöpft nach vorne und er schloss für einen Moment die Augen. »Meine Kräfte hätten sowieso nicht mehr gereicht, sie lange zu beherrschen«, sagte er. »Es ist sehr mühsam, den freien Willen eines Menschen zu unterdrücken.« »Und für wie lange?«, fauchte Singh. »Wollen Sie sich nur ein wenig ausruhen, um uns dann erneut zu ...Marionettenzu machen?« Argos schüttelte langsam den Kopf. »Ich habe erreicht, was ich wollte«, antwortete er im Flüsterton. »Ich hoffe, ihr könnt verstehen, warum ich so handeln musste. Aber wenn nicht, dann bin ich bereit, die Konsequenzen zu tragen.« Mike sagte nichts dazu, aber Singh nickte grimmig. »Das werden Sie«, sagte er. »Das hat Zeit bis später«, sagte Mike rasch. »Jetzt haben wir ein ganz anderes Problem. Wir müssen zurück zur NAUTILUS. Und draußen wimmelt es immer noch von Haifischen!« Singh sah erschrocken hoch, aber Argos wirkte nicht im mindesten überrascht; eine Reaktion, die den geheimen Verdacht, den Mike schon eine geraume Weile hegte, noch weiter schürte.
»Haie?«, wiederholte Singh ungläubig. »Aber ich dachte, sie wären fort.« »Ich fürchte, nein«, erwiderte Mike. »Aber wie ...?«, Singh machte eine unsichere Handbewegung, »... wie bist du denn hierher gekommen?«
»Sie haben mir nichts getan«, antwortete Mike achselzuckend. Den Zusatzganz im Gegenteilschluckte er im letzten Moment herunter. »Sie haben dir nichts getan?«, vergewisserte sich Singh ungläubig. »Aber sie ... sie haben sich wie wild gebärdet. Sie sind auf uns losgegangen wie -« »Bist du da sicher?«, unterbrach ihn Mike. »Ich meine: Bist du sicher, dass sie aufeuchlosgegangen sind?« Singh sah ihn nur verständnislos an, aber Mike drehte sich wieder zu Argos herum und fuhr an den Atlanter gewandt fort: »Oder sind sie vielleicht nur aufSielosgegangen, Argos?« Argos sagte nichts dazu. »So war es doch, nicht wahr?«, fuhr Mike nach einer Sekunde fort. »Diese Haie sind nur Ihretwegen hier, habe ich Recht? Sie waren die ganze Zeit nurIhretwegenin unserer Nähe.« »Ja«, antwortete Argos. »Das heißt, Sie haben die ganze Zeit übergewusst,was passieren würde?«, empörte sich Singh. »Und Sie haben uns nicht gewarnt?«Schlimmer noch,dachte Mike.Er hat uns ganz bewusst in diese Falle hineintappen lassen.Laut sagte er: »Was wollen diese Biester von Ihnen?« Er hatte nicht damit gerechnet, aber er bekam eine Antwort: »Mich«, sagte der Atlanter müde. »Sie wollen nur mich. Und meine Kameraden. Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Ihr seid nicht in Gefahr.« »Nicht in Gefahr?«, keuchte Mike. Er musste daran denken, wie knapp die NAUTILUS und ihre gesamte Besatzung der vollkommenen Vernichtung entgangen war. »Sie hätten uns warnen müssen!«, fuhr er aufgebracht fort. »Um ein Haar wäre Singh ums Leben gekommen! Hätten wir gewusst, was uns erwartet, so hätten wir vielleicht die richtigen Vorbereitungen treffen können!« »Ich sagte bereits mehrmals: Ich dachte, wir hätten sie
abgeschüttelt«, antwortete Argos, eine Spur schärfer als bisher, trotzdem aber immer noch in müdem, resignierendem Ton. Er seufzte. »Ich habe mich wohl geirrt.« Singh antwortete nicht, aber in seinem Gesicht arbeitete es und Mike spürte, dass die Situation zu eskalieren drohte. Auch Singh war ein äußerst stolzer Mann. Als Angehöriger der indischen Kriegerkaste hätte er sich niemals dem Willen eines anderen gebeugt, es sei denn, aus freien Stücken. Schon die Vorstellung, dass Argos ihn während der letzten beiden Tage -und vielleicht schon viel länger! -manipuliert hatte wie eine Marionette, an deren Fäden er zog, musste ihn fast in den Wahnsinn treiben. »Versuchen wir, einen Weg zurück zur NAUTILUS zu finden«, schlug Mike fast hastig vor. Singh brauchte eine Aufgabe, die ihn von seinem Zorn auf Argos ablenkte. »Das dürfte gar nicht so leicht werden. Die Haie werden uns nichts tun, aber ich weiß nicht, wie wir Argos auf das Schiff bekommen sollen.« »Geht ruhig«, antwortete Argos. »Du hast Recht: Sie werden euch nichts tun, sie wollen nur mich. Wenn ihr mich hier zurücklasst, werden sie euch unbehelligt ziehen lassen.« »Kommt überhaupt nicht in Frage«, antwortete Mike.
»So leicht kommen Sie uns nicht davon. Und außerdem wäre dann alles umsonst gewesen, nicht wahr?« »Er hat Recht«, sagte Singh. Als Mike antworten wollte,
hob er rasch die Hand und fuhr fort: »Ich meine nicht damit, dass wir ihn im Stich lassen sollen. Das würde
seinen sicheren Tod bedeuten. Aber wenn es wirklich so ist, wie du sagst, und die Haifische uns nichts tun, dann können wir zur NAUTILUS zurückgehen und versuchen, dort eine Lösung zu finden.« »Der
Sauerstoff in seiner Flasche reicht nicht ewig«, gab Mike zu bedenken. »Eine Stunde ist eine lange Zeit«, erwiderte Singh.
»Wir erreichen nichts, wenn wir alle drei hier herumsitzen und warten, bis uns die Luft ausgeht.« Mike musste sich diesem Argument wohl oder übel beugen. »Also gut«, sagte er schweren Herzens. »Gehenwirzurück. Vielleicht haben Trautman und die anderen ja eine Idee.«
Es war gespenstisch. Die Haifische waren immer noch da und es kam Mike vor, als wären es noch mehr geworden. Die Tiere umkreisten Singh und ihn in dichten, nervösen Schwärmen und wie auf dem Hinweg wurde er ein paarmal angestoßen und gerempelt. Obwohl er sich verzweifelt einzureden versuchte, dass sie nicht in Gefahr waren, hatte Mike Angst wie niemals zuvor in seinem Leben. Und der Rückweg zur NAU-TILUS, der nicht einmal fünf Minuten in Anspruch nahm, schien zu der gleichen Anzahl von Stunden zu werden. Kaum hatten sie die Schleusentür geschlossen und das Wasser herausgepumpt, da wurde Mike von einem sehr wütenden Trautman in Empfang genommen, der zwar sehr erleichtert wirkte, aber geschlagene fünf Minuten damit verbrachte, Mike mit Vorhaltungen zu überhäufen und ihm in den düstersten Farben auszumalen, was ihm alles hätte passieren können. Mike sagte kein Wort dazu. Trautman hatte ja Recht und davon ganz abgesehen kannte er ihn gut genug, um zu wissen, dass es im Moment das Klügste war, ihn einfach reden zu lassen und nicht zu widersprechen. Schließlich war Trautman mit seiner Gardinenpredigt zu Ende und sie gingen zurück in den Salon, wo die anderen bereits auf sie warteten. Ein einziger Blick in ihre Gesichter machte Mike klar, dass Argos Wort gehalten hatte: sie alle wirkten erleichtert, ihn und Singh zu sehen, aber sie sahen zugleich auch zutiefst verstört und beunruhigt aus und offensichtlich kostete es jeden auf seine Weise große Kraft, mit dem Gedanken fertig
zu werden, in den vergangenen Tagen nicht mehr Herr seines Willens gewesen zu sein. Er musste niemandem erklären, was geschehen war; so wie auch er selbst vor einigen Stunden, schienen die anderen im selben Moment, in dem Argos' Bann von ihnen abfiel, begriffen zu haben, was der Atlanter getan hatte. Nur Serena sah nicht zornig drein, sondern nur ein bisschen irritiert und immer noch ängstlich. »Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie, als Mike mit knappen Worten berichtet hatte, wie es ihm ergangen war und wie es außerhalb der NAUTILUS aussah. »Wir müssen diese Ungeheuer vertreiben.« »Das ist völlig ausgeschlossen«, erwiderte Trautman. »Und es ist genauso ausgeschlossen, Argos hierher zu holen«, fügte Mike kopfschüttelnd hinzu. »Auch Singh und ich hätten es kaum zurück zur NAUTILUS geschafft - und dabei haben sie uns nicht einmal angegriffen.« »Wollt ihr ihn etwa seinem Schicksal überlassen?«, fragte Serena aufgebracht. »Ich hätte nicht übel Lust dazu«, grollte Ben. »Der Kerl hätte uns um ein Haar alle umgebracht.« Direkt an Serena gewandt und in spöttischem Ton fügte er noch hinzu: »Dich eingeschlossen, Prinzesschen.« Serena wollte auffahren, aber Trautman erstickte den beginnenden Streit mit einer energischen Handbewegung im Keim. »Genug!«, sagte er. »Ihr habt beide Recht. Wir können ihn nicht zurücklassen, aber er kann auch nicht hierher kommen. Die Haie würden ihn in Stücke reißen.« »Und wenn wir wirklich eine Art Tunnel bauen?«, schlug Juan vor. »Wir haben genug Material an Bord. Nur so etwas wie ein Gitter, ich habe so etwas schon einmal gesehen. Manche Taucher benutzen große Metallkäfige, um sich vor Haien oder anderen Raubfischen zu schützen.« »Vor normalen Haien vielleicht«, antwortete Singh.
»Glaub mir, Juan: Diese Biester dort draußen würden selbst die dicksten Eisenstangen einfach durchbeißen.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Auch ich möchte ihn nicht seinem Schicksal überlassen, ganz gleich, wie wütend ich auch bin. Aber ich sehe keinen anderen Ausweg. Solange er im Schiffswrack ist, ist er in Sicherheit, aber sobald er es verlässt, kriegen sie ihn.« Niemand antwortete, Serena sah schlichtweg entsetzt drein und auch auf den Gesichtern der anderen begann sich ein betroffener Ausdruck breit zu machen. Einzig Trautman wirkte plötzlich sehr nachdenklich und dann sagte er: »Vielleicht ist das die Lösung.« »Was?«, fragte Mike. Auch Singh und die anderen blickten verständnislos drein. »Es ist vielleicht eine verrückte Idee«, murmelte Trautman, aber ... wenn er nicht aus dem Wrack herauskann, dann müssen wir es eben zu uns holen!«
Mike legte den Schweißbrenner aus der Hand und griff mit beiden Händen zu und rüttelte mit aller Kraft an der großen Metallöse, die er im Verlauf der letzten zwanzig Minuten am Rumpf des Wracksfestgeschweißt hatte. Es war eine von fast einem Dutzend gleichartiger Ösen, die sie an ebenso vielen, genau berechneten Punkten am abgebrochenen Teilstück des Schiffes angebracht hatten -ein Unterfangen, das sich als schwieriger erwies, als sie es sich vorgestellt hatten, denn der weitaus größte Teil des Wracks bestand nicht mehr aus Metall. Vielmehr hatte der unheimliche Effekt, der jedes Leben an Bord des Schiffes zum Erlöschen gebracht hatte, auch vor seinem Rumpf nicht Halt gemacht und ihn in eine steinähnliche Substanz verwandelt, der selbst mit einem Schweißbrenner schwer beizukom
men war. Sein Funkgerät knisterte und Trautmans Stimme fragte: »Wie weit bist du?«
»Fertig«, antwortete Mike. »Gut«, sagte Trautman, »dann komm zurück an Bord. Singh und ich erledigen den Rest.« Mike ließ sich kein zweites Mal dazu auffordern. Hastig ergriff er den Schweißbrenner, hängte sich das Gerät über die Schulter und stapfte durch den aufwirbelnden Sand zur NAUTILUS zurück. Auf halbem Wege kam ihm Chris entgegen, der unter dem Gewicht einer zusätzlichen Sauerstoffflasche schwankte. Es war das dritte Mal, dass einer von ihnen den Weg von der NAUTILUS zum Wrack hin mit dieser Last machte. Argos' Atemluft reichte immer für eine gute Stunde, aber wenn sie erst einmal damit begannen, ihren Plan in die Tat umzusetzen, würden sie keine Gelegenheit mehr haben, ihm eine weitere Reserveflasche zu bringen. Mike winkte dem jüngsten Besatzungsmitglied der NAUTI-LUS flüchtig zu und warf einen unsicheren Blick in die Runde; wohin er auch sah, grinsten ihn gefährliche Haifischgebisse an, doch keines der Tiere hatte ihn oder einen seiner Freunde angegriffen, und er beeilte sich, das restliche Stück des Weges noch schneller zurückzulegen. Trautman und Singh traten aus der Schleuse, als Mike näher kam. Trautman gab ihm noch einige knappe Anweisungen, dann betrat er das Schiff, schloss das äußere Schott und wartete ungeduldig darauf, dass die Schleuse leer lief. Erleichtert öffnete er die innere Tür, legte das Schweißgerät zu Boden und begann sich mit fahrigen Bewegungen aus dem Taucheranzug zu schälen. Erst jetzt, als er wieder im behaglich warmen Inneren der NAUTILUS war, spürte er richtig, wie kalt das Wasser draußen gewesen war. Er war durchgefroren bis auf die Knochen und er glaubte jeden einzelnen Handgriff zu spüren, den er in den letzten beiden Stunden ge
tan hatte. Mike betrat den Salon, stellte mit einem raschen Blick fest, dass er leer war, und trat müde ans Fenster. Im Licht der starken Scheinwerfer konnte er Trautman und Singh erkennen, die zur Größe von Ameisen geschrumpft zu sein schienen. Sie hatten das Wrack erreicht und begannen eine Anzahl gewaltiger Stahltrossen in den Ösen zu befestigen, die Mike und die anderen am Schiff festgeschweißt hatten. Die Haifische umkreisten sie dabei neugierig und aufgeregt und obwohl Mike wusste, wie lächerlich dieser Gedanke war, kam es ihm trotzdem so vor, als ob die Tiere genau beobachteten, was sie da taten -und als ob sie es genau
wüssten.
Mike rief sich in Gedanken zur Ordnung. Das sonderbare Verhalten der Haie war unheimlich genug, auch ohne dass er anfing, ihnen eine Intelligenz zuzuschreiben, die sie nicht besaßen. Er hörte Schritte und erkannte an ihrem Klang, dass es Serena war, die den Salon betreten hatte. Mike drehte sich nicht zu ihr herum, aber nach einigen Sekunden erkannte er das verzerrte Spiegelbild ihrer Gestalt in der Scheibe vor sich. Es vergingen zwei oder drei Minuten, in denen Serena einfach schweigend neben ihm stand und ins Meer hinausblickte. Dann sagte sie: »Was meinst du? Werden sie es schaffen?« Mike wusste es nicht. Trautmans Plan war so verrückt, dass er sich unter normalen Umständen einfach geweigert hätte, auch nur darüber nachzudenken. »Sie müssen es wohl«, sagte er leise. »Wir können ihn schließlich nicht ewig dort drüben lassen und darauf hoffen, dass die Haie von selbst verschwinden.« Sie sahen Trautman und dem Inder zu. Die Zeit verging nur schleppend langsam. Wie Trautman Mike auf dem Weg zurück zum Schiff gesagt hatte, kehrten die anderen der Reihe nach in die NAUTILUS zurück und gesellten sich zu ihnen. Niemand sprach. Ben, Chris und Juan nahmen neben Mike und Serena vor dem Fenster Aufstellung und beobachteten gebannt, wie Singh und Trautman ihre Arbeit beendeten. Sie kamen weitaus weniger gut voran, als sie alle gehofft hatten; die Arbeit in dieser Wassertiefe war ebenso schwierig wie gefährlich und die Haie behinderten die beiden Männer, obwohl sie sie nicht angriffen. Es musste wohl so sein, wie Argos behauptet hatte: Die Tiere waren nur hier, umihnzu holen. Erstaunlich fand Mike aber, dass sie dabei Rücksicht auf das Leben der anderen nahmen. Eigentlich war das nicht die typische Art, die man von Haien erwartete. Schließlich aber war auch diese Arbeit getan und auch Singh und Trautman kehrten in die NAUTILUS zurück. Es vergingen noch einmal quälende Minuten, bis sie sich ihrer Taucheranzüge entledigt und in den Salon des Schiffes heraufgekommen waren und Trautman trat sofort an das Steuerpult und startete die Motoren. Die anderen gingen zu ihren Plätzen oder suchten sich irgendeinen festen Halt, aber Mike und Serena blieben am Fenster stehen und blickten weiter auf das Schiff hinab. Ganz allmählich löste sich die NAUTILUS vom Meeresgrund. Für einen Moment konnten sie draußen nichts mehr sehen, denn die Bewegung ließ eine gewaltige Sandwolke hochwirbeln, die das Schiff zur Gänze einhüllte, aber Mike fühlte den leichten, mehrfachen Ruck, der durch die NAUTILUS ging, als sich die Kabel strafften. Vor lauter Erregung hielt er den Atem an, bis sie weit genug gestiegen waren, um aus der wirbelnden graubraunen Wolke herauszukommen. Er konnte das Wrack jetzt nicht mehr sehen, denn es hing sicher vertäut an den Kabeln unter dem Schiff, doch eines der Drahtseile führte so dicht am Fenster vorbei, dass er erkennen konnte, dass es straff gespannt war. Offensichtlich hatten die Haken gehalten, die er und die anderen am Rumpf des Schiffswracks angeschweißt hatten. Das war ihre größte Sorge gewesen. Nicht nur der Aufprall auf dem Meeresgrund, sondern viel mehr noch die unheimliche Veränderung, die mit dem Metall vor sich gegangen war, hatten dem Schiff den Großteil seiner Stabilität genommen. Weder Mike noch einer der anderen wäre erstaunt gewesen, wäre es einfach auseinander gebrochen. »Bis jetzt scheint alles zu funktionieren«, murmelte Trautman. Mike drehte sich zu ihm herum. »Wie lange brauchen wir bis zur Oberfläche?« Trautman überlegte einen Moment, sah auf die Armbanduhr und murmelte dann: »Eine Stunde. Vielleicht anderthalb.« »Und wie lange hält sein Sauerstoffvorrat?«, wollte Ben wissen. Mike sah aus den Augenwinkeln, dass Serena zusammenfuhr, und wünschte sich, Ben hätte diese Frage nicht gestellt. Trautman beantwortete sie: »Wenn er alle Flaschen bis zum letzten Atemzug ausnutzt, etwa zwei Stunden. Es wird knapp.« Knapp, dachte Mike, war gar kein Ausdruck. Sie hatten nichts gewonnen, wenn sie die Wasseroberfläche erreichten. Die Haie würden ihnen zweifellos auch dorthin folgen. Die NAUTILUS tauchte nicht gerade, sondern in schrägem Winkel auf, denn Trautman hatte auf einer ihrer Seekarten eine kleine -wie sie alle hofften unbewohnte - Insel entdeckt, die sie bei voller Fahrt in zehn oder fünfzehn Minuten erreichen konnten. Vielleicht fanden sie dort eine geschützte Bucht oder einen Strand, auf den sie das Wrack hinaufziehen konnten, um so vor den Haien in Sicherheit zu sein. Mike wollte eine weitere Frage stellen, doch in diesem Moment hob Ben erschrocken den Arm, deutete auf das Fenster und schrie: »Da! Was ist das?« Mike fuhr wieder zum Fenster herum - und riss ungläubig die Augen auf. Was er sah, konnte nicht sein: Ermusstesich täuschen. Aber wenn es eine Sinnestäuschung war, dann eine, der nicht nur er, sondern auch alle änderen erlagen. Denn nicht nur Ben, Juan und Chris, sondern auch Singh selbst Trautman starrten aus entsetzt aufgerissenen Augen ins Meer hinaus. Die Scheinwerfer der NAUTILUS waren immer noch eingeschaltet, so dass sie das gigantische Geschöpf, das sich dem Schiff näherte, in aller Deutlichkeit erkennen konnten. Es war ein Hai, aber er war ... »Aber das gibt es doch nicht«, flüsterte Ben. »Sagt mir, dass ich mir das nur einbilde! Das ... das Ding ist ... mindestens vierzig Meter lang!« »Ungefähr fünfunddreißig«, korrigierte ihn Trautman. Seine Stimme war ganz leise, ein fast entsetztes, ungläubiges Flüstern. »Ich habe davon gehört. Mikes Vater hat mir von diesen Geschöpfen erzählt, aber ich habe es nicht geglaubt. Ein Tiefseehai!« »Sind sie gefährlich?«, wollte Ben wissen. Trautman lachte hart. »Solange sie nicht angreifen, nicht«, erklärte er. »Aber ich begreife das nicht«, fuhr er nach einigen Sekunden kopfschüttelnd fort. »Sie kommen normalerweise niemals so weit nach oben. Sie leben in Wassertiefen von vier-, fünftausend Metern. Was sucht er hier?« Sie bekamen die Antwort auf diese Frage schneller und deutlicher, als ihnen allen lieb gewesen wäre. Der Hai glitt mit einer majestätisch anmutenden Bewegung, die durch seine enorme Größe sehr viel langsamer aussah, als sie war, an der NAUTILUS vorüber, änderte dann mit einem einzigen Schlag der Schwanzflosse seinen Kurs und schoss schräg nach unten ins Wasser. Nur eine Sekunde später erzitterte die NAUTILUS unter einem gewaltigen Aufprall und das Stahlseil vor dem Fenster spannte sich und begann zu vibrieren wie eine Gitarrensaite. Mit Ausnahme Trautmans schrien alle erschrocken auf und wichen einige Schritte vom Fenster zurück, obwohl dies rein gar nichts genutzt hätte, wäre das Glas geborsten. Die NAUTILUS schwankte so stark, dass Mike hastig die Arme ausstreckte, um sein Gleichgewicht zu halten, und Ben mit einem Schmerzensschrei auf die Knie herabfiel. Nur einen Augenblick später tauchte der Hai wieder im Scheinwerferlicht auf. Seine riesigen, fast kopfgroßen Augen schienen für einen
Moment direkt in die Gesichter der Menschen hinter der Glasscheibe zu starren und Mike glaubte etwas darin zu erkennen, das ihn schaudern ließ. Dann schwenkte das Tier herum und setzte zu einem zweiten, wütenden Angriff an. Diesmal waren sie vorbereitet und fanden alle irgendwo festen Halt, aber die NAUTILUS erzitterte noch heftiger unter dem Anprall und wie zur Antwort lief ein langes, metallisches Stöhnen durch den Schiffsrumpf, das
ihnen allen einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. »DasWrack!«,schrie Trautman. »Er greift das Wrack an!« Er fuhr herum und rannte zum Steuerpult. Singh und Juan folgten ihm, während Mike und die anderen mit klopfendem Herzen gebannt weiter aus dem Fenster sahen. Der Riesenhai war für einen Moment aus ihrem Blickfeld verschwunden, aber Mike zweifelte nicht daran, dass er nur Kraft für einen neuen Angriff sammelte. Serena klammerte sich angstvoll an ihn. Ihre Finger gruben sich so tief in seinen Arm, dass es weh tat, aber er verbiss sich jeden Laut und griff stattdessen nach ihrer Hand. »Da kommt er wieder!«, schrie Ben. Trautman nickte nervös, bediente hastig ein paar Schalter und schlug dann mit der geballten Faust auf einen weiteren. Die NAUTILUS machte einen regelrechten Satz nach oben und als der riesige, schwarzsilberne Schemen diesmal unter ihnen vorbeischoss, blieb der erwartete Anprall aus. Das Schiff selbst aber antwortete mit einer Reihe klagender wie bedrohlich klingender Geräusche auf diese grobe Behandlung und Mike warf einen besorgten Blick zu Trautman zurück. Sie konnten in diesem Tempo unmöglich weiter steigen, das würde nicht einmal die NAUTILUS aushalten! Und der Hai setzte bereits zu einem weiteren Angriff an. Als er diesmal gegen das Wrack prallte, das unter dem Boden der NAUTILUS hing, schwankte das ganze Schiff hin und her und erbebte unter einem peitschenden Schlag. Eines der Kabel war gerissen. »Nein!«, flüsterte Serena. »Das darf nicht sein! Vater!« »Das schaffen wir nicht«, sagte Trautman. »Singh! Juan! Ihr übernehmt das Ruder! Versucht dem Biest irgendwie auszuweichen! Ben, Mike - ihr kommt mit mir!« Mike und Ben wandten sich gehorsam um und liefen hinter Trautman her, der bereits aus dem Salon stürmte. Auch Serena wollte sich ihnen anschließen, aber Trautman machte eine rasche, befehlende Geste, woraufhin sie zur allgemeinenÜberraschung zurückblieb und wieder ans Fenster trat. »Was haben Sie vor?«, fragte Mike, während sie durch den Gang zur Treppe hin stürmten. »Das weiss ich selbst noch nicht genau«, antwortete Trautman. »Aber wir müssen etwas tun. Noch zwei oder drei solcher Treffer und das ganze Wrack bricht auseinander.« Sie erreichten das Ende der Treppe und erst als Trautman sich nach links wandte, begriff Mike, dass sie auf dem Weg zur Tauchkammer waren. Was um alles in der Welt hatte Trautman vor? Er konnte doch unmöglich ins Wasser hinabsteigen wollen! Sie erreichten die Schleuse. Trautman schleuderte noch im Laufen seine Schuhe von sich, riss einen der schweren Taucheranzüge vom Haken und befahl Ben und Mike, ihm beim Anziehen behilflich zu sein. Als Mike ihm eine der Sauerstoffflaschen reichen wollte, schüttelte er den Kopf. »Die brauche ich nicht«, sagte er.
»Aber die Luft im Anzug reicht höchstens für drei oder vier Minuten«, protestierte Ben, doch Trautman schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Mehr Zeit werde ich nicht brauchen«, erwiderte er. Während er nach dem schweren Helm griff, wandte er sich an Mike und fragte: »Glaubst du, dass Argos noch unsere Gedanken liest?« Mike zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Dann bete, dass er es tut«, sagte Trautman düster. »Denn sonst ist er in ein paar Minuten tot.« Er stülpte den Helm über, verriegelte die Verschlüsse und riss mit einer ungeduldigen Bewegung die innere Tür der Schleusenkammer auf. Ohne weitere Erklärung trat er hinein, zog die Tür hinter sich zu und betätigte den Schalter, der den Raum flutete. »Aber was hat er denn vor?«, fragte Ben kopfschüttelnd. Mike konnte nur erneut mit den Schultern zucken. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, was Trautman vorhatte. In diesem Moment erzitterte die NAUTILUS unter einem weiteren, krachenden Schlag. Der Tiefseehai setzte seine Angriffe beharrlich fort. Bei der enormen Größe des Tieres, das sie durch das Fenster gesehen hatten, wunderte es Mike beinahe, dass das Wrack an seinen Stahlseilen nicht schon längst auseinandergebrochen war. Aber mehr als zwei oder drei weiterer solcher Treffer würde es bestimmt nicht aushalten. Ben und er pressten die Gesichter gegen die dicke Glasscheibe, durch die sie ins Innere der Schleusenkammer blicken konnten. Das Wasser hatte bereits die Decke erreicht und Trautman betätigte den Schalter, der die äußere Tür öffnete. Sie war noch nicht einmal halb auf, da schoss der erste Hai herein: ein armlanges Geschöpf, das sich sofort wütend in Trautmans Anzug verbiss und daran zerrte, bis Trautman ihm einen Faustschlag auf die Nase versetzte, woraufhin es sich benommen zurückzog. Aber schon drängte ein weiterer Hai herein und dann ein dritter und vierter - und dann riss Ben erstaunt die Augen auf und ließ einen kleinen, überraschten Schrei hören. Eingezwängt in einen lebenden Mantel aus schlanken, silbergrauen Körpern, die sich an zahllosen Stellen in seinen Anzug verbissen hatten, zog sich Argos in die Schleusenkammer. Ein besonders großer Hai hatte sich in seinem rechten Bein verbissen und zerrte und riss mit aller Kraft daran, so dass es Argos nicht gelang, sich ganz in das Schiff hineinzuziehen. Selbst auch dann nicht, als Trautman zugriff und ihm zu helfen versuchte. Schließlich drehte sich Trautman halb herum, hielt sich mit beiden Händen an den Türkanten fest und versetzte dem Hai zwei, drei wuchtige Tritte gegen die Schnauze, bis er endlich losließ. Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Schon schossen weitere Haie heran. Und hinter dem Gewirr aus lebenden Körpern glaubte Mike einen kolossalen Schatten zu erkennen, der sich rasend schnell näherte. Es ging buchstäblich um Sekundenbruchteile. Die Haifische ließen plötzlich von Argos und Trautman ab und stoben in alle Richtungen auseinander. Hinter ihnen klaffte ein Maul auf, in dem ein erwachsener Mann bequem hätte liegen können, und jagte auf das Schiff zu. Trautman warf sich mit einer verzweifelten Bewegung zurück und zerrte Argos dabei mit sich und dann prallte der Riesenhai mit Urgewalt gegen die Flanke der NAUTILUS. Diesmal war es, als ob das Schiff vor Schmerz aufschrie. Ein helles, metallisches Kreischen dröhnte in Mikes Ohren und die Erschütterung war so stark, dass Ben und er an die gegenüberliegende Wand geschleudert wurden und zu Boden fielen. In der fingerdicken Scheibe, die in der Tür zur Schleusenkammer eingelassen war, erschien ein gezackter Riss und dem ersten, gellenden Kreischen des Schiffsrumpfes folgte ein langanhaltendes, mahlendes Stöhnen und Knacken.
Die NAUTILUS zitterte immer noch so stark, dass es Mike kaum gelang, sich in die Höhe zu stemmen und wieder zur Tür zu taumeln. Als er durch das Fenster sah, erblickte er ein wahres Wunder: Der Anprall des Riesenhais hatte weder Trautman noch Argos das Leben gekostet, sondern es ihnen im Gegenteil vermutlich gerettet, denn die Erschütterung schien sie beide in die Schleuse hineingeschleudert zu haben. Argos lag am Boden und regte sich nicht mehr. Aus dem aufgerissenen Bein seines Taucheranzuges sprudelte ein dünner, aber beständiger Strom von Luftblasen in die Höhe, während sich Trautman auf Hände und Knie erhoben hatte und mit unsicheren Bewegungen nach dem Schalter tastete,der die Tür schloss. Auf der anderen Seite der Öffnung war eine sich bewegende Wand aus grauer, schimmernder Haut zu sehen und plötzlich starrte ein riesiges schwarzes Auge zu ihnen herein. Doch dann hatte Trautman endlich den Schalter erreicht, legte ihn um und die Türe begann sich zu schließen. Endlich war die Schleuse wieder mit Luft gefüllt und er konnte die Tür öffnen. Trautman taumelte ihm entgegen, fiel auf die Knie und riss sich den Helm vom Kopf. Er tat einen tiefen, keuchenden Atemzug. Seine Hände zitterten und sein Herz schlug so heftig, dass sie die Adern an seinem Hals pochen sehen konnten. Doch als sich Mike und Ben um ihn kümmern wollten, schüttelte er den Kopf und deutete hinter sich. »Argos«, sagte er atemlos. »Kümmert euch um ihn. Ich weiss nicht, ob er noch lebt.« Ben machte ein trotziges Gesicht, aber dann traf ihn ein strenger Blick Trautmans und er stand auf und trat neben Mike in die enge Schleusenkammer. Zu zweit ergriffen sie Argos unter den Achseln und zerrten ihn aus der Schleuse; eine Aufgabe, die fast ihre Kraft überstieg, denn der Atlanter trug gleich zwei der schweren Sauerstoffflaschen auf dem Rücken und ohne den hilfreichen Auftrieb des Wassers spürten sie deren Gewicht doppelt. Mühsam brachten sie ihn nach draußen, legten ihn auf den Rücken und Mike ließ sich neben ihm auf die Knie sinken und öffnete seinen Helm. Argos war bei Bewusstsein, schien aber benommen. Als Mike ihn ansprach, reagierte er nicht, sondern stöhnte nur leise. »Sein Bein sieht nicht gut aus«, sagte Ben. Mike vermied es, sich Argos' Bein anzusehen. Er konnte sich vorstellen, welchen Anblick es bot. Bei der Größe des Haies, der sich darin verbissen hatte, war es ein kleines Wunder, dass er Argos das Bein nicht glattweg abgebissen hatte. Wenigstens, dachte er, weiß ich jetzt, warum Trautman gerade gefragt hatte, ob Argos noch ihre Gedanken las ... »Er muss aus dem Anzug heraus«, sagte Trautman. Er selbst hatte sich bereits aufgerichtet und damit begonnen, sich aus dem schweren Kleidungsstück zu schälen. Mit Bens und Mikes Hilfe gelang es ihm binnen weniger Augenblicke, aus dem Taucheranzug herauszukommen, dann machten sie sich gemeinsam daran, auch Argos aus seiner Unterwasserausrüstung zu befreien. Der Atlanter begann laut zu stöhnen, als sie ihn aus dem Anzug zerrten. Die Wunden an seinem Bein waren weit weniger schlimm, als Mike befürchtet hatte, bluteten aber heftig und taten sicherlich höllisch weh, doch als Ben sich bücken wollte, schüttelte Trautman abermals den Kopf. »Dazu ist keine Zeit«, sagte er. »Wir bringen ihn in den
Salon. Rasch. Serena kann sich um ihn kümmern. Wir müssen hier weg, bevor dieses Vieh anfängt, die NAU-TILUS anzugreifen.« Er ergriff Argos an den Beinen und hob ihn hoch, während Mike und Ben sich jeweils einen Arm des Atlanters über die Schultern hängten. Argos stöhnte und wimmerte ununterbrochen, denn die Behandlung fügte ihm sicherlich gewaltige Schmerzen zu, aber da
rauf konnten sie keine Rücksicht nehmen.
So schnell es mit ihrer schweren Last möglich war, eilten sie die Treppe hinauf und zum Salon. Bevor sie ihn erreichten, kam ihnen Serena entgegen. Sie schrie erschrocken auf, als sie ihren Vater wie tot zwischen Mike und Ben erblickte und Mike hob rasch die freie Hand und sagte: »Keine Sorge. Er lebt.« Sie trugen Argos in den Salon, legten ihn behutsam auf den Boden und Trautman eilte wieder zum Steuerpult, während sich Ben und Mike voller banger Erwartung dem Fenster zuwandten. Ihre schlimmsten Befürchtungen schienen einzutreten. Der Tiefseehai war wieder da. Er schwamm in zehn oder fünfzehn Metern Entfernung neben der NAUTILUS, im selben Tempo wie sie und umgeben von Hunderten seiner kleineren Artgenossen, die neben dem grauen Koloss wie Heringe wirkten. Noch hatte er keinen Versuch gemacht, die NAU-TILUS anzugreifen, aber Mike glaubte regelrecht zu spüren, was in dem Giganten der Tiefsee vorging: Es war seine Aufgabe, den Atlanter zu holen; wohin und in wessen Auftrag auch immer. Und er würde nicht ruhen, bis er diese Aufgabe erfüllt hatte. »Macht euch keine Sorgen«, sagte Trautman vom Steuerpult aus, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Hier drinnen sind wir sicher. Nicht einmal dieser Bursche kann uns ...« Er brach mitten im Wort ab und seine Augen wurden groß, während er an Mike vorbei zum Fenster starrte und sein Gesicht -ohnehin schon sehr bleich -verlor noch mehr Farbe. Als Mike sich ebenfalls zum Fenster umwandte, schien ihm schier das Blut in den Adern zu gerinnen: Der Tiefseehai war immer noch da. Und er war nicht mehr allein. Im Licht der starken Scheinwerfer konnten sie einen zweiten, eine Sekunde später einen dritten und dann sogar einen vierten kolossalen Fisch erkennen, die sich alle der NAUTILUS langsam näherten. »Oh«, sagte Ben halblaut. »Jetzt wird es eng.«
»Großer Gott!«, murmelte Trautman. »Aber das ... das ist doch ... unmöglich!« Langsam näherte sich einer der Riesenhaie dem Schiff. Er schwamm genau auf das Fenster zu, bis er direkt zu ihnen hereinstarren konnte. In seinem Blick war etwas Hypnotisierendes, fast Lähmendes. Alle anderen waren erschrocken vom Fenster zurückgewichen, als der Riesenfisch näher kam, aber Mike konnte sich nicht rühren. »Wenn sie uns angreifen, ist es aus«, flüsterte Ben. »Das hält nicht einmal die NAUTILUS aus.« Damit hat er zweifellos Recht, dachte Mike. Aber es war seltsam - aus irgendeinem Grund hatte er überhaupt keine Angst. Es war, als ... alswüssteer, dass von diesen Riesenhaien keine Gefahr drohte. Wenn es so war, dann täuschte er sich. Der Hai verschwand und nur eine Sekunde später bebte die NAUTILUS unter einem fürchterlichen Anprall. Das Schiff dröhnte wie eine Glocke. Das Klirren vonzerbrechendem Glas mischte sich in das Ächzen und Mahlen von überanspruchtem Metall und die Schreie der Besatzungsmitglieder und alle im Salon wurden von den Füßen gerissen. Auf Trautmans Kontrollpult begann eine ganze Batterie roter Warnlampen zu flackern und Mike glaubte für einen Moment, schon wieder das furchtbare Geräusch von Wasser zu hören, das ins Schiff drang, war aber nicht sicher. Mühsam stemmte er sich auf Hände und Knie hoch und hob den Blick zum Fenster. Der Hai, der die NAUTILUS gerammt hatte, trieb benommen neben ihnen durch das Wasser. Er blutete aus einer großen Wunde am Kopf, aber das schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken, denn er setzte bereits wieder zu einem neuen Angriff an. »Nein!«, flüsterte Trautman. »Um Gottes willen! Noch einen Anprall halten wir nicht aus!« Mike reagierte ganz instinktiv. Er sprang auf die Füße,
rannte zum Fenster und warf sich gegen das dicke Panzerglas.»Astaroth!«,schrie er.»Sie sollen aufhören! Sie bringen uns um!«
Und das Wunder geschah: Der zweite Hai, der wie ein gigantischer lebender Torpedo heranschoss, warf sich im buchstäblich allerletzten Moment herum und verfehlte die NAUTILUS so knapp, dass seine dreieckige, segelbootgroße Rückenflosse mit einem hörbaren Geräusch unter dem Rumpf entlangschrammte. Aber der furchtbare Anprall, der das Schiff vermutlich in Stücke geschlagen hätte, blieb aus. Für einen Moment wurde es sehr still im Salon. Im allerersten Moment fiel es Mike gar nicht auf, dann aber spürte er die Stille. Und er fühlte die Blicke der anderen auf sich, noch ehe er sich herumdrehte und in die Gesichter Serenas, Trautmans, Singhs, Bens, Juans und Chris' blickte, die ihn allesamt fassungslos anstarrten. »Was hast du gesagt?«, murmelte Ben. »Astaroth?« »Aber er ist doch tot«, sagte Chris. »Nein«, antwortete Mike. »Das ist er nicht.« »Aber wie ...« Trautman schüttelte den Kopf. »Wir alle haben doch gesehen, dass ihn die Haifische gefressen haben.« Mike drehte sich vom Fenster herum und ging zum Kartentisch. Der Anprall hatte auch Argos von seinem Platz heruntergeschleudert und er lag reglos und mit geschlossenen Augen auf dem Rücken. Er atmete tief und regelmäßig, hatte aber das Bewusstsein verloren. »Wir haben gesehen, dass ihn die Haifische unter Wasser gezerrt haben«, sagte er. »Aber mehr auch nicht.« »Du ... du meinst, erlebt?«Trautman machte eine verwirrte Geste zum Fenster. »Und er istdort draußen? Bei ihnen?«
»Ich habe ihn gesehen«, antwortete Mike. »Wann?«, fragte Trautman scharf. »Als ich das erste Mal draußen beim Wrack war«, antwortete Mike.
»Und es nicht für nötig gehalten, es uns zu sagen?«, schnappte Ben. »Das hätte wenig Sinn gehabt«, antwortete Mike. »Ihr habt ja alle noch unter Argos' Einfluss gestanden. Außerdem hielt ich es für besser, wenn nicht alle es wissen.« Auch er deutete zum Fenster. »Astaroth ist da draußen. Fragt mich nicht, warum oder was er dort tut aber ich habe ihn gesehen. Er ...« Mike brach ab. Was sollte er sagen? Dass er Astaroth gesehen hatte, wie er rittlings auf einem Hai herangeprescht kam und in GedankenAttacke!brüllte? Kaum. Das Bild war so absurd, dass er sich selbst fragte, ob es eigentlich wahr war. Und außerdem war da ein unbestimmtes Gefühl in ihm, das ihm sagte, dass es vielleicht besser war, wenn er noch einen Teil seines Geheimnisses für sich behielt. »Es ist so, wie Argos gesagt hat«, begann er von neuem. »Sie sind nicht hinter uns her, im Gegenteil. Sie würden uns nie in Gefahr bringen.« »Mitsiemeinst du die Haie?«, vergewisserte sich Trautman. Mike nickte. »Die oder die, die sie geschickt haben«, sagte er. »Und wer soll das sein?«, wollte Juan wissen. Mike deutete auf Argos. »Das fragen wir besser ihn«, sagte er. »Sobald er wieder wach ist.« Ben kam mit langsamen Schritten näher, blickte auf den bewusstlosen Argos herab, schüttelte den Kopf und schlug sich dann mit der rechten Faust in die geöffnete linke Hand. »Schade, dass er ohnmächtig geworden ist«, sagte er. »Das hätte ich gern übernommen.« In Serenas Augen blitzte es auf und Mike machte rasch eine beruhigende Geste in ihre Richtung. »Dazu ist jetzt wirklich nicht der richtige Moment«, sagte er zu Ben gewandt. »Es ist nicht vorbei. Sie werden uns nichts tun, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie uns so einfach davonziehen lassen.«
Ben warf einen nervösen Blick zum Fenster. Die Riesenhaie samt ihren kleineren Brüdern umkreisten das Schiff noch immer und auch wenn sie ihren Angriff eingestellt hatten, so trug der Anblick doch nicht unbedingt dazu bei, sie zu beruhigen. Weder er noch das Bild, das plötzlich wieder in Mikes Gedächtnis erschien. Aber er sprach auch dies nicht aus. Argos hatte sie im Moment aus seinem geistigen Bann entlassen, aber Mike hatte das sichere Gefühl, dass es noch nicht vorbei war.
Ihr gespenstischer Geleitschutz blieb ihnen treu, bis sie die Oberfläche und eine knappe Stunde darauf die kleine Insel erreicht hatten, die Trautman als Ziel aussuchte. Seine Wahl war gut gewesen: Das Eiland lag nicht nur fernab von allen bekannten Schiffsrouten, es war auch - zumindest auf den ersten Blick unbewohnt und es verfügte über einen breiten, weit ins Meer hineinreichenden Sandstrand, an dem die NAU-TILUS anlegen konnte und an dem das Wasser so flach war, dass zumindest die größeren Haie die Verfolgung aufgeben mussten. Und als sie schließlich mit klopfenden Herzen die NAUTILUS verließenund einen Blick ins kristallklare Wasser warfen, erlebten sie eine weitere Überraschung: Zwar waren die meisten Stahltrossen, die sie am Rumpf des Wracks angebracht hatten, gerissen, aber drei oder vier der fingerdicken Kabel hatten gehalten und sie hatten ausgereicht, das Trümmerstück sicher mit zur Oberfläche hinaufzutragen. »Dann war es ja wenigstens nicht ganz umsonst«, sagte Trautman brummig. Er sah aufmerksam aufs Meer hinaus. Der Ozean war alles andere als leer. Auch wenn die größten Raubfische nicht in ihrer Nähe waren, so konnte man doch auf Anhieb zwei- oder dreihundert dreieckige Rückenflossen durch das türkisfarbene Wasser schneiden sehen. »Dann können wir nur hoffen, dass sie uns nicht angreifen, wenn wir die Männer rausholen«, fügte er hinzu. Ben riss ungläubig die Augen auf. »Das ist nicht Ihr Ernst!«, sagte er. »Sie wollen sie bergen? Nach allem, was Argos mit uns angestellt hat?« Trautman sah ihn eine Sekunde lang mit seltsamem Ausdruck an. »Dafür wird er sich verantworten müssen, keine Angst«, sagte er dann. »Und selbstverständlich ist das mein Ernst. Was sollte ich wohl tun? Die Männer dort unten lassen? Sie sterben lassen, weil Argos etwas getan hat, was uns nicht gefallt? « Ben riss die Augen auf. »Was uns nicht gefällt?«, krächzte er. »Das ist die Untertreibung des Jahres!« »Möglich«, sagte Trautman ruhig. »Trotzdem werden wir sie da rausholen. Und anschließend bringen wir sie und Argos an Land und beraten, was weiter zu tun ist.« Ben sah ganz so aus, als wollte er erneut protestieren, aber Trautman gab ihm gar keine Gelegenheit dazu, sondern drehte sich mit einem Ruck herum, winkte Singh zu sich heran und begann das auf dem Deck verschraubte Boot zu lösen. Auch Juan und Mike packten mit zu, nur Ben stand mit trotzig vor der Brust verschränkten Armen dabei und rührte sich nicht. Serena und Chris waren unten im Schiff zurückgeblieben; Serena, um sich um ihren Vater zu kümmern, und Chris, um ein Auge auf beide zu werfen. Der gefährliche Moment kam, als sie das Boot zu Wasser gelassen hatten und Singh mit einer entschlossenen Bewegung über Bord sprang und zu dem Wrackteil hinabtauchte. Mike sah mit angehaltenem Atem zu, wie zwei, drei Haifische auf ihn zu schossen, dann aber im letzten Moment wieder ihre Richtung wechselten, ohne ihn anzugreifen. »Sieht aus, als hätten wir Glück«, sagte Trautman. Singh tauchte wieder auf, holte tief Atem und erklärte keuchend: »Sie sind noch dort unten. Aber sie sind zu schwer, um sie so einfach herauszuholen.«
»Dann müssen wir einige Sauerstoffflaschen neu füllen und jemand muss in einem Taucheranzug hinunter«, sagte Trautman. »Das wird ein paar Stunden in Anspruch nehmen, aber ich glaube, nach all der Zeit macht das jetzt auch keinen Unterschied mehr.« Er half Singh, wieder an Bord des Beibootes zu klettern, dann ruderten sie die wenigen Meter zur NAUTI-LUS zurück und Trautman und der Inder kletterten aufs Schiff hinauf. Als Mike und Juan ihnen folgen wollten, schüttelte Trautman jedoch den Kopf und deutete zum Strand. »Fahrt zur Insel«, sagte er. »Seht euch ein bisschen um, aber geht nicht zu weit. Ich glaube nicht, dass sie bewohnt ist, aber sicher ist sicher. Singh und ich bereiten alles Notwendige vor. Ich will diese Nacht gerne auf festem Boden verbringen«, fügte er in sonderbarem Tonfall hinzu. Mike konnte das gut verstehen. Trautmans Bemerkung zeigte, wie sehr das Zutrauen des deutschen Seemanns in die NAUTILUS erschüttert war. Trautman war praktisch auf dem Wasser geboren und hatte den allergrößten Teil seines Lebens dort beziehungsweise unter Wasser verbracht. Und Mike hatte in all den Jahren, in denen sie sich kannten, nicht ein einziges Wort des Bedauerns oder Zweifeins von ihm gehört, aber im Moment erging es ihm fast ebenso. Vielleicht waren sie einmal zu oft gerade noch mit knapper Mühe entkommen. Juan und er griffen nach den Rudern und fuhren zum Strand. Während der nächsten halben Stunde untersuchten sie den Wald im Umkreis einer halben Meile so gründlich, wie es ging, fanden aber weder Spuren menschlicher Bewohner noch gefährlicher Tiere, dafür aber eine kleine Quelle, die nur wenige Dutzend Meter vom Ufer entfernt lag, und genug Früchte, um ein wahres Festmahl daraus zu bereiten. Sie sammelten trockenes Holz, um später ein Feuer zu entzünden, stapelten es dicht oberhalb der Flutlinie zu einem Haufen auf und ruderten schließlich zur NAUTILUS zurück.
Als sie in den Salon kamen, waren alle bis auf Singh darin versammelt. Argos lag auf der Couch beim Kartentisch und schien immer noch ohne Bewusstsein. Und Serena saß, ganz wie Mike es erwartet hatte, neben ihm und hatte seine Hand ergriffen. Sie sah mit großer Sorge auf sein Gesicht hinab. Der Anblick versetzte Mike einen tiefen, schmerzhaften Stich. Serena schien seinen Blick zu spüren, denn sie sah plötzlich auf, blickte ihm in die Augen und lächelte. Aber es war ein trauriges Lächeln, so dass Mike sich noch niedergeschlagener fühlte. Rasch wandte er den Blick ab und ging zu Trautman und den anderen. »Wie weit seid ihr?« Trautman sah auf die Uhr. »Es dauert noch eine Stunde, bis die Sauerstoffflaschen gefüllt sind«, antwortete er, »Und dann kommt es drauf an, was unsere silbergrauen Freunde dort draußen tun.« »Vorhin haben sie uns nicht angegriffen«, sagte Mike. »Vorhin«, antwortete Trautman mit leicht erhobener Stimme, »haben wir nur nachgesehen und nicht versucht, die Männer aus dem Schiff zu holen.« Er ließ eine kurze Spanne Zeit verstreichen und fügte leiser und fast nur an sich selbst gewandt hinzu: »Ich möchte wissen, wer sie geschickt hat und warum.« »Warum fragen Sie ihn nicht?« Ben deutete mit einer trotzigen Geste auf Argos. »Ich bin sicher, er kennt die Antwort.« »Und er wird sie uns sagen«, antwortete Mike scharf. Vielleicht eine Spur schärfer, als notwendig gewesen wäre, denn Ben sah ihn irritiert an. »Aber jetzt nicht. Jetzt müssen wir erst -« »Vor allem aufhören, uns gegenseitig an die Kehlen zu gehen«, mischte sich Trautman ein. »Ich kann dich verstehen, Ben. Ich bin auch nicht besonders gut auf Argos zu sprechen, aber möglicherweise hatte er seine Gründe für das, was er getan hat. Er wird uns alles erklären.«
»Klar«, sagte Ben giftig. »Wenn wir ihm nur Zeit genug lassen, sich eine hübsche Ausrede auszudenken oder uns wieder zu seinen Sklaven zu machen.« »Ich glaube nicht, dass er das noch einmal tut«, antwortete Mike. Ben sah ihn nur böse an, ersparte sich aber eine Antwort und drehte sich schließlich trotzig weg. Die Stunde, von der Trautman gesprochen hatte, schien sich zu einer Ewigkeit zu dehnen, in der kaum jemand ein Wort sagte. Sie alle waren erschöpft und sie alle mussten auf die eine oder andere Weise mit dem Erlebten fertig werden. Das galt auch für Mike. Sie mochten hier vor den Haien in Sicherheit sein, doch irgendetwas sagte ihm, dass die, die diese Tiere geschickt hatten, noch über ganz andere Möglichkeiten verfügten. Und da war immer noch dieses unheimliche Gesicht, an das er sich zu erinnern glaubte. Schließlich war die quälende Wartezeit vorbei und Singh kam zurück und teilte ihnen mit, dass der Taucheranzug bereit wäre. Während er in die Schleuse hinunterging, um sich umzuziehen, begaben sich Trautman, Mike und Juan wieder aufs Deck und ruderten im Beiboot zu dem Wrackteil hinaus. Mike erschrak ein wenig. Das Wasser rings um das bizarre Anhängsel der NAUTILUS brodelte vor Haien. Obwohl es so flach war, dass man fast darin stehen konnte und ein Teil des zerborstenen Schiffsteiles sogar daraus hervorragte, hatten sich nun doch wieder einige wirklich grosse Haie eingefunden. Riesen von drei, vier Metern Körperlänge, die ihm jetzt zwar winzig vorkamen, nach den Kolossen, die sie weiter unten gesehen hatten, von denen jeder einzelne aber durchaus in der Lage war, selbst einem Mann im Taucheranzug gefährlich zu werden. Eine ganze Weile saßen sie schweigend im Boot und warteten, dass Singh auftauchte und in das Wrack hineinstieg. Dann sagte Trautman plötzlich: »Du hast uns nicht alles erzählt, nicht wahr?«
Mike blinzelte und versuchte, den Verwirrten zu spielen. »Wie?« »Du hast mich noch nie belügen können, Mike«, erklärte Trautman mit einem sanften, fast väterlich wirkenden Lächeln. »Keiner von euch kann das. Da draußen ist noch mehr passiert, nicht wahr? Du hast nicht nur Astaroth gesehen.« »Doch«, antwortete Mike. Trautman sah ihn nur an und nach einer Sekunde verbesserte sich Mike: »Oder nein, Sie haben Recht. Esistnoch etwas passiert.« »Und was?« »Die Haie ... haben mir geholfen«, sagte Mike zögernd. Juan starrte ihn ungläubig an, während Trautman keineswegs überrascht dreinsah. »Geholfen?« »Ich wäre allein nie in das Wrack hineingekommen«, antwortete Mike. »Zwei von ihnen haben mich hochgehoben. Nur so konnte ich zu Singh und Argos gelangen. »Um ihnen die Sauerstoffflaschen zu bringen«, fügte Trautman in nachdenklichem Tonfall hinzu. »Das ist erstaunlich.« »Aber warum sollten sie das tun?«, wunderte sich Juan. »Doch bestimmt nicht, um Argos das Leben zu retten.« »Wer weiß«, sagte Trautman. »Vielleicht wollen sie ja nicht seinen Tod. Vielleicht wollen sie ihn einfach nur
haben.«
»Haben?«, fragte Mike. »Wie meinen Sie das?« Trautman zuckte mit den Schultern. »Er hat uns niemals erzählt, wo er hergekommen ist. Ist euch das eigentlich noch nicht aufgefallen? Vielleicht ist er ja an einem Ort, wo er nicht sein sollte.« »Oder umgekehrt«, fügte Juan nachdenklich hinzu. »Er istnichtan einem Ort, an dem er sein sollte.« Mike blickte nachdenklich vor sich hin. Dann fügte er noch hinzu: »Wer immer sie geschickt hat, scheint großen Wert darauf zu legen, keine Unbeteiligten zu verletzen.« »Ja«, murmelte Trautman. »Wisst ihr, woran ich die ganze Zeit denken muss?« Sie schüttelten beide den Kopf. Trautman fuhr mit einem fast unsicheren Lächeln und einem in einem Tonfall, als wären ihm seine eigenen Worte beinahe peinlich, fort: »Nachdem wir von der Insel der Indios geflohen sind ... wir hätten es fast nicht geschafft, hochzukommen. Irgendetwas hat uns geholfen.« Er sah Mike an. »So wie dir, in das Wrack hineinzukommen.« »Wie bitte?«, murmelte Juan. »Sie glauben doch nicht wirklich, dass uns diese Haie hochgehoben haben?« Trautman machte eine Kopfbewegung auf das Wasser hinaus. »Die da bestimmt nicht. Aber fünf oder sechs von den großen Tieren, die wir vorhin gesehen haben, könnten es durchaus schaffen.« »Das klingt nicht sehr überzeugend«, murmelte Juan. »Ich weiß«, räumte Trautman ein. »Und ich fürchte, wir werden die Antwort auf diese Frage auch niemals bekommen. Aber ich bin auch gar nicht sicher, ob ich das will.« In diesem Moment tauchte Singh unter ihnen auf: Ein verzerrter Schatten, der mit mühsam aussehenden Schritten auf dem Meeresgrund entlangstapfte und von einem ganzen Rudel unterschiedlich großer Haie flankiert wurde, die ihn neugierig umkreisten. Es wurde immer dichter, so dass er sich am Schluss buchstäblich mit den Händen einen Weg durch die lebende Mauer bahnen musste, aber es war so, wie Trautman prophezeit hatte: Die Haie machten keinen Versuch, ihn anzugreifen. Sie versuchten nicht einmal ernsthaft, ihn vom Betreten des Schiffswracks abzuhalten, obwohl sie dies zweifellos gekonnt hätten, allein durch ihre Anzahl. Nach einer Weile verschwand Singh in dem zerborstenen Schiffsrumpf und es verging eine beunruhigend lange Zeit, bis er wieder auftauchte. Er trug eine menschliche Gestalt auf den Armen. Langsam, unter seiner Last wankend, näherte er sich dem Boot und Trautman warf die mitgebrachten Seile ins Wasser, so dass Singh sie an dem versteinerten Seemann befestigen konnte. Obwohl sie sich zu dritt anstrengten, kostete es ihre gesamte Kraft, den zu Stein erstarrten Körper aus dem Wasser zu ziehen und ins Boot zu heben. Das kleine Schiffchen ächzte und schwankte bedrohlich unter dem zusätzlichen Gewicht. Mike erschauerte, als er den Seemann von nahem sah. Obwohl er es besser wusste, fiel es ihm sehr schwer zu glauben, dass dieser Körper jemals gelebt haben sollte, geschweige denn, dass noch so etwas wie Leben in ihm war. Der Mann war durch und durch zu Stein erstarrt, wie eine aus Marmor gehauene, perfekte Nachbildung eines menschlichen Körpers. Sie mussten ihre Plane ändern und die geborgenen Matrosen einzeln an Land rudern, denn das Boot hätte das Gewicht dreier solcher Körper niemals getragen, so dass die geplante Rettungsaktion viel länger dauerte, als sie geglaubt hatten. Als Singh endlich wieder in die NAUTILUS zurückkehrte und sie mit dem letzten Geretteten zum Strand hinaufruderten, waren Mike, Juan und auch Trautman mit ihren Kräften am Ende und es dunkelte auch bereits. Mike und Juan nahmen den Mann, der in der sitzenden Position, in der er sich am Tisch befunden hatte, als ihn das Unglück überfiel, zu Stein erstarrt war, an Armen und Beinen und trugen ihn ächzend den Strand hinauf, während Trautman zur NAUTILUS zurückruderte, um die anderen zu holen. Sie legten den versteinerten Matrosen neben seine Kameraden in den Sand und ließen sich erschöpft daneben zu Boden sinken. Im schwächer werdenden Licht des Sonnenuntergangs boten die drei versteinerten Körper einen noch unheimlicheren Anblick als bisher. Zugleich aber war es Mike - und auch Juan - nicht möglich, den Blick von ihnen zu wenden. »Unheimlich«, murmelte Juan nach einer Weile. »Das kannst du laut sagen«, pflichtete ihm Mike bei. »Ich habe fast Angst vor ihnen.« Juan schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht«, sagte er. »Was dann?« »Die Wesen, die das getan haben«, murmelte Juan. Erst jetzt begriff Mike, dass Juan von den fremden Wesen sprach, die mit dem Sternenschiff gekommen waren. Sie hatten sie niemals gesehen. Jedenfalls nicht lebend, aber sie hatten ja erlebt, was ihre so unendlich viel weiter entwickelte Technik in falschen Händen anzurichten imstande war. »Ich glaube nicht, dass wir uns Sorgen machen müssen«, sagte er. »Das Schiff ist fort und ich glaube auch nicht, dass es zurückkommt.« »Ich mache mir keine Sorgen«, sagte Juan. »Ich frage mich, wer sie sind. Wo sie hergekommen sind und was sie hier wollten.« Seine Stimme wurde leiser und in seine Augen trat ein Ausdruck, der Mike schaudern ließ. »Wir waren ihnen so nah, damals in der Pyramide. Erinnerst du dich? Ein einziger Schritt und wir wären dort gewesen. Ich frage mich, ob wir sie jemals wiedersehen.« »Ich frage mich, ob wir das sollten«, sagte Mike. Juan schien seine Worte gar nicht gehört zu haben. »Ich würde alles darum geben, einmal mit einem von ihnen zu reden«, murmelte er. Er hob den Blick und sah in den Himmel hinauf. In dem verblassenden Blau des Sonnenunterganges waren bereits die ersten Sterne zu erkennen. »Sie sind irgendwo dort oben. Vielleicht kommen sie eines Tages zurück.« »Hast du schon vergessen, was Serena über sie erzählt hat?«, sagte Mike. »Die AtlanterhattenKontakt zu ihnen. Es hat jedes Mal in einer Katastrophe geendet.« »Wenn sie alle so waren wie Argos, wundert mich das
nicht«, erwiderte Juan achselzuckend. »Außerdem ist das lange her. Vielleicht haben sie seit dem ja gelernt. Vergiss nicht, was sie mit den Menschen auf der TITANIC getan haben. Sie haben ihre eigenen Leben riskiert, um sie zu retten.« Mike war nicht ganz sicher, ob das wirklich so gewesen war, aber er war auch nicht sicher, ob es so war, wie Serena behauptete. Er schrak beinahe selbst vor dem Gedanken zurück und doch fragte er sich, vielleicht zum ersten Mal, seit er die atlantische Prinzessin kennen gelernt hatte, ob ihr Volk den Menschen, die er kannte, wirklich so ähnlich gewesen war. Vielleicht hatte Serenas Einsamkeit ja einen Grund. Er verscheuchte den Gedanken. »Ich denke, Argos wird uns alles erzählen, sobald er wach ist«, sagte er. »Und wenn nicht er, dann die drei anderen. Immerhin haben wir ihnen das Leben gerettet.« »Noch nicht«, sagte Juan mit einem Blick auf die drei versteinerten Körper. »Ich schätze, da gibt es doch noch eine Kleinigkeit zu tun.« Mike schwieg. Sie alle hatten ja selbst mit angesehen, wie Argos den Eingeborenen auf der Insel geholfen hatte, die von derselben unheimlichen Veränderung befallen gewesen waren. Andererseits hatten sie niemals erlebt, dass er eine so totale Verwandlung rückgängig gemacht hatte. Mike konnte sich aber auch nicht vorstellen, dass Argos dieses ungeheuerliche Risiko, zu dem er sie gezwungen hatte, eingegangen wäre, wäre er nicht absolut sicher gewesen, den Kameraden helfen zu können. Letzten Endes hatte er auch sein eigenes Le
ben riskiert. Das Boot kam zurück. Ben, Chris und Singh sprangen von Bord und begannen, ohne viele Worte zu verlieren,
im nahen Wald Holz zu schlagen, um eine Unterkunft für die Nacht zu errichten. Mike und Juan wollten ihnen helfen, aber Singh schüttelte nur den Kopf, er wusste ja schließlich am besten, wie schwer es gewesen war, die drei Körper an Land zu schleppen, und Mike ließ sich heute auch nicht zweimal bitten, es sich gemütlich zu machen und den anderen beim Arbeiten zuzusehen. Stolz war eine schöne Sache, aber Erschöpfung eine andere. Nach einer Weile stellte Mike fest, dass er wohl eingenickt sein musste, denn als er das nächste Mal die Augen öffnete, da waren nicht nur der Inder, Ben und Chris bei ihnen, sondern auch der Rest der NAUTILUS-Besatzung; einschließlich Argos, der neben seinen drei versteinerten Kameraden im Sand lag und bei genauem Hinsehen nicht viel lebendiger aussah als sie. Er war immer noch ohne Bewusstsein und seine Haut war fast so bleich wie die der drei anderen. Natürlich saß Serena neben ihrem Vater im Sand und hielt seine Hand. Sie musste Mikes Blick spüren, denn sie sah plötzlich auf, schaute ihm einen Moment lang ins Gesicht und blickte dann wieder auf ihren bewusstlosen Vater hinab. »Er wird schon durchkommen«, sagte Mike. Im ersten Moment sah es so aus, als würde Serena gar nicht darauf antworten, dann aber hob sie mit einem Ruck den Kopf. In ihren Augen stand ein fast trotziger Ausdruck, den Mike nicht verstand. Noch viel weniger verstand er den scharfen Ton, in dem sie antwortete: »Tu doch nicht so!« »Wie?«, fragte Mike. Serena machte eine ärgerliche Handbewegung. »Spiel nicht den Besorgten, ja. Es ist dir doch völlig egal, ob er überlebt oder nicht. Genau wie den anderen.« Mike schwieg betroffen. Er empfand Argos gegenüber nicht unbedingt freundschaftliche Gefühle, das stimmte - aber wie konnte Serena so etwas sagen? Sie musste doch wissen, dass er einem Menschen niemals den Tod gewünscht hätte, ganz egal, was dieser vorher auch getan hatte. Und als hätte sie seine Gedanken gelesen, sah Serena nach einigen Augenblicken erneut auf und diesmal las er in ihren Augen eine tiefe Betroffenheit. »Entschuldige«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich wollte das nicht sagen.« Mike winkte ab. »Schon gut. Wir sind alle ein bisschen nervös.« »Trotzdem«, erwiderte Serena. »Ich weiß auch nicht, warum ... « Sie brach ab. Ihre Stimme zitterte. Mike wollte gerade die Arme ausstrecken und sie tröstend an sich drücken, als Argos die Augen öffnete und mit sehr leiser, aber klarer Stimme sagte: »Du tust ihm Unrecht, Kind. Er sagt die Wahrheit. Er hätte mich dort unten im Meer umkommen lassen können. Niemand hätte es bemerkt. Stattdessen hat er sein eigenes Leben riskiert, um mich zu retten.« »Na, was für ein Glück«, sagte Ben giftig, der in der Nähe stand und die Worte mitbekommen hatte. »Wenn ich rausgegangen wäre, hätten Sie nicht so viel Glück gehabt.« Argos richtete sich mühsam auf, sah den jungen Briten einen Moment lang ernst an und lächelte dann ganz schwach. »Du weißt, dass das nicht stimmt, Ben.« In Bens Augen blitzte es auf. »Was soll das jetzt wieder heißen?« »Das du niemals versuchen solltest, jemanden zu belügen, der in deinen Gedanken lesen kann«, sagte Argos. »Du spielst gern den starken Mann, ich weiß. Aber, Ben, es macht jemanden nicht erwachsener, wenn er so tut, als wären ihm Gefühle wie Menschlichkeit und Mitleid fremd.« Bens Gesicht verdüsterte sich und es hätte Mike nicht gewundert, hätte er sich im nächsten Moment mit geballten Fäusten auf Argos gestürzt. Aber dann drehte er sich nur mit einem Ruck um und verschwand in der Dunkelheit. »Das war nicht besonders klug«, sagte Mike leise. »Sie haben natürlich Recht: Ben ist nicht halb so hart, wie er sich gerne gibt. Aber ich möchte ihn trotzdem nicht unbedingt zum Feind haben.« »Habe ich das denn?«, fragte Argos. Er sah Mike offen an. »Habe ich mir euch alle zum Feind gemacht?« In diesem Moment knirschten hinter ihnen Schritte im Sand und Trautman und Singh kamen heran. Sie hatten offenbar ebenfalls bemerkt, dass der Atlanter wach geworden war. »Das kommt ganz darauf an, was Sie uns jetzt erzählen werden, Argos«, sagte Trautman. »Und wenn wir schon einmal dabei sind: Hatten Sie uns nicht versprochen, nicht in unseren Gedanken zu lesen?« »Aber das habe ich auch nicht«, antwortete Argos. »Ha!«, machte Ben aus der Dunkelheit heraus. Argos schüttelte nur den Kopf. »Man muss keine Gedanken lesen können, um diesen Jungen zu durchschauen«, sagte er. »Er ist ein netter Kerl, wie alle hier.« »Das zieht nicht«, sagte Trautman scharf. »Wenn Sie versuchen, sich bei uns einzuschmeicheln, sparen Sie sich Ihren Atem. Warum haben Sie das getan?« Argos richtete sich ganz auf und blickte auf seine drei Kameraden herab. »Ihretwegen«, sagte er. »Sie hätten es auch getan. Leugnen Sie es nicht, ich muss auch Ihre Gedanken nicht lesen, um das zu wissen. Sie hätten auch Ihr eigenes Leben riskiert, um das Ihrer Freunde zu retten.« »Natürlich«, erwiderte Trautman. »Aber das hatten wir schon, oder? Ich hätte niemand anderen dazu gezwungen, mich dabei zu begleiten.« »Das habe ich nicht«, antwortete Argos. »Im Gegenteil. Ich habe versucht, es allein zu tun, haben Sie das schon vergessen?« »Und Serena?«, fragte Mike aufgebracht. »Ich bin freiwillig mit ihm gekommen«, antwortete Serena an Argos' Stelle. »Und auch das ist die Wahrheit, ob es dir passt oder nicht.« Ihr scharfer Ton
schockierte Mike, aber er biss die Zähne zusammen und schwieg. »Ich werde jetzt versuchen, sie aufzuwecken«, sagte Argos. Trautman runzelte die Stirn. »In Ihrem Zustand? Sie haben ja kaum die Kraft, zu sitzen.« »Es muss sein«, beharrte Argos. »Jede Minute zählt. Sie waren viel zu lange dort unten. Ich bin nicht einmal sicher, ob wir nicht zu spät gekommen sind.« Er wollte die Hand nach einer der versteinerten Gestalten ausstrecken, aber Trautman machte eine rasche Bewegung. »Einen Moment noch.« Argos sah hoch. »Ja?« »Was ist mit den anderen?«, fragte Trautman. Er deutete aufs Meer hinaus. »Diesen ...Männernauf dem schwarzen Frachter?« »Sie können uns hier nicht finden«, behauptete Argos. Und wieder erging es Mike so wie ihm gerade: er musste nicht Gedanken lesen können, um zuwissen, dass Argos' Worte mehr Wunsch als Überzeugung waren. »Selbst wenn, werden Sie euch nichts tun«, fügte Argos nach sekundenlangem Schweigen hinzu. »Falls wir Sie herausgeben«, vermutete Trautman. Argos nickte. »Genau. Und das müssen Sie tun. Versprechen Sie es mir. Wenn sie hier auftauchen, wenn irgendetwas geschieht, dann versuchen Sie nicht, mir zu helfen. Ich habe euch schon viel zu viel in Gefahr gebracht.« »Du glaubst doch nicht, dass wir dich einfach im Stich lassen«, empörte sich Serena. Argos lächelte verständnisvoll. »Ich glaube nicht, dass es dazu kommt«, sagte er, was keine Antwort auf ihre Frage war. Er sah in den Himmel, überlegte einen Moment und sagte dann: »Bis zum Morgengrauen müsste ich es geschafft haben. Entweder bis dann oder gar nicht.« »Können wir irgendetwas tun, um Ihnen zu helfen?«, fragte Trautman, doch Argos schüttelte den Kopf.
Ohne ein weiteres Wort ging er zu einem seiner Kameraden hinüber, setzte sich neben ihn in den Sand und legte die gespreizten Finger der linken Hand auf seine Stirn. Er schloss die Augen, ein konzentrierter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht und schon einen Moment später schien er in eine Art Trance zu verfallen. »Vielleicht lassen wir ihn besser in Ruhe«, sagte Trautman leise. »Kommt: Wir entzünden das Feuer und essen etwas und danach haben wir uns alle ein paar Stunden Schlaf verdient.« »Und ihn lassen wir einfach gewähren?«, fragte Ben. »Du kannst gerne bei ihm bleiben und Wache stehen«, erwiderte Trautman. »Ich für meinen Teil habe für einen Tag Aufregung genug gehabt.« Damit wandte er sich um und ging und nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen, schließlich auch Ben.
Mike schlief in dieser Nacht tief und traumlos, aber er erwachte vor Sonnenaufgang und hatte das sichere Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Lautlos richtete er sich auf, sah sich nach allen Seiten um und erhob sich schließlich ganz. Alle anderen schliefen. Das Feuer, das sie entzündet hatten, war zu einem glimmenden Haufen dunkelroter Glut heruntergebrannt und am Himmel stand kein Mond, so dass er nichts sehen konnte. Im Osten begann sich der Horizont grau zu färben; es war nicht mehr lange bis Sonnenaufgang. Trotzdem war alles, was weiter als fünf oder sechs Schritte entfernt lag, mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen. Erneut hatte er das Gefühl, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Es war als ... als spürte er die Blicke unsichtbarer Augen auf sich ruhen. Jemand starrte ihn an. Jemand oder etwas. Mikes Herz begann heftig zu klopfen. Einen Moment lang überlegte er, ob er zurückgehen und Trautman wecken sollte, tat es aber dann nicht. Trautman hatte seinen Schlaf ebenso bitter nötig wie alle anderen. Mike machte ein paar Schritte, blieb wieder stehen und drehte sich halb um seine Achse. Seine Augen hatten sich mittlerweile an das schwache Licht gewöhnt, so dass er zumindest Schatten erkennen konnte. In einiger Entfernung glaubte er, Argos auszumachen, der immer noch so reglos dasaß, wie er ihn am Abend zurückgelassen hatte, und eine der schemenhaften Gestalten neben ihm im Sand schien ihre Position verändert zu haben. Mike widerstand jedoch der Versuchung, hinzugehen; Argos hatte gesagt, dass er bis Sonnenaufgang fertig sein musste, wenn er es überhaupt schaffen wollte, und Mike wollte nicht schuld am Tode eines Menschen sein, nur weil er Argos in seiner Konzentration störte. So bewegte er sich, so leise er konnte, in die entgegengesetzte Richtung, erreichte nach einigen Schritten den Waldrand und blieb wieder stehen. Das unheimliche Gefühl des Beobachtetwerdens kam nicht aus dieser Richtung, sondern aus der anderen. Vom Meer her. Mike drehte sich wieder herum, raffte all seinen Mut zusammen und ging langsam zum Strand hinunter. Die Ebbe hatte eingesetzt, so dass das Wasser nun ein gutes Stück weiter zurücklag als vorhin. Die NAUTI-LUS ragte als gigantischer Schatten vor ihm empor, wie ein stählerner Berg, den die Flut angespült hatte. Irgendetwas plätscherte. Es war nicht das normale Geräusch der Wellen, die sich am Strand oder am Schiffsrumpf brachen, sondern ein Laut, als bewege
sich etwas im Wasser. Im ersten Moment dachte Mike natürlich an einen Hai und machte erschrocken
zwei, drei Schritte zurück, bis er wieder ganz im Trockenen stand. Als er seinen Blick auf die Wasseroberfläche senkte, sah er keine der gefürchteten Dreiecksflossen, aber das Geräusch wiederholte sich. Diesmal deutli
cher: Es kam von links.
Mike fuhr herum und glaubte, gerade noch eine schattenhafte Bewegung zu sehen, die in der Nacht verschwand. Diesmal war er sicher, dass es keine Einbildung war. Er rannte los. Atemlos erreichte er die Feuerstelle, beugte sich über den schlafenden Trautman und rüttelte ihn wild an den Schultern. »Wachen Sie auf!«, rief er. »Schnell! Alle! Wacht auf!« Trautman öffnete verschlafen die Augen und versuchte seine Hand abzuschütteln, doch als er in Mikes entsetztes Gesicht sah, wurde er schlagartig wach. »Was ist los?«, keuchte er und setzte sich mit einem Ruck auf. Binnen weniger Augenblicke waren auch die anderen aus dem Schlaf hochgefahren und umringten ihn. »Was ist passiert? Was soll der Lärm?« »Jemand ist hier«, sagte Mike. Er deutete zum Meer. »Ich ... ich habe etwas gesehen!« »Die Insel ist völlig unbewohnt«, sagte Ben, doch Trautman brachte ihn mit einer raschen Geste zum Schweigen. »Entfacht das Feuer«, sagte er. »Singh - hast du eine Waffe mitgebracht?« Der Inder schüttelte bedauernd den Kopf, beugte sich aber dann nach einem armlangen Stück Brennholz und wog es prüfend in der Hand. Mike, der schon mehrmals gesehen hatte, was der Sikh-Krieger zur Not mit bloßen Händen imstande war, fühlte sich sofort sicherer. »Also gut«, sagte Trautman. »Ben, Juan, ihr bleibt mit Chris und Serena hier. Mike wird Singh und mir zeigen, wo er die Bewegung gesehen hat.« Als wären Trautmans Worte ein Signal gewesen, teilte sich plötzlich der Waldrand hinter ihnen und eine hochgewachsene Gestalt trat heraus. Fast im selben Augenblick wurde auch die Dunkelheit überall rings um sie herum lebendig. Zwei, drei, vier, schließlich fast ein Dutzend riesiger breitschultriger Gestalten tauchten aus der Nacht rings um sie herum auf und bildeten einen schweigenden, drohenden Kreis, der sich ganz allmählich enger zusammenzog. Im ersten Moment dachte Mike, sie hätten sich getäuscht und es wären doch Menschen auf der Insel, denn die Männer hatten durchaus die Statur der riesigen Eingeborenen, denen sie das letzte Mal bei einer ähnlichen Gelegenheit begegnet waren, dann aber kam eine der Gestalten nahe genug heran, dass er ihr Gesicht erkennen konnte. Und Mike war nicht der Einzige, der erschrocken aufschrie! Es war nicht das Gesicht eines Menschen. Es war das Gesicht aus seinem Traum. Das furchtbare Antlitz eines jener Wesen, denen er schon zweimal begegnet war: einmal in der Tauchkammer der NAUTILUS, das zweite Mal im Lagerraum des Schiffes, als sie alle um ihr Leben gekämpft hatten. Es war schwer zu beschreiben, doch wenn irgendwann einmal jemand versucht hätte, einen Menschen und einen Haifisch zu kreuzen, dann hätte das Ergebnis ungefähr so aussehen müssen. Der Mann - wenn es einMannwar - hatte keinen Hals. Sein Kopf wuchs unmittelbar aus den Schultern heraus und war viel zu breit, dafür flacher als der eines Menschen. Die Augen saßen zu weit an den Seiten und waren riesig und schwarz -Haifischaugen! Und er hatte keine Nase, dafür einen breiten, geschlitzten Mund, in dem ein fürchterliches Gebiss blitzte. Da, wo sein Hals sein sollte, gewahrte Mike ein Dutzend fingerlanger Kiemen, die sich unentwegt bewegten, und seine muskulösen Arme endeten in beinahe menschlich aussehenden Händen, die jedoch Schwimmhäute zwischen den Fingern und lange, gefährlich gebogene Krallen hatten. Und auch seine Haut war eher die rauhe Sandpapierhaut eines Haies, nicht die eines Menschen. »Um Gottes willen!«, flüsterte Trautman. Wie alle anderen war er erschrocken vor den Kreaturen zurückgewichen, aber nun standen sie Rücken an Rücken vor dem Feuer und es gab nichts mehr, wohin sie sich zurückziehen konnten. »Was sind das für Wesen?« Niemand antwortete, auch Mike nicht. Singh hob seinen Knüppel, als eines der Geschöpfe näher kam, aber Mike machte rasch eine warnende Bewegung. »Nicht«, sagte er erschrocken. Singh sah ihn irritiert an, und Trautman fragte: »Nicht? Was soll das heißen?« Mike antwortete nicht gleich. Der Anblick der unheimlichen Haimenschen erfüllte ihn mit Panik. Es fiel ihm schwer, auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, aber er wusste, dass ihr aller Leben an einem seidenen Faden hing. Wenn einer von ihnen auch nur einen winzigen Fehler machte, dann ... »Sie werden uns nichts tun«, sagte er. »Woher willst du das wissen?«, fragte Ben. »Das hätten sie längst gekonnt, wenn sie das wollten«, antwortete Mike. »Erkennt ihr sie denn nicht? Einer von ihnen hat uns das Leben gerettet!« »Bist du verrückt?«, wollte Ben wissen. »Aber erinnere dich doch!«, sagte Mike fast flehend, ohne den unheimlichen Haifischmann vor sich aus den Augen zu lassen. »Als wir zur NAUTILUS geschwommen sind! Erinnert euch doch! Die Tür hat geklemmt und wir haben sie nicht aufbekommen. Wir wären alle ertrunken, wenn zwei von ihnen das Schott nicht geöffnet hätten!« Ben blickte ihn nur verwirrt an und auch auf den Gesichtern der anderen erschien ein Ausdruck von Verständnislosigkeit. Einzig Trautman sah mit einem Male sehr nachdenklich drein. »Aber was wollen sie von uns?«, fragte Juan. Mike zuckte nur mit den Schultern, doch das genügte nicht. Allein dadurch, dass er das Wort ergriffen hatte, hatte er die Initiative an sich gerissen und nun war es an ihm, auch weiterzumachen.
Mit zitternden Knien und mit so heftig klopfendem Herzen, dass er Mühe hatte, zu sprechen, trat er dem Haifischmann entgegen und streckte beide Arme aus; die Hände leer und nach oben gedreht, eine Geste, von der er hoffte, dass sie auch für Wesen aus der Welt fünftausend Meter unter dem Meeresspiegel verständlich war. »Kannst du mich verstehen?«, fragte er. Das unheimliche Wesen sah ihn nur an. Es war unmöglich, in seinen unergründlichen Augen irgendein Gefühl zu erkennen, und es reagierte auch nicht auf den Klang seiner Sprache. »Wer seid ihr?«, fuhr Mike mit bebender Stimme fort. »Was wollt ihr von uns? Wir können euch nicht helfen, wenn ihr uns nicht sagt, warum ihr gekommen seid.« »Ist das so schwer zu erraten?«, fragte Ben spöttisch. »Sie sind wegen Argos hier, wollen wir wetten?« Nun zeigte das Geschöpf zum ersten Mal eine Reaktion auf die menschliche Stimme. Sein Kopf drehte sich in einer sonderbar anmutenden Bewegung herum und für einen Moment richtete sich der Blick seiner unheimlichen, pupillenlos wirkenden Augen direkt auf Ben. Dann, als hätte es die Worte doch verstanden und versuche, auf diese Weise zu antworten, drehte es sich ganz herum und starrte in die Richtung, in der Argos am Strand saß. Als Mike ebenfalls dorthin blickte, glaubte er weitere Schatten zu erkennen, die bisher nicht dagewesen waren. Plötzlich schrie Serena erschrocken auf und wollte loslaufen. Singh riss sie im letzten Moment zurück, doch sie wäre ohnehin nicht weit gekommen, denn einer der Haifischmänner vertrat ihr mit einer raschen Bewegung den Weg. Serena erwies sich jedoch als kräftiger, als Singh angenommen haben mochte. Sie riss sich mit einem überraschend kraftvollen Ruck los und rannte in die Dunkelheit hinein. Und es gelang ihr sogar, den zupackenden Händen des Haifischmannes zu entwischen.
Kaum eine Sekunde, nachdem sie aufgeschrien hatte, war sie in der Nacht verschwunden. »Sie werden ihr nichts tun«, sagte Mike. Er betete, dass es so war. Die Haifischmänner durften Serena einfach nichts zuleide tun! Fast verzweifelt versuchte er, die Dunkelheit mit Blicken zu durchdringen, aber es war unmöglich. Nach einigen Momenten jedoch glaubte er, die Geräusche eines Kampfes zu hören. Laute, die ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagten. Ohne auf seine eigene Sicherheit zu achten, wollte er losstürmen, doch auch er kam nicht weit. Der Haifischmann, mit dem er zu reden versucht hatte, ergriff ihn blitzschnell bei den Unterarmen. Er griff ihn nicht an, sondern hielt ihn einfach nur fest, aber in seinen Händen lag eine so übermenschliche Stärke, dass Mike trotzdem vor Schmerz aufstöhnte. Nach einem Augenblick jedoch ließ das Geschöpf Mike wieder los und trat zu den anderen zurück. Die Botschaft war deutlich, auch ohne Sprache. Schritte näherten sich und nur einen Moment später tauchten zwei der Haifischmänner wieder aus der Dunkelheit auf. Sie hielten Argos an beiden Armen gepackt zwischen sich, aber der Atlanter versuchte nicht, Widerstand zu leisten. Argos war kein Schwächling, aber Mike hatte am eigenen Leib gefühlt, wie unvorstellbar stark diese Geschöpfe waren. »Argos!«, rief Trautman. »Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten? Was sind das für Wesen?« Argos hob mühsam den Kopf. Mike erschrak, als er in sein Gesicht blickte. So kurz der Kampf gewesen war, er musste heftig gewesen sein, denn Argos' Züge waren nicht nur totenbleich, sondern auch verschwollen. Aus einem tiefen Kratzer auf seiner Wange lief Blut. Offensichtlich hatte er sich trotz allem noch mit letzter Kraft gewehrt. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er. »Solange Sie sich nicht einmischen, sind Sie nicht in Gefahr!«
»Das ist keine Antwort«, sagte Trautman scharf. Er wollte auf Argos zutreten und diesmal schienen ihre unheimlichen Bewacher nichts dagegen zu haben, denn sie ließen ihn gewähren. Eine der Kreaturen, die Argos gepackt hatten, hob jedoch warnend die Hand, als er sich ihm auf drei Schritte genähert hatte, und Trautman blieb auch sofort wieder stehen. Nach kurzem Zögern folgten ihm auch Mike und die anderen. Ihre unheimlichen Begleiter folgten ihnen ebenfalls, lautlos wie Schatten, aber nahe genug, um sofort eingreifen zu können. »Das sind die, vor denen Sie geflohen sind, nicht wahr?«, fragte Trautman mit einer Kopfbewegung auf einen der Haifischmänner. »Die Wesen, die die Haie geschickt haben.« »Sind das die Leute aus dem schwarzen Schiff?«, wollte Ben wissen. Argos schüttelte matt den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber sie gehören zusammen. Und auch die hier sind nur Werkzeuge. Aber Sie haben Recht: Sie wurden geschickt, um mich und die anderen zu holen. Ich habe gedacht, ich könnte ihnen entkommen, aber vermutlich ist das unmöglich.« Er seufzte tief und als er weitersprach, war seine Stimme sehr leise. »Es ist vorbei. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Sie haben getan, was Sie konnten. Was nun geschieht, geht nur mich etwas an.« »Das ist nicht ganz richtig«, sagte eine Stimme aus der Dunkelheit hinter ihnen. Mike und die anderen fuhren überrascht zusammen, als sie die beiden großgewachsenen, in dunkelblaue englische Marineuniformen gekleideten Gestalten sahen, die aus der Nacht hervorgetreten waren. Mike erkannte sie sofort: Es waren zwei der drei Seeleute, die sie aus dem Wrack geborgen hatten. Offensichtlich hatte das, was Argos versucht hatte, zumindest zum Teil Erfolg gehabt, denn sie schienen vollständig wiederhergestellt zu sein.
Doch das war nicht der Grund für Mikes Erschrecken. Die beiden waren nicht allein gekommen. Einer von ihnen hatte Serena gepackt. Mit der einen Hand hielt er ihr den Mund zu, mit der anderen presste er sie trotz ihres verzweifelten Sträubens an sich. »Was soll das?«, fragte Mike. »Lassen Sie sie sofort los!« Der Seemann wandte langsam den Blick, sah ihn kopfschüttelnd an und sagte lächelnd: »Aber das wäre ziemlich dumm, meinst du nicht auch?« »Serena hat nichts mit all dem zu tun«, sagte Trautman scharf. »Lassen Sie sie los! Auf der Stelle!« Und als wären seine Worte ein Signal gewesen, setzten sich nicht nur er und Singh, sondern auch beide Haifischmänner in Bewegung, um sich auf die aufgetauchten Atlanter zu stürzen. Der Mann, der zuerst gesprochen hatte, war jedoch schneller. Mit einer blitzartigen Bewegung griff er unter seine Jacke, zog eine Pistole hervor und richtete die Mündung auf Serenas Schläfe. »Keinen Schritt weiter«, sagte er. Trautman, Singh und Mike erstarrten mitten in der Bewegung und nach einem weiteren Schritt hielten auch die Haifischmänner inne. »Sehr gut«, sagte der Seemann.
»Ich hatte gehofft, dass ihr vernünftig seid. Und nun alle ein paar Schritte zurück, wenn ich bitten darf.« Er wedelte auffordernd mit der linken Hand. Trautman, Ben und Singh, dann auch die beiden Haifischmänner gehorchten, während der Seemann und sein Kamerad, der immer noch Serena gepackt hielt, im selben Tempo näher kamen. »Und jetzt lasst ihn los!«, befahl der Atlanter mit einer Geste auf die beiden Haifischgeschöpfe, die Argos gepackt hielten. Die beiden zögerten. Der Atlanter zog den Hahn des Revolvers zurück und wiederholte seine Aufforderung, und die beiden Geschöpfe ließen Argos' Arme tatsächlich los und traten zwei, drei Schritte weit zurück. Argos sank mit einem Keuchen auf die Knie und wäre nach vorne gestürzt, hätte er sich nicht im letzten Moment mit den Händen im Sand abgestützt. »Du hattest Recht, Argos«, fuhr der Atlanter mit der Pistole fort. »Sie scheinen tatsächlich so programmiert zu sein, dass der Schutz unschuldigen Lebens über ihre eigentliche Aufgabe geht. Erstaunlich!« Mike verstand kein Wort, obwohl er das Gefühl hatte, es eigentlich verstehen zu müssen. Aber er war viel zu aufgeregt, hatte viel zu viel Angst um Serena, um einen klaren Gedanken zu fassen. »Was soll das?«, fragte er. »Wir stehen auf Ihrer Seite! Warum bedrohen Sie Serena?« Der Atlanter schenkte ihm ein fast mitleidiges Lächeln. »Ich hätte dich für klüger gehalten, nach allem, was Argos mir über dich erzählt hat«, sagte er. »Du siehst es doch selbst. Diese freundlichen Gesellen da werden nichts tun, solange sie damit das Leben eines unschuldigen Kindes gefährden würden. Wäre es dir lieber, wenn ich dich als Geisel nähme?« »Jederzeit«, antwortete Mike spontan und das war auch ernst gemeint. Der Atlanter schüttelte jedoch den Kopf. »Seltsam. Auch diese Antwort überrascht mich nicht«, sagte er. »Trotzdem ist es besser, wenn wir unser Prinzesschen hier behalten.« Mike versuchte verzweifelt, Serenas Blick einzufangen. Serena hatte aufgehört, sich zu sträuben, aber ihre Augen waren weit und dunkel vor Panik. Der Atlanter drückte die Waffe so fest gegen ihre Schläfe, dass es weh tun musste. »Sie ... Sie würden ihr doch niemals wirklich etwas antun, oder?«, stammelte Mike. Der Atlanter antwortete nicht, aber Trautman sagte mit einem leisen, harten Lachen: »Selbstverständlich würde er das. Diese Geschöpfe lassen sich nicht von leeren Drohungen beeindrucken.« »Da haben Sie in der Tat Recht, Trautman«, antwortete der Atlanter. »Ich würde es sehr bedauern, diesem entzückenden jungen Mädchen etwas zuleide tun zu müssen, aber glauben Sie mir: Ich werde es tun, wenn es nötig ist.« Er trat rasch auf Argos zu -ohne dass der Lauf seiner Waffe dabei auch nur einen Sekundenbruchteil nicht auf Serenas Kehle gedeutet hätte -, griff unter seine Arme und zog ihn mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Haben sie dich verletzt?« Argos schüttelte den Kopf. Er wankte, aber Mike nahm an, dass das eher an den Anstrengungen der vergangenen Nacht lag als an dem, was ihm die Haifischmänner angetan hatten. »Es geht schon wieder«, murmelte er. Erschöpft fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht, warf dann einen Blick in die Runde und sah Mike an. In seinen Augen erschien ein Ausdruck von Bedauern, ja, fast von Schmerz. »Es tut mir Leid«, sagte er. Mike starrte ihn an. »Sie verdammter Mistkerl«, antwortete er. »Warum habe ich Sie nicht da unten ertrinken lassen?« Und in diesem Moment meinte er das ernst. Argos schien es auch zu spüren, denn sein Blick verdüsterte sich noch mehr und nach einer Sekunde hatte er nicht mehr die Kraft, dem Mikes standzuhalten. Mühsam drehte er sich um und wandte sich an den Mann, der seine Tochter festhielt. »Bitte tu ihr nicht weh, Vargan«, sagte er. »Nur wenn es nötig ist«, erwiderte Vargan. »Und was haben Sie jetzt vor?«, wollte Trautman wissen. »Nun«, sagte der Atlanter mit der Pistole lächelnd. »Ich denke, wir werden uns zuerst einmal von unseren ungebetenen Gästen verabschieden.« Er wandte sich dem nächststehenden Haifischmann zu, lächelte -und schwenkte blitzschnell seine Pistole herum. Zwei Schüsse fielen so rasch hintereinander, dass sie wie ein einzelner klangen. Der Haifischmann wurde zurückgeworfen, riss die Arme in die Luft und fiel sterbend in den Sand und im nächsten Sekundenbruchteil hatte sich die Waffe wieder auf Serena gerichtet. »Tarras!«, schrie Argos. »Bist du verrückt geworden?!« Tarras grinste kalt. »Keineswegs, Argos. Ich bin nur nicht ganz sicher, ob sie unsere Sprache verstehen. Ich denke, das haben sie begriffen.« Mike starrte entsetzt auf den zu Boden gesunkenen Haifischmann herab. Zwei seiner Brüder bemühten sich um ihn, aber selbst Mike erkannte sofort, dass jede Hilfe zu spät kam. Die beiden Kugeln hatten das Wesen mitten ins Herz getroffen. »Ich hoffe, ich muss meine Demonstration nicht wiederholen«, sagte Tarras. Noch bevor irgendeiner der anderen antworten konnte, riss er seine Pistole abermals herum und gab einen weiteren Schuss ab. Diesmal ließ die Kugel allerdings nur den Sand vor den Füßen eines der anderen Haifischmänner hoch aufspritzen. Die Wesen hatten die Botschaft jedoch verstanden. Zwei von ihnen ergriffen ihren sterbenden Kameraden und nahmen ihn in die Mitte, die anderen drehten sich schweigend herum und verschwanden ebenso lautlos in der Nacht, wie sie aufgetaucht waren. Tarras deutete auf Ben. »Du, Junge! Lauf ihnen nach und überzeuge dich davon, dass sie wirklich ins Wasser gehen und sich nicht nur irgendwo verstecken!« Ben starrte den Atlanter eine Sekunde lang trotzig an, aber dann nickte Trautman unmerklich und Ben drehte sich herum und lief hinter den Haifischmännern her. Als auch er in der Nacht verschwunden war, sagte Trautman: »Sie haben gewonnen. Sie können das Mädchen jetzt loslassen.« Eine Sekunde lang sah Tarras einfach nur verblüfft drein, dann lachte er. Der Pistolenlauf deutete immer noch auf Serenas Kopf. »Sie haben wirklich keine Ahnung,wie?« »Wovon?«, fragte Trautman lauernd. »Was hast du ihnen erzählt, Argos?«, erkundigte sich Tarras lachend. »Nur das, was sie wissen mussten«, antwortete Argos leise. Er sah seinen Kameraden an. Nicht jedoch Trautman, Mike oder einen der anderen. »Nun, das ist anscheinend nicht allzu viel«, erwiderte Tarras. Er wandte sich direkt an Trautman. »Ich fürchte, dass wir Ihrem Wunsch nicht entsprechen können, lieber Herr Trautman«, erklärte er in spöttischem Tonfall. »Jedenfalls noch nicht sofort. Wir brauchen unser kleines Prinzesschen nämlich noch, wissen Sie?« Trautman nickte. Sein Gesicht war wie aus Stein. »Weil wir sonst nicht tun, was Sie von uns verlangen«, vermutete er. »Für einen so alten Mann haben Sie ein erstaunlich scharfes Begriffsvermögen«, erklärte Tarras höhnisch. »Aber keine Sorge: Wir werden Ihre Dienste allerhöchstens noch für zwei oder drei weitere Tage in Anspruch nehmen. Und danach bekommen Sie Ihr Prinzesschen unbeschädigt zurück -falls niemand auf dumme Ideen kommt, heißt das«, fügte er mit einem Seitenblick auf Mike hinzu. Mike begriff nur ganz allmählich, was die Worte des Atlanters bedeuteten, dann aber fuhr er herum und wandte sich an Argos: »Das können Sie nicht tun! Warum lassen Sie das zu?« »Aber was soll er denn machen?«, erkundigte sich Tarras. Mike ignorierte ihn. »Befehlen Sie ihm, damit aufzuhören!«, schrie er. »Sie können es! Sie sind ihr König!« Argos senkte den Blick. Tarras blinzelte, machte für eine Sekunde ein verblüfftes Gesicht und begann dann schallend zu lachen. »Un
ser König? Hat er euch das erzählt?« Er drehte sich zu Argos herum. »Da hast du aber ein bisschen übertrieben, wie?« Mikes Augen wurden groß, »Sie ... Sie sind nicht... König von Atlantis?« Argos schüttelte den Kopf. Er hatte nicht die Kraft, Mike anzusehen. »Nein«, sagte er leise. »Das bin ich nicht. Und ich bin auch nicht -«, und damit wandte er sich an Serena, und seine Stimme sank fast zu einem Flüstern herab. »- dein Vater. Es tut mir Leid.«
DIE SPANNENDE ABENTEUERREIHE VON WOLFGANG HOHLBEIN DIEVERGESSENEINSEL 160SeitenDAS MÄDCHEN VON ATLANTIS 192 Seiten DIE HERREN DER TIEFE
160Seiten IM TAL DER GIGANTEN 176 Seiten DAS MEERESFEUER 176 Seiten DIE SCHWARZE BRUDERSCHAFT 160 Seiten DIE STEINERNE PEST 160 Seiten DIE GRAUEN WÄCHTER176Seiten
Weitere Bände inVorbereitunglJEBERRfUTER
Wolfgang Hohlbein,geboren in Weimar, lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf. Für sein Erstlingswerk »Märchenmond«, ein fantastischer Roman, den er gemeinsam mit seiner Frau Heike schrieb, erhielt er 1982 den ersten Preis des vom Verlag Ueberreuter veranstalteten Wettbewerbs zum Thema Science-Fiction und Fantasie.
Außerdem erhielt dieser Titel 1983 den
»Phantasie-Preis der Stadt Wetzlar«
und den »Preis der Leseratten«.
In der Reihe »Kapitän Nemos Kinder«
bisher erschienen:
Die Vergessene Insel
Das Mädchen von Atlantis
Die Herren der Tiefe
Im Tal der Giganten
Das Meeresfeuer Die Schwarze Bruderschaft Die steinerne Pest Die Grauen Wächter Weitere Bände in Vorbereitung.
Die NAUTILUS liegt vor einer Insel in der Karibik. Trautman, Mike und seine Freunde haben nach den letzten Abenteuern dringend Erholung nötig.Dochdaversuchen Serena undihrVaterArgos,mit derNAUTILUSdieInsel zu verlassen. Als Mike und seineFreunde das verhindern wollen, geraten sie in Lebensgefahr. Zwei seltsame Wesen,halb Mensch und halb Hai, retten sie. Wer sind sie? Und weshalb wird die NAUTILUS von Haien förmlich belagert? Argos gelingt es,die Herrschaft über die NAUTILUS zu erlangen und auf den Meeresgrund zu tauchen. Dort geraten sie in einen Hinterhalt und begegnen wieder den Haifischwesen ...