KAPITÄN NEMOS KINDER

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WOLFGANG HOHLBEIN

DIE GRAUEN WÄCHTER

UEBERREUTER

Die Deutsche Bibliothek -CIP-Einheitsaufnahme

Hohlbein, Wolfgang:

Kapitän Nemos Kinder / Wolfgang Hohlbein. - Wien: Ueberreuter Die Grauen Wächter. - 1997 ISBN 38000-2443-8

J 2245/1 Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten Umschlagillustration von Doris Eisenburger

Gesetzt nach der neuen Rechtschreibung

Copyright © 1997 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Printed in Austria

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Das Licht war trüber als sonst; es hatte einen grünlichen Schimmer und zauberte nervös hin und her huschende Muster an die Decke des Salons. Ein ununterbrochenes dumpfes Summen lag in der Luft und manchmal knackte und knisterte es unheimlich. Die Luft roch muffig und es war so feucht, dass Mike trotz der im Grunde angenehmen Temperaturen, die im Salon der NAUTILUS herrschten, beständig fror. Vielleicht waren es aber auch Trauer und Verbitterung, die er spürte. Obwohl er jetzt seit einer guten Woche tagtäglich mehrere Stunden hier verbrachte, hatte er sich immer noch nicht an den Anblick gewöhnt. Die NAUTILUS war nicht einfach nur ein Schiff. In den letzten Jahren war sie zu seiner Heimat geworden und jetzt stand er sozusagen in den Trümmern dieser Heimat; dem erbärmlichen Rest, der übrig geblieben war, nachdem die NAUTILUS von einem ihrer eigenen Torpedos getroffen und versenkt worden war. Trautman, Singh und vor allem Weisser ließen zwar keine Gelegenheit verstreichen, um ihnen allen immer wieder zu versichern, dass sie noch Glück gehabt hatten und es hätte schlimmer kommen können, aber für Mike waren diese Worte kein Trost, auch wenn es sicherlich die Wahrheit war. Aber was half der Gedanke schon, dass es schlimmer kommen konnte? Für seinen Geschmack war es schlimm genug: Sie hatten es zwar geschafft, die NAUTILUS aufzurichten, so dass der Turm mit dem Einstieg wieder aus dem Wasser ragte und sie hinein- und hinauskonnten, ohne dass jedes Mal ein neuer Schwall Salzwasser in das Schiff drang, aber das Unterseeboot lag immer noch reglos auf dem Meeresgrund -zwar nur in wenigen Metern Tiefe und nur einen Steinwurf vom Strand entfernt, trotzdem aber wenig mehr als ein Wrack. Das Platschen von Schritten im Wasser, das auch draußen auf dem Gang noch immer knöcheltief stand, riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah hoch und lächelte flüchtig, als er Trautman erkannte, der durch die Tür hereintrat. Er trug wadenhohe Gummistiefelund dazu einen blauen Arbeitsanzug, der über und über mit Öl, Ruß und Schmierfett bedeckt war, und er machte einen sehr erschöpften Eindruck. Seit zwei Wochen arbeitete er fast ununterbrochen. Mike konnte sich nicht erinnern, wann er ihn das letzte Mal ausgeschlafen erlebt oder ihn gar schlafen gesehen hatte. Er hätte Trautman, der bereits über sechzig war, gerne einen Teil der Arbeit abgenommen, aber es gab nur sehr wenig, was er tun konnte. Trautman war der Einzige an Bord, der sich gut genug mit der Technik der NAUTILUS auskannte, um das Schiff nicht nur zu steuern, sondern auch vieles zu reparieren. »Alles in Ordnung?« Es dauerte eine Sekunde, bis Mike begriff, dass Trautmans Frage weniger seinem Wohlbefinden galt als vielmehr den Instrumenten und Anzeigen auf dem Pult vor ihm. Hastig senkte er den Blick und nickte Trautman einen Augenblick später verlegen zu. Trautman lächelte nur und winkte ab, was Mikes Verlegenheit noch mehr Nahrung gab. Seit sie auf dieser Insel gestrandet waren, benahmen sich alle übermäßig freundlich und eigentlich schon zu rücksichtsvoll was natürlich mit den Vorfällen zusammenhing, die der Beinahe-Katastrophe vorangegangen waren. Obwohl es bereits zwei Wochen her war, saß ihnen allen der Schock noch immer in den Knochen und jedem machte die Erkenntnis zu schaffen, wie sehr er selbst sich verändert gehabt hatte, als sie unter dem Einfluss jener fremden, unheimlichen Macht standen. Aus Freunden waren damals Fremde und beinahe Feinde geworden. Niemand hatte dem anderen irgendetwas vorgeworfen, denn jeder hatte genug damit zu tun, sich selbst Vorwürfe zu machen, aber Mike wusste doch, dass es noch lange dauern würde, ehe an Bord des Schiffes wieder so etwas wie Normalität einkehrte.

Falls das überhaupt je der Fall sein würde ... »Das sollte reichen«, sagte Trautman. »Ich werde jetzt versuchen, die Pumpen zu starten.« Er griff an Mike vorbei und legte rasch hintereinander fünf, sechs kleine Schalter um. Es gab weder eine sichtbare Veränderung noch hörte Mike irgendetwas, aber einige Nadeln auf dem Instrumentenpult schlugen aus und Trautman nickte mit sichtbarer Erleichterung. »Sie laufen.« »Sie haben sie hingekriegt?« Mike wurde klar, dass Trautman ein weiteres kleines Wunder vollbracht haben musste. Die Pumpen lagen in jenem Bereich der NAUTILUS, der von der Explosion am schwersten mitgenommen worden war. Als Mike den ausgeglühten Haufen aus zertrümmertem Metall vor einigen Tagen das erste Mal gesehen hatte, der sich dort befand, wo die Laderäume und ein nicht kleiner Teil lebenswichtiger Maschinen hätten sein sollen, da hatte er fast jede Hoffnung aufgegeben. »Nicht annähernd so gut, wie ich es gerne hätte«, sagte Trautman stirnrunzelnd. »Sie arbeiten zwar, aber das Wasser fließt fast schneller wieder herein, als sie es hinauspumpen können.« Er schüttelte den Kopf und bedachte das Instrumentenpult mit einem besorgten Blick. »In diesem Tempo dauert es Tage, bis sich das Schiff auch nur vom Grund hebt. Und es darf nicht die winzigste Kleinigkeit passieren.« Mike verzichtete darauf, eine entsprechende Frage zu

stellen. Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzu

stellen, was alles passieren konnte, um ihre Pläne zunichte zu machen. Es musste nicht einmal viel sein. In dem angeschlagenen Zustand, in dem sich die NAUTI-LUS befand, konnte jeder kleine Zwischenfall zu einer Katastrophe ausarten. »Genug für heute«, sagte Trautman. »Lass uns an Land gehen. Ich bin hungrig und müde und du siehst auch nicht mehr gerade frisch aus. Ben oder Chris können die Pumpen ebenso gut überwachen.« Mike stand auf und folgte Trautman nach draußen. Nebeneinander schlurften sie durch das knöcheltiefe Wasser, das den Boden bedeckte und aus dem kostbaren Teppich einen matschigen Schwamm gemacht hatte. Die Samtvorhänge vor den Fenstern hingen herunter wie nasse Lappen, die Holzvertäfelung an den Wänden wies große, hässliche Flecken auf und am schlimmsten hatte es die Bücherregale getroffen. Fast alle Bände waren nass und dem Geruch zufolge mussten etliche bereits zu schimmeln begonnen haben. Sie waren bisher nicht dazu gekommen, den Schaden genauer in Augenschein zu nehmen, aber Mike war ziemlich sicher, dass ein großer Teil der kostbaren Bibliothek seines Vaters unwiederbringlich verloren war; ein Verlust, dessen wahre Größe er vermutlich nicht einmal abzuschätzen vermochte. Und weiter unten im Schiff, in den Räumen, die zum Teil vollständig überflutet gewesen waren, sah es noch viel schlimmer aus. Sie gingen die Treppe in den Turm hinauf und mit dem hellen Licht, das durch die Bullaugen und das offen stehende Turmluke hereinfiel, besserte sich auch Mikes Laune ein wenig. Von draußen drangen die Geräusche des Meeres und ein wirres Durcheinander ferner Stimmen an sein Ohr und als er vor Trautman die Leiter hinaufkletterte, wehte ihm eine Brise kühler Meeresluft ins Gesicht. Wie immer in den letzten Tagen glitt sein Blick ganz von selbst zu dem gewaltigen Krater, der kaum hundert Meter entfernt im Strand gähnte. Und wie immer verspürte er ein eisiges Frösteln bei dem Gedanken,wieknapp sie einer noch viel größeren Katastrophe entronnen waren. Hätten die beiden Torpedos, die sie auf die Flugscheibe abgeschossen hatten, ihr Ziel tatsächlich getroffen, so hätte die Explosion des Sternenschiffes nicht nur die NAUTILUS, sondern auch die gesamte Insel und alles im Umkreis von fünfzig Meilen in Stücke gerissen. Zumindest hatte Weisser das behauptet. Mike verscheuchte den Gedanken und kletterte ganz aus dem Turm heraus, um in das Boot zu steigen, mit dem Trautman und er vor Stunden hergekommen waren. Es war nicht mehr da. Er entdeckte es fünfzig Meter weit entfernt am Strand -Juan, Weisser und einige Eingeborene waren dabei, eine Anzahl großer Kisten einzuladen. Mike runzelte die Stirn, aber sie hatten nur dieses eine Boot und es gab so viel von der NAUTILUS herunter oder von der Insel an Bord zu schaffen, dass er kaum erwarten konnte, dass die anderen zusahen, wie es nutzlos stundenlang am Turm des Schiffes festgemacht war. Mike fror zwar immer noch, aber er hatte wenig Lust zu warten, bis Juan mit dem Boot zurückkam; außerdem war er ohnehin bis auf die Haut durchnässt. Das kleine Stück zum Ufer konnte er genauso gut schwim

men. Als er sich auf dem Turm aufrichtete, um ins Wasser zu springen, entdeckte ihn Juan. Er hob beide Arme und winkte ihm zu und er rief auch irgendetwas, was Mike nicht verstand. Mike winkte zurück, woraufhin Juan noch heftiger mit den Armen zu gestikulieren begann und auch Weisser in seinem Tun innehielt und plötzlich mit beiden Armen wedelte. Die beiden konnten es wohl kaum erwarten, ihn wiederzusehen. Mike atmete tief ein, stieß sich ab und landete mit einem eleganten Hechtsprung im Wasser. Nach der klammen Kälte, die an Bord der NAUTILUS geherrscht hatte, kam ihm das Meer angenehm warm vor, so dass er so lange unter Wasser blieb, wie er nur konnte, und mit kräftigen Zügen in Richtung Ufer schwamm. Als er auftauchte, hatte er bereits ein Viertel der Entfernung zurückgelegt. Juan und Weisser winkten ihm

immer noch zu und auch die Eingeborenen hatten aufgehört, sich mit dem Boot und seiner Fracht zu beschäftigen, und blickten in seine Richtung. Mit kräftigen Zügen schwamm Mike weiter. Erst als er schon die halbe Strecke zum Ufer zurückgelegt hatte und Juan und die anderen immer noch nicht aufhörten, wild mit den Armen zu gestikulieren und auf der Stelle herumzuhüpfen, begann ihm die Sache doch etwas komisch vorzukommen. Er hob den Kopf ein wenig weiter aus dem Wasser und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was Juan ihm zuschrie ... »Pass auf! Hinter dir!«Hinter ihm?Hinter ihm war die NAUTILUS -was sonst? Aber vielleicht war etwas mit Trautman, der hinter ihm aus dem Turm geklettert war. Mike drehte im Schwimmen mühsam den Kopf und fuhr so erschrocken zusammen, dass er für eine Sekunde das Schwimmen vergaß und eine gehörige Portion Wasser schluckte, bevor er ganz instinktiv Arme und Beine wieder bewegte. Hinter ihm schnitt eine dreieckige graue Flosse durch die Wasseroberfläche. Ein Hai! Der bloße Anblick schien Mikes Kraft schier zu verzehnfachen. Mit verzweifelter Schnelligkeit griff er aus und schoss nun beinahe selbst so schnell wie ein Fisch durch das Wasser, aber natürlich nicht annähernd schnell genug, um dem Hai davonzuschwimmen oder den Abstand zwischen sich und dem riesigen Raubfisch auch nur zu halten.

Der Hai schoss mit unglaublicher Schnelligkeit heran. Mike konnte ihn im glasklaren Wasser jetzt deutlich erkennen. Er war nicht einmal besonders groß - verglichen mit den Giganten, die sie in den Tiefen der Meere gesehen hatten, aber trotzdem eine tödliche Gefahr. Mike konnte sehen, wie sein riesiges Maul auseinanderklaffte und zwei doppelte Reihen krummer, nadelspitzer Zähne ihn angrinsten. Im allerletzten Moment warf er sich zur Seite und tauchte unter. Er entging dem zuschnappenden Haifischmaul, spürte aber einen heftigen Schlag gegen die Hüfte und gleich darauf einen brennenden Schmerz, als wäre sein ganzes rechtes Bein von oben bis unten mit einem Reibeisen in Berührung gekommen. Mike sah, wie der Hai auf der Stelle herumfuhr und zu einem zweiten Angriff ansetzte. Statt sich auf ein aussichtsloses Wettschwimmen mit einem Fisch einzulassen, der spielend die Geschwindigkeit eines Schnellbootes erreichte, drehte sich Mike unter Wasser herum - und schwamm dem Haifisch genau entgegen! Das riesige Maul des Raubfisches öffnete sich erneut. Mike änderte seine Richtung ein wenig, um weiter nach unten zu tauchen, und der Hai ging instinktiv auf Abfangkurs -und Mike bewegte sich im buchstäblich allerletzten Moment zur Seite. Diesmal war der Schlag noch härter und er hatte das Gefühl, über einen Klotz mit Sandpapier gezerrt zu werden,

doch er hatte nichts mehr zu verlieren. Als der Hai unter ihm entlangschoss, vollendete er seine Drehung und griff zugleich mit beiden Händen nach der dreieckigen Rückenflosse des Tieres. Mit aller Kraft klammerte er sich daran fest. Ein harter Ruck ging durch

seine Arme und die Luft entwich aus seinen Lungen. Er würde jetzt nur noch wenige Augenblicke durchhalten, doch der Hai reagierte so, wie er gehofft hatte. Das Tier begann sich wütend zu schütteln, drehte sich

zweimal auf der Stelle und versuchte mit dem Schwanz nach dem Angreifer zu schlagen, der sich an seiner Rückenflosse festgeklammert hatte. Mike krallte sich mit aller Gewalt in die rauhe Haut des Haifisches. Das Tier bäumte sich auf, machte einen Buckel wie ein bockendes Pferd und schoss dann in spitzem Winkel zur Oberfläche hinauf. In einer Springflut aus Schaum brachen Mike und der Hai durch die Meeresoberfläche. Mike verlor endgültig den Halt, wurde im hohen Bogen durch die Luft geschleudert und klatschte meterweit entfernt wieder aufs Wasser, aber der kurze Augenblick hatte genügt, ihn wieder Atem schöpfen zu lassen, und er hatte sogar ein zweites Mal Glück gehabt. In seinem wütenden Kampf war der Hai noch näher ans Ufer herangekommen und das Wasser war dort, wo er sich nun befand, allerhöchstens anderthalb Meter tief. Er schwamm mit verzweifelten Zügen auf die Insel los und spürte endlich rauhen Sand unter den Knien. Hastig richtete er sich auf, watete das letzte Stück zum Ufer und sank zu Boden. Seine Lungen brannten vor Atemnot. Der kurze Kampf hatte ihn so erschöpft, dass ihm für einen Moment fast schwarz vor Augen wurde. Als er wieder klar sehen konnte, waren Juan, Weisser und die Eingeborenen bereits heran und umringten ihn. Weisser griff nach seinen Schultern, hob seinen Kopf und wollte nach seinem Puls tasten, aber Mike schlug seine Hand mit einer zornigen Bewegung zur Seite. Weisser starrte ihn einen Moment lang verdutzt an, trat dann kopfschüttelnd zurück, sagte aber nichts. Die Eingeborenen schnatterten wild und aufgeregt durcheinander und Juan redete ununterbrochen auf ihn ein. »Mein Gott! Ist dir etwas passiert? Was war denn los? So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Wie geht es dir?« »Noch lebe ich«, antwortete Mike müde. »Aber ich weiß nicht, wie lange noch. Anscheinend hast du dir vorgenommen, mich zu Tode zu quatschen.«

Juan riss verblüfft die Augen auf und fuhr in kaum weniger aufgeregtem Ton fort: »Das ... das war ja unglaublich. Es hat ausgesehen, als ob du auf dem Hai geritten wärst!« »Bin ich auch«, maulte Mike. »Irgendwie musste ich ja ans Ufer kommen, nachdem du mir das Boot geklaut hast.« Er stand auf, holte tief Luft und drehte sich dann wieder zum Meer herum. Der Haifisch war immer noch da! Er schwamm kaum zehn Meter vom Ufer entfernt in großen Kreisen auf und ab, als könne er nicht glauben, dass seine Beute im letzten Moment doch noch entkommenwar. Und als wäre all dies noch nicht genug, berührte Juan ihn am Arm und deutete nach links. Als Mikes Blick der Geste folgte, entdeckte er zwei, drei, schließlich ein halbes Dutzend weiterer Haifischflossen, die dort ihre Kreise zogen. »Sieht aus wie ein richtiges Familientreffen«, sagte Juan. Mike war nicht nach Scherzen zumute und Juan wurde auch sofort wieder ernst. »Entschuldige«, sagte er. »Dir ist wirklich nichts passiert?« »Nein«, beharrte Mike. »Aber ich habe einen ganz schönen Schrecken bekommen, das kann ich dir sagen.« Er rieb sich das schmerzende Bein und sog hörbar die Luft ein, als er an sich herabsah. Seine ganze rechte Seite sah tatsächlich aus, als wäre jemand mit einem Riesenstück Schmirgelpapier darüber gefahren. Die Haut war rot und an einigen Stellen blutete er sogar aus winzigen Wunden. Mike konnte von Glück sagen, dass er nicht schwerer verletzt war. Was ihn noch mehr beschäftigte, das war die Frage, warum der Hai angegriffen hatte. Entgegen der landläufigen Meinung kommen Haie nämlich recht selten in die Nähe des Ufers und eigentlich greifen sie Menschen nur an, wenn diese sie provozieren oder verletzt

sind. Und plötzlich tauchte hier nicht nur ein einzelnes Tier auf, sondern gleich ein halbes Dutzend - das war wirklich sonderbar! Mike löste den Blick von den Haifischen draußen im Meer, drehte sich herum und sah Weisser an, auf dessen Gesicht er für einen Moment einen Ausdruck von Erschrecken, ja beinahe Entsetzen gewahrte, den er nicht verstand. Weisser starrte aufs Meer und die Haie hinaus. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und so fest gegen die Oberschenkel gepresst, als fürchte er, dass ihr Zittern gesehen werden konnte, und er war trotz der Sonnenbräune blass geworden. Und das war nicht alles.

Wenige Augenblicke später schoben die Eingeborenen das Boot ins Wasser, um zur NAUTILUS hinüberzurudern und Trautman abzuholen, und ganz gegen seine sonstigen Gewohnheiten übernahm Weisser nicht automatisch das Kommando über den kleinen Trupp. Er stieg nicht ins Boot, sondern wartete in sicherer Entfernung ab, bis Trautman die Insel betreten hatte, und die ganze Zeit über kam er dem Wasser nicht einmal nahe, aber er starrte ununterbrochen die Haifische an.

Eine halbe Stunde später erreichten sie das Eingeborenendorf, das in der Mitte der kleinen Insel im Dschungel lag, und Mike stellte fest, dass die Nachricht von seinem Abenteuer am Strand bereits die Runde gemacht hatte. Und sie schien auch für gehöriges Aufsehen zu sorgen, denn er wurde immer wieder von Männern und Frauen angesprochen und musste seine Geschichte - mit Weissers Hilfe alsÜbersetzer -fast ein Dutzend Mal wiederholen, bevor Trautman und er endlich die kleine Hütte in der Mitte des Dorfes erreichten, in der sie für die Dauer ihres Aufenthaltes untergebracht waren. Chris, Ben und Singh erwarteten sie dort und Mike kam nicht darum herum, alles noch einmal zu erzählen. Als Juan mit einem heftigen Nicken hinzufügte, dass sich alles tatsächlich ganz genau so abgespielt hatte und er gut auf dem nächsten Rodeo als Haifischdompteur auftreten könnte, schenkte er ihm zwar einen giftigen Blick, musste aber trotzdem plötzlich lachen. Es bestand ja kein Grund mehr, Angst zu haben. Die Gefahr war vorbei und auch wenn der Zwischenfall merkwürdig genug gewesen war, gab es doch keinen Grund mehr, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. »Dieser Hai hat sich wirklich seltsam benommen«, meinte Trautman. »Mir kam es so vor, als hätte er sichhungrigbenommen«, sagte Mike. Trautman blieb ernst. »Wir sind jetzt seit Jahren zusammen unterwegs«, sagte er. »Und wir sind schon oft Haien begegnet. Aber sie haben sich nie so verhalten.« »Vielleicht war das Tier einfach krank«, sagte Ben. »Wahrscheinlich«, mischte sich Weisser ein, mit leicht erhobener Stimme und -wie Mike meinte - in fastzubeiläufigem Ton. »Aber das spielt für uns keine Rolle. Wir sollten etwas vorsichtig sein, wenn wir schwimmen gehen, aber das ist auch alles.« Niemand widersprach -und warum auch? Weissers Worte klangen einleuchtend und die Haie waren tatsächlich nicht ihr Problem. Aber Mike musste immer noch daran denken, wie sonderbar Weisser reagiert hatte, als er die Haifische sah. Er verscheuchte den Gedanken. Er war in letzter Zeit zu misstrauisch, vor allem wenn es um Weisser ging genauer gesagt:Argos,wie sein wirklicher Name laute

te. Obwohl alle anderen ihn mittlerweile damit ansprachen, fiel es Mike immer noch schwer, ihn statt des Namens zu benutzen, unter dem sie ihn kennen gelernt hatten. Er verstand selbst nichts so recht, warum das

so war; ebenso wenig, wie er sein übertriebenes Misstrauen dem Atlanter gegenüber begründen konnte.

Das liegt vielleicht daran, dass du ihn nicht magst,flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken.Du bist nicht besonders fair, findest du nicht?

Mike musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut zu antworten; sondern auf dieselbe lautlose Weise, auf die Astaroth mit ihm gesprochen hatte. Der Kater war ebenso wie Serena nicht in der Hütte, hatte aber ganz offensichtlich wieder einmal seine Gedanken gelesen, obwohl er wusste, wie unangenehm Mike dies war.

Verdammt noch mal, hör endlich, auf, in meinen Gedanken herumzuschnüffeln,dachte er wütend.Außerdem stimmt es nicht.

Was? Dass du ihn nicht magst oder dass du unfair bist? Beides. Ich habe nichts gegen ihn,antwortete Mike, obwohl er selbst merkte, wie wenig überzeugend diese Behauptung klang. Er hatte dem sonderbaren Fremden von Anfang an misstraut und dieses Misstrauen hatte sich nicht einmal ganz gelegt, nachdem er Mike und vermutlich allen anderen hier auch das Leben gerettet hatte. Dass er sich selbst immer wieder einzureden versuchte, dass es überhaupt keinen Grund gab, misstrauisch oder gar feindselig zu sein, half nicht viel. Trotzdem fuhr er fort:Warum sollte ich ihn nicht leiden können? Er steht auf unserer Seite. Und er hat uns das Leben gerettet. Du bist eifersüchtig,behauptete Astaroth geradeheraus.Eifersüchtig?! Wieso denn das? Und auf wen überhaupt? Auf Serena,antwortete Astaroth. Diesmal konnte Mike seine Reaktion nicht mehr ganz verbergen. Er fuhr erschrocken zusammen und wurde sich voller Unbehagen der Tatsache bewusst, dass ihn plötzlich alle anstarrten. Niemand sagte etwas, aber natürlich wussten sie, was er tat. Er war der einzige an Bord der NAUTILUS, der mit dem einäugigen Kater auf diese stumme Weise kommunizieren konnte, selbst wenn sie weit voneinander entfernt waren. Niemand hatte es je laut ausgesprochen, aber Mike wusste sehr wohl, dass den anderen seine Art, sich mit Astaroth zu verständigen, unheimlich war.

Unsinn!behauptete er.Ich bin nicht eifersüchtig. Bist du doch,antwortete Astaroth.Du hast Angst, dass er dir dein Prinzesschen wegnehmen könnte. Stimmt's?

Das war natürlich der blanke Unsinn. Aber aus irgendeinem Grund widersprach Mike jetzt nicht mehr, sondern wandte sich mit einem gekünstelten Räuspern wieder den anderen zu, die ihre Unterhaltung immer noch nicht fortgesetzt hatten, sondern ihn fast erwartungsvoll ansahen. Eigentlich nur, um den peinlichen Moment irgendwie zu überspielen und überhaupt etwas zu sagen, fragte er: »Wie lange werden wir noch auf dieser Insel festsitzen?« Die Frage galt niemand Bestimmtem und im Grunde hatte er auch gar nicht mit einer Antwort gerechnet, aber Weisser sagte fast hastig: »Nicht mehr sehr lange. Wenn die Pumpen endlich funktionieren und wir das Wasser aus dem Schiff herausbekommen, ist das Schlimmste geschafft.« Mike war über diese Antwort ein bisschen irritiert und auch Trautman runzelte flüchtig die Stirn. Mike war nicht ganz sicher, aber er glaubte doch, einen leisen Unterton von Kritik in Weissers Worten gehört zu haben. Es wäre nicht das erste Mal. Sie alle arbeiteten seit zwei Wochen wie die Verrückten daran, die NAUTILUS wenigstens halbwegs wieder flottzubekommen -alle, mit Ausnahme Weissers. Dafür ließ er kaum eine Gelegenheit verstreichen, mehr oder weniger offen seinen Tadel daranzu äußern, dass sie offensichtlich nicht schnell genug voran kamen. Überhaupt war die erste Euphorie,nach Serena auf einen zweiten Überlebenden von Atlantis gestoßen zu sein -und noch dazu auf ihren leibhaftigen Vater, niemand anderem also als dem König dieses untergegangenen Inselreiches! -, im Lauf der beiden vergangenen Wochen einer immer stärkeren Ernüchterung gewichen. Weisser beziehungsweiseArgos,verbesserte sich Mike in Gedanken - hatte sehr wenig über sich und sein Leben in Atlantis erzählt. Dafür hatte er unzählige Fragen gestellt. Natürlich bestand nicht der geringste Zweifel an seiner Loyalität. Immerhin hatte er Mike, Trautman und Singh und allen anderen hier mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet und darüber hinaus noch ein gewaltiges Unglück verhindert. Aber manchmal fragte sich Mike doch, ob ihnen dieser Mann wirklich die ganze Wahrheit über sich und seine Beweggründe und Ziele erzählt hatte oder ob es da vielleicht noch etwas gab, was er ihnen verschwieg. Vor allem in Momenten wie jetzt. »Ich habe die Pumpen repariert, so gut ich konnte«, sagte Trautman in das immer unbehaglicher werdende Schweigen hinein. »Vieles ist zerstört. Und die Funktion vieler Maschinen verstehe nicht einmal ich, so dass ich sie auch nicht reparieren kann.« Er sah Argos bei diesen Worten auffordernd an, aber der Atlanter ignorierte die darin verborgene Frage einfach. Trautman hatte ihn nur ein einziges Mal gebeten, ihm bei der Reparatur der NAUTILUS behilflich zu sein und die patzige Antwort erhalten, dass er schließlich kein Mechaniker sei und von Technik und Maschinen wahrscheinlich weniger verstünde als irgendein anderer an Bord. Die Stimmung in der kleinen Hütte war während des Gespräches spürbar angespannter geworden und sie hätte sich wahrscheinlich noch weiter verschlechtert, wäre in diesem Moment nicht Serena zurückgekommen. Sie war nicht allein. In ihrer Begleitung befanden sich zwei Kinder aus dem Dorf und Mike konnte draußen vor der Tür die Stimmen weiterer Eingeborenenjungen und -mädchen hören, die aufgeregt durcheinanderriefen und lachten. Serena und vor allem der Kater hatten

die Herzen der Eingeborenen im Sturm erobert und waren schon nach wenigen Tagen zu den erklärten Lieblingen des Stammes geworden. Wenn man sie zwischen den Menschen der Insel sah, die allesamt groß, sonnengebräunt und den Nachkommen der südamerikanischen Indianer sehr ähnlich waren, konnte man das gut verstehen: Serena mit ihrer hellen Haut, den großen, dunklen Augen und dem goldblonden Haar musste ihnen wie eine Fee erscheinen; einer Gestalt aus ihren Legenden und Mythen ähnlicher als einem lebendem Menschen. Und dazu kam ihr immer freundliches Wesen, das Mike nun, als sie allesamt dem unheilvollen Einfluss des Sternenschiffes entkommen waren, noch viel mehr auffiel als sonst. Niemand konnte übersehen, dass Serena etwas Besonderes war.Aber du bist nicht eifersüchtig, wie?spöttelte Astaroths Stimme in seinen Gedanken. Mike fuhr unmerklich zusammen und hielt nach dem Kater Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Vermutlich war er draußen geblieben, um wie üblich mit den Kindern zu spielen. Keiner der Eingeborenen wusste, was dieser Katerwirklichwar, und so war es nicht erstaunlich, dass er sie immer wieder verblüffte schließlich konnte er ihre Gedanken lesen und wusste so stets genau, was sie von ihm erwarteten. »Vater!« Serena eilte auf Argos zu und schloss ihn kurz, aber sehr heftig in die Arme und Mike ertappte sich erneut dabei, einen scharfen Stich der Eifersucht zu spüren. Er sah rasch weg und Astaroth war zumindest diesmal diplomatisch genug, keinen seiner berüchtigten Kommentare dazu abzugeben, aber er begann sich einzugestehen, dass der Kater vermutlich Recht hatte: Erwareifersüchtig. »Mein Kind!« Argos schob Serena auf Armeslänge von sich fort und betrachtete sie lächelnd. »Wie ist es dir ergangen? Was hast du den ganzen Tag gemacht?«

»Wir haben das Fest vorbereitet«, antwortete Serena. »Das Fest?« Argos runzelte flüchtig die Stirn, dann hellte

sich sein Gesicht auf. »Oh, ich verstehe.« »Ich nicht«, sagte Mike und auch die anderen blickten verwirrt drein. »Sie geben heute Abend ein Fest zu unseren Ehren«, erklärte Argos. »Heute ist Vollmond. In ihrer Religion spielt der Mond eine wichtige Rolle und wie es der Zufall eben wollte, bin ich genau beim letzten Vollmond auf diese Insel gekommen.« »Ach, und jetzt halten sie Sie für eine Art Gott, wie?«, fragte Mike. Der hämische Ton in seiner Stimme überraschte ihn selbst. Argos sah beleidigt drein, Serena runzelte die Stirn und auch die anderen blickten ihn verstört an. Mike hatte von der ersten Sekunde an keinen Hehl daraus gemacht, dass er Serenas Vater wohl nie als seinen Freund betrachten würde. Eine so offene Feindseligkeit wie jetzt aber hatte er noch nie an den Tag gelegt. Argos sah ihn an, lächelte -und dieses Lächeln hatte eine seltsame Wirkung auf Mike. Mit einem Male schämte er sich seiner eigenen Worte und vor allem seiner Gefühle Argos' gegenüber. Und als hätte der Atlanter diesen Gedanken gelesen, wurde sein Lächeln eine Spur wärmer und herzlicher. Mike gestand sich ein, dass das meiste wohl doch seine Schuld gewesen war. Wie sie alle war er nervös. Er war unzufrieden, weil die Reparaturarbeiten an der NAUTILUS nicht so voranschritten, wie sie alle es gerne gehabt hätten. Er entschuldigte sich in Gedanken noch einmal bei Serenas Vater und nahm sich fest vor, in Zukunft etwas mehr auf seine eigenen Gefühle Acht zu geben - und vor allem auf das, was er sagte. »Vielleicht ist es gar keine so schlechte Idee, einmal einen Abend nicht zu arbeiten«, sagte Trautman plötzlich. »Ein kleines Fest wird uns sicher gut tun. Heute können wir sowieso nichts mehr ausrichten. Die Pumpen arbeiten von selbst und darüber hinaus wird es bald dunkel.« Niemand widersprach, aber die allgemeine Begeisterung hielt sich auch in Grenzen. Keiner von ihnen hatte etwas gegen eine Feier einzuwenden oder einen freien Abend. Und trotzdem wusste Mike, dass nicht nur er allein den Wunsch verspürte, so schnell wie nur möglich von hier wieder wegzukommen.

Einige Stunden später saß Mike missmutig auf einem Stein, drehte einen an einem Stock aufgespießten Fisch über dem Feuer und blickte Serena und Argos an, die vertraut aneinandergekuschelt auf der anderen Seite der Feuerstelle saßen. Das Fest war nahezu vorüber. Die Eingeborenen hatten sich wirklich Mühe gegeben: Sie hatten Musik gemacht, einige Tänze aufgeführt und waren bis spät in die Nacht so fröhlich und ausgelassen gewesen, wie Mike sie bisher noch nie erlebt hatte. Auch die anderen hatten sich königlich amüsiert, ihm selbst war es nicht gelungen, die rechte Begeisterung zu entwickeln. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, schon, um Serena nicht zu enttäuschen, die zwar nichts gesagt hatte, ihn aber auf eine Art ansah, die klarmachte, dass sie seine niedergeschlagene Stimmung durchaus spürte. Aber es hatte nichts genutzt. Ihm war nicht nach Feiern zumute und so hatte er sich schließlich ein wenig von den anderen abgesondert, um ihnen mit seiner miesepetrigen Laune nicht auch noch die Stimmung zu verderben. Schließlich - Mitternacht musste längst vorüber sein - hatten sich die meisten Eingeborenen in ihre Hütten zurückgezogen und auch Trautman, Singh und Juan waren schlafen gegangen, so dass außer Mike selbst nur noch Ben, Chris, Serena und ihr Vater sowie eine Handvoll Eingeborener übrig geblieben waren, die sich an ihrem selbstgebrauten Wein gütlich taten, dabei immer lauter wurden und offenbar entschlossen schienen, bis zum Morgen durchzumachen. Mike selbst war nicht nach Schlafen zumute. Er war nicht im Geringsten müde. Schließlich stand er auf, warf den Stock mitsamt des halb gebratenen Fisches ins Feuer und verließ mit schnellen Schritten den Festplatz. Er war so sehr in seine trüben Gedanken versunken, dass er gar nicht richtig registrierte, wohin ihn seine Schritte trugen und wie viel Zeit verging. So war er nicht schlecht erstaunt, als er plötzlich statt der nächtlichen Geräusche des Waldes und des Raunens des Windes in den Baumwipfeln einen anderen, wenn auch fast ebenso vertrauten Laut hörte; ein seidiges, weiches und trotzdem sehr machtvolles Geräusch: das Rauschen der Brandung. Ohne dass er sich des Umstandes selbst bewusst gewesen wäre, hatten ihn seine Schritte wieder zum Strand hinuntergetragen und damit dorthin, wo die NAUTILUS lag. Mike wollte schon kehrtmachen und zum Lager zurückgehen, aber dann zuckte er mit den Schultern und ging die letzten Schritte bis zum Waldrand hinunter. Auf eine Minute mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an und so konnte er sich wenigstens davon überzeugen, ob die Pumpen richtig arbeiteten oder nicht. Wenn alles gut gegangen war, dann musste der Turm der NAUTILUS jetzt schon ein gutes Stück weiter aus dem Wasser herausschauen als am Abend. Vielleicht konnte er wenigstens mit einer guten Nachricht ins Lager zurückkehren. Entschlossen legte er die letzten Schritte zum Waldrand zurück, trat auf den Strand hinaus und blieb wie angewurzelt stehen. Um es kurz zu machen: Die Pumpenhattengut gearbeitet. Sehr viel besser sogar, als Mike es sich in seinen kühnsten Träumen erhofft hätte ... Mike stand mit offenem Mund da und blickte fassungs los auf das Meer herab; genauer gesagt, auf die NAUTI-LUS, die dicht vor der Küste lag. Sie war aufgetaucht. Im Licht des Vollmondes, der von einem wolkenlosen Himmel herabschien, war das Schiff fast so deutlich zu erkennen, als würde es von einem starken Scheinwerfer angestrahlt. Die NAUTILUS lag ganz normal im Wasser, vielleicht dass sie noch ein wenig Schlagseite hatte, aber keinen Deut tiefer als sonst. Und das war vollkommen unmöglich! Mike klappte den Mund wieder zu, machte einen weiteren Schritt auf den Strand hinaus und blieb wieder stehen. Seine Gedanken begannen zu rasen. Was er sah, war vollkommen ausgeschlossen. Das Schiff war fast zur Hälfte voll Wasser gelaufen und er kannte die Kapazität der Pumpen, die Trautman angeschlossen hatte. In den wenigen Stunden, die seither vergangen waren,konntedie NAUTILUS unmöglich so weit wieder aufgetaucht sein! Langsam ging Mike weiter den Strand hinunter, bis er bis zu den Knöcheln im Wasser stand und wieder stehen blieb. Der Anblick blieb derselbe: majestätisch und ehrfurchtgebietend, denn die NAUTILUS war nicht nur ein fantastisches, sondern auch ein riesiges Schiff mit an die hundert Metern Länge, zugleich aber auch auf sonderbare Weise beunruhigend, fast unheimlich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Etwas ging hier nicht mit rechten Dingen zu. Aber was? Sein Verstand riet ihm, so schnell wie möglich ins Dorf zurückzulaufen und Trautman und die anderen zu holen und sicherlich wäre das auch das Vernünftigste gewesen, aber er war viel zu verwirrt und zugleich gebannt von dem, was er sah, um vernünftig zu sein. Aber vielleicht gab es ja eine andere Lösung ... Mike konzentrierte sich und rief in Gedanken nach Astaroth. Wenn es ihm gelang, den Kater zu erreichen, konnte dieser vielleicht die anderen alarmieren. Er

selbst war zwar der Einzige, der mit dem Tier sprechen konnte, aber sie alle wussten darum und es wäre nicht das erste Mal, dass es Astaroth gelang, eine Botschaft weiterzugeben, und sei es nur, indem er sich besonders auffällig benahm. Er bekam jedoch keine Antwort. Entweder war er zu weit vom Lager entfernt oder Astaroth war abgelenkt oder schlief. Ein wenig enttäuscht, aber weiterhin entschlossen, dieses Geheimnis zu lüften, gab Mike sein Vorhaben auf und sah sich um. Gottlob lag das Boot noch immer am Strand. Es bereitete Mike einige Mühe, das schwere Gefährt ganz allein ins Wasser zu schieben, aber irgendwie gelang es ihm doch. Nach einigen Minuten saß er keuchend, aber zufrieden im Boot und paddelte, so schnell er konnte, auf die NAUTILUS zu. Schon nach kurzer Zeit erreichte er das Schiff, vertäute das Boot am Rumpf und trat mit einem entschlossenen Schritt auf die metallenen Decksplanken hinauf. Es war ein sonderbares Gefühl, nach gut zwei Wochen wieder an Deck der NAUTILUS zu sein: gut und zugleich fast unwirklich, denn er hatte nach allem kaum noch darauf zu hoffen gewagt, es noch einmal zu erleben. Was ihn wieder zu der Frage brachte,wiesodie NAUTILUS so viel schneller als erwartet aufgetaucht war ... Mike ging zum Turm, kletterte hinauf und fand das Lukzu seiner Überraschung offen - dabei wusste er genau, dass Trautman die NAUTILUS niemals unverschlossen zurückgelassen hätte. Jetzt aber stand das gewaltige, runde Luk weit auf -und aus der Tiefe des Schiffes schimmerte Licht empor ... Jemand war an Bord der NAUTILUS! Aber wer? Alle Besatzungsmitglieder der NAUTILUS befanden sich im Dorf und schliefen und von den Eingeborenen hätte es keiner gewagt, das Schiff zu betreten. Ob sie nun Argos als so etwas wie einen Gott ansahen oder nicht, änderte nichts daran, dass sie einen Heidenrespekt vor der NAUTILUS hatten; und nach den schlechten Erfahrungen, die sie mit den Segnungen der Zivilisation gemacht hatten, umso mehr. Doch wer dann? Nun - es gab nureineMöglichkeit, das herauszufinden. Mike wusste sehr wohl, dass es spätestens jetzt an der Zeit gewesen wäre, an Land zurückzurudern und die anderen zu holen. Trotzdem tat er das genaue Gegenteil: Er schwang sich mit einer entschlossenen Bewegung in den Turm, kletterte die eiserne Leiter hinunter und näherte sich langsam und mit angehaltenem Atem lauschend der Treppe, die tiefer ins Schiff hinabführte. Irgendwo plätscherte Wasser und in seinen Ohren dröhnte das Geräusch seiner eigenen Herzschläge, aber das war auch alles. Er zögerte noch einen Moment, dann ging er mit klopfendem Herzen die Treppe weiter hinunter, bis er den Gang erreichte, der in die eine Richtung zu den Kabinen und in die andere zum Salon hin führte. Das Geräusch von plätscherndem Wasser war lauter geworden und darunter glaubte er jetzt das rhythmische, an-und abschwellende Wummern und Dröhnen der Pumpen zu vernehmen, die Trautman installiert hatte. Seltsam -er hatte es viel leiser in Erinnerung und nicht so machtvoll. Mike bedauerte es jetzt, keine Lampe mit zu haben, aber schließlich hatte er ja auch nicht vorgehabt, hierher zu kommen. Aus der offen stehenden Tür des Salons fiel zwar ein trüber Lichtschein, der aber längst nicht reichte, den Gang so weit zu erhellen, als dass er mehr als Schatten und formlose Umrisse erkennen konnte. Langsam ging er den Gang hinab und zum Salon. Als er sich behutsam vorbeugte, um in den Raum zu spähen, klopfte sein Herz so laut, dass man es eigentlich im ganzen Schiff hätte hören müssen. Der Salon war leer.

Unter der Decke brannte eine einzelne, trübe Lampe,

die den großen Raum nur unzureichend beleuchtete.

Trotzdem reichte der blasse Schein, Mike erkennen zu

lassen, dass sich der Salon noch immer im selben be

mitleidenswerten Zustand wie am Nachmittag befand

und dass er leer war.

Mike atmete erleichtert auf, beging aber trotzdem nicht den Fehler, jetzt etwa unvorsichtig zu werden. Dass der Salon leer war, bedeutete keineswegs, dass das auch auf das gesamte Schiff zutraf. Mike war hundertprozentig sicher, dass sie dieses Licht nicht angelassen hatten, als sie die NAUTILUS am Nachmittag verließen. Hundertzehnprozentig, sozusagen. Irgendjemand war hier. Er verließ schließlich den Raum und ging in die andere Richtung, um auch die Kabinen zu untersuchen. Die meisten Türen waren verschlossen, aber die seiner eigenen, Trautmans und Serenas Kajüte waren offen. Er betrat sie alle drei, untersuchte sie flüchtig und nahm aus Trautmans Kabine eine Taschenlampe mit, die ihm sicher von Nutzen sein würde. Etwas mutiger geworden, machte er sich auf den Weg zur Treppe, um sich das nächste Deck vorzunehmen. Das Licht blieb rasch

hinter ihm zurück und hier unten hatte niemand eine Lampe brennen lassen, so dass er heilfroh war, die Taschenlampe bei sich zu haben. Trotzdem war es ein unheimliches Gefühl, bei fast vollkommener Dunkelheit durch das Schiff zu gehen. Der kleine, scharf abgegrenzte Kreis beinahe weißer Helligkeit, der vor ihm über den Boden tanzte wie ein leuchtender Gummiball, machte es nicht besser, sondern eher schlimmer, denn er schien die Finsternis ringsum eher noch zu betonen, anstatt sie zu verscheuchen. Und da war noch das Geräusch der Pumpen. Mike war jetzt sicher, dass es sich verändert hatte. Er konnte den Unterschied nicht wirklich in Worte fassen, aber er war da. Es klang anders als am Nachmittag. Er stieg die nächste Treppe hinab und hier waren die Spuren des eingedrungenen Meeres schon deutlich zu sehen: Auf dem Boden stand noch immer eine knöcheltiefe Wasserschicht und selbst von der Decke tropfte und rieselte es. Hier und da hatte das Meer Tang und tote Fische zurückgelassen. Allein bei der Vorstellung, wie lange sie brauchen wurden, um das Schiff wieder sauber zu bekommen, wurde Mike ganz anders ... Er erreichte den Durchgang zum Maschinenraum und blieb wie angewurzelt stehen. Da war ein Geräusch. Mike raffte all seinen Mut zusammen, drehte sich blitzschnell herum und hob die Lampe. Der weiße Kegel stach wie eine Lanze aus Licht durch die Dunkelheit vorihm. Doch da war nichts. Im hellen Schein der Taschenlampe erkannte er nichts als feuchtes Metall und Wasser. Mit klopfendem Herzen schwenkte er die Lampe ein paarmal hin und her, ohne irgendetwas zu erkennen. Er war allein. Und auch das Geräusch wiederholte sich nicht. Trotzdem war Mike vollkommen sicher, es sich nicht eingebildet zu haben. Es war ein Plätschern gewesen. Ein Laut, als fiele ein schwerer Körper ins Wasser. Der Scheinwerferkegel der Taschenlampe richtete sich zitternd auf die Tür vor ihm. Dahinter lag die Tauchkammer, durch die sie die NAUTILUS verlassen konnten, auch wenn sie sich tief unter Wasser befanden. Er hob die Hand, streckte sie nach dem Griff aus und senkte sie wieder. Plötzlich hatte er Angst. Es war, als flüsterte ihm eine unhörbare Stimme zu, dass er diese Tür besser nicht öffnen sollte, wenn er nicht wollte, dass etwas Furchtbares geschähe. »Unsinn!«, murmelte Mike. Seine Stimme klang in der Dunkelheit so fremd und verzerrt, dass es ihm einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Trotzdem hob er erneut die Hand und näherte sich der Tür und diesmal öffnete er sie. Er war auf alles gefasst.

Der Raum hinter der schmalen Metalltür war so leer wie der davor. Alles, was der Schein der Taschenlampe erhellte, waren die runde Tauchkammer und das Gestell mit den Unterwasseranzügen an der gegenüberliegenden Wand. Langsam ließ er den Lichtstrahl durch den Raum gleiten und senkte ihn schließlich. In der Mitte der Tauchkammer befand sich ein ebenfalls runder, wuchtiger Metalldeckel, der den Raum wasserdicht abschloss. Jetzt stand er offen. Der Strahl der Taschenlampe fiel ungehindert hindurch und verlor sich erst nach zwei oder drei Metern im kristallklaren Wasser der Karibik. Mike konnte spüren, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf aufrichtete. Jetzt war er sicher, dass jemand an Bord der NAUTILUS gewesen war, der hier nichts zu suchen hatte. Es war ganz und gar unmöglich, dass irgendeiner von ihnen die Kammer offen gelassen hatte. Jemand war hier gewesen und er hatte das Schiff auf diesem Wege verlassen. Vermutlich sogar erst vor wenigen Augenblicken. Zweifellos hatte der Eindringling ihn gehört oder das Licht seiner Taschenlampe gesehen und die Flucht auf diesem Wege angetreten. Das musste das Geräusch gewesen sein, das er gehört hatte. Mike richtete sich wieder auf, hob die Lampe und ließ den Strahl ein zweites Mal über die Taucheranzüge gleiten, die an der gegenüberliegenden Wand hingen. Es waren sieben. Keiner fehlte. Diese Erkenntnis versetzte Mike in leises Erstaunen. Immerhin befand sich die Tauchkammer unter dem Rumpf der NAUTILUS. Um auf diese Weise aus dem Schiff und auch noch lebend zur Oberfläche hinaufzukommen, musste der Eindringling entweder ein ganz besonders guter Schwimmer sein -oder ganz besonders leichtsinnig. Aber egal, wie -er war fort und Mike musste dafür sorgen, dass er nicht zurückkehren konnte; wenigstens nicht auf demselben Weg, auf dem er gegangen war. Rasch legte er die Taschenlampe neben sich auf den Boden, ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hände nach dem Lukendeckel aus, um die Tauchkammer wieder zu verschließen. Er kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen. Hinter ihm erklang plötzlich ein feuchtes, schweres Platschen und er sah einen verzerrten Widerschein auf der Wasseroberfläche. Hastig versuchte er sich wieder aufzurichten, verlor durch seine eigene Bewegung den Halt und stürzte nach vorne. Doch während er fiel, drehte er sich halb herum und was er in diesem Sekundenbruchteil erblickte, das war so bizarr, dass er für einen Moment alles andere vergaß. Hinter ihm war wie aus dem Nichts eine Gestalt erschienen. Sie hatte menschliche Umrisse, aber siewarkein Mensch. Sie war schlank, kaum größer als er selbst und hatte sonderbar glatte Umrisse, ohne erkennbare Taille oder breitere Schultern, und sie schien auch keinen sichtbaren Hals zu haben. Und ihr Gesicht ...

Ihr Gesicht!

Mike kam nicht mehr dazu, den abgrundtiefen Schrecken wirklich zu spüren, mit dem ihn der Anblick dieses Gesichtes erfüllte, denn in diesem Moment knallte sein Hinterkopf mit solcher Wucht gegen den Lukendeckel, dass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor. Hilflos stürzte er ins Wasser und sank wie ein Stein in die Tiefe.

Ganz besinnungslos konnte er wohl doch nicht gewesen sein, denn er erinnerte sich hinterher vage, wie er an die Oberfläche gekommen war -allerdings war er nicht ganz sicher, ob er sich nunwirklicherinnerte, oder ob das, woran er sich zu erinnern glaubte, vielleicht nicht doch so etwas wie eine Halluzination gewesen war ...

Bizarr genug dazu war es jedenfalls. Mike fand sich nun zum dritten Mal, seit sie auf diese Insel gekommen waren, keuchend, und Wasser erbrechend und verzweifelt nach Luft ringend, am Strand liegend vor, als sein Bewusstsein endlich wieder ganz erwachte. Sein Kopf schmerzte heftig und er musste wohl nicht nur einen guten Teil der Karibik hinuntergeschluckt haben, sondern auch noch ein paar Liter von seinem eigenen Blut, denn er hatte einen fürchterlichen Geschmack im Mund und musste mit aller Macht an sich halten, um sich nicht zu übergeben. Rings um ihn herum war ein wirres Durcheinander von Stimmen und Geräuschen und als er endlich die Augen öffnete, sah er in ein vertrautes Gesicht. Wenn auch vielleicht nicht in eines, das er in diesem Augenblick unbedingtgernegesehen hätte ... »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Argos. Er hatte sich über ihn gebeugt und trotz seines miserablen Zustandes registrierte Mike sehr wohl, dass die Eingeborenen respektvoll vor dem Atlanter zurückgewichen waren. »Nein«, würgte Mike mühsam hervor. »Nicht wenn man aufwacht undSiesieht.« Argos runzelte flüchtig die Stirn, aber dann lächelte er plötzlich. »Ich schätze, du bist wieder ganz der Alte«, sagte er säuerlich. »Wie fühlst du dich? Bist du verletzt?« Mike war nicht ganz sicher. Er erinnerte sich schwach, mit dem Kopf gegen irgendetwas geprallt zu sein, und dann ... Nein. Das war zu fantastisch. Daskonntekeine wirkliche Erinnerung sein, sondern wohl doch so etwas wie eine Halluzination. Man sagte ja, dass Menschen im Augenblick ihres nahenden Todes sich die verrücktesten Dinge einbildeten. Und erwardem Tod nahe gekommen. Als er nicht antwortete, wurde Argos' Miene düster und seine Stimme verlor eine Menge von ihrer Freund

lichkeit. »Was ist nur in dich gefahren, mitten in der Nacht und noch dazu bei Flut hierher zu kommen? Wolltest du dich umbringen?« »Argos -bitte!« Mike atmete innerlich auf, als er Trautmans Stimme hörte und Argos sich herumdrehte, ohne auf eine Antwort auf seine Frage zu warten. Wahrscheinlich würde ihn auch Trautman gleich mit Vorwürfen nur so überschütten, aber das war ihm im Moment hundertmal lieber, als sich weiter mit dem Atlanter zu unterhalten. Unsicher stemmte er sich auf die Ellbogen hoch und wollte aufstehen, spürte aber, dass ihm dazu im Moment wohl noch die Kraft fehlte, und beließ es dabei, sich halbwegs aufzusetzen. Alles drehte sich um ihn und seine Lungen brannten noch immer wie Feuer. Auch wenn er sich nicht wirklich erinnerte, was passiert war, eines war klar: Er war dicht davor gewesen, zu ertrinken. Argos trat einen Schritt zurück, um Platz für Trautman und -wie Mike erleichtert feststellte -auch die restlichen Besatzungsmitglieder der NAUTILUS zu machen, die herangestürmt kamen, und setzte zugleich zu einer scharfen Antwort an, doch Trautman ließ ihn gar nicht zu Wortkommen, »Was ist hier passiert?«, fragte er. »Mike? Was ist los?« »Ihr junger Freund hat gerade versucht, sich umzubringen«, antwortete Argos düster. »Vielleicht war er auch nur der Meinung, dass uns langweilig ist und wir eine kleine Abwechslung gebrauchen können.« Trautman ignorierte ihn, eilte an ihm vorbei und blieb dicht vor Mike stehen. Sein Gesichtsausdruck war sehr besorgt, aber auch erleichtert. »Was war los?«, fragte er noch einmal. »Was tust du hier, mitten in der Nacht, und was -« Er sprach nicht weiter. Seine Augen wurden groß und sein Unterkiefer klappte fassungslos herunter. Mike konnte sehen, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich,

während sich sein Blick auf einen Punkt irgendwo hinter ihm richtete. Er musste sich nicht eigens herumdrehen, um zu wissen, was Trautman in solch fassungsloses Erstaunen versetzte. Er hatte die NAUTILUS entdeckt. »Aber das ist doch ...« »Deshalb war ich hier«, sagte Mike. Das Sprechen bereitete ihm Mühe und er hatte immer noch Schwierigkeiten, richtig zu atmen. »Ich bin zufallig hergekommen, aber dann habe ich das Schiff gesehen.« »Aber wie ist das möglich?«, murmelte Trautman.»Wasist möglich?«, fragte Argos misstrauisch. »Aber sehen Sie es denn nicht?«, sagte Ben. Mittlerweile hatten alle -bis auf Argos anscheinend -gesehen, was mit der NAUTILUS passiert war, und der Anblick schien sie so sehr zu überraschen, dass sie für einen Moment selbst ihre Sorge um Mike vergaßen. »Die NAUTILUS! Sie ist aufgetaucht!« »Natürlich ist sie aufgetaucht«, antwortete Argos. »Die Pumpen scheinen zu funktionieren. Was ist daran so sensationell?« »Es ging viel zu schnell!«, antwortete Trautman. Plötzlich war er sehr aufgeregt. »Das ist völlig unmöglich! Um das Schiff so weit zu heben, hätte es zwei oder drei Tage gebraucht. Mindestens!« Er wandte sich an Mike. »Was ist passiert? Du warst hier, als sie aufgetaucht ist?« Mike schüttelte den Kopf, versuchte noch einmal aufzustehen und schaffte es diesmal; wenn auch erst, nachdem Trautman die Hand ausstreckte und ihn stützte. »Nein. Es war schon alles so, als ich herkam. Ich habe das Boot genommen und bin rübergerudert -«

Und den Rest der Geschichte würde ich für mich behalten,sagte eine Stimme in seinen Gedanken. »Aber wieso?«, murmelte Mike verblüfft. Trautman blinzelte. »Wieso was?«Glaub mir, es ist besser so,fuhr Astaroths lautlose Gedankenstimme fort.Wenigstens für den Moment.

»Wieso ... äh ... ich meine, ich weiß nicht,wiesodas Schiff aufgetaucht ist«, sagte Mike stockend. Trautman sah ihn misstrauisch an, dann trat er einen Schritt vor, streckte die Hand aus und berührte Mikes Hinterkopf. Als er die Finger wieder zurückzog, glänzte hellrotes Blut auf seinen Fingerspitzen. »Du bist ja verletzt!«, sagte er erschrocken. »Du hast dir den Kopf angeschlagen! Kein Wunder, dass du dich nicht erinnerst.« Mike winkte ab. »Das ist nichts«, sagte er. »Ich war ungeschickt und bin ausgerutscht -« »-und wärst um ein Haar ertrunken«, fiel ihm Trautman ins Wort. »Das war sehr leichtsinnig von dir, Mike. Und dass du dich nicht genau erinnerst, was überhaupt passiert ist, beweist, dass es etwas mehr alsnichtsist, meinst du nicht auch?« »Wahrscheinlich hast du eine Gehirnerschütterung«, pflichtete ihm Chris bei. »Mit so was ist nicht zu spaßen.« »Ach was«, sagte Mike, wurde aber sofort wieder von Trautman unterbrochen: »Chris hat vollkommen Recht. Du gehst ins Dorf zurück und legst dich hin. Serena wird kann dir einen Verband machen. Ich sehe mir das später genau an.«

Natürlich war an Schlaf in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Serena versorgte seine Wunde, so gut es ging, und die anderen ließen ihn gerade lange genug in Ruhe, dass sie sicher sein konnten, dass Trautmann nicht in der Nähe war, um sie zur Ordnung zu rufen, ehe sie ihn mit Fragen auch nur so bestürmten. Fragen allerdings, auf die Mike kaum eine Antwort hatte. Er wusste ja selbst nicht genau, was er an Bord der NAUTILUS nun wirklich erlebt hatte. Irgendjemand war dort gewesen, das stand fest, aber wer oder gar warum, darüber wagte er nicht einmal eine Vermutung anzustellen. Möglicherweise hatte Trautman ja Recht und er hatte sich den Kopf tatsächlich fester angestoßen, als er zugab. Außerdem wäre er um ein Haar ertrunken und in solchen Momenten neigt die menschliche Fantasie nur zu schnell dazu, einem die bösesten Streiche zu spielen. Ein Mensch mit dem Gesicht eines -

Sagte ich nicht, du solltest besser nicht darüber reden?

wisperte eine Stimme in seinen Gedanken.Tue ich doch gar nicht,antwortete Mike auf dieselbe lautlose Weise.Ich habe nur darübernachgedacht,Astaroth. Das ist ein Unterschied, weißt du? Vielleicht ist er nicht ganz so groß, wie du glaubst, Dummkopf,versetzte der Kater.Denk an was anderes. Zum Beispiel daran, dass wir jetzt schneller von diesem öden Felsklotz wegkommen, als wir gehofft haben.

Mike antwortete nicht darauf. Astaroths Worte verwirrten ihn. Wieso sollte es kein großer Unterschied sein, ob man etwas sagte oder dachte? Niemand außer dem telepathischen Kater konnte seine Gedanken lesen. Er sah sich suchend in der Hütte um, konnte Astaroth aber nirgends entdecken. Und wenn er richtig darüber nachdachte, dann hatte er den Kater auch seit seinem Erwachen am Strand nicht mehr gesehen. Bisher hatte er angenommen, dass Astaroth mit Trautman und Argos bei der NAUTILUS zurückgeblieben war. Andererseits machte das keinen großen Unterschied. Astaroth war durchaus in der Lage, seine Gedanken auch über größere Entfernungen hinweg zu lesen. Mike fragte sich nur, warum er das plötzlich tat. In den letzten Tagen hatte der Kater immer nur telepathischen Kontakt zu ihm aufgenommen, um ihn zu verspotten.Ja und das tut mir auch Leid,wisperte eine Stimme in seinen Gedanken.Es kommt nicht wieder vor.Mike riss vor lauter Erstaunen Mund und Augen auf. Astaroth und sichentschuldigen?Solange er den Kater kannte -und es waren mittlerweile Jahre! -, hatte Astaroth sich noch nie entschuldigt; bei niemandem

und für nichts. Bis vor drei Sekunden noch hätte Mike jeden Eid geschworen, dass Astaroth nicht einmal wusste, was dieses Wort bedeutete.So kann man sich täuschen,sagte Astaroth spöttisch.Und jetzt ist Schluss. Die anderen werden schon misstrauisch. Wir reden später. Auf dem Schiff.

Tatsächlich sahen sowohl Serena als auch Ben ihn mittlerweile fragend an. Sie wussten beide, wie auch die übrige Besatzung der NAUTILUS, was der abwesende Ausdruck auf seinem Gesicht bedeutete, doch Mike war klar, dass ihnen allen seine Fähigkeit, in Gedanken mit dem Kater zu reden, ein wenig unheimlich war. Bevor einer der beiden jedoch eine entsprechende Bemerkung machen konnte, ging die Tür auf und Trautman, Argos und die anderen kamen zurück. Alle wirkten müde und alle waren verdreckt und bis auf die Haut durchnässt. Offensichtlich hatten sie die NAUTI-LUS mindestens ebenso gründlich durchsucht, wie Mike es getan hatte. Den Abschluss der kleinen Gruppe bildete Astaroth, der mit einem erschöpften Miauen sofort auf Serenas Schoß sprang und sich zu einem Ball zusammenrollte, um sich von ihr in den Schlaf kraulen zu lassen -was nicht einmal so lange dauerte, wie Trautman und die anderen brauchten, um sich zu setzen. »Und?«, fragte Mike aufgeregt. »Und was?«, murmelte Juan gähnend. »Was ist mit der NAUTILUS?«, fragte Mike. »Es ist noch zu früh, um das zu sagen«, antwortete Trautman an Juans Stelle. »Aber es ist erstaunlich. Sie ist in viel besserem Zustand, als ich zu hoffen gewagt hätte.« »Sie ist in hervorragendem Zustand«, verbesserte ihn Argos. Seine Stimme klang eine Spur schärfer, als Mike es für angemessen hielt, und als er zu ihm hochsah, fiel ihm auch auf, dass er nicht annähernd so erschöpft und

müde aussah wie die anderen. Wahrscheinlich, dachte er, hatte sich sein Beitrag an der Durchsuchung des Schiffes darin erschöpft, im Salon auf die Rückkehr der anderen zu warten. Argos warf ihm einen raschen Blick zu und fuhr fort: »Ich denke, wir können spätestens morgen Abend in See stechen.« Selbst Serena, die normalerweiseniean seinen Worten zweifelte, sah ungläubig auf. Trautman blinzelte. »Wie? «, fragte er. »Das Schiff ist vollkommen intakt«, bestätigte Argos. »Es gibt keinen Grund, noch länger auf dieser Insel zu bleiben.« »Vollkommen intakt?«, keuchte Trautman. »Entschuldigen Sie, aber als ich es das letzte Mal gesehen habe, da hatte es ein Loch im Heck, durch das man bequem mit einem Lastwagen fahren kann.« Das war übertrieben, aber in der Sache hatte Trautman natürlich Recht. Die NAUTILUS war alles andere als intakt. Trotzdem beharrte Argos mit einem energischen Kopfschütteln auf seiner Meinung. »Das hat nichts zu sagen, glauben Sie mir. Ich kenne dieses Schiff schon ein wenig länger als Sie. Es würde selbst noch schwimmen, wenn es durchlöchert wie ein Schweizer Käse wäre. Wir können mit dieser Beschädigung vielleicht nicht besonders tief tauchen, aber über Wasser wird sie nicht einmal unsere Manövrierfähigkeit beeinträchtigen.« »Wer weiß«, spöttelte Juan. »Vielleicht können wir mit diesem Loch im Heck ja sogar ganz besonders tief tauchen.« »Allerdings nur einmal«, fügte Trautman grimmig hinzu. »Ich werde weder mein noch das Leben der anderen riskieren, nur um ein oder zwei Tage zu sparen. Vor allem, wo es nicht nötig ist. Singh und ich werden morgen mit der Reparatur beginnen. Wennalle-« Bei diesem Wort sah er vor allem Argos eindringlich an.

»- mithelfen, haben wir das Leck in spätestens zwei Tagen ausgebessert.« Argos wollte widersprechen, aber Trautman brachte ihn mit einer energischen Handbewegung zum Schweigen; eigentlich das erste Mal, seit er seine wahre Identität offenbart hatte. »Ich werde darüber nicht diskutieren«, sagte er, in einem Ton, der nicht besonders laut war, aber von einer Art, die selbst Argos zum Verstummen brachte. Auf dem Gesicht des Atlanters erschien ein Ausdruck, der Mike wahrscheinlich zum Lachen gebracht hatte, wäre die Situation auch nur etwas weniger ernst gewesen. »Vielleicht haben Sie sogar Recht«, sagte Argos schließlich. Er bemühte sich sogar, so etwas wie ein verzeihendes Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. Aber tief in sich drinnen brodelte er vor Wut, das sah Mike seinem Gesicht deutlich an. Trotzdem fuhr Argos fort: »Wir sollten jetzt keinen Fehler begehen. Ich schlage vor, dass wir alle versuchen, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, und uns den Schaden an der NAUTILUS morgen bei Tageslicht noch einmal genauer ansehen.« »Das ist eine gute Idee«, sagte Trautman eisig. »Wir sind alle müde und entsprechend gereizt.« Argos starrte ihn noch einen Herzschlag lang aus Augen an, die vor Zorn brannten. Aber dann nickte er nur stumm, drehte sich auf dem Absatz herum und eilte aus der Hütte. Nur einen Augenblick später folgte ihm Serena und zu Mikes insgeheimer Enttäuschung aus Astaroth. »Das wurde ja auch langsam Zeit, dass ihm mal einer die Meinung -«, begann Ben, wurde aber sofort scharf von Trautmanunterbrochen: »Es wird jetzt langsam Zeit, dass wir alle schlafen gehen«, sagte er. »Wir werden morgen über alles reden. Gute Nacht.« Ben blinzelte verdutzt und auch Mike starrte Trautman

ziemlich fassungslos an. Und aus seiner Fassungslosigkeit wurde fast so etwas wie Misstrauen, als Trautman aufstand und sich - ganz gegen das, was er gerade selbst gesagt hatte -mit einer entsprechenden Bewegung an Singh wandte: »Singh. Bitte begleite mich. Wir haben etwas zu besprechen.«

Lärm weckte ihn. Mike hatte Schwierigkeiten, richtig wach zu werden. Er fühlte sich benommen und schläfrig und an seinen Gliedern (und vor allem an denAugenlidern)schienen unsichtbare Zentnerlasten zu hängen. In seiner unmittelbaren Nähe brummte und

schnurrte etwas wie ein kleiner schnell laufender Elektromotor. Von weither hörte er aufgeregte Stimmen und die Geräusche durcheinander rennender Menschen und unter normalen Umständen hätten allein diese Laute ausgereicht, ihn wie elektrisiert aufspringen und auf der Stelle wach werden zu lassen. Aber irgendwie waren die Umstände an diesem Morgen

nicht normal. Mike gähnte, versuchte den Kopf vom Kissen zu heben und stellte fest, dass schon diese einfache Bewegung fast all seine Kraft in Anspruch nahm. Außerdem schien

irgendetwas mit dem Gewicht eines Elefantenbabys auf

seiner Brust zu liegen, was ihm das Atmen schwer machte. Mit einer zweiten, noch größeren Anstrengung schaffte er es wenigstens, die Augen zu öffnen. Helles Sonnenlicht drang in die Hütte und er spürte ganz instinktiv, dass es sehr spät war. Das Brummen, das er gehört hatte,

stammte ebenso wie das vermeintliche Zentnergewicht von einem schwarzen, haarigen Ball, der sich auf seiner Brust zusammengerollt hatte und wohlig im Schlaf schnurrte, wobei er immer wieder rhythmisch die

Krallen ausstreckte und einzog.Astaroth?dachte Mike.

Normalerweise hätte ein einziger Gedanke ausgereicht, den Kater auf der Stelle zu wecken. Heute jedoch reagierte er nicht; nicht einmal, als Mike ein zweites und drittes Mal in Gedanken nach ihm rief. Erst als er sich mit einem Ruck ganz aufsetzte, wodurch Astaroth reichlich unsanft von seiner Brust h munterbefördert wurde, öffnete der Kater erschrocken sein einziges Auge und blinzelte ihn an.

Was ist los mit dir, Schlafmütze?dachte Mike.Sprichst du jetzt gar nicht mehr mit mir?

Astaroth reagierte auch jetzt nicht. Er schüttelte benommen den Kopf und gähnte dann noch einmal so herzhaft, dass Mike sein ganzes scharfes Gebiss sehen konnte. »Findest du das lustig?«, fragte er laut. Astaroth legte den Kopf auf die Seite, sah ihn fragend an und miaute. Die Antwort in seinem Kopf, auf die Mike wartete, kam nicht. Allmählich wurde Mike ärgerlich.Also gut,dachte er.Wenn du Spielchen spielen willst, dann aber ohne mich.

Astaroth starrte ihn noch immer scheinbar vollkommen verständnislos an, aber Mike hatte keine Lust auf diese Mätzchen. Außerdem hatte er wahrlich Wichtigeres zu tun. Er hatte verschlafen und war allein in der Hütte aufgewacht - wie er annahm, hatte ihn Trautman absichtlich nicht wecken lassen, vielleicht weil er glaubte, dass Mike nach seinem Abenteuer in der vergangenen Nacht ein Anrecht auf ein wenig Ruhe hatte. Auch das wäre Mike unter normalen Umständen höchst gelegen gekommen. Aber heute ärgerte es ihn. Die Auseinandersetzung zwischen Argos und Trautman war noch lange nicht vorbei. Und er wollte dabei sein, wenn sie sich entschied. Schon weil er das sichere Gefühl hatte, dass Trautman jede Hilfe brauchen konnte.Wo sind die anderen?fragte er.Unten am Strand?Astaroth miaute fast kläglich. Mike blickte ihn mit fins

terem Gesicht an, seufzte und sagte: »Also gut, wenn du darauf bestehst: Wo sind die anderen?« Astaroth miaute auch jetzt wieder nur, aber er gebärdete sich plötzlich wie toll: Er sprang auf der Stelle, machte einen Buckel und fauchte ein paarmal. Und nichts von alledem war normal. Aus Mikes Verärgerung wurde allmählich Misstrauen, dann ein deutliches Gefühl von Sorge. Irgendetwas stimmte mit Astaroth nicht. Langsam ließ er sich in die Hocke sinken, streckte die Hand aus und strich Astaroth über den Kopf; eine Behandlung, die sich der Kater normalerweise niemals hätte gefallen lassen, denn er betrachtete sie als kilometertief unter seiner Würde. Jetzt aber schnurrte er, sprang mit einem Satz näher an ihn heran und strich mit erhobenem Schwanz um seine Beine. Ganz wie eine normale Katze eben, die einen Menschen begrüßt. Nur dass Astaroth alles andere als einenormale Katzewar. Astaroth war überhaupt keine Katze. Er war ein Wesen, das aussah wie ein Kater, aber über eine Intelligenz verfügte, die mit der eines Menschen durchaus mithalten konnte, und das es hasste, wie ein Tier behandelt zu werden. Jeder an Bord der NAUTILUS hatte sich einige Kratzer und Bisse eingehandelt, ehe er das begriffen hatte. »Was ist los mit dir, Astaroth?«, fragte Mike. »Irgendetwas stimmt doch nicht mit dir! Kannst du nicht antworten?« Astaroth miaute und jetzt war Mike sicher, dass es sich kläglich anhörte. »Du kannst nicht antworten«, murmelte er. »Verdammt, was ist passiert?« Und mit einem Mal hatte er Angst. Astaroth war viel mehr als bloß ein normales Besatzungsmitglied der NAUTILUS. Neben Serena war der Meerkater vielleicht der beste Freund, den Mike an Bord des Schiffes hatte, ja vielleicht sogar der beste Freund, den er jemals gehabt hatte. Von einer Sekunde auf die andere war alles vergessen. Trautman. Argos. Der Streit, den die beiden hatten, das unheimliche Wesen von vergangener Nacht - in Mikes Denken war plötzlich nur noch Platz für die Sorge um Astaroth. »Schnell!«, sagte er. »Wir müssen Serena suchen! Vielleicht weiß sie, was mit dir los ist!« Astaroth miaute erneut auf diese klägliche Weise und Mike zögerte nicht mehr länger, sondern ergriff den Kater kurz entschlossen mit beiden Händen, nahm ihn auf die Arme und lief mit weit ausgreifenden Schritten

aus der Hütte. Die Sonne stand bereits ein gutes Stück am Himmel. Es musste noch später sein, als Mike angenommen hatte. Außer ihm selbst schien jedermann hier am Ort schon auf den Beinen zu sein. Mike war der Sprache der Ein

geborenen nicht mächtig, so dass er die durcheinander hallenden Stimmen und Schreie nicht verstand, doch das musste man auch nicht sein, um zu erkennen, dass sich die Männer und Frauen in heller Aufregung befanden. Als sie ihn mit Astaroth auf den Armen aus der Hütte kommen sahen, stürmten gleich drei von ihnen auf ihn los und begannen auf ihn einzureden. Er verstand nichts von dem, was sie sagten, wohl aber ihre aufgeregten Gesten.

Sie deuteten zum Strand. Mike fuhr auf dem Absatz

herum und stürmte los, so schnell er konnte. Obwohl

ihn das Gewicht des Katers auf den Armen eigentlich

hätte behindern müssen, war er weitaus schneller als

die Eingeborenen. Astaroth begann zu murren und sich

unruhig zu bewegen; offenbar gefiel ihm diese Art des

Transports nicht besonders. Aber darauf achtete Mike

nicht. Er hielt den Kater mit eiserner Hand fest und be

schleunigte seine Schritte noch.

Trotzdem brauchte er sicherlich zwanzig Minuten, um den schmalen Streifen weißen Sandstrandes zu erreichen, vor dem die NAUTILUS lag. Und er konnte schon von weitem hören, dass sich seine schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten schienen. Er konnte Trautmans Stimme und auch die der anderen vernehmen - und ein Geräusch, das ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: das dumpfe, vertraute Dröhnen der mächtigen Motoren, die die NAUTILUS antrieben! Mike rannte aus dem Wald heraus -und blieb so abrupt stehen, dass Astaroth fast von seinen Armen geglitten wäre und protestierend fauchte. Mit einem Gefühl, das er nur noch als blankes Entsetzen bezeichnen konnte, schaute Mike die NAUTILUS an. Sie war noch ein kleines Stück weiter aus dem Wasser emporgestiegen und hatte gedreht, so dass der Bug mit dem langen, gezackten Randsporn nun aufs offene Meer hinaus wies und das an einen Walschwanz erinnernde Heck dem Strand zugewandt war. Darunter brodelte das Wasser, gewaltige Blasen stiegen an die Oberfläche und zerplatzten und hier und da stieg Dampf auf. Obwohl das Schiff eigentlich viel zu schwer war, um sich im Takt der Wellen zu bewegen, zitterte es sacht und hinter dem gewaltigen Loch, das wie eine Wunde im Heck des Tauchbootes gähnte, stoben blaue Funken auf. »Was bedeutet das?«, flüsterte Mike fassungslos. Er sah, dass Ben und Juan hinzugerannt kamen, wobei sie heftig mit den Armen gestikulierten, und er hörte auch, dass sie ihm etwas zuschrien, achtete aber nicht darauf, sondern setzte Astaroth mit einer hastigen Bewegung in den Sand, hielt ihn aber zugleich mit beiden Händen fest und zwang den Kater, ihm ins Gesicht zu blicken.Was bedeutet das?dachte er. Der Kater starrte ihn nur an und gab sich alle Mühe, nach wie vor nur wie ein Tier auszusehen, das gar nicht begriff, was der Mensch

da von ihm wollte, aber Mikes Geduld war endgültig erschöpft. Das hier war nicht mehr witzig. »Was bedeutet das?!«, herrschte er den Kater an. »Antworte!« Astaroth miaute und versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber Mike hielt ihn eisern fest. »Verdammt, Astaroth, was geht da vor?!«, schrie er. »Mike!« Ben langte schwer atmend neben ihm an. »Bist du verrückt? Hör auf, mit dem Kater herumzuspielen!« »Ich spiele nicht, ich versuche herauszubekommen, was hier los ist!«, erwiderte Mike gereizt. Ben machte eine heftige Bewegung mit beiden Händen. »Das siehst du doch! Jemand versucht, das Schiff zu klauen!« »Das ist völlig unmöglich«, behauptete Mike - obwohl ihm seine Augen das genaue Gegenteil bewiesen. Trotzdem fügte er hinzu: »Niemand kann die NAUTILUS fahren, außer ...« Er hielt verblüfft mitten im Wort inne, stand mit einem Ruck auf und sah sich am Strand um. Alle waren hier, alle, bis auf... »Außer Serena, ja«, sagte Ben düster. »Und Argos.« Wieder drehte sich Mike herum und blickte zur NAU-TILUS hin. Singh, Chris, Trautman und Juan standen bis zu den Knien im Wasser und starrten hilflos zu dem U-Boot hinüber, das nur wenige Meter entfernt und doch unerreichbar war. Selbst ohne den Zwischenfall mit den Haifischen vom gestrigen Tag hätte es nun niemand mehr gewagt, zum Schiff hinzuschwimmen. Unter dem Heck der NAUTILUS kochte das Meer. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, so hätte der gewaltige Sog der Turbinen jeden Schwimmer binnen Sekunden in die Tiefe gezerrt. »Aber das ... das kann nicht sein!«, murmelte Mike. »Das würde sie niemals tun!« Hastig bückte er sich wieder nach Astaroth, packte den Kater mit beiden Händen und schüttelte ihn so wild,

dass dieser erschrocken fauchte. »Was ist da los?!«, brüllte er. Und diesmal bekam er eine Antwort.Ben hat Recht,erklang Astaroths Stimme hinter seiner Stirn. Dassind Serena und ihr Vater.»Aber wieso?«, sagte Mike fassungslos. Lautlos und nur in Gedanken fügte er hinzu:Und wieso benimmst du dich so, zum Teufel? Ich habe meine Gründe,erwiderte Astaroth. »Was hat er gesagt?«, wollte Ben wissen. Noch bevor Mike antworten konnte, begann sich das Motorengeräusch der NAUTILUS zu ändern. Der Laut klang plötzlich dunkler und aus dem sanften Zittern des Schiffes wurde ein heftiges Stampfen und Beben. Offensichtlich versuchte die NAUTILUS tatsächlich, auszulaufen, doch sie war entweder schwerer beschädigt, als sie alle bisher angenommen hatten - oder wer immer hinter den Kontrollinstrumenten stand, wusste nicht so genau, wie er sie zu bedienen hatte. Trotzdem zweifelte Mike keine Sekunde daran, dass es jetzt nicht mehr lange dauern konnte, bis sich das Schiff tatsächlich in Bewegung setzte. Trautman schien das wohl ebenso zu sehen, denn er schrie plötzlich auf und rannte durch das knietiefe Wasser auf eines der Boote zu, die ein kleines Stück weit entfernt am Strand lagen. Singh, Juan und Chris folgten ihm fast unmittelbar und nach einem sekundenlangen Zögern setzten sich auch Ben und Mike in Bewegung. Hastig kletterten sie alle an Bord, während Trautman und Singh das kleine Schiffchen weit genug ins Wasser stießen, damit es sich vom Grund hob und schließlich selbst einstiegen. Astaroth sprang als letzter an Bord, aber er gebärdete sich nun wie toll: Er hüpfte hin und her, miaute, machte einen Buckel und fauchte und tat alles, um die Aufmerksamkeit der anderen zu erregen.Seid ihr verrückt geworden?schrie er in Gedanken.

Wollt ihr euch umbringen? Sie werden euch niemals an Bord lassen!

Mike war insgeheim derselben Meinung wie der Kater, aber er kam gar nicht dazu, seine Bedenken zu äußern. Trautman und Singh hatten bereits die Ruder ergriffen und paddelten, was das Zeug hielt, und im Grunde erging es ihm so wie wohl den anderen auch: Alles, woran er wirklich denken konnte, war, dass jemand versuchte, die NAUTILUS zu stehlen. Und dasdurftenicht geschehen! Dieses Schiff war ihre Heimat. Alles, was sie besaßen, und alles, was wichtig für sie war. Jeder Einzelne hier würde eher sein Leben riskieren, bevor er es einfach so aufgab. Eingehüllt in Dampf und brodelnde Gischt näherten sie sich dem Schiff. Die NAUTILUS zitterte und bebte jetzt, als wolle sie auseinanderbrechen, und das Motorengeräusch klang so dröhnend, wie Mike es noch nie zuvor gehört hatte. Angetrieben von Singhs und Trautmanns kraftvollen Ruderschlägen, erreichte das Boot die NAUTILUS binnen weniger Sekunden und prallte mit einem dumpfen Geräusch gegen den Rumpf. Im selben Moment setzte sich die NAUTILUS endgültig in Bewegung. Trautman fluchte, ließ das Ruder los und griff mit beiden Händen nach den Sprossen der Metall-Leiter, die vom Deck des Unterseebootes herab ins Wasser führte und auf die er gezielt hatte, als sie lospaddelten. Im letzten Moment bekam er sie zu fassen und verhakte sich mit den Füßen irgendwo im Boot, so dass sie mitgezogen wurden, als die NAUTILUS allmählich Fahrt aufnahm. »Ein Seil!«, schrie er. »Einen Strick! Schnell!« Mike sah sich gehetzt um. Das Boot war vollkommen leer; es gab weder ein Tau noch sonst irgendetwas, das ihnen geholfen hätte. Aber noch während er verzweifelt versuchte, eine Lösung zu finden, zog Singh mit fliegenden Fingern seinen Gürtel aus der Hose und

augenblicklich folgten auch Ben und Juan seinem Beispiel. Trautmans Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung. Die NAUTILUS wurde rasch schneller und er musste nur mit seinen Händen das Gewicht des gesamten Bootes und seiner Insassen halten. »Beeilt euch!«, keuchte er. »Ich schaffe es nicht mehr lange!« Singh, Ben und Juan knoteten hastig ihre Gürtel aneinander, zogen dann eine Schlaufe um eine der Leitersprossen und banden das andere Ende ans Boot. Trautman ließ mit einem erleichterten Seufzer los und fiel zurück. Die Ledergürtel knirschten hörbar und der Ruck, der durch das kleine Schiffchen ging, war so heftig, dass Mike im ersten Moment fest davon überzeugt war, sie würden einfach durchreißen. Aber das Wunder geschah: Statt zurückzufallen oder in den Sog der Turbinen zu geraten und zu zerbrechen, wurde das Boot einfach mitgezogen. Singh packte die Leitersprossen, turnte mit geschickten Bewegungen am Rumpf der NAUTILUS empor und kletterte am Turm hinauf. Für einen Moment entschwand er ihren Blicken, dann richtete er sich auf und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Das Luk ist von innen verriegelt!«, rief er. »Ich versuche das andere!« Er sprang wieder auf das Deck hinab, rannte gebückt zu dem zweiten Einstieg, der sich in der Mitte der NAU-TILUS befand, und versuchte ihn zu öffnen - mit demselben Ergebnis. Mit niedergeschlagenem Gesicht, aber sehr schnell, kehrte er zu ihnen zurück und kletterte wieder ins Boot.Das ist doch Wahnsinn!jammerte Astaroth.Macht das Boot los, solange wir noch zurückkönnen!

Die aneinander gebundenen Ledergürtel ächzten und knarrten jetzt immer lauter und würden der Belastung vermutlich nicht mehr lange standhalten. Mike wandte den Kopf und stellte voller Schrecken fest, wie weit sie sich bereits vom Strand entfernt hatten, und die Distanz wuchs mit jeder Sekunde, denn die NAUTILUS

wurde immer schneller und pflügte jetzt nur so durch das Wasser. Dann geschah genau das, was er befürchtet hatte: Der mittlere der drei aneinander geknoteten Gürtel zerriss mit einem peitschenden Knall und das Ruderboot löste sich schaukelnd vom Rumpf der NAU-TILUS. Das grüngraue Metall raste immer schneller und schneller an ihnen vorüber -und plötzlich gähnte darin eine gewaltige Lücke: das Loch, das ihr eigener Torpedo in die Panzerplatten gesprengt hatte. Diesmal war es Singh, der blitzschnell reagierte. Er warf sich vor, bekam mit beiden Händen den Rand der gewaltsam in das Schiffgeschlagenen Öffnung zu fassen und klammerte sich fest. Er schrie vor Schmerz auf. Mike sah voller Entsetzen, dass plötzlich Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll, während sich die Muskeln des Inders scheinbar bis zum Zerreißen anspannten. Das Boot schaukelte so wild, dass Mike Halt suchend um sich griff.»Schnell!«,schrie Singh.Seid ihr wahnsinnig geworden?!kreischte Astaroth. Mike beachtete ihn nicht. Nicht einmal die gewaltigen Körperkräfte des Inders würden reichen, um sie länger als ein paar Sekunden festzuhalten. Mit einem einzigen Satz war er auf den Füßen und kletterte hinter Ben und Juandurch die gezackte Öffnung ins Innere des Schiffes; dann drehte er sich herum, ergriff Astaroth im Nacken und zog ihn einfach zu sich herein, während Trautman und Ben nach Singh griffen, um ihm zu helfen. Aus eigener Kraft hätte er es vermutlich auch nicht mehr geschafft. Unterstützt von Trautman und Ben, kroch der Inder mit letzter Kraft zu ihnen herein, brach in die Knie und presste stöhnend die Hände gegen die Brust. Sein Hemd färbte sich sofort rot. Er musste sich an den scharfen Metallkanten übel verletzt haben.

Besorgt kniete Mike neben Singh nieder und wollte nach dessen Händen greifen, aber der Inder schüttelte nur den Kopf. »Ist es schlimm?«, fragte Mike. »Nicht sehr«, antwortete Singh mit einem erzwungenen Lächeln. »Es sind nur ein paar Schnitte. Ich habe schon Schlimmeres überlebt, Herr.« »Du sollst mich nicht Herr nennen«, sagte Mike - was fast eine Art Zeremoniell zwischen ihnen war. Sie waren schon längst nicht mehr Diener und Herr, aber Singh würde sich wahrscheinlich niemals ganz abgewöhnen, sich nicht nur als seinen Freund, sondern auch als Mikes Leibwächter zu sehen, der er einmal gewesen war. »Das war unglaublich tapfer von dir«, sagte Mike.Das war unglaublichdämlichvon ihm,sagte Astaroth in Mikes Gedanken.Das war ja wohl das Bekloppteste, was ich jemals gesehen habe! Was glaubt ihr, was passiert, wenn die NAUTILUS taucht? Immerhin sind wir an Bord,erwiderte Mike.Ja, und auch so unglaublich sicher, nicht wahr?fügte Astaroth spöttisch hinzu. Mike brachte es nicht fertig, zu widersprechen. Der Kater hatte nur zu Recht. Das Loch, das im Rumpf der NAUTILUS gähnte, war so groß wie das sprichwörtliche Scheunentor. Wenn die NAUTILUS tauchte, waren sie verloren.Sie werden schon nicht tauchen,sagte Mike.Damit würden sie uns umbringen und das traue ich Argos nun doch nicht zu. Ich auch nicht,erwiderte Astaroth gelassen.Vorausgesetzt, erweiß,dass wir hier sind.Ein eisiger Schrecken durchfuhr Mike. Er traute Argos tatsächlich nicht zu, ihnen nach dem Leben zu trachten, aber Astaroth hatte Recht: Sie waren nicht unbedingt durch die Vordertür hereingekommen. Es war also wahrscheinlich, dass der Atlanter gar nicht wusste, dass sie an Bord waren.

Während er sich um Singh gekümmert und mit dem Kater geredet hatte, hatten die anderen damit begonnen, ihre Umgebung zu erkunden. Der Raum, in dem sie sich befanden, war einstmals eines der Magazine des Schiffes gewesen. Jetzt war sein Inhalt nicht einmal mehr zu erraten und bestand nur aus wirren Trümmern und zerfetztem Metall. Das Wasser stand immer noch knietief hier drinnen und überall ragten scharfkantige Trümmer und Scherben hervor, so dass sie sich nur mit äußerster Vorsicht bewegen konnten und stets Gefahr liefen, sich an einem Trümmerstück zu verletzen, das unter der Wasseroberfläche verborgen war. Trautman und Juan machten sich an dem geschlossenen Schott am anderen Ende des Raumes zu schaffen. Die Notfallautomatik hatte sämtliche Türen in diesem Teil des Schiffes verriegelt, als die NAUTI-LUS von dem Torpedo getroffen worden war, um den Wassereinbruch möglichst gering zu halten. Und sie schien noch immer in Kraft zu sein -Trautman und Juan gelang es jedenfalls nicht, die Panzertür zu öffnen. Ein harter Ruck ging durch das Schiff, dem eine zweite, noch heftigere Erschütterung folgte, die nicht nur Mike, sondern mit Ausnahme Bens auch alle anderen von den Füßen riss, so dass sie unsanft in dem eiskalten Wasser landeten. Mike schluckte Wasser, kam prustend wieder hoch und sah gerade noch, wie eine gewaltige Woge durch das Loch in der Wand hereinbrach, da

wurde er auch schon wieder von den Füßen gerissen und ein zweites Mal unter Wasser gedrückt. Als er wieder hochkam, war der Raum von den erschrockenen Schreien und Rufen der anderen erfüllt. Singh, Ben, Trautman, Chris und Juan plantschten ebenso wie er hilflos im Wasser, das ihnen jetzt nicht mehr bis an die Waden, sondern bis über die Knie hinauf reichte und unaufhaltsam weiter anstieg, und der Boden hatte nun eine spürbare Neigung.

Die NAUTILUS tauchte!

»O nein!«, keuchte Mike. »Astaroth! Astaroth, wo bist

du?« Ben und Trautman begannen mit den Fäusten gegen das

geschlossene Panzerschott zu hämmern, während sich Mike nach dem Kater umsah. Er schrie sowohl laut als auch in Gedanken nach Astaroth, bekam aber keine Antwort. Nach zwei oder drei Sekunden, in denen das Wasser um mindestens ebenso viele Zentimeter angestiegen war, entdeckte er den Kater auf einem Wandvorsprung in Kopfhöhe, wo er sich mit gesträubtem Fell und wild die hereinbrandenden Wellen anfauchend, festgeklammert hatte. »Astaroth!«, schrie Mike. »Tu etwas!« Astaroth war eindeutig in Panik. Wenn Mike jemals eine Katze gesehen hatte, dieAngsthatte, dann war es

Astaroth in diesem Moment -und das war nun wirklich seltsam, denn von allen hier war er der einzige, der gar keinen Grund hatte, Angst zu haben. Sie wurden hilflos ertrinken, wenn nicht ein Wunder geschah, aber der Kater war durchaus in der Lage, unter Wasser zu atmen. Trotzdem führte er sich auf wie toll! Mike musste hastig nach einem Halt suchen, um nicht schon wieder von den Füßen gerissen zu werden, schrie aber weiter aus Leibeskräften: »Astaroth! Tu etwas!«Aber was denn?antwortete der Kater auf seine lautlose Weise.Soll ich vielleicht die Tür aufbeißen? Du musst Serena rufen! Oder Argos! Sag ihnen, dass wir hier sind! Das kann ich nicht,antwortete Astaroth. Seltsamerweise blieb seine gedankliche Stimme dabei ganz ruhig.Du weißt doch, dass du der Einzige bist, mit dem ich reden kann.

»Das ist mir egal!«, brüllte Mike in schierer Todesangst.Tu etwas!Das Wasser reichte ihm mittlerweile bis zur Brust und es stieg mit jeder Welle, die hereinflutete, weiter. Die

NAUTILUS sank sehr schnell. In spätestens zehn oder fünfzehn Sekunden würde der Laderaum bis unter die Decke mit Wasser gefüllt sein. Plötzlich begann das Wasser unmittelbar neben Mike zu brodeln. Ein verschwommener Schatten huschte unter seiner Oberfläche entlang, dann bäumte sich ein geschuppter, grauer Körper in einer Explosion aus Wasser und spritzendem weißem Schaum zwischen Trautman und Ben auf, stieß die beiden zur Seite und schlug mit unvorstellbarer Kraft gegen die Panzertür. Der dröhnende Schlag schien die gesamte NAUTILUS zu erschüttern. Das Metall ächzte. Es hielt dem Hieb stand, aber zu dem ersten Geschöpf gesellte sich plötzlich ein zweites, das sich nun ebenfalls mit aller Gewalt gegen das Schott warf, und dieser doppelte Ansturm war zu viel. Die Tür aus zehn Zentimeter dickem Stahl wurde einfach aus dem Schloss gerissen, schwang auf und prallte wuchtig gegen die Wand dahinter. Das gestaute Wasser schoss schäumend in den Gang und riss Ben und Trautman, dann auch Chris, Juan und Singh einfach mit sich. Und auch Mike wurde von den Füßen gefegt und auf die Tür zu gezerrt. Doch er hatte weniger Glück als die anderen. Aus dem Meer strömte immer noch mehr Wasserherein, als durch die Tür abfließen konnte, so dass sich vor der Öffnung ein wirbelnder Strudel bildete.

Mike geriet hinein und versuchte mit hilflosen Schwimmbewegungen, an die Oberfläche zu gelangen. Da begann sich die Tür vor seinen Augen zu schließen. Mikes Bewegungen wurden kraftloser und gerade, als er glaubte, dass es nun endgültig vorbei war, da griff eine Hand nach seinem Arm, packte ihn und stieß ihn mit einer unglaublich heftigen Bewegung durch die Tür. Mike prallte gegen hartes Metall, aber er sah endlich Licht über sich und der Anblick gab ihm trotz allem noch einmal die Kraft, sich aufzubäumen und die Wasseroberfläche zu durchbrechen.

Kaum hatte er es getan, da packten ihn zwei, drei Hände und zerrten ihn vollends nach oben. Alles drehte sich um ihn. Irgendwoher nahm er trotzdem die Kraft, die Augen zu öffnen. Die Tür war immer noch nicht ganz geschlossen, aber der hereinsprudelnde Wasserstrom hatte deutlich an Kraft verloren. Das Wasser reichte ihnen jetzt nur noch bis zu den Knien und sank rasch weiter und die Tür schloss sich jetzt immer schneller. »Astaroth!«, flüsterte er. »Wo ist Astaroth?« Niemand antwortete. Doch eine Sekunde, bevor sich das Panzerschott endgültig schloss und wieder einrastete, flog ein struppiges, schwarzesBündel durch die Öffnung, segelte fauchend und kreischend an Mike und den anderen vorbei und landete mit einem gewaltigen Platschen im Wasser. Trautman und Ben ließen ihn vorsichtig los. Mike ließ sich gegen die Wand sinken. Sein Herz hämmerte noch immer und er hatte Mühe, klar zu sehen, aber seine Kraft kehrte erstaunlich schnell zurück. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Trautman besorgt. Mike nickte. »Ja«, antwortete er mühsam. »Aber das war verdammt knapp.« »Und das ist noch geschmeichelt«, pflichtete ihm Trautman mit düsterem Gesichtsausdruck bei. »Wenn diese Männer nicht gekommen wären ...« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Wer waren sie?« Das wusste Mike nicht, ebenso wenig wie Trautman oder die anderen. Alles war viel zu schnell gegangen, um Einzelheiten zu erkennen, aber eines hatte er doch ganz deutlich gesehen -vielleicht für weniger als eine Sekunde, aber doch so deutlich, dass er den Anblick so schnell nicht mehr vergessen würde: die Hand, die ihn am Arm gepackt und durch die Tür gestoßen hatte. Es war nicht die Hand eines Mannes gewesen. Vielleicht nicht einmal die Hand eines Menschen. Sie war sehr groß gewesen und sie hatte fünf Finger gehabt, aber diese Finger waren ihm viel zu lang vorgekommen und da war vor allem eines: Zwischen ihnen befanden sich dünne, halb durchsichtige Schwimmhäute!

Das Schiff glitt noch immer in steilem Winkel ins Meer hinab! Wenn es sein Tempo beibehalten hatte, dann mussten sie jetzt bereits dreißig, vierzig Meter tief unter Wasser sein, und das war möglicherweise mehr, als die NAUTILUS in ihrem angeschlagenen Zustand verkraften konnte. »Argos muss komplett den Verstand verloren haben!«, keuchte Trautman. »Will er uns denn alle umbringen? Und sich dazu? Los!« Er stürmte vorwärts und alle anderen folgten ihm, selbst Mike, obwohl er sich immer noch so wackelig auf den Beinen fühlte, dass er sich am liebsten auf dem nackten Boden ausgestreckt hätte, um auf der Stelle einzuschlafen. Sie brauchten nicht mehr als ein paar Minuten, um die Wendeltreppe aus Metall zu erreichen, die zum Salon hinaufführte, und trotzdem kam es Mike vor, als wären es Ewigkeiten. Das Schiff zitterte und ächzte rings um sie herum. Die Motoren dröhnten, wie er es noch nie gehört hatte, und manchmal glaubte er, ein unheimliches Knacken und Rumoren zu hören, das seinen Ursprung irgendwo hinter ihnen hatte. Er wusste, woher dieses Geräusch stammte. Durch das Loch im Heck war Wasser in die NAUTILUS eingedrungen und die inneren Wände des Schiffes waren nicht dafür angelegt, dem Wasserdruck in einer solchen Tiefe standzuhalten. Sie hatten dieses fantastische Tauchboot schon auf eine Tiefe von weit über viertausend Metern hinuntergebracht, aber da war die Außenhülle intakt gewesen. In ihrem jetzigen Zustand würde die NAUTILUS nicht einmal ein Zehntel dieses Wasserdruckes aushalten! Trotz seines Alters war Trautman der erste, der in den Salon hineinstürzte. Argos stand hinter den Kontrollinstrumenten des Schiffes, ganz, wie sie es erwartet hatten, aber zu MikesÜberraschung war er nicht allein:

Serena war bei ihm und hantierte hektisch an Schaltern und Knöpfen. Und die beiden waren so sehr in ihr Tun vertieft, dass sie im ersten Moment nicht einmal bemerkten, wie Trautman und die anderen hereinkamen. »Aufhören!«, brüllte Trautman. »Wollt ihr uns alle umbringen?!« Argos sah mit einem Ruck hoch. Für eine Sekunde erstarrte er und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der zwischen fassungslosem Erstaunen und tiefer Erleichterung schwankte. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber da war Trautman bereits bei ihm, stieß ihn mit einer groben Bewegung zur Seite und beförderte auch Serena nicht viel sanfter vom Pult weg. Gleichzeitig begannen seine Hände über die Tasten und Schalter zu fliegen. »Singh!«, befahl er barsch. »Hilf mir!« Der Inder war mit zwei schnellen Schritten neben ihm. Seine Hände bluteten immer noch heftig, aber das schien er gar nicht zu merken. »Volle Kraft zurück«, befahl Trautman. »Druck auf die vorderen Tanks. Ich versuche, sie auszutrimmen.« Das Maschinengeräusch veränderte sich. Es wurde schriller und gleichzeitig nahm das Zittern und Stampfendes Bodens merklich zu und auch das unheimliche Ächzen war jetzt viel deutlicher zu hören als noch vor wenigen Momenten. Mike streckte instinktiv die Arme aus, um sich irgendwo festzuhalten, als sich das Schiff für einen Moment gefährlich auf die Seite legte und dabei ächzte und stöhnte wie ein lebendes Wesen, das Schmerzen litt. Obwohl er dem Kontrollpult nicht einmal nahe war, konnte er sehen, dass gleich Dutzende von roten Warnlämpchen darauf zu flackern begonnen hatten. »Mehr Pressluft in die Tanks!«, befahl Trautman. »Alles, was du hast!« Seine Hände hämmerten immer ner

vöser auf den Instrumenten herum. Das Schiff schüttelte sich und bockte wie ein durchgehendes Wildpferd, das sich gegen die Zügel stemmt, und irgendwo weit hinter ihnen zerbrach etwas mit einem schmetternden Knall. Nur einen Sekundenbruchteil später konnten Mike und die anderen das Geräusch hören, das Seefahrer in aller Welt wie nichts sonst fürchteten: das sprudelnde Rauschen von Wasser, das unter enormem Druck hereinströmte. »Das Sicherheitsschott ist gebrochen«, sagte Singh mit überraschender Ruhe. Trautman nickte, betätigte rasch hintereinander zwei-, drei weitere Schalter und ein schwerer, metallener Gongschlag hallte durch das Schiff und schnitt das Geräusch hereinströmenden Wassers ab. »Das wird für den Moment halten«, sagte er, »aber ich weiß nicht, wie lange.« Niemand wagte es, auch nur einen Finger zu rühren, während die beiden ungleichen Männer verzweifelt mit den Kontrollinstrumenten der NAUTILUS kämpften. Das Schiff zitterte immer noch, legte sich auf die eine Seite, rollte schwerfällig auf die andere und dann wieder zurück. »Ich bekomme das Schiff nicht hoch!«, sagte Trautman. »Verdammt!« »Sinken wir?«, erkundigtesich Chris. Trautman schüttelte den Kopf. »Nein«, erwiderte er. »Wir halten unsere Position. Aber ich kann nicht aufsteigen. Wir haben Wasser im Schiff. Wir sind zu

schwer.« Mit einer Bewegung, die halb wütend, halb resigniert wirkte, legte er einige weitere Schalter um, schüttelte den Kopf und wandte sich dann an Argos: »Sind Sie zufrieden?«, fragte er. Argos hob in einer hilflos wirkenden Geste die Hände. »Aber ... aber ich wollte doch nur -« »- herausfinden, was dieses Schiff aushält, bevor es auseinanderbricht?« Trautman schnitt ihm mit einer ärgerlichen Geste das Wort ab. »Das haben Sie geschafft. MeinenGlückwunsch!« »Sie verstehen nicht«, begann Argos, wurde aber schon wieder von Trautman unterbrochen: »Ich verstehe, dass Sie uns die ganze Zeit belogen haben! Sie wollten dieses Schiff! Wozu? Um es an die Amerikaner zu verkaufen? Die Deutschen? Die Engländer?« »Aber er hat es doch nur für euch getan«, sagte Serena. Trautman fuhr zu ihr herum. »Was?« »Ihr wart alle in einer furchtbaren Gefahr!«, sagte Serena. »Wirmusstenverschwinden oder euer Leben wäre auf dem Spiel gestanden!« »So wie jetzt?«, fragte Ben mit bösem Spott. »Sie sagt die Wahrheit«, sagte Argos. »Ich kann es euch nicht verübeln, wenn ihr mir nicht glaubt, aber es ist genau so, wie Serena sagt. Ich hatte keine Zeit mehr, euch zu warnen, sonst hätte ich es getan.« »Warnen?«, fragte Mike. »Wovor?« Ehe Argos antworten konnte, sagte Singh: »Wir sinken weiter.« Trautman fuhr mit einer erschrockenen Bewegung herum und senkte den Blick auf die Kontrollinstrumente. Er wurde noch bleicher. »Wir sind einfach zu schwer«, sagte er. »Die Maschinen laufen mit voller Kraft, aber sie schaffen es nicht, das Schiff zu heben. Wir haben zu viel Wasser aufgenommen.« »Und wenn wir es hinauspumpen?«, schlug Singh vor. »Die Pumpen sind immer noch angeschlossen, ich müsste sie nur einschalten und ein paar Schläuche umklemmen. Das dauert allerhöchstens eine halbe Stunde, vielleicht nur zwanzig Minuten.« Trautman dachte einen Moment lang darüber nach, aber dann schüttelte er den Kopf. »So viel Zeit bleibt uns nicht«, sagte er. »Wir sinken nicht sehr schnell, aber wir sinken. Wenn noch ein Sicherheitsschott bricht, ist es vorbei. Und das wird es in ein paar Minuten, wenn kein Wunder geschieht.«

Die Torpedos,flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Mike sah verwirrt auf Astaroth hinab. Der Kater war ihnen gefolgt und saß nun genau zwischen seinen Füßen, wie er es oft tat. Er sah nicht zu Mike hoch, aber er wiederholte seine gedankliche Botschaft:

Die Torpedos!

Und endlich begriff Mike. »Natürlich!«, rief er. »Die Torpedorohre!« Alle blickten ihn verwirrt an, selbst Trautman, der von der Technik der NAUTILUS mit Abstand am meisten verstand. »Begreift ihr denn nicht?«, fragte Mike aufgeregt. »Die Torpedorohre! Sie arbeiten mit Wasserdruck, oder? Und wo kommt dieses Wasser her?« »Aus dem Meer«, antwortete Trautman. »Es wird durch eine Rohrleitung vom Heck her ...« Er stockte. Seine Augen weiteten sich und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck von Verblüffung, dann schlug er sich mit der flachen Hand vor die Stirn, dass es klatschte. »Natürlich«, sagte er. »Wieso bin ich nicht von selbst darauf gekommen?« Aufgeregt wandte er sich an Singh. »Wir müssen nur ein paar Ventile umklemmen und wir können das Wasser direkt aus den Balasttanks hinauspressen.« »Das ist nicht besonders viel«, gab Singh zu bedenken, aber Trautman ließ seinen Einwand nicht gelten. »Ein paar tausend Liter, ich weiß«, sagte er hastig. »Aber ein paar tausend Liter Wasser sind ein paar Tonnen Gewicht. Vielleicht genau das, was wir zu viel haben. Versuchen wir es!« Singh wollte unverzüglich aus dem Raum eilen, aber Argos machte eine erschrockene Handbewegung und sagte: »Nein! Das geht nicht!« »Wieso?«, fragte Trautman misstrauisch. Argos deutete zur Decke. »Wie tief sind wir?« »Vierzig Meter«, antwortete Trautman, sah rasch auf die Instrumente und verbesserte sich mit düsterem Gesichtsausdruck: »Jetzt schon fast fünfundvierzig.«

»Wenn Sie die Torpedorohre abfeuern, wird der Wasserdruck eine deutlich sichtbare Flutwelle über uns erzeugen«, sagte Argos. Er trat an Trautman vorbei, streckte die Hand aus und schaltete das Gerät ein,

mit dem sie ihre Umgebung beobachten konnten. Auf dem kleinen Bildschirm war die Wasseroberfläche zu sehen, ein kleiner Teil der Insel und ein riesiger, schwarzer Frachter ohne erkennbaren Namen oder Nationalitätskennzeichen. »Sie würden es sehen«, sagte Argos. Niemand antwortete. Es wurde still und es war ein erschrockenes Schweigen, das sich im verwüsteten Salon des Schiffes ausbreitete. Das Bild war nicht besonders scharf und zitterte dazu noch ununterbrochen, aber es fiel keinem von ihnen schwer, das Schiff zu identifizieren, das darauf zu sehen war. Es war das SCHWARZE SCHIFF, dem sie schon einmal begegnet waren. Der unheimliche Frachter, dessen noch unheimlichere Besatzung Argos und ihnen schon einmal nach dem Leben getrachtet hatte und dem sie letztendlich die Katastrophe mit der NAUTILUS zu verdanken hatten! »Das ist nicht möglich«, flüsterte Ben ungläubig. Aus aufgerissenen Augen blickte er das Schiff und dann Argos an. »Aber Sie haben gesagt, sie wären fort! Und sie würden auch nicht wiederkommen!« »Das dachte ich auch«, antwortete Argos. »Ich habe wirklich geglaubt, dass es so ist. Aber ich habe mich getäuscht.Deshalbhabe ich versucht, mit der NAUTI-LUS die Insel zu verlassen. Ich dachte, sie wären hinter mir her oder vielleicht auch hinter der NAUTILUS. Wenn wir beide nicht mehr da gewesen wären, dann wärt ihr in Sicherheit. Und die Eingeborenen auch.« »Ich glaube, Sie sind uns allmählich eine Menge Erklärungen schuldig, Argos«, sagte Trautman düster. »Aber zuallererst einmal müssen wir dafür sorgen, dass wir auch lange genug am Leben bleiben, um uns diese

Erklärungen anzuhören.« Er wandte sich mit einer entsprechenden Handbewegung an Singh: »Singh -geh in den Torpedoraum und klemm die Ventile um. Ben kann dir helfen.« »Nein!«, protestierte Argos. »Dann werden sie uns entdecken!« Trautman beachtete ihn nicht, sondern machte erneut eine Handbewegung, und Singh und Ben zögerten nun nicht mehr länger, sondern verließen eilig den Salon. Erst dann drehte sich Trautman zu Argos herum und sagte: »Das ist gut möglich. Vielleicht sogar wahrscheinlich. Möglicherweise werden sie versuchen, uns zu kapern. Aber wenn wir hier bleiben, sind wir in zehn Minuten tot.« Argos widersprach nicht mehr, sondern starrte schweigend auf das unscharfe, zitternde Abbild des schwarzen Schiffes auf dem kleinen Bildschirm. Doch der Ausdruck, der dabei auf seinem Gesicht lag, jagte Mike einen eisigen Schauer über den Rücken. Mit großer Sicherheit hatte Trautman Recht: Wenn es ihnen nicht gelang, die NAUTILUS innerhalb der nächsten zehn oder fünfzehn Minuten an die Oberfläche zu bringen, dann würden sie alle sterben. Doch wenn er den Ausdruck auf Argos' Zügen richtig deutete, dann war das vielleicht nicht einmal das Schlimmste, was ihnen passieren konnte.

Ein bedrücktes Schweigen breitete sich im Salon des Schiffes aus, während sie darauf warteten, dass sich Singh und Ben aus dem vorderen Torpedoraum meldeten und Trautman das Zeichen gaben, mit seinem verzweifelten Rettungsplan zu beginnen. Dabei erging es allen übrigen mit Sicherheit nicht anders als Mike. Er war nicht nur noch immer schockiert über Argos' Verhalten, sondern auch ziemlich verwirrt. Er hatte den angeblichen Atlanter niemals so hundertprozentig als Verbündeten akzeptiert, wie es die anderen offensichtlich getan hatten, ihn aber trotzdem nicht für ihrenFeindgehalten. Jetzt war er nicht mehr sicher.Sagt er die Wahrheit?wandte er sich in Gedanken an Astaroth.

Was das schwarze Schiff angeht oder dass es ihm Leid tut?erkundigte sich der Kater spöttisch.Du weißt genau, wovon ich rede,erwiderte Mike ärgerlich. Astaroth benahm sich immer noch seltsam: Er lief aufgeregt im Salon auf und ab und rieb sich zwischendurch immer wieder an Mikes Beinen -ein durch und durch katzentypisches Verhalten, aber auch eines, das Astaroth selbst noch vor wenigen Stunden als seiner vollkommen unwürdig empört von sich gewiesen hätte. Mike war allmählich wirklich besorgt. Irgendetwas stimmte mit Astaroth nicht. Aber jetzt war nicht der Moment, sichdarüberden Kopf zu zerbrechen. »Sie haben uns niemals erzählt, wersiesind«, sagte Mike und deutete auf den Sichtschirm. »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Argos. »Ich gebe dir mein Wort, ich erzähle sie euch -sobald wir in Sicherheit sind.« Ein dunkles Dröhnen ließ den Rumpf der NAUTILUS erzittern. Es wiederholte sich nicht, doch schon nach wenigen Augenblicken hörten Mike und die anderen erneut jenen anderen, noch viel schlimmeren Laut: das raschelnde Knistern, mit dem das Metall unter dem immer größer werdenden Wasserdruck ächzte. Mike sah auf die Uhr. Singh und Ben waren erst seit knapp drei Minuten fort. Sie konnten ihre Aufgabe also noch gar nicht erledigt haben, aber ihm kam es vor, als wären drei Stunden vergangen. Endlich meldete sich Ben über das Sprachrohr: »Wir sind so weit.« Seine Stimme klang blechern und verzerrt, aber Mike konnte die Furcht darin trotzdem hören.

»Gut«, sagte Trautman grimmig. »Dann riskieren wir es. Torpedorohre fluten!«»Überlegen Sie es sich noch einmal«, sagte Argos nervös. »Die Erschütterung könnte die NAUTILUS in Stücke reißen!« »Ich weiß«, antwortete Trautman. »Aber wenn wir nichts tun, dann zerbricht sie in ein paar Minuten sowieso. Wir -« Wieder traf irgendetwas den Rumpf der NAUTILUS und ließ sie beben. Diesmal war es jedoch nicht der Wasserdruck, unter dem das Schiff ächzte - Mike hatte das unheimliche Gefühl, dass irgendetwas das Schiffvon untenberührt hatte. »Was war das?«, fragte auch Chris erschrocken. Trautman hob nur die Schultern, aber er sah ebenso beunruhigt und erschrocken drein wie Mike. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Wer -« Wieder zitterte der Boden. Diesmal geschah es lautlos, aber so deutlich, dass sie es alle fühlten: Das Schiff schwankte leicht hin und her und dann hatten sie alle das Gefühl, als ob sieangehobenwürden -was natürlich vollkommen unmöglich war. »Was ist das?«, fragte Serena erschrocken. Trautman beugte sich über seine Anzeigen und studierte sie einige Sekunden lang intensiv. »Wir sinken nicht mehr«, murmelte er. »Ich verstehe das nicht.« Hastig griff er nach dem Sprachrohr. »Singh! Ben! Sofort aufhören!« »Vielleicht sind wir auf den Meeresboden gesunken«, sagte Chris. Trautman verneinte. »Der ist an dieser Stelle fast zweitausend Meter tief«, sagte er. »Aber wir sinken nicht mehr. Irgendetwas hält uns fest.« »Ganz im Gegenteil«, murmelte Argos. Seine Stimme klang ungläubig, aber auch etwas erschrocken. »Wenn ich diese Anzeigen richtig deute, dann ... dannsteigenwir!«

Auch Mike sah voller Unglauben auf den Tiefenmesser. Argos hatte Recht. Als er das letzte Mal darauf gesehen hatte, waren sie etwas über hundert Meter tief gewesen. Jetzt berührte die Nadel die Achtzig und stieg ganz langsam, aber sichtbar, weiter nach oben. »Wie kann das ...«, murmelte Trautman, brach dann mitten im Satz ab und legte mit einer entschlossenen Bewegung zwei kleine Schalter auf dem Pult um. Ein Summen erscholl und die große Irisblende vor dem Aussichtsfenster des Salons begann auseinander zu gleiten. Dahinter war nur die Schwärze der Tiefsee zu erkennen. Trautman betätigte einen weiteren Schalter, worauf rechts und links des Fensters zwei starke Scheinwerfer aufflammten, die zwei grelle Lichtbahnen in die Dunkelheit warfen. Plankton und winzige Fische schimmerten darin, bevor sie sich irgendwo in hundert oder auch mehr Metern Entfernung in der Dunkelheit verloren. Aber sie konnten nun tatsächlich sehen, dass die NAUTILUS wieder stieg. Ganz langsam, aber deutlich. »Was ist das?«, flüsterte Serena. Niemand antwortete, aber Trautman warf Argos einen fragenden Blick zu. »Ihre Freunde?«, fragte er. Argos fuhr sich nervös mit der Hand über das Kinn und deutete ein Kopfschütteln an. »Nein«, sagte er. »So mächtig sind nicht einmal sie.« Bevor er weitersprechen konnte, schimmerte etwas hell im Licht der Scheinwerfer. Im ersten Moment konnte keiner von ihnen erkennen, was es war, dann identifizierten sie eine muschelüberzogene, nahezu senkrecht aufstrebende Felswand, auf die die NAUTILUS langsam zuglitt. Mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit, Staunen und banger Erwartung verfolgten sie, wie die unheimliche Kraft das Tauchboot weiter auf das Riff zu und gleichzeitig daran entlang in die Höhe hob, bis vor ihnen ein nahezu ebenes, gewaltiges Unterwasserplateau schimmerte. Mike sah flüchtig auf den Tiefenmesser. Sie befanden sich noch dreißig Meter unter der Meeresoberfläche. Dies musste das unter Wasser liegende Fundament der Insel sein, die ja letzten Endes nichts als ein Berg war, dessen Spitze aus dem Ozean herausragte. Er war nicht überrascht, als das Schiff wieder zu sinken begann und nach wenigen Augenblicken fast sanft auf dem Meeresgrund aufsetzte.

Mike regulierte mit der linken Hand die Sauerstoffzufuhr seines Anzuges neu und versuchte zugleich, mit der rechten den Scheinwerfer ruhig genug zu halten, damit Singh arbeiten konnte. Der winzige Lichtkreis und das in regelmäßigen Abständen aufflackernde blaue Gleißen des Unterwasser-Schweißgerätes waren die einzige Helligkeit, die die endlose Nacht hier unten durchbrachen. Obwohl sie sich nur vierzig Meter unter der Meeresoberfläche befanden, drang nicht der kleinste Lichtschimmer zu ihnen herab. Oben, im trockenen Teil der Welt, musste bereits wieder Nacht herrschen. Vielleicht stand auch schon wieder der nächste Morgen bevor. Mike wusste es nicht. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren und war so erschöpft und müde wie selten zuvor. »Noch fünf Minuten«, drang Singhs Stimme aus den Lautsprechern, die in seinen Helm eingebaut waren. »Was ist dann?«, erwiderte Mike müde. »Sind wir dann fertig?« Singh lachte, leise und nicht sonderlich begeistert. »Schön war's«, sagte er. »Nein - mein Sauerstoffvorrat geht allmählich zu Ende. Und ich glaube, das Schweißgerät ist auch bald leer.« Er seufzte. »Es dauert mindestens noch einen Tag, dieses Leck zu reparieren.« Mikes Meinung nach war allein die Idee, ein scheunentorgroßes Leck in einem Unterseeboot vierzig Meter unter Wasser schweißen zu wollen, tollkühn. Trotzdem hatten sie sich nach kurzer Beratung an die Arbeit ge

macht. Tollkühn oder nicht - sie hatten gar keine andere Wahl. Er war so sehr in seine Gedanken versunken gewesen, dass der Strahl seines Scheinwerfers die Stelle, an der Singh arbeitete, losließ und in kleinen Zickzackbewegungen über den Rumpf der NAUTILUS zu wandern begann. Singh machte eine entsprechende Bemerkung und Mike fuhr so erschrocken zusammen, dass die Lampe seinen Fingern entglitt und langsam und sich dabei immer wieder überschlagend zu Boden zu fallen begann. Mike bückte sich hastig danach, verlor selbst das Gleichgewicht und fiel in dem schweren Taucheranzug auf die Seite. Das war nur ein kleines Missgeschick und in keiner Weise gefährlich; die Unterwasseranzüge waren so konstruiert, dass sie ihren Träger vor fast allen denkbaren Gefährdungen schützten, aber es war ärgerlich. Der Meeresboden war knietief mit einer staubfeinen Sandschicht bedeckt, die hoch aufwirbelte, als Mike fiel, und ihm für einen Moment vollkommen die Sicht nahm. Wütend auf sich selbst rappelte er sich hoch, schwenkte den Scheinwerfer im Kreis und sah ein, dass er gar keine andere Wahl hatte, als abzuwarten, bis sich der Sand von selbst wieder senkte. Ein silberner Schemen tauchte für den Bruchteil einer Sekunde im Licht des Scheinwerfers auf und versank wieder. Mike versuchte ihm mit dem Lichtstrahl zu folgen, sah jedoch nichts als wirbelnden Sand. Aber nur einen Moment später sah er den Schemen erneut und obwohl er auch diesmal nur für eine Sekunde im Licht der Scheinwerfer aufblitzte, erkannte er doch jetzt genau, worum es sich handelte. Es war ein Hai! Und es war keineswegs der einzige. Mike ließ den Scheinwerferstrahl langsam kreisen und er sah einen zweiten und dritten und vierten Hai, die mit gemächlichen, fast majestätisch anmutenden Bewegungen durch das Wasser schnitten.

»Singh!«, sagte Mike. »Ich sehe sie«, antwortete Singh. »Beweg dich nicht! Ich komme zu dir.« Mikes Herz begann zu klopfen. Der Taucheranzug bot ihm wahrscheinlich auch Sicherheit gegen einen Haiangriff, aber er hatte trotzdem Angst. Sie schienen ihn zu umkreisen und Mike wusste, dass Haie das oft taten, kurz bevor sie angriffen. Eine riesenhaft anmutende Gestalt stampfte durch den aufwirbelnden Sand auf ihn zu. Es war Singh, der in seinem klobigen Taucheranzug aussah wie ein mittelalterlicher Ritter, der sich um Jahrhunderte geirrt hatte. Auch er hatte einen Scheinwerfer eingeschaltet, den er hin und her schwenkte, und trug das Schweißgerät wie eine Waffe in der rechten Hand. Mike wusste natürlich, dass ihm das rein gar nichts nutzen würde, sollten die Haifische sie wirklich angreifen. Aber es war seltsam: Irgendwie spürte er, dass die Tiere das nicht tun würden. »Zur Schleuse!«, sagte Singh und leuchtete mit seinem Scheinwerfer in die entsprechende Richtung. Zwei, drei Haifische huschten mit eleganten Bewegungen aus dem Licht heraus. »Aber vorsichtig«, fuhr der Inder fort. »Mach keine hastigen Bewegungen, sonst greifen sie vielleicht an.« Mike hätte sich vermutlich nicht einmal dann schnell bewegen können, wenn er es gewollt hätte. Der Taucheranzug war zu schwer dazu und er sank bei jedem Schritt bis an die Knie in den weichen Sand ein. Langsam bewegte er sich neben Singh an der Flanke der NAUTILUS entlang, bis sie die Tauchkammer erreichten. Während sie darauf warteten, dass die Schleuse voll Wasser lief, so dass sie die äußere Tür öffnen konnten, ließen sie beide ihre Scheinwerferstrahlen in langsamen, gegeneinander gerichteten Kreisen durch das Wasser gleiten. Der Anblick war erschreckend und faszinierend zu

gleich: Es mussten Dutzende von Haien sein, die sie umgaben. Haie der unterschiedlichsten Gattung und Größe. Sie schwammen scheinbar ziellos hierhin und dorthin, bewegten sich manchmal auf sie zu, manchmal von ihnen fort, kreisten und schienen fast so etwas wie einen bizarren Tanz aufzuführen. Keines der Tiere kam ihnen jemals näher als vier oder fünf Meter und doch schienen

sie sich auch nie sehr weit von ihnen zu entfernen. »Was bedeutet das?«, murmelte Mike. »Ich weiß es nicht, Herr«, antwortete Singh, der im Moment der Gefahr wieder in seine alten Gewohnheiten zurückfiel. »Aber es gefällt mir nicht.« Hinter ihnen öffnete sich nahezu lautlos die äußere Schleusentür. Normalerweise betraten sie die Tauchkammer einzeln, denn sie war so klein, dass sie kaum genug Platz für einen bot. Jetzt aber quetschten sie sich gemeinsam hinein. Keiner von ihnen wollte länger als unbedingt nötig in der Gesellschaft der Haifische zubringen. Trautman und Ben erwarteten sie, als sich die äußere Tür geschlossen hatte und der Wasserspiegel so weit gesunken war, dass sie das innere Schleusenschott öffnen konnten. Die beiden halfen erst Singh, dann Mike aus dem Taucheranzug zu steigen; eine Aufgabe, die allein kaum zu bewältigen war. Trautman hatte bereits frische Sauerstoffflaschen bereitgestellt und wollte unverzüglich in Singhs Anzug steigen. Ben und er hatten wohl vor, die nächste Schicht zu übernehmen. Obwohl sie ebenso müde und erschöpft aussahen, wie Mike sich fühlte, wusste er doch, dass Trautman sich keine Ruhepause gönnen würde, bevor die Reparaturarbeiten nicht abgeschlossen und die größte Gefahr somit gebannt war. Singh schüttelte jedoch den Kopf und machte eine abwehrende Bewegung mit beiden Händen. »Ihr solltet da jetzt nicht rausgehen«, sagte er. »Wir haben Gesellschaft. Haifische! Hunderte!«

Das war zwar übertrieben, aber Mike bestätigte die Behauptung trotzdem mit einem Nicken. Der Inder und er erzählten abwechselnd und mit knappen Worten, was sie beobachtet hatten. Trautmans Gesicht nahm dabei einen immer besorgteren Ausdruck an, aber er sagte nichts, sondern legte schließlich den Taucherhelm aus der Hand und seufzte: »Also gut. Machen wir eine Pause. Vielleicht tut sie uns allen ja ganz gut.« »Das ist wirklich unheimlich«, sagte Ben, während sie sich umwandten und wieder in Richtung Salon gingen. Ein helles, rhythmisches Hämmern und Klingen drang an ihr Ohr. Juan, Chris und möglicherweise auch Argos waren nicht untätig. Trautman hatte zur Sicherheit darauf bestanden, auch das innere Schott, das die gefluteten Bereiche abriegelte, verstärken zu lassen. »Was glaubst du, wie ich mich erst gefühlt habe?«, sagte Mike. Ben nickte und sagte: »Ich war vorhin im Salon, weißt du? Und ich habe ein paar Funksprüche aufgefangen.« »Und?« »Ich habe mir nichts dabei gedacht«, antwortete Ben. »Aber jetzt...« Er zuckte mit den Schultern. »So tief, wie wir sind, konnte ich nur ein paar sehr starke Signale empfangen. Es waren einige Warnungen vor Haien dabei.« Mike blieb überrascht stehen und sah den jungen Engländer an. »Warnungen vor Haien?« »Ja, aus der Gegend hier«, antwortete Ben. »Vielleicht

im Umkreis von zwei-, dreihundert Meilen. Es sind sehr viele Haifische gesehen worden. Anscheinend haben sie bisher noch niemanden angegriffen, aber natürlich sind die Leute beunruhigt, dass sie plötzlich in solchen Massen auftauchen.« Das konnte Mike durchaus verstehen. Auch er hatte sich dort draußen alles andere als wohl gefühlt. Und trotzdem erging es ihm noch immer genau so wie gerade: Der Anblick dieser gewaltigen Haiarmee hatte ihn erschreckt, verwirrt und beunruhigt - aber irgendetwas sagte ihm trotzdem, dass diese Tiere keine Gefahr darstellten, jedenfalls nicht im Moment und nicht für ihn. Erbehielt seine Überlegungen für sich, nahm sich aber fest vor, sie zur Sprache zu bringen, sobald sie alle zusammen waren. Er war sicher, dass das plötzliche Auftauchen so vieler Haifische in ihrer Nähe kein Zufall war. Als sie im Salon ankamen, trafen sie Argos und Serena. Der Atlanter war dabei, mit einem Lötkolben an einem halb auseinandergenommenen Gerät zu hantieren, wobei er sich allerdings so ungeschickt anstellte, dass Ben hörbar seufzte und den Kopf schüttelte. Serena stand hinter ihm und sah ihm zu. Sie hatte die linke Hand auf die Stuhllehne gestützt und die rechte in einer vertrauten Geste auf Argos' Schulter gelegt; ein Anblick, der Mikes Eifersucht jäh wieder neue Nahrung gab. Und als wäre das alles noch nicht genug, saß Astaroth zwischen Argos' Füßen, leckte sich gemächlich die Pfoten und schnurrte dabei wie ein kleiner Elektromotor.Verräter!dachte Mike impulsiv.Eifersüchtiger Dummkopf!erwiderte Astaroth, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen oder Mike auch nur eines Blickes zu würdigen. Argos aber sah auf, ließ den Lötkolben sinken und fragte: »Wie seid ihr vorangekommen?« Dann runzelte er die Stirn, sah erst Ben, dann Trautman an und fügte hinzu: »Ich dachte, Sie wollten die beiden gleich ablösen, um schneller fertig zu sein?« Statt zu antworten, ging Trautman mit schnellen Schritten zum Kommandopult und schaltete die Außenscheinwerfer ein. Er hatte die Lichter ausgeschaltet, kurz nachdem sie auf dem Meeresgrund aufgesetzt hatten, um die Batterien zu schonen, denn niemand wusste, wie lange sie hier unten ausharren mussten und wann sie wieder ans Sonnenlicht kamen, das nötig war,

um sie aufzuladen. Nun aber wich die Dunkelheit rings um die NAUTILUSschlagartig gleißendemLicht. »Großer Gott!«, stöhnte Ben. Mike begriff, dass Singh keineswegs übertrieben hatte. EswarenHunderte von Haifischen, die im grellen Licht der Scheinwerferbatterien auftauchten! Die plötzliche Helligkeit schien die Tiere zu verscheuchen, denn sie machten plötzlich kehrt und versuchten, aus dem Bereich des Lichtes zu entkommen, aber ihre Zahl war trotzdem unüberschaubar. Sie umgaben das Schiff wie ein ins Absurde vergrößerter Heringsschwarm. Allein bei dem Gedanken, dass Singh und er vor kaum fünf Minuten mitten in dieser ungeheuren Menge gefährlicher Raubfische gewesen waren, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken. Langsam drehte er sich zu Argos herum. Auch Argos starrte durch das Fenster nach draußen und auch in seinen Augen war dieselbe Mischung aus Unglauben und Schrecken zu sehen, wie auf den Gesichtern aller anderen, aber es schien Mike, als würde der Atlanter etwas sehen, was ihn bis ins Mark erschreckte, aber nicht, weil es ihn überraschte, sondern weil er es erwartet hatte. »Können Sie uns das erklären?«, fragte er. Argos blinzelte. »Ich? Was habe ich denn damit zu tun?« Mike zuckte mit den Schultern. »Seit wir Sie getroffen haben, ereignen sich eine Menge seltsamer Dinge.« Argos antwortete nicht. Sein Gesicht blieb vollkommen unbewegt, doch in seinen Augen war plötzlich etwas, was Mike schaudern ließ. Erst nach einer Weile sagte der Atlanter leise: »Du bist ja verrückt.« Mike setzte zu einer zornigen Entgegnung an, aber in diesem Moment hörte er Astaroths Stimme in seinen Gedanken:Nicht jetzt!Er antwortete auf dieselbe Weise:Was soll das heißen? Später, in deiner Kabine,antwortete Astaroth.Ich er

kläre dir alles, aber es ist besser, wenn die anderen nicht dabei sind.

Das verwirrte Mike noch mehr. Astaroth hatte sich in den letzten Tagen schon seltsam benommen, aber so geheimnisvoll wie jetzt hatte er noch nie getan. Dazu kam sein merkwürdiges Verhalten: Er saß noch immer zwischen Mikes Füßen und leckte sich das nasse Fell. Hätte er es nicht besser gewusst, so hätte selbst Mike in diesem Moment Stein und Bein geschworen, dass Astaroth nichts anderes war als ein vielleicht etwas zu groß geratener, aber durch und durch normaler schwarzer Kater. Zu seinerÜberraschung sagte Trautman plötzlich: »Vielleicht hat er ja Recht, Mike. Wir sind alle ein bisschen nervös. Nach dem, was passiert ist, ist das ja auch kein Wunder. Vielleicht hat es mit diesen Haifischen wirklich nichts auf sich.« »Sie meinen, es ist ganz normal, dass sie plötzlich zu Hunderten hier auftauchen?«, fragte Mike spöttisch. Trautman schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Aber es muss nicht unbedingt etwas mit uns zu tun haben.« »So wenig wie die geheimnisvollen Fremden, die uns gestern gerettet haben?«, fragte Mike. Trautman sah ihn stirnrunzelnd an. »Wovon redest du?« Im ersten Moment war Mike so verblüfft, dass er nicht antworten konnte. Der fragende Ausdruck auf Trautmans Gesicht war echt. Er drehte sich zu Chris herum und stellte fest, dass auch dieser ihn nur verwirrt ansah, und dasselbe galt für alle anderen ebenso. »Ich rede von gestern«, sagte er. »Als wir beinahe ertrunken wären. Das könnt ihr doch nicht vergessen haben!« »Natürlich nicht«, sagte Trautman mit einem finsteren Blick in Argos' Richtung. »Und wir werden zu gegebener Zeit auch noch einmal eingehend darüber reden.« »Ich meine die, die die Tür geöffnet haben«, sagte Mike.

»Geöffnet?« »Aber Sie ... Sie müssen sie doch gesehen haben!«, murmelte Mike. »Er ist doch genau zwischen Ihnen und Ben aufgetaucht und -« Er sprach nicht weiter, als er in Trautmans Gesicht sah. Trautman erinnerte sich nicht. So unglaublich es schien: Weder er noch einer der anderen schien vom plötzlichen Auftauchen der unheimlichen Wesen irgendetwas mitbekommen zu haben.

Und dabei wollen wir es im Moment auch belassen,flüsterte Astaroths Stimme in seinem Kopf.Glaub mir, es

ist besser.

Mike war nunmehr vollends durcheinander. Wenn es jemanden an Bord des Schiffes gab, dem er immer und vorbehaltlos vertraut und geglaubt hatte, dann war es Astaroth. Nun aber zweifelte er plötzlich an der Urteilskraft des Katers, ja, er ertappte sich für einen Moment sogar dabei, sich zu fragen, ob Astaroth ihn vielleicht ganz bewusst belog. Natürlich beantwortete er seine Frage im selben Moment auch selbst mit einem klaren Nein.Gut, dass du so schlau bist,sagte Astaroth.Wäre es anders, hätte ich dich nämlich von der Wahrheit überzeugen müssen. Ich habe da ein paar ziemlich gute Argumente an den Enden meiner Pfoten, weißt du?

Mike blickte fassungslos auf den Kater hinab. Astaroth tat immer noch so, als wäre er ganz damit beschäftigt, sich das Fell trocken zu lecken. Offensichtlich wollte er nicht, dass die anderen irgendetwas von ihrem lautlosen Gespräch merkten. Und so schwer es Mike fiel, er beschloß, sein Spiel -wenigstens für den Moment noch mitzuspielen. Aber wenn Astaroth nicht ein paar verdammt gute Argumente hätte, dann würde er Argos noch heute Abend zur Rede stellen. Das nahm er sich fest vor.

Niemand hatte Einwände erhoben, als Trautman nach einer Weile vorschlug, die Reparaturarbeiten für einige Stunden zu unterbrechen, so dass sie sich alle wenigstens etwas von dem dringend benötigtenSchlaf gönnen konnten. Zurück in seiner Kabine erlebte Mike jedoch eine unangenehme Überraschung: Das eingedrungene Wasser hatte auch seine Kabine nicht verschont. Es stand zwei oder drei Zentimeter hoch auf dem Boden und die Feuchtigkeit, die zwei Wochen lang Zeit gehabt hatte, alles zu durchdringen, hatte ihre Arbeit wirklich gründlich getan. Seine Matratze und sein Bettzeug waren klamm und rochen muffig, so dass er es erst einmal wechseln musste. Während er damit beschäftigt war, kratzte es an der Tür. Mike öffnete und Astaroth huschte zu ihm herein. Der Kater sah sich maunzend um. Er sprang schließlich auf das abgezogene Bett hinauf und rollte sich schnurrend zusammen. »Das wurde aber auch Zeit«, sagte Mike. Astaroth blickte ihn kurz an und senkte dann wieder den Kopf auf die Pfoten. Er antwortete nicht. Mike sah ihn eine ganze Weile geduldig an und wartete darauf, dass der Kater von sich aus das Gespräch eröffnete, aber Astaroth tat es nicht. »Also, was soll das eigentlich?«, fragte Mike schließlich. Seine Stimme - er sprach laut -verriet mehr von seiner Verärgerung, als ihm selbst bewusst war. Astaroths Ohren zuckten und wandten sich in seine Richtung, aber der Kater sah ihn nicht an. »Wenn du nur gekommen bist, um dein albernes Spielchen fortzusetzen, kannst du auch genauso gut wieder gehen«, sagte Mike. Endlich reagierte Astaroth, wenn auch nicht äußerlich.Was willst du wissen?fragte er. Mike hatte wirklich Mühe, seinen Zorn noch zu bändigen. »Ich glaube, das weißt du ziemlich genau«, erwiderte er gepresst. »Also: Ich habe getan, was du wolltest und keinem etwas gesagt, aber jetzt möchte ich allmäh

lich eine Erklärung. Wer sind diese seltsamen Wesen? Was suchen sie hier und wieso durfte ich keinem anderem etwas davon sagen? Und wieso erinnern sich Trautman und die anderen nicht an sie?«Weil sie sie nicht gesehen haben,erwiderte Astaroth. »Gesehen?!« Mike ächzte. »Sie standen genau zwischen ihnen!«Trotzdem haben sie sie nicht gesehen,beharrte Astaroth.Sie hätten ihnen die Hand schütteln können und sie hätten sie nicht gesehen!

Mike legte fragend den Kopf auf die Seite. »Ist das deine Methode, mir schonend beizubringen, dass ich spinne?«, wollte er wissen.Nein,antwortete der Kater,das ist meine Methode, dir zu erklären, dass diese Wesen nur von denen gesehen werden können, denen sie erlauben, sie zu sehen.

»Aha«, sagte Mike.Ich weiß, das klingt ein wenig seltsam,gestand Astaroth,aber es ist nun einmal so.

Es sind Geschöpfe von großer Macht und glaub mir, sie sindsehrgefährlich.»Für wen?«, wollte Mike wissen.Nicht für euch,antwortete Astaroth.Jedenfalls nicht, solange ihr ihnen nicht in die Quere kommt.

»Was sind das für Wesen?«, fragte Mike.Kann ich dir nicht erklären,erwiderte der Kater.Ich darf es nicht. Selbst wenn ich es dürfte, könnte ich es wahrscheinlich nicht einmal. Aber ihr seid nicht in Gefahr. Es gibt keinen Grund, Angst zu haben.

Mikes Meinung nach war es schon immer eine nahezu todsichere Methode gewesen, jemanden in Panik zu versetzen, indem man ihm nur nachdrücklich genug versicherte, dass er keinen Grund hatte, Angst zu haben. Außerdem verwirrte und beunruhigte ihn Astaroths seltsames Benehmen immer mehr. Der Kater unterhielt sich mit ihm, er beantwortete seine Fragen, aber Mike hatte das Gefühl, dass er genauso gut mit seinem Schrank reden konnte oder mit der Tür.

»Was ist nur los mit dir?«, fragte er. »Warum benimmst du dich so komisch?«Auch das hat seine Gründe,erwiderte der Kater geheimnisvoll. »Über die du ebenfalls nicht reden kannst«, vermutete Mike.Stimmt,sagte Astaroth. Mike sog hörbar die Luft ein. Er streckte die Hand nach Astaroth aus und für eine Sekunde musste er sich mit aller Kraft beherrschen, den Kater nicht einfach zu nehmen und ihn zu schütteln. Er unterdrückte den Impuls mühsam, aber er fuhr fort: »Das reicht mir nicht. Wenn du willst, dass ich dein Spiel mitspiele und meine Freunde belüge, dann musst du mir schon ein paar bessere Gründe dafür nennen.«Das werde ich,antwortete Astaroth,aber jetzt nicht.»Und wann?«

Sobald alles vorbei ist.

»Vielen Dank für diese präzise Auskunft«, murmelte Mike. »Es hat etwas mit Argos zu tun, richtig? Sie sind seinetwegen hier. Sind sie hinter ihm her?«Ja,gestand Astaroth.Aber warum und wer sie geschickt hat, das darf ich dir nicht sagen.

»Ich dachte, wir wären Freunde«, sagte Mike vorwurfsvoll.Bis jetzt sind wir das auch noch,erwiderte Astaroth.Und wenn du möchtest, dass es dabei bleibt, dann hör auf, zu viele Fragen zu stellen!

»Ich frage mich ja nur, auf wessen Seite du stehst.« Dasist zum Beispiel eine von den Fragen, die du nicht stellen solltest,sagte Astaroth. »Warum? Nur weil er aus Atlantis stammt und - «Er stammt nicht nur aus Atlantis,unterbrach ihn Astaroth.Er war derHerrschervon Atlantis.Erhat mich dazu ausersehen, auf seine Tochter aufzupassen, und streng genommen gehört ihm dieses Schiff.

»Und jetzt will er es wiederhaben«, vermutete Mike.

Wenn er das wollte, hätte er es euch schon längst weggenommen,erwiderte Astaroth.Nein, keine Angst. Er will weder euer kostbares Schiff noch will er dir Serena wegnehmen.

»Warum ist er dann hier?«Weil sich eure Wege zufällig gekreuzt haben,sagte der Kater.MUSS ich dich wirklich daran erinnern, dass ihrihnverfolgt habt und nicht umgekehrt?Er begann leise zu schnarchen, fuhr aber trotzdem fort:

Und dass er es war, der sein Leben riskiert hat, um euch zu retten?Mike blickte den Kater verblüfft an. Astaroth hatte den Kopf auf die Pfoten gelegt, das Auge geschlossen und schnarchte hörbar. Er schlief, daran bestand gar kein Zweifel. Und trotzdem fuhr seine lautlose Stimme in Mikes Kopf fort:

Es ist natürlich deine Entscheidung. Ich will dich nicht zu etwas überreden, was du nicht wirklich möchtest. Aber wenn ich du wäre, dann würde ich aufhören, ihn mit meinem Misstrauen zu verfolgen, und mir stattdessen überlegen, wie wir alle gemeinsam aus dieser Lage wieder herauskommen.

Irgendetwas stimmte hier nicht. Astaroth war schon für so manche Überraschung gut gewesen, aber dass er im Schlaf redete und dass er auf Fragen antwortete, das konnte Mike nun doch nicht glauben. Er machte einen halben Schritt auf den Kater zu, blieb wieder stehen und sagte: »Und was hat es mit all diesen Haifischen auf sich? Es ist doch bestimmt kein Zufall, dass sie ausgerechnet jetzt in unserer Nähe auftauchen?«Nein,erwiderte Astaroth.Aber auch das gehört zu den Dingen, über die du dir besser nicht den Kopf-

Mike hörte jedoch gar nicht mehr zu. Während Astaroth antwortete, hatte er sich auf Zehenspitzen der Tür genähert und jetzt riss er sie auf, stürmte auf den Gang hinaus und wäre um ein Haar gegen Argos geprallt, der hoch aufgerichtet und reglos unmittelbar vor der Tür stand. Das Gesicht des Atlanters war starr. Seine Augen waren geöffnet, aber Mike war sicher, dass er ihn im ersten Moment gar nicht zur Kenntnis nahm. Er schien konzentriert einen Punkt irgendwo im Nichts anzustarren und auch seine ganze Haltung war verspannt. Es dauerte nur eine halbe Sekunde. Als er Mikes Schritte hörte, erwachte er aus seiner seltsamen Trance, blinzelte und zauberte dann ein beinahe überzeugend wirkendes Lächeln auf sein Gesicht. »Hallo, Mike«, sagte er. »Ich wollte gerade zu dir kommen, um -« »So ist das also«, sagte Mike. Plötzlich war ihm alles klar. Von einer Sekunde auf die andere ergab Astaroths seltsames Verhalten einen Sinn, auch wenn er so schrecklich war, dass er sich im ersten Moment weigerte, es zu glauben. »Aber Sie waren doch schon bei mir«, sagte er. Argos legte perfekt gespielt die Stirn in Falten. »Wie meinst du das?« »Versuchen Sie nicht, mich für dumm zu verkaufen«, erwiderte Mike scharf. Er machte eine Geste über die Schulter zurück. »Dort drinnen. Das war nicht Astaroth, der mit mir gesprochen hat, nicht wahr? Das waren Sie!« »Ich? Aber wie kommst du denn darauf?« »Hören Sie auf!«, sagte Mike wütend. »Wie lange geht das schon so? Erst seit heute oder habe ich schon seit zwei Wochen mit Ihnen gesprochen, wenn ich dachte, ich rede mit Astaroth? Und was haben Sie mit ihm gemacht?!« Argos spielte weiter den Unwissenden, aber es wirkte jetzt nicht mehr überzeugend. Bevor er jedoch antworten konnte, ging die Tür einer der anderen Kabinen auf und ein ziemlich verschlafener Trautman streckte den Kopf heraus.

»Was ist denn hier los?«, murmelte er. »Mike?« Er kam ganz auf den Flur heraus, schien erst in diesem Moment zu bemerken, dass Mike nicht allein war, und blickte stirnrunzelnd von Argos zu ihm und wieder zurück. »Was geht hier vor?« »Mike und ich hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit«, sagte Argos lächelnd. »Aber ich glaube, sie ist beigelegt.« »Wissen Sie, was er getan hat?«, fragte Mike erregt. Er deutete anklagend auf den Atlanter. »Er hat Astaroth beeinflusst. Undeuchalle auch.«Du solltest das nicht versuchen,sagte eine Stimme in seinem Kopf. Vor einer Minute hätte er sie noch für die Astaroths gehalten, nun aber wusste er, dass es niemand anders als Argos war, mit dem er redete. Verblüfft fragte er sich, wie er nur so dumm hatte sein können. Sie alle wussten doch, dass die alten Atlanter-zumindest einige von ihnen - über geistige Kräfte verfügt hatten, die einem normalen Menschen wie pure Zauberei vorgekommen wären. Auch Serena hatte diese Kräfte gehabt, sie aber dann abgegeben. Wieso aber war keinem von ihnen auch nur derVerdachtgekommen, dass Argos über dieselben unheimlichen Zauberkräfte verfügte? Schließlich war er ihr Vater. Nun öffneten sich nacheinander auch die anderen Türen und Singh, Ben und Serena traten auf den Gang heraus. Einzig Juan und Chris schienen von dem Streit nichts mitbekommen zu haben. »Also, jetzt mal langsam«, sagte Trautman. Er unterdrückte ein Gähnen, blinzelte und fragte: »Was genau

meinst du damit: Er hat Astaroth beeinflusst und uns

andere auch?« »Aber versteht ihr es denn nicht?«, fragte Mike erregt. »Er hat uns die ganze Zeit manipuliert!« »Aber warum sollte ich so etwas tun?«, fragte Argos

laut.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Mike zornig. Mit erho

bener Stimme und an die anderen gewandt fuhr er fort:»Überlegt doch einmal selbst! Wir wissen überhaupt nichts über diesen Mann. Wir kennen seinen Namen und wir wissen, dass er von sich behauptet, Serenas Vater zu sein. Er hat uns gesagt, er stamme aus Atlantis und er wäre der König diesesVolkes. Überlegt doch mal! Wir sind jetzt seit zwei Wochen zusammen, aber außer seinem Namen und zwei oder drei Brocken, die er uns hingeworfen hat, wissen wir gar nichts von ihm. Er hat nichts erzählt! Weder von sich noch von seinem Leben in Atlantis, noch, wo er all die Jahre über gewesen ist und wieso er ausgerechnet hier und jetzt wieder auftaucht.« »Stimmt doch gar nicht«, protestierte Serena. »Du bist nur eifersüchtig, das ist alles. Wir haben jeden Tag stundenlang miteinander gesprochen. Das solltest du doch am besten wissen!« »Ja -erhat Fragen gestellt undwirhaben geantwortet«, sagte Mike aufgebracht. »Er selbst hat nichts gesagt.« Er trat herausfordernd einen Schritt auf Argos zu. »Wenn Sie wirklich der sind, der Sie zu sein behaupten, Argos, dann verraten Sie uns, wo Sie gewesen sind. Atlantis ist vor zehntausend Jahren untergegangen. Ich glaube nicht, dass Sie so alt sind. Wir wissen, wie Serena diese Zeit überstanden hat, aber wie haben Sie es geschafft? Ich finde, für einen Zehntausendjährigen sehen Sie verdammt gut aus.« »Hör sofort auf«, sagte Serena wütend. »Wenn du -« Ihr Vater unterbrach sie mit einer besänftigenden Geste, »Lass ihn«, sagte er. »Er hat ja Recht.« Serena sah ihn verwirrt an und auch Trautman und Singh wirkten überrascht. Argos fuhr fort: »Ich habe mich wirklich sonderbar benommen, das gebe ich zu. Dein junger Freund ist ein aufmerksamer Beobachter. Du darfst ihm nicht böse sein. Er macht sich einfach Sorgen um dich und eure Freunde, das ist alles.« »Habe ich Grund dazu?«, wollte Mike wissen.

Argos überging die Frage. »Es gibt in der Tat einige Dinge, die ich euch verschwiegen habe«, sagte er. »Aber das habe ich nicht getan, um euch zu hintergehen.« »Warum sonst?«, fragte Trautman. »Um Sie und die anderen nicht in Gefahr zu bringen«, sagte Argos. »Ich fürchte, ich habe es vielleicht gerade dadurch getan, dass ich Sie im Ungewissen gelassen habe, und es tut mir sehr Leid. Aber ich dachte, ich könnte ...« Er suchte nach Worten, zuckte mit den Schultern. »... mein Problem lösen, ohne Sie und Ihre Freunde noch tiefer mit in die Geschichte hineinzuziehen.« »Ich schätze, sehr viel tiefer geht es nicht«, sagte Trautman übellaunig. »Wenn wir in Gefahr sind, dann wüsste ich gerne, warum und vor wem wir uns fürchten müssen.« »Die Männer von dem schwarzen Schiff«, antwortete Argos. »Sie verfolgen mich seit Jahren. Nachdem ich auf der Insel gestrandet war, dachte ich, sie hätten meine Spur verloren, aber Sie wissen ja selbst, was danach geschah. Und ich fürchte, sie werden auch nicht aufgeben.« »Wer sind sie?«, wollte Mike wissen. »Das spielt keine Rolle«, erwiderte Argos. »Es wäre zu kompliziert, das jetzt zu erklären. Wichtig ist, wer sie geschickt hat. Es ist eine Macht, die nichts mit euch zu schaffen hat. Sie wollen nur mich.« »Warum?«, fragte Mike. »Weil ich etwas getan habe, wofür sie mich zur Rechenschaft ziehen wollen«, erwiderte Argos mit ungewohnter Offenheit. »Euch das zu erklären würde zu lange dauern und es spielt auch keine Rolle. Sie verfolgen mich und die anderen seit Jahren.« »Die anderen?« Serena löste sich überrascht aus seinen Armen, trat einen halben Schritt zurück und sah ihrem Vater fassungslos ins Gesicht. »Soll das heißen, es gibt noch mehr von uns?«

Argos machte ein trauriges Gesicht. »Ich fürchte nein«, sagte er. »Wir waren zu acht, aber ich glaube, ich bin der Letzte.« »Was ist mit den anderen geschehen?«, wollte Serena wissen. »Ihr habt sie gesehen«, sagte Argos. Er deutete auf Mike. »Ich rede von den Männern an Bord des gesunkenen Schiffes, das ihr gefunden habt.« »Sie meinen das deutsche Spionageschiff?«, fragte Ben. Argos lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Wenn du es so ausdrücken möchtest. Aber sie waren so wenig Spione für das deutsche Kaiserreich, wie ich es bin.« »Sie haben diese Rolle nur gespielt«, vermutete Trautman. »Ja. Wir leben seit vielen Jahren unerkannt unter den Menschen. Wir haben immer gehofft, dass wir nicht dieeinzigen sind, und wir haben immer nach anderen Überlebenden von Atlantis gesucht, aber niemals welche gefunden.« Er sah seine Tochter an. »Du bist die Erste, die ich getroffen habe. Als wir auf das Sternenschiff stießen, da hofften wir, mit seiner Hilfe unsere Suche fortsetzen zu können, stattdessen hat es ihnen allen den Tod gebracht.« »Hat es das?«, fragte Trautman. »Es könnte sein, dass sie noch leben, wissen Sie?« »Wieso?«, erwiderte Argos verblüfft. »Erinnern Sie sich, was Sie uns selbst über die Versteinerung erzählt haben?«, antwortete Trautman in nachdenklichem Tonfall. Mike sah ihn aufmerksam an. Er hatte eine ungefähre Ahnung, worauf Trautman hinauswollte, aber es gefiel ihm nicht. Die ganze Situation gefiel ihm nicht. Das Gespräch entwickelte sich längst nicht so, wie es sollte. Er hatte Argos mehr oder weniger enttarnt und im Grunde sollten sie alle -nicht nur er - zu Recht empört und wütend darüber sein, dass ihnen der Atlanter die ganze Zeit über etwas vorgemacht hatte. Stattdessen hatte er das Gefühl, dass nicht nur

Trautman mittlerweile schon wieder fast so etwas wie Sympathie für Argos empfand. »Wenn die Versteinerung wirklich die Methode der Außerirdischen ist, ihre Körper vor den schädlichen Einflüssen des Weltraums zu beschützen, dann müsste sie auch unter Wasser funktionieren«, fuhr Trautman fort. »Ich selbst habe die Männer nicht gesehen, aber nach allem, was mir Mike und Singh erzählt haben, waren sie nicht verletzt.« Argos wandte sich an Mike: »Ist das wahr?« »Unsinn«, antwortete Mike. Auch wenn er spürte, dass er selbst nicht ganz von dem überzeugt war, was er da sagte. »Sie sind tot. Und wenn sie es noch nicht waren, als wir sie gefunden haben, sind sie es jetzt.« »Wieso?« »Weil das Schiff weiter gesunken ist«, antwortete Mike. »Habt ihr vergessen, was passiert ist? Das Wrack ist von der Klippe gerutscht. Keiner von uns weiß, wie tief es jetzt liegt. Vielleicht vier-oder fünftausend Meter, das hält keiner aus, egal, in welchem Zustand.« »Das ist nicht gesagt«, antwortete Argos. »Wenn sie wirklich versteinert waren, Mike, dann könnten sie noch am Leben sein. Und ich weiß, wie man sie wieder erweckt.« Er wandte sich mit einem fragenden Blick an Trautman: »Glauben Sie, dass Sie die Stelle wiederfinden?« Trautman nickte. »Sicherlich. Es ist nicht einmal besonders weit von hier. Aber Mike hat Recht«, fuhr er in leicht verändertem Tonfall fort, als Argos etwas sagen wollte. »Das Meer ist an dieser Stelle sehr tief. Selbst wenn wir das Schiff wiederfinden, weiß ich nicht, ob wir so tief hinunterkommen und ob Ihre Kameraden überhaupt noch am Leben sind. Der Wasserdruck in dieser Tiefe ist unglaublich hoch.« Argos schüttelte den Kopf. Plötzlich wirkte er sehr aufgeregt. »Das spielt keine Rolle«, sagte er. »Glauben Sie mir, ich weiß genug über diesen seltsamen Zustand der

Versteinerung. Einem Körper, der sich darin befindet, kann so gut wie nichts zustoßen.« »Aber wir haben doch nicht einmal eine Chance, sie zu finden«, sagte Mike, doch Argos ließ auch dieses Argument nicht gelten. »Ich werde euch helfen«, sagte er. »Wenn wir in ihrer Nähe sind, dann werde ich sie finden.« »Und wie?«, wollte Ben wissen. Auch seine Stimme klang misstrauisch, aber für Mikes Geschmack nicht annähernd misstrauisch genug. Was um alles in der Welt ging hier vor? War er denn der einzige, der begriff, welches Spiel Argos spielte -obwohl er es ihnen allen gerade erst gesagt hatte? »Ich habe so meine Möglichkeiten«, antwortete Argos ausweichend. Er sah Trautman an, wartete offensichtlich darauf, dass dieser irgendetwas sagte, und wirkte leicht enttäuscht, als es nicht geschah. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er schließlich. »So?«, fragte Mike. »Da bin ich aber mal gespannt.« Argos ignorierte ihn. Er sprach weiter, an Trautman gewandt, so wie er Trautman stets als Kapitän und Anführer der kleinen Gruppe behandelt hatte, obwohl er das ganz und gar nicht war. »Ich kenne einen Ort, an dem die NAUTILUS repariert werden kann«, sagte er. »Wenn Sie mich zu meinen Kameraden bringen und wir sie finden, dann führe ich Sie dorthin. Ich verspreche Ihnen, dass die NAUTILUS hinterher in besserem Zustand ist als zuvor.« Trautman wollte antworten, doch Mike kam ihm zuvor: »Und wenn nicht? Dann verraten Sie es uns nicht und wir können auf den Tag warten, an dem sie auseinanderbricht? Mir kommt das wie Erpressung vor!« Argos ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Mike hatte seine Worte mit Bedacht gewählt, um ihn zu reizen, aber es funktionierte nicht. Argos lächelte nur traurig und sagte: »Natürlich nicht.« »Warum haben Sie uns dann nicht schon lange davon

erzählt?«, wollte auch Ben wissen. »Es wäre bequemer, die NAUTILUS in einem Dock reparieren zu lassen, statt vierzig Meter unter der Wasseroberfläche, und so nebenbei auch nicht ganz so gefährlich.« »Weil es keinen Sinn gehabt hätte«, antwortete Argos. »Ich weiß, dass es diesen Ort gibt, aber ich war niemals da. Ich weiß nicht einmal genau, wo er ist. Aber einer der Männer an Bord des gesunkenen Schiffes stammt von dort. Wenn es uns gelingt, sie zu retten, wird er uns hinbringen.« »Ist das jetzt wieder eine neue Geschichte?«, schnappte Mike. Argos reagierte auch darauf nicht, aber Trautman schenkte ihm einen bösen Blick und wandte sich schließlich an den Atlanter: »Ich werde darüber nachdenken«, sagte er. »Die Entscheidung muss nicht jetzt fallen. Wir brauchen ohnehin mindestens noch zwei Tage, um die NAUTILUS so weit zu reparieren, dass wir überhaupt auftauchen können. Wir werden Ihren Vorschlag diskutieren und darüber abstimmen.« Man konnte Argos deutlich ansehen, dass ihm das nicht gefiel. Er hatte sich wohl eine sofortige Entscheidung erhofft, doch er widersprach nicht und versuchte auch nicht mehr, Trautman oder die anderen zu überzeugen, sondern nickte nur. »Das kann ich verstehen«, sagte er. »Aber bitte bedenken Sie eines: Es geht jetzt nicht mehr nur um mich. Wir waren zu acht an Bord des Schiffes. Die sieben anderen könnten noch leben.« »Wir werden es in Betracht ziehen«, versprach Trautman. »Aber jetzt sollten wir alle wieder in unsere Kabinen gehen und schlafen. Wir haben eine anstrengende Zeit hinter uns und eine vielleicht noch anstrengendere

vor uns.« Mike sah ihn fast fassungslos an. War das alles? Was war mit den Männern auf dem schwarzen Schiff, die sie verfolgten? Mit den geheimnisvollen Wesen, die er gesehen hatte? Mit den Haien, die das Schiff umgaben wie ein Rudel hungriger Wölfe ein verletztes Beutetier? Mit dem, was Argos mit Astaroth getan hatte? Argos sah ihn an, als hätte er seine Gedanken gelesen. Und es war seltsam: Plötzlich konnte Mike nichts von alledem, was ihm auf der Zunge lag, laut aussprechen. Es war nicht so, dass er es vergessen hätte oder dass Argos ihn irgendwie daran hinderte, es zu tun, aber was er in den Augen des Atlanters las, das war eine stumme Bitte und noch etwas: die Angst um das Leben seiner Freunde und der fast verzweifelte Wunsch, dass Mike nichts unternehmen oder sagen mochte, das in irgendeiner Form dazu führte, dass sie nicht gerettet wurden.Also gut,dachte Mike.Wenn Sie wirklich meine Gedanken lesen können, mache ich Ihnen einen Vorschlag: Ich werde nichts sagen oder tun. Ich werde nicht einmal eine Frage stellen, bis wir Ihre Freunde gerettet haben. Aber danach erzählen Sie uns die ganze Wahrheit. Und noch etwas - was haben Sie mit Astaroth gemacht? Dein kleiner Freund wird sich erholen, keine Angst,antwortete Argos.Ich musste seine Kräfte für eine Weile blockieren. Es ist nichts auf Dauer. In ein paar Tagen ist er wieder ganz der Alte, das verspreche ich dir.

Mike sagte nichts dazu. Er sah Argos nicht mehr an, sondern drehte sich mit einem Ruck um und ging in seine Kabine zurück, aber sosehr er es normalerweise hasste, wenn jemand in seinen Gedanken herumschnüffelte, für einen Moment hoffte er sogar, dass Argos in diesem Moment seine Gedanken las, weil er dann wusste, was ihm passieren würde, wenn er nicht Wort hielte und Astaroth nicht wieder zu dem wurde, was er einmal gewesen war.

Er erwachte am nächsten Morgen mit hämmernden Kopfschmerzen, einem schlechten Geschmack im Mund, einem Gefühl wie Blei in allen Gliedern und der verschwommenen Erinnerung an einen völlig absurden Albtraum, den er gehabt hatte. Es war dunkel in der Kabine. Die Luft roch so muffig, dass ihm davon fast schon wieder übel wurde, und Astaroth hatte sich auf seiner Brust zusammengerollt und schnarchte und nahm ihm mit seinem Gewicht fast den Atem. Mike richtete sich in eine halb sitzende Position auf, scheuchte den Kater mit einer Handbewegung davon und massierte sich die schmerzenden Schläfen. Es war kein Wunder, dass er Kopfschmerzen hatte; alles hier drin war feucht und modrig und er war fast erstaunt, dass er hier überhaupt hatte schlafen können. Da musste man ja Albträume bekommen! Astaroth maunzte, blickte ihn aus seinem einen Auge vorwurfsvoll an und wandte sich schließlich ab, als klar wurde, dass Mike ihn nicht wieder hinauf in das warme Bett lassen würde. Mike fragte sich ohnehin, wer ihn in seine Kabine gelassen hatte. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass Katzen in Betten nichts verloren hatten. Aber im Augenblick traf das auf ihn wohl auch zu. Obwohl er sich alles andere als ausgeruht oder gar ausgeschlafen fühlte, schwang er die Füße aus dem Bett, schauderte ein wenig, als seine nackten Sohlen den eisigen, feuchten Metallboden berührten, und stand schließlich widerwillig auf. Bruchstücke seines Traumes gingen ihm noch immer durch den Kopf, während er sich flüchtig wusch und anzog. Er konnte sich nicht ganz genau daran erinnern, aber es hatte irgendetwas mit Argos zu tun gehabt und mit Trautman und

Serena ... Nein. Es hatte keinen Zweck. Immer wenn er versuchte, die Bilder mit Gewalt heraufzubeschwören, schien er eher das Gegenteil zu erreichen. Er verließ die Kabine, wandte sich nach links und schlurfte in Richtung Salon los. Das Schiff war bereits vom Hämmern und Lärmen der anderen erfüllt, die offensichtlich schon bei der Arbeit waren. Und manchmal glaubte er ein sachtes Zittern zu spüren, das durch den Boden lief; so, als versuche die NAUTILUS, vom Meeresgrund abzuheben, schaffte es aber nicht. Wie es aussah, hatte er wirklich sehr lange geschlafen. Als er den Salon erreichte, sah er auf dem großen Kartentisch die Reste des Frühstücks stehen, das die anderen bereits eingenommen hatten. Nur zwei Gedecke waren unberührt. Mike nahm vor einem davon Platz, goss sich eine Tasse mit längst kalt gewordenem Tee ein und überlegte einen Moment, ob er überhaupt frühstücken sollte. Er hatte keinen Hunger und seine Kopfschmerzen wollten nicht besser werden. Andererseits stand ihm wieder ein anstrengender Tag bevor. Etwas berührte seine Beine. Mike sah an sich herab und erblickte Astaroth, der mit starr aufgestelltem Schwanz und lautstark maunzend um seine Beine strich und ihn immer wieder mit dem Kopf anstieß. »Was willst du, alter Mäusefänger?«, fragte er. »Du weißt doch, dass du nicht am Tisch betteln sollst.« Astaroth miaute herzzerreißend, aber Mike widerstand der Versuchung, die Hand auszustrecken, um ihm eine Scheibe Wurst oder ein Stück Fleisch zuzuwerfen. Wenn er den Kater einmal daran gewöhnte, vom Tisch gefüttert zu werden, würde er in Zukunft nie wieder eine Mahlzeit in aller Ruhe einnehmen können. »Verschwinde«, sagte er. Als Astaroth nicht sofort darauf reagierte, schob er ihn mit dem Fuß ein Stück weit von sich fort. Astaroth miaute noch lauter, gab es aber dann endlich auf und lief zur Tür. Der Grund für seinen plötzlichen Sinneswandel war Serena, die in diesem Moment hereinkam und ein erfreutes Gesicht machte, als sie Mike sah. »Oh, hallo, Mike«, sagte sie. »Du bist wach, schön. Ich wollte dich gerade wecken.« »Das hättest du schon vor einer Stunde tun sollen«, antwortete Mike mit einem bezeichnenden Blick auf den Tisch und das benutzte Frühstücksgeschirr. »Ich glaube, ich habe verschlafen.«

Serena lächelte, bückte sich und nahm Astaroth auf die Arme, bevor sie weitersprach und dabei auf ihn zu kam: »Eher zwei«, sagte sie. »Trautman und Singh sind schon das zweite Mal draußen. Sie wollen heute unbedingt mit den Schweißarbeiten fertig werden.« Mike erschrak. »So lange habe ich geschlafen? « »Du hattest es auch nötig«, antwortete Serena. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. Astaroth, der es sich auf ihren Armen bequem gemacht hatte, maunzte und miaute immer aufgeregter, so dass Serena ihn gedankenverloren mit der Hand zwischen den Ohren zu kraulen begann. Der Kater beruhigte sich trotzdem nicht. »Was hat er denn?«, fragte Mike. Serena hob die Schultern. »Keine Ahnung«, sagte sie. »Vielleicht geht es ihm nicht anders als uns oder gefällt es dir etwa, hier eingesperrt zu sein und nicht hinaus zu können?« »Es ist ja nicht mehr für lange«, sagte Mike. »Falls Argos -« Er verbesserte sich: »Fallsdein VaterWort hält und uns tatsächlich zu einer Werft bringt, auf der die NAUTILUS überholt werden kann. Wo ist er überhaupt?« »Ich habe ihn gerade geweckt«, antwortete Serena. »Dann bin ich nicht der Einzige, der verschlafen hat?« »Trautman hat uns schärfstens verboten, euch zu wecken«, antwortete Serena ernst. »Ihr beide habt gestern mehr gearbeitet als alle anderen zusammen in einer ganzen Woche. Zwei Stunden Extra-Ruhe habt ihr euch wirklich verdient.« Mike blickte Serena verwirrt an. Er konnte sich nicht erinnern, gestern mehr als die anderen gearbeitet zu haben, und Argos hatte in den vergangenen beiden Wochen praktisch keinen Finger gerührt. Er hatte -Etwas wie ein unsichtbarer stählerner Besen fegte durch Mikes Kopf und ließ den Gedanken verschwinden. Eine Sekunde lang wunderte er sich noch über

sich selbst, dass er solch einen Unsinn dachte, und in der nächsten Sekunde hatte er selbst das vergessen. Außerdem kam Argos genau in diesem Moment herein und sah tatsächlich sehr müde und abgespannt aus. Seine Schultern hingen schlaff nach vorne, unter seinen Augen befanden sich tiefe, dunkle Ringe und seine Haut wirkte sehr blass. Als er am Tisch Platz nahm und nach der Kaffeekanne griff, zitterten seine Hände ganz leicht. Astaroth fauchte, zeigte dem Atlanter sein Gebiss - und war mit einem Sprung von Serenas Schoß herunter und verschwand aus dem Salon. Serena sah ihm stirnrunzelnd nach. »Was hat er denn?« »Ich bin ihm gestern versehentlich auf den Schwanz getreten«, sagte Argos. Auch seine Stimme klang müde. »Wahrscheinlich kann er mir das nicht verzeihen.« »Er beruhigt sich schon wieder«, sagte Mike. »Katzen sind nicht besonders nachtragend.« Sie frühstückten eine Weile schweigend, bis Trautman und Singh hereinkamen und sich zu ihnen gesellten. Mike erschrak, als er Trautman erblickte. Er wirkte um zehn Jahre gealtert. Auch seine Haut war blass und auch seine Hände zitterten etwas; trotzdem machte er einen zwar erschöpften, aber durchaus zufriedenen Eindruck. »Wie geht es mit der Arbeit voran?«, erkundigte sich Argos. »Gut«, antwortete Trautman. »Singh und ich werden eine Stunde ausruhen und dann wieder nach draußen gehen. Mit ein wenig Glück sind wir heute Abend fertig.« Er drehte den Kopf und sah Mike an. »Du siehst nicht gut aus«, sagte er geradeheraus. »Ich habe nicht besonders geschlafen«, antwortete Mike. »Ich hatte einen verrückten Traum.«Einen Traum, in dem Argos und Trautman eine wichtige Rolle spielten ebenso wie der Kater und ein seltsames Wesen - halb Mensch, halb Fisch, das ihm mit Händen zugewinkt hatte, zwischen deren Fingern sich Schwimmhäute spannten

und dessen Gesicht aussah wie das eines Haifisches, der versucht hatte, sich in einen Menschen zu verwandeln ...

Er verscheuchte die bizarren Bilder, die aus seinem Unterbewusstsein heraufsteigen wollten. »Außerdem habe ich rasende Kopfschmerzen«, fügte er hinzu. Trautman nickte. »Die haben wir alle«, sagte er. »Irgendetwas scheint mit der Luftversorgung nicht zu stimmen. Es wird wirklich allmählich Zeit, dass wir auftauchen können.« Er wandte sich an Argos. »Ich möchte Ihnen jetzt auf der Karte die Stelle zeigen, an der der Frachter gesunken ist.« Argos nickte und Trautman stand auf und ging zum Kartenschrank. Das zusammengerollte Blatt, mit dem er zurückkam, war wie alles hier: halb aufgeweicht, eingerissen und mit großen, hässlichen Wasserflecken versehen. Trautman räumte eine Ecke des Tisches frei, breitete die Karte aus und beschwerte die vier Ecken mit leeren Tassen und einer Zuckerdose. Dann senkte er den Finger auf eine Stelle, die ihre jetzige Position markierte. »Wir sind hier«, sagte er. »Wenigstens ungefähr. Die Insel ist auf der Karte nicht eingezeichnet, deshalb kann ich nur schätzen. Aber das Schiff mit Ihren Freunden liegt genau ...« Sein Finger folgte einer imaginären, in willkürlichem Zickzack über die Karte führenden Linie und verharrte auf einem Punkt, der ebenso wenig vorhanden war wie der, auf den er gerade gedeutet hatte. »... dort. Ich weiß allerdings nicht, in

welcher Tiefe.« »Ungefähr viertausend Meter«, sagte Argos.

Trautman sah ihn überrascht an. »Woher wissen Sie

das?« »Weil ich diese Gegend des Meeres kenne«, erwiderte Argos. »Nach allem, was Sie erzählt haben, kommt nur eine einzige Stelle in Frage. Die Klippe, von der das Wrack geglitten ist, gehört zu einem Unterwasser-Riff.

Der Meeresgrund liegt dort fast viertausend Meter unter der Oberfläche.« »Schaffen wir das?«, fragte Singh besorgt. »Das Schiff hält es aus«, versicherte Argos. »Es ist für weitaus größere Tiefen gebaut. Und ich habe vollstes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten. Wenn jemand das Schiff reparieren kann, dann Trautman und Sie. Aber sie sollten sich jetzt an die Arbeit machen. In ein paar Stunden können wir sicher auftauchen und dann können Sie sich die wohlverdiente Ruhe gönnen.« Vor Mikes fassungslos aufgerissenen Augen erhoben sich Singh und Trautman ohne den geringsten Widerspruch, drehten sich herum und verließen den Salon und das, obwohl sie vor nicht einmal zwei Minuten so erschöpft gewesen waren, dass sie kaum noch in der Lage zu sein schienen, aus eigener Kraft zu stehen. Mike blickte ihnen kopfschüttelnd nach, dann drehte er sich wieder zu dem Atlanter herum und blickte direkt in Argos' Augen und im selben Moment, in dem er es tat, sah er natürlich auch ein, dass dieser vollkommen Recht hatte. Die NAUTILUS war eben kein normales Schiff, das mit normalen Maßstäben zu messen war. Sie würde selbst in dem erbärmlichen Zustand, in dem sie sich momentan befand, noch zehnmal tiefer tauchen als jedes andere Unterseeboot auf der Welt. Und Trautmann und Singh konnten sich tatsächlich später lange genug ausruhen -wenn sie erst einmal wieder oben an der Wasseroberfläche waren. »Du solltest dir auch noch ein wenig Ruhe gönnen, Junge«, sagte Argos. »Du siehst wirklich nicht gut aus.« Als wären diese Worte ein Signal gewesen, wurden Mikes Kopfschmerzen schlagartig schlimmer und er fühlte, wie die Müdigkeit zurückkam, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er stimmte Argos innerlich zu; schlechtes Gewissen hin oder her, in dem Zustand, in dem er sich befand, war er für die anderen im Moment keine Hilfe, sondern eine Belastung.

Und trotzdem hinderte ihn irgendetwas, aufzustehen und wieder in seine Kabine zurückzugehen. Er konnte das Gefühl selbst nicht begründen, doch er fürchtete sich fast davor, einzuschlafen. Vielleicht weil er Angst hatte, dann wieder zu träumen. Und auch wenn er sich immer noch nicht genau an seinen Traum erinnerte, so war doch allein dasGefühl,das er zurückgelassen hatte, schlimm genug, um keinen Wunsch nach einer Fortsetzung in Mike zu wecken. »Ich werde schon irgendetwas finden, womit ich mich nützlich machen kann«, sagte er. Als er Serenas Stirnrunzeln bemerkte, fügte er hinzu: »Etwas Leichtes.« »Gut«, sagte Argos und stand auf. »Ich gehe in den Maschinenraum und sehe nach, ob ich dort etwas tun kann.« Er schlurfte gebückt zur Tür. Jede seiner Bewegungen drückte Müdigkeit und Erschöpfung aus und Mike fiel abermals auf, wie mitgenommen und ausgezehrt der Atlanter wirkte. Er hatte in den letzten Tagen einfach zu viel gearbeitet. Mike konnte das verstehen. Argos wollte - wie sie alle - möglichst schnell von hier verschwinden, aber er hatte noch einen anderen, vielleicht noch dringenderen Grund: die Sorge um seine Freunde, die in dem Schiffswrack auf dem Meeresboden lagen. »Du solltest besser auf meinen Vater hören und dich noch ein bisschen hinlegen«, sagte Serena, nachdem Argos sie allein gelassen hatte. Mike schüttelte den Kopf, empfand aber gleichzeitig ein Gefühl von warmer Dankbarkeit, dass sich Serena um ihn sorgte. »Es ist schon gut«, sagte er. »Ich werde es nicht übertreiben. Keine Angst.« Sie antwortete nicht, aber ihr Blick machte sehr deutlich, was sie von dieser Behauptung hielt. Nach einigen Sekunden stand sie auf und begann wortlos das benutzte Geschirr abzuräumen. Mike sah ihr ebenso wortlos eine Weile dabei zu, dann erhob auch er sich und verließ den Salon.

Das Hämmern und Klingen wurde lauter, als er auf den Gang hinaustrat. Er ging schneller, lief die Metalltreppe hinunter - und stolperte über ein schwarzes Fellbündel, das auf der untersten Stufe lag und protestierend maunzte. Im letzten Moment streckte Mike die Hand aus und fand am Geländer Halt, so dass er nicht stürzte, aber er schickte Astaroth einen Fluch und einen bösen Blick hinterher, die der Kater mit einem noch zornigeren Fauchen quittierte. Gleichzeitig war er aber auch klug genug, sich hastig ein paar Meter weiter zurückzuziehen. »Blödes Vieh!«, murmelte Mike. Er holte mit dem Fuß aus, als wollte er nach dem Kater treten, und hielt dann überrascht mitten in der Bewegung inne. Was war nur mit ihm los? Der Kater ging ihm manchmal auf die Nerven - und in letzter Zeit ganz besonders -, aber er hatte ihn niemals geschlagen, geschweige denngetreten.Astaroth sah ebenfalls - so weit das bei einem Tier möglich war - ziemlich verwirrt drein. Mike entschuldigte sich in Gedanken bei dem Kater, konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, es auch laut zu tun, und ging kopfschüttelnd weiter. Vielleicht hätte er auf Trautmans Rat hören und sich wieder hinlegen sollen. Seine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und er fühlte sich irgendwie ... unwirklich. Auch als er Ben, Juan und Chris erreichte, wurde es nicht besser. Die drei waren mit ihrer Arbeit überraschend gut vorangekommen: Vor dem geschlossenen Sicherheitsschott, das die Wassermassen am Eindringen in die NAUTILUS hinderte, befand sich nun eine zweite, nicht besonders ansehnlich aussehende, aber äußerst massive Trennwand aus zentimeterdicken Stahlplatten, die die drei mit stabilen Trägern abgestützt und verschweißt hatten. Wenn man bedachte, wie weit sie gestern mit ihrer Arbeit gewesen waren, dann hatten sie eigentlich allen Grund, stolz zu sein. Sie sahen jedoch einfach nur müde aus.

Ben und Juan unterbrachen ihre Arbeit nicht einmal, als sie ihn hörten, aber Chris warf ihnen einen flüchtigen Blick zu und als Mike in sein Gesicht sah, erschrak er. Das jüngste Besatzungsmitglied der NAUTILUS sah kreidebleich aus. Unter seinen Augen waren dunkle Ringe und seine Hände zitterten so sehr, dass er kaum die Kraft zu haben schien, die Werkzeuge zu halten, die er den beiden anderen reichte. Mike verlor kein weiteres Wort, sondern griff ebenfalls mit zu. Sie arbeiteten eine gute Stunde, bis Ben, der der handwerklich Geschickteste an Bord war, sich endlich mit dem Ergebnis zufrieden gab. »Gehen wir zurück in den Salon«, schlug Juan müde vor. »Trautman und Singh müssten eigentlich auch bald zurückkommen.« Er warf Mike einen fragenden Blick zu. »Haben sie gesagt, wie weit sie sind?« Das hatten sie, aber Mike hatte plötzlich Schwierigkeiten, sich an Trautmans Worte zu erinnern. In seinem Kopf ging alles durcheinander. Wo sein Gehirn sein sollte, schien sich nur noch Watte zu befinden, in der sich seine Gedanken verirrten und die Erinnerungen seinem Zugriff entglitten. Er musste sich zwei, drei Augenblicke lang mit aller Macht konzentrieren und dann kam er doch nicht dazu, die Worte auszusprechen. Ein sachtes Zittern lief durch den Boden. Gleichzeitig hörten sie ein dumpfes, rumorendes Dröhnen, das immer lauter und lauter wurde. Mike riss überrascht die Augen auf und auch Juan und Ben sahen sich erschrocken um. Dabei war das Geräusch nicht einmal besonders beunruhigend: Es war das normale, seit Jahren vertraute Motorengeräusch der NAUTILUS, das den akustischen Herzschlag des Schiffes darstellte. Aber die Maschinen hatten seit Tagen geschwiegen und sie waren dem Maschinenraum so nahe, dass sie die Vibrationen der mächtigen Antriebsaggregate hören konnten. Und nicht nur das.

Mike fuhr erschrocken herum, als er einen anderen, weit weniger beruhigenden Ton hörte: Das leise, monotone Plätschern von Wasser. Auch Ben sog entsetzt die Luft zwischen den Zähnen ein und hob den Arm. Seine ausgestreckte Hand deutete auf eine Stelle an der Sicherheitswand, die sie gerade montiert hatten. Durch eine der Schweißnähte, die wohl doch nicht so dicht geworden war, wie sie angenommen hatten, sickerte ein dünner, aber beständiger Wasserstrom. »Aber was ...?«, murmelte Juan. »Trautman muss völlig den Verstand verloren haben!«, sagte Ben. »Will er uns umbringen?Raus hier!«Er musste seine Aufforderung nicht wiederholen. So schnell es ging, liefen sie die Treppe hinauf und in den Salon. Die NAUTILUS zitterte und ächzte immer stärker und aus dem anfänglich noch halbwegs ruhigen Geräusch der Maschinen wurde ein gequältes Brüllen. Mike hatte das Gefühl, dass das Schiff drauf und dran war, rings um sie herum auseinanderzubrechen. Umso überraschter war er, als sie hintereinander in den Salon stürmten und nicht nur Trautman und Singh an den Kontrollinstrumenten des Schiffes stehen sahen, sondern auch helles Sonnenlicht, das durch das große Seitenfenster hereinströmte. Die NAUTILUS war aufgetaucht. Mike blieb abrupt stehen und blinzelte ungläubig abwechselnd das Fenster und Trautman an. Alles in allem hatten sie kaum mehr als drei Minuten gebraucht, um hierher zu kommen. Trotzdem hatte die NAUTILUS in dieser Zeit die Meeresoberfläche erreicht. »Aber wir ...«, murmelte Juan fassungslos. »Wir sind ...« »Aufgetaucht«,bestätigte Trautman.»Endlich.« »Vierzig Meter indrei Minuten?«,keuchte Mike. Trautman sah ihn an, als begriffe er gar nicht, was Mike damit meinte. »Ich dachte, ihr hättet es eilig«, sagte er. »Ich für meinen Teil kann es gar nicht erwarten, endlich wieder frische Luft zu atmen. Du etwa nicht?« »Aber das ist doch Wahnsinn«, murmelte Juan. »Trautman, was ... was ist bloß in Sie gefahren? Sie hätten uns alle umbringen können!« »Ach was«, sagte Trautman gut gelaunt und eine Sekunde später fügte eine noch fröhlicher klingende Stimme hinter ihnen hinzu: »Statt rumzumeckern, solltet ihr lieber mitkommen. Wir gehen nach draußen.« Mike drehte sich herum und erblickte Serena und Argos, die lautlos hinter ihnen aufgetaucht waren. Serena strahlte über das ganze Gesicht, während Argos noch müder aussah als bisher. Genauer gesagt machte er auf Mike den Eindruck, dass er sich nur noch mit äußerster Mühe auf den Beinen hielt. »Das war bodenlos leichtsinnig!«, pflichtete ihm Ben bei. »Das Schiff hätte in Stücke brechen können. Ganz davon abgesehen, dass wir dort unten in der Falle gesessen hätten, wenn die Wand nicht gehalten hätte!« »Hat sie aber«, sagte Trautman. »Und Serena hat vollkommen Recht. Lasst uns alle nach oben gehen und ein bisschen Sonnenlicht tanken. Danach sieht die Welt wahrscheinlich schon ganz anders aus.«

Mike war der Letzte, der das Schiff verließ. Er hatte auf dem Weg nach oben nichts mehr gesagt, aber er behielt sowohl Trautman als auch Argos aufmerksam im Auge. Irgendetwas stimmte nicht mit den beiden, dessen war er sich mittlerweile vollkommen sicher. Dann verbesserte er sich in Gedanken: Etwas stimmte nicht mitihnen allen.Es war nicht nur das, was Trautman gerade getan hatte. Das Schiff in weniger als drei Minuten vierzig Meter weit aufsteigen zu lassen war mehr als bodenloser Leichtsinn: Es grenzte an Selbstmord. Aber das war längst nicht alles. Ganz plötzlich und ohne dass er das Gefühl genauer in Worte kleiden konnte, hatte er den Eindruck, dass niemand hier mehr so reagierte, wie er sollte. Ben, Juan, Chris und Serena kletterten hintereinander die kurze Leiter hinab, die auf das Deck der NAUTILUS hinunterführte, und sie bewegten sich langsam und vorsichtig und irgendwie steif -dabei hätten sie eigentlich ausgelassen herumtollen sollen, nach den Tagen, die sie auf dem Meeresgrund festgesessen hatten.Puppen,dachte er.Sie bewegen sich wie Puppen, die an Fäden hängen.

Was für eine verrückte Vorstellung. Und doch ... Etwas war an dieser Vorstellung, was -Argos hob den Kopf, blickte ihm in die Augen und Mike blinzelte ein paarmal und fragte sich, woran er gerade eigentlich gedacht hatte. Es hatte irgendetwas mit Puppen zu tun gehabt, aber ... Nein. Er wusste es nicht mehr. Wahrscheinlich war es nur wieder die Erinnerung an seinen verrückten Traum, die ihn quälte. Er blickte auf das Meer hinaus und es dauerte nicht lange, bis ihm etwas auffiel. »Seht mal da«, sagte er. Seine ausgestreckte Hand deutete nach Norden, aber er hätte ebenso gut in jede beliebige andere Richtung deuten können, denn der Anblick war überall gleich. Sie waren nicht allein. Rings um das Schiff herum schnitten Dutzende, wenn nicht Hunderte grauer, dreieckiger Flossen durch die Wasseroberfläche. Haie. »Und ich habe gedacht, wir wären die Biester los«, seufzte Trautman. »Was ist bloß in die gefahren?« »Vielleicht halten sie die NAUTILUS für einen besonders großen Appetithappen«, witzelte Ben. Niemand lachte. Trautman und Singh hatten ganz absichtlich nicht mehr darüber gesprochen, aber sie alle wussten, dass die Haie die NAUTILUS während der gesamten Zeit, die sie auf dem Unterwasserriff festlag, regelrecht belagert hatten. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, antwortete Trautman achselzuckend, »Aber ich glaube nicht, dass wir Grund zur Sorge haben. Hätten sie uns angreifen wollen, hätten sie dazu mehr als genug Gelegenheit gehabt.« »Vergesst die Biester einfach«, sagte Argos. Er sah zum Himmel hinauf. »In einer Stunde wird es dunkel. Ich schlage vor, ihr ruht euch so lange aus und genießt noch das Sonnenlicht. Ich werde inzwischen nach unten gehen und die Pumpen einschalten, damit wir das Wasser aus dem Schiff bekommen. Sobald es dunkel wird, können wir wahrscheinlich losfahren.« »Ich helfe Ihnen«, sagte Singh. »Wir müssen die Batterien aufladen - und vor allem die Sauerstofftanks füllen.« Mike hielt das nicht für eine gute Idee. Singh hatte, ebenso wie Trautman und Argos, mehr und schwerer gearbeitet, als ihm zuzumuten war. Er brauchte dringend ein paar Stunden Ruhe. Welchen Unterschied machte es, ob sie sofort oder in zwei Stunden weiterarbeiteten? Argos widersprach jedoch nicht, sondern nickte nur und machte sich mit müden Bewegungen daran, die Leiter wieder hinaufzusteigen. Als er die Hand nach dem Turm ausstreckte, um sich hochzuziehen, erschien ein struppiges, einäugiges Katzengesicht über dessen Rand und fauchte ihn wütend an. Argos prallte erschrocken zurück und hätte um ein Haar seinen Halt losgelassen und Astaroth setzte ihm nach, holte aus und verpasste ihm einen Krallenhieb, der vier dünne, blutige Striemen auf Argos' Wange hinterließ.

Der Atlanter schrie auf, griff sich an das Gesicht und

wäre fast von der Leiter gestürzt. Astaroth sprang los, landete mitten in seinem Gesicht und begann mit den Vorderpfoten auf ihn einzuschlagen. »Astaroth!«, brüllte Mike. »Bist du wahnsinnig?!« Er raste los und kletterte hinter Argos die Leiter hinauf, doch es gelang ihm nicht, an dem Atlanter vorbeizukommen. Argos schrie vor Schmerz und Zorn und warf sich wild hin und her, aber er klammerte sich auch gleichzeitig mit einer Hand eisern an der Leiter fest und versuchte mit der anderen, den Kater von sich herunter zuzerren. »Astaroth, hör auf!«, brüllte Mike. Er versuchte noch einmal, an Argos vorbeizukommen, schaffte es irgendwie und packte Astaroth mit beiden Händen. Um ein Haar wäre er dabei von der Leiter gefallen. Aber seine Hilfe gab Argos die Luft, die er brauchte, um den tobsüchtigen Kater endgültig abzuschütteln. Mit einer wütenden Bewegung packte er Astaroth mit beiden Händen, riss ihn hoch in die Luft - und warf ihn in hohem Bogen über Bord! Mikes Herz stockte, als er sah, wie Astaroth fünf oder sechs Meter von der NAU-TILUS entfernt ins Wasser stürzte und unterging. Und für einen kurzen Moment war es ihm, als würde ein unsichtbarer Schleier von seinen Augen gezogen. Plötzlich wusste er, was hier falsch war. Warum sie sich alle so vollkommen fremd verhielten und was Argos getan hatte. »Nein!«, keuchte er. »Was haben Sie getan?« Astaroth tauchte fauchend wieder aus dem Wasser auf und begann mit geschickten Bewegungen auf das Schiff zuzupaddeln, während hinter ihm eine riesige, dreieckige Flosse durch die Wellen schnitt. »Nein!«, schrie Mike. »Nein! Astaroth -schnell! Schwimm schneller!«

Astaroth paddelte, was das Zeug hielt. Er entwickelte eine erstaunliche Behendigkeit und er schwamm schneller, als es jeder Mensch gekonnt hätte.

Unglückseligerweise wurde er nicht von einemMenschenverfolgt...Fast hätte er es geschafft. Der Kater war vielleicht noch anderthalb oder zwei Meter vom Schiff entfernt, da verschwand die Haifischflosse plötzlich unter Wasser - und kaum eine Sekunde später begann das Meer da, wo Astaroth war, zu schäumen. Mit einem schrillen Kreischen versank der Kater im Wasser. Das Letzte, was Mike sah, war ein gewaltiger, dunkler Schatten, der sich rasch und lautlos von der

NAUTILUS entfernte. Langsam drehte er sich zu Argos herum. Er begann am ganzen Leib zu zittern. Argos hatte sich auf den Turm hinaufgezogen. Stöhnend und mit zitternden Fingern betastete er sein Gesicht, das über und über mit Blut

bedeckt war. Er hatte Dutzende von Schrammen und Kratzern abbekommen und einige davon sahen nicht unbedingt harmlos aus. Mike nahm jedoch kaum etwas davon zur Kenntnis. Er war noch immer vollkommen fassungslos und so ent setzt, dass es ihm schwer fiel, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. »Was haben Sie getan?«, murmelte er. Und dann schrie er:»Was haben Sie getan?! Sie Mörder! Sie ... Sie ver dammter Mörder!«

Mit einem einzigen Satz war er neben Argos, hob die Hände und begann mit beiden Fäusten auf ihn einzuschlagen. Er war so wütend, dass er nicht einmal gezielt zuschlug, sondern einfach blindlings drauflos drosch. Vermutlich hätte er Argos schwer verletzt, wären nicht plötzlich Singh und Ben hinter ihm aufgetaucht, um ihn von seinem Opfer wegzuzerren. Mike brüllte wie von Sinnen weiter und schlug aus Leibeskräften um sich. Schließlich tat Ben das wahrscheinlich Einzige, was in dieser Situation überhaupt Sinn hatte: Er versetzte Mike eine schallende Ohrfeige, die bunte Sterne vor seinen Augen tanzen ließ.

Als er wieder klar sehen konnte, waren auch Trautman und die anderen auf den Turm hinaufgekommen. Serena kniete neben Argos und sah abwechselnd ihn und Mike an. In ihren Augen funkelte blanker Zorn. »Mike!«, sagte Trautman ungläubig. »Was ist denn in dich gefahren? Bist du verrückt?« »Er hat Astaroth umgebracht!«, antwortete Mike. Plötzlich war sein Zorn verraucht, von einer Sekunde auf die andere, und stattdessen machte sich ein Gefühl von abgrundtiefer Verzweiflung in ihm breit. »Verstehen Sie doch, Trautman, er hat Astaroth umgebracht!« »Ich weiß«, antwortete Trautman. Er sah flüchtig auf Argos hinab, schüttelte den Kopf und fügte etwas leiser hinzu: »Das war vielleicht etwas übertrieben, Argos.« Der Atlanter antwortete nicht, doch Serena fuhr Trautman regelrecht an: »Wenn er es nicht getan hatte, hätte ich es getan! Sehen Sie sich an, wie dieses tollwütige Vieh meinen Vater zugerichtet hat!« »Er ist tot«, murmelte Mike. Seine Augen füllten sich mit heißen Tränen. »Versteht ihr denn nicht? Astaroth ist tot!« »He, he, jetzt beruhige dich!«, sagte Ben. »Er hat es bestimmt nicht absichtlich getan. Und außerdem: Es war nur eine Katze.« »Nur eine Katze?« Mike riss ungläubig die Augen auf. »Ja ... je seid ihr denn alle verrückt geworden?Begreift ihr denn gar nicht, was hier vorgeht?«

»Nein«, sagte Ben. »Warum erklärst du es uns nicht?« »Genau«, fügte Argos hinzu. »Warum erklärst du es uns nicht?« Mike fuhr mit einer so wütenden Bewegung herum, dass Singh vorsichtshalber wieder zugriff und ihn an den Schultern festhielt. Argos hatte die Hände sinken lassen und sich halb aufgerichtet. Sein Gesicht sah wirklich schrecklich aus und Astaroths Krallen schienen auch sein linkes Auge verletzt zu haben, denn er blinzelte ununterbrochen. »Also?«

Mike wollte antworten. Er wollte ihn anschreien, allen hier erzählen, was Argos getan hatte - aber er konnte es nicht. Diesmalspürteer sogar, was geschah. Irgendetwas in Argos' Augen lahmte ihn. Eine Kraft, der sein Wille nichts entgegenzusetzen hatte. Er konnte nicht sprechen, nicht einmal mehr wirklich denken. »Ich ... ich war ...«, begann er. Argos legte den Kopf schräg. »Ja?« »Ich war nur erschrocken«, sagte Mike. Innerlich schrie er dabei lautlos auf. Erwolltedas nicht sagen. Das waren nicht seine Worte. Und trotzdem hörte er sich selbst voller Entsetzen weiterreden: »Es tut mir leid. Ich war nur so erschrocken, als Sie den Kater einfach so den Haien zum Fraß vorgeworfen haben.« »Aber das war doch keine Absicht«, sagte Argos sanft. Er lächelte unsicher. »Ich gebe zu, ich hätte das nicht tun sollen. Aber mir ging es so wie dir: Ich war ziemlich erschrocken. Außerdem hat mir das Tier wirklich weh getan. Ich wollte ihn einfach nur loswerden, weißt du? Ich wollte nicht, dass die Haie ihn kriegen.« »Ich verstehe gar nicht, was in ihn gefahren ist«, sagte Trautman kopfschüttelnd. »Eigentlich war er ein ganz friedliches Tier.« »Wahrscheinlich hatte er die Tollwut«, grollte Serena. »Und so, wie Mike sich benommen hat, schätze ich, dass er sie auch hat. Wir sollten ihn im Auge behalten.« »Serena!«, sagte Argos streng. »Das ist nicht fair.« »Was er getan hat, war auch nicht fair«, sagte Serena schnippisch. »Es tut mir ja auch leid«, sagte Mike kleinlaut. »Wirklich. Ich ... ich möchte mich entschuldigen.« »Das brauchst du nicht«, erwiderte Argos mit einem verzeihenden Lächeln. »Ich weiß doch, wie sehr du an dem Tierchen gehangen hast. Weißt du was? Sobald wir den nächsten Hafen anlaufen, kaufe ich dir eine neue Katze, einverstanden?«

Mike nickte zögernd. Argos' Angebot war sehr großzügig.

Und außerdem hatte Ben natürlich vollkommen Recht: Es war nur eine Katze gewesen, nicht mehr. Er verstand gar nicht mehr, was in ihn gefahren war, dass er so die Beherrschung verlor. »Also gut«, sagte Argos. »Es ist ja nichts passiert. Ich schlage vor, wir gehen wieder an die Arbeit. Wir haben

noch viel zu tun, bis es dunkel wird.« Niemand widersprach.

Seit guten zehn Minuten stand Mike vor dem großen Aussichtsfenster im Salon und blickte aufs Meer hinaus. Sie fuhren nur wenige Meter unter der Wasseroberfläche, in einer Tiefe, in die das Sonnenlicht noch hinabkam, so dass der Blick weit in den Ozean hineinreichte. Auf jeden Fall weit genug, um die zahlreichen Schatten zu erkennen, die das Schiff begleiteten. Die NAUTILUS fuhr nicht mit Höchstgeschwindigkeit, aber doch ziemlich schnell. Trotzdem machte es den Haifischen sichtlich keine Mühe, mit ihr mitzuhalten.

Warum um alles in der Welt wurde die NAUTILUS von einer ganzen Armee von Haifischen verfolgt? »Ich gäbe eine Menge darum, die Antwort darauf zu kennen«, sagte Argos hinter ihm. »Aber leider kann ich es dir auch nicht sagen.« Mike drehte sich überrascht herum. Er konnte sich nicht erinnern, die Frage laut ausgesprochen zu haben. Aber das musste er wohl, denn anderenfalls hätte Argos ja schwerlich darauf antworten können ... »Redet ihr von den Haien?«, mischte sich Singh ein. Argos nickte nur, aber Mike sagte: »Ja. Warum?« »Ich habe den Funk abgehört«, antwortete Singh. »Jeder zweite Schiffskapitän berichtet davon, dass er außergewöhnlich viele Haie gesehen hat.« »Das hört sich nicht nach einer guten Badesaison an«, witzelte Ben.

Singh blieb ernst. »Anscheinend ist noch niemand angegriffen oder gar getötet worden«, sagte er, »aber die Leute sind trotzdem in heller Aufregung. Irgendetwas stimmt mit diesen Tieren nicht.« Für den Bruchteil einer Sekunde entstand vor Mikes innerem Auge das Bild eines bizarren Wesens, das wie eine Mischung aus Mensch und Hai aussah und ihm zuzuwinkenschien. Er verscheuchte die Vorstellung und schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! »Jedenfalls bedeutet es, dass diese lieben Tierchen nicht nur unseretwegen hier sind«, sagte Ben. »Immerhin etwas.« Argos fuhr zusammen und sah Ben fast erschrocken an. Er hatte sich zwar sofort wieder in der Gewalt, aber Mike hatte seine Reaktion sehr wohl bemerkt. Aber was an Bens Worten hatte Argos so erschrecken lassen? Fast ohne sein Zutun löste sich Mikes Blick wieder von den Haifischen und fing die Spiegelung von Argos' Gesicht in der Fensterscheibe auf. Selbst in dieser Verzerrung wirkten die Züge des Atlanters bleich und schlaff. Die Haifische dort draußen waren nicht das einzige, mit denen etwas nicht stimmte, dachte Mike. Argos war krank. Er stritt es zwar konsequent ab, wenn ihn einer der anderen darauf ansprach, aber Mike war ziemlich sicher, dass der Atlanter in den vergangen drei Tagen und Nächten kein Auge zugetan hatte. Seine Hände zitterten jetzt ununterbrochen und wenn er glaubte, unbeobachtet zu sein, dann sah man ihm deutlich an, dass er kaum noch die Kraft hatte,

sich auf den Beinen zu halten. »Wollen Sie sich nicht doch ein wenig ausruhen?«, fragte Mike das Bild im Spiegel. »Es ist noch eine Stunde Fahrt, bis wir die Position erreichen, an der das

Schiff gesunken ist. Ich verspreche, Sie rechtzeitig zu

wecken.«

Der Atlanter schüttelte den Kopf. »Es wird schon noch gehen«, sagte er. »Sie werden Ihren Freunden keine Hilfe sein, wenn Sie total erschöpft sind«, fuhr Mike fort. »Das wird nicht passieren«, erwiderte Argos unerwartet scharf. »Und jetzt hör bitte auf, dir meinen Kopf zu zerbrechen. Ich halte schon noch durch. Sobald wir meine Kameraden aus dem Wrack geholt haben, habe ich Zeit genug, mich auszuruhen.« Mike funkelte ihn an, aber er schluckte die heftige Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag. Es wäre nicht das erste Mal in den zurückliegenden Tagen gewesen, dass Argos und er wegen Kleinigkeiten aneinander gerieten, die eigentlich keinen Streit wert waren. Und er hatte keine Lust mehr, noch länger mit Argos in ein und demselben Raum zu sein ... Auf dem Weg in seine Kabine kam ihm Serena entgegen. Mike lächelte ihr freundlich zu und wollte an ihr vorübergehen, aber sie vertrat ihm den Weg und fragte geradeheraus: »Was ist los mit dir? Du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.« »Ist ja vielleicht auch nicht ganz falsch«, antwortete Mike. »Geh einen Schritt vor die Tür und du wirst feststellen, dass es draußen ziemlich nass ist.« Serena blieb ernst. »Hattest du wieder Streit mit meinem Vater?«, fragte sie. »Nein«, murmelte Mike. »Ich bin gegangen, bevor es so weit kommen konnte.« Er ging weiter. Serena setzte dazu an, ihm ein zweites Mal den Weg zu vertreten, aber dann besann sie sich eines Besseren und schloss sich ihm stattdessen an. Mike hatte nichts dagegen. Ganz im Gegenteil: Seit sie die Insel verlassen hatten, war es eigentlich das erste Mal, dass Serena ihm nicht auswich oder schlichtweg keine Zeit für ihn hatte. »Ich verstehe nicht, warum ihr beiden immer streiten müsst«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, erwiderte Mike. »Dabei wäre es doch so einfach. Argos müsste mir einfach nur aus dem Weg gehen.« Serenas Gesicht verdüsterte sich, aber sie beherrschte sich und antwortete nicht. Jetzt war Mike auch klar, warum sie sich ihm freiwillig angeschlossen hatte: Sie war nur hier, weil sie mit ihm über ihren Vater reden wollte, nicht, weil ihr seine Gesellschaft so angenehm war. Der Gedanke steigerte seinen Zorn auf Argos nur noch. Sie erreichten Mikes Kabine. Er trat ein, ließ die Tür offen, damit Serena ihm folgen konnte, und ging zu dem in der Wand eingelassenen Schrank, während sie selbst mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett Platz nahm. Gute fünf Minuten lang beschäftigte sich Mike damit, seinen Schrank zu durchsuchen und seine wärmsten Kleider vor sich aufzustapeln. Die Taucheranzüge boten ihnen Schutz vor dem Wasserdruck, aber nicht unbedingt vor der Kälte, die in dieser Wassertiefe herrschte. »Was tust du da eigentlich?«, fragte Serena nach einer Weile. »Ich habe keine Lust, zu erfrieren, wenn ich draußen bin«, antwortete er.

»Draußen?« Serena machte ein überraschtes Gesicht. »Vater hat gesagt, dass du nicht nach draußen musst. Singh und er gehen in das Wrack.« »Oh, entschuldige bitte!«, murmelte Mike gereizt. »Ich hatte ganz vergessen, dass die NAUTILUS ja einen neuen Kapitän hat, der jetzt für unser aller Wohlverantwortlich ist!« Serena wirkte verletzt, aber zu seiner Überraschung beherrschte sie sich noch immer und sagte nach einer Weile sehr ruhig: »Das ist er in der Tat. Jedenfalls fühlt er sich verantwortlich.«

»Ja, und nicht ganz zu Unrecht«, erwiderte Mike ärgerlich. »Wir wären alle nicht in dieser gefährlichen Situation, wenn er nicht auf seinem hirnrissigen Plan beharren würde, ein halbes Dutzend Tote aus einem Wrack zu bergen, das in viertausend Metern Tiefe auf dem Meeresgrund liegt.« »Wir wissen nicht, ob sie wirklich tot sind«, antwortete Serena mit einer Ruhe, die ihn wütend machte. »Unsinn!«, beharrte Mike. »Niemand kann in dieser Wassertiefe überleben, versteinert oder nicht. Er bringt uns alle in Lebensgefahr.« »Wie kannst du das sagen?«, fragte Serena. »Du weißt genau, dass es nicht wahr ist. Wir haben abgestimmt, ob wir das Risiko eingehen - und du warst auch damit einverstanden, wenn ich dich erinnern darf.« Mike war so perplex, dass er im ersten Moment nicht einmal antworten konnte, sondern Serena nur mit offenem Mund anstarrte. Es hatte niemals so etwas wie eine Abstimmung gegeben. Das wusste Serena ganz genau. Und selbst wenn, dann hätte er bestimmt nichtfürdieses Selbstmordunternehmen gestimmt. »Ich verstehe dich langsam nicht mehr«, sagte er, nur noch mühsam beherrscht. »Du verteidigst Argos unter allen Umständen, wie? Selbst, wenn du weißt, dass er hundertprozentig im Unrecht ist.« »Aber das ist er nicht!«, protestierte Serena.»Dubist ungerecht. Du feindest ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit an. Weißt du was? Ich glaube, er hatte Recht: Du bist nur eifersüchtig auf ihn, das ist alles.« Mike blinzelte.»Werhatte Recht?«, fragte er. »Astaroth«, antwortete Serena. Dann stockte sie, blinzelte ebenfalls und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wieso habe ich das gesagt?« »Keine ... Ahnung«, antwortete Mike stockend. Da war etwas. Irgendeine Wahrheit unter seinen Gedanken. Er konnte sie nicht erfassen, aber es war ein Gefühl, als wäre da etwas,

was hinauswollte, etwas Gefangenes und Gebundenes, das mit aller Kraft an seinen Ketten zerrte.

»Da siehst du, wie weit wir schon gekommen sind«, sagte Serena. »Ich fange schon an, Unsinn zu reden, nur weil wir uns dauernd streiten!« »Nein, nein«, antwortete Mike hastig. »Das war kein Unsinn. Du hast gesagt:Astaroth hatte Rechtund das stimmt.« »Astaroth war eineKatze«,erinnerte ihn Serena. »Katzen können nicht reden.« »Diese vielleicht schon«, murmelte Mike. Er versuchte fast verzweifelt, die verriegelte Tür in seinen Gedanken aufzustoßen, und er glaubte auch zu spüren, wie sie sichbewegte. »Bist du nur wütend auf ihn, weil er den Kater getötet hat?«, fragte Serena plötzlich. »Das war ein Unfall und das weißt du ganz genau.« Sie stand vom Bett auf, kam auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Vielleicht zum allerersten Mal, seit sie sich kannten, war ihm ihre Berührung unangenehm und er zog seine Hand zurück. Serena sagte nichts dazu, aber er konnte ihr deutlich ansehen, wie sehr sie diese kleine Geste verletzte.

»Astaroth«, murmelte er. »Es ... es hat etwas mit Astaroth zu tun.« Serena seufzte. Ihr Blick spiegelte plötzlich echtes Mitgefühl. »Ich wusste nicht, dass du so sehr an ihm gehangen hast«, sagte sie. »Ich?« Mike riss ungläubig die Augen auf. »Ich?! Serena, was ... redest du da? Du hast genau so an ihm gehangen! Er war dein Leibwächter!« »Mein was?«, wiederholte Serena. Es fiel Mike immer noch schwer, die verschwommenen Erinnerungen hinter seiner Stirn zu Worten werden zu lassen. Für einen Moment war alles ganz klar gewesen, aber nun begannen sich seine Gedanken wieder zu vernebeln. Nein, das stimmte nicht ganz:Irgendetwasbegann seine Gedanken zu vernebeln. Er konnte fast körperlich spüren, wie eine unsichtbare Macht von außen nach seinen Erinnerungen griff und sie wieder dorthin zurückdrängte, wo sie seinem bewussten Zugriff entzogen waren. »Er manipuliert uns«, murmelte er. »Du musst dich dagegen wehren, Serena!« »Er?« Serena blinzelte und sah ihn verständnislos an. »Wen meinst du?« »Argos«, murmelte Mike. Die Worte wollten sich weigern, über seine Lippen zu kommen. Trotzdem fuhr er schleppend und mühsam fort: »Ich weiß nicht wie, aber er ... er beeinflusst uns. Spürst du das denn nicht?« »Ich weiß überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Serena. Bevor Mike antworten konnte, wurde die Tür hinter ihnen aufgerissen und Argos' Stimme sagte in scharfem Ton: »Er redet Unsinn, aber nimm es ihm nicht übel. Er ist einfach überarbeitet. Genau wie wir alle.« Mike fuhr zornig herum und hob die Fäuste. Aber es war genau, wie er befürchtet hatte: Kaum sah er in Argos' Augen, da wich alle Kraft zuerst aus seinen Gliedern, dann aus seinem Bewusstsein. Es gelang Argos nicht mehr, ihn wieder so vollkommen willenlos zu machen, wie er es die vergangenen beiden Tage über gewesen war - und alle anderen an Bord offensichtlich immer noch waren! -, aber Mike konnte nichts anderes tun, als einfach dazustehen und den Atlanter anzustarren; innerlich vor Wut und hilflosem Zorn brodelnd, aber vollkommen gelähmt. »Mach dir keine Sorgen um ihn«, fuhr Argos fort, zwar an seine Tochter gewandt, aber ohne Mike auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Ich kümmere mich um ihn. Warum gehst du nicht in die Kombüse und kochst frischen Kaffee? Ich hätte gerne etwas Heisses zu trinken, bevor ich in den Taucheranzug steige.« Serena verließ die Kabine ohne ein weiteres Wort -allerdings nicht, ohne Mike einen mitleidigen Blick zuzu

werfen. Einen Blick, der seinen Zorn fast zur Raserei steigerte. »Sie ... Sie ...«, begann er. Argos hob die Hand, um ihn zu unterbrechen: »Streng dich nicht unnötig an, Mike. Es hat sowieso keinen Zweck. Und ich habe nicht vor, dir etwas zu tun. wenn es das ist, was du befürchtest.« »Nein -Sie wollen uns nur zu Ihren Marionetten machen, ich weiß«, sagte Mike mühsam. »Sie lesen meine Gedanken!« »Von der ersten Sekunde an«, gestand Argos unumwunden. »Und seit dieser Zeit beeinflussen Sie uns auch alle schon, wie?« Argos verneinte. »Ich kann deinen Zorn verstehen, Mike, aber du täuschst dich in mir. Ich bin nicht euer Feind.« »Und warum dann das alles?«, fauchte Mike. Er versuchte, an Argos vorbei zur Tür zu schielen, und wog in Gedanken seine Chancen ab, schnell genug hinauszukommen, um die anderen zu warnen. Argos schüttelte den Kopf. »Das schaffst du nicht«, sagte er. »Außerdem würden sie dir nicht glauben. Nicht, wenn ich es nicht will.« Mike erwiderte nichts. Es hatte offensichtlich wenig Zweck, jemanden hereinlegen zu wollen, der in seinen Gedanken wie in einem offenen Buch lesen konnte. »Stimmt«, sagte Argos. »Können wir jetzt vernünftig miteinander reden?« Jetzt, da Mike endlich wieder ganz Herr seines freien Willens und seiner Gedanken war, fiel ihm plötzlich noch deutlicher auf,wiemüde und erschöpft der Atlanter aussah. In derselben Sekunde fiel ihm auch die Erklärung dafür ein. »Sie haben in den letzten drei Tagen nicht geschlafen, weil Sie dann die Macht über uns verloren hätten, habe ich Recht?«, fragte er. »Sie müssen sich in jeder Sekunde

konzentrieren. Es ist bestimmt nicht leicht, fünf Menschen gleichzeitig zu beherrschen.« »Das stimmt«, sagte Argos. »Es ist sogar noch viel schwieriger, als du glaubst. Ich war selbst nicht sicher, ob es mir gelingt.« »Und wie lange glauben Sie, das noch durchhalten zu können?«, fragte Mike böse. »Noch einen Tag? Oder zwei? IrgendwannmüssenSie einmal schlafen.« »Es ist nicht mehr lange nötig«, antwortete Argos. Er seufzte. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst, aber ich habe es nicht gerne getan. Doch ich hatte keine Wahl. Wärt ihr nicht an Bord gekommen, als Serena und ich die Insel verlassen wollten, wäre es nicht nötig gewesen.« »Glauben Sie wirklich, wir sehen einfach zu, wie Sie uns unser Schiff stehlen? «, schnappte Mike. »Ich hätte es euch zurückgebracht«, erwiderte Argos und seltsamerweise fiel es Mike schwer, ihm diese Behauptung nicht zu glauben, »Es tut mir wirklich leid, Mike. Alles ist schief gegangen. Ich wollte nicht, dass ihr in Gefahr geratet. Aber ich muss es tun, versteh doch. Ich kann meine Kameraden nicht einfach auf dem Meeresgrund zurücklassen. Ich bin für ihre Leben verantwortlich.« »Und wer sagt Ihnen, dass wir Ihnen nicht freiwillig geholfen hätten?«, fragte Mike. »Ich kann eure Gedanken lesen, vergiss das nicht«, sagte Argos leise. »Trautman hätte niemalseureLeben riskiert, um die meiner Kameraden zu retten. Aber ich verspreche, dass ich euch freigebe, sobald wir die Männer geborgen haben.« »Und für wie lange?«, fragte Mike zornig. »Bis Sie die NAUTILUS wieder brauchen? Oder Sie eine andere ...Aufgabefür uns haben? Ich glaube Ihnen nicht!« »Das tut mir Leid«, sagte Argos und auch diese Worte klangen ehrlich. »Schade. Ich dachte, ich könnte dich überzeugen, aber ich lese in deinen Gedanken, dass du zu zornig bist. Ich kann dich verstehen. Aber du lässt mir keine Wahl.« »Als was?«, fragte Mike. »Mich wieder zu hypnotisieren?« Argos schüttelte den Kopf. »Das wäre zu riskant«, sagte er geradeheraus. »Du hast meinen Kräften schon einmal getrotzt und ich kann nicht riskieren, dass es dir vielleicht im falschen Moment noch einmal gelingt. Du wirst hierbleiben, bis alles vorbei ist.« »Ich denke nicht daran!«, sagte Mike. »Auch damit habe ich gerechnet«, sagte Argos. »Du zwingst mich, zu drastischen Maßnahmen zu greifen.« »Und wie sehen die aus?«, wollte Mike wissen. »Ein uralter atlantischer Zaubertrick«, sagte Argos, »der aber selbst nach all der Zeit immer noch hervorragend funktioniert.« Er griff in die Jackentasche. »Ich habe den Schlüssel zu deiner Kabine, weißt du?«

Argos machte seine Drohung wahr, aber er hielt zugleich auch sein Versprechen: Mike hatte versucht, gewaltsam aus der Kabine zu entkommen, und der Atlanter hatte ihn trotz des erbärmlichen Zustandes, in dem er sich befand, spielend überwältigt und auf das Bett geworfen. Noch bevor Mike sich wieder hochrappeln und es ein zweites Mal versuchen konnte, hatte Argos die Kabine bereits verlassen, die Tür hinter sich zugezogen und abgeschlossen. Aber er verzichtete auch darauf, Mike wieder in seinen magischen Bann zu schlagen - auch wenn Mike annahm, dass er das weniger aus Freundlichkeit tat als vielmehr, um sich seine Konzentration für die anderen Besatzungsmitglieder aufzuheben. Seither waren mindestens drei oder vier Stunden vergangen. Mike hatte eine Weile aus Leibeskräften geschrien und mit den Fäusten gegen die Tür getrommelt, aber selbstverständlich war es sinnlos gewesen: Die Tür bestand aus zwei Zentimeter dickem Stahl, der jeden Laut verschluckte und den er ein Jahr lang mit

Faustschlägen und Fußtritten hätte bearbeiten können,

ohne ihn auch nur anzukratzen.

Schließlich hatte er es aufgegeben und sich zornig und frustriert auf sein Bett gelegt. Wenn wenigstens Astaroth hier gewesen wäre! Dann hätte er ihn gedanklich um

Hilfe rufen können und -

Aber Astaroth war nicht hier. Und er würde auch nie

wieder hier sein. Die Trauer übermannte Mike mit solch einer Kraft und Plötzlichkeit, dass er die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte, das Gesicht in die Kissen vergrub und versuchte, mit dem Gefühl eines furchtbaren Verlustes fertig zu werden. Astaroth war mehr als ein Tier gewesen. Auf seine Art

sogar mehr als ein Freund. Abgesehen von Serena war er von allen an Bord sicherlich derjenige gewesen, mit dem Mike am tiefsten verbunden gewesen war. Sie hatten viel mehr geteilt als gemeinsame Erlebnisse und

Gespräche. Der Kater war oft Gast in seinen Gedanken gewesen, kannte seine Geheimnisse und Wünsche und erst jetzt, als er nicht mehr da war, da begriff Mike, dass es irgendwie auch anders herum so gewesen sein musste, denn er hatte das Gefühl, dass mit Astaroth auch ein Teil von ihm gestorben war. Nach einer Weile begannen sich die Maschinengeräu

sche des Schiffes zu ändern. Die NAUTILUS verlor an Fahrt, stand eine ganze Zeit reglos auf der Stelle und lief dann langsamer weiter. Kurze Zeit darauf nahm Mike ein leises, weit entferntes Knistern undÄchzen wahr und eine kaum spürbare Vibration des Bodens:

Das Schiff tauchte. Mike verbrachte die nächsten zwei oder auch drei Stunden damit, sich in Gedanken auszumalen, was nun im Salon des Schiffes vor sich ging und wie es außerhalb der NAUTILUS aussah. Obwohl ihm allein die Vorstellung einen eisigen Schauer über den Rücken jagte, ließ er doch jede noch so winzige Möglichkeit ei

nes Fehlschlages vor seinem geistigen Auge Revue passieren, denn alles erschien ihm in diesem Moment besser, als weiter an Astaroth zu denken. Irgendwann während dieser endlosen Stunden, in denen Mike eingesperrt in seiner Kabine lag, musste er wohl eingeschlafen sein, denn das Nächste, was er bewusst wahrnahm, das war eine Hand, die an seiner Schulter rüttelte, und Serenas ungeduldige Stimme: »Mike! Wach endlich auf!« Mike öffnete die Augen, fuhr mit einem Ruck hoch und starrte eine Sekunde lang verständnislos in Serenas Gesicht. Die Kabinentür stand offen und die atlantische Prinzessin stand halb über ihn gebeugt da. Sie sah aufgeregt drein und gestikulierte heftig mit beiden Händen. »Nun hör schon!«, rief sie. »Du hast dich jetzt wirklich lange genug ausgeruht!« »Ausgeruht ...?«, murmelte Mike verschlafen. Er stemmte sich ganz in die Höhe und versuchte, in Serenas Worten irgendeinen Sinn zu erkennen. »Aber ich habe nicht ...«, murmelte er benommen, brach den Satz dann ab und zog es vor, ohne ein weiteres Wort aufzustehen. Serena war wirklich sehr aufgeregt. »Was ist passiert?«, fragte er. »Es gibt Schwierigkeiten«, antwortete Serena. »Draußen, beim Wrack.« »Beim Wrack?« Also hatten sie es gefunden! ZumindestdieserTeil ihrer Expedition schien erwartungsgemäß verlaufen zu sein. »Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Mike. Serena war bereits bei der Tür und drehte sich ungeduldig herum. »Zu lange«, antwortete sie. »Sieben oder acht Stunden ... ich weiß nicht. Komm schon!« Sie gab ihm keine Gelegenheit, eine weitere Frage zu stellen, sondern fuhr herum und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten auf dem Gang. Mike folgte ihr, so schnell er konnte, doch schon bevor

sie sich der Tür zum Salon näherten, hörte er aufgeregte Stimmen. Serena war so schnell gelaufen, dass Mike einen kurzen Endspurt einlegen musste, um hinter ihr durch die Tür zu stürmen. »Was ist los? Was ist passiert?« Trautman, der hinter dem Kontrollpult stand und aufgeregt mit Ben und Juan diskutierte, hob mit einem Ruck den Kopf und wies dann mit dem ausgestreckten Arm zum Fenster. Als Mikes Blick der Bewegung folgte, stockte ihm der Atem. Sie hatten den Meeresboden erreicht und im Licht der voll aufgeblendeten starken Scheinwerfer war das Wrack des deutschen Schiffes zu erkennen. Es war tatsächlich in drei unterschiedlich große Stücke zerbrochen, die aber nur wenige Meter voneinander entfernt im Schlick lagen, und ringsum bildeten buchstäblich unzählige verschieden große Trümmerstücke eine bizarre Mondlandschaft, aus der das grelle Scheinwerferlicht alle Farben gelöscht hatte. Aber das war es nicht, was Mike so erschreckte. Er starrte aus ungläubig aufgerissenen Augen auf die schlanken, silbergrauen Geschöpfe, die das zerbrochene Schiffswrack in dichten Schwärmen umgaben. Haie! Es mussten Hunderte sein. Die Tiere schossen wie Pfeile ins Licht der Scheinwerferstrahlen hinein, verschwanden wieder, umkreisten das Wrack, stießen herab, führten Pirouetten auf oder schienen wie lauernde Wölfe fast reglos zu warten. Manchmal näherte sich eines von ihnen der NAUTILUS und einmal schoss ein besonders großes Exemplar so dicht an dem großen Bullauge vorbei, dass Mike instinktiv einen halben Schritt zurückwich. Der allergrößte Teil der Tiere jedoch schien nicht das geringste Interesse an der NAU-TILUS zu haben, sondern umkreiste weiter das Wrack. »Aber was ...«, murmelte Mike fassungslos. »Sie sind vor zehn Minuten aufgetaucht«, beantwortete Trautman seine gar nicht ausgesprochene Frage. »Ganz

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