Zweites Buch Der Himmel in Flammen

Der Täuscher

Gleich würden sie den Hund hereinlassen. Den größten von ihnen.

Dojan hatte sie stets gefürchtet, diese Hunde. Deshalb war er zum Aufseher der Zwinger geworden, zum Hundeführer. Er hatte entschieden, dass es besser sei, der zu sein, der die Leine hält. Den Hunden hatte er nichts vormachen können – sie hatten seine Furcht stets gespürt. Er hatte sie sich mit Peitschenhieben und Dornhalsbändern gefügig gemacht, sie hatten gekuscht, aber sie hatten es gewusst.

Nicht so ihre Herren. Wie er sie hasste, diese selbstgefälligen Grundbesitzer. Sie hielten keine Sklaven, sie ließen Schuldner für sich arbeiteten. Und diese Schuldner entkamen ihren Verpflichtungen erst mit dem Grab. Manche nicht einmal dann! Mit Schaudern dachte er an den Fleischhandel mit der Goldenen Stadt. Dojan blickte hinauf zu den dunklen Sehschlitzen, oben, dicht unter der Decke der kleinen Arena. Die Mauern waren weiß getüncht, aber er konnte die Flecken unter der Tünche sehen. Sie ließen sie jedes Mal neu tünchen nach so einer Hinrichtung. Dann sah Dojan zum Gitter, das sich bald heben würde. Er konnte den Hund hecheln hören. Reißer nannten sie ihn. Ein wahres Ungeheuer. Fast so groß wie ein Pferd, mit struppig grauem Fell und himmelblauen Augen. So blauen Augen wie bei Hanna.

Er hätte wissen müssen, in welche Gefahr er sich begab. Sie war zu auffällig gewesen mit diesen leuchtenden Augen, ihrem goldenen Haar und ihrer selbstverliebten Art. Hanna hatte nicht die Fähigkeit, sich zu verstecken. Sie hatte nicht unsichtbar werden können. Nichts hatte ihrem Wesen mehr widersprochen.

Sie hatten sie gefunden. Und sie hatte ihnen seinen Namen genannt. Den Namen des Herrn der Bluthunde. Und ausgerechnet dieser Vollstrecker der Gerechtigkeit der Ungerechten war fehlbar gewesen.

Dojan ließ das Gitter nicht aus den Augen. Wann würde es sich endlich heben? Er war doch da! Er konnte Manasses Blicke spüren. Diese satten, selbstgefälligen Blicke! Weidete er sich an seinem Elend? An seinen gebrochenen Beinen. Er würde nicht weglaufen können. Sie hatten ihm mit Knüppeln die Knie zerschlagen, die Schienbeine und die Füße. Aber er hatte ihnen nichts gesagt. Drei Tage lang, bis sie des Fragens müde wurden. So gerne hätten sie gewusst, wie vielen er geholfen hatte. Das war seine Rache, sie im Zweifel zu lassen, wer von denen, die er als von Hunden zerrissen gemeldet hatte, in Wirklichkeit geflohen war. Wie oft hatte er sie hintergangen? Und was war aus jenen geworden, die ihren Hass auf die Großgrundbesitzer am Fluss niemals vergessen konnten? Würde einer von ihnen wiederkommen?

Der Gedanke an diese Zweifel, die seine Peiniger niemals verlassen würden, hatte ihm die Kraft gegeben, seine Martern zu ertragen. Hanna hatte nichts gehabt, woran sie sich festhalten konnte. Sie hatten sie zusehen lassen, wie sie ihn schlugen, nachdem sie ihnen seinen Namen verraten hatte. Und Hanna hatte ihnen auch von seiner Furcht vor Hunden erzählt. Sie hatte alles erzählt, und als sie nichts mehr preiszugeben hatte, hatte sie Geschichten erfunden, um nicht geschlagen zu werden und das Unvermeidliche hinauszuzögern. Gestern Nacht hatten sie sie zum Krebsbecken gebracht und an den Pfahl am Ufer gebunden. Er hatte zusehen müssen, wie sie aus dem Wasser gekommen waren. Jene großen Scherenträger, die mit einem Schnippen Zehen abtrennen konnten. Sie wurden gehätschelt und gemästet, um irgendwann in den Kochtöpfen der Reichen in der Goldenen Stadt zu landen. So würde auch Hanna wieder in die Goldene Stadt zurückkehren, von der sie immer geträumt hatte. Sie würde in die Häuser der Reichen kommen … Dafür hätte sie alles gegeben, als sie noch lebte. Dojan lachte bitter. Er hätte ihr nicht bei ihrer Flucht helfen dürfen. Er hätte es besser wissen müssen. Sie war nicht dazu geschaffen gewesen, unsichtbar zu werden.

Irgendwo hinter dem Gitter scharrte Reißer ungeduldig mit den Pfoten. Im Grunde hatte er Glück mit seiner Angst vor Hunden. Reißer würde ihn schnell erledigen. Es wäre nicht so wie letzte Nacht mit Hanna. Als sie ihrer Schreie überdrüssig wurden, hatten sie ihr die Stimmbänder durchtrennt, nicht etwa die Kehle. Wie er sie hasste, diese feisten Schweine. Er malte sich aus, was er ihnen antun würde. Sie hatten ihn viel über Grausamkeit gelehrt. Dojan schloss die Augen. Sein letztes Gefühl vor dem Tod sollte nicht Hass gewesen sein. Er versuchte, auch den pochenden Schmerz in seinen Beinen zu vergessen, der sich umso stärker meldete, als er den Hass losließ. Er dachte an all jene, die er gerettet hatte, die in Sicherheit leben konnten, weil er seinen Herren ein paar blutige, zerrissene Kleider gezeigt hatte.

Er hatte als einer der erfolgreichsten Hundeführer gegolten, die der große Fluss je gesehen hatte. Dojan lächelte still in sich hinein. Besonders gerne dachte er an das erste Mädchen, dem er zur Flucht verholfen hatte. Was für eine wunderbare Lügnerin sie gewesen war. Und wenn er sie angeschaut hatte, hatte er jede dieser Lügen wider besseren Wissens glauben wollen. Sie war klug gewesen und schön. Alles, was er ihr je erzählt hatte, hatte sie in sich aufgesogen, wie ein ausgetrockneter Schwamm Wasser aufnimmt. Ihr hatten die Götter alles im Übermaß geschenkt, was man brauchte, um in der Goldenen Stadt zu überleben. Bei ihrem größeren Bruder waren die Götter nicht so freigiebig gewesen. Er war ein braver Junge, stark für sein Alter, ehrlich und strebsam. Er hatte immer auf Zarah achtgegeben, sie beschützt, so gut er nur konnte, und gar nicht bemerkt, wie oft sie es war, die die Fäden ihres Schicksals in der Hand hielt.

Mit den beiden hatte sein Treiben angefangen. Er hatte sie unaufdringlich ermutigt zu fliehen, indem er Geschichten erzählt hatte von Dienern, denen es geglückt war zu entkommen. Und als die Geschwister dann endlich den Mut fanden, es zu tun, hatte er ihnen den Rücken freigehalten. Er hatte die anderen Hundeführer auf falsche Fährten geschickt und schließlich zerfetzte, blutige Kleider vorgelegt und behauptet, er habe gesehen, wie die Flusskrokodile sie geschnappt hatten. So hatte niemand mehr nach ihnen gesucht. Niemand war so frei wie die Toten, dachte er lächelnd.

Mit einem Scharren hob sich das Gitter. Er hörte das Knurren von Reißer. Gleich würde auch er zu den Toten gehören. Zu den Freien!

Verwandlung

Manasse betrachtete Dojan voller Abscheu. Nicht vielen war es gelungen, ihn zu hintergehen. Dieser verdammte Bastard hatte ihm wohl schon über Jahre etwas vorgemacht. Und jetzt lag er da und lächelte, als das Gatter aufging, statt sich vor Angst anzupissen. »Drecksack!«, zischte er.

Hanna hatte geschworen, dass Dojan Angst vor Hunden hatte, die er nur dadurch beherrschen konnte, dass er wie ein Tyrann über die Tiere regierte, ihre Leinen hielt, sie mit der Peitsche züchtigte und niemals nachgiebig war. Und jetzt wartete er lächelnd auf den Schlimmsten von ihnen!

Heute genoss er es, allein zu sein. Selbstverliebt seinen Spaß mit niemandem zu teilen. Es war üblich, die Herren der benachbarten Güter einzuladen, einer Hinrichtung beizuwohnen, so wie er es gestern getan hatte, als sie das Mädchen an den Pfahl gefesselt hatten. Es geschah nicht viel auf den großen Landgütern am Fluss. Jede Abwechslung war willkommen. Manasse bückte sich, um besser durch den schmalen Sehschlitz vor ihm blicken zu können. Reißer trat misstrauisch schnuppernd durch das Gitter. Er roch das Blut und das Fleisch, das schon brandig zu werden begann. Hunde mochten es, wenn ihr Fressen nicht mehr ganz frisch war. Doch irgendetwas stimmte nicht mit Reißer. Steifbeinig stakste er aus dem Tunnel und hielt sich dicht bei der Wand, statt über Dojan herzufallen. Er musste doch sehen, dass der Hundeführer wehrlos war. Warum klemmte das Vieh seine Rute zwischen die Hinterläufe? Warum …?

Grüner Nebel glitt durch den Tunnel, durch den gerade erst Reißer gekommen war. Manasse wich ein Stück vom Sehschlitz zurück. Ein Grüner Geist! Zweimal hatte er sie von ferne in den Wäldern gesehen und Hunderte Geschichten über sie gehört. Was immer jetzt kommen würde, würde interessant werden. Er tastete nach der kleinen Glasphiole, die an einer Lederschnur um seinen Hals hing. In ihr war ein Pulver enthalten, das gegen die Geister schützte. Man musste es nur in eine offene Flamme schleudern, dann entstand ein Rauch, den die Waldgeister nicht ertragen konnten. Es war unanständig teuer gewesen, das Pulver. Aber es wirkte. Er hatte selbst einmal einen Reisenden zu Gast gehabt, dem das Pulver im tiefen Wald das Leben gerettet hatte. Manasse blickte aus den Augenwinkeln zur Fackel, die hinter ihm an einem Halter in der Wand steckte. Er war hier sicher!

Mit angehaltenem Atem verfolgte er, was unter ihm in der kleinen Hundearena geschah. Der Geist trieb Reißer vor sich her, drängte ihn in die Enge. Dabei winselte der große Bluthund so erbärmlich, als habe ihn ein Krokodil geschnappt. Dann atmete Reißer den Geist ein! Manasse presste sich die Hand auf Mund und Nase. Davon hatte er noch nie gehört. Reißer stand ganz still. Seine Rute war nicht länger zwischen seine Hinterbeine geklemmt. Er sah zu dem Sehschlitz hinauf. Kurz glaubte der Gutsherr, ein grünes Leuchten in den Augen des Bluthundes flackern zu sehen. Dann ging das Tier auf Dojan zu.

Der Krüppel lächelte nicht mehr, sondern war gelähmt vor Angst. Unfähig sich zu rühren, starrte er den Hund an, der ihm seine großen Pfoten auf die Brust setzte und ihn nach hinten drückte, bis er schließlich ganz auf ihm stand. Die Schnauze des Bluthundes kam dem Gesicht Dojans immer näher. Einen Augenblick sah es so aus, als wolle der Hund ihn küssen, als plötzlich der Grüne Geist aus seinem Maul quoll. Ein Teil der Nebelgestalt drang in Dojans Mund und Rachen, der verzweifelt aufschrie.

Der größte Teil des bösen Geistes jedoch wand sich in schlangengleichen Spiralen um den Leib des Hundes und Dojans. Die beiden Körper bäumten sich unter spastischen Zuckungen auf und schlugen immer wieder hart aneinander. So hart, dass sich ihre Glieder verformten, als würden die Knochen brechen.

Manasse hatte so etwas noch nie gesehen. Gleichermaßen schockiert und fasziniert vermochte er den Blick nicht abzuwenden. Die starken Läufe Reißers knickten ein, und sein massiger Leib sank auf den Körper Dojans. Fast sah es aus, als liebten sich die beiden zuckenden Leiber. Da begann der grüne Nebel, von innen heraus zu glühen. Schillernde Fünkchen stiegen von ihm auf, tanzten durch die Arena und stürzten zurück zu den beiden Leibern, die …

Der Gutsherr traute seinen Augen nicht. Er drängte gegen den Sehschlitz, als wolle er durch die schmale Öffnung hindurchkriechen. Das konnte nicht sein! Das Fleisch von Hund und Mann veränderte sich. Die beiden Leiber verschmolzen miteinander! Sie waren nicht mehr länger zwei Kreaturen. Die Rippen Dojans klafften auf wie ein fleischiges Maul und zogen den Hund in den geöffneten Leib. Der Kopf des Bluthundes fiel auf Dojans Gesicht, und als hätten beide keine feste Form mehr, begannen sie ineinanderzufließen, bildeten einen neuen, größeren Kopf mit vorspringender Hundeschnauze und großen Hundeohren.

Die Kreatur aus den beiden Leibern wand und streckte sich. Und sie wuchs. Als der grüne Nebel gänzlich verschwand und das Ungeheuer, das aus Hund und Hundeführer entstanden war, sich aufrichtete, war es mehr als zweieinhalb Schritt hoch. Es hatte den Rumpf eines Menschen und auch dessen Arme, wenngleich diese in Händen endeten, die mit langen Klauen besetzt waren. Die Beine sahen drahtig und seltsam verdreht aus. Aber es waren Beine für lange, ausdauernde Läufe. Der Kopf der Kreatur wirkte am wenigsten menschlich. Mit fingerlangen Reißzähnen in einer Hundeschnauze schien die Bestie einem Albtraum entsprungen zu sein.

Nur die Augen erinnerten noch an Dojan. Große, braune Augen, hinter denen der rachsüchtige Verstand des Hundeführers blitzte. Nun sahen sie hinauf zu dem Sehschlitz. Witternd reckte die Bestie den Kopf vor. In dem Augenblick begriff Manasse, dass diese Kreatur, in der Dojans Verstand weiterlebte, wusste, dass er hier oben war.

Die Bestie fuhr herum und zwängte sich durch den kurzen Tunnel, der zu den Zwingern führte. Panisch sah sich der Gutsherr um. Er musste fliehen! Aber wohin? Er durfte nicht im Freien erwischt werden. Schon öfter hatte er gesehen, was Bluthunde mit flüchtigen Arbeitern anstellten. Und diese Bluthunde waren Streicheltiere im Vergleich zu der Bestie, die in der Arena geboren worden war. Verzweifelt blickte er auf den schmalen Riegel an der Tür der engen Kammer. Sieben Kammern wie diese und eine große, die viele Gäste aufnehmen konnte, umringten die Hundearena. Der Riegel war nur dazu da, um ungestört zu bleiben, falls man etwas anderes tun wollte, als sich am blutigen Gemetzel zu ergötzen. Einem ernsthaften Ansturm würde er nicht standhalten.

Manasses Blick blieb an der Fackel haften. Sie würde ihn retten. Als er sie aus dem Bronzehalter an der Wand zog, hörte er, wie unten eine Tür zersplitterte. Die Bestie hatte den Zugang zur Treppe, die hier hinaufführte, aufgebrochen.

Mit zitternden Händen tastete der Gutsherr nach dem Glasfläschchen. Deutlich konnte er scharrende Laute auf den Stufen hören. Stumm in sich hineinfluchend, riss er den dünnen Lederriemen vom Hals, als es ihm einfach nicht glücken wollte, den Verschluss des Fläschchens zu öffnen.

Er hörte, wie die Bestie draußen witternd von Tür zu Tür ging. Der Hals der Phiole brach, die Hälfte des gelben Pulvers rieselte zu Boden, und beinahe wäre die Flasche Manasses verschwitzten Fingern entglitten. Er war inzwischen fast verrückt vor Angst.

Es kratzte an der Tür. Ein tiefes, kehliges Knurren erklang. Wenigstens ein Teil des Pulvers gelangte in die Flammen der Fackel, bevor das Fläschchen doch noch seinen verschwitzten Fingern entglitt und klirrend zu Boden fiel.

Ein dicker, öliger Rauch von schwefelgelber Farbe wölkte auf, als der Sperrriegel aus der Halterung an der Wand gerissen wurde. Die Tür flog auf, und geifernd, mit leicht geducktem Gang schlich die Bestie in die enge Kammer, die Krallenhände vorgestreckt, als wolle sie Manasse damit das Herz herausreißen. Der Gutsbesitzer blies in den gelblichen Rauch, um ihn schneller in Richtung des Ungeheuers zu treiben. Wenn die Kreatur das Zeug doch nur endlich einatmen würde!

Der riesige Hundemann legte den Kopf schief und schnupperte misstrauisch. Es wirkte also! Ermutigt schob Manasse die Fackel vor. »Hau ab, du Vieh!«, schrie er voller Inbrunst und überlegte, wie er Jagd auf die Bestie machen könnte, wenn sie sich in die sumpfigen Flussauen flüchtete. Er hatte schon vor Augen, an welcher Stelle seines Hauses er den Kopf des Ungeheuers ausstellen könnte, als der Hundemann vorschnellte.

Ein einziger Biss trennte Manasses Hand mit der Fackel vom Arm.

Chimären

»Und so begab es sich, dass sich die Göttin in der Erde gegen ihre Fesseln aufbäumte. Und auch wenn sie fern der Macht war, die sie einst besessen hatte, so vermochte sie nun doch Ungemach über jene Welt zu bringen, die aus dem erschaffen worden war, was sie einst Daia gestohlen hatte. Sie rang mit ihren Ketten, ohne sie zerreißen zu können. So war ihr Zorn nur als fernes Donnergrollen zu vernehmen und vermochte nur einige kleine Kinder zu erschrecken, die noch an der Brust ihrer Mütter lagen. Und so sann sie darauf, das Gift ihrer Rache auf andere Art in ihre Welt zu tragen, der fleißige Hände fruchtbare Äcker abgerungen hatten, und wo die Kinder der sieben Reiche Ordnung brachten, wo zuvor nur Wildnis und Chaos geherrscht hatten.

Und ihr böser Wille erstarkte in den Geistern, die durch die Nacht streiften, und gab ihnen eine Zaubermacht, die sie zuvor nicht besessen hatten. So wurden sie zu Seelenverschlingern, die Menschenkinder in der Einsamkeit heimsuchten, um sie eins werden zu lassen mit Geschöpfen der Wildnis und Dunkelheit. So wurden jene Tapferen, die in den Bergen nach dem Gold der Erde suchten, von Geiern und Adlern heimgesucht, und die Geister verschmolzen ihre Leiber und erschufen widernatürliche Chimären, halb Mensch und halb Geschöpf der Wolken. Ähnlich erging es Jägern, die eins mit Wölfen und Tigern wurden. Doch wurde mir auch berichtet von Unglückseligen, die über den Frieden der Totenäcker wachten und die verschmolzen mit jenen, die sich, getrieben von der rachsüchtigen Göttin, aus der Erde erhoben.

Solcherart war dies Übel, dass es überall zugleich geschah, wo Menschen in der Neuen Welt lebten. Und bald gab es keinen Ort mehr, an dem sie vor den Chimären der gefesselten Riesin sicher waren. Doch bald schon ward den Unsterblichen zugetragen, was in ihren fernsten Provinzen geschah, und sie entschieden, einen großen Rat einzuberufen, um des Dunkels Herr zu werden, das die friedlichen Hütten ihrer Untertanen befallen hatte (…)«

Zitiert nach: Vermischte Schriften aus alter Zeit, Herausgeber: Unbekannt. S. 83. Verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, Saal der versunkenen Königreiche, Regal XXXV, Brett VII.

Anmerkung: Abschrift eines alten Textes, den die Elfe Valynwyn in der Bibliothek der Menschenkinder in ihrer Stadt Iskendria entdeckte. Auch wenn die Geschichte über die Entstehung der Chimären grundsätzlich glaubwürdig erscheint, spricht doch einiges dafür, dass der Verfasser sich nie auf Nangog aufgehalten hat und auch nicht zeitnah zu den geschilderten Ereignissen gelebt hatte.

Jenseits des roten Tors

Bidayn wollte eine neue Haut mehr als alles andere, aber es machte ihr Angst, sich gegen die Befehle Nandalees gewandt zu haben. Ihr fehlte die Selbstsicherheit Lyviannes, die unerschrocken voranschritt und sich einen Weg durch das Gedränge der Menschenkinder bahnte. Allerorten raunte man, ein Krieg zwischen den Zapote und dem Unsterblichen Aaron von Aram sei ausgebrochen. Die Stadt schien wie von einem Fieber ergriffen. Tausende drängten in Richtung der Viertel, über die sich dunkle Rauchschwaden erhoben hatten – jene Gärten, denen Bidayn und Lyvianne gerade erst entronnen waren. Wüssten die Menschenkinder, welche Kreatur dort in der Tiefe lauerte, sie würden ihr Heil in der Flucht suchen.

Bidayn fragte sich, ob der gefiederte Drache wohl in die Stadt hinaufkäme, um ihrer Fährte zu folgen. Lyvianne war davon überzeugt, dass er die Höhle nicht verlassen würde. Aber nur, weil er das bisher noch nie getan hatte, hieß das doch nicht, dass er es grundsätzlich nicht konnte … Ängstlich behielt sie die Rauchschwaden im Auge und lauschte auf die Rufe der Menschenkinder. Waren da Anzeichen von Panik zu hören? Als sie zum wiederholten Male den Stand der Sonne überprüfte, blieb Lyvianne stehen.

»Wir haben sicher noch etwas Zeit, bevor das Beben kommt, von dem Nandalee gesprochen hat. Sie sagte doch, dass die Göttin noch ihre Kräfte sammelt«, beruhigte ihre Meisterin sie. »Fürchte dich nicht, ich werde dich hier herausbringen. Aber du wirst mir helfen müssen. Den Zauber, den es zu wirken gilt, kann ich nicht alleine weben. Du wirst das Wort der Macht sprechen, das uns die Kraft des Blutes schenkt.«

Bidayn nickte, obwohl sie ein Schauer durchlief. Sie war sich bewusst, was das bedeutete. Half sie Lyvianne bei diesem Zauber, dann hätte sie sich auf immer der dunkleren Seite der Magie verschrieben. Hatte sie diesen Weg einmal eingeschlagen, gab es kein Zurück mehr.

Schweigend folgte sie ihrer Meisterin, die ihren Weg durch die stinkende Stadt wieder aufgenommen hatte. In einer dunklen Gasse kauerte ein kleiner, schwarz-weißer Hund, der sein eigenes Gespei mit gierigen Happen wieder verschlang. Er erschien der jungen Elfe wie ein Sinnbild für die Menschenkinder, die sich hier inmitten von Dreck und Elend niedergelassen hatten. Sie waren in der Hoffnung auf schnellen Reichtum gekommen – und nun kauerten sie im Dreck und verschlangen Tag für Tag aufs Neue ihr eigenes Gespei, während nur jene reicher wurden, die auch in ihrer alten Heimat schon reich gewesen waren. All die anderen aber fraßen ihre unerfüllten Träume in sich hinein. Tag für Tag, bis der Tod an ihre Tür klopfte.

Endlich erreichten sie das schöne Haus der Seidenen, und Lyvianne klopfte an das rote Tor. Bidayn lächelte. Niemand in dem Haus ahnte, dass der Tod an ihre Tür gekommen war. Plötzlich empfand sie keine Gewissensbisse mehr wegen dem, was sie tun wollten. Die Menschenkinder lebten ohnehin einem schnellen Tod entgegen. Es spielte keine Rolle, wenn er ein wenig früher kam. Sie waren zum Tod geboren. Sie hingegen wäre immer noch jung, wenn die Urenkel der Seidenen das Licht der Welt erblickten. Sie lachte leise auf. Ein schlechtes Bild hatte sie da gewählt, denn die Seidene würde natürlich keine Urenkel haben. Nicht einmal Söhne oder Töchter.

Eine kleine Luke öffnete sich in der Tür. Die beiden Elfen nahmen ihre Helme ab, sodass der Türwächter sie erkennen konnte. Er öffnete unverzüglich, obwohl er mit großen Augen ihren kriegerischen Aufzug betrachtete. »Die Herrin dachte, ihr wärt fortgegangen«, sagte der schielende Mann konsterniert.

»Nun sind wir wieder zurück!«, entgegnete Lyvianne leichthin. »Wo finden wir die Herrin?«

Der Türwächter zuckte die Schultern. »Sie ist verschwunden, obwohl keiner sie hat gehen sehen«, sagte er unübersehbar unglücklich darüber, dass sein wichtiger Posten durch dieses Verhalten der Seidenen ad absurdum geführt wurde.

Lyvianne sah zum Himmel hinauf. »Wir warten auf sie. Es bleibt noch Zeit.«

Bidayn wünschte sich, sie wäre so ruhig wie ihre Meisterin. Unauffällig musterte sie die gewölbte Decke des kleinen Torhauses, in dem sie standen. War dies ein guter Platz bei einem Erdbeben? Waren die Steine hinter dem weißen Putz wirklich ordentlich gesetzt?

Der Diener verschloss sorgfältig das rote Tor und kauerte sich wieder auf den grauen Stein, auf dem ein schmuddeliges, gelbes Kissen lag. Den Ort, an dem er sein Leben damit verbrachte, darauf zu warten, dass es klopfte.

Eine junge Dienerin blickte von der holzgefassten Brüstung im ersten Stock zu ihnen hinunter. Bidayn kannte sie. Ihre Aufgabe war es, die kostbaren Seidenkleider ihrer Herrin zu hüten. Nun lief sie eilig die Treppe hinab. Obwohl sie sich an einem freundlichen Lächeln versuchte, war ihr deutlich die Missbilligung darüber anzumerken, Frauen im Gewand von Kriegern vor sich zu sehen.

»Die Herrin war enttäuscht, dass ihr ohne Abschied gegangen seid, nachdem sie so gut zu euch gewesen ist«, sagte sie spitz. Ihr langes, honigfarbenes Haar hatte sie straff zurückgekämmt und zu einem dicken Zopf geflochten, der ihr über die Schulter fiel und fast bis zu ihrer Hüfte reichte.

Sie hat beneidenswert weiße Haut, dachte Bidayn eifersüchtig. Wahrscheinlich bestahl sie die Seidene und nutzte heimlich deren Tinkturen und Salben.

»Wir sind durstig, Mädchen«, sagte Lyvianne in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran aufkommen ließ, wer Herrin und wer Dienerin war. »Ich habe den frischen Pfirsichsaft vermisst, den es hier stets gab. Bring uns zwei Becher davon.«

»Wie Ihr wünscht«, murmelte das Mädchen unterwürfig und eilte in Richtung Küche davon.

Bidayn war noch immer von diesem plötzlichen Wechsel im Verhalten der Dienerin verblüfft, als Lyvianne sich lächelnd an sie wandte. »Mach dir keine Sorgen. Du weißt, dass sie in der Hitze der Mittagsstunden fast immer zu Hause ist. Sie wird kommen. Ich kann es fühlen.«

Sicherheit

Zarah spähte zwischen den Vorhängen der Sänfte zu den Wachen und fluchte leise. Erst war sie völlig geschockt gewesen, dass ihre geplante Gefangennahme durch Arcumenna vereitelt worden war. Sie hatte zu den wenigen Auserwählten gehört, denen Barnaba in aller Deutlichkeit geschildert hatte, was die Stadt erwartete, wenn Nangog erwachte. Es gäbe dann nur noch einen einzigen sicheren Ort – hoch am Himmel musste man sein! In den Straßen der Goldenen Stadt wären Leben und Tod allein Glückssache.

Als Arcumenna sie wie irgendeine Dienstmagd genommen hatte, war die Erstarrung von ihr gefallen. Ganz bewusst hatte sie sich aufgeführt wie eine Magd. Ihr machte es nichts aus, wenn jemand dabei zusah, wie sie fickte. Auch nicht, wenn sie an einer schmutzigen Hofwand entwürdigt wurde. Sie hatte Schlimmeres erlebt.

Ganz bewusst hatte sie die Gebrochene gespielt. Sie hatte kein Interesse an Arcumenna mehr. Sie wollte fort von hier. Dort, wo das Schicksal Barnaba und all die anderen Gläubigen hinführen würde, war ihr Platz. Sie hatte gehofft, dass Arcumenna erkannte, dass er mit seiner Tat nicht nur sie, sondern vor allem auch sich selbst gedemütigt hatte. Hatte gehofft, dass er an einem apathischen Wrack alles Interesse verlieren würde. Stattdessen hatte er sie waschen lassen, sie in dieses kratzende Kleid gesteckt und der Willkür einer Dienerin überlassen, die sich wohl schon ausmalte, wie sie ihren Platz im Bett des Arcumenna übernehmen würde. Zarah lachte. Es war ein harter, freudloser Laut. Dann blickte sie wieder nach draußen.

Sie hatten gerade das Portal am Fuß der langen Treppe passiert, die hinauf zum Palast des Statthalters der Ischkuzaia führte. Es war nun nicht mehr weit bis zu ihrem Stadthaus. Dies war eines der besseren Viertel. Die Häuser waren hoch und aus Stein errichtet. Sie stellte sich vor, wie die Wände auf die Straße stürzten. Es blieb nicht mehr viel Zeit, und sie wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Doch auch das war nicht mehr ihre Sorge. Nicht sie entschied, wohin sie ging. Fünf Krieger aus Arcummenas Leibwache, angeführt von dem Einäugigen Horatius, eskortierten ihre Sänfte. Horatius war unter allen Hauptleuten des Statthalters der mit Abstand phantasieloseste. Ihn würde sie nicht verführen können. Er würde stets an ihrer Seite bleiben, bis sie in den Palast des Statthalters zurückgekehrt war. Andere hätte sie vielleicht verführen können, sie dazu verleiten können, gemeinsam mit ihr durchzubrennen. Aber dieser Mann begeisterte sich nicht an Frauen oder an Wein. Ihn interessierten nur Waffen und Geschichten über Schlachten. Er hatte nicht begriffen, worum es im Leben ging.

Wieder spähte Zarah durch die Vorhänge. Die Zeit wurde knapp. Sie mussten fort von der Straße. Das war der allerschlechteste Ort, an dem man bei einem bevorstehenden Erdbeben sein konnte. Ärgerlich feuerte sie die Sänftenträger an, nicht wie fußkranke Maultiere daherzuschleichen. Sie musste ihr Haus erreichen!

Zarah dachte an den tiefen Keller mit der gewölbten Decke, in dem sie ihren Wein lagerte. Dieses starke Gewölbe würde gewiss allen herabstürzenden Trümmern widerstehen. Erneut befahl sie den Sänftenträgern, schneller zu laufen. Es war nicht mehr weit.

Wenn sie erst ihr Haus erreichte, wäre sie in Sicherheit!

Ich rieche Blut

Gonvalons Blick wanderte über die Menschenmenge vor der Goldenen Pforte. Gemeinsam mit Nandalee, Nodon und Eleborn stand er auf den Stufen des Tempels der Schöpfer, in dem alle Devanthar einen eigenen Altar hatten. Von hier aus hatten sie den besten Überblick, obwohl er nicht glaubte, dass sie Lyvianne und Bidayn hier noch entdecken würden. Was immer sie bewogen hatte, ihre Gefährten zu verlassen, hatte sie mit Sicherheit zurück in die Stadt geführt. Aber wohin?

Gonvalon sah zu Nandalee. Sie war ganz die Jägerin. Sie bemerkte nicht, dass er sie beobachtete, so sehr war sie darauf konzentriert, den weiten Platz nach Bidayn und Lyvianne abzusuchen. Vielleicht wollte sie sich aber auch nicht anmerken lassen, dass sie seine Blicke spürte. Er wusste, dass sie gegen ihre Überzeugung geblieben war – seinetwegen. Sie hatte sich hier auf Nangog verändert. War härter geworden, vermochte ihre Gefühle besser zu beherrschen. Gonvalon wusste, wie schwer sie darum gerungen hatte. Sie hatte bereut, aus Frustration und Wut den Trollprinzen mit einem Pfeil niedergestreckt zu haben, der vor langer Zeit ihre Jagdbeute erlegt hatte. Sie wollte beherrscht sein und keine falschen Entscheidungen mehr treffen. Er sehnte sich danach, mit ihr allein zu sein. Er wollte mit ihr reden. Vor den anderen würde sie keine Kritik dulden. Wenn sie eine Drachenelfe sein wollte, dann durfte die Grundlage ihrer Entscheidungen nicht sein, was andere von ihr erwarteten. Sie allein war das Maß, denn sie war es, die künftig mit ihren Taten leben müsste. Hatte sie das begriffen, als sie entschied, nach Lyvianne und Bidayn zu suchen? Er hatte seine Zweifel.

»Vielleicht weiß ich, wo sie sind«, sagte Nodon gepresst.

Nandalee fuhr zu ihm herum. »Wo?«

»Ich bin mir nicht sicher«, beeilte sich Nodon zu sagen. »Ich versuche nur die ganze Zeit einen Sinn hinter dem, was sie tun, zu finden. Vor einer Weile habe ich gehört, wie sie über Bidayns Haut sprachen. Über die Narben. Lyvianne hat versprochen, ihr zu helfen …«

»Und?«

»Die Seidene«, stieß Gonvalon hervor. Ihm war schon am Tag ihrer Ankunft in der Goldenen Stadt aufgefallen, wie sehr Bidayn die Schönheit ihrer Gastgeberin bewundert hatte.

»Das werden sie doch nicht tun …«, sagte Nandalee. »Wir waren ihre Gäste. Sie hat uns geholfen …« Die junge Elfe schüttelte den Kopf. »Es muss einen anderen Grund geben!«

Gonvalon konnte sich sehr wohl vorstellen, dass Lyvianne ihre Gastgeberin ermorden würde. Für sie zählte ein Menschenleben nichts. Er legte seine Hand auf Nandalees Arm.

Sie sah ihn an, voller Verzweiflung »Gehen wir zum Haus der Seidenen«, entschied sie dann. »Eine andere Fährte haben wir ohnehin nicht.«

Keiner widersprach. Nandalee führte sie durch verwinkelte Gassen und über Straßen, die Gonvalon nie zuvor betreten hatte. Er wunderte sich, wie gut sie diese riesige Stadt zu kennen schien. Schneller, als er erwartet hätte, erreichten sie das Haus mit dem roten Tor. Im Gegensatz zu sonst stand es leicht angelehnt.

»Lyvianne?«, rief Nandalee über die Straße hinweg.

Sie erhielten keine Antwort. Nodon zog sein Schwert. »Ich rieche Blut«, sagte er leise.

Gonvalon roch nur den Duft von gebratenem Fleisch und Gemüse. Die Mittagsstunde war nicht fern. In einem der Häuser würde es bald ein üppiges Mahl geben. Er sah Nodons Anspannung und entschied sich, den scharfen Sinnen des erfahrenen Schwertkämpfers zu vertrauen. Er legte die Hand auf den Griff seiner Waffe.

»Gehen wir hinein«, entschied Nandalee, nahm den Bogen von der Schulter und zog die Sehne auf.

Gonvalon war als Erster beim Tor. Er rammte es mit der Schulter auf. Hinter ihm stand Nandalee und sicherte ihn mit einem Pfeil auf der Sehne.

Im Durchgang des Torhauses kauerte ein alter Mann, der erschrocken die Arme hochriss. »Tut mir nichts! Bitte, tut mir nichts! Ich hab damit nichts zu tun. Ich …« Als er erkannte, wer sie waren, warf er sich zu Boden und verbarg mit den Händen schützend seinen Kopf.

Nandalee trat zur Seite und sicherte mit halb gespanntem Bogen den Innenhof. Ihr Blick wanderte über die umlaufende Galerie, an der die Türen zur ersten Etage lagen. Der Hof war wie ausgestoben. Nur in seiner Mitte lag lang hingestreckt eine rote Gestalt.

Gonvalon brauchte einen Herzschlag, um zu begreifen, was er da sah, so fremd war es ihm: Vor ihm lag eine gehäutete Frau! Ihr ganzer Leib war nacktes, rotes Fleisch, überzogen von einem Netzwerk von Adern.

»Bei den Alben«, stammelte Eleborn neben ihm. »Sie lebt noch!«

Jetzt sah auch Gonvalon, wie sich die Lippen der Frau bewegten. Ihre großen, grünen, lidlosen Augen waren auf ihn gerichtet. Er konnte nicht verstehen, was sie sagte, las nur die Qual in ihren Augen. Er war fassungslos, dass Lyvianne und Bidayn das hatten tun können.

Nodon, der zu ihnen aufgeschlossen hatte, hob etwas mit der Spitze seines Schwertes hoch. Es war durchscheinend, wie Pergament. Ein Rautenmuster war darauf zu erkennen. »Auch Bidayn hat sich gehäutet.«

Gonvalon hörte Eleborn hinter sich würgen. Der Schwertmeister hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wie hatte Lyvianne nur so grausam sein können! Wie … Das Wanken des Bodens war mehr als nur ein Gefühl gewesen. Die Erde unter ihm bäumte sich auf. Ein dumpfes Geräusch stieg aus der Tiefe auf – als zerbreche etwas. Dann wurde es tausendfach variiert. Ein breiter Riss lief durch die Hauswand ihm gegenüber. Ein Teil der Galerie sackte zur Seite.

Nandalee packte ihn und zog ihn in den gewölbten Durchgang des Torhauses. Steine prasselten in den Hof. Nodon war noch immer dort. Sein Schwert beschrieb einen blitzenden Bogen. Die Haut, die er aufgespießt hatte, flog davon. Seine Klinge stach nieder und durchbohrte das Herz der Sterbenden. Ihre bebenden Lippen kamen zur Ruhe, als eine ganze Hauswand in den Hof stürzte. Staub wirbelte auf und legte sich wie eine neue Haut über ihren geschundenen Leib. Ziegelsteine rollten bis zum Durchgang des Torhauses. Doch nicht einer berührte die Tote.

Das Beben endete so unvermittelt, wie es begonnen hatte. Inmitten des Schutts lag eine zersplitterte Kleidertruhe. Ein Seidenschal in den tausend Rottönen eines Sonnenaufgangs glitt in einer Kaskade aus schillernden Farben heraus. Wie bunte Blüten, davongetragen vom Frühlingswind, flatterten die Kleider der Seidenen durch den Hof. Der Schal legte sich um den Hals der Toten und bedeckte ihre Augen, die hinauf zu einem Wolkenschiff blickten, das über den Himmel schwebte.

Im Himmel

»Seht, meine Brüder und Schwestern, wie Nangog die Stadt straft, die uns in Verdammnis schicken wollte!«, rief Barnaba, und seine Stimme war so gewaltig, dass sie auch zu dem zweiten Wolkenschiff trug, das dicht neben ihnen durch den Himmel glitt.

Der Prediger ließ den Blick über die Stadt tief unter ihnen wandern. Es war genauso, wie Nangog es ihm in seinen Visionen gezeigt hatte. Wie von unsichtbaren Hämmern getroffen, brachen die Paläste und hohen Wohnhäuser in sich zusammen. Ankertürme knickten, als seien sie nicht mehr als lange Grashalme, nach denen übermütige Burschen mit Weidenruten schlugen. Staub erhob sich in rotbraunen Wolken über der Stadt, und das Getöse dröhnte ihnen selbst hier, hoch am Himmel, in den Ohren.

»Halt dein Maul, Prediger, oder ich lass dich deine Zähne fressen!«, fuhr ihn der Hauptmann der Wachen an, die als ihre Kerkermeister mit an Bord gegangen waren. Er war ein großer, gedrungener Kerl, dessen Hals so kurz war, dass es schien, als würde sein Kopf direkt aus dem Rumpf wachsen. Ein kurzer, eckiger Bart betonte das breite Kinn, sein Schädel war kahlgeschoren. Man musste ihn nur ansehen, um zu wissen, dass er ein grausamer Mann war, dachte Barnaba, aber selbst er sollte Gelegenheit haben, errettet zu werden.

Der Priester hob dem Hauptmann seine Hände entgegen, um die dünne Hanfseile so fest geschlungen waren, dass sie Barnaba tief ins Fleisch schnitten. »Befreie mich, und du kannst einer von uns werden, erleuchtet von der Weisheit der Großen Göttin und stets von ihr beschützt. Sieh hinab, Krieger! Sieh, wie deine Welt zerbricht! Folge mir zu neuen Ufern! Erkenne …«

Der Krieger zog sein Schwert, eine lange, mörderisch spitz zulaufende Bronzeklinge, wirbelte sie herum und versetzte Barnaba mit der flachen Seite einen Schlag auf den Rippenbogen, direkt unter dem Herzen.

Barnaba traten Tränen in die Augen, als ihm pfeifend die Luft aus den Lungen floh. Er brach in die Knie und verfluchte stumm sein Fleisch, das so schwach war. Ein erschrockenes Raunen ging durch die Menge seiner Gläubigen. Sie wollten ihm helfen, doch nun zogen auch andere Krieger aus ihrer Eskorte die Schwerter.

»Bitte, meine Freunde …«, stieß Barnaba schwer atmend hervor. »Mir geht es gut. Wir …«

»Dir geht es gut, Aufwiegler?« Den Worten folgte ein Tritt in Barnabas Magengrube. »Ich darf dich zwar nicht umbringen, aber Arcumenna war sehr deutlich, dass ich dir, wann immer es mir beliebt, die Scheiße aus den Därmen prügeln kann.« Der Krieger packte Barnaba an den Haaren und riss seinen Kopf hoch. »Wenn es dir gutgeht, Priester, dann bin ich meinen Pflichten nicht nachgekommen.«

Der Hauptmann deutete auf die Goldene Stadt hinab. Zehntausende Schreie klangen zu ihnen herauf. Das Getöse einstürzenden Mauerwerks war Wehklagen gewichen. Dichte Staubwolken wogten durch die Gassen und stiegen zum Himmel hinauf. Allerorten waren Brände ausgebrochen.

»Du hast davon gewusst und sie nicht gewarnt, Priester?« Ein Schwerthieb, erneut mit der flachen Seite, ging auf Barnabas Hüfte nieder. »Allein dafür sollte ich dich schon totprügeln, du Drecksack. Predigst Frieden und lässt die Menschen zu Tausenden verrecken, wo du hättest helfen können!«

»Sie wollten nicht hören …«, stieß Barnaba keuchend hervor.

Der Hauptmann ließ ihn los, nur um ihm sofort wieder einen Fausthieb in die Magengrube zu verpassen, der ihn in sich zusammenklappen ließ. Zitternd lag er an Deck und würgte. Er wünschte, er wäre tot.

Über ihm wanden sich die Tentakel des Wolkensammlers, der das Gefangenenschiff trug. Ein abstoßendes Gewimmel schleimtriefender Fangarme. Barnaba atmete schwer aus. Galle stieg ihm in den Mund.

»Du solltest aufhören, ihn zu prügeln. Noch zwei oder drei Schläge, und er ist kaputt.« Es war eine starke, dunkle Stimme mit schwerem drusnischem Akzent, die da gesprochen hatte.

»Wer bist du?«, fragte der Hauptman wütend. Dabei schob er einen Fuß unter Barnabas Leib und drehte ihn auf die Seite.

Der Prediger fühlte sich, als sei er nur noch willenloses Fleisch. Er war völlig außerstande, noch Widerstand zu leisten. Jetzt konnte er seinen Fürsprecher sehen. Es war ein hünenhafter Krieger in guter Rüstung, der einen Helm mit weißem Rosshaarschweif trug. Ganz offensichtlich gehörte er nicht zum Gefolge des Hauptmanns.

Der Fremde zögerte und schien nicht antworten zu wollen.

»Na los, sag schon! Wer bist du?«, fuhr ihn der Hauptmann ärgerlich an. »Sprich, oder ich lasse dich über Bord werfen!«

Der Hüne hob beschwichtigend eine Hand, klang aber keineswegs eingeschüchtert, als er antwortete: »Ich bin nur ein Söldner mit ein wenig Erfahrung darin, Leute totzuprügeln. Und ich sage dir, dein Prediger da unten verträgt nicht mehr viel. Noch zwei oder drei Schläge und er ist hinüber.«

»Und ich sage dir, ich kann dieses Schwein noch eine ganze Weile quieken lassen, bevor es sich verabschiedet.« Mit diesen Worten setzte der Hauptmann die genagelte Sohle seiner Sandalen auf Barnabas Rechte und begann langsam, den Druck zu erhöhen. »Und du nimmst jetzt deinen Helm ab. Ich will dein Gesicht sehen.«

Der Hüne lachte. »Die meisten sind froh, wenn sie es nicht sehen.« Mit diesen Worten hob er den Helm und zeigte ein grässliches, von fleischigen Narben entstelltes Antlitz. Seine Nase war nur eine unförmige Masse, eines seiner Ohren ein merkwürdig amorpher Klumpen. Er besaß keine Augenbrauen mehr. Sein Schädel war ebenfalls kahlgeschoren. »Man nennt mich Kolja«, sagte er und lächelte dabei, was sein Antlitz noch erschreckender aussehen ließ. »Ich wollte mich nicht einmischen, Hauptmann. Wie gesagt, ich habe einige Erfahrung darin, Leute totzuschlagen. Ich war einmal Faustkämpfer. Und ich sage dir, dein Priester da ist bald hinüber. Solltest du ihn nicht lebend abliefern?«

»Ich sagte doch, ich lass ihn noch ein wenig quieken.« Bei diesen Worten verstärkte der Hauptmann den Druck seines Fußes. Barnaba hörte die Knochen seiner Hand knacken und stöhnte laut auf.

»Helft dem Klugscheißer zurück in die Goldene Stadt!« Der Befehlshaber bedeutete seinen Männern, Kolja zu ergreifen. »Lasst ihn auf dem kurzen Weg reisen.«

Der Hüne zog ein prächtiges, silbern schimmerndes Schwert. Er wirkte nicht im Geringsten beunruhigt. Barnaba wünschte sich, er wäre ebenso kaltblütig.

Der Hauptmann hob ebenfalls sein Schwert und sah zu den Gläubigen. »Seht ihr die Hand eures Priesters? Ihr redet so viel von Frieden und Harmonie. Aber wer von euch hat auch nur eine Hand erhoben, um das Unglück der Goldenen Stadt zu verhindern? Ich verachte euch. Für mich seid ihr nichts als Heuchler!« Er funkelte nun Barnaba wütend an. »Deine Hand sollte dort unten sein, wo jetzt jede Hilfe gebraucht wird. Ich finde, das schuldest du der Stadt.«

Barnaba war unfähig zu sprechen oder sich auch nur zu bewegen. Jeder Atemzug fühlte sich an, als würden ihm glühende Dolche in die Brust getrieben. Er sah das hoch erhobene Schwert, das gleich seine rechte Hand abtrennen würde, aber er war jenseits von Angst. Ein wenig war es, als sähe er einem Fremden zu. Es berührte ihn nicht mehr. Er hatte zu viel erlitten.

Das Schwert sauste nieder, aber der Schmerz blieb aus. Eine kraftvolle, fremde Stimme füllte Barnabas Verstand. Nicht die Göttin … Das Schwert des Hauptmanns war dicht neben Barnabas Hand in die Planken des Oberdecks gefahren. Der Hauptmann gab seltsame, glucksende Geräusche von sich und begann zu schweben.

Barnaba blinzelte, traute im ersten Moment seinen Augen nicht. Sein Folterer wurde in die Luft gehoben. Aus seiner Brust ragte ein langer Dorn. Ein Tentakel mit einer Knochenspitze hatte ihn durchbohrt.

Ich werde dich beschützen, Barnaba, war da wieder die Stimme in seinem Kopf. Ich bin Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer, der Wolkensammler, der dieses Schiff trägt. All deine Qualen werden ein Ende haben.

Die Wachen des Hauptmanns hatten von dem hässlichen Hünen abgelassen, und sahen stattdessen schockiert zu ihrem schwebenden Anführer.

Plötzlich schlangen sich Fangarme um Barnaba. Auch er wurde emporgehoben. Seine Anhänger riefen aufgeregt durcheinander. Einige der mutigeren, wie der Flötenspieler Artiknos und Merob, die Erste Mutter, drängten an den Wachen vorbei und versuchten, seine Hände zu ergreifen. Doch er wurde zu schnell in die Höhe gehoben.

Der Schleim, der von den Tentakeln des Wolkensammlers troff, war angenehm kühl und betäubte den Schmerz in seinen Wunden. Auch konnte er etwas besser atmen. »Werft eure Waffen weg«, befahl er den Kriegern mit zittriger Stimme. »Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer duldet keine weitere Gewalt gegen meine Gefolgschaft.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, schwenkte der Tentakel, von dem der immer noch zuckende Hauptmann hing, weit über die Reling hinaus und ließ den Sterbenden von der Knochenklinge gleiten, sodass er in die Tiefe stürzte.

Barnaba blickte zu dem Lotsen des Wolkenschiffes, einem drahtigen, kleinen Mann, der ihn ein wenig an eine Spinne erinnerte. »Wir werden einen südwestlichen Kurs fliegen. Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer und sein Bruder kennen den Kurs. Folge ihren Anweisungen.«

Zu sprechen hatte ihn mehr erschöpft, als er erwartet hatte. Sein Kopf sank ihm auf die Brust. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, Ekel vor der Umarmung der Tentakel zu empfinden. Sie hielten ihn fest umschlungen und hoben ihn langsam dem aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers entgegen.

Im Wald aus wogenden Fangarmen öffnete sich ein breiter Spalt im Fleisch der Kreatur. Ein Maul? Gallert troff auf Barnaba herab und rann in warmen, zähen Schlieren über sein Gesicht. Inmitten des Mauls sah er ein blassweißes Licht, und dieser Anblick erfüllte ihn mit tiefem Frieden. Mit der Gewissheit des Sterbenden wusste er, dass dort seine Xana Ikuška auf ihn warten würde.

Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, als er im Leib des Wolkensammlers verschwand.

In fremder Haut

Hustend kroch Bidayn unter dem halb verschütteten Torbogen hervor. Voller Sorge betrachtete sie die Schürfwunden auf ihren Armen. Nach dem Getöse der einstürzenden Bauten war es nun geradezu still. Nur leises Wimmern war zu hören. Irgendwo in der Nähe steigerte sich ein Hund in immer schrilleres Gekläff. Die Luft war so voller rotem Ziegelstaub, als hinge dichter Nebel in den Straßen. Das, was von den Straßen übrig geblieben war …

Dort, wo eben noch eine fünfzehn Schritt breite, sanft ansteigende Treppe gewesen war, die zur nächsten Terrasse der Stadt führte, erstreckte sich nun eine Geröllhalde. Rote Ziegelsteine und Fragmente aus Marmorverblendungen hatten die Treppe völlig verschwinden lassen. Dazwischen ragten Mauerstücke auf, die, obwohl sie auf die Straße gestürzt waren, noch einen Verband aus Ziegeln bildeten. Säulenkapitelle und ein einzelner Kopf aus grauem Stein erhoben sich aus dem Schutt.

Der Staub kratzte in Bidayns Hals. Ihr Mund war trocken. Lyvianne stand vor ihr, eine Gestalt aus Staub. Ihre Augen wirkten unnatürlich groß in der roten Maske, zu der ihr Gesicht geworden war.

»Wir haben Glück gehabt«, sagte sie mit rauer Stimme. Dann sah sie Bidayn zweifelnd an. »Geht es dir gut?«

Bidayn hob ihre Arme. Das Blut der Schürfwunden hatte mit dem Staub einen zähen Brei gebildet.

»Du musst dir keine Sorgen machen. Das ist jetzt deine Haut. Sie wird verheilen, und es werden keine neuen Narben bleiben. Komm jetzt, es ist nicht mehr weit bis zur Goldenen Pforte.«

Bidayn sah sich um. Sie hatte jegliche Orientierung verloren. Nichts sah mehr aus wie vor wenigen Augenblicken. Sie dachte an die Menschen, die eben noch auf der Straße gewesen waren. Ein Stück voraus ragten schräg die Pfosten einer goldbeschlagenen Sänfte aus dem Geröll. Von den Trägern war nichts zu sehen. Sie folgte Lyvianne, die sich entschlossen den Hang aus Trümmern hinaufkämpfte. Jeden Schritt galt es mit Bedacht zu setzen. Nichts war mehr festgefügt in dieser Welt. Auch im Geröllhang war noch Bewegung, Steine sackten nach. Hinter ihnen stürzte eine ganze Hauswand auf die Straße, und eine neue Wolke aus Staub kroch den Hang hinauf.

Bidayn trat auf etwas Weiches. Sie blickte hinab und sah eine zierliche Hand mit Silberringen zwischen den Ziegelsteinen. Sie regte sich nicht. Die weiße Haut erinnerte die Elfe an das, was sie vor dem Beben getan hatte. Es war ihre Entscheidung gewesen. Lyvianne hatte ihr nur die Möglichkeit angeboten. Hätte sie der Meisterin nicht zugestimmt, wäre nichts geschehen. Bidayn strich vorsichtig über ihre nackten Arme. Es gab keine Narben mehr! Mit Schrecken dachte sie an das, was geschehen war. Daran, wie sie das Wort der Macht gesprochen hatte, das sie mit der Menschentochter verband. Sie hatten nackt nebeneinandergelegen, die Hände ineinander verschränkt. Und dann hatte die Haut begonnen, sich zu bewegen … in Wellen, als sei irgendetwas darunter. Sie war zum Leben erwacht, war über ihre Finger gekrochen, während sie die Menschentochter verließ. Gleichzeitig hatte sie selbst begonnen, sich zu häuten, wie eine Schlange, nur dass dort, wo ihre Haut gewichen war, für endlose, peinigende Augenblicke nur rohes Fleisch geblieben war, bis die Menschenhaut darüberkroch und anwuchs. Die Menschentochter aber hatten sie nackt, als Jammergestalt aus rohem Fleisch zurückgelassen. Noch lebend, doch zum Tode verdammt.

Die neue Haut hatte sich ganz und gar ihrem Körper angepasst. Bidayn fühlte keinen Unterschied zu früher, obwohl Lyvianne sie gewarnt hatte. Möglicherweise würde die Haut der Menschentochter in einigen Jahren zu altern beginnen. Sicher war das allerdings nicht. Und selbst wenn es nach einer Weile dieses Problem gäbe, sie würde es noch einmal tun. Menschenkinder gab es ja mehr als genug, und sie wusste nun, wie dieser Zauber zu weben war. Wieder strich sie sich über die Arme. Es war gut, nicht mehr gebrandmarkt zu sein! Sie würde keine mitleidigen Blicke mehr für ihre Narben ernten. Sie würde sich endlich Männern zeigen können. Sie hatte Sehnsucht danach, in starken Armen zu liegen, fremden Atem auf ihrer Haut zu spüren und Begehren in den Blicken zu lesen, die ihren nackten Körper betrachteten. Endlich würde sie wieder ganz sein! Was Nangog ihr genommen hatte, hatte sie sich auch auf Nangog zurückgeholt. Es war ihr gutes Recht gewesen, das zu tun!

Zuerst hörten sie das Geschrei. Es klang anders als das Wimmern der Verletzten und Wehklagen jener, die inmitten der Trümmer verzweifelt nach Überlebenden suchten. Panik lag in diesen Schreien und die Gier, um jeden Preis zu überleben, koste es, was es wolle. Und dann standen sie am Rand des großen Platzes vor der Goldenen Pforte. Ein gestürzter Ankerturm hatte einen Wall aus Schutt quer über die weite Fläche gelegt. Von den Lagerhäusern, die ihn einst umgeben hatten, reichten Zungen aus Ziegelstein und gesplitterten Balken über das Pflaster. Plünderer wühlten zwischen den Ruinen nach Schätzen, entschlossen, die Gunst der Stunde zu nutzen und unerwartet als reiche Männer heimzukehren.

Unübersehbare Menschenmengen drängten dem magischen Tor entgegen. Erbarmungslos schlugen sie einander nieder, krochen über die Gestürzten hinweg, schrien und meuchelten, um zum Tor zu gelangen, denn sie alle hatten begriffen, Sicherheit gab es allein jenseits der Goldenen Pfade.

In dem Augenblick, als Bidayn die Menge sah, wusste sie, dass sie und Lyvianne niemals mit heiler Haut auf die andere Seite des Platzes kommen würden. Selbst wenn sie bereit wären, Gewalt anzuwenden. Es waren zu viele Menschenkinder dort, und ständig drängten neue aus den Trümmern der Stadt nach. Was sie sah, war ein Mahlstrom aus Fleisch, und er verschlang mehr Leiber, als er ausspie.

»Du musst es wieder tun«, sagte Lyvianne.

Bidayn verstand nicht, was ihre Meisterin meinte.

»Damals, als du dir deine Narben geholt hast, hast du den Lauf der Zeit für dich verändert. Du hast dich so schnell bewegt, dass alle um dich herum wie erstarrt gewirkt haben. Du hast mir davon erzählt. Das musst du wieder tun, sonst werden wir dieser Stadt nicht entkommen.«

Bidayn schüttelte entschieden den Kopf. Das war genau jener Zauber gewesen, für den sie mit ihren Narben bezahlt hatte. Das magische Netz, das sie zu stark manipuliert hatte, hatte sich gegen sie gewandt. Wenn sie diesen Fehler ein zweites Mal beging, wäre alles vergeblich gewesen. Sie wollte diesen Schmerz nicht noch einmal fühlen, nicht noch einmal zur Aussätzigen werden.

»Ich kann das nicht …«, sagte sie mit tonloser Stimme. »Ich …«

»Wir werden sterben, wenn wir nicht schnell flüchten«, drängte Lyvianne. »Die Devanthar werden kommen, um zu sehen, was hier geschehen ist. Sie werden sehr schnell begreifen, dass Nangog Hilfe hatte. Was, glaubst du, werden sie mit uns tun?« Lyvianne strich über den Griff des Schwertes an ihrer Seite. »Ich werde mir lieber selbst die Kehle durchschneiden, als mich lebend von den Devanthar fangen zu lassen. Noch lieber würde ich allerdings entkommen. Zeig mir, was zu tun ist!«

Bidayn zögerte. Dann dachte sie an den unheimlichen Ebermann. Lyvianne hatte recht, ihnen blieb keine Wahl. Aber sie würde den einen Zauber, in dem sie ihrer Meisterin voraus war, nicht verraten. Sie schloss die Augen und griff nach dem Netz der Kraftlinien, das alles durchdrang. Deutlich spürte sie die Pfade, die zum Albenstern hinführten. Starke, pulsierende Linien, die sich von der Matrix Nangogs deutlich abhoben. Das Goldene Netz war dieser Welt aufgezwungen worden, es war kein natürlicher Bestandteil von ihr.

Bidayn öffnete ihr Verborgenes Auge und studierte das Netz aus Kraftlinien, das sie umgab. Hell flackerten die Auren der Menschen in den Farben von Zorn und Angst. Sie griff nach der Magie der fremden Welt und unterwarf sie ihrem Willen, formte den Strom der Kräfte, bis die Bewegungen der Menschenkinder immer langsamer wurden und schließlich ganz erstarrten. Bidayn wusste, dass dies eine Täuschung war. Ihre Wahrnehmung hatte sich verändert. Nichts um sie wurde langsamer. Sie war schneller geworden – so viel schneller, als würde die Welt um sie herum stillstehen. Sie spürte, wie das magische Netz sich dagegen aufbäumte, in widernatürliche Bahnen gezwungen zu werden. Diesmal war sie vorbereitet. Sie nahm auch von der Kraft der Albenpfade, die sich in der Goldenen Pforte kreuzten. Daraus wob sie ein Netz, das sie und Lyvianne umgab und sie unberührbar für die Kräfte Nangogs machte.

Sie öffnete die Augen. Lyvianne stand vor ihr wie aus Stein gemeißelt. Bidayn hob ihre Meisterin auf und legte sie sich über die Schulter. Die Elfe war starr, keiner ihrer Muskeln bewegte sich. Geschickt schlängelte sich Bidayn zwischen den fliehenden Menschen hindurch, die inmitten ihrer Bewegung erstarrt waren. Es war eine stille Welt, aus der alle Geräusche außer dem ihres Atems verschwunden waren. Es war, als sei sie in ein Bild hineingestiegen. All die gemalten Figuren waren dazu verdammt, in ihrer Pose zu verharren. Nur sie konnte sich bewegen.

Bald war das Gedränge zu groß, um noch voranzukommen. Sie stieg auf das eingeknickte Vorderbein eines strauchelnden Kamels, schob Lyvianne vor sich hoch zum Lastsattel, von dem Säcke mit Reis hingen. Als sie hinaufgesprungen war, schulterte sie ihre Meisterin erneut und schritt von dort über die Köpfe und Schultern der Menge hinweg. Fest wie Statuen standen die Menschenkinder, sodass sie ihre Tritte sicher setzen konnte, ohne ein einziges Mal zu schwanken.

Sie spürte, wie das magische Netz der fremden Welt gegen sie aufbegehrte, sich enger zusammenzog und sie vernichten wollte, doch ihr Bannzauber bewahrte sie diesmal vor Schaden. Bidayn lachte hell auf. So gut hatte sie sich nicht mehr gefühlt, seit sie bei ihrer ersten Reise nach Nangog aus der Kristallhöhle ausgebrochen war und die Menschenkinder entwaffnete, die sie dort belagert hatten. All ihre Selbstzweifel waren von ihr abgefallen.

Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr. Das war doch nicht möglich! Wer außer ihr …? Der silberne Löwe der Devanthar schwang sich auf die Menschenleiber und sprang ihr in weiten Sätzen entgegen. Die Köpfe, über die er hinwegschritt, platzten unter seinem Gewicht wie Eierschalen. Er bewegte sich ein wenig langsamer als sie, aber ohne Zweifel beherrschte auch er ihren Zauber. Nun riss er sein Maul auf und zeigte ihr seine dolchlangen Zähne. Blut spritzte in seine silberne Mähne, als er ihr entgegeneilte und fast mit jedem Schritt ein Leben auslöschte.

Bidayn wurde sich schlagartig bewusst, dass sie ganz und gar auf sich allein gestellt war. Niemand würde ihr helfen können, ja, es gab nicht einmal jemanden, der sah, was geschah. Seit sie den Zauber gewoben hatte, war weniger Zeit vergangen, als ein Stein brauchte, um von ihrer Hand zu Boden zu fallen. Die Menschenkinder würden einfach nur zwei tote Daimoninnen am Ende einer Schneise des Gemetzels finden. Und keiner hätte gesehen, wie der Tod mitten unter ihnen Einzug gehalten hatte. Und was noch schlimmer war: Sie hätte Lyvianne ermordet! Ihr unbedachtes Handeln würde ihre Meisterin nun das Leben kosten.

Bidayn stieß Lyvianne von der Schulter und zog ihr Schwert. Zugleich konzentrierte sie sich darauf, die Zeit noch weiter zu verlangsamen. Das magische Netz Nangogs begehrte immer stärker gegen ihren widernatürlichen Zauber auf. Es war ein Gefühl, als befände sie sich im Inneren einer Nussschale, auf die stetig größerer Druck ausgeübt wurde. Wie lange würde ihr Bann noch bestehen?

Sie wurde schneller, aber der Silberlöwe zog mit! Nur noch ein Augenblick, dann hätte er sie erreicht … Sie riss das Schwert hoch, vermochte mit knapper Not den ersten Tatzenhieb abzublocken, wurde aber von der Wucht des Angriffs zurückgeschleudert. Eilig setzte der Löwe ihr nach. Bidayn kämpfte gegen die aufkeimende Panik an, rappelte sich auf und floh vor dem Löwen. Jetzt war sie wieder ein wenig schneller. Der Abstand vergrößerte sich, doch blieb er stets zwischen ihr und der Goldenen Pforte, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden. Sie begriff, dass sie sich ihm stellen musste.

Bidayn versuchte sich an den Schwerttanz Gonvalons zu erinnern. All die frühen Morgenstunden des Übens, die sie lehren sollten, mit sich im Gleichgewicht zu bleiben und die Kraft des Gegners gegen ihn zu wenden. Auf den Schultern eines bärtigen Greises hielt sie inne und wandte sich zu ihrem Verfolger um. Sie könnte schneller als der silberne Löwe sein! Sie wusste es!

Entschlossen lief sie ihm entgegen und tatsächlich verlangsamte sich das Raubtier. Sie versetzte ihm einen Hieb quer über die Schnauze, doch ihre Klinge richtete auf dem silbern schillernden Metall kaum einen Schaden an. Sie wich ihm aus und entging nur knapp einem weiteren Tatzenhieb. Jetzt war er wieder genauso schnell wie sie. Wann immer sie ihrem Zauber mehr Kraft gab, zog er nach, als seien sie miteinander verbunden.

Bidayn wich ein Stück zurück und strauchelte, als sie von einer Schulter abrutschte. Sofort war der silberne Löwe bei ihr. Die Elfe warf sich zurück, und der Tatzenhieb, der ihr gegolten hatte, riss einem jungen Lastenträger das Gesicht weg. Beklemmend spürte sie die Hitze der Kraftlinien, die sich immer enger um sie zusammenzogen, wie ein Fischernetz, das eingeholt wurde. Das magische Gefüge wehrte sich immer entschiedener gegen die Verzerrung der Zeit. Lange würde ihr Bann sie nicht mehr schützen.

Sie schob sich zwischen die Leiber der Menschen, suchte nun eher Deckung, als dass sie noch über einen Angriff nachdachte. Dabei bewegte sie sich bewusst immer weiter von Lyvianne weg. Der silberne Löwe folgte ihr und fegte mit wütenden Hieben die Menschenkinder zur Seite.

Bidayn duckte sich unter einem Kamel hindurch, auf dessen Rücken ein kleines Zelt aufgeschlagen war, das durch die allgemeine Panik gerade zu verrutschen begonnen hatte. Eine verschleierte, schlanke Frau stürzte zwischen den Vorhängen aus grün und weiß gestreiftem Leinen. Doch wie alles auf dem weiten Platz war auch diese Szene in der Zeit gefroren, so schnell bewegten sie sich. Bidayn steigerte ihr Tempo ein weiteres Mal, und ein Gefühl überkam sie, als sei sie in einem glühenden Käfig gefangen. Aus der Tunika unter ihrer Rüstung stieg Dampf auf. Ihr Schweiß verdunstete und bald schon würden die Kraftlinien unbarmherzig in ihr Fleisch schneiden.

Ein Tatzenhieb rammte durch den Leib des Kamels. Überdeutlich sah Bidayn Fleischfetzen zwischen den Krallen des Löwen, die sich krümmten, gebraten wurden und dann zu schwarzer Kohle verbrannten, während Blut auf der fast menschenkopfgroßen Pfote verdampfte. Die Elfe schrie auf, so nah war ihr die Pfote gekommen. Sie spürte die sengende Hitze, die von dem Metall ausging, fast wie eine körperliche Berührung.

Ihre Angst verlieh ihr Flügel. Vergessen war die Gefahr, die vom magischen Netz ausging. Der Löwe war viel konkreter, und er würde nicht mehr lange brauchen, um sie zu erwischen. Hinter dem Kamel schob sich Bidayn zwischen zwei Lastenträgern hindurch, erreichte einen von Leibwachen umringten Würdenträger, griff ihm in den dichten Bart, setzte einen Fuß auf seinen ausladenden Wanst, der durch eine breite Bauchbinde noch betont wurde, und schwang sich hoch auf die Schultern des Mannes. Die Speere seiner Leibwächter ragten wie ein geschliffener Bronzewall um sie auf.

Der Löwe erschien zwischen den Lastenträgern. Doch seine Bewegungen wirkten ungelenk, und dunkler Rauch quoll aus seinem Schlund. Er versuchte zu brüllen, doch statt des wilden Schreis, den er eben noch von sich gegeben hatte, entrang sich seiner Kehle nun ein Geräusch von kreischendem Metall.

Sollte sie das Rennen gegen ihn gewinnen können? Immer drängender empfand Bidayn die Hitze des magischen Netzes, das gegen sie aufbegehrte. Flüchtig blickte sie auf ihre Hand. Ihre Haut begann sich zu röten, als habe die Sonne sie verbrannt. Sie sprang von den Schultern des Würdenträgers, zwischen den Speeren hindurch in die Menge. Ihr Fuß traf das Gesicht einer alten Frau, ohne Halt zu finden. Abgleitend krallte sie sich in das struppige Haar ihres Opfers, schwankte und trat auf den Kopf eines erstaunlich kleinen Mannes, dessen Haar sich in der Mitte des Hauptes zu lichten begann, sodass eine Insel braungebrannter Haut in dem Meer rot eingestaubter Locken erschien.

Der Löwe schien Schwierigkeiten zu haben sich zu bewegen, als würde eine unsichtbare Macht ihn zurückhalten. Bidayn balancierte mit einem Fuß auf dem Kopf des kleinen Mannes, mit dem anderen auf der Schulter der Alten und hielt sich mit der Linken an einem aufragenden Speerschaft fest. Verwundert beobachtete sie das Tier. Seine Pfoten gruben sich in das Pflaster. Er lehnte sich vor, kam aber nicht von der Stelle. Immer mehr Qualm stieg von ihm auf. Er rauchte aus all den Spalten zwischen den Schuppen, aus denen sein Leib zusammengesetzt war. Linien aus gelb glühendem Licht spielten über seinen Silberleib, wurden dichter und heller. Sie bildeten ein Rautenmuster!

Jetzt erst begriff Bidayn, was sie sah. Anders als sie war der Löwe von keinem Schutzbann umgeben. Er hatte sich im magischen Netz Nangogs verfangen, das alles vernichtete, was zu tief in die Ordnung eingriff, die die Riesin einst erschaffen hatte.

Bidayn atmete erleichtert aus und ließ sich in der Zeit vorwärtsfallen. Nicht zu sehr, nur gerade genug, um den Ansturm gegen ihren Bannspruch ein wenig zu lindern. Das Ende des Silberlöwen kam schnell: Die Linien aus gleißendem Licht brannten sich in das Metall und zerteilten den Löwen in tausend rautenförmige Blechstücke, ebenso sein Innenleben aus seltsamen, gezahnten Rädern, Spulen aus Metallbändern und grünen Kristallen. Er sah aus, als sei er in eine jener mörderischen Fallen geraten, wie sie die Zwerge in der Tiefen Stadt in ihren Tunneln aufgestellt hatten. Von schweren Messern zerteilt, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.

Erschöpft folgte Bidayn der blutigen Spur, die der Löwe hinterlassen hatte. War er nicht abgestellt gewesen, die Menschenkinder zu beschützen? Ihr Leben schien ihren Göttern nicht viel zu bedeuten.

Sie fand Lyvianne immer noch stürzend, kaum zwei Handbreit tiefer gesunken, so wenig Zeit war vergangen. Mit einem Seufzer stemmte sie sich ihre Lehrerin erneut auf die Schulter und trat durch die Goldene Pforte. Sie drang tief in das magische Wegenetz ein, wählte Abzweige, um ihre Fährte zu verwischen, und trat dann durch den Albenstern, der sich an jenem Ort befand, an dem über die Zukunft dreier Welten entschieden werden würde.

Ein neues Leben

Als Zarah die Augen öffnete, sah sie nichts als roten Staub. Benommen versuchte sie sich zu erinnern, was geschehen war. Etwas lag schwer auf ihr. Sie regte ihre Glieder. Klackend stießen Steine gegeneinander. Ihr Mund war voller Staub, ihre Kehle eine Wüste und jeder Atemzug eine Qual. Sie versuchte zu schlucken, doch das verschaffte ihr keine Linderung. Sie musste trinken! Sie konnte sich nicht erinnern, sich je in ihrem Leben so durstig gefühlt zu haben. Blinzelnd erkannte sie nun die Vorhänge einer Sänfte. Aber sie stand schief, so als seien die hinteren Tragebalken gegen eine Hauswand gelehnt. Ziegelsteine lagen auf ihren Beinen. Zarah bewegte sich erneut. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren linken Knöchel. Und mit dem Schmerz kehrte die Erinnerung zurück. Horatius, der Hauptman ihrer Eskorte, hatte etwas gerufen. Die Wand! Danach waren alle Erinnerungen ausgelöscht.

Zarah tastete nach ihrem Kopf. Ihre Schläfe war geschwollen. Sie hatte einen Hieb abbekommen. Stöhnend befreite sie sich von den Steinen in der Sänfte und kroch zwischen den Vorhängen hindurch. Was sie sah, ließ ihren Atem stocken. Sie hatte gewusst, dass es kommen würde. Barnaba hatte das Beben, mit dem Nangog die verderbte Stadt vom Weltenmund abschütteln wollte, in grellen Farben geschildert, aber der Anblick der Straße vor ihr übertraf alles, was sie sich hatte vorstellen können.

Neben ihrer Sänfte lagen zwei Männer ihrer Eskorte. Horatius schien noch zu leben, jedenfalls hob und senkte sich seine Brust. Die anderen Wächter waren verschwunden. Hinter der Sänfte lag das Kapitell einer Säule. Es hatte die Sänfte angehoben. Zarah sah Arme unter dem Kapitell aus den Trümmern ragen und wandte sich hastig ab. Die anderen beiden Sänftenträger schienen geflohen zu sein.

Sie stand inmitten eines Trümmerfeldes, aus dem sich einzelne Häuserwände erhoben. Dazwischen wogte roter Staub. Vereinzelte Schreie drangen aus dem Geröll, Wimmern und Klagelaute. Eine alte, brüchige Stimme bettelte um Wasser, aber Zarah konnte nicht ausmachen, von wo sie kam.

Langsam begriff sie, was die Katastrophe für sie bedeutete. Sie konnte Arcumenna entkommen! Sie konnte allem entkommen und ihre Vergangenheit hinter sich lassen. Sie hatte ein neues Leben geschenkt bekommen. Mit widerstreitenden Gefühlen sah sie auf Horatius hinab. Sie sollte einen Stein nehmen und ihm den Schädel einschlagen. Der Hauptmann war so pflichtversessen, dass er nach ihr suchen würde, wenn er nicht ihren Leichnam in der Sänfte fand. Er würde nicht wie die überlebenden Träger und Wachen einfach davonlaufen.

Zarah hob einen schweren Ziegelstein hoch und kauerte sich neben den Krieger. Ein paar Schläge, und sie würde nie mehr über Horatius nachdenken müssen. Inmitten dieser Katastrophe würde sich niemand über einen Toten mehr zwischen den Ziegelsteinen Gedanken machen.

Sie ließ den Ziegel fallen. Sie wollte ihr neues Leben nicht mit einem Mord beginnen. Leise betete sie zur Großen Mutter, sie in Zukunft vor Männern wie Horatius zu beschützen. Dann nahm sie sich einen gesplitterten Speer als Krückstock und hinkte davon. Es fiel ihr schwer, sich zu orientieren, so sehr hatte sich alles verändert. Jedes dritte Haus war in sich zusammengesunken, die Straßen unter Schutt verschwunden und der Rauch unzähliger Brände zog den Hang hinab.

Hoffentlich war ihr Heim nicht ebenfalls völlig verwüstet. Sie hatte einige Edelsteine und etliche Goldmünzen in dem Keller versteckt, in dem sie ihre Weinamphoren lagerte. Genug, um nie mehr in ihrem Leben Armut leiden zu müssen, ganz gleich, wohin sie ging.

Zarah sah zum Himmel hinauf, der hinter Staubwolken und Rauchschleiern seltsam entrückt wirkte. Sie würde sich einen Platz auf einem Wolkensammler suchen. Sie wusste, wohin sie wollte und wo sie für immer in Sicherheit sein würde.

Goldene Kaskaden

Endlich war der Boden unter Nandalees Füßen zur Ruhe gekommen und bäumte sich nicht mehr gegen die Stadt auf, die gegen den Willen Nangogs an den Hängen des Weltenmunds entstanden war und deren Abwässer den Großen Fluss in eine Kloake verwandelten. Fest drückte sie die Hand Gonvalons, der an ihrer Seite kauerte. Ihn neben sich zu haben hatte ihr gegen jede Vernunft die Gewissheit gegeben, die Katastrophe zu überleben. Selbst als der Ziegelstaub der einstürzenden Häuser sie in dem engen Gewölbe des Torhauses fast erstickt hätte, hatte er eine solche Zuversicht und Gelassenheit behalten, dass auch Nandalee ihre Angst überwinden konnte.

Sanft zog er ihr das staubverklebte Tuch vom Mund und küsste sie, ohne sich darum zu scheren, was Eleborn und Nodon von ihnen dachten. Mit geschlossenen Augen genoss sie seine Zärtlichkeit und träumte davon, mit ihm auf eine lange Jagd in der Savanne jenseits des Jadegartens zu gehen. Keine Pflichten mehr zu haben, wieder eins zu werden mit der Wildnis und dem Krieg zwischen Himmelsschlangen und Devanthar zu entfliehen.

Nodons Räuspern zerstörte den Tagtraum. Noch hatte sie ihre Pflicht nicht erfüllt. Sie musste ihre Gefährten zurück nach Albenmark bringen. Lyvianne und Bidayn hatten sich entschieden, ihren eigenen Weg zu gehen. Nun ging es nur noch um Nodon, Eleborn und Gonvalon. Sie würden heimkehren, und zurück in Albenmark müsste sie vor den Himmelsschlangen Zeugnis ablegen, was geschehen war.

»Bald«, flüsterte Gonvalon und hielt sie nicht zurück, als sie sich aus seiner Umarmung löste.

Nandalee spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss, als Nodon und Eleborn sie ansahen.

»Macht euch keine Hoffnungen«, sagte Gonvalon gut gelaunt hinter ihrem Rücken. »Sie küsst nur mich. Ihr werdet niemals erfahren, wie es ist, mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen und doch zu schweben.«

»Ich finde die Erfahrung mit dem Erdbeben ging durchaus in diese Richtung«, entgegnete Nodon trocken. »Gehen wir nun?«

Gonvalons Anspielung hatte Nandalee nur noch verlegener gemacht. Sie trat in den staubverhangenen Innenhof. Zarahs Haus schien bis auf die eine eingestürzte Wand nur wenig Schaden durch das Erdbeben genommen zu haben. Auch der Türwächter hatte zwischen ihnen im Durchgang des Torhauses überlebt, obwohl seine geistige Verfassung sichtlich gelitten hatte. Er schlotterte immer noch, sei es nun wegen des Bebens oder wegen dem, was Lyvianne und Bidayn getan hatten.

»Wir sollten nicht zur Goldenen Pforte zurückkehren«, entschied Nandalee. »Wenn die Devanthar kommen, werden sie diesen Weg nehmen. Wir sind dort nicht mehr sicher. Sie werden sehr bald ahnen, dass Elfen hier waren, und so gut wir uns auch verkleiden, wenn sie die Welt durch das Verborgene Auge betrachten, sind wir so auffällig wie Melonen, die zwischen Erbsen liegen.«

Niemand widersprach ihr, und so traten sie an das rote Holztor, das hinaus auf die Straße führte. Steine verkeilten die Pforte, aber sie ließ sich so weit öffnen, dass sie sich hinauszwängen konnten. Der Anblick verschlug Nandalee die Sprache. Sie hätte nicht erwartet, dass Nangog die Stadt derart verwüsten würde. Die Göttin hatte ihr doch versprochen, dass sie die Goldene Stadt nicht vom Hang des Weltenmundes fegen wollte. Was Nandalee nun sah, ließ sich damit kaum in Einklang bringen. Nangog hatte sie angelogen … Oder vielleicht war es auch einfach nur so, dass die Vorstellungen eines einfachen Albenkindes und einer Schöpfergöttin nicht übereinstimmen konnten. Wenn das hier ein leichtes Beben war, was würde die Menschenkinder erwarten, wenn Nangog ihrem Zorn freien Lauf ließ?

Schweigend suchten sie sich ihren Weg zwischen Schutthalden und Häuserruinen, immer bergab. Nandalee hatte das Gefühl, dass die Viertel der Reichen und die Tempelbauten schwerer getroffen worden waren, denn als sie zu den Schilf- und Holzhütten nahe am Fluss gelangten, sahen sie weniger Verwüstungen. Feuer waren hier ebenfalls ausgebrochen, doch es sah aus, als könnten die Menschenkinder das Unglück, das über sie gekommen war, beherrschen.

Wieder bockte die Erde unter ihren Füßen auf. Die Menschenkinder, die eben noch mit Ledereimern gegen das Feuer gekämpft hatten, ließen von den Flammen ab und suchten die Sicherheit der breiten Straßen und Marktplätze. Einzelne Prediger hatten Menschentrauben um sich versammelt und riefen die Verängstigten dazu auf, ihre Götter um Hilfe anzuflehen. Gleichzeitig behaupteten sie, das Unglück sei der Lohn für die Sünden der Goldenen Stadt. Ob sie auch nur ahnten, wie nah diese Behauptung an der Wahrheit war?, fragte sich Nandalee, während sie sich an der Spitze ihrer Gefährten durch das Gedränge schob.

Mit lautem Getöse brach eine Reihe steinerner Lagerhäuser weiter oben am Hang in sich zusammen. Wasser schien aus den Fundamenten der Lager zu quellen und ergoss sich in blassgolden schillernden Kaskaden über den Rand der Terrasse oberhalb des Fischerviertels. Nandalee meinte in der Ferne Jubelrufe zu hören. Die Menge um den nächststehenden Prediger folgte nicht länger den Worten über Sünden und Verdammnis. Sie sahen auf, und plötzlich rief ein rothaariger Mann mit pockennarbigem Gesicht: »Das sind die Palmöl-Lager!« Augenblicklich zerstreute sich die Menge. Der Prediger bedachte die Menschenkinder mit wüsten Flüchen.

»Komm, lass uns weitergehen«, sagte Gonvalon sanft und zog sie mit sich.

Nandalee würde die Menschenkinder niemals verstehen. Wie konnten sie inmitten der Katastrophe in Begeisterung ausbrechen, nur weil es die Aussicht gab, Öl von den schmutzigen Gassen schöpfen zu können?

Die Gefährten tauchten in das Labyrinth der auf Stelzen gebauten Fischerhütten ein. Unter den Häusern türmte sich allerlei Unrat. Zerbrochene Krüge, leckgeschlagene Boote, zerrissene Netze. Nandalee sah einen einäugigen Hund mit gelbem Fell gierig aus einem schmalen Rinnsal Palmöl trinken, das sich seinen Weg durch den Schlamm suchte.

Überall liefen Männer mit Schüsseln, Schalen und Töpfen herum, um möglichst viel von dem kostbaren Nass zu retten. Nandalee beobachtete einen nackten Alten, der mitten in einer Pfütze saß und sich mit einer Mischung aus rotem Schlamm und Öl einrieb. Als er ihren Blick bemerkte, schenkte er ihr ein zahnlückiges Lächeln. »Ist gut für meine Haut!«, erklärte er und rieb sich mit beiden Händen über seine eingefallene Brust, aus der seine Rippen hervorstachen wie Spanten aus dem Skelett eines gestrandeten Bootes.

Über ihm hingen an Hunderten dünnen Seilen kleine, fingerlange Fische zum Trocknen, die nun alle mit rotem Staub bedeckt waren. Ihre verdorrten Körper tanzten wie Blätter im Wind.

»Hierher!«, rief Nodon, der auf einem Steg mit einem knochigen Menschensohn verhandelte. Schließlich drückte er dem Mann seinen ganzen Geldbeutel in die Hand und winkte sie hinunter zu einem primitiven Boot. Es war aus dicken, durch Seile miteinander verbundenen Schilfbündeln gefertigt. Die Bündel an Bug und Heck waren hochgebogen und mit roter Farbe getränkt. Sie mussten sich rittlings auf das Boot setzen, als würden sie einen Baumstamm reiten. Ihre Beine hingen ins Wasser.

Nodon reichte ihnen allen Paddel und stieß das Boot vom Steg ab. Ringsherum schillerte das Wasser in allen Regenbogenfarben vom Palmöl, das als dünner Teppich darauf trieb.

»Schneller!«, rief Nodon und tauchte sein Paddel ins Wasser »Schn…«

Ein tiefer, dumpfer Ton hallte über das Wasser. Nandalee blickte über die Schulter zurück zur Stadt. Über den Lagerhallen wuchs eine Flammenwand hoch in den Himmel. Dichter, schwarzer Rauch quoll aus den Ruinen und wurde vom Wind hinab zu den tiefer gelegenen Terrassen gedrückt, wo er sich wie ein schwarzes Tuch über das Armenviertel legte. Inmitten des Rauchs sah Nandalee die Flammen dem Weg des Palmöls folgen.

Die Elfe blickte auf das Wasser. Sie waren immer noch von schillernden Ölschlieren umgeben. »Stromaufwärts!«, rief sie. »Wir müssen weg vom Öl!«

Die Hitze der Flammen wogte wie warmer Atem über das Wasser des Großen Flusses. Schweigend paddelten sie um ihr Leben. Stießen die breiten Ruderblätter ins Wasser, legten all ihre Kraft hinein und fanden schnell in einen guten Rhythmus. Ihr Schilfbündelboot war leicht. Es hatte wenig Tiefgang und glitt wie auf Flügeln über die schmutzigen Fluten. Andere Schiffe auf dem Fluss drehten bei. Der Rauch verdunkelte den Himmel. Funken flogen wie Glühwürmchenschwärme weit über das Wasser hinaus. Ein unangenehmer, öliger Geschmack hatte sich in Nandalees Mund festgesetzt.

Ihr Boot war nur noch von unregelmäßigen Ölflecken umgeben. Sie hatten sicheres Fahrwasser erreicht und verlangsamten ihren Paddelschlag. Nandalee wagte es, wieder zurückzusehen. Flammen tanzten nun auch auf dem Wasser und krümmten sich wie eine riesige Feuerschlange mit der Strömung den Fluss hinab. Zwei Schiffe mit brennenden Segeln versuchten, einem der Frachthäfen zu entkommen. Von überallher strömten kleine Fischerboote der Stadt entgegen. In den Gesichtern der Männer, die gegen die Kraft des Stroms anpaddelten, spiegelten sich Entsetzen, Verzweiflung und die Entschlossenheit, wider jede Vernunft nach Freunden und Verwandten in dem Inferno zu suchen.

Nandalee sah Männer in Flammen gehüllt aus dem dichten Rauch herausbrechen und sich ins Wasser stürzen. Gellende Schreie hallten über den Fluss, begleitet vom Fauchen der Flammen, die sich durch die Elendsviertel fraßen.

Wo keine schwarzen Rauchschleier den Blick auf den Hang versperrten, war das ganze Ausmaß der Zerstörung zu sehen: Hunderte Häuser waren nur noch Ruinen. Breite Schneisen aus Schutt reichten über die Terrassen hinab bis zum großen Fluss. Kaum einer der hohen Ankertürme stand noch. Überall loderten Brände in Ruinen. Aus niedergebrochenen Aquädukten ergossen sich Ströme von Wasser in die gezeichnete Stadt. Und doch gab es auch ganze Stadtviertel, die kaum Schaden genommen hatten. Vornehmlich dort, wo die Häuser weniger hoch gewesen waren.

Gonvalon legte ihr die Hand auf die Schulter. Seine Berührung tat Nandalee gut. Und sie war froh, dass er nichts sagte. Kein Wort hätte den Schmerz zu lindern vermocht, den sie empfand. Dies war ihr Werk! Nangog hatte die Erde erschüttert, doch sie, Nandalee von den Windgängern, war es gewesen, die Nangogs Fesseln gelöst hatte. Hätte sie der Gefesselten Göttin nicht die Hälfte ihres Herzens zurückgebracht, wäre all dies nicht geschehen.

Das verfluchte Haus

Talawain hockte nun schon eine Stunde unter dem Torbogen zur Gasse der Gewürzhändler. Aufmerksam beobachtete er aus den Augenwinkeln das Treiben auf der Straße. Für den flüchtigen Beobachter musste es aussehen, als döse er wie so viele andere während der heißesten Stunden des Tages einfach nur vor sich hin. Seinen Gewändern war deutlich anzusehen, wie lange er gereist war. Der Saum seines Wickelrocks war schmutzig und ausgefranst. Die lange Tunika hatte ihre leuchtend rote Farbe verloren. Er trug einen breitkrempigen Strohhut, unter dem die nun tiefschwarz gefärbten Haare auf seine Schultern fielen. Ein wenig unsicher tastete er über seine Wangen nach dem falschen Bart aus Ziegenhaaren, den er selbst geknüpft hatte. Ein Mann ohne Bartwuchs und mit goldenem Haar war einfach zu auffällig. Seit er die Hochebene von Kush verlassen hatte, hatte er nicht einen Zauber gewoben. Auch hatte er nicht gewagt, einen der Albensterne zu nutzen. Zu groß erschien ihm die Gefahr, dass Išta doch noch auf ihn aufmerksam wurde. Er war den weiten Weg nach Ugara zu Fuß gegangen. Meile für Meile, bis er seine Füße kaum noch spürte. Quer durch Luwien war er gewandert. Über Gebirge und durch Wüsten. Anfangs hatte er sich als heimkehrender Krieger ausgegeben, aber in dieser Rolle wurde er mit zu vielen Fragen über die Schlacht auf der Ebene von Kush behelligt. Dann war er als Bettler unterwegs gewesen. Doch in dieser Maske hatte er ebenfalls Aufmerksamkeit erregt. Kein Bettler wanderte mit den langen ausholenden Schritten, die er über Stunden durchhielt. Zuletzt war er darauf verfallen, sich als Gewürzhändler zu verkleiden. Er hatte einige Pfund Safran erworben, was gut zum Ziel seiner Reise passte. Er wollte zu Nyllan. Er war einer von zwei Spitzeln der Blauen Halle, die er in Luwien kannte. Zu Rowayn, dem Knochenschnitzer, wagte er nicht zu gehen. Er lebte in Isatami, der alten Tempelstadt, in der einmal im Jahr die Heilige Hochzeit gefeiert wurde.

Talawain hatte beide Elfen in der Bibliothek der Blauen Halle kennengelernt. Er war auf sie gestoßen, weil sie Texte über Išta eingesehen hatten. Berichte früherer Spitzel und Sagen aus der Überlieferung der Menschenkinder. So wie die beiden anderen hatte auch er versucht, das Wesen dieser launischen Göttin besser kennenzulernen und zu ergründen, was genau geschehen war, als Išta entdeckte, dass der Purpurne und ihre Schwester Anatu ein Liebespaar geworden waren. Nächtelang hatten sie zu dritt darüber diskutiert, was geschehen sein mochte. Hatte Išta ganz allein eine Himmelsschlange bezwungen? Und warum war Anatu ihrem Geliebten nicht zu Hilfe geeilt? Zu zweit hätten sie doch stärker sein müssen als Išta. Was hatten die Devanthar Anatu angetan? Wo waren die Gebeine des Purpurnen? Lebte er vielleicht noch als ein Gefangener im Gelben Turm? Oder stimmte die Geschichte, die sich die Menschenkinder erzählten, in der die Devanthar aus dem Schädel des Purpurnen ein Gefängnis für ihre Schwester Anatu erschaffen hatten?

Noch drei weitere Male hatten sie sich in der Blauen Halle getroffen und miteinander diskutiert. Rowayn war ganz besessen davon gewesen, den geheimnisumwobenen Berg Luma zu finden, auf dem Anatu einen Palast aus Mondlicht erbaut haben sollte. Talawain und Nyllan hatten dies stets für ein Märchen gehalten, doch Rowayn hatte darauf bestanden, dass in jedem Märchen auch ein Körnchen Wahrheit steckte.

Außerhalb der Blauen Halle hatten sie sich nie getroffen. Dass Talawain wusste, in welchen Städten die beiden lebten und welchen Berufen sie in ihrer Maske als Menschen nachgingen, war eigentlich schon ein grober Verstoß gegen die Regeln der Blauen Halle. Um die Sicherheit der Spitzel zu gewährleisten, sollten sie keinen Umgang miteinander pflegen. So würde niemand, wenn sie von den Devanthar gefangen genommen und gefoltert würden, andere Drachenelfen verraten können.

Dass er Nyllan nun in seinem Laden besuchen wollte, war ein noch gröberer Verstoß gegen die Sicherheitsregeln, als einander zu kennen und zu wissen, wo sie lebten, aber Talawain brauchte Hilfe, die er nur von einem Vertrauten erhalten könnte. Er hatte nichts über das Kloster in Erfahrung bringen können, in das die Prinzessinnen gebracht wurden, die mit dem Unsterblichen die Heilige Hochzeit feierten. Jeder Luwier kannte Geschichten über diesen Ort, aber keiner wusste, wo er lag. Und wenn jemand doch behauptete, etwas zu wissen, entpuppte sich das vermeintliche Wissen meist als wüste Lügengeschichte. Immer hieß es dann, das Kloster befände sich verborgen in den nächsten Bergen oder Hügeln.

Talawain nahm den Wanderstab, der neben ihm an der Mauer lehnte, und stemmte sich hoch. Er hatte lange genug unter dem Torbogen gekauert. Er war sich sicher, nicht beobachtet zu werden. Langsam schlenderte er an den offenen Läden vorbei, in deren Auslagen getrocknete Blüten, gemahlene Gewürze in satten Erdfarben, seltsame Wurzeln und Harze feilgeboten wurden. Talawain genoss die berauschenden Düfte, die mit jedem Schritt in ihren Nuancen wechselten, gefangen unter den bunten Sonnensegeln, die tief über der engen Gasse hingen und Wind und Regen fernhielten. Die Wände der Häuser waren weiß getüncht, die Türen in grellen Farben bemalt. Es war ein Ort, der alle Sinne anregte. Sicherlich genoss es Nyllan, hier zu leben.

Ugara war ein klug gewählter Ort, um Informationen zu sammeln. Viele Handelsrouten kreuzten sich hier. Von der Hafenstadt stach ein Teil der luwischen Zinnflotte in See, um zu den Inseln in der Meerlunge weit im Westen zu segeln. Wenn sie zurückkehrten, brachten sie Bernstein, Honig, kostbare Pelze und vor allem das Zinn, das unverzichtbar zur Herstellung von Bronze war. Aus dem Osten und Süden kamen Gewürzkarawanen nach Ugara, und die Ischkuzaia im Nordosten brachten Seide. Wenn Nyllan gute Verbindungen zu den Karawanenführern und Seefahrern unterhielt, würde er Geschichten aus der halben Welt zu hören bekommen.

Talawain dachte an den Palast des Unsterblichen Aaron. Er vermisste seine Pflichten dort, das Gefühl, dass nichts im Reich ohne sein Wissen geschah. Er hatte Aram viele Jahre lang fast allein regiert, während Aaron seinen perversen Vergnügungen nachgehangen hatte. Und jetzt, da der Unsterbliche wie ausgetauscht war und sich so vieles im Reich veränderte, musste er fliehen! Was hätte er nicht alles für die Menschenkinder tun können? Aram hätte ein Land werden können, in dem Gerechtigkeit regierte. Der neue Aaron hatte das gewollt. Wie wohl seine Landreform voranging?

Talawain sah traurig in den Staub der Straße. Das waren nicht mehr seine Sorgen. Er sollte keinen Gedanken mehr daran verschwenden. Er zwang sich, aufrecht zu gehen, den Kopf stolz erhoben. Aram lag hinter ihm. Alles, was er für Aaron noch tun konnte, war, nach Shaya zu suchen. Deshalb war er hier.

Er ging die Straße bis zum Ende und blickte in jeden der offenen Verkaufsstände, ohne Nyllan zu entdecken. Verwundert machte er kehrt. Diesmal hielt er an jedem der Stände kurz an. Die Häuserfronten waren zur Straße hin offen, sodass sie an Marktstände erinnerten, nur dass sie nach hinten hin ummauert waren und in der ersten Etage die Wohnungen der Besitzer lagen. Fast in der Mitte der Straße gab es ein großes Haus, dessen Vorderfront mit Brettern vernagelt war. Talawain blickte durch die Ritzen ins Innere. Im Dunkel war nicht viel zu erkennen.

»Suchst du Lilluma, Fremder?«, erklang eine harte Frauenstimme hinter ihm.

Der Elf drehte sich um. Lilluma war der Menschenname gewesen, den Nyllan benutzt hatte. Talawains Gedanken überschlugen sich. Was war geschehen? Hatte Nyllan den Laden aufgegeben? Oder hatten sie entdeckt, dass er ein Daimonenkind war? Wenn ja, dann konnte er niemandem in dieser Straße vertrauen. Sie alle würden beobachten, wer kam, um Lilluma zu besuchen.

Eine Frau mit knochigem Gesicht beugte sich auf der anderen Seite über die Koriandersäcke in ihrem Laden. Zwei Schläfenzöpfe hielten ihr langes Haar im Zaum. Sie trug eine weite Tunika, die um ihren hageren Leib schlotterte.

»Wer ist Lilluma?«, fragte Talawain arglos.

»Der arme Wicht, dem dieser Laden zuletzt gehört hat. Warum glotzt du durch die Spalten zwischen den Brettern. Da gibt es nichts zu sehen.«

»Ist der Laden zu kaufen?«

Sie hob die Brauen und maß ihn mit misstrauischem Blick. Er sah nicht aus wie jemand, der sich einen Laden in einem Basar leisten konnte. »Ich würde dir nicht raten, dort ein Geschäft zu eröffnen.« Sie warf den Kopf zur Seite und spuckte über ihre linke Schulter. »Ist verflucht, das Haus. Hat bisher noch jedem Unglück gebracht, der sich dort niedergelassen hat.«

Talawain blickte noch einmal zu dem Haus mit dem vernagelten Laden. Dann nickte er der Händlerin freundlich zu. »Danke für die Warnung.« Mit diesen Worten ging er weiter. Vielleicht wollte die Menschentochter nur verhindern, dass ein weiterer Gewürzhändler in die Gasse zog und ihr das Geschäft schwer machte. Wenn sie die Wahrheit sagte, würde er auch anderswo noch mehr über das Haus erfahren.

Er verließ den Basar der Gewürzhändler und schlenderte ziellos durch die Straßen der Stadt, bis er eine Garstube entdeckte, die nach den Maßstäben, die für Menschenkinder galten, recht reinlich aussah. Er wählte einen Platz mit einer Mauer im Rücken, von dem aus er einen guten Blick auf die Straße hatte, selbst aber im Halbschatten eines Sonnensegels saß. Abgesehen von einem Seemann, der mit dem Kopf auf den Armen eingeschlafen war, gab es keinen Gast in der engen Stube, die nur aus zwei schmalen Tischen und einem kleinen Garofen bestand.

»Brot, Käse und deinen besten Wein«, verlangte Talawain mit einem Lächeln, dazu legte er drei Kupferstücke auf den Tisch, um zu zeigen, dass er auch zahlen konnte.

Der Wirt musterte ihn nur flüchtig, nahm zwei der Münzen, stellte ihm einen Krug und einen schönen, rot glasierten Becher auf den Tisch. Dann ging er kurz fort, um Brot und Käse zu holen.

»Du bist fremd?«, fragte er nach seiner Rückkehr nicht sonderlich interessiert.

»Mein Bruder schickt mich. Angeblich ist ein Laden im Gewürzbasar frei geworden.« Talawain brach ein Stück vom Brot ab und begann zu essen. »Soll herausfinden, warum das Haus leer steht und ob es einen guten Namen hat.«

»Einen guten Namen?« Der Wirt schnaubte, dass sein Doppelkinn wackelte. »Jeder im Viertel kennt dieses Haus. Sein Vorbesitzer hat es billig verkauft, weil es darin spukte.«

Talawain schluckte. »Spuken?«

»Lebende Schatten«, murmelte der Wirt geheimnisvoll und schlug das Zeichen des schützenden Horns. »Der Besitzer war fast verrückt vor Angst und heilfroh, dass sich ein Fremder gefunden hat, der ihm das Haus abkaufen wollte.«

Talawain konnte sich vorstellen, was Nyllan getan hatte, um günstig an das Haus zu kommen. Er wunderte sich allerdings, dass der Elf so verwegen gewesen war, von seiner Zauberkunst Gebrauch zu machen.

»Dieser Lilluma war ein seltsamer Kerl. Er hat das Haus gekauft, das niemand im ganzen Viertel hätte haben wollen. Der hatte Gold wie unsereins Dreck unter den Sohlen. Alles, was er anpackte, machte ihn reicher. Er war den alteingesessenen Gewürzhändlern bald ein arger Dorn im Arsch.« Der Schankwirt stieß ein kläffendes Lachen aus, holte sich auch einen Becher, setzte sich und schenkte sich, ohne zu fragen, von Talawains Wein ein. »Lilluma verstand es wahrlich, das Leben zu genießen. Nachts zog er oft mit irgendwelchen Kapitänen oder Fernhändlern durch die Schenken, war aber stets beim Morgengrauen wieder in seinem Laden und stand hinter seinen Gewürzsäcken. Er hat immer nur beste Ware gehabt.« Der Wirt schlug sich mit der flachen Hand auf die Wange. »Sieh mich an. Ich hab auch jede Nacht bis sonst wann geöffnet. Diese verdammten Ruderer von den Galeeren. Wenn die auf Landgang sind, finden die kein Ende und saufen wie die Löcher. Ich war mal ein hübscher, schlanker Junge.« Wieder klatschte er sich auf seine feisten Wangen. »Viel davon geblieben ist nicht. Hab Ränder unter den Augen wie eine alte Hure, Schweinebacken und einen Wanst wie einen Rammbock. Aber dieser Lilluma, das schwöre ich dir, der ist in den zehn Jahren um keinen Tag gealtert. Mir sind in dieser Zeit alle Haare ausgefallen, aber der Gewürzhändler hatte nicht mal ein einziges graues Haar. Sah immer noch aus wie ein zartes Jüngelchen.«

Talawain seufzte innerlich. Wenn stimmte, was der Wirt erzählte, dann hatte Nyllan so ziemlich keinen Fehler ausgelassen, vor dem sie bei ihrer Ausbildung in der Blauen Halle gewarnt worden waren. Wie hatte er nur so verdammt leichtsinnig sein können! Sie wurden angehalten, stets unauffällig zu sein und den Eindruck zu erwecken, dass auch sie alterten.

Der Wirt schenkte sich einen zweiten Becher ein und leerte damit den Krug.

»Weißt du«, raunte er und beugte sich dabei so weit über den Tisch, dass Talawain seinen warmen Atem auf dem Antlitz spürte. »Manche munkeln, dass Lilluma einen Pakt mit diesen lebenden Schatten geschlossen hat, die den Vorbesitzer vertrieben haben. Hat ihnen seine Seele verkauft.« Wieder schlug der Wirt das Zeichen des schützenden Horns. »Und dafür bekam er Erfolg und ewige Jugend. Bis die Nacht kam, in der der Preis zu zahlen war. Es heißt, sie hätten in der ganzen Gewürzgasse seine Schreie gehört. Sollen sich sehr seltsam angehört haben. Mehr wie ein quiekendes Schwein als wie ein Mensch. Als sie sich reintrauten ins Haus – da war die Mittagsstunde schon weit vorüber –, haben sie ihn mit dem Kopf nach unten von einem Deckenbalken hängend gefunden. War ausgeweidet wie ein Vieh beim Fleischhauer. Finger, Zehen, Nase, Ohren … Alles Mögliche hatten sie ihm abgeschnitten, wer immer ihn in der Nacht besucht hatte. Die Wände waren über und über mit Blut bespritzt. Seine Gewürze, die Möbel und Kleider, alles haben die Händler aus dem Basar weit draußen vor der Stadt verbrannt. Zusammen mit seinen sterblichen Überresten. Und seine Asche wurde ins Meer gestreut. Wenn dir an deinem Bruder liegt, dann lass ihn nicht dieses Haus kaufen. Ist kein guter Ort …«

Talawain hatte bei der Beschreibung der Leiche an Kazumi denken müssen. Er konnte sich vorstellen, wer zu Nyllan gekommen war.

»Wann ist das geschehen?«

»Vor ein paar Wochen erst.« Der Wirt erhob sich, um sich einem neuen Kunden zuzuwenden.

»Etwa zu der Zeit, als die Schlacht auf der Ebene von Kush geschlagen wurde?«

»Könnte hinkommen. Vielleicht war es auch früher.«

Tief in Gedanken schnitt Talawain den Käse auf. Er war sauer und alt, aber der Elf schmeckte es kaum. War Išta zu Nyllan gekommen oder waren es seine Nachbarn gewesen, die sich einen zu erfolgreichen Konkurrenten vom Hals schaffen wollten? War Nyllan in derselben Nacht gestorben, in der Išta zu Kazumi gekommen war? Wie viele Spitzel der Blauen Halle hatte die Devanthar entdeckt?

Er schob Brot und Käse zur Seite. Ihm war der Appetit vergangen. Es wäre vernünftig, einfach zur Blauen Halle zurückzukehren, statt ohne Auftrag seinen eigenen Feldzug für den Unsterblichen Aaron zu führen. Aber konnte er Shaya einfach vergessen und sie ihrem Schicksal überlassen? Sie zu retten wäre auch eine Buße für seinen Mord an Aya, die er einst in die Löwengrube des Palastes von Akšu gestoßen hatte. Aya … Shaya … Das Schicksal ging seltsame Wege. Wie ähnlich die Namen der beiden doch waren. Beide hatten sie Aaron geliebt. Wenigstens Shaya sollte er für ihn retten.

Er wusste, wenn er nicht nach Albenmark ging, gäbe es nur noch Rowayn, der ihm helfen konnte. Dass dieser ausgerechnet in Isatami leben musste. Die alte Tempelstadt war neben dem Palast des Unsterblichen vermutlich der gefährlichste Ort in Luwien. Regelmäßig erschien Išta ihren Priestern in der Stadt. Und eben diesen Priestern lieferte Rowayn seine auserwählten Knochenschnitzereien.

Talawain winkte dem schwatzhaften Wirt zum Abschied, der ganz in ein Gespräch mit dem neuen Gast vertieft war. Es war ein weiter Weg nach Isatami. Und er würde wieder die Landstraße nehmen. Dazu Albenpfade zu benutzen fehlte ihm der Mut.

Er dachte an sein letztes Treffen mit Rowayn. Sie waren sich in der Blauen Halle in der Aula der Fechter begegnet. Dutzende andere Elfen waren dort zugegen. Allesamt Spitzel, denen ihre Berufung zum Leben geworden war. Kein Ort, an dem sie beide hätten erkennen lassen dürfen, dass sie heimlich befreundet waren. Rowayn hatte ihn angelächelt, als habe er das große Fechtturnier gewonnen. »Das Meer verbirgt alle Geheimnisse«, hatte er ihm zugeraunt. Talawain hatte nicht verstanden, was damit gemeint sein mochte. Isatami lag mehr als tausend Meilen vom Meer entfernt.

Wer, wenn nicht er

Artax stand auf der Terrasse des Statthalterpalastes. Unter ihm breitete sich die verwüstete Stadt aus. Was er sah, ließ sein Herz bluten. Sein eigener Palast war nicht dramatisch vom Beben betroffen. Der Thronsaal war eingestürzt, ein Wohntrakt und ein Pferdestall. Es schien wohl keine Toten gegeben zu haben. Und so hatte er die Dienerschaft und alle Krieger, die den Angriff auf die Tempelgärten der Zapote unverwundet überstanden hatten, hinaus auf die Straßen geschickt, um zu helfen. Ashot war bei ihnen, er würde dafür sorgen, dass alles unter der Aufsicht eines kühlen Kopfes geschah.

Auf dem weiten Hof des Palastes unterhalb der Terrasse und in den intakten Gebäuden wurden Notquartiere vorbereitet. Seine Vorratskammern waren geöffnet worden. Sie mussten nun alle eng zusammenstehen. Er würde alles geben, was hier war, und er würde Vorräte aus Aram kommen lassen. Eigentlich wollte er unten in der Stadt sein. Es widerstrebte ihm, hier zu stehen und nichts zu tun, als nachzudenken. Aber wenn er über die zerstörte Stadt blickte, dann konnte er in die Zukunft sehen. Dies hier war nur der Anfang. Die eigentliche Katastrophe stand ihnen noch bevor. Und im Vergleich zu dem, was noch kommen würde, war die Zerstörung der Goldenen Stadt eine Kleinigkeit.

Das Klacken von Holz auf Stein riss Artax aus seinen düsteren Gedanken. Volodi kam auf die Terrasse, begleitet von seiner Zapotepriesterin. Der Söldner stützte sich schwer auf eine Krücke und war sehr blass. Aber er grinste breit, so wie er es immer getan hatte, ganz gleich, mit welchem Unglück das Schicksal ihn überschüttete. Mataan ging hinter den beiden. Auch er brauchte einen Stock, um gehen zu können. Er würde nie wieder als Krieger in die Schlacht ziehen. Das war der Preis, den er dafür gezahlt hatte, seinem Herrscher beim Kampf um den Steinhorst das Leben zu retten. Mataan hatte damit begonnen, einige Aufgaben des Hofmeisters Datames zu übernehmen. Er fluchte über die Berge von Tontafeln, die Tag für Tag immer höher wuchsen, und die kleingeistigen Schreiber und Höflinge, die aus einfachen Dingen einen undurchschaubaren Staatsakt machten. Er hatte ein neues Schlachtfeld gefunden, und auch wenn er dort niemals so glänzen würde, wie Datames es getan hatte, so ging er die Sache doch mit Hingabe an, und was er machte, machte er gut und mit pedantischer Genauigkeit.

Artax sah Volodi lange an. Er würde den langhaarigen Drusnier vermissen. »Du wirst nicht länger an meinem Hof bleiben können«, begann er ohne Umschweife.

Das Lächeln auf Volodis Lippen erstarb. »Was ich mich nicht gut gemacht?«

»Du bist hier nicht länger sicher, mein Freund«, sagte Artax bitter. »Dunkle Wolken ziehen am Horizont auf. Mein Überfall auf die Zapote wird ein Nachspiel haben, und ich möchte nicht, dass du jenen unter die Augen kommst, die sich eigentlich meinen Kopf holen wollen.«

»Bin ich mich Hauptmann von Leibwache. Ist sich mein Zweck, zwischen dich und Leute zu stehen, die sich dich holen wollen deinen Kopf.«

Artax musste lächeln. »Du bist verwundet. Du hattest eine schwere Zeit …« Er betrachtete die Priesterin. Er konnte nicht begreifen, was die beiden zusammengebracht hatte, aber obwohl sie mit dem Opfermesser in der Hand über Volodi gestanden hatte, schien sie ihn zu lieben. »Mir scheint, es gibt nun noch jemand anderen, den du schützen musst. Ich fürchte, die Zapote werden in ihr eine Verräterin sehen. Auch sie ist hier nicht sicher.«

»Kann ich mich stellen vor zwei«, beharrte Volodi. »Habe ich mich breite Brust und starken Arm. Kann ich mich gut Schutz machen.«

»Das weiß ich. Und doch könnte der Augenblick kommen, wo du dich entscheiden musst und nur einem von uns helfen kannst. Ich möchte nicht, dass du jemals in deinem Leben in die Lage kommst, wählen zu müssen. Geh so weit fort von meinem Königshof wie möglich. Wenn bessere Zeiten kommen, dann werde ich nach dir schicken. Du weißt, an meiner Seite wird es immer einen Platz für dich geben.«

Volodi schüttelte fassungslos den Kopf. »Wenn sich Hauptmann von Leibwache ist sich nicht an Seite von sein König in schwere Zeit, wann dann?«

»Wenn man einen Kampf nicht gewinnen kann, Volodi, dann muss man sich zurückziehen und einen besseren Tag abwarten, um für seine Sache zu streiten. Du warst immer ein guter Anführer, du weißt, dass ich recht habe.«

Volodi rang mit den Tränen. In seinen Augen lag Trotz.

»Bitte, mein Freund, zwing mich nicht dazu, dich von meinem Hof zu verbannen. Lass uns im Guten auseinandergehen. Ich werde mit dir nicht über diesen Befehl diskutieren. Es muss sein.«

Dem Drusnier sank der Kopf auf die Brust. Artax hasste sich in diesem Augenblick, doch er wusste tief in seinem Herzen, dass es die richtige Entscheidung war, ihn fortzuschicken. »Mataan, wirst du Volodi zur Goldenen Pforte eskortieren? Ich wünsche, dass er noch in dieser Stunde die Stadt verlässt. Es steht ihm und seiner Gefährtin frei zu gehen, wohin sie wollen.«

»Wie Ihr befehlt, Unsterblicher Aaron«, entgegnete der Fischerfürst kurz angebunden. Er war kein Freund des Drusniers, aber es war unübersehbar, dass er nicht damit einverstanden war, dass der Hauptmann auf diese Art vom Hof entfernt wurde. Doch auch er wusste, dass es sein musste. Bald würden Schuldige für die Katastrophe gesucht werden, die die Goldene Stadt heimgesucht hatte, und dann wäre es besser, wenn Volodi nicht unter die Augen der selbsternannten Gerechten käme.

Artax blieb allein auf der Terrasse zurück. Den Blick in die Ferne gerichtet. Auch über den Gutshöfen und kleinen Dörfern am Großen Fluss standen Rauchfahnen. Wie weit war das Beben zu spüren gewesen? War es mehr als nur ein Beben gewesen? Daia brauchte Nangog. Sie brauchten das Korn dieser Welt. Wenn die Karawanen mit Lebensmitteln nicht mehr nach Daia zogen, würde es Hungersnöte geben. Datames hatte Aram gut auf schwere Zeiten vorbereitet. Jede Stadt, ja selbst jedes Dorf, hatte Vorratsspeicher angelegt. Hunger, wie ihn Artax noch aus seiner Kindheit kannte, hatte es seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Aber er hatte nie vergessen, wie es war, die ganze Nacht nicht schlafen zu können, weil einem der Hunger die Gedärme zusammenzog. Er konnte sich an Kinder erinnern, die die Winter in Belbek nicht überlebt hatten. Und an die Alten mit den aufgeblähten Bäuchen, die zu lange keine Mahlzeit mehr gesehen hatten. Wenn die Karawanen nicht mehr durch die Goldene Pforte zogen, dann war alles, was heute geschehen war, nur das Vorspiel zu einer noch viel größeren Katastrophe. Auf jeden Toten hier in der Stadt würden hundert in den sieben Königreichen folgen.

Artax ballte in hilfloser Wut die Fäuste. Sein Volk erwartete Schutz und eine gute Regierung von ihm. Es durfte keine Kriege mehr wie den mit Muwatta geben. Und die grausamen Bräuche der Zapote mussten verboten werden. Gab es denn keine Vernunft in der Welt?

Es dauerte bis nach Sonnenuntergang, bis der Besucher kam, den er so lange erwartet hatte. Der Löwenhäuptige war plötzlich einfach da, Artax hatte ihn nicht kommen sehen. Wie aus dem Nichts war er neben ihm auf der Terrasse erschienen.

»Es ist schade, dass du nicht zu mir kommst, wenn ich in meinen Gebeten um deine Hilfe flehe«, sagte Artax statt einer Begrüßung. Er konnte nicht anders, er war zu enttäuscht von seinem Devanthar.

»Und deshalb hast du dir das hier einfallen lassen?«, erwiderte der Löwenhäuptige so scharf, dass sich Artax die Nackenhaare aufrichteten und ihm ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

»Ich verstehe nicht, was du meinst, Erhabener.«

Der Devanthar machte eine ausholende Geste zur Stadt hin. »Eine eindrucksvolle Art, uns zu rufen.«

»Das ist nicht mein Werk.«

»Nicht? Viele meiner Brüder und Schwestern sehen das anders, und es hat mich einige Mühe gekostet, den Großen Jaguar davon abzuhalten hierherzukommen und sich deinen Kopf zu holen.«

Willkommen bei den lebenden Toten, raunten die Stimmen in seinem Kopf.

»Ich weiß nicht …«

»Das glaube ich dir nicht«, brüllte der Löwenhäuptige. »All die Jahre habe ich dich beschützt. Ich habe in dir etwas Besonderes gesehen, und dann machst du das! Stürmst die Tempelgärten der Zapote, um einen Söldner von ihrem Altar zu holen. Was kommt als Nächstes? Wirst du den Unsterblichen Labarna meucheln und Shaya befreien?«

»Ich verstoße nicht gegen die Gesetze der Götter«, entgegnete Artax steif. »Ich verabscheue, was der Prinzessin angetan wurde. Aber ich werde sie nicht befreien.«

Die geschlitzten, goldenen Löwenaugen sahen ihn durchdringend an. »Ich verstehe dich nicht, Artax«, sagte er nun ruhiger. »Du rufst den Zorn der Götter auf dich herab, um einen Söldner zu retten, aber die Frau, die du liebst, lässt du im Stich?«

»Sie wurde von ihrem Vater an Muwatta verheiratet. Es wurde ein Ehevertrag geschlossen. Die Hoch…« Seine Stimme versagte ihm. »Was in Isatami geschah, war Teil eines alten Rituals. Ebenso wie das Schicksal, das sie erwartet. Volodi aber wurde entführt. Er ist erpresst worden, um durch das Weiße Tor zu gehen.«

Der Löwenhäuptige sah ihn lange an. »Und das ist alles? Oder warst du vielleicht dort, weil du Shaya nicht retten kannst? Hast du ausgelebt, was du dir bei deiner Geliebten versagtest?«

»Nein!«, sagte Artax entschieden, war sich plötzlich aber nicht mehr so sicher, ob der Löwenhäuptige nicht einen Blick in jene Abgründe seiner Seele geworfen hatte, die er selbst vor sich verborgen hielt.

»Wie dem auch sei, Unsterblicher Aaron, sehr bald wird sich dein Wunsch erfüllen, und ich bringe dich zum Gelben Turm. Alle Devanthar werden dann versammelt sein. Doch sie werden nicht kommen, um sich deine Träume von einer besseren Welt anzuhören. Du trittst vor ein Tribunal.«

Alte Freunde

Amalaswintha schob sich aus dem Turmluk des Aals und nahm einen tiefen Atemzug. Nach dem Mief im Aal war selbst die kühle, feuchte Luft über dem Meer der Schwarzen Schnecken Balsam für ihre Lungen.

»Ich glotz dir ja gerne unter die Röcke, Weib, aber könntest du trotzdem aussteigen? Ich will mir auch mal die Füße vertreten«, erklang hinter ihr die Stimme eines dieser ungehobelten Unholde, mit denen sie seit Wochen an den Pedalen der Kurbelwelle saß, mit deren Hilfe das kleine Tauchboot angetrieben wurde.

Einen Moment war die Zwergin versucht, auf der Eisenleiter abzurutschen und dem Kerl einen Absatz ins Gesicht zu rammen. Doch dann entschied sie sich lieber dafür, dieses verdammte Boot so schnell wie möglich zu verlassen. Die Reise war vom ersten Tag an erniedrigend gewesen. Es gab keine Privatsphäre in dem winzigen Tauchboot. Wenn sie sich erleichtern musste, dann war das vor aller Augen geschehen. Auch wenn sie völlig überraschend von Eikin, dem Alten in der Tiefe aus den Ehernen Hallen, in diesen verfluchten unterirdischen Turm verbannt worden war, konnte es hier nur besser werden.

Glamirs Turm, der Ort, den sie erreicht hatten, war ein Geheimnis. Die Aalschiffer an Bord wussten so gut wie nichts über diesen Platz, an dem sie und ihre drei Gefährten in Sicherheit sein sollten. Schwarzer Farbstoff wurde hier gewonnen, aber das schien nur ein Vorwand zu sein. Jeden Tag erzählten sich die Schiffer andere Geschichten über den Turm. Dass Glamir dort nach einem Schatz suchte, dass er aus Drachenschuppen Rüstungen baute, die unverwundbar machten oder er nach einem Elixier suchte, das Eikin Unsterblichkeit schenken sollte. Alles Unsinn, dachte Amalaswintha. Nicht einmal Galar, Hornbori und Nyr, die schon einmal da gewesen waren, wussten, was in dem Turm vor sich ging. Oder sie wollten es ihr nicht sagen, das traute sie den dreien auch zu.

Sie schritt das letzte Stück über den schwankenden Rumpf des Aals und sprang zur gemauerten Anlegestelle hinüber, an deren Eisenringen das Boot vertäut lag. Es waren nur ein paar Schritt bis zu der von grüner Patina verkrusteten Tür des Turms. Amalaswintha schwankte ein wenig. Es war ungewohnt, festen Boden unter den Füßen zu haben.

Zwei Fackeln rechts und links der Tür waren die einzigen Lichtquellen weit und breit. Ihr fielen einige Armbrustschützen auf, die mit ihren Waffen im Anschlag nervös über das dunkle Wasser spähten. Wer in aller Welt sollte sie denn hier angreifen? Glamirs Turm lag auf einer Felseninsel irgendwo verloren im Meer der Schwarzen Schnecken, tief unter der Erde.

Amalaswintha sah an dem von dunklen Algen bedeckten Gemäuer hinauf. Turm war ein reichlich übertriebener Name für den gedrungenen Stummel aus Mauerwerk, der sich auf dem Felsriff erhob und nach ein paar Schritt mit der Höhlendecke verschmolz. Sie lächelte. Zwerge hatten eine Gabe, für kleine Dinge große Namen zu finden.

Entschlossen trat sie durch die Tür und blieb überrascht stehen. Sie war in einen Brunnenschacht getreten! Ein Stück unter ihr schimmerte im Fackellicht schwarzes Wasser. Eine schmale Treppe wand sich entlang der Innenmauer des Schachtes nach oben. Ringe aus getrockneten Algen zeigten die Wasserstände der Vergangenheit. Eine gewölbte Kuppel schloss den Innenraum ab. Auch auf ihr waren noch dunkle Algenreste zu erkennen.

Amalaswintha wurde mit Schrecken bewusst, dass der Innenraum des Turms wohl regelmäßig vollständig unter Wasser stand. Und dann gäbe es keinen Weg mehr hinaus! Eilig lief sie die letzten Stufen bis zum Luk am Ende der Treppe hinauf und trat mit einem mulmigen Gefühl unter der schweren Kupferkuppel hindurch, die über den Durchstieg gesenkt werden konnte, um dann mit etlichen Riegeln verschlossen zu werden. Über dem Durchstieg hingen gut geölte Ketten von der Decke.

»Wer zum Henker hat diese Vettel hier hereingelassen!«, grollte eine dunkle Stimme.

Zwischen Stapeln von Körben, Fischreusen und Fässern erwartete sie der mit Abstand abstoßendste Zwerg, den Amalaswintha je gesehen hatte: ein graubärtiger Alter, der sich schwer auf eine Krücke stützte. Ihm fehlten der rechte Arm und das rechte Bein. Sogar sein rechtes Auge fehlte. Jedenfalls trug er darüber eine Klappe, auf die mit Goldfaden ein strahlendes Auge gestickt war. Seine rechte Gesichtshälfte war von tiefen Narben entstellt.

»Wer auf die Idee kam, uns ein Weib zu schicken, dem haben sie ins Hirn gepisst! Verflucht, packt diesen Haufen Röcke und steckt sie wieder in den Aal, aus dem sie hervorgekrochen sind.« Bei diesen Worten deutete er mit seinem nur wenige Zoll langen Armstumpf auf sie. »Los, schafft sie mir aus den Augen.«

»Gerne überbringe ich Eikin, dem Alten in der Tiefe in den Ehernen Hallen, deine Nachricht, dass man ihm ins Hirn gepisst habe. Ich bin wirklich neugierig, wie er das aufnehmen wird, Glamir. Soll ich meine Gefährten, Hreidmar, Fundin und Onar und ihr Kind, auch wieder mitnehmen? Sie sind ebenso auf Befehl Eikins hier wie ich. Aber offenbar gilt das Wort des Alten aus der Tiefe in deinem Turm nichts.«

Glamir zog die Brauen zusammen. »Du glaubst, du kannst mich erpressen, du Flittchen? Hast du eine Ahnung, worauf du dich hier einlässt? Ich habe hier fast fünfzig Männer im Turm. Die meisten haben seit über einem Jahr kein Weib mehr gesehen. Benutz mal dein Hirn zum Denken, und dir wird klar werden, dass du gar nicht hier sein willst.« Wütend sah er zur Treppe, auf der gerade ihre Mitverbannten erschienen. »Der Wortefurzer, die Amme und der Querulant. Bei den Alben! Was habe ich getan, euch schon wieder am Hals zu haben?«

»Eikin wünscht, dass wir dich bei deiner Arbeit unterstützen«, entgegnete Galar der Schmied frech. »Wie es scheint, tut ihr doch mehr, als nur Schnecken auszuquetschen.«

Glamir lief rot an. Eine dicke, blaue Ader begann, an seiner Schläfe zu pochen. »Du …« Er hob seinen verstümmelten Arm. »Du …«

Frar, der kleine Quälgeist, den Nyr tagein, tagaus auf dem Arm hielt, fing an zu quengeln. Er hatte abnorm oft Hunger, und es war stets ein Problem, ihn zu füttern. Nie gab es Milch, sie mussten immer improvisieren, und der Junge wurde nie richtig satt.

Galar warf Amalaswintha wieder einen seiner düsteren Blicke zu. Es war nicht ihre Schuld, dass sie keine Amme war! Jedes Mal, wenn sie sich das stinkende Häufchen Elend in Nyrs Armen ansah, wusste sie, dass sie niemals Kinder haben wollte.

»Hab ihr keine Ziege, die Mich gibt?«, fragte der Richtschütze aufgebracht.

»In meinem Turm gibt es immer noch keine Weiden, Amme!«, zischte Glamir ihn ärgerlich an.

»Bitte, bitte, meine Freunde«, mischte sich nun Hornbori ein. »Wir alle sitzen in einem Boot. Lasst uns einen Weg finden, miteinander auszukommen. Wir sind nicht hier, um deine Geduld auf die Probe zu stellen, Glamir. Ohne dir zu nahetreten zu wollen, glaube ich doch, sagen zu können, dass wir wesentlich unglücklicher über die Entscheidung Eikins sind, als du es jemals sein wirst, denn wir …«

»Halt’s Maul, Wortefurzer!«, fuhr Glamir ihn an, dann winkte er nach einem seiner Arbeiter. »Bring dieses Gelump in dieselbe Zel… äh, Kammer, in der sie beim letzten Mal untergebracht waren.«

»Ich protestiere auf das …«

»Rebellen setze ich auf dem Felsen vor dem Turm aus«, zischte Glamir Hornbori an. »Also überlege dir, was du sagst, oder du debattierst demnächst mit den Seeschlangen dort draußen.«

Alles ist besser als noch eine Nacht in einem Aal, dachte Amalaswintha, aber nur so lange, bis sie das Quartier sah, in dem sie untergebracht wurden. Es war eine feuchte Höhle, aus dem Fels geschlagen, ohne vernünftige Betten und mit einem stinkenden Eimer in der Ecke, um seine Notdurft zu verrichten. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, wurde sie verriegelt. Sie waren Glamirs Gefangene.

»Der wird uns verhungern lassen«, murmelte Nyr, der Frar einen Daumen in den Mund gesteckt hatte, was den Jungen offensichtlich beruhigte.

»Das wird er nicht riskieren«, wandte Hornbori lahm ein.

»Doch!«, sagte Galar entschieden, und betretenes Schweigen senkte sich über die Zwerge. Vor wenigen Monden erst war das Trio als Helden, die einen riesigen, weißen Drachen erlegt hatten, gefeiert worden. Doch durch die Rache der Himmelsschlangen wurden sie zu den Verantwortlichen für den Untergang der Tiefen Stadt. Denn die Drachen hatten sich nicht damit begnügt, lange nach den Mördern zu suchen. Sie hatten gleich alle getötet, wobei – welche Ironie – ausgerechnet jene drei Zwerge, die wirklich Drachenblut vergossen hatten, das Massaker überlebt hatten.

Eikin, der Alte in der Tiefe in den Ehernen Hallen, bewunderte Galar, Hornbori und Nyr für das, was sie getan hatten. Aber er wollte sie um keinen Preis in seiner Stadt haben und so vielleicht den Zorn der Himmelsschlangen auf sich ziehen. Deshalb waren sie hierher in Glamirs Turm verbannt worden. Hier würde kein Drache sie jemals finden.

»Ich denke, ihr solltet Glamir sagen, wer ihr wirklich seid. Vielleicht ist er ja einer eurer Bewunderer«, sagte Amalaswintha schließlich.

»Ein Arsch ist der und sonst nichts«, murmelte Galar wütend.

»Nee, nur ein halber Arsch«, ergänzte Nyr. »Mehr ist an ihm doch nicht mehr dran.«

»Ich finde, Amalaswintha hat recht. Wir sollten das Ganze diplomatisch …«

»Halt’s Maul, Wortefurzer«, schnauzte Galar Hornbori an. »Zumindest dich hat er sofort durchschaut.«

Amalaswintha legte sich auf eines der schmuddeligen Lager. Auch wenn der Sack, auf dem sie lag, mit übel stinkendem Stroh gefüllt war, war er doch besser als alles, was die Aale in den letzten Wochen zu bieten gehabt hatten. Sie war froh, dass diese endlose Irrfahrt durch unterirdische Flüsse und Seen endlich ein Ende gefunden hatte. Sie waren mit einem kleinen Konvoi bei Glamirs Turm angekommen. Die Frachtboote sollten ihn mit allem versorgen, was er brauchte, um über den Herbst zu kommen – dann, wenn das Wasser so hoch anstieg, dass der Turm gänzlich im Meer der Schwarzen Schnecken versank und kein Aal mehr anlegen konnte.

Amalaswintha blendete den Streit ihrer Mitgefangenen aus, schloss die Augen und genoss es, ihre müden Glieder zu strecken. Mit Glamir würde sie fertigwerden, dachte sie mit selbstbewusstem Lächeln. Sie wusste schon, wie sie es anfangen würde. Längstens zwei Tage, und der Mistkerl würde ihr wie ein zahmer Ziegenbock aus der Hand fressen.

In den Stein blicken

Als Amalaswintha aus tiefem, traumlosem Schlaf erwachte, wusste sie im ersten Augenblick nicht, wo sie sich befand. Es stank um sie herum, war feucht und dunkel wie immer in den letzten Wochen. Aber das schleifende Geräusch der Kurbelwelle fehlte, ebenso wie das leichte Schwanken des Aals.

»Was hat Frar denn da?«

Es war Hornbori, der sprach. Amalaswintha zog es vor, die Augen geschlossen zu halten, um nicht mit ihren drei ungewollten Gefährten reden zu müssen.

»Das ist ein Hammer«, entgegnete Nyr schläfrig.

»Ein Hammer? Woher hat der Kleine einen Hammer? Wie kannst du einem Kind einen Hammer geben! Der schlägt sich noch den Schädel ein und …«

»Es ist nur ein kleiner Hammer«, murmelte Nyr ärgerlich. »Und irgendwas zum Spielen muss er doch haben.«

»Einen Hammer«, sagte Hornbori fassungslos. »Das ist …«

»Woher kommt der Hammer?«, mischte sich nun auch Galar ein.

»Hab ihn mitgehen lassen. Ich meine, als klar war, dass wir wieder in diese feuchte Zelle verknackt werden, dacht ich mir, dass sich unser halber Gastgeber verdient hat, dass ich ihn ein bisschen beklaue.«

»Hast du auch was Nützliches geklaut?«, fragte Galar.

»Frar liebt seinen Hammer«, kam es beleidigt von Nyr. »Ihr wisst doch noch, wie sehr er das Geräusch von Hammerschlägen mochte. Das ist wie ein Wiegenlied für ihn. Wenn er groß ist, wird er bestimmt einmal Schmied. Und wenn er am Griff lutscht, beruhigt ihn das.«

»Der Kleine lutscht jetzt am schmuddeligen Griff irgendeines alten Hammers«, empörte sich Hornbori.

»Er hat es ja auch überlebt, die schmuddeligen Daumen von Nyr im Mund zu haben«, konterte Galar. »Ein bisschen Dreck hat noch keinem Kind geschadet.«

Amalaswintha versuchte, die Stimmen auszublenden und ihre besondere Gabe zu erwecken. Auf der Schwelle zwischen Schlaf und Wachen ließ sie ihren Geist wandern. Sie sah in den Stein, verließ ihre enge Zelle und erkundete den Turm und den Fels, in den er gebettet war. Der kurze, gemauerte Stummel auf der Klippe im unterirdischen Meer war nur ein winziger Teil der Anlage. Glamir und seine Männer hatten sich tief in den Fels der Höhlendecke gegraben. Die Anlage war seltsam. Es schien verschiedene Schmieden und Werkstätten zu geben. Ganz sicher war sich Amalaswintha jedoch nicht. Am klarsten sah sie die Adern der verschiedenen Erze. Obwohl ihr der verwunschene Blick durch den Stein erlaubte, Hohlräume im Fels zu erkennen, blieb ihr verborgen, was in den Hohlräumen gemacht wurde. Sie sah weder die Einrichtungen, noch war es ihr möglich zu sagen, ob sich jemand oder etwas dort aufhielt. Sie erkannte nur das Metall der Werkzeuge und ihre groben Formen.

Besonders seltsam war ein recht breiter, fast eine Meile langer Tunnel, der ins Nichts führte. Amalaswintha konnte sich nicht erklären, welchen Nutzen er haben mochte. Es musste viel Kraft gekostet haben, ihn aus dem Fels zu brechen, und sie bezweifelte, dass die wenigen Männer Glamirs dieses Werk vollbracht hatten. Dieser Tunnel hatte beim Bau zusätzliche Arbeitskräfte erfordert. Sie richtete ihren Blick nach oben, durchdrang all die Gesteinsschichten, bis sie hinauf zu Geröll, Humus und Wurzeln gelangte. Der Turm war gut durchdacht angelegt. Die Rauchabzüge der Schmieden mündeten in eine große, natürliche Höhle, sodass niemand an der Oberfläche Rauch aus einem vermeintlichen Kaninchenloch im Waldboden aufsteigen sehen konnte. Es gab einen dünnen Kohleflöz, der bei den Bauarbeiten bereits entdeckt worden war und nun ausgebeutet wurde, um die Schmiede und einige Heizöfen zu versorgen. Metall war im Gestein kaum vorhanden. Ein paar Einsprengsel Eisenerz war alles, was sie entdecken konnte.

Nun wandte Amalaswintha sich den Gesteinsformationen in der Tiefe zu. Der Brunnenschacht durchstieß eine Klippe, die über einem dunklen Abgrund aufragte. Niemals hätte sie erwartet, dass der See so unglaublich tief war. Glamirs Turm erhob sich über einem Spalt, der hinab bis zum Herzen der Welt zu reichen schien. Zum ersten Mal empfand die Zwergin ein Gefühl von Beklommenheit. Ihr ganzes Leben hatte sie in Höhlen verbracht. Sie war es gewohnt zu wissen, dass sich über ihr Gebirge aus Felsgestein erhoben, viele hundert Schritt dick. Nie hatte ihr das etwas ausgemacht! Im Gegenteil, tief unter der Erde fühlte sie sich geborgen. Aber hier war es anders. Glamirs Turm schwebte über einem unterirdischen Abgrund. Das Gestein, auf dem er errichtet war, war porös. Das Wasser war tief in die Klippe eingedrungen. Sie hingen fast in der Schwebe.

Amalaswintha spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann und Panik sie zu überwältigen drohte. Die Klippe war Jahrtausende alt. Sie würde nicht abbrechen – aber wenn es geschähe, meldete sich die Stimme der Panik, dann würde das Wasser in die unteren Etagen des Turms eindringen, und sie säßen in ihrem Kerker wie Ratten in der Falle. Sie wollte aufwachen, die Trance hinter sich lassen und einfach nur die festen, feuchten Wände ihres Kerkers sehen und ihren drei verrückten Gefährten lauschen. Wollte, dass ihre Welt so klein wurde, dass die größte Sorge war, ob es klug war, ein Kind am schmutzigen Stiels eines Hammers lutschen zu lassen, als ihr Blick auf etwas am Rand des Abgrundes fiel. Etwas, was sie noch nie gesehen hatte. Es war gewaltig, fremdartig und entzog sich jeder vernünftigen Erklärung.

Und es konnte keinen Zweifel daran geben, dass dies der Grund war, warum Glamir seinen Turm auf dieser Klippe im Nirgendwo errichtet hatte.

Von Schmied zu Schmied

Galar war selbst ein wenig überrascht, dass sie ihn zu Glamir gebracht hatten. Er wusste nicht genau, was Amalaswintha den Wachen zugeflüstert hatte, aber es hatte sie so sehr überzeugt, dass sie ihn umgehend vor den verstümmelten Schmied geführt hatten.

Glamirs Kammer stank nach ungewaschenen Kleidern und schimmelnden Essensresten. Sie war erstaunlich klein und kaum weniger feucht als der Kerker, in den man sie gesperrt hatte. Auf Luxus schien der alte Zwerg keinen sonderlichen Wert zu legen.

Glamir saß in einem wuchtigen Sessel mit hoher Lehne und abgewetzten, braunen Lederpolstern. Er trug nur eine Lederhose. Das Bett hinter ihm war zerwühlt, seine Haare zerzaust, als sei er gerade erst aufgestanden. Galar hatte keine Ahnung mehr, welche Tageszeit war. Sein Zeitgefühl war ihm während der Reise im Aal und den Tagen im Kerker völlig abhanden gekommen.

»Du kennst also mein Geheimnis«, kam Glamir unverblümt zur Sache. »Dann lass mal hören.« Er beugte sich vor und kratzte sich seinen Beinstumpf.

Amalaswintha hatte Galar alles genau erzählt. Anfangs hatte er die Sache mit ihrer Gabe nicht glauben wollen, bis sie ihn auf den kleinen Tunnel ansprach, den er in der Tiefen Stadt heimlich an seinen Brunnen angeschlossen hatte. Niemand wusste davon! Allerdings war er sich immer noch unsicher wegen der Geschichte, die sie ihm anschließend aufgetischt hatte. Das klang zu unwahrscheinlich.

»Ich höre!«, brummte Glamir unfreundlich und fixierte ihn mit seinem verbliebenen Auge.

»Du bist wegen der Metallwand hier«, sagte Galar gedehnt.

Die Aussage schien Glamir nicht sonderlich zu beeindrucken, deshalb sprach er rasch weiter: »Diese Wand ist riesig. Sie reicht mehr als eine Meile in die Tiefe und ist sogar noch breiter. Sie ist mehr als fünf Schritt dick. Ein kleines Stück liegt offen am Abgrund unter dem Brunnenschacht. Du versuchst, die Wand zu durchbohren, um herauszufinden, was dahinter liegt. Aber da ist nichts. Es gibt dort keine Höhlen, keine Geheimnisse. Die Wand an sich ist das Geheimnis.«

»Soso«, antwortete Glamir ironisch. »Jetzt bin ich aber wirklich beunruhigt. Hat man euch verdorbene Pilze zu essen gegeben? Ich muss dringend mit dem Koch sprechen. Er sollte wirklich nicht wahllos alle Küchenabfälle an euch verfüttern.«

Galar war verwirrt. Glamir wirkte nicht im Mindesten beeindruckt. Hatte Amalaswintha nur wirre Geschichten erzählt? Aber woher hatte sie dann von dem geheimen Tunnel bei seinem Brunnenschacht gewusst? »Würdest du mir denn sagen, was es mit dem seltsamen Tunnel auf sich hat, der eine Meile lang pfeilgerade in den Fels getrieben wurde, um dann im Nichts zu enden?«

Glamir grinste spöttisch. »Erstaunliche Geschichten hast du da auf Lager. War es das jetzt, oder wirst du mich noch mit weiteren Märchen unterhalten?«

Galar war verzweifelt. Glamir ließ alles an sich abgleiten. Nun hatte er nur noch eine letzte Karte auszuspielen. Amalaswintha hatte ihm dringend geraten zu offenbaren, wer sie wirklich waren. Wenn Glamir schon sonst nichts beeindruckte, dann vielleicht die Drachen, die sie zur Strecke gebracht hatten.

»Meine Gefährten und ich, wir haben dich belogen.« Eigentlich ging es ihm gegen den Strich, sich derart bei Glamir anzubiedern. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht getan. Er hätte Hornbori schicken sollen, doch wahrscheinlich wäre sein speichelleckender Gefährte bei Glamir nicht einmal vorgelassen worden. Die beiden trennten Welten.

»Lügner seid ihr also.« Glamirs Stimme war schärfer geworden, und etwas Lauerndes lag im Blick des Schmieds, als er hinzufügte: »Habt ihr auch den Alten in der Tiefe belogen?«

Plötzlich war sich Galar sicher, dass der Kerl sie schon hätte ertränken lassen, würden sie nicht unter dem Schutz des Zwergenfürsten stehen.

»Er weiß, wer wir sind. Deshalb hat er uns hierhergeschickt. Hat er dir nicht mitgeteilt, welche Gäste unter deinem Dach weilen?« Auf die Andeutung, dass sein Fürst Glamir nicht über alles informierte, war Galar stolz. Solche Spitzen hatte er früher nicht verteilt. Das kam vom Umgang mit Hornbori.

Glamir fluchte leise und kratzte sich erneut an seinem Beinstumpf. »Weißt du, wie das ist, wenn dir die Zehen jucken, obwohl du gar keine mehr hast?«

»Nein.«

»Dann erzähl mir mal, wer du heute zu sein vorgibst.«

Galar schluckte seinen Ärger hinunter, spürte aber, dass er nicht verhindern konnte, vor Zorn rot zu werden. Dieser Krüppel sollte es nicht übertreiben! »Ich bin Galar, Schmied aus der Tiefen Stadt. Meine Gefährten sind Hornbori und Nyr. Wir haben die beiden Drachen getötet.«

Glamir nahm einen Riegel Kautabak vom Tisch neben sich und biss ein ordentliches Stück ab. Er kaute eine Weile, bis er schließlich nickte. »Jetzt verstehe ich, warum Eikin euch nicht in den Ehernen Hallen haben wollte und hierher zurückgeschickt hat.«

Er spuckte einen bräunlichen Schleimklumpen aus und verfehlte den Napf, der neben ihm auf dem Boden stand, nur knapp. »Wie ist es, damit zu leben, dass man für den Untergang der Stadt verantwortlich ist, in der man aufwuchs? Den Tod aller verursacht zu haben, die dir geholfen haben zu werden, was du bist?«

Es war, als hätte ihm der Alte eine glühende Eisenstange direkt aus der Esse in den Magen gerammt. »Scheiße …« Galar wich zwei Schritte zurück.

»Ganz genau, Junge, an dir klebt Scheiße. Auf alle Zeit, wohin auch immer du gehst. Alle bewundern den Drachentöter, aber keiner will ihn in seiner Stadt haben. Glaubst du, das hier ist ein guter Unterschlupf? Das hier sind miese, feuchte Höhlen. Der Turm macht jeden krank, der länger als ein paar Wochen in ihm lebt. Ist mein Glück, dass ich die Hälfte meiner Knochen unten im Brunnen gelassen habe. So plagt mich mein Rheuma weniger.« Glamir lachte, ein heiseres, freudloses Lachen, das in trockenen Husten überging. »Jetzt habe ich dich also am Hals, und es gefällt dir, deine Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Schwafelst von riesigen Metallwänden und Tunneln, die nirgendwohin führen. Versuchst zu verstehen, warum ich hier bin, und kannst dich nicht mit der Wahrheit anfreunden, dass du nur in einem dreckigen, nassen Turm am Arsch der Welt steckst, in dem Schnecken gefangen werden, um sie wegen ein bisschen schwarzer Farbe auszuquetschen. Du brauchst es groß und geheimnisvoll, nicht wahr? Du brauchst etwas, das all die Toten rechtfertigt. Das wirst du hier nicht finden. Und auch nirgendwo anders! Das musst du mit dir alleine ausmachen.«

Galar hatte mit den anderen nie über den Untergang der Stadt gesprochen. Er war vor seiner Schuld davongelaufen, genauso wie Nyr und Hornbori.

»Weißt du, was du für mich bist?«, setzte Glamir unbarmherzig nach. »Ein Kind, das mit seinen Freunden auf einer Bergweide spielen gegangen ist. Und da hast du ein paar Kiesel gefunden und am Waldrand einen Auerochsen entdeckt. Einen großen Bullen mit Hörnern, fast so lang wie du. Du hast dir ausgemalt, wie dich alle bewundern werden, wenn du diese Trophäe erringst. Und dann bist du mit deinen Kieseln losgezogen. Leider haben sie nicht ausgereicht, um den Auerochsen zu erlegen. Es reichte nur, ihn so richtig wütend zu machen. Und als er auf dich lospreschte, da bist du auf den nächsten Baum geklettert. Aber die anderen, die haben es nicht geschafft, und du hast aus deinem sicheren Versteck zugesehen, wie sie verreckten.« Glamir spie einen weiteren Schwall braunen Schleim aus. Und diesmal traf er den Spucknapf.

»Wenn du den Rat eines alten Mannes willst, dann stell dich deinen Toten. Weiter als bis hier kann man nicht mehr fortlaufen. Und jetzt verkriech dich in deine Höhle. Ich bin fertig mit dir.«

Die Pfeilspitze

Galar schlich wie ein geprügelter Hund davon. Für dieses Mal hatte er den Schmied noch kleingekriegt, aber das würde nicht lange halten, dachte Glamir besorgt. Er musste eine andere Lösung finden.

Er griff nach der Pfeilspitze, die zwischen Pergamentrollen und Kautabakvorräten auf dem großen Arbeitstisch lag. Sie wirkte unscheinbar, und doch mochte sie die Welt aus den Angeln heben. Er hatte mit seinen Gliedern für diese Pfeilspitze bezahlt. Und mit dem Leben von sieben seiner Gefährten. Sie sah aus, als sei sie aus gewöhnlichem Stahl geschmiedet, doch das Metall kam aus dem Brunnenschacht.

Glamir dachte an die Geschichte über die riesige Metallwand, die Galar ihm aufgetischt hatte. Verrückt! Eine Metallwand von mehr als einer Meile! Wer sollte so etwas erschaffen haben. Die Alben? Das war nicht ihre Art. Galar musste verrückt sein, daran zu glauben. Ja, es gab im Gestein der Klippe einen Abbruch und dort waren sie beim Schneckensammeln auf eine Metallwand gestoßen. Aber das war es auch. Sie war im Gestein eingebettet, was zugegebenermaßen seltsam war, denn es ließ sich kein Zweck für diese Wand erkennen. Nichts gab Anlass zu der Vermutung, dass sie von außergewöhnlicher Größe war. Man musste ein Stück in eine Felsnische kriechen, um sie zu erreichen. Von dort kam der Stahl der Pfeilspitze. Doch es war schwer, etwas von dem Metall zu lösen. Ein paar winzige Späne, das war alles, was jeder Tauchgang brachte. Das Metall war fast unverwüstlich. Sie kratzten mit Diamant über die Metallplatte, und mit einem Magneten zogen sie die winzigen Späne an, die sich dabei lösten. Zum Glück ließ sich dieses fremdartige Metall nicht schwerer schmelzen als herkömmlicher Stahl.

Glamir wog die Pfeilspitze in der Hand. So viel Blut und Zeit hatten sie dafür gegeben. Und sie mussten noch mindestens zwei Dutzend solcher Pfeilspitzen herstellen, bevor sie daran denken konnten, sie einzusetzen. Glamir spuckte einen Strahl Tabaksaft in den Napf neben seinem Sessel. Er würde es nicht mehr erleben, wie sie die Welt veränderten. Aber das spielte keine Rolle, denn er hatte den ersten Schritt getan. Das würde nicht in Vergessenheit geraten. Zwerge hatten Geduld. Der Tag der Abrechnung mit den Himmelsschlangen würde kommen!

Glamir starrte auf die Tür, durch die der junge Schmied verschwunden war. Sie waren sich gar nicht so unähnlich. Aber auf einem Misthaufen konnte es nicht zwei Hähne geben. Er musste ihn loswerden, und er wusste auch schon wie. Seine Neugier und Selbstüberschätzung würden Galar zum Verhängnis werden. Er sollte nicht lange damit warten, den Anführer der Drachentöter loszuwerden, überlegte Glamir. Je früher der Störenfried verreckte, desto besser.

Auf Leben und Tod

Nachtatem nahm seinen Platz in der Höhle unter den Basaltklippen ein. Die weite Felsnische auf der anderen Seite der Halle war leer. Dort hatte der Himmlische sich niedergelassen, wenn sie sich zur Beratung versammelten oder die Berichte der heimkehrenden Drachenelfen hörten. Es war nun schon die zweite leere Nische. Eine Mahnung, dass sie nicht unbesiegbar waren.

Er lauschte auf die Schritte auf der Treppe, die zu ihnen hinabführte, und öffnete seine Gedanken für seine Brüder. Sie waren gekommen, um zu hören, was geschehen war, obwohl sie alle es im Grunde schon wussten – Nangogs Erwachen war auf allen Welten zu spüren gewesen. Ihr Griff nach dem magischen Netz war in Wellen durch die Schöpfung gelaufen. Die kleinen Vögel im Jadegarten hatten für einen Moment mit ihrem Gesang innegehalten, als Nangog erwacht war. Gewiss hatten nicht alle Geschöpfe gespürt, dass die Geschichte der drei Welten in diesem Augenblick eine neue Wendung genommen hatte, doch die feinfühligeren waren sich bewusst, dass etwas vorgefallen war, auch wenn es sich nicht ihrem Begreifen erschloss.

Er spürte die Unruhe seiner Nestbrüder. Nur der Goldene schien nicht dem Bericht der Drachenelfen entgegenzufiebern. Wusste er mehr als sie? Nachtatem lauschte erneut auf die Schritte. Es waren zu wenige! Nur zwei Elfen kamen die Treppe hinab! Und da erschienen sie auch schon: Lyvianne und Bidayn. Wo waren die anderen? Warum war Nandalee nicht hier?

Es fiel ihm schwer, seine Ungeduld zu beherrschen. Er musste sich zwingen, keine Fragen zu stellen und dem Bericht der Ereignisse zu lauschen. Es war Lyvianne, die in ihre Mitte trat und über die Mission auf Nangog Rechenschaft ablegte. Die Meisterin der Weißen Halle erhob keine Anklage gegen Nandalee, doch hinter ihren Worten schimmerte deutlich auf, dass sie die junge Elfe für zu unerfahren hielt. Sie berichtete von der ziellosen Suche in der Goldenen Stadt. Davon, wie jeder eigene Wege gegangen war, statt geführt zu werden. Sie machte keinen Hehl daraus, dass es ein glücklicher Zufall gewesen war, auf den Mann im Stein gestoßen zu sein.

Nachtatem spürte das Unbehagen seiner Nestbrüder, als Lyvianne über Manawyn sprach. Sie alle hatten gehofft, dass diese Geschichte niemals ans Licht kommen würde. Sie hatten Manawyn, wie alle anderen Elfen seiner Mission, für tot gehalten. Es war das unrühmlichste Kapitel im Buch der Drachenelfen. Sie hatten den Begründer der Weißen Halle und die anderen ersten Meister nach Nangog geschickt, um zu erkunden, was im Weltenmund vor sich ging. Und ihre besten Krieger waren gleich bei ihrer ersten Mission gescheitert. Deshalb hatten sie das Gerücht verbreitet, die ersten Meister hätten sich in die Einsamkeit zurückgezogen, um in der schwersten Stunde Albenmarks zurückzukehren.

Ihr werdet dieses Geheimnis immer für euch behalten! Die Gedanken des Roten waren wie ein Flammensturm, unter dem selbst Lyvianne kurz zusammenzuckte.

Die beiden Elfen würden schweigen, sie hatten von sich aus begriffen, was ihre Entdeckung für die Weiße Halle bedeuten mochte. Obwohl es die Schule der Meuchler ohnehin nicht mehr gab. Die Novizen und Meister waren, seitdem die Himmelsschlangen sie nach dem Angriff auf die Blaue Halle fortgeschickt hatten, nicht mehr zurückgekehrt, und sie würden sich gewiss für lange Zeit nicht in jenem abgelegenen Tal versammeln, in dem die Weiße Halle lag. Sie würden sich nirgends mehr versammeln. Sie waren ein zu attraktives Ziel für einen Gegenschlag der Devanthar – und der würde kommen, dessen waren sich Nachtatem und seine Brüder vollkommen sicher.

Wie genau Nangog ihr halbes Herz zurückerlangt hatte, vermochte Lyvianne nicht zu berichten. Es war Nandalee gewesen, die dies vollbracht hatte und die zum Erstaunen Lyviannes nicht zurückgekehrt war. Die Meisterin erklärte, wie sie und Bidayn sich von den anderen getrennt hatten, die auf schnellstem Wege zum Goldenen Tor wollten. Sie gestand, dass sie ihrer beider Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um Bidayn eine neue Haut zu schenken. Nachtatem spürte, dass diese Details seine Nestbrüder kaum interessierten. Die Mission war geglückt, das allein zählte, und dass mit Opfern zu rechnen war, war ihnen von Anfang an klar gewesen.

Lyvianne schilderte in eindrucksvollen Farben das Beben, das die Goldene Stadt verwüstet hatte, und berichtete, wie ihre Novizin Bidayn einen der Silbernen Löwen der Devanthar bezwungen hatte.

»Bidayn hat in höchster Gefahr Tapferkeit und einen kühlen Kopf bewiesen. Als ihre Meisterin möchte ich vorschlagen, sie nun unter die Drachenelfen aufzunehmen. Sie ist durch ihre Taten auf Nangog ohne Frage über den Rang einer Novizin hinausgewachsen«, schloss sie ihren Bericht.

Es war selten, dass in dieser Runde vorgeschlagen wurde, eine Novizin zur Drachenelfe zu erheben. Üblicherweise entschieden die Meister der Weißen Halle darüber. Der Dunkle konnte spüren, dass seine Nestbrüder dennoch geneigt waren zuzustimmen.

Bitte erklärt noch einmal genau unter welchen Umständen ihr Euch von Euren Gefährten getrennt habt, Dame Lyvianne? Nachtatem ahnte, dass Lyvianne nicht alles erzählt hatte, und es kostete ihn einige Beherrschung, nicht direkt nach Nandalee zu fragen. In jeder Zukunft, die er für sie gesehen hatte, war sie lebend von Nangog zurückgekehrt. Was war geschehen?

Widerstrebend bekannte sich Lyvianne dazu, ihre Gefährten verlassen zu haben, ohne die Erlaubnis Nandalees einzuholen. Sie und Bidayn hatten das Gedränge um die Goldene Pforte genutzt, um sich davonzuschleichen. Die Meisterin berichtete, wie es schon zuvor zu einer Auseinandersetzung mit Nandalee gekommen war, weil sie darauf bestanden hatte, den Unsterblichen Aaron, der geblendet worden war, zu heilen.

Ihr habt einem unserer Erzfeinde das Augenlicht zurückgegeben?, brauste der Flammende auf und schob sich aus der weiten Felsnische, die sein Lager war. Die Unsterblichen sind die ersten Diener der Devanthar unter den Menschenkindern. Wie konntet Ihr ihn retten? Das ist Verrat!

»Ich habe ihn nicht gerettet, ich habe ihm seine Geheimnisse entrissen«, entgegnete Lyvianne, ohne vom sengenden Zorn des Flammenden eingeschüchtert zu sein. »Ich weiß nun, wo sich die zweite Hälfte von Nangogs Herzen befindet. Die Devanthar verbergen es in einem abgeschiedenen Tal in Aram, nur einen Tagesritt von der Kupfermine Um el-Amand entfernt. Es gibt dort immer einen Devanthar als Wache. Sie lösen einander in dieser Pflicht ab.«

Der Dunkle spürte, welch kopfloses Begehren diese Nachricht bei seinen Nestbrüdern auslöste. Sie wollten das halbe Herz an sich bringen und dachten in ihrer Gier nicht bis zum Ende.

Ruhig, sprach er nur in ihren Gedanken. Die beiden Albenkinder sollten seine Worte nicht hören. Es wäre nicht klug, jetzt noch einen Schlag gegen die Devanthar zu führen.

Wir würden sie entwaffnen, begehrte der Flammende auf.

Haben wir das Herz, können wir ihnen unsere Bedingungen für einen Frieden diktieren. So sprach der Goldene in ihrer aller Gedanken. Wir müssen es haben!

Wahrt eure Würde im Angesicht von zwei Albenkindern, mahnte der Frühlingsbringer. Zeigt ihnen nicht so deutlich euer Begehren!

Nachtatem war unzufrieden mit der Wendung, die das Gespräch nahm. Es war an der Zeit, es wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Was gewinnen wir, wenn wir die zweite Hälfte des Herzens holen?, begann er. Wollen wir Nangog wirklich ihre alte Stärke zurückgeben? Würde sie es uns danken? Wir gehörten zu denen, die sie hintergangen haben! Welchen Grund hätte sie, uns freundlich gesonnen zu sein. Wenn wir sie ganz erwecken, erschaffen wir eine dritte Kraft. Zwischen uns und den Devanthar gibt es ein Gleichgewicht. Das ist vorüber, wenn sie erwacht. Wer immer sie auf seine Seite zieht, kann den anderen vernichten. Und was ist der nächste Schritt? Eine Seite bleibt mit Nangog allein übrig. Wird sie der Versuchung widerstehen können, auch noch die Letzten ihrer Kerkermeister zu vernichten?

Wenn wir das fehlende Teil ihres Herzens besitzen, entscheiden wir, ob, und wenn ja, wann Nangog es erhalten wird, widersprach ihm der Goldene temperamentvoll. Ich plädiere dafür, dass wir es den Devanthar nehmen.

Sein Nestbruder gebärdete sich mit einem Selbstbewusstsein, das nahe an Arroganz grenzte, dachte Nachtatem zufrieden. Mochte er noch so im Lichte erstrahlen, seine Nestbrüder blendete er damit nicht.

Was gewinnen wir außer einer neuen Bürde? Frühlingsbringers Schwanz peitschte aufgeregt über den Granitboden. Er gab sich keine Mühe zu verbergen, dass er aufgebracht war. Wir sollten Entscheidungen dieser Tragweite in aller Tiefe durchdenken. Deshalb frage ich noch einmal: Was gewinnen wir? Müssen wir befürchten, dass die Devanthar der Riesin die zweite Hälfte ihres Herzens bringen? Kaum, denn sie können es sich nicht leisten, die Welt Nangog zu verlieren. Nangog ist die Kornkammer ihrer überbevölkerten Welt. Sie werden mit aller Kraft versuchen, die Riesin wieder in ihre Schranken zu weisen. Und nun nehmen wir einmal an, wir besäßen das Herz. Wäre uns daran gelegen, Nangog all ihre Macht zurückzugeben? Nein! Und glaubt ihr, die Devanthar wissen das nicht, Brüder? Wenn wir unseren Bruder, den Himmlischen, rächen und die Devanthar vernichten wollen, dann müssen wir es selbst tun! Darauf zu hoffen, dass Nangog uns diese Last abnimmt, ist nicht klug. Die einzige Alternative zu ihrer Vernichtung ist ein ernsthaftes Friedensangebot. Wenn wir diesen Weg gehen wollen, dann müssen wir es schnell tun. Ich denke, die Devanthar sinnen bereits in dieser Stunde auf Rache. Wir sollten uns künftig nicht mehr alle an einem Ort versammeln. Unterschätzt die Devanthar nicht. Sie sind Weltenschöpfer, sie haben schon zwei unserer Brüder getötet. Ich bin überzeugt, sie haben die Macht, uns alle zu vernichten, wenn sie wüssten, wo sie uns versammelt antreffen könnten. Wenn wir uns für den Krieg entscheiden, dann müssen wir ihnen zuvorkommen. Wir müssen diejenigen sein, die zuerst zuschlagen. Der Krieg, der uns bevorsteht, wird anders sein als jeder, der zuvor geführt wurde. Es gibt nicht Gewinner und Verlierer. Es gibt die Überlebenden und jene, die nur noch Geschichte sind. Eine Niederlage wird gleichbedeutend mit völliger Vernichtung sein.

Nachtatem war überrascht, solche Reden von Frühlingsbringer zu hören, der sonst immer als ruhig und besonnen galt.

Wie also schaffen wir die Devanthar aus der Welt?, fragte der Flammende.

Nachtatem sah die Mordlust in den Augen seines Bruders, und er wusste, auch der Nachtblaue, der von ihnen allen am meisten Raubtier war, würde den Weg des Krieges wählen.

Was immer wir tun, es sollte wohl überlegt sein. Ich bin nicht dagegen, die Devanthar auszulöschen, aber es muss beim ersten Versuch gelingen. Einen zweiten werden wir nicht bekommen. Es war der Rote, der gesprochen hatte. Er war launisch und leidenschaftlich. Er liebte es, die Gestalt von Elfen anzunehmen und sich unter sie zu mischen und schönen Frauen nachzustellen. Eine Angewohnheit, die ihm von seinen Brüdern schon viel Spott eingebracht hatte. So leidenschaftlich er bei Elfendamen war, so unbarmherzig konnte er auch als Krieger sein. Das Leben auf alles oder nichts zu reduzieren, entsprach ganz seiner Art.

Die Devanthar werden nicht damit rechnen, dass wir sehr schnell noch einmal zuschlagen, sagte der Goldene. Es durchbricht das Muster unserer Auseinandersetzung. Bislang gab es immer Schlag und Gegenschlag. Überraschen wir sie, während sie denken, sie seien am Zug! Ihr Zorn über das, was getan worden ist, und ihre Gier nach Rache werden sie unvorsichtig sein lassen. Sie werden nicht glauben, dass wir so schnell noch einmal zuschlagen könnten. Auch ich bin dafür, diesen Krieg zu Ende zu bringen, jetzt. Vernichten wir sie, bevor ihnen einfällt, wie sie uns vernichten können. Nach dem, was auf Nangog geschehen ist, gibt es keinen Weg mehr zurück zum Frieden. Nun kommt es nur noch darauf an, wer als Erster den entscheidenden Schlag führt.

Und wann besprechen wir unsere Pläne mit den Alben?, wandte Nachtatem ein. Sie sind unsere Schöpfer. Wir sind die Wächter ihrer Welt. Ihre Krieger. Ich war immer stolz darauf, genau das zu sein. Aber ein Krieger, der ohne den Befehl seines Herrn einen Kampf beginnt, ist ein Rebell. Und das will ich nicht sein.

Wenn wir auf sie warten, können wir den Devanthar gleich unsere Kehlen anbieten, fauchte der Flammende. Was ist mit dir los, Bruder. Fehlt es dir am Mut zu kämpfen?

Nachtatem war diese Begeisterung für einen Kampf auf Leben und Tod unheimlich. Ich habe oft genug gekämpft, um zu wissen, dass der, der seinen Gegner besser kennt, meist siegt. Ich bin dagegen, einfach unüberlegt loszuschlagen. Und ich bin dagegen, dass wir vor zwei Albenkindern unsere Kriegspläne schmieden.

Sie können uns nicht verstehen, wandte der Nachtblaue ein.

Aber sie merken uns an, dass wir uns uneins sind, entgegnete Nachtatem scharf.

Wir könnten sie fressen. Der Nachtblaue bleckte die Zähne. Geifer troff von seinen mächtigen Kiefern, und Nachtatem war sich nicht sicher, ob sein Bruder nur einen schlechten Scherz machte.

Soll das der Lohn dafür sein, dass sie uns gut gedient haben? Der Goldene schob sich aus seiner Felsnische und nahm dabei den Kopf zurück, als wolle er im nächsten Augenblick wie eine Schlange zustoßen.

Dame Bidayn! Nachtatem drang nun in die Gedanken der beiden Albenkinder ein. Wir haben entschieden, dass Ihr zur Drachenelfe erhoben sein sollt. Wen von uns wollt Ihr als Euren künftigen Gebieter erwählen.

Ohne zu zögern, trat die junge Elfe vor den Goldenen. »Ihm soll mein Leben gehören. Ihm will ich dienen, bis der Tod mich findet.« Mit diesen Worten sank sie vor dem Goldenen auf die Knie, der diese Unterwürfigkeit sichtlich zu schätzen wusste.

Erhebt Euch, Dame Bidayn. Von nun an seid Ihr die meine, entgegnete der Goldene feierlich. Ihr wisst, welche letzte Prüfung Ihr zu bestehen habt. Mögen die Alben über Euch wachen, wenn Ihr allein in der Wildnis von Bainne Tyr seid. Es ist Euch nun erlaubt zu gehen. Mag Eure Meisterin, die Dame Lyvianne, Euch helfen, diese Reise vorzubereiten. Wenn das Glück mit Euch ist, sehen wir uns im Jadegarten, Dame Bidayn.

Heimat

Volodi war glücklich. Er atmete tief ein und genoss den Duft des spätsommerlichen Waldes. Bald würde das erste Laub fallen. Er hatte den Geruch der Eichen vermisst, das trockene Hämmern eines Spechtes in der Ferne. Seine Heimat! So lange war er nicht mehr hier gewesen. Es war ein guter Tag. Über ihrem Weg wölbten sich Eichen und Buchen zu einem dichten Dach, durch das nur vereinzelt Sonnenspeere herabstießen, um den Wald in ein magisches Licht zu tauchen.

Schneeschwingen, die großen, weißen Schmetterlinge, die im Sommer über die fetten Kuhweiden gesegelt waren, tanzten in dichten Schwärmen ihren Todesreigen in den Säulen aus goldenem Licht. Sie würden die ersten kalten Nächte, die nicht mehr fern waren, nicht überleben.

Quetzalli ging neben ihm. Mit weiten Augen folgte sie jeder Bewegung im lichten Unterholz. Sie hatte ihm verständlich gemacht, dass in ihrer Heimat der Wald die Unvorsichtigen fraß. Ganz offensichtlich traute sie dem Wald Drusnas trotz seiner Beteuerung, dass es hier anders sei, nicht. Sie fror, obwohl noch nicht einmal der Herbst angebrochen war. Der Winter würde hart für sie werden, dachte Volodi. Zapote schien ein warmes Land zu sein. Er hatte ihr nicht begreiflich machen können, was Schnee war. Er würde gut auf sie achten müssen. Sie trug ein schönes Kleid aus rotem Leinen. Er hätte ein Wollkleid für sie wählen sollen oder wenigstens einen wollenen Umhang.

Volodi mochte es, sie einfach nur anzuschauen. Sie hatte ihren Stolz wiedergefunden, ging sehr gerade und auf eine Art, die zeigte, dass sie aus einer Familie stammte, die es gewohnt war zu herrschen. Mataan hatte sich als überraschend großzügig erwiesen, als er sie beide für die Rückkehr nach Drusna ausgestattet hatte. Der Fischerfürst hatte Volodi überrascht. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass Mataan für Söldner nichts übrighatte. Er hatte sich in ihm getäuscht.

Quetzalli trug breite goldene Armreife und eine Kette aus goldgefasster Jade. Wie eine Fürstin sah sie aus. Volodi freute sich darauf, wie sie am Hof seines Vaters bestaunt werden würde. Bald würde sie seine Sprache gelernt haben, und er malte sich aus, wie sie faule Mägde mit der Drohung erschreckte, ihnen das Herz herausschneiden zu wollen. Er grinste gut gelaunt.

»Du glücklich?«, fragte Quetzalli leise.

»Glücklich, mit dir hier zu sein. Mein Vater wird ganz schön staunen, wenn er sieht, dass sein jüngster Sohn, von dem er nie mehr als Ärger erwartet hat, mit einer Prinzessin nach Hause kommt.«

»Ich nicht Prinzessin«, sagte sie ernst.

Volodi lächelte breit. »Aber das wissen die anderen ja nicht. Sie werden uns glauben, was immer wir ihnen sagen.«

»Ich nicht Prinzessin«, wiederholte Quetzalli.

»Und wenn du die niederste Dienstmagd wärst, wäre ich immer noch stolz, dass du meine Frau bist. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben begegnet ist.«

Quetzalli sah aus, als wolle sie etwas sagen, fand aber nicht die richtigen Worte. Er kannte dieses Gefühl nur zu gut. In Aram war er ein stammelnder Idiot gewesen. Oft hatte er sich unverstanden gefühlt. Volodi nahm Quetzalli fest in die Arme. »Ich kann in deinem Herzen lesen, meine Schöne. Wir werden keine Worte brauchen.«

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er Quetzalli mit aller Kraft gegen seinen Bronzekürass quetschte. Er lockerte die Umarmung. Sie strahlte ihn an. Volodi grinste verlegen. Er war noch nie so glücklich gewesen.

Auch ihn hatte Mataan zum Abschied reich beschenkt. Er trug einen prächtigen Bronzepanzer, auf dessen Brust der Löwe Arams prangte. Die Augen der Bestie waren aus Bernstein, mit geschlitzten Pupillen aus Onyx. Es war die Rüstung eines Feldherrn. Zwei schmale, goldbeschlagene Schwertgurte aus rotem Leder kreuzten sich über seiner Brust, sodass die Griffe der Waffen über seinen Schultern aufragten. Es waren beides Eisenklingen aus Luwien. Am Gürtel um seine Hüften hing ein schöner Helm mit weißem Rosshaarbusch, und seine Schienbeine wurden von fein gearbeiteten Beinschienen geschützt, die über den Knien in Löwenköpfen mündeten. Sein Bruder würde blass vor Neid werden, wenn er die Rüstung und die Waffen sah.

Er würde ihm eines der beiden Schwerter schenken.

Sie erreichten den Waldrand, und Volodi ließ den Blick über die Felder auf der weiten Lichtung schweifen. Das meiste Korn war schon eingefahren worden. Nur wenige Feldarbeiter waren noch zu sehen. In einiger Entfernung trieb ein junges Mädchen einen Schwarm Gänse über eine Weide und sah neugierig zu ihnen hinüber. Inmitten der Felder, auf einem flachen Hügel, erhob sich das Langhaus seines Vaters, das von einer hölzernen Palisade umringt wurde. Ställe und Gesindehäuser umgaben die Halle, die mit goldenem Stroh gedeckt war. Ganz offensichtlich war das Dach erst in diesem Sommer erneuert worden. Es stand erstaunlich wenig Vieh auf den Weiden nahe beim Herrensitz. Ob es wieder Ärger mit irgendwelchen Räubern gab?

»Das ist mein Zuhause«, erklärte Volodi stolz.

Quetzalli ließ sich Zeit, die weite Lichtung und alles, was sich darauf befand, in sich aufzunehmen. Dann kniete sie nieder, riss ein Grasbüschel aus, roch daran und rieb die schwarze Erde, die von den feinen, weißen Wurzeln hing, zwischen den Fingern. »Land gut«, sagte sie schließlich.

Er mochte ihre direkte Art. »Ja, das Land ist wirklich gut«, sagte er lächelnd. »Hier wachsen Korn und Kinder.«

Jetzt lächelte auch sie.

Volodi sah, dass man beim Herrenhaus auf sie aufmerksam geworden war. Am Durchgang der Palisade sammelte sich ein kleines Trüppchen von Feldarbeitern und Gesinde. Es mussten wirklich unruhige Zeiten sein. So misstrauisch waren die Leute seines Vaters nicht gewesen, als er gegangen war.

Mit kräftigen Schritten ging Volodi den Männern und Frauen entgegen. Seine Verletzung durch den Pfeil war gut verheilt und bereitete ihm kaum noch Schmerzen. Quetzalli hielt sich leicht hinter ihm. Ihr war nicht entgangen, dass etwas nicht stimmte.

»Wer bist du?«, rief ein kleiner, schwarzhaariger Kerl, der die Gruppe anführte. Volodi erinnerte sich noch gut an ihn. Es war Vadim, der Wagenlenker seines Vaters.

»Na, Vadim, prügelt dich immer noch dein Weib, wenn sie schlechte Laune hat? Hast du so viele Schläge auf den Kopf bekommen, dass du den Sohn deines Herrn nicht mehr erkennst, wenn er vor dir steht?«

Vadim hatte eine große, streitsüchtige Frau geheiratet und war seitdem abwechselnd verspottet oder bedauert worden. Sie hatte das Sagen in seinem Leben, aber sie schien die Richtige für ihn zu sein, denn er hatte nie rebelliert. Nicht einmal, wenn er ab und an mit einem blauen Auge zum Dienst bei seinem Vater erschienen war.

»Du bist Volodi?« Der kleine Mann musterte ihn ungläubig. »Deine Haut ist so dunkel. Du bist auch größer als der Sohn unseres Herrn.«

»Vielleicht bist du ja kleiner geworden, Vadim. Hast du vergessen, du musstest zu mir aufblicken, seit ich dreizehn bin.« Er wandte sich an den bulligen Schildträger seines Vaters, der hinter Vadim stand. »Was ist mit dir, Grisha? Erkennst du mich auch nicht? Was macht dein Bein? Im Frühling, als ich gegangen bin, hatte dich ein Eber auf der Jagd erwischt, und du hast gehinkt wie ein Greis. Und du, Mila? Sind deine Zwillinge groß geworden? Als wir uns zum letzten Mal gesehen haben, hast du dich beschwert, wie sie dich beißen, wenn sie an deinen Brüsten liegen.«

»Er ist es wirklich«, rief Grisha mit seinem tiefen Bass. Er schob den Wagenlenker Vadim zur Seite und schlang seine mächtigen Arme um Volodi. »Junge …« Er schniefte. »Gut, dass du wieder da bist. Wir hatten schwere Zeiten.«

Jetzt traten auch die anderen näher, klopften ihm auf die Schulter und bestaunten seine Rüstung und seine Waffen. »Bist ein reicher Mann geworden«, murmelte Grisha. »Hattest einen großzügigen Soldherrn, was?«

»Ich bin der Hauptmann der Leibwache des Unsterblichen Aaron«, erklärte Volodi stolz. »In der Schlacht auf der Hochebene von Kush habe ich dreihundert Streitwagen angeführt. Ich war auch in Nangog und bin mit einem Schiff über den Himmel geflogen.«

»Schön, dass du reich geworden bist. Einen Helden hätten wir hier auch gut gebrauchen können«, schimpfte Vadim.

»Genau, einen Helden.« Volodi lachte. Vadim hatte sich nicht geändert. Vor seinem Weib kuschte er, aber bei jedem anderen hatte er ein freches Mundwerk. »Zwei Helden in einem Langhaus sind einer zu viel.« Er sah sich um. »Wo steckt Bozidar?«

Alle verstummten, ja, sie wichen plötzlich seinem Blick aus.

»Was ist los?«

»Du hast es nicht gehört?«, begann Vadim.

»Was lauft ihr da zusammen wie ein Haufen Hühner? Habt ihr keine Arbeit mehr?«

Die harte, alte Stimme hätte Volodi unter Tausenden erkannt. Seine ganze Kindheit hatte sie ihm Angst gemacht. Selbst jetzt jagte ihr Klang ihm einen Schauer über den Rücken. Es war sein Vater – Ilja, der Herrscher über diese Lichtung und über die Wälder in Umkreis eines Tagesritts. Er war ein harter Mann, der nie einen Hehl daraus gemacht hatte, dass sein Herz nur seinem Erstgeborenen Bozidar gehörte. Was immer Volodi auch geleistet hatte, an seinen Bruder hatte er nie herangereicht. Für seinen Vater war er nicht mehr wert gewesen als der Dreck unter den Fingernägeln.

Das Gesinde und die alten Kampfgefährten seines Vaters traten zur Seite, sodass er den Alten sehen konnte. Er stand unter der Tür des Langhauses, ein großer Mann mit einem mächtigen weißen Schnauzbart, der sein Gesicht in zwei Hälften teilte. Das Alter hatte ihm die Muskeln weggeschmolzen. Er war drahtig, seine faltige Haut wettergegerbt. Unnachgiebig wirkte er, als hätten die Jahre ihn härter und härter gemacht.

»Komm näher, Krieger!«, befahl er.

War es ein gutes Zeichen, dass sein Vater ihn noch nicht erkannt hatte? Volodi ging ihm entgegen, Quetzalli blieb an seiner Seite. Spürte sie seine Anspannung? Er hatte ihr nie von seinem Vater erzählt. Davon, wie sehr er ihn immer enttäuscht hatte.

»Volodi.« Er klang nicht überrascht. Seine Stimme war nicht zu deuten.

»Vater«, entgegnete er knapp. »Du hast dich gut gehalten.«

Iljas Wangen zuckten. Das war schon früher kein gutes Zeichen gewesen. Schon hatte er seinen Vater wieder verärgert, und wie meist hatte er nicht die geringste Ahnung, womit.

»Du hast es dir in der Fremde also gut gehen lassen.« Ilja maß die Rüstung mit verächtlichem Blick. »Was ist das für ein Tier mit Katzenaugen?«

»Ein Löwe.«

»Was ist das? Hast du vergessen, woher du kommst? Eine Katze als dein Zeichen zu führen …« Er spuckte ihm vor die Füße. »Was bist du? Ein Krieger zum Streicheln, dass du dich mit einer Katze vergleichst.«

Nichts hatte sich verändert, dachte Volodi bitter. »Der Löwe ist das Zeichen Arams. Der Devanthar dieses Reiches hat ein Löwenhaupt. Löwen sind stolze und mächtige Raubtiere.«

»Bist du ein Sohn Arams geworden? Hast du dich deshalb so lange nicht mehr blicken lassen? Hast du vergessen, dass wir dem alten Bären dienen? Er wird es nicht mögen, wenn du mit so einer Rüstung durch seine Wälder läufst. Hättest sie dalassen sollen, wo du hergekommen bist.« Er bedachte Quetzalli mit einem abfälligen Blick. »Und was macht die Schlampe hier? Hast du dir eine Ischkuzaia-Sklavin ins Bett geholt? Wundert mich nicht. Richtige Weiber lachen sicher über einen Katzenmann.«

»Böser, alter Mann!«, sagte Quetzalli aufgebracht und funkelte ihn so wild an, als wolle sie ihm das Herz aus der Brust reißen. Dann spuckte sie ihm vor die Füße.

Sein Vater war für einen Augenblick sprachlos. Volodi fing seine Hand mitten im Schlag. Er war überrascht, wie leicht es ihm fiel, die zur Faust geballte Rechte seines Vaters niederzudrücken. Früher war er ihm immer so unüberwindlich erschienen. »Quetzalli war eine der höchsten Priesterinnen in ihrem Volk. Sie hat in Zapote den Rang einer Prinzessin. Du wirst dich ihr gegenüber benehmen, für eine Nacht. Dann sind wir fort.«

»Kneifst du also wieder den Schwanz ein?«, knurrte sein Vater. »Das war ja schon immer deine Art.«

»Es ist unmissverständlich, wie sehr dich mein Besuch freut. Ich verstehe. Du hältst deinen Stuhl für Bozidar warm. Ich werde euch beiden nicht in die Quere kommen. Soll er über ein Dutzend Kühe und alte Männer herrschen.«

»Du weißt nichts über deinen Bruder?«

»Was müsste ich über ihn wissen? Dass er dein Liebling ist? Ich habe begriffen, dass sich in all den Jahren nichts geändert hat.«

Ilja trat zur Seite und gab ihm ein Zeichen, in die Halle einzutreten. »Du solltest deinen Bruder begrüßen.«

Einen Moment war Volodi versucht, sich seinem Vater zu verweigern. Sollte Bozidar doch zu ihm kommen! Überhaupt, warum ließ sich sein Bruder nicht blicken? Nur weil er mit Bozidar selten Streit gehabt hatte, gab er nach und trat ein. Seinem Bruder war es meist unangenehm gewesen, dass ihr Vater sie so unterschiedlich behandelt hatte.

In der großen, lichtlosen Halle hatte sich nichts verändert. Ihr Boden bestand aus gestampftem Lehm. In der Mitte war eine lange Feuergrube ausgehoben. Die hohe Decke war von Ruß geschwärzt. Der schwere Duft von frischem Sommerheu, das bei den Schlafplätzen liegen musste, hing in der Luft. Dort, wo die Dachschräge auf den Lehmboden traf, waren mit Balken und Wolldecken kleine Nischen abgetrennt, in denen das Gefolge seines Vaters schlief. Am Ende der Halle, dort, wo auf einem niedrigen Sims der hohe geschnitzte Lehnstuhl Iljas stand, waren die Schlafnischen der Familie.

»Rieche Tod hier«, sagte Quetzalli sehr leise.

Volodi roch nichts Ungewöhnliches. Neben dem Geruch nach Heu stank es nach Rauch, kaltem Fett und vergossenem Honigwein. So wie immer schon. Es war dunkel in der Halle. Das einzige Licht fiel durch die breite, zweiflügelige Eingangstür und den Rauchabzug unter dem Dachfirst. Alles war wie immer.

Ilja ließ sich stöhnend neben einer der Nischen nieder und zog den Vorhang zur Seite. Im Heu dahinter lag ein alter Mann. Seine Augen waren nach innen verdreht und zeigten nur noch das Weiße. Sabber troff ihm aus dem Mundwinkel über lange, schlohweiße Bartstoppeln. Er schien nur aus faltiger Haut und Knochen zu bestehen.

Volodi hatte den Mann nie zuvor gesehen. »Wer ist das?«

»Bozidar«, sagte Ilja mit brechender Stimme. »Das ist Bozidar.«

Volodi hatte immer schon Probleme mit den makaberen Scherzen seines Vaters gehabt. Doch das hier war das Abgeschmackteste, was sich der Alte je geleistet hatte. »Das reicht! Ich gehe!«

Quetzalli strich dem Greis über den Kopf. »Hat Dunkel berührt«, sagte sie betroffen. »Bleib, Wohl-Odi.«

Er verstand nicht mehr, was hier vor sich ging.

»Was soll das heißen, ›hat Dunkel berührt‹?«, fragte sein Vater sichtlich aufgewühlt.

Quetzalli rang mit den Worten. »Von weit gekommen … hat Leben gestohlen«, sagte sie schließlich.

»Verdammt, kann die Schlampe nicht vernünftig reden?«, fluchte Ilja. »Was soll das heißen? Ich verstehe nicht, was sie meint.«

Volodi betrachtete den Mann, der sein Bruder sein sollte und um mindestens ein Jahrzehnt älter aussah als sein Vater. »Du glaubst wirklich, dass das Bozidar ist?«

»Er ist es! Er ging in den Geisterhain, um sich von den Seelen der Erschlagenen loszusagen. Dort ist irgendetwas geschehen … Als er noch klarer bei Verstand war, hat er manchmal von einem wunderschönen Weib gesprochen, das er dort getroffen haben will. Es muss eine Hexe gewesen sein! Sie hat das aus ihm gemacht.« Er seufzte voller Schmerz und Verzweiflung. »Er hat dieselben Narben wie dein Bruder. So unglaublich es ist, es ist wahr.« Er blickte zu dem alten, hölzernen Thron. »Du musst bleiben, Junge. Nach mir gibt es niemanden außer dir, der über Drei Eichen herrschen wird.«

»Jetzt soll ich bleiben?« Er schüttelte den Kopf. »Bei dem Empfang.«

»Ich werde dich nicht anbetteln, bockiger Mistkerl. Du bist mein Sohn, mein Erbe. Tu verdammt noch mal, was deine Pflicht ist! Du hast immer alles versaut. Mach es dieses eine Mal richtig!«

Volodi traute seinen Ohren nicht. »Ich habe alles versaut? Ich konnte dir nie etwas recht machen. Warum glaubst du, dass es jetzt besser klappen sollte.«

»Du hast keine Wahl. Dein König hat dich und diese Schlampe von seinem Hof verjagt, nicht wahr.«

»Nenn Quetzalli noch einmal Schlampe, und du siehst mich in deinem ganzen Leben nicht mehr wieder. Sie ist mein Weib, und du wirst sie gefälligst mit Respekt behandeln.«

»Ihr beide könnt nirgendwohin. Warum sonst solltest du nach all den Jahren wiedergekommen sein? Doch wohl kaum, weil du mich vermisst hast. Erzähl mir also nichts. Du hast es auch bei deinem Katzenkönig verbockt. So wie immer.«

Volodi war kurz davor, auf seinen Vater einzudreschen. »Komm, Quetzalli. Dies ist nicht unser Zuhause. Ich habe mich geirrt. Gehen wir.«

Quetzalli legte ihm sanft die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf.

»Na also«, triumphierte sein Vater. »Die Schl… dein Weib hat begriffen, dass es für euch keinen anderen Platz gibt. Weiber verstehen eben schneller, wo sie hingehören.«

»Du bist es nicht, der versteht, Vater. Ich habe mir in der Fremde einen Namen gemacht. Ich bin Volodi, der über den Adlern schreitet, Hauptmann der Zinnernen. Jeder Unsterbliche wird mich an seinem Hof willkommen heißen.« Er blickte zu dem Thron. »Ich habe lange aufgehört, davon zu träumen, einmal auf diesem alten Stuhl zu sitzen. Er bedeutet mir nichts mehr.«

Ilja stemmte sich stöhnend hoch und schlug ihm überraschend mit der flachen Hand vor den Brustpanzer. »Hör auf das Herz, das unter dieser verdammten Katzenfresse schlägt. Das weiß genau, wo dein Platz ist, du störrischer Esel. Du hättest hier kämpfen sollen statt für diesen Katzenkönig in der Fremde. Wir hätten hier jedes Schwert gebrauchen können. Zwei Kriege haben wir gegen die verfluchten Valesier geführt. Leon, dieser verdammte trurische Feldherr des Unsterblichen Ansur, hat uns derart in den Arsch getreten … Möge er in der Gosse verrecken, auf dass die Straßenköter ihm die Eingeweide herausreißen! Die Hälfte unserer jungen Männer hat er ins Grab gebracht. Wir sind am Arsch! Wir haben die besten Landstriche im Westen verloren. Und damit seine Horden nicht durch die Wälder ziehen und unsere Ahnenhaine plündern, zahlen wir den Valesiern jetzt Tribut. Zehn Kisten voller Gold, alle drei Monde! Wir haben Frieden, aber diese Hunde haben immer noch nicht damit aufgehört, unser Land auszubluten. Hier hättest du kämpfen sollen, verdammt noch mal. Und jetzt sag mir noch einmal, wie dein Weib heißt, damit ich sie mit einem Namen ansprechen kann.«

»Quetzalli.«

»Was? Was für eine Art Name ist das denn? Ketz… Ketza… Verdammt noch mal, ich verbiegt mir doch nicht meine alte Zunge.« Er sah auf Quetzalli hinab. »Alli nenn ich dich. Das muss reichen.«

»Wir bleiben. Regeln!«, entgegnete Quetzalli, ohne sich darum zu scheren, wie sein Vater ihren Namen verstümmelte. »Eins. Wir schlafen eigenes Dach. Zwei. Ich nicht Dienerin. Drei. Du Respekt Volodi. Wenn nicht geht, wir gehen.«

»Mir hat noch nie ein Weib unter meinem Dach gesagt, was ich zu tun habe!«, knurrte sein Vater sie an.

»Dann heute Anfang!«, sagte sie entschieden und verließ die Halle.

Für Drusna

Volodi stützte sich schwer auf seinen Dreschflegel und atmete keuchend. Er war schweißgebadet, sein Körper mit goldener Weizenspreu bedeckt. Sie hatten das letzte Korn von den Feldern eingefahren, und den ganzen Morgen stand er nun schon auf der Tenne und drosch mit wuchtigen Hieben die Körner aus den Ähren. Er hatte diese Arbeit früher schon verrichtet, konnte sich aber nicht erinnern, sich dabei je so müde gefühlt zu haben. Auch stach seine Pfeilwunde in der Brust jetzt wieder heftiger. Klug wäre es, sich Ruhe zu gönnen, aber der Winter kam schnell in den Wäldern und auf Drei Eichen wurde jede helfende Hand gebraucht.

»Na, großer Krieger, richtiges Tagwerk bist du wohl nicht mehr gewohnt.« Auch Grisha hatte in seiner Arbeit innegehalten. Der alte Schildträger seines Vaters nahm einen tiefen Schluck aus seinem Lederschlauch und spritzte sich ein wenig Wasser auf seine weißhaarige Brust, auf der goldene Grannen und Stängelteile glänzten.

»Ist harte Arbeit«, entgegnete Volodi ein wenig atemlos.

Grisha warf ihm den Lederschlauch herüber. »Trink etwas, das hilft. Du kennst ja den Spruch: Liegst nach der Tenne auf dem Rücken, kein Weib kann dich beglücken.« Der Alte grinste breit. »Und morgen wird es noch schlimmer. Wenn du aufwachst, wirst du glauben, dass du keines deiner Glieder mehr bewegen kannst.«

Volodi wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Er war vor einigen Tagen im Geisterhain gewesen, um den Stimmen der Ahnen zu lauschen und die Seelen der Erschlagenen hinter sich zu lassen. Zu lange hatte er sich nicht mehr gereinigt. Zu viele Tote galt es zu vergessen. Der Priester hatte ihm ins Gewissen geredet, dass er oft wiederkehren müsste, bis seine Schuld an den Toten beglichen sei. Dabei war schon der eine Weg zum Geisterhain schwer gewesen. Zwei Tage hatte er mit seinem Vater darüber gestritten. Der Alte hatte Angst gehabt, dass es ihm wie Bozidar ergehen würde. Sein Bruder war auf dem Rückweg vom Geisterhain von der Daimonin überfallen worden, die ihm sein Leben gestohlen hatte. Ilja konnte sich einfach nicht damit anfreunden, dass er nicht Bozidar war, dachte Volodi leicht verärgert. Er hatte ein anderes Schicksal als sein Bruder. Er musste sich anderen Versuchungen stellen.

Er sah hinüber zu der kleinen Hütte, die er mit Quetzalli bewohnte. Sie saß eingemummt in ein Wollkleid und eine Decke in der Sonne und rupfte einen schwarzen Hahn. Golden schimmerten ihre Armreife. Auch wenn sie einfache Kleidung trug, mochte sie ihren Schmuck nicht ablegen. Sie hatte verstanden, dass die meisten Drusnier sie für eine Sklavin aus dem Reitervolk der Ischkuzaia hielten. Von den Zapote hatte hier noch nie jemand etwas gehört. Ihr Reich war einfach zu fern.

Vielleicht wollte Quetzalli mit den Armreifen einfach nur deutlich machen, dass sie keine Sklavin war. Keine Sklavin trug Gold. Sie schien seinen Blick gespürt zu haben. Plötzlich sah sie auf, lächelte und winkte ihm zu. Allein, sie so zu sehen, schenkte ihm neue Kraft. Er würde sich an das Leben hier gewöhnen.

»Lässt du uns mal ein Weile allein, Grisha?«, erklang die Stimme des Vaters hinter seinem Rücken.

Der alte Schildträger sah ihn beschwörend an, nicht schon wieder einen Streit mit seinem Vater zu beginnen. Dann zog er sich in den Schatten des Langhauses zurück.

»Ich muss mit dir reden, Junge.«

Volodi drehte sich mit einem Seufzer um. Sein Vater hatte dunkle Ringe unter den Augen. Er sah müde aus. Auch ihn zermürbten ihre Streitereien. »Dein Weib, sie macht den Leuten hier Angst.«

Volodi lächelte spöttisch. »Dann schlägt sie ja ganz nach dir.«

»Zieh nicht alles ins Lächerliche. Es ist eine Sache, ob ich jemanden anschreie oder ab und zu den Knüppel tanzen lasse, wenn es sein muss. Mit deinem Weib ist das anders …«

»Ich kann mich noch gut erinnern, wie du den jungen Stepan dort vorne am Tor gehenkt hast. Und das nur, weil er einen Krug voller Weizen für seine alte Mutter gestohlen hatte.«

»Der Bastard hatte mir keine Wahl gelassen«, brauste sein Vater auf. »Es ist eine Sache, ob er während der Erntezeit einen Scheffel Weizen stiehlt oder ob er es zu Beginn eines Frühlings tut, in dem alle Hunger leiden. Wenn du erst auf meinem alten Stuhl sitzt und der Herr von Drei Eichen bist, dann wirst du besser verstehen, was ich meine.«

»Komm zur Sache. Was stört dich an Quetzalli?«

»Mich stört, dass sie kein vernünftiges Weib von hier ist. Aber das tut nichts zur Sache.« Er senkte die Stimme, was sonst so gar nicht seine Art war, und schlug das schützende Horn. »Mila hat sie heute Morgen gesehen. Wie sie diesen verdammten, schwarzen Hahn geschlachtet hat. Das war unheimlich.«

»Einen Hahn zu schlachten? Nur weil er schwarz ist?« Volodi lachte laut auf. »Seit wann schreckt dich das abergläubische Geschwätz von Weibern? Was ist schon dabei, einem Hahn im Morgengrauen den Kopf abzuhacken?«

»Wenn sie es so getan hätte, ganz sicher nichts. Aber so wie Mila es erzählt hat, hat sie sich vor den Hahn gesetzt, bis er freiwillig zu ihr kam, und dann hat sie ihm das Herz aus der Brust gerissen und es in einer kleinen Kupferschale hinter eurem Haus verbrannt. Mila hält sie jetzt für eine Hexe, und sie hat die Geschichte schon herumgetratscht. Das wird es für euch beide nicht einfacher machen, hier Fuß zu fassen. Warum tut diese Schl… dein Weib so was?«

Volodi war sich auch nicht sicher. »Für die Gefiederte Schlange vielleicht?«

»Eine Schlange mit Federn? Was soll das sein?«

»Ihr Devanthar.« Er dachte daran, wie er auf dem Altar gelegen und die schreckliche Kreatur aus dem Blutsee auftauchen gesehen hatte. »Ich werde mit ihr reden. Sie soll besser darauf achten, dass ihr niemand mehr zusieht.« Plötzlich musste Volodi lächeln. Die Lösung war noch viel einfacher. »Außerdem hatten wir doch nur einen schwarzen Hahn. Es wird also nicht wieder vorkommen.«

»Der Große Bär mag es nicht, wenn man in seinen Wäldern irgendwelche Schlangen anbetet«, sagte Ilja kühl. »Mach das deinem Weib klar und …« Am Waldrand erschien ein Trupp Reiter. Sein Vater fluchte.

»Wer ist das?« Die Reiter kamen geradewegs auf das Gehöft zu.

»Krieger im Auftrag des Unsterblichen Iwar, unseres geliebten Herrschers. Und bei ihnen ist Alba, der Schiss einer räudigen Gossenkatze. Er ist der Berater der Steuereintreiber unseres Unsterblichen. Er schlägt vor, was benötigt wird, in welcher Form die Steuern einzutreiben sind, wie hoch sie sein sollen. Das sind natürlich nur Vorschläge. Er stiehlt keine Kuh, streckt die Hand in keine Truhe. Das tun nur die Männer des Unsterblichen Iwar. Sie spielen uns vor, dass unser Herrscher die Abgaben eintreibt, die wir Valesia seit unserer letzten Niederlage zu entrichten haben. So wird der Schein gewahrt.

In Wahrheit aber liegen alle Entscheidungen bei Alba. Und auch wenn er sich ganz in Weiß kleidet, hat er eine schwarze Seele. Es macht ihm Spaß, uns zu schikanieren. Seine beiden Söhne sind im Kampf gegen Drus gefallen. Er lässt keine Gelegenheit aus, uns dafür büßen zu lassen. Ich werde mit ihm reden. Du hältst dich von ihm fern, Volodi. Er ist ein übler Geselle.«

Volodi dachte gar nicht daran. »Es gibt eine Menge Leute, die mir auch nachsagen, ein übler Geselle zu sein. Es wird interessant sein, Alba zu begegnen.«

»Ich rede!«, sagte Ilja entschieden. »Du stehst neben mir und hältst dein Maul. Versuch ein wenig zu sein wie dein Bruder Bozidar.«

Ich soll wie ein sabbernder, alter Greis sein, dachte Volodi und schämte sich augenblicklich. Bozidar war nicht schuld daran, dass ihr alter Vater in ihm immer noch seinen Liebling sah.

Ilja ging ihm voran zum Tor in der Palisade. Die Reiter drangen bereits ins Gehöft ein, bevor er sich ihnen in den Weg stellen konnte. Alba wurde von drei Kriegern begleitet, von denen jeder ein Packpferd am Zügel führte. Plünderer, war Volodis erster Gedanke. Solche Männer hatte er ausgeschickt, um seine Truppen auf dem Streifzug zu den geheimen Schmieden Luwiens mit Vorräten aus dem Land zu versorgen. In einem Schildwall würden sie nicht ihren Mann stehen. Sie waren verschlagen, kämpften nur, wenn sie sich stärker fühlten oder ihre Gegner überraschen konnten und waren sehr schnell wieder verschwunden, wenn sie auf ernsthaften Widerstand stießen. Die drei trugen Schuppenpanzer aus Bronze. Ihre Rüstungen waren schlecht gepflegt. Grünspan und Dreck hatten sich zwischen den einzelnen Bronzeplättchen abgelagert. Um Kinder und Greise zu erschrecken, waren sie die Richtigen. Ihn beeindruckten sie nicht.

»Ich grüße dich, Ilja, Fürst von diesem Misthaufen.« Alba hob flüchtig die Hand zum Gruß. Er war einmal ein Krieger gewesen, dessen war sich Volodi sicher. Der alte Mann, der die Steuereintreiber anführte, hielt sich gut im Sattel. An seiner Seite hing ein langes Schwert. Volodi schätzte, dass es eine Eisenklinge war.

»Auch ich grüße dich, Alba, Fürst von gar nichts«, entgegnete sein Vater, und in diesem Augenblick war Volodi zum ersten Mal, seit er heimgekehrt war, stolz auf den Alten.

Alba nahm die Beleidigung mit einem Lächeln. »Wenigstens habe ich genug Hirn, noch nie in meinem Leben den Mann herausgefordert zu haben, der festsetzen wird, wie viel Steuern ich dem Unsterblichen Iwar schulde. War der stolze Augenblick es wert, dass deine Leute im nächsten Frühling hungern werden?« Er machte eine Geste in Richtung der abgeernteten Felder. »Und das, obwohl ihr so fleißig die Ernte eingefahren habt?«

Iljas kleines Gefolge versammelte sich vor dem Tor der Festhalle. Misstrauisch und ängstlich verfolgten sie, was geschah. Auch Quetzalli hatte ihren Platz vor der Hütte verlassen. Sie stellte sich an Volodis Seite und griff nach seinem Arm. Es tat gut, ihre Berührung zu spüren.

Volodi versuchte, vom Äußeren des Mannes, der gekommen war, um sie auszuplündern, ein Bild seiner Seele zu gewinnen. Alba ritt einen Schimmel. Er trug sein weißes Haar schulterlang und bändigte es mit einem schmalen Silberreif. Er war glatt rasiert, sein schmales Gesicht wurde von hellgrünen Augen beherrscht. Eine leicht gebogene Nase wölbte sich über schmale Lippen, deren Mundwinkel nach unten wiesen, als habe er vor Langem das Lächeln aufgegeben, das im Herzen geboren wurde. Es war ein hartes Gesicht, und Volodi entschied für sich, dass es nicht klug war, diesen Mann zu reizen. Alba wartete nur darauf, einen Anlass zu finden, grausam zu sein.

Nun drehte er sich in seinem Sattel und sah sich um. »Du hast deine Kühe in den Wald schaffen lassen, Ilja. Glaubst du, ich kenne deine Betrügereien nicht? Es ist unendlich ermüdend, tagein, tagaus zu erleben, wie alle kleinen Fürsten dasselbe tun und sich dabei noch für klug halten. Glaubst du, ihr seid klug, Ilja?«

»Wäre es klug, darauf eine Antwort zu geben?«, entgegnete Ilja mit einer Glattzüngigkeit, die Volodi seinem Vater nicht zugetraut hätte.

Alba schmunzelte. »Du wirst mir zehn fette Kühe geben und hundert Scheffel Weizen. Und heb etwas von deinen Schätzen auf. Vor der Wintersonnenwende werde ich noch einmal wiederkommen.« Der Valesier wendete sein Pferd und blickte auf Quetzalli herab.

»Du bist ja reicher, als ich dachte, Ilja. So ein Weib hab ich noch nie gesehen. Ist das eine Konkubine vom Seidenfluss? Du solltest sie besser einkleiden, Ilja. So kommen ihre Reize gar nicht zur Geltung.«

Volodi griff sich über die Schulter, doch er trug kein Schwert.

»Ich werde doch noch ein wenig bleiben, Ilja. Wo hat der Fürst dieses Misthaufens denn sein bestes Bett stehen?«

»Ich kann sie dir nicht überlassen, Alba. Sie ist nicht mein. Sie ist die Gemahlin eines Reisenden.«

Volodi traute seinen Ohren nicht. Was sollte das werden? Ilja bat ihn mit einem flehenden Blick still zu bleiben.

»Eines Reisenden?«, wiederholte der Valesier spöttisch. »Und wo ist der gute Reisende, der sich so weit abseits aller bedeutenden Straßen bewegt, die durch diese verfluchten Wälder führen. Wieder verreist? Erzähl mir nichts, Ilja. Ich weiß um die Torheiten alter Männer, schließlich bin ich selbst einer. Sich ein junges Weib ins Bett zu holen ist nicht so außergewöhnlich. Nur die Wahl, die du getroffen hast, ist bemerkenswert. Was trägt sie denn da? Ist das Gold?« Der Valesier schwang sich aus dem Sattel.

»Bitte, ich beschwöre dich, Alba. Der Reisende ist zur Jagd ausgeritten. Er kann jeden Augenblick zurückkehren. Und er ist kein Mann, der duldet, dass jemand seine Frau behelligt.«

Alba schnippte mit den Fingern, und seine Eskorte saß ab. Einer der Krieger packte Ilja. »Nun hör mir mal gut zu, alter Knabe. Erstens befiehlt euch der Friedensvertrag, den der Unsterbliche Iwar unterschrieben hat, eure Schätze künftig mit uns zu teilen. Ich kann mir hier also nehmen, was ich will.« Er hob die Rechte, auf deren Mittelfinger ein großer Siegelring steckte. »Ich trage das Siegel des Iwar. Ich bin ermächtigt, in seinem Namen den Tribut einzufordern, der meinem Volke zusteht. Und dieses Weib soll Teil dieses Tributes sein. Und zweitens, werter Ilja, halt mich bitte nicht für dumm. Es gibt keinen Reisenden, denn die Frau eines Gastes hätte wohl kaum den Morgen damit verbracht, ein schwarzes Huhn zu rupfen. Glaubst du, ich hätte die Federn auf ihrem Kleid nicht gesehen?«

»Du solltest das nicht tun«, mischte sich nun Volodi ruhig ein. »Nimm unsere Kühe und unser Korn und geh oder …« Zwei Speerspitzen richteten sich auf Volodi. »Oder füttere das Gras für unsere Kühe und unser Korn mit deinem verfaulenden Leichnam unter ihren Wurzeln.«

»Stecht ihn ab und …«

Volodi schnellte vor. Mit der Linken versetzte er dem Valesier einen Haken und griff zugleich mit der Rechten nach dessen Schwertgriff. Als Alba zurücktaumelte, kam die Klinge frei. Volodi stach sie dem nächststehenden Speerträger durch die Innenseite des Oberschenkels, dorthin, wo die großen Adern lagen. Gleichzeitig packte er mit der freien Hand Alba und zog ihn zu sich heran.

Die beiden überlebenden Leibwachen wichen aus Angst, ihren Herrn zu verletzten, zurück. Volodi setzte ihnen nach, stieß Alba nach vorne und stach einem der Krieger das Eisenschwert durch den Hals. Der andere packte sein Pferd bei der Mähne und schwang sich in den Sattel.

Volodi ließ Alba los, umklammerte den Schwertgriff mit beiden Händen und schmetterte die Waffe mit aller Kraft gegen die Schnauze des Pferdes. Er hörte Knochen und Zähne splittern; Blut quoll aus den Nüstern des Roten, der mit schrillem Wiehern stieg, sodass sein Reiter zu Boden stürzte. Dann stetzte Volodi dem Mann einen Fuß auf die Brust und rammte ihm das Schwert in den Mund, als er um Gnade flehte. Es glitt durch den Nacken bis tief in die weiche Erde. Während der Leibwächter noch zuckte, drehte sich Volodi zu Alba um.

»Ich bin ein reicher Mann«, bettelte der Valesier. »Lass mich leben, und wir können das alles noch im Guten klären. Ich werde nie wieder hierherkommen und Steuern von Ilja abpressen.«

»Stimmt«, sagte Volodi hart, griff mit beiden Händen nach dem Kopf des Valesiers und riss ihn mit einem Ruck zur Seite, sodass sein Genick brach.

Das Gesinde stand sprachlos um die Toten. Vadim, der Wagenlenker seines Vaters, hatte das verletzte Pferd beim Zaum gepackt und redete auf es ein. Der Kampf hatte kaum länger als zwanzig Atemzüge gedauert.

»Du bist ein Daimon«, sagte Ilja fassungslos. »Das ist nicht das Werk eines einfachen Mannes. Was hast du nur getan? Dafür werden wir alle hängen! Glaubst du etwa, Alba sei allein gewesen? Jeden Augenblick kann eine ganze Kolonne Packpferde aus dem Wald kommen, begleitet von Dutzenden Kriegern.«

»Quetzalli«, sagte Volodi ruhig. »Hol meine Rüstung und meine Waffen. Pack ein paar Decken und etwas zum Essen zusammen. Wir gehen in die Wälder.«

»Und das war es?«, fuhr ihn sein Vater an.

Volodi versetzte dem Alten eine rechte Gerade, die ihn mit aufgeplatzten Lippen zu Boden schickte. »Du hast versucht, den Streit zu schlichten, den der fremde Krieger mit Alba angefangen hat. Ich war hier nur ein Gast und bin nach den Morden in die Wälder geflohen.« Er blickte in die Runde. »Hat das jeder verstanden? Es war nicht Iljas Sohn, der hier gemordet hat, sondern ein durchreisender Söldner. Ihr habt versucht, es zu verhindern. Die besten Lügen enthalten stets ein Körnchen Wahrheit. Erzählt, dass er mein Weib begehrt hat. Ich bin sicher, sie ist nicht die Erste, die er wollte. Die Männer aus seinem Tross werden ihn kennen. Sie werden es glauben.«

Sein Vater rappelte sich auf. »Endlich kämpfst du für Drusna«, sagte er und spuckte Blut. Dann nahm er ihn in die Arme. Zum ersten Mal, seit er heimgekehrt war.

Allein

Nandalee hätte am liebsten laut in die Savanne hinausgeschrien, doch sie wusste, auch das würde ihren Zorn und ihre Enttäuschung nicht lindern. Sie fühlte sich verraten. Schwer atmend rang sie um ihre Fassung. Es war geschehen, sie konnte nichts mehr daran ändern, ganz gleich, was sie tat. Sie schloss die Augen, zwang sich zur Ruhe. Sie spürte, wie Gonvalon den flachen Hügel hinaufkam und auf Armeslänge hinter ihr stehen blieb. Er sagte nichts, berührte sie nicht, wartete einfach ab, im Bewusstsein, dass ihr nicht verborgen geblieben war, dass er hinter ihr stand. Er kannte sie so gut. Er würde sie niemals enttäuschen. Diese Gewissheit half ihr, ihren inneren Frieden wiederzufinden.

»Es geht schon wieder.«

Ihr Zorn schwang immer noch in ihrer Stimme nach und strafte ihre Worte lügen.

»Ich könnte noch ein paar Tage bei dir bleiben«, sagte Gonvalon in einem Tonfall, als würde er es wirklich nicht besser wissen. Sie wandte sich um und lächelte. Es war ihr erstes Lächeln, seit sie in den Jadegarten heimgekehrt war und davon erfahren hatte, dass Gonvalon, Nodon, Eleborn und sie nicht vor den Rat der Himmelsschlangen gerufen würden, um von ihrer Mission zu berichten. Das hatten Lyvianne und Bidayn schon getan. Nandalee war über den Verrat der beiden völlig außer sich gewesen. Gonvalon hatte versucht, sie zu beruhigen, indem er erklärt hatte, dass die beiden nun einmal zuerst zurückgekehrt waren, und die Himmelsschlangen so schnell wie möglich einen Bericht hatten hören wollten.

Rein vom Verstand her konnte Nandalee das sogar nachvollziehen. Aber dass sie nicht vor die Drachen gebeten worden war, schmerzte dennoch. Sie hatte allein Nachtatem berichtet, der sich sehr für Nangogs Reaktion interessiert hatte. Er schien nicht überrascht gewesen zu sein, dass die Riesin sich ihren Befreiern gegenüber nicht dankbar gezeigt hatte. Auch was Nandalee über die Größe der Göttin erzählte, beindruckte den Drachen nicht sonderlich, allerdings hatte er viele Fragen nach den grünen Kristallen gestellt.

»Was hältst du von Gazellenbraten an einem Lagerfeuer unter Vollmondhimmel?«

Nandalee sah Gonvalon dankbar an. Wieder hatte er sie aus ihren düsteren Gedanken gerissen.

»Versuche nicht, die Himmelsschlangen zu verstehen«, sagte er mit traurigen Augen. »Ich habe das schon lange aufgegeben. Denkst du noch über einen Pfeil nach, wenn du ihn von der Sehne hast schnellen lassen? So sind wir für sie. Wir sind ihre Pfeile. Hast du dich je bei einem Pfeil bedankt, der einen deiner Feinde tötete?«

»Ich sollte darüber nachdenken«, entgegnete sie lächelnd.

»Und wie steht es nun mit einer romantischen Nacht am Lagerfeuer?«

»Waren wir nicht eben noch beim romantischen Abendessen?«

Er grinste schelmisch. »Ich bin eben ein Mann mit Visionen.«

Nandalee schüttelte entschieden den Kopf. »Es geht nicht, du weißt das. Ich muss diese letzte Prüfung allein bestehen. Du darfst nicht hier sein. Es würde einen Makel auf alles werfen.«

Gonvalon runzelte die Stirn. »Niemand, der mich kennt, wird mich ernsthaft verdächtigen, eine Hilfe zu sein, wenn es darum geht, einen wilden Pegasus zu bändigen.« Er blickte zu Nachtschwinge, der ein Stück entfernt graste. Der Rappe hob den Kopf und sah zu ihnen hinüber. Er war zu weit entfernt, um sie gehört haben zu können, aber er spürte, dass über ihn gesprochen wurde. Es hieß, dass keine Worte mehr nötig waren, wenn ein Drachenelf den richtigen Pegasus fand. Die Gedanken von Ross und Reiter waren eins. Sie verstanden einander ohne Blicke, Befehle oder Gesten.

»Ich habe drei Monde gebraucht, um mit Nachtschwinge zurückzukehren. Länger als die meisten …«

»Und dennoch muss ich auf dich verzichten«, sagte Nandalee liebevoll. »Ich muss es allein tun.«

Gonvalon seufzte. »Und ich musste dich fragen.« Er nahm sie in die Arme. »Bitte mach es besser als ich. Ich kann keine drei Monde auf dich verzichten … «

»Ich brauche eine Zeit für mich allein. Du weißt, ich liebe die Wildnis … Aber zu lange mag auch ich nicht auf dich verzichten.« Was für eine lahme Liebeserklärung, dachte sie betroffen, kaum dass die Worte über ihre Lippen gekommen waren. Sie war nicht gut in solchen Dingen. Sie hatte die Wahrheit gesagt, aber irgendwie hörte sie sich nicht gerade romantisch an. »Ich liebe dich«, setzte sie nach und gab ihm einen Kuss.

Er hielt sie fest, erwiderte ihren Kuss mit einer Leidenschaft, die sie wünschen ließ, er bliebe doch noch eine Nacht bei ihr.

Als Gonvalon sich schließlich von ihr löste, sah er sie mit dem Blick an, den sie so sehr mochte – selbstbewusst und ein wenig schelmisch. »Als ich dir zum ersten Mal begegnet bin und du nackt durch die verschneiten Wälder liefst, verfolgt von einem ganzen Heer von Trollen, hatte ich schon den Verdacht, dass du ein ziemlich wildes Mädchen bist. Ich wünsch dir Glück auf deiner Jagd. Komm schnell in den Jadegarten zurück! Ich warte dort auf dich.« Mit diesen Worten wandte er sich ab, und Nandalee, die sonst so gerne alleine ausgedehnte Jagdausflüge gemacht hatte, fühlte sich plötzlich einsam.

Sie wollte ihm etwas nachrufen. Etwas, das so frech war wie seine letzten Worte. Das von ihrer Liebe sprach … Ihr fiel nichts ein. Ihr Kopf war leer. »Ich liebe dich, Gonvalon«, sagte sie leise. Sein Hintern sah gut aus, dachte sie. Aber das wäre wohl kaum der passende Abschiedsgruß. Warum fiel es ihr so schwer, ganz unbefangen zu sein? Für ihn schien es selbstverständlich wie das Atmen zu sein, ihr Komplimente zu machen. Wenn er sich noch einmal umdrehte und ihr zuwinkte, würde alles gut werden, dachte sie und schalt sich in Gedanken dafür, solchen Albernheiten nachzuhängen.

Er sprang auf den Sattel, schob seine Füße in die Lederschlaufen und nahm die langen Zügel auf. Nachtschwinge preschte los, gallopierte, mit den Flügeln schlagend, gegen den Wind an und erhob sich in den weiten blauen Himmel. Gonvalon flog eine weite Schleife und winkte ihr noch einmal zu.

Zu spät, dachte sie beklommen. Er hätte es tun sollen, bevor er in den Sattel sprang. Das war kein gutes Omen. »Ich liebe dich!«, rief sie aus Leibeskräften, um ihre törichten Gedanken auszulöschen. Er hatte sie nicht mehr gehört. Er sah nicht zurück.

Nandalee sah ihm nach, bis er nur noch ein winziger, schwarzer Punkt am weiten, blauen Himmel über der Savanne war und schließlich ganz verschwand. Dann hob sie ihr Bündel auf. Eine Ledertasche mit ein wenig Salz, Reis, Bohnen und trockenem Brot. Den schmalen Ledersattel, den man benötigte, um auf einem Pegasus stehend reiten zu können, sowie eine Decke, zu einer Rolle verschnürt, Pfeil und Bogen und ihr Schwert Todbringer. Sie hatte lange gezögert, die Waffe mitzunehmen. Sie würde ihr die meiste Zeit nur hinderlich sein. Aber sollte der Rotrücken, der die Pegasi niedergemetzelt hatte, noch einmal ihren Weg kreuzen, würde sie die Waffe brauchen. Sie war sich bewusst, dass sie in sein Revier eindrang. Sie würde vorsichtig sein müssen. Normalerweise machten Drachen keine Jagd auf Elfen, aber dieser war ihr Feind. Er würde sich nicht darum scheren, was als normal galt. Mit einem letzten Blick zum Himmel schulterte sie ihre Last. Sie trug zu viel, sie wusste das. Als Jägerin in den Wäldern Carandamons hatte sie nie so viel Ballast mit sich geführt.

Trotz des schweren Gepäcks und der Gefahr durch den Rotrücken wurde ihr das Herz mit jedem Schritt leichter. Es tat gut, wieder allein in der Wildnis zu sein. Schon bald streifte sie durch das hohe Büffelgras, das nach dem trockenen Sommer eine tief goldene Farbe angenommen hatte. Es überragte sie ein ganzes Stück. Sie konnte kaum zwei Schritt weit sehen. Aus ihrer Heimat war sie es gewohnt, einen weiten Blick zu haben. Selbst in dunklen Fichtenwäldern war das Sichtfeld größer als hier!

Der Wind ließ das Gras leise rascheln. Ein Geräusch, das ihr erlaubte, sich fast lautlos zu bewegen. Hielt der Wind inne, verharrte auch sie. Sie wusste um die Löwen, die hier jagten, die Hyänen, die nach Aas suchten, die Sandvipern und Skorpione. All ihre Sinne waren auf das Äußerste gespannt. Die Wasserstelle, an der der Rotrücken über die Pegasi hergefallen war, lag nur drei Meilen entfernt, aber sie schlug einen weiten Bogen, um sich gegen den Wind zu bewegen, damit Räuber nicht allzu leicht ihre Witterung aufnehmen konnten. Immer wieder blickte sie zum Himmel. Es zeigten sich weder Pegasi noch der Drache.

Als sie die Fährten von Gazellen und einer kleinen Büffelherde kreuzte, die eine Schneise durch das hohe Gras gezogen hatten, hielt sie inne und betrachtete das Land durch ihr Verborgenes Auge. Der Blick auf die magische Welt zeigte ein ganz anderes Bild. Kein Gras versperrte ihr die Sicht. Sie sah die Kraftlinien, die das Land durchzogen, und die Auren der Tiere. Eine halbe Meile entfernt entdeckte sie bei einem aufgegebenen Termitenhügel eine Gruppe von Löwen. Sie hatten gefressen und dösten schläfrig in der Sonne. Von ihnen ging keine Gefahr aus. Aber etwas stimmte nicht. Einige der Kraftlinien vibrierten wie die Saiten eines Instruments, das eben erst angeschlagen worden war. Hier war Magie gewirkt worden, die sich gegen die natürliche Ordnung wandte. Konnte das der Rotrücken gewesen sein? Beherrschte er überhaupt die Kunst des Zauberwebens?

Vorsichtig pirschte Nandalee weiter. Kein Wild war bei der Wasserstelle. Aber nahe dem Gebüsch, in dem sie sich mit Gonvalon versteckt hatte, fand sie einen verlassenen Lagerplatz. Wer immer hier gewesen war, war allein gekommen. Sie fand einen schmalen, recht kleinen Fußabdruck. Eine Elfe?

Nandalee sah die ins Erdreich gegrabene Feuergrube. Alle Glut war längst verloschen – der Lagerplatz war seit mindestens einem Tag verlassen. Der Ort für die Feuerstelle war nicht gut gewählt. Trotz der Grube musste man den Widerschein der Flammen weit gesehen haben. Nur ein paar Schritt weiter gab es eine Senke, die ein viel besserer Lagerplatz gewesen wäre.

Nandalee legte Sattel, Decke und den Proviantbeutel ab, dann folgte sie der Spur, die zum Wasserloch führte. Wer immer hier gelagert hatte, hatte entweder meisterhaft seine Fährten verwischt oder war nur ein einziges Mal zum Wasser hinabgegangen. Die Jägerin hielt inne. Die Sonne küsste den Horizont. Es würde schnell dunkel werden. Da die Spuren im Schlamm leicht zu lesen waren, entschied Nandalee, zunächst in einem weiten Kreis um den Lagerplatz zu gehen und dort nach weiteren Fährten zu suchen.

Die einzige Spur, die sie fand, kam von Osten. Nandalee wusste, dass etwa zehn Meilen entfernt ein großer Albenstern lag. Die andere Jägerin musste von dort gekommen sein.

Im letzten Abendlicht ging Nandalee zurück zum Wasserloch. Der Schlamm am Ufer war von den Hufabdrücken verschiedenster Tiere gezeichnet. Eine Herde Gnus hatte sich genähert, hielt aber Abstand, während der Leitbulle sie aufmerksam beobachtete. Sie warteten darauf, dass dieser sonderbare Zweibeiner vom Wasser verschwand.

Nandalee fand die Spuren der Pegasi-Herde. Die Fußspuren vom Lager führten mitten unter die Herde, als sei, wer immer hier gewesen war, geradewegs zu den geflügelten Pferden gegangen und auf eines aufgestiegen. Verblüfft öffnete Nandalee ihr magisches Auge. Deutlich sah sie die schwingenden Kraftlinien rings herum. Hier war der Zauber gewoben worden, der sich gegen das Gefüge Albenmarks gestellt hatte!

Und jetzt wusste Nandalee, wer vor ihr zum Wasserloch gekommen war. Sie hatte Bidayn von ihrer Begegnung mit den Pegasi und dem Rotrücken erzählt. Sie wusste, dass ihre Freundin den Goldenen gewählt hatte und zur Drachenelfe erhoben werden sollte. Sie musste nur noch ihr Reittier einfangen. Wahrscheinlich hatte sie sich heute auf den Weg zum Jadegarten gemacht. Sie hätte ihr begegnen können, als sie mit Gonvalon hierhergeflogen war. Die verwunschene Wüste zu überwinden, die den Jadegarten umschloss, war der letzte Teil der Prüfung. Ritt man einen Pegasus, war es leicht. Aber wehe dem, der zu Fuß durch die Wüste wollte …

Nandalee stellte sich vor, wie sich ihre Freundin in diesem Moment im Jadegarten feiern ließ. Sie war froh, nicht dort zu sein oder gar Bidayn hier in der Wildnis getroffen zu haben. Was sie in der Goldenen Stadt in der Villa der Seidenen getan hatte, würde für immer zwischen ihnen stehen. Was war nur aus der schüchternen, jungen Elfe geworden, die sie einst in der Höhle des Schwebenden Meisters getroffen hatte? Jene Bidayn, die sich vor dem Weißen Drachen gefürchtet hatte und in Sayn verliebt gewesen war, ohne dem arroganten Schönling davon je ein Wort zu sagen. War es das, was die Weiße Halle aus ihnen machen sollte? Ganz und gar verdrehte Geschöpfe, fern jeder Moral? Mörder, die keine Skrupel kannten? Sie würde nicht so werden, schwor sich Nandalee und kehrte zu der Senke zurück, die hinter Bidayns verlassenem Lagerplatz lag.

Sie entfachte ein kleines Feuer, kochte in einem kleinen Topf ein wenig Reis und Bohnen und sah den Sternen zu, wie sie ihren Weg über den Himmel begannen. Es mochte Tage dauern, bis die Pegasi-Herde wiederkehrte. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sehr die Tiere in Panik geraten sein mussten. Sie wusste, was Bidayn getan hatte: Sie hatte den Zauber gewoben, der sie schneller werden ließ. Plötzlich war sie mitten in der Herde gewesen und hatte auf dem Rücken eines Tiers gestanden, das vermutlich auch schon aufgeschirrt gewesen war. Eine Reiterin, die den Fluss der Zeit manipuliert hatte, konnte nicht abgeworfen werden. Für sie waren alle Sprünge und jedes Bocken des auserwählten Pegasus so langsam gekommen, dass sie sich in Ruhe darauf einstellen konnte, ihr Gleichgewicht zu behalten. Wie lange der ungleiche Kampf wohl gedauert hatte?

Was Bidayn getan hatte, war nicht gegen die Regeln dieser Prüfung, aber es verstieß gegen ihren Geist. Sie würde es anders machen, entschied Nandalee. Aber wie lange musste sie wohl warten, bis die Herde an dieses Wasserloch zurückkehrte? Sie sah erneut zu den Sternen und dachte an Gonvalon. Daran, dass er erst so spät zurückgewunken hatte.

Das war ein schlechtes Omen gewesen. Ihre Pirsch auf die Pegasi würde lange dauern.

Sternauge

In der Dämmerung des neunten Tages kamen die Pegasi zum Wasserloch zurück.

Zunächst war es nur jener Hengst, der so tapfer gegen den Drachen gekämpft hatte. Er kreiste lange über der Wasserstelle, bis er schließlich nach Süden abdrehte. Nandalee hatte sich ein Tarnnetz aus geflochtenem Büffelgras gefertigt, das sie fast unsichtbar werden ließ. Reglos kauerte sie darunter verborgen, zwanzig Schritt vom Wasser entfernt, im Gras. In den Händen hielt sie ein starkes Hanfseil, in das sie eine weite Schlinge geknüpft hatte.

Sie hatte keine Ahnung, wie man einen Pegasus einfing. Jeder der Drachenelfen, den sie bisher darauf angesprochen hatte, machte ein großes Geheimnis daraus, wie er an sein Reittier gekommen war. Sie würde es so versuchen, wie man ein Wildpferd fing. Mit einem Lasso.

Angespannt wartete sie auf die Ankunft der Herde. Sie kamen aus der Sonne. Vor einem Himmel, der von dramatischem Orange über Blassrosa zu zartem Graublau überging. Jetzt kreisten vier Hengste tief über der Wasserstelle. Jener Rappe, den sie in Gedanken Sternauge getauft hatte, war der Erste, der landete. Er preschte das Ufer entlang, faltete graziös seine großen Schwingen und nahm Witterung auf. Ein helles Wiehern war das Zeichen für die anderen zu kommen. Nach und nach landete die ganze Herde. Zuletzt die Jungtiere.

Nandalee hatte die letzten Tage überlegt, wie ein Wild zu fangen war, das einfach davonfliegen konnte. Sie hatte erwogen, eines dieser seltsamen Wurfseile mit den Steinen an ihren Enden zu fertigen, die von den Jaguarmännern auf Nangog benutzt worden waren. Geschickt geworfen, war es sicherlich gut geeignet, Beute zu Fall zu bringen. Aber wie groß war die Gefahr, dass der Pegasus, den sie fangen und zähmen wollte, sich dabei verletzen würde? Es musste also das Lasso sein. Sie war den Fährten rund um die Wasserstelle gefolgt und hatte entdeckt, dass einige der Hengste mit etwas Abstand zur Herde auf Wache standen.

Nahe einem dieser Plätze hatte sie ihr Versteck eingerichtet. Sie war gewaschen und dann mit Büffeldung eingerieben, sodass ihr Körpergeruch sie nicht verraten konnte. Alles, was sie jetzt noch brauchte, war Geduld und ein wenig Glück. Sie wusste nicht, ob ihr Hengst zu ihrem Versteck kommen würde. Sie wollte keinen anderen als den Rappen mit der sternförmigen Blesse auf der Stirn. Sternauge, das sollte ihr Pegasus sein, ein stolzes, mutiges Tier, das vor keinem Feind zurückschreckte, und sei er auch noch so übermächtig.

Bald hatte sich die Herde satt getrunken. Einige der jüngeren Tiere tollten im Wasser, während die älteren grasten. Keinen Augenblick ließ die Aufmerksamkeit der Hengste nach. Sie standen auf Hügelkuppen und beobachteten das weite Grasland, achteten auf verräterische Bewegungen im Büffelgras. Zu Nandalee kam ein Roter mit langen, wulstigen Narben auf der Flanke. Auch er schien ein Drachenkämpfer zu sein.

So schön die geflügelten Pferde anzusehen waren, sie waren auch Kämpfer. Nandalee kannte zahllose Geschichten um legendäre Kämpfe und Fluchten, die in der Weißen Halle und auch schon in der Höhle des Schwebenden Meisters erzählt worden waren. Geschichten darüber, wie Pegasi ihren Elfenreitern das Leben gerettet hatten, wie wuchtige Huftritte die Schädel von Angreifern platzen ließen wie Melonen. Manchmal war das Band zwischen dem Pegasus und seinem Reiter so eng, dass das geflügelte Pferd selbst dann nicht wich, wenn sein Elf im Kampf gefallen war. Sie hielten Wache bei dem Toten, bis andere Drachenelfen kamen oder sie selbst starben.

Der rote Hengst kam Nandalee so nahe, dass sie mit ausgestreckter Hand einen seiner Vorderläufe hätte berühren können. Sie wagte kaum noch zu atmen, blickte auf die mächtigen Hufe und dachte daran, wie viel Schaden sie anzurichten vermochten.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor der Hengst den Hügel wieder verließ. Es war inzwischen dunkel geworden. In der Wasserstelle spiegelte sich das Licht der Sterne. Die ersten Pegasi flogen davon. Nandalee sank das Herz. Wie lange würde sie warten müssen, bis die Herde zurückkehrte? Wohin zogen sie weiter? Ihnen zu Fuß zu folgen war aussichtslos. Sie wusste, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als zu warten, bis sie zurückkehrten.

Nach und nach verließen alle Tiere das Wasserloch. Zuletzt war nur noch Sternauge übrig. Er ist der Erste, der kommt, und der Letzte, der geht, dachte sie. Ein Krieger. Zum ersten Mal überlegte sie, was es für die Herde bedeuten mochte, wenn sie ihr diesen Hengst nahm.

Sternauge drehte eine letzte Runde um die Wasserstelle, dann trottete er langsam ihren Hügel hinauf. Komm näher, dachte Nandalee. Noch ein wenig! Dies war ihre einzige Gelegenheit. Sie durfte nicht zu früh aufspringen. Los, feuerte sie ihn in Gedanken an. Noch etwas! Er kam in gerader Linie auf sie zu, hielt manchmal inne, zupfte ein wenig am hohen Gras und schritt weiter. Schließlich stand er unmittelbar vor ihr. Wieder hielt Nandalee den Atem an. Ihre Hände schlossen sich fester um das Hanfseil, mit dem sie ihn fangen wollte.

Sternauge beugte sich vor und fraß vom trockenen Gras ihres Tarnnetzes. Warum weidete er nicht vom frischen Gras rings herum? Hatte er …?

Der Hengst biss ins Netz und zog es mit einer energischen Kopfbewegung zur Seite. Nandalee rollte unter seinen Hufen weg. Er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass sie dort war!

Mit einem Satz war sie auf den Beinen. Der Rappe wich ein Stück vor ihr zurück. Er schien keine Angst zu haben – er war wachsam, aber nicht aggressiv. Sternauge hätte sie in ihrem Versteck in den Boden trampeln können, während sie darauf vertraut hatte, dass ihre Tarnung sie vor seinen Blicken verbarg. Wie hatte er sie entdeckt? Ganz bestimmt hatte er sie nicht wittern können.

Sie standen einander gegenüber, maßen sich mit Blicken. Nandalee wusste nicht, was sie tun sollte. Jetzt wäre die Gelegenheit gewesen, ihr Lasso zu nutzen. Stattdessen ließ sie es fallen. Es kam ihr schäbig vor, ihm, der neugierig zu ihr gekommen war, die Freiheit zu rauben. Als Sternauge vorsichtig mit seinen Nüstern gegen ihre Brust stieß, strich Nandalee ihm über den Hals. Sein Fell war rau und staubig. Er schnaubte leise. Nie zuvor hatte sie erlebt, dass ein Wildtier so zutraulich war. Hatte er etwa auf sie gewartet? Nein, der Gedanke war abwegig!

Sie hob ihre Hand und berührte die sternförmige Blesse auf seiner Stirn. Wenn sie doch nur in seinen Gedanken lesen könnte! Die übrigen Pegasi waren am Nachthimmel verschwunden. Er aber schien keine Eile zu haben, ihnen zu folgen.

»Wirst du mir erlauben, dich zu reiten?«, fragte sie leise.

Sternauge legte den Kopf schief und schnaubte leise. Es kam ihr fast wie eine Antwort vor. Sollte sie es wagen? Sie würde das Seil als Zaumzeug nutzen und den Sattel, den sie in ihrem Versteck verborgen hatte, zwischen seinen Schwingen auflegen müssen, um einen Halt zu haben, wenn sie auf seinem Rücken stand.

Ganz langsam bückte Nandalee sich und griff nach dem Hanfseil. Sie zog die Schlinge weit auseinander und hob sie vorsichtig an. Sternauge zuckte nicht zurück, als sie das Seil über seinen Kopf schob. Ebenso vorsichtig nahm sie den Sattel, der aus einem breiten Ledergurt bestand, dessen Sitzfläche aber verlängert und fast eben war. Auf diesem Sattel saß man nicht, Drachenelfen standen auf dem Rücken ihrer Pegasi. Mehrere aufgenähte Schlaufen gaben den Füßen in verschiedenen Standpositionen einen sicheren Halt. Die Innenseite war mit weichem Stoff gepolstert, damit der Sattel möglichst bequem für den Pegasus zu tragen war.

Es war Nandalee bewusst, dass den ungewohnten Sattel zu akzeptieren und das Festzurren des Ledergurts über sich ergehen zu lassen, für ein freies Tier die größte Überwindung war. Doch Sternauge schnaubte nur einmal leise und schlug mit seinem Vorderhuf in den staubigen Boden. Noch immer hielt er still und sah die Elfe aus klugen Augen an.

Nandalee legte die Hand flach auf seine Blesse und bereitete sich auf das Aufsteigen vor. Sie wartete, bis ihr Atem denselben Rhythmus wie sein Atem fand. Sie suchte die Verbindung mit seinen Kraftlinien und spürte, wie entspannt er war. Er hatte gewusst, dass sie kommen würde und dass es sein Schicksal war, mit ihr zu gehen. Was zwischen ihnen war, brauchte keine Worte. Seine Gefühle durchdrangen sie. Sie wusste um sein Leben, um seine Kämpfe. Er hatte beim Angriff des Drachen seine Stute und sein Fohlen verloren. Sein Leben, wie er es bisher geführt hatte, war zerfallen. Er war bereit, mit ihr zu gehen.

»Ich werde immer gut auf dich achten, Sternauge.«

Er mochte den Namen, den sie für ihn erwählt hatte, und drückte seine warmen Nüstern gegen ihren Hals. Ihr Pakt war besiegelt. Auf immer.

Sie schwang sich auf seinen Rücken, stellte die Füße in die Schlaufen, spürte, wie sich seine Muskeln unter dem Leder bewegten. Nandalee beugte sich leicht nach vorne, dann lief Sternauge gegen den Wind den Hügel hinab und durch das seichte Wasser, nahe beim Ufer. Immer stärker schlug sein Herz, und im gleichen Maße beschleunigte sich auch ihr Herzschlag. Das Wasser sprühte in tausend funkelnden Perlen im Mondenlicht und benetzte ihr Antlitz.

Dann hoben sie ab und flogen den Sternen entgegen.

Der Brunnen

Glamir schob den Riegel zurück und betrat die Kammer, die er seinen unerwünschten Gästen zugewiesen hatte. Zehn Tage hatte er sich Zeit mit seinem Besuch gelassen. Der kleine Raum war erstaunlich sauber. Es roch zwar nach benutzten Windeln, aber auch ein wenig nach Parfüm. Er kannte diesen schweren Moschusduft zu gut. Amalaswintha legte ihn jedes Mal auf, wenn sie eine Stunde Freigang hatte. Sie machte alle Zwerge im Turm damit verrückt. Der Geruch blieb, selbst wenn sie schon gegangen war, noch eine ganze Weile in der Luft hängen. Glamir hatte beobachtet, wie seine Männer einfach die Arbeit Arbeit sein ließen, wenn sie vorüberging, sie angafften und noch lange danach mit geschlossenen Augen träumten. Wie hatte Eikin ihm das antun können? Wie hatte der Alte aus der Tiefe ihm eine Frau hierherschicken können?

Glamir spürte ein Jucken zwischen den Schenkeln. Selbst bei ihm hatte sie längst vergessene Gefühle erwachen lassen. Es war nicht gut, sie hier zu haben. Über kurz oder lang würde es Streit wegen Amalaswintha geben. Er sollte sie in Ketten legen und im Brunnen versenken. Vermutlich erwartete ihn dann dasselbe Schicksal. Dieses Flittchen hatte durchblicken lassen, dass der Alte in der Tiefe sie schätzte. Aber hätte er sie dann mit den Drachentötern hierhergeschickt? Vielleicht war das ja Eikins Art, diese Frau in Ketten zu schlagen und in einem Brunnen zu versenken.

»Wir fühlen uns geehrt, Besuch vom Herrn des Turms zu bekommen«, sagte sie mit rauchiger Stimme, die ihm ein angenehmes Kribbeln im Bauch verursachte. Sie schaffte es, gleichzeitig anzüglich und ironisch zu klingen, während die anderen drei Zwerge ihn mit eisigem Schweigen empfingen.

Es fiel Glamir schwer, den Blick von ihr zu lösen. Wäre er nicht hier in diesem Turm am Ende der Welt, um eine Mission zu erfüllen, die all seine Kraft und Hingabe erforderte, sie hätte seine Traumfrau sein können. Andererseits hätte sie wohl an keinem anderen Ort auch nur einen Blick für den halben Mann übrig, den die Smaragdspinnen verstümmelt hatten. Dabei war er an entscheidender Stelle noch vollständig!

Amalaswintha war üppig, ohne dick zu sein. Ihr Gesicht fein geschnitten, mit sinnlichen, vollen Lippen. Die tiefgrünen Augen überschattet von buschigen Brauen, die ihrem Gesicht etwas Animalisches verliehen. Sie trug ein tailliertes, rotes Kleid, das völlig unangemessen für diesen Kerker war. Das tiefe Dekolleté brachte ihre Brüste gut zur Geltung und erweckte in Glamir den Wunsch, seine verbliebene Hand darin zu versenken.

»Geht es Euch gut, mein Fürst?«, fragte sie kokett und spielte dabei mit einer Strähne ihres langen, rabenschwarzen Haares. Sie war sich wohl bewusst, was er träumte.

Und warum sollte er nicht seine Stellung ausnutzen, um ein wenig Spaß mit ihr zu haben? Er war genauso ein Gefangener dieses Turms wie sie. Er hatte kein besseres Quartier als seine Männer, bekam denselben üblen Fraß wie sie. Nie hatte er seine Stellung genutzt, sich irgendeine Vergünstigung zu verschaffen. Warum nicht dieses eine Mal?

Glamir räusperte sich. Er musste sich zusammenreißen, es würde den empfindlichen Frieden des Turms stören, wenn er allein ein Weib hätte. Bald, wenn der Turm völlig in den Fluten versinken würde, wären sie für viele Wochen von der Außenwelt abgeschnitten. In der Vergangenheit war es in diesen Zeiten schon wegen Nichtigkeiten zum Streit gekommen. Es war eine Sache, für Monde tief in einem Berg zu bleiben, aus dem etliche Wege ins Freie führten, so dass man, wenn einem der Sinn danach stand, jederzeit einen Spaziergang unter weitem Himmel machen konnte. Doch es war etwas völlig anderes, hier unten eingesperrt zu sein. Der Alte in der Tiefe und er hatten dieses Problem unterschätzt. Bei der letzten Flut hatte es einen Streit gegeben, weil einer seiner Schmiede angeblich jedes Mal ein Stück Bauchfleisch mehr in der Suppe hatte als die anderen.

Wahrscheinlich war es nichts als Zufall gewesen. Ein Zufall, der diesem Schmied am Ende das Leben gekostet hatte. Jemand hatte ihm in einem abgelegenen Stollen aufgelauert und ihn kaltblütig niedergestochen. Es hatte nie geklärt werden können, wer diese Bluttat begangen hatte. Danach war ein erbitterter Streit zwischen den Freunden des Toten und denjenigen ausgebrochen, die ihm vorgeworfen hatten, Fleisch zu stehlen. Die Besatzung des Turms hatte sich binnen zwei Tagen in zwei Lager gespalten. Jeder hatte sich für eine Seite entscheiden müssen. Es war zu handfesten Schlägereien gekommen, und wäre nicht schließlich das Wasser wieder gesunken und ein Aal vor Anker gegangen, es hätte gewiss noch weitere Tote gegeben. Glamir hatte in den Wochen danach die halbe Besatzung des Turms austauschen müssen, um den Frieden wiederherzustellen.

Sein Blick wanderte wieder zu den Brüsten Amalaswinthas. Was für eine Versuchung war sie im Vergleich zu einem lächerlichen Stück Bauchspeck. »Ich würde mich freuen, dich heute Abend zu einem kleinen Imbiss zu empfangen«, sagte er wider jede Vernunft. Aber heute Abend würde es etwas zu feiern geben. Und danach wäre er enthaltsam. Nur dieses eine Abendessen!

»Galar, wenn du Manns genug bist, in den Brunnen zu steigen, dann komm mit mir. Ich brauche heute einen mutigen Begleiter.« Er hob seinen Armstumpf. »Und vor allem einen, der noch beide Hände benutzen kann. Ich zeige dir, wo wir das Metall gewinnen, das diesen Turm so besonders macht.«

»Ihr steigt hinab zu der Metallwand im Fels?«, fragte Amalaswintha neugierig.

Glamir schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Metallwand! Nur ein Stück Metall im Fels.«

»Aber es sieht ganz anders aus als eine Erzader, nicht wahr?«

»Ja, das tut es«, gestand er widerwillig ein. »Aber ganz sicher ist sie nicht eine Meile lang und ein paar Fuß dick!«

»Wenn du es sagst, mein Fürst.« Sie hatte wieder diesen Ton, der halb ironisch, halb anzüglich klang. Wenn sie den beibehielt, würde das Abendessen kein Vergnügen werden, dachte er säuerlich.

»Also, Galar, wie steht es mit deinem Mut?«

»Bestens«, entgegnete der Schmied streitlustig. »Genau wie mit meinem Verstand. Und der warnt mich davor, mit dir zu gehen. Warum hast du dich so lange nicht mehr blicken lassen? Und vor allem, woher kommt dein plötzlicher Sinneswandel?«

Glamir versuchte sich an einem unschuldigen Lächeln. »Ist ein paar Tage niemand mehr so tief hinabgestiegen. Die verdammten Spinnen waren unruhig. Aber jetzt sieht alles gut aus. Ist natürlich was anderes, auf eine halbe Meile Entfernung einen Drachen abzuschießen, als sich wie ein Stein im Wasser versenken zu lassen, wo jederzeit die Spinnen aus dem Dunkel kommen können.«

»Willst du damit sagen, wir alle seien Feiglinge?«, rief Nyr entrüstet.

»Nein, er möchte nur erreichen, dass Galar eine Entscheidung trifft, ohne seinen Verstand zu benutzen«, mischte sich Hornbori ein. »Und so, wie ich unseren Freund kenne, wird Glamir das auch gelingen.«

»Kümmer dich gefälligst um deinen eigenen Scheiß, Wortefurzer«, schnauzte Galar und erhob sich von seinem Lager. »Erinnere dich, dass selbst die Drachen es nicht geschafft haben, mich umzubringen.«

»Was unterstellst du mir!«, empörte sich Glamir. »Du stehst unter dem Schutz des Alten in der Tiefe. Ich würde niemals die Hand gegen dich erheben.« Bei diesen Worten legte er feierlich seine Linke auf sein Herz. »Das schwöre ich bei den Bärten meiner Ahnen.«

»Es würde dir ohnehin nicht gelingen«, entgegnete Galar selbstsicher. »Also gehen wir. Ich kann es kaum erwarten, dieser verschissenen Kammer zu entkommen.«

Deine Arroganz wird dich umbringen, ich werde fast nichts dazutun müssen, dachte Glamir und sagte: »Also gehen wir.«

Er führte den Schmied hinab zu der Kammer über dem Brunnen. Dort waren bereits zwei Fassanzüge für sie vorbereitet worden. Glamir hasste es, sich dabei helfen lassen zu müssen, in den Fassanzug zu steigen, aber verstümmelt wie er war, brauchte er jemanden, der ihn stützte, während ein zweiter Zwerg die Lederlaschen festzog.

Amüsiert sah er zu, wie Galar mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen seinen Fassanzug ansah. Man musste irre sein, um in so ein Ding zu steigen und sich in den dunklen Brunnen versenken zu lassen. Aber Galar war irre! Nach den Geschichten, die Glamir über den Schmied aus der Tiefen Stadt gehört hatte, war er sich da ganz sicher. Ja, sie waren sich ziemlich ähnlich. Und genau deshalb musste er ihn loswerden.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte Galar skeptisch und betrachtete das Fass mit der angenieteten Lederhose und den dicken Lederärmeln, die aus der Seite herausragten.

»Das ist der V-7«, entgegnete Glamir und genoss den fragenden Gesichtsausdruck des Schmieds.

»Ein Variante-sieben-Fassanzug. Das Beste, was wir im Moment zu bieten haben. Erhöhte Bleigewichte, ein größeres Sichtglas, geschützt durch ein Stahlgitter, zwei Abluftöffnungen und das Fass wurde nie zur Lagerung alkoholischer Getränke genutzt. Alle Erfahrungen der letzten Jahre sind in den V-7 eingeflossen. Schau mal zum Beispiel dort vorne, unter dem Sichtfenster der Kasten. Das ist ein Barinstein, der in eine Halbkugel aus Spiegelglas eingelassen wurde. So wird sein Licht gebündelt und gibt einen stärkeren Strahl, der direkt nach vorne leuchtet, wohin du schaust. Und falls es nötig wird, rasch im Dunklen zu stehen, schließt du die Blende davor. Hätte ich so einen Anzug bei meinem Unfall getragen, hätte ich vielleicht meine Glieder behalten.«

»Wieso?« Galar runzelte die Stirn, stieg aber in das Fass und ließ sich in die Lederbeine helfen.

»Die Smaragdspinnen folgen dem Licht, wenn du hochgezogen wirst. Gibt es kein Licht, hast du bessere Aussichten, ihnen zu entkommen.«

»Mein Fass stinkt nach Fisch«, maulte Galar.

»Waren Heringe drin eingelegt. Aber glaub mir, das ist besser als die Branntweinfässer, die wir anfangs genommen haben. Der Alkohol zieht zu tief ins Holz ein. In dem Fass kann es ganz schön warm werden, und wenn du zu schwitzen anfängst, dann dunstet Alkohol aus dem Holz. Ist nicht gut, fünfzig Schritt tief im Brunnen plötzlich besoffen zu sein. Hab drei gute Männer verloren, bis wir verstanden haben, woran es lag. Heringsgeruch ist viel besser!« Glamir streckte seinen linken Arm in den seitlich angebrachten Ärmel aus Büffelleder. Riemen wurden straff um sein Handgelenk und seinen Oberarm gezogen, damit kein Wasser ins Innere des Fasses eindringen konnte. Sein rechter Arm war eine Sonderanfertigung. Die Prothese konnte eine Harpune verschießen, aber davon musste Galar nichts wissen.

Glamir beobachtete den Schmied durch das große, gewölbte Glas, das in die Vorderseite des Fasses eingelassen war. Sein eigenes Fass war eine Sonderanfertigung. Zwei zusätzliche Gläser waren rechts und links in Kopfhöhe angebracht, sodass er einen besseren Überblick hatte. Das einzig Gute an den Smaragdspinnen war das seltsame, phosphoreszierende Licht, das sie umgab. Im Gegensatz zu Muränen oder Seeschlangen konnte man sie von Weitem kommen sehen.

»Was sind denn das für Hebel hier drinnen?«, maulte Galar, seine Stimme klang dumpf durch das Fass. »Welcher hirnlose Zwerg hat sich das denn ausgedacht? Wie soll ich die bedienen, wenn meine Arme in Lederschläuchen außerhalb des Fasses stecken?«

»Ganz einfach, du beißt in den Holzgriff und drehst den Kopf zur Seite. Mit dem blauen Hebel rechts entriegelst du das Rückschlagventil. Keine große Sache.«

»Ein Ventil?« Galar starrte ihn fassungslos durch das Glas seines Fassanzugs an. »Warum sollte ich ein Loch im Fass öffnen?«

»Ein Rückschlagventil!«, antwortete Glamir genüsslich schmunzelnd. »Es kommt kein Wasser rein, jedenfalls wenn alles in Ordnung ist. Es entweicht Luft, wenn der Druck im Fass zu hoch wird.« Er deutete zu den Pumpen im Hintergrund der Höhle, die wie zwei überdimensionale Blasebälge aussahen, über denen zwei hölzerne Hebel aufragten. »Wir haben Schläuche aus einem seltenen Baumblut angefertigt. Sie sind von innen mit einem Spiraldraht stabilisiert. Darüber wird Luft zu uns heruntergepumpt. Und wenn der Druck im Fass zu groß wird, dann öffnest du ein Ventil.«

»Woran merk ich das denn?«

»Du bekommst Ohrenschmerzen. Es hilft, weit den Mund aufzumachen. Besser ist aber, wenn du das Ventil öffnest. Dann wird Luft abgelassen und der Druck ausgeglichen. Tust du das nicht, und der Druck wird immer stärker, könnte irgendwo über dir der Schlauch platzen.«

»Der aus Baumblut gefertigt ist«, sagte Galar hörbar verstört.

»Ein elastisches Harz. Mach dir keine Sorgen deshalb.«

»Und der rote Holzgriff links?«

»Damit verriegelst du die Öffnung für den Schlauch oben im Fass. Sollte der Schlauch platzen und Wasser eindringen, hast du immer noch genug Atemluft im Fass, um sicher hochgezogen zu werden. Das Fass hängt an einer schweren Stahlkette, die an einer Öse im Fassdeckel aus Kupfer befestigt ist. Wir holen jeden hoch. Du musst keine Angst haben.«

»Ich hab keine Angst«, knurrte Galar gereizt.

»Angst hilft dir, da unten zu überleben, Junge. Du solltest besser nicht zu mutig sein. Die Tollkühnen sind immer die ersten Toten.«

»Ist ja wohl keine Schlacht, in die wir ziehen.«

Glamir sagte dazu nichts. Der Junge würde schon noch sehen, worauf er sich eingelassen hatte. »Links von dir findest du ein Seil. Wenn du daran dreimal ruckartig ziehst, ist das das Signal, dass du schnell heraufgezogen werden willst. Einmal ziehen heißt, den Kranarm, von dem du hängst, nach rechts schwenken, zweimal ziehen, nach links schwenken und viermal ziehen, dass sie mehr Kette geben sollen, damit du tiefer sinken kannst. Vorne am Fass gibt es Lederschlaufen, in denen Werkzeug steckt. Ein Pickel, ein Stemmeisen, ein Hammer und vor allem ein starker Magnetstein. Du wirst nur ein paar kleine Späne aus dem seltsamen Eisen dort unten lösen können. Mit dem schweren Lederhandschuh kannst du sie nicht greifen, der Magnetstein hilft dir, sie einzusammeln.«

Galar nickte.

»Noch Fragen?«

»Das Blei hier im Fass dient dazu, dass wir schneller sinken, richtig?«

»Es ermöglicht uns, überhaupt zu sinken«, erklärte Glamir. »Ohne das Blei treiben die Fässer auf dem Wasser.«

»Warum ist es nicht so angebracht, dass man es einfach abwerfen kann? Dann würde das Fass aus eigener Kraft nach oben steigen.«

Dumm war er nicht, dachte sich Glamir. Sie hatten das anfangs auch versucht. »Kommt das Fass zu schnell nach oben, passiert irgendetwas mit deiner Lunge. Wir wissen nicht genau was. Aber es kann passieren, dass du aus der Nase und dem Mund zu bluten beginnst und verreckst. Zu schnell aufzusteigen ist nicht gut. Jedenfalls nicht, wenn du fünfzig Schritt tief im Wasser bist. Noch weitere Fragen? Das ist die letzte Gelegenheit. Wenn erst einmal der Kupferdeckel auf dem Fassanzug festgeschraubt ist, gibt es keine Möglichkeit mehr, miteinander zu reden.«

»Genug gequatscht! Gehen wir runter«, entgegnete Galar großspurig.

Wieder fühlte sich Glamir daran erinnert, wie er gewesen war, als er noch all seine Gliedmaßen besessen hatte. »Gut. Ich werde dir unten ein Lichtzeichen geben, wenn wir die Stelle erreichen, an der du in einer Felsnische die kleine Metallwand findest. Du gehst rein, und ich sichere dir den Rücken. In der Nische ist es so eng, dass nur einer darin arbeiten kann.«

»Gut, machen wir so. Ich werde einen schönen Klumpen Metall mit hochbringen.«

Aber sicher doch, dachte Glamir. Wir haben in all den Monden gerade genug für eine Pfeilspitze zusammenkratzen können, und du kommst gleich mit einem ganzen Klumpen. Du wirst dich noch wundern, wenn du deinen Pickel an der verdammten Wand platt haust und du das Gefühl hast, die Luft in deinem Fass fängt an zu kochen.

»Schließt die Fässer«, rief er den wartenden Arbeitern zu.

Mit einem dumpfen Laut senkte sich der schwere, gewölbte Kupferdeckel. Glamir konnte hören, wie die Schrauben angezogen wurden. Wie immer war ihm, als würde der Deckel seines Sargs verschlossen. Wer in den Brunnen hinabstieg, der sollte mit sich und der Welt im Reinen sein. Zu viele waren von dort unten nicht lebend wiedergekehrt.

Er hörte, wie die schwere Kette am Deckel befestigt wurde und gab ein Handzeichen, dass er bereit war. Klirrend bewegten sich die Kettenglieder, dann wurde er emporgehoben. Der Kranarm, von dem er hing, schwenkte über die Öffnung inmitten der gewölbten Decke, die den Brunnen abschloss. Sie war weit genug, dass vier Zwerge in Fassanzügen nebeneinander hindurchgelassen werden konnten. Das dunkle Wasser im Brunnen stand hoch. Noch anderthalb Schritt, und es würde bis zur gewölbten Decke reichen. Dann müssten sie den Brunnen endgültig mit der schweren Kupfertür verschließen. Viele Gelegenheiten, um in die Tiefe zu steigen, gab es nicht mehr. Dann begannen die Wochen des Wartens, in denen sie alle im Turm eingeschlossen waren.

Der alte Zwerg spähte mit zusammengekniffenem Auge ins Wasser, suchte nach dem verräterischen Leuchten der Smaragdspinnen, konnte aber nichts entdecken. Sie würden kommen, er wusste es, aber noch hatten sie Zeit. Als Galar in seinem Fassanzug neben ihm in der Luft schwebte, gab er das Zeichen zum Hinablassen. Er sah Galar die Anspannung an. Die Scheibe in seinem Fass war schon beschlagen. Ein Zeichen dafür, wie sehr er schwitzte.

Ruckend senkten sie sich dem Wasser entgegen. Glamir legte die Hand auf die Blendlaterne mit dem Barinstein. Er wollte sie so spät wie möglich öffnen. Nicht nur die Spinnen waren durch ihr Licht von Weitem zu sehen, auch sie würde ihr Licht verraten.

Sein Bein tauchte ins Wasser. Intuitiv hielt er den Atem an. Es war verrückt, was sie hier taten. Es gab so viele Möglichkeiten, in diesen verdammten Fassanzügen zu Tode zu kommen. Die Einfassung der Scheibe konnte undicht werden, eine Daube unter dem Wasserdruck nachgeben, sodass sich ein Spalt öffnete – und dann gab es noch all die Kreaturen, die die Finsternis gebar. Als das Wasser über ihm zusammenschlug, tastete er nach dem Pickel in der Lederschlaufe am Fass. »Ich komme wieder hoch«, schwor er sich leise. »Alles wird gutgehen.«

Der alte Schmied begann leise zu zählen. In der Dunkelheit des Brunnens verstrich die Zeit langsamer. Augenblicke dehnten sich ins Unendliche. Er spürte einen leichten Druck auf den Ohren und biss in den blauen Griff neben seinem Kopf. Vorsichtig öffnete der das Abluftventil. Durch das kleine Seitenfenster sah er silberne Luftblasen im Wasser aufsteigen. Noch erhellte das Licht der Brunnenöffnung das Wasser. Er sah die Wände mit der weiten Treppe. Auf dem Mauerwerk entdecke er einzelne Schwarze Schnecken. Er sollte ein paar Männer runterschicken, um sie zu ernten, sobald er zurück war. Der kostbare schwarze Farbstoff, der aus den Schnecken gewonnen wurde, war ihre Tarnung, der offizielle Grund, warum dieser Turm existierte. Die Farbe war begehrt. Ihr Gewicht wurde in Gold aufgewogen. Sie verbleichte niemals. Alle wichtigen Dokumente, die nicht in Stein gemeißelt waren, wurden mit dieser Tinte niedergeschrieben. Und Kleidung, die man damit färbte, verlor nie mehr ihr tiefes Schwarz.

Die Fenster in seinem Fassanzug begannen zu beschlagen. Glamir fluchte. Als wäre die Sicht nicht schon schlecht genug. Er hatte jetzt fast die Grenze zur ewigen Dunkelheit erreicht. Die Wände des Brunnenschachts konnte er schon nicht mehr sehen. Seine Hand tastete nach der Blendlaterne außen am Fass. Noch nicht, ermahnte er sich. Noch nicht!

Er hatte das Zählen vergessen. Mist! Wie tief sie wohl schon waren? Das Zwielicht war zur Dunkelheit geworden. Die Eisenkette, an der er hing, war markiert. Sobald fünfzig Schritt erreicht waren, würden die Männer oben an den Kränen ihn nicht mehr tiefer sinken lassen. Aber es war besser mitzuzählen, um einen Anhaltspunkt zu haben, wie lang es noch dauern mochte.

Auch Galar hatte seine Blendlaterne noch nicht geöffnet. Er hat Disziplin, dachte Glamir. Nur wenige widerstanden bei ihrem ersten Tauchgang der Versuchung, zumindest einen kurzen Blick auf die Brunnenwand zu werfen. Nur um zu wissen, dass sie noch da war und sie nicht von endloser Schwärze umfangen waren, so als sei man von einem der Goldenen Pfade ins Nichts gestürzt, in die grenzenlose Dunkelheit zwischen den Welten.

Er dachte wieder an Amalaswintha und daran, dass es ein Fehler wäre, mit ihr zu Abend zu essen, aber einen Fehler durfte er sich erlauben. An jedem anderen Ort würde sie ihn mit Missachtung strafen, aber hier war er der Herr. Der Herrscher über den Turm. War es unmoralisch, diese Gelegenheit zu nutzen? Schließlich zwang er sie zu nichts. Er würde geschehen lassen, was immer kam. Glamir schloss die Augen und gab sich ganz seinen Phantasien hin. Es war lange her, seit er bei einem Weib gelegen hatte.

Ein plötzlicher Ruck riss ihn aus seinen Tagträumen. Sie mussten die Tiefe von fünfzig Schritt erreicht haben. Glamir tastete nach seiner Laterne und zog die Blende zurück. Warmes, gelbes Licht schnitt in die Dunkelheit. Es war nicht sehr grell, genügte aber, um einige Schritt weit zu sehen. Sie hatten die Bohrung durch den Felsvorsprung, auf dem sein Turm errichtet war, hinter sich gelassen. Vor ihnen war undeutlich die Wand der unterseeischen Klippe zu erkennen, auf der Nester aus fleischigen Fäden wucherten. Über ihnen war der untere Rand des Brunnenschachts.

Galar zog bereits an seinem Seil. Augenblicke später schwenkte er sanft auf die Wand zu. Auch Glamir gab Befehl, ihn zur Felswand zu schwenken. Deutlich zeichnete sich die Höhlung in der Klippe nun im Licht der Blendlaterne ab. Galar war bereits am Fels angelangt. Sie hingen ein wenig zu tief. Er benutzte den Pickel, um sich den Steilhang hinaufzuarbeiten, und verschwand dann in der Höhle. Sie reichte nicht tief ins Gestein. Vielleicht drei, höchstens vier Schritt.

Glamir sah eine weiße Krabbe auf langen Beinen davonstelzen und aus dem Lichtkegel der Blendlaterne flüchten. Der Schmied seufzte. Was zu tun war, gefiel ihm nicht, aber Galar war eine Gefahr für den Turm. Wer er war, hatte bereits die Runde gemacht. Die Männer kannten ihn gar nicht, aber sie empfanden Respekt vor dem, was er und die anderen zwei Fremden getan hatten. Sie waren die Drachentöter! Sie hatten wahr gemacht, wovon fast alle Zwerge träumten. Sie hatten einen der großen Tyrannen vom Himmel geholt! Wie dumm die drei dabei vorgegangen waren, sahen sie nicht. Sie hatten durch ihre Taten ihre Heimatstadt vernichtet.

Glamir wandte sich dem Abgrund zu, dem endlosen Dunkel, in das die Klippe hinabreichte. Sein Lampenschein schnitt nur eine kurze Bahn in die Finsternis, aber er würde sehr weit zu sehen sein. Er wartete.

Hinter sich hörte er dumpf das Klirren von Galars Pickel. Der Schmied mühte sich an der Eisenwand ab. Sollte er sich nur müde arbeiten. Das Ende würde leichter sein, wenn er keinen Widerstand mehr leisten konnte. Tief im Dunkel erschien ein blassgrünes, phosphoreszierendes Licht. Sie kamen.

Glamir entschied, noch ein wenig zu warten, bevor er dreimal an der Signalleine ziehen würde. Er wollte ganz sicher sein, dass sie in die Höhle fanden, obwohl auch sie wahrscheinlich den Klang des Pickels hörten. Der Anblick der Smaragdspinnen ließ seine alten Narben brennen. Er fühlte sich schlecht.

»Es muss sein!«, sagte er mit fester Stimme, aber das half nicht. Er war in seinem Leben schon vieles gewesen. Aber heute wurde er zum ersten Mal zum Verräter.

Smaragdspinnen

Galar hieb mit aller Kraft auf die Metallwand, die er im Fels verborgen gefunden hatte. Dann untersuchte er im mattgelben Licht der Blendlaterne das Metall. Er hatte nur eine kleine Schramme im Metall hinterlassen. Er schien nicht einmal einen Span gelöst zu haben. Deutlich sah er die Spuren jener, die vor ihm hier gewesen waren. Er empfand Respekt vor den Männern. Um überhaupt eine Spur zu hinterlassen, musste man schon ziemlich fest zuschlagen können.

Das Werkzeug, das sie ihm mitgegeben hatten, war für diese Aufgabe nutzlos. Vielleicht könnte er mit einem Diamanten ein paar Späne aus der Metallplatte kratzen? Seltsam, dass Glamir darauf noch nicht gekommen war. Vielleicht hatten sie hier einfach keinen Diamanten, der sich in ein Werkzeug einpassen ließ. Und da der Turm in Kürze von der Außenwelt abgeschnitten wäre, würden sie auch lange kein neues Werkzeug bekommen.

Wieder hieb Galar mit aller Kraft den Pickel vor die Wand. Sie vibrierte nicht, bewegte sich nicht das kleinste bisschen, ganz gleich, wie heftig er darauf eindrosch. Sie musste dick sein und bestimmt endete sie nicht ein kleines Stück rechts oder links vom Fels, in den sie eingebettet war. Der Schmied dachte daran, was Amalaswintha erzählt hatte. Konnte es eine so riesige Metallwand mitten im Felsgestein geben? Und wenn ja, was war ihr Nutzen? Und wer hatte sie errichtet?

Statt weiter an der Wand zu arbeiten, leuchtete er zur Seite und betrachtete den Fels, in den sie verschwand. Das Gestein war porös. Er hob den Pickel. Schon mit dem ersten Hieb gelang es ihm, einen faustgroßen Brocken loszulösen. Ein wenig Geröll rutschte nach. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, Gestein zu brechen, ohne vorab die Höhlendecke und die Seitenwände vernünftig abzustützen. Eigentlich sollte er es besser wissen. Sein Leichtsinn war nicht … Mehr Geröll löste sich an der Stelle, an der er den Steinbrocken herausgebrochen hatte. Der Fels gab ein bedrohliches Knirschen von sich. Jetzt rieselten auch von oben feine Gesteinssplitter herab und tanzten im Lichtkegel seiner Blendlaterne.

Galar wich ein Stück zurück. Er war kein Steiger. Er hatte so gut wie keine Ahnung vom Bergbau. Hätte er nur die Finger davon gelassen! Seine verfluchte Neugier würde ihn eines Tages noch umbringen.

Er trat noch einen Schritt zurück. Es hatte aufgehört, der Berg war wieder ruhig. Erleichtert atmete er auf. Sein Kopf schmerzte. Es war ein Gefühl, als habe jemand Finger in seine Ohren gesteckt und versuchte nun, ihm das Gehirn auszuquetschen. Das Ventil! Er hatte es völlig vergessen!

Welcher Hebel war es auch gleich? Der blaue oder der rote? Er versuchte es mit Blau. Seine Zähne gruben sich in den Holzgriff. Diese Fassanzüge waren wirklich nicht ausgereift. Der Druck ließ nach. Er blinzelte und betrachtete die Metallwand. Wenn er es schaffte, ein paar winzige Späne mit nach oben zu bringen, könnte er froh sein. Nyr sollte sich das einmal ansehen. Er war ein findiger Kopf, und es war an der Zeit, dass er mal an was anderes dachte als an den kleinen Hosenscheißer. Frar hatte sich erstaunlich gut gemacht. Er war groß für sein Alter. Drachenblut und vorgekaute Sardinen hatten ihn nicht umgebracht. Der Junge würde es ein paar Stunden ohne Nyr aushalten.

Galar drehte sich in der Felsnische um. Vor dem Ausgang war kein Lichtschein mehr. Glamir war verschwunden. Ob der Alte ein paar dieser ekelhaften Schnecken sammelte?

Galar trat bis zum Höhlenrand und sah nach oben. Da war nichts. Kein Licht, nicht einmal das des Einstiegslochs in die Kuppeldecke. Unten vielleicht? Er musste sich weit vorbeugen, um in den Abgrund zu blicken. Schatten, gehüllt in unstetes, grünes Licht, hasteten den Hang hinauf. Von Glamir gab es keine Spur. Der Alte hatte sich verdrückt und ihn zurückgelassen! Galar griff nach dem Notseil, zog ruckartig daran. Kein Widerstand. Was …? Das durchtrennte Ende des Seils sank durch den Lichtkegel seiner Blendlaterne.

Schlagartig wurde dem Schmied klar, warum Glamir ihn mit zur Wand hinuntergenommen hatte. Er wollte ihn aus dem Weg räumen. Aber so leicht verreckte er nicht! Galar trat zurück in die Felsnische. Die verdammten Spinnen konnten ihn hier nur von vorne angreifen. Er war ein Drachentöter! So leicht würde er sich nicht umbringen lassen!

Er zog das Messer, das in einer der Fassschlaufen steckte. Zusammen mit dem kurzstieligen Pickel waren es die besten Waffen, um sich gegen Spinnen zur Wehr zu setzen. Das hoffte er zumindest. Seine Erfahrungen mit Spinnen beschränkten sich auf solche, die man ohne Schwierigkeiten mit der flachen Hand erschlagen konnte.

»Kommt schon!«, rief er so laut, dass ihm in dem engen Fass die Ohren dröhnten. »Ich mach euch fertig!«

Die erste Spinne, die in die Felsnische einstieg, ließ ihm den Atem stocken. So groß sollten solche Viecher nicht sein! Die langen, schlanken Beine trugen einen wuchtigen Rumpf. An Land würde die Spinne einfach über ihn hinwegstelzen können, ohne dass ihr Bauch ihn berühren würde. Die beiden Vorderbeine endeten in spitzen Dornen. Unter dem Maul wuchsen zwei kleinere Arme hervor, die in Scheren, groß wie Schwerter, mündeten. Leuchtend grüne Augen blickten aus dem dunklen Körperpanzer auf ihn herab. Ein geisterhaftes, grünes Licht umspielte die Spinne.

Galar wurde bewusst, dass er einen Fehler bei der Wahl seiner Waffen begangen hatte. Mit der Brechstange hätte er vielleicht eines der gepanzerten Spinnenbeine zerschmettern können, mit dem Pickel hingegen könnte er höchstens auf einen Glückstreffer hoffen. Er wünschte, er hätte eine vernünftige Axt dabei!

Eines der Vorderbeine schnellte vor. Er wich zur Seite aus. Viel Platz war in der verdammten Felsnische nicht. Sofort schnellte das zweite Bein vor. Dieser riesige Mistkäfer wollte ihn einfach aufspießen! »So leicht tötest du mich nicht!«, schrie er wütend und warf sich der Seespinne entgegen.

Eine Schere schnappte nach der Hand, in der er sein Messer hielt. Er zuckte zurück. Die Schere schloss sich um die Spitze der Klinge und durchtrennte sie so leicht, als sei sie nicht erstklassiger Zwergenstahl, sondern ein dünnes Ästchen. Plötzlich konnte sich Galar sehr bildlich vorstellen, wie Glamir seine Gliedmaßen verloren hatte. Die zweite Schere schnappte nach einem seiner Beine. Er ließ den Pickel mit aller Wucht auf den dicken Hornpanzer niedersausen. Die Spitze drang in die Schere ein, aber dann wurde ihm die Waffe aus der Hand gerissen, als die Spinne den Scherenarm zurückzog.

Galar griff nach dem Brecheisen in der Lederschlaufe, als die in Dornen endenden Beine erneut vorstießen. Im plumpen Fassanzug konnte er nicht schnell genug ausweichen. Einer der Dornen schrammte über das Holz. Es gab ein kreischendes Geräusch. Galar wurde nach hinten geworfen, und ein eisiger Strahl Wasser schoss ihm ins Gesicht.

Ich bin tot, war sein erster Gedanke. Er stach mit dem verstümmelten Messer nach den Spinnenbeinen, richtete aber keinen Schaden an. Wieder stießen die Dornbeine auf ihn hinab.

Er ließ sich in die Knie sacken. Eines der Beine kratzte neben ihm über die Metallwand und hinterließ eine tiefe Schramme. Jetzt weiß ich, wie man dieser Wand beikommt, dachte Galar resignierend, werde aber verrecken, bevor ich es irgendjemandem sagen kann. Das eiskalte Wasser im Fassanzug stand schon bis zu seinem Brustbein. Er erinnerte sich daran, dass ihm der Steuermann eines Aals einmal erzählt hatte, dass Tauchboote nie ganz voll Wasser liefen, wenn es keine zweite Öffnung gab. Es hielt sich immer eine Luftblase an der höchsten Stelle.

Galar biss in den roten Hebel, mit dem der Verschluss für den Schlauch oben im Fass bewegt werden konnte. Er drehte den Kopf und hörte über sich etwas klacken. Das Wasser spritzte ihm immer noch ins Gesicht. Da fuhr ein sengender Schmerz durch seinen Oberschenkel. Er dachte an das abgetrennte Bein Glamirs und sah an sich hinab, aber das gewölbte Fass versperrte seine Sicht. Eine Wolke aus Blut wogte in den Lichtkegel der Blendlaterne. Das war das Ende, dachte er bitter. In einem Brunnen am Arsch der Welt verrecken, nachdem sein Brunnen in der Tiefen Stadt ihm beim Drachenangriff das Leben gerettet hatte! Das Schicksal machte üble Scherze.

Die Smaragdspinne zog sich ein Stück zurück. Sie wusste, dass der Kampf vorüber war, und er nicht mehr fliehen konnte. Weitere Spinnen umringten seine Mörderin. Sie hoben aufgeregt ihre vorderen Beinpaare und winkten damit. Es sah ganz so aus, als würden sie erhitzt über etwas streiten. Vermutlich darüber, wie die Beute aufzuteilen war. »Meine Füße kann ich nur empfehlen«, murmelte Galar matt. »Der Geruch tötet sogar Fliegen. Aber damit habt ihr hier unten wohl keine Probleme.«

Er sah der Blutfahne zu, die wirbelnd durch den Lichtkegel trieb. In Gedanken zog sein Leben an ihm vorbei. All die verpassten Gelegenheiten, bei denen ihm sein Stolz und sein Dickkopf im Weg gestanden hatten, und die wenigen glorreichen Momente. Der Tod der beiden Drachen gehörte dazu und der Tag, an dem er seinen Tunnel voller Fallen in der Tiefen Stadt vollendet hatte.

Sein Blick wanderte zurück zu den Seespinnen. Warum führten die so lange ihren seltsamen Tanz auf? So viel Beute gab es hier doch nicht aufzuteilen. Das Wasser reichte ihm nun bis zum Kinn, aber der dicke Strahl, der ihm eben noch ins Gesicht gespritzt war, war zu einem schmalen Rinnsal verebbt. Ertrinken würde er wohl nicht, dachte er erleichtert. Besser, von Seeungeheuern zerlegt werden, das war ein angemessener Tod.

Galar hob das gekappte Messer, wenn er damit auch nicht zu mehr als etwas symbolischem Widerstand in der Lage wäre. Etwas Funkelndes im Geröll neben ihm erweckte seine Aufmerksamkeit. Erst hielt er es für die abgetrennte Messerspitze, aber die Form passte nicht. Es war zu schmal. Er tastete mit dem klobigen Handschuh danach, bekam es aber nicht zu fassen. Vielleicht lag es daran, dass ihm die Kälte schon zu tief in die Glieder gefahren war. Seine Zähne klapperten. Das Wasser im Fassanzug war wirklich eisig.

Er zog den Magnetstein aus seiner Fassschlaufe und führte ihn in Richtung des Metallsplitters. Er wurde angezogen und klebte an dem grauen Stein fest. Im selben Augenblick kroch die Spinne in die Felsnische zurück. Ihre Zangenarme griffen nach seinen Stiefeln. Er wurde von der Metallwand weggezogen und lag bald inmitten eines Waldes aus Spinnenbeinen. Das Wasser im Anzug spülte über ihn hinweg. Er versuchte, sich wieder aufzusetzen, damit sein Kopf in der kleinen Luftblase im oberen Fünftel des Fasses blieb. Zweimal rissen sie ihn wieder zu Boden, doch dann ließen die Spinnen ihn sitzen. Die Räuber krochen übereinander, stießen ihn mit ihren Vorderbeinen und zwackten ihn mit ihren Scheren. Aber keine verletzte ihn ernsthaft. Es machte eher den Eindruck, als untersuchten sie ihn neugierig.

Als er an den Rand der Nische gezogen wurde, konnte er in die Tiefe blicken. Der ganze Hang war voller Spinnen, es mussten weit über hundert sein. Und einige von ihnen waren noch deutlich größer als das Vieh, das ihn als Erstes angegriffen hatte.

Galar zitterte inzwischen unkontrolliert. Mit dem Blut rann auch die restliche Wärme aus seinem Körper. Er biss die Zähne zusammen und konnte doch nicht verhindern, dass sie rasend klapperten. Es ging zu Ende mit ihm. Ihm war schwindelig. Er schob den Magnetstein in die Halterung am Fass und stützte sich dann mit beiden Händen auf dem Boden auf, um nicht zur Seite zu kippen. Auch wenn er tief einatmete, hatte er das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Er war allerdings zu müde, um darüber in Panik zu geraten. Warum rissen sie ihn nicht einfach in Stücke, dann wäre es vorüber?

Eine der großen Spinnen hob ihn auf. In ihren Scheren war sein Fass nicht mehr als eine Walnuss in einer Zange. Ein leichter Druck und das dicke Eichenholz würde zersplittern, dann wäre es endlich vorüber. Galar atmete jetzt hechelnd, so als sei er eine weite Strecke gelaufen. Seine Sinne begannen sich zu trüben. Er hatte das Gefühl, inmitten einer Flut aus glosendem, grünem Licht aufwärtszutreiben.

Plötzlich wurde die Luft im Fass besser. Er lag auf dem Boden. Gluckernd floss das Wasser durch das zerstörte Abluftventil. Eine der Fassdauben war zerbrochen, sodass frische Luft eindringen konnte. Gierig, wie ein Verdurstender Wasser trinkt, schnappte er nach Luft. Er war zu schwach, um sich aufzusetzen. Seine Zähne klapperten noch immer. Er hörte Stimmen, sah einen Graubart hinter der Glasscheibe im Fass. Jemand machte sich an seinem verletzten Bein zu schaffen. Dann knirschten die Schrauben, die den Kupferdeckel festhielten, in ihren Gewinden. Kaum dass der Deckel abgenommen wurde, packten ihn kräftige Hände und zogen ihn aus dem Fass.

»Er ist völlig ausgekühlt. Wir müssen ihn ausziehen und in warmes Wasser legen«, sagte jemand hinter ihm.

»Besser wäre es, ihn mit einem netten Weib in ein warmes Bett zu packen. Nichts weckt die Lebenskräfte so schnell wie ein hübsches, anschmiegsames Mädchen.«

»Idiot!«, schimpfte die erste Stimme.

Galar war glücklich, wieder frei atmen zu können. Überdeutlich nahm er all die Gerüche um sich herum wahr. Die Kleider der Zwerge, die nach altem Schweiß stanken, den Fischgeruch, das Öl auf den Eisenketten, Rauch.

Glamirs Gesicht erschien über ihm. Sein Mienenspiel verriet nicht, ob er enttäuscht war, ihn wiederzusehen. »Du bist erstaunlich zäh«, sagte er anerkennend.

»Und du bist ein erstaunliches Arschloch.«

Alle Gespräche verstummten.

»Er ist noch nicht ganz bei sich«, wiegelte Glamir lächelnd ab, aber in seinem Blick spiegelte sich blanker Hass. »Wir hätten gerne gewusst, was du mit den Spinnen gemacht hast. Üblicherweise fressen sie Zwerge, aber dich haben sie auf ihren Rücken hier heraufgetragen … als seist du ihr König. Was ist an dir besonders? Bist du selbst für Spinnen unverträglich?«

Galar hatte keine Ahnung, warum die Spinnen ihn verschont hatten, aber das würde er ums Verrecken nicht zugeben. »Stimmt, bin ihr König«, murmelte er schwach. »Am Magnet ist mein Krönungsgeschenk.«

Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Stein aus der Lederschlaufe gezogen wurde. Sofort bildete sich eine Traube von Gaffern.

»Das ist mehr, als wir alle zusammen bisher heraufgeholt haben!«, rief jemand, völlig außer sich. Galar spürte, dass sie ihn dafür nicht liebten.

»Ich kann das wieder tun«, behauptete er frech.

Matt winkte er Glamir, sich über ihn zu beugen. »Du wirst mich in alle Geheimnisse des Turmes einweihen«, murmelte er mit letzter Kraft. »Dann verrate ich deinen Männern nicht, dass du ein Mörder bist.«

»Du verrätst gar nichts«, flüsterte Glamir ihm ins Ohr. »Du wirst dich leider von deinen schweren Wunden nicht erholen. Jeder hier hat gesehen, dass du mehr tot als lebendig bist. Wir werden dich als einen Helden in Erinnerung behalten.«

Galar sah in den Augen des alten Zwergen, dass es ihm ernst mit seiner Drohung war. »Ich kann dir helfen, an mehr Metallsplitter zu gelangen. Du musst nicht mehr Jahre warten, bis du …« Galar war am Ende seiner Kräfte. Er wollte Glamir noch sagen, dass er keine Männer mehr verlieren müsste. Galar war überzeugt, dass die Spinnen ihm nichts tun würden. Doch der Schmied brachte kein Wort mehr über die Lippen. Seine Zähne fingen wieder an zu klappern. Er konnte sich nicht beherrschen, sein ganzer Körper zitterte.

»Er wird sterben!«, rief jemand.

Die Gesichter der Zwerge verschwammen vor Galars Augen.

»Ich bleibe bei ihm.« Die Stimme war unverkennbar. »Schafft ihn hier raus. Ich werde mich um ihn kümmern.«

Galar wollte aufbegehren, doch er brachte nur ein Röcheln zustande. Sie durften ihn nicht mit Glamir allein lassen!

Übermut

Nandalee erwachte im ersten Morgenlicht in ihrem Lager nahe der Wasserstelle. Einen Augenblick hing sie noch der Erinnerung an die letzte Nacht nach, dem Flug auf dem Pegasus. Sie sah sich um. Der große, schwarze Hengst war verschwunden. Schlagartig hellwach setzte sie sich auf. Am Rand des Lagers sah sie noch die Hufspuren.

Sie hatte ihm vertraut! Wie hatte sie so dumm sein können? Sternauge war ein wildes Tier. Sie hatte gestern überlegt, ihm eine leichte Fußfessel anzulegen, dass er sich zum Grasen zwar bewegen konnte, es aber unmöglich war davonzulaufen oder gar zu fliegen. Sie hatte es nicht getan, weil sie es schäbig gefunden hatte. Er war freiwillig zu ihr gekommen. Er hatte sie erwählt, genauso wie sie ihn unter allen Hengsten seiner Herde auserwählt hatte.

Ein ausgelassenes Wiehern ließ sie aufblicken. Sternauge kreiste über ihr, dann stieß er in weitem Bogen hinab und landete am flachen Ufer des Wasserlochs. Nandalee schämte sich, ihm nicht getraut zu haben. Doch er trabte zu ihr zum Lager hinauf und versprühte gute Laune. Neugierig sah er ihr zu, wie sie ihre wenigen Habseligkeiten packte und in ihre Decke einrollte. Nachdem sie ihn gesattelt hatte, ging sie zuletzt zum Wasserloch hinab und füllte ihren Lederschlauch. Es würde kein langer Flug werden bis zum Jadegarten.

Sternauge ließ sich die Deckenrolle und die zusammengebundenen Waffen, ohne zu bocken, aufschnallen. Neugierig drehte er seinen Kopf nach hinten und versuchte zu sehen, was sie tat. Endlich sprang auch sie auf seinen Rücken, und nach einem kurzen Trab den Hügel hinab hoben sie ab.

Nandalee war sich ein wenig unsicher, wie sie den Hengst dazu bringen sollte, ihr Ziel anzufliegen. Sie konnte versuchen, ihn über das Seil, das sie um seinen Hals gelegt hatte, in eine bestimmte Richtung zu drängen, aber ihr widerstrebte das. Gonvalon hatte ihr einmal erzählt, dass Nachtschwinge am besten flog, wenn er ihm seinen freien Willen ließ. Vor allem im Luftkampf.

Leider hatte sie Gonvalon nicht danach gefragt, wie er es schaffte, Nachtschwinge klarzumachen, wohin der Flug gehen sollte. Gestern hatte Nandalee in ihren Gedanken ein Bild des Wasserlochs erstehen lassen und gehofft, Sternauge könne ihre Gedanken spüren. Nach einiger Zeit war er tatsächlich dorthin geflogen, aber vielleicht hatte er es auch nur deshalb getan, weil sie von dort aufgebrochen waren.

Nandalee dachte an das schroffe Felsmassiv, das sich inmitten der Wüste erhob und in seinem Herzen den Oasengarten verbarg, der ihr zur neuen Heimat geworden war.

Nach einer Weile änderte Sternauge die Flugrichtung. Er hielt nun tatsächlich auf den Jadegarten zu, der noch weit hinter dem Horizont verborgen lag. Ein Zufall? Oder wusste er, dass alle Drachenelfen dorthin flogen? Er war klug, davon war Nandalee überzeugt. Schließlich hatte er sie erwartet.

Fast zwei Stunden flogen sie in gut hundert Schritt Höhe über die weite Savanne. Nandalee sah die großen Herden ziehen, die von Horizont zu Horizont die weite Ebene füllten. Sie wanderten nach Westen, dorthin, wo es noch Wasser gab. Das Land unter ihnen wurde karger. Die Akazien, die ohnehin nur vereinzelt inmitten des Grasmeers aufragten, verschwanden ganz. Bald waren rote Termitenhügel die einzigen Erhebungen, die sie noch sah. Rotbraune Monolithen, erbaut in Jahrzehnten und unter der gleißenden Sonne des Sommers zu Festungen, hart wie aus Stein, gebrannt.

Das Gras wurde niedriger. Es hatte eine fahlgelbe Farbe. Breite Sandzungen reichten nun in die Savanne. Nur sehr selten sah Nandalee noch größere Tiere. Einen einzelnen Büffelbullen, ein hageres Wildpferd. Sie näherten sich der Todeszone, jenem sechzig Meilen weiten Streifen Wüste rings um den Jadegarten, den die Drachen mit einem Zauber belegt hatten, der sich gegen jeden wandte, der sie zu durchqueren versuchte. Nur wer fliegen konnte oder die Tore zum Goldenen Netz zu öffnen vermochte, sollte den Jadegarten erreichen. Nur ein Novize, der seine letzte Prüfung bestand und einen Pegasus fing und bändigte, konnte dorthin zurückkehren.

Bald war unter ihnen nur noch Sand, aus dem sich einzelne, bleiche Felsformationen erhoben. Es war so einfach gewesen, dachte Nandalee. Sie hatte nur auf die Rückkehr der Herde warten müssen. Das konnte nicht der Sinn der Prüfung sein. Wenn sie jetzt heimkehrte, dann hätte sie all die anderen betrogen, die so lange damit gerungen hatten, einen Pegasus zuzureiten.

Mochte Bidayn sich ihr Recht, eine Drachenelfe zu sein, mit einem Zaubertrick erschleichen, sie würde so etwas nicht tun. So vorzugehen höhlte den Status der Drachenelfen aus. Sie würde es anders machen. Versonnen betrachtete sie die tote Landschaft, die unter ihnen dahinzog. Dann öffnete sie ihr Verborgenes Auge. Das Netz der Kraftlinien war hier ungewöhnlich dicht. Aber nichts wies darauf hin, dass die natürliche Ordnung grundlegend gestört war. Die Himmelsschlangen waren Meister in der Kunst des Zauberwebens, wahrscheinlich war ihre Magie zu fein gesponnen, als dass sie hätte erkennen können, was sie hier getan hatten. Oder aber die Geschichte von der verwunschenen Wüste war eben nur dies – eine Geschichte. Nandalee lächelte. Auch das würde sie den Himmelsschlangen zutrauen, dass sie sich ganz und gar auf die Macht der Worte verließen, die manchmal einen Zauber überflüssig machen konnte.

»Lande, Sternauge!«, rief sie gegen den Wind an.

Der Pegasus gehorchte nicht. Er flog stur weiter. Nandalee zog erst kurz am Seil, doch als Sternauge auch darauf nicht reagierte, stellte sie sich vor, wie sie beide über den gelben Sand schritten.

Sternauge schüttelte wild den Kopf und geriet dabei ins Trudeln. Nandalee hatte Mühe, ihren Stand auf seinem Rücken zu halten. Schließlich landete er doch und sah sie auf eine Art an, die beredter war als alle Worte. Er fürchtete ganz offensichtlich die Wüste. Nervös blähte er seine Nüstern. Sein Kopf pendelte ruhelos. Spürte er etwas, das Nandalee nicht wahrzunehmen vermochte?

Sie nahm den Wasserschlauch von seinem Rücken. Mehr würde sie nicht brauchen. Sie schätzte, etwa einen Tagesmarsch vom Jadegarten entfernt zu sein. »Weißt du, in den Jadegarten zurückzukehren soll eine Prüfung sein. Eine herausragende Leistung. Aber was ich bisher getan habe, war alles andere als herausragend. Ich werde das letzte Stück zu Fuß gehen. Erwarte mich an der Schlucht, die in den Garten der Himmelsschlangen führt. Zur Dämmerung sollte ich dort ankommen.«

Sternauge schüttelte den Kopf. Hatte er ihre Worte verstanden? Wohl kaum. Was dachte sie nur für einen Unsinn, schalt Nandalee sich in Gedanken. Er war einfach nur nervös. Sie stellte sich das Bild der Schlucht vor. »Dort«, sagte sie leise und eindringlich, »wirst du warten.«

Der Hengst schien zu begreifen, wie ernst es ihr war. Er schnaubte ärgerlich, dann preschte er davon und stieg flügelschlagend in den Himmel hinauf. Für eine Weile drehte er noch weite Kreise über ihr, dann drehte er ab und flog dem Jadegarten entgegen.

Nandalee orientierte sich am Stand der Sonne und schritt kräftig aus. Sehr bald schon begann ihr die trockene Hitze zuzusetzen. Sie griff nach dem Wasserschlauch, ließ ihn aber wieder sinken. So rasch durfte sie nichts trinken. Bis zur Zeit der größten Hitze waren es noch mindestens zwei Stunden. Das war die erste ihrer selbstauferlegten Prüfungen: Bis Mittag sollte sie den Wasserschlauch nicht anrühren. Sie riss einen breiten Streifen vom Saum ihres fahlgrünen Jagdhemdes und wickelte ihn sich um Mund und Nase. So würden ihre Schleimhäute weniger schnell austrocknen.

Bald schon war der Stoff von ihrem Atem feucht. Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, bis sie eine Veränderung bemerkte. Der Sand unter ihren Füßen vibrierte. Er bewegte sich, obwohl nicht der geringste Lufthauch über die weite Ebene strich. Nandalee kniete nieder, um das Phänomen genauer zu betrachten. Die Sandkörner tanzten, als lägen sie auf einem Blech, gegen das von unten mit einem Trommelstock geschlagen wurde.

Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge. Das Muster der Kraftlinien hatte sich drastisch verändert! Sie waren kein weitmaschiges Netz mehr, sondern erinnerten an Strahlen, die alle auf einen Punkt zuliefen. Auf sie! Etwas hatte sie aufgespürt. Nandalee beschleunigte ihre Schritte, um aus dem Zentrum der Linien zu entkommen, aber selbst als sie zu laufen anfing, wollte es ihr nicht gelingen. Sie spürte, wie eine Macht sich immer mehr aufbaute, hatte aber keine Ahnung, auf welche Art sie sich gegen sie wenden würde. Sie konnte keinen Schutzzauber wirken, wenn sie nicht wusste, wie sie angegriffen wurde.

Ein Stück voraus ragte einer der knochenbleichen Felshügel aus dem Sand. Festen Boden unter den Füßen zu haben konnte nicht schaden. Sie hatte das Gefühl, dass der Sand unter jedem ihrer Schritte ein wenig mehr nachgab. Plötzlich überfiel sie die Vorstellung, dass sich unter ihr ein Strudel aus Sand bilden würde, um sie für immer zu verschlingen.

Keuchend erreichte sie das flache Felskliff, kletterte hinauf. Der Sand hatte den Stein in Jahrtausenden glatt poliert. Es gab nur wenige Griffe dort, wo der Fels unter der Einwirkung von Hitze und Kälte aufgeplatzt war. Auf der Kuppe ließ sie sich nieder und blickte über das Sandmeer. Der Jadegarten war noch nicht zu sehen. Kein Lebewesen regte sich. Nicht einmal ein Vogel war am Himmel zu sehen. Sie saß inmitten der Todeszone, nur mit einem Wasserschlauch und ihrem mörderischen Übermut. Niemandem würde es einfallen, hier nach ihr zu suchen. Es konnte Wochen dauern, einen Pegasus zu fangen. Das war nicht ungewöhnlich. Niemand würde sich also Sorgen um sie machen. Alle würden denken, dass sie irgendwo in der Savanne war, wo es ausreichend Wasser und Wild gab. Eine Weile fluchte Nandalee vor sich hin, dann siegte ihr Pragmatismus. Sie musste sich aus eigener Kraft aus dieser Lage befreien. Nandalee öffnete ihr Verborgenes Auge und betrachtete das Sandmeer. Der Lauf der Kraftlinien veränderte sich wieder. Sie fanden in ihr natürliches Muster zurück. War der Sand der Schlüssel zu dem Zauber? Wandte er die Magie des Landes gegen sie, sobald er sie spürte?

Etwa eine halbe Stunde dauerte es, bis keine Spur des Zaubers mehr zu entdecken war. Nandalee blickte zum nächsten Felskliff, das sich über den Sand erhob. Es lag etwa eine Meile entfernt und würde sie ein paar Grad in die falsche Richtung führen, fort vom Jadegarten. Sie erinnerte sich, dass es rings um die Oase nichts als Sandwüste gab. Mindestens zehn Meilen weit war dieser letzte Abschnitt, der an die Todeszone anschloss. Dort gäbe es keine rettenden Felsinseln mehr, auf die sie flüchten könnte.

Doch darüber würde sie sich Sorgen machen, wenn sie dort ankam. Vielleicht reichte der Zauber ja gar nicht bis dort? Und zunächst einmal konnte sie ja von Fels zu Fels laufen.

Nandalee betrachtete nachdenklich den Wasserschlauch. Wenn sie so oft eine Rast einlegen musste, damit sich der Sand jeweils wieder beruhigen konnte, würde sie ihr Ziel allerdings nicht mehr heute erreichen. Es wäre besser, mit dem ersten Schluck so lange wie möglich zu warten, auch wenn ihre Kehle schon völlig ausgedörrt war.

Die Kriegerin

Sie war am Ende, dachte Nandalee, und stemmte sich mit letzter Kraft gegen die Gewalt des Sturms. Sie hatte einen unsichtbaren Kokon gewoben, einen Wall aus magischen Schutzlinien, um den wütend auf sie einstürmenden Sand fernzuhalten. Doch mit jedem Schritt schwanden ihre Kräfte. Der Kokon wurde enger, und der Sand rückte näher.

Einzelne Körner durchstießen ihren Schutzwall und bohrten sich wie winzige Geschosse in Haut und Augen. Sie war halb blind und torkelte vor Schwäche. Hin und wieder begann sie zu kichern. Ein irres, freudloses Lachen, das aus der Tiefe ihrer Seele aufstieg. Sie hätte gar nicht hier sein müssen! Sie könnte jetzt in Gonvalons Armen liegen! Jetzt, im Angesicht des Todes, begriff sie, was ihre eigentliche Prüfung gewesen war. Es ging nicht wirklich um den Pegasus, sondern allein um sie. Sie hätte ihren Hochmut überwinden sollen! Hätte akzeptieren sollen, dass Dinge manchmal einfach sein können.

Stattdessen hatte sie sich diese unnötige Prüfung auferlegt. Ob jeder der Drachenelfen hier mit seinen verborgenen Schwächen konfrontiert worden war? Was mochte es bei Gonvalon gewesen sein? Keine hübsche Elfe um sich zu haben? Wieder brach sie in ihr irres Kichern aus. Sie sank auf die Knie. Warum noch kämpfen? Sie wusste nicht, wie lange sie vorwärtsgestolpert war. Mehr als einen Tag? War es Nacht geworden? Der Himmel war so finster, dass sie es nicht beurteilen konnte. Eigentlich hätte sie das letzte Stück Weg geschafft haben sollen. Aber vielleicht ging sie auch im Kreis. Der tosende Sturm nahm ihr jede Sicht, machte jede Orientierung unmöglich. Auch ihr Verborgenes Auge half ihr nicht weiter. Öffnete sie es, wurde sie von strahlendem Licht geblendet, so hell, als blicke sie in die Sonne am wolkenlosen Wüstenhimmel.

Alle Kraftlinien um sie herum leuchteten in tödlich weißem Licht. Sie waren verformt, vibrierten im Kampf darum, wieder die natürliche Ordnung herzustellen, und hatten sich in weitem Kreis um sie geschlossen. Ihre Energie machte den Sand lebendig. Jedes einzelne Sandkorn war ihr Feind und stürmte gegen sie an. Sie bewegte sich durch einen Sturm, der durch ihre bloße Anwesenheit entfesselt worden war. Die Wüste wollte sie vernichten, vorher würde das Land keinen Frieden finden.

Ihr Kokon war weiter geschrumpft. Bald würde der Sand erbarmungslos über ihre Haut schmirgeln, würde sie abtragen, ebenso wie ihr Fleisch, bis von ihr nichts bliebe als ein blank poliertes, strahlend weißes Skelett. Sie hatte solche Skelette auf ihrem Weg gesehen – Hochmut schien keine seltene Untugend unter angehenden Drachenelfen zu sein.

Nandalee kämpfte sich auf die Beine. Sie presste ihre rissigen, ausgedörrten Lippen zusammen. Zu ihrem Hochmut gehörte, dass sie bis zuletzt kämpfte. Die Niederlage war sicher, aber sie würde nicht aufgeben, solange auch nur ein Funken Kraft in ihren Gliedern steckte.

Sand peitschte scharf über ihre Hand. Der schützende Kokon brach zusammen. Nandalee bäumte sich ein letztes Mal auf. Ihre innere Kraft war fast aufgebraucht. Sie spürte, wie ihre Verbindung zum magischen Netz sich aufzulösen begann. So also fühlte sich der Rückzug vom Leben an. Sie blinzelte gegen die Krusten aus Sand und Blut, die ihre Augenwinkel verklebten, um ihre Hand zu sehen. Der Handrücken war eine einzige, offene Wunde, aufgeschürft und blutig. Aber sie fühlte kaum Schmerz. Nicht einmal dafür hatte sie noch Kraft. All ihren Willen steckte sie in ein einziges, letztes Ziel: vorwärtszutaumeln, solange es noch ging.

Der Sand rutschte unter ihren Füßen weg, ließ sie straucheln, aber immer und immer wieder zwang sie sich auf die Beine, oft nur, um einen Schritt zu tun und erneut zu straucheln. Sie verweigerte sich dem Tod.

Der gnadenlose Sand schliff über ihr Gesicht, zerrte an ihren Kleidern und versuchte, sie zurückzudrücken. Vornübergebeugt stemmte sie sich gegen die Macht der Elemente. Noch ein Schritt und noch einen …

Sie war am Ende aller Schmerzen angelangt. Der Sand peinigte sie nicht länger. Es war, als liebkose er sie, brächte Kühlung im Glutofen der Wüste.

Noch einen Schritt …

Dunkelheit umfing sie. Nicht mehr lange, und alles war vorüber.

Noch einen Schritt…

Sie strauchelte, schaffte es nicht mehr, sich aufzurichten. Ihr Haupt sank auf den Sand. Ihre Augen waren inzwischen so verklebt, dass sie sie kaum mehr öffnen konnte. Selbst einfach nur zu atmen war eine Anstrengung, die ihre Kräfte überstieg. Sie hatte sich einen letzten Schluck Wasser aufgehoben. Ihre geschwollene Zunge tastete über ihre aufgesprungenen Lippen. Sie wollte trinken, den Abschied noch ein wenig hinauszögern, aber ihre Arme verweigerten ihr den Dienst. Wie totes Holz hingen sie von ihrem Körper herab, losgekoppelt von ihrem Willen.

Willkommen, Dunkelheit!, dachte sie. Ich will dich wiederfinden, Gonvalon. Gib auf dich acht. Meine Seele wird sich erneut in Fleisch kleiden. Sie wird nach dir suchen. Du bist der Eine. Gib auf dich acht!

Drei Schritte

Etwas Nasses fuhr über Nandalees Gesicht. Wieder und wieder. Es war unangenehm. Sie wollte etwas sagen, aber ihrer Kehle entfuhr nur ein krächzender Laut. Ihre Augenlider waren verklebt. Sie konnte sie nicht öffnen. Erst als der feuchte Lappen zweimal über ihr linkes Auge wischte, konnte sie wenigsten dieses aufschlagen.

Der Himmel war silbernes Fell.

Die Elfe blinzelte, unfähig zu begreifen, was sie sah. Wieder fuhr der Lappen über ihr Gesicht. Warm, feucht, drängend. Sie erinnerte sich, wie sie in den Sand gestürzt war und auf den Tod gewartet hatte. Wie es schien, würde sie noch länger warten müssen.

Ihre Glieder schmerzten. Sie bewegte ihre linke Hand. Ihr Körper gehorchte wieder ihrem Willen, aber viel kräftiger war sie nicht geworden. Sie war also offensichtlich noch in der Wüste. Aber wer wischte über ihr Gesicht? Ihre Sinne mussten ihr einen Streich gespielt haben.

Sie öffnete erneut ihr linkes Auge. Eine große, blassrote Zunge leckte über ihre Wange. Wieder sah sie silbernes Haar und dann ein bernsteinfarbenes Auge mit geschlitzter Pupille. Erschrocken stöhnte sie auf, wollte zurückweichen, aber ihr Leib war wie an den Boden genagelt. Sie hatte einfach keine Kraft. Über ihr stand ein Silberlöwe!

Sie hielt den Atem an, kämpfte die aufsteigende Panik nieder und zwang sich, erneut in das Auge zu blicken, das kaum eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt war. Wenn der Silberlöwe sie fressen wollte, hätte er damit sicher schon begonnen. Er würde nicht erst ihr Gesicht sauber lecken, um ihr dann die Kehle durchzubeißen.

Sie dachte an den Silberlöwen, den sie nach dem Erdbeben im Jadegarten aus der halb verschütteten Höhle gerettet hatte. War das ihr Löwe? Sie drehte den Kopf zur Seite und blickte an einem kräftigen Raubkatzenbein vorbei zum Horizont. Wüste. Die Luft tanzte in der drückenden Hitze. Silberne Schlieren zogen über den heißen Sand, gaukelten dem leichtgläubigen Betrachter kristallklare Seen vor, wo es nur Staub und Durst gab. Über den falschen Seen erhoben sich Felsen. Unmöglich zu schätzen, wie weit entfernt sie waren. Fünf Meilen oder auch zehn? Nur eins war gewiss, so schwach, wie sie war, würde sie nicht aus eigener Kraft dorthin gelangen.

Der Silberlöwe leckte über ihre aufgesprungenen Lippen. Die Feuchtigkeit zu spüren tat unendlich gut. Nandalee erinnerte sich an ihren Wasserschlauch, den letzten Schluck, den sie aufgespart hatte. Sie griff nach ihrer Hüfte. Die Hoffnung auf einen Mund voll brackigen Wassers gab ihr neue Kraft. Sie hob den Schlauch an die Lippen, drückte den Verschluss auf. Aber es war kein Wasser mehr da! Ungläubig drehte und wendete sie die Lederblase. Eine Naht war aufgeplatzt. Das Nass im trockenen Wüstensand versickert.

Sie schluchzte. Es war ein Gefühl, als würde ihr eine Scherbe durch die trockene Kehle gezogen. Verzweifelt tastete sie mit ihrer aufgedunsenen Zunge über die Lippen, die der Silberlöwe eben angefeuchtet hatte.

Die große Raubkatze sah sie aufmerksam an. Was ging in diesem Kopf vor sich, fragte sich Nandalee, und ihr Blick wanderte zur Kehle des Silberlöwen. Wenn sie dem Raubtier den Hals aufschneiden könnte … das Blut. Nandalee glaubte es fast zu schmecken, warm, metallisch. Es würde sie retten. Sie tastete nach ihrem Jagdmesser. Es war fort. Verloren, irgendwo in dem schrecklichen Sturm.

Wieder wanderte ihr Blick zur Kehle der Raubkatze. Sie glaubte die großen Adern unter dem silbernen Fell pulsieren zu sehen. Der Silberlöwe wich vor ihr zurück. Nur einen einzigen Schritt, doch damit war er schon außer Reichweite.

Der Gedanke an das Blut gab Nandalee neue Kraft. Sie stemmte sich hoch und blickte zum fernen Horizont. Versuchte erneut zu schätzen, wie weit die Berge des Jadegartens entfernt waren. Die Luftspiegelungen verzerrten die Wirklichkeit. Zehn Meilen waren es nicht, redete sich Nandalee ein und wusste doch in ihrem Innersten, dass es unmöglich war, unter diesen Bedingungen eine Strecke abzuschätzen.

Sie blickte zurück in die Wüste, die hinter ihr lag. Ein Meer aus blassgelbem Sand. Drei Fußstapfen führten zu der Stelle, an der sie lag. Dahinter gab es keine Spur. Der Sand bildete leichte Wellenlinien, wie Wasser, über das eine sanfte Brise strich. Langsam dämmerte ihr, was das, was sie sah, bedeutete. Sie war der Todeszone um drei Schritte entronnen, hatte mit ihrem letzten Aufbäumen den verwunschenen Zirkel hinter sich gelassen, den die Drachen in die Wüste gezogen hatten. Dort, gleich hinter der dritten flachen Mulde im Sand, lag die unsichtbare Grenze, an der der Zauberbann endete.

Sie war der Todesfalle der göttergleichen Himmelsschlangen entgangen! Sie durfte nicht einfach wie ein Stück Vieh in der Wüste verenden. Wieder blickte sie nach der Kehle der Raubkatze. Die Rettung war zum Greifen nah. Sie machte einen ersten schwankenden Schritt, und augenblicklich wurde ihr schwindelig. Ihr leerer Magen rebellierte, ein pochender Schmerz wütete hinter ihrer Stirn. Nandalee schloss die Augen und sammelte sich. Sie machte einen weiteren, unsicheren Schritt.

Sie tastete nach der Kruste aus geronnenem Blut und Sand, die ihr rechtes Auge verklebte. Rieb vorsichtig über die wunde Haut und machte den nächsten Schritt. Als sie die Augen öffnete, war der Silberlöwe ein Stück vor ihr zurückgewichen. Der Abstand zu ihm hatte sich um keinen Zoll verringert. Wusste er, was sie wollte? Wie könnte sie ihn ködern? Kurz überlegte sie, in die Knie zu gehen, um kleiner und weniger bedrohlich auszusehen, aber sie hatte Angst, nicht wieder auf die Beine zu kommen. Und bedrohlich sah sie für den Silberlöwen ganz gewiss nicht aus!

Was hatte ihn zu ihr geführt? Hatte er von den hohen Klippen des Jadegartens einen winzigen, unbeweglichen Punkt in der Wüste gesehen. Beute? Er war kein Aasfresser. Bestand ein Band zwischen ihnen, seit sie ihm das Leben gerettet hatte, wie es einst ein Band zwischen ihr und der kleinen Misteldrossel Piep gegeben hatte? Dem Vogel, den sie in der Weißen Halle aufgezogen hatte, über den die anderen Novizen so gespottet hatten, und der doch Gonvalon zu ihr geführt hatte, als sie verloren gewesen war.

Sie wollte nicht wissen, ob es ein Band zwischen ihnen gab. Er war ihre Beute. Sein Leben würde ihr Leben sichern, das war alles, was sie miteinander verband! Nandalee hielt den Blick fest auf ihn gerichtet und machte einen Schritt vorwärts. Er wich zurück. Sie wollte ihn ködern, ihm etwas Freundliches sagen oder wenigstens einen gurrenden Laut hervorbringen, aber ihre Kehle war zu trocken. Sie stieß ein Krächzen aus wie ein Aasvogel.

Wenn sie plötzlich loslief, dann könnte sie ihn vielleicht erwischen. Sie stellte sich vor, wie sie ihre Arme um seinen Hals schlang, ihn zur Seite riss und ihm die Kehle durchbiss. So würde sie es tun müssen. Sie hatte kein Messer, und in dieser verdammten Wüste gab es auch keine Aussicht, einen Stein oder ein Stück Holz zu finden. Hier gab es nichts außer Sand. Lange würde sie nicht durchhalten. Sie musste es schnell tun. Alles sprach gegen sie. Mit seinen Fangzähnen und Tatzen war der Silberlöwe deutlich besser für einen Kampf gewappnet. Und er war ohne Zweifel stärker und schneller. Sie musste ihn überraschen, das war ihre einzige Hoffnung. Und er durfte es nicht schaffen, sich umzudrehen, wenn sie sich am Boden wanden und sie seine Kehle umklammert hielt. Sonst würde er ihr mit seinen Hinterläufen die Eingeweide aus dem Leib reißen.

Nandalee machte ein paar Schritt nach vorne, er wich zurück. Sie fluchte innerlich, aber ihre Wut gab ihr die Kraft weiterzugehen. Könnte sie ihn durch einen Zauber überwältigen? Ein Wort der Macht, das ihn erstarren ließ, wehrlos machte? Sie versuchte erneut zu sprechen, brachte aber wieder nur ein Krächzen hervor. Sie fühlte sich wie ein altes Maultier, dem eine Möhre vor die Nüstern gehalten wurde, damit es willfährig einen Karren zog.

Sie dachte an die drei Schritte, die den Unterschied zwischen Leben und Tod ausgemacht hatten, und ging weiter. Die Sonne stieg höher. Unerbittlich brannte sie auf die Wüste und verwandelte die Luft in flüssiges Glas, das Nandalee bei jedem Atemzug die Kehle versengte. Sie schleppte sich voran, immer den Blick auf das silbrige Fell des Löwen gerichtet. Längst dachte sie gar nichts mehr, hatte alle Hoffnung aufgegeben, ging nur noch. Noch einen Schritt und noch einen, bis sie in das Loch einer Wüstenmaus trat, ihr der Fuß umknickte und sie stürzte. Schwer kam sie wieder hoch, ging weiter, bis ihr erneut die Beine wegknickten, diesmal aus Schwäche.

Die Sonne stand im Zenit. Sie verbrannte Nandalees Gesicht. Sie kroch auf den Knien weiter. Sie durfte nicht aufhören, sich zu bewegen. Jeder Schritt zählte. Erste dürre Grasbüschel ragten aus dem Sand. Vielleicht gab es ein Wasserloch. Sie sah Vogelspuren neben dem Gras. Es gab hier Leben. Sie durfte nicht aufgeben. Drei Schritt konnten den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen, ermahnte sie sich immer wieder und peitschte sich an, bis ihre Arme zitternd nachgaben, und sie auf den Bauch sackte.

Sie rutschte auf dem Bauch weiter. Kämpfte sich durch den glühend heißen Sand, bis jegliche Kraft, sich zu bewegen, verlosch. Wohin war der Silberlöwe verschwunden? Er hatte sie aufgegeben, dachte Nandalee bitter und war sich nur zu bewusst, dass sie ohne ihn erst gar nicht bis hierhergekommen wäre. Wie weit mochte sie gegangen sein? Eine Meile? Zwei?

Es spielte keine Rolle mehr. Sie war zu weit vom Jadegarten entfernt, um zufällig entdeckt zu werden. Niemand verließ die schützende Oase, um sich der gnadenlosen Glut der Wüste auszusetzen. Hier gab es nichts, das diese Strapaze lohnte.

Die linke Wange im Sand, das strähnige Haar halb vor ihr Gesicht gefallen, lag sie da, unfähig sich zu bewegen. So würde man sie finden. Ihr Blick ging über die gleißende Ebene. Etwas Dunkles bewegte sich in ihre Richtung. Sie sah es nicht ganz klar. Es kam nur langsam näher. Es verschwand in den flirrenden Luftspiegelungen, war plötzlich wieder da und verschwand erneut. Hoffnung keimte in ihr auf, bis der dunkle Punkt von einem Augenblick zum anderen Konturen gewann und dann ganz klar zu sehen war: Es war ein großer, schwarzer Käfer, der eine Kugel aus dunklem Kot rollte. Sein Hinterleib schimmerte metallisch grün, der Halsschild war schwarz. Die Fühler, die aus seinem Kopf wuchsen, verdickten sich nach vorne, sodass sie wie winzige Keulen aussahen.

Vor Nandalees innerem Auge tauchte der Mistkäfer auf, den sie vor so endlos langer Zeit in der Höhle des weißen Drachens, ihrem ersten Lehrmeister, beobachtet hatte. Wie er, statt einer Rille im Bodenmuster zu folgen, über die schmalen Seitenwände der parallel verlaufenden Furchen im Boden gestiegen war. Er hatte sich keiner vorbestimmten Bahn fügen wollen, hatte seinen eigenen Weg gemacht.

Die Elfe dachte an die Worte des Schwebenden Meisters über den Käfer: Er frisst Exkremente, wisst Ihr. Und er kommt bestens damit klar. Er sammelt sie auch für seinen Nachwuchs. Er dreht sie zu Kugeln, die ein Vielfaches seines eigenen Gewichtes betragen. Darin legen die Weibchen ihre Eier ab, und die Jungen werden in eine Welt geboren, in der sie vor lauter Exkrementen das Tageslicht nicht sehen. Ihr ganzes Leben dreht sich um Scheiße! Hört sich ein bisschen an wie Euer Leben im Moment, nicht wahr? Aber wisst Ihr, was wirklich faszinierend ist? Die Männchen rollen die Kugeln aus Mist, die von so erdrückendem Gewicht sind, mit ihren Hinterbeinen. Sie blicken dabei nach vorn in die Sonne. Sie haben das Beste aus ihrem Leben gemacht. Lernt von ihnen. Wenn Ihr den Mist in Eurem Leben schon nicht loslassen könnt, packt ihn wenigstens hinter Euch, dass er Euch nicht andauernd den Blick auf die Zukunft versperrt.

Nandalee erwog, ihren Mund zu öffnen, um den Käfer in die vermeintliche Höhle zu locken. Wie viel Feuchtigkeit enthielt ein Mistkäfer? Doch dann schob sie sich vorwärts und entschied sich, dem Käfer nichts zu tun. Einige Schritt konnte sie dem Tod noch abtrotzen, dachte sie entschlossen.

Sie war noch nicht bereit zu gehen.

Roter Durst

Nandalee trieb in einem Meer von roten Blütenblättern in aufgewühlter See. Angenehme Kühle liebkoste ihre Haut. Sie atmete Wasser. Ihre Kehle war endlich wieder feucht. Tief unter sich im Meer sah sie zwei mächtige Schlangendrachen, die vor einer riesigen Scheibe aus gehämmertem Silber eng umschlungen miteinander rangen. Liebten sie sich? Kämpften sie miteinander? Es war unmöglich, das zu sagen. Der eine war schwarz wie die Nacht, der andere so silbern wie die Scheibe, vor der sie ihr leidenschaftliches Duett aufführten.

Ein Schwanzhieb traf Nandalee und schleuderte sie davon. Ihre Kehle war sofort wieder trocken. Ihr ganzer Leib ein dumpfer Schmerz. Sie blinzelte, sah die endlose schwarze Ebene der Wüste im Mondlicht vor sich ausgebreitet. Eine unheimliche Kreatur näherte sich ihr. Ein Gazellenkopf, der ruckend auf seinen Hörnern schreitend näher kam.

Nandalee glaubte, erst zu träumen, als sie auch den Kopf des Silberlöwen erkannte. Seine Fänge waren in den Hals der Gazelle gegraben. Ihre Läufe zuckten im Sand. Er ließ das sterbende Tier neben Nandalee niederstürzen, und sie machte sich augenblicklich über die aufgerissene Kehle her, trank von dem warmen Blut, und als ihr erster Durst gestillt war, riss sie mit den Zähnen Fleischstücke aus der verendeten Gazelle.

Der Silberlöwe brach mit seinen langen Krallen den Leib des Tieres auf und begann, ebenfalls zu fressen. Immer und immer wieder grub Nandalee ihre Zähne in das Fleisch und spürte, wie der tote Leib ruckte, als der Löwe seinen Teil der Beute nahm. Mund an Mund lagen sie, als seien sie aus einem Wurf.

Als Nandalees Hunger und Durst gestillt waren, schlief sie erschöpft ein. Sie erwachte gestärkt im ersten Morgenlicht. Der Silberlöwe saß neben ihr, als wartete er auf sie. Die Jägerin fand die Kraft, sich aufzurichten. Ein schaler Geschmack lag ihr im Mund. Sie mied es, den Kadaver der Gazelle anzusehen. Sie würde vergessen, was in der vergangenen Nacht geschehen war. Sie lebte, allein das zählte.

Sie strebte den Felsen am Horizont entgegen. Bald spürte sie die Schwäche zurückkehren. Die zwei Tage in der Wüste hatten sie ausgezehrt. Sie fand nicht in den weit ausholenden, ausdauernden Schritt, mit dem sie durch die eisigen Weiten Carandamons und der Snaiwamark gestreift war.

Der Silberlöwe begleitete sie. Er blieb stets in Sichtweite, mal war er ein Stück voraus, dann ließ er sich wieder zurückfallen. Die Felsen wuchsen vor ihnen empor, und als die weiße Hitze der Mittagssonne die Wüste erneut in einen Glutofen verwandelte, erreichten sie die ersten Ausläufer der Berge. Nandalee flüchtete in den Schatten einer engen Schlucht und fand Wasser. Es war brackig, und Wasserlinsen trieben auf der Oberfläche. Dennoch trank sie. Sie musste sich beherrschen, nicht zu viel von der lauwarmen Brühe zu schlucken. Als sie ihren ersten Durst gestillt hatte, zog sie sich aus und wusch Staub und Blut von ihrem Leib.

Ihre aufgeschürfte Hand brannte. Die Wunde hatte sich entzündet. Sattgetrunken und schläfrig legte sie sich auf einen Fels und schlief erneut ein. Als sie erwachte, war es wieder Nacht. Der Silberlöwe war verschwunden. Sie wartete eine Weile, aber er kehrte nicht zu ihr zurück. Allein verließ sie die Schlucht und suchte nach der engen Klamm, die durch den Ring aus Felsen zur Oase hinführte.

Die Nacht schenkte Nandalee keine Erleichterung. Sie hatte das Gefühl, dass das Feuer der Wüste in ihr weiterbrannte. Ihre Kraft verließ sie wieder. Immer häufiger musste sie auf ihrem Weg innehalten und sich erschöpft an einen Fels lehnen. Immer länger wurden ihre Pausen. Wieder war sie stehen geblieben. Sie tastete nach ihrer Stirn, und kalter Schweiß benetzte ihre Finger. Fieber schüttelte ihren ausgemergelten Körper. Sie hörte das Rauschen von Schwingen und glaubte, Rosenduft zu riechen. War sie noch wach?

Sie kniff sich. Etwas Feuchtes drückte sich in ihr Gesicht. Ein großes, schwarzes Auge sah sie an. Verschwommen sah sie eine Blesse auf schwarzem Fell. Sternauge! Sie musste die Klamm zum Jadegarten erreicht haben. Er hatte auf sie gewartet.

Mit letzter Kraft zog sie sich auf seinen Rücken und krallte ihre Finger in die Lederschlaufen des langen Sattels. Um zu stehen, hatte sie keine Kraft. Seine Schwingen streiften ihr Gesicht, als er sich in den Sternenhimmel erhob. Nandalee dachte an die Pyramide im Herzen des Gartens. Sternauge schnaubte zum Zeichen, dass er verstanden hatte.

Es war kein langer Flug. Nandalee krallte sich verzweifelt in die Lederschlaufen auf dem Sattel. Sie hatte Angst, wieder ohnmächtig zu werden und aus dem Himmel zu stürzen. Klug wäre es gewesen, den Pegasus einfach durch die Klamm in das verborgene Tal preschen zu lassen. Aber kein Drachenelf, der sein Reittier gefunden hatte, hatte je diesen Weg genommen. Sie musste fliegen und vor der Pyramide landen, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollte.

Flötenspiel und sanfter Trommelschlag schlichen sich in ihr Bewusstsein. Fast hätte sie die Grenze zum Schlaf überschritten. Unter sich sah sie den weiten Garten Nachtatems. Fackeln beleuchteten die verschlungenen Wege. Auf einer Wiese nahe der Pyramide waren Zelte aufgeschlagen. Nandalee biss sich auf ihre spröden Lippen, damit der Schmerz die Benommenheit vertrieb. Das Fieber hatte sie fest im Griff. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch die Schwungfedern des Pegasus streiften ihre Beine. Sie würde seinen Flug stören, wenn sie nicht fest im Sattel stand, so wie es sich für einen Pegasusreiter gehörte, hatte aber nicht die Kraft sich aufzustellen. So blieb sie auf seinem Rücken liegen, klammerte sich an die Sattelschlaufen und hoffte, dass alles gutgehen würde.

Etwas abseits, im Schatten blühender Tulpenbäume, war ein besonders großes, dunkelrotes Zelt aufgestellt worden. Sein Tuch war mit aufwendigen Goldstickereien geschmückt, die fliegende Schlangendrachen zeigten. Dort musste Nachtatem zu finden sein, dachte Nandalee und versuchte, Sternauge an diesen Gedanken teilhaben zu lassen. Augenblicklich flog ihr Pegasus eine weite Kehre und ging sehr langsam tiefer. Ihr war es ein Rätsel, wie er sie verstehen konnte, vermochten doch nicht einmal die Himmelsschlangen, in ihren Gedanken zu lesen.

Sternauge musste gespürt haben, wie unsicher sie im Sattel hing, und fürchtete wohl, dass sie bei einem tollkühnen Flugmanöver stürzen könnte, denn er bewegte sich unendlich sanft. Dicht über der Wiese spreizte er die Schwingen, um mit weniger Schwung zu landen. Seine großen Hufe trommelten auf den Boden, der dicht wie Schnee mit roten Blütenblättern bestreut war. Grassoden flogen auf. Nach etwa dreißig Schritt kam er zum Stillstand.

Nandalee stürzte mehr aus dem Sattel, als dass sie abstieg. Sie lehnte einen Augenblick an Sternauge, dann zwang sie sich, gerade zu stehen. Die Musik im Lager war verstummt. Kobolde mit Fackeln in den Händen eilten ihr entgegen. Die Plane am Eingang des großen, roten Zeltes wurde zurückgeschlagen. Eine breite Lichtbahn schnitt in die Dunkelheit. Und inmitten des Lichtes stand ein goldhaariger, hochgewachsener Elf von betörender Schönheit.

»Es tut mir leid, Euch in diesem Zustand zu sehen, Dame Nandalee.« Die Stimme des Elfen ließ ihr Herz aufgehen. Sie war Verheißung. Allein sie zu hören linderte ihren Schmerz. Wenn sie in dieses Zelt trat, dann würde ihre Zukunft so strahlend sein wie die Gestalt, die vor ihr stand und sie mit ihrem Lächeln willkommen hieß.

Noch hatte sie die Wahl. Es war der allerletzte Augenblick. Sie sah durch den offenen Eingang, wer im Zelt weilte. Bidayn und Lyvianne.

Sie stand vor dem Lager des Goldenen, der Elfengestalt angenommen hatte.

»Mögt Ihr nicht eintreten, Dame Nandalee, und alle Mühsal hinter Euch lassen?« Er trat ein wenig zur Seite und wies auf das Zelt, das ein Meer von Lichtern erhellte. Auf einem Löwenfell lag Bidayn, nackt, ihr Rücken voller Blut und leuchtender Farben. Sie empfing die Tätowierung, die den Bund mit dem Goldenen besiegelte, ihrem eigenen Drachen. Noch war erst der Entwurf vollendet. Eine mächtige, geflügelte Schlangengestalt, die mit ihren Krallen an einem Netz zerrte, das eine Kugel umfing.

Bidayn winkte ihr zu und lächelte, so wie damals, als sie gemeinsam in die Weiße Halle gegangen waren und sie sich manche Nacht zu Nandalee in deren Kammer geschlichen hatte. Das Gesicht ihrer Freundin war schmaler geworden, härter. Sie hatte sinnliche Lippen und große, schwere Brüste, fast so weiß wie Milch. Nandalee musste daran denken, woher diese Haut stammte. Nichts würde je wieder so sein wie früher. Bidayn hatte ihren eigenen Weg gefunden.

Ihr werdet dieses Zelt nicht betreten, Dame Nandalee, ebenso wenig, wie Ihr mit Gonvalon gehen werdet, schnitt eine Stimme wie ein Messer in ihre Gedanken. Zwischen den Tulpenbäumen trat die Gestalt eines Elfen hervor, dem das Dunkel der Nacht zu folgen schien. In seiner Nähe verblasste das Licht, das vom Zelt ausging, und obwohl er aus dem Schatten der Bäume heraustrat, schien ihm die Dunkelheit zu folgen. Nachtatem, ihr Meister, hatte sie gefunden. Seine eisblauen Augen musterten sie voller Missfallen.

Wie könnt Ihr so hierherkommen, meine Dame? Ihr gehört zu mir, und wenn Ihr zerlumpt und verletzt auf einem Fest der Drachen erscheint, dann fällt dies auf mich zurück. Ich wirke schwach, wenn Ihr ein Abbild von Schwäche seid. Ihr seht nicht aus wie eine Drachenelfe, sondern wie ein geprügelter Kobold!

Äußerlich ließ sich Nachtatem seinen Zorn nicht anmerken. Ein kühles Lächeln spielte um seine Lippen, als für alle vernehmbar seine dunkle, wohltönende Stimme erklang. »Mir scheint, Ihr hattet einen schweren Kampf, Dame Nandalee. Täusche ich mich, oder umgibt Euch der Geruch von Blut.«

»Gazellenblut«, sagte sie mit kratziger Stimme. Sie litt wieder Durst und hatte Angst, dass sie jeden Augenblick vor Schwäche zu Boden sinken könnte. Nachtatem brüskiert zu haben wühlte sie zutiefst auf. Alles, was sie je gewollt hatte, war, ihm zu gefallen. Ihn zu sehen, ließ sie alles andere vergessen. In einem fernen Winkel ihres Bewusstseins war ihr klar, dass diese Gefühle dem Zauber der Himmelsschlangen entsprangen. Alle Geschöpfe Albenmarks verehrten sie. Es war unmöglich, ihnen zu begegnen und von ihnen nicht vereinnahmt zu sein, selbst wenn sie nur in Elfengestalt erschienen und ihren Drachenleib verbargen.

»Mir scheint fast, die Dame Nandalee hat in Gazellenblut gebadet, so stark wie ihr dieser sinnliche Duft anhaftet.« Der Goldene ließ auf laszive Art seine Zunge über seine Lippen spielen. »Ich gratuliere Euch zur Wahl dieses Duftes, meine Dame. Er passt zu Euch. Er macht Euch begehrenswert. Man möchte Euch geradezu verschlingen. Wusstet Ihr, wie sehr mein dunkler Nestbruder rohes Fleisch schätzt? Ihr solltet zweimal darüber nachdenken, diesen Duft aufzulegen, bevor Ihr ihn besucht. Manchmal kann er überraschend zügellos sein.«

Nandalee schwankte leicht. Ihr Blick klammerte sich an den Dunklen. Stumm bat sie ihn darum, sie einfach mit sich zu nehmen und von hier fortzubringen. Sie brauchte seine Stärke nun. Sie würde jeden Augenblick zusammenbrechen, und sie wollte ihn nicht noch weiter brüskieren. Er sah so gut aus, wenn er Elfengestalt annahm. Schon als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, hatte sie sein ernstes Gesicht mit den vollen Lippen und dem energischen Kinn, das eine Spur zu breit war, sehr gemocht. Er trug sein schwarzes, leicht gewelltes Haar schulterlang, sodass es auf seinen Brustpanzer aus blauschwarzen Schuppen fiel, die seinen eigenen Schuppen in Drachengestalt ähnelten. Obwohl es ein warmer Abend war, war er mit einer weißen Hose aus weichem, lose fallendem Stoff angetan, die in kniehohen Schaftstiefeln steckte. Breite, goldene Reife schmückten seine blassen Arme. Er strahlte Macht aus und Selbstbewusstsein. Ihn zu sehen erinnerte Nandalee stets daran, wie unbedeutend sie war.

Wie hatte Gonvalon sie genannt? Die Drachenelfen waren nur Pfeile, die die Himmelsschlangen von ihren Bögen verschossen. So viel Arbeit ein Jäger auch in die Herstellung eines Pfeils steckte, wurde er doch unbedeutend, war er in der Schlacht erst einmal verschossen.

»Komm!«, befahl der Dunkle brüsk und streckte ihr die Hand entgegen.

Nandalee musste all ihre verbliebene Kraft für diese letzten Schritte aufbieten, doch kaum berührte sie den Drachen in Elfengestalt, durchflossen sie neue Kraft und ein Wohlgefühl, das sie gegen ihren Willen aufseufzen ließ.

»Noch in dieser Nacht wirst du ganz die Meine sein«, sagte er verheißungsvoll und führte sie zum Eingang der alten Pyramide.

Gezeichnet

Der Dunkle führte sie hinab in jenes weite, überflutete Gewölbe, in dem er den Gazala, seinen Seherinnen, lauschte. Als sie eintraten, verstummte ihr unablässiges Murmeln.

Nandalee fühlte ihre Blicke auf sich lasten. Würden diese Wesen, die halb Gazelle, halb Elfe waren, und denen die Fähigkeit, in die Zukunft sehen zu können, jede Hoffnung auf ein normales Leben genommen hatte, zusehen bei dem, was nun kommen würde? Der Dunkle sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Seine Worte hallten unheimlich von den Wänden wider.

Alle Gazala verbeugten sich. Es war eine Bewegung voller Anmut, zugleich aber auch von verstörender Gleichzeitigkeit, als seien sie alle nur ein einziger Körper. Sie verließen das weite Gewölbe.

»Entkleidet Euch bitte, Dame Nandalee.«

Sie hatte es bislang nie als unschicklich empfunden, sich nackt zu zeigen, aber es lag etwas im Blick der geschlitzten Pupillen des Drachen, das sie erschauern ließ. Unfähig sich zu rühren, sah sie ihn einfach nur an. Er trat nahe vor sie. Wohlgeruch entströmte seinem Atem. Langsam, zärtlich strich er ihr über die Wange. Sie sah, wie der Nagel seines Mittelfingers sich in eine Kralle verwandelte.

Die Hand glitt tiefer. Sie hörte das Reißen von Stoff. Streifen um Streifen schnitt er ihr die zerrissenen Kleider vom Leib. Dabei sah er ihr unverwandt in die Augen, als sei ihre Nacktheit völlig nebensächlich und alles, was ihn interessierte, in ihrem Blick zu finden.

Er ging vor ihr im flachen Wasser des Gewölbes in die Knie, noch immer ohne den Blick von ihren Augen zu lassen. Die Kralle schlitzte das Leder ihrer Stiefel, und Nandalee stellte sich vor, mit welcher Leichtigkeit sie ihre Haut zerfetzen würde.

Zwei Gazala waren zurückgekehrt und traten an ihre Seite. Eine trug eine flache Schale mit klarem Wasser, auf deren Grund das Bild eines blühenden Kirschbaums gemalt war, die andere Gazellenfrau hielt seidene Tücher auf ihren Armen.

Der Dunkle nahm eines der blütenweißen Tücher, tunkte es in das Wasser und begann vorsichtig, ihre Haut abzutupfen. Das Wasser war angenehm kühl. Leichter Anisgeruch haftete ihm an. »Eure Haut muss vollkommen sauber sein, Dame Nandalee. Ich werde Euch verletzen, wenn ich Euch das Bild, das Euch zur Drachenelfe macht, unter die Haut steche. Gelangt Schmutz in die Wunden, dann könnten sie sich entzünden.« Er tupfte über ihre Brüste und ein wohliges, warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. Ihre Brustwarzen richteten sich auf, doch er hatte keinen Blick dafür. Nach wie vor sah er ihr ins Gesicht, so als gäbe es nur ihre Augen und alles andere sei ohne Belang.

»Ich werde Euch Schmerzen bereiten, Dame Nandalee, sie sind Teil des Rituals. Sie werden lange anhalten. Es wird ein großes Bild werden, auch wenn ich noch nicht weiß, wie es aussehen wird. Ganz gewiss wird es Euren Rücken füllen, vielleicht auch Teile der Arme und Beine. Ihr werdet dieses Gewölbe erst wieder verlassen, wenn es vollendet ist. Und wenn Ihr geht, meine Dame, dann werdet Ihr äußerlich wie innerlich eine andere sein.«

Während er sprach, tupfte er immer weiter ihren Leib ab. Die besudelten Seidentücher ließ er achtlos fallen. Sie trieben wie verlorene Blüten im Wasser um ihre Knöchel.

»Ich vermag Euch nicht zu sagen, was geschehen wird. Es ist jedes Mal anders. Der Schmerz wird wie Wellen gegen Eure Seele branden. All Eure Sinne werden berührt sein. Eure Augen mögen Euch Trugbilder vorgaukeln oder Ihr mögt plötzlich einen unerträglichen Heißhunger verspüren. Gebt Euch ganz Euren Gefühlen hin. Die Gazala werden stets nahe sein. Sie werden jeden Eurer Wünsche erfüllen, meine Dame, nur einen nicht. Der Schmerz endet erst, wenn das Bild vollkommen ist. Und wenn er endet, wird eine Zeit kommen, in der Ihr Euch nach ihm zurücksehnt, denn nichts von allem, was Ihr je erleben werdet, wird sein wie die nächsten Tage. Wenn Ihr Euch fallen lasst und mit dem Schmerz treibt lasst, wird er Euch nach einer Zeit Lust bereiten, wie Ihr sie noch nie kennengelernt habt.«

Der Dunkle fasste ihr Kinn und wandte ihr Gesicht zur Seite. Jetzt endlich war der Bann seiner eisblauen Augen gebrochen. Blaugrauer Rauch trieb über das Wasser, wob einen Schleier, der das weite Gewölbe unwirklich erscheinen ließ. Kristallschalen, in denen kleine Kerzen brannten, trieben auf dem Wasser und verbreiteten ein gelbes Licht, das, vom dunklen Wasser reflektiert, ein fließendes, gelbes Muster auf die gewölbte Decke reflektierte.

Die flache Insel, die sich in der Mitte der Höhle aus dem Wasser erhob, war nun mit schweren Teppichen und Kissen bedeckt. Nahe beim Wasser brannte in Kupferschalen Räucherwerk. Ein schwerer, harziger Duft kratzte in Nandalees Hals und umschmeichelte zugleich ihren Geruchssinn. Er trug zunächst den Duft von Moschus mit sich und einen Hauch vom Aroma überreifer Mangos, dann wandelte er sich wieder und roch wie Zitronengras, das man zwischen den Fingern zerrieb.

Der Dunkle nahm sie bei der Hand und führte sie zur Insel. Die Gazala trugen Obst in Schüsseln aus hauchzarter Keramik herbei. Kirschen und schwere, reife Trauben, goldene Äpfel, dunkelrote Beeren und seltsame mit Stacheln besetzte Früchte, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. In anderen Schalen entdeckte sie Gebäck. Der Duft von gewürztem Fleisch mischte sich unter die Aromen, die im Rauch schwangen.

»Legt Euch nieder, meine Dame«, sagte der Dunkle sanft. Er bettete ihr Haupt auf eine steife Nackenrolle. Hinter Nandalee kniete eine Gazala nieder, die ihr strähniges Haar nahm und es durch ihre feingliedrigen Finger gleiten ließ.

»Ihr mögt den Geruch von Vanille, meine Dame?«, fragte er, während er die Lederschließen seines Schuppenpanzers öffnete.

»Ja.«

Der Dunkle lächelte sanft. »Ich auch«, sagte er, legte die Rüstung ab und streifte die Tunika, die er darunter getragen hatte, über seine Schultern. Seine helle Haut schimmerte, als sei sie leicht geölt.

Warmes Wasser benetzte Nandalees Haar. Die Gazellenfrau massierte ihre Kopfhaut sanft mit den Fingerspitzen, und jede ihrer Berührungen jagte ihr ein angenehmes Schaudern über den Rücken. Dann wusch die Gazala Nandalees Haar über einer Schale. Sie mengte dem Wasser Vanilleöl bei, dessen Duft kurz alle anderen Gerüche überlagerte.

Weitere Gazala brachten ein weißes Tuch, auf dem Bambusstiele lagen, die an Pinsel erinnerten, nur dass nicht Haare, sondern jeweils fünf oder sechs, nicht einmal einen halben Zoll lange Stahlnadeln von der Zwinge aus feinem Seidengarn gehalten wurden. Neben den Tätowiernadeln lagen auch wirkliche Pinsel, deren rote Haarbüschel etwa so dick wie Nandalees kleiner Finger waren. Schweigend trugen die Gazala Dutzende weiße Schälchen heran, in denen alle nur erdenklichen Farben schimmerten. In einem weiten Halbkreis stellten sie sie um Nandalee ab.

Der Dunkle war nun nackt. Er band sein Haar zurück in den Nacken und kniete neben ihr nieder. »Ihr erlaubt, dass ich heile, was die Wüstensonne Eurer Haut angetan hat?«

Wie hätte sie dieser sanften, dunklen Stimme widersprechen können? Sie würde zustimmen, was immer er von ihr verlangte. Nun war er mit allen Sinnen bei ihr, das las sie in seinen Augen. Die Gazala, die weite Grotte, der Rauch, das alles existierte für ihn nicht. Nur sie allein war in diesem Augenblick von Bedeutung für diesen Drachen, der so alt wie die Welt war.

Nandalee nickte. Sie hatte Sorge, ihre raue Stimme würde seine Ohren beleidigen, und sie sehnte sich nach nichts mehr, als ihm zu gefallen.

Seine Fingerspitzen glitten sanft über ihre Haut. Die Kralle, die ihre Kleider zerfetzt hatte, war wieder verschwunden. Seine Berührung war sanft wie ein Lufthauch. Ein Prickeln überlief ihre Haut. Sie sah, wie Rötungen verschwanden, wie die Verletzung an ihrer Hand heilte. Als seine Finger ihre Lippen streiften, berührte sie sie mit der Zungenspitze. Die geschlitzten Pupillen des Dunklen verengten sich.

Wie hatte sie das tun können, dachte Nandalee erschrocken. Er musste sie für völlig schamlos halten, wusste er doch, dass sie und Gonvalon ein Paar waren. Beschämt senkte sie den Blick, und doch fuhr ihre Zungenspitze erneut über die Lippen, die der Dunkle eben erst berührt hatte. Sie waren weich und geschmeidig, als hätten sie niemals vom Glutodem der Wüste gekostet.

Irgendwo fern in der Pyramide erklang Musik, leise Gongschläge, die tief im Bauch vibrierten, begleitet von Saitenspiel und einer melancholischen Flöte. Die Melodie war unaufdringlich, lud dazu ein, die Lider zu schließen und zu träumen.

»Ihr werdet auf dem Bauch liegen, während ich an dem Bild arbeite, und Ihr werdet nicht sehen können, was ich tue, deshalb gebt nun acht.« Der Dunkle griff nach einem der Bambusstöcke mit den kurzen Tätowiernadeln. »Reicht mir Eure Hand, meine Dame.«

Nandalee setzte sich auf. Warmes Wasser troff über ihren Rücken. Die Gazala trocknete ihr mit einem weichen Tuch das Haar.

Als der Dunkle ihre Hand ergriff, richteten sich die feinen Härchen auf ihrem Arm auf, und wieder war da dieses warme, wohlige Gefühl in ihrem Bauch. Sie versuchte an Gonvalon zu denken, an seine zärtlichen Küsse. Daran, wie er einfach stumm für sie da sein konnte, wenn kein Wort ihren Weltschmerz zu lindern vermochte. Sie sollte ihm ganz und gar gehören und die Berührung des Dunklen nur als Teil einer unangenehmen, letzten Pflicht empfinden. Doch dem war nicht so. Sie sehnte sie herbei.

»Hiermit werde ich zunächst alle Linien zeichnen und danach die Flächen zwischen ihnen mit Farbe füllen. Viele tausend Male werde ich die Nadeln unter Eure Haut stoßen, meine Dame.« Mit diesen Worten stach er in ihren Handrücken. Wieder und wieder und wieder. Es war eine geübte Bewegung ohne Eile, sicher. Als er ihre Hand losließ, zog sich eine geschwungene, blutrote Linie vom Zeigefinger zum Handgelenk. Ein einzelner Blutstropfen rann über ihren Daumen hinab und tropfte auf den Teppich, auf dem sie saß.

Es war kein intensiver Schmerz gewesen. Sie hatte ihn ohne mit der Wimper zu zucken ertragen. Sie war eine Kriegerin!

»Täuscht Euch nicht, meine Dame«, sagte der Dunkle eindringlich, als habe er ihre Gedanken erraten. »Der Schmerz wird wachsen, so wie eine Lawine wächst und schließlich alles mit sich fortreißt, was sich ihr in den Weg stellt. Ihr müsst mit dem Schmerz fließen, oder Ihr werdet ihm nicht widerstehen, wenn ich die Nadeln Stunden um Stunden in Eure zarte Haut versenke. Ich darf nicht zu zaghaft sein, denn steche ich nicht tief genug, dann wird das Bild verblassen und schließlich ganz verschwinden. Steche ich aber zu tief und Ihr blutet, dann wird das Blut die Farbe aus den Wunden spülen, und ich muss mein Werk erneut beginnen, wenn die Verletzung verheilt ist.«

Er nahm einen der Pinsel, tunkte ihn in leuchtend rote Farbe und klemmte ihn unter den Mittelfinger seiner flach ausgestreckten linken Hand, dann streifte er den kurzen Bambusstock mit den Nadeln mit fließender, wohlgeübter Bewegung durch die Farbe auf dem Pinsel, sodass sie alles gut sehen konnte. »So nehme ich die Farbe auf. Es geht schnell, auch wenn ich die Nadeln viele tausend Male aufs Neue benetzen muss. Nun wisst Ihr, was ich Euch antun werde, meine Dame. Seid Ihr bereit, diese letzte aller Prüfungen über Euch ergehen zu lassen?«

Nandalee nickte, ohne zu zögern, doch mit einem Anflug von schlechtem Gewissen. »Gonvalon …«, sagte sie leise.

»Ich habe ihm einen Boten schicken lassen. Er weiß, dass Ihr wohlbehalten zurückgekehrt seid, meine Dame.«

Nandalee glaubte einen Anflug von Ärger aus den Worten herauszuhören.

»Er weiß, was wir hier tun. Auch er war einmal ein Drachenelf und ist diesen Weg gegangen. Nun dreht Euch um, legt Euch auf den Bauch, lauscht der Musik und öffnet Euch den betörenden Düften, die uns umschmeicheln. Wir müssen unsere Seelen in Einklang bringen, um das eine Bild zu finden, in dem wir uns beide widerspiegeln.«

Nandalee gehorchte. Sie fühlte sich leicht benommen. Lag es am Fieber oder war etwas im Rauch, das ihre Wahrnehmung veränderte? Alles geschah langsamer. Jedes Gefühl war tiefer. Der Dunkle strich ihr sanft über den Rücken. Seine schlanken Hände liebkosten ihre Schultern, lösten kleine Knoten in ihren Muskeln. Bald fühlte es sich so an, als würden seine Hände ihren Leib verstehen und auf ihm spielen wie ein Musiker auf einem wohl vertrauten Instrument. Er wusste, wo seine Berührung samtenen Schmerz verursachen würde und wo sie ihr Lust bereitete. Sie bewegte sich, presste ihren Leib seinen Händen entgegen und stöhnte leise. Feuchte Hitze wogte zwischen ihren Schenkeln. Seine Hände fuhren ihre Wirbelsäule hinab. Tiefer und tiefer … Er hauchte einen Kuss auf ihren Nacken. »Ich sehe es«, sagte er leise.

Seine Hände flohen, ließen sie allein mit ihren aufgewühlten Gefühlen. Dann kam der Schmerz. Ein erster Stich dicht neben der Wirbelsäule. Sie zuckte, mehr überrascht als wegen der Pein. In schneller Folge kamen weitere Stiche, nur kurz unterbrochen, wenn er die Nadeln über den Pinsel strich, um neue Farbe aufzunehmen.

Der Schmerz wanderte in weitem Bogen hinauf zu ihrem Schulterblatt. Sie versuchte, nicht dagegen anzukämpfen. Es war so, wie der Dunkle es prophezeit hatte, der Schmerz wuchs, wurde mit jeder neuen Linie, die er begann, unerträglicher. Sie verkrampfte sich, kämpfte dagegen an und wusste, dass es falsch war. Die Lawine würde sie verschlingen, wenn sie nicht mit ihr mitschwamm, und doch vermochte sie nicht aufzugeben. Zu kämpfen war ihre Natur, eher ging sie unter, als aufzugeben. Tränen rannen ihr über die Wangen, aber sie biss die Zähne zusammen und verweigerte sich jedem Schluchzen. Ein Zucken ihrer Schultern mochte den Verlauf der blutigen Linien stören, die sich in ihr Fleisch gruben. Sie kämpfte weiter, war erschöpft, spürte nagenden Hunger und die irrationale Lust, sich auf den Dunklen zu stürzen und ihn zu beißen.

Aber etwas im Rauch nagte an ihrem Willen, ließ den Wunsch aufkeimen, sich zu ergeben. Auch die leise Musik erweckte in ihr die Sehnsucht nach Unterwerfung. Sie wollte sich einfach nur noch fügen, mit dem Schmerz gehen, ihn zu einem Teil von sich machen und ihn voller Wollust genießen. Es war dieser Augenblick am Rand der Erschöpfung, in dem der Dunkle die Nadeln zur Seite legte und seine kundigen Hände nach den verborgensten Stellen ihres Körpers tasteten. Und ihr Widerstand zerbrach. Sie gab sich ihm hin und empfand eine bislang unbekannte Lust darin, sich einfach treiben zu lassen, nur noch Körper zu sein. Nie zuvor war sie so frei gewesen.

Rausch der Sinne

Hatte der Dunkle ihr eine Droge gegeben? Lag ein Zauberbann auf ihr? Nandalee gab sich ihm mit einer Leidenschaft hin, die sie niemals für möglich gehalten hätte. All ihre Sinne schienen durch den Schmerz geschärft zu sein. Wenn sie vom Obst kostete, dann war es köstlicher als alles, was ihr je über die Lippen gekommen war. Der leichte Rotwein berauschte sie, als ginge er ihr direkt ins Blut. Blumig und mit einem Nachgeschmack nach den Waldbeeren eines sonnigen Herbstes, war er wie kein zweiter Wein, den sie je gekostet hatte. Das helle Brot war kross, krachte zwischen ihren Zähnen, Fleisch und Saucen unvergleichlich.

Sie schlemmte stundenlang, auf dem Bauch liegend, während ihr neuer Meister weiter das Bild in den Rücken stach. Er war genauso besessen wie sie. Kaum dass er sich eine Pause gönnte. Nur wenn sie einander liebten, legte er den Pinsel und die Nadeln zur Seite. Manchmal überfiel er sie wie ein hungriges Tier, nahm sich, was er begehrte, ohne an sie zu denken. Dann wieder war er der vollkommene Liebhaber, zärtlich, zuvorkommend und allein darauf bedacht, sie zu unbekannter Ekstase zu führen. Sie war dabei ganz passiv, ließ ihn gewähren, vertraute sich ihm ganz an. Und sie spürte, wie er trotz aller Leidenschaft sehr darauf achtete, die frischen Wunden nicht zu früh zu berühren und dem Bild, das auf ihrer Haut erstand, Schaden zuzufügen. Willig gab sie sich hin und genoss seine Lust, bis sie schließlich völlig erschöpft in seinen Armen einschlief.

Jedes Mal wenn sie erwachte, war der Schmerz der Nadeln schon da. Jede Freude wurde von ihm begleitet, bis Nandalee insgeheim zu fürchten begann, dass sie von nun an ohne Schmerz vielleicht für jedes Empfinden taub sein könnte. Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange dieser Rausch andauerte. Zeit verlor an Bedeutung. Schlaf, Schmerz, Lust – alles vermengte sich, schien sich endlos zu dehnen. Er verweigerte ihr einen Blick auf das gesamte Bild. Sie sah, dass sich ein blauschwarzer Drachenschweif ihren linken Oberarm hinabwand.

Er begann, ein Bild in ihren rechten Oberschenkel zu stechen, als er sie blendete. Es war ein überraschender, neuer Schmerz. Ein Gefühl, als sei eine der Nadeln tief in ihren Kopf gedrungen, und von einem Moment auf den anderen konnte sie nicht mehr sehen. Panik überkam sie. Sie wollte fliehen, aber er drückte sie gnadenlos auf den Teppich, der inzwischen von der Farbe seiner Pinsel durchtränkt war. Sie spürte noch die Seidentücher, mit denen er Farbe abtupfte und ihr Blut, das ihr Bein hinunterlief. Immer wieder hielt er jetzt inne, um kritisch sein Bild zu prüfen.

»Was … was ist mit meinen Augen?«, fragte sie nach langem Schweigen voller Angst.

»Ihr sollt das Werk nicht sehen, bevor es vollendet ist, Dame Nandalee. Beweist mir Euer völliges Vertrauen, indem Ihr Euch mir blind ausliefert. Das Werk ist fast vollbracht, meine Dame.«

Sie hatte sich verändert. Nur ein paar Tage zuvor hätte sie gegen ihn aufbegehrt. Wie konnte er das tun! Aber jetzt war alles anders. Sie war sein. Und auch er hatte sich ihr in den vergangenen Tagen offenbart. Sie war sich fast sicher, dass er sie begehrte, nicht nur um hier und jetzt seine Lust zu befriedigen. Er respektierte sie. Sie hatte seine Einsamkeit gespürt und wie sehr er sich danach sehnte, mit ihr alles zu teilen. Aber sie würde gehen. Auch wenn er vielleicht glaubte, sie zu lieben, würden sie einander nie von gleich zu gleich begegnen.

Nandalee nahm hin, was war, ließ sich zwischen Fieberwahn und Ekstase treiben. Er arbeitete nun abwechselnd mal an ihrem rechten Bein, mal füllte er auf ihrem Rücken Flächen mit Farbe. Sie spürte seine Unrast. Etwas, worüber er nicht mit ihr reden wollte, beunruhigte ihn.

Irgendwann erwachte sie, und die leise Musik, die sie all die Tage begleitet hatte, war verstummt. Er war fort, sie spürte es ebenso, wie sie wusste, dass sie wieder würde sehen können, wenn sie die Augen aufschlug. Sie zögerte es hinaus, blieb still liegen und hoffte wider besseres Wissen, dass er noch einmal zurückkehren würde. Dass es einen Abschied gäbe, feierliche Worte, ein letztes Beisammensein.

Sie wartete lange. Doch der Dunkle kam nicht zurück. Endlich sah sie sich blinzelnd um. Sie lag inmitten der feinen Seidentücher, mit denen er bei seiner Arbeit Blut und Farbe von ihrer Haut gewischt hatte. Sie waren überall, auf dem flachen Fels, der ihre Insel fern der Welt gewesen war, im dunklen, warmen Wasser, das den Boden des Gewölbes verbarg. Das geheime Refugium des Dunklen sah aus wie ein blühender Apfelhain, der von einem wütenden Frühlingssturm heimgesucht worden war und dessen makellos weiße Pracht der Wind in den Schmutz gezerrt hatte.

Nandalee drehte den Kopf, soweit sie konnte, und versuchte, das Bild auf ihrem Rücken zu erkennen. Doch alles, was sie deutlich erkennen konnte, war eine schwarze Drachenklaue auf ihrer linken Schulter sowie das Schweifende an ihrem linken Oberarm. Dann fiel ihr Blick auf ihr rechtes Bein. Um ihren Oberschenkel wand sich der lange Schweif eines zweiten Schlangendrachen. Er reichte bis unter ihr Knie. Nandalee entfuhr ein leiser Schrei. Hatte sie zwei Drachen auf ihrem Rücken? Das hatte es, soweit sie wusste, noch nie gegeben!

Die Elfe kauerte sich zwischen die fast leeren Farbschalen, aß ein wenig kalte Hühnerbrust, die nicht mehr so unvergleichlich schmeckte wie während ihres Rausches. Was für ein Bild befand sich auf ihrem Rücken?

Sie erhob sich, sah sich ein letztes Mal um. Noch immer trieben Kerzen in Kristallschalen über das dunkle Wasser und woben Netze aus goldenem Licht auf die Decke des Gewölbes. Ohne die Gazala und vor allem ohne den Dunklen wirkte das unterirdische Versteck trostlos. Wohin mochte er gegangen sein? Nandalee bückte sich nach dem Krug mit dem köstlichen Wein, als sie zwischen den Seidentüchern etwas golden glitzern sah. Sie schob die Tücher zur Seite und fand ein weißes Kleid, geschnitten wie die langen Gewänder, die die Meister der Weißen Halle getragen hatten. Lange hielt Nandalee es nur in der Hand, strich über den feinen Leinenstoff und die goldenen Stickereien an den Säumen. Plötzlich spürte sie einen Kloß im Hals. Sie war eine Drachenelfe!

Sie wünschte, Gonvalon wäre jetzt hier, oder Ailyn, die Meisterin des waffenlosen Kampfes aus der Weißen Halle. Oder Cullayn, der schweigsame Jäger mit dem entstellten Gesicht, der mit seinem Gefährten, dem schönen Tylwyth, durch die Weite der Snaiwamark streifte. Ob die beiden in der Blauen Halle gewesen waren, als die Devanthar angegriffen hatten?

Sie musste an alle denken, die sie ein Stück auf ihrem Weg bis hierher zu diesem Hort der Geheimnisse begleitet hatten. An die Kobolde der Weißen Halle, die sie und ihre Launen gefürchtet hatten, und an Sata, jene alte Koboldin auf dem Blauen Stern, dem Himmelsschiff, das jenem Alben gehörte, den alle nur den Sänger nannten. Sata hatte sich auf raue, aber herzliche Art ihrer angenommen, als sie halb erfroren auf das schwebende Schiff des Alben gekommen war.

Auch dachte sie an Eleborn, der nach ihrer Rückkehr von Nangog den Jadegarten verlassen hatte, um seine Familie in Arkadien zu besuchen und dort um seinen verlorenen Meister, den Himmlischen, zu trauern. Gewiss hätte er sie mit einer seiner wunderbaren Skulpturen aus Wasser und Licht beschenkt, wenn er jetzt hier wäre. Ganz in melancholische Gedanken versunken, legte Nandalee das Kleid an.

Es war ihr auf den Leib geschnitten. Wer es wohl genäht hatte? Die Gazala? Sie schloss die Haken über ihrer Brust und am steifen Stehkragen, der ihr fast bis zum Kinn reichte. Dann schlang sie plötzlich die Arme um ihren Leib. Hielt sich fest, wollte sich spüren und war sich doch nur allzu bewusst, dass etwas von ihr nun für immer verloren war. Es hatte sich aufgelöst, wie jene Schleier aus berauschendem, graublauem Rauch, die vor wenigen Stunden noch durch das Gewölbe gezogen waren. Sie war keine Novizin mehr, sondern Teil des Ordens von Mördern, den die Himmelsschlangen gegründet hatten. Sie hatte sich entschieden und den Weg der Unschuld für immer verlassen. Sie gehörte nun dem Dunklen!

Aber ihr blieb ein Gewissen, entschied sie. Sie würde als Meisterin nicht minder rebellisch sein, als sie es als Schülerin der Weißen Halle gewesen war. Nandalee raffte ihr neues, bis zu den Hüften geschlitztes Kleid, um durch das Wasser zu waten, und verließ das Gewölbe über den Weg, den zu finden sie bei ihrer Gefangenschaft hier unten einst so viel Zeit gekostet hatte. Sie war noch nicht weit durch den Tunnel geschritten, der sie in die Freiheit führen würde, als sie in einer erleuchteten Wandnische ihr Schwert Todbringer fand. Der mächtige Zweihänder steckte in einer neuen Scheide aus braunem Leder, um die ein messingbeschlagener Gürtel gewickelt war, der es ihr erlauben würde, das Schwert auf dem Rücken zu tragen. Neben der Waffe lehnten ihr Bogen und ein neuer Köcher, ebenfalls aus braunem Leder und prall gefüllt mit Pfeilen.

Warum beschenkte der Dunkle sie, zeigte sich aber nicht? Sie legte die Waffen an. Es tat gut, wieder den Bogen in Händen zu halten. Wenn der Dunkle ihn hierhergebracht hatte, musste das wohl bedeuten, dass er ihr erlaubte, die Waffe zu nutzen, obwohl dies in der Weißen Halle auf so viel Widerstand gestoßen war. Die Meister fanden es unehrenhaft, einen Feind auf große Distanz zu töten, ohne ihm in die Augen gesehen zu haben. Nandalee hatte das immer für verlogen gehalten. Kaum ein Geschöpf Albenmarks konnte gegen einen Schwertkämpfer aus der Weißen Halle bestehen. Wer einem Drachenelfen gegenüberstand, den die Himmelsschlangen geschickt hatten, der war verloren. Ihren Klingen war ebenso wenig zu entkommen wie einem wohl gezielten Pfeil.

Mit festem Schritt verließ sie die Pyramide und trat aus dem uralten Gemäuer in eine sternenklare Nacht. Gonvalon stand auf der Wiese, von der nun alle Zelte verschwunden waren. Hinter ihm weideten Sternauge und Nachtschwinge.

Er trug nicht länger das Gewand eines Meisters der Weißen Halle, sondern hatte sich neu eingekleidet. Taubengrau war die Farbe seines langen Waffenrocks. Verspielte Ranken in einem Rot an der Grenze zum Purpur säumten die Ärmel und reichten ihm bis fast zu den Ellenbogen. Er trug keine Waffen. Ihn so zu sehen versetzte Nandalee einen Stich. Sein Gesicht, gerahmt von goldenem Haar, wirkte schmaler. Auch er hatte sich verändert.

Nandalee dachte an den Rausch, den sie mit dem Dunklen gelebt hatte, und senkte beschämt den Blick. »Ich …«, begann sie zögerlich, als er ihr sanft die Hand auf den Mund legte.

»Bitte sag nichts. Auch ich war einst ein Drachenelf. Ich weiß, was geschehen ist. Sie sind unwiderstehlich.« Er lächelte, diesmal ganz ohne den melancholischen Blick, mit dem er sie sonst so oft ansah. Seine Augen strahlten. »Wichtig ist allein, dass du nun hier bist. Du bist nicht bei ihm geblieben. Ich wusste, du würdest zurückkommen. Sie sind nur ein Rausch. Wir können ihnen nicht lange nahe sein, wir würden vergehen wie Motten, die ins Licht fliegen.«

Nandalee war unglaublich erleichtert. Kurz fragte sie sich, was er wohl mit dem Goldenen erlebt hatte, dann schob sie den Gedanken daran weit von sich. Auch das war ohne Belang für sie beide. Plötzlich spielte jenes freche Lächeln um seine Lippen, das er bei ihrer ersten Begegnung gezeigt hatte, als sie gänzlich unbekleidet vor einem Heer von Trollen durch die Wildnis geflohen war und er kam, um sie zu retten. »Ich weiß, was dich im Augenblick am meisten quält.«

Sie sah ihn fragend an.

»Du möchtest wissen, wie deine Tätowierung aussieht, nicht wahr?«

»Dir steht der Sinn danach, mich nackt zu sehen?«

Sein freches Lächeln wurde noch ein wenig breiter. »Immer, meine Schöne. Und doch will ich dir vor allem zu Diensten sein, wenn auch nicht ganz ohne Hintergedanken.«

»Du müsstest mir den Kopf verdrehen, damit ich auf meinen Rücken sehen kann«, entgegnete sie keck.

»Nichts lieber als das, aber ich wüsste auch noch einen anderen Weg. Wenn du natürlich deine unerträgliche Neugier plötzlich abgelegt hast und zur weisen, allem weltlichen entrückten Drachenelfe gereift sein solltest, entschuldige ich mich, solche Banalitäten an Euch herangetragen zu haben, Meisterin.«

Nandalee öffnete den Schwertgurt und streifte ihren Köcher ab. »Los, zeig mir, wie es geht.«

Gonvalon ging zu Nachtschwinge und hob eine große Satteltasche vom Rücken des Pegasus. Etwas darin klirrte leise, als er zu ihr zurückkam.

Nandalee wartete, bis er wieder vor ihr stand, dann löste sie die Haken ihres Kleides und ließ es zu Boden gleiten. Sie genoss seine Blicke. Sie wusste, dass er vor ihr schon viele Frauen geliebt hatte, aber er sah sie an, als sei sie die Eine, die Vollkommene, die er sein ganzes Leben lang gesucht hatte.

Auch sie war nicht unerfahren in der Liebe gewesen, als sie Gonvalon zum ersten Mal begegnete, aber mit ihm war es anders als mit allen anderen. Sie fühlte sich schön, wenn er sie so ansah, dabei fand sie sich selbst zu dünn und wenig weiblich. Gonvalon löschte diese Selbstzweifel aus und wurde es nie müde, ihren Körper aufs Neue mit all seinen Sinnen zu erforschen – als sei sie ein wunderbares Rätsel, dem auf den Grund zu gehen er gern sein ganzes Leben widmen würde.

»Man könnte meinen, du hättest noch nie eine Frau gesehen«, scherzte sie, nachdem sie eine Weile seine Blicke genossen hatte.

»Keine wie dich«, entgegnete er mit einer Leidenschaft, die jeden Gedanken daran verbannte, dass dies nur eine Floskel sein könnte. Er legte die Satteltaschen auf den Boden und holte mehrere Blendlaternen heraus.

»Du wusstest, dass ich nachts zurückkehren würde?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich wusste, du würdest zurückkehren. Das war alles. Ich habe mich darauf vorbereitet, dass es etwas dauern könnte. Ich weiß ja seit einer Weile schon, dass du nur selten tust, womit alle rechnen.« Er sagte das nicht vorwurfsvoll, sondern so herzlich, dass Nandalee nicht anders konnte, als neben ihm niederzuknien und ihn leidenschaftlich zu küssen. Es wurde ein langer Kuss. Gonvalon zog sie so fest in seine Arme, als seien sie ein Jahrhundert lang getrennt gewesen. Schließlich war sie es, die sich löste. Sie war neugierig, endlich das Bild auf ihrem Rücken zu sehen.

»Wartest du schon lange auf mich?«

Er zuckte mit den Schultern, als bedeute es nichts. »Zwei Tage. Es waren noch andere hier. Nodon und die übrigen Drachenelfen aus der Bergfeste. Du hast lange geschlafen, nachdem Nachtatem gegangen war.«

Es lag ihr auf der Zunge zu fragen, wohin die Himmelsschlange verschwunden war, doch sie fürchtete, Gonvalon damit zu verletzen. »Wie lange war ich in der Pyramide?«

»Elf Tage«, sagte Gonvalon knapp, und diesmal lag ein Hauch von Bitternis in seiner Stimme. Er sah nicht zu ihr auf, sondern begann, die Lichter in den Blendlaternen zu entzünden. Dann stellte er sie auf einen der mächtigen Steinquader, die aus der Seitenwand der Pyramide gebrochen waren.

Nandalee hatte gedacht, dass sie noch länger beim Dunklen geblieben war. Sie hatten so vieles geteilt. Elf Tage nur …

»Komm!« Gonvalon winkte sie zu sich und zog etwas, das in ein dickes, rotes Wolltuch gehüllt war, aus der Satteltasche. Vorsichtig schlug er das Tuch zurück; darin verbarg sich ein fast einen Schritt langer Spiegel.

»Wo hast du den her?« Nandalee drehte sich davor und konnte nun wenigstens einen Teil des Bildes auf ihrem Rücken sehen.

Gonvalon zog noch einen Handspiegel aus der Satteltasche. »Nimm den hier. Benutze ihn, um das andere Spiegelbild zu betrachten.« Er lachte. »Ich hab einige Übung darin, so siehst du am meisten. Die Spiegel stammen übrigens vom verehrten Schwertmeister Nodon. Er ist eitler, als ich gedacht hätte. Er hat sie hierher mitgebracht und mir unter der Androhung überlassen, mir sämtliche Glieder abzuhacken, wenn auch nur eine Schramme auf die Spiegel kommt.«

Nandalee hörte ihm kaum zu. Sie hatte den Handspiegel genommen und drehte ihn, bis sie durch den zweiten Spiegel ihren ganzen Rücken sehen konnte. Zwei Drachen waren darauf tätowiert. Sie glichen jenen aus ihrem Fiebertraum in der Wüste. Ein Silberner und ein Schwarzer. Beide rangen miteinander, oder war es ein Liebesspiel? Im Hintergrund war eine gehämmerte Silberscheibe zu sehen. Davor, mit der Spitze nach unten, ihr Schwert, Todbringer.

»Was mag das bedeuten?«, fragte sie Gonvalon.

Der Schwertmeister schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das Schwert steht zwischen den Drachen, aber es scheint sie nicht daran zu hindern, einander zu befehden. Die Silberscheibe …? Ein Rätsel. Soll es der Mond sein? Und die beiden Drachen …? Der Schwarze könnte Nachtatem sein. Aber der Silberne …? Es hat nie eine Himmelsschlange von dieser Farbe gegeben. Jede Tätowierung ist ein Spiegel deines Schicksals. Meine zeigte die Verbundenheit mit dem Goldenen und dem Schwert. Für lange Zeit war ich sein Auserwählter, sein Schwertmeister, der Erste unter seinen Mördern. Du hast mir geholfen, einen anderen Weg zu finden. Doch der Goldene bedroht mich nun. Auch wenn er mir meine Tätowierung genommen hat, so bin ich sicher, dass ich eines Tages entweder durch ihn oder durch das Schwert fallen werde. Diese beiden Kräfte bestimmen mein Leben.«

»Willst du sagen, auch mein Leben wird durch das Schwert bestimmt?«

Gonvalon sah sie verwundert an. »Du bist eine Drachenelfe. Du hast dich für den Weg des Schwertes entschieden. Ich weiß nicht, ob das Schwert dich symbolisiert. Ich hoffe nicht, denn es ist nicht gut, zwischen zwei Drachen zu stehen.«

Nandalee betrachtete die Tätowierung lange durch den Spiegel. »Es ist nur ein Bild«, sagte sie schließlich. »Über meinen Lebensweg entscheide allein ich. Gar nichts ist vorherbestimmt!«

Gonvalon war klug genug, nicht zu widersprechen, aber sie sah ihm an, dass er anders darüber dachte. »Findest du, dass mich die Tätowierung entstellt?«

Er wirkte überrascht, dann sah er sie lange an. »Ich liebe dich, Nandalee. Für mich wirst du immer schön sein. Ganz gleich, ob du den Leib eines Rehs aufbrichst, mich mit blutbespritztem Gesicht anschaust und deine Arme bis zu den Ellenbogen in den Eingeweiden stecken oder du frisch gewaschen einem See entsteigst. Du bist die Eine. Und das wirst du immer sein.«

Sie war so unglaublich erleichtert, suchte nach Worten, und wieder wollte es ihr nicht gelingen, ihre Liebe in Sprache zu kleiden. Gonvalon schien auch nichts zu erwarten. Er nahm den Handspiegel wieder an sich, schlug den großen Spiegel in die Wolldecke ein und löschte die Blendlaternen. »Ich habe ein verborgenes, kleines Tal in den Bergen entdeckt. Es gibt dort ein paar Bäume, eine kleine Quelle und ein paar Felsblöcke, die ganz gutes Rohmaterial für Büsten abgeben. Magst du mir zusehen, wie ich mich in den Pausen als Bildhauer versuche.«

»Den Pausen?«

Gonvalon lächelte anzüglich.

»Du glaubst wirklich, dass du in den Pausen etwas anderes tun wirst, als schwer atmend auf dem Rücken zu liegen, alter Mann?«

Er ging zu Nachtschwinge und zurrte die großen Satteltaschen fest. »Willst du es herausfinden?«

»Andere würden sich vermutlich erst einmal bei der Felsenburg melden. Gewiss erwarten mich Nodon und die übrigen Drachenelfen des Dunklen zu einem Willkommen.«

»Tja, andere sind so entsetzlich langweilig und vorhersehbar«, sagte Gonvalon gedehnt und fügte dann herausfordernd hinzu. »Aber manche verändert das Ritual von Grund auf.«

»Irgendwie fühle ich mich wirklich ganz anders«, sagte sie leise, kniete nieder und wickelte ihre Waffen in das neue Kleid.

»Was hast du vor?« Gonvalon war sichtlich irritiert.

»Als du die Trolle vor mir gerettet hast, hast du mich nackt auf deinem Pegasus reiten lassen. Und das bei bitterem Frost. Ich wollte das immer schon einmal bei angenehmeren Temperaturen wiederholen.«

Breit grinsend ging sie an ihm vorbei. Sternauge trabte ihr entgegen und begrüßte sie schnaubend. Sie tätschelte seine Nüstern. »Ich glaube, wenn ich so auf Nodons kleinem Fest erscheine, wird man noch eine Weile darüber reden.« Sie blickte über die Schulter und genoss Gonvalons Gesichtsausdruck.

Plötzlich öffnete er seinen Gürtel und begann, seinen grauen Waffenrock über die Schultern zu streifen.

»Was wird das?«

»Da du die Gewandfrage für diesen Abend entschieden hast, habe ich wohl keine Wahl, als …«

»Glaubst du wirklich, ich wäre lieber dort als mit dir allein, mein Liebster?«

Gonvalon lächelte schelmisch. »Ich bin nicht davon ausgegangen, dass du länger bleiben würdest, als nötig ist, um einen Skandal zu provozieren. Was bei dieser Abendgarderobe eine Angelegenheit von ein paar Augenblicken wäre. Augenblicke, die ich mir um nichts in der Welt entgehen ließe.«

»Du glaubst wirklich, ich würde …«

Gonvalon nickte sehr ernst. »Aber natürlich. Das passt zu dir. Ich habe keinen Moment gezweifelt.«

»Du meinst, ich …«

Er lachte und schüttelte den Kopf. »Lass uns aufhören mit dem Unsinn. Komm einfach mit mir. Lass uns verschwinden. Wenn sie uns brauchen, werden sie uns finden. Fliehen wir vor der Welt, solange sie uns noch gehen lässt. Schenk dich mir! Mein Herz ist wund vor Sehnsucht nach dir, und nur du kannst es heilen.« Mit diesen Worten sprang er auf den Rücken von Nachtschwinge, griff nach den Zügeln und preschte los. Er blickte nicht zurück, als sei er ganz sicher, dass sie ihm folgen würde. Und er hatte recht. Bei ihm zu sein war alles, was sie wollte.

Mit leichtem Herzen sprang nun auch Nandalee auf den Rücken ihres Pegasus, der Nachtschwinge in wildem Galopp folgte. Er preschte gegen die sanfte Brise, die über die Wiese strich, und bald schon hoben sie ab und glitten mit schwerem Flügelschlag über den Jadegarten gen Osten. Gonvalon liebte sie noch, dachte Nandalee unendlich erleichtert. Das Ritual mit Nachtatem hatte nichts daran geändert.

Sie flog ausgelassen jubelnd in den Himmel. Hinter den schroffen Schatten der Berge zeigte sich ein zarter Streifen silbernen Lichts. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie glücklich.

Die Wolkenstadt

Barnaba stand am Bug des Wolkenschiffes. Unter ihnen zogen tief hängende Wolken, keine zwanzig Schritt links von ihnen erhob sich eine fast senkrechte Wand aus rotem Fels. Wind und Wetter hatten tiefe Wunden in das Gestein geschlagen, in dem sich verkrüppelte Bäume festklammerten.

Barnaba ließ seinen Blick über das Deck des Wolkenschiffes schweifen. Seine Anhänger kauerten um den Baum, der in schwarze Erde gebettet mitten aus dem Rumpf wuchs. Sie beteten zu Nangog. Hin und wieder wagte es einer aufzublicken und die seltsame Kreatur anzugaffen, die neben ihm auf der Reling kauerte: ein Geschöpf, halb Adler, halb Weib. Statt Armen wuchsen weite Schwingen aus ihrem Frauenkörper. Nase und Mund waren zu einem gekrümmten Schnabel verwachsen, das übrige Gesicht war hingegen fast noch menschlich. Die Beine unterhalb der Knie hatten sich in verhornte Vogelbeine verwandelt, die in messerscharfen Krallen endeten. Barnaba hatte die Kreatur davon überzeugen können, ein Tuch um die Lenden zu tragen, um weniger Anstoß unter seinem Gefolge zu erregen. Das Ungeheuer ließ sich von ihm anfassen, aber von niemandem sonst.

Im Bauch des Wolkensammlers hatte er davon geträumt, was auf der Welt geschehen war. Wie die Geschöpfe Nangogs mit Menschen verschmolzen waren und den Grünen Geistern Leiber geboren hatten. Tausende neue Ungeheuer streiften durch die weiten Wälder, und sie hatten hunderterlei Formen angenommen. Sie alle waren vom Hass auf die Eindringlinge in ihre Welt beseelt, allerdings spürten sie auch, wer seinen Weg zur Großen Göttin gefunden hatte. Wehe denen, die den Devanthar nicht abgeschworen hatten! Bei ihrem ersten Besuch hatte die Kreatur einen Wolkenschiffer aus der Takelage gezerrt und in die Tiefe stürzen lassen. Danach war sie für eine Weile verschwunden gewesen. Barnaba hegte keinen Zweifel daran, dass das Vogelweib ein Festmahl am zerschmetterten Kadaver des Unglücklichen abgehalten hatte.

Ein ängstliches Raunen seiner Jünger riss ihn aus seinen Gedanken, und er drehte sich um. Steuerbord schrammten die Spitzen der Masten, die fast waagerecht aus dem Rumpf ragten, beinahe die Felswand. Seit einigen Stunden flogen sie nun schon zwischen himmelhohen Tafelbergen hindurch, die sich wie geborstene Säulen eines riesigen Palastes aus dem weiten Dschungel erhoben. Sie waren so nah, dass Barnaba ganz deutlich eine hundegroße Eidechse die Felswand hinaufklettern sah.

»Wir alle sind in der Hand der Großen Göttin«, sagte er laut. »Fürchtet euch nicht, meine Freunde, unsere neue Heimat ist nah.«

Barnaba sah zurück. Sie hatten schon vor über einer Stunde die Sicht zum zweiten Wolkenschiff verloren, das während des Bebens mit ihnen aus der Goldenen Stadt geflohen war. Der Priester streichelte über die dünne Wurzel, die das Holz der Reling gespalten hatte. Der Schiffsbaum war überall an Bord präsent. Sein Wurzelwerk hatte alle Decks durchdrungen, und seine Äste reichten tief in den Leib des Wolkensammlers Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer hinein. Es war der Baum, der das Schiff und die riesige, tentakelbewehrte Kreatur eins werden ließ. Wie Nervenbahnen verbanden sich Äste und Wurzelwerk mit dem Konstrukt aus totem Holz. Die Lotsen in ihren gläsernen Kanzeln unter dem Rumpf konnten ihre Gedanken durch den Baum an den Wolkensammler übermitteln. Meist jedenfalls. Barnaba bezweifelte, dass es auf ganz Nangog einen zweiten Mann gab, der eine dieser Himmelskreaturen so verstand wie er. Er hatte die Träume von Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer geteilt, war in die verwickelten Gedanken der sieben Gehirne des Wolkensammlers eingetaucht. Er wusste, dass das riesige Geschöpf Gedichte über Schneeflocken ersann, wusste, an welchen Baumriesen er besonders gerne ankerte und teilte die Erinnerung daran, wie der junge Wolkensammler von einem Adler schwer verletzt worden war. Wind vor regenschwerem Horizont im Frühlingsmorgenlicht über dem Grünen Meer mochte die Kreatur, die auf der Reling hockte, nicht. Obwohl sie so grotesk entstellt war, erinnere sie ihn immer noch zu sehr an einen Adler. Sie weckte kämpferische Gefühle in ihm.

Kolja stieg aus einem Luk an Deck und kam zu ihm herüber. Der narbige Krieger ließ seine verbliebene Hand stets auf dem Schwertknauf ruhen, wenn er in die Nähe des Vogelweibs kam. Barnaba wusste, wer der Söldner gewesen war. Der Wolkensammler hatte ihn vor Bluthand, wie er Kolja nannte, gewarnt.

»Veccio flucht so lautstark, dass man ihn im halben Schiff hören kann«, rief Kolja Barnaba entgegen. Er blieb in einigem Abstand stehen und ließ das Vogelweib nicht aus den Augen. »Vorhin wäre seine Kanzel fast von einer Felsnadel abgerissen worden, die plötzlich aus den Wolken aufragte.«

»Sag dem Lotsen, dass wir in weniger als einer halben Stunde unser Ziel erreichen werden. Ich fürchte, das letzte Flugmanöver wird ihn noch einige Nerven kosten.«

Der Söldner sah ihn so überrascht an, dass Barnaba schmunzeln musste. »Ich bin ein Heiliger Mann. Ich weiß um alles, was auf dem Schiff geschieht, so auch, dass Veccio dich hierhergeschickt hat, um diese Auskunft einzuholen.«

Kolja musterte ihn argwöhnisch. Barnaba konnte spüren, dass ihm der hünenhafte Krieger nicht glaubte. Und er hatte völlig recht – es war Wind vor regenschwerem Horizont, der ihn über alles, was an Bord geschah, informierte. Barnaba musste nur über eine der Wurzeln streichen, um mit ihm verbunden zu sein.

»Soll ich Veccio auch das mit dem letzten Flugmanöver ausrichten?«

»Hast du Sorgen, dass er vor Angst in seine Glaskanzel pisst?«

Kolja schüttelte seinen entstellten Kopf. »Das hat er schon.«

»Es liegt bei dir, wie viel du ihm verrätst.«

Der Hüne grunzte und kehrte zurück zu dem Luk, durch das er gekommen war. Er würde durch zehn Decks hinabsteigen, bis zu der gläsernen Lotsenkanzel, die unter dem Rumpf des Schiffes hing. Nur von dort gab es freie Sicht in jede Richtung, außer nach oben.

Es missfiel Kolja sichtlich, den Laufburschen zu spielen. Bluthand war ein passender Name für ihn. In der Wolkenstadt, unter den Himmelspiraten von Tarkon Eisenzunge, würde er sich gewiss wohler fühlen als hier bei ihnen.

Wind vor regenschwerem Horizont verlor ein wenig an Höhe, und das Schiff tauchte in die Wolkenbank. Barnaba war enttäuscht gewesen, als er zum ersten Mal durch Wolken geflogen war. Im Sonnenlicht sahen sie wunderschön aus, als seien sie aus Ziegenkäse geschnitten. Doch durchquerte man sie, verflog aller Zauber, und es blieb nur besonders dichter, kühler Nebel.

Das Vogelweib stieß einen krächzenden Laut aus und trat nervös von einem Bein auf das andere. Spürte sie, wohin die Reise ging? Gab es noch Verstand in diesem Kopf? Barnaba dachte an die Zeit, die er im Leib des Wolkensammlers verbracht hatte. Den langen Traum von dieser neuen Welt, der ihm Antwort auf seinen brennenden Schmerz gegeben hatte. Hier auf Nangog könnte sein Feldzug der Rache, nach dem er sich so sehnte, die Fackel der Freiheit entzünden. Seine Rache bekäme einen übergeordneten Sinn. Sich dafür zu opfern, wäre nicht mehr nur selbstsüchtig, er opferte sich zugleich auch für die Freiheit dieser Welt, die so anders als seine ferne Heimat sein könnte. Barnaba tastete nach dem Dolch an seinem Gürtel. Die Waffe, die er vor der Vernichtung bewahrt hatte und die das Blut des Unsterblichen Aaron vergießen würde.

Voller Zuversicht blickte er in den Nebel. Seine Zukunft lag klar vor ihm. Er würde diese Welt verändern. Es hatte bereits begonnen, doch was bisher geschehen war, war nichts im Vergleich zu dem, was er entfesseln würde, wenn er erst das Traumeis gewann. Nangog war ihm in seinem Traum im Leib des Wolkensammlers erschienen, und sie hatte ihm verheißen, was durch das Traumeis bewegt werden konnte.

Der Nebel lichtete sich. Sie hatten die Wolkendecke durchstoßen und flogen auf eine Felswand zu, in der sich eine gewaltige Öffnung befand, so, als sei sie vom Hammer eines zornigen Gottes getroffen worden. Sie erinnerte Barnaba an ein Tor, groß genug, dass selbst die gewaltigsten der Wolkensammler hindurchfliegen konnten. Doch vielleicht hundert Schritt im Inneren des Tors wogte ein silberner Schleier, der die Sicht tiefer in den Berg hinein versperrte. Bäume und mannshohe Farne wucherten in dieser Öffnung. Ein Schwarm großer, roter Vögel kam ihnen entgegengeflogen, als sie sich dem Loch im Fels näherten.

Das Vogelweib schwang sich in die Luft auf und segelte auf weit ausgebreiteten Schwingen neben dem Wolkensammler. Plötzlich überkamen Barnaba Zweifel. Hatte er sich verschätzt? War der Durchlass wirklich groß genug? Seine Gefolgsleute blickten auf dem Deck kniend zu ihm auf. Der Priester breitete die Arme aus. »Alles wird gut!«, sagte er mit Donnerstimme, sich wohl bewusst, dass er nun auch gegen seine eigene Angst anpredigte. »Wir sind in der Hand Nangogs. Sie führt und schützt uns.«

Das Wolkenschiff war keine hundert Schritt mehr von der Öffnung entfernt. Der aufgedunsene Leib von Wind vor regenschwerem Horizont gab zischende und glucksende Laute von sich. Die Tentakel peitschten nervös in die Luft. Die stärksten der Fangarme tasteten nach der roten Felswand, einige fanden Halt. Sie zerrten das Schiff tiefer in die Höhle hinein, es wurde dunkler, und eine kühle Brise, die feine Wassertröpfchen mit sich trug, schlug ihnen entgegen.

Die Vögel, die im Schiffsbaum lebten, zwitscherten nervös. Nun begann auch Barnaba zu beten. Stumm flehte er die Große Göttin an, sie alle zu schützen. Vom Silberschleier drang nun ein lautes Rauschen zu ihnen. Ein Wasserfall lag hinter dem weiten Loch in der Felswand, und Wind vor regenschwerem Horizont flog geradewegs auf die tosende Gischt zu!

Ein Ruck lief durch das Schiff, als der Leib des Wolkensammlers gegen die gewölbte Decke aus rotem Gestein stieß. Das Schiff scherte nach Steuerbord aus, und mit scharfem Knall brach die Spitze des Steuerbordhauptmastes. Lauter und verzweifelter ertönten die Gebete seiner Gefolgsleute. Tentakel schnellten nach vorn und zerrten sie dem Wasserfall entgegen. Das Prasseln des Wassers war ohrenbetäubend. Der Leib des Wolkensammlers hing wie ein großer Schirm über dem Schiff. Obwohl sich um sie herum ein Getöse erhob, als wolle die Welt zerbrechen, spritzte nur Sprühwasser über das Deck, als sie ganz und gar vom Silberschleier des Wasserfalls eingehüllt wurden.

Plötzlich war das Vogelweib wieder da. Nass und mit zerzaustem Gefieder landete es neben Barnaba auf dem Deck. Er strich ihr über das lange, schwarze Haar. Sie gab wimmernde Laute von sich, drückte aber den Kopf fest gegen seine Hand, als habe sie lange nicht mehr die Berührung einer barmherzigen Hand gespürt. Wer sie in ihrem früheren Leben wohl gewesen war? Noch während er dies dachte, schob sich der Leib des Wolkensammlers vollends durch den Wasserfall, und sie tauchten in eine breite Bahn aus goldenem Licht ein.

Barnaba hielt den Atem an … sie flogen in eine Höhle hinein, die fünf oder sechs Meilen weit sein musste! Es schien, als sei der ganze Tafelberg, dem sie entgegengeflogen waren, von innen ausgehöhlt. Speere aus Licht durchbrachen die Finsternis. Er eilte zur Reling und lehnte sich weit nach vorn, um am Leib von Wind vor regenschwerem Horizont vorbei zur Decke der Höhle blicken zu können. Sie war von Öffnungen, groß wie Stadttore, durchbrochen. Wurzelwerk und dunkelgrüne Ranken wucherten dort. Vor dem Himmel zeichnete sich das Blätterwerk von Bäumen ab. Wahrscheinlich waren die Lichtschächte von oben, wenn jemand den Tafelberg überflog, trotz ihrer Größe kaum auszumachen. Tarkon hatte das vollkommene Versteck gefunden! Nun wunderte es Barnaba nicht mehr, dass der Himmelspirat von den Unsterblichen so lange vergeblich gejagt worden war. Diesen Ort konnte man nur mit Hilfe eines Verräters aufspüren.

Der Priester ahnte, was nun kommen würde. Auf einem breiten Felsvorsprung am gegenüberliegenden Ende der Höhle war eine Siedlung errichtet worden. Holzbaracken und Zelte umringten ein halbes Dutzend steinerner Bauten. Das Einzige, was dort wirklich solide aussah, waren die drei Ankertürme, an denen zwei kleinere Wolkensammler vertäut waren. Schon aus der Ferne konnte Barnaba sehen, dass in der Siedlung helle Aufregung herrschte. Auf den Flachdächern der Steinbauten sammelten sich Bogenschützen, während andere Männer eilends an Bord der Wolkenschiffe gingen. Er hörte, wie sich das Rauschen des Wasserfalls veränderte. Ihr zweites Schiff hatte seinen Weg in die Höhle gefunden. Jetzt erst bemerkte er, dass der Grund der Höhle ganz von einem See eingenommen wurde. Unterhalb der Siedlung gab es Stege, und einige kleine Boote waren auf das Ufer hinaufgezogen worden.

Auf kleinen Terrassen entlang der Höhlenwände wuchsen Bäume, und an einer Stelle waren sogar Reisfelder angelegt worden. Wahrscheinlich ernährte all das nicht einmal Tarkons Männer. Der Piratenfürst würde nicht begeistert sein, wenn Hunderte Gläubige der Großen Göttin in der legendären Wolkenstadt Zuflucht suchten.

Kolja kam aus der Luke in der Mitte des Decks gestiegen. Der Söldner sah sich staunend um, dann eilte er an Barnabas Seite. »Soll ich das Schiff gefechtsbereit machen lassen?«

Der Priester schüttelte den Kopf. »Wir kommen in friedlicher Absicht.«

»Dann hoffe ich mal, dass die Bogenschützen dort hinten das auch wissen.«

»Die Große Göttin beschützt uns. Hab keine Sorge, mein Freund.«

»Ein ordentlicher Schild wäre mir lieber«, murmelte Kolja leise.

»Komm mit mir zum Bug, wir werden den Piratenfürsten empfangen.«

»Das halte ich für keine gute Idee, Priester. Ich war bei der Flotte, die unter der Führung des Unsterblichen Aaron und der Ischkuzaia-Prinzessin Shaya den Piratenfürsten in eine Falle lockte. Ich schätze, dass Tarkon sich noch an mich erinnert. Mein Gesicht vergisst man leider nicht so schnell. Vor allem, wenn man von mir ein Schwert in den Bauch gerammt bekommen und das wie durch ein Wunder überlebt hat.«

Barnaba traute seinen Ohren nicht. »Du hast was?«

»Den Kerl abgestochen«, sagte Kolja ohne das geringste Anzeichen von Reue. »Er hatte versucht, den Unsterblichen Aaron umzubringen, und ich gehörte zur Leibwache Aarons.« Der Hüne zuckte mit den Schultern. »Hab nur meine Pflicht getan.«

Barnaba seufzte. »Gibt es einen Krieg, in dem du nicht dabei gewesen bist?«

»In den letzten zehn Jahren nur wenige.« Kolja grinste ihn an. »Ich bin dann mal wieder unter Deck, bevor mich Tarkon sieht. Wollte nur wissen, ob hier oben alles klar ist.«

Der Priester sah dem Söldner mit gerunzelter Stirn nach. Der Kerl begann sich aufzuspielen, als sei er der Schiffsführer. Nachsehen, ob alles klar ist … Er sollte Kolja Gelegenheit geben, seinen Mut zu kühlen. Barnaba lächelte in sich hinein. Er wusste schon, wo dies sein würde – vorausgesetzt, Tarkon fand den Drusnier nicht.

Immer noch lächelnd ging Barnaba allein zum Bug und beobachtete, wie sich eines der kleinen Wolkenschiffe von seinem Ankerturm löste. »Geht unter Deck«, rief er seinen Jüngern zu. Vielleicht würden die Piraten sie doch mit einem Pfeilhagel empfangen.

Der Wolkensammler, der ihnen entgegenflog, gewann schnell an Höhe. Barnaba sah, wie ein einzelner Mann auf die Reling stieg und zu ihm hinübersah. Bald waren sie in Rufweite.

»Ich biete euch Frieden«, rief Barnaba mit der geübten Stimme eines Predigers. Als Antwort erhielt er nur Gelächter.

Plötzlich wurde der Mann auf der Reling von einem Tentakel seines Schiffs ergriffen, der sich um seinen Leib schlang und ihn über den Abgrund hinweg zu Wind vor regenschwerem Horizont trug. Über Deck löste sich die Umklammerung, und der Krieger landete leicht federnd auf den Planken, keine zehn Schritt von Barnaba entfernt.

»Wir kommen in Frieden«, sagte der Priester entschieden und hob beide Hände, sodass der Pirat sehen konnte, dass er unbewaffnet war.

»Das ist auch besser für euch«, entgegnete der Fremde selbstbewusst. Er hatte eine dunkle, sympathische Stimme. »Ihr seid also der Prediger.«

Barnaba war einigermaßen verblüfft. »Ihr kennt mich?«

»Du bist Barnaba, einst die rechte Hand des Abir Ataš, Hohepriester Arams, der einige sehr unschöne Dinge über mich verbreitet hat. Und ich schätze, du errätst, wer ich bin.« Der Pirat lächelte. Er hatte ein schmales, gut aussehendes Gesicht, das von dunklen Augen beherrscht wurde. Ein rotes Stirnband bändigte sein schulterlanges, ergrauendes Haupthaar. Er beherrschte die Sprache Arams fast ohne Akzent und schien gebildet zu sein, obwohl ihm eine gewisse Wildheit anhaftete. Jetzt erst bemerkte Barnaba, dass sein Gegenüber unbewaffnet war.

»Die Große Göttin hat mich in meinen Träumen auf deine Ankunft hingewiesen, Priester.« Er blickte zu dem mächtigen Wolkensammler hinauf. »Allerdings hat sie einige Kleinigkeiten ausgelassen … etwa, wie du hier erscheinen würdest. Ich gestehe, das Erscheinen dieser Schiffe hat mir und meinen Männern einen gehörigen Schreck eingejagt.«

Mir hat Nangog auch nicht alles offenbart, dachte Barnaba und blickte zu der ärmlichen Siedlung der Piraten. Er hatte sich die Wolkenstadt prächtiger vorgestellt. »Ich nehme an, vor mir steht Tarkon Eisenzunge«, sagte der Prediger ein wenig konsterniert. Dass auch der Pirat ein Vertrauter der Großen Göttin zu sein schien, überraschte ihn. Gewiss, ohne ihren Schutz hätte er niemals so lange überlebt. Aber dass sie ihm Träume und Visionen schickte … Das sollte ihren Priestern vorbehalten sein! Er maßte sich ja auch nicht an, mit der Waffe in der Hand für die Göttin zu streiten. Aber vielleicht war sich Tarkon ja gar nicht bewusst, wie bevorzugt er war. Er musterte den großen, sehnigen Mann abschätzig. Tarkon war bartlos, was ungewöhnlich für einen Krieger war. Welchem Volk er wohl entstammte?

Auch der Piratenfürst taxierte ihn mit seinen schwarzen Augen. »Du bist vernarbt wie ein altes Maultier, Priester. Als ich in meinem Wolkensammler ruhte, wurde ich gänzlich wiederhergestellt. Mir scheint, dein Großer liebt dich nicht.«

»Ich bat ihn, meine Narben behalten zu können«, entgegnete Barnaba gereizt. »Eine jede erinnert mich daran, welche Gräuel noch ungesühnt sind.«

Tarkon wirkte plötzlich ernster. »Hört sich so an, als sei es nicht gut, dich zum Feind zu haben. Lass uns also ganz offen reden. Wir beide stehen auf derselben Seite. Aber ich begreife nicht ganz, warum du hierhergekommen bist. Auch das hat Nangog mir in meinen Träumen nicht verraten. Und sag mir, wofür du kämpfst. Ganz frei heraus und ohne irgendwelchen Phrasen.«

»Ich will den Tyrannen Aaron tot sehen. Und ich will, dass Nangog eine freie Welt wird, auf der die Unsterblichen und selbst die Devanthar keine Macht mehr haben.«

Tarkon packte ihn leidenschaftlich bei den Schultern, zog ihn heran und umarmte ihn, dass Barnaba fast die Luft wegblieb. »Du bist mein Mann, Priester. Das ist auch mein Kampf.«

Barnaba war erleichtert und zugleich auch enttäuscht. Er hatte hier eine Zuflucht für seine Jünger gesucht und einen Verbündeten. Allerdings hatte er einen mächtigeren Mann erwartet als den, der vor ihm stand. Überall wurde erzählt, dass Tarkon jeden Gefangenen vor die Wahl stellte, seinen alten Herrschern abzuschwören und ein freier Mann zu werden oder den Wolkentod zu sterben. Das war wohl auch nur eines der vielen Märchen, die sich um den Himmelspiraten rankten. In der Siedlung auf der Klippe lebten vielleicht fünf- oder sechshundert Menschen. Barnaba hatte darauf gehofft, hier zwei- oder dreitausend Piraten vorzufinden. Eine mächtige Festung, verteidigt von einem ganzen Heer, das sich der Freiheit verschworen hatte.

»Gut, dass wir uns in unseren Zielen einig sind«, sagte der Priester und löste sich aus Tarkons Umarmung. Seine Enttäuschung war ihm anzuhören. »Ich werde dir helfen, hier eine richtig große Gemeinde aufzubauen. Ich muss zunächst noch eine Reise antreten, doch wenn ich wiederkomme, werde ich mich ganz deiner Sache verschreiben. Und mach dir keine Sorgen: Unsere Schiffe haben Korn und Pökelfleisch geladen. Wir versorgen uns selbst. In meinem Gefolge reisen auch sehr viele Frauen. Das ist gut für die Moral. Wenn sich das herumspricht, dann werden mehr Männer von den gekaperten Schiffen zu dir überlaufen. Du wirst sehen, wir werden uns mit der Zeit ein richtiges kleines Königreich aufbauen. Ich bin dein Priester, und du wirst hier herrschen.«

Tarkons Lächeln war anfangs immer breiter geworden, doch bei den letzten Worten verblasste es schlagartig. »Du hast es doch nicht begriffen, Priester. Es kann nicht unser Ziel sein, einen Tyrannen durch einen anderen zu ersetzten. Und jeder Herrscher wird irgendwann zum Tyrannen. Ich will keine Krone, und du kannst mir auch kein Königreich schenken. Es gibt längst ein Reich der Freien, verborgen vor den Unsterblichen. Und ich bin der Schild, der es schützt.«

Barnaba schluckte. Er sah zu der kleinen Siedlung und dann wieder zu Tarkon. Der Piratenfürst hatte offensichtlich den Sinn für die Realitäten verloren. Der Priester nickte ernsthaft. »Der Schild der Freien. Das ist gut.«

»Warum so ironisch?«

Barnaba hob abwehrend die Hände. »So habe ich das nicht gemeint. Bitte entschuldige, wenn es dir so erschien. Ihr habt da eine schöne Stadt gebaut. War sicher schwer, hier in der Höhle, so ganz ohne Mittel.« Er brauchte Tarkon. Er durfte ihn nicht verärgern, auch wenn er ganz offensichtlich irre war.

Der Pirat kniff die Augen zusammen und sah ihn misstrauisch an. »Du nennst das da schon eine Stadt?« Bei seinen Worten nickte er in Richtung der Siedlung. »Das ist ein Dreck. Mehr hat die Bande von Halsabschneidern, die mit mir auf Kaperfahrt geht, nicht zuwege gebracht. Das sind keine Bauern und Handwerker, musst du wissen. Sag mal … dieses Vieh da …« Er deutete auf das Vogelweib, das nicht weit von ihnen auf dem Deck kauerte. »Kann das kämpfen?«

»Sie hat einen Wolkenschiffer aus unserer Takelage gepflückt.« Barnaba ging zu der armen Kreatur und strich ihr sanft über das Haar. Tarkon sollte sehen, dass er Macht über die neuen Geschöpfe Nangogs besaß. Zumindest hoffte Barnaba, dass auch die anderen Kreaturen, die Nangog ihm in seinen Visionen gezeigt hatte, zahm wurden, wenn er auf sie zuging.

Tarkon versuchte sie nun auch zu berühren, aber das Vogelweib schnappte sofort mit dem Schnabel nach ihm. Eilig trat der Pirat zwei Schritte zurück.

Barnaba sprach beruhigend auf sie ein, dann wandte er sich wieder an den Piraten. »Es sieht so aus, als hätte diese Bestie Gefallen an Menschenfleisch gefunden. Sie wird uns sicher helfen. Aber zurück zum Wesentlichen. Wirst du mein Gefolge hier in deiner Höhle aufnehmen und beschützen?«

»Hier?« Tarkon wirkte irritiert. »Ich glaube nicht, dass dies …« Plötzlich weiteten sich seine Augen. Dann begann er zu lachen. »Du weißt es nicht! Sie hat es dir nicht gezeigt, richtig?«

»Wovon redest du?«

»Sie sind alle hohl, die Tafelberge. Alle, an denen du vorübergeflogen bist. Die Säulen der Großen Göttin, sie waren für ihre Kinder geschaffen. Die Kinder, die ihr abschließendes Schöpfungswerk sein sollten. Jene nie vollendeten Leiber, deren Seelen zu den Grünen Geistern wurden. Sie hat uns ihre Säulen geschenkt! Sieben Städte haben wir gegründet und dreiundvierzig Dörfer. Mehr als dreißigtausend haben hier, im verborgenen Refugium der Freien, Zuflucht gefunden. Die Geschichten über die Wolkenstadt habe ich mit Bedacht ausgestreut, um unsere Feinde in die Irre zu führen. Sie werden uns niemals in den Bergen suchen. Dort liegt die wirkliche neue Welt! Eine Welt ohne selbstverliebte Satrapen, fette Handelsherren und grausame Gutsbesitzer. Hier fängt ein jeder ohne Vergangenheit neu an. Alle sind gleich, ob Fürstensohn oder Bettlerkind. Hier zählt nur der Mensch. Und über uns allen wacht Nangog. Hier hat die Erde nicht gebebt. Hier sind keine Schreckenskreaturen wie dieses Vogelweib erschienen, und die Frauen, die hier leben, können Kinder gebären.«

Barnaba war sprachlos. Das war mehr, als er sich je erträumt hatte. Zugleich blieb er misstrauisch. Was er in diesem Berg sah, passte so ganz und gar nicht zu den Geschichten des Piraten. Vielleicht war er doch verrückt. »Warum hast du hier dein Lager aufgeschlagen? Warum nicht bei einer der Städte?«

Tarkon war seine Enttäuschung anzusehen. »Du glaubst mir nicht? Ein Priester ohne Glauben.« Der Pirat schüttelte den Kopf. »Dies hier ist der einzige Berg, in den Wolkensammler hineinfliegen können. Sieh dich um!« Er weitete die Arme. »Siehst du hier einen Ort, an dem man eine Stadt errichten könnte? Die steilen Hänge, der tiefe See. Wo würdest du eine Stadt bauen? Weil ich meine Wolkenschiffe hier im Berg verstecken kann, haben mich die Häscher der Unsterblichen nie gefunden. Es gab Zeiten, da haben mehr als sechzig Schiffe an allen Himmeln nach mir gesucht. Die Zugänge zu den anderen Bergen sind klein. Sie liegen verborgen im Dschungel oder in unzugänglichen Tälern. Du willst eine der Städte sehen? Gehen wir. Die nächste liegt drei Tagesmärsche entfernt. Unsere schönste Stadt liegt sieben Tagesmärsche von hier. Du solltest sie sehen, Priester, sie ist wirklich …«

Barnaba hob abwehrend die Hände. »Ich glaube dir.«

Es war im Augenblick gleichgültig, ob das Reich der Freien nur in Tarkons Kopf existierte oder ob es Wirklichkeit war. Ganz sicher war es ein schöner Traum. Aber Barnaba konnte ihn noch nicht mit dem Piraten teilen. Nicht jetzt! »Ich werde mit diesem Schiff schon morgen deinen Hafen verlassen müssen. Nangog will es so. Ich werde nach etwas suchen, womit wir die Himmel erobern und die Tyrannen endgültig besiegen. Wenn ich es finde, dann werden die Freien sich nicht mehr in Höhlen verstecken müssen. Es wird die Welt verändern! Es wird alle frei machen. Nangog hat mich auserwählt, das Traumeis zu finden.« Barnaba dachte an die Visionen, die er im Leib des Wolkensammlers gehabt hatte, als seine Wunden heilten und die Große Göttin ihm nahe gewesen war. Er hatte eine Ebene aus Eis gesehen, die von Horizont zu Horizont reichte. Sie würden viele Tage über das Eis fliegen, bis sie den Ort erreichten, an dem der größte Schatz Nangogs lag.

»Ich werde ins ewige Eis aufbrechen, Tarkon. Dorthin, wo nachts grüne Lichtbögen über den Himmel tanzen. Es ist ein Ort von strenger Schönheit. Ein Ort für Götter und Geheimnisse.«

Tarkon sah ihn ernst an. »Du willst an einen Ort, an dem Träume zu Eis werden? Das ist nicht klug. Dort wirst du nur eines finden, Priester, den Tod.«

Zu viele Kriege

»Du bist sicher, dass du das schaffen kannst? Es ist eine sehr gefährliche Aufgabe, Lamgi.« Plötzlich überkamen Artax Zweifel, ob er dem schlaksigen Kerl mit dem rasierten Schädel diese Pflicht auferlegen sollte. Lamgi hatte tapfer auf der Ebene von Kush gekämpft und war einer der Scharführer in seiner neuen Leibwache geworden, aber was er nun von ihm verlangte, war im höchsten Maße selbstmörderisch.

Der Bauernkrieger nickte selbstbewusst. »Es heißt, Tarkon stellt jeden Gefangenen vor die Wahl, sich ihm anzuschließen oder den Wolkentod zu sterben. Niemand wird sich wundern, wenn ich mich dafür entscheide zu leben, Herrscher aller Schwarzköpfe.«

»Aber du weißt auch, dass noch nie jemand aus dem Versteck Tarkons geflohen ist. Ich möchte dich nicht überreden …«

»Es gibt immer ein erstes Mal«, entgegnete Lamgi erstaunlich selbstbewusst. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Erhabener.«

»Dein außerordentlicher Mut soll mit einer ebenso außerordentlichen Belohnung geadelt werden. Dir steht ein Wunsch frei, wenn du wiederkehrst, Lamgi. Wenn ich dank dir Tarkon Eisenzunge besiegen kann, wirst du viele Menschen gerettet haben.«

Lamgi verneigte sich demütig. Er bewegte sich erstaunlich gewandt für einen großen, knochigen Mann. »Ich möchte Euch nicht brüskieren, Erwählter, aber wenn Ihr erlaubt, weiß ich schon jetzt, was ich einst sein möchte.«

»Sprich.«

»Macht mich zu einem der Hauptleute unter den Kushiten, wenn ich zurückkehre, Herrscher aller Schwarzköpfe. Es ist mein größter Wunsch, Euch zu dienen und Euch immer nahe zu sein.«

»Dein Wunsch wird dir erfüllt werden, Lamgi. Und ich wünsche dir Glück bei dieser schwierigen Aufgabe. Mögen wir uns bald wiedersehen.«

Der Bauernkrieger verneigte sich und verließ dann das kleine Zelt, das inmitten des Trümmerfelds des Töpferviertels aufgeschlagen stand. Ashot, der die ganze Zeit über schweigend neben dem Eingang gestanden hatte, spuckte aus, nachdem Lamgi verschwunden war. »Ich trau dem Kerl nicht. Ihr solltet ihn nicht in Eure Nähe lassen, Erhabener. Etwas stinkt an dieser Sache.«

»Was hat er verbrochen, dass du ihn so sehr verachtest?«

»Er hat in der Schlacht in Eurem Rücken gestanden, Herr. So wie Narek. Er hätte sehen müssen, wer Narek ermordet hat – aber er behauptet, ihm sei nichts aufgefallen.«

Artax seufzte. »Das ist alles? Du hast selbst in der Schlacht gekämpft. Du weißt, wie es war. Man hat nur Augen für die Feinde und dazu eine verdammte Todesangst. Ich finde es nicht verdächtig, dass er nicht bemerkt hat, wie Narek starb.« Artax spürte einen Kloß im Hals aufsteigen. Es war so viel geschehen, seit er seinen toten Freund nach Belbek zurückgebracht hatte. Er hatte keine Zeit gehabt, um Narek zu trauern. Die Wunde, die sein Tod hinterlassen hatte, hatte nicht heilen können.

»An jenem Tag sind viele tapfere Männer an meiner Seite gefallen«, sagte er bitter. »An die meisten erinnere ich mich auch nicht mehr.«

»Ich mag ihn nicht«, beharrte Ashot. »Er hat so etwas …« Er hob hilflos die Hände. »Es ist, als wäre er nicht da. Er verschwindet trotz seiner auffälligen Gestalt, wenn er unter Menschen ist. Er trinkt nicht, flucht nicht, hat keine Laster. Wenn er auf ein Fest geht, dann kann sich hinterher niemand sicher erinnern, ob er tatsächlich da gewesen ist, weil er mit niemandem geredet hat. Er steht nur in einer schattigen Ecke und sieht zu. Er ist wie ein Geist. So einen Mann könnt Ihr nicht als Hauptmann in Eurer Leibwache gebrauchen, Unsterblicher.«

»So, wie du ihn beschreibst, ist er genau der Richtige für diese Mission.« Artax blickte auf den Tisch voller Tontafeln, die nie weniger wurden, ganz gleich, wie hart er arbeitete. »Seit dem großen Beben sind drei Kornschiffe von Tarkon gekapert worden. Du weißt, dass der Winter Hunger in die sieben Königreiche bringen wird. Ich bin mir mit dem Unsterblichen Labarna, mit Leon, dem Statthalter von Valesia, und Prinz Subai, Statthalter von Ischkuza, einig. Wir müssen herausfinden, wo Tarkon sein Versteck hat, und die Bedrohung durch den Piraten ein für alle Mal beenden. Sie alle suchen nach ihm, und alle werden sie Truppen und Himmelsschiffe zur Verfügung stellen, wenn er gefunden wird.«

Ashot senkte niedergeschlagen das Haupt.

»Was?«, fragte Artax gereizt.

»Ihr führt zu viele Kriege, Herr. Die Ebene von Kush, Bessos und Eleasar, der Kampf gegen die Zapote … Gibt es denn niemals Frieden?«

Artax ging zum Eingang des Zeltes und wies auf die verwüstete Stadt. »Siehst du das, Ashot? Tausende dort unten hungern. Sie haben kein Dach mehr über dem Kopf. Haben alles verloren. Eines der Schiffe, das Tarkon plünderte, sollte Lebensmittel für die Hungernden dieser Stadt bringen. Kann ich das dulden, Ashot? In den Lazaretten gibt es Männer, denen nun die Handvoll Korn fehlt, um einen Tag länger zu leben. Was für ein Herrscher wäre ich, wenn ich das dulden würde?«

Ashot seufzte. »Ich sagte ja nicht, dass es nicht gute Gründe gäbe …«

»Komm, mein Freund. Es ist viel zu tun. Die anderen warten auf uns. Wir sollten nicht so lange der Versammlung fernbleiben. Sonst sieht es noch so aus, als drückten wir uns um unsere Verantwortung.«

Artax verließ das Zelt und schritt über den hölzernen Steg, der über die Ruine des Tempels der kleinen Götter führte. Hier waren vor dem Beben Heiligen aus allen Regionen Daias Altäre errichtet worden. Am Ende des Stegs gab es nur noch einen Weg aus schmalen Planken, die durch das weite Trümmerfeld gelegt waren. Unter dem einzigen, verbliebenen Mauerbogen des Aquädukts in diesem Viertel war eine hölzerne Plattform auf Stelzen errichtet worden. Im Wind, der vom Großen Fluss den Hang des Weltenmunds heraufwehte, flatterten die Banner der Unsterblichen.

Hierher kamen die Bittsteller aus den Ruinen, die Baumeister, die aus allen Ländern Daias herbeigerufen worden waren und sich bemühten, wieder Ordnung in die halb zerstörte Stadt zu bringen. Freiwillige Helfer meldeten sich hier und wurden Trupps zugeteilt, die damit begonnen hatten, systematisch die Trümmer zu beseitigen. Diese Plattform war zum Herzen der Goldenen Stadt geworden. Alle Entscheidungen von Bedeutung wurden hier getroffen.

Beim Näherkommen sah Artax Labarna, den Unsterblichen von Luwien, der alle Männer um sich herum überragte. Der Herrscher trug nur eine schlichte, braune Tunika. Seine Hände waren aufgeschürft. Er war sich nicht zu schade, selbst mit anzupacken, wenn es galt, schwere Gesteinsbrocken zu bewegen. Als er Artax bemerkte, winkte er ihm aufgeregt zu. »Ein Wunder ist geschehen!«

Artax erklomm dicht gefolgt von Ashot die kurze Leiter zur Plattform. Labarna kam ihm entgegen. Der Unsterbliche war über und über mit dem roten Staub geborstener Ziegelsteine bedeckt. »Wir haben noch drei Überlebende gefunden. Beim Platz der tausend Zungen. Sie waren in einem Gewölbe verschüttet. Es gab dort Wasser und ein wenig zu essen. Sie sind völlig abgemagert und zu schwach, um auf den Beinen zu stehen, aber sie leben. Und das dreiundzwanzig Tage nach dem Erdbeben. Es ist unglaublich! Ein Wunder!«

»Das ist gut«, sagte Artax begeistert. »Wirklich gut! Unsere Stadt braucht Wunder. Sie geben allen Kraft und neue Hoffnung.« Aus dem Augenwinkel sah Artax den Galgen hinter dem Aquädukt. Nicht alles, was Labarna tat, gefiel ihm. Gegen Plünderer war der Luwier unbarmherzig. Sie wurden hierhergebracht und gehenkt. Allerdings hatte Artax auch schon erlebt, dass Labarna im Zweifel für den Angeklagten entschied.

Artax sah sich um. Einige Würdenträger und Hauptleute standen auf der Plattform, Schreiber und auch zwei Baumeister, deren Aufgabe es war zu entscheiden, welche Gebäude noch zu retten waren und welche zur Sicherheit eingerissen werden sollten.

»Wo steckt Arcumenna?«

Labarna schnaubte verächtlich. »Er erholt sich von der Last der Verantwortung. Wie immer während der heißesten Tagesstunden. Wenigstens arbeiten seine Männer noch.«

Artax seufzte. Er hatte versucht, alle Unsterblichen dafür zu gewinnen, ein Zeichen zu setzen und den Einwohnern der Goldenen Stadt mit allen Mitteln zu helfen. Nur Labarna war ihm gefolgt. Krieger, die sich vor wenigen Wochen erst auf der Hochebene von Kush als Todfeinde begegnet waren, arbeiteten nun Seite an Seite. Madyas, der Unsterbliche, der über die Ischkuzaia herrschte, hatte seinen Sohn Prinz Subai, seinen Statthalter auf Nangog, angewiesen, ihnen zu helfen. Doch der ritt lieber mit seinen Adlern zur Jagd in die Wälder. Wenn er wenigstens den Daimonen nachstellen würde, über die sie nun immer mehr Berichte erhielten. Mit Schaudern dachte Artax an den Krokodilmann, dessen Leiche man ihm vor drei Tagen gezeigt hatte. Vielleicht konnte er den Prinzen ja bei seinem Stolz packen und ihn überreden, diesem gefährlicheren Wild nachzustellen. Bislang halfen nur einige wenige Männer seiner Leibwache bei den Aufräumarbeiten. Manchmal stolzierte Subai durch den Schutt und gab mehr oder weniger sinnvolle Befehle.

Arcumenna, der Laris von Truria und Statthalter auf Nangog, vertrat den Unsterblichen Ansur von Valesia. Er bemühte sich nach Kräften. Wenn es nicht zu heiß war … Sein Herrscher hatte keinen einzigen der Arbeiter aus Selinunt abgezogen, der Weißen Stadt, die er in seinem Königreich errichten ließ. Sein Traum war es, die schönste Stadt Daias zu erbauen. Iwar, der Unsterbliche von Drusna, verfügte zwar über keine Mittel und Vorräte, aber er hatte fünfhundert kräftige Holzfäller geschickt, unter der Bedingung, dass andere sich darum kümmerten, sie zu verköstigen und zu bezahlen.

Die Zapote lehnten jede Zusammenarbeit mit ihm ab. Wahrscheinlich würde es wegen seines Überfalls auf den Tempel zum Krieg mit ihnen kommen, dachte Artax bitter. Ashot hatte recht: Er war dazu verdammt, von Schlachtfeld zu Schlachtfeld zu ziehen.

Der Statthalter der Schwimmenden Inseln war ebenfalls seinen eigenen Weg gegangen. Er organisierte den Wiederaufbau des Hafens und half dort – ohne sich mit jemandem abzusprechen. Aber immerhin kamen von den Inseln Lebensmittel und Arbeiter.

Labarna trat an seine Seite. Neben dem Luwier fühlte er sich jedes Mal wie ein Zwerg. Labarna war der größte Mann im Heer Muwattas gewesen. Bewaffnet mit einer riesigen Keule, war er in der Schlacht genauso unaufhaltsam wie ein Kriegselefant. Gemeinsam blickten sie über das weite Trümmerfeld, das sich den Hang hinab bis zum Großen Fluss erstreckte. Manchmal ragte ein einzelnes Gebäude inmitten von Ruinen auf. Einige Viertel waren rätselhafterweise fast ganz verschont geblieben. Alle unversehrten Häuser hatten die Statthalter beschlagnahmt, um Obdachlose und Flüchtlinge, die jeden Tag in größerer Zahl in die Ruinenstadt strömten, unterzubringen.

»Ich weiß, was du denkst, Aaron«, sagte Labarna noch voller Begeisterung über das Wunder der Geretteten vom Platz der tausend Zungen. »Es ist übermenschlich. Es sieht so aus, als könnten wir es niemals schaffen. Manchmal bin auch ich verzweifelt. Vor drei Tagen haben wir den Befehl gegeben, nicht mehr nach Verschütteten zu suchen, weil nur noch Tote geborgen worden waren. Es schien unmöglich, dass nach so langer Zeit noch jemand lebte. Aber Wunder geschehen. Wir werden diese Schlacht gemeinsam schlagen, Aaron. Wir werden die Goldene Stadt wieder aufbauen, größer und prächtiger, als sie je zuvor war! Wir werden …«

Labarna stockte. Plötzlich knieten die Männer rings herum nieder und neigten demütig ihre Häupter. Alle Gespräche waren verstummt. Artax spürte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Langsam drehte er sich um. Inmitten der Schutthügel stand eine löwenhäuptige Gestalt.

»Aaron, Unsterblicher Arams, Herrscher aller Schwarzköpfe, meine Brüder und Schwestern schicken mich als Boten«, sprach der Devanthar mit Donnerstimme. »Als Erster unter den Menschen ist Euch die Gnade gewährt, in den Gelben Turm zu kommen. Sie werden Euch erhören, so wie es Euch versprochen ward.«

Leises Raunen ging durch die Versammelten.

Aaron spürte, wie alle zu ihm aufblickten

Mach dir keine Hoffnungen, erklang die Stimme des Devanthar in seinem Kopf. Es ist ein Tribunal, vor das du treten wirst. Išta will dein Blut. Sie erwarten uns. Noch in dieser Stunde!

Unter Göttern

Wie tausend feine Nadeln schnitt der eisige Wind in sein Gesicht. Der Löwenhäuptige hatte Artax durch das Goldene Tor gebracht. Sie waren nur ein paar Schritt auf dem verwunschenen Pfad zwischen den Welten gegangen. Nun standen sie auf einem sturmumtosten Felsvorsprung hoch in den Bergen. Feiner Schnee wurde vor dem Wind hergetrieben. Vor ihnen lag ein steiler Pfad, der noch höher führte. Artax legte den Kopf in den Nacken, und dann sah er ihn, den Turm, von dem er zum ersten Mal als Kind gehört hatte. Die gelbe Trutzburg der Götter! Sie verschmolz mit den dunklen Wolken.

»Komm!«, ermahnte ihn der Löwenhäuptige. »Meine Brüder und Schwestern sind ungeduldig.«

Artax folgte dem Devanthar, der mit eiligen Schritten den steilen, schneebedeckten Pfad erklomm. Bald schon begann Artax zu keuchen. Es war so wie damals auf dem Wolkenschiff, das immer höher in den Himmel gestiegen war. Hechelnd rang er um Luft, atmete schneller und schneller und hatte doch das Gefühl, langsam erdrosselt zu werden.

Bald musste er alle paar Schritte eine kurze Rast einlegen.

Verärgert kam der Löwenhäuptige zurück. »Ihr Menschen seid zu schwach«, grollte er, legte seine große Hand an Artax’ Kehle und ließ sie dann langsam auf dessen Brust hinabgleiten, bis sie über dem Herzen ruhte. Dabei stieß er eine Folge dunkler, grollender Laute aus, die Artax bis ins Mark gingen. Nie zuvor hatte er etwas Vergleichbares gehört. Wenn dies eine Sprache war, dann war sie dazu ersonnen worden, den dunkelsten Abgründen der Seele nachzuspüren.

Plötzlich hatte er ein Gefühl, als zerreiße etwas in seiner Kehle. Ein scharfer Schmerz stieß von seinem Hals hinab in die Lungen, so intensiv, dass ihm Tränen in die Augen traten. Er währte einen Herzschlag lang, dann konnte Artax frei atmen.

»Wird es nun gehen?«, fragte der Löwenhäuptige.

»Ja. Danke.« Artax hatte erwartet, dass ihm das Sprechen schwerfallen würde oder er zumindest eine raue Stimme hätte, doch beides war nicht der Fall. Er konnte wieder frei atmen, das Gefühl zu ersticken, war verflogen.

»Komm«, drängte der Devanthar und eilte erneut voraus.

Der Aufstieg dauerte noch gut eine halbe Stunde, dann erreichten sie einen Torbogen, so hoch wie eine alte Zeder. Mannslange Eiszapfen hingen von der Wölbung hinab und ließen Artax an einen Raubtierschlund denken. Der Wind erzeugte seltsame Laute, als er durch die Eiszapfen strich. Sie erinnerten an das leise Wimmern eines verwundeten Tiers. Hinter dem Tor lag ein fensterloser Saal, der sich in Schatten verlor. Das Echo ihrer Schritte hallte von den fernen Wänden wider.

Der Löwenhäuptige führte ihn zu einer Treppe, deren Stufen so hoch waren, dass es unangenehm war, sie zu ersteigen. Artax kam sich vor wie ein kleines Kind. Dieser Turm war wahrlich nicht für Menschen erbaut worden. Sie verließen die Treppe und durchquerten einen zweiten Saal. Hier war es heller, doch bald wünschte Artax sich, es wäre so dunkel wie unten beim Eingang. Etwas stimmte mit diesem Raum nicht. Sie gingen auf eine große Tür zu, neben der ein gewaltiger Tierschädel an der Wand lehnte. Jedes Mal, wenn sie die Tür fast erreicht hatten, schien sie ein Stück vor ihnen zu fliehen. Verwirrt blickte Artax zurück. Die Treppe lag nur ein kurzes Stück hinter ihnen, aber sie gingen und gingen, ohne voranzukommen. Die Decke wurde von einem weit gespannten Kreuzgewölbe getragen. Zwei Reihen von Säulen untergliederten den Saal. Jedes Mal, wenn er zur Decke sah, hatte er das Gefühl, dass ganz am Rande seines Gesichtsfeldes die Streben des Gewölbes verrutschten. Ein Anblick, der ihm Übelkeit bereitete.

Plötzlich standen sie vor dem Schädel, als hätten sie einen weiten Sprung quer durch den Saal getan. Da war etwas in diesem knöchernen Gefängnis. Etwas bewegte sich in den Schatten. Flüchtig glaubte Artax eine Gestalt zu sehen. Oder war es ein Trugbild? Als er genauer hinsah, waren dort nur noch Schatten.

»Sei nicht zu neugierig«, warnte der Löwenhäuptige. »Es gibt Wissen, das dir für immer deinen Seelenfrieden rauben würde. Es anzustreben ist nicht weise. Und nun folge mir.« Wie von Geisterhand schwang die hohe Tür vor ihnen auf. Vor ihnen lag ein weiterer Saal, durch den Säulen aus Schatten wanderten. Sie erinnerten Artax an die breiten Lichtbahnen, die an sonnigen Tagen durch die schmalen Dachluken in seinen düsteren Thronsaal in Akšu fielen. Doch hier waren Licht und Schatten vertauscht. Der weite Saal war hell, ohne dass es ein einziges Fenster gegeben hatte. Und durch das Licht bewegten sich Schattensäulen, unstet, springend, manchmal flackerten sie sogar und verblassten, um dann urplötzlich an anderer Stelle neu zu erstehen. Die befremdlichen Lichtverhältnisse machten es Artax unmöglich zu sagen, wie groß der Saal war. Auch konnte er nicht einschätzen, wie viele Devanthar sich versammelt hatten. Dreißig? Vierzig? Manche standen in kleinen Gruppen beisammen, andere allein, und immer wieder verschwanden einzelne in den tanzenden Schattensäulen, um binnen eines Herzschlags an anderer Stelle im Saal wieder zu erscheinen.

Kaum dass er die Schwelle der hohen Tür überschritten hatte, erscholl hinter ihm das leise Wimmern, das er schon gehört hatte, als er den Turm betreten hatte. Es war ein Laut, bar jeglicher Hoffnung. Die Stimme des Wahnsinns.

Mit dumpfem Klang schloss sich hinter ihm die Tür, und der Löwenhäuptige erhob an seiner Seite die Stimme: »Es sind alle meine Brüder und Schwestern hier, bis auf eine, Artax, der ich dich zum Unsterblichen Aaron erhoben habe. Wir haben uns versammelt, um über dich zu richten.«

»Er hat gestohlen, was der Schlange gehörte«, kam es zischelnd aus der Dunkelheit. Kurz erhaschte Artax einen Blick auf einen Schlangenleib, der sich um eine graue Säule wand. Mächtige Schwingen wuchsen aus dem Rücken der Kreatur, und geschlitzte Pupillen durchbohrten ihn mit ihrem Hass.

Artax war froh, als die Kreatur wieder von gnädiger Dunkelheit verschlungen wurde.

»Den Frieden des Tempels hat er gebrochen, Priester gemordet und den Auserwählten vom Altar geraubt. Ich verlange, dass sein Herz der Gefiederten Schlange geopfert wird.«

Artax nahm all seinen Mut zusammen, blickte fest auf die Säule aus Dunkelheit, die die Schlange verschlungen hatte, und antwortete: »Wer in den Ring tritt und als Erster die Faust erhebt, dem steht es nicht zu zu jammern, wenn er durch die Faust fällt.«

In einem fernen Winkel des Saals ertönte Gelächter.

»Gut gesprochen, Mensch«, rief eine helle Stimme.

»Volodi aus Drusna, Hauptmann meiner Leibwache, wurde nach der Schlacht auf der Hochebene von Kush entführt, von Männern, die ich für Verbündete gehalten hatte. Vor dem Weißen Tor der Tempelstadt hat man ihm offenbart, dass die Frau, die er liebte, einen grausamen Tod sterben würde, wenn er nicht anerkennen würde, ein Auserwählter zu sein. Er hat nicht freiwillig die Tempelgärten betreten! Die Tempeldiener Zapotes haben sich die Freiheit genommen, mir einen Mann zu stehlen, der sich mir verschworen hatte. Und deshalb habe ich mir die Freiheit genommen, mir zurückzuholen, was mir gehört. Männern, die mit ihrem Leben für mich einstehen, schulde ich nicht weniger als genau das: mein Leben für sie zu wagen. Wenn dies nicht Eure Vorstellungen der Tugenden eines Herrschers sind, dann füge ich mich Eurem Richtspruch. Ich jedoch werde nie anders handeln, als ich es für Volodi getan habe.«

Ein riesiger, schwarzer Bär löste sich aus den Schatten. Eines seiner Augen war blutunterlaufen, seine Schnauze von den Schrammen vieler Kämpfe verunstaltet. Vor Aaron richtete er sich auf die Hinterbeine auf. Der Bär überragte ihn um drei Haupteslängen. »Du bist ein Mann nach meinem Geschmack, Aaron von Aram«, sagte er mit brummiger Bassstimme.

Artax war sich nicht sicher, ob das ein Kompliment war, oder ob es ganz anders zu verstehen war. »So wie du sollten all unsere Unsterblichen sein.«

»Doppelzüngig und intrigant wünschst du dir unsere Herrscher?«, fragte eine wohlmodulierte Stimme. Zwischen den wandernden Schatten trat eine hochgewachsene Frau in einem himmelblauen Kleid, gesäumt von filigranen Silberborten, hervor. Ihr fein geschnittenes Gesicht wurde von schwarzem Haar gerahmt, und schwarze Schwingen ragten über ihren Schultern auf. Išta!

»Worte sind wohlfeil, meine Schwester«, grollte der Löwenhäuptige neben Artax. »Welche Beweise hast du gegen Aaron vorzubringen?«

Išta wandte sich nun an die Versammlung der Göttlichen. »Viele von euch haben mich begleitet, als ich zum Grab der Riesin hinabstieg, um ihre Fesseln zu prüfen. Ihr alle habt den toten Elfen gesehen, der eine Rüstung der Leibwache des Unsterblichen Aaron trug. Doch habt ihr auch die richtigen Schlüsse aus dem gezogen, was ihr gesehen habt?

Es war Aaron, der die Elfen dort hinabgeführt hat. Er hat ihnen den Weg zu Nangog geöffnet. Sie haben seinen Angriff genutzt, um in die verborgenen Tiefen des Tempels hinabzusteigen. Wäre nicht ein ganzes Heer eingefallen, die Jaguarmänner hätten die Elfen vielleicht aufgehalten. Und selbst wenn nicht, hätten unsere Priester meinen Bruder, die Gefiederte Schlange, sofort um Hilfe angerufen. Es hätte nicht verborgen bleiben können, was dort geschieht. Wir wären den Zapote zu Hilfe geeilt, so wie beim letzten Mal, als Elfen es wagten, in den Weltenmund hinabzusteigen.

Aber Aaron hat sie unter seinen Mantel schlüpfen lassen. In seiner Einfalt hat er sich zu ihrem willfährigen Diener gemacht. Dass Nangog fast befreit wurde, dass unsere Städte von Flutwellen, Erdbeben und Feuersbrünsten zerstört wurden. Dass Hunger in unsere Königreiche kommen wird und dass das Gleichgewicht zwischen den drei Welten auf immer gestört wurde, ist die Schuld eines einzigen Mannes, Aarons! Nie zuvor gab es einen Menschen, der uns so großen Schaden zugefügt hat. Ich verlange seinen Tod. Ein langer, grausamer Tod soll es sein. Und viele Menschen sollen Zeugen unseres Urteils sein, auf dass sie gewarnt seien!«

Artax war erschüttert. Er erinnerte sich an die toten Jaguarmänner, die er am Schlangenschlund gesehen hatte. Unter seinen Wachen machten Erzählungen die Runde, dass sich unter Koljas Söldnern ein kleiner Trupp Schwertkämpfer befunden hatte, der die Krieger der Zapote das Fürchten gelehrt hatte. Jene Männer Koljas waren seit der Schlacht, ebenso wie der vernarbte Drusnier, spurlos verschwunden. Sie waren nun unter Kushiten und Zinnernen die geheimen Helden des Kampfes in der Tempelstadt. Niemals wäre es Artax eingefallen, dass Daimonen für ihn gefochten haben könnten. Seine Krieger hatten schon öfter als nur einmal vollbracht, was alle für unmöglich hielten.

»Was sagst du zu diesen Anschuldigungen?«, kläffte ihn ein großer weißer Wolf an.

»Ich bin erschüttert«, sagte er wahrheitsgemäß. »Genau wie ihr erfahre auch ich erst in diesem Augenblick, dass ich von Daimonenkindern getäuscht wurde. Und ich zweifle nicht daran, dass die Worte Ištas wahr sind. Nun fügt sich so manches, was mir rätselhaft geblieben war.«

»Du willst es nicht gewusst haben?«, verhöhnte ihn Išta. »Du hast jahrelang einen Elfen als engsten Vertrauten an deinem Hof geduldet. Einen Mann ohne Bart und mit goldenem Haar unter Hunderten bärtigen, schwarzhaarigen Männern. Willst du uns ernsthaft vorlügen, du hättest nicht bemerkt, wie andersartig er war?«

Artax las in den Gesichtern der Devanthar – sofern es keine undeutbaren Tierfratzen waren –, dass der Kampf um seine Sache verloren war. Išta war letztlich also doch an ihr Ziel gelangt. Sie würde seinen Kopf bekommen. Aber diese Gewissheit schenkte ihm auch Freiheit. Er konnte nicht mehr verlieren, nur noch gewinnen, ganz gleich, was er sagte. Er musste sich keinen Regeln der Höflichkeit mehr unterwerfen.

»Andersartigkeit ist also ein Grund, sofort das Schlimmste zu vermuten?« Er ließ seinen Blick über die versammelten Götter wandern. »Es überrascht mich, dies aus dem Munde jener zu hören, die so großen Wert darauf legen, ihren Geschwistern auf keinen Fall zu gleichen.«

»Zerreißt das Großmaul!«, forderte eine Gestalt, die ganz in lodernde Flammen gehüllt war, von denen jedoch eigentümlicherweise kein Licht ausstrahlte.

»Ja, ich gestehe«, fuhr Artax fort. »Ich war vielleicht arglos. Ich habe meinen Hofmeister Datames nie nach seinem Aussehen beurteilt. Für mich zählte allein seine Arbeit. Und selbst wenn er ein Daimon gewesen ist, so sind seine Verdienste um Aram unleugbar. Er hat die Verwaltung reformiert. Selbst jetzt, da er fort ist, arbeiten meine Schreiber und Beamten immer noch besser als vor seiner Zeit. Ich habe nie erkannt, dass er ein Spitzel war, und dies war auch nicht der Grund, warum ich ihn schließlich von meinem Hof verbannte.« Artax blickte herausfordernd zu Išta. »Im Zelt des Datames wurde ein Mord begangen, so grausam, dass er selbst meine Veteranen erschütterte. Ein junges Mädchen aus den Seidenstädten war das Opfer. Und ein jeder glaubte, Datames sei es gewesen. Ich jedoch weiß es besser. Išta kam als Mörderin in mein Heerlager, um Datames, den sie nicht in seinem Zelt angetroffen hatte, durch diese Bluttat zu vernichten. Und nun, himmlische Herrscherin von Luwien, beantworte mir zwei Fragen. Warum kamst du nicht zu mir, um mir zu sagen, wer sich hinter der Maske des Hofmeisters verbarg? Und wie lange wusstest du schon um sein Geheimnis?«

»Wie kannst du es wagen?«

Der Zorn der Göttin traf Artax wie glühende Lohe. Ganz so, als sei ihr verzehrender Hass greifbar geworden. Er wich einen Schritt vor ihr zurück, senkte aber nicht den Blick. »Soll ich an deiner Stelle antworten, allmächtige Išta? Kleinliche Intrigen waren es, die dich schweigen ließen. Dein Wunsch, mich zu vernichten, wenn ich hier im Gelben Turm vor die Devanthar trete, um euch meinen Traum von einer besseren Welt zu schildern. Dein Wunsch war es, dass meine Visionen unausgesprochen bleiben und ich mich nicht über deinen Sterblichen, Muwatta, erhebe.« Artax wandte sich an all die Gestalten im Licht und im Schatten. »Ihr kennt eure Schwester. Ihr wisst, dass es wahr ist, was ich sage. Meine Schuld ist einzig, den Intrigen einer Göttin nicht gewachsen gewesen zu sein, denn ich bin nur ein Sterblicher, und meinem Charakter entspricht es nicht, einzig auf meinen Vorteil bedacht zu sein.«

»Du …« Išta wollte ihm an die Kehle, doch der Löwenhäuptige und der Bär stellten sich schützend vor ihn.

»Und was sind deine Visionen, Menschensohn?«, fragte eine wunderschöne Frau mit Haaren aus sich windenden Schlangenleibern.

Artax war überrascht, gefragt zu werden. Er hatte fest damit gerechnet, nun der Willkür Ištas ausgeliefert zu sein, doch die Göttin schien auch unter ihren Brüdern und Schwestern nicht nur Freunde zu haben. »Blicke ich auf die kurze Zeit, die ich die Ehre habe, der Unsterbliche Arams zu sein, so habe ich das Gefühl, wir werden belagert. Ich wurde Unsterblicher, weil mein Vorgänger im Himmel über Nangog auf seinem Palastschiff von einer Daimonin angegriffen und ermordet wurde. Ich selbst begegnete ihnen in den Wäldern Nangogs. Heute erfahre ich, dass ich ihnen unwissentlich geholfen habe, Nangog und all unseren Königreichen schweren Schaden zuzufügen. Und mir wird auch noch offenbart, dass mein engster Berater ein Daimon war. Ich fühle mich, als würde ich in einer Festung belagert. Einer Festung, in der es womöglich Verräter innerhalb der eigenen Mauern gibt.« Er blickte bei diesen Worten auf Išta und sah, dass die Göttin vor Wut schäumte. »Ich erfahre, dass zumindest eine von euch um den Verräter wusste, mir aber nichts sagte. Warum? Wie viel Schaden hätte abgewendet werden können, hätte ich früher um die Schlange gewusst, die ich an meinem Busen nährte! Wie viele andere Spitzel wie ihn gibt es? Warum zieht ihr eure Kinder, uns Menschen, nicht ins Vertrauen? Gebt uns Waffen in die Hand, die uns erlauben, Daimonen zu erschlagen, und ihr werdet sehen, auch wir verstehen es zu kämpfen.

Ich denke, ihr alle wisst, dass ich eigentlich nur ein einfacher Bauer bin. Aber selbst ich weiß, wer im Krieg nichts wagt, wer es immer den anderen überlässt, Ort und Zeit der Schlacht zu bestimmen, der wird untergehen. Seien wir nicht länger die Belagerten! Greifen wir an! Nehmen das Schwert in die Hand, drängen die Daimonen in ihre Welt zurück und besetzen alle Pforten, auf dass sie nie wieder zu uns gelangen können.

Ich bin auf der Hochebene von Kush mit einem Heer von Bauern den Kriegern des Unsterblichen Muwatta entgegengetreten. Muwattas Männer waren allesamt ausgesuchte Kämpfer, und sie hatten die besseren Waffen. Dennoch siegte ich. Dies mag uns auch gelingen, wenn wir gegen die Daimonen antreten. Schließen wir unsere Reihen, vergessen wir die kleinlichen Fehden von gestern! Sprechen wir mit einer Stimme! Lasst unsere Heere wie ein riesiges Schwert sein, geführt von einer einzigen Hand, und wir werden siegen!«

»Du bist wahrlich ein Mann nach meinem Geschmack«, brummte der Bär.

»Bitte, Bruder«, insistierte Išta, »vergessen wir über all die schönen Worte nicht, was er getan hat. Er führte die Elfen zu Nangog! Er ist die Wurzel allen Übels, mit dem wir uns herumzuschlagen haben.«

»Sprichst du da nicht eher von dir, Schwester?« Der Löwenhäuptige machte einen Schritt in Richtung der geflügelten Göttin. »War es nicht dein Rat, die Blaue Halle anzugreifen? Und waren die Ereignisse auf Nangog nicht die Antwort auf unsere Tat?«

Auf die Bemerkung folgte Schweigen, doch aus dem Mienenspiel einiger der Devanthar schloss Artax, dass sie noch immer miteinander sprachen, in Gedanken vielleicht oder auf irgendeine andere Art. Wahrscheinlich würden die Götter seine Gefühle als anmaßend empfinden, aber es ärgerte ihn, ausgeschlossen zu sein. In dem, was gerade geschah, spiegelte sich eines der grundsätzlichen Probleme: Die Unsterblichen waren für die Devanthar wie Kinder. Sie hatten nicht teil an den Entscheidungen, die getroffen wurden, sie waren lediglich die Ausführenden. Dennoch wagte er nicht, etwas zu sagen.

Die Devanthar waren einschüchternd, ein jeder von ihnen eine Naturgewalt. Und sie waren so unorganisiert und von unberechenbarer Willkür wie Naturgewalten. Wenn ihre Kräfte nur gebündelt wären, dachte Artax. Sie könnten gewiss alles erreichen! Stattdessen befehdeten sie einander und machten es den Daimonen leicht.

»Meine Brüder und Schwestern streiten darüber, wie die bisherigen Ereignisse zu bewerten sind«, erklärte plötzlich der Löwenhäuptige mit leiser, dunkler Stimme. Hatte der Devanthar in seinen Gedanken gelesen? Artax hatte in den vergangenen Monden viel darüber nachgedacht, was geschehen war. Er räusperte sich. Plötzlich fühlte er sich unbedeutend und klein. Es kostete ihn all seine Willenskraft, überhaupt ein Wort herauszubringen.

»Ich sehe in den Dingen, die geschehen sind, ein Muster.« Er sah zu Boden, um nicht von den bohrenden Blicken der Götter abgelenkt zu sein und klarer seinen Gedanken folgen zu können. »Ich glaube, der Mord an meinem Vorgänger war ein Versuch herauszufinden, wie sterblich wir Unsterblichen sind, und was geschieht, wenn einer von uns unter einem Daimonenschwert fällt. Danach scheinen sie Späher nach Nangog geschickt zu haben. Sie haben die Welt erkundet. Als Nächstes folgten die Katastrophen. Die Ordnung, die wir errichtet haben, ist erschüttert. Unseren Königreichen drohen in diesem Winter Hungersnöte, denn wir sind abhängig vom Korn Nangogs. Vielleicht wird es zu Aufständen der Hungernden kommen.« Artax machte eine kurze Pause, um seinen nächsten Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Sie haben uns auf vielfache Weise geschwächt. Es ist offensichtlich, was folgen wird: die Invasion Nangogs. Alles, was bislang geschah, läuft darauf hinaus.«

Jetzt hob Artax seinen Blick, und was er sah, erschreckte ihn zutiefst. Seine Worte hatten Betroffenheit ausgelöst! Waren die Götter denn so sehr in ihren Intrigenspielen gefangen, dass sie nicht mehr sehen konnten, was vor sich ging? Oder waren sie nur erschrocken über seine Dummheit. Hatte er etwas übersehen? Auch ihm war bewusst, dass sich nicht alle Mosaiksteine in das Bild fügten, das er entworfen hatte. Die Frau, die ihm geholfen hatte, als er erblindet war, musste eine Daimonin gewesen sein. Warum hatte sie das getan? Wenn sie Chaos stiften wollten, war ihnen mit einem blinden Unsterblichen doch eher geholfen.

»Spricht da nicht nur ein ängstliches Herz?«, zischte die Geflügelte Schlange. »Wie weit ist es mit uns gekommen, Brüder und Schwestern, wenn wir nun auf die Phantasien eines ängstlichen Mannes hören? Wissen wir nicht besser, was wirklich geschehen ist? Wir kennen den Grund, warum die Himmelsschlangen ihre Elfen nach Nangog schickten. Wenn wir von nun an Frieden bewahren, dann wird es keine weiteren Kämpfe geben. Bringen wir Ordnung in unser eigenes Haus! Strafen wir diesen Tempelschänder, der es den Elfen erleichtert hat, so viel Unheil zu stiften. Ich verlange sein Herz! Er soll auf dem Altar jenes Tempels sterben, den er entweiht hat!«

»Unsere Schwester hat recht!«, pflichtete ein Devanthar mit Adlerkopf bei. »Hören wir nicht auf ein Hasenherz! Schlimm genug, dass wir uns so weit erniedrigten, ihn hier vor uns sprechen zu lassen. Sein Gestammel erinnert mich an einen Blinden, der versucht, Farben zu beschreiben.«

Artax spürte, wie die Stimmung erneut kippte und sich gegen ihn wandte. Wenn er die Götter jetzt nicht für sich gewann, dann war er ein toter Mann. »Die Invasion hat bereits begonnen!«, sagte er mit fester Stimme.

»Wovon redest du da?«, herrschte ihn der Ebermann an, dem er schon einmal in dem unheimlichen Berg unweit der Kupfermine Um el-Amand begegnet war.

»Davon, was mir vor drei Tagen gezeigt wurde: ein Daimon halb Mann, halb Krokodil. Er hatte die Fischer auf dem Großen Fluss angegriffen, ihre Boote zerfetzt und seine unglücklichen Opfer hinab in die Fluten gezogen. Er war kaum kleiner als Ihr es seid, Göttlicher. Zwei Wochen wurde er gejagt. Und als meine Krieger ihn stellten, hat er fünf von ihnen getötet und sieben weitere schwer verwundet. Jeden Tag gibt es neue Berichte über Daimonen. Ganze Dörfer wurden schon aufgegeben, weil die Menschen Angst haben. Mir wurde von geflügelten Frauen berichtet, die mit Adlerfängen die Bauern auf den Feldern zerreißen, von Hundemännern, lebenden Bäumen und selbst von Toten, die sich wieder aus ihren Gräbern erhoben haben sollen. Ich rede hier nicht über Ängste. Dass die Invasion begonnen hat, ist eine Tatsache!«

Wieder herrschte lange Schweigen, und Artax konnte nur vermuten, dass die Devanthar miteinander in Gedanken sprachen. Auch kam es ihm vor, als würden sie sich in zwei Lager teilen. Es kam Bewegung in die Götter, der Tanz der Schattensäulen wurde schneller, selbst die Wände und die gewölbte Decke über ihm schienen zu zerfließen und sich neu zu formen. Nichts in diesem Raum war von Bestand. Ihre Architektur war genauso launisch und unstet wie die Götter, die sie erschaffen hatten.

»Du wirst nicht sterben«, raunte ihm der Löwenhäuptige zu. »Aber du hast mächtige Feinde, die von nun an nur darauf warten, dass du einen Fehler machst.«

Ein außerordentlich hässlicher Devanthar mit überlangen, muskulösen Armen löste sich aus der Gruppe der Götter und trat vor Artax. »Was brauchst du, um die Daimonen besser bekämpfen zu können?«

»Einigkeit«, antwortete er ohne Zögern. »Alle Unsterblichen sollen sich versammeln. Unsere Fehden müssen beigelegt werden. Wir müssen umeinander wissen, uns verstehen und vertrauen lernen. Wir …« Er stockte. Ihm war nur zu bewusst, dass sich der Unsterbliche der Zapote wohl kaum mit ihm an einen Tisch setzen würde. »Ihr Götter müsst dabei anwesend sein. Alle! Es wird Streit geben, den nur ihr schlichten könnt.«

Der Bär an Artax’ Seite brach in tiefes, dröhnendes Gelächter aus. War es so naiv anzunehmen, dass die Devanthar untereinander Frieden hielten und alle gemeinsam ein Ziel verfolgten?

»Ein solches Treffen will vorbereitet sein«, erhob der adlerköpfige Gott seine Stimme. »Die Unsterblichen werden Zeit brauchen. Und ein Hungerwinter steht vor der Tür. Vor dem Frühling ist keine große Zusammenkunft möglich. Ich unterstütze den Vorschlag Aarons von Aram. Wählen wir den Tag des Opferfestes zu Frühlingsbeginn. Und versammeln wir uns in Selinunt. Bis dahin wird die neue Hauptstadt des Unsterblichen Ansur vollendet sein. Feiern wir ein Fest der Menschen und Götter, um sie einzuweihen. Ein Fest, das der Beginn eines neuen Zeitalters sein wird«, endete er, und in seiner Stimme lag eine Euphorie, die Artax alles vorangegangene Ungemach vergessen ließ.

Er hatte es geschafft! Die Welt würde sich zum Guten verändern.

Russas Blitze

Talawain schritt die Prachtstraße mit den blau geklinkerten Mauern entlang, die auf die große Zikkurat von Isatami zuführte. Dutzende abgerissene Gestalten wie er gingen, auf ihre Stecken gestützt, dem Tempel entgegen.

Der Elf hatte sich die schwarzen Federn des Pilgers an seinen schäbigen Umhang gesteckt. Er gab sich als einer der zahllosen Išta-Pilger aus, die zum großen Heiligtum der Göttin strebten, um für die Heilung einer Krankheit, eine gute Ernte oder einfach eine glückliche Wendung ihres elenden Lebens zu beten. Aber sein Ziel war nicht der prächtige Tempel. Aus den Augenwinkeln musterte er die Häuser, die hinter der blauen Mauer lagen, bis er endlich jenes entdeckte, auf das mit verblassender, roter Farbe das Bild der Göttin auf bröckelnden, weißen Putz gemalt war. Von hier war es nicht mehr weit zu Rowayns Laden. Talawain musste nur noch die nächste Gasse, die nach links abzweigte, nehmen, und nach ein paar Schritten würde er vor dem Geschäft des Knochenschnitzers stehen.

Der Elf sah zum Tempel hinüber. Sich so nahe beim bedeutendsten Išta-Heiligtum Luwiens niederzulassen war schon tollkühn. Er erinnerte sich daran, wie er Rowayn dessen Arglosigkeit vorgehalten hatte, worauf sein Freund in Gelächter ausgebrochen war und ihm vorgehalten hatte, Hofmeister im Palast eines Unsterblichen zu sein wäre durch nichts anderes zu überbieten. Rowayn hatte recht gehabt – es war letztendlich nicht gut gegangen.

Er verließ die breite Prachtstraße und bog in eine Gasse ein, die von kleinen Läden gesäumt wurde. Ihre Auslagen ähnelten sich: Es gab bunte Tontafeln, auf denen Išta abgebildet war, und andere, auf die Segenssprüche geschrieben waren, breitkrempige Strohhüte für Pilger, Sandalen und Ledertaschen sowie allerlei Amulette. Sogar kleine Nachbildungen der Zikkurat konnte Talawain entdecken und Bilder, die den Unsterblichen bei der Heiligen Hochzeit zeigten. Fassungslos blieb der Elf stehen. Wie konnte man Bilder von einem Gott beim Liebesakt verkaufen! Er würde die Menschenkinder niemals ganz verstehen, dachte er verstört.

»Und, schöner Mann, gefällt dir, was du siehst?« Eine junge Frau von vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahren beugte sich über die Auslage und schenkte Talawain ein bezauberndes Lächeln. »Das hier ist der Unsterbliche Muwatta«, sie strich mit der Hand über den nackten Gott, doch Talawain war nicht mehr von dem Bild, sondern von ihren hellgrünen Augen gefesselt. Sie waren mit Ruß umrandet, was sie noch größer und geheimnisvoller aussehen ließ.

»Er feiert die Heilige Hochzeit mit der Barbarenprinzessin Shaya«, erklärte die junge Frau und fuhr in verschwörerischem Ton fort. »Bei den Wilden musst du mit einer Prinzessin kämpfen, bevor du sie zum Weib nehmen kannst. Shaya hat mehr als ein Dutzend ihrer unglücklichen Freier erschlagen. Aber Muwatta konnte sie besiegen. Er hat sie niedergestreckt, mit seinem Gürtel gebunden und hierhergebracht.«

»Direkt zum Tempel?«

Die Verkäuferin lachte. »Natürlich nicht. Ich sagte doch, dass Shaya eine Barbarenprinzessin war. Sie musste erst ins Bad, denn die Wilden waschen sich nie, weißt du.« Sie lächelte keck. »Ich würde wetten, dass du nach einem Bad auch noch besser aussehen würdest.«

»Da halte ich nicht dagegen.« Talawain erwiderte das Lächeln. Die Verkäuferin hatte hohe Wangenknochen und schmale, schön geschwungene Lippen. Ihre Augen standen etwas zu weit auseinander. Auf den ersten Blick war sie keine klassische Schönheit, aber ihr Lächeln und die strahlenden Augen ließen dies schnell vergessen. Sie machte sicher gute Geschäfte.

»Suchst du etwas in meinem Laden oder in meinen Augen, schöner Fremder?«

Talawain räusperte sich verlegen. »Also, ehrlich gesagt, suche ich einen anderen Laden. Mein Bruder war zur Heiligen Hochzeit hier, und er hat bei einem Knochenschnitzer ein Bild der Išta in Auftrag gegeben, das sie mit einem flammenden Schwert zeigen sollte. Es hieß, Anfang des Herbstes wäre die Arbeit vollendet und man könnte …«

»Ich hoffe, dein Bruder hat den Knochenschnitzer nicht angezahlt«, unterbrach die Händlerin ihn.

»Warum?«

»Weil er seine Münzen nie wiedersehen wird.« Sie wies ein Stück die Gasse hinab auf ein Haus, über dessen Fenstern schwarze Rußzungen auf dem Mauerwerk zu sehen waren. »Das war das Geschäft von Zidanza. Er war der einzige Knochenschnitzer in dieser Gasse. Dort gibt es nichts mehr abzuholen, und niemand wird dir die Münzen deines Bruders zurückgeben. Du hast kein Glück, schöner Fremder. Aber ich könnte dir helfen.«

Talawain hörte kaum noch hin. Die Erinnerung an Rowayn beherrschte seine Gedanken. Fast hörte er dessen ausgelassenes Lachen. Er war so sorglos und fröhlich gewesen! Was war nur geschehen? »Wie ist er gestorben?«

»Wenn du Geschichtenerzähler suchst, Fremder, dann geh zum Kornmarkt, da lungern immer welche herum. Ich führe einen Laden.«

Hilflos blickte Talawain auf die Auslage. Mit diesem Plunder konnte er nichts anfangen.

»Das hier ist genau das, was du brauchst«, erklärte die Verkäuferin nun wieder lächelnd und nahm einen kleinen Lederbeutel, der von einer geflochtenen, roten Schnur hing, aus der Auslage und drückte ihn Talawain in die Hand.

»Was ist das?« Er spürte etwas Weiches in dem Beutel.

»Einer der mächtigsten Glücksbringer, den du in der Stadt bekommen kannst. Er hilft auch gegen Zahnfäule, Gicht, das Frühlingsfieber und Schmerzen im Wochenbett.« Ihre Stimme sank zu einem Flüstern. »In dem Beutel ist Erde, auf die die Göttin Išta ihren Fuß gesetzt hat. Heiliger Boden! Streust du diese Erde über einen Acker, wird er im nächsten Jahr doppelt so viele Früchte tragen. Nur die Asche einer Braut der Himmlischen Hochzeit, die verbrannt wird, weil sie unfruchtbar blieb, besitzt noch mehr Zaubermacht.«

Talawain traute seinen Ohren nicht. Dieses Säckchen Dreck sollte Glück bringen? »Und wo werden diese Prinzessinnen verbrannt?«

»Auf einem Feld vor dem Haus des Himmels.« Sie sah ihn misstrauisch an. »Kein normaler Sterblicher weiß, wo das ist. Das kann dir jedes Kind sagen. Von wo kommst du, Fremder, dass dir solche Dinge nicht bekannt sind.«

»Aus Aram.«

»Ach so …« Sie rollte mit ihren wunderschönen Augen, als sei damit alles erklärt, da alle Bewohner Arams entsetzliche Narren waren.

»Was kostet mich dieser Glücksbringer?«

Sie sah ihn abschätzend an. »Eine Silbermünze«, sagte sie schließlich.

Ihm war nicht nach Feilschen zumute. Er griff in seinen Geldbeutel und holte das abgehackte Ende eines Silberbarrens hervor. Ein Stück, das fast so lang und dick wie das oberste Glied seines kleinen Fingers war. »Das muss genügen«, sagte Talawain in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht weiter verhandeln würde.

Die Verkäuferin wog das Silberstück in der Hand. Dann nickte sie. »Du machst ein gutes Geschäft, Fremder aus Aram.«

Talawain ergriff ihre Hand, noch bevor sie das Silber in der Auslage verschwinden lassen konnte. »Und jetzt sagst du mir, was dem Knochenschnitzer geschehen ist. Wenn ich ohne eine gute Geschichte in mein Dorf zurückkehre, dann wird mein Bruder glauben, ich hätte nur sein Geld durchgebracht, statt meine Pflicht zu tun. Die Geschichte ist Teil unseres Geschäfts.«

»Es gibt Dinge, über die man besser nicht spricht, Fremder. Dunkle Dinge, die, wenn man mit Worten an ihnen rührt, noch weiter an Macht gewinnen und einem …«

Talawain hielt ihr mit der Linken den kleinen Lederbeutel hin. »Ich habe ja jetzt einen mächtigen Talisman. Also erzähle, mir wird schon nichts passieren!«

Sie blickte nervös die Gasse hinauf und dann zum Himmel, als fürchte sie, dass jeden Augenblick rächende Geister über sie herfallen könnten. »Zidanza hat die kleinen Götter erzürnt. Er hat immer nur Išta in Knochen geschnitzt. In großer Vollkommenheit! Seine Amulette und Reliefs und kleinen Statuen waren weit über die Grenzen unserer Stadt hinaus bekannt. Er konnte doppelt so viel für seine Arbeit verlangen wie andere Knochenschnitzer. Ein paar Tage vor seinem Tod kam ein reicher Karawanenführer aus Garagum und wollte eine Statue so groß wie seine Hand haben, die Russa, den Blitzeschleuderer, zeigt, einen Berggott aus seiner Heimat. Es gab einen lauten Streit in Zidanzas Werkstatt. Die Fenster standen offen, denn es war ein heißer Sommertag. Ohne zu lauschen, konnte ich bis hierher verstehen, was gesprochen wurde. Der Barbar bestand darauf, das Bildnis Russas zu bekommen. Er behauptete, der Gott selbst habe ihn geschickt, um eines der Wunderwerke des Meisters Zidanza zu holen, das in seinem Tempel einen Ehrenplatz erhalten solle. Der Fremde wollte mit einem faustgroßen Goldklumpen zahlen. Man stelle sich das einmal vor! So viel Gold! Ich hätte keinen Herzschlag gezögert, den Auftrag anzunehmen und alles andere stehen und liegen zu lassen. Nicht so Meister Zidanza. Er hat den Karawanenführer hinausgeworfen und laut verkündet, all seine Kunstfertigkeit gehöre allein Išta. Da hat ihn der Fremde verflucht! Seine Worte konnte ich nicht verstehen. Es muss die Sprache der Barbaren in Garagum gewesen sein, aber der Tonfall war eindeutig.«

Die Händlerin hatte nur im Flüsterton gesprochen. Jetzt blickte sie noch einmal die Straße hinauf. »Drei Tage lang geschah nichts, und ich dachte mir schon, dass Flüche, in denen die Namen anderer Götter ausgesprochen wurden, in der Stadt Ištas keine Macht hätten. Ich irrte mich.« Sie tastete nach einem Knochenamulett der Göttin, das sie um den Hals trug. »In der dritten Nacht nach dem Streit erwachte ich von schrecklichen Schreien. Ich schlafe hier im Laden, musst du wissen. Als ich die Tür aufmache, wurde ich fast geblendet. Ein gleißender, weißer Blitz fuhr aus dem Laden des Zidanza zum Himmel hinauf. Dann flackerten noch weitere Blitze in seinem Laden. Es hat ganz seltsam gerochen. Du kannst gerne die anderen Händler fragen. Alle haben es gesehen! Wir wagten uns erst in Zidanzas Laden, als ein Priester gekommen war.«

Jetzt schloss sich ihre Faust fest um ihr Amulett, und in ihren Augen spiegelte sich ein Grauen, als würde sie die Schrecken jener Nacht ein zweites Mal durchleben. »Dort im Laden war alles mit feinem, öligem Ruß bedeckt – Decke und Wände, die schönen Schnitzarbeiten, sein Werkzeug, einfach alles. Mitten im Raum lagen seine Sandalen. Sie waren ganz versengt und mit sehr feiner, weißer Asche bedeckt. Sein Schmuck lag neben den Schuhen. Der Priester fand auch drei Zähne in der Asche. Das war alles, was von Meister Zidanza geblieben war.« Sie schlug mit der Linken das Zeichen des schützenden Horns. »Statt ein reicher Mann zu werden, hat er seinen eigenen Tod heraufbeschworen.«

»Wann geschah das?«, fragte Talawain, obwohl er sich fast sicher war, welche Antwort er erhalten würde.

»Etwa zu der Zeit, als sich euer Unsterblicher, der Blutkönig, der unschuldige Frauen und Kinder ermorden lässt, auf der Ebene von Kush seinen Sieg gestohlen hat.«

Mit mulmigem Gefühl blickte Talawain über die Häuserdächer hinweg zur Zikkurat. Er war sich sicher, dass dies nicht das Werk irgendeines Berggottes war. Išta hatte Rowayn ermordet, ebenso wie Nyllan in Ugara und Kazumi, die sie in seinem Zelt im Heerlager auf der Hochebene von Kush angetroffen hatte. Sie hatte jeden getötet, der Umgang mit ihm gehabt hatte. Oder war es noch schlimmer? Hatten die Devanthar das Werk der Blauen Halle entdeckt und mit der Jagd auf die Elfenspitzel begonnen?

Talawain griff in seine Geldbörse und drückte der Händlerin ein paar Kupfermünzen in die Hand. »Das war wahrlich eine eindrucksvolle Geschichte. Damit kann ich nach Hause gehen. Aber sag, ist es möglich, einen Blick in Zidanzas Werkstatt zu werfen? Vielleicht hatte er die Arbeit für meinen Bruder ja schon abgeschlossen?«

»Du solltest dieses Haus besser nicht betreten. Ich sagte doch schon, etwas Dunkles ist dort geblieben. Der Geist von Zidanza … Auch wirst du nichts mehr finden. Priester sind gekommen und haben alle vollendeten Werke des Meisters zum höheren Lob der Göttin mit sich genommen. Sie sind an Tempel im ganzen Land verschenkt worden. Türen und Fenster sind mit heiligen Siegeln verschlossen. Wer sie zerbricht, ruft den Zorn der Göttin auf sich herab … Alles, was du dort noch finden kannst, ist dein Unglück.«

Die Worte hallten in ihm nach. Er sollte aufgeben. Nicht fern der Stadt lag ein großer Albenstern. In weniger als einer Stunde könnte er in Sicherheit sein. Wieder sah er zu der Zikkurat. Er war der Einzige, der Shayas Leben vielleicht retten könnte. Aber dazu musste er herausfinden, wo dieses verfluchte Kloster lag. Wenn es einen Hinweis auf das geheimnisumwobene Haus des Himmels gab, dann hier in Isatami, der Stadt der Tempel und Priester. Der Stadt, über die Išta selbst wachte. Aber wie könnte er hier überleben?

»Ich danke dir für deine Hilfe«, sagte er der Händlerin höflich.

»Meidet dieses Haus, Fremder!«, ermahnte sie ihn noch einmal. »Es ist ein verfluchter Ort. Wir alle hier leiden darunter, denn diese Gasse wird gemieden, seit Zidanza auf so ungewöhnliche Weise starb. Es kommen viel weniger Kunden. Wer es sich leisten kann, gibt seinen Laden auf und eröffnet ihn anderswo in der Stadt neu.«

»Tut mir leid«, murmelte Talawain und ging davon. Er hatte sich schon viel zu lange und intensiv mit der jungen Frau unterhalten. Sie würde ihn so schnell nicht vergessen, und das war genau das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt hatte. Er musste unauffällig bleiben.

Langsam schlenderte er an dem Haus vorbei, in dem Rowayn gestorben war. An Türen und Fenstern waren Siegel aus getrocknetem Lehm angebracht. Es war reine Intuition, dass er sein Verborgenes Auge öffnete. Klug war es nicht. Jeder Zauber, den er wob, veränderte das magische Netz geringfügig. Es war, als werfe man einen Stein in einen See, über den eine leichte Brise wehte. Zwischen den sanften Wellen fielen die anderen Wellen, die vom Aufschlagpunkt des Steines davoneilten, kaum auf. Doch wer auf der Lauer lag, würde sie bemerken.

Die Siegel erstrahlten in einem matten, goldenen Licht. Talawain sah nicht mehr hin. Er ging auf der Straße weiter und hoffte, nicht aufgefallen zu sein. Hier waren nicht nur Priester am Werk gewesen. Išta selbst oder ein anderer Devanthar musste diesen Zauber gewoben haben, dessen Kraftlinien zur Zikkurat hin liefen. Hätte er eines der Siegel zerbrochen, wäre das im Tempel bemerkt worden. Išta hatte ihm eine Falle gestellt.

»Das Meer verbirgt alle Geheimnisse«, hatte ihm Rowayn einst zugeraunt. Was das bedeutete, mochte er in diesem Haus erfahren oder auch nicht. Ganz sicher lieferte er sich seinen Feinden aus, wenn er hineinzugelangen versuchte.

Alles, was du dort noch finden kannst, ist dein Unglück, waren die Worte der Händlerin gewesen. Talawain bog in eine andere Gasse. Er hatte alle Hoffnungen darauf gesetzt, Rowayn zu treffen. Nun gab es nur noch Hoffnung für Shaya, wenn er einen geschwätzigen Priester fand, der ihm verriet, wo das Haus des Himmels zu finden war. Vermutlich wäre es leichter, einen sprechenden Hund zu finden, dachte Talawain niedergeschlagen. Aber er würde nicht aufgeben!

Glamirs Geheimnis

Galar spürte, wie an der dünnen Signalleine gezogen wurde. Er fluchte leise. Er hatte zu wenig Zeit gehabt.

Zwei Wochen hatte er gebraucht, um sich von seiner Verletzung so weit zu erholen, dass er wieder in den Fassanzug steigen konnte. Seither war er viele Male hinabgetaucht. Sie hatten Glück gehabt, dass der Herbstanfang in den Bergen überraschend trocken geblieben war. Der Pegelstand im Meer der schwarzen Schnecken war nur langsam gestiegen, aber schon als er in den Brunnen hinabgetaucht war, hatte das Wasser nur noch wenige Zoll unter der großen Kupferluke gestanden. Bald würde der einzige Zugang zu Glamirs Turm endgültig verschlossen werden.

Galar beugte sich vor und hielt den Magnetstein dicht über den Boden, um jede Unze des kostbaren Metalls einzusammeln. Die große Smaragdspinne, die ihm mit ihren Dornbeinen geholfen hatte, die Metallwand zu bearbeiten, spürte, dass er fortwollte, und kroch aus der Nische im unterseeischen Felsgestein hinaus zum Steilhang. Der Zwerg griff einen letzten langen Metallspan, verstaute ihn in dem kleinen Korb am Gürtel seines Fassanzugs und trat ebenfalls aus der Nische. Drei kurze, ruckartige Züge an der Signalleine waren das Zeichen, dass er bereit war, hochgezogen zu werden.

Die Spinne beobachtete ihn aus ihren grün schillernden Augen. Galar wusste nicht, warum ihn die Ungeheuer aus der Tiefe verschonten. Für alle anderen Zwerge, die in den Brunnen hinabstiegen, war jeder Tauchgang nach wie vor gefährlich. Nur für ihn nicht. Die Spinnen hatten ihm in den letzten zehn Tagen sogar geholfen, an der rätselhaften Metallwand zu arbeiten. Kurze Zeit hatte Galar sich der trügerischen Hoffnung hingegeben, dass es ihm vielleicht gelingen mochte, ein Loch durch die Wand zu brechen und zu sehen, was sich dahinter verbarg. Aber sie war zu dick, ganz so, wie Amalaswintha es gesagt hatte. Obwohl damit bisher all ihre Voraussagen über die Metallwand eingetroffen waren, wollte Galar einfach nicht glauben, dass hinter der Wand nichts als taubes Gestein war. Niemand errichtete ein solches Bollwerk, um dahinter nichts zu verstecken!

Die Kette an seinem Fassanzug straffte sich, und er wurde nach oben gezogen. Galar biss in den Hebel, der das Ventil seitlich am Fass öffnete, und ließ etwas Luft ab. Sofort spürte er, wie der Druck im Fassanzug nachließ. Er würde die Zeit, die sie im Turm gefangen waren, nutzen, um gemeinsam mit Nyr einen neuen Fassanzug zu bauen. Es gab noch viele Möglichkeiten, dieses klobige Ungetüm zu verbessern.

Galar beugte sich vor. Die Scheibe im Fass gab ein zu eingeschränktes Sichtfeld. Auch das würde er verbessern. Flüchtig sah er noch die Spinne, die von unstetem, grünem Licht umspielt wurde. Sie blieb bei der Nische im Fels, und Galar hatte das Gefühl, dass sie ihm nachblickte. Mochten sie ihn, weil er Drachen getötet hatte? Was unterschied ihn sonst von den anderen Zwergen Glamirs? Dieses Geheimnis würde er wohl nie lüften. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis er endlich durch die Luke in der gewölbten Decke über dem Brunnen gezogen wurde. Das Wasser stand nur noch zwei Fingerbreit unter der Mauerkante – es war während seines Tauchgangs noch einmal gestiegen! Noch als er in seinem schweren Fassanzug am Kranarm über dem Boden schwebte, schoben drei Zwerge das Kupferluk über die Öffnung und begannen, es mit fingerdicken Schrauben zu verschließen.

Dann wurde Galar abgesetzt. Er legte seine Arme an, die in Lederwulsten steckten, die seitlich aus dem Fass ragten. So konnten die Arbeiter, die den Verschluss seines Tauchanzugs lösten, besser an ihn heran. Jedes Mal genoss Galar den Augenblick, wieder frische Luft atmen zu können. Selbst die nach Tang, verfaultem Fisch und dem Schweiß viel zu lange nicht gewaschener Kleidung stinkende Luft im Turm war eine Wohltat im Vergleich zu dem Odem, der den Fassanzug erfüllte. Kaum dass der Deckel abgehoben wurde, klopfte Glamir mit seiner Krücke gegen das Fass. »Hast auch schon mal mehr hochgebracht, Kleiner.« Der alte Schmied hatte bereits den Magnetstein und den Korb mit den Metallsplittern an sich genommen.

Galar war versucht, ihn anzuschnauzen und ihn darauf hinzuweisen, dass allein dieser Tauchgang dreimal so viel von dem kostbaren Metall gebracht hatte, wie Glamir und seine Männer in mehr als einem Jahr hochgeholt hatten. Aber er war zu müde zum Streiten. Wie nach jedem Tauchgang pochte ein stechender Schmerz hinter seinen Schläfen. Sein Mund war erfüllt vom widerlichen Geschmack des elastischen Harzes, aus dem sein Atemschlauch bestand. Willfährig ließ sich Galar aus dem Fass heben und nickte dankbar, als ihm einer von Glamirs Männern einen Humpen Bier reichte. Galar leerte ihn in einem einzigen Zug.

»Du hast gut gearbeitet, Junge«, erklärte Glamir in aufgeräumter Stimmung. »Hast du die Kraft, mich auf einen kleinen Spaziergang zu begleiten? Ich würde dir gerne etwas zeigen. Du hast es dir wirklich verdient.«

Galar erhob sich müde, er hätte gerne noch ein Bier getrunken, aber Glamir war launisch. Er mochte es sich schon im nächsten Augenblick anders überlegen. Seit über drei Wochen wartete Galar darauf, dass der alte Schmied ihm endlich verriet, was er mit dem Metall aus dem Brunnen plante. Alles in allem war Glamir ein wenig umgänglicher geworden. Er speiste nun oft zusammen mit Amalaswintha, und nur die Alben wussten, was die beiden noch miteinander taten. Hornbori behauptete, die Zwergin sei Glamirs Geliebte geworden, aber Galar konnte sich nicht vorstellen, dass dieses eingebildete Weibsbild im Bett mit einem Krüppel lag.

Ganz ignorieren sollte er Hornboris Ausbrüche aber nicht. Der Wortefurzer zeigte ernste Anzeichen von Eifersucht. Er würde ihm demnächst einmal den Kopf zurechtrücken, damit es nicht noch zu einem Unglück kam. Hier in seinem Turm war Glamir der unumschränkte Herrscher, und gegen ihn aufzubegehren konnte nicht gut enden. Es sei denn, der Alte trieb es zu weit mit Amalaswintha. Auch seine eigenen Männer schätzten es nicht, dass der Schmied mehr und mehr Zeit mit der Zwergin verbrachte. Eine einzige Frau, eingesperrt mit siebenundvierzig Zwergen in einem Turm, den sie nun auf etliche Wochen nicht verlassen konnten, das würde nicht gutgehen, wenn nur einer Spaß mit dem Weib hatte und alle anderen nicht. Galar wunderte sich, dass das nicht auch Glamir begriff.

Noch immer erschöpft, folgte er dem Schmied, der schwer auf seine Krücke gestützt voraushinkte. Der Alte führte ihn über enge Treppen und durch Tunnel hinauf zu den verborgenen Kammern, die tief in das Felsgestein getrieben waren. In diesem Abschnitt des Turms war Galar noch nie gewesen. Schwere Türen, die meist auch noch bewacht wurden, versperrten den Weg. Doch heute trafen sie auf niemanden. Sie gingen schweigend. Nur das Klacken der Krücke und ein gelegentlicher Schnaufer Glamirs störten die Stille.

Endlich erreichten sie eine mit breiten Eisenbändern beschlagene Eichentür, die in ihrer Mitte drei nebeneinanderliegende Schlüssellöcher besaß. Glamir löste den schweren Schlüsselbund von seinem Gürtel. Als er die Schlüssel in den Schlössern drehte, war scharfes, metallisches Klacken und das leise Geräusch gut geschmierter Zahnräder zu hören. Galar trat ein wenig näher. Er kannte sich mit Schlössern gut aus. Gern hätte er sein Ohr auf das Eichenholz gelegt, um dem verborgenen Mechanismus zu lauschen, den der Alte mit dem Drehen der Schlüssel in Gang gesetzt hatte. Zuletzt vernahm er ein leises, schleifendes Geräusch, als würden schwere Sperrriegel seitlich ins Felsgestein zurückweichen.

»Ist ein feines Schloss. Hab lange dran getüftelt«, erklärte Glamir mit wichtigtuerischem Lächeln und zog die Schlüssel ab. »Diese Kammer birgt das größte Geheimnis meines Turms. Es ist eine Entdeckung, die den Zwergenvölkern Freiheit von den Tyrannen am Himmel schenken wird … Obwohl ich mir sicher bin, dass du es nicht einmal begreifen wirst, wenn du direkt davorstehst.« Er lachte spöttisch und drehte sich zu Galar um. »Schluck nicht deinen Ärger. Ich weiß genau, dass du mich für ein altes Arschloch hältst, und allein deine Begierde zu erfahren, was hier im Turm wirklich vor sich geht, deinem lockeren Maul Zügel anlegt.«

»Quatschen wir nicht, gehen wir endlich hinein«, entgegnete Galar. Er würde die Überheblichkeit des Alten tatsächlich nicht mehr lange ertragen können. Besser, sie brachten es schnell hinter sich.

Glamir stieß die Tür auf. Eine einzelne Öllampe brannte auf einem Tisch, vermochte die Dunkelheit aber nicht zu vertreiben. Neben dem Tisch waren zwei Windenarmbrüste auf massiven, hölzernen Dreibeinen aufgebockt worden. Die Waffen wiesen in die Dunkelheit.

»Ich weiß, dass dir Amalaswintha von diesem Tunnel erzählt hat, Galar, du musst dir also nicht die Mühe machen, überrascht zu tun. Die Überraschung wird sein, was unsere kleine Hexe nicht weiß. Das hier ist ein Schießstand.«

Galar war wenig beeindruckt. Dass er auf einem Schießstand war, hatte er sich schon gedacht, kaum dass er die Armbrüste gesehen hatte.

Glamir schien zu bemerken, dass seine Offenbarung nicht den gewünschten Effekt hatte. Er nahm die Öllampe vom Tisch und gab sie Galar. »Geh mal ein bisschen voraus. Ich lade inzwischen die beiden Armbrüste. Ich verspreche dir, du wirst zutiefst von dem beeindruckt sein, was du siehst.«

Galar gefiel der Gedanke gar nicht, vor zwei Armbrüsten herumzulaufen, die gerade geladen wurden. Ein Unfall auf einem Schießstand … So etwas konnte passieren. War das der zweite Versuch, ihn loszuwerden, nachdem er den Unfall bei seinem Tauchgang überlebt hatte? Mit der Öllampe in der Hand wäre er in dem langen Tunnel ein unübersehbares Ziel. Und eine fest auf ein Dreibein montierte Armbrust konnte auch ein Einarmiger ohne Schwierigkeiten bedienen.

»Haben wir ein Problem?«, fragte Glamir.

Der Schmied wusste mit Sicherheit ganz genau, was jetzt in ihm vorging, dachte Galar. Und ganz sicher genoss er es. Galar entschied, lieber zu verrecken, als wie ein Feigling dazustehen. »Derjenige von uns, der ein Problem damit hat, ein bisschen spazieren zu gehen, bin ganz sicher nicht ich.« Mit diesen Worten nahm er die Lampe und ging tiefer in den Tunnel hinein. Er war nur etwa vier Schritt breit, aber wenn stimmte, was Amalaswintha behauptet hatte, dann ersteckte er sich über etwa eine Meile. Was hatte sie noch gesagt? Er sei pfeilgerade. Sie war wirklich gut mit ihren Vorhersagen.

Hinter sich hörte Galar das metallische Klicken der Winde, mit der eine der beiden Armbrüste gespannt wurde. Ein Geräusch, das ihm die Haare im Nacken zu Berge stehen ließ. Ob Glamir ein guter Schütze war?

Galar war versucht, ein wenig schneller zu gehen. Aber in dem engen Tunnel würde das wenig nutzen. Er war ein erstklassiges Ziel! Zu seiner Linken entdeckte er ein Fass und noch eines und noch eines … Was war das? Sie waren in einer Reihe hintereinander aufgestellt. An der Frontseite des vorderen Fasses entdeckte er ein Loch in einer Fassdaube. Das Holz am Rand des Lochs war nicht gesplittert. Er wollte an dem Fass rucken, um es sich näher anzusehen, aber es rührte sich nicht vom Fleck.

»Sie sind mit Abraum aus den Tunneln gefüllt«, rief Glamir hinter ihm. Im nächsten Augenblick hörte das Klicken der Winde auf. Eine der Armbrüste war gespannt.

Galar stellte sich vor, wie der alte Schmied jetzt den Bolzen auflegte und die Waffe ausrichtete. Kalter Schweiß rann ihm den Rücken hinab. Er verfluchte seinen Stolz. Er hätte nicht vor den Armbrüsten herumlaufen müssen. Wie schwer wäre es gewesen, irgendeine fadenscheinige Ausrede zu finden? Er blickte zurück. Glamir hatte kein zweites Licht entzündet und war nicht zu sehen.

Wieder war das Klicken einer Winde zu hören. Jetzt lud der Schmied also die zweite Waffe. Er würde zurückgehen, entschied Galar. Ganz langsam, ohne das geringste Anzeichen von Eile zu zeigen! Er zwang sich dazu zu schlendern, als ginge er über den großen Waffenmarkt, der früher immer zu Beginn des Winters in der Marmorhalle der Tiefen Stadt abgehalten worden war. Meisterschmiede von nah und fern hatten den Markt besucht und ihre besten Arbeiten feilgeboten. Galar erging sich ganz in seinen Erinnerungen.

»Stell die Lampe auf das vorderste der Fässer und bleib in einer Linie mit ihr, wenn du zurückkommst«, hallte Glamirs unfreundliche Stimme durch die Dunkelheit.

Was sollte das nun wieder? Galar stellte die Lampe ab, ganz Gefangener seines Wunsches, kein Feigling zu sein.

»Komm schon! Beeil dich! Ich bin ja selbst ohne Krücke noch schneller als du!«

Galar dachte nicht daran, sich hetzen zu lassen. Jetzt ging er erst recht langsam.

Das Klicken der zweiten Armbrust verstummte. Ein leises Knirschen erklang, als würde die schwere Waffe ausgerichtet. Ein zweites Licht flammte auf. Es gab also doch noch mehr Lampen. Deutlich erkannte Galar nun die Silhouette des Schmiedes, der an einem der Dreibeine lehnte. »Los, nimm die Beine in die Hand.«

Galar wurde noch etwas langsamer und störte sich nicht an den Flüchen, die folgten. Endlich erreichte er den Schmied.

»Geh zur linken Armbrust«, kommandierte der alte Schmied. »Ich habe sie einen Zoll weit zur Seite gerückt. Verändere bloß nicht die Ausrichtung! Alles ist perfekt vorbereitet. Du wirst dicht neben dem ersten Loch ins Fass treffen. Der rote Bolzen auf der Führungsschiene trägt eine Spitze aus Spinnenstahl, meiner hier eine normale. Und nun zieh den Auslöser. Du wirst das vorderste Fass treffen.«

Galar peilte über die Führungsschiene für den Bolzen. Deutlich konnte er die Öllampe auf dem ersten Fass sehen. Er verzichtete auf Fragen, wohl wissend, dass Glamir ohnehin nur antwortete, wenn es ihm in den Kram passte.

Surrend entspannte sich der Stahlbogen der Armbrust. Galar hörte den Bolzen einschlagen. Es folgte ein eigenartiges, lang anhaltendes Geräusch, das er nicht zuordnen konnte. Glamir schoss indessen auch seinen Bolzen ab. Er hatte nicht auf die Fässer gezielt. Galar hatte keine Ahnung, worauf sonst.

»Und nun wandern wir«, forderte der Schmied ihn gut gelaunt auf. Es war unübersehbar, wie sehr er seine Spielchen genoss. »Beide Bolzen waren exakt gleich schwer. Die Spannung der Waffen war gleich. Ihre Reichweite beträgt etwas mehr als zweihundertfünfzig Schritt.«

Der Schmied nahm die zweite Öllampe und hinkte auf seine Krücke gestützt los.

»Und?«, fragte Galar reichlich entnervt. »Was sagt mir das?«

»Nur die Ruhe, Junge. Noch zweihundertfünfzig Schritt, und die Antworten liegen buchstäblich vor dir.«

Galar griff sich unterwegs die Öllampe, die er auf dem Fass abgestellt hatte. Ihr Weg zog sich endlos, und der verfluchte Alte brachte die Zähne nicht mehr auseinander. Schließlich erreichten sie das Ende der Fassreihe.

Glamir fand seinen Bolzen. Er lag auf dem blanken Felsboden. Nervös schwenkte er seine Lampe hin und her. »Etwas Spiel gibt es immer«, murmelte er. »Das hat nichts zu bedeuten. Das … ah, da! Da ist er! Siehst du ihn dort vorne. Noch ein Stück voraus. Da liegt der rote Bolzen!«

Galar traute seinen Augen nicht. Die rote Farbe war fast vollständige abgeschliffen, die hölzernen Finnen, die den Flug stabilisieren sollten, waren ganz verschwunden. Galar hob den Bolzen auf und betrachtete ihn von allen Seiten.

»Es ist der, den du eben abgeschossen hast«, erklärte der Schmied triumphierend.

Das war unmöglich, dachte Galar. Er ging zurück zum letzten Fass. Die mittlere Daube war an zwei Stellen zersplittert.

»Er ging durch all die Fässer, Junge! Es ist so. Bist du dir darüber im Klaren, was das bedeutet?«

Galar drehte das Geschoss in den Händen. Auf dem metallenen Bolzenkopf zeigte sich keine Schramme. Vorsichtig tastete er über die Spitze. Obwohl er sie kaum berührt hatte, rann Blut seinen Finger hinab.

»Ist immer noch übel scharf, was? Sie durchdringen alles, Galar. Ich hab es dutzendfach versucht. Nichts hält sie auf. Und sie werden dabei nicht einmal langsamer. Sie fliegen genauso weit wie ein Bolzen, der einfach nur Luft zerteilt.« Mit jedem Wort wurde die Stimme des Alten schriller. »Du begreifst, was das bedeutet?«

»Das sind Drachentöterbolzen«, sagte Galar aufgewühlt. Hätten sie solche Pfeile bei der Verteidigung der Tiefen Stadt gehabt …

»Du kannst mit einer einfachen Armbrust ein Loch in das Hirn einer Himmelsschlange schießen. Damit holen wir die Götterdrachen vom Himmel! Du bist der erfahrene Drachenjäger, und ich liefere dir die Geschosse, Galar. Was du an Metall heraufgeholt hast, reicht für dreihundert Armbrustbolzen und mindestens dreißig Speerspitzen, falls wir auch Speerschleudern bauen wollen.«

Galar ließ den Bolzen fallen und schloss den Alten in die Arme. Er war den Tränen nahe. Er hatte nicht geglaubt, dass der Untergang der Tiefen Stadt jemals gerächt werden würde. »Gemeinsam werden wir die geflügelten Tyrannen vom Himmel fegen. Wir brauchen nur eine Gelegenheit, bei der sie alle an einem Ort versammelt sind und bei der wir in Waffen erscheinen, ohne dass sie etwas ahnen. Wir müssen uns ihnen als Söldner anbieten.« Galar konnte es förmlich vor sich sehen, wie die Himmelsschlangen von den Bolzen durchlöchert wurden, wie sie auf die Erde hinabstürzten, die dünnen Knochen in ihren Flügeln splitterten und sie im Todeskampf zuckten. »Wir werden unsere Toten rächen!«

Erinnerungen an eine verlorene Kindheit

»Wenn ich an meine Mutter zurückdenke, dann gibt es ein Bild, das mehr als alle anderen meine Erinnerungen beherrscht. Noch heute vermag ich sie mit zwei Fächern in der Abendsonne vor goldenen Felsen tanzen sehen, wenn ich die Augen schließe. Sie hatte dem Schwert abgeschworen, doch nicht dem Schwerttanz, den Gonvalon, mein Vater, sie einst gelehrt hatte. Voller Anmut waren ihre Bewegungen, und ich erschreckte mich jedes Mal, wenn sich mit lautem Geräusch die Fächer öffneten, auf die kunstvoll ein schwarzer Drache gemalt war.

Ganz gleich, was man über sie erzählt, sie hat den Dunklen niemals verraten. Und ebenso wenig Gonvalon. Ich weiß es, weil ich es in ihren Augen gelesen habe, wenn sie von meinem Vater erzählte. Von jenem halben Jahr, in dem sie glücklich gewesen waren. Als sie gemeinsam auf Sternauge und Nachtschwinge in den Himmel ritten und die verborgensten Winkel des Jadegartens erkundeten. Ihre Stimme veränderte sich, wann immer sie von dieser Zeit sprach. Sie verlor ihre Härte, ja, manchmal erschien es mir sogar, als würde sie dann jünger werden. Ich war damals ein Kind. Die Alben allein wissen, wie sehr meine Wünsche meine Erinnerungen färbten.

Wie oft sehne ich mich danach, ich könnte zurück in jene Tage, als die Welt noch geordnet war in Schwarz und Weiß. In der meine Mutter eine Streiterin des Lichts war und mein Vater ein Held, dessen Namen jeder Elf kannte. So sehr wünschte ich mir, dem Vater, dem ich nie begegnet war, nahezukommen, dass ich begann, seine wiedergeborene Seele zu suchen. Ich wollte das alte Leben in ihm erwecken und die Erinnerungen, die bei jeder Wiedergeburt tief begraben werden, ans Licht holen. Ich beschritt einen dunklen Weg, wollte aber doch nur Gutes. Ich wollte verstehen, warum ich so anders war. Hätte ich mich doch nur mit den Geschichten aus meiner Kindheit begnügt. Ich fand ihn. Ich zerstörte all meine Illusionen. Ich entzweite mich mit meiner Schwester, die ich doch liebe. Und ich ließ die Ungeheuer der Vergangenheit frei, die ins Dunkel zu sperren meine Mutter sich so sehr bemüht hatte …«

Mein brennendes Herz, Kapitel XI – Erinnerungen an eine verlorene Kindheit, S. 103 ff., verfasst von Meliander von Arkadien, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, im Saal des Lichtes, in einer Amphore vergraben an einem Ort, der nur Galawayn, dem Hüter der Geheimnisse, bekannt ist.

Die Rebellenarmee

Volodi hob den Bogen und legte auf das junge Reh an. Er war ein miserabler Schütze, doch er durfte nicht danebenschießen. Quetzalli schaffte es, jeden Tag mindestens eine Forelle zu fangen. Sie mussten keinen Hunger leiden, aber Volodi konnte keinen Fisch mehr sehen. Es war an der Zeit, dass ein ordentliches Stück Fleisch über das Feuer vor ihrer Laubhütte kam.

Nachdem er Alba getötet hatte, waren sie weit in die Wälder geflohen. Anfangs war es romantisch gewesen. Aber zu viele Forellen und der Dauerregen der letzten Tage hatten ihrem Abenteuer den Glanz genommen. Quetzalli fror, obwohl sie nachts beide Decken bekam und Volodi in seinen Kleidern schlief. Wie würde erst der Winter werden! Er musste dringend eine bessere Unterkunft als die Hütte aus verflochtenen Ästen bauen. Hätte er nur daran gedacht, eine Handaxt bei ihrer Flucht mitzunehmen! Und ein paar Schafsfelle für Quetzalli. Hätte, hätte, hätte … Sie würde eine Rehhaut bekommen!

Entschlossen hob er den Bogen, als irgendwo hinter ihm ein Pferd schnaubte. Der Kopf des äsenden Rehs schnellte hoch. Volodi schoss im selben Moment, als seine Beute mit einem weiten Satz im Schutz eines Tannendickichts verschwand.

Volodi fluchte stumm und duckte sich tiefer ins Gebüsch, in dem er stundenlang darauf gewartet hatte, dass sich ein Reh auf die Lichtung wagte. Ein Reiter in diesem Teil des Waldes konnte nichts Gutes bedeuten. Dieser Ort war zu abgelegen von allen Wegen. Hierher verirrte sich niemand zufällig. Wahrscheinlich war ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt. Behutsam legte er den Bogen auf den weichen Waldboden und zog sein Messer. Lieber vertraute er sein Leben einer Klinge an als seinen Fertigkeiten als Schütze.

Zwischen den Tannen erschien eine Schattengestalt, die ein Pferd am Zaum führte. Einen alten Roten mit durchgebogenem Rücken. Eine echte Schindmähre.

Die Schattengestalt hielt eine große Axt in der Linken. Volodi lächelte. Die Götter liebten ihn. Jetzt würde er Quetzalli ein Haus aus schweren Baumstämmen bauen können.

Geduckt bewegte er sich durchs Gebüsch und dann durch den hohen Farn auf der Lichtung. Der Fremde blieb im Schatten der Tannen. Wenn er in diese Richtung weiterging, würde er nach ein paar hundert Schritt auf ihren Lagerplatz stoßen.

Volodi fand einen morschen Ast. Entschlossen packte er ihn, schleuderte ihn quer über die Lichtung, wo er mit einigem Getöse in einem Brombeerdickicht verschwand.

Der Fremde blieb stehen und musterte misstrauisch das Gebüsch. Volodi schlug einen Bogen, sodass er in den Rücken dieses verfluchten Kopfgeldjägers gelangte. Fast hatte er den Mann erreicht, als der Rotfuchs schnaubte. Der verfluchte Gaul war aufmerksamer als sein Herr. Volodi stach ihm mit dem Dolch in die Hinterhand. Das Pferd keilte aus, machte einen Satz nach vorn und rammte den überraschten Axtträger, der zu Boden ging.

Sofort war Volodi über ihm, setzte einen Fuß auf die Hand, die die Axt hielt, und drückte sie in den weichen Waldboden. Entschlossen, dem Kerl die Kehle durchzuschneiden, beugte er sich vor und blickte in ein bartloses Gesicht. Er hatte einen Jungen niedergestreckt, der höchstens fünfzehn Jahre sein mochte. Aus großen, blauen Augen blickte er unter strähnigem, blondem Haar zu ihm auf.

»Du bist Volodi von Drei Eichen!«, rief der Junge begeistert, statt mit Todesangst, die jeder vernünftige Mensch hätte, wenn ein Krieger ein gezücktes Messer auf seine Kehle richtete.

»Nie von dem Kerl gehört«, murmelte Volodi.

Der Junge lachte. »Doch, du bist es. Der Krieger mit den Eisenwaffen. Der über den Adlern schreitet. Der, der nie eine Schlacht verloren und die Steuereintreiber der verfluchten Valesier niedergemetzelt hat. «

»Legt er auch noch goldene Eier, dieser Volodi?«

Jetzt wirkte der Junge doch ein wenig verunsichert. »Wer bist du?«

»Nur ein Söldner, der genug davon hat, für fremde Herren seine Haut zu riskieren.« Volodi schob das Messer zurück in die Scheide. »Und wer bist du?«

»Ich bin Fedor von Bärenfurt. Anführer des Rebellenheeres, das die verfluchten Valesier aus den Wäldern jagen wird. Ich suche schon viele Tage nach dir!«

Volodi stand auf, hielt dem Jungen die Hand entgegen und half ihm auf die Beine. Fedors Lippe war aufgeplatzt und blutete. »Ein Heerführer bist du also. Ziemlich jung …«

»Willst du damit sagen, ich sei ein Lügner?«

Volodi hob abwehrend die Hände. »Natürlich nicht, ich bin schließlich nicht auf ein Duell mit dir aus.«

Fedor runzelte die Stirn. »Nimmst du mich gerade auf den Arm?«

»Das würde wohl auch auf ein Duell hinauslaufen, nicht wahr?« Volodi schüttelte den Kopf. »Du bist zu hitzköpfig, Junge. Und nein, ich nehme dich nicht auf den Arm.« Er lächelte. »Ich bin ja schließlich nicht deine Amme.«

Fedor hob die Axt. »Du tust es schon wieder!«

»Ich bitte um Verzeihung.« Bei diesen Worten beugte Volodi demütig das Haupt. Als er aus den Augenwinkeln sah, wie der Junge sich entspannte, versetzte er ihm einen Fausthieb in die Magengrube, packte die Axt und drehte sie Fedor aus den kraftlosen Fingern. »Das war …«, japste der Junge, » … gemein.«

»Gemein wäre, dir die Kehle aufzuschlitzen und dich auszuplündern. Die meisten Söldner, die ich kenne, hätten das längst getan. Solche Männer sind nicht sehr duldsam, wenn man ihnen mit einer Axt in der Hand entgegentritt.« Volodi wog die Waffe in der Hand. Der Kopf war aus Bronze gefertigt. Eine Eisenaxt wäre eher geeignet, um Bäume zu fällen. Aber die hier war allemal besser als nichts. »Ich behalte die Axt. Sie ist mein Lohn dafür, dass ich heute ein netter und duldsamer Mann bin und dich am Leben lasse.«

»Das darfst du nicht«, entrüstete sich Fedor. »Das ist …«

»Willst du mich einen Dieb nennen?«, fragte Volodi kühl.

»Ich …« Der Junge rang mit sich. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Kluger Kopf.« Volodi schulterte die Axt und wollte sich auf den Weg machen, seinen Bogen wieder einzusammeln, als hinter ihm erneut die Stimme des Jungen erklang.

»Du bist doch Volodi von Drei Eichen.«

»Ich sagte …« In diesem Moment sah Volodi Quetzalli. Sie stand am anderen Ende der Lichtung, eine Decke über den Schultern, und hielt zwei Lachse hoch. Sie schien den Jungen, der noch halb im Schatten der Tannen stand, nicht bemerkt zu haben, hatte nur ihn gesehen, wie er mit der Axt über der Schulter aus dem Wald stolziert kam.

»Volodi hat eine Barbarenprinzessin aus dem Grasland geheiratet. Du bist es!«

Nun hatte Quetzalli den Fremden entdeckt, sie zögerte kurz, aber als ihr klar wurde, dass auch sie bemerkt worden war, ging sie ihm weiter entgegen. Volodi drehte sich nicht mehr nach Fedor um. Er nahm Quetzalli in den Arm. »Also wieder Fisch«, sagte er lächelnd.

»Wer Mann?«

Der Junge war ihm gefolgt, und als er die Frage hörte, verbeugte er sich. »Ich bin Fedor von Bärenfurt, Anführer der Rebellenarmee, die die Valesier vertreiben wird. Wir hoffen darauf, dass auch Volodi sich uns anschließen wird. Mit einem Helden wie ihm können wir nicht verlieren.«

Volodi sah Quetzalli an und rollte mit den Augen. Er hatte zu viele Helden sterben sehen, um auf solche Sprüche etwas zu geben. »Der Junge ist sehr anhänglich«, sagte er entnervt.

»Du essen Fisch?«

Fedor nickte heftig.

»Wir essen, dann reden.«

Volodi kannte Quetzalli gut genug, um nicht zu widersprechen. Fedor holte sein Pferd, und gemeinsam gingen sie zum Lager, wo Quetzalli die Fische vorbereitete, während Volodi sich an den seichten Fluss setzte. Auf dem träge fließenden Wasser trieben goldene Blätter. Er warf mit Kieseln danach, als sich Fedor neben ihm niederließ.

»Schöner Platz hier!«, fing der Junge an.

»Wir können hier nicht den Winter verbringen. Meine Frau kommt aus einem sehr warmen Land«, sagte Volodi und dachte mit Schrecken an die langen Wintermonde. Sie hatten auch nicht genug Vorräte, um diese Zeit zu überstehen. Irgendwo musste er Lebensmittel auftreiben, eine kleine Pfanne, Salz … Es fehlte ihnen an fast allem.

»Ich kenne da eine Jagdhütte. Liegt sehr einsam. Man müsste ein bisschen was am Dach tun, aber dann kann man den Winter dort ganz gut überstehen.«

»Du willst mir also ein Geschäft vorschlagen?« Volodi maß Fedor mit abfälligem Blick. »Wenn ich wirklich dein Held wäre, dann würdest du mir die Hütte einfach so zeigen.«

»Aber wir brauchen dich im Kampf! Ohne dich können wir es nicht schaffen! Ich hab keine Wahl.« Fedor wirkte wirklich bedrückt. »Sonst bin ich nicht so. Zu feilschen ist nicht meine Art.«

»An was für eine Schlacht hattest du denn gedacht?«

Die Augen des Jungen weiteten sich. »Du denkst also doch darüber nach!« Er schlug sich mit der flachen Hand auf den Schenkel. »Ich hab es doch gewusst. Du wirst keine Gelegenheit verstreichen lassen, die verdammten Valesier in den Arsch zu treten. Du kennst doch den Winterstein? Den großen Thingplatz.«

Volodi stöhnte. Natürlich kannte er den Platz, an dem sich die Fürsten der Region zweimal im Jahr versammelten, um Streitigkeiten zwischen den großen Sippen und einzelnen Fürstentümern beizulegen. Inmitten weiter Wiesen erhob sich ein einsamer Kreidefelsen. An seinem Fuß fanden die Versammlungen statt. Volodi hatte auch gehört, was sich jetzt am Fuß des Wintersteins befand.

»Du bist verrückt, Kleiner. Wenn du dich umbringen willst, dann nimm dir doch einfach einen Strick.«

»Essen!«, rief Quetzalli.

Volodi stand auf und ging mit Fedor zu der kleinen Laubhütte, vor der sich ihre Feuerstelle befand. Quezalli nahm einen Fisch vom Feuer und zerteilte ihn auf einem flachen Stein. Dann schlug sie den heißen Fisch in große Ahornblätter ein und reichte ihnen je eine Portion. Holzschalen oder gar Teller hatten sie nicht.

Fedor fing sofort an zu essen. »Köstlich!«, sagte er begeistert und spuckte ein paar Gräten aus. Dann begann er von der Hütte im Wald zu erzählen.

Quetzalli sah Volodi auf eine Art an, die er nur zu gut kannte. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. »Du gehen. Zurück vor Schnee!«

»Ich kann doch nicht …«, begann Volodi.

»Ich nicht Mädchen!«, unterbrach sie ihn entschieden und blickte zu Fedor, der ausnahmsweise klug genug war, seinen Mund zu halten. »Volodi gut kämpfen. Du geben gut Haus.«

»Ein sehr gutes Haus! Es ist wirklich …«

»Eine Hütte mit einem undichten Dach«, grollte Volodi. »Dafür allein tu ich gar nichts. Ich bekomme noch so viel an Vorräten, dass sich ein Maultier einen Bruch daran hebt. Zwei Sack voll Korn, ein kleines Salzfass, einen Sack Äpfel, Speck und was mir sonst noch so einfällt.«

Fedor hob beschwichtigend die Hände. »Wir werden genug Beute machen. Das ist überhaupt kein Problem.«

»Ich weiß nicht …« Mit diesem Jungen in den Krieg zu ziehen war keine gute Idee.

»Du gehen!«, beharrte Quetzalli. »Zurück vor Schnee.«

Er sah die Angst in ihren braunen Augen. Sie würde alleine zurechtkommen. Sie fürchtete sich nicht vor Wölfen oder Bären, es war das wenige, was sie über die Winter in Drusna gehört hatte, das ihr Todesangst einjagte. Sie fror schon jetzt, dabei waren die Temperaturen noch recht angenehm. Der Winter war ein Feind, den sie nicht einschätzen konnte. Und Volodi wusste, wenn er keinen besseren Platz fand, dann würde sie vor dem nächsten Frühling sterben. Sie würde die langen, klaren Frostnächte, in denen es so kalt wurde, dass einem selbst in einem schützenden Langhaus der Atem im Bart gefror, wenn man sich ein paar Schritt von der Feuergrube entfernte, nicht überleben. Er hätte mit ihr nicht hierherkommen dürfen!

»Also gut, Junge. Eine Schlacht. Du hast es gehört, vor dem ersten Schnee haben wir uns in der Jagdhütte einquartiert, von der du erzählt hast.«

Fedor legte feierlich die Hand auf sein Herz. »Das schaffen wir leicht«, erklärte er voller jugendlichem Überschwang.

Volodi hatte kein gutes Gefühl, als er nach dem Essen das Pferd des toten Steuereintreibers Alba sattelte. Quetzalli schenkte ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Es war offensichtlich, dass ihr die Worte fehlten, um sich auszudrücken. Sie hielt seine beiden Hände. »Gut zurückkommen.«

»Ganz sicher«, sagte er mit belegter Stimme und strich ihr eine Strähne aus dem schmalen Gesicht.

Sie hauchte ihm noch einen Kuss auf die Lippen, dann zog sie sich in die Laubhütte zurück. Er wusste, dass sie Abschiede ebenso hasste wie er.

Zwei Tage lang ritt er mit Fedor durch den Wald. Es war regnerisch, und der Wind klatschte ihnen nasse Herbstblätter ins Gesicht. Fast die ganze Zeit über dachte Volodi an Quetzalli. Er hätte nicht gehen sollen. Nicht mit diesem jungen Burschen, der von der Wirklichkeit des Krieges keine Ahnung hatte.

Schließlich erreichten sie einen Lagerplatz in einem lichten Eichenhain. Ein dutzend Pferde stand angepflockt unter einem Baum, mächtig wie ein Turm. Eine Gruppe junger Männer kauerte um ein Feuer zwischen den Wurzeln. Volodi kannte Gestalten wie diese nur zu gut. Frischlinge mit brennenden Augen und ohne jede Erfahrung.

Er schwang sich vom Pferd und genoss es, wie er angegafft wurde. »Ihr seid also die Späher von Fedors Heer.«

»Ist das Volodi?«, fragte ein Rotschopf. »Es heißt doch, er sei ein Hüne.«

Auch Fedor war inzwischen abgesessen. »Er ist es, glaubt es mir. Ich habe ihn kämpfen sehen.«

Volodi blickte zu den Pferden. Sie waren allesamt alt und ihr struppiges Fell schlecht gepflegt. »Los, aufsitzen, Jungs. Lasst uns zu eurem Heerlager weiterreiten.«

»Was meint der?«, fragte der Rotschopf. »Gibt es noch ein Heer?«

»Ein paar meiner Männer sind noch unterwegs und suchen nach dir«, erklärte Fedor.

»Ist das hier dein Heer?« Volodi sah sich fassungslos das Trüppchen durchnässter, erbärmlicher Gestalten an.

»Gib mal nicht so an, Alter.« Der Rothaarige baute sich bedrohlich vor Volodi auf. Er war groß und kräftig. »Ich bin Radik vom Rabenberg, und auch ich bin ein erfahrener Kämpfer. Wir alle hier sind schon in die Schlacht gezogen.« Er deutete auf einen Haufen Knochen unweit des Lagerfeuers. »Letzte Woche erst haben wir den Söldnern aus Valesia zwei fette Schweine abgejagt. Welchen Kampf hast du letzte Woche gewonnen, Großmaul.«

»Radik, das ist wirklich …«, versuchte Fedor, seinen Kameraden aufzuhalten.

Volodi hatte genug gesehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie zwei der Halbstarken nach Speeren griffen. Offenbar hatten sie begriffen, dass Radik kurz davor stand, sich um Kopf und Kragen zu reden. »Was ich letzte Woche so getan habe?«, sagte er gedehnt und strich sich über den Bart. »Ich hab mein Weib für mich kochen lassen, hab jedes Reh im Wald entkommen lassen, das meinen Weg kreuzte. Ach ja, an einem Tag ging es mit dem Scheißen nicht so gut. Die Probleme alter Männer, weißt du. Ich geh dann mal wieder. Ich glaube, eure Spielchen sind nichts für mich.«

»Nein, wir können dich nicht gehen lassen«, sagte Fedor mit einer Entschlossenheit, wie Volodi sie von dem Jungen bisher noch nicht kannte. Im selben Augenblick griffen auch die übrigen jungen Männer nach ihren Speeren.

Das Licht der Freiheit

»Los, alter Mann, es wird bald dunkel, beeil dich.« Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, stieß Fedor Volodi mit dem stumpfen Ende seines Speers in den Rücken.

Einer der beiden Reiter, die sie seit einer Weile eskortierten, kicherte. »Nach den Geschichten, die man so über ihn hört, hatte ich ihn mir größer vorgestellt.«

Ihre Begleiter waren wohlgenährte Krieger auf kräftigen Pferden. Sie trugen Brustpanzer aus zähen Lederschuppen und hohe Bronzehelme. Der hintere der beiden machte sich ab und an einen Spaß daraus, Volodi ebenfalls mit dem Speer zu stoßen.

Die Hände auf den Rücken gebunden, kämpfte sich der Drusnier einen steilen Weg hinauf. Es goss in Strömen, und der Boden war durch unzählige Hufe und Karrenräder in zähen Schlamm verwandelt worden, in dem er bis über die Knöchel versank. Bei jedem Stoß musste er aufpassen, dass er nicht mit dem Gesicht voran im Schlamm landete. Blut troff ihm von den aufgeschlagenen Lippen und vermischte sich mit dem Regen, der über sein Gesicht rann.

Endlich erreichten sie die Hügelkuppe, und Volodi blickte über weites Weideland, das von einer Erdfestung beherrscht wurde: ein unregelmäßiges Quadrat, jede Seite mindestens fünfhundert Schritt lang. Die Wälle waren aus Erde errichtet und wurden von einer Brustwehr aus miteinander verflochtenem Geäst gekrönt. Ein breiter Graben voll schlammigen Wassers umgab das Lager. Nur ein einziger Weg führte hinein. Er wurde von einem hölzernen Turm beherrscht, der sich über dem weiten Tor erhob.

Links hinter dem Tor lagen Viehgatter, in denen sich Hunderte Rinder drängten. Dahinter erhoben sich lange Holzschuppen, die wohl als Lagerhäuser und Kasernen dienten. Soweit Volodi wusste, war die Festung am Winterstein mit mindestens fünfhundert Valesiern belegt. Dazu kamen noch die Steuereintreiber des Unsterblichen Iwar.

Die Beute aus allen Fürstentümern im Umkreis von über hundert Meilen wurde hier gesammelt. Alle zwei Wochen brach eine schwer bewachte Karawane nach Westen auf – angeblich wurden die meisten Vorräte nach Selinunt geschafft, um all die Arbeiter zu ernähren, die dem Unsterblichen Ansur eine neue Hauptstadt ganz aus Marmor errichteten.

»Wir reiten voraus und werden den hohen Besuch ankündigen«, erklärte der vordere der beiden Reiter. »Du wirst für einigen Wirbel im Heerlager sorgen, Junge.« Mit diesen Worten preschten sie den Hügel hinab.

Volodi wandte sich um. Hinter ihnen kämpfte sich ein zweirädriger Karren den schlammigen Weg zur Hügelkuppe hinauf. Weit im Osten preschte eine mit Speeren bewaffnete Patrouille aus dem Wald.

»Los, bringen wir es hinter uns.« Fedor sprach mit belegter Stimme. Seine Anspannung war ihm deutlich anzuhören.

Volodi schritt den Hügel hinab. Gerade passierte ein schwer beladener Zug Maultiere das Festungstor. Die beiden Reiter drängten sich daran vorbei und verschwanden aus Volodis Blickfeld.

Als er und Fedor das Tor erreichten, war es fast schon dunkel. Über ihnen, auf der Plattform des Turms, schlugen hohe Flammen aus einer Feuerschale, an der sich drei Krieger wärmten. Die beiden Wachen unten am verschlossenen Tor hatten es nicht so gut. Frierend und in durchnässten Kleidern standen sie auf ihre Speere gestützt. Der Kleinere der beiden, ein ausgemergelter, blonder Mann, wandte sich an Fedor. »Lass ihn hier, und hau ab, Junge. Wenn du die Belohnung einforderst, wird dir das nicht gut bekommen. Die nehmen dir deine kostbaren Schwerter ab und vielleicht noch mehr.«

»Quatsch nicht, Schenya«, mischte sich der Zweite ein. »Du wirst schon bekommen, was du verdienst. Hör nicht auf diesen Schwarzseher. Mach dir keine Sorgen.«

Das Tor öffnete sich. Zwei Männer mit Fackeln standen im Durchgang. Schon an der Art, wie sie sich bewegten, und an ihren Blicken erkannte Volodi, dass es Veteranen waren. Obwohl es nichts zu befürchten gab, waren sie auf der Hut, blickten zu dem Karren, der den Hügel hinabkam, und musterten Fedor genau.

Ein fünfter Mann trat hinzu und durchmaß den Torraum. Er war hager wie der Tod, nicht sonderlich groß, aber mit einem prächtigen Bronzepanzer gewappnet, auf dem ein schön gearbeiteter Adler seine Flügel ausbreitete. Seine Haare waren schlohweiß, und er ging leicht gebeugt, seine Augen aber waren jung geblieben.

»Du also bist der verdammte Drusnier, der Alba abgestochen hat.«

Volodi hob stolz den Kopf. »War mir ein Vergnügen.«

Eine schallende Ohrfeige war die Antwort des Alten. »Leider habe ich Befehl, dich vor den Unsterblichen Ansur bringen zu lassen. Wenn es nach mir ginge, würde ich dich einfach hier am Turm aufknüpfen lassen. Dem Unsterblichen zu begegnen ist zu viel der Ehre für so ein Stück Dreck, wie du es bist.«

Volodi blickte aus den Augenwinkeln zu Fedor. Der Junge zitterte. Das hier war zu viel für ihn. Es wäre besser gewesen, Radik hätte ihn hierhergebracht. Der Rotschopf war zu dumm, um sich zu fürchten.

Der Kommandant des Lagers wandte sich an Fedor. »Zeig doch mal die beiden Schwerter, die du da auf dem Rücken trägst.«

Volodi hatte fest damit gerechnet, dass sie sich die Waffen ansehen würden. Der Alte stand nun genau vor Fedor, seine fackeltragenden Leibwächter hielten sich hinter ihm. Die beiden Torwachen standen seitlich von Volodi, ebenfalls begierig darauf, die kostbaren Eisenklingen zu sehen.

»Du willst den Jungen wohl ausrauben, statt ihn zu belohnen, Valesier. Du bringst den Kleinen um, und dann wirst du vor deinem Herrscher behaupten, du hättest mich gefangen, und Ruhm und Ehre dafür ernten. Ist es nicht so?«

Eine zweite Ohrfeige war die Antwort.

Volodi taumelte zurück und stürzte, dabei zog er die linke Hand aus der lose geknüpften Fessel. Fedor hatte eines der Schwerter gezogen, ganz wie der Alte es gewünscht hatte.

Gier funkelte in den Augen des Valesiers. »Gib mir das Schwert, Junge. Das ist die Waffe eines Feldherrn und nicht eines Ziegenhirten. Ich biete dir fünf Silberstücke für jede der Klingen. Ich bin kein Dieb. Das ist ein überaus großmütiges Angebot.«

»Die Schwerter sind das Hundertfache wert«, sagte Fedor und wich ein Stück zurück. Er hielt die Waffe nur mit zwei Fingern und hob sie ganz vorsichtig hoch, sodass niemand auf den Gedanken kommen konnte, er wolle angreifen. »Ich nehme an, das Angebot beinhaltet auch mein Leben und freien Abzug.«

»Schlauer Junge.« Der alte Valesier lächelte breit und griff nach der Börse an seinem Gürtel. »Du könntest einer meiner Steuereintreiber werden.«

Fedor warf Volodi das Schwert zu.

Volodi schnappte es noch im Flug, führte mit der breiten Seite einen Rückhandhieb gegen die Schläfe des Kommandanten und stach in fließender Bewegung einem der beiden Leibwächter durch die Kehle.

Der zweite Veteran versuchte, ihm die Fackel ins Gesicht zu rammen. Volodi duckte sich, Flammen griffen nach seinem Haar und verloschen sofort wieder im Regen. Aus der Hocke heraus stach er dem Angreifer in den Unterleib und trieb die Klinge weit hinauf in dessen Eingeweide. Sein Schwert saß zu tief im Körper des Sterbenden, um es schnell wieder freizubekommen. Er griff die Fackel, die dem Krieger aus der Hand gefallen war, und fuhr herum, gerade rechtzeitig, um einen Speerstoß eines der Torwächter abzublocken. Volodi, der noch immer geduckt war, unterlief die Speerspitze, schnellte hoch und rammte dem Angreifer die Fackel unter das Kinn. Sofort stand der Bart des Kriegers in hellen Flammen. Schreiend ließ er seinen Speer fallen und schlug auf das brennende Haar ein, als Volodi ihm in den Magen boxte.

Der Wächter klappte zusammen.

Der zweite Speerträger, jener, der Fedor gewarnt hatte, ließ seine Waffe fallen. »Ich bin Drusnier. Die haben mich in den Dienst gezwungen!«

Fedor starrte Volodi mit offenem Mund an. Der Junge hatte noch nicht einmal sein Schwert gezogen.

»Schafft die Männer unter den Torbogen«, befahl Volodi barsch. »Schnell!« Mit diesen Worten packte er den Alten, zerrte ihn ins Trockene und schlug ihm noch einmal vor den Kopf, damit er nicht vor der Zeit wieder zu sich kam.

»Was ist da unten los?« Ein Kopf erschien zwischen den Zinnen des Torturms. Es war zu dunkel, um im prasselnden Regen mehr als huschende Schatten zu erkennen. Der Kampf hatte kaum zehn Herzschläge gedauert und war fast lautlos gewesen. Fast … Volodi fluchte stumm. An die Turmbesatzung hatte er nicht gedacht, als er den Plan zum Überfall ausgeheckt hatte.

»Die haben sich diesen Volodi geschnappt und prügeln ihm die Scheiße aus dem Leib. Willst du runterkommen und mitmachen?«, rief der drusnische Torwächter geistesgegenwärtig.

»Du meinst, ich soll meinen Posten verlassen, wo der Alte danebensteht? Im Leben nicht, Schenja! Da wär ich ja gleich der Nächste, dem das Fell gegerbt wird.« Mit diesen Worten verschwand der Wachtposten hinter den Zinnen.

»Danke«, flüsterte Volodi und schaffte den zweiten Leibwächter unter den Torbogen außer Sicht.

Schenja packte seinen bewusstlosen Gefährten und brachte ihn ebenfalls unter das Tor. »Ihr müsst mich mitnehmen. Hier kann ich nicht mehr bleiben.«

»Willkommen in Fedors Heer.« Volodi drückte ihm die Hand und warf dem Jungen, der noch immer vor Entsetzen gelähmt war, einen spöttischen Blick zu. »Das ist anders als in den Heldensagen, wenn man plötzlich selbst Blut an den Händen hat.«

»Du … du hast vier Männer getötet.«

Volodi schüttelte den Kopf. »Nein, tot sind nur zwei.« Er stieß mit dem Fuß nach dem bewusstlosen Festungskommandanten. »Den hier nehmen wir mit. Für den werden wir ein hübsches Lösegeld bekommen. Und wenn nicht, können wir ihn ja immer noch an irgendeine Eiche hängen. Er mag das Hängen, hatte ich den Eindruck.«

Die Reiter kamen den Hügel hinabgeprescht. In der beginnenden Nacht waren sie mit ihren weiten Umhängen nicht mehr als fliegende Schatten.

»Es klappt!«, jubilierte Fedor. »Es klappt.«

»Man verteilt das Fell des Bären erst, wenn man ihn erlegt hat«, murmelte Volodi. Er blickte durch das Tor ins Lager. Das Wetter war auf ihrer Seite. Bei dem strömenden Regen hatte jeder, den sein Dienst nicht ins Freie zwang, Zuflucht in den Baracken gesucht. Auch hielt er die Wachfeuer klein und sorgte dafür, dass kaum ein Licht in der Dunkelheit flackerte.

Die Reiter erreichten das Tor. Sie hatten ihre Pferde gezügelt. Radik, der den Trupp anführte, winkte frech den Wachen oben auf dem Torturm zu. Dann führte er seinen Trupp im Schritt in die Festung hinein.

Der Wagen vom Hügel näherte sich ebenfalls dem Tor. Auf dem verschlammten Weg kam er nur quälend langsam voran. Volodi hob den Schild eines der toten Leibwächter auf und schob seinen Arm durch die Lederschlaufen. Dann zog er sein Schwert aus dem Toten.

Von den Pferchen hinter dem Tor war unruhiges Muhen zu hören. Radik und seine Männer hatten mit ihrer Arbeit begonnen.

Volodi schlug das schützende Horn. Gleich würde der Tanz losgehen. »Nimm dir den anderen Schild, Fedor«, flüsterte er. Nervös blickte er zu dem Karren. Es sah aus, als hätte er sich festgefahren. Die beiden Kutscher waren vom Bock gesprungen und machten sich an den großen Rädern zu schaffen. »Wenn es nicht so läuft wie geplant, werden wir vielleicht das Tor halten müssen, damit die anderen entkommen können.«

Fedor nahm sich den zweiten Schild und stellte sich an Volodis Seite. Er konnte den Jungen schwer atmen hören. Der Drusnier wusste nur zu gut, wie schwer es war, vor der Schlacht die Angst niederzuringen. In der Festung lagen über fünfhundert Krieger. Wenn Alarm gegeben wurde, dann gab es für die Männer in Fedors Heer, das gerade einmal dreiundzwanzig Köpfe zählte, keine Hoffnung, lebend zu entkommen.

»He, was macht ihr da unten?«, rief eine raue Stimme vom Wachturm.

Von den Pferchen kam keine Antwort. Volodi konnte nur huschende Schatten sehen. Dann plötzlich lief ein Rind an ihm vorbei.

Oben auf dem Turm erklang ein Horn. Volodi drehte sich nach dem Karren um. Er steckte noch immer fest. Wenn sie ihn nicht bewegt bekamen, waren sie alle tot! »Fedor, Schenja, helft, den Wagen wieder flottzumachen. Ich geh rein, ein wenig Unruhe stiften.«

Mehr und mehr Rinder trotteten nun durch das Festungstor. Radik hatte den Befehl, so viele Pferche wie möglich zu öffnen und das Vieh davonzutreiben. Mit der Herde als Beute waren sie beweglicher als mit Karren oder zu schwer beladenen Maultieren.

Volodi stieß mit dem Schild eine große, gescheckte Kuh zur Seite und schob sich auf den weiten Hof der Festung. Das Vieh staute sich schon vor dem Tor. Die Tiere waren unruhig, keilten aus, und der Lärm nahm mit jedem Augenblick zu.

Vom Turm schallte das Wachhorn. »Alarm! Wir werden angegriffen.« Der strömende Regen dämpfte die Stimme des Türmers, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis jemand in den Baracken merkte, was draußen geschah.

Volodi fand Radik in dem Gewimmel. »Hör auf!«, rief er dem jungen Krieger zu. »Nimm deine Männer, und sieh zu, dass ihr fortkommt!«

Immer mehr Rinder drängten sich vor dem Tor, als sich die Tür der vordersten Baracke öffnete. Ein matter Lichtstreifen vergoldete den Regenschleier vor dem Eingang, und ein schwarzbärtiger Krieger erschien in der Tür. »Was geht da vor?«, rief er mit volltönender Stimme.

»Das Wetter macht die Rinder verrückt!«Volodi ging ihm entgegen und winkte abwiegelnd. Er hoffte, dass der Krieger, vom Licht der Stube noch nachtblind, nicht genau sehen konnte, was geschah. »Die Viecher haben ein Gatter niedergetrampelt, aber wir treiben sie schon zurück. Ich hab keine Ahnung, was sich der Türmer denkt, so einen Lärm zu veranstalten.« Kaum waren die Worte über Volodis Lippen, erscholl erneut das Alarmhorn auf dem Turm.

Der Schwarzbart fluchte und griff neben der Tür nach seinem Umhang. »Ich werde den Türmer zum Schweigen bringen. Verdammter Idiot. Der versetzt noch die ganze Garnison in Unruhe.«

Bei zwei weiteren Baracken gingen die Türen auf. Mehrere Bewaffnete traten hinaus. Das war es, dachte Volodi. Jeden Moment würden sie merken, dass etwas nicht stimmte. Er blickte zurück. Viel konnte er auch nicht sehen.

Der Türmer rief etwas, doch seine Worte gingen im Rauschen des Regens unter. Wieder stieß er ins Horn. Immer mehr Barackentüren öffneten sich. Männer liefen ins Freie, um die Rinder einzufangen, die nun überall innerhalb der weiten Festungsanlage herumliefen. Noch glaubte niemand an einen Überfall, wie es schien. Die Männer stellten den Rindern nach. In ihrer Festung hinter Wall und Graben und nach all den Siegen, die sie über die Drusnier errungen hatten, hielten sie sich für unangreifbar.

Volodi zog sich eilig zum Tor zurück. Jetzt gab es ein Durchkommen, denn Radik und seine Männer scheuchten die Rinder, die sie nicht mitnehmen konnten, zwischen die Baracken in der Erdfestung. Der Stau vor dem Tor hatte sich aufgelöst. »Rückzug!«, rief Volodi leise und eilte von Reiter zu Reiter. »Rückzug!«

Die jungen Krieger hörten auf ihn. Immer und immer wieder hatte er ihnen in den letzten Tagen eingeschärft, dass Disziplin der Schlüssel zum Sieg war. Ohne zu murren, befolgten sie seine Befehle. Volodi rannte als Letzter in Richtung Tor, als hinter ihm der Lärm losging. Jemand hatte entdeckt, dass das Tor offen stand.

Schatten hasteten in seine Richtung.

Fedor und die Kutscher schoben den Karren in den Durchgang unter dem Turm. Volodi musste unter der Achse hindurchkriechen, um zu entkommen. Kaum hatte er das geschafft, sprang er auf und schlug mit dem Schwert auf das schmale Stück Achse ein, das zwischen Ladefläche und Rad zu sehen war.

Die Valesier warfen sich auf der anderen Seite des Tors gegen den Wagen.

»Zündet ihn an«, befahl Volodi und versetzte der Achse einen weiteren Hieb.

Auf der Ladefläche des Karrens stand ein Topf mit glühenden Kohlen. Volodi hörte das drohende Zischen von Öl, das in die Glut gegossen wurde.

Noch ein Hieb traf die Achse. Im selben Moment loderte eine gelbe Flamme auf und setzte die Plane des Karrens in Brand. Hitze griff nach Volodi. Ein letzter Schwerthieb. Die Achse splitterte, und der Wagen neigte sich zur Seite.

Das Feuer fand immer mehr Nahrung. Eilig zog Volodi sich zurück. Sie hatten alles mögliche Brennbare auf den Karren geladen: Speck, Reisigbündel, Lampenöl, ein kleines Fass mit Fischtran. Das Feuer blockierte nun den einzigen Weg aus der Festung der Valesier. Und wenn sie Glück hatten, würde auch noch der hölzerne Torturm in Brand geraten. Hoffentlich machten sie den Fehler, Eimer mit Wasser zu holen, um das brennende Fett zu löschen, dachte Volodi. Sie würden das Feuer damit nur noch mehr anfachen.

Fedor wartete mit einem Pferd vor dem Tor auf ihn. »Wir haben ihnen über fünfhundert Rinder gestohlen«, rief er begeistert gegen das Fauchen der Flammen. Der Platz vor dem Tor war in unstet tanzendes Licht getaucht. »Wir werden …«

Ein Pfeil schnitt ihm das Wort ab. Er war fast bis zur schwarzen Befiederung in seine Brust gedrungen. Volodi packte die Zügel von Fedors Pferd und zog es hinter sich her, fort von der Festung und dem Bogenschützen auf dem Torturm in die schützende Dunkelheit.

Erst als sie den Hügel erreichten, wagte Volodi anzuhalten. Fedor war nach vorn auf die Mähne seiner Stute gesackt. Der Drusnier stieg ab und hob den Jungen von seinem Pferd. Blut rann ihm von den Lippen. Der Pfeil hatte ihm die Lunge durchbohrt.

»Ich …«

»Nicht reden, du brauchst deine Kraft, um wieder gesund zu werden.«

Fedors Augen wurden so weit wie an dem Tag ihrer ersten Begegnung, als er in ihm seinen Helden erkannt hatte. »War das … ein großer Sieg?«, stieß er unter Schmerzen hervor.

»Man wird überall in Drusna von Fedor von Bärenfurt und seinen tapferen Recken sprechen, die die Valesier besiegten, ihnen ihre Beute wieder abjagten und sie in ihrer eigenen Festung eingesperrt haben.«

Fedors Augen starrten, ohne zu blinzeln, in den Regen. Er hörte Volodi nicht mehr.

Hinter ihnen brannte der Turm der Festung lichterloh.

»Du hast die Fackel zum Aufstand entzündet«, sagte Volodi mit rauer Stimme. »Sie wird überall in Drusna leuchten.«

Auf der Suche nach dem Meer

»Du malst wirklich die schönsten Götterbilder der Stadt, Meister Šutarna!« Begeistert schob der Erste Schreiber die Pergamentrolle in eine lederne Schutzhülle. Er war ein relativ junger Mann, bei dem das gute Leben im Tempel bereits Spuren zu hinterlassen begann. Seine Hüften waren füllig, und deutlich zeigte sich der Ansatz eines Doppelkinns. Ganz im Schwarz der Schreiber des Tempels gekleidet, wirkte er dennoch ehrfurchtgebietend. Aus einem roten Etui an seinem Gürtel ragten zwei goldene Griffel – das Zeichen seines Amtes als Erster Schreiber des Išta-Tempels.

»Das Bild der Geflügelten wird einen Ehrenplatz erhalten«, fuhr er begeistert fort.

Talawain verneigte sich. »Ihr schmeichelt meinen bescheidenen Gaben, Erster Schreiber. Ich bin nur die Hand, die den Pinsel hält; ich bin sicher, die Göttin selbst ließ Schönheit in das Werk fließen, wenn es Euch so sehr gefällt.«

»Du bist zu bescheiden, Šutarna. Es ist ein Gewinn für unsere Stadt, dass du dich hier niedergelassen hast.« Der Aufseher der Schreibstube des Išta-Tempels senkte seine Stimme. »Nur hat man dich schlecht beraten, dass du dich ausgerechnet neben dem Haus des Verfluchten niedergelassen hast. Hat dir denn niemand von den besonderen Todesumständen des Knochenschnitzers erzählt?«

»Ich hörte davon erst, nachdem ich das Haus gekauft hatte.«

Der Erste Schreiber gab ein keckerndes Geräusch von sich, das wohl Missbilligung ausdrücken sollte. »Ich hoffe, du hast keinen zu hohen Preis gezahlt. Die Läden in dieser Gasse gehen nicht mehr gut.«

»Ich fürchte, der Töpfer war ein besserer Geschäftsmann als ich.«

»Ein guter Töpfer war er jedenfalls nicht«, sagte sein Gegenüber stirnrunzelnd. »Es ist doch immer dasselbe mit euch Künstlern. Habt ihr wirklich Talent in eurem Fach, seid ihr in Geschäftsdingen arglos wie Kinder.«

»Ich fasse das als ein Kompliment auf«, sagte Talawain demütig.

»So ist es auch gemeint.« Er klopfte auf die Lederrolle. »Morgen früh werde ich dieses Bild im Priesterkollegium zeigen. Wir suchen noch nach einem Geschenk für den Unsterblichen Ansur, den Herrscher Valesias.«

Talawain blickte überrascht auf. »Das ist sehr weit fort von hier.«

Der Erste Schreiber lächelte selbstgefällig. »Zum Opferfest im Frühling werde ich zusammen mit den bedeutendsten Priestern dorthin reisen. Der Unsterbliche Ansur feiert ein Fest zur Einweihung des Weißen Selinunt. Ein Fest, wie es unsere Welt noch nicht gesehen hat. Alle Unsterblichen werden sich dort versammeln, und selbst die Götter werden anwesend sein, um mit uns zu feiern. Der Hofstaat des Unsterblichen Labarna hat schon begonnen, Vorbereitungen für die Reise zu treffen. Zur Mitte des Winters werde auch ich an den Hof abberufen werden, um mit meinen bescheidenen Gaben zu helfen. Aber zurück zu dem Bild. Ich werde dir eine große Tierhaut bringen lassen. Darauf sollst du mit deinen schönsten Farben Išta und den adlerköpfigen Devanthar der Valesier malen.« Wieder klopfte er auf die Lederrolle. »Ich bin sicher, mit diesem kleinen Meisterwerk hast du dir den Auftrag verdient, Šutarna. Und wer weiß, vielleicht wird auch der Unsterbliche auf dein Talent aufmerksam werden, denn Labarna höchstselbst wird jedes Geschenk begutachten, das wir nach Selinunt tragen.«

Talawain hatte Mühe, seine Aufregung zu verbergen. Ein Fest, bei dem alle Götter und alle sieben Großkönige zugegen waren. Das hatte es in der Tat noch nie gegeben. Es konnte nur eines bedeuten: Dort sollte ein Pakt geschlossen werden, und der konnte nur gegen Albenmark gerichtet sein!

Der Elf begleitete den Schreiber zur Tür und sah ihm nach, bis er am Ende der Gasse in die Prachtstraße zum Išta-Tempel abbog. Er musste so rasch wie möglich nach Albenmark. Aber wenn er die Blaue Halle aufsuchte, würden sie ihn nicht mehr gehen lassen. Dafür, dass er auf eine selbstmörderische Mission für einen Unsterblichen gehen wollte, um dessen Geliebte zu retten, hätte der Himmlische gewiss kein Verständnis. Ja, vielleicht würde er es sogar als Verrat betrachten. Selbst wenn die Himmelsschlange ihm wohlgesonnen wäre, würde sie ihn nicht mehr ziehen lassen.

Dies war vielleicht die wichtigste Information, die er in all den Jahren als Spitzel erhalten hatte. Und sie war ihm einfach so zugefallen …

Es war schon spät. Am Himmel zogen dunkle Wolken auf. Der Winter in Isatami brachte viel Regen. Talawain bemerkte, wie ihn die Händlerin, die ihn über Rowayns Schicksal aufgeklärt hatte, beobachtete. Mit dem abgerissenen Pilger, als der er zu ihr gegangen war, hatte Šutarna wenig gemeinsam. Er trug jetzt einen gepflegten, schwarzen Bart und – zumindest nach den Maßstäben der Händler in dieser Gasse – vornehme Gewänder.

Talawain trat auf die Gasse hinaus, klappte den schweren Holzladen vor das große Fenster, verriegelte dann sorgsam die Eingangstür und ging in den hinteren Teil seines Ladens, in dem er auch lebte. Er galt als Eigenbrötler, pflegte mit niemandem Umgang und war nicht sonderlich beliebt.

Eine Zeitlang sah er nachdenklich auf sein Bett. Eigentlich sollte heute der große Tag sein. Vielleicht auch der Tag seines Untergangs … Aber jetzt hatte sich binnen einer Stunde alles geändert. Wenn er sich irrte und heute durch seine Taten Išta auf sich aufmerksam machte, würde er sicherlich nicht mehr entkommen. Vielleicht war er der einzige Elf der Blauen Halle, der um diese Zusammenkunft der Herrscher wusste. Er kannte den Tag und den Ort. Er durfte nicht länger hierbleiben!

Und dennoch … Entschlossen schob er das Bett zur Seite und dann die große, aus Binsen geflochtene Schale, die das Loch im gestampften Lehmboden verbarg. Fünf Wochen lang hatte er an dem Tunnel zum Nachbarhaus gearbeitet. Ganz sicher gab es auf dem Fußboden keine magischen Siegel, redete er sich ein. Er konnte es wagen!

Er zwängte sich in den engen Tunnel. Acht Schritt war er lang und so niedrig, dass er sich nur auf allen vieren bewegen konnte. Überall in seinem kleinen Haus hatte er den roten Lehm versteckt, den Aushub des Tunnels. Am Ende des Tunnels entzündete er eine Öllampe. Daneben lehnte der messingbeschlagene Grabstock an der Erdwand, mit dem er sich Zoll um Zoll durch den zähen Boden gekämpft hatte. Er ähnelte einem Speer mit gebrochenem Schaft, war kaum länger als sein Unterarm und hatte ein schmales Stichblatt an seinem Ende.

Eine Weile kauerte Talawain am Ende des Tunnels und lauschte. Angeblich war, seit die Priester Rowayns Laden versiegelt hatten, niemand mehr dort gewesen, aber man konnte nie wissen. Es war so still unter der Erde, dass er sein Blut in den Ohren rauschen hörte.

Schließlich nahm er den Grabstock und rammte ihn gegen die Decke aus Lehm. Klumpen lösten sich und fielen in den Tunnel hinab. Feiner Staub brannte Talawain in den Augen.

Immer und immer wieder stieß er den Grabstock nach oben, bis er plötzlich ins Leere stach und rußbedeckte Erdklumpen in den Tunnel hinabstürzten.

Talawain nahm einen der Erdbrocken in die Hand. Die Geschichte der Händlerin stimmte also. Rowayn war verbrannt. Ein bisschen Ruß, das war alles, was von seinem Freund geblieben war.

Er ließ den Klumpen fallen. Mit energischen Stößen erweiterte er die Öffnung, bis er sich schließlich durch sie hindurchzwängen konnte. So wie sein Haus bestand auch Rowayns Laden nur aus einem einzigen Raum. Es war ein Ort der Finsternis! Alles war mit öligem Ruß bedeckt. Der schöne Tisch, an dem er gearbeitet hatte. Das Schnitzwerkzeug, das wohl noch genauso dalag, wie Rowayn es aus der Hand gelegt hatte. Gekrümmte Messer, verschiedene Feilen, ein kleiner Bohrer.

Unter dem Tisch lagen Knochensplitter auf dem Boden.

Talawain öffnete sein Verborgenes Auge. Sofort wurde offenbar, dass es hier drinnen keine magischen Siegel gab. Allerdings hatte sich der Abglanz eines machtvollen Zaubers erhalten. Immer noch vibrierten die Kraftlinien, die das Zimmer teilten.

»Das Meer verbirgt alle Geheimnisse«, sagte Talawain leise. Was hatte Rowayn ihm damit sagen wollen? War es nicht vermessen, darauf zu hoffen, dass er etwas fand, was Išta übersehen hatte? Ganz sicher hatte Rowayn sein Versteck nicht durch einen Zauber getarnt.

Talawain ging im Zimmer auf und ab. Er leuchtete in alle Winkel, schob das Bett zur Seite und untersuchte die Unterseite des Tisches. Nichts! Nur Ruß.

Er begann, ein zweites Mal das Zimmer zu durchsuchen. Langsamer, systematischer diesmal. Mit den Händen tastete er über die Wände. In der Bettnische entdeckte er etwas – hauchdünnes Pergament war auf die Wand geklebt. Es war ebenso rußgeschwärzt wie alles andere. Man musste mit den Fingerspitzen darüber tasten, um den Unterschied zu den Lehmwänden zu bemerken.

Vorsichtig wischte Talawain über die Wand. Der Ruß verschmierte, gab aber nicht preis, was sich unter ihm verbarg. Ungeduldig ging der Elf zum Tisch, auf dem die Werkzeuge lagen, nahm eines der Schnitzmesser und löste mit ihm ein handgroßes Stück Pergament von der Wand. Darunter verbarg sich nur grober Lehmputz wie an allen übrigen Wänden. Er drehte das Pergamentstück um. Auf der Rückseite war nichts. Die Nachricht, wenn es denn eine gab, musste sich unter dem Ruß verstecken!

Ungeduldig kroch er durch den Tunnel zurück in seinen Laden, stellte mehrere Lampen auf seinen Arbeitstisch, um genügend Licht zu haben, dann holte er die Ziegenlederflasche mit dem Branntwein. Vorsichtig goss er etwas davon in eine flache Schale, suchte ein paar Lumpen zusammen und begann, das Pergament mit alkoholgetränkten Stofffetzen abzutupfen.

Und endlich hob sich der schwarze Schleier. Talawain hatte eine stilisierte Welle freigelegt, wunderschön in verschiedenen Blautönen gehalten. Das Meer hatte er gefunden. Wo aber waren die Geheimnisse, die es verbarg?

Das verborgene Land

Bis zum Morgengrauen hatte Talawain sechs weitere Pergamentstreifen geborgen, in seine Werkstatt gebracht und gesäubert. Er hoffte, dass sich im Gesamtbild ein Hinweis verbarg. Er hatte die Muster der Wellen untersucht, ihnen Zahlen zugeordnet und versucht, daraus Buchstaben abzuleiten. An zwei Stellen hatte er sehr vorsichtig die Tusche des Bildes entfernt, um zu sehen, ob sich darunter etwas verbarg. Alles vergebens! Rowayns Meer wollte sein Geheimnis nicht preisgeben.

Zuletzt hielt er die Pergamentstreifen ganz nah an die Flamme einer Öllampe, um nach einer Geheimschrift zu suchen, die vielleicht bei Hitze oder einem veränderten Licht sichtbar wurde. Auch das half nicht weiter. Durch sein Verborgenes Auge betrachtet war ebenfalls nichts Auffälliges zu entdecken. Es war zum Verzweifeln.

Im ersten Tageslicht ließ Talawain sich völlig erschöpft auf sein Lager sinken. Sieben Wochen hatte er auf diese Nacht hingearbeitet, und nun sah es so aus, als sei er einem Irrtum aufgesessen. Er lauschte auf die Geräusche draußen auf der Straße. Die Holzläden vor den Auslagen wurden hochgeklappt, die Händler tauschten neuesten Tratsch aus. Ein früher Brotverkäufer pries seine Ware an.

Talawain sank in einen unruhigen Schlaf. Er träumte von Išta, die über die Wellen eines aufgewühlten Meeres schritt und ihn verspottete. Sie war mit Schild und Speer bewaffnet. Herausfordernd schlug sie den Schaft des Speers vor den Schild, dass es laut krachte. Plötzlich schleuderte sie ihm die Waffen entgegen.

Mit einem Schrei fuhr Talawain auf. Er war in Schweiß gebadet. Sein Herz schlug wie rasend. Und immer noch war das Krachen zu hören. Benommen sah der Elf sich um. Die Tür … jemand hämmerte gegen die Tür. »Moment, ich komme.« Hastig raffte er die Pergamentstreifen des Bildes zusammen und versteckte sie unter seiner Nachtdecke. Noch benommen öffnete er die Tür, wo der Erste Schreiber auf ihn wartete.

»Mir scheint, du nutzt nicht die Nacht zum Schlafen, Šutarna. Išta gefällt es nicht, wenn man die von ihr gesetzte Ordnung der Dinge missachtet«, sagte er anstelle einer Begrüßung streng. »Dennoch hat die Göttin sich dir gnädig erwiesen. Das Priesterkollegium hat sich fast einhellig für dich ausgesprochen. Wir möchten eine deiner Arbeiten als eines der Geschenke für den Unsterblichen Ansur haben.«

Talawain verneigte sich. »Ich danke Euch untertänigst, Erster Schreiber. Ich weiß, dass ich diese Gunst Euch zu verdanken habe. Gerne würde ich mich dafür erkenntlich zeigen. Seit Langem schon möchte ich den Dienerinnen im Haus des Himmels ein Geschenk machen, da ich großen Respekt vor ihrem Dienst an der Göttin in tiefster Einsamkeit empfinde. Sagt, wisst Ihr, auf welchem Wege ich ihnen eines meiner Bilder zukommen lassen könnte?« Es war ein plumper, letzter Versuch, das Kloster zu finden, in dem Shaya gefangen gehalten wurde, das wusste Talawain, aber nach seinem Scheitern in der letzten Nacht war er in der Stimmung für Verzweiflungstaten.

Der Priester runzelte die Stirn. »Es ist ein Geheimnis, wo das Haus des Himmels liegt. Nur wenige Auserwählte kennen den Weg dorthin. Es heißt, man müsse zwischen den Welten wandern, um dorthin zu gelangen. Wenn du mir aber ein Bild für die Priesterinnen dort gibst, werde ich sicherlich eine Möglichkeit finden, es ihnen überbringen zu lassen.«

»Bis wann müsste ich mein Bild denn vollenden, damit die Barbarenprinzessin es noch vor ihrer Opferung sieht? Ich glaube, ein eindrucksvolles Bild der Göttin könnte ihr verdeutlichen, welche außerordentliche Ehre es ist, ihr Blut für Išta und unser Land zu vergießen.«

Der Erste Schreiber lachte auf. »Was für ein nobler Gedanke, Šutarna, doch fürchte ich, dass es zu den Eigenarten von Barbaren gehört, dass ihnen alles Noble fremd bleibt. Du magst dein Bild malen, und die Priesterinnen werden es gewiss zu schätzen wissen, aber das Herz der Barbarin wird es gewiss nicht berühren. Man erzählte mir unlängst, dass diese Prinzessin lange Wochen lieber unter Ziegen lebte als im Kloster. Sie wird zu Frühlingsbeginn hingerichtet werden, wobei man im Haus des Himmels, das hoch in den Bergen liegt, einen recht eigentümlichen Brauch pflegt zu entscheiden, wann der erste Frühlingstag ist. Im Klostergarten steht ein großer Kirschbaum. Wenn sich seine ersten Blüten öffnen, wird die Barbarenprinzessin sterben. Zu diesem Zeitpunkt sind überall sonst im Reich die Kirschblüten längst gefallen.«

»Aber sie wird doch geopfert, um dem Reich Fruchtbarkeit zu schenken. Und das geschieht, wenn die Obstblüte überall sonst schon vorüber ist und das Korn schon hoch steht?«, wandte Talawain verwundert ein.

Der Erste Schreiber strich sich nachdenklich über den Bart. »Ja, das ist schon etwas unglücklich«, gab er schließlich zu. »Aber unsere Sorge ist das nicht. Halte dich bereit, in den nächsten Tagen mit der Arbeit am Bild für den Tempel zu beginnen, und wenn dein Geschenk für das Haus des Himmels vollendet ist, werde ich mich darum kümmern, dass es die Priesterinnen erreicht.« Mit diesen Worten wandte sich der Erste Schreiber ab, und Talawain verschloss sorgsam die Tür seines Ladens. Heute wollte er keine Kunden mehr sehen.

Bei einem kargen Mahl aus altem Brot und Schafskäse brütete er weiter über dem Geheimnis von Rowayns Bild. Schließlich entschied er sich, das Haus seines toten Freundes bei Tageslicht zu besuchen. Er konnte es zwar nicht wagen, eines der Fenster zu öffnen, aber durch die Spalten in den Holzläden sollte genug Licht einfallen, um eine bessere Sicht als bei Nacht zu haben.

Erneut kroch er durch den Tunnel. Als er den Kopf aus dem Loch im Fußboden streckte, war er überrascht. Durch den Ruß an den Wänden wirkte das Zimmer genauso finster und abweisend wie zuvor in der Nacht. Nur drei schmale Lichtbahnen, in denen goldene Staubflöckchen tanzten, schnitten durch den Raum. Ein Lichtstreifen fiel genau in die Bettnische. Talawain, der sonst nicht viel auf Omen gab, nahm es als ein Zeichen. Noch einmal ging er zu der Wand. Der Lichtpunkt leuchtete mitten auf den roten Lehmputz. Er klopfte rings um das Licht die Wand ab, in der Hoffnung einen verborgenen Hohlraum zu finden. Aber da war nichts. Im Gegenteil, diese Wand schien sogar besonders solide zu sein.

Der Elf stutzte. Warum sollte eine Wand stärker als alle anderen sein? Er trat aus der Nische und klopfte auf das Wandstück daneben. Der Ton klang dumpfer, erdiger.

Talawain nahm eines der Messer vom Arbeitstisch und kniete sich auf Rowayns Bett. Vorsichtig begann er, mit der Klinge am Lehm zu kratzen. Bald schon brach ein Stück heraus, und darunter kam hellerer, festerer Putz zum Vorschein. Auf dem Stück, das er freigelegt hatte, war eine stilisierte Palme auf ockerfarbenem Untergrund zu sehen.

Aufgeregt schob Talawain das Messer unter die Bruchkante und hebelte mehr Lehm von der Wand. Eine gestrichelte Linie, die durch das Ocker führte, kam zum Vorschein. Er folgte der Linie, bis weitere Palmen und dann eine Gruppe Häuser erschienen, die von einer Mauer umgeben waren. Daneben war ein schwarzer Schriftzug auf dem Putz aufgetragen: Alalach.

Talawain kannte die Stadt dem Namen nach. Sie lag nicht weit von der Grenze zu Aram in einer fruchtbaren Ebene. Er hatte Rowayns Geheimnis entdeckt!

Sinnend betrachtete er die Wand und versuchte zu schätzen, wo unter dem roten Putz er Isatami finden würde, wenn die Karte maßstäblich gezeichnet war. Nur eine genaue Karte würde ihm bei seiner Suche wirklich helfen. Er setzte drei Ellen entfernt, links oberhalb von Alalach, die Klinge an und hatte bald eine Lücke in den Lehm gekratzt. Erst fand er nur Hügelland, in dem vereinzelt Zedern eingezeichnet waren, dann stieß er erneut auf eine gestrichelte Linie, die gewiss einen Karawanenweg darstellte. Er folgte ihr und legte eine Gruppe von roten Häusern frei, in deren Mitte sich eine Zikkurat erhob, die große Stufenpyramide, die Isatami beherrschte.

Stundenlang arbeitete Talawain weiter und legte immer größere Teile der Karte frei. Er hatte keine Ahnung, wo er nach dem Haus des Himmels suchen sollte. Unweit der Grenze zu Drusna war der Berg Luma eingezeichnet. Jener Berg, auf dem einst die Devanthar Anatu einen Palast aus Mondenlicht errichtet hatte. Talawain hatte diese Geschichte immer für eine der vielen Legenden um Išta gehalten, denn diese hatte Anatu im Kampf überwunden und im Gelben Turm eingekerkert. Aber wenn Rowayn den Berg auf seiner Karte an einem ganz konkreten Ort eingezeichnet hatte, dann musste er Beweise dafür entdeckt haben, dass es diesen Palast wirklich gab.

Rowayns Karte war ein Schatz! Alles Mögliche war darauf verzeichnet, auch Erzgruben, Handelsrouten oder die geheimen Siedlungen der Erzschmiede, in denen die hochwertigen Eisenwaffen für das Heer Luwiens hergestellt wurden. Und dort, wo der Platz es erlaubt hatte, waren sogar Nachbarreiche eingezeichnet. So war ein Teil des nördlichen Aram zu sehen, bis hin zur großen Kupfermine Um el-Amand, in deren Nähe sich das von den Devanthar bewachte Dunkle Tal befand – auch dieser Ort fehlte auf Rowayns Karte nicht.

Es war tief in der Nacht, als Talawain das Haus des Himmels fand. Es lag in einer schroffen Bergkette weit im Norden von Luwien, nicht fern der Grenze zu Ischkuza. Ein siebenstrahliger, goldener Stern verriet, dass es einen großen Albenstern in dem Tal gab. Aber diesen Weg würde er nicht nehmen können, dachte Talawain.

Erschöpft ließ er sich auf das über und über mit Lehmbrocken bedeckte Lager seines toten Freundes sinken. Endlich war seine Suche zu Ende. Bis zur Kirschblüte in den Bergen würden noch viele Monde vergehen, hatte der Winter doch noch nicht begonnen.

Er würde die Karte kopieren, entschied Talawain. Das hinter dem Putz verborgene Land war das Lebenswerk von Rowayn gewesen. Er war gestorben, ohne sein Geheimnis weitergeben zu können. Er schuldete es ihm, dass dieses Wissen nicht verloren ging. Auch musste der Himmlische vom Götterfest erfahren, das zum nächsten Frühjahr in Selinunt stattfinden sollte. Doch wie sollte er es anstellen, dass die Himmelsschlange ihn wieder hierher zurückkehren ließ? Dem großen Drachen bedeutete Shaya nichts.

Zu aufgewühlt, um einzuschlafen, und zu erschöpft, um durch den Tunnel in seine Werkstatt zurückzukriechen, dachte er über seine Zukunft nach, und er entschied, etwas zu tun, wovon er schon lange geträumt hatte.

Der Held eines Winters

»Ein ums andere Mal schlug Arcumenna, der Laris von Truria, unsere tapferen Krieger, denn er führte Krieg, wie sein Unsterblicher Herrscher Städte baute. Eine Mauer von Schilden war seine erste Schlachtreihe, dahinter standen Tausende Bogenschützen, die dunkle Wolken des Todes auf die Tapferen der Wälder niedergehen ließen. Auf den Flanken des Schildwalls die Streitwagen, bereit vorzustoßen, wenn der Angriff im Pfeilsturm zerbrach. Arcumenna besiegte Heere, die seinen Truppen um das Dreifache überlegen waren, denn für die Männer Drusnas ist der Krieg eine Sache der Ehre. Ein Duell, in dem der bessere Schwertkämpfer siegt. Doch Ehre ist ein schlechter Schild gegen Pfeile. Bei jedem Kampf starben Hunderte von uns, noch bevor ihre Schwerter und Äxte die Schilde der Feinde berührt hatten. Drusna verlor seine Helden und weite Landstriche, und zuletzt verlor es auch den Mut zu kämpfen, denn die tapfersten jungen Männer waren längst auf unzähligen Schlachtfeldern verblutet. So wurde ein Friede geschlossen, den der Unsterbliche Ansur diktierte.

Ein Friede sollte das Ende des Sterbens bedeuten. Der Friede aber, den die Valesier Drusna auferlegten, war nicht von dieser Art. Sie plünderten die Vorräte, sodass in jenem Winter auch im entlegensten Dorf der Wälder Hunger Einzug hielt. Und bevor der Frühling kam, waren erneut viele zu den Ahnen gegangen, obwohl die Waffen ruhten. Als aber der zweite Hungerwinter drohte, da erhob sich einer, der Volodi von Drei Eichen genannt wurde. Und er stahl den Valesiern das Vieh, das sie gestohlen hatten, und er erschlug ihre Krieger, wo immer er sie fand. Seine Beute aber verschenkte er freimütig, und bald schon hatte sich ein ganzes Heer um sein Banner versammelt.

Als aber der erste Schnee fiel, verschwand Volodi, als sei er nur ein Geist des Herbstes gewesen und dahingegangen wie die goldenen Blätter der Eichen. Der Unsterbliche Iwar aber hatte neuen Mut gefasst, denn endlich war ein Mann gekommen, der den Drusniern zeigte, dass sie noch siegen konnten. Und Iwar stellte sich gegen die Vasallen des Unsterblichen Ansur, die wie Fürsten in Drusna regierten und das Land bis aufs Blut ausbeuteten, damit ihr Herrscher seine Weiße Stadt bauen konnte. Iwar hob den Bann auf, der gegen Volodi gesprochen war und der den größten Helden Drusnas zu einem Gesetzlosen gemacht hatte. Und obwohl es mitten im Winter war, schickte er seine Boten in alle Winde, auf dass sie Volodi suchten und dem Volk verkündeten, dass ihr Held künftig der Hauptmann der Leibwache im Königspalast sei und der erste Berater Iwars. Jeder in den Wäldern sollte erfahren, dass eine neue Zeit angebrochen war.

Niemand ahnte zu jener Zeit, dass die Valesier längst ihre Schlingen ausgelegt hatten und beschlossen war, dass der, den ihre Schwerter nicht niederzustrecken vermochten, in Selinunt sterben sollte. Die Nacht vor dem Opferfest, zu dem sich alle Unsterblichen versammeln wollten, sollte Volodis letzte Nacht werden (…)«

Das Buch der Wälder – Die Chronik der Könige Drusnas, Bd. I: Von den Anfängen bis zum Jahr des Flammenden Himmels. Kapitel XCII, S. 776 ff., verwahrt in der Bibliothek des Heiligen Guillaume in Aniscans.

Ein Freundschaftsbesuch

Arcumenna war sich der hasserfüllten Blicke, die jedem seiner Schritte folgten, nur zu bewusst. Und er war dankbar, dass ihm der Unsterbliche Ansur eine Eskorte seiner Palastwache mitgegeben hatte. Zu viele Valesier waren in den letzten Wochen in Drusna gemeuchelt worden, und Arcumenna wollte nicht Teil dieser Namensliste werden, an deren Anfang der verdiente Laris Alba stand.

Die genagelten Sohlen seiner Stiefel knallten im Gleichschritt mit denen seiner Leibwachen, als sie die schmutzige Halle des Langhauses durchquerten, das der Unsterbliche Iwar einen Palast nannte. Das Einzige, was die Halle von den dreckigen, wanzenverseuchten Katen seiner Untertanen unterschied, war ihre Größe und die verschwenderische Ausstattung mit Gold. So waren die wuchtigen Eichsäulen, auf denen die Dachbalken ruhten, mit Goldblech beschlagen. Man musste schon ein Barbar sein, um zu glauben, dass die reichliche Verwendung von Gold jedes Gebäude veredelte. Wie anders war da das Weiße Selinunt, das sein Herrscher, der Unsterbliche Ansur, errichten ließ. Nur wenige Wochen noch und die Stadt wäre vollendet. Der Stein gewordene Traum eines großen Herrschers.

Sie hielten vor der apfelgrünen Tür am Ende der Halle. Zwei bullige Drusnier mit ungepflegten Bärten lehnten dort auf schweren doppelköpfigen Äxten. Allein ihr Anblick ließ Arcumenna die Galle überlaufen. Was sie hier taten, war herumzulümmeln, statt Wache zu stehen. Und der Linke der beiden stank auch noch nach billigem Wein. Hier in Drusna war alles dreckig und heruntergekommen. Wie sehr er dieses Königreich hasste!

»Ich bin Arcumenna, der Laris von Truria, Gesandter des Unsterblichen Ansur von Valesia. Ich bringe wichtige Nachricht für euren Herrn, den Unsterblichen Iwar.«

»Iwar ist jetzt beschäftigt«, entgegnete abfällig grinsend der Kerl, der nach Wein stank. »Du wirst später wiederkommen müssen, Memma.«

»Das kann ich wohl tun, aber ist es weise, den Zorn von vielleicht gleich zwei Unsterblichen zu riskieren, nur weil du nicht kurz zu deinem Gebieter gehen magst, um in einer dringlichen Angelegenheit um einen Augenblick Zeit für mich zu bitten? Ich weiß nicht, wie es um den Langmut deines Herrschers bestellt ist, wackerer Recke mit dem Odem vergorener Trauben, aber der Unsterbliche Ansur pflegt seinen Untergebenen schon für geringere Ärgernisse den Kopf vor die Füße zu legen.«

Der Drusnier starrte ihn aus kleinen, blauen Äuglein an. Seine Wangen röteten sich, und eine steile Zornesfalte bildete sich zwischen den Brauen.«Hä? Was sagst du? Kannst du auch ordentlich reden?«

»Memma meint, Iwar könnte herumschreien, wenn wir ihn nicht zu unserem Herrscher bringen.«

»Aber …«

Der zweite Wachposten winkte abwiegelnd und öffnete das Tor. »Soll er sich nur mit Iwar herumschlagen.« Mit diesen Worten öffnete er die Tür. »Deine Leibwächter bleiben hier. Die brauchst du dort nicht. Wir sind hier doch unter Freunden.«

Die Ironie des Wächters gefiel Arcumenna nicht. Er merkte sich genau das Gesicht des Mannes, der eine kleine, rote Narbe unter seinem linken Auge hatte. Wenn sich die Gelegenheit bot, würde er ihn beseitigen lassen. Dieser Krieger war intelligent und aufsässig. Solche Männer sollte Iwar nicht um sich haben, das würde künftig nur Ärger bringen.

Der Krieger führte ihn über einen kleinen Flur, der vor einer roten Tür endete. Energisch klopfte er. Von drinnen erklang irgendein unartikulierter Laut, den der Krieger offenbar als Aufforderung zu öffnen verstand.

»Du bist willkommen«, sagte er mit spöttischem Lächeln und zog die Tür auf.

Arcumenna hatte kaum einen Fuß über die Schwelle gesetzt, als neben ihm klirrend ein Weinkrug an der Wand zerbarst. »Ich wollte nicht gestört werden«, grollte eine trunkene Bassstimme. »Raus mit euch!«

Auf einem hohen Lehnstuhl hockte ein schwarzbärtiger Kerl, massig wie ein Bär. Zwei dralle, blonde Frauen standen hinter ihm. Eine kraulte ihm das lockige Haar, während die zweite eher lustlos an einer Harfe zupfte.

Arcumenna kniete vor dem Unsterblichen Iwar nieder. »Mein Gebieter, der Unsterbliche Ansur schickt mich mit einer dringenden Botschaft, Erhabener. Ich bitte Euch, mich zu erhören.«

Iwar blinzelte, als habe er Mühe, ihn zu erkennen. Offensichtlich war der Unsterbliche wieder einmal sturzbetrunken. Arcumenna konnte sich nicht erinnern, den Herrscher Drusnas jemals nüchtern gesehen zu haben. Kein Wunder, dass sein Königreich vor die Hunde ging.

»Du kannst bleiben«, murrte Iwar.

»Ich bitte es zu entschuldigen, wenn ich Umstände mache, aber die Angelegenheiten, die wir zu besprechen haben, erfordern eine gewisse Diskretion.« Arcumenna liebte es, der Sprache der Barbaren ein Maximum an Förmlichkeit abzuringen. Damit löste er jedes Mal Verblüffung aus. Seine Grammatik und seine Aussprache waren vollkommen, und doch redete kein Drusnier wie er.

Iwar glotzte ihn einen Moment an, als müsse er die gehörten Worte neu sortieren, um ihnen einen Sinn abzuringen. »Geht«, fuhr er plötzlich die Weiber an, die sich beeilten, das Zimmer zu verlassen.

Eine Hand legte sich schwer auf Arcumennas Schulter. »Dein Schwert und deinen Dolch, Memma. Du wirst keine Klingen brauchen, wenn du mit meinem Herrscher sprichst. Deine giftige Zunge ist schon Waffe genug.«

Der Valesier erhob sich, löste seinen Waffengurt und drückte ihn dem Leibwächter in die Hand. Augenblicklich verließ der Krieger den Raum und schloss hinter sich die Tür.

»Dann pack mal aus, Memma.«

Es fiel Arcumenna schwer, seinen Zorn zu beherrschen. Dass selbst der Unsterbliche ihn mit dem Spottnamen ansprach, den man in ganz Drusna für ihn benutzte, war ein unverzeihlicher Affront. Aber Spott war das Letzte, was den Drusniern geblieben war, alles andere hatten sie ihnen abgenommen, dachte der Feldherr, und seine Laune besserte sich ein wenig.

»Der Unsterbliche Ansur ist bedrückt über die Verstimmung, die zwischen deinem Volk und seinen Männern herrscht.«

Iwar lachte auf. Es war lautes, freudloses Gelächter. »Verstimmung? Nenn die Dinge doch beim Namen: Dutzende eurer Krieger wurden niedergemetzelt. Meine Steuereintreiber wurden gehenkt, wenn sie sich mit weniger als hundert Reitern als Eskorte in die Wälder wagten. Außenposten sind niedergebrannt, und Hunderte Lasttierladungen von Abgaben, die wir eingezogen haben, wurden gestohlen. Verstimmung … das ist wirklich nicht das, was die Stimmung in meinem Königreich beschreibt.«

»Doch seit dieser Volodi verschwunden ist, ist es wieder etwas ruhiger geworden«, wandte Arcumenna ein, der sehr wohl um die Lage in Drusna wusste. Vor zwei Wochen war er aus der Goldenen Stadt abberufen worden. Seitdem hatte er unzählige Stunden damit verbracht, Berichte über den Aufstand in Drusna zu studieren und mit Männern zu sprechen, die Augenzeugen der Überfälle gewesen waren.

»Der Kerl wird wiederkommen.« Iwar erhob sich leicht schwankend aus seinem Lehnstuhl, ging zu dem kleinen Tisch neben dem zerwühlten Bett und schenkte sich einen Becher Wein ein. »Auch was? Ist guter Wein, kommt von den Aegilischen Inseln.«

Sosehr Arcumenna sonst den schweren Roten der Aegilen schätzte, nun lehnte er dankend ab. Es galt, bei dieser heiklen Mission einen klaren Kopf zu behalten. »Der Unsterbliche Ansur wünscht nicht zu warten, bis es dem Banditen beliebt wiederzukommen. Er wäre sehr erfreut, wenn Ihr alle Kräfte aufbieten würdet, um nach ihm suchen zu lassen, erhabener Iwar.«

»Jetzt, da der Winter begonnen hat?« Der Unsterbliche knallte den Weinkrug auf den Tisch. »Hast du eine Vorstellung, worum du mich da bittest?«

»Mit Verlaub, nicht ich bitte Euch, sondern der Unsterbliche Ansur.«

»Ein Mann, der sich im Winter in den Wäldern verkriecht, ist unauffindbar.« Iwar machte eine vage Geste zum verschlossenen Fenster. »Dieser Volodi hat da draußen mehr Freunde als ich. Niemand wird verraten, wo er sich verkrochen hat. Sollte ich mir einfallen lassen, ihm etwas anzutun, kostet mich das den Thron.«

»Aber, aber …« Arcumenna hob beschwichtigend die Hände. »Wer sagt denn, dass Ihr diesem Rebellen etwas antun sollt. Dem Unsterblichen Ansur ist die schwierige Lage, in der Ihr Euch befindet, vollauf bewusst. Ihr sollt Volodi nicht bestrafen. Ganz im Gegenteil. Lobt ihn in aller Öffentlichkeit für das, was er getan hat. Und dann ernennt ihn zum Hauptmann Eurer Leibwache. Fordert ihn auf, hierher an den Hof zu kommen, und schwört vor Euren Priestern, dass Ihr ihn mit Eurem Leben beschützen werdet, sollte ein Valesier versuchen, Volodis Blut zu vergießen.«

Iwar glotzte ihn an und traute ganz offensichtlich seinen Ohren nicht.

»Natürlich werden wir vor aller Welt gegen diese Ehrungen protestieren, aber vertraut mir, das wird nichts zu bedeuten haben. Es ist der ausdrückliche Wunsch des Unsterblichen Ansur, dass Ihr Volodi an Euren Hof holt und wie Euren besten Freund behandelt.«

»Und warum sollte ich das tun?«, fragte der Herrscher misstrauisch.

»Euer Volk wird Euch dafür lieben. Aber das ist zugegebenermaßen nur eine Nebensächlichkeit … Wirklich von Bedeutung ist, dass Euch der Hauptmann Eurer Leibwache zum Fest der Götter ins Weiße Selinunt begleiten wird. Dort werden er und seine Zapote-Priesterin für immer verschwinden. Der Unsterbliche Ansur hat mir bereits die Gruft gezeigt, die für die beiden vorgesehen ist. Ein Hohlraum im Fundament des Tempels der kleinen Götter. Niemand wird sie dort je wiederfinden. Gewiss wird Volodi in den Sagen deines Volkes unsterblich werden. Sie werden allen möglichen Unsinn zurechtspinnen, wie es immer geschieht, wenn jemand einfach verschwindet. Ist er erst einmal fort, wird die Rebellion sehr schnell in sich zusammenbrechen.«

»Muss ich ihn töten?« Ein weinerlicher Ton lag in der Stimme des Säufers.

»Sagen wir einmal so, es wird nicht sein Blut an deinen Händen haften.«

Von der Ehre

Talawain genoss den scharfen Ritt durch den herbstlichen Wald. Die Bäume hatten sich in strahlendes Gold gewandet. Der würzige Duft verrottenden Laubes lag in der Luft und erinnerte daran, dass all die Pracht des lichten Waldes nur ein Vorspiel zum Todesschlaf des Winters war. Eine plötzliche Bö zog einen Schleier wirbelnder Blätter über den Hohlweg.

Talawain duckte sich dicht über den Nacken des Rappen. Der Wind spielte mit seinem offenen Haar. Warmes Fell liebkoste seine Wange. Er spürte das Rauschen des Blutes unter dem seidigen Haar, den wilden Herzschlag des Hengstes, der den ausgelassenen Ritt ebenso genoss wie er. Der enge Waldweg öffnete sich auf eine Lichtung, die von einem prächtigen Herrenhaus beherrscht wurde. Doch hier waren der Natur Zügel angelegt. Kein goldenes Blatt lag auf dem gestutzten Gras, das viel zu grün für diese Jahreszeit war. Aber vielleicht hatte er auch zu viele Jahre in Königreichen verbracht, in denen die gnadenlose Sonne allzu schnell jedes Grün vergilben ließ.

Nahe beim Haus standen blühende Kirschbäume. Nun spürte Talawain deutlich die Vielzahl von Zaubern, die gewoben waren, um den natürlichen Ablauf der Jahreszeiten dem Willen des Hausherrn unterzuordnen. Fast hatte er vergessen gehabt, wie sehr sein Vater diese Spiele liebte, wie viel es ihm bedeutete, alles in seiner Umgebung zu beherrschen. Es war einer der Gründe gewesen, warum er vor über einem Jahrhundert in die Blaue Halle geflüchtet war. Damals hatte er der Tyrannei entfliehen wollen. Und nun war dies der einzige Ort in ganz Albenmark, an den er gehen konnte. Überall anderswo würde man ihn aufhalten. Und ausgerechnet sein tyrannischer Vater, der Schatten, der über seiner Kindheit lag, hatte diese Macht für immer verloren. Deshalb kam er hierher. Talawain wusste nicht, ob Solaiyn ihm helfen würde. Er war sich nur sicher, dass der alte Fürst ihm keine Fesseln mehr auferlegen konnte.

Feiner, weißer Kies spritzte unter den Hufen, als er seinen Hengst zügelte und in eine langsamere Gangart fallen ließ. Im Säulengang des linken Flügels des Anwesens erschienen zwei Silene – bocksbeinige Tunichtgute mit wilden Bärten und waldgrünen Augen, in denen der Schalk glänzte. Einer der beiden eilte auf den Kiesweg und griff nach den Zügeln des Rappen. »Du erlaubst, dass ich dein Pferd unterstelle, Herr?«

Talawain musste unwillkürlich lächeln. Ihn Herr zu nennen und gleichzeitig zu duzen, war außergewöhnlich subtil für einen Silen. Das musste der Einfluss seines Vaters sein, der zweifellos diesen beiden Raufbolden ebenso seinen Willen aufgezwungen hatte, wie der Natur auf der Lichtung, die sein Heim umgab. Die beiden hatten noch nicht im Dienst seines Vaters gestanden, als er das letzte Mal hier gewesen war. Das musste vor … vierzehn Jahren gewesen sein. Ja, so lange war es her, dachte er bestürzt. Die Zeit war wie im Flug vergangen.

»Reib ihn trocken, und gib ihm etwas Hafer zu fressen«, befahl Talawain und schwang sich aus dem Sattel. Er trat in den Säulengang und winkte dem zweiten Silen. »Bring mich zu Fürst Solaiyn.«

Der Bocksmann maß ihn mit düsterem Blick. »Ich glaube, der Fürst ist nicht in der Stimmung, Fremde zu empfangen. Er hat sich zurückgezogen. Bittsteller empfängt er erst morgen wieder.«

»Melde ihm seinen Sohn Talawain als Bittsteller, vielleicht ist er dann gnädiger gestimmt.«

Der Silen zog die buschigen Augenbrauen zusammen und musterte ihn argwöhnisch. »Du bist nicht tot?«

Talawain blickte lächelnd an sich hinab. »Offensichtlich nicht.«

»Aber alle …« Der Silen stockte, rang einen Moment mit sich und fuhr dann fort: »Gewiss wird dein Vater dich empfangen, junger Herr.« Er wandte sich um und eilte mit klappernden Hufen zum südlichen Flügel. Dort öffnete er die Tür zu einem langen Korridor und hielt inne. »Du findest deinen Vater in der kleinen Bibliothek hinter dem Tanzsaal. Um diese Tageszeit ist er immer dort und blickt hinaus aufs Meer. Vielleicht ist es besser, wenn du gleich selbst zu ihm gehst, junger Herr. Mir würde er womöglich nicht glauben, wenn ich von deiner Ankunft berichte.«

Wie es schien, war sein Vater noch tyrannischer geworden, dass der Silen ihn so sehr fürchtete. Der bocksbeinige Diener verbeugte sich und Talawain betrat den Korridor. Fast dreißig Schritt maß der lichtdurchflutete Gang, der sich entlang des ganzen Südflügels des Hauses erstreckte. In Wandnischen waren Statuen aufgestellt, Arbeiten der erlesensten Bildhauer Arkadiens. Talawain entdeckte zwei neue Standbilder, die seit seinem letzten Besuch hinzugekommen waren. Eines zeigte einen gebückten Athleten, der seine Beinmuskeln dehnte. Das zweite einen Jäger mit gesenktem Bogen, der in die Ferne spähte. Beides waren nackte Männer.

Schmunzelnd erinnerte er sich an die Kommentare seiner beiden kleineren Schwestern über die nackten Männer. Wie sie mit errötenden Wangen gekichert hatten. Als Kinder hatten sie hier manchmal heimlich Verstecken gespielt und sich dabei hinter die Sockel der Standbilder gezwängt. Dabei hatte sein jüngerer Bruder einmal aus Versehen den Finger eines marmornen Kobolds abgebrochen. Ihr Vater Solaiyn hatte ihn zur Strafe dafür drei Tage ohne Licht in die Familiengruft gesperrt. Alles Bitten und Flehen hatte ihn davon nicht abbringen können. Als Asfahal seine Strafe abgesessen hatte, war er verändert gewesen. Noch am selben Tag hatte er einer der geliebten Statuen ihres Vaters mutwillig eine Hand abgehackt. Danach hatte er ein Pferd gestohlen und das Haus für immer verlassen. Er war erst siebzehn gewesen. Ein Kind noch, denn Elfen verließen üblicherweise erst irgendwann in den Fünfzigern ihre Familie, um ihre eigenen Wege zu gehen.

Talawain beschleunigte seine Schritte. Plötzlich waren die Erinnerungen, die in ihm aufstiegen, unangenehm. Er hatte so vieles verdrängt. Über zehn Jahre hatte er nicht mehr an seinen Vater und seine Geschwister gedacht. Und nun kam er, weil er einen Gefallen erbitten wollte, den ihm niemand sonst gewähren würde. Er strich über das Kartenrohr aus zähem Leder, das er wie einen Köcher auf dem Rücken trug.

Als er die Tür zur kleinen Bibliothek erreichte, öffnete er, ohne anzuklopfen. Sein Vater stand mit vor der Brust verschränkten Armen an einem der großen Fenster, die auf das Meer blickten. Er wandte sich nicht um, obwohl er ganz sicher gehört hatte, dass jemand den Raum betreten hatte. Sein schulterlanges, silberblondes Haar wurde von einem schmucklosen, goldenen Stirnreif zurückgehalten. Er trug einen langen, gerade geschnittenen Hausmantel aus feinem, flaschengrünem Tuch, der genauso aussah wie jene Mäntel, an die Talawain sich aus seiner Kindheit erinnerte.

»Ich freue mich, Euch bei guter Gesundheit zu sehen«, sagte Talawain förmlich. Ein herzlicher Umgangston war nicht die Sache seines Vaters.

Solaiyn wandte sich langsam zu ihm um. Seine linke Braue hob sich ein wenig. Ob das Überraschung oder Missbilligung ausdrückte, vermochte Talawain nicht zu beurteilen.

»Wie ich sehe, hast du deinen eigenen Tod verpasst, mein Sohn.« Er nickte sanft, und der Anflug eines Lächelns spielte um seine blassen Lippen. »Erfreulich.«

Das Gefühl, das das Wort ausdrücken sollte, fand keinen Widerhall im Tonfall Solaiyns.

Das Gesicht seines Vaters war schmaler geworden, seit sie sich zuletzt begegnet waren. Sehr deutlich zeichneten sich seine hohen Wangenknochen auf der marmorweißen Haut ab. Asfahal hatte früher immer gesagt, Vater sehe selbst aus wie eine seiner Statuen, nur dass sein Herz noch härter als Stein sei.

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Ihr mit meinem verpassten Tod meint, Vater.«

»Du bist also gerade erst zurückgekehrt«, stellte Solaiyn ohne weitere Erklärung nüchtern fest. »Eure übermütigen Sticheleien sind mit einem vernichtenden Schlag beantwortet worden.«

»Wovon sprichst du?«

»Vom Unheil, das die Elfen der Blauen Halle heraufbeschworen haben!« Er war jetzt in denselben Tonfall verfallen, in dem er Asfahal einst verkündet hatte, dass er ihn in die Familiengruft sperren würde. »Weil ihr sie gereizt habt, haben die Devanthar die letzte Grenze überschritten. Sie sind nach Albenmark gekommen und haben die Blaue Halle vernichtet! All die Narren, mit denen du dich verschworen hast, sind tot. Selbst der Himmlische wurde von den Devanthar ermordet. Und so, wie ich hörte, haben sie auch gründlich mit den Spitzeln aufgeräumt, die ihr törichterweise in eurem Wahn, ihr könntet vor den Devanthar verborgen bleiben, nach Daia geschickt habt.«

Talawain hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Er taumelte einen Schritt zurück und musste sich an einem der Bücherregale abstützen. »Das kann nicht sein …«, stammelte er. Und doch erklärte es alles. »Der Himmlische …«

»Er wurde in euren unterirdischen Gewölben unter einem Gebirge aus Felsgestein begraben«, fuhr sein Vater gnadenlos fort. »Deine Himmelsschlangen leiden unter Größenwahn. Nur weil die Alben es ihnen überlassen haben, sich um die Geschäfte der Schöpfung zu kümmern, sind sie noch lange keine Götter wie die Devanthar. Das ist ganz so, als würde sich mein Türwächter plötzlich für den Erbauer und Herrscher dieses Palastes halten, nur weil ich den Schlüssel dazu seiner Obhut überlassen habe.«

Talawain hob beschwörend die Hände. »Lasst es, Vater. Hört auf! Viele gute Freunde von mir sind tot. Verschont mich mit Eurem Sarkasmus. Ich will nicht …« Seine Stimme brach. Die Blaue Halle zerstört! Er konnte sich das einfach nicht vorstellen. Sie waren die Augen und Ohren der Himmelsschlangen gewesen. Wie hatte ihnen entgehen können, dass die Devanthar auf ihre Vernichtung sannen! Hatte sein Vater etwa recht? Waren sie zu eitel und selbstgefällig geworden, um die Gefahren zu bemerken, die sie durch ihre Taten heraufbeschworen hatten?

»Setz dich«, sein Vater deutete auf den großen Lehnstuhl vor dem Kamin. »Du siehst aus, als seist du sehr erschöpft. Soll ich dir etwas zu trinken bringen lassen?« Sein Tonfall war noch immer kühl und distanziert, und doch waren es die mitfühlendsten Worte, die er von seinem Vater je gehört hatte.

Talawain ließ sich in das weiche Leder sinken. Er starrte in den Kamin, auf die zusammengefegte Asche und versuchte für sich, seine Welt neu zu ordnen, in der alles verloren war, wofür er die letzten Jahrzehnte gelebt hatte.

»Du wirst wieder gehen, nicht wahr?«

Talawain blickte in das harte, ausgezehrte Gesicht des alten Elfen. Jetzt erst sah er die Traurigkeit, die dort regierte: die Falten, die Bitterkeit und der Ehrgeiz, sich auf keinen Fall irgendwelche Gefühle anmerken zu lassen. »Ja, ich werde wieder gehen. Ich bin hier, weil ich Eure Hilfe brauche. Weil Ihr der Einzige seid, dem ich im Augenblick vertraue.«

Erneut spielte ein dünnes Lächeln um Solaiyns Lippen. »Ich hätte nicht erwartet, so etwas je aus deinem Munde zu hören. Dass ich der Einzige bin, dem du noch vertraust. Es hört sich so an, als hättest du genauso wenig Freunde wie ich.«

»Meine Freunde sind tot. Und jene, die leben, werden mich nicht nach Daia zurückgehen lassen. Aber ich habe noch eine letzte Pflicht zu erledigen. Es ist eine Frage der Ehre.«

»Eine Frage der Ehre?«

Da war er wieder, jener sarkastische Tonfall, der Talawain und seinen Geschwistern die Kindheit und Jugend vergiftet hatte.

»Versteh mich nicht falsch, Junge. Ich werde dich nicht aufhalten. Ich möchte nur verstehen, warum du gehst. Alle sind gegangen, und bei deinen Geschwistern habe ich die Gelegenheit versäumt, sie zu fragen, womit ich sie vergrault habe.«

Talawain dachte daran, wie sein Vater am Fenster gestanden hatte, als er eingetreten war. Solaiyn war auf der Suche nach dem Weg, der ihn in die Einsamkeit geführt hatte. Wollte er ihn zurückgehen? Oder wollte er nur verstehen? Sein Vater sollte zumindest sein Leben kennen. Das schuldete er ihm. Und bald schon wäre er der Letzte, der es kennen würde. Talawain war sich nur zu bewusst, wie schlecht seine Aussichten waren, von der Reise zum Haus des Himmels zurückzukehren.

Und so erzählte er von seinem Leben, seinen Missionen im Dienst der Blauen Halle, den vielen Jahren, in denen er als Hofmeister des Unsterblichen von Aram die Geschicke eines Reiches entscheidend mitbestimmt hatte, das um ein Vielfaches größer war als Arkadien. Er berichtete auch von der Blauen Halle, seinen Freunden dort und von der Großmut und Weisheit des Himmlischen. Es war der Bericht seines Lebens.

Vor den Fenstern war es längst dunkel geworden. Sein Vater hatte ein Feuer im Kamin entfacht und sich einen weiteren Sessel geholt, als er zum Stehen zu müde geworden war. Nicht ein einziges Mal hatte Solaiyn ihn unterbrochen, als habe er Angst gehabt, ein falsches Wort könne den Redefluss seines Sohns zum Verstummen bringen.

Nachdem Talawain seine Erzählung beendet hatte, saßen sie lange schweigend beieinander und blickten ins Feuer. Es war ein angenehmes, verstehendes Schweigen. Eine Stille, die jedem Raum für seine eigenen Gedanken ließ.

»Du hattest ein erfüllteres Leben als ich«, sagte sein Vater schließlich. »Auch wenn ich die geflügelten Tyrannen nicht schätze, werde ich eine der Himmelsschlangen aufsuchen und ihr die Kopie von Rowayns Karte und deinen Bericht über die bevorstehende Versammlung der Devanthar und der Unsterblichen überreichen.«

»Danke.«

»Doch nun habe auch ich eine Bitte an dich. Sei dir dessen ganz bewusst, warum du gehst!«

»Es ist eine Frage der Ehre«, entgegnete Talawain und war auf der Hut. Der Abend war gut gewesen. Würde sein Vater zum Schluss doch wieder alles verderben?

»Ehre!«, sagte er spöttisch. »Ehre ist nicht mehr als ein Schleier, hinter dem sich stets dunkle Gefühle verbergen. Versteh mich nicht falsch, Junge, ich respektiere deinen Mut, daran scheint es dir wahrlich nicht zu fehlen. Lediglich an Verstand.«

Talawain seufzte und erhob sich. Wie hatte er hoffen können, dass sein Vater sich verändert hatte? Ihm fehlte es wohl tatsächlich an Verstand! »Es ist spät, ich werde mich zur Ruhe begeben.«

Solaiyn griff nach seinem Arm und hielt ihn zurück. »Bleib. Ich … Bitte verzeih mir, du kennst meine schroffe Art. Aber so soll es heute nicht enden. Ich wünsche mir nur, dass du dir über deine wirklichen Gefühle im Klaren bist, wenn du in deine letzte Schlacht in der Welt der Menschenkinder ziehst. Es wird dich stärker machen.«

»Und Ihr wisst etwas über meine Gefühle, Vater?«

»Glaub mir, Junge, ich hatte sehr viel Zeit, über falsches Ehrgefühl nachzudenken und so manches zu bedauern, was ich in meinem Leben getan habe. Ehre ist etwas, was noch weniger greifbar ist als die Liebe. Jeder versteht etwas anderes darunter. Die Ehre einer Frau kann in einer einzigen Liebesnacht vernichtet werden. Ich habe Gleiches aber noch nie über einen Mann gehört. Im schlimmsten Fall nimmt sein guter Ruf ein wenig Schaden, wenn er sich auf das Liebesabenteuer einlässt. Läuft ein Mann vor einem Kampf davon, ist seine Ehre dahin. Einer Frau – selbst einer Kriegerin – sieht man das nach. Und wie oft, wenn vermeintlich um die Ehre gekämpft wird, geht es in Wahrheit um dunklere Gefühle? Um verletzte Eitelkeit, den Wunsch nach Rache oder anderes … Wer für etwas Edles einsteht, der muss nicht die Ehre vorschieben, sondern nennt seinen Grund zu kämpfen beim Namen.«

Im ersten Moment war Talawain ärgerlich, und er wollte schon gehen, als ihm bewusst wurde, dass dies eine Flucht wäre. Diesmal würde er vor der Antwort fliehen, die sein Vater eingefordert hatte, und nicht vor der harschen Art Solaiyns.

Er blieb sitzen. Warum fiel ihm die Antwort so schwer? Tat er es wirklich für den Unsterblichen Aaron? Er würde ein besserer Herrscher sein, wenn er Shaya zur Seite hatte. Oder wollte er auf diese Weise Kazumi rächen, indem er Ištas Pläne durchkreuzte? »Ich glaube, ich tue es, weil Shayas Leben nicht verlöschen darf, und ich der Einzige bin, der dies noch verhindern kann.«

Sein Vater nickte. »Aber wohin soll die Prinzessin gehen, wenn du sie rettest? Sie kann niemals zu dem Unsterblichen zurückkehren, denn wenn sie erkannt wird, dann ist das ihr Tod, und auch dieser König Aaron wird in schwere Bedrängnis geraten. Zu ihrem Volk kann sie auch nicht mehr zurückkehren. Hast du dir das reiflich überlegt? Würde sie das Leben, das du ihr schenkst, wirklich haben wollen?«

»Ja.« Natürlich war er sich dieser Schwierigkeiten bewusst. Viele Nächte hatte er wach gelegen und darüber nachgedacht. Und es gab den einen einzigen, verzweifelten Weg, dieses Dilemma zu lösen.

Er verriet ihn seinem Vater.

Solaiyn sah ihn erschüttert an. Nie zuvor hatte Talawain Tränen in den Augen seines Vaters gesehen. Der alte Elf zog ihn an sich, hielt ihn in den Armen und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. »Du bist ein besserer Mann, als ich es je war, mein Sohn. Ich bin stolz auf dich, und zugleich bin ich zutiefst verzweifelt über das, was du zu tun gedenkst.«

Der letzte Schlag

Der Goldene stieß in steilem Bogen hinab und flog nun dicht über der aufgewühlten See der weiten Meeresbucht entgegen, deren schwarze Klippen sich wie steinerne Wächter vor ihm erhoben. Gischt sprühte über seine weit gestreckten Flügel und perlte von seinem Schuppenleib ab. Wilde Böen griffen nach ihm, als wollten sie ihn von seinem Ziel fortzerren, jenem Höhleneingang, der nicht weit über der Tidenmarke im Fels klaffte. Im letzten Augenblick legte er die Flügel an den Leib, ließ sich von seinem Schwung weitertragen und landete mit vorgestreckten Krallen auf nassem Basalt. Leicht schlitternd kam er schließlich zum Halt.

Das Felsgestein erbebte unter den wütenden Wellen, die gegen die Steilklippen anrannten. Es war der bislang schlimmste Sturm in diesem Winter. Ein Tag, an den man sich noch lange erinnern würde. Aus vielerlei Gründen …

Der Goldene kroch tiefer in die Höhle, hinab zu jener weiten Grotte, in der er sich schon so oft mit seinen Nestbrüdern versammelt hatte. Als er den Platz in seiner Felsnische einnahm und den Blick durch die Runde schweifen ließ, musste er feststellen, dass er als Letzter gekommen war. Selbst Nachtatem, der so oft auf ihren Versammlungen gefehlt hatte, war anwesend.

Du hast sicherlich gute Gründe, uns mit so dringenden Worten zu dieser Zusammenkunft gebeten zu haben, eröffnete der Frühlingsbringer ihr Treffen. Er war höflich und pragmatisch wie immer. Der Goldene sah seinen Brüdern an, dass nicht alle so duldsam waren. Manche von ihnen verließen im Winter nur ungern ihre Refugien. Natürlich konnten sie sich gegen die Unbilden des Wetters wappnen. Ein Wort der Macht genügte, die Kälte zu bannen. Doch gegen das tief in ihrem Gemüt verwurzelte Bedürfnis, sich im Winter unter Felsgestein zu verkriechen, half kein Zauberwerk.

Talawain, ein Meister der Blauen Halle, ist den Nachstellungen der Devanthar entgangen und konnte uns eine wichtige Nachricht schicken, bevor er nach Daia zurückkehrte, um dort weiter seine Pflicht zu tun. Der Goldene hatte zwar keine Ahnung, warum Talawain nach Daia zurückgekehrt war, er hatte es nicht aus den krausen Gedanken des alten Solaiyn lesen können, doch würde sich das Eingeständnis, dass er nicht wusste, was der Elf dort tat, nicht gut machen. Er würde ihn nur als Helden hinstellen. Zum Opferfest im Frühling wird es in Selinunt im Königreich Valesia eine Zusammenkunft aller Unsterblichen und Devanthar geben. Ein Ereignis, das bislang einmalig in der Geschichte der Menschenkinder ist. Und eine Gelegenheit, wie sie sich kein zweites Mal bieten wird. Wir können sie alle vernichten und damit das Zeitalter ewigen Friedens einläuten!

Oder aber das Zeitalter der Bruderkriege, meldete sich der Smaragdfarbene zu Wort. Wir dürfen die Devanthar und ihre Unsterblichen nicht vernichten. Jede Kraft in den drei Welten braucht eine Kraft, die ihr entgegenwirkt. Sonst kann es kein Gleichgewicht geben. Wenn die Devanthar verschwinden, dann werden wir uns eines Tages untereinander bekriegen. Wir sind Raubtiere. Wir brauchen einen Feind, sonst werden wir uns selbst zerfleischen.

Was ist denn das für eine versponnene Philosophie?, ereiferte sich der Flammende. Er war so zornig, dass der Goldene deutlich spüren konnte, wie es in der Ratshöhle wärmer wurde. Auch wenn der Flammende für ihn sprach, waren dessen Gedanken von so vielen negativen Gefühlen begleitet, dass es unangenehm war, seine Stimme in sich zu hören. Er war ganz anders als der Smaragdfarbene, der vielleicht weltfremd war, aber durchdrungen von einer Harmonie, die es angenehm machte, seinen Gedanken zu lauschen.

Der Schwanz des Flammenden peitschte mit scharfem Knall gegen das Felsgestein der weiten Nische, in der er kauerte. Was glaubt ihr, aus welchem Grund versammeln sich die Unsterblichen und die Devanthar? Sie planen, einen Schlag mit bislang ungekannter Macht gegen uns zu führen. Und wir sollen die Gelegenheit auslassen, gegen sie vorzugehen, Brüder? Ihr alle habt den Bericht von Lyvianne und Bidayn gehört. Ihr wisst, was auf Nangog geschehen ist. Und nun wollt ihr warten, bis sich Gleiches oder gar Schlimmeres in Albenmark ereignet? Ohne mich! Wir wurden von den Alben dazu berufen, diese Welt zu beschützen. Ich stehe zu dieser Pflicht!

Für mich macht es einen großen Unterschied, ob wir durch unsere Drachenelfen den Krieg nach Nangog tragen, wo nach altem Recht weder Albenkinder noch Menschenkinder leben sollen, oder ob wir Daia direkt angreifen, meldete sich der Rote zu Wort.

Der Goldene war überrascht, dass sich sein Nestbruder so friedlich gab, konnte doch auch er ein gnadenloser Kämpfer sein.

Lasst mich durch eine Metapher darlegen, wie ich unsere Lage sehe, sagte der Goldene ruhig. Er musste ihre Debatte wieder in die richtigen Bahnen lenken, bevor die Friedliebenderen unter ihnen die Meinungsmehrheit errangen. Stellt euch vor, durch einen glücklichen Zufall erfahrt ihr, dass eure Feinde einen mächtigen Kriegsspeer schmieden. Eine Waffe, die jede Rüstung durchdringen kann. Ihr könntet die Waffe zerstören, bevor sie vollendet ist, oder aber euch abwenden und darauf hoffen, dass euch der Speer niemals in den Rücken gestoßen wird. Was werdet ihr tun? Ist es klug, vor der Gefahr die Augen zu verschließen und darauf zu hoffen, dass unser Feind die Waffe nicht nutzen wird?

Stell uns nicht als arglose Narren dar, fauchte der Nachtblaue aufgebracht und bleckte die Zähne. Wachsam wandte der Goldene sich ihm zu. Sein dunkelblau geschuppter Bruder war mit den Narben zahlloser Kämpfe bedeckt. Er war der Einzige unter seinen Nestbrüdern, dem er zutraute, dass ein Streit in Gedanken mit ihm jederzeit in einen Streit mit Klauen und Fängen umschlagen konnte. Findet ihr es nicht seltsam, Brüder, dass uns diese Nachricht erreicht, obwohl doch alle Spitzel aus der Blauen Halle ermordet wurden? Wer hat sie überbracht? Warum steht dieser Bote nicht hier vor uns, damit wir in seinen Gedanken lesen können? Wollen die Devanthar uns in eine Falle locken? Oder willst du uns zu deinem Speer machen, den wir den Devanthar in den Rücken stoßen, während sie noch ihre Wunden lecken?, fragte der Nachtblaue und ließ ihn nicht aus den Augen.

Überbracht wurde die Nachricht von Solaiyn, dem Vater des Talawain, eines der Meister der Blauen Halle, der lange Jahre für uns am Hof des Unsterblichen Aaron sein Leben wagte. Talawain ist über jeden Zweifel erhaben, Brüder, wiegelte der Goldene ab.

Und warum ist er dann nicht hier?, setzte der Nachtblaue nach.

So wie ich den alten Elfen verstanden habe, führt Talawain eine Fehde gegen die Devanthar Išta. Er will etwas tun, das ihr Schaden zufügt. Er ist bereits nach Daia zurückgekehrt. Wir können ihn nicht mehr erreichen. Ich sehe in seiner Tat, uns diese Nachricht zu schicken, einen Beweis seiner Loyalität. Er ist das Risiko eingegangen, von den Devanthar entdeckt zu werden, als er durch das Goldene Netz zu seinem Vater reiste. Der Goldene fühlte sich mehr und mehr in die Enge getrieben und wurde mit jedem Wort des Nachtblauen zorniger. Er wusste, er musste einen kühlen Kopf bewahren, aber am liebsten hätte er seinem impertinenten Bruder die Kehle durchgebissen.

Warum tritt er nicht vor uns?, beharrte der Nachtblaue. Was hat er zu verbergen?

Nichts! Es war das erste Mal, dass Nachtatem seine Stimme in ihren Gedanken erhob. Fast unsichtbar im Schatten seiner Felsnische, waren nur seine himmelblauen Augen deutlich zu sehen. Es ist doch offensichtlich, dass er befürchtete, dass wir ihn nicht mehr hätten ziehen lassen, wäre er vor uns getreten. Er ist der letzte lebende Meister der Blauen Halle. Der Letzte, der um viele der Geheimnisse weiß, die nun für immer verloren gegangen sind. Talawain wird uns nicht hintergehen. Allerdings könnte es sein, dass die Devanthar ihn ohne sein Wissen zu ihrem Boten gemacht haben, weil sie uns eine Falle stellen wollen. Mir erscheint es leichtfertig, dass sie sich außerhalb des Gelben Turms alle an einem Ort versammeln wollen.

Sie fühlen sich im Augenblick nicht bedroht, sagte der Smaragdfarbene und wirkte bedrückt.

Der Goldene spürte, dass sich sein Nestbruder, obwohl er diesen Angriff nicht wollte, verpflichtet fühlte, seine Gedanken mit ihnen allen zu teilen.

Unser Streit folgt seit Langem einem immer gleichen Muster, fuhr der Smaragdfarbene fort. Eine Seite führt einen Schlag. Dann führen die anderen einen Gegenschlag. Die Angriffe wechseln sich ab. Wir haben den letzten Schlag geführt. Nun bereiten sie ihren vor, und ich muss meinem flammenden Bruder zustimmen. Es scheint, dass sie einen Schlag von bislang ungeahnter Kraft führen wollen. Einen Schlag, der unseren Streit beendet, weil er mit vernichtender Grausamkeit erfolgt.

Da hört ihr es, Brüder, selbst der Friedlichste unter uns hat begriffen, was wir zu erwarten haben, triumphierte der Flammende.

Unsere Lage ist ganz einfach. Jetzt war die Gelegenheit, die Abstimmung zu gewinnen, dachte der Goldene und gab sich keine Mühe, diesen Gedanken vor seinen Brüdern zu verbergen. Wir haben durch einen Glücksfall die einmalige Gelegenheit, unsere Feinde zu vernichten. Feinde, von denen wir wissen, dass sie sich versammeln, um unseren Untergang vorzubereiten. Schlagen wir nicht zu, geben wir ihnen die Gelegenheit, Albenmark ungeahnten Schaden zuzufügen. Lasst uns den Angriff auf eine Art führen, die uns nicht ausliefert, falls dies eine Falle ist. Öffnen wir einen Drachenpfad nach Selinunt, wo es keinen Albenstern gibt. Und schicken wir einen alles vernichtenden Flammenstrahl auf die Stadt und die Devanthar hinab.

Die Gedanken seiner Brüder überschlugen sich. Für den Begriff »alles vernichtender Flammenstrahl« erntete er reichlich Spott. Nur der Flammende schwieg. Der Goldene wusste es besser, und er genoss das Konzert ihrer Gefühle, als er weiter ausführte, was er meinte: Es war die Art, auf die die Devanthar ihre großen Zauber weben, die in mir den Gedanken keimen ließ, Ähnliches zu versuchen. Ihr wisst, dass sich die Macht der Magie mit jedem Devanthar vervielfacht, der neue Fäden in das Gespinst des Zaubers einbringt. Es ist auch möglich, unseren Drachenodem zu verstärken, ja, ihn zu etwas gänzlich anderem werden zu lassen, als wir es bislang kennen. Der Flammende hat mich bei meinen Versuchen unterstützt. Die Ergebnisse waren erstaunlich! Wenn wir alle sieben unsere Flammen magisch zu einem einzelnen Strahl bündeln, so wird er ganz Selinunt zerstören. Ja, es wäre sogar möglich, den Zauber so zu gestalten, dass wir auf Jahrhunderte das Tal vergiften, dass dort ein kaltes Feuer bleibt, das die Menschenkinder zunächst nicht spüren, das ihre Haut wie Sonnenstrahlen verbrennt und sie letztlich tötet, wenn sie sich ihm zu lange aussetzen. Und selbst wer nur für kurze Zeit an dem Ort verweilt, an dem das kalte Feuer als unsichtbare Macht wirkt, wird fortan ein Gift in sich tragen, das ihn langsam töten wird.

Welchen Nutzen hätten wir von einer so heimtückischen Tat? Der Frühlingsbringer war entsetzt, und der Goldene spürte, dass außer dem Nachtblauen und dem Flammenden all seine Brüder von diesem Gedanken befremdet waren.

Brüder, ihr müsst in die Zukunft denken! Wir erschaffen einen Ort von bizarrer Schönheit, einen Ort, wie es keinen zweiten in der Welt der Menschenkinder gibt. Und es wird der Platz sein, an dem ihre Götter gestorben sind. Ich möchte nicht, dass dort eine Wallfahrtsstätte entsteht, wo man der Märtyrer gedenkt. Ein Ort, aus dem sie neue Kraft schöpfen. Das Tal soll verflucht sein. Es soll gemieden werden. So werden auch ihre Götter schneller in Vergessenheit geraten. Der Goldene fühlte, wie nach diesen letzten Argumenten der Widerstand seiner Brüder zu bröckeln begann.

Und was tun wir, wenn die Devanthar nicht dort sind?, fragte Nachtatem. Allein er und der Frühlingsbringer waren jetzt noch gegen ihn.

Du weißt, Bruder, wenn alle Devanthar an einem Ort versammelt sind, dann werden wir sie spüren. Es gab keine Lücke in seinem Plan. Der Goldene hatte tagelang darüber gebrütet, jede Möglichkeit abgewogen. Sollten die Devanthar nicht in Selinunt sein, dann werden wir den Drachenpfad sofort wieder schließen. Wir wollen ja nicht, dass sie vor der Zeit von unserer neuen Waffe erfahren.

Aber du weißt, wie vage dieses Gefühl ist, Bruder!, entgegnete Nachtatem scharf. Vor allem, wenn der Abgrund zwischen den Welten uns trennt. Sie können irgendwo im Umkreis vieler Meilen sein. So weit wird dein alles vernichtender Flammenstrahl doch wohl kaum seine Zerstörungskraft entfalten.

Sie müssen schon im Umkreis von hundert Schritt sein, räumte der Goldene ein. Sonst wird der Flammenstrahl sie vermutlich nicht töten. Wir werden einen Drachenelfen schicken müssen, der für uns das Ziel markiert oder uns ein Zeichen zum Abbruch gibt, sollten die Devanthar nicht gekommen sein.

Ich nehme an, auch das ist schon wohldurchdacht. In den Gedanken Nachtatems war sein Unwille deutlich zu spüren. Seine anderen Brüder hingegen lauschten einfach nur. Er hatte sie fast gewonnen.

Nicht allein durchdacht. Ich habe einen Umhang mit Zaubern durchwoben. Unser Drachenelf soll ihn an den Ort bringen, an dem sich Unsterbliche und Devanthar versammeln werden. Es genügt, wenn er diesem auf hundert Schritt nahe kommt. Liegt die rote Wollseite oben, dann bedeutet es, dass unsere Feinde dort sind. Sehen wir das himmelblaue Innenfutter, greifen wir nicht an. Mein Zauber bewirkt, dass sich der Drachenpfad genau über dem Umhang öffnen wird.

Dein auserwählter Elf wird dann wohl auch in den Flammen sterben, bemerkte der Smaragdfarbene.

Gehen wir dieses Risiko nicht bei jeder Mission ein, auf die wir unsere Mörder schicken?, fragte der Goldene befremdet. Warum sollten sie sich Gedanken über das Schicksal eines einzelnen Elfen machen? Dies war doch der Zweck, wozu sie die Drachenelfen erschaffen hatten. Sie sollten in ihren Diensten morden und sterben.

Und welchen unserer Krieger hast du zum Tode auserkoren?, fragte der Rote.

Der Goldene spürte die Unruhe seiner Brüder. Niemand wollte einen Drachenelfen für eine Mission opfern, bei der es nicht die geringste Hoffnung gab zu überleben.

Ich hatte an Gonvalon gedacht. Er hat mich verraten. Er ist der erste Drachenelf, der sich gegen seine Himmelsschlange gerichtet hat. Er verdient den Tod. Sein Beispiel darf nicht Schule machen. Jetzt spürte der Goldene allgemeine Zustimmung. Wie berechenbar seine Brüder doch waren. Nur Nachtatem musterte ihn voller Argwohn.

Gonvalon ist kein Drachenelf mehr, wandte der Erstgeschlüpfte ein. Er muss nicht gehen, wenn wir ihn schicken. Er hat sich schon einmal gegen dich gewandt, Bruder, und ich stimme dir zu, dies verdient harte Bestrafung. Aber warum sollte er sich fügen, wo du doch nicht mehr sein Meister bist?

Deshalb beauftragen wir Nandalee. Er folgt ihr wie ein braves Hündchen. Er wird überallhin gehen, wohin sie geht. Und du weißt sehr genau, Bruder, dass sie das eigentliche Gift unter den Drachenelfen ist. Sie hat den Willen zur Rebellion in Gonvalon geweckt. Durch Bidayn und Lyvianne weiß ich, dass sie unsere Befehle in Frage stellt und …

Und doch hat sie bisher jeden unserer Befehle ausgeführt, unterbrach ihn Nachtatem.

Willst du abwarten, bis sie erneut andere verführt, sich gegen uns zu wenden?, wandte der Goldene ruhig ein, denn er wusste, dass alle anderen Drachen hinter ihm standen. Wir haben mit ihr eine Natter an unserem Busen genährt. Die Silberschale hat mir offenbart, dass der Tag kommen wird, an dem sie auf deinen Tod sinnt, Bruder. Und mit Todbringer hast du sie ein Schwert wählen lassen, das selbst uns gefährlich werden kann.

Nachtatem hatte jede Beherrschung verloren. Er fletschte die Zähne. Du weißt, dass die Silberschale nur die dunklen Seiten der Zukunft zeigt. Wir dürfen den Bildern, die wir in ihr sehen, nicht vertrauen.

Der Goldene spürte, wie sich seine Brüder endgültig von Nachtatem abwandten. Es liegt an uns, dafür zu sorgen, dass diese dunkle Zukunft niemals eintrifft. In diesem Fall ist es wirklich einfach. Schicken wir Gonvalon und Nandalee als unsere Todesboten, und vernichten wir die Devanthar.

Alle stimmten für seinen Vorschlag. Nur Nachtatem nicht.

Im Schatten der Stierköpfe

Talawain richtete sich aus dem tiefen Stand des Schwertkämpfers auf, verneigte sich vor dem fiktiven Partner der Übung und schob die Klinge mit fließender Geste in die Scheide. Ihm war sehr wohl bewusst, wie lächerlich seine Kampfeskünste im Vergleich zu denen der Drachenelfen waren, aber dass er für die Menschenkinder immer noch ein schrecklicher Gegner war, hatte sich in der Schlacht bei Kush gezeigt. Für seine Pläne wäre es besser, wenn er ohne Blutvergießen zu Shaya vordringen konnte. Aber er wollte auf alles vorbereitet sein.

Er strich über den Knauf der Klinge. Es war eine erstklassige Waffe. Das Abschiedsgeschenk seines Vaters. Er straffte sich und blickte nach Norden zu den Stierköpfen. Ein seltsamer Name für die hohe Gebirgskette, die den Osten Luwiens von den weiten Grassteppen Ischkuzas trennte. Er war weit von hier durch einen Albenstern gegangen und lange über einsame Ebenen gewandert, ganz darauf bedacht, wo immer möglich, den Menschenkindern aus dem Weg zu gehen.

Rowayns Karte hatte ihm geholfen, seinen Weg zu finden. Talawain hatte sie so lange studiert, bis er ihr Bild in Gedanken erstehen lassen konnte, mit all den unzähligen Details, die sein Freund aufgezeichnet hatte. Rowayn musste viel gereist sein. Davon hatte er nie erzählt.

Vor drei Tagen war Talawain auf eine verlassene Schäferhütte gestoßen und hatte dort Quartier bezogen. Es war mühselig gewesen, durch den hohen Schnee zu wandern. Dabei hatte er noch nicht einmal die Vorgebirge der Stierköpfe überwunden. Sein Blick wanderte langsam von Gipfel zu Gipfel der gezackten Gebirgskette und blieb an einem Berg haften, der mit seinen fast senkrechten Flanken entfernt an einen Turm erinnerte. In seinem Schatten befand sich das Tal, in dem das Haus des Himmels errichtet worden war. Inmitten der Einsamkeit, fast unerreichbar.

Es würde ein harter Marsch dort hinauf werden. Talawain lächelte. Die Jahre im Palast hatten ihn weich gemacht. Er würde die Einsamkeit nutzen, seinen Leib zu stählen und seine Seele auf das vorzubereiten, was ihn dort oben in den Bergen erwartete. Ihm blieb noch reichlich Zeit.

Manchmal dachte er an den Ersten Schreiber. Der Priester hatte ihm eine große, fein gegerbte Tierhaut gebracht, um wie vereinbart das Götterbild darauf zu malen. Doch stattdessen hatte Talawain die Karte Rowayns darauf kopiert und war aus Isatami geflohen. Den Tunnel zu Rowayns Haus hatte er sorgfältig wieder mit Erde verfüllt und in der Nacht seiner Flucht in seinem eigenen Laden Feuer gelegt, um alle Spuren zu verwischen. Ob der Erste Schreiber Ärger bekommen hatte, weil er dem fremden Maler vertraut hatte? Ein Pergament dieser Größe und Qualität war sicherlich sein Gewicht in Gold wert. Aber der Tempel war reich. Sicherlich saß der übergewichtige Erste Schreiber jetzt in einem Gästehaus in Selinunt und hatte irgendein anderes Geschenk gefunden.

Das Opferfest war nicht mehr fern. In sechs Tagen schon fand die Versammlung der Unsterblichen und der Götter statt. Talawain schob den Gedanken weit von sich. Dies war nicht mehr sein Kampf. Erinnerungen an Aarons Palast in Akšu stiegen in ihm auf. An das schöne Haus mit dem kleinen Garten, wo er so lange gelebt hatte. Ob der Kirschbaum dort schon blühte? In den fruchtbaren Ebenen Arams war das Klima viel milder. Sicher hatte dort schon der Frühling begonnen. Doch hier in den Bergen würde der Winter seine Herrschaft noch lange nicht aufgeben. Erst gestern hatte es stundenlang geschneit.

Bis dort oben im Tal, nahe dem Felsturm, der Frühling einzog und die Kirschblüte begann, würden noch Wochen vergehen. Ihm blieb noch viel Zeit, sich auf die Befreiung Shayas vorzubereiten.

Ein leichter Auftrag

Mit sicheren Schritten balancierte Nandalee über den federnden Birkenstamm, der über einen kleinen Gebirgsbach führte. Die Schneeschmelze hatte das Wasser so anschwellen lassen, dass die gurgelnden weißen Fluten fast bis unter den Stamm reichten.

Mit einem Sprung landete sie sicher am anderen Ufer. Sie blickte zu Gonvalon zurück, der mit ebensolcher Leichtigkeit wie sie den Stamm überquerte. Die fast sechs Monde, die sie mit ihm in den Bergen des Jadegartens verbracht hatte, hatten sie ihre Vorurteile über Palastelfen vergessen lassen. Zumindest was ihn anging. Fast jeden Tag hatte er sie aufs Neue überrascht. Er vermochte mit bescheidensten Mitteln in der Wildnis köstliche Mahlzeiten zu zaubern, wusste, welche Wurzeln und Kräuter schmackhaft waren und wo er sie in den Bergen finden konnte. Er war zäh und ausdauernd, so wie sie. Nur als Jägerin war sie ihm voraus, obwohl auch er ein fast schon beängstigendes Talent besaß, sich lautlos anzuschleichen.

Vor allem aber war er ein aufmerksamer Gefährte. Sie war sprachlos gewesen, wie gut er sie kannte, wie er über ihre Marotten mit einem Lächeln hinwegging und nicht müde wurde, ganze Nächte mit ihr am Lagerfeuer zu reden. Er hatte so vieles gesehen. Steckte so voller Geschichten. Deutlich hatte sie spüren können, wie gut es ihm getan hatte, über seine Zeit als Drachenelf zu sprechen. Sich die dunklen Taten von der Seele zu reden. Sie hatte nie über ihn geurteilt, sondern einfach nur zugehört. Nur eines hatte ihr manchmal einen Stich versetzt. Er war ein zu guter Liebhaber. Wenn sie beieinanderlagen, hatten sie es genossen, doch wenn sie danach manchmal schlaflos zu den Sternen blickte, hatte sie sich immer wieder gefragt, wie viele Frauen es wohl vor ihr gegeben hatte. Darüber schwieg er sich aus oder entgegnete nonchalant, dass sie die Eine sei, die seine verzweifelte Suche nach der vollkommenen Liebe zu einem glücklichen Ende gebracht hatte.

Gonvalon hatte sicher den Wildbach überquert und lächelte sie herausfordernd an. »Du dachtest, ich nehme ein unfreiwilliges Bad und du hättest einen großen Auftritt als meine Retterin.« Er kannte sie so gut!

Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort. Nandalee genoss die kühle, klare Luft der Berge. Sie war eine angenehme Abwechslung zur trockenen Hitze des Jadegartens und erinnerte sie an die Heimat ihrer Kindheit. Der dichte Fichtenhain links am Hang hätte auch in Carandamon stehen können. In den Schatten, dort, wo die Sonne nicht hinkam, lag noch ein wenig Schnee.

An ihrem ersten Tag hier in diesen Bergen hatte sie für Gonvalon ein kleines Schneehaus gebaut, wie sie es früher so oft während ihrer einsamen Jagdausflüge getan hatte. Sie waren hoch in den Bergen, mehr als siebzig Meilen von Selinunt entfernt, durch einen minderen Albenstern getreten, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Gonvalon hatte die Nacht im Schneehaus zähneklappernd und fast ohne Schlaf hinter sich gebracht. Dabei war es drinnen deutlich wärmer als am Berghang gewesen. Die Temperatur im Schneehaus hatte kaum unter dem Gefrierpunkt gelegen, und sie waren gut vor den eisigen Winden geschützt gewesen. In jener einen Nacht hatte er sich doch als Palastelf erwiesen. Nandalee musste bei der Erinnerung daran lächeln. Sie würde ihn noch lange damit aufziehen, wie verfroren er war.

Sie passierten einen aufgegebenen Lagerplatz. Ein einziger Blick auf die Asche und Holzkohle, die zu einer schwarzen Fläche innerhalb eines kleinen Steinkreises geworden war, verriet Nandalee, dass dieses Lager schon vor dem Winter aufgegeben worden war. In den Bergen waren Holzfäller unterwegs gewesen. Doch anders als auf Nangog hatten sie sich besonnen verhalten und nur etwa ein Fünftel der Bäume geschlagen. Nirgends hatten sie in der Fläche gerodet, sondern immer nur einzelne Bäume gefällt. So blieb genug Wurzelwerk übrig, um die Erde zu halten, die sonst unweigerlich vom Regen und der Schneeschmelze davongespült wurde, bis nur noch Geröll oder blanker Fels blieben. Die Menschenkinder wussten also auch, wie man weise mit den Schätzen der Natur verfuhr.

»Dort oben vom Bergkamm aus müsste man Selinunt sehen können«, erklärte Gonvalon, kaum dass sie den Rand des Fichtenhains erreicht hatten. »Wollen wir wetten, dass der Palastelf schneller oben ist als du?«

»Vielleicht in fünfhundert Jahren, wenn ich vor der Zeit altere und am Stock gehe!« Sie blickte den Hang hinauf. Er war relativ steil. Das helle Frühlingsgras, noch feucht vom Morgentau, würde den Aufstieg nicht erleichtern. »Wenn ich gewinne, wirst du meine Decke, den kleinen Topf und meine Vorräte für die nächsten beiden Tage tragen.«

»Du weißt, dass wir Palastelfen ganz schlechte Packesel abgeben? Am Ende wirst du die Sachen zurückhaben wollen, damit ich dein Tempo beim Wandern mithalten kann.«

»Sehe ich nachsichtig aus?«, fragte sie grinsend. »Und im Übrigen musst du doch ein Esel sein, wenn du dich mit mir auf eine solche Wette einlässt.« Mit diesen Worten eilte sie los.

»Du betrügst!«, schimpfte er hinter ihr und beeilte sich, die Verfolgung aufzunehmen.

Am Ende gewann er das Rennen mit mehr als zehn Schritten Vorsprung. Es hatte ausgesehen, als würde er über das Gras fliegen, so leichtfüßig war er den Hang hinaufgeeilt. Mit einem Seufzer ließ Nandalee sich neben ihm nieder. Sie rasteten ein paar Schritt unterhalb des Hangs, damit ihre Silhouetten nicht vor dem hellen Morgenhimmel zu sehen waren.

Ihre Waden brannten, sie atmete keuchend. Heute war sie einfach nicht in Form. Schon nach dem Aufstehen war ihr übel gewesen. Vielleicht hatte sie irgendeines der Kräuter, mit denen sie das Abendessen verfeinert hatte, nicht vertragen.

»Der Esel hatte vorhin ganz vergessen zu fragen, was dein Wetteinsatz ist.«

»Such dir was aus«, murmelte sie, immer noch etwas außer Atem. Was war nur mit ihr los, dass ein kurzer Hanglauf sie so außer Puste brachte?

»Nach fünf Tagen, an denen es Kaninchenragout in allen kulinarischen Finessen gab – gar, halbgar, angebrannt, mit ein paar Fichtennadeln drin oder Kräutern, die keine Ziege fressen würde –, wäre ich froh, wenn es heute ein Abendmahl geben könnte, in dem ich kein Kaninchenohr finde«, sagte Gonvalon und betrachtete sie amüsiert.

»Was ist an Kaninchenohren auszusetzen?«

»Ich fürchte, man muss ein Palastelf sein, um das zu verstehen.« Er küsste sie auf die Stirn. »Es muss doch etwas anderes geben, das meine große Jägerin schießen kann.«

Er hatte leicht reden, dachte sie. Er ging ja nicht auf die Jagd. Was das Wild in den Bergen anging, hatten sich die Menschenkinder eindeutig nicht so klug wie mit den Bäumen verhalten. Sie hatte ja nach Fährten gesucht. Aber es gab keine Ziegen oder Steinböcke, keine Wölfe oder Bären. Nichts, was größer war als ein Kaninchen, hatte überlebt. Und selbst die waren schwer aufzuspüren. »Essen Palastelfen Eichhörnchen?«

»Alles ohne Hasenohren ist willkommen«, entgegnete er gut gelaunt.

Sie erwog, einen Hasen zu erlegen und einfach die Ohren zurückzulassen, wenn sie ihn ausweidete. Nandalee war sich ziemlich sicher, dass er den Unterschied nicht bemerken würde, wenn sie das kleingeschnittene Fleisch garte.

»Komm, sehen wir uns die Stadt an.« Gonvalon robbte das letzte Stück den Hang hinauf.

Sie wollte ihm folgen, als ein Krampf sie zusammenzucken ließ. Ein Gefühl, als kralle sich etwas tief in ihr fest. Sie presste sich beide Hände auf den Leib, atmete flach und kämpfte gegen den Schmerz an, als er genauso plötzlich verschwand, wie er gekommen war.

Nandalee war in kalten Schweiß gebadet. Was war das?

»Ist alles in Ordnung?« Gonvalon lief geduckt zu ihr zurück. »Was ist los?«

»Wadenkrampf«, stieß sie hervor. »Geht schon wieder.«

Er kniete neben ihr nieder. »Welches Bein?«

»Links.«

Er streckte geübt die Muskeln und massierte dann ihre Wade. »Besser?«

Sie nickte und fühlte sich schlecht, ihn angelogen zu haben. Er würde das niemals tun.

»Komm, es ist wirklich schön.« Er stützte sie, und gemeinsam stiegen sie das letzte Stück hinauf und gingen in Deckung, sodass sie für etwaige Beobachter unten im Tal unsichtbar blieben.

Der Anblick war atemberaubend. Selinunt hatte sich wahrlich den Namen »Weiße Stadt« verdient. Alle Gebäude waren aus Marmor errichtet: Paläste, Tempel, Wohnhäuser, das Aquädukt, einfach alles. Strahlend wie frisch gefallener Schnee lag die Stadt im Tal. Es gab keine einfachen, schmucklosen Häuser, nur Prachtbauten. Dazwischen wanden sich wie große, schwarze Schlangen die Straßen, die im Sonnenlicht spiegelten, als seien die großen Granitplatten, aus denen sie gefügt waren, poliert worden. Eine Straße jedoch, die vom Eingang des weiten Tales pfeilgerade ins Herz der Stadt führte, unterschied sich von allen anderen. Sie war wie die Mauern der Paläste aus weißem Marmor erbaut. Gewiss war dieser Weg allein den Herrschern vorbehalten.

Wohin Nandalees Blick auch schweifte, alles, was sie sah, war von vollendeter Form. Selbst die weniger aufwendig gestalteten Dächer, die statt mit Marmor mit Schindeln in einem warmen Orangerot gedeckt waren, prunkten an ihren Giebeln mit Goldbeschlägen. Und nicht nur da sah die Elfe Gold. Auf einigen Plätzen und bei den Brunnen, die das Aquädukt speiste, erhoben sich überlebensgroße Statuen aus dem edlen Metall, die den Herrscher, Kriegsszenen, aber auch Meerestiere und Nymphen zeigten.

»Wirklich schön für Menschenwerk«, gestand sie. »Wahrscheinlich werden sie uns verbieten, mit unseren schmutzigen Stiefeln die Stadt zu betreten.«

»Als Jäger fallen wir sicher nicht auf.« Gonvalon deutete auf lange Reihen von Zelten, die im Westen der Stadt aufgeschlagen worden waren. Dahinter lagen Koppeln, auf denen Vieh stand. »Dort werden sie morgen das Essen bereiten.«

Nandalee überlegte, auf welchem Weg sie am besten in die Stadt gelangen konnten. Überall patrouillierten Wachen in Bronzerüstungen mit weißen Federbüschen auf den Helmen und langen, weißen Umhängen. Abgerissene Gestalten, wie sie beide, waren auf dem Opferfest morgen sicher nicht erwünscht.

»Mit dem hübschen Umhang, den Nachtatem mir geschenkt hat, werde ich ganz sicher durchgelassen«, sagte Gonvalon mit seltsam tonloser Stimme.

»Für einen Dieb werden sie dich halten, so wie du aussiehst. Ich verstehe nicht, warum er ihn dir mitgegeben hat. Wir tragen diese schäbigen Kleider, und dann hast du einen Umhang im Gepäck, der unter Menschenkindern eines Prinzen würdig wäre. Das ergibt keinen Sinn. Am besten wirfst du ihn einfach weg.«

»Das würde ich wirklich gerne.« Er wirkte bedrückt. »Aber die Geschenke von Himmelsschlangen zu missachten ist keine gute Idee. Zumal dann, wenn man ohnehin nicht hoch in ihrer Gunst steht.«

Nandalee entschied, auf diesem Thema nicht länger herumzureiten. In seinem Gepäck war der Umhang ja sicher verborgen. Es würde schon keinen Ärger geben. »Steigen wir hinab und sehen uns die Stadt aus der Nähe an?« Sie wies hinter ihnen den Hang hinab. »Ich glaube, dort unten liegt der Weg, den die Jäger und Holzfäller im letzten Jahr benutzt haben.« Sie blickte zurück über die friedliche Berglandschaft, die hinter ihnen lag. Keine Stadt, die je gebaut würde, könnte mit der Schönheit der Wildnis konkurrieren. Nandalee war froh, dass Nachtatem ihnen eine so leichte Mission übertragen hatte und Gonvalon sie begleiten durfte, obwohl er kein Drachenelf mehr war. Endlich hatte sie eine Aufgabe, bei der es nicht um Tod und Vernichtung ging.

Sie robbte den Hang zurück und richtete sich auf. Gonvalon folgte ihr. Plötzlich zog er sie an sich und küsste sie. »Ich liebe dich!«, sagte er, als er sich atemlos von ihr löste. Er hatte mit solcher Leidenschaft gesprochen, dass es sich unter anderen Umständen wie ein verzweifelter Abschied angehört hätte.

Shayas Vermächtnis

Schon als sie eintrat, sah Shaya der Mutter der Mütter an, dass ihr etwas auf dem Herzen lag. Der Titel der Hohepriesterin im Haus des Himmels wollte nicht so recht zu der jungen Priesterin passen, die vor ihr stand. Kara vermied es, ihr in die Augen zu sehen.

»Es ist eine Nachricht vom Unsterblichen Labarna gekommen«, sagte sie leise. »Es geht um …« Sie trat einen Schritt von Shaya zurück. »Es geht um deine Ermordung.«

Trotz des Themas musste Shaya lächeln. »Meine Ermordung? Ich glaube, dir fehlt die innere Einstellung, dieses Kloster zu führen. Ich opfere mich dem Land. Das ist …« Jetzt versagte auch ihr die Stimme. Sie hatte sich in ihr Schicksal gefügt und akzeptiert, dass es für sie keinen Ausweg gab. Ganz offen darüber zu reden war allerdings eine andere Sache.

Sie zog an der langen, goldenen Kette, die verhinderte, dass sie ihr Zimmer verlassen konnte, und ließ die schweren Glieder durch ihre Hände gleiten. Das kühle, glatte Metall zu spüren hatte etwas Beruhigendes.

»Es ist meine Schuld«, sagte die junge, pausbäckige Frau. »Ich habe die Briefe dieses Tempelschreibers aus Isatami nicht ernst genommen. Immer ereiferte er sich darüber, wie unbedacht der Zeitpunkt für das Ritual deiner Opferung gewählt sei. Ich hätte nie gedacht, dass er etwas bewirken könnte! Labarna ist sehr auf Traditionen bedacht. Er ändert nicht einfach ein althergebrachtes Ritual.«

Shaya verstand nicht. »Wovon redest du?«

»Deine Opferung. Dein Tag wäre gekommen gewesen, wenn der Kirschbaum in unserem Garten blüht. So war es immer, wenn eine Prinzessin in der Himmlischen Hochzeit kein Kind empfangen hat. Aber dieser Priester fand, dass sei viel zu spät für ein Fruchtbarkeitsritual, da fast im ganzen Königreich die Zeit der Blüte schon vorüber ist, wenn sie bei uns beginnt. Ich habe ihn ignoriert und auf die Tontafeln, die er schickte, nicht geantwortet …« Kara versagte die Stimme. Jetzt rannen ihr Tränen über die Wangen.

»Was ist denn geschehen?«

»Dieser Tempelschreiber muss sich an Labarna gewandt haben. Vor einer Stunde überbrachte mir ein Bote einen Befehl des Unsterblichen. Von diesem Jahr an und für alle Zukunft werden wir uns nicht mehr nach der Blüte unseres Baums richten. Ich habe Befehl, dich zur Mittagsstunde am Tag des Opferfestes deinem Schicksal zu übergeben. Er hat Krieger mit dem Boten geschickt, die sicherstellen sollen, dass sein Befehl ausgeführt wird.«

Shaya trat ans Fenster, öffnete es und blickte über die weiten Klostergärten. Es war ein kalter Morgen. Raureif hatte sich in den Hecken eingenistet, und noch immer war nicht aller Schnee geschmolzen. Deutlich sah Shaya den großen Kirschbaum. Es würde noch Wochen dauern, bis er Blüten trug. »Wann ist das Opferfest?«

Die Mutter der Mütter antwortete so leise, dass Shaya sie nicht verstand.

»Wann?«

»Morgen.« Das Wort war nur gehaucht, und doch traf es Shaya wie Donnerschlag.

Morgen! Sie dachte, sie sei auf den Tod vorbereitet, doch dass ihr von der kurzen Lebensspanne, die ihr noch verblieb, nun Wochen gestohlen wurden, erfüllte sie mit brennendem Zorn. Und zugleich raubte es ihr alle Kraft.

»Morgen«, sagte sie laut, als könne sie dem Wort etwas von seinem Grauen nehmen, wenn sie es nur aussprach. Seit ihr Vater sie an den Wandernden Hof zurückgerufen hatte, um sie zu vermählen, war ihr Leben von bitterster Ungerechtigkeit erfüllt gewesen. Dieser letzte Schlag fügte sich in die lange Reihe der Grausamkeiten, die das Schicksal ihr beschert hatte. Sie drückte ihren Rücken durch, stand gerade und kämpfte gegen den Kloß an, der in ihrem Hals saß. Sie war eine Kriegerin, das war das Einzige, was sie ihr nicht stehlen konnten. Sie würde nicht weinen und nicht länger hadern. Sie würde sich ihrem Schicksal stellen.

»Lass feuchte Tontafeln holen, Kara.«

»Du willst weiterarbeiten? An deinem letzten Tag?«

»Wir werden das Buch nicht vollenden können, aber zumindest werde ich dir noch alle wichtigen Dinge über die Allwurzel erklären können. Er ist eine besonders heilkräftige Wurzel. Wenigstens dieses Kapitel muss noch vollendet sein. Und da ist noch etwas. Ich möchte, dass mein Name nicht mit diesem Buch in Verbindung gebracht wird.«

»Das geht nicht.« Kara wirkte verstört. »Es ist doch fast ausschließlich dein Wissen, das darin …«

»Nein«, unterbrach Shaya sie. »Ich habe es mir nicht erarbeitet so wie du deine Kenntnisse über Kräuter und über die Heilkunde. Es war ein Geschenk. Und deshalb ist es nun mein Geschenk an dich. Außerdem solltest du pragmatisch denken. Welchen Wert hätte ein Buch dieser Art, das unter dem Griffel einer Barbarenprinzessin entstand? Die Priesterschaft würde es belächeln. Nach ein paar Jahren schon würde es völlig in Vergessenheit geraten. Niemand würde es kopieren und weiterverbreiten. Kommt dieses Buch aber von der Mutter der Mütter im Haus des Himmels, dann ist es ein heiliges Buch voller gesegneter Weisheit.« Shaya lachte leise, fast fröhlich. »Lass uns den engstirnigen Priestern und Heilern einen Streich spielen. Lass sie das Vermächtnis einer Prinzessin aus Ischkuza studieren.«

Kara sah sie skeptisch an. Shaya wusste, dass sie viel zu ehrlich für jeglichen Betrug war, also fuhr sie rasch fort: »Etwas nicht zu sagen ist keine Lüge, meine Freundin. Und bedenke auch, du warst es, die alles niedergeschrieben hat. Es ist also tatsächlich dein Buch. Vor allem aber ist es mein letzter Wunsch, dass du so verfährst. Du wirst einer Todgeweihten doch nicht ihre letzte Bitte abschlagen?«

Die Augen der Priesterin füllten sich mit Tränen. Endlich nickte sie. »Ich hole die Tafeln«, sagte sie leise und verließ das Zimmer.

Shaya trat wieder an ihr Fenster. Sie mochte den Blick über das weite Tal. Er hatte ihr in den letzten Wochen Frieden gegeben. Tief atmete sie die schneidend kalte Luft des weichenden Winters ein. Sie betrachtete den steilen Berg, der wie ein riesiger Turm das Tal überragte. Der Wind ließ Schneewirbel um seinen Gipfel tanzen. Sie dachte an Shen Yi Miao Shou, den Heiler vom Seidenfluss, den ihr Vater vor fast einem Jahr an den Wandernden Hof berufen hatte, um ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen. In der Nacht seines Todes hatte er ihr sein Wissen über die Heilkunde geschenkt. Es war eine magische Nacht gewesen, und bis heute vermochte sie sich nicht zu erklären, wie genau dies vonstattengegangen war. Sie wollte es auch gar nicht genau wissen, denn jedes aufgedeckte Geheimnis entzauberte die Welt ein wenig mehr.

Karas Schritte erklangen auf dem Flur. Sie trug ein Brett herein, auf dem mehrere feuchte Tontafeln lagen, und stellte es auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers ab.

»Bist du bereit?«

Die Mutter der Mütter zog einen der beiden schön geschnitzten Elfenbeingriffel aus dem Etui an ihrem Gürtel. »Lass uns dein Vermächtnis vollenden.«

Ihre Feierlichkeit rührte Shaya. Sie konnte sie nicht ansehen, oder sie würde von der Traurigkeit angesteckt werden, gegen die die Priesterin, die zu ihrer Freundin geworden war, nicht einmal anzukämpfen versuchte.

Shaya wandte sich ab, blickte zu dem fernen, windumtosten Gipfel und begann, leise zu sprechen. »Die Allwurzel ist von Magie durchdrungen und von großer Heilkraft. Sie ähnelt in ihrer Gestalt dem Leib eines Menschen. Ihr Blattwerk ist unscheinbar. Sie gedeiht nur an schattigen Orten im Wald. Man benötigt Tageslicht, um sie zu finden, doch die beste Zeit, sie zu ernten, ist eine mondhelle Nacht. Wer bei Tage eine Allwurzel entdeckt, der soll eine rote Schnur um sie schlingen. Die Schnur bannt ihre Magie. Tut man dies nicht, so wird sich die Wurzel davonschleichen und in der Erntenacht nicht mehr zu finden sein.«

Sie wünschte, sie wäre eine Allwurzel, dachte Shaya, und dass sie sich einfach davonschleichen könnte. Ihre Hände schlossen sich fest um das Fenstersims. Sie kämpfte gegen den süßen Schmerz in ihrer Brust an. Was für kindische Gedanken, schalt sie sich stumm. Dann fuhr sie fort, ruhig über die Allwurzel zu sprechen, die richtig angewandt so viele Krankheiten zu besiegen vermochte.

Ein Becher voll Wein

Iwar mochte die verdammten Berge nicht. Und er mochte es nicht, den Abgrund zwischen den Welten zu überschreiten. Er war der Unsterbliche von Drusna, und nun war er ausgerechnet in Valesia, dem Land, dessen Herrscher ihm den letzten Stolz genommen hatte. Alle hier wussten das! Wenn es möglich wäre, würde er überhaupt nicht vor sein Zelt treten und sich ihren hämischen Blicken ausliefern.

Wann immer er zurückdachte, konnte er nicht klar benennen, wann sein Unglück angefangen hatte. Hatte er sich zum Krieg verleiten lassen? Immer schon hatte es Streitigkeiten an der Grenze zwischen Drusna und Valesia gegeben: Viehdiebstähle, kleinere Plünderzüge und Scharmützel. Es war Arcumenna, der die Regeln in diesem Spiel verändert hatte. Mehr und mehr Krieger waren in die Kämpfe hineingezogen worden, und Arcumenna siegte immer. Das hatte es vorher noch nicht gegeben. Zuletzt war Iwar keine Wahl geblieben, als einem Frieden zuzustimmen, bei dem ihr Reich noch schlimmer ausgeplündert wurde als während der Kriegszüge. Er hatte die Arbeiter ernährt, die diese verfluchte Weiße Stadt erbaut hatten, in der sie morgen feiern sollten. Er wollte nicht dort sein, und doch musste er. Der Große Bär, sein Devanthar, war sehr deutlich geworden, was das Fest anging.

Iwars Finger trommelten gegen das kleine Glasfläschchen, das Arcumenna ihm gerade erst gebracht hatte. Nun sollte er den beliebtesten Mann seines Königreiches vergiften, den Hauptmann seiner Leibwache, Volodi von Drei Eichen. Jeder einzelne Drusnier, ob jung oder alt, kannte Volodis Namen. Er war der Erste seit Jahren gewesen, der die Valesier besiegt hatte. Aber er war ja auch nicht gegen Arcumenna angetreten, dachte Iwar säuerlich. Volodis Siege zählten nicht! Verdammter, falscher Held. Er hatte genug davon, ihn jeden Tag um sich zu haben. Mit anzusehen, wie er für alle bei Hof eine Lichtgestalt war.

Iwar strich sich über den Wanst. Er war fett geworden, das stimmte. Aber er wusste, wie man einen Bauch wieder klein schwitzte. Er musste raus in die Wälder, wenn das alles hier vorbei war. Einfacher leben. Jagen, mit den Leuten auf den Feldern sprechen. Er wusste, was seine Untertanen mochten. Aber zunächst musste Volodi verschwinden. Er hatte sich den Platz in ihren Herzen erobert, der nur ihm, dem Unsterblichen, zustand.

Iwar zog den Kork aus dem Fläschchen und leerte es in einen Weinkrug, der gerade noch voll genug war, um einen Pokal zu füllen. Neugierig schnupperte er an dem Wein. Es war ein guter, schwerer Wein von den Ägilen. Er roch fruchtig. Da war nichts Ungewöhnliches. Arcumenna hatte ihm erklärt, dass das Gift erst in ein paar Stunden wirken würde. Volodi würde ganz ruhig entschlummern, und diese verdammte Hexe aus Zapote sollte erdrosselt werden. Dann würde Arcumenna die beiden Leichen in der Nacht für immer verschwinden lassen.

Weil auch die Valesier Volodi loswerden wollten, würden sie nach seinem Tod nur noch halb so viele Abgaben einfordern. Iwar konnte das als Erfolg verkaufen. Seine Untertanen würden ihn wieder lieben, weil jeder etwas davon hatte, von einem Teil seiner Lasten befreit zu werden. Dann wären dieser verfluchte Volodi und seine Hexe bald vergessen.

Er schwenkte noch einmal den Krug. Arcumenna hatte gesagt, das Gift sei stark genug, um damit zwei Stiere zu töten. Das sollte genügen.

»Wache!«, rief er dröhnend. »Schaffe mir den Hauptmann her. Ich habe etwas mit ihm zu bereden.«

Iwar stellte den Krug auf den Tisch und daneben einen goldenen Pokal, wie er ihn selbst benutzte, und füllte ihn aus dem Krug. Das würde diesem Spatzenhirn Volodi gefallen, aus einem goldenen Becher zu trinken wie sein Unsterblicher. Dann nahm er seinen eigenen Weinpokal und stellte ihn ganz ans Ende des langen Tisches, der das Zelt beherrschte. Weit weg von dem Pokal mit dem Gift.

»Erhabener?« Volodi trat einfach in das Zelt. Jeder andere wartete draußen, bis er hineingerufen wurde. Wie er diesen Mistkerl hasste! Ihn den halben Winter am Königshof gehabt zu haben war eine Qual gewesen!

Eine eisige Bö fuhr durch das Zelt. Sie hätten diese Versammlung im Sommer einberufen sollen. Iwar ließ sich auf seinem großen, hölzernen Lehnstuhl nieder. Der Stuhl knarrte leicht unter seinem Gewicht. Früher hatte er das nicht getan.

»Herr?«

Das war ganz Volodis Art. Ihn zu bedrängen! Ihn, den Unsterblichen. »Sind die Zapote inzwischen eingetroffen?«

»Nein, Erhabener. Eben ist der Unsterbliche von den Schwimmenden Inseln mit seinem Gefolge angekommen. Die Zapote fehlen noch immer. Aber morgen werden sie gewiss da sein.«

»Was macht dich da so sicher, Volodi?«

»Es ist der Wunsch der Götter, dass wir uns hier versammeln, Erhabener. Niemand fordert die Götter heraus. Nicht einmal die verdammten Schlangenpriester.«

»Dein Weib stammt doch auch aus dieser Priesterbrut, nicht wahr?«

Volodis Gesicht verdüsterte sich. Sein Blick wurde hart. »Sie ist anders«, sagte er entschieden.

»Man hat mir zugetragen, sie ermordet gerne schwarze Hühner.«

»Schwarze Hähne sind es, Herr.«

Iwar schnalzte mit der Zunge. »Tja, die Weiber und ihre Marotten. Ohne sie wäre die Welt ein langweiliger, friedfertiger Ort.« Er griff nach seinem Weinpokal. Das schwere Gold fühlte sich angenehm kühl an. »Komm, trink mit mir, Volodi. Auf die Weiber.«

Er sah dem Hauptmann an, dass er keine Lust hatte, mit ihm zu zechen. Es aber nicht zu tun, wäre eine grobe Beleidigung.

»Auf die Weiber!« Volodi hob feierlich den Pokal und trank einen Schluck.

War das genug? Er sollte besser ganz sichergehen. Volodi war ein harter Kerl. Er durfte das hier auf keinen Fall überleben. »Du hast nie eine Schlacht verloren, nicht wahr? Kannst du Arcumenna besiegen?«

»Mit genügend Männern ganz sicher!«

Ekelhaft, dieses Selbstbewusstsein. »Würdest du für mich gegen Arcumenna ins Feld ziehen?«

»Nichts lieber als das, Erhabener«, sagte der Hauptmann voller Begeisterung. »Es ist an der Zeit, dass wir das valesische Joch abschütteln.«

»Im Sommer, Volodi. Im Sommer! Trinken wir darauf. Auf die Freiheit Drusnas!«

»Auf die Freiheit Drusnas!«, nahm Volodi den Trinkspruch begeistert auf. Und diesmal leerte er seinen Pokal bis zur Neige.

Gut, dachte Iwar. Sehr gut! »Ich möchte dich nicht weiter von deinen Pflichten abhalten, Hauptmann. Bitte berichte mir umgehend, wenn die Zapote eintreffen. Die möchte ich mir gerne ansehen.«

Der Hauptmann verneigte sich zackig und verließ das Zelt.

»Lebe wohl, Dummkopf«, sagte Iwar leise und brach in Gelächter aus. »Wieder einmal ist ein großer Mann dem Wein zum Opfer gefallen.« Er stellte sich vor, wie Volodi in dieser Nacht einfach in den Tod hineinschlafen würde. Was für ein jämmerliches Ende für einen großen Recken.

Die Gerechtigkeit des Unsterblichen

Aaron trat aus dem großen, roten Zelt und blickte über das prächtige Lager, das sich über eine Meile am Fluss entlang erstreckte. Hundert Boote waren am Ufer vertäut, und immer noch kamen neue hinzu. Vor einer Stunde erst war der Unsterbliche der Schwimmenden Inseln mit einer ganzen Flotte schillernder Katamarane eingetroffen. Ein jedes der doppelrümpfigen Boote wurde von zwei Tierköpfen auf den beiden Vordersteven überragt. Fischreiher, ein paar Haie, verschiedene Echsen, wie Aaron sie noch nie gesehen hatte. Kein Boot glich dem anderen.

Jetzt schlugen die Männer von den Inseln ihr Lager auf. Sie errichteten Hütten aus Schilfmatten, die sie mitgebracht hatten. Einige großgewachsene Krieger sahen zu ihm herüber. Sie schienen seine Blicke bemerkt zu haben. Ihre Gesichter waren tätowiert. Dunkelblaue Muster wanden sich auf haselnussbrauner Haut.

Aaron winkte ihnen zu. Sie sahen zum Fürchten aus. Bei der großen Parade morgen würden sie sicherlich einiges Aufsehen erregen.

»Unsterblicher, auf ein Wort!«

Aaron hätte die Stimme unter Hunderten erkannt, kraftvoll, aber ein wenig schrill. Es war die Stimme seines Gewissens, die ihn stets an all das erinnerte, was er vor sich herschob. Und sie gehörte Mataan. Mit einem Seufzer drehte sich Artax um. Mataan hatte sich den Winter über erholt. Dennoch war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Aus dem stattlichen Krieger war ein hagerer Mann geworden. Er hatte graue Strähnen im Bart, die Augen waren tief in dunkle Höhlen eingesunken. Scharfe Falten zerfurchten seine Stirn.

»Wir müssen über einige Vorfälle im Lager sprechen. Ein Tölpel von Stallknecht hat die Pferde mit nassem Frühlingsklee gefüttert. Die Hälfte von ihnen hat nun Koliken. Du solltest sie sehen! Es ist ein Bild des Jammers. Sie werfen sich auf den Boden und winden sich vor Schmerzen, manche versuchen, sich in den Bauch zu treten. Wir werden auf viele der Streitwagen, die für die Parade morgen vorgesehen waren, verzichten müssen. Was soll mit dem Stallknecht geschehen? Er hat dem Ansehen Arams schweren Schaden zugefügt! Man sollte ihn in einen Sack einnähen und unten in den Fluss werfen.«

Artax seufzte. Er stimmte nur sehr selten einem Todesurteil zu. »Was ist mit den Stallmeistern? Trifft sie nicht auch ein Teil der Schuld? Warum haben sie nicht besser achtgegeben, welches Futter die Pferde bekommen?«

»Sie haben auch Fehler gemacht«, räumte Mataan ein. »Welche Strafen siehst du vor?«

»Sind sie nicht schon genug damit gestraft, sich um die kranken Pferde kümmern zu müssen?«

Mataan rollte mit den Augen. »So geht das nicht! Fehler zu machen muss Konsequenzen haben, sonst gibt sich keiner mehr Mühe.«

»Aber ist es nicht besser, Erfolge zu belohnen, statt Fehler zu bestrafen.« Sie hatten schon oft über dieses Thema gestritten. Mataan hatte die Tendenz, eher zu bestrafen als zu belohnen. Vielleicht, weil er sich seit seiner schweren Verwundung selbst bestraft fühlte.

Ein Streitwagen, auf dessen Front ein großer, goldener Adler mit ausgebreiteten Schwingen prangte, näherte sich. Das musste Ansur von Valesia, ihr Gastgeber, sein. Artax hatte ihn darum gebeten, mit ihm in die Weiße Stadt zu fahren, um sich den Ort anzusehen, an dem sich morgen die Unsterblichen versammeln würden. Bislang hatte der Herrscher seine Gäste noch nicht in die neue Stadt gelassen und sich damit herausgeredet, dass noch letzte Arbeiten vollendet werden mussten.

Artax wusste, dass Langarm, der Götterschmied, gekommen war, um selbst den Saal vorzubereiten, in dem sich die Unsterblichen versammeln würden. Artax wollte wissen, was ihn erwartete. Von Geheimniskrämerei hielt er nicht viel.

Er wandte sich noch einmal Mataan zu. »Der Stallbursche bekommt zehn Rutenschläge auf die Fußsohlen und jeder der Stallmeister fünf, weil sie ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen sind. Sollte sich dieser Fehler wiederholen, wird einer von ihnen in die Löwengrube im Palast von Akšu geworfen.« Er meinte das nicht ganz ernst. Seit er Herrscher war, hatte es keine Hinrichtungen dieser Art mehr gegeben. Nur einen Unglücksfall – als die Haremsdame Aya Selbstmord beging, indem sie in die Löwengrube sprang. Die Erinnerung an ihren Tod stimmte Artax traurig. Aya war eine der drei Haremsdamen gewesen, die in seiner ersten Nacht als Unsterblicher bei ihm geweilt hatten. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, danach zu einer seiner Favoritinnen aufzusteigen. Doch er hatte sie zurückgewiesen und fühlte sich seither an ihrem Tod mitschuldig.

»Ihr seid zu milde, Erhabener«, murmelte Mataan ärgerlich. »Ohne Strafen löst sich jede Ordnung auf. Ihr werdet es sehen.«

»Ich werde über deine Vorwürfe nachdenken, Mataan. Lass nun bitte die Strafen vollstrecken, über die wir beraten haben.« Artax winkte nach dem Streitwagen, den er hatte anschirren lassen, und stieg auf.

Soweit er wusste, erwartete ihn eine enge Straße, die aus einer Steilwand herausgeschlagen worden war. Er nahm die kurze Peitsche, die seitlich des Wagens im Pfeilköcher steckte, und ließ sie über die Köpfe der beiden Schimmel knallen. Ruckend setzte sich der Streitwagen in Bewegung. Er war froh, ein paar Stunden dem Lager am Fluss zu entkommen. Noch waren die Herrscher der sieben Großreiche weit davon entfernt, Gemeinsamkeiten zu schaffen. Vielmehr war das Zeltlager ein Ort, an dem Intrigen und Verrat besser gediehen als neue Freundschaften.

Die Liebe des letzten Tages

Gonvalon musste sich beherrschen, sie nicht immerzu anzusehen. Sie war so schön, selbst in diesen abgerissenen Kleidern. Ihre Art, sich zu bewegen, ihre katzenhafte Anmut, das leichte, fast spöttische Lächeln, das immer um ihre Lippen spielte. Er kannte sie so gut. Einen Herzschlag, bevor sie es tat, wusste er, dass sie den Kopf in den Nacken werfen würde, um ihre widerspenstigen Haare aus dem Gesicht zu bekommen. Sie sollte sie flechten, ein Stirnband tragen oder sie vielleicht auch abschneiden. Sie tat nichts von alledem. Sie liebte ihr langes Haar, in dem der Wind spielte. Und sie ließ sich von nichts und niemandem in ihrem Leben Fesseln auferlegen. Das galt auch für ihre Haare.

»Warum siehst du mich so an?«

Er wusste, dass keine Ausrede gelten würde. Trotzdem deutete er an ihr vorbei auf einen großen, von Säulen getragenen Bau. »Sieht interessant aus, nicht wahr? Was das wohl sein mag? Noch ein Tempel?«

»Du schaust gar nicht dorthin. Du siehst mich an.«

Er lächelte ganz offen, entschlossen, den Augenblick zu genießen. »Ja«, gestand er. »Im Grunde interessieren mich all diese Paläste und Tempel nicht. Das einzig wirklich Schöne hier bist du. Ich könnte dich immerzu ansehen, bis ans Ende meiner Tage.«

»Ich merke mir das!« Der Schalk funkelte in ihren Augen. »In einem Jahrhundert oder zwei werde ich dich noch einmal darauf ansprechen. Du solltest schon mal anfangen, dir zu überlegen, was du dann sagst.«

»Das muss ich nicht«, entgegnete er und hätte sich am liebsten auf die Lippen gebissen. Was redete er da! Sie durfte nichts merken! Seit der Dunkle ihn drei Tage vor ihrer Abreise zu sich bestellt hatte, um ihm zu sagen, was geschehen würde, verstellte er sich. Gonvalon gab sich so unbeschwert, wie er konnte, versuchte jeden Augenblick zu genießen und wusste doch, dass bald schon das letzte Sandkorn durch die Enge des Stundenglases fallen würde. »Ich muss nicht darüber nachdenken, weil ich es weiß. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass meine Liebe dir unverbrüchlich bis zum Ende meiner Tage gehören wird.«

Gonvalon spürte, dass sie etwas zu merken begann. Ihr Blick änderte sich, wurde fragender.

»Du machst dir Sorgen wegen dem, was wir sind, Gonvalon? Weil es unser Geschäft ist, mit dem Tod zu tanzen? Du glaubst nicht, dass wir beide in zweihundert Jahren noch leben werden.«

»Ich lebe jeden Tag mit dir, als sei es mein letzter.« Er blickte zum Himmel hinauf. Sie hatten lange gebraucht, um in das Tal hinabzusteigen. Die Mittagsstunde war längst vorüber. Morgen um diese Zeit … Er schob den Gedanken von sich.

Nandalee sah ihn betroffen an. »Warum so düster?«

»Aber das bin ich doch gar nicht. Du bist nur gerade meinem geheimen Rezept auf die Spur gekommen, wie ich der Liebe Unsterblichkeit verleihe. Sie kennt kein Morgen. Lebt von Augenblick zu Augenblick. Ist sich in sich selbst genug und trägt weder die Bürden der Vergangenheit noch der Zukunft. Es ist die Liebe des letzten Tages. Sie ist von so besonderer Süße, wie die letzten Trauben, die im Jahr geerntet werden.«

Nandalee schüttelte den Kopf. »Und von besonderer Melancholie. So kann Liebe nicht leben. Du wirst damit aufhören! Verstanden? Ab morgen gelten andere Regeln!«

Gonvalon legte feierlich die Hand aufs Herz. »Versprochen, meine Schöne.« Er war erleichtert, dass die Lügen endlich ein Ende haben würden.

Ein Horn erklang hinter ihnen. Reiter preschten die breite Prachtstraße entlang und vertrieben die wenigen Schaulustigen. Gonvalon zog Nandalee zur Seite. »Lass uns gehen«, flüsterte er. Doch Nandalee schüttelte den Kopf. Manchmal war sie zu neugierig! Es wäre klüger gewesen, erst nach der Dämmerung zu kommen, wenn selbst das Weiße Selinunt in Schatten versank und sie weniger Aufsehen erregt hätten. Aber er hatte Nandalees Drängen nicht widerstehen können. Welche Gefahr lauerte hier schon? Doch allenfalls die, als zu schlecht gekleideter Pöbel aus der Stadt geworfen zu werden.

Es war schwer gewesen, sich hier einzuschleichen, doch einmal in der Stadt, beachtete sie niemand mehr. Überall wurden allerletzte Arbeiten ausgeführt, Blumengirlanden aufgehängt oder kleinere Reparaturen durchgeführt. Keiner nahm von den beiden blonden Jägern Notiz, die durch die Stadt schlenderten. Obwohl die Wege in die Stadt scharf bewacht gewesen waren, gab es in Selinunt selbst kaum Krieger.

Gonvalon hatte gehört, dass das Lager, in dem sich die Unsterblichen zurzeit versammelten, einige Meilen entfernt am Fluss lag. Erst morgen würden sie in einer großen Parade in die Stadt einziehen. Vor den Toren der Stadt waren auch die Palastgarden versammelt. Diesen Ort sollten sie auf jeden Fall meiden. Und sobald sie herausgefunden hatten, wo sich morgen Götter und Unsterbliche trafen, würden sie auch Selinunt verlassen. Er wollte allein mit Nandalee sein. Ein letztes Mal.

Eine Schar Krieger, ganz in Gold und Weiß, ritt vorüber. Einer von ihnen stieß erneut in sein Horn. Es war ein langer feierlicher Ton, begleitet vom scharfen, metallischen Klang der Hufeisen auf den Marmorplatten, mit denen die Prachtstraße ausgelegt war. Funken stoben unter den Hufen auf. Die Krieger sahen sich grimmig um, und gleich drei von ihnen wurden zur selben Zeit auf sie aufmerksam. Sie ließen ihre Pferde wenden und kamen langsam auf sie zu.

Gonvalon ahnte, woran es lag. Sie beide waren die einzigen Bewaffneten weit und breit, auch wenn die Sehnen von ihren Bögen gezogen waren und die Waffen an Riemen über ihrer Schulter hingen.

»Was tut ihr hier?« Abscheu lag in der Stimme des Reiters. Ein eckiger, blonder Bart verlieh seinem Gesicht einen harten Zug. Seine Augen blieben im Schatten seines Bronzehelms verborgen, auf dem lange, weiße Federn wippten.

»Wir schauen uns die schöne Stadt an.« Nandalee schaffte es, vollkommen arglos zu klingen. Wer sie sah und hörte, wäre niemals auf die Idee gekommen, dass er vor einer Mörderin stand, die alle drei Krieger, die sie gerade beäugten, binnen sechs Herzschlägen töten könnte.

»Ist doch nicht verboten, oder?«, fügte Gonvalon nicht minder arglos hinzu.

Der Krieger schüttelte angesichts so viel Dummheit den Kopf. »Ihr macht euch jetzt davon. Und wenn ihr morgen hierherkommen wollt, dann seid ihr gewaschen und ordentlich angezogen. Gestalten wie euch beide wird der Unsterbliche Ansur in der Weißen Stadt nicht dulden. Ihr seid …«

Helle Fanfarenstöße ertönten von einem nahe gelegenen Dach, und am Ende der Prachtstraße erschienen sechs Streitwagen. Die beiden vordersten waren mit Gold beschlagen, die Wagenlenker in Weiß und Purpur gekleidet. Hinter ihnen ragte je ein goldenes Feldzeichen auf. Ein Adler mit weit ausgebreiteten Schwingen und eine geflügelte Sonnenscheibe.

»Wir sollten gehen, sofort!«, sagte Gonvalon drängend. Warum waren die beiden Unsterblichen heute schon hier! Sie hätten erst morgen kommen dürfen. Wo Unsterbliche waren, mochten auch Devanthar nicht fern sein. Es war ein großer Fehler gewesen, sich nicht unauffälliger zu kleiden. Aber wer hätte ahnen können, welche Gesetze hier herrschten. In jeder anderen Stadt Daias waren die Straßen voller abgerissener Gestalten, wie sie es waren, ja, viele sahen noch schlimmer aus. Dort wären sie einfach in der Menge untergegangen.

Nandalee hielt ihn zurück. »Lass uns sehen, wohin sie wollen. Sie werden uns zu dem Ort führen, den wir suchen. Erkennst du auch den Mann unter der Flügelsonne?«

Natürlich erkannte er den Kriegerkönig mit dem mächtigen schwarzen Bart. Schließlich waren sie Aaron, dem Unsterblichen von Aram, schon zweimal begegnet, wenngleich er dabei nie so festlich gewandet gewesen war wie heute. Er und der andere Unsterbliche fuhren keine fünf Schritt entfernt auf ihren Streitwagen vorüber. Gonvalon senkte den Kopf, um nicht erkannt zu werden. Eilig folgte Nandalee seinem Beispiel, doch beide Herrscher hatten kurz in ihre Richtung gesehen.

Die Unsterblichen hielten auf jenes Gebäude zu, das Gonvalon schon vorhin aufgefallen war. Rund, mit einer goldenen Kuppel, die von zwanzig Schritt hohen Marmorsäulen getragen wurde, überragte es alle umstehenden Bauten. Ein regelrechter Säulenwald trug das Dach und versperrte den Blick auf die inneren Bereiche. Gonvalon schätzte, dass der Bau hundert Schritt durchmaß. Er hatte zwar größere Paläste und Tempel in der Stadt gesehen, doch nur dieses eine Bauwerk war rund.

»Wer ist das? Und wohin gehen die da?«, fragte Nandalee den Krieger, der sie immer noch argwöhnisch beäugte. Gonvalon seufzte stumm. Sie hätten sich sofort aus dem Staub machen sollen. Er wusste, dass sie sich unwissend stellte, um die letzte Bestätigung zu bekommen, dass dies dort vorne der Versammlungsort für morgen war, aber sie sollten jetzt nicht mehr hier sein. Nicht unter den Augen der Unsterblichen. Es gab höchstens eine Handvoll Menschenkinder, die sie wiedererkennen konnten, und ausgerechnet eines von ihnen tauchte jetzt auf! Verfluchtes Pech!

»Ihr erkennt euren eigenen Herrscher nicht?«, antwortete der Krieger auf Nandalees Fragen. »Links seht ihr Ansur, den Unsterblichen von Valesia, und neben ihm fährt Aaron, Unsterblicher von Aram.« Der Berittene sagte das mit einer Ergriffenheit, als seien sie leibhaftige Götter, die nicht zu erkennen ein Sakrileg darstellte.

Die Herrscher zügelten ihre Rösser, stiegen von den Streitwagen und erklommen die Stufen zum Rundbau.

»Dies ist die Halle der Unsterblichen«, fuhr der Reiter stolz fort. »Der Ort, an dem morgen zur Mittagsstunde Menschen und Götter einen Pakt schließen werden, um jene Daimonen zu besiegen, die so viel Unheil über unsere Welt gebracht haben. Und nun macht euch davon. Und vergesst nicht, was ihr gesehen habt. Ich glaube nicht, dass ihr jemals wieder zwei Unsterblichen so nahe sein werdet.«

»Danke, Herr«, sagte Gonvalon unterwürfig, um das Gespräch zu beenden, und zog Nandalee mit sich. »Lass uns so schnell es geht verschwinden«, zischte er, sobald der Reiter außer Hörweite war. »Dort, in die Seitenstraße, schnell.«

»Aaron hat uns sicher nicht erkannt.« Nandalee war völlig ruhig. Für seinen Geschmack war sie zu entspannt. Sie durften nicht den Argwohn der Unsterblichen erwecken. Nicht heute! Sie wusste ja nicht, worum es ging.

»Wir haben auf Nangog Helme getragen, als wir an Aaron vorübergegangen sind. Er erinnert sich nicht an uns.«

»Und in der Kristallhöhle?«, wandte Gonvalon ein. »Da hatten wir keine Helme auf. Und du hast einem seiner Leibwächter den Arm abgehackt. So jemanden vergisst man nicht. Er ist keine fünf Schritt an uns vorbei, und er hat in unsere Richtung geblickt!«

Halb verborgen in einem Säulengang am Eingang der Seitenstraße warf Gonvalon einen letzten Blick auf die beiden Herrscher, die auf der obersten Stufe vor der Halle der Unsterblichen stehen geblieben waren. Der Elf hatte das Gefühl, dass ihm Ansur über die weite Entfernung hinweg genau in die Augen sah. Eben schon, als sie auf den Streitwagen vorübergefahren waren, hatte der Herrscher ihn und Nandalee mit hasserfüllten Blicken bedacht.

Ansur war ein schlanker, nicht allzu großer Mann mit schmalem Gesicht. Sein schwarzes Haar war von reichlich Silber durchzogen, doch seine grauen Augen brannten in der Leidenschaft der Jugend. Neben diesen Augen war sein auffälligstes Merkmal ein gewölbtes, schwarzes Muttermal dicht über der Oberlippe. Es hätte das Gesicht eines Gelehrten sein können, wäre da nicht dieser Blick gewesen. Dies war ein Mann, der über Leichen ging, wenn es galt, seinen Willen durchzusetzen.

Und sie hatten seinen Zorn auf sich gezogen.

Der Plan der Götter

Artax bemerkte, wie Ansur zu den beiden abgerissenen Gestalten sah, die auch ihm eben auf ihrem Weg zur Halle der Unsterblichen aufgefallen waren »Stimmt etwas nicht, mein Freund.«

»Die beiden sollten nicht hier sein.«

Es lag ein Zorn in Ansurs Stimme, den Artax als unangemessen empfand. Angegafft zu werden war doch alltäglich. Ihm war der bartlose Jäger mit dem langen blonden Haar, der zuletzt den Kopf gesenkt hatte, seltsam vertraut vorgekommen. In seiner Erscheinung hatte er ihn ein wenig an Datames erinnert, auch wenn das Gesicht ein anderes gewesen war.

Ansur winkte eine der Wachen vom Fuß der Treppe hinauf. »Dort hinten …« Er stockte. Die Gestalten waren verschwunden. »Dort hinten waren zwei Vagabunden in Lumpen. Nimm dir ein paar Männer, suche sie und sorge dafür, dass sie nie wieder auf die Idee kommen, Selinunt zu betreten.«

Der Krieger salutierte, stürmte die Treppe hinab und stieg auf sein Pferd.

»Was war denn mit den beiden?«

»Wer die Weiße Stadt besucht, der sollte sich angemessen kleiden. Ich dulde hier keine Vagabunden! Dies ist ein Ort der Vollkommenheit. Mir ist ein Rätsel, wie die überhaupt hierhergelangen konnten.« Plötzlich lächelte Ansur wieder. »Entschuldige. Manchmal verliere ich mich im Detail, werter Freund. Ich wollte dir von den Geheimnissen Selinunts erzählen. Ich hatte das Glück, Langarm, den Götterschmied, für meine Vision zu begeistern. Er hat mich beim Bau der Stadt beraten und auf vielerlei andere Art geholfen. Sieh hin, so schön dieses Tal ist, es hat auch einen verborgenen Makel. Manchmal erbebt der Fels.«

»Was?« Artax sah den Unsterblichen fassungslos an. Sofort hatte er die Bilder der zerstörten Goldenen Stadt wieder vor Augen. »Du hättest mir sagen müssen …«

»Keine Sorge, Bruder.« Ansur hob beschwichtigend die Hände. »Selinunt ist sicher, denn es gibt eine zweite, verborgene Stadt. Da das Wasser der Quellen hier in den Bergen bitter ist, nutzen wir das Aquädukt nur, um die Zierbrunnen zu speisen. Unser Trinkwasser sammeln wir in riesigen Zisternen. Die ganze Stadt ist darauf errichtet. Statt auf herkömmlichen Fundamenten stehen die Bauwerke hier auf mächtigen Säulen, die sich aus dem Wasser erheben. Sie sind sicher vor Erdbeben. Dir wird sicherlich aufgefallen sein, dass einige Viertel in der Goldenen Stadt weit weniger von der Katastrophe betroffen waren als andere. Auch sie waren über Zisternen errichtet.«

Artax wünschte sich, Ansur wäre in die Goldene Stadt gekommen, um von diesen Erfahrungen zu berichten. Fast ein halbes Jahr lief nun schon der Wiederaufbau. Dieses Wissen hätte vieles verändert. Er musste sich beherrschen, um sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen. Er mochte diesen arroganten Burschen nicht.

»Folge mir, Aaron! Es war dein eigener Wunsch, dir die Überraschungen für morgen zu verderben. Du sollst die Halle der Helden sehen.«

Ein Weg führte in weiter Spirale zwischen den Säulen hindurch, bis sie in das Heiligtum gelangten, das den sieben Devanthar geweiht war. Sieben goldene Statuen standen auf hohen Sockeln entlang der Wände des runden Tempelbaus. In der Mitte öffnete sich eine breite Treppe. Ansur nahm eine Fackel von der Wand und eilte die Treppe hinab, ohne die Götterbilder eines Blickes zu würdigen.

Nach zwanzig Stufen mündete die Treppe in einen Tunnel, der sich, so wie schon der Säulengang oben, in weiten Spiralen wand. Ansur schritt so rasch aus, dass Artax kaum Gelegenheit fand, die kostbaren Fresken an den Wänden zu betrachten. Er wurde ein wenig langsamer. Sollte Ansur sich an die Gesetze der Gastfreundschaft erinnern! Eigentlich hätte sich der Herrscher von Selinunt die Zeit nehmen müssen, ihm alles in Ruhe zu zeigen. Aaron erkannte auf den Fresken zunächst Nangog und die Goldene Stadt am Hang des Weltenmundes, wenig später flogen Wolkensammler an einem herrlich blau gemalten Himmel. Es waren Bilder des Friedens und der Harmonie. Doch das änderte sich, je weiter sie dem Gang folgten. Nun waren die Devanthar abgebildet, begleitet von Männern mit silbernen Gesichtern, die alle gleich aussahen. Und dann kamen die Drachen. Sie füllten den Himmel wie ein Vogelschwarm, kämpften gegen eine ganze Flotte von Wolkensammlern. Nein …!

Artax blieb stehen, und nun endlich verlangsamte auch Ansur sein Tempo, kam zurück und leuchtete ihm mit der Fackel, damit er die Szene näher betrachten konnte. Artax hielt den Atem an – auf diesem Fresko bekämpften sich die Wolkensammler auch untereinander! Reiter auf geflügelten Pferden flogen zwischen Himmelsschiffen. Einer der Wolkensammler stand in hellen Flammen. Das Schiff, das er trug, war halb seinen Tentakeln entglitten. Hunderte Krieger und Wolkenschiffer stürzten in den Tod.

»Das ist die Vorstellung, die unsere Götter von der Zukunft haben«, sagte Ansur ernst. »Sie wollen, dass wir es jedes Mal sehen, wenn wir uns hier versammeln. Langarm ist überzeugt davon, dass die Daimonen nach Nangog kommen werden. Er wird uns die Waffen geben, um sie zu besiegen. Und wir sind die Ersten, die er beschenken wird. Komm!«

Nach wenigen Schritten mündete der Tunnel in einen weiten Kuppelsaal, der von einem großen, runden Tisch beherrscht wurde. Sieben Schwerter lagen mit der Spitze nach innen gerichtet darauf, angeordnet wie die Speichen eines Rades. Sieben wuchtige Stühle mit niedrigen Rückenlehnen standen um den Tisch. Und hinter jedem der Stühle verharrte ein Wächter. Völlig reglos.

Die Geschenke der Götter

»Erschrocken?« Diesmal klang Ansur nicht hochmütig, sondern erstaunlich einfühlend. »Mir ging es genauso, als ich zum ersten Mal hier war. Was du da siehst, sind unsere neuen Rüstungen. Und an dieser Tafel sollen wir von nun an zu jedem Opferfest versammelt sein. Sie ist rund, damit es keinen Streit gibt. Niemand hat hier einen hervorgehobenen Platz. Wir alle sind gleich. Aber nun sieh dir die Rüstungen an. Langarm selbst hat sie gefertigt.«

Zögerlich ging Artax zum nächsten Rüstungsständer. Alle Rüstungen waren – abgesehen von den Helmen – ganz in Weiß gehalten. Er betrachtete eine Brustplatte aus dickem Leder, in das ein Löwenkopf geprägt war, und musste schmunzeln. Wie es schien, hatte er auf Anhieb seine Rüstung gefunden. Der Brustpanzer bedeckte ein langärmliges Hemd, ähnlich dem, das er schon jetzt besaß. Doch was auf den ersten Blick wie dünnes Leder aussah, war eine Rüstung, die ihresgleichen suchte. Wurde das Leder getroffen, verhärtete es sich unter dem Aufprall der Waffe. Keine Klinge von Menschenhand vermochte es zu durchdringen. Als ihm der Löwenhäuptige damals die Rüstung brachte, hatte er ihm versprochen, dass auch die meisten Waffen der Daimonen nichts gegen diesen Panzer auszurichten vermochten.

Ein Rock, besetzt mit goldgefassten Lederstreifen, und eine Hose aus Leder, die in hohen Stiefeln verschwand, vervollständigten die Rüstung. Mit zwei goldenen Broschen, die Löwenköpfe zeigten, war ein langer, weißer Umhang an den Schulterstücken befestigt. Nur der Helm, der zur Rüstung gehörte, befremdete Artax. Es war ein Maskenhelm wie der Löwenhelm, den er jetzt besaß. Doch dieser hier zeigte ein Menschengesicht. Artax blickte in die Runde. Alle Helme waren ähnlich.

»Warum sehen sie alle gleich aus?«

»Liegt das nicht auf der Hand?«, fragte Ansur. »Die Götter wollen, dass es den Daimonen in der Schlacht schwerer fällt, einen von uns gezielt zu töten.«

»Und weshalb sind sie alle gleich groß? Ich schätze, Iwar wird es bei seiner Statur schwerhaben, sich in eine dieser Rüstungen zu zwängen.«

»Langarm hat sie mit einem Zauber belegt. Sie passen sich ihrem jeweiligen Träger an. Ich schätze, das ist eine Vorsichtsmaßnahme, falls einen von uns ein ähnliches Schicksal wie Muwatta ereilt. Die Rüstung kann einfach weiterverwendet werden, ganz gleich, was für ein Mann sie tragen wird.«

Artax gefiel dieses Konzept nicht. Es unterstrich noch einmal, dass jeder von ihnen beliebig austauschbar war. Er ging um den Tisch und sah sich jede einzelne Rüstung an. Sie unterschieden sich tatsächlich nur in der Schmuckprägung auf der Brustplatte. Der Adler Valesias, der Bär Drusnas. Die dritte Rüstung zeigte einen Eberkopf.

Ansur hinter ihm lachte. »So sehen die Scherze von Göttern aus. Diese Rüstung ist für unseren Freund aus Zapote. Für dieses Volk sind Schweine unreine Tiere. Ich schätze, Langarm mag seinen Bruder, die Gefiederte Schlange, nicht sonderlich.«

»Dir ist schon klar, was geschehen wird?« Fassungslos betrachtete er den Eberkopf. Es würde ohnehin schon schwer genug werden, die Unsterblichen in dieselbe Richtung zu führen. Sie waren Herrscher und daher nicht gewohnt, sich anderen zu fügen. Ganz abgesehen von den alten Fehden, die es unter ihnen gab.

Ansur winkte ab. »Er muss sie nur anziehen, dann erscheint diese widerliche Schlange auf dem Brustpanzer.«

»Aber das wird er nicht tun! Er wird die Rüstung nicht einmal berühren.«

»Oh, doch, das wird er.« Ansur strahlte eine Zuversicht aus, die in Anbetracht dieses grotesken Scherzes durch nichts zu rechtfertigen war. Der Unsterbliche klatschte laut in die Hände und rief laut: »Zeige dich!« Er hob die Fackel, und Artax, dessen Augen sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte sehen, dass noch etliche andere Gänge in den unterirdischen Kuppelsaal mündeten.

Irgendwo im Dunkeln ertönte ein Geräusch wie ein Hammerschlag auf Fels. Es folgte ein weiterer Schlag und noch einer. In einem sich langsam steigernden Rhythmus kam das Geräusch näher. Bald konnte Artax spüren, wie bei jedem der Schläge der Felsboden unter seinen Füßen vibrierte. Seine Hand fuhr zum Schwert.

»Was ist das?«

»Ein ganz besonderes Geschenk für dich«, sagte Ansur mit einem vieldeutigen Lächeln.

Der Löwe

Artax zog sein Schwert. Blassgrünes Licht umspielte die verwunschene Klinge. Er blickte zurück zu dem Tunnel, durch den sie gekommen waren. Dachte an Flucht. Das schreckliche Geräusch hallte nun von allen Wänden wider.

Da ertönte ein letztes Stampfen. Eine gewaltige Gestalt aus Gold und Silber trat in das Zwielicht des Kuppelsaals – ein silberner Löwe mit einer Mähne aus Gold, dem weite, goldene Schwingen aus dem Rücken wuchsen. Der Löwe war mehr als drei Schritt hoch.

Seine Augen funkelten in strahlendem Blau. Sein metallenes Gesicht wirkte edel. Es war nicht die Fratze eines angriffslustigen Raubtiers.

»Was ist das?«, rief Artax erschrocken und zugleich auch fasziniert von der Kreatur. Sie erinnerte an die Silberlöwen, die für die Unsterblichen die magischen Pforten zu den Goldenen Pfaden öffneten. Nur war dieser Löwe noch deutlich größer und hatte Flügel. »Ich bin dein Schlachtross, Aaron, Unsterblicher von Aram«, antwortete die Bestie und sah auf ihn hinab.

Das Monstrum aus Metall konnte reden! Seine Stimme wurde von einem merkwürdigen Klicken und Surren begleitet. Der geflügelte Löwe sprach langsam und behäbig.

Neugierig trat Artax näher. Er umrundete den Löwen, der den Kopf wandte und seinen Bewegungen folgte. Das metallene Ungeheuer war gesattelt. Von seiner rechten Seite hing eine kleine, silberne Leiter. Um ihn wie ein Pferd nur über einen Steigbügel zu besteigen, war der Löwe entschieden zu groß. Bewundernd sah sich Artax nun die Flügel an. Jede einzelne Feder war für sich allein gearbeitet und in die Flügel eingesetzt. Wie viele Stunden Langarm wohl an diesem absonderlichen Geschöpf gearbeitet hatte? Oder vermochte der Götterschmied solch eine Kreatur kraft eines einzigen Gedankens zu erschaffen?

»Jeder von uns wird morgen einen solchen geflügelten Löwen bekommen«, riss ihn die Stimme des Unsterblichen Ansur aus seinen Gedanken. »Doch nun lass uns gehen. Und bitte, sprich nicht über die Dinge, die du hier gesehen hast. Langarm wollte, dass nur du eingeweiht bist. Unsere übrigen Brüder sollen morgen überrascht werden.«

Artax strich dem Löwen über die feinen Silberschuppen, aus denen sich sein Leib zusammensetzte. »Ich freue mich darauf, mit dir in den Himmel zu reiten.«

Der Löwe warf ihm einen Blick aus glühenden, blauen Augen zu. »Ich werde dich nicht enttäuschen, Herr. Ich weiß, du bist ein großer Krieger. Ich werde dich zu neuem Ruhm führen.«

Artax sah ihn an und dachte an die Fresken von den schrecklichen Schlachten am Himmel Nangogs, die die Wände des Tunnels schmückten. Er wünschte, er würde mit dem Löwen einfach nur fliegen können. Er wollte keinen neuen Ruhm. Er wollte Frieden.

Bedrückt folgte er Ansur, der ihn zurück in den Tempel führte. Oben angekommen, durchquerten sie schweigend den Säulenwald. Dunkle Wolken hatten sich über dem Tal geballt. Ein Unwetter zog auf. Böiger Wind zerrte an den Umhängen der Krieger, die ihre Streitwagenrösser am Zaum hielten. Die Tiere scharrten unruhig mit den Hufen. Sie spürten den nahenden Sturm.

Artax sah die weite Prachtstraße hinab, dorthin, wo vorhin die beiden Jäger gestanden hatten. Und dann traf es ihn wie ein Blitz. Jetzt wusste er, warum ihm das Gesicht so vertraut vorgekommen war. Seit er der Herrscher Arams war, hatte er gelernt, sich Gesichter gut einzuprägen. Namen vergaß er immer noch allzu leicht. Aber nur selten ein Antlitz. Das war kein Jäger. Es war nicht einmal ein Mann und auch kein Mensch. Dort hatte die Daimonin gestanden, die ihm bei der Kristallhöhle in den Wäldern Nangogs begegnet war!

Voller dunkler Vorahnungen sprang er auf den Streitwagen, riss die Peitsche aus dem Köcher an der Wagenflanke und ließ sie über die Köpfe der erschrockenen Schlachtrösser knallen. Die Krieger sprangen zurück, dann schlugen die Hufe der Pferde Funken aus den Marmorplatten, als er über die Straße dahinjagte.

Er musste die Devanthar warnen!

Ein letzter Irrtum

Wenn Iwar eines hasste, dann war es, wenn sich irgendjemand einbildete, ihm Befehle erteilen zu können. Die Valesier hatten ihn auf dem Schlachtfeld besiegt, waren aber wenigstens meist so höflich, die Form zu wahren und ihm gegenüber Wünsche auszusprechen. Dieser Aaron von Aram hatte ihm einfach einen Boten geschickt und ihn umgehend in das große Zelt am Fuß des Passweges bestellt. Was bildete sich der Kerl ein? Er hatte gehört, dass Aaron im Gelben Turm vor den Göttern gesprochen hatte. War er deshalb etwas Besseres? Wer wollte da schon hin? Wenn er, Iwar, darum bitten würde, dann würden ihn die Götter dort gewiss ebenfalls empfangen.

Er goss sich einen Pokal mit Wein ein und trank. Seit einer Weile hatte er drückende Kopfschmerzen und in seinen Gedärmen rumorte es. Nach dem Mittagessen hatte er einen Krug valesischen Weißen getrunken. Ein Fehler! Wein sollte rot sein. Verdammte Brühe! Wie hatte er nur auf die Idee kommen können, dass aus Valesia etwas Gutes käme.

Der Rotwein hingegen war köstlich. Er nahm noch einen zweiten Pokal und fühlte sich gleich viel besser.

»Erhabener!«

Iwar zuckte zusammen. Volodi war wieder einfach in sein Zelt gekommen, ohne erst von draußen um Erlaubnis zu bitten. War er darauf aus, ihn mit heruntergelassenen Hosen auf dem Nachttopf zu erwischen?

»Herr, der Unsterbliche Aaron bittet Euch untertänigst darum, sich zum Versammlungszelt zu begeben. Ohne Eure geschätzte Meinung kann keine weise Entscheidung gefunden werden.«

Iwar lächelte. »Hat sich dieser Drecksack aus Aram also doch noch erinnert, was sich gehört.« Er fühlte sich ein wenig schwindelig, war aber davon abgesehen sehr zufrieden. Sie brauchten ihn also. Gut, da er in aufgeräumter Stimmung war, würde er kommen. Aber das war seine Entscheidung. Er war so gnädig, sie mit der Gunst seiner Anwesenheit zu beehren.

Iwar griff nach dem roten Umhang, der über seinem geschnitzten Thronsessel hing. Es war schon dunkel und erstaunlich kalt für die Jahreszeit. So nahe an einem Fluss zu lagern war nicht klug. Welcher Trottel nur auf diese Idee gekommen war. Beim Aufwachen taten Iwar jeden Morgen alle Gelenke weh. Das lag an der feuchten Kälte, die vom Fluss hinaufstieg.

Volodi zog die Zeltplane am Eingang zurück, um ihn hinauszulassen. Und natürlich vergaß der Kerl, sich zu verbeugen, wie es sich gehört hätte. Aber lange müsste er sich nicht mehr über den Hauptmann seiner Leibwache ärgern. Er blieb dicht vor ihm stehen und starrte ihm ins Gesicht. Ein wenig blass sah er aus, und dunkle Ringe hatten sich unter seine Augen gegraben. Zitterte er? Iwar war sich nicht ganz sicher. »Ich habe über diesen Aaron gehört, dass er die Frauen und Kinder seiner Feinde ermorden lässt, ja, sogar ihren ganzen Haushalt. Alle Diener und Sklaven. Das ist ohne Moral.«

»Man hat Euch Lügen erzählt, Unsterblicher.«

Iwar bedachte Volodi mit einem abfälligen Blick. »Würde ich auch sagen, wenn ich dabei gewesen wäre. Kindermörder.«

»Das ist nicht …«

»Du darfst jetzt den Mund halten, Hauptmann, und mich einfach zum Beratungszelt eskortieren.«

Schweigend gingen sie durch das Lager. Iwar war ein wenig kurzatmig. Schon wieder rumorte es in seinen Gedärmen. Verdammter valesischer Weißer! Er hatte das Gefühl, dass außer Volodi noch jemand in seiner Nähe war. Natürlich war das Lager voller Menschen. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Manche Faulpelze gafften ihnen nach. Aber das war es nicht. Einmal glaubte er sogar, warmen Atem auf seiner Wange zu spüren. Hastig drehte er sich um. Da war niemand. Gab es hier Geister?

Endlich sah er das Zelt. Es war mehr als doppelt so groß wie sein eigenes. Das passte zu Ansur. Sicher gehörte dieses protzige Zelt dem Unsterblichen von Valesia. Der Hurenbock ließ keine Gelegenheit aus, ihn bloßzustellen. Er deutete auf den fast fünf Schritt hohen, geflügelten Marmorlöwen, der sich neben dem Zelt erhob und gemeinsam mit einem ebenso großen Zwilling den Beginn des Passweges markierte. »Das da ist ganz und gar valesisch. Zu groß! Angeberisch! Und dann hat das Vieh auch noch Flügel!« Er sprach so laut, dass man ihn sicherlich im Zelt hören konnte. Aber das war ihm egal. »Eine Löwe mit Flügeln! Lächerlich. Sieht genauso eindrucksvoll aus wie ein Schwein mit Flügeln!«

Als Iwar in das Zelt trat, herrschte Stille. Alle sahen ihn an.

»Gut, dass du endlich kommst«, begrüßte ihn Aaron kühl, und Iwar dämmerte, dass die unterwürfige Einladung nie ausgesprochen worden war. Volodi hatte ihn angelogen, um ihn hierherzulocken. Er warf seinem Hauptmann einen finsteren Blick zu.

»Wie ich schon sagte«, fuhr Aaron fort, »bin ich mir ganz sicher, heute eine Daimonin, die mir bereits einmal auf Nangog begegnet ist, auf den Straßen von Selinunt gesehen zu haben. Das heißt, sie wissen von unserer Zusammenkunft! Das ist nur möglich, wenn noch immer Spitzel unter uns weilen und …«

Iwar ließ den Blick durch das Zelt schweifen. Neben den Unsterblichen waren auch einige Devanthar anwesend. Ihre Gegenwart hatte immer etwas Beunruhigendes, und er war froh, dass er nahe beim Ausgang stand.

Am liebsten hätte er sich gesetzt. Er fühlte sich schwach und ein wenig unpässlich. Etwas Warmes lief ihm über die Wange. Wie Tränen … Er tastete danach und blickte auf seine Hand. Da war Blut an seinen Fingerspitzen!

Iwar schloss kurz die Augen. Das konnte nicht sein! Aber er spürte, wie es aus seinen Augen tropfte. Und aus seiner Nase. Es perlte durch seinen Bart auf die Lippen.

Niemand im Zelt beachtete ihn. Sie alle sahen Aaron an, der immer noch sprach. Es schien wichtig zu sein. Er konnte den Worten des Unsterblichen nicht mehr folgen. Sein Kopfschmerz ließ nach. Vielleicht half das Nasenbluten.

Iwars Knie waren ganz weich. Er sackte nach vorn, schlug aber nicht auf dem Boden auf. Deutlich sah er vor sich zwei Blutstropfen in der Luft hängen. Nichts bewegte sich mehr. Alle Geräusche waren verstummt.

Ich kann den Lauf der Zeit verändern, Iwar, erklang eine Stimme, die er lange nicht mehr gehört hatte, in seinem Kopf. Der Große Bär! Ich habe den winzigen Augenblick, bis die Blutstropfen den Boden berühren, gedehnt, damit ich noch ein wenig mit dir reden kann. Du hast mich enttäuscht, Iwar. Aber so wie der liebende Vater die Hoffnung auf seinen Sohn nicht aufgibt, vermochte auch ich dir nichts anzutun. Ich konnte dich sogar verstehen. Es war niederschmetternd, all diese Schlachten zu sehen, in denen Mut nichts mehr zählte. Zu sehen, wie unsere Krieger dahingeschlachtet werden und Krieg zu einer Aufgabe am Rechenschieber wurde. Ich konnte verstehen, dass du angefangen hast zu trinken. Und du musstest Frieden schließen, denn Drusna hatte zu viele seiner Söhne verloren. Du wolltest das Beste für dein Land. So sollte ein Unsterblicher denken.

Iwar wollte etwas dazu sagen. Er wusste, was er alles falsch gemacht hatte. Und er wusste auch, dass der Große Bär ihn selbst jetzt noch retten könnte. Doch seine Lippen wollten sich nicht bewegen. Es war, als seien sie festgefroren. Nur sein Verstand arbeitete noch. Ganz deutlich hörte er die Stimme des Devanthars.

Ich war in deinem Zimmer, als du den Pakt mit Arcumenna geschlossen hast. Selbst da habe ich nicht aufgehört zu hoffen. Ich hatte gedacht, der Umgang mit Volodi würde dich verändern, würde dir neuen Mut machen und dir zeigen, dass noch nicht alles verloren ist. Ihr beide gemeinsam hättet die Valesier aus dem Land treiben können. Sogar heute Nachmittag noch habe ich gehofft … Ich dachte, du würdest das Gift nicht benutzen. Dann hoffte ich, du würdest Volodis Pokal im letzten Augenblick umstürzen. Ich war der kalte Luftzug, den du gespürt hast. So wie jetzt, bin ich auch aus der Zeit getreten, als du ihn vergiften wolltest. Ich habe die Becher vertauscht. Volodi ist Drusnas größte Hoffnung. Er durfte nicht sterben. Er hätte auch dich wieder einen Helden sein lassen. Er hätte den Mann wiedererweckt, der du früher einmal warst, Iwar. Aber du hast dich anders entschieden.

Iwar schlug mit dem Gesicht voran auf den hölzernen Boden des Zeltes. Er spürte keinen Schmerz. Jetzt hörte er Rufe. Die übrigen Unsterblichen waren auf ihn aufmerksam geworden. Jemand packte ihn bei der Schulter und drehte ihn herum. Volodi!

Er sah hinauf. Sah seinen entsetzten Blick …

Blut füllte Iwars Augen, und die Welt verschwand hinter einem roten Schleier.

Von der Vernunft

Volodi kniete neben dem Unsterblichen und wusste nicht, was er tun sollte. Iwar blutete aus den Augen. So wie der Unsterbliche Aaron auf der Pyramide der Zapote. Das Weiß der Augen war ganz rot geworden. Jetzt tropfte Iwar auch Blut aus den Mundwinkeln.

»Er ist vergiftet worden.« Eine mächtige Bassstimme füllte das Zelt. Wie aus dem Nichts war der Große Bär erschienen, der Devanthar Drusnas.

Volodi sah zu der riesigen Tiergestalt auf. Der Bär stand auf seinen Hinterbeinen und war so nah, dass er ihm mit einem Tatzenhieb den Kopf von den Schultern hätte reißen können. Und das würde er auch ganz gewiss bald tun, dachte Volodi. Er war der Hauptmann der Leibwache des Unsterblichen. Er hätte das verhindern müssen!

»Hier in diesem Zelt steht der Mann, der das Gift zu Iwar trug. Und neben ihm steht der Unsterbliche, der ihn damit beauftragte.«

Totenstille herrschte im Zelt. Die Herrscher Daias und die wenigen Auserwählten, die sie begleitet hatten, sahen einander misstrauisch an. Volodi hatte keinen Zweifel, wer die Mörder waren. Aber ebenso wenig hatte er Beweise. Er musste sich damit begnügen, anklagend in Ansurs Richtung zu sehen.

»Ich werde keine Fehde mit Iwars Mördern beginnen, doch sollen die beiden nicht glauben, dass ich ihnen vergeben hätte.« Jetzt sah auch der Große Bär zu Ansur und Arcumenna. »Es ist die Vernunft, die mich zwingt, auf das zu verzichten, was mein Herz mir gebietet. Der Unsterbliche Aaron hat recht. In dieser Stunde müssen wir zusammenstehen, denn wir alle wurden auf Nangog angegriffen, und dass eine Daimonin in Selinunt gesehen wurde, kann nur bedeuten, dass für unsere Feinde der Krieg noch nicht vorüber ist.«

Volodi hörte ihnen nicht mehr zu. Das alles ging ihn nichts mehr an. Er war nur deshalb an den Hof des Unsterblichen gekommen, weil es ein guter Platz zum Überwintern gewesen war. Obwohl er Iwar nie gemocht hatte, war er traurig über das Ende seines Herrschers. Er hatte es nicht verdient, auf diese Art zu sterben. Sein Tod war so bedeutungslos, dass es nicht einmal eine Fehde geben würde. Selbst der kleinste Fürst Drusnas durfte darauf rechnen, dass er von seiner Familie gerächt wurde, wenn er auf diese Art verreckte. Iwar hatte keine Familie. Die Kinder, die seine Geliebten gebaren, hatte er eigenhändig umgebracht. Er hatte es ganz gewiss verdient, ein schlimmes Ende zu nehmen …

Volodi drückte dem Herrscher die Augenlider zu und tupfte ihm mit dessen Umhang das Blut vom Gesicht. Dann deckte er ihn mit dem Umhang zu und blickte auf. Sie redeten noch immer. Keiner achtete mehr auf Iwar.

Das war nicht in Ordnung! Iwar war ein Mistkerl gewesen, und Volodi hatte es gehasst, ihm dienen zu müssen. Aber er hatte ihm als Hauptmann der Leibwache die Treue geschworen. Das wog schwerer als Sympathie. Es wäre seine Aufgabe gewesen, dies hier zu verhindern. Darin hatte er versagt. Aber er konnte ihn zumindest rächen. Er blickte zu Ansur auf. Der Unsterbliche trug nicht die Rüstung, die die Götter ihm geschenkt hatten. Volodi dachte an das Ende Muwattas. Unsterblich waren sie keineswegs, diese großen Herrscher. Sie waren keine Götter. Alles, was man brauchte, waren ein gutes Schwert und Entschlossenheit. An beidem mangelte es ihm nicht.

Er stand auf.

Das wirst du lassen!, ertönte eine machtvolle Stimme in seinen Gedanken. Wir werden ihn irgendwann rächen, wie es sich gehört, doch hier ist nicht der Ort und nicht die Stunde, es zu tun.

Volodi ließ die Hand sinken, die nach dem Schwert hatte greifen wollen.

»So geht es nicht«, warf der Große Bär nun in die Runde. »Wir brauchen einen siebten Unsterblichen, um die Abstimmung entscheiden zu können. So wie meine Schwester Išta noch in der Stunde von Muwattas Tod den größten Krieger Luwiens zu dessen Nachfolger berief, will auch ich es halten. Volodi von Drei Eichen, du sollst von nun an die Geschicke Drusnas lenken. Das Volk sieht zu dir auf. Dein Name ist seit diesem Winter in aller Munde. Du wirst Drusnas Schicksal wenden.«

Volodi sah den Bären fassungslos an.

Mach den Mund zu, verdammt. Das sieht nicht gut aus. Und glaube ja nicht, dass du mit mir über diese Entscheidung verhandeln könntest!

»Nun wird dein Wort den Ausschlag geben, was am morgigen Tag geschieht.« Aaron hatte sich direkt an ihn gewandt. In seinen Augen las Volodi, wie glücklich er über die Entscheidung des Großen Bären war.

»Äh, was …« Nun sahen ihn alle an. Und er hatte nicht zugehört. Er wusste nicht einmal, worüber sie abstimmten.

Der Unsterbliche Aaron hat einen recht vernünftigen Vorschlag gemacht, wie das morgige Fest verlaufen soll. Ansur ist dagegen, weil es seine Pläne für die feierliche Einweihung von Selinunt durcheinanderbringt. Dieses Früchtchen von Zapote benutzt sein Hirn nicht und stimmt mit Ansur, weil er seit dem kleinen Zwischenfall in der Tempelstadt auf Aarons Verderben sinnt. Er hat übrigens die Hoffnung nicht aufgegeben, dich doch noch irgendwann der Gefiederten Schlange zu opfern. Dieses tätowierte Ungeheuer, der Unsterbliche von den Schwimmenden Inseln, stimmt mit den Zapote, weil sie Verbündete sind. Madyas, der Unsterbliche von Ischkuza, unterstützt Aaron nur deshalb, weil er lieber in Zelten als in festen Häusern Feste feiert. Einzig Labarna geht es um die Sache. Er unterstützt Aaron, weil er findet, dass es der richtige Weg ist. Deine Stimme wird nun den Ausschlag geben, Volodi. Ist es nicht erstaunlich, wie wenig Vernunft bei der ersten Entscheidung, die ihr sieben Herrscher gemeinsam trefft, eine Rolle spielt?

Volodi blickte zu dem arroganten Herrscher Valesias. Er hatte Drusna gedemütigt und Iwar ermordet. Jetzt hatte er Gelegenheit, ein wenig Rache für Iwar und Drusna zu nehmen. »Ich, ähm …« Er hatte keine Schwierigkeiten, vor einem ganzen Heer von Halsabscheidern zu sprechen und ihnen mit lauter Stimme Befehle für die Schlacht zuzurufen. Aber das hier war anders. Vor den Unsterblichen und den Göttern zu sprechen … Er wünschte sich, er hätte einen Schluck Wein, um seine Kehle anzufeuchten. Wie sie ihn alle ansahen … Verdammt! Er musste das hinter sich bringen.

»Also ich stimme im Namen Drusnas mit dem Unsterblichen Aaron, denn seine Gründe sind von Gewicht.« Er hatte zwar nicht zugehört, was Aaron vorgeschlagen hatte, aber wie es schien, spielten gute Argumente und Vernunft ohnehin nur eine untergeordnete Rolle, wenn über das Schicksal der Welt entschieden wurde. Und wenn er ganz ehrlich war, dachte auch er gerade mehr an Quetzalli als an die Zukunft Daias. Wie sie es wohl aufnehmen würde? Er grinste. Jedenfalls würde sie nie wieder in einem drusnischen Winter frieren. Nicht im Palast eines Unsterblichen!

Der Abschied einer Prinzessin

Die Mutter der Mütter hatte ihr einen Baldriantrunk angeboten, damit sie in ihrer letzten Nacht besser in den Schlaf fand.

Kara war zu nett, um dieses Kloster führen zu können. Shaya machte sich Sorgen um das weitere Schicksal der jungen Priesterin. Die alte Tabitha war ganz sicher besser geeignet gewesen, um die Hinrichtung von Prinzessinnen zu vollstrecken. Hoffentlich beschritt der Unsterbliche Labarna neue Wege. Sie hatte bei ihrem Gespräch das Gefühl gehabt, dass das Ritual der Himmlischen Hochzeit auch ihm nicht gefiel. Doch vom Hof ihres Vaters wusste sie, dass es zum Fundament von Herrschaft gehörte, an alten Traditionen festzuhalten.

Shaya lächelte über sich selbst. Da saß sie nun auf ihrem Bett, gefesselt mit einer schweren goldenen Kette, deren Manschette ihr den Winter über das Fußgelenk blutig gescheuert hatte, und machte sich Sorgen um das weitere Schicksal ihrer Kerkermeisterin.

Ein scharrendes Geräusch ließ sie aufblicken. Von außen wurde der Fensterladen geöffnet, und eine schlanke Gestalt schlüpfte leise in ihr Zimmer. Nur die kleine Flamme einer Öllampe erhellte den Raum. Aber ihre Augen waren an das schwache Licht gewöhnt. Ganz deutlich sah sie den nächtlichen Besucher. Es war ein junger Mann mit schulterlangem, blondem Haar. Er trug sein Schwert auf den Rücken geschnallt, so wie es die Piraten, die Aaron zu seiner Leibwache gemacht hatte, gerne taten.

Aaron … Er hatte sie also nicht vergessen. Aber sie konnte nicht mit diesem Fremden gehen. Ihre Flucht würde Aaron vernichten. Für sie beide gab es keine Hoffnung. Ihr Schicksal war es, morgen mit durchschnittener Kehle zu sterben und auf einem Scheiterhaufen verbrannt zu werden. Und doch tat es gut, diesen Krieger zu sehen. Sie hatte sich in Aaron geirrt, gegen jede Vernunft hatte er sie niemals aufgegeben. Nun wäre sie es, die vernünftig sein müsste.

»Prinzessin Shaya?«, flüsterte der Eindringling. »Bitte erschreckt nicht, ich bin ein Freund Aarons. Ihr seid nicht in Gefahr. Ich bin hier, um Euch zu retten.«

»Ich bin wach. Ich sehe dich, und mein Leben währt zu kurz, um noch vor irgendetwas Angst zu haben. Ich freue mich, dass du gekommen bist, und doch werde ich nicht mit dir gehen. Sag Aaron, dass ich ihn liebe. Und weil es so ist, habe ich keine andere Wahl, als hierzubleiben.« Sie senkte den Kopf. Ihre letzten Worte hallten in ihr nach. Nein, das sollte nicht das Letzte sein, was Aaron von ihr hörte. Sie reckte stolz das Kinn vor. »Vergiss das … Sag ihm bitte nur, dass ich ihn liebe.«

Der Fremde sah sie eigenartig an, und obwohl er noch ein bartloser Jüngling war, wirkten seine Augen in diesem Moment so, als hätten sie schon alle Schrecken und Wunder dieser Welt gesehen. »Ich verstehe jetzt, warum er Euch liebt. Und lasst nicht alle Hoffnung fahren. Ich werde Euch retten, Prinzessin, denn ich bin nicht, was ich zu sein scheine.«

Sie stellte den Docht der Öllampe höher und sah ihn forschend an. Gleichzeitig verweigerte sie sich jeder neuen Hoffnung. Niemand konnte sie retten. Eines war allerdings seltsam. »Woher wusstest du, dass ich schon morgen hingerichtet werde?«

»Ich wusste es nicht. Ich schätze, wir beide haben Glück gehabt.« Er lächelte, doch seine Augen wirkten traurig. »Es war uns eben einfach bestimmt, zur rechten Zeit zueinanderzufinden. Eigentlich wäre ich erst zur Kirschblüte gekommen. Ich habe das Ende des Winters in einer Hütte drei Tagesmärsche von hier verbracht. Als das Wetter besser wurde, dachte ich, es sei eine gute Idee, schon einmal den Weg hinauf zum Kloster zu erkunden. Als ich das verborgene Tal fand, sah ich, dass hinter den Gärten ein Scheiterhaufen errichtet wurde. Viele Wochen zu früh. Da wusste ich, dass es mein Schicksal war, zu Euch zu finden, Prinzessin Shaya.«

Wieder spürte sie diesen süßen Schmerz in der Brust wie in der Stunde, als Kara ihr offenbart hatte, dass sie früher sterben würde. Was war es? Verletzte Hoffnung? Verzweifelte Liebe? »Ich kann nicht mit dir gehen.« Jetzt fiel es ihr schon schwerer, standhaft zu bleiben, obwohl sie ganz genau wusste, welches Unglück aus ihrer Flucht erwachsen würde.

»Seht Euch bitte das hier einmal an.« Er strich sein Haar zurück, sodass ein seltsam deformiertes Ohr zum Vorschein kam. Es war zu lang, zu schmal und lief spitz aus wie ein Tierohr. »Ich bin das, was ihr Menschenkinder einen Daimon nennt. Wir selbst bezeichnen uns als Elfen.«

Shaya atmete scharf ein. Für dieses Ohr mochte es viele Erklärungen geben. Sie dachte an die Daimonen, gegen die sie einst in den Wäldern Nangogs gekämpft hatte. Ein bisschen sah er ihnen schon ähnlich, ohne Bart und so schlank. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Seine Behauptungen waren absurd! »Aaron würde niemals einen Daimon schicken, um mich zu retten.«

»Das stimmt, meine Dame. Ich habe ihm viele Jahre treu gedient, und doch hat er nie erfahren, wer ich wirklich bin. Ich war sein Hofmeister Datames.«

Das wurde ja immer verrückter! Sie glaubte ihm kein Wort. Diese Geschichte ergab keinerlei Sinn. Die Daimonen waren Feinde der Menschen, der Hofmeister Datames aber hatte Aaron gute Dienste geleistet.

»Ich sehe schon, ich muss überzeugendere Argumente ins Feld führen, meine Dame. Bitte achtet auf meine Nase. Sie erschien mir immer schon ein wenig zu spitz und zu lang.« Er hob die Hände vor sein Gesicht, murmelte etwas, das Shaya nicht verstand, und schien dabei seine Nase zu massieren. Als er die Hände wieder senkte, glaubte sie ihm. Seine Nase war nun kleiner und gedrungener, fast wie ihre eigene Nase.

»Das ist …« Sie streckte die Hand vor und wagte dann doch nicht, ihn zu berühren.

»Das ist die Lösung aller Probleme, Prinzessin, denn heute wird sich die, die ihr seid, einfach in Luft auflösen. Prinzessin Shaya wird für immer aus dieser Welt verschwinden.«

»Du wirst mein Gesicht verändern?« Misstrauisch sah sie den Daimon an. Hatte ihn vielleicht Išta geschickt? War dies eine Falle? Aber welche Falle machte am Abend vor ihrem Tod noch einen Sinn?

»Ihr könnt mir vertrauen, Prinzessin.«

Seine Stimme klang so warm und freundlich, dass sie geneigt war zuzusagen. Doch gehörte das nicht auch zu den Ränkespielen der Daimonen? Sie waren Meister der Intrige. Und sie gaben nichts, ohne einen dunklen Preis zu fordern. »Was verlangst du von mir, wenn du mein Gesicht veränderst und mich rettest? Muss ich dir dafür meine Seele verpfänden?«

Einige Herzschläge lang sah er sie fassungslos an. Dann begann er plötzlich, leise zu lachen. »Ja, ich kenne die Geschichten, die ihr Menschenkinder über uns erzählt. Sehe ich wirklich aus wie ein Abgesandter der Mächte der Finsternis?«

Shaya musterte ihn mit ausdrucksloser Miene. Natürlich sah er nicht so aus … Aber war er nicht gerade deshalb verdächtig? Daimonen waren die großen Täuscher. Sie waren nie das, was sie vorgaben zu sein. Er wirkte harmlos und freundlich. Nein … Ihr Blick wanderte zu seinem Schwert. Ganz harmlos sah er nicht aus.

»Ihr müsst Euch entscheiden, Prinzessin Shaya. Was habt Ihr zu verlieren? Bleibt Ihr, werdet Ihr sterben. Kommt Ihr mit mir, werdet Ihr ein neues Leben beginnen.« Er lächelte erneut. »Und ich verspreche Euch noch einmal, ich werde nicht Eure Seele rauben.«

Sollte sie ihn verärgert haben, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Seit fast einem Jahr hatten Götter und Unsterbliche ihr Leben gelenkt. Sie war nicht mehr Herrin ihrer Entscheidungen gewesen, und jedes Mal, wenn sie sich gefügt hatte, war sie ein Stück tiefer ins Unglück gestoßen worden. Vielleicht war sie ja ein ganzes Leben lang angelogen worden? Vielleicht waren die Devanthar das Dunkel und die Daimonen das Licht. Und was hatte sie noch zu verlieren? Sie würde morgen sterben …

Zögerlich nickte sie. »Ich danke dir für dein Angebot. Ich werde mit dir gehen. Bitte verändere mein Gesicht.« Sie sah ihm seine Erleichterung an. Da war keine Verschlagenheit in seinem Antlitz. Er wollte ihr wirklich helfen.

»Ihr habt die richtige Wahl getroffen, Herrin. Lasst uns beginnen. Ihr solltet auch eine andere Haarfarbe wählen. Das allein wird Eure Erscheinung schon erheblich verändern. Lasst uns beginnen! Sagt mir, wie wollt Ihr aussehen?«

»Eine größere Nase wäre schön«, entgegnete sie noch ein wenig zögerlich, doch ihr Herz hatte wie wild zu schlagen begonnen. Sie hatte mit ihrem Leben abgeschlossen gehabt, und jetzt würde sie doch noch dem Tod entfliehen! »Größere, rundere Augen wie die Frauen im Westen hätte ich auch gerne«, sagte sie kokett »Und meine Wangenknochen …«

»Ich muss Euch warnen, Prinzessin, diese Veränderungen bereiten Schmerzen. Wir sollten mit Bedacht vorgehen. Zu viel Veränderung ist weder notwendig noch gut.«

»Warum?«, fragte sie enttäuscht und dachte, dass sie gerne auch ein wenig größer wäre. Nicht viel. Nur ein oder zwei Zoll. Ihre Beine waren zu kurz und krumm, weil sie zu viel im Sattel gesessen hatte.

»Euch umgibt eine Aura, die magische Geschöpfe, wie etwa die Devanthar, sehen können. Jeder Zauber, den ich wirke, hinterlässt eine Spur. Jedenfalls für eine Zeit, bis Euer verändertes Aussehen Euch zur neuen Natur geworden ist. In zwei oder drei Monden vermögen nicht einmal Eure Götter noch zu erkennen, wer Ihr einmal wart.«

Shaya zögerte, dann entschied sie sich, auf ihn zu hören. Er wusste es mit Sicherheit besser als sie. Ihre Haarfarbe zu verändern verursachte nur ein leichtes Prickeln in ihrer Kopfhaut. Ganz anders war es mit der Nase. Es fühlte sich an, als würde sie gebrochen. Sie kämpfte gegen den Schmerz an, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Als auch noch ihre Augen verändert waren, verzichtete sie freiwillig auf weitere Zauber. Sie wünschte, es gäbe einen Spiegel. Zu gerne hätte sie ihr neues Gesicht gesehen.

»Ihr seid immer noch sehr hübsch«, sagte der Daimon, als könne er in ihren Gedanken lesen. Er war sehr einfühlsam und zuvorkommend. Einem Mann wie ihm war sie noch nie begegnet. Er hatte fast schon etwas Weibisches. Jetzt kniete er auch noch vor ihr nieder!

Wieder murmelte er vor sich hin, und ihre Fußfessel sprang auf. Vorsichtig verband er die Schürfwunden an ihrem Knöchel, dann blickte er lächelnd auf. »Jetzt müsst Ihr nur noch andere Kleider anlegen, Prinzessin, und Ihr könnt diesem Gefängnis entfliehen.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich warte hier auf Eure Mörder, Prinzessin. Und wenn sie kommen, Euch zu holen, dann werde ich mit ihnen einen Tanz veranstalten, den sie so schnell nicht vergessen werden. Bluttaten und Zauberwerk werden sie überzeugen, dass ein leibhaftiger Daimon hier war, Euch verschlungen hat und danach noch Appetit auf weiteres Menschenfleisch hatte.«

»Du erzählst ihnen, du hättest mich verschlungen?«

»Nicht so freundlich, wie ich es Euch gerade gesagt habe, Prinzessin. Glaubt mir, ich kann sehr überzeugend sein. Und wir brauchen eine Erklärung, was aus Euch geworden ist. Sucht Euch einen sicheren Unterschlupf irgendwo hoch in den Felsen und seht zu, wie ich mich vom Kloster verabschiede.« Seine Stimme war leise geworden. Melancholisch. »Wir treffen uns dann bei meinem Versteck in den Bergen.«

Er beschrieb ihr den Weg zu der Schäferhütte, in der er die letzten Wochen gelebt hatte. Dort sollte sie Zuflucht suchen und auf ihn warten. Als Shaya die Kleider anzog, die er für sie mitgebracht hatte, wandte er sich höflich ab. Zuletzt drückte er ihr sein Schwert in die Hand. »Nehmt dies, Prinzessin. Ich weiß, Ihr könnt gut damit umgehen. Es ist eine schöne Bronzeklinge. Nichts Besonderes, aber zuverlässig. Sobald Ihr in belebtere Gegenden kommt, solltet Ihr sie gegen einen Dolch tauschen. Eine Frau mit einem Schwert erregt zu viel Aufsehen.«

»Aber wie wirst du ohne Waffe kämpfen? Labarna hat einige Männer seiner Leibwache geschickt, um meine Opferung zu überwachen. Das sind erfahrene Krieger!«

»Und ich bin ein Daimon«, sagte er entschieden, und seine Augen wurden hart. »Glaubt Ihr wirklich, eine Handvoll Menschenkinder könnte mich aufhalten.«

In diesem Augenblick wirkte er ganz und gar nicht mehr weibisch, und sie war froh, dass er ihr nicht feindlich gesonnen war. Sie dachte an die Kristallhöhle in den Wäldern Nangogs, wo sie gegen die Daimonen gekämpft hatte. Er hatte recht, er würde kein Schwert brauchen, um die Männer Labarnas zu bezwingen.

»Ich werde auf einem anderen Weg aus dem Tal fliehen als Ihr, Prinzessin. Unsere Verfolger dürfen uns nie zusammen sehen. Deshalb treffen wir uns erst bei der Schäferhütte.« Er drückte ihr die Hand. »Es war mir eine Ehre, Euch kennengelernt zu haben. Ihr seid wahrlich eine Prinzessin unter den Menschentöchtern.«

Obwohl er ihr geholfen hatte, war sie froh, seiner Gesellschaft zu entkommen. Er war ihr erneut unheimlich geworden, als sie für einen Herzschlag die Härte hinter seiner weibisch höflichen Art hatte aufblitzen sehen. Er hatte ihr geholfen, aber er blieb ein Daimon. Sie sollte ihm nicht zu sehr vertrauen. Sie verneigte sich knapp.

»Ich danke dir«, sagte sie kurz angebunden, dann stieg sie mit klopfendem Herzen aus dem Fenster hinaus in eine sternklare Nacht. Von Norden wehte ein eisiger Wind ins Tal. All ihre Sinne waren geschärft wie zuletzt bei ihrer Flucht, die sie abgebrochen hatte. Sie musste nicht mehr fürchten, Aaron zu schaden. Die Prinzessin Shaya hatte aufgehört zu existieren. Sie war in ein neues Leben geboren worden.

Der Verrat

Nandalee lauschte auf die Geräusche der Nacht. Sie hatte fast keinen Schlaf gefunden. Es regnete. Leises Tröpfeln auf Stein und Blätter und der Wind, der ab und an in den Felsen heulte, waren die einzigen Laute, die sie vernahm.

Gonvalon lag reglos an sie geschmiegt. Sein Atem ging ruhig. Konnte er schlafen? Nandalee verfluchte sich immer noch dafür, dass sie in der Stadt nicht vorsichtiger gewesen waren. Sie hatten dorthin gemusst! Es war ihre Mission herauszufinden, wo sich Menschen und Götter versammeln würden. Ein seltsamer Auftrag … Sie würden Tage brauchen, um nach Albenmark zurückzukehren. Was nutzte dieses Wissen im Nachhinein? Vielleicht sollten zukünftige Versammlungen angegriffen werden.

War da ein Geräusch? Sie hielt den Atem an. Nein, nichts. Nur Wind und Regen. Den Reitern, die sie anfangs verfolgt hatten, waren sie leicht entkommen. Doch in der Abenddämmerung, als sie in die Berge oberhalb der Stadt zurückgekehrt waren, waren andere Kreaturen gekommen. Die Devanthar selbst hatten nach ihnen gesucht! Sie hatten in einer Felsspalte hinter dichtem Gebüsch Zuflucht gefunden. Ein Versteck, das im Dunkeln eigentlich unauffindbar war. Es sei denn, jemand besaß das Verborgene Auge. Nandalee war sich nur zu bewusst gewesen, wie verräterisch ihre Aura war. Sie war magiebegabt. Ihre Aura unterschied sich grundlegend von der aller anderen Kreaturen in weitem Umkreis. Deshalb hatte Gonvalon ihr befohlen, so tief wie möglich in die Spalte zu kriechen und sich dann schützend vor sie gelegt, sodass seine Aura die ihre überlagerte.

Jetzt war alles ruhig. Ein oder zwei Stunden noch, dann wurde es hell. Sicher würden die Devanthar sich dann ganz dem Schutz der Stadt widmen und nicht länger in den Bergen auf die Jagd gehen.

Sie spürte, wie Gonvalon sich regte. Er löste sich aus ihrer Umarmung, drehte sich zu ihr um und küsste sie. Im schwachen Licht konnte sie ihn kaum erkennen. Sein Gesicht war eine Fläche aus Schatten. Zärtlich strich seine Rechte über ihren Nacken. »Was immer auch geschieht, ich liebe dich«, flüsterte er und drückte im selben Augenblick auf einen Punkt in ihrem Nacken. Ein heißer Schmerz brannte bis in ihre Zehenspitzen. Was hatte er …? Sie wusste, was er getan hatte, auch wenn sie es nicht glauben wollte.

Ailyn, die Meisterin im waffenlosen Kampf, die sie an ihrem ersten Tag in der Weißen Halle so unbarmherzig mit einem Holzschwert verprügelt hatte, lehrte dieses Geheimnis. Aber nicht an Schüler. Nur wenige, auserwählte Meister wussten um die Nervenpunkte, bei denen ein leichter Druck genügte, um unerträglichen Schmerz oder Lähmung zu verursachen.

»Es tut mir leid, Nandalee. Ich weiß, dass du dies als Verrat empfinden musst. Aber bald schon wirst du wissen, dass diese Tat aus Liebe geboren wurde. Dieses Tagwerk heute muss ich allein verrichten. Ich habe Sorge, dass die Himmelsschlangen uns verraten haben. Nach allem, was ich mit dem Goldenen erlebt habe, vertraue ich ihnen nicht mehr. Wenn ich irre, bin ich vor Sonnenuntergang wieder zurück und stelle mich deinem Zorn. Und wenn nicht …« Er stockte. Rang um Worte. »Und wenn ich nicht zurückkomme, dann war es besser so.«

Sie spürte seine Verzweiflung. Sie war nicht wütend. Sie wollte ihn zurückhalten, denn er würde eine Dummheit begehen!

»Hab keine Sorge um mich. Durch die Tat Matha Nahts bin ich kein magisches Geschöpf mehr. Dieses eine Mal wird es mein Vorteil sein. Die Devanthar können mich im Gegensatz zu dir nicht erkennen, wenn sie ihr Verborgenes Auge öffnen.« Er klang ganz so, als wolle er sich mit diesen Worten selbst Mut machen.

Gonvalon kroch aus ihrem Versteck, suchte am Berghang einige kopfgroße Bruchsteine und schichtete sie vor Nandalee auf, um ihre Deckung hinter dem Busch zu verbessern. Noch einmal kam er zu ihr zurück und küsste sie. Dann ging er im letzten Sternenlicht davon.

Shayas Tod

Irgendetwas musste schiefgegangen sein. Seit Stunden lag Shaya nun schon versteckt zwischen den Felsen und beobachtete das Tal. Es war überdeutlich, dass dies kein Tag wie jeder andere im Haus des Himmels war. Alle Priesterinnen hatte ihre orangegelbe Festtracht angelegt. Eine Farbe, die aussah, als wollten sie mit Gewalt den noch fernen Sommer heraufbeschwören.

Shaya blickte zu dem Scheiterhaufen, der nahe einem Altar aus schlichtem, grauem Stein errichtet worden war. Den Morgen über hatten die Priesterinnen die Bäume und Büsche im Garten mit bunten Seidenbändern geschmückt. Dreimal waren sie in langer Reihe betend rund um das Kloster gezogen und hatten dabei lange Räucherstäbe abgebrannt, um die Geister des Winters zu vertreiben. Plötzlich ertönte ein so lauter Gongschlag, dass er selbst hoch in den Felsen noch deutlich zu hören war. Shaya wusste von Kara, dass er den Beginn der Zeremonie einleitete. Wie konnten sie anfangen? Sie hätten doch längst den Daimon in ihrem Zimmer entdecken müssen! Was war da vorgefallen? Diese Zeremonie konnte nicht stattfinden!

Unter dem Tor des Tempels erschien eine Prozession, angeführt von Kara, der Mutter der Mütter. Ihr folgten die Krieger Labarnas in Bronzerüstungen, auf denen sich hell die Sonne spiegelte. Leuchtend rote Federn wippten von ihren Helmen. Sie waren mit Speeren bewaffnet und trugen große Schilde aus Kuhhaut. Zwischen ihnen, ein wenig verloren wirkend und einen Kopf kleiner als ihre Wächter, ging eine weiß gewandete Frau. Shaya stockte der Atem. Dort unten ging sie! Der Daimon hatte ihre Gestalt angenommen!

Er hatte sie belogen! Von Anfang an musste es sein Plan gewesen sein, an ihrer Stelle zum Opferplatz zu gehen. »Prinzessin Shaya wird für immer aus dieser Welt verschwinden«, hatte er ihr gesagt. Es war die Wahrheit gewesen, auch wenn sie die Bedeutung dieser Worte anders aufgefasst hatte.

Sie würde nicht unsichtbar werden, und er hatte nie vorgehabt, das Märchen von einem prinzessinnenverschlingenden Daimon zu erzählen. Ihr Verschwinden aus der Welt würde vor über hundert Zeugen stattfinden. Sie schluckte, kämpfte mit den Tränen. Es war zu spät, um noch etwas zu verhindern. Selbst wenn sie sich aus dem Versteck erhob und den mit Felsbrocken übersäten Hang hinablief, würde sie den Opferplatz nicht mehr rechtzeitig erreichen.

Der Daimon war gekommen, um ihr sein Leben zu schenken! Wenn Shaya vor so vielen Zeugen starb, würde es nie mehr irgendwelche Fragen geben. Er hatte alles geplant. Niemand hatte den Daimon kommen sehen. Niemand hatte gesehen, wie sie aus dem Fenster gestiegen war. Alle würden sie dieselbe Geschichte erzählen: dass die Kriegerprinzessin mit stolzerhobenem Haupt, ohne ein Zeichen von Angst zum Opferstein gegangen war.

Kara ging zu der falschen Shaya, nahm sie in die Arme und verabschiedete sich von ihr. Dann legte sich der Daimon auf den Opferstein. Labarnas Krieger kamen und hielten ihn an Armen und Beinen fest, obwohl er kein Anzeichen von Widerstand zeigte.

Kara wurde feierlich das Opfermesser überreicht. Sie trat neben den Altar. Dreimal hob sie die goldene Klinge und dreimal ließ sie sie wieder sinken. Sie konnte es nicht über sich bringen. Ein Mann mittleren Alters, leicht untersetzt, im Festgewand eines Išta-Priesters, löste sich aus der Gruppe der Gäste, die wohl mit Labarnas Kriegern gekommen waren. Er nahm der Mutter der Mütter das Messer ab, streckte die Klinge dem Himmel entgegen und sprach offensichtlich ein paar feierliche Worte. Dann fuhr das Messer hinab. Mit einem Schnitt durchtrennte es die Kehle der Prinzessin. Blut spritzte auf und durchtränkte das weiße Kleid.

Shaya rannen heiße Tränen über die Wangen. Unfähig den Blick abzuwenden sah sie zu, wie sie starb. Schluchzen schüttelte sie.

Das Blut perlte durch eine Rinne und troff in einen goldenen Kessel, der am unteren Ende des Altars stand. Noch immer hielten die Krieger den Elfen fest. Nie wieder würde sie das Wort Daimon benutzen, schwor sich Shaya. Daimonen waren Ungeheuer der Nacht. Seelenlose Geschöpfe, allein fähig, Böses zu tun. Doch dort unten hatte eine Lichtgestalt ihr Leben für sie gegeben, allein für die Hoffnung, dass die Welt ein besserer Ort sein würde, wenn sie noch nicht starb.

»Danke, Datames«, flüsterte sie und wurde sich bewusst, dass sie nicht einmal seinen richtigen Namen gekannt hatte. »Du hattest eine große Seele.«

Ein weißes Seidentuch wurde über das Gesicht des Toten gelegt. Die Priesterinnen hoben den Leichnam vom Altar und trugen ihn zum Scheiterhaufen.

Der Išta-Priester trat mit einer brennenden Fackel neben den Scheiterhaufen. Kara kam, redete auf ihn ein und nahm ihm schließlich, sichtlich gegen seinen Willen, die Fackel ab. Eine junge Priesterin kam vom Tempel herbeigelaufen. Auf den Armen trug sie ein Brett, das mit Leintüchern abgedeckt war. Shaya erkannte es sofort. Es musste sich um die Tontafeln handeln, auf denen Kara gestern niedergeschrieben hatte, was sie ihr über die Heilkräfte der Allwurzel erzählt hatte.

Vorsichtig bettete die Mutter der Mütter die Tafeln auf die Brust des Leichnams. Sie würden im Totenfeuer gebrannt werden. Wieder ertönte der laute Gong. Kara hielt die Fackel an das ölgetränkte Holz, und bald schon hüllten Flammen den Leichnam ein. Der Wind ließ das Feuer tanzen und riss glühende Funken hoch in die Luft hinauf.

Shaya hatte aufgehört zu weinen. Frieden war über sie gekommen und das Gefühl einer nie gekannten Freiheit. Sie schuldete niemandem in dieser Welt mehr etwas, konnte zum ersten Mal in ihrem Leben tun, was sie wollte.

Die Gruppe der Opferzeugen begann sich aufzulösen. Als Erster ging der Išta-Priester. Nur Kara blieb bis weit in den Nachmittag. Zuletzt holte sie die Tontafeln mit zwei Stöcken aus der Glut und legte sie zum Auskühlen auf den Altar. Shaya wartete bis zur Abenddämmerung und sah zu, bis schließlich auch die letzte Glut des Scheiterhaufens verloschen war. Dann verließ sie ihr Versteck und schritt über den Bergkamm hinweg in ihr neues Leben.

Der letzte Krieg

Langsam breitete sich in der Menschenmenge vor der Halle der Unsterblichen Unruhe aus. Das Wispern von Tausenden Stimmen wurde immer lauter. Manche von ihnen hatten schon Stunden auf dem Platz ausgeharrt, so wie Gonvalon. Immer wieder gab es kurze Regenschauer. Die Sonne hatte sich an diesem Tag noch gar nicht gezeigt.

Heute hatte der Elf sich nicht in die Stadt schleichen müssen. Er trug eine weiße Tunika, dazu rote Sandalen, und hatte den Umhang, den ihm der Dunkle gegeben hatte, um die Schultern geschlungen. Sein Haar machte ihm Sorgen. Er hatte es am Morgen schwarz gefärbt. Der Regen würde bald das Färbemittel ausspülen und die Schultern der Tunika und den Umhang damit durchtränken. Irgendwann würde sich in der kalten Nässe auch der falsche Bart lösen, der an seinen Wangen haftete. Niemand, der ihn gestern gesehen hatte, würde ihn heute noch wiedererkennen. Aber wenn der Regen sein zerstörerisches Werk noch länger fortsetzte, würde bald offenbar werden, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

»Bald wirst du die Götter sehen«, versuchte eine junge Mutter neben ihm ihre quengelnde Tochter zu beruhigen. Das blondhaarige Mädchen war höchsten sieben und jammerte, dass es nicht mehr stehen könne.

»Nur wenige Menschen sehen jemals einen leibhaftigen Gott. Das bringt Glück! Ein guter Stern wird über deinem Leben stehen und dir ein zufriedenes Leben bescheren.«

Gonvalon blickte zum Himmel. Dichte, bleigraue Wolken zogen über das Tal. Die Sonne war nicht zu sehen. Es war schon jetzt so dunkel wie zur Dämmerung. Der Elf stellte sich vor, wie ungeduldig die Himmelsschlangen nun auf sein Zeichen warteten.

Plötzlich erschien eine Gruppe von Kriegern zwischen den Säulen der Festhalle. Sie setzten silberne Fanfaren an die Lippen und schmetterten einen Gruß, der jedes Gespräch auf dem weiten Platz verstummen ließ.

Ansur trat zwischen den Kriegern hervor und stieg einige der Stufen des Prachtbaus hinab.

Gonvalon drängte sich nach vorne. Er wollte keines der Worte des Menschensohns überhören. Der Elf ignorierte die Ellbogenstöße und Flüche der Männer und Frauen, an denen er sich vorüberschob. Schließlich war er keine fünf Schritt mehr von Ansur entfernt, als dieser die Arme ausweitete und zu sprechen begann. »Bürger von Valesia!« Die Stimme des Menschensohns war kraftvoll. Schon den ersten Worten merkte Gonvalon an, dass der Herrscher ein geübter Redner mit wohlausgebildeter Stimme war.

»Götter sind unter Euch!« Ansur machte eine Pause und genoss sichtlich das Raunen in der Menschenmenge.

»Schon in der Nacht haben sich die Unsterblichen und die Himmlischen in der Halle, auf die ihr blickt, versammelt. Wie ihr wisst, waren es die Daimonen Albenmarks, die all das Unglück über Nangog brachten und auch uns einen Hungerwinter bescherten.« Er blickte auf die Menge hinab. »Ich sehe eure ausgezehrten Gesichter, ich sehe eure hohläugigen Kinder. Ich weiß, wie sehr ihr gelitten habt.«

Etwas war anders als gestern, dachte Gonvalon. Freilich hatte er Ansur gestern nicht sprechen hören, aber diese warme, freundliche Stimme wollte so gar nicht zu den hasserfüllten Blicken vom Vortag passen. Auch schienen ihm die Gesichtszüge leicht verändert. Doch da war das auffällige Muttermal über der Oberlippe.

»Wir werden einen Krieg gegen die Daimonen führen!«, rief er. »Wir werden sie aus Nangog vertreiben! Und dann werden wir mit dem Schwert in der Hand in ihre Welt treten.« Seine Stimme überschlug sich jetzt. Immer leidenschaftlicher wurden die Gesten, die seine Worte begleiteten. »Wir werden auch sie spüren lassen, was es heißt zu darben. Auch sie sollen wissen, wie es ist, ein Kind in den Schlaf zu wiegen, dem der Bauch vor Hunger schmerzt. Und wenn wir sie zur letzten Schlacht stellen, dann werden wir keine Gnade kennen. Sie waren es, die den Krieg begonnen haben. Wir sind Kinder des Friedens. Aber sie haben unseren Zorn erweckt, und wenn wir etwas beginnen, dann bringen wir es auch zu Ende. Wir werden es sein, die diesen Krieg beenden. Und enden wird er erst, wenn wir auf dem letzten Schlachtfeld über den letzten Leichnam des letzten Daimons hinweggeschritten sind.«

Lautes Jubelgeschrei erhob sich. Die Menge drängte nach vorn, und nur mit Mühe konnten die Wachen am Fuß der Treppe die begeisterten Valesier zurückhalten. Ansur stieg noch ein paar Stufen weiter hinab. Er winkte seinen Untertanen zu. Gonvalon konnte ihn jetzt ganz deutlich sehen. Das Muttermal … Er musste näher an ihn heran! Er drängte sich in der Menge weiter nach vorne. »Heil dir, Ansur Daimonenschlächter«, rief er aus Leibeskräften und winkte, damit der Herrscher auf ihn aufmerksam wurde. »Räche unsere toten Kinder!«

Ansur blickte auf ihn herab. Und in diesem Augenblick sah Gonvalon es ganz deutlich. Das Muttermal wölbte sich nicht. Es war nur aufgemalt. Ein Schausteller war gekommen, um für das Volk den Herrscher zu spielen!

Ansur wandte sich um, stieg ein Stück die breite Marmortreppe hinan und winkte den Fanfarenbläsern. Schneidig hoben sie ihre Instrumente an die Lippen und ließen ein weiteres Mal einen Tusch erklingen.

Das Lärmen auf dem Platz verstummte. »Es ist der Letzte aller Kriege, über den Götter und Herrscher beraten, und noch sind wir uns nicht einig, wie wir die Daimonen bezwingen werden. Die Beratungen werden noch bis zur Abendstunde andauern. Dann aber werden die Unsterblichen und die Götter Hand in Hand auf diesen Stufen hier stehen und ihr, meine Valesier, ihr werdet die ersten Zeugen dieses neuen Bündnisses sein. Geduldet euch noch einige Stunden. Dies ist ein Tag, von dem noch in hundert mal hundert Jahren gesprochen werden wird. Und ihr werdet irgendwann euren Enkelkindern voller Stolz erzählen: Ich war dabei, als der Kriegsrat der Götter und Unsterblichen entschieden hat, wie die Feinde der Menschheit ausgelöscht werden sollen!«

Lauter Jubel brandete auf, als der falsche Ansur sich nach diesen Worten abwandte, die Treppe hinaufstieg und zwischen den Säulen verschwand.

Auch Gonvalon zog sich zurück. Die Worte hatten ihn aufgewühlt. Selbst wenn es nicht Ansur war, der dort oben gestanden hatte, zweifelte er nicht daran, dass der Redner ausgesprochen hatte, was der Unsterbliche dachte. Dieser Krieg durfte nicht beginnen!

Als der Dunkle ihm vom Plan der Himmelsschlangen berichtet hatte, die Devanthar und Unsterblichen alle in einem Augenblick zu vernichten, hatte er das für gut befunden. Es schien das einzig Richtige zu sein. Doch heute würde dies nicht gelingen. Gonvalon war sich sicher, dass die Götter und Herrscher nicht in dieser Halle über den Krieg beratschlagten. Sie hatten sich an einen anderen, geheimen Ort zurückgezogen. Er musste den Himmelsschlangen das Zeichen geben, nicht anzugreifen!

Er sah sich um und ging dann nach Norden. Die Masse der Menschen drängte in die entgegengesetzte Richtung zu den Zelten, wo jeder kostenlos Speis und Trank erhielt.

Den Umhang auf einem der Dächer auszubreiten, wie es der Dunkle vorgeschlagen hatte, würde nicht gelingen. Überall standen Krieger. Es war unmöglich, unbemerkt von ihnen auf eins der Dächer zu gelangen. Aber er hatte am Morgen einen kleinen Platz nahe einer Säulenhalle, ein Stück den Hang hinauf, gesehen. Dort würde er das Zeichen geben, dass die Himmelsschlangen nicht angreifen sollten.

Der Dunkle würde enttäuscht sein. Er war sich so sicher gewesen, dass sie die Devanthar heute vernichten würden. Er hatte Gonvalon mehrfach eingeschärft, dass als Signal für den Angriff das blaue Innenfutter des Umhangs nach oben zum Himmel weisen musste. Sollte es keinen Angriff geben, war der Mantel so hinzulegen, dass die rote Seite nach oben wies. Gonvalon hatte zweimal nachgefragt, ob er richtig verstanden hatte. Ihm war die Wahl der Farbe für den Angriff eigenartig vorgekommen. Hätte er seine Befehle vom Goldenen bekommen, dann hätte es ganz gewiss geheißen, dass die Farbe des Blutes das Zeichen sei, mit dem Werk der Vernichtung zu beginnen. Aber die beiden Nestbrüder waren so verschieden wie Tag und Nacht. Da war es wohl nur folgerichtig, dass der Dunkle ein anderes Verständnis von Farben hatte.

Es hatte wieder angefangen zu regnen. Gonvalon beeilte sich. In zwei oder drei Stunden würde er wieder bei Nandalee sein. Das Wiedersehen würde keine Freude werden. So wie er sie kannte, würde es einige Tage dauern, bis sie ihm verzeihen würde, was er getan hatte. Und dann würde sie keine Ruhe geben, bis er sie lehrte, wo sie den Nervenpunkt fand, der Elfen zu lähmen vermochte.

Er suchte in der Säulenhalle am Marktplatz Unterschlupf. Einige Händler hatten im Trocknen ihre Stände aufgeschlagen und verkauften Schmuck und auserlesene Stoffe. Gonvalon fragte sich, wie diese Stadt überleben wollte. Bislang hatte er nirgends einen Bauern gesehen, der Obst und Gemüse anbot. So schön Selinunt auf den ersten Blick erschien, war die Stadt letztlich doch nichts als Stein gewordener Größenwahn.

Gonvalon nahm den durchnässten Umhang von den Schultern. Der Regen würde nicht nachlassen. Er sollte es besser hinter sich bringen, statt noch weiter zu warten. Eilig trat er auf den kleinen Platz hinaus und breitete mit einem Schwung seinen Umhang aus, sodass die rote Seite nach oben wies. Ihm war nicht ganz klar, wie die Himmelsschlangen sehen wollten, was er tat. Zweifelnd sah er erneut zum grauen Himmel hinauf, dann suchte er in der Säulenhalle Schutz vor dem Regen.

»Wäre es nicht einfacher, den Mantel zu einer Wäscherin zu bringen«, fragte ihn ein Goldschmied, der verwundert seinem Treiben zugesehen hatte.

»Ich bin geizig«, erwiderte Gonvalon knapp. Er hatte keine Lust, in ein Gespräch verwickelt zu werden. Andererseits … Er musterte die Waren, die der Händler auf einem dunkelblauen Tuch ausgebreitet hatte. Vielleicht könnte er Nandalee mit einem schönen Schmuckstück gnädig stimmen. Er lächelte. Endlich gestattete das Schicksal ihm eine glückliche Liebe. Die Stadt würde nicht untergehen, und ihm war sein Leben geschenkt worden. Er würde zu Nandalee zurückkehren. Und er wollte ihr nicht mit leeren Händen entgegentreten.

»Seht nur! Die Götter schieben die Wolken vom Himmel!«, erklang eine Stimme in frömmlerischer Ergriffenheit. Trotz des Regens verließen etliche Händler den Schutz des Säulengangs und blickten zum Himmel.

Nach kurzem Zögern trat auch Gonvalon auf den kleinen Platz, um das seltsame Phänomen besser beobachten zu können. Eine Lücke, die an einen langen Tunnel erinnerte, hatte sich in den Wolken aufgetan, genau über ihnen. Es war ganz so, als stünden sie im Auge eines Wirbelsturms, dachte Gonvalon. Blitze flackerten entlang der Innenwand des Tunnels, und ihre vielfach gegabelten Arme griffen von dort weit in die bleigrauen Wolken hinaus. Nie zuvor hatte der Elf ein solches Himmelsphänomen beobachtet. Warmer Wind strich durch den Tunnel auf den kleinen Platz hinab. Er trug einen ihm vertrauten Wohlgeruch mit sich. Den Geruch von Drachen.

Das konnte nicht sein! Er hatte doch das Zeichen gegeben, nicht anzugreifen. Ganz am Ende des Tunnels erschien Licht, und einen Moment lang sah es aus, als blicke ein großes, weißes Auge auf Selinunt hinab. Gonvalon wandte sich ab. Er lief, wie er noch nie in seinem Leben gelaufen war, um in der Säulenhalle Deckung zu finden, als vom Himmel ein Licht stach, so hell, dass alles in seinem Schein verging.

Der Pakt der Unsterblichen

Regen trommelte auf das Dach des Beratungszeltes. Vom nahen Fluss zogen Nebelschwaden durch das Zeltlager. Alle hatte eine gedrückte Stimmung erfasst, und im Zelt wurde seit Stunden nur gestritten. Sie würden niemals zueinanderfinden, dachte Artax niedergeschlagen. Die Devanthar hatte er von seinen Ideen überzeugen können, an den Unsterblichen würde er scheitern. Sein Traum, dass sie alle in einem Sinne handeln würden, war an diesem Morgen im Beratungszelt gestorben.

»Wie kommst du darauf, dass einer deiner Katzenkrieger so viel wert ist wie zehn meiner Reiter?« Madyas, der Unsterbliche von den weiten Grasebenen Ischkuzas, war rot vor Zorn.

»Deine Pferdeschinder können nicht kämpfen«, entgegnete der Unsterbliche von Zapote herablassend. Auch er trug wie seine Jaguarkrieger einen Helm, und sein Gesicht blieb im Schatten hinter den Raubtierfängen verborgen. »Ich weiß, wie viele Pferdemänner meine Krieger auf der Sandebene besiegt haben.«

»Du meinst auf der Hochebene von Kush?« Madyas lachte auf. »Da haben meine Reiter gar nicht gekämpft, du Katzenhirn!«

»Es macht keinen Unterschied, ob sich Krieger von Pferden ziehen lassen oder auf ihnen sitzen«, bemerkte der Zapoter arrogant lächelnd. »Männer, die mit Pferden zusammen kämpfen, sind nichts wert!«

»Das will ich sehen! Jetzt auf der Stelle. Sollen zehn meiner Reiter gegen eine deiner Katzen antreten. Wir werden …«

Weißes Licht trank die Farben aus der Welt. Artax riss schützend den Arm vor seine Augen. Überall im Lager erhob sich Geschrei. Ein plötzlicher Sturmwind zerrte an den Zelten. Pferde wieherten. Zeltstangen splitterten.

Artax warf sich zu Boden, aus Angst, der Sturmwind könne ihn mit sich fortzerren. Blinzelnd öffnete er die Augen. Sie schmerzten, und er sah nur undeutlich. Ein Schatten zog über ihn hinweg. Etwas peitschte in sein Gesicht. Das Zelt! Der Wind hatte es fortgerissen.

Von der Passstraße erhob sich ein Fauchen, als sei ein ganzes Heer von Schlangen vom Himmel gestürzt. Madyas rief nach seinem Pferd.

Artax’ Augen erholten sich vom grellen Lichtblitz. Er konnte wieder etwas deutlicher sehen. Alle Devanthar, die eben noch teils gelangweilt, teils amüsiert oder aber verärgert dem Streit der Unsterblichen gelauscht hatten, waren verschwunden.

Fast alle Zelte des Heerlagers waren niedergerissen worden. Menschen wie Tiere hatten sich zu Boden gekauert, um dem wütenden Zerren des Sturms widerstehen zu können. Noch immer war der Wind außergewöhnlich stark. Er wehte die Passstraße nach Selinunt hinauf, und einen Moment lang hatte Artax die absurde Vorstellung, dass in der Weißen Stadt ein riesiges Tier kauerte und der Wind sein Atem war.

Die Unterseiten der dunklen Wolken hinter den Bergen waren in zuckendes, rotes Licht getaucht.

»Selinunt brennt!«, rief Ansur außer sich. »Meine Stadt steht in Flammen! Ich muss den Pass hinauf. Ich muss …«

Wie aus dem Nichts erschien der adlerköpfe Devanthar und packte den Herrscher. »Du wirst nicht dorthin gehen.« Er blickte in die Runde. »Keiner von Euch. Das Feuer der Himmelsschlangen ist über Selinunt gekommen. Keiner dort lebt mehr. Die Stadt hat aufgehört zu sein. Und wären wir dort gewesen, wir wären mit ihr vergangen.« Er sah Artax mit seinen Vogelaugen an. »Ich danke dir für deine Zweifel, Unsterblicher Aaron. Du hast uns alle gerettet.«

»Aber wir müssen das Feuer löschen«, begehrte Ansur auf. »Müssen retten, was noch zu retten ist, damit wir die Stadt wieder neu …«

»Es gibt nichts mehr zu retten!« Der Devanthar schrie die Worte in verzweifeltem Zorn. »Selbst die Steine sind geschmolzen. Und in dem Feuer ist ein Gift, das ich nicht zu benennen vermag. In diesem Tal wird nie wieder eine Stadt stehen, und Jahrhunderte mögen vergehen, bis das Gift verflogen ist.«

Einer nach dem anderen erschienen auch die übrigen Devanthar wieder auf dem hölzernen Boden, der alles war, was vom Versammlungszelt geblieben war. In ihren Gesichtern spiegelten sich Schrecken und Zorn, soweit sie menschlich genug waren, dass Artax Gefühle darin lesen konnte.

Artax erhob sich. Der Anblick des brennenden Horizonts machte ihn sprachlos. Erst vor einem halben Jahr war die Goldene Stadt zerstört worden. Nun Selinunt …

»Diese Heimsuchung hätte jede unserer Städte treffen können«, sagte der hünenhafte Labarna, und Artax sah überrascht, dass in den Augen des Herrschers von Luwien Tränen standen. »Wenn sie hierherkommen konnten, dann können sie überallhin gelangen.«

»Wenn solche Flammen in die Wälder Drusnas fahren, dann werden sie auf Hunderte Meilen brennen«, stammelte Volodi.

»Wir können nicht mehr für uns alleine herrschen«, erhob Artax seine Stimme. »Es gibt keinen sicheren Ort mehr auf dieser Welt. Wenn wir nicht endlich unsere kleinlichen Streitereien aufgeben, dann werden wir untergehen.« Er legte feierlich die Hand auf seine Brust. »Jede Fehde wird ruhen, bis wir die Schlangen des Himmels vernichtet haben, das schwöre ich bei meinem Herzen.«

Einer nach dem anderen wiederholten die Unsterblichen diesen Eid. Dann wurde es still.

Selinunt hatte brennen müssen, damit sie zueinanderfinden konnten, dachte Artax aufgewühlt. Hoffentlich war es die letzte Stadt, die von den Daimonen Albenmarks verwüstet wurde. Er dachte erneut an die Bilder, die er im Tunnel vor dem Kuppelsaal gesehen hatte. Die Schlacht im Himmel Nangogs. Und er wusste, dass sein Wunsch sich nicht erfüllen würde.

Die Zeit wird es zeigen

Die Stadt war nicht wiederzuerkennen.

Drei Tage hatte Nandalee gebraucht, um aus der Starre zu erwachen. Und je länger es dauerte, desto sicherer hatte sie gewusst, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Schon am Nachmittag, nachdem Gonvalon gegangen war, hatte sich ein wütender Sturmwind erhoben und einen Teil des Gebüschs vor ihrem Versteck fortgerissen. Zwei Tage lang hatte der Abglanz eines Feuers die Unterseiten der grauen Regenwolken rot erglühen lassen. Zur Bewegungslosigkeit verdammt, einfach nur in ihrem Versteck zu liegen, hatte sie fast wahnsinnig werden lassen. Wo war Gonvalon? Warum kam er nicht? Je öfter sie sich diese Frage stellte, desto mehr fürchtete sie sich vor der Antwort.

Als sie sich endlich wieder hatte bewegen können, war sie, ohne ein einziges Mal innezuhalten, hinunter zur Stadt gelaufen.

Doch jetzt wusste sie nicht mehr weiter. Hilflos sah sie sich um, unfähig, auch nur eines der Gebäude wiederzuerkennen. Tote hatte sie nur außerhalb der Stadt gefunden. Hier war nichts. Die Straße, der sie folgte, war zu schwarzem Glas geworden. Und trotz des Schutzzaubers, den sie gewoben hatte, spürte sie die Hitze durch ihre Stiefelsohlen. Ihre Haut prickelte, als liefen Ameisen darüber. Ihre Augen tränten.

Sie betrachtete die Reste einer weißen Säule, an der Perlen aus geschmolzenem Gestein hafteten. Wie eine riesige, gebogene Kerze sah sie aus.

»Gonvalon!«, rief sie aus Leibeskräften und wusste doch, dass sie keine Antwort bekommen würde. Sie hatte Selinunt durch ihr Verborgenes Auge betrachtet. Hier gab es kein Leben mehr.

Ein warmer Luftzug streifte ihren Rücken. Da war ein vertrauter Duft. Sie wandte sich um. Hinter ihr stand der Dunkle zwischen halb geschmolzenen Hauswänden, deren Fenster wie verzerrte Augen auf sie blickten. Er hatte Elfengestalt angenommen.

»Das hätte nicht geschehen sollen«, sagte er bedrückt. »Ich habe versucht, es zu verhindern … Ich war mir so sicher, dass sie sich hier treffen würden. Ich habe Gonvalon angelogen, welche Seite des Mantels er uns zeigen sollte, weil ich wollte, dass dies nicht geschieht. So sicher war ich mir, dass sie hier wären …«

Nandalee verstand kein Wort von dem, was er sagte. »Was war mit dem Mantel?«

»Meine Brüder waren im Rat übereingekommen, dass mit diesem Mantel das Signal gegeben werden sollte, ob sie angreifen oder nicht. Läge die rote Seite oben, sollte dies das Zeichen zum Angriff sein. Gonvalon aber habe ich belogen. Er hörte von mir, blau sei das Angriffszeichen. Ich tat es, weil ich mir völlig sicher war, dass die Unsterblichen und die Devanthar hier sein würden. Ich wollte nicht, dass die Stadt zerstört wird. Ich wollte einen anderen Weg suchen. Und ich wollte auch nicht, dass du …« Er sah sie durchdringend an.

Nandalee war dieser Blick unangenehm. »Was ist mit Gonvalon?«

Er schüttelte den Kopf. »Er war hier, als das Feuer kam«, sagte er ohne Anteilnahme. Dann sah er sich suchend um und deutete schließlich zu einem Säulengeviert am Hang. »Dort bei der Markthalle hat er den Umhang ausgelegt. Er kann nicht weit gekommen sein, Dame Nandalee. Beendet Eure Suche. Ihr werdet ihn nicht finden«

Doch Nandalee lief bereits über die Straße aus schwarzem Glas. Zweimal stürzte sie, rappelte sich wieder auf, ließ nicht zu, dass der Dunkle sie berührte. Sie betrat etwas, das einmal ein kleiner Platz gewesen sein musste, stieg über gestürzte Säulen hinweg, die mit dem Untergrund verschmolzen waren, und sah sich suchend um.

Der Dunkle blieb stets an ihrer Seite. »Hier kann es nichts geben. Es ist nicht einmal Asche geblieben. Ihr solltet nun mit mir gehen, Dame Nandalee. Dies ist ein gefährlicher Ort.«

Nandalee wollte das nicht hören. Sie wollte sich dem nicht stellen, was doch so offensichtlich wahr sein musste. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, während ihr Blick rastlos über die Ruinen streifte. Es gab keine verkohlten Balken, keinen Staub, keine Asche. Nur geschmolzenes Gestein.

Er konnte doch nicht so gestorben sein. Einfach ausgelöscht. Gonvalon, der Schwertmeister des Goldenen, der beste Fechter Albenmarks. Verschwunden, ohne Spur …

Ihr Blick verharrte. Da war ein dunkler Fleck. Ein Schatten. Nur auf dieser einen Säule. Alle anderen waren makellos weiß. Sie stieg über Stufen, die wie halb geschmolzenes Wachs ineinandergelaufen waren. Der Schatten hatte eine Form. Je länger sie ihn betrachtete, desto deutlicher erkannte sie einen schlanken Mann. Er war so groß, wie Gonvalon es gewesen war. Sie streckte die Hand aus. Die Säule war immer noch heiß. Das war kein Ruß auf ihr. Der Schatten war in den Stein eingebrannt! Für alle Zeit!

»Wir werden nie wissen, ob er es ist«, klang die Stimme des Dunklen beschwörend hinter ihr.

Nandalee presste die Hand fest auf die Säule. Sie wusste es! Die Hitze verbrannte ihr die Hand, aber durch den Schmerz hindurch konnte sie ihn spüren. Er hatte vor der Säule gestanden, als das Feuer gekommen war.

»Ihr dürft nicht länger bleiben, Dame Nandalee. Hier ist ein Gift, überall. Ihr spürt es nicht, aber es hat bereits begonnen, Euch zu schaden. Und nicht nur Euch. Ihr seid schwanger.«

Sie löste die Hand von der Säule. Die Innenseite war voll blutiger Blasen. Doch sie spürte nichts. Der Schmerz, der in ihrem Herzen wütete, löschte jedes andere Gefühl.

»Kommt!« Der Dunkle nahm sie beim Arm und führte sie fort.

Nandalees Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Sie konnte nichts mehr sehen, hatte keine Kraft mehr. Es war gut, dass er gekommen war. Ohne ihn wäre sie vor der Säule zusammengebrochen. Sie musste jetzt an das Kind denken.

Unfähig sich zu bewegen hatte sie nach einer Weile in ihrem Versteck in der Felsspalte eine Ruhe überkommen, die ihr sonst fremd war. Sie hatte in sich hineingehorcht. Hatte sich auf ganz neue Art gespürt. Sie hatte gefühlt, wie ihr Herz schlug, wie ihr Blut durch die Adern rann. Und dann hatte sie um das neue Leben gewusst, das nun in ihr wuchs. Denn auch das hatte sie spüren können. Eine Bewegung tief in ihr.

Der Dunkle sprach ein Wort der Macht, und es war, als würde sie in einen Abgrund hinabgezogen. Der Boden unter ihren Füßen war verschwunden. Sie stürzte. Einen Herzschlag lang. Dann stand sie wieder fest auf den Beinen.

Trockene, warme Luft umfing sie. Nandalee blinzelte die Tränen fort. Sie waren im Jadegarten. Nachtatem hatte einen Drachenpfad geöffnet. Einen jener unsteten Wege, die mit Gewalt durch das Gefüge des Raums gebrochen wurden und nur selten länger als einen Augenblick Bestand hatten.

Sie sah zu den Bergen, die den Jadegarten einfassten. In den letzten Monden hatte sie mit Gonvalon jeden Gipfel und jedes Tal erkundet. Sie war dort draußen glücklich gewesen. Sie würde nicht hier unten im Garten bleiben. Wenn sie schon nicht mehr bei ihm sein konnte, dann wollte sie zumindest an jenen Orten sein, an denen sie gemeinsam gelacht hatten. Dort würde für immer etwas von ihm lebendig bleiben. Zumindest für sie.

Nachtatem legte seine Hand auf ihren Bauch.

Sie stieß ihn zurück. »Dazu hast du kein Recht!«, zischte sie ihn an. »Das ist Gonvalons Kind. Du wirst es nie berühren.«

»Ihr tragt zwei Kinder unter Eurem Herzen, Dame Nandalee«, sagte er kalt. Die Pupillen in seinen himmelblauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Es könnten auch meine Kinder sein.«

Sie wusste, dass er recht hatte. Und doch konnte sie den Gedanken nicht ertragen. Sie war nicht bei Sinnen gewesen, als sie einander geliebt hatten. Der Rauch und der Schmerz hatten sie berauscht, sie von sich selbst entrückt. Er hatte das ausgenutzt. Und was ihr einst der Rotrücken in der Savanne prophezeit hatte, war wahr geworden – sie hatte Gonvalon verraten.

»Wie könnte eine Elfe jemals das Kind einer Himmelsschlange empfangen«, fuhr sie ihn an. »Es sind Gonvalons Kinder. Anders kann es nicht sein.«

»Die Zeit wird es zeigen«, sagte er mit erzwungener Ruhe, und sie konnte spüren, dass es da noch etwas gab, das er ihr nicht verraten wollte.

Hatte er Gonvalon wissend in den Tod geschickt? Obwohl Nachtatem in Elfengestalt vor ihr stand, sah sie nur noch das Ungeheuer in ihm. Und zum ersten Mal konnte sie sich vorstellen, dass sie auch ihn verraten würde.

Epilog

Drei Monde später, im Palast des Unsterblichen Aaron in Akšu

Aaron schob seinen Teller von sich. Er hatte kaum gegessen.

So konnte das nicht weitergehen, dachte Ashot aufgewühlt. Aarons Gesicht war schon ganz schmal geworden, und jedes Mal, wenn er ihn genauer betrachtete, entdeckte er neue weiße Haare im Bart des Unsterblichen.

»Soll ich Euch etwas anderes bringen lassen, Erhabener?«, fragte Mataan, und Ashot sah dem Fischerfürsten an, dass er genauso besorgt war wie er.

»Nein, ich habe keinen Hunger mehr.«

Aaron war erst vor einer Stunde in den Palast zurückgekehrt. Er hatte sich irgendwo auf der Welt mit den anderen Unsterblichen getroffen. Seit dem Brand von Selinunt hielten sie geheim, wann und wo ihre Zusammenkünfte waren. Nicht einmal er, der Hauptmann seiner Leibwache, wusste darum.

Aaron hatte ihm schon nach dem letzten Treffen der Herrscher anvertraut, dass sie wieder begonnen hatten, miteinander um bedeutungslose Kleinigkeiten zu streiten. Ashot wusste, wie verzweifelt sein Herrscher war. Er sah die Welt untergehen und dass er es, sosehr er sich auch dagegen stemmte, nicht verhindern konnte.

»Ihr müsst entschuldigen, wenn das Essen Euch nicht mundet, Herr«, sagte Mataan zerknirscht. »Es hat einen … einen Zwischenfall in der Palastküche gegeben, während Ihr fort wart.«

»Einen Zwischenfall?« Aaron hob gereizt den Kopf. »Reicht es nicht, dass es Zwischenfälle an der Grenze zwischen Drusna und Valesia gibt. Oder dieser kleine Zwischenfall im Beratungszelt der Unsterblichen, als Iwar vergiftet wurde. Jetzt gibt es auch noch Zwischenfälle in meiner Küche. Was zum Henker ist geschehen?«

»Ich wollte Euch damit eigentlich jetzt nicht behelligen, Herr. Ihr solltet vielleicht besser ruhen …«

»Das werde ich nicht! Es wird mir ein Vergnügen sein, wenigstens einmal einen Zwischenfall bereinigen zu können. Wenigstens in meiner Palastküche sollte mir das gelingen, nicht wahr? Also erzählt.«

Ashot sah Mataan beschwörend an. Noch nie hatte er Aaron wegen einer Kleinigkeit so aufgebracht erlebt. Wenn er jetzt ein Urteil sprach, dann würde es kein Recht sein, sondern nur Blutvergießen.

»Also!«, fuhr Aaron den Hofmeister an.

»Eurem Leibkoch Mahut wurde der Arm ausgekugelt. Es wird noch Tage dauern, bis er wieder arbeiten kann.«

»Ihm wurde in der Küche der Arm ausgekugelt? Wie geht das?«

»Es geschah, als er verhindern wollte, dass noch eine weitere Amphore auf dem Kopf Eures Vorkosters zertrümmert wird.«

»Ich habe einen Vorkoster?«

»Mataan und ich dachten, das wäre vielleicht nicht ganz unklug nach dem Ende, das der Unsterbliche Iwar genommen hat«, mischte sich Ashot ein und erntete dafür einen ärgerlichen Blick des Unsterblichen.

»Ich habe also einen Vorkoster, ohne dass ich davon weiß.« Aarons Finger trommelten auf der Lehne seines Stuhls. Das war kein gutes Zeichen, dachte Ashot.

»Über den Vorkoster reden wir später. Jetzt wüsste ich gerne, wer Amphoren auf seinem Kopf zertrümmert hat.«

»Es war die junge Frau, die die Abfälle aus der Küche trägt. Sie hat noch vier weitere Küchengehilfen niedergeschlagen, bevor sie von der Palastwache gefangen gesetzt wurde.«

Aarons Augen funkelten vor Wut, als er sich Ashot zuwandte. »Überall auf der Welt regiert die Unvernunft, und nun werden auch noch Kriege in meiner Küche ausgetragen. Du warst es, Ashot, der mich vor einer Weile gefragt hat, ob diese Kriege nicht endlich einmal aufhören könnten. Warum immer noch eine Schlacht zu schlagen ist. Und nun ist der Unfrieden auch in meinem Haus angekommen. Hat sich schon herumgesprochen, dass ich meine Palastwache aufbieten muss, um ein Küchenmädchen zu bändigen?«

Ashot räusperte sich verlegen. »Das weiß ich nicht, Erhabener.«

»Ich will sie sehen. Sie soll mir in die Augen blicken, wenn ich ihr Urteil verkünde. Sie soll heute noch bestraft werden. Holt sie her!«

Ashot verließ die Gemächer des Unsterblichen und schickte eine Wache, das Küchenmädchen zu holen. Es dauerte nicht lange, bis sie vorgeführt wurde. Sie hatte ein zugeschwollenes Auge und aufgeplatzte Lippen. Beim Gehen hinkte sie leicht, aber sie hielt sich gerade, und das eine Auge, das sie noch aufbekam, genügte ihr, um Ashot einen Blick wie einen Messer-stich zu schenken. Ihr Kleid war zerrissen. Sie hielt es mit der Hand über der linken Brust zusammen. Schamhaft wirkte sie nicht auf ihn.

»Du solltest dich vor dem Unsterblichen demütig zeigen, Weib. Er ist sehr verärgert über dich.«

Jetzt wirkte sie erschrocken. »Ich werde vor den Unsterblichen geführt. Aber es war doch nur eine Kleinigkeit … Nichts, worum sich der Unsterbliche …«

»Er hat davon gehört, und er ist wütend. Knie demütig vor ihm nieder, benimm dich, und alles wird ein gutes Ende nehmen.« Sie machte zwar nicht den Eindruck, als sei Demut ihre Sache, aber vielleicht steckte ja ein Fünkchen Verstand in ihrem Kopf. Vor der Schlägerei hatte sie wohl recht hübsch ausgesehen. Vielleicht etwas zu drahtig. Aber wenn sie genug zu essen bekäme … »Gehen wir! Du musst vor dem Unsterblichen niederknien, wenn er mit dir spricht. So ist es Sitte bei Hof.«

Aaron wirkte immer noch verärgert, als sie gemeinsam dessen Gemach betraten.

Allzu selbstbewusst trat die junge Frau bis kurz vor den Herrscher, ließ sich dann umständlich auf die Knie nieder und beugte sich so tief vor, dass ihre Stirn fast den Boden berührte. Ashot betete darum, dass sie sich benehmen würde, und stellte sich neben Aarons Thron.

»Du also hast meinen Leibkoch auf dem Gewissen«, sagte der Unsterbliche unwirsch. »Wie heißt du?«

»Kirum.«

»Und woher kommst du?«

»Nari.«

Aaron seufzte und sah ihn an. »Aus Nari kommt in letzter Zeit nichts als Ärger, nicht wahr, Ashot?«

Kirum hob ihren Kopf, nickte und sagte, ohne gefragt zu sein. »Ja, ich habe davon gehört, dass Ihr unserem Satrapen Eleasar ein Messer in den Leib gerammt habt, nachdem er Euch verraten hatte.«

Ashot schloss die Augen und sandte ein Stoßgebet zum Löwenhäuptigen. So war das nicht gewesen. Dieses Weib redete sich um Kopf und Kragen.

»Ich hätte das genauso gemacht«, fuhr sie fort, die finsteren Blicke Aarons ignorierend.

Plötzlich lächelte Aaron. »Na, da haben Mahut und mein Vorkoster wohl Glück gehabt, dass sie kein Messer abbekommen haben.«

»Es war gerade keines in Griffweite«, sagte sie so trocken, dass Ashot nicht einschätzen konnte, ob das ein Scherz sein sollte oder ob sie es ernst meinte.

Aaron lachte. Das hatte er seit Langem nicht mehr getan.

»Worum ging es in dem Streit?«

»Der verdammte Vorkoster hat mir zwischen die Schenkel gefasst. Als er das zum ersten Mal getan hat, habe ich ihm gesagt, ich würde ihm den Schädel einschlagen, wenn er es noch mal versuchen würde.«

Mataan räusperte sich. »Der Mann hat sieben Zeugen dafür, dass diese Geschichte nicht stimmt.«

Wieder lächelte Aaron. »Ich nehme an, diese Zeugen sind allesamt Küchenkrieger, die bei dem Streit etwas abbekommen haben.«

»Das könnte sein«, räumte Mataan ein. »Ich werde dem nachgehen.«

Kirum hatte sich nun ganz aufgerichtet. Sie wagte es, dem Unsterblichen geradewegs ins Antlitz zu blicken und ihm ein verschwörerisches Lächeln zu schenken, als seien sie beide Komplizen.

Eine steile Zornesfalte zeigte sich auf Aarons Stirn.

Hätte sie doch einen Augenblick noch ihren Kopf unten behalten, dachte Ashot verzweifelt. Jetzt war alles verdorben. Diener durften den Unsterblichen nicht in die Augen sehen. Normalerweise war Aaron das egal, aber bei der Stimmung, in der er heute war …

»Du …«, setzte der Herrscher zornig an. Dann weiteten sich seine Augen. »Du hast eine sehr ungewöhnliche Narbe dort unter deinem Schlüsselbein.«

Ashot folgte dem Blick seines Herrschers. Kirum hatte vergessen, ihr zerrissenes Kleid weiter zusammenzuhalten. Deutlich sah man eine hässliche, rote Narbe unter ihrem Schlüsselbein, die ein wenig an eine stilisierte Sonne erinnerte.

»Wie bist du zu dieser Verletzung gekommen?« Aarons Blick hatte sich dramatisch verändert. Aller Zorn war gewichen. Er schien zwischen Hoffnung und Bangen zu schwanken. Was ging in ihm vor sich?

»Man könnte sagen, es war ein besonders großer Dorn, der mich dort verletzt hat, Unsterblicher.«

Ashot zuckte innerlich zusammen. Was war das denn für eine klägliche Lügengeschichte?

Erstaunlicherweise war Aaron nicht verärgert. Er erhob sich von seinem Thron, trat zu ihr, legte ihr die Hand auf die Stirn und tastete mit den Fingerspitzen nach ihrem Haaransatz.

Ashot sah zu Mataan hinüber. Der Hofmeister war ebenso verwundert wie er.

»Als du dich hier verletzt hast, musst du wohl wie ein angestochenes Schwein geblutet haben«, sagte er mit weicher Stimme.

»Das wären auch meine Worte«, bestätigte sie mit einem Lächeln.

Ashot traute seinen Augen kaum. Es war unglaublich, wie sehr sich Aaron in wenigen Augenblicken verändert hatte. Plötzlich schien alle Bitternis von ihm gefallen zu sein. In seinem Blick lag ein Strahlen, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Und dieses Küchenmädchen sah den Unsterblichen auf eine Art an, als seien sie schon lange miteinander vertraut. Das war von fast selbstmörderischer Tollkühnheit, aber Aaron schien es zu dulden.

»Ich dachte, mein Leben sei zu Asche geworden.« Der Unsterbliche schien völlig vergessen zu haben, dass er mit diesem Küchenmädchen nicht allein war.

»Mir wurde gesagt, dass diese Asche eine reiche Erntezeit schenken wird«, entgegnete Kirum.

Ashot verstand kein Wort von dem, was die beiden redeten. Aber das musste er auch nicht. Er war gerade Zeuge eines Wunders geworden. Mit ihrem einen nicht zugeschwollenen Auge, ihrem Lächeln und ein paar rätselhaften Worten hatte sie es offensichtlich geschafft, den Unsterblichen zu verzaubern. Aaron sah glücklich aus!

Plötzlich schien sich der Unsterbliche der verwunderten Blicke bewusst zu werden. Er räusperte sich. »Ich glaube, meine Palastküche ist nicht der richtige Ort für Kirum. Vielleicht sollte sie besser die Löwengrube hüten oder meiner Leibwache beibringen, wie man kämpft. Mataan, sorge dafür, dass sie in einem ordentlichen Zimmer untergebracht wird und eine Heilkundige nach ihren Wunden sieht.«

»Und ihre Strafe?«, fragte der Hofmeister.

»Sie darf den Palast nicht verlassen«, sagte Aaron ernst. »Das genügt fürs Erste.«

Mataan war anzusehen, dass er die Welt nicht mehr verstand. Aber er war klug genug, nichts zu sagen. Vielleicht freute auch er sich insgeheim, dass ihr Herrscher sein Lächeln wiedergefunden hatte.

»Du darfst nun gehen, Kirum. Ich werde über eine angemessene Strafe für dich nachdenken. Vielleicht werde ich dich auf einer Trommel tanzen lassen.«

Ashot zuckte zusammen. Was mochte das für eine Barbarei sein? Von dieser Strafe hatte er noch nie etwas gehört. Er kannte nur Knüppel, die auf dem Rücken tanzten.

Diesmal schwieg das Mädchen. Sie lächelte nur und verließ mit Mataan die Gemächer des Unsterblichen.

»Heute ist ein guter Tag«, sagte Aaron zwar leise, aber er meinte es unüberhörbar von ganzem Herzen. »Du solltest jetzt in die Palastküche gehen und jedem der Raufbolde dort ein Silberstück schenken. Aber mach ihnen klar, dass ich ihnen zwei Silberstücke abnehme, wenn ich erfahre, dass sie diese Geschichte herumerzählen.

»Euer Wunsch ist mir Befehl, Unsterblicher!«

Es würde einen Aufschrei unter allen Adligen des Königreichs geben, wenn Aaron einer Dienerin seine Liebe schenken würde, dachte Ashot, als er sich auf den langen Weg zur Palastküche machte. Aber das würde Aaron nicht davon abhalten, es zu tun, wenn sich zeigte, dass Kirum die Richtige für ihn war. Schließlich hatte Aaron auch ihn, einen mittellosen Bauern aus einem Dorf am Ende der Welt, zum Hauptmann seiner Leibwache gemacht.

Ashot wünschte sich, dass Aaron sein wiedergefundenes Lächeln behielt. Er würde fest an Aarons Seite stehen, sollte es nötig sein, für diese Fremde zu streiten. Selbst den Devanthar würde er die Stirn bieten, um seines Königs willen. Was waren alle Macht und Schätze der Welt wert, wenn sie nur um den Preis eines Lebens ohne Lächeln erkauft werden konnten.


Fortsetzung folgt . . .
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