Skars Hand krampfte sich um den Schwertgriff, und für einen winzigen Moment kämpfte er ernsthaft gegen den Impuls, die Waffe zu ziehen und sich auf Gowenna zu stürzen. Es waren nicht Gowennas Worte, die ihn so wütend machten, sondern die Art, in der sie sie aussprach, die seelenlose Kälte, mit der sie mit dem Leben von Menschen umsprang.

»Natürlich nicht«, antwortete er leise. Er konnte nur leise reden - oder schreien. »Aber es ist ein Unterschied, im Kampf zu sterben oder geopfert zu werden.«

»Ach?« sagte Gowenna. »Erklär ihn mir.«

Skar ballte wütend die Fäuste. Er fuhr herum und sah zu Arsan hinüber, aber der Kohoner lehnte mit eingefallenem Gesicht und erloschenem Blick an der Wand und schien gar nicht mehr zu registrieren, was um ihn herum vorging.

»Was wirst du eigentlich noch alles tun wegen dieses verdammten Steines?« fragte er.

»Alles«, antwortete Gowenna. »Alles, was ich tun muß und kann. Er ist wertvoller, als du dir auch nur vorstellen kannst.«

»Aber er rechtfertigt nicht -«

»Sein Besitz rechtfertigt alles«, unterbrach ihn Gowenna. »Was ist ein Menschenleben gegen das von Millionen? Was zählt das Schicksal eines einzelnen gegen das einer ganzen Welt?«

Skar fuhr abermals herum. Gowenna hielt seinem Blick gelassen stand, und was er in ihren Augen las, ließ ihn noch mehr erschrecken. Sie glaubte an das, was sie sagte.

»Wir haben schon mehrmals darüber geredet, aber du hast es bisher nicht begriffen, und du wirst es auch in Zukunft nicht begreifen, Satai«, fuhr Gowenna fort. »Es gibt Dinge, die wichtiger sind als Menschenleben, auch wenn das vielleicht deiner albernen Religion widerspricht.«

»Es widerspricht ihr nicht, im Gegenteil. Aber ich ziehe es vor, die Entscheidung darüber denen zu überlassen, deren Leben betroffen ist.«

Gowenna zuckte gleichmütig die Achseln. »Das ist dein Standpunkt, Skar. Ich frage mich nur, warum du hier bist, wenn du wirklich so denkst.«

»Das weißt du genau.«

Gowenna lächelte, aber die starre Maske aus Schmutz und Blut auf ihrem Gesicht ließ eine Grimasse daraus werden. »Ich weiß, warum du nicht hier bist, Skar«, antwortete sie. »Nämlich nicht, weil du dazu gezwungen wurdest. Du wärest der erste Satai, der sich zu etwas zwingen oder gar erpressen ließe. Ich weiß nur noch nicht, warum du uns wirklich begleitest. Aber das spielt auch keine Rolle. Du bist da, und das genügt.«

»Bisher hättet ihr recht gut auf mich verzichten können«, grollte Skar. Es klang albern, war aber die einzige Antwort, die ihm einfiel. Wieder nickte Gowenna. »Das ist richtig. Aber du wirst dir deinen Lohn noch verdienen, sei beruhigt. Wir brauchen weniger dich als vielmehr deinen Schwertarm.«

»Warst du nicht bisher der Meinung, der deine wäre ebenso stark?«

»Vielleicht ist er das auch. Aber eine Frau gehört nicht aufs Schlachtfeld. Erinnerst du dich? Das waren deine Worte. Außerdem - es mag sein, daß ein Schwert nicht genug ist.«

»Oder daß du in eine Situation kommst, in der du den besagten Schwertarm opfern mußt«, versetzte Skar boshaft. Aber sein Spott drang gar nicht erst bis zu ihr durch.

Gowenna zuckte gleichmütig die Achseln, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich neben dem reglos dahockenden Sumpf - mann zu Boden sinken.

»Auch das«, gestand sie. »Obwohl ich ganz zuversichtlich bin, daß du überleben wirst, Skar. Ihr Satai seid doch unbesiegbar, oder?«

»Findet ihr es sinnvoll, euch ausgerechnet jetzt zu streiten?« mischte sich Arsan ein.

Skar sah verärgert auf. Der Kohoner hatte sich ebenfalls gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt. Seine Stimme schwankte vor Schmerzen und Erschöpfung, aber sein Blick war wieder klar. »Wir haben andere Probleme. Schlagt euch von mir aus die Köpfe ein, aber wartet damit, bis wir hier heraus sind. Sonst schaffen wir es nämlich nie.«

»Keine Sorge, Arsan«, murmelte Gowenna. »Wir sind hereingekommen, und wir kommen auch wieder heraus. Was nicht heißt«, fügte sie nach einer winzigen Pause hinzu, »daß wir dann in Sicherheit sind.« Sie stockte erneut, lehnte sich zurück und lehnte den Hinterkopf gegen die Wand. Ihre Finger fuhren in einer unbewußten Bewegung über ihre Wange. Als sie die Hand zurückzog, klebte Blut an ihren Fingerspitzen. »Weißt du«, fuhr sie fort, diesmal an Skar gewandt, »daß wir verfolgt werden?«

»Du meinst den Drachen?«

»Nein. Dieses Problem werden wir auf... andere Weise lösen müssen. Ich meine die Männer, die uns folgen.«

Für einen Moment war Skar überrascht. »Du ... hast die Spuren gesehen?«

Gowenna nickte. »Ich bin nicht blind, Satai. Sie sind schon hinter uns her, seit wir das Schiff verlassen haben, vielleicht sogar schon seit Ikne. Ich dachte, du wüßtest es.«

»Ich habe es auch bemerkt«, murmelte Arsan. Er hob den Kopf, und für einen Moment schien so etwas wie Interesse in seinem Blick aufzuglühen. »Aber ich habe es erst in den Bergen gemerkt.«

»Sie sind leichtsinniger geworden«, bestätigte Gowenna. »Wahrscheinlich werden sie uns irgendwann auf dem Rückweg angreifen.«

»Wer sind sie?« fragte Skar mißtrauisch.

»Die, die uns verfolgen, Satai. Räuber vielleicht. Oder Quorrl. Ich weiß es nicht. Vielleicht auch Männer aus Ikne. Vergiß nicht, daß auf deinen Kopf ein ansehnlicher Preis ausgesetzt ist. Es gibt genug Abenteurer, die einen Mann für hundert Goldstücke selbst bis in die Hölle verfolgen.« Sie lächelte. »Aber du brauchst keine Angst zu haben. El-tra und ich werden dich beschützen. Oder vielmehr den Stein, den du trägst.«

Skar schwieg dazu. Gowennas Vermutung klang einleuchtend, und trotzdem weigerte er sich, daran zu glauben. Wer immer sie verfolgte - es steckte etwas anderes dahinter.

Für einen kurzen Moment dachte er wieder an die Errish, aber auch jetzt gelang es ihm nicht, sich über seine Gefühle klarzuwerden. Es war alles viel zu kompliziert. Sie spielten ein Spiel nicht mit doppeltem, sondern mit fünf- oder zehnfachem Boden, und er hatte das Gefühl, allmählich die Übersicht zu verlieren. Gowenna, die Sumpfmänner, Arsan, er, Vela - sie alle waren nur Figuren. Aber er wußte mittlerweile selbst nicht mehr, wer nun die Regeln dieser Partie bestimmte.

Eine Zeitlang hatte er sich eingebildet, selbst derjenige zu sein, der letztlich die Fäden in der Hand hielt und die Dinge entscheiden konnte. Aber er wußte plötzlich, daß das nicht stimmte, daß alles viel verwirrender und geheimnisvoller war, als er bisher geglaubt hatte. Sie hatten den Stein gefunden, aber es war nichts Geheimnisvolles an ihm, nichts Magisches und Gewaltiges, er war - zumindest auf den ersten Blick - nichts weiter als ein Stück farbiges Glas. Die Situation erinnerte ihn auf absurde Weise an sein zweites Zusammentreffen mit der Errish. Und so wie damals fühlte er sich auch jetzt verwirrter und hilfloser als je zuvor in seinem Leben ... Das Erwachen war schwieriger als sonst.

Er hatte das Gefühl, in einem zähen, eisigen Sumpf gefangen zu sein, eingewoben in ein Netz unsichtbarer klebriger Fäden, die wie dünne feurige Linien in sein Fleisch bissen und ihn tiefer und tiefer zerrten. Er erinnerte sich an einen Traum, aber es war ihm nicht möglich, sich auf Einzelheiten zu besinnen - alles, was er spürte, war Kälte, ein Gefühl des Frierens, der Furcht und eisblauen, beißenden Schmerzes. Er wollte die Augen öffnen, aber zwischen seinen Lidern und den Augäpfeln schienen Millionen winziger Sandkörnchen zu sein. Er stöhnte, biß die Zähne zusammen und öffnete die Augen einen Spaltbreit.

Das Licht tat weh, unglaublich weh.

»Er wacht auf«, sagte eine Stimme. Sie kam Skar vage bekannt vor, und es schien, als wäre die Erinnerung daran mit etwas Unangenehmen, Gefährlichen verbunden.

Eis...

Das Wort blitzte schmerzhaft grell in seinem Bewußtsein auf. Er wußte nicht, womit er es verbinden sollte, aber plötzlich glaubte er, sich an ein helles Blau zu erinnern, das helle Blau von Eis, Kälte und ...

Er versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen. Dunkelrotes Licht brannte sich in seine Netzhäute und fraß sich, schnell und flackernd wie eine Flamme, durch die Sehnerven bis in sein Gehirn. Er stöhnte, versuchte die Hände vor die Augen zu schlagen und spürte einen Widerstand.

»Laß es lieber«, sagte eine Stimme. »Es dauert nur wenige Augenblicke, bis du dich besser fühlst. Hier - ich gebe dir etwas.« Eine Hand berührte sein Gesicht, glitt kühl und leicht über seine Wangen und hielt irgend etwas an seine Lippen.

Er trank. Was immer es war, es schmeckte süß, war warm und spülte die Müdigkeit aus seinem Körper. Der Schmerz in seinen Augen ließ nach, und nach einer Weile konnte er, wenn auch mühsam und wie durch eine wogende Nebelwand, sehen.

Seine Hände waren gefesselt. Die feurigen Linien, die er bei seinem Erwachen gefühlt hatte, waren nicht eingebildet, sondern real; dünne, silbern schimmernde Ketten aus kaum haardünnem Metall. Skar spannte prüfend die Muskeln und unterdrückte einen Schmerzenslaut.

Die Kette hielt, obwohl sie geradezu lächerlich zerbrechlich wirkte, mühelos stand, und die haarfeinen Drähte, aus denen die Kettenglieder geflochten waren, schnitten tief in seine Haut. »Spar deine Kräfte, Satai«, sagte die gleiche Stimme, die er schon zweimal gehört hatte. »Nicht einmal ein Drache könnte diese Kette zerreißen.«

Skar sah auf und blickte in ein schmales, von unzähligen Linien und Furchen durchzogenes Gesicht. Es befand sich auf gleicher Höhe mit seinen Augen, obwohl er gegen die Wand gelehnt saß und sein Gegenüber aufrecht stand. Tantor, der Zwerg.

Plötzlich kamen die Erinnerungen zurück. Skar stöhnte auf, als das Bild der schmalen Gasse wieder vor seinem inneren Auge auftauchte. Er sah noch einmal das erschrockene Gesicht des Soldaten, das von einem eisigen Hauch des Todes in eine glitzernde Grimasse verwandelt war, hörte das helle, an zerspringendes Glas erinnernde Geräusch, als sein Körper zur Seite kippte und auf dem hartgefrorenen Boden aufschlug.

Tantor lachte leise und meckernd. »Feuer und Eis«, sagte er. »Es gibt nichts, was die Wut eines Satai schneller abkühlt als Eis.« Skar ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. »Ich hätte dir den Hals umdrehen sollen, als Zeit dazu war«, murmelte er.

Tantor kicherte. »Ich halte nichts davon, über Dinge zu reden, die man hätte machen können, aber nicht gemacht hat«, erklärte er trocken. »Überdies wäre es ein Fehler gewesen. Ich bin nicht dein Feind, Skar. Im Gegenteil. Du wirst sehen, wir werden noch Freunde.«

Skar gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Ich freunde mich nicht mit jemandem an, der hilflose Menschen umbringt«, sagte er. Tantor grinste. »Soldaten sind zum Sterben da«, wiederholte er die Worte, die er schon in der Gasse von sich gegeben hatte. »Man tötet sie oder wird von ihnen getötet. Was mich angeht, so stehe ich lieber auf der Seite derer, die töten, statt bei denen, die getötet werden.«

Skar sah das Gesicht des Zwerges jetzt zum ersten Mal deutlich. Sein Kopf erschien ihm unnatürlich groß für den kleinen, spindeldürren Körper, und zudem wackelte er beim Sprechen ständig hin und her, als würde er jeden Moment wie eine überreife Melone von dem dürren Hals herunterfallen. Sein Gesicht war eine zerschründete Landschaft aus Falten und Runzeln und tiefen, vernarbt wirkenden Linien, wirkte aber auf bizarre Weise trotzdem jugendlich, beinahe kindlich, als gehörte es zu einem Knaben, den eine grausame Laune der Natur binnen weniger Monate zum Greis hatte werden lassen.

»Du bist nahe dran, Skar«, sagte Tantor plötzlich.

Skar begriff erst nach einigen Sekunden. »Du - liest meine Gedanken?« keuchte er erschrocken.

Tantor schüttelte den Kopf. Ohne daß sich auf seinem Gesicht auch nur der kleinste Muskel gerührt hätte, wirkte sein Blick mit einem Male kalt und feindselig. »Nein. Aber jeder, der mich zum ersten Mal sieht, denkt das gleiche. Wie fühlst du dich?«

»Komm zwei Schritte näher, und ich zeige es dir«, grollte Skar. Tantor lächelte. »Irgend etwas sagt mir, daß es besser wäre, deine freundliche Einladung abzulehnen«, sagte er. »Du bringst es fertig und legst wirklich Hand an mich.«

»Darauf kannst du dich verlassen«, nickte Skar. »Wenn nicht jetzt, dann später. Irgendwann wirst du mich schließlich losmachen müssen.«

Tantor seufzte. »Fühlst du dich kräftig genug, mit meiner Herrin zu reden?«

Skar sah sich unwillkürlich im Zimmer um. Er war allein mit Tantor, obwohl der Zwerg bei seinem Erwachen mit jemandem gesprochen hatte.

Tantor wartete seine Antwort nicht ab, sondern wandte sich um und eilte mit schnellen, trippelnden Schritten zur Tür. Er schob den Riegel zurück, trat auf den Gang hinaus und wechselte ein paar Worte mit jemandem, der offensichtlich draußen gewartet hatte. Wenige Augenblicke später kam er zurück. Hinter ihm betraten zwei schlanke, in fließendes Grau gehüllte Frauengestalten die Kammer.

Skar setzte sich auf, soweit die im Boden verankerte Kette dies zuließ, und starrte die Errish mit aller Feindseligkeit an, die er aufbringen konnte.

»Du scheinst nicht sonderlich überrascht zu sein«, sagte Vela. Skar lächelte; weniger, weil ihm danach zumute war, als vielmehr, weil es der Situation angemessen schien.

»Ihr habt Euch den falschen Mann ausgesucht, wenn Ihr glaubt, ich könne nach allem, was geschehen ist, noch überrascht sein«, sagte er.

Die Worte kamen nicht so glatt von seinen Lippen, wie er es gerne gehabt hätte. Sein Gesicht war taub, starr. Etwas von der Kälte, mit der Tantor ihn und die Soldaten gelähmt hatte, war noch in ihm, aber er spürte es erst jetzt. Die Haut spannte, und seine Lippen fühlten sich spröde und aufgeplatzt an. Er hatte Durst.

»Ihr habt eine Vorliebe für dramatische Auftritte, wie?« fragte er. Vela hielt seinem Blick gelassen stand. Er war nicht in der Situation, sie verletzen oder auch nur mit seinem Spott treffen zu können, und sie wußte es. Sie trat ein paar Schritte näher und machte eine herrische Handbewegung.

»Geht!« sagte sie. »Laßt mich allein mit ihm reden!«

Skar sah, wie Gowenna zusammenzuckte und einen erschrockenen Blick mit dem Zwerg wechselte. Ihre Hände krampften sich um das Schwert, das sie jetzt offen trug. »Aber Herrin, ich ...«

»Geht!« wiederholte die Errish. »Ich weiß, wie gefährlich er ist, aber er wird uns nichts tun. Laßt uns allein.«

Gowenna schien noch etwas sagen zu wollen, beließ es dann aber bei einem stummen, trotzig wirkenden Achselzucken und verließ mit raschen Schritten den Raum. Der Zwerg folgte ihr dichtauf. Vela wartete, bis die Tür hinter den beiden geschlossen war. Dann ließ sie sich auf einen Schemel dicht neben dem erloschenen Kamin nieder und sah Skar durchdringend an. Anders als beim ersten Mal, als sie sich begegnet waren, verbarg sich ihr Antlitz jetzt hinter einem dünnen, grauen Schleier, einem Geflecht jener Art, das dem Beobachter das Gefühl verleiht, mühelos hindurchsehen zu können, gleichzeitig aber verhinderte, daß man sich hinterher wirklich an das Gesicht seines Gegenübers erinnerte. Er war aus dünnen, an Spinnweben erinnernde Fäden gefertigt, die sich ständig zu bewegen schienen, so daß ihr Gesicht wie hinter einer Schicht bewegten Wassers verborgen war und sich ihre Züge in andauernder Veränderung befanden. Ihre Rechte war in einer Falte ihres Gewandes verborgen. Skar zweifelte nicht daran, daß sie dort eine Waffe hielt. Auch ein an Händen und Füßen gefesselter Satai ist ein gefährlicher Feind, erst recht, wenn man ihn so gedemütigt hatte, wie es mit Skar geschehen war.

»Was wollt Ihr von mir?« fragte er. »Wenn Ihr mich nur habt entführen lassen, um mich umzustimmen, dann ist die Antwort immer noch nein. Ein Satai läßt sich nicht erpressen.«

Vela seufzte, und sie tat es bewußt in einer Art, als verzweifle sie an einem uneinsichtigen Kind. »Erinnerst du dich an Tantors Worte?« fragte sie spöttisch. »Du kannst dich wehren, oder du kannst freiwillig mitkommen. Das Ergebnis bleibt sich gleich. Dasselbe, Skar, gilt für deine jetzige Situation. Du kannst dich eine Weile sträuben, wenn du glaubst, es deiner Ehre schuldig zu sein, oder du gibst auf und tust, was ich von dir verlange. Wir verlieren nur Zeit, wenn du unbedingt den Helden spielen willst.« Sie beugte sich leicht nach vorne und sah Skar durch die Maschen ihrers Schleiers abschätzend an. Ihr Gewand raschelte, und für einen Moment sah Skar etwas Kleines, Silbernes in ihrer Hand aufblitzen. »Wir sind allein, Skar«, fuhr die Errish in verändertem Tonfall fort. »Ich habe gegen Gowennas und Tantors Rat gehandelt und allein mit dir geredet, weil ich dir eine Chance geben wollte.«

»Wie mutig«, sagte Skar ätzend. »Mit einer Waffe in der Hand neben einem gefesselten Mann zu sitzen und darauf zu warten, daß er aufwacht. Was hat dieser verdammte Zwerg mit mir gemacht?« Vela schien dem plötzlichen Gedankensprung nicht folgen zu können oder zu wollen. Sie runzelte die Stirn, sah ihn einen Moment fragend an und setzte sich dann kopfschüttelnd wieder auf. »Laß es, Skar«, sagte sie. »Ich bin nicht dumm. Ich habe dich für diese Aufgabe ausgesucht, weil du der fähigste Krieger bist, den ich überhaupt finden konnte. Ich werde ganz gewiß kein Risiko eingehen.«

Skar schürzte abfällig die Lippen. »Vielen Dank für das Kompliment.«

»Es war keines«, antwortete Vela. »Es war nur eine Tatsache, mehr nicht. Wollen wir jetzt noch mehr Zeit mit kindischen Spielereien vertun, oder reden wir?«

Skar starrte die Errish eine Weile finster an und hob dann die gefesselten Hände. »Macht mich los«, sagte er.

Vela lachte leise. »Du scheinst mich für eine Närrin zu halten, Skar«, sagte sie. »Ich werde dich losmachen, aber zuerst wirst du dir anhören, was ich zu sagen habe.«

»Und was wäre das?«

»Wir haben uns schon einmal getroffen, Skar«, begann Vela. »Ich habe dir gesagt, daß ich das nächste Mal fordern werde, was ich beim ersten Mal erbat, und so ist es. Du wirst tun, was ich von dir verlange. Du wirst nach Combat gehen und den Stein für mich holen.«

»Werde ich das?« erwiderte Skar. Seine Stimme klang nicht ganz so spöttisch, wie er es gerne gehabt hätte. Wie beim ersten Mal, als er mit Vela zusammengetroffen war, machte sich Unsicherheit in ihm breit. Er spürte auch jetzt wieder, daß er ein Duell mit Worten nicht gewinnen konnte. Die Errish standen nicht umsonst in dem Ruf, Hexen zu sein.

»Du wirst«, antwortete Vela ungerührt. »Denn wenn du es nicht tust...«

»Sterbe ich?« grinste Skar.

Vela schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht du, Skar. Del.«

Die Worte wirkten wie ein Schlag in Skars Gesicht. Er fuhr hoch, starrte die Errish ungläubig an und unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Ausruf. »Du -«

»Ich habe ihn in meiner Gewalt, ja«, sagte Vela. »Oder hast du gedacht, ich wäre so naiv, dir Forderungen zu stellen, ohne etwas in der Hand zu haben, womit ich dir drohen kann? Ich weiß, daß du keine Angst vor Schmerzen oder dem Tod hast. Nicht genug jedenfalls. Aber die Ehrenschuld einem Freund gegenüber steht bei euch Satai doch ganz an der Spitze, oder?«

Skar schwieg. Alles, was er hätte sagen können, hätte in diesem Augenblick nur albern geklungen.

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, fuhr Vela nach einer Weile fort. »Es geht deinem Freund gut, sehr gut sogar. Er hat alles, was er braucht.«

Skar versuchte noch einmal, sich gegen seine Fesseln zu wehren. Diesmal ignorierte er den brennenden Schmerz, mit dem sich die haardünnen Drähte in seine Haut fraßen. Aber es nutzte nichts. »Du vergeudest nur deine Kräfte, Skar«, sagte Vela tadelnd. »Diese Kette ist aus dem gleichen Metall gefertigt, aus dem auch dein Schwert geschmiedet wurde. Keine Macht der Welt kann sie zerreißen. Aber bitte - verletze dich ruhig, wenn du willst. Der Weg über das Schattengebirge ist weit. Deine Wunden werden verheilt sein, bis du Combat erreicht hast.«

»Ihr seid verrückt!« keuchte Skar. »Selbst wenn ich zustimmen würde, wäre es unmöglich. Niemand kann Combat betreten.« Für einen winzigen Moment huschte so etwas wie Zorn über Velas Gesicht. »Das stimmt nicht. Ich habe diese Aktion lange und gründlich vorbereitet, Skar«, sagte sie scharf. »Ihr habt eine gute Chance, in die Stadt hinein- und auch wieder herauszukommen, glaube mir. Ich habe nichts davon, zehn gute Männer in den sicheren Tod zu schicken. Hätte ich dich töten wollen, hätte ich es ein dutzendmal leichter und rascher haben können.« Sie sog scharf die Luft ein, lehnte sich zurück und sah Skar mit einem undefinierbaren Blick an. »Aber ich bin nicht hier«, fuhr sie fort, »um mich mit dir zu streiten, Satai. Ihr werdet noch vor Morgengrauen aufbrechen. Ich habe dafür gesorgt, daß ihr unbemerkt die Stadt verlassen könnt und ...«

»Ihr?« unterbrach Skar sie. »Wer ist das?«

»Du, Gowenna, Tantor und zwei weitere Männer.«

»Ihr spracht von zehn.«

»Der Weg den Besh hinauf ist weit, Skar«, antwortete Vela geduldig. »Die anderen werden zu euch stoßen, bis ihr die Sümpfe von Cosh erreicht habt. Aber ihr müßt euch beeilen. Der Winter steht vor der Tür. Ihr müßt das Schattengebirge überschreiten, bevor die Schneestürme beginnen und ...«

Skar unterbrach sie mit einer unwilligen Handbewegung. »Nicht so eilig, Errish«, sagte er. »Noch habe ich nicht zugesagt.«

»Du -«

»Ihr behauptet«, fuhr Skar mit übertriebener Betonung fort, »Del in Eurer Gewalt zu haben. Aber Ihr müßt es mir schon beweisen.«

»Ich muß überhaupt nichts, Skar«, sagte Vela ruhig. »Du hast mein Wort, und das muß dir genügen. Ich kann dir natürlich Dels rechte Hand zum Beweis bringen lassen, wenn du es unbedingt willst. Es ist deine Entscheidung.«

»Ihr kennt kein Mitleid, wie?«

»Nicht, wenn es um so wichtige Dinge geht«, antwortete Vela ungerührt. »Ich habe dich gewarnt, vergiß das nicht. Und ich habe nicht die Zeit, lange mit dir zu diskutieren. Gowenna und Tantor bereiten draußen alles vor. Hinter der Stadtmauer wartet ein Schiff auf euch. Ihr werdet losfahren, bevor die Sonne aufgeht. Gowenna hat sämtliche notwendigen Karten mit. Sie kann dir alles sagen, was du wissen mußt. Du wirst zurückkommen und mir den Stein aushändigen, und ich werde dir Del übergeben.«

»Und was sollte mich daran hindern, bei der ersten Gelegenheil zu fliehen?« fragte Skar. »Ihr könnt mich schlecht die ganze Zeit in Ketten halten.«

»Nichts«, sagte Vela.

Irgendwie hatte Skar plötzlich das Gefühl, daß sie sich über seine Worte amüsierte. Für einen Moment kam er sich vor wie eine Maus, die von einer Katze in die Ecke gedrängt worden ist und verzweifelt im Kreis herumirrt, um doch nur überall auf tödliche Krallen zu stoßen.

»Natürlich könntest du fliehen«, sagte Vela. »Und ich zweifle eigentlich nicht daran, daß du mit Gowenna, Tantor und den anderen fertig würdest, wenn du es wirklich wolltest. Selbst Tantor mit seinen Zauberkräften wäre dir letztlich nicht gewachsen, Skar. Das ist der Grund, aus dem ich dich ausgewählt habe. Du könntest sie erschlagen und zurückkommen, und wahrscheinlich könntest du selbst mich töten.« Sie beugte sich abermals vor, nahm den Schleier vom Gesicht und legte eine wirkungsvolle Pause ein.

»Aber ich werde nicht mehr hier sein, wenn du zurückkommst«, fuhr sie fort. »Ich werde die Stadt noch vor euch verlassen, und ich nehme Del mit mir. Du würdest Monate brauchen, um uns zu finden. Und du hast diese Monate nicht, Skar.«

»So ?«

Statt einer direkten Antwort griff Vela unter ihr Gewand und förderte einen kleinen Lederbeutel zutage. Sie hielt ihn einen Moment nachdenklich in der Hand und warf ihn Skar mit einem bösen Lächeln vor die Füße.

Skar runzelte die Stirn, zögerte merklich und griff nach dem Beutel. Er war schwer, schwerer, als er geglaubt hatte, und enthielt eine Anzahl glatter, brauner Kugeln, die ihn entfernt an Nüsse erinnerten.

»Was ist das?« fragte er.

»Du wirst jeden zweiten Tag eine davon nehmen«, sagte Vela. »Wenn du sie zählst, wirst du feststellen, daß es fünfzig sind. Du hast hundert Tage. Genug, um nach Combat zu gehen und zurückzukommen.«

Skar drehte den Lederbeutel unschlüssig in den Händen. »Und warum«, fragte er, unsicher und von einer dumpfen Ahnung erfüllt, »sollte ich das tun?«

»Weil du sonst stirbst, Skar«, antwortete Vela gleichmütig. »Erinnerst du dich an den Trunk, den Tantor dir gab? Er hat deine Kräfte geweckt, aber das war nicht seine einzige Wirkung. Es war Gift. Ein langsam wirkendes, schleichendes Gift. Es gibt ein Gegenmittel, aber nur ich habe es. Diese Kugeln, die du in der Hand hältst, Skar, enthalten etwas von dem Gegengift. Aber nicht in der richtigen Zusammensetzung, um die Wirkung ganz aufzuheben. Sie halten sie nur auf, für jeweils zwei Tage, vielleicht ein paar Stunden mehr, wenn du Glück hast und mit deinen Kräften haushältst. Du bekommst das endgültige Gegenmittel, sobald du mir den Stein aushändigst. Kehrst du nicht zurück, stirbst du in genau hundert Tagen. Und dein Freund auch.«

Es dauerte lange, bis Skar die Kraft fand, zu antworten. Er hätte nicht überrascht sein dürfen, nach allem, was geschehen war, aber er war es trotzdem. Er hätte wissen müssen, daß Vela sich absicherte, aber er hatte nicht geglaubt, hatte gegen alle Logik noch immer an das sprichwörtlich Gute der Ernsh geglaubt.

»Du ...«

Vela machte eine rasche Handbewegung. »Vergeude keine Kraft damit, mich zu beschimpfen, Skar«, sagte sie. »Du bist nicht in der Lage, mir zu drohen. Wirst du tun, was ich verlange?«

»Ich brauche ... Zeit«, murmelte Skar. »Eine Stunde. Gib mir eine Stunde.«

Vela schüttelte den Kopf. »Fünf Minuten, Skar. Ich lasse dich fünf Minuten allein. Danach erwarte ich deine Entscheidung. Und ich werde ein neuerliches Nein nicht akzeptieren.« Sie fuhr ohne ein weiteres Wort herum, verließ den Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Fünf Minuten, dachte Skar. Fünf Minuten, um eine Entscheidung zu treffen, von der nicht nur mein, sondern auch das Leben von Del und vielleicht unzähliger anderer abhängt.

Er durfte es nicht tun. Nach allen Ehrenregeln der Satai mußte er ablehnen. Es war nicht das erste Mal, daß jemand auf die Idee kam, Del oder ihn zu entführen, um den anderen gefügig zu machen, und sie hatten sich schon vor Jahren darauf verständigt, in einem solchen Fall keinerlei Rücksicht auf den anderen zu nehmen. Del würde es verstehen, ja, sogar erwarten, daß er ablehnte und sie damit beide zum Tode verurteilte. Es war auch nicht die Tatsache, daß sein eigenes Leben bedroht war. Er war Satai, ein Mann, der mit dem Tod auf du und du stand und genau wußte, daß er nicht an Altersschwäche sterben würde.

Aber was erreichte er damit? Ein Opfer hat nur dann einen Sinn, wenn damit etwas erreicht werden kann. Wenn Del und er starben, würde Vela einen anderen finden, der für sie ging. Vielleicht würde sie ein weiteres Jahr warten müssen, aber es würde am Ende nichts ändern. Und der Gedanke, den Stein der Macht in den Händen einer Besessenen wie Vela zu wissen, bereitete ihm Übelkeit. Er wußte nicht einmal, ob es diesen Stein überhaupt gab oder welche Macht er hatte, aber die bloße Möglichkeit war schon zu viel. Er war Satai und damit nicht nur Krieger, sondern auch Wächter über etwas, das in einer Welt voller Gewalt und Haß mehr und mehr verlorenging - Gerechtigkeit.

Nein, dachte er dumpf. Er hatte kein Recht, Dels Leben und das seine wegzuwerfen. Er konnte nicht nur, er mußte sogar nach Combat gehen und diesen Stein holen, und sei es nur, um zu verhindern, daß Vela ihn mißbrauchte.

Und sie wußte es. Sie mußte gewußt haben, daß er nicht zu erpressen war, nicht mit Dels Leben und schon gar nicht mit seinem eigenen! Aber sie hatte auch gewußt, daß er gehen mußte, aus genau den Gründen, die er jetzt erwog.

Mit einem Mal kam er sich nur noch hilflos und alleingelassen vor. Er hatte sich eingebildet, kämpfen zu können, aber das stimmte nicht. Die Errish hatte jeden einzelnen seiner Schritte vorhergesehen und berechnet, alles, was er tun und sagen würde, ja, selbst seine Gedanken. Sie hatte genau gewußt, daß er zustimmen und gehen würde, und sogar diese letzte Frist, die sie ihm zugestanden hatte, diente allein dazu, ihm Gelegenheit zu geben, seine eigene Hilflosigkeit zu begreifen.

Er ließ den Lederbeutel nachdenklich durch die Finger gleiten. Hundert Tage ... das war nicht viel Zeit. Aber vielleicht doch genug, um eine Lösung zu finden.

Trotzdem spürte er genau, wie dünn und brüchig der Strohhalm war, an den er sich klammerte.

Die Sonne ging zum zweiten Mal auf, als sie aus dem Schacht krochen und mit letzter Kraft auf den schwarzen Würfel am Horizont zuwankten. Skar hatte bis zu diesem Tag nicht gewußt, was das Wort Erschöpfung wirklich bedeutete. Der Weg zum Tempel hatte ihnen das Letzte abverlangt, aber der Weg zurück war schlimmer gewesen; tausendmal schlimmer. Gowennas Behauptung, der Stein würde sie schützen, war nur zur Hälfte zutreffend gewesen. Er hatte sie geschützt - vor dem lauernden Wahnsinn im Inneren des Treppenschachtes und den Feuerkindern. Sie hatten sie weiter begleitet, durch den Tempel, über die Steinallee bis hin zu jenem großen, halbmondförmigen Platz, auf dessen Seite der Eingang des unterirdischen Ganges lag, hatten aber nicht wieder angegriffen, sondern nur noch ein loderndes, kicherndes Spalier gebildet, Tausende und Abertausende der kleinen, flinken Wesen, von denen Skar jetzt sicher war, daß sie lebten, auf eine unbegreifliche, erschreckende Weise dachten und zu gezieltem Handeln fähig waren. Vor ihnen hatte sie der Stein geschützt. Nicht so vor der Hitze.

Der Rückmarsch war die Hölle gewesen. Sie hatten mehr als zwei Stunden gebraucht, um die wenigen hundert Schritt bis zum Tunneleingang zurückzulegen, und jede Sekunde hatte ihnen neue Schmerzen und neue Todesangst gebracht. Tantors Salbe schützte sie kaum noch, und sie hatten immer wieder zurückgehen und große Umwege in Kauf nehmen müssen, um Feuerbarrieren, die sie auf dem Hinweg ohne zu zögern durchschritten hatten, zu umgehen und unsichtbaren Hitzewolken und flammenden Geysiren auszuweichen. Und der Weg durch das unterirdische Labyrinth war kaum weniger schlimm gewesen.

Aber irgendwie hatten sie es geschafft, obwohl sich Skar mit jedem Schritt mehr fragte, wie sie die Schmerzen, die kochende Luft in ihren Lungen und die unerträglichen Strapazen aushaken konnten.

Er war der letzte, der aus dem senkrechten Schacht emporstieg. Ohne das Seil, das er mitgenommen hatte, hätten sie es nicht geschafft. Keiner von ihnen hatte noch die Kraft gehabt, an den Schachtwänden emporzusteigen, zumindest keiner außer den beiden Sumpfmännern. Sie waren als erste hinaufgestiegen und hatten Arsan, Gowenna und ihn mit übermenschlicher Kraft hinaufgezogen, obwohl sie von allen vielleicht diejenigen waren, die am meisten gelitten hatten. Skar empfand ein leises Gefühl der Dankbarkeit, das aber beinahe sofort in dem Ozean aus Schmerzen und Müdigkeit wieder ertrank, der über ihm zusammenschlug. Er hatte kaum die Kraft, das Seil von seiner Hüfte zu lösen und aufzustehen, und er wäre gestürzt, wenn El-tra nicht rasch zugegriffen und ihn gestützt hätte.

»Danke«, murmelte er leise.

Der Sumpfmann nickte. Für einen Moment schien ein Lächeln durch die wirbelnden Schwaden unter seiner Kapuze zu blitzen, aber Skar war sich nicht sicher. Etwas in seinem Verhältnis zu den beiden Chamäleonmännern hatte sich geändert, etwas Wichtiges und Großes, obwohl er noch nicht in der Lage war, es zu begreifen. Es war, als hätten die beiden bizarren Wesen nicht nur die Form seines Körpers, sondern auch etwas von seiner Seele in sich aufgenommen. Aber er war zu müde, um darüber nachzudenken.

Er streifte El-tras Hand ab, blieb einen Herzschlag lang schwankend stehen und sah sich nach Arsan und Gowenna um. Keiner von ihnen war ohne schwere Verbrennungen davongekommen, und Skar begriff mit plötzlichem Erschrecken, daß sie nur scheinbar außer Gefahr waren, daß ihnen Combats Fluch noch lange anhaften und sie vielleicht - vielleicht sogar alle drei - sterben würden. Arsans Rücken schien eine einzige blutende Wunde zu sein, und sein linker Arm hing in seltsam verkrümmter Haltung herab. Sein Gesicht war unter einer starren Maske aus Schmutz, Ruß, Blut und eingetrocknetem Schweiß verborgen, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck unerträglicher Qual. Skar fragte sich unwillkürlich, woher dieser kleine, dürre Mann die Kraft nahm, sich noch auf den Beinen zu halten.

»Wir müssen ... weiter«, flüsterte Gowenna. Es waren die ersten Worte, die sie sprach, seit sie den Altarraum unter der Kuppel des Tempels verlassen hatten, und ihre Stimme klang fremd und verzerrt in Skars Ohren. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und starr von verkrustetem Blut; sie hatte Mühe, überhaupt zu sprechen.

Skars Hand fuhr zum hundertsten Male unter den Harnisch. Er hatte den Stein zu seinem Vorrat an Leben in den Lederbeutel gesteckt. Er spürte ihn durch das dünne Leder hindurch - ein hartes, kaltes Etwas, das gleichermaßen Leben wie millionenfachen Tod bedeutete. Seltsamerweise ließ ihn der Gedanke an die Macht, die er mit sich trug, kalt. Er hatte niemals nach Macht gestrebt, obwohl er sie ein dutzendmal hätte haben können, und er erlag ihrer Verlockung auch jetzt nicht. Gerrions Tod war ihm Warnung genug. Sie stolperten kraftlos auf das schwarze Gebäude zu. Unter ihren Füßen wirbelten kleine, heiße Staubwolken auf, und der Wind hämmerte mit unsichtbaren Fäusten in ihre Gesichter, als biete die Natur noch einmal alle Macht auf, um sie im letzten Moment zurückzuhalten. Die Entfernung betrug nur noch ein paar Dutzend Schritte, aber sie erschienen Skar weiter und qualvoller als die unzähligen Meter, die sie im Inneren Combats zurückgelegt hatten. Er kam sich wie in einem jener bösartigen Spiegelkabinette gefangen vor, die man manchmal auf Jahrmärkten antraf: nur Gänge, deren Ausgang sich desto weiter zu entfernen schienen, je schneller man lief. Das Gebäude begann vor seinen Augen zu verschwimmen, und ein dumpfer, grauer Druck machte sich hinter seiner Stirn breit; brodelnder Schmerz, von dem dünne Fäden durch seinen Körper schössen ...

Seine Hand tastete wieder nach dem Beutel, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Er würde eine weitere der kleinen braunen Kugeln schlucken müssen; zwei Tage Leben weniger in seiner Rechnung. Aber jetzt noch nicht. Nicht, bevor er das Haus erreicht hatte. Diese wenigen letzten Schritte war er sich und seinem Stolz schuldig.

Er wankte weiter, stolperte über einen Felszacken und fiel in El-tras ausgebreitete Arme. Er hatte nicht gemerkt, daß der Sumpfmann ihm gefolgt war, daß Gowenna nicht länger drei, sondern nur mehr einen schweigenden grauen Schatten hatte und der andere nicht von seiner Seite gewichen war, seit sie den Gang verlassen hatten. Er schüttelte den Kopf und wollte sich losmachen, aber El-tra schob seine Hand einfach beiseite und lud ihn wie ein Kind auf die Arme. Skar war zu schwach, um sich ernsthaft zu wehren.

Er mußte für einen kurzen Moment das Bewußtsein verloren haben, denn das nächste, was er wahrnahm, war der rauhe Stein unter seinem Rücken und das milde, graue Licht im Inneren des Gebäudes. Jemand schob die Hand unter seinen Kopf, hob ihn behutsam an und setzte einen Wasserschlauch an seine Lippen. Das Wasser schmeckte bitter, warm und abgestanden, aber er trank trotzdem mit schnellen, gierigen Schlucken.

Die wirbelnden Schwaden vor seinen Augen lichteten sich nur langsam. Er blinzelte, setzte sich mühsam auf und stützte den Kopf in die Handflächen. In seiner Brust wütete ein pochender, scharfer Schmerz, und seine Gedanken waren in einem Netz dünner, grauer, klebriger Fäden gefangen. Das Gift in seinen Adern begann stärker zu wirken. Wieder kroch seine Hand zu dem ledernen Brustbeutel unter dem Harnisch, aber seine Finger schienen plötzlich zu grob, um die dünne Lederschnur zu ergreifen und den Knoten zu öffnen. »Warte«, sagte eine Stimme über ihm. »Ich helfe dir.«

Skar sah verblüfft auf und blickte in El-tras formloses Nebelgesicht. Es war das erste Mal, daß einer der drei Sumpfleute das Wort direkt an ihn richtete, und Skar spürte das Besondere der Situation. El-tras Worte waren mehr als ein Ausdruck von Hilfsbereitschaft, und als der Sumpfmann vor ihm niederkniete und seine Hand berührte, spürte er eine Welle warmen, wohltuenden Vertrauens, ein Gefühl der Zuneigung, des Menschseins, das er im Wesen der Chamäleonmänner bisher vermißt hatte.

El-tra löste behutsam den Beutel von Skars Hals, nahm eine der unscheinbaren braunen Kugeln heraus und legte sie in Skars geöffnete Hand. Skar führte sie rasch zum Mund, aber er zögerte noch, sie zu zerbeißen und hinunterzuschlucken. Mit einem Mal erschien ihm alles sinnlos, alles, was geschehen war und was noch geschehen würde. Das winzige glatte Etwas zwischen seinen Zähnen würde sich innerhalb weniger Augenblicke auflösen und die Wirkung des Giftes stoppen; zwei Tage mehr Leben, aber vielleicht auch nur zwei Tage weiterer sinnloser Qual, zwei weitere Tage eines Kampfes, den er nicht gewinnen konnte.

Trotzdem zerbiß er sie schließlich. Er schluckte ein paarmal, auch, als sein Mund längst leer war, und spülte den bitteren Geschmack mit Wasser aus dem Schlauch hinunter, den ihm El-tra hinhielt.

Die Wirkung des Gegengifts setzte fast augenblicklich ein. Eine warme, wohltuende Welle aus Stärke und einem ganz und gar ungerechtfertigten Optimismus spülte durch seinen Körper und seinen Geist, vertrieb die Schmerzen aus seinen Muskeln und die grauen Spinnweben aus seinem Kopf.

Skar sah auf, als ein Schatten auf den Boden vor ihm fiel.

Es war Gowenna. Er mußte länger am Rande der Bewußtlosigkeit gewesen sein, als ihm bisher klar gewesen war, denn Gowenna hatte Zeit gehabt, die versengten Kleider zu wechseln und sich zu waschen.

Skar erschrak, als er in ihr Gesicht sah. Die Brandwunden waren nicht so schlimm, wie er bisher geglaubt hatte - eine Anzahl großer, rot unterlaufener Blasen verunzierten ihre Wangen und die Stirn, sicher sehr schmerzhaft, doch sie würden rasch heilen und kaum bleibende Narben hinterlassen. Aber etwas anderes hatte sich in ihrem Antlitz gewandelt, etwas, das ihn mehr erschreckte, als es jede körperliche Wunde hätte tun können. Da war eine Verletzung, tiefer und schmerzhafter, als sie jede noch so heiße Flamme hätte schlagen können, eine Wunde nicht ihres Körpers, sondern der Seele. Skar versuchte vergeblich, eine Erklärung für den Ausdruck unsäglichen Schmerzes auf ihren Zügen zu finden. Es konnte nicht allein die Tatsache sein, daß sie versagt hatte, daß er es gewesen war, der den Stein geborgen hatte. Da war noch mehr, ein Schmerz, für den er keine Erklärung fand, etwas, das ihn an den Ausdruck in den Augen eines Menschen erinnerte, dessen Welt zusammengebrochen war, der das einzige verloren hatte, woran er glaubte. »Tantor ist fort«, sagte sie. Die Worte kamen schleppend. In ihrer Stimme klang etwas von dem gleichen Schmerz, der sich in ihre Züge gebrannt hatte.

Es dauerte einen Moment, ehe Skar wirklich begriff, was sie gesagt hatte.

Er stand auf, wartete, bis das Schwindelgefühl in seinem Kopf nachließ, und sah sich erschrocken um. Die plötzliche Bewegung ließ eine neue Welle von Übelkeit in ihm aufsteigen. Er war bei weitem nicht so kräftig, wie er sich eingebildet hatte.

»Was ... heißt das?« fragte er lahm.

»Fort«, wiederholte Gowenna. »Er ist verschwunden. Zusammen mit den Packpferden und den gesamten Vorräten. Nur etwas Wasser hat er uns dagelassen.«

Skar starrte sie sekundenlang verwirrt an und drehte dann noch einmal - vorsichtiger diesmal - den Kopf, als müsse er sich selbst davon überzeugen, daß Gowenna die Wahrheit sprach.

Der würfelförmige Raum war leer. Die schwarzverbrannte Stelle auf dem Boden zeigte noch, wo das Feuer gebrannt hatte, aber mit Ausnahme einiger nur halb gefüllter Wasserschläuche war weder von dem Zwerg noch von ihrer Ausrüstung eine Spur zu entdecken. »Und die ... Pferde?« fragte er stockend, obwohl er die Antwort bereits kannte.

Gowenna schüttelte stumm den Kopf.

»Aber warum?« murmelte Skar. »Was hätte er davon, uns im Stich zu lassen? Wir -« Er stockte, starrte einen Augenblick an Gowenna vorbei und schüttelte gleichermaßen verwirrt wie erschrocken den Kopf.

»Der Drache?« fragte er leise.

»Nein.« Es schien Gowenna schwerzufallen, seine Frage zu beantworten. Sie sprach langsam, als müsse sie sich mühselig auf jedes einzelne Wort konzentrieren, ehe sie es aussprach. »Vor einem Staubdrachen kann man nicht fliehen, Skar. Dieses Gelände stünde nicht mehr, wäre er hier gewesen.«

»Aber was ...«

»Es ist aus, Skar«, fuhr Gowenna leise fort. »Wir sitzen in der Falle.« Sie sah ihn einen Moment ernst an, schüttelte dann den Kopf und lächelte schwach und resigniert. Skar hatte das deutliche Empfinden, daß sie noch mehr sagen wollte, aber sie beließ es bei einem kaum hörbaren Seufzen, wandte sich um und strich sich mit einer müden Bewegung die Haare aus der Stirn; eine Geste, die mehr als alles andere ihre Erschöpfung verdeutlichte, Erschöpfung, die weit über bloße körperliche Müdigkeit hinausging. Irgend etwas war mit ihr geschehen, auf dem Weg von Combat hierher, mit ihr oder in ihr, etwas, das Skar sich nicht erklären konnte. Diese müde, verletzte, bis über das Maß des Erträglichen hinaus erschöpfte Frau war nicht mehr die Gowenna, die er kannte.

Er machte eine unwillige Handbewegung. »So rasch gebe ich nicht auf, Gowenna«, sagte er. »Wir können versuchen, das Gebirge zu Fuß zu erreichen.« Seine Worte klangen nicht überzeugend, weder in seinen noch in Gowennas Ohren, und er spürte es. Sie waren nicht wahr, einzig dazu gedacht, Gowenna und vielleicht auch ihn selbst aufzumuntern.

»Und dann?« fragte sie. »Willst du vielleicht zu Fuß nach Ikne gehen?«

»Wenn es sein muß, ja«, erwiderte Skar barsch. »Oben in den Bergen kommen wir auch zu Pferde nicht viel schneller voran. Und sind wir erst einmal aus dem Gebirge heraus, sehen wir weiter. Wir werden uns Reittiere besorgen, und auch alles andere, was wir brauchen.«

Gowenna schwieg eine Weile. Ihr Blick glitt über Skars Gesicht und blieb schließlich an dem Lederbeutel auf seiner Brust hängen. »So viel Zeit hast du nicht mehr, Satai.«

Skar spürte für einen Moment Zorn in sich aufsteigen. Er war noch viel zu erschöpft, um den Ernst ihrer Lage wirklich zu begreifen, ihn nicht nur verstandesgemäß zu akzeptieren, sondern wirklich einzusehen, daß Gowenna recht hatte und nicht er. Aber er begriff, daß sie ihn absichtlich verletzte, daß sie ihre eigene Hilflosigkeit und Verzweiflung damit zu kompensieren suchte, indem sie ihm weh tat.

»Wir bleiben den Tag und die Nacht über hier«, sagte er in bestimmendem, abschließendem Tonfall. »Morgen bei Sonnenaufgang brechen wir auf.«

»Und erfrieren in den Bergen.«

Skar zuckte gleichmütig die Achseln. »Vielleicht. Aber vielleicht auch nicht. Wir können die erste Nacht in der Höhle verbringen und dann zwei oder auch drei Tage durchmarschieren. Zeit genug, um über die Pässe zu kommen.«

Gowenna fuhr auf, aber Skar duldete keinen Widerspruch mehr. »Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf«, sagte er noch einmal. »Vergiß nicht, daß ich jetzt das Kommando habe.«

In Gowennas Augen blitzte es zornig auf. Doch es war nicht mehr der alte Zorn, nicht mehr diese ungebändigte, wütende Kraft, die sie bisher ausgestrahlt hatte, sondern nur noch reiner Trotz. Aber Skar kannte sie auch gut genug, um zu wissen, daß dieser Trotz bei ihr so gefährlich sein konnte wie wirklicher Zorn, vielleicht noch gefährlicher. Gowenna war nicht halb so beherrscht, wie sie sich stellte. Es mochte sein, daß sie Dinge sagte und tat, zu denen sie sich noch vor wenigen Stunden niemals hätte hinreißen lassen.

»Was ist mit dir?« fragte er leise, beinahe sanft.

»Nichts. Ich -«

»Das stimmt nicht«, unterbrach Skar sie. »Es ist nicht wahr, und du weißt es. Glaubst du nicht, daß es an der Zeit wäre, mir zu vertrauen ?«

Ihre Reaktion überraschte ihn selbst. Er wußte nicht genau, was er erwartet hatte - Spott vielleicht, Ablehnung, Hohn oder Herablassung. Aber es kam nichts von alledem. Der einzige Ausdruck, den er für einen winzigen Moment auf ihren Zügen zu erkennen glaubte, erinnerte an etwas wie Trauer, beinahe Schuldbewußtsein. Aber der Moment verging so rasch, wie er gekommen war. Ihr Gesicht erstarrte wieder zu einer Maske der Unnahbarkeit, und Skar spürte von einer Sekunde zur anderen wieder die alte Kälte und Herablassung.

»Es ist nichts, Skar«, sagte sie kühl. »Ich bin erschöpft und habe Schmerzen, das ist alles.« Sie wandte sich brüsk um, ging mit ein paar raschen Schritten zu den beiden Sumpfmännern hinüber und begann sich leise mit ihnen zu unterhalten.

Skar blieb sekundenlang reglos stehen, drehte sich dann ebenfalls um und ging zur entgegengesetzten Seite des Raumes. Erschöpft ließ er sich an der Wand zu Boden sinken, bettete die Stirn auf die angezogenen Knie und schloß die Augen. Das Blut rauschte in seinen Ohren, und sein Herz begann urplötzlich und ohne ersichtlichen Grund so rasch zu schlagen, daß ihm schwindelig wurde. Es war zuviel gewesen. Sein Körper revoltierte, obwohl er bereits größere Strapazen ausgestanden hatte. Aber es war nicht sein Körper, nicht die Muskeln und Sehnen, die aufgaben, sondern sein Geist. Er hatte sich auf ein Spiel eingelassen, das zu groß für ihn war, kämpfte einen Kampf gegen Windmühlenflügel. Er kam sich vor wie ein Mann, der blindlings Türen und Mauern einrannte und nicht begriff, daß hinter jeder Tür eine weitere, hinter jeder Wand eine noch höhere warten würde, ganz egal, wie viele er einriß. Er hatte geglaubt, Vela überlisten zu können, verdammter Narr, der er war. Er hatte geglaubt, sie mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können, mit Waffen, von denen er nicht einmal wußte, wie sie aussahen, geschweige denn, wie er sie zu führen hatte. Der einzige, der getäuscht worden war, das wurde ihm mit plötzlicher Deutlichkeit klar, war er selbst.

Er war sich nicht einmal sicher, ob er sich nicht selbst belogen hatte, ob seine eigene Einschätzung seiner Kraft und Unnahbarkeit nicht ebenso falsch wie Velas Versprechungen gewesen war. Er hatte sich eingeredet, sich nicht erpressen zu lassen, nicht zu gehen, um Del zu retten, sondern um Velas Pläne zu hintertreiben. Aber nicht einmal das stimmte. Er war wegen Del hier, um sein und sein eigenes Leben zu retten, aus keinem anderen Grund. Der Stein war nur ein Vorwand, ein weiterer Knoten in dem Gespinst von Lügen und Halbwahrheiten, in das er sich mit jedem Tag tiefer verstrickte.

Seine Hand glitt unter das Hemd und umklammerte den Brustbeutel. Das Leder war unter der Hitze rissig und hart geworden, aber er konnte den Vorrat an lebensspendenden Kugeln darin spüren, jede einzelne Ration Leben, sie und den Stein. Letzterer war klein, kaum größer als eine der Giftkugeln, hart und unscheinbar. Skar lauschte vergeblich in sich hinein, suchte nach einer Reaktion, einem Echo, nach irgend etwas. Aber da war nichts. Er wußte nicht, was dieser Stein bedeutete, welche Macht er - wenn überhaupt eine - besaß, und er hatte es im Grunde nie wissen wollen. Es interessierte ihn nicht. Es interessierte ihn nicht, welche Macht Vela durch dieses kleine Stückchen Mineral erringen würde. Alles, was ihn interessierte, war sein und Dels Leben.

Jemand trat neben ihn und blieb reglos stehen, bis er den Blick hob. El-tra. Einer der beiden El-tras, ohne daß er hätte sagen können, welcher. Vielleicht gab es auch keinen Unterschied.

»Ja?« fragte er.

Der Schattenmann hob die Hand. »Dich bedrückt etwas, Geistbruder«, sagte er.

Skar unterdrückte ein Schaudern. Es war nicht die Wahl der Worte, die ihn - obwohl sie sonderbar genug waren - erschreckte. Aber der Sumpf mann sprach ihn mit seiner eigenen Stimme an ...

»Bin ich das?« fragte er, ohne auf El-tras Frage einzugehen. »Was?«

»Dein ... wie hast du es genannt? Geistbruder?«

Der Sumpfmann zögerte sichtlich. »Nein«, sagte er dann. »Nicht so, wie du das Wort vielleicht verstehst. Aber eure Sprache ist so irreführend. Du gabst uns Leben. Etwas von dir ist in uns.«

»Ich weiß«, sagte Skar. »Aber ich könnte nicht behaupten, daß ich stolz darauf bin. Ihr habt euch den falschen Mann ausgesucht, El-tra.«

Nun war es der Sumpfmann, der nicht auf seine Worte einging. Er schwieg eine Weile, ließ sich dann - Skars Haltung nachahmend - neben ihm auf den Boden sinken, kreuzte die Beine und lehnte den Rücken gegen die Wand. Er sagte nichts, und Skar spürte, daß er auch nicht noch einmal von sich aus das Wort ergreifen würde. Aber Skar empfand plötzlich ein absurdes Gefühl der Dankbarkeit, Dankbarkeit dafür, daß jemand bei ihm war, einfach dasaß und nichts sagte, der zuhören, seine Verzweiflung und Müdigkeit teilen konnte.

Behutsam löste Skar den Lederbeutel von seinem Hals, öffnete ihn und nahm den Stein hervor. Das blaue Leuchten war mittlerweile ganz erloschen, und er erschien Skar mehr denn je wie ein gewöhnliches, schon etwas blind gewordenes Stück Glas. Er ließ ihn vorsichtig auf seine geöffnete Handfläche fallen, hielt ihn dicht vor das Gesicht und versuchte, einen Sonnenstrahl in den winzigen Facetten seiner Oberfläche aufzufangen. Es mißlang.

»Was ist das?« fragte er leise. Die Worte galten mehr ihm selbst als dem Sumpfmann, und El-tra antwortete auch nicht. »Wie viele Menschen sind dafür gestorben?« fuhr er fort. »Hunderte? Tausende? Welche Macht verleiht er seinem Besitzer?«

»Ich weiß es nicht«, sagte El-tra. »Niemand weiß das.«

»Nicht einmal Vela?«

»Nicht einmal Vela«, bestätigte der Sumpfmann. »Er kann alles bedeuten - oder nichts. Er ist ein Schlüssel, Skar, nicht mehr. Der Schlüssel zu einem Ding, das ...« Er brach ab, und Skar wußte, daß er nicht weiterreden würde. Er hatte bereits mehr gesagt, als er gewollt hatte. Viel mehr.

»Schon gut«, murmelte Skar. »Ich werde es herausfinden, irgendwann.« Er schloß die Faust um den Stein, steckte ihn aber noch nicht zurück in den Beutel. Wieder lauschte er in sich hinein, suchte in den tiefsten Winkeln seiner Seele nach einem Echo, nach irgend etwas, das auf den glatten, kühlen Stein in seiner Hand reagierte. Aber da war nichts. Der Stein war tot.

»War er das alles wert?« fragte er. »War er es wert, daß so viele Menschen dafür starben?«

»Viele von euch sind für weniger gestorben«, antwortete El-tra ruhig. »Für eine Idee, einen Traum ...« Er schwieg, breitete in einer bedrückend menschlich wirkenden Geste die Hände aus und ließ den Kopf gegen die Wand sinken. »Ihr überschätzt den Wert des Lebens«, sagte er. »Der einzelne zählt nichts, solange die Gemeinschaft weiter besteht.«

Skar lachte leise, aber es war ein Laut ohne Humor, eigentlich ohne jedes echte Gefühl.

»Was amüsiert dich daran, Satai?« fragte El-tra.

»Oh - nichts.« Skar setzte sich auf, ließ den Stein wieder in den Beutel gleiten und sah den Sumpfmann kopfschüttelnd an. »Ich frage mich, wie ein Wesen, das nicht einmal über eine eigene Identität verfügt, über das Schicksal eines Menschen philosophieren kann. Ihr wart nie zu dritt, nicht?«

»Nein«, bekannte El-tra. »Eins - drei - Millionen Facetten eines einzigen großen Wesens. So wie Gowenna, Vela, Arsan und du und alle anderen Menschen ebenfalls. Ihr habt es nur noch nicht gemerkt.«

»Oder ihr habt noch nicht gemerkt, daß es so etwas wie ein eigenes Leben gibt«, konterte Skar. »Man kann die Sache von zwei Seiten sehen.« Obwohl er mit jeder Sekunde müder zu werden schien und seine Gedanken träge wie Sirup durch seinen Schädel krochen, begann ihm die Diskussion Spaß zu machen. Es war das erste Mal, daß der Sumpfmann so frei über sich und sein Volk sprach, und Skar begann zu spüren, daß die beiden bizarren Wesen vielleicht mehr waren als Gowennas Vertraute und Wächter.

»Individualismus ist nicht das höchste Ziel«, widersprach El-tra nach kurzem Zögern. »Sieh dir unser Volk an, Skar, und betrachte deines. Wir kennen das, was ihr Persönlichkeit nennt, nicht. Nicht so wie ihr. Aber wir leben seit Jahrtausenden in Frieden, während ihr euch in einem immerwährenden Krieg zerfleischt.«

Skar machte eine ärgerliche Handbewegung. »Frieden«, stieß er hervor. »Im Grab ist auch Frieden, El-tra. Uod ihr zahlt einen hohen Preis dafür. Ihr seid isoliert. Ausgestoßen.«

»Glaubst du?« Wieder schwieg El-tra lange, als müsse er sich die Antwort genau überlegen. »Wer sagt dir, daß nicht wir euch ausgestoßen haben, und nicht umgekehrt?« Für einen Moment blitzte ein fast spöttisches Lächeln durch die grauen Nebel unter seiner Kapuze. »Und wie ist es mit dir und Del?« fuhr er dann fort. »Auch ihr seid Geistbrüder, mehr, als dir vielleicht bewußt ist. Töte den einen, und der andere stirbt.«

»Unsinn«, knurrte Skar.

El-tra nickte. »Sicher. Vielleicht ist Del schon nicht mehr am Leben, vielleicht stirbst du mit uns in wenigen Stunden oder Tagen, und der andere wird weiterleben. Aber er wird nicht mehr der sein, der er vorher war.«

Diesmal verzichtete Skar auf eine Antwort. Es gab nichts, was er hätte sagen können. El-tra hatte recht, in jedem einzelnen Punkt. Skar hatte bereits begonnen, sich zu verändern. Von seiner früheren Stärke und Sicherheit war nicht viel geblieben, er fühlte sich verwirrt, hilflos, schwach. Er wußte nicht, was geschehen wäre, wäre Del bei ihm geblieben, aber soviel wußte er, daß alles ganz, ganz anders gekommen wäre.

El-tra erhob sich mit einer plötzlichen fließenden Bewegung, nickte noch einmal und ging ohne ein weiteres Wort zu Gowenna und dem zweiten Sumpfmann zurück.

Er wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber es war merklich dunkler geworden, als Arsan ihn weckte. Im ersten Moment hatte er Mühe, in die Wirklichkeit zurückzufinden. Es waren nicht die grauen Spinnweben des Giftes, die seine Gedanken gefangen hielten, sondern einfach Müdigkeit, Erschöpfung von einer Tiefe, wie er sie lange nicht mehr verspürt hatte.

Er sah auf, blickte in Arsans Gesicht und versuchte sich hochzustemmen. Es gelang ihm erst beim zweiten Anlauf.

»Was gibt es?« fragte er undeutlich.

Arsan deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. Vor dem Ausgang herrschte noch heller Tag, aber die Sonne war weitergewandert, so daß ihre Strahlen nun nicht mehr direkt in den Eingang fielen, und das Innere des Gebäudes war in grauen Schatten versunken. »Komm mit«, sagte er einfach.

Skar stand vollends auf, hielt sich einen Moment an der Wand fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und folgte dann dem Kohoner zum Ausgang.

»Was ist los?« fragte er noch einmal.

Arsan sah ihn mit seltsamem Ausdruck an. In seinem Blick lag Schrecken, aber auch Resignation. Er hob die Hand und deutete nach Westen. »Dort.«

Zuerst gewahrte Skar nichts außer den massigen Schatten der Berge, die hinter einem Vorhang aus heißer Luft auf und ab zu tanzen schienen. Seine Augen, gewöhnt an die graue Dämmerung hier drinnen, begannen unter dem grellen Licht zu tränen, und irgendwo über seiner Nasenwurzel saß plötzlich ein kleiner scharfer Schmerz. Erst nach einer Weile erkannte er, was der Kohoner gemeint hatte: Auf halbem Wege zwischen ihnen und der Schneegrenze, vielleicht noch drei, höchstens vier Meilen entfernt, bewegte sich eine Anzahl winziger dunkler Punkte.

»Reiter«, murmelte Arsan. »Das sind Reiter.« Seine Stimme klang auf unangemessene Weise ruhig, beinahe heiter. Skar hätte Schrecken oder zumindest Überraschung erwartet, aber in den Worten des Kohoners schwang nichts von alledem mit. Er schien das Auftauchen der Reiter so gelassen hinzunehmen, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, als gehöre ihre Anwesenheit ebenso selbstverständlich zu der Szenerie wie die Berge im Westen und die zerschründete Ebene davor.

Skar sah den kleinwüchsigen Mann verwirrt an und wandte sich dann wieder den Reitern zu. Er schätzte ihre Anzahl auf fünf oder sechs, war sich aber nicht sicher. Es konnten mehr sein; in der hitzeflimmernden Luft war es schwer, Einzelheiten zu erkennen. »Das müssen die sein, die uns die ganze Zeit verfolgt haben«, sagte Gowenna hinter ihm. »Sie hätten sich keinen besseren Augenblick aussuchen können, um uns zu überfallen.«

Skar drehte sich um. Er hatte nicht gemerkt, daß Gowenna hinter ihn getreten war. Als Arsan ihn weckte, hatte sie schlafend zwischen den beiden Sumpfmännern gelegen.

»Wer sagt dir, daß sie uns überfallen wollen?« fragte er lauernd. Gowenna wandte mit einem schnellen Ruck den Kopf. In ihren Augen blitzte es spöttisch auf. »Sie sind wohl kaum hier, um einen Becher Wein mit uns zu trinken«, gab sie zurück. »Die sind hinter uns her.«

»Und das weißt du?« antwortete Skar. »Ich meine - du befürchtest es nicht nur? Du weißt es!«

Das Erschrecken auf ihrem Gesicht war nicht zu übersehen. »Du hast es die ganze Zeit schon gewußt, nicht wahr?« fuhr er rasch und ohne ihr Gelegenheit zu einer Erwiderung zu geben, fort. »Deshalb bin ich hier. Vela war nicht die einzige, die von der Existenz des Steines gewußt hat.«

»Und wenn es so wäre?« gab Gowenna trotzig zurück. »Was würde das ändern?«

»Eine Menge«, erwiderte Skar ruhig. »Wenn ich die Wahl habe, dann übernehme ich lieber die Rolle des Jägers als die des Gejagten. Wir hätten ihnen irgendwo in den Bergen auflauern und -«

»O ja«, unterbrach ihn Gowenna spöttisch. »Genau diese Reaktion habe ich von dir erwartet, Satai. Du hättest den Helden gespielt und unsere Mission in Gefahr gebracht.«

»Zum Kampf kommt es so oder so«, antwortete Skar mit einer wütenden Kopfbewegung in Richtung der näher kommenden Reiter. »Aber die Karten wären vielleicht ein wenig besser verteilt gewesen. Wer sind diese Männer?«

»Das weiß ich so wenig wie du.«

»Du lügst!« fauchte Skar. »Du wußtest vom ersten Tag an, daß wir verfolgt werden, lange, bevor ich oder einer der anderen es bemerkt haben! Und du wußtest auch, von wem!«

»Ich weiß es nicht, Skar«, erwiderte Gowenna. »Vielleicht habe ich einen Verdacht, aber ich werde nicht darüber reden. Nicht jetzt.«

Skar sog hörbar die Luft ein. Für einen winzigen Moment kämpfte er mit aller Kraft gegen den übermächtig werdenden Drang an, sich auf Gowenna zu stürzen und das zu tun, was er die ganze Zeit hätte tun sollen - sie zu packen und die Wahrheit aus ihr herauszuprügeln. Er spürte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Sie hatte ihn zu lange hingehalten, zu lange versucht, ihn an der Nase herumzuführen, vor den anderen und vor allem vor sich selbst. Und er hatte zu lange dazu geschwiegen. Aber er spürte auch, wie gefährlich die Situation war, in der sie sich beide befanden. Ihr Streit begann sich zu eskalieren.

Sie waren beide erschöpft, mehr, als ihnen selbst bewußt war, erschöpft und überreizt. Aber er hatte auch einen Punkt erreicht, wo er einfach nicht mehr wollte.

»Allmählich reicht es mir«, sagte er mit mühsam erzwungener Ruhe. »Seit wir aufgebrochen sind, hast du mich belegen. Du hast mich verspottet, verhöhnt und beleidigt, und ich habe die ganze Zeit dazu geschwiegen. Ich habe Rücksicht darauf genommen, daß du eine Frau bist, Gowenna, aber damit ist es jetzt vorbei. Du hast, was du haben wolltest, also sag mir endlich, was hier gespielt wird.« Gowenna schürzte trotzig die Lippen. Für einen Moment blitzte in ihrem Blick wieder der alte Hochmut auf. Sie wandte sich ab, trat zwei, drei Schritte in den Raum hinein und blieb erst stehen, als Skar ihr nachsetzte und sie grob am Arm zurückriß.

»Rede endlich!«

Gowenna machte sich mit einem wütenden Blick frei. Ihre Hand zuckte zum Schwertgriff. »Tu das nicht noch einmal!« zischte sie. »Ich habe dir gesagt, daß du mich nicht noch einmal anrühren sollst, und ich sage es kein drittes Mal, Skar!«

Skar verzog das Gesicht zu einem bewußt verletzenden Lächeln. »Mach dich nicht lächerlich, Gowenna«, sagte er provozierend ruhig. »Ich will Antworten. Du kannst deine Zirkusnummer aufführen, wenn Zeit dafür ist. Nicht jetzt.«

Gowenna erbleichte. Für den Bruchteil einer Sekunde breitete sich ein fassungsloser, beinahe entsetzter Ausdruck auf ihren Zügen aus, ein flüchtiger Schatten von Erschrecken, von Furcht. Ihre Hand krampfte sich so fest um den Schwertgriff, als wollte sie ihn zerbrechen.

Skar sah die Bewegung im letzten Moment.

Er hatte geahnt, daß Gowenna schnell sein würde, aber er hatte nicht geahnt, daß sie so schnell war. Ihr Schwert sprang, in einer Bewegung, die fast zu blitzartig war, als daß das Auge ihr folgen konnte, aus der Scheide und züngelte in einem tödlichen Halbkreis flirrenden Stahls direkt auf ihn zu.

Skar warf sich zurück und versuchte gleichzeitig seine eigene Waffe zu ziehen. Es gelang ihm nicht mehr ganz, aber der geschliffene Stahl glitt auf Armlänge aus der Hülle und bildete so eine Sperre dicht über seinem Körper. Ein hoher, peitschender Laut brachte die Luft zum Schwingen, als die beiden Klingen aufeinanderprallten. Skar schrie vor Schmerz auf, als sein Handgelenk - im falschen Winkel und verspannt - die ganze Kraft des Hiebes auffing. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn vollends hintenüber, ließ aber auch Gowenna zurücktaumeln und gab ihm so Gelegenheit, wieder auf die Füße zu kommen.

Er ließ ihr nicht einmal die Spur einer Chance. Vierzig Tage Haß, vierzig Tage aufgestauter Wut und Verzweiflung entluden sich in einem einzigen mörderischen Hieb. Sein Schwert schmetterte Gowennas Waffe zur Seite, züngelte in einer ungeheuer raschen Bewegung nach ihrem Gesicht und hinterließ, im letzten Moment herumgerissen, einen langen, blutigen Schnitt auf ihrer Wange, prallte in der Abwärtsbewegung abermals gegen ihr Schwert, die Klinge wie Glas zerbrechend und sie selbst meterweit zurückschleudernd. Skar schleuderte seine Waffe fort und setzte mit einem wütenden Sprung nach. Gowenna versuchte sich zu wehren, aber sie hatte nicht mehr Chancen als ein Kind gegen einen wütenden Quorrl. Ihre Hand zuckte hoch, Zeige- und Mittelfinger zum tödlichen »V« gespreizt und auf seine Augen gezielt. Er schlug sie mit einer fast spielerischen Bewegung zur Seite, parierte einen Kniestoß mit dem Ellbogen und schlug ihr den Unterarm quer über den Leib.

Gowenna stieß einen gurgelnden Laut aus, verkrampfte die Hände über dem Bauch und brach in die Knie. Skars abschließender Tritt wäre nicht mehr nötig gewesen, um sie vollends zu Boden zu schleudern. Aber es bereitete ihm Freude - für einen winzigen Moment bereitete es ihm Freude, ihr seine ganze Überlegenheit zu zeigen, ihr weh zu tun, sie, anstelle von Vela, deren er nicht habhaft werden konnte, zu quälen, zu schlagen und zu demütigen.

Und er tat es weiter, wenn schon nicht mit Taten, so doch mit Worten. »Hast du jetzt genug?« fragte er schweratmend. »War es das, was du wissen wolltest? Oder soll ich weitermachen?« Er bückte sich, riß sie grob vom Boden hoch und schleuderte sie gegen die Wand.

Sie stöhnte. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Sie brach wieder in die Knie, krümmte sich vor Schmerzen und versuchte qualvoll zu atmen. Wahrscheinlich verstand sie seine Worte gar nicht, aber er sprach trotzdem weiter, sprudelte all das hervor, was sich wochenlang in ihm aufgestaut hatte, gleichermaßen erschrocken über seine eigenen Worte wie unfähig, sie zurückzuhalten. »Du bist ja eine so große Kriegerin, nicht?« sagte er. Seine Stimme troff vor Hohn, jedes Wort, jede einzelne Silbe war ein Hieb, der sie treffen, verletzen, quälen sollte. »Die ganze Welt soll sich vor dir fürchten, nicht wahr? Aber selbst ein Satai-Novize würde dich mit leeren Händen fertigmachen. Du bist nicht so stark, wie du glaubst. Du bist nichts, Gowenna, nichts als ein verbittertes, männerhassendes Weib, das sich für unbesiegbar hält, nur weil es ein Schwert führen kann und von zwei Ungeheuern bewacht wird. Du wirst mir jetzt die Wahrheit sagen! Ich will wissen, was es mit diesem Stein auf sich hat, und ich will wissen, wer diese Männer sind!«

Jemand riß ihn grob am Arm zurück. Skar fuhr herum, darauf gefaßt, von den beiden Sumpfmännern angegriffen zu werden. Aber es war nur Arsan. »Hör auf, Skar!« sagte er mit zitternder Stimme. »Hör auf!«

Skar schlug seine Hand beiseite, aber der Kohoner griff sofort wieder zu. In seinen Fingern lag eine erstaunliche Kraft.

»Misch dich nicht ein!« zischte Skar.

»Hör auf!« sagte Arsan noch einmal. »Ich bitte dich, hör auf. Du hast sie besiegt. Du mußt sie nicht auch noch demütigen.«

Für einen winzigen Moment kreuzten sich ihre Blicke, und Skar las in den Augen des Kohoners eine Stärke, die er ihm nicht zugetraut hätte. Eine Stärke, die vielleicht aus Furcht geboren, aber trotzdem da war.

Sekundenlang blieb er reglos stehen, dann streifte er Arsans Hand endgültig ab. »Gut«, knurrte er. »Vielleicht hast du recht. Aber ich mußte die Sache klären. Es ist auch dein Leben, das auf dem Spiel steht.«

»Leben ...« Arsan gab einen seltsamen, schwer zu deutenden Laut von sich. »Wir sind doch längst tot, Skar.«

»Du vielleicht«, konterte Skar barsch. Sein Blick glitt an Arsan vorbei und suchte die beiden Sumpfmänner. Sie hatten nicht in den Kampf eingegriffen, sich noch nicht einmal gerührt. Skar war sich nicht sicher, ob sie überhaupt Notiz davon genommen hatten. Er verstand nicht, warum.

»Wir sollten uns auf den Kampf vorbereiten«, sagte Arsan nach einer Weile, »statt uns gegenseitig an die Kehlen zu fahren.« Sein Blick war wieder klar, und seine Stimme hatte den gleichen leicht resignierenden und doch zuversichtlichen Tonfall wie immer. Er hatte die Beherrschung verloren, aber nur für einen Moment. »Welchen Kampf?« fragte Skar. »Es wird keinen Kampf geben.« Arsan legte den Kopf auf die Seite. »Was heißt das? Willst du aufgeben?«

»Fliehen«, korrigierte Skar. »Wir fliehen, wenigstens für den Moment. Sie brauchen zwei, vielleicht drei Stunden, uni hier zu sein. Das gibt uns Zeit genug, zu verschwinden und sie in weitem Bogen zu umgehen.«

»Sie haben Pferde.«

»Eben.« Skar nickte aufmunternd. »Und vermutlich Bögen und Armbrüste und jede Menge anderer unliebsamer Dinge. Aber auch Decken und Feuerholz und Essen, alles, was wir brauchen.«

»Du willst... sie überfallen?« fragte Arsan stockend.

Skar nickte. »Wir haben keine andere Wahl. Sie werden eine Weile hier herumstreifen und uns suchen. Zeit genug, um ihnen irgendwo einen Hinterhalt zu legen. Sie sind in der Überzahl und besser bewaffnet und vermutlich ausgeruht, aber wir überleben zu Fuß und ohne Ausrüstung nicht einmal den ersten Tag in den Bergen. Also komm. Wir haben schon viel zuviel Zeit verloren.« Er bückte sich nach einem der Wasserschläuche, band ihn sich um die Hüfte und forderte Arsan mit einer befehlenden Geste auf, es ihm gleichzutun. Hinter ihm kam Gowenna mit einem stöhnenden Laut auf die Füße. Er sah nicht einmal hin.

»Du willst sie wirklich angreifen?« fragte Arsan noch einmal. »Hast du eine bessere Idee?« antwortete Skar. »Du kannst natürlich auch hierbleiben und dich abschlachten lassen. Ich will dich nicht zwingen, mit mir zu kommen.« Er richtete sich auf, zog sein Schwert aus der Scheide und ließ die Klinge spielerisch ein paarmal vor Arsans Gesicht durch die Luft pfeifen.

»Ihr habt mich doch mitgenommen, damit ich für euch kämpfe, oder?«

Es war gleichzeitig heiß und kalt, aber wie alles in diesem Teil der Welt war es nicht bloß einfach heiß und kalt, sondern unerträglich heiß und unerträglich kalt. Er hatte geglaubt, zu wissen, was sie erwartete. Aber er hatte vergessen, wie ungeheuerlich der Feuersturm Combats war, wie schneidend der Wind, der, angesogen von der Kraft der brennenden Stadt, in ihre Gesichter fuhr und die Eiseskälte der Berge mitführte, wie brennend die Hitze, die selbst gegen die Macht des Sturmes hinter ihnen herkroch und sie versengte, den Boden unter ihren Füßen zum Glühen brachte und die Luft in brennenden Sirup verwandelte, der jeden Atemzug zu einer unerträglichen Qual werden ließ. Er hatte es längst aufgegeben, die Entfernung abzuschätzen, die sie noch bis zum Gebirge zurückzulegen hatten. Sie waren gelaufen, gerannt, stunden-, tagelang, wie es ihm vorkam, aber die schneegekrönte Mauer im Westen schien noch um keinen Fußbreit näher gekommen zu sein. Er hatte kaum mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten und weiterzuschleppen. Woher Gowenna und Arsan die Energie nahmen, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen und weiterzumarschieren, war ihm ein Rätsel. Selbst die beiden Sumpfmänner zeigten bereits deutliche Anzeichen von Erschöpfung. Ihre Gestalten schienen im schwächer werdenden Licht des Abends zu flackern; die Nebel unter ihren Kapuzen wogten stärker. Und es war Schmerz in diesen Wogen.

Skar ertappte seine Hand dabei, wie sie gleich einem kleinen, selbständigen Wesen, das seinen Befehlen nicht mehr länger gehorchte, zu dem halb gefüllten Wasserschlauch an seinem Gürtel kroch. Aber er gestattete sich nicht zu trinken. Weder sich noch den anderen. Er hatte das Kommando endgültig übernommen, als sie das Gebäude verlassen hatten, einfach dadurch, daß er als erster gegangen war. Gowenna hatte nicht noch einmal versucht, sich zu widersetzen. Sie hatte mehr verloren als einen Kampf.

Aber es war ein Sieg, über den sich Skar nicht freuen konnte. Als wären seine Überlegungen ein Stichwort gewesen, brach Arsan in diesem Moment in die Knie. Skar sprang rasch vor und versuchte ihn aufzufangen, aber die Erschöpfung ließ seine Reaktionen langsamer werden als gewohnt. Er griff daneben. Arsan fiel mit einem wimmernden Laut vornüber und schlug mit dem Gesicht auf dem hartgebackenen Boden auf.

Skar hatte nicht mehr die Kraft, sich um ihn zu kümmern. Erschöpft ließ er sich neben dem Kohoner zu Boden sinken, zog die Knie an den Körper und blinzelte in den Himmel hinauf. Combat schleuderte ihren flammenden Gruß noch immer zu den Wolken hinauf, aber ihr Licht schien jetzt verändert; es war nicht länger nur Hitze und Helligkeit, sondern eine stumme, blutige, unheilvolle Drohung.

»Wir rasten hier«, murmelte Skar. Die Worte waren zu leise, als daß Gowenna oder einer der beiden Sumpfmänner sie hätten verstehen können. Trotzdem blieb Gowenna stehen, schwankte einen Moment und ließ sich dann erschöpft auf einen Felsen sinken. Die beiden El-tra nahmen stumm rechts und links von ihr Aufstellung. Die Erschöpfung schlug wie eine betäubende Woge über ihm zusammen, und diesmal versuchte er nicht mehr sich zu wehren. Es war nicht allein die körperliche Müdigkeit. Er war Satai und verfügte noch immer - selbst jetzt - über Reserven, auf die er zurückgreifen konnte.

Nein, die körperliche Erschöpfung war nicht das Schlimmste. Aber die heiße, ewig brennende Flamme, die ihn zeit seines Lebens erfüllt hatte, die Kraft, die einen Satai zum Weitermachen und immer wieder zum Weitermachen, zum Kämpfen und Durchhalten und Siegen oder Sterben trieb, war erloschen. Sein Kampfeswille war fort.

Er wußte, daß sein Plan nicht aufgehen würde, daß die Verfolger sie einholen mußten, lange bevor sie das Gebirge erreichten, und er wußte, daß sie sie angreifen und töten würden. Aber er empfand nicht einmal Furcht vor diesem Gedanken. Er würde noch einmal kämpfen und mit dem Schwert in der Faust sterben; ein Tod, der unnötig, aber eines Satai würdiger war als das langsame Dahinsiechen, das ihn sonst erwartet hätte.

Sie hatten keine Chance, hatten sie nie gehabt. Das Glück hatte sie - soweit es überhaupt je bei ihnen gewesen war - endgültig verlassen. Sie waren nicht annähernd so gut vorangekommen, wie es nötig gewesen wäre. Das zerschründete Gelände gab ihnen genügend Deckung, aber es hatte sie auch zu unzähligen Umwegen und mühsamen und kräftezehrenden Klettereien gezwungen. Sie hatten Zeit verloren, Zeit, die sie nicht hatten.

Skar lehnte sich zurück, lehnte den nackten Rücken gegen heißen Fels und unterdrückte einen Schmerzlaut, als der glühende Stein in seine verbrannte Haut biß. Die Ebene begann vor seinen Augen zu verschwimmen, und für einen winzigen Moment bildete er sich ein, ein schmales, blasses Gesicht zwischen den wabernden Nebeln vor sich zu erkennen. Velas Gesicht...

Arsan regte sich stöhnend. Er bewegte den Kopf, so daß sein zerschundenes Gesicht über den rauhen Boden rieb und eine dünne Blutspur hinterließ. Er stemmte sich, nur auf die Fingerspitzen gestützt, in eine kniende Position hoch und rang mühsam nach Euft. Aus seiner Brust drang ein krächzender, kranker Laut, der Skar frösteln ließ.

»Das ... war es dann wohl, Satai«, sagte er schleppend. »Aus.« Skar lächelte, obwohl ihm eher zum Heulen zumute war. »Hältst du dich schon wieder für tot, Arsan?« erwiderte er. »Für eine Leiche hast du dich bisher recht tapfer geschlagen. Aber wenn man deinen Worten glauben kann, dann bist du ja schon auf dem Herweg gestorben. Mindestens zwanzigmal.«

Aber seine Worte verfehlten die beabsichtigte Wirkung. Sie alle hatten einen Grad der Erschöpfung erreicht, in dem aufmunternde Worte nicht mehr halfen.

Skar suchte den Blick Gowennas. Aber sie schien das, was um sie herum vorging, gar nicht mehr wahrzunehmen. Sie starrte aus leeren Augen an ihm vorbei zu Boden, die verletzte Wange mit der Hand bedeckend. Der Schnitt hatte längst aufgehört zu bluten; er war nicht sehr tief und würde keine Narbe hinterlassen. Aber Skar wußte auch, daß weder der Schmerz noch die körperliche Niederlage, die er ihr zugefügt hatte, das wirklich Schlimme war. Irgend etwas war mit ihr geschehen, kurz bevor sie aus Combat zurückgekehrt waren. Er wußte nicht, was, aber er wußte, daß er sie endgültig zerbrochen hatte, ohne es zu wollen, dafür aber brutal und endgültig. Mit einem Mal kam er sich gemein und niederträchtig vor, schmutzig. Er empfand fast so etwas wie Abscheu vor sich selbst, wie ein Mann, der ein Kind schlug und erst zu spät merkte, was er überhaupt tat. Von dem Triumph, den er für wenige kurze Momente gespürt hatte, war nichts geblieben. In ihm war nichts als Leere, Leere und ein bitterer, harter Geschmack. Er hatte gesiegt, aber es war ein billiger Sieg gewesen, ein Sieg, der eines Satai unwürdig war.

Gowenna war letztlich nichts als ein Mädchen, dessen Gefühle durch Gründe verwirrt waren, die er nicht erraten konnte; sie war nicht einmal ein besonders kräftiges Mädchen dazu, während er, sein Körper, sein Geist und seine Reflexe, eine hochgezüchtete Kampfmaschine war, ein Mensch, der sich zeit seines Lebens zum Kämpfen und Töten abgerichtet hatte. Nein - es war kein Sieg, über den er sich freute.

Aber er war nicht der Mann, der zu ihr ging und ein Wort der Entschuldigung sagte.

Und sie wäre nicht die Frau gewesen, es anzunehmen. Sie würde ihn zurückstoßen, und er würde verärgert reagieren und sie noch mehr verletzen. So zog er es vor, sitzen zu bleiben und nichts zu tun.

Zum erstenmal seit Beginn ihrer unfreiwilligen Partnerschaft verglich er Gowenna mit Del, und obwohl ihm der Gedanke im ersten Moment fast absurd erschien, sah er doch mehr und mehr Ähnlichkeiten. Er hatte ein Jahrzehnt gebraucht, um aus Del einen Mann zu machen, und er würde ein weiteres Jahrzehnt brauchen, um aus diesem Mann einen Satai zu formen. Vielleicht wäre Del so geworden wie Gowenna, wenn sie sich nie begegnet wären. Nicht so voller Haß und Zorn, aber von dem gleichen unbeherrschten Feuer beseelt.

Er sah auf, als einer der Sumpfmänner neben ihn trat. »Ja?«

»Sie kommen«, sagte El-tra.

»Die Reiter?« Skar sah rasch zu Arsan hinüber, aber der Kohoner war im Sitzen zusammengesunken und schien die Worte nicht gehört zu haben. Seine Augen waren geöffnet, aber ihr Blick war leer. El-tra nickte. »Sie sind keine halbe Meile mehr hinter uns. Und sie sind genau auf unserer Spur - frag mich nicht wie, aber sie scheinen genau zu wissen, wo sie uns suchen müssen.«

Für einen Moment flammte etwas von dem alten Kampfgeist in Skar auf, aber es war nicht mehr als ein bloßer Reflex, mit dem seine Instinkte auf die Bedrohung reagierten, so bedeutungslos wie die letzten Schritte, die ein Huhn noch macht, nachdem man ihm den Kopf abgeschlagen hat, und ebenso rasch vorbei. Statt dessen übermannten ihn wieder Müdigkeit und Resignation. Mit einer müden Bewegung drehte er den Kopf und sah sich um, zum ersten Mal, seit sie angehalten hatten, seine Umgebung bewußt wahrnehmend. Sie waren in einem flachen, fast ebenen Krater, der sich nur zur Mitte hin leicht senkte und von gut doppelt mannshohen, wie ausgestanzt wirkenden glatten Wänden umgeben war. Kein idealer Platz, sich zu verteidigen, aber auch kein sonderlich schlechter. Zum Sterben so gut wie jeder andere.

Skar stemmte sich hoch, griff dankbar nach El-tras ausgestreckter Hand und ging neben ihm zum Kraterrand. Es gab einen schmalen Aufstieg zur Mauerkrone hinauf, ähnlich dem, durch den sie hereingekommen waren. Skar folgte dem Sumpf mann, ließ sich oben auf den heißen Stein sinken und zuckte zusammen, als ihn eisiger Wind und Hitze gleichzeitig aus zwei verschiedenen Richtungen trafen und seinen Körper zwischen einem weißglühenden Amboß und einem gewaltigen eisigen Hammer zu zermalmen drohten. Er spürte erst jetzt, wie geschützt sie unten im Krater gewesen waren.

El-tra hatte nicht übertrieben. Die Reiter waren nahe, näher noch, als Skar ohnehin befürchtet hatte Bis zu ihrem Eintreffen würden keine zehn Minuten mehr vergehen. Skars Mut sank noch weiter, als er die Männer sah.

Es waren ausnahmslos große, kräftige Krieger, keine bunt zusammengewürfelte Gruppe wie die ihre, sondern Soldaten, Söldner in schweren ledernen Kampfpanzern auf großen, grobknochigen Schlachtrössern, die kaum weniger stark gepanzert waren wie sie; waffenstarrende Mordmaschinen, von denen drei gereicht hätten, ihnen den Garaus zu machen. Aber es waren nicht drei - es waren zehn.

Und an ihrer Spitze ritt ein schwarzgepanzerter Hüne, ein Gigant, mindestens so groß und noch breitschultriger als Del, bewaffnet mit Schild und Morgenstern und einem schlanken Schwert aus schimmerndem Sternenmetall.

Einem Tschekal.

Für einen Moment hatte Skar das Gefühl, zu Eis zu erstarren. Er spürte plötzlich weder Hitze noch Kälte noch Schmerz noch überhaupt etwas, das um ihn herum vorging. Die Welt schien aus einem winzigen grellen Kreis zu bestehen, in dessen Zentrum die schlanke Waffe loderte. Ein Tschekal!

Es gab niemanden, auf ganz Enwor niemanden, der es gewagt hätte, eine solche Waffe zu tragen, ohne dazu berechtigt zu sein. Niemanden außer den Satai.

»Arsan hatte recht«, flüsterte er tonlos. »Wir sind tot.« Er starrte weiter wie gebannt zu der riesigen, schwarzgepanzerten Gestalt hinüber, ballte hilflos die Fäuste und versuchte das Chaos hinter seiner Stirn zu ordnen.

»Aber wie ...«

»Du bist doch auch hier, oder?« El-tras normalerweise so ausdruckslose Stimme klang fast amüsiert.

Skar fuhr mit einem Ruck herum. Aber er sagte nichts. Es gab nur eine Erklärung, eine einzige, doch der Gedanke war zu schrecklich, als daß er ihn auch nur zu Ende zu denken wagte.

»Sie dienen dem gleichen Herrn wie wir«, bestätigte El-tra seinen Verdacht. »Ist es ihr gelungen, dich gefügig zu machen, so wird es ihr auch bei einem anderen Satai gelingen. Einem, der nicht so widerspenstig ist wie du.«

»Aber warum?« flüsterte Skar hilflos.

»Weißt du das wirklich nicht, Skar?« fragte El-tra. »Du bist zu gefährlich. Nicht einer von uns hat auch nur einen Augenblick daran geglaubt, daß du Vela den Stein würdest ausliefern wollen. Diese Männer sind da, um dich auszuschalten. Du bist ein gefährlicher Mann, Skar. Zu gefährlich, als daß sie dich am Leben lassen könnte.«

Skar schwieg lange. Der Wind schien plötzlich kälter zu werden. »Ihr habt es gewußt, nicht?« fragte er schließlich leise.

El-tra verneinte. »Nicht, bevor wir die Stadt verließen, Skar. Wir hatten den Befehl, dich zu töten, sobald du den Stein aus der Stadt gebracht hast, aber sie muß geahnt haben, daß wir es nicht tun werden.«

Auch diese letzte Enthüllung berührte Skar kaum mehr. Es war wie bei seiner ersten Begegnung mit der Stadt: Sein Vorrat an Gefühlen, selbst an Haß und Wut, war aufgebraucht. Er fühlte sich nur noch leer.

»Warum habt ihr es nicht getan?« fragte er leise. »Es hätte zumindest euer Leben gerettet.«

»Gowenna verbot es uns«, antwortete El-tra. Er wandte den Kopf, starrte gleich Skar zu den näher kommenden Reitern hinüber und wechselte dann abrupt das Thema. »Du hättest sie nicht schlagen dürfen, Skar.«

Die Worte stachen wie kleine glühende Messer in Skars Gehirn. »Warum habt ihr es nicht verhindert?« fragte er in dem ebenso törichten wie nutzlosen Versuch, sich zu verteidigen und El-tra wenigstens einen Teil der Schuld anzulasten.

El-tra schüttelte sanft den Kopf. »Ich habe einmal mit dir gekämpft, Skar, vergiß das nicht. Ich kenne dich und weiß, wie du zu kämpfen verstehst. Ich hätte dich töten müssen, und das wollte ich nicht.«

»Du warst das, damals in der Arena?«

El-tra machte eine unbestimmbare Handbewegung. »Ich oder einer meiner Geistbrüder, das ändert nichts. Was der eine tut, tut der andere, und was einer fühlt, fühlen alle.«

Skar starrte weiter auf die beständig näherrückenden Reiter. Sie mußten ihn längst gesehen haben, ihn und El-tra, deckungslos wie sie hier oben auf dem Felsen saßen. Aber das spielte schon keine Rolle mehr.

»Wir sollten hinuntergehen und uns um Arsan und Gowenna kümmern«, sagte El-tra nach einer Weile.

Skar stand wortlos auf und folgte dem Sumpfmann in den Krater hinunter. Arsan hockte noch immer wie betäubt dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Er würde nicht mehr kämpfen. Für ihn war die Reise vorbei, ganz egal, wie diese Begegnung endete. Selbst wenn gleich mehrere Wunder geschahen und sie lebend davonkamen, würden sie nur noch eine leere Hülle mit zurückbringen, einen Mann, der noch existierte und atmete, aber nicht mehr lebte. Rasch ging er an ihm vorüber und näherte sich Gowenna. Sie war aus ihrer Starre erwacht und saß aufrecht, in fast unnatürlich steifer Haltung, auf dem Felsen.

Ihre Wangen glitzerten feucht.

Sie weinte ...

Erneut fühlte sich Skar schuldig. Es war nicht nötig gewesen, sie zu demütigen.

»El-tra hat mir alles gesagt«, begann er übergangslos. Seine Stimme klang rauh und holperig, und es fiel ihm selbst jetzt noch schwer, die Worte hervorzustoßen. »Es tut mir leid. Und ich danke dir.«

»Du dankst mir?« antwortete Gowenna. Es waren die ersten Worte, die sie seit Verlassen des Gebäudes am Rande Combats sprach. »Du dankst mir, Skar? Wofür? Daß ich dich hierher geführt habe und du sterben wirst?«

»Daß du mir das Leben geschenkt hast«, sagte Skar. »Ich ... ich habe dir weh getan, mehr als ich gedurft hätte, und ...«

Gowenna lachte schrill auf. »Du hast mir weh getan?« keuchte sie. »Du?« Sie stand auf, trat mit einem raschen Schritt auf ihn zu und schluckte ein paarmal schwer. »Du?« sagte sie zum dritten Mal. »Du kannst mir gar nicht weh tun, Satai. Du verstehst nichts. Gar nichts. Und jetzt gib mir ein Schwert. Ich will wenigstens noch einen von diesem Gesindel mitnehmen, ehe ich sterbe.«

Skar fühlte sich verwirrt. Aber er griff trotzdem an den Gürtel, zog sein Schwert und gab es Gowenna. Sie nahm es, drehte es ein paarmal in den Händen und sah ihn fragend an.

»Deine eigene Waffe?«

»Ich habe die deine zerbrochen«, antwortete Skar. »Und sie würde mir so oder so nichts nutzen. Der Anführer der anderen ist ein Satai.«

»Ich weiß.« Gowenna nickte gleichmütig. Von einem Augenblick zum anderen verwandelte sich ihr Gesicht wieder in die altbekannte, starre Maske. Wäre der kaum verkrustete Schnitt auf ihrer Wange nicht gewesen, hätte Skar ernsthaft an dem gezweifelt, was in den letzten Stunden geschehen war. Gegen seinen Willen bewunderte er sie. Trotz allem hatte sie noch mehr innere Kraft, als er jemals hätte aufbringen können. Aber vielleicht war es auch bloß Trotz.

»Erwarten wir sie hier?« fragte Gowenna.

Skar zögerte sekundenlang. »Es ist Wahnsinn, Gowenna«, sagte er anstelle einer direkten Antwort. »Wir können nicht gegen sie kämpfen. Nimm den Stein und fliehe. Ich werde versuchen, sie aufzuhalten. Wenn Vela mich will, soll sie mich haben.«

Gowenna verzog spöttisch die Lippen. »Wie edel!« sagte sie in abfälligem Tonfall. »Der große Satai opfert sich.« Sie lachte leise, rammte das Schwert in die leere Scheide an ihrer Seite und sah ihn mit einem Blick an, als stünde sie einem störrischen Kind gegenüber. »Um mit deinen eigenen Worten zu sprechen, Skar - führ deine Zirkusnummer auf, wenn Zeit dazu ist. Es ist nicht der richtige Moment für großmütige Gesten. Außerdem hast du kein Publikum. Es gäbe also niemanden, der deine Tat zu würdigen wüßte. Wir werden kämpfen. Wie viele sind es?«

»Zehn«, antwortete Skar. »Das heißt - neun. Neun und der Satai.«

Gowenna biß sich nachdenklich auf die Unterlippe. Ihre Haltung wirkte mit einem Mal gleichzeitig gelöst und angespannt. Von Schwäche und Erschöpfung war nichts mehr zu bemerken. »Traust du dir zu, mit dem Satai fertig zu werden?«

Skar hob die Schultern. »Ich werde es versuchen«, sagte er. »Aber-«

»Wenn du es schaffst, ihn lange genug hinzuhalten, haben wir eine Chance«, fuhr Gowenna fort, ohne weiter auf seine Worte zu achten. »Sie ist nicht groß, aber sie besteht, und -«

Ein harter Stoß traf Skar in den Rücken, ließ ihn gegen Gowenna und sie beide zu Boden taumeln. Er fiel, rollte sich blitzschnell über die Schulter ab und wirbelte noch im Aufspringen herum.

Dort, wo Gowenna gestanden war, zitterte der schlanke Schaft eines Pfeiles im Boden. Sie hatten zu lange geredet, um jetzt noch die Wahl zwischen Kämpfen und Fortlaufen zu haben. Die Verfolger waren da, über und hinter ihnen; neun große, gegen den allmählich grau werdenden Abendhimmel beinahe schwarz erscheinende Gestalten, stumm und drohend nebeneinander aufgereiht wie schweigende Boten des Todes.

Skar tauschte einen raschen Blick mit dem Sumpfmann, der ihn weggestoßen hatte. »Danke«, murmelte er.

El-tra nickte flüchtig und konzentrierte sich dann wieder auf die Angreifer.

Irgend etwas in ihrem Verhalten irritierte Skar. Sie saßen in der Falle, endgültig und unausweichlich. Vom Kraterrand aus wäre es für die Männer ein leichtes gewesen, ihn und die anderen mit ein paar gezielten Schüssen niederzustrecken. Skar vermochte einem heranzischenden Pfeil durchaus auszuweichen oder ihn auch beiseitezuschlagen, aber das galt nicht mehr bei fünf oder sechs gleichzeitig abgefeuerten Geschossen. Trotzdem verzichteten die Krieger darauf, ein Ende zu machen. Es schien, als warteten sie auf etwas. »Geht auseinander«, sagte Skar, ohne den Blick von den schwarzen Schatten auf dem Kraterrand über sich zu wenden.

Die beiden Sumpfmänner wichen in entgegengesetzte Richtungen aus, bewegten sich gleichzeitig auf die Männer zu. Die Distanz zwischen ihnen und den Pfeilspitzen verringerte sich merklich, aber der Schußwinkel wurde auch steiler und ungünstiger für die Angreifer. Skar selbst blieb stehen, wo er war, während Gowenna nur ein paar Schritte zurück und zur Seite trat. Die Waffen der Angreifer folgten mißtrauisch jeder ihrer Bewegungen; trotzdem spürte Skar, daß sie nicht schießen würden. Auch der erste Pfeil war nicht abgefeuert worden, um zu töten. Er war gezielt gewesen, aber die Männer mußten gewußt haben, daß er ihm ausweichen würde. Er war eine Warnung gewesen, mehr nicht. Hätten sie ihn oder Gowenna töten wollen, hätten sie es gekonnt.

Nach einer Weile teilte sich die schweigende Reihe über ihnen, und eine riesige, in mattglänzendes schwarzes Leder gekleidete Gestalt erschien zwischen den Kriegern. Der Satai...

Es hätte nicht einmal des TschekaJ an seiner Seite bedurft, um Skar zu zeigen, was für einen Mann er vor sich hatte. Jede seiner Bewegungen, seine Art zu gehen, seine Waffen zu tragen, selbst die Haltung, in der er schließlich stehenblieb und schweigend zu ihm hinuntersah, schrie ihm die Wahrheit entgegen. Und deutlich spürte er, daß es dem anderen genauso erging. An Skars Äußerem war nichts mehr von einem Satai; er war zerschunden, verdreckt und erschöpft, ein verwundeter kranker Mann in zerschlissenen Lumpen, und trotzdem meinte Skar den Haß zu fühlen, der in den Augen des anderen brannte. Nicht der heiße, lodernde Haß, der Gowenna verzehrte, sondern der kalte, berechnende Wille zum Töten. Das Gesicht des anderen war vollkommen hinter seinem schwarzen, durchbrochenen Visier verborgen, aber Skar mußte seine Züge nicht sehen, um den Ausdruck darauf zu erkennen.

Und er mußte sein Gesicht auch nicht sehen, um zu wissen, daß sie kämpfen würden. Er wußte es einfach, wußte es mit der gleichen Sicherheit, mit der er gewußt hatte, daß er einem Satai gegenüberstand. Sie hätten miteinander reden können, hätten es, allen Regeln der Satai zufolge, tun müssen, aber sie würden es nicht tun. Sie würden kämpfen. Dieser Mann war mehr als irgendein Satai, mehr als irgendein Fremder. Er war sein Feind.

Sie würden kämpfen, und einer würde den anderen töten. Es gab keine andere Lösung.

Der Satai machte einen Schritt über die Felskante hinaus und sprang mit weit ausgebreiteten Armen in die Tiefe. Er prallte mit dumpfem Geräusch auf dem verbrannten Boden auf, federte elegant in den Knien und fand mit einem raschen Schritt sein Gleichgewicht wieder. Seine Begleiter folgten ihm nach kurzem Zögern auf die gleiche Weise.

Skar spannte sich. Seine überanstrengten Muskeln protestierten gegen die plötzliche Belastung, aber er wischte den Schmerz mit einem wütenden Gedanken zur Seite und zwang sich mit aller Willensanstrengung in jenen Zustand der Beinahe-Trance, den nur ein Satai erreichen konnte und der es ihm ermöglichte, verborgene Kraftquellen in seinem Körper anzuzapfen und für kurze Zeit zum Berserker zu werden. Für eine Sekunde - eine einzige Sekunde - war er verwundbar, mehr noch, gelähmt gewesen, starr und hilflos. Ein Pfeil, ein rascher Schritt und ein blitzartig geführter Schwertstreich, und es wäre vorbei gewesen.

Aber der andere hatte darauf verzichtet, obwohl er Satai wie er war und wissen mußte, was er tat.

Ein neues Gefühl der Stärke und Zuversicht durchströmte Skar, eine warme, ungeheuer kraftvolle Welle ähnlich der, die er fühlte, wenn er seine tägliche Ration an Gift nahm; und doch wieder ganz anders. Mit einem Mal wußte er, daß Vela einen Fehler gemacht hatte, ihren vielleicht einzigen und ersten Fehler überhaupt, und doch einen Fehler, der ihnen eine Chance gab. Sie hatte um seine Gefährlichkeit gewußt und versucht, Feuer mit Feuer zu bekämpfen, ihm, dem Satai, eine gleichstarke Kampfmaschine in den Weg zu stellen.

Hätte sie es nicht getan, wäre er jetzt vielleicht schon tot.

Es war nicht das plötzliche Auftauchen der Männer, das ihn noch einmal aus seiner Lethargie gerissen hatte. Der Mantel aus Erschöpfung und Schwäche war zu dicht gewesen, seine körperliche und vor allem seelische Müdigkeit zu tief. Die Söldner allein hätten dieses letzte Aufbegehren nicht bewirken können. Er hätte gekämpft, mit aller Kraft, die er noch hatte, und er hätte verloren. Es war allein der Satai, einzig das Erscheinen dieses Mannes, das Skar aufpulverte, einer Gefahr zu begegnen, die ohne das Auftreten des anderen niemals entstanden wäre.

Der Satai machte einen Schritt in seine Richtung und blieb stehen.

Skar spreizte leicht die Beine, ballte die Hände vor dem Leib zu Fäusten und beugte sich ein wenig vor. Kraft durchströmte ihn, Kraft und noch etwas anderes: Zorn. Er hätte es Vela vergeben können, daß sie ihn gezwungen hatte, hierherzukommen. Obwohl er sich darum bemüht hatte, hatte er sie niemals gehaßt; nicht wirklich. Die Auseinandersetzung zwischen ihm und der Errish war etwas anderes: ein Kampf, erbarmungslos und mit letzter Konsequenz geführt, aber ein Kampf auf einem anderen Niveau, ein Kräftemessen zwischen ihm und ihr, das er trotz allem noch mit einem gewissen Abstand betrachten konnte. Der Satai änderte alles. Sie hatte mehr getan, als einen zweiten Satai unter ihren Willen zu zwingen. Sie hatte an den Grundfesten seiner Welt gerüttelt, hatte alles, woran er glaubte und wofür er lebte, beschmutzt, besudelt. Satai waren mehr als Krieger, mehr als Freunde. Der Gedanke, daß ein Satai die Hand gegen einen anderen erheben würde, war unvorstellbar; Blasphemie.

»Calo!« sagte er, ein kurzer, trockener Laut, keiner bekannten Sprache entspringend und doch mehr bedeutend als alle Worte der Welt: Herausforderung, Drohung und Respektbezeugung zugleich.

Der andere neigte kaum merklich den Kopf.

Skar sah, wie sich die Gestalten der Angreifer und der beiden Sumpfleute gleichermaßen strafften. Mit einem Mal schien der Krater von knisternder Spannung erfüllt zu sein. Aber es war nicht die Anspannung, die einem Kampf voranzugehen pflegte. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt nur mehr ihm. Ihm und dem anderen Satai. Er hatte die Herausforderung angenommen, sie würden kämpfen. Vielleicht das erste Mal seit einem Jahrtausend, daß sich zwei Satai im Kampf auf Leben und Tod gegenüberstanden. Es war unvorstellbar, etwas, das einfach nicht sein durfte. Und doch geschah es. Skar bewegte sich auf den anderen zu, hob die Arme in Brusthöhe und drehte die leeren Handflächen nach außen.

»Ich bin unbewaffnet«, sagte er ruhig.

Wieder nickte der andere. Behutsam löste er den mächtigen dreieckigen Schild vom Arm, legte ihn vor sich auf den Boden und zog den Morgenstern aus dem Gürtel. Das leise Klirren, mit dem die stachelbewehrte Kugel auf dem Boden aufschlug, klang in Skars Ohren wie boshaftes Hohngelächter.

Er starrte die Waffen sekundenlang an, als begriffe er nicht, was der Satai tat, hob dann den Kopf und blickte auf den Griff des Tschekal, der aus dem Gürtel des Satai ragte. Der Riese zog die Waffe mit einer bedächtigen Bewegung aus dem Gürtel, sah Skar abschätzend an und gab einem der Soldaten einen Wink. Die schlanke Klinge in seiner Hand glitzerte wie ein Strahl eingefangenen Sonnenlichts.

Der Soldat trat vor, näherte sich Skar in eindeutig unterwürfiger, fast ängstlicher Haltung und hielt ihm ein schlankes, in saubere weiße Tücher eingeschlagenes Schwert hin.

Skars Finger zitterten, als er danach griff. Er wußte, was er finden würde, wußte es, noch bevor er das Tuch zurückschlug und sich der letzte Sonnenstrahl auf der schlanken Klinge aus Sternenmetall brach, auf der Klinge eines Tschekal - seines eigenen Tschekal, der Waffe, die er dem Stadtkommandanten von Ikne ausgeliefert hatte! Fassungslos starrte er die Klinge in seinen Händen an. Für einen Moment zuckte ein ungeheuerlicher Verdacht durch seinen Schädel, ein Gedanke, der so bizarr und erschreckend war, daß er voller Grauen davor zurückschreckte, ihn verjagte und im tiefsten Winkel seines Denkens vergrub.

Der schwarzgepanzerte Satai hob die Waffe, berührte mit der flachen Seite der Klinge die Stirnpartie seines Helmes.

Skar erwiderte die Bewegung.

Alles geschah gleichzeitig, zu rasch, als daß er die verschiedenen Eindrücke noch einzeln und hintereinander verarbeiten konnte. Die Söldner teilten sich in drei gleichstarke Gruppen und griffen Gowenna und die Sumpfleute an. Das Tschekal des Satai verwandelte sich in einen flirrenden Kreis, sein Körper in einen verschwommenen schwarzen Schemen, und der Krater war von einem Augenblick zum anderen von Schreien und dem Klirren aufeinanderprallender Waffen erfüllt.

Skar wich mit einem verzweifelten Satz zur Seite, parierte einen aufwärts geführten Hieb und versuchte zu kontern, stach zu und zog sich zurück, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung, wich aus, fing einen Tritt mit dem Unterarm ab und trat seinerseits nach dem Knie des anderen.

Der Satai sprang zurück; sie trennten sich. Dieses erste, nur mit halber Kraft durchgeführte Aufeinanderprallen hatte weniger als drei Sekunden gedauert. Keiner von ihnen war verwundet worden oder nur wirklich ernsthaft in Gefahr gewesen; der wirkliche Kampf hatte noch nicht begonnen. Sie hatten sich abgetastet, Schnelligkeit und Stärke des anderen geprüft, mehr nicht, aber auch der entscheidende Gang würde nicht viel länger dauern. Skar wußte, daß es kein langes Hin und Her geben würde, kein minutenlanges Klirren aufeinanderkrachender Waffen und Körper, keine Verletzungen, keine Schmerzen. Der Tod würde rasch kommen, in Sekunden, ein schneller, sauberer Hieb, ein Tritt, den der andere vielleicht nicht einmal mehr spüren würde. Aber er wußte auch, daß er verlieren würde. Der andere war ihm überlegen. Er war jünger, stärker, schneller; nicht ganz so erfahren wie er, aber ausgeruht und im Vollbesitz seiner Kräfte.

Ein heller, reißender Laut drang in seine Gedanken. Etwas Hartes, Schweres prallte von hinten gegen sein Bein, fiel zu Boden und blieb zwischen ihm und seinem Gegner liegen. Ein Helm. Ein schwarzer, mit schimmernden Nieten beschlagener Lederhelm, in dem ein Kopf steckte.

Skar war für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt, und der andere nutzte diesen Augenblick gnadenlos aus. Er täuschte einen geraden Stich vor, sprang an Skars hochgerissener Klinge vorbei und trat nach seinem Gesicht. Skar schlug den Fuß im letzten Moment zur Seite, aber der andere warf sich in einer unmöglich erscheinenden Drehung herum, riß auch den anderen Fuß hoch und trat mit ungeheurer Wucht zu. Sein Absatz durchbrach Skars Deckung, traf sein Gesicht mit der Gewalt eines Hammerschlages und ließ ihn meterweit zurücktaumeln. Skars Kopf flog mit einem gnadenlosen Ruck in den Nacken. Ein unerträglicher Schmerz zuckte durch sein Genick, raste wie eine feurige Woge an seinem Rückgrat herab und explodierte in seinem Leib, und flutete wieder zurück. Sein Nasenbein war gebrochen; Blut lief über Mund und Kinn.

Er ließ sein Schwert fallen, brach in die Knie und schlug die Hände vors Gesicht.

Irgend etwas zerbrach in ihm. Etwas Dunkles, Schweres, Brodelndes schien aus den Tiefen seiner Seele emporzuschießen, seine Gedanken hinwegzufegen und ihn mit einer Kraft zu erfüllen, die nicht mehr menschlich war. Der Schmerz erlosch, verschwand und wurde von etwas Neuem, Fremdem und Bösem abgelöst.

Ein dunkler, verzerrter Schatten sprang auf ihn zu, das Schwert zum letzten, entscheidenden Hieb hochgerissen. Skar warf sich zurück, trat, traf irgend etwas und federte auf die Beine. Er dachte nicht mehr, handelte blind, gab die bewußte Kontrolle über seinen Körper endgültig auf und überließ sich ganz seinen Reflexen, war nicht mehr länger Mensch, sondern nur noch ein Bündel aus übermenschlich schnellen Reflexen und entfesselten Killerinstinkten. Seine Faust traf die Waffenhand des Satai, brach sie und ließ sein Schwert im hohen Bogen davonsegeln. Er schrie triumphierend auf, nahm einen Tritt in die Seite hin, spürte, wie zwei, drei Rippen unter dem gepanzerten Fuß des anderen brachen und verwandelte den Schmerz in Wut. Seine Handkante zuckte zur Schläfe des anderen, verfehlte sie und traf mit mörderischer Wucht auf das Gesichtsvisier.

Der Satai wankte zurück. Der stählerne Gesichtsschutz war da, wo ihn Skars Hand getroffen hatte, zerbeult.

Skar setzte nach, schoß seine Faust mit gnadenloser Kraft zweimal hintereinander gegen die Herzgrube des anderen ab und riß das Knie hoch, als der Satai zusammenbrach.

Die schwarze Rüstung knirschte hörbar. Ein greller, pulsierender Schmerz zuckte durch Skars Bein. Der Satai wurde hochgerissen, kam mit einer grotesken, nicht seinem eigenen Willen entsprechenden Bewegung auf die Füße und kippte dann nach hinten.

Skar fuhr herum. Gowenna und die beiden Sumpfmänner lebten noch, aber ihre Lage war aussichtslos. Drei der neun Söldner lagen reglos am Boden, tot oder verwundet, aber die anderen hatten Gowenna und ihre beiden Schatten gegen die Wand gedrängt. Einer der beiden El-tra kämpfte nur mehr mit einer Hand; sein linker Arm hing nutzlos und blutend herab.

Skar griff mit einem gellenden Schrei an. Sein Gesicht war verzerrt, eine Maske aus Haß und Mordlust. Er packte einen der Angreifer, brach ihm das Genick und tötete den zweiten, schneller als die Männer der Bewegung folgen konnten.

Der Kampf war vorbei, ehe er richtig begann. Skars plötzliches Eingreifen überraschte die Söldner total. Er tötete den dritten mit einem Tritt in den Leib und fuhr herum, die Hände zu einer zupackenden Bewegung erhoben.

Es gab niemanden mehr, gegen den er hätte kämpfen können. Keiner der Söldner war noch am Leben. Gowenna und die Sumpfmänner hatten die drei, die Skars Wüten entgangen waren, getötet. Skar ließ langsam die Arme sinken. Sein Blick verschwamm. Für einen Moment schienen die Gestalten Gowennas und ihrer Bewacher blasse, halbdu/chsichtige Schatten zu bekommen, und das Licht wirkte irgendwie falsch. Ein verlockendes Gefühl wohltuender Schwäche stieg in ihm hoch. Aber er gestattete seinem Körper noch nicht, ihm nachzugeben, sich zu entspannen. Es gab noch etwas zu tun.

Der schwarze Satai stemmte sich mühsam auf die Füße. Er wankte, drohte wieder zusammenzubrechen und fing sich im letzten Moment wieder. Skar verspürte Bewunderung, aber auch Bedauern. Er hatte nie einen Mann gesehen, der so stark war. Er wäre ein würdiger Gegner für Del gewesen, dachte er.

Der andere bückte sich ebenfalls nach seinem Schwert, hob es auf und umklammerte den Griff mit beiden Händen, als hätte er kaum mehr die Kraft, die Waffe zu halten.

Skar schüttelte sanft den Kopf. Er wechselte sein Tschekal ein paarmal von der Rechten in die Linke zurück, ließ die Klinge beiderseits seines Körpers durch die Luft zischen.

Auch der andere versuchte, seine Waffe zu heben. Es gelang ihm, aber ihre Spitze zitterte sichtlich.

»Tu es nicht«, sagte Skar leise. »Ich will dich nicht töten.« Für einen Moment schien es, als akzeptiere der andere sein Angebot und gebe auf. Dann lief ein krampfhaftes, schmerzliches Zucken durch seinen Leib. Er straffte sich noch einmal, spreizte die Beine und beugte den Oberkörper leicht vor; eine Haltung, die Stärke ausstrahlte, aber in Wirklichkeit nichts als ein letztes vergebliches Aufbäumen war.

Skar preßte die Lippen zu einem schmalen, blutleeren Strich zusammen. Es ist nicht richtig, dachte er. es ist einfach nicht fair. Dieser Mann war besser als er, um Klassen besser. Er hätte diesen Kampf nicht gewinnen dürfen. Und er durfte ihn nicht umbringen. Es war kein fairer Kampf gewesen. Kein Mensch, auch kein Satai, konnte dieses Dingin seinem Inneren besiegen. Es war während des Kampfes erwacht, urplötzlich und ohne Vorwarnung, ein Raubtier, das plötzlich aus dem Schlaf auffuhr und so gefährlich wie eh und je war, ein Ding, das ihm Kraft gab, ihn unbesiegbar machte, ihn aber auch in ein Monster verwandelte, ein Ungeheuer, unbesiegbar, unsterblich und schrecklich.

Nein - er wollte diesen Satai nicht töten.

Aber sein dunkler Bruder wollte es, dieses Ding in seiner Seele, diese körperlose, stumme Stimme, die sich manchmal - wie jetzt - mit einem leisen, spöttischen Lachen meldete, seine Gedanken vergiftete und ihn in ein Etwas verwandelte, vor dem er sich selbst fürchtete. Das Ungeheuer, das er aus den Höhlen von Nonakesh mitgebracht und für tot gehalten hatte. Er wollte es, und der andere würde ihn zwingen, es zu tun.

»Tu es nicht«, sagte er noch einmal, bittend, fast flehend. »Du bist geschlagen. Gib auf.«

Natürlich würde er nicht aufgeben. Wäre es anders herum gewesen, hätte Skar ebenso gehandelt. Trotzdem bereitete ihm der Gedanke, diesen Mann töten zu sollen, beinahe Übelkeit. Es war nicht richtig. Es war einfach nicht richtig.

Die Erde bebte.

Ein tiefes, stampfendes Zittern lief durch den glasigen Fels, ein grollendes, dumpfes Vibrieren, als wankten die Berge am Horizont unter den Hammerschlägen eines Riesen. Es war ein Laut, der weit über das Spektrum des eigentlich Hörbaren hinausging und jede Faser seine Körpers zum Schwingen brachte. Skar krümmte sich vor Schmerz, sah, wie der Satai abermals in die Knie brach und die Hände gegen die Schläfen preßte. Gowenna schrie auf, in einer Tonlage, wie Skar sie noch nie zuvor aus einer menschlichen Kehle gehört hatte. Er wankte, preßte die Hände gegen die Ohren und sah aus tränenden Augen nach oben, darauf gefaßt, den Himmel in Feuer gebadet zu sehen, im Widerschein einer gewaltigen flammenden Explosion, mit der sich Combat ihr gestohlenes Herz zurückholte.

Über dem westlichen Kraterrand erschien ein Schatten.

Grau.

Fließendes, wirbelndes Grau, das den Himmel wie eine kochende Flutwelle überrollte, wuchs und wuchs und wuchs und schließlich einen ganzen Abschnitt des Horizonts verdeckte, grauer Schrecken ohne sichtbare Konturen, als hätte sich die Dämmerung aus diesem Teil der Schöpfung angstvoll zurückgezogen, geflohen vor einem Etwas, einem unbeschreiblichen Alptraum, der plötzlich aus dem tiefsten Schlund der Hölle emporgestiegen war...

»Nein!« schrie Gowenna. Ihre Stimme überschlug sich, wurde zu einem irren Kreischen. »Nein. Nicht das!«

Langsam begann Skar Einzelheiten zu erkennen. Da war ein Schädel, irgendwo über ihm, absurd hoch über ihm, ein gigantisches, verzerrtes Ding, gewaltig und häßlich und abstoßend, das Maul breit genug, einen Mann zu verschlingen. Darunter ein graugeschuppter dürrer Schlangenhals. Auf dem Hals, dicht unterhalb der Stelle, an der er mit dem Kopf verwuchs, war ein Sattel. Und in diesem Sattel saß ein Mensch.

Skars Atem stockte. Eine eisige, körperlose Hand schien sein Herz zu umfassen und zusammenzupressen. Sein Blick glitt an der grauverhüllten Gestalt empor, saugte sich an einem Paar dunkler, kalter Augen fest, das er hinter dem grauen Gesichtsschleier mehr erahnen als wirklich erkennen konnte. Lange, länger als eine Minute, starrten sie sich an, und Skar war von einem wahren Wirbelsturm von Gefühlen erfüllt: Haß - oder etwas, von dem er sich wünschte, daß es Haß sein konnte -, Verzweiflung und Zorn, ohnmächtiger, hilfloser Zorn.

»Warum?« fragte er. Seine Stimme klang brüchig. »Warum, Vela?«

»Weißt du das wirklich nicht, kleiner Satai?« Velas Stimme klang nur dumpf hinter dem grauen Schleier hervor, und Skar versuchte vergeblich, irgendein Gefühl darin zu erkennen.

»Du solltest niemals versuchen, eine Errish zu hintergehen, Skar. Nie!« Der Drache bewegte sich unruhig. Ein Teil seines Körpers wurde hinter dem steinernen Kraterwall sichtbar und verschwand wieder, als Vela die Hand zwischen seine gewaltigen Hörner legte. Sie beherrscht dieses Ungeheuer wie ein Puppe, dachte Skar entsetzt. Der Drache war nicht so groß, wie Skar im ersten Augenblick geglaubt hatte - nicht größer als ein gewöhnlicher Wüstendrache, nicht einmal so groß wie die Feuerechsen, auf denen die Errish normalerweise ritten. Aber er war gefährlicher, viel gefährlicher. Skar konnte die Aura von Gewalt und Bosheit, die das geschuppte Monstrum umgab, fast sehen.

Und er spürte, wie etwas in ihm darauf antwortete, einen schrillen Willkommensschrei ausstieß, Herausforderung, Haß, Wut, aber auch eine bizarre Freude, Befriedigung, hier endlich einen würdigen Gegner gefunden zu haben.

»Hast du wirklich geglaubt, ich würde in Ikne bleiben und darauf warten, daß du mir den Stein bringst oder vielleicht auch nicht?« fuhr Vela fort. Sie lachte, leise, spöttisch und boshaft, schüttelte den Kopf und riß sich mit einer Gaschen Geste den Schleier vom Gesicht. Ihr Blick löste sich von Skar, glitt teilnahmslos über die reglos daliegenden Körper der Soldaten und heftete sich schließlich auf den schwarzen Satai.

»Komm!«

Sie sprach leise, aber selbst Skar konnte den unbezwingbaren, übermenschlichen Willen spüren, der ihre Worte begleitete; etwas wie eine unsichtbare, eisige Hand, deren Berührung ihn wanken ließ, obwohl ihn nicht mehr als ein schwacher Hauch streifte.

Der Satai schob langsam seine Waffe in den Gürtel und ging an Skar vorbei zum Kraterrand. Seine Bewegungen wirkten eckig. Skar mußte unwillkürlich an eine lebensgroße, menschliche Puppe denken, eine Puppe, an deren Fäden die Errish zog.

Wieder regte sich der Staubdrache. Seine Schuppen glänzten stumpf im Licht der versinkenden Sonne und im Widerschein des brennenden Horizonts, und der Wind trug einen scharfen, ätzenden Geruch zu Skar hinüber; Raubtiergestank, aber auch noch etwas anderes, ein stechender Hauch wie nach Säure und Tod. Der Satai ging langsam bis zur Felswand, stieg - unsicher, aber zielstrebig und schnell - den Kraterrand empor und erstarrte im Schatten des Staubdrachens zur Bewegungslosigkeit. Erneut mußte Skar an eine Puppe denken.

Vela betrachtete die schweigende Gestalt stirnrunzelnd. »Eigentlich sollte ich enttäuscht sein«, murmelte sie. »Doch das, was ich gesehen habe, entschädigt mich für vieles, Skar. Ich liebe diese barbarischen Vergnügungen nicht, aber du bist wirklich etwas Besonderes. Wie hast du es gemacht? Ich meine - was bringt einen Mann dazu, wie ein Drache zu kämpfen?«

Es dauerte eine Weile, bis Skar wirklich begriff. »Du ... warst hier?« keuchte er. »Du hast den Kampf gesehen? Du ... warst die ganze Zeit über hier?«

»Sie ist schon seit Tagen in unserer Nähe«, sagte eine Stimme hinter ihm. Skar wandte den Kopf und erblickte Gowenna, die sich von ihrem Platz gelöst und zu ihm herübergekommen war. Ihre Stimme klang flach, als spräche sie im Traum, und ihre Züge waren zur vollkommenen Ausdruckslosigkeit erstarrt. Ihr Blick war starr auf die Errish und den Drachen gerichtet, aber ihre Worte galten Skar.

»Sie war die ganze Zeit in unserer Nähe«, wiederholte sie.

»Die ... die Drachenspuren, die wir fanden - erinnerst du dich? Es war ihr Drache. Sie hat die Spinne aus ihrer Höhle gejagt und getötet, und sie ...«

»Genug!« unterbrach Vela sie scharf. Zwischen ihren Brauen stand plötzlich eine steile, ärgerliche Falte, und der Ausdruck in ihren Augen schien um mehrere Nuancen härter geworden zu sein. »Ich habe über euch gewacht, das stimmt. Ihr wäret dieser Bestie wie dumme Kinder in die Fänge gelaufen, wenn ich sie nicht erledigt hätte.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Gowenna ruhig. »Du hast uns bespitzelt, vom ersten Moment an. Du hattest nie vor, uns -«

»Ich sagte: genug«, fiel ihr die Errish ins Wort. »Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, weder vor dir noch vor irgendeinem Menschen. Habt ihr wirklich geglaubt, daß ich einen Schatz wie den Stein in euren Händen lasse? Habt ihr wirklich erwartet, daß ich etwas, das über das Schicksal der Menschheit entscheiden kann, jemandem wie dir anvertraue, dir oder diesem Satai?« Sie lachte abfällig, rutschte in eine bequemere Position und tätschelte dem Drachen geistesabwesend den Schädel. Das Tier stieß ein tiefes, zufriedenes Knurren aus, obwohl es die Berührung kaum gespürt haben konnte.

»Du hast mich benutzt«, sagte Gowenna. »Wie eine Figur in einem Spiel hast du mich benutzt.«

Vela nickte ungerührt. »Sicher. Was hast du erwartet? Es steht zu viel auf dem Spiel, um auf Gefühle Rücksicht zu nehmen.« Sie beugte sich vor, stützte die Handflächen auf dem Drachenkopf auf und sah Gowenna kalt an.

»Du hast gegen meinen Befehl gehandelt, Gowenna«, sagte sie leise. »Ich befahl dir, den Satai zu töten, aber du hast es nicht getan. Ich habe keine Verwendung für jemanden, der meine Befehle nicht befolgt.«

»Ich bin keine Mörderin, Vela.«

Die Errish antwortete nicht, aber der mitleidlose, kalte Ausdruck in ihren Augen traf Skar mehr, als es jedes Wort getan hätte. Er begriff plötzlich, daß diese Erau sie mit derselben Gleichgültigkeit betrachtete, mit der man einem lästigen Insekt gegenübertrat, daß Worte wie ›Menschlichkeit‹ und ›Wärme‹ in ihrer Sprache nicht vorhanden waren. Was sie tat, tat sie überlegt, nicht unbedingt böse, aber kalt, seelenlos.

Er ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. Für einen Augenblick wurde die Verlockung übermächtig, dem Drängen in sich freien Lauf zu lassen, sich ganz aufzugeben und die dunkle Macht in seinem Inneren zu entfesseln und Vela zu töten. Er wußte, daß er es konnte. Nicht einmal die Errish und der Drache waren seinem dunklen Bruder gewachsen. Aber er wußte auch, daß er nie wieder er selbst werden würde, wenn er dem namenlosen Ding in sich gestattete, einmal wirkliche Macht über ihn zu erlangen.

»Warum tust du es nicht, Skar?« fragte Vela spöttisch.

Skar schrak aus seinen Gedanken hoch. »Was?«

»Du willst mich umbringen«, sagte Vela ruhig. »Also, warum tust du es nicht?«

Skar stöhnte. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Seine Lippen bebten.

»Was ... hast du mit mir gemacht, du Hexe?« fragte er mühsam. Es war wie die Male zuvor, nur schlimmer. Er wollte sie hassen, wollte seinem Zorn freien Lauf lassen, aber er konnte es nicht. Seine Gefühle waren in Unordnung.

»Du kannst es nicht, Skar«, fuhr Vela fort. »Ein kleiner Liebeszauber, von dem du nichts gemerkt hast - ich hoffe, du verzeihst mir diesen kleinen Kunstgriff, aber es mußte sein. Ich habe nicht erwartet, daß du plötzlich das Bedürfnis verspürst, mich in die Arme zu schließen und zu küssen, aber du bist mir auch nicht wirklich böse, oder?« Sie lächelte wieder, schüttelte mit einer raschen Bewegung das Haar in den Nacken und wurde übergangslos ernst. »Wir haben genug Zeit verloren«, fuhr sie in verändertem Tonfall fort. »Ich nehme an, du trägst den Stein bei dir. Gib ihn mir.« Skars Hand fuhr an den Brustbeutel; ein Reflex, der zu schnell kam, als daß er ihn noch unterdrücken konnte. »Nein«, sagte er. Vela seufzte. »Ich hätte dich für klüger gehalten, Skar«, meinte sie. »Aber wie du willst.«

Eine zweite, in ein rotes, wallendes Cape gehüllte Gestalt erschien neben der Errish auf dem Kraterrand. Tantor.

Der Zwerg blieb einen Herzschlag lang reglos neben dem Drachen stehen, sprang dann mit weit ausgebreiteten Armen in den Krater hinab und kam rasch auf Skar zu. »Gib mir den Stein, Skar«, sagte er herrisch.

Skar schüttelte den Kopf und wich einen halben Schritt zurück. Auf Tantors Zügen erschien ein ungeduldiger Ausdruck. »Spiel nicht den Helden, Satai. Oder willst du unbedingt Bekanntschaft mit dem Atem des Drachen machen?« Er grinste, hob in einer Bewegung, die zu schnell war, als daß Skar noch hätte reagieren können, den Arm und riß ihm den Brustbeutel ab.

»In den Bergen stehen Pferde für euch«, zischte er hastig. »Auch Essen und heilende Salben. Mehr kann ich nicht tun.« Lauter fügte er hinzu: »Das brauchst du ja wohl nicht mehr, oder?«

Skar empfand nichts, absolut nichts. Er war betäubt, gefangen in einem Alptraum, aus dem er nicht erwachen konnte. Tantor hatte ihm nicht nur den Stein, sondern auch den schmalen Rest Leben genommen, der ihm geblieben war. Aber es war - wie ihm erst jetzt wirklich klar wurde - ohnehin nur geliehenes Leben gewesen, zweifach geliehen, zuerst von Vela, dann von Gowenna und den Sumpfmännern. Gab es irgendeinen in dieser Gruppe, den schwarzen Satai eingeschlossen, in dessen Schuld er nicht stand?

Der Zwerg entfernte sich, kletterte behende wie eine übergroße, vierbeinige Spinne den Kraterrand empor und war wenige Augenblicke später verschwunden.

»Umsonst«, flüsterte Gowenna. »Es war alles ... umsonst.« Sie hob die Hand, führte sie in einer unendlich müden, resignierenden Bewegung an die Lippen. »Warum?« fragte sie. Und dann noch einmal, mit einem gellenden, verzweifelten Aufschrei: »Warum, Vela?« Aber wieder bestand die Antwort der Errish nur aus Schweigen. Einen Moment hielt sie Gowennas Blick stand, dann drängte sie den titanischen Staubdrachen mit einer herrischen Bewegung herum. Wieder bebte die Erde, als sich der schuppige Koloß in Bewegung setzte.

Arsan begann zu kreischen, hoch, spitz und in schrillen Tönen des Wahnsinns. Skar wußte nicht, wann er aus seiner Trance aufgewacht war, wieviel von dem, was geschah, er wirklich mitbekommen hatte. Aber es mußte genug gewesen sein, um seinen Geist endgültig zerbrechen zu lassen. Er sprang auf, riß sein Schwert aus dem Gürtel und rannte, wild um sich schlagend, an Skar vorbei hinter Vela her.

Der Drache blieb stehen. Der gewaltige, geschuppte Hals drehte sich wie ein bizarrer Schlangenkörper, und die kleinen, von boshafter Intelligenz erfüllten Augen starrten zu Arsan hinunter. Skar sah, wie sich Velas Lippen rasch und lautlos bewegten.

Skar erkannte die Gefahr im letzten Moment und reagierte, ohne zu denken. Der Drache warf den Kopf in den Nacken, stieß ein gewaltiges, ungeheuerliches Brüllen aus und spuckte eine Wolke flirrenden grauen Staubes in den Krater hinab.

Skar warf sich zur Seite, rollte mit einer verzweifelten Anstrengung weg und verbarg das Gesicht zwischen den Armen. Ein stechender, scharfer, unerträglich scharfer Geruch erfüllte den steinernen Kessel, nahm ihm den Atem und verätzte seinen Rücken. Die Schreie des Kohoners verstummten, aber dafür begann Gowenna zu schreien. Sie fiel, schlug die Hände vors Gesicht, grub die Finger in blutiges, dampfendes Fleisch, eine breiige Masse, in die der Atem des Drachen ihr Antlitz verwandelt hatte. Ein Krampf schüttelte ihren Körper. Sie bäumte sich auf, den Rücken in einem unmöglichen, knochenbrechenden Bogen durchgedrückt, trat in rasender Agonie mit den Beinen aus und erschlaffte von einer Sekunde auf die andere.

Arsan starb leichter. Er stürzte lautlos zu Boden, krümmte sich zusammen und verkrampfte die Hände um den Hals. Dünne graue Rauchfäden begannen sich von seiner Haut und seinen Kleidern zu kräuseln. Seine Glieder zuckten noch, aber er war schon tot, gestorben unter dem ersten flüchtigen Hauch des ätzenden Nebels. Skar erhob sich langsam auf Hände und Knie. Mit einem Mal war es still in dem weiten flachen Krater, unnatürlich, unheimlich still, so still, daß er selbst das leise Zischen, mit dem sich Arsans Körper zersetzte, überlaut hören konnte. Er stand vollends auf, blickte - ohne wirkliches Interesse und ohne wirklich zu registrieren, was er wahrnahm - der Reihe nach Arsan, Gowenna und die beiden Sumpfmänner an und starrte dann zum Kraterrand empor. Die Errish war verschwunden, und mit ihr waren Tantor und der Satai gegangen. Der Kraterrand war leer, als wäre alles nichts als ein böser Spuk gewesen.

Langsam, sehr, sehr langsam, als zögere er die Bewegung so lange wie überhaupt möglich hinaus, allein um irgend etwas tun zu können, wandte Skar sich um und ging zu Arsan hinüber.

Der Kohoner war tot; natürlich. Der Staubnebel hatte sein Fleisch bis auf die Knochen weggeätzt, sein Gesicht zu einem grinsenden Totenschädel werden lassen, ein weißes, abstoßendes, von blutigen Fleischfetzen bedecktes Ding, aus dessen Augenhöhlen sich dünne Rauchfäden kräuselten.

Nicht einmal mehr die Augen konnte Skar ihm schließen. Selbst diesen letzten Freundschaftsdienst hatte sie ihm genommen. »Armer kleiner Mann«, flüsterte er. »Armer alter kleiner Mann.« Arsan war der einzige gewesen, der einzige außer ihm und Gowenna und den beiden Schattenmännern, der die Hölle überstanden hatte, der einzige, obwohl er von Anfang an gewußt hatte, daß er sterben mußte. Es kam Skar wie ein höhnischer Betrug vor, gemeiner noch als das, was sie ihm und Gowenna angetan hatte. Er verstand nicht, warum Arsan hatte sterben müssen, warum Vela das getan hatte. Es war so sinnlos, so vollkommen sinnlos. Eine Machtdemonstration, mehr nicht. Er verstand nicht, warum Arsan tot war. Daß Vela ihn und Gowenna umbrachte, begriff er. Sie waren Feinde, gefährliche Feinde, die sie einfach nicht am Leben lassen durfte. Aber Arsan? Er war nichts als ein alter, schwacher Mann gewesen, der einen Traum geträumt hatte, den Traum, einmal im Leben genügend Geld zu haben, um sich und seine Familie satt zu bekommen. Und nun war dieser Traum aus, verkocht im tödlichen Staub der Bestie.

So sinnlos.

Er richtete sich auf, schloß die Augen und atmete ein paarmal hintereinander hörbar ein und aus. Seine Hand berührte die Stelle über seiner Brust, an der der Beutel gehangen hatte, der Beutel mit seinem Leben. Er empfand nichts. Seine Brust war leer. Mit einem Male war er sich der Schwäche bewußt, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Seine Knie begannen zu zittern, und seine Arme schienen plötzlich Zentner zu wiegen, tote, nutzlose Gewichte, die ihn unbarmherzig zu Boden zerrten.

Er lauschte in sich hinein, aber auch in seiner Seele war nichts außer dieser gewaltigen, schmerzenden Leere. Sein dunkler Bruder war verstummt. Was war es gewesen, das ihn geweckt hatte? Der Stein? War dies das Geheimnis des Steines? Keine Magie, keine göttlichen Blitze, keine Zauberkräfte, sondern nur die Fähigkeit, die finstere Seite der menschlichen Seele zu wecken? War das, was er seinen dunklen Bruder nannte, vielleicht gar nichts Fremdes? Nicht Teil einer anderen Welt, den er aus der Nonakesh mitgebracht hatte, sondern etwas, das in jedem Menschen schlummerte, eine unbezwingbare, böse Kraft, die nur darauf wartete, geweckt zu werden - vom Stein der Macht geweckt zu werden?

Ich werde es herausfinden, dachte er. Aber dann fiel ihm ein, daß er nicht mehr die Zeit dafür hatte, daß er sterben würde, morgen, vielleicht schon heute, daß das Gift in seinen Adern unbarmherzig seine Arbeit tat und er jetzt keine Möglichkeit mehr hatte, es aufzuhalten. Der Gedanke an seinen Tod schreckte ihn mehr, als er zugeben wollte.

Eine Hand berührte ihn an der Schulter. Er drehte müde den Kopf und sah ins Gesicht eines Sumpfmannes. Seine Kleider schwelten, gestreift vom tödlichen Hauch des Drachenatems, aber er schein unverletzt zu sein.

»Gowenna«, sagte er.

Skar blickte an dem Sumpfmann vorbei zu Gowenna. Sie lebte, und sie war bei Bewußtsein. Sie saß halb aufgerichtet, den Oberkörper im Schoß des anderen Sumpfmannes gebettet, die Hand auf das Gesicht gepreßt. Zwischen ihren Fingern quoll dunkelrotes, zähflüssiges Blut hervor.

Skar nickte, ging an El-tra vorbei und ließ sich neben Gowenna auf ein Knie herabsinken. Sie drehte mühsam den Kopf, und Skar begriff, was für unerträgliche Schmerzen sie erleiden mußte. Aber ihm fehlte die Kraft, Mitleid zu empfinden.

Trotzdem erschrak er, als sie die Hand herunternahm und er ihr Gesicht sah. Die rechte Gesichtshälfte war unversehrt, schön wie zuvor, trotz der Qual, die ihre Züge verzerrte. Ihre linke Seite aber war eine einzige schreckliche Wunde. Das Fleisch war zerfurcht, zerfressen, als wäre es mit Säure übergössen worden. Es war eine Wunde, die nie wieder heilen würde. Vielleicht würde sie es überleben, aber sie würde vom heutigen Tage an wirklich eine Maske tragen, Engel und Teufel zugleich, eine grausige Verschmelzung von Leben und Tod, strahlender, unversehrter Schönheit auf der einen und schwärender Fäulnis auf der anderen Seite. Das linke Auge war blind.

»Wie lange wußtest du es schon?« fragte Skar.

Gowenna atmete mühsam ein. Ihr Körper bebte unter einem Krampt. »Seit... ich die Drachenspuren ... sah«, antwortete sie. Ihre Stimme klang brüchig vor Schmerz. »Nicht eher. Aber ich ... ich wollte es nicht glauben. Ist das nicht komisch, Skar? Ausgerechnet ich habe mich gegen das Offensichtliche gewehrt.« Eine einzelne, schimmernde Träne quoll aus ihrem Augenwinkel und hinterließ eine feuchtschimmernde Spur auf der Wange. »Ich habe sie geliebt, Skar«, fuhr sie fort. »Ich hätte mein Leben für sie gegeben, ein dutzendmal und mit Freuden. Aber sie hat mich betrogen.«

»Sie hat uns alle betrogen, Gowenna«, antwortete Skar sanft. Doch er spürte bereits in dem Moment, in dem er die Worte aussprach, wie hohl und leer sie klingen mußten, fast wie grausamer Spott.

Er setzte sich vollends, zog die Knie an den Körper und sah nach Osten. Combats Feuer loderte am Horizont und tauchte die Wolken in flackerndes blutiges Rot, und für einen winzigen Moment erschien es Skar, als bewege sich vor der brennenden Stadt ein noch winzigerer, noch grellerer Lichtpunkt, und in das Brüllen der Flammen schien sich ein neuer Ton zu mischen, ein helles, unendlich klagendes Geräusch, fast wie das Heulen eines Wolfes.

»Sie hat mich benutzt«, murmelte Gowenna. »Sie hat mich benutzt und weggeworfen, als ich meinen Dienst getan hatte.« Wieder brach sie ab, als koste es sie ihre ganze Kraft weiterzusprechen. »Wohin ... gehst du von hier aus, Satai?« fragte sie endlich. Skars Hand berührte die Stelle an seiner Brust, wo der Beutel gehangen hatte. »Nicht mehr sehr weit, Gowenna«, sagte er.

»Vergiß ... das Gift.«

Skar lächelte dünn. »Auch das werde ich tun, Gowenna. In ein paar Stunden.«

»Du wirst nicht sterben«, sagte sie leise. »Es war ... kein Gift. Nur ... der Extrakt einer seltenen Pflanze, der süchtig macht. Du wirst... Schmerzen haben und Fieber, aber du wirst... weiterleben.«

Skar nahm die Worte so ruhig hin, als gingen sie ihn nichts an. Er war leer, endgültig jetzt, ausgebrannt. Er hatte nicht mehr die Kraft, irgend etwas zu empfinden.

»Vielleicht«, murmelte er nach einer Weile, »nach Ikne. Ich muß Del suchen.«

»Dann reisen wir zusammen«, sagte Gowenna. Sie stockte, rang mühsam nach Atem und versuchte sich hochzustemmen, aber ihre Arme knickten unter dem Gewicht ihres Oberkörpers weg. Sie fiel, nicht zurück in den Schoß des Sumpfmannes, sondern nach vorne, so daß Skar sie auffangen mußte. Ihr Körper erschien ihm seltsam leicht, als hätte nicht nur ihre Kraft sie verlassen.

»Danke«, murmelte sie.

Skar lehnte sie behutsam gegen seine Schulter. Ihre Haut fühlte sich trocken und heiß an, fiebrig, und ein seltsames, neues und fast erschreckendes Gefühl durchströmte ihn für einen winzigen Moment, als er sie berührte. »Nicht reden«, flüsterte er. »Sei ganz ruhig jetzt.« Seine Hand glitt an ihrer Schulter empor, strich behutsam über ihre Wange und ihr Haar, und für endlose, lange Sekunden hielt er sie einfach schweigend in den Armen, drückte sie sanft wie ein Kind, dem er Trost spenden wollte, an sich. »Nicht reden«, sagte er noch einmal.

Aber Gowenna schien seine Worte gar nicht zu hören. »Bist du bereit, einen ... neuen Dienstherren anzunehmen?« fragte sie. Ihre Stimme war so leise, daß er sich herabbeugen mußte, um die Worte überhaupt zu verstehen.

»Dich?«

»Mich«, bestätigte sie. Ihr Atem ging schneller, unregelmäßiger, und für einen Moment durchfuhr Skar ein heißer, ungläubiger Schrecken, als er daran dachte, daß sie hier und jetzt in seinen Armen sterben könnte. Aber sie starb nicht, sondern redete leise und stockend und doch fest weiter: »Ich habe Geld, Skar. Es wird nicht reichen, den Preis eines Satai zu zahlen, aber es wird reichen, das Schiff des Freiseglers zu chartern. Er ist... der einzige, der uns zu ihr führen kann. Und ich kann dir etwas bieten, das mehr wiegt als Geld: Rache. Ich werde Vela suchen. Ich werde weiterleben, und ich werde sie finden, ganz egal, wo sie sich versteckt.« Wieder stockte sie, krallte die Hände in den glühenden, verbrannten Boden und atmete hörbar ein. Wieder wurde ihr Körper von Krämpfen geschüttelt, und wieder zuckte ihr Gesicht unter Schmerzen, die Skar sich nicht einmal vorzustellen wagte. Aber als sie weitersprach, schwang in ihrer Stimme ein neuer, entschlossener Ton mit, ein Gefühl von solcher Kälte und Entschlossenheit, daß Skar plötzlich fror. »Ich werde sie suchen, Skar«, sagte sie leise. »Und ich werde sie töten.«


ENDE DES ERSTEN BANDES

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