DER DRACHE VON PENDOR

Westlich von Rok, zwischen Holsk und Ensmer, den zwei großen Ländern, liegen die Neunzig Inseln. Von Rok kommend, stößt man zuerst auf Serd, während Seppisch, am weitesten von Rok entfernt, fast schon im peinischen Meer liegt. Ob es wirklich neunzig Inseln sind, blieb bis heute eine Streitfrage. Zählt man nur die Inseln mit Süßwasserquellen, dann kommt man nur auf siebzig; zählt man aber jeden Fels, der übers Wasser ragt, dann kommt man auf weit über hundert. Rechnet man mit der Ebbe und Flut, dann ändert sich die Zahl wiederum, denn schmal sind die Wasserstraßen zwischen den Inseln, und der Gezeitenwechsel, der sich im Innenmeer nur schwach auswirkt, ist hier draußen viel ungezügelter und mächtiger, so daß es Stellen gibt, wo bei Flut drei Inseln liegen, während bei Ebbe eine große Insel sichtbar wird. Aber trotz all der Gefahren, die der Gezeitenwechsel in sich birgt, hat jedes Kind, das Laufen kann, sein eigenes kleines Ruderboot. Hausfrauen paddeln zur Nachbarin auf der anderen Insel, um eine Tasse Kräutertee mit ihr zu trinken, und Hausierer preisen ihre Ware im Rhythmus des Ruderschlags an. Alle Straßen dort bestehen aus Salzwasser, und ab und zu wird die Durchfahrt von Netzen blockiert, die von Haus zu Haus gespannt sind, um die kleinen Fische, die sie Turbies nennen, zu fangen. Das aus den Turbies gewonnene Öl stellt den Reichtum der Neunzig Inseln dar. Brücken gibt es wenige und große Städte überhaupt nicht. Auf jeder Insel drängen sich Bauernhäuser und Häuser, die den Fischern gehören. Zehn bis zwanzig Inseln sind jeweils zu Inselkreisstädten zusammengeschlossen. Unter diesen ist Untertorning die westlichste. Von dort aus sieht man nicht das Innenmeer, sondern den weiten Ozean, den einsamsten Teil des Inselreiches, in dem nur Pendor, die Dracheninsel, liegt; und dahinter erstreckt sich das endlose, öde Meer des Westens.

Das Haus für den neuen Zauberer der Kreisstadt war gerichtet. Es stand auf einem Hügel, inmitten grüner Gerstenfelder, und eine Gruppe von Perdickbäumen, die im Schmuck ihrer roten Blüten standen, schützte es vor dem Westwind. Unter der Tür stehend, sah man die Strohdächer anderer Häuser, Gärten und Lauben und andere Inseln, wo es wiederum Häuser mit Strohdächern, Felder und Hügel gab. Dazwischen wanden sich zahlreiche helle Meeresstraßen. Das Haus selbst war ganz einfach, ohne Fenster, mit einem Lehmboden, aber besser als das Haus, in dem Ged geboren war. Die Inselleute von Torning schauten ehrfürchtig auf den Zauberer von Rok und entschuldigten sich für die Armseligkeit der Behausung. »Bei uns gibt es keine Steine zum Bauen«, sagte der eine. »Keiner ist reich, aber verhungern tut niemand«, sagte ein anderer, und ein dritter fügte hinzu: »Es ist wenigstens trocken, denn ich habe selbst für das Strohdach gesorgt, Herr.« Kein Palast hätte Ged besser gefallen können. Er dankte den Vertretern der Gemeinde für das Haus so offen und ehrlich, daß die achtzehn Männer, als sie in ihren eigenen Booten nach Hause ruderten, den Fischern und Hausfrauen erzählten, wie der neue Zauberer ein gar ungewöhnlicher junger Mann sei, wortkarg, mit verschlossenen Zügen, aber daß er das Herz auf dem rechten Fleck habe.

Es mag manchem scheinen, daß wenig Grund vorlag, auf diese erste offizielle Stelle stolz zu sein. Gewöhnlich gingen die Zauberer, die auf der Schule in Rok studiert hatten, in die Städte oder auf die Schlösser, um den Fürsten dort zu dienen, die sie sehr schätzten. Wäre alles normal gewesen, dann hätte man in Untertorning auch nur ein Zauberweib oder einen einfachen Zauberer gehabt, die auch völlig genügt hätten, um Fischnetze zu besprechen und neue Boote gegen Unheil zu feien, oder Tiere zu heilen und Menschen von ihren Gebrechen zu befreien. Während der letzten Jahre jedoch hatte ein Drache Junge geworfen, man sprach von neun kleinen Drachen, die in den Türmen der ehemaligen Seefürsten von Pendor hausten und auf ihren schuppigen Bäuchen die Marmortreppen auf und ab rutschten und sich durch die Portale zwängten. Es war zu erwarten, daß sie eines Tages, wenn sie voll ausgewachsen waren, auf Nahrungssuche fliegen würden, denn die verwüstete Insel bot wenig Futter. Vier von ihnen, so hörte man bereits, wurden über der südwestlichen Küste von Hosk gesichtet. Sie landeten zwar nirgends, aber man war sicher, daß sie Schafherden, Scheunen und Dörfer ausspionierten. Der Hunger eines Drachen ist langsam im Kommen, aber wenn er geweckt ist, dann nimmt er selten ab. Aus diesem Grund baten die Inselleute von Untertorning, daß man ihnen einen Zauberer von Rok schicke, der sie vor dem Unheil, das ihnen hinter dem westlichen Horizont drohte, schützen konnte. Der Erzmagier hatte ihre Bitte erwogen und entschieden, daß ihre Furcht nicht grundlos war. »Bequemlichkeit findest du dort nicht«, hatte er zu Ged gesagt, als er ihn zum Zauberer machte, »auch keinen Ruhm und keinen Reichtum, vielleicht nicht einmal Gefahr. Willst du trotzdem gehen?«

»Ja, ich will gehen«, hatte Ged geantwortet, und nicht nur der Gehorsam bewog ihn dazu. Seit der schicksalhaften Nacht auf dem Rokkogel stieß ihn alles, was mit Ruhm oder Schaustücken zu tun hatte, genauso stark ab, wie es ihn früher angezogen hatte. Immerfort begleiteten ihn Zweifel an seiner Stärke, und er fürchtete sich vor einer Probe seiner Macht. Doch die Gerüchte über Drachen übten eine eigenartige Anziehungskraft auf ihn aus. Auf Gont gab es seit Hunderten von Jahren keine Drachen mehr, und keinem Drachen würde es einfallen, in Riech-, Sicht- oder Bannweite von Rok zu fliegen, so daß man sie selbst dort nur aus Büchern kennt. Kurzum, es waren Wesen, über die es viele Lieder gab, aber die keiner je gesehen hatte. Alles, was er in der Schule über Drachen finden konnte, hatte Ged zusammengetragen, aber es ist doch ein Unterschied, ob man über Drachen liest oder ob man sie wirklich sieht. Die Gelegenheit lag nun zum Greifen nahe vor ihm, und er antwortete mit Überzeugung: »Ja, ich will gehen.«

Der Erzmagier hatte genickt, aber sein Blick war umwölkt. »Sag mir«, sagte er schließlich, »hast du Angst, Rok zu verlassen? Oder freust du dich aufs Fortgehen?«

»Beides, ehrwürdiger Herr.«

Wiederum nickte Genscher. »Ich weiß nicht, ob ich richtig handle, wenn ich dich aus der Sicherheit hier fortlasse«, sagte er mit kaum hörbarer Stimme. »Ich kann deinen Weg nicht erkennen. Alles ist in Dunkelheit gehüllt. Und im Norden ist eine Macht, die es darauf abgesehen hat, dich zu zerstören, aber was es ist und ob es in deiner Vergangenheit oder in deiner Zukunft liegt, kann ich nicht sagen. Alles liegt unter einem Schatten. Als die Leute von Untertorning mit ihrer Bitte zu mir kamen, dachte ich sofort an dich, denn dort, so schien mir, an diesem entlegenen Ort, würdest du sicher sein und Kräfte sammeln können. Aber ich weiß im Grunde genommen nicht, ob du überhaupt irgendwo Sicherheit finden kannst. Ich weiß auch nicht, wohin dich dein Weg führen wird. Ich will dich nicht hinaus in die Dunkelheit schicken…«

Kein Schatten schien auf dem kleinen Haus unter den blühenden Bäumen zu liegen, als Ged es zum ersten Mal wahrnahm. Friedlich lebte er dort, oft ließ er seinen Blick über den westlichen Horizont schweifen, und seine Zaubererohren lauschten angestrengt auf das Rauschen schuppiger Flügel. Aber alles blieb ruhig, kein Drache ließ sich sehen. Manchmal angelte Ged von seiner Anlegestelle aus, oder er arbeitete in seinem kleinen Gemüsegarten. Manchmal brütete er über einer Seite oder einer Zeile oder einem einzigen Wort in den alten Sagen- und Legendenbüchern, die er von Rok mitgebracht hatte. Er saß dann gewöhnlich im Schatten der Perdickbäume und las, während der Otak neben ihm döste oder in dem hohen Gras zwischen Butterblumen und Margeriten auf Mäusejagd ging. Wenn es die Einwohner von Untertorning wünschten, so half er ihnen als Heilkundiger oder als Wettermacher. Nie fiel es ihm ein, daß es unter der Würde eines Zauberers sein könnte, solch einfache Künste zu wirken, denn er war als Kind eines Zauberweibes unter ärmeren Leuten als diesen aufgewachsen. Es kam nicht häufig vor, daß sie ihn um Hilfe baten, denn teilweise hielt sie die Ehrfurcht vor dem Zauberer von der Insel der Weisen zurück, teilweise war es Furcht vor seinem wortkargen Wesen und seinem vernarbten Gesicht. Es umgab ihn ein gewisses Etwas, das den Menschen Scheu einflößte. Dennoch fand er einen Freund unter ihnen, und zwar einen Schiffsbauer, der auf dem benachbarten Eiland, östlich von Ged, wohnte. Er hieß Peckvarry. Sie lernten sich kennen, als Ged an Peckvarrys Landesteg anhielt und ihm zuschaute, wie er den Mast an einem kleinen Segelboot festmachte. Peckvarry lachte und sagte zu dem Zauberer: »Ein Monat ist vorbei, und meine Arbeit ist fast fertig. Sie hätten dies wahrscheinlich in einer Minute und mit einem Wort geschafft, nicht wahr?«

»Schon möglich«, meinte Ged. »Aber es würde in der nächsten Minute wieder sinken, außer ich würde die Illusion dauern lassen. Aber wenn Sie wollen…« Er verstummte.

»Ja, mein Herr?«

»Das Boot, das Sie da haben, sieht wirklich gut aus. Nichts fehlt daran. Aber wenn Sie wollen, dann könnte ich es mit einem Bindespruch gegen Unheil feien, oder ich könnte es mit einem Findespruch festigen, das würde ihm helfen, den Weg wieder zurück nach Hause zu finden«

Er sprach zögernd, denn er wollte den Schiffsbauer nicht beleidigen. Peckvarry aber strahlte: »Das kleine Schiff hier ist für meinen Sohn, mein Herr, und wenn Sie so gütig wären und es mit solchen Sprüchen festigen könnten, ich wäre Ihnen von Herzen dankbar und würde es Ihnen hoch anrechnen.« Und er kletterte hinauf auf den Landesteg und ergriff Geds Hand, um ihm zu danken.

So begann ihre Zusammenarbeit, aus der beide Nutzen zogen. Ged wob seine Zaubersprüche über die Boote, die Peckvarry fertigte oder reparierte, und lernte dabei, wie Boote gebaut werden und wie man ohne magische Hilfe segelt, denn auf Rok kam das Üben in einfachem, gewöhnlichem Segeln etwas zu kurz. Häufig fuhren sie alle zusammen, Ged, Peckvarry und sein kleiner Sohn Joheth, hinaus aufs Meer, den Meeresstraßen entlang und in die Lagunen hinein, rudernd oder segelnd, jetzt mit diesem, dann mit jenem Boot. Mit der Zeit wurde Ged ein ganz tüchtiger Seemann, und die Freundschaft zwischen ihm und Peckvarry war eine ausgemachte Sache …

Im Spätherbst wurde der kleine Sohn des Schiffsbauers krank. Die Mutter ließ das Zauberweib von der Insel Task kommen, das ziemlich erfolgreich war im Heilen von Krankheiten. Ein oder zwei Tage lang schien auch alles gut zu gehen. Dann aber, mitten in einer stürmischen Nacht, klopfte Peckvarry heftig an Geds Tür und flehte ihn an, zu kommen und das Kind zu retten. Ged rannte mit ihm hinunter zum Boot, und sie ruderten mit Windeseile durch die Finsternis und den Regen zum Haus des Schiffsbauers. Dort sah Ged das Kind auf seiner Strohmatratze liegen und die Mutter schweigend neben ihm kauern, während das Zauberweib im Rauch der Korlywurzel den magischen Gesang angestimmt hatte, was wahrscheinlich ihr stärkster Heilzauber war. Sie flüsterte Ged zu: »Mein Herr, ich glaube, er hat Rotfieber und wird diese Nacht nicht mehr überstehen.«

Als Ged sich neben das Kind kniete und es mit seinen Händen berührte, durchfuhr ihn der gleiche Gedanke, und er schreckte zurück. Während der letzten Monate in der Heilklinik hatte ihn der Kräutermeister viel Heilkunde gelehrt, aber nie hatte er versäumt, ihm zu Beginn und Ende jeder Unterweisung einzuschärfen: Heile die Wunde, mache den Kranken wieder gesund, aber versuche nie, den Geist eines Sterbenden zurückzuhalten.

Die Mutter hatte seine Bewegung wahrgenommen und ihre Bedeutung erkannt. Sie schrie auf voll Verzweiflung. Peckvarry beugte sich über sie und versuchte, sie zu beruhigen: »Frau, unser Herr Sperber wird ihm helfen. Weine nicht mehr! Hier steht er ja. Er wird es schaffen.«

Ged sah die Tränen der Mutter und hörte das Vertrauen, das in Peckvarrys Worten lag. Er brachte es nicht über sich, sie zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich geirrt, vielleicht konnte das Kind gerettet werden, er mußte versuchen, das Fieber herunterzubekommen. Er sagte: »Ich will alles versuchen, Peckvarry!«

Ged begann den kleinen Joheth in frischem, kaltem Regenwasser, das sie draußen aufgefangen hatten, zu baden, dann versuchte er, das Fieber durch einen Zauberspruch aufzuhalten und zu lindern. Der Spruch schlug nicht an und schloß sich nicht zu einem Ganzen, plötzlich war es ihm, als stürbe das Kind in seinen Armen.

Ohne Rücksicht auf sich selbst sammelte er seine ganze Macht und sandte seinen Geist dem enteilenden Geist des Kindes nach, um ihn zurückzuholen. Er rief den Namen des Kindes: »Joheth!« Sein inneres Gehör glaubte eine schwache Antwort zu vernehmen, und er folgte ihr, noch einmal seinen Namen rufend. Plötzlich konnte er den Knaben sehen, der ihm weit voraus war und einen dunklen, weiten Abhang hinunterrannte. Kein Laut war vernehmbar. Die Sterne über dem Hügel waren seinen Augen unbekannt, doch er kannte die Namen der Sternbilder: die Garbe, die Tür, der Sich-Drehende, der Baum. Er erblickte die Sterne, die nie untergehen und nie vor dem Kommen eines neuen Tages verblassen. Er erkannte, daß er dem Kind zu weit gefolgt war. Plötzlich stand er allein und einsam an dem dunklen Abhang. Schwer war es, zurückzugehen, sehr schwer.

Langsam drehte er sich um. Mühsam setzte er einen Fuß vor den andern und bewegte sich den Berg hinan. Schritt folgte Schritt, jede Bewegung war eine Willensanstrengung, und mit jedem Schritt wurde es schwerer.

Die Sterne standen regungslos. Kein Wind wehte über den trockenen, steilen Grund des Abhangs. In dem weiten Reich der Finsternis war er das einzige, das sich bewegte, langsam, mühselig. Er erreichte den Kamm des Hügels und erblickte eine niedrige, aus Steinen errichtete Mauer. Auf der anderen Seite, ihm zugewandt, stand ein Schatten.

Der Schatten besaß weder menschliche noch tierische Gestalt. Er war formlos, kaum wahrnehmbar, und er flüsterte ihm zu, aber keine Worte waren zu vernehmen. Er streckte sich nach ihm aus und er stand auf der Seite der Lebenden, während Ged auf der Seite der Toten stand.

Ged mußte sich entscheiden. Er konnte den Hügel hinuntergehen in die unfruchtbaren Gefilde und düsteren Städte der Toten oder über die niedere Mauer zurück ins Leben steigen, wo das unförmige, ungeheuerliche Unding auf ihn wartete.

Der Zauberstab lag schwer in seiner Hand, und er hob ihn hoch. Diese Bewegung brachte Stärke zurück in seine Glieder. Als er sich zusammenraffte, um über die niedere Mauer auf den Schatten zuzuspringen, glühte der Stab plötzlich weiß auf, eine blendende Helle an diesem schattenhaften Ort. Er setzte zum Sprung an, fühlte wie er hinfiel, und seine Sinne schwanden ihm.

Vor Peckvarry, seiner Frau und dem Zauberweib spielte sich folgendes ab: Der junge Zauberer hörte mitten im Zauberspruch zu reden auf und hielt das Kind in seinen Armen, ohne sich zu bewegen. Dann legte er Joheth sachte auf seine Matratze zurück, richtete sich hoch auf und stand schweigend, den Stab in der Hand haltend. Plötzlich hob er den Stab in die Höhe, der in weißem Feuer leuchtete, so daß es schien, als halte er den Blitz in seiner geballten Faust. Die Gegenstände in der Hütte sprangen in diesem momentanen, grellen Licht seltsam eindringlich ins Auge. Vorübergehend geblendet, dauerte es eine kurze Weile, bis sie wieder sehen konnten, dann aber erblickten sie den jungen Mann, der vornüber gefallen auf dem Boden lag, neben der Matratze, auf der das tote Kind lag.

Peckvarry schien es, als sei der Zauberer ebenfalls tot. Seine Frau heulte, er selbst war ganz verstört. Aber das Zauberweib hatte eine Ahnung von Magie und wußte etwas vom Hinscheiden eines wahren Zauberers. Sie veranlaßte, daß Ged, der kalt und reglos dalag, nicht wie ein Toter behandelt wurde, sondern wie ein Kranker oder wie einer, der sich in einem Trancezustand befindet. Er wurde nach Hause getragen, und eine alte Frau wurde zu ihm gesetzt, die darauf achten mußte, ob er aus dem Schlaf erwachen würde oder nicht.

Der kleine Otak hatte sich in den Dachbalken des Hauses versteckt, was er immer tat, wenn Fremde eintraten. Dort oben hockte er, während draußen der Regen gegen die Hauswände schlug und drinnen das Feuer langsam erlosch. In den Morgenstunden nickte die alte Frau neben der Feuerstelle ein. Dann kletterte der Otak herunter und rannte lautlos zu Ged, der steif und still auf seinem Bett lag. Er fing an, ihm geduldig und ohne Unterlaß Hände und Handgelenke mit seiner trockenen, braunen Zunge zu lecken, und sich neben Geds Kopf hinkauernd, begann er seine Schläfen, seine vernarbte Wange und ganz sachte seine geschlossenen Augen zu lecken.

Und ganz allmählich, unter der leichten Berührung, regte sich Ged. Er wachte auf und wußte nicht, wo er gewesen war und wo er sich befand. Er sah ein schwaches Licht und ahnte nicht, daß es einen neuen Tag verkündete. Der Otak beobachtete Ged, rollte sich darauf an seiner Schulter zusammen, wie er es immer tat, und schlief friedlich ein.

Später, als Ged über die Ereignisse dieser Nacht nachdachte, wurde ihm bewußt, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilen würde, wenn ihn nicht jemand berührt und auf irgendeine Weise zurückgerufen hätte, als er, von den Lebensgeistern verlassen, auf seinem Lager gelegen hatte. Nur das blinde, instinktive Wissen eines Tieres, das seinen verletzten Gefährten leckt, um ihm Erleichterung zu verschaffen, hatte ihn zurückgerufen, und Ged spürte in diesem Wissen etwas, das seiner eigenen Macht ähnlich war, etwas, das so tief reichte wie die Zauberkunst. Und seither war er überzeugt, daß der Weise sich nie von anderen lebenden Wesen absondert, ganz gleich, ob sie reden können oder nicht, und in späteren Jahren bemühte er sich oft darum, das zu lernen, was in der Stille von den Augen der Tiere, vom Flug der Vögel und von der langsamen majestätischen Bewegung der Bäume gelernt werden kann. Zum ersten Mal hatte er die Welt der Lebenden verlassen und war unverletzt aus dem Land zurückgekehrt, das nur ein Zauberer mit offenen Augen betreten, was aber selbst der größte Magier nie ohne Gefahr unternehmen kann. Wohl war er unversehrt, aber Trauer und Furcht erwarteten ihn. Trauer erfüllte ihn für seinen Freund Peckvarry und den Verlust, den er erlitten hatte, Furcht hatte er um sich selbst. Jetzt wußte er, warum der Erzmagier ihn nicht wegschicken wollte und warum seine Zukunft dunkel und bewölkt vor den Augen des Magiers gelegen hatte. Die Dunkelheit selbst war es, die auf ihn gewartet hatte, dieses namenlose Ding, dieses Wesen, das nicht von dieser Welt stammte, dieser Schatten, den er freigesetzt oder geschaffen hatte. Als Geist hatte es auf ihn während all der Jahre gewartet, dort, an der Schwelle zwischen Leben und Tod. Und dort endlich hatte es ihn gefunden. Jetzt würde es sich an seine Fersen heften, jetzt würde es versuchen, ihn an sich zu ziehen, um ihm seine Stärke zu entwenden und sein Leben auszusaugen und sich mit seiner Gestalt zu umgeben.

Bald begann er von diesem Ding als einem Bären ohne Kopf und Gesicht zu träumen. Er glaubte, es zu hören, wie es unbeholfen die Wände seines Hauses abtastete, um die Tür zu finden. Solche Träume hatten ihn verschont, seit die Wunden geheilt waren, die er von diesem Wesen empfangen hatte. Erwachte er, so fühlte er sich schwach und kalt, und seine Narben an Gesicht und Schultern schmerzten.

Eine schlimme Zeit begann nun. Immer, wenn er von dem Schatten träumte oder nur an ihn dachte, überkam ihn die gleiche klamme Furcht. Sein Verstand und seine Macht ließen nach, und er fühlte sich blöde und verwirrt. Er war wütend auf seine Feigheit, aber das half ihm nicht weiter, er suchte Schutz, aber es gab keinen. Dieses Ding war weder Fleisch noch Geist, noch hatte es Leben in irgendeiner Form, namenlos war es, keine Gestalt besaß es außer der, die er ihm gegeben hatte — eine furchtbare Macht außerhalb der Gesetze dieser sonnenhellen Welt. Das nur wußte er: Es wurde von ihm angezogen, und es würde versuchen, ihm seinen Willen aufzuzwingen und durch ihn zu leben, denn es war seine Kreatur. Aber in welcher Form es sich ihm nähern würde, da es bis jetzt noch keine feste Gestalt hatte, und wie und wann es zu ihm kommen würde, das wußte er nicht.

So gut er vermochte, schützte er sich, indem er magische Wälle um sein Haus und um die Insel herum errichtete. Solche Wälle mußten dauernd durch Zaubersprüche erneuert werden, und es wurde ihm bald klar, daß er, wenn er seine ganze Macht für seine eigene Sicherheit aufwenden mußte, den Inselbewohnern wenig nutzen würde. Gesetzt den Fall, ein Drache von Pendor würde die Insel heimsuchen: Was könnte er, von zwei Feinden bedroht, ausrichten?

Wiederum träumte er, doch dieses Mal war der Schatten im Haus drinnen neben der Tür, und in der Dunkelheit fühlte er, wie er sich nach ihm ausstreckte, und er hörte ihn Worte flüstern, die er nicht verstand. Von Entsetzen geschüttelt, wachte er auf und sandte ein Werlicht durch die Luft, das jede Ecke des Raumes erhellte, bis es keinen Schatten mehr gab im Zimmer. Dann legte er Holz auf die glühende Asche des Herdes, setzte sich neben das Feuer und hörte dem Herbstwind zu, wie er im Stroh des Daches spielte und durch die kahlen Äste der großen Bäume pfiff, die über das Haus ragten. Ged saß und grübelte. Eine lang unterdrückte Wut flammte in ihm auf. Nein, er konnte es nicht ertragen, tatenlos auf dieser kleinen Insel wie in einer Falle herumzusitzen und sich mit zwecklosen Wehr- und Schutzsprüchen hinzuhalten. Aber er konnte auch nicht so einfach auf und davon gehen: Das käme den Inselbewohnern gegenüber einem Vertrauensbruch gleich und würde sie den drohenden Drachen schutzlos preisgeben. Nur einen Ausweg sah er vor sich.

Am nächsten Morgen ging er zu den Fischern hinunter, die sich am Hauptanlegeplatz von Untertorning sammelten, und suchte den Stadtältesten auf. Zu ihm sprach er: »Ich muß diese Gegend verlassen. Ich bin in Gefahr und bringe diese Gefahr hierher. Ich muß weggehen. Daher bitte ich Sie, mir Erlaubnis zu geben, nach Pendor zu segeln und die Angelegenheit mit den Drachen zu erledigen. Damit komme ich meiner Verpflichtung Ihnen gegenüber nach und bin dann frei, wieder zu gehen. Sollte mein Unternehmen fehlschlagen, dann würde dies nur bedeuten, daß es auch fehlgeschlagen wäre, wenn der Drache hierher gekommen wäre. Es ist besser, dies jetzt herauszufinden, als länger zu warten.«

Der Insulaner starrte ihn mit offenem Mund an: »Ehrwürdiger Herr Sperber«, sagte er, »dort gibt es neun Drachen!«

»Acht davon sollen noch ziemlich jung sein.«

»Aber der alte…«

»Ich habe Ihnen klargemacht, daß ich von hier fort muß. Ich bitte Sie nur um Erlaubnis, Sie alle zuvor von der Drachengefahr zu befreien, wenn ich es kann.«

»Wie Sie wünschen«, antwortete der Älteste, düster blickend. Die Umstehenden hielten ihren jungen Zauberer für übergeschnappt oder tollkühn und blickten ihm wortlos nach. Keiner erwartete, ihn je wieder zu sehen oder von ihm zu hören. Einige gaben zu verstehen, daß er wahrscheinlich über Hosk zurück zum Innenmeer segeln werde und sie hier in der Patsche sitzenließ, andere glaubten, unter ihnen auch Peckvarry, daß er den Verstand verloren habe und seinen eigenen Tod herbeiwünsche.

Vier Generationen waren herangewachsen, und während dieser Zeit wurden alle Schiffe so gesteuert, daß ihr Kurs weit an Pendor vorbeiführte. Noch kein Magier hatte es mit dem Drachen dort aufgenommen, denn die Insel lag an keiner der bekannten Seerouten. Ihre Herrscher waren Piraten, Sklavenhändler und mordlustige Krieger gewesen, gehaßt von allen Bewohnern im südwestlichen Teil der Erdsee. Aus diesem Grunde war es keinem eingefallen, Rache zu suchen für den Herrscher von Pendor, als der Drache plötzlich aus dem Westen gekommen war und ihn und seine Mannen beim Mahle im Turm überrascht, mit den Flammen aus seinem Schlund erstickt und die schreienden Stadtbewohner ins Meer getrieben hatte. Ungerächt blieb Pendor bis heute, und der Drache hauste dort zwischen den Gebeinen, Türmen und Juwelen, die einst den Fürsten und Prinzen der Küstenländer Paln und Hosk gehört hatten.

All dies war Ged bekannt, denn seit seiner Ankunft in Untertorning hatte er sich alles, was er je über Drachen gehört und gelernt hatte, durch den Kopf gehen lassen und dachte darüber nach. Als er jetzt sein kleines Schiff nach Westen steuerte — er ruderte nicht und machte auch nicht von den Segelkünsten Gebrauch, die ihn Peckvarry gelehrt hatte, sondern zauberte einen magischen Wind herbei und hatte seinen Bug und Kiel mit einem Bannspruch auf den Kurs eingestellt —, beobachtete er, wie die Insel sich langsam über den Rand des Meeres hob. Eile trieb ihn, darum segelte er mit magischem Wind. Was hinter ihm lag, fürchtete er mehr als das, was vor ihm lag. Aber im Lauf des Tages verlor er seine Furcht allmählich und wurde von einer wilden Freude auf den bevorstehenden Kampf erfüllt. Er hatte sich entschieden und war ausgezogen, die Gefahr zu suchen, und je mehr er sich ihr näherte, desto gewisser wurde er, daß er jetzt, vielleicht nur auf Stunden, bevor ihn der Tod ereilte, frei war. Denn der Schatten wagte es nicht, ihm in den Rachen des Drachen zu folgen. Weiße Schaumkronen stoben über das graue Wasser des Meeres, dunkle Wolken, vom Nordwind gejagt, stürmten gegen Süden. Er hielt sich westlich, und mit dem hurtigen Zauberwind in den Segeln erblickte er bald die Felsen von Pendor, die erstorbenen Straßen der Stadt und die staubbedeckten Turmruinen.

An der Einfahrt zum Hafen, in einer sichelförmigen, seichten Bucht brachte Ged den Wind zum Erschlaffen, und sein kleines Boot lag still, nur die Wellen schaukelten es leicht.

Dann erhob er seine Stimme und gebot dem Drachen: »Usurpator von Pendor, erscheine und verteidige deine Haut!«

Seine Stimme wurde von den Brandungswellen erstickt, die an die aschgraue Küste schlugen; aber Drachen haben feine Ohren. Es dauerte nicht lange, und aus einer der Ruinen erhob sich eine riesige schwarze Fledermaus mit durchsichtigen Flügeln und spindeldürr, kreiste und flog gegen den Nordwind direkt auf Ged zu. Sein Herz schwoll beim Anblick dieses Geschöpfes, das seinen Landsleuten nur aus Legenden und Mythen bekannt war, und er lachte und rief: »Geh und sag dem Alten, daß er kommen soll, du Windwurm!«

Denn dies hier war einer der jungen Drachen, einer aus der Brut des weiblichen Drachen aus dem Westbereich, die, wie es die Art weiblicher Drachen ist, ein Nest voll großer, zählederner Eier in einem der sonnigen, zerstörten Räume des Turmes hinterlassen hatte und wieder davongeflogen war. Dem alten Drachen von Pendor fiel anheim, auf die Jungen aufzupassen, die wie unheilbringende Eidechsen aus ihren Schalen krabbelten.

Der junge Drache antwortete nicht. Zog man seine Gattung in Betracht, so war er nicht groß; er hatte ungefähr die Länge eines Schiffes mit vierzig Rudern, und trotz der immensen Spannweite seiner hauchdünnen Flügel war er so dünn wie ein Wurm. Er war noch nicht ausgewachsen, hatte auch noch keine Stimme, und an Drachenlist fehlte es ihm ebenfalls. Er wich nicht von seinem Kurs ab und brachte Geds Boot heftig ins Schwanken, sein Rachen voll scharfer Zähne war weit aufgerissen, als er pfeilschnell aus der Luft auf Ged herabstieß: ein scharfer Bannspruch machte seine Glieder steif, er verpaßte sein Ziel und fiel wie ein Stein ins Meer. Das graue Wasser schloß sich über ihm.

Zwei andere Drachen verließen das Fundament des höchsten Turmes. Wie der erste, so flogen auch sie direkt auf Ged zu, und wie er wurden sie von ihm gefangen und ertränkt. Ged hatte all dies vollbracht, ohne seinen Zauberstab in die Höhe heben zu müssen.

Minuten verstrichen, dann erhoben sich drei Drachen von der Insel und flogen ihn an. Einer davon war wesentlich größer als die vorherigen, er spie schon eine rollende Flamme aus seinem Schlund. Zwei kamen flügelschlagend direkt auf ihn zu, während der große einen weiten Kreis zog und von hinten auf ihn herabstieß, um ihn und sein Boot mit seinem feurigen Atem zu verbrennen.

Keinen Bannspruch gab es, der alle drei auf einmal hätte fassen können, denn zwei kamen aus dem Norden, einer aus dem Süden. Sofort, als er dies erkannt hatte, wirkte Ged einen Verwandlungszauber, und aus seinem Boot erhob sich ein vierter Drache.

Mit weit ausgebreiteten Flügeln und scharf ausgestreckten Krallen griff der Drache Ged die beiden kleineren Drachen von vorne an und vernichtete sie mit seinem Feuer, dann wandte er sich dem dritten zu, der größer war als er und ebenfalls Feuer spie. Vom Winde getragen, flogen sie über die grauen Wellen aufeinander zu, schnappten, spien und prallten aufeinander, flogen über-, unter- und nebeneinander vorbei, bis der vom Feuer ihrer offenen Rachen rötliche Rauch sie dicht umgab. Dann stieg Ged plötzlich hoch, der andere folgte sofort nach, aber mitten im Flug hielt Ged inne, und wie es den Falken eigen ist, stieß er mit ausgestreckten Krallen herab und packte den anderen beim Genick und an der Flanke und zog ihn abwärts. Die dunklen Schwingen flatterten, und dickes, schwarzes Blut tropfte ins Meer. Der Drache von Pendor riß sich los und flog lahm und mühsam zurück auf die Insel, wo er sich in irgendeinem Schacht oder Verschlag in den Ruinen versteckte.

Sofort schlüpfte Ged wieder zurück in seine eigene Gestalt und ließ sich auf sein Boot nieder, denn es ist höchst gefährlich, die Drachengestalt länger als nötig zu behalten. Seine Hände waren schwarz vom heißen Blut des Wurmes, und er hatte Verbrennungen am Kopf, doch das galt ihm wenig jetzt. Er wartete nur ab, bis er nicht mehr außer Atem war, dann rief er laut: »Sechs sah ich, fünf schlug ich, neun soll es geben: Zeigt euch, ihr Riesenwürmer!«

Lange Zeit blieb alles ruhig. Keine Kreatur bewegte sich, keine Stimme erhob sich, nur die Wellen schlugen gleichmäßig ans Ufer.

Dann wurde Ged gewahr, wie der höchste Turm auf der Insel langsam seine Form veränderte, ein Auswuchs erschien und vergrößerte sich an der Seite, als wüchse ihm dort ein Arm. Er fürchtete, daß Drachenmagie am Werke war, denn Drachen sind sehr mächtig und tückisch und in einer Art Zauberei bewandert, die der menschlichen ähnlich und doch wieder nicht ähnlich ist. Es dauerte nur einen Augenblick, dann sah er, daß es kein Trick des Drachen, wohl aber ein Trick war, den ihm seine Augen spielten. Was er als einen Teil des Turmes angesehen hatte, war in Wirklichkeit die Schulter des Drachen von Pendor, der langsam seine Glieder ausstreckte und sich gemächlich erhob.

Als er sich endlich zu seiner vollen Größe ausgestreckt hatte, ragte sein schuppiger, spitz zulaufender Kopf mit der dreifach gespaltenen Zunge über die Turmspitze hinaus, und die Krallen seiner Vorderfüße ruhten auf den Trümmern der Stadt unter ihm. Seine Schuppen waren schwarzgrau, im Tageslicht stumpf schimmernd wie bröckelndes Gestein. Er war sehnig wie ein Jagdhund und so groß wie ein Berg.

Ged starrte staunend. Keine Geschichte und kein Gesang konnte diesem überwältigenden Eindruck gerecht werden. So beeindruckt war er, daß er beinahe in die Augen des Drachen geschaut hätte.

In letzter Minute ertappte er sich, denn in die Augen eines Drachen kann man nicht ungestraft blicken. Er kehrte seine Augen ab von dem öligen grünen Blick, der unverwandt auf ihm ruhte, und hob seinen Stab vor sich in die Höhe, der ihm jetzt nicht viel größer als ein Zweiglein oder ein Holzspan erschien.

»Acht Söhne hatte ich, kleiner Zauberer«, sprach der Drache mit mächtiger, trockener Stimme. »Fünf sind tot, der sechste stirbt. Das genügt. Du wirst meinen Hort nicht gewinnen, indem du sie tötest.«

»Ich begehre deinen Hort nicht.«

Gelber Rauch stieg auf aus den Nasenlöchern des Drachen: Das war seine Art zu lachen.

»Möchtest du nicht trotzdem ans Land kommen und ihn in Augenschein nehmen? Es lohnt sich, glaube mir!«

»Nein, Drache.« Verwandtschaftliche Bande bestehen zwischen den Drachen, dem Wind und dem Feuer; ungern kämpfen sie über Wasser. Ged nutzte dies zu seinem Vorteil aus und war nicht gewillt, ihn aufzugeben. Doch der schmale Streif Meereswasser, der ihn von den grauen Riesenkrallen trennte, schien kein allzu großer Vorteil mehr zu sein.

Schwer war es, den grünen, wachsamen Blick zu vermeiden.

»Du bist noch jung für einen Zauberer«, sagte der Drache. »Ich wußte nicht, daß die Menschen so jung in den Besitz ihrer Macht kommen.« Er unterhielt sich mit Ged in der Ursprache, denn das ist noch immer die Umgangssprache der Drachen. Benutzt ein Mensch die Ursprache, so ist er zu unbedingter Wahrheit verpflichtet; ein Drache ist nicht an dieses Gesetz gebunden, denn es ist ihre ureigene Sprache, und sie können darin lügen und Worte herumdrehen, wie es ihnen gefällt, sie können den Zuhörer mit Worten blenden und in ein Labyrinth leiten, in dem jedes Wort die Wahrheit widerspiegelt und doch keines zum Ziel führt.

Oft wurde Ged davor gewarnt, und als der Drache redete, spitzte er die Ohren, jedes Wort auf seine Wahrheit wägend. Doch die Worte, die er vernahm, schienen einfach und klar. »Bist du hierher gekommen, um mich um Hilfe zu bitten, kleiner Zauberer?«

»Nein, Drache.«

»Und doch könnte ich dir helfen. Bald wirst du nämlich Hilfe brauchen gegen das, was dich im Dunkeln heimsucht.«

Ged stand wie vor den Kopf geschlagen und fand keine Antwort.

»Was sucht dich heim? Nenne seinen Namen!«

»Wenn ich seinen Namen wüßte…« Ged sprach nicht weiter.

Gelber Rauch stieg aus den Nasenlöchern des Drachen, die wie zwei runde Feuergruben aussahen, und umzingelte den langen Kopf.

»Wenn du es beim Namen nennen könntest, kleiner Zauberer, ja, dann könntest du es vielleicht beherrschen. Es ist möglich, daß ich dir seinen Namen sagen könnte, wenn ich es in der Nähe sehen würde. Und es wird näher kommen, wenn du eine Weile hier auf der Insel bleibst. Wo du bist, dahin wird es auch hinkommen. Wenn du es nicht nahe bei dir haben willst, dann mußt du weglaufen, weit weglaufen und immer weiter weglaufen … Und trotzdem wird es dir folgen. Möchtest du seinen Namen wissen?«

Ged stand schweigend. Woher der Drache von dem Schatten wußte, den er, Ged, freigesetzt hatte, das konnte er nur ahnen. Auch woher er dessen Namen kannte, war ihm ein Rätsel. Der Erzmagier hatte gesagt, daß der Schatten keinen Namen hätte. Drachen jedoch haben ihr eigenes Wissen. Sie sind nämlich sehr viel älter als die Menschen. Wenige Menschen nur können ahnen, was ein Drache weiß und wie er dieses Wissen erwarb. Diese wenigen sind die Drachenfürsten. Eines nur war sicher, und davon war Ged überzeugt: Wenn der Drache die Wahrheit sprach und ihm den Namen seines schattenhaften Peinigers nennen konnte, damit er, Ged, Macht über dieses Unding bekäme, so würde der Drache nur dann bereit dazu sein, dies zu tun, wenn es seinen eigenen Zwecken diente.

»Selten kommt es vor«, sagte der junge Mann endlich, »daß Drachen gewillt sind, den Menschen eine Gunst zu erweisen.«

»Aber es ist allgemein üblich«, antwortete der Drache, »daß Katzen mit Mäusen spielen, bevor sie sie töten.«

»Ich kam nicht hierher, um zu spielen, oder um als Spielzeug zu dienen, sondern um zu verhandeln.«

Wie ein blankes Schwert, nur fünfmal länger als ein Schwert, hob sich der Schwanz des Drachen in die Höhe, und mit der Spitze, die den Turm überragte, beschrieb er einen weiten Bogen und legte ihn zurück auf seinen gepanzerten Rücken, eine Bewegung, die auch Skorpionen eigen ist. Trocken war seine Stimme: »Ich verhandle nicht. Ich nehme nur. Was glaubst du denn zu besitzen, das ich, wenn es mir gefällt, nicht wegnehmen könnte?«

»Sicherheit. Und zwar deine Sicherheit. Schwöre, daß du von Pendor aus nie östlich fliegen wirst, und ich werde schwören, daß ich dir keinen Schaden mehr zufügen werde.«

Aus dem Rachen des Drachen kam ein prasselndes Geräusch. Wie eine weit entfernte Steinlawine klang es, wenn bröckelndes Felsgestein den Berg hinunterfällt. Das Feuer tanzte auf seiner dreifach gespaltenen Zunge. Er reckte sich noch höher, eine drohende Gestalt über den Ruinen.

»Du bietest mir Sicherheit an! Du wagst mir zu drohen! Womit?«

»Mit deinem Namen, Yevaud.«

Geds Stimme zitterte, als er den Namen sagte, aber er sprach laut und klar. Beim Klang des Namens erstarrte der Drache. Eine Minute verstrich, dann noch eine. Ged, in seinem lächerlich kleinen Boot stehend, lächelte. Sein Leben und den Erfolg seines Unternehmens hatte er aufs Spiel gesetzt um einer Vermutung willen, die er den alten Geschichtsbüchern und den Drachenkunden auf Rok entnommen hatte, daß nämlich der Drache auf Pendor derselbe war, der zu Zeiten Elfarrans und Morreds den Westen Osskils verwüstete, bis der in der Namenskunde erfahrene Zauberer Elt ihn aus Osskil vertrieben hatte. Ged hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen.

»Wir können uns miteinander messen, Yevaud. Du hast die Stärke, ich habe deinen Namen. Können wir uns jetzt einigen?«

Noch immer schwieg der Drache.

Ungezählte Jahre lang hatte er hier auf der Insel gehaust, wo Edelsteine und goldene Harnische zwischen Staub, Steinen und Gebeinen verstreut lagen. Er hatte zugeschaut, wie seine schwarze Eidechsenbrut in den Hausruinen spielte und wie seine Jungen versuchten, von den Klippen herunterzufliegen. Lange, zu lange hatte er in der Sonne gelegen und geschlafen. Keine Stimme und kein Segel hatten ihn gestört. Yevaud war alt geworden. Nun fiel es ihm schwer, sich aufzuraffen und sich diesem Zauberknaben, diesem geringen, schwächlichen Feind zu stellen, vor dessen Stab er, der alte Drache, erzitterte.

»Neun Steine kannst du dir wählen aus meinem Schatz«, sagte er schließlich, und seine Stimme kam zischend und züngelnd aus seinem langen Rachen. »Die besten kannst du dir nehmen. Wähle! Und dann geh fort!«

»Ich will deine Steine nicht, Yevaud.«

»Was ist aus der Gier des Menschen geworden? Früher, im Norden, begehrte man über die Maßen das funkelnde Gestein. Ich weiß, was du begehrst, Zauberer. Auch ich kann dir Sicherheit bieten, denn ich weiß, was dich retten kann. Ich allein weiß, was dich retten kann. Ein Ungeheuer folgt dir. Ich kann dir seinen Namen nennen.«

Ged hörte sein Herz klopfen. Er umklammerte seinen Stab und verharrte reglos wie der Drache. Er bezwang eine plötzliche, unerwartete Hoffnung.

Er war nicht ausgezogen, um Rettung für sich selbst zu suchen. Und nur einen einzigen Trumpf hielt er in seiner Hand. Er gab die flüchtige Hoffnung auf und tat das, was er tun mußte.

»Nicht darum bitte ich, Yevaud.«

Als er den Namen aussprach, war es ihm, als halte er das mächtige Tier an einer feinen, dünnen Leine, die seinen Hals eng umschloß. Im Blick des Drachen, der auf ihm ruhte, spürte Ged die uralte Tücke und das auf so reichlicher Erfahrung beruhende Wissen des Drachen. Vor seinen Augen sah er die stählernen Krallen, jede so lang wie eines Mannes Unterarm, und den steinharten Panzer, und er wußte um das vernichtende Feuer, das im Rachen des Drachen verborgen war; doch er spürte, wie sich die Leine immer enger zusammenzog.

Er sprach noch einmal: »Yevaud! Schwöre bei deinem Namen, daß du und deine Söhne nie ins Inselreich kommen werden.«

Flammen schlugen plötzlich hell und laut aus dem Schlund des Drachen: »Ich schwöre es bei meinem Namen.«

Die Ruhe kehrte zurück zur Insel, und Yevaud senkte sein mächtiges Haupt.

Als er wieder aufblickte, war der Zauberer bereits verschwunden. Sein Segel sah aus wie ein kleiner Fleck, der nach Osten über die Wellen flog, dahin, wo die üppigen, mit Schmuckstücken beladenen Inseln des Innenmeeres lagen. Vor Wut kochend erhob sich der alte Drache von Pendor und krümmte so ungestüm seinen mächtigen Leib, daß der Turm zerbrach. Heftig schlug er mit seinen ausgebreiteten Schwingen, die von einem Ende der zerstörten Stadt bis ans andere Ende reichten. Aber sein Schwur hielt ihn gebannt, und er flog weder damals noch je in der Zukunft hinüber zum Inselreich.

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