DIE SCHATTEN

Ged hatte gehofft, daß er als Lehrling eines großen Magiers sofort in die Künste und Geheimnisse der Magie eingeweiht werden würde. Er hatte sich ausgemalt, wie er die Sprache der Tiere und der Blätter verstehen würde, wie er dem Wind mit Worten gebieten würde und wie er selbst nach Belieben eine andere Gestalt annehmen könnte; oder er und sein Begleiter würden als Hirsche durch den Wald jagen oder auf den Schwingen des Adlers nach Re Albi fliegen.

Aber es kam ganz anders. Zunächst wanderten sie hinunter ins Tal. Dann schlugen sie eine südliche und später eine westliche Richtung ein, die um den Berg herumführte. Sie fanden zumeist Unterkunft in den kleinen Dörfern, die an ihrem Wege lagen, manchmal übernachteten sie aber auch im Freien wie arme wandernde Zaubergesellen oder wie Trödler und Hausierer. Keine magische Welt tat sich vor ihnen auf, nichts Außergewöhnliches ereignete sich. Der eichene Stab des Magiers, vor dem Ged zuerst etwas Angst gehabt hatte, war nichts weiter als ein kräftiger Wanderstab. Drei Tage waren vergangen, dann vier, und noch immer hatte Ogion kein Zauberwort in Geds Gegenwart gesprochen und ihm noch keine Rune, keinen Namen und keinen neuen Spruch beigebracht.

Obgleich Ogion sehr schweigsam war, strahlte er solch eine Ruhe und Milde aus, daß Ged bald alle Scheu vor ihm überwand, und nach ein paar Tagen war er mutig genug, um zu fragen: »Wann wird meine Lehre beginnen, Meister?«

»Sie begann bereits«, antwortete Ogion.

Eine Stille trat ein, und man spürte, wie Ged mit sich kämpfte. Schließlich sagte er: »Aber ich habe doch noch nichts gelernt!«

»Weil du noch nicht herausgefunden hast, was ich dich lehre«, erwiderte der Magier, und ging, ohne seine großen, gleichmäßigen Schritte zu verlangsamen, weiter auf ihrem Weg, der jetzt über die hohe Paßstraße zwischen Ovark und Wiss führte. Seine Haut war kupferbraun wie die der meisten Männer in Gont; sein Haar war grau und sein Körper hager und sehnig; er redete selten, aß wenig und schlief noch weniger; seine Augen waren scharf, sein Gehör ausgezeichnet, und oft lag auf seinem Gesicht ein lauschender Zug.

Ged gab keine Antwort. Es ist nicht immer leicht, einem Magier zu antworten.

»Du willst zaubern können«, sagte Ogion nach einer Weile, als sie nebeneinander hergingen. »Du hast aber schon zuviel Wasser aus diesem Brunnen geschöpft. Warte jetzt. Ein Mann zu sein, bedeutet Geduld zu haben. Meisterschaft besteht zu neun Teilen aus Geduld. Wie heißt dieses Kraut dort drüben?«

»Strohblume.«

»Und dieses hier?«

»Ich weiß nicht.«

»Das ist vierblättriger Klee.« Ogion berührte das Unkraut mit der Spitze seines kupferbeschlagenen Stabes. Ged sah sich die Pflanze genau an und zupfte eine Fruchthülse ab. Da Ogion nichts weiter sagte, fragte er ihn: »Wozu ist es gut, Meister?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Ged behielt die Fruchthülse eine Weile in der Hand, dann warf er sie weg.

»Wenn du Klee in jeder Jahreszeit, entweder an der Wurzel, am Blatt oder an der Blüte, ja selbst am Samen oder am Geruch erkennen kannst, dann wirst du seinen wahren Namen erfahren, und dann erst wirst du sein Wesen erkennen können — und das ist viel mehr, als nur zu wissen, wozu es gut ist. Denn, letzten Endes, wozu bist du gut? Oder ich? Ist der Berg Gont zu etwas gut? Oder das Meer?« Ogion marschierte weiter, eine halbe Meile waren sie schon gegangen, als er hinzufügte: »Wer hören will, muß schweigen können.«

Der Junge runzelte die Stirn. Es paßte ihm nicht, wie ein Einfaltspinsel behandelt zu werden, aber er schluckte seinen Ärger und seine Ungeduld hinunter und versuchte zu gehorchen, darauf hoffend, daß Ogion sich schließlich doch herablassen werde und ihn etwas lehre, denn er fühlte einen Hunger nach Wissen und Macht in sich. Es schien ihm jedoch, als sie so dahinschritten, daß ihm jedes Kräuterweib und jeder Dorfzauberer auf dieser Wanderung mehr hätte beibringen können. Als sie den Berg umgangen und den einsamen Wald oberhalb Wiss erreicht hatten, fragte er sich immer häufiger, worin eigentlich Ogions große Kunst und sein Ruhm begründet seien. Regnete es nämlich, so sprach Ogion keine der Zauberformeln, die jedem Wettermacher geläufig waren, um den Regen abzuwenden. In Gont und in der Inselgruppe der Enladen, wo es haufenweise Zauberer gibt, kann es vorkommen, daß eine dicke, dunkle Regenwolke hin und her torkelt, von einer Gegend in die andere, von diesem oder jenem Wettermacher herumgeschubst, bis sie schließlich hinausgestoßen wird über die See, wo sie sich in Ruhe entleeren kann. Ogion ließ den Regen kommen, wann er wollte. Er suchte dann eine dichtgewachsene Tanne und legte sich darunter, während Ged unter den tropfenden Büschen herumkroch, naß und mißmutig, und sich fragte, wozu nun eigentlich Zauberkraft gut sei, wenn man sie nicht gebrauche, und er wünschte, er wäre als Lehrling zu dem alten Wettermacher gegangen, dort hätte er zumindest im Trockenen schlafen können.

Er sprach nicht aus, was er dachte. Er redete überhaupt nicht. Sein Meister aber lächelte und schlief ein an seinem trockenen Plätzchen auf Tannennadeln vom letzten Jahr, und der Regen rauschte.

Als die Zeit näherrückte, in der die Tage immer kürzer wurden, und die ersten Schneefälle die Höhe von Gont bedeckten, erreichten sie Re Albi, Ogions Heimatstadt. Sie liegt hoch oben in den Felsen von Oberfell, und ihr Name bedeutet Falkenhorst. Von hier kann man hinunterblicken auf das tiefe Hafenbecken und die Türme von Gont und die Schiffe beobachten, die durch das große Tor zwischen den Festungsklippen in die Bucht gleiten und sie wieder verlassen, und ganz weit im Westen, am Horizont, kann man gerade noch die blauen Berge von Oranea, der östlichsten der inneren Inseln, wahrnehmen.

Das Haus des Magiers glich den Häusern in Zehnellern, obwohl es groß und gut gebaut war und einen Herd mit Kamin statt einer einfachen Feuerstelle hatte. Es bestand aus einem großen Raum, mit einem angebauten Ziegenstall; an der westlichen Seite befand sich eine kleine Kammer, in der Ged schlief. Über seiner Strohmatratze war ein Fenster, durch das man weit übers Meer blicken konnte, aber meist mußten die Läden gegen die heftigen Winterstürme geschlossen bleiben, die vom Westen und Norden her bliesen. In der dunklen Wärme dieses Hauses verbrachte Ged den Winter. Während es draußen regnete und stürmte oder der Schnee in lautlosen Flocken niederfiel, lernte er die sechshundert hardischen Runen schreiben und lesen. Er war mit Leib und Seele bei der Sache, denn ohne dieses Wissen, nur durch Auswendiglernen von Sprüchen und Formeln, wurde noch keiner ein wahrer Meister. Hardisch, eine Sprache, die sowenig Zauberkraft besitzt wie jede andere, geht auf die Ursprache zurück, die alle Dinge bei ihrem wahren Namen nennt. Um diese Ursprache zu verstehen, müssen die Runen gelernt werden, die niedergeschrieben wurden, als die ersten Inseln dieser Welt in der Weite des Meeres erschienen.

Noch immer geschahen keine Wunder, noch wurde Zauberei geübt. Den ganzen Winter über saß Ged beim Studium, Seite um Seite im schweren Runenbuch wendend, während draußen Regen und Schnee vom Himmel fielen und Ogion von einem Gang durch den vereisten Wald oder von den Ziegen, die er versorgte, zurückkehrte. Wenn er den Schnee von seinen Stiefeln abgeklopft hatte, setzte er sich ans Feuer und schwieg. Und das lange, fast hörbare Schweigen des Magiers füllte den Raum und Geds Gedanken, bis es ihm manchmal vorkam, als hätte er vergessen, wie Worte klingen; und wenn Ogion schließlich sprach, schien es Ged, als hätte er in diesem Augenblick gerade das Sprechen erfunden, obwohl die Worte, die er sagte, sich auf nichts Außergewöhnliches bezogen, sondern von alltäglichen Dingen, vom Brot und Wasser, vom Wetter und vom Schlafen handelten.

Der Frühling kam strahlend und hell, und Ogion schickte Ged oft hinaus auf die Wiesen oberhalb von Re Albi zum Kräutersammeln. Er hieß ihn draußen bleiben, so lange es ihm gefiele, den ganzen Tag gab er ihm frei, und Ged lief hinaus, durch die vom Regen und Schmelzwasser geschwollenen Bäche, durch Wälder und über nasse, grünende, von der Sonne beschienene Felder. Ged freute sich jedesmal riesig, hinauszukommen, und er blieb immer bis spät abends, aber die Kräuter vergaß er nie ganz, und während des Kletterns und Umherschweifens, während des Auskundschaften und des Watens in den Bächen hielt er nach ihnen Ausschau und brachte immer einige nach Hause. Eines Tages fand er auf einer sumpfigen Wiese zwischen zwei Bächen viele der weißblühenden Kelchblumen, deren Blüten von Heilkundigen sehr geschätzt werden, und er beschloß, am nächsten Tag zurückzukehren. Aber jemand war ihm zuvorgekommen, ein Mädchen, das er vom Sehen her kannte, die Tochter des alten Fürsten von Re Albi. Er hatte sie noch nie angesprochen, aber nun kam sie auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich. »Ich kenne dich. Du bist der Sperber, der Lehrling unseres Zauberers. Ich wollte, du könntest mir ein bißchen von der Zauberkunst erzählen.«

Er hielt seine Augen gesenkt und schaute auf die weißen Blumen, die ihren weißen Rock berührten, und antwortete kaum, denn er war schüchtern und befangen. Aber sie hörte nicht auf zu schwätzen, und ihre offene, sorglose und eigenwillige Art des Redens half ihm, seine Scheu zu überwinden. Sie war groß, fast so groß wie er, und hatte eine gelbliche, nahezu weiße Haut; man sagte, daß ihre Mutter von Osskil oder aus einem anderen fremden Land gekommen sei. Das Haar des Mädchens war lang und glatt und fiel wie eine Kaskade schwarzen Wassers über ihre Schultern. Ged fand sie ziemlich häßlich, aber es drängte ihn doch, ihr ein Vergnügen zu machen und ihre Bewunderung zu erlangen, ein Gefühl, das immer stärker in ihm wurde, je länger sie redete. Sie brachte ihn dazu, ihr die ganze Geschichte mit dem Nebel und den Kargs zu erzählen, und sie hörte ihm zu, als ob sie ihn bewundere, und sie tat, als sei sie beeindruckt, aber sie lobte ihn mit keinem Wort. Und bald ließ sie auch das Thema fallen und schlug ein anderes an. »Kannst du Vögel und Tiere zu dir rufen?« fragte sie.

»Ja, das kann ich«, sagte Ged.

Er wußte, daß in den hohen Felsen über der Wiese ein Falkennest war, und er rief den Namen des Vogels, dem der Falke folgen muß. Er kam, aber er setzte sich nicht auf Geds Handgelenk, wahrscheinlich störte ihn die Gegenwart des Mädchens. Schreie ausstoßend, schlug er die Luft mit seinen mächtigen, ausgebreiteten Schwingen und erhob sich wieder in den Wind.

»Wie heißt die Zauberformel, die macht, daß ein Falke zu dir kommt?«

»Es ist eine Formel des Gebietens.«

»Kannst du auch machen, daß die Toten zu dir kommen?«

Er dachte, daß sie ihn mit dieser Frage zum Narren hielt, vielleicht weil der Falke ihm nicht ganz gehorcht hatte. Er konnte es nicht ertragen, verspottet zu werden. »Vielleicht könnte ich es, wenn ich wollte«, sagte er mit ganz ruhiger Stimme.

»Ist das nicht arg schwierig, arg gefährlich, einen Geist heraufzurufen?«

»Schwierig, bestimmt. Gefährlich?« Er zuckte die Achseln.

In diesem Augenblick war er fast sicher, Bewunderung in ihrem Blick zu lesen.

»Kannst du auch Liebestränke machen?«

»Das ist keine Kunst.«

»Stimmt«, sagte sie, »jede Dorfhexe kann das. Kannst du auch eine andere Gestalt annehmen, so wie man sagt, daß dies richtige Zauberer tun können?«

Er hatte wiederum das Gefühl, daß sie ihn verspottete, und er wiederholte: »Vielleicht könnte ich, wenn ich wollte.«

Jetzt begann sie, ihn zu plagen, sich doch in irgend etwas, was ihm gefiele, zu verwandeln, vielleicht in einen Falken oder in einen Stier oder in Feuer oder in einen Baum. Er versuchte, sie mit den kurzen, geheimnisvollen Worten, die sein Meister manchmal gebrauchte, hinzuhalten, aber sie hörte nicht auf, ihm zuzusetzen, und er wußte nicht, wie er sie loswerden konnte. Außerdem war er selbst nicht sicher, ob er seinen großen Reden glauben solle oder nicht. Er gab vor, daß sein Meister ihn zu Hause erwarte, und verließ sie, und am nächsten Tag vermied er die Wiese. Aber am übernächsten Tag, nachdem er sich eingeredet hatte, daß er mehr von den Blüten pflücken wolle, solange sie blühten, fand er sich wieder auf der Wiese. Das Mädchen war schon da. Barfuß wateten sie im sumpfigen Gras, und gemeinsam zupften sie die Blüten der Kelchblume ab. Die Frühlingssonne schien, und das Mädchen plapperte lustig drauflos, genau wie die Mädchen von seinem Dorf, mit denen er Ziegen gehütet hatte. Wieder fragte sie ihn alles mögliche über die Zauberei aus und machte große Augen zu allem, was er vorbrachte, so daß er schließlich wiederum anfing, anzugeben… Dann wiederholte sie ihre Bitte, daß er sich in etwas verwandeln solle, und als er versuchte, sie hinzuhalten, blickte sie ihn herausfordernd an und strich ihre schwarzen Haare aus dem Gesicht: »Hast du etwa Angst davor?«

»Nein, ich habe keine Angst davor.«

Sie lächelte etwas herablassend und meinte: »Vielleicht bist du zu jung.«

Das war zuviel. Er redete nicht mehr viel, aber er faßte den Entschluß, sich vor ihr zu beweisen. Er sagte ihr, sie solle am nächsten Tag wieder zur Wiese kommen, wenn sie Lust dazu hätte, und verabschiedete sich von ihr. Er kehrte nach Hause zurück, als sein Meister noch fort war. Er ging stracks auf das Bücherbrett zu und nahm die beiden Bände der Magierkunde herunter, die Ogion noch nie in seiner Gegenwart geöffnet hatte.

Er suchte nach einer Formel der Selbstverwandlung, aber weil er noch sehr langsam im Runenlesen war und überhaupt nur wenig von dem verstand, was er las, so fand er nicht, was er suchte. Diese Bücher waren uralt, Ogion hatte sie von seinem eigenen Meister Heleth Weitblick bekommen, und der wiederum hatte sie von seinem Meister, dem Magier von Perregal, und so weiter und so weiter bis zurück in mythologische Zeiten. Die Schrift war klein und seltsam, es war darüber- und dazwischengeschrieben, und man konnte sehen, daß es das Werk vieler Hände war, Hände, die schon lange zu Staub und Asche zerfallen waren. Ab und zu verstand er etwas von dem, was er las, aber es war hauptsächlich der Spott und die Fragen des Mädchens, die ihn weitersuchen und schließlich stutzen ließen, als von einer Beschwörungsformel der Toten die Rede war.

Während er las, langsam, denn er mußte an jeder Rune und an jedem Zeichen herumraten, fühlte er ein Grauen in sich aufsteigen. Seine Augen wurden starr, und er konnte den Blick nicht von der Seite heben, bis er mit der ganzen Beschwörungsformel fertig war.

Als er endlich den Kopf hob, bemerkte er, wie dunkel es im Hause war. Er hatte ohne Licht in der Dunkelheit gelesen. Jetzt konnte er die Runen, die vor ihm aufgeschlagen waren, nicht mehr entziffern. Doch das Grauen, das er in sich fühlte, wuchs und hielt ihn an seinen Stuhl gefesselt. Er fröstelte. Als er einen Blick über die Schulter warf, sah er dort, neben der Tür, einen formlosen, schattenhaften Klumpen, schwärzer als die tiefste Dunkelheit, hocken. Es schien, als strecke sich dieses namenlose Etwas nach ihm aus, es schien zu flüstern, ihm leise zuzurufen, aber er konnte die Worte nicht verstehen.

Die Tür flog auf. Ein Mann, umflammt von weißem Licht, betrat den Raum, eine hohe, helle Gestalt, die plötzlich laut und drohend sprach. Das dunkle Etwas verschwand, das Flüstern hörte auf, der Bann war gebrochen.

Das Grauen wurde zwar schwächer in Ged, doch eine tödliche Angst blieb zurück, denn dort unter der Tür stand Ogion der Magier, umstrahlt von hellem Licht, den eichenen Stab in der Hand haltend, der weiß leuchtete.

Ohne ein Wort zu sagen, ging Ogion an Ged vorbei, zündete die Lampe an und legte die Bücher zurück auf das Bord. Dann wandte er sich zu dem Jungen und sagte: »Nie wirst du diese Formel benutzen können, ohne Furcht um deine Macht und um dein Leben zu haben. Hast du um dieser Formel willen die Bücher geöffnet?«

»Nein, Meister«, murmelte er und schämte sich, während er Ogion alles erzählte, was sich zugetragen hatte, was er suchte und warum er es tat.

»Hast du vergessen, daß die Mutter des Mädchens, die Frau des Fürsten, eine Zauberin ist?«

Ged erinnerte sich wieder. Ogion hatte einmal davon gesprochen, aber Ged hatte nicht weiter darauf achtgegeben, obwohl er in der Zwischenzeit gelernt hatte, daß alles, was ihm Ogion sagte, von Bedeutung war.

»Das Mädchen selbst ist fast schon eine halbe Zauberin. Es kann gut sein, daß die Mutter das Mädchen hergeschickt hatte, damit sie mit dir rede. Vielleicht war sie es, die das Buch auf der Seite aufschlug, auf der du gelesen hast. Den Mächten, denen sie dient, diene ich nicht. Ihre Absicht ist mir unbekannt, aber das weiß ich: mir wünscht sie nichts Gutes. Hör mir gut zu, Ged! Hast du noch nie daran gedacht, daß Macht die Gefahr an sich lockt wie Licht den Schatten? Zauberei ist kein Spiel, das wir zum Vergnügen oder um des Ruhmes willen treiben. Und auch daran denke: Jedes Wort, das wir aussprechen, und jede Handlung, die wir als Zauberer vollbringen, wird entweder um des Guten oder um des Bösen willen getan. Daher mußt du, bevor du sprichst oder handelst, wissen, welchen Preis du dafür zahlen mußt.«

Die Reue quälte Ged, und er rief aus: »Aber wie soll ich denn das alles wissen, wenn Ihr mir nichts sagt? Seit ich hier bei Euch wohne, habe ich nichts getan, nichts gesehen…«

»Vorhin hast du etwas gesehen«, sagte der Magier. »Dort neben der Tür, in der Dunkelheit, als ich hereinkam.«

Ged sagte nichts mehr.

Ogion kniete am Herd nieder und richtete das Feuer, bevor er es anzündete, denn das Haus war kalt. Während er noch beim Feuer kniete, sagte er in seiner ruhigen Stimme: »Ged, mein junger Falke, du bist nicht an mich oder an meinen Dienst gebunden. Du kamst nicht zu mir, sondern ich zu dir. Du bist noch sehr jung für diese Entscheidung, aber ich kann sie nicht für dich treffen. Wenn du willst, schicke ich dich auf die Insel Rok, wo die Hohen Künste gelehrt werden. Jede Kunst, die du lernen willst, wirst du meistern, denn deine Macht ist groß. Größer als dein Stolz, so hoffe ich. Gerne würde ich dich bei mir behalten, denn was ich habe, das fehlt dir, aber ich will dich nicht gegen deinen Willen hier behalten. So wähle denn zwischen Re Albi und Rok.«

Ged fand keine Worte, sein Herz war in Aufruhr. Er fühlte eine tiefe Zuneigung für Ogion, der zu ihm gekommen war und ihn durch seine Berührung geheilt hatte und dem Zorn fremd war. Er liebte ihn, und erst jetzt wußte er es. Er schaute den eichenen Stab an, der in der Ecke beim Kamin lehnte, und sah wieder das Leuchten, das alles Böse aus der Dunkelheit vertrieben hatte, und er fühlte ein Verlangen in sich, mit Ogion durch den Wald zu streifen, weit und lang, und von ihm Ruhe und Stille zu lernen. Doch er fühlte auch, daß in ihm andere Begierden wach waren, die er nicht unterdrücken konnte, ein Streben nach Ruhm, ein Drang nach Taten. Ogions Weg würde ihn nicht direkt zum Wissen und zur Meisterschaft führen, gemächlich, auf Umwegen, würde er sein Ziel erreichen, während ihm hier die Gelegenheit geboten wurde, mit vollen Segeln in die innerste See zu gelangen und die Insel der Weisen zu erreichen, dort, wo die Zauberkräfte in der Luft lagen und der Erzmagier weilte, der alle Künste der Magie meisterte.

»Meister«, sagte er, »ich möchte nach Rok gehen.«

Und so kam es, daß einige Tage später, an einem sonnigen Frühlingsmorgen, Ged an der Seite Ogions den steilen Pfad von Oberfell zum Hafen nach Gont hinunter stieg. Nach fünfzehn Meilen erreichten sie das Stadttor mit den geschnitzten Drachen, wo die Posten, als sie den Magier erkannten, mit gezogenen Schwertern niederknieten und ihn willkommen hießen. Sie erwiesen ihm diese vom Fürsten angeordnete Ehre, taten es aber auch aus eigenem freien Willen, denn vor zehn Jahren hatte Ogion die Stadt vor einem Erdbeben bewahrt, das die Türme der Reichen bis auf den Boden zerstört und den Kanal zwischen den Festungsklippen mit einem Erdrutsch zugeschüttet hätte. Er sprach zum Berg und beschwichtigte die schwankenden Felsüberhänge, wie man ein scheuendes Tier beruhigt. Ged hatte davon erzählen hören, und als er die Posten vor seinem schweigsamen Meister knien sah, erinnerte er sich wieder daran. Fast ängstlich blickte er auf Ogion, der die Macht besaß, ein Erdbeben zu bändigen, aber seine Züge waren, wie immer, unverändert ruhig.

Sie schritten hinab zu den Piers, wo der Hafenmeister eilends auf sie zugelaufen kam, um Ogion zu begrüßen und nach seinen Wünschen zu fragen. Ogion nannte ihm sein Begehr, und der Hafenmeister wußte von einem Schiff, das abfahrbereit im Hafen lag und in die Innensee segeln wollte, auf dem Ged als Passagier mitfahren konnte. »Oder sie nehmen ihn als einen Windbringer an Bord, wenn er was davon versteht«, sagte er, »denn sie haben keinen Wettermacher an Bord.«

»Er hat etwas Erfahrung mit Nebel, aber nicht mit Meereswinden«, sagte der Magier und legte seine Hand leicht auf Geds Schulter. »Versuch nicht, mit dem Meer und den Winden des Meeres dein Spiel zu treiben, Sperber. Du bist noch immer eine Landratte. Hafenmeister, wie heißt das Schiff?«

»Schatten, und es kommt von den Andraden und segelt nach Hort mit Fellen und Elfenbein. Es ist ein gutes Schiff, Meister Ogion.«

Das Gesicht des Magiers hatte sich beim Namen des Schiffes verdüstert, aber er sagte: »So sei es denn. Gib diesen Brief dem Hüter der Schule von Rok, Sperber. Mögen günstige Winde dich begleiten. Lebewohl!«

Das war der ganze Abschied. Er wandte sich zum Gehen und ging mit seinen langen Schritten die vom Kai führende Straße hinauf. Ged stand verloren da und sah ihn entschwinden.

»Komm mit mir, Junge«, sagte der Hafenmeister und führte ihn zur Anlegestelle, wo die Schatten lag und die letzten Vorbereitungen zum Auslaufen getroffen wurden.

Es mag manchen wundern, daß es auf einer fünfzig Meilen breiten Insel, in einem hoch in den Felsen liegenden, tagaus tagein unverändert aufs Meer blickenden Dorf vorkommen kann, daß ein Mensch heranwächst und alt wird, ohne je in ein Boot gestiegen zu sein oder je seine Hand ins Salzwasser getaucht zu haben, aber das war nichts Ungewöhnliches. Ob Bauer, Ziegen- oder Kuhhirt, Jäger oder Handwerker, für die Landratte ist das Meer ein salziges, unbeständiges Element, das ihm fremd ist. Und das Dorf, das zwei Tagesreisen entfernt liegt, ist für den Dorfbewohner Ausland, und die Insel, zu der man in einem Tag segeln kann, nichts weiter als ein Gerücht, ein verschwommener Hügel am Horizont, aber keinesfalls fester Grund wie der, auf dem man steht.

So ungefähr hatte es sich auch mit Ged verhalten, der noch nie von den Höhen des Berges heruntergekommen war und für den der Hafen von Gont ein gar wundersames, erstaunliches Ereignis war: Die großen Häuser und Türme aus gefügtem Stein, das Ufer mit den Anlege- und Verladerampen, den verschiedenen Becken und Molen des Hafens, in dem über fünfzig Schiffe und Galeeren am Pier schaukelten oder am Ufer kieloben zur Reparatur bereit lagen oder mit eingerollten Segeln und geschlossenen Luken weit draußen vor Anker lagen, wo Matrosen sich in allen möglichen Dialekten zuriefen und schwerbeladene Hafenarbeiter zwischen Fässern und Kisten, zwischen aufgerollten Seilen und gebündelten Rudern hin- und herrannten, während bärtige Kaufleute in pelzgefütterten Umhängen gelassen miteinander verhandelten und vorsichtig über die glitschigen Steine am Ufer schritten, wo Küfer klopften und Zimmerleute hämmerten, Muschelverkäufer singend ihre Ware anpriesen, Bootsmänner Befehle brüllten und im Hintergrund das ruhige Wasser der Bucht schimmerte. Geds Augen und Ohren, alle seine Sinne schwirrten, während er dem Hafenmeister folgte, der einem breiten Landesteg zustrebte, an dem das Schiff Schatten vertäut lag, und wo er den Kapitän fand, dem er Geds Anliegen vorbrachte.

Wenige Worte nur wurden gewechselt, und der Kapitän erklärte sich bereit, Ged als Passagier nach Rok an Bord zu nehmen, denn einem Magier schlägt man keine Bitte ab. Der Hafenmeister verließ ihn. Der Schiffer war ein großer, beleibter Mann mit einem roten Umhang, der mit Pellawipelz verbrämt war, wie ihn die Kaufleute von Andrad tragen. Er schaute Ged überhaupt nicht an, fragte ihn aber in seiner dröhnenden Stimme: »Kannst du mit dem Wetter arbeiten, Junge?«

»Ja, ich kann.«

»Kannst du Wind beibringen?«

Er mußte zugeben, daß er das nicht konnte, und der Schiffer verlor das Interesse an ihm. Er hieß ihn einen Platz suchen, wo er niemandem im Wege war, und dort zu bleiben.

Die Ruderer kamen jetzt an Bord, denn das Schiff sollte noch in der gleichen Nacht hinaus auf die Reede gerudert werden und in den ersten Morgenstunden mit der Ebbe hinaussegeln. Auf dem Schiff gab es keinen Platz, wo er nicht im Wege war, und Ged kletterte daher auf das Frachtgut, das verpackt, verschnürt und mit Lederplanen bedeckt auf dem Achterdeck gestapelt lag. Während er dort mehr hing als saß, konnte er alles beobachten, was vor sich ging. Die Ruderer sprangen mit einem Satz ins Boot, kräftige Männer mit starken Armen; Hafenarbeiter rollten donnernd Wasserfässer über die Pier und verstauten sie unter den Bänken; das gut gebaute, aber schwerbeladene Schiff lag tief im Wasser, und doch tänzelte es ein wenig auf den kleinen Wellen, die unaufhörlich an die Bordwand schlugen, als sei es ungeduldig und dränge zur Abfahrt. Der Steuermann nahm seinen Platz rechts auf dem Achterdeck ein und schaute auf den Kapitän, der auf der geschnitzten Brücke stand, die aussah wie der alte Drache von Andrad und sich an der Stelle befand, wo sich Hauptmast und Kiel trafen. Der Kapitän rief seine Befehle mit mächtiger Stimme, die Schatten wurde losgebunden und von zwei mit kräftigen Ruderschlägen angetriebenen Booten von der Pier weg hinausgeschleppt. Dann konnte man den Kapitän brüllen hören: »Luken auf!«, und die Ruder schossen donnernd hinaus, an jeder Seite fünfzehn. Die Ruderer beugten ihre kräftigen Rücken nach vorne und zogen gleichmäßig an den Rudern, während ein Junge neben dem Kapitän den Takt auf einer Trommel schlug. Wie eine Möwe auf ihren Schwingen pfeilschnell durch die Luft gleitet, so flog die Schatten durchs Wasser, und im Nu war das laute Treiben der Stadt hinter ihnen verklungen. Sie fuhren hinaus in die Stille der Bucht, und über ihnen erhob sich der weiße Gipfel des Berges, als hinge er über dem Meer. In einem seichten Gewässer im Schütze der südlichen Festungsklippe warfen sie Anker und verbrachten die Nacht. Unter den siebzig Schiffsleuten gab es einige, die nicht älter als Ged waren, doch alle hatten schon ihre Namengebung hinter sich und waren in die Gemeinschaft der Männer aufgenommen. Diese Burschen riefen ihn zu sich und teilten Speis und Trank mit ihm; sie waren freundlich, aber ungehobelt und immer zu Spott und Streichen aufgelegt. Natürlich nannten sie ihn sofort Geißenhirten, weil er von Gont kam, aber dabei blieb es. Er war so groß und kräftig wie die anderen Fünfzehnjährigen an Bord, und er war gewandt und schlagfertig, so daß er keinem eine Antwort schuldig blieb. Es dauerte nicht lange, und sie begannen ihn als einen der ihrigen zu betrachten. Schon in der ersten Nacht war er mit ihnen beisammen und lernte von ihnen. Das war dem Kapitän und den anderen Schiffsleuten ganz recht, denn für untätige Passagiere war sowieso kein Platz an Bord.

Platz gab es nicht viel, auch nicht für die Mannschaft, und von Bequemlichkeit konnte in einem offenen Ruderboot, in dem Männer, ihre Habe und ihre Werkzeuge, Fracht und alles mögliche zusammengepfercht war, überhaupt nicht die Rede sein. Aber wozu brauchte Ged Bequemlichkeit? Die Nacht verbrachte er auf einem Stapel gerollter Felle, die von den nördlichen Inseln kamen, und betrachtete die Sterne am Frühlingshimmel und die winzigen gelben Lichter der Stadt, die hinter ihnen lag, und schlief ein und wachte wieder auf und war glückselig. Noch vor dem Morgengrauen begann die Flut anzulaufen, und sie lichteten Anker und ruderten, ohne viel Geräusch zu machen, zwischen den Festungsklippen hinaus ins offene Meer. Als die Morgensonne den Gipfel des Berges Gont rötlich erglühen ließ, setzten sie das Hauptsegel und segelten in südwestlicher Richtung über die See von Gont.

Zwischen Barnisk und Torheven segelten sie begünstigt von einem leichten Wind, und am zweiten Tag sichteten sie die große Insel Havnor, das Herz und Heim des Inselreiches. Drei Tage lang konnten sie die grünen Hügel von Havnor sehen, während sie die Ostküste entlang kreuzten, aber nie gingen sie an Land. Viele Jahre später erst betrat Ged diese Insel und sah die weißen Türme des Großhafens von Havnor, die im Zentrum der Welt stehen.

Sie verbrachten eine Nacht in Kembermünde, dem Nordhafen der Insel Weg, und die nächste Nacht in einer kleinen Stadt nahe an der Einfahrt zur Felkwegbucht. Am nächsten Tag passierten sie das O-Kap und kamen in die Meerenge von Ebavnor. Hier strichen sie die Segel und ruderten, Land lag zu beiden Seiten, und sie befanden sich immer in Rufweite von anderen Schiffen, großen und kleinen, Last- und Handelsschiffen; manche kehrten, schwerbeladen und exotische Fracht führend, von jahrelangen Fahrten in den äußeren Bereichen zurück, andere flatterten, Sperlingen gleich, von Insel zu Insel der Innensee. Bald verließen sie die befahrene Meeresstraße und wandten sich gen Süden. Havnor verschwand hinter ihnen, und sie segelten zwischen den lieblichen Inseln Ark und Ilien, deren Städte terrassenförmig, mit vielen Türmen, angelegt waren, dann aber mußten sie sich ihren Weg durch Regen und immer stärkeren Wind über die Innensee zur Insel Rok erkämpfen.

In der Nacht steigerte sich der Wind zu einem Sturm, alle Segel mußten heruntergeholt und der Mast umgelegt werden. Am folgenden Tag mußten sie ununterbrochen rudern, vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein. Sicher und fest ritt das Schiff auf den Wellen, mutig durchschnitt es die anstürmenden Wogen, aber der Steuermann, das lange Ruder in der Hand haltend, sah nichts als Regen, der unaufhörlich aufs Wasser klatschte. Sie fuhren in südwestlicher Richtung, die Magnetnadel zeigte ihnen den Kurs, aber sie wußten nicht, in welchen Gewässern sie sich befanden. Ged hörte, wie die Männer von den Untiefen nördlich von Rok sprachen und von dem Borilousfelsen im Osten der Insel. Manche meinten, daß sie schon längst weit vom Kurs abgekommen seien und sich wahrscheinlich in den einsamen Gewässern südlich von Kamery befänden. Aber noch immer nahm der Wind zu. Schaumfetzen von den Spitzen der anstürmenden Wogen flogen in die Höhe, und die Wellen zwangen sie weiterhin, südwestlichen Kurs einzuhalten. Die Ruderer wurden jetzt schneller abgelöst, die Anstrengungen in diesem Wetter waren gewaltig; wo vorher einer der jüngeren Burschen genügte, da saßen jetzt zwei; Ged, der seit Gont seinen Platz ausgefüllt hatte, war genauso dran wie jeder andere. Wer nicht ruderte, schöpfte Wasser, denn die Wellen schlugen immer häufiger ins offene Boot. So mühten sie sich zwischen den schäumenden, vom Wind getriebenen Wellenbergen, während der Regen auf ihre Rücken prasselte und die Trommel im Donner des Sturmes wie ein Herzschlag dröhnte.

Ein Mann kam und übernahm Geds Platz und schickte den Jungen zum Kapitän, der im Bug des Schiffes stand. Regenwasser strömte vom Saum seines Umhangs, aber wie ein Weinfaß, rund und fest, stand er auf seinem winzigen Deck. Auf Ged herabschauend, fragte er: »Kannst du diesen Wind stillen, Junge?«

»Nein.«

»Hast du Macht über Eisen?«

Was er damit meinte, war Ged klar. Er wollte, daß die Nadel im Kompaß sich nach ihm, nicht nach dem Norden richte, und ihnen den Weg nach Rok zeige. Diese Kunst war ein Geheimnis der Seemeister, und wiederum mußte er verneinen.

»Dann bleibt uns nichts übrig«, die mächtige Stimme des Schiffers übertönte Wind und Wellen, »und du mußt in Hort ein Schiff finden, das dich nach Rok zurückbringt. Rok muß westlich von uns liegen, und nur Zauberei kann uns dorthin, durch dieses Wetter, bringen. Wir sind gezwungen, uns südlich zu halten.«

Das gefiel Ged ganz und gar nicht. Viel Übles hatte er von Matrosen über diese Stadt gehört: von der rohen Gewalt, die dort herrschte, von dem verbotenen Handel, der dort getrieben wurde, vom Menschenhandel und von den Sklaven, die in den Südbereichen verkauft wurden. Er kehrte zurück auf seinen Platz und zog wieder, so fest er konnte, am Ruder, zusammen mit seinem Genossen, einem kräftigen Burschen aus Andrad. Er hörte die Trommel den Takt schlagen und sah, wie die Laterne vom Wind hin- und hergerissen wurde, ein winziger Lichtfleck in der regennassen Dunkelheit. Sooft er zwischendurch konnte, schaute er nach Westen; und einmal, als sie hoch auf einem Wellenkamm ritten, sah er einen kurzen Augenblick lang ein Licht zwischen den Wolken, wie es die letzten Strahlen der untergehenden Sonne hervorbringen, aber dieses Licht war nicht rot, sondern weiß.

Sein Rudergefährte hatte es nicht gesehen, aber Ged rief es den anderen zu. Der Steuermann paßte auf und schaute jedesmal, wenn sie auf eine Welle gehoben wurden, danach aus, und als Ged es wiedersah, sah auch er das Licht, aber er rief, daß es das Licht der untergehenden Sonne sei. Daraufhin rief Ged einen der wasserschöpfenden Burschen zu sich und bat ihn, eine kurze Weile seinen Platz zu übernehmen, während er sich zwischen den Ruderbänken durchschlängelte, an den geschnitzten Bug klammerte, denn die rollende See warf das Boot von einer Seite auf die andere, und zum Kapitän hinauf rief: »Das Licht dort drüben ist Rok!«

»Ich habʹ kein Licht gesehen«, brüllte der Kapitän, aber noch während er sprach, deutete Ged nach Westen, und alle konnten jetzt deutlich ein helles Glimmen wahrnehmen, das sich über den stürmenden, tobenden Schaum des Meeres erhob.

Nicht seinem Passagier zuliebe, sondern um sein Schiff der Gefahr des Sturmes zu entheben, rief der Kapitän seinem Steuermann zu, den Kurs zu ändern und auf das Licht zuzusteuern. Zu Ged aber sagte er: »Junge, du redest wie ein Seemeister; aber das kann ich dir sagen, wenn du uns in diesem Wetter irreführst, werfe ich dich über Bord, und du kannst nach Rok schwimmen!«

Jetzt mußten sie gegen den Wind rudern, während sie vorher mit dem Wind liefen, und ihre Mühsal verdoppelte sich. Die gegen das Boot schlagenden Wellen versuchten, das Schiff vom Kurs ab nach Süden zu drängen, es rollte und schlingerte und füllte sich so schnell mit Wasser, daß das Schöpfen keinen Augenblick lang ausgesetzt werden konnte; die Ruderer mußten doppelt aufpassen, denn im rollenden Schiff bestand die Gefahr, daß die schweren Ruder während des Ziehens aus dem Wasser gehoben und die Ruderer unter den Bänken landen würden. Es war fast ganz dunkel unter den Wetterwolken, aber ab und zu konnten sie das Licht im Westen sehen, oft genug, um den Kurs nicht zu verlieren, und sie mühten sich weiter ab. Endlich ließ der Sturm etwas nach, und das Licht über ihnen wurde heller. Sie ruderten weiter, und, als hätten sie einen Vorhang durchbrochen, fanden sie sich plötzlich, von einem Ruderschlag zum andern, in einer ruhigen See und unter einem klaren Himmel, auf denen noch das späte Licht eines Sonnenuntergangs lag. Über dem hellen Wellenschaum sahen sie einen hohen, grünen runden Berg und an dessen Fuß eine Stadt, die eine kleine Bucht umschloß, in der Schiffe ankerten, ein Bild der Ruhe und des Friedens.

Der Steuermann lehnte sich auf sein langes Ruder und wandte sich gegen den Kapitän: »Ist das nun richtiges Land oder Hexerei?«

»Paß auf und halte deinen Kurs, du Schafskopf! Rudert, ihr kraftlosen Sklavensöhne! Das ist die Bucht von Thwil und der Kogel von Rok, jeder Narr kann das sehen! Rudert!«

Dem Takt der Trommel gehorchend, ruderten sie erschöpft in die Bucht. Dort war es so ruhig, daß sie die Stimmen der Menschen oben in der Stadt und das Läuten einer Glocke vernehmen konnten, und nur ganz in der Ferne hörten sie das Zischen und Wüten des Sturmes. Dunkle Wolken erhoben sich nördlich, östlich und südlich eine Meile entfernt von der Insel, aber über Rok erschien ein Stern nach dem andern im klaren, stillen, ruhigen Himmel.

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