WAS SICH NACH DEM ESSEN EREIGNETE

»Und nun, bitte, erzählen Sie uns, was mit Herrn Tumnus geschah«, bat Lucy.

»Oh, das ist schlimm«, sagte der Herr Biber und schüttelte besorgt seinen Kopf, »das ist eine sehr, sehr böse Sache. Er ist zweifellos von der Polizei verhaftet worden. Ich hörte es von einem Vogel, der zusah.«

»Aber wohin haben sie ihn gebracht?« fragte Lucy.

»Sie brachten ihn nach Norden, und alle wissen, was das bedeutet.«

»Aber wir wissen es nicht«, wandte Suse ein. Der Biber bewegte seinen Kopf noch sorgenvoller.

»Ich fürchte, sie brachten ihn in ihr Haus.«

»Aber was werden sie dort mit ihm machen, Herr Biber?« Lucy stockte der Atem.

»Ja«, antwortete er, »das kann ich nicht genau sagen. Wer einmal drin ist, kommt eben meist nicht wieder heraus. Sie…«, er hielt inne und schauderte, »verstei­nert die Leute. Alle werden Steinfiguren. Das ganze Haus soll überfüllt sein mit ihnen, im Hof, auf den Trep­pen, in der Halle, überall stehn sie, alle versteinert.«

»Aber, Herr Biber«, jammerte Lucy, »könnten wir, sollten wir, müßten wir denn nicht etwas tun, um ihn zu retten? Das ist ja zu schrecklich, und noch dazu durch meine Schuld.« »Sicherlich würdest du ihn retten, wenn du könntest, Liebes«, sagte die Frau Biberin. »Aber du hast gar keine Möglichkeit, gegen ihren Willen in das Haus und jemals lebend wieder herauszukommen.«

»Man könnte einen Plan aushecken«, schlug Peter vor.

»Wir könnten uns verkleiden und als Hausierer auftreten oder so etwas Ähnliches oder aufpassen, bis sie einmal ausgeht. Zum Kuckuck noch mal, es muß sich doch ein Weg finden lassen. Dieser Faun hat meine Schwester auf eigene Gefahr gerettet, Herr Biber! Wir dürfen ihn nicht im Stich lassen, bis er… bis sie ihm das antut.«

»Es hat keinen Sinn, Adamssohn, keinen Sinn, daß du es unternimmst. Denn jetzt, wo Aslan unterwegs ist…«

»O ja, erzählen sie uns etwas über Aslan!« riefen sogleich mehrere Stimmen, und wieder überkam sie dieses wunderliche Gefühl von Frühling, von froher Botschaft.

»Wer ist Aslan?« fragte Suse.

»Aslan?« antwortete Herr Biber. »Das wißt ihr nicht? Er ist der König, er ist Herr über die Wälder, aber er ist nicht oft hier. Weder in meines Vaters Zeiten noch solange ich lebe war er hier. Aber wir haben gehört, daß er nun kommen wird, und er soll schon zurückgekehrt sein. Er wird mit der Weißen Hexe abrechnen. Er wird Tumnus retten, nicht ihr, liebe Kinder.«

»Wird sie ihn nicht auch in Stein verwandeln?« fragte Edmund.

»Mein Gott, Adamssohn, wie kannst du so etwas sagen?« antwortete der Biber mit lautem Gelächter. »Ihn in Stein verwandeln! Wenn sie in ihrer ganzen Größe vor ihm stehn und ihm ins Gesicht blicken kann, ist es das Äußerste, was ihr gelingt, mehr kann sie sicher nicht. Nein, nein, es wird alles recht werden, so, wie es in einem alten Spruch heißt:

Das Krumme wird gerad, sobald Aslan naht!

Beim Klang seiner Stimme verweht alles Schlimme.

Entblößt er die Zähne und schüttelt die Mähne,

wird Winter vergehn und Frühling erstehn.

Das begreift ihr erst, wenn ihr ihn seht.«

»Aber werden wir ihn denn sehn?« fragte Suse.

»Ja, Evastochter, darum habe ich euch hierher­gebracht Ich soll euch zu ihm führen«, sagte der Biber.

»Ist… ist er… ein Mensch?« fragte Lucy.

»Aslan ein Mensch?« sagte der Biber empört. »Keine Rede davon! Ich habe euch doch gesagt, daß er der König der Wälder ist und der Sohn des Großen Königs jenseits der Meere. Wißt ihr denn nicht, wer der König der Tiere ist? Aslan ist ein Löwe, der Löwe, der große Leu.«

»Oh«, rief Suse. »Ich dachte, er sei ein Mensch. Ist man dann auch sicher vor ihm? Vor einem Löwen habe ich Angst.«

»Das macht nichts, mein Kind, du sollst auch Angst haben«, sagte die Biberin. »Wenn jemand vor Aslan erscheint, ohne daß ihm die Knie zittern, dann ist er entweder unerhört mutig oder bloß ein Narr.«

»Dann ist man also doch nicht sicher vor ihm?« meinte Lucy.

»Sicher?« wiederholte der Herr Biber. »Ja, hast du denn nicht gehört, was meine Frau sagte? Wer hat denn von sicher geredet? Natürlich, man ist nicht sicher vor ihm, aber er ist gut, und er ist der König.«

»Ich möchte ihn sehn«, erklärte Peter, »auch wenn ich mich noch sosehr vor ihm fürchte.«

»Ausgezeichnet, Adamssohn!« rief der Biber und schlug seine Pfote so kraftvoll auf den Tisch, daß die Tassen und Schüsseln klirrten.

»Du sollst dich davor fürchten. Botschaft ist schon gekommen, morgen hast du ihm, wenn irgend möglich, am Steintisch zu begegnen.«

»Wo ist das?« fragte Lucy.

»Ich zeige es euch«, antwortete der Biber. »Unten am Fluß, ziemlich weit zu laufen. Ich bringe euch hin.«

»Und was wird indessen aus dem armen Herrn Tumnus?« fragte Lucy.

Am schnellsten helfen wir ihm, wenn wir Aslan aufsuchen« sagte der Biber. »Erst wenn er mit uns ist, können wir überhaupt etwas tun. Allerdings brauchen wir auch euch dazu, denn es gibt einen andern Spruch:

Sitzt einst auf Feenedens Thron

von Fleisch und Blut ein Adamssohn,

vorbei ist's mit der Teufelsbrut,

und alle Übel werden gut!

Da er und ihr alle gekommen seid, geht es einem guten Ende entgegen. Von Aslans Erscheinen in diesen Landen hatten wir schon gehört, lange vorher, keiner kann sagen, wann, aber nie vormals war einer der euern hier.«

»Da gibt es noch etwas, Herr Biber, was ich nicht verstehe«, sagte Peter. »Ist denn die Hexe selber kein Mensch?«

»Sie möchte, daß wir es glauben und daß sie deshalb ein Recht hat, unsere Königin zu sein. Nein, sie ist keine Evastochter. Sie stammt zwar von eurem Vater Adam« hier verbeugte sich der Biber –, »und zwar von der ersten Frau eures Adamvaters, Lilith hieß sie, und die war eine Dämonin und stammte einerseits von Geistern ab und anderseits von Riesen. Nein, nein, nicht ein Tropfen reines Menschenblut fließt in den Adern der Zauberin.«

»So ist sie also darum so durch und durch böse, mein lieber Biber?« sagte seine Frau.

»Sehr richtig«, erwiderte er. »Man kann zweierlei Meinung über menschliche Wesen haben – ich will dabei keinem der Anwesenden zu nahe treten, aber Wesen, die wie Menschen aussehn und keine sind, über solche Geschöpfe gibt es nur eine Meinung.«

»Ich habe aber gute Zwerge gekannt«, gab Frau Biberin zu bedenken.

»Ich auch, da du schon einmal davon sprichst. Die sind selten genug, sind Ausnahmen und gleichen allem andern eher als den Menschen. Aber im allgemeinen, das rate ich dir, wenn du irgendwo einem Wesen begegnest, das sich so anstellt, als sei es ein Mensch, oder einmal menschliches Wesen annimmt und es nicht ist oder ein Mensch sein sollte und es doch nicht ist, dann sei auf deiner Hut und greif nach dem Beil. Deshalb lauert die Hexe immer auf wirkliche menschliche Wesen, seit vielen Jahren schon wartet sie auf euch, und wenn sie wüßte, daß vier von euch hier weilen, wäre sie noch gefährlicher.«

»Wieso denn?« fragte Peter.

»Es gibt noch einen andern Wahrspruch«, sagte der Biber. »Unten auf Feeneden – das ist das Schloß an der Meeresküste, an des Flusses Mündung, es müßte eigentlich die Hauptstadt des Landes sein, wenn es mit rechten Dingen zuginge –, in Feeneden, da stehn vier Throne, und in Narnia geht die Sage, keiner weiß, wie lange es her ist: Sitzen zwei Adamssöhne und zwei Evastöchter auf diesen vier Thronen, dann ist die Herrschaft der Weißen Hexe zu Ende, und damit ist auch ihr Leben verwirkt. Das ist der Grund, warum wir auf dem Weg hierher so vorsichtig sein mußten. Hätte sie eine Ahnung, daß ihr vier hier seid, wäre euer Leben nicht mehr einen Pfifferling wert.«

Die Kinder schwiegen nach der Erzählung des Bibers.

Sie hatten so aufmerksam zugehört, daß sie lange nichts anderes wahrnahmen. Doch dann rief Lucy plötzlich aus: »Hallo, wo steckt denn Edmund?«

Eine entsetzliche Pause folgte. Einer fragte den andern.

»Wer sah ihn zuletzt? Wie lange ist er schon weg? Ist er draußen?« Und alle drängten sich zur Tür, um nach ihm auszuschauen. Der Schnee fiel dicht und gleichmäßig, und das grüne Eis des Tümpels war unter einer dicken, weißen Decke verschwunden. Von der Mitte des Dammes, wo das kleine Haus stand, war kaum das Ufer zu sehn. Sie liefen hinaus und versanken bis über die Fußknöchel in dem weichen Neuschnee. Sie rannten in allen Richtungen um das Haus. »Edmund! Edmund!« riefen sie, bis sie heiser wurden. Aber der lautlos fallende Schnee dämpfte ihre Stimmen, und nicht einmal ein Echo kam als Antwort.

»Geradezu schrecklich«, jammerte Suse, als sie endlich verzweifelt zurückkehrten. »Ach, ich wünsch­te, wir wären niemals hierhergekommen.«

»Was um Himmels willen sollen wir jetzt tun, Herr Biber?« fragte Peter.

»Tun?« antwortete der Biber, der schon dabei war, seine Schneestiefel anzuziehn. »Wir müssen sofort aufbrechen! Keinen Augenblick dürfen wir zögern.«

»Am besten teilen wir uns in vier Rettungsgruppen. Jeder geht in eine andere Richtung«, schlug Peter vor. »Wer ihn findet, kommt gleich zurück und…«

»Rettungsgruppen, Adamssohn?« unterbrach der Biber.

»Wozu das?«

»Selbstverständlich, um Edmund zu suchen.«

»Es hat keinen Zweck, ihn zu suchen«, knurrte der Biber.

»Was soll das heißen?« fragte Suse. »Er kann doch nicht weit sein! Wir müssen ihn finden! Warum behaupten Sie, daß es keinen Zweck hat, ihn zu suchen?«

»Weil es ganz klar ist, wo er ist«, antwortete der Biber.

Alle starrten ihn atemlos an. »Begreift ihr denn nicht? Er ist zu ihr gegangen, zur Weißen Hexe. Und er hat uns verraten.«

»Oh, unmöglich!« rief Suse. »Das kann er nicht getan haben.

»Kann er wirklich nicht?« sagte der Herr Biber und musterte die Kinder mit scharfem Blick. Was sie auch vorbringen wollten, erstarb auf ihren Lippen, denn jedes von ihnen war plötzlich ganz sicher: Genau das war es, was Edmund getan hatte.

»Aber wieso kennt er den Weg?« fragte Peter.

»Ist er denn nie vorher hier im Land gewesen?« fragte der Biber.

»Doch«, antwortete Lucy. »Leider war er schon hier.«

»Und hat er auch erzählt, was er getrieben hat, wem er begegnet ist?«

»Nein, das tat er nicht«, sagte Lucy.

»Dann glaubt mir«, sagte der Biber, »die Weiße Hexe hat ihn erwischt, und er hat sich auf ihre Seite geschlagen. Er hat erfahren, wo sie wohnt. Ich wollte es bisher nicht erwähnen, da er euer Bruder ist… und überhaupt… und so. Aber als ich seine Augen sah, sagte ich mir: Das ist ein Verräter. Er sah aus wie einer, der bei der Zauberin gewesen ist und ihre Spei­sen genossen hat. Wenn man lange genug in Narnia gelebt hat, erkennt man das sofort an den Augen.«

»Und wenn auch«, sagte Peter mit halberstickter Stimme.

»Wir müssen ihn suchen gehn! Selbst wenn er ein rechtes kleines Biest ist, bleibt er doch unser Bruder, und er ist auch nur ein Kind.«

»In das Haus der Hexe gehn?« rief die Frau Biberin.

»Begreife doch, du mußt ihr fernbleiben. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn und euch zu retten.«

»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte Lucy.

»Ei! Sie will ja gar nichts anderes als euch alle vier auf einmal kriegen. Die ganze Zeit denkt sie an nichts anderes als an ihre vier Throne auf Feeneden. Sobald ihr alle vier in ihrem Haus seid, hat sie gewonnenes Spiel, und bevor ihr noch Piep sagen könnt, stehn vier neue Steinfiguren in ihrer Sammlung. Solange er der einzige ist, läßt sie ihn leben und benutzt ihn als Lockvogel. Er ist der Köder, mit dem sie euch fangen will.«

»Oh, kann uns denn keiner helfen?« wehklagte Lucy.

»Niemand als Aslan, sagte der Biber. »Er ist unsere einzige Hoffnung.«

»Meine Lieben«, sagte nun die Bibern. »Es wäre wichtig zu wissen, wann er entwischt ist. Er kann ihr nur verraten, was er hier gehört hat. Haben wir Aslan schon erwähnt? Wenn nicht, dann ist alles gut. Dann weiß sie gar nicht, daß Aslan in Narnia angekommen ist und daß wir ihm begegnen sollen. Sie wird, was das anbelangt, nicht auf ihrer Hut sein.«

»Ich erinnere mich nicht mehr«, begann Peter. »War er noch dabei, als wir von Aslan sprachen?«

»Doch, er war dabei.« Lucys Stimme klang kläglich.

»Erinnert euch doch. Er fragte, ob die Hexe nicht auch Aslan versteinern könnte.«

»Schlimm, schlimm«, meinte der Biber. »Und nun weiter: War er noch da, als ich euch erzählte: der Treffpunkt mit Aslan ist der Steintisch?«

Auf diese Frage wußte keiner eine Antwort.

»Denn«, meinte der Biber, »wenn er das gehört hat, dann jagt sie einfach mit ihrem Schlitten in dieser Richtung los, fängt uns noch, bevor wir den Steintisch erreichen, und wir sind von Aslan abgeschnitten.«

»Das ist nicht ihr erster Gedanke«, sagte die Biberin.

»Nein, nein, ich kenne sie. Sobald ihr Edmund erzählt hat, daß wir hier alle beisammensitzen, versucht sie, uns gleich hier zu fangen. Wenn sie vor einer halben Stunde aufgebrochen ist, kann sie in einer Viertelstunde hiersein.«

»Du hast recht, liebe Frau«, bestätigte ihr Mann. »Wir müssen fort! Jeder Augenblick ist kostbar.«

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