»Ihre Männer?« flüsterte ich.

Nemo nickte; jedenfalls nahm ich an, daß das kurze Beben seiner schwerfälligen Tiefseemontur ein Nicken sein sollte. »Oui«, sagte er. »Ein wenig zu spät, aber besser spät als gar nicht.« Er seufzte und blickte zum Mond hinauf. Ich war mir nicht sicher, denn sein Gesicht war hinter der schmalen Öffnung des Taucherhelmes nur undeutlich zu sehen, aber ich glaubte, einen raschen Ausdruck von Sorge über seine Züge huschen zu sehen.

»Was haben Sie?« fragte ich.

Nemo fuhr zusammen, sah mich einen ganz kurzen Moment lang fast schuldbewußt an und rettete sich in ein Lächeln.

»Nichts«, log er. »Kommen Sie. Das Boot wartet.«

Hinter uns wurde die Nacht lebendig, als nach und nach auch die anderen Mitglieder unserer verunglückten Expedition aus dem Kanal kamen. Der kleine Trupp bot einen genauso seltsamen wie bemitleidenswerten Anblick. Spears' Männer - mit ihm selbst an der Spitze - sahen ungefähr so aus, wie ich mich fühlte, nämlich gräßlich. Das Dutzend Marinesoldaten wankte mehr ins Freie, als daß es ging. Kaum einer von ihnen war ohne Blessuren davongekommen, und alle waren sie über und über mit Schmutz und glitzerndem Schlamm bedeckt. Und Nemos Männer boten keinen besseren Anblick. Ihre Unterwasserpanzer waren über und über mit Schlamm und fauligem Tang bedeckt, und die Last der Kleidungsstücke, für ein anderes Element als die Luft geschaffen, ließ ihre Träger gebeugt und schleppend gehen wie uralte Männer.

Nemo und ich traten zur Seite, um die Männer passieren zu lassen. Der Platz auf dem schmalen, auf einer Seite von einem rostigen Gitter begrenzten Sims über dem Sammelbecken wurde eng, als auch der letzte aus dem Kanal heraus war, und zwei von Spears Männern brachen schlichtweg vor Entkräftung zusammen.

Auch ich spürte Müdigkeit wie eine betäubende Woge durch meine Glieder kriechen. Jetzt, als die Anspannung allmählich von mir abfiel, verlangte mein Körper den Preis für die Stunden der Anstrengung. Was ich fühlte, war die normale, körperliche Erschöpfung, die mit der Erleichterung, einer drohenden Gefahr entronnen zu sein, einhergeht. Aber gleichzeitig fühlte ich auch, daß es noch lange nicht vorbei war. Nemos Eingreifen hatte uns zweifellos das Leben gerettet, aber wir hatten nur ein kleines Scharmützel gewonnen, nicht einmal eine Schlacht.

Geschweige denn den Krieg.

Mühsam blinzelte ich die Müdigkeit weg, lehnte mich schwer gegen das eiserne Schutzgitter und starrte auf das rechteckige Wasserbecken hinunter. Das Licht war sehr schwach, aber ich konnte erkennen, daß die Männer dort unten einen dunklen, langgestreckten Körper heranzogen; das Boot, von dem Nemo gesprochen hatte. Ein Licht begann zu blitzen, sorgsam gegen das Land hin abgeschirmt, so daß ich selbst von hier oben aus nur seinen rhythmischen Widerschein auf dem Wasser ausmachen konnte. Neugierig hob ich den Blick und sah in östliche Richtung, dorthin, wo sich hinter der Schwärze der Nacht das Meer verbarg. Mein Verdacht bestätigte sich: nach einer Weile antwortete weit draußen auf dem Meer ein winziger Leuchtpunkt auf das Flackern der Lampe. Plötzlich bedauerte ich, das Morsealphabet niemals gelernt zu haben.

»Ihr Boot?« fragte ich, an Nemo gewandt, aber ohne den Blick vom Meer zu nehmen.

Der Mann in dem schwerfälligen Unterwasserpanzer antwortete nicht auf meine Frage, und als ich mich nach einer Weile doch zu ihm umwandte, bemerkte ich, daß sein Blick besorgt über Spears' zusammengekauerte Gestalt huschte. Der Fregattenkapitän war auf die Knie gesunken, wie die meisten seiner Männer, und rang nach Atem. Ich glaube nicht, daß Nemo meine Worte überhaupt vernommen hatte, denn ich hatte sehr leise gesprochen, und das Gurgeln und Rauschen des Wassers übertönte ohnehin fast jeden anderen Laut. Trotzdem wiederholte ich meine Frage nicht noch einmal, sondern sah Nemo nur stirnrunzelnd an und begnügte mich mit dem unmerklichen Nicken, das er mir schließlich zur Antwort gab.

»Vorwärts«, sagte Nemo plötzlich laut. »Wir müssen weiter. Schaffen Ihre Männer den Abstieg noch, Kapitän Spears?«

Der Fregattenkapitän sah auf, starrte Nemo einen Moment lang aus dunklen, vor Erschöpfung und Müdigkeit trüb gewordenen Augen an und rang sich ein mattes Nicken ab. Nemo streckte ihm die Hand entgegen, um ihm auf die Füße zu helfen, aber Spears ignorierte die Geste, griff mit zitternden Fingern nach dem rostigen Eisengitter neben sich und zog sich aus eigener Kraft in die Höhe. »Wo... wo sind wir überhaupt?« murmelte er. »Noch in Schottland oder bereits auf der anderen Seite des Erdballs?«

Nemo lachte leise. »Keine Sorge, Kapitän. Wir sind nur ein paar Meilen von Aberdeen entfernt. Aber dieser Weg erschien mir am sichersten, die Kanalisation zu verlassen. Sie werden einsehen, daß meine Leute und ich ein... äh, gewisses Aufsehen erregt hätten, hätten wir die Stadt auf dem Landwege zu verlassen versucht.«

Spears starrte ihn an und preßte die Lippen aufeinander. Ich konnte direkt sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Aber zu meinem und wohl auch Nemos Erstaunen ging Spears nicht weiter auf seine Worte ein, sondern drehte sich herum und begann ohne ein weiteres Wort, die rostzerfressene Eisenleiter hinunterzusteigen, die zum Rande des Sammelbeckens führte. Konnte es wirklich sein, daß er nicht wußte, wem er gegenüberstand?

Wieder fing ich einen Blick Nemos auf, und wieder gewahrte ich diese sonderbare Mischung aus Sorge und angespannter Bereitschaft auf seinen Zügen. Er schien so deutlich wie ich zu spüren, daß mit Spears irgend etwas nicht stimmte.

Nemo und ich waren die letzten, die den gemauerten Sims verließen. Der Kanal mündete - aus einem Grund, den allerhöchstens die Architekten dieser Anlage und vermutlich nicht einmal sie kannten - gute fünf Yards über dem riesigen Schlammbecken, so daß die Leiter dicht neben einem schäumenden Wasserfall entlangführte und das rostige Eisen schlüpfrig und glatt war, als wäre es mit Schmierseife überzogen. Nach dem kräftezehrenden Marsch durch die Unterwelt Aberdeens überstieg diese letzte Kletterpartie beinahe meine Kräfte. Ich wankte, als ich unten ankam, und hätte Nemo nicht wortlos zugegriffen und mich gestützt, dann hätte mein Ausflug wohl in einem Schlammbad seinen krönenden Abschluß gefunden.

Nicht, daß das noch einen großen Unterschied gemacht hätte. Ich schenkte ihm einen dankbaren Blick, trat naserümpfend ein Stück von der ölig glänzenden Brühe im Becken zurück, und schlurfte mit hängenden Schultern hinter ihm her. Es war ein ziemlich zerschlagener Haufen, der schließlich das Meeresufer erreichte. Ein paar von Spears' Männern ließen sich erschöpft auf die Knie sinken oder warfen sich gar der Länge nach in die eiskalte Brandung, um den Schlamm und das stinkende Wasser abzuwaschen, während Nemos Leute wie durch Zufall ein Stück zurückblieben und sich im Halbkreis hinter den Marinesoldaten aufstellten. Auch von Nemo selbst hatte eine fühlbare Anspannung Besitz ergriffen. Von der Erschöpfung, die ich ihm noch vor Augenblicken angemerkt hatte, war keine Spur mehr geblieben. Auf ein Zeichen des Kapitäns hin kam das Boot, das ich von oben aus gesehen hatte, näher. Ich erkannte jetzt, daß es weit aus größer war, als ich bisher geglaubt hatte. Gute zwanzig Fuß lang und mit einem - wenn auch im Moment zurückgelegten - Mast. Es mußte mehr als zwei Dutzend Männern Platz bie ten und war schon fast eine kleine Pinasse. An seinem Heck befand sich ein sonderbarer Aufbau, den ich in der herrschenden Dunkelheit zwar nicht genau erkennen konnte, der aber einen irgendwie bizarren Eindruck machte, gezackt und dabei geschwungen, so daß er dem ganzen Boot etwas von einem Haifisch zu verleihen schien, trotz seiner plumpen Form. Bemannt war das Schiff nur mit drei Matrosen, die die gleichen schwerfällig wirkenden Monturen trugen wie Nemo und seine Leute.

Auch sie waren bewaffnet. Und ich war ziemlich sicher, daß es kein Zufall war, daß die Spitzen ihrer Zackenharpunen auf die Gruppe erschöpfter Marinesoldaten am Ufer deuteten.

»Bitte, meine Herren - gehen Sie an Bord«, sagte Nemo. Seine Stimme klang ungeduldig, fast gereizt.

Spears sah auf. Auf seinen Zügen mischten sich Überraschung und Müdigkeit mit einem langsam aufkeimenden immer stärker werdenden Schrecken.

»Was soll das heißen?« fragte er. »Wieso...«

»Bitte, Kapitän«, unterbrach ihn Nemo. »Befehlen Sie Ihren Leuten, an Bord der Pinasse zu gehen. Meine Zeit ist knapp bemessen.«

Spears schluckte krampfhaft. Seine Hand senkte sich auf die Pistolentasche an seiner Seite, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, als Nemos Harpune hochruckte. »Begehen Sie jetzt bitte keinen Fehler«, sagte Nemo ruhig. »Ich bin nicht Ihr Feind.«

Spears keuchte. »Was soll das bedeuten?« fragte er noch einmal.

»Nicht das, was Sie denken«, antwortete Nemo ruhig. »Ich muß Sie lediglich bitten, mich an Bord meines Schiffes zu begleiten.«

»Ihr Schiff?« Spears schüttelte verwirrt den Kopf. Entweder, dachte ich, begriff er wirklich nicht, was hier vor sich ging, oder er versuchte bewußt den Idioten zu spielen, um Nemo zu täuschen. »Was soll der Unsinn?« fragte er. »Meine Männer und ich müssen zurück in die Stadt!«

Nemo seufzte. »Seien Sie vernünftig, Spears«, sagte er, beinahe sanft, aber trotzdem mit einer hörbaren Spur von Ungeduld. »Sie wissen so gut wie ich, daß ich das nicht zulassen kann. Gehen Sie an Bord. Bitte.«

»Dann sind wir Ihre Gefangenen?« fragte Spears.

Nemo seufzte. »Das Wort Gäste wäre mir lieber, Kapitän, aber wenn Sie Wert darauf legen - bitte.«

»Aber warum?« fragte Spears verwirrt. »Wir kämpfen auf derselben Seite, Nemo. Sie und ich...«

»Verdammt noch mal, Spears, halten Sie endlich den Mund!« unterbrach ich ihn ärgerlich. »Begreifen Sie immer noch nicht, wer dieser Mann ist?«

Spears starrte erst mich, dann Nemo an, öffnete den Mund, wie um etwas zu sagen, brachte aber nur ein halbersticktes Krächzen hervor. Plötzlich wurden seine Augen rund vor Schrecken.

»Nemo«, murmelte er. »Sie ... Sie sind Kapitän Nemo? Der Nemo?«

Statt einer direkten Antwort senkte Nemo seine Harpune und trat ein paar Schritte auf Spears zu. Sein ausgestreckter Arm deutete nach Osten, auf das Meer hinaus.

Ein Stück vor der Küste, vielleicht eine halbe Seemeile entfernt, begann das Wasser zu schäumen. Zuerst war es nur ein leichtes Kräuseln der Oberfläche, als spiele der Wind mit den Wellen, dann wurden die Blasen größer und mächtiger, und mit einem Male übertönte ein gewaltiges Rauschen den monotonen Rhythmus der Brandung. Immer stärker und stärker schäumte das Meer, und plötzlich, als wäre an seinem Grund ein unterseeischer Vulkan ausgebrochen, schoß eine gewaltige Fontäne aus Wasser und weißem Schaum in die Luft, erhob sich bis auf dreißig, vierzig Yards Höhe und fiel zurück, als blase ein riesiger Wal Wasser ab.

Dann erschien der Gigant.

Trotz seiner ungeheuerlichen Größe hatte sein Auftauchen etwas fast schwereloses. Majestätisch wie ein Wal, aber viermal so groß, durchbrach er die Wasseroberfläche, sank mit einem gewaltigen Rauschen und Krachen zurück und kam schaukelnd zur Ruhe; ein Riese wie ein finsterer Meeresgott, aber aus schwarzem Stahl gefertigt. Eine doppelte Reihe winziger, gelb erleuchteter Bullaugen an seiner Flanke zauberte hüpfende Lichtflecke auf das Wasser, und plötzlich strahlte an seinem Bug ein helles, gleißendes Licht auf, tastete wie ein suchender Finger über das Meer und erlosch wieder.

Aber so kurz der Scheinwerferstrahl auch nur geleuchtet hatte, sein Licht hatte ausgereicht, mir den Namenszug zu zeigen, der in geschwungenen goldenen Lettern unter dem zwanzig Yards langen Rammsporn am Bug des Giganten prangte.

NAUTILUS

Загрузка...