Wäre dies eine Gespenstergeschichte gewesen, dachte Howard, so hätte er sich kaum eine bessere Szenerie für ihren Anfang wünschen können. Spielten nicht die meisten davon nachts, bei unheimlich heulendem Wind, huschenden Lichtreflexen, Schatten, die irgendwie voller huschender, wispernder Dinge schienen; und nach Möglichkeit noch bei ein bißchen Nebel?

Nun - es war dunkle Nacht, der Wind heulte unheimlich um die Dächer der Häuser, die hinter einer dichten Nebelwand nur noch zu ahnen waren, und die Schatten waren voller huschender, wispernder Dinge. Die Hufe der Pferde und die Räder der Kutsche riefen lang widerhallende, gebrochene Echos hervor, und die Feuchtigkeit legte sich wie ein schmieriger, eiskalter Film nicht nur über die Scheiben der Kutsche, sondern auch auf die Körper der Pferde, das Gesicht des Kutschers und seine Hände, die von Kälte bereits steif und rot geworden waren und die Zügel kaum noch zu halten vermochten.

Perfekt, dachte Howard spöttisch. Und die Szene wäre vermutlich noch perfekter gewesen, hätte sie nicht einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler gehabt: Es war nicht der Anfang einer erdachten Geistergeschichte, deren einziger wirklicher Schrecken möglicherweise in der Art lag, in der sie erzählt wurde. Es war die Realität. Was bei näherer Betrachtung um keinen Deut besser war.

Er riß sich vom Bild des Londoner Hafenviertels los, das vor den beschlagenen Scheiben der Kutsche vorbeizog (sehr viel hatte er ohnehin nicht sehen können, denn der Nebel wurde immer dichter, je mehr sie sich dem Wasser näherten), und tauschte einen langen, schweigenden Blick mit dem rothaarigen Hünen, der ihm gegenüber saß und mit seinen breiten Schultern und den dazu passenden Hüften gleich zwei Plätze der zweiten Sitzbank ausfüllte. Sie waren die einzigen Passagiere, und das würden sie auch bleiben. Ein großzügiges Trinkgeld - und die Aussicht auf einen ebenso großzügigen Nachschlag desselben - hatte dafür gesorgt, daß der Kutscher weder anhalten noch irgendwelche überflüssigen Fragen nach dem Wohin oder Weshalb dieser mitternächtlichen Fahrt stellen würde.

Allerdings war ein neugieriger Kutscher im Moment Howards geringste Sorge.

Eine ganze Weile sah er Rowlf nur durchdringend an, dann griff er in die Tasche seiner Seidenweste, zog Streichhölzer, eine schwarze Brasilzigarre und in der gleichen Bewegung auch noch ein Blatt Papier hervor, dem man ansah, daß es schon oft aus einander- und wieder zusammengefaltet worden war. Howard schätzte, daß er den Brief an die fünfzigmal gelesen hatte, obwohl er ihn erst seit wenigen Stunden besaß. Nicht, daß das irgend etwas an der Mischung aus Erstaunen und ungläubigem Schrecken änderte, mit dem ihn sein Inhalt erfüllte. Das hätte sich vermutlich auch nicht geändert, wenn er ihn fünfhundertmal gelesen hätte.

Wieso jetzt, nach all dieser Zeit? Und wieso ausgerechnet hier? Das Risiko für den Verfasser der Zeilen, hierher zu kommen, war ungeheuerlich.

Howard verscheuchte auch diesen Gedanken, faltete das Blatt auseinander und las den Text, der in einer schmalen, gestochen scharfen Handschrift darauf stand, zum einundfünfzigsten Mal, obwohl er ihn längst auswendig kannte:

Lieber Freund!

Du wirst sicher erstaunt sein, nach so langer Zeit und so plötzlich wieder von mir zu hören. Leider stehen mir im Moment weder die nötige Zeit noch Muße zur Verfügung, Dir die notwendigen Erklärungen zu geben. Eingedenk unserer alten Freundschaft aber möchte ich Dich bitten, Dich umgehend mit mir zu treffen. Es geht um das Schicksal eines gemeinsamen Freundes, der uns beiden am Herzen liegt.

Wäre Dir der heutige Abend recht? Wenn ja, schlage ich Mitternacht vor, Nummer drei an der üblichen Stelle der Straße. Alle Vorbereitungen sind getroffen.

London, im Jahre den Herrn 1885, den 12. September, N.

Howard hatte den Brief wieder und wieder gelesen. Für jeden anderen wären die wenigen Zeilen völlig bedeutungslos gewesen, allenfalls, daß er sich über den etwas holprigen Stil des Schreibers amüsiert hätte. Aber die ungewöhnliche Ausdrucksweise des Briefeschreibers war kein Zufall. Vielmehr war der Text in einem ganz bestimmten Code abgefaßt, den nur zwei Menschen kannten; nämlich Howard selbst und der Absender dieses Briefes. Der scheinbar unverfängliche Text enthielt außer der Einladung zu einem Treffen auch noch eine Warnung; und einen Hinweis, der die besagte Einladung so dringlich machte, daß sie praktisch zu einem Befehl wurde, so drängend, daß Howard es nicht einmal riskieren konnte, eine Nachricht für Robert zu hinterlassen. Denn die Identität des geheimnisvollen ›N‹ gehörte vermutlich zu den zehn bestgehütetsten Geheimnis sen der Welt.

Howard seufzte tief, riß das Streichholz an und hielt das brennende Ende unter den Brief. Er wartete geduldig, bis die Flamme das Blatt fast zur Gänze ergriffen hatte, dann entzündete er sich umständlich seine Zigarre damit, ließ das Blatt im allerletzten Moment fallen und zertrat das geschwärzte Papier sorgsam mit dem Absatz, bis nur noch schwarze Flocken den Boden der Kutsche bedeckten.

»Isses noch weit?« nuschelte der stoppelhaarige Hüne auf der gegenüberliegenden Bank.

Howard lächelte beiläufig, blickte in den Nebel hinaus und zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren.

Lächerlich, dachte er - es ging hier vielleicht um die Zukunft der gesamten Menschheit, zumindest aber um das Leben eines Freundes -, und sie waren auf Gedeih und Verderb der Ortskenntnis eines Mietkutschers ausgeliefert. Flüchtig fragte er sich, wie viele weltbewegende Entscheidungen wohl schon von solchen Trivialitäten bestimmt worden waren.

Als hätte der Kutscher oben auf dem Bock Rowlfs Frage gehört, änderte sich etwas im gleichmäßigen Klackedi-Klack der Pferdehufe. Der Wagen wurde langsamer und hielt schließ lich an. Howard wollte die Tür öffnen, aber Rowlf kam ihm zuvor; mit einer Behendigkeit, die selbst Howard immer wieder überraschte, bei einem Mann seiner Größe und Massigkeit, stand er von seinem Platz auf, öffnete die Tür und sprang aus der Kutsche. Rowlf und er waren längst zu Freunden geworden, wie man sie sich besser kaum vorstellen konnte; aber der rothaarige Riese nahm seine Aufgabe als Diener und vor allem Leibwächter seines Herrn noch immer sehr ernst. Manchmal ernster, als Howard lieb war.

»Is gut«, sagte er, nachdem er sich kurz, aber sehr aufmerksam draußen umgeblickt hatte. »Du kannst rauskommen, H.P. Is keener nich da.«

Während Howard aus dem Wagen stieg, wurde er sich unangenehm der Tatsache bewußt, daß der Kutscher sein und Rowlfs sonderbares Benehmen zwar wortlos, aber sehr aufmerksam und mit vielsagendem Gesichtsausdruck beobachtete. Er fügte der Summe, die sie abgesprochen hatten, noch einen ansehnlichen Betrag hinzu - aber nicht so viel, daß der Mann nun etwa durch die Höhe des Trinkgeldes mißtrauisch wurde -, wartete, bis der Wagen gewendet hatte und im Nebel verschwunden war, und drehte sich dann schaudernd herum.

Schaudernd vor Kälte, denn vom Wasser stieg ein eisiger, klammer Hauch empor, der binnen Sekunden durch seine Kleider drang.

Aber es war nicht die Kälte, die ihn mit einem unwirklichen Gefühl erfüllte. Im Nachhinein betrachtet kam es ihm fast verwunderlich vor, daß der Kutscher sie überhaupt hierher gefahren hatte. Schon am Tage gehörte dieser Teil der Stadt nicht unbedingt zu denen, die man Besuchern gerne zeigte: die Straße Nummer drei, von der in dem Brief die Rede gewesen war, war das dritte Themsebecken - und jeder, der schon einmal im Londoner Hafen gewesen war, wußte, was das bedeutete. Die Häuser und Lagerschuppen waren hier besonders alt und verfallen. Schon tagsüber wagten sich selbst die für ihre Unerschrockenheit bekannten Londoner Bobbys nur zu zweit (und am liebsten gar nicht) hierher, und es hieß, daß nach Dunkel werden sogar das übliche Gesindel, das man in einer solchen Gegend anzutreffen vermutete, dieses Viertel mied.

Howard konnte nicht beurteilen, ob das stimmte. Er konnte auch nicht beurteilen, ob diese Gegend ihren üblen Ruf zu Recht hatte oder nicht - im Grunde konnte er gar nichts beurteilen, weil er nämlich so gut wie gar nichts sah: alles, was weiter als drei Schritte entfernt lag, war hinter einer Mauer aus undurchdringlichen grauen Schwaden verborgen. War der Nebel schon die ganze Zeit über so dicht gewesen, oder kroch er tatsächlich näher?

Howard lächelte, um sich selbst Mut zu machen, schlug den Jackenkragen hoch und trat mit vorsichtigen kleinen Schritten an den Kai heran. Das Wasser, obwohl nur zwei Yards unter ihnen, war wie alles andere im Nebel verschwunden. Aber er sah immerhin die getroffenen Vorbereitungen, von denen in Ns Brief die Rede gewesen war: die im Nebel zerfasernden Umrisse eines kleinen Bootes. Eine eiserne Leiter, deren Sprossen feucht und glitschig waren, führte zum Wasser hinunter.

Diesmal überließ ihm Rowlf den Vortritt. Aber er schüttelte nur stumm den Kopf, als Howard nach einem der beiden Ruder greifen wollte, nahm im Heck des kleinen Kahnes Platz und tauchte die Blätter ins Wasser. Das Boot drehte sich schwerfällig auf der Stelle und nahm rasch Fahrt auf, als Rowlf mit aller Kraft zu pullen begann.

Mitternacht an der üblichen Stelle der Straße - das hieß nichts anderes als die Mitte des Hafenbeckens, und zwar eine halbe Stunde vor Mitternacht. Howard sah auf die Uhr, stellte fest, daß sie fast auf die Sekunde pünktlich waren, und blickte zum Ufer zurück, während er den Deckel der Taschenuhr mit einem hörbaren Geräusch wieder zuklappen ließ. Es war, als wäre der Nebel ihnen nachgekrochen und läge jetzt wie eine vom Himmel gestürzte Wolke auf dem Wasser. Die Stadt war mit dem Ufer verschwunden. Er sah nichts als graue Unendlichkeit, in der hier und da ein paar verschwommene Lichtflecke schwammen. Ganz weit entfernt hörte er das Geräusch eines Nebelhorns.

Rowlf hörte plötzlich auf zu rudern. Howard sah ihn fragend an, aber Rowlf reagierte nicht auf seinen Blick, sondern schloß im Gegenteil die Augen und legte den Kopf schräg, um zu lauschen.

Nach einigen Augenblicken hörte Howard es auch: ein dunkles, machtvolles Rauschen, das absurderweise aus der Tiefe des Wassers zu kommen schien, als bewege sich etwas Riesiges auf dem Grund des Hafenbeckens auf sie zu. Das Boot begann ganz leicht zu zittern; in einem Takt, der nicht dem der Wellen entsprach.

Howard tauschte einen besorgten Blick mit Rowlf. Sein Diener schwieg noch immer, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht war jetzt verbissen. Er hatte Angst.

Howard übrigens auch. Daß er ahnte, was geschehen würde, änderte nichts daran. Es gab Dinge, an die man sich nie gewöhnte. Er lächelte Rowlf aufmunternd zu, richtete sich ein wenig auf und konzentrierte sich auf das schwarz daliegende Wasser.

Nach einer Weile erkannte er einen blassen Lichtschimmer; irgendwo eine viertel oder auch halbe Meile links und unter ihnen. Sehr schnell und beinahe lautlos wurde das Licht heller und kam gleichzeitig näher, bis es zu einem unheimlichen, blaßgrünen Balken aus Helligkeit herangewachsen war, der zehn Yards unter dem kleinen Ruderboot durch das Wasser schnitt.

Und dann ging alles unglaublich schnell.

Von einer Sekunde auf die andere hüllte grünes, gleißendes Licht das kleine Boot und seine Passagiere ein. Das Wasser begann zu brodeln. Weiße Blasen stiegen an die Oberfläche, vereinigten sich zu einem zischenden Teppich aus Schaum, auf dem das winzige Boot hilflos hin und her geworfen wurde, so daß sich Howard und Rowlf mit aller Kraft festklammern mußten, und plötzlich brach etwas Riesiges, Glänzendes aus dem Wasser und bäumte sich brüllend neben dem kleinen Boot auf ...


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