»Vierundzwanzig Stunden?« Mike fuhr in die Höhe, so daß der Kater mit einem erschrockenen Laut von seinem Bett hüpfte und aus der Kabine verschwand. »Wieso habt ihr mich so lange schlafen lassen?«

»Ihr hattet Fieber, Herr«, antwortete Singh. »Trautman und ich hielten es für besser, Euch ausruhen zu lassen. Und es gab nichts für Euch zu tun.«

Vierundzwanzig Stunden? dachte Mike. Beim Aufwachen hatte er das Gefühl gehabt, kaum länger als eine halbe oder höchstens eine Stunde geschlafen zu haben, aber jetzt merkte er, daß seine Benommenheit wohl nur eine Folge des langen Schlafes war. Abgesehen von einem dumpfen Druck im Kopf, der es ihm schwer machte, sich zu konzentrieren, begann er sich ausgeruht zu fühlen. »Gut. Ich komme gleich.«

Er schwang die Beine aus dem Bett und stand auf, und in diesem Moment drang ein wütendes Gebrüll durch die offenstehende Tür in seine Kabine. Mike tauschte einen fragenden Blick mit Singh. Das Gebrüll wurde lauter, es war Bens Stimme, die eine wahre Schimpfkanonade auf ein gewisses »schwarzes Mistvieh« losließ, dem er »das Fell über die Ohren ziehen« und es als »Nierenwärmer benutzen« wollte. Singh sah verwirrt drein, während in Mike ein gewisser Verdacht emporstieg, als sie sich der Tür näherten.

Aus seiner Vermutung wurde Gewißheit, als Ben barfuß aus seiner Kabine herausstürmte. Die Schuhe hielt er mit beiden Händen so weit von sich fortgestreckt, wie es nur ging. »Ich bringe dieses einäugige Ungeheuer um!« brüllte er, während er mit weit ausgreifenden Schritten die Toilette ansteuerte. »Ich reiße ihm den Kopf ab und brate ihn mir zum Frühstück, das schwöre ich!«

»Was hat er denn?« wunderte sich Singh.

Mike hatte alle Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken, zumal das »einäugige Ungeheuer« in diesem Moment wieder in die Kabine geflitzt kam und sich auf seinem Bett zusammenrollte, als wäre nichts geschehen.

»Keine Ahnung«, sagte er fröhlich. »Wahrscheinlich hat er wieder mal schlechte Laune. Das ist ja bei Ben nichts Außergewöhnliches.« Er machte eine Handbewegung zur Decke hinauf. »Sag Trautman, daß ich gleich komme. Ich will mich nur rasch anziehen.«

Singh schenkte ihm, dann dem Kater einen fragenden Blick, sagte aber nichts und verließ die Kabine. Mike trat wieder an sein Bett und begann sich anzuziehen. Astaroth sah ihm aufmerksam zu und leckte sich ab und zu die Vorderpfoten. Mike fiel erst jetzt auf, daß der Kater nicht mehr wie eine Mumie auf Urlaub aussah. Der Verband war verschwunden.

»Das war nicht besonders nett, was du da mit Ben gemacht hast«, sagte Mike. »Ich meine: Keiner von uns kann ihn gut leiden, aber das ist doch kein Grund, seine Schuhe als Toilette zu benutzen.«

Wäre es dir lieber, ich nehme deine?

Hätte ihm jemand warnungslos einen Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gestülpt, Mike hätte kaum fassungsloser sein können. Aus ungläubig aufgerissenen Augen starrte er den Kater an, der für einen Moment aufgehört hatte, sich die Pfoten zu lecken, und seinen Blick aus seinem einzigen, bernsteinfarbenen Auge spöttisch erwiderte.

»Wie?« ächzte Mike.

Ich habe gefragt, ob ich lieber deine Schuhe benutzen soll, wiederholte die Stimme. Mike hörte sie nicht wirklich. Vielmehr schien sie direkt in seinem Kopf zu erklingen, als spräche der Kater auf eine Weise mit ihm, die den Umweg über das gesprochene Wort nicht mehr nötig machte.

»Ich ... ich träume«, stammelte er. »Ich muß den Verstand verloren haben!«

Um das zu klären, müßten wir erst einmal darüber reden, was ihr Menschen unter dem Wort Verstand versteht, erwiderte Astaroth. Aber du träumst nicht, wenn es dich beruhigt.

»Du ... du kannst sprechen?« fragte Mike.

Hat aber auch lange gedauert, bis du das erkannt hast, erwiderte der Kater und gähnte herzhaft, wie um zu zeigen, wie sehr ihn das Gespräch langweilte. Obwohl ... Sprechen ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, aber es wäre wohl zu kompliziert, dir das zu erklären. Schließlich bist du nur ein Mensch, und da sollte man vielleicht nicht ganz so hohe Anforderungen stellen.

»Aber wie ... ich meine, wie kannst du ...«

Aber und Wie, eure Lieblingsworte, erklang erneut die Stimme in seinen Gedanken. Diesmal hatte sie eindeutig einen spöttischen Unterton. Kaum fangt ihr an, mal etwas zu begreifen, schon folgt garantiert ein Aber oder ein Wie. Wenn man sich bei euch Menschen auf irgend etwas verlassen kann, dann scheint es das zu sein. Nach allem, was du nun schon weißt, hatte ich gehofft, wir könnten uns diesen Unsinn sparen, aber wenn es denn sein muß ...

Es war das erste Mal in seinem Leben, daß Mike eine Katze seufzen hörte.

»Die Träume«, murmelte Mike ungläubig. »Das waren nicht bloß Träume. Das ist wirklich mit dir passiert.« Allmählich scheinst du ja tatsächlich zu kapieren. Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung für dich, daß du dein Gehirn benutzen lernst.

Mike entschloß sich, die vorlauten Worte des Katers zu ignorieren. Zu phantastisch war das, was er erlebte. »Vorhin, ich meine gestern, das warst auch du, der mir erklärt hat, daß sich die Station selbst gesprengt hätte, nicht wahr?« stieß er hervor.

Sieh an, das Ding, das du da auf deinen Schultern trägst, schwingt sich ja zu wahren Höchstleistungen auf, erwiderte Astaroth spitz. Ja, natürlich war ich das. Ihr wart ja zu blöd, um die Wahrheit zu erkennen. Da konnte ich mich nicht mehr beherrschen und hätte mich fast verplappert. Aber ich hielt es für besser, erst einmal abzuwarten, bis du mehr weißt, bevor ich dir zu viel verrate. Ich bin auch jetzt noch nicht sicher, daß es wirklich klug war, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu.

»Kannst du dich auch mit den anderen verständigen?« erkundigte sich Mike.

Nein, antwortete Astaroth einsilbig.

Mike blickte auf seine rechte Hand. Die Bißwunde hatte wieder zu jucken begonnen, und plötzlich begriff er. »Es liegt an dem Biß, nicht wahr?«

Diesmal antwortete Astaroth gar nicht. Wahrscheinlich hielt er es für unter seiner Würde, auf eine so offensichtliche Tatsache einzugehen.

»Wer bist du eigentlich?« murmelte Mike. »Was bist du?«

Ein lautloses Lachen erscholl in seinem Kopf. Die korrekte Bezeichnung wäre felis rex, aber zerbrich dir nicht den Kopf darüber, was das heißen soll, antwortete der Kater. Astaroth mag für den Moment genügen. Und jetzt sollten wir zu deinen Freunden gehen, ehe sie zurückkommen und dich mit einer Katze reden sehen.

Etwas widerwillig verließ Mike seine Kabine und machte sich auf den Weg zum Salon. Er war der letzte, der eintraf. Alle anderen hatten sich - mit Ausnahme Trautmans, der hinter seinen Kontrollinstrumenten stand - vor dem großen Aussichtsfenster versammelt und sahen hinaus. Die NAUTILUS war noch immer von vollkommener Schwärze umgeben, aber weit über ihnen war ein mattgrauer Schimmer zu erkennen: die Wasseroberfläche, der sie sich allmählich näherten.

Als Mike den Salon betrat, wandten sich alle um und sahen ihn an. Niemand sagte etwas, aber es war etwas ganz Bestimmtes in ihren Blicken, das Mike klarmachte, daß sie über ihn gesprochen hatten.

Der Kater war ihm gefolgt, und Bens Miene verdüsterte sich, als er ihn gewahrte. Aber er beherrschte sich und beließ es dabei, den Kater mit Blicken regelrecht aufzuspießen.

»Wie lange noch?« fragte Mike.

»Ein paar Minuten«, antwortete Trautman. »Wir tauchen ziemlich schnell auf. Fast schon zu schnell. Irgendwas ... stimmt nicht.« Er lachte nervös. »Die gute alte NAUTILUS scheint es auch nicht mehr erwarten zu können, die Sonne wiederzusehen.«

»Es wird auch allmählich Zeit«, sagte Juan. »Ich weiß schon gar nicht mehr, wie Tageslicht aussieht.« Er stockte, runzelte die Stirn und sog übertrieben schnüffelnd die Luft durch die Nase ein. »Was riecht denn hier so komisch?«

Alle sahen sich einen Moment lang verwirrt an, aber schließlich konzentrierten sich ihre Blicke auf Ben - genauer gesagt, auf Bens Schuhe.

Ben lief dunkelrot an. Seine Augen schossen unsichtbare Blitze in Astaroths Richtung, aber er schwieg.

»Das da oben«, sagte Chris plötzlich. Er deutete auf einen dunklen, langgestreckten Schatten, der sich verschwommen gegen das Licht abhob. »Was ist das?«

Alle blickten in die Richtung, in die sein ausgestreckter Zeigefinger wies. »Das ... ist die LEOPOLD!« sagte Juan schließlich. Seine Stimme wurde schrill, als er sich zu Trautman herumdrehte. »Aber Sie fahren ja direkt darauf zu!«

Auch Mike wandte sich vom Fenster ab. Trautman hantierte mit verbissenem Gesichtsausdruck am Kommandotisch. »Irgendwas stimmt da nicht«, sagte er. »Das Schiff reagiert nicht. Ich habe überhaupt keine Kontrolle mehr über die NAUTILUS!«

Also, die Prinzessin befindet sich an Bord, wisperte Astaroths Stimme in Mikes Gedanken. Mike sah den Kater an, dann Trautman, der immer verzweifelter versuchte, die Herrschaft über die NAUTILUS zurückzuerlangen. Er fragte sich, ob der Kater etwas damit zu schaffen hatte, aber wenn Astaroth die entsprechende Frage in seinen Gedanken las, so zog er es vor, nicht darauf zu reagieren.

»Tun Sie doch etwas, Trautman!« sagte nun auch André. »Wir laufen ihnen ja direkt vor die Kanonen!«

»Ich versuche es ja«, antwortete Trautman. Seine Stimme klang jetzt eindeutig verzweifelt. Er hämmerte regelrecht auf den Kontrollinstrumenten herum. »Das Schiff gehorcht mir nicht mehr.«

»Dann müssen wir kämpfen«, sagte Ben grimmig. Er ballte die Fäuste. »Lebend bekommen sie mich jedenfalls nicht!«

»Zumindest nicht bei klarem Verstand«, fügte Juan hinzu. Er tippte sich bezeichnend gegen die Schläfe und wandte sich dann wieder dem Anblick der immer schneller näher kommenden LEOPOLD zu.

»Vielleicht haben wir noch eine Chance«, sagte Singh. »Sie können unmöglich wissen, daß wir kommen. Vielleicht können wir ihnen einfach davonfahren, ehe sie überhaupt begreifen, was los ist.« Er sah Trautman an. »Sind wir schnell genug dazu?«

»Unter normalen Umständen vielleicht«, antwortete Trautman. »Aber so ...« Er horte auf, wie wild an seinen Kontrollen zu hantieren, und seufzte tief. »Das Schiff gehorcht mir nicht mehr«, wiederholte er. »Ich weiß nicht, was los ist. Ich bin mit meinem Latein am Ende. Ich fürchte, wir können nur noch eines tun - aufgeben.«

»Das meinen Sie nicht ernst!« protestierte Ben. »Wir müssen kämpfen. Singh hat es gesagt: Wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite. Sie wissen nicht, daß wir kommen. Mit einem bißchen Glück können wir sie torpedieren, bevor sie überhaupt merken, daß wir da sind.«

Trautman würdigte ihn keiner Antwort, und auch Mike drehte sich wortlos um und sah wieder aus dem Fenster auf den immer größer werdenden Schatten. Ganz davon abgesehen, daß Trautman niemals zugestimmt hätte, die LEOPOLD zu torpedieren und damit das Leben von mehr als tausend Menschen zu riskieren - irgend etwas sagte ihm, daß es nicht funktionieren würde. Er wußte, daß ihnen nur noch eine einzige Möglichkeit blieb.

Trautman sprach den Gedanken laut aus. »Juan, Chris«, sagte er. »Geht bitte hinauf in den Turm. Sobald wir aufgetaucht sind, hißt ihr die weiße Fahne. Wir ergeben uns.«


Kapitän Winterfeld persönlich erwartete sie, als sie über eine Strickleiter an Bord der LEOPOLD kletterten. In seinem Gesicht war kein Triumph zu lesen, keine hämische Genugtuung, nichts von alledem, was Mike erwartet hatte. Statt dessen zeigte der Kapitän nur großen Ernst, als er auf Mike zutrat, der als erster über die Reling des Kriegsschiffes kletterte.

»So sehen wir uns also wieder«, sagte er. »Ich wußte, daß es früher oder später so kommen würde.«

Mike verzichtete auf eine Antwort, sondern preßte Astaroth nur noch etwas fester an sich und begnügte sich damit, Winterfeld finster anzustarren. Dieser schien ihm das nicht übel zu nehmen. Und wie schon bei seinem ersten unfreiwilligen Aufenthalt auf diesem Schiff, hatte Mike das Gefühl, in Winterfeld einen gefährlichen und äußerst verschlagenen Gegner gefunden zu haben - aber trotzdem einen Mann, den er auch achten konnte.

Hinter ihm stiegen die anderen auf das Deck, und Winterfeld maß sie der Reihe nach mit abschätzenden Blicken, dann machte er eine Handbewegung, und ein halbes Dutzend bewaffneter Soldaten trat vor und umringte sie. Die Gewehre der Männer waren nicht direkt auf Mike und die anderen gerichtet, aber ihre Drohung war allen klar.

Schließlich drehte sich Winterfeld wieder zu Mike herum. Als er den Kater bemerkte, den Mike schützend an sich drückte, lächelte er. »Wen haben wir denn da?« meinte er und beugte sich vor. Er streckte die Hand aus und kraulte Astaroth am Kopf, der sich das anscheinend voller Wohlbehagen gefallen ließ. Mike empfand kurz eine absurde Eifersucht. Hastig setzte er den Kater auf den Boden. Sofort begann das Tier neugierig auf dem Deck herumzustreichen.

Mit einiger Verspätung kam endlich auch Trautman die Strickleiter heraufgeklettert. Ganz wie es sich für einen Kapitän gebührt, hatte er sein Schiff als letzter verlassen. Seine Miene verdüsterte sich, als er die Soldaten und Winterfeld gewahrte, doch Mike sah in seinen Augen den gleichen Respekt, den er selbst Winterfeld entgegenbrachte. Irgendwie, dachte er, waren sich die beiden Männer sehr ähnlich.

»Sie müssen Trautman sein«, sagte Winterfeld. »Paul hat mir von Ihnen erzählt.« Er trat dem alten Mann entgegen und streckte die Hand aus, und er tat es auf seine Art, die die Geste kein bißchen herablassend erscheinen ließ, nicht die eines Siegers dem Besiegten gegenüber, sondern ein Ausdruck der Achtung. Mike war nicht überrascht, als Trautman die Hand nahm und kurz und kräftig drückte.

»Paul!« sagte Ben. »Also hat diese kleine Ratte doch geredet! Aber das war schließlich zu erwarten.«

»Die kleine Ratte, wie du ihn nennst«, entgegnete Winterfeld ruhig, »ist immerhin mein Sohn, also überlege dir lieber, was du sagst.« Er trat einen Schritt zurück und hob ein wenig die Stimme. »Und wenn es euch beruhigt: Er hat mir leider nicht annähernd so viel verraten, wie ich mir gewünscht hätte. Er betrachtet euch nach wie vor als seine Freunde.«

»O ja, er ist ein richtiger Freund«, höhnte Ben. »Wirklich, solche Freunde habe ich mir immer gewünscht - dann braucht man nämlich keine Feinde mehr.« Er sah Winterfeld herausfordernd an, und trotz des Zorns, den seine Worte in Mike wachriefen, mußte er Bens Mut bewundern. »Was haben Sie jetzt mit uns vor?« fragte Ben. »Lassen Sie uns gleich erschießen, oder liefern Sie uns mitsamt der NAUTILUS dem Flottenkommando aus?«

Winterfeld schüttelte den Kopf. »Weder das eine noch das andere«, antwortete er ruhig. »Ich habe nicht vor, die NAUTILUS irgend jemandem auszuliefern, auch nicht der deutschen Marine.«

»Ach?« fragte Ben spitz, »Und wer soll das glauben?«

Mike versetzte ihm einen Ellbogenstoß in die Seite, der ihn verstummen ließ, und Winterfeld lächelte ihm kurz zu, bevor er fortfuhr: »Ich fürchte sogar, daß mein Kaiserreich nicht besonders gut auf mich zu sprechen ist und mich vor ein Kriegsgericht stellen würde, wenn ich so dumm wäre, zurückzugehen.«

»Soll das heißen, daß das alles hier -« begann Trautman, wurde aber von Winterfeld unterbrochen, der die Hand hob und nickte.

»- ganz allein auf meine Verantwortung hin geschehen ist, ganz recht. Ja. Niemand in Berlin weiß, was ich hier tue.«

»Also sind Sie nichts als ein gemeiner Pirat«, sagte Ben.

»Das Wort Dissident wäre mir lieber«, antwortete Winterfeld betont.

»Und was halten Sie von dem Begriff Deserteur?« fragte Mike. »Das ist es doch, was Sie getan haben, nicht wahr? Sie sind desertiert, zusammen mit der Besatzung. Wie haben Sie es geschafft, die Soldaten zu überreden? Sie müssen wissen, daß -«

Mit einer heftigen Handbewegung schnitt ihm Winterfeld das Wort ab. »Du enttäuschst mich, Michael«, sagte er, wobei er wieder in die deutsche Aussprache seines Namens zurückfiel, was Mike vom ersten Moment an geärgert hatte. »Hat dein Vater die NAUTILUS vielleicht der indischen Regierung übergeben? Ich habe ihn nie kennengelernt, aber nach allem, was ich über ihn gehört habe, haben wir einiges gemeinsam. Genau wie er glaube ich nicht daran, daß das Erbe der Atlantischen Kultur irgendeinem Land in die Hände fallen sollte. Diese Macht ist zu gewaltig, um von einer einzelnen Nation kontrolliert zu werden.«

»Dann tun Sie das lieber, wie?« sagte Trautman.

Winterfeld schüttelte den Kopf. »Sie müssen mich wirklich für sehr dumm halten, wenn Sie glauben, daß es mir auf Macht ankäme. Außerdem ist diese Vorstellung naiv. Nicht einmal mit der NAUTILUS könnte man die ganze Welt erobern. Nein, meine Ziele sind völlig anderer Art. Aber wir werden uns später noch darüber unterhalten, und ich hoffe, daß Sie dann zumindest einen Teil dessen, was Sie über mich denken, berichtigen können. Wer weiß, vielleicht werden wir sogar Verbündete.«

»Niemals«, sagte Trautman.

Winterfeld lächelte auf eine sonderbare Weise. »Das ist ein Wort, mit dem man äußerst sparsam umgehen sollte«, sagte er. »Vermutlich liegen unsere Ziele gar nicht so weit auseinander, wie Sie jetzt annehmen.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort!« fuhr Ben auf.

Winterfeld schenkte ihm einen verächtlichen Blick. »Weißt du, mein Junge, es ist mir ziemlich egal, was du glaubst und was nicht«, sagte er kühl. »Es wäre mir nur lieber, wenn du dich etwas beherrschen könntest. Paul hat mir einiges über dich erzählt. Du bist gar nicht so dumm, wie du gerne tust. Wenn du lernst, dein Temperament im Zaum zu halten, dann -«

Er stockte mitten im Wort. Seine Augen wurden groß, und Mike konnte sehen, wie sein Gesicht blaß wurde, als er langsam an sich heruntersah. Und als Mikes Blick dem seinen folgte, verstand er auch, warum.

Astaroth, der am Anfang neugierig auf dem Deck herumgestrichen war, hatte es sich auf Winterfelds Füßen bequem gemacht. Jetzt war er aufgestanden und schritt mit würdevoll erhobenem Haupt davon. Winterfelds spiegelblank polierte Stiefel standen plötzlich in einer sich allmählich ausbreitenden, übelriechenden Pfütze. »Das Tier hat Geschmack«, sagte Ben grinsend.

Winterfelds Lippen bebten vor Zorn. Eine Sekunde lang war Mike fest davon überzeugt, daß er nun doch die Beherrschung verlieren würde, aber dann gab er sich einen sichtbaren Ruck und zwang sich sogar zu einem - wenn auch nicht völlig überzeugenden - Lächeln. »Bringt unsere Gäste in ihre Quartiere«, sagte er zu seinen Männern. »Und besorgt eine Kiste für diesen Kater.«

Mike unterdrückte sein schadenfrohes Grinsen nicht, er ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hand aus. Sofort kam Astaroth herbei, war mit einem Satz auf seinem Arm und kuschelte sich an seine Brust, wo er lautstark zu schnurren begann.

»Eine Katze auf einem Unterseeboot - originell«, sagte Winterfeld. »Wo kommt das Tier überhaupt her?«

»Wir haben es auf dem Meeresboden gefunden«, antwortete Mike. »Er ist in Wirklichkeit ein Meerkater und sieht nur so aus wie eine normale Katze.«

Winterfeld anwortete nicht, aber er sah ihn so wütend an, daß Mike es vorzog, nicht weiterzusprechen.

Von den deutschen Marinesoldaten eskortiert, wurden sie tief hinab in den Rumpf der LEOPOLD und in dieselben einander gegenüberliegenden Kabinen geführt, in denen sie bereits ihren ersten unfreiwilligen Aufenthalt auf dem Schiff verbracht hatten. Mike teilte seine Kabine zusammen mit Singh und - zu seinem Leidwesen - Ben, der mit dieser Einteilung ebenfalls nicht einverstanden war, zumal sich auch Astaroth bei ihnen befand.

»Dieser verdammte Deutsche«, begann Ben zu schimpfen, kaum daß sie wieder allein waren. »Hättet ihr damals auf mich gehört und die NAUTILUS der englischen Marine übergeben, säßen wir jetzt nicht hier!«

Kannst du diesen plappernden Schwachkopf nicht irgendwie zum Verstummen bringen? erkundigte sich Astaroth. Oder darf ich das erledigen?

»Ach, laß mich doch in Ruhe«, sagte Mike, wohlweislich offen lassend, wen er mit diesen Worten meinte. Er legte sich in eine der Kojen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf, während es sich der Kater auf seiner Brust bequem machte. Ihre Lage war - vorsichtig ausgedrückt - ziemlich aussichtslos. Anders als bei ihrer ersten Gefangenschaft konnten sie diesmal nicht damit rechnen, plötzlich Hilfe von unerwarteter Seite zu bekommen. Und auch der Umstand, daß Winterfeld zugegeben hatte, auf eigene Faust zu handeln, und sie es somit nicht mit der gesamten deutschen Kriegsmarine, sondern nur mit ihm allein zu tun hatten, stellte keinen wirklichen Trost dar. Denn wenn es tatsächlich so war, dann hatte der Kapitän um so mehr Grund, auf der Hut zu sein und die Nähe aller anderen Schiffe zu meiden.

Es verging sicher eine Stunde, in der Mike reglos auf dem Bett lag, die Metalldecke über sich anstarrte und seinen immer düsterer werdenden Gedanken nachhing, bis schließlich die Tür wieder geöffnet wurde und Trautman hereinkam. Er wurde von zwei deutschen Soldaten begleitet, und hinter ihm betrat ein sehr alter, weißhaariger Mann den Raum. Mike setzte sich auf und sah dem Fremden neugierig ins Gesicht, während Astaroth mit einem Satz aus der Koje sprang und dem Neuankömmling mit grüßend aufgestelltem Schwanz entgegenlief. Der Fremde beugte sich lächelnd hinunter und streichelte ihm über den Kopf und den Rücken, und Astaroth ließ sich diese Behandlung laut schnurrend einige Augenblicke lang gefallen, dann senkte er den Kopf - und schnüffelte prüfend an den Schuhen des Mannes. Mike hielt den Atem an, aber Astaroth beließ es bei dieser Begutachtung, drehte sich dann herum und kam wieder zurück. Mit einem Satz war er wieder auf dem Bett neben Mike und rollte sich zusammen.

»Du bist also Mike«, begann der Fremde. Er hatte eine sehr angenehme, kräftige Stimme, die so gar nicht zu seinem greisenhaften Äußeren passen wollte; ebensowenig wie der Ausdruck in seinen von unzähligen winzigen Fältchen umgebenen Augen, die nicht die eines alten Mannes zu sein schienen. Mike las eine Kraft und Entschlossenheit darin, auf die so mancher viel jüngere Mann stolz gewesen wäre.

Langsam stand er auf und nickte. »Und Sie sind...«

»Das ist Professor Arronax«, erklärte Trautman. »Ich habe dir von ihm erzählt.«

Mike war nicht sehr überrascht. Arronax sah genau so aus, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Und der kurze Blick, den er mit Trautman tauschte, machte Mike ohne jedes Wort klar, daß die beiden Männer bereits über ihn gesprochen hatten.

»Ich glaube, ich hätte dich auch so erkannt«, sagte er. »Du siehst deinem Vater sehr ähnlich, weißt du das?« Mike schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn nie gesehen.« Ein flüchtiger Ausdruck von Bedauern erschien in Arronax' Augen, als er nickte. »Ja, Trautman hat mir davon erzählt. Dein Vater hat dich schon früh wegbringen lassen, damit du in Sicherheit bist.«

»Wie Sie sehen, hat es nicht viel genutzt«, murmelte Mike, und Ben fügte boshaft hinzu: »Jedenfalls hat er nicht viel vom Schneid seines Vaters abbekommen.«

Mike verbiß sich die zornige Antwort, die ihm auf den Lippen lag, und auch Arronax sagte nichts, doch der Blick, den er dem jungen Engländer zuwarf, zeigte Mike, daß Trautman auch über Ben mit ihm geredet hatte.

Trautman und Arronax setzten sich an den Tisch, und nach kurzem Zögern folgten ihnen Singh und Ben und schließlich auch Mike. Astaroth blieb auf dem Bett liegen und tat so, als schliefe er, aber Mike entging keineswegs, daß er den weißhaarigen Fremden unter dem fast geschlossenen Augenlid heraus aufmerksam beobachtete. »Trautman hat mir erzählt, was ihr auf dem Meeresgrund gefunden habt«, begann Arronax. »Du mußt mir von allem berichten, was du gesehen hast. Es kann sehr wichtig sein.«

Mike deutete verwundert auf Trautman. »Aber hat er Ihnen denn nicht -«

»Vier Augen sehen mehr als zwei«, unterbrach ihn Arronax mit einem gutmütigen Lächeln, und Ben konnte sich nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Sechs.«

»Ach ja, du warst ja auch in der Kuppel«, sagte Arronax. »Du hast die Prinzessin ebenfalls gesehen.«

»Prinzessin?« Mike setzte sich stocksteif auf. »Woher wissen Sie, daß sie eine Prinzessin ist?«

»Weil du es gesagt hast«, antwortete Trautman an Arronax' Stelle.

Mike blickte sekundenlang die beiden alten Männer verunsichert an, doch dann begann er gehorsam zu erzählen, was er in der Unterseekuppel gesehen und erlebt hatte. Dann und wann fügte Ben ein Detail hinzu, und Arronax unterbrach sie immer wieder mit gezielten Fragen, wobei er sich für jede noch so winzige Kleinigkeit zu interessieren schien.

»Unglaublich«, sagte er schließlich, mehr an Trautman als an die beiden Jungen gewandt. »Diese Kuppel ist das, wonach ich mein Leben lang gesucht habe. Wenn es stimmt, was ihr berichtet, dann ... dann habt ihr etwas entdeckt, wogegen sich die große Pyramide von Gizeh wie eine Sandburg ausmacht.«

»Es stimmt«, erklärte Ben in beleidigtem Tonfall. »Warum sollten wir Ihnen etwas vormachen? Fragen Sie Trautman, wenn Sie uns nicht glauben.«

Arronax hob besänftigend die Hand. »Ich glaube euch ja«, sagte er. »Es ist nur so...« Er suchte einen Moment nach den richtigen Worten und fuhr mit veränderter, wehmütiger Stimme fort: »Ich habe zwanzig Jahre lang davon geträumt, das zu sehen, was ihr entdeckt habt. Und jetzt, wo es endlich gefunden worden ist, ist es zu spät. Statt der Wissenschaft und der ganzen Menschheit werden die Geheimnisse der Kuppel jetzt nur einem einzigen Mann dienen.«

Mike sah verwundert zu Trautman hin. »Haben Sie es ihm denn nicht gesagt?«

Trautman wich seinem Blick aus, und auf Arronax' Gesicht machte sich ein deutlicher Schrecken breit. »Was gesagt?« fragte er.

»Ich bin noch nicht dazu gekommen«, murmelte Trautman - und Mike spürte, daß das nicht stimmte.

»Wozu sind Sie noch nicht gekommen?« fragte Arronax scharf.

»Sie existiert nicht mehr«, sagte Ben etwas spöttisch. »Das Ding ist in die Luft geflogen, nachdem die Deutschen die Kleine herausgeholt haben.« Er machte eine Bewegung mit beiden Händen, um die Explosion zu verdeutlichen.

Arronax wurde blaß. »Das ... das ist nicht wahr!« keuchte er.

»Doch«, sagte Mike, so ruhig, wie er konnte. »Winterfelds Soldaten haben den Sarg mit dem Mädchen herausgeholt. Und kurz danach ist die Unterseekuppel explodiert. Die Explosion hätte um ein Haar auch die NAUTILUS vernichtet.«

»O nein«, stöhnte Arronax. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Ausdruck so abgrundtiefer Enttäuschung aus, daß Mike sich beherrschen mußte, um ihm nicht tröstend die Hand auf die Schulter zu legen.

Von alldem schien Ben nicht viel mitzubekommen, denn er fügte mit einer Geste auf Mike hinzu: »Unser kleiner Prinz hier meint, es wäre eine Automatik gewesen, die die Kuppel gesprengt hat, nachdem man die Prinzessin« - er betonte das Wort so, daß Mike ihm am liebsten dafür mit der Faust auf die Nase geschlagen hätte - »herausgeschafft hat.«

Arronax sah Mike an. »Ein kluger Gedanke«, sagte er. »Das könnte sogar stimmen. Wenn es die Prinzessin war.«

»Sie wissen nicht nur von mir, wer sie ist, nicht wahr?« fragte Mike.

Arronax zögerte. Er wich seinem Blick aus. Seine Hände strichen in einer unbewußten Geste über die Tischkante. »Ich bin nicht sicher«, sagte er. »Aber wie kann man überhaupt sicher sein, bei etwas, was so lange zurückliegt?« Wieder schwieg er einige Augenblick, dann gab er sich einen sichtbaren Ruck. »Habt ihr in der Kuppel sonst noch etwas gefunden?« fragte er. »War noch irgend etwas anderes Außergewöhnliches dort? Irgendein anderes ... Geschöpf?«

Mike schwieg. Ben sagte: »Nur Dornröschen. Und dieses schwarze Mistvieh da.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Astaroth, der träge das Auge öffnete und wie zur Antwort so ausgiebig gähnte, daß man fast seine Schwanzspitze sehen konnte.

»Dieser Kater stammt aus der Kuppel?« vergewisserte sich Arronax.

Mike und Trautman nickten gleichzeitig.

Arronax saß da und starrte den Kater an, und Astaroth erwiderte seinen Blick mit der kühlen Herablassung, zu der nur Katzen fähig sind. Dann stand Arronax auf, ging langsam zum Bett hinüber und besah sich den Kater sehr aufmerksam aus unmittelbarer Nähe. Zwei- oder dreimal streckte er auch die Hand aus, wagte es aber diesmal nicht, Astaroth wirklich zu berühren. Ein sehr nachdenklicher Ausdruck lag auf Arronax' Gesicht, als er zu den anderen zurückkehrte. »Eine Katze?« flüsterte er. »Eine ganz normale Katze?« Mike hätte ihm sagen können, daß Astaroth alles war, nur keine ganz normale Katze, aber er schwieg.

»Was ist daran so seltsam?« fragte Trautman. »Ich meine - auch wir haben uns gewundert, wie das Tier dort hinuntergekommen ist und wovon es gelebt haben mag. Aber es ist trotzdem ein ganz normaler Kater - auch wenn er die eine oder andere Unart hat.«

Astaroth gähnte, stand auf, reckte sich ausgiebig und kam dann mit gemessenen Schritten auf Mike zu. Mit einem eleganten Satz sprang er auf seinen Schoß hinauf und rollte sich dort wieder zusammen, um weiterzuschlafen. Arronax ließ ihn während der ganzen Zeit nicht aus den Augen.

»Es ist kaum zu glauben, und doch ...« begann er, sprach aber nicht zu Ende, sondern schüttelte nur mehrmals heftig den Kopf.

»Was ist schwer zu glauben?« wollte Mike wissen.

Arronax sah in an. »Es ist nur eine Legende«, sagte er. »Und doch habe ich mein Leben lang nach dieser Legende gesucht. Trautman hat dir sicher erzählt, daß ich während der letzten zwanzig Jahre Forschungen über das versunkene Atlantis angestellt habe.«

Mike nickte, und Arronax fuhr in versonnenem Tonfall fort, zu erzählen.

»Ich glaube, ich kann ohne falsche Scheu behaupten, daß es nicht viele auf der Welt gibt, die mehr über Atlantis wissen als ich. Und doch ist es mir nie gelungen, einen wirklichen Beweis für die Existenz des untergegangenen Reiches zu finden. Die Taucherglocke, die ich in den letzten Jahren bauen ließ, sollte es mir ermöglichen, diesen Beweis zu erbringen, aber leider ist es anders gekommen. Mir war aber immer klar, daß Atlantis mehr als eine Legende sein mußte. Es gibt zu viele Geschichten darüber, zu viele Überlieferungen, zu viele Hinweise und Unstimmigkeiten, die nicht anders zu erklären gewesen wären. Seht ihr, fast alle alten Völker wissen von Göttern zu erzählen, die über unvorstellbare Macht verfügt haben sollen.«

»Und?« fragte Ben. »Aberglaube, mehr nicht.«

»Das denken die meisten«, antwortete Arronax. »Doch wenn man genau hinsieht, dann stimmt das nicht mehr. Ich habe Legenden von allen Völkern rund um den Globus zusammengetragen, und was ich entdeckt habe, kann kein Zufall gewesen sein. Diese Götter wurden überall gleich beschrieben, ob bei den alten Ägyptern, den Chinesen, den Maya oder den Germanen: Stets waren sie groß, hellhäutig und hatten blondes Haar. Und stets wurde ihre Herkunft gleich angegeben: die Insel der Götter im Atlantik. Es heißt, daß eine gewaltige Flut ihr Inselreich verschlungen haben soll und ihre Überlebenden sich mit den Menschen vermischten. Sie waren es, die die ersten großen Kulturen gründeten und über sie herrschten. So jedenfalls ist es überliefert worden - nicht nur in einigen alten Schriften, sondern in sehr vielen.«

»Na und?« fragte Ben. »Was bedeutet das schon?«

»Das Mädchen, wie sah es aus?«, sagte Arronax. »Schlank, mit heller Haut und blondem Haar«, sagte Trautman.

»Aber das beweist doch gar nichts«, sagte Ben. »Ein altes Volk, das über die ganze Welt geherrscht haben soll! Pah!«

Arronax lächelte gutmütig. »Als man die Gräber der fünf ersten ägyptischen Pharaonen öffnete, stellte man fest, daß sie keine Ägypter waren, sondern Angehörige eines hochgewachsenen, hellhäutigen Volkes.«

»Ja, wahrscheinlich waren es Dornröschens Brüder, wie?« maulte Ben. Er klang unsicher.

»Eher ihre Urgroßneffen«, verbesserte Arronax. »Nach meinen Forschungen muß Atlantis vor mehr als fünftausend Jahren untergegangen sein. Die Legende sagt, daß seine Herrscher ein Volk von Magiern waren, die über das Wasser geboten. Sie vermochten Sturmfluten heraufzubeschwören oder zu besänftigen, sie konnten es regnen oder jahrzehntelange Dürren über die Länder ihrer Feinde kommen lassen, und es heißt, daß sie sich im Wasser zu bewegen vermochten, als wäre dies ihr natürliches Element.«

»Das Mädchen hatte keinen Fischschwanz«, sagte Ben. Arronax ignorierte ihn. »Es gibt viele Legenden, die vom Untergang von Atlantis berichten«, fuhr er fort. »Die Menschen haben die verschiedensten Gründe für die Katastrophe erfunden, die Atlantis verschlang - von dem, daß seine Bewohner in ihrer Machtgier die Götter selbst herausforderten, bis zu dem, daß ein Meteor vom Himmel fiel und Atlantis auslöschte. Mir persönlich erscheint eine Erklärung am wahrscheinlichsten, die ich in einer uralten phönizischen Schrift gefunden habe; zumindest nach dem, was ich nun von euch und Trautman erfahren habe. Nach dieser Schrift sollen die Zauberkönige von Atlantis jahrtausendelang über ihr Inselreich geherrscht und es zu unvorstellbarer Blüte gebracht haben. Sie waren ein Volk von Zauberern, aber sie waren auch sehr umsichtig und weise und lebten mit der Natur in Einklang, nicht wie wir in Konkurrenz. Eines Tages aber begann sich eine schreckliche Krankheit unter den Zauberkönigen auszubreiten. Einige starben sofort, andere wurden wahnsinnig, allen jedoch entglitt die Kontrolle über die furchtbare Macht, über die ihr Geist gebot. Sturmfluten, Taifune, Seebeben und Überschwemmungen suchten Atlantis heim, und alle Versuche der alten Zauberer, der Krankheit Herr zu werden, mißlangen. Schließlich begriffen sie, daß ihr Reich dem Untergang geweiht war, und so taten sich die letzten und mächtigsten Magier von Atlantis zusammen, um wenigstens einem von ihnen das Überleben zu sichern. Es heißt in dieser Legende, daß sie ein Haus auf dem Meeresgrund bauten, in dem die letzte Prinzessin von Atlantis einen magischen Schlaf schläft, der so lange währen soll, bis es einem späteren, nach ihnen kommenden Volk gelungen sein wird, die Krankheit zu besiegen. Und es heißt weiter«, schloß Arronax mit einem Blick auf den Kater, »daß sie einen Wächter bei ihr zurückließen, der unsterblich war und die Jahrtausende hindurch über sie wachte.«

Für einige Augenblicke breitete sich eine fast atemlose Stille in der Kabine aus, Aller Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf Astaroth, der beharrlich weiter so tat, als schliefe er. Schließlich war es Ben, der das Schweigen brach.

»Ja«, sagte er höhnisch. »Er wartet, bis ihre Feinde die Schuhe ausziehen, dann schlägt er blitzartig zu.«

Arronax' Blick drückte vollkommenes Unverständnis aus, während es in Trautmans Augen ärgerlich aufblitzte. Ben grinste, lehnte sich in seinem Stuhl zurück - und kämpfte mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht, als eines der Stuhlbeine abbrach und er haltlos nach hinten kippte.

Mit einem gewaltigen Poltern landete er auf dem Boden, sprang sofort wieder hoch und begann wütend zu fluchen.

»Deutsche Arbeit, wie?« schimpfte er. Wütend versetzte er dem zerbrochenen Stuhl einen Tritt, der ihn quer durch den Raum schleuderte und vollends in Stücke gehen ließ. »Hoffentlich fällt nicht der ganze Kahn auseinander, wenn ihn ein Windhauch trifft.«

Mike und Arronax tauschten einen Blick, aber keiner von ihnen sagte etwas. Mike lauschte in sich hinein, doch auch Astaroths Gedankenstimme blieb stumm. Und trotzdem spürte er, daß Arronax' Erzählung der Wahrheit sehr, sehr nahe gekommen war.

»Das ist unglaublich«, sagte Trautman nach einer Weile. »Aber so phantastisch es sein mag - es hilft uns im Moment nicht weiter. Wenn es uns nicht gelingt, zu entkommen und die NAUTILUS mitzunehmen oder schlimmstenfalls zu versenken, dann wird Winterfeld zu einer Gefahr, die sich jetzt noch gar nicht abschätzen läßt.«

»Die Kuppel ist zerstört«, gab Singh zu bedenken.

Arronax wiegte betrübt den Kopf. »Ich fürchte, das allein reicht nicht«, sagte er. »Die Tatsache ihrer Existenz beweist endgültig, daß Atlantis keine Legende war - wenn es nicht die NAUTILUS schon getan hat. Und nun, wo er im Besitz des Schiffes ist, wird er nach anderen Hinterlassenschaften der Atlanter suchen. Und finden, fürchte ich.«

»So einfach dürfte das nicht sein«, sagte Trautman. »Immerhin haben Sie Ihr Leben lang geforscht, um -«

»Das ist ja gerade das Schlimme«, sagte Arronax leise. Trautman wirkte alarmiert. »Was meinen Sie damit?«

Arronax zögerte, dann sagte er, ohne einem von ihnen dabei ins Gesicht zu sehen. »Als wir die Expedition ausrüsteten, habe ich all meine Aufzeichnungen mitgenommen. Kapitän Winterfeld ist im Besitz meiner sämtlichen Unterlagen.«

Seine Worte erfüllten Mike mit eiskaltem Schrecken. Wenn Winterfeld Arronax' Aufzeichnungen und die NAUTILUS besaß ... das war unvorstellbar. Das Schiff war beschädigt, aber mit den Mitteln der LEOPOLD würde Winterfeld es zweifellos in kürzester Zeit reparieren können. Und wie sie gerade selbst bewiesen hatten, vermochte das Tauchboot Tausende von Metern tief in die See vorzudringen. Doch bevor er seine Befürchtungen in Worte fassen konnte, geschah etwas, was sie Winterfeld und seine Eroberungspläne zumindest für den Moment vergessen ließ.

Astaroth fuhr mit einem hysterisch klingenden Fauchen hoch und stieß sich von Mikes Schoß ab, wobei er so rücksichtslos von allen Krallen Gebrauch machte, daß Mike vor Schmerz aufschrie. Der Kater raste auf die Tür zu, prallte in vollem Lauf dagegen und wurde zurückgeworfen, wobei er sich zwei-, dreimal überschlug. Sofort war er wieder auf den Beinen und rannte ein zweites Mal gegen die Tür. Wie besessen versuchte er sie mit den Pfoten aufzukrallen.

»Die Prinzessin!« rief Mike. Diesmal war es nicht die Stimme des Katers, die er vernahm. Vielmehr spürte er dessen Angst, die an Panik grenzende Furcht, die für einen Moment vom Geist des Tieres Besitz ergriffen hatte, und für einen ebenso kurzen Moment drohten diese Gefühle auch ihn zu überwältigen. Er begann am ganzen Leib zu zittern.

»Die Prinzessin!« rief er. »Etwas ist mit Serena geschehen!«

»Wovon sprichst du?« fragte Trautman.

»Serena!« rief Mike noch einmal. »Die Prinzessin! Sie ist aufgewacht!«


Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich der Kater soweit wieder beruhigt hatte, daß Mike es wagte, sich ihm zu nähern und ihn anzufassen. Astaroth hatte so lange versucht, die Metalltür aufzubekommen, bis seine Pfoten blutig geworden waren und seine Kräfte versagten. Die schon fast verheilte Wunde an seinem Hinterlauf war wieder aufgebrochen, und sein Atem ging schwer. Und viel mehr noch, als er es sah, spürte Mike die Erschöpfung der Tieres. Astaroth lag wie leblos auf seinem Schoß.

Danach war Mike nicht mehr umhingekommen, Trautman und den anderen zu erzählen, was er wirklich über den Meerkater wußte. Bens Kommentar war ganz so ausgefallen, wie Astaroth selbst prophezeit hatte. Singh sagte wie üblich gar nichts, aber Trautman sah ihn vorwurfsvoll an, nachdem er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, und sagte schließlich leise. »Du hättest es mir sagen müssen.«

»Hätten Sie mir geglaubt?« gab Mike ebenso leise zurück.

»Ich weiß es nicht«, gestand Trautman. »Vermutlich nicht - wenigstens am Anfang. Später, nach der Sache mit dem Ventil ...«

»Und was hätte es geändert?« fragte Mike.

»Das ist also der berühmte, unsterbliche Wächter der Prinzessin«, sagte Ben. Er blickte hämisch auf den Kater herab. »Ein famoser Wächter, der nicht einmal die Tür aufbekommt.«

Mike schaute ihn scharf an, dann wandte er den Kopf und sah einen Moment auf den Stuhl herab, der genau in dem Augenblick zerbrochen war, als Ben sich am lautesten über den Kater lustig gemacht hatte. Ben folgte seinem Blick, und Mike konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie er leicht zusammenfuhr.

»Du kannst wirklich mit diesem Tier reden?« erkundigte sich Arronax.

Mike schüttelte den Kopf. »Reden ist nicht das richtige Wort«, sagte er. »Ich ... Irgendwie spüre ich in mir, was er sagt.«

»Sicher«, fügte Ben spöttisch hinzu. »Und du als einziger, nicht wahr?«

Mike blieb ernst. »Es muß irgend etwas damit zu tun haben, daß er mich gebissen hat«, sagte er.

»Mich hat er gekratzt«, sagte Ben giftig. »Und ich höre rein gar nichts. Das heißt ...« Er runzelte die Stirn, überlegte eine Sekunde und fuhr in nachdenklichem Tonfall fort. »Letzte Nacht habe ich mir eingebildet, meine Nachttischlampe hätte zu mir gesprochen. Vielleicht war es gar keine Einbildung.«

»Bestimmt nicht«, pflichtete ihm Mike bei. »Du solltest abends jetzt genauer hinhören. Und dir vor allem angewöhnen, in deinen Schuhen zu schlafen.«

»Schluß jetzt, ihr beiden«, sagte Trautman streng. Er deutete auf den Kater. »Wenn du dich wirklich mit diesem Tier verständigen kannst, müssen wir das ausnutzen. Vielleicht verschafft es uns einen entscheidenden Vorteil.«

»Das Tier ist Serenas Wächter, vergessen Sie das nicht«, wandte Arronax ein. »Es wird nichts tun, was die Prinzessin irgendwie in Gefahr bringt.«

Vor der Tür wurden Schritte laut. Sie hörten das scharrende Geräusch des Riegels, und einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, und zwei bewaffnete Soldaten traten ein. Hinter diesen erkannte Mike die Silhouetten zweier weiterer, die mit schußbereiten Waffen auf dem Korridor standen. Winterfeld mochte sie wie Gäste behandeln, aber er beging nicht den Fehler, sie zu unterschätzen.

Mike spürte, wie Astaroth sich auf seinem Schoß zu bewegen begann, und hielt den Kater instinktiv fester. »Bitte bleib ruhig«, flüsterte er. »Wir wollen Serena genauso befreien wie du, aber wir müssen abwarten. Wir haben nur diese eine Chance.«

Astaroth antwortete auch jetzt nicht, aber Mike glaubte zu spüren, daß das Tier seine Worte verstanden hatte. »Du da!« Einer der beiden Soldaten deutete auf Mike. »Mitkommen. Kapitän Winterfeld will dich sehen.«

Mike stand auf und wollte den Kater auf den Stuhl legen, doch Astaroth fauchte so drohend, daß er sein Vorhaben nicht ausführte. Den Kater wie ein schlafendes Baby im Arm, trat er zwischen die beiden Soldaten und dann auf den Gang hinaus. Der Mann, der ihn zum Mitkommen aufgefordert hatte, musterte das Tier finster, schüttelte dann den Kopf und grinste abfällig. Mike schickte ein Stoßgebet zum Himmel, daß Astaroth nichts Unüberlegtes tat. Winterfeld hatte sicher Befehl gegeben, ihn und die anderen mit Respekt zu behandeln.

Kurz darauf erreichten sie Kapitän Winterfelds Kabine. Die beiden Soldaten traten nicht mit ein, sondern blieben draußen vor der Tür stehen. Winterfeld saß an seinem mit Papieren und Karten übersäten Schreibtisch und sah Mike freundlich entgegen, als dieser eintrat.

»Setz dich«, forderte er ihn auf, erst dann schien er den Kater zu bemerken, den Mike auf den Armen trug. »Ich hoffe, dein Schoßtierchen ist inzwischen stubenrein geworden«, sagte er und fügte ein wenig besorgt hinzu: »Was ist mit ihm? Er sieht krank aus.«

»Er ist ein ziemlicher Faulpelz, er läßt sich die ganze Zeit herumschleppen«, antwortete Mike, und seine Stimme zitterte etwas.

»So sind Katzen nun einmal«, sagte Winterfeld. »Ich selbst habe drei Stück zu Hause - zwei Perser und eine normale Hauskatze. Aber keine ist auch nur annähernd so groß wie dein Tier. Ein richtiges Prachtstück.«

Mike lauschte in sich hinein. Aber Astaroths lautlose Stimme blieb stumm. Von der vorlauten Art des Katers war im Moment nichts geblieben. Und Mike glaubte darüber hinaus auch zu spüren, daß eine Veränderung mit dem Tier vor sich gegangen war.

»Nun«, sagte Winterfeld, nachdem Mike sich gesetzt hatte, »ich hoffe, du hattest inzwischen Gelegenheit, über unser Gespräch von vorhin nachzudenken.«

»Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu bereden hätten«, antwortete Mike. Der Kater bewegte sich auf seinen Armen. Irgend etwas geschah mit ihm. Es war keine sichtbare Veränderung, aber Mike fühlte sie sehr deutlich.

Winterfeld seufzte. Seine Finger strichen unbewußt über einen Stoß Karten. »Du enttäuscht mich, Michael«, sagte er. »Ich hätte dich für klüger gehalten. Ich erwarte nicht, daß du mich wie einen Freund behandelst, aber du bist eigentlich alt genug, um zu wissen, wann du aufhören solltest. Ihr habt verloren, sieh das ein. Wir haben gekämpft, und ihr habt euch tapfer gewehrt, aber nun ist es vorbei. Im Grunde habe ich alles, was ich wollte. Meine Leute sind bereits dabei, die NAUTILUS zu untersuchen. Es wird nicht lange dauern, bis sie gelernt haben, das Schiff zu steuern. Ich könnte dich und die anderen irgendwo an Land setzen und meiner Wege gehen, wenn ich das wollte.«

»Ja, oder uns gleich umbringen, wie?« Mike erschrak über seine eigenen Worte. Er wußte selbst nicht, warum er das gesagt hatte - Winterfeld war sicher ihr Feind, aber kein Mörder. Aber er spürte einen Zorn und eine Entschlossenheit in sich, die ihn schaudern ließen. Irgendwie spürte er auch, daß es gar nicht seine Gefühle waren, die er empfand, aber sie waren einfach zu stark, um sich dagegen zu wehren.

»Du weißt, daß ich das nicht täte«, erwiderte Winterfeld. Er klang ehrlich verletzt. »Aber ich könnte euch auf einer Insel absetzen, wo es Jahre dauern kann, bis euch jemand findet. Doch das möchte ich nicht. Im Gegenteil, ich hoffe sogar, daß wir unsere Meinungsverschiedenheiten beilegen und zusammenarbeiten. Deine Hilfe könnte für mich sehr wichtig sein. Und für sehr viele andere Menschen auch.«

»Hilfe? Wobei?« fragte Mike böse. »Wollen wir gemeinsam noch ein paar friedliche Forschungsschiffe überfallen?«

»Das war eine bedauerliche, aber notwendige Maßnahme«, sagte Winterfeld mit einer Stimme, in der nicht eine Spur von Bedauern zu hören war. »Ich habe nicht vor, als Pirat die Weltmeere unsicher zu machen - wie zum Beispiel dein Vater und Trautman getan haben. Doch was sollte ich tun? Ihr wart mir entkommen, und somit war Professor Arronax meine letzte Möglichkeit, und - ich gestehe es - die Gelegenheit war zu verlockend. Vor allem«, fügte er mit einem feinen Lächeln hinzu, »da ich auf diese Weise gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnte.«

»Wie meinen Sie das?«

Winterfeld lachte. »Habt ihr die Geschichte von dem Expeditionsteilnehmer wirklich geglaubt, der mir im letzten Moment entkommen ist?« Er schüttelte belustigt den Kopf. »Solche Fehler unterlaufen mir nicht, mein junger Freund. Das war einer meiner eigenen Männer, der den Auftrag hatte, eine entsprechende Meldung an die Presse zu lancieren. Mir war klar, daß Trautman sofort hierherkommen würde, wenn er davon erführe. Ich habe die ganze Zeit auf euch gewartet. Mit Erfolg, wie sich gezeigt hat.«

»Und was haben Sie jetzt mit Arronax und seinen Leuten vor?« fragte Mike.

Winterfeld machte eine beruhigende Handbewegung.

»Es geht ihnen gut, keine Sorge. Arronax hast du ja bereits kennengelernt, und auch den anderen wird nichts geschehen. Sie befinden sich an Bord der LEOPOLD, und du hast mein Wort, daß ihnen kein Haar gekrümmt wird.«

»Und das Mädchen?« fragte Mike. Astaroth bewegte sich unruhig in seinen Armen.

»Ein weiterer Grund, aus dem wir zusammenarbeiten sollten«, sagte Winterfeld. »Durch einen unglückseligen Umstand wurde die Kuppel leider zerstört - weißt du vielleicht etwas darüber?«

Im ersten Moment irritierte Mike der lauernde Ton in Winterfelds Stimme, doch dann begriff er. »Nein«, antwortete er. »Jedenfalls haben wir nichts damit zu tun, wenn Sie das meinen.«

Winterfeld wirkte nicht ganz überzeugt. Wahrscheinlich, dachte Mike, glaubte er, daß sie die Kuppel gesprengt hatten, damit sie seinen Leuten nicht in die Hände fiel. »Was ist mit dem Mädchen?« fragte er.

»Sie befindet sich an Bord«, antwortete Winterfeld.

»Keine Sorge - sie ist unverletzt. Was weißt du über sie?«

»Kann ich sie sehen?« wollte Mike wissen, ohne Winterfelds Frage zu beantworten.

Winterfeld zögerte, nickte aber schließlich. »Warum nicht? Allerdings fürchte ich, wird es dir nicht viel nutzen.« Er hob beruhigend die Hand, als er sah, daß Mike erschrocken zusammenfuhr - obwohl der wirkliche Grund dieses Zusammenzuckens der war, daß Astaroth bei diesen Worten seine Krallen so tief durch Mikes Hemd in seine Haut grub, daß er vor Schmerz beinahe aufgestöhnt hätte. Der Kater spielte weiter den Schlafenden, doch Mike spürte, daß er sich längst in ein Energiebündel verwandelt hatte, das nur darauf wartete, das Theaterspiel endlich aufzugeben. »Ihr ist nichts geschehen«, fuhr Winterfeld fort. »Ganz im Gegenteil, es ist uns gelungen, sie aufzuwecken. Aber sie ist ... sagen wir, noch ein wenig benommen.« Mike fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Astaroth zitterte auf seinen Armen. Er spürte, daß jeder Muskel im Leib des Katers schier zum Zerreißen angespannt war. »Ich möchte mich nur davon überzeugen, daß es ihr gutgeht«, sagte Mike.

»Also gut«, sagte Winterfeld und stand auf. »Wenn das nötig ist, um dir zu beweisen, daß ich es ernst meine mit meinem Vorschlag, soll es mir recht sein. Komm mit.«

Er kam um den Schreibtisch herum, machte eine auffordernde Handbewegung zu Mike, ihm zu folgen, und öffnete die Tür. Die beiden Posten, die Mike hierher begleitet hatten, standen noch immer draußen auf dem Gang. Respektvoll traten sie einen Schritt zur Seite, als Winterfeld an ihnen vorüberging, folgten ihm und Mike aber mit zwei Schritten Abstand.

Winterfeld führte ihn durch ein wahres Labyrinth von Gängen und Korridoren. Dann und wann begegneten ihnen andere Besatzungsmitglieder, die respektvoll beiseitetraten, um ihrem Kommandanten Platz zu machen, aber im allgemeinen schien das Schiff wie ausgestorben zu sein. Doch Mike wurde rasch klar, daß das nicht etwa daran lag, daß Winterfeld so wenige Männer an Bord hatte, sondern vielmehr an der enormen Größe der LEOPOLD. Früher, als er sich noch mit Winterfelds Sohn ein Zimmer im Internat geteilt hatte, hatten sie oft über die LEOPOLD gesprochen, und Paul hatte ihm erzählt, daß sie eines der größten Schiffe der deutschen Kriegsmarine war. Mike hatte dies geglaubt, sich aber niemals wirklich Gedanken darüber gemacht, was das eigentlich bedeutete - doch jetzt kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Selbst die NAUTILUS mit ihren fast hundert Metern mußte neben dem Schlachtschiff wie ein kleines Boot wirken.

Der Gedanke erinnerte ihn an eine Frage, die ihm die ganze Zeit bereits auf der Seele lag. »Wo ist Paul?« fragte er. »Ist er auch an Bord?«

Winterfeld lachte. »O nein«, sagte er kopfschüttelnd. »Wofür hältst du mich? Ich würde meinen Sohn niemals einer derartigen Gefahr aussetzen. Er befindet sich an einem sicheren Ort.«

»Und wo ist dieser sichere Ort?« fragte Mike.

Wieder lachte Winterfeld und schüttelte den Kopf. »Du gibst nicht auf, wie? Aber ich denke, wir sollten es mit den Vertrauensbeweisen am Anfang vielleicht noch nicht übertreiben. Später wirst du deinen Freund sicher wiedersehen.«

Sie hatten ihr Ziel erreicht. Vor einer eisernen Tür standen zwei Wächter, zwar bewaffnet wie fast alle an Bord, trotzdem aber deutlich gelangweilt. Als sie Winterfeld sahen, versuchten sie hastig, eine stramme Haltung einzunehmen und ihre Uniformen zu glätten. Winterfeld beachtete sie allerdings gar nicht, sondern öffnete die Tür und gebot Mike mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Die beiden Soldaten, die mit ihnen gekommen waren, traten hinter ihnen ein.

Wie Mike auf den ersten Blick erkannte, handelte es sich um die Krankenstation der LEOPOLD. An der Wand neben der Tür stand eine ganze Reihe weißer, sauber bezogener Betten, es gab eine Anzahl medizinischer Instrumente und mehrere Glasschränke voller Fläschchen und Behälter, die wohl Medikamente enthielten. Ein stechender Karbolgeruch hing in der Luft, und ein älterer Mann in einem weißen Kittel, wahrscheinlich der Arzt, sah Winterfeld entgegen und grüßte ihn knapp, ohne sich zu einem militärischen Gruß aufraffen zu können.

Serena lag in dem Bett neben der Tür, und obwohl sie noch immer das einfache weiße Gewand trug und fast in der gleichen Haltung in den Kissen lag, in der Mike sie in dem gläsernen Sarg gefunden hatte, war etwas mit ihr vorgegangen.

Ihre Augen waren nun geöffnet, doch sie waren blicklos und stumpf und schienen die Decke über ihrem Kopf gar nicht zu sehen, und ihre Haut war noch immer von weißer, fast durchscheinender Farbe. Sie lag vollkommen bewegungslos da, das Haar wie einen goldfarbenen Schleier um die Schultern ausgebreitet, und sie atmete so flach, daß man es kaum bemerkte, und doch hatte sie sich verändert.

Als Mike sie in dem gläsernen Sarg gesehen hatte, da war sie wenig mehr als eine Tote gewesen, eine schlanke Mädchengestalt mit einem wunderschönen Gesicht, aber nicht mehr. Ebensogut hätte sie eine Statue sein können, die von der Hand eines begnadeten Künstlers erschaffen worden war. Jetzt aber war in dieser Statue Leben. Man konnte es kaum sehen, dafür jedoch um so deutlicher spüren, und es war, als hätte dieser göttliche Funke eine Veränderung unter der Oberfläche des Sichtbaren bewirkt, die sie zu etwas ganz anderem machte. Ganz plötzlich war ihre Schönheit nicht mehr die einer Puppe, sondern etwas Lebendiges, Warmes, zu dem sich Mike sofort hingezogen fühlte.

Aber da war noch mehr. Obwohl er das Mädchen jetzt erst zum dritten Mal im Leben sah, fühlte er etwas Vertrautes in sich, als kenne er sie schon seit sehr langer Zeit. Vielleicht hatte es mit Astaroth zu tun. Vielleicht waren es die Gefühle des Katers, die er spürte und im ersten Moment für seine eigenen hielt, doch selbst wenn, spielte das keine Rolle - Mike mußte nur einen einzigen Blick auf dieses bleiche, schmale Mädchengesicht werfen, um zu wissen, daß er Serena nötigenfalls mit dem eigenen Leben verteidigen würde, sollte ihr jemand etwas zuleide tun wollen.

All diese Gedanken und Gefühle überfielen Mike, kaum daß er durch die Tür getreten war. Auch Astaroth reagierte auf den Anblick des Mädchens. Er erwachte jäh aus seiner Lethargie, sprang mit einem schrillen Laut von Mikes Armen herunter und war mit einem gewaltigen Satz auf dem Bett. Der Arzt machte instinktiv einen Schritt vor, um ihn davonzuscheuchen, aber Winterfeld hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. Astaroth stieß ein lautes Miauen aus, war mit einem einzigen Sprung neben der Schulter des Mädchens und begann seinen Kopf schnurrend an ihrem Gesicht zu reiben. Seine Krallen gruben sich mit schnellen, regelmäßigen Bewegungen immer wieder in das Kissen, und er wedelte heftig mit dem Schwanz.

Serena blinzelte. Ihre Lider senkten sich und blieben eine Sekunde geschlossen, und als sie sie wieder hob, war in ihren Augen etwas Neues, das bisher nicht dagewesen war. Das Mädchen wirkte noch immer betäubt wie eine Schlafwandlerin, doch der Funke von Leben in ihren Augen glomm jetzt heller. Sie bewegte den Kopf nicht, aber ihre Augen suchten den Kater, und obwohl ihr Gesicht völlig reglos blieb und sie nicht eine Miene verzog, glaubte Mike mit einem Male so etwas wie ein Lächeln darauf zu erkennen. Schließlich hob sie, ganz langsam, zitternd und voller Mühe, den Arm, streckte die Hand aus und legte die Finger zwischen die Ohren des Katers. Astaroth schnurrte immer lauter und kuschelte sich in ihrer Halsbeuge zusammen.

»Unglaublich«, sagte der Arzt. »Wir haben alles versucht, aber sie hat auf nichts reagiert. Sie scheint dieses Tier zu kennen.«

Winterfeld wandte sich zu Mike um. »Ich glaube, ich habe dich schon wieder unterschätzt«, sagte er. »Ein Meerkater, wie? Und ihr habt das Tier auf dem Grund des Ozeans gefunden?«

»Ich habe es Ihnen ja gesagt«, antwortete Mike knapp. »Ja«, seufzte Winterfeld. »Das hast du. Aber - gibt es vielleicht ein paar Dinge, die du mir nicht gesagt hast?«

»Das müssen Sie schon selbst herausfinden«, erwiderte Mike patzig.

Winterfeld wurde nicht zornig, wie er erwartet hatte. Es schien überhaupt recht schwierig zu sein, diesen Mann aus der Ruhe zu bringen oder wirklich zu verärgern.

Da niemand etwas dagegen zu haben schien, trat Mike mit vorsichtigen Schritten an das Bett heran und beugte sich über die schlafende Prinzessin. Er sah dem Mädchen jetzt direkt in die Augen, aber noch immer war kein Erkennen darin zu sehen. Es waren nicht mehr die Augen einer Statue, aber ihr Blick schien geradewegs durch Mike hindurch und in unbekannte Fernen zu gehen, und für einen Moment glaubte er einen Ausdruck von solchem Schmerz und Leid zu erkennen, daß es ihn schauderte.

»Wer ist dieses Mädchen?« fragte Winterfeld.

Mike schüttelte den Kopf: »Ich weiß es nicht.«

»Du enttäuscht mich, mein Junge«, sagte Winterfeld.

»Du hast doch mit Arronax gesprochen. Hat er dir nicht erzählt, daß ich im Besitz seiner Aufzeichnungen bin?«

»Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie dann?«

Diesmal sparte sich Winterfeld eine Antwort. Er trat auf der anderen Seite an das Bett heran und streckte die Hand aus, um das Mädchen zu berühren, doch er hielt inne, als Astaroth ein drohendes Fauchen hören ließ und die Zähne bleckte.

»Und ich glaube, da haben wir auch ihren Wächter«, sagte Winterfeld. Die Worte klangen kein bißchen spöttisch, und der Ausdruck auf seinem Gesicht zeigte Respekt. Nach einigen Sekunden trat Winterfeld vom Bett zurück, und der Kater beruhigte sich wieder.

»Was haben Sie mit ihr vor?« wollte Mike wissen.

Winterfeld lächelte beruhigend. »Vorerst nichts. Außer ihr zu helfen, versteht sich. Später ...« Er zuckte mit den Achseln. »Wir werden sehen. Nachdem die Kuppel zerstört ist, ist dieses Mädchen möglicherweise alles, was vom Volk der Atlanter geblieben ist. Aber du mußt dir keine Sorgen machen. Es liegt mir fern, ihr irgend etwas anzutun.«

»Solange sie Ihnen sagt, was Sie wissen wollen, nicht wahr?«

»Ich glaube, du hast zu viele schlechte Romane gelesen«, erwiderte Winterfeld mit gutmütigem Spott.

»Selbst wenn ich der wäre, für den du mich offensichtlich hältst, hätte ich längst begriffen, daß Gewalt selten zu einer befriedigenden Lösung führt.«

»Warum wenden Sie sie dann immer wieder an?«

»Weil es manchmal nicht anders geht«, erwiderte Winterfeld in einem Tonfall, der Mike zeigte, daß ihn sein Mißtrauen verletzt hatte. »Eines Tages wirst du begreifen, warum ich all das hier tue. Aber jetzt ist nicht der Moment, darüber zu reden. Wir sind hier, um diesem Mädchen zu helfen. Für alles andere ist später Zeit.«

Er trat einen Schritt beiseite und gab dem Arzt einen Wink. Dieser trat ans Bett und beugte sich über das Mädchen. Wieder stieß Astaroth ein drohendes Fauchen aus und zeigte die Zähne, und der Arzt schrak zurück.

»Nicht, Astaroth!« sagte Mike. »Er will ihr nur helfen.«

Eine Sekunde lang starrte der Kater ihn aus seinem einzelnen, unheimlich leuchtenden Auge an, dann wurde er ruhig und ließ es zu, daß der Doktor sie mit seinem Stethoskop abzuhören begann.

Winterfeld sah Mike nachdenklich an, und noch bevor er etwas sagte, begriff Mike, daß er vielleicht einen nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen hatte.

»Du kannst dich also mit ihm verständigen«, stellte Winterfeld fest.

»Es ist ... ein sehr kluges Tier«, stammelte Mike. »Manchmal glaube ich tatsächlich, daß er mich versteht.«

Winterfeld lächelte nur, und Mike sah selbst ein, wie wenig überzeugend diese Worte klangen.

Unter Astaroths mißtrauischen Blicken untersuchte der Arzt Serena sehr vorsichtig, aber sehr gründlich. Schließlich trat er vom Bett zurück und machte ein ernstes Gesicht. »Sie ist sehr schwach«, sagte er. »Aber das ist nicht alles. Irgend etwas stimmt nicht mit ihr. Ich kann nicht sagen, was.«

»Kannst du uns helfen?« fragte Winterfeld.

Der Kater hatte bisher beharrlich geschwiegen, und seine lautlose Gedankenstimme drang auch jetzt nicht in Mikes Kopf. Trotzdem war Mike ziemlich sicher, daß er - zumindest über den Umweg durch den Kater - mit dem Mädchen in Verbindung hätte treten können. Aber er glaubte auch zu spüren, daß Astaroth ihm jetzt nicht antworten würde.

»Nein«, antwortete er einsilbig.

»Du machst es nur schwerer für uns alle«, sagte Winterfeld. Er schüttelte leicht den Kopf. »Aber gut, ganz wie du meinst. Wir haben Zeit genug.« Er gab den beiden Soldaten, die mit ihm hereingekommen waren und die ganze Szene bisher schweigend, aber mit offensichtlichem Staunen verfolgt hatten, einen entsprechenden Wink. »Bringt ihn zurück zu den anderen.«


Sie bekamen einen weiteren Beweis für Winterfelds Großzügigkeit, denn einer der beiden Soldaten, die Mike zurückbegleiteten, erklärte, daß er mit Trautman zu den anderen gehen durfte. Natürlich mußte Mike Arronax und Ben ausführlich erzählen, wie es ihm ergangen war, und natürlich hatte jeder der anderen eine andere Meinung dazu; sowohl zu dem, was Mike erlebt hatte, als auch zu dem, was davon zu halten war. Vor allem Ben verkündete lautstark, daß man Winterfeld auf keinen Fall trauen dürfe und seine vermeintliche Freundlichkeit gar nichts anderes als ein Trick sein konnte.

Aber Mike war davon mittlerweile nicht mehr so überzeugt wie noch vor einer Stunde, als man ihn zu Winterfeld gebracht hatte. Er war weit davon entfernt, irgendwelche freundschaftlichen Gefühle für Kapitän Winterfeld zu hegen oder ihm gar zu trauen - aber es fiel ihm auch immer schwerer, Winterfeld als den gewissenlosen Verbrecher zu sehen, als den ihn Ben gerne hingestellt hätte. Und zumindest Trautman schien es ganz ähnlich zu ergehen, denn er beteiligte sich kaum an der Auseinandersetzung, sondern wurde immer nachdenklicher und stiller; und manchmal - wenn er glaubte, Mike merke es nicht - warf er ihm einen sonderbaren Blick zu.

Auf diese Weise vergingen sicherlich zwei Stunden, ehe es endlich Arronax war, der die Diskussion zu einem Ende brachte, indem er leise, aber sehr eindringlich sagte: »Aber das alles ändert doch nichts.«

Einen Moment lang herrschte verwirrtes Schweigen, dann fragte André: »Woran?«

»An der Tatsache, daß wir hier gefangen sind und Kapitän Winterfeld - ob nun freundlich oder nicht - mit diesem Mädchen den Schlüssel zu unvorstellbarer Macht in den Händen hält.« Er sah sich einen Moment in der Runde um, als erwarte er Widerspruch oder auch Zustimmung. Als keines von beidem erfolgte, fuhr er fort: »Ich stimme mit Mike in zumindest einem Punkt überein: Auch ich habe in den vergangenen Wochen Zeit und Gelegenheit genug gehabt, um mit Winterfeld zu reden und mir ein Bild zu machen. Am Anfang hielt ich ihn ebenfalls nur für einen Verbrecher: bestenfalls einen Wahnsinnigen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, was das angeht. Und außerdem denke ich, daß Winterfeld einen ganz konkreten Plan hat.«

»Was für einen Plan?« fragte Trautman scharf.

Arronax zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich ebensowenig wie Sie. Aber Winterfeld ist kein Mann, der irgend etwas ohne triftigen Grund tut. Vielleicht ist es euch allen noch nicht bewußt geworden, aber mit dem, was er getan hat, hat er sich gewissermaßen selbst für vogelfrei erklärt. Der Krieg wird es ihm etwas leichter machen, weil die Welt im Moment anderes zu tun hat, als einen Deserteur zu jagen, aber über kurz oder lang wird er erwischt werden. Und er weiß das. Winterfeld ist kein Dummkopf.«

»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Singh.

»Ich denke, Winterfeld spielt einfach va banque«, antwortete Arronax. »Er hat alles auf eine Karte gesetzt - und das hätte er schwerlich getan, hätte er sich nicht eine gute Chance ausgerechnet, das Spiel zu gewinnen. Er ist hinter dem Vermächtnis der Atlanter her - und mit Serena und der NAUTILUS hat er gute Aussichten, es auch zu bekommen.«

»Aber die Kuppel ist zerstört!« wandte Chris ein.

Arronax lächelte. »Ich fürchte, das wird nicht viel nützen«, sagte er. »Ich habe Dutzende von Hinweisen auf andere Hinterlassenschaften des untergegangenen Volkes gefunden - und du hast es ja selbst gehört: Winterfeld besitzt meine Aufzeichnungen. Wenn ihm das Mädchen auch nur ein paar Hinweise gibt, ist es ein Leichtes für ihn, die Reste von Atlantis zu finden.«

»Und wir haben ihm auch noch das passende Schiff dazu geliefert«, sagte Trautman düster.

Arronax seufzte. »Ja. Sie haben die Kuppel gesehen, Trautman. Und Sie wissen, wozu die NAUTILUS in der Lage ist. Wenn Winterfeld mehr von der Hinterlassenschaft der Atlanter findet ... das ist unvorstellbar. Er könnte im wahrsten Sinne des Wortes unbesiegbar werden. Wer weiß - vielleicht könnte er sich tatsächlich zum Herrscher über die ganze Welt aufschwingen. Ich glaube nicht, daß er das will, aber -«

»Und damit haben Sie auch vollkommen recht, Professor«, unterbrach ihn eine Stimme von der Tür her.

Alle fuhren erschrocken herum und sahen den Schlachtschiffkommandanten an, der vollkommen unbemerkt die Kabine betreten hatte und offensichtlich schon eine ganze Weile zuhörte.

»Ich bin mir der Gefahr, der ich mich selbst und meine Männer aussetze, durchaus bewußt, mein lieber Professor. Doch der Preis, um den es hier geht, ist den Einsatz mehr als wert.« Er kam näher, wobei er die Tür hinter sich offenstehen ließ, so daß sie alle die beiden bewaffneten Marinesoldaten sehen konnten, die draußen auf dem Korridor Aufstellung genommen hatten, und fuhr in lockerem Tonfall fort, »Er ist vermutlich höher, als selbst Sie sich vorstellen können - und ihr anderen auch. Um so mehr schmerzt es mich, daß sie mich noch immer für einen gemeinen Piraten zu halten scheinen.«

Bei diesen Worten maß er Ben mit einem bezeichnenden Blick, den der junge Engländer trotzig und anscheinend ohne eine Spur von Furcht erwiderte.

»Wenn das nicht so ist, dann erzählen Sie uns doch, was Sie wirklich vorhaben«, sagte Trautman. »Vielleicht gelingt es Ihnen ja, uns zu überzeugen - wer weiß?«

»Wer weiß?« bestätigte Winterfeld lächelnd. »Ich täte es gern, aber jetzt ist weder die Zeit noch die richtige Gelegenheit dazu.«

»Was spricht dagegen?«

»Der Umstand, daß ich nicht weiß, ob ich Ihnen und Ihren jungen Freunden trauen kann oder nicht«, antwortete Winterfeld mit großem Ernst. »Und damit wären wir gleich beim Grund meines Hierseins.« Er deutete auf Mike. »Michael wird Ihnen ja erzählt haben, welche Pläne ich mit Ihnen beziehungsweise mit Professor Arronax und seinen Begleitern hege.«

»Haben Sie eine einsame Insel gefunden, auf der Sie uns absetzen können?« grollte Ben.

»Oh, gleich ein Dutzend, was das angeht«, erwiderte Winterfeld. »Und ich versichere dir, mein junger Freund, einige davon sind wirklich einsam; einsam genug jedenfalls für die nächsten zehn Jahre.« Dann fuhr er in verändertem Ton fort:

»Wie die Dinge nach der Vernichtung der Kuppel liegen, gibt es keinen Grund mehr für die LEOPOLD, länger hierzubleiben. Wir werden noch im Laufe des Abends Fahrt aufnehmen.«

»Und was geht das uns an?« fragte Ben.

»Brauchen Sie noch Galeerensklaven für die Ruder?« fügte Juan hinzu.

Winterfeld schenkte ihnen keine Beachtung. »Es geht um die NAUTILUS«, sagte er. »Ich will ehrlich zu euch sein: Ich habe ein paar fähige Ingenieure an Bord, und es ist keine Frage, daß sie über kurz oder lang lernen werden, mit dem Schiff umzugehen - aber ich fürchte, es wird eher länger dauern.«

»Und jetzt wollen Sie, daß wir Ihre Leute unterweisen?« fragte Mike fassungslos.

Winterfeld nickte. »Es macht keinen Unterschied - für euch«, sagte er. »Und auch nicht für uns. Wir verlieren nur ein wenig Zeit, kostbare Zeit, wie ich gerne zugebe. Trotzdem spielt es eigentlich keine Rolle. Der Unterschied für euch wäre, daß ich eure Bereitschaft zur Hilfe nicht vergessen würde.«

»Garantieren Sie uns einen schmerzlosen Tod?« fragte Ben hämisch.

Diesmal sahen sie alle das kurze, ärgerliche Flackern in Winterfelds Augen. Aber er beherrschte sich auch jetzt noch. »Ich garantiere euch allen die beste Behandlung, die ich euch unter diesen Umständen bieten kann«, sagte er ernst. »Egal, wie eure Entscheidung ausfällt, ob ihr zu meinen Verbündeten werdet oder es vorzieht, mich weiter als Feind zu betrachten, werde ich -«

Draußen auf dem Korridor wurden polternde Schritte laut, und einen Augenblick später stürmte ein Marinesoldat in die Kabine und blieb schweratmend vor Winterfeld stehen. »Herr Kapitän, Sie müssen in die Krankenstation kommen!« sagte er, ohne irgendeine nähere Erklärung abzugeben.

Und Winterfeld schien zu spüren, wie ernst es mit dem Mann war, denn er zögerte nicht und wandte sich zur Tür. Aber der Soldat hielt ihn noch einmal zurück, indem er auf Mike deutete:

»Der Junge sollte besser auch mitkommen«, sagte er. Winterfeld war überrascht - aber Mike erschrak, und jetzt erkannte er den Mann, der da so atemlos hereingestürzt war: Es war einer der beiden Soldaten, die mit ihnen bei Serena gewesen waren.

Es bedurfte keines weiteren Befehles von Winterfeld, damit er ihm und dem Soldaten folgte. Hintereinander stürmten sie aus der Kabine.


Obwohl sich die Krankenstation nahezu am anderen Ende des gewaltigen Schiffes befand, benötigten sie nicht einmal fünf Minuten, um den Korridor zur Krankenstation zu erreichen, der voller Soldaten war. Sie hörten die aufgeregten Rufe und durcheinanderschreienden Stimmen schon von weitem; nicht einmal als Winterfeld die Treppe hinunterpolterte, hörte der Lärm völlig auf; und bei der eisernen Disziplin, die an Bord der LEOPOLD herrschte, bedeutete das eine ganze Menge!

Winterfeld griff sich den erstbesten Mann, der ihm in den Weg kam, und fuhr ihn an: »Was ist hier los?«

Der Soldat antwortete nicht, sondern deutete hinter sich, und als Mikes Blick der Geste folgte, sah er eine Gestalt in einem weißen Kittel, die zusammengekauert am Boden hockte und Kopf und Schultern gegen die Wand gelehnt hatte.

Mike erkannte den Arzt, der bei Serena gewesen war, aber nur an dem weißen Kittel und dem Stethoskop, das er um den Hals trug, sein Gesicht war voller Blut. Auch der vordere Teil seines Kittels hatte sich rot gefärbt. Der Mann stöhnte vor Schmerz.

»Wie ist das geschehen?« fuhr Winterfeld den Mann an, ohne Rücksicht auf dessen Zustand zu nehmen.

»Wer hat das getan?«

»Der ... der Kater«, stöhnte der Arzt. »Dieses schwarze Ungeheuer ist ... einfach auf mich losgegangen. Ich ... ich habe gedacht, er bringt mich um.«

»Astaroth?« fragte Mike zweifelnd. Was er sah, schien die Worte des Mannes zu bestätigen - unter all dem Blut auf seinem Gesicht gewahrte er mindestens ein Dutzend kreuz und quer verlaufender Kratzer, die durchaus von Astaroths Krallen stammen konnten. Aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der Kater ohne Grund auf den Mann losgegangen sein sollte.

Winterfeld offenbar auch nicht, denn er fragte geradeheraus: »Was zum Teufel haben Sie angestellt, Sie Dummkopf?«

»Ich ... ich habe dem Mädchen nur eine Spritze gegeben!« sagte der Arzt. »Nur ein Vitaminpräparat, um sie zu stärken.«

»Und Astaroth ließ das nicht zu«, vermutete Mike.

»Er ist wie ein Verrückter auf mich losgegangen«, bestätigte der Arzt. »Ich habe versucht, ihn wegzujagen, aber er wurde immer wilder.«

»Sie verdammter Narr!« sagte Winterfeld. Er richtete sich auf und fuhr herum. »Aber das kann nicht alles sein. Was ist hier los?«

Keiner der anderen Männer antwortete. Aber Mike fiel plötzlich etwas auf - in der Wand neben der Tür, hinter der sich Serena und Astaroth befanden, war eine fast mannshohe Beule, von der er ganz sicher war, daß es sie vorhin nicht gegeben hatte.

Auch Winterfeld hatte diese Beule gesehen. Eine Sekunde lang starrte er sie stirnrunzelnd an, dann ging er auf die Tür zu und streckte die Hand nach der Klinke aus.

»Tun Sie das lieber nicht«, sagte einer der Soldaten. Mike und Winterfeld drehten sich gleichzeitig zu ihm herum, und Mike sah, daß der Mann nicht nur bleich vor Schrecken war, sondern auch aus einer tiefen Wunde auf dem rechten Handrücken blutete.

»Warum?« fragte Winterfeld scharf.

Der Mann zögerte, dann sagte er so leise, daß die Worte kaum zu verstehen waren: »Die Katze.«

Mike war nicht im geringsten überrascht. Auf Winterfelds Gesicht jedoch erschien ein Ausdruck grenzenlosen Staunens. »Wie bitte?« keuchte er. »Sie wollen mir erzählen, daß meine halbe Mannschaft hier herumsteht und sich vor einer Katze fürchtet?«

Die letzten Worte hatte er geschrien. Der Soldat duckte sich wie ein geprügelter Hund, und auch die anderen wichen so weit vor ihm zurück, wie es der beengte Raum überhaupt zuließ.

»Sie ... sie ist von Sinnen, Herr Kapitän«, stammelte der Soldat. »Das ... das ist keine Katze. Das ist ein ... Ungeheuer!«

»Was für ein Quatsch!« sagte Winterfeld. Trotzdem zögerte er sichtlich, die Hand nochmals nach der Türklinke auszustrecken und die Krankenstation zu betreten. Aber dann gab er sich einen Ruck, drückte die Klinke herunter und trat ein. Mike folgte ihm unaufgefordert, und weder Winterfeld noch einer seiner Männer versuchte ihn zurückzuhalten, und das war auch gut so, denn hätte Winterfeld die Kabine allein betreten, dann wäre es vielleicht zu einer noch viel größeren Katastrophe gekommen.

Mike sah nur einen Schatten aus den Augenwinkeln, fuhr herum und wurde wuchtig gegen die Wand geschleudert, als Winterfeld mittem im Schritt zurückprallte und einen überraschten Schrei ausstieß. Auf seiner Brust hockte plötzlich etwas Schwarzes, Pelziges, das mit scheinbar Dutzenden von Krallen und Zähnen zugleich nach seinem Gesicht hackte und biß. »Astaroth, nicht!« schrie Mike. »Hör auf!«

Astaroth tobte wie ein Besessener. Seine Krallen fetzten durch Winterfelds dicke Uniformjacke, als bestünde sie aus Papier, und obwohl das Tier kaum zwanzig Pfund wiegen konnte, prallte Winterfeld unter seinem ungestümen Angriff erneut gegen die Wand und fiel auf ein Knie herab. Mit einer Hand versuchte er, den Kater von seinem Gesicht und vor allem von seiner Kehle fernzuhalten, mit der anderen griff er unter seine Jacke. Mike konnte nicht erkennen, was er da tat, aber es überkam ihn eine Ahnung ...

»Astaroth, hör auf!« schrie Mike verzweifelt. »Er bringt dich um!«

Diesmal reagierte der Meerkater und sah Mike an - und Winterfeld nutzte seine Chance sofort. Mit einer kraftvollen Bewegung schleuderte er den Kater von sich und sprang auf die Füße. Astaroth flog quer durch die Kabine, kam geschickt auf allen vieren wieder auf und wirbelte wie ein schwarzer Blitz herum um sich abermals auf Winterfeld zu stürzen.

Doch Winterfeld hatte die Sekunde, die er gewonnen hatte, genutzt. Seine Hand war wieder unter der Jacke hervorgekommen, und ganz wie Mike befürchtet hatte, lag jetzt eine Pistole darin.

Mit einem gellenden Schrei und weit ausgebreiteten Armen warf sich Mike zwischen Winterfeld und den Kater, so daß Astaroth nun gegen ihn prallte, statt gegen den deutschen Offizier.

Der Anprall riß Mike von den Füßen. Er stürzte, ließ Astaroth aber nicht los. Seine Hände krallten sich mit aller Macht in das dichte Pell. »Astaroth, hör auf!« keuchte er wieder. »Er bringt dich um!«

Diesmal wirkten die Worte. Astaroth tobte und wand sich weiter in seinen Händen, aber er griff Mike nicht an, und nach einigen Augenblicken wagte er es, sich vorsichtig aufzurichten, wobei er den Kater mit beiden Armen umklammert hielt und ihn so fest an die Brust drückte, daß er kaum noch Luft bekam.

Winterfeld stand in einiger Entfernung und beobachtete Mike und Astaroth aufmerksam. Die Waffe hielt er dabei unverwandt auf den Kater gerichtet, und Mike zweifelte keine Sekunde daran, daß er davon Gebrauch machen würde, wenn Astaroth noch einmal versuchte, ihn anzugreifen.

»Sie können die Pistole einstecken«, sagte Mike. »Er wird Ihnen nichts mehr tun.«

Winterfeld dachte nicht daran, die Waffe auch nur zu senken. Aber er entspannte sich ein wenig. »Ich glaube, du hast gerade einem von uns das Leben gerettet«, sagte er, wobei er offenließ, ob er dabei sich und Mike oder sich und den Kater meinte. »Aber besonders klug war das nicht.«

Mike zog es vor, ihm nicht zu widersprechen. Statt dessen wandte er sich zu dem Bett um, in dem Serena lag, während Winterfeld nach dem verletzten Soldaten sah. Mike registrierte, daß dieser direkt unter der Delle lag, die in der Metallwand zum Korridor hin entstanden war. Was um alles in der Welt hatte Astaroth mit ihm getan?

Was er verdient hat, antwortete Astaroths lautlose Stimme in seinem Kopf. Sie haben versucht, der Prinzessin weh zu tun. Das kann ich nicht zulassen.

Mike seufzte. »Der Arzt wollte ihr nur helfen, Astaroth«, sagte er laut. Winterfeld sah auf und maß ihn mit einem stirnrunzelnden Blick.

Er hat ihr in den Arm gestochen! beharrte Astaroth.

»Er hat ihr nur eine Spritze mit einem Stärkungsmittel geben wollen, Astaroth«, sagte Mike geduldig. »Das tut ein bißchen weh, aber nicht mehr.«

Astaroth schwieg, funkelte ihn aber weiter mißtrauisch aus seinem Auge an und sprang mit einem Satz auf Serenas Bett. Wie schon einmal erwachte das Mädchen fast augenblicklich aus seiner Lethargie, als es die Nähe des Katers spürte, und streckte die Hand nach ihm aus. Astaroth begann zu schnurren, als sie ihn kraulte. Aber als Winterfeld näher kam, machte er einen Buckel und fauchte.

Winterfeld blieb stehen. »Du kannst dich also tatsächlich mit ihm verständigen«, sagte er.

Mike schwieg. Es hatte auch keinen Sinn, zu leugnen. »Du solltest ihm wirklich gut zureden«, fuhr Winterfeld fort. »Wenn er noch einen meiner Männer verletzt, lasse ich ihn erschießen.«

Astaroth fauchte. Winterfeld musterte ihn kühl und wich einen Schritt vom Bett zurück, steckte seine Waffe aber immer noch nicht ein.

Plötzlich begann sich Serena zu regen. Sie hatte bisher - außer auf Astaroth - auf nichts irgendeine Reaktion gezeigt, aber nun spürte Mike, wie unruhig und nervös sie war. Irgend etwas ... geschah. Er konnte es deutlich fühlen.

Sicher fragst Du Dich voll Spannung, wie es mit Mike, dem geheimnisvollen Mädchen und dem einäugigen Kater weitergeht. Gleich wirst Du es erfahren, wir wollen Dich vorher nur etwas fragen: Hat es Dir Spaß gemacht, mit Mike und seinen Freunden zu tauchen und das Mädchen in der Kuppel zu entdecken? Möchtest Du auch weiterhin mit ihnen und der Nautilus die Weltmeere durchqueren und die aufregendsten Abenteuer erleben? Das kannst Du: Wolfgang Hohlbein schreibt bereits an den nächsten Bänden dieser Reihe.

Aber hast Du schon den ersten Band gelesen, in dem erzählt wird, wie die fünf Jungen das Unterseeboot gefunden haben? Er heißt »Die Vergessene Insel« und wartet in der Buchhandlung auf Dich.

Es gibt auch einen »Kapitän-Nemo-Fan-Club«. Wenn Du Mitglied werden möchtest, dann schreib einfach an

Verlag Carl Ueberreuter

Kennwort »Kapitän Nemo«

Aiser Straße 24

A-1091 Wien

und gib auch Dein Geburtsdatum an.

Jeder, der uns einen Brief schickt, erhält einen Mitgliedsausweis und nimmt an einer Verlosung teil, bei der es fünfzig »Kapitän-Nemo-Kappen« zu gewinnen gibt.

So, jetzt geht's weiter...

»Sie sollten so etwas nicht sagen, wenn sie es hört«, sagte Mike leise.

Und auch nicht, wenn ich es höre, fügte Astaroth in seinen Gedanken hinzu.

Winterfeld zog es vor, nicht weiter auf dieses Thema einzugehen, sondern wandte sich abrupt zur Tür und öffnete sie. Einige Soldaten betraten den Raum, hielten aber respektvoll Abstand zu Serenas Bett - wohl des Katers wegen -, während der Arzt, obwohl selbst verletzt, sich um den verwundeten Soldaten kümmerte.

Mike registrierte dies alles nur mit einem flüchtigen Blick. Seine ganze Aufmerksamkeit galt Serena, die sich mittlerweile halb im Bett aufgesetzt hatte und die ganze Szene aus vor Angst geweiteten Augen betrachtete. Mike versuchte sich vorzustellen, welchen Eindruck das, was sie sah, auf sie machen mochte, aber seine Phantasie kapitulierte vor dieser Aufgabe.

»Kannst du ... mich verstehen?« fragte er zögernd. Er konnte nicht sagen, ob Serena die Worte verstand oder nur auf seine Stimme reagierte - auf jeden Fall drehte sie langsam den Kopf und sah ihn aus ihren großen, dunklen Augen an, und ...

Auch hinterher fehlten Mike einfach die Worte, um zu beschreiben, was in der endlosen Sekunde, in der sich ihre Blicke trafen, vor sich ging. Es war mehr als nur ein Berühren der Blicke, das zwischen ihnen stattfand. Wie schon einmal fühlte sich Mike dem Mädchen so nahe und so tief verbunden wie niemals zuvor einem anderen Menschen, und es war ein Gefühl von solcher Wärme und Wohltat, daß er hoffte, es würde nie enden.

»Kannst du mich verstehen?« fragte er noch einmal. Als Serena auch jetzt nicht antwortete, sondern ihn nur unverwandt anblickte, fügte er lächelnd hinzu: »Du mußt keine Angst haben. Wir wollen dir helfen.«

Wieder streckte er die Hand nach dem Mädchen aus, führte die Bewegung aber nicht zu Ende, denn Astaroth schob sich drohend zwischen ihn und das Mädchen und machte einen Buckel. Sein einzelnes Auge funkelte tückisch.

Faß sie nicht an! erscholl die lautlose Stimme des Katers in seinen Gedanken.

»Hör endlich mit dem Blödsinn auf, Astaroth«, sagte Mike. »Was soll das? Ich stehe auf deiner Seite!«

Ich bin nicht mehr sicher, daß hier irgendeiner auf meiner Seite steht, antwortete der Kater gereizt.

»Sei vernünftig, Astaroth«, sagte Mike. »Der Mann dort ist Arzt. Alles, was er tut, geschieht nur, um Serena zu helfen.«

Langsam streckte er die Hand wieder aus, und diesmal ließ Astaroth es zu, daß er Serenas Hand erfaßte. Das Mädchen erschauerte unter seiner Berührung, aber auch Mike verspürte ein kaltes Frösteln. Serenas Haut war eiskalt, und sie fühlte sich glatt und hart an, fast wie kaltes Porzellan, kaum wie lebendiges Fleisch. Er spürte, wie ihr Puls raste, aber irgend etwas sagte ihm, daß es nicht nur die Furcht war, die ihr Herz schneller schlagen ließ.

»Ich weiß nicht, ob du mich verstehst«, sagte er langsam und deutlich und bemühte sich, seiner Stimme einen beruhigenden Tonfall zu geben. »Aber wir werden versuchen, dir zu helfen. Diese Männer sind nicht deine Feinde.«

Er war plötzlich ganz sicher, daß das stimmte. Und etwas von dieser Gewißheit schien sich auf Serena zu übertragen, denn zum ersten Mal überhaupt lächelte sie; wenn auch nur schwach und voller mühsam niedergehaltener Furcht.

»Du kannst dich auch mit ihr verständigen«, sagte Winterfeld. Er kam langsam näher. Astaroth drehte sich zu ihm, bleckte die Zähne und stieß ein drohenden Fauchen aus, und Winterfeld verharrte für einen Moment im Schritt und musterte den Kater finster. Seine Hand glitt zu den tiefen, blutigen Kratzern, die ihm Astaroth zugefügt hatte. Aber seine Faszination erwies sich als stärker, er ging weiter, blieb unmittelbar neben dem Bett stehen und lächelte Serena zu.

Und dann beging er einen Fehler, der ihn - und vielleicht auch die anderen auf dem Schiff - um ein Haar das Leben gekostet hätte. Er streckte die Hand aus, um Serena zu berühren, wie Mike es tat.

»Nein!« sagte Mike erschrocken. »Tun Sie das nicht!«

Es war zu spät! Alles geschah so schnell, daß Winterfeld nicht einmal mehr hätte reagieren können, wenn er es gewollt hätte. Astaroths Fauchen steigerte sich zu einem schrillen Schrei, mit dem er in die Höhe schnellte und Winterfeld ansprang, die Krallen drohend vorgestreckt und die Zähne gefletscht. Winterfeld riß schützend die Arme vor das Gesicht und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Ein Schuß fiel. In dem Raum hörte sich das Geräusch wie ein Kanonenschlag an. Eine grelle, orangerote Feuerlanze stach nach Astaroth, und der Kater wurde mitten im Sprung herumgewirbelt, als wäre er von einem Faustschlag getroffen worden. Aus seinem Fauchen wurde ein gepeinigtes Kreischen, während er durch die Luft flog und knapp neben dem Kopfende von Serenas Bett gegen die Wand prallte. Hilflos rutschte er daran herunter und blieb liegen.

Winterfeld fuhr herum. Noch bevor der Kater ganz zu Boden gefallen war, hatte er den Mann erreicht, der auf ihn geschossen hatte, und entriß ihm das Gewehr. »Sie Idiot!« brüllte er. »Wer hat Ihnen das erlaubt?! Sind Sie wahnsinnig geworden?«

Er schleuderte das Gewehr zu Boden und drehte sich wieder zu Mike herum. »Es tut mir leid«, sagte er keuchend. »Das wollte ich nicht, das mußt du mir glau -« Er sprach nicht weiter, denn sein Blick war auf Serena gefallen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, und auch Mike spürte, wie sich ein eisiger, lähmender Schrecken in ihm breitzumachen begann.

Serena hatte sich stocksteif im Bett aufgerichtet. Einige Sekunden lang hing ihr Blick wie gebannt an dem Körper des schwarzen Katers, der reglos und in einer rasch größer werdenen Blutlache neben ihrem Bett lag, und dann ...

Irgend etwas geschah mit ihr. Mike spürte förmlich diese Veränderung, und es war keine Veränderung zum Guten. Dabei regte sich in ihrem Gesicht kein Muskel - aber in ihren Augen erwachte etwas, was dunkel und wild und von unglaublicher Stärke war.

»Nein, Serena«, sagte Mike beschwörend. »Nicht!«

»Was soll das heißen!« Winterfeld sah ihn an. »Was tut sie?« Auch er schien zu spüren, daß irgend etwas mit dem Mädchen vor sich ging.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Mike. »Aber ich -«

Ein Krachen und Splittern erscholl. Mike, Winterfeld und alle anderen fuhren herum und starrten auf den Medizinschrank, in dem eines der kleinen Glasfläschchen explodiert war.

Es blieb nicht das einzige. Fasziniert und entsetzt zugleich sah Mike, wie die Flüssigkeiten in den kleinen Glasfläschchen plötzlich zu brodeln begannen. Winzige Taifune schienen ihre Oberflächen zu kräuseln - und dann explodierten die Fläschchen eines nach dem anderen und jedes mit größerer Wucht. Der ganze Schrank zitterte, eine Sekunde später flogen die gläsernen Türen wie unter einem Hammerschlag auseinander und überschütteten die Männer in ihrer unmittelbaren Nähe mit Scherben und Splittern.

Panik brach aus. Die Männer rissen schützend die Arme vor das Gesicht und versuchten die Tür zu ereichen, wobei einige von ihnen gegeneinanderstießen und zu Boden stürzten. Von draußen drängten die auf dem Gang zurückgebliebenen Soldaten herein, alarmiert durch den Schuß und die Schreie.

Nun begannen auch die größeren Behälter und Tiegel zu zittern; manche explodierten, wie die kleinen Glasfläschchen zuvor, andere hüpften wild auf und ab oder flogen auch wie von Geisterhand bewegt urplötzlich durch die Luft, um an den Wänden oder auf dem Boden zu zerschellen, und nicht wenige davon trafen Winterfelds Männer.

Mike war überrascht einen Schritt zurückgetaumelt, als das Chaos losbrach, aber er war - vielleicht mit Ausnahme Winterfelds, der die Wahrheit zumindest zu ahnen schien - der einzige, der wußte, wer für diese plötzliche Katastrophe verantwortlich sein mochte. Geduckt und die Arme schützend über dem Kopf zusammengeschlagen, um nicht von einem herumfliegenden Trümmerstück im Gesicht getroffen zu werden, versuchte er sich an Serena zu wenden, doch er hatte kaum einen halben Schritt getan, da fühlte er sich wie von einer unsichtbaren Faust getroffen und so wuchtig gegen die Wand geschleudert, daß ihm die Luft wegblieb und er nichts als bunte Sterne sah. Hilflos sackte er zu Boden.

Als er wieder halbwegs klar denken - und sehen - konnte, hatte sich die Krankenstation in ein wahres Chaos verwandelt. Fast alle von Winterfelds Männern lagen auf dem Boden, viele von ihnen bluteten aus Schnittwunden, die ihnen die herumfliegenden Glassplitter zugefügt hatten, und wer noch auf den Beinen war, der versuchte aus dem Raum zu kommen.

»Serena, hör auf!« schrie Mike. Eine unsichtbare Gewalt tobte durch den Raum und begann alles zu zerschmettern, was sich ihr in den Weg stellte. Das Licht flackerte, und in die Schreie der Männer und das noch immer anhaltende Klirren des zerberstenden Glases mischte sich ein unheimliches an- und abschwellendes Wimmern.

Mike rappelte sich hoch und versuchte abermals Serena zu erreichen. Er wußte plötzlich, daß das hier nur der Anfang war. Serena hatte die unvorstellbaren Kräfte entfesselt, über die sie, genau wie ihre Vorfahren, die Zauberkönige von Atlantis, gebot und deren Macht längst nicht damit erschöpft war, Winterfelds Männer anzugreifen und Gläser explodieren zu lassen. Bevor er jedoch zum Bett kam, wurde er zurückgerissen. »Bist du verrückt geworden?« schrie Winterfeld und begann ihn auf die Tür zuzuzerren. Mike versuchte mit aller Kraft, Winterfelds Griff zu entkommen. »Aber ich muß -«

»Willst du, daß sie dich umbringt?« unterbrach ihn Winterfeld. »Nichts wie raus hier!« Ohne weiter auf ihn zu hören, zerrte er Mike hinter sich her.

Bevor sie auf den Korridor hinausliefen, wandte Mike noch einmal den Kopf und sah zu Serena zurück, und das Bild, das sich ihm bot, ließ ihn bis ins Innerste erschauern: Serena stand hoch aufgerichtet in ihrem Bett. Ihr Gesicht war jetzt nicht mehr ausdruckslos, sondern zu einer Maske aus Zorn und Schmerz geworden, und ihr Haar und ihr Gewand schienen von einem unsichtbaren Sturmwind gepeitscht zu werden.

Winterfeld zerrte ihn vollends aus dem Raum und versetzte ihm einen Stoß, der ihn in die Arme eines Soldaten taumeln ließ. Gleichzeitig begann er mit lauter Stimme Befehle zu erteilen.

»Tür zu!« rief er. »Und verbarrikadiert sie. Das Mädchen darf auf keinen Fall herauskommen!«

»Aber hören Sie mir doch zu!« schrie Mike verzweifelt. »Sie können sie nicht aufhalten, glauben Sie mir! Nur ich kann es versuchen!«

Seine einzige Möglichkeit, sich mit Serena zu verständigen, war Astaroth gewesen. Jetzt, wo der Kater tot war, mußte er direkt mit ihr in Verbindung treten. Und etwas sagte ihm, daß es ihre einzige Chance war, mit dem Leben davonzukommen. Er mußte plötzlich wieder an das denken, was er von Arronax erfahren hatte - Atlantis war untergegangen, weil seinen Herrschern die Fähigkeit abhanden gekommen war, ihre unheimlichen Kräfte zu kontrollieren.

Aber Winterfeld beachtete ihn nicht. Die Tür, die er hinter sich zugeworfen hatte, begann jetzt unter einer Reihe harter Schläge zu erzittern, und in dem massiven Metall entstanden gewaltige Beulen, als tobe auf der anderen Seite ein außer Rand und Band geratener Elefant. Vier, fünf Soldaten zugleich warfen sich gegen die Tür und versuchten sie zuzudrücken, aber nicht einmal das schien auszureichen.

»Winterfeld!« schrie Mike, so laut er konnte. »Lassen Sie mich zu ihr! Vielleicht kann ich sie aufhalten!«

Aber Winterfeld schüttelte nur den Kopf und machte eine befehlende Geste. »Bringen Sie den Jungen zurück. Und schicken Sie Verstärkung hierher. Die Männer sollen einen Balken oder irgend etwas mitbringen, um die Tür zu verstärken!«

Mike hätte am liebsten losgeheult. Er versuchte noch einmal, Winterfeld zuzuschreien, daß er ihn in die Kabine und zu Serena lassen sollte, aber der Soldat zerrte ihn bereits grob hinter sich her, in Richtung Treppe.

Weitere Soldaten kamen ihnen entgegen, und schließlich stolperte Mike, angetrieben durch eine Reihe unsanfter Stöße, auf das Deck der LEOPOLD hinauf.

Was er sah, erschreckte ihn bis ins Mark. Vor einer halben Stunde, als er zur Krankenstation hinuntergebracht worden war, war der Himmel über dem Schiff wolkenlos und klar gewesen; von jenem fast unnatürlich strahlenden Blau, wie man es nur in diesem Teil der Welt und selbst hier nur selten zu sehen bekommt. Jetzt wirkte diese Farbe verwaschen und blaß. Am Horizont begannen sich schwarze Wolken zusammenzuballen, und das Meer wirkte stumpf wie ein Spiegel, den jemand mit Schmirgelpapier bearbeitet hatte. Das Wimmern, das er schon unten im Schiff gehört hatte, war jetzt viel deutlicher zu vernehmen, und er spürte ein ganz sachtes Kribbeln auf der Haut, wie vor einem bald ausbrechenden Gewitter.

Auch sein Begleiter hatte den plötzlichen Wetterumschwung bemerkt und hielt mitten im Schritt inne. Ein verblüffter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht, und Mike faßte ein letztes Mal Hoffnung. »Ich muß zurück!« sagte er. »Bringen Sie mich zurück zu Winterfeld - bitte! Sehen Sie nicht, was -«

»Ich sehe, daß ein Gewitter kommt«, unterbrach ihn der Soldat und versetzte ihm einen derben Stoß zwischen die Schulterblätter. »Na und? Und jetzt mach keinen Ärger, oder ich mache dir welchen.«

Mike gab auf. Der Mann konnte gar nicht verstehen, was dieser vermeintliche »Wetterumschwung« zu bedeuten hatte. Es war kein Unwetter; und schon gar kein normales. Aus den dunklen Wolken am Horizont wurden schwarze, gigantische Wolkengebirge, die mit geradezu unheimlicher Schnelligkeit über den Himmel herankrochen, und noch bevor Mike und sein Begleiter den Achteraufbau des Schiffes erreichten, heulten die ersten Sturmböen über das Deck der LEOPOLD. Mike spürte, wie das gewaltige Schiff unter seinen Füßen zu zittern begann. Das Kribbeln auf seiner Haut wurde stärker. Der Sturm näherte sich dem Schiff mit geradezu unheimlicher Schnelligkeit. Als sie die metallene Treppe hinuntergingen, die zu dem Korridor mit ihren Quartieren führte, war das Heulen des Sturmes bereits so laut geworden, daß es selbst hier drinnen deutlich zu hören war. Es wurde rasch dunkler.

Ein erster, noch weit entfernter Donnerschlag rollte vom Meer heran, als sie in den Korridor einbogen, und durch die offenstehende Tür über ihnen flackerte das unheimliche blaue Licht eines Blitzes. Das Schiff erbebte, als sich ein neuer, machtvollerer Rhythmus in das gleichmäßige Wiegen der Wellen mischte. Der Mann neben ihm wurde plötzlich nervös.

Trotzdem sparte sich Mike die Mühe, den Mann noch einmal zu bitten, ihn zu Winterfeld zurückzubringen. Der Soldat hatte seine Befehle, und die würde er ausführen, ganz egal, was geschah. Wortlos betrat er die Kabine, in der die anderen bereits ungeduldig auf ihn warteten, und begann sofort zu berichten, noch bevor der Soldat wieder gegangen war und die Tür hinter sich verriegelt hatte.

Blitz und Donner hatten Mikes knappe Erzählung auf unheimliche Weise untermalt, so daß er sich kaum noch Mühe zu geben brauchte, die anderen von der Wahrheit dessen zu überzeugen, was er berichtete. Selbst Ben, der aus Prinzip allem und jedem widersprach, sah ihn nur voller Schrecken an. Der Sturm war viel schneller heraufgezogen, als es überhaupt möglich war, und obwohl er das Schiff noch nicht erreicht hatte, schaukelte die LEOPOLD schon jetzt auf den Wellen wie ein kleines Boot auf bewegter See, nicht wie das gewaltige Kriegsschiff, die sie war.

Wie schon einmal war es auch jetzt Arronax, der das unangenehme Schweigen brach, das sich nach Mikes Erzählungen in der Kabine ausbreitete.

»Winterfeld wird das Mädchen nicht ewig in der Krankenstation gefangenhalten können«, sagte er. »Früher oder später -«

»Wenn kein Wunder geschieht, Professor«, unterbrach ihn Mike, »dann wird es kein Später mehr geben.« Er deutete auf das Bullauge, hinter dem die Blitze immer rascher aufeinanderfolgten und das Meer in ein unheimliches, schattenloses Flackerlicht tauchten. In das Heulen des Sturmes, das mittlerweile fast lauter war als das Geräusch der Maschinen, hatte sich noch ein anderer Laut gemischt, den Mike nicht identifizieren konnte. »Ich bin nicht sicher, daß Serena selbst diese Gewalten noch bändigen kann.«

Arronax sah zum Bullauge und schwieg, aber Trautman sagte mit ernster Stimme: »Ich habe eine Menge Stürme auf See erlebt, aber nie so etwas. Ein Sturm kommt nicht einfach aus dem Nichts. Wir müssen etwas unternehmen.«

»Und was?« fragte Juan.

Die Frage galt Trautman, aber es war trotzdem Mike, der sie beantwortete. »Winterfeld warnen. Er hat ja keine Ahnung, welche Gefahr er heraufbeschworen hat. Wenn es Serena nicht gelingt, die Gewalten wieder zu bändigen, die sie entfesselt hat, dann ist vielleicht nicht nur dieses Schiff in Gefahr.« Er zögerte einige Augenblicke, weil er Angst vor dem hatte, was er aussprechen mußte. »Was wir erleben, sind die gleichen Gewalten, die Atlantis zerstört haben.«

Alle sahen ihn betroffen an, und dann sagte Ben leise: »Und alles nur wegen dieser blöden Katze!«

»Es ist nicht nur wegen der Katze«, verbesserte ihn Trautman, während er Mike einen raschen, beruhigenden Blick zuwarf. »Versuch dich doch in das Mädchen hineinzuversetzen. Sie wacht in einer vollkommen fremden Welt auf, voller unbekannter Menschen, die eine unverständliche Sprache sprechen und Dinge tun, die ihr wahnsinnige Angst machen. Das einzige, was sie kennt, ist der Kater - und dann muß sie mit ansehen, wie er vor ihren Augen erschossen wird. Was hättest du -«

In diesem Moment flammte draußen über dem Meer ein gleißender, strahlendweißer Blitz auf, fast sofort gefolgt von einem ungeheuerlichen Donnerschlag, und keine halbe Sekunde später schien die LEOPOLD von der Faust eines Giganten getroffen zu werden.

Der Schlag war so heftig, daß sie alle zu Boden geschleudert wurden. Das Schiff legte sich auf die Seite, so daß sie haltlos über den plötzlich schrägen Boden rutschten, und in das nur langsam verhallende Echo des Donnerschlages mischte sich ein immer lauter werdendes Krachen und Poltern, das aus allen Teilen der LEOPOLD zugleich zu dringen schien. Mike schrie vor Schmerz auf und hörte die anderen schreien, griff ins Leere und versuchte vergeblich, sich irgendwo festzuklammern. Aber es gab nichts mehr, woran er Halt hätte finden können - was vom Mobilar nicht von der gewaltigen Erschütterung zertrümmert worden war, das war zusammen mit ihnen gegen die linke Wand der Kabine gerutscht.

»Was war das?« keuchte Arronax, der es als erster geschafft hatte, auf die Füße zu kommen.

Wie zur Antwort darauf ertönte ein zweiter, noch lauterer Donnerschlag. Wieder erbebte das Schiff bis in den letzten Winkel. Arronax stürzte wieder, und als sich das Schiff diesmal auf die andere Seite legte, schlitterte er auf die Tür zu. Aus dem Inneren der LEOPOLD antwortete eine krachende Explosion auf den Donnerschlag.

Arronax prallte gegen die Tür - und rutschte hindurch! Die gewaltige Erschütterung mußte das Schloß aufgesprengt haben.

Nur Sekunden später schlitterten Mike und die anderen ebenfalls durch die Tür. Mike hatte weniger Glück als der Professor. Sein Oberkörper wurde unsanft an den Türrahmen gepreßt, und er prallte so heftig gegen die Wand des Korridors, daß er das Gefühl hatte, die Beine wären ihm bis zu den Schultern hinauf in den Leib gerammt worden. Neben ihm schlug Singh hart auf den Boden des Korridors auf, und Mike hörte den Aufprall der anderen hinter ihnen und wie sie vor Schmerz aufschrien.

Doch das Glück blieb ihnen treu. Niemand war verletzt worden und von den beiden Posten, die vor ihrer Tür Wache gestanden hatten, war nichts mehr zu sehen. Offensichtlich hatten sie die Flucht ergriffen, als die Katastrophe begann.

Singh sprang als erster auf die Füße und zerrte Mike mit sich. »Nichts wie raus hier!« befahl er. »An Deck! Schnell! Wir müssen die NAUTILUS erreichen!« Er wollte loslaufen, doch dann hielt er mitten in der Bewegung inne und fuhr zu Arronax herum.

»Wo sind Ihre Leute, Professor?« fragte er atemlos.

»In einer Kabine im Heck«, antwortete Arronax.

»Nicht weit von hier.«

»Holen Sie sie!« befahl Singh. »Schnell! Wir versuchen zur NAUTILUS zu gelangen. Vielleicht können wir in dem Durcheinander entkommen.«

Arronax stürmte davon, und jetzt, wo Singhs Worte allen klargemacht hatten, welche unerwartete Chance ihnen das Schicksal bot, gab es kein Halten mehr. So schnell, wie es der noch immer wild hin und her schwankende Boden zuließ, rannten sie den Korridor entlang und die Treppe hinauf.

Aus dem Grollen des Gewitters wurde der apokalyptische Lärm eines Höllensturmes, kaum daß sie auf das Deck hinaustraten. Die Blitze flackerten so rasch hintereinander, daß der Himmel über dem Schiff fast taghell erleuchtet war. Ein eiskalter Wind schlug ihnen ins Gesicht und war von solcher Stärke, daß sie sich nur gebückt und schräg gegen ihn gestemmt vorwärts bewegen konnten. Vom Heck her flackerte roter Feuerschein, aber Mike wagte es nicht, sich umzuwenden. Er brauchte jedes bißchen Kraft, um nicht von den Beinen gerissen zu werden.

Er konnte Singh und die anderen nur noch als Schemen vor sich erkennen. Die Decksaufbauten der LEOPOLD waren hinter dem wie ein Wasserfall herunterbrausenden Regen verborgen, doch er konnte sehen, daß die Reling - aber auch einer der Geschütztürme des Schiffes - vom Blitz getroffen worden sein mußten, denn das Metall war an einigen Stellen schwarz und verkohlt, hier und da glühte es gar noch. Das war wohl auch der Grund für die Explosion gewesen, die sie gehört hatten.

Singh schrie irgend etwas, aber der Sturm riß ihm die Worte von den Lippen, so daß Mike ihn nicht verstehen konnte. Er sah nur, wie er nach vorne deutete. Das Tauchboot befand sich an der anderen Seite der LEOPOLD, so tief unter der hochliegenden Reling des Kriegsschiffes, daß sie es von hier aus nicht sehen konnten. Mike spürte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß sie nur diese eine einzige Chance hatten. Was immer es war, was der LEOPOLD zustieß - es begann erst. Hinter der Mauer aus schwarzen Gewitterwolken, die das Schiff von allen Seiten umgab, ballten sich unvorstellbare zerstörerische Gewalten zusammen, die die LEOPOLD einfach zermalmen würden.

»Was ist mit Serena?« brüllte er, so laut er konnte.

Seine Worte wurden vom Sturm davongetragen wie die Singhs zuvor, und Mike war plötzlich nicht einmal mehr sicher, daß sie die andere Seite des Schiffes überhaupt erreichen würden. Das Toben des Sturmes nahm immer mehr an Heftigkeit zu, und hinter der schwarzen Wolkenmauer glaubte Mike nun tatsächlich etwas zu sehen, was sich dort zusammenballte und sich dem Schiff näherte. Doch bevor er noch einen zweiten Blick dorthin werfen konnte, prallte er gegen Singh, der abrupt stehengeblieben war.

In den Decksaufbauten vor ihnen war eine Tür aufgeflogen. Eine Gruppe bewaffneter Männer - und darunter auch Kapitän Winterfeld - stürmte ins Freie. Hinter ihnen trat Serena auf das Deck heraus.

Aber wie hatte sie sich verändert!

Aus dem bleichen, zarten Mädchen schien ein Todesengel geworden zu sein. Ihre Gestalt war von einem unheimlichen, bläulichweiß flackernden Licht umgeben, das sie wie ein Mantel aus purer Energie umfloß. Ihr Haar und das weiße Kleid wurden noch immer von einem unsichtbaren Sturmwind gepeitscht, und auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck solch unbändigen Zornes, daß Mike bei ihrem Anblick aufstöhnte. Er konnte die Aura vernichtender Kraft um das Mädchen herum regelrecht fühlen.

Die Männer stürmten davon, aber irgend etwas folgte ihnen. Einer nach dem anderen wurden sie gepackt und zu Boden oder gegen die Wände geschleudert, und mehr als einer von ihnen hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erheben und seine Flucht fortzusetzen. Es waren kampferprobte Soldaten, aber dieser Feind ließ sich nicht mit Mut oder der Kraft ihrer Waffen besiegen. Es war, als hätte Serenas Zorn Gestalt in dem Sturm angenommen, der über die LEOPOLD und ihre Besatzung hereingebrochen war.

Trotzdem verspürte Mike keine Angst um sich oder die anderen, sondern um Serena selbst. Und plötzlich tat er etwas Überraschendes - mit einer raschen Bewegung sprang er an Singh vorbei, lief im Zickzack zwischen Trautman und den anderen Jungen hindurch und näherte sich dem Mädchen.

Er kam ihr nicht sehr weit entgegen, da fühlte er sich von der gleichen, unsichtbaren Gewalt wie all diese Männer hier gepackt und mit fürchterlicher Wucht zu Boden geschleudert. Hilflos rutschte er über das Deck, riß sich auf dem harten Metall Hände und Knie auf und prallte gegen eine Gestalt, die unmittelbar hinter ihm zu Boden gefallen war. Erst als er sich benommen aufzurichten versuchte und eine Hand auf der Schulter fühlte, erkannte er, daß es Winterfeld war.

»Bist du verrückt geworden?« fuhr ihn Winterfeld an. »Willst du, daß sie dich umbringt?«

Mike machte sich hastig los und versuchte erneut, auf Serena zuzulaufen, aber diesmal hielt ihn Winterfeld mit eiserner Hand zurück. »Lassen Sie mich los!« keuchte Mike. »Ich kann sie aufhalten! Sie wird auf mich hören!«

»Fünfzig meiner Männer haben sie nicht aufhalten können!« Winterfeld schrie, um das Heulen des Sturmes zu übertönen. Trotzdem waren seine Worte kaum zu verstehen. »Und du willst mit ihr reden? Mach dich nicht lächerlich!«

Aus den tobenden Regenschleiern kam eine Gestalt auf sie zu. Es war Singh. Winterfeld erkannte ihn im selben Moment, in dem der Sikh sah, wer Mike gepackt hielt, und obwohl rings um sie herum die Welt in Stücke brach, schienen die beiden Männer wild entschlossen, sich aufeinanderzustürzen. Und vielleicht hätten sie es sogar getan, wäre nicht in diesem Moment etwas geschehen, was sie selbst den Höllenstürm, die Todesgefahr und Serena für eine Sekunde vergessen ließ.

Eine besonders heftige Sturmböe riß die Wolkenfront auseinander, und sie sahen, was dahinter herankam ... »O mein Gott!« flüsterte Winterfeld. Seine Augen wurden groß, und sein Gesicht verlor jegliche Farbe, und Mike spürte, wie sein Herzschlag stockte.

Es war eine Welle.

Aber es war nicht eine gewöhnliche Welle. Es war eine kompakte, glitzernde Wand aus Wasser, fünfzig, wenn nicht hundert Meter hoch und so breit, daß sie von einem Horizont zum anderen zu reichen schien. Und sich näherte sich dem Schiff mit unvorstellbarer Geschwindigkeit. Ein tiefes, ungeheuer machtvolles Dröhnen und Grollen mischte sich in das Brüllen des Sturmes, und sogar das Gewitter hielt für einen Moment inne, als fürchteten sich selbst die Naturgewalten vor den Kräften, die das Mädchen entfesselt hatte. »Festhalten!« brüllte Winterfeld, und sie fanden gerade noch Zeit, es zu tun, dann war die Welle heran und traf das Schiff.

Mike hatte mit einem vernichtenden Schlag gerechnet, der die LEOPOLD einfach in Stücke riß oder vielleicht auch zur Gänze unter die Wasseroberfläche drückte, aber ganz im Gegenteil: Mike fühlte sich plötzlich leicht, und es war, als ob der Boden unter ihm wegsackte, statt sich aufzubäumen und ihn abzuschütteln wie ein bockendes Pferd seinen Reiter.

Erst dann begriff er, daß die gigantische Woge das ganze Schiff gepackt und in die Höhe gehoben hatte!

Er fand nicht einmal die Zeit, den Schrecken darüber wirklich zu spüren, da stürzte die LEOPOLD wie ein Berg aus Stahl ins Wasser zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde befand sich ihr Deck unter der Wasseroberfläche, aber noch ehe das Meer es überspülen konnte, da wurde das Schiff schon wieder in die Höhe gerissen und auf die Seite gedrückt, so schnell und so weit, daß aus dem Deck nahezu eine senkrechte Wand wurde. Mike schrie in Todesangst auf, während er auf die Reling zuschlitterte. Rings um ihn herum flogen Trümmer und schreiende Menschen durch die Luft, und die kochende Wasseroberfläche schien ihm regelrecht entgegenzuspringen.

Im allerletzten Moment richtete sich das Schiff wieder auf. Mike rutschte noch ein Stück weiter, prallte gegen irgend etwas Hartes, Großes, das seinen Sturz endgültig abbremste, und blieb eine Sekunde mit geschlossenen Augen und wild klopfendem Herzen liegen, fest davon überzeugt, daß der Tod nun unausweichlich war.

Als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen, bot sich ihm ein Anblick des Chaos.

Die ungeheure Erschütterung hatte nicht nur jeden Mann auf dem Deck von den Füßen gerissen, sondern auch enorme Zerstörungen angerichtet. Die Flammen im Heck der LEOPOLD waren erloschen, doch einer der großen Geschütztürme war abgerissen und verschwunden, und die Kommandobrücke stand plötzlich schräg da, als wäre sie vom Fußtritt eines zornigen Riesen getroffen worden. Etliche der Männer, die zusammen mit Winterfeld nach oben gekommen waren, hatte das Wasser über Bord gespült, viele lagen stöhnend am Boden, und einige regten sich nicht mehr.

Mike fuhr herum und suchte nach den anderen. Er entdeckte Juan und Chris ganz in der Nähe, beide schreckensbleich und zitternd aneinandergeklammert, aber offensichtlich unverletzt. Und zu seiner großen Erleichterung gewahrte er jetzt auch Ben, André und schließlich sogar Trautman, Arronax und den Sikh. Hastig sprang Mike auf und eilte zu Trautman, der sich in diesem Moment ebenfalls erhob; benommen, aber bis auf ein paar kleine Kratzer und Schrammen ebenfalls unversehrt.

Als er ihn erreichte, sah er, wie sich Winterfeld kaum einen Meter entfernt stöhnend auf die Knie erhob - und Trautman etwas völlig Überraschendes tat. Er trat zu Winterfeld, ergriff ihn am Arm und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck vollends auf die Füße.

»Großer Gott!« stammelte Winterfeld. »Sie ... sie vernichtet das Schiff! Sie wird uns alle töten!« Verzweifelt sah er sich nach Serena um, und als Mike in die gleiche Richtung schaute, entdeckte er das Mädchen an genau der Stelle, an der sie vor der Katastrophe gestanden hatte. Der Zorn auf ihrem Gesicht loderte noch immer so heiß wie zuvor, und Mike mußte nur einen einzigen Blick in ihre Augen werfen, um zu wissen, daß es noch immer nicht vorbei war. Winterfeld hatte recht. Serena würde nicht aufhören, ehe dieses Schiff und jede Seele an Bord vernichtet war.

»Bringen Sie sich in Sicherheit!« sagte Winterfeld plötzlich. »Die NAUTILUS ist fahrbereit! Meine Ingenieure haben die Schäden repariert. Nehmen Sie die Jungen und Arronax' Leute an Bord und tauchen Sie! Eine zweite Woge hält die LEOPOLD nicht aus.«

Trautman wirkte nicht überrascht - Mike war sicher, daß er genau diesen Vorschlag von Winterfeld erwartet hatte. »Wir werden bleiben, solange wir können«, sagte er. »Die NAUTILUS ist nicht groß genug, um alle Ihre Männer aufzunehmen, aber -«

»Ich fürchte, dazu bleibt Ihnen keine Zeit«, sagte Winterfeld leise. »Schauen Sie.«

Seine ausgestreckte Hand wies nach Norden, und Mike wußte, was er sehen würde, noch bevor er sich herumdrehte und ebenfalls dorthin blickte.

Am Horizont, noch weit, unendlich weit entfernt, entstand eine dünne, glitzernde Linie, nicht mehr als ein Strich aus unterbrochenem Silber, der sich von dem Schwarz der Gewitterwolken abhob. Aber sie wußten alle, was es bedeutete. Es war eine zweite, wahrscheinlich noch gigantischere Welle, die das Schiff diesmal unweigerlich zerschmettern mußte.

Sie rannten los. Als sie die Reling erreichten, war aus dem dünnen Strich am Horizont eine fingerbreite Linie geworden, und Mike glaubte bereits wieder jenes unheimliche Grollen und Rumoren zu hören, das das Nahen der Riesenwoge ankündigte.

Die NAUTILUS lag unter ihnen. Zwei der vier armstarken Seile, mit denen sie an der LEOPOLD vertäut war, waren gerissen, aber das Schiff wies zumindest äußerlich keine Beschädigungen auf, und selbst die Strickleiter, die von der Reling zum Turm des Tauchbootes hinunterführte, war noch da. Juan und Ben stiegen unverzüglich hinab, während Singh Chris auf die Arme nahm und wartete, bis er an der Reihe war. Es würde knapp werden. Selbst wenn die Maschinen der NAUTILUS wieder tadellos funktionierten, wußte Mike, daß sie eine, wenn nicht zwei Minuten brauchen würden, um das Schiff zu tauchen, und er war nicht sicher, daß ihnen noch so viel Zeit blieb.

Trotzdem versuchte er ein letztes Mal, Trautman zu überzeugen. »Wir können Serena nicht einfach hierlassen!« flehte er. »Sie wird sterben!«

»Das wird sie«, antwortete Trautman ernst. »Aber es gibt nichts, was du für sie tun könntest. Sie würde auch dich töten, wenn du es versuchtest.«

Mike wußte, daß genau das geschehen würde, sollte er Serena auch nur in die Nähe kommen. Der Tod des Katers hatte das Mädchen offenbar um den Verstand gebracht. Sie war so rasend vor Zorn, daß sie keinen Unterschied mehr zwischen Freund und Feind machte, und vielleicht konnte sie das auch gar nicht mehr. Möglicherweise, dachte Mike schaudernd, hatten sie alle das Wort Wächter falsch verstanden, und Astaroths Aufgabe war es gar nicht gewesen, Serena vor der Welt zu schützen, sondern die Welt vor Serena. Aber diese Erkenntnis kam etwas zu spät.

Juan und Ben hatten die NAUTILUS erreicht und verschwanden bereits in der Turmluke, und als nächster machte sich Singh auf die kurze, aber lebensgefährliche Kletterpartie. Mike sah rasch nach Norden. Die Wasserwand war näher gekommen, und was bisher nur ein Verdacht gewesen war, wurde jetzt zur Gewißheit: sie war um vieles größer als die erste Woge.

»Das ist das Ende«, flüsterte Trautman. »Hoffentlich schaffen es Arronax und seine Leute.« Er deutete auf die Strickleiter, und Mike streckte gehorsam die Hände nach der Reling aus, um sich darüberzuschwingen. Als er das Metall berührte, schoß ein grausamer Schmerz durch seine Seite.

Mike krümmte sich. Für eine Sekunde sah er nichts als Rot und Flammen. Es war, als hätte ein weißglühender Speer seine Hüfte getroffen, und der Schmerz war so entsetzlich, daß er nicht einmal schreien konnte; schlimmer als alles, was er jemals zuvor gespürt hatte. Wimmernd sank er auf die Knie und blickte an sich herab, überzeugt, eine grauenhafte Wunde zu sehen, die er sich bei seinem Sturz zugezogen und bis jetzt noch gar nicht bemerkt hatte.

Aber er war völlig unversehrt. »Was ist mit dir?« fragte Trautman erschrocken. »Hast du dich verletzt?«

Mike hörte die Worte kaum. Er bekam noch immer keine Luft, und spürte, wie er das Bewußtsein zu verlieren begann. Alles drehte sich um ihn. Er fühlte eine Pein wie nie zuvor im Leben, einen Schmerz, der ... nicht sein eigener war.

Im gleichen Moment, in dem er dies begriff, erlosch die Qual.

Mike fand sich erschöpft und nach Luft ringend am Boden sitzen, einen vollkommen fassungslosen Trautman über sich stehen, der auf ihn einredete. Doch Mike hörte nicht zu, denn ganz plötzlich wußte er nicht nur, woher dieser Schmerz gekommen war, sondern auch, was er bedeutete ...

So schnell, daß Trautman nicht dazu kam, eine Bewegung zu machen, um ihn aufzuhalten, sprang Mike in die Höhe und rannte mit Riesensätzen auf die Tür zu, hinter der die Treppe zur Krankenstation lag ...


Wenn er geglaubt hatte, oben an Deck Bilder vollkommener Zerstörung erblickt zu haben, so war dies falsch gewesen. Die restlose Verheerung begann erst hier unten. Die metallenen Wände, die Decke, ja selbst der Fußboden waren verbogen und zerbeult und zermalmt, wie von Hammerschlägen tobsüchtiger Riesen getroffen. Türen waren aus den Angeln gerissen und meterweit durch die Luft geschleudert worden, und auch die Einrichtungen der Kabinen, an denen er vorbeikam, waren völlig zerstört. Hier und da lag eine Waffe, die einer der Soldaten auf seiner Flucht fallengelassen hatte. Überall in den Wänden gähnten große, ausgezackte Löcher, und aus manchen ragten die Reste zerborstener Wasserleitungen oder -tanks, die Serena mit ihren unheimlichen Kräften zur Explosion gebracht hatte.

Aber Mike beachtete all dies kaum, sondern rannte weiter, so schnell er nur konnte. Seine Logik sagte ihm, daß er praktisch keine Chance mehr hatte. Was er oben gesehen hatte, war, als wäre das Meer selbst aufgestanden, um die winzigen Wesen abzuschütteln, die sich einbildeten, es zu beherrschen. Taumelnd und nach Atem ringend, erreichte er die Krankenstation - oder das, was davon übrig war. Winterfelds Männer hatte die Tür verbarrikadiert, ganz wie es ihnen der Kapitän befohlen hatte, aber es hatte nichts genutzt. Die Tür war nicht aufgebrochen - sie war einfach - verschwunden, und mit ihr der allergrößte Teil der Wand, in die sie eingelassen gewesen war. Der Raum dahinter sah aus, als wäre gleich ein ganzes Dutzend Bomben darin explodiert. Von der Einrichtung war im wahrsten Sinne des Wortes nichts übriggeblieben. Mikes Mut sank, als er sah, daß Serenas außer Kontrolle geratenen Kräfte das Mobiliar regelrecht in Kleinholz verwandelt hatten.

Dann hörte er das Miauen.

Es war ein kläglicher, dünner Ton, der im Brüllen des Orkans beinahe unterging, aber Mike hörte ihn trotzdem ganz deutlich. Mit wilden Blicken sah er sich um - und entdeckte den Kater in einem Winkel des Raumes, wo er halb begraben unter verbogenen Trümmerstücken lag.

»Astaroth!« schrie er. »Gott sei Dank, du lebst!«

Aber nicht mehr lange, wenn du weiter da rumstehst und Maulaffen feilhältst, antwortete die lautlose Stimme des Katers in seinen Gedanken. Wieso hat das so lange gedauert?

Mike antwortete nicht, sondern war mit einem Satz bei dem schwarzen Tier und hob es vorsichtig auf die Arme. Astaroth wimmerte vor Schmerz, und Mike fuhr erschrocken zusammen, als er sah, wie schwer er verletzt war. Die Kugel hatte seine Hüfte durchbohrt und eine Wunde hinterlassen, an der ein Mensch wahrscheinlich gestorben wäre. Ganz bestimmt sogar, verbesserte sich Mike in Gedanken, schließlich hatte er den furchtbaren Schmerz des Katers gespürt.

»Du armer Kerl«, sagte er. »Es tut mir -«

Kümmere dich jetzt nicht um mich, unterbrach ihn der Kater. Wo ist die Prinzessin?

»Oben an Deck«, antwortete Mike. »Sie zerstört das ganze Schiff. Winterfelds Männer haben versucht, sie aufzuhalten, aber es ist ihnen nicht gelungen.«

Sie aufzuhalten? erwiderte Astaroth. Ich wüßte keine Macht auf dieser Welt, die das könnte. Sie wird noch sehr viel mehr zerstören als nur dieses Schiff. Bring mich nach oben, rasch!

Mike sparte sich jede weitere Frage. Er rannte, wie er nie zuvor in seinem Leben gerannt war, durch den zerstörten Korridor zurück zur Treppe, wobei er den Kater wie ein krankes Kind an sich preßte. Astaroth wimmerte manchmal leise, ertrug die grobe Behandlung aber ansonsten, ohne sich zu wehren, und auch seine Gedankenstimme schwieg.

Das Schiff tanzte so ungestüm auf den Wellen, daß Mike große Mühe hatte, die Treppe hinaufzukommen. Mehr stolpernd als gehend wankte er auf das Deck hinaus, fiel nur wenige Schritte hinter Serena auf die Knie und warf einen Blick nach Norden.

Die Welle war fast heran. Hatte er sie vorher mit einer Wand aus Wasser verglichen, so schien das, was sich jetzt der LEOPOLD näherte, ein massives Gebirge zu sein. Millionen und aber Millionen Tonnen von Wasser, die sich brüllend und schaumgekrönt auf das Schiff zuwälzten. Winterfeld und seine Männer waren in heller Panik zur gegenüberliegenden Reling zurückgewichen. Einige machten gerade Anstalten, ins Wasser zu springen, während andere sich zusammengekauert hatten und die Arme über dem Kopf zusammenschlugen. Plötzlich wußte Mike, daß auch die NAUTILUS der Vernichtung nicht mehr entgehen konnte, ob unter Wasser oder nicht. Nichts konnte diesen Gewalten widerstehen.

»Serena, nicht!« schrie Mike verzweifelt. Er versuchte aufzustehen, glitt auf dem nassen Metall wieder aus und fiel der Länge nach hin. Der Kater stürzte schwer auf das Deck und stieß einen winselnden Laut aus. Serena fuhr herum und starrte Mike aus brennenden Augen an. Er spürte, wie hinter diesen Augen etwas erwachte, eine Gewalt, die noch mächtiger und gnadenloser war als die unsichtbaren Mächte, die dem Meer befahlen und die sich über ihnen zusammenballten, um sie zu zerschmettern.

»Serena, nicht!« keuchte Mike. »Bitte hör auf! Astaroth lebt! Sieh doch! Der Kater ist am Leben!« Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Woge heranraste. Ihr Brüllen übertönte seine Worte und jeden anderen Lärm. Die Wasserwand war vielleicht noch eine Meile vom Schiff entfernt, dann eine halbe, eine viertel. Der Ozean selbst schien nach oben zu kippen, und gleich würde er das Schiff erreichen und einfach zermalmen. Wo gerade noch der Himmel gewesen war, war plötzlich schimmerndes, kochendes Wasser. Mike riß in einer vollkommen sinnlosen Bewegung die Arme über den Kopf, krümmte sich -

und die Wasserwand brach in sich zusammen. Mit einem Tosen und Krachen wie von hundert Wasserfällen, die gleichzeitig eine kilometerhohe Felsklippe herunterstürzten, brach das Wassergebirge auseinander, noch immer entsetzlich nahe bei der LEOPOLD, aber nicht mehr über ihr. Wie beim ersten Mal wurde das Schiff in die Höhe gehoben und ein Stück davon getragen, aber diesmal setzte die Woge es beinahe sanft wieder ab.

Die Erschütterung reichte trotzdem, jedermann an Deck von den Füßen zu reißen, und für einen Moment war Mike blind und rang keuchend nach Luft, als eisige Gischt das Schiff überspülte. Aber es war nur mehr eine normale Woge, die keinen wirklichen Schaden mehr anrichtete. Die LEOPOLD tanzte noch immer auf dem Wasser wie ein Korken, nicht wie ein Schlachtschiff, das Zehntausende von Tonnen wog. Aber die eigentliche Gefahr war vorüber.

Das unheimliche Feuer in Serenas Augen war erloschen. Sie saß auf dem Boden, den Kater auf dem Schoß, der sich trotz seiner Verletzung zu ihr hingeschleppt hatte, und ihre Augen waren nun wieder so glanzlos und stumpf wie zuvor. Ihre rechte Hand lag zwischen den Ohren des Katers und kraulte langsam sein Fell. Aber die Gefahr war vorbei. Der Dämon, der in Serena erwacht war, hatte sich wieder zurückgezogen. Und ganz plötzlich begriff Mike, daß seine Vermutung richtig gewesen war: Der Kater schützte nicht das Mädchen vor der Welt. Sondern die Welt vor dem Mädchen.

Das hat verdammt lange gedauert, bis du das kapiert hast, sagte Astaroth. Seine Gedankenstimme klang schon wieder ein wenig spöttisch. Offensichtlich erholte er sich genauso schnell wieder von seiner Verwundung wie das erste Mal.

Mike kam nicht dazu, ihm zu antworten, denn er gewahrte plötzlich aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung, und als er aufsah, blickte er direkt in Winterfelds Gesicht. Hinter ihm kamen Trautman und Arronax heran, beide begleitet von Winterfelds Soldaten. Aber auf den Gesichtern dieser Männer war keine Feindseligkeit mehr zu lesen. Nur eine Furcht, die vielleicht nie wieder völlig daraus weichen würde.

»Du hast es geschafft«, sagte Winterfeld. Er sah Mike an, dann den Kater und schließlich das Mädchen. »Du hast uns allen das Leben gerettet!«

»Das war nicht ich«, antwortete Mike. »Bedanken Sie sich bei ihm.« Er deutete auf Astaroth. Winterfelds Blick folgte seiner Geste, aber er wirkte nicht überrascht, sondern zutiefst erschüttert.

»Und was haben Sie jetzt vor?« fragte Arronax.

Winterfeld drehte sich zu Arronax und Trautman herum. Er deutete auf die NAUTILUS, die neben dem Schiff auf dem Meer trieb.

»Gehen Sie«, sagte er. »Nehmen Sie Ihre Leute und die Jungen, und fahren Sie nach Hause.«

»Sie lassen uns gehen?« fragte Trautman. Seine Stimme klang erleichtert - aber auch ein wenig mißtrauisch.

»Ja«, bestätigte Winterfeld. Dann wandte er sich an Mike. »Bitte geh«, sagte er noch einmal. »Bring das Mädchen zurück. Ich lasse Arronax die Unterlagen zurückgeben. Vielleicht findet ihr einen Ort, an dem Serena sicher vor der Welt ist.« Und die Welt vor ihr, fügte sein Blick hinzu. Er sprach es nicht aus, aber Mike las die Worte deutlich in seinen Augen. Er hatte niemals zuvor einen Menschen gesehen, der so tief erschüttert gewesen wäre wie Winterfeld in diesem Moment.

Wird sie ... ruhig bleiben? fragte er lautlos, und Astaroth antwortete auf demselben, lautlosen Weg: Solange ich bei ihr bin, ja.

»Sie lassen uns wirklich gehen?« vergewisserte sich Trautman. »Das ist keine Finte?«

»Ich gebe Ihnen zweiundsiebzig Stunden«, antwortete Winterfeld. »Das sollte reichen, Arronax und seine Mannschaft an Land zu bringen und zu verschwinden. Zweiundsiebzig Stunden, Trautman, keine weniger, aber auch keine mehr.« Er deutete auf Mike. »Dieser Junge da hat mir und jedem Mann an Bord dieses Schiffes das Leben gerettet. Dafür lasse ich euch laufen. Aber danach sind wir quitt. Wenn wir uns das nächste Mal sehen, sind wir Feinde.«

»Es wird kein nächstes Mal geben«, sagte Trautman leise. Winterfeld schwieg, und auch Mike wußte, daß er sich irrte. Während er aufstand und Serena behutsam bei der Hand ergriff, um sie über das Deck der LEOPOLD dorthin zu führen, wo die NAUTILUS darauf wartete, Serena in ihre kalte, dunkle Heimat unter den Meeren zurückzubringen, wußte er, daß sie sich wiedersehen würden.

Vielleicht nicht hier, und vielleicht nicht auf eine Weise, die sie sich jetzt schon vorstellen konnten, und vielleicht sogar an einem Ort, von dem sie keine Ahnung hatten, daß er existierte, aber sie würden sich wiedersehen.


Загрузка...