Dritter Teil

27. Kapitel

Obwohl die Feuerwehr alle elektrischen Leitungen in diesem Teil des Gebäudes gekappt hatte, gab es immer noch genügend Licht im Behelfslabor, damit Carter sich hindurchtasten konnte. Aber es gab wesentlich mehr Trümmer, mehr zerstörte Einrichtungsgegenstände und verdrehte Metallblöcke, als er sich erklären konnte. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass überhaupt so viel Zeug hier gewesen war. Woher also stammten jetzt die ganzen Trümmer?

Auch die Vertiefung im Boden, genau in der Mitte des Raumes, dort, wo das Fossil in seiner Felsplatte gefangen gewesen war, wirkte tiefer, als er es in Erinnerung hatte. Er trat an den Rand des Kraters und schaute nach unten. Der Anblick erinnerte ihn an die Knochengrube, an die Mine, in die er in Sizilien hinabgestiegen war. Wie damals auch bestanden die Wände dieser Grube aus Fels und Erde, und es roch nach uraltem Staub und tödlichem Verfall. Jetzt aber befand sich etwas darin, das er zuvor nicht gesehen hatte, etwas Kleines, Glänzendes auf dem Boden der Kuhle. Er ging in die Hocke, um es besser erkennen zu können.

Es war etwa dreißig Zentimeter lang, schwarz, aber poliert, etwa wie ein Spazierstock. Aber er konnte es immer noch nicht richtig erkennen. Carter stützte sich mit der Hand ab, um das Gleichgewicht zu halten, und kletterte vorsichtig in die Senke hinunter. Es war noch tiefer, als er gedacht hätte, und seine Finger scharrten an den dreckigen Wänden, als er nach unten rutschte. Er landete auf dem Knöchel, den er sich einmal beim Basketball verletzt hatte, und zuckte zusammen. Mist, dachte er, das kann ich jetzt auch gerade noch gebrauchen. Der Schmutz zu seinen Füßen war vom Feuer schwarz verbrannt, und als er sich umsah, fand er den glänzenden Gegenstand wieder. Er bückte sich und hob ihn auf. Als er sich wieder aufrichtete, stellte er angenehm überrascht fest, dass er sich nicht länger in der Grube befand. Er lag in seinem alten Kinderzimmer außerhalb von Chicago, demjenigen, in dem er sich vom Mumps erholt hatte.

Das war es also! Das war gar nicht real, es war ein Traum! Es fühlte sich nur nicht an wie ein Traum, genauso wenig wie das Ding in seiner Hand sich wie ein Phantasiegebilde anfühlte.

Das Schlafzimmer war genauso, wie er es in Erinnerung hatte. Die Trophäe, die er beim Westinghouse Forschungswettbewerb gewonnen hatte, stand auf der zerschrammten Kommode. Das Poster von Raiders of the Lost Ark schmückte die Schranktür. Und in dem alten Sessel unter dem Dachvorsprung las eine Frau einem kleinen Kind etwas vor.

Jetzt wusste er definitiv, dass es ein Traum sein musste. Er hatte niemals ein Mädchen mit nach oben in sein Zimmer genommen, und schon gar nicht eins mit einem Kleinkind.

Doch als er näher herantrat, blickte die Frau auf, ohne mit dem Vorlesen innezuhalten, und lächelte ihn an. Es war Beth. Aber wessen Kind war es? War es seins? Er dachte, das sei völlig unmöglich. Aber vielleicht stimmte das nicht, vielleicht hatten die Ärzte sich geirrt! Plötzlich fühlte er sich so glücklich, so erleichtert.

»Ist er … unser Sohn?«, fragte Carter und deutete nickend auf den kleinen Jungen, dessen blonder Haarschopf in Beths Armbeuge geschmiegt war.

Aber sie antwortete nicht, stattdessen las sie einfach weiter aus dem Buch vor, bei dem es sich, wie er jetzt zu seinem Erstaunen feststellte, um Vergils Aeneis handelte – jene uralte Ausgabe, die er in Princeton gelesen hatte. Seit wann war das eine Gutenachtgeschichte?

»Hochauf ragte die Höhle«, las sie laut in einem weichen Singsang, »gewaltig mit klaffendem Rachen …«

Carter beugte sich näher, um seinen Sohn zu betrachten.

»… schroff und geschützt vom schwarzen See und finsteren Wäldern …«

Sein Haar war blond, fast weiß, und hing in niedlichen Löckchen herunter.

»… Nimmer konnten straflos hier hinüber die Vögel nehmen im Fluge die Bahn …«

Doch als er schläfrig den Kopf hob, erkannte Carter, dass dort, wo seine Augen hätten sein sollen –

»… ein solcher Brodem entquoll dem schwarzen Schlunde und stieg empor zum Himmelsgewölbe …«

– sich nur zwei klaffende Löcher befanden, wie Höhlen in den Kopf eingebrannt, in denen ein Feuer loderte.

Würgend saß Carter kerzengerade im Bett. Sein Herz pochte so heftig, dass er das Gefühl hatte, seine Brust müsste zerspringen. Sein Körper war eiskalt und schweißgebadet.

»Was ist los?«, fragte Beth besorgt.

Er schluckte hart und zitterte.

Beth setzte sich ebenfalls auf. Sie trug ihren Lieblingspyjama mit Leopardenmuster. »Alles in Ordnung?«, fragte sie und zog die Decke um seine Schultern.

»Alles okay«, keuchte er.

»Hattest du einen Albtraum?«

»Den schlimmsten, den ich je hatte.«

Sie stieß ihren Atem aus. »Das glaube ich gerne.«

Er zitterte erneut und zog die Decke fester um sich.

»Willst du mir davon erzählen?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich würde ihn lieber vergessen.«

Besänftigend strich sie ihm über den Rücken. »Vielleicht ist das wirklich besser.« Im schwachen bläulichen Licht des Weckers sah sie, dass er etwas in der Hand hielt. »Was hast du da?«

Er wusste nicht, wovon sie sprach.

»In deiner Hand – du umklammerst etwas.«

Carter blickte nach unten und stellte erst jetzt fest, dass er in der Tat etwas in der Hand hielt. Er öffnete die Faust und ließ es auf die Decke fallen.

»Ein Kruzifix«, sagte Beth verwirrt. »Wo kommt das denn her?«

»Es gehört Joe.«

»Warum hältst du dich daran fest?«

Carter hatte keinen Schimmer. Er wusste nicht einmal, wo er es plötzlich herhatte.

»Wenn es Joe gehört, möchte er es vielleicht haben«, sagte Beth. »Vielleicht sollten wir es ihm ins Krankenhaus bringen.«

Verblüfft starrte Carter das Kreuz an. »Ja, das mache ich«, sagte er. »Morgen.«

Nach all dem wusste Carter, dass er unmöglich wieder einschlafen konnte. Er zog einen Bademantel über das T-Shirt und die Boxershorts, schlüpfte in seine Gummi-Flip-Flops und ging in die Küche. Seine Kehle war wie ausgedörrt, vielleicht vom angestrengten Atmen, und er nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Die Kühle würde vielleicht seiner Kehle guttun … und den Dingen ein wenig die Schärfe nehmen.

O Mann, das war aber auch ein Albtraum gewesen! Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er so übel geträumt – oder so etwas erlebt. Wo kam der Traum her? Und warum hatte Beth ausgerechnet in der Aeneis gelesen, selbst wenn es nur ein Traum gewesen war? Gewiss, er hatte das Werk auf dem College durchgearbeitet und sogar ein paar Aufsätze darüber geschrieben, aber er hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Jetzt, wo er genauer darüber nachsann, war er sich nicht einmal sicher, wo seine kommentierte Ausgabe abgeblieben war.

Er ging ins Wohnzimmer, nippte hin und wieder an seinem Bier und suchte die Bücher ab, die in dichten Reihen in den Regalen aus Schlackenbetonsteinen standen. Die meisten Bücher von Beth, übergroße Werke zur Kunstgeschichte, standen in den unteren Regalen, während der Großteil seiner Bücher, von Die Entstehung der Arten bis zu ornithologischen Bestimmungsbüchern, oben einsortiert war. Als er und Beth zusammengezogen waren, war ihnen rasch klar geworden, dass sie nicht genug Platz hatten, um all ihre Bücher in der Wohnung unterzubringen, so dass sie viele von ihnen in Kisten verstaut hatten. In Kisten, die jetzt im Keller standen.

Er nahm an, dass in einer von ihnen auch seine Ausgabe der Aeneis steckte. Am Morgen würde er danach suchen.

Aus müßiger Neugier nahm er eines von Beths Büchern über die Kunst der Renaissance heraus und nahm es mit zu seinem Lehnsessel. Er blätterte darin, betrachtete die kuriose Mischung aus biblischen und mythologischen Motiven und nippte an seinem Bier. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zur Aeneis zurück, zu den Zeilen, an die er sich aus seinem Traum dunkel erinnerte und die er bereits wieder zu vergessen begann. Etwas über einen beschatteten See und vergiftete Luft, die von ihm aufstieg. Er fragte sich, ob er sich tatsächlich so genau an einzelne Zeilen erinnern konnte. Hatte das Epos während seiner Studentenjahre einen so tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen? Oder lag er vollkommen daneben? Erneut fragte er sich, wo das Buch wohl gelandet war. Er wollte es sehen, und aus irgendeinem Grund wollte er es jetzt sehen.

Er legte den Kunstband auf den Couchtisch und warf einen Blick auf die Uhr über dem Regal. Es war halb vier morgens. Zumindest würde er keinen Nachbarn über den Weg laufen, wenn er jetzt nach unten ginge.

Er schlich sich aus der Wohnung und nahm die Treppe. Im Treppenhaus wehte ein kalter Wind, und als er das Erdgeschoss erreichte, erkannte er den Grund dafür. Die Tür zum Foyer, die eigentlich immer geschlossen sein sollte, stand weit offen. Er stieß sie zu und wartete auf das Geräusch, mit dem der Schnapper einrastete. Dann drehte er sich um und ging ans andere Ende der Halle, wo sich die Kellertür hinter dem Fahrstuhl verbarg. Trotz der späten Stunde hörte er die Fahrstuhlkabine im Schacht rumpeln. Vielleicht hätte er nicht gerade in Bademantel und Flip-Flops aus der Wohnung gehen sollen. Es wäre ziemlich peinlich, in diesem Aufzug einem Nachbarn in die Arme zu laufen. An der Kellertür hing zwar ein Vorhängeschloss, aber Carter wusste wie alle übrigen Mieter, dass es nicht abgeschlossen war. Er entfernte das Schloss, klappte den Riegel zurück und stieg die enge Treppenflucht hinab.

Hier unten gab es zwei Waschmaschinen und einen Trockner, einen klapprigen Tisch, um die Wäsche zusammenzulegen, und einen Plastikstuhl. Der Boden bestand aus Beton, die Decke aus schmutzigen schalldämmenden Platten. Der Versuch des Hausmeisters, den Raum freundlicher zu gestalten, indem er einen Lampenschirm aus gelbem und rotem Glas über das Deckenlicht gehängt hatte, verstärkte nur noch den Eindruck der Trostlosigkeit. Im nächsten Raum stand an der Rückwand der Heizungskessel, und hier durften die Mieter ein paar Dinge lagern. Es gab ein paar Fahrräder, ein Paar Skier und einige Dutzend Kisten. Carters standen ganz hinten.

Er zog am Band an der nackten Glühbirne, die hier von der Decke hing, und betrachtete den Stapel brauner Pappkartons. Sie sahen alle gleich aus. In welchem steckten seine Bücher aus den Literatur-und Klassikkursen? Er wusste, dass es nicht der oberste war; der enthielt verschiedene Aufsätze, die er verfasst hatte, seine Doktorarbeit, kurze Zusammenfassungen und Monographien. Er nahm sie vom Stapel und hob den Deckel des nächsten Kartons an. Er entdeckte eine Reihe von Texten zu Biologie und Chemie. Er stellte den Karton auf den ersten. Der nächste Karton könnte sich als Treffer erweisen. Ganz obenauf lag Dryden, direkt darunter Chaucer. Er ließ den Karton auf den Boden plumpsen, setzte sich auf die beiden anderen und begann sich durch die eselsohrigen Bände mit Lyrik und Literatur zu wühlen. Ganz unten entdeckte er die Aeneis. Es war ein dickes Taschenbuch, mit einem Gemälde von Aeneas und Dido in Karthago auf dem Cover. Als er es erblickte, erinnerte er sich auf der Stelle, dass es von Claude Lorraine stammte. Mit einer Kunsthistorikerin verheiratet zu sein, hatte ihn ein paar Dinge gelehrt.

Aber wie sollte er die Zeilen finden, nach denen er suchte? Und warum suchte er überhaupt danach? Er hatte das überaus merkwürdige Gefühl, dass es etwas zu bedeuten hatte; dass sein Unterbewusstsein versuchte, ihn auf etwas hinzuweisen. Dass es schon eine ganze Weile versuchte, ihm etwas mitzuteilen.

Aber die Aeneis bestand aus zwölf Büchern, und jedes bestand aus Tausenden von Zeilen. Im Geiste ging er noch einmal die Zeilen aus seinem Traum durch. Es gab keine einfache Möglichkeit, um zielgerichtet im Glossar oder Index die Stelle mit einem schwarzen See oder finsteren Wäldern aufzuspüren. Jedes Wort hatte vermutlich Dutzende von Verweisen. Aber es wurden Vögel erwähnt, an der Stelle, wo es im Gedicht hieß, kein Vogel könnte über den Brodem des Sees fliegen. Carter wusste, dass es im Altgriechischen den Begriff vogellos gab, mit dem auch ein karger Ort selbst bezeichnet wurde. Er erinnerte sich, dass er den Begriff in einem seiner ersten Aufsätze über die Verbindung zwischen Vögeln und Dinosauriern verwendet hatte. Das Wort lautete aornos, und das, fand er, war ein guter Anfang.

Er schlug die hinteren Seiten des Buchs auf, und da war es, ein Verweis auf die erste Erwähnung im sechsten Buch, Zeile 323 der Mandelbaum-Übersetzung, die er benutzt hatte.

Doch dann, ehe er die Seite umblättern konnte, fiel ihm in derselben Begriffserklärung etwas ins Auge. Es war ein anderer Name für denselben kargen Ort, eine Alternative, die ihm vage vertraut vorgekommen war, seit Russo ihm die ersten Berichte über das Fossil aus Rom geschickt hatte. Avernus. Den Anmerkungen zufolge, die er jetzt las, war das der Ort, an dem die bekannte Sibylle von Cumae, die ungestüme und furchterregende Seherin der Antike, den Eingang zur Unterwelt bewachte. Die Pforte zur Hölle, wie es hieß.

Und war nicht auch dort, am Lago d’Averno, das Fossil gefunden worden, in einer Höhle, die seit Millionen von Jahren unterhalb der Wasseroberfläche lag?

Ohne sich zu rühren, saß Carter da, während ein kalter Windzug um seine Füße und Knöchel strich. Hinter dem Heizkessel vernahm er ein verstohlenes Scharren. Er hatte das Gefühl, als würde etwas Massives, ein roh behauener Block der Pyramiden zum Beispiel, endlich an seinen Platz gleiten. Etwas nahm Form an, ohne dass er indes erkennen konnte, was es war. Das Scharren ertönte erneut, und er bemerkte eine gespannte Mausefalle in der Ecke. Zeit, wieder nach oben zu gehen, dachte er. Zeit, über all das in einer wärmeren und behaglicheren Umgebung nachzudenken.

Er zog an dem Band der Lampe, ging durch die Waschküche zurück und erklomm, die Aeneis in der Hand, die Treppe zum Erdgeschoss. Im Treppenhaus war es immer noch kalt, und für den Rest des Weges nach oben nahm er den alten knarrenden Aufzug.

Er hatte die Wohnungstür nicht abgeschlossen und trat leise ein, leerte das Bier, das noch auf dem Couchtisch stand, und warf die leere Flasche gedankenverloren in den Abfalleimer in der Küche. Besorgt, dass er Beth damit gestört haben könnte, warf er einen Blick über den Flur auf die Schlafzimmertür. Sie war zum Glück geschlossen.

Aber das war seltsam.

Sie schlossen diese Tür nur selten, und er wusste, dass er sie heute Nacht nicht zugemacht hatte. War es Beth gewesen? Nachdem sein Albtraum sie aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte er geglaubt, sie sei sofort wieder eingeschlafen.

Avernus. Morgen würde er in der Universitätsbibliothek ein paar weitere Quellen nachschlagen müssen, um herauszufinden, ob es noch weitere Bezüge gab, die weniger erschreckend waren als die, die er bereits kannte.

Im Wohnzimmer schaltete er das Licht an, blickte über den leeren weiten Washington Square Park unter sich und ging schließlich zur Schlafzimmertür. Er wollte sie öffnen, stellte aber zu seiner großen Überraschung fest, dass sie sich nicht bewegen ließ. Er wusste ganz sicher, dass sie nicht abgeschlossen sein konnte, denn das Schloss war schon vor ihrem Einzug kaputt gewesen. Er probierte es erneut, und dieses Mal gab die Tür nach, wenn auch nur ein kleines Stück. Dann, als hätte sie einen eigenen Willen, schloss sie sich erneut.

Verwirrt stand Carter da. Gab es einen heftigen Windzug, der die Tür von der anderen Seite wieder zudrückte? Tatsächlich konnte er einen kühlen Luftzug unter der Tür spüren, der seine nackten Knöchel streifte. Er stützte die Schulter gegen die Tür und schob sie Stück für Stück etwa einen halben Meter weit auf. Er spähte durch den Spalt und stellte fest, dass das Fenster weit offen stand. Die Jalousien klapperten und hingen schief. Und plötzlich schien etwas sein Herz zu umklammern. Mit seinem ganzen Gewicht warf er sich gegen die Tür und erzwang sich Zutritt zu dem Zimmer.

»Beth!«, schrie er und stolperte über etwas Sperriges am Boden. »Bist du in Ordnung?«, rief er und schaffte es gerade noch, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Beinahe nackt lag sie auf dem Bett, die Laken zurückgeworfen. Die obere Hälfte des Leoparden-Pyjamas fehlte völlig, und die Hose hatte sich um ihre Knöchel verheddert.

»Beth! Was ist hier los!«, drängte er und rannte zum Bett. »Beth!«

Doch so unglaublich es klang, sie schlief, tief und fest. Als er die Hand auf ihre Schulter legte und sie schüttelte, war es, als bewegte er eine Lumpenpuppe. Ihr Kopf rollte zurück, und ihre Haut war so kalt, dass sie überall Gänsehaut hatte. Ein feuchter Wind wehte durch das offene Fenster herein. Er sprang auf, schlug die Jalousien beiseite und zog das Fenster herunter. Draußen auf der Feuerleiter war der Geranientopf umgekippt.

Als er Beth erneut packte, öffnete sie langsam die Augen. »Beth, wach auf! Sprich mit mir!«

Aber es schien ihr schwerzufallen, ihn deutlich zu erkennen. Ihr verschwommener Blick wanderte im schwach erleuchteten Zimmer umher, als er eine Decke, die halb auf dem Boden hing, zurück aufs Bett zerrte und sie damit zudeckte.

»Beth, ich bin’s. Beth!«

Allmählich wurde ihr Blick klarer, aber damit schien auch Panik in ihr aufzusteigen. Ihre Finger umklammerten Carters Arme, und sie stöhnte voller Angst.

»Es ist alles in Ordnung, du bist okay«, sagte er immer wieder und versuchte, sie zu beruhigen. »Was ist passiert?« Dabei wollte sein Verstand es gar nicht so genau wissen … noch nicht.

Ihr Haar war zerzaust, als ob kräftige Finger es zerwühlt hätten.

»Ich dachte, ich sei derjenige mit dem Albtraum heute Nacht«, sagte Carter tröstend. Er lachte halbherzig. »Jetzt hattest du auch einen, was?« Er hoffte inständig, dass es nur das gewesen war.

Sie sagte immer noch nichts, sondern drängte sich nur an ihn.

Zärtlich rieb er ihren Rücken und blickte sich auf dem Boden um. Der Schlafzimmerteppich, der normalerweise vom Bettgestell an Ort und Stelle gehalten wurde, lag in einem Haufen vor der Tür. Das musste die Tür blockiert haben, und darüber musste er gestolpert sein.

Aber das erklärte noch lange nicht, wie der Teppich dort hingekommen war.

»Beth«, sagte er leise, »erinnerst du dich, ob du die Schlafzimmertür zugemacht hast?«

Er spürte, wie sie verneinend den Kopf schüttelte.

»Oder den Teppich verschoben hast?«

Erneutes Kopfschütteln. Nein. Er brauchte sie gar nicht erst wegen des offenen Fensters zu fragen. Er wusste, wie die Antwort lautete.

Aber was war dann passiert? Hatte sie schlafgewandelt, so wie Joe? In all den Jahren, seit sie zusammen waren, war ihm nie aufgefallen, dass Beth so etwas täte. Aber was war die Alternative? Dass etwas oder jemand anderes dafür verantwortlich war?

Soweit er erkennen konnte, war sie körperlich in keiner Weise verletzt. Zumindest das nicht. In der Luft lag ein seltsam frischer Duft, der ihn an regennasse Blätter denken ließ. Aber irgendetwas Unfassbares war hier geschehen. Beth umklammerte ihn noch fester als je zuvor. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und zog ihn eng an sich. Unter der Decke hatte sie die Pyjamahose weggetreten.

»Jetzt ist alles gut«, sagte er und dachte, dass sie vielleicht nur die Bestärkung brauchte, doch ihre Umarmung zeigte, dass sie noch mehr wollte.

»Fick mich«, sagte sie.

Es war das Letzte, was er erwartet hatte von ihr zu hören, und er glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben.

»Fick mich!«

Auch ihre Stimme, distanziert und fordernd, klang nicht nach der Beth, die er kannte.

Abrupt riss sie sich die Decke vom nackten Leib und zog ihn hinunter, bis er auf ihr lag. Ihre Hände glitten unter seinen Bademantel.

»Beth, willst du wirklich …«

»Ja, ich will wirklich«, sagte sie mit spöttischem und zugleich drängendem Ton, »es ist genau das, was ich will.« Sie zerrte seine Boxershorts nach unten. »Jetzt.«

»Aber ich …«

Sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihre Lippen gegen seinen Mund presste und ihre Zunge sich drängend Einlass verschaffte. Es fühlte sich falsch an, überhaupt nicht gut. Carter hatte den Eindruck, mit jemandem im Bett zu liegen, den er nicht kannte.

Ihre Hand rutschte tiefer, packte ihn.

Unwillkürlich reagierte er darauf.

Beth presste ihre Hüften gegen ihn und stöhnte. Das Geräusch ihres quälenden Verlangens hallte in seinen Ohren wider. Sie spreizte die Beine und schlang sie um seinen Rücken.

Als er in sie eindrang, war sie so offen, so nass, als seien sie bereits stundenlang zugange, nicht erst seit wenigen Sekunden. Sie zog ihn noch enger an sich und ließ ein ekstatisches Stöhnen hören, ein Stöhnen, das ihn ebenfalls entflammte. Noch nie zuvor hatte er sie solche Geräusche machen hören, er hatte nicht gewusst, dass ihr Körper vor Leidenschaft so erhitzt und im selben Moment so kalt in der Berührung sein konnte. Sie warf den Kopf ins Kissen zurück, das Kinn angehoben, und er stieß zu, immer und immer wieder.

»Mehr«, bettelte sie, »mehr … mehr …«

Gleichgültig, wie heftig er zustieß oder wie tief er in sie eindrang, sie drängte ihn, weiterzumachen, und packte ihn noch fester. Als er sich nicht länger zurückhalten konnte, bohrte sie die Fingernägel in seinen Rücken, wie Klauen, und ein unterdrückter Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.

Er schloss die Augen, verloren im Augenblick, und dachte ausnahmsweise einmal an nichts.

Doch als er die Augen wieder aufschlug, hatte sie den Kopf dem Fenster zugewandt. Ihre Lippen bildeten ein dünnes, eingefrorenes Lächeln, und ihre Augen waren so weit nach oben verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war.

Ein Schauder lief Carter über den Rücken. Dort, wo ihre Nägel sich in seine Schultern gebohrt hatten, begann Blut hervorzusickern.


28. Kapitel

Ezra war auf einen ausgesprochen kniffligen, aber fesselnden Teil der Übersetzung gestoßen. Der vorige Abschnitt der Schriftrolle hatte die Pflichten der Engel beschrieben, dieser Wächter, und was sie einst für die Menschheit getan hatten. Da sie selbst niemals schlafen mussten, konnten sie unablässig über die Welt wachen und hatten Geschenke gebracht wie das Wissen über Aussaat und Ernte oder den Sinn für die Künste – und das Künstliche. Sie hatten die Menschen gelehrt, in einer gemeinsamen Sprache zu sprechen, damit sie einander verstanden und gemeinsame Ziele erreichen konnten.

Seit er mit diesem Abschnitt der Schriftrolle begonnen hatte, hatte er nur eine Unterbrechung hinnehmen müssen. Er hatte sich, wie gefordert, auf der Spendenparty für den Bürgermeister blicken lassen. Sein Vater hatte darauf bestanden, und pflichtschuldig war Ezra gerade lange genug geblieben, um dem Bürgermeister persönlich dafür zu danken, dass er zu seinen Gunsten eingegriffen hatte, als er wegen der Sache im UN-Park im Gefängnis gesessen hatte. Anschließend war er wieder auf sein Zimmer gehuscht.

An diesem Abend war er so erpicht darauf gewesen, weiterzumachen, dass er in seiner Eile beinahe einen Gast buchstäblich umgerannt hätte. Einen blonden Mann, der aus dem Gang kam, der ausschließlich zu den Privaträumen der Familie führte. Ezra, der immer noch eine Champagnerflöte in der Hand hielt, verschüttete etwas davon auf dem Anzug des Mannes.

»Oh, tut mir leid«, sagte Ezra und bürstete den Champagner fort.

Der Mann sagte nichts, und als Ezra ihn ansah, stellte er verdutzt fest, dass er eine Sonnenbrille mit bernsteinfarbenen Gläsern trug. Sein Gesicht sah aus, als sei es aus makellosem Alabaster gemeißelt.

»Haben Sie sich verlaufen?«

»Wie kommen Sie darauf?«

Auch sein Akzent war seltsam. »Weil die Party dort drüben stattfindet«, sagte Ezra und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.

»Ja«, sagte der Mann. Er lächelte, als sei ihm nachträglich etwas eingefallen, dann ging er davon. Die Luft, stellte Ezra fest, roch nach einem Kranz aus immergrünen Zweigen.

Er hatte indes nicht weiter darüber nachgedacht, sondern sich direkt wieder dem Abschnitt gewidmet, mit dem er sich seitdem abmühte. Es handelte sich um eine wahrhaftige Auflistung der Engel selbst, eine Liste mit den alten Namen, und er kam auffallend langsam voran. Den ganzen Morgen und den größten Teil des Nachmittags hatte er darauf verwendet, die blassen Buchstaben zu analysieren und die verblichenen Worte zu entziffern. In keiner bekannten Sprache gab es wörtliche Entsprechungen, so dass er versuchte, die Begriffe grob zu übersetzen. Aber der Klang war schwer zu kopieren, die Konsonanten waren hart wie Walnüsse, und die Vokale verwischten miteinander auf eine Art, die für moderne Zungen schwer auszusprechen waren. Die Silben erforderten, oder besser schufen, eine Art fremdartige Melodie, und alles, was er tun konnte, war, sich den geheimnisvollen Namen grob anzunähern. Araquiel … Semjaza … Gadreel … Penemue … Tamuel … Baraqel … Ereus …

Vielleicht lag es daran, dass er von seiner Arbeit so in Anspruch genommen war, dass er das Kratzen auf dem Glas hinter sich zuerst gar nicht hörte. Erst allmählich drang es in sein Bewusstsein ein, und jetzt hörte er auch, wie der Türknauf an der Terrassentür gedreht wurde. Er wirbelte auf seinem Stuhl herum und starrte zur Veranda. Die Türen waren geschlossen, die bodenlangen Vorhänge zugezogen, doch irgendetwas rührte sich dort draußen auf der Veranda, das wusste er.

Er warf ein leichtes Stück Stoff über seine Arbeit auf dem Zeichentisch und schlich verstohlen zur Tür.

Das kratzende Geräusch erstarb, doch plötzlich hämmerte jemand gegen das Glas.

Mit einem Finger teilte er die Vorhänge, und ein Auge, ein wildes, grünes Auge presste sich von der anderen Seite gegen das Glas und starrte ihn an.

»Lass mich herein, Ezra«, hörte er. »Ich muss den Innenarchitekten herumführen.«

Wie bitte? Kimberly stand dort draußen in der Kälte, bekleidet, wie er jetzt sah, nur mit einem rosa Satinbademantel. Und sie war allein.

»Mach auf! Wir frieren hier draußen!«

Auf dieser Seite erstreckte sich die Veranda über das gesamte Apartment, vom Hauptschlafzimmer bis zu seinen eigenen Räumen, aber er hätte nie gedacht, dass Kimberly jemals bis hierher kommen würde. Er zog den Vorhang zurück und fummelte am Türgriff der Terrassentür herum. Sie wurden so selten benutzt, dass der Griff klemmte und sich nur schwer öffnen ließ. Als die Tür endlich aufging, schlüpfte Kimberly rasch hindurch. Ihr Haar war lose und zerzaust, die Füße nackt.

»Warum musst du diese Zimmer immer verschlossen halten wie ein Gefängnis?«, beschwerte sie sich, und Ezra wusste nicht, was er sagen sollte. Genauso wenig wusste er, was er davon halten sollte. Sie sah sich im Zimmer um, sah die Klarsichthüllen an den Wänden, in denen die zusammengefügte Schriftrolle steckte, auf den Arbeitsplatz, an dem noch die Neonlampe brannte, auf den Berg aus Bürsten und Plastikhandschuhen und Schablonenmessern auf der alten Spielzeugkiste. Angewidert rümpfte sie die Nase. »Du hast ja noch nicht einmal angefangen zu packen.«

»Warum sollte ich?«, fragte Ezra.

»Damit wir anfangen können, das Kinderzimmer einzurichten«, erwiderte sie, als sei er der dümmste Mensch auf der Welt.

Sie phantasierte eindeutig. Seit der Party für den Bürgermeister war sie krank. Laut Gertrude hatte sie sich heimlich von der Party davongemacht und war in ihrem Zimmer zusammengebrochen. Seitdem war sie weder zu den Mahlzeiten noch aus einem anderen Grund herausgekommen. Gertrude hatte ihr Hühnerbrühe und Medikamente gebracht, aber offensichtlich hatte sich ihr Zustand noch verschlechtert. Sein Vater war, wie nicht anders zu erwarten, nicht in der Stadt, sondern geschäftlich in Dallas.

»Erinnerst du dich nicht«, sagte er, »dass ich hier wohnen bleiben muss, wo ich unter Beobachtung stehe?«

»Wovon redest du da?«

»Von der Anweisung des Gerichts«, erwiderte er, obwohl er merkte, dass nichts von dem einen Sinn für sie ergab. Vor ein paar Sekunden hatte sie noch geglaubt, der Innenarchitekt sei bei ihr.

»Alles, was ich weiß«, sagte sie und machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum mit einschloss, »ist, dass das alles verschwinden muss. Wir müssen hier streichen, neuen Teppichboden verlegen lassen und Platz schaffen für die Babywiege!«

Ihr Bademantel war ihr von der Schulter gerutscht, als sie so wild gestikulierte, und entsetzt stellte Ezras fest, dass ihr Schulterblatt mit blauen Flecken übersät war. Es sah aus, als hätte jemand sie viel zu heftig mit den Händen gepackt, und bei der Vorstellung, dass dieser Jemand sein Vater gewesen sein könnte, wurde ihm eindeutig mulmig. Es musste sein Vater gewesen sein, wer denn sonst?

»Was führst du hier überhaupt im Schilde?«, fragte Kimberly und setzte sich in Richtung Zeichentisch in Bewegung. »Das hier nennst du also deine Forschung?«

Hastig baute Ezra sich zwischen ihr und dem Tisch auf. In ihrem gegenwärtigen Zustand ließ sich nicht vorhersagen, was sie tun würde.

»Ja, und es darf nichts durcheinandergebracht werden«, sagte er.

»Wer sagt das?«, erwiderte sie, langte um ihn herum und riss den Stoff vom Abschnitt der Schriftrolle, den er gerade übersetzte.

Ezra packte ihr Handgelenk. »Ich habe gesagt, dass du aufhören sollst.«

»Du hast mir nicht zu sagen, was ich machen soll!«

»Kimberly, du bist krank«, sagte er und versuchte sie zu beruhigen. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir in dein Zimmer zurückgehen und den Arzt rufen.«

»In Ordnung«, sagte sie, plötzlich gefügig, »du hast recht«, aber kaum hatte er ihr Handgelenk losgelassen, machte sie einen Satz auf den Tisch zu und schnappte sich ein Stück der kostbaren Schriftrolle.

»Kimberly, nein!«, schrie er.

Ehe er sie aufhalten konnte, war sie davongetänzelt. Mit einem irren Grinsen im Gesicht wedelte sie mit dem Streifen herum. »Komm doch und hol es dir!«

Sie rannte auf die Terrassentür zu, und Ezra hatte keine andere Wahl, als ihr nachzulaufen und sie erneut zu packen. Sie wirbelte herum, bis der Bademantel ganz aufging. Darunter war sie nackt, und als sie mit den Händen auf ihn losging und ihn wie wahnsinnig kratze und um sich schlug, stellte Ezra fest, dass sie am ganzen Körper noch weitere blaue Flecken hatte. Was um alles in der Welt war ihr zugestoßen?

»Lass mich los!«, kreischte sie. »Lass los!«

Aber Ezra versuchte lediglich, das Stückchen Schriftrolle wieder an sich zu bringen. Sie hielt es außer Reichweite, dann krümmte sie sich und wirbelte herum. Er sah, wie sie vergeblich versuchte, es zu zerreißen.

»Hör auf, Kimberly!«

Aber sie hörte nicht auf. Sie nahm den Fetzen zwischen ihre Zähne und zerrte daran – und es war, als hätte sie in einen unter Strom stehenden Draht gebissen. Eine Woge aus blauen Funken schoss in die Luft und summte wie ein Schwarm wütender Bienen. Sie stürzte zu Boden, ein winziges Stück der Schriftrolle klebte noch an ihrer Lippe. Ihre Glieder zuckten, und weißer Schaum trat ihr aus dem Mund.

Ezra kniete sich neben sie, legte eine Hand auf ihre Schulter und versuchte mit der anderen, das Stück seiner kostbaren Schriftrolle zu entfernen. Doch wie eine Schlange, die sich in ihre Höhle zurückzog, verschwand das Fitzelchen in ihrem Mund. Er sah, wie ihre Kehle zuckte, als würde das Stück Schriftrolle sich noch weiter zurückziehen. Oder hatte er sich das alles nur eingebildet?

Kimberly keuchte und würgte. Ihr ganzer Körper wand sich in Krämpfen.

Ezra wusste nicht, was er tun sollte. Er sagte: »Halt durch«, und rannte aus dem Arbeitszimmer, durch sein Schlafzimmer und riss die Tür zum Flur auf. »Gertrude!«, rief er. »Gertrude!«

»Ja?« Es klang, als sei sie vier oder fünf Räume entfernt.

»Ruf den Notarzt für Kimberly. Wir brauchen einen Krankenwagen!«

Als er wieder an ihrer Seite war, sah sie aus, als sei sie gerade ins Koma gefallen. Ihr Blick war glasig und die Atmung sehr flach. Ihr Körper im geöffneten Bademantel war seinem Blick preisgegeben. Direkt unterhalb ihrer Brüste entdeckte er schwarze und blaue Flecken, als sei sie grob misshandelt worden. Er zog den Mantel zu und strich ihr über die Stirn. »Ruh dich einfach aus«, sagte er. »Alles wird wieder gut.« Ihre Haut war schweißnass, aber fiebrig heiß. Ezra fragte sich nicht nur, ob sie wieder gesund werden würde, sondern ob sie überhaupt so lange überleben würde, bis der Krankenwagen käme.

Gertrude stürzte ins Zimmer. »Gott im Himmel«, flüsterte sie, »Ich habe den Notarzt gerufen«, sagte sie zu Ezra.

Zehn Minuten später waren die Sanitäter da, hoben Kimberly auf eine Trage und rollten sie eilig hinaus zum Fahrstuhl. Ezra rief im Büro seines Vaters an, von wo aus die Sekretärin den Anruf nach Dallas weiterleitete. Sam saß gerade im Konferenzsaal und handelte irgendeinen Vertrag aus. Als Ezra ihm mitteilte, dass Kimberly erkrankt und ins Krankenhaus gebracht worden sei, schwieg er einen Moment. Anschließend bombardierte er Ezra mit Fragen. Welches Krankenhaus? Warum hatte er nicht Sams Hausarzt gerufen? Was stimmte nicht mit ihr? Wer hatte die Diagnose gestellt?

Ezra beantwortete so viele Fragen wie möglich, aber da er selbst nicht viel wusste, konnte er spüren, wie die Enttäuschung seines Vaters mit jeder Minute wuchs.

»Ich sehe zu, dass ich hier fertig werde«, erklärte Sam, »und komme so schnell wie möglich zurück.«

»Gibt es irgendetwas, das ich in der Zwischenzeit für dich tun kann?«

»Ja! Ich möchte, dass du ins Krankenhaus fährst und dafür sorgst, dass sie verdammt nochmal alles bekommt, was sie braucht.«

Ezra legte auf und hatte das Gefühl, wieder einmal irgendetwas falsch gemacht zu haben. Sein Vater vermittelte ihm ständig dieses Gefühl.

Er ging zurück in sein Zimmer. Er wagte kaum auf die leere Stelle auf seinem Zeichentisch zu blicken, wo das Fragment der Schriftrolle gelegen hatte. Er nahm seinen Mantel und fuhr nach unten. Vom Pförtner, Alfred, ließ er sich ein Taxi rufen, und während sie warteten, schüttelte Alfred den Kopf und sagte: »Tut mir furchtbar leid, diese Sache.«

»Ja, ist wirklich schrecklich.«

»Sie sieht immer so hübsch aus, und diese Partys, die sie immer schmeißt, bringen uns in die Zeitung.«

Was genau ihre Absicht ist, dachte Ezra.

»Ach ja, falls Sie das zurückhaben wollen«, sagte der Pförtner und zog ein paar Papiere aus seiner Uniformtasche, »Mrs Metzger will sie immer gerne wiederhaben.«

Ezra blickte auf das geprägte Briefpapier und sah, dass es sich um eine Liste der geladenen Gäste handelte, mit kleinen Häkchen hinter fast allen Namen.

»Sie bat mich, die Gäste bei ihrer Ankunft zu überprüfen«, sagte der Pförtner, »und ihr die Liste nach der Party zurückzugeben. Für ihre Unterlagen, nehme ich an.«

»Ich werde es ihr geben«, sagte Ezra, während das Taxi in die Auffahrt einbog und er hinten einstieg.

»Doctors Hospital«, sagte er, und der Wagen fuhr an.

Während er auf dem Rücksitz saß und in den späten grauen Nachmittag starrte, dachte er über alles nach, was gerade geschehen war. Kimberlys Delirium, der Schaden an der Schriftrolle. Zu seiner geheimen Schande wusste er genau, was ihn mehr bekümmerte. Kimberly würde geheilt werden, von was immer sie plagte, aber die Schriftrolle? Die würde nie wieder restauriert und jener Teil des Textes nie wiederhergestellt werden können. Er hatte immer das Gefühl gehabt, die Schriftrolle sei ihm anvertraut worden, möglicherweise von einer höheren Macht. Seine Aufgabe, seine Pflicht war es gewesen, sie zu schützen. Doch er hatte wieder einmal versagt.

Das Taxi hielt vor einer Ampel in der First Avenue, und Ezra blickte auf den Ausdruck der Gästeliste in seiner Hand. Manche der Namen – des Bürgermeisters, einiger Stadträte, alter Freunde der Familie – erkannte er. Auf den anderen Seiten standen reihenweise Namen, die wahrscheinlich nur Kimberly etwas sagten. Er blätterte bis zum Ende der Liste, und dort entdeckte er noch ein paar Namen in lavendelfarbener Tinte hingekritzelt. Vermutlich Einladungen in letzter Minute, die sie selbst handschriftlich hinzugefügt hatte.

Da war ein Mr Donlan, Mr und Mrs Lamphere und am Ende, mit einem großen Fragezeichen daneben, ein Mr Arius.

Hm. Das war ein seltsamer Name. Und was hatte das Fragezeichen zu bedeuten?

Vermutlich war sie sich nicht sicher gewesen, ob er kommen würde.

In diesem Moment fuhr das Taxi weiter, und er dachte wieder an jenen Abend. Erinnerte sich an eine weitere Merkwürdigkeit.

Dieser große blonde Mann, mit dem er im Korridor zusammengestoßen war. Seinen Namen kannte er zwar nicht, aber er war aus der Richtung von Kimberlys Schlafzimmer gekommen.

Er dachte an die Prellungen, die er auf ihrem Körper gesehen hatte. Male, von denen er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass sein Vater dafür verantwortlich sein sollte.

Er dachte an die bizarre Erscheinung des blonden Mannes.

Und dann dachte er an den Namen. Er schaute erneut auf die Liste und auf das dazugehörige Fragezeichen. War es dort, weil sie nicht sicher war, ob er kommen würde? Oder weil sie nicht sicher war, wie der Name buchstabiert wurde?

Er sprach ihn laut aus. »Arius«, sagte er. Der Taxifahrer drehte sich um.

»Nichts«, sagte Ezra, dann murmelte er den Namen erneut, leiser diesmal. »Arius.«

Seine Gedanken flogen zu dem Teil der Schriftrolle, an der er gerade gearbeitet hatte. Eine Liste mit Namen. Gadreel, Tamuel, Penemue … und als letzter … Ereus.

Das war seine Umsetzung der Laute gewesen, aber konnte man sie nicht genauso gut – oder sogar noch besser – mit Arius übersetzen?

Plötzlich glaubte er zu wissen, was Kimberly heimgesucht hatte. Und zum ersten Mal glaubte er, dass sie es womöglich doch nicht überleben würde.

Wenn das stimmte – würde dann irgendjemand überleben?


29. Kapitel

Carters erste Station an diesem Tag war die Hauptbibliothek gewesen, und was er dort entdeckt hatte, war schon übel genug.

Jetzt saß er im Fachbereichsbüro, und es wurde noch schlimmer. Die Sekretärin reichte ihm einen Brief der Rechtsanwaltskanzlei Grundig und Gaines, mit dem er darüber informiert wurde, dass Mrs Suzanne Mitchell, die Witwe des kürzlich verstorbenen Bill Mitchell, die New York University wegen fahrlässiger Tötung verklagt habe und dass er, Carter Cox, als Verantwortlicher des Labors, in dem der tödliche Unfall sich zugetragen hatte, seines Amtes zu entheben sei.

»Der Vorsitzende hat ebenfalls so ein Schreiben erhalten«, sagte die Sekretärin, »und er möchte, dass Sie sich für die nächste Woche einen Termin bei ihm geben lassen.«

Was kommt denn jetzt noch?, dachte Carter. Innerhalb weniger Tage hatte er erfahren, dass er steril war, ein guter Freund war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, seine Frau hatte irgendeinen unheimlichen halluzinatorischen Albtraum erlitten, und jetzt sah es so aus, als wollte Mackie ihn zusammenstauchen, weil er Unheil über den gesamten Fachbereich gebracht hatte.

»Also«, sagte die Sekretärin, »wie wäre es mit Donnerstag um drei Uhr?«

Carter brauchte eine Sekunde. »Oh – sicher, das geht.« Er warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass er zu spät kommen würde. Wieder einmal. Er musste zum St. Vincent’s, zu dem Gipfeltreffen, das sowohl Ezra als auch Joe eingefordert hatten.

Als er an die Kreuzung gegenüber vom Haupteingang des Krankenhauses kam, musste er an der Ampel warten. Das verschaffte ihm genügend Zeit, um festzustellen, dass das Schild vor dem alten Sanatorium, auf dem der Bau der Villager-Genossenschaftswohnungen angekündigt wurde, jetzt mit einem neuen Banner protzte. Darauf hieß es:

GRUNDSTEINLEGUNG AM 1. JANUAR!


VERKAUFSBÜRO ÖFFNET IN KÜRZE.

Er meinte sogar, jemanden hinter den Fenstern im obersten Stock zu sehen, vielleicht einen Mitarbeiter des Abrissunternehmens. Nur in New York City, wo der Immobilienmarkt selbst jetzt noch verrückt spielte, konnte ein Bauunternehmer damit rechnen, dass die Leute Schlange standen, um eine Wohnung in einem Gebäude zu erwerben, das bislang nur auf dem Papier existierte.

Als er schließlich die Verbrennungsintensivstation erreichte, hörte er bereits Ezras Stimme aus Joes Zimmer. Verdammt, eigentlich hatte er die beiden einander vorstellen wollen. Außerdem wollte er dabei sein, um, falls nötig, den ersten Schock, den Ezra möglicherweise bei Joes Anblick zeigen könnte, zu überspielen.

Doch als er eintrat, stellte er fest, dass er sich unnötig Sorgen gemacht hatte. Ezra hatte sich einen Stuhl neben das Bett gezogen, und Joe wandte ihm aufmerksam den Kopf zu. Sie erweckten den Eindruck von engen Verbündeten, die es ihm geradezu verübelten, dass er sie störte. Zum Gruß hob Joe seine verbrannten Finger, und Ezra nickte kurz, um sogleich mit seinen Ausführungen fortzufahren.

»Lasst euch durch mich nicht stören«, sagte Carter, hockte sich auf die Heizkörperabdeckung auf der anderen Seite des Bettes und ließ seine Aktentasche neben sich fallen. Darin befand sich Joes Kruzifix, das er ihm in einem ungestörten Moment zurückzugeben gedachte.

»Ich habe Joe gerade von einem Mann erzählt, den ich gesehen habe«, wiederholte Ezra, »demjenigen, der dem Felsen entstiegen ist.«

Carter fühlte sich, als würde er plötzlich im freien Fall das Kaninchenloch hinunterstürzen. »Ach ja?«, sagte er skeptisch. »Und was haben Sie ihm erzählt?«

»Seinen Namen.«

Carter blickte demonstrativ auf seine Uhr. »Ich bin nur fünfzehn Minuten zu spät dran, und wir sind bereits zu dem Schluss gekommen, dass tatsächlich ein Mann aus dem Fels geklettert ist …«

»Er ist es«, krächzte Joe.

»Und wir kennen außerdem seinen Namen?«

»Das tun wir«, sagte Ezra. »Er lautet Arius. Und er ist einer der Wächter.«

»Der was?«

»Der Wächter. Ein Orden aus Engeln, die bereits existierten, ehe die Zeit, wie wir sie kennen, begann.«

Es war reines Glück, dass Carter bereits saß. Er blickte von einem zum anderen, um herauszufinden, ob sie ihn nicht vielleicht irgendwie verulkten, aber er merkte sofort, dass dem nicht so war. Joes Miene war unerschüttert, und Carter begriff plötzlich, dass sich eine neue Allianz gebildet hatte. Er war überstimmt worden. Endlich hatte Joe jemanden gefunden, der seinen Bericht akzeptierte, und der glaubte, dass das, was er gesehen hatte, mehr war als die Halluzination eines schwerverletzten Mannes. Und Ezra hatte einen Mitstreiter gefunden, der sich seine haarsträubenden biblischen Theorien anhörte.

Es lag allein an Carter, ob er mit einsteigen oder abspringen wollte. »Also gut. Wenn er, wie ihr sagt, ein Engel ist«, sagte Carter und versuchte, aufgeschlossen zu klingen, »dann lasst mich ein paar Fragen stellen. Erstens, warum ist Bill Mitchell tot? Und zweitens, warum liegt Joe hier und wartet auf eine Hauttransplantation? Sollten Engel nicht über uns wachen und uns vor Leid beschützen?«

»Nein, nicht unbedingt«, sagte Ezra. »Es gibt alle möglichen Arten von Engeln. Manche von ihnen sind Freunde der Menschheit, andere nicht.«

Und wie viele können auf einem Stecknadelkopf tanzen?, dachte Carter. Joe musste seinen Gedanken gelesen haben.

»Bones, bitte«, sagte er ernsthaft. »Ezra … kennt sich mit diesen Dingen aus.«

Aus Rücksicht auf Joe schluckte Carter seine Skepsis ein weiteres Mal herunter. »Dieser Engel, von dem Sie … du redest, dieser Arius, ist also einer von den Bösen?«

»Das habe ich nicht behauptet. Die Wächter wurden von Gott berufen, um die Entwicklung der Menschheit zu überwachen, und um ihnen Dinge beizubringen – alles vom Ackerbau bis zum Bogenschießen.«

»Sie haben uns Pfeil und Bogen gegeben?«, fragte Carter.

»Zusammen mit der Sprache und der Literatur, Astronomie und Kunst«, fuhr Ezra fort und weigerte sich, nach Carters Köder zu schnappen. »Es erklärt, wie er es schafft, hier zu überleben, wie es ihm gelingt, im New York von heute zurechtzukommen.«

Ein weiterer harter Brocken für Carter. »Ach, jetzt ist er also nicht nur lebendig, nach ein paar hundert Millionen Jahren, sondern auch noch ein ganz normaler New Yorker? Mit einem Job und einer Wohnung?«

Wütend starrte Ezra ihn an. »Es erklärt«, sagte er in sorgfältig bemessenem Ton, »warum er in der Lage ist, unsere Sprache, Gewohnheiten und Gebräuche in einer unglaublichen Geschwindigkeit aufzunehmen. Man könnte sagen, dass er diese Dinge erfunden hat. Ohne das, was die Wächter uns vermittelt, ohne diesen Funken des göttlichen Feuers, das sie uns geschenkt haben, wäre niemand von uns dort, wo er heute ist. Und damit meine ich die gesamte Menschheit.«

»Und jetzt?«, fragte Carter. »Will er seine Geschenke zurückhaben? Ist er nicht glücklich damit, wie wir sie benutzen? Ist er deshalb hier?«

Ezra blickte hinüber zu Joe. »Über seine Pläne sind wir uns noch nicht im Klaren. Wir sprachen gerade darüber. Ich muss noch weiter daran arbeiten.«

»Woran?«, fragte Carter, obwohl er sich das denken konnte. »An den Schriftrollen? Du glaubst, dass etwas, das vor unzähligen Jahren aufgeschrieben und in einer Wüstenhöhle versteckt wurde, dir das sagen wird?«

»Gut möglich. Und vielleicht verrät es uns auch, was mit ihm geschah und warum er fiel, vor so langer Zeit.«

Carter fuhr sich mit der Hand durch das dichte braune Haar. Er kam sich vor, als habe er eine Irrenanstalt betreten und versuchte, aus dem Gebrabbel der Insassen schlau zu werden. Wenn man der Unlogik zu Leibe rücken wollte, musste man Stück für Stück des Phantasiegebildes entfernen, damit sie selbst einsahen und begriffen, wie irrational es war. Aber wo sollte er anfangen?

»Warum denkst du«, fragte Carter schließlich Ezra, »dass er keinen Flug nach Paris oder einen Greyhound nach Florida genommen hat? Warum glaubst du, dass Arius immer noch hier in New York ist?«

»Ganz einfach«, sagte Ezra und lehnte sich so weit zurück, dass die Vorderbeine seines Stuhls sich vom Boden lösten. »Ich habe ihn getroffen.«

Jetzt, dachte Carter, bin ich ganz unten im Kaninchenloch und auf direktem Weg ins Wunderland. »Du hast«, sagte er langsam, »diesen Engel getroffen?«

»Er war auf der Spendenparty für den Bürgermeister in unserer Wohnung.«

Meinte er das ernst?

»Und ich habe den starken Verdacht, dass er meine Stiefmutter schwer verletzt hat. Deshalb sagte ich, dass ich noch nicht weiß, was seine Absichten sind. Da tappe ich ebenso im Dunkeln wie du.«

Betrübt schüttelte Carter den Kopf. »Das bezweifle ich.«

»Bones«, sagte Joe mit kaum hörbarer Stimme, »du bist Wissenschaftler. Sieh dir die Beweise an.«

»Joe, das würde ich gerne, aber es gibt keine.«

Joe hob die Hände, als wollte er sagen Sieh mich an. Sieh dir alles an, was passiert ist. Wie willst du das alles sonst erklären? »Sag nicht, du hättest dir nicht … schon deine eigenen Gedanken gemacht«, sagte er, und Carter hatte das Gefühl, sein Freund würde in ihn hineinblicken, geradewegs in seinen Kopf. Es stimmte, es gab Dinge, die Carter nicht leugnen konnte, nicht einmal vor sich selbst. Er dachte zurück an die letzte Nacht, als er in der Aeneis die Zeilen über Avernus gefunden hatte. Und an heute Morgen, als seine Nachforschungen in der Bibliothek den Rest zutage gefördert hatten.

Joe musste etwas in seinem Gesichtsausdruck gesehen haben. »Da ist etwas, das du uns sagen willst«, sagte er. »Etwas, das du erfahren hast.«

»Nein, da ist nichts«, sagte Carter und versuchte, den Gedanken beiseitezuschieben.

»Das ist etwas«, beharrte Joe. »Ich habe diesen Blick vor Jahren schon einmal gesehen, auf Sizilien.«

Ezra wartete. »Je verrückter es dir vorkommt, desto lieber möchte ich es hören.«

Aber Carter hatte das Gefühl, dass er, wenn er es laut ausspräche, wenn er auch nur einen Zeh in das sumpfige Wasser steckte, nie wieder sicher aus der Sache herauskäme. Mit jeder Faser seiner Existenz sträubte er sich dagegen, diesen düsteren Morast zu betreten.

Aber hatte er das nicht schon längst getan? Hatte er unbewusst den ersten Schritt nicht bereits in dem Moment gemacht, in dem ihm der absolut seltsame Verdacht in den Sinn gekommen war? Oder zumindest, als er ihm heute Morgen in den Regalen der Forschungsbibliothek der Universität nachgegangen war?

»Es ist nur ein merkwürdiger Zufall«, sagte Carter.

»Manchmal ist es vielleicht mehr als das«, sagte Ezra. »Wir werden es nicht wissen, solange du es uns nicht sagst.«

Joes mühsames Atmen war das lauteste Geräusch im Raum.

»Es hat etwas mit dem Ort zu tun, an dem das Fossil gefunden wurde«, räumte Carter ein.

»Lago d’Averno«, sprang Joe ein, »in der Nähe von Neapel.«

»Was ist damit?«, fragte Ezra ungeduldig.

»Nun, dem römischen Dichter Vergil zufolge ist das ein sehr interessanter Ort. In der Aeneis schrieb er, dass es dort einen Zugang gäbe … einen Zugang zur Unterwelt.«

Ezra und Joe reagierten mit bestürztem Schweigen.

»Seit Tausenden von Jahren«, fuhr Carter widerstrebend fort, »gibt es in den lokalen Legenden und dem überlieferten Wissen Geschichten darüber, wie dieses Tor beschaffen ist.«

»Wie?«, krächzte Joe.

Ezra wartete einfach ab.

»Als der Erzengel Michael die rebellierenden Engel bezwang, warf er sie aus dem Himmel«, sagte Carter und konnte kaum fassen, dass er so weit ging. »Und sie stürzten in die Tiefe.«

»Laut der Schriften sechs Tage und Nächte lang«, fügte Ezra leise hinzu.

»Ja. Sie schlugen wie Meteore auf dem Boden auf und wurden von den Eingeweiden der Erde verschlungen. Genau dort, wo wir das Fossil gefunden haben.«

Joe schloss die Augen und murmelte leise ein Gebet. Nach ein paar Sekunden rührte Ezra sich auf seinem Stuhl. »Für mich hört sich das ganz und gar nicht verrückt an.« Aber er bedachte Carter mit einem taxierenden Blick. »Und wie klingt es für einen Mann der Wissenschaft?«

Doch Carter war sich nicht länger sicher. Über gar nichts. Er wühlte in seiner Aktentasche herum, holte das Kruzifix heraus, stand auf und reichte es Joe.

Ezra lächelte. Als hätte er seine Antwort erhalten.


30. Kapitel

Wenn Beth nicht versprochen hätte, mit Abbie zusammen die letzten paar Sachen für das Landhaus zu besorgen, wäre sie vermutlich direkt nach Hause gegangen, hätte die Tür abgeschlossen und ein langes heißes Bad genommen. Aber sie hasste es, ihre Freundin zu enttäuschen, und da sie planten, am kommenden Wochenende hochzufahren, war heute die letzte Gelegenheit, um die Einkäufe zu erledigen.

Sobald Raleigh aus der Tür war, fügte Beth der Gästeliste noch einen weiteren Namen hinzu, damit die Liste der Einladungen zur Weihnachtsfeier am nächsten Tag an die Druckerei geschickt werden konnte, und loggte sich aus ihrem Computer aus. Der Nachtportier, Ramon, stand bereits an der Treppe, als sie ging.

»Guten Abend, Mrs Cox«, sagte er, während er etwas Kaffee aus seiner Thermoskanne in seinen Plastikbecher der Yankees goss. »Vergessen Sie Ihren Schirm nicht.«

»Regnet es?«, fragte Beth. Sie war den ganzen Tag hinten beschäftigt gewesen und hatte keine Ahnung, was draußen in der Welt vor sich ging.

»Noch nicht, aber es heißt, da würde noch was runterkommen.«

Sie war sicher, dass sie ihren Regenschirm zu Hause gelassen hatte. »Ich fürchte, ich muss es darauf ankommen lassen.«

Draußen war es kalt und windig, und Ramon hatte wahrscheinlich recht. Die Abendluft schmeckte feucht. Sie zog den Kragen ihres Mantels bis zu den Ohren hoch und setzte sich in Richtung Bloomingdale’s in Bewegung, wo sie sich Punkt sechs mit Abbie treffen wollte. Auf den Bürgersteigen drängten sich wie immer die Menschenmassen, und mehr als einmal hatte sie das unheimliche Gefühl, jemand würde ihr folgen. Jeden Moment rechnete sie damit, ein Tippen an der Schulter zu spüren. Doch sobald sie sich umdrehte, sah sie stets nur ein Meer aus fremden Gesichtern, von denen manche gar nicht glücklich wirkten, weil Beth ihr Vorankommen störte.

»Frohe Feiertage«, brummte ein Mann, »aber jetzt machen Sie schon.«

Zwischen den Straßenlaternen über ihren Köpfen waren Kabel gespannt, an denen Rauschgoldsterne und rote Zuckerstangen aus Aluminium baumelten, und die Schaufenster waren mit Kunstschnee beflockt. Normalerweise genoss Beth all die weihnachtlichen Dekorationen, aber dieses Jahr war sie einfach nicht in der Lage, sich darauf einzulassen. Heute Abend war sie sogar so erschöpft und ausgebrannt, dass sie es gerade noch schaffte, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Der Anruf aus Dr. Westons Praxis hatte die Sache auch nicht gerade besser gemacht. Sie solle die Dosis ihrer Eisentabletten erhöhen, hatte er gesagt und sie daran erinnert, dass sie eine sehr seltene Blutgruppe hatte, AB negativ.

»Falls Sie sich entscheiden sollten, auf alternativem Wege schwanger zu werden«, hatte der Arzt so taktvoll wie möglich erklärt, »würde ich Ihnen empfehlen, ein oder zwei Eigenblutspenden zu machen, nur für den Fall, dass es bei der Geburt gebraucht wird.«

Im Moment hatte sie das Gefühl, nicht einmal einen einzigen Tropfen entbehren zu können.

Auf den Gängen bei Bloomingdale’s war, wie zu erwarten, nahezu kein Durchkommen. Sie nahm den Fahrstuhl in die Einrichtungsabteilung und fand Abbie bereits mitten in einem angeregten Beratungsgespräch mit einer jungen eleganten Verkäuferin.

»Glauben Sie wirklich, dass diese Kissenfarbe sich nicht mit den Vorhängen beißt, die wir bereits bestellt haben? Der Stoff ist doch eher gelb als pfirsichfarben!«

»Nein«, sagte die junge Frau und schüttelte energisch den Kopf. »Die gehören alle zur selben Design-Linie und ergänzen einander.«

Abbie blickte auf und entdeckte Beth. »Glaubst du, dass dieser Stoff zu den Vorhängen im Esszimmer passt, die wir schon bestellt haben?«

Beth musste darüber nachdenken. »Ja, vielleicht.«

»Ja oder vielleicht?«, wollte Abbie wissen.

Die Verkäuferin wirkte verärgert, jetzt musste sie für jeden Einkauf zwei Stimmen gewinnen.

»Nein«, entschied Beth.

Abbie lachte, und die Verkäuferin lächelte durch die zusammengebissenen Zähne, ehe sie sich demonstrativ entschuldigte und verschwand, um eine andere Kundin zu bedienen.

»Danke für deine Meinung«, sagte Abbie leise. »Ich wollte sie sowieso loswerden.«

Beth lächelte.

»Und danke, dass du an so einem lausigen Abend gekommen bist.«

»Kein Problem.«

»Bist du sicher?«, fragte Abbie besorgt und legte Beth eine Hand auf den Arm. »Entschuldige meine Offenheit, aber du siehst nicht besonders gut aus.«

»Das ist schon in Ordnung – ich fühle mich auch nicht besonders gut.«

»Glaubst du, du brütest irgendetwas aus? Hast du dich gegen Grippe impfen lassen?«

»Ja, ich bin geimpft, und nein, ich glaube nicht, dass ich wirklich krank werde.«

Sie schlenderten einen anderen Gang entlang, vorbei an Tischen, auf denen sich extrem teure Haushaltstextilien stapelten.

»Ich fühle mich seit ein paar Nächten nicht mehr so richtig wie ich selbst. Ich kann nicht einschlafen, und wenn ich es schaffe, träume ich so schlecht, dass es sich kaum lohnt.«

»Hör zu, Beth … wenn dir nicht danach ist, am Wochenende mit aufs Land zu fahren, denk nicht weiter daran. Wir können es auch ein anderes Mal machen.«

»Nein, nein«, protestierte Beth. »Ich freue mich darauf. Ich glaube, der Tapetenwechsel wird mir ganz guttun.«

»Ich frage mich, ob ich Ben wohl auch dazu bekomme, es so zu sehen.«

»Ganz bestimmt«, versicherte Beth ihr, obwohl sie im Grunde ihres Herzens fand, dass Ben nicht ganz unrecht hatte. Obwohl das Haus auf den Bildern so heimelig ausgesehen hatte, ging von dem Ort etwas unbestimmt Tristes aus, etwas, das alle hellen Vorhänge und farbigen Tapeten der Welt nicht würden vertreiben können. Das Haus strahlte Einsamkeit aus, wirkte sogar ein wenig abweisend.

Ohne dass sie es geplant hätten, fanden sie sich am Ende eines Ganges in der Abteilung für Kinderzimmereinrichtungen wieder. Wo Beth auch hinsah, entdeckte sie Bettlaken und Kissenbezüge, verziert mit Karussells, tanzenden Seepferdchen und einer großen Auswahl an Disney-Figuren.

»Ist dir schon einmal aufgefallen, dass man, wenn man ohne Erfolg versucht schwanger zu werden, an jeder Ecke über Kinder und Kinderzeug stolpert?«, bemerkte Abbie.

Es war Beth aufgefallen. Und seit dem letzten Termin bei Dr. Weston, bei dem sie die schlechten Nachrichten über Carters Zeugungsunfähigkeit erhalten hatten, schien es nur noch schlimmer geworden zu sein. Egal, wohin sie ging, sie stieß auf Babys, Kinder und werdende Mütter.

»Ben und ich überlegen, ob wir es nächstes Jahr mit dieser In-vitro-Sache versuchen. Und wie sieht’s bei dir und Carter aus? Macht ihr irgendwelche Fortschritte?«

»Nein«, sagte Beth und versuchte, möglichst unbekümmert zu klingen. »Bisher jedenfalls nicht.« Obwohl Abbie ihre älteste und beste Freundin war, hatte sie ihr den jüngsten und in gewisser Weise endgültigen Rückschlag noch nicht mitgeteilt. »Macht es dir etwas aus, wenn ich mir kurz mal die Musterzimmer anschaue?«, sagte Beth. »Ich will immer wissen, wie weit ich der Mode hinterherhinke.«

»Nein, geh ruhig. Vielleicht mache ich mich auf die Suche nach der zickigen Verkäuferin und lasse sie überprüfen, wann meine Vorhänge geliefert werden.«


So schnell sie konnte, ließ Beth die Kinderabteilung hinter sich und ging ans andere Ende der Etage, wo die Dekorateure von Bloomingdale’s regelmäßig eine Reihe von Musterzimmern aufbauten, jedes in einem anderen phantastischen Stil. Stets aufs Neue amüsierte sie sich köstlich über das Nebeneinander eines englischen Salons und der Bude eines Hip-Hop-Gangsters, dem Schlupfwinkel auf einer Insel und der Berghütte aus Colorado. Gewöhnlich erging es einer Menge anderer Leute genauso, doch heute Abend war die Abteilung geradezu verwaist. Sie schlenderte an einem schnittigen Hightecharbeitszimmer und einem Hampton-Strandhaus vorbei, bis sie ganz allein vor dem letzten Musterzimmer in der Reihe stehen blieb.

Was sollte das bedeuten? Irgendeine Szene aus einem Roman von Paul Bowles? Es erinnerte vage an marokkanisches Dekor, ein Phantasie-Boudoir, komplett mit Webteppichen, Ornamenten aus gehämmertem Kupfer und einem riesigen Bett, das teilweise von einem hauchzarten hellgelben Vorhang verdeckt war. Hinter einem Türbogen sah sie die bemalte Leinwand mit wellenförmigen Sanddünen, die silbrig im Mondlicht glitzerten. Der Künstler, dachte sie, hatte vorzügliche Arbeit geleistet, es war überraschend überzeugend.

Tatsächlich war die gesamte Einrichtung gut gelungen – und äußerst einladend. Viel zu einladend. Plötzlich schien die Müdigkeit in ihren Knochen noch größer zu werden, und die Augen wurden ihr schwer. Den ganzen Tag schon war sie müde gewesen, aber jetzt hatte sie das Gefühl, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Sie musste sich hinlegen und die Augen schließen, und sei es nur für ein paar Minuten. Das Bett mit dem hauchzarten Vorhang war nur eine rote Absperrkordel weit entfernt.

Nein, das konnte sie nicht machen. Aber die Sehnsucht wurde rasch unwiderstehlich.

Und wer würde es schon merken? Es wäre ja nur für ein paar Minuten. Niemand war hier, niemand würde sie hinter dem Vorhang sehen, besonders, wenn sie sich beeilte. Wenn sie sich endlich entscheiden und es einfach machen würde.

Ehe sie recht wusste, was sie tat, hatte sie die Füße schon über das rote Absperrseil gehoben und tappte über die Webteppiche. Das Bett war massiv und hoch, und sie musste regelrecht hinaufklettern. Sie wusste, dass es verrückt war, trotzdem passte sie gut auf, damit sie die Bettdecke und die Vorhänge nicht durcheinanderbrachte. Das wäre nicht in Ordnung.

Die Decke musste aus der feinsten, weichsten Baumwolle gefertigt worden sein, die je gesponnen wurde, und die in Brokat gefassten Kissen waren perfekt arrangiert und schienen nur darauf zu warten, dass sie ihren müden Kopf und die schmerzenden Schultern darauf bettete. Nie zuvor in ihrem Leben war ein Bett so einladend, so bequem gewesen. Ich werde nur ein paar Minuten hier liegen bleiben, sagte sie sich. Sie würde ganz still liegen, versteckt hinter dem durchscheinenden Vorhang. Niemand würde es bemerken, niemand würde je davon erfahren.

Die Lider wurden ihr schwer. Die Dekorateure hatten einfach an alles gedacht und mussten sogar die Luft mit Düften bestäubt haben. Es roch nach … vom Regen gewaschenen Blättern. Beth empfand ein köstliches Gefühl des Wohlbehagens. Wenn sie doch nur ihre Schuhe ausziehen und unter das kühle glatte Laken schlüpfen könnte. Sie fühlte sich, als könnte sie ewig und unbehelligt schlafen, ohne durch schlechte Träume gestört zu werden.

Irgendwo in weiter Ferne meinte sie jemanden ihren Namen rufen zu hören. Aber sie war zu müde, um darauf zu reagieren.

Sie hörte ihren Namen erneut, etwas näher, und dieses Mal öffnete sie die Augen, gerade genug, um durch den Torbogen zu schauen, auf die gemalte Kulisse der endlosen wandernden Sanddünen. Jetzt konnte sie sehen, dass jemand oben auf der Düne stand. Im silbernen Licht des gemalten Mondes zeichneten sich die Umrisse eines Menschen ab.

Lächelnd schloss sie die Augen. Was für ein unglaublich talentierter Künstler. Vielleicht sollte sie herausfinden, wer es war. Er oder sie war zu gut, um Kulissen für ein Warenhaus zu malen.

Sie fragte sich, wo Carter wohl im Moment steckte. Wahrscheinlich im Krankenhaus, bei seinem armen Freund. Gott, wie furchtbar. Wenn Carter sich weiterhin die Schuld an den Ereignissen gab, würde es nur noch schlimmer. Sie wusste, dass er es tat, und sie kämpfte auf verlorenem Posten, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

Erneut wurde ihr Name gerufen, und als sie dieses Mal zu den Dünen blickte, war die Gestalt wesentlich näher. Sie erkannte die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes. Bedächtig und langsam ging er durch den Sand … und ihr schläfriger Verstand versuchte, das unter einen Hut zu bringen. Wie um alles in der Welt hatte der Künstler diesen Effekt hervorgerufen?

Sie wollte aufstehen und nachsehen, aber ihre Glieder fühlten sich an wie Blei. Ihr Kopf war so schwer, dass sie bezweifelte, dass sie ihn jemals wieder von dem verzierten Kissen würde heben können, auf dem er ruhte.

Der Mann kam immer noch näher, bis sein Schatten durch den gewölbten Torbogen fiel. Nach und nach wurden seine perfekt geschnittenen Züge klarer … In diesem Moment spürte sie, wie ihr Magen sich umdrehte, und schmeckte eine heiße Flut in ihrer Kehle.

»Beth«, hörte sie, »Hier steckst du!«

Sie drehte sich zur Seite, und da nichts anderes zur Stelle war, erbrach sie sich in einen glänzenden Messingtopf, der neben dem Bett aufgebaut war.

»O mein Gott!«, rief Abbie, und riss die hellgelben Vorhänge zurück. »Ach, du meine Güte!«

Beth erbrach sich erneut, unfähig, es zurückzuhalten.

»Holen Sie ein paar Handtücher«, befahl Abbie der Verkäuferin, die entgeistert neben ihr stand.

»Das ist absolut nicht erlaubt«, rief die junge Frau aus. »Die Musterzimmer dürfen nicht betreten werden, und …«

»Holen Sie mir ein verdammtes Handtuch«, schrie Abbie, ehe sie sich neben Beth aufs Bett setzte und ihr einen Arm um die Schultern legte. »War es das?«, fragte sie sanft. »Geht es dir jetzt besser?«

Beth nickte beschämt. Dann blickte sie zum gewölbten Torbogen und der gemalten Kulisse. Niemand war dort.

Die Verkäuferin kehrte mit einigen Ralph-Lauren-Handtüchern zurück und reichte sie missmutig an Abbie weiter. »Die werden Sie bezahlen müssen«, sagte sie.

»Fein. Setzen Sie sie mit auf die Rechnung, zusammen mit diesem Nachttopf.« Mit einem Zipfel des Handtuchs tupfte sie Beth das Kinn ab, dann reichte sie es ihr. Beth vergrub das Gesicht in dem tröstlich dicken Stoff und dachte Ich will hier nie wieder weg.

»Willst du dich wieder hinlegen?«, frage Abbie sie, »oder kannst du aufstehen?«

»Ich denke schon«, sagte Beth und klammerte sich immer noch an das Handtuch. Unsicher stand sie von dem Bett auf, während die Verkäuferin durch den Türbogen in beide Richtungen spähte.

»Ihr Freund ist schon gegangen«, sagte sie zu Beth.

»Wovon reden Sie da?«, erwiderte Abbie scharf.

»Hier war ein Mann«, antwortete die junge Frau, »aber der ist inzwischen verschwunden.« Sie blickte auf den beschmutzten Messingtopf. »Scheiße.«

Abbie legte den Arm um Beths Schulter und geleitete sie aus dem Musterzimmer. »Schicken Sie ihn mir nach Hause«, sagte sie. »Leer.«

Im Waschraum bat Beth Abbie, draußen zu warten, während sie sich frisch machte. Sie wollte allein sein, im Boden versinken und diesen ganzen Vorfall ungeschehen machen. Sie ließ das kalte Wasser laufen und spülte sich das Gesicht ab. Davon bekam sie schwarze Flecken unter den Augen, die sie anschließend mit dem neuen Handtuch fortwischen musste, das sie immer noch bei sich hatte. Was stimmte bloß nicht mit ihr? Sie erinnerte sich an den Traum, an diese Halluzination, dass ein Mann durch den Sand auf sie zukam. Aber hatte die Verkäuferin nicht gesagt, sie hätte ebenfalls jemanden gesehen?

Wenn es kein schlechter Traum gewesen war, was dann?

Abbie steckte den Kopf durch die Tür. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte Beth und stellte das Wasser ab. »Ich werde mich nur nie wieder bei Bloomingdale’s blicken lassen können.«

Mit einem Arm an der Hüfte hielt Abbie sie fest, als sie zu den Fahrstühlen gingen. »Bist du sicher, dass du nicht schwanger bist?«, fragte sie halb im Scherz.

»Ganz sicher.«

»Dann brauchst du jetzt vor allem ein warmes Bett und ein ordentliches Erkältungsmittel. Du hast eindeutig Fieber.« Bei den Fahrstühlen warteten sie eine Weile, als eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und einer zusammenklappbaren Sportkarre herauskam.

»Ich werde dich mit dem Taxi nach Hause bringen«, sagte Abbie, »und dir eine Brühe kochen.«

In Beths Ohren hörte sich das gut an. Sie traten in den Lift, und bevor dieser sie nach unten brachte, warf Beth einen letzten verstohlenen Blick auf das Musterzimmer.

Die Verkäuferin trug gerade den Messingtopf fort, unter einem Tuch versteckt. Doch der Torbogen hinter ihr war leer, und dahinter erblickte Beth nichts als die ewig wandernden Sanddünen.


31. Kapitel

Carter wusste, dass das ruinierte Labor noch nicht betreten werden durfte, aber er musste trotzdem hinein, durch den hinteren Gang. Er musste noch einmal den Ort sehen, an dem er seinen größten Triumph hatte feiern wollen und der stattdessen zum Schauplatz seiner größten Tragödie geworden war. Polizei und Spurensicherung waren bereits fertig und hatten alle möglichen Proben gesammelt, doch als er raus auf die Straße ging, musste er sich trotzdem unter dem gelben Absperrband der Polizei bücken.

Er war auf dem Weg zum biomedizinischen Labor, wo er sich mit Ezra treffen wollte. Dr. Permut hatte offensichtlich die Analyse der Tinte und des Materials der Schriftrolle beendet, und er war bereit, die Ergebnisse mit ihnen durchzugehen. Carter wartete, um die Straße zu überqueren, als ein schmutziger brauner Wagen neben ihm anhielt und er jemanden sagen hörte: »Sie wissen, dass das immer noch der Tatort ist, an dem wegen Brandstiftung ermittelt wird. Sie dürfen dort nicht rein.«

Carter bückte sich und spähte in den Wagen. Es war Detective Finley.

»Tut mir leid.«

»Wo wollen Sie hin? Ich kann Sie ein Stück mitnehmen.«

»Nicht nötig«, sagte Carter, »es sind nur ein paar Blocks.«

»Kommen Sie schon«, sagte Finley und winkte mit dem Arm, »springen Sie rein.«

Carter hatte den Eindruck, es sei mehr als ein Angebot, und nachdem der Detective das Gerümpel vom Beifahrersitz auf den Boden gefegt hatte, stieg er ein. »Geradeaus«, sagte Carter, »zur Sechsten. Dort können Sie rechts abbiegen.«

»Ehrlich gesagt«, sagte Finley und schob seine dicken Brillengläser auf dem Nasenrücken nach oben, »wollte ich ohnehin mit Ihnen reden.«

Genau das hatte Carter befürchtet. »Über die Leiche, die ich gefunden habe?« Dieser Satz, dachte er, gehört zu denen, von denen ich nie dachte, dass ich sie einmal aussprechen würde.

»Worüber sonst?«, sagte Finley, griff in die Brusttasche seiner Jacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor. »Sehen Sie sich das hier an.«

Carter nahm das Blatt und entfaltete es. Im Wagen roch es nach abgestandenem Kaffee und fettigen Burgern. Bei dem Papier handelte es sich um die Fotokopie von zwei Fingerabdrücken. Carter blickte zum Detective hinüber.

»Wir haben sie vom Handlauf am Kelleraufgang.«

»Sie sehen sehr deutlich aus«, sagte Carter und überlegte, was sich sonst noch über Fingerabdrücke sagen ließe. Er hatte sich noch nie zuvor welche näher angesehen.

»Ja, nicht wahr?«, sagte Finley. »Und viel zu perfekt.«

Carter schaute erneut auf das Blatt, und jetzt konnte er sehen, dass die Windungen des Abdrucks in der Tat bewundernswert komplett und intakt waren. Perfekte Kreise in der Mitte, perfekte Rechtecke am äußeren Rand, ohne einen einzelnen Bruch oder eine Abweichung.

»Es gibt keine perfekten Fingerabdrücke«, fügte Finley hinzu. »Wenn es sie gäbe, wären wir niemals in der Lage, mit ihrer Hilfe jemanden zu erwischen.« Er zog ein nicht besonders sauberes Taschentuch aus der Tasche und putzte damit erst die Brillengläser und anschließend die Innenseite der Frontscheibe. »Sie sind doch Wissenschaftler – was fangen Sie damit an?«

»Mit den Fingerabdrücken? Keine Ahnung. Vielleicht hat das Labor einen Fehler gemacht.«

Der Detective schüttelte den Kopf. »Nee, ich hab das alles höchstselbst erledigt.«

Carter schwieg. Das Einzige, was ihm dazu einfiel, war, dass ein perfekter Fingerabdruck von einem perfekten Wesen hinterlassen worden sein musste – so etwas wie einem Engel vielleicht. Aber er hatte nicht vor, den Vergehen, die der Detective ihm möglicherweise insgeheim zur Last legte, auch noch geistige Verwirrung hinzuzufügen.

»Sie können es mir jetzt zurückgeben«, sagte Finley, nahm das Papier und stopfte es zusammengefaltet zurück in die Tasche.

»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann«, sagte Carter.

Der Detective nickte und bog rechts ab. »Welche Adresse?«

»Drei Blocks weiter, an der Ecke.«

Der Detective fuhr eine Weile schweigend, dann sagte er: »Vielleicht gibt es doch eine Sache, bei der Sie mir helfen könnten.«

»Ich werde es versuchen.«

»Der Gerichtsmediziner sagte, der Mann sei an den Verbrennungen gestorben.«

Carter wartete. War das nicht ziemlich offensichtlich?

»Aber da gibt es eine Merkwürdigkeit. Der Körper ist von innen nach außen verbrannt.«

Carter war verwirrt. »Falls Sie mich fragen, ob spontane Selbstverbrennungen tatsächlich vorkommen können, muss ich eindeutig verneinen.«

»Das habe ich auch gedacht. Aber da die beiden einzigen anderen Brandopfer, die ich dieses Jahr gesehen habe, in Ihrem Labor genau auf der anderen Straßenseite gearbeitet haben, dachte ich, Sie könnten mir vielleicht weiterhelfen.«

Carter wusste nicht, was er sagen sollte. »Zufall?«, schlug er schließlich vor.

Hinter der Kreuzung fuhr der Detective an den Straßenrand und hielt an. »Vielleicht«, sagte er. »Aber dann muss es schon ein ziemlich gewaltiger Zufall sein.«

Das können Sie laut sagen, dachte Carter, behielt es jedoch für sich. »Danke fürs Mitnehmen«, sagte er und versuchte, nicht den Eindruck zu erwecken, als könne er es gar nicht abwarten, aus dem Auto zu kommen.

Der Detective wartete, bis Carter die Straße vor ihm überquert hatte, und fuhr davon.

Zum ersten Mal, seit er zu Finley in den Wagen gestiegen war, holte Carter tief Luft. Er hatte das ungute Gefühl, dass er ihn wiedersehen würde.

Als er Dr. Permuts Labor betrat, war Ezra bereits dort. Pünktlichkeit war nicht Ezras Problem. Seinen Fakultätskollegen allerdings hätte Carter fast nicht wiedererkannt. Letztes Mal, als er hier gewesen war, um das Bruchstück von Ezras Schriftrolle zur Analyse vorbeizubringen, war Permut wie aus dem Ei gepellt gewesen, kein Härchen war verrutscht, sein weißer Laborkittel fleckenlos und von oben bis unten zugeknöpft.

Aber jetzt sah er aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Das Haar war ungekämmt, der Laborkittel zerknittert und schmuddelig, und selbst hinter der Brille konnte Carter die dunklen Ringe unter den Augen erkennen.

»Ich bin froh, dass Sie es heute geschafft haben«, sagte Dr. Permut und schloss demonstrativ die Tür hinter ihnen. »Ich will damit nicht länger warten.«

»Wir auch nicht«, sagte Carter. »Ezra hier, für den Fall, dass er Ihnen das noch nicht erzählt hat, ist der Eigentümer der Schriftrolle, die Sie analysiert haben.«

»Ja, er hat es erwähnt«, sagte Dr. Permut und wandte sich rasch dem Labortisch zu. »Ich werde mit Ihnen die Ergebnisse durchgehen, wie sie mir vorliegen«, sagte er, »und Ihnen steht es frei, daraus zu machen, was Sie wollen.«

Carter und Ezra wechselten einen Blick, dann folgten sie dem sichtlich verstörten Wissenschaftler zum Tisch, auf dem große Datenblätter mit dichten Sequenzen aus Zahlen und Buchstaben ausgebreitet lagen. Obwohl er sie genauso wenig entziffern konnte wie beim ersten Mal, erkannte Carter sie als das, was sie waren. Ezra erging es offensichtlich genauso.

»Das sind DNA-Codierungen«, sagte er. »Das habe ich schon einmal gesehen.«

»Gut«, sagte Dr. Permut, fummelte in seiner Tasche herum und holte eine Rolle Pastillen hervor. »Eine Sache weniger, die ich erklären muss.« Mit einem Finger stieß er auf den rechten Ausdruck und sagte zu Carter: »Das sind die Ergebnisse, die ich Ihnen letztes Mal gezeigt habe, von der Fossilprobe.«

»Okay«, sagte Carter, »ich verlasse mich da ganz auf Sie.«

»Sie sind das, was ich als spekulative DNA bezeichne«, erklärte er Ezra. »Das meiste davon konnten wir zusammensetzen, aber bei ein paar kritischen Verbindungsstellen waren wir auf wohlbegründete Vermutungen angewiesen, um die Lücken zu füllen und zu überbrücken.«

Ezra nickte, während Permut sich eine Pastille in den Mund schob und anschließend die Rolle zurück in die Tasche steckte.

»Der Prozess nennt sich PCR oder Polymerase-Kettenreaktion.«

»Und das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass wir die Probe zu einem Pulver zermahlen und anschließend Siliziumdioxid hinzufügen, weil das alle DNA-Spuren bindet, die noch übrig sind. Dann sind wir mithilfe der PCR in der Lage, die Fragmente der DNA zu verstärken und über eine Million Kopien von beispielsweise einem einzigen Molekül zu machen.«

»Damit Sie es besser lesen können?«, fragte Carter.

»Damit wir es überhaupt lesen können«, erklärte Permut.

»Aber ich weiß bereits, dass Sie nichts damit anzufangen wissen«, sagte Carter. »Das sind wir beim letzten Mal schon durchgegangen.«

»Das war, bevor Sie mir die Probe von der Schriftrolle gebracht haben. Sehen Sie sich das an«, sagte Permut und tippte mit dem Finger auf das linke Datenblatt. »Sehen Sie, wie ähnlich sich die Sequenzen sind?«

Carter sah sich die Papierausdrucke an, ebenso wie Ezra, und ja, er konnte vage erkennen, wie sehr manche Muster und Abfolgen von Zahlen und Buchstaben sich ähnelten. Aber wie kam das? Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? Als er aufblickte, stellte er fest, dass Permut seine Gedanken erraten hatte.

»Seltsam, nicht wahr?«, sagte er mit einem leicht schiefen Lächeln. »Ein Stückchen Knochen und ein Fitzelchen Pergament, die so wunderbar zusammenpassen?«

»Ja, das ist seltsam«, stimmte Carter zu.

»Wenn Sie diese beiden genauer vergleichen – und glauben Sie mir, das habe ich getan –, werden Sie sogar feststellen, dass die DNA, die wir aus dem Pergament isolieren konnten, perfekt die Lücken im Genom des Fossils füllt.«

Permut wippte auf den Fersen und ließ seine Worte wirken. Das einzige Geräusch im Raum war das Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleumfußboden.

»Sie sagen also«, wagte Ezra sich schließlich vor, »dass diese beiden Proben von derselben … Quelle stammen?«

Permut schürzte die Lippen und legte den Kopf zur Seite. Auf Carter wirkte er leicht verstört.

»Noch besser«, sagte Permut. »Ich werde Ihnen etwas zeigen, bei dem Sie Augen machen werden.«

Er machte einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf ein glänzendes weißes Trinokular-Mikroskop auf dem Labortisch hinter ihm. Carter erkannte es als Meiji ML 2700, ein Modell, für das er hätte töten können, um es in seinem eigenen Labor zu haben. »Werfen Sie einen Blick hier hinein«, sagte Permut. »Der Objektträger liegt bereits.«

Ezra, der näher stand, ging als Erster hin. Als er sich über das Okular beugte, sagte Permut: »Sie sehen eine Probe des Pergaments.«

Ezra blieb ein paar Sekunden lang reglos stehen, dann richtete er sich auf.

»Carter, Sie sind dran«, sagte Permut.

Ezra trat beiseite, mit einem merkwürdigen Ausdruck auf seinem Gesicht – als hätte er das Gefühl, sich irgendwie rechtfertigen zu müssen.

Carter senkte den Kopf, und nachdem er den eingebauten Kohler-Beleuchter justiert hatte, sah er etwas, das zuerst wie eine dieser Vergrößerungen der Marsoberfläche wirkte. Eine unebene gelbe Fläche voll Gruben und Kratern, hier und da durch enge verbogene Kanäle halbiert. Aber diese Kanäle waren nicht leer und trocken. Sie waren mit einer leicht violett-roten Flüssigkeit gefüllt, die durch sie hindurchströmte, rhythmisch pulsierend wie Blut.

»Was haben Sie der Probe beigefügt?«, fragte Carter ohne aufzublicken. »Einen Farbstoff oder so etwas?«

»Nein. Was Sie da sehen ist das, was wir fälschlicherweise für Tinte gehalten haben«, sagte Permut. »Tatsächlich ist es aber Blut.«

Carter richtete sich auf und trat vom Mikroskop zurück. »Aber was bringt es dazu, sich zu bewegen? Es fließt doch eindeutig!«

Aufgeregt kratzte Dr. Permut sich am Kopf. »Warum schon? Das Gewebe lebt.«

Ezra schloss die Augen, als wünschte er, er könnte die Neuigkeit ganz im Stillen verdauen.

Permut lutschte an seiner Pastille, als gäbe es kein Morgen.

Als Ezra die Augen wieder aufschlug, sah er Carter direkt an. »Sieht so aus, als hätte ich die Haut und du die Knochen.« Er wandte sich an Permut. »Würden Sie mir zustimmen, dass das zwei Enden ein und desselben Stocks sind?«

Permut nickte entschieden.

Carter bemühte sich, alles in den Kopf zu bekommen und irgendeinen Sinn in dem zu erkennen, was er soeben erfahren hatte.

Als ob Ezra das ahnte, rezitierte er laut: »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, als Eure Schulweisheit sich erträumen lässt.«

Dr. Permut trat zum Mikroskop und entfernte den Objektträger. Er schob ihn in einen transparenten Umschlag, nahm einen weiteren, identischen Umschlag vom Labortisch und stopfte beide in die Tasche von Carters Lederjacke. »Ich will diese Proben nicht länger in meinem Labor haben«, sagte er und machte einen Schritt zurück, als hätte Carter eine Erkältung, die er sich nicht einfangen wollte. »Sie können sie mitnehmen, wenn Sie gehen.«

»Klar, natürlich«, sagte Carter. Er hatte Permut, oder irgendeinen anderen Wissenschaftler, den er je getroffen hatte, noch nie so kopflos erlebt. »Und danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben.« Er warf Ezra einen raschen Blick zu. Dieser sah aus, als verstünde er genau, warum Permut so reagierte.

»Was sind wir Ihnen schuldig?«, sagte Ezra, holte einen Blankoscheck hervor und zückte einen Stift. »Die Laboruntersuchungen allein müssen …«

»Nichts«, sagte Permut.

Ezras Stift verharrte mitten in der Luft über dem Scheck, den er auf dem Tisch neben das Mikroskop gelegt hatte. »Nichts? Ich weiß aus Erfahrung, dass DNA-Tests …«

»Ich will nichts mehr damit zu tun haben«, sagte Permut.

»Aber das muss Sie ein paar tausend Dollar gekostet haben«, warf Carter ein.

»Das ist mein Problem. Ich werde die Kosten auf ein paar andere Projekte verteilen. Lassen Sie das meine Sorge sein.« Ungeduldig tappte er mit dem Fuß auf den Linoleumboden. »Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muss mich auch noch um andere Aufgaben kümmern.«

Carter zuckte die Achseln und nickte Ezra zu. »Ich glaube, hier sind wir fertig.« Als er das Labor zusammen mit Ezra verließ, hörte er, wie die Tür hinter ihnen geschlossen und abgesperrt wurde, sobald sie auf dem Flur standen.

Draußen piepste Ezra seinen Fahrer an. »Ich fahre nach Uptown, um meine Stiefmutter im Krankenhaus zu besuchen. Kann ich dich irgendwohin mitnehmen?«

»Nein, es geht schon«, sagte Carter. »Ich muss eine Weile spazieren gehen und meinen Kopf wieder klar bekommen.«

Die Lincolnlimousine mit Onkel Maury hinterm Steuer bog um die Ecke und parkte in zweiter Reihe auf der belebten Straße.

»Dazu braucht es mehr als einen Spaziergang«, sagte Ezra und hielt ihm die Hand entgegen, die Handfläche nach oben. Im ersten Moment wusste Carter nicht, was er wollte. »Die Probe der Schriftrolle«, sagte Ezra.

Carter durchsuchte seine Taschen, fand die Umschläge und reichte Ezra, worum dieser gebeten hatte.

»Danke«, sagte Ezra und öffnete die hintere Tür des Wagens. »Wir müssen uns morgen zusammensetzen und unsere Aufzeichnungen vergleichen.«

Carter nickte nur, als der Wagen anfuhr. Und obwohl er sich fühlte, als hätte er an Ort und Stelle Wurzeln geschlagen, raste sein Verstand mit einer Meile pro Sekunde dahin. Nichts von all dem ergab einen Sinn, und es war lächerlich, so zu tun als ob. Das Fossil, das Pergament – die Knochen, die Haut – waren Teil einer ausgeklügelten List, irgendeiner bizarren Intrige, eines Scherzes. Es musste so sein. Wenn Bill Mitchell nicht tot wäre, wäre er der Erste, den Carter in Verdacht hätte, hinter allem zu stecken. Aber Mitchell war tot, und dieser Teil war beileibe kein Scherz. Der Einsatz war bereits viel zu hoch. Joe war fast bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Es konnte kein Spiel sein und auch keine Intrige.

Irgendetwas musste da vor sich gehen. Ein schreckliches Drama offenbarte sich, und Carter befürchtete, dass er, ob er wollte oder nicht, dazu bestimmt war, eine Hauptrolle darin zu spielen.


32. Kapitel

Ezras Mut hatte neuen Auftrieb erhalten. Endlich waren seine Befürchtungen durch Beweise untermauert worden. Für einen Mann, der wusste, dass der Wahnsinn stets um die Ecke lauerte, war es seltsam tröstlich, herauszufinden, dass selbst die unmöglichsten Gedanken, die er erwogen hatte, vielleicht doch möglich waren.

Er war nicht verrückt. Allerdings schien das Universum es irritierenderweise zu sein.

Er schaute aus dem hinteren Wagenfenster und grübelte über das nach, was er gerade in Permuts Labor erfahren hatte. Die Schriftrolle bestand aus dem lebendigen Gewebe eines Lebewesens unbestimmter Herkunft. Beim Fragment des Fossils handelte es sich um Knochen derselben unidentifizierten Quelle.

Aber war diese Kreatur das, wofür er sie hielt? Und wer – oder was – hätte sie bei lebendigem Leib häuten können?

»Kimberly geht’s immer noch mies«, sagte Maury auf dem Vordersitz und unterbrach seine Gedanken. »Und sie finden auf Teufel komm raus nicht heraus, was sie eigentlich hat.«

Das überraschte Ezra nicht. Wenn seine Vermutung stimmte, dass es etwas mit ihrem Last-Minute-Partygast zu tun hatte, dann würden sie nie darauf kommen.

»Dein Dad ist gerade bei ihr.«

Davon war Ezra ausgegangen, und das war der Grund, warum er ihr jetzt einen Besuch abstatten wollte. Es war eine Gelegenheit, sich mit ihm zu versöhnen. Außerdem gehörte es sich einfach, ermahnte er sich, unter diesen Umständen.

Das Krankenhaus war ohnehin schon exklusiv, doch der Flügel mit Kimberlys Suite lag noch einmal besonders abgeschieden. Hier waren die Flure mit teurem Teppichboden belegt, die Wände mit farbenfrohen Drucken dekoriert, und die Türen bestanden aus poliertem Mahagoni. Für Ezra sah es eher nach einem kleinen europäischen Hotel aus als nach einem Krankenhaus, was zweifelsohne auch beabsichtigt war. Sein Vater saß im Vorraum, als Ezra eintraf, und schaltete gerade sein Handy aus.

»Ich habe Maury gesagt, dass er nicht auf uns zu warten braucht«, sagte er zu Ezra, »aber natürlich musste er wieder mit mir streiten.« Er warf das Telefon auf das Sofapolster.

»Wie geht es Kimberly?«

»Vor einer halben Stunde hatte sie einen hysterischen Anfall, hat sich alle Schläuche herausgerissen und angefangen zu delirieren.«

»Worüber?«

»Worüber?« Verwirrt blickte sein Vater ihn an. »Sie redete wirr, nichts davon ergab einen Sinn.«

»Erzähl es mir trotzdem.«

»Über Vögel und Feuer. Sie wurde von Vögeln angegriffen, deren Flügel aus Feuer bestanden. Zufrieden?«

Ezra merkte sich die Information, um sie am nächsten Tag an Carter und Russo weiterzugeben. Wer wusste schon, ob irgendein Hinweis sich als wichtig erweisen würde?

Eine Krankenschwester in weißer Uniform mit marineblauen Paspeln, die eher nautisch als medizinisch wirken sollte, kam aus dem Patientenzimmer. Sie trug ein Tablett mit einer Spritze und anderem Krimskrams. »Sie ist jetzt stark sediert und wird bis zur Operation morgen früh durchschlafen.« Sie lächelte Sam und Ezra zu und verschwand.

»Was für eine Operation?«, fragte Ezra seinen Vater. »Haben sie herausgefunden, was ihr fehlt?«

»Nicht ganz.« Sein Vater hatte sein Anzugjackett auf das Sofa gelegt, und ließ sich jetzt, nur in Hemdsärmeln, hineinsinken. Auf der Brusttasche war natürlich sein Monogramm eingestickt, und die Manschettenknöpfe glitzerten. »Eine Blutvergiftung. Organversagen. Das Einzige, was wir mit Sicherheit wissen, ist, dass sie schwanger ist.«

Ezra war nicht völlig überrascht, und sein Vater bemerkte es. »Du wusstest es?«, fragte er.

»Ich wusste, dass sie meine Zimmer als Kinderzimmer einrichten wollte.«

»Dazu wäre es nie gekommen.«

Einen Moment lang schöpfte Ezra Mut. War es am Ende doch möglich, dass sein Vater nie vorgehabt hatte, ihn durch ein neueres und jüngeres Modell zu ersetzen? Doch dann begriff er, was es wirklich bedeutete.

»Ich habe mich schon vor Jahren sterilisieren lassen«, räumte sein Vater ein. »Als du noch ein Teenager warst.«

Schweigen breitete sich aus. Sam begriff, wie es auf Ezra wirken musste, aber es war zu spät, um die Worte zurückzunehmen. Ezra musste mit dem Schlag fertig werden. »Am Anfang habe ich ihr nichts gesagt«, erklärte sein Vater, »warum auch? Und später, als ich feststellte, was sie sich wünschte, sollte sie nicht erfahren, dass ich es ihr nicht geben kann.«

Es dürfte so ziemlich das Einzige sein, das er ihr nicht geben konnte, dachte Ezra.

»Ich wollte sie nicht verlieren«, sagte Sam, und in diesem Moment begriff Ezra zum ersten Mal, dass sein Vater Kimberly tatsächlich und aufrichtig liebte. Er war nicht einfach nur ein alter Mann, der in ein hinreißendes junges Ding vernarrt war, wie Ezra und wahrscheinlich der Rest der Welt gedacht hatten. Die Tatsache, dass sie jetzt schwanger war, musste ein schwerer Schlag für ihn sein.

»Es ist mir völlig egal, wer … dafür verantwortlich ist«, sagte Sam, als er Ezras Gedanken erriet. »Jetzt spielt es ohnehin keine Rolle mehr.«

Ezra dachte an die blauen Flecken, die er auf ihrem Körper gesehen hatte, und war froh, jetzt mit Bestimmtheit zu wissen, dass sein Vater nichts damit zu tun hatte.

»Die ganze Sache ist völlig aus dem Ruder gelaufen«, fuhr Sam fort. »Die einzige Möglichkeit, ihr Leben zu retten, ist eine Abtreibung gleich morgen früh. Danach, so sagte man mir, wird sie nie wieder Kinder bekommen können.«

»Nach diesem brauche ich auch keine mehr«, sagte Kimberly, die schwankend in der Tür zu ihrem Zimmer aufgetaucht war. Sie trug ein langes blassrosa Nachthemd, und die Infusionsschläuche, die am Rollständer befestigt waren, steckten immer noch in ihrem Arm.

Doch was Ezra am meisten schockierte, war ihr Bauch. Selbst unter dem Nachthemd konnte er die Schwellung ihres Unterbauchs erkennen. Noch einen Tag zuvor war nichts zu sehen gewesen, und jetzt sah sie aus, als könnte sie jeden Moment ein Kind gebären. Wann war das geschehen? Wie konnte das geschehen?

»Warum bist du nicht im Bett?«, fragte Sam und stand vom Sofa auf. Falls er ebenso schockiert war wie Ezra, so merkte sein Sohn nichts davon. Aber wie hatte sie es bei den ganzen Beruhigungsmitteln, die sie bekommen hatte, überhaupt geschafft, aufzustehen?

»Ich muss zu ihm«, sagte sie und schob eine feuchte Haarsträhne zurück, die in ihrem Gesicht klebte. »Er ist der Einzige, der dafür sorgen kann, dass es aufhört.«

»Dass was aufhört?«, fragte Sam und ging zu ihr. »Ezra, ruf die Krankenschwester.«

»Das Feuer.«

»Hier ist kein Feuer«, sagte Sam und ergriff behutsam ihren Arm. Doch noch während Ezra zusah, zog sein Vater die Finger zurück und schüttelte sie in der Luft, als hätte er sich verbrannt.

Kimberly lachte irre. »Ich habe es dir gesagt.«

Ezra wollte zur Tür gehen, um eine Schwester zu rufen, aber er blieb wie gelähmt stehen. Kimberlys Blick flackerte auf, als sei in ihrem Inneren ein Feuer entfacht worden, das langsam zu einer lodernden Flamme anwuchs.

»Was zum Teufel …« Sams Worte verloren sich, während er zurückwich und auf die Flurtür zuschwankte.

Stöhnend krümmte Kimberly sich zusammen und umklammerte ihren Bauch. »Mach, dass es aufhört«, murmelte sie durch zusammengebissene Zähne.

Ezra packte sie, ehe sie vornüberkippte, und ihre Blicke trafen sich. Es war, als blickte er in den Krater eines Vulkans, kurz vor dem Ausbruch.

»Schwester! Doktor! Wir haben einen Notfall!« Sein Vater war draußen im Flur und schrie sich die Lunge aus dem Leib.

»Bring es um«, sagte Kimberly. Ihr Atem war so heiß, dass Ezra spürte, wie er sein Gesicht verbrannte, dann brach sie zusammen. Der Ständer mit den Infusionsschläuchen krachte zu Boden. Ezra drehte sie um. Ihre Haut war heiß wie ein Bügeleisen. Als er in ihre Augen sah, könnte er schwören, dass dort noch jemand war, Etwas, das ihn aus Kimberlys glühend gelben Augen heraus ansah.

»Platz da!«, sagte der Arzt und schob Ezra zur Seite. Der Notfallwagen rollte ratternd ins Zimmer.

»Zum Teufel«, rief der Arzt aus und blies sich auf die verbrannten Fingerspitzen.

»Töte es«, wimmerte Kimberly zwischen zwei heißen keuchenden Atemzügen. »Ich halte es nicht länger aus.«

»Eis! Wir müssen sie in ein Eisbad legen!«

Die Krankenschwestern wuselten hektisch durcheinander.

Schockiert hockte Ezra sich neben sie auf den Boden, sein Gewicht ruhte auf den Händen, als sie plötzlich in Zuckungen ausbrach. Sie presste die Hände auf ihren Leib und grub die Finger in die eigene Haut, als versuchte sie, sich das Baby selbst herauszureißen. Sie hob die Knie bis zur Brust hoch, und ein Blutstrom ergoss sich unvermittelt über den Boden.

Dem Arzt wurde eine Spritze gereicht, doch seine Hände zitterten so heftig, dass er sie nicht entgegennehmen konnte. »Ich … kann es nicht tun!«

Eine Schwester schnappte sich die Spritze und versuchte es selbst. Dieses Mal verschwand die Nadel im Arm, brach jedoch ab, als Kimberly sich unter Schmerzen wand.

»Wir brauchen einen Druckverband – sofort!«, schrie die Schwester.

Kimberlys Bauch schien anzuschwellen, wie ein Luftballon, den man plötzlich noch einmal kräftig aufgepumpt hatte. »Bringt mich um!«, schrie sie im Todeskampf, »tötet mich

Sie warf den Kopf zurück, und sie stieß einen Schrei voller Angst und Verzweiflung aus, einen Schrei, der Ezra durch Mark und Bein ging … und in den jemand einzufallen schien. Er könnte schwören, dass er noch eine Stimme gehört hatte, ein gedämpftes Wehklagen in ihrer Gebärmutter.

Selbst der Arzt und die Schwester hielten schockiert inne. Sie hatten es ebenfalls vernommen.

Und dann lag Kimberly vollkommen still, ihr Körper auf dem mit Blut bedeckten Boden erschlaffte, die Augen schlossen sich und der Mund klappte auf. Die Spitzen ihrer Haare knisterten wie Draht unter Spannung, um schließlich ebenfalls Ruhe zu geben.

»Völliges Organversagen«, sagte der Arzt benommen und mit monotoner Stimme.

Ezra wusste, dass sie es nicht schaffen würden, sie zurückzuholen, egal, wie sehr sie sich abmühten.

Nach dem, was sie durchgemacht hatte, hatte er den Verdacht, dass sie es ohnehin vorziehen würde, tot zu bleiben.


33. Kapitel

Für Russo gab es am Tag nicht viel, worauf er sich freuen konnte. Da waren die kurzen Morphinschübe, die er sich selbst verabreichen konnte, indem er den schwarzen Knopf drückte, der neben seiner verbrannten Hand auf dem Bett lag, genau neben dem roten Rufknopf. Da waren die Träume, in denen er sich verlieren konnte, davon, wie er in dem Vorort von Rom aufgewachsen war und mit den Freunden seiner Kindheit die uralten Ruinen erforscht hatte. Und da war die zärtliche Fürsorge einer hübschen jungen Schwester namens Monica.

Heute hatte sie ihm während des Verbandswechsels alles über die Verabredung vom vorigen Abend erzählt. Als sie die antiseptische Salbe aufgetragen hatte, hatte sie ihn mit den neuesten Schlagzeilen versorgt. Er sah ihr gerne in die Augen. Sie waren dunkel und strahlten, und sie zeigten kein Entsetzen bei seinem Anblick. Vielleicht, weil sie schon so viele Brandopfer gesehen hatte. »Dr. Baptiste hat mir gesagt, dass es bei Ihnen nächste Woche mit den Hauttransplantationen losgeht«, erzählte sie ihm jetzt.

»Ach ja?«, murmelte Russo durch seine immer noch schwarzen Lippen.

»Das ist gut«, sagte Monica und hob behutsam seinen linken Unterarm an, um frische Salbe aufzutupfen.

Der Schmerz war immer noch ungeheuer, und Russo drückte den schwarzen Knopf für eine weitere Dosis Morphin.

Monica bemerkte es und sagte: »Tut mir leid, ich weiß, dass es wahnsinnig wehtun muss.«

Russo hätte ihr gerne widersprochen, aber er konnte nicht. Vorsichtig legte Monica seinen Arm wieder zurück. »Das war’s für heute.«

Er hätte sich gefreut, wenn sie noch bleiben könnte. Wenn sie einfach nur ein wenig neben seinem Bett sitzen und ihm von ihrem Tag erzählen würde, von ihren Freunden, von was immer sie wollte. Aber er wusste, dass sie noch andere Patienten hatte, um die sie sich kümmern musste.

Das Morphin würde ihn ohnehin schon bald in seine Träume entführen. Wenn er Glück hatte, würden es gute Träume sein. Wenn nicht, würden es Albträume sein, von knisternden Flammen, von Stürzen aus großen Höhen in bodenlose Tiefen. Leider gab es keine Möglichkeit, vorher zu wissen, was für ein Traum es sein würde.

»Sie möchten, dass ich Sie damit zudecke, richtig?«, fragte Monica und hielt eine Ecke des Plastik-Sauerstoffzelts in der Hand.

»Da ich Sie ohnehin nicht mehr ansehen kann«, wisperte Russo, »ja.«

Monica lachte. »Durch das Plastik sehe ich besser aus«, sagte sie und senkte die Folien, bis sie beinahe seine Schultern und Brust berührten. Sie behinderten zwar seinen Blick, aber er wusste, dass ihm nicht viel entging. Wie lange konnte man die Rückseite einer Tür und die billige Reproduktion eines van Goghs anstarren? Die kühle frische Luft erleichterte ihm das Atmen, und das leise Surren des Sauerstofftanks wirkte beruhigend, wie das Heranrollen der Wellen am Meeresstrand.

Er war sich nicht sicher, wie viel Zeit verstrichen war, als er hörte, wie die Tür zu seinem Zimmer geöffnet und wieder geschlossen wurde. Waren es fünf Minuten? Eine halbe Stunde? Durch die dicke Folie sah er eine Gestalt vor dem van Gogh stehen. Es war nicht Monica, so viel war sicher, und es war auch nicht Dr. Baptiste. Die Gestalt war hochgewachsen und ganz in Schwarz gekleidet.

Ihm stockte der Atem.

Es war ein Mann, sehr blass, mit blonden, nein leuchtend goldenen Haaren.

Ich bin gekommen, um dir zu danken, hörte Russo, wobei er nicht sicher war, ob der Mann tatsächlich gesprochen hatte oder ob die Worte einfach nur irgendwie in seinen Kopf gelangt waren.

Russo streckte die Finger auf dem kühlen Bettlaken aus und suchte nach dem roten Knopf, mit dem er die Schwester rufen konnte. Aber er war nicht dort. Monica musste ihn verlegt haben, als sie seine Verbände gewechselt hatte.

Ich wünschte, ich könnte es dir vergelten.

Du könntest mir die Schmerzen nehmen, dachte Russo und fragte sich, ob seine Gedanken wohl ebenfalls den Empfänger erreichten. Zugleich überlegte er, ob das alles womöglich nur ein ungewöhnlich lebhafter Morphintraum war.

Die Gestalt kam näher, und durch das Plastik des Sauerstoffzelts erkannte Russo, dass sie eine kleine bernsteinfarbene Sonnenbrille trug. Das lange Haar war gleich goldenen Flügeln aus der Stirn gestrichen. Die Gestalt zog einen Stuhl neben das Bett und setzte sich.

Russos Herz erfüllte sich mit Grauen. Das musste Arius sein, der gefallene Engel, wie Ezra ihn beschrieben hatte. Die Gestalt aus Licht, die in jener entsetzlichen Nacht dem Felsblock entstiegen war.

Du weißt, wer ich bin.

Erneut tasteten Russos Finger blindlings nach dem Rufknopf, doch stattdessen erwischten sie den Morphinknopf. Er gab sich selbst eine weitere Dosis. Wenn das ein Traum war, brauchte er vielleicht nur noch tiefer einzutauchen, um ihm zu entkommen.

Aber bin ich der Einzige?

»Ich hoffe es«, sagte Russo. Unter dem Sauerstoff klangen die Worte gedämpft.

Arius stutzte, als überlegte er, wie er das zu verstehen hatte. Dann hallten die Worte Erinnerst du dich, was ich dir einmal sagte? in Russos Kopf wider.

Arius streckte den Arm aus und berührte Russos Hand, mit der er nach dem Rufknopf suchte. Mit etwas, das sich anfühlte wie eine Kralle, kratzte er einen Streifen der verbliebenen schmerzempfindlichen Haut ab. Russo stöhnte, aber auch dieses Geräusch wurde von dem Plastik und dem ständigen Murmeln des Sauerstofftanks gedämpft.

Leiden ist ein Geschenk Gottes.

Russo streckte die Hand, die nur noch aus Schmerz zu bestehen schien, zum Nachttisch neben dem Bett aus. Arius verfolgte seine Anstrengungen, und als Russo Mühe hatte, die Schublade zu öffnen, übernahm er es zuvorkommend für ihn.

Mit bebenden Fingern tastete Russo das Innere ab und umklammerte schließlich das hölzerne Kruzifix, das er darin verwahrte. Er zog es heraus und streckte es Arius entgegen. Sein verbrannter Arm zitterte.

»Weißt du … was das ist?«, stieß Russo hervor. »Jesus Christus … unser Retter.«

Gelangweilt griff Arius danach und nahm ihm das Kreuz fort. Dann lass dich von ihm retten. Er wollte es gerade wegwerfen, doch dann, als hätte er es sich anders überlegt, schob er es stattdessen in die Tasche seines Mantels.

Unter dem Plastikzelt sank Russo zurück in sein Kissen. Er konnte an nichts anderes denken und nichts anderes tun, als zu hoffen, dass jemand, irgendjemand, plötzlich ins Zimmer käme.

»Wie viele von euch«, fragte Arius, »wissen von mir?«

Dieses Mal hatte Russo ihn eindeutig sprechen hören. Die Worte waren in der Luft, nicht in seinem Kopf. Und so entsetzt, wie er war, empfand er die Stimme, die Stimme dieses gefallenen Engels, als klangvoll, beinahe tröstend.

»Nicht viele.«

Arius nickte nachdenklich.

Russo wagte zu fragen: »Aber warum … bist du hier?« War es alles nur ein Versehen, vielleicht das entsetzlichste Missgeschick, das der Menschheit je zugestoßen war?

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Arius: »Alles geschieht zu einem bestimmten Zweck. Vielleicht war es deine Aufgabe, mich zu befreien.«

Diese Vorstellung war fast zu grauenhaft für Russo, um auch nur darüber nachzusinnen. Der Judas des einundzwanzigsten Jahrhunderts – sollte das seine Bestimmung sein?

»Meine ist es vielleicht, mich zu vermehren.«

Russo musste einen Moment nachdenken, um das Wort zu verstehen. Vermehren? Er musste es falsch verstanden haben. Unter dem Zelt, mit der summenden Sauerstoffpumpe und dem in seinen Ohren rauschenden Blut, war es schwer, sich wirklich sicher zu sein. Außerdem war es immer noch möglich, dass nichts von dem wirklich geschah, oder etwa nicht? Dass das alles nur ein weiterer furchterregender Traum war, schlimmer noch als die Träume vom Feuer und dem Sturz aus dem Himmel.

»Aber wie?«, murmelte Russo. »Du hast keine Freunde auf der Welt.«

Arius schien darüber nachzudenken, dann tat er es mit einem Achselzucken ab. »Dann werde ich sie erschaffen.« Er beugte sich näher. »Nach meinem Bild.«

Russos Gedanken überschlugen sich. Was könnte er damit gemeint haben? Deutete er damit an, wer er glaubte zu sein?

Und mir schwebt bereits eine … Gefährtin vor, sagte die Stimme in seinem Kopf erneut. Es schien, als sei diese Information so vertraulich, dass sie nicht laut ausgesprochen werden durfte.

Der Engel lächelte, doch seine Lippen bewegten sich nicht. Die Zähne strahlten, wie die eines Wolfes, durch das Plastikzelt. Auf einmal wusste Russo, als sei ihr Bild in seinen Kopf telegraphiert worden, dass es Beth war, die er auserwählt hatte.

Seine Gedanken rasten. Was konnte er tun, um ihn aufzuhalten? Wie konnte er Carter und Beth von seinem Krankenhausbett aus warnen? Auf dem Nachttisch stand ein Telefon, und gerade, als er sich fragte, wie oder ob er es überhaupt benutzen konnte, begann es zu klingeln.

Ungerührt blickte Arius erst auf das Telefon, dann zu Russo. Schließlich nahm er den Hörer ab, hob, ohne ein Wort zu sagen, den Saum des Plastikzelts an und hielt den Hörer, bis Russo imstande war, ihn mit bebenden Fingern selbst zu halten. Obwohl das Plastik nur wenige Zentimeter angehoben war, nahm Russo den Duft von frischem Grün wahr, wie in einem regennassen Wald, der über ihn hinwegwehte.

»Joe? Hier ist Carter.«

Das hatte Russo erwartet.

»Wie geht es dir heute?«

»Bones«, sagte Russo mit kaum hörbarer Stimme, »etwas … Wichtiges passiert hier gerade.« Wie viel würde Arius ihn sagen lassen? Und was würde er tun, wenn Russo versuchte, zu viel auszuplaudern?

»Was? Wäscht die süße Schwester, die du so magst, dich gerade mit dem Schwamm?«

»Nein«, hauchte Russo. »Ich habe … einen Besucher.«

»Ist Beth da? Ich weiß, dass sie dich besuchen wollte.«

»Nein, Bones«, sagte Russo so eindringlich, wie er es schaffte, »es ist derjenige, über den wir sprachen.« Er betete, dass Carter seinen Hinweis verstand.

Und offensichtlich tat er das. Die Stille im Telefonhörer war ohrenbetäubend. Russo konnte sich nur vorstellen, was in Carters Kopf vorging. Glaubte er ihm? Dachte er, er würde phantasieren? Oder sei auf einem Morphintrip?

»Mein Gott«, sagte Carter.

Er glaubte ihm.

»Ich komme«, fügte er leise hinzu. »Kannst du ihn aufhalten? Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Arius schob eine Hand unter das Zelt, nahm den Hörer fort und sprach hinein. »Ich muss gehen«, sagte Arius zu Carter.

Russo sah, dass er auflegen wollte, wobei ihm auffiel, dass sein Mittelfinger kürzer zu sein schien als die anderen. Dies war vielleicht die letzte Chance, die er je haben würde, die einzige Gelegenheit, Alarm zu schlagen. »Bones, lass ihn nicht in deine Nähe kommen! Lass ihn nicht in die Nähe von Beth!«

Aber der Hörer lag bereits auf der Gabel.

Wie viel hatte Carter verstanden? Hatte er Russos abgerissenes Krächzen, gedämpft von dem Plastikzelt, überhaupt gehört?

Langsam erhob sich Arius von seinem Stuhl. In dem dunklen Mantel sah er aus wie eine Säule aus schwarzem Rauch, mit einem glühenden Licht an der Spitze.

Russo konnte nicht zulassen, dass er ging, er musste ihn zum Hierbleiben bewegen und, wenn möglich, töten. Aber wie sollte er das anstellen?

Als Arius sich zum Gehen wandte, hob Russo die Beine und schob sie aus dem Bett. Selbst mit all dem Morphin in seinen Adern war der Schmerz unerträglich. Er hatte keine Ahnung, ob seine Beine ihn tragen würden.

Er schob das Plastikzelt beiseite und riss sich die Infusionsschläuche aus den Armen. Jetzt konnte er zum ersten Mal seit jener entsetzlichen Nacht Arius’ Gesicht erkennen. Die perfekten Züge, wie aus makellosem Marmor gemeißelt, die Mähne aus dichtem schimmerndem Haar, die Augen, die ohne zu blinzeln hinter dem bernsteinfarbenen Glas schimmerten.

Russo machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Beine zitterten wie die eines neugeborenen Fohlens, und er streckte die verbrannten Arme aus.

Arius trat zurück, und Russo schwankte auf ihn zu. »Ich werde nicht zulassen … dass du ihnen wehtust«, flüsterte er.

Arius lächelte freundlich und breitete seine Arme aus. Russo stürzte sich auf ihn, doch er stolperte und fand sich schließlich in der Umarmung des Engels wieder.

Und ich werde dich nicht leiden lassen.

Einen Moment lang fühlte Russo sich seltsam getröstet. Leicht wie eine Feder hing sein Körper in den Armen des Engels. Es war, als würde er schwerelos in einer Gartenlaube gewiegt.

Doch dann spürte er noch etwas. Ein Funken schien sich in seinem Inneren zu entzünden, tief in seinen Eingeweiden, und der Schmerz war größer als alles, was er bislang erlebt hatte. Zu dem Geruch des Waldes, dem Duft feuchtglänzender Blätter und regennasser Erde, gesellte sich der beißende Geruch von Rauch, von trockenen Spänen, die Feuer fingen. Entsetzt sah Russo Rauch vor seinem Gesicht aufsteigen … Rauch, der aus seinem eigenen Mund und seiner Nase drang. Rauch, der von einem Feuer herrührte, das seinen Körper spürbar von innen verzehrte.

Arius trat beiseite und ließ ihn fallen. Ein Rauchmelder löste Alarm aus und schrillte immer wieder in dem geschlossenen Raum.

Russo lag auf dem Boden. Seine Haut kräuselte sich vom Feuer, das in seinen Adern brannte, und er beobachtete, wie Arius nach dem Türknauf griff. Die Sprinkleranlage ging los und benetzte seine deformierten Glieder mit lauwarmem Wasser. Seine Haut zischte.

Arius ging hinaus und schloss die Tür. Russo sackte zu einem Haufen zusammen und spürte, wie seine Haut Blasen warf, bis schließlich Flammen darunter hervorbrachen. Er versuchte, ein Gebet zu sprechen, aber ehe er auch nur ein Wort sagen konnte, hatte das Feuer den offenen Sauerstofftank gefunden, der immer noch zischend neben dem Bett stand. Der ganze Raum explodierte in einem grellen Ball aus Hitze und Licht. Für Russo wurde es wohlige und ewige Nacht.


34. Kapitel

Ein paar Sekunden lang saß Carter wie gelähmt auf seinem Stuhl. Der Klang der Stimme hallte noch in seinen Ohren nach. Ich muss gehen. Konnte das die Stimme eines Engels gewesen sein? Sie war weich und tief gewesen, mit einer leicht fremdartigen Betonung, einer jener Kleinigkeiten, an denen man merkte, dass jemand kein Muttersprachler war.

Und was hatte Joe gerufen, kurz bevor die Verbindung unterbrochen wurde? Er solle Arius nicht in seine Nähe gelangen lassen, das hatte er verstanden. Aber danach? Dass er Arius nicht in Beths Nähe lassen sollte? War es das? Und gab es außer den offensichtlichen noch andere Gründe für diese dringende Warnung?

Er schnappte sich seine Lederjacke von der Lehne seines Laborstuhls, zog sie an und rannte zur Tür. Mit einem Fußtritt schloss er die Tür hinter sich und tippte verzweifelt die Nummer des Krankenhauses in sein Handy, während er die Treppe zum Erdgeschoss hinaufstürmte.

»Village Pizza«, sagte eine Stimme vor der Unruhe einer hektischen Küche, und Carter unterbrach die Verbindung. Er blieb auf der Treppe stehen und wählte noch einmal sorgfältiger.

Dieses Mal war es die richtige Nummer, doch als er das Schwesternzimmer auf Joes Station verlangte, wurde er in die Warteschleife gelegt. Hätte er nach dem Sicherheitsoffizier fragen sollen? Sollte er auflegen und neu wählen?

Er stieß die Haupttür auf und hielt auf der Straße Ausschau nach einem Taxi.

Oder sollte er den Detective anrufen und ihm sagen, er solle auf der Stelle ins St. Vincent’s kommen, wenn er den Kerl fassen wollte, der den Transvestiten abgefackelt hatte? Aber welche Warnung sollte er ihm mit auf den Weg geben? Dass er besser eine Bibel mitnähme oder etwas Weihwasser? Würden diese Dinge ihm überhaupt etwas nützen, wenn er sie mitbrächte?

Würden sie irgendjemandem etwas nützen?

Die Telefonistin vom Krankenhaus meldete sich wieder. Sie hörte sich an, als habe sie Mühe, unbeeindruckt zu klingen. »Tut mir leid, aber im Schwesternzimmer kann im Moment niemand Ihren Anruf entgegennehmen. Bitte rufen Sie später noch einmal an.«

Ehe sie auflegen konnte, platzte Carter heraus: »Aber das ist ein Notfall!«

»Sie müssen später noch einmal anrufen«, wiederholte sie, und dieses Mal hörte Carter etwas in ihrer Stimme, etwas, das sie nicht laut aussprach.

Er fürchtete sich vor dem, was es sein könnte.

Ein Taxi bog um die Ecke und hielt an, um eine ältere Frau aussteigen zu lassen. Carter stürzte sich darauf und schnitt zwei Studenten, die mit schweren Reisetaschen zum Bordstein schlurften, den Weg ab.

»Hey, Mann! Wir haben es zuerst gesehen«, rief einer.

»Er gehört zur Fakultät«, hörte Carter den anderen sagen. »Professor Bones.«

»Na und?«, erwiderte der Erste, aber Carter war bereits im Wagen, knallte die Tür zu und sagte dem Fahrer, er solle zum St. Vincent’s fahren. Er wählte die Nummer von Ezras Wohnung, und diese Frau, die ihnen den Lunch serviert hatte, Gertrude oder so ähnlich, meldete sich mit gedämpfter Stimme.

Als er seinen Namen nannte und Ezra verlangte, schien sie unsicher zu sein, was sie tun sollte.

»Es ist äußerst wichtig«, sagte Carter. »Ich muss ihn sprechen. Sofort.«

Zentimeterweise schob sich das Taxi durch den Verkehr im West Village.

Schließlich kam Ezra ans Telefon.

»Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte Carter. »Ich glaube, Joe ist etwas zugestoßen.«

»Was?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Carter und wollte selbst jetzt noch nicht an die furchtbaren Möglichkeiten denken. »Aber es kann sein, dass er Besuch hatte. Von Arius.«

Er hörte, wie Ezra den Atem anhielt.

»Sobald ich dort fertig bin«, sagte Carter, »komme ich zu dir.«

»Hierher?«

»Du wirst mir diese ganze verdammte Schriftrolle zeigen, alles, was du bereits zusammengesetzt hast, und dann werden wir herausfinden, was wir zu tun haben.«

Carter legte auf und stopfte ein paar Dollarnoten in den Metallbehälter in der Zwischenwand aus Plexiglas. »Das sind zwanzig Kröten«, sagte er. »Beeilen Sie sich.«

Der Fahrer griff mit der Hand nach hinten, fischte die Geldnoten aus der Dose und gab Gas. Er jagte das Taxi über drei gelbe und eine rote Ampel, aber als er zum Block kam, in dem das Krankenhaus lag, war der Eingang von drei Feuerwehrwagen und einem halben Dutzend Polizeiwagen mit kreisenden roten Lichtern versperrt. Jetzt wusste Carter, dass er mit dem Schlimmsten zu rechnen hatte.

»Lassen Sie mich auf der anderen Straßenseite raus.«

Das Taxi wendete auf den verstopften Fahrbahnen und hielt vor dem Maschendrahtzaun an, der das abbruchreife Lager für medizinisches Zubehör umgab. Carter stieg aus, spurtete los und schlängelte sich durch das Durcheinander aus Polizeiautos und Feuerwehrwagen. Über die quäkenden Funkgeräte und Walkie-Talkies hinweg schnappte er hier und da ein paar Brocken auf. Er hörte »Das Feuer ist unter Kontrolle« und »Der größte Schaden entstand im sechsten Stock.« Joes Etage. Bis jetzt hatte er nichts über Todesopfer gehört.

Die beiden Seitentüren waren weit geöffnet, aber gedrängt voll mit Notfallpersonal, das rein und raus eilte. Carter benutzte stattdessen die Drehtür, trat ein und schob sie an.

Kaum hatte er das sich drehende Abteil betreten, da hatte er das Gefühl, direkt nach einem Sommerregen in einen dichten Wald gestolpert zu sein. Es war derselbe Geruch, der ihm auch in seiner eigenen Wohnung aufgefallen war, in jener Nacht, als er Beth nahezu nackt im Bett ausgestreckt gefunden hatte und das Fenster zur Feuerleiter geöffnet gewesen war.

Kurz darauf stand er mitten im Tumult in der Krankenhauslobby. Die Duftwolke, die ihn umhüllt hatte, hatte er genauso unvermittelt hinter sich gelassen, wie er hineingeraten war. Feuerwehrmänner und Polizisten setzten eine Art Notfallplan um, und Carter begriff rasch, dass es sich um eine Evakuierung handelte. Eine Gruppe nervöser Besucher wurde aus einem Fahrstuhl und zu den Ausgängen geführt. Ein Polizist rief: »Hey, Sie da!« und meinte Carter damit. »Das Krankenhaus ist geschlossen.«

Carter nickte und machte kehrt, doch anstatt durch die Drehtür wieder hinauszugehen, verschwand er geduckt in einem kurzen Korridor, von dem er wusste, dass er zum Treppenhaus führte. Die Tür stand offen, und über sich hörte Carter die quietschenden Gummistiefel der Feuerwehrmänner. Er erklomm die Treppe, zwei Stufen auf einmal nehmend, und stieß auf dem dritten Absatz auf einen Trupp Feuerwehrleute.

»Ich bin Arzt, ich habe gerade den Anruf bekommen«, sagte er, während er sich zwischen ihnen hindurchdrängte. »Sechster Stock, richtig?«

»Stimmt«, sagte einer von ihnen, doch Carter war bereits am nächsten Treppenabsatz und dann beim übernächsten.

Im sechsten Stock blieb er stehen und beugte sich vor, um wieder zu Atem zu kommen und sich gegen das zu wappnen, was er vorfinden würde. Der Brandgeruch war stärker geworden, je höher er gekommen war, so dass es für ihn außer Frage stand, dass es eine Explosion gegeben hatte.

Wie die Explosion in seinem Labor.

Die Tür stand offen und war festgehakt, und von der anderen Seite hörte Carter einen ungeheuren Krach. Der Boden glänzte vom Wasser, das, schwarz vor Ruß und Asche, immer noch ins Treppenhaus lief und die Stufen hinuntertropfte. Er trat über ein Rinnsal hinweg und in den breiten Korridor des sechsten Stocks.

Hier herrschte ein heilloses Chaos. Feuerwehrmänner und Polizisten halfen dem Pflegepersonal dabei, die verbliebenen Patienten aus dem zerstörten Bereich zu holen. Vorsichtig wurden die Kranken in ihren Betten aus den Zimmern und durch die Trümmer gerollt. Carter umrundete das verlassene Schwesternzimmer und ging in die Richtung von Joes Zimmer. Noch ehe er sein Ziel erreicht hatte, sah er, dass es sich dabei um das Epizentrum der Zerstörung handelte. Die Tür fehlte völlig, ebenso ein Teil der Wand. Das Fenster gegenüber der Tür war herausgedrückt worden, und ein starker Luftzug sorgte dafür, dass permanent eine Aschewolke in der Luft herumwirbelte. Angehörige der Rettungsmannschaft liefen im Zimmer herum, hielten sich jedoch sorgsam von einem geschwärzten Haufen fern, der in der Nähe der Stelle lag, wo einmal die Tür gewesen war. Carter drehte sich der Magen um.

Er spürte eine Hand an seinem Ellenbogen, die ihn zurückzog.

»Sie dürfen dort nicht hinein«, hörte er jemand sagen. Als er sich umdrehte, sah er Dr. Baptiste, das Haar zerzaust, das Gesicht dreckverschmiert. »Sie können nichts mehr für ihn tun.«

Sie zog ihn fort.

»Was ist passiert?«, fragte Carter wie betäubt.

Sie zerrte ihn den Korridor hinunter und durch die Tür in ein evakuiertes Zimmer.

»Niemand weiß es«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kittels über die Augen. Er war grau vor Ruß. »In seinem Zimmer ging ein Rauchmelder los, und ich eilte los, um nach ihm zu sehen. In dem Moment sah ich den anderen Mann den Raum verlassen.«

»Welchen anderen Mann?«, fragte Carter, obwohl er es im Grunde bereits wusste.

»Der große mit dem blonden Haar«, sagte sie, und während sie sprach, schien ihr Blick Carter mit erstaunlicher Intensität zu durchbohren. »Wissen Sie, wen ich meine?«

»Ja.«

»Dann können Sie mir vielleicht etwas erklären«, sagte sie und ergriff erneut seinen Arm. »Er kam aus dem Zimmer, und ich sah, wie er die Tür hinter sich schloss. Ich hielt ihn auf, um ihn zu fragen, warum der Rauchmelder losgegangen sei. Ich ergriff seinen Arm, genau so wie Ihren jetzt«, sagte sie und blickte auf Carters Ellenbogen hinunter, »aber ich weiß nicht, was ich da festhielt.«

Carter wusste nicht, was er sagen sollte. Was sollte er ihr erzählen, das sie glauben könnte?

»Er trug eine dunkle Sonnenbrille«, fuhr sie fort, »so dass ich seine Augen nicht richtig erkennen konnte. Aber jetzt bin ich froh, dass ich sie nicht gesehen habe.«

»Das sollten Sie auch«, erwiderte Carter.

»Dann ist das ganze Zimmer einfach explodiert. Ich wurde durch den halben Flur geschleudert. Alles im Zimmer stand in Flammen«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf, »alles. Und der Mann mit der Sonnenbrille war verschwunden.«

Natürlich war er das, dachte Carter. So würde es immer sein. Er säte Tod und Verderben, und dann verschwand er. Was hatte er davon gehabt, Joe zu töten?

Aber da war eine Sache, die Dr. Baptiste gesagt hatte, die Carter nicht aus dem Kopf ging. Sie hatte gesagt, der Mann habe die Tür hinter sich geschlossen. Vorsichtig nahm Carter ihre Hand von seinem Arm und sagte: »Ich muss etwas erledigen.«

»Ich sagte Ihnen bereits«, wiederholte sie, »dass Sie nichts mehr tun können. Er ist tot. Ihr Freund ist tot.«

»Das weiß ich«, sagte Carter. »Haben Sie OP-Handschuhe dabei?«

»Was?«

»Einen OP-Handschuh – haben Sie einen dabei?«

Sie wühlte in der Tasche ihres schmutzigen Kittels und zog ein Paar Gummihandschuhe heraus. Rasch zog Carter sie über und ließ die Ärztin verwirrt im leeren Zimmer stehen.

Er ging den Korridor entlang und zum Schwesternzimmer zurück. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getäuscht, an der Wand dort vorne lehnte eine Tür, eine Krankenhaustür. Die Oberfläche war schwarz und zersplittert, aber die Zimmernummer war immer noch heil, ebenso wie der metallene Türgriff. Es war die Tür zu Joes Zimmer.

Carter stellte einen Fuß gegen das zerbrochene Holz und trat zu. Das Holz zersplitterte vollständig, bis der Türgriff auf der einen Seite sich löste. Er trat auf der anderen Seite gegen das Holz, und auch hier lockerte sich der Türgriff. Dann riss er mit behandschuhten Händen beide Griffe los. Ein vorbeikommender Polizist musterte ihn merkwürdig.

»Sicherung von Fingerabdrücken«, sagte Carter und hielt die Türgriffe vorsichtig an der angesengten Kante fest.

Im Schwesternzimmer fand er einen großen Umschlag mit Patientenakten darin. Er holte die Akten heraus, legte die Griffe hinein und stopfte sie in die Innentasche seiner Jacke. Er warf einen kurzen Blick in Joes Zimmer und stellte fest, dass man eine schwarze Plastikplane neben die sterblichen Überreste gelegt hatte. Zwei Krankenhausmitarbeiter bückten sich, bereit, die Leiche anzuheben. So sehr er es auch hasste, sich der Aufgabe zu stellen, Carter wusste, dass er sich von seinem Freund verabschieden musste.

Er bahnte sich seinen Weg durch die Feuerwehrleute und Polizisten und betrat das, was von Joes Zimmer übriggeblieben war.

»Hey, Sie können hier nicht rein«, sagte einer der Sanitäter, aber der andere, der vielleicht den Ausdruck auf Carters Gesicht bemerkte, sagte: »Wir können Ihnen eine Sekunde geben«, und zog sich taktvoll ein Stück zurück.

Carter stand über den verschmorten, nahezu unidentifizierbaren Überresten, die einst sein Freund gewesen waren. Joe war ein großer Kerl gewesen, so stattlich und voller Leben. Doch alles, was jetzt von ihm übriggeblieben war, war ein Haufen geschwärzter Glieder und nackter Knochen, deren extreme Haltung die Grenze dessen ausdrückte, was ein Mensch ertragen konnte. Bei dem Anblick fühlte Carter sich an die Leichen erinnert, die man in Pompeji und Herculaneum ausgegraben hatte. Joes Gesicht, oder was davon übrig war, lag seitlich zum Boden gedreht, und Carter hatte das Bedürfnis, seinen Freund dort zu berühren und ihm Lebewohl zu sagen. Er kniete nieder und legte die Hand auf die eingesunkene versengte Wange. Mit dem Finger strich er über das ausgetrocknete Gewebe. Es fühlte sich an wie warmer Teer. Leise sagte er: »Auf Wiedersehen, Joe. Es tut mir so leid.«

Und noch ehe er sich dessen recht bewusst war, hörte er sich sagen: »Gott sei mit dir.«

Carter, der sein Leben lang voller Inbrunst an nichts geglaubt hatte, hätte nie gedacht, dass ihm so ein Satz je über die Lippen käme. Aber jetzt, wo er mit diesem Grauen konfrontiert war und kurz davor stand, sich noch Grauenvollerem stellen zu müssen, strömten die Worte so selbstverständlich aus ihm heraus wie Wasser aus einer Quelle … oder Blut aus einer Wunde.


35. Kapitel

Seit Stunden saßen sie bereits über den alten Texten. Immer wieder war Ezra die Bruchstücke der Schriftrolle durchgegangen, hatte den Text erklärt, ihn durch Einzelheiten aus der biblischen Geschichte ergänzt und Beweise zusammengetragen. Im nur schwach erleuchteten und zunehmend stickigen Raum konnte Carter sich nicht mehr länger wach halten und konzentrieren.

»Siehst du,«, sagte Ezra, als er zu einem anderen Fragment der Rolle kam, das in einer Schutzhülle steckte und mit Reißzwecken an die Wand geheftet war, »hier heißt es, dass die Wächter in Hunderten zählen, und dass Gott sie berufen hat, um über die Menschheit zu wachen.« Glucksend schüttelte Ezra den Kopf. »Sieht so aus, als hätten sie ihre Aufgabe zu gut erledigt.«

»Was meinst du damit?«, fragte Carter und nahm einen weiteren Schluck von seinem abgestandenen Kaffee.

»Sie hatten ein Auge auf die Frauen geworfen … und sind dabei auf dumme Gedanken gekommen.«

»Wo wir gerade von dummen Gedanken reden … ist es wirklich nötig, das Fenster geschlossen zu halten? Man kann hier drinnen kaum noch atmen.«

»Ich kann es nicht riskieren, dass die Schriftrolle noch weiter beschädigt wird«, sagte Ezra gereizt. »Ich habe dir gesagt, dass ich nur noch ein paar Stellen übersetzen muss, und dann muss ich das ganze Ding endgültig zusammensetzen.«

»Mach weiter«, gab Carter nach.

»Sie empfanden Lust.«

»Diese Engel konnten Gefühle entwickeln?«

»Ich habe nie behauptet, dass sie es nicht könnten. Ich sagte nur, dass sie keine Seelen besaßen.«

»Wozu sollte ein Engel auch eine Seele brauchen? Haben sie das nicht schon hinter sich?«

»Guter Einwand. Aber wie wir in diesem Abschnitt hier lesen«, sagte Ezra und deutete auf ein weiteres vergilbtes Fragment an der Wand, »fingen sie schließlich an, uns zu beneiden. Sie sahen, welchen besonderen Platz die Menschen, die als Einzige über eine Seele verfügten, in Gottes Augen einnahmen, und deshalb wollten sie ebenfalls eine haben.«

»Und sie konnten nicht einfach darum bitten?«

»Der Abschnitt hier ist zu verblasst, um ihn zu entziffern«, sagte Ezra und zeigte auf ein kleines Stück Pergament, »aber möglicherweise taten sie es, und Gott verweigerte es ihnen. Vielleicht waren sie auch einfach zu stolz, um darum zu bitten. Wir werden es niemals wissen.«

Carter stellte den Kaffeebecher auf dem Boden ab, hob die Arme über den Kopf und streckte sich. Dann warf er einen Blick auf die Uhr. Es war ein Uhr nachts. Inzwischen würde Beth längst in Abbies und Bens Wohnung schlafen. Am Telefon hatte er ihr das Versprechen abgenommen, heute Abend nicht nach Hause zu gehen, und sie hatte ohne zu zögern zugestimmt, was ihn ein wenig überrascht hatte.

»Aber was immer geschehen ist«, fuhr Ezra fort, »die Wächter blieben unzufrieden. Also begannen sie, die Angelegenheit selbst in die Hände zu nehmen. Sie beschlossen, sich mit den Menschenfrauen zu paaren, nach denen sie ohnehin schon immer ein Verlangen verspürt hatten. Dabei kam das heraus, was man vielleicht als perfekte Mischlinge bezeichnen könnte.«

»Engel mit Seelen.«

»Ganz recht. Damit forderten sie jedoch die himmlische Ordnung extrem heraus. Zu diesem Zeitpunkt begann der Krieg im Himmel. Den Rest kennst du – der Erzengel Michael schlug an der Spitze von Gottes Armee die Rebellen nieder und warf sie aus dem Himmel.«

»Was ist mit Luzifer und der Sünde des Stolzes? Diese ganze Geschichte?«

»Das sind spätere Ausschmückungen, alles ausgedacht«, erklärte Ezra mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Aber es gibt noch eine andere Sache, bei der das Alte Testament recht gehabt haben könnte – bei der Sintflut.«

»Vierzig Tage und Nächte?«

»Nein. In dieser Schriftrolle habe ich nichts gefunden, das bestätigen würde, dass es tatsächlich zu einer Überschwemmung gekommen wäre«, erklärte Ezra mit der Überzeugung eines Wissenschaftlers, der Unmengen von Labordaten unter die Lupe genommen hatte. »Keine Arche, kein Noah, nichts davon. Aber irgendetwas war da. Es ist schwer, das wortwörtlich zu übersetzen, aber es geht um eine gewaltige Veränderung, ein einschneidendes Erlebnis, durch das reinen Tisch gemacht wurde. Nach dem Sieg über die rebellischen Engel, nachdem sie in den Eingeweiden der Erde begraben worden waren«, sagte er und deutete auf den unteren Teil eines weiteren Abschnitts der zerfetzten Schriftrolle, »heißt es an dieser Stelle ›und die Ruchlosen und der Mensch wurden, gleich dem Löwen und dem Schakal, Todfeinde. Von diesem Tag an brachte es den Tod, ihr Blut zu vermengen.‹ Ich habe mir bei der Syntax einige Freiheiten erlaubt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der Kern stimmt.«

Carter atmete aus und ließ die Arme zwischen seinen Beinen baumeln. »Aber wie kann irgendetwas davon wahr sein? Ich meine, ist es nicht längst nachgewiesen, nur um irgendwo anzufangen, dass die Erde älter ist als sie nach irgendeiner dieser Geschichten sein dürfte? Dass die Evolution, um ein weiteres Beispiel zu nennen, sich seit vielen Millionen Jahren abspielt? Und dass wir vom Affen, nicht von Engeln abstammen? Haben wir uns nicht von Augustus ab-und Darwin zugewandt? Und was ist mit …«

»Und was ist hiermit?«, unterbrach Ezra ihn und deutete mit einer ausholenden Bewegung auf die mühevoll rekonstruierte Schriftrolle. »Wenn wir den Ergebnissen aus deinem eigenen Labor Glauben schenken, dann ist dies hier lebendes Gewebe, älter als alles, was jemals datiert wurde, und zudem noch unidentifizierbar. Dein Freund Joe, möge er in Frieden ruhen, hat das akzeptiert. Warum kannst du es nicht?«

Weil es, selbst nach allem, was geschehen war, inakzeptabel war. Weil alles, was er je geglaubt, gelernt, erforscht, gewusst hatte, dagegen sprach.

»Du siehst immer noch nicht das große Ganze, Carter«, beharrte Ezra. »Alles, worüber wir sprachen, geschah Äonen bevor sich die Geschichten der Bibel mutmaßlich abgespielt haben. Und ich rede hier nicht von Tausenden von Jahren, sondern von Millionen und Abermillionen. Es war eine Welt, die vor allem existierte, von dem wir je wissen oder uns vorstellen können, vor den Dinosauriern, bevor die Kontinente auseinanderdrifteten, bevor die Sterne geboren wurden und die Planeten ihre Umlaufbahnen erreicht hatten.«

»Und wie sollen wir irgendetwas davon wissen können?«

Ezra zuckte die Achseln. »Göttliche Inspiration? Das kollektive Unterbewusstsein?« Selbst Ezra schien am Ende zu sein und ließ sich auf den Stuhl vor dem Zeichentisch plumpsen. »Durch diese Schriftrolle?«

Immer wieder kamen sie auf die Schriftrolle zurück. Und auf das Fossil. Die DNA-Untersuchungen hatten ergeben, dass beides von einem Wesen stammte, das unmöglich existieren konnte. Und die Datierungstechniken bescheinigten beiden ein genauso unmögliches Alter. Ein Alter, das nur Ezra glaubwürdig finden konnte.

Zudem hatte Carter insgeheim noch einen weiteren unerklärlichen Beweis. Auf dem Weg zu Ezra hatte er den Türgriff von Joes Krankenzimmer beim Polizeirevier abgegeben, mit einer Nachricht für Detective Finley, ihn auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen. Ein paar Stunden später hatte Carter seinen Anrufbeantworter im Büro abgehört.

»Danke für den Türgriff«, hatte der Detective aufs Band gesprochen. »Zu Ihrer Information: es sind dieselben perfekten Abdrücke darauf. Würden Sie mich bitte zurückrufen und mir erklären, wie Sie darangekommen sind?«

Das würde Carter morgen erledigen müssen, obwohl er die Aussicht, vom Detective in die Mangel genommen zu werden, nicht gerade reizvoll fand. Er hatte gewusst, dass die Fingerabdrücke zu denen passen würden, die man am Tatort von Donald Dobkins’ Verbrennung gefunden hatte, und er wusste auch, von wem diese Abdrücke stammten. Aber er wusste auch, dass er sich, sobald er auch nur versuchte, einem Mordermittler der New Yorker Polizei die ganze Sache zu erklären, schneller in einer psychiatrischen Anstalt wiederfinden würde als er gefallener Engel sagen konnte.

»Ich brauche eine Pause«, sagte Ezra. »Ich werde mal nachsehen, was Gertrude noch im Kühlschrank hat. Möchtest du ein Sandwich oder so etwas?«

Carter schüttelte den Kopf, und Ezra verschwand. Obwohl er große Lust hatte, zu den Terrassentüren zu gehen und sie weit aufzureißen, wollte er nicht riskieren, Ezras Zorn auf sich zu ziehen. Von Anfang an schien der Kerl ständig unter Strom zu stehen. Statt die Türen zu öffnen, erhob sich Carter, bog den Rücken durch und hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, um sein Blut wieder in Fluss zu bringen und sich selbst wach zu machen. Er ging hinüber zum Zeichentisch und blickte auf die wenigen verbliebenen Bruchstücke, die noch dort lagen. Ezra hatte keinen Witz gemacht, er stand tatsächlich kurz vor der Beendigung seiner Aufgabe. Der Großteil der Rolle war in Klarsichthüllen an den Zimmerwänden angeordnet, und es sah aus, als wäre das Ding komplett, sobald diese Stücke am Ende angefügt wären. Jetzt, wo Carter sie sich genauer ansah, konnte er sogar erkennen, dass eines der Stücke einfach nur umgedreht werden musste, und der zerfetzte Rand würde genau in ein bereits zusammengefügtes Stück der Rolle passen. Er hatte keine Ahnung, was es besagte, aber er konnte sehen, wie es sich einfügen würde. Gar kein großer Unterschied, dachte er, zum Zusammensetzen von Knochensplittern.

Er hockte sich auf Ezras Arbeitsstuhl, und ohne groß darüber nachzudenken, drehte er das Stückchen Pergament um. Anschließend ertappte er sich dabei, dass er ein anderes aufhob und es ebenfalls in das Muster einfügte. In den Fingerspitzen verspürte er ein merkwürdiges Kribbeln. Er blickte zur Wand auf und konnte genau sehen, wo die Stücke hingehörten. Und obwohl er wusste, dass Ezra ausflippen würde, weil er sich einmischte, war er plötzlich wie besessen von dem Drang, weiterzumachen. Nachdem er stundenlang stillgesessen hatte wie bei einem Vortrag, war es ein Vergnügen, zumindest etwas zu tun und sich nützlich zu fühlen. Es war fast so, als lüde die Schriftrolle ihn ein, an der Arbeit teilzuhaben. War dies derselbe Drang, fragte er sich am Rande, den Bill Mitchell verspürt hatte und der zu der Katastrophe im Labor geführt hatte?

Er nahm das dritte und letzte Fragment der Schriftrolle, legte es zu den anderen beiden und hob dann den oberen Teil der Schutzhülle an, um alles zu fixieren. Sie waren wie die Stücke eines Laubsägenpuzzles, das perfekt zusammenpasste. Die Enden würden sich genau mit dem Teil verzahnen, die Ezra bereits fertig hatte.

Was für eine Überraschung wäre es für Ezra, wenn er zurückkäme und die Schriftrolle komplett vorfand.

Carter stand auf, mit der Schutzhülle in der Hand. Sollte er? Es war, als sei sein Verstand durch eine Wolke verdunkelt. Er wusste, dass es falsch war, er wusste, wie sauer er wäre, wenn jemand sich auf diese Weise in seine Arbeit einmischte. Wieder dachte er flüchtig an Mitchell und das Smilidon-Fossil. Gleichwohl verspürte er den Zwang, weiterzumachen.

Er ging zur Wand, und als ob seine Hand von einer unsichtbaren Macht geführt würde, hob er die Schutzhülle und hielt sie näher an die Wand. Ja, genau hier. Er löste eine der Reißzwecken, die Ezra zu Dutzenden in den Putz gesteckt hatte, und bohrte sie durch eine Ecke der Klarsichthülle. Dann befestige er eine weitere Reißzwecke am andern Ende und trat zurück, um sein Werk zu bewundern.

»Gertrude macht uns ein paar Brownies«, verkündete Ezra, als er die Schlafzimmertür hinter sich schloss und mit einem Tablett in den Händen ins Arbeitszimmer kam.

Carter drehte sich um, ein unsicheres Lächeln auf dem Gesicht, und wartete darauf, dass Ezra sah, was er getan hatte. Plötzlich war er sich nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee gewesen war.

Ezra blieb stehen und suchte die Wand ab. »Was hast du getan?«, fragte er mit heiserer Stimme.

»Ich wollte dir helfen«, sagte Carter.

Ein tiefes Summen setzte ein, wie bei einem Generator, der langsam in Fahrt kam. Als Carter sich umdrehte, sah er, wie die Klarsichthüllen leicht flatterten, als würden sie von einer plötzliche Brise erfasst. Die Ränder des Pergaments, die sich berührten, schienen miteinander zu verschmelzen. Die Fragmente der Schriftrolle in den Hüllen wuchsen zusammen und vereinigten sich, bis die Bruchstellen nicht mehr zu sehen waren. Ein leichtes Glühen erhellte den Raum, ein lavendelblaues Licht, das von der Rolle selbst auszugehen schien.

Die Brise wurde kräftiger und wärmer und wirbelte im Raum im Kreis.

Ezra ließ das Tablett fallen, Becher und Teller zerschellten auf dem Boden, während die Tür zum Schlafzimmer krachend hinter ihm ins Schloss fiel. Er rannte zum Schrank.

Was macht er da?, fragte sich Carter.

Die Schutzhüllen flatterten wie wild, manche von ihnen waren bereits losgerissen und lösten sich von dem Stück der Schriftrolle, das sie enthalten hatten.

Ezra kam zurück und hielt etwas in der Hand, das aussah wie eine Dose mit kühlender Creme. Mit zitternden Händen versuchte er im lavendelblauen Licht den Deckel zu öffnen.

»Ezra, was geht hier vor?«, rief Carter.

Aber Ezra antwortete nicht. Er warf den Deckel fort, tunkte seinen Finger hinein und schmierte Carter den Inhalt, der sich wie warmer Matsch anfühlte, auf die Stirn.

»Was machst du da?«

Dann verrieb er einen weiteren Streifen, der Carter wie roter Lehm vorkam, auf der eigenen Stirn. »Es ist heiliger Boden«, rief Ezra zurück, »von unterhalb des Felsendoms.«

Verständnislos schüttelte Carter den Kopf.

»Von der Stelle, an der die Bundeslade versteckt ist.«

Für Carter ergab es immer noch keinen Sinn. Hatte Ezra nicht gerade eben noch erklärt, der ganze religiöse Hokuspokus sei zwecklos, dass sich das erst lange nach den Ereignissen entwickelt hatte, denen sie hier auf der Spur waren?

»Und das soll uns beschützen?«

Ezra schaute auf die flatternden Schutzhüllen und nickte hastig.

»Wovor?«

Wie zur Antwort vernahm Carter ein Geräusch, das nichts ähnelte, das er je gehört hatte oder hoffte, jemals in seinem ganzen Leben wieder zu hören. Es begann als leises Stöhnen, wie ein Wind, der seufzend durch die uralten Dachvorsprünge eines gewaltigen Hauses strich, aber der Ton wurde rasch schriller und lauter. Instinktiv hielt er sich die Ohren zu, doch das Geräusch grollte unter seinen Füßen und dröhnte in seinem Kopf.

Er rannte zur Tür und versuchte, sie aufzureißen, aber sie rührte sich nicht. Der heiße Wind im Zimmer gewann an Stärke und riss die letzten Schutzhüllen von den Wänden. Die Schrift entrollte sich von allein und bewegte sich wie ein Tornado auf die Mitte des Zimmers zu. In einer unregelmäßigen Spirale wirbelte sie herum. Das lavendelblaue Licht wurde dunkler, ging mehr ins Violette, und der Wind nahm an Geschwindigkeit zu.

Es gab nur noch einen anderen Weg nach draußen. Carter rannte auf die Balkontüren zu.

»Nein!«, schrie Ezra, dessen Entsetzen noch übertroffen wurde von der Angst, seine kostbare Schriftrolle zu verlieren. »Tu es nicht!«

Doch die Türen ließen sich ohnehin nicht öffnen. Carter rüttelte an den Griffen und drückte mit der Schulter gegen den Rahmen.

Ezra packte seinen Arm und versuchte ihn aufzuhalten. »Wir können das nicht tun!«, schrie er.

»Wir müssen!« Carter schüttelte ihn ab und sah sich verzweifelt im Raum um.

Der Lärm in seinem Schädel war mittlerweile ohrenbetäubend. Inzwischen klang es eher wie ein Wehklagen, eine anschwellende Hymne des Leids, ausgestoßen von Tausenden Stimmen in einer Vielzahl von Sprachen. Es war der Klang allen Elends der Welt aus allen Zeiten.

Selbst für Ezra war es zu viel, und er sank auf die Knie. Die Stirn lehmbeschmiert, presste er die Hände auf die Ohren und kniff die Augen fest zusammen.

Carter hatte das Gefühl, sein Kopf würde explodieren, wenn es nicht aufhörte. Die alte Spielzeugkiste, auf die Ezra sein Werkzeug gelegt hatte – damit könnte es funktionieren. Carter fegte die Werkzeuge beiseite und hob die Holzkiste in die Höhe. Wie einen Rammbock hielt er sie vor sich und rannte auf die Terrassentüren zu. Das Glas splitterte und zerbrach, aber die Türen hielten stand.

Carter hörte das Schreien jedes Babys, das je geboren worden war, das Todesröcheln jeder Seele, die ihren Körper verließ, das Heulen jeder lebenden Kreatur, die abgeschlachtet oder verstümmelt wurde.

Er wich zurück und rannte erneut auf die Tür zu. Dieses Mal gab das Holz nach, und die Tür sprang auf. Die Kiste fiel auf den Steinboden der Terrasse, und Carter stolperte darüber und stürzte auf den Rücken.

Über sich sah er den Nachthimmel und die Sterne. Und dann, mit einer Bö, so trocken wie Wüstenwind, schlängelte sich die Schriftrolle gleich einem lebendigen Wesen spiralförmig gen Himmel. Sie schwebte über ihm, eine lange, glühende violette Schlange, ehe ein weiterer Windstoß sie erfasste und über die Brüstung des Balkons davontrug.

Carter kam gerade mühsam auf die Beine, als Ezra durch die zerbrochene Tür stolperte.

Sie beobachteten, wie die Schriftrolle gleich einer Möwe hoch über ihnen von den verschiedenen Windströmungen getragen wurde. Sie schoss herunter und flatterte in der Luft, entfernte sich von ihnen und flog davon, fort über den East River. Langsam verblasste das violette Glühen, verlor sich in den Lichtern der Stadt und wurde von der Nacht verschluckt.

Carter, dem immer noch der Kopf dröhnte, blickte zu Ezra hinüber, der die Balustrade umklammert hielt. Noch immer suchte er nach einem Anzeichen der Schriftrolle. Dabei murmelte er leise etwas vor sich hin.

»Was hast du gesagt?« Carters eigene Stimme kam ihm gedämpft und fremd vor.

Ezra schwieg, dann wiederholte er: »Sie gehörte mir.«

Carter blickte auf die Stadt unter und den Nachthimmel über ihnen. »Ich bin mir nicht sicher, ob du sie jemals besessen hast.« Er nahm einen tiefen Atemzug der frischen Nachtluft. Das Dröhnen in seinem Kopf ließ langsam nach. Von der Kirche auf der anderen Seite des Flusses meinte er, das unablässige Läuten einer Glocke zu vernehmen.


36. Kapitel

Beth kam es vor, als hätte sie den ganzen Tag nichts anderes getan, als Feuerwehr zu spielen. Sie hatte sich bei Mrs Winston für die fehlende Einladung entschuldigt, dem Partyservice geholfen, seine Genehmigungen zu bekommen, hatte einen Platz freigeräumt, an dem die Kellner sich umziehen konnten, und den Pförtner in eine Uniform gequetscht, die zwei Nummern zu klein für ihn war.

Aber endlich war die Weihnachtsfeier der Raleigh Galerie in vollem Gange. Überall im Erdgeschoss standen gewaltige Sträuße mit frischen Blumen, und Kellner in weißen Jacken trugen silberne Tabletts mit Dom Perignon und Beluga-Kaviar herum. Ein Streichquartett des Juilliard-Konservatoriums, das auf dem Zwischengeschoss untergebracht war, spielte Vivaldi. Und wieder einmal war jeder zugegen, der in der Welt der New Yorker Kunstsammler etwas zählte.

Richard Raleigh trug ein weinrotes Dinnerjackett aus Samt mit einer goldenen Schleife am Revers, von der er gerne behauptete, sie sei eine Art Ehrenauszeichnung, die ihm von der französischen Regierung verliehen worden sei. Aber Beth wusste, dass er sie bei einer Wohnungsauflösung in Southampton erworben hatte. Unbekümmert bewegte er sich zwischen seinen zahlreich erschienenen Kunden, sorgte dafür, dass ihre Champagnergläser stets gefüllt waren, dass sie sich amüsierten und vor allem, dass sie die wichtigen neuen Stücke bemerkten, die jetzt die Wände zierten, darunter ein Fragonard und ein Greuze.

Beth tat ihr Bestes, um ein fröhliches Gesicht zu machen, aber es war nicht leicht. Carter war erst in der Morgendämmerung zu Ben und Abbie gekommen, wo sie beide übernachtet hatten. Sie hatten nicht einmal die Gelegenheit gehabt zu reden, bevor sie zur Arbeit musste. Vor allem jedoch bedrückte sie die Nachricht von Joes Tod. Sie versuchte sich einzureden, dass es vielleicht sogar besser sei. Er hatte schwerste Verbrennungen erlitten, und ihm hätte eine qualvolle Behandlung bevorgestanden. Aber es war immer noch so tragisch, so furchtbar, dass sie kaum daran denken konnte.

Und schließlich, als sei das noch nicht genug, fühlte sie sich seit Tagen körperlich nicht wohl. Zu ihrer großen Bestürzung hatte sie heute Morgen im Badezimmer festgestellt, dass sie Blutungen hatte, obwohl ihre Periode noch lange nicht fällig war. Besorgt fragte sie sich, was das zu bedeuten hatte. Im Moment wollte sie nur noch die Füße hochlegen, denn Raleigh hatte, nicht besonders feinfühlig, darauf bestanden, dass sie glänzende schwarze High Heels trug. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte die Party gar nicht schnell genug vorüber sein können.

»Beth, sehen Sie nur, wer hier ist«, hörte sie Raleigh rufen, und schon erblickte sie Bradley Hoyt, der bereits auf sie zukam. Sein Kurzhaarschnitt glänzte im Licht des Kronleuchters. Einerseits war er das Letzte, was sie jetzt brauchte, doch andererseits würde er zumindest sein Bestes tun, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, und sie würde sich nicht unter die Gäste mischen müssen.

»Sie sehen phantastisch aus«, sagte Hoyt, als er ihre Hand ergriff.

»Sie bietet einen Anblick«, meldete Raleigh sich hinter seiner Schulter zu Wort, »der eines Fragonard würdig ist.«

Das war geschickt, dachte Beth.

»Und wagen Sie es nur nicht zu gehen, ohne dass ich Ihnen ein paar unserer neuen Stücke zeigen durfte«, sagte Raleigh, nahm zwei volle Gläser von einem Tablett, das gerade vorbeigetragen wurde, und reichte sie Beth und Hoyt.

Nachdem er verschwunden war, beugte Hoyt sich vor und sagte: »Gibt er denn nie auf?«

»Meines Wissens nach nicht.«

Ein paar Minuten unterhielten sie sich über die fallenden Aktienkurse, den jüngsten Plan, Downtown zu verjüngen und die anderen Gäste um sie herum. Obwohl Hoyt einen Haufen Geld gemacht hatte, wusste er so gut wie nichts über andere New Yorker, die auf ihrem eigenen Geldhaufen saßen, und Beth fand es recht amüsant, für ihn die Fremdenführerin zu spielen. Sie zeigte ihm, wer wer war, wie alt das Geld war und aus welchen krummen Geschäften es ursprünglich stammte. Mit der Zeit hatte Beth die Weisheit in Balzacs Beobachtung erkannt, dass hinter jedem großen Vermögen ein Verbrechen stehe. Hoyt begnügte sich damit, ihr zuzuhören … und sie zu betrachten.

»Die Frau in dem marineblauen Chanelkostüm ist Mrs Reginald Clark. Ihr Geld stammt aus einem Betrug mit Eisenbahnaktien aus der Zeit der Raubritter. Und sehen Sie die Frau, mit der sie gerade redet, mit dem Diamantenhalsband? Alice Longstreet. Börsenmaklerin, gegen die zur Zeit eine Anklage läuft.«

Hoyt lachte. »Ich wette, Sie halten mich ebenfalls für einen Gauner«, sagte er.

Beth nippte an ihrem Champagner, bedauerte es jedoch auf der Stelle. Ihr Magen war bereits rebellisch genug.

»Wollen Sie es nicht wenigstens leugnen?«, neckte er sie.

»Ich bin sicher, dass Sie durch und durch ehrlich sind«, sagte sie und wollte gerade fortfahren, als sie jemanden an der Eingangstür entdeckte, der in diesem Moment gegen Raleighs Assistentin Emma gedrängt wurde. Er war hochgewachsen und blond und trug die kleine runde Sonnenbrille, die er niemals abnahm. Sie blickte quer durch den Raum zu Raleigh, der Arius’ Eintreten ebenfalls bemerkt hatte. Beth wusste, dass er nicht auf der Gästeliste stand, die Galerie hatte ja nicht einmal seine Adresse, aber irgendwie hatte er erfahren, dass heute die Weihnachtsfeier stattfand. Und er hatte ganz richtig geraten, wie er empfangen werden würde.

Während Beth mit wachsendem Grauen zusah, erreichte Raleigh breit lächelnd die Tür, die Hände bereits zur Begrüßung ausgestreckt. Wenn es auch nur den Hauch einer Aussicht auf zukünftige Geschäfte gab …

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Hoyt und versuchte, ihrem Blick zu folgen.

»Mir ist nur gerade etwas eingefallen.«

»Was?«

»Wir haben eine neue Zeichnung hereinbekommen, die Sie sich unbedingt ansehen sollten.«

»Jetzt?«, sagte er. »Das hier ist eine Party. Sind Sie jetzt nicht von Ihren Pflichten entbunden?«

»Sie ist oben, in der Privatgalerie.«

Sie konnte förmlich sehen, wie er die Ohren spitzte, doch sie hatte keine Zeit, um seine Fehlinterpretation zu korrigieren.

Sie schob ihren Arm unter seinen rechten Ellenbogen und führte ihn rasch zum Lift. Das war weniger auffällig, als wenn sie die Treppe nähmen. Sobald sie in der Kabine waren, drückte sie den Knopf. Als sich die Türen langsam schlossen, stellte sie erleichtert fest, dass von Arius nichts zu sehen war.

Oben hatte sie ein anderes Problem. Sie musste eine Zeichnung finden, die Hoyt nicht bereits gesehen hatte. Dann fiel ihr ein, dass er wahrscheinlich Dreiviertel von dem, was ihm bislang gezeigt worden war, ohnehin nicht wiedererkennen würde. Sie zog die oberste Schublade des Schranks auf und holte, ohne auch nur hinzusehen, die erste Zeichnung hervor, die ihr in die Hände fiel.

»Ihre Hand zittert«, sagte Hoyt. »So eine große Sache wird es schon nicht sein.«

»Das sind alles Neuerwerbungen …«

Hoyt legte seine Hand auf ihre und sagte: »Sie bekommen ständig neue Ware. Sind Sie sicher, dass es nur das ist?«

»Nein«, gab sie zu, »das ist es nicht. Es geht tatsächlich um etwas anderes.«

Hoyt verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Endlich gab sie zu, dass er unwiderstehlich war. Das wurde aber auch langsam Zeit.

»Unten ist jemand, von dem ich nicht gesehen werden möchte.«

Seine Gesichtszüge fielen sichtlich zusammen.

»Und darum haben Sie mich hier hochgehetzt?«

Beth nickte. »Ich fürchte, ja.«

Hoyt schien darüber nachzudenken, dann sagte er: »Kein Problem. Ich nehme es, wie es kommt.«

»Ich möchte Sie«, gab sie zu, »sogar um noch einen Gefallen bitten.«

Hoyt wartete, wie immer hoffnungsvoll.

»Ich muss mich aus der Galerie schleichen, aber ich möchte nicht, dass Raleigh mich sieht. Und ich will nicht, dass der andere Mann weiß, dass ich gegangen bin.«

»Mein Wagen steht draußen, wir könnten in Nullkommanichts hier weg sein.«

»Das meinte ich nicht. Worum ich Sie bitte, ist, nur noch ein paar Minuten hier oben zu bleiben und mich zu decken, falls jemand nach mir fragt.«

Das war nicht das, worauf er gehofft hatte. Trotzdem, dachte er, für alles, was er jetzt täte, würde sie in seiner Schuld stehen, was sich möglicherweise später einmal auszahlen würde. Ein Teil seines Erfolgs beruhte darauf, dass er genau wusste, wann man um einen Gefallen bitten und wann man die Schuld einlösen konnte. Zu tun, worum Beth ihn bat, war eine geringe Investition, die eines Tages womöglich riesige Gewinne abwerfen würde.

»Gehen Sie schon«, sagte er. »Mein Wagen steht draußen, der schwarze Bentley. Sagen Sie Jack, dass er Sie hinbringen soll, wo immer Sie wollen, und dann hierher zurückkommen soll.«

Nie zuvor hatte Beth Hoyt lieber gemocht als in diesem Moment. Obwohl sie wusste, dass es wahrscheinlich eine weitere dumme Idee war, hauchte sie ihm spontan einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor sie sich zum Gehen wandte.

»Ehe Sie gehen, würde ich Ihnen gerne noch eine Frage stellen. Da ich ja angeblich darüber nachdenke, es zu kaufen«, sagte er und deutete auf die Zeichnung, »was sehe ich mir da eigentlich an?«

Beth musste sich noch einmal umwenden und drehte die Zeichnung richtig hin. Und erst jetzt sah sie, was sie da aus der Schublade gezogen hatte.

Es war ein Stich aus dem neunzehnten Jahrhundert und zeigte einen gefallenen Engel. Er hatte schwarze Fledermausschwingen und stürzte durch den Nachthimmel, einer Bank aus aufgewühlten Wolken entgegen. Der Stich war Teil der französischen Lieferung, genau wie der Greuze und der Fragonard.

»Es ist ein Gustave Doré, aus seiner Reihe von Illustrationen für Das verlorene Paradies«, sagte sie. »Ein gefallener Engel wird aus dem Himmel geworfen.«

Hoyt nickte, anscheinend zufrieden mit der Information.

Beth drehte sich um, und ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Es war, als sei der Stich aus einem ganz bestimmten Grund dort gewesen. Als habe er darauf gewartet, dass sie die Schublade öffnete und ihn entdeckte. Nur noch ein Grund mehr, die Galerie so schnell wie möglich zu verlassen. Sie ging zum Fahrstuhl, ihre hohen Absätze klapperten auf dem Parkett. Hoyt sah ihr nach, dann warf er einen beiläufigen Blick auf den Stich, der auf dem Tisch liegen geblieben war.

Selbst für sein ungeübtes Auge war es eine beeindruckende Arbeit. Der Engel mit den Fledermausflügeln stürzte kopfüber, als sei er nicht imstande, seinen Flug zu kontrollieren. Wellenförmiges Licht strahlte von der oberen rechten Ecke des Bildes aus, durchbohrte die turbulenten Wolken und beleuchtete die gekrümmte Erdoberfläche, die weit darunter lag. Es war wesentlich besser als der Kram, den er normalerweise hier zu sehen bekam, alle möglichen Skizzen und Studien, die selten eine zusammenhängende Geschichte erzählten. Wenn er sich nicht so zu Beth hingezogen fühlen würde, hätte er sich diese Sache mit den Alten Meistern wahrscheinlich schon vor Wochen abgeschminkt. Vielleicht hatten seine Freunde ja recht, und er sollte lieber das große bunte moderne Zeug kaufen, bei dem jeder, der es sah, sofort wusste, dass es einen Haufen Geld gekostet hatte.

Hinter sich hörte er das Knacken der Dielenbretter, aber das begleitende Klappern der Absätze fehlte. Als er aufblickte, sah er einen Mann mit blondem Haar und Sonnenbrille, der ihn von der Treppe aus beobachtete. Der Kerl war groß, etwa so groß wie er selbst, und trug einen langen schwarzen Mantel, der Hoyts Ansicht nach aus Kaschmir war. Hoyt war sich ziemlich sicher, dass er den Typ nie zuvor gesehen hatte, und genauso sicher war er sich, dass dies der Kerl war, dem Beth unbedingt aus dem Weg gehen wollte, koste es, was es wolle.

»Falls Sie Beth suchen«, sagte er und hoffte, ihr ein wenig mehr Zeit zur Flucht zu verschaffen, »sie ist gleich wieder zurück.«

Der Eindringling lächelte, und Hoyt musste feststellen, dass seine Lippen ungewöhnlich voll waren und die Zähne dahinter fast unnatürlich strahlten.

»Mein Name ist Bradley Hoyt«, sagte er. »Und Sie sind …?«

»Arius«, sagte der Mann beim Näherkommen. Die Deckenlampen schienen sein Haar in poliertes Gold zu verwandeln, und Hoyt ertappte sich dabei, dass er überlegte, wo der Typ hinging, um solche Strähnchen zu bekommen.

»Sie hat mir gerade ein paar neue Sachen gezeigt«, fuhr Hoyt fort und deutete auf den Doré.

Arius kam noch näher, wobei er nahezu geräuschlos über den Boden glitt.

Und was für ein Aftershave benutzt dieser Typ bloß, fragte sich Hoyt. Es erinnerte ihn an seine Sommer in Maine, als er noch ein kleiner Junge war.

Ohne die Sonnenbrille abzunehmen, blickte Arius abschätzig auf den Stich. Hoyt hatte den Eindruck, dass er wusste, worum es sich handelte, ohne dass jemand es ihm hätte erklären müssen. Er hatte die Ausstrahlung eines Menschen, der mit dieser absoluten Überlegenheit aufgewachsen war.

»Die Flügel«, sagte Arius und deutete auf den Engel im Bild, »sind viel voller als hier.«

Sein Mittelfinger, stellte Hoyt fest, war nur ein Stumpf und endete über dem ersten Knöchel.

»Und sie kommt nicht zurück«, fügte Arius hinzu und hob endlich seinen Blick.

Hoyt wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendwie wusste er genau, dass es keinen Zweck hatte, diesen Typ anzulügen. Und obwohl Arius’ Augen hinter den bernsteinfarbenen Gläsern verborgen waren, hatte Hoyt nicht die geringste Lust, den Blick daraus auf sich zu spüren.

»Vielleicht sollten wir beide zurück zur Party gehen«, schlug er vor, aber Arius schien nicht gewillt zu sein. Hoyt war sich nicht sicher, ob er ihn unbeaufsichtigt mit diesem wertvollen Kunstwerk allein lassen sollte. Wenn irgendetwas damit geschah, könnte Beth dafür verantwortlich gemacht werden.

»Ob der Champagner wohl schon ausgegangen ist?«, versuchte Hoyt es erneut. Dieses Mal nahm Arius nur eine Ecke des Stichs zwischen die Finger und begann das Papier zu reiben. Obwohl Hoyt niemals behaupten würde, ein Experte in diesen Dingen zu sein, war er sich ziemlich sicher, dass es keine gute Idee war, an dem alten Stich zu reiben.

»Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun.«

»Warum belästigen Sie Beth?«, fragte Arius leise.

»Ich und Beth belästigen?«, sagte Hoyt. »Ich glaube, da bringen Sie was durcheinander, mein Freund.« Jetzt verstand Hoyt, warum Beth vor diesem Kerl davonlief. Er hatte eindeutig etwas Gruseliges an sich.

»Halten Sie sich von ihr fern. Sie gehört Ihnen nicht.«

»Und wer sind Sie, bitte schön?«, sagte Hoyt ungläubig. »Ihr Eheberater?« Er war entgeistert. Der Kerl war nicht nur unheimlich, er war total verrückt. Beth sollte eine einstweilige Verfügung beantragen.

Plötzlich wehte ein neues Aroma durch den Raum, etwas, das sich mit dem Duft eines regennasses Waldes vermischte … der Geruch von Rauch.

Hoyt blickte nach unten. Ein schwarzer Fleck hatte sich in der Ecke des Doré gebildet, wo das Papier versengt war.

»Herrgott, was tun Sie da!«, rief Hoyt und riss ihm den Stich aus der Hand. Aber plötzlich war da mehr als ein Brandfleck, eine helle Flamme schoss über das Bild wie eine Schlange auf der Jagd nach Beute. Jetzt schnappte sie nach Hoyts Arm und Hand. Er versuchte, den brennenden Stich fallen zu lassen, aber er klebte an seiner Hand wie Fliegenpapier. Ungerührt sah Arius zu, wie Hoyt zurücktaumelte und sich verzweifelt bemühte, das brennende Papier loszuwerden.

»Nehmen Sie es weg!«, schrie Hoyt, während der Rauchmelder und die Sprinkleranlage angingen. Als hätten sie einen eigenen Willen, krochen die Flammen an seinem Arm empor, über seine Schulter und begannen, an seinem Gesicht und den Haaren zu lecken.

Arius wandte sich zum Gehen.

»Nehmen Sie es weg!«, schrie Hoyt erneut, während aus der Galerie unter ihnen das Gemurmel aufgeregter Stimmen zu hören war und hastige Schritte am Fuß der Treppe ertönten.

Arius blickte sich nicht um, das war kaum nötig, aber er hörte, wie Hoyt wild um sich schlug, seine brennenden Gliedmaßen gegen die Wände donnerte und schließlich auf dem Boden zusammensackte. Mit den Gedanken war er bereits woanders, bei der kleinen Reise, die er würde unternehmen müssen, wenn er hoffte, Beth diesen Abend noch einzuholen.


37. Kapitel

Wenn die vor ihnen liegende Aufgabe nicht so ernst gewesen wäre, hätte Carter gelacht, als Ezra erschien. Er war ganz in Schwarz gekleidet, hatte ein schwarzes Barett tief in die Stirn gezogen und trug einen schwarzen Rucksack über der Schulter. Auf Carter wirkte er wie ein Mitglied der französischen Résistance in einer alten Wochenschau.

»Ist deine Frau zu Hause?«, fragte Ezra und spähte über Carters Schulter in die Wohnung.

»Nein, sie ist zu Freunden oben im Norden gefahren. Ich fand, es sei das Beste, sie aus der Stadt zu schaffen.«

»Sie weiß also, was wir tun?«, fragte Ezra und klang nicht gerade glücklich darüber.

»Nein, überhaupt nicht.«

»Gut.«

Carter machte einen Schritt zur Seite, und Ezra betrat die Wohnung. Er schaute sich um und ging dann zum Beistelltisch neben dem Fenster, von dem aus man den Washington Park überblickte. Er setzte den Rucksack ab, der mit einem dumpfen Klatschen neben dem Stadtplan landete, den Carter auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Dann ließ er sich in einen Sessel plumpsen.

»So wie ich es sehe«, sagte Carter, nahm ihm gegenüber Platz und deutete auf den ausgebreiteten Stadtplan, »müssen wir als Erstes herausfinden, wo Arius sich versteckt.«

»Wie kommst du darauf, dass er sich überhaupt versteckt?«

»Ich weiß, dass er gesehen wurde, aber ich glaube trotzdem nicht, dass er mitten am Tag herumläuft und Aufmerksamkeit auf sich zieht. Er muss irgendwo eine Art Schlupfwinkel haben.«

Ezra wirkte nicht überzeugt, schien aber bereit, sich umstimmen zu lassen. »Und wie willst du es anstellen, seinen Schlupfwinkel ausfindig zu machen?«

Carter holte tief Luft, ehe er antwortete, da er wusste, wie sich das anhören würde. »Indem wir uns vorstellen, Arius sei ein Vampir.«

Carter meinte fast hören zu können, wie Ezra innerlich die Schotten dichtmachte. Er sah Carter an, als hätte dieser den Verstand verloren. »Was zum Teufel meinst du damit?«

»Hör mir nur eine Sekunde zu«, sagte Carter, um Zeit zu gewinnen. »Sieh dir nur seine hervorstechendsten Eigenschaften an, zumindest diejenigen, von denen wir wissen. Er ist unsterblich, er hat keine Seele, er schützt seine Augen vor der Sonne und, soweit wir wissen, lebt er, um sterbliche Frauen zu verführen.«

»Ich bitte dich«, sagte Ezra, als sei er seltsamerweise im Namen des Engels beleidigt. »Und was ist mit einigen anderen hervorstechenden Eigenschaften, beziehungsweise deren Nichtvorhandensein? Er zeigt keine Neigung, Blut zu trinken, einen Smoking zu tragen oder in seinem eigenen Sarg zu schlafen. Tatsächlich schläft er überhaupt nicht, ganz zu schweigen von dem anderen Blödsinn.«

»Du hast mir nicht zugehört«, erklärte Carter. »Ich sage nicht, dass er ein Vampir ist. Versteh mich nicht falsch. Aber vielleicht ist er der Ursprung für solche Legenden und der Grund, warum sie überhaupt entstanden sind.«

»Selbst wenn du recht hättest, was du nicht hast, was dann? Wie soll uns das bei dem helfen, was wir heute Nacht tun müssen?«

»Vielleicht könnte es uns dabei helfen herauszufinden, wo er steckt«, sagte Carter so geduldig wie möglich. »Und es ist nicht auszuschließen, dass uns diese Legenden etwas darüber verraten, wie diese unseligen Kreaturen getötet werden können.«

»Mit einem Holzpflock durchs Herz?«, fragte Ezra herablassend. »Oder womöglich mit Knoblauch?« Er wand sich in seinem Sessel und stieß verächtlich die Luft aus.

Das lief überhaupt nicht gut, und Carter merkte es. Plötzlich gingen Ezra und er einander an die Gurgel, die beiden einzigen Menschen auf der Welt, die an dieses Wesen glaubten und die folglich den leisesten Hauch einer Chance hatten, es zu besiegen. Statt die Köpfe zusammenzustecken, rammten sie sie gegeneinander. Carter hielt inne, vergewisserte sich, dass er seinen eigenen Zorn unter Kontrolle hatte, und sagte dann: »Wir sind beide angespannt, und nach dem, was wir beide in deinem Apartment gesehen haben, ist das auch nur natürlich. Aber wenn wir uns nicht zusammenraufen und an einem Strang ziehen, werden wir nie Erfolg haben.« Ganz ähnliche Ratschläge hatte er seinen Mitarbeitern auf einem Dutzend Ausgrabungsstätten gegeben, wenn die Dinge plötzlich immer mehr außer Kontrolle zu geraten schienen. Und jetzt begriff er, dass das genau die Methode war, mit der er sich auch dieser Aufgabe widmen musste.

Ezra ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und riss sich das Barett vom Kopf. Seine Stirn war schweißbedeckt. »Ich rege mich ab, wenn du es tust«, sagte er, und endlich richtete er den Blick auf den Stadtplan neben seinem schwarzen Rucksack.

»Abgemacht.«

»Also, mach weiter«, fügte er grummelnd hinzu, »zeig mir, was du mit dem Stadtplan vorhast.«

Carter schob den Rucksack zur Seite. »Koordinaten einzeichnen. Wie du siehst, habe ich bereits die Punkte markiert, an denen Arius, soweit wir wissen, bisher aufgetaucht ist.« Während Ezra ihm aufmerksam zuhörte, zeigte er auf die entsprechenden Punkte. Das Labor, aus dem der Engel nach der Explosion herausgekommen war, der Kelleraufgang, in dem die verbrannte Leiche des Transvestiten gefunden worden war, das St. Vincent’s Hospital, wo er Russo umgebracht hatte, und schließlich Carters eigene Wohnung. »Beth ist ihm unten im Foyer begegnet«, sagte Carter und unterdrückte einen Schauder, »aber als ich versuchte, ihn zu verfolgen, habe ich ihn verloren, und zwar genau hier.« Sein Finger landete auf einem Punkt direkt neben dem Krankenhaus. »Bis auf seinen Ausflug nach Uptown, zur Party am Sutton Place, liegen alle Orte, an denen er in Erscheinung getreten ist«, sagte Carter und zog einen kleinen Kreis auf dem Stadtplan, »irgendwo innerhalb dieses Umkreises.«

»Im West Village«, sagte Ezra.

»Wenn er seine Wohnung über einen Makler gefunden hat, sollten wir ihn ziemlich leicht aufspüren können«, sagte Carter mit einem schmalen Lächeln.

»Irgendetwas sagt mir, dass er einen völlig anderen Weg eingeschlagen hat.«

»Wodurch es noch schwerer wird.«

Ezra erwog das einen Moment, dann sagte er: »Und was machen wir, wenn wir ihn finden?«

Zu diesem Problem war Carter noch weniger eingefallen. Wie fing man einen gefallenen Engel? Und noch wichtiger: wie tötete man ihn? Er hatte all diese bescheuerten Filme gesehen, in denen übernatürliche Wesen mit Pflöcken und Schwertern, mit silbernen Kugeln und heiligem Wasser, mit gesegneten Dolchen oder der endlosen Rezitation lateinischer Anrufungen zur Strecke gebracht wurden. Aber das hier war kein Film. Es war real. »Ich habe keine Ahnung.«

Seufzend beugte Ezra sich vor und öffnete die Schnallen seines Rucksacks. Als Erstes zog er eine Taschenlampe hervor. »Hast du auch eine?«

»Werden wir ihn mit einer Taschenlampe töten?«

»Nein. Ich weiß auch nicht, wie wir das anstellen sollen.« Dann wühlte er tiefer im Inneren und zog die Dose hervor, die Carter zuletzt in Ezras Wohnung gesehen hatte. Er öffnete sie, und ehe Carter zurückweichen konnte, hatte Ezra sich über den Couchtisch gebeugt und schmierte ihm den roten Lehm bis zum Haaransatz auf die Stirn.

»Haben wir das Zeug nicht letzte Nacht schon ausprobiert, als die Schriftrolle uns beinahe umgebracht hat?«, fragte Carter.

»Ja«, erwiderte Ezra, »und soviel wir wissen, ist dieses Zeug der Grund, weshalb wir hier sitzen.«

»Es sieht gar nicht aus wie eine Waffe.«

»Das soll es auch nicht sein. Aber es könnte uns Schutz bieten.«

»Warst du nicht derjenige, der mir sagte, dass dieser ganze religiöse Hokuspokus absolut nutzlos ist? Ich dachte, diese Kreatur sei millionenmal älter als dieser ganze Kram.«

»Das habe ich«, erwiderte Ezra. »Nenn es einfach meine Version der Pascal’schen Wette.«

Carter kannte diese Redewendung. Der französische Philosoph hatte argumentiert, dass, selbst wenn der römische Katholizismus sich irrte, es keinen Zweck hatte, dagegen zu wetten. Auf dem Totenbett nützte einem nur noch der Glaube etwas.

Einen Moment lang blieben sie sitzen, ohne sich zu rühren. Was gab es sonst schon noch zu sagen? Als Ezra schließlich die Dose mit dem heiligen Lehm zurück in den Rucksack stopfte und diesen verschloss, wurde es für beide offensichtlich, dass das der einzige Plan war, den sie im Augenblick hatten. Carter ging in die Küche und wühlte in den Schubladen herum, bis er eine gelbe Taschenlampe ausgegraben hatte. Er probierte sie aus und stellte überrascht fest, dass die Batterien noch in Ordnung waren.

Dann fiel sein Blick auf den Messerblock mit dem Satz aus schwarzgriffigen Messern, die sie von seiner Tante Lorraine zur Hochzeit bekommen hatten. Er nahm eines mit einer mittelgroßen gezackten Klinge und schob es in seine Gürtelschlaufe.

Ezra wartete bereits neben der Tür, als er zurückkam. Er entdeckte das Messer, sagte jedoch nichts. Carter zog seine Lederjacke an, und als er die Messerklinge an seiner Seite ausrichtete, war sie vollkommen verborgen. Er schob sein Handy und die Taschenlampe in die Außentaschen und schloss ab. Sie gingen die Treppe hinunter.

Draußen hatte Ezra die Limousine seines Vaters mit den Vorderreifen halb im Halteverbot geparkt. »Du hast mir gar nicht gesagt, dass du ein Auto hast«, sagte Carter und fühlte sich plötzlich wieder wie ein Teenager.

»Steig ein«, sagte Ezra und drückte auf den Schlüsselanhänger, um die Türen zu öffnen.

Carter schob das Daily Racing Form beiseite und setzte sich auf den Beifahrersitz. Ezra fuhr genauso, wie Carter es sich vorgestellt hatte – miserabel, mit abrupten Bremsmanövern und ohne jemals den Blinker zu betätigen. Obwohl es fast neun Uhr abends war, waren die meisten Schaufenster, an denen sie vorbeikamen, noch hell erleuchtet, die Läden waren geöffnet und mit Weihnachtsschmuck dekoriert. Auf den Gehwegen drängten sich gutgelaunte Menschen.

Sie folgten keiner bestimmten Route, sondern hielten einfach nur die Augen offen und näherten sich langsam, aber sicher dem Krankenhaus. Carter suchte die Gesichter der vorbeiziehenden Menschenmenge ab, aber nicht eine Minute lang glaubte er, Arius tatsächlich unter ihnen zu entdecken. So einfach würde es nicht sein. Ab und zu deutete Ezra irgendwohin und hielt an, so dass Carter einen Blick in ein düsteres Treppenhaus werfen oder eine enge Gasse untersuchen konnte. Doch die schlimmste Bedrohung, mit der sie konfrontiert wurden, war ein Obdachloser, der an einer Ampel darauf bestand, ihre Windschutzscheibe zu putzen.

Als sie das Village mit seinem Dickicht aus Läden und Restaurants verließen und sich dem Krankenhausbezirk näherten, leerten sich die Gehsteige, und es gab weniger Stellen, von denen Carter sich vorstellen konnte, dass diese Kreatur sich dort verstecken würde. Aber wenn er ihn je finden wollte, musste er das tun, was all die Thriller ständig empfahlen: Fang an, wie der Kriminelle zu denken, den du verfolgst, versetze dich in ihn und seine Art zu denken hinein und sieh die Welt mit seinen Augen. Doch selbst wenn das etwas nützte, solange es um Serienmörder und Psychopathen ging – würde das auch funktionieren, wenn es galt, einen gefallenen Engel aufzuspüren? Wie dachte man als gefallener Engel?

Als sie die Ecke gegenüber dem Krankenhaus erreichten, konnte Carter es sich nicht verkneifen, nach oben zu schauen. Unwillkürlich wurde sein Blick vom sechsten Stock angezogen, wo Joes Zimmer gewesen war. Selbst vom Wagen aus konnte er die dicke Plastikfolie erkennen, die sich spannte und leicht wölbte und die klaffende Wunde in der Mauer verdeckte. Wer würde das nächste Opfer sein? Er wusste, dass er sich gerade mitten in die Schusslinie begab oder es zumindest versuchte. Doch das beunruhigte ihn weit weniger als die Vorstellung, dass Arius es irgendwie auf Beth abgesehen haben könnte. Dass es womöglich Beth gewesen war, den der Engel verfolgt hatte, als sie ihm eines Abends in der Lobby begegnet war.

Eine Windbö wehte durch die Straße, wirbelte den Müll auf und brachte das Holzschild neben dem Auto hörbar zum Quietschen. Carter blickte hinüber und musste beinahe lachen. Das hatte er fast vergessen. Es war die Anschlagtafel für die Villager-Genossenschaft, die demnächst auf diesem Grundstück bauen würde, mit niemand anderem als dem Bauunternehmen Metzger. Der rostige Maschendrahtzaun, versehen mit Schildern, die das unbefugte Betreten verboten, umgab immer noch das verdammte Lager für medizinisches Zubehör. Er wollte gerade Ezra anstupsen und einen Witz darüber machen, in die Richtung, dass er ja vielleicht eine Wohnung zu einem Sonderpreis bekommen könnte, als er innehielt. Die Erkenntnis kam über ihn wie eine kalte Dusche. Möglicherweise hatten sie gefunden, wonach sie suchten. Wenn eine verdammte Kreatur nach einem Ort suchte, an dem sie sich häuslich einrichten, einen Ort, an dem sie sich mitten in einer belebten Stadt verstecken konnte – was könnte dann besser dafür geeignet sein als dieses Abrisshaus? Als sein Blick auf einen bröckeligen Sims über der Vordertreppe und die verbliebenen Buchstaben fiel, die die Ruine als ursprüngliches Sanatorium auswiesen, wuchs seine Überzeugung nur noch.

Als er zu Ezra hinüberschaute, merkte er, dass diesem gerade derselbe Gedanke gekommen war.

»Wenn deine Vampir-Analogie stimmt, was ich immer noch nicht glaube«, sagte Ezra, »kann ich mir keinen passenderen Ort vorstellen als diesen hier.«

Carter nickte und verrenkte den Hals, um die Frontseite des riesigen alten Backsteingebäudes abzusuchen. Es schien insgesamt sieben Stockwerke zu haben. In den unteren waren die Fenster mit Brettern vernagelt oder zugemauert, während in den oberen Etagen die Fenster offen gelassen worden waren. Wind und Wetter konnten ebenso eindringen wie jeder Unbefugte, der entschlossen und imstande war, die Wände zu erklimmen.

Das vorrangige Problem stellte jedoch der Maschendrahtzaun dar, dessen Spitze mit Natodraht gesichert war. Obwohl das Gebäude gegenüber des St. Vincent’s an der Vorderseite gut geschützt war, fragte Carter sich, ob der Rest ebenso gründlich verbarrikadiert war. Seiner Erfahrung nach dauerte es in New York nicht lange, bis es Schleichwege in ein leerstehendes Gebäude gab.

»Fahr mal zur Rückseite«, sagte er. »Vielleicht haben wir da Glück.«

Ezra bog um die Ecke und fuhr den halben Block entlang, doch Carter sah nur einen durchgehenden Zaun. Und selbst wenn sie versuchen würden, hinüberzuklettern, würden sie von Dutzenden Fußgängern dabei gesehen werden. Doch am anderen Ende, unter einer defekten Straßenlaterne, schien eine Gasse zu einem Eingang zu führen.

»Gut«, sagte Carter, »da ist ein Hintereingang.«

Ezra bog in die Gasse ein und kam mit einem Ruck zum Stehen.

»Schalt das Fernlicht an«, sagte Carter und stieg aus. Die enge Straße war mit Abfall übersät, und auf der anderen Seite befand sich irgendein Kraftwerk, möglicherweise für Wasser, Strom oder Müllrecycling. Doch Carter hatte bereits einen Weg in das alte Sanatorium entdeckt. Er zog eine Milchkiste aus Plastik zu einem riesigen Müllcontainer aus Metall und benutzte sie, um auf den Container zu klettern. Jetzt befand er sich auf gleicher Höhe mit dem Natodraht, und wenn ihm eine Möglichkeit einfiele, den Draht abzudecken, könnte er vielleicht auf der anderen Seite am Maschendrahtzaun herunterklettern, ohne sich dabei in Fetzen zu schneiden. Er schaute sich in der Gasse um. Wenige Meter entfernt entdeckte er einen Stapel nasser, zusammengefalteter Pappkartons. »Du kannst das Licht jetzt ausmachen«, rief er Ezra zu, der immer noch im Wagen saß. »Und bring mir ein paar von den Kartons da drüben.«

Ezra stieg aus dem Wagen und schloss ab. Wegen des Gestanks, der von den Kartons ausging, wendete er das Gesicht ab, während er ein paar davon zum Zaun zerrte. Carter hievte sie hoch und legte jeweils zwei oder drei über die scharfen Widerhaken des Natodrahts. Sie waren schwer und lappig genug, um den Draht zu bedecken und sogar ein wenig nach unten zu drücken. Carter stellte seinen Fuß darauf und trat zu, um die Stabilität zu testen, dann streckte er vorsichtig eine Hand aus, um das Gleichgewicht zu halten. Nachdem er einen kurzen Moment schwankend auf dem Zaun gestanden hatte, sprang er auf der anderen Seite herunter. Er landete auf einem flachen Haufen aus verklumptem Dreck und Kies, der selbst hier mit Glassplittern und zerdrückten Blechdosen übersät war.

Er wischte seine Jeans ab und schaute hoch, als Ezra gerade auf den Müllcontainer kletterte.

»Gib mir deinen Rucksack«, sagte Carter, und Ezra reichte ihn vorsichtig herunter. »Hier ist der Boden etwas höher. Versuch, auch hier zu landen.«

Carter trat zurück. Unter seinen Sohlen knirschte der Schutt, als Ezra den Natodraht mit den Kartons überwand. Aus der Entfernung hörte er das Rumoren eines Müllwagens. Ezra landete härter als Carter, und sein schwarzes Barett flog ihm vom Kopf.

»Alles in Ordnung?«, fragte Carter und hob die Mütze auf.

Ezra nickte und rang, die Hände auf die Knie gestützt, nach Atem. »Gib mir eine Sekunde.«

Carter reichte ihm das Barett, ehe er sich der Rückseite des alten Sanatoriums zuwandte. Diese Seite war sogar noch düsterer und baufälliger als die Vorderfront. Schartige Löcher durchzogen das Mauerwerk, und aus leeren Fensterhöhlen ragten zerbrochene Balken hervor. Eine gefährlich wackelige schwarze Feuerleiter führte bis zum zweiten Stock. Dort, wo Carter jetzt stand, mochte sich einst der Lieferanteneingang befunden haben, die Umrisse einer halbrunden Auffahrt waren noch schwach zu erkennen. Zu der Zeit, als das Sanatorium errichtet worden war, waren hier wahrscheinlich den ganzen Tag Pferdekarren ein-und ausgefahren. Jetzt war die einzige Bewegung das gelegentliche Vorbeihuschen scheuer Ratten, die sich tief im Schatten verborgen hielten.

Keine Straßenlaterne schickte ihren Schein bis hierher, aber der Mond war hell und tauchte die Ruine in ein fahles silbriges Licht. Carter fischte die Taschenlampe aus seiner Tasche und bahnte sich in ihrem Strahl seinen Weg über das heimtückische Terrain. Der Boden war bedeckt mit einer Mischung aus alten Trümmern aus Steinen und verrotteten Brettern und neuerem Müll wie Plastikreinigungsflaschen und hier und da einer verdreckten Matratze. Als er das Sanatorium erreichte, legte er eine Hand auf den Fuß der Feuerleiter, die am Gebäude baumelte wie ein verdrehter Kleiderbügel, und rüttelte ein paar Mal daran. Nichts bewegte sich oder gab nach. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die unterste Sprosse und probierte, ob sie sein Gewicht trug. Bis auf ein rostiges Quietschen schien das Bauteil noch stabil genug zu sein.

Er drehte sich zu Ezra um, der zustimmend nickte.

»Aber drängle nicht«, sagte Carter und senkte instinktiv seine Stimme. »Warte, bis ich von der Treppe runter bin, ehe du raufkommst.«

Er kletterte ein paar Stufen höher. Das Quietschen wurde lauter, und als er den ersten Stock erreicht hatte, wo die Fensteröffnung zugemauert war, spürte er, wie plötzlich ein Beben durch die Metallstufen ging. Eine Sekunde lang erwog er, umzukehren, doch dann sah er, dass es bis zum leeren Fenster des zweiten Stocks nur noch wenige Schritte waren, und nahm von den restlichen Stufen drei auf einmal. Von der Fensterbank aus ließ er den Strahl der Taschenlampe durch das Innere wandern, um sicherzugehen, dass es einen Fußboden gab, auf dem er landen konnte, dann duckte er sich und kletterte über das verrottete Fensterbrett hinein.

Als er den Kopf wieder durchs Fenster steckte, sah er, dass Ezra bereits den Rucksack geschultert hatte. Schweigend winkte er ihm zu, hochzukommen. Dann wandte er sich um und suchte die neue Umgebung mit Blicken ab.

Dieses Stockwerk konnte nie als medizinisches Lager genutzt worden sein. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem langen schmalen Raum um einen der ehemaligen Krankensäle. An den Wänden standen mehrere eiserne Bettgestelle aufgereiht, deren Spiralfedern größtenteils zu Staub zerfallen waren. Ein metallener Ablagewagen ohne Räder lag auf der Seite. Am anderen Ende des Raumes führte eine große offene Tür in die Dunkelheit.

Ezra kletterte durch das Fenster ins Zimmer. Mit gedämpfter Stimme sagte er: »Wie sollen wir jemals das ganze Gebäude durchsuchen können?«

»Hoffen wir, dass das nicht nötig ist.«

Carter ging voran. Seine Taschenlampe erfasste die Löcher im Boden sowie die gesplitterten Dielen, die in merkwürdigen Winkeln herabhingen. Schließlich erreichten sie die Tür. Mit der Lampe leuchtete Carter den Flur in beide Richtungen aus. Direkt vor ihnen lockte ein breiterer Korridor.

»Dieser dort«, flüsterte Carter, »sieht aus, als würde er uns am ehesten in den Bauch der Bestie führen.«

Obwohl sie so leicht auftraten, wie sie konnten, hallten ihre Schritte im höhlenartigen Inneren des Gebäudes wider. Zu beiden Seiten waren die Wände mit Löchern übersät und voller Wasserflecken. Die Türen zu den Zimmern waren entweder herausgefallen oder standen offen und gaben den Blick auf karge Räume frei. Hier und da entdeckten sie noch ein Bettgestell, eine Kommode ohne Schubladen oder ein zerbrochenes Waschbecken am Boden.

Vor ihnen, gerade noch im Lichtkegel von Carters Taschenlampe, schien sich der Raum zu öffnen, es fühlte sich sogar an, als wehte ein frischerer Lufthauch aus dieser Richtung. Aufgrund der Anordnung der anderen Flure gewann Carter den Eindruck, dass das alte Krankenhaus als ein einziges großes Quadrat angelegt worden war, mit einem offenen Platz genau in der Mitte. Als sie näher kamen, wurde die Luft frischer, und die Dunkelheit wurde allmählich schwächer. Selbst die Decke wurde am Ende des Korridors höher.

Und dann war die Decke ganz verschwunden. Carter blieb stehen, genau wie Ezra neben ihm, blickte empor und sah eine Wolkenbank vor dem Mond dahinjagen. Sie befanden sich in einem riesigen offenen Raum, der wie ein Wintergarten wirkte. Über ihnen befanden sich die Überreste von etwas, was einst ein riesiges Oberlicht gewesen zu sein schien. Die eisernen Stützbalken, oder zumindest einige davon, krümmten sich über ihnen wie schwarze Finger, doch die übergroßen Glasscheiben, die sie einst gehalten hatten, waren komplett verschwunden. Alles, was von den Fenstern übrig geblieben war, waren Tausende körnige Splitter, die unter ihren Füßen knirschten. In der Mitte des Raumes befand sich ein versiegter steinerner Springbrunnen mit einer Art Statue in der Mitte, die aus dieser Entfernung nicht zu erkennen war.

»Sieht aus, als sei das früher einmal das Sonnenzimmer gewesen«, sagte Carter.

Ezra leuchtete mit seiner eigenen Taschenlampe im Saal herum. Schwere Holzsäulen ragten wie Telegraphenmasten in die Höhe, um ein Dach zu tragen, das nicht mehr dort war. Jegliche Farbe war verblasst, es war eine Welt aus Schwärze und Schatten, in der im silbrigen Schimmer des Mondlichts kaum Konturen erkennbar waren. Selbst die Geräusche der umgebenden Stadt fehlten. Alles, was sie hörten, war der Wind, der am verrotteten Holz und den abgewetzten Ziegeln rüttelte. Doch dann erfasste sein Lichtstrahl etwas Glitzerndes, das an einem der senkrechten Holzbalken befestigt war.

Als er näher kam, konnte Ezra erkennen, was es war. Ein Kruzifix. Er winkte Carter heran.

Während Carter es anschaute, fragte Ezra leise: »Ob es von einem ehemaligen Patienten des Sanatoriums stammt?«

Doch Carter schüttelte den Kopf. Er erkannte sofort das Kruzifix wieder, das er zuletzt auf der Intensivstation für Brandopfer im St. Vincent’s gesehen hatte. »Es gehörte Joe.«

Ezra wusste nicht, was er davon halten sollte. Einerseits war er erleichtert, weil sie tatsächlich auf der richtigen Spur waren, doch zugleich war er auch verwirrt. Wenn seine Theorien stimmten, würde Arius sich für so etwas zuletzt interessieren. Und noch weniger würde er es in seinem Schlupfwinkel zur Schau stellen. Aber was gäbe es sonst für eine Erklärung dafür, wie es hierhergekommen war?

Als er erneut in die düsteren Winkel des Raumes spähte, entdeckte Ezra noch etwas, das ebenfalls an einer der Säulen befestigt war. Etwas, das sich, soweit er es aus der Ferne beurteilen konnte, als ebenso seltsam erweisen könnte.

Er ging an dem steinernen Springbrunnen vorüber, dessen Becken trocken und zerbrochen war, und folgte dem Strahl seiner Lampe bis zu einem kleinen Farbklecks in einem vergoldeten Rahmen. Es war ein Aquarell, unverkennbar ein Degas, und als Carter neben ihm stand, sagte Ezra: »Und dies hier gehörte Kimberly. Sie hatte es in ihrem Ankleidezimmer hängen.« Es hing schief an einem rostigen Nagel, der mitten durch das Bild geschlagen worden war. »Er hat sich nicht viel Mühe damit gegeben, es richtig aufzuhängen«, fügte er hinzu. Er brauchte nicht auszusprechen, was sie beide wussten: Das Bild war von ihrem flüchtigen Engel dort angebracht worden. »Aber warum?«, überlegte Ezra laut. »Warum das Kruzifix? Und warum dieses Bild? Schließlich respektiert er weder die religiöse Bedeutung des einen, noch kann er von der Schönheit des anderen so verzaubert sein.«

Carter kannte den Grund, obwohl ihm bei dem Gedanken daran schlecht wurde. In verschiedenen paläontologischen Ausgrabungsstätten hatte er Ähnliches gesehen. Geweihe und Kieferknochen, die an Höhlenwänden hingen, oder eingeschlagene hominide Schädel, in kleinen Nischen versteckt. »Das ist keine Dekoration«, erklärte er. »Er sammelt Souvenirs.«

Er ließ den Strahl seiner Lampe durch den Raum wandern, und dieses Mal hielt er bei der antiken Statue in der Mitte des Springbrunnens inne. Sie hatte einen klassischen Kopf, von Apollo oder Narziss oder dergleichen, Beth könnte ihn sicherlich eindeutig benennen. Der Rest der Statue jedoch war unter einem lose drapierten roten Tuch verborgen. Carter ging näher heran und stellte fest, dass es sich um einen langen roten Wildledermantel handelte.

»Was zum Teufel ist das?«, frage Ezra. »Das sieht ja aus wie der Fummel einer Nutte.«

»So ist es«, sagte Carter. »Der Mantel gehörte dem Transvestiten, der Arius als Erster gesehen hat.«

Ezra schwieg. »Noch eine Trophäe?«

Carter nickte.

Ezra, dem anscheinend etwas auffiel, das Carter entgangen war, kletterte über den Rand des Beckens und zog den Mantel auf. Flüsternd sagte er: »Aber schau dir an, was darunter ist.«

Carter richtete den Strahl seiner Taschenlampe darauf, und jetzt konnte er ebenfalls das Pergament erkennen, das gleich einer Haut fest um den Torso der Statue gewickelt war. »Meine Schriftrolle«, sagte Ezra. Hastig schob er den Mantel von den Schultern der Statue und ließ ihn in das trockene Becken fallen.

»Was tust du da?«, fragte Carter. »Lass die Rolle in Ruhe!«

»Warum sollte ich?«

»Hast du schon vergessen, was in deiner Wohnung passiert ist?«

»Ich habe nicht vor, sie hier zu lassen«, sagte Ezra und warf Carter über die Schulter einen finsteren Blick zu. »Es ist die bedeutendste Entdeckung der Weltgeschichte, und dieses Gebäude wird in wenigen Tagen abgerissen.«

Erneut drehte er sich um, und ehe Carter ihn aufhalten konnte, hatte er das Ende der Rolle, das über die Schulter der Statue drapiert war, zwischen den Fingern. Vorsichtig begann er, die Schriftrolle abzupellen. Kaum begann sich das Pergament zu lösen, da vernahm Carter das vertraute leise Summen und sah das pulsierende lavendelblaue Licht.

»Ezra, hör auf!«

Doch die Schrift entrollte sich weiter, das Summen wurde lauter und das Licht dunkler. Ezra machte einen Schritt zurück, als sei er überrascht über das, was er ausgelöst hatte.

»Ich habe gesagt, hör auf«, sagte Carter.

»Das habe ich doch!«, sagte Ezra, während die Rolle sich von selbst abwickelte, gleich einer Schlange, die sich von einem dünnen Baum löste.

Das Licht wurde intensiver, wurde zu einem kräftigen pulsierenden Violett. Das Summen wurde durch ein Knistern ersetzt, als würden trockene Zweige unter ihren Füßen zerbrechen.

»Komm zurück«, sagte Carter und packte Ezra am Ärmel, aber Ezra weigerte sich. »Ich glaube nicht, dass sie uns etwas anhaben kann«, sagte er. »Nicht, solange wir den Lehm aus Jerusalem tragen.«

»Hast du vor, es auszuprobieren?«

Ezra streckte die Hand aus. »Ja.« Er berührte die Schriftrolle, gerade, als Carter erneut nach seinem Arm griff, und es war, als würde plötzlich ein heftiger Stromschlag sie beide treffen. Ezra wurde in die Luft gehoben, und mit einem fürchterlichen dumpfen Geräusch prallte sein Kopf auf dem Beckenrand auf.

Carter wurde umgerissen und gegen eine der hölzernen Säulen geschleudert. Das Messer, das in seinem Gürtel steckte, schlitterte über den Boden.

In einer senkrechten Säule aus immer stärker werdendem Licht wirbelte die Schriftrolle empor und tauchte die Steinmauern des baufälligen Wintergartens in einen violetten Glanz. Auf den schmuddeligen Wänden wurden die Worte sichtbar, die einst auf der uralten Haut niedergeschrieben worden waren, sie drehten und wanden sich wie die Schriftrolle selbst.

Benommen und verblüfft lag Carter da und begriff plötzlich, was diese Worte bedeuteten.

Sie berichteten nicht nur davon, wer die Wächter waren, welche Gräuel sie verübt hatten und welcher entsetzlichen Strafe sie ausgesetzt waren.

Diese Worte waren mehr als das. Jemand hatte sie aufgezeichnet, und zwar einer der Bezwinger.

Sie waren das Protokoll eines Sieges, niedergeschrieben mit dem Blut des Besiegten. Auf seiner ureigenen Haut.

Auf Arius’ Haut.

Kein Wunder, dass sie zu ihm zurückgekehrt war.

Die Worte, deren Schriftzeichen gespenstisch in die Länge gezogen wurden, kreisten auf den bröckeligen Mauern wie Bilder einer magischen Laterne. Sie drehten sich im Kreis, Runde um Runde, und wurden dabei immer schneller. Das violette Licht wurde heller und heißer, bis es nahezu weiß war. Carter konnte nicht länger direkt hineinblicken, sondern musste seine Augen schützen. Die Rolle beschrieb immer engere Spiralen, verwandelte sich in eine Helix aus Wind und Licht, während sie weiter über dem Springbrunnen schwebte.

Er hörte Ezra stöhnen.

Zumindest war er am Leben.

Wieder blickte er auf die umherwirbelnde Rolle, wie gelähmt von ihrer Kraft. Gleich einer Feuersäule drehte sie sich am Platz, wurde so grell und heiß, dass er schließlich die Augen zusammenkneifen und den Kopf abwenden musste. Selbst jetzt noch spürte er die Kraft, hörte das Knistern der Hitze. Im Raum befand sich eine lebendige Präsenz, und in stummem Entsetzen fragte Carter sich, was sie zufriedenstellen würde.

Dann wusste er, selbst mit geschlossenen Augen, dass sie verschwunden war. Der große Raum war wieder dunkel, der Wind und das Knistern waren erstorben. Alles war ruhig.

Er schlug die Augen auf und wandte sich wieder zum Springbrunnen. Die antike Statue stand allein und unschuldig dort, nur vom blassen Mondlicht angestrahlt, das durch das leere Oberlicht des Wintergartens fiel.

Die Schriftrolle war verschwunden. Hatte sie sich in Luft aufgelöst? War sie wie eine Flamme erloschen? Durch das offene Dach davongeweht? Nirgendwo entdeckte Carter eine Spur von ihr. Er hielt den Atem an und sagte: »Ezra, bist du verletzt?«

Er bekam keine Antwort.

Taumelnd kam er auf die Beine, stieg über den Rucksack und ging zu Ezra. Das schwarze Barett hatte sich über das Gesicht geschoben, und als Carter es anhob, stellte er fest, dass er die Augen geöffnet hatte, aber der Blick ziellos war. »Kannst du mich hören?«, fragte er, und dieses Mal nickte Ezra schwach. »Ich bringe dich hier raus. Kannst du aufstehen?«

Wieder keine Antwort, aber als er seinen Arm unter Ezras Schulter schob, schaffte er es, ihn auf die Füße zu ziehen.

»Okay, und jetzt ein Schritt nach dem anderen.« Er leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und während Ezra sich schwankend gegen ihn lehnte, entfernten sie sich langsam vom Springbrunnen. Mit der Lampe leuchtete Carter ständig hin und her, um sicherzustellen, dass sie nicht über irgendeinen verrotteten Balken oder zerbrochene Dielen stolperten. »Wir lassen es langsam angehen«, erklärte er Ezra. »Ganz langsam und gemütlich.«

Sie hatten es fast aus dem Raum geschafft, als der Strahl seiner Taschenlampe etwas erfasste, das wie die anderen Trophäen an einem der Holzbalken befestigt war. Er musste es beim Eintreten völlig übersehen haben. Carter zerrte Ezra mit sich zu dem Fund und sah, dass es ein Stück Satinstoff war, das im Licht glänzte. Satinstoff am Kragen eines Pyjamas mit Leopardenmuster.

Genau wie bei Beths Lieblingspyjama. Demjenigen, den sie an dem Abend getragen hatte, als ihre Schlafzimmertür blockiert gewesen war und das Fenster zur Feuerleiter weit offen gestanden hatte.

»O mein Gott«, sagte er leise, und Ezra stieß einen Schmerzenslaut aus. Ein Blutstropfen lief ihm aus einem Mundwinkel.

Carter stopfte die Taschenlampe in seinen Gürtel und nahm dann das Kleidungsstück vom Nagel. Er hielt es vor sein Gesicht. Es verströmte immer noch ihren Duft. »O mein Gott«, murmelte er noch einmal und betete, dass es, anders als die anderen Trophäen, ein Symbol für einen unerfüllten Wunsch war und kein Erinnerungsstück.


38. Kapitel

»Ich bin froh, dass du die Party früher verlassen hast«, sagte Abbie, während sie den Wagen auf die Ausfahrt nach Hudson lenkte. »Je eher wir heute Abend ins Bett kommen, desto früher können wir uns morgen an die Arbeit machen.«

Beth starrte aus dem Fenster auf die schwarzen Bäume und Büsche, die jetzt die zweispurige Straße säumten. Sie hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was ihre Freundin sagte. Egal, wie sehr sie dagegen ankämpfte, ihre Gedanken kehrten immer wieder zu denselben Punkten zurück. Arius’ Anblick, als er bei der Party auftauchte, den kleinen Blutfleck, den sie selbst jetzt in ihrer Unterhose zu spüren meinte. Wenn sie an die letzten paar Wochen zurückdachte, sah sie nur eine immer höher werdende Flut aus schlechten Nachrichten, Problemen und sogar Tod. Einen Kondolenzbrief an Joes Mutter zu schreiben, gehörte zu den schmerzhaftesten Aufgaben, vor die sie je gestellt worden war.

»Wir werden natürlich auch jede Menge Spaß haben«, sagte Abbie. »In der richtigen Gesellschaft kann es total witzig sein, Vorhänge aufzuhängen.«

»Ich bin sicher, dass es lustig wird«, sagte Beth pflichtschuldig.

»Für diese Vorstellung bekommst du aber nicht gerade einen Oscar«, witzelte Abbie.

Lächelnd wandte Beth sich ihrer Freundin zu. »Tut mir leid, aber die Party hat mich völlig geschafft. Ich muss nur mal eine Nacht richtig gut schlafen. Morgen früh kann ich es vermutlich kaum noch abwarten, loszulegen.«

Abbie tätschelte Beths Handrücken. »Schlaf ruhig, so lange du willst. Selbst Ben, der das Ganze hasst, musste zugeben, dass er da oben wie ein Baby schläft.« Sie wollte gerade hinzufügen, dass Beth aussah, als könnte sie eine ordentliche Portion Schlaf vertragen, aber dann überlegte sie es sich anders. Wer hörte so etwas schon gerne?

Obwohl sie inzwischen ein Dutzend Mal beim Haus gewesen war, war Abbie daran gewöhnt, dass Ben am Steuer oder neben ihr saß, so dass sie nie groß auf die Richtung oder Wegmarkierungen geachtet hatte. Jetzt war es zudem schon dunkel, und sie musste sich konzentrieren und an jeder Kreuzung oder Abbiegung zweimal überlegen. Musste sie hier scharf links abbiegen oder die andere Straße nach links nehmen? Lag die alte Gießerei immer rechts von ihnen, oder waren sie auf der Anliegerstraße quer über das Gelände gefahren? Hin und wieder entdeckte sie etwas Bekanntes, den vertrauten Schriftzug von Quickie Mart auf einem trostlosen Neonschild oder die Tankstelle mit diesen altmodischen Pumpen, wo sie ein paarmal auf dem Rückweg in die Stadt getankt hatten. Dann wusste sie, dass sie auf dem richtigen Weg war. Aber es war nicht leicht, und die Dunkelheit, die sie von allen Seiten umgab, war tiefer und abweisender, als sie es von den vorigen Fahrten in Erinnerung hatte. Im Grunde ihres Herzens musste sie sich eingestehen, dass sie, trotz ihrer Tagträumereien vom einsamen Landleben, nicht oft allein herkommen würde. Zumindest nicht abends.

Als sie schließlich die alte Bahnlinie kreuzten, deren Warnschild von Rost und Einschusslöchern arg in Mitleidenschaft gezogen war, wusste sie, dass sie es fast geschafft hatten. Vorsichtig nahm sie die lange, beeindruckende Kurve eines Hügels und wich dem Schlagloch aus, von dem sie wusste, dass es kommen würde. Sie bremste und schaltete das Fernlicht an, um die Auffahrt zu ihrem Haus zu finden. Sie wurde teilweise von einer riesigen alten Eiche verdeckt, die wie ein gigantischer Wachposten am Anfang des schmalen Hohlwegs stand.

»Mein nächstes Projekt wird irgendeine Lampe sein, damit ich das Haus auch im Dunkeln finde«, sagte Abbie, als sie mit dem Wagen in die Auffahrt einbog.

»Was ist das?«, sagte Beth, gerade als Abbie selbst es erblickte. Ein orangefarbener Straßenkegel stand auf der rechten Seite der Auffahrt. Sie erwischte ihn mit der Stoßstange und stieß ihn in einen tiefen Graben, den sie erst jetzt bemerkte.

»Was ist hier denn los?«, sagte Abbie, riss hektisch den Wagen nach links und hielt an.

»Sieht nach Straßenbauarbeiten aus«, sagte Beth und spähte die Auffahrt hinunter. Der Graben zog sich den ganzen Hügel hinunter und hörte kurz vor dem Haus auf.

»Du hast recht«, sagte Abbie, »das muss die Wasserleitung sein. Sie wird gerade überall hier in der Gegend erneuert.«

»Haben sie euch nicht Bescheid gegeben, dass sie jetzt damit anfangen?«

»Wer liest schon all die Zettel, die man ständig bekommt?« Abbie startete den Wagen erneut. »Ich hoffe nur, dass sie uns nicht das Wasser abgestellt haben.«

Sie fuhren den Rest des Weges hinunter bis zum Haus. Tiefschwarz lag es in der Dunkelheit und war vor den ebenso schwarzen Hügeln dahinter fast nicht zu erkennen.

Abbie bog in die halbrunde Auffahrt ein. Die Reifen knirschten auf dem losen Kies, dann hielten sie neben einem Stapel Baumaterial und einer zusammengeklappten Leiter an. Die Balken und Steine wurden für eine zusätzliche Terrasse an der Rückseite des Hauses gebraucht. Abbie wollte schon die Scheinwerfer ausschalten, überlegte es sich dann aber anders.

»Ich lasse sie an, bis ich das Haus aufgeschlossen habe«, sagte sie, und Beth nickte.

»Können wir nicht die Vorhänge bis morgen im Auto lassen?«, fragte Beth, und dieses Mal stimmte Abbie zu. Keine von ihnen wollte es aussprechen, aber beide wollten nichts anderes, als so schnell wie möglich ins Haus kommen, die Tür hinter sich absperren und jede Lampe im Haus einschalten.

Abbie stieg aus, ließ die Fahrertür offen, obwohl ein leiser Warnton einsetzte, und eilte die Holztreppe empor. Auf der Vordertreppe suchte sie zwischen ihren Schlüsseln, bis sie den richtigen gefunden hatte. Anschließend musste sie ihn noch eine Weile drehen und rütteln, bis das Schloss endlich nachgab und die Tür sich öffnen ließ. Auf der Stelle griff sie nach innen und schaltete die Lampen im Eingang und auf der Terrasse an, ehe sie zum Auto zurückkehrte.

Beth zerrte ihre Taschen von der Rückbank. Gemeinsam trugen sie das Gepäck die Treppe hinauf und ließen es im Foyer fallen. Im Haus war es fast so kalt wie draußen in der Nacht.

»Ich stelle die Heizung an«, sagte Abbie. »Die sollte trotz allem funktionieren. Du kannst ja deine Sachen schon ins Gästezimmer bringen.«

Beth manövrierte sich samt Tasche um die engen Windungen der Wendeltreppe, was nicht ganz einfach war. Das Haus war als einstöckiges Gebäude errichtet worden, und erst einer der späteren Eigentümer hatte den Dachboden ausbauen lassen, so dass die Treppe irgendwie in den bestehenden Grundriss hineingequetscht werden musste. Das Gästeschlafzimmer mit dem angrenzenden Badezimmer und einem eigenen Wohnraum nahm das gesamte Dachgeschoss ein.

Erschöpft warf Beth ihre Tasche auf das mit einem Quilt bedeckte Bett. Sie hatte den Lichtschalter noch nicht gefunden, so dass es im Zimmer immer noch dunkel war. Sie konnte die nackten Zweige in der aufgegebenen Apfelplantage sehen, und dahinter die in Silber getauchten Umrisse der baufälligen Scheune. Ben hatte Witze darüber gemacht, dass sie ihre Nachbarn zu einem Scheunenfeuer einladen könnten, aber Abbie hatte gesagt, dass ihr die Scheune gefiel und dass sie dem Ort Charakter verlieh. In diesem Moment verstärkte sie nur Beths Gefühl, sich am Ende der Welt zu befinden. Wenn die Vorhänge schon hängen würden, hätte sie sie mit einem Ruck zugezogen.

»Sieht so aus, als könntest du doch ein Bad nehmen«, rief Abbie vom Fuß der Treppe. »Der Boiler ist an, und das Wasser läuft.«

»Danke«, rief Beth zurück. Das Haus war so klein, dass man kaum die Stimme heben musste, um verstanden zu werden. »Ich denke, das werde ich auch tun.«

»Ich sehe dich dann morgen früh«, sagte Abbie. »Wer als Erster wach ist, macht die Kaffeemaschine an.«

Beth fand den Lichtschalter und schaltete ihn ein. Dann ging sie zum Fenster, das ein paar Zentimeter offen stand. Sie wollte es gerade schließen, als sie innehielt. Die Nachtluft war zwar kalt, aber auch so frisch und duftend, dass sie den Geruch noch einen Moment genießen musste. Es erinnerte sie daran, wie es nach einem Regenschauer im Wald gerochen hatte, als sie eine Reise durch die Cotswolds unternommen hatte. Sie würde das Fenster einen Spalt offen lassen, um zur Abwechslung einmal bei frischer Luft und ohne Stadtlärm zu schlafen. Zu müde, um ihre Tasche ganz auszupacken, nahm sie nur ihr Nachthemd, den Bademantel und die Toilettenartikel heraus und brachte alles ins Badezimmer, das Abbie und Ben inzwischen hatten renovieren lassen. Jetzt war es mit einem Medizinschränkchen aus geätztem Glas, einem Porzellanwaschbecken mit zwei vergoldeten Wasserhähnen und einer großen hohen Badewanne auf klauenartigen Füßen ausgestattet. Als Beth das heiße Wasser aufdrehte, fiel ihr unglücklicherweise wieder ein, was sie schon beim letzten Mal gestört hatte, als Carter und sie für ein Wochenende hier gewesen waren: Die Badewanne stand direkt vor einem großen Fenster, und es gab weder Vorhänge noch Jalousien.

»Wer soll von einem brachliegendem Feld schon zusehen?«, hatte Carter gefragt, wie Beth sich erinnerte. Außerdem, sagte sie sich, war es fast Mitternacht.

Trotzdem wandte sie sich vom Fenster ab, als die Wanne voll war und sie sich auszog. Sie hätte das Badezimmerlicht ausschalten können, aber nicht heute Abend, nicht hier. Lieber ging sie das Risiko ein, vom unternehmungslustigsten Spanner der Welt entdeckt zu werden, als in einem dunklen Zimmer zu baden.

Sie hängte ihren weißen Bademantel an die Rückseite der Tür und stapelte ihre Kleidung unter dem Waschbecken auf, wobei sie besorgt feststellte, dass ihr Slip tatsächlich blutbefleckt war. Anschließend fuhr sie mit einem Finger durch das Badewasser. Wenn es noch heißer wäre, würde sie schmelzen. Sie legte ein paar zusammengelegte Handtücher auf den Toilettensitz neben der Badewanne und stieg, nachdem sie den Kaltwasserhahn etwas weiter aufgedreht hatte, in die Badewanne. Das Wasser war tief, und als sie sich hinsetzte, reichte es bis über ihre Knie. Sie ließ sich weiter einsinken, und das Wasser stieg höher, über ihren Bauch und ihre Brüste. Vorsichtig lehnte sie den Kopf gegen das immer noch kalte Email.

Entspann dich, sagte sie sich. Versuch einfach, dich zu entspannen.

Aber genauso gut hätte sie auf einen Gefangenen auf dem Weg zum Galgen einreden können. Noch immer schwirrten ihr tausend Dinge im Kopf herum. Sie musste Carter anrufen, sobald sie aus der Wanne raus war, und sei es nur, um eine Nachricht zu hinterlassen, dass sie wohlbehalten angekommen waren. Und morgen früh sollte sie bei der Galerie anrufen, um sich für ihr frühes Verschwinden von der Party zu entschuldigen. Sie müsste sogar Bradley Hoyt anrufen, um ihm für seine Deckung zu danken.

Und schließlich sollte sie den Gynäkologen anrufen und sich einen Termin geben lassen, um die Blutung untersuchen zu lassen. Es war nicht nötig, Dr. Weston damit zu behelligen. Wahrscheinlich hatte sie sich nur irgendeine Infektion eingefangen, das hatte sie schon einmal gehabt. Ein Antibiotikum würde genügen, und die Sache käme wieder in Ordnung. Aber bis dahin war es nur noch ein Problem mehr, um das sie sich Sorgen machen würde.

Sie ließ sich noch tiefer in die Wanne sinken, bis das Wasser über ihre Schultern stieg. Mit dem ausgestreckten Fuß konnte sie den Wasserhahn erreichen und das Wasser langsam abdrehen, bis nur noch ein warmes Rinnsal übrig blieb. Sie schloss die Augen und versuchte erneut, den Kopf freizubekommen, aber wie sehr sie es sich auch wünschte, sie schaffte es nicht. Egal, wie angestrengt sie es versuchte, es gab keine Möglichkeit, den Strom der Gedanken aufzuhalten, der unausweichlich und unaufhaltsam zu dem einen Punkt führte, den sie am meisten fürchtete. Arius.

Wo war er jetzt? Was wollte er von ihr? Und wie konnte sie ihn jemals loswerden?

Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse, und ein kaltes Grauen ergriff sie, obwohl sie in heißes Wasser getaucht war.

Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie öffnete die Augen und sah sich angstvoll im Raum um. Niemand war da.

Blut hatte das Badewasser rosig gefärbt und begann gerade über den Rand der Wanne zu laufen. Was für eine Sauerei, dachte sie, als sie sich aufsetzte und nach dem Wasserhahn griff. Rasch drehte sie daran, aber in die falsche Richtung, und der stärkere Wasserstrahl verursachte noch mehr Spritzer. Verdammt.

Sie drehte erneut am Hahn, dieses Mal in die richtige Richtung, aber das Wasser ließ sich trotzdem nicht ganz abstellen. Vielleicht war der Wasserhahn zu lange nicht benutzt worden und klemmte. Sie zog den Stöpsel aus dem Abfluss, doch dieser widersetzte sich ihr ebenfalls. Ihr blieb nichts anderes übrig, als so schnell wie möglich aus der Badewanne zu steigen, damit der Wasserspiegel sank, und die Pfütze mit ein paar Handtüchern aufzuwischen, ehe sie sich noch weiter ausbreitete. Sie wollte gerade aufstehen, als sie erneut dieses Gefühl hatte, das Gefühl, nicht allein zu sein.

Ihr Blick wanderte zu dem großen unverhängten Fenster. Obwohl es draußen dunkel war und die frisch geputzten Scheiben nur das Innere des Badezimmers reflektierten, ahnte sie eine Bewegung dahinter. So unglaublich es auch schien, aber irgendetwas schwebte auf der Höhe des Dachgeschosses in der Luft. Konnte es sich um einen Vogel handeln? Eine Fledermaus? War es ein Zweig, den sie vorher nicht gesehen hatte und den der Wind jetzt gegen das Glas drückte?

Ihre Hand auf dem Rand der Badewanne erstarrte. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, wie der untere Rand des Fensters zitterte, als versuchte jemand, es von außen aufzuhebeln. Das Fenster war, wie alles im Haus, frisch gestrichen und quietschte, als es gewaltsam nach oben geschoben wurde.

Das passiert nicht wirklich, sagte sie sich. Das geschieht nicht in Wirklichkeit.

Und dann passierte es.


39. Kapitel

Carter verließ sich mehr auf sein Gedächtnis als auf irgendeinen Orientierungssinn. Er war erst einmal in Bens und Abbies Landhaus gewesen, und während der Fahrt hatte er die ganze Zeit auf der Rückbank gesessen und nicht auf den Weg geachtet.

Aber seine Erfahrung bei den Ausgrabungen hatte ihn offensichtlich nicht im Stich gelassen. Selbst bei dieser einen Gelegenheit musste er sich im Geiste Notizen über das Terrain und Wegmarkierungen gemacht haben. Erst jetzt, als er sich dem Haus näherte, musste er bei jeder Abzweigung, jeder Kurve und jeder Kreuzung lange und gründlich nachdenken. Er konnte es sich nicht leisten, auch nur einen einzigen Fehler zu machen.

Der Wagen hatte Gott sei Dank noch genügend Benzin im Tank und fuhr wie ein Traum. Ehe er in Richtung Norden aufgebrochen war, hatte er Ezra mit Mühe und Not auf die Rückbank bugsiert und ihn einmal um die Ecke direkt zur Notaufnahme des Krankenhauses gebracht. Ein Pfleger war mit einem Rollstuhl herbeigeeilt, und Carter hatte sie zum Aufnahmetresen begleitet. So schnell er konnte, gab er ihnen Ezras Daten, Namen, Adresse und Telefonnummer und einen kurzen Bericht darüber, was geschehen war. »Er ist mit voller Wucht auf den Bordstein gestürzt und genau mit dem Kopf aufgeschlagen.« Seiner Meinung nach war das so nah an der Wahrheit wie nötig. Auf die Frage nach der Krankenversicherung sagte er: »Wissen Sie, wer Sam Metzger ist?«

»Dieser Immobilientyp?«

»Ja«, erwiderter Carter. »Dies hier ist sein Sohn.«

Dann war er zum Auto zurückgerannt und gestartet.

Um diese Uhrzeit herrschte zum Glück nicht viel Verkehr, und sobald er aus der Stadt heraus war, war auf den Straßen so gut wie nichts mehr los. Er erinnerte sich an die Gießerei und die Tankstelle mit den altmodischen Pumpen. Beim Bahnübergang mit dem alten Schild mit Einschusslöchern fiel ihm ein, dass Ben hier einen Witz über den lokalen Sport gemacht hatte. Er wusste, dass er ganz in der Nähe des Hauses sein musste.

Was seine Angst nur noch steigerte. Die ganze Zeit über hatte er versucht sich einzureden, dass alles in Ordnung sein würde und dass Beth hier oben in Sicherheit sei. Er hatte angerufen, aber entweder hatten Ben und Abbie das Telefon noch nicht angemeldet, oder sie hatten eine neue Nummer bekommen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag das Pyjama-Oberteil mit dem Leopardenmuster, auf Maurys Daily Racing Form und Zigarrenhüllen. Es ging ihr bestimmt gut. Sie war rasch in diesem Schlafzimmer im Dachgeschoss eingeschlafen, und den größten Schrecken würde sie bekommen, wenn es mitten in der Nacht an der Tür klopfte.

Vor sich sah er ein beträchtliches Schlagloch auf der rechten Spur, an das er sich ebenfalls erinnerte. Abbie hatte hier abgebremst, um ausweichen zu können.

Der große alte Baum, der sich über der Einfahrt erhob, musste bald kommen.

Aber was war eigentlich sein Plan? Er musste sich entscheiden, und zwar auf der Stelle. Sollte er einfach hinfahren und an die Tür klopfen? Oder war es vernünftiger, sich leise zu nähern und zuerst die Lage zu peilen?

Da war sie, die alte Eiche, und Carter wurde langsamer. Sich heimlich anzuschleichen wäre das Klügste. Als er in die Auffahrt einbog, schaltete er die Scheinwerfer aus. Unter sich in einer Senke konnte er das Haus erkennen. Abbies Wagen parkte davor. So weit, so gut.

Doch dann gab es einen Rums, und die Reifen begannen wegzurutschen. Er schaltete das Licht wieder an, nur um einen dunklen Graben zu entdecken, der sich an der Seite der Auffahrt entlangzog. Die Reifen rutschten noch weiter nach unten, und plötzlich schwankte der Wagen, als er über den Rand in den Graben schlitterte und mehr als einen Meter tief im Boden versank. Carter umklammerte den Lenker und trat auf die Bremse, aber da war es schon vorbei, fast so schnell, wie es begonnen hatte. Sein Knie stieß gegen irgendwas, vermutlich gegen die Handbremse, und der Sicherheitsgurt schnitt in seine Brust und Schultern. Der Wagen saß auf dem Boden des Grabens fest und war auf die rechte Seite gekippt. Die Scheinwerfer strahlten das umgebende schwarze Erdreich an. Aber zumindest war der Airbag nicht aufgegangen.

Was zum Teufel …? Carter stellte den Motor aus, löste den Sicherheitsgurt und versuchte, die Tür aufzustoßen. Doch er saß in einem so merkwürdigen Winkel fest, dass es zuerst nicht klappte. Er drehte sich auf dem Sitz um und drückte noch einmal kräftiger, und jetzt ging die Tür auf. Er musste sie mit einer Hand aufhalten, während er die Beine hinausschwang. Als die Tür wieder zufiel, landete er auf etwas Rundem, Weichem – einem orangefarbenen Straßenkegel. Hatte er den Warnhinweis übersehen, als er in die Auffahrt eingebogen war? Mist, er hätte das Licht nicht so schnell ausschalten sollen.

Auf allen vieren kroch er aus dem Graben. Als er sich anschließend umdrehte, erkannte er, dass der Wagen so tief verkeilt war, dass man einen Abschleppwagen brauchen würde, um ihn wieder herauszuholen.

Er wandte sich dem Haus zu. Ein paar Lampen waren noch an, und vor dem Gebäude lag ein Stapel Baumaterial. Als er sich Abbies Wagen näherte, stellte er fest, dass die neuen Vorhänge noch auf der Rückbank lagen. Irgendwie fand er das beruhigend; als sei alles ganz so verlaufen, wie Abbie und Beth es geplant hatten. Zumindest bis jetzt.

Vielleicht stellte sich ja heraus, dass alles in Ordnung war. Es sah aus, als sei er gerade rechtzeitig gekommen, um weitere Katastrophen abzuwenden.

Nach dem, was mit Ezra passiert war, und jetzt mit dem Wagen, hatte er für heute Nacht von Katastrophen die Nase voll.


40. Kapitel

Als das Fenster oben am Rahmen anschlug, klirrten die Glasscheiben. Entsetzt kauerte sich Beth im schützenden warmen Wasser der Badewanne zusammen. Erneut schwappte das Wasser über den Rand der Wanne.

Eine kalte Bö wehte in den Raum, wirbelte den Wasserdampf auf und verdichtete ihn. In dem Dampf sah sie Arius, als hätte er sich direkt aus der Schwärze der Nacht materialisiert. Er trug wieder seinen langen schwarzen Mantel und die runde Brille mit den bernsteinfarbenen Gläsern.

Ich werde dich immer finden, hörte sie, als würden die Worte in ihrem Kopf widerhallen.

Beth war sprachlos und konnte sich vor Angst nicht rühren.

Aber fürchte dich nicht. Er strich sein goldenes Haar von dem aufgestellten Kragen seines Mantels. Ich würde dir niemals weh tun.

Diese Stimme in ihrem Kopf war seltsam tröstend, vertraut und beruhigend. Aber sie wusste, selbst jetzt, dass sie ihr nicht trauen durfte. Sie wusste, dass sie ebenso unheilvoll wie verführerisch war. Sie wusste, dass es die Stimme des Teufels war.

»Du hast Joe Russo getötet«, flüsterte sie mit bebender Stimme.

Der Engel gab keine Antwort.

»Und du hast auch Bill Mitchell getötet.«

Wieder nichts. Aber der Dampf schien dichter zu werden und an ihm zu haften, anstatt sich in der kalten Luft zu verziehen. Der Wasserhahn tröpfelte weiter, ein seltsam heiteres Geräusch.

»Warum bist du hier? Was willst du?«

Ich will nur, was du bereits hast.

Beth war verblüfft. Was konnte sie haben, das er begehren könnte? Was konnte sie haben, das dieses Wesen nicht selbst haben konnte?

Als hätte er ihre Frage ebenfalls gespürt, sagte Arius leise, aber mit hörbarer Stimme: »Eine Seele.«

»Du willst … meine Seele?«

»Nicht für mich«, sagte er mit derselben seidigen honigsüßen Stimme. »Für unsere Kinder.«

Ihr stockte der Atem, und sie begann zu zittern, obwohl sie im heißen Wasser lag. Die Bewegung schickte eine weitere kleine Welle über den Rand der Wanne und vergrößerte die Pfütze. Bald musste sie die vom Dunst verhüllten Füße des Engels erreichen. Sie sah, wie er den Blick senkte und einen Schritt zurücktrat.

»Geht es dir nicht gut?« Solange sie nicht verrückt war oder das alles hier überhaupt nicht passierte, könnte sie schwören, dass aufrichtige Besorgnis in seiner Stimme mitschwang. Aber was hatte ihre Gesundheit mit dem Wasser zu tun?

Sie schaute in die Wanne. Das Wasser war immer noch von ihrem Blut getönt, aber nur ganz leicht. War es das?

Sie verspritzte noch mehr Wasser über den Rand und wartete, ob er noch weiter zurücktreten würde, und das tat er.

Konnte er das Blut sehen? Konnte er es riechen? Sie wusste, dass er sie aufspüren konnte, wie ein Bluthund, also war er möglicherweise dazu imstande.

Aber war es das Wasser oder das Blut? Andererseits, dachte sie, was spielte es schon für eine Rolle? Es ließ ihn zurückweichen, und das genügte ihr für den Moment. Vielleicht, dachte sie, während ihre Gedanken sich überschlugen, könnte sie schnell genug genügend Wasser aus der Wanne spritzen, um aus der Wanne zu springen und davonzulaufen.

In diesem Moment hörte sie Abbies Stimme vom Fuß der Treppe.

»Beth? Ist alles in Ordnung bei dir da oben?«

Arius wandte den Kopf zur verschlossenen Tür. Sein Profil war so perfekt, als sei es auf eine Münze geprägt.

»Raus hier!«, schrie Beth. »Verlass das Haus!«

»Was?«, rief Abbie, und es klang, als erklimme sie die Wendeltreppe.

»Raus aus dem Haus, Abbie!«

»Hier unten zieht es ganz furchtbar«, sagte sie, und ihre Stimme kam näher. »Ist bei dir irgendwo ein Fenster offen?«

Arius wandte sich zur Tür, und Beth schrie ihn an: »Nein! Lass sie in Ruhe!«

Doch er öffnete die Tür und schloss sie rasch hinter sich. Der Dampf waberte gegen die Rückseite der Tür, als wollte er ihm folgen.

Beth kauerte sich im Wasser zusammen, strengte sich an, irgendetwas zu hören, aber das einzige Geräusch war das stete Tröpfeln des Badewassers auf die kalten weißen Fliesen. Ihr nasses Haar fühlte sich an, als sei es an der Stirn und den Seiten des Gesichts gefroren. »O Abbie«, sagte sie zu sich, während sie darum kämpfte, ihr eigenes Entsetzen in Schach zu halten, »lauf! Bitte, bitte, lauf!«


41. Kapitel

Leise schlich Carter auf die vordere Veranda, aber bevor er klingelte, versuchte er die Tür zu öffnen. Zu seiner Erleichterung war sie hörbar verriegelt. Trotzdem hielt ihn etwas davon ab, zu klingeln oder zu klopfen. Man konnte es übertriebene Vorsicht nennen, aber er wusste, dass er nicht hineingehen oder gar einschlafen könnte, ehe er nicht zumindest kurz nach dem Rechten gesehen hatte.

Er machte so wenig Krach wie möglich und schlich zur Rückseite des Hauses. Wenn sie nicht gehört hatten, wie er mit dem Wagen im Graben gelandet war, würden sie ihn vermutlich auch nicht hören, wenn er draußen herumschnüffelte. Das untere Schlafzimmer war noch hell erleuchtet, und oben im Gästebereich brannte das Licht im Badezimmer. Das Fenster war für so eine kalte Nacht ziemlich weit geöffnet. Dabei wusste er aus Erfahrung, dass Beth es liebte, das Badezimmer in eine Sauna zu verwandeln, nicht in einen Iglu. Er kauerte sich hinter einen Busch und blickte erneut zu dem unverhängtem Fenster des unteren Schlafzimmers.

Er konnte Abbie auf dem großen Messingbett erkennen, die Arme über dem Kopf. Sie trug ein weißes Nachthemd, das an ihren Oberschenkeln nach oben gerutscht und verdreht war. Die Laken waren weggestoßen und hingen auf den Boden, als hätte sie sich im Schlaf hin und her geworfen. Zumindest von seinem Beobachtungsposten aus schien daran nichts ungewöhnlich zu sein. Sie musste bei eingeschaltetem Licht eingeschlafen sein. Carter passierte das ständig, dass er am Morgen mit einem aufgeschlagenen Buch auf der Brust aufwachte, und er fühlte sich ein wenig schuldig, weil er sie jetzt dabei beobachtete.

Aber dann schien sich etwas zu verändern. Das Licht im Zimmer veränderte sich, als ein Schatten drohend über dem Kopfteil aus Messing auftauchte. Jemand war bei Abbie im Zimmer, stand aber so, dass Carter ihn nicht sehen konnte. Bitte, betete er, lass es nur Beth sein. Oder Ben, der seine Pläne geändert hat und doch mit ihnen aufs Land gefahren ist. Der Schatten wurde größer, und dann sah er, nein, es war nicht Beth. Und auch nicht Ben. Es war eine hochgewachsene Gestalt, steif und gerade wie eine Marmorstatue, mit leuchtend goldenem Haar. Während er mit wachsendem Entsetzen zusah, trat die Gestalt auf das Bett und Abbie zu. Jetzt erkannte Carter, dass sie nicht schlief und dass sie ihre Arme nicht nur über den Kopf gelegt hatte. Sie waren irgendwie an die Bettpfosten aus Messing gefesselt.

Was sollte er tun? Sollte er einen Warnschrei ausstoßen? Oder die Scheibe einwerfen? Er sah sich um und entdeckte ein paar lose Ziegel im Dreck. Ben hatte ihm erzählt, dass sich an der Stelle einst eine Veranda befunden hatte. Er eiste einen Stein von dem fast gefrorenen Boden los, doch unvermittelt wurde er von einem verstohlenen Geräusch über ihm abgelenkt. Nur wenige Meter von ihm entfernt fielen lose Schuttteile auf den Boden. Er blickte auf und sah einen nackten Fuß, der auf dem steilen abschüssigen Schindeldach nach Halt suchte. Ein dünner abgestorbener Zweig fiel vom Dach.

Dann tauchte Beth auf. Sie trug nichts als den kurzen weißen Bademantel, den er ihr zum Valentinstag geschenkt hatte. Sie kletterte auf das Dach und schaute verzweifelt in alle Richtungen. Direkt hinter dem Haus fiel der Boden steil ab, und vom Dach bis nach unten waren es gut sechs Meter.

Carter warf den Stein fort und kroch von dem Busch fort. Ohne ein Wort zu sagen, winkte er mit den Armen, um Beth auf sich aufmerksam zu machen. Fassungslos erstarrte Beth. Selbst von hier unten konnte er ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen erkennen, während er ihr durch Gesten zu verstehen gab, durchzuhalten. Spring nicht! Er formte die Worte mit dem Mund Warte! Dann rannte er zur Vorderseite des Hauses.

Er wusste, dass er zwischen den Betonziegeln und Dielenbrettern eine Leiter gesehen hatte. Sie lag zusammengeklappt auf dem Boden, und das Metall fühlte sich kalt und glatt an, als er es berührte. Er hob die Leiter vom Boden hoch, um jedes Geräusch zu vermeiden, und schleppte sie zur Rückseite des Hauses.

Mit beiden Händen klammerte Beth sich an die Fensterbank, als Carter sich mit der Leiter abmühte, um sie aufzuklappen. Beths Füße begannen zu rutschen, und ein Regen aus Dreck und totem Laub löste sich von den Schindeln. Carter drückte das zentrale Scharnier mit der Hand nach unten und lehnte die Leiter genau unter das Badezimmerfenster.

Sie war nicht lang genug.

»Warte«, flüsterte er und hoffte, dass sie ihn hören konnte, »warte!«

Rasch kletterte er bis nach oben und streckte die Hand aus. »Lass dich runter«, flüsterte er. »Ich fang dich auf.«

Beth ließ eine Hand los und streckte sie Carter entgegen. Er konnte sie immer noch nicht erreichen. »Du musst die andere Hand auch loslassen«, drängte er, und Beth gehorchte widerstrebend. Sie rutschte ein Stückchen, eine Schindel löste sich und rollte über ihren Fuß. Doch gerade, als sie vollends die Balance zu verlieren drohte, bekam Carter ihre Hand zu fassen.

»Halt durch!«, sagte er und zog sie zu sich, während er schwankend auf der höchsten Sprosse der Leiter stand. Einen Augenblick glaubte er, sie würden beide hintenüber kippen. Doch Beth bohrte ihre Zehen in die losen Schindeln und bremste ihren Fall. Carter stieg ein paar Sprossen herunter, dirigierte Beth auf die Leiter und langsam nach unten.

Sobald sie den Boden erreicht hatten, zog er sie in ihre Arme. Sie zitterte, und als er ihr Haar küsste, stellte er fest, dass es nass und eiskalt war. Er zog ihren Bademantel weiter zu und verknotete den Gürtel.

»Abbie …«, flüsterte Beth, »sie ist immer noch drinnen …«

»Ich weiß.«

»… mit ihm«, beendete sie den Satz schaudernd.

Er musste Beth dazu überreden, zu verschwinden und sich irgendwo weit weg vom Haus in Sicherheit zu bringen. Aber wohin, und wie? Es war kein anderes Haus zu sehen, und das Auto der Metzgers würde nicht so bald aus dem Graben kommen.

»Du hast nicht zufällig Abbies Wagenschlüssel, oder?« Doch er kannte die Antwort, ehe er die Frage überhaupt gestellt hatte.

»Was? Nein.« Beth befreite sich aus seiner Umarmung. »Wir müssen ihr helfen.«

»Beth, du kannst nichts tun«, sagte Carter. »Lass mich dich in Sicherheit bringen, und dann komme ich zurück und helfe Abbie, ich schwöre es dir.« Doch wie ein Kämpfer, der schon einiges hatte einstecken müssen, taumelte Beth bereits auf das erleuchtete Fenster des unteren Schlafzimmers zu.

»Beth … bleib stehen«, mahnte er und folgte ihr.

Aber sie befanden sich bereits beide in dem schwachen Lichtrechteck, das aus dem Fenster nach draußen fiel. Beth blieb stehen, starrte in das Zimmer mit dem großen Messingbett, den dazu passenden Nachttischen und dem orientalischen Teppich. Carter blickte ebenfalls hinein, aber alles was er sah, war ein leerer Raum.

»O mein Gott«, sagte Beth und trat näher, den Blick nach oben gerichtet. Jetzt sah auch Carter, was sie entdeckt hatte. Oben an der Zimmerdecke, sich langsam drehend wie ein leuchtender Stern, schwebte Arius. Sein Körper umschlang Abbies und hielt sie beide in der Luft über dem Bett. Ihr Kopf hing im Nacken, als hätte sie das Bewusstsein verloren, und die Arme, die bis auf einen Bademantelgürtel an einem Handgelenk nackt waren, baumelten schlaff an den Seiten.

Arius’ Leib pulsierte in einem goldenen Licht, als er sie in seiner Umarmung nahm. Unwillkürlich musste Carter an einen Naturfilm denken, den er einmal gesehen hatte. Libellen hatten sich mitten in der Luft vereinigt und hektisch mit den Flügeln geschlagen, während sie an Ort und Stelle zu stehen schienen.

Beth hatte den Stein gefunden, den Carter vorhin hineinwerfen wollte, und richtete sich auf.

»Beth«, sagte er, »was tust du da?«

»Das muss aufhören«, sagte sie heiser, und ehe er sie aufhalten konnte, hatte sie den Stein geworfen, direkt in das Schlafzimmerfenster.

Das Fenster erzitterte beim Aufprall, tausend kleine Risse bildeten sich wie bei einem Spinnennetz, doch die Scheibe blieb ganz.

Im Schlafzimmer klammerte Arius sich immer noch an den Körper seines Opfers, doch langsam wandte er den Kopf zum Fenster.

Beth hob einen weiteren Stein vom Boden auf und warf erneut. Dieses Mal zersplitterte das beschädigte Fenster, und die Glasscherben stürzten wie ein Wasserfall herab.

Arius ließ Abbie los, so dass sie rücklings aufs Bett fiel.

Mehr brauchte Carter nicht zu sehen. »Komm«, brüllte er und zog an Beths Hand. »Komm schon!«

Er zerrte sie vom Haus fort und in die Dunkelheit des dahinterliegenden Feldes. Barfüßig stolperte Beth über den unebenen Boden, und Carter musste sie wieder aufrichten und sie weitertreiben. Aber wo sollten sie hin? Am Ende des Feldes, in über einhundert Metern Entfernung, lag die aufgegebene Apfelplantage. Die schwarzen Zweige der abgestorbenen Bäume glitzerten im Mondlicht, und dahinter ragte der einzige Schlupfwinkel weit und breit auf.

»Die Scheune!«, rief er und hielt immer noch Beths Hand fest.

An seiner Seite taumelte sie weiter, und er konnte an nichts anderes denken, als sie dort zu verstecken und dann zurückzukommen und irgendwie Arius zu erledigen.

Sie rannten auf den Obsthain zu. Die ordentlichen Reihen, in denen die Bäume einst gepflanzt worden waren, waren jetzt unregelmäßig und schwer zu erkennen. Wurzeln ragten aus dem Boden, und verdrehte Äste streckten sich einander entgegen, berührten sich manchmal sogar wie knochige Finger. Während sie rannten, schaute Carter immer wieder zurück. Wo war Arius? Warum folgte er ihnen nicht?

»Wie können wir … ihn töten?«, keuchte Beth.

»Ich weiß es nicht«, sagte Carter und schlug einen spröden Zweig aus dem Weg.

Beth wurde langsamer, und Carter sah etwas Dunkles an der Innenseite ihrer Beine. Zuerst dachte er, es sei nur Schmutz, aber dann glänzte es matt im Mondlicht, und er erkannte, dass es sich wahrscheinlich um Blut handelte. Sie musste sich geschnitten haben, als sie vom Dach geklettert war, oder an einem der Zweige, die ihnen im Weg lagen.

»Willst du dich einen Moment ausruhen?«, fragte er. Er blickte zum Haus zurück, konnte aber immer noch nichts sehen. Das Licht war an, aber er sah keine Bewegung.

»Nein, ich kann … weiter«, sagte sie. Trotzdem blieb sie stehen, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Ihr heißer Atem bildete in der Nachtluft Dampfwolken. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der jetzt gegen ihre Wange fiel. Zärtlich legte Carter eine Hand zwischen ihre Schultern.

»Es wird alles wieder gut«, sagte er und fragte sich, ob das die Wahrheit war. War es möglich, dass Arius ihnen tatsächlich nicht nachsetzte?

Oder war er immer noch mit Abbie beschäftigt?

»Wie«, fragte Beth, immer noch vornübergebeugt, »bist du hierher gekommen?«

»Ich habe mir Ezras Wagen geliehen.«

Hoffnungsvoll blickte sie zu ihm empor.

»Er steckt in einem Graben fest. Unbrauchbar.«

Erneut ließ sie den Kopf sinken und holte tief Luft.

»Wir sollten weiter«, sagte Carter. Es brachte nichts, ihr zu erzählen, was mit Ezra geschehen war.

Beth richtete sich auf und zog die Aufschläge des Bademantels zusammen. »Es gibt etwas, vor dem er sich fürchtet«, sagte sie.

»Was?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher. Aber es könnte Wasser sein.«

Carters Gedanken überschlugen sich. Hatte in der Schriftrolle irgendetwas darüber gestanden? Hatte Ezra irgendetwas in diese Richtung angedeutet? »Wie kommst du darauf?«

»Ich habe gerade gebadet, als er mich gefunden hat. Und er hat Abstand gehalten.«

»Vom Wasser?«

»Es war aber auch Blut darin.«

Carter machte ein verwirrtes Gesicht.

»Ich habe Blutungen.«

Ehe er die Sache weiterverfolgen konnte, sah er eine Bewegung im Dachgeschoss des Hauses. Er zog Beth hinter einem Busch nach unten, als er eine Gestalt am weit geöffneten Badezimmerfenster erblickte.

»Er ist oben«, sagte Carter.

Das Licht, das vom Fenster ausstrahlte, wurde heller, als hätte jemand ein Flutlicht im Raum eingeschaltet.

»Warum ist er hinaufgegangen?«, sagte Beth. »Er weiß doch, dass ich weg bin.«

»Vielleicht, weil er von dort besser sehen kann«, erwiderte Carter. »Lass uns weiter.«

Sie drehten sich um und schlichen mit gesenkten Köpfen durch die Bäume. Als Carter erneut zurückblickte, war das Haus dunkel. Es war fast noch beängstigender, Arius nicht irgendwo zu sehen. Außerdem sorgte er sich um Beth. Warum hatte sie Blutungen? Das Blut an ihren Beinen sah frischer und nasser aus als zuvor. Sobald sie die Scheune erreicht hatten, musste er herausfinden, was ihr fehlte, und ihr ein paar von seinen eigenen warmen Kleidungsstücken geben.

Und dann? Was konnte er sonst noch tun? Ezra wusste weiß Gott nicht auf alles eine Antwort, aber ein paar hatte er doch gehabt. Jetzt war Carter ganz auf sich allein gestellt. Wenn es in dieser Schriftrolle oder in den Laborergebnissen irgendeinen Hinweis darauf gab, wie er einen Engel besiegen konnte, der so alt war wie die Zeit selbst, musste er ganz allein darauf kommen, während er auf der Flucht war.

Über ihren Köpfen ertönte ein Geräusch, wie das Schlagen breiter Schwingen. Als Carter aufblickte, sah er zwischen den Zweigen der kahlen Bäume ein goldenes Licht, das sich rasch über den Nachthimmel bewegte. Er wusste, was es war. Das Licht schoss hinauf, bis es nicht größer war als ein Stern, verharrte, als sei es festgenagelt, ehe es unvermittelt zur Erde zurückstürzte.

»Beeil dich!«, sagte Carter, packte Beths Hand und zerrte sie durch den Obsthain. Während sie rannten, hörten sie ein Rauschen, das wie Wind klang und die ganze Zeit näher kam. Ein schwaches Licht beleuchtete den dunklen Boden und die abgefallenen Blätter vor ihnen.

Carter zog Beth in ein schützendes Dickicht. Die Zweige zitterten und knackten wie zerbrechende Knochen, und trockenes Laub wirbelte vom Boden auf. Als das Licht wieder schwächer wurde, drängte Carter: »Komm, weiter.« Die Scheune war nur noch etwa hundert Meter entfernt, aber es gab keine Deckung mehr zwischen ihnen und den lose in den Angeln hängenden Türen. »Wir können es schaffen.«

Beth rappelte sich auf und rannte los über das offene Gelände. Carter schaute nach oben und folgte ihr. Sein heißer Atem bildete Nebelwolken in der Luft, und sein Knie begann zu schmerzen. Als er mit dem Auto im Graben gelandet war, musste es mehr abbekommen haben, als er anfangs dachte. Trotzdem rannte er weiter auf die alten weißen Holztüren zu und überlegte fieberhaft, was er tun sollte, sobald sie drinnen waren.

Der Spalt zwischen den Scheunentüren war nur schmal, aber Beth schlüpfte rasch hindurch. Carter folgte ihr, drehte sich hastig um und versuchte, die Türen zuzudrücken. Aber die Scharniere auf der einen Seite waren kaputt, und die Ecke war fest im Boden verkeilt. Wie kräftig er auch schob, die Tür rührte sich nicht. Er stützte sich mit der Schulter dagegen und probierte es erneut, während Beth sich auf alle viere niederließ und wie rasend begann, die Erde und Wurzeln, welche die Tür offen hielten, wegzukratzen. »Wir müssen erst das hier wegschaffen«, sagte sie, wühlte im Dreck und schleuderte ihn beiseite. Carter versuchte, die Tür anzuheben, aber sie war viel zu groß und schwer. Beth scharrte im Dreck wie ein Hund, der einen Knochen ausgrub, und sagte schließlich: »Versuch es noch einmal.«

Carter schob erneut und trat gegen den unteren Teil. Dieses Mal bewegte sich die Tür quietschend ein paar Zentimeter. »Sie rührt sich«, sagte Carter, und Beth grub weiter. Mit seinem gesamten Gewicht lehnte Carter sich an die Tür, bis Beth aufstand und sich ebenfalls dagegenwarf. Das alte Holz knarzte, bewegte sich schließlich zitternd und stieß beinahe an den Rand des anderen Torflügels. »Das reicht«, sagte Carter, griff nach dem Querbalken und ließ ihn herunter. Doch der Balken tat ihm nicht den Gefallen, ganz herunterzufallen, Carter musste sich auf die Zehenspitzen stellen und mit beiden Händen daran ziehen, bis die beiden Flügel endlich von hinten gestützt wurden.

Endlich war die Tür verschlossen. Keuchend trat er zurück. Beth strich sich die Haare aus den Augen und zitterte in ihrem Bademantel. Carter öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke und sagte: »Schnell, zieh die hier an.«

»Nein«, sagte sie schaudernd. Er fürchtete, dass sie bereits einen Schock erlitten hatte.

»Doch.« Anstatt zu versuchen, ihr erst den Bademantel auszuziehen, stopfte er einfach ihre Arme in die Ärmel und nestelte dann am Reißverschluss herum. »Wir werden die Sache durchstehen«, sagte er. »Wir werden hier heil rauskommen.«

Ihr Blick war wild und unfokussiert. Carter zog sie an seine Brust. Mondlicht schimmerte durch die Ritzen zwischen den verrotteten Dachbalken, aber es genügte, damit Carter erkennen konnte, dass die Scheune fast leer war. Am anderen Ende machte er ein paar baufällige Pferdeboxen aus. Darüber befand sich ein gefährlich durchhängender Heuboden.

»Sollen wir uns verstecken?«, murmelte Beth in sein Hemd, und Carter antwortete: »Ja, da oben«, und deutete auf den Boden. Der Plan war genauso gut wie jeder andere. Aber er wusste auch, dass es nicht viel brachte. Sicherlich wusste Arius, wohin sie verschwunden waren. Oder würde es früh genug irgendwie herausfinden.

Er hielt die wackelige Leiter fest und ließ Beth als Erste hinaufklettern. Der Boden war ziemlich geräumig, aber an der Rückseite offen, so dass sie die dunkle Landschaft sehen konnten. Wenn es früher einmal Türen gegeben hatte, waren sie längst verschwunden. Der Holzboden war mit Haufen aus modrigem verfaultem Heu bedeckt, und an den Wänden hingen verloren ein paar rostige Werkzeuge, eine alte Heugabel, eine Harke und eine Hacke. »Zieh den Kopf ein«, sagte Carter und kniete sich neben Beth, »und lass dich nicht blicken.«

Doch als er begann, sich von ihr zu lösen, umklammerte sie seinen Arm und sagte: »Wo willst du hin?«

»Ich lasse dich nicht allein. Ich will mich nur umschauen. Vielleicht gibt es hier etwas, das uns von Nutzen sein könnte.« Er hatte gerade ihre Finger von seinem Ärmel gelöst und sich erhoben, als die Scheunentüren gegen den Querbalken schlugen, der sie verschloss.

»Er ist hier«, stöhnte Beth.

Carter hatte es gewusst.

Die Türen klapperten erneut. Der Querbalken wackelte, und durch den schmalen Spalt zwischen den Torflügeln schoss ein heller Lichtstreifen wie ein leuchtender Dolch auf den dreckigen Boden.

»Ich gehe runter«, sagte Carter, doch Beth umklammerte erneut seinen Ärmel und sagte: »Nein! Bleib hier!«

Aber Carter wollte nicht abwarten, bis der Feind zu ihm käme. Er kletterte die Leiter hinab und schlich verstohlen auf die Tür zu.

Die Torflügel dröhnten erneut, als würden sie von einem Vorschlaghammer getroffen, und ein Stück Holz flog davon. Carter kroch zur Tür, wartete, bis alles still war und schob dann vorsichtig ein Auge vor die Öffnung.

Ein anderes Auge starrte ihm direkt entgegen, so nah, dass die Wimpern beinahe seine eigenen berührten.

»Wir sind eigentlich keine Feinde«, sagte Arius. Sein Atem roch wie ein immergrüner Wald nach dem Regen. Carter wollte zurückspringen, aber etwas hielt ihn an Ort und Stelle. Im Auge des Engels war etwas, eine sich kräuselnde Flamme in der Iris, die ebenso hypnotisierend wirkte wie der Anblick eines knisternden Feuers.

»Wir haben ein gemeinsames Interesse.«

Carter konnte sich denken, was das war, und das schickte einen kalten Schauder über seinen Rücken. Ohne den Blick von der Öffnung zwischen den Torflügeln abzuwenden, wich er ein paar Zentimeter zurück. Doch es war, als versuchte er, einer unsichtbaren Macht Widerstand zu leisten. In der Stimme des Engels lag eine eindringliche Verführungskraft, etwas, das sie … vertraut wirken ließ. Wie die Stimme eines alten Freundes, den man seit Jahren nicht gesprochen hatte.

Und den man zutiefst vermisst hatte.

Carter hatte das Gefühl, seine Hände, seine Gedanken, selbst sein Wille würden auf raffinierte Weise umsponnen. Er wusste, was er tun musste, wusste, was er wollte, aber Arius’ Stimme, dieses goldene Licht, der frische Waldgeruch überwältigten ihn beinahe.

Eine lange weiße Hand, perfekt geformt bis auf den Mittelfinger, von dem nur noch ein Stumpf übrig war, schob sich durch die Öffnung unter den Querbalken, der die Tür verschloss. »Lass uns reden«, sagte Arius ruhig, so wie ein Vermittler der Polizei jemanden ansprechen würde, der gerade im Begriff war, von einer Brücke zu springen.

Stumm vor Entsetzen sah Carter zu, wie die Finger den Querbalken packten und in die Höhe schoben. Der Balken hob sich einen Zentimeter, dann zwei. Er war bereits fast ganz gelockert, als Beth vom Heuboden rief: »Carter! Nein!«

Es war, als hätte ihm jemand einen Eimer mit Eiswasser ins Gesicht geschüttet.

»Halt ihn auf, Carter!«

Er schüttelte sich, schaute erneut auf die schmale Hand, die den Querbalken anhob, und stellte fest, dass sie jetzt eher der weißen knöchrigen Hand eines Skeletts glich. Es war die Hand, die seinen Freund Joe getötet hatte, die Hand, die Tod und Zerstörung über die Welt bringen konnte. Krachend riss er den Querbalken nach unten, und die Hand wurde hastig zurückgezogen.

Die Türflügel stießen erneut gegeneinander.

Abrupt erlosch das helle Licht auf der anderen Seite, und genauso plötzlich herrschte Stille. Kein wütender Aufschrei, kein verärgerter Fluch, nicht einmal Flügelschlagen. Carter stand ganz still und lauschte, aber alles, was er außer seinem eigenen flatternden Atem hörte, war das Zirpen der Grillen.

Er trat zurück, den Blick immer noch auf die Scheunentore geheftet. »Wo ist er?«, hörte er Beth fragen.

»Ich weiß es nicht.«

»Aber er ist doch weg, oder? Das Licht ist verschwunden.« In ihrer Stimme schwang eine Mischung aus Wunschdenken und Beinahe-Hysterie mit.

Ja, das Licht war verschwunden. Ja, es war kein Ton zu hören. Und so sehr Carter auch wünschte, es könnte so einfach sein, wusste er, dass es das nicht war. Er wusste nicht, wo Arius war oder was er vorhatte, aber tief im Herzen war ihm klar, dass er nicht gegangen war.

Er entfernte sich noch weiter von der Tür. Der einzige Weg, wie er es mit Sicherheit herausfinden konnte, war, das Tor zu öffnen und sich draußen umzuschauen.

Aber dazu war er noch nicht bereit.

Er drehte sich um und sah Beths Kopf über die Kante des Heubodens lugen. Ihr Gesicht war schmutzig und zerkratzt, das dunkle Haar verfilzt, halb an ihrem Kopf angefroren und mit hellen abgebrochenen Strohhalmen verziert. Trotzdem war er sich sicher, dass sie nie in ihrem Leben schöner ausgesehen hatte. Erneut erklomm er die Leiter, ohne die Scheunentür aus den Augen zu lassen. Beth fiel ihm um den Hals. Eine Weile standen sie nur da und wiegten sich behutsam hin und her, ohne ein Wort zu sagen. Er hob eine Hand, um ihr übers Haar zu streichen, doch als er Beths Zittern spürte, legte er sie stattdessen auf den Rücken und versuchte, sie warmzurubbeln. Durch die offene Rückseite drang kalte Nachtluft auf den Heuboden.

Wie lange sie auf diese Weise dastanden, hätte er nicht sagen können. Er hatte die Augen geschlossen und wollte sie am liebsten nie wieder öffnen. Er wollte einfach nur Beth festhalten und glauben, dass die Gefahr vorüber sei. Er wollte sich vorstellen, sie seien in Sicherheit und Abbie im Haus am Leben und unverletzt. Doch das Gefühl wurde immer drängender, dass er die Augen wieder öffnen musste, und zwar auf der Stelle. Sie waren nicht mehr allein in der Scheune.

Er schlug die Augen auf. Es war immer noch dunkel. Er machte Shhh zu Beth und bedeutete ihr, sich auf den Boden zu kauern. Dann drehte er sich um und schaute zu den Holztüren. Der Querbalken war immer noch an seinem Platz und die Türen geschlossen. Nirgends in der Scheune entdeckte er ein Zeichen von Arius, aber das Gefühl wollte nicht verschwinden, und sein Nacken hörte nicht auf zu kribbeln.

»Ihr werdet geboren«, sagte die Stimme, »und schreit.«

Carter wirbelte herum. Im tiefsten Schatten unter einem Vorsprung hockte Arius auf einem uralten Heuballen. Sein nackter Körper strahlte im Moment kein Licht ab. Rein und weiß saß er vollkommen reglos da.

»Ihr lebt in Angst.« Seine Stimme war grabesdunkel und seltsam schwermütig.

Langsam schob Carter sich zwischen Beth und den Engel.

»Und ihr sterbt voller Furcht.«

Beth kauerte sich an der Wand unter den Werkzeugen zusammen.

»Aber so müsste es nicht sein.« In der Finsternis unter den Dachsparren war der Engel kaum zu erkennen. »Hätte es nie sein müssen.«

So sehr es Carter auch widerstrebte, den Blick von der reglosen Gestalt abzuwenden, er musste sich nach irgendeiner Art Waffe umschauen. Nach irgendeiner Möglichkeit, zu entkommen. Aber was für ein Entkommen konnte das schon sein? Die Leiter würden sie niemals erreichen, und ein Sprung vom Heuboden aus auf den harten Boden draußen könnte sie glatt umbringen.

»Wir waren eure Freunde«, psalmodierte der Engel, »und wir könnten es wieder werden.«

»Nein, das könnt ihr nicht«, sagte Beth, und als Carter sich umdrehte, sah er, dass sie die alte Heugabel von der Wand genommen hatte und sie gegen ihren eigenen Bauch hielt. »Ich weiß, was du willst, und ich werde mich eher selbst töten, als dass ich das zulasse.«

»Beth!«, schrie Carter, entsetzt von ihrem wilden Gesichtsausdruck. »Leg das Ding weg!« Er griff nach der Gabel, aber Beth schwang plötzlich herum, um ihn abzuwehren und traf dabei aus Versehen seine Hand. »Nein, Carter. Ich meine es ernst!«

Während Carter seine verletzte Hand umklammerte, erfasste ihn eine plötzliche Brise, frisch und nach Wald riechend. Ein schwaches goldenes Licht erfüllte den Heuboden. Klappernd schlug die Heugabel auf dem Holzboden auf.

Arius leuchtete und zerrte Beth an einem Arm mit sich.

Wie ist er dorthin gekommen?

Er hielt auf die Rückseite des Bodens zu. Carter traute seinen Augen und seinem Verstand kaum, als er sah, wie sich zwischen Arius’ Schulterblättern ein Paar Flügel entfaltete.

Doch es waren nicht die glatten und gefiederten Flügel eines Vogels. Was sich da hoch über dem Kopf des Engels berührte, waren ledrige fledermausartige Schwingen, die Carter unwillkürlich an einen Pterodactylus denken ließ.

»Nein!«, schrie Beth und befreite sich windend aus seinem Griff. Der Engel drehte sich zu ihr um, aber es war zu spät. An der Kante des Heubodens schwankte sie kurz, ehe sie schreiend auf den Boden darunter stürzte.

»Beth!«, rief Carter, und ehe der Engel reagieren konnte, hatte er die Heugabel aufgehoben und sie ihm in den Rücken gerammt. Eine der rostigen Zinken durchbohrte den Engel an der Seite.

Aber das war es auch schon. Im nächsten Moment klappten die großen Schwingen nach vorn, und Carter fühlte sich in Arius’ Umarmung gefangen, wie ein hilfloses Tier in den Windungen einer Boa constrictor.

Je mehr er zappelte und sich wand, desto enger schlossen sich die Schwingen um ihn. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, und sobald er versuchte, Atem zu holen, drückte der Engel noch kräftiger zu und verhinderte es.

Er dachte an Beth und ihren Sturz …

Seine Lungen brannten und sein Herz verausgabte sich.

… und was sie über das Wasser gesagt hatte …

Sein Blickfeld begann bereits kleiner zu werden.

… und an die Schriftrolle … in der es hieß, das Blut der Menschen und das Blut der gefallenen Engel …

Winzige schwarze Punkte begannen vor seinen Augen zu tanzen.

… dürfe sich niemals vermischen …

Als er spürte, dass ein schwarzer Nebelschleier sich über ihn zu legen begann, zwang er sich, in der Umklammerung der Schwingen den Arm zu heben.

Seine Lungen kollabierten, sein Körper sackte zusammen.

Bis er die schartige Wunde fand, die von der Heugabel stammte, und dem Engel seine blutverkrustete Hand in die Seite presste.

Arius erschauderte, und der Griff des Engels lockerte sich ein winziges Stück.

Doch das genügte. Carter gelang es, einen halben Atemzug zu nehmen, dann kratzte er die Wunde an seiner Handfläche mit den Nägeln wieder auf, um das eingetrocknete Blut zu befeuchten. Frisches Blut rann aus der Wunde.

Arius stieß seinen Atem aus. Der Duft eines regennassen Waldes wurde überdeckt vom Geruch eines heißen Wüstenwindes.

Carter drückte seine blutende Hand noch kräftiger gegen die Wunde des Engels. Seine Schwingen erbebten, am Anfang nur ein wenig, doch schließlich unkontrollierbar. Die Umklammerung lockerte sich noch weiter.

Carter befreite sich, taumelte in die Ecke des Heubodens und krümmte sich keuchend.

Arius’ geöffnete Schwingen bebten. Er hielt den Blick nach oben gerichtet und stand da wie eine blendende Lichtsäule. Er brannte heller als je zuvor, doch er glich weniger einem Leuchtfeuer als vielmehr einem außer Kontrolle geratenen Brand. Hitzewellen wie von einem riesigen Hochofen ließen das alte Heu in einem knisternden Mahlstrom um seinen Leib herumwirbeln. Er taumelte auf die Rückseite des Bodens zu, konzentrierte noch einmal seine ganze Kraft und warf sich trotzig dem Nachthimmel entgegen, als wollte er ihn ein letztes Mal verfluchen.

Auf allen vieren kroch Carter zur Öffnung und sah, wie der Engel ein-, zwei-, dreimal mit den Flügeln schlug. Jedes Mal trugen sie ihn höher und weiter davon. Gleich lodernden Segeln schwangen sie über die kargen Felder, dem Mond und den Sternen entgegen. Das Licht, das von ihm ausging, wurde kleiner, schwächer, ferner, bis es schließlich vollkommen erlosch und nichts am Himmel zurückließ als einen Punkt, der dunkler und leerer zu sein schien, als alles um ihn herum.

Und dann war selbst er verschwunden.

Carter hockte auf dem offenen Heuboden, über sich nichts als den dunklen Nachthimmel. Unter ihm lag Beth auf einem Haufen aus verrottendem Heu und totem Laub und bewegte sich unter Schmerzen.


42. Kapitel

Sommer

»Unten gibt es eine Cafeteria, in der Sie einen Kaffee bekommen, wenn Sie möchten.«

Carter hob den Blick vom Fußboden und nickte der Krankenschwester in der Tür zu. »Danke, mir fehlt nichts.«

Sie schenkte ihm ein routinemäßiges Lächeln und verschwand. In der Ecke liefen im Fernsehen Nachrichten auf CNN mit leise gestelltem Ton. Der größte Teil des Landes litt unter einer Hitzewelle. Carter war allein im Raum, dem Wartebereich auf der Entbindungsstation des St. Vincent’s, der allein werdenden Vätern vorbehalten war. Und er wusste, warum.

In den letzten Monaten waren seine Sorge und Ungewissheit immer weiter angewachsen. Sobald sie erfahren hatten, dass Beth in der Tat schwanger war – »allen Widrigkeiten zum Trotz«, wie Dr. Weston ihnen wiederholt bestätigt hatte –, hatte Carter sich zunehmend grausigere Szenarien ausgemalt. Es war ihm fast unmöglich, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Aber jedes Mal, wenn er auch nur andeutete, dass etwas Schreckliches vor sich ging, dass er Gründe hatte zu glauben, das Baby könnte nicht auf normale Weise oder nicht gesund zur Welt kommen, wurde er mit einem nachsichtigen Lächeln oder einem Schulterklopfen abgespeist, dazu der eine oder andere Rat über das Lampenfieber beim ersten Mal und wie man darüber hinwegkäme.

Doch die Wochen vergingen, und seine Ängste wuchsen, bis schließlich die Chance, dass er bei der Geburt im Kreißsaal zugelassen würde, immer geringer wurden. Als Erster hatte Dr. Weston gewarnt, dass die Geburt möglicherweise »zu belastend« für ihn sein könnte, und schließlich hatte sogar Beth seine Hände ergriffen und ihm gesagt, dass ihr wohler dabei wäre, wenn er »in der Nähe, aber nicht im selben Raum« wäre. Sie hatte so getan, als sei es eine Frage des Anstands. »Ich will nicht, dass du mich schreien siehst, während meine Haare am Kopf kleben und meine Beine in der Luft hängen.« Aber er wusste, worum es wirklich ging. Er machte alle wahnsinnig.

»Da bist du ja«, hört er jemanden rufen, und Abbie stürmte herein. »Ich bin sofort gekommen, als ich deine Nachricht erhalten habe.« Sie ließ sich auf den Stuhl neben Carter fallen und legte eine Hand auf sein Knie. »Irgendwelche Neuigkeiten?« Mit der anderen Hand öffnete sie den obersten Knopf ihrer Bluse und lockerte den Kragen. »Heiß ist es hier.«

»Allerdings«, sagte er.

»Puh.« Sie ließ den Blick durch den kleinen nichtssagenden Raum schweifen.

»Danke, dass du gekommen bist«, sagte er pflichtschuldig. Er wusste, wie schwer es für sie sein musste. Ihr letzter Krankenhausaufenthalt lag noch gar nicht lange zurück, sie hatte eine Fehlgeburt gehabt.

»Ich hatte nicht erwartet, dass es so schnell gehen würde«, sagte sie.

»Damit hat niemand gerechnet.«

»Ich hatte gedacht, wir hätten noch eine Woche oder so. Ben wäre auch gekommen, aber er ist die ganze Woche in Boston.«

»Geschäftlich?«

»Nein, er hat da eine Freundin.«

Als er weder lachte noch irgendeine andere Reaktion zeigte, sagte sie: »Das war ein Witz, Carter. Kein besonders guter, aber trotzdem ein Witz.«

»Tut mir leid. Ich fürchte, ich bin etwas abgelenkt.«

»Dazu hast du jedes Recht. Wie lange bist du schon hier?«

Carter schaute auf die Uhr über dem Fernseher. »Etwa vier Stunden.«

Abbie nickte.

Jeden Augenblick konnte es so weit sein. Das war es, was sie dachte. Das war es, was er seit vier Stunden dachte. Jeden Augenblick konnte er die Antwort erhalten. Aber wollte er es auch?

Abbie tat, als würde sie sich den landesweiten Wetterbericht ansehen. Carter konnte sie kaum ansehen, ohne an die grauenvolle Nacht auf dem Land erinnert zu werden. Doch eines war ihm zunehmend klarer geworden: Er war der Einzige, der sich überhaupt erinnerte. Er hatte festgestellt, dass Abbie nichts mehr von dem wusste, was Arius mit ihr angestellt hatte. Wenn jemals Bilder des Überfalls in ihrem Bewusstsein aufflackerten, wurden sie als nichts weiter als ein Albtraum abgetan, den sie einmal gehabt hatte.

Genauso war es bei Beth.

Gewiss, sie erinnerte sich daran, aus dem Badezimmerfenster geklettert, durch den Obsthain gerannt und aus Arius’ Umklammerung vom Heuboden gefallen zu sein, aber sie erinnerte sich an nichts, was ihr in jener entscheidenden Nacht in New York vor Monaten zugestoßen war. Als Carter behutsam versucht hatte, es ihr zu erzählen, hatte sie zuerst überrascht und schließlich mit wachsendem Entsetzen reagiert. Schließlich hatte sie ihm eine Hand auf den Mund gelegt und gesagt: »Hör auf! Ich werde ein Kind bekommen, unser Kind, und ich habe schon genug Sorgen. Rede mir nichts ein, das es noch schwerer machen würde.«

Also hatte er seine Sorgen Dr. Weston vorgetragen. Dieser hatte ihm die Laborergebnisse und Ultraschallbilder gezeigt und ihm geraten, sich zu entspannen. »Aber Sie haben doch selbst erzählt, dass Beth unmöglich von mir schwanger werden kann.«

»Ich bin nicht unfehlbar«, hatte Dr. Weston gesagt. »Es sind schon merkwürdigere Dinge geschehen.«

Ach, tatsächlich?

»Mr Cox?«, sagte die Schwester und steckte erneut den Kopf durch die Tür. Carter sagte nichts, bis Abbie schließlich an seiner statt antwortete. »Ja?«

»Der Doktor kommt in einer Minute, um mit Ihnen zu reden.«

Ehe er sie noch irgendetwas fragen konnte, hatte sie sich schon wieder zurückgezogen. Was hatte das zu bedeuten: Der Doktor kommt, um mit Ihnen zu reden? Er sah Abbie an, und selbst sie sah ein wenig besorgt aus.

»Glaubst du, dass irgendetwas nicht stimmt?«, fragte Carter sie.

Wenig überzeugend schüttelte Abbie den Kopf. »Nein. Wie kommst du darauf?«

»Der Klang ihrer Stimme. Irgendwie hörte sie sich unehrlich an.«

»Ich bin sicher, dass sie viel zu tun hat.«

»Nein, in ihrer Stimme schwang etwas mit«, beharrte Carter.

Abbie tat, als würde sie etwas tief unten in ihrer Tasche suchen, und Carter stand auf und ging zum Fenster. Sie befanden sich im zehnten Stock, und als er hinausblickte auf die Lichter der Stadt, stellte er fest, dass das alte Sanatorium auf der anderen Straßenseite verschwunden war. An seiner Stelle ragte das stählerne Gerüst des Neubaus der Villager-Genossenschaft in die Höhe. Er fragte sich, was Ezra, der sich immer noch in einer Privatklinik im Norden »erholte«, davon halten würde. Oder ob es ihn überhaupt interessierte.

Erneut hörte er, wie die Tür geöffnet wurde. Als er sich umdrehte, kam Dr. Weston, immer noch im OP-Kittel, gerade herein. Schweiß stand ihm auf der Stirn, und er wischte sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, platzte Carter heraus.

Der Arzt hob die Hände. »Im Moment ist alles in Ordnung.«

»Aber da war etwas?«

Abbie stand auf, die offene Handtasche griffbereit. Sie kannte Dr. Weston gut, schließlich hatte sie Beth empfohlen, sich an ihn zu wenden.

»Ja«, gab Dr. Weston zu, »aber jetzt ist alles in Ordnung. Warum setzen wir uns nicht?«

Wie betäubt ging Carter zum Sofa und setzte sich neben Abbie. »Ich bin ihre beste Freundin«, sagte sie zum Arzt, während er sich einen Stuhl heranzog. »Sie können mir alles erzählen.«

»Ja, ich weiß.« Als er saß, schaute er Carter an und sagte: »Ich will Ihnen nichts vormachen, es war ein hartes Stück Arbeit.«

»Ich weiß, dass es zu früh gekommen ist, aber …«

»Ja, einmal das. Aber bei ihrer Frau sind noch weitere Komplikationen aufgetreten. Sie bekam einen plötzlichen Fieberschub …«

»Ist das ungewöhnlich?«

»Ja, besonders in dieser Höhe. Wir mussten uns beeilen und einen Kaiserschnitt machen, damit wir anschließend ihre Körpertemperatur wieder runterbringen konnten. Wir haben ihr ein fiebersenkendes Mittel gegeben und sie kurz in ein Eisbad gelegt.«

»Und jetzt?«

»Ihre Temperatur ist wieder unter Kontrolle Aber sie hat eine Menge Blut verloren.«

»Brauchen Sie eine Spende?«, sagte Abbie. »Ich könnte Ihnen auf der Stelle etwas geben.«

»Danke, aber Beth hat eine sehr seltene Blutgruppe, AB negativ. Glücklicherweise hat sie zwei Konserven Eigenblut gespendet. Wir haben beide gebraucht.«

»Aber jetzt geht es ihr gut?«, fragte Carter stockend.

»Ja, es geht ihr gut, und sie ruht sich aus.«

»Und das Baby?«

Jetzt lächelte Dr. Weston. »Dem Baby geht es ebenfalls gut. Er ist geradezu perfekt.«

»Kann ich sie jetzt sehen?«, fragte Carter.

»Ja, natürlich«, sagte Dr. Weston und erhob sich. »Aber seien Sie gewarnt – sie wird sich noch eine Weile ziemlich benommen fühlen.«

Carter stand auf, aber Abbie sagte: »Geh du allein. Ich besuche sie morgen.« Erneut wühlte sie in ihrer Tasche herum, bis sie schließlich ihr Handy herausfischte. »Ich rufe Ben an und erzähle ihm die gute Neuigkeit.«

»Okay«, sagte Carter und berührte ihre Hand. Als sie zu ihm emporschaute, lag in ihrem Blick etwas Trauriges und Unergründliches.

»Grüß sie ganz lieb von mir«, sagte sie.

»Mach ich.«

»Das erste Zimmer links«, sagte Dr. Weston, »aber versuchen Sie, nicht zu lange zu bleiben. Sie hat einiges durchgemacht.« Mit dem Ellenbogen drückte er auf den Türöffner in der Wand, und die Tür zur Station öffnete sich für Carter.

»Ach ja«, sagte Carter, kurz bevor er hineinging, »danke übrigens. Für alles.«

»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Dr. Weston. »Noch nie habe ich mich so sehr gefreut, so gründlich danebengelegen zu haben.«

Allmählich fühlte Carter Erleichterung in sich aufsteigen. Im Stillen hatte er sich seit Monaten vor dieser Nacht gefürchtet, aber jetzt, da sie gekommen und fast vorüber war, begannen seine düsteren Vorahnungen endlich zu verblassen. Er hatte einen Sohn, einen normalen Sohn, einen perfekten Sohn, und Beth würde wieder gesund werden.

Er konnte Beths leicht lallende Stimme hören, wie sie etwas über Eiscreme sagte. Als er in der Tür zum Zimmer stehen blieb, lachte eine Krankenschwester.

»Möchtest du ein Eis?«, fragte er Beth.

»Nein«, antwortete die Schwester, »sie sagte, sie möchte in Eiscreme baden.«

»Das lässt sich einrichten«, sagte er und trat näher ans Bett.

Nachdem die Schwester gegangen war, streckte Beth eine Hand aus. Das Plastikarmband des Krankenhauses baumelte an ihrem Handgelenk. Im anderen Arm hielt sie ein kleines Bündel in einer blauen Decke. Sie sah erschöpft, aber glücklich aus.

»Darf ich dir Joseph Cox vorstellen?«, sagte sie.

Einhellig waren sie zu dem Schluss gekommen, ihn nach Russo zu benennen.

Carter trat ans Bett, ergriff ihre feuchte Hand und blickte auf seinen neugeborenen Sohn hinunter. Es gab nicht viel zu sehen, nur ein winziges rotes Gesicht, zusammengekniffene Augen und ein paar feine Löckchen aus blondem Haar auf dem Kopf. Trotzdem war es das Wunderbarste, das er je gesehen hatte.

»Ist er nicht wunderschön?«, fragte sie.

»Ja«, sagte Carter, »genau wie seine Mutter.« Er verschwieg ihr, dass er sich an das Ei eines Triceratops erinnert fühlte, das er einmal ausgegraben hatte und das genauso groß gewesen war wie der Schädel seines Babys. Mittlerweile hatte er gelernt, dass es besser war, gewisse Dinge für sich zu behalten.

»Möchtest du ihn mal halten?«

»Aber sicher«, sagte er, obwohl er es gar nicht war. Sie hielt ihm das hellblaue Bündel hin, und er legte es in seine Armbeuge. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er etwas so vorsichtig angefasst.

»Puh, bin ich kaputt«, sagte Beth mit einem lauten Seufzer, während Carter seinen Sohn wiegte. Das Baby wog sogar noch weniger, als er erwartet hätte. Es wog fast nichts.

»Wie viel bringt er auf die Waage?«, fragte er.

»Sie haben es mir gesagt«, sagte sie, die Augen halb geschlossen. »Aber ich habe es vergessen.«

Langsam ging Carter zum Fenster, immer noch mit dem schlafenden Baby im Arm.

»Tust du mir einen Gefallen?«, bat Beth. Sie hatte die Augen jetzt ganz geschlossen. »Kannst du das Fenster aufmachen? Es ist so heiß hier drin.«

»So heiß nun auch wieder nicht«, sagte Carter. »Vielleicht solltest du einfach eine Weile schlafen.«

»Nur einen Spalt. Ich brauche unbedingt frische Luft.«

Er besah sich das Fenster und stellte fest, dass es sich mit einer Kurbel öffnen ließ. Mit der freien Hand nahm er den Griff und öffnete das Fenster ein paar Zentimeter weit.

»Das ist gut«, sagte Beth und schob sich das Laken von den Schultern. »Ich kann atmen.«

Vorsichtig schaukelte Carter das Baby, das sich in seinen Armen zu regen begann. Auf der anderen Straßenseite, hoch oben auf einem Stahlträger des Villager-Gebäudes, meinte er eine Bewegung gesehen zu haben.

Ein Bauarbeiter, so weit oben, zu dieser Uhrzeit? Im Dunkeln?

Das Baby greinte, und Beth streckte die Arme aus. Carter gab ihn zurück, dann beugte er sich vor und hauchte Beth einen Kuss auf die Stirn. Ihre Haut war immer noch warm. Sie schnurrte leise mit geschlossenen Augen.

»Schlaf ein bisschen«, sagte er. »Ich besuche dich morgen wieder.«

Er drehte sich um und spähte noch einmal angestrengt aus dem Fenster. Erneut suchte er mit Blicken das Stahlskelett auf der anderen Straßenseite ab.

Aber jetzt sah er kein Zeichen von irgendjemandem. Das vorhin musste eine Täuschung im Mondlicht gewesen sein.

Er wollte nicht, dass im Zimmer Zugluft herrschte, und begann, das Fenster zu schließen. Doch Beth murmelte: »Ach, lass es doch auf … das Geräusch ist so schön.«

Welches Geräusch?, dachte Carter. Doch dann hörte er es ebenfalls.

Glocken. In der Ferne läuteten Kirchenglocken. Er blickte auf die Uhr. Es war viertel nach zehn. Der Großteil der Stadt lag im Dunkeln.

Er ließ die Jalousien herunter. Als er zurück zum Bett schaute, schliefen Beth und das Baby tief und fest.


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