Prolog

Lago d’Averno, Italien

Träge tanzte das Boot auf dem Wasser, die Wellen schlugen leise an seine Seiten. Kevin lag auf dem Deck und sog die Sonnenstrahlen auf. Eine Hand umfasste die Bierdose, die Füße hatte er gegen das aufgerollte Segel gestützt. Davon hatte er seit Tagen geträumt. Während des endlosen Probe-Essens mit den dämlichen Trinksprüchen, während der aufwendigen Hochzeit und dem noch aufwendigeren anschließenden Empfang im Country Club von Great Neck. Selbst danach. Als er die Glückwünsche der Gäste entgegennahm und Leuten die Hände schüttelte, die er nie zuvor gesehen hatte und wahrscheinlich auch nie wieder sehen würde, zählte er die Stunden, bis er endlich würde entrinnen können. Er konnte an nichts anderes denken als an den Moment, in dem Jennifer und er endlich allein sein würden. Allein an einem Ort, an dem es keine Bands gab, keine Tänze, keine Torten, die angeschnitten, Geschenke, die gewürdigt, oder Fremde, die begrüßt werden mussten.

Und jetzt war er zweifelsohne dort.

Auf dem Flug vom Kennedy Airport nach Rom hatte er fast die ganze Zeit geschlafen. Erst auf dem kürzeren Anschlussflug nach Neapel hatte er sich endlich gefühlt, als sei er tatsächlich auf dem Weg in die Flitterwochen. Jennifer und er hatten es geschafft, zwei nebeneinanderliegende Plätze am Gang zu ergattern. Unter der roten Alitalia-Decke alberten sie zum ersten Mal auf – oder zumindest über – einem anderen Kontinent herum.

»Europa und Nordamerika sind abgehakt«, hatte Jennifer lächelnd geflüstert. »Fehlen also nur noch fünf Kontinente.«

»Ich rufe das Reisebüro an, sobald wir wieder zurück sind«, erwiderte Kevin.

Das Mietboot gehörte zum Gesamtpaket der Reise dazu. Es war nicht so schön wie diejenigen des Country Clubs, mit denen Kevin regelmäßig segelte, aber es hatte alles, was sie brauchten – eine Kühlbox, einen CD-Player und einen Schrank, gefüllt mit allem Notwendigen von Sonnencreme bis Kondome (die Italiener dachten einfach an alles). Sie hatten drei Tage am See, um sich zu entspannen und richtig anzukommen, ehe es weiterging nach Venedig. Zum Glück zahlten Jennifers Eltern die Rechnung.

Er hörte es spritzen, und kaltes Wasser traf ihn im hohen Bogen an den Beinen.

»Komm schon!«, rief Jennifer neben dem Boot. »Willst du dich etwa gar nicht bewegen?«

Kevin drehte sich um und stützte sich auf den Ellenbogen. Jennifer paddelte in ihrem hellroten Bikini in dem azurblauen See. Ihr langes braunes Haar breitete sich über den Schultern aus.

»Warum kommst du nicht zurück an Bord?«, sagte er. »Wir können uns auch hier bewegen.«

»Das ist aber kein Aerobic.«

»Es wäre es, wenn du es richtig machen würdest.«

Jennifer lachte, dann entfernte sie sich paddelnd vom Boot. Kevin beobachtete, wie sie gemächlich auf die zerklüfteten grauen Klippen zuschwamm, welche die Bucht umgaben, in der sie ankerten. Er trank das Bier aus und warf die Dose in die Kühlbox, dann stand er auf und streckte sich. Schwimmen war vielleicht gar keine so schlechte Idee.

Er ging am Mast vorbei und nahm sich eine Sekunde Zeit, um sich gegen den Schock des kalten Wassers auf seiner heißen Haut zu wappnen. Schließlich vollführte er einen perfekten Kopfsprung in den See. Das Wasser war sogar noch kälter als erwartet. Prustend tauchte er wieder auf und wischte sich die nassen Haare aus den Augen.

»Hier bin ich!«, rief Jennifer.

Kevin blickte sich um, doch alles, was er erkennen konnte, war das Aufleuchten ihres roten Bikinis irgendwo rechts von ihm. Er begann, darauf zuzuschwimmen. Das Wasser war so klar, dass er seine Arme sah, wenn sie es durchschnitten.

»Du kommst nie darauf, was ich gefunden habe.«

»Atlantis?«, sagte er.

»Vielleicht.«

Als er sich ihr näherte, gewöhnte er sich allmählich an die Wassertemperatur. In ein oder zwei Minuten könnte es sich tatsächlich erfrischend anfühlen. Jetzt konnte er erkennen, dass Jennifer vor einer kleinen Höhle in den Klippen Wasser trat. Zerklüftete graue Felsen ragten über den Eingang.

»Sieh mal«, sagte sie, »man kann hineinsehen.«

Kevin schwamm an ihre Seite und hielt sich an einem überhängenden Felsen fest. Sie hatte recht. Das Sonnenlicht, das auf dem Wasser glitzerte, wurde in der engen Grotte reflektiert. Etwas in ihrem Inneren, möglicherweise ein phosphoreszierendes Mineral, ließ die Wände funkeln, als seien sie mit Millionen winziger Diamanten bedeckt.

»Sieh nur, wie es funkelt«, sagte Jennifer, tauchte unter dem überhängenden Felsen hindurch und auf die Öffnung der Höhle zu.

»Das ist vielleicht keine so gute Idee«, warnte Kevin.

Doch mit einer weiteren kräftigen Armbewegung war sie bereits in der Höhle. »Huh, ist das unheimlich hier«, sagte sie. Ihre Stimme hallte hohl von den steinernen Wänden wider. »Und es scheint hier eine Klimaanlage zu geben.«

Was bleibt mir anderes übrig, als ihr zu folgen?, dachte Kevin. Selbst wenn es eine schlechte Idee ist. Er zog den Kopf ein und paddelte hinter ihr her in die Höhle. Kaum hatte er den Eingang passiert, wärmte die heiße Sonne nicht länger seinen Hinterkopf. Stattdessen umfing ihn eine kalte uralte Luft.

Jennifer, wenige Meter von ihm entfernt, schien auf irgendetwas zu stehen und stützte sich mit einer Hand an der niedrigen Decke der Grotte ab.

»Hier ist ein Felsvorsprung«, sagte sie. »Pass auf, wo du hintrittst.«

Eine Sekunde später stieß er sich das Schienbein an einer Felszunge unter Wasser. »Verdammt.«

»Tut mir leid. Ich habe mir auch den Zeh gestoßen, falls das ein Trost ist.«

»Ist es nicht.« Vorsichtig setzte er seine Füße auf den glatten schleimigen Felsen. Etwas, das er für Algen hielt, strich um seine Knöchel.

»Was, wenn wir die ersten Menschen wären, die diesen Ort entdecken?«, wisperte Jennifer.

»Ich würde meinen, dass schon vor uns jemand hier geankert und sie gefunden hat.«

»Aber haben die Leute nicht gesagt, dass es dieses Jahr ungewöhnlich trocken und der Wasserstand des Sees niedriger sei als je zuvor?«

»Stimmt, ich erinnere mich.«

»Also kann es doch gut sein, dass diese Höhle noch nie zuvor oberhalb des Wasserspiegels lag.«

Kevin zuckte die Achseln. Vermutlich war das durchaus möglich. Im dämmrigen flirrenden Licht, das von den Wellen hereingetragen und von den kristallinen Felsen gebrochen wurde, erweckte die Höhle den Eindruck, als sei nie zuvor ein menschliches Wesen hier eingedrungen. Die Höhle kam ihm vor wie … wie das älteste Ding, das er je gesehen hatte. Älter als die steilen Felshänge des Grand Canyon, älter als die Dinosaurierknochen, die er im Naturkundemuseum gesehen hatte, älter als alles, das er sich auch nur vorstellen konnte. Ein eiskalter Schauder lief ihm über den Rücken.

»Komm«, sagte er, »hier ist es kalt. Und das Wetter kann jeden Moment umschlagen.«

»In diesem Fall sollten wir uns besser beeilen«, sagte Jennifer und warf ihm die Arme um den Hals. »Das wird unser geheimer Ort sein, für alle Ewigkeit.« Sie presste ihren Körper gegen seinen und küsste seine Lippen. Kevin wollte sich widersetzen, wollte, dass sie beide hier rauskamen, doch als er spürte, wie sie ihre Brüste gegen seinen Brustkorb presste und der dünne Bikinistoff an seiner Haut rieb, löste sich seine angeborene Vorsicht in Luft auf. Er legte die Arme um ihre Hüfte und zog sie noch enger an sich. Er schloss die Augen. Wenn dies nicht der perfekte Moment war, um ihre Flitterwochen zu feiern, welcher dann? Er öffnete sie erst wieder, als Jennifer unvermittelt aufkeuchte und sich von ihm losriss.

»Was ist das?«, sagte sie und starrte über seine Schulter.

Selbst wenn er geglaubt hätte, sie wolle ihn verulken, verriet ihm ihr Gesichtsausdruck, dass sie keinen Witz machte. Hastig wandte er den Kopf um und sah es ebenfalls.

Eingebettet in den glitzernden Felsen, als kämpfte es selbst jetzt noch darum, freizukommen, erkannte er etwas wie Krallen, scharf und ausgestreckt, lang und gebogen. Sie waren deutlich zu erkennen, obwohl sie mit der steinernen Wand verschmolzen waren.

»Das ist ein Fossil«, sagte er, obwohl er es selbst kaum glauben konnte.

»Von was?«

Er beugte sich vor, doch das Wasser schwappte gegen die funkelnden Wände, und es war schwer zu erkennen, ob die Krallen mit etwas unterhalb der Wasserlinie verbunden waren. Oder waren es nicht eher Klauen?

»Du hast mich erwischt«, sagte er. »Bio war noch nie meine Stärke.«

»Was immer es ist, es macht mir Angst«, sagte Jennifer. In ihrer Stimme schwang Unbehagen mit. »Lass uns von hier verschwinden.«

Kevin stimmte ihr aus vollem Herzen zu, aber er wollte Jennifer nicht noch mehr Angst einjagen, als sie ohnehin schon hatte. »Geh du zuerst. Aber für den Fall, dass es wertvoll ist, sollte ich vielleicht ein kleines Stückchen herausmeißeln.«

»Nein!«, schrie Jennifer. »Mach das nicht! Fass es nicht einmal an!«

»Ich habe einen Witz gemacht«, erwiderte er beruhigend. »Ich habe doch gar keinen Meißel dabei.« Er merkte, dass es nicht der richtige Moment für Scherze war. »Lass uns zum Boot zurückschwimmen. Du zuerst, ich komme gleich nach.«

Sie tauchte an ihm vorbei ins dunkle Wasser. Als er sich umdrehte, um ihr nachzusehen, schwappte eine Welle in die Höhle und spülte sie zurück. Prustend schnappte sie hektisch nach Luft. Er hatte in den Sommerferien lange genug als Rettungsschwimmer gearbeitet, um die Anzeichen einer beginnenden Panik zu erkennen.

»Ganz ruhig, Jen«, sagte er. »Schwimm mit derselben Welle hinaus, die gerade hereingekommen ist.«

Es war ihm nicht entgangen, dass die Höhlenöffnung bereits merklich kleiner und das Licht von draußen weniger geworden war. War ein plötzlicher Sturm im Anzug?

»Lass dich vom Wasser hinaustragen«, sagte er, so ruhig er konnte. Sie senkte den Kopf und machte Schwimmbewegungen mit den Armen. Erneut warf er einen Blick auf den funkelnden Felsen mit den gefangenen Krallen. Oder waren es Finger?

Eine weitere Welle, größer als die erste, rollte herein, und er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Seine Füße versuchten, auf dem Felsvorsprung Halt zu finden, aber der Stein war zu glitschig. Etwas Loses, Klebriges leckte an seiner Wade. Er kippte vornüber ins Wasser und stieß mit dem Schienbein gegen einen Felsvorsprung.

Doch Jennifers Kopf, das konnte er erkennen, hatte gerade den Rand der Höhle erreicht. Ihre Füße wirbelten das Wasser auf, als sie in die Bucht zurückpaddelte.

Gott sei Dank, dachte Kevin. Jetzt wird sie sich wieder beruhigen.

Als er sicher war, dass sie draußen war, stieß er sich ab und folgte ihr, aber er hatte den falschen Zeitpunkt erwischt und eine weitere Woge, kalt und beißend, schlug ihm ins Gesicht. So viel zu seinem eigenen Ratschlag. Er wischte sich das Wasser aus den Augen, und zu seiner Überraschung traf ihn bereits die nächste Welle. Wie schnell hintereinander kamen die denn? Das Wasser stieg, hob ihn in die Höhe, und er spürte, wie er mit dem Kopf gegen das raue nasse Dach der Höhle stieß.

Entspann dich, sagte er sich. Entspann dich einfach, und in ein paar Sekunden bist du hier raus.

Er holte tief Luft und schwamm auf die Öffnung zu. Von Jennifer war nichts mehr zu sehen, aber das Wasser in der Höhle war jetzt aufgewühlt und schien nur noch aus Strudeln zu bestehen, die ihn zur Seite und zurück zogen. Er strengte sich noch mehr an, aber es war wie bei einem dieser Träume, in denen man versucht zu laufen, aber nie irgendwo ankommt. Er kam kein Stück voran. Verdammt – warum habe ich Jennifer überhaupt in dieses bescheuerte Drecksloch schwimmen lassen?

Die Höhlenöffnung war inzwischen nur noch ein schmaler Spalt, und das Wasser stieg weiter an. Er hob eine Hand, um seinen Kopf zu schützen, aber es war bereits zu spät. Das Wasser hob ihn in die Höhe, kräftiger und schneller als zuvor, und sein Kopf schlug heftig auf den zerklüfteten Felsen auf. Selbst in dem kalten dunklen Wasser erkannte er das heraussickernde Blut und wusste, dass er sich die Kopfhaut aufgerissen hatte.

»Kevin!«

Hatte er das wirklich gehört?

»Wo bist du?«

Ich bin hier, dachte er benommen. Ich bin doch hier.

Erneut versuchte er, hinauszuschwimmen, aber das Wasser drängte immer noch herein, schleuderte seinen Kopf erneut gegen den schartigen Felsen, dass es ihm den Atem raubte.

Seine Beine gaben nach, und dann hörte er auf zu treten. Auch die Arme bewegten sich nicht mehr im Wasser.

Lass dich von der Strömung tragen, dachte er undeutlich.

Es war, als würde sich plötzlich ein schwarzer, sehr dicker und sehr warmer Samtvorhang über ihn legen. Sein Kopf schmerzte, als hätte ihn jemand mit einem Hammer geschlagen.

»Kevin!«

Er antwortete, oder zumindest glaubte er, dass er das tat. Sein Mund füllte sich mit eisigem Wasser. Der Vorhang wickelte sich noch enger um ihn. Er hatte das Gefühl, zu fallen und hinabzusinken, eigentlich eine angenehme Empfindung. Das Letzte, das er vor seinem inneren Auge sah, und es brachte ihn zum Lächeln, war er selbst, in seinem geliehenen Smoking, wie er Jennifer mit einem großen, unhandlichen Stück der weiß-gelben Hochzeitstorte fütterte.


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