Bis vor dreißig Minuten hat Vishram Ray sich der Tatsache gerühmt, nie einen Anzug besessen zu haben. Ihm ist stets bewusst gewesen, dass er eines Tages einen brauchen könnte, und für diesen Fall lässt er bei einer chinesischen Schneiderfamilie in Varanasi seine Maße, Angaben zu Stoff, Schnitt, Fütterung und zwei Hemden bereithalten. Diesen Anzug trägt er nun auf seinem Platz am Teaktisch im Sitzungssaal von Ray Power. Er ist vor einer halben Stunde per Fahrradkurier im Shanker Mahal eingetroffen. Vishram war noch dabei gewesen, den Kragen und die Manschetten zurechtzurücken, als die Wagenflotte vor der Treppe zum Haus hielt. Jetzt befindet er sich im zwanzigsten Stock des Ray Tower, und Varanasi ist ein versmogter brauner Fleck zu seinen Füßen und der Ganges eine ferne Locke aus angelaufenem Silber, während ihm immer noch niemand sagen will, worum es hier geht.
Diese Chinesen verstehen etwas von Stoff. Der Kragen sitzt perfekt. Er kann kaum die Nähte sehen.
Die Tür zum Sitzungssaal öffnet sich. Firmenanwälte strömen herein. Vishram Ray überlegt, wie die Sammelbezeichnung für Firmenanwälte lautet. Ein Flor? Eine Verscheißerung?
Die Letzte in der Reihe ist Marianna Fusco. Vishram Ray spürt, dass ihm der Mund offen steht. Marianna Fusco bedenkt ihn mit dem Hauch eines Lächelns, was erheblich weniger ist, als man von jemandem erwarten würde, mit dem man a) erstklassigen Sex hatte und b) in einen Straßenkrawall verwickelt war, und nimmt ihm gegenüber Platz. Unter dem Teaktisch klappt Vishram seinen Palmer auf und tippt unsichtbaren Text.
WAS ZUM TEUFEL MACHEN SIE HIER?
Das Personal öffnet die Doppeltür, um nun die Vorstandsmitglieder hereinzulassen.
ICH HABE IHNEN DOCH GESAGT, DASS ES UM EINE GESCHÄFTLICHE FAMILIENANGELEGENHEIT GEHT. Für Vishram sieht es aus, als würde Mariannas Nachricht über ihren Brüsten schweben. Sie trägt wieder den guten und außerordentlich praktischen Anzug. Aber auch er sieht gar nicht so schlecht aus. Die Banker und Vertreter der Kreditgenossenschaften und Grameen-Banken nehmen ihre Plätze ein. Viele der Leute aus den ländlichen Mikrokredit-Instituten haben sich ihr ganzes Leben lang noch nie so weit von der Erdoberfläche entfernt. Während Vishram sich gelassen mit der linken Hand Wasser einschenkt und mit der rechten IST DAS HIER EIN SPIEL? tippt, betritt sein Vater den Raum. Er trägt einen schlichten Anzug mit Rundkragen — die Länge der Jacke ist seine einzige Konzession an die Mode —, und trotzdem drehen sich alle Köpfe in seine Richtung. Sein Gesicht zeigt einen Ausdruck, den Vishram nicht mehr gesehen hat, seit er ein kleiner Junge war und sein Vater die Firma aufgebaut hat, die entschlossene Abgeklärtheit eines Mannes, der davon überzeugt ist, das Richtige zu tun. Hinter ihm folgt Shastri, sein Schatten.
Ranjit Ray begibt sich zum Kopfende des Tisches. Aber er nimmt seinen Platz nicht ein. Er begrüßt den Vorstand und die Gäste. Der große holzverkleidete Raum vibriert vor Anspannung. Vishram würde alles für einen solchen Auftritt geben.
»Kollegen, Partner, verehrte Gäste, meine liebe Familie«, beginnt Ranjit Ray. »Ich danke Ihnen allen, dass Sie heute gekommen sind, viele von Ihnen unter beträchtlichen Mühen und Kosten. Lassen Sie mich gleich zu Beginn sagen, dass ich Sie nicht um Ihr Erscheinen gebeten hätte, wenn ich nicht der Überzeugung gewesen wäre, dass es sich um eine Angelegenheit von eminenter Bedeutung für dieses Unternehmen handelt.«
Ranjit Rays Stimme ist ein sanfter, tiefer Gebetston, der ohne Verluste jeden Winkel des großen Raums erreicht. Vishram erinnert sich, niemals gehört zu haben, wie sein Vater die Stimme hebt.
»Ich bin jetzt achtundsechzig Jahre alt, drei Jahre über dem Alter, das nach westlichem Geschäftsethos als das Ende eines ökonomisch nützlichen Lebens betrachtet wird. In Indien ist es eine Zeit der Besinnung, der Kontemplation anderer Wege, die man hätte einschlagen können, die vielleicht noch eingeschlagen werden können.« Ein Schluck Wasser.
»Im Abschlussjahr meines Studiums der Ingenieurwissenschaften an der Hindu University of Varanasi habe ich erkannt, dass die Gesetze der Ökonomie den Gesetzen der Physik unterworfen sind. Die physikalischen Prozesse, die diesen Planeten und den Lauf des Lebens auf diesem Planeten beherrschen, setzen dem Wirtschaftswachstum eine genauso strikte Obergrenze, wie die Lichtgeschwindigkeit unsere Erforschung des Universums beschränkt. Mir wurde klar, dass ich nicht nur ein Ingenieur bin, sondern ein Hindu-Ingenieur. Aus diesen Einsichten zog ich eine weitere Schlussfolgerung. Wenn ich meine Fähigkeiten dazu einsetzen wollte, Indien zu helfen, zu einer starken und respektierten Nation zu werden, musste ich es auf die indische Weise tun. Ich musste es auf die Hindu-Weise tun.«
Er sieht seine Frau und seine Söhne an.
»Meine Familie hat diese Worte schon oft von mir gehört, und ich glaube, sie wird mir die Wiederholung verzeihen. Ich ging ein Jahr lang auf Pilgerfahrt. Ich folgte dem Bhakti und vollzog die Puja in den sieben heiligen Städten, ich badete in den heiligen Flüssen und suchte den Rat von Swamis und Sadhus. Und jedem von ihnen, an jedem Tempel und jeder heiligen Stätte, stellte ich die gleiche Frage.«
Wie kann ich als Ingenieur ein richtiges Leben führen?, sagt Vishram in Gedanken. Diese Predigt hat er in der Tat schon viel häufiger gehört, als er sich erinnern möchte: wie dieser Hindu-Ingenieur mit einer Crore Rupien von einer Mikrokreditgesellschaft einen kostengünstigen, wartungsfreien Solarstromgenerator aus Kohlenstoffnanoröhren für den Hausgebrauch baute. Nach fünfzig Millionen produzierten Einheiten, nach Alkoholkraftstoff-Raffinerien, Biomasse-Kraftwerken, Windparks, Meereswärmeströmungsgeneratoren und einer Forschungs- und Entwicklungsabteilung, die das indische Bewusstsein — das Hindu-Bewusstsein — in die Leere der Nullpunktenergie vorantreibt, ist Ray Power einer von Bharats — Indiens — führenden Konzernen. Eine Firma, die es auf die indische Weise geschafft hat, nachhaltig, mit Rücksicht auf die Erde und die Kreisläufe. Ein Unternehmen, das resolut um den Mahlstrom der internationalen Märkte herumnavigiert. Ein Konzern, der die aufregenden neuen architektonischen Talente Indiens beauftragt hat, eine Firmenzentrale aus nachhaltigem Holz und Glas zu errichten, und weiterhin Dalits in der Vorstandsetage willkommen heißt. Es ist eine große und inspirierende Geschichte, aber Vishrams Aufmerksamkeit schweift immer wieder zu Marianna Fuscos Brüsten unter dem Stretch-Brokat ab. Darauf erscheint eine Nachricht in keckem Lila. HÖR DEINEM VATER ZU.
BI-BA-BUTZEMANN, antwortet er.
WORTSPIELE SIND DIE NIEDRIGSTE FORM DER KOMIK, erwidert sie.
OH VERZEIHUNG, ICH DACHTE IMMER, ES WÄRE SARKASMUS, kontert er in Blau auf dem Revers seines wirklich sehr schnellen Anzugs. Weshalb er fast die Pointe verpasst hätte.
»Deshalb habe ich beschlossen, dass es an der Zeit ist, erneut die Frage aufzugreifen, wie sich ein richtiges Leben führen lässt.«
Vishram Ray blickt auf, seine Nerven sind elektrisiert.
»Heute um Mitternacht werde ich von meinem Posten als Vorsitzender von Ray Power zurücktreten. Ich werde meinen Wohlstand und meinen Einfluss aufgeben, mein Prestige und meine Pflichten. Ich werde mein Haus und meine Familie verlassen und erneut den Stab und die Schale des Sadhu aufnehmen.«
Im Sitzungssaal von Ray Power hätte es nicht stiller sein können, wenn man ihn mit Nervengas geflutet hätte. Ranjit Ray lächelt, versucht zu beschwichtigen. Vergeblich.
»Bitte verstehen Sie, dass ich diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen habe. Ich habe ausführlich mit meiner Frau darüber diskutiert, und sie stimmt mir in allen Punkten zu. Shastri, mein Assistent und Helfer in vielen Jahren, wird mich auf dieser Reise begleiten, aber nicht als Diener, da alle Unterschiede dieser Art heute Abend enden, sondern als Partner auf der Suche nach dem richtigen Leben.«
Die Teilhaber sind aufgesprungen, rufen durcheinander, stellen Fragen. Eine Dalit-Frau brüllt in Vishrams Ohr, was nun aus ihren Klienten, ihren Schwestern wird, aber Vishram bleibt völlig ruhig und distanziert, durch das Gefühl der Unvermeidlichkeit auf seinem Stuhl verankert. Es ist, als hätte er bereits in dem Moment, als er in Glasgow das Ticket auf seiner Türschwelle vorfand, gewusst, dass genau dies geschehen würde.
Ranjit Ray bringt die Anwesenden zum Schweigen. »Meine Freunde, bitte denken Sie nicht, dass ich Sie im Stich gelassen habe. Die erste Bedingung, die ein Mann erfüllen muss, der dem spirituellen Weg folgen will, ist die Aufgabe aller weltlichen Verantwortungen. Wie Sie wissen, versuchen andere Konzerne, diese Firma aufzukaufen, aber Ray Power ist in erster Linie ein Familienunternehmen, und ich bin nicht bereit, es fremden und unmoralischen Systemen des Managements zu überlassen.«
Tu es nicht, denkt Vishram. Sag es nicht.
»Aus diesem Grund trete ich die Leitung der Firma an meine Söhne Ramesh, Govind und Vishram ab.« Er wendet sich jedem Einzelnen zu, die Hände erhoben, als wollte er sie segnen. Ramesh wirkt, als sei auf ihn geschossen worden. Seine großen geäderten Hände liegen flach auf dem Tisch wie enthäutete Tiere. Govind bläst sich auf und blickt sich am Tisch um, teilt den Raum schon jetzt in Verbündete und Feinde auf. Vishram ist völlig benommen, ein Schauspieler, der sich in einem fremden Drehbuch wiederfindet.
»Ich habe vertrauenswürdige Berater ernannt, die euch durch die Übergangsphase führen werden. Ich setze großes Vertrauen in euch. Bitte versucht, euch dessen würdig zu erweisen.«
Marianna Fusco beugt sich über den weiten Tisch, eine Hand ausgestreckt. Ein Bündel aus zusammengebundenen Papieren liegt neben ihr auf der polierten Oberfläche. Vishram sieht ganz unten auf der Seite die gepunkteten Linien, die auf seine Unterschrift warten.
»Meinen Glückwunsch, und herzlich willkommen in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung, Mr. Ray.«
Er greift nach der Hand, die noch vor kurzer Zeit fest, trocken und weich seinen Schwanz umschlossen hat.
Plötzlich fällt ihm ein, woher er das Drehbuch kennt.
»Lear«, flüstert er.
Yogendra lässt den Geländewagen mitten auf der Straße vor dem Musst stehen. Polizisten und Diebe respektieren gleichermaßen, dass der Parkplatz eines Raja dort ist, wo er sein Fahrzeug verlässt. Yogendra öffnet die Tür für Shiv. Fahrradrikschas machen klingelnd einen Bogen um ihn.
MUSST heute mit TALV verkündet die Neonschrift. Nachdem jetzt jeder personalisierte Kaih-DJs und einen eigenen Groove-Mix hat, werben Clubs mit ihren Barkeepern. Für die Gehaltsempfänger ist es noch zu früh in der Woche, um auf Frauenjagd zu gehen, aber die Mädchen sind schon anwesend. Shiv setzt sich auf seinen Hocker. Yogendra nimmt den Platz neben ihm. Shiv stellt das Fläschchen mit den Ovarien auf den Tresen. Die unterirdische Beleuchtung verwandelt es in ein Alien-Artefakt aus einem Hollywood-Sci-Fi-Film. Barkeeper Talv schiebt eine Glasschüssel mit Paan über die Fläche aus fluoreszierendem Kunststoff. Shiv nimmt sich einen Priem, stopft ihn sich in die Wange und lässt sich vom Bhang durchsickern.
»Wo ist Priya?«
»Hinten.«
Mädchen in Kniestiefeln und kurzen Röcken und Tops aus Haftseide drängen sich um einen Tisch, wo der Polychrom-Bereich beginnt. Im Zentrum, von einem Halo aus Cocktailgläsern umgeben, befindet sich ein zehnjähriger Junge.
»Verdammte Brahmanen«, sagt Shiv.
»Auch wenn er nicht so aussieht, er ist volljährig«, sagt Talv und schenkt zwei Gläser aus einem Shaker ein, der eine trügerische Ähnlichkeit zu Shivs Schatz aus rostfreiem Stahl hat.
»Da draußen gibt es gute Männer. Sie geben einer Frau alles, was sie haben will — ein gutes Heim, gute Chancen, damit sie nie arbeiten muss, eine gute Familie, Kinder, einen Platz weit oben auf der Leiter, und sie hängen an diesem Zehnjährigen wie ein Kalb am Euter«, sagt Shiv. »Ich würde sie alle erschießen. Das ist gegen die Natur.« Yogendra bedient sich vom Paan.
»Der Zehnjährige könnte diesen Laden zehnmal kaufen und verkaufen. Und er wird immer noch herumspringen, wenn wir beide längst zu den Ghats gegangen sind.«
Der Cocktail ist kühl und blau und tief und vertreibt das rote Paan in einen tiefen dunklen Winkel. Shiv blickt sich im Club Musst um. Keins seiner Mädchen wird heute Abend seine Aufmerksamkeit erregen. Alle, die nicht mit dem Brahmanen lachen, starren gebannt auf das Tisch-Tivi.
»Was fasziniert sie so?«
»Irgendeine Modegeschichte«, sagt Talv. »Irgendein russisches Model wird gerade herumgereicht, irgendein Neut — Yuri oder so ähnlich.«
»Yuli«, sagt Yogendra. Sein Zahnfleisch ist scharlachrot vom Paan. Das Licht ist blau, und die Perlenkette, die er stets um den Hals geknotet trägt, leuchtet wie Seelen. Rot, weiß, blau. Amerikanisches Grinsen. Seit Shiv mit ihm arbeitet, trägt er diese Perlen.
»Die würde ich auch erschießen«, sagt Shiv. »Sie sind abartig. Ich meine, okay, auch die Brahmanen spielen an den Genen rum, aber sie sind immer noch Männer und Frauen.«
»Ich habe gelesen, die Neuts arbeiten daran, sich klonen zu lassen«, sagt Talv behutsam. »Sie wollen normale Frauen dafür bezahlen, dass sie ihre Kinder austragen.«
»Also, das ist einfach nur widerlich«, sagt Shiv, und als er sich wieder umdreht und sein leeres Glas abstellt, liegt ein Zettel auf der blau leuchtenden Theke.
»Was ist das?«
»So etwas nennt man eine Rechnung«, sagt Talv.
»Wie bitte? Seit wann muss ich in diesem Etablissement für Getränke bezahlen?«
Shiv entfaltet den kleinen Zettel, wirft einen Blick auf die Zahl. Blickt noch einmal darauf.
»Nein. Was zum Teufel ist das? Bin ich hier nicht mehr kreditwürdig? Wollt ihr das damit sagen? Shiv Faraji, wir vertrauen dir nicht mehr?«
Die Tivi-Mädchen blicken auf, als er die Stimme hebt, bläulich angestrahlt wie Devis. Talv seufzt. Dann ist Salman da. Er ist der Besitzer, er hat Verbindungen, die Shiv nicht hat. Shiv hält die Rechnung hoch wie eine Anklageschrift.
»Ich habe gerade zu Ihrem Star gesagt ...«
»Ich habe da gewisse Dinge über Ihre Diskontfähigkeit gehört.«
»Mein Freund, ich genieße hohes Ansehen in der ganzen Stadt.«
Salman legt einen kalten Finger auf den kalten Behälter. »Ihre Aktie wird nicht mehr so hoch notiert wie früher einmal.«
»Irgendein Scheißer unterbietet mich? Ich werde seine Eier in Trockeneis ...«
Salman schüttelt den Kopf. »Es ist ein makroökonomisches Problem. Die Kräfte des Marktes, Sir.«
Und die Musst-Club-Bar wird im Zoom langgezogen, so dass die Wände und Ecken vor Shiv zurückzuweichen scheinen, ausgenommen der Kopf des Brahmanen, der riesig und aufgebläht wirkt und wie ein bemalter Heliumballon bei einem Festival wackelt.
Manche sehen rot. Für Shiv war es schon immer ein blauer Schleier gewesen. Ein tiefes, vibrierendes, intensives Blau. Er nimmt die Paan-Schale, zerschlägt sie, hält Talvs Hand auf dem Tresen fest und lässt eine lange Klinge aus Glas wie eine Guillotine über seinem Daumen hängen.
»Wollen wir doch mal sehen, wie er ohne Daumen schüttelt und rührt«, zischt Shiv. »Der Star der Bar.«
»Shiv, immer mit der Ruhe«, sagt Salman sehr langsam und zerknirscht. Shiv weiß, dass es das Zischen einer Kobra ist, aber es ist blau, völlig blau, zitternd blau. Eine Hand auf seiner Schulter. Yogendra.
»Okay«, sagt Shiv, ohne jemanden oder etwas anzusehen. Er legt die Scherbe nieder und hebt die Hände. »Alles gut.«
»Ich werde darüber hinwegsehen«, sagt Salman. »Aber ich erwarte vollständige Bezahlung, Sir. Innerhalb von dreißig Tagen. Die üblichen Geschäftsbedingungen.«
»Okay, hier ist irgendwas oberfaul«, sagt Shiv und tritt den Rückzug an. »Ich werde herausfinden, was es ist, und dann komme ich wieder, um mir Ihre Entschuldigung anzuhören.«
Er stößt noch seinen Barhocker um, aber er vergisst die Körperteile nicht. Jetzt endlich schauen die Mädchen ihn an.
Das ayurvedische Restaurant schließt pünktlich um acht, weil die Philosophie besagt, dass man nicht später essen sollte. Die Szene in der Gasse lässt darauf schließen, dass es nicht mehr öffnen wird. Shiv sieht einen gemieteten Lieferwagen, zwei Ponykarren, drei Liefertrikes und eine Schar nach Stunden bezahlter Gundas, die eine Kette gebildet haben und Pappkartons von der Tür weiterreichen. Oberkellner Videsh demontiert die Tische und blickt kaum auf, als Shiv und sein Wunderknabe hereinstürmen. Madam Ovary ist im Büro und pickt sich die Rosinen aus dem Aktenschrank heraus.
»Willst du verreisen?«
»Einer meiner Jungs ist in diesem Moment zu deiner Wohnung unterwegs.«
»Ich war aushäusig. Geschäftliche Angelegenheiten. Ich habe so etwas hier, weißt du?« Shiv zieht seinen Palmer hervor.
»Shiv, das ist keine sichere Kommunikation. Nein.«
Madam Ovary ist eine kleine, dicke, fast kugelrunde Malayali und trägt einen fettigen Zopf, der ihr bis zum Kreuz hinunterreicht und seit zwanzig Jahren nicht aufgeschnürt wurde. Für ihre Jungs ist sie die ayurvedische Mutter, die sie mit Tinkturen und Pulvertütchen behandelt. Wer an sie glaubt, schreibt ihr wahrhaftige Heilkräfte zu. Shiv gibt seine Rezepturen an Yogendra weiter, der sie an Touristen verkauft, die mit den Flussbooten eintreffen. Ihr Restaurant hat internationalen Ruf, vor allem bei den Deutschen. Hier tummeln sich ständig blasse Nordeuropäer mit den abgezehrten Gesichtszügen, die man nach dreißig Tagen unablässiger Verdauungsprobleme bekommt.
»Dann erklär es mir«, sagt Shiv. »Du wirfst dein ganzes Zeug in Handkarren, und ganz plötzlich ist das hier« — sein kühles rostfreies Fläschchen — »mit Lepra infiziert.«
Madam Ovary legt ein paar Bilanzen in ihre Plastikaktentasche. Kein Leder, überhaupt keine Tierprodukte. Menschliche Produkte für den menschlichen Verzehr, das ist ayurvedisch korrekt. Das schließt auch die embryonale Stammzellentherapie ein.
»Was weißt du über nonblastulare Stammzellentechnologie?«
»Das ist dasselbe wie unsere normale embryonale Stammzellentechnik, nur dass man jede Körperzelle benutzen kann, um Ersatzteile zu züchten, und nicht nur die von Föten. Ein weiterer Unterschied ist der, dass diese Methode nicht funktioniert.«
»Sie funktioniert ganz wunderbar, und zwar seit elf Uhr Eastern US Standard Time. Was du in diesem Fläschchen hast, ist weniger wert als das Fläschchen selbst.«
Shiv sieht wieder die Leiche, wie sie vom Fluss fortgetragen wird. Er sieht, wie sich der Sari der Frau hinter ihr aufbläht. Er sieht sie auf der geschrubbten Emaille-Tischplatte im All-Asia, der Klinik für Schönheitsoperationen, offen unter dem Licht. Shiv kann Verschwendung nicht ausstehen. Ganz besonders regt er sich darüber auf, wenn ein unerfahrener Chirurg eine routinemäßige Eiernte in ein Blutbad verwandelt.
»Es wird immer Leute geben, die sich amerikanische Technologie nicht leisen können. Wir sind hier in Bharat ...«
»Junge, kennst du die erste Geschäftsregel? Erkenne, wann du deine Verluste begrenzen musst. Meine Betriebskosten sind immens: Ärzte, Kuriere, Polizisten, Zollbeamte, Politiker, Stadträte, alle halten die Hand auf. Der Zusammenbruch ist nahe. Ich habe nicht die Absicht, unter den Trümmern verschüttet zu werden.«
»Wohin gehst du?«, fragt Shiv.
»Das werde ich dir auf gar keinen Fall sagen. Wenn du auch nur einen Funken Verstand gehabt hast, hättest du schon vor langer Zeit deine Aktivposten streuen müssen.«
Shiv hat sich diesen Luxus nie erlauben können. Auf jeder Etappe seiner Reise von der Chandi Basti zu diesem ayurvedischen Restaurant hatte er nie eine andere Wahl. Moral war etwas für Leute, die woanders als in der Basti lebten. Allerdings hätte er die Wahl gehabt, in jener Nacht, als er die Apotheke plünderte. Jeder Badmash konnte sich in den Jahren der Separation eine Waffe besorgen, aber selbst in dieser Zeit war Shiv Faraji ein Mann mit Stil gewesen. Ein Stilist benutzt einen gestohlenen Nissan-Geländewagen, um damit die stählernen Rollläden der Apotheke zu durchbrechen. Danach hatte seine Schwester sich von der Tuberkulose erholt. Die geraubten Antibiotika hatten ihr das Leben gerettet. Er hatte getan, was sein Vater nicht tun wollte, nicht tun konnte. Er hatte ihnen gezeigt, wozu ein Mann mit Mut und Entschlossenheit imstande war. Er hatte keine Paisa vom Geld des Apothekers angerührt. Ein Raja nimmt nur das, was er braucht. Damals war er zwölf gewesen. Zwei Jahre jünger als sein Assistent Yogendra. Jeder Schritt ist der einzig mögliche Schritt. Jetzt ist es genauso, als ihm die Eierstöcke durch die Finger rinnen. Ihm wird sich eine Möglichkeit bieten. Dann wird er tun, was zu tun ist. Es wird die einzige Möglichkeit sein, etwas zu tun. Das Einzige, was er nicht tun wird, ist davonlaufen. Dies ist seine Stadt.
Madam Ovary lässt ihren Aktenkoffer zuschnappen.
»Mach dich nützlich. Gib mir dein Feuerzeug.«
Es ist ein altes Modell der US-Armee aus der Zeit, als sie Pakistan besetzt hatten. Als man noch Soldaten schickte, die rauchten, und nicht nur Maschinen. Madame Ovary entzündet das Feuer. Die Papiere verbrennen.
»Ich bin hier jetzt fertig«, sagt sie. »Danke für deine Aufträge. Ich wünsche dir alles Gute, aber versuch niemals, mit mir Kontakt aufzunehmen. Wir werden uns nicht wiedersehen, also verabschieden wir uns für dieses Leben.«
Im Auto schaltet Shiv das Radio an. Geplapper. Das ist alles, was diese DJs tun: plappern. Als wäre die einzige Möglichkeit, sie von Kaihs zu unterscheiden, ein unablässiger Strom von geistigem Dünnschiss, der sich aus ihrem Mund ergießt. Genauso wie der Ganges, ein endloser Fluss aus Scheiße. Du bist ein DJ, also spiel Musik. Die Leute wollen Musik hören, die ihnen ein gutes Gefühl gibt oder sie an jemand Bestimmtes denken lässt oder sie zum Weinen bringt.
Er lehnt sich gegen das Fenster. Im Licht des Armaturenbretts sieht er sein Gesicht im Halbprofil als geisterhafte Erscheinung über den Menschen auf der Straße. Aber es kommt ihm vor, als würde jeder dieser Menschen, auf den sein Bild fällt, einen Teil von ihm übernehmen.
Verdammtes Geplapper.
»Wohin bringst du mich, Junge?«
»Zum Kampf.«
Er hat recht. Letztlich gibt es keine andere Möglichkeit. Aber Shiv gefällt es nicht, dass der Junge ihm so nahe ist, dass er ihn beobachtet und sich Gedanken macht.
Kampf! Kampf!, pulsiert es. Shiv steigt die schmale Treppe hinunter und zupft seine Manschetten zurecht. Der Geruch nach Blut und Geld und unbehandeltem Holz, und unter seinem Brustbein wird Adrenalin freigesetzt. Er liebt diesen Ort mehr als alle anderen Orte der Welt. Er mustert die Klientel. Ein paar neue Gesichter. Das Mädchen am Geländer oben auf der Galerie, die mit der persischen Nase, sie gibt sich alle Mühe, cool zu wirken. Shiv nimmt Blickkontakt auf. Sie hält ihn lange genug. An einem anderen Abend. Jetzt sagt der Ausrufer die nächste Runde an, und Shiv geht hinunter zu den Tischen der Buchmacher. Draußen auf der Sonarpur Road löschen Feuerwehrfahrzeuge einen Brand, der im Aktenschrank eines Restaurants ausgebrochen ist, während etwas mit der Anatomie eines zehnjährigen Jungen und doppelt so großem Appetit seine pummeligen Finger auf die Shakti Yoni seines Mädchens zuschiebt, und eine Frau, deren Tod keinen Profit abwarf, treibt in der Strömung des Ganges dem Moksha entgegen, doch hier sind Menschen und Bewegung und Licht und Tod und Risiko und Furcht und ein Mädchen, das auf dem Sandplatz ihre großartige, silbrig getigerte Kampfkatze vorführt. Shiv zieht seine Krokodillederbrieftasche aus der Jacke, fächert Banknoten auf und legt sie auf den Tisch. Blau. Er sieht immer noch dieses Blau.
»Ein Lakh Rupien«, sagt Bachchan. Mehr ist nicht drin, auch nicht die Hoffnung auf mehr. Bachchans Schreiber zählt die Scheine und notiert den Betrag auf einem Zettel. Shiv nimmt seinen Platz an der Arena ein, und der Ausrufer brüllt Kampf! Kampf! Die Menge tobt und wogt, und Shiv geht mit. Er drückt sich gegen das Holzgeländer, um seinen Ständer zu verbergen. Dann ist er aus dem tiefen Blau raus, als das Fleisch des silbrig getigerten Mikrosäblers im Sand liegt und seine hunderttausend Rupien im Lederbeutel des Satta-Manns verschwinden. Fast hätte er gelacht. Ihm wird die Wahrheit der Sadhus bewusst: Es ist ein Segen, nichts zu besitzen.
Im Wagen bricht das Lachen aus ihm hervor. Shiv schlägt immer wieder den Kopf gegen die Fensterscheibe. Tränen laufen ihm übers Gesicht. Endlich kann er atmen. Endlich kann er sprechen.
»Bring mich zu Murfi«, ordnet Shiv an. Jetzt hat er einen Bärenhunger.
»Womit?«
»Im Handschuhfach ist Kleingeld.«
Die Tea Lane hält ihren Rauch und ihre Miasmen unter kuppelförmigen Schirmen gefangen. Sie dienen keinem meteorologischen Zweck. Murfi behauptet, seiner würde ihn vor dem Mondlicht schützen, das er als verderblich empfindet. Murfi behauptet vieles, nicht zuletzt, was seinen Namen betrifft. Er ist irisch, sagt er. Irisch wie Sadhu Patrick.
Die Tea Lane ist mit der Aufgabe gewachsen, die Männer zu bedienen, die Ranapur erbauten. Hinter den Reihen der Verkaufsstände mit warmem Essen, Gewürzen und Früchten öffnen sich die Holzrollläden der ursprünglichen Chai-Häuser zur Straße und ergießen ihre Blechtische und Klappstühle nach draußen. Über dem sanften Lärm von Gaskochern und Aufziehradios, die Hindi-Hits ausstoßen, brandet die niemals endende Flut von Soapi-Dialogen aus Hunderten von Wandschirm-Fernsehern. Zehntausend Kalender mit Soapi-Göttinnen hängen an Reißzwecken.
Shiv beugt sich aus dem Fenster und zählt Münzgeld in Murfis Affenhand.
»Und ein paar von diesen Pizza-Pakoras für ihn.« Shiv bedenkt sie mit dem gleichen Blick, den er für Affenscheiße-Pakora erübrigen würde, aber Yogendra gibt sich der Vorstellung hin, sie seien der Inbegriff eines coolen westlichen Snacks. »Murfiji, du sagst doch, dass du alles zu Pakora machst. Versuch’s hiermit.«
Murfi schraubt den Deckel des Fläschchens ab, vertreibt fuchtelnd die Trockeneiswolke und lugt hinein.
»Äh, was hast du da drin?«
Shiv sagt es ihm.
Murfi verzieht das Gesicht und gibt Shiv angewidert das Fläschchen zurück. »Nein, behalt es. Man weiß nie, ob vielleicht doch jemand auf den Geschmack kommt.«
Das ist kein Kommentar zu Murfis Kochkünsten, aber zwischen einem Bissen und dem nächsten verflüchtigt sich Shivs Appetit. Alle Leute blicken in dieselbe Richtung. Hinter Shiv. Shiv lässt die Zeitung mit dem gebratenen Zeug fallen. Straßenhunde stürzen sich darauf. Er reißt Yogendra den Mist aus den Händen.
»Lass den Scheiß liegen und bring mich ganz schnell von hier weg.«
Yogendra tritt auf die Pedale und schwenkt auf die plötzlich leere Straße, als etwas so heftig aufs Dach knallt, dass der Mercedes auf der Federung wippt. Ein Stoßdämpfer detoniert wie eine Granate, es blitzt blau und riecht nach verbrannter Elektrik. Der Wagen schaukelt auf den drei verbliebenen Aufhängepunkten. Etwas kommt näher. Yogendra jagt die Motorleistung hoch, aber der Wagen rührt sich nicht von der Stelle.
»Raus!«, befiehlt Shiv, als die Klinge durch das Dach fährt. Sie ist lang, gekrümmt wie ein Säbel, gezahnt und glänzend wie ein chirugisches Werkzeug. Sie durchsticht den Mercedes vom Dach bis zum Getriebeschacht. Als Shiv und Yogendra auf die Tea Lane stürzen, wird das Fahrzeug nach vorn gerissen und ergießt seine stählernen Eingeweide wie ein geopfertes Kitz.
Jetzt kann Shiv erkennen, was im Dach seines deutschen Metallschrotthaufens mit einem Wert von sechzig Millionen Rupien steckt. Obwohl es seinen Tod bedeutet, ist er durch den Anblick genauso paralysiert wie alle anderen schockierten Passanten auf der Tea Lane. Die Windschutzscheibe zerspringt unter dem Druck der Klinge. Die unteren Greifarme des Kampfroboters packen die Kanten und reißen das Dach auf. Der stumpfe Phallus der EM-Kanone sucht auf der Straße nach Shiv und fixiert ihn mit starrendem monokularem Blick. Doch damit kann er ihn nicht verletzen. Shiv verfolgt gebannt, wie sich die große Klinge aus dem Wrack zurückzieht, das einmal ein Mercedes der Serie 7 war, und sich horizontal ausrichtet. Die Kampfmaschine erhebt sich auf die Beine und stapft auf ihn zu. Sie trägt immer noch die Seriennummer und das kleine Sternenbanner an der Seite, aber Shiv weiß, dass der Pilot kein Teenager mit Gameboy-Reaktionsvermögen und Methamphetamin-Abhängigkeit ist, der in zwanzig Stockwerken Tiefe irgendwo im amerikanischen Mittelwesten eingeklinkt ist. Sondern eher jemand hinten in dem Lieferwagen, der vor dem 24-Stunden-Kino steht. Wahrscheinlich raucht dieser Jemand eine Bidi und fuchtelt mit den Händen im Cyberspace herum, während er den Kali-Tanz aufführt. Jemand, der ihn kennt.
Shiv versucht gar nicht erst wegzulaufen. Diese Dinger können ein Tempo von einhundert Stundenkilometern erreichen, und sobald sie die DNS-Witterung von jemandem aufgenommen haben, wird sich diese Klinge durch jedes Hindernis schneiden, bis sie auf weiches Fleisch stößt. Der Urban Combat Robot ragt über ihm auf. Der gemeine kleine Gottesanbeterinnenkopf senkt sich, und die Sensoren arbeiten. Jetzt entspannt sich Shiv. Dies ist eine Show für die Straße.
»Mr. Faraji.«
Shiv hätte fast gelacht.
»Zu Ihrer Information: In diesem Moment wurden alle Verbindlichkeiten und Steuerschulden gegenüber Mr. Bachchan an die Ahimsa Collections Agency übertragen.«
»Bachchan lässt meine Schulden eintreiben?«, ruft Shiv und blickt auf die Überreste seines letzten Wertgegenstands, der ausgeweidet auf der Straße liegt und Alkosprit ausblutet.
»Das ist korrekt, Mr. Faraji«, sagt der Killerrobot. »Ihr Konto beim Wettbüro Bachchan weist gegenwärtig ein Minus von achtzehn Millionen Rupien auf. Ab heute haben Sie eine Woche, um Ihre Schulden zu begleichen. Andernfalls werden Maßnahmen zur Eintreibung ergriffen.«
Die Maschine fährt auf den Hinterbeinen herum, sammelt sich und springt über die Teeverkäufer, Kühe und Nutten hinweg auf die Kreuzung.
»He!«, ruft Shiv ihr nach. »Wie wäre es mit einer Rechnung?« Er hebt einige Scherben und Reste deutscher Präzisionsarbeit auf und wirft sie dem Schuldeneintreiber hinterher.
»Ihre beste Idee, Ms. Durnau«, sagte Thomas Lull über den breiten Schreibtisch hinweg, auf dem ihre Bewerbungsunterlagen und ihr Lebenslauf ausgebreitet waren, über ihm das Bildfenster mit dem weiten Kansas im heißesten Juni dieses Jahrhunderts. »Wo waren Sie, als Sie darauf kamen?«
(Sie flashbackt zu dieser Szene zurück, zweiundzwanzig Stunden von der ISS entfernt und noch sechsundzwanzig bis Darnley 285, vollgestopft mit Flugdrogen und in einen Sack reißverschlossen, der an die Wand der Transferkapsel geklettet ist, damit sie Captain Pilot Beth nicht in die Quere kommt, die ein leicht verstopftes rechtes Nasenloch hat und rhythmisch pfeifend atmet, bis dieses Geräusch das bedeutendste Ereignis in Lisa Durnaus Universum ist.)
Niemand hatte je einen solchen Juni erlebt, weder das Flughafenpersonal noch das Mädchen von der Autovermietung oder der Mann vom Wachschutz der Universität, den sie nach dem Weg fragte. Dies war mehr als warmes Wasser vor der Küste von Peru oder die Todeszuckungen des Golfstroms. Die Klimatologie war in den Bereich geraten, wo sich nichts mehr vorhersagen ließ. Thomas Lull hatte ihren Lebenslauf durchgeblättert, einen flüchtigen Blick auf die erste Seite ihrer Bewerbung geworfen, und als sie das erste Bild der Diashow aufgerufen hatte, war er ihr mit dieser Frage in die Parade gefahren.
Lisa Durnau kann sich heute noch an ihre aufkochende Wut erinnern. Sie drückte die Hände flach auf die Schenkel ihres guten Hosenanzugs, um den Zorn niederzukämpfen. Als sie sie wieder hochnahm, hatten sie zwei handtellerförmige Schweißflecken hinterlassen, die wie Warnungen vor dem bösen Blick aussahen.
»Professor Lull, ich bemühe mich hier, professionell aufzutreten, und ich glaube, Sie sind mir die professionelle Höflichkeit Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit schuldig.«
Sie hätte in Oxford bleiben sollen. In Oxford war sie glücklich gewesen. Carl Walker hätte verschiedene Körperteile verkauft, um sie in Keble zu halten. Bessere Doktorarbeiten als ihre waren in diesem Kuhdorf in der Luft zerrissen worden, wo die Institute noch immer gesetzlich verpflichtet waren, Intelligent Design zu lehren. Hätte sich das wichtigste Zentrum für die Erforschung von Cyberleben auf einem Hügel mitten im Bible Belt befunden, wäre Lisa Durnau zu diesem Hügel gepilgert. Sie hatte das christliche Universum ihres Vaters zurückgewiesen, bevor er und ihre Mutter sich trennten, aber die presbyterianische Hartnäckigkeit und Eigenständigkeit hatten sich mit ihrer DNS verflochten. Sie wollte sich von diesem Mann nicht erschüttern lassen.
»Sie können sich meine Aufmerksamkeit verdienen, indem Sie meine Frage beantworten. Ich möchte wissen, was Ihre Inspiration war. Der Moment, als es Sie wie ein Blitzschlag traf. Der Moment, als Sie die nächsten siebzig Stunden nur noch von Kaffee und Dextroamphetamin lebten, weil Sie wussten, dass Ihnen die Idee abhandenkommen würde, wenn Sie sie auch nur für kurze Zeit loslassen. Der Moment, als sie aus dem Nichts auftauchte und bereits vollkommen und vollständig ausgeprägt war. Ich möchte wissen, wie und wann und wo es Sie getroffen hat. Wissenschaft ist Schöpfung. Nichts anderes interessiert mich.«
»Okay«, sagte Lisa Durnau. »Es war auf der Damentoilette in der Paddington Station in London, England.«
Professor Thomas Lull strahlte und lehnte sich auf seinem Sessel zurück.
Die Gruppe der Kognitiven Kosmologen traf sich zweimal im Monat in Stephen Sangers Büro im Imperial College London. Das Treffen gehörte zu den Dingen, von denen Lisa Durnau wusste, dass sie sich irgendwann dazu aufraffen sollte, es aber vermutlich niemals schaffen würde, ähnlich wie die Absicht, ihr Konto auszugleichen oder Kinder zu bekommen. Carl Walker ließ ihr die Nachrichten und Zusammenfassungen der Gruppe per Mailkopie zukommen. Es war intellektuell faszinierend, und sie bezweifelte nicht, dass die Mitgliedschaft in der Gruppe ihrem Ruf und ihrer Karriere Auftrieb verleihen würden. Das Problem war, dass diese Leute einen quanteninformatischen Ansatz verfolgten und Lisas Gedanken sich auf topologischen Kurven bewegten. Dann schweiften die zweimal im Monat eintreffenden Berichte von Quanteninformatik-Kauderwelsch zu Spekulationen ab, dass Künstliche Intelligenz im Prinzip ein paralleles Universum sein könnte, das sich als Computercode darstellen ließe, so wie die Säulengänge und Chorsänger von Oxford aus Elementarteilchen und DNS bestanden. Das war Lisas Reich. Sie leistete einen Monat lang Widerstand, bis Carl Walker sie an einem Freitag zum Mittagessen einlud, das um Mitternacht in einem jamaikanischen Restaurant endete, wo sie Guinness tranken und zu den Towers of Dub schunkelten. Zwei Tage später saß sie in einem Konferenzraum im fünften Stock und frühstückte Schokoladencroissants und lächelte viel zu oft, während sie die klügsten Köpfe des Landes musterte, die sich Gedanken über die Stellung des Geistes in der Struktur des Universums machten.
Alle Kaffeetassen wurden nachgefüllt, und dann begann der Diskurs. Das Tempo der Diskussion riss Lisa in einem atemlosen Sog mit. Die Protokolle ließen nicht erkennen, in welcher Breite und Differenziertheit die Diskussionen geführt wurden. Sie kam sich wie ein dickes Kind bei einem Basketballspiel vor, das immer zu spät losrennen und fangen wollte, jedoch viel zu langsam war. Als Lisa endlich zu Wort kam, ging sie auf Dinge ein, über die drei Ideen früher gesprochen worden war, und das Klima der Unterhaltung hatte sich längst geändert. Die Sonne wanderte über den Hyde Park hinweg, und Lisa Durnau verfiel in immer tiefere Verzweiflung. Sie waren schnell und schlagfertig und umwerfend, und sie lagen falsch falsch falsch, aber sie schaffte es einfach nicht, es ihnen zu sagen. Sie langweilten sich bei diesem Thema bereits. Ihrer Meinung nach hatten sie alles herausgequetscht, was herauszuquetschen war, und sich anderen Dingen zugewandt. Sie würde ihre Chance verpassen. Es sei denn, sie sagte es ihnen. Sie musste jetzt sprechen. Ihr rechter Unterarm lag flach auf dem Eichentisch. Langsam hob sie die Hand in die Vertikale. Alle Blicke folgten der Bewegung. Plötzlich wurde es erschreckend still.
»Entschuldigung«, sagte Lisa Durnau. »Darf ich etwas dazu sagen? Ich glaube, Sie liegen falsch.« Dann erzählte sie ihnen von der Idee, die Leben, Geist und Intelligenz aus den zugrundeliegenden Eigenschaften des Universums entstehen ließ, auf genauso mechanische Weise wie bei der Materie und den physikalischen Naturkräften. Dass die Cybererde das Modell eines anderen Universums war, dessen Existenz vom Polyversum abhängig war, eines Universums, in dem der Geist kein evolutionäres Phänomen war, sondern etwas Fundamentales wie die Feinstrukturkonstante, wie Omega, wie die Dimensionalität. Ein Universum, das denkt. Wie Gott, sagte sie, und als sie diese Worte sagte, sah sie die Lücken und Mängel und die Dinge, die sie nicht durchdacht hatte, und sie wusste, dass alle Gesichter rund um den Tisch sie ebenfalls sahen. Sie hörte ihre eigene Stimme, einschüchternd und so selbstbewusst, so sehr davon überzeugt, dass sie in Kürze alle Antworten geben konnte. Sie schweifte in ein apologetisches Gemurmel ab.
»Vielen Dank«, sagte Stephen Sanger. »Darin stecken eine ganze Menge interessanter Ideen ...«
Sie ließen ihn nicht aussprechen. Chris Drapier von der Level Three Artificial Intelligence Unit in Cambridge legte als Erster los. Er war der Gröbste und Lauteste und Pedantischste von allen, und Lisa hatte bemerkt, wie er in der Schlange vor dem Kaffeeautomaten ihren Hintern angestarrt hatte. Es gab keinen Grund, irgendeinen Deus ex Machina als Argument einzuführen, wenn die Quanteninformatik das alles wunderbar unter einen Hut brachte. So etwas war Vitalismus — nein, es war sogar Mystizismus. Als Nächste meldete sich Vicki McAndrews vom Imperial zu Wort. Sie nahm einen losen theoretischen Faden des Modells auf, zerrte daran und ließ das gesamte Gebäude einstürzen. Lisa hatte kein topologisches Modell für den Raum und nicht einmal einen Mechanismus zur Beschreibung dieses denkenden Universums. Lisa hörte nur noch ein helles Summen hinter ihren Augen — das, was man hörte, wenn man weinen wollte, es aber nicht durfte. Sie saß vernichtet zwischen den Kaffeetassen und Schokoladencroissantflecken. Sie wusste gar nichts. Sie hatte keinerlei Begabung. Sie war arrogant und dumm und riss das Maul auf, während jeder vernünftige Doktorand schweigend dagesessen und genickt hätte, während er die Kaffeetassen nachfüllte und die Kekse herumreichte. Ihr Stern hatte den absoluten Nadir erreicht. Stephen Sanger sagte etwas Ermutigendes, als Lisa sich nach draußen schlich, aber sie war völlig am Boden zerstört. Sie weinte den ganzen Weg zurück durch den Hyde Park, durch Bayswater und bis zur Paddington Station. Im Bahnhofsrestaurant kippte sie eine halbe Flasche Dessertwein hinunter — das Einzige auf der Speisekarte, um schnell genug betrunken zu werden. Sie saß am Tisch und zitterte vor Scham und Tränen und in der Gewissheit, dass ihre Karriere vorbei war. Sie konnte diese Sache nicht durchziehen; sie wusste nicht einmal genau, was die anderen gemeint hatten. Ihre Blase meldete sich zehn Minuten vor Abfahrt ihres Zuges. Sie saß in der Kabine, die Jeans um die Knie geknüllt, und bemühte sich, nicht laut zu schluchzen, weil die Akustik der Londoner Bahnhofstoiletten es verstärken würde, so dass jeder es hören konnte.
Und dann sah sie es in aller Deutlichkeit. Sie konnte gar nicht sagen, was genau sie sah, während sie auf die Tür der Toilettenkabine starrte. Es hatte keine Gestalt, keine Form, keine Worte oder Theoreme. Aber es war plötzlich da, vollständig und unvorstellbar schön. Und es war einfach. Es war völlig einfach. Lisa Durnau stürmte aus der Kabine, hetzte zum Schreibwarenladen und kaufte sich einen Block und einen großen Filzstift. Dann rannte sie zu ihrem Zug. Sie schaffte es nicht. Irgendwo zwischen dem fünften und sechsten Waggon traf es sie wie ein Blitz. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie kniete schluchzend auf dem Bahnsteig, während ihre zitternden Hände versuchten, Gleichungen zu notieren. Ideen durchströmten sie. Sie stand in direkter Verbindung mit dem Kosmos. Die Abendschicht strömte um sie herum, ohne sie anzustarren. Alles in Ordnung, wollte sie den Leuten sagen. Alles ist einfach wunderbar.
M-Stern-Theorie. Es war die ganze Zeit da gewesen, genau vor ihrer Nase. Warum hatte sie es nicht gesehen? Elf Dimensionen, die in Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten verschlungen sind, drei davon entfaltet, eine zeitlich und sieben auf Planck-Länge zusammengerollt. Doch die Henkel, die Löcher in den Gebilden geben die Schwingungsenergien der Superstrings vor und damit die Harmonie, die ihre fundamentalen physikalischen Eigenschaften darstellen. Jetzt musste sie die Cybererde lediglich als Calabi-Yau-Raum modellieren und die Äquivalenz zu einer physikalischen Möglichkeit der M-Stern-Theorie beweisen. Alles lag nur in der Struktur. Da draußen gab es ein Universum mit einem eingebauten Bordcomputer. Dort waren Bewusstseine Teil des Gefüges der Realität, nicht nur als Möglichkeit in der Evolution des Kohlenstoffs angelegt wie in dieser Blase des Polyversums. Ganz einfach. Unglaublich einfach.
Während der gesamten Heimfahrt im Zug weinte sie vor Freude. Ein junges französisches Touristenpärchen saß ihr am Tisch gegenüber. Die beiden berührten sich jedes Mal nervös, wenn Lisa erneut in einem Anfall von Glückseligkeit erschauderte. Ihre Gefühlsausbrüche ließen sie immer wieder ihr Zimmer verlassen und durch Oxford streifen, während sie in der Woche darauf ihre Erkenntnisse niederschrieb. Jedes Gebäude, jede Straße, jedes Geschäft und jeder Mensch erfüllte sie mit intensivem Entzücken über das Leben und die Menschheit. Sie war in alle Dinge verliebt. Stephen Sanger hatte ihre Entwürfe durchgeblättert, und mit jeder Seite war sein Grinsen breiter geworden. Schließlich sagte er: »Sie haben sie an den Eiern gepackt!«
Als sie in Thomas Lulls Büro mit der viel zu kalten Klimaanlage saß, konnte Lisa Durnau immer noch das emotionale Nachglühen dieser Ausbrüche abrufen, wie das Mikrowellenecho des Urknallfeuers. Thomas Lull drehte sich mit seinem Stuhl herum und beugte sich zu ihr vor.
»Okay«, sagte er. »Sie sollten zwei Dinge über diesen Laden hier wissen. Das Klima ist unter aller Sau, aber die Leute sind verdammt freundlich. Seien Sie höflich zu ihnen. Vielleicht brauchen Sie sie noch.«
Zu Thomas Lulls Unterhaltung hat Dr. Darius Ghotse heute die Aufzeichnungen des britischen Comedy-Klassikers It’s That Man Again im Gepäckfach des Tricycles, mit dem er sich über die Sandwege von Thekkady vorwärtskämpft. Er freut sich schon darauf, die Datei in Professor Lulls Maschine einzuspeisen, worauf der Sprecher die Titelmelodie plärren wird. »Einhunderfünfzig Jahre alt!«, wird er sagen. »Das haben die Menschen in den Tunneln der Untergrundbahnen gehört, während die Bomben auf London fielen!«
Dr. Ghotse sammelt alte Radioprogramme. An den meisten Tagen kommt er vorbei, um mit Thomas Lull auf seinem Boot zu frühstücken, und dann sitzen sie unter dem Palmwedeldach, um Chai zu trinken und sich den fremdartigen Humor der Goons oder die hyperreale Comedy von Chris Morris’ Blue Jam anzuhören. Dr. Ghotse hat ein besonderes Faible für BBC Radio. Er ist Witwer und ehemaliger Kinderarzt, aber tief in seinem Herzen ist er Engländer. Er wünscht sich, Thomas Lull würde Cricket verstehen. Dann könnten sie sich gemeinsam die klassischen Reportagen von Aggers und Johnners anhören.
Er rattert den holprigen Weg entlang, der neben dem Backwater verläuft, und tritt nach Hühnern und unverschämten Hunden. Ohne zu bremsen, biegt er mit dem alten roten Dreirad ab, fährt den Landungssteg hinauf und weiter auf ein langes, mit Matten gedecktes Kettuvallam. Dieses Manöver hat er schon viele Male ausgeführt. Dabei ist er niemals im Wasser gelandet.
Thomas Lull hat tantrische Symbole auf sein Kokosnussdach gemalt, und auf dem Rumpf steht in Weiß Salve Vagina. Das ärgert die einheimischen Christen maßlos. Der Priester hat ihn darüber informiert. Thomas Lull hat ihn im Gegenzug darüber informiert, dass er (der Priester) ihn (Lull) kritisieren dürfe, wenn er es in genauso gutem Latein wie der Name seines Boots tun würde. Eine kleine Hochleistungssatellitenschüssel ist mit Klebeband am höchsten Punkt der schrägen Dachmatten befestigt. Im Heck schnurrt ein Alkoholgenerator.
»Professor Lull, Professor Lull.« Dr. Ghotse duckt sich unter der niedrigen Traufe und hält den Fileplayer hoch. Wie üblich riecht das Hausboot nach Räucherstäbchen, Alkohol und verdorbenem Essen. Das Schubert-Quintett läuft in mittlerer Lautstärke. »Professor Lull?«
Dr. Ghotse findet Thomas Lull in seinem kleinen, ordentlichen Schlafzimmer, das wie eine hölzerne Hülse ist. Seine Hemden und Shorts und Socken sind auf dem unberührten Bettzeug ausgebreitet. Er faltet seine T-Shirts korrekt zusammen, die Seiten in die Mitte, dann dreimal einschlagen. Ein Leben mit Koffern hat es zu einer festen Gewohnheit werden lassen.
»Was ist geschehen?«, fragt Dr. Ghotse.
»Zeit zum Weiterziehen«, sagt Thomas Lull.
»Also eine Frau?«, fragt Dr. Ghotse. Thomas Lulls Appetit auf und Erfolg bei den Girlis aus der Strandzone hat ihn immer wieder verblüfft. Männer im späteren Alter sollten selbstgenügsamer sein, ohne Bindungen.
»So könnte man es ausdrücken. Ich habe sie gestern Abend im Club getroffen. Sie hatte einen Asthmaanfall. Ich habe sie gerettet. Es gibt immer jemanden, der sich die Koronararterie mit Salbutamol verätzt. Ich habe angeboten, ihr ein paar Buteyko-Tricks beizubringen, worauf sie sich umdrehte und sagte: Also sehen wir uns morgen, Professor Lull. Sie kannte meinen Namen, Darius. Es wird Zeit für mich zu gehen.«
Als Dr. Ghotse den Professor kennenlernte, war Thomas Lull Verkäufer in einem alten Plattenladen, ein Strandgammler inmitten uralter Compact Disks und Vinylscheiben. Dr. Ghotse war ein seit Kurzem verwitweter Pensionär, der seine Trauer mit altmodischem Humor zu lindern versuchte. In diesem hämischen Amerikaner hatte er eine verwandte Seele gefunden. Nachmittage vergingen mit Gesprächen und alten Aufnahmen. Aber es dauerte trotzdem drei Monate, bis Dr. Ghotse den Mann aus dem Plattenladen zum Nachmittagstee einlud. Fünf Besuche später, als aus dem Nachmittagstee Abendgin geworden war und sie die erstaunlichen Sonnenuntergänge hinter den Palmen beobachteten, offenbarte Thomas Lull seine wahre Identität. Anfangs fühlte sich Dr. Ghotse verunglimpft, weil der Plattenverkäufer, den er kennengelernt hatte, ein einziges Lügengebilde war. Dann empfand er es als Bürde, denn er wollte nicht der Empfänger der Enttäuschung und der Wut dieses Mannes sein. Schließlich fühlte er sich privilegiert, da er ein Geheimnis von Weltrang kannte, mit dem er bei den Nachrichtenkanälen ein Vermögen hätte verdienen können. Es war ein großer Vertrauensbeweis. Am Ende wurde ihm bewusst, dass er mit den gleichen Absichten an Thomas Lull herangetreten war — dass er jemanden gesucht hatte, dem er sich anvertrauen konnte und der ihm zuhörte.
Dr. Ghotse steckt den Fileplayer zurück in seine Jackentasche. Heute also kein It’s That Man Again. Auch nicht irgendwann sonst, wie es scheint. Thomas Lull greift nach der gebundenen Blake-Ausgabe, die neben jedem Bett lag, in dem er sich jemals häuslich eingerichtet hat. Er wiegt das Buch in der Hand und legt es dann in den Koffer.
»Kommen Sie, ich habe Kaffee gemacht.«
Das Heck des Boots öffnet sich zu einer improvisierten Veranda, die von den allgegenwärtigen Kokosmatten beschattet wird. Dr. Ghotse lässt Thomas Lull zwei Tassen Kaffee einschenken, den er nicht besonders mag, und folgt ihm nach draußen zu den zwei vertrauten Stühlen. Kinder planschen im Wasser, das zwei Grad kühler ist als der Kaffee.
»Also«, sagt Dr. Ghotse. »Wohin werden Sie gehen?«
»Nach Süden«, sagt Thomas Lull. Bevor er es aussprach, hatte er keine Vorstellung von einem Ziel gehabt. Seit dem Tag, als er den ehemaligen Reis-Lastkahn am Ufer des Backwaters festmachte, hat Thomas Lull keinen Zweifel daran gelassen, dass er nur so lange hier sein wird, bis der Wind ihn weiterweht. Der Wind wehte, die Palmen peitschten, die Wolken zogen vorbei und ließen es nicht regnen, und Thomas Lull blieb. Irgendwann hatte er das Boot geliebt, das Gefühl der Entwurzelung eines Strandgutsammlers, der sich niemals selbst beweisen musste. Aber das Mädchen kannte seinen Namen. »Vielleicht Lanka.«
»Die Insel der Dämonen«, sagt Dr. Ghotse.
»Die Insel der Strandbars«, sagt Thomas Lull. Schubert erreicht das vorbestimmte Ende. Die Wasserkinder tauchen und planschen, und Tropfen kleben auf ihren dunklen, grinsenden Gesichtern. Aber jetzt ist die Idee in seinem Kopf und wird nicht mehr verschwinden. »Vielleicht nehme ich sogar ein Schiff nach Malaysia oder Indonesien. Dort gibt es Inseln, wo man niemals mein Gesicht erkennen wird. Dort könnte ich eine nette kleine Tauchschule eröffnen. Ja. Das könnte ich tun ... Verdammt, ich weiß es nicht.«
Er dreht sich um. Dr. Ghotse spürt es ebenfalls. Wenn man auf dem Wasser lebt, entwickelt man ein feines Gespür für Vibrationen, wie ein Hai. Die Salve Vagina reagiert mit leichtem Schaukeln, als jemand auf den Landungssteg tritt. Jemand ist an Bord gekommen. Das Kettuvallam verlagert seinen Schwerpunkt, während sich darauf ein Körper bewegt.
»Hallo? Hier drinnen ist es sehr dunkel.« Kij duckt sich unter dem Kokosvordach und kommt auf das Hinterdeck. Sie ist in dasselbe weite, fließende Grau gekleidet wie gestern Abend. Im Tageslicht wirkt ihre Tilaka noch auffälliger. »Verzeihung, Dr. Ghotse ist bei Ihnen. Ich kann später wiederkommen ...«
Sag es, denkt Thomas Lull. Ihre Götter haben dir diese eine Chance gegeben. Schick sie weg und verschwinde und schau dich nicht mehr um. Aber sie kannte seinen Namen, obwohl sie ihm nie zuvor begegnet war, und sie kennt Dr. Ghotses Namen, und Thomas Lull war noch nie in der Lage gewesen, einem Geheimnis zu widerstehen.
»Nein nein, bleiben Sie. Es gibt Kaffee.«
Sie gehört zu den Menschen, deren Lächeln das gesamte Gesicht verwandelt. Entzückt verschränkt sie die Hände.
»Liebend gern. Vielen Dank.«
Jetzt ist er verloren.
Die Uhr springt auf dreißig Stunden, und Lisa Durnau quillt aus den Tiefen ihres Gedächtnisses empor. Der Weltraum, erkennt sie, ist die Dimension der Verdrogten.
»He!«, krächzt sie heiser. »Gibt’s hier zufällig Wasser?« Ihre Muskeln fangen bereits an zu schrumpfen und zu verdorren.
»Das Röhrchen rechts von Ihnen«, sagt Captain Pilot Beth, ohne von ihren Instrumenten aufzublicken. Lisa dreht den Kopf und saugt warmes, abgestandenes, destilliertes Wasser. Die männlichen Freunde der Pilotin in der Station plappern und flirten. Sie haben niemals genug vom Reden und Flirten. Lisa fragt sich, ob sie es jemals schaffen, etwas zu erledigen. Oder sind sie so schwach und weich, dass alles, was einem Fick nahekommt, sie zerbrechen würde? Neue Erinnerungen schleichen sich an.
Lisa war zurück in Oxford und joggte. Sie liebte es sehr, in dieser Stadt zu laufen. Oxford ist großzügig mit Wegen und Grünflächen, und die Studenten pflegen die Kultur sportlicher Aktivitäten. Es war eine alte Route aus ihrer Keble-Zeit, am Kanal entlang, durch die Wiesen von Christ Church, die Bear Lane hinauf bis zum High, auf dem Weg zum Tor von All Souls Fußgängern ausweichen und dann weiter zur Parks Road. Die Strecke war gut, körperlich sicher, ihren Füßen vertraut. An diesem Tag bog sie hinter dem Merton rechts ab und lief durch den Botanischen Garten zum Magdalen, wo die Konferenz abgehalten wurde. Der Sommer stand Oxford gut. Studentengruppen kampierten auf dem Gras. Das dumpfe Stampfen und Brüllen eines Fußballspiels wehte über das Feld heran, Geräusche, die sie an der KU vermisst hatte. Sie hatte auch das Licht vermisst, jenes besondere englische Gold des frühen Abends mit dem Versprechen einer verführerischen Nacht. Auf dem Terminplan standen eine Dusche, ein kurzer Blick auf das völlig unerwartete Massenaussterben in der marinen Biosphäre von Alterre und ein Abendessen im High Table, eine hochoffizielle Geschichte in Kleidern und Anzügen, mit der die Konferenz abgeschlossen werden sollte. Es war viel besser, draußen auf den Straßen und bevölkerten Plätzen zu sein und das goldene Licht mottenweich auf der bloßen Haut zu spüren.
Lull wartete in ihrem Zimmer auf sie.
»Ich sehe dich, L. Durnau«, sagte er. »Ich sehe dich in diesen albernen hautengen Lycra-Shorts und diesem winzig-winzigen Top und mit deiner Wasserflasche in der Hand.« Er trat auf sie zu. Sie glänzte und stank nach Frauenschweiß. »Ich werde dir diese albernen kleinen Shorts vom Körper reißen.«
Er packte den elastischen Hosenbund mit den Fäusten und zog ihr die Shorts und den Slip herunter. Lisa Durnau stieß einen leisen Schrei aus. Mit einer fließenden Bewegung streifte sie ihr Joggingtop über den Kopf, stieg aus den Schuhen und besprang ihn, die Beine um seine Hüften geschlungen. Aneinandergeklammert taumelten sie unter die Dusche. Während er sich mit seiner Kleidung abmühte und über seine störrischen Socken fluchte, duschte sie sich ab. Er drängte sich in die Kabine und presste sie gegen die gekachelte Wand. Lisa schwenkte die Hüften, schlang erneut die Beine um ihn und versuchte mit ihrer Vulva seinen Schwanz zu finden. Lull trat einen Schritt zurück und drückte sie behutsam von sich. Lisa Durnau drehte sich um, machte einen Handstand und nahm seinen Oberkörper mit den Beinen in die Zange. Thomas Lull beugte sich herab, stieß mit der Zunge hinein. Halb ertrinkend, halb ekstatisch wollte Lisa schreien, riss sich aber zusammen. Es machte mehr Spaß, dagegen anzukämpfen, halb erstickt und kopfstehend. Dann legte sie wieder die Beine um Lull, und er nahm sie tropfend und von ihr umschlungen. Schließlich warf er sie aufs Bett und vögelte sie, während die College-Abendglocken läuteten.
Im High Table saß sie neben einem dänischen Doktoranden, dessen Augen strahlten, weil er tatsächlich mit einem der Erfinder des Alterre-Projekts sprechen durfte. Im Zentrum des Tisches diskutierte Thomas Lull mit dem Master des College über den Sozialdarwinismus der Geneline-Therapie. Lisa blickte nur kurz bei seinen Worten »Tötet die Brahmanen jetzt, solange es noch nicht zu viele von ihnen gibt« auf, doch ansonsten nahm sie ihn nicht zur Kenntnis. So waren die Regeln. So lief es bei Konferenzen ab. Bei einer hatte es begonnen und bei den folgenden die stärkste Ausprägung erreicht. Wenn die Veranstaltung zu Ende war, wurden die Regeln und Bedingungen der Loslösung zwischen verschiedenen Konferenzthemen vereinbart. Bis dahin war der Sex großartig.
Für Lisa Durnau war Sex immer etwas gewesen, an dem andere Leute Gefallen fanden, das aber im Drehbuch ihres eigenen Lebens nicht vorkam. Es war nicht besonders aufregend. Ohne war sie durchaus glücklich. Dann entdeckte sie mit jemandem, von dem sie es am wenigsten erwartet hatte, in einer sehr unpassenden Beziehung eine Sexualität, in die sie ihre natürliche Sportlichkeit einbringen konnte. Sie hatte einen Partner gefunden, der sie verschwitzt und mit salzigem Geschmack in ihren geliebten Laufsachen mochte, der es al freso und al dente mochte, gewürzt mit all den Dingen, die sie fast zwanzig Jahre lang in ihrer Libido eingesperrt hatte. Dinge wie Vergewaltigungsspiele und Tantra machte Pastor Durnaus sportliche Tochter einfach nicht. Zu jener Zeit war ihre Schwester Claire in Santa Barbara ihre engste Vertraute. Sie verbrachten ganze Abende am Telefon und gingen all die schmutzigen Details durch, unter johlendem Gelächter. Ein verheirateter Mann. Und ihr Chef. Claires Theorie lautete: Gerade weil die Beziehung so unpassend war und im Geheimen stattfand, konnte Lisa ihren Phantasien freien Lauf lassen.
Es hatte in Paris begonnen, in der Abflughalle im Terminal 4 von Charles des Gaulle. Der Flug nach O’Hare war verspätet. Ein Fehler der Flugsicherung in Brüssel hatte sich bis zu den Flugzeugen an der Ostküste ausgewirkt. BAA142 stand mit vier Stunden Verspätung auf der Anzeigetafel. Lisa und Lull hatten soeben eine intellektuell zermürbende Woche hinter sich gebracht, in der es darum gegangen war, das lullistische Argument, dass Realität und Virtualität sinnlose Chauvinismen waren, gegen heftige Angriffe durch eine Gruppe von französischen Neorealisten zu verteidigen. Jetzt wollte Lisa Durnau nur noch auf ihre Veranda treten und nachsehen, ob Mr. Cheknavorian von nebenan die Kräuter gegossen hatte. Auf der Tafel klickte die Anzeige auf sechs Stunden. Lisa stöhnte. Sie hatte ihre E-Mails geschrieben. Sie hatte ihre finanziellen Transaktionen erledigt. Sie hatte Alterre einen Kurzbesuch abgestattet, das gerade eine Ruhephase zwischen Ausbrüchen punktualistischer Evolution durchmachte. Es war drei Uhr morgens, und in der Langeweile und Müdigkeit und Dislokation im Schwebezustand der hell erleuchteten Lounge zwischen den Staatsgebieten lehnte Lisa Durnau den Kopf gegen Thomas Lulls Schulter. Sie spürte, wie er sich bewegte und sie ihn küsste. Als Nächstes schlichen sie zu den Flughafenduschen. Ein Angestellter reichte ihnen zwei Handtücher und flüsterte Vive le sport.
Sie mochte es, mit Thomas Lull zusammen zu sein. Er war unterhaltsam, er konnte reden, und er hatte einen angenehmen Sinn für Humor. Sie hatten vieles gemeinsam, Werte und Glaubensvorstellungen. Filme, Bücher. Essen, die legendären mexikanischen Mittagsmahlzeiten am Freitag. All das war so weit entfernt von einem Fick in Hündchenstellung an den feuchten Fliesen einer Duschkabine im Terminal 4, aber eigentlich gar nicht so weit weg. Die Liebe begann doch meistens in der Nachbarschaft. Man schwärmte für das, was man jeden Tag sah. Den Jungen auf der anderen Seite des Zauns. Den Kollegen am Wasserspender. Den andersgeschlechtlichen Freund, mit dem man sich schon viele Jahre gut verstanden hatte. Ihr war klar, dass sie schon immer etwas für Thomas Lull empfunden hatte. Sie war nur nie imstande gewesen, dem Ganzen einen Namen zu geben oder in eine Handlung umzusetzen, bis die Erschöpfung und die Frustration und die Dislokation sie aus ihrer Lisa-Durnau-heit gerissen hatten.
Er hatte andere gehabt. Sie kannte alle Namen und etliche Gesichter. Er hatte ihr davon erzählt, wenn sie zu ihren Partnern und Familien zurückgekehrt waren und nur sie beide bei einem Krug Margarita zusammensaßen und die Öllampen herunterbrannten. Niemals Affären mit Studentinnen, dazu war seine Frau auf dem Campus zu bekannt. Normalerweise nur für eine Nacht auf einer Konferenz. Einmal eine E-Mail-Affäre mit einer Schriftstellerin aus Sausalito. Und nun war sie die nächste Kerbe im Bettpfosten. Wo es enden würde, konnte sie nicht sagen. Aber sie hatten es weiterhin mit den Duschkabinen.
Nach dem Essen und den Getränken lösten sie sich von den Gesprächsknäueln und liefen über die Cherwell-Brücken zum billigeren Ende der Stadt. Hier gab es Studentenkneipen, die noch nicht der Vergesellschaftung anheimgefallen waren. Aus einem Pint wurden zwei, dann drei, weil der Laden sechs Guest Real Ales im Angebot hatte.
Während des vierten hielt er inne und sagte: »L. Durnau.« Sie liebte es, wenn er sie so nannte. »Falls mir irgendetwas zustoßen sollte, ich weiß nicht was, was auch immer passiert, wenn die Leute sagen, dass einem ›etwas zustößt‹, würdest du dich dann um Alterre kümmern?«
»Um Himmels willen, Lull.« Das war ihr Name für ihn. Lull und L. Durnau. Zu viele Ls und Us. »Machst du dir konkrete Sorgen? Hast du vielleicht etwas ...?«
»Nein nein. Ich denke nur weiter, man weiß ja nie. Ich vertraue darauf, dass du die Sache richtig weiterführen wirst. Tu etwas, wenn sie Scheiß-Coca-Cola-Werbung auf die Wolken kleben wollen.«
Den Rest der Guest Ales schafften sie nicht. Als sie durch die warme, lärmende Nacht zu den Studentenwohnheimen zurückliefen, sagte Lisa Durnau: »Ja, mach ich. Wenn du die Fakultät überzeugen kannst, werde ich mich um Alterre kümmern.«
Zwei Tage später erreichten sie Kansas City mit dem letzten Nachtflug, und das Personal machte nach ihnen den Flughafen zu. Es war nur der Jetlag, der Lisa Durnau auf der Fahrt zur Universität wachhielt. Sie setzte Thomas Lull vor seinem weitläufigen grünen Anwesen draußen in der Vorstadt ab.
»Wir sehen uns«, flüsterte sie. Um drei Uhr morgens erwartete sie natürlich keinen Kuss. Als sie auf ihre Veranda trat und die Fliegengittertür öffnete und ihre Tasche im Flur fallen ließ, riss der körperliche Schock sie um wie ein Schwerlaster. Sie steuerte ihr großes Bett an. Ihr Palmer meldete einen Anruf. Sie überlegte, gar nicht ranzugehen. Es war Lull.
»Könntest du rüberkommen? Etwas ist passiert.«
So hatte seine Stimme noch nie geklungen. Erschrocken fuhr sie durch den ergrauenden frühen Morgen. An jeder Kreuzung beschwor ihre Phantasie neue Katastrophen und Möglichkeiten herauf, aber im Hintergrund stand die ganze Zeit ihre Hauptangst, dass man ihnen auf die Schliche gekommen war. Alle Lichter waren aus, und die Türen standen offen.
»Hallo Haus?«
»Hier drinnen.«
Er saß auf dem alten Ledersofa, das sie von Grillpartys der Fakultät und sonntäglichen Sportveranstaltungen kannte. Das Sofa und zwei Bücherregale waren die einzigen Möbel im Zimmer. Der Rest war vollständig ausgeräumt worden. Der Fußboden war nackt, an den Wänden hingen Bilderhaken wie umgekehrte spanische Fragezeichen.
»Sogar die Katzen«, sagte Thomas Lull. »Einschließlich der Spielzeugmäuse. Kannst du dir das vorstellen? Die Spielzeugmäuse! Du solltest das Arbeitszimmer sehen. Damit hat sie sich viel Zeit genommen. Sie hat sämtliche Bücher, Disks und Akten einzeln gecheckt. Ich vermute, es geht gar nicht so sehr darum, eine Frau zu verlieren, sondern eine Sammlung von italienischen Lieblingsopern.«
»Hast du ...?«
»Irgendwas geahnt? Nein. Ich bin hereinspaziert, und das war alles, was ich gesehen habe. Und das hier habe ich gefunden.« Er hob einen Zettel auf. »Die üblichen Sachen, hat nicht mehr funktioniert, tut mir leid, aber es geht nicht anders. Versuch nicht, Kontakt mit mir aufzunehmen. Sie hatte den Mumm, sich aufzuraffen und alles ohne Vorwarnung auszuräumen, aber wenn es um den herzlichen Abschied geht, bedient sie jedes verdammte Klischee aus dem Lehrbuch. Das ist so typisch.«
Inzwischen zitterte er.
»Thomas. Komm mit. Du kannst hier nicht bleiben. Komm mit zu mir.«
Er sah sie verdutzt an, dann nickte er.
»Ja, danke, ja.«
Lisa nahm seinen Koffer und dirigierte ihn zum Wagen. Plötzlich kam er ihr sehr alt und unsicher vor. Zu Hause machte sie ihm einen heißen Tee, den er trank, während sie das Gästebett herrichtete, aus reiner Rücksichtnahme.
»Würde es dir etwas ausmachen?«, fragte Thomas Lull. »Könnte ich in deinem Bett schlafen? Ich möchte jetzt nicht allein sein.«
Er lag zusammengerollt mit dem Rücken zu Lisa Durnau. Gestochen scharfe Bilder des entweihten Zimmers mit Lull, der so winzig wie ein kleiner Junge auf dem Sofa eines großen Mannes saß, ließen Lisa jedes Mal aus dem Schlaf hochschrecken, kaum war sie weggenickt. Schließlich schlief sie doch ein, als das Grau des Morgens ihr großes Schlafzimmer ausfüllte.
Fünf Tage später, nachdem jeder ihm gesagt hatte, dass sie eine blöde Zicke war und wie gut es ihm gehen würde und dass er darüber hinwegkommen und wieder glücklich sein würde und er immer noch seine Arbeit/Freunde/sich selbst hatte, verschwand Thomas aus den realen und virtuellen Welten — ohne ein Wort, ohne jede Vorwarnung. Lisa Durnau sah ihn nie wieder.
»Sie werden mir verzeihen, aber diese Asthma-Therapie kommt mir reichlich unorthodox vor«, sagt Dr. Ghotse.
Kijs Gesicht ist knallrot, ihre Augen treten hervor, ihre Finger zucken. Ihre Tilaka scheint zu pulsieren.
»Nur noch ein paar Sekunden«, sagt Thomas Lull. Er wartet, bis sie nicht mehr kann, und dann noch eine Sekunde länger. »Okay, jetzt einatmen.« Kij öffnet den Mund, um ekstatisch keuchend nach Luft zu schnappen. Thomas Lull legt die Hand darüber. »Durch die Nase. Immer durch die Nase. Nicht vergessen: die Nase zum Atmen, den Mund zum Sprechen.«
Er zieht die Hand zurück und beobachtet, wie sich ihr kleiner runder Bauch langsam aufbläht.
»Wäre es nicht einfacher, Medikamente zu nehmen?«, wirft Dr. Ghotse dazwischen. Er hält eine kleine Kaffeetasse sehr vorsichtig mit beiden Händen.
»Der Sinn dieser Methode«, sagt Thomas Lull, »liegt darin, nie wieder auf Medikamente angewiesen zu sein. Und anhalten.«
Dr. Ghotse mustert Kij, wie sie erneut die Lungen leert, indem sie langsam und pfeifend durch die Nase ausatmet und wieder die Luft anhält.
»Das sieht sehr nach einer Pranayama-Technik aus.«
»Es ist russisch, aus der Zeit, als sie kein Geld hatten, um sich Asthma-Medikamente zu kaufen.« Thomas Lull beobachtet Kij. »Und noch einmal. Es ist eine sehr einfache Theorie, wenn man akzeptiert, dass alles, was wir über das Atmen gelernt haben, völlig falsch ist. Nach Dr. Buteyko ist Sauerstoff Gift. In dem Moment, wo wir auf die Welt kommen, fangen wir an zu rosten. Asthma ist eine Reaktion des Körpers gegen die Aufnahme dieses giftigen Gases. Aber wir ziehen herum wie große Wale mit weit aufgerissenem Maul und nehmen Unmengen von brennendem O2 auf und reden uns ein, dass es uns guttut. Mit der Buteyko-Methode wird einfach nur das Gleichgewicht zwischen O2 und CO2 wiederhergestellt. Und wenn das bedeutet, dass man seinen Lungen Sauerstoff vorenthalten muss, damit sich ein gesunder Vorrat an Kohlendioxid aufbauen kann, dann tut man genau das, was Kij gerade tut. Und einatmen.« Mit blassem Gesicht wirft Kij den Kopf zurück und wölbt den Bauch vor, während sie inhaliert. »Okay, jetzt normal atmen, aber nur durch die Nase. Wenn Sie in Panik geraten, halten Sie ein paarmal den Atem an. Aber öffnen Sie nicht den Mund. Durch die Nase, immer nur durch die Nase.«
»Das kommt mir verdächtig einfach vor«, bemerkt Dr. Ghotse.
»Die besten Ideen sind immer die einfachsten«, erwidert Thomas Lull, der Barnum der Atmologie.
Nachdem er Dr. Ghotse auf seinem quietschenden Dreirad verabschiedet hat, bringt Thomas Lull das Mädchen zu ihrem Hotel. Lastwagen und Maruti-Mikrobusse rollen über die gerade weiße Straße und dudeln mit Mehrfachhupen. Thomas Lull hebt die Hand, wenn er einen Fahrer wiedererkennt. Er sollte gar nicht hier sein. Er hätte sie mit einem freundlichen Lächeln verabschieden sollen, um mit seiner Reisetasche zum Busbahnhof zu marschieren, sobald sie außer Sichtweite war. Und warum sagt er nun: »Sie sollten morgen zu einer weiteren Session wiederkommen. Es dauert eine Weile, bis man die Technik richtig beherrscht.«
»Ich glaube nicht, Professor Lull.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, dass sie dann nicht mehr hier sein werden. Ich habe die Tasche auf Ihrem Bett gesehen. Ich glaube, Sie werden noch heute abreisen.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil ich Sie gefunden habe.«
Thomas Lull sagt nichts. Er denkt: Kannst du meine Gedanken lesen? Ein Einbaum mit gurgelndem Alkoholmotor trägt ordentlich gekleidete Schulkinder über den Backwater-Kanal zur Landestelle.
»Ich glaube, Sie möchten wissen, wie ich Sie gefunden habe«, sagt Kij sanft.
»Wirklich?«
»Ja. Denn es wäre für Sie jederzeit einfacher gewesen zu gehen, aber Sie sind immer noch hier.« Sie bleibt stehen, und ihr Blick folgt einem dolchschnäbligen Vogel mit wilden Augen, der von der pastellblauen Kirche von St. Thomas durch die Palmen herabgleitet, deren Stämme mit weiß-roten Streifen bemalt sind, um den Verkehr zu warnen. Dann lässt er sich am Rand eines Floßes aus Koprahülsen nieder, die im Wasser aufweichen. »Ein Paddyreiher aus der Gattung der Schopfreiher, Ardeola grayii«, sagt sie, als würde sie ihre Worte zum ersten Mal hören. »Hm.« Sie geht weiter.
»Offenbar möchten Sie, dass ich danach frage«, sagt Thomas Lull.
»Falls das eine Frage ist, lautet die Antwort: Ich habe Sie gesehen. Ich wollte Sie finden, aber ich wusste nicht, wo Sie waren, also haben die Götter mich hier nach Thekkady zu Ihnen geführt.«
»Ich bin in Thekkady, weil ich nicht von Göttern oder sonst wem gefunden werden möchte.«
»Dessen bin ich mir bewusst, aber ich wollte Sie nicht finden, weil Sie Professor Lull sind. Ich wollte Sie wegen dieser Fotografie finden.«
Sie öffnet ihren Palmer. Trotz des Sprenkelschattens der Palmen ist das Sonnenlicht sehr stark und das Bild ausgebleicht. Es wurde an einem hellen Tag wie diesem aufgenommen. Drei blinzelnde Abendländer vor dem Padmanabhaswamy-Tempel in Thiruvananthapuram. Ein schmächtiger Mann mit bleicher Haut und eine südindische Frau. Der Mann hat einen Arm um die Hüfte der Frau gelegt. Der andere ist Thomas Lull, der grinsend in Hawaii-Hemd und unmöglichen Shorts dasteht. Er kennt das Foto. Es wurde vor sieben Jahren geschossen, nach einer Konferenz in New Delhi, als er sich einen Monat freinahm, um die Staaten des neu geteilten Indiens zu bereisen, eine Landmasse, die ihn schon immer zu gleichen Teilen fasziniert, abgestoßen und angezogen hat. Die Widersprüche von Kerala hielten ihn eine Woche länger als geplant gefangen, die Parfümmischung aus Staub, Moschus und von der Sonne versengten Kokosmatten, die Haltung uralter Überlegenheit gegenüber dem kastengeplagten Norden, die dunklen, übelriechenden, chaotischen Götter und ihre blutigen Rituale, die langwierige und erfolgreiche Erkenntnis der politischen Wahrheit, dass der Kommunismus ein Gesellschaftssystem des Überflusses und nicht der Knappheit war, das ständig wechselnde Treibgut aus Schätzen und Reisenden.
»Kann nicht abstreiten, dass ich das bin«, gesteht Thomas Lull ein.
»Erkennen Sie auch das andere Paar wieder?«
Thomas Lulls Herz macht einen Satz. »Irgendwelche Touristen«, lügt er. »Wahrscheinlich haben sie ein Foto, das genauso aussieht. Sollte ich sie kennen?«
»Ich glaube, dass sie meine natürlichen Eltern sind. Sie sind es, die ich suche. Sie sind der Grund, warum ich die Götter gebeten habe, mich zu Ihnen zu führen, Professor Lull.«
Jetzt bleibt Thomas Lull abrupt stehen. Ein Lastwagen, der mit Bildern von Shiva mitsamt seiner Frau und seinen Söhnen dekoriert ist, rollt in einer Wolke aus Staub und Filmi-Musik aus Chennai vorbei.
»Wie sind Sie an dieses Foto gekommen?«
»Es wurde mir an meinem achtzehnten Geburtstag geschickt, von einer Anwaltskanzlei in Varanasi, in Bharat.«
»Und Ihre Adoptiveltern?«
»Sie stammen aus Bangalore. Sie wissen, was ich tue. Sie haben mir ihren Segen gegeben. Ich habe schon immer gewusst, dass ich adoptiert wurde.«
»Haben Sie irgendwelche Fotos von ihnen?«
Sie ruft eine Aufnahme von einem verspielten Teenager auf. Das Mädchen sitzt auf den Stufen einer Veranda, hat die Knie züchtig zusammengepresst und die Hände um die Unterschenkel geschlungen, um ihre Jungfräulichkeit zu verbarrikadieren. Sie trägt keine Vishnu-Tilaka. Hinter ihr stehen ein Mann und eine Frau, beide offensichtlich aus Südindien, beide Ende vierzig und im westlichen Stil gekleidet. Sie wirken wie Menschen, die immer offen und ehrlich und westlich mit ihrer Tochter umgegangen sind und niemals versucht haben, sich in ihre Reise der Selbstfindung einzumischen. Er wechselt zurück zum Tempelfoto.
»Und das hier sind Ihre biologischen Eltern, sagen Sie?«
»Ich glaube es.«
Unmöglich, möchte Thomas Lull erwidern. Aber er schweigt, obwohl das Schweigen ihn in Lügen verstrickt. Nein, du verstrickst dich selbst in Lügen, wohin du dich auch wendest, Thomas Lull. Dein ganzes Leben besteht aus Lügen.
»Ich habe keine Erinnerung an sie«, sagt Kij. Ihre Stimme ist ausdruckslos und neutral, genauso wie die Sonnenbrille, die sie trägt. Im gleichen Tonfall könnte sie ein Steuerformular erklären. »Als ich das Foto erhielt, empfand ich gar nichts. Aber ich habe eine Erinnerung, die so alt ist, dass sie fast wie ein Traum wirkt. Es geht um ein galoppierendes weißes Pferd. Es kommt zu mir, dann bäumt es sich auf, die Hufe in die Luft gereckt, als würde es tanzen, nur für mich. Oh ja, ich sehe es ganz deutlich. Ich liebe dieses Pferd sehr. Ich glaube, das ist das Einzige, das mir aus dieser Zeit geblieben ist.«
»Keine weiteren Erklärungen von diesen Anwälten?«
»Nein. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen. Aber wie es scheint, können Sie das nicht. Also werde ich nach Varanasi gehen und die Kanzlei ausfindig machen.«
»Dort wird gerade ein Krieg vorbereitet.«
Kij runzelt die Stirn. Ihre Tilaka legt sich in Falten. Thomas Lull spürt, wie sich sein Herz wendet.
»Dann werde ich darauf vertrauen, dass die Götter mich vor Schaden bewahren«, erklärt sie. »Sie haben mir anhand dieses Fotos gezeigt, wo Sie sind, und sie werden mich auch durch Varanasi führen.«
»Das scheinen ziemlich nützliche Götter zu sein.«
»Oh ja, Professor Lull. Sie haben mich noch nie im Stich gelassen. Sie sind wie eine Aura, die Menschen und Dinge umgibt. Natürlich habe ich einige Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass nicht jeder sie sehen kann. Ich dachte, dass es nur eine Frage des Anstands ist, dass sie alle gelernt haben, nicht zu sagen, was sie wissen, und dass ich ein sehr ungezogenes Mädchen bin, das alles herausposaunt, was es sieht. Dann habe ich begriffen, dass sie sie wirklich nicht sehen können und nichts wissen.«
Als zerlumpter Siebenjähriger hatte William Blake in London eine Platane gesehen, in der es von Engeln wimmelte. Nur die Intervention seiner Mutter konnte ihn vor einer Tracht Prügel von seinem Vater bewahren. Mutmaßungen und Lügen. Ein Lebensalter später hatte der Visionär in das Auge der Sonne geblickt und Unmengen von Himmlischen Heerscharen gesehen, die Heilig heilig heilig ist Gott der Allmächtige riefen. Thomas Lull hatte jeden Morgen seines Arbeitslebens in die Sonne von Kansas geblinzelt und dort lediglich Kernfusion und die Ungewissheiten der Quantentheorie gesehen. Eine Spannung staut sich in Thomas Lulls Beckenboden auf, aber es ist nicht die alte Schlange der sexuellen Erwartung, die er von den Affären und den sonnenwarmen Backpacker-Mädchen kennt. Es ist etwas ganz anderes. Faszination. Furcht.
»Jede Person und jedes Ding?«
Kij legt den Kopf schief, eine Geste irgendwo zwischen westlichem Nicken und indischem Kopfwackeln.
»Wenn das so ist, wer ist das?« Thomas Lull zeigt auf den Palmweinstand aus Blech, in dem Mr. Sooppy sitzt und mit einer zerfledderten Ausgabe der Thiruvananthapuram Times die Fliegen verjagt.
»Das ist Sandeep Sooppy. Er verkauft Palmwein, und er wohnt in der Joy of the People Road Nummer 1128.«
Thomas Lull spürt, wie sich sein Hodensack vor Furcht langsam zusammenzieht.
»Und Sie sind ihm nie zuvor begegnet.«
»Ich bin ihm niemals begegnet. Ich bin auch Ihrem Freund Dr. Ghotse noch nie begegnet.«
Ein grün-gelber Bus rollt vorbei. Kij bewegt wieder den Kopf auf diese eigenartige Weise und blickt stirnrunzelnd auf das handgemalte Nummernschild. »Und dieser Bus gehört Nalakath Mohanan, aber es könnte jemand anderer sein, der ihn fährt. Der Bus hat seine Lebensdauer längst überschritten. Ich würde empfehlen, nicht mehr damit zu fahren.«
»Es dürfte Nalakath sein«, sagt Thomas Lull. Ihm ist schwindlig, als hätte er sich ein Achtel des Nepali reingezogen, den Mr. Sooppy an der Rückseite seines Palmweinstands verkauft. »Wie kommt es also, dass Ihre Götter Ihnen den Zustand von Nals Bremsen verraten, wenn sie einfach nur einen Blick auf das Nummernschild werfen, aber nichts über diese Leute, von denen Sie sagen, dass sie Ihre natürlichen Eltern sind?«
»Ich kann sie nicht sehen«, sagt Kij. »Sie sind wie ein blinder Fleck in meinem Sichtfeld. Jedes Mal, wenn ich sie anschaue, verschließt sich alles um sie herum, und ich kann sie nicht mehr sehen.«
»Uff!«, sagt Thomas Lull. Magie ist gespenstisch, aber ein Loch in der Magie ist beängstigend. »Wie meinen Sie das, Sie können sie nicht mehr sehen?«
»Ich sehe sie als menschliche Wesen, aber ich sehe nicht die Aura, die sie umgibt, die Götter, die Informationen über sie und ihr Leben.«
Auffrischender Wind schüttelt die Palmwedel und schüttelt auch Thomas Lulls Seele. Kräfte bündeln sich um ihn herum, pferchen ihn in ein Mandala aus Menschenleben und Zufällen ein. Verschwinde von hier, Mann! Lass dich nicht auf diese Frau und ihre Mysterien ein. Du hast sie belogen, und du könntest es nicht ertragen, wenn sie dich nicht belügt.
»Ich kann Ihnen nicht helfen«, sagt Thomas Lull. Sie haben das Tor des Palm Imperial erreicht. Er hört die befriedigenden knackigen Schläge eines Tennisballwechsels. Der Wind beichtet im Bambus, die Brandung ist heute wieder stark. Er wird diesen Ort nur ungern verlassen. »Tut mir leid, dass Ihre Reise umsonst war.«
Lull lässt sie in der Lobby zurück. Als sie auf ihr Zimmer gegangen ist, fordert er einen Gefallen vom Hotelmanager Achuthanandan ein und holt sich ihre Daten aus dem Gästebuch. Ajmer Rao. 385 Valahanka Road, Silver Oak Development, Rajankunte, Bangalore. Achtzehn Jahre jung. Bezahlt mit einer schwarzen Karte der Bank of Bharat. Ein hochkalibriges finanzielles Geschütz für ein Mädchen, das sich in den Bhati-Clubs von Kerala herumtreibt. Bank of Bharat. Warum nicht die First Karnatic oder Allied Southern? Ein kleines Geheimnis inmitten der Scharen strahlender Götter. Er versucht sie zu erkennen, als er die gerade weiße Straße zu seinem Haus zurückläuft, versucht sie aus dem Augenwinkel zu erspähen, sie wie flüchtige Flecken auf der Linse zu erhaschen. Die Bäume bleiben Bäume, die Laster bleiben hartnäckig Laster, und der Paddyreiher watet zwischen den schwimmenden Koprahülsen.
An Bord der Salve Vagina wirft Thomas Lull hastig einen Stapel zusammengelegter Strandhemden auf den Blake und schließt die Tasche. Verschwinde und schau nicht mehr zurück. Wer doch zurückschaut, wird in Salz verwandelt. Er hinterlässt eine Nachricht und etwas Geld für Dr. Ghotse, damit er eine Frau bezahlen kann, die den Rest in Kisten verpackt. Wenn er eingetroffen ist, wohin es ihn verschlägt, wird er sich die Sachen nachschicken lassen.
Auf der Straße winkt er ein Phatphat heran und fährt zum Busbahnhof, die Tasche auf dem Schoß an sich gedrückt. Busbahnhof ist eine Übertreibung. Die ramponierten Tatas benutzen eine breite Stelle der Straße als Wendeplatz, ohne auf Gebäude, Fußgänger oder andere Verkehrsteilnehmer Rücksicht zu nehmen. Die bunt geschmückten Busse warten neben Schneidereien und Snack-Verkäufern und den allgegenwärtigen Palmweinhändlern. Marutis mit Ventilatoren im Innenraum und Mahindra-Pick-ups mit offenem Heck hupen sich durch das Gewimmel. Fünf Bus-Lautsprecheranlagen machen sich mit lauten Filmhits Konkurrenz.
Der Bus nach Nagercoil wird erst in einer Stunde abfahren, so dass Thomas Lull sich einen Palmwein kauft und auf den öligen Boden unter dem Sonnenschirm des Verkäufers hockt, um zu beobachten, wie sich Fahrer und Schaffner mit ihren Passagieren streiten und widerstrebend das Gepäck auf das Dach hieven. Der Mikrobus des Palm Imperial trifft mit dem üblichen halsbrecherischen Tempo ein. Die Seitentür fliegt auf, und Kij steigt aus. Sie hat eine kleine graue Tasche dabei und trägt Sonnenbrille und ein Wickeltuch über der Hose. Die Jungen bedrängen sie, zerren an ihrer Tasche, inoffizielle Träger. Thomas Lull erhebt sich unter dem schattigen Schirm, spaziert zu ihr hinüber und nimmt ihre Tasche.
»Zu den Bussen nach Varanasi hier entlang, Madam.«
Der Fahrer des Nagercoil-Busses lässt die Hupe ertönen. Letzter Aufruf in Richtung Süden. Letzter Aufruf für Seelenfrieden und Tauchschulen. Thomas Lull führt Kij durch die mageren Jungen zum Expressbus nach Thiruvananthapuram, der bereits den Biodiesel hochfährt.
»Sie haben es sich anders überlegt?«
»Das Privileg eines Gentlemans. Außerdem wollte ich schon immer einen Krieg aus nächster Nähe miterleben.«
Er springt auf die Stufen und zieht Kij nach. Sie quetschen sich durch den Gang, nehmen die Rückbank. Thomas Lull setzt Kij neben das Fenstergitter. Schatten schraffieren ihr Gesicht. Die Hitze ist unglaublich. Der Fahrer hupt ein allerletztes Mal, dann fährt der Bus in Richtung Norden ab.
»Professor Lull, ich verstehe nicht.« Kijs kurzes Haar bewegt sich, als der Bus schneller wird.
»Ich auch nicht«, sagt Thomas Lull und mustert angewidert den beengten Sitzplatz. Eine Ziege drängt sich an ihn. »Aber ich weiß, dass Haie ersticken, sollten sie jemals aufhören, sich zu bewegen. Und manchmal reichen die Götter nicht aus, um einen auf den richtigen Weg zu bringen. Kommen Sie mit.«
»Wohin gehen Sie?«, fragt Kij.
»Ich werde mich keine fünf Stunden lang hier drinnen einsperren lassen.« Thomas Lull klopft an die Trennscheibe der Fahrerkabine. Der Mann schiebt sein Paan in die linke Wange, nickt und stoppt den Bus. »Kommen Sie, und bringen Sie Ihre Tasche mit. Ansonsten würde man sich großzügig daraus bedienen.«
Thomas Lull steigt die Leiter zum Dach hinauf und streckt Kij eine Hand entgegen.
»Werfen Sie das rauf.«
Kij schleudert ihre Tasche hoch. Zwei Jungen auf dem Dach fangen sie auf und verstauen sie sicher zwischen den Ballen mit Sari-Stoff. Kij hält mit einer Hand ihre dunkle Sonnenbrille fest und klettert hinauf, um sich dann neben Thomas Lull zu setzen.
»Oh, das ist wunderbar!«, ruft sie. »Ich kann alles sehen!«
Thomas Lull schlägt auf das Fahrzeugdach. »Nach Norden!« Mit einem frischen Schwall stinkenden Biodieselqualms setzt der Fahrer den Bus in Bewegung. »Jetzt zur Buteyko-Methode für Fortgeschrittene.«
Lisa Durnau ist sich nicht sicher, wie oft Captain Pilot Beth sie gerufen hat, aber nun sind alle Instrumente erleuchtet, auf den Komkanälen wird geplappert, und in der Atmosphäre liegt eine Ahnung bevorstehender Ereignisse.
»Sind wir im Landeanflug?«
»Letzte Kursanpassungen«, sagt die kleine Frau mit dem kahlgeschorenen Kopf.
Lisa spürt einen leichten Stups. Die Manöverdüsen stoßen kurz auf.
»Können Sie das zu meinem Hoek durchstellen?« Sie möchte nicht blind zu einem Rendezvous mit einem zertifizierten authentischen Mysteriösen Alien-Artefakt eintreffen. Captain Pilot Beth klemmt der bewegungsunfähigen Lisa das Gerät hinter das Ohr, sucht die weiche Stelle im Schädel und berührt dann ein paar Leuchtflächen auf ihrer Konsole. Lisa Durnaus Bewusstsein explodiert in den Weltraum hinaus. Alle Sensoren sind hochgefahren, und das Gefühl, dass ihr Körper das Raumschiff ist, dass sie mit Hautkontakt zum Vakuum fliegt, ist überwältigend. Lisa Durnau schwebt wie ein Engel inmitten eines langsam rotierenden Balletts aus Weltraumtechnik: die geleiterten Flügel eines Sonnenkollektors, eine Rosette aus Filmspiegeln wie ein Halo aus Miniatursonnen, eine Hochleistungsantenne, die über ihrem Kopf kreist, ein abfliegendes Shuttle, das vorbeiblitzt. Die gesamte Anordnung ist in grelles Licht getaucht und wird mit einem Kabelnetz von der Spinne im dunklen Herzen zusammengehalten: Darnley 285. In Jahrmillionen angesammelter Staub hat dem Asteroiden eine Färbung verliehen, die nur einen Hauch heller ist als das Schwarz des Weltraums. Dann verschieben sich die Spiegel, und Lisa Durnau schnappt nach Luft, als ein dreizackiger Stern auf der Oberfläche silbern aufleuchtet. Erstaunen wird zu Gelächter, denn jemand hat ein Mercedes-Logo auf einem Weltraum-Felsbrocken angebracht. Jemand, der nicht menschlich ist. Die Triskele ist riesig, jeder Arm hat eine Länge von zweihundert Metern. Der Walzer verlangsamt sich, als Captain Pilot Beth sich der Rotation des Felsbrockens anpasst und Lisa Durnau zu einer mentalen Reorientierung zwingt. Jetzt treibt sie nicht mehr mit dem Gesicht voran auf eine erdrückend dunkle Masse zu. Nun befindet sich der Asteroid unter ihren Füßen, und sie senkt sich wie ein Engel herab. Einen halben Kilometer vom Landeplatz entfernt erkennt Lisa die Lichter der Menschenbasis. Die Kuppeln und umgebauten Abwurftanks sind mit einer dicken Staubschicht bedeckt, die durch die statische Aufladung während der Konstruktion angezogen wurde. Allein der Alien-Stern leuchtet klar. Das Shuttle nähert sich einem Zielkreuz aus roten Navigationslichtern. Eine Prozession aus Roboterarmen arbeitet fleißig, um die Lampen und die Linsen der Startlaser zu entstauben. Als sie aufblickt, kann sie sehen, wie sie sich an den Strom- und Komkabeln hinauf- und hinabhangeln. Die Pastorentochter Lisa Durnau denkt an die biblische Geschichte von der Jakobsleiter.
»Okay, ich werde Sie jetzt abschalten«, sagt die Stimme von Captain Pilot Beth. Für einen Moment ist Lisa desorientiert, dann findet sie sich blinzelnd im engen Cockpit des Transferschiffs wieder. Die Anzeigen zählen auf null herunter, Lisa spürt eine leichte Bewegung, und dann sind sie unten. Längere Zeit passiert gar nichts. Dann hört sie Rattern und Rasseln und Zischen. Captain Pilot Beth öffnet den Reißverschluss, und Lisa Durnau purzelt unter Krämpfen und sehr erstaunlichen Körpergerüchen heraus. Darnley 285 verfügt über zu wenig Schwerkraft für ein Gefühl der Anziehung, aber sie reicht aus, um Lisa einen Richtungssinn zu geben. Da ist unten. Da ist links und rechts und vorn und hinten und oben. Eine weitere mentale Reorientierung. Sie hängt kopfüber wie eine Fledermaus. Unten, vor ihrem Gesicht, drehen sich die Lukenklammern, bis sich eine kurze Röhre öffnet, eng wie ein Geburtskanal. Eine weitere Luke rotiert und schwingt auf. Ein stämmiger Mann mit Bürstenhaarschnitt steckt den Kopf und die Schultern hindurch. Die Nase und die Augen deuten auf polynesische Gene nicht allzu weit unten in seinem Familienstammbaum hin, und an den Schultern prangt die Aufschrift US Army. Aber er zeigt ein herzliches Lächeln, als er Lisa Durnau eine Hand entgegenstreckt.
»Dr. Durnau, ich bin Sam Rainey, der Projektleiter. Willkommen auf Darnley 285 oder, wie unsere archäologischen Freunde ihn zu nennen pflegen, dem Tabernakel.«
Der Verkehr ist schlimmer als je zuvor, nachdem die Karsevaks nun ein dauerhaftes Lager rund um die gefährdete Ganesha-Statue eingerichtet haben, und Mr. Nandha, der Krishna Cop, wird obendrein von seinen Hefeinfektionen geplagt. Noch schlimmer ist, dass er eine Besprechung mit Vik in der Datenwiederherstellung hat. Mr. Nandha ärgert alles an Vik, von seinem selbstgewählten Spitznamen (was ist eigentlich so falsch an Vikram, einem guten historischen Namen?) bis zu seinem MTV-Modestil. Er ist das Gegenteil der Fundamentalisten, die auf dem Kreisverkehr kampieren. Wenn Sarkhand das atavistische Indien repräsentiert, ist Vik ein Opfer des Zeitgenössischen und Flüchtigen. Aber was Mr. Nandha ursprünglich den Tag verdorben hat, war sein Fast-Streit mit Parvati.
Sie hatte Frühstücksfernsehen geschaut und auf ihre verlegene Art mit der Hand vor dem Mund gelacht, wie die Moderatoren von ihren Chati-, Soapi- und Celebriti-Gästen geschwärmt hatten.
»Diese Rechnung. Sie kommt mir ... recht hoch vor.«
»Rechnung?«
»Für die Tröpfchenbewässerung.«
»Aber sie ist notwendig. Man kann kein Brinjal ohne Bewässerung anbauen.«
»Parvati, es gibt Menschen, die kein Wasser haben, um ihren Reis zu kochen.«
»Genau. Deshalb habe ich mich für die Tröpfchenbewässerung entschieden. Das ist die effizienteste Methode. Es ist unsere patriotische Pflicht, Wasser zu sparen.«
Mr. Nandha hielt den Seufzer zurück, bis er den Raum verlassen hatte. Er autorisierte die Bezahlung mit seinem Palmer und wurde von seiner Kaih informiert, dass Vik um ein Treffen gebeten hatte. Gleichzeitig erhielt er eine neue, ihm nicht vertraute Route zur Arbeit, auf der er dem Sarkhand Roundabout ausweichen konnte. Er kehrte zurück, um sich von Parvati zu verabschieden, und stellte fest, dass sie gerade die Nachrichten zur vollen Stunde sah.
»Hast du gehört?«, fragte sie. »N. K. Jivanjee sagt, er wird eine Rath Yatra organisieren und wie Rama auf dem Wagen durch das Land fahren, bis eine Million Bauern zum Sarkhand Roundabout marschieren.«
»Dieser N. K. Jivanjee ist ein Unruhestifter, genauso wie seine Partei. Was wir brauchen, ist die nationale Einigkeit gegen Awadh und nicht eine Million Bauernlümmel, die nach Ranapur marschieren.«
Er küsste Parvati auf die Stirn. Die Missstimmungen des Tages wurden besänftigt.
»Auf Wiedersehen, mein Bülbül. Wirst du im Garten arbeiten?«
»Oh ja. Krishan wird um zehn hier sein. Ich wünsche dir einen guten Tag. Und vergiss nicht, deinen Anzug von der Reinigung abzuholen. Wir haben heute dieses Durbar bei den Dawars.«
Jetzt fährt Mr. Nandha in einem gläsernen Aufzug an der Außenseite des Vajpayee Tower empor. Seine Magensäure setzt ihm zu. Er stellt sich vor, wie sie ihn von innen her auflöst, Zelle um Zelle.
»Vikram.«
Vikram ist weder besonders groß noch besonders gut gebaut, aber dadurch lässt er sich nicht von seinen modischen Ansichten abbringen. Sein Stil ist: schlabberiges ärmelloses T mit willkürlichen Textbotschaften, die auf dem intelligenten Stoff aufleuchten — sie entsprechen der angeblichen Doktrin des zufälligen Zen —, unter den Knien abgeschnittene Ketchies, unter denen man sportliche Strumpfhosen trägt. Schließlich Nike Predators zum Preis des Monatsgehalts des aufrechten Sikh an der Eingangstür. Auf Mr. Nandha wirkt das alles schlicht würdelos. Gar nicht ausstehen kann er den Bartstreifen, der von der Unterlippe bis zum Adamsapfel reicht.
»Kaffee?«
Vik hat immer einen da, in einer immerwarmen Tasse. Mr. Nandha kann keinen Kaffee trinken. Es würde sein Sodbrennen verschlimmern. Er zieht seinen ayurvedischen Teebeutel hervor und reicht ihn Vikrams schweigsamem Assistenten, an dessen Namen sich Mr. Nandha nie erinnern kann. Die Prozessoreinheit steht auf Viks Schreibtisch. Es ist eine Industriestandardausführung, ein durchscheinender blauer Würfel, innerlich versengt von Mr. Nandhas EMP-Attacke. Vik hat das Ding an verschiedene Sonden und Monitore angeschlossen.
»Okay«, sagt er und lässt die Finger knacken. Theater of Bludd flüstert aus den Lautsprechern, doch das übliche Getöse ist aus Respekt vor dem Monteverdi-Liebhaber Mr. Nandha gedämpft. »Es wäre erheblich einfacher, wenn Sie uns hin und wieder etwas übrig lassen würden, mit dem wir arbeiten könnten.«
»Ich habe eine eindeutige und unmittelbare Gefahr wahrgenommen«, sagt Mr. Nandha und hat plötzlich eine Erkenntnis. Vik, der coole Vik, mit seiner Vorliebe für Technologie und Trance-Metal, ist eifersüchtig auf ihn. Er beneidet ihn um die Aufträge, die reservierten Waggons der ersten Klasse und die gut geschnittenen Anzüge des Ministeriums und die Waffe, die auf zwei Arten töten kann, und die Schar der Avatare.
»Sie haben noch weniger als sonst übrig gelassen«, sagt Vik. »Aber es ist noch genug vorhanden, um ein paar Nanosonden einzuschleusen und Spuren zu interpretieren. Ich vermute, der Programmierer ...«
»Er war das erste Opfer.«
»Sind sie das nicht immer? Es wäre nett gewesen, wenn er uns hätte sagen können, warum seine selbstgebastelte Satta-Kaih ein Programm im Hintergrund laufen ließ, das auf dem internationalen Kapitalmarkt gekauft und verkauft hat.«
»Genauer, bitte.«
»Morva von der Steuerfahndung dürfte es besser erläutern können, aber es sieht so aus, als hätte Tikka-Pasta, ohne sich dessen bewusst zu sein, mit Crores von Rupien für eine Risikokapitalgesellschaft namens Odeco gehandelt.«
»Ich werde in der Tat mit Morva sprechen«, beschließt Mr. Nandha.
»Eins kann ich Ihnen schon jetzt sagen.« Vik tippt mit dem Finger auf eine Codezeile, die der blassblaue Bildschirm anzeigt.
»Aha«, sagt Mr. Nandha mit einem dünnen Lächeln.
»Unser alter Freund Jashwant der Jain.«
Parvati Nandha sitzt in einer Laube aus Amarant auf dem Dach ihres Wohnblocks. Mit der Hand schirmt sie die Augen ab, um einen weiteren Militärtransporter zu beobachten, der von Osten herangleitet und über den Konzernhochhäusern von New Varanasi verschwindet. Sie und die in großer Höhe kreisenden schwarzen Milane sind die einzigen Störungen des Friedens in ihrem Garten im Herzen der Stadt. Parvati tritt an die Kante und blickt über die Brüstung. Zehn Stockwerke tiefer ist die Straße voller Menschen, wie ein Arm voll mit Blut ist. Sie geht über den gefliesten Platz bis zum erhöhten Beet, rafft ihren Sari und beugt sich herab, um die Kürbissämlinge zu inspizieren. Das Verdunstungszelt aus Plastik ist matt von der Feuchtigkeit. Auf dem Dach herrscht bereits eine Lufttemperatur von siebenunddreißig Grad, und der Himmel ist schwer, undurchdringlich, nahe und karamellfarben vom Smog. Parvati lugt durch die Lücke zwischen der Folie und dem Boden und atmet den Geruch nach Humus und Mulch und Feuchtigkeit und Wachstum ein.
»Lassen Sie sie selber wachsen.«
Krishan ist ein großer Mann, der sich sehr leise bewegen kann, wie es viele große Männer können, aber Parvati hat die Kühle seines Schattens auf den weichen Haaren ihres Nackens gespürt wie Tau auf den Kürbisblättern.
»Oh, Sie haben mich erschreckt!«, sagt sie sittsam und verwirrt. Es ist ein Spiel, mit dem sie sich gerne die Zeit vertreibt.
»Verzeihen Sie, Mrs. Nandha.«
»Und?«, sagt Parvati.
Krishan zieht seine Brieftasche hervor und reicht Parvati einen Hundert-Rupien-Schein. »Wie haben Sie das erraten?«
»Oh, es war offensichtlich«, sagt Parvati. »Es konnte nur Govind sein. Warum hätte er sie sonst bis zu diesem üblen Haus in Brahmpur East verfolgen sollen, nur um sie zu verspotten und zu verhöhnen? Nein nein, nur ein wahrer Ehemann würde seine Frau wiederfinden, ganz gleich, was sie getan hat, und ihr verzeihen und sie nach Hause bringen. Bereits in dem Moment, als er an der Tür dieses Thai-Massage-Hauses auftauchte, wusste ich, dass er es war. Die Verkleidung als Airline-Pilot konnte mich nicht täuschen. Ihre Familie mag sie verstoßen, aber niemals ein wahrer Ehemann. Jetzt muss er sich nur noch an dem Regisseur dieser SupaSingingStar Show rächen ...«
»Khursheed.«
»Nein, der betreibt das Restaurant. Arvind ist der Regisseur. Govind wird die Gelegenheit zur Rache erhalten, falls die Chinesen ihn nicht vorher wegen dieses Casino-Projekts drankriegen.«
Krishan kapituliert und wirft die Hände hoch. Er ist kein Fan von Stadt und Land, aber er wird es sich ansehen und auf die unvorstellbar komplexe Handlungsentwicklung wetten, wenn er damit seine Klientin glücklich macht. Es ist ein seltsamer Auftrag, diese kleine Farm oben auf einem Wohnblock in der Innenstadt. Ein Kompromiss, wie es scheint. Diese Ehen zwischen Stadt und Land sind manchmal schwierig.
»Ich werde für Sie Chai kochen müssen«, sagt Parvati. Krishan beobachtet, wie sie die Treppe hinunterruft. Sie besitzt die ganze Grazie des Landes. Die Stadt für den Glanz, das Dorf für die Weisheit. Krishan denkt über ihren Ehemann nach. Er weiß, dass er Beamter ist und seine Rechnungen sofort und ohne Diskussion bezahlt. Da Krishan lediglich eine Häfte des Bildes sieht, kann er nur spekulieren, was die Beziehung, die Anziehung betrifft. Manchmal fragt er sich, wie er jemals eine Frau finden soll, wenn selbst ein Mädchen aus geringer Kaste mit einem Blick und einer Handbewegung einen soliden Mann der Mittelklasse für sich gewinnen kann. Sei ein guter Gärtner. Verdien Geld, pflanz es an, lass es zu mehr Geld wachsen. Kauf dir einen Maruti und zieh hinaus nach Lotus Gardens. Da draußen wirst du eine gute Partie finden.
»Heute«, kündigt Krishan an, als er mit seinem Chai fertig ist und das Glas auf die Holzeinfassung des Hochbeets stellt, »habe ich mir überlegt, vielleicht Bohnen und Erbsen dort drüben, als Abschirmung. Nach links ist alles offen. Und hier ein Viertelbeet für Salatgemüse in westlichem Stil. Salat im westlichen Stil ist die ganz große Sache bei Dinnerpartys. Wenn Sie Ihre Gäste bewirten, kann der Koch ihn frisch geschnitten verarbeiten.«
»Wir haben keine Gäste«, sagt Parvati. »Aber heute Abend findet ein großer Empfang drüben im Haus der Dawars statt. Ein recht bedeutendes Ereignis. Da ist es wirklich nett. So viele Bäume. Aber Mr. Nandha sagt, es sei umständlich, zu weit draußen. Zu viel Fahrerei. Ich kann hier alles haben, was sie da draußen haben, und es ist viel praktischer.«
Krishan benötigt zwei Gänge von der Straße aufs Dach, um die alten Eisenbahnschwellen aus Holz heraufzuschaffen, die er für die Einfassung der Beete benutzt. Er legt sie in grober Anordnung aus, dann schneidet und formt er die wasserdichte Folie und breitet sie aus. Parvati Nandha sitzt auf dem Rand des Tomaten- und Paprikabeets.
»Mrs. Nandha, verpassen Sie nicht die neue Folge von Stadt und Land?«, fragt Krishan.
»Nein, heute wurde sie auf halb zwölf verschoben. Es ist der letzte Tag der Testspiele gegen England.«
»Ich verstehe«, sagt Krishan, der Cricket liebt. Wenn sie geht, könnte er das Radio heraufholen. »Lassen Sie sich von mir nicht stören.« Er macht sich bereit, die Entwässerungslöcher in die Schwellen zu bohren, doch er ist sich die ganze Zeit bewusst, dass Mrs. Nandha immer noch dort sitzt und ihn beobachtet.
»Krishan«, sagt sie nach einer Weile.
»Ja, Mrs. Nandha?«
»Es ist einfach .... es ist so ein schöner Tag, und wenn ich da unten bin, höre ich all das Poltern und Hämmern von hier oben, aber ich bekomme es nie zu sehen, bevor es fertig ist.«
»Ich verstehe«, sagt Krishan, der Mali. »Sie stören mich nicht.«
Aber sie stört ihn doch.
»Mrs. Nandha«, sagt er, während er die letzte Eisenbahnschwelle verbolzt. »Ich glaube, Sie verpassen Ihre Sendung.«
»Wirklich?«, sagt Nandha Parvati. »Oh, ich habe gar nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen ist. Kein Grund zur Sorge, ich kann mir die Wiederholung im Vorabendprogramm ansehen.«
Krishan schleppt einen Sack mit Kompost heran, schlitzt ihn mit dem Gärtnermesser auf und lässt die schwere braune Erdnahrung durch seine Finger auf das Dach rieseln.
Der Hund brennt mit abscheulichem öligem Rauch. Jashwant der Jain steht mit geschlossenen Augen da, vor ihm sein Besenjunge. Ob er sie zum Gebet oder vor Wut geschlossen hat, kann Mr. Nandha nicht sagen. Innerhalb weniger Momente hat sich der Hund in einen hell leuchtenden kleinen Feuerball verwandelt. Die anderen Hunde wuseln weiter kläffend um Mr. Nandhas Füße herum. Mit ihren kleinen programmierten Obsessionen sind sie zu dumm, die Gefahr zu erkennen.
»Sie sind ein gemeiner, grausamer Mann«, sagt Jashwant der Jain. »Ihre Seele ist schwarz wie Anthrazit, und Sie werden niemals das Licht des Moksha erreichen.«
Mr. Nandha schürzt die Lippen und richtet seine Waffe auf ein neues Ziel, einen Cartoon-Scoobi mit schwermütigen Augen und gelb-braun geschecktem Fell. Als das Ding die Aufmerksamkeit spürt, wedelt es mit dem Schwanz und watschelt mit hängender Zunge durch das hektische Gewimmel der Roboterhunde auf Mr. Nandha zu. Mr. Nandha betrachtet Tierschutzorganisationen als lächerliche soziale Affektiertheit. Varanasi kann seine Kinder nicht ernähren, ganz zu schweigen von seinen ausgesetzten Katzen und Hunden. Heime für Cybertiere lösen in ihm eine noch viel tiefere Verachtung aus.
»Sadhu«, sagt Mr. Nandha. »Was wissen Sie über ein Unternehmen namens Odeco?«
Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Ministerium an das Mahavira Compassion Home for Artificial Life wendet. Im Jainismus wird eine lebhafte Debatte geführt, ob Cyberhaustiere und Künstliche Intelligenzen eine Seele haben oder nicht. Jashwant jedoch ist alte Schule, ein Digambara. Alles, was lebt, sich bewegt, isst und sich fortpflanzt, ist Jiva. Wenn die Kinder also genug von ihrem Cyber-Scoobi haben und der Cyberwachhund »Treuer Freund« achtzehnmal pro Nacht die Polizei ruft, gibt es neben den Müllhaufen von Ramnagar noch eine andere Zuflucht. Auch gejagte Kaihs finden hier immer wieder Unterschlupf. Mr. Nandha und seine Avatare waren in den letzten drei Jahren zweimal hier, um Massenexkommunikationen durchzuführen.
Jashwant hat draußen vor dem verwahrlosten Lagerhaus aus gepresstem Aluminium im Geschäftsviertel von Janpur auf ihn gewartet. Jemand oder etwas hat ihn gewarnt. Mr. Nandha wird hier nichts mehr finden. Als Jashwant vortrat, um den Mann vom Ministerium zu begrüßen, entfernte sein Feger, ein zehnjähriger Junge, eifrig mit einem langstieligen Besen Insekten und kriechende Tiere vom Weg des heiligen Mannes. Als Digambara trägt Jashwant keine Kleidung. Er ist ein großer Mann mit viel Fett um die Körpermitte, und er hat ständige Blähungen von seiner heiligen kohlehydratreichen Diät.
»Sadhu, ich untersuche einen tödlichen Zwischenfall, in den eine unlizensierte Kaih verwickelt war. Unsere Ermittlungen deuten darauf hin, dass sie von einem Transferpunkt auf diesem Gelände heruntergeladen wurde.«
»Tatsächlich? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Aber Sie sind dazu befugt, unsere Systeme zu überprüfen. Ich glaube, Sie werden feststellen, dass alles den gesetzlichen Vorschriften entspricht. Wir sind eine Tierschutzorganisation, Mr. Nandha, kein Sundarban.«
Der Besenjunge geht voraus. Er trägt nur einen sehr kurzen Dhoti, und seine Haut scheint zu leuchten, als hätte man sie mit Öl eingerieben, das mit Goldstaub versetzt wurde. Bei seinen früheren Besuchen waren ähnliche Jungen anwesend gewesen. Alle mit diesem stumpfen Blick und zu viel Haut.
Im Lagerhaus herrscht derselbe Lärm wie in Mr. Nandhas Erinnerung. Auf dem Betonboden wimmeln Tausende von Cyberhunden, die ständig von einer Aufladestation zur nächsten ihre Kreise ziehen. Von den Metallwänden hallt ihr Knarren, Kläffen, Summen und Singen wider.
»Über eintausend im vergangenen Monat«, sagt Jashwant. »Ich glaube, es ist die Angst vor einem Krieg. In sündigen Zeiten überdenken die Leute ihre Werte. Vieles wird als sinnlose Belastung verworfen.«
Mr. Nandha zieht seine Waffe und zielt damit auf einen stämmigen kleinen Schoßhund, der Männchen macht, mit Vorderpfoten, Schwanz und pinkfarbener Plastikzunge wedelnd. Er erschießt den Hund. Jetzt hat Indra der Donnergott den langsam näher kommenden Scoobi ins Visier genommen.
»Sadhu, haben Sie eine unlizensierte Künstliche Intelligenz der Stufe Eins an Tikka-Pasta in Nawada geliefert?«
Jashwant verdreht schmerzhaft den Kopf, aber das ist nicht die korrekte Anwort. Die EM-Ladung schleudert den Cartoonhund anderthalb Meter hoch in die Luft. Er landet auf dem Rücken und strampelt kurz mit den Beinen, dann steigt Rauch von ihm auf.
»Böser, schlechter Mann!«
Der Feger hat seinen kleinen Besen erhoben, als wollte er damit Mr. Nandha und seine Sünde hinwegfegen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich infizierte Nadeln unter den Borsten befinden. Mr. Nandha lässt den Lustknaben mit einem warnenden Blick innehalten.
»Sadhu.«
»Ja!«, sagt Jashwant. »Natürlich habe ich es getan, das wissen Sie doch! Aber sie hat sich nur in unserem Netzwerk ausgeruht.«
»Woher stammt sie, Sadhu?«, fragt Mr. Nandhu und hebt erneut seine Waffe. Er zielt auf einen watschelnden Dackel mit breitem Lächeln und dicken Pfoten, dann richtet er den Lauf auf einen wunderschönen, hochwertigen Cybercollie, der nicht von einem Tier aus Fleisch und Blut zu unterscheiden ist, bis hin zum lebenden Plastikfell und den uneingeschränkt interaktiven Augen. Jashwant der Jain stößt einen leisen Schrei der spirituellen Qual aus.
»Sadhu, ich muss darauf bestehen.«
Jashwants Mund arbeitet.
Indra erfasst das Ziel und schießt, als sich in Mr. Nandha die entsprechende Absicht rührt. Der Cybercollie stößt ein langes, kreischendes Wehklagen aus, das jedes andere Kläff und Wuff im Lagerhaus zum Verstummen bringt. Er wendet den Kopf zum Schwanz, in einem Bogen, der einem echten Hund das Rückgrat gebrochen hätte, und rotiert auf der Seite liegend auf dem Beton.
»Nun, Sadhu?«
»Hören Sie auf, hören Sie auf, Sie werden zur Hölle fahren!«, kreischt Jashwant.
Mr. Nandha feuert einen Schuss mit seiner Waffe ab und erlöst das Ding von seinem Elend. Dann sucht er sich einen prachtvollen getigerten Viszla.
»Badrinath!«, schreit Jashwant. Mr. Nandha hört deutlich, wie er voller Furcht furzt. »Der Badrinath-Sundarban!«
Mr. Nandha schiebt seine Waffe in die Jackentasche.
»Sie waren mir eine große Hilfe. Ray Power. Hochinteressant. Bitte versuchen Sie nicht, das Gelände zu verlassen. Die Polizei wird in Kürze eintreffen.«
Als er geht, bemerkt Mr. Nandha, dass der Besenjunge auch mit dem Feuerlöscher recht geschickt umzugehen weiß.
Ram Sagar Singh, Bharats Cricket-Stimme, plappert aus dem solarbetriebenen Radio die abschließende Schlagreihenfolge herunter. Krishan döst im Schatten des Hibiscusspaliers und lässt sich von Erinnerungen einlullen. Sein ganzes Leben lang hat diese langsame Stimme zu ihm gesprochen, näher und weiser als ein Gott.
Es war an einem Schultag, aber sein Vater hatte ihn geweckt, bevor es hell geworden war.
»Naresh Engineer spielt heute im ul-Haq.«
Nachbar Thakur brachte eine Ladung Schuhe zu seinem Abnehmer in Patna und war nur allzu gern bereit, Vater und Sohn Kudrati in seinem Pick-up mitzunehmen. Eine niedrigkastige Mitfahrgelegenheit, aber es war aller Wahrscheinlichkeit nach das letzte Mal, dass Naresh Engineer jemals wieder den Schläger in die Hand nahm.
Das Land der Kudratis war aus den Händen von Gandhi und Nehru gekommen, als sie es den Zamindar abnahmen und den Ackerbauern von Biharipur gaben. Es hatte eine stolze Geschichte, nicht nur als Erbe der Kudratis, sondern der ganzen Nation, und sein Name lautete Indien, nicht Bharat oder Awadh oder Maratha oder States of Bengal. Das war der Grund, warum Krishans Vater unbedingt sehen musste, wie der größte Schlagmann, den Indien in dieser Generation hervorgebracht hatte, an die Linie trat — um seinen Namen zu ehren.
Krishan war acht Jahre alt und zum ersten Mal in einer Stadt. Die Sportsendungen von StarAsia hatten ihn nicht auf die Menschenmassen vor dem Moin-ul-Haq-Stadion vorbereitet. Er hatte noch nie so viele Leute auf einmal gesehen. Sein Vater führte ihn sicher durch die wirbelnde Menge, die Muster innerhalb von Mustern bildete wie bedruckter Stoff.
»Wohin gehen wir?«, fragte Krishan, als er bemerkte, dass sie sich gegen den allgemeinen Strom zu den Drehkreuzen bewegten.
»Mein Cousin Ram Vilas, der Neffe deines Großvaters, hat Tickets.«
Er erinnert sich, wie er sich im Gewimmel der Gesichter umblickte und den sicheren Griff spürte, mit dem sein Vater ihn weiterzerrte. Dann wurde ihm klar, dass die Menge größer war, als sein Vater sich vorgestellt hatte. Er hatte von weiten Grünflächen geträumt, Tribünen in der Ferne, höflichem Applaus, und dabei hatte er vergessen, einen Treffpunkt mit Cousin Ram Vilas zu vereinbaren. Jetzt würde er sich spiralförmig um das ul-Haq herumbewegen und nötigenfalls jedes einzelne Gesicht mustern.
Nach einer Stunde in der Hitze wurde die Menge dünner, doch Krishans Vater machte unerbittlich weiter. Innerhalb des Betonovals stellten krachende Lautsprecher die Spieler vor, und die Inder begrüßten sie mit heftigem Applaus und Jubel. Sowohl Vater als auch Sohn wussten inzwischen, dass der Neffe seines Großvaters nie hier gewesen war. Sie würden niemals ihre Tickets bekommen. Im schrägen Schatten der Haupttribüne stand ein Nimki-Verkäufer. Mr. Kudrati nahm wieder die Hand seines Sohnes und zerrte ihn quer über den Beton. Als sie in Riechweite des ranzigen heißen Öls kamen, sah Krishan, was seinen Vater in Schwung gebracht hatte. Auf der verglasten Auslage stand ein Radio, das dummen Pop plärrte.
»Mein Sohn, das Testspiel«, brabbelte sein Vater den Snackverkäufer an. Er warf ihm ein paar flatternde Rupien hin. »Umschalten, einstellen, reindrehen. Und ein paar von diesen Pappadi.«
Der Verkäufer griff mit einem Kegel aus Zeitungspapier in das heiße Essen.
»Nein nein!« Krishans Vater schrie beinahe vor Verzweiflung. »Zuerst einstellen. Dann das Essen. 97,4.« Ram Sagar Singh kam mit seiner BBC-Standardaussprache herein, und Krishan setzte sich mit der Papiertüte voller heißer Pappadi, gegen den warmen Stahlkarren gelehnt, um sich das Spiel anzuhören. Das ist seine Erinnerung an die letzten Innings von Naresh Engineer, wie er am Karren eines Nimki-Verkäufers außerhalb des Cricketspielfelds von Moin-ul-Haq hockt und auf Ram Sagar Singh horcht, auf das leise, teils imaginierte Knallen des Schlägers und dann das Gebrüll der Menge hinter ihm — den ganzen Tag lang, während sich die Schatten über den Beton des Parkplatzes bewegen.
Krishan Kudrati lächelt im Halbschlaf unter dem Kletterhibiscus. Ein dunklerer Schatten fällt auf seine geschlossenen Lider, gefolgt von einem kühlen Hauch. Er öffnet die Augen. Parvati Nandha steht über ihm und blickt auf ihn herab.
»Ich sollte Sie wirklich tadeln, dass Sie während der Arbeit schlafen.«
Krishan blickt auf die Uhr seines Radios. Er hat noch zehn Minuten Zeit, aber er setzt sich auf und schaltet das Radio aus. Die Spieler sind beim Mittagessen, und Ram Sagar Singh stöbert in seinem Wissensschatz aus Cricket-Fakten.
»Ich wollte nur hören, wie Sie meine neuen Armreifen für den Empfang heute Abend finden«, sagt Parvati, wie eine Tänzerin mit einer Hand an der Hüfte, während sie mit der anderen vor ihm herumwedelt.
»Wenn Sie stillhalten, kann ich vielleicht etwas erkennen.«
Metall fängt das Licht auf und überwältigt Krishan. Instinktiv streckt er die Hand aus. Ohne nachzudenken, schließt er sie um ihr Handgelenk. Die Erkenntnis betäubt ihn für einen Moment. Dann lässt Krishan wieder los.
»Das ist sehr schön«, sagt er. »Ist das Gold?«
»Ja«, sagt Parvati. »Mein Ehemann liebt es, mir Gold zu kaufen.«
»Ihr Ehemann ist sehr gut zu Ihnen. Sie werden der Star Nummer eins auf dieser Party sein.«
»Danke.« Parvati senkt den Kopf, als sie sich plötzlich für ihre Dreistigkeit schämt. »Sie sind sehr freundlich zu mir.«
»Nein, ich spreche nur die schlichte Wahrheit aus.« Die Sonne und der schwere Geruch der Erde machen Krishan mutig. »Verzeihen Sie mir, aber ich glaube, das bekommen Sie nicht so oft zu hören, wie Sie es hören sollten.«
»Sie sind ein äußerst dreister Mann!«, tadelt Parvati, doch sogleich wird sie wieder sanfter. »Hören Sie das Cricketspiel?«
»Das zweite Testpiel von Patna. Wir stehen bei zweihundertacht für fünf.«
»Von Cricket verstehe ich nichts«, sagt Parvati. »Das Spiel erscheint mir sehr komplex und schwierig zu gewinnen.«
»Wenn man einmal die Regeln und Strategien verstanden hat, ist es die faszinierendste Sportart überhaupt«, sagt Krishan. »Für die Engländer ist es das, was Zen am nächsten kommt.«
»Ich sollte darüber Bescheid wissen. Bei diesen gesellschaftlichen Empfängen wird ständig darüber geredet. Dann komme ich mir immer sehr dumm vor, weil ich danebenstehe und nichts dazu sagen kann. Ich mag keine Ahnung von Politik oder Wirtschaft haben, aber vielleicht wäre ich imstande, Cricket zu lernen. Vielleicht könnten Sie es mir beibringen.«
Mr. Nandha fährt durch New Varanasi und hört Dido und Aeneas in einer Aufnahme des English Chamber Orchestra, das Mr. Nandha wegen seiner rauen Umsetzung des Englischen Barock bemerkenswert findet. Am Rand seiner Wahrnehmungssphäre schwebt wie ein Gerücht vom Monsun das abendliche Durbar bei den Dawars. Ein Vorwand, nicht hingehen zu müssen, wäre ihm willkommen. Mr. Nandha befürchtet, dass Sanjay Dawar die glückliche Empfängnis eines Erben verkünden wird. Eines Brahmanen, wie er vermutet. Das wird Parvati veranlassen, erneut das alte Thema zur Sprache zu bringen. Er hat ihr wiederholt seinen Standpunkt klargemacht, aber sie hört nur, dass er ein Mann ist, der mit ihr keine Kinder zeugen will. Das deprimiert Mr. Nandha.
Ein Misston in seinem Hörzentrum: ein Anruf von Morva von der Steuerfahndung. Von allen Mitarbeitern des Ministeriums ist Morva der Einzige, dem Mr. Nandha Respekt entgegenbringt. Die Zusammenstellung belastender Dokumente hat eine besondere Schönheit und Eleganz. Es ist die reinste und heiligste Form der Detektivarbeit. Morva verlässt niemals sein Büro, muss sich niemals auf der Straße behaupten, droht niemals mit Gewalt und trägt keine Waffe, aber seine Gedanken reichen von seinem Schreibtisch im zwölften Stock in die gesamte weite Welt hinaus. Dazu sind nur ein paar Bewegungen der Hände und Augen nötig. Reiner körperloser Intellekt, während er von einer Strohfirma zu einem Steuerparadies huscht, von einer Offshore-Datenoase zu einem Treuhandkonto. Die Abstraktion seiner Arbeit begeistert Mr. Nandha: Entitäten ohne jegliche physische Struktur. Der reine Fluss, die Bewegung des immateriellen Geldes durch winzige Informationscluster.
Er hat Odeco aufgespürt. Es handelt sich um eine geheimniskrämerische Investmentfirma, die in einer karibischen Steueroase Zuflucht gefunden hat und Mega-Dollars in visionäre Forschungsprojekte steckt. Zu ihren Investitionen in Bharat gehörten das Institut für Künstliche Intelligenz an der University of Bharat in Varanasi, die Forschungs- und Entwicklungsabteilung von Ray Power und verschiedene Darwinware-Treibhäuser, die am Rande der Legalität Kaihs niedrigster Stufe züchten. Nicht die Kaih, die aus dem Hinterhof-Wettprojekt von Tikka-Pasta ausbrach und Amok lief, denkt Mr. Nandha. Nicht einmal ein Hochrisikounternehmen wie Odeco würde es wagen, mit den Sundarbans Geschäfte zu machen.
Die Amerikaner fürchten diese Dschungelcamps, wie sie alles außerhalb ihrer Landesgrenzen fürchten, und arbeiten mit Mr. Nandha und seinesgleichen zusammen, um ihren endlosen Krieg gegen die wilden Kaihs zu führen. Gleichzeitig empfindet Mr. Nandha große Bewunderung für die Datenrajas. Sie haben Tatkraft und Unternehmungsgeist. Sie sind stolz und haben sich einen Namen in der Welt gemacht. Die Sundarbans von Bharat und den States of Bengal, Bangalore und Mumbai, New Delhi und Hyderabad finden globalen Widerhall. Sie sind das Domizil der mythischen »Generation Drei«, Kaihs mit Überintelligenz, die so hoch wie Götter über den Menschen stehen.
Der Badrinath-Sundarban beansprucht räumlich ein bescheidenes Apartment im fünfzehnten Stock an der Vidyapeeth Road. Die Nachbarn des Datenrajas Radhakrishna dürften nicht im Mindesten ahnen, dass nebenan zehntausend kybernetische Devis wohnen. Als er sich durch die Mopeds zum Parkplatz hupt, ruft Mr. Nandha seine Avatare auf. Jashwant wurde gewarnt. Datenrajas haben zahlreiche Fühler, die auf jede Vibration im globalen Netz reagieren, so dass sie beinahe hellsichtig scheinen. Als Mr. Nandha den Wagen verschließt, beobachtet er, wie sich die Straßen und die Skyline mit Göttern füllen, die riesig wie Berge sind. Shiva überprüft den drahtlosen Verkehr, Krishna das Extra- und Intranet, Kali hebt ihren Säbel über die Satellitenschüsseln von New Varanasi, um alles niederzumähen, was sich aus Badrinath hinauskopieren will. Schaden ist uns Freude und Bosheit unsere Kunst, singt der Chor des English Chamber Orchestra.
Dann wird alles weiß. Ein Ansturm statischen Rauschens. Die Götter werden von der Skyline getilgt. Dido und Aeneas bricht mitten im Continuo ab. Mr. Nandha reißt sich den Hoek vom Ohr.
»Platz machen, Platz machen!«, schreit er die Passanten an. Während seiner ersten Woche beim Ministerium erlebte Mr. Nandha leibhaftig einen ausgewachsenen EM-Puls. Die Signatur ist eindeutig. Als er die Stufen zum Foyer hinaufstürmt und mit seinem stotternden Palmer Polizeiunterstützung anfordert, glaubt er etwas zu sehen, das zu groß für einen Vogel ist und zu klein für ein Flugzeug. Es springt vom Apartmentgebäude empor und verschwindet im leuchtenden Nachthimmel von Varanasi. Sekunden später explodiert die Fensterfront des fünfzehnten Stocks in einem Feuerball.
»Laufen Sie, flüchten Sie!«, ruft Mr. Nandha, als die rauchenden Trümmer auf die Gaffer herabregnen, aber der einzige große, erdrückende Gedanke in seinem Kopf ist, dass er es jetzt nicht mehr schaffen wird, seinen Anzug von Mukherjee abzuholen.
Premierministerin Sajida Rana trägt heute Gold und Grün. Ihr Kabinett weiß, dass es um Angelegenheiten des nationalen Stolzes geht, wenn sie in den Farben der Flagge erscheint. Sie steht am Ostende des langen Teaktischs im lichten Kabinettzimmer aus Marmor in der Bharat Sabha.
An der Wand reihen sich goldgerahmte Ölgemälde von Vorgängern und politischen Vorbildern aneinander. Ihr Vater Diljit Rana in seiner Richterrobe, der Vater der Nation. Ihr Großvater Shankar Rana im Seidengewand eines englischen Kronanwalts. Jawarhalal Nehru, unnahbar und leicht furchteinflößend in seinem niedlichen Anzug, als hätte er den Preis gesehen, den künftige Generationen für seinen schnellen, schmutzigen Deal mit Mountbatten würden zahlen müssen. Der Mahatma, der Vater von allen, mit Reisschale und Spinnrad. Lakshmi Bai, die kriegerische Rani, die in den Steigbügeln ihres Pferdes der Kavallerie von Maratha steht und den Angriff auf Gwalior befehligt. Und die Autokraten jener anderen mächtigen indischen Dynastie, die den Namen Gandhi teilt: Sonia, der ermordete Rajiv, die Märtyrerin Indira, Mutter Indien.
Die Marmorwände und -decken des Kabinettzimmers wurden als filigranes Kunstwerk der Hindu-Mythologie ausgearbeitet. Doch die Akustik ist trocken und hallend. Jedes Flüstern wird verstärkt. Sajida Rana legt die Hände auf das polierte Teakholz, stützt sich darauf und nimmt die Haltung eines Kämpfers an.
»Können wir es überleben, wenn wir Awadh angreifen?«
Verteidigungsminister V. S. Chowdhury wendet ihr die trüben Raubvogelaugen zu.
»Bharat wird überleben. Varanasi wird überleben. Varanasi ist ewig.«
Im hallenden Saal kommt kein Zweifel auf, was er damit meint.
»Können wir sie besiegen?«
»Nein. Wir können es nicht einmal hoffen. Sie haben gesehen, wie Shrivastava und McAuley sich im Weißen Haus die Hände geschüttelt haben, um den Status einer meistbegünstigten Nation zu besiegeln.«
»Als Nächstes wird das Shanker Mahal an der Reihe sein«, sagt Energieminister Vajubhai Patel. »Die Amerikaner haben Ray Power gründlich beschnuppert. Die Awadhis müssen gar nicht einmarschieren, sie können uns einfach aufkaufen. Nach meinen letzten Informationen ist der alte Ray zum Manikarna Ghat hinuntergegangen, um sein Surya Namaskar darzubringen.«
»Und wer leitet jetzt den verdammten Laden?«, fragt Chowdhury.
»Ein Astrophysiker, ein Verpackungsverkäufer und ein selbsternannter Comedian.«
»Gott steh uns bei, wir sollten unverzüglich kapitulieren«, murmelt Chowdhury.
»Ich kann nicht glauben, was ich an diesem Tisch höre«, sagt Sajida Rana. »Wie alte Frauen an der Wasserpumpe. Das Volk will einen Krieg.«
»Das Volk will Regen«, sagt Biswanath steif, der Minister für Umweltangelegenheiten. »Das ist alles, was es will. Den Monsun.«
Sajida Rana wendet sich an ihren vertrauenswürdigsten Assistenten. Shaheen Badoor Khan hat sich im Marmor verloren. Seine Aufmerksamkeit wird von vulgären heidnischen Gottheiten verführt, die gegenseitig über ihre Körper hinwegkriechen, die Wände hinauf und quer über das Dach. Dann löscht er mental die krasseren Konturen aus, die skulptierten Kegel der Brüste, das derb vorstehende Linga, und reduziert sie zu einer verwischten Androgynie aus Marmorhaut, die in- und durcheinander- und aus sich selbst herausfließt. Sein geistiges Auge springt zur Rundung eines Wangenknochens, zu einem elegant gebogenen Nacken, einer glatten perfekten Kurve aus haarloser Kopfhaut, die er in einem Flughafenkorridor erspäht hat.
»Mr. Khan, was haben Sie in Bengalen gehört?«
»Hirngespinste«, sagt Shaheen Badoor Khan. »Wie immer wollen die Banglas demonstrieren, dass sie eine Hightech-Lösung für ein Problem entwickeln können. Der Eisberg ist eine PR-Aktion. Sie sind fast genauso durstig wie wir.«
»Genauso ist es.« Jetzt spricht Innenminister Ashok Rana. Für Shaheen Badoor Khan ist Vetternwirtschaft kein Thema, aber man hätte wenigstens danach streben sollen, den Mann auf einen geeigneten Posten zu setzen. Unter dem Vorwand, ein Argument vorzubringen, wird Ashok eine kurze Rede halten, mit der er die Politik seiner Schwester unterstützt, wie auch immer diese orientiert sein mag. »Was das Volk braucht, ist Wasser, und wenn dazu ein Krieg nötig ist ...«
Shaheen Badoor Khan stößt einen sehr leisen Seufzer aus, gerade laut genug, dass der Bruder ihn wahrnimmt. Verteidigungsminister Chowdhury schaltet sich ein. Er hat eine helle und quengelige Stimme, die sich mit unangenehmen Resonanzen von den zankenden Marmor-Apsaras vermischt.
»Die Strategische Entwicklungsabteilung der Landstreitkräfte empfiehlt einen direkten Präventivschlag gegen den Damm. Wir schicken auf dem Luftweg einen kleinen Kommandotrupp los, besetzen den Damm, halten ihn bis zum letzten Moment und ziehen uns dann über die Grenze zurück. In der Zwischenzeit setzen wir die Vereinten Nationen unter Druck, damit der Damm unter die Kontrolle einer internationalen Friedenstruppe gestellt wird.«
»Falls die Amerikaner nicht vorher zu Sanktionen aufrufen«, wirft Shaheen Badoor Khan ein. Ein zustimmendes Gemurmel geht um den langen dunklen Tisch.
»Zurückziehen?«, fragt Ashok Rana fassungslos nach. »Unsere tapferen Jawans führen einen mächtigen Schlag gegen Awadh aus, um gleich darauf die Flucht zu ergreifen? Wie wird man das auf den Straßen von Patna aufnehmen? Hat diese Strategische Entwicklungsabteilung nicht den geringsten Izzat?«
Shaheen Badoor Khan spürt, wie sich das Klima im Raum verändert. Dieses Gerede von Stolz und tapferen Soldaten und Feigheit bewegt die Anwesenden. »Falls ich meine Meinung vorbringen darf ...«, sagt er in die absolute, hallende Stille hinein.
»Ihre Meinung ist hier stets willkommen«, sagt Sajida Rana.
»Ich glaube, dass die größte Gefahr für unsere Regierung von den inszenierten Demonstrationen am Sarkhand Roundabout ausgeht und nicht von unseren Auseinandersetzungen mit Awadh«, erklärt er vorsichtig. Auf beiden Seiten des Tisches wird Widerspruch laut. Als Sajida Rana die Hand hebt, kehrt wieder Ruhe ein.
»Fahren Sie fort, Sekretär Khan.«
»Ich sage nicht, dass es keinen Krieg geben wird, obwohl ich glaube, dass hier allen klar ist, welche Position ich zu aggressiven Maßnahmen gegenüber Awadh einnehme.«
»Die weibliche Position«, sagt Ashok Rana und flüstert seinem Assistenten zu: »Die muslimische Position.«
»Ich rede hier von Gefahren für unsere Regierung, und die größte Bedrohung, mit der wir es zu tun haben, geht offensichtlich von der inneren Zwietracht und den Unruhen aus, die von der Shivaji geschürt werden. Solange unsere Partei die breite Unterstützung des Volkes für jedwede militärische Aktion gegen Awadh hat, wird dieses Kabinett diplomatische Verhandlungen befürworten. Wir sind uns einig, dass militärische Schlagkraft ausschließlich ein Werkzeug ist, mit dem wir die Awadhis an den Verhandlungstisch bringen können, trotz des hohen Stellenwerts, den Ashok unserer militärischen Leistungsfähigkeit beimisst.« Shaheen Badoor Khan hält Ashok Ranas Blick lange genug stand, um ihm klarzumachen, dass er ein Idiot ist, dessen Stellung seine Kompetenz übersteigt. »Doch wenn die Awadhis und ihre amerikanischen Schutzherren eine politische Alternative sehen, die in Bharat breite populäre Unterstützung hat, wird N. K. Jivanjee sich als großer Friedensstifter präsentieren. Der Mann, der den Krieg verhinderte, der den Ganges wieder fließen ließ und den stolzen Ranas trotzte, die Schande über Bharat brachten. Wir werden diesen Raum für die Dauer einer Generation nicht mehr von innen sehen. Das ist es, was hinter der Inszenierung um den Sarkhand Roundabout steht. Es geht nicht um die moralische Empörung der Aufrichtigen Hindutva von Bharat. Jivanjee will den Mob gegen uns aufbringen. Er wird auf seinem Triumphwagen des Jagannath über den Chandni Boulevard bis in dieses Kabinettszimmer fahren.«
»Gibt es irgendeinen Grund, um ihn verhaften zu lassen?«, fragt Außenminister Dasgupta.
»Steuerrückstände?«, schlägt Vipul Narvekar vor, der Assistent von Ashok Rana, womit er amüsiertes Gemurmel auslöst.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagt Shaheen Badoor Khan. »Wir geben N. K. Jivanjee, was er haben will, aber nur, wenn wir wollen, dass er es bekommt.«
»Erklären Sie das bitte, Mr. Khan.« Jetzt beugt sich Premierministerin Rana interessiert vor.
»Ich sage: Wir lassen ihm seinen Willen. Er soll seine Million standhafter Anhänger zusammenrufen. Er soll seinen Kriegswagen rollen lassen, während seine Shivajis hinter ihm tanzen. Er soll die Stimme der Hindutva sein, er soll seine kriegstreiberischen Reden halten und an den verletzten Stolz Bharats appellieren. Er soll das Land in den Krieg treiben. Wenn wir uns als Tauben darstellen, macht ihn das zum Falken. Wir wissen, dass er einen Mob zu Gewalttätigkeiten aufhetzen kann. Das ließe sich gegen die Awadhis in den Grenzstädten richten. Sie werden sich schutzsuchend an Delhi wenden, und die ganze Sache wird eskalieren. Mr. Jivanjee muss nicht überredet werden, seine Rath Yatra bis hinauf zum Kunda-Khadar-Damm zu jagen. Die Awadhis werden zurückschlagen, und dann rücken wir als die verletzte Partei ein. Die Shivajis werden als diejenigen diskreditiert, die die ganze Sache angezettelt haben, die Awadhis werden mit ihren amerikanischen Freunden in die Defensive gedrängt, und wir gehen als die Garanten für Vernunft, Besonnenheit und Diplomatie an den Verhandlungstisch.«
Sajida Rana erhebt sich von ihrem Platz.
»Subtil wie stets, Sekretär Khan.«
»Ich bin nur ein Staatsdiener ...« Shaheen Badoor Khan neigt bescheiden den Kopf, aber er fängt Ashok Ranas Blick auf. Der Mann ist wütend.
Chowdhury meldet sich zu Wort. »Bei allem Respekt, Sekretär Khan, aber ich glaube, Sie unterschätzen den Willen des Volkes von Bharat. Bharat ist viel mehr als Varanasi und die Probleme mit den Metrostationen. Ich weiß, dass wir in Patna einfache, patriotische Menschen sind. Dort ist jeder der Überzeugung, dass ein Krieg die öffentliche Meinung einigen und N. K. Jivanjee an den Rand drängen wird. Es ist eine gefährliche Taktik, sich in Zeiten nationaler Gefahren auf subtile Spiele einzulassen. Durch uns fließt derselbe Ganges wie durch Sie, und Sie sind hier nicht die Einzigen, die unter Durst leiden. Es ist, wie Sie gesagt haben, Premierministerin: Das Volk braucht einen Krieg. Ich will nicht in den Krieg ziehen, aber ich glaube, dass wir es tun müssen. Und wir müssen schnell und als Erste zuschlagen. Dann verhandeln wir aus einer Position der Stärke, und wenn wieder Wasser in den Pumpen ist, wird man Jivanjee und seine Karsevaks als Pöbel durchschauen. Premierministerin, wann haben Sie jemals die Stimmung des Volkes von Bharat falsch eingeschätzt?«
Nicken, zustimmendes Brummen. Erneut schlägt das Klima um. Sajida Rana steht am Kopfende des Tisches mit ihren Ministern, blickt auf die Reihe ihrer Vorfahren und Vorbilder, wie Shaheen Badoor Khan es schon bei vielen Kabinettssitzungen erlebt hat. Sie wird sie nun aufrufen, die Entscheidung zu unterstützen, die sie für Bharat treffen wird.
»Ich habe Sie verstanden, Mr. Chowdhury, aber was Mr. Khan vorschlägt, hat etwas für sich. Ich bin gewillt, es zu versuchen. Ich lasse zu, dass N. K. Jivanjee uns die Arbeit abnimmt, während unsere Armee in Bereitschaft bleibt und innerhalb von drei Stunden mobilisiert werden kann. Meine Herren, schicken Sie Ihre Berichte bis sechzehn Uhr an mein Büro, und ich werde meine Weisungen um siebzehn Uhr verteilen. Vielen Dank. Die Sitzung ist geschlossen.«
Das Kabinett und die Berater erheben sich, während Sajida Rana mit wehenden Nationalfarben hinausschreitet, gefolgt vom Stab ihrer Sekretäre. Sie ist eine große, schlanke, eindrucksvolle Frau ohne eine Spur von Grau im Haar, obwohl die Geburt ihres ersten Enkelkindes unmittelbar bevorsteht. Shaheen Badoor Khan nimmt einen Hauch von Chanel wahr, als sie vorbeirauscht. Er wirft einen Blick auf die Sexgottheiten, die über Wände und Decke kriechen, und unterdrückt ein Erschaudern.
Im Korridor berührt ihn jemand am Ärmel: der Verteidigungsminister.
»Mr. Khan.«
»Ja. Was kann ich für Sie tun, Minister?«
Chowdhury zieht Shaheen Badoor Khan in eine Fensternische. Der Minister beugt sich vor und sagt leise und ohne Betonung: »Eine erfolgreiche Sitzung, Mr. Khan, aber ich möchte Sie an Ihre eigenen Worte erinnern. Sie sind nicht mehr als ein Staatsdiener.«
Er klemmt sich die Aktentasche unter den Arm und eilt durch den Korridor davon.
Verkatert vom Blutrausch wacht Najia Askarzadah recht spät in ihrer Backpacker-Koje im Imperial International auf. Auf der Suche nach Chai wankt sie in die Gemeinschaftsküche, an den Australiern vorbei, die sich darüber beklagen, wie flach die Landschaft ist und dass es hier keinen anständigen Käse gibt. Sie schenkt sich ein Glas ein und kehrt in ihr Zimmer zurück, von Gräueln geplagt. Sie erinnert sich daran, wie sich die Mikrosäbler aufeinanderstürzten und sie mit der Menge aufgesprungen ist und nach Blut geschrien hat. Ein so niederträchtiges und schmutziges Gefühl hat sie noch nie empfunden, auch nicht von Drogen oder Sex, aber sie ist süchtig danach.
Najia hat viel über ihre Affinität zu Gefahr nachgedacht. Ihre Eltern haben sie als Schwedin großgezogen, mit toleranter Bildung, sexueller Freizügigkeit und westlicher Orientierung. Sie haben keine Fotos ins Exil mitgenommen, keine Souvenirs, weder ihre Sprache noch einen Sinn für Geographie. Das einzige Afghanische an Najia Askarzadah ist ihr Name. Das Werk ihrer Eltern war so gut gelungen, dass Najias Ahnungslosigkeit bis zu ihrem ersten Semester an der Universität anhielt. Als ihr Tutor vorschlug, sie sollte für einen Essay über die afghanische Politik der Nachbürgerkriegszeit recherchieren, wurde Najia mit einem Mal bewusst, dass sie eine komplette verschüttete Identität besaß. Diese Identität öffnete sich unter Najia Askarzadah, der kleinen polysexuellen Skandinavierin, die Geisteswissenschaften studierte, und verschluckte sie in den drei Monaten, in denen der Essay zur Grundlage ihrer späteren Abschlussarbeit wurde. Es gab ein Leben, das sie hätte führen können, und ihre bisherige Karriere war das Vorspiel dazu. Bharat am Rande eines Wasserkrieges ist die Vorbereitung auf ihre Rückkehr nach Kabul.
Sie sitzt auf der angenehm kühlen Veranda des Imperial und sieht ihre Mails durch. Dem Magazin hat ihre Story gefallen. Sogar sehr. Man will ihr achthundert Dollar dafür bezahlen. Sie sendet den unterschriebenen Vertrag zurück in die USA. Ein weiterer Schritt auf dem Weg nach Kabul, aber nur ein Schritt. Sie muss ihre nächste Story planen. Es wird eine politische Geschichte sein. Als Nächstes wird sie Sajida Rana interviewen. Alles andere tritt hinter Sajida Rana zurück. Unter welchem Thema soll es stehen? Von Frau zu Frau. Premierministerin Rana, Sie sind Politikerin, Staatsoberhaupt, eine dynastische Gestalt in einem Land, das wegen eines Kreisverkehrs gespalten ist, in dem Männer so verzweifelt eine Ehefrau suchen, dass sie die Mitgift zahlen, wo Monsterkinder, die halb so langsam altern wie der menschliche Durchschnitt, die Privilegien und Bedürfnisse von Erwachsenen entwickeln, bevor sie biologisch zehn geworden sind. Ein Land, das Durst leidet und kurz davorsteht, deswegen einen Krieg zu beginnen. Doch in erster Linie sind Sie eine Frau in einer Gesellschaft, in der Frauen Ihrer Klasse und Ausbildung hinter einer neuen Purdah verschwunden sind. Was hat Sie dazu befähigt, praktisch im Alleingang diesem seidenen Käfig der Wertschätzung zu entfliehen?
Nicht schlecht. Najia klappt ihren Palmer auf. Sie will den Text gerade eintippen, als das Gerät piept. Das ist bestimmt Bernard. Nicht sehr tantramäßig, in eine Kampfarena zu gehen. Auch nicht sehr tantramäßig, mit einem anderen Mann auszugehen. Nicht dass er besitzergreifend wäre, also muss er ihr nichts verzeihen, aber sie muss sich die Frage stellen: Wird es mich auf meinem Weg zum Samadhi weiterbringen?
»Bernard«, sagt Najia Askarzadah, »verpiss dich. Ich mein’s ernst. Ich dachte, du wärst nicht eifersüchtig. Oder ist das nur etwas, das du allen Frauen sagst, genauso wie dieses tantrische Ding mit deinem Schwanz?«
»Ms. Askarzadah?«
»Oh, tut mir leid. Ich dachte, es wäre jemand anders.«
Sie hört nur noch luftiges Rauschen.
»Hallo? Hallo?«
Dann: »Ms. Askarzadah. Kommen Sie zum Lagerhaus von Deodar Electrical, Industrial Road, in einer halben Stunde.« Eine gebildete Stimme mit leichtem Akzent.
»Hallo? Wer sind Sie? Hören Sie, es tut mir leid wegen ...«
»Das Lagerhaus von Deodar Electrical, Industrial Road.«
Und weg ist er. Najia Askarzadah blickt auf den Palmer, als hätte sie einen Skorpion in der Hand. Keine Rückrufnummer, keine Erklärung, keine Identifizierung. Sie tippt die Adresse ein, die die Stimme ihr genannt hat, und der Palmer zeigt eine Streckenkarte an. Eine Minute später fährt sie mit ihrem Moped durch das Tor. Deodar Electric ist Teil des alten Studiogeländes von Stadt und Land, das in kleinere Betriebe aufgeteilt wurde, als die Serie auf virtuell umgestellt und in die Zentrale von Indiapendent in Ranapur verlegt wurde. Die Straßenkarte führt sie zum riesigen Tor des Hauptstudios, wo ein Teenager in langer Kurta und Weste an einem Tisch sitzt und sich die Radioreportage eines Cricketspiels anhört. Najia bemerkt, dass er einen Dreizack-Anhänger der Shivaji trägt, ähnlich wie der, den sie an der Kette um Satnams Hals gesehen hat.
»Jemand hat mich angerufen, dass ich hierherkommen soll. Ich bin Najia Askarzadah.«
Der Junge mustert sie von oben bis unten. Er hat den Ansatz eines Schnurrbarts.
»Aha. Ja, man hat uns gesagt, dass wir mit Ihnen rechnen sollen.«
»Wer hat das gesagt?«
»Bitte folgen Sie mir.«
Er öffnet eine kleine Durchgangstür in einem Flügel des Tors. Sie gehen geduckt hindurch.
»Oh, wow!«, sagt Najia Askarzadah.
Die Rath Yatra ragt fünfzehn Meter hoch unter den Flutlichtern des Studios auf, eine rot-goldene Pyramide aus verschiedenen Ebenen und Brüstungen, mit einer wilden Ansammlung von Göttern und Adityas. Es ist ein mobiler Tempel. An der Spitze, die fast die Dachträger des Studios berührt, befindet sich eine Plexiglas-Kuppel mit einer Ganesha-Statue. Der Gott des Volkes, den die Shivajis für sich beanspruchen, sitzt auf einem Thron. Der Sockel, der auf zwei Tiefladern ruht, bildet einen weitläufigen Balkon für Parteifunktionäre und die Presse.
»Die Laster sind aneinandergekoppelt«, erklärt ihr Führer enthusiastisch. »Sie können sich nur gemeinsam bewegen, sehen Sie? Wir werden Seile anbringen, wenn die Leute möchten, dass sie beim Ziehen gesehen werden, aber bei der Shivaji geht es nicht darum, irgendjemanden auszunutzen.«
Najia hat noch nie einen Raketenstartplatz gesehen, aber sie stellt sich vor, dass in den Montagehallen für Weltraumtechnik eine ähnliche Betriebsamkeit herrscht. Überall Kräne und Gerüste, Arbeiter in Anzügen und Schutzmasken, die an den goldenen Flanken hinauf- und hinunterkriechen, leichte Bauroboter, die ihre Klebepistolenrüssel in Ritzen und Winkel stecken. Die Luft ist von den Dämpfen der Farben und Glasfasern erfüllt, die Stahlbaracke hallt von Hochleistungsheftmaschinen, Bohrern und Kreissägen wider. Najia beobachtet, wie ein Vasu an einem Flaschenzug emporgehoben wird. Zwei Arbeiter mit Shivaji-Stickern an den Overalls kleben ihn im Zentrum einer Rosette aus tanzenden Begleitern rund um einen thronenden Vishnu fest. Und genau in der Mitte ragt die goldene Zikkurat des heiligen Fahrzeugs auf. Der eigentliche Triumphwagen des Jagannath.
»Es ist kein Problem, wenn Sie Fotos machen möchten«, sagt der jugendliche Führer. »Wir verlangen keine Gebühr.« Najias Hände zittern, als sie die Kamera ihres Palmers aufruft. Sie geht zwischen die Arbeiter und Maschinen und knipst, bis ihr Speicher voll ist.
»Kann ich auch ... ich meine ... für die Presse?«, stammelt sie an den Shivaji gewandt, der im Studio die einzige Person zu sein scheint, die irgendeine Autorität darstellt.
»Aber ja«, sagt er. »Ich vermute, dass Sie deswegen hierhergebracht wurden.«
Der Palmer meldet sich leise. Wieder ein anonymer Anrufer. Naija antwortet vorsichtig.
»Ja?«
Es ist nicht die Collegestimme. Es ist eine Frau.
»Hallo. Ich stelle einen Anruf von N. K. Jivanjee zu Ihnen durch.«
»Wen? Was? Hallo?«, stottert Naija.
»Hallo, Ms. Najia Askarzadah.« Er ist es. Er ist es wirklich. »Nun, was meinen Sie?«
Ihr fehlen die Worte. Sie schluckt mühsam. »Es ist, ähm, beeindruckend.«
»Gut. Das soll es auch sein. Schließlich hat es einen verdammten Haufen Geld gekostet. Aber ich glaube wirklich, dass die Leute außerordentlich gute Arbeit geleistet haben, meinen Sie nicht auch? Viele von ihnen haben früher Studiosets entworfen. Aber es freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ich glaube, viele Leute werden genauso beeindruckt sein. Natürlich sind die Ranas die Einzigen, auf die es letztlich ankommt.« N. K. Jivanjees Lachen ist ein tiefes, schokoladiges Gurgeln. »Nun zu Ihnen, Ms. Askarzadah. Ihnen ist bewusst, dass Sie die Gelegenheit zu einer höchst privilegierten Vorschau erhalten haben, für die Sie von der Presse eine beachtliche Summe Geld verlangen können? Zweifellos fragen Sie sich, worum es eigentlich geht. Es geht ganz einfach darum, dass die Partei, die ich zu führen die Ehre habe, gelegentlich Informationen hat, die sie nicht über die konventionellen Kanäle verbreiten möchte. Sie werden unser unkonventioneller Kanal sein. Es versteht sich von selbst, dass wir Ihnen dieses Privileg jederzeit wieder entziehen können. Meine Sekretärin wird eine kurze, von mir vorbereitete Erklärung an Ihren Palmer schicken. Darin spreche ich über die Pilgerfahrt, meine Loyalität zu Bharat, meine Absicht, diese Pilgerfahrt zum Brennpunkt der nationalen Einheit im Angesicht eines gemeinsamen Feindes zu machen. Alle Aussagen sind über mein Pressebüro nachprüfbar. Kann ich mich darauf verlassen, etwas von Ihnen in den Abendausgaben zu lesen? Wunderbar. Vielen Dank, Ms. Askarzadah, und alles Gute!«
Die Presseerklärung trifft mit einem dezenten Glockenton ein. Najia überfliegt sie. Es ist, wie N. K. Jivanjee gesagt hat. Sie hat das Gefühl, als hätte man ihr mit einem großen, weichen, schweren Schläger einen Hieb auf den Kopf verpasst. Sie hört kaum, wie der Shivaji-Junge fragt: »War er das? War er es wirklich? Ich konnte nicht alles verstehen. Was hat er gesagt?«
N. K. Jivanjee. Jeder kommt an Sajida Rana heran. Aber N. K. Jivanjee! Vor Freude umarmt Najia Askarzadah sich selbst. Exklusiv! Fotos Copyright Najia Askarzadah. Man wird sie rund um den Globus weiterverkaufen, bevor die Tinte auf dem Vertrag getrocknet ist. Sie sitzt wieder auf dem Moped, mit Kurs auf das Büro der Bharat Times. Sie fährt im Bogen durch das Gittertor auf einen entgegenkommenden Schulbus zu, bevor der Gedanke ihre erstaunte Benommenheit durchdringt.
Warum sie?
Mumtaz Haq, die Ghazal-Sängerin, wird um zehn auftreten. Shaheen Baddor Khan beabsichtigt, zu diesem Zeitpunkt bereits weit fort zu sein. Das heißt keineswegs, dass er Mumtaz Haq nicht mag. Sie ist in verschiedenen Zusammenstellungen auf seiner Autoanlage vertreten, auch wenn ihre Stimme nicht so klar ist wie die von R. A. Vora. Aber er mag solche Partys nicht. Er umklammert sein Glas Granatapfelsaft mit beiden Händen und hält sich in den Schatten, von wo aus er beobachten kann, ohne selbst gesehen zu werden.
Der Garten der Dawars ist eine kühle, feuchte Oase aus Pavillons und Baldachinen zwischen süß duftenden Bäumen und präzise gestutzten Sträuchern. Es riecht nach Geld und Bestechung des Wasserwerks. Laternen mit Kerzen und Ölfackeln sorgen für barbarische Illumination. Kellner in Rajput-Kostümen bewegen sich mit silbernen Tabletts voller Häppchen und Alkohol zwischen den Gästen. Auf einem Pandal unter einem Harsingarbaum sägen und dudeln Musiker zu einem elektrischen Bass. Hier wird Mumtaz Haq auftreten, und anschließend gibt es ein Feuerwerk. Das hat Neelam Dawar all ihren Gästen erzählt. Ghazal und Feuerwerk. Freut euch!
Bilquis Badoor Khan macht ihren Ehemann in seinem Versteck ausfindig.
»Liebling, versuch es wenigstens.«
Shaheen Badoor Khan gibt seiner Frau einen gesellschaftsfähigen Kuss, einen auf jede Seite.
»Nein, ich bleibe hier. Entweder man erkennt mich, und man will mit mir nur über den Krieg reden, oder man erkennt mich nicht, und dann geht es nur um Schulen, Aktienkurse und Cricket.«
»Apropos Cricket.« Bilquis berührt Shaheen leicht am Ärmel, eine Aufforderung zur Konspiration. »Shaheen, es ist einfach unglaublich ... ich weiß nicht, wo Neelam sie auftreibt. Jedenfalls ... diese schreckliche, schmuddelige kleine Frau vom Land, du kennst diesen Menschenschlag, sie steigen aus dem Bihar-Bus, heiraten nach oben, und alle sollen es wissen. Da ist sie, da drüben. Jedenfalls stehen wir zusammen und reden, und sie schleicht um uns herum, versucht ganz offensichtlich, ihre zwei Rupien ins Spiel zu bringen, das arme Ding. Dann kommen wir auf Cricket und Tandons Jahrhundert, und sie sagt: War es nicht wunderbar, beim achten und letzten Ball, kurz vor der Teepause! Ich meine nur. Ein Over mit acht Bällen. Einfach unglaublich!«
Shaheen Badoor Khan blickt zu der Frau, die mit einem Becher Lassi allein unter einem Pipalbaum steht. Die Hand um das silberne Trinkgefäß ist lang und schlank und mit Henna gemustert. Ihr Ehering ist um den Finger tätowiert. Die Frau ist groß und hat eine Haltung ländlicher Eleganz, auf eine unaffektierte, schlichte Art kultiviert. Auf Shaheen Badoor Khan wirkt sie unbeschreiblich traurig.
»Ja, unglaublich«, sagt er und wendet sich von seiner Frau ab.
»Ach, Khan! Dachte ich’s mir doch, dass Sie Ihr heidnisches Gesicht hier zeigen.«
Shaheen Badoor Khan hatte versucht, Bal Ganguly aus dem Weg zu gehen, aber der große Mann kann Neuigkeiten riechen wie eine Luna-Motte. Das ist sein Leben und seine Leidenschaft als Eigentümer der wichtigsten Hindi-Nachrichtenseite von Varanasi. Obwohl Ganguly niemals ohne sein Gefolge aus unverheirateten Journalisten auftritt, ist er ein eingefleischter Junggeselle. Die Partys, zu denen er eingeladen wird, locken den Typ Frauen an, die hoffen, eine gute Partie zu machen. Nur ein Narr vergeudet sein Leben darauf, seinen eigenen Käfig zu bauen, pflegt er zu sagen. Außerdem weiß Shaheen Badoor Khan, dass Ganguly ein großer Sponsor der Shivaji ist.
»Was gibt es Neues aus der Sabha? Sollte ich anfangen, mir einen Schutzbunker einzurichten, oder lieber ein Reislager anlegen?«
»Es tut mir leid, dass ich Sie enttäuschen muss, aber diese Woche wird es keinen Krieg geben.« Shaheen Badoor Khan schaut sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Die Junggesellen versammeln sich im Kreis um ihn.
»Wissen Sie, es würde mich nicht überraschen, wenn Rana den Krieg erklärt und eine halbe Stunde später die Bulldozer zum Sarkhand Roundabout schickt.« Ganguly lacht über seinen eigenen Witz. Er hat ein großes, gurgelndes, ansteckendes Lachen. Shaheen Badoor Khan muss unwillkürlich lächeln. Gangulys Anhängerschar wetteifert darum, wer am lautesten mitlacht. Sie schauen sich um, ob irgendwelche Frauen in ihre Richtung blicken. »Nein, aber ich bitte Sie, Khan. Krieg ist eine ernsthafte Angelegenheit. Damit lässt sich jede Menge Werbefläche verkaufen.« Die ungebundenen Frauen in ihrem eigenen privaten Pavillon schauen an ihrer Anstandsdame vorbei, lächelnd, aber zu schüchtern, um Blickkontakt aufzunehmen. Shaheen Badoor Khans Aufmerksamkeit wird erneut auf die Frau vom Land unter dem Pipalbaum gelenkt. Zwischen den Welten. Weder das eine noch das andere. Dort möchte sich niemand aufhalten.
»Wir werden nicht in den Krieg ziehen«, sagt Shaheen Badoor Khan ruhig. »Wenn wir aus fünftausend Jahren Militärgeschichte etwas gelernt haben, dann die Tatsache, dass wir nicht gut darin sind, Kriege zu führen. Wir lieben es, zu protzen und zu posieren, aber wenn es zur Schlacht kommt, bekommen wir es mit der Angst zu tun. So konnten die Briten uns überrollen. Wir saßen in unseren Verteidigungsstellungen, und sie kamen anmarschiert. Sie marschierten immer weiter, und wir dachten: Sie werden schon irgendwann aufhören. Aber sie marschierten trotzdem weiter, die Bajonette erhoben. Es war genauso wie null-zwei und achtundzwanzig in Kaschmir, und genauso wird es in Kunda Khadar sein. Wir lassen unsere Truppen auf unserer Seite des Damms aufmarschieren und sie auf ihrer, wir tauschen ein paar Runden Artilleriefeuer aus, und dann können alle wieder nach Hause gehen, während dem Izzat Genüge getan wurde.«
»Achtundzwanzig gab es keine Wasserknappheit«, sagt einer der Zeitungsjungen zornig. Ganguly bläst sich auf — ihm ist das nächste Bonmot abgewürgt worden. Journalistische Junggesellen sprechen nicht unaufgefordert zum Privatsekretär eines Premierministers. Shaheen Badoor Khan nutzt die Verwirrung, um sich aus der Gesprächsrunde davonzustehlen. Die Mädchen aus den niederen Kasten folgen ihm mit den Blicken. Macht hat überall denselben Geruch, ob in der Stadt oder auf dem Land. Shaheen Badoor Khan nickt ihnen zu, doch Bilquis ist mit ihren früheren Freundinnen aus der Anwaltschaft auf Abfangkurs. Die Damen, die einst der Juristerei nachgingen. Bilquis’ Karriere ist genauso wie die einer ganzen Generation gut ausgebildeter, arbeitender Frauen hinter einem Schleier gesellschaftlicher Verpflichtungen und Einschränkungen verschwunden. Kein Gesetz, kein Imam, keine Kastentradition hat sie von ihrem Arbeitsplatz vertrieben. Warum sollen sie arbeiten, wenn fünf Männer um jeden Job konkurrieren und jede gebildete, in Umgangsformen bewanderte Frau in eine Familie mit Geld und Prestige einheiraten kann? Willkommen in der gläsernen Zenana.
Die klugen Frauen unterhalten sich nun über eine Witwe, die sie kennen, eine kompetente Frau, eine Shivaji-Aktivistin, recht intelligent. Kaum vom Verbrennungsplatz am Ghat zurück, und was sagt man dazu? Bankrott. Keine einzige Paisa. Auch das letzte Möbelstück als Sicherheit verpfändet. Zweitausendsiebenundvierzig, und trotzdem kann eine gebildete Frau plötzlich auf der Straße landen. Wenigstens muss sie nicht zu den ... ihr wisst schon. Den »O«-Leuten. Hat jemand in letzter Zeit etwas von ihr gehört? Muss demnächst mal nach ihr sehen. Mädchen müssen zusammenhalten. Solidarität und so. Man kann Männern einfach nicht vertrauen.
Musiker nehmen ihre Positionen auf dem Pandal ein, stimmen, tauschen ein paar Noten aus. Shaheen Badoor Khan wird sich davonmachen, wenn Mumtaz Haq an der Reihe ist. Neben dem Tor steht ein Baum, dort kann er sich im Schatten verstecken, und wenn der Applaus beginnt, schlüpft er hinaus und ruft sich ein Taxi. Noch jemand hat die Gelegenheit erkannt, ein Mann im zerknitterten Anzug eines Beamten, eine volle Flöte Omar Khayyam in der Hand. Die Finger am Glas wirken recht kultiviert, genauso wie seine Gesichtszüge, obwohl er einen kräftigen Bartschatten hat. Seine Augen sind groß und animalisch, mit einem animalisch furchtsamen Blick, auf die Art, wie Tiere instinktiv erst einmal alles fürchten.
»Gefällt Ihnen die Musik nicht?«, fragt Shaheen Badoor Khan.
»Ich ziehe die klassische Richtung vor«, sagt der Mann. Sein Tonfall deutet auf eine englische Ausbildung hin.
»Auch ich fand schon immer, dass Indira Shankar sehr unterschätzt wird.«
»Nein, ich meine Klassische Musik, westliche Klassik. Renaissance, Barock.«
»Ich weiß, dass es sie gibt, aber ich konnte mich nie damit anfreunden. Ich fürchte, in meinen Ohren klingt das alles viel zu hysterisch.«
»Damit meinen Sie die Romantik«, sagt der Mann mit einem stillen Lächeln, aber er hat entschieden, dass Shaheen Badoor Khan und ihn eine gewisse Seelenverwandtschaft verbindet. »Und in welchem Bereich sind Sie tätig?«
»Ich bin Staatsdiener«, sagt Shaheen Badoor Khan.
Der Mann denkt kurz über seine Antwort nach. »Ich ebenfalls«, sagt er dann. »Darf ich fragen, in welchem Ressort?«
»Informationsmanagement«, sagt Shaheen Badoor Khan.
»Schädlingsbekämpfung«, sagt der Mann. »Also trinken wir auf unsere Gastgeber.« Er hebt sein Glas, und Shaheen Badoor Khan bemerkt, dass der Anzug des Mannes mit Staub und Ruß verschmutzt ist.
»In der Tat«, sagt Shaheen Badoor Khan. »Wirklich ein Glückskind.«
Der Mann verzieht das Gesicht. »Darin kann ich Ihnen nicht beipflichten, Sir. Ich habe ein großes Problem mit der Geneline-Therapie.«
»Warum das?«
»Es ist ein Rezept für Revolution.«
Shaheen Badoor Khan staunt über die Heftigkeit dieser Antwort.
»Das Letzte, was Bharat braucht«, fährt der Mann fort, »ist eine neue Kaste. Auch wenn sie sich als Brahmanen bezeichnen, sind sie vielmehr die waren Unberührbaren.« Er besinnt sich. »Verzeihen Sie mir, ich weiß gar nichts über Sie, schließlich ...«
»Zwei Söhne«, sagt Shaheen Badoor Khan. »Auf die althergebrachte Weise. Sicher an der Universität untergekommen, Gott sei gelobt, wo sie sich zweifellos jeden Abend mit solchen Themen beschäftigen, auf der Suche nach heiratsfähigem Material.«
»Wir sind eine deformierte Gesellschaft«, sagt der Mann.
Shaheen Badoor Khan fragt sich, ob dieser Mann ein Djinn ist, der ihn prüfen soll, weil er mit allem, was er sagt, Shaheen aus dem Herzen spricht. Er hat sich an ein jungverheiratetes Paar erinnert, mit blendenden Karriereaussichten, auf einem leuchtenden Lebensweg, die Eltern so stolz, so begeistert von ihren Kindern. Und natürlich die Enkelkinder, die Enkelsöhne. Man hat alles bis auf das eine — einen Sohn. Ein einziger Sohn wäre mehr als genug. Dann die Termine bei den Ärzten, die sie nie hatten sehen wollen, und die Familien, die über den Ergebnissen grübelten. Dann die bitteren kleinen Pillen und die blutigen Tage. Shaheen Badoor Khan kann nicht mehr zählen, wie viele Töchter er schon fortgespült hat. Seine Hände haben die Gliedmaßen der Gesellschaft von Bharat verstümmelt.
Er würde sich gern weiter mit dem Mann unterhalten, aber dessen Aufmerksamkeit wird von der Party in Anspruch genommen. Shaheen folgt seinem Blick: Die Frau, über die sich Bilquis lustig gemacht hat, das gutaussende Mädchen vom Land, bewegt sich durch die aufgeregte Menge. Die Ankunft der Diva steht unmittelbar bevor.
»Meine Frau«, sagt der Mann. »Mein letzter Aufruf. Bitte entschuldigen Sie mich. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennengelernt zu haben.« Er stellt seinen Champagner auf den Boden und geht zu ihr. Applaus, als Mumtaz Haq auf die Bühne tritt. Sie lächelt und lächelt und lächelt ihr Publikum an. Ihr erstes Lied an diesem Abend wird eine Hommage an die großzügigen Gastgeber sein, die Hoffnung auf Glück, langes Leben und Wohlstand für ihr anmutiges Kind. Die Musiker spielen auf. Shaheen Badoor Khan geht.
Seiner erhobenen Hand gelingt es nicht, eines der vereinzelten Taxis in diesem Vorort anzuhalten, wo jeder einen eigenen Wagen hat. Ein Phatphat trommelt vorbei, wendet an einer Lücke im betonierten Mittelstreifen und fährt an den Straßenrand. Shaheen Badoor Khan geht darauf zu, doch dann dreht der Fahrer den Gashebel und rattert davon. Shaheen Badoor Khan erspät eine dunkle Gestalt in voluminöser Kleidung unter dem Plastikdach. Das Phatphat überquert erneut den Mittelstreifen, tuckert auf Shaheen Badoor Khan zu. Ein Gesicht blickt aus der Blase, ein elegantes, fremdartiges, feenhaftes Gesicht. Wangenknochen werfen Schatten. Licht glitzert auf der haarlosen, mit Glimmer bestäubten Kopfhaut.
»Sie können sehr gern mitfahren.«
Shaheen Badoor Khan schreckt zurück, als hätte ein Djinn seinen geheimen Seelennamen gerufen.
»Nicht hier, nicht hier«, flüstert er.
Das Neut blinzelt mit den Augen, ein langsamer Kuss. Der Motor heult auf, das kleine Phatphat fädelt sich wieder in den Nachtverkehr ein. Straßenlicht spiegelt sich auf Silber am Hals des Neut, einem Shiva-Trishul.
»Nein«, fleht Shaheen Badoor Khan. »Nein.«
Er ist ein Mann mit Verantwortung. Seine Söhne sind erwachsen geworden und ausgezogen, seine Frau ist für ihn seit Jahren fast wie eine Fremde, aber es gibt einen Krieg, eine Dürre, eine Nation, um die er sich kümmern muss. Doch die Anweisungen, die er dem Maruti-Fahrer gibt, der endlich anhält, beziehen sich nicht auf das Khan-Haveli. Er fährt zu einem anderen Ort, einem ganz besonderen Ort. Einem Ort, von dem er gehofft hatte, ihn nie wieder aufsuchen zu müssen. Auch wenn die Hoffnung nur klein war. Zu dem besonderen Ort geht es eine Gali hinunter, die zu schmal für Fahrzeuge ist und von kunstvoll gearbeiteten Jharokhas aus Holz und ramponierten Klimaanlagen überragt wird. Shaheen Badoor Khan öffnet die Taxitür und tritt hinaus in eine andere Welt. Sein Atem geht flach und zitternd. Da. Im kurzen Licht einer sich öffnenden und schließenden Tür sieht er zwei Silhouetten, zu schlank, zu elegant, zu feenhaft für die ordinäre Menschheit.
»Oh«, ruft er leise. »Oh.«
Thal rennt. Eine Stimme aus dem Taxi ruft sys Namen. Ys blickt sich nicht um. Ys bleibt nicht stehen. Ys rennt, und hinter ys bläht sich der Schal in verwischtem ultrablauem Paisleymuster. Hupen ertönen, plötzlich auftauchende Gesichter schreien Beleidigungen; Schweiß und Zähne. Thal schreckt vor einem Beinahe-Zusammenstoß mit einem kleinen schnellen Ford zurück, Musik wumm-wumm-wummt. Ys fährt herum, weicht dem schockierenden Tröten von Lastwagenhupen aus, schlüpft zwischen einem ländlichen Pick-up und einem Bus hindurch, der von einer Haltestelle abfährt. Thal bleibt für einen Moment auf dem Mittelstreifen stehen, um zurückzublicken. Die Blase des Taxis schnurrt immer noch über den Fußgängerweg. Dort steht eine Gestalt, im Licht der Scheinwerfer erkennbar. Thal stürzt sich in den stählernen Fluss.
An diesem Morgen versuchte Thal sich zu verstecken, hinter Arbeit, hinter einer riesigen Wraparound-Piloten-Sonnenbrille, hinter dem heftigsten Kater seines Lebens, aber jeder musste vorbeikommen und den neuesten Tratsch über die waaahnsinnigen Leute auf der waaahnsinnigen Party erfahren. Selbst die coolen Typen umkreisten Thals Workstation. Natürlich fragten sie nicht direkt, sondern suchten nach Hinweisen und Mutmaßungen. Die Tratschnetze waren voll davon, auch die Nachrichtenkanäle, und sogar die Schlagzeilendienste sendeten Bilder von der Nacht an Palmer in ganz Bharat. Auf einem davon zwei Neuts, die auf dem Floor abgehen, von A-Promis bejubelt und beklatscht.
Dann brach hinter Thals Augen ein neuraler Kunda Khadar, und alles quoll wieder in sys Bewusstsein. Jedes. Winzige. Detail. Das Gefummel im Taxi, das Gemurmel im Flughafenhotel, die Obszönitäten. Das Morgenlicht matt und grau mit dem Versprechen eines weiteren ultraheißen Tages und die Karte auf dem Kissen. Keine Szene.
»Oh«, flüsterte Thal. »Nein.« Ys kroch so früh nach Hause, wie es die bevorstehende Hochzeit von Aparna Chawla und Ajay Nadiadwala zuließ, als zitterndes, paranoides Wrack. Zusammengekauert im Phatphat spürte ys die Karte in der Tasche, schwer und gefährlich wie Uran. Wirf sie jetzt weg. Lass sie aus dem Fenster flattern. Lass sie unter dem Sitzbezug verschwinden. Verlieren und vergessen. Aber ys konnte es nicht. Thal hatte schrecklich große Angst, dass ys verliebt war und dass ys dafür keinen Soundtrack hatte.
Die Frauen waren wieder auf den Treppen, drängten sich mit ihren Wasserkanistern aus Plastik hinauf und hinab. Die Gespräche verstummten, als Thal sich vorbeischob, Entschuldigungen murmelnd, und wurden dann kichernd und flüsternd wieder aufgenommen. Jedes Klappern, jeder Fetzen aus dem Radio schien eine Waffe, die auf ys geworfen wurde. Denk nicht darüber nach. In drei Monaten wirst du hier raus sein. Thal stürzte in sys Zimmer, riss sich die steife, nach Rauch stinkende Partykleidung vom Leib und tauchte nackt in sys wunderschönes Bett. Ys programmierte zwei Stunden Non-REM-Schlaf, aber sys Unruhe und Herzschmerz und sys wunderbare, wahnsinnige Verwirrung war stärker als die subdermalen Pumpen, so dass ys wachlag und die Federn aus Licht beobachtete, die durch den Fenstervorhang hereinwehten und wie langsame Würmer über die Decke krochen, und auf das stimmlose, chorale Dröhnen der Stadt in Bewegung lauschte. Thal breitete noch einmal die vergangene verrückte Nacht aus und glättete die Falten. Ys war nicht ausgegangen, um in etwas verstrickt zu werden. Ys war nicht einmal ausgegangen, um gefickt zu werden. Ys war einfach nur losgezogen, um einen irren Abend mit berühmten Leuten und ein wenig Glamour zu erleben. Ys wollte keinen netten Menschen kennenlernen. Ys wollte kein Techtelmechtel, keine Beziehung. Und was ys auf gar keinen Fall wollte, war Liebe auf den ersten Blick. Liebe und all die anderen entsetzlichen Dinge, von denen ys glaubte, sie in Mumbai zurückgelassen zu haben.
Mama Bharat ließ sich Zeit, auf Thals Klopfen zu reagieren. Sie schien Schmerzen zu haben, ihre Hände lagen unsicher auf der Verriegelung der Tür. Thal hatte sich mit einer Tasse Wasser gewaschen und die oberflächlichen Schichten des Schlafs und Drecks entfernt, aber der Rauch, der Suff und der Sex hatten sich tief eingegraben. Ys konnte das alles an sich selbst riechen, als ys sich auf das niedrige Sofa setzte und die leise gestellten Kabelnachrichten sah, während die alte Frau Chai machte. Dabei war sie sehr langsam und sichtlich geschwächt. Es machte Thal Angst, wie sie alterte.
»Also«, sagte Thal. »Ich glaube, ich habe mich verliebt.«
Mama Bharat setzte sich, lehnte sich zurück und wackelte verständnisvoll mit dem Kopf.
»Dann musst du mir alles darüber erzählen.«
Also erzählte Thal die Geschichte, von dem Moment, als ys durch Mama Bharats Tür hinausgetreten war, bis zur Karte auf dem Kopfkissen am tauben Morgen.
»Zeig mir diese Karte«, sagte Mama Bharat. Sie drehte sie in ihrer ledrigen Affenhand. Sie schürzte die Lippen.
»Ich weiß nicht recht, was ich von einem Mann halten soll, der eine Karte mit einer Clubadresse statt einer Privatadresse hinterlässt.«
»Ys ist kein Mann.«
Mama Bharat schloss die Augen.
»Natürlich. Verzeih mir. Aber er verhält sich wie ein Mann.« Staubteilchen stiegen im warmen Licht auf, das schräg durch die Lamellen der Holzjalousie hereinfiel. »Was empfindest du für ihn?«
»Dass ich in ys verliebt bin.«
»Danach habe ich nicht gefragt. Was empfindest du für ihn. Für ys.«
»Ich empfinde ... ich glaube, ich empfinde ... dass ich mit ys zusammen sein möchte, dass ich dorthin gehen möchte, wohin ys geht, dass ich sehen möchte, was ys sieht, dass ich tun möchte, was ys tut, nur damit ich all diese vielen kleinen Dinge erleben kann. Ergibt das irgendeinen Sinn?«
»Sehr sogar«, sagte Mama Bharat.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
»Was sonst könntest du tun?«
Thal stand abrupt auf und rang die Hände. »Dann werde ich es tun. Ich werde es tun.«
Mama Bharat rettete Thals abgestelltes Teeglas vom Teppich, bevor ys ihn in sys wild entschlossener Aufregung mit heißem, süßem Chai tränken konnte. Shiva Nataraja, der Herr des Tanzes, beobachtete alles von seinem Platz auf der Kommode, den Fuß der Vernichtung auf ewig erhoben.
Thal verbrachte den Rest des Nachmittags mit dem Ritual des Ausgehens. Das war ein komplizierter Prozess, der damit begann, einen Mix festzulegen. STRANGE CLUB war sys mentaler Titel für das Projekt Tranh. Die DJ-Kaih stellte eine Auswahl aus Chill-Grooves und vietnamesisch-burmesisch-assamesischen Sounds zusammen. Thal zog sys Straßenkleidung aus und stellte sich vor den Spiegel, reckte die Arme über den Kopf, bewunderte sys runde Schultern, den kinderschlanken Torso, die vollen, geteilten Schenkel ohne jegliches Sexualorgan. Ys hob die Handgelenke, musterte im Spiegel die Gänsehaut der subdermalen Kontrollzapfen. Ys kontemplierte sys wunderschöne Narben.
»Okay, abspielen.«
Die Musik setzte mit einer Lautstärke ein, die den Boden vibrieren ließ. Sofort hämmerte Paswan nebenan gegen die Wand und brüllte etwas von Lärm und seinen Schichten und seiner armen Frau und den Kindern, die von pervertierten, abartigen Missgeburten in den Wahnsinn getrieben wurden. Thal namastierte sich selbst im Spiegel, tanzte dann vor der Garderobenkammer und zog den Vorhang mit einer ballettistischen Drehung zurück. Im Rhythmus schwankend begutachtete Thal sys Kostüme und wob Permutationen, Implikationen, Zeichen und Signale. Mr. Paswan schlug jetzt gegen die Tür und schwor, dass er ihn mit Feuer verjagen würde, er würde schon sehen. Thal legte sys Kombination auf dem Bett aus, tanzte vor dem Spiegel, öffnete sys Make-up-Boxen in strenger Von-rechts-nach-links-Reihenfolge und machte sich für die Komposition bereit.
Als schließlich die Sonne in prächtigem luftverschmutztem Scharlach- und Blutrot unterging, war Thal angekleidet, geschminkt und hochgefahren. Die Paswans hatten das Hämmern schon vor einer Stunde aufgegeben und begnügten sich nun mit Schluchzen. Thal ließ den Chip vom Player auswerfen, steckte ihn in sys Handtasche und trat hinaus in die wilde, wilde Nacht.
»Bringen Sie mich hierhin.«
Der Phatphat-Fahrer blickte auf die Karte und nickte. Thal klinkte sich wieder in den Mix ein und sackte ekstatisch auf der Rückbank in sich zusammen.
Der Club lag ein Stück abseits einer unscheinbaren Gasse. Nach Thals Erfahrung traf das normalerweise auf die besten Clubs zu. Die Tür bestand aus geschnitztem Holz, das nach vielen Jahren Hitze und Luftverschmutzung grau und fasrig geworden war. Thal vermutete, dass sie noch aus der Zeit vor den Briten stammte. Ein dezentes Kamera-Bindi blinkte. Auf sys Berührung hin schwang die Tür auf. Thal stellte sys Mix ab, um zu horchen. Traditionelle Dhol und Bansuri. Thal nahm einen tiefen Atemzug und trat ein.
Das Haus war einst ein großes Haveli gewesen. Balkone aus dem gleichen verwitterten grauen Holz erhoben sich fünf Stockwerke hoch um den zentralen Hofgarten herum, der nun überglast war. Man hatte Pharm-Bananen und andere Kletterpflanzen wild wuchern und die Holzsäulen hinaufranken lassen, damit sie sich an den Streben der Glaskuppel ausbreiten konnten. Trauben aus Biolum-Lampen hingen vom Zentrum des Dachs wie fremdartige, faulige Früchte, Öllaternen aus Terrakotta waren auf dem gekachelten Boden verteilt. Überall Flackern und Schatten. Aus den Nischen in den hölzernen Säulengängen drangen leise Gespräche und das musikalische Plätschern eines lachenden Neuts. Auf einer Matte am Pool in der Mitte — ein seichtes, mit Lilien gesprenkeltes Rechteck — saßen sich die Musiker gegenüber, auf ihre Rhythmen konzentriert.
»Willkommen in meinem Heim.«
Die kleine Frau, zierlich wie ein Vogel, war wie ein Gott in einem Film erschienen. Sie trug einen scharlachroten Sari und das Bindi einer Brahmanin und hatte den Kopf schief gelegt. Thal schätzte ihr Alter auf fünfundsechzig oder siebzig. Ihr Blick zuckte über sys Gesicht.
»Bitte fühlen Sie sich hier wie zu Hause. Ich habe Gäste aus allen Gesellschaftsschichten, aus Varanasi und anderswo.« Sie pflückte eine daumengroße Banane von einem breitblättrigen Trieb, schälte sie und bot sie Thal an. »Essen Sie, nur zu. Sie wachsen wild.«
»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen, aber ...«
»Sie wollen wissen, was sie bewirkt. Sie stimmt Sie darauf ein, wie wir hier sind. Mit einer fängt man an, so machen wir es hier. Es gibt viele Varietäten, aber mit denen an der Tür fängt man an. Die übrigen werden Sie auf Ihrer Reise kennenlernen. Entspannen Sie sich, mein Hübsches. Sie sind hier unter Freunden.« Sie bot erneut die Banane an. Als Thal sie annahm, bemerkte ys den Plastikring hinter dem rechten Ohr der gealterten Frau. Der geneigte Kopf, der ausweichende Blick fanden damit eine Erklärung. Ein Blindenhoek. Thal nahm einen Bissen von der Banane. Sie schmeckte nach Banane. Dann wurde ys sich der Details in den Holzschnitzereien bewusst, des Musters der Kacheln, der Farben und der Webart der Dhuris. Die einzelnen Teile der Musik wurden unterscheidbar, wie sie umeinander herschlichen und sich ineinander verschlangen. Eine Verschärfung der Fokussierung. Eine Steigerung der Bewusstheit. Ein Leuchten im Hinterkopf wie ein inneres Lächeln. Thal verzehrte den Rest der Banane mit zwei Bissen. Die alte blinde Frau nahm die Schale entgegen und legte sie in einen kleinen Abfallbehälter aus Holz, der bereits halb mit schwarz werdenden, duftenden Schalen gefüllt war.
»Ich suche nach jemandem. Tranh.«
Die schwarzen Augen der alten Frau wanderten über Thals Gesicht.
»Tranh. Reizendes Wesen. Nein, Tranh ist nicht hier. Noch nicht. Aber Tranh wird irgendwann hier sein.« Die alte Frau verschränkte vor Freude die Hände ineinander. Dann setzte die Wirkung der Banane ein, und Thal spürte, wie sich eine entspannte Wärme von sys Agnya-Chakra ausbreitete. Ys klinkte sich wieder in sys Musik ein und erkundete den seltsamen Club. Auf den Balkonen standen niedrige Diwane und Sofas, für intime Gesprächsrunden um Tische arrangiert. Für jene, die keine Bananen nahmen, gab es elegante Hookahs aus Messing. Thal trieb an einer Gruppe Neuts vorbei, die im Rauch zeitlupten. Sie wandten ys die Köpfe zu. Es waren viele Genderliche da. In der Ecknische war eine Chinesin in sehr schönem schwarzem Anzug damit beschäftigt, ein Neut zu küssen. Sie hatte ys rücklings auf den Diwan gedrückt. Ihre Finger spielten mit der hormonellen Gänsehaut auf sys Unterarm. Irgendwo überlegte Thal, dass ys gehen sollte, wirklich, aber das Einzige, was ys empfand, war eine warme Dislokation. Noch eine Banane, dachte ys, wäre gut.
Eine Frucht von der Säule ganz links schenkte ys einen kurzen, intensiven Schwall von Wohlgefühl. Thal trat vorsichtig an den Rand des Pools, um zu den gestaffelten Balkonen aufzublicken. Je höher man kam, desto weniger Kleidung benötigte man, schlussfolgerte ys. Das war völlig in Ordnung. Alles war in Ordnung. Hatte auch die blinde Frau gesagt.
»Tranh?«, wandte sich Thal an ein Knäuel von Körpern, die sich rund um ein duftendes Hookah versammelt hatten. Ein schmerzlich junges und hübsches Neut mit feinen ostasiatischen Zügen lugte aus einem Gewühl männlicher Körper hervor. »Entschuldigung«, sagte Thal und ließ sich weitertreiben. »Hast du Tranh gesehen?«, fragte ys eine nervös wirkende Frau, die neben einem Sofa voller lachender Neuts stand. Alle blickten auf und starrten ys an. »Ist Tranh schon hier?« Der Mann stand vor der dritten magischen Bananenranke. Er war nüchtern in einen halboffiziellen Abendanzug gekleidet, Jayjay Valaya, vermutete Thal aufgrund des Schnitts. Ein kluger Mann, schlank, in mittlerem Alter, aber er pflegte seine Haut. Feine, ästhetische Züge, dünne Lippen, intelligenter Blick in den unruhigen Augen. Die Augen, das Gesicht waren nervös. Seine Hände, stellte Thal mittels der wundersamen Macht der Banane fest, die alles in eine sinnvolle Perspektive rückte, waren perfekt manikürt und zitterten.
»Wie bitte?«, fragte der adrette Mann zurück.
»Tranh. Tranh. Ist ys hier?«
Der Mann sah ys perplex an, dann pflückte er eine Banane von der Faust neben seinem Kopf. Er bot sie Thal an.
»Ich suche nach jemandem«, sagte Thal.
»Nach wem?«, fragte der Mann und bot erneut die Banane an.
Thal wischte sie mit der Hand weg. »Tranh. Haben Sie? Nein ...« Thal entfernte sich bereits.
»Bitte!«, rief der Mann ys nach und hielt die Banane wie ein Linga zwischen den Fingern fest. »Bleiben Sie, reden Sie, einfach nur reden ...«
Dann geschah es. Selbst in den flackernden Schatten unter dem Balkon war das Profil unverkennbar, die Rundung der Wangenknochen, die Art, wie ys sich vorbeugte, um sich angeregt zu unterhalten, das Spiel der Hände im Laternenschein, das Lachen wie eine Tempelglocke.
»Tranh.«
Ys blickte nicht vom Gespräch mit sys Freunden auf, über den niedrigen Tisch gebeugt, in gemeinsame Erinnerungen vertieft.
»Tranh.« Diesmal wurde ys erhört. Tranh schaute auf. Das Erste, was Thal in sys Gesicht las, war völlige Verständnislosigkeit. Ich weiß nicht, wer du bist. Dann das Wiedererkennen, die Wiedererinnerung, gefolgt von Überraschung, Bestürzung, Missvergnügen. Schließlich peinliche Verlegenheit.
»Verzeihung«, sagte Thal und trat aus der Nische zurück. Alle Gesichter sahen ys an. »Tut mir leid, ich habe mich geirrt ...« Ys wandte sich um und flüchtete diskret. Das Bedürfnis zu schreien pumpte in sys Schädel. Der schüchterne Mann stand in der Begrünung. Während Thal immer noch feindliche Blicke auf sich gerichtet spürte, nahm ys ihm die Banane aus der weichen Faust, schälte sie, biss tief hinein. Dann setzte das Pharm ein, und Thal nahm wahr, wie sich die Dimensionen des Innenhofs in die Unendlichkeit erweiterten. Ys bot dem Mann die seltsame Frucht an.
»Nein, danke«, stammelte er, aber Thal hatte ihn am Arm gepackt und zerrte ihn zu einem unbesetzten Sofa. Ys spürte immer noch die glühenden Blicke, die auf sys Hinterkopf gerichtet waren.
»Also«, sagte Thal, setzte sich seitwärts auf das niedrige Sofa und drapierte die dünnen Hände um die angezogenen Knie. »Sie wollen mit mir reden, also lassen Sie uns reden.« Ein Blick zurück. Sie starrten immer noch. Ys aß den Rest der Banane, und die flackernden Laternen öffneten sich. Ys wurde von ihrer Gravitation eingesogen, und sys nächster klarer Gedanke beschäftigte sich mit der Fassade eines kurdischen Restaurants. Ein Kellner eilte mit ys an Tischen voller verblüffter Gäste vorbei zu einer kleinen Nische im hinteren Bereich, die von einem duftenden geschnitzten Zedernholzschirm abgetrennt war.
Wie gute Gäste kamen und gingen die Bananen der blinden Frau zeitig. Thal spürte, wie die geschnitzten geometrischen Muster auf den Trennwänden heranrasten, von himmlischer Ferne bis klaustrophobischer Nähe. Im Restaurant war es heiß, und die Stimmen sämtlicher Gäste, der Küchenlärm und die Straßengeräusche waren unerträglich scharf und nahe.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Sie hierhergebracht habe, aber ich mochte es dort nicht«, sagte der Mann gerade. »Da kann man sich nicht unterhalten, nicht richtig jedenfalls. Hier jedoch ist es diskret, und der Besitzer ist mir einen Gefallen schuldig.« Mezze wurden gebracht sowie eine Flasche mit einer klaren Spirituose und ein Krug Wasser. »Arak«, sagte der Mann und goss ein wenig ein. »Ich selber trinke es nicht, aber mir wurde gesagt, dass es wunderbar geeignet ist, sich Mut einzuflößen.« Er fügte Wasser hinzu. Thal staunte, als die klare Flüssigkeit schlagartig leuchtend und milchig wurde. Thal nahm einen Schluck, schreckte vor dem fremdartigen Anisgeschmack zurück und nippte dann noch einmal langsamer und bedächtiger.
»Ys ist ein Chuutya«, erklärte Thal. »Tranh ist ein Chuutya. Ys wollte mich keines einzigen Blickes würdigen. Ys hatte nur Augen für sys Freunde. Jetzt wünschte ich, ich wäre nie gekommen.«
»Es ist so schwierig, jemanden zu finden, der einem zuhört«, sagte der Mann. »Jemanden, der keine Pläne verfolgt, der mich nicht um etwas bitten oder mir etwas verkaufen will. Bei meiner Arbeit will jeder hören, was ich zu sagen habe, welche Ideen ich habe. Jedes Wort von mir wird in Gold aufgewogen. Bevor ich Ihnen begegnet bin, war ich bei einem Durbar im Quartier. Alle wollten hören, was ich zu sagen habe, alle wollten etwas von mir, mit Ausnahme dieses einen Mannes. Er war ein seltsamer Mann, und er sagte etwas sehr Seltsames. Er sagte, wir seien eine deformierte Gesellschaft. Ich habe diesem Mann zugehört.«
Thal nippte vom Arak. »Schätzchen, das haben wir Neuts schon immer gewusst.«
»Also erzählen Sie mir von den Geheimnissen, die Sie kennen. Sagen Sie mir, wer Sie sind. Ich würde gern hören, wie Sie geworden sind, was Sie sind.«
»Nun«, sagte Thal und war sich unter dem aufmerksamen Blick des Mannes jeder Narbe und jedes Implantats bewusst, »mein Name ist Thal, und ich wurde 2019 in Mumbai geboren, und ich arbeite bei Indiapendent im Metasoap-Designteam für Stadt und Land.«
»Und in Mumbai«, sagte der Mann, »im Jahr 2019, als Sie geboren wurden, was ...?«
Thal legte einen Finger auf seine Lippen.
»Niemals«, flüsterte ys. »Niemals fragen, niemals verraten. Vor meinem Ausstieg war ich eine andere Inkarnation. Ich bin erst jetzt am Leben, verstehen Sie? Das davor war ein anderes Leben. Ich bin gestorben und wurde wiedergeboren.«
»Aber wie ...?«, fragte der Mann.
Wieder legte Thal sys weichen, blassen Finger auf die Lippen des Mannes. Ys spürte sie zittern, das Flattern des warmen, süßen Atems. »Sie sagten, Sie wollten zuhören«, erinnerte Thal ihn und hüllte sich in sys Schal. »Mein Vater war ein Choreograph in Bollywood, einer der ganz großen. Haben Sie mal Rishta gesehen? Die Nummer, wo sie im Verkehrsstau über die Autodächer tanzen? Die ist von ihm.«
»Ich fürchte, ich habe nicht allzu viel für Filme übrig«, sagte der Mann.
»Am Ende wurde es zu camp. Zu selbstreferentiell, zu bewusst. So läuft es immer ab. Zuerst wird alles maßlos übertrieben, dann stirbt es. Er hat meine Mutter auf dem Set von Verliebte Anwälte kennengelernt. Sie ist Italienerin, sie wurde an der Hovercam ausgebildet — damals war Mumbai führend auf dem Gebiet. Selbst die Amerikaner schickten Leute hierher, um sie in der Technik ausbilden zu lassen. Die beiden lernten sich kennen, sie heirateten, und sechs Monate später kam ich. Und bevor Sie fragen: Nein. Ein Einzelkind. Sie waren die Stars von Chowpatty Beach, meine Eltern. Ich war auf allen Partys, ich gehörte zum lebenden Inventar. Ich war ein großartiges Kind, Baba. Wir waren ständig in den Filmi-Magazinen und den Tratsch-Gazetten, Sunny und Costanza Vadher mit ihrem hübschen Kind, wie sie auf der Linking Road einkaufen, auf dem Set von Aap Mujhe Acche Lagne Lage, beim Grillfest der Chelliahs. Sie waren die egoistischsten Menschen, denen ich jemals begegnet bin, aber sie waren sich dessen nicht im Geringsten bewusst. Das hat Costanza mir vorgeworfen, als ich meinen Ausstieg ankündigte, wie unglaublich egoistisch das von mir war. Können Sie sich das vorstellen? Was glaubt sie, wo ich so etwas gelernt habe?«
Thal schüttelte mit gezierter Empörung den Kopf. »Sie waren keineswegs dumm. Sie waren ziemlich egoistisch, aber nicht dumm. Ihnen muss klar gewesen sein, was geschehen würde, als man anfing, mit Kaihs zu arbeiten. Zuerst traf es die Schauspieler — eben noch waren Chati und Bollywood Masala und Namaste! voll mit Vishal Das und Shruti Rai bei einer Premiere im Club 28, und als Nächstes kam die dreifach ausklappbare Mittelseite von Filmfare ohne einen einzigen Quadratzentimeter lebende Haut aus. Es ging wirklich so schnell.«
Der Mann murmelte höfliches Erstaunen.
»Sunny konnte einhundert Menschen auf einem riesigen Laptop tanzen lassen, aber jetzt war nur noch eine Berührung nötig, und man konnte sie von hier bis zum Horizont tanzen lassen, alle in perfektem Einklang. Millionen können auf den Wolken tanzen, mit nur einem Klick. Ihn traf es am härtesten. Er wurde böse, er wurde bissig, er ließ es an den Menschen um ihn herum aus. Er wurde gemein, wenn es sich gegen ihn wendete. Ich glaube, das könnte der Grund sein, warum ich zu den Soapis wollte, um ihm zu zeigen, dass es etwas gab, das er hätte tun können, wenn er es nur versucht hätte, wenn er nicht so sehr auf sein Image und seinen Status fixiert gewesen wäre. Andererseits liegt es vielleicht auch daran, dass mir das alles nicht so wichtig ist. Doch kurz danach traf es auch Costanza. Wenn man keine Schauspieler und Tänzer mehr braucht, braucht man auch keine Kameras mehr. Es ist alles im Kasten. Sie stritten sich. Ich muss zehn oder elf gewesen sein. Ich konnte ihr Geschrei hören, so laut, dass die Nachbarn gegen die Tür hämmerten. Die beiden zusammen in einer Wohnung, den ganzen Tag lang, beide arbeitslos, aber eifersüchtig wie der Teufel, falls der andere tatsächlich etwas bekam. Abends gingen sie zu denselben Partys und Durbars, um zu plaudern. Bitte, einen Job! Costanza kam besser damit klar. Sie passte sich an, sie erhielt einen anderen Job im Gewerbe, in der Drehbuchentwicklung. Sunny konnte das nicht. Hat alles hingeschmissen. Verdammter Mistkerl. Verdammter Mistkerl. Er war sowieso ein Versager.«
Thal griff nach dem Arak und nahm einen bitteren Zug. »Es ging zu Ende. Ich würde sagen, dass es wie im Film war, der Abspann rollt über den Bildschirm, die Lichter gehen an, und wir sind wieder in der Wirklichkeit, aber so war es nicht. Es gab keinen dritten Akt. Kein ›Trotz aller Widrigkeiten nahm es ein glückliches Ende‹. Es wurde schlimmer und schlimmer, und dann war es einfach vorbei. Es hörte auf, als wäre der Film gerissen, und ich lebte nicht mehr in einem Apartment in Manori Beach, und ich war nicht mehr an der John Connon School, und ich ging nicht mehr auf all die Partys mit all den Stars, die sagten: Ach schau mal, ist es nicht süß, und sieh mal, wie groß es geworden ist! Ich wohnte mit Costanza in einer Zweizimmerwohnung in Thane, ging auf die katholische Schule Bom Jesus, und es war furchtbar. Einfach nur furchtbar. Ich wollte alles zurückhaben, all die Magie und den Tanz und den Spaß und die Partys, und diesmal wollte ich, dass es auch nach dem Abspann weiterging. Ich wollte nur, dass alle mich ansehen und sagen: Wow. Einfach nur das. Wow.«
Thal lehnte sich zurück und wartete auf Bewunderung, aber der Mann wirkte eingeschüchtert, und da war noch etwas, das Thal nicht identifizieren konnte.
»Sie sind ein außergewöhnliches Geschöpf«, sagte sein Gegenüber. »Haben Sie jemals das Gefühl, in zwei Welten zu leben, und keine davon ist real?«
»Zwei Welten? Schätzchen, es gibt Tausende von Welten. Und sie alle sind so real, wie man sie haben möchte. Ich sollte es wissen, ich habe mein ganzes Leben zwischen solchen Welten verbracht. Keine ist real, aber wenn man sie betritt, sind sie alle gleich.«
Der Mann nickte, aber es war keine Zustimmung zu etwas, das Thal gesagt hatte, sondern eine Antwort auf irgendeinen inneren Dialog. Er bestellte die Rechnung und legte ein Häufchen Scheine auf das kleine Silbertablett.
»Es ist schon spät, und ich habe morgen früh noch einige Geschäfte zu erledigen.«
»Was für Geschäfte?«
Der Mann lächelte in sich hinein. »Sie sind schon die zweite Person, die mich heute Abend danach fragt. Ich arbeite im Informationsmanagement. Danke, dass Sie mit mir hierhergekommen sind, und für Ihre angenehme Gesellschaft. Sie sind wirklich ein außergewöhnlicher Mensch, Thal.«
»Sie haben mir Ihren Namen nicht genannt.«
»Nein, ich glaube, das habe ich nicht getan.«
»Das ist so männlich«, sagte Thal und folgte dem Mann auf die Straße, wo dieser bereits ein Taxi heranwinkte.
»Sie könnten mich Khan nennen.«
Etwas hatte sich verändert, dachte Thal, als ys sich auf den Rücksitz des Maruti fallen ließ. Khan war im Banana Club nervös, schüchtern, schuldbewusst gewesen. Selbst im Restaurant hatte er sich nicht entspannt. Etwas in sys Geschichte hatte seine Gedanken und seine Stimmung bewegt.
»Nach Mitternacht fahre ich nicht zum White Fort«, sagte der Fahrer.
»Ich bezahle Ihnen das Dreifache«, sagte Khan.
»Ich fahre so nahe ran wie möglich.«
Khan lehnte den Kopf gegen die dreckige Kopfstütze. »Wissen Sie, es ist wirklich ein ausgezeichnetes kleines Restaurant. Der Besitzer kam vor etwa zehn Jahren hierher, mit der letzten Welle der kurdischen Diaspora. Ich ... habe ihm geholfen. Er hat den Laden aufgebaut, es geht ihm recht gut. Ich vermute, auch er ist ein Mann, der zwischen zwei Welten gefangen ist.«
Thal hörte nur mit halbem Ohr zu und räkelte sich im warmen Schimmer des Arak. Ys lehnte sich gegen Khan, um seine Wärme, seine Festigkeit zu spüren. Ys ließ sys inneren Arm zwischen sie rutschen. Die Knospenreihen waren im Lichtschein der Straße gerunzelt wie die Zitzen einer Hündin. Thal sah, wie der Mann bei ihrem Anblick zusammenzuckte. Dann stach eine Hand unter den Bund von sys Lounging-Hose, ein Gesicht tauchte über ys auf, ein Mund presste sich auf sys. Eine Zunge drückte, um sich Zugang zu sys Körper zu verschaffen. Thal stieß einen erstickten Schrei aus, Khan zuckte erschrocken zurück, was Thal genug Platz verschaffte, um zu stoßen und zu rufen. Das Phatphat kam ruckend mitten auf dem Highway zum Stehen. Im nächsten Moment hatte Thal die Tür aufgerissen und war draußen. Hinter ys flatterte sys Schal, bevor ys wirklich bewusst geworden war, was ys tat.
Thal rannte.
Thal hört auf zu rennen. Ys steht keuchend da, die Hände auf die Schenkel gestützt. Khan ist immer noch da, starrt durch das verschwommene Scheinwerferlicht in das Verkehrsgewühl. Thal unterdrückt ein Schluchzen. Ys kann immer noch sein Aftershave auf sys Haut riechen, seine Zunge in sys Mund schmecken. Zitternd wartet ys eine Sicherheitsspanne von ein paar Minuten ab, bevor ys ein entgegenkommendes Phatphat heranwinkt. DJ Kaih spielt MIX FÜR EINE GRAUSIGE WENDUNG DER NACHT.
Neuer Tag, neue Schlachtordnung. Jeder von den Reinigungskräften bis zum Abteilungsleiter, die sich unter dem Vordach des Ranjit Ray Research Centre versammelt haben, macht einen nervösen Eindruck. Aber nicht annähernd so nervös wie euer völlig unerwarteter und unvorbereiteter neuer Firmenchef, denkt Vishram Ray, als der Wagen mit sinnlichem Knirschen den geharkten Kiesweg hinauffährt. Vishram überprüft die Manschetten, zupft den Kragen zurecht.
»Du hättest eine Krawatte tragen sollen«, sagt Marianna Fusco. Sie ist kühl, makellos, alle Falten geometrisch angeordnet.
»Das Krawattentragen habe ich in diesem Leben hinter mir«, sagt Vishram, blickt in den Frisierspiegel in der Kopfstütze des Chauffeurs und glättet sich das Haar mit angeleckten Händen. »Außerdem wird dir jeder Kostümhistoriker erklären, dass der einzige Zweck einer Krawatte darin besteht, auf den Schwanz zu zeigen. Das ist nicht sehr hindumäßig, muss ich sagen.«
»Vishram, alles an dir zeigt auf deinen Schwanz.«
Vishram glaubt, den Fahrer leise kichern zu hören, als er die Tür öffnet.
»Mach dir keine Sorgen, ich deck dir den Rücken«, flüstert Marianna Fusco ihm ins Ohr, während er entschlossen die Treppe hinaufsteigt. In seinem Kopf erwacht sein Hoek zum Leben. Für einen Moment verschwimmt sein Sichtfeld, als die Kaih den Müll löscht und die Werbung filtert, dann marschiert er auf den Leiter des Zentrums zu, die Hand zur Begrüßung ausgestreckt. GANDHINAGAR SURJEET steht in blauen Buchstaben vor dem Mann. GEB. 21.01.2009. EHEFRAU: SANJUAY. KINDER: RUPESH (7), NAGESH (9). KAM 2043 ZUR FORSCHUNGS- UND ENTWICKLUNGSABTEILUNG, VON DER UNIVERSITY OF BANGALORE, FORSCHUNGSABTEILUNG ERNEUERBARE ROHSTOFFE. ERSTE PROMOTION IN ... Vishram blinzelt die ergänzenden Informationen weg.
»Mr. Ray, wir heißen Sie in unserer Abteilung herzlich willkommen.«
»Es ist mir eine Freude, hier zu sein, Dr. Surjeet.«
Eigentlich geht es nur darum, eine Rolle zu spielen.
»Sie werden feststellen, dass wir nur unzureichend vorbereitet sind«, sagt er.
»Sie sind nicht halb so unvorbereitet wie ich.« Der Scherz scheint gut anzukommen. Andererseits müssten sie dann doch lachen, oder? Dr. Surjeet dreht sich zu seinen Sektionsleitern um.
INDERPAL GAUR, erklärt der unbarmherzige Palmer. GEB. 15.08.2011 IN CHANDIGARH. FORSCHUNGSUNTERABTEILUNG BIOMASSE. FAMILIENSTAND: SINGLE. SEIT 2034 BEI RAY POWER BESCHÄFTIGT, VON DER UNIVERSITY OF THE PANJAB, CHANDIGARH CAMPUS.
LASS IHN SEINE LEUTE VORSTELLEN, warnt Marianna in Lila über dem Kopf von Surjeet. Dr. Gaur ist eine breit grinsende mollige Frau in traditionellem Kleid, obwohl der Hoek aus eloxiertem Aluminium, der sich seitlich an ihren Zopf schmiegt, überhaupt nichts Altmodisches hat. Er fragt sich, was ihr Hoek über ihn graffitiert. VISHRAM RAY: VERZOGENER SOHN, GESCHEITERTER ANWALT, MÖCHTEGERN-KOMIKER. HÄLT SICH SELBST FÜR UNGLAUBLICH WITZIG.
»Es ist mir eine große Ehre«, sagt sie namastierend.
»Die Ehre ist ganz auf meiner Seite«, versichert Vishram ihr.
Und so weiter, die Reihe der Sektionsleiter, Wissenschaftler und Teamchefs hinunter bis zu denen, die wichtige Arbeiten publiziert haben.
»Ich bin Khaleda Husainy«, sagt eine kleine, sehr präsente Frau in westlichem Anzug mit Tschador-Kopftuch. »Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennenzulernen, Mr. Ray.« Ihr Fachgebiet ist Mikroenergieerzeugung. Parasitäre Energie.
»Was, Menschen erzeugen Energie, indem sie einfach nur hin und her laufen?«
»Über Pumpen in den Gehwegen, ja!«, begeistert sie sich. »Da draußen wird unglaublich viel Energie verschwendet, die wir nur nutzen müssen. Alles, was Sie tun und sagen, ist eine Energiequelle.«
»Dann sollten Sie unbedingt unsere Rechtsabteilung an einen Generator anschließen.«
Das bringt ihm einen Lacher ein.
»Und was tun Sie, um Ray Power zur Nummer eins im Geschäft zu machen?«, fragt Vishram eine junge, fast gutaussehende Frau, deren Namensschild am Kragen sie als Sonia Yadav identifiziert.
»Nichts«, sagt sie mit einem Lächeln.
»Aha«, sagt Vishram und geht weiter. Er muss noch viele Hände schütteln, sich Gesichter einprägen.
»Wenn ich ›nichts‹ sage«, ruft die Frau ihm nach, »meine ich damit Energie aus dem Nichts. Unbegrenzte kostenlose Energie.«
»Jetzt haben Sie meine Aufmerksamkeit.«
»Ich bringe Sie ins Nullpunktlabor«, erklärt Sonia Yadav, während sie Vishram und sein Gefolge in ihre Forschungssektion führt. Sie mustert ihn sehr genau.
»Ihre Augäpfel bewegen sich. Schickt Ihnen jemand Nachrichten?«
Vishram schaltet Marianna Fuscos lautlosen Kommentar mit einer Fingerbewegung ab.
Die Ingenieure seines Vaters haben ein Gebäude entworfen, das eher Möbel als Architektur ist. Alles besteht aus Holz und Textilien, zu Bögen und Kuppeln geformt, durchscheinend und luftig. Hier riecht es nach Pflanzensaft, Harz und Sandelholz. Die Böden bestehen aus abgezogenem Ahorn mit Intarsien, die Szenen aus dem Ramayana zeigen. Sonia Yadav blickt vielsagend auf Mariannas Absätze. Sie zieht die Schuhe aus und steckt sie in ihre Handtasche. Für Vishram fühlt es sich richtig an, hier barfuß zu gehen. Es ist ein heiliger Ort.
Auf den ersten Blick ist Vishram vom Nullpunktlabor enttäuscht. Es gibt keine summenden Maschinen oder elektrischen Spulen, sondern nur Schreibtische und Glastrennwände, wacklige Papierstapel auf dem Boden und Weißwandtafeln an den Wänden. Die Tafeln sind vollgeschrieben, und die Notizen setzen sich auf den Wänden fort. Jeder Quadratzentimeter Oberfläche ist mit Symbolen und Buchstaben ausgefüllt, die sich in ungewöhnlichen Winkeln aneinanderdrängen, von Lassoschleifen aus schwarzem Filzstift eingefangen, von langen Linien und Pfeilen in Blau und Schwarz harpuniert, die einen Bezug zu irgendeinem Theorem auf der anderen Seite der Tafel herstellen. Die wimmelnden Gleichungen breiten sich über Tische, Bänke und jede Oberfläche aus, die sich beschreiben lässt. Die Mathematik ist für Vishram so unverständlich wie Sanskrit, aber der Kokon aus Gedanken, Theorien und Visionen beruhigt ihn, als wäre er von einem Gebet umschlossen.
»Es macht vielleicht keinen besonderen Eindruck, aber das Forschungsteam von EnGen würde eine Menge Geld bezahlen, um sich hier umschauen zu dürfen«, sagt Sonia Yadav. »Die heißen Sachen machen wir hauptsächlich drüben am Teilchenbeschleuniger der Universität oder am LHC in Europa, aber hier wird die eigentliche Arbeit getan. Die Kopfarbeit.«
»Heiße Sachen?«
»Wir verfolgen zwei verschiedene Ansätze, einen heißen und einen kalten, wie wir es nennen. Ich möchte Sie nicht mit der Theorie langweilen, aber es hat etwas mit Energielevels und Quantenschaum zu tun. Zwei Ansätze, das Nichts zu betrachten.«
»Und Sie sind heiß?«, fragt Vishram, während er die hieratischen Glyphen an der Wand mustert.
»Absolut«, sagt Sonia Yadav.
»Und können Sie auch tatsächlich tun, was Sie behaupten? Energie aus dem Nichts erzeugen?«
Sie steht selbstsicher da, und ihre Augen leuchten voller Überzeugung. »Ja, das kann ich.«
»Mr. Ray, wir sollten jetzt weitergehen«, drängt Surjeet.
Als die Gruppe sich in Bewegung setzt, nimmt Vishram einen Filzstift und schreibt schnell auf die Tischplatte: HEUTABENDESSEN?
Sonia Yadav liest die Einladung auf dem Kopf.
»Rein geschäftlich«, flüstert Vishram. »Erklären Sie mir, was heiß ist und was nicht.«
OK, schreibt sie in Rot. UM8HIERTREFFEN. Sie unterstreicht das OK zweimal.
Draußen im Korridor erwartet Vishram ein Anblick, der seine gute Laune schnell abschwellen lässt: Govind in seinem zu engen Anzug, der mit einer Phalanx von Anwälten durch den Gang heranrollt, als würde ihm der Laden gehören. Govind erspäht seinen jüngeren Bruder, öffnet den Mund, um ihn zu grüßen, verdammen, segnen, tadeln — Vishram ist es egal, er hört es nicht, weil er laut ruft.
»Mr. Surjeet, könnten Sie bitte die Sicherheit rufen?« Während der Abteilungsleiter in seinen Palmer spricht, hebt Vishram einen autoritären Finger vor seinem Bruder und seinem Gefolge. »Du sagst nichts. Du hast hier nichts zu suchen. Hier bin ich zuständig.« Der Wachschutz trifft ein, zwei sehr große Rajputs mit roten Turbanen. »Bitte eskortieren Sie Mr. Ray aus dem Gebäude, und lassen Sie sein Gesicht vom Sicherheitssystem einscannen. Er darf diese Räumlichkeiten von nun an nicht mehr ohne meine ausdrückliche schriftliche Genehmigung betreten.«
Die Rajputs ergreifen Govind an den Armen. Es bereitet Vishrams Herzen ein enormes Vergnügen zu beobachten, wie sie ihn mit zügigen Schritten durch den Korridor hinausführen.
»Hören Sie auf mich! Hören Sie auf mich!«, ruft Govind über die Schulter zurück. »Er wird die Firma ruinieren, wie er bisher alles ruiniert hat, was man ihm überlassen hat. Ich kenne ihn schon sehr lange. Niemand kann über seinen eigenen Schatten springen. Er wird Sie alle ins Verderben reißen und dieses große Unternehmen vernichten. Hören Sie nicht auf ihn, er weiß gar nichts. Gar nichts!«
»Das tut mir furchtbar leid«, sagt Vishram, nachdem sich die Türen hinter seinem unablässig weiterprotestierenden Bruder geschlossen haben. »Nun gut. Wollen wir fortfahren, oder habe ich schon alles gesehen?«
Es hatte beim Frühstück angefangen.
»Was genau habe ich eigentlich geerbt?«, wollte Vishram von Marianna Fusco wissen, zwischen zwei Gabeln Kitchiri während seiner Frühstücksbesprechung auf dem östlichen Balkon.
»Im Wesentlichen hast du die Forschungs- und Entwicklungsabteilung bekommen.« Sie breitete die Dokumente wie Tarotkarten rund um seinen fettigen Teller aus.
»Also kein Geld und sehr viel Verantwortung.«
»Ich glaube nicht, dass dein Vater das aus einer reinen Laune heraus entschieden hat.«
»Wie viel hast du darüber gewusst?«
»Was, wer, wo und wann.«
»Da fehlt noch ein ›w‹.«
»Ich glaube nicht, dass irgendjemand dieses ›w‹ versteht.«
Ich verstehe es, dachte Vishram. Ich weiß, wie gut es ist, Erwartungen und Verpflichtungen hinter sich zu lassen. Ich weiß, wie beängstigend und befreiend es ist, nur mit einer Bettlerschale hinauszugehen und sich dem Risiko auszusetzen, ausgelacht zu werden.
»Du hättest es mir sagen können.«
»Und meine professionelle Schweigepflicht brechen?«
»Du bist eine kalte, knallharte Frau, Marianna Fusco.«
Er schaufelte eine weitere Ladung Kitchiri in sich hinein. Ramesh tauchte zwischen den geometrisch angepflanzten englischen Rosen auf, die im dritten Jahr in der trockenen Fremde zerknittert und verwelkt waren. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt, eine Haltung, die genauso altehrwürdig und vertraut war wie jedes andere Detail an Shanker Mahal. Mit sechs Jahren hatte sich Vishram über seinen älteren Bruder lustig gemacht, die Hände hinter dem Rücken, die Lippen in abstrakter Konzentration zusammengekniffen, den Blick erhoben, auf der Suche nach den Wundern der Welt.
Und was war mit diesen Reisen nach Ostasien?, fragte er sich. Zu den Bangkok-Mädchen, die alles tun und sein konnten, was man sich vorstellte. Er spürte eine leise Regung unterhalb seines Nabels, eine hormonelle Zuckung. Aber das wäre zu einfach. Es war keine Jagd, kein Spiel, kein Ausreizen des Willens und der Phantasie, kein unausgesprochener Vertrag der gegenseitigen Anerkennung, dass sich beide auf ein Spiel mit allen Tricks, Zügen und Regeln einließen. Ein warmer Windhauch mit den Gerüchen der Stadt zerrte an den geschäftlichen Dokumenten. Vishram verteilte Tassen und Untertassen und Besteck, damit sie blieben, wo sie waren. Ramesh, der versucht hatte, an den vertrockneten Rosen zu schnuppern, blickte auf, als der warme Hauch über sein Gesicht strich, und war ehrlich überrascht, seinen kleinen Bruder und seine Anwältin auf der Terrasse zu erblicken.
»Ach, da bist du ja. Ich hatte die leise Hoffnung, dich zu finden.«
»Miserablen Kaffee?«
»Oh, bitte, ja. Und gibt es vielleicht auch noch etwas von dem da?«
Vishram nickte dem Diener zu. Wunderbar, wie schnell man sich wieder daran gewöhnte, bedient zu werden. Ramesh stocherte mit der Gabel in seinem Teller mit Kitchiri herum. »Warum hat er es mir gegeben?«, fragte er unvermittelt. »Ich wollte es nie, ich verstehe es nicht einmal. Das war noch nie meine Sache. Govind war immer derjenige mit einem Sinn fürs Geschäftliche. Er ist es immer noch. Ich bin Astrophysiker, ich kenne mich mit organischen Molekülwolken im Weltraum aus. Ich verstehe nichts von Stromerzeugung.«
Die Aufteilung war sehr clever, geradezu shakespearisch. Ramesh hätte sich die Entrücktheit der visionären Forschung gewünscht. Bekommen hatte er die solide Generatorenabteilung. Govinds Ambitionen zielten auf das Herzstück der Infrastruktur. Stattdessen hatte man ihm die Verantwortung für das Verteilungsnetz überlassen. Drähte und Kabel und Masten. Und Sohn Nummer drei, der Aufmerksamkeitssucher, der Tittengrabscher, hatte mit so obskuren Dingen zu tun, dass er gar nicht wusste, was man damit überhaupt machen konnte. Besetzung gegen den Typus. Böser alter Sadhu.
Der alte Mann war vor Sonnenaufgang aufgebrochen. Seine Kleidung war ordentlich auf die Bügel der Garderobe gehängt. Sein Palmer und Hoek lagen mitten auf seinem Kopfkissen neben seiner Brieftasche und seiner Universalkarte. Seine Schuhe waren poliert und standen in perfektem rechtem Winkel mit den Zehen an der Bettkante. Seine silberne Haarbürste und der Kamm hatten sich zu ihrem letzten Kuss auf dem Frisiertisch zusammengefunden. Kukunoor, nun der neue Khidmutgar, nachdem der alte Shastri auf Pilgerfahrt gegangen war, hatte Vishram all diese Dinge gezeigt, mit dem gleichen leidenschaftslosen Sinn für entbehrliche Historie, die er in den alten Häusern und Burgen von Schottland erlebt hatte. Er wusste nicht, wohin sein Herr und Meister gegangen war. Ihre Mutter wusste es auch nicht, obwohl Vishram eine geheime Kommunikationsverbindung zur Überwachung seines Vermächtnisses vermutete. Die Firma würde immer seine Firma sein.
»Was willst du mir damit sagen, Ram?«
»Dass es nichts für mich ist.«
»Was willst du, Ram?«
Er spielte mit seiner Gabel. »Govind hat mir ein Angebot gemacht.«
»Er hat keine Zeit verloren.«
»Er hält es für fatal, wenn die Erzeugung von der Verteilung getrennt wird. Die Amerikaner und die Europäer konkurrieren seit Jahren darum, Ray Power in die Hände zu bekommen. Jetzt sind wir geteilt und schwach, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis man mit einem unwiderstehlichen Angebot an einen von uns herantritt.«
»Ich bin mir sicher, dass er sein Anliegen sehr überzeugend vorgetragen hat. Ich frage mich unwillkürlich, woher er das Geld hat, mit dem er seine brüderliche Solidarität bekräftigen will.«
Marianna Fusco hatte ihren Palmer bereits aufgeklappt. »Seine Jahresberichte sind im Handelsregister archiviert, aber seine Gewinne haben sich in fünf aufeinanderfolgenden Quartalen reduziert, und seine Banken werden allmählich nervös. Ich würde sagen, er wird irgendwann in den nächsten Jahren einen vorsorglichen Insolvenzantrag stellen.«
»Wenn es also nicht Govinds Geld ist, musst du dich wohl selber fragen, woher es kommen könnte.«
Ramesh schiebt den Teller mit Kitchiri von sich weg. »Könntest du meinen Anteil kaufen?«
»Govind hat zumindest eine Firma und Kreditwürdigkeit. Ich habe ein Notizbuch mit Witzen und einen Haufen ungeöffneter Briefumschläge mit kleinen Zellophanfenstern.«
»Was können wir machen?«
»Wir werden das Unternehmen führen. Es ist ein starkes Unternehmen. Es ist Ray Power, wir sind damit aufgewachsen, wir kennen es, wie wir dieses Haus kennen. Aber ich werde dir eins sagen, Ram: Ich werde nicht zulassen, dass du mir die Schuld an dem gibst, was geschieht. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest, ich muss mich um meine Angestellten kümmern.«
Marianna Fusco erhob sich mit ihm und nickte Ramesh zu, als sie in die Kühle und Dunkelheit des Hauses traten. Affen sprangen kreischend von den Bäumen, um sich die Reste des Kitchiri zu holen.
Vishram witterte Govind, bevor er sein Abbild im Frisierspiegel sah.
»Weißt du, ich hätte dir Unmengen von anständigem Aftershave aus dem Dutyfree in London mitbringen können. Und du benutzt immer noch dieses Arpal-Zeugs? Hat es irgendwas mit patriotischer Gesinnung zu tun, den Nationalgeruch von Bharat zu verwenden?«
Govind schob sich ins Spiegelbild neben Vishram, während dieser seine Manschetten zurechtzupfte. Guter Anzug. Ich sehe viel besser aus als du, mein Dickerchen.
»Und seit wann spazieren wir einfach herein, ohne anzuklopfen?«, fügte Vishram hinzu.
»Seit wann muss Familie anklopfen?«
»Seit wir alle zu großen Geschäftsleuten geworden sind. Ach übrigens: Ich werde heute Nacht nicht im Haus schlafen. Ich ziehe in ein Hotel um.« Manschetten korrekt. Aufschläge korrekt. Kragen korrekt. Gott segne die chinesischen Schneider. »Und? Wie lautet dein Angebot?«
»Also hat Ramesh schon mit dir gesprochen.«
»Hast du wirklich geglaubt, er würde es nicht tun? Wie ich höre, hast du ein Liquiditätsproblem.«
Unaufgefordert setzte sich Govind auf die Bettkante. Im Spiegel bemerkte Vishram, dass die Füße seines Bruders nicht ganz bis zum Boden reichten.
»Auch wenn es für dich vielleicht schwer zu glauben ist, aber ich versuche nur, die Firma zusammenzuhalten.«
»Du hast recht.«
Vishram hatte ihm immer noch den Rücken zugewandt.
»EnGen hat kein Geheimnis daraus gemacht, dass man an Ray interessiert ist. Selbst als unser Vater noch Geschäftsführer war, hat man Angebote gemacht. Früher oder später werden sie uns kriegen. Wir haben keine Chance gegen die Amerikaner. Am Ende werden sie uns schlucken, und was wir jetzt zwischen uns entscheiden müssen, ist die Frage, ob sie uns einen nach dem anderen erwischen oder uns mit einem großen Happen übernehmen. Ich weiß, was ich vorziehen würde. Ich weiß, was besser für die Firma ist, die unser Vater aufgebaut hat. Einheit bedeutet Stärke.«
»Unser Vater hat ein indisches Unternehmen auf die indische Weise aufgebaut.«
»Mein Bruder, das soziale Gewissen?« Durch diese fünf Worte wurde Vishram klar, dass er und sein Bruder auf ewig Feinde sein würden. Rama und Ravanna. »Diese alten Frauen und Grameen-Banker werden die Ersten sein, die dir zusetzen, wenn die Angebote hereinkommen«, fuhr Govind fort. »Sie reden schön und edel, aber biete ihnen einen Stapel Dollars an, und du wirst sehen, wie es um die Solidarität der Armen bestellt ist. Sie kennen sich besser mit Geschäften aus als du, Vishram.«
»Ich glaube nicht«, sagte Vishram leise.
Sein Bruder runzelte die Stirn. »Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden.«
»Ich sagte, ich glaube nicht. Es ist sogar so, dass du jetzt sagen kannst, was du willst, und ich werde grundsätzlich dagegen sein. So wird es von nun an ablaufen. Ganz gleich, was du tust, was du sagst, welches Angebot du machst oder welchen Deal du vereinbarst, ich werde dagegen sein. Du könntest recht oder unrecht haben, ich könnte damit vielleicht eine Milliarde Dollar verdienen, aber ich werde trotzdem dagegen sein. Weil ich jetzt dazu in der Lage bin und du nichts mehr machen kannst. Weil du nicht mehr zu irgendwem rennen oder die Befehlsgewalt des älteren Bruders ausspielen kannst. Weil mir immer noch ein Drittel von Ray Power gehören wird. Jetzt bist du in meinem Schlafzimmer, und du hast nicht angeklopft, und ich habe dich auf keinen Fall hereingebeten, aber ich werde darüber hinwegsehen, weil dies die letzte Nacht war, die ich in diesem Zimmer, in diesem Haus verbracht habe, und weil ich jetzt zu arbeiten habe.«
Erst als er sich auf das kühle Leder des Wagens niederließ, bemerkte Vishram die kleinen blutigen Halbmonde in seinen Handflächen, die Stigmata verkrampfter Fingernägel.
Es ist ein schrecklicher Italiener, aber es ist der einzige Italiener. Vishram hat schon jetzt Heimweh nach der Küche des mächtigen Volkes der Glasgower Italiener bekommen und sich von der Aussicht auf Pasta und Ruffino den Tag versüßen lassen, bevor er sich daran erinnerte, dass es in Varanasi keine verwurzelte italienische Community gibt, dass die Bevölkerung nichts Italienisches in den Genen hat. Das Personal ist ausschließlich einheimisch. Die Musik ist aus den Charts kompiliert. Der Wein ist zu warm und von der langen Dürre ermüdet. Auf der Speisekarte steht etwas, das Tikka-Pasta heißt.
»Tut mir leid, dass es ein so schreckliches Restaurant ist«, entschuldigt er sich bei Sonia Yadav.
Sie müht sich mit ihren zerkochten Spaghetti ab. »Ich habe noch nie Italienisch gegessen.«
»Das tun Sie auch jetzt nicht.«
Sie hat sich große Mühe für dieses Abendessen gegeben. Sie hat etwas mit ihrem Haar gemacht und sich mit etwas Gold und Bernstein behängt. Arpège 27, vermutlich aus irgendeinem europäischen Dutyfree. Es gefällt ihm, dass sie einen Geschäftssari trägt und keinen hässlichen Anzug im westlichen Stil. Vishram lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und legt die Fingerspitzen zusammen, bis ihm bewusst wird, dass er zu sehr wie ein James-Bond-Schurke aussieht, und sich wieder entspannt.
»Was glauben Sie, realistisch betrachtet, wie viel ein Geisteswissenschaftler von Nullpunktenergie verstehen wird?«
Sonia Yadav schiebt mit offenkundiger Erleichterung ihren Teller von sich. »Also gut, fangen wir damit an, dass es streng genommen gar keine Nullpunktenergie ist, wie die meisten Leute es sich vorstellen.« Sonia Yadav hat kleine Falten zwischen den Augen, wenn sie über ein schwieriges Thema spricht oder nachdenkt. Es sieht irgendwie niedlich aus. »Erinnern Sie sich, was ich im Labor über Kalt und Heiß gesagt habe? Die klassischen Nullpunkttheorien sind kalte Theorien. Unsere Theorien deuten jedoch darauf hin, dass sie nicht funktionieren. Dass sie nicht funktionieren können, weil der Grundzustand eine Mauer ist, die man einfach nicht durchbrechen kann. Es ist unmöglich, das zweite Gesetz der Thermodynamik zu verletzen.«
Vishram nimmt eine Brotstange und zerbricht sie theatralisch in zwei Hälften.
»Das mit Heiß und Kalt habe ich verstanden ...«
»Gut. Ich werde es versuchen. Übrigens habe ich diese Szene mit der Brotstange im Remake von Pyar Diwana Hota Hai gesehen.«
»Also noch etwas Wein?«
Sie lässt nachfüllen, rührt das Glas aber nicht an. Eine weise Frau. Vishram lehnt sich mit dem traumatisierten Chianti zurück — das uralte Ritual eines Mannes, der einer Frau beim Erzählen einer Geschichte zuhört.
Es ist eine seltsame und magische Geschichte voller Widersprüche und Unmöglichkeiten, ähnlich wie die Legenden aus dem Mahabharata. Es geht um multiple Welten und Entitäten, die gleichzeitig gegensätzliche Eigenschaften besitzen. Es geht um Wesenheiten, die sich niemals vollständig erkennen oder vorhersagen lassen, die nach der Trennung miteinander verknüpft bleiben, selbst wenn man sie an entgegengesetzte Enden des Universums versetzt, so dass die eine ohne Zeitverzögerung spürt, was mit der anderen geschieht. Vishram beobachtet Sonias Demonstration des Doppelspaltexperiments mit einer Gabel, zwei Kapern und Wellen im Tischtuch und staunt, in was für einer seltsamen und fremdartigen Welt diese Frau lebt. Das Quantenuniversum ist so unberechenbar und unbestimmbar wie die dreifache Welt, die auf dem Rücken der großen Schildkröte ruht und von Göttern und Dämonen beherrscht wird.
»Wegen des Unschärfeprinzips kommt es ständig vor, dass virtuelle Teilchenpaare auf allen möglichen Energielevels geboren werden und wieder vergehen. Also enthält jeder Kubikzentimeter des leeren Raums theoretisch eine unendlich große Energiemenge. Das Problem ist nur, die virtuellen Teilchen daran zu hindern, wieder zu verschwinden.«
»Ich muss Ihnen gestehen, dass dieser Geisteswissenschaftler kein einziges Wort versteht.«
»Niemand versteht es wirklich. Zumindest nicht so, wie wir ›verstehen‹ verstehen. Wir haben lediglich eine Beschreibung, wie es funktioniert, und es funktioniert besser als jede andere Theorie, die wir jemals entwickelt haben, und zwar einschließlich der M-Stern-Theorie. Es ist wie mit dem Geist Brahmas. Niemand kann die Gedanken eines Schöpfergottes verstehen, aber das bedeutet nicht, dass es keine Schöpfung gibt.«
»Für eine Wissenschaftlerin benutzen Sie ungewöhnlich viele religiöse Metaphern.«
»Diese Wissenschaftlerin glaubt, dass wir in einem hinduistischen Universum leben«, bekräftigt Sonia Yadav. »Aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht wie diese christlich-fundamentalistischen Kreationisten. Das ist keine Wissenschaft, weil sie den Empirismus und die Tatsache leugnet, dass sich das Universum mit dem Verstand erfassen lässt. Kreationisten passen die empirischen Beweise an, damit sie ihrer speziellen Interpretion der Schriften entsprechen. Ich glaube das, was ich glaube, weil ich es empirisch beweisen kann. Ich bin eine rationale Hindu. Ich sage nicht, dass ich an tatsächliche Götter glaube, aber die Quanteninformatik und die M-Stern-Theorie gehen davon aus, dass alles miteinander verbunden ist und dass Eigenschaften entstehen können, die sich nicht anhand der konstituierenden Elemente vorhersagen lassen, und dass die sehr großen und die sehr kleinen Dinge nur zwei Seiten desselben Superstrings sind. Muss ich einem Ray etwas über hinduistische Philosophie erzählen?«
»Diesem Ray vielleicht. Also werden Sie N. K. Jivanjee nicht auf seiner Yatha Ratra durch die Gegend ziehen.« Er hat die Fotos in den Abendnachrichten gesehen. Ein echter Knüller.
»Ich werde nicht ziehen, aber vielleicht bin ich unter den Zuschauern. Außerdem ist das Ding sowieso mit einem Ökodiesel ausgestattet.«
Vishram lehnt sich wieder zurück und zupft an seiner Unterlippe, wie er es immer tut, wenn in seinem Kopf Beobachtungen und Formulierungen herumflattern und sich krächzend zu einer Comedynummer verbinden.
»Dann klären Sie mich auf. Sie haben kein Bindi, und Sie gehen ohne Gouvernante aus. Wie passt das alles zu N. K. Jinvanjee und dem Geist Brahmas?«
Sonia Yadav hat wieder diese kleinen Falten. »Ich werde es einfach und geradeheraus sagen. Jati und Varna haben unsere Nation dreitausend Jahre lang umnachtet. Die Kaste war nie eine drawidische Idee — das waren diese Arier mit ihrer Obsession des Teilens und Herrschens. Deshalb haben die Briten dieses Land so geliebt — sie sind immer noch von allem fasziniert, was mit Indien zu tun hat. Die Klassentrennung ist Teil ihres nationalen Narrativs.«
»Nicht in dem Großbritannien, das ich erlebt habe«, bemerkt Vishram.
»Für mich geht es bei N. K. Jivanjee um Nationalstolz, um Bharat für Bharat, das nicht kiloweise an die Amerikaner verkauft werden darf. Es geht um die hinduistische Nullpunktenergie. Und im einundzwanzigsten Jahrhundert braucht eine Frau keine Anstandsdame mehr, und mein Ehemann vertraut mir.«
»Aha«, sagt Vishram und hofft, dass seine Geknicktheit nicht zu offensichlich ist. »Und die M-Stern-Theorie?«
Soweit er es versteht, ist es folgendermaßen. Zuerst gab es die Stringtheorie, von der Vishram gehört hat. Sie hat etwas damit zu tun, dass sich alles auf Töne von vibrierenden Strings zurückführen lässt. Sehr schön. Sehr musikalisch. Sehr hinduistisch. Dann kam die M-Theorie, die versuchte, die Widersprüche der Stringtheorie aufzulösen, die sich jedoch in unterschiedliche Richtungen entwickeln ließ, wie die Arme eines Seesterns. Schließlich bildete sich in den späten Zwanzigern ein theoretisches Zentrum heraus, und zwar in Form der M-Stern-Theorie ...
»Der Stern leuchtet mir ein, aber wofür steht das M?«
»Das ist ein Mysterium«, sagt Sonia lächelnd.
Jetzt sind sie beim Strega angelangt. Der Likör hat sich im Klima gut gehalten.
In der M-Stern-Theorie erschaffen die Verschlingungen und Faltungen der ursprünglichen Strings in elf Dimensionen und in Membranform das Polyversum aller möglichen Universen, mitsamt allen fundamentalen Eigenschaften, die von denen abweichen, die den Menschen bekannt sind.
»Alles ist irgendwo vorhanden«, sagt Sonia Yadav. »Universen mit einer weiteren Zeitdimension, zweidimensionale Universen, in denen es übrigens keine Gravitation geben kann. Universen, in denen die Selbstorganisation und das Leben grundlegende Eigenschaften der Raumzeit sind ... eine unendliche Anzahl von Universen. Und das ist der Unterschied zwischen der kalten und heißen Nullpunkttheorie.«
Vishram bestellt zwei weitere Stregas. Er weiß nicht genau, ob es an der spirituellen Physik oder den physischen Spirituosen liegt, aber sein Gehirn hat den wohligen Quantenzustand erhöhter Unbestimmtheit angenommen.
»Was der kalten Nullpunkttheorie einen Riegel vorschiebt, ist das zweite Gesetz der Thermodynamik.« Der Kellner serviert die zweite Runde. Vishram betrachtet Sonia Yadav durch die goldene Flüssigkeit im kleinen blasenförmigen Glas. »Hören Sie auf damit! Hören Sie mir zu! Damit sie genutzt werden kann, muss sich die Energie verlagern. Sie muss von einem höheren Zustand zu einem niedrigeren fließen, von Heiß zu Kalt, könnte man sagen. Aber in unserem Universum ist der Nullpunkt, die Quantenfluktuation, der Grundzustand. Die Energie kann nirgendwohin abfließen, von dort geht es nur bergauf. Aber in einem anderen Universum ...«
»Dort könnte der Grundzustand, oder wie auch immer Sie ihn nennen wollen, höher ...«
Sonia Yadav verschränkt die Hände zu einem stummen Namaste. »Genau! Das ist es! Dann würde sie auf ganz natürliche Weise von oben nach unten fließen. Wir könnten diese unendliche Energie anzapfen.«
»Zuerst müsste man dieses Universum finden.«
»Oh, wir haben es schon vor langer Zeit gefunden. Es ist eine simple Mannigfaltigkeit der Struktur unseres eigenen Universums, die von der M-Stern-Theorie vorhergesagt wird. Dort ist die Gravitation viel stärker. Also ist die Expansion konstant, und deshalb ist in der gestauchten Raumzeit viel mehr Vakuumenergie gebunden. Es ist ein recht kleines Universum und gar nicht so weit entfernt.«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, andere Universen liegen gleichzeitig innerhalb und außerhalb unseres Universums.«
»Topologisch gesehen stimmt das. Aber ich spreche hier von energiemäßiger Entfernung, wie sehr wir unsere Branen verbiegen müssen, um sie der Geometrie dieses Universums anzupassen. In der Physik ist letztlich alles nur Energie.«
Verbogene Gehirnwindungen, alles klar.
Sonia Yadav stellt ihr leeres Glas entschieden auf das Gingham-Tischtuch und beugt sich vor. Vishram kann der physischen Energie in ihren Augen, ihrem Gesicht, ihrem Körper nicht widerstehen.
»Kommen Sie mit«, sagt sie. »Kommen Sie mit und sehen Sie selbst.«
Nach Glasgow wirkt die University of Bharat in Varanasi bei Nacht ungewöhnlich anständig. Keine weggeworfenen Polystyrol-Schalen mit regennassen Pommes oder fallen gelassenen Biergläser oder ausgekotzten Pizzas, denen man im Dunkeln ausweichen muss. Keine Koitus-Geräusche aus den Korridoren, kein Urinplätschern aus dem Gebüsch. Kein finsterer Betrunkener, der mit einem rassistischen Fluch ins Gesichtsfeld wankt. Keine Mädchen-Gangs, die halb nackt und Arm in Arm über den staubigen, verdorrten Rasen ziehen. Hier gibt es nur jede Menge Wachschutz, ein paar Dozenten auf großen klobigen Fahrrädern ohne Licht, das Scheppern eines einsamen Nacht-Radios und der Eindruck, dass über die verschlossenen Institutsgebäude und die Studentenwohnheime eine Ausgangssperre verhängt wurde.
Der Fahrer hält auf das einzige Licht zu. Die Experimentalphysik ist ein orchideenähnliches Gebäude aus leuchtenden Plastikflächen und Pylonen, die gewagt und zart aufragen. Der Name auf dem Marmorsockel lautet RANJIT RAY CENTRE FOR HIGH ENERGY PHYSICS. Unter der zierlichen, blumigen Architektur ist ein einfacher Pulslaser-Teilchenbeschleuniger begraben.
»Er scheint ein Mann mit vielen Talenten gewesen zu sein, mein Vater«, sagt Vishram, als der Nachtwächter sie durch die Lobby nickt. Sein Gesicht ist jetzt allgemein bekannt.
»Er ist nicht gestorben«, sagt Sonia Yadav, und Vishram zuckt zusammen.
Ein Aufzug am Ende der Lobby bringt sie durch eine Röhre nach unten zum Haupt der Bestie. Es ist in der Tat ein mythisches Wesen, ein weltverschlingender Wurm, der sich in einer Schleife unter Sarnath und dem Ganges zusammengerollt hat. Vishram blickt durch das Beobachtungsfenster auf elektrische Geräte in der Größe von Schiffsmaschinen und versucht sich Teilchen vorzustellen, die zu seltsamen und unnatürlichen Beziehungen gezwungen werden.
»Wenn wir es auf volle Kraft hochfahren und einen Spalt öffnen würden, wäre das Feld dieser Eindämmungsmagneten stark genug, um Ihnen das Hämoglobin aus dem Blut zu saugen«, sagt Sonia Yadav.
»Woher wissen Sie das?«, fragt Vishram.
»Wir haben es mit einer Ziege ausprobiert, wenn Sie es genau wissen wollen. Kommen Sie weiter.«
Sonia Yadav führt ihn eine lange Betontreppe hinunter bis zu einer Luftschleusentür. Das Sicherheitspanel scannt ihre Augäpfel und öffnet die Luftschleuse.
»Gehen wir in den Weltraum oder was?«, fragt Vishram, als sich das Schott verriegelt.
»Das ist nur eine Eindämmungsvorrichtung.«
Vishram beschließt, gar nicht wissen zu wollen, was hier eingedämmt werden soll. Also lenkt er ab. »Ich weiß, dass mein Vater reich ist — reich war — und dass sich die Reichen Privatjets oder Privatinseln kaufen, aber ein Reicher, der sich einen Privatteilchenbeschleuniger leistet ...«
»Es gibt noch weitere Geldgeber«, sagt Sonia Yadav. Das innere Schleusentor schwenkt auf, und sie treten in ein unspektakuläres Betonbüro mit schmerzhaft hellem Neonlicht und flackernden Flachbildschirmen. Ein junger bärtiger Mann schaukelt auf einem Stuhl vor und zurück, die Füße auf dem Schreibtisch, während er die Abendzeitung liest. Vor ihm stehen eine Industriethermoskanne mit Chai und ein Styroporbecher. Der Computer dröhnt traditionellen Bhangra von einem bengalischen Sender. Der Mann springt auf, als er seine spätabendlichen Besucher bemerkt.
»Sonia, tut mir leid, ich wusste nicht ...«
»Deba, das ist ...«
»Ich weiß. Herzlich willkommen, Mr. Ray.« Er schüttelt ihm mit übertriebener Begeisterung die Hand. »Sie sind also hier heruntergekommen, um sich unser kleines Privatuniversum anzusehen?« Hinter einer zweiten Tür befindet sich ein winziges Betonzimmer, in das sich die Besucher wie die Segmente einer Orange einfügen. Auf Vishrams Kopfhöhe ist eine dicke Glasscheibe in die Wand eingelassen. Er blinzelt, kann aber nichts erkennen. »Eigentlich brauchen wir nur Zahlen, aber manche Leute verspüren das atavistische Bedürfnis, die Dinge mit eigenen Augen zu sehen«, sagt Deba. Er hat seinen Chai mitgenommen und nimmt einen Schluck. »Gut, wir befinden uns hier im Beobachtungsbereich neben der Eindämmungskammer, die wir mit typischem Physikerhumor als Gefängniszelle bezeichnen. Im Prinzip ist es ein modifizierter Tokamak-Torus. Sagt Ihnen das etwas? Nein? Stellen Sie es sich als invertierten Donut vor. Er hat eine Außenseite, aber innen herrscht das extremste Vakuum, das sich erzeugen lässt. Es ist wirklich sehr extrem, denn da drinnen existieren nur noch Raumzeit und Quantenfluktuation. Und das hier.«
Er schaltet das Licht aus. Vishram ist für einen Moment blind, dann nimmt er ein stärker werdendes Leuchten hinter dem Fenster wahr. Er erinnert sich an eine Physikstudentin, die er einmal mit nach Hause genommen hat und die ihm erzählte, dass die Retina tatsächlich ein einzelnes Photon bemerken kann, was bedeutet, dass das menschliche Auge im Quantenbereich sehen kann. Er beugt sich vor. Das Leuchten kommt von einer blauen Line, die scharf wie ein Laserstrahl ist. Vishram erkennt, wie sie sich rund um die Wände des Tokamak windet. Er drückt sein Gesicht an die Scheibe.
»Vorsicht, das gibt Panda-Augen«, sagt Deba. »Der UV-Anteil ist ziemlich hoch.«
»Und das ist ... ein anderes Universum?«
»Es ist ein anderes Raumzeit-Vakuum«, sagt Sonia Yadav. Sie ist Vishram so nahe, dass er ihr Arpège 27 in vollen Zügen genießen kann. »Es ist schon seit einigen Monaten stabil. Stellen Sie es sich als ein anderes Nichts vor, mit einer Vakuumenergie, die höher ist als in unserem Nichts ...«
»Und von dort sickert Energie in unser Universum?«
»Das Level ist nur ein klein wenig höher. Wir holen nicht mehr als zwei Prozent dessen heraus, was wir an Input hineinstecken. Aber wir hoffen, dass wir diesen Raum dazu benutzen können, um Zugang zu einem Raum mit noch höherem Energieniveau zu erhalten und so weiter, die Leiter hinauf, bis wir einen nennenswerten Überschuss erzielen.«
»Und das Licht ...«
»Quantenstrahlung. Die virtuellen Teilchen dieses Universums — wir nennen es Universum zwei-acht-acht — stoßen auf die Gesetze unseres Universums und werden dabei zu Photonen annihiliert.«
Nein, das ist es nicht, denkt Vishram und blickt in das Licht aus einem anderen Raum, einer anderen Zeit. Und du weißt genau, dass es das nicht ist, Sonia Yadav. Es ist das Licht Brahmas.