Ian McDonald Cyberabad

Erster Teil — GANGA MATA

1 Shiv

Die Leiche treibt auf dem Strom. Wo die neue Brücke den Ganges in fünf Betonschritten überquert, sammeln sich Girlanden aus Zweigen und Plastik an den Pfeilern, Flöße aus Treibgut. Einen Moment lang scheint es, als könnte sich die Leiche, ein dunkler Klumpen im schwarzen Strom, darin verfangen. Das ruhig fließende Wasser nimmt sie mit, wirbelt sie herum und schleudert sie mit den Füßen voran durch den Bogen aus Stahl und Verkehr. Oben donnern Laster über die hohen Fahrbahnen. Tag und Nacht stürmen Konvois mit glänzendem Chromschmuck und kitschig bunten Götterbildern über die Brücke in die Stadt. Filmi-Musik plärrt aus den Lautsprechern auf den Wagendächern. Das seichte Wasser erzittert.

Shiv steht knietief im Fluss und nimmt einen langen Zug von seiner Zigarette. Heilige Ganga. Du hast Moksha erreicht. Du bist frei vom Chakra. Girlanden aus Tagetes wickeln sich um seine nassen Hosenbeine. Er wartet, bis die Leiche außer Sicht ist, dann schnippt er die Zigarette in einem Bogen aus roten Funken in die Nacht und watet zurück zu dem Mercedes, der bis zu den Radachsen im Fluss steht. Als er sich auf die lederne Rückbank setzt, reicht der Junge ihm seine Schuhe. Gute Schuhe. Gute Socken, italienische Socken. Nicht dieser Bharati-Mist. Zu gut, um sie dem Schlick und Schleim von Mutter Ganga zu opfern. Der Junge lässt den Motor an. Knochendürre Gestalten werden von den Scheinwerfern berührt und zerstreuen sich über den weißen Sand. Verdammte Kinder. Sie haben es bestimmt gesehen.

Der große Mercedes klettert aus dem Fluss, über den rissigen Schlamm auf den weißen Sand. So niedrig hat Shiv den Wasserstand noch nie erlebt. Den Rummel um die Göttin Ganga Devi hat er nie mitgemacht. Das ist etwas für Frauen. Ein Raja hat entweder Verstand oder ist überhaupt kein Raja. Doch es bereitet ihm Unbehagen, dass das Wasser so niedrig steht, so schwach wirkt, als würde man zusehen, wie Blut aus einer Wunde im Arm eines alten Freundes quillt, ohne dass man ihm helfen kann. Knochen knacken unter den dicken Reifen des Geländewagens. Der Mercedes zerstreut die Asche des Feuers der Uferkinder; dann schaltet Yogendra den Allradantrieb zu und fährt die Böschung hinauf, wobei er zwei Furchen durch das Blütenfeld der Tagetes schneidet. Vor fünf Jahreszeiten war der Junge noch ein Flusskind, das am Müllfeuer kauerte, im Sand wühlte und den Schlick nach Lumpen und Resten durchsiebte. Irgendwann wird er wieder dort enden. Auch Shiv wird dort enden. Das ist etwas, das ihm schon immer bewusst war. Jeder endet hier. Der Fluss trägt alle fort. Schlamm und Schädel.

Die Strömung wirbelt die Leiche herum, erfasst Streifen aus Sari-Seide und wickelt sie langsam ab. Während sie sich der niedrigen Pontonbrücke unter dem zerfallenden Fort von Ramnagar nähert, dreht sich die Leiche ein letztes Mal und streift das Gewand ab. Eine Schlange aus Seide treibt ihr voraus, verfängt sich an der abgerundeten Nase eines Pontons und umfließt ihn von beiden Seiten. Britische Pioniere haben diese Brücke erbaut, im Staat vor dem Staat vor diesem. Es sind fünfzig Pontons, die von einem schmalen Stahlband überspannt werden. Hier überquert der leichtere Verkehr den Fluss, Phatphats, Mopeds, Motorräder, Fahrradrikschas, gelegentlich ein Maruti, der sich unter ständigem Gehupe zwischen den Fahrrädern hindurchtastet, Fußgänger. Die Pontonbrücke ist ein Streifen aus Lärm, ein endloses Magnetband, das unter Rädern und Füßen vibriert. Das Gesicht der nackten Frau treibt wenige Zentimeter unter den Autorikschas vorbei.

Hinter Ramnagar öffnet sich das Ostufer zu einem breiten Sandstrand. Hier bauen die nackten Sadhus ihre Lager aus Weidenruten und Bambus und praktizieren strenge Askese, bevor sie in der Dämmerung zur heiligen Stadt schwimmen. Hinter ihren Lagerfeuern steigen hohe Gaswolken von den großen transnationalen Aufbereitungsanlagen himmelwärts. Sie werfen lange, zitternde Spiegelungen über den schwarzen Fluss und erhellen die glänzenden Rücken der Büffel, die sich im Wasser zusammendrängen, unter dem zerfallenden Assi Ghat, dem ersten der heiligen Ghats von Varanasi. Flammen tanzen auf dem Wasser; ein paar Pilger und Touristen haben Diyas in kleinen Schalen aus Mangoblättern den Wellen überlassen. Sie werden sich Kilometer um Kilometer, Ghat um Ghat sammeln, bis der Fluss eine Konstellation aus Strömungen und Lichtbändern ist, in deren Mustern die Weisen Omen und Vorzeichen erkennen, mit denen sie die Zukunft von Nationen vorhersagen. Sie erleuchten der Frau den Weg. Sie enthüllen ein Gesicht im mittleren Lebensalter. Ein Gesicht aus der Menge, ein Gesicht, das niemand vermissen wird, falls überhaupt irgendein Gesicht unter den elf Millionen Stadtbewohnern unersetzbar ist. Fünf Menschengruppen dürfen nicht an den Verbrennungsghats eingeäschert werden, sondern werden in den Fluss geworfen: Leprakranke, Kinder, schwangere Frauen, Brahmanen und jene, die von der Königskobra vergiftet wurden. Ihr Bindi verrät, dass sie zu keiner dieser Kasten gehört. Unsichtbar gleitet sie am Gedränge der Touristenboote vorbei. Ihre blassen Hände sind weich und nicht an Arbeit gewöhnt.

Scheiterhaufen brennen am Manikarnika Ghat. Trauernde tragen eine Bambusbahre die mit Asche bestreuten Stufen hinunter und über den rissigen Schlamm zum Flussufer. Sie tauchen die in Safran gehüllte Leiche ins erlösende Wasser und waschen sie, damit kein Körperteil unberührt bleibt. Dann wird sie zum Scheiterhaufen gebracht. Während die unberührbaren Doms, die am Verbrennungsghat arbeiten, Holz auf das Leinenbündel häufen, durchsieben Gestalten, die hüfttief im Ganges stehen, das Wasser mit flachen Weidenkörben, um das Gold aus der Asche der Toten zurückzugewinnen. An diesem Ghat, wo der Schöpfer Brahma einst zehn Pferde opferte, wird Mutter Ganga jeden Abend von Brahmanen ein Aarti-Opfer dargebracht. Ein Hotel in der Stadt zahlt jedem von ihnen für dieses Ritual zwanzigtausend Rupien pro Monat, doch das tut dem Eifer ihrer Gebete keinen Abbruch. Bei diesem Puja bitten sie mit Feuer um Regen. Seit drei Jahren hat es keinen Monsun mehr gegeben. Nun verwandelt der frevlerische Awadhi-Damm bei Kunda Khadar auch das letzte Blut in den Adern von Ganga Mata zu Staub. Selbst die Religionslosen und Agnostiker werfen inzwischen ihre Rosenblütenblätter auf den Fluss.

Auf dem anderen Fluss, dem Fluss der Reifen, der keine Trockenheit kennt, lenkt Yogendra den großen Mercedes durch die Mauer aus Lärm und Bewegung, die Varanasis ewiges Chakra des Verkehrs bildet. Seine Hand löst sich niemals von der Hupe, während er hinter Phatphats ausschert, um Fahrradrikschas herumkurvt, auf die falsche Straßenseite wechselt, um einer Kuh auszuweichen, die an einem alten Unterhemd kaut. Shiv ist allen Verkehrsregeln gegenüber immum; nur eine Kuh würde er niemals überfahren. Straße und Gehwege verwischen sich: Verkaufsstände, Garküchen, Tempel und Schreine, die mit Girlanden aus Tagetes behangen sind. Freien Lauf für unseren Fluss!, erklärt das handgeschriebene Transparent eines Mannes, der gegen den Damm demonstriert. Eine Gruppe von Callcenter-Jungen in ihren besten sauberen Hemden und Hosen ist auf der Jagd und ergießt sich in den Weg des Geländewagens. Fettige Hände auf der Lackierung. Yogendra beschimpft sie laut für diese Frechheit. Der Strom auf den Straßen wird schmaler und gedrängter, bis die Frauen und Pilger sich an Mauern und in Eingänge drücken müssen, um Shiv durchzulassen. In der Luft hängt der berauschende Dunst von Alkosprit. Es ist ein Triumphzug, eine Machtdemonstration. Shiv hält das kalte Metallfläschchen im Schoß und zieht in die Stadt ein, der er entstammt.

Am Anfang war Kashi, die Erstgeborene der Städte, die Schwester von Babylon und Theben und ihre einzige Überlebende, die Stadt des Lichts, wo Shivas Jyotirlinga, die göttliche Zeugungsenergie, in einer strahlenden Säule aus der Erde hervorbrach. Dann wurde sie Varanasi, die heiligste aller Städte, der Gemahl der Göttin Ganga, die Stadt des Todes und der Pilger. Sie überdauerte Imperien und Königreiche und Rajs und große Nationen, sie floss durch die Zeit, wie ihr Strom durch die große Ebene Nordindiens fließt. Dahinter wuchs New Varanasi empor, die Bollwerke und Festungen der neuen Wohnanlagen und die gläsernen, eleganten Firmenzentralen, die sich hinter den Palästen und engen, verworrenen Straßen auftürmen, um globale Dollars in den bodenlosen Arbeitsmarkt Indiens zu pumpen. Dann folgte eine neue Nation, und das alte Varanasi wurde wieder zum legendären Kashi, dem Nabel der wiedergeborenen Welt, dem neuesten Fleisch-Ginza Südasiens. Es ist eine Stadt der Schizophrenien. In den überfüllten Straßen drängen sich Pilger und japanische Sextouristen. Trauernde tragen ihre Toten an den Käfigen mit jugendlichen Huren vorbei. Magere Leute aus dem Westen, mit Bindi und Bart den Einheimischen angepasst, bieten Kopfmassagen an, und Mädchen vom Land melden sich bei den Ehevermittlungen an, wo sie in den Datenbanken der Verzweifelten die Zeilen mit dem Jahreseinkommen überfliegen.

Hallo hallo, von welche Land? Ganja Ganja Nepali Temple Balls? Du willst junge Mädchen sehen, ficki-ficki? Sehen, wie Frau winzig kleine American Football in ihre kleine Mumu saugt? Zehn Dollar. Macht deine Schwanz so dick, dass du Leute erschrecken kann. Karten, Janampatri, Hora-Chakra, butterweiche rote Tilakas, die Touristen mit dem Daumen auf die Stirn gedrückt werden. Kindergurus. Ware! Ware! Geklaute Sportsachen, zwielichtige Software, nachgemachte Markenartikel, die aktuellen Filme des Monats, synchronisiert von einer einzigen Männerstimme, aufgenommen im Schlafzimmer des Cousins, Palmer und Leichthoeks von Ausbeuterfirmen, Badmash-Gin und Whisky, gebraut in alten Gerbereien (John E. Walker, höchst seriöses Label). Seit dem Ausbleiben des Monsuns wird Wasser angeboten, flaschenweise, becherweise, schluckweise, aus Tankern und Tanks, von eingeschweißten Paletten, aus Plastik-Literjohns, Rucksäcken und Ziegenlederbeuteln. Ach, die Banglas mit ihrem Eisberg — glaubst du, sie würden uns hier in Bharat auch nur einen Tropfen abgeben? Kauf und trink!

Nach dem Verbrennungsghat und dem Shiva-Tempel, der mit tektonischer Langsamkeit in den Varanasi-Schlick kippt, biegt der Fluss nach Nordosten ab. Eine dritte Reihe von Brückenpfeilern schäumt das Wasser zu Katzenzungen auf. Lichter kräuseln auf der Oberfläche — die Lichter eines Shatabdi-Hochgeschwindigkeitzuges, der den Fluss überquert und in die Kashi Station einfährt. Der stromlinienförmige Express poltert schwerfällig über die Konstruktion, während die tote Frau unter der Eisenbahnbrücke hindurchschießt und in klares Wasser gelangt.

Hinter Kashi und New Varanasi gibt es ein drittes Varanasi. New Sarnath heißt es auf den Plänen und in den Presseerklärungen der Architekten und ihrer PR-Firmen, die sich das Prestige der uralten buddhistischen Stadt zunutze machen. Ranapur nennen es alle anderen, die halb erbaute Hauptstadt einer noch jungen politischen Dynastie. Es ist in jeder Hinsicht die größte Baustelle Asiens. Hier gehen die Lichter niemals aus. Die Arbeit ruht nie. Der Lärm ist entsetzlich. Einhunderttausend Menschen sind hier tätig, vom Chowkidar bis zum Baustatiker. Türme von großer Schönheit und Kühnheit erheben sich aus den Kokons der Bambusgerüste. Bulldozer formen breite Boulevards und Alleen, die von genmodifizierten Ashok-Bäumen beschattet werden. Neue Nationen erfordern neue Hauptstädte, und Ranapur wird ein Schaufenster für die Kultur, Industrie und Zukunftsvision von Bharat sein. Das Sajida Rana Cultural Centre. Das Rajiv Rana Conference Centre. Der Ashok Rana Telecom Tower. Das Museum für moderne Kunst. Das Schnellbahn-System. Die Ministerien und Verwaltungsbehörden, die Botschaften und Konsulate und all das andere Zubehör staatlicher Verwaltung. Was die Briten mit Delhi taten, werden die Ranas mit Varanasi tun. So wird es aus dem Gebäude im Herzen des Ganzen verlautbart, der Bharat Sabha, ein Lotus in weißem Marmor, das Parlament der Bharati-Regierung und der Sitz der Premierministerin Sajida Rana.

Flutlichter von den Baustellen funkeln auf der Gestalt im Fluss. Die neuen Ghats mögen aus Marmor sein, doch die Flusskinder sind reinstes Varanasi. Köpfe schnellen hoch. Da ist etwas. Etwas Helles, Glitzerndes. Zigaretten werden ausgedrückt. Die Uferkinder stürmen planschend ins Wasser. Sie waten schenkeltief durch das seichte, blutwarme Wasser und verständigen sich mit Pfiffen. Etwas. Eine Leiche. Eine Frauenleiche. Eine nackte Frauenleiche. Nichts Neues oder Besonderes in Varanasi, trotzdem zerren die Wasserjungen die tote Frau ans Ufer. Vielleicht kann man ihr etwas von Wert abnehmen. Schmuck. Goldzähne. Künstliche Hüftgelenke. Das Wasser spritzt im Streulicht von den Baustellen, als die Jungen ihre Beute an den Armen auf den groben Sand schleifen. Silber glitzert an ihrer Kehle. Gierige Hände wollen nach einem Trishul-Anhänger greifen, dem Dreizack der Verehrer von Lord Shiva. Die Jungen zucken unter leisen Schreien zurück.

Die Frau ist vom Brustbein bis zum Schambein geöffnet. Die Windungen der Eingeweide schimmern im Flutlicht. Mit zwei kurzen, harten Schnitten wurden die Eierstöcke der Frau sauber herausgetrennt.

In seinem schnellen deutschen Wagen hält Shiv ein silbernes Fläschchen, auf dem sich Kondenswasser niederschlägt, während Yogendra ihn durch den Verkehr befördert.

2 Mr. Nandha

Mr. Nandha, der Krishna Cop, reist an diesem Morgen mit dem Zug. Er ist der einzige Fahrgast im Wagen der ersten Klasse. Er fährt mit dem elektrischen Shatabdi-Express der Bharat Rail, der mit dreihundertfünfzig Stundenkilometern über die Hochgeschwindigkeitsstraße rast und sich in den sanften Kurven neigt. Dörfer Straßen Felder Städte Tempel fliegen im Morgendunst vorbei, der knietief auf der Ebene liegt. Doch Mr. Nandha sieht nichts davon. Hinter seinem getönten Fenster widmet er seine ganze Aufmerksamkeit den virtuellen Seiten der Bharat Times. Artikel und Videobeiträge schweben über dem Tisch, während der Leichthoek Daten in sein Sehzentrum schießt. In seinem Hörzentrum spielt die Marienvesper von Monteverdi, aufgeführt von der Camerata di Venezia und dem Chor von San Marco.

Mr. Nandha ist ein großer Liebhaber italienischer Renaissancemusik. Er ist von jeglicher Musik der humanistischen Tradition Europas aufs Höchste fasziniert. Mr. Nandha betrachtet sich als Renaissancemensch. Auch wenn er Nachrichten über das Wasser und den möglichen Krieg und die Demonstrationen rund um die Hanuman-Statue und die geplante Metrostation am Sarkhand Roundabout und die Skandale und den Klatsch und die Sportmeldungen liest, visualisiert ein Teil seines Sehzentrums, den der Leichthoek niemals erreichen kann, die Piazze und Campanili von Cremona im siebzehnten Jahrhundert.

Mr. Nandha war noch nie in Cremona. Er ist noch nie nach Italien gereist. Seine Vorstellungen entstammen Großaufnahmen des Planet History Channel, seinen eigenen Erinnerungen an seine Geburtsstadt Varanasi und an Cambridge, der Stadt seiner intellektuellen Wiedergeburt.

Der Zug rast an ländlichen Ziegelgebäuden vorbei, wo sich Ofenrauch über die Nebelschicht gelegt hat. Die Reihen aufgestapelter Ziegel sind wie die Ruinen einer ungeborenen Zivilisation. Kinder stehen daneben und starren, die Hände zum Gruß erhoben, benommen von der Geschwindigkeit. Nachdem der Zug vorbeigefahren ist, klettern sie auf das Gleisbett und suchen nach den Paisa-Münzen, die sie in die Fugen zwischen den Schienen gesteckt haben. Die schnellen Züge walzen sie zu flachen Scheiben auf den Gleisen. Man könnte sich etwas mit diesen Münzen kaufen, aber nichts davon wäre so gut wie der Anblick des Metallflecks auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke.

Der Chai-Wallah schwankt durch den Waggon.

»Sahb?«

Mr. Nandha reicht ihm einen Teebeutel, der an einem Faden baumelt. Der Steward verbeugt sich, nimmt den Beutel entgegen, legt ihn in einen Plastikbecher und lässt kochendes Wasser aus dem Biggin fließen. Mr. Nandha schnuppert am Tee, nickt und gibt dem Wallah den feuchten, warmen Teebeutel. Mr. Nandha leidet unter schlimmen Hefeinfektionen. Der Chai ist eine ayurvedische Rezeptur, die speziell für ihn gemischt wurde. Außerdem meidet Mr. Nandha Cerealien, Obst, fermentierte Nahrung einschließlich Alkohol, viele Sojaprodukte und sämtliche Milcherzeugnisse.

Der Anruf hatte ihn um vier Uhr nachmittags erreicht. Mr. Nandha war soeben eingeschlafen, nachdem er angenehmen Sex mit seiner schönen Ehefrau gehabt hatte. Er versuchte, sie nicht zu stören, aber sie hatte noch nie schlafen können, wenn er wach war. Also war sie aufgestanden, um seine Reisetasche zu holen, die der Dhobi-Wallah unter ihrer Aufsicht stets mit sauberer, gebügelter Kleidung bestückt. Dann begleitete sie ihn zum Dienstwagen. Der Wagen nahm eine separate Zufahrt zum Bahnhof, um das Gedränge der Phatphats und Rikschas zu meiden, die auf den Nachtzug aus Agra warteten, und brachte Mr. Nandha durch den Rangierbahnhof zum Bahnsteig, an dem der lange, schlanke elektrische Zug bereitstand. Ein Angestellter der Bharat Rail führte ihn zu seinem reservierten Platz im reservierten Waggon. Dreißig Sekunden später glitt der Zug aus der Kashi Station. Die gesamten dreihundert Meter waren nur für den Krishna Cop aufgehalten worden.

Mr. Nandha erinnert sich an den Sex mit seiner Frau und ruft sie mit dem Palmer an. Sie erscheint in seinem Sehzentrum. Es überrascht ihn nicht, sie auf dem Dach vorzufinden. Seit Beginn der Arbeit am Garten hat Parvati immer mehr Zeit oben auf dem Apartmentblock zugebracht. Hinter dem Betonmischer und den Haufen aus Steinen und Säcken mit Kompost und Rohren für die Tröpfchenbewässerung kann Mr. Nandha die ersten Lichter in den Fenstern der umliegenden Mietshäuser an den schmalen Straßen erkennen. Wassertanks, Sonnenkollektoren, Satellitenschüsseln und Topfreihen mit Geranien zeichnen sich als Silhouetten vor einem matten, trüben Himmel ab. Parvati schiebt sich eine Haarsträhne hinters Ohr und blinzelt in die Bindi-Cam.

»Ist alles in Ordnung?«

»Alles bestens. Ich werde in zehn Minuten eintreffen. Ich wollte dich nur anrufen.«

Sie lächelt. Mr. Nandha zerfließt das Herz.

»Danke, das ist sehr nett von dir. Machst du dir Sorgen?«

»Nein, es ist eine routinemäßige Exkommunikation. Wir wollen es im Ansatz ersticken, bevor sich Panik ausbreiten kann.«

Parvati nickt und saugt die Unterlippe ein, wie sie es immer tut, wenn sie über ein Problem nachdenkt.

»Was wirst du heute tun?«, fragt er.

»Also ...«, beginnt sie und deutet mit einer Körperdrehung auf den werdenden Garten. »Ich hatte eine Idee. Bitte sei mir nicht böse, aber ich glaube nicht, dass wir so viele Sträucher brauchen. Ich hätte gern ein paar Gemüsepflanzen. Ein paar Reihen Bohnen, Tomaten und Paprika ... sie bieten sehr viel Sichtschutz. Vielleicht sogar etwas Bhindi und Brinjal. Und Kräuter. Ich würde sehr gern Kräuter anbauen, Tulsi und Koriander und Hing.«

Mr. Nandha lächelt auf seinem reservierten Sitz in der ersten Klasse.

»Ein richtige kleine urbane Bäuerin.«

»Ach, nichts, wofür du dich schämen müsstest. Nur ein paar Pflanzreihen, bis wir ins Quartier umziehen und einen Bungalow bekommen. Ich könnte diesen Salat anpflanzen, den du brauchst. Damit würden wir Geld sparen. Er wird aus Europa und Australien eingeflogen — ich habe es auf dem Etikett gelesen. Wäre das in Ordnung?«

»Wenn du es wünschst, meine Blüte.«

Parvati faltet die Hände in leisem Entzücken.

»Oh, gut. Es war ein bisschen dreist von mir, aber ich habe bereits mit Krishan abgemacht, dass wir zum Saathändler gehen.«

Mr. Nandha fragt sich oft, was er getan hat, als er seine reizende Frau in die Halsabschneider-Gesellschaft von Varanasi brachte — ein Mädchen vom Lande unter Kobras. Die Spiele unter den Bewohnern des Quartiers — seine Kollegen, seine Freunde und Bekannten — widern ihn an. Überall Geflüster, Blicke und Gerüchte, stets freundlich und anständig, aber gleichzeitig wachsam, abwägend, vorsichtig. Tugenden und Laster in einem empfindlichen Gleichgewicht. Für Männer ist es einfach. Heirate, so gut du kannst — falls du kannst. Mr. Nandha hat innerhalb seiner Jati geheiratet — besser als Arora, sein Vorgesetzter im Ministerium, besser als die meisten seiner Zeitgenossen. Eine gute solide Kayastha-Kayastha-Heirat, aber die alten Zwänge scheinen im neuen Ranapur keine Rolle mehr zu spielen. Die Frau von Nandha? Hört euch nur ihren Akzent an! Schaut euch nur ihre Hände an! Die Farben, die sie trägt, und die Schnitte. Sie kann nicht sprechen, müsst ihr wissen. Kein einziges Wort. Hat nichts zu sagen. Sie öffnet den Mund, und eine Fliege kommt herausgesummt. Stadt und Land, sage ich nur. Stadt und Land. Stellt sich immer noch auf die Toilettenschüssel und hockt sich hin.

Mr. Nandha bemerkt, dass er vor Wut die Fäuste geballt hat, als er daran denkt, dass Parvati in diese schrecklichen Spiele verstrickt werden könnte — mein Ehemann, meine Kinder, mein Haus. Sie braucht den Bungalow im Quartier nicht oder die zwei Autos und fünf Diener und das Designerbaby. Wie jede moderne Braut hat Parvati ihre finanziellen und genetischen Überprüfungen hinter sich, aber ihre Beziehung war stets von Liebe und Respekt geprägt, nicht vom verzweifelten Griff nach dem ersten verfügbaren Heiratsmaterial auf dem darwinistischen Ehemarkt von Varanasi. Früher erhielt die Braut eine Mitgift. Der Mann war der Gesegnete, das Geschenk. Das war immer das Problem gewesen. Nach einem Vierteljahrhundert der embryonalen Auslese, in diskreten Vorstadtkliniken oder altmodisch mit einer Autoantenne auf einem Hinterhof in Kashi, übertrifft die städtische männliche Bevölkerung der Mittelklasse von Bharat die weibliche um das Vierfache.

Mr. Nandha spürt, wie sich die Fahrtgeschwindigkeit leicht verändert. Der Zug wird langsamer.

»Meine Liebe, ich muss jetzt gehen. Wir fahren in Nawada ein.«

»Du wirst doch nicht in Gefahr geraten, oder?«, fragt Parvati mit besorgt aufgerissenen Augen.

»Nein, ganz bestimmt nicht. Solche Aufträge habe ich schon dutzendmal erledigt.

»Ich liebe dich, mein Gatte.«

»Ich liebe dich, mein Schatz.«

Mr. Nandhas Ehefrau verschwindet aus seinem Kopf. Ich werde es für dich tun, denkt er, während der Zug ihn zum Entscheidungskampf bringt. Ich werde an dich denken, wenn ich es töte.

Ein hübscher weiblicher Jemadar vom ortsansässigen Zivilschutz salutiert Mr. Nandha auf dem Bahnsteig. Zwei Reihen Jawans halten die Schaulustigen mit Lathis zurück. Motorräder fahren voraus und hinterher, als der Konvoi auf die Straße biegt.

Nawada ist ein Stadtstreifen, ein Name, den man dem Zusammenschluss von vier Kuhdörfern aufgedrückt hat. Dann fielen Entwicklungszuschüsse vom Himmel, ein hingeknalltes Straßennetz, aus dem Boden gestampfte Fabriken und Lagerhäuser aus Blech, die mit Callcentern und Datenfarmen vollgestopft wurden. Man verknüpfe alles mit Kabeln und Satellitenverbindungen, klemme es ans städtische Stromnetz an, und schon spuckt das Ganze millionenfach Rupien aus. Es sind die Baracken aus Aluminiumwellblech und Carbonit in Nawada und nicht die hoch aufragenden Türme von Ranapur, in denen die Zukunft von Bharat geschmiedet wird. Im schweren Armee-Hummer rollt Mr. Nandha an den kleinen Geschäften und Werkstätten vorbei. Er fühlt sich wie ein Söldner, der in eine Stadt einreitet. Motorroller mit Mädchen vom Land, die seitlich auf dem Damensattel sitzen, schwenken aus, um Platz zu machen.

Die Motorradstaffel biegt in eine Gasse zwischen Lagerhäusern aus Spritzbeton und macht mit Sirenengeheul den Weg für den Hummer frei. Ein Strommast neigt sich unter illegalen Abzapfungen. Hockende Frauen essen vor einem riesigen fensterlosen Betonkasten gemeinsam Chai und Roti zum Frühstück. Die Männer haben sich zum Rauchen so weit von ihnen entfernt versammelt, wie es die Geometrie des Geländes erlaubt. Mr. Nandha blickt zu den segnend ausgebreiteten Händen der Solarfarm von Ray Power hinauf. Gruß an die Sonne.

»Schalten Sie die Sirenen ab«, befiehlt er der hübschen Jemadar, deren Name Sen ist. »Das Ding hat zumindest die Intelligenz eines Tieres. Falls es vorgewarnt wird, könnte es versuchen, sich herauszukopieren.« Sen lässt das Autofenster aufgleiten und ruft der Eskorte Befehle zu. Die Sirenen verstummen.

Der Hummer ist ein stählerner Schwitzkasten. Mr. Nandhas Hose klebt an den Sitzbezügen aus Vinyl, aber er ist zu stolz, um sich freizuwinden. Er klemmt sich den Hoek hinters Ohr, legt den Signalgeber auf die empfindliche Stelle an seinem Schädel und öffnet die Box seiner Avatare.

Ganesha, Herr des verheißungsvollen Neuanfangs, Beseitiger von Hindernissen, thront reitend auf seiner Ratte und erhebt sich so gewaltig wie eine Gewitterwolke über die Flachdächer und Antennenfarmen von Nawada. In den Händen hält er seine Eigenschaften: den Sporn, die Schlinge, einen abgebrochenen Stoßzahn, einen Reismehlkloß und einen Topf mit Wasser. Sein Kugelbauch enthält Universen des Cyberspace. Er ist das Portal. Mr. Nandha kennt die Bewegungen auswendig, mit denen sich jeder Avatar aufrufen lässt. Seine Hand beschwört den fliegenden Hanuman mit Keule und Berg herauf, dann Shiva Nataraja, den Herrn des Tanzes, immer einen Schritt von der universellen Vernichtung und Neuerschaffung entfernt, dann Durga, die Dunkle, Göttin des gerechten Zorns, die mit jedem ihrer zehn Arme eine Waffe hält, dann Lord Krishna mit Flöte und Halskette, Kali, die Zerstörerin, um die Hüfte den Gürtel aus abgeschlagenen Händen. In Mr. Nandhas Geistsicht beugen sich die Kaih-Agenten des Ministeriums tief über das winzige Nawada. Sie sind bereit. Sie sind begierig. Sie sind hungrig.

Der Konvoi biegt in eine Lieferantenstraße. Einige Polizisten versuchen einen Menschenauflauf zu teilen, um den Hummer durchzulassen. Die Gasse ist an der Einfahrt mit Fahrzeugen verstopft, einem Krankenwagen, einem Polizeiauto, einem Elektro-Jeepney. Etwas liegt unter dem Vorderrad des Lieferwagens.

»Was ist hier los?«, will Mr. Nandha wissen, als er durch das Gedränge der Polizisten marschiert, den Ministeriumsausweis hoch erhoben.

»Sir, ein Fabrikarbeiter geriet in Panik und rannte auf die Straße hinaus genau unter das Fahrzeug«, erwidert ein Polizeisergeant. »Er hat etwas von einem Djinn geschrien. Ein Djinn sei in der Fabrik und würde sie alle holen.«

Ihr nennt es Djinn, denkt Mr. Nandha und blickt sich um. Ich nenne es Mem. Immaterielle Replikatoren: Witze, Gerüchte, Sitten, Kinderlieder. Viren des Geistes. Götter, Dämonen, Djinns, Aberglaube. Das Ding in der Fabrik ist kein übernatürliches Wesen, kein Geist einer Flamme, sondern eindeutig ein immaterieller Replikator.

»Wie viele sind drinnen?«

»Zwei Tote, Sir. Es war die Nachtschicht. Die Übrigen sind geflüchtet.«

»Ich möchte, dass dieser Bereich geräumt wird«, ordnet Mr. Nandha an. Jemadar Sen schnalzt ihren Jawans Befehle zu. Mr. Nandha geht weiter, vorbei an der Leiche mit der Lederjacke über dem Gesicht und dem zitternden Jeepney-Fahrer auf der Rückbank des Polizei-Maruti. Er inspiziert den Schauplatz. In dieser verbogenen Blechbaracke wird Tikka-Pasta produziert. Eine Emigrantenfamilie leitet die Firma von Bradford aus. Zuhause für Jobs sorgen. Das ist es, worum es in Orten wie Nawada geht. Für Mr. Nandha ist die Vorstellung von Tikka-Pasta ein Gräuel, aber die asiatische Küche in der britischen Diaspora ist gerade groß in Mode. Mr. Nandha blinzelt zum Telefonverteilerkasten hinauf.

»Jemand soll das Kabel durchschneiden.«

Während die örtliche Polizei nach einer Leiter sucht, macht Mr. Nandha den Leiter der Nachtschicht ausfindig, einen fetten Bengali, der nervös an der Haut neben den Fingernägeln zupft. Er riecht nach etwas, von dem Mr. Nandha annimmt, dass es Tikka-Pasta ist.

»Haben Sie hier einen Mobilfunk-Port oder einen Satelliten-Uplink?«, fragt er.

»Ja, ja, ein dezentrales internes Mobilnetzwerk«, sagte der Bengali. »Für die Roboter. Und eins von diesen Dingern, die Signale an Meteorspuren reflektieren. Um mit Bradford zu sprechen.«

»Jemadar Sen, einer Ihrer Männer soll sich bitte um die Satellitenschüssel kümmern. Vielleicht schaffen wir es noch rechtzeitig, sie daran zu hindern, sich hinauszukopieren.«

Die Polizei hat die Basti-Leute nun bis zum Ende der Gasse zurückgetrieben. Ein Jawan winkt vom Dach, Arbeit erledigt.

»Sämtliche Kommunikationsgeräte ausschalten, bitte«, weist Mr. Nandha an. Jemadar Sen und und Sergeant Sunder begleiten ihn zur besessenen Fabrik. Mr. Nandha rückt seine Jacke im Nehru-Stil und die Manschetten zurecht, duckt sich unter dem Rolltor hindurch und betritt die Kampfzone. »Bleiben Sie in der Nähe und folgen Sie exakt meinen Anweisungen.« Mr. Nandha atmet in der langsamen, beruhigenden Pranayama-Technik, die das Ministerium den Krishna Cops beibringt, und beginnt mit der ersten visuellen Musterung.

Es ist eine typische, mit Entwicklungszuschüssen finanzierte Firma. Plastiktonnen mit Futtermittel auf der einen Seite, die Verarbeitungsanlagen in der Mitte, auf der anderen Seite die Verpackungsabteilung. Keine Schutzvorrichtungen, keine Schutzkleidung, keine Lärmschutzausrüstung, keine Klimaanlage, nur eine männliche und eine weibliche Toilette. Alles ist auf Kostenminimierung ausgerichtet. Wenig Robotik, denn in den Stadtstreifen waren menschliche Hände schon immer billiger. Rechts sind in einer Reihe von Glastik-Kästen die Büros und die Kaih-Unterstützung untergebracht. Wasserspender und Ventilatoren, alle ausgeschaltet. Die Sonne steht bereits hoch am Himmel. Das Gebäude ist ein stählerner Ofen.

Ein Gabelstapler ist gegen eine Wand ganz links gefahren. Zwischen dem Fahrzeug und dem Wellblech ist gerade noch ein halb aufrechter Körper erkennbar. Blut, glänzend und von Fliegen wimmelnd, ist unter den Rädern geronnen. Der Mann wurde in Bauchhöhe von den Zinken des Gabelstaplers bajonettiert. Mr. Nandha verzieht angewidert die Lippen.

Überall Kameraaugen. Dagegen lässt sich nichts machen. Jetzt sieht sie zu.

Während seiner drei Jahre als Jäger illegaler Kaihs hat Mr. Nandha schon etliche Leichen gesehen, die aus Konflikten zwischen Menschen und Künstlichen Intelligenzen resultieren. Er zieht seine Waffe. Jemadar Sen reißt die Augen auf. Mr. Nandhas Waffe ist groß, schwarz und schwer, und sie sieht aus, als wäre sie in der Hölle geschmiedet worden. Sie hat all die Knöpfe, Details und Teile, die ein Krishna Cop an seiner Waffe braucht. Sie ist selbstzielend und doppelläufig. Der untere Lauf tötet das Fleisch mit langsam fliegenden Sprenggeschossen. Ein Treffer in irgendeinem Körperteil bedeutet den sicheren Tod durch Verletzungstrauma. Nicht umsonst ist Dum-Dum eine Vorstadt von Kolkata. Der obere Lauf zerstört den Geist. Es ist eine EM-Puls-Waffe, ein Googlewatt Energie, die zu einem drei Millisekunden anhaltenden Strahl gebündet wird. Proteinchips verbrennen. Quantenprozessoren verheisenbergen. Kohlenstoffnanoröhren verdampfen. Dies ist die Waffe, die illegale Kaihs auslöscht, gesteuert von GPS-orientierten Gyroskopen und kontrolliert durch einen visuellen Avatar von Indra, dem Herrn des Donnerkeils. Mr. Nandhas Waffe tötet immer und verfehlt nie ihr Ziel.

Der Gestank nach Bradford Tikka-Pasta zerrt nachdrücklich an Mr. Nandhas Eingeweiden. Wie kann dieser Unrat, diese Umweltverschmutzung die ganz große Sache sein? Einer der großen industriellen Kochtöpfe aus rostfreiem Stahl ist umgekippt und hat seinen Inhalt über den Boden ergossen. Hier liegt die zweite Leiche. Ihre obere Hälfte ist in Tikka-Pasta ertränkt. Mr. Nandha riecht gekochtes Fleisch und zückt sein Taschentuch, um es sich über den Mund zu legen. Er bemerkt die gute Hose der Leiche, die gepflegten Schuhe, das gepresste Hemd. Also dürfte es der IT-Wallah sein. Nach Mr. Nandhas Erfahrung verhalten sich Kaihs wie Hunde und wenden sich zuerst gegen ihre Herrchen.

Er winkt Sen und Sunder heran. Der Landpolizist macht einen nervösen Eindruck, doch die Jemadar hebt entschlossen ihr Sturmgewehr.

»Kann sie uns hören?«, fragt Jemadar Sen, während sie sich langsam im Kreis dreht.

»Unwahrscheinlich. Kaihs der Stufe eins verfügen selten über Sprachvermögen. Wir haben es hier mit etwas zu tun, das ungefähr die Intelligenz eines Affen besitzt.«

»Und das Verhalten eines Tigers«, fügt Sergeant Sunder hinzu.

Mr. Nandha ruft Shiva aus den räumlichen Dimensionen der Lebensmittelfabrik ab und bewegt seine Hände zu einer Mudra, worauf die Fabrikhalle in einem leuchtenden Nervensystem der Informationsleitungen zum Leben erwacht. Shiva benötigt nur einen kurzen Moment, um sich Zugang zum Intranet der Fabrik zu verschaffen und den Server ausfindig zu machen, einen kleinen, unscheinbaren Würfel in einer Ecke eines Schreibtischs. Dann schleicht er sich durch die Firewall in das Fabriknetz ein. Mr. Nandha sieht im geistigen Augenwinkel verschwommene Datenverzeichnisse vorbeiziehen. Da. Passwortgeschützt. Er ruft Ganesha. Der Beseitiger von Hindernissen trifft sogleich auf einen Quantenschlüssel. Mr. Nandha ist verärgert. Er schickt Ganesha fort und holt Krishna. Hinter dieser Quantenmauer könnte sich ein Djinn verbergen. Genauso gut könnten es dreitausend Bilder von chinesischen Mädchen sein, die Sex mit Schweinen haben. Mr. Nandhas größte Sorge ist, dass sich die illegale Kaih reproduziert hat. Eine Mailsendung, und es wird Wochen dauern, um alles aufzuspüren. Krishna meldet, dass das Log für die Kommunikation nach außen sauber ist. Also ist sie noch irgendwo im Gebäude. Mr. Nandha schaltet das drahtlose Netz ab, zieht die Stecker des Servers und klemmt ihn sich unter den Arm. Seine Leute im Ministerium werden die Geheimnisse des Kastens knacken.

Er hält inne und schnuppert. Ist der Tikka-Pasta-Gestank stärker geworden, schärfer? Mr. Nandha hustet. Etwas hat sich an seinem Gaumen festgesetzt, angebranntes Chili. Er sieht, wie Sen schnieft und die Stirn runzelt. Er hört das Summen einer schweren elektrischen Entladung.

»Alle raus!«, ruft er, und in diesem Moment setzt sich der Kettenantrieb des Rolltors ruckend in Bewegung, während gleichzeitig aus dem Kessel Nummer zwei erstickender schwarzer Chilirauch hervorquillt. »Schnell, schnell!«, befiehlt er und blinzelt ätzende Tränen weg, das Taschentuch vor den Mund gepresst. »Raus raus!« Er folgt den anderen, die unter dem sich herabsenkenden Tor nach draußen stürmen. Es wird knapp, nur wenige Millimeter. In der Gasse klopft er sich verärgert den Straßendreck von seinem gebügelten Anzug.

»Das ist höchst unerfreulich«, sagt Mr. Nandha. Er wendet sich an die Tikka-Pasta-Arbeiter. »Sie da! Gibt es einen anderen Weg hinein?«

»Auf der anderen Seite, Sahb«, antwortet ein Jugendlicher mit einem Hautleiden, das Mr. Nandha nicht in der Nähe von menschlichen Nahrungsmitteln sehen möchte.

»Wir dürfen keine Zeit verlieren«, sagt er und hebt seine Waffe. »Vielleicht hat sie die Ablenkung bereits zur Flucht genutzt. Folgen Sie mir, bitte.«

»Ich werde nicht noch einmal hineingehen«, sagt Sunder, die Hände an die Oberschenkel gelegt. Er ist ein Mann mittleren Alters und hat an den Hüften etwas Speck angesetzt. Angelegenheiten dieser Art werden nirgendwo in den Dienstvorschriften der Polizei von Nawada erwähnt. »Ich bin kein abergläubischer Mensch, aber wenn das da drin kein Djinn ist, weiß ich nicht, was es sonst sein soll.«

»Es gibt keine Djinns«, sagt Mr. Nandha. Sen schließt sich ihm an. Ihr Tarnanzug hat exakt die Färbung von Tikka-Pasta angenommen. Sie bedecken ihre Gesichter, zwängen sich durch die stinkende Seitengasse, die mit Zigarettenstummeln gepflastert ist, und dringen durch den Notausgang ein. Die Luft ist mit stechendem Chiliqualm geschwängert. Mr. Nandha spürt, wie der Rauch in seiner Kehle kratzt, während er sich in seine Avatare vertieft und sein mächtigstes Programm aufruft: Kali, die Zerstörerin. Er klinkt sich ins Fabriknetz ein und entlässt sie ins System. Sie wird sich im Funk- und Kabelnetz ausbreiten und sich in jeden mobilen und stationären Prozessor kopieren. Alles, was keine Lizenz besitzt, wird sie markieren, aufspüren und löschen. Von Tikka-Pasta Inc. werden nur noch Fetzen übrig sein, wenn Kali ihre Arbeit beendet hat. Sie ist ein Grund, warum Mr. Nandha die Fabrik isoliert hat. Würde man Kali ins globale Netz entlassen, könnte sie innerhalb von Sekunden einen Schaden von unvorstellbarem Ausmaß anrichten. Es gibt keinen besseren Kaih-Jäger als eine andere Kaih. Mr. Nandha hält die Waffe bereit. Oft genügt bereits die bloße Witterung Kalis, um eine Kaih aus ihrem Versteck zu locken wie eine Schlange, die sich einem Mungo stellt.

Bei voller Leichthoek-Auflösung ist Kali ein erschreckender Anblick, mit dem Gürtel aus abgetrennten Händen, die Säbel gereckt, die Zunge ausgestreckt und die Augen weit aufgerissen, während sie über der langsam herabsinkenden Chilirauchwolke aufragt. Um sie herum erlöschen Datenkonstellationen, eine nach der anderen. So muss der Tod sein, denkt Mr. Nandha. Das zarte blaue Glimmen des Informationsflusses flackert und geht schließlich ganz aus. Immer mehr Nervenimpulse setzen aus, die Wahrnehmungen verblassen, das Bewusstsein löst sich auf.

Die verstummenden Maschinengeräusche verunsichern Sen, und sie tritt näher an Mr. Nandha heran. Hier sind Mächte und Wesenheiten am Werk, die sie nicht begreift. Als sich eine ganze Minute lang nichts gerührt hat oder dunkel geworden ist, sagt Sen: »Glauben Sie, dass jetzt alle ausgeschaltet sind?«

Mr. Nandha fordert einen Bericht von Kali an.

»Ich habe zweihundert verdächtige Dateien und Programme gelöscht. Wenn auch nur ein Prozent davon Kaih-Kopien waren ...« Aber noch etwas anderes als Chilirauch irritiert seine Sinne.

»Was treibt sie dazu? Warum rasten sie plötzlich aus?«, fragt Sen.

»Ich habe festgestellt, dass die Ursache eines Computerproblems in allen Fällen eine menschliche Schwäche ist«, sagt Mr. Nandha und dreht sich langsam im Kreis, auf der Suche nach dem, was sein Misstrauen geweckt hat. »Ich vermute, unser Freund hat illegale Kaih-Hybriden aus den Sundarbans eingekauft. Nach meiner Erfahrung kommt niemals etwas Gutes aus den Datenoasen.«

Sen hat noch eine weitere Frage, aber Mr. Nandha bringt sie zum Schweigen. Er hört eine Bewegung, sehr schwach und sehr weit entfernt. Kali hat gerade noch genug von der Office-Software übrig gelassen, dass Shiva sich in das Sicherheitssystem einklinken kann. Auf den Kamerabildern ist nichts zu sehen, wie er vermutet hat, aber in der diffusen Infrarotwelt rührt sich etwas. Sein Blick schweift zum Brückenkran am Ende der Halle.

»Ich kann dich sehen«, sagt er und gibt Sen einen Wink. Sie geht zum einen Ende des Krans, Mr. Nandha zum anderen. Das Ding scheint sich irgendwo an der Decke aufzuhalten. Sie laufen aufeinander zu.

»Irgendwann wird sie auszubrechen versuchen«, warnt Nandha.

»Was wird ausbrechen?«, flüstert Sen und hält ihre schlagkräftige Waffe bereit.

»Ich hege den Verdacht, dass sie sich in einen Roboter kopiert hat und beabsichtigt, auf diese Weise zu entkommen. Rechnen Sie mit etwas Kleinem, das sich schnell bewegt.«

Mr. Nandha kann es jetzt zwischen den hallenden Schritten der Menschen hören. Etwas krabbelt am Dach und sucht nach einer Fluchtmöglichkeit. Mr. Nandha hebt eine Hand, um Jemadar Sen zu ermahnen, vorsichtig zu sein. Er hat das Gefühl, sich genau darunter zu befinden. Mr. Nandha blinzelt zu dem Nest aus Kabeln und Rohren hinauf. Ein Kameraauge an einem Ausleger schießt auf ihn zu. Mr. Nandha springt zurück. Sen hebt die Waffe, und bevor sie nachdenkt, feuert sie eine Salve auf die Decke ab. Ein Objekt fällt herab, so nahe, dass es Mr. Nandha beinahe gestreift hätte. Ein Ding, das nur aus zappelnden Gliedmaßen und hektischen Bewegungen zu bestehen scheint. Es ist ein Inspektionsroboter, ein kleines, kletterfähiges Spinnenwesen. Einzelne Firmen können sich solche Maschinen normalerweise nicht leisten, aber für gewöhnlich schaffen die Entwicklungsgesellschaften eine an, die für sämtliche Klienten des Blocks arbeitet. Das Ding dürfte also Zugang zu sämtlichen Firmen in diesem Industriegebiet haben. Die Maschine bäumt sich auf, stürmt auf Mr. Nandha zu, dreht sich und eilt im chaotischen Zickzack unter dem Brückenkran in Sens Richtung. Das Ding weiß nur, dass diese Geschöpfe es töten wollen und dass es weiterexistieren will. Sen gerät in Panik, sie schießt wild um sich und verliert jede militärische Vernunft, als das Ding auf sie zuspringt. Sie hantiert mit ihrem Sturmgewehr. Mr. Nandha erkennt mit absoluter, ruhiger Klarheit, das ihre Panik ihn töten wird.

»Nein!«, ruft er und zieht seine Waffe. Indra zielt und feuert. Der Puls überlädt für einen kurzen Moment sogar seinen Hoek. Die Welt vergeht in einem blendend weißen Blitz. Der Roboter erstarrt, verkrampft sich und sackt funkensprühend in sich zusammen. Die Beine zucken, die Augenstiele werden ausgefahren. Dann rührt er sich nicht mehr. Rauch steigt von seinen Lüftungsschlitzen auf. Doch Mr. Nandha ist noch nicht zufrieden. Er tritt zur toten Kaih, kniet nieder und schließt die Avatarbox an die Hotwire-Buchse an. Ganesha verbindet sich mit dem Betriebssystem, Kali hält sich mit erhobenen Säbeln bereit.

Sie ist tot. Exkommuniziert. Mr. Nandha erhebt sich und klopft sich den Staub von der Kleidung. Er steckt die Waffe ein. Schwieriger Fall. Unbefriedigend. Offene Fragen. Viele werden eine Antwort finden, wenn die Gang vom fünfzehnten Stock den Server öffnet. Aber ohne ein besonderes Gespür wird man kein Krishna Cop, und Mr. Nandha erkennt, dass dieses Gewirr aus Metall und Plastik nur der Anfangsbuchstabe einer neuen und langen Geschichte ist. Er wird diese Geschichte in ganzer Länge hören, er wird ihre Einzelheiten entwirren, alle Akteure und Ereignisse in Erfahrung bringen und sie zu einem befriedigenden Abschluss bringen. Doch in diesem Moment besteht sein vordringliches Problem darin, wie er den Gestank der verbrannten Tikka-Pasta aus seinem Anzug bekommt.

3 Shaheen Badoor Khan

Shaheen Badoor Khan blickt auf das antarktische Eis hinab. Aus zweitausend Metern Höhe ist es eher Geographie als Eis, eine weiße Insel, ein abgedriftetes Sri Lanka. Die angemieteten Hochseeschlepper aus dem Golf sind die größten, stärksten und neuesten, aber sie sehen aus wie Spinnen, die sich mit einem Zirkuszelt abmühen, an dem sie mit Zeltleinen aus Seide zerren. Nun beschränkt sich ihre Rolle auf die Überwachung, denn der Südwestmonsunstrom hat den Eisberg im Griff, und die ganze Angelegenheit bewegt sich mit fünf nautischen Meilen pro Tag in Richtung Nordnordost. Hier draußen auf dem Ozean, fünfhundert Kilometer südlich des Deltas, sind die einzigen visuellen Bezugspunkte das Eis, der Himmel und das Dunkelblau des tiefen Wassers — nichts, das einen Eindruck von Bewegung vermittelt. Wie lange und wie kräftig müssten diese Schlepper ziehen, um alles zum Stillstand zu bringen? Shaheen Badoor Khan denkt nach. Er stellt sich den Eisberg vor, wie er tief in den Gangasagar gedrückt wird, die Mündung des heiligen Flusses, wie blanke Eisklippen über den Mangroven aufragen.

Mit einer Passagierliste aus bengalischen Politikern und ihren diplomatischen Gästen aus dem benachbarten, einstigen Rivalen Bharat schlingert der Senkrechtstarter der States of Bengal im kühlen Mikroklima, das von der Eisscholle aufsteigt. Shaheen Badoor Khan bemerkt, dass die Oberfläche von Gletscherspalten und Schluchten zerfurcht ist. Sturzbäche glitzern. Schmelzwasser hat tiefe Canyons in die Eiswände gegraben, spektakuläre Wasserfälle ergießen sich von den Flanken des Eisbergs.

»Hier ist eine ständige Verschiebung im Gange«, sagt der dynamische Bangla-Klimatologe auf der anderen Seite des Mittelgangs. »Während der Eisberg an Masse verliert, verlagert sich der Schwerpunkt. Wir müssen das Gleichgewicht aufrechterhalten. Eine plötzliche Verlagerung könnte sich auf die unmittelbare Umgebung katastrophal auswirken.«

»Sie können in Ihrem Delta keine weitere Flutwelle gebrauchen«, sagt Shaheen Badoor Khan.

»Falls er es überhaupt bis dahin schafft«, bemerkt der Minister für Wasser und Energie der Regierung von Bharat. »Bei dieser Schmelzrate ...«

»Herr Minister ...«, sagt Shaheen Badoor Khan, doch der offizielle Klimatologe von Bengalen nutzt sofort die Gelegenheit, mit seinen Kenntnissen zu brillieren.

»Alles wurde bis auf das letzte Gramm berechnet«, sagt er. »Wir liegen klar innerhalb der Parameter für die mikroklimatische Veränderung.« Gesprochen mit einem Aufblitzen kostspielig behandelter Zähne und präzise zusammengelegtem Daumen und Zeigefinger. Tadellos. Shaheen Badoor Khan verspürt eine tiefe Beschämung, wenn einer seiner Minister den Mund öffnet und seine Ahnungslosigkeit öffentlich zur Schau stellt, insbesondere vor den kultivierten Banglas. Er hat schon vor langer Zeit verstanden, dass für die Politik keine außergewöhnliche Begabung, Fertigkeit oder Intelligenz nötig ist. Dafür hat man seine Berater. Das Geschick eines Politikers besteht darin, gute Ratschläge anzunehmen und den Eindruck zu erwecken, von selbst darauf gekommen zu sein. Shaheen Badoor Khan kann es nicht ausstehen, wenn jemand vielleicht glaubt, er hätte seine Untergebenen nicht gründlich instruiert. Gehen Sie mit, Shah, hatte Premierministerin Sajida Rana ihn aufgefordert. Und hindern Sie Srinavas daran, sich zum Idioten zu machen.

Der bengalische Eisberg-Minister kommt durch den Gang herangetrampelt und zeigt sein Bärenlächeln. Shaheen Badoor Khan weiß aus seinen Quellen von den Territorialkriegen zwischen den verschiedenen bengalischen Verwaltungsbehörden, die sich darum streiten, wessen Amtsbezirk einen Zehn-Kilometer-Brocken vom Amery-Schelfeis bekommen soll. Spannungen zwischen den vereinten Hauptstädten sind etwas, das sich immer zum Vorteil Bharats ausnutzen lässt. Am Ende hat die Umwelt der Wissenschaft und Technik nachgegeben, mit ein wenig Unterstützung durch Entwicklung und Industrie, um die Verträge unter Dach und Fach zu bringen, und nun steht ihr Minister im Gang, die Arme auf die Rückenlehnen gestützt. Shaheen Badoor Khan kann seinen Atem riechen.

»Nicht wahr? Und wir haben die ganze Arbeit selber geleistet. Wir sind nicht zu den Amerikanern gerannt, um unsere Wasserversorgung in Ordnung bringen zu lassen, wie sie es in Awadh mit ihrem Damm gemacht haben. Aber das alles wissen Sie ja bereits.«

»Früher hat uns der Fluss zu einem geeinten Land gemacht«, stellt Shaheen Badoor Khan fest. »Jetzt zanken wir uns wie Kinder um Mutter Ganga. Awadh, Bharat, Bengalen. Der Kopf, die Hände, die Füße.«

»Da sind viele Vögel«, sagt Srinavas, der durch das Fenster späht. Der Eisberg zieht eine helle Wolke hinter sich her, wie Rauch aus einem Schiffsschornstein. Schwärme von Seevögeln stürzen sich zu Tausenden ins Wasser, um silbrige Sardinellen zu erbeuten.

»Das beweist nur, dass die rotierende Kaltwasserströmung funktioniert«, sagt der Klimatologe, während er versucht, hinter seinem Minister sichtbar zu bleiben. »Wir transportieren hier nicht nur einen Eisberg, sondern ein komplettes Ökosystem. Manche Vögel sind uns seit den Prinz-Edward-Inseln gefolgt.«

»Der Minister würde gern wissen, wann Sie damit rechnen, daraus einen Nutzen zu ziehen«, erkundigt sich Shaheen Badoor Khan.

Naipaul fängt an, mit dem Wagemut und dem Ausmaß der bengalischen Klimakontrolle zu prahlen, doch das Wettergenie schneidet ihm das Wort ab. Shaheen Badoor Khan blinzelt überrascht angesichts dieser unverzeihlichen Unterbrechung. Haben diese Banglas keine Ahnung von gutem Benehmen?

»Das Klima ist keine alte Kuh, die man dorthin treiben kann, wo man sie haben möchte«, sagt der Klimatologe, dessen Name Vinayachandran ist. »Es ist eine äußerst raffinierte Wissenschaft, und es geht um winzige Verschiebungen und Veränderungen, die sich im Laufe der Zeit zu gewaltigen Konsequenzen auswachsen. Stellen Sie sich einen Schneeball vor, der einen Berg hinunterrollt. Hier eine Temperatursenkung von einem halben Grad, dort die Verlagerung einer Meeresthermokline um ein paar Meter, anderswo eine Druckveränderung um ein Millibar ...«

»Zweifelsohne«, bestätigt Shaheen Badoor Khan, »aber der Minister fragt sich, wie lange es dauert, bis diese kleinen Auswirkungen an ... diesem Schneeball ...«

»Unsere Simulationen sagen eine Rückkehr zur klimatischen Norm innerhalb von sechs Monaten voraus«, erklärt Vinayachandran.

Shaheen Badoor Khan nickt. Er hat seinem Minister sämtliche Hinweise gegeben. Jetzt kann er seine eigenen Schlußfolgerungen ziehen.

»Also wird all dies«, sagt Bharats Minister für Wasser und Energie Srinavas mit einer Handbewegung in Richtung des fremden Eises draußen im Golf von Bengalen, »viel zu spät kommen. Ein weiterer ausgefallener Monsun. Wenn Sie es schmelzen und per Pipeline zu uns schicken würden, könnte es von Nutzen sein. Oder können Sie dafür sorgen, dass der Ganges rückwärtsfließt? Das würde uns vielleicht helfen.«

»Es wird den Monsun für die nächsten fünf Jahre stabilisieren, und zwar in ganz Indien«, beteuert Minister Naipaul.

»Herr Minister, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mein Volk hat jetzt Durst«, spricht V. R. Srinavas genau ins Auge der Nachrichtenkamera, die wie ein unverschämter Straßenbengel über die erste Sitzreihe nach hinten lugt. Shaheen Badoor Khan verschränkt die Hände in der zufriedenen Gewissheit, dass dieser Satz in den Schlagzeilen sämtlicher Abendzeitungen von Kerala bis Kaschmir auftauchen wird. Srinavas ist ein fast genauso großer Dummkopf wie Naipaul, aber er ist ein zuverlässiger Lieferant von kurzen, knappen Sätzen, die ein Problem auf den Punkt bringen.

Der neue, schicke, hochmoderne Senkrechtstarter dreht erneut ab, schwenkt die Triebwerke auf Horizontalflug und macht sich auf den Rückweg nach Bengalen.

Ebenso neu, schick und hochmodern ist der neue Flughafen von Dhaka, und das Gleiche gilt für die vor Kurzem installierte Flugverkehrssteuerung. Das ist der Grund, warum ein diplomatischer Flug von höchster Priorität eine halbe Stunde lang aufgehalten und dann zu einer Standbahn auf der anderen Seite des Geländes umgeleitet wird, weit entfernt vom Airbus der BharatAir. Ein Interface-Problem. Der Computer der Flughafenkontrolle ist eine Kaih ersten Grades mit dem Intellekt, den Instinkten, der Selbständigkeit und der Moral eines Kaninchens. Das sei erheblich mehr, wie jemand aus dem Pressekorps der Bharat Times bemerkte, als man von einem durchschnittlichen Mitarbeiter der Flugsicherung in Dhaka erwarten könne. Shaheen Badoor Khan unterdrückt ein Lächeln, aber niemand kann abstreiten, dass die Vereinten Staaten von Ost- und Westbengalen technisch versiert, kühn, zukunftsorientiert und hochentwickelt sind und einen guten Platz in der globalen Oberliga erreicht haben — all das, wonach Bharat in den Straßen und Höfen von Ranapur strebt und was der Dreck, der Niedergang und die Armut in Kashi wieder zunichtemacht.

Schließlich treffen die Limousinen ein. Shaheen Badoor Khan folgt den Politikern hinunter auf das Vorfeld. Hitze steigt vom Beton auf. Die Luftfeuchtigkeit vertreibt jede Erinnerung an Eis, Meer und Kälte. Shaheen Badoor Khan wünscht ihnen viel Glück mit ihrer Insel aus Eis und stellt sich vor, wie die eifrigen Bangla-Ingenieure in ihren arktischen Anoraks mit pelzgesäumten Kapuzen auf dem Amery-Brocken herumkraxeln.

Auf dem Vordersitz von Minister Srinavas Wagen klemmt sich Shaheen Badoor Khan den Hoek hinters Ohr. Rollbahnen, Flugzeuge, Flugsteige und Gepäcktransporter vermischen sich mit dem Interface seines Office-Systems. Die Kaih hat seine Mails vorsortiert, aber es sind immer noch über fünfzig Nachrichten, die die Aufmerksamkeit von Sajida Ranas Parlamentarischem Privatsekretär erfordern. Mit einem Fingerschnippen jat er den Bericht über das Kampfbereitschaftsproblem von Bharat, neint die Presseerklärung über weitere Wasserrationierungen, spätert die Anfrage von N. K. Jivanjee wegen einer Videokonferenz. Seine Hände bewegen sich wie die Mudras, die anmutige Kathak-Tänzer ausführen. Ein gekrümmter Finger lässt im Nichts ein Notepad entstehen. Halten Sie mich auf dem Laufenden über die Entwicklungen betr. Sarkhand Roundabout, schreibt er in virtuellem Hindi an die Wand eines Airbus von Air Bengal. Bei dieser Sache habe ich ein seltsames Gefühl.

Shaheen Badoor Khan ist in Kashi geboren; er lebt dort und vermutet, dass er auch dort sterben wird, aber die Leidenschaft und der Zorn, den die verwahrlosten Götter des Hinduismus aufbieten, sind ihm stets fremd geblieben. Er bewundert ihre Disziplin und Askese, aber die Götter scheinen ihm nur wenig Geborgenheit zu versprechen. Jeden Tag auf seinem Weg zur Bharat Sabha saust sein Dienstwagen an der Kreuzung der Lady Castlereagh Road an einem kleinen Unterschlupf aus Plastik vorbei, wo seit fünfzehn Jahren ein Sadhu den linken Arm erhoben hält. Shaheen Badoor Khan vermutet, dass der Mann diesen Zweig aus Knochen, Sehnen und verkümmerten Muskeln gar nicht mehr herunternehmen könnte, selbst wenn sein Gott es von ihm verlangen würde. Shaheen Badoor Khan ist kein ausgesprochen religiöser Mann, aber diese bunten, zeichentrickfilmartigen Statuen, die sich mit Armen und Symbolen und Fahrzeug und Attributen raufen, als wäre der Bildhauer gezwungen worden, jedes letzte theologische Detail einzubeziehen, beleidigen seinen Sinn für Ästhetik. Seine Schule des Islam ist kultiviert, äußerst zivilisiert, ekstatisch und mystisch. Sein Glaube ist nicht mit Leuchtfarben angemalt. Er wedelt nicht in der Öffentlichkeit mit dem Penis herum. Trotzdem steigen jeden Morgen Tausende unter den Balkonen seines Haveli die Stufen der Ghats hinunter, um sich im verdorrten Strom des Ganges ihre Sünden abzuwaschen. Witwen geben ihre letzten Rupien aus, damit ihre Ehemänner am heiligen Wasser verbrannt werden und ins Paradies eintreten. Jedes Jahr stürzen junge Männer unter den Jagannath von Puri und werden zerquetscht — auch wenn es nicht annähernd so viele sind, wie der rollenden Prozession der Rushhour von Puri zum Opfer fallen. Armeen von Jugendlichen stürmen Moscheen und legen sie mit bloßen Händen in Trümmer, weil sie Lord Rama entehren, und immer noch sitzt dieser Mann am Straßenrand und hält den Arm wie einen Stab erhoben. Und in einem Kreisverkehr in Sarnath steht eine verschmutzte Betonstatue von Hanuman, die keine zehn Jahre alt ist und von der es heißt, dass sie versetzt werden muss, um Platz für eine neue Metrostation zu machen. Und schon tauchen Horden von jungen Männern in weißen Hemden und Dhotis auf, die in die Luft boxen und Trommeln und Gongs schlagen. Es wird Tote geben, denkt Shaheen Badoor Khan. Kleine Dinge, die lawinenartig anwachsen. N. K. Jivanjee und seine radikale hinduistische Shivaji-Partei werden den Prozessionswagen dieses Jagannath bis zum Tod vorantreiben.

Im VIP-Empfangszentrum kommt es zu weiteren Verwirrungen. Offenbar wurden zwei äußerst wichtige Gruppen gleichzeitig für die Businessclass von Flug BH137 gebucht. Das Erste, was Shaheen Badoor Khan davon bemerkt, ist ein Gerangel aus Reportern und Mikrofonen an Galgen und im freien Flug vor der VIP-Lounge. Minister Srinavas wirft sich in Pose, aber die Linsen schauen in eine andere Richtung. Shaheen Badoor Khan kämpft sich höflich durch die Menge, den Ausweis hoch erhoben, bis er den Flugdienstberater erreicht hat.

»Was für ein Problem gibt es hier?«

»Ah, Mr. Khan, hier scheint es zu einer Verwechslung gekommen zu sein.«

»Es gibt keine Verwechslung. Minister Srinavas und seine Begleiter kehren mit diesem Flug nach Varanasi zurück. Was ist der Grund für das Durcheinander?«

»Eine prominente Persönlichkeit ...«

»Prominent!« Shaheen Badoor Khan spricht es mit einer Verachtung aus, die eine komplette Ernte verdorren lassen könnte.

»Ein russisches Model«, sagt der Flugdienstberater leicht nervös. »Ein ganz großer Name. Es geht um irgendeine Show in Varanasi. Ich bitte um Verzeihung für die Verwechslung, Mr. Khan.«

Shaheen Badoor Khan winkt bereits seine Leute durch das Gate.

»Wer?«, fragt Minister Srinavas, als er sich am Gedränge vorbeischiebt.

»Irgendein russisches Model«, antwortet Shaheen Badoor Khan mit seiner sanften, präzisen Stimme.

»Ah!«, sagt Minister Srinavas und reißt die Augen auf. »Yuli.«

»Wie bitte?«

»Yuli«, wiederholt Srinavas und reckt den Hals. »Das Neut.«

Das Wort klingt wie der Schlag einer Tempelglocke. Die Menge teilt sich. Shaheen Badoor Khan hat nun einen klaren und ungehinderten Blick in die VIP-Lounge. Und er ist wie gebannt. Er sieht eine große Gestalt in einem langen, schön geschnittenen Mantel aus weißem Brokat. Der Stoff ist mit Mustern aus tanzenden Kranichen bestickt, die ihre Schnäbel ineinander verschlingen. Die Gestalt hat ihm den Rücken zugekehrt, so dass Shaheen Badoor Khan kein Gesicht erkennen kann. Aber er sieht die geschwungenen Linien aus blasser Haut und die langen Hände, die sich zierlich bewegen, einen elegant geschwungenen Nacken, die glatte und perfekte Rundung der haarlosen Kopfhaut.

Die Gestalt dreht sich zu ihm um. Shaheen Badoor Khan sieht ein Kinn, einen Wangenknochen. Ein leises Keuchen entfährt ihm, unhörbar im Tumult des Pressekorps. Das Gesicht. Er darf nicht auf das Gesicht schauen, weil er sonst verloren, verdammt, versteinert wäre. Die Menge verschiebt sich erneut, und menschliche Körper versperren ihm den Blick. Shaheen Badoor Khan steht wie gelähmt da.

»Khan.« Eine Stimme. Sein Minister. »Khan, alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Äh, ja, Herr Minister. Mir ist nur ein wenig schwindlig. Die Luftfeuchtigkeit.«

»Ja, diese verdammten Banglas sollten dringend ihre Klimaanlagen auf Vordermann bringen.«

Der Bann ist gebrochen, doch als Shaheen Badoor Khan seinen Minister den Flugsteig entlangführt, ist ihm klar, dass er nie wieder Frieden finden wird.

Der Ticketkontrolleur hält für alle Geschenke von Minister Naipaul bereit, Vakuumfläschchen mit dem Wappen der Vereinten Staaten von Ost- und Westbengalen. Als er angeschnallt ist und der Vorhang zur Economy-Klasse geschlossen wird und der BharatAir-Airbus über den unebenen Beton holpert, schraubt Shaheen Badoor Khan den Deckel seines Fläschchens auf. Es enthält Eis, Gletscherwürfel für Sajida Ranas Gin Sling. Shaheen Badoor Khan schließt das Fläschchen wieder. Der Airbus beschleunigt, und als die Räder sich von Bengalen lösen, drückt Shaheen Badoor Khan das Fläschchen an sich, als könnte die Kälte die Wunde in seinem Bauch heilen. Doch das kann sie nicht. Sie wird es nie können. Shaheen Badoor Khan blickt aus dem Fenster auf das langsam ergrauende Land, als der Airbus auf Westkurs Richtung Bharat geht. Er sieht die weiße Kuppel eines Schädels, den Bogen eines Halses, blasse, liebreizende Hände, elegant wie Minarette, Wangenknochen, die sich ihm zuwenden, wie ein architektonisches Kunstwerk. Tanzende Kraniche.

Bislang hatte er sich in Sicherheit gewiegt. Sich für rein gehalten. Shaheen Badoor Khan drückt das Gletschereis an sich, die Augen zum stummen Gebet geschlossen, das Herz vor Ekstase strahlend.

4 Najia

Lal Darfan, die Nummer eins der Soapstars, gibt Interviews in der Sänfte eines elefantenförmigen Luftschiffs, das vor den südlichen Hängen des nepalesischen Himalaya kreuzt. In einem feinen Hemd und weiter Hose ruht er an ein Kissen gelehnt auf einem niedrigen Diwan. Hinter ihm ist der Himmel mit Bannern aus hohen Wolken gestreift. Die Berggipfel bilden eine Barriere aus gezacktem Weiß, eine Mauer am Rand des Sichtfeldes.

Der mit Quasten besetzte Saum der Sänfte wogt im Wind. Lal Darfan, der Liebesgott von Stadt und Land, der größten und strahlendsten Soap von Indiapendent Production, befindet sich in Gesellschaft eines Pfaus, der am Kopfende des Diwans steht. Er füttert ihn mit den Krümeln eines Reiskekses. Lal Darfan ist auf Low-Fat-Diät. Das ist im Moment das wichtigste Klatschthema in den Chati-Magazinen.

Die Diät ist eine geniale Idee für einen virtuellen Soapi-Star, findet Najia Askarzadah. Sie holt tief Luft und eröffnet das Interview.

»Für uns im Westen ist es nur schwer zu verstehen, dass Stadt und Land so unglaublich populär ist. Hier jedoch besteht ein fast genauso großes Interesse an Ihnen als Schauspieler wie an Ihrer Rolle als Ved Prekash.«

Lal Darfan lächelt. Seine Zähne sind unfassbar und herrlich weiß, wie es in den Tivi-Chat-Kanälen heißt.

»Sogar noch mehr«, sagt er. »Aber ich glaube, Ihre eigentliche Frage lautet, warum eine Kaih-Figur einen Kaih-Schauspieler benötigt. Die Illusion in der Illusion. Habe ich recht?«

Najia Askarzadah ist zweiundzwanzig, arbeitet frei und ungebunden, ist seit vier Wochen in Bharat und hat soeben das Interview ergattert, von dem sie hofft, dass es ihr eine große Karriere sichert.

»Die Aufhebung der Unglaubwürdigkeit«, sagt sie und horcht auf das Summen der Triebwerke des Luftschiffs, eines in jedem Elefantenfuß.

»Das ist ganz einfach. Die Rolle ist niemals genug. Das Publikum braucht die Rolle hinter der Rolle, ganz gleich, ob ich es bin« — Lal Darfan berührt selbstironisch seine rundliche Taille — »oder ein Hollywood-Schauspieler aus Fleisch und Blut oder ein Popidol. Ich möchte Ihnen mit einer Gegenfrage antworten. Was wissen Sie zum Beispiel über irgendeinen westlichen Popstar wie Blóchant Matthews? Was Sie im Fernsehen verfolgen und was Sie in den Soap-Magazinen und den Chati-Foren lesen können. Und was wissen Sie über Lal Darfan? Genau das Gleiche. Diese Schauspieler sind für Sie nicht realer als ich und deshalb auch nicht weniger real.«

»Aber man kann einem realen Prominenten jederzeit begegnen. Die Leute sehen ihn zufällig am Strand, auf dem Flughafen oder in einem Geschäft ...«

»Kann man das? Woher wissen Sie, dass die Leute solche Begegnungen hatten?«

»Weil ich davon gehört habe. Ach so ...«

»Sie verstehen, was ich meine? Alles wird Ihnen durch die Medien vermittelt. Und mit Verlaub, ich bin ein realer Prominenter, weil meine Prominenz in der Tat äußerst real ist. Ich finde, heutzutage ist es allein die Prominenz, die irgendetwas real macht, nicht wahr?«

Eine halbe Million Arbeitsstunden wurden auf Lal Darfans Stimme verwendet. Diese Stimme soll verführen, und sie umgarnt Najia Askarzadah in einem fort. Die Stimme sagt: »Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen? Sie ist sehr einfach. Was ist Ihre früheste Erinnerung?«

Sie ist nie sehr fern, jene Nacht des Feuers, der Hektik und der Furcht. Sie durchzieht ihr Leben wie eine geologische Iridiumschicht. Vater holt sie aus dem Bett, über den Boden ist Papier verstreut, das Haus ist voller Lärm, und Lichter zucken im Garten. Daran erinnert sie sich am deutlichsten, an die Lichtkegel der Taschenlampen, die über die Rosenbüsche wedeln, auf der Suche nach ihr. Die Flucht über das Grundstück. Ihr Vater, der leise flucht, während er immer wieder versucht, den Motor des Wagens anzulassen. Die Lichter, die immer näher kommen. Ihr Vater, unablässig fluchend, doch stets höflich, selbst als die Polizei kommt, um ihn zu verhaften.

»Ich liege auf der Rückbank eines Autos«, sagt Najia. »Ich drücke mich ins Polster, und es ist Nacht, und wir rasen durch Kabul. Mein Vater sitzt am Lenkrad, neben ihm meine Mutter, aber ich kann sie über die Rückenlehnen nicht sehen. Ich höre sie nur sprechen, es klingt sehr weit entfernt, und sie haben das Radio eingeschaltet. Sie horchen auf etwas, aber ich kann nichts verstehen.« Die Nachricht über die Razzia im Frauenhaus und das Ausstellen ihrer Haftbefehle, wie sie jetzt weiß. Nach dieser Bekanntmachung war ihnen klar, dass ihnen nur noch Minuten blieben, bis die Polizei den Flughafen abgeriegelt hatte. »Ich sehe die Straßenlampen, die an uns vorbeiziehen. Sehr regelmäßig und exakt. Das Licht wird heller, wischt über mich hinweg, wandert an den Rückenlehnen hoch und fliegt dann zum Fenster hinaus.«

»Das sind sehr starke Bilder«, sagt Lal Darfan. »Wie alt waren Sie damals? Drei, vier?«

»Nicht ganz vier.«

»Auch ich habe eine früheste Erinnerung. Deshalb weiß ich, dass ich nicht Ved Prekash bin. Ved Prekash folgt einem Drehbuch, aber ich erinnere mich an einen Schal mit Paisleymuster, der im Wind flattert. Der Himmel war blau und klar, und das Ende des Schals flattert von der Seite heran, wie eine Filmaufnahme, bei der die Handlung außerhalb des Bildes stattfindet. Ich sehe sehr deutlich, wie der Schal flattert. Man hat mir gesagt, das wäre auf dem Dach unseres Hauses in Patna gewesen. Mama hatte mich nach oben gebracht, um den Abgasen auf Bodenhöhe zu entgehen. Ich lag auf einer Decke, über mir ein Sonnenschirm. Der Schal war gewaschen worden und hing auf der Leine. Komisch, er war aus Seide. Daran erinnere ich mich ganz deutlich. Es müssen mindestens zwei gewesen sein. Da! Zwei Erinnerungen. Na gut, werden Sie sagen, Ihre sind fabriziert, aber meine beruhen auf Erfahrungen. Aber woher wissen Sie das? Es könnte etwas sein, das man Ihnen erzählt hat und woraus Sie eine Erinnerung gemacht haben. Es könnte eine falsche Erinnerung sein, sie könnte künstlich erzeugt und Ihnen eingepflanzt worden sein. Viele Hunderttausend Amerikaner glauben, sie wären von grauen Aliens entführt worden, die ihnen irgendwelche Maschinen ins Rektum gesteckt haben. Pure Phantasie und zweifellos von Anfang bis Ende falsche Erinnerungen, aber macht sie das zu falschen Menschen? Woraus bestehen unsere Erinnerungen überhaupt? Aus Musterveränderungen in Proteinmolekülen. Ich glaube, wir sind eigentlich gar nicht so unterschiedlich. Dieses Luftschiff, dieses alberne Elefantending, das ich mir habe bauen lassen, die Vorstellung, wir würden über Nepal dahinschweben — für Sie sind das Muster elektrischer Ladungen in Proteinmolekülen. Aber das gilt für alles. Sie bezeichnen es als Illusion, ich würde von den fundamentalen Bausteinen meines Universums sprechen. Ich stelle mir vor, dass ich alles anders sehe als Sie, aber woher will ich das wissen? Woher weiß ich, dass etwas Grünes für Sie genauso aussieht wie für mich? Wir alle sind in unsere kleinen Ich-Schachteln eingesperrt, ob sie nun aus Knochen oder Plastik bestehen, Najia, und keiner von uns kommt jemals heraus. Kann irgendjemand von uns dem trauen, woran wir uns zu erinnern glauben?«

Ich tue es, Computer, denkt Najia Askarzadah. Ich muss meinen Erinnerungen trauen, weil alles, was ich bin, darauf beruht. Der Grund, warum ich hier bin, warum ich in dieser aberwitzigen virtuellen Realität mit einem Tivi-Soapstar spreche, der sich einbildet, bedeutetend zu sein, der Grund dafür sind die zuckenden Lichter.

»Aber in diesem Fall würden Sie, als Lal Darfan, doch sehr hart am Wind segeln. Ich meine die Hamilton-Gesetze über Künstliche Intelligenzen ...«

»Die Krishna Cops? McAuleys Hijras!«, sagt Lal Darfan voller Gehässigkeit.

»Ich will damit sagen, wenn Sie behaupten, ein Ich-Bewusstsein zu haben, was Sie offenbar tun, unterschreiben Sie damit Ihr eigenes Todesurteil.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich ein Bewusstsein oder was auch immer habe. Ich bin eine Kaih der Stufe zwei Komma acht, und damit bin ich rundum zufrieden. Ich behaupte nur, real zu sein, genauso real wie Sie.«

»Also könnten Sie keinen Turing-Test bestehen?«

»Ich sollte keinen Turing-Test bestehen. Würde keinen Turing-Test bestehen. Turing-Test, was wäre damit überhaupt bewiesen? Hören Sie, ich unterziehe Sie einem Turing-Test. Klassische Versuchsanordnung, zwei geschlossene Räume und ein Badmash mit einem Schrift-Bildschirm alten Stils. Wir setzen Sie in den einen Raum und Satnam von der PR in den anderen. Ich vermute, er macht die Tour mit Ihnen, weil sie ihm immer die Mädchen geben. Er hält ziemlich viel auf sich. Der Badmash tippt am Bildschirm seine Fragen ein, Sie beide antworten auf die gleiche Weise. Der übliche Ablauf. Satnam hat die Aufgabe, den Badmash zu überzeugen, er sei eine Frau, und er darf lügen, betrügen, alles sagen, was er will, um es zu beweisen. Ich glaube, Sie verstehen, dass es für ihn nicht besonders schwierig wäre. Ließe sich daraus also schließen, dass Satnam eine Frau ist? Ich glaube nicht, und Satnam würde es auf gar keinen Fall behaupten. Was wäre also mit einem Computer, der bei diesem Test beweisen würde, ich-bewusst zu sein? Ist die Simulation einer Sache der Sache selbst gleichzusetzen, oder ist es gerade das Besondere an der Intelligenz, dass sie das Einzige ist, das sich nicht simulieren lässt? Was wird durch solche Tests überhaupt bewiesen? Nur das, worum es bei dem Turing-Test geht. Und wie gefährlich es ist, sich auf eingeschränkte Informationen zu verlassen. Eine Kaih, die intelligent genug wäre, um einen Turing-Test zu bestehen, wäre auch intelligent genug, um zu wissen, wie sie ihn nicht bestehen würde.«

Najia Askarzadah hebt die Hände in gespielter Verzweiflung.

»Ich verrate Ihnen, was ich ganz besonders an Ihnen mag«, sagt Lal Darfan. »Wenigstens haben Sie mir nicht stundenlang blöde Fragen über Ved Prekash gestellt, als wäre er ein realer Star. Apropos, ich muss gleich zum Make-up ...«

»Oh, Verzeihung, danke sehr«, sagt Najia Askarzadah und versucht die überschwängliche, mädchenhafte Journalistin zu spielen, während sie in Wirklichkeit froh ist, aus dem Geistraum dieser pedantischen Kreatur verschwinden zu können. Sie hatte sich etwas Leichtes, Seichtes und Seifiges vorgestellt, doch dann wurde daraus eine existenzielle Phänomenologie mit postmodernem Touch. Sie fragt sich, was ihr Redakteur wohl dazu sagen wird, ganz zu schweigen von den Passagieren des Chicago-Cincinnati-Nachtflugs der TransAm, wenn sie ihr Bordmagazin aus dem Netz an der Rückenlehne ziehen. Lal Darfan lächelt lediglich glückselig sein Publikum an, als sich der Audienzsaal um ihn herum auflöst, bis nur noch ein pures Lewis-Carroll-Grinsen von ihm übrig ist, das im Himalayahimmel verblasst. Das Gebirge faltet sich in Najias Hinterkopf zusammen, und sie befindet sich wieder in der Renderfarm auf dem wackligen Drehstuhl, vor dem sich die gestapelten Zylinder mit den Proteinprozessoren perspektivisch zurechtrücken: Hirne in Sci-Fi-Einmachgläsern.

»Er ist ziemlich überzeugend, nicht wahr?« Satnam-der-viel-auf-sich-hält hat ein recht einnehmendes Aftershave aufgelegt. Najia nimmt den Leichthoek ab, immer noch etwas benommen vom totalen Eintauchen in das Interview-Erlebnis.

»Ich glaube, er denkt, dass er denkt.«

»Genau, wozu wir ihn programmiert haben.« Satnam spielt den Medienprofi und strahlt ein entspanntes Selbstbewusstsein aus, aber Najia bemerkt einen kleinen Shiva-Dreizack an der Platinkette um seinen Hals. »In Wirklichkeit hat Lal Darfan ein genauso eng umrissenes Drehbuch wie Ved Prekash.«

»Das ist mein Thema — Schein und Wirklichkeit. Wenn die Leute an virtuelle Schauspieler glauben, was werden sie dann noch alles mitmachen?«

»Nun verderben Sie uns nicht das ganze Spiel!« Satnam lächelt, während er sie in den nächsten Bereich führt. Er ist fast süß, wenn er lächelt, denkt Najia. »Das hier ist die Metasoap-Abteilung, wo Lal Darfan das Drehbuch bekommt, von dem er glaubt, dass er sich nicht daran hält. Es hat ein Stadium erreicht, in dem die Metasoap genauso groß wie die eigentliche Soap geworden ist.«

Die Abteilung ist ein langer Raum voller Workstations. Die Glaswände sind dunkel polarisiert, die Soap-Farmer arbeiten im Schattenlicht schwacher Strahler und leuchtender Bildschirme. Die Hände der Designer zeichnen im Neuroraum. Najia erschaudert fast, als sie sich vorstellt, ihr Arbeitsleben an einem Ort wie diesem zu verbringen, völlig von der Sonne abgeschottet. Dann erregen Streulicht auf hohen Wangenknochen, ein haarloser Kopf, eine zierliche Hand ihre Aufmerksamkeit, und nun ist sie es, die Satnam ins Wort fällt.

»Wer ist das?«

Satnam reckt den Hals. »Ach, das ist Thal. Er ist neu hier. Er ist für die visuellen Hintergründe verantwortlich.«

»Ich glaube, das richtige Pronomen lautet ›ys‹«, sagt Najia und versucht, durch das Hand-Ballett einen besseren Blick auf das Neut zu erhaschen. Sie kann gar nicht sagen, warum es sie überrascht, einen Vertreter des dritten Geschlechts im Produktionsbüro vorzufinden — in Schweden drängten viele Neuts in die kreative Industrie, und Indiens bedeutendste Soap übt zweifellos eine ähnliche Anziehungskraft aus. Wie ihr nun bewusst wird, ist sie davon ausgegangen, dass die lange Tradition der Trans- und Non-Gender in Indien stets im Verborgenen gepflegt wurde.

»Ys, er, wie auch immer. Ys ist heute ganz außer sich, wegen einer Einladung zu einer großen Promi-Party.«

»Yuli. Das russische Model. Auch ich habe mich bemüht eingeladen zu werden, um ihn zu interviewen. Ys.«

»Also haben Sie sich stattdessen mit Fat Lal begnügt.«

»Nein, ich interessiere mich wirklich für die Psychologie von Kaih-Schauspielern.« Najia blickt zum Neut hinüber. Ys schaut auf. Für einen Moment treffen sich ihre Blicke. Kein Wiedererkennen, keine Kommunikation. Ys widmet sich wieder sys Arbeit. Sys Hände formen Ziffernskulpturen.

»Was Fat Lal nicht weiß, ist, dass die Figuren und die Handlung Grundpakete sind«, fährt Satnam fort und führt Najia zwischen den leuchtenden Workstations hindurch. »Wir verkaufen die Franchise-Lizenzen, und verschiedene nationale Sender setzen sie mit ihren eigenen Kaih-Schauspielern um. Ved Prekash wird in Mumbai und Kerala von anderen Schauspielern dargestellt, und da unten sind sie genauso mega wie Fat Lal hier bei uns.«

»Alles ist nur eine Version«, sagt Najia und versucht den anmutigen Tanz der langen Hände des Neut zu entziffern.

Draußen im Korridor versucht Satnam zu plaudern. »Und Sie sind wirklich aus Kabul?«

»Ich habe das Land mit vier Jahren verlassen.«

»Das ist etwas, worüber ich nicht viel weiß. Ich bin mir sicher, dass es ziemlich ...«

Najia bleibt plötzlich im Korridor stehen und dreht sich zu Satnam um. Sie ist einen halben Kopf kleiner als er, doch er tritt einen Schritt zurück. Sie greift nach seiner Hand und kritzelt eine UCC auf seine Fingerknöchel.

»Da, meine Nummer. Rufen Sie an, vielleicht geh ich ran. Vielleicht schlage ich vor, dass wir uns irgendwo treffen, aber wenn wir das tun, entscheide ich, wo es sein wird. Okay? Und nun vielen Dank für die Tour, und ich glaube, ich finde allein nach draußen.«

Er ist dort und dann, wo und wann er sich mit ihr verabredet hat, als sie mit dem Phatphat den Bordstein ansteuert. Er hat nichts angezogen, an dem sein Herz hängt, wie Najia verlangt hat, aber er trägt immer noch den Trishul um den Hals. In letzter Zeit hat sie diesen Schmuck sehr häufig auf den Straßen an Männern gesehen. Satnam nimmt auf dem Sitz neben ihr Platz, und die kleine Autorikscha schaukelt auf den selbstgebastelten Stoßdämpfern.

»Ich bestimme, wohin es geht, klar?«, sagt sie. Der Fahrer fädelt sich wieder in den Verkehrsstrom ein.

»Fahrt ins Blaue, alles klar, kein Problem«, sagt er. »Und, haben Sie Ihren Artikel geschrieben?«

»Geschrieben, fertig, abgeschickt«, sagt Najia. Sie hat ihn an diesem Nachmittag runtergerissen, auf der Terrasse des Imperial International, der Backpacker-Herberge im Quartier, wo sie sich ein Zimmer genommen hat. Sie wird ausziehen, wenn das Geld vom Magazin gekommen ist. Die Australier gehen ihr auf den Geist, weil sie sich über alles beklagen.

Die Sache ist die, dass Najia Askarzadah einen festen Freund hat. Er heißt Bernard. Er ist — wie sie auch — einer der »Imperialisten« und im Sabbatjahr, nur dass aus den zwölf Monaten Auszeit irgendwann zwanzig, vierzig, sechzig wurden. Er ist Franzose, arbeitsscheu und übermäßig von seiner Genialität überzeugt, und er hat grässliche Manieren. Najia vermutet, dass er nur in der Herberge wohnt, um an junge Mädchen wie sie heranzukommen. Allerdings praktiziert er Tantra-Sex und kann seinen Schwanz eine Stunde lang in einer Frau steif halten, während er singt. Bislang ging es beim Tantra mit Bernard darum, dass sie auf seinem Schoß hockt, zwanzig, dreißig, vierzig Minuten lang, und dabei an einem Lederriemen zieht, der um seinen Schwanz gebunden ist, damit er hart hart hart bleibt, bis er die Augen verdreht und sagt, dass sein Kundalini aufsteigt, was bedeutet, dass die Drogen endlich Wirkung zeigen. Das entspricht nicht Najias Vorstellung von Tantra. Er entspricht nicht Najias Vorstellung von einem Liebhaber. Satnam genauso wenig, und zwar größtenteils aus denselben Gründen. Aber es ist eine Idee, ein Spiel, ein Warum nicht? Najia Askarzadah hat sich jenen Teil ihres zweiundzwanzigjährigen Lebens, den sie selbstverantwortlich führen konnte, vom Warum-nicht?-Prinzip leiten lassen. Ein Warum nicht? hat sie nach Bharat gebracht, gegen den Rat ihrer Lehrer, Freunde und Eltern.

New Varanasi geht in einer diskontinuierlichen Aneinanderreihung in Alt-Kashi über. Straßen beginnen im einen Jahrtausend und enden in einem anderen. Schwindelerregende Firmentürme ragen über einem Chaos aus Gassen und Holzhäusern auf, die in vier Jahrhunderten unverändert geblieben sind. Metroviadukte und Hochstraßen zwängen sich an Sandstein-Lingas zerfallender Tempel vorbei. Der widerliche Gestank verrottender Blütenblätter durchdringt sogar die permanenten Ausdünstungen der Alkoholmotoren, und alles vermischt sich zu einem urbanen Parfüm, mit dem sich die Stadt ihre kloakalen Körperöffnungen betupft. Bharat Rail beschäftigt Leute, die mit Reisigbesen die Blütenblätter von den Gleisen fegen. Kashi bringt sie milliardenfach hervor, und die stählernen Räder kommen damit nicht zurecht. Der Phatphat biegt in eine dunkle Gasse mit Textilgeschäften. Bleiche Plastikpuppen, arm- und beinlos, aber nichtsdestotrotz lächelnd, baumeln an hohen Gestellen.

»Darf ich fragen, wohin Sie mich bringen?«, sagt Satnam.

»Sie werden es früh genug erfahren.« In Wirklichkeit ist Najia Askarzadah noch nie da gewesen, aber seit sie gehört hat, dass sich die Australier damit brüsteten, wie mutig sie waren, sich dorthin zu wagen, ohne dass es sie angewidert hätte, ganz und gar nicht, hat sie nach einem Vorwand gesucht, diesen hintersten Hinterhofclub aufzusuchen. Sie hat keine Ahnung, wo sie sind, aber sie vermutet, dass der Fahrer auf dem richtigen Weg ist, als die hängenden Schaufensterpuppen offenen Ladenfronten mit Huren weichen. Die meisten haben die westliche Standarduniform aus Lycra und überbetonter Fußbekleidung übernommen, doch ein paar sind der Tradition treu geblieben und präsentieren sich in Stahlkäfigen.

»Hier«, sagt der Phatphat-Fahrer. Die kleine Plastikblase in Wespenfarben schaukelt auf den Stoßdämpfern.

Kampf! Kampf!, verkünden abwechselnd zwei Neonschriftzüge über der winzigen Tür zwischen dem Geschäft für Hindu-Ikonen und den Huren, die am Chai-Stand Limca trinken. Ein Kassierer sitzt in einer Blechkammer neben der Tür. Er sieht aus wie dreizehn oder vierzehn, und er hat unter seiner Nike-Mütze bereits alles gesehen. Hinter ihm führen Treppenstufen hinauf in grelles Neonlicht.

»Eintausend Rupien«, sagt er, die Hand ausgestreckt. »Oder fünf Dollar.«

Najia bezahlt inländisch.

»Das ist nicht unbedingt das, was ich mir für ein erstes Date vorgestellt hatte«, sagt Satnam.

»Date?«, sagt Najia, während sie ihn die Treppe hinaufführt, die aufsteigt, abbiegt, absteigt, wieder aufsteigt und schließlich die Galerie über der Arena erreicht.

Der große Raum war früher ein Lagerhaus. Kränklich grüne Farbe, Industrielampen mit freiliegenden Kabeln und Dachfenster mit Jalousien erzählen von der Vergangenheit des Gebäudes. Jetzt ist es eine Kampfarena. Um ein fünf Meter durchmessendes Sechseck aus Sand sind Reihen von Holzbänken angeordnet, die wie in einem Vortragssaal steil ansteigen. Alles ist neu eingerichtet worden, aus Bauholz, das von der unterfinanzierten Varanasi Area Rapid Transit gestohlen wurde. Die Verkaufsstände sind mit den Platten von Verpackungskisten getäfelt. Als Najia die Hand vom Geländer nimmt, ist sie klebrig vom Harz.

Das Lagerhaus wogt, von den Wettständen und Kämpferbuden unten am Ring bis zu den hintersten Reihen der Galerie, wo Männer in karierten Arbeitshemden und Dhotis auf den Bänken stehen, um einen besseren Blick zu haben. Das Publikum ist fast ausschließlich männlich. Die wenigen Frauen sind angezogen, um zu gefallen.

»Ich weiß nicht recht«, sagt Satnam, aber Najia genießt den Geruch nach dicht gedrängten Körpern, Schweiß und ursprünglichen Flüssigkeiten. Sie schiebt sich nach vorn und blickt hinunter auf den Kampfplatz. Geld wechselt den Besitzer — weiche, abgenutzte Banknoten wischen über die Wetttische. Fäuste wedeln mit Bündeln aus Rupien, Dollars und Euros. Die Satta-Männer notieren jede Paisa. Alle Augen starren aufs Geld, mit Ausnahme eines Mannes, der ihr diagonal gegenüber auf dem Boden steht. Er schaut auf, als hätte er die Last ihres Blickes gespürt. Jung, halbseiden. Offensichtlich ein Gangster, denkt Najia. Ihre Blicke treffen sich.

Der Ausrufer, ein fünfjähriger Junge im Cowboyanzug, stapft über den Platz und feuert das Publikum an, während zwei alte Männer mit Harken aus dem blutigen Sand einen Zen-Garten machen. Er hat ein Bindi-Mikro an der Kehle. Seine bizarre zarte Stimme, die gleichzeitig jung und alt klingt, rasselt aus der Lautsprecheranlage, unterlegt mit einer Brühe aus einem Anokha-Tabla-Mix. Sein unschuldiger und gleichzeitig erfahrener Tonfall lässt darauf schließen, dass er Brahmane ist, überlegt Najia. Nein, der Brahmane sitzt in der Kabine in der ersten Reihe, ein scheinbar zehn Jahre alter Junge, der wie ein Mittzwanziger gekleidet ist, flankiert von Möchtegern-Tivi-Girlis. Der Ausrufer ist nur irgendein Straßenjunge. Najia stellt fest, dass sie schnell und flach atmet. Sie weiß nicht mehr, wo Satnam ist.

Der Lärm, der bereits überwältigend ist, steigert sich noch mehr, als die Teams auf den Sand treten, um ihre Kämpfer vorzuführen. Sie halten sie hoch und stolzieren im Ring umher, damit alle Leute sehen können, wofür sie ihr Geld ausgegeben haben.

Die Mikrosäbler sind entsetzliche Geschöpfe. Das ursprüngliche Patent gehörte einer kleinen Gentechnikfirma in Kalifornien. Man kreuze die gewöhnliche Felis domesticus mit rekonstruierter fossiler DNS von Smilodon fatalis. Das Ergebnis: eine Bonsai-Säbelzahnkatze, etwa von der Größe einer kräftigen Maine Coon mit einer dentalen Ausstattung aus dem Jungpleistozän und entsprechenden Manieren. Sie genossen eine kurzzeitige Popularität als Modehaustiere, bis ihre Besitzer feststellten, dass sie auf ihren und den benachbarten Grundstücken die Katzen, Hunde, guatemaltekischen Hausangestellten und Babys dezimierten. Die Gentechnikfirma meldete Konkurs an, bevor die Haftbefehle eintrafen, aber das Patent war in den Kampfclubs von Manila, Shanghai und Bangkok bereits unzählige Male verletzt worden.

Najia beobachtet ein sportliches Mädchen in bauchfreiem Muskeltop und Springerhose, das ihren Champion in der Arena zur Schau stellt. Die große Katze ist silbrig getigert und hat den Körperbau eines Kampfflugzeugs. Ein prachtvolles Monster mit Killergenen. Die Säbelzähne stecken in Lederscheiden. Najia bemerkt den Stolz und die Liebe des Mädchens, während die tosende Bewunderung der Menge sich auf sie richtet. Der Ausrufer zieht sich auf das Podium der Kommentatoren zurück. Die Buchmacher verteilen hastig Zettel. Die Wettkämpfer kehren zu ihren Boxen zurück.

Das Muskeltop-Mädchen spritzt ihrer Katze ein Aufputschmittel, während ihr männlicher Kollege dem Tier ein Fläschchen mit Poppers unter die Nase hält. Sie halten ihren Helden in den Armen. Sie halten den Atem an. Die Gegner putschen ihren Kämpfer auf, einen kleineren schlanken Mikrosäbler, der schwarz ist wie die tiefste Nacht. Es wird völlig still in der Arena. Der Ausrufer trötet mit seinem Lufthorn. Die Gegner nehmen ihren Kampfkatzen den Lederschutz ab und werfen sie auf den Platz.

Die Menge schreit mit einer Stimme. Najia Askarzadah heult und tobt mit den anderen. Für sie gibt es nur noch die zwei kämpfenden Katzen, die sich gegenseitig anspringen und aufschlitzen, während ihr das Blut rauschend in die Augen und Ohren strömt.

Es läuft erschreckend schnell und blutig ab. Nach wenigen Sekunden hängt ein Bein der hübschen Silberkatze nur noch an einem Faden aus Knorpel und Haut. Blut spritzt aus der offenen Wunde, aber das Tier schreit den Feind trotzig an, versucht auszuweichen, mit dem schlaffen Dreieck aus Fleisch zu rennen und mit den schrecklichen, tödlichen Zähnen zuzuschlagen. Schließlich liegt es am Boden und dreht sich krampfartig auf dem Rücken, pflügt eine Welle aus blutigem Sand auf. Die Sieger haben ihrem Champion bereits eine Halskette angelegt und schleifen das wütende, kreischende Ding zum Gehege. Die silbrige Katze heult und klagt, bis jemand von der Schiedsrichterbank hinüberläuft und ihr einen Porenbetonstein auf den Kopf fallen lässt.

Muskeltop-Mädchen steht reglos da und beobachtet verdrossen, wie die zermatschte, zuckende Masse weggeschaufelt wird. Sie beißt sich auf die Unterlippe. In diesem Moment liebt Najia sie, und sie liebt den Jungen, mit dem sie Blickkontakt hatte, sie liebt jeden und alles in dieser Holzarena. Ihr Herz bebt, ihr Atem brennt, ihre Fäuste sind geballt und zittern, ihre Pupillen sind erweitert, und ihr Hirn strahlt. Sie ist zu achthundert Prozent lebendig und heilig. Wieder sucht sie den Blick des offensichtlichen Gangsters. Er nickt, aber sie erkennt, dass er einen schweren Verlust erlitten hat.

Die Sieger treten in den Ring, um die Bewunderung der Menge entgegenzunehmen. Der Ausrufer schreit in das Soundsystem, und auf den Bänken der Buchmacher schieben Hände Geld Geld Geld hin und her. Das ist es, sagt sie sich, weswegen du nach Bharat gekommen bist, Najia Askarzadah. Um Leben und Tod, Illusion und Realität auf genau diese Weise zu erleben. Um etwas zu haben, das dir das verdammte, vernünftige, tolerante Schweden wegbrennt. Um etwas Wahnsinniges und Unverfälschtes zu schmecken. Ihre Brustwarzen sind hart. Sie spürt, dass sie feucht ist. Es ist dieser Krieg, dieser Krieg ums Wasser, dieser Krieg, von dem sie leugnet, dass sie seinetwegen hier ist, dieser Krieg, von dem jeder befürchtet, dass er kommen wird. Sie fürchtet ihn nicht. Sie will diesen Krieg. Sie will ihn sehr.

5 Lisa

Vierhundertfünfzig Kilometer über dem Westen von Ecuador rennt Lisa Durnau durch eine Herde Bobbets. Sie stieben vor ihr auseinander, richten sich auf den kräftigen Beinen auf und schlagen die Hufe in den Boden, die Signalkämme erhoben. Das Blätterdach des Waldes wirft ihre trillernden Rufe zurück. Die grasenden Jungtiere schauen hoch, bäumen sich auf, kreischen und stürmen dann zu den Beuteln ihrer Eltern. Die hüfthohen Sauro-Marsupialen entfernen sich in zwei Fluchtschwärmen von Lisa, während die Jungen verzweifelt versuchen, kopfüber in die Bauchtaschen zu kriechen. Sie sind eine der erfolgreichsten Spezies von Biom 161. In den Wäldern im Simulationsjahr acht Millionen vor der Gegenwart pulsieren ihre schwarzen Herden. Alterre läuft mit hunderttausend Jahren pro Realjahr, so dass sie schon morgen ausgestorben sein könnten. Dieser hohe, feuchte Wolkenwald aus schirmförmigen Bäumen trocknet durch einen Klimawandel allmählich aus. Doch in diesem ökologischen Moment, in diesem Zeitausschnitt einer Welt, die in einer anderen Epoche, auf einer anderen Erde der Norden von Tansania sein wird, gehört der heutige Tag ihnen.

Die rennenden, hetzenden Bobbets schrecken eine Gruppe von Trantern auf, die sich auf die Hinterbeine erhoben haben, um die Blätter von einem Trudeau-Baum zu schlürfen. Die großen, langsamen Pflanzenfresser lassen sich auf die längeren Vorderbeine fallen und galoppieren unbeholfen davon. Ihre von gestreiftem Fell bedeckten Panzerplatten bewegen sich wie Maschinenteile. Tarnung von William Morris, denkt Lisa Durnau, Botanik von René Magritte. Die Trudeau-Bäume sind perfekte Halbkugeln aus Blättern, die gleichmäßig über die Ebene verteilt sind wie das Musterbeispiel einer statistischen Distribution. Einige Äste tragen Samenknospen, die in der Brise pendeln. Sie können ihre Samen über einen Hundert-Meter-Radius wie Flechette-Geschosse ausstreuen. Auf diese Weise kommt die mathematische Regelmäßigkeit zustande. Kein Trudeau wächst im Schatten eines anderen Baumes heran, aber das Blätterdach ist ein Füllhorn der unterschiedlichsten Spezies.

Schatten bewegen sich flackernd zwischen den Bäumen, als ein Schwarm parasitischer Beckhams von dem toten Tranter auffliegt, in den sie ihre Eier injiziert haben. Ein Ystavat stößt aus dem hohen Gleitflug nieder, jagt schwankend heran und fängt eine zu langsame Sauro-Fledermaus mit dem Hautnetz zwischen seinen Hinterbeinen. Eine Drehung, ein Hieb mit dem scharfen Schnabel, und der Jäger steigt wieder empor. Lisa Durnau rennt unverletzbar, unantastbar weiter. Kein Gott ist in seiner eigenen Welt sterblich, und während der vergangenen drei Jahre war sie die Regisseurin, die Bewahrerin und Schlichterin von Alterre, der Parallel-Erde, die ihre Evolution in beschleunigtem Zeitablauf auf elfeinhalb Millionen Computern der realen Welt vollzieht.

Beckhams. Tranters. Trudeaus. Lisa Durnau liebt die Ironie der Taxonomie von Alterre. Es ist das Prinzip der Astronomie, das auf die alternative Biologie übertragen wurde. Wenn ein Name sich irgendwo auf der Festplatte versteckt, benutzt man ihn einfach. Mcconkeys und Mastroiannis und Ogunwes und Hayakawas und Novaks. Hammadis und Cuestras und Björks.

Alles sehr lullig.

Sie hat jetzt ihren Rhythmus gefunden. Sie könnte ewig so weitermachen. Manche Leute hören Musik, wenn sie laufen. Andere chatten oder lesen ihre Mails oder die Nachrichten. Manche lassen sich von ihrer persönlichen Kaih über ihren Tag informieren. Lisa Durnau überprüft, was es Neues gibt unter den zehntausend Biomen auf den elfeinhalb Millionen Computern, die am größten evolutionären Experiment beteiligt sind. Ihre übliche Route führt einmal im Kreis um den Campus der University of Kansas herum, und ihr wundersames, geheimnisvolles Bestiarium überlagert den Verkehr von Lawrence. Es gibt immer wieder etwas Überraschendes und Entzückendes, irgendein neuer Name aus dem Telefonverzeichnis, der an einem phantastischen Geschöpf hängt, das sich aus dem Siliziumdschungel hervorgekämpft hat. Als sich durch einen reinen Evolutionssprung auf einem Biom-158-Hauptrechner in Guadalajara aus den Insekten die ersten Arthrotekten bildeten, erlebte sie eine befriedigende Erregung, wie wenn eine Handlung eine plötzliche Wendung nimmt, mit der man nicht im Geringsten gerechnet hatte. Niemand hätte die Lopeze vorhersagen können, aber sie waren die ganze Zeit latent in den Regeln verborgen gewesen. Dann entwickelten sich vor zwei Tagen die parasitogenen Beckhams aus einer Grundschule in Lancashire, und wieder war sie völlig verblüfft gewesen. Man konnte es nie vorausahnen.

Dann hatte man sie in den Weltraum geschossen. Auch das hatte sie nicht vorausgeahnt.

Vor zwei Tagen lief sie ihre Runde über den Campus, an den honigfarbenen Steingebäuden der Institute vorbei, und Alterre überlagerte den Kansas-Sommer. Am Studentenwohnheim kehrte sie um, damit sie sich noch duschen konnte, bevor sie ins Büro ging. Wo eine Frau im Anzug auf sie wartete, als Lisa hereinkam und sich mit zusammengedrillten Papiertaschentüchern das Wasser aus den Ohren drehte. Sie zeigte ihr Ausweise und Vollmachten für Aufgaben, von denen Lisa gar nicht gewusst hatte, dass ihr Land so etwas jemals nötig hätte. Drei Stunden später befand sich Lisa Durnau, die Leiterin des Alterre Simulated Evolution Project, an Bord eines staatlichen Überschallflugzeugs in fünfundsiebzigtausend Fuß Höhe über Arkansas.

Die Agentin hatte ihr gesagt, es gälte eine strikte Gewichtsbegrenzung für ihr Gepäck, aber Lisa hatte trotzdem ihre Laufsachen eingepackt. Das Zeug fühlte sich an wie ein guter Freund. In Kennedy lief sie damit auf den Straßen des Space Center, um abzuschalten, ihre Umgebung zu erkunden und eine Vorstellung davon zu bekommen, wo sie war und was ihre Regierung mit ihr machte. Während die Sonne hinter den Lagunen unterging, lief sie an den wie Wachposten aufgereihten Raketen, alten Boostern und Startgeräten vorbei. Glorreiche, gefährliche Maschinen, jetzt wie Spieße in die Erde gerammt, nachdem sie nutzlos geworden waren, die Schatten so lang wie Kontinente.

Achtundvierzig Stunden später läuft Lisa Durnau Orbits im Zentrifugenrad der ISS, das über dem Süden von Columbia rotiert. In ihrem Alterre-Blickfeld erkennt sie, wie sich in der Ferne eine Krijcek-Burg über das Dach der Trudeau-Bäume erhebt. Die Krijceks sind evolutionäre Emporkömmlinge aus dem Biom 163 an der Südostküste von Afrika — fingergroße Dinos, die eine Schwarmkultur entwickelt haben, mitsamt unfruchtbaren Arbeitern, Drohnen, eierlegenden Königinnen, einer komplexen Gesellschaftsordnung, die auf Hautfarbe basiert, und einer herkulischen Architektur. Eine neue Kolonie arbeitet sich von einem kleinen unterirdischen Bunker immer weiter nach außen vor und konvertiert alles Organische und Anorganische zu einem Brei, der mit geschickten winzigen Händen zu Pfeilern, Türmen, Streben und Eiergewölben geformt wird. Manchmal wünscht sich Lisa Durnau, sie könnte Lulls Benennungsregel außer Kraft setzen. »Krijcek« hat einen netten todbringenden Klang, aber sie hätte die Tiere gern »Gormenghasts« genannt.

Ein Signalton in ihrem Hörzentrum teilt ihr mit, dass ihre Pulsfrequenz die erforderliche Anzahl für die entsprechende Zeit erreicht hat. Sie hat sich selbst eingeholt. Alterres Nicht-Realität hat sie geerdet. Sie bleibt stehen, beginnt mit ihrer Abkühlungsroutine und klinkt sich aus Alterre aus. Die Zentrifuge der ISS ist ein hundert Meter durchmessender Ring, der sich dreht, um ein Viertel der Erdgravitation zu erzeugen. Vor und hinter ihr krümmt er sich steil nach oben, und sie befindet sich für immer am Boden der künstlichen Schwerkraftsenke. Gestelle mit Pflanzen verleihen dem Ganzen einen grünen Anstrich, aber nichts kann über die Tatsache hinwegtäuschen, dass hier nur Aluminium, Carbonit, Plastik und nichts dahinter ist. Die NASA baut ihre Raumschiffe ohne Fenster. Bislang bestand der Weltraum für Lisa Durnau lediglich darin, von einer verschlossenen Kammer in die nächste zu kriechen.

Lisa streckt und beugt sich. Die niedrige Schwerkraft belastet ganz andere Muskeln. Sie zieht ihre Laufsohlen aus und drückt die Zehen gegen die Metallwand. Zusätzlich zum intensiven Trainingsprogramm der NASA nimmt sie Kalziumtabletten. Lisa Durnau hat das Alter einer Frau erreicht, die anfängt, sich Gedanken über ihre Knochen zu machen. ISS-Neulinge haben aufgedunsene Gesichter und obere Gliedmaßen, in die sich die Körperflüssigkeiten umverteilt haben. Die Fortgeschrittenen sind leicht und gestreckt, wie Katzen, und die Langzeitgäste verdauen ihre eigenen Knochen. Sie verbringen die meiste Zeit oben im alten Kern, von dem aus die ISS während ihres halben Jahrhunderts im Weltraum chaotisch gewachsen ist. Nur wenige kommen herunter in die schmutzige Schwerkraft, ob nun zentrifugal oder sonst wie. Es heißt, dass sie es gar nicht mehr können. Lisa Durnau wischt sich mit einem feuchten Erfrischungstuch ab, greift nach einer Sprosse in der Wand und hangelt sich die Speiche hinauf zum alten Kern. Sie spürt, wie sie exponenziell an Gewicht verliert. Sie kann sich von einer Sprosse abstoßen und zwei, fünf, zehn Meter weit hinauffliegen. Lisa hat einen Termin mit ihrer Agentin in der Nabe. Ein Langzeitastronaut schießt auf sie zu, führt im Flug einen geschickten Salto aus und richtet die Füße nach unten. Er nickt und segelt an Lisa vorbei. Im Vergleich zu seiner Beweglichkeit wirkt sie wie ein Walross, aber das Nicken macht ihr Mut. Es ist der wärmste Willkommensgruß, den die ISS zu bieten hat. Eine Gruppe von fünfzig Menschen ist klein genug für Vornamen, aber groß genug für Politik. Also genauso wie im Institut. Lisa Durnau liebt die Körperlichkeit des Weltraums, aber sie wünscht sich, das Budget hätte für Fenster ausgereicht.

Schock Nummer eins kam am ersten Kennedy-Morgen, als sie auf ihrer Veranda mit Ozeanblick saß und das Zimmermädchen ihr Kaffee einschenkte. Das war der Moment, als ihr bewusst wurde, dass ihr eigener Staat dafür sorgte, dass die Evolutionsbiologin Dr. Lisa Durnau von der Bildfläche verschwand. Es hatte sie nicht überrascht, als die Frau im Anzug ihr erklärte, dass sie in den Weltraum geschickt werden sollte. Das Außenministerium brachte keine Leute im Überschallshuttle nach Kennedy, damit sie dort das Vogelleben studierten. Als man ihren Palmer konfiszierte und ihr ein Modell gab, mit dem sie nicht telefonieren konnte, war das unerfreulich, aber nicht schockierend gewesen. Erstaunen, aber kein Schock, dass das Hotel für sie geräumt worden war. Die Sporthalle, der Pool, die Wäscherei. Alles ganz allein für sie. Lisa hatte gute presbyterianische Schuldgefühle, den Zimmerservice anzurufen, bis die Frau aus Nicaragua ihr sagte, dass sie froh war, etwas zu tun zu haben. Beziehungsweise behauptete das Zimmermädchen, aus Nicaragua zu stammen. Sie goss den Kaffee ein, und in diesem Moment der schwindelerregenden Paranoia kam der zweite Schock: Lull war ebenfalls verschwunden. Bisher hatte Lisa gedacht, dass es nur eine Reaktion auf seine sich auflösende Ehe gewesen war.

Bei ihrem nächsten Treffen sprach Lisa Durnau die Frau im Anzug darauf an. Ihr Name war Suarez-Martin, auf spanische Weise ausgesprochen.

»Ich muss es wissen«, sagte Lisa Durnau und trat von einem Fuß auf den anderen, eine unbewusste Wiederholung ihrer Aufwärmroutine. »Ist so etwas auch mit Thomas Lull geschehen?«

Die Regierungsagentin Suarez-Martin benutzte das Business Center als ihr Büro. Sie saß mit dem Rücken zum Panoramaausblick auf Raketen und Pelikane.

»Das weiß ich nicht. Sein Verschwinden hat nichts mit der Regierung der Vereinigten Staaten zu tun. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Lisa Durnau musste die Antwort ein paarmal gründlich durchkauen.

»Also gut. Aber warum ich? Worum geht es hier?«

»Den ersten Teil kann ich beantworten.«

»Dann schießen Sie los.«

»Wir haben Sie geholt, weil wir ihn nicht kriegen können.«

»Und der zweite Teil?«

»Auch darauf bekommen Sie eine Antwort, aber nicht hier.« Sie schob eine Plastiktüte über den Schreibtisch zu Lisa. »Das werden Sie brauchen.«

Die Tüte war mit NASA-Logos bedruckt und enthielt einen Standard-Fluganzug in Einheitsgröße und in hochsichtbarem Gelb.

Als sie Suarez-Martin das nächste Mal sah, trug die Agentin nicht mehr ihren Anzug. Sie lag angeschnallt auf der Beschleunigungsliege rechts von Lisa Durnau, und an den Handgelenken und der Kehle lugte etwas NASA-Gelb unter ihrer Fliegerausrüstung hervor. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihre Lippen sprachen stumme Gebete, aber Lisa hatte eher den Eindruck, dass es nicht die Angst vor etwas Neuem war, sondern das Ritual eines vertrauten Schreckens. Flughafen-Rosenkränze.

Der Pilot lag auf der linken Liege. Er war mit Kommunikation und Flugvorbereitungschecks beschäftigt und behandelte Lisa wie irgendein Frachtstück. Sie rückte sich auf der Liege zurecht und spürte, wie das Gel floss und sich ihren Körperkonturen anpasste, eine verstörend intime Empfindung. Unter ihr in der Startgrube wurde ein Dreißig-Terawatt-Laser geladen, der seinen Strahl auf einen Parabolspiegel unter ihrem Hintern richtete. In Kürze werde ich ins All geschossen, am Ende eines Lichtstrahls, der heißer als die Sonne ist, dachte sie und staunte über die Gelassenheit, mit der sie sich diese wahnsinnige Vorstellung durch den Kopf gehen ließ. Vielleicht war ihre Ungläubigkeit eine Selbstverteidigungsstrategie. Vielleicht hatte das nicaraguanische Zimmermädchen ihr etwas in den Kaffee getan. Während Lisa Durnau noch darüber nachdachte, war der Countdown bei null angelangt. Ein Computer im Kennedy-Kontrollzentrum feuerte den großen Laser ab. Die Luft entzündete sich unter Lisa und schleuderte den Lightbody der NASA mit drei G in den Orbit. Nach zwei Minuten Flug kam ihr ein so lächerlicher, so absurder Gedanke, dass sie kichern musste. Die Zuckungen ihres Lachens breiteten sich im Gelbett aus. Hallo Ma! Bin ganz oben! In der exklusivsten Travel-Lounge des Planeten, im Five-Hundred-Mile-High-Club! Und das in einem Gebilde, das aussieht wie eine Designer-Orangenpresse.

In diesem Moment schlich sich der dritte Schock heran und verpasste ihr einen betäubenden Schlag. Es war die Erkenntnis, wie wenige Menschen sie vermissen würden.

Das Namensschild auf dem gelben Fluganzug ist mit Daley Suarez-Martin beschriftet. Die Agentin gehört zu den Leuten, die sich überall ihr Büro einrichten, selbst in einem Kämmerchen voller in Folie verpackter Astronautennahrung. Palmer, Wasserflasche, TV-Patch und Familienfotos sind mit Klettband im Halbkreis an der Wand angebracht, drei Generationen von Suarez-Martins auf der Veranda eines großen Hauses mit Palmen in Terrakotta-Töpfen. Der TV-Patch ist auf Timer gestellt und verrät Lisa Durnau, dass es 01.15 Uhr GMT ist. Sie subtrahiert. Normalerweise wäre sie jetzt in der Tacorofioco Superica mit der Mittwochsmädchengang und bei ihrer dritten Margarita angelangt.

»Wie kommen Sie zurecht?«, fragt Daley Suarez-Martin.

»Äh, eigentlich ganz gut. Wirklich.« Lisa hat immer noch leichte Hinterkopfschmerzen, wie man sie häufig nach der ersten Benutzung eines Leichthoek hat. Sie vermutet, dass es an der Asche der Drogen gegen das Starttrauma liegt, die sie noch nicht im Hamsterrad abgebaut hat. Und in der Nullschwerkraft fühlt sie sich schrecklich entblößt. Sie weiß nicht, was sie mit ihren Händen anfangen soll. Ihre Brüste fühlen sich wie Kanonen an.

»Wir werden Sie nicht allzu lange festhalten, ehrlich«, sagt Daley Suarez-Martin. Im Orbit lächelt sie mehr als in Kennedy oder in Lisa Durnaus Büro in Lawrence. Die Menge der Autorität, die man in etwas ausstrahlen kann, das wie ein olympischer Rodelsportleranzug aussieht, ist begrenzt. »Als Erstes eine Entschuldigung. Wir haben Ihnen nicht ganz die Wahrheit gesagt.«

»Sie haben mir genau genommen gar nichts gesagt«, erwidert Lisa Durnau. »Ich vermute, dass es etwas mit dem Tierra-Projekt zu tun hat, und ich empfinde es als große Ehre, an dieser Mission beteiligt zu sein, aber eigentlich arbeite ich in einem ganz anderen Universum.«

»Das war unsere erste taktische Irreführung«, sagt Daley Suarez-Martin und saugt die Unterlippe ein. »Es gibt gar keine Tierra-Mission.«

Lisa Durnau stellt fest, dass ihr Mund offen steht.

»Aber die ganze Epsilon-Indi-Geschichte ...«

»Die ist durchaus real. Es gibt tatsächlich eine Tierra. Aber wir fliegen nicht hin.«

»Moment, Moment. Ich habe das Lichtsegel gesehen. Im Fernsehen. Verdammt, ich habe es sogar mit eigenen Augen gesehen, als Sie es bei diesem Testflug zum L-fünf-Punkt und zurück geschickt haben. Freunde von mir haben ein Teleskop. Wir hatten eine Grillparty. Wir haben es auf einem Monitor gesehen.«

»Daran zweifle ich nicht. Das Lichtsegel ist real, und wir haben es tatsächlich zum Lagrange-fünf-Punkt geschickt. Nur dass es kein Testflug war. Es war die Mission.«

Im selben Jahr, als Lisa Durnau es ins Fußballteam der Fremont High geschafft und festgestellt hatte, dass Rock Boyz, Poolpartys und Sex keine gute Kombination waren, hatte die NASA Tierra entdeckt. Extrasolare Planeten waren schneller aus dem schwarzen Nichts aufgetaucht, als die Astronomen in ihren mythologischen Nachschlagewerken blättern konnten, um passende Namen herauszusuchen. Doch als das Darwin Observatory seine Rosette aus sieben Teleskopen noch einmal für einen genaueren Blick auf Epsilon Indi gerichtet hatte, das nur zehn Lichtjahre entfernt war, fand man einen blassblauen Klecks, der sich an die Wärme der Sonne kuschelte. Eine Wasserwelt. Eine Erdwelt. Spektroskope zerlegten die Atmosphäre und fanden Sauerstoff, Stickstoff, CO2, Wasserdampf und komplexe Kohlenwasserstoffe, die nur das Resultat biologischer Aktivität sein konnten. Da draußen lebte etwas, nahe der Sonne in der schmalen bewohnbaren Zone von Epsilon Indi. Vielleicht nur Ungeziefer. Vielleicht nur Leute, die mit Teleskopen unseren blauen Klecks neben unserer Sonne beobachteten. Das Entdeckerteam taufte den Planeten Tierra. Ein Texaner reichte sofort einen Anspruch auf den Planeten ein, mitsamt allem, was darauf lebte. Es war diese Geschichte, die den Promi-Klatsch und das Verbrechen des Monats verdrängte und Tierra zum Tratschthema an der Supermarktkasse machte. Eine andere Erde? Wie ist da das Wetter? Wie kann dem Kerl ein Planet gehören? Er muss nur einen Claim einreichen, mehr nicht. Das wäre so, als wäre die Hälfte deiner DNS das Eigentum irgendeines Biotech-Konzerns. Jedes Mal, wenn du Sex hast, verletzt du das Copyright.

Dann kamen die Bilder. Die Auflösung von Darwin war hoch genug, um Oberflächendetails auszumachen. In jeder Schule der entwickelten Welt hing eine Landkarte mit Tierras drei Kontinenten und den riesigen Ozeanen an der Wand. Dieses Bild wechselte sich als Bildschirmschoner von Lisa Durnaus KL-Projekt während ihres ersten Jahres an der UCSB mit Emin Perry ab, dem amtierenden olympischen Weltmeister über fünftausend Meter. Die NASA plante eine interstellare Raumsonde, die gemeinsam mit First Solar, der Orbitalabteilung von EnGen, gebaut werden sollte, mit Hilfe des orbitalen Maserantriebs und eines Lichtsegels. Die Flugzeit würde zweihundertfünfzig Jahre betragen. Als die geplante Entwicklungszeit immer länger wurde, zog sich Tierra in den Hintergrund der öffentlichen Wahrnehmung zurück, und Lisa Durnau fand es viel leichter und befriedigender, im Universum innerhalb ihres Computers fremde Welten zu erkunden und neuartige Lebensformen zu entdecken. Alterre war so real wie Tierra und viel preiswerter und einfacher zu erreichen.

»Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, sagt Lisa Durnau jetzt.

»Das Projekt Tierra-Sonde ist eine vorstellbare Lösung«, erwidert Suarez-Martin. Ihr Haar ist mit einer Anordnung von glitzernden Klammern zurückgesteckt. Lisas kurzer lockiger Bubikopf umschwebt sie wie ein kosmischer Nebel. »Die tatsächliche Mission bestand darin, einen Raumantrieb zu entwickeln, der leistungsfähig genug ist, um ein großes Objekt zum orbital stabilen Lagrange-fünf-Punkt zu bewegen.«

»Was für ein großes Objekt?« Lisa Durnau kann nichts von dem, was in den vergangenen fünfzig Stunden geschehen ist, mit der Erfahrung in Verbindung bringen, die sie in siebenunddreißig Jahren angesammelt hat. Man sagt ihr, dies sei der Weltraum, doch hier ist es heiß, es stinkt nach Füßen, und man sieht überhaupt nichts. Die Regierung zieht gerade den größten Taschenspielertrick der Geschichte durch, aber niemand bemerkt es, weil alle nur die hübschen Bilder betrachtet haben.

»Einen Asteroiden. Diesen Asteroiden.« Daley Suarez-Martin palmt eine Grafik auf den Bildschirm. Er hat die übliche Form einer Weltraumkartoffel. Die Auflösung ist nicht besonders gut. »Das ist Darnley 285.«

»Das muss ein ganz besonderer Asteroid sein«, sagt Lisa. »Wird er mit uns den Chicxulub machen?«

Die Agentin wirkt zufrieden. Sie ruft eine neue Grafik auf, farbige Ellipsen, die sich kreuzen.

»Darnley 285 ist ein Erdbahnkreuzer, der 2027 vom NEAT-Himmelsüberwachungsprogramm entdeckt wurde. Bitte schauen Sie sich diese Animation an.« Sie tippt auf eine gelbe Ellipse, die sich der Erdbahn annähert und bis hinter den Mars reicht. »Bei der größten Annäherung an die Erde unterschreitet er knapp den Mondabstand.«

»Das ist ziemlich nahe für ein NEO«, sagt Lisa Durnau. Siehst du, auch ich kann so sprechen!

»Darnley 285 braucht eintausendfünfundachtzig Tage für einen Orbit. Beim nächsten Mal kommt er so dicht heran, dass es ein statistisches Risiko gibt.« Der animierte Punkt verfehlt die Erde um Haaresbreite.

»Also haben Sie das Lichtsegel gebaut, um ihn aus der Gefahrenzone zu schaffen«, sagt Lisa.

»Um ihn zu bewegen, aber nicht aus Sicherheitsgründen. Bitte schauen Sie genau hin. Dies ist der projizierte Orbit für das Jahr 2030. Und das war der tatsächliche Orbit.« Eine gelbe Ellipse erscheint. Sie hat exakt die gleiche Lage wie der 2027-Orbit. Die Agentin fährt fort. »Eine Interaktion mit dem Erdnahen Objekt Sheringham 12 während der nächsten Umkreisung würde Darnley 285 noch näher heranbringen, auf einhundertachtzigtausend Kilometer. Stattdessen sah es 2033 so aus ...« Die neue gepunktete Parabel wird vom tatsächlich beobachteten Kurs abgelöst: wieder genau die gleiche Umlaufbahn wie im Jahr 2027. »Eine anomale Situation ...«

»Damit wollen Sie sagen ...«

»Eine nicht identifizierte Kraft modifiziert den Orbit von Darnley 285 und sorgt dafür, dass der Asteroid immer den gleichen Abstand zur Erde beibehält«, sagt Daley Suarez-Martin.

»Großer Gott!«, flüstert Lisa Durnau, die Pastorentochter.

»2039 haben wir während der Annäherung eine Mission losgeschickt. Unter höchster Geheimhaltung. Wir haben etwas gefunden. Daraufhin wurde ein erweitertes Projekt gestartet, um es zurückzubringen. Darum ging es bei der Lichtsegel-Testmission, deswegen wurde die Sache mit der Epsilon-Indi-Geschichte verschleiert. Wir mussten den Asteroiden irgendwohin bringen, wo wir ihn uns gründlich aus der Nähe ansehen konnten.«

»Und was haben Sie gefunden?«, fragt Lisa Durnau.

Daley Suarez-Martin lächelt. »Morgen schicken wir Sie los, damit Sie es sich selber ansehen können.«

6 Lull

Halb zwölf, und der Club tobt. Flutlichter an Masten grenzen ein Oval aus Sand ein. Die Körper drängen sich im Licht wie Motten. Sie bewegen sich, sie reiben sich aneinander, die Augen ekstatisch geschlossen. Die Luft riecht nach aufgebrauchtem Tag, Unmengen Schweiß und zollfreiem Chanel. Die Mädchen tragen die Shiftkleider dieses Sommers, die Zweiteiler des letzten Sommers, den gelegentlichen klassischen V-String. Die Jungs haben allesamt freie Oberkörper und tragen mehrere Schichten Halsschmuck. Kinnfusseln sind wieder in, die Iros sind so was von ’46, Tribal Bodypainting steht kurz davor, endgültig out zu sein, aber die Skarifikation scheint im Kommen zu sein, bei den Jungs genauso wie bei den Mädchen. Thomas Lull ist froh, dass die australischen Penisriemen aus der Mode sind. In den vergangenen drei Jahren hat er auf den Partys der Ghosht Brothers gearbeitet, eine Menge Geld verdient und die schnellen Gezeitenwechsel der Jugendkultur dieses Planeten miterlebt. Aber diese Dinger, mit denen die Sache wie ein Periskop hochgeschnürt wurde ...

Thomas Lull sitzt auf dem weichen, müden grauen Sand, die Unterarme auf die angezogenen Knie gelegt. Die Brandung ist heute Nacht ungewöhnlich leise. Kaum eine Welle an der Strandlinie. Ein Vogel schreit über dem schwarzen Wasser. Die Luft ist still, dicht, müde. Kein Vorgeschmack des Monsuns. Die Fischer sagen, seit die Banglas ihr Eis an Tamil Nadu vorbeigeschleppt haben, seien die Strömungen völlig durcheinandergeraten. Hinter ihm bewegen sich Körper in absoluter Stille.

Gestalten schälen sich aus der Dunkelheit, zwei weiße Mädchen in Sarongs und Neckholder-Tops. Ihre Haarfarbe ist ein schmutziges Strandblond, und die Haut hat jene übertriebene skandinavische Bräune, die von blassen nordischen Augen noch betont wird. Sie gehen Hand in Hand, barfuß. Wie alt seid ihr, neunzehn, zwanzig?, denkt Thomas Lull. Mit eurer auf der Sonnenliege erarbeiteten Bräune und den Bikinihöschen unter den reisebügeleisengebügelten Sarongs. Dies ist euer erstes Reiseziel, nicht wahr? Ihr habt es auf irgendeiner Backpacker-Seite gefunden, gerade wild genug, um herauszufinden, ob es euch hier draußen in der rauen Welt gefällt. Ihr konntet es gar nicht abwarten, von Uppsala oder Kopenhagen aufzubrechen und all die bösen Dinge zu tun, die ihr im Herzen habt.

»Hallo«, grüßt Thomas Lull sie leise. »Falls ihr vorhabt, an der heutigen Abendunterhaltung teilzunehmen, noch ein paar Dinge vorab. Nur zu eurer eigenen Sicherheit.« Mit der lässigen Handbewegung eines Kartenspielers klappt er sein Scannerkit auf.

»Klar«, sagt das kleinere, goldenere Mädchen. Thomas Lull legt ihre Handvoll Pillen und Pflaster in den Scanner.

»Nichts dabei, das aus eurem Gehirn einen Teller Vichyssoise machen würde. Die Tagessuppe ist Transic Too, ein neues Emotikum, ihr könnt es von jedem im Bühnenbereich bekommen. Und nun, Madame ...« Er wendet sich an die Strandwikingerin mit dem Glupschaugen, die schon recht früh mit der Party begonnen hat. »Ich muss überprüfen, ob es mit irgendwas reagiert, das du bereits intus hast. Könntest du ...?« Sie kennt die Routine, leckt sich am Finger und rollt ihn auf der Sensorfläche ab. Alles wird grün. »Kein Problem. Viel Spaß auf der Party, meine Damen. Es ist übrigens ein alkoholfreies Event.«

Als sie sich in das stumme Gewimmel hineinschlängeln, betrachtet er ihre Hintern durch die dünnen Sarongs. Sie halten sich immer noch an den Händen. Wie süß, denkt Thomas Lull. Aber das Emotikum macht ihm Angst. Computeremotionen, die auf einer Kaih der Stufe 2,95 in den Sundarbans von Bharat ohne Lizenz zusammengebraut wurden, synthetisiert in einer Colaflaschenfabrik in irgendeinem Schlafzimmer und auf Heftpflaster gepappt, fünfzig Dollar pro Klaps. Es ist einfach, die User zu erkennen. Am Zucken und Grinsen, an den gebleckten Zähnen und den unheimlichen Geräuschen von Körpern, die Gefühle auszudrücken versuchen, die keine Entsprechung in der Welt menschlicher Bedürfnisse oder Erfahrungen haben. Er hat noch nie jemanden getroffen, der ihm erklären konnte, wie sich diese Gefühle anfühlen. Andererseits kennt er auch niemanden, der erklären könnte, wie sich ein natürliches Gefühl anfühlt. Wir alle sind nur programmierte Geister, die auf dem dezentralisierten Netzwerk von Brahma laufen.

Der Vogel ist immer noch da draußen und ruft.

Er schaut über die Schulter zur Strandparty. Jeder Tänzer hält sich in seiner oder ihrer privaten Sphäre auf und tanzt nach seinem oder ihrem benutzerdefinierten Beat, der durch die Hoekverbindung übertragen wird. Er belügt sich damit, dass er nur deshalb hier arbeitet, weil er das Geld gebrauchen kann, aber er hat sich schon immer von Menschenmassen angezogen gefühlt. Er braucht und fürchtet die Selbstverlorenheit der Tanzenden, die zu einem unbewussten Ganzen verschmelzen, isoliert und gleichzeitig vereint. Es ist die gleiche Liebe und Verachtung, die ihn zum zerstückelten Körper Indiens hingezogen hat, eins der hundert wiedererkennbarsten Gesichter des Planeten, verrührt mit den schrecklichen, befreienden, gesichtslosen anderthalb Milliarden des Subkontinents. Umdrehen, weggehen, verschwinden. Diese Fähigkeit, sich in einer Menge zu verlieren, hat auch ihre Kehrseite: Thomas Lull kann in jeder Herde jemanden aufspüren, der individuell, ungewöhnlich, gegensätzlich ist.

Sie bewegt sich quer durch die Strömungen der Menge, durch die Körper, gegen die Maserung der Nacht. Sie ist in Grau gekleidet. Ihre Haut ist blass, weizenfarben, indo-arisch. Ihr Haar ist kurz, jungenhaft, sehr glänzend, mit einem Hauch Rot. Ihre Augen sind groß. Gazellenaugen, wie sie die Urdu-Poeten besungen haben. Sie sieht unglaublich jung aus. Auf der Stirn trägt sie eine dreigestreifte Vishnu-Tilaka. An ihr sieht es überhaupt nicht albern aus. Sie nickt, lächelt, und die Körper umschließen sie wieder. Thomas Lull versucht eine Stelle zu finden, von wo er schauen kann, ohne gesehen zu werden. Es ist keine Liebe, es sind keine Mittvierziger-Hormone. Es ist bloße Faszination. Er muss mehr sehen, mehr über sie erfahren.

»Hallo!« Ein australisches Pärchen möchte sein Zeug überprüfen lassen. Thomas Lull checkt ihren Vorrat mit dem Scanner, während er die Party beobachtet. Grau ist die perfekte Tarnung auf einer Party. Sie ist mit einem Wechselspiel sich lautlos bewegender Gliedmaßen verschmolzen.

»Alles gut, ihr könnt unbeschwert abheben. Aber wir tolerieren hier keine Penisanzüge.«

Der Kerl runzelt die Stirn. Verschwinde von hier, lass mich meine Freizeit genießen. Da, nicht weit von den Decks. Die Bhati-Boys flirten mit ihr. Dafür hasst er sie. Komm zurück zu mir. Sie zögert, beugt sich herab, um etwas zu sagen. Für einen Moment glaubt er, sie könnte etwas vom Bangalore Bombastic kaufen. Er will nicht, dass sie das tut. Sie schüttelt den Kopf und zieht weiter. Wieder verschwindet sie zwischen den Körpern. Thomas Lull wird sich bewusst, dass er ihr folgt. Sie fügt sich wirklich gut ein, denn fast hätte er sie zwischen den Tanzenden aus den Augen verloren. Sie hat keinen Hoek. Wie macht sie das? Thomas Lull nähert sich dem Rand der Tanzfläche. Sie sieht nur so aus, als würde sie tanzen, wird ihm klar. Sie macht etwas ganz anderes, sie nimmt die kollektive Stimmung auf und bewegt sich mit dem Strom. Wer zum Teufel ist sie?

Dann hält sie mit dem Tanzen inne. Sie runzelt die Stirn, öffnet den Mund, schnappt nach Luft. Sie drückt eine Hand auf ihren schwer arbeitenden Brustkorb. Sie kann nicht mehr atmen. In den Gazellenaugen steht Angst. Sie beugt sich vor, versucht den Druck auf ihren Lungen zu entspannen. Thomas Lull kennt diese Anzeichen nur zu gut. Er ist ein alter Vertrauter dieses Angreifers. Sie steht mitten in der stummen Menge und ringt nach Atem. Niemand sieht es. Niemand versteht es. Alle bewegen sich blind und taub in ihren privaten Tanzsphären. Thomas Lull schiebt sich durch die Körper. Nicht zu ihr, sondern zu den Wikinger-Mädchen. Er hat ihren Vorrat auf der Anzeige des Scanners. Es gibt immer ein paar Leute, die sich mit Salbutamol einen schnellen, schmutzigen Kick durch eine ATP-Reduktase-Reaktion verpassen wollen.

»Ich brauche eure Keucher, schnell.« Das Goldmädchen starrt ihn an, als wäre er irgendeine unglaubliche Alien-Elfe von Antares. Für sie könnte er das wirklich sein. Sie kramt in ihrer pinkfarbenen Adidas-Tasche. »Da, diese hier.« Thomas Lull scharrt die blauen und weißen Kapletten heraus. Jetzt hechelt das graue Mädchen sehr flach, die Hände auf den Oberschenkeln. Sie hat große Angst und blickt sich hilfesuchend um. Thomas Lull kämpft sich durch die Partyleute, bricht die kleinen Gelatinekapseln auf und schüttelt sie in seiner Faust.

»Mund aufmachen«, befiehlt er und legt die Hände zusammen. »Bei drei einatmen und bis zwanzig Luft anhalten. Eins, zwei, drei.«

Thomas Lull legt die geschlossenen Hände über ihren Mund bläst durch die Daumen, um ihr das Pulver tief in die Lungen zu jagen. Sie schließt die Augen und zählt. Thomas Lull stellt fest, dass er ihre Tilaka betrachtet. So etwas hat er noch nie zuvor gesehen. Es sieht aus wie Plastik, das mit der Haut oder dem Knochen verschmolzen ist. Plötzlich muss er es berühren. Seine Finger sind nur noch wenige Millimeter entfernt, als sie die Augen öffnet. Thomas Lull reißt seine Hand zurück.

»Alles in Ordnung?«

Sie nickt. »Ja. Danke.«

»Sie hätten Medikamente mitnehmen sollen. Sie hätten in große Schwierigkeiten geraten können. Diese Leute sind wie Geister. Sie hätten sterben können, und die anderen wären einfach über Sie hinweggetanzt. Kommen Sie mit.«

Er führt sie durch das Labyrinth der blinden Tänzer zum schattigen Sand. Sie setzt sich, die bloßen Füße gespreizt. Thomas Lull geht neben ihr in die Knie. Sie riecht nach Sandelholz und Weichspüler. Mit zwanzig Jahren Studentenerfahrung schätzt er sie auf neunzehn, vielleicht zwanzig ein. Komm schon, Lull! Du hast ein seltsames kleines Mädchen, das hier angeschwemmt wurde, vor einem Asthmaanfall gerettet, und schon checkst du, ob sie sich abschleppen lässt. Etwas mehr Selbstachtung bitte!

»Ich hatte große Angst«, sagt sie. »Das war sehr dumm von mir. Ich habe meine Inhalatoren dabei, sie aber im Hotel liegen lassen ... Ich hätte nie gedacht ...«

Ihr weicher Akzent mag für weniger erfahrene Ohren wie sauberes Englisch klingen, aber Thomas Lull erkennt sofort das typische Karnataka-Näseln.

»Du hattest Glück, dass Asthma Man mit seinem übermenschlichen Gehör dein Keuchen wahrgenommen hat. Komm mit. Für dich ist die Party heute Nacht vorbei, Schwester. Wo wohnst du?«

»Im Palm Imperial Guest House.« Eine gute Adresse, nicht billig, eher bei den älteren Touristen beliebt. Thomas Lull kennt die Lobby und die Bar jedes Hotels dreißig Kilometer die Coconut Coast rauf und runter. Auch einige Schlafzimmer. Die Backpacker und Studienurlauber halten sich meistens an die Strandbaracken. Auch von denen hat er einige von innen gesehen. Und ein paar Schlangen getötet.

»Ich werde dich begleiten. Achuthanandan wird sich um dich kümmern. Du hast einen leichten Schock, du solltest es ruhig angehen.«

Die Tilaka: Er ist sich sicher, dass sie sich bewegt. Mystery Girl kommt auf die Beine. Sie streckt ihm schüchtern und förmlich die Hand hin.

»Vielen Dank. Ich glaube, ohne Sie hätte ich große Schwierigkeiten bekommen.«

Thomas Lull schlägt ein. Ihre Hand ist lang und ästhetisch, zart und trocken. Sie weicht immer wieder seinem Blick aus.

»Für Asthma Man gehört so was zum täglichen Geschäft.«

Er geht mit ihr zu den Lichtern zwischen den Palmen. Die Brandung verstärkt sich, die Bäume werden heftig geschüttelt. Die Lampen auf der Hotelveranda tanzen und flimmern hinter dem Schleier der Palmwedel. Die Strandparty kommt ihm plötzlich langweilig vor. Alles, was ihm etwas bedeutet und ihn bestätigt hatte, erscheint ihm, seit er diesem Mädchen begegnet ist, dürftig und alt. Vielleicht kommt jetzt der Monsun, der Wind, der ihn weiterwehen wird.

»Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen eine Atemtechnik beibringen. Als ich jung war, habe ich schwer unter Asthma gelitten. Bei dem Trick geht es um den Gasaustausch. Es ist ziemlich einfach. Ich habe seit zwanzig Jahren keinen Anfall mehr gehabt. Sie könnten Ihre Inhalatoren wegschmeißen. Ich könnte Ihnen das Grundprinzip zeigen, wenn Sie irgendwann morgen vorbeikommen ...«

Das Mädchen hält inne, denkt darüber nach und nickt schließlich. Ihre Tilaka fängt von irgendwo Licht auf.

»Danke. Das würde ich sehr zu schätzen wissen.«

Sie spricht sehr zurückhaltend, sehr viktorianisch, achtet sehr genau auf die Betonung der Worte.

»Also gut, Sie finden mich ...«

»Ach, ich werde einfach die Götter fragen. Dann zeigen sie mir den Weg. Die Götter kennen jeden Weg.«

Darauf kann Thomas Lull nichts erwidern. Also steckt er die Hände in die Taschen seiner abgeschnittenen Baggypants und sagt: »Gut, wenn die Götter es erlauben, sehen wir uns morgen, ja?«

»Kij.« Sie spricht ihren Namen französisch aus: Kidsch. Sie blickt zu den Lichtern des Hotels hinüber, farbige Glühbirnen, die im zunehmenden Wind schaukeln. »Ich glaube, von hier aus komme ich allein zurecht. Vielen Dank. Also bis morgen, Professor Lull.«

7 Thal

Thal ist heute Abend in einem Plastiktaxi unterwegs. Das kleine blasenförmige Phatphat rattert über die Löcher und Narben einer Landstraße, während der Fahrer es nervös im Licht seines einzigen Scheinwerfers lenkt. Eine umherstreifende Kuh und eine Kolonne aus Frauen mit Feuerholzbündeln auf dem Kopf hatte er bereits knapp verfehlt. Straßenbäume schälen sich aus der tiefen ländlichen Nacht heraus. Der Fahrer sucht am Wegesrand nach der Abzweigung. Seine Anweisungen sind mit Klebeband am Armaturenbrett befestigt, damit er sie im Licht der Instrumente lesen kann. So und so viele Kilometer dieser Straße folgen, durch so und so viele Dörfer, an der zweiten Kreuzung nach dem Reklameschild für Rupa-Unterwäsche links abbiegen. Er ist noch nie zuvor aus der Stadt herausgekommen.

Thals Special Mix spielt, zu Ehren des Gastgebers, mächtige Anokha-Breaks mit Slav-Metal-Todesakkorden. Termine mit Prominenten erfordern einen ganz besonderen Mix. Thals Leben lässt sich mit einer Abfolge von Soundtrack-Dateien beschreiben. Thals DJ-Kaih hat ein Set aus Top-Grooves zusammengestellt, in den Pausen der Arbeit am Entwurf des Hochzeitspavillons für die Chawla-Nadiadwala-Vermählung. Im Moment passiert sehr viel im Leben der Schauspieler von Stadt und Land.

Ein plötzlicher Ruck wirft Thal von der Rückbank. Das Phatphat kommt hüpfend zum Stehen. Thal rückt sys Mantel mit Thermostreuung zurecht, ärgert sich über den Dreck auf sys Seidenhosen und sieht dann die Soldaten. Es sind sechs, die vor dem Tarnvorhang der ländlichen Nacht Gestalt annehmen. Ein pummeliger Sikh-Offizier hat die Hand erhoben. Er tritt an das Taxi heran.

»Haben Sie uns nicht gesehen?«

»Sie sind schwer zu erkennen«, sagt der Fahrer.

»Sie haben nicht zufällig einen Führerschein dabei?«, fragt der Jemadar.

»Nein«, sagt der Fahrer. »Mein Cousin ...«

»Wissen Sie nicht, dass wir uns im Zustand erhöhter Alarmbereitschaft befinden?«, tadelt der Sikh. »Langsame Awadhi-Drohnen könnten bereits in unserem Land unterwegs sein. Sie sind gut getarnt, sie können sich auf vielerlei Weise unsichtbar machen.«

»Nicht so langsam wie dieses alte Wrack«, witzelt der Fahrer. Der Sikh unterdrückt ein Lächeln und beugt sich herab, um einen Blick auf den Passagier zu werfen. Thal schaltet hastig die bpm ab. Ys sitzt völlig ruhig da, völlig aufrecht, mit verräterisch lautem Herzschlag.

»Und Sie, Sir? Madam?«

Seine Soldaten kichern. Der Sikh hat Zwiebeln gegessen. Thal glaubt, ys könnte vom Gestank und von der Anspannung ohnmächtig werden. Ys öffnet sys Handtasche und zieht die dicke Einladung mit Goldrand heraus. Der Sikh sieht sie sich an, als könnte sie ihm einen Vorwand für eine gründliche Durchsuchung aller Körperöffnungen liefern. Dann gibt er sie Thal zurück.

»Sie haben Glück, dass wir heute Nacht hier draußen sind. Sie haben die richtige Abzweigung um ein paar Kilometer verfehlt. Sie sind schon der siebte oder achte. Fahren Sie folgendermaßen ...«

Thal atmet wieder. Als der Fahrer das Taxi wendet, kann er über dem Schnurren des Alkoholmotors deutlich das hässliche Lachen der Soldaten hören.

Ich hoffe, ein paar langsame Drohnen schleichen sich an euch an, denkt Thal.

Der halb zerfallene Ardhanarishvara-Tempel steht zwischen Bäumen an einem Schotterweg, der direkt von der Hauptstraße abgeht. Die Organisatoren der Party haben den Entladebereich mit Biolum-Klebestreifen erleuchtet. Das grüne Licht zeichnet Gesichter auf die Baumstämme, wirft einen unheimlichen Schein auf die zusammengesackten Statuen und Yakshis, die im uralten Boden liegen. Der Empfang ist thematisch nach diametralen Gegensätzen gestaltet: Sakti und Purusa, weibliche und männliche Energien, Sattva und Tamas, spirituelle Intelligenz und irdischer Materialismus. Die yoniförmigen Becken sind extravagant geflutet worden. Thal denkt an sys Partyvorbereitungen, eine spärliche Katzenwäsche mit einer Flasche erwärmtem Mineralwasser. Die Wasserversorgung im White Fort — die riesige Ballung von Wohnanlagen, in denen Thal sys Zwei-Zimmer-Apartment hat — funktioniert nun schon seit zwei Monaten nicht mehr. Tag und Nacht zieht vor sys Wohnungstür eine Prozession aus Frauen und Kindern vorbei, die Wasserkanister die Treppenstufen hinauftragen.

Aus Düsen im Zentrum der Yoni-Becken lodern Gasflammen empor. Thal mustert die Dvarapala, die Zwillingsfiguren der Tempelwächter, während der Taxifahrer sys Karte durch das Lesegerät zieht. Die Ruinen der Arkade werden vom Bildnis Ardhanarishvaras dominiert, eine halb männliche, halb weibliche Gestalt. Eine einzige volle Brust, ein erigierter Penis, der in der Mitte halbiert ist, ein Hoden, eine Labienlocke, die Andeutung eines Schlitzes. Der Oberkörper hat die Schulterbreite eines Mannes, die Hüften haben die Fülle einer Frau, die Hände sind feinfühlig zu rituellen Mudras erhoben, aber die Züge sind verallgemeinert, androgyn. Das dritte Auge Shivas auf der Stirn ist geschlossen. Drinnen dröhnt die Musik. Mit der Einladung in der Hand geht Thal zwischen den Wächtergottheiten hindurch zur Party der Saison.

Selbst als Thal ihnen die Einladung zeigte, waren die Leute in der Abteilung davon überzeugt, dass ys sie gefälscht hätte. In einem Arbeitsbereich, der für den Entwurf visueller Hintergründe für das fiktive Leben der Kaih-Schauspieler von Indiens beliebtester Soapi zuständig war, war dieser Verdacht nur folgerichtig. Thal hatte es selbst nicht geglaubt, als ys die dicke, cremefarbene Wafer-Karte in sys Posteingang vorgefunden hatte.


FASHIONSTAR PROMOTIONS

im Auftrag von MODE ASIA lädt THAL ein, Nr. 27, Korridor 30, 12. Stock, Indira Ghandi Apartments (wie das White Fort nur von den Postämtern, dem Finanzamt und den Gerichtsvollziehern bezeichnet wurde), zu einem EMPFANG zu erscheinen, um YULI in Varanasi zur BHARAT FASHION WEEK willkommen zu heißen. ORT: Ardhanarishvara-Tempel, Mirza Murad District FESTAKT: zur 22. Stunde NATION: Neutalien

u. A. w. g.


Die Karte fühlte sich so warm und weich an wie Haut. Thal hatte sie Mama Bharat gezeigt, der alten Witwe, deren Wohnungstür sich auf seinem Treppenabsatz befand. Sie war eine sanfte Seele, die von ihrer Familie in einem seidenen Kerker gefangen gehalten wurde. Auf die moderne Weise: ein unabhängiges Leben im Alter. Vor drei Monaten war Thal eingezogen und zu Mama Bharats Familie geworden. Sonst wollte sowieso niemand mit ys reden. Thal akzeptierte die täglichen Besuche zum Chai und Snack und zweimal pro Woche die Putzeinsätze, und ys fragte nie nach, was für eine Art Familienmitglied ys für sie war, ob Tochter oder Sohn.

Die gealterte Frau strich mit den Fingern über die Einladung, zärtlich und leise gurrend wie eine Geliebte.

»So weich«, sagte sie. »So weich. Werden dort alle wie du sein?«

»Neuts? Hauptsächlich. Wir sind ein Thema.«

»Ah, eine große, große Ehre, das Beste der Stadt, und all die Tivi-Leute.«

Ja, hatte Thal gedacht. Aber warum ich?

Thal schreitet durch die schattige Tempel-Mandapa. Sie wird von Fackeln erleuchtet, die von vierarmigen Kali-Avataren gehalten werden, und ys spürt ein leichtes Zerren der Ehrfurcht in sys Nadi-Chakra. Dort ist ein Großer Filmregisseur, der sich mit gewissem Unbehagen unter einer bestürzend pornographischen Statue mit einer Angesehenen Neuen Jungen Autorin unterhält. Hier ist ein Internationaler Tennisstar, der einen erleichterten Eindruck macht, weil er nicht nur einen Großen Profigolfer gefunden hat, sondern außerdem einen Fußballer der All-India-Liga mit seiner strahlend schönen Frau, so dass sie hemmungslos über Zählspiele und Handicaps reden können. Und das ist Mr. Interstellar Pop Promoter Man, und er ist das neueste Produkt seiner Pop-Designabteilung mit einem Debütsong, der allein durch die Vorbestellungen zum Nummer-eins-Hit werden muss, während die Kleine im zu kurzen Rock, die ihren Cocktail etwas zu fest umklammert und ein wenig zu laut lacht, zweifellos für die PR von FASHIONSTAR PROMOTIONS arbeitet. Nicht mitgezählt die drei Wetware-Rajas, die noch keine fünfundzwanzig sind, die zwei hektischen Game-Designer und der äußerst zwielichtige Lord der Sundarbans, den Cyberdschungel-Entrepreneur der Darwinware-Hotzone, allein und höchstpersönlich, völlig entspannt und tigerglatt, wie es nur ein Mann sein kann, der über eine eigene Pandava-Legion aus Kaih-Leibwächtern verfügt. Hinzu kommen die übertrieben gekleideten und überaffektierten Gesichter, die Thal nicht kennt, die aber deutlich ihre Modemagazin-Herkunft vor sich hertragen, die Mittvierziger, die als Tivi-Redakteure für die Auftragsvergabe zuständig sind, verschwitzt und etwas zu gut miteinander bekannt, die Klatschjournalisten mit dem sehr weiten und aktiven Blickfeld und die Wohlhabenden der High Society von Varanasi, aufgebracht und schlecht gelaunt, weil sie von einer Schar von Neuts überstrahlt werden. Es sind sogar ein paar Generäle anwesend, prächtig wie Sittiche in ihren Galauniformen. Die Armee ist très très hip in diesen Zeiten des Risikospiels mit Awadh. Nicht zu vergessen der Haufen aus mürrisch dreinschauenden, scheinbar Zehnjährigen, deren Blicke wie Dolche über ihre gyrostabilisierten Cocktailgläser schießen: die Goldenen, die brahmanischen Söhne und Töchter.

Thal hat eine Checkliste von Neeta erhalten, der Assistentin sys Chefs Devgan. Die meisten aus der Metasoap-Unit empfinden Neetas perfekte geistige Leere als beklemmend, aber Thal mag sie. Ihre ungeheuchelte Banalität spült unerwartete, zen-artige Kontraste an die Oberfläche. Sie wollte wissen, welche Kleidung ys tragen wird, welches Make-up ys auflegen will, wo ys sich mit einem Drink aufwärmen und wo ys nach der Party weiterfeiern möchte. Man muss sich anstrengen, um bei der größten, wildesten, angesagtesten VIP-Nachfeier der Saison dabei sein zu können. Auf dem Weg durch den Säulengang klickt ys dreißig Große Namen von Neetas Liste.

Zwei Rakshasas bewachen den Eingang zum Allerheiligsten und zur kostenlosen Bar. Der Groove ist Adani, als Remix der Biblical Brothers. Krummsäbel fahren nieder. Die Darsteller sind aus Fleisch und Blut, aber das untere Armpaar ist robotisch. Thal bewundert das Ganzkörper-Make-up. Die Übergänge sind wirklich nahtlos. Sie scannen die Einladung. Die Schwerter heben sich. Thal tritt ins Wunderland. Jedes Neut der Stadt ist gekommen. Thal bemerkt, dass sys knöchellanger Wollfasermantel mit optischer Streuung immer noch in ist, aber seit wann sind Skibrillen, die man hoch auf der Stirn trägt, zum modischen Accessoire geworden? Thal kann es nicht ausstehen, wenn ys einen Trend verpasst. Köpfe drehen sich, als ys zur Bar schreitet, und werden dann zusammengesteckt. Ys spürt die Welle des Tratsches, die sich wie ein Kielwasser hinter ys ausbreitet: Wer ist dieses Neut, ys ist neu hier, wo hat ys sich versteckt, ein Aussteiger oder Einsteiger?

Ich missachte eure Beachtung, sagt sich Thal. Ys ist wegen der Stars hier. Ys steckt einen Platz am Ende der geschwungenen, lumineszierenden Bar ab und überblickt das Material. Vierarmige Barkeeper schütteln akrobatische Cocktails. Thal bewundert das Geschick ihrer Robotik. »Was ist das?«, fragt ys und zeigt auf den fluoreszierenden Kegel aus goldenem Eis, der auf der Spitze stehend auf der Theke balanciert.

»Non-Russian«, sagt der Barkeeper, während seine unteren Arme nach einem Glas greifen und Eis hineinschaufeln. Thal nippt vorsichtig. Wodka-Basis, etwas wie Vanille-Sirup, eine Faustvoll zerkleinertes Eis und ein Schuss deutscher Zimtschnaps, Flocken aus Goldfolie, die durch die Eiszwischenräume nach unten treiben. Das Surren der Mikrogyros lässt Thals Finger kribbeln.

Dann öffnet die Partydynamik vorübergehend einen Blickkorridor, und Thal erspäht in rein weißem Eisbärfell und golden getönter Skibrille den Star in sys ganzer Pracht: YULI.

Thal verschlägt es die Sprache. Ys ist von der Gegenwart der Prominenz paralysiert. Sämtliche medialen Anmaßungen und Raffinessen verflüchtigen sich. Schon bevor sys Ausstieg hat Thal YULI zum Idol erhoben: ein Superstar als Konstrukt, eine Manipulation wie die Darsteller von Stadt und Land. Jetzt ist ys hier, leibhaftig und bekleidet, und Thal ist vor Ehrfurcht erstarrt. Ys muss in Yulis Nähe gelangen. Ys muss ys atmen und lachen hören und sys Wärme spüren. An diesem Abend gibt es nur zwei reale Objekte im Tempel. Gäste, Neuts, Personal, Musik — all das ist unbestimmt, gehört zum Reich von Ardhanarishvara. Thal ist jetzt hinter Yuli, nahe genug, um die Hand auszustrecken, zu berühren und zu verifizieren. Der Bogen der Wangenknochen verschiebt sich. Yuli dreht sich um. Thal lächelt, ein großes dummes Grinsen. Bei den Göttern, jetzt sehe ich wie ein sabbernder Promi-Fan aus, was soll ich nur sagen? Ardhanarishvara, Gottheit des Dilemmas, hilf mir! Götter, stinke ich? Denn ich hatte nur eine halbe Flasche Wasser, um mich zu waschen ... Yulis Blick streift ys, geht durch ys hindurch, löscht ys aus und wendet sich jemandem hinter ys zu. Yuli lächelt, breitet die Arme aus.

»Liebling!«

Ys rauscht vorbei, ein warmer Schwall aus Pelz und goldener Haut und Wangenknochen wie Rasierklingen. Die Entourage folgt. Eine Hüfte rempelt Thal an, stößt ys das Glas aus der Hand. Es fällt zu Boden, wankt heftig und findet schließlich die Mitte wieder, auf der Spitze rotierend. Thal steht benommen da, steinern wie die fremdartigen Sexstatuen des Tempels.

»Oh, Sie scheinen Ihren Drink verloren zu haben.« Die Stimme, die durch die Mauer des Geschnatters bricht, ist weder männlich noch weiblich. »Das geht doch nicht an, mein Liebstes, nicht wahr? Komm mit, das ist nur ein Haufen verdammter blöder Zicken, Schwester, und wir sind nicht mehr als Wallpaper.«

Ys ist einen Kopf kleiner als Thal, dunkelhäutig, mit der Andeutung einer Mongolenfalte — in der Mischung sind auch ein paar Assam- oder Nepal-Gene. Ys hat die scheue und gleichzeitig stolze Haltung jener Völker. Ys trägt einfaches Weiß, das der Mode trotzt, und die rasierte Kopfhaut, die mit goldenem Glimmer bestäubt ist, stellt die einzige Konzession an den zeitgemäßen Geschmack dar. Wie immer bei ihresgleichen kann Thal nicht einmal ansatzweise sys Alter einschätzen.

»Tranh.«

»Thal.«

Sie knicksen und küssen sich zur Begrüßung. Sys Finger sind lang und elegant, französisch manikürt, ganz anders als Thals stummelige Keypad-Tippfinger mit den abgekauten Nägeln.

»Verdammt beschissen hier, was?«, sagt Tranh. »Trink, mein Liebstes. Hier!« Ys klopft auf den Tresen. »Genug von dieser Non-Russian-Pisse. Gebt mir Gin. Chota Peg, zweimal. Chin chin.« Nach dem übersüßten theatralischen Hauscocktail schmeckt das klare Glas mit dem Schuss Limone sehr gut, sehr rein und sehr kalt. Thal spürt, wie entlang sys Wirbelsäule kaltes Feuer direkt ins Gehirn aufsteigt.

»Verdammt köstlicher Drink«, sagt Tranh. »Damit wurde der Raj errichtet. Mit viel Chinin. Hier!« Ys wendet sich an den Bar-Avatar. »Schauspieler-Wallah! Noch mal zwei davon!«

»Eigentlich sollte ich nicht. Ich muss morgen früh arbeiten, und ich weiß noch gar nicht, wie ich überhaupt zurückkomme«, sagt Thal, aber das Neut drückt ys das kondenswasserschlüpfrige Glas in die Hand, und die Musik trifft den perfekten Beat, und ein Windhauch zieht durch die Tempelruine. Flammen und Schatten lodern, und alle blicken auf und fragen sich, ob es die erste sanfte Berührung des Monsuns ist. Er weht einen Hauch von Wahnsinn in die schreckliche Party, und anschließend fühlt sich Thal schwindlig und redselig. Ys ist voller Leben und Erstaunen, sich in einer neuen Stadt und mit einem neuen Job wiederzufinden, im Auge des gesellschaftlichen Mahlstroms mit einem kleinen, dunklen, wunderschönen Neut.

Dann zerfließt alles wie Kalligraphie im Regen. Irgendwann tanzt Thal, ohne sich zu erinnern, wie ys auf den Floor gelangt ist, und es sind noch viel mehr Leute da, die eher herumstehen als tanzen. Eigentlich tanzt überhaupt niemand, nur Thal. Ys tanzt allein, wundervoll und makellos, als hätte sich der Wind, der durch den Tempel wehte, an einer Stelle in einem Wirbel gesammelt — wie ungewohnte Chota Pegs, wie Licht, wie Nacht, wie die Versuchung, wie ein Laser, der auf Tranh gebündelt ist, um nur ys allein zu erhellen. Es sagt Ich will ich brauche ich werde, na komm, es lockt Na komm schon, es zieht Tranh an, Schritt für Schritt, doch ys lächelt nur und schüttelt den Kopf. Für so einen Scheißdreck bin ich nicht zu haben, mein Liebstes. Doch ys wird in den Kreis gezogen, durch dieses Spiel aus Shakti und Purusha, bis Thal sieht, wie Tranh erzittert, als wäre etwas aus der Nacht gekommen und in ys hineingefahren, etwas Besitzergreifendes, Vernachlässigtes, und Tranh zeigt ein kleines, leicht irres Lächeln, und sie kommen zusammen im Kreis der Musik, ein Jäger und das Wesen, das ys jagt, und alle Blicke sind auf sie gerichtet, und aus dem Augenwinkel sieht Thal YULI, den hellsten Stern am Firmament, wie ys mit sys Entourage davonstapft. Blasiert.

Die Meeja warten nur darauf, dass sie sich küssen und das Drama perfekt machen, doch trotz der Kaskaden aus erotischen Skulpturen, die sich von jeder Säule und jedem Pfeiler herabstürzen, sind sie indische Neuts, und der richtige Ort und die richtige Zeit für den Kuss ist nicht hier und nicht jetzt.

Dann sitzen sie im Taxi, und Thal weiß nicht, wie oder wo, doch die Dunkelheit ist sehr groß, und die Musik hallt in sys Ohren nach, und die Chota Pegs dröhnen in sys Kopf, aber allmählich zerbrechen und vereinzeln sich die Dinge wieder. Thal weiß jetzt, was ys will. Ys weiß, was geschehen wird. Die Gewissheit ist ein dumpfes, rötliches Pochen in sys Unterbauch.

Auf der Rückbank des ruckelnden Phatphat lässt Thal sys Unterarm, die weiche Haut der Innenseite nach oben, auf Tranhs Schenkel fallen. Ein kurzes Zögern, dann streicheln Tranhs Finger über die empfindsame, haarlose Haut, suchen die verborgenen Knospen des Hormonkontrollsystems unter der Haut und klopfen zart den Erregungskode. Unmittelbar darauf spürt Thal, wie sys Herzschlag zulegt, wie sys Atem stockt, wie sys Gesicht errötet. Sex lässt sys Körper schwingen wie eine angeschlagene Sitar, jeder Akkord und jedes Organ klingen harmonisch zusammen. Tranh bietet Thal sys Arm an. Ys spielt mit den subdermalen Empfängern, winzig und empfindlich wie Gänsehaut. Ys spürt, wie Tranh erstarrt, als der Hormonschub kommt. Sie sitzen Seite an Seite im schaukelnden Taxi, ohne sich zu berühren, doch sie zittern vor Lust, unfähig zu sprechen.

Das Hotel liegt am Flughafen, bequem, anonym, mit internationaler Diskretion. Die gelangweilte Rezeptionistin blickt kaum von ihrem romantischen Magazin auf. Der Nachtportier rührt sich, bis er die Gäste identifiziert hat, und versteckt sich wieder hinter den Cricket-Highlights im Fernsehen. Ein gläserner Aufzug bringt sie an der Seite des Hotels hinauf zu ihrem Zimmer im fünfzehnten Stock. Das Muster der Flughafenlichter breitet sich immer weiter um sie herum aus wie ein mit Edelsteinen besetzter Rock. Der Himmel wimmelt von Sternen und den Navigationslichtern von Truppentransportern, die im Zuge der erhöhten Alarmbereitschaft anfliegen. Heute Nacht bebt alles, im Himmel und auf der Erde.

Sie stürzen ins Zimmer. Tranh will nach ys greifen, doch Thal entwindet sich kokett. Eine nötige Sache fehlt noch. Thal findet die Zimmeranlage und steckt einen Chip ein. FUCK MIX. Nina Chandra spielt, und Thal schwankt und schließt die Augen und schmilzt dahin. Tranh kommt auf ys zu, bewegt sich im Rhythmus, tritt aus sys Schuhen, streift den rein weißen Mantel ab, den Leinenanzug, die Netzunterwäsche von einer Großen Bekannten Marke. Ys bietet ys sys Arm an. Thal streicht mit den Fingern über die Orgasmustasten.

Alles ist Soundtrack.

Der Geist der sich verflüchtigenden Chota Pegs weckt Thal und treibt ys ins Badezimmer, um Wasser zu trinken. Ys starrt, immer noch betrunken, immer noch schwindlig von dem, was geschehen ist, auf den nicht enden wollenden Strahl aus der Mischbatterie. Das Zimmer ist in graues Vordämmerungslicht getaucht. Tranh sieht auf dem Bett so winzig und zerbrechlich aus. Die Flugzeuge fliegen unausgesetzt. Etwas in diesem Morgenlicht lässt jede Operationsnarbe an Tranhs Körper deutlich hervortreten. Thal schüttelt den Kopf, hat plötzlich das dringende Bedürfnis zu weinen, legt sich aber dennoch neben Tranh und erzittert, als ys spürt, wie sich das Neut im Schlaf bewegt und einen Arm um ys schlingt. Thal döst ein und wacht erst wieder auf, als das Zimmermädchen gegen die Tür hämmert und fragt, ob sie das Zimmer machen kann. Es ist zehn Uhr. Thal hat einen furchtbaren Kater. Tranh ist gegangen. Sys Kleidung, sys Schuhe, sys zerfetzte Unterwäsche. Sys Handschuhe. Fort. Ys hat eine Karte zurückgelassen, mit einem Straßennamen, einer Adresse und zwei Worten: keine Szene.

8. Vishram

Der Conférencier hat das Publikum jetzt wirklich am Haken. Unten in der Garderobe spürt Vishram das Gelächter wie Wellen an eine Küste branden. Tiefes Lachen. Ein Lachen, gegen das man nichts tun kann, mit dem man nicht mehr aufhören kann, selbst wenn es wehtut. Das schönste Geräusch der Welt. Lacht nur für mich, Leute. Man kann ein Publikum am Klang seines Lachens erkennen. Das dünne Lachen aus dem Süden, das flache Lachen aus den Midlands und das schallende Gelächter wie Kirchengesang von weit oben auf den Inseln; aber das da draußen ist gutes Glasgow-Gelächter. Das Lachen des heimischen Publikums. Vishram Ray trippelt auf der Stelle, bläst die Wangen auf und liest die Kritiken aus der Boulevardpresse, die an die Wand der Garderobe getackert sind. Er steht so kurz vor einer Zigarette.

Du kennst deine Sachen. Du kannst dein Material vorwärts- und rückwärtsspielen, auf Englisch, auf Hindi, auf dem Kopf, als Blumenkohl verkleidet. Du kennst die Aufhänger und die Steigerungen, du hast deine drei aktuellen Themen, du weißt, wo du improvisieren und dann einen drauflegen kannst, ohne den Gang zu wechseln. Du kannst einen Zwischenrufer mit einem einzigen Schuss erledigen. Heute Abend würden sie über eine Katze hinter dem Mikro lachen, also warum fühlst du dich, als würde eine Faust in deinem Hintern stecken und dir langsam die Eingeweide herausziehen? Das heimische Publikum ist immer am schwierigsten, und heute haben sie die Macht. Daumen hoch, Daumen runter, stimm ab mit deiner Stimme in der Glasgower Hitze des Funny-Ha-Ha-Wettbewerbs. Es ist die erste Hürde für Edinburgh und einen Perrier Award, aber es ist immer die erste, über die man stolpert.

Jetzt zieht der Conférencier die langsame Steigerung durch. Die Leute rechts klatschen in die Hände. Die Leute links pfeifen durchdringend auf zwei Fingern. Die Leute auf der Galerie lassen ein gigantisches Gebrüll vom Stapel. Für. Mr. Vishram! Raaaayyy! Dann ist er draußen, rennt auf das grelle Bühnenlicht zu, dem Tosen des Publikums und seiner metallenen Mätresse entgegen, dem schlanken Stahltorso des einsamen Mikrofons.

Mit seinem Partyauge sieht er, wie sie ihren Mantel am Eingang abgibt, und beschließt: Ich werde es auf einen Versuch ankommen lassen. Erdmännchen machen. Den Kopf hoch erhoben, nach links und rechts schauen, alles im Blick behalten. Sie bewegt sich im Uhrzeigersinn durch den Raum auf die Bar zu. Ihr Kopf dreht sich in die andere Richtung, während sie durch den Dschungel aus Körpern navigiert. Sie ist unter Freunden, der furchteinflößende Profi, sie ist eins mit ihrem Körper, aber wenn man versucht, sie zu berühren, ist sie die Plumpe, die alles mitmachen wird. Er kann sie ausstechen, sie aufreißen. Vishram achtet auf das genaue Timing und erreicht die Theke einen Sekundenbruchteil vor ihr. Das Barmädchen blickt zweimal auf, nach links und rechts.

»Oh, Entschuldigung, Sie waren zuerst hier«, brüllt Vishram.

»Nein, Sie waren vor mir ...«

»Nein, nein, machen Sie nur ...«

Glasgower Akzent. Es ist immer gut, sich mit Einheimischen einzulassen. Sie trägt ein Top mit Rückenriemen und V-Ausschnitt und Hüfthosen, die so tief geschnitten sind, dass er die doppelte Rundung ihres sportlichen Hinterns sehen kann, als sie sich über die Theke beugt, um dem Barmädchen eine Bestellung zuzubrüllen.

»Kommen Sie, ich übernehme das.« Und zum Barmädchen: »Legen Sie noch einen Black Dog mit Wodka drauf.«

»Eigentlich sollten wir Ihnen einen ausgeben ...«, schreit sie ihm ins Ohr. Er schüttelt den Kopf, wagt einen Blick in die Runde, um zu sehen, ob seine Kumpels ihn beobachten. Sie tun es.

»Ich bin dran. Ich bin gut gelaunt.«

Die Flaschen kommen. Sie reicht sie an ihre Freunde weiter, die sich hinter ihr aufgestellt haben, und stößt mit ihnen an.

»Herzlichen Glückwunsch. Sind Sie jetzt weitergekommen?«

»Zum Finale in Edinburgh, ja. Danach Ruhm, Reichtum, meine eigene Sitcom ...« Zeit für Manöver eins. »Hören Sie, ich verstehe meine eigenen Gedanken nicht mehr, und ein geistreiches und brillantes Gespräch ist hier praktisch unmöglich. Könnten wir etwas von den Lautsprechern weggehen?«

In der Nische neben dem Zigarettenautomaten unter der Galerie ist es nur unwesentlich leiser als anderswo auf der Party, aber hier sind sie weiter weg von ihren Freunden, hier ist es dunkler.

»Ich habe für Sie gestimmt«, sagt sie.

»Danke. Dann bin ich Ihnen wirklich einen Drink schuldig. Tut mir leid, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«

»Ich hatte ihn noch gar nicht verraten«, sagt sie. »Anye.«

»Anye, ein guter ...«

»Gälischer.«

»Ja, ein guter gälischer Name. Gute gälische Gediegenheit.«

»Dafür können Sie sich bei meinen Eltern bedanken. Gute gediegene Gälen, alle beide. Wissen Sie, ich glaube, dass Bharat und Schottland sehr viel gemeinsam haben. Allein schon als neue Nationen.«

»Trotzdem glaube ich, dass wir Sie locker schlagen können, wenn es um gute altmodische religiöse Gewalt geht.«

»Sie haben offensichtlich noch kein Old-Firm-Derby gesehen.«

Während Anye redet, ist Vishram um sie herumgegangen und hat ihr den Zugang zur Tanzfläche und zu ihren Freunden versperrt. Als Manöver zwei — Isolation — abgeschlossen ist, geht er zu Manöver drei über. Er gibt vor, die Musik wiederzuerkennen.

»Das gefällt mir.« Er verabscheut es, aber es ist ein guter gediegener 115er. »Lust auf ein klein wenig Abrocken?«

»Ich hätte große Lust auf ein klein wenig Abrocken«, sagt sie und kommt aus der Nische auf ihn zu, ein leichtes Leuchten in den Augen. Fünf Tänze später hat er erfahren, dass sie im Hauptfach Jura an der Glasgow U studiert, aktives Mitglied der Schottischen Nationalpartei ist und Berge und neue Nationen mag. Außerdem geht sie gern mit ihren Kumpels aus und anschließend ohne sie nach Hause. Das klingt für Vishram Ray einwandfrei, also gibt er ihr einen weiteren Drink aus. Ihre Freunde haben sich zu einem verdrießlichen Haufen am Ende der Theke versammelt, nicht weit von den Damentoiletten entfernt. Er kippt seinen Drink schnell und unanständig hinunter, dann zerrt er sie für ein paar weitere Runden auf die Tanzfläche. Sie tanzt schwerfällig, aber enthusiastisch mit Armen und Beinen. Er mag es drall. Als der Rhythmus mit einer Mid-Tempo-Nummer einen Gang runtergeschaltet wird, ruft seine Hüfttasche seinen Namen. Doch er hört nicht darauf.

»Wollen Sie nicht rangehen?«

Er zieht den Palmer hervor und hofft, dass es jemand ist, der mit ihm über Comedy reden will. Leider nein. Vishram, hier ist Shastri. Nicht jetzt, alter Diener. Jetzt auf gar keinen Fall.

Aber allmählich langweilt ihn die Party. Zeit für Manöver vier.

»Willst du hierbleiben, oder wollen wir noch woanders hingehen?«

»Wie du meinst«, sagt sie.

Richtige Antwort.

»Hättest du Lust, auf einen winzig kleinen Kaffee mit zu mir zu kommen?«

»Ja«, sagt sie. »Sehr gerne.«

Draußen auf der Byres Road hängt immer noch das Blau der magischen Stunde über den Dächern. Die Autoscheinwerfer wirken unnatürlich, theatralisch, wie eine Nachtszene, die bei Tage gedreht wird. Das Taxi zeitlupt durch ein mitternächtliches Zwielicht. Anye ist ihm auf dem großen Ledersitz ganz nah. Vishram schiebt eine Hand rüber. Sie lehnt sich zurück, um vorn ihre Hüfthose zu öffnen. Er hakt sich unter das Gummiband des Höschens. Manöver fünf.

»Witziger Kerl«, sagt sie und führt seine Finger.

Der goldene Stein der Mietshäuser scheint im Halbdunkel zu leuchten. Vishram spürt die gespeicherte Wärme des Mauerwerks auf dem Gesicht. Vom Park weht der Geruch nach gemähtem Gras herüber.

»Nett hier«, sagt Anye. »Teuer.«

Vishram hat immer noch seine Hand in ihrer Hose und führt Anye mit seinem heißen Finger die Treppe hinauf. Seine Hüften, sein Atem, seine Bauchmuskeln sagen ihm, dass er sie groß, schwer und nackt auf seinem Fußboden nehmen wird. Er wird herausfinden, welche Laute sie von sich gibt. Er wird den Dreck in ihrem Kopf sehen, die Dinge, die ein anderer Körper ihr antun soll. In einem Anfall von Begehren stürzt Vishram fast durch die Tür. Sein Fuß schießt das Ding, das dahinter auf ihn wartet, quer durch den Flur. Er überlegt, es einfach liegen zu lassen. Die automatische Beleuchtung erhellt das grüne und silberne Logo der Company.

»Nur eine winzig kleine Sekunde.«

Seine Proto-Erektion lässt bereits nach.

Der Plastik-Briefumschlag höchster Priorität ist an Vishram Ray adressiert, Apartment 1a, 22 Kelvingrove Terrace, Glasgow, Schottland. Ihm wird leicht übel. Ernüchtert und enterigiert öffnet Vishram den Umschlag. Drinnen befinden sich zwei Gegenstände, ein Brief von Shastri, dem runzligen Bediensteten, und ein Ticket von Glasgow über Heathrow nach Varanasi, erste Klasse, ohne Rückflug.

Die Sache mit der Frau in dem teuren Anzug hat er in der Raja Class Lounge von Bharat Air angefangen, weil er immer noch high von seinem Sieg und dem Suff war, aber hauptsächlich war es seine frustrierte Libido.

Er hatte kaum den Reißverschluss über seinen zusammengestopften Reisesachen zugezogen, als der Wagen eintraf. Er bot Anye an, sie nach Hause zu bringen. Sie antwortete ihm mit dem eiskalten Blick einer gediegenen SNP-Aktivistin.

»Tut mir leid, eine Familienangelegenheit.«

Ihr war bestimmt kalt, in dieser Hose und mit so viel bloßer Haut, als sie durch die Glasgower Vordämmerung des frühen Augusttages davonhastete. Nach dem Einchecken blieben Vishram noch zehn Minuten. Er war der einzige Passagier in der ersten Sitzreihe des kurzen Shuttleflugs nach London. Als er das Ende der Luftbrücke erreicht hatte, war ihm leicht schwindlig vom Tempo, mit dem alles ablief, und er machte sich direkt auf den Weg zur Lounge der ersten Klasse, fest entschlossen, sich einen Wodka zu bestellen. Duschen, Rasieren, Kleidung wechseln und einen polnischen Kurzen runterkippen — das alles hatte seine Vishram-Ray-heit wiederhergestellt. Er fühlte sich gut genug, um zu versuchen, die Frau im flugreisebequemen Anzug zu einem zwanglosen Geplauder zu verführen. Nur um die Zeit zu vertreiben.

Ihr Name ist Marianna Fusco. Sie ist Firmenanwältin. Sie wurde nach Varanasi gerufen, um sich um eine komplizierte Treuhandschaftsangelegenheit zu kümmern.

»Ich bin nur das schwarze Schaf, der Hofnarr. Der jüngste Bruder, der nach England geschickt wurde, um an irgendeiner ’bridge-Universität Jura zu studieren. Allerdings landet er schließlich in Schottland und versucht sich als Stand-up-Comedian. Was zufällig die höchste menschliche Kunstform ist. Und gar kein großer Unterschied zu dem, was ein Anwalt macht, vermute ich. Wir sind beide Rampensäue.«

Darauf steigt sie nicht ein. Stattdessen fragt sie: »Wie viele Brüder?«

»Noch ein großer und ein mittelgroßer Bär.«

»Keine Schwestern?«

»Es gibt nicht viele Schwestern in Varanasi, zumindest nicht in meinem Stadtteil.«

»Davon habe ich gehört«, sagt sie und wendet sich ihm auf der Ledercouch zu, um sich bequemer unterhalten zu können. »Wie lebt es sich in einer Gesellschaft, in der es viermal so viele Männer wie Frauen gibt?«

»Wir leben damit, dass wir nur selten mit Anwältinnen zu tun haben«, sagt Vishram und lehnt sich auf dem knirschenden Polster zurück. »Es gibt überhaupt nur wenige Damen, die einem Beruf nachgehen.«

»Ich werde mir merken, dass ich meinen Vorteil ausnutzen sollte«, sagt die Anwältin. »Darf ich Ihnen noch einen Wodka ausgeben? Wir haben einen langen Flug vor uns.«

Kurz nach dem dritten werden sie zum Boarding aufgerufen. Vishrams Sitz lässt sich komplett zurückklappen. Nach all den Jahren in Billigfliegern ist die Beinfreiheit unglaublich. Er hat so viel Spaß mit den Knöpfen und Spielzeugen, dass er gar nicht den Passagier bemerkt, der sich neben ihm anschnallt.

»Oh, hallo! Na, wenn das kein Zufall ist?«, sagt er.

»Ist es nicht«, sagt Marianna Fusco und zieht ihre Jacke aus. Unter dem Top aus Stretchbrokat kommen sportliche Arme zum Vorschein.

Der erste Armagnac wird über Belgien serviert, als das Überschallflugzeug steil zur Reiseflughöhe von dreiunddreißig Kilometern aufgestiegen ist. Normalerweise zieht Vishram dieses Getränk nie in Erwägung. Er ist ein Wodka-Boy. Aber nun findet er, dass der Weinbrand recht gut zur Persönlichkeit passt, die er hier spielt. Marianna Fusco und er unterhalten sich im Indigohimmel über ihre Kindheit — über ihre in einer großen Familiensippe, die sich durch Heiraten und Wiederheiraten ausgebreitet hat, ihre Familienkonstellation, wie sie es nennt, dann über seine im bürgerlichen Patriarchat von Varanasi. Für sie ist die entstehende soziale Schichtung faszinierend und erschreckend zugleich, wie es die Engländer schon immer empfunden haben. Es ist das, was sie auf ewig an der indischen Kultur und Literatur lieben werden. Die aufregende und bedrückende Vorstellung eines wirklich guten Klassensystems.

»Ich komme tatsächlich aus einer recht begüterten Familie.« Gut so, immer ein bisschen hochstapeln. »Aber es sind keine Brahmanen. Weder sozio- noch biologisch. Mein Vater ist ein Kshatriya, recht fromm auf seine bescheidene Art. Für ihn wäre es Blasphemie, an der DNS herumzuschrauben.«

Zwei weitere Armagnacs, und das Gespräch döst ein. Den Sitz komfortabel komplett zurückgelehnt, hüllt sich Vishram bis zum Hals in die Airline-Decke. Er stellt sich die Kälte des Fast-Weltraums hinter der Nanocarbonwand vor. Marianna bewegt sich unter ihrer Decke neben ihm. Sie ist warm und viel zu nahe und atmet im gleichen Rhythmus wie er.

Manöver sechs. Irgendwo über dem Iran legt er eine Hand auf ihre Brust. Sie rückt näher an ihn heran. Sie küssen sich. Mit Armagnac-Zungen. Sie ruckelt noch näher ran. Er holt ihre Brüste aus dem weißen Stretchtop. Marianna Fusco hat große Warzenhöfe mit Gänsehaut und Brustwarzen wie Patronen. Sie krempelt ihren bequemen, aber geschäftsmäßigen Rock hoch, als der Schockwellenreiter Mach 3,6 erreicht. Er leckt und versucht zu reiben, doch Marianna Fusco fängt ihn ab und führt seinen Finger zu jenem anderen unverschämten Loch. Sie keucht leise, schiebt seinen Finger ganz hinein und zieht geschickt seinen Reißverschluss auf. Vishram Rays schwerer Schwanz fällt heraus und in die Lücke zwischen den Sitzen. Marianna Fusco reibt mit dem Daumen über die Eichel. Vishram Ray bemüht sich, für die Stewardess unhörbar zu bleiben, und bearbeitet mit dem Daumen die Klitoris.

»Rotieren«, flüstert sie. »Rotieren, verdammt!«

Sie legt ein Bein hoch und drückt sich fester gegen seinen Zeigefinger. Sutra bei 33 km. Auf einem Viertel des Weges bis zum Orbit kommt Vishram Ray vorsichtig in eine Serviette der BharatAir Raja Class. Marianna Fusco hat sich ein Stück eines Flugzeugkopfkissens in den Mund gesteckt und gibt ein gedämpftes, leises Wimmern von sich. Vishram dreht sich zurück und spürt jeden Zentimeter der Flughöhe unter sich. Er hat es soeben in den exklusivsten Club des Planeten geschafft, den Twenty-Five-Mile-High-Club.

Sie säubern sich in der Toilette, jeder für sich, und kichern hemmungslos, sobald sich ihre Blicke treffen. Sie rücken ihre Kleidung zurecht und kehren nüchtern auf ihre Plätze zurück. Wenig später spüren sie, wie sich die Tonlage ändert, als der Aerospacer zum Landeanflug übergeht und wie ein brennender Meteor zur Indus-Ganges-Ebene hinunterrast.

Er wartet auf der anderen Seite der Zollkontrolle auf sie. Er bewundert den Schnitt ihrer Kleidung, wie sie mit ihrer Größe und gediegenen Art, sich zu bewegen, aus der Masse der Bharatis hervorsticht. Er weiß, dass es keine Anrufe oder E-Mails, kein Wiedersehen geben wird. Eine professionelle Beziehung.

»Darf ich Ihnen eine Mitfahrgelegenheit anbieten?«, fragt er. »Mein Vater hat zweifellos einen Wagen geschickt. Ich weiß, das ist etwas kitschig, aber wenn es um solche Sachen geht, ist er altmodisch. Es wäre kein Problem für mich, Sie an Ihrem Hotel abzusetzen.«

»Danke sehr«, sagt Marianna Fusco. »Ich mag es nicht, wie es am Taxistand aussieht.«

Der Wagen ist leicht zu erkennen. Der Chauffeur lässt tatsächlich Firmenfähnchen von Ray Power auf den Kotflügeln flattern. Er zögert keinen Augenblick, Marianna Fuscos Tasche zu nehmen und im Kofferraum zu verstauen, bevor er eine kleine Schar Bettler und Badmashs vertreibt. Von den paar Sekunden Hitze zwischen dem Flughafen und dem Wagen mit Klimaanlage ist Vishram wie betäubt. Er hat sich zu lange in kühleren Breiten aufgehalten. Und er hat den Geruch vergessen, den nach Rosenasche. Der Wagen fährt in die Wand aus Farben und Geräuschen hinein. Vishram spürt die Hitze, die Wärme der Körper, den schmierigen Kohlenwasserstoffruß auf den Glasscheiben. Die Menschen. Der nie versiegende Strom der Gesichter. Die Körper. Vishram entdeckt eine neue Empfindung. Ihr wohnt die vertraute Melancholie des Heimwehs inne, aber sie wird durch das schreckliche alltägliche Elend der Menschen ausgedrückt, die sich unter diesen Boulevards drängeln. Heimekel. Nostalgische Abscheu.

»Wir sind hier in der Nähe des Sarkhand Roundabout, nicht wahr?«, sagt Vishram auf Hindi. »Ich würde ihn gern sehen.«

Der Fahrer wackelt mit dem Kopf und biegt an der nächsten Kreuzung rechts ab.

»Wohin fahren wir?«, fragt Marianna Fusco.

»Zu etwas, wovon Sie Ihrer Familienkonstellation erzählen können«, sagt Vishram.

Die Hauptstraße wurde von der Polizei gesperrt, so dass der Fahrer einen Weg nimmt, den er kennt, durch eingeweideartige schmale Hintergassen, bis er plötzlich mitten in einen Tumult gerät. Er tritt auf die Bremse. Ein junger Mann rollt über die Motorhaube. Er rappelt sich auf, scheint eher irritiert als verletzt zu sein, ein pummeliger Anfangzwanziger mit dem Flaum eines heiligen Schnurrbarts. Trotzdem hat der Zusammenstoß den Wagen und die Insassen durchgeschüttelt. Sofort wendet sich die Aufmerksamkeit der Menge von der bunten Hanuman-Statue unter dem schattigen Beton-Chhatri ab. Hände trommeln auf die Haube, das Dach, gegen die Türen, lassen den Wagen auf den Stoßdämpfern wippen. Die Menge sieht einen großen Mercedes mit getönten Scheiben und Firmenwimpeln — etwas, das mit den Mächten alliiert ist, die ihr Heiligtum zerstören und in eine Metrostation verwandeln wollen.

Der Fahrer legt den Rückwärtsgang ein und gibt Gummi, als er durch die Gasse zurücksetzt, unter den Wäscheleinen und gebrechlichen Balkonen hindurch. Ziegelsteine fliegen durch die Luft und knallen gegen die Metallkarosserie. Marianna Fusco stößt einen leisen Schrei aus, als die Windschutzscheibe plötzlich von einem weißen Spinnennetz überzogen ist. Der Fahrer lenkt nach der Heckkamera und steuert den Wagen zwischen zwei Bambusgerüsttürmen hindurch. Die jungen Karsevaks jagen den Wagen, schlagen ihn mit Lathis und verfluchen die treulosen Ranas und ihre dämonischen moslemischen Imageberater. Sie schwenken die abgerissenen Firmenwimpel. Eine Benzinbombe in diesen Gassen, und es würde Hunderte von Toten geben, denkt Vishram Ray. Aber der Fahrer navigiert durch das Labyrinth, bis er den Ausgang gefunden hat, eine kleine Lücke im stetigen Verkehrsstrom ausnutzt und den Wagen rückwärts hineinwirft. Laster Busse Mopeds kommen schlagartig zum Stehen. Der Fahrer hantiert mit der Handbremse. Die heiligen Jungen folgen ihnen durch den Verkehr, zwängen sich zwischen Phatphats und japanischen Pick-ups hindurch, die mit hinduistischer Ikonographie geschmückt sind. Sie rennen und kommen näher. Der Fahrer hebt verzweifelt die Hände. In diesem Verkehr lässt sich nichts machen. Als Vishram sich umblickt, kann er ihre Buttons an den Hemden lesen. Dann schreit Marianna Fusco Großer Gott!, und der Wagen kommt so abrupt zum Stehen, dass Vishrams Nasenrücken gegen die Lehne des Fahrersitzes stößt. Durch Tränen und Benommenheit sieht er, wie vor ihm ein stählerner Dämon aus dem Himmel fällt. Ravana, der Verschlinger, der Dämonenkönig, kauert auf hydraulischen Titanschenkeln, zehn Schwertklingen wie ein Fächer ausgebreitet. Der winzige Gottesanbeterinnenkopf blickt genau in seine Richtung und entfaltet ein Dentistenarsenal aus Sensoren und Sonden. Dann setzt er zu einem weiteren Sprung an. Vishram spürt, wie krallenbewehrte Zehen am Wagendach reißen. Er fährt herum und sieht durch das offene Heck, wie die Maschine neben einer Bushaltestelle landet. Der Verkehr erstarrt, die Karsevaks flüchten wie eine Herde Ziegen. Das Ding stapft über die Straße davon und vierteilt den Boulevard mit Gatling-Kanonen. Auf dem Panzer trägt es das Sternenbanner. Ein US-Kampfroboter.

»Was zum ...?« Während seiner Einreise muss der Krieg ausgebrochen sein. Der Fahrer zeigt über die Kreuzung auf eine Straße mit Neonschaufenstern und leuchtenden Schirmen, wo ein Mann in dunkler und teurer Kleidung die sich entfernende Maschine mit gebrüllten Verwünschungen eindeckt. Hinter ihm liegen zwei filetierte Mercedes-Geländewagen. Der Mann hebt einen Klumpen aus Metall und Elektronik auf und wirft sie dem Kampfroboter hinterher. »Ich weiß immer noch nicht ...«

»Sahb«, sagt der Fahrer und legt den Gang ein. »Waren Sie so lange fort, dass Sie Varanasi vergessen haben?«

Die Fahrt zu Marianna Fuscos Hotel verläuft in bedrücktem Schweigen. Sie bedankt sich höflich bei ihm, der Rajput-Pförtner salutiert und nimmt ihre Tasche entgegen. Dann steigt sie die Stufen hinauf, ohne sich noch einmal umzublicken.

Sieht eher nicht nach einem Folge-Fick aus.

Die ramponierte Limousine fährt durch das Tor zwischen dem Auto-Ersatzteilladen und der IT-Schule, im Schutz der Ashok-Bäume. Sofort ist er in einer anderen Welt. Das Erste, was man sich in Indien mit Geld kaufen kann, ist Privatsphäre. Der Straßenlärm wird zu einem leisen Hintergrundrauschen. Der Wahnsinn der Stadt ist ausgeblendet.

Das Hauspersonal hat entlang der Auffahrt Naphtha-Fackeln entzündet, um den heimgekehrten verlorenen Sohn willkommen zu heißen. Trommler begrüßen Vishram Ray mit einem Zapfenstreich und eskortieren den Wagen. Dann kommt das Haus in Sicht, groß und stolz und im Flutlicht unglaublich weiß. Vishram spürt ungebetene Tränen in den Augen. Als er noch unter diesem Dach lebte, schämte er sich, wenn er zugeben musste, dass er in einem Palast residierte. Die Säulen und Ziergiebel ließen ihn erschaudern, genauso wie der breite Portikus, mit Geißblatt und Hibiscus bewachsen, das verdammte Weiß, die Innenräume aus gefegtem Marmor und kuriosen alten pornographischen Holzschnitzereien und Decken, die im nepalesischen Stil bemalt sind. Eine Händlerfamilie hatte es während der britischen Herrschaft so erbaut, dass es sie an ihre Heimat erinnerte. Das Shanker Mahal hatten sie es genannt. Nun sind Vishrams jugendliche Verachtung und die Scham, privilegiert zu sein, verschwunden, als er aussteigt und das Haus ihn mit den wohlvertrauten Gerüchen nach Staub und Niembäumen überfällt, dem Moschus der Rhododendren und dem leichten Gestank des Abwassersystems, das nie richtig funktioniert hat.

Sie erwarten ihn auf der Treppe. Der alte Shastri auf der untersten Stufe namastiert bereits. Er wird auf zwei Seiten vom Hauspersonal flankiert, die Frauen zu seiner Linken, die Männer zur Rechten. Ram Das, der greise Gärtner, ist immer noch da. Er muss inzwischen unvorstellbar alt sein, aber noch genauso eifrig in seinem ewigen Krieg gegen die Affen, wie Vishram keinen Augenblick lang bezweifelt. Auf den mittleren Stufen stehen seine Brüder. Ramesh, der älteste, wirkt größer und schmaler denn je, als würde die Gravitation der interstellaren Objekte, die er studiert, ihn in Richtung Himmel ziehen, ihn zu einem dünnen Strang aus Fragen machen. Immer noch kein weiblicher Anhang. Selbst in Glasgow hat Vishram aus der indischen Diaspora-Gerüchteküche von Wochenendreisen nach Bangkok gehört. Daneben Govind, der perfekte Bruder. Perfekter Anzug, perfekte Frau, perfekte Zwillingserben Runu und Satish. Vishram bemerkt, dass er am Rumpf Fett angesetzt hat. DiDi, der Stern, die ehemalige Moderatorin im Frühstücks-Tivi und begehrte Braut, ist an seiner Seite. Und an ihrer Seite wiegt die Aya den jüngsten Sprössling der Dynastie. Ein Mädchen. Voll 2047-mäßig. Vishram gurrt und kichert die kleine Priya an, aber etwas an ihr vermittelt ihm den Eindruck, dass sie eine Brahmanin ist. Etwas Ursprüngliches, etwas Pheromonisches, eine Veränderung in der Körperchemie.

Seine Mutter hält die oberste Stufe besetzt, mit überragender Ehrerbietung, wie sie in Vishrams Erinnerung schon immer gewesen war. Ein Schatten zwischen den Säulen. Sein Vater ist nicht anwesend.

»Wo ist Dadaji?«, fragt Vishram.

»Er wird sich morgen in der Firmenzentrale mit uns treffen«, ist alles, was seine Mutter dazu sagt.

»Weißt du, worum es geht?«, wendet sich Vishram an Ramesh, nachdem sie die Begrüßungen und Tränen und Ach-was-bist-du-groß-geworden-Beteuerungen hinter sich gebracht haben. Ramesh schüttelt den Kopf, während Shastri mit einem Finger nach einem Träger winkt, der Vishrams Koffer in sein Zimmer hinaufbringen soll. Vishram will keine Fragen nach dem Wagen beantworten, also schiebt er einen Jetlag vor und beschließt, zu Bett zu gehen. Er hat erwartet, wieder sein altes Zimmer zu bekommen, aber der Träger führt ihn zu einem Gästeschlafzimmer auf der Sonnenaufgangsseite des Hauses. Vishram ist beleidigt, weil man ihn wie einen fremden Besucher behandelt. Doch nachdem er seine paar Sachen in den riesigen Schränken und Kommoden aus Mahagoni verstaut hat, ist er froh, bei der Rückkehr aus seinem erwachsenen Leben nicht von den Dingen aus seiner Kindheit beobachtet zu werden. Sie würden ihn zurückzerren, ihn wieder zum Teenager machen. In diesem alten Haus gab es noch nie eine brauchbare Klimaanlage, so dass er sich nackt auf die Laken legt, angewidert von der Hitze. Dann erkennt er Gesichter im gemalten Laub an der Decke und horcht auf das Rütteln von Affenhänden und -füßen in den Ranken vor seinem Fenster. Er treibt bereits an der Grenze zum Schlaf und driftet ins Unbewusste ab, als er plötzlich wieder aufwacht, weil halb vergessene Geräusche aus der Stadt zu ihm durchdringen. Vishram gibt sich geschlagen und tritt nackt auf den eisernen Balkon. Die Luft und das Parfüm der Stadt bestäuben seine Haut. Ansammlungen blinkender Flugzeuglichter bewegen sich die dunstige gelbe Skyline entlang. Die Soldaten, die während der Nacht fliegen. Er versucht sich einen Krieg vorzustellen. Roboter, Killermaschinen, die durch die Gassen rennen, Titanklingen in allen vier Händen, Avatare von Kali. Kaih-Kampfjäger, deren Piloten sich auf der anderen Seite des Planeten befinden und die im Tiefflug über den Ganges herankommen. Awadhs amerikanische Verbündete kämpfen auf die moderne Weise, ohne dass ein einziger Soldat das Land verlässt, ohne einen einzigen Leichensack. Sie töten aus kontinentalen Entfernungen. Er befürchtet, dass die seltsame Szene, die heute auf der Straße aufgeführt wurde, prophetische Bedeutung hat. Zwischen der Wasserkrise und den Fundamentalisten ist den Ranas jeglicher Handlungsspielraum abhandengekommen.

Knirschender Kies und eine Bewegung auf dem silbrigen Rasen. Ram Das taucht aus dem Mondschatten unter den Harsingars auf. Vishram erstarrt auf dem Balkon. Eine weitere westliche Verhaltensweise, die er angenommen hat: zwanglose Nacktheit. Ram Das tritt auf den rasierten Rasen, teilt sein Dhoti und pisst unter dem trägen Mond von Indien, der den Kopf schief hängen lässt wie ein Tempel-Gandharva. Ram Das schüttelt ab, dreht sich um und wackelt dann langsam mit dem Kopf in Vishrams Richtung — ein Gruß, eine Segnung. Er geht weiter. Ein Pfau schreit.

Endlich zu Hause.

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