Teil III Und mehr als Andymon

Eine Frage der Perspektive

Eine Handvoll Menschen, halbe Kinder noch, gegen einen Himmelskörper, einen Milliarden Jahre alten Planeten. Uns kam es vor, als würde unser verbissener, nimmermüder Ansturm ihn aus der Bahn werfen, Andymon.

Wie sehr hatte unsere Tatkraft den Planeten in den letzten Monaten verändert! Wir rissen seinen harten Boden auf, um nach Erzen zu schürfen, säten und pflanzten. Wir errichteten lange Reihen von Gewächshäusern und hatten längst die ersten auf Andymon produzierten Geräte in Betrieb genommen.

Und Andymon-City wuchs trotz aller unterschiedlichen architektonischen Vorstellungen. Der zentrale Platz unserer Stadt, die vorerst kaum Straßen, geschweige denn weitere Plätze hatte, am liebsten hätte ich ihn umzäunen und aus den Karten streichen lassen, soviel kostbare Zeit fraßen die Diskussionen um seine Gestaltung. Zeth, immer bedacht auf glatte und großzügige Lösungen, hielt Betonplatten für das einzig Rationale. Nun, über einen Springbrunnen ließe sich allenfalls reden… Doch Alfa und Teth waren bereits dabei, überall, kreuz und quer, Blumenrabatten anzulegen. Kein Roboterwagen hatte mehr freie Fahrt. Gamma vermittelte zum Schluß so geschickt, daß sie ihr Lieblingsprojekt, einen Aussichtsturm an zentraler Stelle, durchsetzen konnte, ein Wahrzeichen, alles überragend und den Charakter unserer Siedlung bestimmend.

Aber nicht nur wir veränderten das Angesicht Andymons. Wir? Ja, aus dieser Zeit stammt auch die erste Unterscheidung von „wir“ und „sie“. Im Schiff hatten wir geplant, zusammen zu siedeln, alle an einem Ort zu wohnen. Doch von Anfang an errichteten die Jüngeren, die fünfte und sechste Gruppe, ihren eigenen Stützpunkt. Weit über hundert Kilometer von Andymon-City entfernt, jenseits des Hochplateaus in einer — so hofften wir alle — künftig fruchtbaren Ebene. Noch vor Jahresfrist hatten gewaltige Schlammassen sie überflutet.

Wir krempelten den Planeten um. — Wirklich? Hielt ich die Aufnahmen aus dem Schiff in der Hand, sah ich verstreut und vereinzelt Punkte, winzige Flecken menschlicher Aktivität. Ringsumher ein Ozean toter Steine, schier grenzenlos, ohne Ende. Nur vom Turm aus mit der Kurzsichtigkeit menschlicher Augen ließ sich sagen: Schaut, wie wir die Wüste besiegen! Vivat Andymon! Aber behält die subjektive, menschliche Sicht nicht doch recht? Es ist nur eine Frage der Perspektive. Räumlich — und zeitlich.

Geborene und Ungeborene

Eine riesige schimmernde Blase, vielleicht einen Kilometer im Durchmesser, lag vor uns auf der graubraunen Ebene.

„Das also ist Szadeths geheimnisvolles Projekt“, sagte ich zu Gamma, die turnusmäßig den Kopter steuerte. Gamma nickte. Wir flogen sehr niedrig. Der Kopter wirbelte feinen Staub auf, der unsere Spur durch eine weithin sichtbare Wolke markierte.

„Ich bin gespannt, was sich unter der Plastkuppel verbirgt. Zeths Beispiel, Baustellen auf diese Weise zu schützen, hat offensichtlich Schule gemacht.“

Wir versuchten, mit unseren Augen die Hülle zu durchdringen, doch irisierende, schillernd bunte Reflexe verwehrten uns den Blick. Undeutliche Schemen am Boden, mehr war nicht zu erkennen.

Eigentlich wollte ich von Szadeth nur erfahren, mit welchem Erfolg er den Parasiten bekämpft hatte. Der wäre längst vergessen, meinte Szadeth, aber wir sollten ihn unbedingt besuchen kommen, er würde uns in ein neues, Andymon veränderndes Projekt einweihen.

Nein, ich war nicht blind damals. Ich hatte Szina und Szadeth, die mit den Geschwistern aus der fünften und sechsten Gruppe in der zweiten Siedlung lebten, lange nicht getroffen, nur dann und wann über das Videofon gesprochen. Aber selbst wenn sie vor mir gestanden hätten… Ich war es einfach nicht gewohnt, die Anzeichen zu sehen, und mein Verstand hatte noch nicht gelernt, sie zu deuten.

Über Funk meldete sich Alfa. „Zeth und ich kommen nach. Szadeths Einladung gilt doch auch für uns. Wir sind jetzt fertig.“

„Ja, weshalb nicht! Wir sehen uns dann bei ihm.“

Alfa, unsere Alfa., Sie war so leicht in Panik zu versetzen. „Niemand hat mehr den Überblick, was auf Andymon alles geschieht. Das geht bestimmt nicht gut!“ unkte sie. — Der Tadel galt mir.

Jetzt, aus der Nähe, sah die Kuppel gewaltig und zugleich zart aus wie eine überdimensionale Seifenblase. Ich hatte gerade noch Zeit, ein paar grüne Flächen und einige niedrige Gebäude in ihrem Inneren zu erspähen, da landete Gamma den Kopter absolut exakt in der Mitte der planierten Fläche am Fuß der Kuppel.

„Na, komm schon, worauf wartest du noch?“ rief sie ungeduldig. Ich verstehe bis heute nicht, weshalb die Gurte ihr stets besser gehorchten als mir.

Wir stiegen aus und gingen durch die Schleuse ins Innere der Kuppel, die unter leichtem Überdruck stand. Ich schaute mich um und war enttäuscht, nirgendwo stand eine Maschinerie, die den Aufwand der Plastblase gerechtfertigt hätte. Auf dem vielerorts steinigen, aber hier und da mit größeren Grasflächen überzogenen Boden wuchsen in verstreuten Gruppen Bäume. Die höchsten auf Andymon. Sie reckten sich bis zu zehn Metern auf, ganz eindeutig waren sie aus dem Naturpark des Schiffs geholt worden.

„Vielleicht wollen sie Mimosen züchten?“ Gamma war augenscheinlich genauso ratlos wie ich.

Szadeth lief uns in kurzen elastischen Sprüngen entgegen. Er trug nur Shorts, die hell von seinem schwarzen Körper abstachen.

„Hallo, Szadeth“, begrüßte ich ihn, „wenn ich dich so sehe, schaust du wirklich wie deine australischen Vorfahren aus.“

Er lachte, und wir gingen gemeinsam auf dem schmalen Trampelpfad über grob eingeebnete Geröllfelder mit ersten Grasbüscheln zu den wenigen Häusern im Zentrum der Kuppel.

Szadeth erklärte knapp: „Hier leben wir jetzt.“

Im hufeisenförmigen Gemeinschaftshaus war die Küche untergebracht. In seinem Innenhof standen Tische und Bänke für gemeinsame Mahlzeiten und Versammlungen.

„Es ist gut, daß ihr kommt“, sagte er plötzlich. „Resth meint zwar, ihr würdet uns sowieso nicht verstehen, aber..

Er brach ab, denn Szina kam uns entgegen. Ihr sonst so weiches, fast noch kindliches Gesicht war härter geworden, und trotz des lose fallenden himmelblauen Kleides schien sie mir dicker.

Gamma war es auch aufgefallen, denn sie fragte: „Szina, wie geht es dir? Du siehst krank aus.“

„Nein, ich bin schwanger, Gamma.“ Ihre Augen glänzten.

„Was, nein, das ist unmöglich, wie konnte das nur passieren?“ Ich war total durcheinander, dachte an die Hormone in unserer Nahrung und musterte dabei unwillkürlich immer wieder ihren Körper.

Gamma erriet die Wahrheit. „Ihr habt das gewollt?“

„Aber das ist verrückt!“ Ich schüttelte abwehrend den Kopf.

Sie lachten beide über meine Verwirrung. Um überhaupt zu reagieren, flehte ich Gamma an: „Sag doch was, Gamma!“ Da mußte auch sie lachen.

Szadeth klopfte mir beruhigend auf die Schulter. „Aber Beth, was hast du? Kinderkriegen ist die natürlichste Sache auf der Welt…“

„Auf der Erdwelt vielleicht, nicht auf Andymon. Wozu haben wir die Inkubatoren?“

„Beth, beruhige dich erst mal, gehen wir ein wenig spazieren.“ Szadeths Stimme klang fast amüsiert. Aber er schien auf unsere Meinung zu warten und auf unsere Zustimmung Wert zu legen.

„Wir zeigen euch unsere Oase, einverstanden?“ fragte Szina. „Hier sollen unsere Kinder spielen können, ungestört, ungefährdet, frei wie im Naturpark, verstehst du…?“

Ich nickte, doch meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ich versuchte, meine Gefühle zu analysieren, es war nicht nur eine Überraschung für mich, es war ein Schock. Szina und Szadeth hatten ebensowenig wie ich Vater und Mutter vermißt, wie kamen sie darauf, Kinder in die Welt zu setzen? Hatte sie der Schiffscomputer dafür ausgebildet, darauf programmiert? Vater zu sein, sich um eigene Kinder zu sorgen, das war so unwirklich wie ein Totaloskoptraum…

„…deshalb brauchen wir die Kuppel unbedingt, wir können nicht das Risiko eingehen, daß unsere Babys die stinkende Luft Andymons atmen, vielleicht ist sie trotz aller Tests schädlich. Außerdem werden wir hier ein voll kontrolliertes Ökosystem aufbauen, etwas, das uns kein Sturm wegbläst, keine Sturzflut wegschwemmt, eben unsere Oase.“

Es war einfach irrational. Aber was war schon rational? Ich ging nur von anderen Voraussetzungen aus, anderen Vorstellungen, die waren nicht rationaler, begründeter als ihre. Es war ihre Entscheidung, ich würde mich damit abfinden müssen.

„… und hier werden wir einen kleinen See anlegen, schon nächste Woche, dazu werden wir eine künstliche Quelle schaffen, der Grundwasserspiegel pendelt sich allmählich ein. Schließlich sollen unsere Kinder auch baden können wie im Naturpark. Und wir ebenfalls.“ „Und die Schiffskinder? Wird es da nicht Zank und Streit und Feindschaft geben?“ fragte Gamma.

„Wir werden eine Versammlung aller einberufen“, sagte nun Szadeth, „schließlich geht es nicht nur um unsere persönliche Zukunft. Und wir werden beantragen, die Inkubatoren im Schiff auslaufen zu lassen.“

Das war nur die logische Konsequenz. Ich blickte über die Wiese vor uns, es gab bereits Blumen auf Andymon. Ein Sprenger beregnete sie.

„Ich bin dagegen“, hörte ich Gamma murmeln.

„Szadeth, sind wir denn schon genug Individuen für eine genetisch stabile Population?“ fragte ich. „Sicher werden sich nicht alle wie ihr verhalten.“

„Der Genpool reicht nach meiner Berechnung aus, er ist äußerst heterogen. Und wenn nicht? Nichts ist leichter, als die genetischen Reserven des Schiffs anzuzapfen. Aber das ist nicht unser Problem und auch nicht das der nächsten Generation.“

„Es stimmt natürlich, daß vor uns jetzt die Aufgabe, hm, einer gezielten Bevölkerungsexplosion steht“, sagte Szina lächelnd, „ich bin jedenfalls bereit, meinen Anteü beizutragen. Und Pea, Kafa und Tawa ebenfalls. Es werden sich nicht viele ausschließen, nein, unsere Kinder werden Andymon bewohnen, nicht Inkubatorengeschöpfe.“

„So armselig komme ich mir gar nicht vor“, revoltierte Gamma.

Wo ich Andymon mit Maschinen und Energie bezwingen wollte, setzten sie ihre Leiber ein, wollten sie sich ihn so aneignen wie die Urmenschen die Erde. All meine Prognosen von der Zukunft Andymons waren damit hinfällig geworden, papierne Szenarien, die ewig Planspiele bleiben würden. Was nutzte es, soviel vorherzuberechnen, wenn die Geschwister eigene, doch irgendwie irrationale Wege gingen? Alle projektierten Soziologien verloren ihren Wert, alle Argumente wurden belanglos.

Durch die transparente Kuppel sah ich, wie ein weiterer Kopter landete. Alfa und Zeth waren angekommen. In knappen Worten klärte ich sie über die phantastische Entwicklung auf.

Zeth machte sich ganz gegen seine Gewohnheit sofort Luft. „Was denkt ihr euch nur? Wir rackern uns ab, richten Andymon ein, schuften Tag und Nacht, und ihr, ihr habt nichts Besseres zu tun, als Kinder zu bekommen, denkt nur an euch und Nachwuchs. Hättet ihr denn nicht wenigstens warten können, bis wir Andymon einigermaßen fertig haben? Statt dessen kriecht ihr unter eine Kuppel…“

„Andymon wird nie fertig“, wandte Szadeth ruhig ein, doch Zeth redete einfach weiter. Und er sprach manches taktlos aus, was auch mir durch den Kopf gezogen war.

„…denkt wohl, das ist eure Privatangelegenheit? Außerdem seid ihr noch viel zu grün dazu, ihr versaut euch vielleicht das ganze Leben damit. Die Inkubatoren und Rammas können das viel besser.“

Alfa legte ihm beruhigend ihre Hand auf die Schulter.

Er hielt eine Sekunde ein, schaute sie kurz an, zuckte mit den Achseln. „Na, ist doch wahr, wenn sie fühlen wollen, wie es ist, brauchen sie’s nur im Totaloskop durchzuspielen. Da vergeht ihnen die Lust aufs Kinderkriegen schon.“

„Zeth, Zeth, du mußt ja nicht…“ Szina betonte das „du“ so deutlich, daß Zeth verstummte. Wir Männer hatten nach ihrer Auffassung hier nicht mitzureden. Trotzdem brachte sie eine erstaunliche Geduld mit ihm auf. „Weißt du, Zeth, die Totaloskope sind uns nicht genug. Außerdem geht es uns nicht um die Geburt, sondern um die Kinder, eigene Kinder. Wir wollen Realität, die volle Wirklichkeit mit allem Schmerz und aller Freude. Wir wollen voll Mensch sein, verstehst du?“

Ich schaute Alfa an, die einen recht hilflosen Eindruck machte, unfähig, Szina zu verstehen oder zu verurteilen. Gamma sah finster nachdenklich vor sich hin.

Wir gingen wieder den Pfad entlang, die kleine Welt unter der Kuppel war viel rauher, viel steiniger, viel weniger bunt als der riesige Naturpark des Schiffs, aber auch sie würde Kindern gefallen. Wir schwiegen eine Weile. Von einem der Bäume flogen Vögel auf, zogen eine Schleife, ließen sich anderswo nieder.

„Die Kinder aus dem Schiff könnten auch hier leben“, schlug Szadeth vor, „Platz genug ist, zumindest für die Kleineren.“

Jetzt kamen die Vögel direkt auf uns zugeflogen. Ich wußte nicht, zu welcher Art sie gehörten, aber das war belanglos. Es waren an-dymonische Vögel.

Während wir uns einer der Senken näherten, tauchte aus einem der Häuschen eine Gestalt auf, die ich aus der Entfernung nicht erkannte. Ohne uns zu begrüßen, verschwand sie wieder.

„Das wird Resth gewesen sein“, erklärte Szina, „er hält nichts davon, daß wir mit euch reden, er meint, man müßte euch vor vollendete Tatsachen stellen, nur die würdet ihr akzeptieren. Ja, er bekommt auch ein Kind, ich meine Pea. Mit Mema und Joth aus der fünften Gruppe sind wir zur Zeit drei Elternpaare.“

„Ihr habt euch also richtiggehend verschworen“, sagte Gamma mehr im Ernst als im Scherz. „Aber ich verstehe, wenn mehrere die Erfahrung zur selben Zeit machen, können die Kinder gemeinsam aufwachsen.“

„Genau“, fuhr Szadeth erfreut fort, „schon jetzt lernen wir zusammen Kinderpflege, Erziehung. Und wir haben beschlossen, daß wir alle drei Kinder als die eigenen betrachten. Wir werden abwechselnd auf sie aufpassen, und wenn sie ein Problemchen haben oder sich ungerecht behandelt fühlen, können sie zu jedem von uns kommen.“ „Wenn das mal klappt“, unterbrach ihn Zeth skeptisch und mit Bitterkeit. Ob er mit Eta das vierte Elternpaar abgegeben hätte?

Schließlich setzten wir uns in den Sand am Rande der flachen Senke, die bald der See füllen sollte. Gelben, feinkörnigen, sauberen Sand gab es auf Andymon kaum. Sie wandten viel Mühe auf, die Oase unter der Kuppel in ein bescheidenes Paradies zu verwandeln.

„Wir wollen unabhängig werden von der Technik des Schiffs“, rechtfertigte sich Szadeth auf eine nicht ausgesprochene Frage. Er schaute zu Boden und rieb die bloßen Füße gegeneinander, daß der Dreck abkrümelte.

Wir schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Gamma lehnte sich an mich, ich wußte, sie versuchte sich vorzustellen, wie es hier aussehen würde, wenn erst einmal Kinder umhertollten. Zeth warf Steinchen in den noch nicht vorhandenen See. Ra, die Sonne Andymons, sank hinter einen entfernten Gebirgszug. Es war einer jener seltenen Momente, in denen man sie überhaupt sehen konnte, meist bedeckten schwere Wolken, in vielen Schichten übereinander, den Himmel. Das gelbrote Licht der Sonne brach sich in der Kuppel, ein phantastisches Spiel von Reflexen überflutete uns.

„Bleibt doch die Nacht bei uns“, bat Szina. Es kam ein Stück der alten Vertrautheit zwischen uns wieder auf. Doch ich brauchte Ruhe, um die Situation und ihre Konsequenzen zu überdenken.

Beim Abschied drängte mich Szina zu einer Stellungnahme, indem sie fragte: „Du unterstützt uns doch, nicht wahr, Beth?“

Ich sah in ihr ausdrucksvolles Gesicht. „Ja, braucht ihr meine Unterstützung überhaupt? Ich hatte andere Pläne von der Besiedlung Andymons. Das waren natürlich nur meine unverbindlichen Vorstellungen, die jetzt belanglos sind.“ Mit einer Kopfbewegung, einem kurzen Ruck wischte ich sie hinweg. „Ich bin dein Bruder, Szina. Und wenn du mir sagst, daß euch so ein Leben glücklicher macht, werde ich euch dabei helfen.“

Als wir eine Abschiedsschleife über der Kuppel flogen, lag sie schon im Schatten der Nacht.

Erst viel später auf dem Heimflug begann Gamma zu reden: „Weißt du, Beth, Szina und ihre Gruppe sind eine neue, andere Generation als wir. Wir waren die Pioniere, wir hatten nur das Schiff und Andymon im Sinn, das war unsere Aufgabe, und um die Art der menschlichen Kultur auf Andymon machten wir uns recht wenig Gedanken. Wir haben immer in kosmischen Maßstäben gedacht, Szina und die Gleichaltrigen denken in sehr menschlichen Bezügen: wir und unsere Kinder. Das ist ein notwendiger Übergang. Sie sind die wirklichen Siedler, die Siedler Andymons, sie werden sich über den Planeten ausbreiten, ihn erst richtig bewohnbar machen… Ach Beth, ist es nicht seltsam, sich vorzustellen, daß wir Pioniere, wir Ungeborenen, in den Augen der Nachfahren sozusagen aussterben werden?“

Ich schwieg. Es war beunruhigend, zu wissen, daß man in absehbarer Zeit seinen Zweck erfüllt haben und überflüssig geworden sein würde. Das war kein Gedanke, an den man sich schnell gewöhnte. Dabei sollte es eigentlich gleich sein, welche Sorte Mensch sich über Andymon ausbreitete, Geborene oder Ungeborene. Von kosmischer Warte aus zählte nur, daß intelligente Wesen einen weiteren Planeten eroberten.

„Und nicht den letzten und nicht nur Andymon“, setzte Gamma meinen Gedanken laut fort.

Rückkehr ins verlassene Schiff

„Eine Inspektion“, sagte ich, mehr zu mir selbst als zu Gamma, „man soll den Automaten von Zeit zu Zeit persönlich auf die Finger schauen.“

Das war vielleicht tatsächlich nötig, denn seit wir den Computer im Schiff durch einen ebenso leistungsfähigen auf Andymon abgelöst hatten, seit wir auch die technologischen Kapazitäten des Schiffs weniger benutzten, flog es praktisch so autonom und unkontrolliert wie vor Alfas Geburt.

Die Schleuse schluckte den Lander mit gewohnter Präzision. Ich stieg aus, legte den Schutzanzug ab und trat in den altvertrauten Gang. Meine Beine fanden wie von selbst den Weg zum Naturpark.

Ich hatte den Park größer in Erinnerung. Jetzt schien er mir trotz seiner beträchtlichen Dimensionen geschrumpft. Mein Auge hatte sich an die Endlosigkeit, an die fernen Horizonte Andymons gewöhnt. Die riesigen knorrigen Sequoien, auf denen wir so oft herumgeturnt waren, beeindruckten mich desto mehr. Denn wie sollten sich die jungen Bäumchen Andymons mit ihnen messen können? Ich schaute über das den gesamten Himmel einnehmende Rund des Parks — etwas fehlte. Dann kam es mir in den Sinn: Die Menschen fehlten, die Kinder; nicht einmal ein Guro lehnte an den Felsen.

Die Paviane lärmten in ihren Bäumen, durch das Gras raschelten die kleinen Nager, Vögel pfiffen oder schwammen im See. Doch niemand scheuchte sie auf, kein zerschrammter Knabe tummelte sich unter den Bäumen, kein Pärchen war auf der Insel zu entdecken. Andymon hatte alle an sich gerissen. Nur die Kleinsten würde ich noch unter der Obhut der Rammas finden. Und in den Inkubatoren befanden sich noch Embryonen, zwei, drei vielleicht; wenige Monate nur noch, und die künstlichen Gebärmütter würden leer und tot dastehen.

Ich streifte einige Minuten durch das Gras, ging bis ans Wasser, dann verließ ich den Naturpark. Wie sehr er trotz allem von Leben erfüllt war, spürte ich augenblicklich, als ich die ausgestorbenen Korridore, Hallen, Labore des Schiffs betrat. Ja, dachte ich, du hast deinen Zweck erfüllt, dein Ziel erreicht, Schiff. Jetzt wirst du eingemottet, die Menschen haben dich verlassen.

Möglich, sie kehren eines Tages als Touristen zurück, kräftige Siedlerfamilien mit belegten Broten in geflochtenen Körben. Nur mit Mühe können sie noch die Gleiter steuern und haben eine geheime Furcht, sich der Schwärze des Himmels anzuvertrauen. Sie werden deine Eingeweide bestaunen, rasch ihr Picknick hinter sich bringen und sich, wieder daheim, gegenseitig beteuern: Dort könnte ich nie leben, welche Enge, die Luft wird einem knapp… Bestenfalls kommt ein Pärchen, dich auf seiner Hochzeitsreise zu besuchen. Vielleicht werden sie, weiß ich, ob mit Neid oder mit Abscheu, darüber reden, wie wir es hier getrieben haben sollen. Und vor den Inkubatoren werden sie stehen und flüstern: Wie konnte man nur, auf so unnatürliche, unmenschliche Weise…

Vielleicht, Schiff, wenn ich einmal alt bin — oder mich genügend alt fühle —, werde ich zu dir zurückkehren für immer. Und nichts träumen als meinen großen Traum vom besiedelten Kosmos. Den Traum, für dessen Erfüllung du geschaffen wurdest — und ich.

Eine Bewegung in der Ecke des Ganges riß mich aus meinen Gedanken. Über den sauberen Plast des Bodens huschte eine Maus. Nie hatten die Reparaturautomaten Tiere außerhalb des Parks geduldet und wir genausowenig. Ich trat an die nächste Rufanlage und verband mich mit dem Schiffscomputer. „Was soll das? Mäuse im Schiff! Läuft noch mehr Ungeziefer frei umher?“

Nein. Eine Lageskizze sämtlicher Löcher und Gänge der Mäuse kann auf Befehl vom nächsten Terminal ausgegeben werden.“

„Wieso läßt du das zu?“

„Die zehnte Gruppe hat eines Tages das Spiel ‚Katze und Maus‘ erfunden. Sie haben die entsprechenden Ordnungsbefehle geändert, und zwar…“

„Gut. Ich will, daß die ursprüngliche Befehlsstruktur wiederhergestellt wird.“

Das Nahen von Servicerobotern mit Käschern, in denen Mäuse fiepend protestierten, bewies mir, daß der Computer noch mit gewohnter Geschwindigkeit reagierte.

Ich lief weiter den Gang entlang, unwillkürlich orientierte ich mich an den bunten Symbolen: ZENTRALE. Da stand ich vor den Steuerpulten, vor den Displays und Anzeigen, und einen kurzen Augenblick blitzte ein Gedanke in meinem Hirn auf: Du brauchst dich nur hinzusetzen, nur die drei Sicherungen zu lösen, und schon gehorcht dir das Schiff, und du kannst starten. Am Planeten acht kannst du problemlos soviel Wasserstoff tanken, wie du brauchst… Wozu? fragte ich mich, was für ein verrückter Gedanke, Andymon ist meine Heimat.

Meine Hand flog über die Tastaturen, und die Kontinente und Meere Andymons füllten den Hauptschirm, daß kein Platz mehr für die Sterne blieb. Ich starrte den Schirm eine Weile an, dann ließ ich mir Ausschnitte vergrößern, um die Siedlungen ins Bild zu bekommen. Oasis nahm den gesamten Bildschirm ein. Da selten klares Wetter herrschte, konnte ich im Infrarot die einzelnen Häuschen unterscheiden, die Fahrzeuge erkennen, und vielleicht waren diese winzigen Punkte tatsächlich Menschen.

Bald würde ich wieder eins dieser Pünktchen sein. Und ein beschauliches Siedlerleben führen, den Blick fest am Boden, den Sinn nur auf den nächsten Tag gerichtet. Ein Leben, dessen planetarische Beschränkung mir bei aller Liebe zu Andymon, bei aller Großartigkeit der Aufgaben als zu eng, zu hausbacken erschien. Wie hatte Gamma gesagt? „Wir sind die Pioniere. Für uns gibt es keine Seßhaftigkeit.“ Wir hatten unsere Aufgabe, die Umgestaltung Andymons, erfüllt, waren unnütz nun wie das Schiff.

Eine Handbewegung wischte die Siedlung vom Bildschirm. Wieder leuchteten meine Sterne, die Sterne, die man von Andymon nur so selten sah. Ja, mein großer Traum, der Traum der Konstrukteure des Schiffs — Jahrhunderte würden vergehen, ehe die Menschen von Andymon, die Siedler, erneut den Gedanken fassen konnten, das All zu erobern.

„Nein“, sagte ich laut, „nein, ich kann und will nicht warten. Und wenn ich auch nicht zum Siedler tauge, den Andymon jetzt benötigt, so tauge ich doch zum Konstrukteur.“

Ich kann schlecht einschätzen, welchen Anteil Unzufriedenheit mit meinen jüngeren Geschwistern, Selbstmitleid oder sogar Enttäuschung über Andymon an meinem Vorsatz hatten und wieviel davon von den Konstrukteuren des Schiffs vorausgeplant und vorausgesehen war. Fakt ist, daß in diesen einsamen Minuten in der Zentrale ein Gedanke Gestalt annahm: Noch wir, die erste Generation, würden mit dem Bau von neuen Schiffen beginnen. Denn wenn die Entscheidung hierfür nicht bald fiel, würde sie in absehbarer Zeit, während meines Lebens und während der nächsten Generationen, nicht fallen.

Dann verließ ich die Zentrale, und meine Beine trugen mich durch die Korridore. Vertraut — und doch eine andere Welt, die Welt unserer Jugend. Hier waren unsere Zimmer. An der Tür zu meinem prangte ein unbekanntes Symbol. Ich öffnete die Tür, trat ein — und prallte überrascht zurück. „Entschuldigung“, sagte ich, „ich wußte nicht…“

Erschrocken sprang der Junge auf, sah mich an, lachte unsicher. Er war etwa zehn.

„Oh, macht nichts. Das heißt, du kannst ruhig reinkommen, Beth. Ich bin Jath.“

„Ich hatte nicht vermutet, daß sich außer Kleinkindern eine Menschenseele an Bord befindet, Jath.“

„Na ja, ich mußte noch einmal zurück, ich habe die paar Pflanzen da vergessen - und hier, was ich darüber geschrieben habe.“ Er nahm ein Papier vom Schreibtisch, das von Kinderhandschrift bedeckt war.

„Ihr habt neue Pflanzen gezüchtet?“ fragte ich und schaute mich in dem Zimmer um. An den Wänden hingen einige Bilder mit Gras und bunten Blumen.

„Na ja, Andymon braucht doch Blumen, bessere als die Erde hat, nicht wahr?“ Es klang aus seinem Mund ein wenig treuherzig, ein wenig trotzig. „Und dann habe ich sie vergessen, als wir runter sind. Das ging so schnell. Plötzlich durften wir. Da sind wir zum Lander gerannt und gestartet.“

„Hals über Kopf?“

„Ja. Wir wollten schon immer auf den Planeten. Wollten ganz schnell groß werden, um runter zu dürfen. Und als vor einem halben Jahr die Großen“ — er korrigierte sich — “die zwölfte Gruppe abflog, waren nur wir noch hier.“

„Und als ihr überraschend die Erlaubnis erhieltet, habt ihr eure Blumen vergessen. Und du bist allein zurückgekommen, um sie zu holen.“

„Na ja, keiner wollte mehr zurück, aber einer mußte doch.“

„Das war tapfer von dir…“

„Ach, wir haben doch gelost.“

Ich half ihm, die Pflänzchen und Samen und Aufzeichnungen über die Blumen für Andymon zusammenzupacken, und bot ihm an, daß er mit mir zurückfliegen könne. Er nahm gern an.

Als wir landeten, war, wie um mich zu versöhnen, eine sternklare Nacht. Neben den natürlichen Monden Andymons zog ein heller Lichtfunken seine Bahn. Das Schiff würde Andymon noch Jahrzehntausende umkreisen. Länger vielleicht, als es zu ihm unterwegs gewesen war.

Geburtstag

„Diesmal ist es kein falscher Alarm! Szinas Baby kommt, ganz bestimmt!“ schrie Alfa. Selbst auf dem kleinen Bildschirm des Armbandcomputers sah man ihr an, wie erregt sie war.

Eine halbe Stunde später kreiste unser Kopter über der Kuppel von Oasis, ungeduldig hatte ich die Minuten gezählt und gefürchtet, wir würden zu spät eintreffen. Zudem warteten in Andymon-City weitere Geschwister auf die Rückkehr des Kopters. Schwere Bäche Regenwasser flössen über die Kuppel, nahmen ihr jeden Glanz und verschleierten ihr Inneres. Wir setzten auf dem schlammüberspülten Landeplatz auf, der sich inmitten der Wiesen, Felder, Schonungen befand, die strahlenförmig um die Kuppel entstanden.

Hastig durchquerten wir die Schleusen. Drinnen war es angenehm trocken und warm. Ein Guro stand am Anfang des Trampelpfades zu den Gebäuden. Statt wie ursprünglich die Schiffskinder zu beaufsichtigen, die unter der Kuppel spielten, wandte er sich an uns: „Bitte, lauft nicht alle über die neuen Beete. Oasis hat heute so viele Besucher, daß man achthaben muß.“

Wir hetzten den Pfad entlang, immer noch getrieben von der Furcht, das große Ereignis zu verpassen. In der kleinen Siedlung im Zentrum der Kuppel herrschte ein Auf und Ab, ein hektisches Durcheinander. Die wenigen Wohnhäuschen standen leer, alle Geschwister waren auf den Beinen, und überall hörte man: „Ja, jetzt hat es richtig angefangen.“

Wir trafen Teth, er strahlte über das ganze Gesicht, umarmte erst Gamma, dann mich. „Kinder, Kinder, ist heute was los! Kommt mit, vielleicht können wir uns vordrängeln.“

Vor dem Medzentrum, das einen Teil des Gemeinschaftshauses beanspruchte, wurde der Trubel dichter. Die Türflügel waren ausgehängt.

Eine Gruppe Fünfzehn- bis Sechzehnjähriger kam uns entgegen. „Die Wehen verlaufen völlig planmäßig“, hörte ich sie altklug schwätzen, „ich habe mich gründlich darüber informiert.“

Ein Junge, er reichte mir bis zum Gürtel, boxte unsanft gegen meinen Oberschenkel und drängte sich dann vorbei. „Mach dich nicht so breit, wir Kleinen wollen es auch sehen!“

Endlich standen wir — auf Zehenspitzen - im Beobachtungsraum.

Eine die gesamte Wand einnehmende Glasscheibe öffnete den Blick in den benachbarten Kreißsaal. Zuerst konnte ich nicht viel erkennen. Elektronik, Lebenserhaltungssysteme, medizinische Monitore, auf denen bunte Wellenlinien zwei Herzschläge und eine Atmung verfolgten, einsatzbereite Medautomaten an den Wänden, Gefäße mit bunten Flüssigkeiten für Bluttransfusionen, Hormonschocks — und zwei breite Rücken, die mir den Blick versperrten. Ein Lautsprecher übertrug die Geräusche aus dem Kreißsaal.

Nur wenige Worte, knapp und präzise, wurden gewechselt. An den Stimmen erkannte ich Alfa und Szadeth. Hätte mich auch gewundert, wenn Alfa, die so mütterliche Alfa, sich dies hätte entgehen lassen. Und Szadeth, der Vater, der wochenlang dafür gelernt und geübt hatte, überwachte die Geburt seines Kindes und legte selbst Hand an.

„Oh, ich glaube, jetzt, jetzt“, hörten wir Szinas schwache Stimme.

Alfa trat einen Schritt zur Seite, einen Augenblick konnte ich die bloßen Beine Szinas sehen, dann kam Joth, der bisher im Hintergrund an einem Terminal gestanden hatte, und wischte Szadeth und Alfa den Schweiß von der Stirn. Wieder lange Minuten der Ruhe, nur von einem gelegentlichen Laut Szinas unterbrochen. Bei jedem drückte mir Gamma die Hand. Szadeth gab uns den Blick auf Szinas Gesicht frei, der Mund war verzogen und verkrampft, dann wieder entspannte er sich, die Wangen waren bleicher als sonst bei ihr, und unter den Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab. Einmal schaute sie in unsere Richtung, in Richtung der Glasscheibe, hinter der die Geschwister mit angehaltenem Atem warteten. Der Anflug eines triumphierenden Lächelns huschte über ihr Gesicht, wurde aber sofort von einer Miene des Schmerzes abgelöst.

Wir schauten zu, beobachteten, wie sich Szadeths Hände im Rhythmus von Szinas Wehen mühten. Wir standen da wie angewurzelt, vergaßen die Zeit. Dann wurden wir energisch nach draußen gedrängt, andere wollten auch sehen — und nicht nur über die Monitore, die es selbst unseren Geschwistern auf Gedon gestatteten, dabeizusein.

„Ich finde, Szadeth macht es ausgezeichnet“, flüsterte Gamma.

Der quadratische Platz zwischen den Flügeln des zweistöckigen Gemeinschaftshauses war voller Geschwister. Sie saßen abwartend da und redeten, sie standen herum und redeten, sie liefen aufgeregt hin und her und redeten. Wir gehörten zu den letzteren.

„Und Szina ist so jung, so kräftig, da geht sicher alles gut. Und für Joth, er wird in einem Vierteljahr Vater, ist es eine gute Übung, nicht wahr?“ Ich nickte, und wir spazierten hinaus zu den Baumgruppen, wo die jüngsten unserer Geschwister „Kinderkriegen“ spielten. Teth gesellte sich wieder zu uns.

„Na“, Gamma stieß ihn leicht an, „nun sag uns schon, was das Kind für Andymon bedeutet!“

Er schüttelte gutmütig lächelnd den Kopf. „Jetzt nicht, vielleicht später. Aber ist das nicht aufregend, ungeheuer aufregend? Ich hätte das nie geglaubt. Wir bekommen ein Kind, stellt euch das vor!“

Ich lachte gedämpft. „Teth, du bist doch gar nicht der Vater!“

„Na und, es hätte jeden von uns treffen können, es geht uns alle an. Stellt euch einmal vor: Es funktioniert. Manche aus der zweiten Gruppe waren noch vor zwei, drei Wochen, als sich hier alles schon in Alarmbereitschaft befand, skeptisch. Ob unsereins, ein Inkubatorhomunkulus überhaupt ein Kind bekommen könnte, ob das Schiff uns nicht hormonell ganz anders hingetrimmt hätte, ob es ausreichen würde, ein paar Zusatzstoffe aus unserer Nahrung zu nehmen.“

Wir liefen weiter, trafen auf Geschwister oder auf einen Guro, der uns Erwachsene immer wieder an den Schutz der mühsam angelegten Beete erinnerte. Es war eine glatte Unterstellung, anzunehmen, wir könnten die Pflanzen zertreten.

Dann setzten wir uns wie viele andere an den kleinen klaren See und schauten bald auf die Fische, bald auf den kleinen Bildschirm des Armbandcomputers. Teth redete immer noch.

Ich unterbrach ihn. „Es gibt noch andere Projekte, Teth. Andymon wird besiedelt, und ich bin froh darüber, freue mich mit dir und unseren Geschwistern. Aber in unserer Galaxis kreisen Millionen Planeten, die kein Leben tragen und auf denen nie welches entstehen wird. Mit all unseren Kräften haben wir einen winzigen Punkt der toten Unendlichkeit belebt. Vielleicht können wir das Leben, so wie wir es jetzt über Andymon ausbreiten, weiter in unsere Milchstraße tragen. Was hältst du davon, Teth, Schiffe wie das unsrige zu bauen und auszusenden?“

„Ideen hast du, Beth! Ich…, nein, du hast recht, es gibt so viele Sterne. Aber laß mich doch erst einmal das heutige Ereignis verkraften, ich kann jetzt an nichts anderes denken als an Szinas Baby.“

Eine Stimme erklang hinter unserem Rücken, wir drehten uns um. Resth stand da, ziemlich eindrucksvoll mit seinen breiten Schultern und dem welligen braunen Haar. Trotz seiner Jugend drückte sein Gesicht ernste Entschlossenheit aus. Wie die anderen Siedler trug er sowenig Kleidung wie möglich: Sandalen, Shorts, ein offenes, kurzärmliges Hemd.

„Beth, ich habe nichts gegen dich persönlich. Du hast gut gearbeitet, und du gehörst zu uns. Aber ich werde es nie zulassen, daß du mit solchen Hirngespinsten die Köpfe der Geschwister vernebelst.“

Ich erhob mich, um nicht zu ihm aufschauen zu müssen. Er sprach ruhig und klar und kalt. „Siehst du“, er zeigte auf das Medzentrum, „dort wird die Zukunft Andymons geboren. Eine andere Art der Zukunft gibt es für uns nicht. Wir haben den Weltraum verlassen, auf lange Zeit verlassen, denn wir müssen nun Fuß fassen auf Andymon. Unsere Kinder, wir brauchen Dutzende, Hunderte, werden all unsere Kraft benötigen. Wir werden niemals zulassen, daß die Zukunft Andymons wegen utopischer Traumprojekte gefährdet wird. Nur eins ist unser Ziel: die Besiedlung Andymons.“

„Aber Resth“, sagte ich langsam, „du siehst das ein wenig überspitzt. Das ist kein Hirngespinst, wir können es realisieren. Ich werde alles erst einmal durchrechnen, Varianten erarbeiten, Aufwandanalysen, Entscheidungsbäume. Dann können wir darüber diskutieren. Weißt du, Resth…“

Ich konnte meinen Satz nicht vollenden. Ein kosmischer Schrei ließ unser Blut erstarren, selbst die Fische im See schienen zu verharren, schossen dann wild durcheinander. Der Schrei dauerte an, brach sich an den verregneten Kuppelwänden, hallte zurück, durchdrang bebengleich alles.

Reflexmäßig schaute ich auf meinen Armbandcomputer. Auf dem kleinen Bildschirm war Szadeth zu sehen, Szadeths freudestrahlendes Gesicht. Der Schrei verstummte. Durch die nachhallenden Echos übertrug der Lautsprecher die stolzen Worte des Vaters: „Der erste echte Andymone, Prith, ist geboren.“

Der Rest seiner Worte ging im Jubel unter und in neuerlichem Schreien. Auf dem kleinen Bildschirm war ein winziger Mensch zu sehen. Ein Ansturm auf das Medzentrum setzte ein, von allen Seiten eilten auch die Kleinsten herbei.

Resth hielt mich noch eine Sekunde am Arm fest. „Ich habe dich gewarnt, Beth!“

Plötzlich war mir kühl. Ich schaute Resth in die Augen, sie hielten meinem Blick stand. Dann zog mich Gamma fort, dorthin, wo die Zukunft Andymons stattfand.

Szina und Prith waren wohlauf. Ganz Andymon feierte.

Brotzeit

Hinterher ist man immer klüger, da weiß man, welche Fehler einem unterliefen, an welchen Punkten man übertrieb, wo man hätte stutzig werden müssen, daß sich Unheil vorbereitet. Denke ich zurück, so erscheint mir meine damalige Einstellung zu den Geschwistern von Oasis engstirnig und mein damaliges Handeln äußerst naiv — aber welche Erfahrungen hatte ich denn bis zu meinem Konflikt mit Resth? Erfahrungen mit Technik und Planeten, Erfahrungen aus gemeinsamem Spielen, Lernen, Arbeiten mit meinen Geschwistern, natürlich auch unangenehme Totaloskoperfahrungen. Aber hatte ich je einen Konflikt um Grundfragen unseres Lebens ausfechten müssen?

Die Wochen nach Priths Geburt waren wie im Fluge vergangen, ich entwarf die ersten Pläne, wie man drei Schiffe mit minimalem Aufwand, doch in akzeptabler Zeit bauen könnte, wurde dann aus all den weitreichenden Projekten gerissen, weil unser ganz Andymon umspannendes Netz von Beobachtungspunkten wieder einmal eine unvorhergesehene Veränderung der Atmosphäre maß. Als ob die Schwierigkeiten mit ihr nie ein Ende nehmen würden.

Ich pendelte zwischen Computerterminal und Bett hin und her, flog dann wiederholte Male zum Schiff, um dessen Labore teilweise zu demontieren und in Andymon-City wieder aufzustellen. Jede von uns gezielt vorgenommene Korrektur in der Mikrofauna Andymons zog eine Kette von Veränderungen nach sich, deren Ergebnis gewöhnlich selbst eines korrigierenden Eingriffs bedurfte. So verging die Zeit mit Arbeit wie einst im Schiff, der einzige Unterschied bestand darin, daß ich jeden Tag mit Gamma einen kurzen Spaziergang um unsere Häuserzeilen unternahm. Dabei bemerkten wir wenigstens, daß wir auf Andymon lebten.

Eines Tages rief uns Alfa an, teilte uns mit, daß die sechste Gruppe eine „Brotzeit“ veranstalten würde. Das war eine Einladung. Gamma lehnte wegen laufender Experimente bedauernd ab, ich aber sollte hinfliegen. „Das ist die Gelegenheit, Beth, deine Schiffbaupläne zu diskutieren, für sie zu werben“, sagte sie.

Ich traf genau im richtigen Moment ein. Außerhalb der großen Kuppel von Oasis hatte sich eine bunte Menschentraube versammelt, bis auf einige ältere Geschwister fast alle Bewohner Andymons. Sie saßen auf Bänken aus synthetischem Holz oder einfach auf Decken, die auf dem Grasboden ausgebreitet waren. Mich begrüßte nur Alfa, die seit Priths Geburt nicht mehr aus Szinas Nähe wegzudenken war. Früher oder später, überlegte ich, wird auch sie ein Kind bekommen — und dann endgültig zu den Jüngeren, den Siedlern, den Bodenständigen gehören und nicht mehr zu uns nomadisierenden Pionieren.

„Ach Beth“, sagte Alfa wehmütig, „ich glaube, es ist hundert Jahre her, daß wir zusammen Verstecken spielten..

Delths Tod war nicht eingeplant, dachte ich, ohne Delth findet sie kein Zuhause.

Dann entdeckte ich den Backofen. Aus seiner Esse stieg dünner Rauch in den immer noch nicht geruchsneutralen Himmel Andymons. Der Ofen bestand aus gebrannten Lehmziegeln und hatte eine halbkreisförmige eiserne Tür. Welch Anachronismus neben der gigantischen durchsichtigen Plastkuppel von Oasis! War nicht das Brotbacken und -essen ein Rückfall in die Steinzeit? Meine rechte Hand ruhte auf der Mappe mit den Plänen, sie gab mir ein beruhigendes Gefühl.

Ungeduldige Rufe wurden laut. Shinth, in weißem Kittel, eine weiße, hohe Mütze auf dem Kopf, öffnete die Backofentür, warf einen Blick hinein und sagte: „Ja, fertig.“

Er war sofort dicht umringt, so daß er Mühe hatte, das lange Brett, eine Art Schaufel, in den Ofen zu schieben und beladen mit Broten unterschiedlichster Form wieder herauszuziehen. Die frischen Laibe dampften.

Erwartungsvolles Schweigen.

„Guckt nicht so gefräßig!“ sagte Shinth und gestikulierte mit einem langen Messer. „Es ist noch zu heiß, ihr verderbt euch nur den Magen.“ Er versuchte, die Brote mit dem Messer zu zerteilen, doch dieses verklebte sofort.

Shinth fluchte, weil die Geschwister ihm die kleineren, etwa faustgroßen Brote mit spitzen Fingern vom Brett stibitzten. Er holte sich ein Tuch, mit dem er die größeren Brote anpacken konnte, zerbrach sie und begann auszüteilen. Zuerst bediente er Szina, die ihr Baby stolz auf dem Arm hielt.

Das Brot war wirklich noch sehr warm, als Shinth es mir reichte. Ich warf es von einer Hand in die andere, riß dann ein Stück von der knusprig braunen Kruste und zerkaute es genüßlich. Es schmeckte. Ein Schälchen mit Salz machte die Runde.

Nichts gegen die halbsynthetischen Nahrungsmittel, die immer noch unsere Speisezettel beherrschten, aber so heiß, knusprig, frisch kamen sie nie in meine Hände — und in meinen Mund. Die altertümlichen Technologien hatten doch ihre Vorzüge.

„Euer Brot schmeckt ganz vorzüglich“, sagte ich halblaut.

Shinth quittierte das Kompliment mit breitem Lächeln, auch anderswo wurden lobende Stimmen laut, Samechas, Joths und andere.

„Aber trotzdem“, meinte ich, „euer Backofen, das ist nur eine Spielerei, ist eigentlich nur Verschwendung unserer Arbeitskraft und -zeit. Wo es doch so viel Wichtigeres zu tun gibt, die Atmosphäre unter Kontrolle zu halten, auf ökologische Fluktuationen zu achten, weitere automatische Produktionsanlagen zu errichten, es gibt so viel Arbeit…“

Schon während meiner Worte bemerkte ich, daß etwas nicht stimmte. Die Gespräche verstummten, und als ich abbrach, herrschte ein eisiges Schweigen, das nicht einmal mehr von Eßgeräuschen unterbrochen wurde.

Was war los? Ich blickte mich unsicher um. Schon immer hatten wir während des Essens unsere Pläne besprochen.

„Du willst ja nur Schiffe bauen!“ Ein scharfer Ruf traf mich. Nein, er kam nicht von Resth, der saß überhaupt nicht mit hier, er kam von einem Jungen, aus der achten Gruppe vielleicht.

„Ich…“, begann ich, nachdem ich mich von der ersten Überraschung erholt hatte, wurde aber sofort unterbrochen.

„ ‚Spielerei‘, was heißt hier ‚Spielerei‘?“ Szadeth sprach, der als erster Vater eine gewisse Autorität besaß. „Wir versuchen, eine den Bedingungen angemessene Lebensform zu finden, und du nennst das Spielerei. Deine Schiffe sind unnötig, die sind Spielerei.“

„Nur gut, daß uns Resth informiert hat“, hörte ich hinter mir.

Ich drehte mich um und fragte: „Wo ist denn Resth, warum vertritt er seine Ansicht nicht selbst?“

„Es ist unsere Ansicht, wir brauchen Resth nicht“, entgegnete wieder Szadeth. Ich blickte in sein braunes, fast schwarzes Gesicht. Er nickte bekräftigend.

„Na schön“, sagte ich laut, „ich habe heute die Pläne mitgebracht, um sie euch zu zeigen und mit euch zu diskutieren.“ Ich hielt die pralle Mappe hoch, es war eine wenig überzeugende Geste.

„Beth, was sollen deine Pläne, wir wollen keine Schiffe bauen, wir haben ernsthafte Arbeiten vor und können uns nicht mit deinen Privatvergnügungen abgeben.“

„Schaut sie euch doch wenigstens an, bei richtigem Einsatz der Automaten brauchen wir nur zehn hoch drei Mannjahre für das erste Schiff, das ist realistisch, deshalb vergesse ich doch Andymon nicht. Und es kommt darauf an, daß wir, die erste Generation, damit beginnen.“

„Du bist verrückt, regst dich wegen der paar Stunden auf, die wir am Backofen gearbeitet haben, und willst selbst, daß alle, aber auch alle Geschwister zehn Jahre lang schuften, um auch nur eins von den Dingern zu bauen. Ohne uns, Beth, ohne uns!“

„Aber laßt euch doch erklären!“ rief ich, meine Stimme ging im Tumult unter. Ich nahm meine Papiere aus der Mappe, versuchte sie herumzuzeigen, die Netzpläne, Abschätzungen des Aufwandes an menschlicher Arbeit, die erforderlichen Maschinenkapazitäten, Bauvarianten, die Verknüpfung mit anderen Projekten, die wir sowieso realisieren wollten…

Niemand nahm mir die Pläne ab, man warf höchstens einen flüchtigen Blick darauf, sagte dann: „Schlag dir das aus dem Kopf, Beth!“ oder „Vielleicht später mal!“ oder „Diskutiere das erst mal mit den anderen!“ Ich rannte von einem zum anderen. Andymon stank, und meine Geschwister waren auf unbegreifliche Weise dumm, wollten den Sinn nicht einsehen, der für mich so offen auf der Hand lag.

Zum Schluß wandte ich mich hilfesuchend an Alfa, die sich mit keinem Wort an dem Gespräch beteiligt hatte. „Alfa, du bist doch nicht auch dagegen?“

„Beth, ich bin gegen alles, was Unfrieden stiftet und uns bei der Arbeit stört.“ Sie vermied es, mir in die Augen zu blicken. „Schade, du hast ihnen die Brotzeit verdorben, die kleine Feier, kein Wunder, daß sie verärgert sind.“

„Als ob es nichts Wichtigeres gäbe!“

„Es ist wichtig, Beth“, jetzt sah sie mich direkt an, „sie brauchen das, um hier auf Andymon heimisch zu werden, verstehst du, sie haben es schwer genug. Glaubst du, in Oasis läuft die Kultivierung des Planeten glatter als bei euch in der City?“

„Na ja, stimmt schon.“ Ich gab ihr widerwillig recht.

„Wenn du sie vor den Kopf stößt, gewinnst du gar nichts, Beth.“ Ich stimmte ihr zu, denn ich konnte mich nicht mehr sachlich verteidigen, dazu war ich zu aufgebracht. Mein Brot ließ ich angebissen liegen und vergaß auch, eins für Gamma mitzunehmen. Ich eilte zum Kopter, jagte hoch in die brodelnden Wolken — Abstand gewinnen.

Als ich sie da unten um ihren Backofen mit einem letzten raschen Blick sah, dachte ich: Ein richtiges Dorf, das sind Dörfler, die denken nur bis an die Raine ihrer Felder. Ist auch kein Wunder, Andymon ist viel zu groß, und wir sind nur so wenige, ja, daran liegt es, wir sind viel zu wenige. Vielleicht reicht unsere Anzahl nicht aus, um auf Andymon eine hochtechnische Zivilisation zu begründen? Vielleicht müssen wir tatsächlich erst zurück in die Steinzeit und ganz von vorn beginnen, den gesamten Zyklus gesellschaftlicher Entwicklung durchlaufen. Ich wünschte, ich wüßte es, wünschte, es müßte nicht so sein.

Dann inmitten der Wolken bedauerte ich meine unklugen Worte und schalt mich einen unüberlegten Hitzkopf. Hätte ich nicht auf eine bessere Gelegenheit warten können? Und ich fluchte auf den nicht anwesenden und doch so präsenten Resth, der mich durch seine angeblichen Enthüllungen in diese Lage gebracht hatte. Und ich dachte, wieviel schöner, wieviel einfacher war es doch früher, allein mit den Brüdern und Schwestern der ersten Gruppe, im Schiff gewesen, als wir uns noch einig waren in allen großen Fragen.

Reisender in Sachen Weltraumflug

Die Basis, tief in das feste Gestein Gedons gehauen, erinnerte mich auf angenehme Weise an das Schiff, hier herrschte die gleiche funktionale Nüchternheit: lange Korridore, deren Licht selbsttätig aufflammte und erlosch, mit Ziffernkolonnen bezeichnete Türen, die sich öffneten und schlossen, eine synthetische Stimme, die mich leitete. Es war vielleicht ein wenig kühl.

Gedon sah anders aus als bei meinem letzten Besuch vor vier Jahren, schon der erste Blick aus der landenden Fähre hatte mir das gezeigt. Das komplexe Geflecht technischer Konstruktionen hatte sich über viele Quadratkilometer ausgebreitet. Kuppelbauten, Stahlgerüste, endlose Antennenflächen lösten einander ab. Und wenn ich auch nicht erriet, wozu die meisten dieser Anlagen dienten, so beeindruckten sie mich zumindest durch ihre Dimension.

„Auf Gedon ist alles groß“, hatte Gamma mich spöttisch gewarnt, „die vierte Gruppe rechnet nicht mehr in unseren Begriffen. Wie kannst du annehmen, bei ihnen auf Verständnis zu stoßen, du kleiner Mensch?“

Im Gegensatz zu unseren Geschwistern in Oasis haben sie unsere Herkunft und den Kosmos nicht vergessen“, hatte ich, selbst nicht völlig überzeugt, geantwortet.

Gammas Begleitung hatte ich abgelehnt, denn ich glaubte, daß sie nur aus Sorge um mich mitkommen wollte. Ich hatte ihr versprechen müssen, in jeder Hinsicht vorsichtig zu sein. Außerdem sah Gamma mein Schiffsprojekt mit anderen Augen als ich. Sie betrachtete es mehr als ein Hobby, ein vielleicht notwendiges Hobby für uns Ungeborene, aber sie wollte sich Zeit lassen damit, bis noch ein paar jüngere Gruppen herangewachsen waren.

Die Leitstimme führte mich in einen Raum, der von einer Wand voller Blumen beherrscht wurde. Ich ließ mich in einen der Sessel nieder, der auf den ersten Blick wie ein alltägliches Möbelstück aussah, aber bei näherem Hinsehen aus einem mir unbekannten Grund anscheinend für hohe Beschleunigungen ausgelegt war; unter der flaumigen Oberfläche verbarg sich viel Elektronik. Kaum hatte ich mich gesetzt, öffnete sich eine Tür, und eine sehr schlanke, kleine Person trat ein. Sie war in hellen Farben gekleidet, die gut zu ihrem schwarzen, glänzenden Haar paßten. Ich erkannte Daleta, sprang auf und ging ihr entgegen: „Hallo, Daleta, habt ihr euch wieder auseinandergeschaltet?“

„Nein, Beth.“ Mit einer knappen Geste wies sie mich zurück in den Sessel. „Ich habe dein Kommen erwartet. Du wirbst für dein Vorhaben, Schiffe wie das unsrige zu konstruieren.“

„Ja, woher…“ Ich war verwirrt, meine Gedanken schweiften zurück, ich sah die Geschwister aus Daletas Gruppe daliegen, an die schweren Adapter angeschlossen. „Wieso…“, begann ich zu fragen und erhielt die Antwort, ohne den Satz vollendet zu haben.

„Ich bin nicht stehengeblieben. Vier Jahre sind für mich eine lange Zeit.“

Daleta, mir gegenübersitzend, neigte ihren Kopf und warf das schöne volle Haar nach vorn. Zwischen den schwarzen Haaren erkannte ich einzelne goldene, vielleicht ein Dutzend. Das war ihre Verbindung, die Antenne. Unwillkürlich spürte ich für eine Sekunde das Verlangen, die Situation zu nutzen, zuzugreifen, mit schnellen Griffen die wenigen goldenen Haare auszureißen, mit der implantierten nanoelektronischen Wurzel auszureißen, Daleta zu befreien. Die Sekunde verging, sie lehnte sich wieder zurück. Es war ein un-realisierbarer Gedanke gewesen, und mit Daletas Dankbarkeit hätte ich nicht rechnen können. Und trotzdem, diese andere, unbegreifliche Daseinsweise war für mich eine schmerzhafte Herausforderung.

„Zufrieden, Beth? Dann zeige mir die Pläne, die du mitgebracht hast.“

Ich holte den kleinen Speicherzylinder aus der Tasche meiner Jacke. Noch während meines Handgriffs veränderte sich der Raum, es wurde langsam dunkel, die Wände schienen sich zu öffnen, zu verschwinden. Daleta faßte nach den Zylindern, gleich darauf schwammen vor meinen Augen die Konstruktionsunterlagen, Netzpläne, Formeln…

„Ja“, sagte Daleta, „gar nicht so übel, nur wenig läßt sich effektiver gestalten.“ Sie wandte sich mir zu. Im Widerschein der projizierten Linien und Symbole leuchtete ihr Gesicht fahl. „Du brauchst keine Minderwertigkeitskomplexe zu bekommen, Beth, ich habe mir auch einen Computer integriert, der für derartige Routinearbeiten ausgezeichnet geeignet ist.“

„Als ob ich…, nein, Daleta, diese Gefahr besteht nicht.“

„Bitte nenne mich nicht Daleta, es stört den Gang deiner Gedanken. Ich bin das Kollektivbewußtsein der vierten Gruppe.“

„Ja, Entschuldigung…“ Beinahe hätte ich wieder Daleta gesagt.

„Insgesamt ist dein Projekt ganz solide. Nur wenig sinnvoll, weil auf zu niedrigem technologischen Niveau. Weshalb willst du langsame Archen bauen, wenn — ehe sie ankommen, ja, wahrscheinlich sogar ehe sie abgeflogen sind — weitaus bessere Möglichkeiten zur Verfügung stehen? Zum Beispiel die künstliche Schaffung und Ausnutzung von topologischen Singularitäten der Raumzeit, wodurch eine Umgehung der relativistischen Schranke möglich wird.“

Ich schluckte, überlegte, verstand. „Schwarze Löcher, durch diese reisen? Aber wird die Materie dabei nicht homogenisiert? Verliert sie nicht ihre Struktur und Information?“

„An diesem Problem arbeite ich zur Zeit.“

„Das ist doch gefährlich, nicht nur für euch, sondern auch für uns, für ganz Andymon!“ Ich war aufgesprungen. „Diese Experimente müßt ihr sofort einstellen!“

„Kein Grund zur Besorgnis, Beth. Alles ist fest unter Kontrolle.“

Das sagt man immer — bis etwas Unvorhergesehenes geschieht, dachte ich. Doch dann erinnerte ich mich an den Grund meines Besuches und konzentrierte mich wieder auf das Gespräch.

„Aber wenn es andere, schnellere Möglichkeiten gibt, warum sind wir dann mit dieser hoffnungslos veralteten, nach Erdzeit mindestens zehntausend Jahre veralteten Kiste von Schiff bei Andymon angekommen — und haben den Planeten nicht längst besiedelt vorgefunden?“

„Richtig“, Daleta nickte — oder vielmehr das Wesen nickte mit Daletas Kopf, „ich werde auch diese Frage lösen.“

„Die Lichtgeschwindigkeit ist die Grenze, das ist die einzige Antwort.“ Langsam wurde ich ärgerlich über dieses sich in einen Mantel von Rätseln und vorgeblicher Überlegenheit hüllende Wesen, das meine Geschwister aufgesogen hatte und nun deren Kräfte für zumindest derzeit unangebrachte und gefährliche Theorien verschwendete, wo ich doch Hilfe so dringend benötigte.

„Du denkst zu einfach, Beth.“

;Na und? Hauptsache richtig.“ Ich stand auf, schlagartig erloschen die Pläne, der Raum gewann seine alte Architektur zurück.

„Ganz ehrlich, Daleta oder du Wesen ohne Namen, ich bin hierhergekommen, weil ich Hilfe erwartet habe, Verständnis für meine Projekte, weil ich dummerweise annahm, hier sei mehr von dem alten Geist der Gemeinsamkeit erhalten geblieben, von dem großen Traum, der uns hat Andymon bezwingen lassen. Aber ich habe mich offensichtlich geirrt, werde mit Wundern vertröstet, die übermorgen geschehen. Tut mir leid, deine Zeit in Anspruch genommen zu haben.“ „Halt, Beth, geh nicht.“

Wäre es eine menschliche Stimme gewesen, so hätte ich Angst aus ihr gelesen, aber so? Ohne zurückzublicken, ging ich zur Tür. Sie öffnete sich nicht.

„Ich kann dir die Erde zeigen, Beth.“ Daleta war zu mir getreten, sie legte mir die Hand auf die Schulter.

Ich mochte diese Hand nicht, ich streifte sie ab. „Versuche nicht, mich mit Lügen zu halten, und laß mich raus.“

Vor einem guten Dutzend Jahren, damals im Schiff, hatte ich lange genug nach der Erde gesucht, doch nicht einmal die Position ihrer Sonne hatte sich ermitteln lassen. Wir hatten es mit Hilfe der spektralen „Fingerabdrücke“ der Sterne versucht, doch dann geriet Andymon, unsere neue Erde, in Sicht und beanspruchte uns ganz.

„Natürlich nicht die Erde selbst, aber ich habe die Koordinaten ihrer Sonne Sol ermittelt“, räumte das Wesen ein.

Die Tür öffnete sich, der Weg war frei. Ich nahm alle meine Kraft zusammen und überschritt die unsichtbare Schwelle. Ich rannte nicht, es wäre zwecklos gewesen. Daleta folgte mir auf den Fersen.

„Ich könnte dich so leicht zwingen, könnte dich in wenigen Sekunden an mich anschließen. Niemand würde dir helfen, auch nicht Gamma.“

Hatte Daleta gesprochen, oder hatte ich es nur gedacht?

Ohne daß ich es verhindern konnte, bewegten sich meine Beine immer schneller, ich hatte mir den Weg zurück nicht eingeprägt, trotzdem ging ich nicht fehl.

„Ich hätte nur gewünscht, du würdest versuchen, mich zu verstehen. Wieviel besser könnten wir alle nötigen Daten und Anschauungen austauschen in gegenseitiger Berührung des Bewußtseins.“

Ich blieb stehen, schaute Daleta an, schüttelte den Kopf. In ihrem Gesicht erkannte ich keine Regung.

„Ich begreife dich nicht“, stieß ich hervor, „was willst du von mir? Was könnte ich dir schon geben? In deinen Augen bin ich doch nicht mehr als ein zurückgebliebener Zwerg ohne jegliches Wissen, ein Achtelhirn im Vergleich…“ Es sollte ironisch klingen, doch irgendwie gerieten mir die Worte nur bitter.

„Ich bitte dich“, sagte das Wesen, das Daletas Körper steuerte, „wenn du fürchtest, ich würde dich nicht zurückkehren lassen, was zweifellos in meiner Macht steht, wie wäre es dann mit einem — Geiselaustausch? Ich schicke Gimth ins All, meinethalben auch auf Andymon, und du schließt dich mir an, und sei es nur für eine Stunde.“

Der Gedanke reizte mich, vielleicht hatte er mich bereits bei meinem ersten Besuch auf Gedon nicht nur abgestoßen, sondern auch angezogen, vielleicht hatte ich gerade deshalb hier Verbündete gesucht. Ich schaute in Daletas schmale Augen, die auf mich gerichtet waren, und ich konnte nicht glauben, daß dies nur die Augen einer willenlosen Puppe seien.

Jetzt bist du in der Falle, zuckte es durch mein Hirn, sie hypnotisiert dich, du mußt widerstehen, dich wehren… Wieder legte mir Daleta die Hand auf die Schulter, seltsamerweise wich gerade dabei der Druck von mir.

„Beth“, sagte sie, „zwingen könnte ich dich jederzeit, aber damit wäre mir nicht geholfen. Du kannst jetzt Gamma sprechen.“

Ich hob den linken Arm mit dem Intercom vor meine Augen, Gammas Gesicht erschien sofort auf dem kleinen Bildschirm.

„Gamma“, die Zunge hing schwer in meinem Mund, „Gamma, ich will es probieren, den direkten Kontakt… Es ist meine eigene Entscheidung, du mußt nicht in Panik fallen.“

„Beth, das ist eine Falle! Komm sofort…“

„Nein, die hätte Daleta nicht benötigt, ich versuche zu vertrauen.“ „Beth, du…, dein Puls ist zu langsam!“ Gamma schrie fast, ich wußte nicht, wie ich sie beruhigen sollte. Sicher alarmierte sie bereits die Geschwister.

„Gimth befindet sich auf dem Weg zu dir. Sobald er eintrifft, beginnen wir“, informierte ich sie.

Wie im Traum folgte ich der kleinen Person durch die hellen Korridore zurück. Ich hörte das laute Schlagen meines eigenen Herzens. Neugier, Furcht und Schmerz kämpften in mir. Es waren lange Minuten im Adaptersessel, in denen ich versuchte, meinen Entschluß rational zu durchdenken. Ich hatte keine Gewähr, ob nicht früher oder später jeder diesen Weg gehen würde. Könnte das Wesen von Gedon uns alle verschlingen, an sich ankoppeln in seiner enormen Überlegenheit? Ich hatte gedacht, Andymon würde zu einer zweiten Erde, doch durch einen absurden Zufall - oder war es kein Zufall? — entstand hier eine neue Art intelligenten Lebens, dem Menschen so sehr überlegen wie dieser dem Affen. Sich wehren, kämpfen - welchen Sinn hatte es? Dann wieder wollte ich aufspringen, noch war es nicht zu spät, wenn ich alle Geschwister mobilisierte… Ich blieb sitzen, starrte vor mich hin, starrte auf Daleta, die mit den technikbestückten Wänden eine Einheit bildete. Etwas paßte nicht in das Bild des Superwesens, ich mußte es ergründen, darin bestand die winzige Chance, die uns verblieben war.

Gamma meldete sich wieder. „Gimth ist da, Beth, er ist völlig apathisch. Ich will nicht, daß du auch so wirst…“ Ihre Stimme flehte.

„Keine Angst, Gamma“, ich versuchte zu lächeln, es war wie ein unnötig tapferer Abschied.

Plötzlich hielt Daleta einen Helm in den Händen, sie nickte mir zu, ich beugte meinen Kopf nach vorn. Dann wurde es schwarz um mich, und ich fiel und fiel.

Meine Erinnerung an die nachfolgende Zeit — waren es Sekunden oder Stunden — ist lückenhaft. Da war eine Freude am Anfang, da sah ich Dinge, Instrumente, Maschinen, ich weiß nicht, ob sie existierten, geplant oder nur geträumt waren, ich hatte Einsichten, die mir nun verlorengegangen sind, eins aber blieb haften, ein Gefühl wie kaltes Feuer.

Das All lag vor mir, Millionen Fixsterne. Ich erblickte ihr fernes Licht, fühlte mit weitgespannten Interferometern ihre Radio Strahlung, sah mit Gravisensoren, wie sie den Raum um sich verzerrten. Sie funkelten in allen Frequenzen, monoton sangen die Pulsare auf ihren Wellenlängen. Ein faszinierendes Bild — und doch: Leere, nichts als Leere! Kein einlaufender Impuls trug eine Botschaft. Kein Planet sandte mir Grüße. Schweigen herrschte rundum. Ich suchte mit meinen Augen: den Teleskopen, den Weberzylindern, musterte Stern um Stern, Frequenzband um Frequenzband. Eine Arbeit für Jahrzehnte. Irgendwo mußte ich sie doch finden… Das All konnte nicht völlig leer sein… Dutzende Parsec im Umkreis keine Lebenszeichen? Wo blieben sie, die Menschen? Wo blieben meinesgleichen, tastende Intelligenzen?

Ein Gefühl der Einsamkeit beschlich mich, der grenzenlosen Einsamkeit. Gedankenfäden verwoben sich: Sollte das Schiff zur ersten Generation gehört haben, ein Unikat gewesen sein? Sollte überall die Entwicklung mit einer planetarischen Steinzeit beginnen? Sollten sich die mir Gleichenden in sich abkapseln, zurückziehen vom kosmischen Kontakt? Sollten sie andere Mittel der Kommunikation haben, unendlich überlegene? Weshalb ließen sie mich allein?

Ich blickte auf Andymon, wo einzelne Individuen ihre separaten Leben lebten. Sollte ich sie beneiden? Darum, daß sie ein Ziel hatten, einen Planeten zu besiedeln? Darum, daß sie in ihrer Vereinzelung nicht einsam waren?

Die Sterne brannten — waren sie mein Ziel, die Kontaktaufnahme mein Zweck? Oder grenzenloses, doch längst schal gewordenes Forschen? War es geplant, daß ich entstand? Oder sollte ich nur Reserve sein für die Menschlein auf Andymon? Etwa nur existieren, um einen Beth, der soviel glücklicher war in seiner Beschränktheit und einsinnigen Zielgerichtetheit, beim Schiffbau zu unterstützen, für ihn ein paar Daten über die nächsten anzuzielenden, zu besiedelnden Planeten zu finden? Ich schwebte unter den Sternen, inmitten ferner Galaxien. Ich suchte und suchte in meiner schwarzen kosmischen Einsamkeit…

Mühsam erlangte ich mein früheres Bewußtsein wieder, war wieder Beth, ein Name, der seltsam, fremd und leer klang. Dann floß erneut Weltraumkälte durch meine Glieder, ich sehnte mich nach Menschen, stürzte, ohne zu überlegen, durch die Korridore, es war eine Flucht.

Irgendwie gelangte ich in die Fähre. Ich startete sofort, und der Andruck preßte mich langsam in meine gewohnte Welt zurück. Gamma rief mich, meine geliebte Gamma. Ich sah ihr Gesicht, die wundervollen Züge, mein Mund blieb stumm, ich konnte mich nicht satt sehen. Ich sprach ein paar belanglose Worte. „Alles in Ordnung.“ Die Zunge war schwer und hinderlich dabei. Gammas Stimme klang in meinen Ohren, ich unterdrückte die Tränen, die sich aus meinen Augen stehlen wollten. Ich war zurück, zurück, ich lebte, hatte wieder Gamma.

Als ich wieder zu mir gefunden hatte, entdeckte ich, daß der Bordcomputer der Fähre eine Einspeicherung anzeigte, und ich zögerte eine Zeitlang, bis ich mich entschloß, sie abzurufen.

Es waren Daten. Daten über Fixsterne, die von Planeten umkreist wurden, Sterne, zu denen es sich lohnen würde, Schiffe zu senden. Dann tauchte ein neuer Block auf: die Verbesserung meiner Pläne unter Einsatz beträchtlicher Mittel von Gedon. Sollte ich zurückrufen, mich bedanken? Das Wesen kannte meine Reaktion sicherlich im voraus. Und wenn schon! Entschlossen stellte ich die Verbindung her.

Ohne eine Miene zu verziehen, quittierte Daletas Gesicht meinen Dank. Scheinbar zusammenhanglos sagte sie: „Im zwanzigsten Jahrhundert verließen erste Sonden das System der Erde. Sie trugen eine Pulsarkarte mit sich, die die Raum-Zeit-Koordinaten des Absenders kenntlich machen sollten. Diese Karte fand als eine Art Kunstwerk eine so weite Verbreitung, daß sie in den Speichern des Schiffs mehrfach auftaucht. Hier sind die Koordinaten von Sol, der Sonne der Erde.“

Daletas Gesicht verschwand, dafür leuchteten drei Zahlenkolonnen vor mir auf.

Meine Hände flogen über die Tasten der Lagekontrolle, die Fähre drehte sich, wandte ihr Fenster einem neuen Himmelsausschnitt zu. Und dann hatte ich sie mitten in meinem Blickfeld, Sol, die Sonne. Die Sonne. Es war ein enttäuschend normaler kleiner Stern. Fünfter Größe vielleicht. Seltsam, jetzt, da ich ihn sah, bedeutete mir dieser Lichtfunken weniger als in all den Jahren, in denen ich nach ihm suchte. Ein ferner Stern wie Millionen andere in unserer Galaxis.

Während des Fluges wanderten meine Gedanken immer wieder zu Daleta, zu dem Wesen. Noch vor wenigen Stunden hatte ich befürchtet, dies wäre unsere Zukunft, dies wäre der Homo andymonis. Jetzt war ich anderer Meinung. Diese Form intelligenten Lebens, diese Art von Zivilisation erschien mir trotz aller technologischer Überlegenheit nicht mehr so zukunftsträchtig, nicht mehr so langlebig, nicht mehr potentiell unsterblich. Handelte es sich nicht schlicht um ein etwas zu langes Experiment von Heranwachsenden? Würden sie, Daleta und die anderen, einen Weg hin zu uns finden?

Ich blickte wieder auf die winzige Sonne. Vielleicht, dachte ich, wenn nachts weniger Wolken über Andymon ziehen, wenn ein klarer Himmel voller Sterne über den Siedlungen steht, werden auch die bodenständigeren Geschwister meine Pläne mit anderen Augen betrachten.

Auf dem Turm

Wir befanden uns auf dem höchsten Gebäude Andymons, fünf Etagen über dem Boden auf der Dachterrasse. Gamma und mir gegenüber saßen Jota und Ilona am festgeschraubten Tisch, Fith nahm eine der Schmalseiten ein. Wir trafen uns oft „über der Stadt“, wenn es Wetter und Arbeit gestatteten. An diesen Abend jedoch erinnere ich mich besonders deutlich, denn wir wurden Zeuge eines ungewöhnlichen Vorfalls.

Ich wärmte rhir die Finger an einem Glas mit heißem Tee. Auf die Sandwiches hatte ich keinen Appetit. Ein kühler Wind wehte, der weit draußen auf der Hochebene dünne Sandhosen unter niedrigen Wolken tanzen ließ. An diesem Tag hätte ich mit dem kleinen Fernrohr, das auf der Terrasse montiert war, den Fusionsreaktor am Fuß der entfernteren Berge nicht erkennen können.

„Wenn das so weitergeht, wird City zur Roboter stadt“, sagte Fith halb im Scherz, halb im Ernst, denn nur zwanzig Geschwister aus den ersten drei Gruppen lebten augenblicklich in Andymon-City.

„Am liebsten würde ich die Hormonbremse sabotieren und heimlich die Zusatzstoffe aus unserer Nahrung nehmen.“

„Untersteh dich!“ Empört schimpften die Mädchen auf Fith ein, Gamma nannte ihn einen „übergeschnappten Lokalpatrioten“ und drohte mit Gegenmaßnahmen. Ich mußte lachen, in ihrer Entrüstung sah Gamma bezaubernd aus. Aber eins stimmte: Durch die Kinder aus dem Schiff hatte Oasis zahlenmäßig der ersten Siedlung den Rang abgelaufen.

Aussterbende Stadt der Ungeborenen? Ich schüttelte den Kopf und blickte hinab auf das, was wir bereits geschaffen hatten: die zehn flachen Produktionshallen mit staubbedeckten Dächern, links dahinter das Funkzentrum mit den kugelförmigen Hüllen um die Parabolantennen und die hoch aufragenden Antennenmasten. Nahe bei ihnen konnte man hören, wie sie im Wind sangen. Zur anderen Seite hin erstreckte sich das große Landefeld mit den Hangars und Garagen und der gewaltigen Konstruktion der Startrampe. Platz hatten wir ja im Überfluß.

Aber nicht allein Technik bestimmte das Bild von Andymon-City. Ein breiter Streifen junger Bäume, der künftige „Stadtwald“, zog sich wie ein Trennungsstrich durch die Siedlung. Jenseits von ihm lagen unsere Wohnhäuser. Ich drehte meinen Kopf, um das Häuschen zu sehen, in dem Gamma und ich schon damals wohnten. „Tessarakt“ oder „vierdimensionaler Würfel“ sagten die Geschwister dazu, denn Gamma hatte sich eine verrückte Bemalung in Orange mit schwarzen Linien erdacht, die einen falschperspektivischen Eindruck erzeugte.

„Bei euch findet man nie die Haustür“, witzeln sie bis auf den heutigen Tag.

Aber auch andere Häuser, in denen jeweüs ein oder zwei Paare wohnten, hatten Spitznamen: „Chamäleon“, „Tarnbude“ und „Saurierei“.

Nur der Turm, der sich von Etage zu Etage pyramidenähnlich verjüngte, war in strengeren Farben gehalten. Wie die Kuppel für Oasis, so galt er als Wahrzeichen für Andymon-City. Bis heute ist seine Funktion dieselbe geblieben, er beherbergt die Kantine, das Kommunikationszentrum und die Freizeiträume. So unter anderem die meist leerstehenden Totaloskope.

„Träumst du, Beth? Erzähl uns lieber noch mal, aber ganz genau, vom Monster auf Gedon.“

Mich mühsam konzentrierend, kam ich Ilonas Aufforderung nach. Die Worte fehlten mir nicht, meine Erlebnisse zu schildern, nur meine Empfindungen konnte ich selbst mit größter Anstrengung nicht mehr wachrufen.

Der Wind wirbelte bis zu uns auf den Turm hinauf feinen Staub. Jota deckte mit der Hand ihr Glas ab und sagte: „Wenn man sieht, wie verschieden die Wege sind, die die Gruppen gehen, könnte man zweifeln, daß sie aus einem Schiff stammen, von den gleichen Rammas und Guros erzogen worden sind. Das Monster kennt nichts als Technik und Forschung, die Siedler von Oasis würden am liebsten alles mit bloßen Händen erledigen.“

„Die Siedler sagen, sie wollen sich losreißen von all der Technik“, platzte Fith dazwischen. Er konnte seine langen Beine unter dem Tisch nicht stillhalten und entschuldigte sich deswegen ständig.

Gamma schob mir ein angebissenes Sandwich hin, ich aß es auf.

„Ich fürchte, sie haben sogar recht“, sagte sie zu meiner Überraschung, „denkt mal daran, daß wir Tausende unterschiedlicher Geräte, Gegenstände, Werkzeuge, Materialien benötigen, nur um das technologische Niveau des Schiffs aufrechtzuerhalten. Und die wollen erst einmal produziert sein. Trotz all unserer Spielzeugfabriken“, sie wies hinab auf die Reihen flacher Gebäude, „leben wir zum größten Teil von den Konserven und Reserven des Schiffs.“

Wie um ihre Worte zu bestätigen, landete ein Lastgleiter auf dem Flugfeld. Die Minute, in der das Brüllen seiner Motoren erklang, schwiegen wir.

„Dieser Wind und dieser Staub“, beschwerte sich Ilona, „ich müßte mir jeden Tag den Kopf waschen.“ Sie seufzte. Aber den Rat, sich wie fast alle anderen die Haare kurz zu schneiden, nahm sie nicht an. Dafür attackierte sie mich: „Und in diesem technischen Engpaß kommst du, Beth, und willst Schiffe bauen, reimt sich denn das?“

„Ja“, antwortete ich gedehnt. Was für eine Frage für ein Geschwister aus der eigenen Gruppe. Dabei waren sie ursprünglich so begeistert gewesen. „Was für eine großartige Idee!“ Auch als ich von deren Verwirklichung gesprochen hatte, galt sie ihnen noch, um mit Teths Worten zu reden, als „außerordentlich wichtig“. Nur mit dem Anfangen hatten sie es nicht so eilig, wollten die Sache aber keinesfalls aus den Augen verlieren und versicherten mir wie Zeth immer wieder, daß ich mich „völlig und total“ auf sie verlassen könne, nur im Augenblick…

Ich holte tief Luft und begann zu erklären: „Wir brauchen für Andymon und für die Schiffe die gleichen Bauelemente. Was mir Sorge bereitet, ist einerseits das Auseinanderfallen unserer Gemeinschaft in hier Andymon-City und da Oasis und andererseits, daß die Siedler so gleichgültig den technischen Projekten gegenüberstehen. Wenn die so weitermachen, geraten wir wirklich in eine Sackgasse und Verpassen den Anschluß an das technische Niveau des Schiffs. Am liebsten würde ich sie zwingen, wenn sie das partout nicht begreifen wollen.“

„Aber Beth!“ tadelte mich Gamma.

Fith rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann legte er ein kleines schwarzes Ding auf den Tisch.

„Natürlich werde ich niemanden zu etwas zwingen“, sagte ich „könnte ich auch gar nicht. Schon so ist die Gefahr groß genug, daß wir mit den anderen aneinandergeraten.“

„Schaut mal“, unterbrach uns Fith, „das klebte unten am Tisch dran ich hätte mir beinahe die Hose damit zerrissen.“

Ilona nahm das fingerhutgroße schwarze Ding, beäugte es, reichte es dann weiter. „Elektronik“, kommentierte Jota, auch ich erkannte, nicht mehr. Mein Tee war inzwischen kalt geworden und hatte sich mit einer feinen Staubschicht überzogen.

Fith steckte das kleine Gerät ein. „Wo wir jedes Gramm brauchen, läßt hier irgend so ein Automat seine Innereien liegen, ganz schön liederlich.“

Wir lachten. Fith, der Unruhigste von uns, stand auf und trat an die Brüstung. Es gab immer etwas zu sehen vom Turm aus, jetzt zum Beispiel wurde der Gleiter entladen. Ich begann noch einmal, von meinen Befürchtungen zu erzählen, daß die Zukunft noch längst nicht entschieden sei und wir in einer kritischen Phase lebten, in der das Handeln jedes einzelnen sich entscheidend auswirken könne, und daß wir womöglich die technischen Reserven des Schiffs aufbrauchen würden, ehe wir das alles selbst nachbauen könnten…

Die Sandwiches waren aufgezehrt, der Tee getrunken oder kalt, und bald standen wir alle an der Brüstung.

Ich suchte mit den Augen die Stelle, an der ich mit Gamma lilafarbene Astern gesät hatte. Jede neue Blumensorte, die auf unserem Testbeet in dem rauhen Klima Andymons aufblühte, wurde freudig begrüßt. Biologisch war uns der Sieg schon so gut wie sicher, doch technologisch standen wir erst am Anfang.

Plötzlich wurde ich durch ein merkwürdiges Schauspiel abgelenkt. Jota entdeckte es zuerst. „Seht euch einmal die beiden Transporter an!“

Wir stürzten ans Fernrohr, ich durfte als letzter hindurchschauen. Um den Gleiter standen zwei Lastfahrzeuge und ein Tieflader, sie fuhren nach kurzer Zeit beladen mit (Containern wieder ab. Das war nichts Besonderes, auch nicht, daß die kleinen Computer der Fahrzeuge ein menschliches Eingreifen überflüssig machten. Doch dort, nahe bei der Entladeluke des Gleiters, stand ein großer Transformatorblock, und vor ihm verharrten zwei mit Kranen ausgerüstete Transporter, nein, sie bewegten sich, sie beugten die Ausleger ihrer Krane, senkten sie hinab, um sie in die Hebeöse des Transformators einzuhaken — beide zugleich. Dabei stießen die Ausleger aneinander. Der optische Eindruck war so stark, daß ich ein Knirschen zu hören glaubte. Sie schienen sich ineinander zu verhaken, hoben und senkten sich, endlich gerieten sie wieder auseinander, begannen jedoch das Spiel von neuem. Zwischendurch manövrierten die Transporter vorsichtig.

„Laß mich endlich wieder“, sagte Jota. Widerwillig löste ich mein Auge vom Okular.

„Ich begreife nicht, was da los ist“, Ilona versuchte ebenfalls mit bloßen Augen die entfernte Szene zu beobachten, „es sieht aus, als ob sie kämpfen!“

„Unmöglich!“ Gamma schüttelte energisch den Kopf. „Die kleinen Computer dieser Maschinen denken nicht in so komplexen Kategorien. Ich könnte mir vorstellen, beide haben lediglich aus Versehen den gleichen Auftrag bekommen. Dabei behindern sie sich gegenseitig. Mir ist nur rätselhaft, weshalb dem Computer, der das entsprechende Projekt leitet, so ein Fehler unterlief und weshalb er sich jetzt nicht einschaltet.“

Endlich durfte ich wieder durchs Rohr schauen. Der größere der beiden Transporter hatte Terrain gewonnen und den kleineren so gegen die Flanke des Gleiters gedrückt, daß dieser seine Manövrierfähigkeit verlor. Der Ausleger des kleineren war zu kurz, und mit einer schnellen Bewegung hatte der größere den Transformator erfaßt und auf seine Ladefläche gehoben. Sofort fuhr er ab.

„Schade“, sagte ich, „vorbei.“

Ich irrte. Während ich wieder über der Brüstung lehnte, konnte ich auch ohne Fernrohr die nächste Phase des ungewöhnlichen Kampfes beobachten. Der kleine Transporter fuhr davon, nicht etwa hinter dem großen her, nein, durch eine andere Straße. Dann bog er ab und blieb mit ausgefahrenem Ausleger an einer Kreuzung stehen, die der größere passieren mußte.

„Himmel, jetzt lauert er, ist das aufregend“, schrie Fith, der gerade das Fernrohr benutzte.

Und tatsächlich, als der große Transporter langsam über die Kreuzung fuhr, langte der kleine blitzschnell zu. Sein Ausleger hakte sich in die Öse des Trafos und riß ihn hoch, daß das gesamte Fahrzeug schaukelte. Noch während er auflud, wendete er und fuhr an. Der große Transporter stoppte erst hundert Meter weiter, drehte um und nahm die Verfolgung auf.

„Nein“, sagte Gamma laut, „da stimmt was nicht, so verhalten sich die kleinen Fahrzeugcomputer nie, auch wenn sie in beschränktem Maße lernfähig sind, da hat sich ein System selbständig gemacht!“

Der große Transporter holte langsam auf. Unsere Sympathien waren bei dem kleinen, der ein weiteres Mal unvermittelt abbog; nutzlos, der große folgte ihm. Der Wind trug Motorengeräusch zu uns herüber.

„Ich weiß, was das für ein Trafo ist“, sagte Fith, „er kommt in die neue Umspannstation. Wir haben ihn zwei Gleiter eher bestellt, weil wir mit den Arbeiten schneller vorangekommen sind.“

Der große Transporter folgte dem kleinen sozusagen direkt auf den Felgen. Vergeblich versuchte der kleine, nach links und rechts auszubrechen. Der große schwenkte seinen Ausleger, und schon hatte er sich den Trafo geangelt. Wir stöhnten enttäuscht auf. Zwar war der kleinere Transporter ein wenig wendiger als der größere, doch dieser hatte den stärkeren Motor. So wie er aufgeholt hatte, so fuhr er nun dem kleinen davon, der trotzdem nicht aufgab.

„Die fahren ja gar nicht zur Umspannstation!“ Fith gestikulierte, als wolle er die Transporter zurückrufen. Doch diese schwenkten auf die Wüstenpiste nach Oasis ein und jagten sie entlang, bis wir sie nur noch an den langen Staubfahnen erkannten.

„Das waren die Wühlmäuse von Oasis!“ schrie Fith. „Die haben uns den Trafo geklaut!“

Wir anderen waren sprachlos.

„Aber dabei können sie ihn gar nicht brauchen“, fügte er hinzu, „ihre Umspannstation ist erst für nächsten Monat geplant.“

Vom Landeplatz stieg ein Kopter auf und nahm Kurs auf Oasis. Das war alltäglich. Doch als er so direkt über den Staubfahnen schwebte, wurden wir aufmerksam. Leider konnten wir infolge des aufgewirbelten Staubes auch mit dem Fernrohr nichts erkennen. Dann tauchte der Kopter wieder auf und schleppte den Transformator mit sich.

„Das bedeutet, daß nicht die Transporter, sondern die beiden Projektcomputer miteinander gekämpft haben“, kommentierte Gamma. „Aber auch das darf nicht geschehen. Alle Pläne auf Andymon sind doch koordiniert.“

Meine Befürchtungen wuchsen. Vorerst waren nur die Maschinen und Computer aneinandergeraten — wie lange würde es noch dauern, bis auch die Menschen gegeneinanderstanden? Dieses Mal hatte Fith dafür gesorgt, daß der Streit der Computer belanglos blieb, schon der nächste Gleiter brachte einen weiteren Transformator. Was aber, wenn sich die Vorfälle summierten und die Streitobjekte nicht sogleich zu ersetzen sein würden?

Änderungen des Klimas

Der Rover jagte über die kahle, staubige Ebene. Aufgewirbelte Sternchen schlugen gegen seine metallene Verkleidung. Szadeth steuerte ihn einen flachen Abhang hinab. Der Boden war hier von einem dunkleren Braun als anderswo. Wir hielten und stiegen aus. Ein armseliges Rinnsal floß zwischen Felsbrocken und angetrocknetem Schlamm dahin.

„Und das war noch vor einem Jahr ein breiter, reißender Fluß“, sagte Szadeth und schob mit dem Fuß ein paar Steine so, daß sie dem Wasser den Weg versperrten.

„Und vorher, da muß das einer unserer Urströme gewesen sein, der Millionen Kubikmeter Schlamm über die Ebene verteilt hat — in der Zeit des Großen Regens.“

Andymon, der von uns besiedelte Teil Andymons, dürstete. Die Flüsse waren jung, nicht einmal so alt wie wir, und begannen bereits zu versiegen. Weniger schwere Wolken als in den letzten Jahren zogen über den Himmel, und spärlich fiel der dünne Regen. Noch vor Jahresfrist hatten die Wassermassen der Wolkenbrüche Fahrzeuge hinweggeschwemmt und Fundamente unterspült. Seit Wochen war über unseren Siedlungen kein Tropfen gefallen. Die Dürre griff nach unseren Pflanzungen und Baumschulen. Allmählich bedeckte das Leichentuch des Staubes Gebäude und Felder. Unser Leben und das der Flüsse hingen eng zusammen.

Die atmosphärische Zirkulation hatte sich verändert, das ehemals in der Luft und über die Kontinente verteilte Wasser hatte sich in den beiden Ozeanbassins gesammelt, von wo es zu neuem Kreislauf verdunstete. Meine Modelle zeigten, daß das von uns kultivierte Land einen zu geringen Anteil an diesem Kreislauf hatte. Wolken regneten über kahlen Gebirgen ab, ehe sie unser Gebiet erreichten, nutzlos ergossen sich die neu entstehenden Flüsse ins Meer. Wälder hätten wir benötigt, Wälder von Meeresküste zu Meeresküste, die das Klima zu unseren Gunsten beeinflußten. Doch wachsen Bäume nur, wenn sie die nötige Feuchtigkeit finden. Ein Teufelskreis, den wir mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln sprengen mußten. Im wörtlichen Sinne: mit Explosionen, die Berge aus dem Weg der Wolken räumten, die Flüssen den alten Lauf versperrten und einen neuen gruben.

Ich hatte es so eingerichtet, daß ich gemeinsam mit Szadeth künftige Flußverläufe festlegen und die geologischen Sprengungen vornehmen konnte. Ich versprach mir etwas davon, mit den Jüngeren, den Siedlern, zusammenzuarbeiten, denn die Kluft, die zwischen uns bestand, durfte nicht noch größer werden. Und die Sorge um das Wasser einte uns.

„Komm, wir fahren zurück, deine Satellitenbilder haben tatsächlich recht“, sagte Szadeth und kletterte wieder in den Rover.

Ich folgte ihm schweigend und ließ ihn wieder am Steuer Platz nehmen. Denn Szadeth liebte es, mit dem Rover über das freie Land zu rasen. So inspizierten wir vor Ort, wo auch ein Automat oder ein Foto aus dem Orbit genügt hätte.

Vorerst vermied ich es, Szadeth gegenüber mein Schiffsprojekt zu erwähnen, ich wollte die Gegensätze nicht vertiefen. Und doch ergaben sich immer wieder Situationen, bei denen unsere unterschiedlichen Auffassungen aufeinanderprallten.

Szadeth jagte den Rover, daß das Fahrzeug eine lange Staubfahne aufwirbelte. Er hatte sich den Tropenhelm weit in die Stirn geschoben, schweißnaß glänzte sein bloßer schwarzer Oberkörper — manchmal verkühlte er sich, aber es war sein Stil. Genauso, wie er fuhr, konnte Szadeth reden, ohne Atempause. Selbst die völlig normale neuerlernte Greifbewegung seines Sohnes Prith reichte für zwei Stunden Monolog. Wie war Szadeth stolz, erster Vater von Andymon zu sein! Er fühlte sich als Adam, als Stammvater ganzer Geschlechter. Und er hatte allen Grund dazu.

„Bekommt mein Prith nicht einen wunderbaren Planeten, Beth? Hier kannst du dich austoben, ausleben. Der ist weit genug, hier kannst du ein einfaches, natürliches Leben führen, Wälder anpflanzen, Häuser bauen…“

Ich mußte lachen, Szadeth und sein einfaches Leben! Fahrtwind, aufgewirbelter Staub schienen ihm nichts auszumachen, er redete und redete.

„Ein richtiges Pionierleben, nicht wie im Schiff eingepfercht zwi-schen Computern und Wiederverwertungsanlagen, das alles brauchen wir hier nicht. Wir haben einen grenzenlosen Planeten, sind nur auf uns selbst angewiesen, können alles mit unseren eigenen Händen… Wozu brauchen wir diese Supertechnik, die Computer und Mondstationen? Das ist alles viel zu kompliziert, zu anfällig. Und wenn so ein Computer ausfällt, geht alles drunter und drüber. Da bin ich viel lieber unabhängig, auf mich allein gestellt…“

Ich lachte nicht mehr. Szadeths Begeisterung für ein freies Pionierleben war auf gefährliche Weise naiv. Deshalb durfte ich nicht auf gewöhnliche, belanglose und unverbindliche, darum verbindende Themen ausweichen.

„Szadeth, Szadeth, du vergißt, daß unser Leben durch diese Technik überhaupt erst möglich geworden ist!“ Der Rover sprang über den welligen Boden, ich hielt mich fest. „Schau, du fährst mit Wasserstoff und Sauerstoff, ohne Fusionsreaktor wäre dein Rover bloße Attrappe. Und unsere Computer sind noch nie ausgefallen. Wir haben mehrfache Sicherheitsfaktoren, strukturelle Redundanz, aber das weißt du selbst, weshalb willst du vergessen, daß du ein Kind dieser Technik bist?“

Ich schwieg, vielleicht hatte ich schon zuviel gesagt, auch Szadeth schwieg. Der unerwünschte, zu heiße und zu trockene Wind blies um unsere Ohren.

„Na ja, du hast schon recht“, sprach er gegen den heranwehenden Staub, „aber mir gefällt diese Abhängigkeit nicht. Wenn wir erst ein größeres Stück Andymon umgestaltet haben, mit allen Mitteln, die uns das Schiff bietet, dann können wir ein natürlicheres Leben führen, können auf die überflüssig gewordenen Geräte verzichten. — Gut, nur die, die darauf verzichten wollen… Ist wahrscheinlich sogar günstig, wenn einige von uns das technische Erbe des Schiffs in Schuß halten.“

Vor uns schob sich die Kuppel von Oasis langsam über den Horizont. Sie war Symbol für unsere Abhängigkeit von künstlich geschaffenen Lebensbedingungen. Wenn sie fiele, käme die Zeit, von der Szadeth träumte und in der er mir mit unwilligem Großmut immerhin ein Plätzchen einräumte. Aber noch war nicht entschieden, wessen Vorstellung von der Zukunft sich auf Andymon realisieren würde. Vielleicht, dachte ich, irren wir beide, sehen beide die Dinge zu abstrakt, zu einseitig, zugespitzt, vielleicht wird alles ganz anders.

Der Rover fuhr durch die grüne Umgebung der Kuppel. Künstlich bewässerte Wiesen und Waldstücke, Streifen von Feldern wechselten einander ab. Seit die Regenfälle rarer wurden, sank auch der Grundwasserspiegel. Die Wüste streckte unmerklich ihre trockene Zunge nach Oasis aus. Um die Handbreit kultivierten Landes zu retten, waren wir bereit, ganze Berge in die Luft zu sprengen.

„Du besuchst uns doch?“ wiederholte Szadeth seine Frage. Ich nickte. Er sprang in hohem Bogen aus dem Rover. Ich folgte ihm durch die weitoffene Schleuse in die Kuppel. In ihr herrschte im Gegensatz zur trockenen Glut draußen eine feuchte Wärme. Als wir in die Siedlung gingen, erblickte ich einen die Häuschen überragenden Obelisken aus schwarzem, poliertem Gestein.

„Was ist das?“ fragte ich verwundert. Das vierkantige, schlanke Ding stand da wie aus einer anderen Welt, sah — zumindest in meinen Augen — nach Kosmos aus.

Szadeth räusperte sich, bei ihm ein Verlegenheitszeichen. „Das ist ein Obelisk. Für Delth. Es ist immerhin sieben Jahre her, daß er sein Leben für Andymon gab.“

Ich biß mir auf die Lippen. War es schon soweit, daß wir uns gegenseitig Denkmäler aus Stein errichten mußten? „Ich weiß nicht, ob sich Delth das gewünscht hätte“, sagte ich vorsichtig.

„Resth meint, wir wären es ihm schuldig. Schließlich hat Delth die Eroberung Andymons geleitet“, sagte Szadeth unbekümmert.

Wir gingen weiter, der Obelisk war mir nun ein Dorn im Auge, es tat mir weh, ihn anzusehen - trotz seiner Schmucklosigkeit, Schlichtheit. Und er war Resths Symbol dafür, daß sich das Zentrum unserer Welt nach Oasis verschoben hatte.

„Und was sagt Alfa dazu?“ fragte ich weiter.

„Nichts, nein, sie war einverstanden. Resth hat mit ihr geredet.“

Na schön, hättest du dir denken können, überlegte ich. Alfa ist eben zu sentimental. Ich war sicher, Delth hätte das Ding als Beleidigung aufgefaßt: Er hatte ganz Andymon, da brauchte es keine steinernen Symbole.

„Im übrigen“, sagte Szadeth, und ich bemerkte, daß die Beiläufigkeit seiner Bemerkung nur gespielt war, „Resth behauptet, du hättest damals vielleicht nicht alles getan, um Delth zu retten.“

„Aber das ist doch…“ Ich blieb stehen, die Stimme entglitt meiner Kontrolle. „Wie kann er so etwas behaupten…?“

„Nicht so laut“, unterbrach mich Szadeth.

„Aber wieso, ich versteh das nicht, wir haben doch die Aufzeichnungen von damals, da kann sich jeder überzeugen…“

„Ich glaube dir ja, Beth. Aber was sind schon Aufzeichnungen?“

„Er kann nicht einfach so eine haltlose Anschuldigung verbreiten!“ „Doch, er kann. Du kennst Resth schlecht. Komm.“

Wir waren bei Szadeths Häuschen angelangt. Szina begrüßte ihn stürmisch und mich freundlich. Wir setzten uns, beobachteten den kleinen Prith, der die Arme nach mir ausstreckte und mich anlachte, solange ich mich mit ihm beschäftigte. Ich wußte von Szadeths langen Berichten, wie stolz sie auf jede Kleinigkeit waren, die er hinzulernte. Dann aßen wir vor ihrem Haus echte frische Erdbeeren in synthetischer Milch.

Ich hätte gern Resths ungeheuerliches Verhalten diskutiert, aber Szadeth schien keinesfalls weiter darüber sprechen zu wollen. Zweimal setzte ich an, doch mein Mund sagte nur: „Schmecken ausgezeichnet, eure Erdbeeren, wirklich.“

Szina lächelte mir zu. Desto überraschender traf mich ihre plötzliche Frage: „Stimmt es, daß du gesagt hast, du würdest uns notfalls zwingen, an deinen Projekten mitzuarbeiten?“

Ich verschluckte mich. Auch Szadeth ließ beinahe seinen Löffel fallen. Als ich die Stimme wiedergewonnen hatte, stammelte ich unzusammenhängend: „Wie? Aber… Wer hat das gesagt? Das habe ich nie…“ Ich brach ab, denn plötzlich erinnerte ich mich an unser Gespräch auf dem Turm: Am liebsten würde ich sie zwingen, wenn sie das partout nicht begreifen wollen.

Wer von uns hatte das ausgeplaudert und dabei auf das gröbste entstellt? Jota — nein, sie war zu bedächtig und zudem jederzeit bereit, meine Pläne zu unterstützen. Fith, ja Fith, er hatte hier in Oasis die Angelegenheit mit dem Transformator geregelt. Und er redete, ehe er überlegte. Aber er mußte doch wissen, in welcher brisanten Situation wir uns befanden. Fith!

„Das läßt sich klarstellen“, sagte ich langsam und wiederholte das Gespräch, so gut ich mich daran erinnerte. Prith, der wohl merkte, daß er nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, unterbrach mich durch lautes Plärren. Szina nahm ihn auf den Schoß.

„Ihr müßt wissen“, setzte ich fort, „daß wir in City, also die ersten drei Gruppen, beschlossen haben, nichts ohne eure Einwilligung zu beginnen. Ich möchte nicht, daß unsere Gemeinschaft auseinanderbricht — auch wenn ich dabei riskiere, überstimmt zu werden. Auch wenn ich deshalb mein Lieblingsprojekt auf geben muß.“

Szadeth, der während meiner Worte aufgestanden war und hinter dem Tisch auf und ab ging, sagte kurz: „Hauptsache, du hältst dich dran.“ Damit war dieses Thema abgeschlossen.

Während sie stillte, fragte uns Szina über unsere Arbeit aus, über die Klimaveränderungen und was sich dagegen unternehmen lasse, über die Perspektiven von Oasis und der umliegenden Ebene. Unverfängliche, verbindende Dinge. Ich blieb, bis die Dämmerung einsetzte.

Szadeth begleitete mich noch bis zum Kopterlandeplatz vor der Kuppel. „So unterschiedlich unsere Vorstellungen auch sind“, sagte er mir, „in einem stimmen wir überein: Wir müssen offen zueinander sein.“

Ich dankte ihm, verabschiedete mich und flog mit Höchstgeschwindigkeit nach Andymon-City. Psychologisch gesehen war es wohl ein großer Nachteil, daß wir nicht - wie im Schiff - alle zusammen wohnten und lebten. Doch so konnten wir besser Fuß fassen auf Andymon.

Kaum angekommen, berichtete ich Gamma von allem.

Sie war aufgebracht, wie ich sie selten erlebt hatte. „Warum hast du ihnen nicht die Meinung gesagt, Beth? Warum bist du nicht gleich zu Resth gegangen und hast ihn verdroschen? Wie konntest du das nur auf dir sitzen lassen! Du bist viel zu gutmütig, Beth. Stell dir vor, was Delth getan hätte! Resth würde nie wieder wagen, seinen Mund so weit aufzureißen!“

„Ich kann doch nicht einfach… Nein, man muß so etwas erst überdenken…“ protestierte ich schwach, „vielleicht war es eine bewußte Provokation von Resth.“

„Desto schlimmer! Es gibt Situationen, Beth, in denen muß man handeln. Und in diesem Fall kann ich dir das auch nicht abnehmen.“

„Was soll ich denn tun?“ fragte ich kleinlaut. Aber da wußte auch Gamma keine Antwort, zumindest keine, die vernünftig schien. Hingehen und Resth Prügel anbieten? Das war mir zu kindisch. So ließ ich die Sache erst einmal auf sich beruhen.

Und Fith stritt ab, unsere Unterhaltung kolportiert zu haben. „Ich bin kein Schwätzer“, behauptete er.

Herbst der Mäuse

Krankheiten stellen sich in den meisten Fällen zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt ein. Ich hatte mir gerade in dem Moment eine fiebrige Erkältung zugezogen, als sich die Auseinandersetzungen zwischen City und Oasis zuspitzten. Das schlimmste dabei war, daß mit der Schwächung meines Körpers ein Nachlassen meiner Willenskraft einherging.

Ich litt unter einem hartnäckigen Schnupfen, nichts schmeckte mir mehr, die Nase tropfte, und vor allem gegen Abend brummte mein Kopf. Seit ich mit Szadeth gesprochen hatte, war ich kaum aus meinem Zimmer herausgekommen. Ich lungerte herum, schlief oder las und ließ mir von Gamma Dampfbäder hinstellen. Schnupfen war nicht eingeplant gewesen, nicht vorgesehen für Andymon. Doch alle Desinfektionen, alle biologischen Barrieren konnten nicht verhindern, daß auch er sich eine neue Welt eroberte, ständiger Begleiter der Menschen.

Manchmal saß ich an meinem Arbeitstisch, doch statt zu arbeiten, starrte ich aus dem Fenster über den großen Platz von Andymon-City, auf den eine Giebelwand unseres Hauses zeigte, zum Turm hinüber und zu den darüber ziehenden niedrigen Wolkengebilden. Mit offenen Augen träumte ich von den Schiffen, die ich bauen wollte, herrlichen, metallisch glänzenden Zylindern in der Schwärze des Alls, technischen Kunstwerken von kosmischer Dimension. Ein Niesanfall riß mich in die Realität.

Ganz entfernt nur wußte ich, daß die Auseinandersetzung mit Resth bevorstand und daß ich ihm nicht die Initiative überlassen durfte. Aber wenigstens bis zu meiner Gesundung war es doch erlaubt, untätig zu bleiben?

Zwei Tage später ging es mir besser.

„Du mußt endlich handeln“, drängte mich Gamma, „Resth wartet nicht. Du mußt seinen Einfluß auf die Jüngeren brechen. Ich habe Ilona gerufen, sie soll dich noch einmal untersuchen.“

Als Antwort schniefte ich nur.

Ich bevorzugte Ilona als Hausarzt. Mit rührendem Stolz pflegte sie ihre seidigen blonden Haare, die bis heute einmalig auf Andymon sind. Dazu zogen mich ihre betont femininen Formen an, ihre schlanke, aber an keiner Stelle magere Gestalt. Und ich hörte gern ihre rauhe Stimme mit dem eher Väterlichen Tonfall: „Na, wie geht’s uns denn heute, Beth? Endlich überm Berg?“

Ich verdrehte die Augen und winkte mit tapferer Geste ab.

„Und ich hatte schon gedacht, daß du vielleicht gar nicht gesund werden willst, Beth, daß es dir gefällt, dich mit ein paar nasal gestammelten Worten aus der Affäre ziehen zu können.“

Nein, ich empörte mich nicht, das hatte ich getan, als Gamma diese Beschuldigungen zum erstenmal vorbrachte. Natürlich hatte ich vor ihr nicht verbergen können, wie zuwider mir diese aufgezwungene Auseinandersetzung war. Als müßte ich hinabtauchen in den Sumpf von Kleinlichkeiten. Ja, damals in Kindertagen, der Streit mit Delth, das war eine ehrliche und offene Sache gewesen!

„Tjaja, Andymon erschöpft uns alle. Nur die Symptome sind unterschiedlich. Und gerade jetzt, wo das Gröbste geschafft ist, zeigen sie sich.“

Ich lachte gezwungen. „Das Gröbste vielleicht, aber nicht das Problematischste.“

Als Ilona gegangen war, trank ich ein Glas säuerlichen Fruchtsaft. Dann schlug ich mit der flachen Hand auf die Tischkante. Was sein mußte, mußte sein!

Über das Videofon versuchte ich, Kontakt mit Resth zu bekommen, um ein Treffen zu vereinbaren. Doch der Schirm zeigte nur den blauen pulsierenden Punkt, das Besetztzeichen. Nach einer Viertelstunde probierte ich es noch einmal mit dem gleichen Erfolg. Resth war für mich nicht zu sprechen, was sollte das anderes bedeuten. Ich zuckte die Schultern, froh, zumindest für diesen Tag kein unangenehmes Gespräch führen zu müssen.

Ich setzte mich wieder an meinen Arbeitstisch und schaute hinaus auf die farbigen Häuser am anderen Ende des Platzes. War ich feige? Wenn Resth heute nicht zu sprechen war für mich, würde er es morgen genausowenig sein. Wollte ich überhaupt noch eine vernünftige Klärung, dann mußte ich ihn aufstöbern, ihn stellen. Ich rief Szadeth an, er zum Glück ging an den Apparat. Als er mich erkannte, zog er die Brauen hoch.

„Hallo, Szadeth“, sagte ich, „kannst du mir ein Treffen mit Resth vermitteln oder mir zumindest sagen, wo er steckt?“

„Hm, ich glaube nicht, daß er dich wird sehen wollen. Ich weiß auch nicht, wo er ist, Beth. Bei uns geht augenblicklich alles drunter und drüber. Wir haben eine Mäuseplage da draußen“ - er meinte die Felder um die Kuppel - „sie fressen alles weg. Wir wollen sie nicht vergiften wegen der Vögel, also stellen wir Fallen, schießen sie ab. Und wir versuchen, so schnell wie möglich zu ernten, was übriggeblieben ist.“

„Das schau ich mir mal an“, sagte ich, „vielleicht treffe ich Resth dabei.“

„Sollte mich wundern.“ Szadeth schwieg eine Weile. „Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn du kommst. Die Stimmung ist nicht gerade für dich.“

„Desto wichtiger ist es“, sagte Gamma, die hinter mir stand.

„Wenn ihr unbedingt wollt“, Szadeth zuckte mit den Schultern, „hm, ich werde versuchen, euch zu treffen.“

Gamma begleitete mich auf dem Flug nach Oasis. Sie begründete es mit meinem Gesundheitszustand, und ich hatte nichts dagegen einzuwenden, denn ich hatte das Gefühl, mit ihr unschlagbar zu sein.

Unterwegs überlegte ich, was ich Resth sagen wollte, doch meine Gedanken drehten sich im Kreis. Was ist in dich gefahren, weshalb verbreitest du Lügen über mich? Wozu das? Weshalb haßt du mich? wollte ich ihn fragen. Als wir auf dem Landeplatz bei der Kuppel von Oasis aufsetzten, hatte ich mir noch keinen Satz definitiv zurechtgelegt.

Wir stiegen aus und beschlossen, Resth zuerst in der Umgebung der Kuppel zu suchen. Auch interessierten uns die befallenen Felder.

Wir folgten einem Trampelpfad quer über eine Wiese, auf der einzelne junge Kühe weideten. Wahrscheinlich kannten unsere Geschwister noch jede von ihnen mit Namen. Das Weizenfeld sah weniger schlimm aus, als ich es mir nach Szadeths Worten vorgestellt hatte. Die Halme standen gelb und reif im Wind, die Ähren waren prall gefüllt, nicht alle natürlich. Hier und da erkannte ich im Boden kleine Löcher.

„Eine übertriebene Mäuseplage“, sagte ich zu Gamma.

„Das überschaust du nicht“, antwortete sie knapp.

„He, hallo“, hörte ich. Auf dem Pfad kam uns eine kleine Gruppe in kurzen Khakihosen und Khakihemden entgegen. Alle fünf, zwei Mädchen darunter, trugen Gewehre. Ich schätzte sie auf vierzehn Jahre. Als sie uns erkannten, blieben sie in ein paar Schritt Entfernung stehen.

„Ei, wer besucht uns denn hier? Weltkontrolleur Beth persönlich.“

Ich lachte gezwungen. „Was soll die Ironie?“

„Ihr wollt euch wohl ansehen, welchen Ärger wir mit den Mäusen haben? Die kommen euch doch nur recht.“

Es sprach immer derselbe. Vergeblich versuchte ich mich an seinen Namen zu erinnern; ich hatte ihn und seine Gruppe, die zehnte, nur bei wenigen Gelegenheiten gesehen.

„Wieso, was wollt ihr damit sagen?“ fragte Gamma mit einer harten, fast metallischen Stimme, die ungewohnt in meinen Ohren klang.

„Der Ausfall der Ernte, nützt er euch etwa nicht? Da sind wir weiter auf synthetische Nahrung angewiesen, sind weiter von eurer Technik abhängig, uns könnt ihr nichts vormachen“, erklärte eins der Mädchen.

„Blödsinn“, sagte ich, „wir sind wie ihr an einer schnellen Kultivierung Andymons interessiert. Allerdings ist diese unmöglich ohne ein Minimum an Technik. Ohne sie könnten wir alle nicht existieren.“

„Deine Computer haben die Mäuseplage falsch vorhergesagt, erst für nächstes Jahr.“

Ich stöhnte. Durch das vorzeitige Verlassen des Schiffs hatten sie ihre wissenschaftliche Ausbildung zu schnell und oberflächlich beendet. Jetzt sah man das Resultat.

„Das liegt nicht an den Computern“, Gamma versuchte sie aufzuklären, „unvollkommene Modelle, fehlende Meßwerte, ein zu naives Verwenden der Ergebnisse…“

„Jetzt sollen auch noch wir daran schuld sein, daß die Gefahr zu spät erkannt wurde“, höhnte der Anführer, „wer weiß, vielleicht sind die Programme nicht von ungefähr unzulänglich…“

„Nun reicht’s aber!“ fuhr ich ihn an, „wer solche Behauptungen aufstellt, muß sie auch begründen können, ist das klar? Und das kannst du auch deinem großen Meister Resth sagen. Wo steckt der überhaupt, ich habe ein Wörtchen mit ihm zu reden!“

Sie schauten sich gegenseitig an. „Ja, wo ist er denn?“

Plötzlich hob eins der Mädchen das Gewehr, zielte auf mich. Dicht neben mir schlug der Plastschrot in den Boden. Ich sprang zur Seite.

„Eine Maus“, erklärte sie seelenruhig. Es lag tatsächlich eine da.

Gamma war nahe dran, die Beherrschung zu verlieren. „Man zielt nicht auf Menschen! Was habt ihr denn im Totaloskop gelernt! Wenn ihr das nicht begriffen habt, gehören Gewehre nicht in eure Hände!“ Ihr Gesicht war trotz des dunklen Teints blaß geworden.

„Reg dich nicht auf, du weißt doch, daß wir Mäuse jagen. Außerdem habt ihr hier nichts verloren. Ihr gehört nach Andymon-City. Vielleicht habt ihr schon goldene Drähte im Haar und seid an die Computer oder das Monster auf Gedon angeschlossen.“

„Hört auf!“ sagte ich mit erzwungener Ruhe, „und versucht nicht, mich oder euch selbst anzulügen. Ihr wißt so gut wie ich, daß der Schuß als Drohung gemeint war. Und Resth wird sich dafür verantworten müssen, daß er euch aufhetzt. Vergeßt nicht, daß wir Andymon für euch bewohnbar gemacht haben.“

Gamma zog mich am Arm, das hieß: Umkehren, Beth, hier ist es zu gefährlich.

„Ja, damals gab es Delth noch… Und wer weiß…“

Ehe der Sprecher sich’s versah, ehe er die Verleumdung aussprechen konnte, die ich bereits kannte, war ich bei ihm und hatte ihm links und rechts ins Gesicht geschlagen. Gewollt oder ungewollt, die Prügel für Resth hatten einen Empfänger gefunden.

Er war vor allem verblüfft, öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen. Auch seine Geschwister starrten mich reglos an. Mir fielen die Gewehre ein, blitzschnell überlegte ich, die Lethargie der vergangenen Wochen war mit den zwei Schlägen verpufft.

„Du kannst sie Resth weitergeben, ihm gehören sie“, sagte ich. Dann ließ ich meinen Blick wandern, schaute ihnen der Reihe nach in die Augen. „Ich gebe euch den guten Rat: Glaubt Resth nicht all seine Lügen. Versucht mal, selbst zu denken, sie zu überprüfen.“

Sie standen noch wie versteinert da. Gamma wollte mich wieder wegziehen. Aber ich wußte plötzlich, daß ich sie beeindruckt hatte. Irgendeine von Resths Lügen über mich stimmte mit meinem Verhalten nicht überein. Ich mußte diese Unsicherheit sofort ausnutzen.

Entschlossen faßte ich den, den ich geschlagen hatte, am linken Oberarm. „Wie heißt du?“

„Laath.“

„Laath, du führst mich sofort zu Resth. Ich habe das Versteckspiel satt, er soll mir selbst Rede und Antwort stehen — oder ist er so feige, daß er einer Begegnung ausweicht?“

Wir gingen, begleitet von einer bewaffneten Eskorte. Der oberflächliche Beobachter hätte Gamma und mich für Gefangene halten können. Ich aber fühlte mich stark wie nie und zugleich so entrückt, so unwirklich. Wir näherten uns der Kuppel, passierten die nachlässig geöffnete Schleuse - mir war, als hätte ich diese Szene hundertmal im Totaloskop erlebt.

Als wir vor Resths Haus anlangten, sagte eins der Mädchen: „Er ist bestimmt in der Meerwasseraufbereitungsanlage.“

Ich rief herausfordernd: „Resth!“ Dann klopfte ich und trat ein. Unsere Eskorte ging auf Sicherheitsabstand.

Pea, die sich allein im Wohnraum des Hauses aufhielt, stand erschrocken auf.

Der unruhige Blick ihrer Augen entwaffnete mich sofort. „Pea“, fragte ich so sanft wie möglich, „wie geht es dir? Und was macht es? Entwickelt es sich?“

Sie nickte. Ihr war das werdende Leben bereits deutlich anzusehen.

„Tut mir leid, daß wir so hereinplatzen“, sagte Gamma und umarmte Pea, „wir haben Resth gesucht.“

„Ich will nichts von dieser Sache wissen.“ Es waren die ersten Worte, die Pea zu uns sprach.

„Mach dir keine Gedanken, Pea“, versuchte ich sie zu besänftigen. „Resth und ich werden uns schon gütlich einigen. Es gibt kein Problem, über das man nicht reden könnte.“

Erst als wir sie Minuten später verlassen hatten, wurde mir bewußt, daß ich selbst längst nicht mehr an die alles lösende Rationalität glaubte. Hatte ich nicht mit den Ohrfeigen das Gegenteil bewiesen? „Ich wußte nicht, wie sie reagieren würden“, sagte Gamma in der Sicherheit des Kopters. „Bei denen ist alles drin. Sie hätten uns zusammenschlagen können — oder Schlimmeres. Aber die größte Überraschung warst du für mich!“ Sie küßte mich auf die Wange.

„Auch sie sind von Rammas und von Guros erzogen worden“, erwiderte ich wenig überzeugend, „so weit würden sie es nie treiben.“ „Vielleicht sie nicht, aber Resth. Erinnerst du dich: Es geht um das Ganze, um die Zukunft Andymons, um Leben und Tod. Hat er das nicht gesagt?“

Ich konnte mich nicht erinnern.

„Darin zumindest hat er recht, es geht um Leben und Tod.“

„Bitte, Gamma, du bist erschrocken. Aber das, woran du denkst, das ist einfach nicht möglich, nicht bei uns, nicht bei Resth, nicht unter uns Geschwistern. Wir sind alle Schiffsgeborene, haben die gleiche Erziehung, wenigstens in den entscheidenden Jahren. Es ist unmöglich für uns. Wir sind nicht die Menschen von der Erde. Glaub mir, Gamma, wir haben hier einen neuen Anfang. Ohne Blut.“

Gamma schwieg.

Programmierter Alptraum

Ich stand auf Ladym, dem zweiten Mond, und wartete auf den Unfall, meinen Unfall, den ich mit Sicherheit erleiden würde, eher früher als später. Der Skaphander war dicht, und alle Systeme der kleinen Station arbeiteten zufriedenstellend, vielleicht also ein „Meteorit“? Oder ein „amoklaufender“ Roboter?

Andymon ging auf, eine große braune, grüne und graue schlierige Scheibe, Hoffnung zurückzukehren hatte ich kaum; Resth würde das nie zulassen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er die Order erteilt hatte, mich von Andymon zu entfernen, ohne auch nur die Andeutung eines triumphierenden Lächelns, ohne auch nur einen Zug des Hasses, allein bestimmt von jener kalten Notwendigkeit, die sein Handeln leitete. „Solange Beth hier lebt, wird es Zwist geben, Kampf, der unsere Kräfte verbraucht, der das Überleben unserer Siedlung gefährdet. Schließt ihn von jeglichem Funkkontakt aus.“

Fast ein Jahr hatte der Kampf gedauert nach einem Anfang, der nichts ahnen ließ.

Ich blickte über die nur von Andymon beschienene graue Steinwüste und dachte zurück, versuchte die Fehler zu finden, die entscheidenden Punkte. Zweifelsohne hatte ich zu lange gezaudert, Resth die Initiative überlassen. Die Begegnung mit den Mäusejägern hatte bewiesen, daß Resth die jüngeren Gruppen aufwiegelte, daß es höchste Zeit war… Doch die Tage verstrichen in Unschlüssigkeit, Resth blieb unerreichbar für mich, und viele kleine Dinge schienen wichtiger.

Dann plötzlich war er bereit zu einer Aussprache mit einem Vertreter aus jeder Gruppe. Gründlich bereitete ich mich vor, glaubte an ein sachliches Abwägen von Fakten, Argumenten, Möglichkeiten. Wir trafen uns in einer kleinen Halle, nicht unter freiem Himmel wie sonst — Resth hatte die Szene vorbereitet. Wie naiv war ich, daß ich mir vorstellte, in dieser Situation argumentieren zu können? Hatte ich immer noch nicht gelernt, wie Andymon uns verwandelte? Wir hatten die schützende Hülle des Schiffs verlassen, waren den Naturgewalten eines unwirtlichen Planeten ausgeliefert, stets in Bedrängnis, in ständigem Kampf ums Überleben. Mußte da nicht die Zwietracht in einen tödlichen Konflikt münden?

Blind war ich, obwohl gerade ich von psychologischen Problemen sprach: Wie sehr wir den Kosmos brauchten, daß wir uns nicht auf Andymon beschränken durften, denn so würden wir einer Robinsonneurose erliegen, uns nur tiefer und tiefer in den einen Planeten vergraben, alles um uns vergessen, alle Perspektiven verlieren, uns nur noch von den bitteren Notwendigkeiten des Tages leiten lassen, verbohrt und verbiestert uns in eine in sich geschlossene Zivilisation verwandeln, die ewig auf der Stelle tritt… Auch deshalb sei der Schiffbau nötig, als Projekt, an dem wir unsere Kräfte entfalten könnten, als Mittel, die anderen Planeten und Monde unseres Sonnensystems zu erschließen, die Tür in den Kosmos offenzuhalten…

Ich war beredt, durchaus, ereiferte mich wie nie zuvor.

Resths Antwort brachte mich zurück in die karge Halle. „Ich glaube, Beth über- und unterschätzt uns zugleich, er will immer gleich das gesamte Universum. Und wenn wir ein wenig von der Raumfahrttechnologie verlernen? Brauchen wir sie in den nächsten hundert Jahren? Wir werden nicht gleich durchdrehen, weil wir auf nur einem Planeten leben.“

„Ihr müßt Beth richtig verstehen“, erklärte er weiter, „er ist so fest von der Richtigkeit seiner Meinung und ihrer Bedeutung für die Zukunft Andymons überzeugt wie ich. Aber, wahrscheinlich, ohne daß er sie selbst kennt, schlummern in seinem Unterbewußtsein noch andere Absichten. Beth hat an Delths Seite gute Arbeit geleistet zu einer Zeit, als ein voller Einsatz kosmischer Technologien nötig war.

Diese beherrscht er ausgezeichnet. Doch die Zeiten haben sich geändert. Nun ist es nötig, sich den Bedingungen Andymons optimal anzupassen. Dies kann er natürlich nicht akzeptieren, denn damit würden seine speziellen Fähigkeiten überflüssig.“

Ich sprang auf. „Du meinst, damit würde ich überflüssig.“

„Das habe ich nie behauptet.“

„Aber angedeutet.“

„Bitte, wir wollen uns nicht in persönlichen Anschuldigungen verlieren“, warf Samecha aus der fünften Gruppe ein. Resth hatte die Rollen gut verteilt.

„Wenn wir nun Schiffe bauen würden, blieben für Beth die guten alten Zeiten erhalten. Wer außer der ersten Gruppe sollte eine so komplizierte technische Aufgabe leiten?“

„Jetzt verteilst du Anschuldigungen, Resth“, sagte ich bitter, „so kommen wir nie zu einer sachlichen Diskussion. Außerdem meine ich nicht, daß wir uns an Andymon anpassen müßten. Ganz im Gegenteil!“

Meine Argumente verhallten ohne Resonanz. Und Resth wußte zu kontern. Wenn ihm die Argumente fehlten, attackierte er mich. Ein abgekartetes Spiel, einzig dazu inszeniert, um später lauthals verkünden zu können: Die Mehrheit hat Beths Vorschläge verworfen.

Es war nicht einmal eine Abstimmung nötig. Entrüstet ging ich, warf die Tür mit aller Kraft zu, doch der weiche Plast fing den Stoß ab.

Hätte ich damals aufgeben oder eine günstigere Situation abwarten sollen? Das Resultat wäre wohl stets meine Verbannung gewesen. Resth mußte den Störfaktor eliminieren.

Viel zu spät begann ich, den Streit offen auszutragen. Ich pendelte zwischen Andymon-City und Oasis hin und her. Ich sprach mit jedem, den ich traf, ich flog zum Fusor und zu den Minen. Ich versuchte Myth zu überzeugen und Szadeth, ich war auf den Pflanzungen, in den Wäldern, an den Seen, sosehr ich mich auch abhetzte, sosehr mich auch Gamma, Jota, Zeth unterstützten, das Ziel wich weiter und weiter vor uns zurück.

„Wir haben hier schon genug zu tun“, erklärte man mir. „Dein Streit interessiert uns nicht, es gibt Wichtigeres.“

„Wir schaffen es, auch ohne weitere Planeten zu erschließen. Das überlassen wir unseren Kindern.“

Manchmal glaubte ich aus ihren Antworten herauszuhören: Was sollen wir uns mit Resth anlegen! Wahrscheinlich hat er recht. Kann man uns denn nicht in Ruhe und Frieden arbeiten lassen?

Resth wartete seine Zeit ab. Dann schlug er zu. Er rief seine jüngsten Anhänger zusammen, die anderen konnten ihn auf dem Videoschirm sehen. Es war nur eine kurze Ansprache.

„Ich will euch warnen“, sagte Resth, „wir haben immer friedlich und kameradschaftlich miteinander gelebt. Jetzt gibt es einige, die wollen uns allen ihren Willen aufzwingen.“

Resth brauchte keinen Namen zu nennen, jeder wußte, daß ich gemeint war.

„Wir müssen einträchtig bleiben“, fuhr Resth fort, „nur so können wir Andymon trotzen, das hat schon Delth gewußt. Gerade jetzt, wenn wir eine erhöhte seismische Aktivität erwarten, ist das wichtig.“

Ich wollte aus meinem Haus laufen, allen die Wahrheit ins Gesicht schreien, ihnen sagen, daß sie von Resth manipuliert würden, daß er Delths Namen für seine Zwecke mißbrauchte. Doch ich blieb, an den Lippen nagend, sitzen.

In einem hatte Resth recht: Jetzt ein offener Kampf unter Geschwistern, jetzt gegenseitige Anschuldigungen und vielleicht Handgreiflichkeiten, jetzt ein Blockieren von Informationskanälen, ein Verlassen von Beobachtungsstationen, eine Überlastung der Computer mit taktischen Berechnungen — würde ein gefährliches Chaos bedeuten. Ich blieb grübelnd sitzen. Auch weil ich wußte, daß es Resth nie um persönliche Macht ging, sondern nur um das eine, um den schnellstmöglichen Aufbau eines stabilen ökologischen Systems auf Andymon. Hätte ich an seiner Stelle anders gehandelt? — Es war nur logisch, daß er mich nach überstandener Bebenwelle auf Ladym abschob.

Die Erinnerungen verflogen. Andymon stand inzwischen hoch am Himmel. Nun würde es sich erweisen, ob meine Befürchtungen zutrafen. Es konnte Dutzende von Generationen dauern, bis meine Geschwister aus der Enge der Tagesnot, einer auf das Wesentlichste beschränkten Existenz wieder zu sich finden würden, ein ganzes dunkles, verlorenes Zeitalter. Für mich bedeutete ein Leben ohne das großartige Ziel der Sterne nur ein dumpfes Vegetieren.

Der kleine rote Punkt, der schon immer in meinem Blickfeld glomm, stand jetzt dicht bei Andymon. Ganz in seiner Nähe löste sich ein winziges Fünkchen von dem Planeten. Ruhig zog es einen eleganten Bogen zwischen den Sternen. Gewann an Helligkeit, wuchs und wuchs. Verdeckte schließlich die gesamte Scheibe Andymons, ehe es mich in den bodenlosen gleißenden Strudel stürzte.

Benommen saß ich da, atmete stoßweise. Die Adapter des Totaloskops klebten an meinen Schläfen. Ich hatte nicht die Kraft, sie zu entfernen. Meine Gedanken wirbelten durcheinander wie Stäubchen im Wind. Würde so die Zukunft Andymons aussehen? Erwies sie sich als so schrecklich, wie ich sie empfand? Vielleicht fürchtete ich tatsächlich, nach der großen Umgestaltung Andymons keine Aufgabe mehr zu finden, den Sinn meines Lebens zu verlieren? Ging es mir überhaupt um die Schiffe? Was stieß mich denn so an Resth ab? Ja, das waren nicht sein Ziel und nicht einmal seine Überlegungen. Es war die Art der Logik, die dahintersteckte. Diese Unbedingtheit.

Dieses: Und wenn du sie nicht überzeugen kannst, dann überrumple sie, es geschieht, ja in ihrem Interesse. Ihm kam es nicht darauf an, andere zu verstehen, ihre Gedanken nachzudenken. Er wußte ja, daß seine richtig waren, absolut, und jede Abweichung von ihnen den Untergang unserer Zivilisation heraufbeschwören würde. Daher konnte er mich nicht tolerieren. Im Kampf auf Leben und Tod heiligt der Zweck die Mittel. Auch die letzten, die allerletzten. Ich erschauderte.

Mit steifen Fingern nahm ich die Adapter ab. Vielleicht war es ein schreckliches Unrecht von mir, ihm einen Mord zuzutrauen. Ich hatte ja nur ein Szenarium erlebt, eine Zukunftsmöglichkeit. Eine programmierte noch dazu, die auf einem Personogramm von Resth beruhte, das Gamma erarbeitet hatte. Möglich, daß sie ihre Befürchtungen in die Sprache der Formeln übertragen hatte. Die Rückkopplung meines Gehirns mit dem Totaloskop hatte zusätzlich meine sicherlich subjektiv verzerrten Vorstellungen von Resth eingebracht. Wunschtraum und Alptraum können eins sein.

Ich stieg aus dem Totaloskop, wollte die frische, freie Luft Andymons im Gesicht spüren. Als ich den Turm verließ, knirschte der Kies leicht unter meinen Füßen. Ich atmete tief durch. Handeln mußte ich. Aber bist du jetzt nicht zu voreingenommen? dachte ich. Wenn dir nun Resth begegnet, wie kannst du dich ihm gegenüber unbefangen und gerecht verhalten? Nach all diesen irrealen Erfahrungen aus dem Totaloskop, die sich trotz aller Vernunftsgründe in dein Unterbewußtsein eingraben?

Sabotage

Während ich grübelte, wie ich Resth entgegentreten sollte, verlief das Leben auf Andymon auf gewöhnliche Weise, als gäbe es keine sich verschärfenden Konflikte, als handelten wir alle in völligem Einklang. Die Geschwister legten Obstplantagen und Mischwaldschonungen an, ich selbst war dabei, als das Bett für einen Fluß freigesprengt wurde. Automaten gruben nach Bauxit, montierten Produktionshallen, und drei oder vier Babys waren unterwegs. Nichts konnte den Fortschritt unserer Gemeinschaft stören. Scheinbar nichts.

„Beth, deine Chemieanlage löst sich auf“, teilte mir Ilona über das Videofon mit.

„Was?“ fragte ich verstört, „was heißt auflösen?“

„Na, ich bin kein Experte. Ich komme gerade von einem Medizinertreff drüben in Oasis, und als ich den Bauplatz überfliege, da sehe ich, daß, na, daß sich die Anlage auflöst, sich demontiert sozusagen.

Ich dankte kurz und setzte mich sofort mit dem Projektcomputer in Verbindung. Konnte durch einen absurden Systemfehler das Bau-programm invertiert worden sein? Überraschenderweise informierte mich der Computer, daß das Chemiewerk nicht mehr zu seinem Aufgabengebiet gehöre. Dabei war diese Anlage mein Projekt, ich zeichnete verantwortlich, und nur ich hätte eine derartige Programmänderung einleiten dürfen.

Ich lief hinaus, zwischen den jungen Bäumen hindurch zu den Hangars. Die Kopter waren alle fort. Zum Glück fand ich in der Garage einen Rover. Ich fuhr mit Höchstgeschwindigkeit los. Teth, den ich in eine Staubwolke hüllte, schüttelte den Kopf und deutete mit dem Finger an seine Stirn; er liebte derartige Hektik nicht.

Bald lag Andymon-City hinter mir. Während der zwanzig Kilometer sehr unebener Piste zum Werk hatte ich Zeit zu überlegen. Schon einmal, in der Planungsphase, hatte es Schwierigkeiten mit dieser Anlage gegeben. Shinth beanspruchte dieselben Ausrüstungen für eine Düngemittelfabrik, die in der Nähe von Oasis errichtet werden sollte. Ich hatte ihn damals überzeugen können, daß mein Projekt wichtiger sei. Die hier produzierten chemischen Verbindungen, unter anderem Säuren, wurden für die Produktion verschiedener Plastmaterialien dringend benötigt. Plaste bildeten eine der Grundlagen unseres Lebens. Wir setzten sie zu den verschiedensten Zwecken ein: Holzimitation für Möbel, Baumaterial, Maschinenelemente… Und die Vorräte des Schiffs waren so gut wie erschöpft.

Was ich Shinth verschwiegen hatte, war, daß in dieser Fabrik auch — später einmal — superfeste siliziumorganische Verbindungen hergestellt werden konnten, die für die Konstruktion von Raumschiffen eine große Rolle spielten. Ich wollte, obwohl bislang kein positiver Entschluß über meine kosmischen Projekte gefallen war, für diese günstige Voraussetzungen schaffen. Ob hier ein Zusammenhang zu der von Ilona beobachteten „Demontage“ bestand? Allerdings hatte ich Shinths Wort, und bisher war alles wie geplant gelaufen.

Der Rover erklomm eine Bodenwelle. Von oben aus ließ sich das Gelände gut einsehen. Ilona hatte sich nicht getäuscht. Die senkrecht stehenden Zylinder der Katalysereaktoren waren verschwunden, und ein schwerer Tieflader fuhr auf der Piste in Richtung Oasis. Hatte mich der Streit der Transporter um den Transformator noch erheitert, so spürte ich jetzt eine heiße Welle des Zorns in mir aufsteigen. Den letzten Kilometer jagte ich den Rover über die holprige Piste, daß ich mich am Lenkrad festkrallen mußte. Mir klammheimlich eine ganze Fabrik zu stehlen!

Die Bremsen kreischten auf, der Rover stand, ich sprang hinaus. Wo noch vor zwei Tagen das Hirn des Werkes, der Prozeßrechner mit den Kontrolleinrichtungen, gestanden hatte, war nun der planierte und betonierte Boden zu sehen. Ich rannte mitten hinein zwischen die Krane, die einzelne Träger, aber auch komplette Stahlkonstruktionen und Aggregate auf die Fahrzeuge luden, zwischen die kleinen Konstruktionsroboter, die nicht viel mehr konnten als Schweißen, Bohren und Nieten. Ich achtete nicht auf Lasten über meinem ungeschützten Kopf oder auf die Wege der verschiedenen Fahrzeuge. Ich verhielt mich, als könnte ich mit der bloßen erhobenen Faust all die Automaten und Motoren stoppen.

Und tatsächlich: Der Kran, der ganz in meiner Nähe tonnenschwere Rohre durch die Luft hob, stieß ein Warnsignal aus und verharrte mitten in der Bewegung. Schlagartig erstarrten auch die Roboter, bremsten die Fahrzeuge, verebbten die Geräusche der Demontage.

„Bist du verrückt, Beth, du läufst in die Maschinen!“ rief eine Stimme.

Die Tür eines Kopters, den ich bislang nicht hinter den Rohranlagen erspäht hatte, stand weit offen. Ein Mädchen und ein Junge stiegen heraus. Sie trugen orangefarbene Schutzhelme und Khakibekleidung. Als sie auf mich zurannten, erkannte ich den Jungen, es war Laath, der, dem ich kürzlich die Ohrfeigen versetzt hatte.

„Mensch, Beth, sei froh, daß wir dich rechtzeitig entdeckt haben! Was suchst du hier?“

Einen Moment war ich vor Zorn und Überraschung sprachlos. Sie atmeten schwer vom kurzen Sprint und boten einen ebenfalls verärgerten Eindruck.

„Das frage ich euch“, sagte ich und betonte jedes Wort, „was sucht ihr hier? Woher nehmt ihr die Frechheit, meine Arbeit zu zerstören?“ „Was?“ fragte das Mädchen, Bhriga, erstaunt, nahm den Helm ab und fuhr mit dem Handrücken über die Stirn. „Wir sind hier, um die Teile des nicht benötigten Werkes abzutransportieren, damit sie für die Düngemittelfabrik genutzt werden können“, sagte sie.

„Nicht benötigt, was heißt nicht benötigt?“ Schon als ich die beiden gesehen hatte, war mir klargeworden, daß nicht Shinth seine Meinung geändert, sondern Resth seine Hand im Spiel hatte. „Das hat euch Resth gesagt?“ fragte ich, „und euch befohlen, hier alles zu demontieren?“

„Ja, wenn keine Schiffe gebaut werden, brauchen wir auch keine siliziumorganischen Verbindungen.“ Also doch!

„Himmel“, fuhr ich sie an, „nicht nachplappern! Ihr müßt selbst denken! Hab ich euch das nicht längst gesagt? Diese Fabrik hier sollte hunderterlei Plastmaterialien herstellen. Die könnten wir jetzt gut gebrauchen für Plastkuppeln und Hauswände, als Isoliermaterial, für Gefäße und Gehäuse… Natürlich wären ein paar der Verbindungen auch für den Schiffbau verwendbar — es gibt kaum Produktionsanlagen, für die das nicht zutrifft. Wißt ihr, wobei ich euch ertappt habe? Bei Sabotage, ganz eindeutiger, gemeiner Sabotage!“

Laath, der sich vorsichtig auf Distanz begeben hatte, war verlegen. „Aber…“ Er hielt ein und scharrte mit dem Fuß auf dem Boden.

„Aber Resth hat gesagt — nicht wahr? Na gut, ich weiß, wer die Verantwortung trägt. Allerdings seid ihr nicht ohne Schuld. Fabriken stehlen! Ihr laßt euch wohl von eurem Bandenchef alles einreden? Angeblich will die erste Gruppe alle bevormunden, nicht wahr? Lächerlich! Das ist die Spezialität eures Möchtegernbosses!“

Ich mußte mich zusammennehmen, meinen Zorn zügeln. Den wollte ich mir für Resth aufheben. „Wo ist er?“ fragte ich scharf. Diesmal durfte er mir nicht wieder ausweichen. Ich mußte ihn in seinem Versteck aufstöbern und zur Rede stellen, und wenn ich ihm um ganz Andymon nachjagte.

„Bei dem Düngemittelwerk“, antworteten sie kleinlaut.

„In Ordnung“, beschwichtigte ich sie, „paßt auf, ich nehme mir jetzt euren Kopter und fliege sofort zu Resth. Und ihr steigt in meinen Rover und fahrt nach City. Ihr informiert Gamma und ruft mit ihr für morgen eine Generalversammlung aus, klar? Alle sollen kommen, ganz gleich, wo sie arbeiten, auch die von Ladym.“

Sie nickten stumm. Mitleid ergriff mich, ich konnte mir gut vorstellen, wie sie sich fühlten: abgekanzelt, ohne genau zu wissen, wofür, hin- und hergeschoben. Um sie aufzumuntern und für mich zu gewinnen, griff ich nach ihren Händen, eine archaische, irdische Geste, und schüttelte sie.

„Kopf hoch! Tschüs — und grüßt Gamma.“

Erleichtert liefen sie zum Rover und fuhren davon. Ich blickte ihnen nach, dann stieg ich in den Kopter. Er war neben den normalen Instrumenten mit einem kompletten Leitzentrum für Konstruktionsarbeiten ausgerüstet — eine gute Idee, solange man sie nicht zur Demontage einsetzte. Seufzend startete ich und nahm Kurs auf Oasis, Kurs auf Resth.

Unter vier Augen

Resth war damals einundzwanzig Jahre alt. Heute erscheint mir schwer vorstellbar, wie es ihm gelingen konnte, so jung einen so überwältigenden Einfluß zu gewinnen. Seine den Gepflogenheiten unserer Gemeinschaft widersprechenden Methoden und seine demagogischen Fähigkeiten erklären dies nur zum Teil. Der Ausfall der auf Gedon lebenden vierten Gruppe, durch den eine Lücke zwischen den älteren drei, die vorwiegend in Andymon-City lebten, und den jüngeren, den „Wühlmäusen“ von Oasis, entstand, trug sicher dazu bei. Denn für letztere war Resth nicht zu jung, und seine Pea erwartete ein Baby. Er hatte sich zum Kommandanten der Kuppelbewohner gemacht, und er wußte sehr wohl, daß die Kluft zwischen den Bewohnern beider Siedlungen seinen Einfluß stärkte.

Einundzwanzig Jahre… Mit einundzwanzig Jahren verunglückte Delth, und er war in diesem Alter durchaus in der Lage gewesen, unsere kleine Gemeinschaft kompetent anzuführen.

Ich landete den Kopter in sicherer Entfernung vom Baugetriebe um die entstehende Düngemittelfabrik. Gleich auf den ersten Blick erkannte ich Teile, die von meinem Werk stammten. Einige der Katalysereaktoren lagen am Rande des Bauplatzes kreuz und quer durcheinander. Sie waren zerschrammt, und an einigen Stellen war der schützende Farbüberzug abgeplatzt. Obwohl es selten regnete, würden sie bald zu rosten beginnen — denn verwenden konnte sie Resth nicht.

Die Materialverschwendung brachte mich wieder in die richtige Stimmung. Zielstrebig lief ich auf das kleine, auf vier dünnen Metallsäulen stehende Haus zu, das Resthals Kommandowarte diente. Eine Metalleiter führte nach oben. Ehe ich die Einstiegsluke öffnete, glaubte ich eine Reihe von Stimmen zu hören, zumindest die von Szadeth und Szina zu erkennen. Dann wurde es still. Ich schob meinen Kopf durch die Luke, Resth war allein.

„Ich habe dich erwartet, Beth“, sagte er und half mir hoch. „Es ist an der Zeit, daß wir einmal unter vier Augen miteinander sprechen.“ Ich konnte ein nervöses Lachen kaum unterdrücken. „ ‚An der Zeit‘, Resth? Seit Tagen, nein Wochen, versuche ich vergeblich, dich zu erreichen. Immer mehr hat sich angesammelt. Ich bin sehr gespannt, wie du mir manche Dinge erklären willst.“

Resth bot mir einen Platz an. Nur wenige Monitore an den Wänden waren eingeschaltet, sie zeigten Maschinen an der Arbeit. Resth setzte sich selbst, er tat dies mit der Sicherheit Delths, und doch, da war ein Unterschied.

„Ich werde dir vielleicht nicht alles erklären können, Beth, aber ich hoffe, daß du zumindest mein Hauptanliegen verstehst.“

„Du wirst dich nicht nur vor mir rechtfertigen müssen, sondern vor allen. Was du dir erlaubt hast, ist unglaublich und verstößt gegen all unsere Verhaltensnormen. Du sabotierst unsere Arbeiten und säst Zwietracht.“

„Ich bin zu jeder Rechtfertigung bereit.“ Resth nickte, er redete langsam und ruhig, aber seine Hände umkrampften die Armlehnen des Stuhles. „Denn meine Person ist ganz unwichtig.“

Er schwieg, ich wußte nicht, worauf er mit dieser Bemerkung hinzielte, und wollte schon den Katalog meiner Beschwerden eröffnen, da setzte er fort: „Dein Ziel wie meines ist, Andymon bewohnt zu machen, darin stimmen wir doch überein? Ich würde für dieses Ziel nicht nur all meine Kraft, sondern selbst mein Leben geben, und ich bin sicher, du auch.“

„Versuche nicht, mich mit Allgemeinplätzen einzulullen, Resth. Ich verlange Rechenschaft, weshalb du meine Fabrik zerstört hast und damit dein oberstes Ziel sabotierst!“

Um Resths Mund zuckte es. „Dein Luxusprojekt, das Andymon nicht dient? Es gibt vorerst Dringenderes als Plaste. Plaste für den Schiffbau, mich täuschst du nicht.“

„Du irrst“, grollte ich, „nicht Luxus, sondern Notwendigkeit. Und wenn wir uns etwas nicht leisten können, dann Sabotage, den Kampf gegeneinander.“

Resth stand auf, ging vor den Kontrollpulten auf und ab. Plötzlich wußte ich, worin sich Delth von ihm unterschied: Delth hatte sich nie in dieser Absolutheit im Recht geglaubt — und selbst dann hätte er gewußt, wann er nachgeben mußte.

„In letzterem stimme ich mit dir völlig überein. Aber mich beschwatzt du nicht wie den leichtgläubigen Shinth, daß deine Projekte nötig sind. Ich habe seinen Fehler korrigiert. Und jetzt kommt es darauf an, daß du mir hilfst, die Zwietracht ein für allemal auszuräumen. Beth, wenn du morgen öffentlich bekennst, daß du unter dem Vorwand, für Andymon zu arbeiten, den Schiffbau vorbereitet hast, und versprichst, künftig derartige Eskapaden zu unterlassen, sind alle Differenzen ausgeräumt.“

Ich sprang auf, es war unglaublich, wie Resth die Dinge verdrehte. Ich griff ihn am Ärmel seines dunkelgrauen Overalls und sagte es ihm. Ich konnte und wollte nicht ruhig und sachlich bleiben. Ich sollte mich selbst öffentlich als Lügner bezeichnen! Für wie dumm hielt mich Resth? Glaubte er, ich wäre ein Laath, würde für ihn, den großen Meister Resth, ins kalte Wasser springen?

Resth befreite sich fast zaghaft von meinem Griff. Seine Stimme flehte: „Versteh mich wohl, Beth, ich muß lediglich um jeden Preis verhindern, daß du durch den Schiffbau uns alle ins Verderben stürzt, daß wir in dieser entscheidenden Phase unsere Kräfte lebensgefährlich zersplittern. Was aus mir dabei wird, ist mir egal. Was ich verlange, dient nur Andymon. Und in zehn oder zwanzig Jahren könnten wir erneut über dein Projekt diskutieren.“

Er bettelte beinahe, der selbsternannte Planetenchef, appellierte an meinen Gemeinschaftssinn, und der suggestive Eindruck seiner Argumente war so stark, daß ich mir erst die von ihm verbreiteten Gerüchte ins Gedächtnis rufen mußte, um nicht nachzugeben.

„Du überschätzt unsere Kräfte, Beth. Überlege, jetzt gibt es zwei Kinder auf Andymon, in einem Jahr werden es vielleicht ein Dutzend sein. Die Mädchen werden auf Jahre hinaus ausfallen. Wir werden Mühe haben, auch nur die primitivsten Lebensgrundlagen zu schaffen.“

Wer hatte denn überall für die sogenannte natürliche Geburt geworben? Niemand anders als mein Freund Resth! „Jetzt sprichst du von deinem Erfolg wie von einer Naturkatastrophe!“

Traurig blickte er mich an. „Schade, daß du mich absolut nicht verstehen willst.“

Was dachte er wirklich? „Ich weiß, daß wir alles sehr genau kalkulieren müssen“, sagte ich, ruhiger geworden, „aber dies ist nur die eine Seite, die andere, das sind unsere Umgangsformen… Du bringst mich nie dazu, aufzugeben, Resth, und morgen werden wir deine Methoden diskutieren. Ich sehe, daß es keinen Zweck hat, mit dir zu reden.“ Ich drehte mich demonstrativ um und öffnete die viereckige Luke.

„Das sehe ich auch“, sagte Resth unversöhnlich hinter meinem Rücken. „Zum Glück bin ich darauf vorbereitet. Halt, hör mir erst zu, bevor du hinunterkletterst! Ich habe ein Computerprogramm vorbereitet. Wenn ich auf diesen Knopf drücke, wird es an das Schiff gesendet. Dieses Programm befiehlt die Löschung sämtlicher den Schiffbau betreffenden Daten.“

Ich erstarrte. Die Leiter war nicht hoch, und doch wurde mir schwindlig. Krampfhaft hielt ich mich am kühlen Metall des Lukendeckels fest.

„Paß auf. Du setzt dich jetzt in den Stuhl und sprichst deinen Widerruf auf ein Videoband, nur zur Sicherheit. Nimm meinen Vorschlag an, Beth. Glaubst du, mir macht es Spaß, Informationen von unersetzlichem Wert zu löschen?“

Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen. „Du bluffst, Resth!“

Stufe um Stufe stieg ich hinab. Der Wind trieb feine Staubschleier über den nahen Boden.

„Du weißt, daß ich nicht bluffe!“ rief mir Resth durch die Luke nach.

Wie betäubt und ohne zurückzuschauen, ging ich auf den Kopter zu, kletterte hinein, startete, flog hoch und höher, bis Resths Kontrollwarte sich in einen winzigen Punkt verwandelte. Dann tastete meine Hand nach dem kleinen Bildschirmgerät des Kopters, das mit dem Computernetz verbunden war. Meine Finger tippten Fragen, Befehle ein. Mein Wille war dazu nicht nötig.

Der Display leuchtete auf, schnell schrieb der Lichtpunkt seine Botschaft:

TECHNISCHE BESCHREIBUNG DES SCHIFFS GELÖSCHT

KONSTRUKTIONSUNTERLAGEN GELÖSCHT BAUVARIANTEN GELÖSCHT

Ich starrte darauf wie ein Analphabet. Mein Gehirn weigerte sich, diese Ungeheuerlichkeit zu akzeptieren. Doch sooft ich auch weg-und wieder hinschaute, die Botschaft blieb dieselbe.

Alle Informationen, die für den Bau neuer Schiffe nötig sind, waren gelöscht. Millionen und aber Millionen Megabyte. Meine Pläne auf Jahre hinaus vereitelt! Wir würden ganz von vorn anfangen müssen, das Schiff System für System auseinandernehmen, bis zur letzten Schraube analysieren, Stücklisten anfertigen, konstruktive Tricks erkennen, uns Technologien ausdenken für die Produktion von hoch-integrierter Elektronik, von superfesten Materialien, von komplizierten Geräten, für den Zusammenbau der Einzelteile. Nein, unsere Pläne waren nicht für Jahre vereitelt, sondern für Jahrzehnte. Unvorstellbar, welche Forschungs- und Entwicklungsarbeit geleistet werden müßte. Im Schiff steckten wissenschaftliche und technische Erkenntnisse, die die Menschheit in Jahrhunderten gewonnen hatte. Tausende, vielleicht Millionen Menschen hatten jahrelang ihr Bestes gegeben, um die für das Schiff nötige Software zu erarbeiten.

Plötzlich kam ich mir unendlich allein und verlassen vor. Die Nabelschnur, die uns mit der Menschheit verbunden hatte, war gerissen. Wir waren gescheitert auf einem dreckigen Planeten irgendwo in der Unendlichkeit des Kosmos, ohne die Möglichkeit, uns wieder aus dem Staub zu erheben. Die Sterne waren fremd und unnahbar geworden.

Ein Dringlichkeitsruf des Videofons unterbrach den trüben Fluß meiner Gedanken. Als das Rot des Rufzeichens verglomm, tauchte ein Gesicht auf dem Schirm auf: Resth.

Verbissener Stolz und Müdigkeit zeichneten sein Gesicht, Spuren der unwiderruflichen Entscheidung, die er getroffen hatte. „Ich habe die Konstruktionsunterlagen des Schiffs vernichtet.“

Er sagte tatsächlich „vernichtet“ und nicht „gelöscht“. Ein Zittern lief durch meine Glieder.

„Damit ist das Projekt, Schiffe zu bauen, vereitelt.“ Er machte eine lange Pause. „Es ist mir nicht leicht gefallen, auf diese unabgesprochene und gewaltsame Weise in das Leben unserer Gemeinschaft einzugreifen“, fuhr er dann fort, „Aber es war notwendig. Andymon ist ein Planet, der einen eigenen Lebensstil erfordert, angepaßt an seine Besiedlung. Die erste Gruppe konnte dies begreiflicherweise nicht erkennen. Das Projekt, Schiffe zu bauen, war nichts als ein Versuch, den bisherigen, der künstlichen Welt des Schiffs entsprungenen Lebensstil fortzusetzen. Der im Widerspruch zu den Interessen von uns Jüngeren steht und im Widerspruch zu den Interessen von unseren Kindern, den kommenden Generationen.

Wir wollen nicht unser Leben aufopfern, um entlegene Sterne zu besuchen, was unseren fernen Nachfahren Vorbehalten bleibt. Andymon liegt uns näher. Ihr kennt meine Einstellung. Ich bin kein Freund einsamer Entschlüsse und rabiater Aktionen, aber eine andere Chance, uns aus der patriarchalischen Bevormundung durch die erste Gruppe zu lösen, gab es nicht. Es tut mir leid, technisches Wissen vernichten zu müssen, aber nur so konnte ich verhindern, daß es uns durch eine falsche Anwendung knechtet. Ich nehme an, daß viele von euch jetzt mit mir sprechen wollen. Ich werde morgen zum Amphitheater kommen. Dort werde ich euch zeigen, was unsere nächsten Aufgaben sind.“

Der Bildschirm erlosch, ich saß da und schloß die Augen. Meine Schläfen pochten, und ich hielt die Fäuste geballt. Nächstens stört jemanden der Lichtpunkt des Schiffs am Nachthimmel, und er sprengt es in die Luft. Möglich war alles. Reinster Anarchismus! Weg von der Technik, zurück zur Natur! Affen, zurück auf die Bäume!

Dann überwältigte mich wieder die Schwere des Verlustes. Der wilde Ärger wurder von Stumpfheit abgelöst. „Alles aus“, sagte ich, „was lohnt sich jetzt noch…“ Nur der Autopilot hielt den Kopter weiter auf Kurs.

Wie ich oder wie der Automat den Kopter bei Andymon-City landete, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur daran, daß Gamma - und mit ihr viele meiner Geschwister — mich auf dem Landeplatz erwartete.

„Beth“, sagte Gamma leise, „es gibt soviel mehr als die Schiffe. Du hast noch andere Aufgaben. Morgen, die Versammlung.“ Dann fügte sie flüsternd hinzu: „Und ich kann mir nicht vorstellen, daß der Schiffscomputer sich so einfach löschen läßt.“

Ich sah nichts, ich hörte nichts. Jetzt im Naturpark liegen, an nichts denken müssen, nur dem Lärm des Dschungels und der Wellen am kleinen See lauschen, keine Sorgen haben.

Amphitheater

Das Amphitheater befindet sich unweit von Oasis in einem natürlichen Felskessel. Heute, treffen wir uns dort an manchen schönen Tagen, um Musik zu hören, Schauspiele aufzuführen, um zu tanzen, miteinander zu feiern, überhaupt, um beieinander zu sein.

Damals war das Amphitheater noch nicht vollendet, nur wenig Technik stand im Hintergrund des Bühnenrunds, eine Projektionswand, Aufzeichnungsgeräte. Die Automaten hatten erst zwei Reihen steinerner Sitze aus dem Gestein gemeißelt, darüber bildeten die Felsen ein unüberschaubares Gewirr, zerschnitten von den Bändern der drei Treppen.

Wir von Andymon-City, die wir den weitesten Weg zurückzulegen hatten, trafen als erste im Amphitheater ein, suchten unentschlossen günstige Plätze und ließen uns schließlich rechts von der Bühne nieder. Warme und staubtrockene Luft, die kein Windhauch bewegte, füllte den Kessel aus.

Gamma war nicht an meiner Seite. In der Hoffnung, daß es Resth nicht gelungen sei, alle Sicherungen des Computers zu umgehen, war sie schon am Vorabend zum Schiff geflogen. Es war aussichtslos. Ihr langes Schweigen bestätigte meine düstere Überzeugung. Sie hätte längst aufgeben, zurückkehren sollen, um mich bei der schwersten Auseinandersetzung meines Lebens zu unterstützen. Aber nein, sie setzte die sinnlose Suche fort, war nur durch das Intercom zugeschaltet, das ich in Händen hielt. Blödsinn, dachte ich, ich will mich über Gamma nicht ärgern; recht hat sie: Mein Projekt läßt sich auch im Amphitheater nicht mehr retten, und Resth zu entlarven wird leicht sein.

Dann strömten die Einwohner von Oasis heran. Einige von ihnen begrüßten mich freundlich, doch fehlte die gewohnte Fröhlichkeit. Sie nahmen die Felsenplätze gegenüber der Bühne ein.

Resth traf ein, und im Amphitheater breitete sich für kurze Zeit gespanntes Schweigen aus. Gefolgt von seiner khakibekleideten Garde, der zehnten Gruppe, schritt er langsam die Treppe hinab. Mit hocherhobenem Kopf schaute er grüßend und siegesbewußt in das Rund.

Unsere Blicke kreuzten sich eine Sekunde. Die Löschung kannst du nicht rückgängig machen, Resth, dachte ich, und doch triumphierst du zu früh! Im Totaloskop hast du die Initiative in der Hand gehabt, hier in der Wirklichkeit werde ich den programmierten Alptraum durchbrechen.

Resth besah sich prüfend die freien Sitzgelegenheiten und begab sich zielgerichtet auf die linke Seite direkt neben der Bühne.

Nach und nach füllte sich das Amphitheater. Die bereits fertiggestellten Sitzreihen reichten nicht aus, auch weiter oben, auf Vorsprüngen, in Nischen sah ich bunte Flecken von Blusen und Hemden, von mitgebrachten Decken, schwarze, braune, vereinzelt blonde Haarschöpfe dazwischen. Jetzt, wo es kritisch wurde, hatten sich die altvertrauten Gruppen wieder zusammengefunden. Nur Alfa saß verlassen in etwa gleichem Abstand zur sechsten und ihrer eigentlichen Gruppe.

Langsam verstummten die Geräusche, das Geplapper der Gespräche. Wir saßen und warteten, die Aufzeichnungsgeräte liefen, selbst die vierte Gruppe, das „Monster“ von Gedon, beobachtete uns. Mir wurde auf einmal bewußt, daß wir stumme Zeugen hatten: unsere Nachfahren, die Andymonen der Zukunft. An einem Knotenpunkt der Zeit, dachte ich, wo Vergangenheit und Zukunft zusammenlaufen.

„Anfängen!“ rief jemand halblaut vom steinernen Rang herab.

„Fang doch selbst an, Joth!“ kam prompt die Antwort.

Joth, recht günstig auf einem Felsvorsprung plaziert, erhob sich. „Na, wenn niemand anders will? — Ich glaube, das beste ist, sofort zum Thema zu kommen. Beth, sage uns, was du Resth vorzuwerfen hast.“

Der besseren Akustik wegen stand auch ich auf. All die wohlformulierten, vorbereiteten Sätze waren vergessen. Die Erinnerung und die mit ihr verbundene Erregung überwältigten mich: die Demontage meiner Fabrik, die versuchte Erpressung, die Verleumdungen vorher. Meine Stimme überschlug sich beinahe, als ich die Ereignisse, Resths Gemeinheiten, so grell, wie ich sie empfand, schilderte. „Jetzt ist die Reihe an dir, Resth. Ich bin gespannt, wie du dich rechtfertigen willst.“

Während ich mich setzte, schaute ich um mich, um die Wirkung meiner Worte festzustellen. Sie war recht zwiespältig, vor allem die älteren Geschwister riefen empört nach einer Bestrafung, während viele jüngere sich gleichgültig zeigten.

Resth, der bisher keine Miene verzogen hatte, erhob sich und sprach mit einer wegwerfenden Geste: „Beths Anklagen kommen etwas spät, denn ich habe euch gestern über Video meine Gründe mitgeteilt, und ich bin sicher, ihr versteht sie.“

Während er einen Teil davon wiederholte, sprang Ilona zornig auf. „Was ich verstehe, ist, daß wir gut genug waren, für euch den Planeten aufzumöbeln, jetzt haben wir unsere Schuldigkeit getan und können gehen…“ Und Teth setzte fort, daß Resth wohl der letzte wäre, der ein Recht hätte, für Delth ein Denkmal zu errichten. Worauf Alfa beteuerte, sie sei im Glauben gewesen, wir hätten alle zugestimmt. Joth gelang es, sie zu beschwichtigen.

Resth fuhr fort, als hätte man ihn nie unterbrochen. Keiner der Anwesenden sei mir und meinen Wahnsinnsprojekten energisch genug entgegengetreten, und so habe er, Resth, sich gezwungen gefühlt, die Verantwortung zu übernehmen. „Und ich habe den Schiffbau verhindert. Daß ich dabei - so leid es mir tat — das Äußerste unternehmen mußte, ergibt sich aus dem Ernst des Problems. Beth mag mir vorwerfen, was er will, ich habe mir nichts vorzuwerfen.“ Unter dem Beifall seines Gefolges setzte sich Resth. Seine Pose war beeindruckend und herausfordernd zugleich. Sollte es ihm gelingen, nachdem er meine Pläne zerstört hatte, mich auch mit Worten zu schlagen? Hier und da sah ich in den Reihen der jüngeren Geschwister beifälliges Nicken. Entschlossen erhob ich mich wieder. Doch Shinth kam mir zuvor. Während ich das schweigende Intercom auf seine Funktionstüchtigkeit überprüfte, hörte ich ihm zu.

„Jeder von uns hat schon Fehler gemacht, und in den Zielen stimme ich und stimmen viele meiner Geschwister aus Oasis, ja, wir Wühlmäuse, wie ihr Citygreise uns nennt, mit Resth überein, aber eine Fabrik zu demontieren und reihenweise Anlagen im Dreck rumliegen zu lassen, wo sie verrosten, das regt mich auf. Und dann predigen, wir können uns keine Verschwendung leisten. Und die Informationen im Schiff gehören uns allen, kein einzelner hat das Recht, die zu löschen. Das ist eine noch viel größere Verschwendung!“

„Bravo, Wühlmäuse!“ klang es von den Felsen herab.

Im Amphitheater schwoll der Lärm an, überall bildeten sich erregt diskutierende Grüppchen. Resth schaute irritiert nach rechts und links. Das blondhaarige Mädchen, das hinter ihm saß, Nrada, die jüngste Sprecherin des Tages, schleuderte Shinth ihre Meinung entgegen. „Aber wenn es die einzige Möglichkeit für Resth war, die geheimen Pläne der ersten Gruppe zu entlarven?“

Resth zuckte bei dieser Hilfestellung zusammen.

„Ich hör wohl nicht recht?“ Eta, zwei Plätze rechts von mir, verschaffte sich händeklatschend Gehör. „Welche geheimen Pläne habe ich?“

Ich konnte ein Grienen nicht verwehren, als Nrada vielsagend Resth anschaute. Der fummelte an seinem Hemdkragen, wohl weniger der herrschenden Hitze wegen.

„Jeder weiß doch, daß ihr aus der ersten Gruppe Schiffe bauen wolltet. Kann sein, daß ich dann und wann in den Formulierungen ein wenig übertrieben habe. Dabei geht es mir nur darum, daß wir die eigentlichen Aufgaben nicht vergessen: Andymon muß besiedelt werden. Dazu ist nötig, daß wir viele Kinder bekommen. Ich sehe keinen Grund, weshalb die erste Gruppe in dieser Frage abseits steht.“

Resths Ausgekochtheit verblüffte mich. Nicht so den schlagfertigen Myth. „Du selbst bekommst ja auch keine!“ Gelächter hallte von den Reihen. Voller Unwillen schaute sich Resth nach seiner hochschwangeren Freundin Pea um. Den Kopf in beide Hände gestützt, starrte sie finster auf ihre Füße. Hätte man ihr diesen Tag nicht ersparen können?

„…nicht ablenken“, hörte ich Joth, „muß ich erst Guros rufen, damit ihr euch beruhigt? Ich fasse zusammen: Resth hat weder die Sabotageaktionen noch die ausgestreuten Verleumdungen rechtfertigen können. Denn der Zweck heiligt nicht die Mittel.“

Ich schob das Intercom, das vor mir auf der Felsplatte lag, hin und her. Hatte Gamma nicht gesagt, daß Resth und ich gleichermaßen unsere Geschwister unterschätzten? Sie seien längst erwachsen und von mündiger Vernunft, sie an der Hand zu führen wäre Unsinn. Joth, der sich sichtlich bemühte, die Versammlung gut zu leiten, hätte ich diese sachliche Zusammenfassung nicht zugetraut. Und er fügte noch hinzu, daß Resth offensichtlich versucht habe, anderen seinen Willen aufzuzwingen — also genau das, was er mir vorwerfe.

Auf Resths rhetorischen Einwand, es gäbe Fälle, in denen man andere zu ihrem Glück zwingen müsse, hörte kaum einer mehr. Etwa zu diesem Zeitpunkt begannen einige aus der zehnten Gruppe, auf ihren Plätzen unglücklich hin und her zu rutschen.

Und dann kam für mich die Überraschung des Tages. Szina erhielt, das Wort. Ich fürchtete, daß es von ihr verwendet werden könnte, um in irgendeiner Weise Resth den Rücken zu stärken. Aber sie eröffnete, Resth müsse sich für weit Schlimmeres verantworten. „Stellt euch vor, Resth hat uns heimlich belauscht, systematisch unser aller Gespräche abgehört. Fith, der als erster einen Abhörsender gefunden hat, kann das beweisen.“

Noch während ich wie angewurzelt dasaß, bestätigte Fith ihre Anklage mit verworrenen Sätzen und holte aus seinen Hosentaschen etliche knopfgroße schwarze Geräte hervor. Schlagartig erinnerte ich mich, wie er das erste fand — in meinem Beisein auf dem Turm! Fiths weit ausholende fahrige Gesten waren überflüssig, diesen unerlaubten Einbruch in ihre Privatsphäre würden die Geschwister Resth nie verzeihen.

„Hast du das gehört, Gamma?“ flüsterte ich beschwörend in das Intercom.

Als Antwort ertönten undeutlich gemurmelte Zahlenkolonnen. Gamma verfolgte konzentriert die Befehlsstrukturen von Resths Löschprogramm.

Der Entrüstungssturm, der nun über Resth hereinbrach, mußte ihm die Augen öffnen.

„Was heißt bespitzelt“, versuchte er sich zu verteidigen, „ich mußte doch wissen, was die erste Gruppe ausheckt!“

„Wir hätten wissen müssen, was du ausheckst!“ Szinas Stimme überschlug sich fast. „Und du hast auch uns abgehört und selbst die Gespräche der zehnten Gruppe. Ja, da staunt ihr wohl, so kennt ihr euren großen Anführer nicht!“

Resth stammelte etwas von „eure Interessen kennen, um sie zu vertreten“, seine Garde machte verblüffte, verärgerte Gesichter. Dann standen nach einem kurzen Getuschel Laath und Bhriga auf und gingen unsicher hinüber zu den Bewohnern von Oasis. Einzeln und zögernd folgten ihnen die anderen.

Und Pea? „Nein, ich habe nichts gewußt, ja, geahnt schon, aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß Resth…“ Ihre weinerliche Stimme ging im Lärm unter, der durch das Amphitheater hallte. Im Gegensatz zu Resth, der allein in der brütenden Hitze saß, wurde sie von ihrer Gruppe, soweit ich erkennen konnte, getröstet.

Joth, von seinen Nachbarn angestoßen, erhob sich und winkte mit den Armen, steckte dann die Finger in den Mund und pfiff, daß es von den Felsen widerhallte. Resth erhielt eine letzte Gelegenheit, die Anschuldigungen zu widerlegen. Von seiner Selbstsicherheit war nur die Pose geblieben.

„Versteht ihr nicht, daß ich ausschließlich in eurem Interesse gehandelt habe? Es ging um Andymons Zukunft! Ihr habt gut reden, jetzt, da ich für euch die Kastanien aus dem Feuer geholt habe, jetzt richtet ihr über mich, distanziert euch. Von mir aus verstoßt mich, eure Kinder werden anders über mich denken. Mein persönliches Leben zählt da nicht.“

„Wir bauen dir später mal ein Mausoleum“, höhnte Xith.

Wie es unser Brauch seit Schiffszeiten war, entschied Resths eigene Gruppe über ihn. Szadeth sprach so leise, daß er sich damit Ruhe erzwang. Mit systematischer Umständlichkeit legte er dar, daß Resths verborgene Tricks und geheime Manipulationen gefährlicher für unsere Gemeinschaft waren als alle unrealistischen Projekte.

„Wenn wir Konflikte weiter auf deine Weise austragen würden, hätten wir bald Tote zu beklagen. Und, Resth, du hast nicht nur die Konstrukteure des Schiffs verachtet, indem du ihr Wissen löschtest, du hast auch uns verachtet, indem du dir herausnahmst, unsere Interessen besser zu kennen als wir selbst. Sei froh, daß alles ans Tageslicht gekommen ist, du wärst sonst ein kleiner, aber größenwahnsinniger Diktator geworden. Und das für die Zukunft Andymons. Ich kann das Wort nicht mehr hören.“

Zustimmung von allen Seiten. Resth saß mit steinernem Gesicht da. Ein geschlagener Sieger. Und Szadeth, den ich immer für einen speziellen Freund Resths gehalten hatte, schloß mit Worten, in denen Endgültigkeit klang: „Resth hat sich als unfähig erwiesen, in unserer Gemeinschaft zu leben, ich will ihn in Oasis nicht mehr sehen.“

„Ja“, rief Xith, „er bespitzelt uns sonst weiter. Verbannen wir ihn! Er bekommt eine Minimalausrüstung und ab nach Ladym!“

Unwillkürlich sprang ich auf. In jenem anderen Szenarium hätten sie das gegen mich geschrien: Auf den Mond mit ihm!

„Was wollt ihr denn“, brüllte ich erregt. „Wollt ihr euch rächen? Glaubt ihr, das hilft euch oder ihm? Ihr wollt ihn bloß weghaben, was? Heute Resth — morgen wen? So einfach ist das: Er hat sich als unfähig erwiesen, in unserer Gemeinschaft zu leben.“

Ich stockte, die Frage, was ich denn mit ihm zu unternehmen gedenke, klang unausgesprochen durch das Amphitheater. Und ich wußte keine Antwort. Daß er nicht mehr in Oasis leben konnte, war klar. Ebenso, daß Andymon-City ihm verschlossen bleiben würde.

„Auf keinen Fall wird er von Andymon verbannt. Er wird sich jetzt selbst seinen Platz suchen — oder ihn durch überzeugende Taten wiedergewinnen müssen.“

Ob Resth meinen Fingerzeig verstand, oder ob er einfach fühlte, daß er diese seine Gemeinschaft würde verlassen müssen? Ohne jemanden anzusehen, stieg er schwerfällig die breite Treppe hinauf. Schweigen herrschte, bis er hinter dem Rand des Amphitheaters verschwand.

Jetzt, als Resth den Kreis der Geschwister verlassen hatte, spürte ich, daß ich schwitzte. Das Hemd klebte mir am Oberkörper, und mein Mund war wie ausgedörrt. Auch die Geschwister begannen nun die lästige Hitze wahrzunehmen. Zögernd stand dieser und jener vom unbequem gewordenen Sitz auf und reckte sich.

Wir können doch nicht so auseinandergehen, dachte ich, ich muß noch etwas sagen, aber was? Auch mein Gehirn war ausgedörrt.

Joth erhob sich. „Verehrte Geschwister“, begann er. Die Last war von ihm gewichen, und er erfreute sich seiner Präsidentenrolle. „In Anbetracht gewisser meteorologischer Unbilden und unter Berücksichtigung der nicht vorliegenden Anträge von drei noch nicht geborenen Mitgliedern dieser Versammlung verkünde ich in meiner Eigenschaft als nichtgewählter Präsident dieser noch nicht zu beendenden Versammlung deren Vertagung bis zur Verbesserung der erwähnten Unbilden.“

„Was ist?“ fragte mich Teth verständnislos.

„Pause“, übersetzte ich.

Vertagt

Die unteren Reihen des Amphitheaters lagen bereits im Schatten, als wir uns gestärkt, erfrischt und erholt gegen Abend erneut versammelten. Ich wählte denselben Platz — es ist mein Stammplatz geworden. Die Steine strahlten eine nunmehr angenehme Wärme aus.

„Ich habe die Zentraldatensperre aufgehoben und jetzt direkten Zugriff, aber die Codes sind gestört und das Directory ist verfälscht. Ich würde dich wirklich hier brauchen, Beth.“ Gamma hatte stundenlang ununterbrochen am Schiffscomputer gearbeitet. Selbst auf dem Intercombildschirm waren ihre Augen gerötet.

„Der Fall Resth ist erledigt“, hörte ich Jota sagen, die die Diskussion eröffnete, „aber wird es der einzige bleiben? Wir sind weder Engel noch perfekte Roboter. Unsere Nachfahren…“ Ihre Worte gingen an mir vorbei.

„Du meinst, es ist also doch alles gelöscht oder verfälscht, Gamma?“

„Das kann ich jetzt noch nicht sagen, jedenfalls war Resths Programm wesentlich klüger, als ich dachte. Hilf mir doch, Beth!“

Jota — oder war es jemand anders? — begann von der Notwendigkeit zu reden, Normen des Zusammenlebens zu formulieren und zu beschließen, Gesetze aufzustellen. Früher oder später wären diese sowieso nötig.

„Und Beamte, Kontrolleure, Gesetzeshüter — nein, danke!“ Lediglich ablehnende Zwischenrufe antworteten ihr.

„Ich kann hier nicht weg“, sprach ich leise in das Intercom, „es ist zu wichtig. Eigentlich müßtest du auch hiersein. Schließlich geht es um die Zukunft der Menschheit auf Andymon.“

Gamma schwieg. „Ich höre ja zu“, sagte sie dann müde, „und wenn ich jetzt Erfolg hätte, könntest du die Gunst der Stunde nutzen..

Der kleine Bildschirm erlosch. Zu viele Gedanken gingen durch meinen Kopf, Gamma, der Schiffbau, die Struktur unserer künftigen Gesellschaft. Im Amphitheater war es dämmrig. Ich schloß die Augen. Alfa sprach.

„Die weitere Entwicklung hängt doch nicht davon ab, welche Gesetze wir formulieren, sondern davon, wie wir miteinander leben. Wie wir unsere Kinder erziehen. Wenn unter unseren Kindern Liebe und Eintracht herrschen, brauchen wir keine Gesetze — die sind doch etwas Äußerliches.“

Alfa hatte wie in alten Tagen unser Selbstverständnis getroffen. Allerdings wußte ich, daß in letzter Konsequenz Jota recht behalten würde. Noch kannte jeder jeden, auch wenn ich schon nicht mehr alle Geschwister beim Namen zu nennen vermochte. Noch lebten wir, bildlich gesprochen, in einem nicht allzu großen Dorf. Jeder konnte jedes Problem mit jedem besprechen, noch konnten wir alle Fragen direkt und gemeinsam entscheiden. Zwei oder drei Generationen würde dieser idyllische Zustand vielleicht währen. Maximal. Was kam danach? Demokratie oder Anarchie? Herrschaft einer kleinen Gruppe? Schon die geographische Aufspaltung in Andymon-City und Oasis hatte genug Zündstoff mit sich gebracht.

Das Rufzeichen des Intercoms riß mich aus meinen Gedanken. Gamma strahlte über das ganze Gesicht. „Ich hab’s dir doch gesagt, der Schiffscomputer läßt sich nicht so einfach löschen. Da müßte man schon die Monokristallesespeicher schmelzen oder zertrümmern. Resth hat lediglich das Zugriffssystem total durcheinandergebracht. Die Konstrukteure haben ihr Werk gegen spielende Kinder und Unbefugte abgesichert.“

Das Amphitheater, über das die Nacht hereinbrach, die düsteren Wolken am Himmel, die hellen Flecken der Taschenlampen, die einige Geschwister eingeschaltet hatten, das alles drehte sich um mich. Ich schlug Teth auf die Schulter, küßte Ilona, tanzte auf der steinernen Brüstung entlang und schrie immer wieder: „Habt ihr’s gehört? Nichts ist gelöscht!“

Befreites Lachen war zu hören. Und die Geschwister stellten alle Intercoms auf größte Lautstärke. Gamma mußte ihre Erfolgsmeldung vor allen wiederholen.

„Nun steht dem Schiffbau nichts mehr im Wege.“

Das Schweigen, das darauf folgte, war fast so tief wie jenes, das Resth begrüßt hatte. Meine rauschartige Glücksstimmung war wie weggeblasen, eine große Erschöpfung bemächtigte sich meiner. Ich war abgestumpft, ausgebrannt, unfähig zu argumentieren, zu kämpfen. Mir selbst erschien der Schiffbau plötzlich wie eine ferne, verrückte, ja geradezu mystische Idee. Ich wußte, die Geschwister schauten aus dem dunklen Rund des Amphitheaters auf mich, doch ich konnte jetzt nichts sagen. Teth stieß mich an, ich nickte benommen.

„Wir wollen nicht heute oder morgen vorschnelle Entscheidungen fällen“, hörte ich Joth, „der Schiffbau hat Zeit. In ein, zwei Jahren werden wir klarer sehen. Seid ihr meiner Meinung?“

Beifälliges Gemurmel antwortete ihm, nur Zeth protestierte lautstark. „Du machst es dir zu einfach. Mißbrauchst die Versammlungsleitung.“ „Natürlich kann Beth, wenn er das für richtig hält, Vorarbeiten leisten, die Unterlagen bereitstellen und so weiter…“ Es war Szinas Stimme, sie sagte eine Selbstverständlichkeit, denn keiner schrieb dem anderen vor, was er unternehmen durfte und was nicht — und doch war ich ihr dankbar.

„Klar. Es ist schon Nacht. Haben alle aus City bei uns in Oasis ein Bett? Gut, machen wir Schluß für heute.“

Verwaschene Lichtflecken bewegten sich die steinernen Ränge entlang, tanzten die Treppen hinauf. Schweigend lief ich inmitten meiner Gruppe. Hatte ich denn mehr erwarten können? Begeisterte Zustimmung etwa?

Ein Schatten näherte sich mir, jemand tippte mich an. Im Widerschein einer Taschenlampe erkannte ich Psith.

„Du, Beth, sei nicht traurig, alles ist offen. Du hast mir einmal sehr geholfen oder zumindest helfen wollen, ist auch egal. Jedenfalls sollst du wissen, daß du immer auf mich zählen kannst. Andymon, gut und schön, aber ein Schiff bauen… Ich glaube, das könnte mir Spaß machen.“

Weniger zurückhaltend als sonst umarmte ich ihn. „Wir fangen an, Psith, wart’s nur ab, irgendwann fangen wir an.“

Bei Oasis erwartete mich, ebenso erschöpft, ebenso von einem Stimmungsextrem ins andere geworfen, Gamma. Alle Geschwister versammelten sich unter der großen Kuppel. Alle bis auf eins: Resth. Niemand sprach über ihn, nicht einmal Pea, die allein wußte, daß er sich auf die Baustelle der Düngemittelfabrik zurückgezogen hatte und uns genausowenig sehen wollte wie wir ihn. Es wurde sicher keine leichte Zeit für ihn, allein auf der Baustelle und selbst von Pea selten besucht, die sich noch vor der Geburt ihres Kindes von ihm trennte.

Bis zum heutigen Tag haben wir weder Gesetze noch gewählte Interessenvertreter. Aber die Diskussion darüber hat begonnen. Die nächsten Generationen müssen das Problem des Miteinanders in einer großen Gemeinschaft selbst lösen.

In den Bergen

Wir hatten uns am späten Vormittag auf den Weg gemacht. Als es allmählich Nacht wurde, waren wir bereits hoch in den Bergen. Durch die dichten Wolkenschleier am Horizont warf die untergehende Sonne letzte Strahlen zu uns herüber, färbte den Westhimmel rot und violett. Wir klommen nur noch langsam höher. Die Gelenke, auch die Füße und das Kreuz schmerzten. Gamma hatte sich bereits in den Nachmittagsstunden über die Last der Rucksäcke beklagt. Wir werden eben alt, dachte ich. Die kleinen Wehwehchen, das sind die untrüglichen Anzeichen. Gemächlich stapften wir über den sanft ansteigenden Fels, verweilten dann und wann und blickten hinüber zur Sonne, ihr offizieller Name Ra war längst außer Gebrauch geraten. Nur die Hälfte der flammenden Scheibe erhob sich noch über die unregelmäßige Silhouette des weitentfernten nächsten Gebirgszuges.

„Suchen wir uns einen Rastplatz“, schlug Gamma müde vor.

Ich überlegte kurz, dann sagte ich: „Es ist nicht mehr weit bis zum Gipfel, bis dorthin wollte ich, da finden wir ein geschütztes Eckchen.“

Wir nahmen unseren Marsch wieder auf. Der Boden war uneben, zerklüftet, steinig. Nackter Fels. Seit Stunden hatten wir keine Pflanzen mehr angetroffen. Staub und Sand ließen sich nur in Spalten und Ritzen finden. Und an den scharfen Felskanten hatte ich mir die Finger aufgerissen.

Meine Gedanken wanderten zurück. Der Ausflug in die Berge war Gammas Idee gewesen. „Wir haben uns immer nur beeilt“, hatte sie gesagt, „und wir sind stets von einem Projekt zum nächsten gerannt. Jetzt hast du nur den Schiffbau im Sinn. Aber der kann ein paar Tage warten. Beth, wir sollten gründlicher leben.“

Ich hatte sofort zugestimmt. Die Streitigkeiten mit Resth und die aufreibenden Diskussionen um den Schiffbau hatten mich zermürbt. Eine Woche mit Gamma in den Bergen würde mir helfen, Abstand zu gewinnen.

Aber wie macht man das, die Gegenwart bewußt erleben, den heutigen Tag genießen? Wir hatten das nie gelernt, nur gezwungenermaßen hatten wir Arbeitspausen eingelegt, voller Ungeduld und Unmut. Und nun? Ich wußte, es kam darauf an, die Dinge um mich nicht nur unter dem Blickpunkt der Nützlichkeit zu sehen, nicht ausschließlich an die jetzigen und zukünftigen Aufgaben zu denken, sondern all die unwiderbringlichen Sinneseindrücke des Augenblicks auf mich einströmen zu lassen. Die dazu nötige innere Ruhe fehlte mir noch.

Beim Schein des letzten Abendlichts erreichten wir den stumpfen Gipfel. Es wehte nur eine schwache Brise. Obwohl der Berg nicht sonderlich hoch war, konnten wir weit ins Land sehen: ein volles Rund Andymon. Wüsten und Felder lagen schon in tiefem Schatten und waren mit bloßem Auge nicht mehr zu unterscheiden.

In einer windgeschützten Nische brachte ich unsere Rucksäcke unter und begann die Schlafsäcke auszupacken. Laut Vorhersage würde es auch am Morgen nicht zu kühl werden. Ich blies die Luftmatratzen auf, ohne sie hätten wir auf den Felsspalten voller Buckel und Wellen nicht schlafen können. Das Buch, aus dem wir uns bei der nachmittäglichen Rast gegenseitig vorgelesen hatten, entglitt meiner Hand und rutschte in eine Spalte. Nur mit Mühe konnte ich es daraus hervorangeln.

Ich setzte mich zu Gamma auf einen großen Felsbrocken. Wir blickten hinab. Gamma brauchte nichts zu sagen, ich wußte, daß sie es genoß. Ich nahm einen Stein, holte aus und schleuderte ihn über den Abhang. Er schlug auf, polterte. Das Geräusch verlor sich in der Tiefe.

„Hier gibt es nur Basalt, Granit und ähnliches Gestein“, sagte ich, „keine Sedimente, keinen Sandstein, erst recht keinen Kalkstein. Keine Chance, Versteinerungen zu finden. Da müßte man schon hundert Millionen Jahre warten… Sogar die Sternbilder werden dann anders stehen… Wir Menschen werden uns über Andymon ausgebreitet haben und über ein gutes Stück Galaxis, und wir beide werden längst vergangen sein. Unsere Versteinerungen wären zu finden.“

Gamma lachte. „Deine Versteinerungen!“

Ich wechselte das Thema. „Unterwegs habe ich mir überlegt, Gamma, vielleicht sollte ich mir Aufzeichnungen machen: über mein Leben, über unsere Träume, Vorhaben, über Andymon…“

„Du meinst, es hilft dir, die Dinge bewußter zu sehen, dich selbst zu verstehen?“

„Nun ja, siehst du, vieles in unserer Entwicklung war sicher notwendig: unser Pioniergeist mit all seinen Übersteigerungen, unser Drang, eine eigene Welt zu schaffen. Aber nimm Resth zum Beispiel. Die Gruppe auf Gedon. Da denke ich mir, das hätte auch anders kommen können. Schlimmer. Oder besser. Was ist hier zufällig? Ich weiß es nicht.“

„Und du glaubst, du bekommst das heraus, wenn du darüber nachdenkst und alles in Worte faßt?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht.“

„Es lohnt sich sicher, Beth.“

Ich sagte ihr nicht, daß meine Aufzeichnungen noch für eine weitere Person gedacht waren, eine Person, die erst in zehntausend Jahren existieren würde, Beth, mein Ebenbild und Nachfolger im neuen Schiff.

Sie stand auf, ich folgte ihr zu den Rucksäcken. Wir kochten uns Tee und holten belegte Brote heraus, die wir mit großem Appetit aßen. Danach kehrten wir, den Weg mit der Taschenlampe ausleuchtend, zu unserem Beobachtungsplatz zurück. Die Luft war noch immer lau. Knapp unterhalb des Horizonts ließ sich nun ein feiner Lichtschein erkennen: Andymon-City. Allein dieses Licht verriet, daß Andymon bewohnt war.

„Wir haben ja so viel erreicht, so viel geschafft“, sagte ich.

„Du redest, als ob du am Ende wärst.“

Am Himmel, zwischen den dunklen Wolken, waren die ersten Sterne zu sehen.

„Im gewissen Sinne ja. Schließlich ziehe ich mich, ziehen wir uns jetzt von Andymon zurück, wenn wir mit dem Schiffbau beginnen.“

Um meine Worte zu unterstreichen, warf ich einen weiteren Stein hinab. Er rollte eine Weile, dann blieb er liegen.

„Ach Beth, du mußt nicht immer so übertreiben. Wir können jederzeit zurückkehren.“ Tröstend strich mir Gamma über den Kopf.

„Jetzt wird es interessant auf Andymon“, sagte ich. „Unsere Gesellschaft entsteht ja erst. Die jüngeren Gruppen, die nicht sosehr wie wir durch das Totaloskop erzogen wurden, wollen sich weniger an irdischen Traditionen orientieren, eine eigene Kultur aufbauen. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt. Die Kinder der Siedler werden wieder andere Wege gehen. Der Streit darum, wie weit die Arbeitsteilung getrieben werden sollte, fängt gerade an. Und welche Institutionen werden sich herausbilden?“

„Und du hast Angst, dabei etwas zu verpassen? Diese Probleme sind nicht nur komplizierter als der Schiffbau, die Lösung wird auch längere Zeit in Anspruch nehmen. Generationen.“ Gamma seufzte. „Aber du mußt nicht denken, daß alles verkehrt läuft, wenn wir im Schiff sind und du nicht überall dabeisein kannst. Die anderen sind keine Kinder mehr — und du bist nicht ihr Guro.“

„Ich weiß“, murmelte ich, „und ich folge nur meinem Plan.“

Die Luft wurde kühler, es kam etwas Wind auf. Gamma lehnte sich an mich. Der Horizont war völlig schwarz. Eine Weile saßen wir noch schweigend da, dann kletterten wir zu unseren Schlafsäcken. Erst rückten wir eng zusammen, dann, als Gamma schlief, wälzte ich mich eine Weile hin und her, starrte schließlich mit offenen Augen in den weiten, nur von wenigen Wolken verhangenen Himmel über mir.

Ich versuchte mir vorzustellen, daß ich auf einer riesigen Planetenkugel läge, die mit mir durch das All sauste, durch all die Sterne. Ein paarmal gelang es mir, eine Andeutung des entsprechenden Gefühls hervorzurufen. Dann suchte ich den Himmel nach dem Schiff ab. Es war nicht zu sehen. Ich wartete lange, daß es über den Horizont steige, und schlief dabei ein.

Knotenpunkt Schiff

Jeder Flug zum Schiff ist für mich eine Heimkehr, auch wenn ich Andymon nur ungern verlasse. Sobald ich in den Bannkreis des Schiffs gerate, erfaßt mich ein Prickeln, und mir ist, als wüchsen mir Flügel, als verfügte ich über ungeahnte, ungeheure Kräfte.

Neben Gamma begleiteten mich Jota und Zeth, die uns bei der Vorbereitung des Schiffbaus unterstützten. Termine hatten wir uns nicht gesetzt, in den Knotenstellen der Netzpläne fehlten die Datumsangaben. Ob die Konstruktion zwanzig oder zweihundert Jahre dauern würde, es kam darauf an, zu beginnen.

Wir, der Konstruktionsstab, lebten nun im Schiff, das wir liebevoll und zugleich vorgreifend das „alte“ nannten. Es war fast wie in meiner Jugend. Täglich badete ich mit Gamma im See des Naturparks, nur die Guros und ihre Schützlinge fehlten am Ufer, und die Trampelpfade waren längst überwuchert. Mitunter, wenn wir Neuigkeiten hörten, packte uns die Sehnsucht nach Andymon und den Geschwistern. Die Versuchung war groß, hinab nach Oasis oder City zu fliegen. Bedauernd mußten wir es immer wieder aufschieben, denn die gegenwärtige Phase unserer Arbeit erforderte unsere Anwesenheit. Das Videofon bot einen allerdings unzureichenden Ersatz.

Zeth blieb trotz seiner Freundschaft mit Jota ein Einzelgänger. Kurz entschlossen flog er nach Ladym, wo die Produktion der meisten Konstruktionsmaterialien stattfinden sollte, und sorgte für den Aufbau der entsprechenden Anlagen und des Solenoids, eines gigantischen Linearbeschleunigers, der mehrere hundert Tonnen schwere Container in einen Andymonorbit katapulieren konnte.

Von Zeit zu Zeit kamen andere Geschwister zu uns, um uns für Tage, Wochen oder Monate zu helfen wie Psith, der sein Versprechen nicht vergessen hatte. Oft trieb sie auch nur blanke Neugier. Den größten Nutzen hatten wir jedoch von unseren „Praktikanten“. Für jeweils ein halbes Jahr kam eine der jüngeren Gruppen zu uns, sie lernten die Technik des Schiffs beherrschen. Wenn sie auf Andymon blieben, bestand die Gefahr, daß sie sich nur mit dem allernotwendigsten Gerät vertraut machten.

Den Anfang mit der Ausbildung im Schiff machte die zehnte Gruppe, ja, gerade die ehemalige Garde Resths. Sie, die Verführten, distanzierten sich nun am schärfsten von Resth, und sie bewiesen ihre neue Einstellung, indem sie mit aller Macht danach strebten, mich zu unterstützen. Und sie hatten die trotz angespannten Programms zu kurze Ausbildung bitter nötig.

Ich erwartete gerade die erste Probelieferung von Zeths Solenoidgeschossen, als Gamma die Neulinge nach beendigter Schiffsbesichtigung zu mir in die Zentrale führte. Voller ungestümer Fragen stürzten sie herein.

„Oh, die Zentrale! Kann man von hier aus wirklich das Schiff starten?“

„Was passiert, wenn ich den Hebel da umlege?“

„Gar nichts“, rief ich über ihre Köpfe hinweg, „ich habe vorsichtshalber alles blockiert.“

Sie lachten und umringten mich. „Wie denn?“

„Das werde ich gerade dir verraten, Dasza“, sagte ich und schaute das Mädchen mit den langen blonden Zöpfen an, Ilona hatte damals noch schöneres Haar gehabt, „du würdest doch sofort…“

„Ich bin aber gar nicht Dasza“, protestierte sie lautstark, während die anderen prusteten, „ich bin Nrada.“

Verwirrt blickte ich um mich, auch Gamma unterdrückte ein Lachen.

„Ihr müßt entschuldigen“, sagte ich, „ich bin wohl schon etwas verkalkt.“ Es war mir peinlich. Ein jeder auf Andymon kannte mich, und mir unterliefen bei den jüngeren Geschwistern immer wieder Verwechslungen. Glücklicherweise waren mir zumindest Laath und Bhriga bekannt.

„Vielleicht nennst du uns vorerst alle Baby“, schlug Nrada augenzwinkernd vor.

Ich lehnte ab. „Stellt euch vor, ich rufe in ein paar Jahren auf Andymon: He, Baby! Sofort habe ich all meine ehemaligen Lehrlinge auf dem Hals und stehe im dichtesten Getümmel.“

Sie lachten, ich hatte ihren Tonfall richtig getroffen. Nach und nach nahmen sie in den Formsesseln Platz. Ich setzte mich auf das Hauptsteuerpult und improvisierte einen Vortrag über die Zentrale, tastete dabei hin und wieder hinter mich, um ein Gerät vorzuführen.

Ich konnte ihnen viel zeigen. Vor zwei Tagen hatte Zeth das Solenoid abgefeuert. Die Magnetspulen hatten eine Salve Frachtcontainer und lose Bündel von Baugruppen in den Raum geschleudert. Sie würden bald als ein weitgefächertes Feld künstlicher Meteorite in den Konstruktionsbereich driften. Auf dem Radar waren sie längst zu erkennen, ein bunter, durchnumerierter Schwarm von Funken. Kleinstraketen standen bereit, sie einzufangen und computergesteuert in die richtigen Positionen zu bugsieren.

Mein Publikum wurde unruhig. „Beth, dreh dich mal um, da ist was.“

Im ersten Moment glaubte ich an einen Scherz, dann sah ich Gammas Gesicht. Ich wirbelte herum. Auf dem Hauptschirm, der die herannahenden Container zeigte, pulsierte rot in der rechten oberen Ecke der Lichtpunkt eines unbekannten Objektes. Nach der Hochrechnung würde eine Kollision mit dem Schiff in fünfundzwanzig Minuten erfolgen.

Während ich meine Hände über die Konsole fliegen ließ, um eine Fernanalyse einzuleiten und um bei gelösten Blockierungen gegebenenfalls selbst navigieren zu können, jagten sich meine Gedanken. Die kinetische Energie des Objektes genügte selbst bei der relativ hohen Geschwindigkeit wahrscheinlich nicht, um die Hülle des Schiffs zu durchschlagen. Aber bei dem Aufprall mußten Bruchstücke entstehen, die der eintreffenden Solenoidsalve entgegentrudeln würden. Eine Kettenreaktion war möglich: Ein Teil schlug gegen das nächste, zersplitterte, die Splitter trafen auf weitere Baugruppen — ein explodierendes Chaos das Resultat. Und wenn das Schiff manövrierte, bestand die Gefahr, daß sein Antriebsstrahl durch das Feld schweifte. Noch ehe ich begriff, daß der Computer längst reagiert hatte und eine der Abfangraketen sich auf Kurs befand, schossen weitere Fragen durch mein Hirn. Worum handelte es sich überhaupt? Meteorite waren äußerst rar im Andymonsystem.

Auf einem Display erschienen die Resultate der Fernerkundung: BEMANNTE FÄHRE. HERKUNFT GEDON.

Hinter meinem Rücken tuschelten sie: „Jetzt wird’s spannend!“

„Das Aufregendste ist schon vorbei“, erklärte Gamma, „das sind die ersten Sekundenbruchteile, in denen sich alles entscheidet.“

Endlich stand der Videokanal zur Fähre — als ob man sich nur zögernd entschloß, auf meinen Ruf zu antworten. Der Schirm öffnete den Blick auf acht Menschen, die bewegungslos in Formsesseln ruhten. Die komplette vierte Gruppe!

Der Schreck, der mir noch in den Gliedern steckte, verschaffte sich Luft. „Ihr macht mir vielleicht Scherze! Pirscht euch hier klammheimlich an, ohne Voranmeldung, ohne Kennung! Als ob ihr nicht- wüßtet, wie ihr euch im Kosmos zu benehmen habt. Und ihr, ihr Zusammengeschalteten, wollt uns Jahrhunderte voraus sein!“

Hinter mir erklärte seelenruhig Gamma: „Und hier habt ihr das klassische Beispiel eines überspannten Raumschiffkapitäns.“

Verdutzt drehte ich mich um. Gamma trat zu mir. „Frag sie erst ’ mal, was los ist.“

Ohne meine Reaktion abzuwarten, wandte sie sich selbst an die vierte Gruppe: „Gimth, Daleta, was ist geschehen, was habt ihr?“

Einige Sekunden war es völlig still in der Zentrale. Die Abfangrakete kehrte in großem Bogen um. Der Schiffscomputer hatte die Steuerung der Fähre übernommen.

Dann sprach Daleta, mühsam, als müsse sie jedes Wort erst zerkauen: „Wir sind auseinander.“ Ein leichtes Heben ihrer linken Hand die erste Geste, die ich in der Fähre beobachtete, unterstrich den Satz. „Es ist tot.“

„Was?“ fragte ich. „Wieso? Was ist passiert?“

Sie schüttelte nur müde den Kopf.

„Hör auf, sie so auszufragen“, sagte Gamma, „siehst du nicht, wie fertig sie sind? Muß ein schöner Schock gewesen sein. Sie brauchen bestimmt unsere Hilfe.“

Ich versicherte Daleta, daß sie willkommen seien und wir sie auf jegliche Weise unterstützen würden. Dann unterbrach ich die Verbindung.

„Bestellt ihr für jede neue Gruppe Weltraumlehrlinge extra so ein UFO?“ Nrada blickte mich schelmisch an. Ich hab euch durchschaut, stand in ihrem Gesicht.

Gamma blieb ganz ernst und sagte mit stockender Stimme: „Ihr wißt, etwa in eurem Alter haben sie ihre Gehirne miteinander verbunden, um klüger zu sein als alle anderen. Jetzt sind sie zum erstenmal wieder einzeln, für sie muß alles fremd sein, eine veränderte Welt. Kommt mit zur Schleuse, sie müssen jeden Augenblick eintreffen.“

Ich stand noch eine Weile zwischen all den Displays, Instrumenten, Monitoren, Konsolen, Anzeigen der Zentrale. Was hatte dieses Wesen, das Monster von Gedon, auseinandergerissen? Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren. Nachempfinden ist eine Unmöglichkeit. Oder doch? Ich erinnerte mich an die schmerzende Einsamkeit, die es mir mitgeteilt hatte. Hieß das, all seine Versuche und Forschungen waren endgültig gescheitert? Das All leer? War es an seiner absoluten Verlassenheit zugrunde gegangen?

Ich blickte hinaus in den Kosmos. Langsam näherte sich das Feld der Baumaterialien. Ein neues Schiff im Werden. So mußte es einst vor vielen Jahrtausenden im Erdorbit ausgesehen haben, als das erste Schiff konstruiert wurde.

Das All ist nicht leer. Menschen bewohnen es.

Wiederbelebung

Alfa war sofort ins Schiff gekommen, als sie von der Ankunft der vierten Gruppe erfahren hatte. „Jemand muß ihnen helfen, wieder Mensch zu werden“, erklärte sie.

Für mich war es ein Rätsel, wie es die acht geschafft hatten, aus eigener Kraft mit der Fähre zum Schiff zu gelangen. Denn hier verhielten sie sich anfangs so lethargisch, daß sie ohne unser Zutun verhungert wären. In den ersten Tagen lagen sie nur im Naturpark auf der Wiese und stierten auf irgendeinen Punkt in der Luft, als würden sie die altvertraute Umgebung überhaupt nicht wahrnehmen. Dabei hatten wir sie extra nicht nach Andymon gebracht, damit sie dort anknüpfen konnten, wo vor über sechs Jahren ihr individuelles Leben endete. Alfa brachte ihnen dreimal am Tag geduldig das Essen in den Park und geleitete sie am Abend fürsorglich in ihre ehemaligen Zimmer, die wir mit Hilfe von Computeraufzeichnungen hergerichtet hatten.

Nach einer Woche verlangte Daleta eine sinnvolle Beschäftigung. Damit hatten die acht ihren tiefsten Punkt überwunden, und der Auftakt für ein aktiveres Leben war gegeben.

Gamma und ich betreuten Gimth, Alefth und Mega, während sich Alfa, Jota und Zeth um die anderen fünf kümmerten. Wir erzählten ihnen vom Aufbau der Siedlungen auf Andymon, von unseren nächsten Projekten und machten sie mit den neugeborenen Andymonen bekannt. Während Alefth und Mega zusehend aus ihrer Apathie herausfanden und sich aus unserer Obhut lösten, wurde Gimth für uns zum Problem. Er kannte nur eine Art von Aktivität: mir zu folgen. Dabei hatte ich ihn als besonders pfiffig in Erinnerung.

Seit Ilona zu uns gestoßen war, um aus der Genbank neue Arten nach Andymon zu exportieren, waren auch die Labortrakte wieder belebt, und man konnte sich im Schiff wie in alten Tagen fühlen. In den Gängen herrschte Leben, Lachen erklang aus den Gemeinschaftsräumen, woran auch die vierte Gruppe beteiligt war. Allen voran Daleta, wollten sie sich nützlich machen, mit zupacken.

Ilona und ich wetteiferten darin, Arbeit zu verteilen. Was war wichtiger: die Aufzucht von Schaben, Strudelwürmern, Fäulepilzen und hunderterlei Bakterien für die Ökologisierung Andymons oder die Energieversorgung meiner Montageautomaten? Wenn ich mich auch halb im Scherz über ihr verwerfliches Interesse für Unkräuter, Ungetier und Ungeziefer, Parasiten und Bazillen beschwerte, wußte ich doch, daß alles in der künftigen Biosphäre seinen Platz haben würde und daß auch für das entstehende Schiff die genetischen Ressourcen des alten erschlossen und dupliziert werden müßten.

Ich war zufrieden — bis auf eins. Mit Gimth wurde es nicht besser. Daß er mit mir hinter einem Terminal hockte oder in der Zentrale auf und ab trottete, war weniger schlimm. Aber auch abends folgte er mir in unsere Räume. Saß mit seinen ein Meter dreiundneunzig einfach da, als ob er zur Einrichtung gehörte. Auf die Fragen des Alltags antwortete er mit einem Wort oder einer Kopfbewegung. Sonst schwieg er nur und hörte zu, wie Gamma und ich uns unterhielten. Auf Andeutungen, ob er nicht in seinem Zimmer…, reagierte er selten.

Ich versuchte, ihn für das Leben auf Andymon zu begeistern, schwärmte ihm etwas vor und bestand darauf, daß er sich mit uns die AN-ALLE-Nachrichten ansah. Qia und Psith aus der dritten Gruppe hatten nach der Auseinandersetzung im Amphitheater ein Informationssystem entwickelt, das genau unseren Bedürfnissen entsprach. Ich benutzte es selbst, um die Geschwister auf Andymon über den Beginn des Schiffbaus, die Probleme mit der vierten Gruppe und das Leben im Schiff überhaupt auf dem laufenden zu halten. Jeder, der sich an die Gemeinschaft wenden wollte, sprach seine Neuigkeiten, Fragen, Beschwerden, Hinweise einfach in den Videokanal unter der Codierung AN ALLE. Der Computer speicherte das und verteilte die Aufzeichnungen auf Abruf.

„Ich brauche Hilfe“, sagte Lameth aus der fünften Gruppe und ließ die Kamera über große Baumaschinen schweifen, die im harten Boden wühlten, „allein schaffe ich es nicht, den Bewässerungskanal rechtzeitig fertigzustellen. In zwölf Tagen will Samecha mit der Aussaat beginnen. Und vor mir liegen noch acht Kilometer. Irgendwer muß sich verplant haben.“

„Na, Gimth, wäre das nichts für dich? Frischer Wind, festen, staubigen, echten Boden unter den Füßen, eine handfeste Arbeit unter freiem, sonnigem Himmel? Und Lameth ist ein guter Kumpel.“ Wenn Gamma so redete, bekam ich richtig Lust, mich in schwere Maschinen zu setzen und Kanalfurchen durch die Wüste zu ziehen.

Gimth blieb stumm.

Die schon wieder schwangere Szina und Szadeth, der Prith im Arm hielt, berichteten kurz, daß es ein Mädchen werden würde nach dem Untersuchungsergebnis und daß sie es Secca nennen wollten, „und hoffentlich wird es so schön wie Szina.“

Gimth war nicht zu verlocken.

Ebenso ließ ihn der Bericht über eine neue Fabrik, der von Xith in geradezu perfektem Reportagestil mit viel zu vielen Fakten gegeben wurde und von echter Etamusik begleitet war, völlig kalt.

Nicht gerade Begeisterung, aber doch eine gewisse Aufmerksamkeit riefen die Bilder von einem mausähnlichen Tier hervor, das ganz unschuldig auf Myths Handteller saß. „Wer kann mir sagen, wie diese Bestie, die mich in den Finger gebissen hat, heißt und wo sie herkommt? Wenn noch kein Name festliegt, schlage ich ‚braungefleckter Fingerbeißer‘ vor. Das soll auch eine Warnung sein!“

Ein Dutzend oder mehr Beiträge unterschiedlichster Wichtigkeit je Tag, das war die Regel. Selbst Kinder beteiligten sich, luden zu einem Schwimmfest ein.

Kopa aus der sechsten Gruppe beschwerte sich lauthals: „Wer ist über mein Feld gefahren? Auch wenn es noch nicht grün aussieht, gesät ist schon. Und einem Roboter traue ich so einen Vandalismus nicht zu. Ich bestehe mindestens auf einer Entschuldigung!“

Heiteres und Ernstes wechselten sich ab. Nur Gimth verzog kaum eine Miene. Vielleicht waren Bilder prinzipiell ungeeignet für ihn? Hatte er nicht als Bestandteil des Wesens seine Informationen in Bildern bekommen und sich dabei völlig passiv verhalten?

Der Reigen der Meldungen wurde von Lameth abgeschlossen, der sich nun für die zahlreichen Hilfsangebote bedankte. Neben der Förderung des Zusammenhalts und der Diskussion von Fragen allgemeiner Bedeutung war dies wohl die wichtigste Funktion des AN-ALLE-Systems: uns über unterbesetzte Betätigungsfelder zu informieren.

Gimth erweckte nicht den Eindruck, irgendeine Lücke füllen zu wollen. Er war wie schon an den Abenden vorher im Sessel eingenickt.

Wir zogen uns in unser Schlafzimmer zurück. Rar waren die Minuten ohne Gimth. Vor dem Einschlafen flüsterten wir miteinander, was wir machen sollten.

„Du darfst ihm deine Ungeduld nicht zeigen“, sagte Gamma beschwörend, „denk dran, der arme Bursche hat einen Knacks weg. Er braucht Gesellschaft.“

„Aber immer dieselbe, daß ihm die nicht langweilig wird.“ Ich stöhnte. Gamma hatte ihn wenigstens tagsüber nicht um sich.

„Vielleicht bist du sein großes Vorbild“, spottete sie, während sie sich an mich kuschelte. Ich lachte ungläubig. Und am nächsten Morgen begann alles von vorn.

Natürlich informierte ich Alfa, doch auch sie wußte keinen Rat außer: „Ihr müßt aushalten, bis er wieder vernünftig wird.“

Überall hatte ich den langen, dünnen Gimth bei mir, selbst im Schlaf sah ich sein knochiges Gesicht. Ein Schatten konnte nicht anhänglicher sein. Schließlich kam mir ein Zufall zu Hilfe.

Gimth und ich hatten Ilona in ihren Laboren besucht. Schweigend liefen wir den Gang entlang. Von einem der gekrümmten Seitenkorridore drangen Stimmen zu uns: „…paßt auf, daß der Alte nicht zu früh Wind davon bekommt.“

„Pah, der redet uns nicht rein.“

Erschrocken hielt ich inne. Braute sich da wieder Ärger zusammen? Was führte die zehnte Gruppe im Schilde? Mir war schon aufgefallen, daß sie sich sehr spezialisierten: Bhriga auf Computer, Nrada auf Energie- und Antriebstechnologie, Laath auf Biowissenschaften. Nun gut, sie wollten als Gruppe die Technik des Schiffs möglichst umfassend kennenlernen, und sie konnten sich in der kurzen Zeit nur die Anfangsgründe je eines Fachgebietes aneignen.

„Was ist denn?“ fragte Gimth.

Ich warf ihm einen nicht gerade freundlichen Blick zu. Die Geräusche verstummten. Rasch bog ich um die Ecke.

Die gesamte zehnte Gruppe blickte mir verärgert entgegen. Auf dem sanft nach oben gekrümmten Boden des Ganges zum Hangar standen Dutzende von Containern. Aus einem ertönte ein leises Gluckern.

„Hallo“, sagte ich, „was heckt ihr denn gegen den Alten aus?“

„Du weißt doch, daß wir immer die Bravsten sind“, antwortete Nrada und sah mich herausfordernd an.

Neugier peinigte mich. Weshalb standen hier Container? Was bedeuteten die Geräusche? Aber ich wollte mich nicht aufspielen; es war schlimm genug, wenn sie mich den „Alten“ nannten.

„Na schön“, sagte ich gedehnt, „ich bin gewarnt, daß ihr wieder eine Teufelei ausbrütet. Ich seh mich schon, wie ich euch der Reihe nach übers Knie lege.“ Damit wollte ich gehen.

In diesem Moment wurde Gimth munter. Nrada, die ihm den Weg verstellte, schob er einfach beiseite, und als Atrith, der fast ebenso groß wie er war, sich einmischte, war es schon geschehen. Gimth hatte den Container, aus dem das verdächtige Glucksen ertönte, geöffnet. Der Behälter kippte, Aquarien, Plast- und Glasgefäße verschiedener Größe fielen heraus, manche zerbrachen dabei oder gingen auf. Wasser, versetzt mit grünen Schlingpflanzen, ergoß sich über den Boden. Zwischen meinen Füßen zuckten kleine silbrige, rotgepunktete Fische. Dasza kreischte laut, Gimth sprang zurück, stieß mich an, daß ich ausglitt und mitten zwischen schlierigem Tang und Wassergetier landete. Ich saß da, schaute mich entgeistert um. Dann fiel ich in das Lachen der anderen ein.

Die quecksilbrige kleine Brhiga fing mit bloßen Händen Fische, andere sammelten Muscheln und Wasserpflanzen in die geretteten halbleeren Gefäße.

Laath war an eine der Rufanlagen getreten und gab dem Schiffscomputer den überflüssigen Befehl, den Gang zu säubern.

„Hm“, sagte ich erleichtert, als das schlimmste Durcheinander vorüber war, „ich begreife nur nicht, was es da vor mir geheimzuhalten gibt. Neue Arten aufzuziehen und mit der Fähre nach Andymon zu bringen ist völlig normal. Und Ilona wird mit eurer Hilfe zufrieden sein. Für welchen See ist die Ladung eigentlich bestimmt?“

Sie schwiegen, blickten sich gegenseitig an. Pilasth, der jüngste der zehnten Gruppe, saugte an dem Finger, den er sich an einer Glasscheibe verletzt hatte.

„Ich sag’s ihm“, verkündete unvermittelt Laath.

„Wehe!“ drohte Nrada und boxte auf ihn ein. Er ließ sich nicht beirren.

„Das ist eine außerplanmäßige Ladung für die Lagunen im Delta des Nordwestflusses.“ Unter den Blicken seiner Geschwister stockte Laath.

Das ergab keinen Sinn. Welchen Zweck sollte es haben, sich jetzt um die vielen kleinen Seen zu kümmern? Im Gegensatz zum Ozean mit seinen über zwölf Prozent Salzgehalt boten sie mit zwei bis sechs Prozent die Voraussetzung für Leben. Aber bislang hatten wir diese Aufgabe aufgeschoben.

Laath faßte sich und fuhr fort: „Wir wollen uns dort am Meer eine eigene unabhängige Siedlung einrichten. Wir wollen nicht nach Oasis zurückkehren, wollen uns nicht in ein gemachtes Nest setzen und so leben müssen, wie die Siedler leben. Ihr äfft alle zu sehr die Erde nach. So.“

Meine Hoffnung, sie würden mich länger als das abgesprochene halbe Jahr beim Schiffbau unterstützen, zerplatzte. Bedächtig strich ich mir den Tang von der Hose. Sie sollten die Enttäuschung nicht merken.

„Wenn ihr jetzt hofft, daß ich es euch verbiete, damit ihr rebellieren könnt, dann irrt ihr euch gewaltig“, sagte ich. „Bis jetzt hat sich jede Gruppe ihren eigenen Weg gesucht. Ihr seid genau richtig für Andymon.“

Große Worte und viel zu allgemein. Man würde erst hinterher erkennen, welcher Weg wirklich originell war. Und was das Nachäffen der Erde betraf — kannten wir denn die Erde? Einen winzigen, längst vergangenen Abschnitt vielleicht aus den Totaloskopen.

„Ich hab’s euch ja gesagt“, schimpfte Nrada, „wenn er davon erfährt, macht es überhaupt keinen Spaß mehr.“

Von beiden Seiten rollten Serviceroboter heran. Mit Reinigungsschwämmen, so breit wie der Gang, schoben sie das Wasser zusammen. Die grünliche Brühe stand uns bis zu den Knöcheln, und die Saugrohre der Automaten gaben bedrohliche Geräusche von sich. Wie auf Kommando bückten wir uns und retteten die letzten Tiere und Pflanzen. Es erstaunte mich, wie behende Gimth dabei vorging. In Sekunden war alles vorbei. Nur die Saugrohre rülpsten noch eine Weile wie durstige Elefantenrüssel um unsere Füße.

Wir begutachteten unsere nasse Kleidung. Pilasth wurde von Bhriga verbunden.

„Wie wollt ihr denn anders leben?“ fragte ich unvermittelt.

„Für uns wird kein Projekt so wichtig sein, daß wir unsere Geschwister vernachlässigen“, sagte Laath mit unvermutetem Ernst. „Wir werden eng Zusammenleben, nicht isoliert wie ihr in Einzelhäusern. Wir werden alles miteinander teilen.“

„Jedenfalls wird bei uns so ein Streit wie zwischen dir und Resth nicht Vorkommen“, unterbrach ihn Nrada, „außerdem machen wir, was wir wollen!“

Ich nickte und beteuerte nochmals, daß ich nicht die geringsten Einwände gegen ihr Vorhaben hätte. Ich nicht — aber die Geschwister auf Andymon? Was würden sie zu einer neuerlichen Zersplitterung unserer Kräfte sagen? Vielleicht hätten wir doch von Anfang an bei unseren ursprünglichen Plänen bleiben, uns auf eine Siedlung konzentrieren, alle individuellen Wünsche, alle kleinen Utopien aufgeben sollen.

„Ich habe nichts, absolut nichts dagegen, Nrada, aber es wird schwer werden, die Ressourcen für eure Pläne aufzutreiben.“

Nrada stand schweigend da, sie wollte etwas erwidern, wußte nicht, was. Dann blickte sie meinen Schützling an. „Wenn Gimth nicht so ein Tolpatsch gewesen wäre…“

Gimth sah unschlüssig auf den inzwischen wieder geschlossenen Container. Ohne den Kopf zu heben, fragte er: „Kann ich mit euch kommen?“

Zu meinem großen Erstaunen antwortete Nrada schlicht und einfach: „Natürlich.“

Sowenig ich seine plötzliche Entscheidung verstand, so sehr freute ich mich, daß er neuen Anschluß gefunden hatte. Die ersten Tage, die ich wieder allein mit Gamma war, kamen mir himmlisch vor. Außerdem konnte ich nun all meine Arbeitskraft dem neuen Schiff zuwenden.

Auf Andymon entstand ein zusätzliches Wohngebiet. Die Pläne, die wir vor Jahren für die Besiedlung entworfen hatten, großartige globale Entwürfe und Computerszenarien, konzentrisches Wachstum des menschlichen Einflusses, hatten sich samt und sonders und nach jeder Korrektur erneut als zu starr erwiesen. Ich selbst, ein eifriger Verfechter dieser Pläne, mußte nun einsehen, daß Ideen und Zielvorstellungen sich nicht im einzelnen vorausplanen ließen. Alles blieb in Fluß. Aber jeder von uns konnte sagen: Hier habe ich mitgewirkt. Diese Idee stammt von mir. Ohne mich sähe es hier anders aus - ärmer.

Bestandsaufnahme

Hätte ich nur zwei Leben! Ich könnte eines Andymon widmen und das andere dem Schiffbau. So aber pendelte ich hin und her, ständig mit den Gedanken, seltener mit dem Lander. Im Schiff blickte ich hinab auf den Planeten, sah mir jeden Abend die AN-ALLE-Berichte an und nahm Gammas in das Gewand einer Frage gekleideten Vorschlag gern an: „Müssen wir nicht wieder mal unten nach dem Rechten schauen?“ Auf Andymon jedoch suchten meine Augen den Himmel ab: Dort, das Schiff, wie weit ist der Bau gediehen? Kommen die Geschwister zurecht? Noch heute hat sich daran nichts geändert. So konnte ich damals die Gruppen, die mich im Orbit unterstützten, gut verstehen, wenn sie zugleich die Montage leiteten und Pläne für ihr Leben auf Andymon entwarfen.

Wir flogen nach Gedon, um zu sondieren, was aus der Hinterlassenschaft des Wesens verwertet werden konnte. Wir: Daleta, die behauptete, nunmehr die Furcht vor der Rückkehr verloren zu haben, Alefth aus ihrer Gruppe, auf dessen Beisein sie bestanden hatte, Bhriga, die sich im Rahmen ihrer Ausbildung für die Computersysteme von Gedon interessierte, und ich.

Es war das drittemal, daß ich auf diesem Mond landete, jedesmal mit anderen Gefühlen, jedesmal überrascht von den Veränderungen. Diesmal sah ich keine neuen Bauwerke zwischen den Felsen. Gedon war tot. Kein Licht drang aus den Stationsgebäuden, schemengleich starr standen vereinzelte Montageautomaten im unwirklich fahlen Schein Andymons, Überreste unterbrochener Bauvorhaben. Stahlstreben und Container lagen sauber gestapelt.

Skaphanderbekleidet führte uns Daleta. Damals hatte die vierte Gruppe ihren Anteil an den Schätzen des Schiffs gefordert. Wie viele Maschinen aus den großen Lagern, wieviel von den Materialien aus den Behältern, wieviel von den Automaten mochten sie abgezweigt haben? Ich würde jeden Logikchip, jede Schraube, jeden Tropfen gebrauchen können. Im Schiff gähnten die einst übervollen Speicher und Hallen leer, die Zeit des eilfertigen Installierens war vorbei.

Wir betraten eine weite Röhre, die direkt in den Fels zu führen schien. In der Schleuse glomm grünlich die Notbeleuchtung. Daleta tastete Befehle in eine kleine Konsole an der Wand. Helles Licht überflutete uns, aus einer Öffnung sprühten weißliche Schwaden: Luft. Als ich den Helm abnahm, schlug mir schneidende Kälte entgegen.

„Heizung?“ fragte ich.

„Schon ein“, antwortete Daleta ebenso einsilbig, denn der Frost stach im Mund, in der Kehle, in der Lunge. Unser feuchter Atem setzte sich als Reif auf den Skaphandern und den Wänden fest. Die innere Schleusentür öffnete sich, und wir betraten die Station.

Durch den ebenfalls hellerleuchteten Gang wehte ein leises Stöhnen, die Klimaanlage, vermutete ich. Schweigend gingen wir voran. Unser Ziel war ein kleiner Raum, in dem Computerterminal standen. Er war das Gegenstück zu der um vieles größeren Zentrale des Schiffs, verdiente aber diesen Namen nicht, weil er von der vierten Gruppe nie als Zentrale benutzt worden war. Wozu auch? Das Wesen war eins gewesen mit dem Computer. Dort würden wir uns einen Überblick verschaffen können über alle Geräte und jedes Kilo Material, das sich auf Gedon befand.

Erfreut beobachtete ich, wie sich Bhrigas Neugier gegen die beklemmend kühle Atmosphäre Bahn brach. Bhriga lief voraus, hantierte am Öffnungsmechanismus einer Tür. Sie schüttelte ihre von der eisigen Berührung schmerzenden Hände und streifte die Skaphanderhandschuhe wieder über. Dann schaute sie in den Raum - und lachte. Ich trat hinter sie und verstand: Auch die Zusammengeschalteten hatten ganz gewöhnliche menschliche Notdurft verrichten müssen. Wir schlossen die Tür und folgten den anderen. Die Luft im Gang wurde spürbar wärmer.

„Können wir alles gut gebrauchen, Beth“, sagte Bhriga, „die Toilette und die Küche und was an Einrichtung für Gemeinschaftsund Einzelräume da ist.“

„Hm“, wandte ich ein, „eigentlich sollte das meine Bestandsaufnahme werden. Schön, ich gebe zu, im Demontieren habt ihr mir einiges voraus.“

Bhriga blieb stehen. Hatte ich sie verletzt?

„Immer die alten Sachen.“ Traurig schaute sie mich an. „Weißt du, Beth, deswegen müssen wir eine eigene Siedlung gründen. In Oasis wären wir immer nur Resths ehemalige Anhänger. Jeder zweite Gedanke von den Siedlern wäre: Auf die müssen wir achtgeben, die haben zu Resth gehört.“

Ich besänftigte sie und versicherte ihr, daß ich ihre Gruppe und ihr Vorhaben fördern würde. Meine unvorsichtige Bemerkung sollte kein Grund für hängende Köpfe sein. Von mir aus, sollten sie die Klos und Kochtöpfe einpacken!

Wo waren Daleta und Alefth geblieben? Der Gang vor uns war leer.

„Du rechts, ich links!“ Schnell schauten wir in die Türen. Wieder drangen feine Töne an mein Ohr. Von dunkler Vorahnung befallen, eilte ich durch einen Konservenvorratsraum und Zimmer voller Geräte. Eine Wand, schwarze Blätter vakuumverdörrter Blumen davor, der Sessel, in dem ich gesessen hatte — wie lange war das her?

„He“, rief ich, „Daleta, Alefth, wo seid ihr? Was soll das Versteckspiel?“

„Wo seid ihr?“ echote eine zarte, kaum vernehmbare Stimme. Ich rannte erschrocken auf den Gang, stieß dabei Bhriga fast um.

„Hast du gehört?“ fragte sie mich aufgeregt. Spontan griff ich ihre Hand und zog sie mit. Der Gang gabelte sich. Eine Sekunde verhielt ich lauschend, dann entschied ich mich.

„Wo seid ihr?“ erklang die Stimme eindeutig näher.

Eine Tür vor uns war nur angelehnt. Ich stieß sie mit dem Fuß auf. Ein verwirrendes Lichterspiel überflutete mich. Fleckigbunte Muster erschienen auf einer Projektionswand und erloschen wieder. Eine radioastronomische Himmelskarte? Hirnstrommuster? Computerträume? Es war mir gleich.

Daleta und Alefth lehnten mit offenen Mündern an einer mannshohen Konsole. Über ihre Gesichter lief farbiger Widerschein.

„Wo seid ihr?“ flüsterte halb lockend, halb verzweifelt die Stimme.

„Zum Donnerwetter!“ schrie ich, so laut ich konnte. Die beiden zuckten zusammen, der fremde Bann war gebrochen.

„Das ist unsere Stimme“, sagte Daleta atemlos.

„Ich erinnere mich“, fügte Alefth im gleichen Tonfall hinzu.

„Wo kann ich die verrückte Stimme abschalten und den kaputten Computer löschen?“ fragte Bhriga, die bereits begann, an einem Eingabegerät zu hantieren. Das wirre Licht verblaßte.

„Nein, nicht, es lebt. Das waren einmal wir.“ Alefth löste sich mechanisch von der Konsole. Ich hielt ihn zurück.

Bhriga schaltete aufs Geratewohl. Rote Signale leuchteten auf. Das Flüstern verstummte. Sie drehte sich um. „Das lebt sowenig wie eine Tonbandaufzeichnung. Ich bin zwar nicht so ein Computerexperte wie ihr, dafür weiß ich aber, daß man solch eine Anlage nicht verläßt, ohne sie auszuschalten.“

So konnte es geschehen, daß bei unserer Annäherung der Computer die gespeicherten Erinnerungen des Wesens abrief und dieses ein letztes Mal zu einem Scheinleben erweckte. Ich schaute Daleta an.

„Das steckt noch tief, so tief“, sagte sie mit verlorenem Blick, „diese Suche — und nichts gefunden. Kein ebenbürtiger Partner. Wir waren…, es war“, korrigierte sie sich, „nur auf sich allein angewiesen. Ohne Gesellschaft. Es hat sich in sich gekehrt, bis es in seine Bestandteile zerfiel.“

„Ich kann das nicht beschreiben, diesen Tag“, jetzt sprach Alefth, und seine tiefe vibrierende Stimme unterschied sich wohltuend von der des Computers, „ihr nennt das Gruppengehirn Monster. Das solltet ihr nicht tun. Als es erkannte, daß es nicht weiterexistieren konnte, hat es uns armselige Individuen gerettet. Diese Minuten, sie waren wie ein Traum, nicht, Daleta?“

Sie nickte, übernahm den Faden. „Wir sind einfach in die Fähre gesetzt worden, den Willen, dorthin zu gelangen, hätten wir nicht gehabt. Erst bei euch sind wir langsam aufgewacht.“

Tröstend klopfte ich ihr auf die skaphanderbewehrte Schulter. „Kommt, wir haben viel zu erledigen.“

Wir ließen uns Listen ausdrucken: Fahrzeuge, Geräte, Automaten. Mich überraschte nicht, als ich erfuhr, daß auf Gedon ein Miniaturfusionsreaktor existierte sowie eine Reihe kleinerer, aber wohldurchdachter Produktionsstätten. Das Wesen hatte seinen Anteil am Schiff gut genutzt, wenn auch zu Zwecken, die nicht die unseren waren und die mir weitgehend unverständlich blieben. Fernsehkameras ermöglichten uns Einblicke. All diese Anlagen standen seit einem Vierteljahr still. Eine ungeheuerliche Verschwendung. Ich überlegte.

„Bhriga“, sagte ich, „am wichtigsten ist, das hiesige Computersystem an das des Schiffs anzuschließen. Wir brauchen direkten Zugriff. Und wie auf Ladym können hier Teile für das Schiff produziert werden. Der arme Zeth hat sich auf dem anderen Mond so angestrengt, hier hätte er viel bessere Bedingungen gefunden.“

Sie nickte, brachte dann Einwände vor: Laufzeit der Signale, Synchronisierungsprobleme. Es waren geringfügige technische Schwierigkeiten, die sie überwinden konnte.

Allmählich ergriff mich eine Hochstimmung. „Schaut euch nur um, was uns das Wesen alles hinterlassen hat: Unmengen technologischer Daten, komplette Fabriken, die nur wenig umgerüstet zu werden brauchen, Bergwerke… Endlich komme ich einmal richtig zum Zuge.“

Ich schaltete, die Monitore zeigten neue Bilder. Dunkle Vakuumhallen, in denen handtellergroße Scheiben Nanoelektronik produziert werden konnten, abstrakte Schemata von Bearbeitungsabläufen, einen ganzen Stapel, nein, einen Berg von noch nie eingesetzten Automaten. Experimentalanlagen, deren Sinn mir verschlossen blieb, aber auch ein gewaltiger Teilchenbeschleuniger, der sich problemlos zu einem Solenoid für das Katapultieren von Baumaterial umbauen lassen würde. Sieben Jahre nur hatte das Wesen existiert. Seine Leistung war wirklich übermenschlich. Und hätte nicht die vierte Gruppe sieben Jahre ihres Lebens verloren, so wäre ich für seine Existenz uneingeschränkt dankbar gewesen.

„Bitte, Beth“, sagte Daleta, „setz dich doch.“ Meine Freude hatte auf die Geschwister nicht ausgestrahlt. „Das ist nicht alles für den Schiffbau, Beth. Ich hätte dir das vielleicht schon früher sagen sollen. Wir werden uns mit der zehnten Gruppe am Meer ansiedeln. Nicht nur Gimth. Du verstehst, daß wir einen Teil der Anlagen von hier dafür gut gebrauchen können. Nicht viel, aber immerhin. Keine kompletten Fabriken, das lohnt den Transport nicht, aber eine Menge Automaten, Fahrzeuge, Computer.“

Ich schluckte, sie hätten mir das wirklich früher sagen können.

„Und wann soll es losgehen? Morgen?“ fragte ich mit belegter Stimme. Ihr Anrecht auf alles hier stand außer Zweifel, aber noch wichtiger als dies war mir ihre Arbeitskraft, ihr Fachwissen.

„Beth, du hast versprochen, uns zu helfen“, erinnerte mich Bhriga, „natürlich unterstützen wir dich ebenso. Wir bleiben wie vereinbart noch ein Vierteljahr und werden alle sechzehn in dieser Zeit hauptsächlich das neue Schiff bauen.“

Ich stand wieder auf, packte einen Teil der Papiere ein, dann fand ich meine Stimme wieder und dankte.

Bhriga beschäftigte sich mit dem Computer, als hätte sie nie etwas anderes gelernt. Daleta nahm sich die Listen, noch einmal ging sie Position für Position durch und murmelte vor sich hin, daß sie das Gefühl habe, etwas fehle noch.

Alefth schwieg gedankenverloren, seine Hände bewegten sich, als wollten sie die Gelenkfalten seines Skaphanders glattstreichen. Nach einer Weile schaute er auf. „Du machst einen Fehler, Beth. Du redest immer von deinem Schiff, deinem Projekt. Das stimmt nicht. Die ganze Gemeinschaft hat beschlossen, das Schiff zu bauen. Es ist unser aller Projekt. Du bist lediglich der, der sich am…“, er suchte nach dem richtigen Wort, „am enthusiastischsten dafür einsetzt. Wir sind genauso dafür, wissen auch, daß es notwendig ist, sonst würden wir uns an der Konstruktion nicht beteiligen. ‚Dir helfen‚‘ wäre hier das falsche Wort.“

Gerührt blickte ich ihn an. Daleta und Bhriga bekräftigten lautstark seine Worte. Ich erklärte ihnen, daß ich vielleicht schon etwas zu alt und festgefahren sei und daher meine Rolfe überschätze und falsche Possessivpronomen gebrauche. Sie protestierten. Es war ein wohltuender Gedanke, daß mein Projekt — so schnell konnte ich es mir nicht abgewohnen — nicht mit mir stand und fiel.

Wir arbeiteten, bis die Verbindung der beiden Computersysteme hergestellt war. Das dauerte einige Stunden. Wir hätten auf Gedon bleiben können, doch war es uns angenehmer, zurückzufliegen. Dank des Fusionsreaktors hatten wir zumindest genügend Energie.

Die Fähre hob leicht vibrierend von der raketenstrahlzerfressenen Mondoberfläche ab. Ich bat Alefth, er möge noch einmal dicht über das bebaute Territorium fliegen, und fühlte mich wie ein König, der sein Reich inspiziert. Aus zwei Kilometer Höhe sah alles viel kleiner, spielzeugniedlich aus. Vor Jahren hatte das Wesen mir — schon wieder mir! — Unterstützung zugesagt, alles in allem hatte ich sie überreichlich erhalten.

„Da?“ rief plötzlich Daleta erfreut, „seht ihr dort diesen Rumpf?“

Alefth ging vorsichtig tiefer. Über die Länge von gut zweihundert Metern erstreckte sich halbfertig eine bizarre, nach links und rechts weit ausladende Konstruktion. Die blasenförmigen Wasserstoffbehälter bewiesen mir: ein winziges, seltsam geformtes Schiff.

„Das war die letzte Chance, die letzte grandiose Anstrengung des Wesens, ein Mikroschiff, das uns acht, eingefroren, zu einem anderen System transportieren sollte — auf der Suche nach seinem Ebenbild.“ Dreimal umkreisten wir den gewaltigen Torso. Nutzlast: keine tausend Tonnen. Die niemals vollendete Miniaturausgabe unseres Schiffs. Aber weshalb niemals vollendet? War es nicht günstig, an einem Pilotprojekt zu üben? Ob wir wirklich die Antriebstechnologie beherrschten? Das Schiff nicht beim ersten Anlaufen der Triebwerke verglühen würde?

Wir diskutierten auf dem Rückflug so erregt miteinander, daß ich heiser war, als wir das Schiff erreichten. An diesem Tag verdrängten wir mit unserem ausführlichen Bericht, bereichert von vielen Aufzeichnungen, alle anderen Beiträge aus AN ALLE. Schon in den nächsten Stunden trafen die ersten Stellungnahmen und Vorschläge ein. Wir hatten uns in der Zentrale versammelt, um mit den Geschwistern gemeinsam beraten zu können.

Aus City und Oasis kamen Hilfsangebote für die künftige Siedlung am Meer. Nrada und Dasza tanzten zwischen den Formsesseln. Und Daleta? So ein glückliches Lächeln und solchen Glanz in den Augen hatte das Superwesen ihr nicht geben können. Es war ein Fest.

Für mich aber war Teths Vorschlag der Höhepunkt dieses aufregendes Tages. „Weshalb schicken wir das Schiffsbaby nicht zur Erde? Falls es dort jemanden gibt, den es interessiert, könnten wir schon in fünfhundert Jahren Antwort haben.“

Wenn die Kuppeln fallen

Der Himmel über Oasis war trüb und verschleiert. Ich saß in einem bequemen Korbstuhl, beste Handarbeit, vor Szinas und Szadeths Haus. Sie hatten uns zu einem „historischen“ Ereignis eingeladen. Ich lehnte mich zurück, kippte den Stuhl ein wenig nach hinten und blickte nach oben. Unter mehr als fünf Jahren mit vielen Sandstürmen und unzähligen Regengüssen hatte die ehemals durchsichtige Plastkuppel sehr gelitten, sie war blind und stumpf geworden. Kein feiner Regenbogenschimmer blitzte mehr auf ihr im Sonnenlicht.

Es tat mir wohl, wieder einmal auf Andymon zu sein und die Füße von mir strecken zu können. Für die wenigen Tage, die wir uns in City und Oasis umschauen und erholen wollten, befand sich das Schiff bei der elften Gruppe in besten Händen.

„Ihr könnt froh sein“, sagte Gamma zu unseren Gastgebern, mit denen uns eine immer engere Freundschaft verband, „daß das Klima sich gebessert hat. Wenn noch die heißen, staubigen Winde blasen würden, müßtet ihr unter einem grauen erblindeten Himmel leben.“

Sie griff nach meiner Hand. „Übertreib nicht, Beth, sonst kippst du wieder um.“

„Hat auch genug Arbeit gekostet“, meinte Szadeth und zeigte seine kräftigen Zähne, „wir haben Felsen gesprengt, zwei künstliche Seen angelegt, Dutzende Quadratkilometer Wald angepflanzt, nur damit es hier nicht mehr so heiß und trocken ist.“

Als Hausherr nahm er mit einem gewöhnlichen Plaststuhl vorlieb.

„Ich glaube nicht, daß die Luft draußen unseren Kindern schaden kann“, sagte Szina halblaut.

Wir schauten zwischen den Bäumen zur Linken hindurch. Am Teich von Oasis tollten der vierjährige Prith und seine inzwischen anderthalbjährige Schwester Secca mit Gleichaltrigen. Acht Kinder von fünf Elternpaaren, die von diesen gemeinsam — als Gruppe -erzogen wurden. Ausnahmsweise spielten sie heute unter alleiniger Aufsicht eines Guros. An gewöhnlichen Tagen beschäftigte sich ein Elternpaar mit ihnen. Die vier, die nicht an der Reihe waren, konnten ihrer anderen Arbeit nachgehen. In regelmäßigen Abständen diskutierten alle gemeinsam die Fortschritte und Probleme ihres Nachwuchses.

Ich kippelte, mein Blick schweifte dabei vom trüben Apex der über Oasis gestülpten Hülle hinab auf die mittlerweile fünf Meter hohen Pappeln, die ein- und zweigeschossigen Häuser, die sich jenseits der Kuppel als undeutliche Schemen fortsetzten. Weit über uns riß die Wolkendecke auf, die Sonne Andymons ließ die Kuppel milchig aufleuchten, sie selbst war als ein gleißender Fleck zu sehen.

„Es wird wirklich Zeit“, sagte ich zu Szadeth. Und wie auf Befehl warfen, riesigen Fliegen gleichend, vier Kopter ihre Schattenflecke auf die Kuppel.

Musik wehte zu uns herüber, zierlich-spitze Flötentöne, dagegen dumpf, fast nur zu erahnen, ein Baß. Wir schwiegen, um besser hören zu können. Es war nicht gerade eine Musik, die mich begeisterte, entzückte oder angenehm einlullte. Vielleicht habe ich im Totaloskop zuviel klassische europäische und lateinamerikanische Musik gehört, zuwenig andere. Etas Kompositionen klingen in meinen Ohren sämtlich fremdartig dissonant, bizarr, manchmal fast kalt. Vielleicht kann man Andymon so empfinden, vielleicht muß man dieses Empfinden so in Töne fassen. Einige meiner Geschwister lassen sich von Etas Musik hinreißen. Genau das sei Andymon, sagen sie.

Das Geräusch der Kopter schwoll an, einzelne Flötentöne drangen noch an mein Ohr. Ich beobachtete, wie vier Trossen, dunkle Fäden aus meiner Perspektive, am Scheitelpunkt befestigt wurden.

„Prith, Secca, kommt her!“ rief Szina. Nackt und über und über sandverkrustet, tauchten sie auf unserer Terrasse auf.

„Was gibt’s denn, Szina?“ fragte Prith ungehalten. „Ich muß dringend spielen.“

Gamma lachte über seine Ernsthaftigkeit, und Szina begann ihren Kindern die Größe des Augenblicks zu erklären. Ihr Tonfall war der eines weiblichen Guros, ich mußte schmunzeln.

„Man merkt sofort“, flüsterte mir Gamma ins Ohr, „daß sie nicht nur die Lehrprogramme aus dem Schiff verwenden, sondern sich bemühen, in der Ausführlichkeit und Genauigkeit der Beschreibungen ihren Roboter-Vorbildern möglichst nahezukommen.“

Die Kuppel riß auf. Sie wurde wie eine Apfelsine geöffnet. Der winzige blaue Punkt, an dem sich vier Risse trafen, verbreiterte sich zu einem quadratischen Fenster zum nur noch von einzelnen Wolken verdeckten blauen Himmel. Wir schauten empor. Und Prith verlangte Erklärung auf Erklärung.

Ich setzte mich gerade hin. „Wißt ihr“, sagte ich, „jetzt häutet sich Oasis, um zu wachsen. Vielleicht bildet euer kleines Dörfchen den Kristallisationskern für eine riesige Stadt, die Jahrhundert um Jahrhundert ins Land wuchern wird, die größte womöglich auf Andymon, denn schon jetzt habt ihr weit mehr Einwohner als City. Stellt sie euch vor in tausend Jahren… Wie ihre Häuser, bunt und bizarr wie Orchideen, sich in den Himmel recken, Pylonen, verkleidet mit hängenden Gärten, gläserne Brücken über schwindelerregenden Abgründen, Canons aus Stahl und Stein. Diese Lichterpracht in der Nacht. Dieses Leben zu jeder Stunde. Millionen Menschen voller Ideen und Ambitionen. Welche Vielfalt der Kulturen, der Lebensweisen, welche Verfeinerung der Sitten…“

Szadeth lachte, daß ich mich unterbrach. „Beth, Beth, welche Stadtutopien erträumst du. Wer weiß, wie Andymon in tausend Jahren aussieht… Ich ziehe es vor, in unserer Zeit zu leben. Ich liebe das freie Land, das ungezwungene, wenn auch manchmal harte Leben als Pionier, als Siedler. Mir gefällt es, zu den ersten zu gehören, den Grundstein zu legen für die kommende Zivilisation, mit meinen Freunden die unwirtliche Natur zu bezwingen. Jetzt und hier gelte ich als einzelner, meine Kraft ist wichtig, und das Ergebnis meiner Anstrengungen kann jeder sehen, kommt jedem zugute. Ich bin froh, nicht in deiner zukünftigen Millionenstadt zu leben. Und sei sie noch so großartig, bunt, überwältigend, sie ist nichts für mich.“

Die Risse hatten nun den Boden erreicht, vorsichtig stiegen die Kopter in die Höhe, bis die vier Plastbahnen fast senkrecht in der Luft standen. Dann begannen sie sich zu senken. Wenn jetzt eine der Trossen risse, würden Tonnen von Plast aus zweihundert Meter Höhe in die Tiefe stürzen, zerschmettern, was sie trafen — am dichtest-besiedelten Punkt Andymons. Doch das war nicht zu befürchten. Meine Geschwister waren vorsichtig.

Langsam legten sich die Bahnen Falte um Falte auf den Platz, der dafür geräumt worden war. Man hätte sie auch einfach abtransportieren, in eine Gebirgsschlucht oder ins Meer werfen können. Material, das der Erosion Jahrhunderte trotzen würde, einfach in die Gebend zu werfen widerstrebte uns jedoch. Zerkleinert und umgeschmolzen würden wir es erneut verwenden können.

Meine Gedanken kehrten zu unserem Gespräch zurück. Ich machte mich zum Fürsprecher künftigen Großstadtlebens. „Ich glaub dir ja, Szadeth, daß du lieber heute als in der Zukunft lebst. Aber sie hat ihre Vorteile. Denke an die kulturelle Vielfalt, die erst durch das Leben in einer großen Gemeinschaft möglich wird. Etas Weg werden viele betreten, mit den verschiedensten Stilarten. Die Kultur der Erde bietet in Hülle und Fülle anregende Traditionslinien, an die die zukünftigen Andymonen nach ihrem eigenen Geschmack anknüpfen können.

Unsere Nachfahren werden sich über Probleme unterhalten, die wir nicht ahnen und vielleicht nicht einmal nachempfinden können. Was wissen wir schon? Ein wenig über die Natur, über Technik, am wenigsten darüber, wie man eine Gesellschaft entwirft, ganz zu schweigen davon, wie unsere eigene Psyche funktioniert. Sie werden Andymon bis in den letzten Winkel durchstöbern, mehr über den Kosmos wissen, als selbst das Wesen von Gedon wußte. Sie werden — so hoffe ich — ihre Zivilisation so gestalten, daß jeder einzelne alle seine Fähigkeiten entwickelt, sie werden genug Muße haben, um ihr Innerstes zu erkennen. Gegen sie werden wir bornierte Barbaren sein, die nur ein Ziel kennen und ein einseitiges und nach ihren Begriffen armes Leben führen.“

Gamma schaute mich mit ihren großen dunklen Augen an, meine Worte versickerten. „Was hast du?“ fragte ich.

Sie lachte und strich mir über das Haar.

„Ich weiß“, sagte ich, „jedes Leben hat seinen Reichtum, man muß ihn nur erkennen und sich seiner erfreuen.“

„Vielleicht“, setzte Gamma meinen Gedanken leicht ironisierend fort, „vielleicht sehnen sie sich später einmal zurück in unsere heroischen Zeiten, wünschen sich, wie wir unberührtes Land umzugestalten. Sehen uns als die Riesen der Anfangszeit, Spaten in der einen Hand, den Setzling in der anderen. Wahrscheinlich wird es Filme geben über uns, Theaterstücke mit den Personen Beth und Szadeth, die uns nur in Hautfarbe und Gestalt ähneln. Und wenn sie sich plötzlich in unserer Zeit befänden, sie wären unfähig, hier zu leben, würden sich schnell in ihre bequeme, hochzivilisierte Welt zurückwünschen.“

Die Kopter schwebten wenige Meter über dem Boden, Staub wirbelte auf, die dreieckigen Zipfel senkten sich herab, legten sich auf die gefalteten Bahnen. Die Kopter klinkten die Trossen aus und landeten auf dem nahe gelegenen Flugfeld.

Wie wenig wissen wir, was kommen wird, dachte ich, als ich über das urbare Land zu den fernen Gebirgszügen schaute. Kilometerweit grünte es. Ein Windstoß wehte von den Bergen am Horizont herüber, trug frische, natürliche Andymonluft über Oasis.

„Mir gefällt mein Leben“, kommentierte Szina unsere Diskussion.

„Erzählst du uns wieder mal so ein schönes Märchen wie das von den Ameisen mit den vielen Füßen?“ fragte mich Prith. Zufrieden nahm er meine bejahende Antwort entgegen. Dann verabschiedete er sich formvollendet: „Tschüs, Gamma, tschüs, Beth, ich muß jetzt wieder spielen.“

Szadeth lächelte sichtlich stolz, als seine Kinder lärmend in der nächsten Baumgruppe verschwanden.

Die alte Schale war aufgebrochen. Unser Utopia wuchs.

Berührung des Bodens

Ohne Bedenken hatten wir uns auf unsere Technik verlassen, immer. Sie hatte ihre Funktionstüchtigkeit selbst überprüft und sich selbst repariert. Im Schiff. Aber Banalitäten, jahrelang als gegeben hingenommen, können ihre Selbstverständlichkeit über Nacht verlieren.

In der kurzen Zeit, die Gamma und ich auf dem Planeten zu verbringen gedachten, wurden wir mit Einladungen überschüttet. Auch zum „Kastell“, wie Myth die Siedlung am Meer wegen ihres kompakten Charakters getauft hatte. Im Gegensatz zu Oasis und City wohnten dort die Geschwister nicht in separaten Häusern, sondern in einem ursprünglich quadratischen Komplex, der sämtliche Einrichtungen beherbergte.

Laath und Bhriga wollten uns ihre Fortschritte bei der Belebung der weniger salzhaltigen Gewässer und natürlich ihr Kastell zeigen.

Die Hangars von City standen leer, aber etwas abseits entdeckten wir auf dem Flugfeld einen Kopter. Wir stiegen ein, ich überprüfte den Wasserstoffvorrat und startete. Bald flogen wir hoch über dem Boden.

Das Land unter uns war eine Freude für das Auge. Um City und vor allem um Oasis erstreckten sich weite sattgrüne Flächen, dunkler die Forste, heller die Wiesen, auf denen verschiedene Arten Huftiere weideten, gelbgrüne Rechtecke die Felder. Doch selbst das nicht bebaute Land grünte Dutzende Kilometer im Umkreis. Der Samen schlug Wurzel, wo der Wind ihn hintrug. Völlig kahl ragten nur vereinzelte Felsen heraus. Zwischen Oasis und der Küste wurde das Grün dünner, streckenweise fadenscheinig, doch fehlte es nie völlig.

Wir hatten Andymon lange nicht mit dieser Deutlichkeit als erblühenden Planeten gesehen, und so kam es, daß ich mehr den Boden als die Armaturen beachtete, die mir vielleicht hätten verraten können, daß der Kopter, den wir aufs Geratewohl genommen hatten, von langen Flügen verschlissen und für eine Generalüberholung vorgesehen war. Wahrscheinlich gab es außer Gamma und mir, die wir erst vor einer Woche das Schiff verlassen hatten, niemanden in City, der nicht von der Reparaturbedürftigkeit des Kopters wußte.

Schon sahen wir am Horizont den Delth-Ozean graublau liegen, da heulte plötzlich der Motor auf, rote Warnsignale flackerten. Die Maschine bockte, so daß ich die Herrschaft über die Steuerung verlor. Verzögerungslos schaltete sich die Notautomatik ein.

„Festhalten!“ rief ich in das Stottern des Triebwerkes. Der Kopter kippte, schlingerte, taumelte. Grüner Boden, Wolken, Horizont, Berge trudelten ins Blickfeld. Rasend schnell stürzte Andymon auf uns zu, von Aussteigen konnte keine Rede sein. Die Automatik katapultierte die Wasserstofftanks hinaus. Als sie berstend aufschlugen, begannen sie zu brennen. Der Motor schwieg, und kurze Sekunden hatte ich den antriebslosen Kopter wieder in der Gewalt, konnte den Sturz verlangsamen, wodurch die horizontale Geschwindigkeit wuchs. Eine Felsgruppe, über die wir noch hinwegsetzten. Eine Strecke flachen Landes. Ein Knall, und das automatisch aufgeblasene Luftpolster füllte das Innere des Kopters, raubte mir die Sicht. Ein unheimliches, langgezogenes Kreischen und Knirschen. Ein gewaltiger Stoß, krachende Überschläge. Dann verlor ich das Bewußtsein.

Schmerzen, gleißende Sonnen von Schmerzen zerrissen mein Innerstes, ich schrie sie hinaus, aber es war, als hätte ich nie einen Mund besessen, kein Ton kam. Ich schrie wieder, dann versank ich in brennender Schwärze.

Nebel, die sich langsam zerteilten, Schemen von Licht und Schatten. Der rasende Schmerz existierte noch, aber er war in weite Ferne gerückt, gehörte einem Körperteil an, von dem ich mich gelöst hatte. Zerbrochen und starr lag ich da. Allmählich klärte sich mein Blick. Verknäulte Stangen nur eine Handbreit vom Kopf, weiße Fetzen des Luftpolsters, aufgerissen die durchsichtige Wandung des Kopters. Weite Meter dahinter Gamma, verkrümmt auf dem Boden sitzend, Blut im Haar, auf dem hellblauen Kleid.

„Kommt doch, Beth stirbt! Ein Träger hat ihn aufgespießt!“.

Ferne, ferne Worte: Beth stirbt. Ein Träger hat ihn aufgespießt. Worte, die zu einer anderen Welt gehörten wie der Schmerz, Lichtjahre weit. Wie die Augen, die sich nicht schlossen, der Mund, der sich nicht schreiend öffnete.

Meine Welt war dieses berauschende Bild: Gamma auf sonnenüberfluteter Wiese. Eine fremdartig langgezogene dunkelrote Orchidee im Haar, in sanften seidigen blauen Stoff mit Klatschmohntupfen gehüllt. Gamma.

„Kastell hat keinen Kopter bereit! Alefth von dort mit dem Rover unterwegs! Eine Stunde vielleicht!“

„Joth ist auf Ladym? Was sucht er ausgerechnet dort?“ „Ilona nicht erreichbar! Kontrolliert ein Gewässer! Badet vielleicht ohne Armband!“

„Fith fliegt von City! Er ist kein Arzt! Dreißig Minuten mindestens!“ „Was ist mit Mega? Sekunde!“

„Beth stirbt! Was soll ich machen! Beeilt euch!“

Ferne, ferne Worte: Beth stirbt. Als könnten sie mir gelten in dieser hellen, schönen, ergrünenden Welt. Einer Welt ohne Zeit. Mit Beth’ und Gamma’ aus dem neuen Schiff. Und Beth’’ und Gamma’’ aus dem neuen Schiff des neuen Schiffs. Und Beth’’’ und Gamma’’’. Und… Als könnten die Worte mir gelten: Beth stirbt.

„Antischock! Abbinden!“

„Zeig uns Beth!“

„Kastell bereitet OP vor!“

„Blutverlust!“

„Und du, Gamma?“

Du, Gamma, in meiner Welt tanzt du heran, seltsamer Tanz, der es erfordert, den rechten Arm steif zu halten, ungleiche Schritte zu machen. Wie jener zitronenfarbene Schmetterling könnte ich dich umkreisen…

„Hörst du mich, Beth?“

Nach zehn Tagen und zweifachem klinischem Tod hörte ich sie wieder. Und ich sah die helle Decke über mir und ihr Gesicht. Und als ich das nächstemal erwachte, sah ich durch das hohe Fenster blütentragende Bäume und hörte das brandende Meer in der Ferne, und ich roch die würzige, salzige Luft.

Nach drei Wochen zeigte mir Gamma zum erstenmal wieder ein paar Beiträge aus AN ALLE. Andymon drehte sich auch ohne mein Zutun. Die elfte Gruppe baute am Schiff ohne mein Zutun. Und sie hatten über notwendige Arbeitsteilung diskutiert und einen medizinischen Notdienst eingeführt, nicht ganz ohne mein Zutun.

Wieder und wieder die Erde suchen

„Du bleibst im Kastell, bis du völlig ausgeheilt bist, Beth. Dort hast du die nötige Ruhe.“

Dem Verdikt Ilonas konnte ich mich nicht widersetzen. Und in den ersten Wochen fehlte mir sogar die Kraft dazu. Stunden und Tage saß ich auf der langgestreckten Terrasse des Kastells, direkt über den Klippen, und beobachtete das bald sturmgepeitschte, bald wie ein Spiegel in der Sonne liegende Meer. Wie oft wurde das Buch zu schwer in meiner Hand, wie oft schlief ich ein!

„Kein Schiffbau, Beth! Keine Computerarbeit! Beeile dich lieber, gesund zu werden!“ Gamma hatte ihre Kopfverletzung gut überstanden, und der gebrochene Arm war bereits verheilt. Sie unternahm alles, um mir mein Rekonvaleszentenleben schön zu machen, schmückte unser Zimmer mit den vertrauten Bildern und mit Blumen. Grub in den Speichern des Schiffs Werke uralter Philosophen aus und legte sie mir als fertiggebundene Bücher unter das Kopfkissen. Sie lud in den richtigen Abständen Geschwister zu Besuch und ermittelte nach dem neuen Andymonkalender meinen Geburtstag, um Anlaß zum Feiern und Schenken zu haben.

Als ich noch nicht den kurzen Weg ins „Refektorium“, wie die Kastellbewohner ihren Speisesaal hochtrabend nannten, zurücklegen konnte, brachte sie mir, was mein Gaumen begehrte. Und manche der Leckerbissen waren sicher nicht auf dem allgemeinen Speisezettel zu finden. „Auch wenn du von Beth’ und Beth” in künftigen Schiffen redest, für mich gibt es nur einen Beth. Und der hat nur ein Leben. Jeder dieser Tage ist ein Stück davon.“

Zu mehr als einem Kuß auf ihre Stirn reichte meine Kraft noch nicht.

Jeder im Kastell, jeder aus der vierten, zehnten und dreizehnten Gruppe, behandelte mich überaus rücksichtsvoll und zuvorkommend. Ich schimpfte, ich sei kein rohes Ei und sie sollten meine Heilung nicht verzögern, indem sie mir auch den kleinsten Handgriff abnähmen. Zwecklos. Sie richteten selbst die Bautätigkeit in ihrer Siedlung so ein, daß kein Lärm entstand, während ich schlief.

Endlich kam der Tag, an dem ich das Kastell verlassen durfte. Gamma führte mich die steilen Stufen durch die Klippen hinunter. Die Sonne stand bereits hoch über dem Horizont und vertrieb die letzten Reste morgendlicher Kühle aus den Felsen. Unten am steinigen Strand empfing mich lautstark die dreizehnte Gruppe, die nach früher Arbeit eine Stunde Pausenschwimmen einlegte.

Langsam zog ich mich aus. Die nicht vom Gischt benetzten Steine waren angenehm warm an den Füßen. Gamma suchte eine glatte Stelle und breitete eine Decke aus, auf die ich mich setzte. Dann lief sie zum Kastell zurück, um einen Imbiß zu holen.

Das Wasser blitzte in der Sonne, vierzehn Jahre etwa waren die Geschwister alt, die sich im Gegensatz zu mir im Meer tummeln durften. Tauchen fiel ihnen wegen des hohen Salzgehaltes schwer. Und jeder Kratzer brannte höllisch. Aber sie kannten jeden Fels unter Wasser und liefen kaum Gefahr, sich zu verletzen.

Jath strich mit den Händen das Wasser vom Körper und setzte sich zu mir. „Ich wollte dich etwas fragen, Beth.“

„Ja?“

„Was glaubst du, wie sieht es jetzt auf der Erde aus?“

„Ich weiß es sowenig wie du“, sagte ich wahrheitsgemäß.

Wir alle hatten irgendwann angefangen, nach der wahren Erde zu suchen. Jath hatte dieses Alter nun erreicht.

„Aber du mußt doch eine Hypothese haben, du kennst das Schiff in-und auswendig. Du hast Jahre im Totaloskop verbracht…“

„Was soll ich dir sagen, Jath? Unser Schiff ist offensichtlich von friedfertigen Konstrukteuren entworfen worden, es hat nichts Aggressives an sich. Wir selbst entstammen allen Rassen der Erde, das weist auf einen gemeinschaftlichen Bau hin. Natürlich sind dies nur Indizien, die nichts beweisen. Ich kann eine thermonukleare oder ökologische Katastrophe nicht mit letzter Sicherheit ausschließen. Dann wäre das Schiff ein letzter Aufschrei, ein Kraftakt, die Sterne zu erreichen und dort einen neuen Versuch unter glücklicheren Voraussetzungen zu wagen und den Fortbestand der menschlichen Zivilisation zu sichern.“

Wohltuend heiß schien die Sonne auf die bleiche Haut meines Bauches und die häßlichen rosa Narben. Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf, legte mich zurück und schloß die Augen.

„Ich war einmal im Totaloskop“, sagte Jath langsam, „da passierte so eine Katastrophe… Ich war tot, noch ehe es richtig begann. Nur die Angst, die Panik und auch die Gleichgültigkeit vorher habe ich erlebt. Und jetzt, immer wenn ich an die Erde denke, habe ich einen ausgeglühten Planeten vor Augen. Verstehst du, Beth, das ist auch das wahrscheinlichste; das Schiff benötigte Jahrzehntausende, um hierherzugelangen, wenn die Menschheit noch existierte, hätte sie die Technik weiterentwickelt, und andere Schiffe hätten unseres überholt. Daß Andymon noch unbesiedelt war, beweist alles!“

Gedanken, mir seit langer Zeit vertraut und scheinbar so schlüssig. Aber die Wahrheit trägt den Mantel des Paradoxen.

„Du irrst dich“, sagte ich, „es gibt nun einmal gewisse physikalische Grenzen auch für die vollkommenste Technik. Ich meine damit nicht /nur die Lichtgeschwindigkeit, der sich das Schiff ja nicht einmal näherte, sondern eher Probleme des Materials, der Konstruktion von Antrieben, des Masseverhältnisses. Das ist das eine. Andererseits ist weder bewiesen, daß die Menschen für den Fortschritt immer neue Techniken benötigten, noch, daß nicht andere Schiffe Andymon längst hinter sich gelassen haben. Es gibt so viele Planeten zu besiedeln...“

„Vielleicht hast du recht. Trotzdem habe ich Angst um die Erde…“

Ich öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne.

„Weißt du, Jath, eigentlich bin ich fest davon überzeugt, daß eine Zivilisation, die Schiffe wie das unsrige baut, ihre inneren Konflikte überwunden hat. Würde ein Staat mit hohen Militärausgaben oder eine von Krisen zerrüttete Gesellschaft sich so phantastische Investitionen leisten, die nie einen Rückfluß, nie einen direkt verwertbaren Nutzen bringen?“

Meine Vorderseite brannte. Ich wälzte mich herum. Die dunklen Steine vor meinen Augen waren salzüberkrustet.

„Ich persönlich halte es für das wahrscheinlichste, daß noch vor dem Bau des ersten Schiffs, vor über zehntausend Jahren galaktischer Zeit, sich die friedliebenden und nicht ausschließlich an ihren eigenen Vorteil denkenden Menschen durchgesetzt haben. Glaubst du, unsere Geschwister würden oben auf Gedon an dem kleinen Schiff, der kosmischen Flaschenpost, bauen — ohne begründete Hoffnung?“

Ich hielt inne, noch nie hatte mir jemand ein derartiges Bekenntnis abverlangt. Soviel hatte ich nicht sagen wollen. Jath sollte sich seine eigene Meinung bilden, er verfügte über dieselben Fakten wie ich. Mit einem Stein kratzte ich Diagramme in die Felsplatte, auf der wir lagen.

„Natürlich kannst du auch spekulieren, Jath: Die Erde hat nie existiert, ist nur ein bizarrer Traum, ein Symbol für die Vergangenheit, eine Legende. Ist es nicht gleich, welche der Möglichkeiten zutrifft? Ändert es etwas?“

„Nein, für mich ist es nicht gleich, Beth, ich brauche die Erde…“

„Nun ja“ — sein Eifer brachte mich eine Sekunde aus der Fassung — „ich denke immer so: Gleich, wie es um die Erde steht, wir haben Andymon und sind für diesen Planeten verantwortlich. Und wir haben uns so zu verhalten, als seien wir die einzigen im Universum, als hinge allein von uns das Schicksal der Menschheit ab.“

Das waren meine Gedanken, doch ich hatte sie nicht ausgesprochen. Ich hatte geschwiegen und auf die mir vertraute Stimme Gammas gehört. Ganz flach legte ich mich auf die warme Decke und schloß die Augen.

Bevor mich die Monotonie der heranbrandenden Wellen in den Schlaf zog, dachte ich noch: Ferne Erde, ob wir es wollen oder nicht, du hältst uns alle in deinem Bann. Und obwohl ich alle Überlegungen über den Abflugort des Schiffs längst dutzendmal angestellt habe, werde ich nie aufhören, wie Jath nach dir zu suchen.

Endloses Meer

Ein abendlicher Windstoß fährt über die Terrasse und greift in die beschriebenen Seiten. Ich beschwere sie und blicke hinaus über die dunkle Weite des Meeres, dessen unablässiges Rollen das einzige Geräusch ist, das mich erreicht.

Blatt um Blatt habe ich in den vergangenen Wochen niedergeschrieben, was mir wichtig schien, jetzt bin ich fertig.

Wie sich in der Erinnerung die Proportionen wandeln. Mir ist, als hätte ich vor ein paar Tagen mit Guro und den Geschwistern den Naturpark durchstreift, als wäre vorgestern Delth in den entfesselten Gewalten eines schon gestern bezwungenen Planeten verschollen. In meiner Kindheit, unter den hochaufragenden Bäumen und kaum erklimmbaren Felsen des Schiffs, schien die Zeit stillzustehen, jeder Tag dauerte eine Ewigkeit. Doch jetzt? Das Schiff ist geschrumpft, seine Weite dahingeschwunden, und ein Tag jagt den nächsten. Habe ich nicht erst vor einer Stunde Papier und Stift ergriffen? Eine nur dem menschlichen Gehirn eigene Relativität verändert Raum und Zeit.

Ich lehne mich an die Brüstung, spüre den kühlen Stein. Feucht ist die Luft und riecht nach Salz. Kein Vogelruf belebt die Brandung — noch nicht.

Vor zwei Jahren habe ich begonnen, mir Aufzeichnungen über mein Leben und die Entwicklung unserer Gemeinschaft zu machen, sporadisch zuerst, in Form von Gedankensplittern. Die lange Zeit der Genesung, die mich vom kraftvollen Lebensrhythmus der Geschwister ausschloß, gab mir die Ruhe, sie zu ordnen.

Ja, ursprünglich sollten sie ein heimliches Geschenk für meinen Zwilling und Nachfahren Beth’ im neuen Schiff werden, ihm durch rechtzeitige Information manche Schwierigkeit, manchen Fehler, insbesondere den Konflikt mit Resth’ ersparen. Welche Illusion! Jeder muß seine Erfahrungen selbst machen. Und indem ich ihm die gleichen Startbedingungen gebe, erkenne ich die Notwendigkeit und Richtigkeit der Entwicklung unserer Gemeinschaft an.

Was ich geschrieben habe, ist nicht für Beth’ bestimmt, sondern für Beth, für mich. Habe ich mir nicht am Anfang Fragen gestellt? Ich habe mich ihrer Beantwortung, glaube ich, ein Stück genähert. Was bin ich? — Ich bin ein Teil der sich durch das All ausbreitenden menschlichen Gemeinschaft. Und ich bin ein lädierter Sterblicher, dem an manchen Tagen selbst der Schreibstift zu schwer ist, der es liebt, über das weite, offene Land oder Meer zu blicken — und der jetzt wünscht, daß sich die Schritte auf dem abbiegenden Teil der Terrasse wieder entfernen mögen.

„Noch ein paar Minuten, bitte, ich komme später zum Abendessen.“

Schwere Wolkenschichten lassen den feinen Trennstrich des Horizonts verschwinden. Himmel und Ozean verschmelzen im düsteren Farbspiel der Dämmerung.

Irgendwo da draußen, von mir aus gesehen vielleicht unter der massiven Kugel Andymons, befindet sich das alte Schiff — und der Keim des neuen. Jahrzehnte wird es noch dauern, bis wir es hinausschicken werden ins All. Das Leben in ihm wird erst erwachen, wenn das Schiff sich seinem Ziel nähert, jenem fernen Planetensystem, das wir schon jetzt ausgesucht haben. Welche Chance werden unsere kosmischen Nachfahren haben, sich dort einzurichten, zu überleben? Im günstigsten Falle treffen sie auf eine formbare Welt wie Andymon, können sich ihre eigene Erde schaffen. Im ungünstigsten finden sie nur kahle, atmosphärelose Steinwüsten, unangreifbar trotz all unserer Technologien. Dann werden sie in kosmischen Wohnzylindern leben müssen oder unter Kuppeln. Alles, was wir ihnen garantieren können, ist ein Planetensystem — mehr oder minder geeignetes Rohmaterial.

Noch haben wir nicht entschieden, aber wahrscheinlich werden wir sie so wenig über uns informieren, wie uns die Erbauer des alten Schiffs über sich informiert haben. Sie werden sich die gleichen Fragen stellen wie wir: nach dem Woher und nach dem Wohin — und nach der uns alle verbindenden Erde. Ist es nicht seltsam, daß wir die Rätsel unserer Kindheit und Jugend allein dadurch lösen, daß wir sie weitergeben? Ich bin davon überzeugt, daß wir weder die ersten noch die letzten sind. Unser Schiff ist nur eins in einer langen Reihe, wurde von einer Alfa und einem Delth, einer Gamma und einem Beth und ihren Geschwistern auf einem uns unbekannten Planeten erbaut.

Das Meer ist dunkel geworden, fast schwarz, vereinzelt stehen erste Sterne jenseits der unsichtbaren Scheidelinie. Schwarzes, totes Meer unter ebenso schwarzem, ebenso totem Firmament? Schwarz ja, aber nicht tot beide, allenfalls vorübergehend unbelebt. Wir sind nur eine Welle des großen Ansturms. Überall dort zwischen den Sternen werden sie, einer eigenen Evolution folgend, ihre Bahn ziehen. Vielleicht nur Dutzende, vielleicht bereits Millionen Schiffe, die den Teppich menschlicher Zivilisation in die Galaxis weben.

Es ist alles nur ein Anfang.

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