Teil II Andymon

Andymon — ein Name

So wird es in zukünftigen Enzyklopädien stehen: „Andymon, vierter Planet des Fixsterns Ra“. Die galaktischen Koordinaten werden sich anschließen, Daten wie „Rotationsperiode (siderisch): 28 Stunden 2 Minuten; Umlaufzeit: 1,538 Jahre“ und wie die weniger interessanten Zahlenkolonnen Exzentrizität der Bahn, Achsenneigung, Albedo, Masse, chemische Zusammensetzung. Erst nach vielen weiteren Angaben, Geschehnisse zu meinen Lebzeiten und danach betreffend, wird eine kurze Notiz folgen: „Ursprung des Namens A. dunkel, möglicherweise Verstümmelungen von (grch.) Anadyomene (s. d.)“.

Ich sollte es besser wissen, ich war dabei. Jedoch alles, was ich hier niederschreiben kann, ist eine Legende. Die Legende von unseren vergeblichen Bemühungen um den wahren Namen, den einzig angemessenen …

Wir hatten den Zielstern vor uns und — durchnumeriert - seine Planeten und deren Monde. Einen ganzen Tag lang spielten wir mit klangvollen Silben, die der Zufallsgenerator des Computers erzeugte. Wir dachten daran, unsere Namen unter die Sterne zu schleudern, doch wem den Vorzug geben? Beim Frühstück warfen wir uns Wortungetüme an den Kopf, zu Mittag gingen wir die indische Mythologie durch, und am Abend hofften wir auf generative Grammatiken. Vergeblich - kein Name rastete beim Anblick des fernen Lichtpunktes ein. Des nutzlosen Spieles müde geworden, gaben wir auf.

Und am folgenden Morgen, als wir die Zentrale auf suchten, um einen Blick auf unseren fernen Namenlosen zu werfen, da prangte herab vom schwarzen sternbestückten Samt des Alls, der den Hauptschirm füllte, ein Wort: ANDYMON. Wir brauchten den Sinn der helleuchtenden Zeichen nicht zu deuten. Es gab keinen Zweifel. Lichttage von uns entfernt, hatte sich der Planet seinen Namen selbst gegeben. Andymon.

So die Legende. Natürlich könnte ich spekulieren, wer und wie. Doch wem wäre damit gedient?

Voraussonde

Nur noch wenige Lichttage trennten uns von Andymon — aber ein halbes Jahr Flugzeit des Schiffs. In der Zentrale leuchtete eine Anzeige: 183 Tage, 182 Tage, 181 Tage bis zur Parkbahn.

Delth zog auf einem selbstgefertigten Kalender jeden Tag einen dicken schwarzen Strich. Die Unruhe, die Nervosität, mit der wir warteten, war begründet. Die spektrographischen Daten über Andymon reichten einfach nicht aus. Wir kannten einige chemische Verbindungen in der Hochatmosphäre des Planeten, aber die wichtigste Frage blieb weiterhin unbeantwortet: Können wir auf Andymon leben?

Ich weiß nicht, wer die Idee zuerst hatte, eine Voraussonde zu schicken. Es lag einfach nahe. Während das Schiff mit langsam wachsendem Andruck bremste, würde die Sonde ihm ungebremst vorauseilen und Monate früher am Ziel sein. Wir könnten so noch vor unserer Ankunft die bange Frage beantworten.

Zum erstenmal war unsere Arbeit kein Spiel, keine Simulation, keine Probe. Wir hatten uns selbst eine Aufgabe gestellt, und wir gingen sie mit der gleichen fröhlichen Ernsthaftigkeit an, mit der wir gemeinsam gespielt und gelernt hatten. Endlich etwas Richtiges zu tun. Für Andymon!

Wir hatten Zeth, anerkanntermaßen unser Genie für Elektronik und Basteleien jeglicher Art, zum Chefkonstrukteur ernannt. Stolz und souverän verteilte er Aufgaben, rief uns, wenn nötig, zu Besprechungen zusammen.

Im weißen Kittel und das glänzendschwarze Haar unter einer weißen Kappe, als käme er direkt aus einem staubfreien Arbeitsraum, saß er dann vor uns auf einem der Arbeitstische, baumelte mit den etwas kurzen Beinen und dozierte: „Also, ich fasse zusammen. Die Voraussonde ist nach dem Busprinzip aufgebaut. Auf dem Träger sitzen zwei Dutzend separater Satelliten beziehungsweise Eintauchkörper. Je zwei für die Monde Andymons, sechs Orbiter, die wie der Träger auch der Telemetrie dienen, acht Eintauchsonden, davon vier ausgelegt für 5 atm/400 K, zwei für 20 atm/600 K und zwei superschwer armiert für 80 atm/900 K sowie aggressive chemische Verbindungen. In Reserve bleiben sechs Allzwecksonden auf dem Träger. Soweit zum Grundkonzept. Ihr alle habt mir eure Anforderungslisten geschickt — bis auf Teth.“

Ich saß da, kramte in meinen Unterlagen, bereit, jeden meiner Instrumentierungsvorschläge, auch die Schwebesonde, mit Zahlen und Klauen zu verteidigen. Eta biß geräuschvoll und unbekümmert in einen Apfel.

In das Schweigen und Rascheln der Papiere sagte Teth: „Nein, ich bin mit dem Grundkonzept nicht einverstanden.“

Ich drehte mich verwundert nach ihm um. Er saß ruhig da, im bunten Hemd, auf seinen bloßen braunen Beinen lag ein Packen Computerausdrucke. Was wollte er? Im Prinzip hatten wir uns längst auf den Bus geeinigt.

„Nein“, wiederholte Teth, „ich bin nicht für dieses Konzept. Das ist auf keinen Fall effektiv genug. Wir brauchen eine viel flexiblere Struktur, wir wissen ja gar nicht, welche besonderen Probleme auftreten werden.“

Er redete schnell, aber das entscheidende Wort war noch nicht über seine Lippen gekommen. Alfa, mir schräg gegenüber an einem vielinstrumentigen Meßplatz sitzend, schüttelte sacht den Kopf.

„Automaten allein, auch unsere besten Roboter, schaffen das nicht“, fuhr Teth fort. „Ich bin dafür, eine bemannte Sonde zu Andymon zu schicken. Ich würde mich freiwillig dafür melden. Und mit Ilona oder Gamma als Kopiloten..

„Hört, hört!“

„Am besten, du landest gleich!“

„Ich bin dir wohl nicht gut genug!“

„Vielleicht nimmst du gleich beide mit!“

Der Tumult überraschte Teth, er stotterte und brach dann ab.

Ich schluckte, um das Lachen zu unterdrücken. Trotzdem traten mir Tränen in die Augen. Unser Kleinster! Heute hatte er gezeigt, was in ihm steckte.

„Wenn ich die Herrschaften um Ruhe bitten dürfte…“ Delths Stimme ging im Lärm unter. Er fummelte an dem neben ihm stehenden Meßgenerator herum, bis dieser einen außerordentlich schrillen Ton von sich gab. Als er ausschaltete, waren auch wir still. Chefkonstrukteur Zeth wollte etwas bemerken, besann sich aber. Das Problem ging über seine Kompetenzen.

„Nein“, sagte Delth ironisch, „so geht das nicht, Teth. Natürlich habe ich mir ebenfalls ausgemalt, mit zwei, drei Mädchen vorauszufliegen und als allererstes vernunftbegabtes Lebewesen meinen kühnen Fuß auf Andymon zu setzen… Aber wenn sich die Voraussonde lohnen soll, muß sie zeitig genug ankommen. Folglich muß sie in der letzten Flugphase tagelang mit mehreren g Verzögerung bremsen. Das hältst nicht einmal du durch, du äußerst effektive flexible Struktur!“

„Ich habe das durchgerechnet“, konterte Teth und pochte bekräftigend auf den Computerausdruck. „Eine Woche lang zwei g müßte ich aushalten, auch läßt sich die Kabine so ausstatten, daß…“

„Halt“, unterbrach ihn Alfa, „ich will nicht, daß über technische Details diskutiert wird, bevor wir grundsätzlich entschieden haben. Gamma, bitte!“

Gamma zwinkerte mir schalkhaft zu, dann beugte sie sich nach vorn, um vorbei an einer Säule von Geräten Teth besser sehen zu können. „Danke schön, Teth, für die Einladung, aber ich werde nicht annehmen. Schau, alle können wir nicht voraus zu Andymon fliegen. Und wem kann man zumuten, zurückzubleiben und zuzusehen, wie andere…“

„Ein halbes Jahr allein oder auch mit dir, Teth, das halte ich bestimmt nicht durch“, fügte Ilona nachdenklich hinzu. Dann pflückte sie ein Fädchen von ihrem beigefarbenen Overall. „Das ist schlimmer, als mit den anderen im Schiff zu warten. Denke nicht, daß ich feige bin, aber ich kenne dich, dir würde es bestimmt nicht anders gehen.“ Teth war rot geworden, jetzt sah er sich hilfesuchend nach Eta um, die, fest die Knie umschlungen, in einem Sessel kauerte und an den Lippen nagte.

„Nein“, sagte sie leise, „wir Mädchen machen da nicht mit.“

„Dann fliege ich eben allein!“

„Niemand wird dich daran hindern“, meinte Alfa und schaute dabei Delth an. „Bitte, sag du doch was.“

„Du hast recht, Alfa, wir zwingen niemanden, etwas zu tun oder zu lassen — aber wir werden Teth natürlich auch nicht unterstützen. — Zeth, wir machen weiter, dein Bus ist gebilligt.“

Einen Tag später kehrte Teth zu uns zurück und bot seine Mitarbeit an. Er hatte errechnet, daß er, auf sich allein angewiesen, zu länge an einem Kleinstraumschiff bauen würde. Und eine andere Gruppe hinzuziehen? Die Kleinen um Hilfe anflehen? Dazu war Teth zu stolz.

Die Konstruktion der Voraussonde verlief unter Zeths Leitung glatt, wenn auch nicht ohne gelegentliche kleinere Probleme und Verzögerungen, die unseren Eifer nur anstachelten. Die Hilfe der Jüngeren, die uns wie immer begierig unterstützten, nahmen wir vor allem für den Bau der Orbiter in Anspruch. Doch dann, am letzten Tag, warf ein unerwartetes Ereignis all unsere Pläne um.

Keine drei Stunden vor dem Start überraschte Teth, der nun die Sonde eifersüchtig hütete, zwei Geschwister, die im Skaphander zur Katapultrampe liefen. Teth alarmierte uns sofort über das Intercom. Doch der Countdown lief bereits. Ich rannte, meine langsamen Beine verwünschend, durch die langen Korridore zur Flugleitstelle, von wo aus der Start überwacht werden sollte. Teth, Jota, Myth und ein paar jüngere Geschwister waren schon da. Gleich hinter mir drängten sich Zeth und Eta durch die Tür. Um Atem ringend, versuchte ich zu verstehen, was vorgefallen war.

„Sie haben die Zugänge blockiert.“

„Und von hier aus läßt sich der Countdown nicht abbrechen?“

„Sie lassen alles über den eigenen Computer laufen…“

Delth schob mich beiseite. „Wer - sie?“ fragte er keuchend.

„Nya und Xith aus meiner Gruppe, die müssen den Verstand verloren haben!“ Jota schlug die rechte Faust gegen die linke Handfläche.

„Countdown minus zehn Minuten.“ Delths Stimme klang verändert, leer. „Wir müssen sie doch stoppen können! Zeth, Gamma, Beth, laßt euch doch was einfallen! — Minus neun Minuten.“

Ich saß an einem Terminal, versuchte, Zugriff zu ihrer Energieversorgung zu bekommen. Nur mit halbem Ohr verfolgte ich noch die Gespräche.

„Sie bringen sich um. Keine Sicherheitstests, keine Simulation, und wer weiß, wie sie die Sonde, in der sie sich verschanzen, zusammengeschustert haben.“

Ihre Energieversorgung lief ebenfalls bereits autonom. Sekundenlang wußte ich nicht, was ich noch versuchen sollte.

„Minus sieben Minuten.“

„Sie haben die Kabine einer Fähre umgerüstet heute nacht, mit ein paar Robotern, und sie in unsere Sonde eingebaut. Sie müssen das von langer Hand vorbereitet haben.“

„Wieso kommt das jetzt erst raus?“

„Hast du noch nichts, Beth?“

Und wenn ich probierte, ihr Miniraumschiff flugunfähig zu machen? Mit einem Laser die Triebwerke zerschoß, besser noch: die Rampe? Aber in der Starthalle befand sich kein Laser, und wie hätte ich ihn steuern sollen?

„Minus fünf Minuten.“

„Ich habe Sprechverbindung mit ihnen.“

„Nya, seid ihr verrückt geworden, wollt ihr euch umbringen? Euer Unternehmen klappt doch nie! Xith, sei du wenigstens vernünftig!“

„Wir haben alles überprüft, Jota, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

„Für euer privates Abenteuer setzt ihr all unsere Pläne aufs Spiel, und ich glaube euch einfach nicht, daß es ungefährlich ist.“

„Minus vier Minuten.“

Allmählich begann ich zu schwitzen. Laß dir auf der Stelle etwas einfallen! Delth hatte Vorstellungen.

„Hier spricht Delth. Im Namen der Geschwister befehle ich euch, den Countdown sofort abzubrechen.“

„Weißt du, Delth“ — ich hatte den Eindruck, als halte Nya nur mit Mühe die Tränen zurück - „wir wollen raus, mal was selbständig machen, was Eigenes. Im Schiff, da ist doch alles so festgelegt.“

„Minus drei Minuten.“

„Das geht uns allen so.“

„He!“ rief Teth verwundert. Der Countdown war bei minus zwei Komma achtunddreißig stehengeblieben.

Gleich darauf meldete sich Zeth: „Wir haben die Öffnung der Starthalle blockiert. Damit wird der Start automatisch unterbrochen.“

Erleichtert lehnte ich mich zurück. Als letzter verließ ich die Flugleitstelle und folgte den Geschwistern.

Fast niemand fehlte aus den ersten drei Gruppen. Wir standen schweigend im Hangar, wo die gut dreißig Meter lange umgerüstete Voraussonde auf den breiten Schienen des Katapultes ruhte. Rechts und links davon lagen der Rumpf des Busses, wirr durcheinander einige der Orbiter, die besonders voluminösen Hochtemperatur-Eintauchkörper, aber auch verschiedenste Module, Kisten mit zurückgelassenen Konserven und ähnliches. Laut fluchend stapfte Zeth zwischen den so unsachgemäß behandelten Sondenteilen umher.

Die Schleuse des Miniaturraumschiffs öffnete sich nicht sofort. Delth klopfte von außen dagegen. Lautlos schwang die Luke auf. Zögernd, auffallend langsam kletterten sie von der Katapultrampe, im Skaphander, den Helm abgesetzt. Verhinderte Kosmonauten. Schweigend kamen sie auf uns zu, und sicher hatten viele, Zeth vor allem, der seine Arbeit vernichtet glaubte, nicht übel Lust, sie gründlich zu vertrimmen. Aber als ich die Zornestränen in Nyas müdem, enttäuschtem Gesicht sah, empfand ich nur noch Mitleid.

Laut genug, daß es alle hören konnten, sagte Alfa: „Und ich hatte schon Angst, daß ihr draufgeht.“

Vielleicht hatte Alfa diesmal nicht ganz den richtigen Ton getroffen, vielleicht wäre eine Tracht gemeinsam verabreichter Prügel besser gewesen, jedenfalls war der Bann gebrochen. Wir johlten, sie schimpften. Ich versuchte, Nya zu trösten, indem ich ihr erklärte, daß sie ganz pfiffig gewesen wären und nur ein dummer Zufall… Sie sah mich tagelang nicht an.

Die zweite Gruppe litt Einzelgänger, die die Arbeit der anderen zerstörten, sowenig wie unsere erste. Ich weiß nicht, ob sie mit Xith und Nya lange Diskussionen führten oder ob sie sie ausschlossen von gemeinsamer Arbeit und gemeinsamer Fröhlichkeit: Das war Angelegenheit der zweiten Gruppe. Aber gewiß ist, die beiden hatten es eine Weile nicht leicht.

Die Voraussonde konnten wir mit einer Verzögerung von drei Tagen starten. Wenn man unsere geringen Erfahrungen bedenkt, kann man ihren Einsatz als einen vollen Erfolg werten. Es versagte lediglich die Telemetrie eines Orbiters, und eine Eintauchsonde zerschellte. Wir redeten nicht darüber, aber alle glaubten, daß dies bei regulärem Start nie passiert wäre.

Nach reichlich drei Wochen empfingen wir die ersten Ergebnisse der Voraussonde. Sie ließen sich in zwei Sätzen zusammenfassen:

Andymon ist nicht belebt.

Andymon ist nicht bewohnbar.

Um Mitternacht

„Die Bilder kommen, die Bilder kommen!“

Ich drehte mich auf die andere Seite, jemand schüttelte mich energisch. Da erkannte ich Gammas Stimme. „Die Bilder kommen, Beth, wach auf!“

Mühsam schlug ich die Augen auf, die plötzlich aufflammende grelle Beleuchtung blendete mich. Gamma stand, sich dehnend und streckend, am Intercom, sagte undeutlich: „Ja, sofort.“ Dann unterbrach sie die Verbindung.

Mein ganzer Körper war warm, dumpf und schien keine Knochen zu haben. Ich tappte zum Einbauschrank und warf mir einen Kittel über. Dann folgte ich gähnend Gamma ins Bad, um kaltes Wasser über Kopf und Arme laufen zu lassen. Was war eigentlich los?

Mit einem Blick auf mein Gesicht erbarmte sich Gamma. „Teth empfängt gerade die ersten Bilder von Andymon, er hat uns in die Flugleitstelle gerufen.“ Auch sie gähnte.

Auf dem Weg zur Flugleitstelle versuchte ich vergebens, meine Gedanken auf Andymon zu lenken, der Schlaf hatte mich noch in seiner Gewalt. Mit uns trafen unsere Geschwister ein, wie wir in Pärchen. Zu einer anderen Tageszeit und bei anderer Gelegenheit hätte ich vielleicht darauf geachtet, wer mit wem, aber in diesem Augenblick war mir alles gleich. Und hätte mich nicht Gamma gezogen, wäre ich zurück ins warme Bett gekrochen.

Teth saß vollständig angezogen am Kontrollpult, rechts neben ihm standen eine Kanne Tee und ein Glas.

Ich trank einige Schlucke direkt aus der Kanne, der Tee war lau und unangenehm süß.

Teth wartete, bis unsere Gruppe vollzählig war, dann drehte er sich um, Augen, Wangen, sein ganzes Gesicht war gerötet: „Seht euch das an, das sind die Bilder der Eintauchsonden!“

Drei Bildschirme flammten rot und gelb und graubraun auf, ein Chaos von verwaschenen Farbfetzen, ein Quirlen und Lodern. Jeweils in der linken oberen Ecke stand weiß die Zeit bis zum Bodenkontakt.

Neun Minuten für die Sonden auf der Tagseite, siebzehn Minuten für die am Terminator, zweiunddreißig für die auf der Nachtseite. Der Bildschirm der letzteren wogte von Purpur in allen Tönungen; es handelte sich um Infrarotaufnahmen. Obwohl kein Begleitton aufgenommen wurde, schwiegen wir und hielten die Luft an. Hitze schien von den Bildschirmen herüberzustrahlen.

Gamma tippte schließlich Teth an und flüsterte ihm etwas ins Ohr, gleich darauf erschienen auf einem Display die langen Reihen der telemetrischen Daten.

Zwei Minuten bis zum Bodenkontakt für die erste Sonde, die Wolken rissen auf, gaben sekundenlang den Blick frei auf einen schwarzgezackten, wild schaukelnden Horizont, dann sah man nur die rissige, steinige Oberfläche, ocker und grau, rötliche und gelbliche Schattierungen, dem Chaos der Wolken noch immer ähnlich. Ruckartig sprangen die rauhen Hügel uns entgegen — und eine dunkle Spalte! Wir fürchteten, die Sonde würde in sie stürzen, die Spalte wanderte langsam über den Schirm, endlich glitt sie über seinen Rand. Dann gab es einen Stoß, ein letztes Wippen, das Bild stand, Brocken ohne Schatten im Vordergrund, eine rosa Wolke aufgewirbelten Staubes zog davon. Andymon!

Diese rote Wüste sollte unsere Heimat werden? Ich öffnete den obersten Knopf meines Pyjamas.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, räusperte sich Teth und sprach, ganz trocken, betonungslos wie ein Automat: „Temperatur etwa vierhundertfünfzig Kelvin, Druck in Bodennähe vier Atmosphären, reduzierende Atmosphäre: Kohlenwasserstoffe, Methan, Schwefelwasserstoff, Wasserdampf… Windgeschwindigkeit zwölf Meter je Sekunde… Seismische Wellen im Boden..

„Dort werden wir ja nie leben können“, hörte ich Eta murmeln. Ich drehte mich um, sie saß da, ebenfalls im leichten Kittel, und hatte den Kopf in beide Hände gelegt. Ab und zu schüttelte sie ihn ruckhaft.

Zeth, sonst stets bereit, sie zu trösten, las den Computerausdruck. „Da läßt sich nichts machen“, sagte er bitter, „es ist schlimmer, als ich befürchtet habe, da gibt es keine Methode.“

Andymon! Wie hatten wir von unserem künftigen Heimatplaneten geträumt, uns ausgemalt, wie wir am Rande eines blauen Sees Häuschen errichteten, Gärten, Felder und Schonungen anlegten — und nun diese heiße, giftige Hölle! Nun würden wir bis zu unserem Tod im Schiff leben müssen oder bestenfalls in beengten Stationen auf dem Planeten, Plastboden unter unseren Füßen und Plastplatten über unseren Köpfen, wie wir es von Geburt an kannten. Bis ans Ende unserer Tage in dieser riesigen Konservenbüchse — ich wollte es nicht wahrhaben. Auf immer… Ich blickte mich um und sah die Plastwände und dahinter wieder Plastwände und Metallwände und den viele Meter starken Ceramitmantel und dahinter die grenzenlose Leere. Gefangen waren wir, gefangen auf Lebenszeit. Und alles hier war viel zu eng, zu knapp bemessen, die paar Meter Naturpark… Ich atmete schwer, durch alles drang die Glut Andymons.

Wer weiß, wie lange wir durchhalten würden … Wie schnell wir in die Totaloskope fliehen würden, in Traumwelten, in den privaten Wahn… Andymon!

„Vielleicht“, sagte Gamma mit beleger Stimme, „vielleicht haben wir uns geirrt’, vielleicht ist" es gar nicht unser Ziel und Auftrag, Planeten umzugestalten… Aber nein, weshalb hätten wir sonst so außerordentlich viel Literatur über Planetentechnik und -umformung…“

Ich schaute in die Runde. Müde und zerschlagen saßen sie da, achteten nicht auf den Bildschirm, auf dem in Purpurwolken gerade die letzte Sonde landete. Ilona, sonst von so aufrechter Haltung, war resigniert zusammengesunken. Teth starrte mit zusammengekniffenen Lippen ins Leere. Es fehlte nicht viel, daß sie zu weinen begannen, Alfa und Teth, mir war selbst nicht anders zumute. Andymon! Es durfte nicht sein, wir mußten den Kopf oben behalten. Ich holte tief Luft, um etwas zu sagen, da trafen meine Blicke die Delths.

Delth glitt von der Konsole, auf der er gesessen hatte. „Was habt ihr denn erwartet?“ schrie er uns an. „Etwa grüne Wiesen mit Häschen drauf, etwa eine fertig eingerichtete Welt mit bezugsbereiten Häusern? Ihr habt wohl gedacht, wir finden ein Land, wo Milch und Honig fließen? Ich denke, ihr habt alle Planetologie studiert! Nur vierhundertfünfzig Kelvin, nur vier Atmosphären — das sind fast irdische Bedingungen!“

Er schwieg eine Weile, in der purpurnen Beleuchtung durch die Bildschirme sah sein sonst hellgelber Pyjama wie eine blutrote Robe aus. In diesem Moment bewunderte ich ihn neidlos - zum erstenmal in meinem Leben.

„Wollt ihr etwa aufgeben, bloß weil euch ein paar Bildchen und ein paar Zahlen erschrecken? Und wenn es zehntausend Jahre dauert, wir verwandeln Andymon in ein Paradies für Menschen! Dazu sind wir da, und das werden wir auch tun.“

„Zehntausend Jahre, du bist verrückt, Delth“, sagte Ilona, „das ist mir zu lange, das erlebe ich nicht mehr, das kann mir schnuppe sein, kommt mir jetzt nicht mit zukünftigen Generationen, bis dahin ist das Schiff ausgestorben.“

„Und selbst wenn es so lange dauern sollte“, Delth schrie nicht mehr, er sprach jetzt ruhig und eindringlich, „kannst du dir eine andere Aufgabe für uns vorstellen, etwas anderes, das uns am Leben erhält?“

„Ich mach uns neuen Tee, heute kommen wir doch nicht mehr zum Schlafen“, murmelte Teth und ging hinaus. Vielleicht wollte er nur eine Weile allein sein.

Die Hitze war verflogen, ich schlug den Kittel über meine Knie, dann sprach ich: „In zehntausend Jahren ist alles zu schaffen, so lange brauchen wir für einen läppischen Planeten nicht. Wir sollten jetzt gleich mit der Auswertung beginnen; es müßte doch möglich sein, daß wir bis zum Einschwenken in den Orbit wissen, wie wir mit Andymon in annehmbarer Zeit fertig werden.“

„Beth hat recht“, schloß Delth die Diskussion, „wir ziehen uns schnell um und fangen sofort mit der Arbeit an.“

Später, gegen Morgen, überlegten wir uns, wie wir es unseren jüngeren Geschwistern schonend beibringen könnten.

Streik

Selbst so viele Jahre später bin ich noch bedrückt, wenn ich mich an diese verworrene Zeit sich anhäufender Schwierigkeiten erinnere, vor allem, wie dicht wir daran waren, Andymon aufzugeben. Ilona suchte verzweifelt nach einem geeigneteren Planeten dieses Sonnensystems. Vergebens. Wir hatten nur die Wahl zwischen Kampf und Resignation.

Dabei irrten wir gründlich, wenn wir annahmen, daß die Umgestaltung Andymons nur ein fast unüberwindliches technisches Problem sei, Computer, Energien und Maschinen erfordernd. Wir sahen damals nicht, daß ein Erfolg auch anderes voraussetzte: eine intakte, eingespielte Gemeinschaft, ein Hand-in-Hand-Arbeiten aller, wie wir es bisher nur innerhalb unserer Gruppe gewohnt waren. Es kam uns nicht in den Sinn, daß wir lernen mußten, selbst zurückzustecken, jüngeren Geschwistern den Vortritt zu überlassen, uns bei der Arbeit auf sie einzustellen und sie als gleichwertige Partner zu achten.

Nach dem Empfang der ersten Bilder von Andymon hatten wir bis in den Morgen diskutiert, um einen groben Überblick über die Probleme zu gewinnen. Dann hatten wir uns erschöpft für ein paar Stunden schlafen gelegt.

Erst zur Mittagszeit erschienen wir im Speisesaal. Er war ungewöhnlicherweise völlig leer. Enttäuscht holte ich mir aus dem Automaten eine Linsensuppe. Keine Gelegenheit, die Jüngeren staunen zu sehen, wenn Delth ihnen von Andymon vorschwärmte.

„Nicht mal beim Essen kann man sich auf sie verlassen“, sagte Delth.

Ich nickte, und Eta gähnte die leeren Stuhlreihen an. „Ich begreife nicht, wo die alle stecken. Niemand, nicht einer meldet sich über das Intercom.“

Alfa setzte sich nicht. Sie stützte sich auf eine Stuhllehne, wippte ein-, zweimal nach vorn. Ohne ein Wort verließ sie den Speisesaal.

„Sie hat nicht einmal gegessen“, sagte Delth und schlang seine Portion hinunter, „Wenn ihr fertig seid, helft ihr uns suchen, nicht wahr?“

Wir hatten uns getrennt. In den Korridoren war kein Laut zu hören - bis auf den Nachhall meiner Schritte. Ich schaute bei der Zentrale vorbei. ANDYMON — 141 TAGE. Kreuz und quer standen die Sessel, doch niemand saß an den Instrumenten. Dann warf ich einen Blick in die persönlichen Räume der dritten Gruppe. Bücher und Papier auf Tischen. Panoramafenster, die irdische Eiswüsten zeigten und irdische Korallenriffe und irdische Märchenlandschaften. Alle Bildschirme und Terminals waren ordnungsgemäß abgeschaltet. Ein einsamer Spielzeugroboter, plump und possierlich.

„Wo hast du denn deinen Menschen gelassen?“ fragte ich unwillkürlich.

Surrend drehte er den Kopf zu mir. „Ich kann nur sehr einfache Fragen Beantworten.“

Mechanisch lachte ich.

Mit dem Lift fuhr ich zu den Hangars. Alles leer, unberührt, ausgestorben. Ich rief, und in den weiten Hallen antwortete mir das Echo. Die Fähren und Exkursionsraketeh waren fest verankert, niemand hatte das Schiff verlassen. Ich öffnete die Luftschleuse, zählte die Skaphander. Keiner fehlte. Ich hätte der einzige Mensch, das einzige lebende, atmende Wesen an Bord sein können — und die Geschwister nur Einbildungen, Phantome, Träume. Vom nächsten Intercom aus rief ich Gamma. „Hast du jemanden gefunden?“

„Die spielen wohl Katze und Maus mit uns?“

„Oder einfach Verstecken — jedenfalls haben sie dem Hauptcomputer verboten, sie zu verraten.“

Ich dachte an die vielen Hallen, Gänge, Räume, Hangars, Transportröhren. Wenn sie sich wirklich verstecken wollten, konnten wir nur auf eine zufällige Entdeckung rechnen.

Wenig später informierte uns Alfa, daß sie im Naturpark wären. Ich nahm den Lift. Zwanzig Ebenen radial, fünf Sektoren axial. Dann stand ich zwischen den Felsen, fand den vertrauten Weg über die Wiesen, lief am Ufer des Sees entlang. Dabei traf ich auf Gamma und Teth. Erregte Rufe verrieten uns, wo sich unsere Geschwister befanden.

Als sei nichts geschehen, ja, als gäbe es keine andere Beschäftigung im Schiff, spielten sie auf einer großen Lichtung miteinander unter den wachsamen Augen der Guros: die Achtzehnjährigen aus der zweiten Gruppe, die Heranwachsenden aus der dritten und vierten, diejenigen, die den Naturpark eben erst hinter sich gelassen hatten, und die Kleinen und Kleinsten, für die es ein riesiges, tolles Fest war.

„Was macht ihr denn?“ rief Teth, vom Laufen noch rot im Gesicht. „Ihr müßt doch lernen, es gibt gerade jetzt mehr als genug Arbeit!“

Niemand antwortete ihm, niemand beachtete ihn. Dafür hatten mich zwei kleine Mädchen entdeckt. „Trag mich Huckepack!“ verlangte die eine, die andere bestand darauf, daß ich ein Hund sei.

Irritiert vertröstete ich sie auf später und wich zum Waldrand zurück.

„Was ist denn hier los?“ übertönte plötzlich Delths Stimme das Toben.

Eine Sekunde war Stille. Dann begannen die Jüngeren wieder zu lärmen, doch gleichzeitig löste sich Jota aus einer Reihe sich an den Händen haltender, singender Kinder. Jota galt schon seit der Krabbelwiese als die Wortführerin der zweiten Gruppe. Sie war nicht nur die Älteste, sondern zugleich die Längste und Wendigste unter ihnen.

„Wir machen nicht mehr mit“, erklärte sie kurz und bündig, und ihre dunklen Augen sahen herausfordernd auf Delth herab.

Als hätte sie ein Signal gegeben, scharten sich die Geschwister um sie, zuerst die aus der zweiten und dritten Gruppe, dann auch jüngere, sogar die Kleinsten kamen, neugierig, welches neue Spiel beginnen würde.

„Was?“ fragte Delth, als ob er nicht verstanden hätte. Er schlug zornig mit einem abgebrochenen Zweig durch die Luft.

„Eure Projekte!“

„Eure Lernerei!“

„Eure blöde Wissenschaft!“

„Ihr könnt uns mit eurem dreckigen Planeten gestohlen bleiben“, sagte Xith ganz ruhig, gerade er, der ungeduldige Blondschopf, der als erster bei Andymon hatte sein wollen.

„Ich begreife euch nicht, wir waren uns doch in allem einig, was habt ihr plötzlich?“ fragte Gamma erschrocken.

Lambda, die neben Jota stand und sonst selten etwas sagte, sprach mit vorwurfsvoller Stimme, die im wieder anschwellenden Lärmen der Kleinsten fast unterging: „Wir haben doch mit Andymon nichts mehr zu schaffen. Ihr habt ihn ganz für euch reserviert. Für uns fällt höchstens mal ein Häppchen ab: ‚Montier mal bitte den Orbiter, Lambda!‘ — Andymon ist sowieso nicht für uns da!“

„Aber das stimmt ja gar nicht, Andymon gehört uns allen, euch genausosehr wie uns“, sagte Alfa beschwichtigend, „und wir brauchen eure Hilfe gerade jetzt besonders.“

Alfas sonst so nützliches Einfühlungsvermögen versagte. Und sie erntete bissige Kommentare, vor allem von dem leicht erregbaren Fith aus der dritten Gruppe. „ ‚Hilfe‘. Was heißt ‚Hilfe‘? Sucht eure Hilfsarbeiter unter den Gorillas, oder baut euch ein paar Robotertrottel!“

Gammas Finger bohrten sich in meinen Arm. Ein drohender Halbkreis hatte sich um uns gebildet.

„Zum Schräubcheneindrehen und Programmieren sind wir euch gut genug, aber wenn die Bilder kommen, ist die Elite wieder unter sich!“

„Tut mit leid, daß wir euch in der Aufregung vergessen haben, aber schließlich könnt ihr euch ja die Aufzeichnungen anschauen“, erwiderte Delth nicht gerade diplomatisch.

Ein Sturm der Entrüstung antwortete ihm, aus dem sich nur die Kampfansage Myths seiner tiefen Stimme wegen abhob. Der Halbkreis war ein Stück enger geworden.

„Sind wir nun in einem Raumschiff oder im Kindergarten?“

Xith sprang auf mich zu, packte mich am Kragen meines Overalls. „Kindergarten und mit euch als menschlichen Guros! Das hättet ihr wohl gern!“

Ich schob ihn von mir weg, aber er hielt sich mit aller Kraft fest und schrie mir seine Anklage ins Gesicht: Die borniertesten Eltern auf der Erde wären tausendmal besser als wir, ja, unterdrücken würden wir die jüngeren Geschwister und dabei ständig lauthals beteuern, daß wir alle gleich seien.

Und während er so schimpfte und ich wieder und wieder den Mund öffnete, um etwas zu sagen, fand zwischen uns ein stummer Kampf statt. Ich versuchte, seine Hand, mit der er sich an meinem Overall festkrallte, aufzubiegen, er wehrte sich mit der anderen.

„Laß mich…“ Ich sah, daß meine Gruppe bei einer sich entwickelnden Schlägerei hoffnungslos unterliegen würde. Doch meine Arme boxten, schoben, rangen weiter.

Alfa schrie irgend etwas, Teth stolperte gegen mich und riß mich dabei fast um. In diesem allerletzten Moment kam unerwartete Hilfe von den Kleinsten, die zuerst unsere Auseinandersetzung für ein Spiel gehalten hatten und sich beteiligen wollten, nun aber erschrocken und verstört zu weinen anfingen.

Xiths Griff lockerte sich. „He, wer wird denn gleich heulen, Atrith.“

Der angesprochene Junge lief weg. Das war das Ende unserer handgreiflichen Auseinandersetzung.

Ich kniete mich vor einem etwa vierjährigen Mädchen nieder und erklärte ihm, wie dumm es sei, sich mit Worten oder Fäusten zu prügeln. „Aber weißt du, wir meinen das gar nicht so, wir sind nur etwas überdreht, haben zu lange nicht geschlafen. So ein Problem kann man durch eine sachliche Aussprache lösen, verstehst du? Schließlich sind wir alle Geschwister.“ Ich wischte ihr die Nase sauber, sie schluckte noch einmal und lächelte dann wieder.

Jota und Delth waren zur Seite getreten. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie sie miteinander diskutierten. Eine Weile gestikulierte Jota, und Delth schaute zu Boden, scharrte mit den Füßen im Laub, dann wieder nestelte Jota an ihrem langen schwarzen Zopf, und Delth redete auf sie ein. Ich habe nie erfahren, wie Jota ihre Vorstellungen Delth aufzwingen konnte. Durch Drohungen? Oder Argumente? Delth hat kein Wort darüber verloren.

Jedenfalls verkündete er, nachdem er durch einen lauten Pfiff die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, vor Kleinen wie Großen: „Also, die erste Gruppe und besonders ich versprechen, daß alle wichtigen Entscheidungen nur noch gemeinsam durch alle Gruppen, die den Naturpark verlassen haben, gefällt werden. Und daß bei bedeutsamen Ereignissen alle Geschwister zusammengerufen werden.“

Dieses Versprechen war damals eine bloße Proklamation, uns abgetrotzt durch die zweite und dritte Gruppe. Wir bekannten uns zwar prinzipiell dazu, doch dauerte es noch lange, bis wir bei der gemeinsamen Arbeit lernten, die Interessen der anderen auch im Kleinen zu achten, bis wir nicht nur die Mitglieder der eigenen Gruppe, sondern auch die Heranwachsenden, die noch nicht über unser Wissen verfügten, als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft akzeptierten.

Obwohl uns die Arbeit unter den Nägeln brannte, gaben wir an diesem Tag dem Drängen der Kleinen nach und spielten mit ihnen. Es galt, einen unschönen Eindruck zu verwischen. Erst am Abend, als sie erschöpft, doch glücklich einschliefen, durften wir sie verlassen. Ich war keineswegs weniger erschöpft.

Vorbereitungen

Man nehme einen Planeten mit nicht zu unirdischer Atmosphäre, werfe ein paar Bakterien hinein, die Zirkulation besorgt das Umrühren, man warte die festgesetzte Frist: zehn, hundert oder tausend Jahre, dann ist alles fertig, man kann hinabsteigen, sich auf die grünen Wiesen legen und tief durchatmen.

Doch je größer Andymon in den Teleskopen wurde, je mehr Daten die Sonden, die noch nicht ausgefallen waren, übermittelten, je genauer wir die planetarischen Verhältnisse kennenlernten, desto lächerlicher erschienen uns unsere anfänglichen naiven Vorstellungen. Woche um Woche der Annäherung verging, keine konkrete, durchführbare Lösung stellte sich ein, kein Superbakterium, keine Algenchimäre wurde gefunden, auf der wir unsere Pläne hätten aufbauen können.

Hatten wir in der ersten Zeit gern auf Andymon geblickt, das Wachsen der Planetenscheibe beobachtet und die fehlenden Tage gezählt, so wichen wir dem Gedanken an die Ankunft nun aus, und wir glaubten, Jahre wären nötig, um den goldenen Schlüssel zu unserem Planeten zu finden. Wenn wir uns in den Korridoren trafen, gingen wir schweigend aneinander vorbei, tauschten bestenfalls ein paar Meßdaten aus. Die Frage nach dem Fortgang der Arbeiten war verboten — und jeder kannte die nicht erfragte Antwort.

Sechzig Tage vor Orbit stand mein Modell der Andymonatmosphäre: mit vertikaler Schichtung, Klimazoneneinteilung, jahreszeitlichen Variationen. Ich hätte Wetterberichte ausgeben können, Wolken, Hitze, Sturm, nur Niederschläge gab es bei den herrschenden Temperaturen nicht.

Der Computer gestattete es, mir das herbeizuspielen, herbeizuträumen, was uns in Wirklichkeit bislang versagt blieb. Ich brauchte nur einzutippen: Grünalge — Existenzbedingungen, Vermehrungsparameter, chemische Umwandlungsraten, katalytische Eigenschaften. Wie leicht war es doch, alles optimal zu simulieren, ohne Rücksicht darauf, ob es genetisch, biochemisch oder thermodynamisch möglich war. Wie leicht sah dann alles auf dem Display aus: Fotosynthese in den mittleren Atmosphärenschichten, Kohlendioxid und Wasser werden in Kohlehydrate und Sauerstoff umgewandelt; weiter unten zersetzen sich die Algenzellen in der größeren Hitze, organische Verbindungen fallen aus, das Wasser kehrt zurück in den Kreislauf der Atmosphäre. Parallel dazu wird Stickstoff fixiert, Düngemittel für künftige Kontinente. Nach und nach sinkt der atmosphärische Druck der durch die dichten Wolken hervorgerufene Treibhauseffekt verschwindet mit diesen; erträgliche Temperaturen stellen sich ein. In der oberen Schicht dissoziiert unter dem Einfluß kosmischer Strahlung der neugebildete molekulare Sauerstoff, Ozon bildet sich, und die gefährliche UV-Strahlung wird absorbiert.

Wunderbar, ganz nach Belieben und vorgegebener Vermehrungsrate simulierte der Computer eine Verwandlung der Atmosphäre in eine für Menschen atembare Lufthülle in einem, zwanzig oder fünfhundert Jahren. Einen Haken nur hatte die Sache: Es gab weder die Einjahresalge noch die für zehntausend Jahre. Es existierte überhaupt kein Mikroorganismus, der in den höllischen Bedingungen von Andymon länger als Sekundenbruchteile überlebte.

Nachdem ich drei Tage rfiit fruchtlosen Variantenrechnungen verbracht hatte, hielt ich es am Computer nicht mehr aus. Brotlose, nicht durch Fakten gestützte, völlig wirklichkeitsferne Künste. C02-Partialdruck, Enthalpiebilanzen… Ich wollte nichts mehr davon sehen.

Ich versuchte Gamma zu überreden, mit mir Ferien im Naturpark zu machen, einige Tage nur zu wandern, zur Achse zu klettern, mit Drachen zu segeln — ihr Blick verriet mir, daß sie dies für Desertation halten würde.

„Weshalb überschlagt ihr euch denn jetzt so, wenn es sowieso zehn oder hundert Jahre dauert?“ schrie ich sie an.

„Du bist überarbeitet“, antwortete sie bedauernd, „aber ich kam jetzt nicht weg von unseren Versuchen.“

Wohin ich auch ging, in welches Labor ich auch schaute, sie alle hatten sich tief in die Arbeit vergraben. Und obwohl es sich niemand eingestand, wußte ich, weshalb: um ja nicht an den möglichen Mißerfolg denken zu müssen. Wie, überlegte ich, wollen sie Jahre so durchhalten? Mit schwarzen Ringen unter den Augen?

Ich sprach eindringlich mit Alfa und konnte sie von meinen Befürchtungen überzeugen. Gemeinsam gingen wir zu Jota, die die biologischen Vorbereitungen leitete. Sie stand da, über ein Mikroskop gebeugt, und schien unser Eintreten überhaupt nicht wahrzunehmen. Als wir sie antippten, fragte sie unwirsch: „Was ist denn?“

„So geht es nicht weiter“, sagte Alfa, „wir machen uns kaputt und haben kein bißchen Kraft mehr, wenn wir Andymon erreichen. Jota, wir müssen einmal eine Pause einlegen, einmal wieder zur Besinnung kommen. Wenn wir morgen einen Feiertag…“

„Nein, wir sind gerade in einer Testreihe, da können wir nicht ein fach unterbrechen. Außerdem gibt es nichts zu feiern. Was haben wir nicht alles versucht: gezielte Mutationen, Genrekombination, Hybridisierungen … Aber diesmal, diesmal schaffen wir es..

„Wenn ihr von der ersten Gruppe zu schwach seid“, bemerkte Xith bissig, ohne vom DNA-Sequenz-Analysator aufzuschauen, „wir halten durch!“

„Du hattest recht“, sagte Alfa halblaut zu mir, „Delth stellt sich quer, Eta ist augenblicklich überhaupt nicht anzusprechen… Auf uns zwei hört ja doch keiner, es hat einfach keinen Zweck.“

Wir gingen. Nur zwei Stunden später ordnete Jota im Namen der zweiten Gruppe eine Unterbrechung der Arbeiten für den nächsten Tag an.

Ein angeordneter Feiertag! Wir, die ersten drei Gruppen, befanden uns pflichtgemäß auf der kleinen Insel, saßen im hohen Gras oder liefen von Zeit zu Zeit bis an die Knie ins Wasser. Doch spielten wir weder Volleyball, noch schwammen wir um die Wette. Überall hatten sich Grüppchen gefunden, ich gehörte selbst zu einer und redete mit: „Nein, an den Polen ist es nicht wesentlich kälter, die Zirkulation ist zu kräftig…“

Satzfetzen drangen an mein Ohr: „Die Daten über die Magnetosphäre…, reicht gerade, harte kosmische Strahlung abzufangen…“

Beim Mittagessen, es gab Suppe aus einem großen Kessel, um den wir alle in der Runde saßen, kamen vorübergehend andere Gespräche auf. Später bildeten sich erneut Diskussionsrunden. Und obwohl wir uns nicht so entspannten, wie ich es beabsichtigt hatte, war der „Feiertag“ nützlich. Wir kamen wieder in Kontakt, redeten miteinander über die Grenzen der Arbeitsgruppen hinweg.

„Wir würden sicher schneller vorankommen, wenn sich nicht manche von uns ganz ernsthaft mit Spielereien beschäftigten“, beschwerte sich am selben Abend Gamma und sah mich mißbilligend an.

Ich begann mich wortreich zu verteidigen, die Logik meiner Rede führte mich, ohne daß ich es beabsichtigt hatte, zu einem großzügigen Hilfsangebot. Also ließ ich mich in der Folgezeit von Gamma in die genetischen Arbeiten einweisen, die immer noch ohne Ergebnis waren, und das, obwohl drei Arbeitsgruppen zu fünf Personen parallel arbeiteten und uns wohlausgerüstete biologische Laboratorien zur Verfügung standen.

Ohne zu murren, ging ich Gamma zur Hand. Es handelte sich um mühevolle Kleinarbeit, die Planung und Organisation der Versuche betreffend, und um Handlangerdienste für Automaten. Ich trug Probebehälter von Syntheseapparaten zu Analysegeräten und von dort zum Bioabfalldesintegrator. Ausgefallene Geräte zu flicken, wenn sich die Serviceroboter zu schwerfällig anstellten, war noch die interessanteste Tätigkeit.

Wie staunte ich, als ich zum erstenmal die biologischen Reserven des Schiffs sah. Die „Bank“ nannte Gamma die ausgedehnte Halle schlicht, die sich direkt unterhalb des Biolabors befand. Ein eisiger Wind wehte mir beim Öffnen der Tür entgegen. Hinter deckenhohen Glaswänden erblickte ich stählerne, mit unzähligen Symbolen bedeckte Schränke. Hier lagerten seit Jahrtausenden kristallisierte DNA- und RNA-Moleküle sowie, gekühlt von flüssigem Stickstoff, dehydrierte Gewebs- und Zellproben. Mitunter blitzte es hinter dem Glas auf - einer der handtellergroßen Roboterwagen besorgte etwas für unsere Arbeiten, kletterte dabei mühelos, von einem magnetischen Feld gehalten, den Schrank empor. Vergeblich versuchte ich abzuschätzen, wie viele Proben die große dämmrige Halle wohl enthalten mochte.

Und jede dieser Proben war in einem speziellen Datenspeicher aufs genaueste beschrieben, sie umfaßten Millionen von Arten, Einzeller, Pflanzen und Tiere. Eine Arche Noah, gefüllt mit Bits und Codons. Unermeßlich viel mehr, als wir je hätten benutzen können. Neben den friedlichsten Pflanzen fanden sich hier auch die schlimmsten Krankheiten, die DNA von Bakterien, die jegliches andere Leben im Schiff hätten vernichten können. Aber wer konnte es wissen, wenn wir nicht Andymon vorgefunden hätten, sondern einen anderen Planeten, vielleicht wären sie uns nützlich gewesen. So wie wir das soziale Erbe der Menschheit verkörperten, stellten diese Schränke das biologische Erbe der Erde dar.

„Sag mal, hast du dich verlaufen? Wo warst du bloß so lange?“ fragte Gamma unwirsch. Als ich die Umsicht der Konstrukteure des Schiffs zu loben begann, winkte sie nur ab.

Die Tage verflogen, ohne daß wir den Blick noch einmal von der Arbeit hoben. Am Tag minus neunzehn gelang Kapth und Ilona der entscheidende Durchbruch. Ihre neueste Algenvariante teilte sich einmal in der dichten, giftigen, heißen Andymonatmosphäre, die wir in kleinen Druckbehältern nachahmten, dann starben beide Tochterzellen. Doch der Ansatz war gefunden.

Unermüdlich druckte der Computer Versuchsprogramme aus, die auf der Evolutionsstrategie basierten. Wir entfernten Kerne aus Zellen und setzten neue ein, wir tauschten Chromosomen aus, wir kombinierten DNA-Stränge. Und nach und nach, zum Schluß sogar mehrmals am Tag, erzeugten wir bessere Algenzellen. Bessere, das hieß solche, die länger in der Andymonatmosphäre überdauerten, die sich öfter teilten, die eine höhere Stoffwechselaktivität hatten. Bald stand uns eine taxonomische Ordnung unterschiedlicher Algen und Bakterien, die alle auf der gleichen Grundstruktur beruhten, für die verschiedenen nötigen chemischen Reaktionen zur Verfügung.

Wir glaubten uns vorbereitet auf Andymon.

Ankunft im Orbit

Diesmal schlossen wir niemanden aus. In der Zentrale drängten sich sechs Gruppen, und der Lärm der Gespräche übertönte die schwachen Geräusche der Automaten. Die Große Reise, die wir nicht begonnen hatten und deren Dauer wir nur ahnen konnten, näherte sich ihrem Ende. Eigentlich hätte es einen Knall geben müssen, ein gewaltiges Schütteln des kosmischen Gefährts, zumindest aber einen vernehmbaren Ruck. Doch nicht bei unserem Schiff.

Bei minus fünf Minuten dämpften wir unsere Stimmen. Nach und nach verebbte das Gemurmel. Bei minus vier hörte man nur noch das unruhige Knarren der Sessel, das verhaltene Scharren der Füße.

Minus drei. Ich blickte Gamma an, ihre Augen glänzten, sie drückte meine Hand. Das Licht in der Zentrale verglomm, nur die Anzeigegeräte leuchteten — und Andymon. Der große Bildschirm faßte nur noch einen rechteckigen Ausschnitt des Planeten. Aus mehr als tausend Kilometer Höhe konnte ich deutlich die von mir modellierten Klima-und Wolkenzonen unterscheiden.

Minus zwei Minuten. Wie konnte ich nur glauben, daß eine so weite Reise wirklich ein Ende finden sollte; mein Leben lang war ich unterwegs gewesen im leeren All, weitab von jedem Körnchen Materie. Und nun plötzlich im schwarzen Abgrund ein Planet. Ein riesengroßer Planet. Verzaubert schaute ich in das zähe, langsam brodelnde Grau und Ocker und Siena der dichten, strudelnden Wolkendecke. Ich vergaß die Geschwister um mich, vergaß die Zentrale, das Schiff — vor mir lag Andymon. Wie konnte ich fassen, daß diese gigantische Kugel flüssigen und glühenden Gesteins, umhüllt von giftigen heißen Schwaden, meine Heimat werden sollte? Was für ein verrückter, unvorstellbar großer Planet — und das soll unserer sein? Und den sollen wir uns zurechtstutzen können? Er war so unüberschaubar, so absolut unermeßlich, überwältigend… Wie ein winziges Atom konnte das Schiff dagegenfliegen und einfach verschwinden, ein Nichts.

Fieberwarm und trocken drückte Gammas Hand die meine. Orbit minus zehn Sekunden. Ich hielt den Atem an und wartete auf das Ungeheuerliche. Träge tauschte der Computer die Sekundenzeichen aus. Zwei — eins — null…

Ich spürte nichts, gar nichts. Dann erschien auf einem der Monitore eine lakonische Zeichenkette: ORBIT STABIL.

Wir schauten uns an, atmeten hörbar ein. Und das war alles?

„Ja“, sagte ich leise, „Gamma, meine liebe Gamma, wir sind da. Unwiderruflich angekommen.“

Sie schluckte, nickte dann.

„Seid mal leise“, rief Delth, „Eta will was sagen.“

„Zieht mal die Schuhe aus und spürt mit den Füßen. Oder haltet eure Ohren an den Boden, an die Wände… Na, merkt ihr was?“

„Nein, was denn? Soll das Gymnastik sein?“

„Könnt ihr auch nicht, das Schiff ist ruhig. Die Decken, Wände, Böden, nichts vibriert mehr, brummt mehr. Der Antrieb ist aus!“

Natürlich, jetzt vernahmen wir alle die ungewohnte Stille. Unmerklich sanft hatte das Schiff sein jahrzehntelanges Bremsmanöver beendet. In der überfüllten Zentrale befanden sich etwa fünfzig Geschwister. Überstürzt und lautstark begannen sie, das Ereignis zu kommentieren. Xith spielte an den Kontrollen, wir schienen auf Andymon zuzustürzen: Der Hauptschirm vergrößerte den zentralen Ausschnitt immer mehr. Die Monde Andymons flackerten auf den Bildschirmen und erloschen wieder, Monitore zeigten die Bahndaten des Schiffs.

„Endstation, alle aussteigen!“ rief Myth in Anlehnung an ein Totaloskopspiel.

Sofort setzte ein Sturm der Bewerbungen ein.

„Ja, ich will runter!“

„Ich habe mich zuerst gemeldet!“

„Nein, ich!“

„Wann starten wir die erste Expedition?“

„Ich habe Geologie gebüffelt, mich braucht ihr auf jeden Fall.“ „Das ist was für harte Nerven.“

„Auf zum Lander!“

„Wer besetzt die Flugleitstelle?“

„Mensch, das geht doch automatisch!“

Ich lachte. Diese eiskalten Wissenschaftler, plötzlich stritten sie sich um Sitzplätze.

Delth mußte ins Mikrofon sprechen, um sich Gehör zu verschaffen. „Kinder, Kinder, seid ihr denn alle verrückt geworden, so geht das nicht. Natürlich will jetzt jeder von uns auf Andymon herumspazieren. Und das werden wir auch. Aber immer schön der Reihe nach.“ „Was heißt hier ‚der Reihe nach‘, nicht immer ihr zuerst!“ meldeten sich empörte Stimmen.

„Und die Reihe werden wir auslosen“, stoppte Delth die Proteste. „Einverstanden?“

Der Rest des Tages verging mit Diskussionen über den Modus der Auslosung. Vier Geschwister, zwei aus der zweiten, zwei aus der vierten Gruppe, durften als erste fliegen. Ein fünfzehnjähriges Mädchen, die magere, dunkelhäutige Daleta, betrat als erste den dampfenden Boden Andymons. Wir „Alten“ waren erst viel später an der Reihe.

Planetentaufe

Was können Bilder schon über einen Planeten aussagen, und seien sie noch so farbig, noch so plastisch! Oder die Berichte der Zurückgekehrten — das waren nur Worte, erregend sicherlich, und doch: Ich fieberte dem Tag, der Stunde entgegen, da ich selbst an der Reihe war.

Wie lächerlich war das Anerbieten Teths, den ein glücklich gezogenes Los schon am zweiten Tag auf den Planeten brachte, aus den mitgebrachten Materialien uns im Schiff Gebliebenen Andymon so für das Totaloskop aufzubereiten, daß wir früher unsere neue Heimat erleben könnten. Ein trauriger Vorschlag. Eta sagte dazu ungewöhnlich ernst: „Ich brauche das Totaloskop nicht mehr.“

Uns eröffnete sich eine neue Welt, eine Welt, in der Illusionen nicht mehr zählten, und es begann eine Zeit, randvoll mit echtem Erleben, überschäumender Wirklichkeit. Ade, ihr Totaloskope, Kinderspielzeug, das ausgedient hatte.

Gamma und ich hatten uns einen gemeinsamen Termin eingetauscht. Wir saßen mit zwei Zwölfjährigen, Resth und Shinth aus der sechsten Gruppe, in der engen Kabine des Landers, zusätzlich behindert durch den knappen Skaphander. Vor zehn Jahren, beim Übergang in die technischen Räume des Schiffs, hatte ich erstmals Kleidung angelegt. Nun erst, beim Ausflug auf Andymon, benötigte ich die schützende Hülle wirklich.

In diesem Augenblick, als mir das lang ersehnte Erlebnis unmittelbar bevorstand, hatte eine unerwartete Leere und Nüchternheit von mir Besitz ergriffen. Mein Blick wanderte von den Zahlenangaben der Steuerautomatik zum schwarzen Himmel mit seinen Sternen, die klar durch das Sichtfenster leuchteten. Der Andruck preßte mich sanft in den Formsessel, nur eine leichte Vibration verriet die Arbeit des chemischen Raketenmotors. Sternbilder kippten weg, neue tauchten auf. Andymon geriet übergroß in mein Blickfeld. Dann huschten sprühende Meteore über die Scheibe, wir waren in die dichteren Schichten der Atmosphäre eingetaucht, glühende Tropfen lösten sich vom Keramikschild.

Das Schwarz des Himmels verwandelte sich in tiefes Violett, rötliche und bräunliche Töne folgten. Bald hüllten uns erste Wolken ein, alles verwischte in nebliger Bewegung. Helle und dunklere Wolkenschichten verschiedener Färbung wechselten einander ab. Der Abstieg dauerte nur wenige Minuten.

Kurz über dem Boden zerrissen die Wolken, der Lander senkte sich behutsam, sekundenlang konnte ich Andymon in seiner urtümlichen Wildheit überblicken: ein Gewirr roter, brauner und schwarzer Felsen und Grate, eingehüllt in diffuse Halbschatten und fliehende Wolkenfetzen, mitunter verziert von unwirklich schlohweißen Wölkchen — Wasserdampf.

Ein Ruck, der Lander hatte aufgesetzt. Wir blickten uns kurz an.

„Überprüft eure Anzüge noch einmal“, sagte Gamma und drückte selbst auf den Checkknopf des Skaphander-Mikrocomputers. Ich tat es ihr nach. Einen Sekundenbruchteil flackerte der Display auf meinem linken Unterarm, dann meldete er die Funktionsfähigkeit aller Systeme. Trotzdem zog ich am Helm und klopfte gegen das Lebenserhaltungssystem auf meinem Rücken, was nicht so leicht war in der engen Kabine.

„Gehen wir“, sagte Gamma und betätigte den Lukenverschluß.

Es zischte, gelbliche Schwaden drangen in die Kabine ein, dann hatte der Druckausgleich stattgefunden. Allen voran kletterte Shinth durch die Luke, verschmähte die schmale Aluminiumleiter und sprang mit einem in meinen Ohren dröhnenden „Vivat Andymon!“ auf den Boden. Ein viel zu forsches, unastronautisches Verhalten, das sofort bestraft wurde — er fiel der Länge nach hin. Alarmiert folgte ich ihm, ich hatte kaum die Leiter losgelassen, da erfaßte mich eine Sturmbö und warf auch mich um.

„Alles in Ordnung?“ fragte ich ins Helmmikrofon und überprüfte meinen Skaphander erneut.

„Ja doch.“ Shinths Stimme übertönte das beständige Prasseln der elektrischen Entladungen in der Atmosphäre.

Auch Resth stürzte, nur Gamma hielt sich beim Aussteigen auf den Beinen, sie hatte uns nicht umsonst beobachtet.

Davon hatte uns keiner berichtet, von der Planetentaufe, die Andymon jedem zuteil werden ließ. Auch wir hielten uns an die unausgesprochene Abmachung, verrieten den wenigen, die den Planeten noch nicht betreten hatten, nicht, wie heroisch der erste Schritt sein würde.

Ich schaltete das Außenmikrofon ein und hörte das mit Stärke sechs oder sieben geblasene Willkommen Andymons, ein unheimliches Brausen, Grölen, Donnern. Die Windgeschwindigkeit allein hätte uns nicht umgeworfen, doch war die Atmosphäre hier wesentlich dichter. Ich hielt es keine Minute aus, dann drehte ich den ohrenbetäubenden Lärm leise, ganz wollte ich ihn nicht abschalten. Die dumpfen Atemgeräusche im Skaphander überdröhnend, bildeten diese durchdringenden Töne die urtümliche Musik des ungezähmten Planeten. Und keine Melodie hätte besser zu Andymon gepaßt.

Dann holten wir die Geräte aus dem Lander: Seismometer, Metalldetektoren, eine komplette kleine Überwachungsstation, die wir in der Nähe aufbauten. Schwer bepackt stemmten wir uns gegen den Sturm. Forschungen auf Andymon! Automaten hätten diese Arbeit sicherlich schneller und exakter erledigen können. Eigentlich diente sie uns nur als eine Entschuldigung für unsere ganz private, ganz unwissenschaftliche Neugier auf Andymon, als eine überzeugende Ausrede, die unsere kleinen Exkursionen rechtfertigte und die wir akzeptierten.

Absolut ernsthaft betrachtete selbst in unserer Gruppe nur Zeth diese Art von „Forschungen“. Er war es auch, der kurz vor dem ersten Start detaillierte Listen mit unbedingt erforderlichen Erkundungsaufgaben verteilt hatte. Keiner hatte ihm widersprochen, wenn auch vielen die Überraschung anzusehen gewesen war. Zuerst auf Andymon sein, ja natürlich, doch nur um der wissenschaftlichen Erkenntnisse willen?

Aufmerksam beobachteten Gamma und ich unsere jüngeren Geschwister, vielleicht zu aufmerksam. Wir vergaßen, daß auch wir in ihrem Alter unbedingt darauf bestanden hätten, für voll genommen zu werden. Sicherlich bemerkten Resth und Shinth, daß wir auf sie aufpaßten, sozusagen in ständiger Erwartung ihrer kindlichen Dummheiten. Sie hielten sich tapfer, murrten kaum bei meinen Anweisungen. Nun gut, der erste Besuch auf Andymon war ein viel zu großes Abenteuer, als daß man dabei allzusehr auf die ständig kommandierenden, oft nörgelnden Älteren achtete. Und doch, vielleicht lassen sich auch darin die Wurzeln für Resths späteres Verhalten finden — und ich bin nicht ohne Schuld daran.

„Ich schau nur schnell hinter die Felsen, vielleicht ist dort ein besserer Platz für die Station“, sagte Shinth und verschwand, ehe ich etwas erwidern konnte. Mein „Halt!“ ging im atmosphärischen Prasseln unter. Es war unvorsichtig, sich allein aus dem Sichtfeld der anderen und aus der Nähe des Landers zu entfernen. Ich lief ihm nach, doch er kam schon zurück.

„Da ist nichts, aber vielleicht dort“, sagte er und setzte sich schon wieder ab. Ich holte ihn schnell ein, er stand vor einer tiefen, schwarz klaffenden Spalte, aus der es dampfte. Mit dem Fuß schob er Steine hinein, die ohne das leiseste Geräusch verschwanden.

„Sei ja vorsichtig“, mahnte ich ihn, „wenn du reinfällst, spring ich nach und vertrimme dich.“

„Ich will ja nur feststellen, wie tief Spalten in diesem Teil Andymons sein können“, rechtfertigte er sich.

Wir versuchten es mit dem Echolot, aber die Anzeige erwies sich wegen der unebenen Wände als nicht eindeutig.

Kaum waren wir zurück, wollte Resth „… so einen Kilometer nordöstlich eine Sprengladung für seismische Messungen anbringen“. Er sagte nichts, als Gamma sich ihm anschloß.

Nach fünf Stunden war es Zeit, zurückzukehren. Mein Skaphander drückte an vielen Stellen und roch irgendwie ranzig. Wir saßen bereits in den Formsesseln, da sagte Gamma: „Ich habe noch keinen richtigen Blick auf Andymon geworfen. Die zehn Minuten genehmigt ihr mir doch, nicht wahr?“

Resth und Shinth lachten albern, sie blieben wie ich sitzen.

Auf dem Bildschirm verfolgte ich Gamma, wie sie, bedächtig und alle paar Meter verweilend, den Lander umkreiste. Sie blickte kein einziges Mal zu mir, immer nur nach draußen in die staubigen, windzerfressenen Weiten Andymons. Erst jetzt, erschöpft vom ständigen verhohlenen Aufpassen, kam auch ich zur Besinnung. Dieses Bild, die schmale, silberglänzende Gestalt Gammas vor einem rötlich gezackten Horizont, vor lang dahinwehenden Staubschleiern, vor fast schwarzen Felsen, an denen der Wind sich heulend reibt, ist meine liebste Erinnerung an den alten Andymon, Urandymon, den wir verwandelten, vernichteten.

Jene Winde, die uns damals umgeworfen hatten und jeden Schritt erschwerten, waren nur sanfte Vorläufer der im vollen bitteren Sinn des Wortes tödlichen Stürme, die wir auslösen würden und die uns den Zutritt zu Andymon auf lange Jahre verwehren würden. Selbst jetzt noch ist Andymon ein stürmischer Planet, und ich werde es auch nicht mehr erleben, daß er seinen Charakter ändert.

Blick über die Wüste

Nur ein einziges Mal verzichtete Delth vor mir auf die Maske der Festigkeit und unbeugsamen Tatkraft, mit der er uns so oft in seinen Bann gezwungen hatte. Wir standen am Fenster der kleinen, insgesamt drei Räume umfassenden Station, die Roboter in zwei Tagen errichtet hatten. Sein Gesicht war abgemagert, und die Backenknochen zeichneten sich im rötlichen Dämmerlicht Andymons hart ab. Wie ich blickte Delth hinaus in die Wüste von Geröll und Dampfschwaden. Feiner Staub und grober Sand scharrten über die Wandung der Station und schlugen gegen das Fenster.

Delth sprach wie zu sich: „Unsere Heimat soll das werden, sagt Alfa. Diese Wüste. Auf Millionen Quadratkilometern kein Tropfen Wasser. Und ein Licht, das einem die Augen ausdörrt… Wir sind zu früh gekommen, Beth, vier Milliarden Jahre zu früh. So sah die Erde aus, bevor es Leben auf ihr gab. Kein freies Wasser, kein Sauerstoff in der Atmosphäre. Fast ideal — wenn man nur genügend Zeit hat. Wir brauchen lediglich ein paar hundert Millionen Jahre hier auszuharren…“

„Delth“, unterbrach ich seine Worte, die mir zu bitter waren, „weshalb glaubst du Ilona nicht? Die neue Mutante, die sie gerade testet, wahrscheinlich wird es nur ein Dutzend Jahre dauern, das ist weniger als ein Augenblick, geologisch und astronomisch gesehen..

„Ich rede nicht gern darüber“, fuhr Delth unbeirrt fort, „ich darf, um Andymons willen, die Geschwister nicht mit meiner Skepsis anstekken. Sie werden alle Zuversicht nötig haben, um überhaupt mit der Umgestaltung zu beginnen, um dann Jahr auf Jahr abzuwarten und wieder abzuwarten und vor den sich immer neu auftürmenden Problemen nicht zu verzweifeln, auch wenn die Ressourcen des Schiffs langsam zur Neige gehen. Schau sie dir doch an, schon jetzt, nach einem Bruchteil der Zeit, frißt sie die Ungeduld auf… Als ob alles getan wäre mit ein paar Algenzellen in der Atmosphäre. Der Boden hier ist unfruchtbar, giftig, soweit du nur sehen kannst, hier wird nichts wachsen. Und die künftigen Ozeane, so groß wie die irdischen werden sie längst nicht sein, dafür gesättigt mit Sulfaten, Chloriden, was weiß ich, womit noch… Vielleicht haben wir uns einfach falsch entschieden, uns eine absurde, viel zu große Mission ausgedacht, unwissend, wie wir waren und noch sind. Unrealistische Tagträume.

Wir starrten hinaus in das Sandtreiben, in die flackernden Schemen aus dichten Gasen und Staub. Andymon.

„Hörst du, wie der Plast ächzt?“ fragte er mich unvermittelt, wartete aber meine Antwort nicht ab.

„Hier auf Andymon wäre es nicht einmal sinnvoll, große Wohnkuppeln zu errichten, wir müßten schon sehr solide bauen, so solide, daß wir gleich im Schiff bleiben können. Alles wird hier zerweht und zerfressen, die Roboter fallen aus. Zum Glück ist es wenigstens nicht noch heißer. Gemäßigte planetarische Bedingungen - ein typischer Theoretikerausdruck… Vielleicht haben wir den falschen Planeten gewählt und die falsche Methode. Nummer fünf zum Beispiel, der hat eine sehr dünne Atmosphäre, dort ließen sich Wohnkuppeln fast beliebiger Dimension errichten. Oder wir könnten ein paar Monde umkrempeln oder Zylinderwelten ähnlich unserem Schiff bauen. Weshalb müssen wir unbedingt eine Vorgefundene Welt benutzen — vielleicht ist es günstiger, eine vom ersten Atom an selbst zusammenzusetzen … Nein, das sind wohl auch nur Träumereien..

Ich dachte daran, daß die Menschheit Millionen Arbeitsjahre investiert hatte, das Schiff zu entwerfen und zu konstruieren, daß wir selbst in kosmischer Isolation aufgewachsen waren — und das alles, um festzustellen, daß das Zielsystem keinen der Erde ausreichend ähnlichen Planeten besaß? Nie würde ich das glauben wollen! „Delth“, sagte ich dann leise, „Delth, wie alt sind wir? Ganze zwanzig Erdenjahre. Mindestens für weitere fünfzig haben wir Kraft. Stell dir vor, noch fünfzig Jahre lernen und forschen und arbeiten. Und bis jetzt waren wir praktisch allein, zu acht oder zu sechzehnt, wenn wir Jota und ihre Gruppe nicht beleidigen wollen. Bald werden wir hundert Geschwister haben, die nicht dümmer sind als wir. Und uns sollte es nicht gelingen, eine Schwierigkeit nach der anderen zu bezwingen?“

Meine Überlegung hatte etwas von einer Schulbuchaufgabe an sich, und ich wußte, daß es echte naturwissenschaftliche Grenzen gibt, die auch noch soviel Intelligenz und Fleiß nicht überwinden können.

„Nun ja“, sagte Delth, vom Sturm herangetriebener Sand rieselte über die gewölbte Fensterfläche. „Wir können hier leben, im Schiff oder auch anderswo. Hauptsache, wir bleiben zusammen und lassen uns nicht von Pessimismus übermannen. Solange wir ein Ziel vor Augen haben und dafür arbeiten, werden wir auch das längste Warten durchstehen. Selbst wenn zu unseren Lebzeiten kein Baum auf Andymon Wurzeln schlägt.“

Der Planet hatte in den wenigen Tagen, die wir um ihn kreisten, Delth verändert, er war nicht mehr der alle Zweifel vom Tisch wischende Kommandant des Schiffs.

Draußen brüllten die Triebwerke einer startenden Rakete auf, sie beförderte Mineralien ins Schiff, Halbmetalle, die das Schiff benötigte, um abgenutzte Teile zu ersetzen und um mehr und immer mehr Geräte und Ausrüstungen zu produzieren.

Ringsum heulten und pfiffen Milliarden Kubikkilometer giftiger Atmosphäre, knirschten Kontinente toten Gesteins. Andymon! Wir wollten den Planeten gründlich umformen — würde er nicht Gleiches mit Gleichem vergelten?

Aussaat

Über drei Wochen kreiste das Schiff um Andymon, wir alle hatten den Planeten betreten, doch noch immer hatte die eigentliche Umgestaltung nicht begonnen. Ich war mit der Errichtung eines Netzes von automatischen Überwachungspunkten beschäftigt, die uns eine weitgehende Kontrolle über alle Vorgänge in der Andymonatmosphäre gewährleisten sollten, doch nach und nach begann ich mich zu fragen, weshalb nichts Entscheidendes geschah.

Gamma, die mit den Genetikern zusammenarbeitete, zeigte sich nicht besonders gesprächig. Sie aß nicht im Speisesaal, kam jeden Tag spät aus dem Labor und war dann so zerschlagen, daß ich anfing, mir Sorgen um ihre Gesundheit zu machen. Und wenn ich sie fragte, antwortete sie: „Nichts Neues“ oder warf mir Brocken von Sätzen über irgendein Detail hin, das ich nicht einordnen konnte.

Eines Vormittags hielt ich die Ungewißheit nicht länger aus. Ich beschloß, meine Programme und Meßreihen zu verlassen, um nach Gamma und dem Stand der genetischen Arbeit zu sehen. Ich fand die Tür des Biolabors verschlossen, von innen verriegelt. Einen Augenblick glaubte ich an einen Unfall, eine Verseuchung, die die automatische Verriegelung ausgelöst hätte, nein, gleichzeitig und genauso automatisch wären wir alarmiert worden. Ich zuckte mit den Schultern, na schön, dann wollten sie eben nicht gestört werden. Unzufrieden trottete ich den Gang zurück.

Fith aus der dritten Gruppe kam mir mit erhobenen Händen entgegen. „Na, haben sie sich immer noch verbarrikadiert?“ fragte er und gab mir einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. Ich nickte. „Ja“, erklärte er mir grinsend, „seit sie uns vorgestern rausgeworfen haben, sperren sie ab. Die penetrante Neugier würde sie nur von der Arbeit abhalten. Das ist typisch Jota, nicht wahr? Und das Intercom haben sie auch abgeschaltet.“

Noch während wir miteinander sprachen, trat zögernd die kleine Daleta auf uns zu. Sie lächelte uns freundlich an und fragte erwartungsvoll: „Wie steht’s? Gibt’s was Neues? Wann sind die endlich fertig?“

Wären wir länger stehengeblieben, hätte sich ein Auflauf gebildet. Alle Wege des Schiffs schienen an der verschlossenen Labortür vorbeizuführen. Jeder wartete auf das entscheidende Ereignis.

Am nächsten Tag hing an der Tür des Biolabors ein mit braunem Filzstift fahrig beschriebener Zettel. Ich drängte mich in die Traube erregt diskutierender Gefährten, bis ich lesen konnte:

Forschungen verlaufen planmäßig.

Hilfe nicht nötig.

Mutationsrate weiter gesenkt. JOTA

Mich boxte jemand in die Seite, es war Shinth. „Beth, was ist eine Mutationsrate?“ fragte er.

Ich holte tief Luft, da fing mein Ohr eine unglaubliche Behauptung auf.

„Mir hat Ilona gesagt, in einem halben Jahr könne man frühestens mit einer brauchbaren Alge rechnen.“

Ein Schweigen der Enttäuschung. Die Geschwister standen betreten da, die Lippen zusammengekniffen oder zu Boden starrend. Dann brach sich Entrüstung Bahn.

„Was machen die nur im Labor?“

„Ruft Delth, Delth muß her!“

„Ist schon unterwegs.“

Tatsächlich kam er gerade herangeeilt. Inzwischen war es auf dem Korridor recht eng geworden. Alle redeten durcheinander. Delth bat um Ruhe. „Was wollt ihr denn?“ fragte er. „Was erwartet ihr? Ein Wunder? Sofort?“ Sein Blick, der mich traf, drückte Mißbilligung aus. Ich zuckte mit den Schultern, schließlich war ich nur zufällig hier. „Ein halbes Jahr ist euch zuviel? Ihr werdet noch länger warten müssen, warten und warten und warten…“

Es klang, als habe er Freude an dem Gedanken, jedoch wußte ich, daß dieser Delth genauso quälte wie mich oder die anderen - vielleicht sogar mehr.

„Jeder Tag, den wir jetzt länger warten, erspart uns vielleicht Jahre. Und unsere Geschwister wissen, was sie tun. Wenn sie sagen, es dauert noch so lange, dann haben sie ihre Gründe für diese Annahme.“

Ich schwieg, doch vor allem die Jüngeren murrten. Das Bulletin an der Labortür empfanden sie als Beleidigung ihres Informationsbedürfnisses. Ein Witzbold hatte das „planmäßig“ ausgestrichen und durch „im Sande“ ersetzt. Myth war gerade dabei, auch noch „nötig“ gegen „möglich“ und „Mutation“ gegen „Erfolg“ auszutauschen.

Delth, der begriffen hatte, daß eine bessere Information und ein klärendes Gespräch notwendig waren, trat an das nächste Intercom. Schadenfroh beobachtete ich ihn. Doch er mußte einen besonderen Code kennen, und nach einem erregten Wortwechsel nickte er uns zu. Weitere zehn Minuten noch standen wir vor geschlossener Tür, dann bequemte man sich zu öffnen.

Mißmutig beobachtete Jota, wie wir in ihr Reich drangen, die Aufschriften der Proberöhrchen lasen, durch die runden Fenster der Autoklaven schauten, an den Displays herumspielten.

Ich hatte inzwischen in einem Nachbarzimmer Gamma entdeckt. Sie schaute mich mit einem müden Lächeln an und war Minuten später wieder in ihre Arbeit versunken. Ich stand da und betrachtete sie. Was wollte ich eigentlich? Daß sie mir ständig hinterherlief? Ihr die Arbeit wegnehmen? Es war ein unschönes Gefühl, sich von der Alge auf Platz zwei verdrängt zu wissen. Ich räusperte mich, doch Gamma schaute nicht auf. Die Hände aneinanderschlagend, ging ich zurück. Irgendwann würden sie ja ihre dämliche Alge hochgepäppelt haben.

„Ja, es wird wahrscheinlich noch lange dauern“, bekannte Jota. „Wir vollziehen hier Evolution nach, einen Prozeß, der auf der Erde Jahrmillionen erfordert hat. Die gesamte automatische Forschungskapäzität unserer Biolabors ist voll äusgelastet. Für jede neue Algenmutante muß so viel getestet werden: Wie wird sie sich in den späteren Phasen der Transformation verhalten? Wie im Kontakt mit der Oberfläche? Wie im Kontakt mit den künftigen Meeren? Welche Mutationen sind möglich? Welche Einflüsse auf sie haben atmosphärische Entladungen? Kosmische Strahlung? Die mutagenen Substanzen in der Luft, am Boden, bei vulkanischen Eruptionen? In welche Richtung könnte eine Evolution dieser Alge verlaufen?“

„Seid ihr da nicht zu penibel?“ Fith unterbrach lässig Jotas Vortrag. „Vergeßt aber nicht, die Einwirkungen der Alge auf uns zu berücksichtigen!“

Zeth, der uns Eindringlinge bislang geflissentlich übersehen hatte, wandte sich ruckartig von seinem Elektonenmikroskop ab. „Ihr wißt anscheinend nicht, was wissenschaftliches Arbeiten bedeutet. Jede Unexaktheit kann sich hier bitter rächen. Da muß man die nötige Ausdauer aufbringen — und wenn es nötig ist, auch mal ein Jahr warten können.“

Einige der Geschwister lachten. Sicher hatten sie wie ich die Gerüchte über Zeths Wissenschaftsfimmel gehört. Angeblich aß er nur nach Tabelle und ließ sich sogar seinen täglichen Schlafbedarf ausrechnen.

„Wir können nicht einfach beschließen, daß wir das Ergebnis bereits haben“, fügte Zeth nach einer Pause finster hinzu.

Das vermochten wir sicher nicht. Aber wir konnten beschließen, welches Risiko wir eingehen wollten. Und darüber gab es eine lange Diskussion, in der wir viele Details besprachen.

Jota und ihre Arbeitsgruppe verpflichteten sich, ausführlichere Tagesbulletins auszuhängen. Sie waren erfinderisch genug, um sich auch diese die Forschungen nicht fördernde Arbeit von einem Computer erledigen zu lassen. Etwa ein halber Meter engbedruckten Papiers hing pünktlich neunzehn Uhr Bordzeit an der Labortür.

In den ersten Tagen wurden diese von Zahlen strotzenden Berichte sehr aufmerksam gelesen, und selbst die Zwölfjährigen lernten die Bedeutung der darin vorkommenden Parameter kennen. Dann erlahmte das Interesse allmählich. Wir fragten nach den Hauptkennzahlen und schenkten uns den Rest, schließlich hieß es nur noch: nichts Neues.

Nach einem Vierteljahr ereignislosen Wartens stieg unsere Risikobereitschaft sprunghaft. Gegen die Stimmen von Jota und Zeth, aber mit den Stimmen von Ilona und Gamma beschlossen wir, trotz restlicher Unvollkommenheiten der „Superalge“ die Aussaat zu wagen. Bedenklich erschien vor allem die zu hohe Mutationsrate. Doch ein weiteres Warten hielten wir für das geringere Übel. Und wir hofften, gegebenenfalls steuernd eingreifen zu können.

Dann war es soweit, in der Zentrale beobachteten wir den Start der zweihundert Kleinraketen, die je ein Kilo „biologisch aktiver Materie“ in der Atmosphäre versprühten. Der Hauptschirm zeigte den gesamten Planeten, aufgenommen von einem in einem sehr hohen Orbit kreisenden Satelliten. Eine Perlschnur heller Funken löste sich von dem leuchtenden Stern des Schiffs, verteilte sich über ganz Andymon. Die Aussaat begann.

„Seid fruchtbar und mehret euch!“ Mit diesen seine Bildung betonenden Worten gab Myth den Anstoß zu einer Vielzahl von lauten Wünschen und grandiosen Prophezeiungen.

Ich konnte die heftige Freude der Geschwister nicht völlig teilen. Zweifel mischten sich in sie. Zeth hockte da, er hatte den Kopf in die Hände gestützt und schüttelte ihn immer wieder. Perfektionismus oder berechtigte Skrupel — ich wußte es nicht. Ein paar Mutationen konnten nicht viel schaden. Völlig unterdrücken ließen sie sich sowieso nie. Oder? Was wir in die Wege geleitet hatten, ließ sich nie wieder rückgängig machen, ob es nun unseren Wünschen entsprach oder nicht. Im schlimmsten Falle, wenn sich Zeths oft ausgesprochene Befürchtung bewahrheitete, würde Andymon auf unabsehbare Zeit unbewohnbar sein mit einer Atmosphäre, in der Wellen unterschiedlichster biochemischer Prozesse aufeinanderfolgten, reduzierende und oxidierende Algenarten, Fotosynthese und Gärung und vielleicht noch völlig unbekannte Prozesse einander ablösten, mit Temperaturschwankungen um hundert Grad oder mehr, vielleicht mit einem völligen Zusammenbrechen der Atmosphäre oder einer Vergletscherung.

Zeths Befürchtungen waren nicht unbegründet. Doch wie immer hielt Andymon Überraschungen besonderer Art für uns bereit.

Mit eigenen Füßen ermessen

Teth sah müde aus, Ringe unter den Augen, ein Flaum von Bartstoppeln ums Kinn. Mühsam streifte er den Schutzanzug ab, an dem noch Spuren von Schmutz klebten. Er holte tief Luft, erwiderte meinen Blick und fragte unerwartet: „Weißt du, wie groß Andymon ist, Beth?“

„Natürlich“, sagte ich, wie sollte ich die Parameter unseres Planeten nicht kennen, „Durchmesser 11450 Kilometer, Masse 4,36 mal 1021 Tonnen, Oberfläche 414 Millionen Quadratkilometer, Äquatorialumfang 36000 Kilometer.“

Und nach der Umgestaltung konnten wir mit 73,2 Prozent Landfläche rechnen, die drei riesige Meere umschließen würde — das irdische Bild vom Weltmeer und den darinliegenden Kontinenten auf den Kopf stellend.

„Nichts verstehst du“, sagte Teth triumphierend, „gar nichts. Ich wollte wissen, wie groß Andymon ist. Ich bin gelaufen, geradewegs nach Norden, immer der Kompaßnadel nach… Meine Füße, Beth, kannst du mir nicht helfen, die Unterschuhe auszuziehen? Ich habe Blasen, bestimmt riesige Blasen..

Er hatte sich tatsächlich beide Füße wund gelaufen. Die Blasen waren bereits aufgeplatzt, und ich mußte sie behandeln.

„Wozu rennst du auch in der Wüste herum“, tadelte ich ihn, „die Gegend sieht doch überall gleich aus. Und morgen kannst du keinen Schritt mehr gehen.“

Teth schüttelte nur den Kopf, sein Gesicht war schweißbedeckt. „Bin ich vielleicht gelaufen, bis über den kleinen Höhenzug, weißt du, Stunde um Stunde, bis ich nicht mehr konnte, und dann immer noch ein Stück und immer noch eins… Au, sei bloß vorsichtig!“

Gnadenlos zog ich ihm die Socke vom anderen Fuß. Der Spray würde rasche Linderung bringen.

„Merk dir, Teth, du bist hier nicht im Totaloskop, wo du probieren kannst, was Schmerz, Erschöpfung, Tod ist, wo du nach dem Sprung ins Nichts unversehrt wieder aussteigst.“

Mitleidig schaute er auf mich herab. „Aber Beth, versteh mich doch, das ist ein ganzer Planet, ein Himmelskörper, ein Wandelstern! Weißt du, was das heißt, wie groß so ein Ding ist? Komm mir nicht wieder mit Zahlen, du hast ja keine Vorstellung davon. Schaust dir das Ding nur von draußen an, aus dem Kosmos, da sieht Andymon aus wie ein Ball, und du meinst, du könntest mit ihm spielen. Dann landest du mit der Fähre hier, läufst drei Schritt nach links, drei nach rechts, ziehst dich hinter die sicheren Wände der Station zurück und denkst, jetzt habe ich Millionen Quadratkilometer betreten, und schickst die Roboter vor. Aber Andymon verstehst du noch lange nicht, begreifst nicht, was das sind: Gebirgsketten, Wüstenzonen.“

Teth schniefte, die erregten Worte hatten ihm den Atem geraubt, doch der Stolz, Andymon die Stirn geboten zu haben, ließ ihn fortfahren. „Ich hab’s probiert, Himmel, was bin ich gelaufen. Zwanzig Stunden durch Geröll und Sand und über Klüfte und Felshalden. Schau auf der Karte nach, es ist nur ein winziges Strichchen, mit dem Kopter brausen wir in ein paar Sekunden darüber weg. Und mit dem ist es bis zur Station fast eine Stunde, und um Andymon zu umfliegen, brauchst du mehr als einen Tag. So klein sind wir, so winzig…“

Ich sorgte dafür, daß unser Romantiker ins Bett kam, ohne mit seinen Füßen den Boden zu berühren. Fast augenblicklich schlief er ein.

Später bin auch ich über die endlosen Ebenen Andymons gewandert. Es waren eigene Erlebnisse nötig, bis ich einen gewissen Eindruck von seiner Größe hatte, bis ich seine wahren Dimensionen erfaßte. Und noch heute, wenn ich mit jüngeren Geschwistern durch weites kultiviertes Land oder durch die wohl auf Generationen unermeßlichen Gebiete der Wüste oder des Wildwuchses wandere, denke ich manchmal, daß ein Leben nicht ausreicht, um zu verstehen, wie groß unser Andymon wirklich ist.

Kristallbaum

Wir nahmen Abschied von Andymon, Gamma und ich. Bald würde aus kilometerstarken Wolken ein tosender Regen niederprasseln, alles in Schlamm versenken. Bald würden Stürme toben, Orkane, denen nicht einmal Felsen gewachsen waren. Schon ließ sich das verstärkte Brodeln der Atmosphäre messen.

Wir wollten Andymon ein letztes Mal sehen, so wie er War, bevor Menschen ihn betraten, den rohen, steinigen, toten Planeten. Und wir wollten wenigstens einmal allein über den ursprünglichen Andymon wandern. Natürlich existierten Hologramme von ihm, aufbereitet für die Totaloskope, den kommenden Generationen zur Erinnerung. Trotzdem war es für uns ein Abschiednehmen. Ein Abschied ohne Wehmut — bis wir den Kristallbaum fanden.

Mit dem Rover hatten wir uns einige Kilometer von der Station entfernt, nun stiegen wir aus, um zu laufen, soweit es die Sicherheitsregeln zuließen. Ich hielt Gamma an meiner plast- und metallverkleideten Hand, vorwärts stapften wir, schräg gegen den Wind gebeugt, der von rechts blies. Kleine Steine rollten über unsere Skaphanderschuhe, Andymon knirschte in allen Felsspalten. Wir redeten kein Wort, hörten nur das amelodische Brausen Andymons.

Ohne besonderen Grund steuerten wir eine Schlucht an, vor deren Eingang Staubhosen Wächtern gleich standen. Vorsichtig umgingen wir sie. In der Schlucht wehte uns ein Sturm entgegen, daß wir kaum vorwärts kamen und nur selten den Blick heben konnten, um die zerrissenen, vom Wind ausgeschliffenen, von Steinstürzen zernarbten Wände zu betrachten. Näher tretend, erkannten wir die abstrakten Muster der Geologie, feine Äderungen im Gestein, hier und da ein Schimmer von Quarz, rötliche Einschließungen, schwarze Streifen.

Wir liefen weiter, es war, als hätten wir immer so laufen können durch diese rauhe, urtümliche, widerspenstige Welt, so unvergleichlich mit der gepflegten Ökologie des Schiffs.

Später entdeckten wir zur Rechten eine Höhle, einen nach oben spitz zulaufenden Spalt im steilen Hang. Gammas Hand drückte die meine. „Vorsicht!“

Wir mußten uns niederbeugen, um die Höhle zu betreten. Doch dann wölbte sie sich zu einem vorweltlichen Dom. Plötzlich flammte es im Licht unserer Helmscheinwerfer hell und rot auf, so daß wir überrascht zurückschraken.

Wie eine bizarre Koralle stand der Kristallbaum vor uns, strahlte je nach Einfallwinkel des Lichts in tiefstem Ultramarin, in hellem Kirschrot. Seine unzähligen spitzwinkligen Verästelungen gleißten karmin und violett, nur die feinsten äußersten Kanten umsäumte ein metallisches Grün.

Wir gingen näher und riefen dabei eine Sturzflut roter Spektren hervor. Wie zart die Ästchen waren, wie Filigran ineinander verflochten! Und wie aus klarem Glas, rosa durchsichtig, sie brachen das Licht, ließen immer neue Reflexe auf ihrer glatten, exakt begrenzten Oberfläche tanzen.

Ein Naturspiel, das schon Jahrmillionen hier stand im ewigen Schatten der Höhle, nie von einem Lichtstrahl getroffen, nie leuchtend, nie von einem Augenpaar bestaunt, ein schwarzer Schemen, dunkel und tot, ein vergebliches Wunder. Kurz, allzukurz erwachte der Kristallbaum nun zum Leben im Schein unserer Helmleuchten — wenige Wochen später würden Schlammassen die Höhle überschwemmen.

„Da ist nichts zu machen“, sagte Gamma zögernd. „Wir haben uns entschieden. Das ist der ursprüngliche Andymon, und ich hätte nie geglaubt, daß er so etwas Prächtiges hervorbringen könnte. Aber er muß vergehen, all diese Pracht hier wird vergehen, denn wir wollen hier leben. Er war nie zu etwas nütze, dieser Kristallbaum, wir dürfen ihm ebensowenig nachtrauern wie den Staubstürmen, die unsere Beobachtungsautomaten verschütten. Und wenn er noch so schön ist, Urandymon, wir brauchen einen Planeten, auf dem wir leben können.“

Ich nickte, eine sinnlose Geste im Skaphander. Flammende Wellen aus Purpur und Zinnober liefen über die ebenfalls mit roten Kristallen besäten Höhlenwände.

„Ja“, erwiderte ich, „was aber, wenn der Kristallbaum belebt wäre, was, wenn gleich unsere erste Sonde Leben auf Andymon vorgefunden hätte? Geologische Gebilde zertreten wir mit Berechtigung, was aber mit Leben?“

Gamma schwieg lange. Ich starrte auf den armdicken Stamm des Kristallbaumes, er zeigte mir tausend Facetten, blutrot und fast braun und strahlend hell reflektierend; bei jedem Atemzug, jeder kleinen Bewegung veränderte sich das Mosaik, das sie bildeten. Schon wollte ich meine Frage wiederholen, da antwortete Gamma: „Es wäre wohl ein Problem des Entwicklungsniveaus, so wie wir uns nicht in die Angelegenheiten fremder Zivilisationen einmischen, sowenig würden wir hochentwickeltes Leben vernichten. Angenommen, es gäbe nur Einzeller, da hätte ich keine Bedenken. Aber vielleicht ist ein belebter Planet, und seien es auch nur primitivste Ansätze, Vorformen, wissenschaftlich so wertvoll, daß eine Besiedlung ungerechtfertigt wäre. Du kennst die Schätzungen, wie rar Leben im Kosmos ist.“

Sich vergessen, in Träume verlieren und vollsaugen mit Bildern, mit Erinnerungen. Nur keine Farbnuance, keine ungewöhnliche Verästelung übersehen. Überflutet von einem unwirklichen Licht, so standen wir, bis mich der Skaphandercomputer daran erinnerte, daß es Zeit sei, zum Fahrzeug zurückzukehren. Wir hatten Geologenwerkzeuge bei uns und einige Plasttüten. Es widerstrebte mir, den Kristallbaum zu verletzen, überall ragten kleinere Büschel aus dem Boden, wir sammelten mehrere Kilo ein.

Hastig und schweigend kehrten wir zurück, immer noch unter dem Zauber des Kristallbaumes stehend. Der Planet, der sonst in gelben und braunen Tönen geprunkt hatte, erschien uns nun blaß und grau. Vom Rover aus verständigten wir die Geschwister. Eine Stunde später waren wir an Bord des Schiffs. Andymon betraten wir erst nach der Umgestaltung wieder.

Wir diskutierten Möglichkeiten der Rettung des Kristallbaumes, doch es war zu spät, wäre wohl auch früher nicht sinnvoll gewesen. Die Geschwister brachten weitere Proben mit, ganze Kisten voller gläserner Äste. Wenige Tage später hörten wir, daß der Kristallbaum „dahinwelke“, grünlichgrauer Schleim überziehe seine Oberfläche — die Superalge hatte ihn entdeckt. Es war ein Zeichen auch für die letzten, endgültig ins Schiff zurückzukehren.

An Versuchen, den Kristallbaum synthetisch nachzuzüchten, hat es nicht gemangelt. Er wurde bis ins kleinste analysiert, seine Kristallstruktur und die Natur der physikalischen Effekte, die zu seiner Entstehung führten, sind bekannt. Aber bislang hat keiner eine Methode gefunden, das Jahrzehntausende dauernde natürliche Wachsen, das Anlagern von Atomschicht um Atomschicht, beschleunigt nachzuahmen. Auch zerfielen die meisten unserer Proben bald. Zu starke Lichteinwirkung, Temperaturschwankungen, falsche Zusammensetzung der Luft, so vieles war diesem zarten Kristall gefährlich.

Jetzt, viele Jahre später, bringt Ainth Imitationen des Kristallbaums aus Piacryl in Umlauf, die er als Kunstwerk, als Plastik bezeichnet. Ich fürchte, daß schon die nächste Generation auf den Gedanken verfällt, zu bestimmten Festen diese künstlichen Kristallbäume aufzustellen.

In hundert Jahren vielleicht werden sie nach ihm suchen, unsere Nachfahren, in den tiefen Klüften und verborgenen Höhlen unwirtlicher Gebirge. Wunder vergehen nicht. Und der Glückliche, der ihn erblickt, wird einen Wunsch frei haben, wie die Sage erzählt.

Lauf im Kreis

Diese Jahre, in denen wir auf der Stelle zu treten schienen! Ra, die Sonne Andymons, umkreiste das Zentrum der Galaxis. Andymon umkreiste Ra. Das Schiff umkreiste Andymon. Und wir umkreisten das Schiff.

Einmal um den Naturpark, wenn du die Ungeduld nicht mehr erträgst. Einmal um den Naturpark, wenn dir dein Zimmer, die Labors, die Aufenthaltsräume zu eng werden. Einmal um den Naturpark, wenn du den Planeten auf dem Bildschirm nicht mehr sehen kannst — oder die mürrischen Gesichter deiner Geschwister.

Was sind wir in dieser Zeit gelaufen! Einen breiten Trampelpfad rund um unsere Miniaturwelt haben wir hinterlassen. Und wie oft mag ich ihn entlanggerannt sein durch die bescheidenen Urwälder des Naturparks, vorbei am See, durch die Wiesen mit hohem Gras, Vögel mit meinem Keuchen aufscheuchend. Oft allein, manchmal mit Gamma, selten nur zusammen mit anderen Geschwistern. Und wenn das Herz bis zum Hals schlug und jeder Atemzug stechend die Lunge durchfuhr, konnte ich den Planeten für die Stunde des Schwitzens vergessen und in der Bewegung Ruhe finden.

Dabei hatten wir in den ersten Tagen und Wochen nach der Aussaat mit anhaltender Begeisterung auf den sich verändernden Andymon geblickt. Es tat sich etwas! Unser Plan, in Aktion gesetzt, schlug an. Mit welcher Euphorie verfolgten wir die täglichen Berichte zum Zustand der Andymonatmosphäre, die die Ausbreitung unserer Alge genau beschrieben. Der Abfall des Luftdrucks um ein Millibar, eine kaum meßbare Veränderung der chemischen Zusammensetzung — es funktionierte. Aber dann, nach wenigen Wochen, schien alles zu erstarren, die Sättigungskonzentration der Alge war erreicht, die Umwandlung hatte ihr maximales Tempo gefunden. Wir lasen die Zahlen, fragten uns: Ist das wirklich der Bericht von heute? Es ging nicht mehr vorwärts. Die Umgestaltung des Planeten brauchte ihre Zeit. Damals schon begannen die ersten durch den Naturpark zu rennen.

Einmal noch, nach einem halben Jahr, wurden wir alle aufgerüttelt, und unterdrückter Jubel verbreitete sich. Es war der Tag, an dem ein subpolarer Meßpunkt die ersten Niederschläge meldete. Wenige Tage später regnete es auf ganz Andymon, Millionen Tonnen Wasser, vermischt mit Staub, Salzen, Kohlenwasserstoffen, prasselten auf Andymon nieder. Es wurde eine Sintflut ohne Ende, unsere Meßgeräte ertranken reihenweise oder wurden von Schlamm verdeckt. Und Andymon erwachte langsam, aber unaufhaltsam zu seismischer Aktivität.

Vom Schiff aus war nichts davon zu spüren, auf dem Bildschirm sah der Planet aus, wie er immer ausgesehen hatte, ein fleckiger, gestreifter, graubraunrötlicher Ball. Lediglich Zahlen verkündeten die gewaltigen Veränderungen, die begonnen hatten — und auch sie zumeist nur in der letzten Dezimale. Und wir liefen im Kreis, die endgültige Route hatte sich herausgebildet.

Dann kamen die Hochrechnungen. Ich selbst hatte bislang bewußt darauf verzichtet, zu überschlagen, wie lange wir noch im Schiff ausharren müßten. Mit gutem Recht. Es war deprimierend. „Noch acht Jahre nach der optimistischsten Schätzung“, beklagte sich Nya, „noch acht Jahre, wie soll ich das aushalten, das ist ja fast die Hälfte meines Lebens.“

Wir rannten, als könnten wir so die Zeit schneller vorantreiben. Acht Jahre Däumchendrehen - und um Andymon kreisen, den trägen Planeten. Wir redeten nicht mehr von ihm. Und wenn, dann vermieden wir den viel zu angenehmen, sehnsuchtsvollen Namen, sagten einfach „der Planet“. - „Nein, der Planet macht nichts Neues, woher sollte er auch!“

Uns fiel ebenfalls nichts Neues ein, wir liefen nur, öfter, länger und schneller. Für unsere Bahn rund um den Naturpark mußte eine Begrenzung angegeben werden, damit sie sich nicht übermäßig verbreiterte.

Bis jetzt hatten wir immer harte Ziele und eilig zu erledigende Aufgaben gehabt, es hatte keine Rast gegeben - und nun?

Selbstverständlich wurde der Planet überwacht, aber das besorgten Automaten. Zwar konnten wir einiges untersuchen: die Monde Andymons, die anderen Planeten des Systems. Einige Sonden wurden zusammengesetzt und gestartet, doch es dauerte Monate und Monate, ehe sie auch nur in die Nähe der Planeten gerieten. Und wir liefen inzwischen im Kreis.

Nur die Monde lagen so nahe, daß an einen Besuch zu denken war. Doch Delth hielt uns zurück. „Wir haben viel Zeit, denkt daran. Das Schiff hat keine unbegrenzten Ressourcen, der Wasserstoffvorrat geht zur Neige, ein paar Dutzend Flüge sind noch möglich, mehr nicht, wir müssen mit unserer Energie haushalten.“

Wir rannten und verausgabten unsere überschüssige biologische Energie.

Eine Weile fruchteten Delths Ermahnungen, und die erste Gruppe stand geschlossen hinter ihm. Jeder im Schiff kannte bald den Stand der Reserven an Material, chemischem Treibstoff, Bausteinen für Sonden und Stationen. Uns war, als dürften wir nicht mehr voll durchatmen. Haushalten müssen, das war ein Fremdwort in unseren Ohren. Bislang galt uns die Technik des Schiffs, seine Macht als unerschöpflich, unaufbrauchbar. Nicht nach Belieben im All herumfliegen zu dürfen, das war, als ob man uns das Rennen durch den Naturpark verbot.

Es existierten natürlich andere Wege, die große Langeweile zu überbrücken. Die Flucht ins Totaloskop stand immer offen.

Die fünfte und die sechste Gruppe hatten nur wenige Monate mit uns zusammengearbeitet, jetzt wäre es an der Zeit gewesen, daß sie sich hinter die Lehrmaschinen setzten, bastelten. Doch das schien ihnen nun zu abgeschmackt, zu realitätsfern und zu kindisch. Sie hatten mit uns Großen auf einer Stufe gestanden, hatten Andymon mit erkundet, die kompliziertesten Geräte bedient, sogar bei der Entwicklung der Superalge geholfen — und sollten jetzt wieder büffeln? Wer hätte ihnen das befehlen können? Etwa die Großen? Die gerade nicht! Etwa die Guros? Dieses Kinderspielzeug? Die blöden Automaten, deren Knöpfe man mittlerweile kannte? Lächerlich!

Es war eine stille Rebellion, sie verschlossen ihre Ohren und verschwanden im Naturpark, nicht um zu rennen, sondern um möglichst weitab von den Kindern und von uns ein eigenes Leben zu führen, ein Leben mit freiester Liebe, die für sie noch der Kitzel der Älteren war. Wir betrachteten sie als Urhorde, in deren Angelegenheiten man schon deshalb nicht eingreifen konnte, weil man dabei riskierte, zusammengeschlagen zu werden.

Doch soviel wir auch im Kreis laufen würden auf der harten, graslosen Narbe, langfristig gab es für uns nur ein Ziel, eine Aufgabe, ein Interesse: Andymon. Und wenn der Planet uns jahrelang enttäuschte, nun, das würde vorübergehen, wir würden zu ihm zurückkehren, vorausgesetzt, wir verbrauchten uns nicht in der langen Zeit des Wartens.

Zu den Monden

Um Andymon kreisen zwei Monde, Gedon und Ladym. Nachts, wenn ich aus dem offenen Fenster schaue, kann ich in diesen Tagen den einen oder den anderen als hellen gelben Knopf oder kleine Sichel am dunklen Himmel sehen. Nicht halb so groß wie der Erdmond, vermögen sie auch unsere Sonne nur zu einem geringen Teil zu verdecken, Andymon kennt keine totalen Sonnenfinsternisse, sondern nur Monddurchgänge. Kneife ich die Augen zusammen, um die Monde schärfer zu sehen, kann ich auf der winzigen Scheibe Gedons hellere Gebiete und dunkle Flecken ausmachen. Und dort, an einem dieser Ausläufer, befand sich unser erster Stützpunkt.

Auch damals, in der Zeit, in der wir den Planeten nicht betreten konnten und in der alles zum Stillstand gekommen zu sein schien, wandten wir unsere Blicke häufig zu den Monden.

Einmal, als ich mit Delth gemeinsam die leere Zentrale betrat, leuchtete Gedon vom Hauptschirm herab. Unwirsch schaltete Delth den Schirm ab. „Sie starren mir zu oft in die Monde, die Kleinen. Erst aus voller Brust ‚Vivat Andymon!‘ rufen und ihm dann bei der ersten Schwierigkeit untreu werden.“

Ich zuckte mit den Schultern. Jede Gruppe hatte ihre Spezialaufgaben und Vorlieben. Weshalb sollten sich Daleta, Gimth, Mega und die anderen aus der vierten nicht für die Monde interessieren?

„Dabei gebe ich zu, die vier Mondorbiter waren — rein wissenschaftlich gesehen - ein großer Erfolg, aber…“ Er zögerte, trat an einen Computer und tippte Befehle ein. Auf dem Display erschienen vielfarbige Diagramme. „Das sind unsere Energie- und Materialreserven. Sparsam verwendet, können sie noch für viele Generationen reichen.“

„Generationen?“ Ich hatte ein Gefühl, als ob mein Herzschlag für eine Sekunde aussetzte.

„Generationen. Ich muß jedenfalls in Betracht ziehen, daß keine evolutionären Wunder geschehen, noch dazu bei Andymon. Und Jotas und Ilonas Hochrechnungen… Sie haben vielleicht nur ihre Wunschträume hochgerechnet.“

Ich unterbrach ihn. „Auch Gamma hat…, die Szenarien sind wohlfundiert und…“

Er winkte ab. „Ich hoffe das gleiche wie du. Aber ich mißtraue meinen Hoffnungen. Einer muß klaren Kopf behalten. Darf sich nicht blenden lassen. Muß alle Möglichkeiten sehen. Vivat Andymon!“

Wie ein wütender Klavierspieler hieb Delth auf die Berührungselektronik der Tastatur ein. Neue Abschätzungen flammten auf den Displays auf.

„Vielleicht müssen wir sogar das Schiff auf Eis legen. Für Jahrtausende womöglich. Die Inkubatoren abstellen. Die Systeme entaktivieren. Und auf unser Ende warten. Das Schiff muß so tot sein wie während der Großen Reise, darf erst wieder erwachen, Menschen erzeugen, wenn der Planet die Metamorphose hinter sich hat. Vivat Andymon… Aber dazu benötigt das Schiff Energie, viel Energie, fast die gesamten Reserven.“ Er lachte bitter. „Und nun kommen sie, brav, emsig, treuherzig. Legen mir ein Bündel Pläne vor: Errichtung von Stationen auf Gedon und Ladym. Abbau der Erze. Aufbau von Kraftwerken zur Erzeugung von Wasserstoff — Wasserstoff, der unserem Schiff fehlt. Hört sich herrlich an, nicht wahr?“

Und wieder liefen Zahlen und schematische Darstellungen in schneller Folge über den Display. Ich beugte mich über Delths Schulter, um sie genauer lesen zu können.

„Man sollte ihnen für ihre gute Idee die Hände schütteln, die Geschwister zusammenrufen und das ‚Mondprojekt‘ beschließen, nicht?“ fuhr Delth fort. „Nur ein winziger Haken: Es verbraucht siebzig Prozent unserer Energiereserven, von dem Einsatz an Fähren und Materialien will ich gar nicht reden. Und der Ausgang, der Erfolg dieses Projektes ist durchaus ungewiß.“

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen, alle Varianten bis ins letzte durchrechnen, die Wahrscheinlichkeiten einschätzen…“

„Wahrscheinlichkeiten einschätzen — Beth! Du bist naiv. Du brauchst nur den schlimmstmöglichen Fall zu analysieren. Ohne alle großartige Systemanalyse kann ich dir das Ergebnis schon jetzt sagen: In den Jahrzehnten, Jahrhunderten, wo sich der Planet verwandelt, stirbt das Schiff mangels Energie. Vivat Andymon! — Nein, ich will keine Diskussion. Keine, in der ihr alle nur rosa Wunschbrillen tragt.“ Gegen Delths Sträuben stellte die vierte Gruppe ihre Pläne zur Diskussion. Delth war nicht der einzige, der Bedenken vorbrachte. Aber keiner wehrte sich so entschieden wie er gegen das Mondprojekt. Am Schluß der Debatte stand er praktisch allein gegen die Geschwister.

Anschließend fand ich ihn und Alfa auf dem Gang zur Zentrale. Alfa hielt ihm erregt vor, daß er Daleta und ihre Gruppe diskriminiere, wenn er deren Pläne einfach als naive Tagträume bezeichne. Sie griff mit den Händen durch die Luft, als suche sie nach Worten. „Langsam glaube ich selbst, daß du sie nur länger im Schiff, also unter deiner Herrschaft, halten willst, wie Gimth behauptet.“

Delths Gesicht war krebsrot. Er wußte, daß er sich, auch wenn wir ihn alle als fähigen Kommandanten anerkannten, einzig und allein auf seine Überzeugungskraft stützen konnte. Und jetzt, bei einer Überlebensfrage, ging ihm diese ab! Mit geballten Fäusten lief er im Gang auf und ab.

„Lenk doch ein, wir reiben uns sonst nur auf“, bat Alfa.

„Fall mir nicht in den Rücken“, fuhr er sie an.

Ich sah, wie er durchatmete, um sich zu beruhigen. „Tut mir leid“, sagte er zu ihr. Dann sah er mich.

„Du wärst mir auch keine große Hilfe jetzt“, schimpfte er. Er boxte mich in die Seite. „Dabei müßtest doch wenigstens du, Beth, ein Einsehen haben. Daß man ihnen diese Gedanken partout nicht austreiben kann. Manchmal möchte ich sie übers Knie legen. Mistplanet! Daß sie einfach nicht warten können… Man muß sich eben beherrschen!“

Obwohl ich die Lage weniger kritisch beurteilte, konnte ich Delth, dessen Sorgen und den Druck seiner Verantwortung gut verstehen. „Es ist nun mal für uns alle schwer. Und den einen trifft’s mehr, den anderen weniger. Jeder sucht seine Methode, um darüber hinwegzukommen - über die Zeit. Sie haben Pläne geschmiedet. Die sind nicht völlig unvernünftig, Delth. Die können wir nicht einfach zerreißen. Sonst setzen sie sich über uns hinweg. Und wenn wir eine realisierbare Variante fänden, dann wäre uns allen geholfen.“

„Ach Beth“, plötzlich klang seine Stimme müde, „kommst du mir jetzt auch damit. Wir können nur warten. Siehst du nicht, daß sie lediglich ihren Wunsch, das Schiff zu verlassen, was zu erleben, in Pläne umgesetzt haben — als ob ich nicht auch auf Andymon wollte!“ Er ließ mich stehen und ging in seine Kabine.

Wenn ich daran dachte, daß uns - nach den Hochrechnungen Gammas - weitere acht Jahre der Gefangenschaft bevorstanden, war es kein Wunder, daß sich die Geschwister so verzweifelt an das „Mondprojekt“ klammerten, für das sie immer ausgefeiltere, günstigere Varianten erarbeiteten.

Nach einer Woche verstummte der Streit, und plötzlich fühlte ich wieder die alte Arbeitsatmosphäre, in der jeder sein Bestes gab. Kleine Arbeitsgruppen bildeten sich, um die Pläne zu überprüfen, neu zu kalkulieren.

Allein Delth blieb skeptisch. ‚ Jetzt hast auch du dich anstecken lassen, Beth. Bei Alfa konnte ich das noch verstehen, die muß sich immer einfühlen, aber wenn sogar du…“

„Delth“, ich klopfte ihm auf die Schulter, „Delth, es ist nicht einfach, aber ich bin überzeugt, daß die Kraft des Schiffs ausreicht.“

„Na schön“, sagte er resignierend. Es wäre ja auch ein Wunder gewesen, wenn Delth sich sofort hätte überzeugen lassen.

Die Arbeit auf den Monden begann nach vier Wochen gründlichster Vorbereitung. Und sie war erfolgreich. Beinahe hätte sie uns glücklich gemacht.

Mission ohne Rückkehr

Andymon, der Planet, wütete. Wir konnten es sogar mit bloßen Augen vom Schiff aus sehen: Neu entstandene bräunliche Schlieren durchzogen die Atmosphäre, bildeten ausgefranste Bänder am Äquätor und weitläufige, hellere Strudel in Polnähe. Täglich veränderten sich die verschmierten dreckfarbenen Muster.

Der Planet wütete. Hörbar. Alarm! schrillten die Notfallklingeln des Computers, wenn die Signale eines weiteren Meßpunktes aussetzten. Im Schlamm versackt, von Lava überflutet, unter Staub begraben, auseinandergebrochen, zertrümmert, wir wußten nicht, wie die einzelnen automatischen Meßeinheiten zerstört wurden. Alarm! — Wir stellten die Klingeln ab. Es genügte zu sehen, daß im Übersichtsbild ein weiterer grüner Punkt erlosch. Ohnmächtig beobachteten wir, wie der Planet unser Überwachungsnetz zerriß. Nur aus der Hochatmosphäre erhielten wir noch Luftproben und Proben der Algen.

Wir schickten drei Sonden hinab, zwei kamen an, aber ihre komplizierten Instrumente litten unter den abrupten Temperaturschwankungen und ständigen Bodenstößen, mit denen die Planetenkruste auf die veränderten Belastungsverhältnisse reagierte. Und wo die Plastversiegelung aufbrach, drangen feinster Staub, aggressive Gase oder salzhaltiges Wasser ein.

Jota lief gegen ihre Gewohnheit völlig aufgelöst mit zerzaustem Haar und finsterem Gesicht durch die Korridore. Und wer sie ansprach, bekam ihre Anklage zu hören: „Ich habe euch gewarnt, es war zu früh! Warum habt ihr mich die Tests nicht beenden lassen? Warum mußtet ihr dieses Monstrum mit einer viel zu hohen Mutationsrate aussetzen? Jetzt seht ihr das Ergebnis: Eure Superalge verändert sich völlig unkontrolliert. In der Hochatmosphäre schwirren die absonderlichsten Mutanten herum. Und wie es am Boden aussieht, wissen wir nicht. Wehe, wenn sich die falsche Mutante verbreitet, dann bricht alles zusammen. Und wir können nichts dagegen unternehmen, weil uns die Proben fehlen. Wir können uns gleich einen neuen Planeten suchen. Ich habe euch gewarnt!“

Jotas Worte machten uns bestürzt. Und wir hatten nur eine begrenzte Anzahl Sonden in Reserve. Der Planet wütete mit unverminderter Gewalt, und ich schlief schlecht, wälzte mich, als sei ich selbst einer unserer trudelnden Flugkörper.

„Ich schau mal unten nach, hol ein paar Proben rauf und setze ein paar stabilere Stationen hin“, sagte Delth während des gemeinsamen Frühstücks am nächsten Morgen, als ob es sich um belanglose Arbeit am Computer handelte.

„Nein“, rief Alfa erschrocken, „Delth, das ist Wahnsinn, seit Monaten durfte niemand mehr auf den Planeten.“

Delth streichelte ihre Hand. „Aber Alfa, reg dich nicht auf… Wir dürfen nicht noch mehr Sonden verschwenden. Automaten sind für den Planeten nicht flexibel genug — und außerdem, neuerdings fliegt ja jeder, wohin es ihm behagt.“

Letzteres bezog sich auf die beginnenden Arbeiten auf den Monden. Delth stand ihnen weiterhin skeptisch gegenüber.

„Von mir aus können wir Sonden verschwenden“, erwiderte Alfa ernst, „aber dich haben wir nur einmal.“ Sie zog ihre Hand unter der seinen weg.

„Du redest ja, als ob so ein Flug sonstwie gefährlich wäre… Außerdem muß es sein. Andymon entgleitet unserer Kontrolle sonst völlig.“

Es war ein verwegener Entschluß, ganz Delth, aber die Notwendigkeit leuchtete mir sofort ein.

„Die letzten Daten stimmen mit der Hochrechnung nicht mehr überein, die Alge verändert sich, da ist etwas im Gange… Ich fliege, der Lander ist schon ausgerüstet.“

Die weiter entfernt sitzenden Geschwister verstummten und schauten Delth bewundernd an. Ich sprang auf. „Ich komme mit!“ „Macht keinen Unsinn! Auf den Planeten fliegen? So wichtig können die paar Daten nicht sein, daß es sich lohnt, für sie den Hals zu riskieren“, rebellierte nun Gamma. Sie faßte mich am Arm und zog mich auf meinen Stuhl zurück. Mit zornig funkelnden Blicken hielt sie mich auf meinem Platz fest.

„Delth, das lasse ich nicht zu, es ist zu gefährlich, von drei Sonden ist eine verschollen!“ Alfas Stimme hatte eine ungewohnte Festigkeit.

Teth nickte, er hatte die Sonden maßgeblich konstruiert. Doch dann sagte er: „Ach was, die kleinen Sonden, die halten natürlich nicht viel aus. Lander sind stabiler, manövrierfähiger.“

Delth hatte seinen Entschluß sicher längst gefaßt. Er schaute mich an. „Ich werde allein fliegen, Beth. Ich habe so viele Meßstationen in den Lander gepackt, da bleibt für dich kein Platz.“

Ich ärgerte mich, eine Station mehr oder weniger… Delth stand abrupt auf und verließ, ehe wir weiter auf ihn einreden konnten, den Speisesaal.

„He, Delth, warte!“ rief ich ihm hinterher. Gamma stellte sich mir mit der ganzen Autorität ihrer kleinen Person entgegen.

„Ihr müßt ihn zurückhalten“, sagte Alfa, blickte dabei von mir zu Zeth, zu Ilona.

Ich zuckte mit den Schultern, und Zeth erhob sich unschlüssig. „Wenn er unbedingt will..

„Ich habe schreckliche Angst um ihn“, gestand Alfa.

Aber was konnte denn schon passieren? Bislang hatten all unsere Unternehmungen ein glückliches Ende gefunden. Rammas hatten uns umsorgt, Guros auf uns aufgepaßt, der Computer des Schiffs hatte unsere Schritte vorausberechnet und Gefahren aus dem Weg geräumt.

Angst? Wir und Angst? Lächerlich!

„Ich versteh dich ja, Alfa“, antwortete, für uns überraschend, Eta, „er ist immer noch so unvorsichtig. Aber hast du ihm nicht angesehen, daß er etwas tun muß? Ihm wird das Schiff auch zu eng, er redet nur nicht darüber. Und dazu die letzten Wochen… Alles läuft ihm gegen den Strich. Wir überstimmen ihn mit dem Mondprojekt, verpulvern die Treibstoffreserven. Er braucht jetzt wieder einmal Selbstbestätigung.“

„Ach du“, Alfa blickte nicht auf, „wo hast du denn die spitzfindigen psychologischen Argumente her? Mach doch eine Psychoanalyse mit ihm, vielleicht kannst du seinen Komplex ausbügeln!“

Eta warf Besteck und Geschirr unwirsch in den Schlucker. Gemeinsam, aber ohne ein Wort zu tauschen, gingen wir zur Flugleitstelle, Alfa kam als letzte.

Vielleicht, dachte ich, als ich den brodelnden Planeten auf dem Bildschirm sah, hat Alfa doch recht, es ist zu gefährlich. Ich überlegte, wie man Delth noch zurückhalten könnte, da zeigten die Instrumente bereits, daß der Hangar evakuiert wurde, das große äußere Schott sich öffnete und das Solenoid den Lander hinauskatapultierte. Sekunden später begann das chemische Triebwerk zu arbeiten. Delth war gestartet. Er schaltete Bild und Ton auf unseren Kanal und fragte, weshalb wir so stumpf und trübe herumsäßen. Keiner antwortete ihm.

Zuerst verlief der Flug so glatt wie im Simulator, der Lander stampfte ein wenig, das war alles. Wir schauten schweigend zu. Das Bild wurde schlechter, und in Delths Atmen mischte sich das Stöhnen der Stürme. Der Lander bockte und wurde von einer starken Abwärtsströmung erfaßt. Delth fing ihn gekonnt ab. Seine Lippen wurden schmal, und auf der Stirn bildete sich eine tiefe Falte. Dann setzte der Lander mit einem Ruck auf. Schlamm spritzte gegen die Fenster.

Delth gelang es, eine Meßstation auszuklinken, die sich selbsttätig verankerte und auf ihren gedrungenen Silikonfiberbeinen einen wilden Tanz vollführte. Und er schaffte es, durchzustarten und sich wieder in die quirlenden, strudelnden Wolkenfetzen zu werfen.

Sekunden später erlosch der Bildschirm, wir hielten die Luft an. Doch der Ton blieb. Delth stöhnte, preßte dann hervor: „Muß ein Blitz gewesen sein oder was von dem Vulkan da vorn.“

„Genug, Delth, kehr zurück!“ Eta brach unser Schweigen.

Aber Delth setzte eine weitere Station ab. Lange Zeit hörten wir nur sein Atmen.

„Was ist, Delth?“ fragte Alfa.

„…nichts…“ Auch der Ton wurde schlechter, er setzte plötzlich aus, kam einen Moment wieder. Dann war es endgültig still.

„Ich habe ihn im Radar“, meldete Teth, „aber der Funkkontakt ist total weg…, auch von der Systemüberwachung.“

Wir hatten nichts beschlossen, und doch rannten Alfa und ich zu den Landern. Wir hätten es viel früher tun sollen. Eine Minute später katapultierte der Solenoid zuerst meinen, dann Alfas Lander aus dem Schiff. Wir flogen parallel und mit Höchstschub. Vor uns zerfetzten die Wolken Andymons. Laser und Radar malten verwirrende Bilder. Der Lander schlingerte, schien sich zu weigern, tiefer in das Chaos einzudringen. Weshalb hatten wir von Delths Lander nicht die Überlastungssignale erhalten? Ich hatte keine Zeit zu überlegen, aber plötzlich wußte ich, daß er die Sicherungen entfernt hatte.

„Delths Lander ist weiter in meinem Radar, ortsfest“, informierte uns Teth. Die gewaltige Elektronik des Schiffs tastete nach Delth — und nach uns.

Schweiß lief mir in die Augen, ich konnte nicht nach Alfas Lander schauen, mein eigener beschäftigte mich vollauf. Das war kein Übungsflug. Meine Knochen schmerzten vom ständigen Schütteln, ich ignorierte es, benötigte all meine Sinne für den Abstieg. Mir kamen die Sekunden des Fluges wie Stunden vor. Ich drückte meinen Lander nach unten, daß er wie ein Stein durchsackte. Die nur im Radar sichtbare Planetenoberfläche raste auf mich zu.

Plötzlich wußte ich, daß ich nicht allein um Delths, sondern auch um mein Leben flog. Es war warm im Lander, doch fror ich. Unvorstellbar, nicht mehr dazusein, nicht mehr zu existieren, nach dem Sprung ins Nichts nicht heil zu erwachen wie in den Totaloskopen. Anzeigen leuchteten rot: ÜBERLAST, ÜBERLAST, ÜBERLAST, und die wechselnden Beschleunigungen zerrten an meinem Körper. In den wenigen Augenblicken, in denen ich nicht reagieren, steuern mußte, fühlte ich trotz schweißbedeckter Stirn den Frost: Ein Fehler, und alles ist aus.

Dann hörte ich Teth wieder, er schrie gegen den Sturm, das Dröhnen der überlasteten Motoren an: „Beth, zurück, sofort zurückkommen, Beth, zurück!“

Ich dachte nicht daran, ich kämpfte! „Warum? Warum?“ rief ich.

„Beth! Zurück! Delth ist tot! Delth ist tot!“

„Was?“ Ich wollte es nicht fassen, sie konnten gar nichts wissen, der Kontakt war unterbrochen, nichts konnte Delth auslöschen. Er saß kämpfend, schwitzend in seinem Lander, so wie ich in dem meinen.

„Der Lander ist explodiert. Beth! Sofort zurück! Delth ist tot…!“ Als sei ich taub, schrie er es immer wieder.

Schlagartig riß ich die Höhensteuerung herum. Der Andruck raubte mir fast die Sinne. Meter um Meter schraubte sich der Lander höher, dann, völlig außer Atem, sah ich wieder den geliebten klaren Himmel der Sterne.

Parallel, wie wir gestartet waren, landeten Alfa und ich. Betäubt stieg ich aus meinem Lander, wartete vor ihrem. Sie kam nicht. Ich stieg hinein, sie lag schluchzend auf der Steuerung. Ich strich ihr über den Kopf, versuchte etwas zu sagen.

Ilona schob mich zur Seite. „Sie hat durchgehalten bis zum Schluß…“

Dann injizierte Ilona ihr durch die Plasthaut des Skaphanders ein Beruhigungsmittel. Wir öffneten die Verschlüsse, nahmen ihr den Helm ab, zogen an den Skaphanderarmen. Völlig unbeteiligt wie eine Ankleidepuppe stand Alfa da, hob auf unseren Befehl mechanisch den Fuß, daß wir die Schuhe lösen konnten. Endlich lagen der Leichtskaphander, ein Bündel Vielschichtfolien, Elektronik, Pneumatik auf dem Boden. Ilona umarmte Alfa und führte sie in ihre Kabine. Als ich Gamma, die immer noch in der Flugleitstelle saß, fand, hatte sie verweinte Augen.

Die genauen Umstände von Delths Tod haben wir nie erfahren. Der nächstgelegene Vulkan konnte den Lander kaum mit Lavaströmen bedeckt haben — es würde in diesem Falle auch länger gedauert haben, bis die Treibstoffvorräte explodierten. Ob eine Überlastung der Grund war? Wir konnten es nicht überprüfen. Von dem Lander wurde nie das geringste metallene Bruchstück gefunden.

Unabhängig voneinander kamen Gamma und ich zu ein und derselben Vermutung, wenn wir uns in Delths Situation versetzten: Der Lander steckt fest, du kannst ihn nicht mehr verlassen, mußt aber annehmen, daß ein Gefährte einen selbstmörderischen Rettungsflug unternimmt — was hättest du in dieser Situation unternommen? Es ist nicht leicht, einen Lander zur Explosion zu bringen, aber in diesen Dingen war Delth beschlagen.

Eine Spekulation, die wir niemandem mitteilten und die für alle Zeiten unbestätigt bleiben wird. Denn Delth ist tot, tot, tot. Selbst meine Erinnerung an ihn verliert mit den Jahren an Schärfe. Und sein Bild hat sich in den Köpfen meiner Geschwister gewandelt. Nie wurde er mehr als unser Kommandant anerkannt als jetzt. Aber ob unsere fernen Nachfahren noch wissen werden, woher der Name stammt, den der größte Ozean des Planeten trägt? Für mich jedoch gibt es kein Andymon ohne Delth.

Ich hasse Andymon

Delths Tod ließ uns nicht nur trauern, er war ein Schlag gegen unsere kleine Gemeinschaft, von dem sie sich nie völlig erholte. Ein Platz in der früher oft so fröhlichen Runde am Speisetisch blieb frei — bald beteiligte sich auch Alfa nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten, und eines Tages fanden Gamma und ich, als wir zum Frühstück gingen, nur noch Zeth vor. Unsere Geschwister hatten den Anblick des einen leeren Stuhles nicht ertragen.

Wir sahen einander oft tage- oder wochenlang nicht, wir vergruben uns in Arbeit oder Scheinbeschäftigung. Ilona fand Freunde in der Szadeth trat ein. Er trug auch im Schiff ständig kurze Hosen, obwohl die Temperatur in den Aufenthaltsräumen normalerweise zwanzig Grad Celsius nicht überschritt.

„Hallo, Beth! Hallo, Gamma!“ sagte er. „Ich hatte keine Lust, über Intercom mit euch zu reden, wenn ich die paar Meter laufen kann.“

„Ja, Szadeth, was gibt’s denn? Habt ihr die Pläne für den ersten Stützpunkt fertig?“ fragte ich aus reiner Höflichkeit.

Er setzte sich mit größter Selbstverständlichkeit in unseren Schaukelstuhl und wippte darin. Die Vierzehnjährigen aus seiner, der sechsten Gruppe hatten sich mit der Planung des ersten Landeunternehmens auf Andymon eine logistische Aufgabe vorgenommen, die vielleicht über ihre Fähigkeiten ging - im Augenblick. Jahre verblieben, um auch das letzte Detail auszuarbeiten. Wenn sie nur nicht die Lust daran verloren, wie Alfa befürchtete.

Szadeth schwang ganz nach vom und hielt inne. „Die Großen sind gemein! Es war unsere Idee, die Landung zu planen und wie man für die Fähren dann einen Landeplatz baut und das alles. Und jetzt fangen Cheth und mit ihm die gesamte fünfte Gruppe an, alles auszurechnen. Das ist gemein!“ Er- gab dem Schaukelstuhl einen Stoß und wippte von neuem. Eine Sandale rutschte ihm vom Fuß, die andere hielt er mit den bloßen schwarzen Zehen krampfhaft fest.

„Und weshalb kommst du damit zu mir?“ fragte ich. „Ihr müßt euch selbst gegenüber der fünften Gruppe durchsetzen. Ihr habt doch Argumente und Münder zum Reden.“

Ich verstand tatsächlich nicht, weshalb er sich ausgerechnet an mich wandte. Mit seiner und Cheths Gruppe hatte ich nur den normalen Kontakt, es gab kein Projekt, an dem ich gemeinsam mit ihnen arbeitete. Aber Szadeth hatte mich zu seinem Fürsprecher ausgewählt, und wenn es ihm schon nicht gelungen war, die fünfte Gruppe zu überzeugen, so brachte er es immerhin fertig, mich zu bereden. Ich mußte ihm versprechen, mit ihm morgen Cheth aufzusuchen. Als er endlich ging, stöhnte ich laut.

Gamma lachte und gab mir einen Kuß. Ich wollte ihre sehr angenehmen Tröstungen gerade voll auskosten, da meldete sich Jota über das Intercom. Ihr fiel gar nicht auf, daß ich sie nicht wie sonst freundlich grüßte. Sie befand sich im Biolabor, in dem sie Gerüchten zufolge sogar manchmal schlief. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich nicht die gewohnte Sorge um ihre Superalge und die Andymonatmosphäre ab, sondern Freude.

„Bist du allein?“ fragte sie unvermittelt.

Gamma antwortete an meiner Stelle.

„Das macht nichts“, sagte Jota unverblümt, „ich will nur nicht, daß es sich jetzt schon herumspricht.“

„Was?“ fragten Gamma und ich wie aus einem Mund.

Jota holte weit aus, berichtete zum x-tenmal von ihren Warnungen und Befürchtungen. Ihre Arbeitsgruppe hatte Alfas und meinen Lander nach der mißglückten Rettungsaktion beinahe völlig auseinandergenommen auf der Suche nach möglicherweise eingedrungenen Atmosphäre- und Algenproben. Wieso sie überhaupt etwas finden konnten, blieb mir ein Rätsel. Genau und umständlich schilderte Jota ihre Tests mit den wenigen Milligramm erhaltenen Materials und ihre überraschenden Ergebnisse.

Ungeduldig trat ich von einem Bein aufs andere.

„Es scheint so, als ob die Mutante mit der höchsten Stoffwechselaktivität sich gegenüber den anderen durchsetzt. Sie würde die Atmosphäre in kürzerer Zeit als vorgesehen umwandeln. Zahlen wage ich hier nicht zu nennen. Das bleibt alles Spekulation, bis wir weitere Proben und atmosphärische Meßwerte haben. Trotzdem: zum erstenmal eine positive Nachricht vom Planeten. Aber bitte, macht weder euch und vor allem nicht den anderen Hoffnungen. Die Sache muß unter uns bleiben. Es ist alles noch zu ungewiß, in ein paar Tagen, schlimmstenfalls Wochen, wissen wir mehr.“

Wenn es noch nicht soweit ist, weshalb sagst du es dann uns? wollte ich fragen, doch da hatte sie das Intercom bereits ausgeschaltet.

„Hört sich ja sehr positiv an“, kommentierte Gamma.

Auch ich war erfreut, doch zugleich verwirrt. „Also, Gamma, ich begreife das nicht“, sagte ich, „jeder will irgend etwas von mir. Schön, ist interessant, aber weshalb wartet Jota nicht die paar Tage, bis das Ergebnis sicher ist? Ja, und neuerdings spielt mir jeden Morgen ein Spaßvogel die kurzgefaßte Beschreibung des Schiffszustandes auf den Display. Und Fith beschwert sich bei mir, daß sich die vierte Gruppe auf Gedon von den anderen absondere und es keinen Spaß mehr mache, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Was soll ich damit? Und Alfa liegt mir immer mit ihren Stimmungen in den Ohren. Ja, sie hat Delth verloren, und ich verstehe, daß sie sich mit irgend jemandem aussprechen muß. Aber kann sie nicht auch mal mit einem anderen reden? Jetzt Szadeth mit den völlig normalen Kabbeleien der Kleinen. Ich sehe es kommen, nächstens klopft ein Guro oder, noch besser, eine Ramma und beklagt sich, daß die Babys zuviel Unfug treiben!“

Gamma lachte lauthals. „Mein armer Beth, ja, ich glaube, es kommen schwere Zeiten auf dich zu. Wenn dich sogar der Schiffscomputer entdeckt hat!“

Ich schaute sie fragend an. Gamma kostete es aus, mich verwirrt zu sehen. Ich lief dreimal um unser Zimmer, setzte mich dann in den Schaukelstuhl. Nach Szadeth war jetzt die Reihe an mir zu wippen. „Schieß los“, sagte ich zu Gamma.

Sie stellte die Musik leiser. Dann weihte mich Gamma in ihre Theorie vom Reservemann Beth ein. Sie versuchte, mir die Rollen, die unseren Geschwistern aus der ersten Gruppe zufielen, zu erläutern: Alfa als „Gruppenmutter“, Zeth als „relativer Einzelgänger“ und „geborener verbissener Techniker“ und so weiter. Es klang mir zu einfach, und doch, einen Zipfel der Wahrheit hatte sie unbedingt erhascht.

„Du hast vergessen zu erwähnen, daß Spekulationen aller Art deine Sparte sind!“ rächte ich mich.

Mißbilligend blickte sie mich an. Sie trat an den Schaukelstuhl und stützte sich mit den Händen auf die Armlehnen.

„Ruhig, du bist der Joker. Delth ist tot. Folglich übernimmst du Delths Funktion. Einer muß den Überblick haben. Beweis: der Schiffscomputer überspielt dir seinen Statusbericht. Er hat dich längst identifiziert, Kommandant! Und jetzt mußt du lernen, dieser Rolle gerecht zu werden.“

Ich schluckte, sie gab mir einen Kuß auf die Stirn und nahm Abstand, um aus der Entfernung zu beobachten, wie ich ihre Beweisführung verdaute. Vieles ging mir durch den Kopf: Daß die Geschwister, wenn sie mich als Anführer wollten, mich wählen sollten, was aber irgendwie formal, eben irdisch im schlechten Sinne wäre. Daß ich sicher nicht so viel Vergnügen am Vordrängeln hätte wie Delth. Daß ich überhaupt nicht gewußt hatte, worin seine „Kommandantenpflichten“ bestanden, außer darin, bei unseren Versammlungen den Boß zu spielen. Daß eigentlich Gamma einen viel weitblickenderen Kommandanten abgäbe als ich.

Mit gleichmäßigen Schaukelbewegungen tanzte das Zimmer auf und ab - Blumenbank und Intercom. Das Bücherbrett mit den selbstentdeckten und eigenhändig gebundenen Schätzen einer weit in Raum und Zeit entlegenen Erde. Gammas Bilder an den Wänden. Und sie selbst, immer noch ihren Triumph auskostend. Ich überlegte. Dann hielt ich mitten im-Schaukeln inne.

„Weißt du, Gamma, unsere Geschwister sind jetzt so erwachsen, die brauchen keinen Anführer mehr. Bestenfalls einen Koordinator, eben einen, der über alles informiert ist, der Streit schlichtet, in extremen Situationen schnell eine Entscheidung trifft, aber hauptsächlich, wie Soll ich es ausdrücken, die Meinungsbildung organisiert. Auch wenn es mir nicht viel Spaß machen wird, ständig Kinderprobleme zu lösen.“

Gamma nickte. „Du mußt es am Anfang ja nicht übertreiben. Ich werde dich schon anstoßen, wenn es nötig ist.“

Gamma hatte recht, ich lebte mich schnell in meine neue Rolle ein. Und diese fraß den größten Teil meiner Zeit.

Wenn ich zurückdenke, glaube ich, daß ich in den Jahren im Schiff Delth einigermaßen erfolgreich vertrat. Doch später! Ich betrachtete, sobald wir uns auf Andymon eingenistet hatten, meine Aufgabe als beendet. Waren die Geschwister nicht reifer, selbständiger geworden? Hatten sie nicht gelernt, miteinander zu arbeiten, zu lernen? Und schließlich kann man Kommandant eines Schiffs sein, nicht aber eines Planeten. Und doch, vielleicht wäre manches Problem nicht oder nicht so gravierend aufgetreten, wenn ich beizeiten auf alle Entwicklungen geachtet hätte. Aber dies sind jetzt müßige Spekulationen, und die sollte ich Gamma überlassen.

Explosion auf Gedon

Die vierte Gruppe - von Mega und Alefth bis zu Vava und Zainth -kannte ich nur oberflächlich und hatte sie, die fünf Jahre Jüngeren, nie richtig beachtet. Sie hatten mit Eifer gelernt, die Totaloskope wie wir anderen benutzt, sie hatten uns bei der Konstruktion der Voraussonde unterstützt und waren uns bei genetischen Experimenten zur Hand gegangen. Wie hätte ich ahnen sollen, daß sie andere Wege suchen würden als wir, Wege, die ihnen weniger ausgetreten vorkamen, uns aber fremd blieben?

Gamma und ich gingen gerade zum Biolabor, als uns Fith, mit seinen langen braunen Armen gestikulierend, entgegenstürzte.

„Gut, daß ich euch treffe. Eine Explosion auf Gedon…“, stieß er erregt hervor und zeigte mit dem linken Arm in eine Richtung, in der sich der Mond aller Wahrscheinlichkeit nach nicht befand.

„Verletzte? Warum hat der Computer keinen Alarm ausgelöst?“ Ich schob ihn vor mir her zur Zentrale.

„Weiß nicht, es war seltsam, kein System scheint die Explosion registriert zu haben…“

In der Zentrale nahm Gamma Platz und befahl einen Havariecheck sowie die Überprüfung der Positionen unserer Geschwister. Alles war völlig in Ordnung. Auf Gedon befand sich die gesamte vierte Gruppe.

„Aber ich habe es doch gesehen“, beharrte Fith, „etwas muß explodiert sein, eine Rakete vielleicht…“ Er hob beschwörend beide Hände empor.

„Schon gut“, sagte ich, „kein Grund zur Aufregung, jetzt erzähl uns mal genau…“

„Also, ich saß hier, hatte Gedon auf dem Bildschirm, und plötzlich ein heller Blitz.“

„Wir können uns die Bilder ja noch einmal ansehen, sie werden doch gespeichert“, sagte Gamma.

Gedon stand als graugelbe Sichel vor dem Hintergrund der Sterne. Über die Hälfte des Mondes lag im Schatten. Wir warteten und schauten. Nichts passierte. Fith wurde immer nervöser, da geschah es endlich: Ein winziger Punkt am Schattenrand des Mondes überstrahlte für Sekundenbruchteile das Bild. Gamma spielte die Aufzeichnung zurück und zeigte die Explosion noch dreimal.

„Aber das muß dort jemand bemerkt haben“, sagte Fith, nun sichtlich ruhiger.

Wir riefen Gedon, es dauerte eine Weile, bis man sich meldete. „Hier spricht Daleta. Was wollt ihr denn?“ Ihr asiatisches Gesicht, dem Gammas sehr ähnlich, nur etwas breiter, war maskenhaft starr. Beim Sprechen bewegte sie die Lippen kaum.

„Hallo, Daleta, wie geht’s euch auf Gedon? Wie kommt ihr mit der dritten Ausbaustufe voran?“

„Planmäßig.“ Sie verschwendete kein überflüssiges Wort an mich.

„Da war doch eine Explosion, erst vor ein paar Minuten? Habt ihr sie denn nicht bemerkt? Alles in Ordnung bei euch?“

„Alles in Ordnung. Eine Explosion?“ Sie zögerte einige Sekunden. „Ja, Lastrakete RG 786.03. Ein Versagen der Reaktor Steuerung.“

„Aber…“ Ich biß mir auf die Zunge, vor drei Minuten war der Havariecheck negativ ausgefallen, das bedeutete, daß auch keine Lastrakete… „Aber, bist du dir auch sicher? Und euch ist wirklich nichts passiert?“

„Ja, natürlich nicht. Ist das alles?“

„Genügt das etwa nicht?“

„Gut.“ Ohne ein Wort des Grußes schaltete Daleta die Verbindung ab.

„Die spinnt“, sagte Gamma und zog besorgt die Brauen hoch. Sie ließ einen neuen Havariecheck durchführen. Diesmal wurde die Explosion einer Lastrakete angezeigt. Gamma gab sich damit nicht zufrieden. Der Elektronenstrahl schrieb die lange Liste unserer Lastraketen auf den Display. Die meisten noch intakt, viele unterwegs. Einige ausrangiert, zerlegt oder auf Andymon verschollen.

Und dann geschah vor unseren Augen etwas Seltsames. Die Beschreibung einer längst auseinandergenommenen Rakete wurde gelöscht, einen Augenblick gähnte ihre Zeile leer, dann erschien eine neue Eintragung. Unter der gelben Registernummer formten sich Worte, eine andere Rakete wurde beschrieben — und ihre Explosion vor wenigen Minuten. Wortlos schauten wir zu.

Leise sagte Gamma: „Diese Daleta verdresche ich eigenhändig. Uns so eine Lüge aufzutischen.“

Ich lachte, meine Gamma und jemanden übers Knie legen… Dann entschied ich mich. „Wenn sie die Computer manipuliert, dann müssen wir eben persönlich nachschauen. Einverstanden?“

Fith war aufgesprungen. „Darf ich mit?“ fragte er, und sein schlaksiger Körper geriet in Bewegung.

„Was heißt hier mitkommen?“ Ich grinste ihn an. „Das ist doch dein Fall oder etwa nicht?“

Fith steuerte stolz die Mondfähre. Der Flug dauerte mir zu lange. Ich überlegte, was die Ursache der Explosion gewesen sein könnte, wir hätten das Spektrum auswerten sollen. Dann dachte ich an Daleta, sie hatte sich so seltsam benommen — wie eine Figur aus einem Computerfilm. Ich fühlte es: Die vierte Gruppe war in Gefahr.

Wir flogen dicht über der in Nacht versunkenen Oberfläche Gedons und so langsam, daß wir die menschlichen Bauwerke, aus denen hier und da Licht sickerte, von den zerklüfteten Felsen des Mondes unterscheiden konnten. Das Teleskop bestätigte den Eindruck der Bewegung: Roboter waren dabei, Masten zu errichten, die Struktur eines Minisynchrotrons fiel auf, überall das Filigranwerk der Technik. Beim Vergleich mit einer älteren Karte des Trabanten staunte ich über das Ausmaß der Veränderungen. Ein Automat wies uns ein, und wir landeten. Niemand schien sich um uns zu kümmern.

Unsere Rakete stand in einer Reihe von Lastraketen, die entladen wurden. Drei Roboter sprangen aus der Ladeluke und eilten sofort zielstrebig auf die Gebäude zu, um an die Arbeit zu gehen. Große Blöcke komplizierter Apparaturen, lange Kolonnen von Containern.

„Sieht aus, als wären wir nicht angemeldet“, sagte Gamma befriedigt.

Sekunden später jagten wir in langen Känguruhsprüngen über die betonierte Fläche des Raketodroms. Wir steuerten auf die mir vertrauten Unterkünfte zu. Ohne aufgehalten zu werden, gelangten wir in die einstige Zentrale, jetzt offensichtlich außer Betrieb. Wir suchten die Gänge ab. Vor einer geschlossenen Tür knarrte uns eine Automatenstimme an: „Laufendes Experiment. Nicht stören. Laufendes Experiment. Nicht stören. Laufen… Begebt euch zum Aufenthaltsraum. Begebt euch…“

Wir begaben uns. Mit unserem Eintritt flammte der große Videoschirm des Raumes auf. Daletas Kopf erschien. „Was wollt ihr hier? Weshalb stört ihr uns? Fliegt zurück!“

„Also, nun mach mal einen Sprung ins Nichts, Daleta!“ Fiths Stimme überschlug sich fast. „Was soll der Schwindel mit dem Reaktorversagen? Was geht hier vor sich? Wo steckt ihr überhaupt?“

Eine Störung ließ Daletas Kopf eine Sekunde flirren. „Gut. Ein Experiment ist etwas energiereich ausgegangen. Wir forschen hier. Wenn ihr schon keine Lust habt, Wissenschaft zu betreiben, dann hindert uns wenigstens nicht daran. Was wir tun, ist unsere An…“

Gamma hantierte an den Kontrollen herum, Daletas Bild erlosch mitten im Satz.

„Warum unterbrichst du die Verbindung, Gamma, ich versteh…“ „Wenn es dir Vergnügen bereitet, Fith, dich mit einem Computerprogramm zu unterhalten, einem ziemlich schlechten dazu, kann ich es ja wieder einschalten.“

Wir setzten die Skaphanderhelme auf und trabten ins Freie. Andymon schien im letzten Viertel. Vorbei an mit Leuchtfarbe numerierten Bauteilen strebten wir auf den nächsten Bau zu, dessen Schleusengang offen vor uns lag. Doch ehe wir ihn betreten konnten, raste ein Roboter auf uns zu und versperrte den Weg. „Achtung! Gefahr für Menschen! Nicht betreten! Gefahr für Menschen!“ „Pah“, sagte Fith in sein Mikrofon, „die Gefahr möchte ich kennenlernen“, und er versuchte, den Roboter beiseite zu schieben.

Der rührte sich nicht von der Stelle, und ein zweiter kam heran wie ein neugieriger Zuschauer.

„Gut“, sagte Fith, „du bist stärker. Aber welche Gefahr lauert da drinnen?“

„Gefahr für Menschen“, erwiderte der Roboter stur.

„Also, du Blechkopf weißt es nicht. Geh hinein und stelle fest, um welche Art der Gefahr es sich handelt.“

„Gefahr für Roboter“, versuchte der zu argumentieren, aber der Befehl überspielte seine Selbsterhaltung. Der Roboter kehrte nicht zurück.

„Die können uns hier alles vorgaukeln“, bemerkte Fith und befahl dem offensichtlich für seinen Vorgänger einspringenden Roboter, uns zu begleiten. Ein wahrscheinlich überflüssiger Befehl.

Wir waren kaum hundert Meter vorwärts gekommen, da flimmerte über einer nicht identifizierbaren Struktur vor uns ein dünnes blaues Wölkchen auf, strahlte zunehmend intensiver.

„Gefahr!“ sagte der Roboter und schleppte uns, ehe wir es uns versahen, hinter einen massiven Mast.

Er brauchte uns nicht zu erklären, um welche Art Gefahr es sich handelte, die an unseren Skaphandern angebrachten Geigerzähler schlugen an. Harte Gammastrahlung. Ich erhaschte einen Reflex des Wölkchens auf einer spiegelblanken Metallfläche. Es veränderte seine Form, schrumpfte und verpuffte dann. Offensichtlich wollte man uns von Gedon hinwegkomplimentieren.

Als es verglüht war, verließen wir unsere Deckung, hüpften auf die nächste Konstruktion zu. Wenige Sekunden später wurden wir erneut Zeuge eines merkwürdigen Schauspiels. Ein neben der Sichel Andymons kaum zu erkennender haarfeiner Strich zog sich hinter einem Gebirge hervor schnurgerade ins All. Ein zweiter flammte irgendwo aus dem Kosmos heraus auf, schnitt den ersten. Den Bruchteil einer Sekunde lang blitzten beide Strahlen auf, tausendmal heller, brannten sich als Feuerschwert in unsere Retina ein.

„Gefahr für Menschen“, kommentierte der Roboter.

„Paß auf, du Hilfsguro“, fuhr ihn Fith ärgerlich an und fuchtelte mit den Armen, „wir spielen nicht mehr mit. Von jetzt ab kannst du ‚Gefahr für Menschen‘ schreien so oft und so laut, wie du willst. Nicht wir haben zu verschwinden, sondern diese Gefahren.“

Gamma tauschte einen langen Blick mit mir, und ich wußte, was sie dachte: Wenn hier wirklich ein Computer durchdreht, kann es sein, daß er selbst Menschenleben nicht mehr respektiert. Wenn der vierten Gruppe etwas zugestoßen war…

Schließlich fanden wir die gesuchte neue Unterkunft. Die Schleusentür wollte sich nicht öffnen. Erst als Fith auf die Türsteuerung einhämmerte, fuhren die Stahlplatten zur Seite. Fith sprach kein Wort und setzte auch den Helm nicht ab. Er mißtraute wie ich der Innenatmosphäre.

Wir eilten durch die Gänge, schauten in die Zimmer. Sie waren bewohnt. Dann entdeckten wir die vierte Gruppe. Sie lagen in Formsesseln, und über ihre Schläfen stülpten sich schwere Adapter, wie sie in den Totaloskopen Verwendung fanden.

„Tja, einen müssen wir wohl losmachen“, sagte Fith.

Wie auf Befehl begann eine der scheinbar schlafenden Gestalten den Adapter abzulegen. Es war Daleta. Sie richtete sich ächzend in ihrem Formsessel auf. Ihre glatten schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt, trotzdem reichte sie Gamma nur bis zur Schulter.

„Warum verfolgt ihr uns, könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen?“

„Wir haben uns Sorgen um euch gemacht“, sagte Gamma in besänftigendem Ton.

„Wir brauchen keine Rammas mehr!“ Daleta rieb sich mit beiden Händen die Augen.

Gamma und ich setzten unseren Helm ab, Fith behielt seinen auf, man konnte nie wissen…

Daleta lachte uns verärgert ins Gesicht. „Ihr habt ja immer noch Angst, ihr Helden, vor irgendeinem Computerphantom, das uns versklavt hat, vor einem Gruppengehirn, was? Keine Sorge, wir haben hier alles unter Kontrolle.“

Gamma trat auf Daleta zu. „Sekunde“, sagte sie, zog einen Magnetsensor aus dem Futteral am Gürtel und fuhr damit langsam um Daletas Kopf. „Keine Elektroden drin“, verkündete sie trocken.

Daleta atmete tief, um sich zu beruhigen, und sagte dann langsam: „Also, es war keine Lastraketenexplosion. Ich gebe es zu. Wir hatten etwas Pech mit einem Experiment.“

„Das interessiert uns jetzt nicht mehr“, erwiderte ich.

Fith stand schweigend mit geschlossenem Helm da und schaute zu.

„Vielleicht kannst du uns erzählen, was ihr hier treibt“, fuhr ich fort.

„Wir sind euch keine Rechenschaft schuldig, auch wenn ihr ein paar Jahre älter seid. Außerdem wißt ihr es nun.“

Ich überlegte, ob Daleta und ihre Gruppe unser Kommen vielleicht provoziert hätten, sicherlich wäre es ihnen nicht schwergefallen, uns überzeugend abzuwimmeln. So aber… Ob sie die Aussprache wollten und bewußt oder unbewußt heraufbeschworen hatten?

Daleta ereiferte sich immer mehr. „Ihr modelt ja nur an eurem Planeten herum. Und das dauert und dauert. Seht ihr denn nicht, daß ihr so nie zum Ziel kommt? Und wenn Tausende von Raumschiffen wie unseres von der Erde ausgesandt worden wären, die Galaxis läßt sich so nicht erobern, sie ist erloschen und ausgebrannt, ehe die Menschheit sie auch nur halb umrundet hat. Ihr seid schlicht langweilige Kleingärtner, phantasielose Bastler, wildgewordene Konstrukteure. Ihr habt noch kein einziges Elementarteilchen entdeckt, nicht eine Formel erfunden, die die Wissenschaft der Erde nicht schon vor Zehntausenden von Jahren kannte.“

Ich hatte mein Erstaunen über die Heftigkeit ihres Ausbruchs überwunden, packte sie an den Schultern und rüttelte sie. „Daleta, hör mir zu, das ist auch nicht unsere Aufgabe. Andymon bedeutet dir wohl nichts?“ Ich ließ sie wieder los.

„Ach, Andymon…“ Die schnellen, fahrigen Bewegungen ihrer Finger machten mich ganz nervös. „Das ist ja nur ein Planet, einer unter Hunderten von Millionen. Wenn ihr ihn selit, vergeßt ihr alles andere, habt nur noch im Kopf, ihn zu einer imitierten Erde zu machen. Damit ihr euch dann auf das weiche Moos unter die schattenspendenden Bäume legen und pennen könnt. Euer Horizont ist doch nur dieser dreckige Planet.“

„Ich verstehe dich nicht, Daleta“, sagte ich bestürzt, „unsere Kräfte reichen gerade für Andymon, und du erzählst von Millionen Planeten. Das ist Größenwahn.“

„Damit will ich nur sagen, daß es mehr gibt als einen winzigen Planeten und daß wir nicht versauern wollen. Wir sitzen nicht im Schiff und drehen Däumchen.“

Als ob wir Däumchen drehen würden. Langsam begann ich mich aufzuregen.

„Was ist mit euch“, platzte Gamma in meinen Ärger herein, „das ist doch keine normale Mittagsruhe?“ Sie wies auf die sieben scheinbar schlafenden Gestalten mit den Adapterhauben auf dem Kopf. „Ihr habt euch zusammengeschaltet, was? So wie man Totaloskope zusammenschalten kann! Ihr habt eure Gehirne vereinigt!“ Gamma fragte nicht mehr, ihre Stimme klang von Wort zu Wort sicherer.

Daletas breites Gesicht lief rot an. „Ja doch. Ein menschliches Gehirn hat einfach nicht genug Kapazität. Wenn ihr euch anschließen wollt, dann hätte aller Streit ein Ende, dann würdet ihr begreifen, was ich nur so unvollkommen ausdrücken kann.“ Sie ergriff Gammas Hand.

„Nein, danke. Ich weiß, wie es ist; ich war einmal mit Beth zusammengeschaltet. Ich will eine Person bleiben, meinen eigenen Willen behalten.“

„Schade“, sagte Daleta, dann schaute sie forschend Fith an.

Fith hob abwehrend die Hände und stammelte: „Du, du bist wohl verrückt.“

„Daleta — ich finde das weder natürlich noch menschlich.“ Ich schaute ihr in die schmalen Augen. Ihr Blick hielt dem meinen stand. „Fühlst du denn nicht, jetzt, wenn du keinen Adapter auf hast, daß euer Übergehirn euch gänzlich aufsaugt? Oder…“ Ich beobachtete ihre Pupillen genau, sie schien unter keinem posthypnotischen Befehl zu stehen.

„Ich fühle mich einsam, laßt mich, ich will zurück.“ Sie griff enttäuscht nach ihrem Adapter.

„Daleta, was wird aus diesem Mond? Was werdet ihr tun? Könnt ihr denn Andymon ganz vergessen?“

„Euer Planet langweilt mich. Und der Mond gehört uns - und die Technik darauf, das ist unser Anteil am Erbe des Schiffs. Könnt ihr nicht Ruhe geben?“

„Aber wir brauchen auch die Ressourcen von Gedon, es ist alles auskalkuliert, ihr könnt uns nicht im Stich lassen.“ Ich hatte sie wieder an den Schultern ergriffen, sie entwand sich mit einer geschickten Bewegung.

„Was ihr unbedingt benötigt, werden wir euch nicht verweigern.“ Sie legte sich hin und setzte den Helm auf. Ihre Züge entspannten sich.

Wir blickten uns an. Fith gestikulierte wie ein Signalmast. „Aber das geht nicht, wir können sie nicht so liegenlassen. Wir müssen sie retten!“

„Wir können nichts und niemanden retten. Hier ist alles unter ihrer Gewalt. Du könntest sie töten — wenn du eingreifst.“

Fith blickte wild um sich.

Wir gingen. Und sprachen kein Wort mehr, bis wir in der Fähre saßen. Dort brach Fith das Schweigen. „Das war sehr dumm von mir, daß ich vor ihren Ohren davon geredet habe, nicht wahr?“

„Nein doch“, sagte Gamma, dann räusperte sie sich. „Wir dürfen nichts tun, nichts gegen ihren Willen. Irgendwann einmal wollten sie es so, haben die Schaltung aufgebaut als neuen Kitzel vielleicht gegen die Langeweile des Wartens. Und Daleta stand unter keinem fremden Einfluß.“

„Ich begreife das nicht“, Fith schüttelte seine krause Mähne, „ich begreife das nicht.“

„Vielleicht“, spekulierte ich mutwillig, um meine Machtlosigkeit zu überspielen, „vielleicht ist das die Zukunft des Menschen, die intellektuelle Leistungsfähigkeit potenziert sich beim Zusammenschalten. Wer weiß, in ein paar Jahren sind sie uns allen über, und dann werden wir sie nachahmen.“

„Niemals“, preßte Fith zwischen den Zähnen hindurch, „niemals. Ohne mich.“

Schweigend steuerten wir das Schiff an. Der Hangar, die leicht gewölbten Korridore, das alles strahlte Ruhe und Geborgenheit aus.

Fortan ignorierten wir die vierte Gruppe, es sei denn, wir benötigten Material von Gedon. Wie Daleta versprochen hatte, bekamen wir es pünktlich.

Es vergingen Jahre, bis ich den Kontakt zu den Geschwistern auf Gedon zum zweitenmal auf nahm.

Für tausend Tage eine Nacht

Von Monaten, die nur mit unablässiger, eintöniger, höhepunktloser Arbeit ausgefüllt sind, bleibt nicht viel in der Erinnerung, es sei denn ein fades Gefühl. Einem solchen Zeitraum hatte Eta — wer sonst als Eta? — versucht, ein wenig Glanz zu verleihen.

Schon die Einladung entsprach ihrem Stil. Ein Serviceroboter klopfte an unsere Tür, was gewöhnlich weit außerhalb des Aufgabenbereiches dieser Automaten lag, und überreichte mit blankgeputzten Zangen ’. Neugierig öffnete ich den Umschlag und entnahm ihm eine Karte. Sie war goldumrandet und trug in violetter Tinte eine steile, akkurate Handschrift:

EINLADUNG

In unsrer Welt, nur „Schiff“ genannt, sind rastlos wir im Kreis gerannt tausend Tage — ohne Frage:

Jetzt wird erst einmal ausgespannt.

19 UHR - PAPAGEIENFELSEN - ETA und ZETH

Es gab kein anderes Gesprächsthema bis zum Abend, und Eta und Zeth ließen sich wohlweislich nicht sehen. Welche tausend Tage? rätselten wir. Eine neue, eigenwillige Zeitrechnung, deren Bezugspunkt nicht auf der Hand lag. Tausend Tage, das sind nicht ganz drei Jahre, wir rechneten zurück: die Aussaat, der Beginn der neuen Zeit für Andymon!

Zur festgesetzten Stunde trafen wir einzeln, in Paaren oder in kleinen Gruppen im Naturpark ein und begaben uns erwartungsvoll zum Papageienfelsen. Dort empfing uns Eta, sie war völlig unbekleidet, abgesehen von einer gelben Blüte in ihrem Haar.

„Hallo, Gamma, Beth. Kommt, zieht euch aus, wir planschen ein wenig. Und mit sauberen Ohren hört ihr die Musik dann besser.“ Unterhalb des Felsens befand sich ein großes, halbmeterhohes Plastbassin, das eigens für diesen Abend aufgestellt worden war. Wir legten unsere Kleidung ab und stiegen zu der dritten Gruppe, die vor uns gekommen war, in das heiße Wasser, über dem Dampf aufstieg. Nach und nach füllte sich das Bad, ich glaube, es fehlte niemand bis auf die vierte Gruppe — und Delth. Die Jüngsten waren schon vor uns im Bassin gewesen und tollten bereits wieder auf der Wiese.

Eta erhob sich aus dem Wasser, die Gespräche verstummten. Betont geziert sagte sie: „Ich begrüße euch, verehrte Geschwister, zu unserer Tausendtagesfeier. Das heilige Wasser des Bades soll eure müde Haut vom Schweiß und Staub dieser Tage reinigen und euren schwieligen Geist von der Mühsal und Plage.“

Wir lachten. Wohlig drang die Wärme in unsere ausgestreckten Gliedmaßen. Wir schauten auf die bewegte Oberfläche des Wassers, auf die Geschwister und in die Weite des Naturparks. Mit der Wärme strömte Ruhe auf uns ein, mit dem Körper wurden auch die Gedanken träge. Alles abstreifen! Die Arme hängenlassen, die Muskeln erschlaffen lassen! Die Augen schließen und den zarten, kaum wahrnehmbaren Duft des Wassers - und der Erde, der Gräser, der Bäume um uns riechen. Wir sind alle eins und eins mit dem Schiff.

„Beth, schläfst du?“ Gamma hielt mir ein Glas unter die Nase. „Hier, trink davon, das ist gut. Eta hat sich wirklich was ausgedacht.“

Der mit einem Schuß Alkohol versetzte Orangensaft schmeckte ausgezeichnet. Und nun bekam ich auch Hunger.

Einer nach dem anderen verließen wir das Bassin und frottierten uns mit müden Armen trocken. Wir krochen nicht wieder in die vom Schweiß und Staub der tausend Tage durchdrungene Kleidung. Eta und ihre Helfer hatten vorgesorgt: In der Wiese lagen weite, lange Gewänder im Farbton der Blüte in Etas Haar, und die Gewänder trugen auf der linken Seite in schwarzen Lettern unsere persönlichen Symbole. Nachdem ich mich angekleidet hatte, sah ich mich suchend nach Gamma um und bemerkte dabei Eta, die auf einem Felsvorsprung saß und zufrieden lächelnd auf die gelben Gestalten herabschaute, die ausgelassen auf der Wiese herumsprangen.

Direkt am Felsen stehend, verteilte ein Guro Sandwiches und Getränke.

„Na, Guro“, scherzte ich mit ihm, „so sieht man die Kinder wieder, groß und eigensinnig. Und man selbst wird nur noch als Butler gebraucht.“

„Komm“, sagte Gamma zu mir, „sonst antwortet er noch: Ja ja, so ist das Leben.“

Der Guro reichte uns Käsesandwiches und sagte ganz wie in alten Tagen: „Stopft euch jetzt nicht voll, nachher gibt es auch noch etwas. Merke: Voller Magen hört nicht gut.“

Allmählich versammelten wir uns gegenüber den großen Lautsprecherboxen, die Zeth für Eta aufgebaut hatte. Sie selbst stand auf einem flachen Podest vor der elektronischen Steuereinrichtung, zu der mehrere Manuale gehörten. Lebhaft winkte sie mit beiden Armen, an denen die weiten Armei hinabglitten. Nur die Geräusche des Naturparks, der Wind, die entfernten Laute des großen Waldes waren zu hören. Wir nahmen Platz im warmen Gras.

„Bitte, Zeth!“ sagte Eta.

Er, der neben einer Lautsprecherbox stand, zeigte das glücklichste Lächeln, das ich je auf seinem Gesicht gesehen hatte. In den Händen hielt er ein winziges Kästchen. Plötzlich leuchtete die Naturparksonne einen Sekundenbruchteil grell auf, daß das Haar auf den Köpfen der Geschwister vor mir bleich war und die Dinge ihre Kontur verloren.

dann starb ihre Helligkeit dahin, bis nur ein rötlichwarmes Dämmerlicht blieb; viel zu dunkel für die Tageszeit.

Aus der Dämmerung, die alles umhüllte, unwirklich und unwichtig scheinen ließ, drang Etas Stimme. Sie machte uns geradeheraus mit der Tatsache bekannt, daß es schon vor ihr Komponisten gegeben habe — auf der Erde — und erklärte dann, daß sie nicht beabsichtige, uns mit wesentlich mehr als tausend Takten Musik zu überfordern. „Ich mache mir’s nun ein Weilchen bequem. Was ihr jetzt hört, ist eine echte Aufzeichnung einer uralten Aufführung direkt aus den Speichern des Schiffs. Vielleicht helfe ich eurer Phantasie auf die Sprünge, wenn ich euch sage, daß diese Musik anläßlich eines Friedensfestes entstand.“

Ich schloß die Augen, um alles zu vergessen außer den feierlichen und zugleich so fröhlichen Tönen, die weit durch den Naturpark drangen. War es nicht eine Freude, zu leben? Umgeben von Freunden, ein Ziel vor Augen? Ich fühlte mich so heimisch, so sicher. Vor meinen geschlossenen Augen tanzten bunte Kreise, rote, grüne, in den Klang der Musik mischten sich ferne zischende und fauchende Geräusche. Ich blickte auf: Licht tropfte vom Himmel, Meteore schossen zuerst, von einem goldenen Schweif getragen, empor, zerplatzten dann in einem bunten Regen. Unsere kleinen Geschwister jubelten und eilten, die fallenden Sterne einzufangen. Die klare Musik, das klare Licht, tausend mühselige Tage hatten sich für diese eine glanzvolle Nacht gelohnt. Dann waren die Gedanken verflogen, und meine Sinne empfanden nichts anderes als dieses Schreiten von Ton zu Ton, dieses Gleiten von Feuerkugel zu Feuerkugel. Mit einem letzten feierlichen Klang erstarb die Musik.

Ehe ich wieder zur Besinnung kam, redete Eta schon: „Und nun, ohne Feuerwerk, eine indianische Impression von den unheimlichen Lauten des irdischen Urwaldes.“

Der Kontrast, der schmerzlich grelle Kontrast, hätte nicht größer sein können. Eine Stimme, schrillste Höhen erklimmend und in dröhnende Tiefen hinabsinkend, bald zärtlich, bald von explodierender Gewalt, beschwor den wildesten Dschungel. Papageien schwirrten auf und flogen vorbei, die uralten Bäume raunten sich ihre Geheimnisse zu, und tief im Sumpf schrien dessen amphibische Bewohner. Mir war, als erlebte ich meine kindlichen Wanderungen durch den dichtesten Naturparkwald noch einmal und sähe dabei doch alles ganz anders. Schon glaubte ich, die Töne der irdischen kunstvollen Dschungelwelt, die so seltsam sich mit unserer vereinten, verebbten, da brachen sie mit kreatürlicher Unmittelbarkeit von neuem los, ehe sie endgültig verstummten. Ja, dachte ich, von dort kommen wir -dann war es vorbei.

Diesmal wußte Eta länger zu warten.

„Wie ihr mich kennt, hebe ich das Beste bis zum Schluß auf. Zumindest das Beste, das je mit Unterstützung des Schiffscomputers komponiert wurde. Das Stück heißt ‚Tausend Tage‘. Es kommt frisch vom Band — mehr als die erste elektronische Orgel kann ich mit meinen zwei Händen nicht spielen. Dafür wird Zeth mich begleiten.“ Sie blickte verschwörerisch lächelnd zu ihm hinüber.

Zeth — ich staunte, unvorstellbar, daß dieser auch nur einen einzigen richtigen Ton treffen würde.

Knallhart setzten die synthetisierten Töne Etas ein, jagten voran. Sie saß an der elektronischen Orgel, ihre Hände flogen über die Manuale. Im sich überstürzenden Rhythmus der Musik flackerte unser Tageslicht. Zeths Begleitung! Die Sinustöne schwollen an und verloren sich in Oberschwingungen.

Bei geschlossenen Augen, um unter Zeths optischen Schlägen weniger zusammenzuzucken, versuchte ich, die Disharmonien in Bilder umzusetzen. Tausend Tage in der Puppenhülle des Schiffs, die wir bereit waren abzustoßen. Tausend Tage im ungewissen, ob unsere Arbeit Früchte tragen würde. Tausend Tage fern von Andymon. Das Ziel Andymon selbst in Frage gestellt. Mit der Musik drehten sich meine Gedanken im Kreis, einen Moment sah ich das Schiff sich vervielfachen, nein, das All voller Schiffe wie das unsrige, uralten und welchen, die gerade gebaut wurden, aber ehe ich noch die Bedeutung des Bildes erhaschen konnte, zerbrach es unter einem Schwall von Tönen. Dann brach der Boden unter mir auf, und alles endete in barmherziger Dunkelheit. Sie blieb noch eine Weile über uns hängen, dann beleuchtete Zeth den inneren Hohlraum unserer Welt wieder.

Gamma blickte mich blinzelnd an und zog die Achseln hoch. Die Geschwister um mich schienen ebenfalls ratlos. Erwartungsvoll stand Eta vor ihren Geräten. So laut ich konnte, klatschte ich in die Hände, nach einer Sekunde folgten mir Alfa und Gamma, dann die anderen. Sollen zukünftige Kritiker über Etas Opus urteilen, wir durften sie nicht ohne Beifall auf dem Podest stehenlassen.

Beim anschließenden zweiten Imbiß zog ich Zeth und Eta zur Seite und fragte sie eindringlich, ob es möglich wäre, das erste Stück und das Feuerwerk zum Abschluß des Abends zu wiederholen. Eta nickte, vielleicht entnahm sie meinen Worten mehr, als ich sagen wollte.

Später entdeckten wir, daß sich der Naturpark in Aufruhr befand. Wolken von Vögeln flatterten über den Bäumen. Aus dem Urwald klangen lauter als sonst die Schreie der Tiere. Nicht in hunderttausend Tagen hatte es eine derartige Unruhe im Inneren des Schiffs gegeben.

Ausreißer

Über vier Jahre umkreiste das Schiff schon Andymon, lang genug, um die Besitzergreifung des Planeten gründlich vorzubereiten: durch Bergwerke und Materiallager auf den Monden und durch Pläne von der Errichtung der ersten Siedlung bis zur Infrastruktur ganzer Kontinente. Ständig kamen die Geschwister auf neue Ideen, gerade jetzt hatte Teth die Architektur einer Millionenstadt entworfen. Ein Zuviel an Plänen — aber so war unser Warten zielgerichtet ausgefüllt.

Startbereit zum großen Einsatz, konnten wir Andymon betrachten. Der Planet, so greifbar nahe, füllte gewöhnlich alle Bildschirme und blieb doch unzugänglich, als wäre er Lichtjahre entfernt. Nur selten wurde ich gefragt: „Beth, wie lange dauert es noch?“, denn das Warten war uns in den Jahren zur Gewohnheit geworden.

Samecha, die Kleine aus der fünften Guppe, stellte mir diese Frage einmal, als ich sie dabei überraschte, wie sie ein Bild malte: Andymon nach ihren Wunschvorstellungen.

Ich muß sie verblüfft angesehen haben, denn ich kannte sie noch als rotznasige Range, die lieber mit den Affen in den Bäumen turnte als lernte, und nun hatte sie sich in den Jahren im Orbit in ein hochgeschossenes Mädchen verwandelt. Ihre braune Haut bildete mit dem dunklen Haar einen lebhaften Kontrast zu hellen blaugrauen Augen.

„Du weißt“, antwortete ich wie immer auf diese Frage, „das hängt davon ab, wie schnell sich die Atmosphäre verändert. Wenn wir Glück haben, noch ein Jahr, wir werden es an den Parametern ablesen.“

„Ich habe so viele Lernprogramme mit Tests abgeschlossen“, sagte sie anklagend, „ich weiß alles über Geologie und Ökologie, über Konstruktionstechnologie und Roboterstrukturen. Alle Vorbereitungen für die erste Siedlung sind fertig, und auf Ladym stehen Hunderte von Maschinen bereit — nur der Planet trödelt noch. Ich habe keine Lust, Sachen zu lernen, die ich nicht brauchen werde. Lieber lasse ich mir neue Ölfarben hersteilen und male, was mir einfällt.“

Das von grellen Farbtönen strotzende Bild zeigte nicht gerade die Perfektion geübter Pinselstriche, es war in jeder Beziehung naiv, auch im besten Sinne: Es stellte die heile Welt unserer computergestützten Entwürfe dar, mit viel klarem Himmel, viel Grün, mit uns und unseren zukünftigen Häusern. Und inmitten des Dörfchens stand, alles überragend, ein hoher Baum. Hundert Jahre alt mindestens. Ach, Samecha, dachte ich, sosehr ich wünsche, daß sich deine Träume verwirklichen, diesen Baum wirst du nie erleben.

Sie war meinem Blick gefolgt. Ich seufzte und sah ihr an, daß jedes Wort über ihr Bild überflüssig war. „Du wirst nie genug gelernt haben, Samecha“, sagte ich etwas gestelzt, „und der Planet wird uns noch manchen üblen Streich spielen. Und Maschinen werden wir nicht Hunderte brauchen, sondern Tausende. Glaubst du, ich warte gern?“

„Man könnte ja schon mal versuchen? Vielleicht ist es da unten gar nicht mehr so schlimm..

Ihr Blick fing mich ein, ich mußte lächeln. „Samecha, wir haben vor drei Jahren beschlossen, erst dann zu landen, wenn…“

„Das ist schon so lange her, ich weiß gar nicht, ob ich dabei war. Können wir nicht neu beschließen?“

Ich lachte laut heraus, antwortete dann aber ernst: „Du weißt, wie Delth gestorben ist.“

Sie nickte. Als ich den Raum verließ, murmelte sie jedoch: „Immer Delth!“

Die nächsten drei, vier Tage traf ich sie nicht und vergaß unser Gespräch. Aber bald sollte ich wieder daran erinnert werden. Ich war eben mit der Morgenwäsche beschäftigt, da rief Myth über das Intercom: „Kommt alle schnell in die Zentrale!“

Kein Wort darüber, worum es sich handelte. Ich vermutete einen seiner handfesten Scherze.

In der Zentrale herrschte Aufruhr. Der Hauptschirm zeigte die Oberfläche Andymons. „So eine Eigenmächtigkeit!“ hörte ich. Und: „Nur gut, daß ihnen nichts passiert ist.“ — „Warum hat mich niemand informiert, daß es soweit ist?“ — „Gelandet, wer ist gelandet?“

Ich wunderte mich nicht, Samechas Namen zu hören. Zusammen mit Lameth, Teta und Cheth, Geschwistern aus ihrer Gruppe, hatte sie genau die für den Landungstag geplante Aktion durchgeführt. Zwei Lander und ein mit Robotern und Material beladener Lastgleiter standen nun auf dem seit langem ausgewählten, besonderen Schutz bietenden Hochplateau.

Noch während ich mich orientierte, wischte eine Erkenntnis meinen Ärger weg: Die fünfte Gruppe hatte ihr Gesellenstück geliefert, nun waren sie uns gleichwertig.

„Ganz akkurat, absolut präzise sind sie gelandet“, informierte mich Gamma mit einem anerkennenden Unterton.

„Ist alles für eine Rettungsmission vorbereitet?“ fragte ich und blickte mich um.

„Nein? Dann, Teth, übernimm die Kontrolle, Zeth und Lambda in die Skaphander, haltet euch bereit! Ich glaube aber nicht, daß ihr starten müßt.“

Die ferne Kamera strich über Andymon, der Gleiter und ein Lander kamen ins Bild. Nur wenige Sandschwaden zogen vor ihnen vorbei. An einigen Stellen des Bodens erkannte ich die charakteristischen grünen Flecken von Algenschleim.

„Alle Systeme arbeiten einwandfrei.“ Eine Stimme meldete sich aus dem Lander. „Die Wetterlage ist stabil, Bebenvorhersage negativ. Wir beginnen mit Konstruktionsphase eins. Vivat Andymon!“

Eine Sekunde war es ganz ruhig, dann kam Leben in die Zentrale. „Wie sind denn die Parameter für die Atmosphäre? Ich habe gar nicht gewußt, daß es schon so günstig aussieht?“ Eta stellte die im Raum schwebende Frage.

„Es fehlen noch zwei Zehntel“, antwortete Jota.

Ich hatte vor zwei Wochen das letzte Mal die Daten abgefragt und errechnet, daß es noch mindestens ein halbes Jahr dauern würde, bis wir unseren Fuß zum zweiten Mal und endgültig auf den Planeten setzen konnten.

Xith erregte sich lautstark „Sie müssen sofort zurückkehren. Wir befehlen ihnen, daß sie sofort starten, nicht wahr, Beth?“

„Setzt euch erst mal“, sagte ich, um mehr Ruhe in die Zentrale zu bringen, und nahm selbst Platz, drehte den Sessel aber so, daß ich nicht die Instrumente anblickte, sondern die Geschwister. „Bitte, Jota.“

„Also atembar ist die Atmosphäre auf keinen Fall - das kann noch auf Jahre so bleiben —, aber wir hätten längst darüber diskutieren können, ob sich die Landung nicht hätte vorziehen lassen.“

„Du meinst, wir haben uns zu sehr an das Warten gewöhnt?“ unterbrach Xith sie. „Ich nicht!“

„Teta und Samecha“, meldete sich Mema, die ihre Geschwister kennen mußte, „die geben nur auf, wenn es da unten auf dem Planeten absolut unerträglich wird.“

Ich nickte; mir war längst klargeworden, daß meine „Befehlsgewalt“ hier versagte. Dabei erwarteten die Geschwister von mir, daß ich handelte und nicht einfach beide Augen zudrückte.

Gamma, die mich beobachtete, kam mir genau im richtigen Zeitpunkt zu Hilfe. Gemeinsam — aber auch nur gemeinsam — gelang es uns, Delth zu ersetzen.

„Eigentlich könnten wir ihnen dankbar sein. Wenn sie durchhalten, werden wir alle eher auf Andymon landen. Ich bin dagegen, ihnen die Rückkehr zu befehlen“, sagte Gamma.

„Dieser Ansicht bin ich auch“, fügte ich schnell hinzu und konnte auf den Gesichtern der Geschwister fast ungeteilte Zustimmung ablesen. „Wir dürfen aber nicht vergessen, daß es sich hier um einen gefährlichen Alleingang handelt. Von einer Strafe halte ich nichts, das wäre auch eine interne Angelegenheit der fünften Gruppe, aber es ist klar, daß sie noch deutlich erfahren werden, wie wir derartige Einzelaktionen mißbilligen. — So, jetzt aber an die Arbeit! Ich glaube, eine ganze Reihe von Plänen müssen überdacht werden.“ Dankbar nickte ich Gamma zu.

Noch während wir diskutierten, hatten auf Andymon unsere Geschwister und ihre Roboter, mit denen sie gewissermaßen Hand in Hand arbeiteten, einen provisorischen Hangar für den Lander errichtet. In den ersten drei Tagen gelang es ihnen, sich notdürftig einzurichten mit einem winzigen kuppelförmigen Stationsgebäude, einem Antennenmast, einem Windgenerator und einer halbautomatischen Wetterwarte. Dann kam ein Sturm auf, Schlammassen wälzten sich über die Ebene, es sah so aus, als würde der erste Versuch, einen ständigen Stützpunkt zu errichten, scheitern. Der Mast stürzte um, und viele Geräte versagten in der Nässe.

Sobald der Sturm sich gelegt hatte, schickten wir einen bis obenhin vollgepackten Lastgleiter als Verstärkung.

Andymon rief. Die Tage des Wartens waren gezählt. Der Ärger über die fünfte Gruppe war verflogen. Bei jedem ihrer Erfolge triumphierten wir im Schiff Gebliebenen, jeder ihrer Rückschläge bedrückte auch uns — vielleicht sogar stärker als sie.

Nach drei Wochen brachte ein Lander Samecha ins Schiff zurück. Rote Flecken bedeckten ihre geschwollenen Hände. „Ich habe versucht, mit bloßen Händen draußen zu arbeiten“, erklärte sie, „einmal müssen wir doch damit beginnen.“

Ich rief Samecha zu einem ernsten Gespräch, bei dem ich herauszufinden versuchte, warum sie den Beschluß der Geschwister so wenig respektiert hatte. Schließlich war ja damals um der Sicherheit willen so entschieden worden. Und wer sich gefährdete, gefährdete einen Teil unserer Gemeinschaft.

„Beth, ich bin nicht so unwissend und leichtfertig, wie du annimmst“, antwortete Samecha überlegt. „Sag mir bitte, wie man sonst eine ein für allemal festgelegte und wissenschaftlich überholte Schranke überwindet? Auch du solltest etwas mehr Vertrauen in deine Kraft und Ausdauer haben, in deinen Erfindungsreichtum und dein Improvisationsvermögen.“

Ich lachte versöhnt und klopfte ihr auf den Rücken.

Heute bin ich sicher, daß wir ohne diese Einstellung, ohne diesen Pioniergeist, ja diese Verwegenheit, Andymon nie bezwungen hätten. Wer sich große Ziele setzt, muß nicht nur das nötige Wissen besitzen, er muß auch zu Risiken bereit sein. Und vielleicht ist diese Bereitschaft, die Brücken hinter sich abzubrechen und ins Ungewisse zu starten, das hervorragendste Kennzeichen unserer jungen Gemeinschaft. Ich hoffe, daß sie auch in ferneren und bequemeren Zeiten nicht verlorengeht.

Nachtschicht

Gamma und ich flogen mit der dritten Ablösung auf den Andymon. Zu dieser Zeit stand bereits ein festes Gebäude, das war Unterkunft, Leitstelle, Minifabrik, Lager - alles in einem. Nach und nach wuchs um dieses Gebäude die künftige Siedlung, unsere Heimstatt auf Andymon. Auch eine Landebahn für Gleiter und Flugzeuge war schon errichtet und einige Hangars. Tag und Nacht hatten die Geschwister gearbeitet. Achtundzwanzig irdische Stunden mißt die Umdrehung Andymons, kein Wunder, daß uns Mensehen die Nachtschicht lang wurde.

Wir standen am Fenster, die Kontrollpunkte interessierten uns nicht mehr, grüne Anzeigen, monotone Berichte erfolgreichen Fortschreitens der Arbeiten. Die Geschwister der Tagesschicht schliefen, die Zeit verstrich mit trister Langsamkeit. Wir schauten hinaus und konnten doch nichts erkennen. Ströme von Wasser flossen die Scheibe hinab, dahinter war es dunkel, nur hier und da quollen Lichtschemen auf und zergingen wieder. Einer der trockensten Plätze ganz Andymons — wer wollte das glauben?

„Man könnte trübsinnig werden“, sagte Gamma, „selbst die Roboter arbeiten bei diesem Wetter langsamer.“ Sie lehnte sich an mich, und ich stützte mich am Plastrahmen des Fensters ab. Monoton summte die Elektronik. „Ich werde immer müder, dabei kann ich nicht schon wieder ein Anregungsmittel nehmen.“

Sacht strich ich Gamma über das Haar. Andymon war weder erregend noch fesselnd, Andymon war trostlos. Ohne Abwechslung, ein Einerlei von Regen und Sturm, von Schlamm und Geröll.

„Gehen wir spazieren“, schlug ich zu meiner eigenen Überraschung vor. Auf ihren fragenden Blick erklärte ich: „Ich kann nicht länger hier herumsitzen.“

Gamma brachte nicht den Willen auf, mir zu widersprechen. Sie folgte mir in den Umkleideraum, dessen Boden von Schlammkrusten und Dreckbrocken bedeckt war. Es kostete soviel Mühe, die Station immer sauber zu halten. Wir zogen uns aus, nahmen dann unsere ehemals mattsilbernen Gummianzüge aus dem Regal. Beim Überstreifen sprangen Plättchen getrockneten Schlamms ab. Wir fuhren in Handschuhe und Stiefel, schoben die Haube über den Kopf, legten Ohrhörer, Brille und Atemmaske mit Mikrofon an.

„Hallo“, sagte Gamma.

„Hallo“, echote ich, die Funkverbindung war überprüft.

Ich faßte Gammas Hand und drückte auf den Knopf der Schleusentür. Sekunden später standen wir im Freien.

Prasselnder warmer Regen floß über unsere Körper. Zu warmer Regen, der unsere Gliedmaßen erschlaffen ließ. Im Licht der Helmscheinwerfer funkelten die Tropfen wie ein dichter blitzender Vorhang. Langsam stapften wir durch den zähen, glucksenden Schlamm. Wir konnten keine zehn Meter weit sehen, im Notfall würde uns der Peilsender der Station leiten. Einzelne Böen, schmerzhaft und laut, peitschten uns fast zu Boden.

Wir liefen auf einen verschwommenen Lichtschein zu. Ich stolperte, fiel der Länge nach hin, der fließende Schlamm hatte eine Rinne in das leicht abschüssige Terrain gegraben. Den Schmutz, der mich von oben bis unten bedeckte, spülte der Regen wieder ab. Der Schreck hatte uns etwas aufgemuntert.

Ich blickte den dahinfließenden Dreckmassen nach. Irgendwo jenseits unseres Hochplateaus mußten sie sich zu gewaltigen gelbbraunen, reißenden Strömen vereinigen, die durch das tiefer gelegene Land ihr kilometerbreites Bett gruben: die heute weithin sichtbaren Urstromtäler Andymons.

Dann standen wir vor einer unvollendeten Metall- und Plastkonstruktion, die ein Dutzend Hochdrucklampen grell beschienen. Der Regenvorhang verwischte die harten Konturen und verwandelte die aufragenden Pfeiler in einen bleichen, kahlen Wald.

„Ich finde das häßlich“, sagte Gamma und wechselte ihren Standort, um nicht bis zum Knie in den aufgeweichten Boden einzusinken. „Wir setzen grobschlächtige Klötze hin, die genauso trostlos sind wie der Planet.“

„Noch“, erwiderte ich. „Wenn wir erst einmal eine Grundlage haben und wenn das Klima sich endlich eingespielt hat, dann lohnt es sich, nach ästhetischen Prinzipien zu bauen.“

„Schau dir doch den Sumpf an“, Gamma hob die Hand ein wenig und wies auf die Fundamente der Konstruktion, die ein grünschimmernder Brei umströmte, „wenn man unvorsichtig ist, reißt es einem sogar die Beine weg — es ist für mich völlig unvorstellbar, daß es hier einmal anders aussehen wird.“

Sie gähnte. Auch ich war so schläfrig, daß ich hätte hineinsinken mögen in die warmen, weichen Massen, die alles überschwemmten.

Es war uns damals noch nicht bekannt, daß gerade dieser mit stickstoffixierenden Bakterien und Algen angereicherte Schlamm, der eklige Urschleim, wie wir ihn nannten, sich später in fruchtbaren Humus verwandeln würde.

Mühsam rafften wir uns auf und stapften langsam weiter. Unsere Beine ermüdeten bald. Schweiß sammelte sich unter meinem Gummianzug, es kribbelte.

Durch das Prasseln des Regens drangen undeutliche Geräusche. Wir liefen auf sie zu. Unter einer großen, schräg gespannten Plastplane entluden Roboter einen Lastgleiter. Dort war es trocken, ein niedriger Damm schützte das Gelände vor den Schlammfluten. Nur gelegentlich tropfte Kondenswasser herab.

Wir beobachteten die exakten Bewegungen der Roboter eine Weile. Mit ihren drei zangenbewehrten Armen reichten sie sich schwere Container zu und stapelten sie. Vielleicht enthielten sie die lange versprochenen Möbel. Die Roboter hatten ihre drei Beine eingezogen und ruhten auf den konischen Unterteilen. Ich zählte nur vierzehn Stück. Zwei fehlten. Einen fanden wir wenige Minuten später. Er stand draußen, mitten im strömenden Regen und zuckte mit dem ganzen metallischen Körper. Seine drei Zangen wirbelten um den plumpen, spitz auslaufenden Kopf. Sie bewegten sich so schnell, daß wir nur ein unregelmäßiges Blitzen wahrnahmen.

„Der hat durchgedreht“, flüsterte Gamma, „oder träume ich schon?“

Vorsichtig gingen wir einige Schritte näher. Den Kopf des Roboters traf kaum ein Tropfen.

„Stopp!“ schrie ich den Roboter an.

In Sekundenbruchteilen erstarrte er mit erhobenen Zangen.

„Was ist los?“ fragte ich.

Statt einer Antwort setzte der Roboter seinen Tanz fort. Regentropfen blitzten wie fallende Sterne im stroboskopischen Licht seiner Scheinwerfer.

„Stop!“

Wieder hielt er mitten in der Bewegung inne.

„Ich weiß nicht, ob wir uns ihm nähern dürfen. Der verwandelt uns in Mus!“

Ich stapfte zum Lastgleiter und holte eins der angeforderten kleinen Plasmaschweißgeräte. Als ich es aufbaute, versank es fast im Morast. Ich stellte die Fokussierung ein und zielte auf den dicken Leib des Roboters.

Gamma legte ihre Hand auf das Gerät. „Nein“, sagte sie schwerfällig, „wir müssen wissen, was für ein Fehler das ist. Vielleicht tritt er häufig auf? Vielleicht liegt es an der Programmierung?“

Die Roboter waren unser eigenes Produkt. Zwar gab es im Schiff Guros, Serviceroboter und andere, aber diese waren den Bedingungen Andymons nicht angepaßt. Unsere eigenen Modelle hatten noch ihre Kinderkrankheiten. Chefkonstrukteur Zeth hatte geschworen, sich bei jedem Fehler ein Haar auszureißen. Eine dunkle Strähne lag inzwischen bei den Unterlagen.

Durch drei glückliche Treffer amputierte ich die Arme des Roboters, nun konnten wir uns ihm nähern, ihn ausschalten und abschleppen. Den Rest der Nacht verbrachten wir damit, ihn an einem Seil in die Station zu zerren. Er war zum Schluß mindestens doppelt so schwer.

Und wir wateten nicht nur im Schlamm, sondern auch im eigenen Schweiß, der an der Innenseite der Gummianzüge hinab in die Stiefel gelaufen war. Todmüde erreichten wir die Station. Es gelang uns noch, die Ablösung zu wecken und die Anzüge abzustreifen, dann schliefen wir nackt und schweißverklebt auf den harten Pritschen ein.

Später fanden wir den Fehler. Der Roboter interpretierte das Geflimmer der Regentropfen als Signal. So verfiel er in eine Art Hypnose.

Doch Andymon konnte nicht nur Roboter verrückt machen.

Andymon macht krank

Die Tage auf Andymon vergingen mit einer tristen, aufreibenden Gleichförmigkeit. Wir schliefen, aßen im kleinen Kreis ein Frühstück, das nach Energieeinheiten und nicht nach Geschmack bilanziert war, saßen dann stundenlang vor Monitoren und Kontrollpulten oder wateten durch den Schlamm, um ausgefallene Roboter zu reparieren. Immer häufiger überfiel mich bei der Arbeit eine zähe Müdigkeit. Die langen Tage Andymons, achtundzwanzig irdische Stunden, schienen nicht enden zu wollen. Ich hatte auf nichts mehr Appetit, ich wußte nur, ich mußte arbeiten und arbeiten, und irgendwann würde unsere erste Siedlung eingerichtet und beziehbar sein.

Bis zu dieser Zeit wollte ich meine Augen vor allen Unbilden schließen. Davon gab es genug: ein plötzliches unvorhergesagtes schweres Erdbeben, das eine halberrichtete Halle zum Einsturz brachte, eine neue Schlammflut, die die Dämme bedrohte, und einen Staubsturm an dem einzigen Tag, an dem der Regen aussetzte. Die feinen Körnchen drangen durch die schmälsten Ritzen und legten unsere Maschinen lahm, in der Station verstopften sie das Klimasystem. Wir schmeckten sie im faden Essen, selbst unsere Betten überzog ein dünner Staubfüm. Dazu schwebten wir tagelang in Sorge, der Staub könnte sich als giftig erweisen.

Es kam soweit, daß ich bei der Montageüberwachung einschlief, mein Kopf fiel einfach auf das Pult, und als ich von Gamma geweckt wurde, hatte sich das Muster der Schalter und Knöpfe in meine Wange geprägt. Dazu schmerzte die von kaltem Schweiß bedeckte Stirn. Und im rechten Arm stach es.

„Beth, leg dich doch hin.“ Auch Gammas Stimme klang müde.

Ich habe noch Schicht, wollte ich sagen, doch die Digitaluhr neben dem Monitor zeigte, daß die längst vorüber war. Ich ging in meine Kabine und warf mich, ohne einen Gedanken an Waschen zu verschwenden, aufs Bett.

Jetzt aber konnte ich keinen Schlaf finden, ich wälzte mich von rechts nach links, von links nach rechts. Mein Gesicht, meine Haare waren verklebt, und der Kopf brummte unbarmherzig. Ich versuchte, mich durch die gewohnte Routine in die geeignete körperliche Verfassung zu bringen, zog mich schwerfällig aus, wusch mich - es half nichts. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf: Andymon mit seinen roten und schwarzen Felsen, mit Schlamm und schweren Wolken, der Abgrund des Weltraums und die viel zu grellen Sterne, unsere Bauvorhaben, Fahrzeuge, Maschinen, Roboter in unablässiger Bewegung, ein Quirlen wie von Ameisen.

Ich muß schlafen, dachte ich und versuchte es mit autogenem Training, doch ich konnte mich nicht entspannen, die Bilder in meinem Kopf nicht vertreiben.

Da kam mir der Gedanke, daß ich krank sei. Während unserer Kindheit im Schiff waren wir alle an einer Reihe harmloser Infekte erkrankt, sie dienten dazu, unser Immunsystem zu stärken. Doch nun? Vielleicht war ein unbekannter andymonischer Virus mit dem Staub eingedrungen - eine unberechenbare Gefahr für uns alle. Dieser Gedanke mobilisierte meine Kräfte.

Ich hielt es nicht länger im Bett aus und schleppte mich in das medizinische Zentrum, es umfaßte in dieser Ausbaustufe ganze drei Räume. Sie waren leer. Ich ging zum Computer, er meldete mir, daß Joth und Kafa ärztlichen Dienst hätten, doch ich wollte sie nicht grundlos beunruhigen. Wenn sich meine Befürchtung bewahrheitete, würden sie genug Arbeit bekommen.

Dann aktivierte ich das Diagnoseprogramm und gab meine Symptome ein: Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche. Der Computer stellte Gegenfragen, wollte die Zusammensetzung von Blut, Urin, Speichel wissen. Ich spuckte und pinkelte und zapfte mir mühsam und ungeschickt Blut ab. Mein Kopfschmerz hatte sich gesteigert, und meine Kraft ließ nach. Ich setzte mich auf den Arztstuhl und verschnaufte einige Minuten. Dann legte ich mich unter den Scanner, der die Temperatur der Körperoberfläche maß sowie Durchblutung und Herztöne. Ich wälzte mich von der Liege und sah die Resultate an. Alles negativ. Natürlich fand das Diagnoseprogramm eine lange Reihe irdischer, für uns exotischer Infekte, die nicht auszuschließen waren, denen jedoch nur eine verschwindend geringe Wahrscheinlichkeit zugemessen wurde.

Ob der Erreger meiner Krankheit den ausgeklügelten Programmen und Tests entgangen war? Eine beachtenswerte Prozentzahl erhielt nur ein vegetativ-dystonisches Syndrom, mit dem allerdings eine ganze Liste offener Fragen und Probleme aufgeführt war. Während ich versuchte, ihren Inhalt zu begreifen, fiel ich in einen unruhigen Schlaf voll wirrer Träume von faustgroßen schleimigen Amöben und ertrunkenen Robotern.

Nach einer ungewissen Zeit geriet ich in einen unklaren Dämmerzustand, dessen Schleier sich allmählich lüftete. Um mich geschah etwas.

„Was macht denn der?“

„Lassen wir ihn schlafen. Den hat’s sicher auch erwischt.“

Ich ächzte und versuchte meinen Oberkörper aufzurichten. Der Kopfschmerz hatte nachgelassen, lauerte aber im Hinterkopf.

Joth blickte mich an, trotz seiner fast schwarzen Haut hatte er deutlich Ringe ‘unter den Augen. „Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlappheit, Schweißausbrüche, unbegründete Ängste?“ fragte er mich monoton.

„Bis auf die Ängste — ja“, ich brachte den Mund kaum auf, „ich kann nur noch vor Displays einschlafen.“

Dann sah ich Lambda, die zusammengekrümmt auf der Diagnoseliege ruhte.

Ungefragt erklärte Joth: „Dasselbe. Das Andymonsyndrom…“

Kafa, die einen beschmierten weißen Kittel trug, strich Lambda das für Andymon viel zu lange Haar aus dem Gesicht und wischte ihr den Schweiß ab. Lambda zuckte mit allen Gliedern, doch sie schlief weiter.

„Dir hilft nur eins, Beth“, wandte sich Joth wieder an mich, „zurück ins Schiff, Ruhe und viel Vitamine.“

„Aber…“, ich war zu zerschlagen, um ihm richtig zu widersprechen. Ich durfte nicht einfach kapitulieren!

„Hör zu, Beth, dein Nervensystem verkraftet das alles nicht: die ständige Überlastung bei der Arbeit, womöglich mit unregelmäßigen Schichten, die geringere Gravitation hier, den Achtundzwanzigstundentag. Deine Biorhythmen dürften ziemlich gestört sein. Hinzu kommt der sensorische Schock: das Displaystarren, die ungewohnte Umgebung, die zu grellen Farben draußen, kein Naturpark für eine Erholungspause, fehlende Ruhe und Bequemlichkeit. Du mußt zurück, um auszuspannen, Beth.“

„Aber Joth…“

„Ich könnte dir zwar Kopfschmerzmittel oder etwas zur Beruhigung geben wie Lambda, ihr ging es einfach zu dreckig, doch damit wäre dir langfristig nicht geholfen. Der Zusammenbruch würde nur aufgeschoben. Es gibt nur eins, Beth, Urlaub und Vitamine.“

Mein Kopfschmerz kam wieder hervor, er kroch langsam vom Hinterkopf in die linke Schläfe und verstärkte sich zu einem metallischen Ziehen.

„Es ist nicht dein Fehler, Beth, und nicht deine Schwäche. Du bist schon der fünfte Fall in dieser Woche.“

Ich dachte an diesem Tag tatsächlich, wir wären biologisch, nervlich unfähig, Andymon zu besiedeln. Aber dieser ungeheuerliche Gedanke ging unter in der Dumpfheit und in dem Schmerz, der mein Hirn füllte. Meine Geschwister lösten mich noch am selben Tag ab. Gamma folgte mir drei Tage später ins Schiff. Dort erholten wir uns gemeinsam.

Die Arbeiten auf Andymon wurden anders organisiert, weniger aufreibend. Und ein Computer überwachte die Anpassung der inneren Uhr eines jeden an die Rotation des Planeten. Er empfahl uns Arbeitsund Ruhezeiten. Es dauerte Monate, bis wir mit Andymon synchron liefen. Lambda aber gelang es lange nicht, sich anzupassen. Zwei weitere Versuche scheiterten. Es schien, als sei sie verdammt, für immer im Schiff zu bleiben. Erst drei Jahre nach uns wurde sie auf Andymon heimisch.

Fusion und Spaltung

Etwa einhundert Kilometer von unserer ersten Siedlung entfernt entstand das von Tag zu Tag dringender benötigte Kraftwerk. Auf die Dauer konnten wir es uns nicht leisten, täglich drei, vier Lastgleiter mit flüssigem Wasserstoff und flüssigem Sauerstoff vom Schiff oder den beiden Monden anzufordern, wo unsere Energieträger produziert wurden. Rover und Copter verbrannten täglich Dutzende von Tonnen der beiden Flüssigkeiten zu Wasser, ebenso die Brennstoffzellen der Stationsgebäude und die ersten Fabriken, kleine Pilotanlagen, deren Produktion in diesen Tagen anlief. Im Gegensatz zu ihnen konnten wir bei unserem künftigen Energielieferanten nicht mit Material und Ausrüstungen sparen.

Als ich, dem Turnus unserer Ablösungen und Aufgabenwechsel entsprechend, bei der Baustelle eintraf, empfing mich Zeth. Er war noch verschlossener als sonst, in dem blauen Overall wirkte auch sein Gesicht blasser als gewöhnlich. Zeth wies mich wortkarg ein, erläuterte mir in der Unterkunft, die zugleich Leitstelle war, anhand eines Modells den Stand der Arbeiten.

„Hier sind wir. Das ist der See, Kühlwasser, Wasser für die H2- und O2-Produktion. Dort ist das Gelände für die künftigen Deponien. Die Deuteriumfabrik, fast fertig. Der Leichtwasserreaktor.“

Letzterer nahm sich neben den Fundamenten des Fusionsreaktors wie Spielzeug aus. Zeth erwähnte nicht, daß der Leichtwasserreaktor in ganzen dreißig Tagen aus vorgefertigten Teilen errichtet worden war und nun die Energie für die Bauarbeiten lieferte. Erst wenn der Fusor lief, würde die ständige Energieknappheit auf Andymon beseitigt sein — vorübergehend.

Vom Kontrollzentrum aus, in dem ich mich befand, war nicht viel zu sehen, eine Fensterfront zeigte das aus riesigen verkitteten Granitblöcken geschaffene Fundament und den wolkenverhangenen Himmel, die andere gestattete einen umfassenden Blick über den Flugplatz, wo Lastgleiter, beladen mit Baumaterial, landeten und leer wieder starteten. Lediglich die Monitore vermittelten einen Einblick in das Baugeschehen: die langsamen Bewegungen der Kräne, die hellen Sterne der Schweißarbeiten.

„Die Lithiumversorgung ist noch offen“, sagte Zeth nach einer langen Pause. Seine Augen waren schmale Schlitze.

„Du sagst das so — so resignierend, Zeth, was ist?“

„Nichts. Das Lithium bekommen wir schon noch. Und wenn’s durch Elektrolyse ist.“ Er wandte sich zur Tür.

„He, Zeth, du hast doch was! Kopfschmerz, Müdigkeit, Schwäche, Schwindel?“

Zeth lachte kurz und gepreßt auf. „Kein Andymonsyndrom, bin schon synchron.“

Ich faßte ihn am Ärmel, hielt ihn zurück. Er wich meinem Blick aus. „Vielleicht zeigst du mir das Baugelände?“

Zeth zuckte mit den Schultern. Kommentarlos führte er mich in die Schleuse, wo wir die Gummianzüge überstreiften. Ich war bislang nie mit Zeth richtig warm geworden, doch schien es mir, als erwarte er mit trotziger Zurückhaltung Hilfe von mir. Von seinen Problemen zu erzählen hatte ihm schon immer Mühe bereitet.

Mit einem Rover fuhren wir an den künftigen Fusionsreaktor heran, seine Größe hatte mich die Entfernung unterschätzen lassen. Über den grauen Fundamenten erhob sich wie ein riesiges Ei im Becher eine irisierende Tragluftplasthalle von gut zweihundert Meter Durchmesser. Sie schützte den Bauplatz vor Regen, Sand und Staub.

Wir verließen den Rover und gelangten durch ein Mauseloch von Eingang über einen spärlich beleuchteten Korridor in das Innere der Kuppel. Gelbliches Licht fiel durch die Kuppel und ließ die Maschinen und Baumaterialien um mich bräunlichgrau und stumpf scheinen.

„Dort kommt der Kern hin, die Plasmasäule, die Gigawattlaser, der Injektor.“ Zeth schaute mich nicht an. Mit seinen Blicken hatte er sich im Treiben der Montageroboter verfangen. Als nenne er technische Daten, sagte er: „Eta hat mich verlassen.“

Ich blickte auf die noch leeren mannsgroßen Rohre des Lithiumkreislaufs, die strahlenförmig nach außen liefen. Unwillkürlich fragte ich: „Teth?“

„Nein, wenigstens nicht Teth. Xith.“ Nach einer längeren Pause fügte er bitter hinzu: „Ich war ihr wohl nicht temperamentvoll genug.“ „Zeth“, sagte ich tastend, „es liegt bestimmt nicht an dir. Wenn sie nun mal so dumm ist… Es ist ihre freie Entscheidung…“

„Weiß ich. Aber es ging ja drei Jahre gut. Ich hatte gedacht, es würde immer so bleiben.“

Ich fühlte mich der Situation nicht gewachsen. Zeth trösten, ihm etwas vormachen: Vielleicht kommt sie zurück? Ohne auf den Weg zu achten, gingen wir vorbei an Halterungen für Magnetspulen, die supraleitend waren bei zweihundert Kelvin, liefen wir über die Blöcke der thermischen Isolation.

„Es gibt ja nicht nur Eta.“ Ich wagte einen neuen Vorstoß.

„Du hast gut reden, du und Gamma, bei euch gibt es nie Probleme.“ Es klang sehr bitter, fast anklagend. „Eta war immer so fröhlich. Was soll ich ohne sie? Wozu brauche ich dann das alles hier?“ Seine Handbewegung umfaßte den Fusor, vielleicht mehr, vielleicht ganz Andymon. „Warum habe ich mich auch an sie gehängt! Hätte ich doch wissen müssen, daß ich auf die Dauer zu langweilig für Eta bin.“ „Zeth, Zeth, du mußt darüber wegkommen. Dein Leben ist nicht zu Ende. An Liebeskummer ist noch keiner gestorben.“ Ich wußte, daß ich Phrasen drosch, angelesene oder im Totaloskop aufgeschnappte, aber was sollte ich sonst sagen?

„Ach, das ist alles Mist. Ich könnte mich in einem Totaloskop vergnügen oder einfach Pillen nehmen. Aber ich will das nicht, auch nicht, daß Alfa mich zu trösten versucht. Die zieht glatt aus Mitleid zu mir.“

Zeth lief immer schneller zwischen Baumaschinen und tonnenschweren Segmenten des Reaktormantels durch. Da er das Terrain besser kannte, konnte ich ihm kaum folgen. An die armstarken Kabel, die unseren Weg kreuzten, teilte er harte Fußtritte aus.

„Halt, Zeth, beruhige dich doch, Zeth!“

Wir waren fast bis zur Sohle des Reaktors vorgedrungen, nun begann Zeth wieder nach außen zu laufen. Er kletterte die kraterförmig umeinandergelegten einzelnen Mantelschichten hinauf. Ich versuchte, ihm auf den Fersen zu bleiben, der Gummianzug behinderte mich, ich schwitzte, bekam zuwenig Luft durch den Atemfilter.

„Zeth!“ ich keuchte, „Zeth!“ Wenn er vor mir den Gipfel des Fundaments erreichte, konnte er sich hinabstürzen. Wir waren nicht im Totaloskop. Auf Andymon bedeutete der Sprung ins Nichts den Tod.

„Zeth!“ Meine Knie wurden weich, immer häufiger griff ich bei all den Stahlverstrebungen, Kabeln, Röhren, Plastsäulen daneben.

Dann stand Zeth ganz oben. Doch er schaute nicht nach außen, wo er nur die Plastkuppel hätte auf schlitzen müssen, sondern nach innen, zu mir herab.

Endlich erreichte ich ihn. Er half mir nicht beim letzten Schritt, sondern sagte mit wiedergewonnener Stimme: „An diesen drei Punkten werden sich die Wärmeaustauscher befinden.“

Gemeinsam schauten wir auf Krane, Maschinen, Montageroboter. Jede ihrer Bewegungen und jeder ihrer Handgriffe waren vorausberechnet. Sie kannten unsere Probleme nicht.

Plötzlich schrie Zeth: „Macht schneller, ihr lahmen Affen!“

Die Roboter fühlten sich nicht angesprochen.

Das Fusionskraftwerk lieferte zur Überraschung aller schon zwei-hündertdreiundachtzig Andymontage nach Baubeginn den ersten Strom. Ich kannte einen Grund dafür.

Atempause

Seit wir für Andymon arbeiteten, ließen wir uns vom Computer über das Intercom wecken, eine Gewohnheit, die ich heute für eine der typisch irdischen Unsitten halte. Denn die Maschinen haben sich nach dem Rhythmus des Menschen zu richten, nicht umgekehrt. An einem Morgen jedoch blieb alles ruhig.

Ich hatte geträumt, lange und ausgiebig geträumt, nun kam ich allmählich zu Bewußtsein. Im Raum war es völlig dunkel. Wieso wache ich schon so früh auf, überlegte ich mühsam und langte nach dem Armband, das als Computer, Uhr und Videofon funktionierte. Für alle Geschwister, die sich außerhalb des Schiffs aufhielten, war das Tragen des kleinen Armbandcomputers, der in erster Linie der Kommunikation diente, zur Selbstverständlichkeit geworden. Die grünglimmenden Zahlen verwunderten mich, dann wurde mir bewußt: Es war bereits nach Schichtbeginn. Meine Müdigkeit verflog. Ich rüttelte Gamma an der Schulter, sie drehte sich zu mir um und gähnte.

„Gamma, wach auf; der Computer hat uns nicht geweckt!“ Ich sprang aus dem Bett, rannte zum Intercom, stellte gleichzeitig die Zimmerbeleuchtung ein.

„Soviel menschliches Verständnis hat er sonst nicht gezeigt“, murmelte Gamma, die Augen fest zusammenkneifend. Sie hüstelte, um ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen.

Ich hantierte am Intercom, hatte endlich den richtigen Code gefunden — und auf dem Bildschirm erschien ein einziges lakonisches Wort: FEIERTAG. Wir brachen in ein befreiendes Gelächter aus. Ilonas Idee, den Computer darauf achten zu lassen, daß wir uns nicht überarbeiteten, trug Früchte.

„Glatte Sabotage, das ist glatte elektronische Sabotage, Beth“, sagte Gamma. Sie sprang zurück ins noch warme Bett und begann ihren lindgrünen Pyjama aufzuknöpfen. So fing mit einem wundervollen Morgen ein schöner Tag an.

In der kleinen Kantine zum Frühstück trafen wir Joth, Resth und Szina, später, als wir fast aufgegessen hatten, kam noch Ilona dazu.

„Hat der Computer mich heute früh erschreckt“, erzählte Ilona lachend und blies einige blonde Haare, die nicht über ihre Schultern fielen, von den Sommersprossen.

„Uns auch“, sagte ich und verschluckte mich fast am letzten Brokken Ei. „Ich habe keine Ahnung, was ich heute mache.“

Gamma klopfte mir vorsichtshalber auf den Rücken. „Arbeiten dürfen wir nicht, es wäre disziplinlos. Im Schiff könnten wir baden gehen, aber erst hochfliegen - nein.“

„Zum Totaloskop habe ich auch keine Lust“, sagte Ilona, „lieber flirte ich ein wenig mit Resth.“

Resth wurde prompt rot, antwortete aber forsch: „Ich mach mich nur noch schnell schön!“ und ging.

„Vielleicht können wir doch baden gehen?“ Ilona nahm den Faden wieder auf.

„Ja“, sagte ich, „im Taucheranzug aus Teflongeweben, damit uns die Salze nicht bis auf die Knochen zerfressen.“

„Gut, nicht gerade baden, aber was haltet ihr von einem Picknick am Ozean? Das wäre doch ein richtiger Feiertag.“

„Leider darfst du dabei nicht den kleinsten Bissen einschieben, sonst ist deine Lunge in der scharfen Brise hin.“ „Ihr werdet’s ja erleben“, sagte Ilona. „Ich jedenfalls schlage einen Ausflug vor. Helft ihr mir, die anderen einzuladen?“

Freiwillig übernahm ich die heikle Aufgabe, alle am Reaktorbau Beteiligten zu verständigen, also auch Zeth. Er schimpfte auf den Computer. „Ich bin zehn Minuten zu spät in der Zentrale gewesen, dadurch hat es fast fünfzehn Minuten Verzug gegeben. Na, inzwischen habe ich den rausgeholt.“

„Zeth“, sagte ich behutsam, „heute ist Feiertag. Es ist nicht gut, wenn du dich zu sehr in die Arbeit vergräbst, du ruinierst dich. Außerdem haben wir beschlossen, dem Zeitplan des Computers zu folgen.“

„Der ist mir schnuppe.“ Zeths Backenknochen traten hart bervor. „Ich bin längst mit Andymon synchron, und ich habe meinen eigenen Zeitplan. Wenn ihr feiern wollt — bitte. Aber nicht mit mir.“

Der kleine Bildschirm erlosch. Und war es nicht besser, daß Zeth ausblieb? Denn Eta und Xith nahmen bestimmt teil.

Auf dem Weg zum Flugfeld passierten wir das überdimensionale Ortsschild, das Myth vor wenigen Tagen aufgestellt hatte. Unsere drei Baracken „Andymon-City“ zu nennen! Doch allmählich, nach vielem Gelächter und obwohl wir alle den Ausdruck unpassend fanden, begann sich dieser entweder großsprecherische oder prophetische Name einzubürgem.

Wir flogen in zwei Koptern. Viel konnte ich während des Dreihundertkilometerfluges nicht erkennen, Wolken verdeckten das Land. Dann und wann rissen sie minutenlang auf, und wir überquerten eine graubraune Fläche oder eine grüne — Algenschlamm. An manchen Stellen war er sicherlich metertief, doch nur die oberste Schicht lebte, darunter waren die Algen erstickt und verfaulten.

Als wir landeten, versuchte ich, die Küste des Delth-Ozeans mit den Konturen auf der Karte in Übereinstimmung zu bringen. Es gelang mir nicht. Hatte ein neues Beben die Oberfläche des Planeten verändert?

Gamma sah meine gerunzelte Stirn. Sie warf einen Blick auf die Karte und überprüfte ihre Fähigkeit, meine Gedanken zu erraten. „Kein Beben, Beth, nur eine Doppelflut. Ladym und Gedon auf einer Seite von Andymon.“

Der Kopter landete mit einem harten Ruck, das Jaulen der Motoren verstummte, es war still.

„Setzt die Masken auf“, sagte Gamma, auch ich schob meine übers Gesicht und mußte dabei über den absurden Picknickkorb lächeln, den Ilona trug. Nein, den Spaß wollte ich ihr nicht verderben. Und wenn ich mir mit der einen Hand die Nase zuhalten müßte und bei angehaltenem Atem schnell einen Bissen verschlänge. So giftig konnte die Atmosphäre nun nicht mehr sein; die Gummianzüge waren immerhin schon überflüssig geworden.

Wir kletterten die kurze Leiter hinab und staken sofort bis über die Knöchel im Morast. Andymon, wie ich ihn kenne und liebe!

Der zweite Kopter setzte gerade auf und spritzte Schmutz zu uns herüber. Wir begaben uns auf die Suche nach einem trockenen, festen Fleckchen Boden. Ein Hügel, direkt am Meer, die hoch aufgischtende Brandung überragend, bot eine geeignete Stelle.

Nach und nach versammelte sich hier die gesamte Bevölkerung von Andymon, bis auf Zeth — und natürlich ohne die Geschwister, die gerade im Schiff oder auf den Monden lebten.

Wir setzten uns auf den braunen, festgebackenen und warmen Boden und schauten uns in die maskenbewehrten Gesichter. Was nun?

Genau diesen Zeitpunkt hatte Ilona abgepaßt. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt — vielleicht aus der Zukunft Andymons — kam sie vom Kopter daher. In der Rechten schwenkte sie den stilvollen gelben Plastkorb. Und sie trug ein Kleid, kaleidoskopbunt, viel zu bunt für Andymon und so lang, daß es über den Gummistiefeln schon braun beschmiert war. Aber da war noch etwas, das uns alle den Atem anhalten ließ: Ihr blondes Haar wehte frei im Wind, und auf ihrem Gesicht mit den geröteten Wangen spielte unverhohlener Triumph: Ilona trug keine Maske! Gegen sie waren wir einfarbig gespritzte, trübe, gesichtslose Roboter.

Nach dem ersten Erstaunen rissen sich Eta, Alfa und die jüngeren Geschwister die lästigen Masken vom Kopf. Szina schleuderte ihre in hohem Bogen ins Meer. Gamma und ich zögerten noch.

„Ihr braucht keine Angst zu haben“, schrie Ilona mit sich vor Freude überschlagender Stimme, „seit Wochen unternehme ich Tierversuche mit Mäusen und Schimpansen. Es lassen sich keine Schädigungen mehr nachweisen. Der Sauerstoffgehalt ist hoch genug, nichts Ätzendes ist mehr in der Luft, keine Allergien treten mehr auf. Vivat Andymon!“ Sie jubilierte. Die Überraschung war ihr gelungen.

Nun streiften auch Gamma und ich die Masken ab. Ein erster prüfender Atemzug: Andymon stank, stank, daß mir die Tränen in die Augen traten. Ich hustete und küßte dann glücklich Gamma, wieder hatten wir Andymon einen entscheidenden Sieg abgetrotzt. Er konnte uns mit einer ausgefallenen Duftnote nicht abschrecken.

„An den Gestank gewöhnt ihr euch schnell“, sagte Ilona, die, ganz wie sie es liebte, im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stand, „der ist nur am ersten Tag schlimm.“

„Wir werden schon nicht die Nase rümpfen, wir haben ja keinen besseren Planeten“, rief Xith.

„Ilona ist mir zu unvorsichtig“, flüsterte Gamma mir zu, „ganz allein so einen Selbstversuch zu unternehmen.“

„Und sie spielt die Probleme herunter.“ Ich streichelte Gammas Wange, der Wind spielte mit unseren Haaren, es war so ganz anders als im Naturpark. „Ich möchte kein Spielverderber sein“, sagte ich, „aber langfristige Schädigungen kann sie nach wenigen Wochen der Tests bestimmt nicht ausschließen.“

Endlich kam der Picknickkorb zur Geltung. Wir setzten uns im Kreis und aßen. Leider hatten all die herrlichen Sachen, Früchte frisch aus dem Schiff, nicht den bekannten Geschmack. Andymons penetrante Luft übertünchte jedes Aroma.

Schräg hinter mir hörte ich Etas unnachahmliches prustendes Lachen. Durch den sich sofort einstellenden Gedanken an Zeth fand ihre Fröhlichkeit in mir keinen Widerhall. Ich drehte mich zu ihr um und sah, wie sie mit den Fingern im Boden bohrte — und einen Kern in das Loch steckte, einige Krumen darüber schob.

Sie merkte, daß ich sie beobachtete, und lächelte mich an. „Schließlich soll auf Andymon etwas wachsen“, rechtfertigte sie sich.

„Überall, wo wir hinkommen und geeigneten Boden finden“, erklärte Xith ernsthaft, „überall, wo wir hinkommen, säen wir.“ Er zog einen Beutel aus seiner Umhängetasche. „Der ist voller Samen, die Kleinen im Schiff schicken sie uns gern.“

„Früh gesät ist halb geerntet“, setzte Eta fort, „wir können nicht zeitig genug damit beginnen.“

Ich nickte, obwohl ich nicht wußte, ob auch nur ein einziges dieser Samenkörner keimen, wachsen und sich vermehren würde. Neue Testreihen waren notwendig, neue Experimente, neue Arten, Jahre, Jahrzehnte dauernde Züchtung…

„Habt ihr auch notiert, was ihr alles sät?“ fragte Gamma die beiden. „Wir wollen doch die größtmögliche Kontrolle über die Biosphäre Andymons haben.“

„Natürlich, wir sind nicht dümmer als ihr.“ Xith liebte es nicht, wenn man ihn kontrollierte.

Später standen wir allein auf einem anderen Hügel und schauten hinaus über das tote schaumige Meer voller Kalziumionen und Kohlenwasserstoffe, voller Chloride und Schwefelverbindungen.

„Auf der Erde, wenn es sie überhaupt gibt, würde das Meer schwarzes Holz an den Strand spülen und Seetang, Muscheln, kleine Krabben. Aber hier, da siehst du höchstens mal einen weißen Fleck am Ufer, bis ihn der nächste Regen wegspült: kristallisiertes Salz der Brandung.“

Ich hörte Gamma schweigend zu, durch den allgegenwärtigen Geruch wehte uns der Wind auch eine Brise salziger Luft ins Gesicht. Ich hatte nicht die mindeste Vorstellung, ob, wie und wann es uns oder späteren Generationen gelingen würde, auch die Ozeane, auf der Erde die Wiege des Lebens, zu zähmen, lebentragend zu machen. Oder würden wir die Jahrmillionen warten müssen, in denen sich Salzstöcke bilden, tote Meere verdunsten und anderswo weniger lebensfeindliche sich ansammeln?

„Wenigstens die Seen, die kleinen Seen, die neuerdings in den Schlammpfuhlen und in Bodensenken entstehen, wenigstens sie werden sauberes Wasser haben.“

Gamma hatte wieder dem Gang meiner Gedanken folgen können.

Eindringen in fremde Welten

Es war an dem Tag, an dem wir in ein neues Provisorium umzogen. Andymon-City war um ein weiteres Gebäude gewachsen, eine kleine Produktionsanlage für synthetische Nahrung, eine für nanoelektronische Bauelemente und ein langes, einstöckiges Wohnhaus, das später in eine Herberge verwandelt wurde.

Gamma und ich erhielten anstelle des einen Raumes im alten Stationsgebäude zwei größere. Ein Kleintransporter konnte all unsere Habseligkeiten befördern. Wir richteten uns ein, stellten Bett, Schaukelstuhl, Kleiderschrank und persönliche Programmbibliothek auf.

Gerade befestigte Gamma eine Farbfotografie des Kristallbaums an der Wand, da klopfte es an der offenstehenden Tür.

Alfa kam herein. „Ich brauche euren Rat.“

Hinter ihr schob sich Psila durch die Tür, in ihrem rundlichen Gesicht zuckte es nervös.

Gamma sammelte unsere Overalls vom Bett, die Besucherinnen konnten sich setzen.

„Psila hat mir erzählt, daß Psith das Totaloskop seit vier Tagen nicht mehr verlassen hat.“

Psila nickte und nestelte mit ihren groben Händen am nicht mehr ganz weißen Gürtel ihrer Khakihose. „Ich habe Angst um ihn. Er war wie verwandelt, wißt ihr, wir wollten uns etwas für die Ozeane ausdenken, aber es gibt da einfach keine Möglichkeit. Mit der Atmosphäre war es viel einfacher; in der trüben Suppe kann eben nichts leben. Er pfeift auf Andymon, hat er gesagt, und daß er nichts mehr von Andymon sehen will und auch nichts mehr von mir, ich verstünde ihn ja doch nicht.“ Sie begann zu schluchzen.

Alfa zog sie liebevoll an sich und strich ihr beruhigend über das schwarzglänzende Haar. „Wir müssen etwas unternehmen.“

In den folgenden Stunden sprachen wir zu viert Psiths Charakter durch. Er mußte labiler sein, als wir vermutet hatten. Die langen Jahre im Orbit, ohne ein Nahziel vor Augen, hatten Psith aus der Bahn geworfen. Und nach Psilas Worten beherrschte er die Kunst, sich stets Aufgaben zu suchen, die man nicht in einem Ansturm lösen konnte. Aber für ausdauernde Arbeit im Kreis der Geschwister fehlte ihm die Geduld.

Uns war klar, daß wir sein Totaloskop nicht abschalten konnten, ohne ihn psychisch zu verletzen. Es gab nur eine Möglichkeit: Psith mußte in seiner Scheinwelt überzeugt werden, diese freiwillig zu verlassen. Wir ließen den Computer errechnen, wer die größten Erfolgschancen hätte. Die Wahl fiel auf mich.

Gamma bestand darauf, daß ich erst schlief und mich auf jegliche Weise stärkte. In der Zwischenzeit schlossen sie mein Totaloskop an das von Psith an.

Am Morgen, nach einem kräftigen Frühstück, klärte mich Gamma über ihre Bedenken auf. „Psith ist eine Art Gott in seiner Welt. Er hat sein Totaloskop so manipuliert, daß sein Wille die Illusion absolut bestimmt. Und vielleicht ist er nicht mehr ganz normal. Ich habe Angst, daß dir etwas zustoßen könnte. Natürlich kann er deinen Körper nicht töten, aber er will wahrscheinlich deinen Geist in seine Gewalt bekommen. Paß auf dich auf!“

Ich küßte Gamma und sagte zuversichtlich: „Psith ist mir die Gefahr wert.“

Dann stieg ich in das Totaloskop. Schnell waren alle Adapter angelegt. Ich sammelte mich und gab den gedanklichen Befehl.

Zuerst begriff ich gar nichts. Farben umschwemmten mich, Formen, diffus und vibrierend, trieben auf mich zu und zerplatzten. Ich stürzte und löste mich auf. Karminrote Schemen tanzten zu wilden Klängen. Linienbündel drifteten von Horizont zu Horizont. Eine abstrakte Welt. Natürlich! Hatte nicht Psith von abstrakter Kunst geschwärmt? Auch die Musik klang in meinen Ohren abstrakt und dissonant. Allmählich überwältigte mich die Schönheit des Empfundenen. Ein Farbklecks unter Farbklecksen, vibrierte und zerplatzte ich, floß in glühendes Lavarot, erstarrte zu eiskaltem Stahlblau. Mächtige Takte erschütterten mich, grelle Töne warfen mich durch sonnenhelle Zackengitter, ein Baßbrummen verteilte mich über eine rotbraune Ebene. Das ging eine Weile so. Bis ich mich meines Auftrages entsann. Zeit hatte ihre Bedeutung hier verloren. Ich sagte mir: Noch ein wenig tummeln, bunt und ohrenbetäubend, doch ich begriff schließlich, daß gerade dies Psiths Absicht sein mochte. Der glaubte wohl, mich allein mit Farben und Tönen betören zu können!

„Psith!“ rief ich. „Psith! Ich will mit dir reden. Ich weiß, daß du mich hörst! Du darfst dich nicht aufgeben! Psith! Antworte mir!“

Ein Crescendo. Die Farben explodierten in einer gleißenden Nova. Da spürte ich mit allen Fasern meines Leibes ihre Gegenwart. Ich roch ihr Parfüm, fühlte ihre Wärme. Sie flüsterte berauschende Worte, ihre geschmeidigen Arme umschlangen mich, meine Kleidung löste sich in ein Nichts auf. Ungeübt, zu widerstehen, erlag ich der Verzauberung. Ich war verführt, ehe ich mich besinnen konnte. Mein Körper fieberte, und ich wartete auf die Ernüchterung, doch auf unerklärliche Weise wuchs neue Kraft in mir, und das Spiel begann von vorn. Ich war gefangen in einem Zyklus der Wollust.

Ich weiß nicht, wie und nach wie vielen Höhepunkten es mir gelang, mich zu lösen. Ich rief: „Psith! Psith! Laß die Scherze. Ich will mit dir reden. Du mußt zurückkehren! Hier gehst du doch nur kaputt! Ich spiele nicht mehr mit!“

Schon griffen Dutzende von Händen wieder nach mir. Ich wehrte mich, schrie nach Psith. Die Illusion, mit der er mich nicht länger fesseln konnte, geriet ins Wanken. Der Geruch verflog, ihr Körper wurde weicher, löste sich auf, als hätte es sie nie gegeben. Ein tiefes Schwarz blieb.

In meinen Ohren hallte Stille. Ich versuchte meine Gliedmaßen zu bewegen. Kein Muskel reagierte. Kein Herzschlag war zu spüren. Ich war in Nichts und Leere aufgegangen. Psiths Vorstellung vom Tod? Ein Nirwana? Meine Gedanken verhallten belanglos und unnütz, fielen von mir wie abgestorbene Zweige. Als ein körperloser Geist in dämmerndes Wohlgefallen gehüllt, löste ich mich langsam auf, wurde eins mit der großen Leere. Fallen in traumlosen Schlaf. Ohne Raum, ohne Zeit. Aber nicht einmal das Nichts kann vollkommen sein. Die Reizschwelle meiner ungebrauchten Sinne sank, sie wurden so sensibel, daß sie das Quantenrauschen des Totaloskops einfangen konnten. Ein gleißender Blitz durchjagte das Nirwana, mein Ich ballte sich nach Ewigkeiten wieder zu einer kleinen, festen, abwehrbereiten Kugel.

„Psith! Psith!“ schrie ich mundlos, „Psith, gib es auf. Rede mit mir.“

Psith gab auf.

Wir spazierten nebeneinander über eine abstrakte Ebene. Er beugte seinen Kopf nach vorn und sagte: „Gut, ich höre.“

„Psith, wir brauchen dich, du gehörst zu uns. Wie soll, wenn du vor den Problemen fliehst, je Andymon in unsere Welt verwandelt werden?“

„Spuck nicht so große Töne, Beth, niemand braucht mich, nehmt doch einen Roboter, der kann alles besser erledigen als ich.“

„Wir wollen aber, daß Andymon auch nach deinen Vorstellungen und Wünschen gestaltet wird. Nur von Maschinen beackert, bleibt er immer ein toter Planet.“

„Ach was. Ihr seid genug und kommt nur zu gut ohne mich aus. Und was ist eure großartige Planetenumgestaltung schon mehr als ein übertriebenes Totaloskop spiel. Ihr seid es, die sich wie Kinder benehmen. Was kann euch Andymon, diese sogenannte Realität, schon bieten? Ihr schuftet jahrelang, und falls ihr je fertig werdet, habt ihr nur das gewonnen, was ich mir schon jetzt völlig mühelos im Totaloskop besorgen kann.“

„Vielleicht wollen wir nichts mühelos erreichen, vielleicht wollen wir alles selbst schaffen.“

„Ich erdenke mir meine Welten auch selbst.“

„Vielleicht wollen wir die Realität, unbedingt die Wirklichkeit, das volle, widerspenstige Leben, es mit Taten verändern, nicht nur mit Gedanken.“

„Feine Unterschiede! Eure Realität da draußen ist um nichts realer als meine sogenannte Totaloskopillusion. Ich kann nur Diogenes’ Beweis wiederholen.“ Er stellte sich vor mir in Positur, ging auf und ab. Damit hatte einst der antike Philosoph Diogenes dem Skeptiker Zeno die Realität der Bewegung bewiesen.

„Siehst du, alles real, was ich fühle. Wer sagt euch denn, daß eure langweilige Welt da draußen nicht nur in einem Totaloskop höherer Stufe existiert? Daß nicht eine unendliche Verschachtelung von Totaloskopen das Universum ausmacht!“ Psith griente, der Gedanke der Irrealität erfreute ihn, und er glaubte, er habe mich verwirrt.

„Diese Hypothese ist von Gamma längst aufgestellt worden“, sagte ich, „wir haben sie nicht weiterentwickelt, weil sie unser Handeln nicht beeinflussen kann. Indem du ernsthaft mit mir diskutierst, gibst du ja auch zu, daß ich realer bin als die Geschöpfe deiner Einbildung.“

Ich fragte mich, ob man Psith überhaupt noch mit Worten zurückgewinnen konnte. Da mir die Argumente fehlten, wurde ich beredt. Ich schilderte Psith die Größe dessen, was wir taten. Die kosmische Bedeutung der Besiedlung von Planeten, der Ausbreitung des Lebens im All. Die Notwendigkeit, nie bei dem Erreichten stehenzubleiben.

Er lächelte nur, sagte: „Das ist deine Wertung. Glaubst du, sie gilt universell?“

Ich lobte die Gemeinschaft, in der wir lebten, verwies auf die gegenseitige psychologische Abgestimmtheit der Gruppen, und falls er schon nicht um seiner selbst willen, um sich selbst zu retten, mitkam, so doch vielleicht um Psilas und der anderen willen. Dann fragte ich: „Wenn schon alles irreal ist, warum tust du mir dann nicht den Gefallen und probierst wieder einmal die Unwirklichkeit Andymons? Warum verkriechst du dich in diese Weltchen hier? Hast du Angst vor Andymon, daß du flüchtest?“

„Wie sollte ich mich fürchten?“

Psith kam mit.

Wir legten die sensorischen Adapter ab, verließen die Totaloskope. Jetzt sah ich den wirklichen Psith, seine Augen wirkten angestrengt und gehetzt.

Gamma trat zu uns, sagte: „Ich habe ganz schön gewartet.“

„Jetzt brauche ich was zu trinken und ein anständiges Essen“, erwiderte ich. Wir gingen ins Freie.

Andymon stank stärker als sonst, und der Boden bebte sanft unter meinen Füßen. Erst in Jahrhunderten würden die von uns ausgelösten tektonischen Bewegungen zur Ruhe kommen. Niedrig flohen die Wolken über unseren Köpfen hinweg.

Teth kam mit einer schlimmen Nachricht. „In unserer Pflanzung breitet sich eine Virusseuche aus. Vielleicht gehen alle Setzlinge ein.“

Endlich bekam ich mein Erfrischungsgetränk. Es schmeckte nach dem darin gelösten Staub, den der böige Wind aus der nahen Wüste heranwehte. Der Boden bebte stärker. Die Atmosphäre war heute besonders düster, doch konnte ich die Vulkankette am Horizont deutlich sehen. Die rauchenden Kegel erschienen mir steiler als sonst. Inzwischen verkohlten die Mikrowellen programmwidrig mein Steak, und Gamma flirtete ganz offensichtlich mit Psith.

„He!“ wollte ich sagen, doch der Laut blieb mir im Halse stecken. Ein Rudel mutierter Hasen mit überlangen Stoßzähnen jagte aus der Südsteppe heran. Die Tiere waren zwei Meter groß. Das Aufschlagen ihrer überdimensionalen Hinterläufe war kilometerweit zu hören. Auf ihrem Fell tanzten Funken, so schnell rasten sie. Der Schreck bannte mich fest. Sie würden alles hier zertrampeln!

Stärker grollte der Boden und riß dann unter schrecklichem Knirschen genau vor meinen Füßen auf. Alfa und Psila verschwanden mit markerschütternden Schreien in der Spalte.

„Evakuieren“, rief ich, „in die Kopter!“

Neben mir stürzte Psith über den von Rissen durchzogenen Boden. „Da hast du deinen Andymon! Ruhigste Gegend im Universum, was?“

„Im Totaloskop könntest du dich jetzt nicht retten!“ brüllte ich ihn an.

„Doch!“ schrie er.

Und plötzlich begriff ich, das war nicht mein, der reale Andymon, das war Psiths Wahnvorstellung davon. Ich blieb stehen.

„Du hast mich betrogen, Psith. Das ist nicht Andymon.“

„Das ist der wahre Andymon“, rief er erregt, „du kannst ja hierbleiben, wenn du es partout nicht einsehen willst!“

Vor meinen Augen wurde er durchsichtig und verblaßte. Ich rief ihn, aber es hatte keinen Zweck.

Raus, dachte ich, doch das Totaloskop gab mich nicht frei. Dafür quoll jetzt hellflüssige Lava aus den Bodenritzen, ich schwitzte schon bei ihrem Anblick. Sie kann dir nichts antun, dachte ich, die Totaloskope sind sicher. Und wenn sie dich verschlingt, bist du draußen. Aber in Psiths Welt konnte ich nicht sicher sein. Er durfte mich nicht mehr ziehen lassen.

Die Lava näherte sich. Meine Haut schlug Blasen. Weg! Weg! Der Schmerz, als die Lava meine Füße umschloß, ließ mich emporspringen, und der rettende Gedanke kam: Ich kann doch fliegen! Schon jagte ich raketengleich mit ausgebreiteten Armen in den Himmel, sah in der Hast der Flucht zu spät das riesige Spinnennetz, das sich von Horizont zu Horizont erstreckte. Meine rechte Hand berührte einen Faden, und schon klebte ich an dem ätzenden Leim und spürte das vom herannahenden Untier ausgelöste Vibrieren. Blitzschnell ließ ich den Arm heiß werden. Der Leim, der Faden verdampfte. Knapp entging ich den geifernden Mandibeln. Ich wußte jetzt, daß ich um mein Leben kämpfte.

Von fern hörte ich Hilferufe: Gamma! Ich flog auf sie zu, sah sie von drohenden Robotern umzingelt. Ich durchschaute die Falle zu spät, Gamma verwandelte sich in Psith, der mir einen Strahl Antiprotonen entgegenschleuderte. Noch einmal entkam ich, hetzte weiter aus einer Gefahr in die nächste, bis ich das Muster der Schrecknisse durchschaute: Psith spielte mit meinen Ängsten, um mich in den Wahnsinn zu treiben. Gamma hatte mich gewarnt, meinem Körper konnte nichts geschehen, wohl aber meinem Bewußtsein. Ich überwand meine Furcht und zerschellte auf dem harten Boden Andymons.

Zerschlagen legte ich die Adapter ab und stieg aus dem Totaloskop. Ich wankte etwas, und meine Füße zeigten tatsächlich Blasen, entstanden durch die intensive Vorstellung. Aber das war nicht schlimm.

„Er ist verrückt“, sagte ich, „er wollte mich erledigen.“

So schwer es mir fiel, ich berichtete alle Details. Sie wurden mit dem Computerprotokoll verglichen. Realzeit fünf zehn Minuten. Ein kurzer Totaloskoptrip. Fast ein Jahr verzichtete ich auf weitere.

Psiths Heilung beanspruchte viel Zeit. Wir behandelten ihn durch gezielte Steuerung seiner Illusionen.

Einige jüngere Geschwister verlangten die allgemeine psychologische Überwachung eines jeden mit regelmäßig zu absolvierenden Computertests, um Wiederholungen des Falles zu vermeiden. Wir diskutierten lange und entschieden uns dann dagegen, denn es hätte bedeutet, Aufmerksamkeit für unsere Geschwister und Anteünahme an ihrem Leben durch maschinelle Checklisten zu ersetzen.

Der sterbende Wald

Szina hielt die Infrarotluftbildaufnahmen prüfend in der Hand, das abstrakte Muster rötlicher, grauer und brauner Flächen hatte mit der Schonung vor uns nicht die entfernteste Ähnlichkeit. Dennoch verrieten die Bilder viel über die schmächtigen, kaum einen Meter hohen Stämmchen: Die Bäume waren krank, vertrocknet. Das Werk der sechsten Gruppe, die Voraussetzungen für die Landwirtschaft, insbesondere ein gemäßigteres Klima und einen ausgeglichenen Wasserhaushalt schaffen wollten, geriet in Gefahr.

Szadeth war seiner Gefährtin und mir vorausgeeilt, er stand schon mitten in den jungen Bäumchen, die ihm kaum bis an den Gürtel seiner blauen Ärbeitshose reichten.

„Verdorrt, alles verdorrt!“ schrie er uns zu und brach einen blattlosen Ast vom dürren Stamm. Wir gingen über den staubigen Boden zu ihm. Sein breites schwarzes Gesicht drückte Unmut aus.

„Der ist noch in Ordnung“, sagte ich und zeigte auf einen anderen Setzling. Von Maschinen angepflanzt, standen sie in schnurgeraden horizontweiten Reihen.

„So viele sind tot!“ Szina lief von Bäumchen zu Bäumchen, betastete die Zweige, nur wenige trugen frische grüne Blätter. Grüngelbe, braune überwogen, und manche Zweige waren völlig kahl.

„Zum Glück sind nicht alle betroffen, einige Arten scheinen sich recht gut zu halten.“ Ich versuchte meine Geschwister zu trösten.

Szadeth packte ein Bäumchen und riß es ohne Mühe aus, in seinen Händen zerbrach es wie Reisig. „Du hast gut reden, Beth“, er blickte mich nicht an, zerstückelte die Zweige, „für dich ist das lediglich ein interessanter Fall, du willst nur wissen, warum die Luftbilder weniger Chlorophyll anzeigen als geplant. Während du deine neugierige Nase mal hier, mal da reinsteckst, haben wir geschuftet, denn das hier ist unser Wald.“

„Szadeth“, flüsterte Szina. Sie wischte sich verstohlen eine Träne von der bleichen Wange. Ihre Augen glänzten wie im Fieber.

„Ja, schon gut. Ich weiß ja, daß du nichts dafür kannst, Beth, aber das ist unser Wald, das war unser Wald, diese trockenen Holzstummel.“ Er stieß mit dem Fuß gegen die dürren Stämme, sie brachen, knickten um wie Strohhalme.

„Wir haben die Setzlinge im Schiff aufgezogen, sie vegetativ vermehrt und auf Andymon gebracht. Wir haben sie anpflanzen lassen, die Automaten überwacht und Bewässerung und Düngung organisiert. Du glaubst gar nicht, wieviel Zeit und Mühe in diesen paar Quadratkilometern Wald steckt…“ Er hatte den Faden verloren, lief kreuz und quer durch die Baumreihen, brach wahllos Ästchen ab, sogar solche mit grünen Blättern.

Dann faßte er sich, winkte mich zu sich. „Es kann nicht allein die Trockenheit sein, der Boden ist noch nicht ausgedörrt, das Niederschlagsdefizit ist nur gering.“

Ich grub mit bloßen Händen einen der toten Stämme aus dem Boden, auch Szina hockte sich schwerfällig neben uns. Gemeinsam musterten wir die Pflanze Zentimeter um Zentimeter.

„Hab ich geahnt“, Szadeth kratzte mit seinen festen Fingernägeln die dünne Rinde ab, „hier, die Leitgefäße sind zerstört, siehst du? Parasiten!“ Er hielt mir die Bruchstelle der Wurzel unter die Nase.

Zuerst sah ich nichts, dann erkannte ich feine schwarze Pünktchen. Wer wußte, als was sie sich unter dem Mikroskop entpuppen würden.

„I!“ sagte Szina und erhob sich, sie stützte sich dabei eine Sekunde auf Szadeth. Dann standen auch er und ich auf.

„Die kommen nicht von selbst hierher“, sagte er und ballte seine Fäuste. „Da hat einer im Schiff geschludert, wenn ich den erwische…, wenn ich den erwische… Die hat jemand vom Naturpark eingeschleppt…“ „Komm, das hat niemand absichtlich getan. Und früher oder später wäre es sowieso geschehen. Parasiten sind ökologisch ganz normal, ja sinnvoll. Und nicht alle Bäume wurden befallen. Eine Menge wird überleben.“ Ich wollte ihn beschwichtigen.

„Auf der Erde, sind Parasiten vielleicht ökologisch angebracht, aber nicht hier“, sagte Szina leise, ihre Wangen glühten, „hier wirft uns das über ein Jahr zurück. Auf der Erde gibt es Bäume, die sind tausend Jahre alt. Ich möchte, daß unsere Kinder auf einem wundervoll belebten Planeten aufwachsen, auf einem Planeten wie die Erde, mit dichten grünen Wäldern und…“

Unwillkürlich lachte ich, Szina sprach voll Pathos wie nach einem längeren Totaloskoperlebnis. Sie verstummte abrupt. Wie hätte ich auch ahnen können?

Wir sammelten Proben ein, befallene und unbefallene Bäumchen, Bodenproben, steckten alles in Plastbeutel. Erst die Laboruntersuchungen würden zeigen, um welche Art Parasiten es sich handelte und wie etwas gegen sie unternommen werden konnte.

Während wir zum Kopter zurückliefen, stellte ich mir vor, wie der Wind den lockeren Boden aufwirbelte, auch jene kleinen schwarzen Pünktchen mit sich trug, über Hunderte und Tausende Kilometer mit sich führte, wie sie dann irgendwo wieder zu Boden fielen, vielleicht in der nächsten Pflanzung? Gab es ein Mittel, diese Ausbreitung einzudämmen? Was konnte gegen eine planetenweite Epidemie unternommen werden? Die von uns entworfenen und angelegten Wälder, Wiesen, geschützten Täler, Seen waren noch zu jung, zuwenig stabil, zu anfällig. Schon ein Parasit konnte das mühsam erreichte Gleichgewicht zerstören. Und ich wußte, daß es nicht bei den schwarzen Pünktchen bleiben würde. Alles konnten wir nicht kontrollieren, soviel wir auch planten, vorausberechneten, berücksichtigten. Wie unzureichend ist unser Wissen, das Ergebnis vieler Jahre des Lernens, auf das ich so stolz war, angesichts der Wirklichkeit Andymons!

Ich steuerte den Kopter noch einmal über den Wald, das Grün der wenigen gesunden Blätter ging unter im Ocker des Bodens, im Dunkelbraun der toten Bäumchen. Wenn wir nur ein Viertel retten konnten!

Eine Bewegung hinter mir, ein ungewohntes Geräusch. Szina war ohnmächtig geworden. Szadeth kümmerte sich um sie, öffnete ihre blaue Jacke und fächelte ihr Luft zu.

„Was?“ fragte ich besorgt, „verträgt sie das Fliegen nicht mehr? Die Anstrengung?“

„Ja, ja“, sagte Szadeth kurz, da kam sie schon wieder zu Bewußtsein.

Wenn das so weitergeht, dachte ich, schafft Andymon uns noch alle, vielleicht haben wir uns wirklich übernommen. Doch gleichzeitig wußte ich, daß wir durchhalten würden, unbedingt.

Szinas Ohnmacht hatte allerdings eine ganz andere Ursache.

Die erste Jahreszeit

Teth rief Gamma und mich an, etwas Wunderbares sei geschehen, er habe eine Bergregion entdeckt, in der Schnee falle.

Drei Stunden lang jagte unser Kopter aus der zurückweichenden Nacht in den anbrechenden Tag, drei Stunden, in denen Gamma alle Augenblicke beteuerte: „Ich habe die Wetterkarte überprüft, es schneit bestimmt immer noch.“

Unseren Satelliten, die seismische Aktivität und Wetter registrierten, war der winzige Flecken erhöhter Reflexion nicht entgangen: Schnee. Die Funksignale der Satelliten lotsten nun den Kopter durch die schüttere Wolkendecke. Wir spähten hinab, um das Wunder zu entdecken. Und tatsächlich: Die Abhänge der Berge waren weiß, das Land strahlte gleißend hell an jenen Stellen, wo ein paar Sonnenstrahlen die Wolkendecke durchbrachen.

Wir landeten als letzte. Die Geschwister liefen uns entgegen.

„Das ist Schnee, Beth“, sagte Teth aufgeregt, „echter Schnee. Den gibt’s im Schiff nicht, den hat nur Andymon.“ Er rieb ihn zwischen seinen Händen. „Echter Schnee wie auf der Erde. Das ist der erste Schnee von Andymon, ihr wißt doch, was das heißt. Die Zeit der großen Stürme und Unwetter geht vorüber, stabile Klimazonen bilden sich aus, Himmel, wird Andymon schön! Vivat Andymon!“

Wir lachten über seine Begeisterung, scharrten mit den Füßen in der dünnen Schneedecke, bis wir auf den dreckigbraunen Boden stießen. Unsere Schritte rissen Löcher in die gleichmäßig weiße Fläche. Ich ging in die Hocke und kratzte aus der dünnen Schicht einen Ball zusammen. Zwischen meinen Fingern tropfte Tauwasser herunter. Der Schnee war nicht sehr kalt, meine Hände brannten trotzdem — und auch mein Gesicht im Wind.

Teth lief hin und her, rempelte Zeth an, gab Ilona unversehens einen Kuß auf die kalte Wange. „Ach, was wißt ihr, was der Schnee für Andymon bedeutet. Zwei Milliarden Jahre war der Planet eine glühende, flüssige Kugel, Hunderte Millionen Jahre schwammen erste Kontinentschollen in Magmaozeanen, und dann hüllte eine stickige, giftige Atmosphäre die brennende Oberfläche ein. Und jetzt, jetzt hat es geschneit, es wird Winter geben und Sommer, Frühling und Herbst. Das alles bedeutet es für Andymon.“

„Wir wissen vielleicht nicht, was der Schnee für Andymon bedeutet, aber wir wissen genau, was er für dich…“

Ilona vollendete ihren Satz nicht. Wie auf ein geheimes Kommando warfen wir unsere Schneebälle auf Teth. Ich traf ihn vor die Brust, noch bevor er sich drehte, hinter einem Felsen Deckung suchte. Kaum war er verschwunden, bewarfen wir uns gegenseitig, jeder gegen jeden. Eine volle Ladung landete in meinem Genick, rutschte mir unter die Jacke, daß ich am ganzen Körper Gänsehaut bekam.

Ich schwor, Gamma den hinterhältigen Treffer heimzuzahlen. Sie schrie laut um Hilfe und suchte zuerst hinter Alfa, dann hinter Zeths breitem Rücken Schutz. Im Zickzack rannte ich hin und her, schleuderte dabei einen vorfabrizierten Ball nach dem änderen. Der verschneite Boden war tückisch. Ich glitt aus und landete schmerzhaft auf einem kantigen Stein. Unter dem Gelächter der anderen erhob ich mich, klopfte Schnee und Dreck vorsichtig ab und visierte aus den Augenwinkeln Gamma an. Ehe sie sich’s versah, hatte ich mich gerächt.

Dann zog eine schwere Wolke auf, und ein nicht enden wollendes Gewimmel großer flaumiger Flocken begann sich auf uns herabzusenken. Wir jubelten aufs neue, sprangen umher, versuchten, Schneeflocken mit dem Mund zu erhaschen. Gamma rutschte, ruderte heftig mit den Armen und hielt sich an mir fest. Flocken saßen überall, in ihrem Haar, auf ihrer Nase. Langsam zerschmolzen sie auf der Haut oder im heißen Atem. Wir tollten ausgelassen wie vor Jahren im Naturpark. Nach Mühsal, Ernst und Arbeit auf Andymon hatten wir nicht verlernt, uns mit ganzem Körper zu freuen.

Wir hielten noch lange aus, bis die Erschöpfung uns Ruhe finden ließ. Hände und Gesicht brannten, die Lachmuskeln schmerzten, hier und da ein blauer Fleck, dreckig und verschwitzt waren wir - und glücklich. Ich hatte die Koptertür offengelassen, die Instrumente waren kalt, und auf dem Boden hatte sich eine Lache gebildet. Im Schiff hatten wir jede neue Entdeckung voll ausgekostet, die Seen, Wälder, die Beregnung des Naturparks. Nur geschneit hatte es dort nie. Welche Freude, nun ein aufgespartes Wunder zu erleben!

Selten, sehr selten schneit es nach den letzten Herbststürmen in der noch unbenannten Staubwüste im Nordgebirge sogar rot. Ein exotisches Schauspiel. Und doch, es wird mich nie so sehr bezaubern können wie damals der erste weiße Schnee, der das Kommen der Jahreszeiten ankündigte.

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