Da beschloss Mina, dieses eine Mal nicht zu gehorchen, und stieß ihr Schwert mit einem wilden Schrei in Richtung von Topaz’ Herz.

Topaz parierte mit dem Dolch, packte die Schlange an Minas Handgelenk und schleuderte sie ins Zentrum der lodernden Flammen.

Fauchend und zischend wand sich das Tier im Feuer.

»Nein, nein!«, kreischte Mina, stürzte auf die Flammen zu und griff mitten hinein.

»Wach auf, wach endlich auf!«, brüllte Topaz den bewusstlosen Jake an, aber er reagierte nicht.

Mina zog die versengte Hand aus dem Feuer, in der halb tot ihre geliebte Schlange hing. Jämmerlich zischelnd krümmte sich das Tier, kohlschwarz verbrannte Schuppen lösten sich von der Haut und rieselten wie Staub zu Boden. »Ist ja gut … Es wird alles wieder gut«, flüsterte Mina ihrem Liebling verzweifelt zu und barg ihn in den Armen. Ein letztes Mal versuchte die ehemals rote Schlange, die verbrannte Zunge aus dem Maul zu strecken. Dann starb sie und hing leblos von Minas Hand herab. Minas Gesicht verzerrte sich zu einer Fratze, in der nichts als lodernde Wut stand.

Selbst Topaz tat das Tier einen Moment lang leid, dann fuhr sie zu Jake herum. »Wach auf!«, schrie sie noch einmal und zog ihn auf die Beine, als Jake endlich die Augen ein Stück weit öffnete.

»Ich werde dich umbringen, du Miststück! Umbringen!«, kreischte Mina schäumend vor Rachsucht.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst eine weitere Vitrine in der Hitze des Brandes. Binnen Sekunden folgten auch die anderen und verspritzten ihren grausigen Inhalt quer durch die Kabine.

Mina eilte ihrem verwundeten Herrn zu Hilfe, und Topaz schleppte Jake durch die Flammen auf die Tür zu. Mit einem letzten Blick in Minas hasserfülltes Gesicht zog sie Jake nach draußen und hinaus aufs Deck.

Die Feuerglocke läutete Sturm, und Zeldts Soldaten rannten hektisch unter Deck, um ihrem Herrn und Meister beizustehen.

Topaz schleppte Jake bis zum Hauptmast. »Der Horizontpunkt. Wir sind gleich da.« Sie deutete auf den Konstantor auf dem Hinterschiff. Alle drei Ringe drehten sich jetzt beinahe in derselben Ebene. »Deine einzige Fluchtmöglichkeit ist, da hinaufzuklettern. Auf den Mast!«

»Was?«, stammelte Jake.

»Der Horizontpunkt!«, wiederholte Topaz. »Das Schiff wird gleich von der Meeresoberfläche verschwinden, und du, wenn du dann noch hier sein solltest, in dem Strudel, den es im Wasser hinterlässt. Rauf mit dir!«

Jake schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht allein zurücklassen«, murmelte er verzweifelt.

»Das musst du aber!«, schrie Topaz ihn an. »Du hast gar keine andere Wahl!«

Die Lindwurm begann zu zittern und zu beben. Jake wusste nicht, was er noch erwidern sollte, und mühte sich den Mast hinauf. Seine zerschundene Hand brannte höllisch, doch da war noch ein anderer, weit tieferer Schmerz, gegen den er schließlich nicht mehr ankonnte – er sprang zurück aufs Deck und schlang die Arme um Topaz.

»Ich kann dich nicht hierlassen! Ich kann es nicht!«, schrie er gegen das Ächzen des Schiffes an.

»Mina kann mich nicht töten.«

»Woher willst du das wissen?«, brüllte Jake zurück.

Topaz blickte Jake fest in die Augen. Es war Zeit, ihm die schreckliche Wahrheit zu sagen. »Weil ich … mit Zeldt verwandt bin. Er ist mein Onkel.«

Jake starrte Topaz ungläubig an und wollte etwas erwidern, irgendetwas, doch es blieb keine Zeit mehr. Die Planken des Schiffs vibrierten, als würde die Lindwurm jeden Moment explodieren, und Jake kletterte endlich den Mast hinauf, höher und höher.

Der Wind schien aus allen Himmelsrichtungen gleichzeitig auf ihn einzupeitschen, die Lindwurm war kurz vorm Bersten, da drehten sich die Ringe des Konstantors in dieselbe Ebene.

»Topaz, ich liebe dich!«, schrie Jake aus vollem Hals nach unten. Als Antwort ertönte eine ohrenbetäubende Explosion, dann waren Topaz und das Schiff verschwunden. Mit rudernden Armen stürzte Jake den Wellen entgegen und wurde in den Strudel hinabgezogen. Meerwasser füllte seine Lunge, Jake versuchte zuckend und strampelnd zurück zur Oberfläche zu gelangen, doch der Sog war zu stark und riss ihn unbarmherzig mit. Nach schier endlosem Kampf kam er endlich frei und schoss wie ein Korken zurück an die Oberfläche. Erst jetzt spürte er das Brennen des Salzwassers in seiner Wunde.

Jake erbrach Meerwasser und japste nach Luft. Als er den Kopf drehte, erblickte er eine Holzpalette, die sich während des Zeitsprungs vom Deck der Lindwurm gelöst haben musste und jetzt neben ihm im Wasser trieb. Mit letzter Kraft zog er sich hinauf und brach auf dem rettenden Floß zusammen. Die Augen weit aufgerissen, starrte er hinauf in den Himmel, allein, ein Spielzeug der hohen Dünung. Keine Spur mehr von der Lindwurm.

Als das Meer etwas ruhiger wurde, bemerkte Jake einen weiteren Schiffbrüchigen in den Wellen, der hechelnd ums Überleben kämpfte. Es war der vernarbte Mastiff Felson.

Als der Hund Jake und das Floß erblickte, paddelte er halb tot darauf zu.

»Na, alter Kumpel, haben sie dich im Stich gelassen?«, fragte Jake mit heiserer Stimme. »Wie wär’s, wenn wir das Kriegsbeil begraben und ab jetzt Freundschaft schließen? Ich könnte ein bisschen Gesellschaft ganz gut gebrauchen.«

Winselnd kroch der Mastiff halb auf das Floß und leckte Jakes Hand ab.

Da brachen all die angestauten Emotionen der letzten Stunden aus Jake heraus. Seine Lippen begannen zu beben, und Tränen flossen ihm über die Wangen. Mit einem Ruck zog er den Hund aus dem Wasser und presste ihn an die Brust.

»Okay, mein Kleiner«, flüsterte er. »Ab jetzt sind wir Freunde.«


30

VORHABEN UND VERSPRECHEN

Flämische Fischer lasen Jake und Felson schließlich auf. Über einen Monat waren sie in der Nordsee gekreuzt und kamen gerade, den Frachtraum voll gesalzenem Hering, von der Doggerbank zurück, als sie die auf dem Meer treibende Palette entdeckten. Sie warfen eine Leine aus und holten die beiden Schiffbrüchigen an Bord.

Die Männer hatten vom Wetter gegerbte Gesichter und sprachen in einem wohlklingenden Singsang, den Jake nicht verstand. Sie boten ihnen Teller voll köstlich geräuchertem Fisch an und einen Becher – für Felson eine Holzschale – mit einer eigenartigen Limonade. Einer der Fischer verband Jakes verletzte Hand und präsentierte bei dieser Gelegenheit voll Stolz seine eigenen Narben.

Während der gesamten Fahrt lachten und scherzten die Männer beinahe die ganze Zeit, tranken reichlich Wein und sangen Seemannslieder, bis sie Jake und Felson schließlich im Hafen von Hellevoetsluis absetzten, wo Jake zwischen den zahllosen anderen Fischerbooten nach kurzem Suchen auch die Aal entdeckte. Für das Geld, das Nathan ihm in Venedig gegeben hatte, kaufte er Brennholz und Wasser für den Kessel und machte sich den Rhein hinauf auf die Rückreise in Richtung Süden.

Der Mond schien, und Jakes Gedanken wanderten zurück zu den schrecklichen Ereignissen auf der Lindwurm. Bilder und Gefühle stiegen in ihm auf: Topaz’ anfängliche Gefühlskälte, die Vitrine in Zeldts Kajüte, die Pistole an Jakes Kopf, der Kampf, der Tod von Minas Schlange im Feuer und – natürlich – Topaz’ unglaubliche Enthüllung, dass sie aus derselben Blutlinie stammte wie Zeldt, ja sogar seine Nichte war.

So wie der Sog des Wassers Jake hinab ins Meer gezogen hatte, fand er sich nun in einem Strudel aus widerstreitenden Gefühlen wieder. Er bedauerte Topaz’ Schicksal zutiefst, doch gleichzeitig erfüllte ihn ihre Herkunft mit Schrecken. Fragen malträtierten sein ohnehin schon müdes Hirn: Hatte sie ihrer Familie je nahegestanden? Zeldt war ihr Onkel, aber wer waren ihre Eltern? Was hatte Charlie noch gesagt? Zeldt hatte einen Bruder, aber der war spurlos verschwunden. Und dann war da noch diese Schwester, die noch grausamer gewesen sein soll als Zeldt selbst … Topaz’ musste also die Tochter von einem der beiden Geschwister sein. Aber wie war es dazu gekommen, dass die Wylders sie adoptierten? Was Jake für Topaz empfand, war reine Liebe, dennoch plagte ihn eine beunruhigende Frage: Inwieweit trug auch sie das Böse ihrer Familie in sich?

Jake glaubte schon, er würde den Verstand verlieren, und beschloss, diese Gedanken auszublenden, bis er genug Abstand hatte, um sie mit klarem Kopf abzuwägen.

Am nächsten Morgen erreichte er kurz vor Sonnenaufgang Köln, wo er seinen Eltern aufgetragen hatte, auf ihn zu warten. Der Platz vor dem Dom war so gut wie menschenleer, aber am Hafen saßen drei ihm wohlvertraute Gestalten auf den Stufen zur Kaimauer. Eine davon setzte sich, von einer Vorahnung ergriffen, unvermittelt auf. Es war Miriam Djones. Als sie ihren geliebten Sohn erblickte, sprang sie auf die Beine und schrie vor Freude.

Gemeinsam mit Paolo Cozzo und Felson, der zunächst ängstlich und scheu reagiert hatte, sich aber schnell an die neue Gesellschaft gewöhnte, reiste die wiedervereinte Djones-Familie auf dem Rhein weiter nach Süden. Unterwegs hielten sie in dem kleinen Städtchen an, in dem Jake mit Topaz und Charlie übernachtet hatte, bevor sie sich in Schloss Schwarzheim einschlichen, und als sie herumfragten, wie sie von dort am besten nach Venedig weiterreisen konnten, hatten die Agenten unglaubliches Glück: Die fahrende Schauspielertruppe, die den verzückten Dorfbewohnern drei Tage zuvor Sophokles’ Ödipus vorgetragen hatte, war selbst auf dem Weg nach Italien. Eine andere Schauspielergruppe, die sich Commedia dell’Arte nannte, war wegen ihrer begeisternden Aufführungen in aller Munde, und die fahrenden Mimen hatten beschlossen, nach Florenz zu gehen, um dort aus erster Hand von ihrer Kunst zu lernen. In den beiden klapprigen Planwagen war gerade noch genug Platz für die neuen Begleiter.

Es dauerte dreieinhalb Tage, bis sie die Alpen und danach die Poebene überquert hatten, doch die Reise wurde nie langweilig. Die Gesellschaft der fahrenden Truppe war für Jake ein hochinteressantes und faszinierendes Erlebnis. Jedes der Mitglieder spielte stets eine ganz bestimmte Rolle: den der Welt überdrüssigen König, die spröde Prinzessin, den ehrenhaften Soldaten, die Femme fatale, den Schurken oder den Narren. Sie probten, stritten, sangen, tanzten und weinten und lebten jeden einzelnen Moment mit unglaublicher Leidenschaft.

Zu jedermanns Freude – und Überraschung – verliebte sich Liliane, die schöne junge Ingenue der Truppe, ausgerechnet in Paolo. Sie war einen halben Kopf größer als er und zwei Jahre älter, was sie jedoch nicht davon abhielt, jedes Mal heftig zu erröten, wenn er auch nur in ihre Richtung schaute. Alans Erklärung für das Phänomen war, dass Paolo nach seiner Heldentat auf dem Dach des Kölner Doms wohl besonders viele Pheromone verströmte. Als sie dann kurz vor Venedig waren und jeder wieder seiner eigenen Wege gehen musste, war das arme Mädchen untröstlich und wollte als Andenken unbedingt eine Locke von Paolos Haar haben, die er ihr – wenn auch nach einigem Zögern – schließlich auch gab.

Erschöpft von der Reise und den zurückliegenden Ereignissen machten sie sich auf den Weg in die quirlige Lagune. Obwohl sie weder mit dem Kopf noch mit dem Herzen bei der Sache waren, besichtigten sie ein paar der Sehenswürdigkeiten des spätmittelalterlichen Venedig, bis es endlich an der Zeit war, sich zum Rendezvous mit den anderen auf der Rialtobrücke einzufinden.

Schweigend gingen sie die Stufen hinauf, und gerade als sie den höchsten Punkt der Bogenbrücke erreichten, schlugen die Glocken der Stadt zur Mittagsstunde. Hätten Nathan und Charlie ihre Abfangmission überlebt, wären sie mit Sicherheit als Erste in Venedig eingetroffen, doch Jake und seine Begleiter hatten schon mindestens fünfzehn Minuten gewartet – und es gab immer noch keine Spur von ihnen.

»Eigentlich müssen sie es geschafft haben. Sonst würden die Leute hier wohl kaum so munter herumlaufen«, überlegte Alan und deutete auf die geschäftigen Passanten. »Wo zum Teufel bleiben sie nur?«

»Hey, du spritzt auf mein neues Seidenhemd!«, kam eine dröhnende Stimme von unten. »Die Flecken, die das Wasser der venezianischen Kanäle hinterlässt, sind berüchtigt für ihre Hartnäckigkeit.«

Freudig eilten die vier ans Geländer und sahen Charlie Chieverley, wie er mit Mr Drake auf der Schulter eine goldene Gondel durch den Kanal steuerte. Das kleine Boot war prunkvoll mit einer Neptunsfigur, Wassernymphen und Meeresungeheuern verziert. Im Heck rekelte sich, auf samtene Kissen gebettet, Nathan Wylder und stopfte sich genüsslich eine Feige in den Mund.

»Ahoi!«, rief er zur Brücke hinauf und winkte vornehm. »Wie ich sehe, wurden alle Aufträge erfolgreich erledigt – ein dreifaches Hoch auf uns alle! Ich habe jedoch nichts anderes erwartet und deshalb vorsorglich in der Taverne dort drüben einen Tisch reserviert. Die Köche dort machen die besten Ravioli in ganz Norditalien, und der Blick auf den Canal Grande ist exquisit.«

Mr Drake musste erst noch Frieden mit Felson schließen, dann speisten alle gemeinsam auf der schattigen Terrasse der Taverne. Die Pasta schmeckte ganz vorzüglich, und alle erzählten lautstark von ihren bestandenen Abenteuern. Immer wieder wurden die Berichte von begeistertem Applaus unterbrochen, und der ehemals so schüchterne Paolo schien sich ganz besonders über seinen neuen Ruhm zu freuen.

Nathan und Charlie ließen es sich nicht nehmen, in aller Genauigkeit auch von den Ereignissen zu berichten, die sich nach dem erfolgreichen Abschluss ihrer Mission zugetragen hatten. In dem Wissen, dass sie die winzigen Pestkapseln zur Analyse und anschließenden Zerstörung nach Mont Saint-Michel würden bringen müssen, hatten sie sie mit größter Vorsicht aus den Schlössern geholt und für den Transport sicher verpackt. Nachdem sie Venedig erreicht hatten, waren sie zur Campana zurückgekehrt und hatten sie zusammen mit der Mystère an eine ruhigere Stelle jenseits des Arsenals der Stadt verlegt. Danach hatten sie das Hauptquartier über den momentanen Stand der Dinge, einschließlich Topaz’ mutmaßlicher Entführung durch Prinz Zeldt, in Kenntnis gesetzt und waren zum örtlichen Geheimdienstbüro gegangen, um die dortige Meslith-Maschine mitzunehmen. Als Letztes galt es dann noch, die gefangen gehaltenen Architekten aus Zeldts Kerker am Markusplatz zu befreien – die Wachen waren, wie sie herausbekommen hatten, bereits aus der Stadt geflohen.

Nach dem Dessert schlenderte die Gruppe durch die geschäftigen Kanäle zum Liegeplatz der beiden Schiffe. Nathan zog eine Karte hervor, und es entbrannte sofort eine hitzige Debatte darüber, welchen Horizontpunkt sie für ihre Reise ansteuern sollten. Am Ende folgte Nathan widerstrebend Alans Rat und entschied sich für den östlich von Ravenna. Von dort konnten sie die ganze Strecke bis La Rochelle in einer einzigen Etappe zurücklegen und die Reisezeit somit beträchtlich verkürzen. Da der Sprung eine beträchtliche Dosis Atomium erforderte, wurde ebenfalls beschlossen, dass die drei Kräftigsten – Nathan, Charlie und Jake – den Sprung zusammen machen sollten, um ihre jugendliche, noch unverbrauchte Energie optimal für die Gruppe zu nutzen.

Miriam nahm sich der Pestbomben an, und alle verabschiedeten sich von Paolo, der zu seiner Tante zurückkehrte.

»Und, bleibst du jetzt doch bei den Geschichtshütern?«, fragte Jake ihn zum Abschied.

»Hmm … das ist eine gute Frage.« Paolo überlegte einen Moment. »Nun, abgesehen davon, dass ich gefangen genommen, in Ketten gelegt, gefoltert und mit dem edlen Herrn Nathan in einen Kerker geworfen wurde, wo ich stundenlang seinen kaum zu ertragenden Humor aushalten musste, nur um mich danach in einer Grube voll Schwarzer Mambas wiederzufinden und als krönenden Abschluss beinahe vom höchsten Gebäude der Welt zu fallen … Warum eigentlich nicht?«

Jake und Paolo brachen in schallendes Gelächter aus und umarmten einander zum Abschied herzlich.

Dann setzten sie unter Nathans lautstarkem Befehlsgebrüll Segel und verließen den Hafen. Charlie schickte Galliana ein langes Meslith-Kommuniqué, in dem er sie über ihre baldige Ankunft informierte und bestätigte, dass Topaz mit Zeldt an einen unbekannten Ort in einer unbekannten Epoche gereist war.

Nach einer Stunde hatten die beiden Schiffe das offene Meer erreicht, und Jake beobachtete seine Eltern, wie sie Arm in Arm an Deck der Mystère standen, lachten und scherzten, während der Wind ihre Haare zerzauste. Der chaotische Sanitärladen und das Reihenhaus in London schienen eine Million Meilen weit weg.

Gleich nachdem Jake die widerliche Ration Atomium geschluckt hatte, fasste er sich ein Herz und trat neben Charlie ans Ruder, um ihn im Vertrauen nach Topaz’ Familiengeschichte zu fragen. Er war sicher, dass er von ihm eine genauso direkte wie ehrliche Antwort bekommen würde.

»Ja, natürlich, wir alle wussten es, aber kaum jemand spricht je darüber«, erklärte Charlie mit beiden Händen fest am Steuerrad.

Jake traute sich kaum, die nächste Frage auszusprechen. »Und wer sind ihre richtigen Eltern?«

»Von ihrer Mutter habe ich dir bereits erzählt: Agata, Zeldts Schwester.«

»Diejenige, die versucht hat, Zeldt in einem zugefrorenen See zu ertränken, als er noch ein Junge war, und die ihre Kammerzofe getötet hat?«, fragte Jake.

»Genau die«, murmelte Charlie.

Jake stieß einen tiefen Seufzer aus. »Sieht sie ihrer Mutter ähnlich?«

»Was hat das denn damit zu tun?«

»Sag’s mir einfach.«

Jetzt war es Charlie, der einen Seufzer ausstieß. »Ich bin ihr nie begegnet, doch anscheinend gibt es ein paar Ähnlichkeiten, die physische Erscheinung betreffend. Was ihre Persönlichkeiten angeht jedoch, könnten sie nicht verschiedener sein.«

»Und ihr Vater? Wer ist er?«

Charlie zuckte die Achseln. »Das weiß niemand. Nicht einmal Topaz selbst.«

Bald darauf erreichten sie den Horizontpunkt. Nathan und Charlie standen ganz dicht bei Jake, als die Ringe des Konstantors sich in dieselbe Ebene drehten. Jake war davon ausgegangen, dass er sich mittlerweile daran gewöhnt haben würde, aber die noch nicht ganz abgelegte Erschöpfung der letzten Tage schien den Sprung noch schlimmer zu machen als alle davor zusammengenommen. Als Jakes Alter Ego hinauf in die Stratosphäre schoss und die beiden Schiffe vom Meer verschwanden, schloss er die Augen.

Zurück im Jahr 1820 wurden sie von einem wolkenverhangenen Himmel und trostlosem Regen begrüßt. Mr Drake schien aufrichtig entsetzt und flatterte kreischend unter Deck. Unablässig prasselte der Regen den ganzen Nachmittag über auf sie nieder, bis endlich die unverkennbare dreieckige Silhouette von Mont Saint-Michel in Sicht kam.

Rose sah die beiden Schiffe, die über das vom Regen aufgewühlte Meer auf die Insel zuhielten, als Erste. Sofort rannte sie durch das ganze Schloss, klopfte an alle Türen und berichtete jedem die freudige Nachricht. Einzig und allein Océane Noire, die an einer »höllischen Migräne« laborierte, zeigte kein sonderliches Interesse daran, die Rückkehrer zu begrüßen.

Einer nach dem anderen fanden sich alle mit Regenschirmen bewaffnet auf dem Pier ein: Galliana Goethe, Jupitus Cole, der Kostümschneider Signore Gondolfino sowie Truman und Betty Wylder, Nathans Eltern und Topaz’ Vormunde. Sie waren noch vor Topaz’ Abreise über den geheimen Auftrag informiert worden, mit dem ihre Adoptivtochter betraut worden war, und wussten, dass sie nicht an Bord der Schiffe sein würde. Also hielten sie sich ein wenig im Hintergrund, während Betty sich mit einem Seidentuch ein paar Tränen von den Wangen tupfte.

Die Schiffe legten an, und als die Rückkehrer auf der Laufplanke erschienen, wurden sie von spontanem Applaus begrüßt. Jubelrufe erschallten für Alan und Miriam, und sogar noch lautere für Jake, der als Letzter an Land ging.

»Willkommen zu Hause, liebe Familie Djones!«, rief Signore Gondolfino, so laut er konnte.

»Hoch! Hoch!«, schrien die anderen im Chor.

Miriam übergab Galliana vorsichtig die Kiste mit den Pestfläschchen, und Nathan wartete, bis sich der allgemeine Aufruhr etwas gelegt hatte, um eine »spontane« Rede zu halten.

»Siegreich kehren wir zurück. Alle Agenten haben die ihnen zugedachte Rolle aufs Vortrefflichste erfüllt. Die Katastrophe, die sich in Italien anbahnte, wurde abgewendet«, sagte er und verkündete mit ausgebreiteten Armen: »Die Renaissance kann stattfinden!« Er schüttelte sich das braune Haar aus dem Gesicht und schloss für einen Moment die Augen. Dann fuhr er in feierlichem Tonfall fort: »Doch lasst uns in diesem Moment der Freude auch an Topaz St. Honoré denken, die sich mutig auf einen neuen Einsatz begeben hat.«

»Ein Hoch auf Topaz St. Honoré«, sagten alle, wenn auch etwas betreten, im Chor.

Da trat Jupitus Cole, der die ganze Zeit über sehr ruhig gewesen war, mit einem Räuspern vor und sagte: »In einer Stunde werden im Prunksaal Champagner und andere Erfrischungen serviert. Ich möchte alle Anwesenden um pünktliches Erscheinen bitten, da ich etwas Wichtiges mitzuteilen habe.«

Nachdem alle Reden vorbei waren, lief Rose zu Alan und Miriam und erwürgte sie fast, so fest umarmte sie die beiden. »Das war das letzte Mal, dass du auf einen Einsatz gegangen bist, ohne es mir zu sagen«, schimpfte sie mit Alan. »Du bist immer noch mein kleiner Bruder, vergiss das nicht.«

Galliana legte dem nach wie vor mit seinen Gedanken beschäftigten Jake einen Arm um die Schulter. »Du hast dich bestens geschlagen, wie ich gehört habe. Charlie schrieb, du wärst durch und durch ein Geschichtshüter geworden. Wir sind alle sehr stolz auf dich.«

Jake lächelte, aber Galliana spürte, wie sehr die Ereignisse der letzten Tage noch in ihm rumorten. »Ich weiß, wie du dich fühlen musst«, flüsterte sie ihm tröstend zu. »Zeitreisen sind etwas Magisches, aber sie haben auch etwas zutiefst Verstörendes.«

Als Jake mit seinen Eltern den Prunksaal betrat, war dieser mit hellen Kerzenleuchtern und frischen Blumen geschmückt. Durch die großen Fenster sah er, wie sich die Abenddämmerung über die stürmische See senkte.

Jupitus Cole goss Champagner in die bereitstehenden Kelche. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle anwesend waren, schlug er mit einem Löffel dreimal gegen sein Glas, um für Ruhe zu sorgen.

»Ich bin kein Mann vieler Worte, also werde ich mich kurzfassen. Es gibt frohe Neuigkeiten«, sagte er ohne auch nur den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht. »Océane Noire und ich haben uns verlobt und werden bald heiraten.«

Es entstand eine kurze, verwunderte Stille. Océane schob ihre Frisur zurecht, schritt quer durch den Saal und nahm ihren Platz neben Jupitus ein. Endlich durchbrach zurückhaltender Applaus das unbehagliche Schweigen.

Rose war die Einzige, die nicht klatschte. Sie war so überrascht, dass sie es nicht einmal schaffte, den Mund zu schließen. »Wie bitte …?«, murmelte sie nur und tat so, als müsste sie etwas in ihrer Reisetasche suchen.

Da warf Jupitus ihr einen schnellen Blick zu. Nur Rose selbst und Galliana wussten von seinen Gefühlen, aber keine von beiden schaute in diesem Moment in seine Richtung, und niemand auf Mont Saint-Michel bemerkte den zutiefst verzweifelten Ausdruck auf seinem Gesicht.

Jake bekam die Nachricht von Jupitus’ Verlobung mit Océane gar nicht mit. Seine Gedanken waren mit für ihn schwerwiegenderen Dingen beschäftigt. Seine Eltern waren irgendwo in den Untiefen der Zeit verschollen gewesen; mit unbeirrbarer Beharrlichkeit und einer Portion Glück hatte er sie schließlich wiedergefunden, nur um einen weiteren Verlust zu erleiden: Topaz. Düstere Gedanken quälten ihn. Denn so sehr Galliana und die anderen Geschichtshüter seine Verdienste auch gelobt haben mochten, wusste er doch, dass er in dem einen Ziel, das er sich selbst gesetzt hatte, versagt hatte. Er hatte Topaz retten wollen. Und jetzt fürchtete er, dass er sie vielleicht nie wiedersehen würde. Die Welt allein war schon groß genug, um darin verloren zu gehen, aber die Zeit, wie er nun aus eigener Erfahrung wusste, war mehr, als der menschliche Geist erfassen konnte – unendlich und komplex wie das Universum selbst und erfüllt von unergründlicher Dunkelheit.

Jake atmete ein paarmal tief durch, um sich zu beruhigen. Dann ging er zu einem der hohen Fenster und betrachtete den Horizont.

Felson, der brav am Eingang des Saals gewartet hatte, kam herbeigelaufen und stellte sich neben Jake. Freudig blickte er seinen neuen Herrn an und schaute dann ebenfalls hinaus aufs Meer.

Weit draußen erhellte ein Blitz die Wellen, und Jake musste daran denken, wie sein Abenteuer begonnen hatte, an den schweren Sturm in London, der bei seinem Eintritt in diese aufregende und bizarre Welt getobt hatte. Seine gesamte Weltsicht hatte sich verändert. Dinge wie Gefahr, Ehre, Pflicht, Liebe und Furcht waren nun feste Größen in seinem Leben geworden.

Er war jetzt ein Geschichtshüter.

In sein altes Leben führte kein Weg mehr zurück.

Jake stand ganz dicht am Fenster, sah, wie der Hauch seines Atems sich daran niederschlug, und in diesem Augenblick gab er sich ein feierliches Versprechen, sprach die Worte so leise, dass nur er selbst sie hören konnte:

»Ich werde dich finden, Topaz. Wo auch immer du bist. Egal wo, egal in welchem Zeitalter. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue. Ich werde dich finden …«


Danksagung

Zuerst ein Dank an all die einzigartigen Frauen – Becky Stradwick dafür, dass sie das Projekt ins Rollen gebracht hat, und für alles, was sie seitdem für mich getan hat, Jo Unwin für ihre Weisheit und ihren aufrichtigen Rat, Sue Cook für ihre unbezahlbaren Einfälle und Rachel Holroyd sowie Sophie Dolan für die großartige Zusammenarbeit und jede Menge Spaß.

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die Hilfe von Ali Lowry, Richard Batty, die unvergleichlichen Morrisons sowie allen meinen anderen fabelhaften Freunden, die mich mit ihrer Großzügigkeit vor dem wirtschaftlichen Ruin bewahrt haben!

Ein besonderer Dank geht an Dick, der mich immer von der Schule abgeholt hat, an Dudley, der stets ein Auge auf mich hatte, sowie an Rufo, Justin und meine Mutter, die mir beigebracht haben, dass ein guter Humor stets das Wichtigste ist.

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