»Charlie«, rief Topaz, den Kopf zum Fenster hinausgestreckt, »ich sage es nur ungern, aber ich glaube, es wäre an der Zeit, Mr Drake irgendwo zu verstecken.«
Charlie nickte widerstrebend, öffnete einen der Koffer und setzte den Papagei vorsichtig hinein. »Es ist nur für kurze Zeit«, versicherte er und gab Mr Drake eine extragroße Portion Erdnüsse als Proviant. »Du musst jetzt ganz leise sein.« Es behagte Charlie ganz und gar nicht, sein Schoßtier in den dunklen Koffer zu sperren, aber für eine Handvoll Erdnüsse tat Mr Drake so gut wie alles, was sein Herr von ihm verlangte.
Als sie vor den düsteren Wachtürmen des Tores stehen blieben, bemerkte Jake ein nervöses Flackern in Topaz’ Augen. Sie griff sich mit der Hand an den Hals, als versuchte sie, ihren zitternden Atem zu beruhigen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Jake leise.
»Schon irgendwie seltsam«, erwiderte Topaz mit einem Seufzen. »Man möchte meinen, die Angst würde mit der Zeit weniger, dabei scheint es nur schlimmer zu werden.«
Einer der Torwächter kam aus dem Wachhäuschen auf sie zugeschritten, hob seine riesige Hand und fragte mit einer Kinnbewegung in ihre Richtung nach den Namen der Neuankömmlinge.
»Mikhail und Irina Volsky aus Odessa«, antwortete Charlie auf Englisch mit unverkennbar russischem Akzent und gab dem Soldaten das Einladungsschreiben.
Der Wachmann betrachtete es wortlos und inspizierte mit zusammengekniffenen Augen die Insassen der Kutsche.
Jake und Topaz starrten geringschätzig zurück.
Endlich gab er Charlie das Einladungsschreiben zurück und signalisierte dem Rest der Wachmannschaft, das Tor zu öffnen. Quietschend hob sich das eiserne Fallgitter, die Kutsche fuhr los und hinein in die weitläufige Festungsanlage von Schloss Schwarzheim.
Jake blickte aus dem Fenster. Vor ihm erhob sich ein in Nebelschwaden gehüllter Berg, auf dessen scharfer Spitze sich als graue, teilweise vom Dunst verhüllte Silhouette Schloss Schwarzheim erhob.
Während sie weiter den Berg hinauffuhren, entdeckte Topaz etwas zwischen den Bäumen. »Seht, da unten!«, rief sie.
Charlie hielt die Pferde an.
Weit unter ihnen, versteckt in einer der zahllosen Biegungen des Rheins, befand sich in einer von steilen Felsen umschlossenen Bucht ein natürlicher Hafen. In dem Hafen vertäut lag eine schwarze Galeone mit leuchtend roten Segeln.
»Wenn das mal nicht die gute alte Lindwurm ist«, bemerkte Charlie und zog sein Fernrohr hervor. »Dieses Schiff vergisst man nicht so schnell.« Er reichte das Teleskop weiter an Topaz, die mit geschürzten Lippen hindurchspähte.
»Was hat es denn auf sich mit dieser Lindwurm?«, fragte Jake.
»Sie ist Zeldts bestes Schiff«, erklärte Charlie. »Der Legende nach hat er die Schiffsplanken mit dem Blut seiner Feinde tränken lassen. Daher dieser schimmernde Rotstich über all dem Schwarz. Ihren Namen hat sie von einer mythischen Kreatur – halb Schlange, halb Drache –, die in den dunkelsten Tiefen haust.«
Topaz reichte das Fernrohr an Jake weiter. Die Lindwurm war in der Tat ein beeindruckendes Schiff, schön und furchterregend zugleich. Die drei leuchtend roten Segel schimmerten wie Samt in der gleißenden Sonne, und in ihrer Mitte prangte in tiefem Scharlachrot Zeldts Wappen.
»Sieht aus, als ob sie zum Auslaufen bereit gemacht wird«, sagte Jake und deutete auf die Soldaten, die das Schiff beluden.
»Hoffentlich nicht allzu bald«, erwiderte Charlie und ließ die Peitsche knallen.
Schnaufend setzten die Pferde sich in Bewegung und arbeiteten sich weiter die im Zickzack verlaufende Straße hinauf. Immer wieder verschwand das Schloss hinter einer Felswand oder einer Baumreihe, um hinter der nächsten Kurve wieder in Sicht zu kommen, näher und drohender als zuvor.
Allmählich begann das Wetter sich zu verändern. Unten, in der Nähe des Flusslaufs, war es ein warmer, sonniger Tag gewesen, aber jetzt, auf halber Höhe zum Gipfel, wurde die Luft immer kühler und dünner, und Charlie begann zu frösteln.
Plötzlich blieben die Pferde abrupt stehen. Das linke schüttelte nervös das mächtige Haupt und stampfte wiehernd mit den Hufen.
»Ist ja gut. Was hast du denn?«, fragte Charlie verdutzt, denn die Straße vor ihnen war vollkommen leer.
Da hob sich der Deckel des Koffers neben ihm, und Mr Drake spähte mit wachsamen Augen nach draußen – auch er schien Gefahr zu wittern.
Jake lehnte sich aus dem Fenster und sah, wie sich etwas zwischen den Bäumen bewegte. Angestrengt versuchte er, in dem düsteren Wald etwas zu erkennen, doch es war nur der Wind, der mit den Blättern spielte.
Dann sah er es: ein Schatten, der von Baum zu Baum huschte.
Charlie hatte es im selben Moment entdeckt und ließ vor Schreck die Zügel fallen.
Mit vom feuchten Moos gedämpften Schritten huschte die Gestalt lautlos durch den Wald. Sie trug einen schwarzen Spitzhut, und ihre schwarze Robe blähte sich flatternd im Wind. Etwa fünfzig Meter vor ihnen sprang sie auf die Straße, den Rücken zu ihnen gewandt.
Jake reckte den Hals, um mehr erkennen zu können. Er hatte schon öfter Leute in ganz ähnlichen Kostümen gesehen – an Halloween –, aber das hier war etwas anderes: Das Wesen vorn auf der Straße wirkte irgendwie echt. Sein Umhang war zerrissen und dreckig, sah aber nach feinem Tuch aus, in das, in noch tieferem Schwarz, komplizierte Muster und Symbole gestickt waren.
Regungslos stand die Kreatur da, während die Pferde ängstlich schnaubten und mit den Hufen stampften.
Topaz lockerte den Dolch an ihrem Gürtel, und Charlie zog verstohlen sein Schwert.
Langsam drehte das Geschöpf den Kopf. Sein Gesicht – zumindest das, was davon zu erkennen war – war auf unheimliche Art hässlich und schön zugleich. Die durchschimmernde, blasse Haut war von feinen, quecksilberblauen Adern durchzogen.
Für einen Sekundenbruchteil hatte Charlie Augenkontakt, dann jagte die Kreatur wieder davon. Wie an einem unsichtbaren Faden gezogen, schwebte sie mit atemberaubender Geschwindigkeit zwischen den Bäumen hindurch, um in einiger Entfernung neben zwei weiteren dieser schattenhaften Erscheinungen stehen zu bleiben. Alle drei warfen der Kutsche noch einen letzten Blick zu, dann verschwanden sie endgültig.
Die Agenten atmeten erleichtert auf. Charlie und Topaz steckten ihre Waffen wieder ein.
»Man muss keine Angst vor ihnen haben. Im Grunde genommen sind sie nicht mehr als ein bisschen aufgepeppte Vogelscheuchen«, kommentierte Charlie und versuchte, so unbeeindruckt wie möglich zu klingen, auch wenn sein Puls immer noch raste.
»Vogelscheuchen?«, fragte Jake.
»Ein Trick aus dem frühen Mittelalter. Geht auf reiche Grundbesitzer zurück, die Schauspieler engagiert haben, damit sie ungebetene Gäste fernhalten.«
»Trotzdem wäre es mir lieber, wenn es bei diesem einen kleinen Auftritt bliebe«, erwiderte Jake.
Je näher sie der Spitze des Berges kamen, desto steiler wurde die Straße, und es wurde merklich kälter. Jake blickte aus dem Fenster und sah den gähnenden Abgrund neben der Straße. Immer wieder kullerten Steine über den Rand und verschwanden tief unter ihnen im Nebel. Zu allem Überfluss wollten sich die Pferde seit dem kurzen Zwischenfall einfach nicht mehr beruhigen, und Charlie musste alle Register ziehen, um sie bei Laune zu halten. Doch sosehr er sich auch bemühte, möglichst fröhlich und unbesorgt zu wirken – auch er konnte seine stetig steigende Anspannung nicht verbergen.
Als sie schließlich die letzte Serpentine hinter sich gelassen hatten, ragte vor ihnen Schloss Schwarzheim auf in seiner ganzen schauerlichen Pracht. Zeldts Festung war ein gigantisches Mosaik aus sich in den wolkenverhangenen Himmel schraubenden Rondellen und Türmen und Treppen, das Mauerwerk so massiv, als wäre es aus dem Fels selbst gewachsen. An einem der Türme sah Jake eine ganze Menagerie von fantastischen Wasserspeiern: Drachen, zweiköpfige Gorgonen und Affen, die Mäuler wie tollwütig aufgerissen zu einem tonlosen Schrei. Der Anblick erinnerte ihn an eines seiner Lieblingsbilder, ein Gemälde aus der hochviktorianischen Zeit, auf dem eine Gruppe Reiter unter einem stürmischen Himmel auf eine düstere gotische Festung zugaloppierte.
Die Pferde mühten sich über die letzten Meter der Steigung, bis sie endlich durch einen Torbogen auf den großen Schlosshof gelangten.
Von einer gespannten Nervosität erfasst, sog Jake alles in sich auf: den Anblick der Kutschen, die vor ihnen angekommen waren, den Kontrast, den ihre kräftigen Farben mit dem stumpfen Grau der Granitmauern bildeten, die fein gekleideten Passagiere, die sich von den in rote Kutten gehüllten Schlossdienern heißen Gewürzwein in Zinnbechern reichen ließen, ohne ihnen dabei auch nur die geringste Beachtung zu schenken.
»Irgendwie seltsam, dass sie ganze Familien eingeladen haben«, sagte Topaz und deutete auf eine der anderen Kutschen, aus der gerade ein junges Ehepaar, begleitet von zwei schmollgesichtigen Töchtern und einer ältlichen Dame – offensichtlich die Großmutter der beiden Mädchen –, ausgestiegen war. Die alte Matrone überwachte das Entladen der Kutsche und nahm die neue Umgebung kritisch in Augenschein.
Charlie hatte während der Fahrt bereits Gelegenheit gehabt, sich an die Kälte zu gewöhnen, Jake und Topaz jedoch bemerkten den dramatischen Temperatursturz erst, als sie den gepflasterten Innenhof betraten. Die Luft fühlte sich an, als wäre es Winter, vereinzelt fielen sogar ein paar Schneeflocken.
»Willkommen auf Schloss Schwarzheim, edle Herrschaften«, begrüßte sie eine Stimme auf Englisch. Sie gehörte einer blauäugigen teutonischen Schönheit, deren Lächeln genauso streng war, wie die stramm geflochtenen Zöpfe um ihr Haupt. Unwillkürlich überprüfte Jake den Sitz seines falschen Bartes, während sie weitersprach: »Ich hoffe, Ihr hattet eine angenehme Reise, Mikhail und Irina Volsky … so lauten doch Eure Namen, nicht wahr?«
»Woher wusstet Ihr das?«, fragte Topaz zurück.
»Ich habe das Wappen auf Eurer Kutsche gesehen«, gab das Mädchen knapp zurück. »Euch wurde die Charlemagne-Suite im Ostturm zugeteilt. Das Dinner wird um sieben Uhr im Bankettsaal serviert. Ich wünsche einen angenehmen Aufenthalt.«
Als eine weitere Kutsche in den Schlosshof gefahren kam, bedachte die Teutonin sie mit einem letzten falschen Lächeln und ging. Jake und Topaz blickten ihr nach.
»Herzig«, kommentierte Jake, noch ganz verwirrt von der unterkühlten, selbstbewussten Erscheinung.
»Wie eine Schlangengrube«, ergänzte Topaz.
»Seht nicht gleich hin«, mischte Charlie sich ein, während er sich daran machte, das Gepäck von der Kutsche zu laden, »aber da drüben ist noch eine Schlangengrube. Auf elf Uhr.«
Jake und Topaz drehten sich beiläufig um und sahen eine Gestalt von einem leicht erhöhten Balkon auf den Innenhof hinunterblicken: Mina Schlitz, die mit kaltem Blick alles beobachtete.
»Die macht mir keine Angst«, murmelte Topaz. »Alles nur Fassade …«
Topaz und Jake wurden zum Schloss geführt, Charlie hinterher, voll und ganz damit beschäftigt, die Stapel von Koffern zu balancieren, seine Gedanken bei Mr Drake, der in einer der Kisten hin und her geschüttelt wurde, und da geschah es: Seine Konzentration ließ einen Moment lang nach, er stolperte, und alles fiel zu Boden.
Zwei Schlossdiener eilten ihm zu Hilfe, und Jake konnte nicht widerstehen, Charlie ein wenig aufzuziehen. »Er ist neu, und wir müssen ihn erst noch richtig einarbeiten. Es ist heutzutage verflucht schwierig, gutes Personal zu finden.«
Charlie schüttelte nur den Kopf und zischte unter zusammengebissenen Zähnen hervor: »Ich habe diese Rolle freiwillig übernommen und glaube doch etwas mehr Respekt verdient zu haben.«
Sie gingen die Treppe zum Haupteingang hinauf, als Topaz plötzlich stehen blieb. »Einen Moment«, keuchte sie und ergriff Jakes Arm. Ihr Gesicht war kreidebleich, die Augen rollten nach oben, dann sank Topaz mit flatternden Lidern in Jakes Arme.
»Topaz!«, rief Jake.
Alle auf dem Schlosshof schauten in ihre Richtung, und besorgte Diener eilten herbei.
»Du meinst Irina«, flüsterte Charlie, der bemerkt hatte, wie Mina Schlitz sie vom Balkon aus genau beobachtete.
Topaz kam wieder zu sich und machte sich von Jake los.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja, natürlich. Es ist nur die Höhe, das ist alles«, gab sie fröhlich zurück. »Wollen wir …?« Mit diesen Worten nahm sie die letzten Stufen und verschwand durch den Eingang, als wäre nichts geschehen.
Der Vorfall beunruhigte Jake, aber er fing sich schnell und war wieder ganz der kühle Geschäftsmann.
Sie fanden sich in einer fürstlichen Eingangshalle wieder. Über zahllose Treppen wurden die ankommenden Gäste zu ihren Suiten geführt, und Jake kam sich vor wie in der geschäftigen Lobby eines Schweizer Nobel-Skihotels – bis auf die Tatsache natürlich, dass alle Anwesenden Kleidung des frühen sechzehnten Jahrhunderts trugen und Skifahren noch gar nicht erfunden war. Auf jeder Seite der Eingangshalle brannte ein großes Feuer, jeder Quadratzentimeter der Wände um sie herum war mit Geweihen, ausgestopften Bärenköpfen und ähnlich makabren Jagdtrophäen gepflastert.
»Wie überaus reizend«, kommentierte Charlie. »Der Anblick dieser toten Tiere macht mir unseren Gastgeber doch gleich viel sympathischer …«
Aber es ging noch weiter: In einer Ecke standen zwei Sofas mit Gestellen aus ausladenden Hirschgeweihen, von kleinen Podesten starrten sie ausgestopfte Adler, Falken und Habichte an, und der Steinboden war übersät mit Bärenfellen.
Jake, Topaz und ihr »Knecht« ließen sich von einem der Kuttenmänner die breite Haupttreppe hinaufführen. Über zahllose Korridore und weitere Stufen gelangten sie schließlich zu einer großen Doppeltür, hinter der die Charlemagne-Suite lag.
Die drei mussten sich gehörig zusammenreißen, um sich ihr Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Die Suite war atemberaubend: Sie erstreckte sich über das gesamte oberste Stockwerk eines der Rondelle, war mit erlesensten Möbeln und Gobelins ausgestattet.
»Dort drüben ist etwas heiße Schokolade, falls sich die Herrschaften ein wenig aufwärmen wollen«, sagte der Diener mit eisig kalter Stimme und deutete auf einen Servierwagen mit einer dampfenden Kanne und zwei Tassen darauf. »Ein heißes Bad steht ebenfalls bereit. Das Dinner wird um sieben serviert.«
Diese Informationen richteten sich natürlich nur an Jake und Topaz. Charlie wartete mit gesenktem Haupt an der Tür.
Mit einem Nicken entfernte sich der Diener im Rückwärtsgang und schloss die Tür hinter sich.
Charlie stellte sofort sämtliche Gepäckstücke ab und entließ Mr Drake aus seinem mit Seide ausgepolsterten Gefängnis. Der Papagei stieß ein heiseres Krächzen aus und drehte eine Runde um den Kronleuchter an der Decke, um seine tauben Flügel ein wenig zu strecken.
»War es wirklich nur die Höhe?«, fragte Jake, erleichtert darüber, seine Maske für den Moment fallen lassen zu können.
Einen Moment lang reagierte Topaz nicht. »Es ist schon eine Weile her, dass ich in einem von Zeldts Schlössern gewesen bin. Die Erinnerung, sie hat mich wohl überwältigt, aber jetzt fühle ich mich wieder bestens.«
»Welche Erinnerung …?«, fragte Jake.
»Sehen wir uns doch einmal die Suite an«, erwiderte Topaz und ignorierte die Frage. Sie verschwand in den nächsten Raum, und Jake folgte stumm. Er hatte begriffen, dass die Unterhaltung fürs Erste beendet war.
Das Schlafzimmer war beinahe noch größer als der Wohnraum. Das riesige Himmelbett war mit extravaganten Samtvorhängen verziert, und das nur unwesentlich kleinere Badezimmer, in dem eine große, dampfende Badewanne magische Düfte nach Rose und Bergamotte verbreitete, war mit terrakottafarbenem Marmor gefliest.
Der atemberaubendste Anblick jedoch bot sich ihnen von der Terrasse aus. Draußen war es eisig kalt, und der Wind pfiff ihnen um die Ohren, doch sie bemerkten es kaum.
»Das nenne ich ein Panorama«, sagte Jake ehrfürchtig. Ihm war, als schaue er in die Unendlichkeit: Der Rhein wand sich bis zum Horizont, wo er zwischen den bewaldeten Hügeln verschwand, dazwischen lagen romantische Dörfer und Städtchen, weitere Schlösser thronten auf Bergkuppen nah und fern. Der Ausblick wäre zu jedem Zeitpunkt der Geschichte atemberaubend gewesen, doch so schön wie jetzt, im Jahr 1506 – lange vor allen »Segnungen« der Moderne wie Autos, Flugzeugen und Retortenstädten –, dachte Jake, würde er nie wieder sein. Mit leuchtenden Augen drehte er sich zu Topaz um, die genauso staunte wie er.
»C’est incroyable, non? Zeitreisen sind etwas Wunderbares«, sagte sie, als hätte sie Jakes Gedanken gelesen. »Es ist, wie wenn man den Sternenhimmel betrachtet: Je genauer man hinschaut, desto mehr sieht man.«
Nachdem sie alle ein ausgiebiges Bad genossen hatten (in einer Wanne mit fließend warmem Wasser aus goldenen Hähnen in der Form von Delfinen), wählten sie die geeignete Garderobe für den Abend aus. Ohne Nathans Expertenrat fiel ihnen die Aufgabe nicht leicht, doch schließlich entschied sich Jake für ein elegantes spanisches Wams aus leuchtend blauem Samt und dazu als Accessoire eine schwere goldene Halskette. Topaz wiederum wählte ein cremefarbenes Gewand aus schimmerndem Brokat. Nur Charlie blieb bei seinem einfachen Dienerkittel und den Kniehosen.
Um Punkt sieben kam ein Diener, um sie abzuholen. Schweigend führte er sie durch ein Labyrinth aus Treppen und Fluren zu einer prunkvollen Doppeltür.
»Du musst draußen bleiben«, teilte der Diener Charlie in barschem Tonfall mit. »Warte drüben bei den anderen Bediensteten.« Er deutete auf eine schmale Treppe, die zu einem Aufenthaltsraum für Personal führte, wo bereits eine Handvoll düster dreinblickender Leibdiener auf den Ruf ihrer Herrn wartete.
»Aber … gewöhnlich begleite ich Herrn und Frau Volsky überallhin«, stammelte Charlie und hätte dabei beinahe den russischen Akzent vergessen.
»Nur die geladenen Gäste dürfen diesen Saal betreten«, gab der Diener ungerührt zurück und hob eine Hand, um seiner Anordnung Nachdruck zu verleihen.
Charlie blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. »Ich will einen genauen Bericht von dem Bankett – alles, was im Laufe des Abends serviert wird, jedes einzelne Gericht, verstanden?«, flüsterte er Jake ins Ohr.
Jake nickte, und Charlie begab sich widerstrebend in den Aufenthaltsraum, in dem ihn vierzig Diener griesgrämig anstarrten, woran auch ein warmes Lächeln und ein freundliches Zwinkern seinerseits nichts änderten.
Jake und Topaz, die Volskys von Odessa, ließen sich unterdessen durch die Doppeltür geleiten, die sich wie durch Zauberhand von selbst öffnete. Der Anblick, der sich ihnen bot, ließ den beiden das Blut in den Adern gefrieren, und einen Moment lang konnten sie kaum atmen, doch irgendwie schafften sie es, sich nichts anmerken zu lassen, und traten ein.
22
DAS KOMMENDE IMPERIUM
Genauso wie Charlie, der soeben den unfreundlichen Blicken der anderen Diener begegnet war, erging es nun auch Jake und Topaz. Doch was sie in den Augen der Gäste erblickten, war noch weitaus beunruhigender.
Der Bankettsaal von Schloss Schwarzheim war ein großer, spärlich beleuchteter, kreisrunder Raum, in dem etwa ein Dutzend Kaminfeuer eine glühende Hitze verbreiteten. In der Mitte befand sich eine runde Tafel aus beinahe durchsichtigem Marmor. Wie ein Gespenst schien sie über dem steinernen Boden zu schweben. Die Menschen, die sich um diese Tafel versammelt hatten, waren beeindruckend – und sehr beängstigend.
Prinz Zeldts Gäste waren das spätmittelalterliche Äquivalent einer Millionärsversammlung. Wie die Agenten der Gästeliste entnommen hatten, handelte es sich bei ihnen nicht um berühmte Persönlichkeiten oder Aristokraten, sondern um Männer und Frauen, deren selbst erwirtschafteter, immenser Reichtum ihnen große Macht verlieh. Unter ihnen befanden sich Getreide-und Viehhändler aus Osteuropa, Kohlebarone aus dem Baltikum, Holz-und Wachshändler aus Skandinavien, ein Salzhändler aus Kleinasien, ein Silberbaron aus Bayern und ein Elfenbeinhändler aus Afrika; des Weiteren mehrere Bankiers aus deutschen und italienischen Städten sowie Makler aus Amsterdam und Kopenhagen.
Jake und Topaz wurden zwei leere Stühle auf der linken Seite zugewiesen. Sie setzten sich und versuchten, sich ihre Nervosität nicht anmerken zu lassen und das Auftreten der anderen Gäste zu imitieren.
Jake ließ den Blick über das Meer von Gesichtern schweifen. Manche davon waren alt, andere erstaunlich jung und wieder andere mittleren Alters. Ein wenig fühlte er sich, als wäre er wieder in der Bibliothek der Gesichter. Einige der Gäste sahen beinahe aus, als wären sie achtbare Bürger, andere hatten finstere, vernarbte Gesichter und verschossen heimtückische Blicke. Es waren mehr Männer als Frauen im Saal, wobei Letztere zumeist wesentlich imposantere Erscheinungen waren als ihre männlichen Begleiter; so hatte Jake eine gebieterisch dreinblickende Dame mit afrikanischem Kopfschmuck gesehen, die gut und gern zwei Meter groß gewesen sein musste. Und alle strahlten sie dieselbe arrogante Machtbesessenheit aus, trugen Kleidung aus allerfeinstem Tuch, die teuersten Juwelen und die ausgesuchtesten Parfüms. Bestimmt wohnten sie allesamt in prächtigen Villen, ausgestattet mit den erlesensten Möbeln und emsigen Bediensteten.
Noch nie im Leben hatte Jake sich so eingeschüchtert gefühlt. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen saß er an einer Tafel, an der sich eine außergewöhnliche Gruppe von Menschen zusammengefunden hatte. Das erste Mal war im Prunksaal von Mont Saint-Michel gewesen, die Gesellschaft dort absolut faszinierend, der Saal erfüllt von Leichtigkeit und angeregter Unterhaltung. Dies hier war das genaue Gegenteil: Der runde Bankettsaal glich einer dunklen Kammer, über die sich eine bösartige Stille gesenkt hatte.
Jake erhaschte einen Seitenblick auf seinen Sitznachbarn. Er hatte einen kleinen Kopf und eine spitze Nase; die aufgedunsenen Hände auf dem Tisch verschränkt, starrte er stur ins Leere. Ein teures, lilafarbenes Wams schmiegte sich eng an seine schmalen Schultern.
Dann ließ er den Blick durch den Raum schweifen, um seine Umgebung genauer zu inspizieren. Einer der vier noch leeren Stühle war etwas größer als die anderen, reicher verziert, und es war der einzige mit Armlehnen. Sie hatten die Form von Schlangen.
In der Mitte der Tafel hielt eine kristallene Hand eine saphirblaue Kugel, die ein sanftes Licht verströmte und offensichtlich die Erde darstellen sollte. Vor jedem der Gäste stand ein Kristallkelch mit einer transparenten Flüssigkeit darin, daneben ein Kästchen aus Schildpatt. Keine Spur von einem bevorstehenden Abendessen.
Die Doppeltür schwang auf, und zwei weitere Gäste traten ein: ein ältlicher Mann und seine junge, vornehme Frau. Ihre Gesichter waren rot und von Zornesfalten durchzogen, als hätten sie gerade gestritten. Mit schnellen Schritten, wobei der Mann leicht hinkte, durchquerten sie den Saal und nahmen ihre Plätze ein. Als Nächstes öffnete sich genau am anderen Ende eine kleine, unscheinbare Tür. Im Vergleich zu dem prunkvollen Haupteingang wirkte sie irgendwie fehl am Platz, wie eine Geheimtür für die Dienerschaft. Als Jake Mina Schlitz heraustreten sah, durchzuckte ihn ein kleiner Schauer.
Mina ging einmal im Kreis um die Tafel und musterte die Gäste, die halb den Kopf drehten, während sie hinter ihnen vorüberschritt. Endlich setzte sie sich auf den freien Stuhl neben dem großen mit den Armlehnen, zog ihre rote Schlange hervor und streichelte sie.
Eine weitere Gestalt erschien in der kleinen Tür. Aus der Entfernung wirkte sie eher unscheinbar, aber der Ausdruck auf Topaz’ Gesicht ließ etwas anderes erahnen, denn ihre Augen wurden plötzlich hart, und Jake fiel auf, wie sie die Kiefermuskeln anspannte.
»Ist er das?«, fragte Jake flüsternd. »Prinz Zeldt?«
Topaz nickte, und Jake sah, wie sie zu zittern begann. Die Finger fest verschränkt, presste sie die Hände in den Schoß und schob ihren Stuhl ein Stück zurück, um sich hinter Jake vor Zeldts Blicken zu verstecken.
»Schon gut, es wird nichts passieren«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Willkommen«, sagte der Prinz mit dünner, kaum hörbarer Stimme und nahm Platz. Einige Gäste hatten ganz offensichtlich Schwierigkeiten, Zeldt zu verstehen, behielten es aus Furcht aber lieber für sich.
»Willkommen bei der Superia-Konferenz. Für viele der Anwesenden ist dies das erste Treffen«, flüsterte er. »Für andere wiederum wird es das letzte sein, doch das Band zwischen uns wird nie zerreißen.«
Es folgte gemurmelte Zustimmung, und alle Augen richteten sich auf Prinz Zeldt, während er weitersprach: »Im Frühling des Jahres 1492 begab es sich, dass ein gewisser Marsilio Ficino, ein wohlfeiler, blutleerer Gelehrter, Folgendes niederschrieb.« Zeldt veränderte seine Stimmlage ins leicht Nasale. »Ich zitiere: ›Wenn es je ein Zeitalter gab, das mit Fug und Recht als das goldene zu bezeichnen wäre, dann gewiss das unsere. Dieses Jahrhundert hat die schönen Künste, dem Tode nahe, wieder zum Leben erweckt: Wissenschaft, Rhetorik, Malerei, Bildhauerei, Architektur, Musik …‹« Zeldt ließ den Blick über die ihn wie gebannt anstarrenden Gesichter seiner Zuhörer schweifen. »›Vorbei das Dasein als Gottes Spielzeuge, rückte sich der Mensch selbst ins Zentrum des Geschehens. Er beginnt, das Universum zu begreifen und sein Schicksal selbst zu gestalten …‹« Er legte eine dramatische Pause ein und spuckte den nächsten Satz so angewidert aus, dass jedem der Zuhörer ein kalter Schauer über den Rücken lief. »›Es ist das Zeitalter der Geburt des freien Menschen‹«.
Plötzlich sprang Zeldt auf und funkelte seine Gäste an, als wäre niemand anderer als sie für diese Ungeheuerlichkeit verantwortlich.
»Die Geburt des freien Menschen?«, wiederholte er schnaubend. Wieder legte Zeldt eine dramatische Pause ein, und ein verächtliches Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »Wohl kaum.«
Gemurmelte Zustimmung erhob sich im Saal, dann verhaltener Applaus.
»Ich bin ein Mann der Tat, nicht des Wortes«, sprach der Prinz weiter, »also werde ich direkt zur Sache kommen. Ich bin sicher, Ihr alle könnt es kaum mehr erwarten zu erfahren, wie unsere neue Welt aussehen wird.«
Jake blickte Topaz an – er war nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. »Unsere neue Welt …?«, fragte er, doch Topaz zuckte nur die Achseln.
Der Prinz nickte Mina zu, die ihre Schlange zurück in den Käfig steckte und einen neben ihrem Stuhl aus dem Boden ragenden Hebel umlegte.
Verborgene Zahnräder und Getriebe setzten sich ratternd in Bewegung, und ein dünner Spalt öffnete sich im Boden des Bankettsaals.
Jake reckte den Hals, um etwas erkennen zu können, und sah, wie durch den Spalt dünner Rauch aufstieg.
Mina stand auf und ging zur rückwärtigen Wand, wo sie an einer Art Regler drehte, woraufhin ein heller Lichtstrahl auf den zarten Rauchschleier fiel. Ein schemenhaftes Bild begann darauf Gestalt anzunehmen: die wohlbekannte Schlange mit dem Schild, und darunter in Fraktur das Wort …
SUPERIA
Normalerweise waren die anwesenden Kaufleute, Händler und Bankiers ganz sicher nicht leicht zu beeindrucken, und wenn es einmal doch geschah, ließen sie es sich bestimmt nicht anmerken. Nicht so an diesem Abend: Der Anblick von Zeldts Camera obscura ließ sie bewundernd aufkeuchen.
Da veränderte sich das Bild, und es erschien eine düstere Stadt von kolossaler Größe, mit Wolkenkratzern und einer hohen, unüberwindlichen Mauer darum herum.
»Dies ist ein Entwurf unserer ersten sicheren Stadt«, sagte Zeldt mit leuchtenden Augen.
»So sahen die Zeichnungen in Venedig aus«, flüsterte Jake Topaz zu und dachte an die mittelalterlichen Wolkenkratzer, deren Pläne er gesehen hatte.
Doch dies war erst der Auftakt von Zeldts Vorführung. Ein Bild folgte dem anderen und zeigte die grässliche Stadt aus jedem Blickwinkel, eine wahrhaft »sichere« Stadt aus hohen, hässlichen Gebäuden, deren zahllose Fenster ausnahmslos vergittert waren. An jeder Ecke der verwinkelten Straßen standen in Scharlachrot gekleidete Soldaten Wache, und Dutzende Wachtürme ragten aus der Stadtmauer. Überall prangten Schild und Schlange der Schwarzen Armee, über jedem Fensterbogen waren sie ins Mauerwerk eingelassen, in jede Tür graviert, und als gigantisches Wappen schwebte es in Stein gehauen über dem Stadttor.
»Sieht aus wie ein Gefangenenlager«, murmelte Topaz erschüttert.
Auf einem weiteren Bild waren die ausgemergelten Einwohner der Stadt zu sehen, die wie Vieh durch das Tor getrieben wurden. Auf einem anderen sah man sie unter den wachsamen Augen von mit Peitschen bewaffneten Aufsehern auf den Feldern arbeiten oder in düsteren Minenschächten verschwinden.
Schließlich erschien eine Karte Europas.
»Ich gehe von einer Anzahl von acht solcher Städte aus, alle autark, alle auf dem alten Kontinent«, erklärte Zeldt. »Denn das ist es, was Europa ist: alt, müde und vollgefressen.«
Auf der Karte erschien an acht Stellen Zeldts Schlangenwappen, und Topaz schüttelte ungläubig den Kopf. »Das sind alle wichtigen Hauptstädte«, flüsterte sie. »Sieh doch: London, Paris, Rom, Madrid, Athen … Was zum Teufel hat er vor?«
Wieder veränderte sich die Landkarte, und Europa wurde durch zwei voneinander getrennte Landmassen ersetzt. Die Umrisse waren ungenau, aber Jake erkannte sie als den amerikanischen Doppelkontinent.
»Es ist der neue Kontinent, jenseits des Atlantiks, auf den wir unser Interesse konzentrieren werden«, verkündete Zeldt stolz, während sein Publikum fasziniert auf das unkartografierte Gebiet starrte.
»Seit seiner Entdeckung vor vierzehn Jahren hat Amerika sich als ein Land mit noch nie da gewesenem Potenzial gezeigt. Es gibt Gold in Mengen, die Eure kühnsten Fantasien bei Weitem übersteigen, Kupfer, Quecksilber und Eisen im Überfluss. In unterirdischen Stätten lagert eine noch unentdeckte Substanz, die unser Leben von Grund auf verändern wird. Es ist das Paradies auf Erden, und wir werden es beherrschen, jeden einzelnen Morgen davon.« Zeldts Stimme wurde jetzt laut und schrill. »Und es ist der Kontinent, auf dem wir mindestens fünfzig sichere Städte errichten werden!«
Überall auf der Karte des noch unerschlossenen Amerika erschien flimmernd Zeldts grässliches Schlangenwappen, und die Augen der Gäste, vom Widerschein der Projektion in gespenstisches Licht getaucht, erstrahlten vor Habgier. Nur Jake und Topaz bemühten sich um einen ungerührten Gesichtsausdruck.
Dann verblasste die Projektion und wurde ersetzt durch den Schriftzug, mit dem die Präsentation begonnen hatte: SUPERIA. In übergroßer Fraktur schwebten die Buchstaben in der Luft, bis sie schließlich verblassten.
Mina drehte den Regler an der Wand zurück und legte den Hebel um, und der Spalt im Boden schloss sich wieder. Ein Rest Rauch entschwebte unter die Gewölbedecke, und Zeldts düsterer Zukunftsausblick war vorbei.
»Morgen muss ich in einer Familienangelegenheit das Land verlassen, und ich möchte alle Anwesenden – und deren Familienmitglieder – dazu einladen, innerhalb der Mauern meines Schlosses zu bleiben, bis das Schlimmste vorüber ist. Selbstverständlich wärt Ihr auch an jedem anderen Ort in Sicherheit, doch wer bleibt, hat es hier am besten. Wir haben genug Speis und Trank für mindestens ein Jahr, und meine Dienerschaft steht Euch selbstredend zur Verfügung.«
Jake und Topaz wechselten einen schnellen Blick.
»Womit nur noch eines zu tun bleibt …«, flüsterte Zeldt. »Öffnet nun die Schatullen und füllt Eure Kelche.«
Alle Gäste schienen zu wissen, was Zeldt gemeint hatte, und klappten die Schildpatt-Kästchen vor ihnen auf.
Jake und Topaz beeilten sich, es den anderen gleichzutun. Jake überkamen sogleich unangenehme Erinnerungen, als er auf das weiße, Talkum-ähnliche Pulver in seiner Schatulle blickte. »Ich kenne das Zeug«, flüsterte er Topaz zu. »Es ist eine der beiden Substanzen, die Mina Schlitz Talisman Kant für die Truhe Gold abgekauft hat.«
Alle folgten Zeldts und Minas Beispiel und schütteten das Pulver in die mit Wasser gefüllten Kristallkelche. Jake und Topaz blieb nichts anderes übrig, als dasselbe zu tun. Blubbernd und zischend reagierte das Wasser mit dem Wirkstoff, bis sich die Flüssigkeit schließlich beruhigte.
Zeldt erhob seinen Kelch und erklärte mit lauter, enthusiastischer Stimme: »Auf die Zukunft. Auf die Zukunft unserer Welt!«
Die Anwesenden wollten gerade trinken, als eine weitere Stimme ertönte. »Einen Moment«, sagte der Mann mit der spitzen Nase, der neben Jake saß, und hob die Hand. »Pieter De Smedt aus Gent«, stellte er sich mit hoher, näselnder Stimme vor.
Jake wurde auf unangenehme Weise bewusst, dass nun alle in seine Richtung schauten.
Die Augenbrauen fragend nach oben gezogen, starrte Zeldt den Mann an.
»Ich bin sicher, ich bin nicht der Einzige in diesem Raum, den diese Frage beschäftigt« – er deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf den Kelch in seiner aufgedunsenen Hand, und die Juwelenringe daran funkelten im schwachen Feuerschein – »aber woher wissen wir, was dieser sogenannte ›Trank‹ bewirkt? Immerhin könnte alles nur ein Trick sein, um an unser Geld zu kommen.«
Mina verzog verärgert den Mund, und Pieters andere Sitznachbarin, die groß gewachsene, arrogante Frau mit dem afrikanischen Kopfschmuck, warf ihm einen verächtlichen Blick zu.
Zeldt lächelte dünnlippig. »Ist es nicht offensichtlich, dass ich Euch alle ebenso brauche wie Ihr mich? Ich dachte, ich hätte hinreichend klargestellt, dass wir in dieser Sache zusammenarbeiten … wozu jedoch selbstredend keine Verpflichtung besteht.« Zeldts Stimme war jetzt klar und scharf wie ein Rasiermesser. »Wünscht Ihr abzureisen?«
De Smedt schien die Sache in Gedanken abzuwägen. Es folgte eine lange Pause, und schließlich sagte er mit bebenden Nasenflügeln, die schmalen Lippen trotzig gespitzt: »Die Sache ist die … ich traue Euch nicht.«
Aufgeregtes Murmeln erhob sich, und alle Augen schossen in Zeldts Richtung, um seine Reaktion zu sehen.
Doch das Gesicht des Prinzen blieb ungerührt. Er senkte lediglich kurz den Blick in Minas Richtung.
Ohne zu zögern, ging Mina um die Tafel herum zu De Smedts Stuhl. Mit einer schnellen Bewegung legte sie ihre Schlange direkt vor ihm auf den Tisch, griff mit der anderen Hand nach der Peitsche, die an ihrem Gürtel hing, und schlang sie ihm um den Hals.
Mit einem hohen, winselnden Schrei schnappte De Smedt nach Luft. Sein Gesicht wurde rosa, dann violett, und die Augen schienen aus den Höhlen treten zu wollen, während er hilflos nach der Schlinge um seinen Hals griff und dabei den Kelch umwarf.
Minas Schlange wand sich genüsslich, während ihre Herrin die Schlinge immer enger zog.
Jake versteckte seine bebenden Hände unter der Tafel, ein Auge auf die Schlange gerichtet, das andere auf Pieter De Smedts Gesicht. Er wollte aufstehen und dazwischengehen, sofort, doch Topaz hielt ihn zurück, eine Hand fest auf seinen Oberschenkel gepresst, während die Frau mit dem Kopfschmuck De Smedts Todeskampf mit einem sadistischen Lächeln auf den Lippen beobachtete.
Der Belgier stieß ein letztes Keuchen aus, Mina löste die Schlinge, dann sackte sein Kopf vornüber und schlug mit einem dumpfen Knall auf die Tafel. Die Schlange huschte blitzschnell zur Seite.
Wortlos stellte Mina De Smedts Kelch wieder auf, packte den Kragen seines Wamses und schleifte den leblosen Körper ein Stück von der Tafel weg, um ihn wie eine benutzte Serviette auf dem Boden liegen zu lassen.
Jake fragte sich, ob irgendwelche Angehörigen des Belgiers anwesend waren. An den Mienen der anderen Gäste konnte er es nicht ablesen, denn keiner wagte auch nur die geringste Reaktion zu zeigen.
Endlich nahm Mina ihre Schlange wieder an sich, küsste sie auf den Kopf und steckte das grausige Wesen zurück in den kleinen Käfig.
Jakes Blick wanderte zu De Smedts leeren, toten Augen, und Topaz verstärkte den Druck auf seinen Oberschenkel, um zu verhindern, dass er einen fürchterlichen Fehler beging.
»Du musst jetzt stark sein, Jake«, flüsterte sie ihm zu. »Mach keinen Fehler. Mina steht immer noch hinter uns.«
Ein rothaariger Mann, der ein paar Stühle entfernt von ihnen saß, drehte fragend den Kopf in ihre Richtung, da bekam Jake die in ihm aufsteigende Wut endlich unter Kontrolle, und er nickte Topaz kurz zu.
Zwei Wachen trugen die Leiche aus dem Saal, und die Doppeltüren schlossen sich hinter ihnen.
»Sonst noch jemand …?«, fragte Zeldt.
Alle Gäste schüttelten eifrig den Kopf, hoben die Kelche und begannen einer nach dem anderen zu trinken.
Jake blickte Topaz fragend an.
Topaz wusste, dass es auffallen würde, wenn sie nicht ebenfalls tranken – außerdem spürte sie, wie Minas Blick bereits in ihre Richtung wanderte. Mit einem knappen Nicken erhob sie ihren Kelch und schluckte.
Jake folgte ihrem Beispiel und bereitete sich auf einen ähnlich widerlichen Geschmack wie den des Atomiums vor, aber er schmeckte nur Wasser.
Zeldt erhob sich. »Miss Schlitz wird Euch, verehrte Freunde, mit ausreichend Elixier für Eure Familien versorgen.«
Mina zog Zeldts Stuhl zurück, und er war schon auf dem Weg zu der kleinen Tür, als er sich noch einmal umdrehte und in geheimnisvollem Tonfall hinzufügte: »Doch nun, seid meine Gäste. Ich wünsche allseits gut zu speisen.« Mit diesen Worten entschwand er in die Dunkelheit.
Nur Augenblicke später schwangen die Doppeltüren erneut auf, und eine ganze Armee von Dienern kam herein, um das Dinner zu servieren.
Wie sich mit der Dekoration der Eingangshalle bereits angedeutet hatte, war das Hauptgericht des Abends Fleisch. Es gab gedünsteten Schinken mit Nelkensoße und Weißkohl, Coq au vin, Gans in Mandelsoße, geröstete Entenbrust im Gewürzmantel und eine gigantisch große Platte Rotwildpastete, eigens mit einem prächtigen Geweih dekoriert.
Topaz war der Appetit vergangen und Jake erst recht, aber sie wussten, dass ihnen gar nichts anderes übrig blieb, als zu essen, wenn sie keinen Verdacht erregen wollten. Manche der Gäste fingen Gespräche mit ihren Sitznachbarn an, aber es blieb die Ausnahme: Eine Versammlung steinreicher Geschäftsleute, von denen jeder sich für etwas Besseres hielt als sein Gegenüber, war nicht gerade der ideale Ausgangspunkt für ein unbeschwertes Fest.
Während Jake das viel zu fette Essen hinunterwürgte, wanderten seine Augen immer wieder zu dem Platz, auf dem zwanzig Minuten zuvor noch Pieter De Smedt gesessen hatte. Nathan hatte ihn gewarnt und ihm angedeutet, wozu Zeldt imstande war, aber das waren nur abstrakte Worte gewesen – der leere Stuhl neben ihm war eine Tatsache.
Gerade als Jake und Topaz glaubten, sie könnten sich davonstehlen, wurde das Dessert aufgetragen.
»Pfirsichtarte, Zitronencreme, Pflaumen in Sirup, Mandelplätzchen mit Orangensoße«, verkündeten die Diener.
Jake und Topaz wählten, was als kleinste Portion zu haben war, und überlegten, ob sie etwas davon zu Charlie hinausschmuggeln sollten, kamen aber zu dem Schluss, dass es zu riskant war.
Endlich neigte sich das Dinner dem Ende zu, und die Gäste begannen, den Saal zu verlassen. Jake und Topaz blickten sich vorsichtig um, dann standen sie ebenfalls auf und schlüpften unauffällig hinaus.
»Suppe! Nichts als lausige Suppe!«, beschwerte sich Charlie auf dem Weg zurück zu ihrer Suite. »Und wie lausig: nicht mal Erbsen mit Thymian oder Steinpilze oder so etwas, nein, fade Blumenkohlsuppe, oder besser gesagt, in lauwarmem Wasser schwimmende Kohlköpfe. Das war das einzig Vegetarische, das es gab. Ansonsten hatten sie nur gekochte Schweinefüße! Und dabei war die Blumenkohlsuppe sogar noch besser als die Unterhaltung. Ich weiß jetzt alles über Achsen, Deichseln und Wagenräder, was man nur wissen kann, und dass man östlich der Oder auf keinen Fall eine Kutsche kaufen sollte. Wenn ihr mir also – zu meinem eigenen Besten, wie ihr behauptet – nicht von dem Menü des Abends erzählen wollt, dann sagt mir wenigstens, über was geredet wurde.«
Jake und Topaz gaben ihm eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse während des Dinners und schlossen ihren Bericht mit dem grausigen Ableben Pieter de Smedts ab.
»Um Himmels willen«, kommentierte Charlie bleich. »Ich habe gesehen, wie sie ihn herausgetragen haben. Dachte, er hätte sich den Magen mit Austern verdorben oder etwas in der Art … Was immer Zeldt vorhat, es muss etwas Großes sein.«
»Seht!«, rief Jake und blickte den Korridor entlang.
Mina Schlitz war eben um die Ecke gebogen und kam in ihre Richtung. Eilig zogen sie sich in den Schatten hinter einer römischen Kriegerstatue zurück.
Vor einem steinernen Brunnen blieb Mina stehen. Sie blickte kurz nach links und rechts, um sicherzugehen, dass niemand sie beobachtete, dann machte sie etwas mit der Hand, das die Agenten hinter der Statue nicht sehen konnten, und ein Stück der Wand neben dem Brunnen glitt knirschend zur Seite. Mina schlüpfte durch den schmalen Spalt und verschwand über eine Treppe nach unten, während der Geheimdurchgang sich bereits wieder hinter ihr schloss.
Jake, Topaz und Charlie blickten einander an.
»Ich schätze, hinter dieser Tür dürften ein paar Antworten auf uns warten«, flüsterte Charlie. »Wir kommen später zurück und sehen uns das mal genauer an.«
23
ENTHÜLLUNGEN
Rose Djones machte die ganze Nacht kein Auge zu. Sie war verwirrt, weil sie die gefleckte Rose entdeckt hatte und die alten Notizzettel, und die Erinnerung daran, wie Jupitus sie in dem Raum hinter der Bibliothek der Gesichter angesehen hatte, verfolgte sie. Sie fragte sich, ob es wirklich Verliebtheit gewesen war, die sie in seinem sonst so undurchdringlichen Blick gesehen hatte. Außerdem fragte sie sich, warum sie Schmetterlinge im Bauch hatte. »Ausgeschlossen«, sagte sie laut zu sich selbst, »dass ich Gefühle für diesen fischigen Schnösel habe!«
In den fünfundzwanzig Jahren, die Rose Jupitus Cole kannte (als sie jünger waren, hatten sie einige Einsätze zusammen durchführen müssen), hatte er nie auch nur das geringste Anzeichen von Zuneigung gezeigt.
Am nächsten Tag ignorierte Jupitus sie beim Mittagessen und setzte sich stattdessen neben Océane Noire, die ganz in theatralisches Schwarz gekleidet war. Als Norland sie fragte, ob jemand gestorben sei, antwortete sie nur: »Ich trage Trauer wegen des Dahinscheidens meiner Dreißiger.« Erst als Rose den Salon verließ, stellte Jupitus sich ihr in den Weg und sagte: »Punkt halb fünf auf dem Ostturm. Und kommen Sie nicht zu spät.«
Als Rose um fünf Uhr immer noch zitternd an der Brustwehr stand, hätte sie gute Lust gehabt, Jupitus zur Rede zu stellen. »Wird auch Zeit«, murmelte sie, als er endlich auftauchte. »Es ist ganz schön kalt hier draußen, falls Sie es noch nicht gemerkt haben!«
Jupitus versuchte nicht einmal, sich zu entschuldigen. »Sehen Sie den Metallstab dort oben?«, fragte er und deutete auf den höchsten Turm.
»Ja«, erwiderte Rose verärgert. »Das ist die Antenne für die Meslith-Schreiber. Ich war auch schon mal auf der Insel, Mister Cole, schon vergessen?«
»Unser Spion wird zweifellos ein wachsames Auge auf diese Antenne haben. Sobald sie aufleuchtet, weiß er, dass ein neues Kommuniqué ankommt, und wird sich auf den Weg in die Bibliothek machen.«
»Womit so gut wie jeder infrage kommt.« Rose deutete mit einer ausladenden Geste auf das ganze Schloss. »Die Antenne ist praktisch von jedem Zimmer aus zu sehen.«
»Und da wir das Eintreffen eines Kommuniqués nicht vortäuschen können, werden wir geduldig in der Bibliothek ausharren müssen, bis es geschieht. Ich habe Miss Wunderbar heute freigegeben, wir sind also unter uns. Folgen Sie mir. In angemessenem Abstand natürlich«, erklärte Jupitus barsch. »Schließlich wollen wir nicht, dass uns jemand zusammen sieht.«
Widerstrebend gehorchte Rose. Unauffällig wie ein Schatten folgte sie Jupitus durch das Labyrinth aus Treppen und Fluren. Ab und zu streckte sie ihm die Zunge raus oder schnitt Grimassen. »Was geht bloß in diesem störrischen Schädel vor?«, fragte sie sich.
Schließlich war Jupitus beim Eingang zur Bibliothek angelangt. Er blickte sich kurz um, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war, und schlüpfte hinein. Rose folgte ihm eine Minute später.
»Pssst!«, machte Jupitus, als Rose mit klappernden Armreifen über die Seile und Zahnräder hinter der Wand mit den rotierenden Porträts stakste.
»Ach du liebe Güte«, sagte sie, als sie das Versteck erreichten, das Jupitus vorbereitet hatte. Er hatte zwei bequeme Stühle und einen kleinen Tisch mit einer altmodischen Thermoskanne darauf sowie ein Tablett mit Sandwiches bereitgestellt.
»Es könnte den Rest des Tages und noch die ganze Nacht dauern«, erklärte er mit einem Achselzucken und schraubte die Thermoskanne auf. »Besser, wir haben es bequem. Wenn ich mich nicht irre, ist Lapsang Souchong eine Ihrer Lieblingsteesorten …«
»Ich liebe Lapsang Souchong«, erwiderte Rose und setzte sich.
»Nun, ich kann ihn nicht ausstehen. Also werden wir uns mit Oolong begnügen müssen. Wie Sie sehen, haben wir von hier freien Blick auf die Poströhre.« Jupitus leuchtete mit einer Lampe in Richtung der Apparatur. »Wir werden ihn sehen, aber er uns nicht.«
»Ja, ganz toll«, kommentierte Rose mit einem matten Lächeln.
Beinahe eine Stunde lang saßen sie schweigend da, bevor Jupitus wieder etwas sagte. »Dieses Warten erinnert mich an unseren letzten gemeinsamen Einsatz.«
»Byzanz, im Jahr 328«, ergänzte Rose, die auch daran gedacht hatte. »Wir haben die ganze Nacht in der Kanalisation unter der Pferderennbahn gewartet. Die Stadt sollte mit einer Fliegenplage vernichtet werden, um ganz Kleinasien zu destabilisieren.«
»Es waren Heuschrecken, nicht Fliegen«, widersprach Jupitus. Er brauchte genau so lange, um diese fünf Worte auszusprechen, wie das Geräusch zu hören war, mit dem ein neues Kommuniqué in der Röhre landete – weshalb keiner der beiden es mitbekam.
Weitere zehn Minuten vergingen in drückender Stille. Da es kein gemeinsames Gesprächsthema zu geben schien und Rose immer noch in Gedanken mit den Ereignissen des gestrigen Tages beschäftigt war, platzte es plötzlich aus ihr heraus. »Ich muss es einfach ansprechen, Jupitus«, sagte sie unvermittelt, »aber ich habe gestern meine Blume auf Ihrem Schreibtisch gefunden und noch ein paar alte Notizzettel von mir. Woher haben Sie die, und warum haben Sie sie behalten?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Die Blume, meine gefleckte Rose.«
»Es scheint, ich habe mich geirrt«, erwiderte Jupitus, stand auf und nahm die Laterne zur Hand. »Es ist vollkommen sinnlos, wenn wir beide hier ausharren.«
»Überhaupt nicht. Ich will darüber reden. Jetzt!«, widersprach Rose und hielt ihn am Arm fest, wobei sie so heftig zog, dass Jupitus die Laterne aus der Hand fiel. Als sie auf dem Boden aufschlug und umkippte, löschte der Luftzug die Kerze darin, und sie standen beide im Dunkeln.
»Sehen Sie doch nur, was Sie angerichtet haben!«
Da hörten sie es: ein leises Klicken, mit dem jemand die Eingangstür der Bibliothek hinter sich schloss. Wie vom Blitz getroffen standen Rose und Jupitus da und lauschten den Schritten, die die Bibliothek durchquerten. Mit einem Quietschen öffnete sich die Geheimtür, die hinter die Porträts führte, einen Spaltbreit, und eine Gestalt mit einer Laterne in der Hand schlüpfte hinein. Vorsichtig arbeitete sich der Spion zur Poströhre vor und zog das Kommuniqué heraus.
Jupitus tastete auf dem Boden nach der Laterne. »Aaahh!«, schrie er, als er sich die Finger an dem glühend heißen Glas verbrannte.
Der Eindringling hielt inne. Blitzschnell drehte er sich um, warf seine Laterne nach Jupitus und Rose und floh mit einem Sprung durch die Wand. Das Antlitz von Stede Bonnet, des berüchtigten »Gentlemen-Piraten«, der für kurze Zeit am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts die Karibik unsicher gemacht hatte, riss entzwei, der Spion fiel auf der anderen Seite der Länge nach hin, rappelte sich wieder hoch und rannte weiter.
»Ihm nach, schnell!«, brüllte Jupitus und sprang ebenfalls durch das zerrissene Porträt, gefolgt von Rose. Dem Fliehenden dicht auf den Fersen, spurteten sie auf die Bibliothekstür zu, durch die der Flüchtige soeben entschwunden war und jetzt mit wehendem blauen Mantel die Treppe hinaufrannte.
Am oberen Ende der Treppe gab es zwei Abzweigungen. Der Spion war nirgendwo mehr zu sehen. Angestrengt lauschten Rose und Jupitus auf verräterische Geräusche, hörten aber nur das Ticken einer Standuhr.
»Ich nehme diesen Flur, Sie diesen«, befahl Jupitus. »Sind Sie bewaffnet?«
Rose durchwühlte ihre Reisetasche und zog einen Brieföffner hervor.
Jupitus rollte die Augen. »Nehmen Sie die hier«, sagte er und reichte Rose eine kleine Pistole, die er in einem Brusthalfter bei sich trug.
»Und was ist mit Ihnen?«, fragte Rose besorgt.
Wortlos nahm Jupitus ihren Brieföffner.
»Wie ritterlich von Ihnen!«, sagte Rose geschmeichelt.
»Die Patronen sind sehr teuer. Schießen Sie nur, wenn Sie unbedingt müssen«, erwiderte Jupitus knapp und ging los.
»Ich weiß, dass Sie in Ihrem Herzen eigentlich ein Ritter sind, auch wenn Sie es nicht zugeben wollen!«, rief Rose ihm nach und machte sich ebenfalls auf den Weg.
Jupitus schlich den Flur entlang zum Kommunikationsraum. Lautlos öffnete er die Tür und spähte hinein: Die Pulte waren leer, und der Meslith-Nukleus stand unbeweglich in seinem Glasschrank, die Federkiele tatenlos über leeren Pergamentbogen schwebend.
Rose hatte inzwischen den Eingang zum Prunksaal erreicht. Die Tür stand weit offen. Jupitus’ Pistole gezückt, ging sie hinein. Alle Lichter waren gelöscht, und der Saal schien leer. Das Licht des gerade aufgehenden Mondes drang durch die hohen Fenster und zeichnete lange Schatten auf den Boden. Ein Wandschirm verdeckte eine Ecke des Saals, aus der jetzt ein Geräusch hervordrang – es klang, als würde jemand gerade die Klappe des Speiseaufzugs öffnen. Rose wirbelte herum und sah zwei Füße in dem Spalt zwischen Boden und Wandschirm.
»Wer ist da?«, fragte sie und zielte mit der Pistole auf den Wandschirm.
Es kam keine Antwort, nur das Klirren von Geschirr, mit dem unsichtbare Hände den Speiseaufzug beluden.
»Ich will wissen, wer da ist«, wiederholte Rose mit fester Stimme und bewegte sich Schritt für Schritt auf den Wandschirm zu.
»Wie bitte?«, ertönte eine Stimme, die Rose sofort erkannte. Erleichtert ließ sie die Pistole sinken, als Norland den Kopf hinter dem Wandschirm hervorstreckte.
»Miss Rose, ich habe Sie gar nicht gehört.«
Norland packte weiter benutzte Löffel und Tassen in den Speiseaufzug. »Der Nachmittagstee. Hätte ich schon vor Stunden machen sollen. Einfach vergessen. Ich rate Ihnen: Sehen Sie zu, dass Sie nicht zu alt werden. Was haben Sie eigentlich vor? Schießtraining?«, fragte er mit einem Kichern, als er Roses Pistole sah.
»Ist irgendjemand hier durchgekommen?«, fragte sie zurück.
»Ich habe keine Menschenseele gesehen.«
Seufzend legte Rose die Pistole auf die Essenstafel. »Ich hatte ganz vergessen, wie es ist, eine Kanone in der Hand zu halten. Kein besonders schönes Gefühl.«
Da sah sie etwas Blaues unter der Tafel hervorblitzen. Es dauerte einen Sekundenbruchteil, bis sie die Information verarbeitet hatte, doch dann wurde ihr klar, dass dies der Umhang des Spions war. Hastig griff sie nach der Pistole – doch Norland war schneller und richtete sie direkt auf ihren Kopf.
Panisch schnappte Rose nach Luft. »Sie waren es! Sie waren in der Bibliothek der Gesichter!«, keuchte sie.
Norlands freundliches Lächeln verwandelte sich in ein höhnisches Grinsen.
»Ausgerechnet Sie, Norland … Ich begreife es nicht«, stammelte Rose und bewegte sich rückwärts auf die offenstehende Eingangstür zu.
»Vierzig Jahre bin ich nun schon bei den Geschichtshütern«, knurrte Norland und ging drohend auf Rose zu. »Aber nimmt irgendjemand davon Notiz? Nein. Norland hat nichts zu sagen, er ist nicht wichtig. Räumt nur das dreckige Geschirr weg, spielt den Chauffeur und dergleichen.«
»Aber das stimmt doch gar nicht. Sie sind ein wertvolles Mitglied der Organisation, waren es schon immer.«
»Verkaufen Sie mich nicht für dumm! Ein einziger Einsatz! Ein einziger, lausiger Einsatz, das war’s! Und das nur wegen der Formen in meinen Augen. Der arme alte Norland, er kommt ja kaum mal über die Straße, geschweige denn bis ins achtzehnte Jahrhundert! Ich hasse euch Diamanten. Ihr seid so eingebildet, so selbstgerecht.«
Rose hatte die Tür erreicht und wollte gerade losrennen, doch Norland sprang dazwischen. Mit der Pistole schlug er sie zu Boden und trat die Tür zu, dann drehte er den Schlüssel einmal im Schloss herum und warf ihn weg.
»Bei Zeldt kann ich noch mal ganz von vorn anfangen«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Er wird mit mir durch die Zeit reisen – wohin auch immer ich will. Stehen Sie auf!«, fauchte er.
Zitternd kam Rose auf die Beine. Blut tropfte ihr übers Gesicht.
»Rüber ans Fenster«, bellte Norland sie an, und Rose gehorchte.
Ein Klopfen ertönte an der Tür und jemand drückte die Klinke. »Rose, sind Sie da drinnen?«, fragte Jupitus von der anderen Seite.
Norland hob die Pistole, zielte auf eines der Fenster und feuerte. Rose schrie, und ein Windstoß fuhr durch den Saal, als das Fenster in tausend Scherben zersplitterte.
»Rose!«, rief Jupitus und rüttelte mit aller Kraft an der Tür.
Norland packte Rose an ihrem Kleid und schob sie auf das zerschossene Fenster zu. Er war viel stärker, als er aussah: Mächtige Muskeln traten an seinem Unterarm hervor, und die Adern pulsierten, als er Rose am ausgestreckten Arm aus dem Fenster baumeln ließ. Unter ihr war nichts als ein gähnender Abgrund, dahinter die schäumende See.
»Ins alte Griechenland, nach Mesopotamien, das Kreta der Minoer, Babylon – alles werde ich sehen!«, schrie Norland gegen die steife Brise an.
»Rose!«, rief eine Stimme über ihnen, und von oben schwang ein Schatten herab – es war Jupitus, der an einem Vorhang hängend durch das benachbarte Fenster brach und in einer Explosion von Glassplittern elegant auf dem Parkett des Prunksaals landete.
Norland ließ Roses Kleid los.
Sie schaffte es gerade noch, die Riemen ihrer Reisetasche über einen aus dem Fensterrahmen ragenden Splitter zu werfen, doch der eine Riemen riss sofort, der Reißverschluss ging auf, und ein Sturzbach von Roses Habseligkeiten – Lippenstifte, benutzte Taschentücher und Terminzettel – ergoss sich über sie.
Jupitus stürzte sich auf Norland und schlug ihm die Faust mitten ins Gesicht.
Der Butler hob gerade die Pistole, da kam auch schon Jupitus’ auf Hochglanz polierte Schuhspitze angeflogen und schlug ihm die Waffe aus der Hand, die in hohem Bogen hinaus in die Nacht segelte.
Norland versuchte, Jupitus’ Hals zu fassen zu bekommen, doch der vollführte nur eine blitzschnelle Drehung, schlug dem Angreifer mit der Handkante auf den Kehlkopf, kugelte ihm den Arm aus und brach ihm das Handgelenk, um ihn mit einem abschließenden Wurf zu Boden zu schicken, wo er regungslos liegen blieb.
Dann eilte Jupitus ans Fenster und ergriff gerade noch rechtzeitig Roses Hand, bevor die Reisetasche endgültig nachgab. Er zog sie über den Sims und setzte sie auf einen Stuhl, damit sie wieder zu Atem kommen konnte. Unterdessen zog er sein Jackett aus und legte es ihr über die Schultern.
Ehrfürchtig blickte Rose in Jupitus’ leuchtende Augen. Auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen, sein Haar war nass und die Frisur zerzaust wie die des Titelhelden aus einem Mantel-und-Degen-Film.
»Hat Ihnen meine kleine Einlage gefallen?«, fragte er atemlos.
Rose sprang auf, schlang Jupitus die Arme um den Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Jupitus machte keine Anstalten, sich zu wehren.
In diesem Moment flog die Salontür auf, und Galliana kam hereingestürmt, dicht gefolgt von Océane Noire, die, entsetzt, Jupitus und Rose in so verfänglicher Umarmung zu sehen, wie vom Donner gerührt stehen blieb.
Die beiden lösten sich voneinander, während noch weitere aufgeschreckte Schlossbewohner in den Saal gelaufen kamen.
Galliana ging hinüber zu Norland, der, nur halb bei Bewusstsein, ausgestreckt auf dem Boden lag.
»Da habt Ihr Euren Spion«, verkündete Jupitus mit einem kühlen Lächeln. Er legte Rose eine Hand auf die Schulter. »Und das ist die Person, der der Dank dafür gebührt.«
Spät in derselben Nacht, nachdem Norland in sichere Verwahrung genommen worden war und die Aufregung sich etwas gelegt hatte, war Océane Noire auf dem Weg zu Jupitus’ Suite. Dort angelangt, klopfte sie laut gegen die Tür.
Jupitus öffnete im Morgenrock.
»Wir müssen reden«, erklärte Océane und trat ungebeten ein. »Sie mit Rose Djones in solch schäbiger Umarmung vorzufinden war kein erfreulicher Anblick«, sagte sie mit schneidender Stimme. »Lassen Sie mich noch einmal klarstellen, Jupitus: Unsere ›Freundschaft‹ wird sich entwickeln wie vereinbart, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Weder Rose Djones noch irgendjemand sonst wird daran etwas ändern – das heißt, wenn Ihnen daran gelegen ist, dass ich unserer allseits verehrten Kommandantin nichts von Ihrer illustren Vergangenheit erzähle! Ich mag mich täuschen, aber ich glaube doch, dass das eine oder andere schmutzige Detail Ihnen gewisse Schwierigkeiten bereiten könnte.«
Jupitus blickte Océane unbeirrt in die Augen. Seine Unabhängigkeit ging ihm über alles, und er hasste nichts mehr als klein beizugeben, aber er wusste auch, dass die Alternative weit schlimmere Konsequenzen gehabt hätte. »Verstanden«, erwiderte er kühl.
Mit einem zufriedenen Lächeln verließ Océane den Raum und schlug die Tür hinter sich zu.
24
SCHLOSSGEHEIMNISSE
Nachdem die Gäste und Bediensteten zu Bett gegangen und die flackernden Kerzenleuchter gelöscht worden waren, verabschiedete sich Charlie zum zweiten und letzten Mal an diesem Tag, wie er versprach, von Mr Drake. Die drei Agenten hüllten sich in die dunkelsten Gewänder, die sie finden konnten, und machten sich auf den Weg ins Herz des Schlosses.
Als sie den Wandbrunnen erreichten, schlugen die Uhren gerade vier. Feierlich hallte der Klang der Glocken durch die Gänge, dann war alles wieder totenstill.
Zunächst versuchten sie, das Steinbassin einfach wegzuschieben, waren aber nicht überrascht, als es sich nicht bewegte.
»Wie kommen wir da rein?«, flüsterte Jake, während sie die Wand nach einem Mechanismus absuchten, mit dem sich die Kammer, oder was auch immer hinter diesem Brunnen lag, öffnen ließ.
»Vielleicht hat es etwas mit diesen Symbolen hier zu tun«, überlegte Charlie. Er deutete auf eine Abfolge von römischen Ziffern, die unterhalb des Bassins in den Stein gemeißelt war: I, VIII, VI, III, IV, II und so weiter.
Topaz kniete sich hin und betrachtete sie genauer. »Es scheint keinen logischen Zusammenhang in der Reihenfolge zu geben. Eins, acht, sechs, drei, vier, zwei, sieben, fünf, neun … sagt das einem von euch irgendetwas?«
Charlie zuckte die Achseln.
Jake ging neben Topaz in die Hocke und nahm den Kerzenleuchter zur Hand. Als er mit den Fingern über die Gravuren fuhr, fiel ihm etwas auf. »Seht mal! Sie lassen sich bewegen«, sagte er und drückte auf eine der Ziffern, die sich nach hinten schieben ließ wie ein Knopf.
»Wahrscheinlich eine Zahlenkombination«, meinte Charlie.
Zu dritt starrten sie auf die Ziffern und dachten angestrengt nach.
Plötzlich riss Jake die Augen auf und rief: »1492, das Jahr, in dem Amerika entdeckt wurde! Soll ich’s mal versuchen?«
Topaz neigte den Kopf. »Was kann schon passieren?«
»Was passieren kann?«, wiederholte Charlie und schob seine Brille zurecht. »Nun, beispielsweise, dass der Mechanismus mit einer Falle für ungebetene Eindringlinge verbunden ist und gleich ein paar Äxte auf uns niederfahren, um uns die Köpfe abzuschlagen. Aber mach, wie du meinst. Tu dir keinen Zwang an …«
Jake gab die Jahreszahl ein – nichts geschah.
Charlie kratzte sich am Kopf, und Topaz schien in Gedanken versunken.
»1649«, murmelte sie schließlich so leise, dass die anderen sie zuerst gar nicht hörten. »Die Zahl lautet 1649«, wiederholte sie, diesmal lauter. »Ich habe es schon einmal gesehen.«
Ohne die Reaktion der anderen abzuwarten, drückte sie in der entsprechenden Reihenfolge auf die Ziffern, und der Brunnen bewegte sich knirschend zur Seite. Topaz nahm Jake den Kerzenleuchter aus der Hand und ging hinein. Eine Treppe führte nach unten, auf einen schummrigen Lichtpunkt zu.
»Sollen wir?«, fragte sie Charlie und Jake über die Schulter gewandt und nahm bereits die ersten Stufen.
»Wie ist sie darauf gekommen?«, fragte Jake, nachdem sie den Zugang wieder verschlossen hatten.
»1649 ist Zeldts Geburtsjahr«, erwiderte Charlie. »30. Januar, in London. Der Legende nach erblickte er genau in dem Moment das Licht der Welt, als Karl I. unterm Henkersbeil starb. Gruselig«, fügte er hinzu und schüttelte sich.
»Während der Hinrichtung Karls I.?«, fragte Jake zurück. »Darüber haben wir in der Schule viel gelesen. Er soll mehrere Hemden übereinander angehabt haben, damit er nicht so zittert.«
»Ja, es war ein kalter Wintertag«, kommentierte Charlie nachdenklich. »Und ein finsterer Tag in der Geschichte der Menschheit.«
Topaz war inzwischen am Ende der Treppe angelangt und wartete in einem mit Säulen gestützten Gewölbe auf sie, das von Laternen beleuchtet wurde: die Schlosskatakomben.
»Versteckt euch!«, zischte Topaz plötzlich, und alle drei sprangen hinter eine Säule.
Etwas ging hier unten vor sich. Weiter vorn stand im Schein der Laternen eine große Maschine, daneben eine Art Fließband und mehrere Werkbänke, an denen es von geschäftigen Arbeitern nur so wimmelte.
»Was ist das für ein Ding?«, fragte Jake.
Charlie erkannte es sofort und lächelte. »Dies, mein Freund, ist eine der ersten Druckerpressen der Welt.«
»Tatsächlich?«, fragte Jake beeindruckt. »Sie ist riesig.«
»Johannes Gutenberg, ein Deutscher, hat Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts die erste Druckmaschine entwickelt«, flüsterte Charlie aufgeregt. »Sie basierte auf dem Prinzip der Weinpresse. Davor mussten Bücher noch von Hand geschrieben werden, oder man schnitzte die Druckplatte aus einem Holzblock – für jede einzelne Seite eine neue Druckplatte. Beides war unglaublich langwierig und teuer. Gutenbergs revolutionäre Entwicklung war …«
»… stattdessen einzelne Buchstaben aus Metall zu gießen, unendlich viele davon, beliebig miteinander kombinierbar«, warf Topaz ein.
»Eigentlich war Gutenberg gar nicht der Erste, der auf diese Idee kam. Im frühen dreizehnten Jahrhundert gab es in China schon mal eine ganz ähnliche Maschine, aber Gutenberg hat die ölhaltige Tinte entwickelt, mit der das Ganze erst richtig funktionierte.«
»Wie du siehst«, ergänzte Topaz lächelnd, »lernst du mit uns jeden Tag etwas Neues.«
»Ziemlich harmlose Umschreibung für das alles hier …«, kommentierte Jake.
»Aber die eigentliche Frage ist«, gab Charlie zu bedenken, »was Zeldt hier unter so strenger Geheimhaltung druckt.«
Zu dritt beobachteten sie das hektische Treiben. Nachdem die mit leuchtend schwarzer, roter und goldener Farbe frisch bedruckten Seiten aus der Druckerpresse kamen, wurden sie an der nächsten Station sorgfältig gefaltet und gestapelt, an der wiederum nächsten wurden die gefalteten Bogen zusammengenäht und schließlich auf der Werkbank daneben mit Leim und Metallklammern in dicke Einbände gefasst. Als letzter Arbeitsschritt wurde der Einband mit einem aufwendigen Schließmechanismus versehen. Dann wurden die fertigen Bücher sorgsam in hölzerne Kisten gepackt.
Plötzlich nahmen zwei von Zeldts Männern eine der vollen Kisten, luden sie auf einen Rollwagen und kamen damit in ihre Richtung.
Eilig zogen sich die drei Agenten noch tiefer in den Schatten zurück und gelangten zu einer Abzweigung, die in einen anderen Teil der Katakomben führte.
»Wollen wir uns ein bisschen umsehen?«, fragte Jake.
Charlie sah ihn verdutzt an und sagte dann zu Topaz: »Der Frischling ist gerade mal drei Tage dabei, und schon übernimmt er das Ruder …«
Sie schlichen einen Gang entlang und gelangten zu einem weiteren großen Gewölbe. Es war unbeleuchtet, und der Raum schien vollkommen leer zu sein. Als sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, glaubten sie in der Dunkelheit vor ihnen verschwommene Umrisse zu erkennen.
»Was ist das?«, fragte Topaz beunruhigt.
Zu beiden Seiten des Gewölbes erstreckte sich eine endlos lange Reihe von rechteckigen Containern, wie Jake sie von modernen Frachtschiffen kannte. Sie ruhten auf etwa zwei Meter hohen, dicken Stützpfosten, und an der Unterseite befand sich jeweils ein Trichter, dessen rohrförmiger Auslass sich zur Wand hin bog und dort verschwand.
»Du bist der Größte von uns«, sagte Charlie zu Jake. »Sieh nach, aus was für einem Material sie bestehen.«
Jake schlich sich zu einem der Container, streckte den Arm nach oben und klopfte gegen die Unterseite. »Holz«, flüsterte er.
Jakes Klopfen blieb nicht unbeantwortet. Irgendetwas schien sich in dem Container zu bewegen.
»Klingt, als wäre da was Lebendiges drin«, flüsterte Charlie.
Sie hörten genauer hin: Es war eine Art Scharren oder Kratzen, unglaublich leise, aber es war da.
»Ausgerechnet die leisesten Geräusche beunruhigen einen am allermeisten«, wisperte Charlie nervös.
»In dieser Kiste da ist ein Sprung«, hauchte Topaz und deutete auf einen anderen Container, auf dessen Seite knapp unter der Oberkante ein kleiner Spalt zu erkennen war.
»Ich seh’s mir mal an«, erklärte Jake und grinste Charlie an. »Was kann schon passieren? Dass eine Tentakel aus dem Spalt kriecht und mich erwürgt? Komm, hilf mir.«
»Ich glaube, der alte Ich-kann-doch-nicht-einfach-ohne-meine-Tante-verreisen-Jake war mir lieber«, erwiderte Charlie und machte eine Räuberleiter. »Was meinst du, Topaz?«
»Eigentlich, finde ich, war Jake von Anfang an sehr mutig«, antwortete Topaz lächelnd. »Das ist es, was mir so an ihm gefällt.«
Topaz’ Bemerkung verlieh Jake regelrecht Flügel, und er kletterte mühelos an der Außenwand des Containers hinauf, bis er auf der Höhe des Spalts war.
»Sei vorsichtig«, warnte Topaz, denn Jake befand sich jetzt in gut drei Metern Höhe.
»Kannst du schon irgendwas erkennen?«, fragte Charlie.
»Ich rieche was«, erwiderte Jake. »Stinkt wie in der Tierhandlung in Lewisham, die das Gesundheitsamt schließen ließ. Wartet, ich kletter noch ein bisschen höher rauf.« Er griff mit der Hand in den Spalt und zog sich nach oben, um bis auf den Boden des Containers sehen zu können.
Da brach der Spalt, in den Jake mit der Hand gefasst hatte, splitternd zu einem großen Loch auf – Jake konnte sich gerade noch halten, indem er sich mit der anderen Hand am oberen Rand der gigantischen Kiste festhielt – und im Inneren des Containers wurde es nun richtig laut. Jake sah, wie der Boden sich bewegte. Wie Wellen schien etwas darin hin und her zu schwappen, nein, es waren Ratten, die auf der Innenseite der Holzwand emporkletterten und sich durch das Loch über Jakes Kopf, Arme und Schultern ins Freie stürzten.
Lähmendes Entsetzen erfasste Jake. Er hasste Ratten, wenn er sie nur sah, und das hier war tausendmal schlimmer: Dicke, fette Ratten, die Schwänze mindestens genauso lang wie der Körper, krabbelten ihm übers Gesicht, verfingen sich in seinen Haaren. Beinahe hätte er aus vollem Hals losgeschrien, aber er schaffte es irgendwie, seine Panik zu unterdrücken.
Charlie und Topaz sahen, wie der Strom aus widerlichen Nagern sich in den Gang ergoss, aus dem sie gerade gekommen waren.
»Sie werden uns entdecken«, flüsterte Charlie. »Du musst das Loch verschließen, sofort!«
Jake versuchte, den herausgebrochenen Splitter wieder einzusetzen, aber es ging nicht: Die Flut von Ratten war nicht mehr aufzuhalten. Da spürte er einen langen, haarlosen Schwanz zuckend über seinen Mundwinkel streichen, und für einen Sekundenbruchteil berührte die Spitze sogar seine Zunge. Ein weiterer Nager rutschte in den Kragen seines Hemdes, wo er sich, kratzend und beißend, wieder freizukämpfen versuchte.
Das war zu viel für Jake. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus und ließ los, doch selbst nachdem er auf dem Boden aufgekommen war, regneten die Ratten weiter auf ihn herab, und Jake schrie und schrie.
Topaz hörte heraneilende Schritte. Sie drehte sich um und sah, wie die Wachen mit gezückten Schwertern auf sie zugestürmt kamen. Sofort waren sie umzingelt, und den Agenten blieb nichts anderes übrig, als ihre Waffen fallen zu lassen und die Hände zu heben.
»Es tut mir leid … Es tut mir so unendlich leid«, stammelte Jake, und die Schande seines Versagens brachte ihn beinahe um.
»Schon gut. Das kann passieren bei so viel Adrenalin im Blut«, flüsterte Topaz mitfühlend. »Jedem von uns.«
Topaz’ Worte spendeten Jake denkbar wenig Trost, denn er war sich schmerzlich bewusst, dass er soeben womöglich ihrer aller Schicksal besiegelt hatte.
Mina Schlitz kam in das Gewölbe geschritten und schob sich zwischen den Wachen hindurch, bis sie direkt vor den Gefangenen stand. Die Ratten strömten immer noch wie eine Sintflut aus dem Loch in dem Container, und selbst manche der Wachen konnten ihren Ekel nicht verbergen. Mina jedoch zuckte nicht einmal mit der Wimper. Als eine der Ratten Anstalten machte, ihren Stiefel anzuknabbern, zertrat sie das Tier einfach mit dem Absatz, ohne auch nur hinzusehen.
Stattdessen musterte sie Jakes Gesicht. Sein Bart klebte nicht mehr richtig, und Mina riss ihn nun ganz herunter. Es tat höllisch weh, aber Jake wäre lieber gestorben, als noch einmal ein Anzeichen von Schwäche oder Angst zu zeigen.
Mina ging weiter zu Charlie und versuchte, ihn mit ihrem starrenden Blick einzuschüchtern, doch Charlie schaute nur unbeeindruckt zurück.
Schließlich stellte sie sich vor Topaz und zog ihr das schwarze Tuch vom Kopf. Mina runzelte kurz die Stirn, als überlege sie, dann dämmerte es ihr, und sie rief erfreut aus: »Irre ich mich, oder ist uns da unverhofft die hoch verehrte Topaz St. Honoré ins Netz gegangen?«
»Unverhofft – allerdings«, erwiderte Topaz. »In Venedig habt Ihr versagt, und diesmal habt Ihr nur Glück gehabt.«
»Ich versage nie!«, fauchte Mina. »Versagen ist genau so wenig zu tolerieren wie« – sie suchte sorgsam nach dem passendsten Wort – »Erbarmen. Bringt sie zu Prinz Zeldt!«
25
BÜCHER, RATTEN UND VERHEERUNG
Sie wurden über eine Hintertreppe nach oben ins Schloss gebracht. Niemand sagte ein Wort, bis sie Zeldts große Bibliothek erreichten.
Es war derselbe lang gestreckte Raum mit Feuern zu beiden Seiten, Regalen voll alter Bücher und Renaissancestatuen in den schattigen Nischen, in den zwei Tage zuvor auch Nathan und Paolo gebracht worden waren.
Jake, Topaz und Charlie wurden unsanft auf Stühle an einem Ende der langen Tafel gedrückt. Hinter ihnen bezog jeweils eine Wache Stellung. Zeldts Thron am anderen Ende war leer. Noch.
»Mr Drake wird durchdrehen vor Angst«, flüsterte Charlie.
Topaz drückte seine Hand. »Er ist ein schlaues Tier, er schafft das schon«, erwiderte sie sanft.
In unbehaglicher Stille saßen sie da und warteten. Durch die Flügelfenster drangen die ersten Strahlen der über dem Rheintal aufgehenden Sonne herein, und das Licht tat ihren Augen weh. Ab und zu drehte einer von ihnen den Kopf, doch alles, was sie zu sehen bekamen, war der stählerne Blick der Wachen.
Als die Uhr sieben schlug, erschienen zwei Diener mit Essen auf silbernen Tabletts, und Charlie, der seit beinahe vierundvierzig Stunden nichts als einen Teller lauwarmer Blumenkohlsuppe gegessen hatte, reckte aufgeregt den Kopf. Doch offensichtlich war das Essen nicht für sie bestimmt, denn die Diener stellten die Tabletts vor den leeren Thron, während den Gefangenen lediglich der köstliche Duft der Speisen in die Nase stieg.
Dann betrat ein alter Bekannter den Saal: Felson, jene grimmige Bestie von einem Hund, die einmal von Bliecke gehört hatte. Er lief die Tafel entlang, und als er Jakes Geruch erkannte, begann er zu knurren.
»Lange nicht gesehen, du hässlicher Flohhaufen«, begrüßte Jake ihn.
Felson fletschte die Zähne, doch als weitere Schritte sich näherten, zog er sich eilig zur nächsten Feuerstelle zurück, wo er sich zitternd hinkauerte.
Mina Schlitz betrat die Bibliothek. Sie ignorierte die Gefangenen und begutachtete stattdessen die Fenster und Feuerstellen, befühlte eine Stelle an der Unterseite der Tafel und inspizierte das Essen, das die Diener aufgetragen hatten. Anscheinend zufrieden mit dem Ergebnis ihrer Inspektion, ging sie zur Tür und nickte.
Eine unsichtbare Wache öffnete die Tür, und Prinz Zeldt schritt herein.
Jake hatte das Gefühl, als würde es mit einem Schlag eiskalt in der Bibliothek, als würde der Prinz eine spürbare Kälte ausstrahlen. Selbst Zeldt schien diese Kälte zu spüren, denn er zog seinen Fellmantel enger um sich und ging zu einem der Kamine, wo er mit der Spitze seines Stiefels eins der Scheite tiefer hinein in die Flammen schob, woraufhin das Feuer gleich ein Stück heller loderte. Als er sich umdrehte, hielt er ruckartig inne – sein Blick wanderte zu Topaz, und sein Mund verzog sich zu einem bösartigen Lächeln.
Topaz wiederum starrte ausdruckslos auf die Tafel, während Mina Schlitz die beiden aufmerksam beobachtete, ihre Schlange aus dem Gürtelkäfig nahm und zärtlich deren Unterkiefer streichelte.
Zeldt nahm auf seinem Thron Platz, breitete eine Serviette auf dem Schoß aus und ging ein paar Notizen durch, während einer der Diener ihm das Essen servierte.
Jake beobachtete angewidert, wie Zeldt genauso vornehm wie appetitlos sein Frühstück einnahm. Essen war für ihn nichts als ein notwendiges Übel, eine Einstellung, die zumindest zum Teil seine blasse, blutleere Erscheinung erklärte.
Schließlich schob Zeldt den Teller beiseite und goss sich eine Tasse dünnen Jasmintee ein, nippte kurz mit spitzen Lippen daran, um die Tasse dann exakt in der Mitte des Untertellers abzustellen.
»Um zwei Uhr heute Nachmittag wird eine Sonnenfinsternis stattfinden«, sagte er mit so leiser Stimme, dass die Agenten nicht sicher waren, ob er mit ihnen gesprochen hatte. »Da ihr lediglich aus reinem Übermut diesen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte besucht, hege ich keinen Zweifel, dass euch diese Tatsache bisher entgangen ist«, erklärte er feierlich und nahm einen weiteren Schluck Tee. »Wobei ich zugeben muss, dass dieses Ereignis nicht mein Werk ist. Es wäre eine beachtliche Leistung, zweifellos. Doch nein, ›der Himmel‹ schenkt sie mir. Einfach so.« Wieder hielt Zeldts Blick mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu bei Topaz inne. »Eine Sonnenfinsternis ist eines der wenigen Ereignisse im Verlauf der Erdgeschichte, auf die man sich absolut verlassen kann.«
Charlie warf Topaz und Jake einen fragenden Blick zu.
»Ein imposantes Ereignis, und die dummen, naiven Massen werden nur so zittern vor Angst«, fuhr Zeldt monoton fort. »Doch glaube ich, dass speziell diese Finsternis sich weit tiefer in ihr Gedächtnis einbrennen wird als alle anderen.«
»Wo ist meine Familie?«, unterbrach Jake Zeldts Monolog. »Meine Eltern, wo sind sie?«, wiederholte er und stand von seinem Stuhl auf.
Sofort packte eine der Wachen Jake an der Schulter, schlug ihm hart ins Genick und drückte ihn zurück in den Stuhl.
Unbeirrt nippte Zeldt weiter an seinem Tee.
»Was wisst ihr über die Renaissance?«, fragte er. Als er keine Antwort erhielt, blickte er auf und fixierte die Agenten mit kalten, grauen Augen. »Ich weiß, dass das Wort ›Renaissance‹ in diesem Jahrhundert noch nicht gebräuchlich ist, doch das ist ohne Belang. Die Renaissance. Noch nie davon gehört? Du da, links«, sagte er und deutete auf Charlie.
»Die Renaissance …?«
»Was für ein ignorantes Bürschlein«, schnaubte Zeldt verächtlich. »Was ist mit dir, Topaz St. Honoré?«
Einen Moment lang starrten die beiden einander an.
»Der Ausdruck Renaissance bezieht sich auf eine bestimmte Epoche der Geschichte – die jetzige Epoche«, sagte sie tonlos und mit gesenktem Blick. »Die Menschheit entdeckt Ideale und Philosophien der griechischen und römischen Antike neu …«
»Wie abgeschmackt!«, brauste Zeldt auf und brachte Topaz mit einem Fingerschnippen zum Schweigen. »Hat denn keiner von euch auch nur ein bisschen Charakter?«
Rot vor Zorn beobachtete Charlie, wie Zeldt aufstand und weitere Scheite ins Feuer trat.
Felson zuckte winselnd zusammen, wagte aber nicht, sich von der Stelle zu rühren, während Zeldt, den Rücken seinen Gefangenen zugewandt, in die Flammen starrte. Beinahe drei Minuten vergingen, bis der Prinz schließlich seufzend zu einem der Regale ging. »Der Buchdruck«, sagte er und fuhr mit blassen Fingern über die Einbände, »die Erfindung des Jahrhunderts, ja vielleicht sogar des Jahrtausends.«
Sein Gesicht verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen, da schob er mit einem Ruck das scheinbar unbewegliche Regal zur Seite, und ein geheimer Durchgang kam dahinter zum Vorschein.
»Nehmt sie mit«, flüsterte Zeldt und betrat den Gang.
Jake, Topaz und Charlie wurden von ihren Stühlen hochgezerrt und durch die Öffnung in der Wand auf eine steinerne Brücke geschoben, unter der sie die Katakomben sehen konnten, in denen sie zuvor gefangen genommen worden waren. Mina folgte dicht hinter ihnen.
»Sicherlich habt ihr meine Druckerpresse bereits gesehen«, sagte Zeldt und deutete nach unten. »Ohne Zweifel die dümmste und gefährlichste Erfindung der gesamten Menschheitsgeschichte«, fügte er hinzu. »Stets stand Wissen nur einer Handvoll Auserwählter zur Verfügung. Der Buchdruck jedoch schickt sich nun an, alle mit Wissen zu beglücken … selbst die Kanalarbeiter, deren einziger Lebenszweck es ist, unsere Ausscheidungen zu beseitigen.« Sein Blick verfinsterte sich. »Wissen und Bildung für alle? Welch verwerfliches Ansinnen. Was kommt als Nächstes? Die Tiere vielleicht – Würmer und Käfer, die Philosophie studieren?«
»Wenn Bildung etwas so Dummes und Gefährliches ist«, fragte Jake, »warum benehmt Ihr Euch dann, als hättet Ihr welche?«
Zeldt ignorierte die Spitze und lächelte heimtückisch, bevor er antwortete. »Sei unbesorgt, ich werde den Menschen geben, wonach sie verlangen – für kurze Zeit zumindest.« Er senkte die Stimme. »Gerade lange genug, damit sie … sterben können. Kommt und besichtigt mein Labor.«
Der Prinz überquerte die Brücke und führte sie in ein großes, reich mit wissenschaftlichen Gerätschaften ausgestattetes Gewölbe. Jake sah Messbecher, Reagenzgläser und Waagen mit kompliziert anmutenden Skalen daran. In der Mitte des Gewölbes befand sich ein weiterer Raum, ein Würfel mit Wänden aus dicken Glasscheiben, in dem mit einer Art Schutzanzügen bekleidete Arbeiter äußerst vorsichtig an einem geheimnisvollen Gegenstand herumhantierten.
Zeldt brachte die Gruppe zu einem Tisch und nahm das dicke Buch zur Hand, das darauf lag. »Dies ist eine Ausgabe des Buches, das ich gerade herstellen lasse. Ich habe es Das Buch des Lebens genannt; ein wahrlich amüsanter Titel, wie ich finde.« Er blätterte ein paar Seiten des druckfrischen, mit vielen Illustrationen versehenen Wälzers durch. »Es finden sich Kapitel über alle ›wissenschaftlichen‹ Disziplinen darin: Chemie, Astronomie, Physik und, das heimtückischste aller Übel, Mathematik. Dieses Buch hier ist ein umfassendes Kompendium des neu erwachenden Wissens. Doch es hat seinen Preis«, fügte er im Flüsterton hinzu, und bei den Worten umspielte ein eiskaltes Lächeln Minas Lippen. »Sobald der Wissbegierige es öffnet, erlebt er eine kleine Überraschung.«
Die Vorderseite des Einbandes war mit einem goldenen Schloss versehen, in dem ein Schlüssel steckte. Vorsichtig zog Zeldt mit den Fingerspitzen ein winziges Glasfläschchen aus dem Schließmechanismus und hielt es ans Licht. Eine pechschwarze Flüssigkeit glänzte darin.
»Sobald man den Schlüssel dreht«, erklärte er, »zerbricht dieses Fläschchen und setzt seinen Inhalt frei.«
»Und um was für einen Inhalt handelt es sich dabei?«, fragte Charlie.
»Oh, die Früchte langer Jahre harter Arbeit«, erwiderte Zeldt stolz.
Er führte sie in den würfelförmigen gläsernen Raum. Darin stand auf einem eisernen Tisch ein ebenfalls gläserner Kasten, in dem die beiden Männer mit Schutzhandschuhen aus Schweinedarm eine schwarze Flüssigkeit destillierten.
»Was ist das für eine Flüssigkeit?«, fragte Topaz, nicht sicher, ob sie die Antwort wirklich hören wollte.
»Ihr werdet soeben Zeugen eines einzigartigen Vorgangs. Die Substanz hier links ist ein aus infizierten Flöhen hergestellter Brei. Wir brauchten eine Milliarde Flöhe von einer Million Ratten, um diese winzige Menge brauchbaren Materials herzustellen.«
»Ratten …« Charlie warf Jake einen schnellen Blick zu.
»Das Reagens, mit dem wir den Brei kombinieren« – Zeldt deutete auf einen weiteren Behälter –, »ist ein trefflicher Katalysator, der die Effektivität des Gemischs um nicht weniger als das Hundertfache steigert.«
Jake erkannte die Substanz sofort als die bienenwachsartige Flüssigkeit, die in dem einen Fläschchen gewesen war, das Mina Schlitz Talisman Kant abgekauft hatte.
»Infizierte Flöhe?«, fragte Charlie weiter. »Infiziert womit?«
Zeldt konnte ein schadenfrohes Kichern nicht unterdrücken. »Bist du denn wirklich noch nicht selbst darauf gekommen?«, erwiderte er. Dann verstummte das Kichern abrupt. »Mit der Pest natürlich.«
Einen Moment lang hielten die drei Agenten den Atem an, und ein fanatisches Leuchten trat in Zeldts Augen. »Yersinia pestis, der größte Massenmörder, den Europa je gekannt hat. Die erste Welle hat mit fünfundzwanzig Millionen Toten das gesamte mittelalterliche Europa dezimiert. Zuerst Fieber, dann Erbrechen, dann schmerzhafte, stinkende Beulen und schließlich schwarze Hautverfärbungen, wenn der Tod seine eisigen Klauen in das sterbende Fleisch schlägt. Doch das war damals. Dank der Bemühungen von Talisman Kant wird meine Version noch zehnmal schlimmer sein. Ihr solltet nicht zu nah herangehen, denn die unersättlichen Keime warten nur darauf, eure Körper zu infizie …« Zeldt brach mitten im Satz ab. »Da fällt mir ein, ihr beiden Eindringlinge« – er deutete auf Jake und Topaz – »habt unerlaubterweise von meinem Gegenmittel gekostet, von meinem, wie nennt ihr es noch in eurer ›Moderne‹? Ach ja, meinem Vakzin. Aber seid unbesorgt« – diese Worte richtete er ausschließlich an Jake – »für euch beide werde ich zweifellos eine nicht minder grauenvolle Todesart finden.«
Entsetzt standen die drei Agenten da und beobachteten, wie die Arbeiter Fläschchen um Fläschchen mit der schwarzen tödlichen Flüssigkeit füllten und sie mit einem rotglühenden Eisen versiegelten. An einem anderen Tisch wurden die Fläschchen dann im Schließmechanismus des Einbands versteckt, die Bücher in Kisten gepackt und die Kisten schließlich auf ein mit Eisen gepanzertes, blutrot lackiertes Fuhrwerk verladen.
»In zwanzig Minuten wird dieser Wagen mit fünfhundert meiner wunderbaren Bücher das Schloss in Richtung Süden verlassen, und innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden werden jede Stadt und jedes Städtchen südlich von hier ein eigenes Freiexemplar erhalten. Innsbruck als Erstes« – Zeldt deutete auf eine Landkarte an der Wand – »dann Mailand, Verona, Genua, Florenz und so weiter. Dankbar und ehrfürchtig werden die Menschen mein Geschenk annehmen, sich freuen über das Wunder in ihren Händen, ohne zu wissen, dass sie soeben den Tod ins Herz ihrer Stadt gelassen haben. Ohne zu wissen, dass sie der Anarchie Tür und Tor geöffnet, einen Verfall in Gang gesetzt haben, der nicht mehr aufzuhalten sein wird. Ohne zu wissen, dass ihr bedeutungsloses Leben schon so gut wie ausgehaucht ist.«
Die Augen des Prinzen strahlten vor Verzückung, und auch auf Mina Schlitz’ Antlitz zauberte der Gedanke an ein so vollkommenes Vernichtungswerk ein verträumtes Lächeln.
»Mein Buch wird Italien den Untergang bringen und auch allen anderen dieser aufgeblasenen europäischen Nationen – den schlimmsten Verbrechern in diesem Trauerspiel, das sich Renaissance nennt«, sprach Zeldt weiter. »Doch der erste Paukenschlag, der Prolog meiner Apokalypse, wird heute Nachmittag erfolgen, ein Stückchen nördlich von hier.«
Er nickte Mina zu, die eine große hölzerne Kiste auf den Tisch stellte. Sie öffnete den Deckel, hob ein schweres, aus purem Gold bestehendes Gerät aus dem gepolsterten Inneren und stellte es behutsam ab. Auf den ersten Blick sah es mit seinen Hunderten tickender Rädchen, Federn und Triebe aus wie eine komplizierte Uhr mit Zeldts Wappen darauf.
»Was für ein wundervolles Stück Handwerkskunst«, sagte der Prinz mit einem verklärten Blick. »Welche Schande, dass niemand Gelegenheit haben wird, es gebührend zu würdigen. Doch bitte, seht selbst.«
Als sein Publikum keine Anstalten machte zu gehorchen, bekräftigte er die Aufforderung mit drohendem Unterton: »Seht genau hin, ins Innere.«
Auch wenn es den Agenten widerstrebte, Zeldts Worten Folge zu leisten, beugten sie sich schließlich vor, um den komplizierten Mechanismus zu ergründen.
Ins Herz der Maschine gebettet, lag eine größere Version der Glasfläschchen aus dem Labor, und darin schimmerte die gleiche tödliche, schwarze Flüssigkeit. Über dem Behälter schwebten zwei aus massivem Gold gegossene Miniaturfäuste, in die ebenfalls Zeldts Wappen graviert war, bereit, das Glas zu zerschmettern.
»Diese im wahrsten Sinne des Wortes welterschütternde Erfindung«, fuhr der Prinz fort, »wird in Kürze auf einen noch im Bau befindlichen Turm des Kölner Doms gebracht – dieses prahlerischen und geschmacklosen Auswuchses menschlichen Strebens. Um exakt drei Minuten nach zwei des heutigen Nachmittags, wenn die Sonnenfinsternis ihren Höhepunkt erreicht, werden diese beiden goldenen Fäuste hier ihr Werk vollbringen und den Inhalt des Glasbehälters freisetzen. Wie poetisch: Just in dem Moment, in dem die Sonnenfinsternis am dunkelsten ist, wird meine Seuche die Menschheit heimsuchen. Innerhalb weniger Tage wird sie den halben Kontinent entvölkern, und die Überlebenden werden um den verwesenden Leichnam Europas kämpfen, bis auch sie der unbezwinglichen Macht von Gevatter Tod erliegen.« Zeldt sah sie triumphierend an. »Und die Renaissance ist zu Ende, bevor sie überhaupt richtig begonnen hat.«
»Das also ist Euer großer Plan?«, fragte Charlie in sarkastischem Tonfall. »Entwicklung, Fortschritt, Wissenschaft, die schönen Künste, dafür hab Ihr wohl nicht viel übrig, wie?«
Von einer Sekunde auf die andere wich die Blässe aus Zeldts Gesicht, und er brüllte mit puterrotem Gesicht: »Ich säubere nur diese stinkende Kloake, die ihr und euresgleichen ›Geschichte‹ nennt! Nicht einmal ihr seid so dumm, dass ihr nicht wüsstet, wohin sie sich entwickelt. Dem Pöbel zu Bildung zu verhelfen, führt zu nichts als Verhängnis und Verderben! Der Mensch ist ein Tier, und als solches werde ich ihn behandeln.«
»Bis auf ein paar Auserwählte«, warf Topaz verächtlich ein. »Euch und Eure steinreichen Geldgeber.«
Zeldt starrte sie wütend an, bevor er wieder etwas sagte. »Aber natürlich, schließlich muss irgendjemand über sie herrschen. Ein Sklave treibt sich nicht selbst zur Arbeit an.«
»Verzeiht, doch wenn Ihr vorhabt, alle umzubringen«, unterbrach Charlie, »wer sollen dann bitteschön Eure Sklaven sein?«
»Die Sklaven, von denen ich spreche«, erwiderte Zeldt mit einem Achselzucken, »werden selbstredend importiert. Aus allen Winkeln dieser Erde. Es ist für mich ein Leichtes, dies zu tun, denn die Welt wird mir gehören. Ich werde sie neu erschaffen, schöner und stärker, als sie es je war. Eine wunderbare, Ehrfurcht gebietende Schöpfung, wie das Universum sie noch nicht gesehen hat!«
Mina Schlitz legte Zeldts Zeitbombe zurück in die Kiste und verschloss den Deckel, während der Prinz tief durchatmete und sogleich wieder ruhig und kalt wurde. »Nun, da alle Fragen geklärt wären …«
»Ich hätte noch eine«, fiel Jake ihm ins Wort. »Wo sind meine Eltern?«
»Ein nichtiger Zwerg und seine belanglosen Fragen«, murmelte Zeldt gelangweilt. »Bringt sie zurück in die Bibliothek. Ich werde beizeiten nachkommen.«
Während Zeldt etwas mit einem seiner Wissenschaftler besprach, wurden Jake, Topaz und Charlie von den Wachen über die steinerne Brücke aus dem Labor eskortiert.
»Eure Freunde erwarten euch bereits«, erklärte Mina unterwegs in süffisantem Tonfall. »Wir werden Gnade vor Recht ergehen lassen und dafür sorgen, dass euch ein gemeinsames Ende zuteilwird.«
Sie hatten die Bibliothek kaum betreten, da erkannten sie die beiden bedauernswerten Gefangenen, von denen Mina gesprochen hatte.
»Nathan!«, rief Topaz aus.
»Sag jetzt nicht, du hättest mich vermisst«, erwiderte Nathan zwinkernd und humpelte auf sie zu.
Hinter ihm kauerte Paolo Cozzo reglos am Boden. »Charlie, Jake, wie schön, euch lebendig zu sehen«, sagte Nathan mit einem Nicken. Als sein Blick Jake streifte, sah er verdutzt ein zweites Mal hin. »Diese Garderobe hast du doch nicht etwa selbst zusammengestellt?«, fragte er bewundernd und kniff die Augen zusammen. »Dieser Schattenriss, perfekt! Und erst die Frisur, mein Kompliment. Zu einem so vollendeten Stilwechsel, und das kurz vor dem Weltuntergang, gehört eine ordentliche Portion Mut. Das muss ich neidlos anerkennen.«
Paolo schüttelte nur verzweifelt den Kopf. »So redet er die ganze Zeit – als wäre nichts geschehen.«
Zeldt betrat mit seiner Zeitbombe unterm Arm die Bibliothek und schob das Bücherregal an seine alte Stelle zurück.
»Ich darf das Auslaufen meines Schiffes nicht versäumen«, sagte er und kehrte den Agenten den Rücken zu. »Deshalb werde ich euch nun bedauerlicherweise verlassen müssen.«
Er nickte Mina zu, die daraufhin die Metalltür entriegelte, hinter der von Bliecke zwei Tage zuvor den Tod gefunden hatte.
»Auf der anderen Seite dieser Kammer befindet sich eine Tür, die sich in exakt einer Stunde öffnen wird. Dahinter liegt ein Labyrinth. Lediglich ein einziger seiner zahlreichen Ausgänge führt aus dem Schloss hinaus«, erklärte der Prinz zum Abschied.
»Ein Ausgang?!«, rief Paolo. »Ihr werdet uns gehen lassen?«
»Du naiver Einfaltspinsel«, tadelte Zeldt ihn mit einem Lächeln. »Ich sagte dies nicht, weil ihr ihn erreichen könntet – das ist unmöglich –, sondern lediglich, um euren Schmerz und eure Angst noch ein wenig zu steigern.«
»Wie aufmerksam von Euch«, kommentierte Nathan nonchalant. »Es ist mir ein Rätsel, wie Ihr so lange unverheiratet bleiben konntet.«
Zeldt drehte sich noch einmal um und bedachte Topaz mit einem langen, ernsten Blick.
»Ich denke, diese arme, verlorene Seele sollte uns begleiten«, flüsterte er schließlich mit einem scheußlichen Blitzen in den Augen.
Topaz’ Augen weiteten sich vor Entsetzen.
»Ihr rührt sie nicht an!«, brüllte Jake, machte sich von dem Wachsoldaten los und ergriff Topaz’ Arm.
Topaz warf ihm einen Blick zu, als versuchte sie, ihm etwas zu sagen, doch was auch immer es war, Jake konnte es nicht entschlüsseln.
»Lass sie los, dann hat zumindest sie eine Chance«, flüsterte Nathan ihm ins Ohr, und Jake gehorchte.
Auf ein Nicken von Zeldt hin trieben die Wachen Jake, Nathan, Charlie und Paolo auf die offene Kammer zu.
»Ein Letztes noch«, sagte Zeldt mit erhobener Hand, und die Wachen hielten inne. Er deutete auf Jake. »Du wolltest wissen, wo deine Eltern sind …«
Mit angehaltenem Atem blickte Jake dem Prinzen in die eiskalten Augen.
»Wenn du erst das Labyrinth betreten hast«, fuhr Zeldt fort, »wirst du es nur allzu bald erfahren. Ich rate dir, dich gut darauf vorzubereiten.«
Jake riss sich ein zweites Mal los und stürzte sich auf Zeldt. Er hatte gerade seine Hände um den Hals des Prinzen gelegt, als er einen fürchterlichen Hieb im Rücken spürte und wie gelähmt zu Boden ging.
»Fort mit ihnen!«, bellte Zeldt und strich seine weiße Halskrause glatt, während die Gefangenen in die Kammer geschleift wurden.
»Menschen sind stärker, als Ihr glaubt!«, schrie Jake ihm nach. Das Letzte, was er sah, war Zeldts Hand, wie sie sich über Topaz’ Mund legte. Dann schlug mit einem Krachen die Tür der Kammer zu.
Nathan konnte sich eine letzte Stichelei nicht verkneifen. »Mademoiselle Schlitz«, rief er durch die geschlossene Tür, »Ihr solltet wirklich meinen Rat, was Eure unglückselige Vorliebe für Rot betrifft, beherzigen – sie verdirbt Euren wundervollen Teint!«
Zeldt schritt die breite Treppe zum Eingangsportal hinab, neben ihm Mina, die Kiste mit der Beulenpest-Bombe fest in den Armen haltend. Hinter ihnen folgte eine totenblasse Topaz. Als der Prinz das Ende der Treppe erreicht hatte, blieb er stehen.
Diener eilten herbei und legten ihm einen glänzend silbernen Brustpanzer an, dazu eiserne Handschuhe, einen Helm mit schwarzem Federschmuck und einen prächtigen Pelzumhang, auf dessen Schultern zwei Tigerköpfe prangten. Zeldts Leibdiener überprüfte das Werk, zupfte noch einen winzigen Fussel von dem Pelzumhang – dann zog sich die Dienerschaft mit gesenkten Köpfen zurück.
Als der Prinz in voller Rüstung durch das Eingangsportal trat, wurde er von pflichtschuldigem Applaus begrüßt. Alle seine Komplizen, deren Töchter und Söhne mit großen Augen die beeindruckende Erscheinung des Prinzen bewunderten, waren gekommen, um ihren Herrn gebührend zu verabschieden.
Daneben hatte sich Zeldts Leibgarde versammelt. Mit gezückten Schwertern standen sie in Habachtstellung, den Rücken gerade.
Der Prinz bedachte die versammelte Menge mit einer wohlwollenden Geste, dann ging er zu dem blutroten Fuhrwerk und begutachtete die Fracht – fünfhundert Bücher, die bald ihren tödlichen Inhalt über Europa ergießen würden. Zufrieden ließ er den Blick über die Kisten schweifen und nickte.
Die Tür des eisernen Karrens wurde verriegelt, und Mina gab dem hässlichen Kutscher und dessen ebenso hässlichen Gehilfen ein Zeichen. Das Pferdegespann setzte sich in Bewegung, passierte das Tor und machte sich auf den Weg Richtung Süden.
Sogleich fuhr eine zweite, offene Kutsche vor. Der Prinz setzte sich mit feierlicher Miene auf die Rückbank, Mina mit der Pestbombe daneben. Sie winkte einer Wache, und von Blieckes Hund wurde an einer Leine zu der Kutsche gebracht. Jaulend ließ Felson sich hinaufziehen und verkroch sich sogleich mit eingezogenem Schwanz unter der Sitzbank.
Eine weitere Wache schob nun auch Topaz auf die Kutsche zu, doch sie rührte sich nicht.
»Komm und setz dich zu mir, meine Liebe«, sagte Zeldt mit säuselnder Stimme und tätschelte den Platz neben sich. »Erzähl mir, was du in letzter Zeit so getrieben hast. Unser letztes Treffen liegt Jahrhunderte zurück.«
Als Topaz sich immer noch nicht bewegte, wurde sie von zwei Soldaten in die Kutsche gehoben. Sie saß neben Zeldt, würdigte ihn jedoch keines Blickes. Mina musterte Topaz mit einem gehässigen Lächeln.
Dann verließ auch die Kutsche des Prinzen den Schlosshof und fuhr zu dem verborgenen Hafen, in dem die Lindwurm, Zeldts Kriegsschiff, mit blutroten Segeln zum Auslaufen bereitlag.
26
SCHLANGEN UND TREPPEN
Alles klar bei euch?«, hallte Nathans Stimme durch die stockfinstere Kammer.
Charlie grunzte nur, und Paolo erwiderte: »Man hat mich in ein steinernes Verlies geworfen, ohne Essen oder Wasser, und ich werde wahrscheinlich bald sterben … Es ging mir noch nie besser.«
»Das ist die Einstellung, die wir brauchen!«, rief Nathan und ignorierte den Sarkasmus in Paolos Stimme. »Und du, Jake? Bei dir auch alles in Ordnung?«
Es kam keine Antwort.
»Jake? Hörst du mich?«
Natürlich hatte Jake Nathan gehört (in der Enge der Kammer war es ganz und gar unmöglich, ihn nicht zu hören), aber er war mit den Gedanken woanders. Und ihm war nicht nach Reden zumute. Nichts war für Jake in Ordnung. Seit Zeldts Bemerkung, er würde allzu bald erfahren, wo seine Eltern waren, und er sollte sich besser gut darauf vorbereiten, tobten die schlimmsten Ängste in seinem Kopf, denn er wusste, dass dies nur eins bedeuten konnte. Und er wollte endlich wissen, welche furchtbare Erkenntnis in diesem verdammten Labyrinth auf ihn wartete. Und gleichzeitig wünschte er, er würde es nie erfahren. Außerdem war Topaz gerade entführt worden. Die Tatsache, dass er sie nur ein paar Tage gekannt hatte – dass er keine Gelegenheit gehabt hatte, seine Gefühle für sie auch nur halbwegs zu verstehen, geschweige denn sie zu erklären –, spielte dabei keine Rolle. Jake spürte eine tiefe Verbundenheit mit ihr, als wäre sie ein Teil von ihm. Er sehnte sich beinahe ebenso sehr nach ihr, wie danach, endlich die Wahrheit über das Schicksal seiner Familie zu erfahren.
»Falls du dir Sorgen machst über das, was Zeldt gesagt hat …«, sagte Nathan, als hätte er seine Gedanken gelesen, »… nun, ich denke, wir sollten in dieser Sache keine voreiligen Schlüsse ziehen.« In Wahrheit fürchtete Nathan, nachdem er im Kerker das Marks-and-Spencer-Etikett gefunden hatte, selbst das Schlimmste, aber er sah es als seine heilige Pflicht an, die Moral hochzuhalten.
»Er hat recht«, bestätigte Charlie. »Hat keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, bevor wir handfeste Beweise haben.«
»Wie abgetrennte Gliedmaßen vielleicht?«, platzte Paolo heraus. Es folgte ein lautes Aua!, als Nathan ihm einen Klaps auf den Hinterkopf versetzte, und dann noch eines nach einer kostenlosen Zugabe von Charlie.
»Sprechen wir nicht mehr davon«, sagte Jake entschlossen. »Lasst uns lieber zusehen, dass wir hier rauskommen.«
»So gefällst du mir«, kommentierte Nathan zufrieden.
»Das sind die Worte eines echten Geschichtshüters«, pflichtete Charlie bei.
»Zeldt sagte, in einer Stunde würde sich die Tür zum Labyrinth öffnen, und zehn Minuten dürften bereits vergangen sein.« Nathan tastete mit den Händen die Wand ab. »Wir müssen sie finden und irgendwie aufstemmen. Ah, was haben wir denn da? Charlie, was meinst du?«
Nathan legte Charlies Finger auf eine senkrechte Kerbe in der Wand. »Hast du’s? Dann los!«
Ächzend und stöhnend versuchten sie mit vereinten Kräften, die vermeintliche Tür aufzubekommen.
»Ach, du lieber Himmel – Gott sei’s gedankt!«, rief Nathan plötzlich und ließ los.
»Konntet Ihr sie öffnen?«, fragte Paolo aufgeregt.
»Nein. Ich dachte nur, ich hätte mir einen Nagel abgebrochen. Aber glücklicherweise ist nichts dergleichen geschehen. Das war haarscharf an der Katastrophe vorbei.«
»Wie könnt Ihr Euch in einer Lage wie dieser nur den Kopf über Eure Fingernägel zerbrechen?«, stammelte Paolo fassungslos.
»Ich denke nicht im Traum daran, auf diese Frage zu antworten«, erwiderte Nathan irritiert. »Meine Nägel sind in jeder Hinsicht perfekt: Festigkeit, Farbe und Form. Und das soll auch so bleiben. Äußere Umstände ändern nichts an meiner inneren Haltung.«
Selbst als sie den Spalt zu viert bearbeiteten, wurde er keinen Millimeter breiter, und Nathan schlug schließlich missmutig vor, ihre Kräfte für später aufzuheben und zu warten, bis die Tür sich von selbst öffnete.
Während sie untätig in der Dunkelheit ausharrten, erklärte Charlie Nathan und Paolo in aller Ausführlichkeit Zeldts Weltuntergangspläne. Er ließ nichts aus, nicht den modifizierten Pesterreger, nicht die Bücher und ihr abscheuliches Geheimnis und auch nicht die für den Kölner Dom bestimmte Zeitbombe, und Paolo kommentierte jede einzelne der Ausführungen mit einem aus tiefstem Herzen kommenden »O mamma mia! O mamma mia!«
Und schließlich war es so weit: Mit einem lauten Knirschen glitt ein Teil der Rückwand zur Seite.
»Sie geht auf! Die Wand öffnet sich!«, rief Paolo keuchend, als ein fahler Lichtschimmer in die Kammer drang. Jakes Herz begann zu schlagen wie eine Marschtrommel.
Nathan humpelte auf den Durchgang zu und warf einen Blick auf die andere Seite. »Das wäre also Zeldts berüchtigtes Labyrinth. Einladend, findet ihr nicht?«
»Hallo, ist da jemand?«, rief Jake, so laut er konnte. »Irgendwer? Bitte, antwortet!«
Das Echo seiner Stimme hallte durch die Stille, doch es kam keine Reaktion.
»Jake, hast du den Feuerstein noch, den ich dir gegeben habe?«, fragte Nathan.
Jake zog ihn hervor und reichte ihn Nathan, der sich umdrehte und mit einem kräftigen Ruck einen Ärmel von Paolos Jacke abriss.
»Was tut Ihr da? Meine Mutter hat diesen Rock genäht!«, protestierte Paolo.
»Tut mir leid. Billige Stoffe brennen besser«, erwiderte Nathan und zündete den Ärmel an.
Er hatte recht: Es gab eine helle Stichflamme, dann warf Nathan den brennenden Ärmel hinunter in den gähnenden Abgrund. Auf halbem Weg blieb er an einem hölzernen Gerüst hängen und erhellte die unmöglich verwinkelten Treppen mit seinem flackernden Licht.
»Und was ist mit dem Ausgang?«, jammerte Paolo. »Wo ist er? Wie, um Himmels willen, sollen wir ihn jemals finden?«
»Hallo!«, rief Jake noch einmal und suchte mit den Augen die Dunkelheit vor ihnen ab.
Alle vier lauschten gespannt, bis sie endlich ein Geräusch hörten. Ein seltsames Geräusch allerdings, wie von rieselndem Sand.
»W-was war das?«, fragte Paolo, nicht sicher, ob er die Antwort wirklich wissen wollte.
»Klingt, als käme es von weiter unten«, meinte Charlie.
Nathan riss auch den zweiten Ärmel ab.
»Nathan!«, rief Paolo entsetzt.
»Was? Würdest du lieber mit nur einem herumlaufen? Es dauert noch über vierhundert Jahre, bis asymmetrische Schnitte in Mode kommen, mein Lieber.«
Als auch Paolos letzter Ärmel brannte, warf Nathan ihn dem ersten hinterher, etwas weiter diesmal, und die Mühe zahlte sich aus: Der Stofffetzen segelte zwischen den Treppen hindurch und landete tief unten auf dem Boden. Alle reckten die Köpfe, um etwas erkennen zu können, aber der runde Lichtschein beleuchtete nichts als nackten Steinboden. Doch, nein, am Rand sah Paolo gerade noch den Schwanz einer Schlange verschwinden und schnappte laut nach Luft. Dann herrschte absolute Stille.
»Ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen«, brach Charlie das betretene Schweigen, »aber das sah verdammt nach einer Schwarzen Mamba aus.«
»Eine Schwarze Mamba?«, wiederholte Paolo flüsternd. »Das bedeutet nichts Gutes, oder?«
»Eins der giftigsten Geschöpfe auf Erden«, bestätigte Nathan. »Mit einem einzigen Biss kann sie bis zu vierhundert Milligramm Gift in die Wunde spritzen. Zwanzig Minuten später bist du tot. Das heißt, wenn sie dich nicht vorher erwürgt.«
»Und die Biester werden ziemlich groß«, fügte Charlie hinzu. »Knapp fünf Meter. Dreimal so lang wie du.«
Nun war endgültig alle Farbe aus Paolos Gesicht gewichen.
Jake suchte unterdessen in der Kammer nach Anzeichen für den Verbleib seiner Eltern.
»Wobei sich ›Schwarz‹ nicht auf die Farbe des Schuppenkleids bezieht«, führte Charlie weiter aus, »sondern auf die nachtfinstere Farbe der Schleimhäute in Rachen und Maul.«
»Die schwärzer als der Schlund der Hölle sein sollen«, ergänzte Nathan mit einer hochgezogenen Braue.
»Genug jetzt, hört auf!«, kreischte Paolo. »Wir wissen doch nicht einmal, was für ein Tier das war. Also Schluss jetzt mit dieser dämlichen Lehrstunde!«
»Da wir gerade davon sprechen …«
Charlie hatte noch etwas entdeckt: den Kopf einer weiteren Schlange, die sich auf den Lichtkreis zubewegte. Sie hielt kurz inne und schlängelte sich dann direkt auf das leuchtende Zentrum zu.
Die Augen der Agenten weiteten sich vor Entsetzen, denn die Bestie war nicht knapp, sondern mindestens fünf Meter lang.
»Ich denke, damit wären alle Zweifel ausgeräumt«, sagte Nathan in die neuerliche Stille hinein. »Eine Mamba, schwarz. Schnell und tödlich.«
»Und alle ihre vielen Mamba-Freundinnen«, fügte Charlie mit Grabesstimme hinzu.
»Dann nichts wie los«, meinte Jake. Er bezwang seine Angst und setzte den Fuß auf die erste Stufe der Treppe vor ihm. Doch was sein Fuß dort fand, war nicht Halt, sondern leere Luft. Jake verlor das Gleichgewicht und fiel vornüber.
Blitzschnell packte Nathan den Kragen seines Wamses und zog Jake zurück in die Kammer. »Die Treppen, die du dort siehst, sind nicht das, was sie zu sein scheinen, sondern eine mit Hilfe von Spiegeln erzeugte optische Täuschung«, erklärte er und hob einen kleinen Stein vom Boden auf. Als er ihn auf die nächstgelegene »Stufe« warf, segelte der Kiesel geradewegs in den finsteren Abgrund.
»Aber Ihr wisst doch sicher, welcher Weg durch das Labyrinth führt?«, fragte Paolo hoffnungsvoll.
»Nun, Spiegel lassen sich in viele Richtungen ausrichten, die Schwerkraft nicht«, meinte Charlie, nahm eine Handvoll Steinchen und schleuderte sie hinaus in die Dunkelheit: Ausgerechnet auf einer Treppe, die unmöglich eine sein konnte, blieben sie liegen.
Verblüfft starrten die Agenten auf das allen Regeln der Logik widersprechende Gebilde.
Charlie fasste sich ein Herz und machte einen großen Schritt – ins Nichts, wie es aussah –, doch sein Fuß landete sicher auf der Stufe. »Seht ihr? Es ist eigentlich ganz einfach«, sagte er und atmete insgeheim erleichtert auf. »Nehmt euch alle eine Handvoll Staub und folgt mir.«
Jake, Nathan und Paolo taten, wie geheißen, und wagten sich vorsichtig hinaus. Charlie ging voraus, Nathan legte Jake eine Hand auf die Schulter, um sein verletztes Bein zu entlasten, und Paolo kam leise wimmernd als Letzter hinterdrein. Behutsam arbeiteten sie sich Stufe für Stufe vor, bis sie den unteren Treppenabsatz erreichten. Drei weitere Treppen zweigten dort in völlig verschiedene Richtungen ab.
Charlie streute etwas Staub aus und brachte die »echten« Stufen zum Vorschein. Sie führten steil nach oben und waren viel schmaler als die, die sie gerade genommen hatten.
Je höher sie kamen, desto mehr konnten sie von dem Labyrinth erkennen. Der Boden unter ihnen schien sich endlos in alle Richtungen zu erstrecken, und er war uneben, denn überall ragten Felsen auf, zwischen denen sie mittlerweile vertraute, aber nichtsdestoweniger verhasste schlängelnde Bewegungen sahen.
Behutsam überwanden sie Treppe um Treppe, gewannen und verloren an Höhe, machten kehrt und arbeiteten sich von Neuem vor. Jakes Blick wanderte unablässig durch den düsteren Raum, und nach zwanzig langwierigen, nervenzerfetzenden Minuten des Vorwärtstastens entdeckte Nathan endlich einen blassen Lichtschimmer.
»Seht!« Er deutete auf einen Durchgang am oberen Ende der Wendeltreppe vor ihnen.
Paolo quiekte aufgeregt, und sein Gesicht begann zu strahlen. »Das ist er! Das ist der Ausgang!«, rief er und schob sich an den anderen vorbei.
»Warte! Komm sofort zurück«, befahl Nathan. »Es könnte eine Falle sein.«
»Nein, ich kann schon den Himmel sehen! Ich schwöre, es ist der Himmel«, rief Paolo über die Schulter und eilte auf das Licht zu. »Wir haben es geschafft, wir haben es tatsächlich geschafft!«, schrie er und rannte so schnell, dass er gar nicht merkte, wie die nächste Stufe unter seinem Fuß nachgab.
Surrend setzte sich ein Mechanismus in Bewegung.
Paolo war noch wenige Stufen von dem vermeintlichen Ausgang entfernt, als die Treppe zur Seite wegkippte. Zunächst nur ein wenig, dann immer stärker, bis er mit einem Entsetzensschrei den Halt verlor.
Hilflos mussten die anderen drei zusehen, wie er an ihnen vorbei nach unten stürzte, wo er in einer Staubwolke aufschlug. Einen Moment lang lag Paolo bewusstlos da. Als er wieder zu sich kam, öffnete er den Mund zu einem Schrei, doch kein Laut kam heraus. Sprachlos starrte er in die toten Augen von Friedrich von Bliecke. Neben dessen Kopf lag der halb abgenagte Arm des Kommandanten, die Hand steckte noch im Handschuh und hielt von Blieckes Schwert umklammert. Von den Beinen war nichts zu sehen. Wieder stieß Paolo einen lautlosen Schrei aus.
»Zurück, da lang! Schnell!«, bellte Nathan und stürzte auf den nächstgelegenen Treppenabsatz zu, doch es war zu spät.
Aus allen Richtungen ertönte das Knarren von Balken und Quietschen von Rädern, mit dem sich alle Treppen des Labyrinths in Bewegung setzten. Unfähig, mit seinem verletzten Bein das Gleichgewicht zu halten, stürzte Nathan als Nächster, prallte im Fallen gegen ein Gerüst und krachte unsanft auf den Boden.
Jake und Charlie schafften es gerade noch auf eine Treppe, die sich noch nicht bewegt hatte, nur um sich just in diesem Moment kopfüber zu drehen. Charlie verlor sofort den Halt, doch Jake gelang es, sich an der Nachbartreppe festzuhalten – die daraufhin ebenfalls zur Seite kippte, und zwar auf die falsche. Mit aller Kraft klammerte er sich an das Holz, doch schließlich begannen seine Finger zu rutschen, und er musste loslassen. Als er auf dem Boden aufkam, hörte er ein leises Knirschen unter seinen Füßen, ruderte kurz mit den Armen und fiel dann auf den Rücken.
Zu seiner Überraschung fand er den Untergrund mit feinem, dunklem Sand bedeckt, viel weicher, als es von oben ausgesehen hatte. Dennoch zitterte er von den Nachwirkungen des Aufpralls am ganzen Körper. Eine Kakofonie von Stimmen erklang in seinem Schädel und steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Pfeifen.
Jake setzte sich auf und untersuchte seine Umgebung. Neben ihm lag etwas Weißes auf dem Boden – kleine, mehr oder weniger kugelförmige Gebilde, und er brauchte eine Weile, bis er dahinterkam, um was es sich dabei handelte: Eier. Schlangeneier, von Schwarzen Mambas genauer gesagt, und Jake hatte bei seinem Aufprall einige davon zerquetscht.
Da kehrte mit einem lauten Plopp sein Gehör zurück.
»Links!«, brüllte Nathan. »Links von dir!«
Jake sah die Bestie aus dem Augenwinkel: wahrscheinlich die Mutter der soeben von ihm ins Jenseits beförderten Schlangenbabys. Der Körper so dick wie ein Laternenmast, glitt sie auf ihn zu.
Jake versuchte, auf die Beine zu kommen, doch er war wie gelähmt vor Angst.
Die Schlange bäumte sich auf und riss die pechschwarzen Kiefer auseinander, um mit einem lauten Fauchen die gifttriefenden Fangzähne zu entblößen und sich wie eine Furie auf Jake zu stürzen.
Jake rollte sich zur Seite weg und vernahm ein kaum hörbares Zischen, begleitet von einem schneidenden Geräusch – ein etwa dreißig Zentimeter langes Stück Mamba flog über ihn hinweg und hinein ins Gewirr des Labyrinths. Der Rest des Körpers erstarrte für die Dauer eines Wimpernschlags mitten in der Angriffsbewegung und sackte dann zu einem leblosen Haufen zusammen.
Charlie stand keuchend über ihm, von Blieckes Schwert in der Hand. »Hat sie dich erwischt?«, fragte er besorgt.
»Ihr beiden! Hier rauf, jetzt!«, schrie Nathan, der mit Paolo auf einem hohen Felsbrocken Zuflucht gesucht hatte.
Charlie zog Jake auf die Füße, und im Zickzack rannten sie zwischen den Schlangen hindurch auf den rettenden Fels zu.
Nathan streckte eine Hand zu ihnen herunter und zog Jake hinauf, doch als Charlie ihm gerade folgen wollte, kam eine kleinere, dafür umso schnellere Mamba aus der Dunkelheit geschossen und grub ihre nadelspitzen Zähne in das dicke Leder seiner Stiefel. Mit einem Schrei schlug Charlie mit dem Schwert den Kopf des Tieres ab. Ein Zischen wie von entweichender Luft ertönte, der abgetrennte Schlangenkörper zuckte für eine Sekunde, als stünde er unter Strom, und erstarrte. Charlie schüttelte seinen Fuß, bis die toten Kiefer endlich losließen, dann kletterte er zu den anderen hinauf.
»Gut gemacht«, meinte Nathan und klopfte ihm auf die Schulter. »Am Ende war es wohl doch keine so schlechte Idee, die schweren Bullenlederstiefel zu nehmen, nicht wahr?«
»Warum bin ich nur dieser Organisation beigetreten, warum?«, jammerte Paolo. »Ich hätte Buchhalter werden können. Meine Mutter wollte, dass ich Buchhalter werde. Ich hätte in Florenz bei der Banca dei Medici arbeiten können. In Ruhe und Frieden mit einem Abakus am Schreibtisch sitzen und die Pfauen im Garten beobachten. Mein Leben wäre erfüllt gewesen von Sonnenschein und Torta della Nonna, und nun sitze ich hier wie eine hässliche Krähe auf einem Felsen, ohne Ärmel am Rock, umzingelt von Schwarzen Mambas!«
»Betrachte es doch mal von der positiven Seite«, unterbrach Nathan seine Litanei. »Wir leben noch, und wir haben von Blieckes Schwert. Ohne das Schwert wären wir fürwahr weit übler dran.«
»Hurra, hurra! Wir haben ein Schwert! Lasst uns feiern und tanzen!«, rief Paolo, als hätte er den Verstand verloren. Er jubilierte und hüpfte auf dem Felsen herum, hielt dann plötzlich inne und sagte: »Idiot, wir werden alle sterben. Habt Ihr das immer noch nicht begriffen?«
Trotz allem draufgängerischen Heldenmut ahnte auch Nathan, dass sie wenig Hoffnung hatten zu überleben, selbst mit von Blieckes Schwert. Mit drei oder vier der Monster wären sie vielleicht noch zurechtgekommen, aber die kamen von überallher auf den Felsen zugekrochen – unter Steinen hervor, aus schattigen Unterschlupfen und dunklen Löchern im Boden erhoben sie sich wie die Brut des Leviathan, um den vier Agenten den Garaus zu machen. Mit jeder Sekunde wurden es mehr und immer noch mehr …
Mit geschlossenen Augen fing Paolo an zu beten, und die anderen drei rückten enger zusammen. Als die ersten Mambas züngelnd den Fuß des Felsens erreichten, stießen sie ein zorniges Fauchen aus und rissen hungrig die Mäuler auf.
Da ertönte ein noch viel lauteres Zischen, das von außerhalb des Labyrinths zu kommen schien, gefolgt von einem Donnerkrachen. Steinsplitter brachen aus einer Wand neben ihnen und eine Staubwolke erfüllte den Raum.
Verblüfft blickten die vier auf. Mit einem zweiten ohrenbetäubenden Knall brach ein gewaltiger Gesteinsbrocken durch die Mauer, sauste durch die Luft und pulverisierte auf seiner Bahn mehrere Treppen und Gerüstteile. Wie ein Stein über Wasser hüpfend und schließlich rollend, zerquetschte das Geschoss, begleitet vom wütenden Fauchen der Mambas, alles, was ihm im Weg war, prallte schließlich gegen die gegenüberliegende Wand und blieb dort liegen. Durch das Loch, das es hinterlassen hatte, drang Tageslicht herein.
Mit blitzenden Augen ergriff Nathan Charlies Schwert, ließ sich von dem Felsen fallen und erledigte die noch übrigen Schlangen.
Sonnenstrahlen fielen auf Jakes überraschtes Gesicht, und zwei Silhouetten tauchten in dem Loch in der Mauer auf.
»Jake? Bist du da drinnen?«, hallte eine Stimme durch das Labyrinth.
Jakes Herz setzte einen Schlag lang aus. »Mum …?«, fragte er und traute seinen Ohren nicht.
»Jake!«, rief die Gestalt daneben. »Bist das wirklich du?«
»Dad?«, schrie Jake jetzt aus vollem Hals. »Mom! Dad!« Mit einem Satz war er auf dem Boden und rannte über die platt gewalzten Schlangenkadaver hinweg und zwischen den anderen Felsen hindurch auf die Öffnung zu, kletterte durch das Loch und fand sich in einem Innenhof des Schlosses wieder – und stand seinen Eltern von Angesicht zu Angesicht gegenüber.
Zuerst wusste Jake gar nicht, was er sagen sollte, und schaute sie nur mit großen Augen von oben bis unten an, wie sie vor ihm standen, in altertümliche Gewänder gekleidet, als kämen sie gerade von einem Maskenball. Miriam trug ein prunkvolles (wenn auch zerrissenes) Samtkleid, Alan ein Wams, Strumpfhose und hohe Lederstiefel. Beide sahen erschöpft und zerschlagen aus. Und überglücklich.
»Ich dachte schon, ich würde euch nie wiedersehen«, rief Jake und schlang die Arme um seine Eltern. »Ich habe geglaubt, ihr wäret tot«, murmelte er und drückte sie an sich.
»Wie in aller Welt bist du hierhergekommen?«, fragte seine Mutter und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Ausgerechnet ins sechzehnte Jahrhundert – Alan und ich wären beinahe gestorben vor Schreck, als wir euch gestern in dieser Kutsche sahen. Am Anfang haben wir dich kaum erkannt ohne deine hübschen Locken«, fügte sie seufzend hinzu und strich ihm über die staubige Stoppelfrisur.
»Was auch immer passiert ist, wie auch immer es dich hierherverschlagen hat«, sagte Alan stolz, »du siehst aus wie ein richtiger Abenteurer, Jake.«
»Ich dachte, wir wären uns einig gewesen«, unterbrach Miriam und warf ihrem Gatten einen bösen Blick zu, »ihn nicht zu irgendwelchen Dummheiten zu ermutigen. Schon vergessen?«
Jake lachte nur vor Freude über das Wiedersehen und fragte: »Ihr habt uns gestern durchs Torhaus fahren sehen? Wo seid ihr die ganze Zeit über gewesen?«
»Es hat uns volle vier Tage gekostet, uns aus dieser lächerlichen Schlangengrube zu befreien«, antwortete Miriam seufzend.
»Mit nichts als dem hier ausgerüstet« – Alan hielt ein altes Taschenmesser hoch, das er aus seinem mit Dutzenden von Geheimtaschen versehenen Wams gezogen hatte – »um einen Fluchttunnel zu graben. Und die ganze Zeit über musste Miriam mit einem ihrer aufdringlicheren Parfüms die Schlangen abwehren.«
»Diesen Trick habe ich in Alexandria gelernt, 200 nach Christus«, warf Jakes Mutter ein. »Schlangen können Zitrone als Kopfnote nicht ausstehen.«
»Wir haben uns unter einem Steinhaufen verkrochen und uns bis zu den Abwasserkanälen durchgegraben. Von dort führte ein Tunnel bis zum Fuß des Berges. Wir legten uns gerade eine Angriffsstrategie zurecht …«
»… als wir euch drei in der Kutsche sahen«, beendete Miriam den Satz. »Und jetzt erzählst du uns, warum du hier bist. Ich kann mir nicht helfen, aber irgendwie habe ich den Verdacht, Jupitus Cole könnte die Finger im Spiel gehabt haben.«
»Ich bin gekommen, um euch zu suchen«, erwiderte Jake geradeheraus.
»Da siehst du’s, ein echter Held!«, erklärte Alan triumphierend und klopfte seinem Sohn auf die Schulter. »Er hat es eben im Blut, Miriam. Es gibt nichts, was wir dagegen tun könnten.«
»Und ich weiß über Philip Bescheid«, fügte Jake ein wenig nervös hinzu. »Besteht wirklich eine Chance, dass er noch am Leben ist?«
Alan und Miriam tauschten einen düsteren Blick aus.
»Ich spüre, dass er noch lebt«, sagte Miriam leise, »aber wir haben ihn noch nicht gefunden.«
»Mr und Mrs Djones, sensationelles Timing!«, polterte Nathan in seinem breitesten Südstaatenakzent und stellte sich neben sie. »Ihr habt also Zeldts Waffenlager gefunden?«, fragte er und deutete mit dem Kinn auf das Katapult, mit dem Jakes Eltern die Wand zerschossen hatten, und die anderen, die ein Stück daneben auf dem Innenhof aufgereiht standen.
»Es hat in die falsche Richtung gezeigt«, erklärte Alan. »Hätte mir beinahe einen Leistenbruch zugezogen, als ich es herumgewuchtet habe.«
»Mrs Djones, lasst mich Euch sagen, wie sehr mir Eure neue Frisur gefällt«, fuhr Nathan in ausgesucht charmantem Tonfall fort. »Ein wenig hochgesteckt, und dann diese herabfallenden Locken-Kaskaden. Sehr à la mode … Frühbarock geradezu. Macht Euch um Jahre jünger.«
»Seltsam«, erwiderte Miriam kühl, »aber sagtet Ihr nicht genau dasselbe, als ich meine Haare glatt und offen trug?«
»Tatsächlich …?«, gab Nathan verlegen zurück. »Das kann nur bedeuten, dass Euch die ewige Jugend vergönnt ist. Welch wundervolle Gabe.«
Mittlerweile kam auch Charlie herbei, der einen aschfahlen Paolo Cozzo hinter sich herschleifte.
»Da ist er ja: Charlie Chieverley«, tönte Alan erfreut. »Jemand hat sich ziemliche Sorgen um dich gemacht.«
Mit einem bunten Aufblitzen seines Federkleids erhob sich Mr Drake von der Brustwehr des ummauerten Innenhofs, um sich sogleich aufgeregt kreischend und mit den Flügeln schlagend auf Charlies Schulter niederzulassen.
»Schon gut, ich hab dich auch vermisst«, flüsterte Charlie seinem gefiederten Freund zu. »Du bist ein sehr, sehr tapferer Papagei – du solltest einen Orden bekommen.«
»Ich spreche nur ungern die profanen Angelegenheiten an, die unserer baldigen Aufmerksamkeit harren«, unterbrach Nathan, »aber die Sachlage ist die: In der bedauerlichen Abwesenheit von Miss St. Honoré und in Anbetracht der Tatsache, dass ich der dienstälteste Agent in dieser Runde bin – ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, verehrter Mr und verehrte Mrs Djones, aber ich glaube, Ihr beiden seid im Moment nicht voll einsatzbereit –, erbiete ich mich hiermit als neuer Einsatzleiter. Hat irgendeiner der Anwesenden etwas dagegen?«
Alle schüttelten genervt den Kopf, und Miriam rollte die Augen, was Alan unweigerlich zum Lachen brachte.
»Zweitens«, sprach Nathan weiter, »bleiben uns nur noch etwa vier Stunden bis zur Sonnenfinsternis.« An dieser Stelle wandte er sich an Jakes Eltern. »Ich bin nicht sicher, wie au fait Ihr bezüglich Zeldts Weltuntergangsplänen seid, doch unterwegs wird noch genug Zeit bleiben, Euch aufzuklären. Deshalb schlage ich vor, dass ich selbst und Agent Chieverley sobald als möglich in Richtung Süden aufbrechen und die Verfolgung von Zeldts Bücherkutsche aufnehmen, während die Übrigen – die Agenten Djones, Djones, Djones und Cozzo, unter der Führung von Miriam Djones« – Miriam winkte Nathan heiter zu – »sich ins nördlich von hier gelegene Köln begeben und dort Zeldts Pestbombe entschärfen, bevor sie halb Europa entvölkert. Womit nur noch die Frage der Transportmittel zu klären wäre.«
»Kommandant Wylder, wenn ich diesbezüglich einen Vorschlag unterbreiten dürfte …«, warf Miriam ein und machte einen spöttischen Knicks.
»Fahrt fort«, erwiderte Nathan steif.
»Wir hätten bereits zwei brauchbare Pferde zur Verfügung«, sagte sie und deutete auf den Innenhof. »Ihr und Agent Chieverley könntet sie benutzen, um die Bücher nach Süden zu verfolgen. Was unsere Reise nach Norden angeht, würde ich Folgendes vorschlagen: Zeldt ist mit der Lindwurm vor ungefähr einer Stunde nach Köln ausgelaufen, etwa hundert Meilen nördlich von hier. Von dort wird er, dem Rhein weiter flussabwärts folgend, zu einem Horizontpunkt in der Nordsee weitersegeln. In Zeldts Bootshaus haben wir drei schnelle, als Fischerboote getarnte Schiffe entdeckt. Damit könnten wir es in Rekordzeit nach Köln schaffen.«
»Klingt nach einem vernünftigen Vorschlag. Einverstanden«, verkündete Nathan. »Irgendwelche Fragen soweit?«
»Ja«, hörte Jake sich sagen. »Was ist mit Topaz? Werden wir versuchen, sie zu retten?«
»Negativ«, erwiderte Nathan. »Wir werden Zeldts Schiff nicht abfangen. Der Auftrag lautet, die Bombe zu entschärfen, und sonst nichts.«
Jake war wie vom Donner gerührt. »Aber, es ist doch wohl unsere Pflicht …«
»Unsere Pflichten«, unterbrach Nathan, »wurden von mir soeben glasklar dargelegt.«
»Wie kannst du nur so kaltherzig sein?«, gab Jake wütend zurück. »Du bist mit ihr aufgewachsen, und sie bedeutet dir nicht das Geringste?«
»Wie ich so kaltherzig sein kann?«, erwiderte Nathan überraschend kühl, und wie jedes Mal, wenn er zornig oder nervös war, kam sein Südstaatenakzent dabei weit stärker durch, als ihm bewusst war. »Lass es mich erklären: Zeldt will Europa vernichten. Er will die Renaissance verhindern. Er will jeglichen Fortschritt zum Stillstand bringen und die Uhr ins finsterste Mittelalter zurückdrehen. Er will die gesamte Menschheit versklaven. Du glaubst, das wäre nicht möglich? Du glaubst, weil du ein paar Michelangelos oder da Vincis in der Nationalgalerie gesehen hast, wird die Renaissance unabänderlich stattfinden? Nun, dann denk noch einmal nach!«
Die letzten Worte hatte Nathan Jake mit funkelnden Augen ins Gesicht gebrüllt, und alle Anwesenden, sogar Alan und Miriam, traten erschrocken einen Schritt zurück. Selbst Mr Drake plusterte verteidigungsbereit das Gefieder auf.
»Ich werde es noch einmal ganz klar ausdrücken, damit du es auch verstehst«, fuhr Nathan Nasenspitze an Nasenspitze mit Jake, fort. »Zeldt hat die Macht, die Geschichte zu verändern, ihren Verlauf in neue Bahnen zu lenken. Wenn es keine Renaissance gibt, gibt es keine Wissenschaften, keine Erfindungen, keinen Fortschritt, auch keinen medizinischen, keine Musik, keine Künste … kein Verständnis von der Welt. Die Welt, aus der du kommst, in der es elektrisches Licht gibt und allerlei andere angenehme Spielereien, in der du dich nach Lust und Laune mit deinen Freunden vergnügen kannst: Sie wird nicht existieren. Es wird nichts mehr da sein, zu dem du zurückkehren kannst, sondern nur noch alles verschlingende Finsternis!«
Jake war während Nathans Ansprache leichenblass geworden. »Ich verstehe. Tut mir leid«, war alles, was er noch zu sagen hatte.
»Agentin Djones«, sagte Nathan, an Miriam gewandt, »ich wiederhole: Unter keinen Umständen wird ein Versuch unternommen, Agentin St. Honoré zu retten, auch nicht nachdem Ihr Euren Auftrag erfolgreich erfüllt habt. Die Gründe hierfür habe ich soeben dargelegt. Ist das unmissverständlich klar?«
»Absolut«, sagte Miriam leise.
Jake schloss verzweifelt die Augen. »Welcher Grund könnte es rechtfertigen, dass ein Mensch dem anderen nicht hilft?«, murmelte er kopfschüttelnd.
»Gut«, schloss Nathan seinen Vortrag ab und fügte in feierlichem Tonfall hinzu: »Wenn beide Gruppen ihren Auftrag erfolgreich erledigt haben, werden wir uns in Venedig wiedervereinen, auf der Rialtobrücke. Diejenige Gruppe, die als erste eintrifft, wird sich jeden Tag zur Mittagsstunde dort einfinden, bis auch die zweite zurückgekehrt ist. Und nun, viel Glück uns allen! Oder hat jemand noch einen abschließenden Kommentar loszuwerden?«
»Ja«, sagte Paolo. »Wo kann ich meine offizielle Kündigung einreichen? Ich habe mich als Last erwiesen und wünsche umgehend in meine Heimat zurückzukehren. Meine arme Frau Mama ist bestimmt schon ganz außer sich vor Sorge.«
»Kündigung abgelehnt«, blaffte Nathan. »Egal wie dumm du dich auch angestellt haben magst, wir werden alle Kräfte brauchen, die uns zur Verfügung stehen. Und jetzt los! Wir haben keine Sekunde mehr zu verlieren.«
27
DIE TÖDLICHEN BÜCHER
Nathan und Charlie nahmen die Pferde, die Alan und Miriam bereitgestellt hatten. Sie öffneten das Tor des Innenhofs, riefen noch ein letztes »Auf Wiedersehen!« und ritten davon.
Unablässig Ausschau haltend nach Zeldts Wachen, ritten sie im leichten Galopp und hielten sich im Schatten der Schlossmauer, bis sie den großen Zufahrtsweg erreichten und sich die steile Straße hinunterstürzten. Furchtlos galoppierten die Pferde über den Schotter, jagten mit gesenkten Köpfen und geblähten Nüstern um Kurven und Kehren, und schon nach fünf Minuten hatten sie den Wald erreicht. Die Straße wurde dort breiter, die Pferde gingen in einen gestreckten Galopp über und preschten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den dunklen Nadelwald. Als sie das Torhaus erreichten, wurde das Fallgitter gerade heruntergelassen. Die beiden Reiter pressten sich ganz flach auf den Rücken ihrer Pferde und jagten unbeirrt geradeaus. Steine flogen unter den wirbelnden Hufen auf, die scharfen Spitzen der Gitterstäbe zerrissen Umhang und Wams, und alles ging so schnell, dass die Wachmannschaft erst begriff, was geschehen war, als die beiden schon durch das Tor geprescht waren und ihre Pferde Richtung Süden gewandt hatten, auf die Alpen zu.
Jake hastete mit Paolo und seinen Eltern eine endlos lange, von feuchtem Moos überwucherte Treppe hinunter, bis sie den Waldrand erreichten, von wo Miriam sie zu einem halb verfallenen Teil der Schlossmauer führte. Dort angelangt, hoben, schoben und zogen die vier sich gegenseitig auf die andere Seite, wo sie, einem sich windenden Trampelpfad folgend, weiter zum Ufer des schnell fließenden Flusses eilten.
»Dort drüben ist das Bootshaus«, flüsterte Miriam und deutete auf einen niedrigen Holzbau über dem Wasser. Aus dem Schatten einer großen Eiche heraus beobachteten sie die beiden Männer in den roten Kutten, die das Gebäude bewachten.
»Was meinst du, Alan? Das Burgfräulein und das ertrinkende Kind?«
»Perfekt«, stimmte er zu.
Miriam zog die Schultern ihres Kleides ein Stück herunter und lockerte die Schnürung ihres Korsetts, um ein wenig verführerischer auszusehen.
Jake traute seinen Augen kaum. »Mum, was tust du da?«
»Ich bin der Köder, deshalb muss ich …« Miriam sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen zerzauste sie ihre Frisur und trug etwas rote Farbe aus einem kleinen Holzschächtelchen auf ihre Lippen auf. »So wird das nun mal gemacht«, erklärte sie Jake. »Wenn wir einen männlichen Köder bräuchten, würde Alan dasselbe tun.«
»Aber ohne den Lippenstift.«
»Schon gut!«, sagte Jake. »Tut einfach, was ihr tun müsst.«
Miriam zwinkerte Alan noch einmal zu, dann hüpfte sie durchs Unterholz auf die beiden Wachen zu.
»Sieht sie nicht einfach umwerfend aus?«, meinte Alan und blickte ihr stolz hinterher. »Sie ist wie ein teurer Wein, der mit jedem Jahr noch besser wird.«
Gespannt beobachteten die drei, wie Miriam auf die Soldaten zulief und ihnen auf Deutsch etwas zurief, mit den Armen wild in Richtung des Flusses gestikulierend, stets darauf bedacht, ihre weiblichen Vorzüge möglichst gut zur Geltung zu bringen.
»Hilfe!«, übersetzte Alan genüsslich. »Mein Sohn ist in den Fluss gefallen! Er kann nicht schwimmen!«
»Glaubst du, sie werden wirklich darauf reinfallen?«, fragte Jake besorgt.
In dem Moment beugten sich die Wachen über das Geländer und spähten in die Richtung, in die Miriam deutete – Miriam versetzte ihnen einen Handkantenschlag ins Genick und stieß sie ins Wasser.
Schwimmend und fluchend versuchten die beiden, das Ufer zu erreichen, brüllten und klammerten sich am Schilf fest, aber die Strömung war zu stark und riss sie mit.
»Los«, sagte Alan und lief zum Bootshaus, aus dem gerade zwei weitere Wachen stürmten, die das Geschrei ihrer Kameraden gehört hatten.
»Miriam!«, schrie Alan, als die beiden versuchten, sie von hinten in die Zange zu nehmen.
Miriam reagierte blitzschnell und duckte sich mit einer Rolle rückwärts nach unten weg, woraufhin die Angreifer ins Leere griffen und krachend mit den Schädeln zusammenprallten.
Als sie sich wieder hochgerappelt und ihre Schwerter gezogen hatten, war Alan schon fast bei ihnen. Er schwang sich an dem niedrigen Ast eines neben dem Bootshaus stehenden Baumes mit beiden Füßen voraus in die Luft und fällte den einen mit einem genau gezielten Tritt.
»Hier!«, rief Miriam und warf ihrem Mann ein Rapier zu.
Alan fing es mit einer Hand auf und lieferte sich mit dem noch verbliebenen Soldaten einen Kampf, bei dessen Anblick Jakes Unterkiefer staunend nach unten klappte. Sein Vater drängte den Angreifer immer weiter zurück, versetzte ihm mit der flachen Seite der Klinge einen letzten Schlag und beförderte ihn schließlich mit einem Wurf in den Fluss.
»Mum, Dad …? Habt ihr wirklich gerade …?« Jakes Mund stand immer noch offen. Waren das wirklich seine schusseligen Eltern, die nicht einmal ihr Badezimmereinrichtungsgeschäft ordentlich führen konnten?
»Das war noch gar nichts. Wir sind noch nicht einmal richtig warm«, sagte Alan und tat, als würde er sein Wams abstauben.
Zu viert eilten sie ins Bootshaus, in dem drei kleine Schiffe auf den Wellen schaukelten. Sie sahen aus wie ganz gewöhnliche Fischerboote, verfügten aber ganz offensichtlich über eine Spezialausrüstung, denn jedes davon hatte einen Schornstein, geschickt als einen auf dem Deck herumstehenden Kochkessel getarnt.
Miriam sprang an Bord des ersten, der Aal, wie Jake aus dem Augenwinkel sah, während er seiner Mutter mit Paolo im Schlepptau folgte. Alan machte die Leinen los, stieß das Schiff mit einem kräftigen Tritt vom Steg ab und sprang hinterher.
Den drei hilflos im Fluss treibenden Soldaten war es mittlerweile gelungen, sich an einem über dem Wasser hängenden Ast festzuhalten. Fluchend und die Fäuste schüttelnd brüllten sie den Agenten hinterher, als diese mit der Aal an ihnen vorbeitrieben.
Miriam winkte ihnen freundlich zu, während Alan unter Deck ging und den Kessel anfeuerte.
Zehn Minuten später quoll der Dampf nur so aus dem Schornstein der Aal, und das kleine Schiff jagte rheinabwärts Richtung Norden.
Seite an Seite galoppierten Nathan und Charlie die schnurgerade Straße entlang Richtung Süden. Sie eilten durch Mannheim, Heilbronn und Metzingen. Mr Drake saß vor dem Wind geschützt hinter Charlies Rücken und war offenbar sehr glücklich darüber, wieder mit seinem Herrn vereint zu sein. Ab und zu streckte er neugierig den Kopf hervor, um einen Blick auf die vor ihnen liegende Straße zu werfen und sich das bunte Federkleid zerzausen zu lassen.
In jeder Stadt, durch die sie kamen, fragten die beiden Agenten die Bewohner atemlos, ob sie eine fensterlose, blutrote Kutsche hätten vorbeikommen sehen, und jedes Mal deuteten die braven Stadtbürger mit ehrfürchtig geweiteten Augen nach Süden – und jedes Mal hasteten sie weiter.
Mit dampfendem Kessel pflügte die Aal durchs schattige Rheintal, dessen hundert Meter hoch aufragende Wände das Rauschen des Wassers zurückwarfen. Sie kamen an Schlössern und Burgen jeder Größe vorbei, an den grimmigen Wachtürmen von Asterstein, Hammerstein und Stahlberg, an den hoch oben auf den Felsen thronenden Festungen Rolandseck, Linz und Godesburg.
Nachdem sie die Bonner Stadtmauer hinter sich gelassen hatten, erreichten sie den verkehrsreicheren Niederrhein und mussten sich bald zwischen Fähren und Handelsschiffen hindurchschlängeln, die die wachsenden mittelalterlichen Städte Europas mit Gütern versorgten. Sehr zur Verwunderung der Kaufleute und Matrosen überholte die kleine Aal sie alle. Als sie an einer großen Galeone vorbeijagten, die weißen und schwarzen Marmor geladen hatte, pfiff die Besatzung den vieren gut gelaunt zu, was Miriam – sehr zum Vergnügen ihres Mannes – mit Pfiffen und Kusshänden ihrerseits beantwortete.
Immer wieder zog Alan ein kleines Teleskop aus seinem Wams und suchte damit den Horizont ab. Jake fiel auf, dass das Fernglas mit dem vertrauten Emblem der von zwei Planeten umkreisten Sanduhr verziert war. Jedes Mal warf Alan danach einen Blick auf seinen Chronometer, ein faszinierendes, würfelförmiges Gerät von der Größe eines kleinen Apfels, das zusätzlich mit einem Kompass und einer Sonnenuhr ausgestattet war, und schaute gespannt in den Himmel. Und jedes Mal war die blasse, beinahe unsichtbare Mondscheibe der Sonne ein Stück näher gerückt.
Jake hingegen konnte an nichts anderes denken als an Topaz. Stur schaute er geradeaus in der Hoffnung, die roten Segel der Lindwurm zu entdecken. Natürlich wusste er, dass er nichts tun konnte, selbst wenn sie das Schiff des Prinzen aufspüren sollten, was ihn aber nicht davon abhielt, es zu versuchen. Innerhalb der letzten Stunde musste Topaz hier durchgekommen sein. Eine fürchterliche Ahnung beschlich ihn, dass Zeldt sie womöglich genau in diesem Moment auf irgendeine teuflische Art und Weise folterte. Die Gewissheit, dass Topaz ihre Qualen mit stoischem Gleichmut ertragen würde, machte die Vorstellung nicht leichter für Jake.
Endlich entdeckten Charlie und Nathan von einer Hügelkuppe aus das rote Fuhrwerk. Etwa eine halbe Meile vor ihnen zogen die Pferde die Kutsche mit der tödlichen Fracht den nächsten Anstieg hinauf. Die beiden Agenten hatten ihre Pferde weit über tausend Höhenmeter die kurvenreiche Passstraße hinaufgetrieben und gönnten ihnen jetzt, da vor ihnen ein flaches Plateau lag, über das der Wind ein paar Nebelfetzen trieb, eine kleine Pause.
Als der scharlachrote Wagen hinter dem nächsten Hügelkamm verschwand, blickten Charlie und Nathan einander kurz an und gaben ihren Pferden erneut die Sporen. Mr Drake verkroch sich unter Charlies Wams und schaute mit einem Auge neugierig auf die Straße, um ja nichts zu verpassen.
Als das Fuhrwerk wieder in Sicht kam, hatten sie ein ganzes Stück aufgeholt. Der nächste Anstieg war noch steiler, und sie trieben ihre Pferde noch schneller an. Endlich war das von vier schnaubenden Rössern über die schmale Straße gezogene Gespann, unter dessen mahlenden Rädern faustgroße Steine nach links und rechts schossen wie Musketenkugeln, zum Greifen nahe.
Hinter der nächsten Kurve begann die Straße auf der einen Seite steil abzufallen. Jenseits der Böschung gähnte ein wolkenverhangener, felsiger Abgrund, vor ihnen lag die ganze Pracht der Alpen – und die Kutsche. Sie konnten jetzt sogar die Köpfe der beiden Soldaten auf dem Kutschbock erkennen.
»Wir werden sie zum Anhalten bewegen müssen!«, rief Nathan.
»Verstanden, aber wie?«, schrie Charlie zurück. »Die beiden machen auf mich nicht den Eindruck, als würden sie vernünftig mit sich reden lassen!«
»Dann werden wir eben schlagkräftige Argumente ins Feld führen!«
Während ihrer gebrüllten Unterhaltung schaute ein vom Wind gebeutelter Mr Drake nervös zwischen den beiden Agenten hin und her.
»Du musst endgültig den Verstand verloren haben!«, fluchte Charlie, doch Nathan lächelte ihn nur an. »Was tut man nicht alles …«, seufzte er schließlich, zog Mr Drake unter seinem Wams hervor und reichte ihn Nathan. Als Charlie dann auch noch die Zügel losließ und sich tollkühn balancierend auf den Sattel seines galoppierenden Pferdes stellte, wandte der Papagei den Blick ab.
Meter um Meter machte Charlie auf die Kutsche gut, und als er schließlich auf gleicher Höhe war, ging er in die Hocke und sprang mit einem hohen Satz auf das Fuhrwerk. Doch Holz und Eisenbeschläge waren nass vom Nebel, Charlie verlor den Halt und war im Begriff, geradewegs auf der anderen Seite wieder hinunterzuschlittern, als er sich gerade noch rechtzeitig auf den Bauch drehte und mit den Fingern festhalten konnte. Ächzend zog er sich hoch und kam wieder auf die Beine.
Nathan beobachtete wild gestikulierend die zirkusreife Vorstellung, während Mr Drake, dem Herzinfarkt nahe, aufgeregt mit den Flügeln schlug.
Charlie drehte den Kopf und sah, wie einer der Kuttenmänner zu ihm aufs Dach des Fuhrwerks kletterte. Während das Gespann nur wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt über die holprige Passstraße ratterte, kam die hünenhafte rote Gestalt furchtlos auf Charlie zugestürmt, packte ihn mit einer riesigen Hand am Kragen und hob ihn in die Luft.
Das war der Moment, in dem Mr Drake genug hatte. Mit einem Schrei breitete er die Flügel aus und stürzte sich auf das Gesicht des Angreifers. Der ließ Charlie taumelnd los und verlor auf dem feuchten Kutschdach das Gleichgewicht. Noch während der Soldat fiel, bekam er den Aufschlag von Charlies Kniehose zu fassen und drohte den jungen Agenten mit nach unten zu reißen. Doch genau in dem Moment, als Charlie ebenfalls hinfiel, riss der Stoff, und Zeldts Scherge stürzte, einen Fetzen von Charlies Hose in der Faust, in den Abgrund.
Aber Charlie war noch nicht gerettet. Mit letzter Kraft hielt er sich an den Eisenbeschlägen fest, während seine Füße schon beinahe die unter ihm vorbeijagende Schotterstraße berührten.
Nathan schüttelte unterdessen beim Anblick von Charlies teilweise freiliegender Unterhose – ein buntes Paar Shorts mit aufgestickten Paradiesvögeln – verständnislos den Kopf. »Das Muster ist ein bisschen übertrieben, findest du nicht?«, rief er.
»Ich hab sie zu Ehren von Mr Drake angezogen!«, brüllte Charlie zurück. »Außerdem konnte ich ja nicht ahnen, dass ich heute noch einen Freiluft-Striptease hinlegen würde!«
Während das Gespann weiter dahinholperte, wurde Nathan endlich klar, dass sein Freund es nicht aus eigener Kraft zurück nach oben schaffen würde. Also setzte er alle Hoffnung auf sein unverletztes Bein, dirigierte sein Pferd noch ein Stückchen näher heran und sprang.
Mit einem Schmerzensschrei landete er sicher auf dem metallbeschlagenen Dach, da spürte er einen schneidenden Hieb im Nacken: Der Kutscher hatte die Zügel in eine Hand genommen und malträtierte Nathan vom Kutschbock aus mit der Peitsche.
Nathan zog den kostbaren Schal von seinem Hals, knotete ihn flink zu einem Lasso und warf es seinem Angreifer über den Kopf. Mit einem Ruck zog er den Mann zu sich herauf.
Der Soldat knurrte wie ein wildes Tier und erwischte Nathan mit dem Griff der Peitsche im Gesicht.
Außer sich vor Wut rammte Nathan seinem Gegner die Faust ans Kinn, der daraufhin mit einem dumpfen Knall auf das Dach der Kutsche schlug – und die Zügel losließ.
Die Pferde, aufgescheucht von der Keilerei in ihrem Rücken, gingen durch. Panisch jagten sie durch die engen Kurven der Straße, während sich Charlie, immer noch um sein Leben kämpfend, an der Kutsche festklammerte.
Nathan zog die Schlinge um den Hals seines Widersachers immer enger, und der Soldat packte ihn mit beiden Händen am Schädel, als wollte er ihn zwischen seinen schwarzen Fingernägeln zerquetschen. Plötzlich weiteten sich Nathans Augen vor Entsetzen: Die Pferde hielten mit voller Geschwindigkeit auf die nächste Serpentine zu, und diesmal würden sie es auf keinen Fall schaffen.
Charlie hielt den Atem an.
Als auch der Kutscher den Kopf drehte, stieß Nathan ihn mit einem letzten Aufbäumen seiner Kräfte vom Dach.
Hilflos hing der Scherge halb in der Luft, den mächtigen Hals in Nathans Halstuch gefangen.
»Dieser Schal ist aus feinster Spinnenseide aus der Provinz Jiangxi gewoben!«, brüllte Nathan gegen den tosenden Fahrtwind an. »Das ist einer der seltensten und teuersten Stoffe der Welt! Mein Vater hat ihn als Geschenk von Shi Huang dem Großen, Begründer der Qin-Dynastie, bekommen, und er ist, offen gesagt, mehr wert, als Ihr in Eurem ganzen Leben je verdienen werdet!«, schrie er dem Kutscher ins blau anlaufende Gesicht. »Ich sage dies nur, um Euch begreiflich zu machen, dass diese unselige Schlägerei mir einen weit größeren Verlust zufügt als Euch …«
Mit diesen Worten ließ Nathan seinen geliebten Schal los, und damit seinen Widersacher, der in den hundert Meter tiefen Abgrund stürzte.
Nathan richtete sich auf, setzte sich auf den Kutschbock und zog so lange an den Zügeln, bis die Pferde endlich stehen blieben. Der Anblick, der sich ihm bot, war atemberaubend: Ganz Südeuropa lag zu seinen Füßen.
»Italien«, seufzte er theatralisch. »Nie wirst du erfahren, wie nahe du am Rand der …«
»Es ist noch nicht vorbei, Nathan«, schnitt Charlie ihm das Wort ab und zog die Überreste seiner Kniehose hoch, um seine blassen Beine und bunten Shorts wieder zu verhüllen. »Wenn die anderen den Dom nicht rechtzeitig erreichen, dann war’s das.«
28
DIE ALLES VERSCHLINGENDE SONNENFINSTERNIS
Die Aal fuhr um eine weitere Flussbiegung, und eine mittelalterliche Stadt kam in Sicht. Ehrfürchtig erhob sich Jake und sog den Anblick in sich auf. Ein schier endloses Panorama von Holzhäusern, deren Dächer aussahen wie Hexenhüte, erstreckte sich über beinahe das gesamte Tal. In der Mitte ragte ein gewaltiges Bauwerk auf, so groß, dass es fast ein Viertel der Stadt in Schatten tauchte.
»Der Kölner Dom«, sagte Alan mit leuchtenden Augen. »Im Moment das höchste Gebäude der Welt.«
»Tatsächlich?«, fragte Jake beeindruckt.
»Absolut – Köln dürfte zurzeit die reichste Stadt Europas sein. Es ist eine ›Freie Reichsstadt‹, sozusagen ein eigener souveräner Staat. Diese Tatsache und seine Lage direkt am Rheinufer, mitten im Zentrum Europas, sind die Gründe für seine Blüte.«
»Dein Vater sieht nicht nur gut aus«, sagte Miriam lächelnd, »er hat auch was im Kopf.«
Im Hafen wimmelte es nur so von Schiffen.
»Wie ein gordischer Knoten aus Booten«, schimpfte Miriam, während Alan versuchte, die Aal sicher durch das Knäuel aus Schiffen und durcheinanderschreienden Seeleuten zu manövrieren. Um ein Haar hätte er eine mit verängstigt dreinschauenden Eseln beladene Kogge gerammt. Zwei kleine Ruderboote hatten nicht so viel Glück und stießen prompt zusammen, woraufhin zwischen dem unrasierten Getreidehändler in dem einen und der stattlichen Dame mit Federhut und Samtumhang in dem anderen ein hitziger Streit entbrannte.
Während die Aal langsam auf einen der Anlegestege zutuckerte, begutachtete Jake fasziniert den riesigen Dom, jenes fantastische Bauwerk aus hoch aufragenden Spitzentürmchen und gotischen Pfeilern. Doch so groß er auch sein mochte, es war deutlich zu erkennen, dass er noch nicht fertig war. Hoch oben auf dem Dachstuhl sah Jake die Stümpfe zweier erst halb fertiggestellter Türme, zwischen denen sich ein riesiger hölzerner Kran gen Himmel reckte. Jake war wie hypnotisiert. Er hatte schon einige große Kirchen gesehen, ihren Anblick aber immer als etwas vollkommen Alltägliches hingenommen. Das hier jedoch, den Kölner Dom in seinen Entstehungswehen zu sehen, erfüllte ihn mit größter Ehrfurcht vor menschlicher Tatkraft und menschlichem Streben.
»Diese halb fertigen Türme da … Dort will Zeldt seine Bombe verstecken«, sagte er.
Alan warf einen Blick auf den Chronometer. »Fünf Minuten nach eins. Noch fast eine ganze Stunde bis zur Sonnenfinsternis. Wie wär’s mit einem Kaffee bis dahin?«
»Wenn es erst fünf nach eins ist, warum zeigt diese Uhr dann fünf vor zwei?«, fragte Paolo und deutete auf einen Uhrenturm gleich neben dem Hafen.
Alan sah ebenfalls hin und verglich die Anzeige mit dem Chronometer. Dann schüttelte er ihn kräftig, überprüfte die Uhrzeit erneut – und lief kreidebleich an.
»Ich hab dir doch gesagt, du sollst kein italienisches Fabrikat kaufen«, meinte Miriam kopfschüttelnd. »In diesem Land geht alles einen Tick langsamer.«
Die Sonnenfinsternis des 20. Juli 1506 hatte bereits begonnen.
Der hektische Lärm um sie herum schien ein wenig leiser zu werden und wurde von unvermittelt einsetzendem Vogelgezwitscher übertönt, bis plötzlich wie mit einem Paukenschlag völlige Stille herrschte. Nur ein paar Kiebitze, die sich im Schatten unter einer Brücke zusammendrängten, gaben aufgeregte Laute von sich.
Jake sah, wie ein kleines Mädchen nach oben deutete, und im nächsten Moment ertönten von überall her Rufe ungläubigen Staunens. An der ganzen Ufermauer entlang blieben die Leute wie angewurzelt stehen oder rannten sich gegenseitig über den Haufen. Nach und nach starrte jedes Gesicht himmelwärts.
Jake blickte auf und sah, wie sich Stück für Stück eine schwarze Scheibe über die gleißende Nachmittagssonne schob. Das Schauspiel war in vollem Gang.
»Nicht in die Sonne schauen, Jake!«, rief Miriam. »Das ist gefährlich für die Augen.«
Überall zogen Mütter ihre Kinder dichter an sich; eine Gruppe Marktschreier schaute verängstigt nach oben; eine alte Nonne deutete mit zitterndem Finger auf den Himmel und murmelte ein Gebet. Hunde bellten nervös, Boote krachten führerlos gegeneinander.
»Den Kaffee verschieben wir dann wohl besser auf später«, sagte Alan, sprang auf den Steg und half den anderen aus dem Boot.
»Sollte ich nicht vielleicht besser hierbleiben?«, fragte Paolo. »Ich möchte niemanden bei der Arbeit behindern.«
Alan lachte nur und schob ihn vor sich her in die Menge. »Du willst doch wohl nicht den ganzen Spaß verpassen! Es wird ganz schön was geboten sein.«
»Das befürchte ich ja gerade«, murmelte Paolo.
Jake hätte sie nie gesehen, wenn die Menschen auf dem großen Platz zwischen Hafen und Dom nicht immer noch reglos dagestanden hätten, als seien sie zu Salzsäulen erstarrt. Es waren mindestens fünfhundert, und nur einer davon rannte: eine kleine, schlanke Gestalt, die mit wehendem schwarzem Umhang auf einen Pier am anderen Ende des Hafens zueilte.
Es war Mina Schlitz.
Jake beobachtete, wie sie die Laufplanke der Lindwurm hinaufrannte. Sobald sie an Bord gesprungen war, legte das Schiff ab.
»Dad!«, rief Jake so laut, dass sein Vater wie angewurzelt stehen blieb. »Zeldt, er ist immer noch hier!« Er deutete auf die davonsegelnde Galeone.
Jetzt sah Alan sie auch, aber er kannte ihre Befehle. »In dieser Sache können wir nichts tun«, sagte er entschlossen. »Wir haben nicht mal mehr fünf Minuten, um die Bombe zu entschärfen.«
Jake blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Er folgte seinem Vater in die Menge, seine Gedanken in Aufruhr. Er wusste, dass seine Verpflichtung dem Auftrag galt, den sie im Dom zu erledigen hatten – einem unfassbar wichtigen Auftrag. Doch etwas, das beinahe ebenso stark war wie sein Pflichtgefühl, zog ihn fort vom Dom, in die exakte Gegenrichtung: zur Lindwurm und zu Zeldts Geisel, Topaz St. Honoré. Während er sich durch die ängstlich staunende Menge schob, wanderten Jakes Augen immer wieder zurück zu den roten Segeln des Schiffs, doch als er und die anderen endlich die Treppen des Doms erreichten, waren sie verschwunden.
Alle, die sich im Dom befunden und soeben erst von dem Ereignis gehört hatten, kamen aus dem Portal gestürmt, um das Heraufdämmern der Apokalypse mit eigenen Augen zu sehen, und die Agenten mussten sich regelrecht durchkämpfen, bis sie endlich das Hauptschiff erreichten, einen schier endlosen Gang mit unzähligen Säulen und Pfeilern zu beiden Seiten. Das Licht, das durch die riesigen Fenster hereindrang, wurde immer schwächer.
»Dieses Gerüst da müsste der schnellste Zugang sein«, rief Alan und deutete auf ein hohes Holzgestell vor dem Hauptfenster, dessen Stufen bis hinauf unters Dachgewölbe führten. Von dem Gestell herab hingen mehrere Flaschenzüge und Seile mit Eimern daran, mit denen die Arbeiter ihr Material nach oben transportierten.
Jake bahnte sich einen Weg durch den Menschenstrom, der sich unablässig nach draußen vors Portal ergoss, und erreichte als Erster das Gerüst. Er sprang auf die unterste Stufe und rannte Ebene um Ebene hinauf. Je höher er kam, desto mehr konnte er durch die hohen Kirchenfenster von der dahinterliegenden Stadt erkennen, bis hinter den bunten Butzenscheiben schließlich auch die blassen Umrisse der Lindwurm wieder in Sicht kamen.
»Wusstest du, dass die Heiligen Drei Könige hier begraben sind?«, fragte Alan mit Begeisterung in der Stimme, während er mit polternden Schritten hinter Jake die knarzenden Stufen hinaufeilte. »Nach ihnen ist auch die größte Glocke des Doms benannt, die Dreiköniginnenglocke. Sie ist die schwerste in ganz Europa.«
»Hochinteressant«, rief Miriam dazwischen, »aber ich würde sagen, uns bleiben nicht mal mehr zwei Minuten, um den Weltuntergang zu verhindern.«
Sie liefen noch schneller und hatten bald eine schwindelerregende Höhe erreicht. Die Menschen im Kirchenschiff unter ihnen waren nur noch kleine Pünktchen, die sich durch die großen Flügeltüren nach draußen stürzten.
Als sie auf der achten Ebene angekommen waren, sah Jake, wie die Lindwurm gerade hinter einer Flussbiegung verschwand. Mit doppelter Geschwindigkeit eilte er weiter, seine Eltern dicht dahinter, Paolo keuchend und schnaufend am Ende, bis sie auf Höhe des Glockengestühls angekommen waren.
Jake blickte sich um: Vier Glocken hingen in dem nach allen Himmelsrichtungen offenen Gestühl, jede davon so groß wie ein kleines Haus. Sein Blick fiel auf eine Eule, die sich in einer dunklen Ecke verkrochen hatte und verunsichert piepte, als überlegte sie, ob es nun Nacht war oder nicht. Da hörte er ein weiteres Geräusch: das Knarren von Seilen. Ein Flaschenzug zog sich zusammen und setzte ein großes Rad in Bewegung – und dieses Rad wiederum eine der Glocken. Als sie gegen den mannsgroßen Klöppel schlug, erschallte ein donnerndes Geläut, so laut, dass es Jake bis in den letzten Knochen fuhr und er nur darauf wartete, dass seine Trommelfelle platzten.
Weitere Flaschenzüge setzten weitere Räder in Bewegung, bis alle vier Glocken mit ohrenbetäubendem Krach ertönten.
»Zwei Uhr!«, schrie Alan, als er hinter Jake heraufkam, gefolgt von Miriam und einem bedauernswert aussehenden Paolo.
Jake kletterte den letzten Teil des Gerüsts hinauf und durch die Decke des Glockenstuhls hinaus auf das windumtoste Dach. In den wenigen Minuten, die er schwitzend und keuchend heraufgehastet war, hatte sich der Himmel stärker verdunkelt, als er es je für möglich gehalten hätte. Nur noch eine hauchdünne Sonnensichel lugte hinter der schwarzen Mondscheibe hervor.
Jake blickte nach unten: Weit unterhalb der Wasserspeier, die ihre grimmigen Fratzen aus der Fassade reckten, sah er die Menge ehrfürchtig und zu Tode erschreckt auf die Sonne starren. Und wieder sah er die Lindwurm, jetzt ein kaum noch erkennbarer Punkt am Horizont.
Erneut drängte sich ihm das Bild von Topaz’ angstverzerrtem Gesicht auf, aber er kämpfte es nieder und ließ den Blick über das Dach schweifen. Links und rechts erhoben sich die Stümpfe der beiden noch im Bau befindlichen Türme, zwischen ihnen ein hölzerner Kran von kolossalen Ausmaßen, der sich gen Himmel reckte. Meter für Meter suchte Jake die hölzerne Gitterkonstruktion ab.
»Unglaublich!«, keuchte Alan, der soeben das Dach erreicht hatte. Das Schauspiel, das sich ihm bot – die grandiose Landschaft um sie herum, der Wind, der ihnen um die Ohren pfiff, und das Geläut der Glocken –, verschlug ihm den Atem.
Jake hatte den Blick immer noch unbeirrt auf den Kran gerichtet. »Da! Da!«, brüllte er plötzlich, genau in dem Moment, als auch Miriam und Paolo zu ihnen stießen. Endlich hatte er entdeckt, wonach er gesucht hatte: Auf halber Höhe des Krans sah er, funkelnd in den letzten Strahlen der nun fast vollkommen verdeckten Sonne, ein gelblich metallisches Schimmern – Zeldts goldene Bombe.
Alan zog sein Fernrohr heraus und inspizierte Jakes Entdeckung. Jake hatte recht. Es war tatsächlich die Pestbombe, die, versteckt hinter einem Querträger, darauf wartete, ihre entsetzliche Bestimmung zu erfüllen.
In der Zwischenzeit hatte Jake sich schon daran gemacht, den Kran so schnell zu erklimmen, wie seine Hände und Füße ihn hinauftragen konnten. Heulend zerrte der Wind an ihm, während unter ihm der Abgrund gähnte, der nur darauf zu warten schien, ihn zu verschlingen.
Als der Mond schließlich auch den letzten fahlen Sonnenstrahl verschluckte und alles in nachtschwarze Finsternis tauchte, schrien die Menschen unten auf dem Platz laut auf, doch Jake hörte sie nicht – er streckte den Arm aus und packte die Bombe.
Da tauchte mit einem Rauschen ein noch dunklerer Umriss vor dem Schwarz des Himmels auf und bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit auf Jake zu. Es war die Eule aus dem Glockenstuhl, die ängstlich und verwirrt aufgeflogen war und mit solcher Wucht gegen Jake prallte, dass die Bombe seinem Griff entglitt.
Miriam stand am nächsten. Mit einem Hechtsprung bekam sie die Teufelsmaschine gerade noch rechtzeitig zu fassen und rutschte, die Bombe schützend an die Brust gepresst, auf den Rand des Daches zu.
»Miriam!« Alan wirbelte herum und eilte auf das Geländer zu in der Befürchtung, tatenlos zusehen zu müssen, wie seine Frau zu Tode stürzte. »Miriam?«, wiederholte er mit zitternder Stimme.
Doch Miriam war direkt auf einem der Wasserspeier gelandet, einer hässlichen Kreatur, halb Löwe, halb Fledermaus, mit weit aufgerissenen Kiefern und ausgebreiteten Schwingen.
»Ein … ein Schutzengel«, stammelte sie wie unter Schock.
»Ich hole dich!«, rief Alan und ließ sich an dem Geländer hinab.
»Zuerst die Bombe«, schrie Miriam zurück. »Wir müssen sie entschärfen.« Mit schweißnassen Fingern untersuchte sie das Gerät. »Nur wie?«
»Im Inneren sind zwei goldene Fäuste, darunter ist ein Glasbehälter!«, brüllte Jake, während er von dem Kran heruntereilte. »Siehst du ihn?«
Miriam kniff die Augen zusammen. Das Licht war so schwach, dass sie kaum etwas erkennen konnte. »Ich glaube, ja.«
»Greif hinein und zieh ihn raus!«, wies Jake sie an.
Miriam streckte die schlanken Finger nach dem Behälter aus. »Nur gut, dass ich letzte Woche bei der Maniküre war«, rief sie, doch dann sah sie, dass der Zeiger der eingebauten Uhr nur noch Sekunden vom Auslöser der Bombe entfernt war.
»Aua, verdammt!«, schrie sie plötzlich und zog die Hand zurück. »Das Ding hat mir einen elektrischen Schlag verpasst.«
»Vorsichtig, Schatz – ganz vorsichtig«, redete Alan ihr gut zu.
»Du musst es noch mal versuchen, Mum!«, rief Jake. »Uns bleiben nur noch Sekunden!«
Wieder griff Miriam hinein, und wieder bekam sie einen heftigen Stromschlag.
Die Uhr tickte, die Rädchen drehten sich.
Miriam biss die Zähne zusammen und versuchte es ein drittes Mal. Gerade als der Zeiger den Auslösemechanismus betätigte, bekam sie endlich den Glasbehälter zu fassen und zog ihn heraus. Erleichtert atmete sie auf – da hörte sie ein lautes Knacken. Es war der Wasserspeier, auf dem sie saß.
Alle stießen einen Entsetzensschrei aus, als der Kopf des steinernen Ungeheuers abbrach und Miriam stürzte. Die goldene Uhr entglitt ihr, doch Miriam konnte sich gerade noch an dem Flügel der Bestie festhalten, den Glasbehälter mit einer Hand umklammert, während die Uhr an dem Wasserspeier unter ihr in tausend glitzernde Trümmer zersprang.
»Halt aus, Miriam. Ich ziehe dich rauf!«, rief Alan. Doch als er einen Fuß auf den Wasserspeier setzte, bildete sich sofort ein weiterer Riss.
»Das wird nicht funktionieren«, warnte Miriam, ein Auge auf den gähnenden Abgrund gerichtet.
»Du bist zu schwer, Dad. Ich gehe«, sagte Jake, der endlich von dem Gerüst heruntergekommen war, und schob sich an seinem Vater vorbei. Vorsichtig trat er auf den Rücken des steinernen Fabeltiers.
Der Riss wurde noch größer, und die Flügel von Miriams Schutzengel senkten sich bedenklich.
»Wir sind alle zu schwer«, murmelte Jake verzweifelt. Da kam ihm eine Idee. Er drehte sich um und schaute mit festem Blick denjenigen an, der sich als Einziger bis jetzt still im Hintergrund gehalten hatte. »Paolo Cozzo, Zeit für deinen Auftritt!«
Jake hatte recht: Paolo war ihre einzige Hoffnung.
»Che?«, erwiderte Paolo und machte einen Schritt zurück. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe schreckliche Angst vor Höhe.«
»Keine Widerrede«, knurrte Alan ihn an und zerrte Paolo zur Brüstung. »Wenn du Mist baust und meine Frau nicht rettest, werfe ich dich persönlich hinterher.«
»Das könnt Ihr doch nicht machen«, wimmerte Paolo. »Jemand würde es melden, und Ihr würdet unverzüglich entlassen werden!«
»Keine Widerrede!«, wiederholte Alan und schob ihn auf den Rand des Daches zu. »Wir halten dich an den Beinen fest. Du lässt dich nach unten hängen und ziehst Miriam rauf.«
Zitternd legte Paolo sich auf den Bauch, während Alan und Jake seine Beine packten und ihn langsam nach unten ließen. Die Sonnenfinsternis hatte inzwischen ihren Höhepunkt überschritten, und die ersten Strahlen fielen auf den Platz weit unter ihnen.
»Es muss doch eine andere Möglichkeit geben!«, protestierte Paolo und versuchte, sich zurück aufs Dach zu schieben.
»Tu es endlich!«, fuhr Alan ihn an, der gesehen hatte, wie Miriams Hand langsam abrutschte.
Paolo schob den Oberkörper wieder auf den Rücken des Untiers und streckte eine zitternde Hand nach Miriam aus.
Wieder ein Knacken.
»Du hast es gleich geschafft«, redete Alan ihm gut zu, »nur noch ein kleines Stückchen.«
Mit Tränen in den Augen reckte Paolo den Arm noch weiter, einzig und allein darauf bedacht, nicht nach unten zu sehen. Mehr denn je verfluchte er sich dafür, dem Geheimdienst der Geschichtshüter beigetreten zu sein.
Da geschah etwas Seltsames. Die Zeit um ihn herum schien stehen zu bleiben, und eine vollkommene Stille senkte sich über Paolo. Er hörte weder den Wind noch die Glocken noch die Stimme der anderen. Das Einzige, was er wahrnahm, war sein eigener Atem. Entschlossen riss er die Augen weit auf, blickte nach unten und machte eine Bestandsaufnahme: Er hing vom Dach des Kölner Doms herab, des höchsten Gebäudes der Welt, unter ihm lag eine riesige Stadt, und vor ihm baumelte eine Frau an dem steinernen Flügel eines Fabelgeschöpfs und hielt etwas in der Hand, das, sollte es zu Bruch gehen, ganz Europa den Tod bringen würde. Paolo spürte einen Gedanken in sich aufsteigen: Ja, er konnte es. Er konnte ein Held sein.
»Das werde ich nicht zulassen!«, brüllte er und streckte Miriam beide Arme entgegen.
Miriam klemmte den Hals des Glasbehälters vorsichtig zwischen die Zähne und ergriff Paolos rechte Hand. Dann ließ sie den Flügel los und packte seine linke.
Paolo keuchte vor Anstrengung, als er ihr ganzes Gewicht halten musste. Seine Wirbelsäule wurde auseinandergezogen, als würde sie jeden Moment zerreißen, aber seine Angst war purer Entschlossenheit gewichen, und er hielt Miriam mit eisernem Griff fest, während Alan und Jake ihn Stück für Stück zurück aufs Dach zogen.
Endlich konnte Miriam sich an der Brüstung festhalten und zog sich hinauf. Triumphierend hielt sie die heil gebliebene Flasche in die Luft, während Alan, außer sich vor Freude, die Arme um sie schlang.
Paolo, der immer noch gefährlich nahe am Abgrund stand, straffte die Schultern und nahm den Glasbehälter aus Miriams Hand, um einen Blick auf den todbringenden Inhalt zu werfen.
Da flog die Pestphiole plötzlich wie ein Jonglierball durch die Luft.
Alle hielten den Atem an, sahen Bilder von Tod und Verheerung vor dem inneren Auge, als Paolo das Ding mit der anderen Hand wieder auffing. »Kein Grund zur Aufregung«, meinte er mit einem Achselzucken. »Habe mir lediglich einen kleinen Scherz erlaubt.«
Alan stutzte einen Moment, dann brach er in schallendes Gelächter aus. Als der Lachanfall vorüber war, nahm er das Fläschchen trotzdem lieber an sich. Paolos neu erwachter Humor in allen Ehren, aber in dieser Sache konnten und durften sie nicht das geringste Risiko eingehen. Dann kletterten die vier zurück in den Glockenstuhl.
Nachdem die unmittelbare Gefahr abgewendet war, kehrten Jakes Gedanken sofort zu Topaz zurück.
»Ich werde sie holen«, erklärte er mit entschlossenem Blick. »Zeldts Galeone ist noch keine fünf Meilen weit weg. Ich werde die Aal nehmen. Wenn ich allein fahre, werde ich sie schnell eingeholt haben.«
»Die Lindwurm? Jake, das ist keine gute Idee«, entgegnete Miriam.
»Wir haben unseren Auftrag erfüllt. Was spricht also noch dagegen?«
Jakes Eltern sahen einander an, dann sagte Miriam leise, aber nachdrücklich: »Nun, unter anderem, dass wir anderslautende Befehle haben. Nathans Anweisungen waren sehr strikt. Es wird kein Versuch unternommen, Agentin St. Honoré zu retten, selbst wenn wir unseren Auftrag erfolgreich erfüllen.«
»Befehle?« Jake schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich werde nie wieder in den Spiegel schauen können, wenn ich es nicht wenigstens versuche.«
»Du wirst nirgendwohin mehr schauen, weil du tot sein wirst!« Miriam blickte ihren Mann verzweifelt an. »Sag’s ihm, Alan.«
»Sie hat recht. Das ist kein guter Plan.«
»Topaz’ momentane Lage hat mit dir nicht das Geringste zu tun, Jake«, fügte Miriam hinzu. »Die Sache ist sehr … kompliziert.«
»Überhaupt nichts ist kompliziert!« Jake spürte Zorn in sich aufwallen. »Es ist ganz einfach: Wenn keiner sie rettet, wird sie sterben. Und seit wann kümmert ihr euch um Befehle? Habt ihr etwa eure Befehle befolgt, als ihr losgezogen seid, um Philip zu suchen?«
Jake hatte damit gerechnet, dass seine Eltern nicht begeistert sein würden, und sich in Gedanken bereits einen Plan zurechtgelegt. Er nutzte das betretene Schweigen, das auf seine Frage hin entstanden war, schnappte sich das Fernrohr seines Vaters, rannte zu dem großen Korb voll Mauersteinen, der oben auf dem Gerüst stand, und leerte ihn aus. Mit einem schnellen Blick überprüfte er den Flaschenzug, an dem das Trageseil des Korbes befestigt war, dann schob er ihn über den Rand des Gerüsts und sprang hinein.
Miriam und Alan schrien laut auf, als das Gegengewicht nach oben sauste und Jake mit halsbrecherischer Geschwindigkeit nach unten schoss.
»Tut mir leid. Wartet hier auf mich!«, rief Jake nach oben.
»Jake!«, brüllten seine Eltern hilflos hinter ihm her.
Jake jagte dem steinernen Boden entgegen. Gerade noch rechtzeitig packte er das Seil mit dem Gegengewicht daran, um seinen Sturz vor der Landung abzubremsen. Der Korb schlug auf und zerschellte, Jake sprang heraus und lief durchs Hauptschiff Richtung Portal.
Miriam blickte ihren Gatten an. Sie hatte erwartet, Alan vor Zorn überschäumen zu sehen. Doch was sie stattdessen erblickte, war väterlicher Stolz.
»Würdest du bitte aufhören, so zu schauen?«, fragte sie mit drohender Stimme.
»Hast du denn schon vergessen, wie wir uns kennengelernt haben?«, fragte Alan zurück. »In Ägypten, 872? Du hast zwei feindliche Stellungen durchbrochen und dich bis zwanzig Meter unter die Cheopspyramide durchgegraben, um zu mir durchzukommen. Es scheint, als würde sich die Geschichte manchmal doch wiederholen.«
Alan beobachtete, wie sein Sohn tief unter ihnen aus dem Kirchenportal hinauspreschte und Richtung Hafen davoneilte. »Er ist eben ein Abenteurer durch und durch«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Daran lässt sich wohl nichts ändern.«
29
DIE SCHRECKLICHE WAHRHEIT
Die Aal jagte über den Rhein. Jake peitschte das Schiff durch die Windungen des Flusses, wich Strudeln aus, navigierte zwischen Galeonen, Handelsschiffen und Fähren hindurch, deren Kielwasser klatschend gegen den Bug schlug. Während der ganzen Zeit hatte er den Blick fest auf den Horizont gerichtet und hielt Ausschau nach den roten Segeln von Zeldts Schiff.
Alle zwanzig Minuten vergewisserte er sich, dass der Weg vor ihm frei war, und rannte unter Deck, um Holz für den Kessel nachzulegen. Der ursprünglich große Vorrat ging rasch zur Neige, aber Jake hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er es schaffen würde.
Die Aal eilte an Düsseldorf und Duisburg vorbei. Die Menschen in der Hafengegend schienen sich wie in Zeitlupe und mit größter Vorsicht zu bewegen, als warteten sie immer noch auf die Katastrophe, die unweigerlich auf die beängstigende Sonnenfinsternis folgen musste.
Dann, gleich hinter dem Städtchen Emmerich, stand Jake vor einem Dilemma: Eine halbe Meile vor ihm teilte sich der Fluss, und mit ihm der Schiffsverkehr. Er zog das Fernrohr heraus, konnte die roten Segel der Lindwurm aber nirgendwo entdecken. Unsicher, was er tun sollte, hielt er auf die Landzunge zu, zu deren Seiten sich der Rhein aufteilte. Schließlich entschied Jake sich für den rechten Arm, der ihm etwas breiter erschien.
Es war die falsche Entscheidung. Er hatte die Aal gerade hineingesteuert, da erblickte er auf der anderen Seite die Lindwurm. Hektisch riss er das Ruder herum, und das kleine Schiff begann bedenklich zu schwanken, als es sich in die Kurve legte. Eine hohe Welle klatschte schäumend gegen die Seitenwand, rollte mit voller Wucht über das Deck hinweg und hätte Jake beinahe von Bord gespült. Doch er hielt sich mit aller Kraft am Ruder fest und zwang das Schiff um die Kurve. Im aufgewühlten Wasser an der Spitze der Landzunge hin und her geworfen, geriet die Aal plötzlich in die Fahrlinie einer großen Fähre. Die Passagiere an deren Deck schrien entsetzt auf, es folgte ein dumpfer Knall und das Splittern von Holz. Die Fähre segelte unbeirrt weiter, und die Aal war zwar beschädigt, aber noch fahrtüchtig, und endlich fand Jake sich im ruhigeren Wasser des anderen Seitenarms wieder.
Je näher Jake dem Meer kam, desto breiter wurde der Rhein, und die Aal holte schnell auf. Endlich erreichte er die Bucht von Hellevoetsluis und sah vor sich die endlose Weite der Nordsee.
Die Sonne näherte sich bereits dem Horizont und tauchte den Himmel in Rosa-und Zinnoberrot. Es herrschte absolute Windstille, die Luft wurde warm und wärmer.
Jake suchte das Wasser vor sich ab. Etwa fünfzehn Schiffe lagen über die Bucht verteilt. Schließlich entdeckte er die Lindwurm am anderen Ende der Bucht. Nahe dem Ufer lag sie vor einem kleinen Fischerdorf im seichten Wasser vor Anker.
Wieder zog Jake das Fernrohr heraus. Am Heck der Lindwurm war ein Ruderboot vertäut, von dem Proviant an Bord der Galeone gebracht wurde. Kaum war die Aufgabe erledigt, wurden die Leinen losgemacht, und das kleine Boot ruderte zurück ans Ufer, während die Besatzung der Lindwurm den großen, von Muscheln überzogenen Anker lichtete und eilig letzte Vorbereitungen für die bevorstehende Reise traf.
Jake schlüpfte unter Deck, stellte die Dampfmaschine ab und pirschte sich im Schutz der Dämmerung näher heran. Lautlos glitt die Aal übers Wasser.
Während sein kleines Schiff näher herankam, bewunderte Jake die Lindwurm in ihrer ganzen Majestät. Die mächtigen Rumpfplanken rochen immer noch nach den endlosen Wäldern des Rheinlands, aus deren kräftigen Bäumen sie gezimmert waren. Die riesigen Segel schimmerten samten im Rot der untergehenden Sonne.
In regelmäßigen Abständen am imposanten Rumpf entlang sah Jake rechteckige Öffnungen, aus denen warmes Licht in die Dunkelheit der beginnenden Nacht fiel. Hinter einer dieser Öffnungen – am Heck und mit Gittern davor – entdeckte er eine vertraute Silhouette. Er richtete das Teleskop auf die Gestalt und sah, wie sie verloren hinaus auf die Wellen starrte. Es war Topaz.
Da ertönte eine strenge Befehlsstimme, und mit einem tiefen Rumoren erwachte die Maschine der Lindwurm zum Leben. Blasen stiegen im zuvor noch spiegelglatten Kielwasser auf, und der hölzerne Behemoth setzte sich in Bewegung, hinaus aufs offene Meer.
Jake wollte Topaz etwas zurufen, aber es standen zu viele Wachen an Deck. Da entdeckte er die Seile, mit denen das Ruderboot festgemacht gewesen war. Nicht weit von Topaz’ Fenster hingen sie bis hinab in die Wellen.
Als die Lindwurm längsseits kam, stieß Jake sich mit aller Kraft von der Aal ab, packte im Sprung das glitschige Seil – und krachte mit voller Wucht gegen den Rumpf der Galeone. Hilflos am Seil baumelnd sah er, wie die Aal führerlos auf den Hafen des kleinen Dörfchens zutrieb, wo sie zwischen den anderen Fischerbooten verschwand.
Als Jake nach unten blickte, bemerkte er, dass er direkt über der gigantischen Schiffsschraube hing, deren Blätter das Wasser unter ihm aufwirbelten. Anfangs hatte sie sich noch ganz langsam gedreht, doch jetzt, da die Lindwurm Fahrt aufgenommen hatte, peitschten ihre Blätter nur so durchs Wasser. Erschrocken über den bedrohlichen Anblick, verlor Jake einen Moment lang die Konzentration und lockerte seinen Griff um das Seil. Sofort rutschte er nach unten, das Tau schnitt in seine Handfläche, und er konnte seinen Fall gerade noch rechtzeitig bremsen. Unter den Sohlen seiner Stiefel spürte er die Wirbel der sichelnden Schiffsschraube.
Er wickelte das Tau um den Unterarm und zog sich ein Stück hinauf. Seine Stirn war schweißnass, Wellen klatschten gegen seine Stiefel, und Jake begann hin und her zu schaukeln, bis er mit der anderen Hand das zweite Tau erwischte. Mit zusammengebissenen Zähnen hangelte er sich an blutigen Händen hinauf bis zu Topaz’ Fenster und spähte keuchend in die Kabine.
Bis auf die Möbel aus dunklem Holz und die abschreckenden Porträts von Zeldts grausamen Vorfahren war sie leer. Eines der Gemälde zeigte Zeldt selbst, wie er mit grimmigem Blick eine Weltkugel im eisernen Griff seiner leichenblassen Hand hielt. Der Anblick jagte Jake einen kalten Schauer über den Rücken und machte ihm auf unangenehme Weise seine prekäre Lage als Eindringling an diesem verbotenen Ort bewusst.
Vor einem Kamin standen zwei Stühle mit hohen, breiten Lehnen. Hinter dem, der näher beim Fenster stand, kam eine zierliche Hand zum Vorschein und nahm ein Buch von einem Beistelltisch.
»Topaz?«, flüsterte Jake.
Die Hand hielt inne.
»Ich bin’s, Jake!«
Aufgeschreckt sprang Topaz auf die Füße. Sie trug einen langen schwarzen Umhang, der ihr Gesicht noch blasser erscheinen ließ. Als sie Jake am Fenstergitter baumeln sah, schnappte sie laut nach Luft. Hektisch warf sie das Buch von sich und eilte zum Fenster.
»Que fais-tu ici? Was zum Teufel machst du hier?«, fragte sie beinahe erzürnt.
Jake erschrak über die wenig freundliche Begrüßung. »Ich hoffe, du bist nicht verletzt«, fragte er leise und hoffte, dass er Topaz’ Tonfall missinterpretiert hatte. Hatte er nicht.
»Weshalb bist du hier?«, fauchte sie ihn mit funkelnden Augen an.
»Ich bin gekommen, um dich zu retten«, erklärte er atemlos. »Die Pestbombe im Dom – wir haben sie entschärft, Topaz! Und jetzt bin ich hier, um dich zu holen. Ich kam, so schnell ich konnte.«
Bei diesen Worten huschte der Anflug eines Lächelns über Topaz’ Lippen, dann wurde ihr Blick wieder hart. »C’est très dangereux«, flüsterte sie mit einem angsterfüllten Blick auf die Kabinentür. »Wir sind noch nicht weit von der Küste entfernt. Du kannst zurückschwimmen. Nutz die Gelegenheit!«
Jake fühlte sich, als hätte ihn ein Vorschlaghammer getroffen. »Du willst gar nicht gerettet werden?«
»Ich denke nicht an mich, sondern an dich. Ich komme schon zurecht, aber du würdest hier den Tod finden. So sicher wie das Amen in der Kirche. Deshalb, bitte, schwimm zurück an Land.« Dann fügte sie – vielleicht, um ihre wahren Gefühle zu verbergen, vielleicht aber auch, um wenigstens ein bisschen Dankbarkeit zu zeigen – etwas sanfter hinzu: »Ich bin so erleichtert zu sehen, dass du wohlauf bist. Und was ist mit Nathan, Charlie …?«
»Sie sind hinter den Büchern her. Wir wissen nicht, ob sie es geschafft haben. Aber meine Eltern sind in Sicherheit.«
»Du hast sie gefunden? O Jake, das freut mich für dich! Ich habe es immer gewusst!« Mit beiden Händen ergriff sie Jakes klamme Finger an den Gitterstäben und senkte den Kopf, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte.
Wild entschlossen unternahm Jake noch einen letzten Versuch. »Topaz«, sagte er mit durchdringender Stimme, »ich bin gekommen, um dich zu retten, und ich habe nicht vor, unverrichteter Dinge wieder abzuziehen. Ich komme jetzt an Bord!«
»Nein! Das ist ein Befehl, Jake. Ich bin immer noch die Leiterin dieses Einsatzes!«
»Dann verweigere ich eben den Gehorsam«, erwiderte Jake und kletterte auf das Fenstersims.
»Jake, zurück mit dir – sofort!«, befahl Topaz. »Du kannst hier nicht …«
Aber Jake hörte ihre Worte nicht einmal. Zielstrebig kletterte er die Schiffsplanken hinauf an Deck und versteckte sich zwischen den Proviantkisten. Der größte Teil der Besatzung war bereits unter Deck gegangen, aber eine Gruppe Wachen stand immer noch am Bug. Leise hob Jake zwei der Kisten auf und hielt sie so, dass die Soldaten sein Gesicht nicht sehen konnten. Dann ging er zu dem nächsten Niedergang, der unter Deck führte.
Unterdessen war einer von Zeldts Soldaten mit einem Tablett voll Essen auf dem Weg zu Topaz’ Kabine. Das Tablett in der einen Hand, zog er einen Schlüssel aus seinem Umhang, öffnete die Tür und trat ein.
Während die Wache das Tablett abstellte, blickte Topaz nervös auf die offene Tür. Sie tat so, als wolle sie nachsehen, welche Köstlichkeiten Zeldt ihr auftragen ließ, trat auf die Wache zu – und holte den Mann mit einem blitzschnellen Ellbogenstoß zum Kinn von den Beinen. Topaz drehte ihm den Arm auf den Rücken und drückte ihn mit dem Knie zu Boden, während sie ihm mit einer Hand den Mund zuhielt und mit der anderen den Dolch aus seiner Gürtelscheide zog.
»Keinen Mucks!«, zischte sie.
Ängstlich starrte der Soldat auf die Klinge, die wenige Millimeter vor seinem Augapfel schwebte.
In diesem Moment kam Jake hereingestürmt, stellte die Kisten ab und verriegelte die Tür hinter sich.
»Hilf mir, schnell!«, wies Topaz ihn an. »Die Vorhangschnüre – da drüben!«
Jake riss die beiden Seilstücke vom Fenster.
»Fessle ihn«, befahl Topaz.
Jake fesselte die Beine und Hände des Soldaten, während Topaz den Samtgürtel um ihre Hüfte löste und den Schergen damit knebelte.
»Hier rüber!« Topaz bedeutete Jake, ihr beim Tragen zu helfen. Zusammen hoben sie den sich windenden und zappelnden Soldaten in eine Truhe aus Eichenholz, Topaz verschloss den Deckel und setzte sich darauf. Keuchend blickte sie Jake mit leuchtenden Augen an. »Es war sehr mutig von dir hierherzukommen, Jake, aber jetzt musst du verschwinden, sofort!«
»Nein. Red keinen Unsinn. Wir werden gemeinsam fliehen.«
»Zu spät. Ich habe das Atomium bereits getrunken. Es war eine extrem hohe Dosis. Mir war beinahe eine ganze Stunde lang schlecht, und das ist mir noch nie passiert. Was bedeutet, dass wir weit, sehr weit, in der Zeit zurückreisen werden. Möglicherweise über das Jahr null hinaus.« Topaz’ Augen wanderten zu der Kaminuhr. »In weniger als dreißig Minuten erreichen wir den Horizontpunkt. Du musst los.«
Jakes Kopf drehte sich. »Atomium? Horizontpunkt? Weiter als vor Christi Geburt? Wovon redest du überhaupt?«
Topaz verlor die Geduld. »Ich werde mit Zeldt gehen, egal wohin. Mesopotamien, Assyrien, vielleicht auch Ägypten. Ich weiß es nicht.«
»Aber du kannst immer noch von hier verschwinden«, protestierte Jake kopfschüttelnd.
Topaz atmete einmal tief durch und schlug Jake sanft mit der Hand gegen die Stirn. »Ich bin hier auf einem Einsatz, verstehst du. Ein Einsatz.«
»W-was?«, stammelte Jake.
»Bevor wir Mont Saint-Michel verlassen haben, hat Kommandantin Goethe darum gebeten, Nathan und mich unter vier Augen zu sprechen – erinnerst du dich? Wir kamen überein, dass ich, sollte ich gefangen genommen werden, keinen Widerstand leisten würde. Wir haben nicht die geringste Ahnung, wo Zeldt sich mit seinen Getreuen versteckt hält. Sein Unterschlupf könnte an jedem Ort der Welt sein, in jedem beliebigen Jahrhundert. Dies hier ist seit Jahren die erste Gelegenheit herauszufinden, wo er sich verkrochen hat.«
Allmählich begriff Jake, warum Nathan darauf bestanden hatte, dass sie keinen Versuch unternahmen, Topaz zu retten.
»Dann komme ich eben mit dir«, sagte er entschlossen. »Ich habe immer noch das Atomium, das du mir in Venedig gegeben hast.« Er zog die Kette mit der Phiole daran hervor. »Das nehme ich jetzt einfach.« Er machte Anstalten, das Fläschchen zu öffnen.
»Das geht nicht, Jake!«, rief Topaz und riss ihm das Atomium aus der Hand. »Alle Reisenden müssen exakt dieselbe Dosis zu sich nehmen. Und selbst wenn ich wüsste, wie viel es ist, oder wohin wir reisen – was ich nicht tue –, wäre es für einen Neuling wie dich viel zu riskant, mehr als tausend Jahre durch die Zeit zu reisen. Es könnte dich umbringen, ganz zu schweigen von allen anderen hier an Bord.« An dieser Stelle wurde ihr Ton wieder etwas sanfter. »Außerdem muss ich das hier allein erledigen.«
»Du musst den Verstand verloren haben! Zeldt ist doch nicht bescheuert. Er wird merken, was du vorhast, und dich töten.«
»Er wird mich nicht töten. Das kann ich dir versichern.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben!«, erwiderte Topaz so vehement, dass Jake unwillkürlich zusammenzuckte.
Mit einem Mal tat es Topaz leid. Sie streckte die Hand aus und fuhr Jake durchs Haar. »Die Sache ist kompliziert«, sagte sie leise.
»Kompliziert?«, wiederholte Jake. Genau dasselbe Wort hatte seine Mutter benutzt. Wovon, verdammt noch mal, redeten sie alle?
Da hörten sie das Klappern eines Schlüssels. Topaz’ Blick schoss hinüber zur Tür. Blitzschnell schob sie Jake in einen Wandschrank. »Keinen Laut, keine Heldentaten!«, befahl sie und schloss die Schranktüren hinter ihm.
Mina Schlitz kam steif in die Kabine geschritten.
Jake bückte sich und spähte durch den Türspalt. Er konnte Minas schwarzes Gewand und die rote Schlange an ihrem Handgelenk sehen.
»Was wollt Ihr?«, fragte Topaz kühl, ohne das geringste Anzeichen von Respekt oder gar Angst vor ihrer Feindin zu zeigen.
Einen Moment lang starrten die beiden einander an – Gegenpole, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Mina in ihrer eng sitzenden Uniform, mit eiskaltem, undurchdringlichem Blick und rabenschwarzem Haar, drohend wie ein Fallbeil; vor ihr Topaz mit ihren honigfarbenen Locken und indigoblauen Augen, diesem Spiegel ihrer tiefen, sich ständig verändernden Gefühle.
»Der Prinz wird Euch nun empfangen«, erwiderte Mina in gelangweiltem Tonfall.
»Wenn ich vielleicht zuerst noch eine Kleinigkeit zu mir nehmen dürfte?«, fragte Topaz mit gespielter Höflichkeit. »Eine so große Menge Atomium auf leeren Magen wäre selbst für Euch ein bisschen viel gewesen.«
Minas Schlange wurde sichtlich unruhig. Sie hob den Kopf und züngelte neugierig in Richtung des Wandschranks.
»Fünf Minuten«, gab Mina zurück und wandte sich zur Tür. Als sie die Kisten auf dem Boden sah, blieb sie ruckartig stehen.
Da ertönte ein Pochen aus der Eichentruhe.
Sofort zog Mina ihr Schwert, sprang auf die Truhe zu und hebelte den Deckel auf.
Instinktiv brach Jake aus seinem Versteck hervor und stürzte sich auf Mina. Er versuchte, sie zu packen, aber sie war zu schnell – mit einem harten Fausthieb schickte sie ihn zu Boden und presste ihm mit unbarmherziger Kraft einen Absatz ins Genick.
»Eure Widerspenstigkeit geht mir allmählich auf die Nerven«, knurrte sie durch die zusammengebissenen Zähne.
Bis auf das spärliche Licht, das ein paar pechschwarze Kerzen spendeten, war Zeldts Kabine stockdunkel. Der Raum war genauso prunkvoll wie schauerlich dekoriert: Eine komplette Wandseite wurde von Glasvitrinen eingenommen, in denen die einbalsamierten Köpfe getöteter Feinde zur Schau gestellt waren. Zeldt besaß Trophäen aus jedem Zeitalter. Es waren alte und junge Gesichter darunter, manche davon trugen noch ihre exotischen Kopfbedeckungen, und alle hatten sie den gleichen Ausdruck des Entsetzens in den Augen, für alle Zeiten konserviert in dem Moment, als sie kaltblütig hingerichtet worden waren.
Beinahe unsichtbar saß Zeldt an einem Schreibpult, auf dem eine Karte ausgebreitet lag. Neben ihm stand der Kapitän der Lindwurm und wartete auf letzte Befehle für die Reise.
Als Mina in Begleitung von zwei Wachen mit Jake und Topaz die Kabine betrat, blickte er nicht einmal auf. Mina trat neben ihren Herrn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Kerzenschimmer erhellte sein blasses Gesicht, als er kaum merklich den Kopf drehte. Ohne erkennbare Gefühlsregung wandte er sich wieder dem Kapitän zu, überreichte ihm die Seekarte und schickte ihn hinaus. Er warf noch einen letzten Blick auf ein Stück Pergament auf dem Pult, dann erhob er sich endlich und schritt auf seine Gefangenen zu, bis er Jake Auge in Auge gegenüberstand.
Jake sprach als Erster. »Euer Plan scheint nicht aufgegangen zu sein«, sagte er provozierend.
Zeldt erwiderte nichts.
»Sieht ganz so aus, als würde die Renaissance stattfinden wie geplant«, ließ Jake nicht locker. »Eine die Welt so tief greifend zum Positiven verändernde Entwicklung lässt sich wohl doch nicht so leicht aufhalten, wie Ihr dachtet, verehrter Prinz.«
»Jake«, flüsterte Topaz, »mach es nicht noch schlimmer für dich.«
Es kam ein Klopfen von der Tür. Ein finster dreinblickender Matrose verkündete: »Fünf Minuten bis zum Horizontpunkt«, und verschwand.
»Für gewöhnlich bekommen nur würdige Gegenspieler einen Platz in meiner kleinen Sammlung«, sagte Zeldt ganz ruhig und deutete mit ausladender Geste auf seine Trophäensammlung. »Gegner von einer gewissen Verve und Intelligenz. Und obgleich du eine solche Ehre nicht verdienst, könnte es mir eine Zeit lang gefallen, dein banales Antlitz mit all deiner fehlgeleiteten Hoffnung darin zu sehen. Es wäre ein sehr passender Beleg für meinen unerschütterlichen Glauben, dass die Finsternis stets obsiegen wird.« Zeldt senkte seine Stimme und deutete auf die grausigen Überreste des Kopfes eines Aristokraten aus dem achtzehnten Jahrhundert. »Dieser feine Herr dort hat, wie selbst dir auffallen dürfte, seine besten Tage bereits hinter sich – die französische ›Einbalsamierkunst‹ scheint mir doch einiges zu wünschen übrig zu lassen –, doch könntest du, wie ich meine, den Gentleman durchaus für eine Weile ersetzen.«
Mina lächelte boshaft, als Zeldt eine Schublade mit einem ganzen Arsenal von mit größter Handwerkskunst gefertigten Waffen öffnete. Er strich mit den Fingern über jedes einzelne Stück und entschied sich für eine Pistole.
»Dies hier ist ein intelligent gefertigtes Gerätchen. Wie du wahrscheinlich wissen wirst, können wir bedauerlicherweise keine echten Explosiva mit uns führen, doch diese kleine Waffe verschießt mittels Druckluft mit Schwefelsäure gefüllte Kügelchen. Sie werden ein hübsches Loch in deinen Schädel fressen und dann dein Gehirn verdampfen lassen.« Zeldt reichte Mina die Waffe. »Stellt sie auf maximalen Druck.«
Mina tat wie geheißen und überprüfte noch einmal den Abzug, bevor sie Zeldt die Pistole zurückgab.
Zeldt reichte die Waffe an Topaz weiter. Als die keine Anstalten machte, sie entgegenzunehmen, ergriff der Prinz ihre Hand und legte Topaz’ Finger um den Griff, ging hinüber zu einem schwarzen Diwan, der vor dem grauenhaften Schaukasten stand, und setzte sich mit überkreuzten Beinen.
»Bitte, erschießt ihn«, sagte er mit einer Seelenruhe, die Jake das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»Non.« Topaz schüttelte den Kopf. »Vous êtes fou. Ihr müsst den Verstand verloren haben.«
»Aber, aber. Schmeicheleien werden Euch nicht helfen, das wisst Ihr doch, meine Liebe.«
Zeldt nickte Mina zu, sie packte Jakes linke Hand – die von dem Tau beinahe bis auf den Knochen durchgescheuert war – und bohrte ihren Dolch in die Wunde.
Jake schrie auf und krümmte sich vor Schmerz. Galle schoss seine Speiseröhre hinauf, und seine Finger zuckten unkontrolliert.
»Er wird ohnehin sterben. Wie viel Schmerz gedenkt Ihr, ihm bis dahin zuzumuten? Kommt schon, erschießt ihn«, wiederholte Zeldt.
Mina bohrte die Spitze ihrer Klinge noch weiter in Jakes zitternde Hand, bis sie eine Sehne gefunden hatte. Ihre Mundwinkel bogen sich vor Verzückung nach oben, als sie die Sehne beinahe durchtrennte.
Jake musste würgen. Ihm war übel vor Schmerz. Entfernt hörte er das bösartige Zischeln von Minas Schoßtier.
»Hört auf!«, schrie Topaz. Tränen schossen aus ihren Augen. »Ich werde es tun. Hört nur auf, ihm wehzutun, ich flehe Euch an!«
Zeldt blickte Jake mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Das kleine Luder scheint dich wirklich ins Herz geschlossen zu haben. Nimm das als warme Erinnerung mit in dein feuchtes Grab. Und jetzt erschießt ihn.«
Mit zitternder Hand zielte Topaz auf Jakes Kopf.
Jakes Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er den kalten Lauf an der Schläfe spürte. »T-Topaz?«, stotterte er.
»Es tut mir leid … Es tut mir so unendlich leid.« Ein Sturzbach von Tränen ergoss sich über ihre Wangen. »Aber die Folter wäre noch weit schlimmer für dich.« Mit diesen Worten krümmte sie den Finger um den Abzug.
Jake hörte auf zu atmen. Angst lähmte jeden Gedanken, und tausend Bilder schossen durch seinen Kopf, von seinen Eltern, seinem Bruder, seinem gesamten Leben – alles zog in Sekundenbruchteilen an ihm vorbei.
Zeldt richtete sich auf. Im flackernden Zwielicht war sein Gesicht kaum zu unterscheiden von den Trophäen in der Vitrine dahinter.
Topaz betätigte den Abzug, fuhr blitzschnell herum – und feuerte auf Zeldt. Die Schwefelpatrone zischte um Haaresbreite an seinem Kopf vorbei und schlug in der Glasvitrine ein, deren Frontscheibe in tausend Stücke zersprang.
Der Prinz blickte sich überrascht um, und ein Teil der Säure spritzte ihm ins Gesicht. Schreiend und blind vor Schmerz schlug er um sich, während der Kopf eines tapferen persischen Fürsten vom Regal kippte und mit einem nassen Klatschen auf den Boden schlug.
»Lauf!«, schrie Topaz Jake zu und trat Mina den Dolch aus der Hand.
Doch Jake war immer noch benommen vor Schmerz. Sein Kopf drehte sich. Er konnte die rettende Tür zwar sehen, aber sein Körper gehorchte ihm nicht, und er blieb regungslos sitzen.
Mina ging zum Gegenangriff über, zog ihr Schwert und ließ es auf Topaz niedersausen. Die Klinge zerteilte Topaz’ Umhang von oben bis unten, doch sie selbst schien keinen Kratzer abbekommen zu haben.
Jake humpelte los. Es kostete ihn alle Kraft, Minas Dolch vom Boden aufzuheben und ihn Topaz zuzuwerfen.
Topaz pflückte ihn mit einer schnellen Bewegung aus der Luft und stieß damit nach ihrer Gegnerin, die mit ausgestrecktem Schwertarm auf sie zustürzte, während Topaz versuchte, sie mit dem kleinen Messer in Schach zu halten.
»Lauf!«, schrie sie erneut.
»Ich hätte dich töten sollen, als wir noch Kinder waren«, fauchte Mina. »Ohne dich wären wir alle besser dran gewesen, du verdorbene kleine Prinzessin!«
»Wenn du mir auch nur ein Haar krümmst«, gab Topaz verächtlich zurück, »wird dein geliebter Prinz dich in Stücke schneiden lassen.«
Zeldt, der immer noch nichts sehen konnte, hatte Topaz’ Worte gehört und hob gebieterisch die Hand. »Mina, leg das Schwert weg!«, polterte er. »Niemand tut ihr etwas an!«
Fassungslos lauschte Jake dem Wortwechsel, während er ein Stück Stoff von der Polsterung des Diwan riss und sich damit die zerschnittene Hand verband. Doch es half nichts mehr. Der sengende Schmerz raste seinen Arm hinauf, rollte über Jake hinweg und verschlang ihn wie ein gefräßiges Ungeheuer. Jake sank bewusstlos zu Boden.
Als Mina kurz zögerte, nutzte Topaz die Gelegenheit, packte eine der Kerzen und warf sie in die Pfütze dampfender Chemikalien, die sich aus der geborstenen Vitrine ergossen hatte. Flammen schossen empor und breiteten sich in alle Richtungen aus, leckten an dem Kopf des gefallenen persischen Kriegers und den Wänden der Kabine.