Zweite Geschichte Niemandsraum

Prolog

Schon immer machten im Umland von Moskau entweder arme oder reiche Menschen Urlaub. Dagegen bevorzugt die Mittelklasse türkische Hotels, bei denen »alles inklusive ist, Getränke frei Hahn«, entscheidet sich für die Siesta im brütend heißen Spanien oder für den sauberen Strand Kroatiens. In Mittelrussland verbringt die Mittelklasse ihren Urlaub jedoch nicht gern. Übrigens ist die Mittelklasse in Russland nicht zahlreich.

Ein Biologielehrer gehört, selbst wenn er an einem renommierten Moskauer Gymnasium unterrichtet, nicht dazu. Wenn der Lehrer dann noch eine Lehrerin ist, deren Schweinehund von Mann sie vor drei Jahren wegen einer andern hat sitzen lassen und die um ihre Pflicht als Mutter, die beiden Kinder zu erziehen, nicht herumkommt, dann kann sie von türkischen Hotels nur träumen.

Glücklicherweise hatten die Kinder das schreckliche Alter der Pubertät noch nicht erreicht und freuten sich aufrichtig, zu der alten Datscha zu fahren, begnügten sich mit dem kleinen Fluss und dem direkt hinterm Dorf beginnenden Wald.

Bedauerlicherweise legte die ältere Tochter jedoch zu viel Gewicht auf ihren Status als Ältere. Freilich, mit zehn Jahren kann man schon recht gut auf den fünfjährigen Bruder aufpassen, wenn er in dem Flüsschen herumplanscht, sollte aber immer noch nicht - womöglich im Vertrauen auf die aus dem Schulbuch Unsere Heimat erworbenen Kenntnisse - zu tief in den Wald hineingehen.

Bislang war der zehnjährigen Xjuscha freilich nicht einmal bewusst, dass sie beide sich im Wald verlaufen hatten. Fest hielt sie ihren Bruder bei der Hand und ging einen kaum zu erahnenden Pfad entlang. »Und dann haben sie wieder Kiefernpflöcke in ihn hineingehauen!«, erzählte sie. »Einen Pflock in die Stirn, einen in den Bauch! Er ist aus dem Grab auferstanden und hat gesagt: »Trotzdem werdet ihr mich nicht umbringen! Ich bin schon lange tot! Und ich heiße…«Ihr Bruder wimmerte leise.

»Schon gut, keine Angst, das war doch nur ein Spaß«, sagte Xjuscha ernst. »Er ist umgefallen und war tot. Man hat ihn begraben und ein Fest gefeiert.«

»Sch-sch-schrecklich«, gab Romka zu. Er stotterte nicht vor Angst, er stotterte immer. »So was er-erzählst du mir nie wie-wieder, ja?«

»Versprochen«, erwiderte Xjuscha und sah sich um. Hinter ihnen ließ sich der Pfad noch erkennen, vor ihnen verlor er sich indes unter abgefallenen Tannennadeln und verfaulten Blättern. Unmerklich war der Wald schummrig und dunkel geworden. Er glich hier nicht mehr dem hinterm Dorf, wo ihre Mutter eine Datscha gemietet hatte, ein altes, aufgegebenes Haus. Sie mussten umkehren, bevor es zu spät war. Als ältere und besorgte Schwester wusste Xjuscha das. »Gehen wir nach Hause, sonst schimpft Mama noch mit uns.«

»Da ist ein Hund«, sagte ihr Bruder plötzlich. »Guck mal, da ist ein Hund!« Xjuscha drehte sich um.

Hinter ihr stand tatsächlich ein Hund. Ein großer grauer Hund mit Fangzähnen. Der sie ansah und das Maul aufriss, als lächle er.

»So einen Hund möchte ich haben«, sagte Romka ohne zu stocken und sah seine Schwester voller Stolz an.

Xjuscha, ein Stadtkind, hatte Wölfe bisher nur auf Bildern gesehen. Und im Zoo, wo es allerdings nur irgendwelche seltenen Sumatrawölfe gab… Jetzt bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Gehen wir, komm«, hauchte sie ganz leise und packte Romka fester bei der Hand. »Das ist ein fremder Hund, mit dem dürfen wir nicht spielen.«

Vermutlich erschreckte irgendetwas in ihrer Stimme Romka. Und zwar so, dass er nicht zu heulen anfing, sondern die Schwester von sich aus an der Hand fasste und ihr gehorsam folgte.

Der graue Hund blieb ein Weilchen stehen und lief den Kindern dann langsam hinterher.

»Er ff-folgt uns«, sagte Romka, als er sich einmal umdrehte. »Xjucha, ist da-das ein Wolf?«

»Das ist ein Hund«, erwiderte Xjuscha. »Du darfst nicht wegrennen, hörst du? Wölfe beißen diejenigen, die wegrennen!«

Der Hund stieß einen hüstelnden Laut aus, fast eine Art Lachen.

»Lauf!«, schrie Xjuscha. Und sie rannten los, quer durch den ganzen Wald, durch das dichte pikende Gebüsch, vorbei an einem fürchterlich hohen Ameisenhaufen, der groß wie ein erwachsener Mann war, entlang an einer Reihe moosbewachsener Baumstümpfe; irgendjemand musste hier ein Dutzend Bäume gefällt und abtransportiert haben.

Bald verschwand der Hund, bald tauchte er wieder auf. Hinter ihnen, rechts, links. Von Zeit zu Zeit hüstelnd. Oder lachend. »Er lacht über uns!«, schrie Romka unter Tränen.

Der Hund war jetzt irgendwohin verschwunden. Xjuscha blieb an einer mächtigen Eiche stehen und drückte Romka an sich. Normalerweise sträubte sich ihr kleiner Bruder seit einiger Zeit gegen solche Zärtlichkeiten, doch diesmal leistete er keinen Widerstand, presste sich mit dem Rücken gegen seine Schwester und bedeckte die Augen verängstigt mit den Händen. »Ich ha-habe kei-keine Angst«, beteuerte er immer und immer wieder mit kaum hörbarer Stimme. »Hier ist niemand.«

»Nein, hier ist niemand«, versicherte Xjuscha. »Nun heul doch nicht! Der Wol… Hund passt auf seine Jungen auf. Deshalb hat er uns weggejagt. Hast du das verstanden? Wir gehen jetzt nach Hause.«

»Ja«, stimmte Romka erleichtert zu und nahm die Hände vom Gesicht. »Oj, da sind die Jungen!«

Die Angst verschwand, sobald er die aus dem Gebüsch heraustretenden Jungen sah. Drei kleine graue Tiere mit hoher Stirn und dummen Augen. »Die Ju-Jungen…«, rief Romka begeistert.

Xjuscha wollte panisch zur Seite springen. Die Eiche, gegen die sie sich pressten, ließ sie jedoch nicht los - das Baumwollkleidchen klebte fest am Harz. Xjuscha zerrte heftiger, der Stoff knisterte, löste sich.

Dann sah sie den Wolf. Er stand hinter ihr und lächelte. »Wir müssen auf den Baum raufklettern…«, flüsterte Xjuscha. Der Wolf lachte auf.

»Ob er nur will, dass wir mit seinen Jungen spielen?«, fragte Romka hoffnungsvoll.

Der Wolf schüttelte den grauen, dunkel gefleckten Kopf. Antwortete gleichsam: nein, nein. Ich möchte, dass meine Jungen mit euch spielen.

Dann schrie Xjuscha, so laut und durchdringend, dass selbst der Wolf einen Schritt zurücktrat und die Schnauze verzog. »Hau ab! Hau ab!«, brüllte Xjuscha und vergaß, dass sie ja bereits ein großes und ein tapferes Mädchen war.

»Schreit doch nicht so«, erklang es da in ihrem Rücken. »Ihr weckt ja den ganzen Wald auf…«

Mit aufkeimender Hoffnung drehten sich die Kinder um. Neben den Wolfsjungen stand eine erwachsene Frau, eine schöne, schwarzhaarige Frau, barfuß und in einem langen Leinengewand. Der Wolf knurrte drohend.

»Ganz brav«, sagte die Frau. Sie beugte sich vor und packte eines der Jungen beim Fell, das so reglos in ihren Armen hing, als schlafe es. Die andern waren ebenfalls an ihrem Platz erstarrt. »Wen haben wir denn hier?«

Der Wolf achtete nun nicht mehr auf die Kinder, sondern steuerte finster auf die Frau zu. Die stimmte einen Singsang an:

Wolfsdickicht, Dunkel, Grauen

Niemals werd ich euch vertrauen.

Der Wolf blieb stehen. Den Blick auf ihn gerichtet, beendete die Frau ihr Lied:

Seh die Wahrheit, seh die Lüge,

Erkenn in dir - wessen Züge?

Der Wolf fletschte die Zähne.

»Aj, aj, aj…«, sagte die Frau. »Und was sollen wir jetzt mit dir machen?«

»Geh… weg…«, bellte der Wolf. »Geh… weg… He-xe…«

Die Frau warf das Wolfsjunge ins weiche Moos. Gleichsam als falle die Erstarrung nun von den Jungen ab, rannten sie panisch zu dem Wolf hin, krochen unter seinen Bauch.

Drei Kräuter und Birkenrinde,

Dazu Wolfsbeeren, nicht gelinde,

Ein paar Tropfen Blut, ein paar Tränen

Und Ziegenfell, der Haare Strähnen…

Gerührt, geknetet, einerlei -

Mein Sud steht mir noch später frei.

Der Wolf wich zurück, seine Jungen taten es ihm nach. Feierlich fuhr die Frau fort:

Für dich da heißt's jedoch,

Dass jeder Zauber sich aus dir verkroch!

Wie vier graue Blitze - ein großer und drei kleine - schossen die Tiere von der Lichtung fort ins Gebüsch. Durch die Luft wirbelten Büschel grauen Fells. Es roch so stark nach Hund, als sei hier nach einem Regenguss ein ganzes Rudel vorbeigekommen. »Si-sind Sie eine He-hexe, Tante?«, fragte Romka ganz leise.

Die Frau lachte. Sie trat an ihn heran und nahm seine Hand. »Gehen wir.«

Die Hütte stand durchaus nicht auf Hühnerbeinen, was Romka sehr enttäuschte. Ein ganz normales Holzhäuschen mit kleinen Fenstern und einem winzigen Flur.

»Wo ist Ihr Da-dampfbad?«, fragte Romka, während er den Kopf in alle Richtungen drehte.

»Wozu brauchst du ein Dampfbad?«, lachte die Frau. »Möchtest du dich waschen?«

»Sie mü-müssen erst das Da-dampfbad anheizen, dann uns füt-füttern, und erst danach können Sie uns aufessen«, erklärte der Junge völlig ernst.

Xjuscha packte ihn bei der Hand. Doch die Frau war nicht gekränkt. »Verwechselst du mich mit der Hexe Baba-Jaga?«, fragte sie lachend. »Aber vielleicht erlässt du es mir, das Dampfbad anzuheizen? Ich habe sowieso keins. Und essen werde ich euch auch nicht. »

»G-gut«, freute sich Romka.

Auch im Haus erinnerte nichts an das Zuhause der von sich selbst so eingenommenen Baba-Jaga. An der weißen Wand tickte eine Uhr, an der Decke hing eine prachtvolle Lampe mit Samttroddeln, auf einem wackeligen Regal stand ein Fernseher der Marke Philips. Es gab einen russischen Ofen, der jedoch derart mit allerlei Krimskrams zugestopft war, dass kein Zweifel aufkommen konnte: Hier wurden schon seit langer Zeit keine tapferen Recken und kleinen Kinder mehr gebacken. Das Einzige, was solide und geheimnisvoll aussah, war der große Bücherschrank mit den alten Bänden. Xjuscha ging zum Schrank und betrachtete die Rücken. Ihre Mutter sagte stets, ein intelligenter Mensch müsse sich in einer fremden Wohnung zunächst die Bücher des Gastgebers und erst danach den Rest ansehen.

Die Bücher waren abgenutzt, die Titel kaum zu lesen. Und das, was Xjuscha lesen konnte, war zwar auf Russisch geschrieben, aber trotzdem völlig unverständlich. Ihre Mutter hatte ebenfalls solche Bücher: Helminthologie, Ethnogenese… Xju-scha seufzte und ging vom Schrank weg.

Romka hatte sich bereits an den Tisch gesetzt, die Hexe goss ihm gerade mit Wasser aus einem weißen Elektrokessel Tee auf.

»Möchtest du einen Tee?«, fragte sie freundlich. »Der ist lecker, ich mache ihn aus Waldkräutern…«

»Le-lecker«, bestätigte Romka, obwohl ihm eher daran gelegen war, einen Kringel in Honig zu stippen, als Tee zu trinken. »Ss-setz dich, Xjucha.«Xjuscha setzte sich, ließ sich höflich eine Tasse geben.

Der Tee schmeckte in der Tat gut. Die Hexe trank ebenfalls davon. Lächelnd betrachtete sie die Kinder.

»Und wir verwandeln uns auch nicht in Ziegen, wenn wir den Tee trinken?«, fragte Romka plötzlich. »Warum solltet ihr das?«, wunderte sich die Hexe.

»Weil Sie uns verzaubern«, erklärte Romka. »Weil Sie uns in Ziegen verwandeln und dann aufessen.«

Allem Anschein nach brachte er der geheimnisvollen Retterin kein uneingeschränktes Vertrauen entgegen.

»Und warum sollte ich euch erst in stinkende Ziegen verwandeln, bevor ich euch esse?«, empörte sich die Hexe. »Wenn ich euch essen wollte, dann würde ich euch auch ohne jede Verwandlung essen. Du solltest dir weniger von Rou ansehen, mein Junge!«

Romka blähte die Wangen und trat Xjuscha mit dem Fuß. »Wer ist Rou?«, flüsterte er.

Xjuscha wusste es nicht. »Trink deinen Tee und halt den Mund!«, zischte sie. »Das ist irgendein Zauberer…«

Sie verwandelten sich nicht in Ziegen, der Tee schmeckte gut, der Honig und die Kringel noch besser. Die Zauberin befragte Xjuscha nach ihren Leistungen in der Schule. Sie pflichtete ihr bei, dass die vierte Klasse einfach grauenvoll war, mit der dritten überhaupt nicht zu vergleichen. Sie schimpfte Romka aus, weil er seinen Tee schlürfte. Und sie wollte von Xjuscha wissen, seit wann Romka schon stotterte. Dann erzählte sie, dass sie keine Zauberin sei. Sie sei Botanikerin und sammle im Wald allerlei seltene Kräuter. Und natürlich wisse sie, welche Kräuter Wölfe wie das Feuer fürchteten.

»Und warum hat der Wolf gesprochen?«, fragte der misstrauische Romka.

»Er hat doch nicht gesprochen«, widersprach die Zauberin oder Botanikerin aufs heftigste. »Er hat gebellt, und euch ist es nur so vorgekommen, als habe er etwas gesagt. Meint ihr nicht auch?«

Xjuscha überlegte kurz und kam dann zu dem Schluss, es müsse in der Tat so gewesen sein.

»Ich bringe euch bis zum Waldrand«, erklärte die Frau. »Von dort aus könnt ihr das Dorf schon sehen. Kommt nicht mehr in den Wald, sonst fressen euch die Wölfe doch noch auf!«

Romka dachte nach und schlug der Frau vor, ihr bei der Kräutersuche zu helfen. Damit die Wölfe sie dabei nicht anrührten, müsste die Frau ihm ein spezielles Kraut gegen Wölfe geben. Und vorsichtshalber auch noch gegen Bären. Und vielleicht auch noch gegen Löwen, denn der Wald hier sei ganz genauso wie der in Afrika.

»Du bekommst keine Kräuter!«, widersprach die Frau streng. »Das sind seltene Kräuter, die ins Rote Buch eingetragen sind. Die darf man nicht einfach ausreißen.«

»Ich weiß, was das Rote Buch ist«, freute sich Romka. »Sagen Sie doch bitte…«

Die Frau sah auf die Uhr und schüttelte den Kopf. Unverzüglich meinte die gut erzogene Xjuscha, es sei jetzt wohl Zeit für sie zu gehen.

Für den Rückweg bekamen die Kinder eine Honigwabe. Die Frau brachte sie bis zum Waldrand, den sie so schnell erreichten, als renne der Pfad ihnen in unter den Füßen davon.

»Setzt keinen Fuß mehr in den Wald!«, schärfte die Frau ihnen noch einmal ein. »Wenn ich nicht in der Nähe bin, frisst euch der Wolf.«

Als sie den Hügel zum Dorf hinunterkletterten, blickten die Kinder mehrmals zurück.

Am Anfang stand die Frau noch da und schaute ihnen hinterher. Dann war sie verschwunden. »Es ist doch eine Hexe, oder, Xjucha?«, wollte Romka wissen.

»Sie ist Botanikerin!«, verteidigte Xjuscha die Frau. Und dann fiel ihr etwas auf. »Du stotterst nicht mehr!«

»Do-do-doch!«, alberte Romka. »Ich konnte auch früher schon ohne zu stottern sprechen, das habe ich nur zum Spaß gemacht!«

Eins

Wer hat eigentlich behauptet, frisch gemolkene Milch sei lecker?

Das geht anscheinend schon in der ersten Klasse los. Mit der Ersten Fibel, in der die ach so leckere frische Milch gepriesen wird. Und die naiven Stadtkinder glauben das dann.

Tatsächlich schmeckt frisch gemolkene Milch höchst eigenwillig. Ja, nach einem Tag im Keller, kalt geworden, da sieht die Sache schon anders aus. Dann können sie sogar die Geschlagenen trinken, die an einem Mangel an Verdauungsenzymen leiden. Von denen es im Übrigen gar nicht so wenige gibt. Nach Dafürhalten von Mütterchen Natur bräuchten erwachsene Menschen nämlich keine Milch zu trinken, sondern nur Kinder… Doch die Menschen hören selten auf die Meinung der Natur. Noch seltener tun es die Anderen.

Ich langte nach dem Krug und goss mir ein weiteres Glas ein. Kalte Milch, mit Schaum… Warum der Schaum durch das Erhitzen wohl so eklig wird, während er bei frischer Milch am besten schmeckt? Ich nahm einen großen Schluck. Genug, für Swetka und Nadjuschka musste auch noch was übrig bleiben. Im ganzen Dorf - keinem kleinen Dorf, sondern einem mit fünfzig Häusern! - gab es nur eine Kuh! Aber immerhin gab es eine… Und ich hatte den starken Verdacht, dass die alleinstehende Kuh ihren reichen Ertrag Swetlana zu verdanken hatte. Tante Sascha, eine vierzig Jahre alte Bäuerin, Besitzerin der Kuh Raika, des Ebers Borka, des Ziegenbocks Mischka und einer kleinen namenlosen Vogelschar, bildete sich grundlos etwas darauf ein. Swetlana wollte einfach, dass unsere Tochter richtige Milch trank. Deshalb blieb die Kuh von allen Krankheiten verschont. Tante Sascha hätte sie mit Sägespänen füttern können - Raika wäre nichts passiert!

Nein, richtige Milch, das ist schon was Feines. Selbst wenn die Reklamehelden mit Tetrapacks ins Dorf fahren und mit strahlendem Funkeln in den Augen immer wieder»echte Milch!«sagen. Das müssen sie. Dafür bekommen sie ihr Geld. Und auch die Bauern, die schon seit langem und unwiderruflich vergessen haben, wie man Vieh hält, haben es jetzt leichter. Sie können auf Demokraten und Städter schimpfen, brauchen aber keine Kühe zu weiden.

Nachdem ich das leere Glas abgestellt hatte, machte ich es mir in der zwischen Bäumen gespannten Hängematte bequem. Wie ein echter Bourgeois - zumindest aus Sicht der Dorfbewohner. Fährt hier in einem Luxusschlitten vor, schleppt seiner Frau Lebensmittel aus der Stadt an, lümmelt sich den lieben langen Tag mit einem Buch in der Hängematte… Während hier alle durch die Bank den ganzen Tag durch die Gegend stromern, auf der Suche nach einem Schlückchen, mit dem sie ihren Kater bekämpfen können…

»Guten Tag, Anton Sergejewitsch«, begrüßte mich - als habe er meine Gedanken gelesen - der Dorftrinker Kolja über den Zaun hinweg. Wie konnte er sich bloß meinen Namen merken? »Hatten Sie eine gute Fahrt?«

»Hallo, Kolja«, begrüßte ich ihn ganz wie ein Lebemann, indem ich nicht mal den Versuch unternahm, die Hängematte zu verlassen. Er würde das ohnehin nicht zu schätzen wissen. Denn deshalb war er nicht gekommen. »Danke, ich kann nicht klagen.«

»Sie brauchen wohl keine Hilfe, im Haushalt oder…«, fragte Kolja zaghaft. »Ich komme hier vorbei, denke, frag ich doch mal…«

Ich schloss die Augen. Zwischen meinen Lidern leuchtete blutrot die gerade im Zenit stehende Sonne hindurch.

Nichts konnte ich machen. Nicht das geringste bisschen. Eine Intervention sechsten oder siebten Grades hätte gereicht, um dem armen Kolja seinen Hang zum Alkohol auszutreiben, seine Zirrhose zu heilen und in ihm den Wunsch zu wecken, einer Arbeit nachzugehen, auf Wodka zu verzichten und seine Frau nie wieder zu vermöbeln.

Ich könnte sogar, entgegen dem Großen Vertrag, klammheimlich diese Intervention vornehmen. Eine leichte Bewegung mit der Hand…

Und weiter? Im Dorf gab es keine Arbeit. Auch in der Stadt brauchte niemand den ehemaligen Mechaniker Kolja. Und Geld, um»etwas Eigenes«aufzuziehen, hatte Kolja nicht. Noch nicht mal ein Ferkel konnte er sich kaufen.

Er würde weiter seinem Selbstgebrannten nachjagen, sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten und seinen Ärger an seiner ebenso versoffenen Frau auslassen, die die Nase von allem gestrichen voll hatte. Man muss nicht den einzelnen Menschen kurieren, sondern die ganze Welt.

Oder wenigstens ein Sechstel der Welt. Mit dem stolzen Namen Rus.

»Anton Sergejewitsch, ich habe einfach keine Kraft mehr…«, beteuerte Kolja nachdrücklich.

Wer brauchte einen ehemaligen Alkoholiker in einem sterbenden Dorf, in dem der Kolchos abgewickelt worden war und dem einzigen Landwirt drei Mal der Hof abgefackelt wurde, bevor er die Anspielung endlich verstand?

»Kolja«, sagte ich. »Was hast du bei der Armee gemacht? Warst du Panzerfahrer?«

Gibt es bei uns eigentlich Söldner? Sollen die doch in den Kaukasus ziehen, statt ein Jahr lang gepanschtem Wodka hinter-herzurennen…

»Ich habe nicht gedient«, antwortete Kolja kleinlaut. »Sie haben mich nicht genommen. Damals hat man dringend Mechaniker gebraucht, deshalb wurde ich immer wieder zurückgestellt, dann war ich zu alt… Anton Sergejewitsch, wenn Sie mal jemanden die Fresse polieren müssen - da bin ich wirklich gut! Ganz bestimmt! Ich mach Hackfleisch aus dem!«

»Kolja«, bat ich. »Kannst du dir nicht mal den Motor in meinem Auto angucken? Irgendwas hat da gestern geklackert…»

»Klar!«Kolja wurde munter. »Ich…«

»Nimm den Schlüssel.«Ich warf ihm den Bund zu. »Nachher kriegst du eine Flasche von mir.«

Auf Koljas Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus. »Soll ich das Auto auch noch für Sie waschen? Das ist doch ein teurer Wagen… und bei unsern Straßen…«

»Vielen Dank«, erwiderte ich. »Da wäre ich dir wirklich sehr dankbar.«

»Aber Wodka will ich nicht«, meinte Kolja plötzlich, und ich zuckte sogar vor Überraschung zusammen. Was bedeutete das? Stand die Welt Kopf? »Der schmeckt nach nichts… Aber ein Fläschchen Selbstgebrannter…«

»Abgemacht«, stimmte ich zu. Der glückliche Kolja machte die Pforte auf und ging auf den Schuppen zu, in dem ich gestern das Auto abgestellt hatte.

Aus dem Haus kam Swetlana - die ich nicht sah, sondern spürte. Also musste Nadjuschka sich beruhigt haben und in den süßen Nachmittagsschlaf gefallen sein… Sweta kam auf mich zu, blieb hinter mir stehen, zögerte kurz und legte mir dann ihre kühle Hand auf die Stirn. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie.

»Hm«, brummte ich. »Ich kann hier nichts machen, Swetka. Nichts. Wie hältst du das aus?«

»Ich bin schon als kleines Mädchen in dieses Dorf gekommen«, antwortete Swetlana. »Ich erinnere mich noch an Onkel Kolja, wie er kein Trinker war. Jung und lustig. Er hat mich Krümel auf dem Traktor mitgenommen. War nüchtern. Und hat Lieder gesungen. Kannst du dir das vorstellen? »

»War es früher besser?«, fragte ich.

»Die Leute haben weniger getrunken«, meinte Swetlana bloß. »Warum remoralisierst du ihn nicht, Anton? Ich habe doch gespürt, dass du das vorhattest, denn durch das Zwielicht ist ein Zittern gegangen. Hier gibt es keine Wächter… außer dir.«

»Willst du das Pferd von hinten aufzäumen?«, erwiderte ich grob. »Entschuldige… aber ich müsste doch wohl nicht mit Onkel Kolja anfangen.«

»Stimmt«, pflichtete Swetlana mir bei. »Aber eine Einmischung in das Tun der Regierungsbehörden ist durch den Vertrag verboten. Dem Menschen, was des Menschen ist, den Anderen das Andere…«

Ich schwieg. Ja, es war verboten. Weil es die einfachste und sicherste Möglichkeit bot, die Menschenmasse zum Guten oder zum Bösen zu bekehren. Was eine Zerstörung des Gleichgewichts bedeutet hätte. Es hat in der Geschichte Könige und Präsidenten gegeben, die zu den Anderen zählten. Und auch das hat nur mit Kriegen geendet…

»Du gehst hier ein, Anton«, meinte Swetlana, während sie mir über die Haare strich. »Lass uns nach Moskau zurückfahren.«

»Aber Nadjuschka hat ihren Spaß«, widersprach ich. »Und du wolltest doch auch noch eine Woche länger bleiben, oder?«

»Aber du quälst dich… Vielleicht willst du allein fahren? In der Stadt würdest du keine Trübsal blasen.«

»Ich könnte fast glauben, du willst mich loswerden«, brummte ich. »Weil du hier einen Liebhaber hast.«

»Kannst du mir auch nur einen Kandidaten nennen?«, schnaubte Swetlana.

»Nein«, bekannte ich nach kurzem Nachdenken. »Aber vielleicht hat jemand, der hier eine Datscha gemietet hat…«

»Hier herrscht die reinste Weiberwirtschaft«, fiel Swetlana mir ins Wort. »Entweder sind sie alleinstehend, oder die Männer sind den ganzen Tag auf Arbeit, während die Frauen mit den Kindern hier die Landluft genießen… Übrigens, Anton, hier ist etwas Komisches passiert…«

»Was denn?«, fragte ich neugierig. Wenn Swetlana schon von»etwas Komischem«sprach…

»Gestern hat mich doch Anna Viktorowna besucht, nicht wahr?«

»Die Paukerin?«, sagte ich schmunzelnd. Anna Viktorowna war eine so typische Lehrerin, dass sie direkt aus dem Kinderprogramm im Fernsehen entsprungen zu sein schien. »Ich dachte, sie habe deine Mutter besucht.«

»Meine Mutter und mich. Sie hat zwei Kinder, Romka, ihren kleinen fünfjährigen Sohn, und Xjuscha, die schon zehn ist. »

»Sehr löblich«, pries ich Anna Viktorowna.

»Veräppeln kann ich mich selbst. Vor zwei Tagen haben sich ihre Kinder im Wald verlaufen.«

Mit einem Schlag war die Müdigkeit von mir gewichen, ich setzte mich in der Hängematte auf und hielt mich mit der Hand am Baum fest. Sah Swetlana an. »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Vertrag hin oder her, aber wenn…«

»Du brauchst dich nicht aufzuregen, sie haben sich verlaufen, haben aber auch wieder herausgefunden. Am Abend waren sie wieder da.«

»Das kommt in der Tat nicht häufig vor«, platzte ich heraus. »Kinder, die ein paar Stunden im Wald bleiben! Sie mögen doch nicht obendrein auch noch Erdbeeren?«

»Nachdem ihre Mutter ihnen die Leviten gelesen hatte, fingen sie an zu erzählen, dass sie sich verlaufen haben«, fuhr Swetlana unerschütterlich fort. »Und einem Wolf begegnet sind. Der Wolf hat sie durch den Wald gejagt, direkt zu seinen Jungen hin…«

»Hm…«, murmelte ich. Ich spürte, wie etwas bedenklich in meiner Brust schlug.

»Die Kinder hatten natürlich Angst. Dann ist plötzlich eine Frau aufgetaucht, die dem Wolf einen Vers aufgesagt hat, worauf dieser weggerannt ist. Dann hat die Frau die Kinder in ihr Häuschen gebracht, ihnen Tee gemacht und sie dann bis zum Waldrand begleitet. Sie hat behauptet, Botanikerin zu sein und Kräuter zu besitzen, vor denen Wölfe Angst haben…«

»Das sind kindliche Phantasien«, fiel ich ihr ins Wort. »Ist mit den beiden alles in Ordnung? »

»Absolut.«

»Ich habe schon irgendeine Gemeinheit befürchtet«, sagte ich und streckte mich wieder in der Hängematte aus. »Hast du sie auf Magie überprüft?«

»Sie sind absolut sauber«, informierte Swetlana mich. »Nicht die geringsten Spuren.«

»Phantasien. Oder sie haben tatsächlich vor jemandem Angst gehabt… vielleicht sogar vor einem Wolf. Und irgendeine Frau hat sie dann aus dem Wald herausgebracht. Die Kinder hatten wirklich Glück, auch wenn eine Tracht Prügel…«

»Der Kleine, Romka, hat gestottert. Ziemlich stark sogar. Jetzt spricht er absolut flüssig. Er plappert in einem fort, trägt kleine Gedichte vor…«

Ich dachte kurz nach. »Kann man Stottern heilen?«, fragte ich. »Durch Suggestion oder Hypnose… oder was es sonst noch so gibt.«

»Das ist nicht zu heilen. Im Unterschied zu Schnupfen. Und jeder Arzt, der dir verspricht, durch Hypnose sei das Stottern wegzukriegen, ist ein Scharlatan. Natürlich, wenn es eine reaktive Neurose wäre, dann…«

»Verschon mich mit diesen Begriffen«, bat ich. »Es lässt sich also nicht heilen. Und alternative Mittel?«

»Vielleicht könnten wilde Andere tatsächlich etwas ausrichten… Kannst du Stottern heilen?«

»Und nächtliches Bettnässen auch«, brummte ich. »Dito Einkoten. Aber du hast doch keine Magie gespürt, oder, Sweta? »

»Aber das Stottern ist weg.«

»Das kann nur eins heißen…«, räumte ich widerwillig ein. Ich seufzte und erhob mich nun doch aus der Hängematte. »Das sieht nicht gut aus, Sweta. Eine Hexe. Noch dazu von einer Kraft, die deine übersteigt. Und du stehst auf der ersten Kraftstufe!«

Swetlana nickte. Ich komme nur selten darauf zu sprechen, dass ihre Kraft meine übersteigt. Denn das ist das, was uns in erster Linie trennt - eines Tages vielleicht für immer.

Und Swetlana hatte extra die Nachtwache verlassen! Sonst… sonst wäre sie jetzt bereits eine Zauberin außerhalb jeder Kategorie.

»Aber den Kindern ist doch nichts passiert«, fuhr ich fort. »Kein widerlicher Zauberer hat sich an dem Mädchen vergriffen, keine böse Hexe hat aus dem Jungen Suppe gemacht… Also, wenn das eine Hexe ist, warum legt sie dann ein so gutes Verhalten an den Tag?«

»Hexen müssen nicht immer Menschen fressen oder zu sexueller Aggressivität neigen«, erwiderte Swetlana so ernst, als halte sie einen Vortrag. »Ihr ganzes Verhalten wird von normalem Egoismus bestimmt. Wenn eine Hexe sehr hungrig ist, dann könnte sie wohl in der Tat über einen Menschen herfallen. Einfach aus dem Grund, weil sie sich selbst nicht zu den Menschen zählt. Aber sonst… Warum hätte sie den Kindern nicht helfen sollen? Das kostet sie nichts. Sie hat sie aus dem Wald herausgebracht und das Stottern des Jungen geheilt. Womöglich hat sie selbst Kinder. Du würdest doch auch einen kleinen Hund füttern, der kein Zuhause mehr hat, oder?«

»Das gefällt mir nicht«, versicherte ich. »Eine Hexe von solcher Kraft? Sie erreichen doch nur selten den ersten Grad, nicht wahr?«

»Sehr selten.«Swetlana sah mich forschend an. »Bist du dir genau über den Unterschied zwischen einer Zauberin und einer Hexe im Klaren, Anton? »

»Im Großen und Ganzen, ja«, antwortete ich.

Doch Swetlana ließ nicht locker. »Eine Zauberin arbeitet direkt mit dem Zwielicht, aus dem sie ihre Kraft schöpft. Eine Hexe dagegen benutzt materielle Hilfsmittel, die mehr oder weniger stark mit Kraft aufgeladen sind. Alle magischen Artefakte, die es auf der Welt gibt, sind von Hexen oder Hexern geschaffen worden. Das sind ihre»Prothesen«, wenn du so willst. Als Artefakte können alle Gegenstände oder Körperorgane aus Horn wie Haare oder lange Fingernägel dienen… Deshalb ist eine Hexe ungefährlich, wenn du sie ausziehst und rasierst, während du einer Zauberin noch mit einem Knebel den Mund stopfen und die Hände fesseln musst.«

»Dir stopft garantiert niemand den Mund«, feixte ich. »Sweta, wozu hältst du mir diesen Vortrag? Ich bin kein großer Magier, aber die grundlegenden Dinge weiß auch ich, über die musst du mich nicht aufklären…«

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen«, entschuldigte sich Sweta sofort.

Ich sah sie an - und erkannte den Schmerz in ihren Augen. Was bin ich doch für ein Schwein!

Warum muss ich meine Komplexe immer an der Frau auslassen, die ich liebe?! Ich bin mieser als jeder Dunkle…

»Verzeih mir, Swetka…«, flüsterte ich und berührte ihre Hand. »Hab Nachsehen mit einem alten Idioten.«

»Ich muss mich wohl auch an die eigene Nase fassen«, räumte Sweta ein. »In der Tat: Warum halte ich dir hier große Vorträge? Du hast es in der Wache jeden Tag mit Hexen zu tun…«

Der Friede war wiederhergestellt. »Mit solchen starken?«, fragte ich sofort zurück. »Vergiss nicht, in ganz Moskau gibt es eine Hexe ersten Grades, und die hat sich seit langem aus dem Geschäft zurückgezogen… Was sollen wir jetzt tun, Sweta?«

»Wir haben keinen triftigen Grund zu intervenieren«, meinte Sweta besorgt. »Den Kindern geht es gut, dem Jungen sogar besser. Es bleiben zwei Fragen: Was für ein komischer Wolf hat die Kinder zu seinen Jungen getrieben? »

»Wenn es überhaupt ein Wolf war«, warf ich ein.

»Eben«, stimmte Sweta mir zu. »Aber irgendwie haben die Kinder alles sehr überzeugend berichtet… Und die zweite Frage: Ist die Hexe hier im Ort registriert, was haben wir über sie…«

»Das kriegen wir sofort raus«, sage ich, während ich nach meinem Handy langte.

Fünf Minuten später bekam ich die Antwort, dass es nach den Unterlagen der Nachtwache keine Hexen in dieser Gegend gab oder geben dürfte.

Weitere zehn Minuten später verließ ich den Hof, bewaffnet mit den Instruktionen und Ratschlägen meiner Frau, die zugleich eine verhinderte Große Zauberin war. Als ich am Schuppen vorbeiging, linste ich durch die offene Tür hinein. Kolja hing über der offenen Motorhaube, auf einer ausgebreiteten Zeitung lagen verschiedene Schrauben und Teilchen. Oh, oh, ich hatte doch nur was von einem Klopfen im Motor gesagt! Außerdem sang Onkel Kolja, brummte vor sich hin:

Wir sind keine Heizer, sind keine Zimmerleute,

Wir sind die Kommunistische Garde von heute!

Anscheinend hatte sein Gedächtnis nur diese beiden Zeilen abgespeichert, die er wie aufgezogen wiederholte, während er selbstvergessen am Motor fummelte:

Wir sind keine Heizer, sind keine Zimmerleute,

Wir sind die Kommunistische Garde von heute!

»Ein halber Liter wird hier nicht reichen, Antoscha!«, rief Onkel Kolja fröhlich, sobald er mich sah. »Die Japaner müssen völlig den Verstand verloren haben, was sie in diesen Diesel gestopft haben, ist ja nicht mit anzusehen!«

»Das waren nicht die Japaner, sondern die Deutschen«, korrigierte ich ihn.

»Die Deutschen?«, wunderte sich Onkel Kolja. »Ach, das ist ja ein BMW, und ich habe früher nur den Subaru wieder auf Vordermann gebracht… Was die sich dabei gedacht haben, die Dinger hier völlig anders zu bauen… Aber keine Sorge, ich krieg das schon hin! Allerdings dröhnt mir der Schädel, das ist die Pest…«

»Geh zu Sweta, sie gibt dir ein Schlückchen!«, fand ich mich mit dem Unvermeidlichen ab.

»Nein.«Onkel Kolja schüttelte den Kopf. »Während der Arbeit nie. Sonst verpfusch ich dir das… Unser erster Vorsitzender, Friede seiner Asche, hat mir eingeschärft: Wenn du schraubst, keinen Tropfen! Geh nur, geh. Ich habe hier noch bis zum Abend zu tun.«

Innerlich nahm ich von dem Wagen Abschied und trat dann auf die staubige heiße Straße hinaus.

Den kleinen Romka machte mein Besuch unsagbar glücklich. Ich kam genau in dem Moment, als Anna Viktorowna eine schändliche Niederlage im Kampf um den Mittagsschlaf hinnehmen musste. Romka, ein magerer und braun gebrannter Junge, sprang auf der Matratze herum. »Schlaf ich an der Wand«, schrie er übermütig. »Krieg ich morgen um mein Knie 'nen Verband!«

»Was soll ich nur mit ihm machen?«, freute sich Anna Viktorowna über mein Erscheinen. »Guten Tag, Anton. Sagen Sie, führt sich Ihre Nadenka auch so auf?«

»Nein«, log ich.

Romka hörte auf zu springen und schaute uns aufmerksam an.

»Dann nehmen sie den hier doch mit«, schlug Anna Viktorowna scheinheilig vor. »Was soll ich mit so einem Rabauken anfangen? Sie sind ein strenger Mann, Sie werden ihn schon erziehen. Er wird auf Nadenka aufpassen, ihre Windeln bügeln, die Böden für Sie wischen, den Müll rausbringen…«

Bei diesen Worten zwinkerte Anna Viktorowna mir heftig zu, als ob ich ihren Vorschlag tatsächlich für bare Münze nehmen und mir kurzerhand einen minderjährigen Sklaven besorgen könnte.

»Ich denk drüber nach«, unterstützte ich ihre pädagogischen Bemühungen. »Wenn er absolut nicht hören will, nehmen wir ihn zur Umerziehung auf. Bei uns haben schon schlimmere Kinder gelernt zu spuren!«

»Sie nehmen mich ja doch nicht!«, meinte Romka keck, fing aber immerhin nicht wieder an zu springen, sondern setzte sich aufs Bett und streckte die Beine auf der Decke aus. »Was sollten Sie mit einem solchen Rabauken schon anfangen? »

»Dann stecke ich dich ins Internat«, drohte Anna Viktorowna.

»Nur herzlose Menschen stecken Kinder ins Internat«, wiederholte Romka einen Satz, den er ohne Frage aufgeschnappt hatte. »Aber du bist nicht herzlos!«

»Was soll ich bloß mit ihm machen?«, stellte Anna Vikto-rowna noch einmal ihre rhetorische Frage. »Möchten Sie etwas eisgekühlten Kwass?«

»Ich auch, ich auch«, piepste Romka, bevor er unter dem strengen Blick seiner Mutter verstummte.

»Danke«, meinte ich nickend. »Ehrlich gesagt, bin ich wegen dieses Rabauken gekommen…«

»Hat er was angestellt?«, wollte Anna Viktorowna gleich wissen.

»Sweta hat mir vom Abenteuer Ihrer Kinder erzählt… und von dem Wolf. Ich bin Jäger, aber so etwas…«

Innerhalb einer Minute saß ich am Tisch und wurde mit kaltem Kwass und allerlei Aufmerksamkeiten bewirtet.

»Eben. Ich bin Lehrerin, ich verstehe was von diesen Dingen«, meinte Anna Viktorowna. »Die Wölfe sind die Sanitäter des Waldes… Das ist natürlich eine Lüge, denn ein Wolf reißt nicht nur kranke Tiere, sondern durch die Bank alle Tiere… Trotzdem ist er ein Lebewesen. Der Wolf ist nicht schuld daran, dass er ein Wolf ist… Aber hier, in der Nähe des Dorfs! Er jagt Kinder! Treibt sie zu seinen Jungen. Wissen Sie, was das bedeutet?«Ich nickte.

»Er bringt seinen Jungen das Jagen bei.«In Anna Viktorownas Augen loderte Angst oder ein mütterlicher Zorn auf, vor dem sowohl Wölfe wie auch Bären im tiefsten Wald Zuflucht gesucht hätten. »Was ist das? Ein Menschen fressender Wolf?«

»Das kann nicht sein«, erwiderte ich. »Hier hat es noch nie einen Fall gegeben, wo ein Wolf einen Menschen angefallen hätte. Ohnehin gibt es hier schon lange keine Wölfe mehr… Das war wohl eher ein verwilderter Hund. Aber das möchte ich gern überprüfen.«

»Tun Sie das«, meinte Anna Viktorowna in festem Ton. »Und wenn… selbst wenn das ein Hund war. Wenn die Kinder sich das nicht ausgedacht haben…«Erneut nickte ich.

»Erschießen Sie ihn«, bat Anna Viktorowna. Dann fuhr sie im Flüsterton fort: »Ich schlafe nachts nicht mehr. Wenn ich nur daran denke… was hätte passieren können.«

»Aber das war ein Hund!«, erklang vom Bett Romkas Stimme herüber.

»Scht!«, fuhr Anna Viktorowna ihn an. »Gut, komm her. Erzähl dem Onkel, wie alles gewesen ist.«

Es bedurfte keiner weiteren Überredungskünste, damit Romka vom Bett sprang, zu uns kam und sich höchst geschäftig auf meinen Schoß setzte. Fordernd sah er mir in die Augen. Ich zerzauste ihm das störrische, ausgeblichene Haar. »Also, die Sache war so…«, begann Romka voller Genugtuung.

Anna Viktorowna blickte Romka irgendwie sehr traurig an. Ich verstand sie. Den Vater dieser Kinder konnte ich jedoch nicht verstehen. Es kann alles Mögliche passieren, die Leute trennen sich - aber die eigenen Kinder danach aus seinem Leben zu verbannen und sie mit Alimenten abzuspeisen?

»Wir sind gelaufen und immer weiter gelaufen, also wir sind spazieren gegangen«, erzählte Romka ermüdend langatmig. »Wir sind spazieren gegangen und in den Wald gekommen. Und dann hat Xjuscha mir schreckliche Geschichten erzählt…«

Aufmerksam hörte ich mir seinen Bericht an. Die»schrecklichen Geschichten«legten einmal mehr nahe, dass sie sich die ganze Geschichte ausgedacht hatten. Anderseits schilderte der Junge alles absolut klar. Abgesehen von den für sein Alter typischen Wiederholungen einzelner Wörter, verhedderte er sich nicht einmal.

Für alle Fälle scannte ich auch noch die Aura des Jungen. Ein Mensch… ein kleiner Mensch. Ein guter kleiner Mensch, von dem man glauben möchte, dass er zu einem guten Menschen heranwächst. Nicht die geringsten Hinweise darauf, dass es sich bei ihm um einen potenziellen Anderen handeln könnte. Und nicht die geringsten Spuren einer magischen Manipulation.

Wenn jedoch schon Swetlana nichts bemerkt hatte - was sollte mir mit meinem zweiten Grad dann eigentlich auffallen?

»Und plötzlich hat der Wolf gelacht!«, rief Romka, während er fröhlich mit den Händen fuchtelte.

»Hast du denn keine Angst gehabt?«, fragte ich. Zu meinem Erstaunen dachte Romka lange darüber nach.

»Doch«, sagte er dann. »Ich bin noch klein, und der Wolf war groß. Außerdem hatte ich keinen Stock - wo kriege ich im Wald einen Stock her? Aber später hatte ich dann keine Angst mehr.«

»Hast du jetzt Angst vor Wölfen?«, hakte ich nach. Nach einem solchen Abenteuer hätte jeder normale Junge angefangen zu stottern. Romka hingegen hatte damit aufgehört!

»Nicht die Spur!«, versicherte der Junge. »Aber wegen Ihnen habe ich jetzt meinen Faden verloren. Wo war ich denn? »

»An der Stelle, wo der Wolf gelacht hat«, meinte ich lächelnd.

»Genau wie ein Mensch«, sagte Romka.

Alles klar. Ich hatte es schon ziemlich lange nicht mehr mit Werwölfen zu tun gehabt. Noch dazu mit solchen hinterhältigen… Kinder zu jagen, nur hundert Kilometer von Moskau entfernt. Worauf hofften sie? Dass es hier im Dorf keine Wache gab? Dabei ging das regionale Büro jedem Fall von vermissten Menschen nach. Für diese Aufgabe gibt es einen guten und hochspezialisierten Magier. Er macht das mit Methoden, die alle Welt für pure Scharlatanerie hält, sieht sich Fotos an und legt sie dann weg oder ruft die Fahnder an, um besorgt zu klagen: »Irgendwas ist hier… irgendwas, aber ich weiß nicht, was…«

Dann würden wir losfahren, im Moskauer Umland ausschweifen, den Wald durchkämmen, Spuren sichern… schreckliche Spuren, an die wir uns jedoch gewöhnt haben. Die Tiermenschen würden vermutlich bei ihrer Verhaftung Widerstand leisten. Und irgendjemand - möglicherweise wäre ich das - würde mit der Hand wedeln. Daraufhin würde der leuchtende graue Höhenrauch durch das Zwielicht kriechen…

Solche wie sie fangen wir nur selten lebend. Wollen es auch gar nicht.

»Außerdem glaube ich«, fuhr Romka verständig fort, »dass der Wolf etwas gesagt hat. Ich glaube, ich glaube… Aber er hat doch gar nicht geredet, das weiß ich. Wölfe reden schließlich nicht, oder? Aber ich träume davon, dass er etwas gesagt hat. »

»Und was?«, fragte ich vorsichtig nach.

»Geh… weg, He-xe!«, meinte Romka, der angestrengt versuchte, den heiseren Bass nachzuahmen.

Also doch. Damit konnte ich eine Razzia anordnen. Oder sogar Hilfe aus Moskau anfordern.

Das war ein Werwolf gewesen, ohne Frage. Und die Kinder konnten von Glück sagen, dass sich auch noch eine Hexe in der Gegend rumtrieb. Eine starke. Eine sehr starke.

Die nicht einfach nur den Werwolf vertrieb, sondern auch noch das Gedächtnis der Kinder reinigte, ohne dabei die geringste Spur zu hinterlassen. Indem sie einfach nicht allzu tief eindrang. Sie hatte nicht erwartet, dass in dem Dorf ein aufmerksamer Wächter auftauchen würde… Bei Bewusstsein erinnerte sich der Junge an nichts - aber im Schlaf, da schon. »Geh weg, Hexe!«Interessant!

»Danke, Romka.«Ich drückte ihm die kleine Hand. »Ich werde mal in den Wald gehen und nachgucken.«

»Haben Sie denn keine Angst? Haben Sie ein Gewehr?«, fragte Romka munter.

»Ja. «

»Zeigen Sie's mir!«

»Es ist zu Hause«, meinte Anna Viktorowna streng. »Gewehre sind außerdem kein Spielzeug für Kinder.«

Romka seufzte. »Aber die kleinen Wölfe erschießen Sie nicht, ja?«, bat er in herzzerreißendem Ton. »Bringen Sie mir lieber einen von ihnen mit, dann erziehe ich ihn wie einen Hund! Oder zwei, einen für mich, einen für Xjucha!«

»Roman!«, rief Anna Viktorowna ihn mit strenger Stimme zurecht.

Xjuscha fand ich am Teich, genau wie ihre Mutter es gesagt hatte. Eine Gruppe Mädchen brutzelte neben einer Horde Jungen in der Sonne, auf beiden Seiten flogen spitze Bemerkungen hin und her. Die männlichen Wasserratten waren in dem Alter, in dem sie die Mädchen bereits nicht mehr an den Zöpfen zogen - aber noch nicht begriffen, was sie mit ihnen anstellen sollten.

Bei meinem Auftauchen verstummten alle, Neugier und Furcht packte sie. Ich war im Dorf noch nicht allzu bekannt.

»Oxana?«, fragte ich ein Mädchen, das ich meiner Ansicht nach schon einmal zusammen mit Romka gesehen hatte und das Xjuscha sein konnte.

Ein sehr ernstes Mädchen mit blauem Badeanzug sah mich an und nickte. »Hallo… Guten Tag«, sagte sie höflich.

»Guten Tag. Ich bin Anton, der Mann von Swetlana Nasarowa. Kennst du sie?«, fragte ich.

»Wie heißt Ihre Tochter?«, fragte Oxana misstrauisch.

»Nadja.«

»Ich kenne sie«, meinte Oxana nickend und erhob sich aus dem Sand. »Sie wollen mit mir über die Wölfe reden, nicht wahr? »

»Richtig«, meinte ich mit einem Lächeln.

Oxana schielte zu den Kindern hinüber. Genauer, zu den Jungen.

»Ach, das ist ja Nadkas Vater«, bemerkte ein sommersprossiger Bengel, in dem - warum auch immer - der dörfliche Ursprung nicht zu übersehen war. »Mein Vater repariert gerade Ihr Auto.«Stolz blickte er seine Freunde an.

»Wir können uns auch hier unterhalten«, schlug ich zur Beruhigung der Kinder vor. Es war natürlich schrecklich, dass sich normale, in Familien aufwachsende Kinder in diesem Alter ein solches Misstrauen angewöhnt hatten. Aber vielleicht war es auch besser so.

»Wir sind im Wald spazieren gegangen«, fing Oxana an zu erzählen, die sich kerzengerade vor mich aufgebaut hatte. Ich dachte kurz nach und setzte mich dann in den Sand, worauf sich auch das Mädchen wieder setzte. Anna Viktorowna hatte ihre Kinder wirklich gut erzogen. »Es war meine Schuld, dass wir uns verirrt haben…«

Einer der Dorfjungen lachte. Wenn auch leise. Vermutlich war Oxana nach diesen Geschichten mit den Wölfen zum beliebtesten Mädchen bei den jüngeren Schulkindern avanciert.

Im Prinzip erzählte Oxana mir nichts Neues. Auch an ihr ließen sich keine Spuren von Magie feststellen. Nur die Erwähnung des Schranks»mit alten Büchern« ließ mich aufhorchen.

»Erinnerst du dich an die Titel?«, fragte ich. Oxana schüttelte den Kopf.

»Versuch es einmal«, bat ich. Ich sah zu Boden - auf meinen langen, verzerrten Schatten. Gehorsam kroch mir der Schatten entgegen. Dann nahm mich das graue, kühle Zwielicht auf.

Kinder aus dem Zwielicht heraus zu betrachten ist immer ein Vergnügen. Ihre Auren - selbst die der schüchternsten und unglücklichsten - sind noch frei von jener Bosheit und Härte, die die Auren erwachsener Menschen umhüllen.

Innerlich entschuldigte ich mich bei den Kindern, schließlich hatten sie mich nicht um das gebeten, was ich jetzt tat. Mit einer sachten, unmerklichen Berührung glitt ich über sie hinweg. Einfach so. Ich löschte jene Funken des Bösen, die bei ihnen trotz allem schon aufblitzten.

Dann strich ich Oxana über den Kopf. »Erinner dich, Mädchen…«, flüsterte ich.

Sicher, ich würde die Barriere, die jene unbekannte Hexe errichtet hatte, nicht beseitigen können, wenn sie stärker oder genauso stark war wie ich. Aber zu meinem Glück schien sie an eine Kinderfreundin geraten zu sein. Die Hexe war höchst behutsam mit dem Bewusstsein der beiden umgegangen.

Ich trat aus dem Zwielicht heraus. Wie in einem Backofen schlug die heiße Luft über mir zusammen. Was für ein brütender Sommer!

»Jetzt weiß ich es wieder!«, verkündete Oxana stolz. »Ein Buch hieß Aliada Ansata.«Ich runzelte die Stirn.

Von den gewöhnlichen Kräuterbüchern - ich meine von den gewöhnlichen Hexenkräuterbüchern - unterschied sich dieses durch seine besondere Niederträchtigkeit. Dort wurden sogar für Löwenzahn einige abscheuliche Anwendungsformen vorgestellt.

»Dann noch Kassagar Garsarra«, sagte Oxana. Eines der Kinder kicherte. Wenn auch unsicher.

»Wie war der Titel geschrieben?«, fragte ich. »In lateinischen Buchstaben? So wie englisch… ja? Kassagar Garsarra?«

Wozu hatte ich das wiederholt? Als ob man den Unterschied hören konnte…

»Nein, mit russischen Buchstaben«, meinte Oxana. »Aber mit komischen, alten.«

Noch nie hatte ich von einer Übersetzung dieses selbst für die Dunklen seltenen Werks ins Russische gehört. Es ist verboten, das Buch zu drucken, denn dann büßen die Zaubersprüche ihre Magie ein. Man darf es bloß abschreiben. Ausschließlich mit Blut. Und zwar keinesfalls mit dem Blut einer Jungfrau oder dem unschuldiger Kinder, das sind irrige Ansichten, die später aufkamen; entsprechende Abschriften taugen überhaupt nichts. Bis heute glaubt man, das Kassagar Garsarra existiere lediglich auf Arabisch, Spanisch, Latein und Althochdeutsch. Das Blut muss von dem Magier, der das Buch abschreiben möchte, stammen. Für jeden Zauberspruch muss er sich frisches abzapfen. Und das Buch ist dick…

Außerdem fließt zusammen mit dem Blut die Kraft aus ihm hinaus.

Was können wir stolz auf die russischen Hexen sein! Hatte sich doch eine Fanatikerin gefunden! »Ist das alles?«, fragte ich. »Noch das Fuaran.«

»So ein Buch gibt es nicht, das hast du dir ausgedacht…«, entgegnete ich unwillkürlich. »Wie war das? Fuaran? «

»Fuaran«, bestätigte Oxana.

Nein, in diesem Buch gab es nichts Gemeines. Nur wurde es in allen Nachschlagewerken als Phantasieprodukt ausgewiesen. Der Legende nach enthielt das Buch Instruktionen, wie aus einem Menschenkind eine Hexe oder ein Hexer zu machen sei. Genaue und angeblich funktionierende Anweisungen. Als ob das möglich wäre! Oder etwa doch, Geser? »Erstaunliche Bücher«, sagte ich.

»Das sind botanische Bücher, nicht wahr?«, fragte Oxana.

»Hm«, bestätigte ich. »Vergleichbar mit Katalogen. Im Aliada Ansata wird beschrieben, wo man verschiedene Kräuter findet… und so weiter. Vielen Dank, Xjuscha.«

Interessante Dinge taten sich in unserm Wald! Ganz in der Nähe von Moskau sitzt im tiefsten Dickicht - aber was heißt hier Dickicht? -, in einem kleinen Wald eine mächtige Hexe mit einer Bibliothek voll seltenster Bücher zu allen dunklen Gebieten. Ab und an rettet sie Kinder vor idiotischen Werwölfen. Besten Dank auch dafür! Aber die Bücher, die sie besitzt, müssen gemeldet werden, und zwar beiden Wachen und der Inquisition. Denn die Kraft, die hinter ihnen steht, ist enorm, ist gefährlich.

»Du kriegst eine Tafel Schokolade von mir«, versprach ich. »Du hast alles sehr schön erzählt.«Oxana zierte sich nicht, sondern sagte bloß»danke«. Und schien das Interesse an unserem Gespräch völlig verloren zu haben.

Offenbar hatte die Hexe ihr als der Älteren das Gedächtnis gründlicher gereinigt. Nur an die Bücher, die das Mädchen gesehen hatte, hatte sie nicht gedacht. Und das beruhigte mich ein wenig.

Zwei

Geser hörte mir mit ungeteilter Aufmerksamkeit zu. An manchen Stellen hakte er nach, schwieg dann, seufzte und ächzte. Ich lümmelte mich in der Hängematte, das Handy in der Hand, und erstattete ausführlich Bericht… Nur das Fuaran, das die Hexe besaß, verschwieg ich.

»Gute Arbeit, Anton«, meinte Geser schließlich. »Wirklich gut. Du hast dich da nicht auf die faule Haut gelegt. »

»Was soll ich jetzt tun?«, fragte ich.

»Du musst die Hexe finden«, erwiderte Geser. »Sie hat zwar nichts Böses angerichtet, muss sich aber registrieren lassen. Na ja… die übliche Prozedur, du weißt Bescheid. »

»Und die Werwölfe?«, wollte ich wissen.

»Vermutlich Moskauer, die auf Tournee im Umland sind«, kommentierte Geser gelassen. »Ich werde den Befehl geben, alle Werwölfe zu überprüfen, die mehr als drei Kinder mit Anlagen zum Tiermenschen haben. »

»Es gab insgesamt nur drei Junge«, erinnerte ich ihn.

»Der Werwolf könnte nur die ältesten mit auf Jagd genommen haben«, erklärte Geser. »In der Regel sind es große Familien… Im Dorf haben sich nicht gerade irgendwelche verdächtigen Leute auf den Datschen einquartiert? Also ein Erwachsener und drei oder mehr Kinder? »

»Nein«, bedauerte ich. »Daran haben Sweta und ich sofort gedacht… Nur Anna Viktorowna ist mit ihren beiden Kindern gekommen, alle andern haben entweder keine oder nur ein Kind. Wir haben eine Geburtenkrise im Land…«

»Von der demographischen Situation ist mir auch schon etwas zu Ohren gekommen«, unterbrach mich Geser amüsiert. »Was ist mit den Dorfbewohnern?«

»Es gibt große Familien, aber Swetlana kennt die aus dem Dorf alle gut. Die sind sauber, das sind ganz gewöhnliche Menschen.«

»Also müssen es Leute von auswärts sein«, schlussfolgerte Geser. »Soweit ich es verstanden habe, ist im Dorf niemand verschwunden. Gibt es in der Nähe vielleicht Pensionen oder Hotels?«

»Ja«, entgegnete ich. »Auf der andern Seite des Flusses, rund fünf Kilometer entfernt, ist ein Pionierlager… oder wie die Dinger jetzt heißen. Ich habe schon herausgekriegt, dass dort alles in Ordnung ist und kein Kind vermisst wird. Man lässt sie auch gar nicht zum Fluss hinunter, das ist ein Lager mit militärischer Disziplin, ziemlich streng. Schlafengehen, Aufstehen, fünf Minuten zum Anziehen. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen.«

Geser krächzte missmutig. »Brauchst du Hilfe, Anton?«, fragte er.

Ich dachte nach. Das war die entscheidende Frage, auf die ich bislang noch keine Antwort hatte finden können.

»Ich weiß es nicht. Die Hexe ist anscheinend stärker als ich. Aber ich will sie ja nicht ermorden… und das sollte sie spüren.«

Weit, weit weg, in Moskau, versank Geser tief in Gedanken. »Swetlana soll die Wahrscheinlichkeitslinien überprüfen«, stieß er dann hervor. »Wenn für dich keine große Gefahr besteht… dann versuch, allein mit der Sache klarzukommen. Wenn sie höher als zehn, zwölf Prozent ist… dann…«Er zögerte, fuhr dann aber recht munter fort: »Dann kommen Ilja und Semjon. Oder Danila und Farid. Zu dritt schafft ihr das.«

Ich lächelte. Dein Plan sieht anders aus, Geser. Ganz anders. Du hoffst, dass mich im Notfall Swetlana rettet. Und dann in die Nachtwache zurückkehrt…

»Außerdem hast du noch Swetlana«, meinte Geser abschließend. »Du überblickst das Ganze. Also mach dich an die Arbeit und gib mir im Notfall Bescheid.«

»Zu Befehl, mon général«, konterte ich. Denn Bescheid zu geben - das hatte Geser in ausgesprochenem Befehlston verlangt.

»Militärisch gesprochen, Oberstleutnant«, fuhr mich Geser prompt an, »läge mein Dienstgrad nicht unter dem eines Generalissimus. Genug, mach dich an die Arbeit.«

Nachdem ich das Telefon weggesteckt hatte, verglich ich kurz die Kraftstufen mit den Armeerängen. Siebter Grad einfacher Soldat, sechster Sergeant, fünfter Leutnant, vierter Hauptmann, dritter Major, zweiter Oberstleutnant, erster Oberst.

Gut, wenn man großzügig war und die Unterteilung innerhalb der einzelnen Ränge außer Acht ließ, dann wäre ich ein Oberstleutnant. Während der General für einen gewöhnlichen Magier außerhalb jeder Kategorie zu reservieren war. Geser jedoch war ein ungewöhnlicher Magier!

Die Pforte klapperte, und Ljudmila Iwanowna trat ein. Meine Schwiegermutter. Die unermüdliche Nadjuschka wirbelte um sie herum. Kaum war sie in den Garten gekommen, warf sie sich johlend in die Hängematte.

Ja, meine Tochter war noch nicht initiiert. Doch sie spürte ihre Eltern. Und ihren Alltag prägte noch vieles mehr, was normale zweijährige Mädchen nicht kennen. Zum Beispiel fürchtete sie sich vor keinem einzigen Tier, während alle Tiere sie mochten. Hunde und Katzen wichen ihr überhaupt nicht von der Seite… Mücken bissen sie nicht.

»Papka«, meinte Nadja, während sie auf mich kraxelte. »Wir sind spazieren gewesen.«

»Guten Tag, Ljudmila Iwanowna«, begrüßte ich meine Schwiegermutter. Für alle Fälle: Denn heute Morgen hatten wir uns auch schon begrüßt.

»Du ruhst dich aus?«, fragte meine Schwiegermutter ungläubig. Nein, mein Verhältnis zu ihr war gut. Kein sprichwörtliches. Trotzdem hatte ich den Eindruck, sie wolle mir ständig irgendetwas vorwerfen. Dass ich ein Anderer war, zum Beispiel - wenn sie denn etwas von den Anderen gewusst hätte.

»Ein bisschen«, antwortete ich munter. »Seid ihr weit weg gewesen, Nadja? »

»Ja.«

»Bist du jetzt müde? »

»Ja«, bestätigte Nadka, »aber Oma ist noch mehr müde.«

Ljudmila Iwanowna blieb kurz stehen, als überlege sie, ob sie einem Nichtsnutz wie mir seine eigene Tochter anvertrauen konnte. Offenbar beschloss sie, es zu wagen. Sie ging ins Haus.

»Und wohin gehst du?«, fragte Nadjuschka, wobei sie meine Hand kräftig drückte.

»Habe ich denn gesagt, dass ich irgendwohin gehe?«, wunderte ich mich.

»Nein…«, räumte Nadka ein und zerzottelte sich mit ihrem kleinen Händchen das Haar. »Aber du gehst doch? »

»Ja«, gab ich zu.

Eben. Wenn ein Kind ein potenzieller Anderer ist - noch dazu von solcher Kraft -, verfügt es von Geburt an über die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Vor einem Jahr hatte Nadka eine Woche vor dem Zeitpunkt, als die ersten Zähne durchkamen, angefangen zu weinen.

»La, la, la…«, fing Nadja an zu singen und guckte zum Zaun hinüber. »Der Zaun muss gestrichen werden! »

»Hat Oma das gesagt?«, wollte ich wissen.

»Ja. Wenn hier ein richtiger Mann wäre, würde er den Zaun streichen«, wiederholte Nadjuschka inbrünstig die Worte. »Aber hier ist kein richtiger Mann, da muss Oma selbst streichen.«Ich seufzte.

Zum Teufel mit diesen Datschenfanatikern! Warum müssen Menschen auf ihre alten Tage unbedingt in sich die Leidenschaft entdecken, in der Erde zu buddeln? Ob sie sich schon mal an sie gewöhnen wollen?

»Oma hat einen Spaß gemacht«, sagte ich und klopfte mir auf die Brust. »Hier gibt es einen richtigen Mann, und der wird auch den Zaun streichen! Im Notfall streicht er sogar alle Zäune im ganzen Dorf. »

»Ein richtiger Mann«, wiederholte Nadka und lachte los.

Ich vergrub das Gesicht in ihrem Haar und pustete. Nadjuschka fing gleichzeitig zu kichern und zu strampeln an. Ich blinzelte Swetlana zu, die gerade aus dem Haus kam, und setzte meine Tochter auf der Erde ab. »Lauf zu Mama.«

»Nein, lieber zu Oma«, meinte Swetlana, als sie Nadja auffing. »Milch trinken. »

»Ich will keine Milch! »

»Du brauchst sie«, entgegnete Swetlana.

Darauf widersprach Nadjuschka nicht, sondern steuerte widerspruchslos auf die Küche zu. Selbst bei Menschen gibt es ein seltsames wortloses Verstehen zwischen Mutter und Kind. Was wollte man da erst über uns sagen? Nadja spürte genau, wann sie sich Mätzchen leisten konnte - und wann sie es besser bleiben ließ.

»Was hat Geser gesagt?«, fragte Swetlana, während sie sich neben mich setzte. Die Hängematte schaukelte.

»Er hat mir die Wahl gelassen. Ich kann die Hexe allein suchen oder Hilfe rufen. Was meinst du?«

»Soll ich für dich in die Zukunft schauen?«, wollte Swetlana wissen. »Hm.«

Swetlana schloss die Augen und streckte sich in der Hängematte aus. Ich zog ihre Beine gerade und legte sie mir über die Knie. Von außen betrachtet die reinste Idylle. Eine attraktive Frau lag in einer Hängematte und entspannte sich. Neben ihr saß ihr Mann, der ihr hingebungsvoll über die Hüfte streichelte…

Auch ich konnte in die Zukunft sehen. Jedoch viel schlechter als Swetlana, denn das gehörte nicht zu meinem Spezialgebiet. Außerdem brauchte ich dafür weitaus länger, und meine Prognose traf nicht immer zu. Swetlana schlug die Augen auf. Sah mich an. »Und?«Ich konnte mich nicht beherrschen.

»Streichel mich ruhig weiter«, lächelte sie. »Es ist alles sauber. Ich sehe keine Gefahr.«

»Anscheinend hat die Hexe genug von ihrem niederträchtigen Tun«, feixte ich. »Na gut. Ich werde ihr einen mündlichen Verweis wegen der nicht erfolgten Registrierung erteilen.«

»Ihre Bibliothek beunruhigt mich«, gab Swetlana zu. »Warum hockt sie mit solchen Büchern tief im Wald?«

»Kann doch sein, dass sie die Stadt einfach nicht mag«, entgegnete ich. »Sie braucht den Wald, die frische Luft…«

»Warum dann das Moskauer Umland? Sie hätte doch nach Sibirien fahren können, da ist die Umwelt auch noch nicht so verschmutzt, und es gibt dort die seltensten Kräuter. Oder in den Fernen Osten.«

»Sie ist von hier«, meinte ich lächelnd. »Und sie ist ihrer kleinen Heimat treu.«

»Irgendwas stimmt hier nicht«, meinte Swetlana verärgert. »Ich kann die Geschichte mit Geser einfach nicht vergessen… Und hier hockt eine Hexe!«

»Warum stößt dir die Sache mit Geser immer wieder auf?«, fragte ich achselzuckend. »Er wollte aus seinem Sohn einen Lichten machen. Ich kann ihn dafür nicht mal verurteilen. Stell dir doch mal vor, welche Schuldgefühle er gegenüber seinem Sohn empfunden haben muss… Er hat geglaubt, der Junge sei tot…«

Swetlana setzte ein ironisches Lächeln auf. »Nadjuschka sitzt gerade auf einem Hocker, baumelt mit den Beinen und will, dass die Haut von der Milch abgeschöpft wird. »

»Ja und?«Ich wusste nicht, was sie meinte.

»Ich spüre, wo sie ist und wie es ihr geht«, erklärte Swetlana. »Weil sie meine Tochter ist. Und weil sie eine Andere ist. Dabei bin ich schwächer als Geser oder Olga…»

»Sie haben geglaubt, ihr Sohn sei gestorben…«, murmelte ich.

»Das kann nicht sein!«, widersprach Swetlana hart. »Geser ist kein gefühlloser Baumstumpf. Er hätte spüren müssen, dass der Junge noch am Leben ist, verstehst du? Und Olga erst recht. Er ist ihr Fleisch und Blut… Sie hätte nicht glauben dürfen, dass der Junge gestorben ist. Als sie erst einmal erfahren hatten, dass ihr Sohn am Leben war, stellte alles Weitere kein Problem mehr dar. Geser verfügt jetzt genau wie vor fünfzig Jahren über genügend Kraft, um im ganzen Land das Unterste zuoberst zu kehren und seinen Sohn zu finden.«

»Willst du damit sagen, sie hätten ihn absichtlich nicht gesucht?«, fragte ich. Swetlana schwieg. »Oder…«

»Oder«, bestätigte Swetlana. »Oder der Junge war in der Tat ein Mensch. Dann ginge das Puzzle auf. Dann mussten sie an seinen Tod glauben und konnten ihn nur absolut zufällig finden.«

»Das Fuaran«, meinte ich. »Ob diese Hexe irgendwas mit den Ereignissen im Assol zu tun hat?«

Swetlana zuckte die Schultern. »Ich würde schrecklich gern mit dir in den Wald gehen, Anton«, versicherte sie seufzend. »Um diese gute Frau und Botanikerin zu finden, sie nach allem Möglichen zu fragen…«

»Aber du kommst nicht mit«, sagte ich.

»Genau. Ich habe geschworen, an keiner Operation der Nachtwache teilzunehmen.«

Ich verstand sie. Teilte Swetlanas Groll auf Geser. Außerdem hätte ich es ohnehin vorgezogen, Swetlana nicht mitzunehmen… Es war nicht ihre Aufgabe, Hexen im Wald aufspüren.

Aber um wie vieles leichter und einfacher wäre es, wenn wir zusammenarbeiten würden!

Ich stand auf. Seufzte. »Gut, ich will hier nicht rumtrödeln. Die größte Hitze haben wir hinter uns, da werde ich mich mal in den Wald aufmachen. »

»Es ist bald Abend«, bemerkte Swetlana.

»Ich hab es ja nicht weit. Die Kinder haben gesagt, die Hütte sei ganz in der Nähe.«

»Gut«, nickte Swetlana. »Aber wart noch einen Moment, ich mache dir ein paar Brote fertig. Und fülle dir etwas Obstsaft in eine Flasche ab.«

Während ich auf Swetlana wartete, spähte ich vorsichtig in den Schuppen. Mir blieb die Spucke weg. Nicht nur, dass Onkel Kolja den halben Motor auseinander genommen und die Teile auf dem Boden ausgebreitet hatte, nein, neben ihm hing ein weiterer Dorfalkoholiker mit Feuereifer über dem Motor, ein gewisser Andrjucha oder Serjoga. Völlig dem Kampf gegen die deutsche Technik anheim gefallen, hatten die beiden noch nicht einmal den von der mitleidigen Swetlana gebrachte Flachmann angerührt. Onkel Kolja brummte vor sich hin:

Springt der Motor mal nicht an, Lass mich und meinen Kumpel ran.

Auf Zehenspitzen entfernte ich mich vom Schuppen. Zum Kuckuck mit dem Wagen…

Swetlana stattete mich aus, als wolle ich nicht einen Waldspaziergang machen, sondern müsse in der Taiga überleben.

Eingepackte Brote, eine Flasche mit Obstsaft, ein gutes Taschenmesser, Streichhölzer, ein Döschen mit Salz, zwei Äpfel und eine kleine Taschenlampe.

Außerdem überprüfte sie, ob mein Handy noch geladen war. Angesichts der bescheidenen Ausmaße des Waldes war das Handy durchaus nicht überflüssig: Im Notfall könnte ich auf einen Baum klettern - von dort würde ich mit Sicherheit eine Verbindung kriegen.

Meinen MD-Player packte ich selbst ein. Während ich jetzt langsam Richtung Wald marschierte, hörte ich Simowje swerej.

Die alte Stadt schlief längst schon ein,

Es zittert der gequälte Stein,

Die Nacht, bedroht von Todespein,

Hüllt sich in Schweigen.

Die alte Stadt schlief längst schon ein,

Nun spricht der fahle trübe Schein

Zu euch als Echo - dürft ihm kein

Vertrauen zeigen.

In Bücherein schläft Band an Band,

Voll sind die Scheuern bis zum Rand,

Genies verlieren den Verstand

Des Nachts auf Wacht.

Das Dunkel hat mit schwerer

Hand Die Unterschiede fortgebannt:

Das Kapitol, die Kerkerwand

Sind gleichgemacht.

Große Hoffnungen, noch heute Abend auf die Hexe zu stoßen, hegte ich nicht. Besser sollte ich morgen früh aufbrechen, obendrein mit einem Team. Aber ich wollte die Verdächtige ja unbedingt selbst finden! Und einen Blick in das Buch Fuaran werfen.

Am Waldrand blieb ich kurz stehen, um mir die Welt durchs Zwielicht anzusehen. Nichts Besonderes. Nicht die geringste Spur von Magie. Nur in der Ferne, über unserem Haus, blinkte weißer Feuerschein auf. Eine Zauberin ersten Grades ist von weither zu erkennen… Gut, weiter. Ich hob meinen Schatten auf und trat ins Zwielicht ein.

Der Wald verwandelte sich in wabbeligen Höhenrauch, in Düsternis. Nur einzelne, nur die größten Bäume hatten in der Zwielicht-Welt einen Doppelgänger. Wo waren die Kinder aus dem Wald gekommen?

Ich fand ihre Spur relativ schnell. In ein paar Tagen würde die zarte Kette von Abdrücken wohl geschmolzen sein, aber jetzt ließ sie sich noch erkennen. Kinder hinterlassen klare Spuren, in denen viel Kraft liegt. Klarer sind nur noch die Spuren von Schwangeren.

Von der Botanikerin fand ich keine Spuren. Freilich, sie konnten auch verschwunden sein. Aber vermutlich achtete diese Hexe seit langem darauf, keine Spuren zu hinterlassen.

Die Spuren der Kinder hatte sie allerdings nicht beseitigt! Warum nicht? Aus Nachlässigkeit? Der berühmte russische Schlendrian? Oder absichtlich? Aber Rätselraten würde ich hier bestimmt nicht veranstalten.

Ich speicherte die Fußabdrücke der Kinder in meinem Gedächtnis ab und trat aus dem Zwielicht. Die Spuren sah ich nun zwar nicht mehr, spürte jedoch, wohin sie führten. Ich konnte mich auf den Weg machen.

Zunächst maskierte ich mich jedoch noch sorgfältig. Natürlich ließ sich das nicht mit jener Schutzhülle vergleichen, die Geser für mich geschaffen hatte. Trotzdem würde mich ein Magier, der schwächer war als ich, für einen Menschen halten. Womöglich überschätzten wir die Kräfte dieser Hexe?

Die erste halbe Stunde sah ich mir meine Umgebung aufmerksam an, betrachtete jedes verdächtige Gebüsch durchs Zwielicht und wirkte hin und wieder einen einfachen Suchzauber. Kurzum, ich ging strikt nach Lehrbuch vor, wie ein disziplinierter Anderer, der eine Razzia durchführt.

Dann reichte es mir. Um mich herum war Wald, ein kleiner, nicht ganz gesunder Wald, der aber immerhin noch nicht den Touristen zum Opfer gefallen war. Ob das vielleicht daran lag, dass der ganze Wald nur fünfzig mal fünfzig Kilometer maß? Immerhin trieben sich hier allerlei Waldbewohner wie Eichhörnchen, Hasen und Füchse herum. Wölfe - echte, keine Werwölfe - gab es in ihm natürlich nicht. Auf die können wir allerdings auch gut verzichten. Dafür gab es allerlei Essbares: Einmal setzte ich mich neben einen Strauch mit wilden Himbeeren und pflückte innerhalb von zehn Minuten die bereits leicht vertrockneten, süßen Früchte. Dann stieß ich auf eine ganze Siedlung von Steinpilzen. Aber was heißt Siedlung? Auf eine wahre Metropole! Große, nicht wurmstichige Steinpilze, nicht irgendwelches Murkelzeug, und kein Hallimasch oder Röhrenpilz dazwischen. Nicht einmal geahnt hatte ich, dass ein paar Kilometer vom Dorf entfernt ein solcher Schatz lag!

Einen Moment lang schwankte ich. Ob ich nicht all die Pilze sammeln, nach Hause bringen und zum Erstaunen von meiner Schwiegermutter und zur Freude Swetlanas auf dem Tisch ausbreiten sollte? Und wie Nadka erst vor Begeisterung jauchzen und gegenüber den Nachbarskindern mit ihrem erfolgreichen Papa angeben würde!

Dann fiel mir ein, dass bei einer solchen Beute (schließlich würde ich sie nicht heimlich ins Haus schmuggeln können) das ganze Dorf im Wald auf Pilzjagd gehen würde. Auch die Trinker aus der Gegend, die sich freuen würden, die Pilze am Straßenrand verscherbeln zu können, um sich hinterher Wodka zu kaufen. Und die alten Frauen, die sich hauptsächlich von dem ernährten, was sie fanden. Und alle Kinder aus dem Dorf. Aber irgendwo hier im Wald trieben sich Werwölfe rum…

»Sie würden es nicht glauben…«, sagte ich bitter, während ich auf die Pilzlichtung blickte.

Gebratene Steinpilze, o ja, das wär was. Ich schluckte meine Spucke herunter und folgte meiner Spur. Keine fünf Minuten später stieß ich auf ein Holzhäuschen.

Genau wie die Kinder es beschrieben hatten. Ein kleines Haus, winzige Fenster, kein Zaun, kein Schuppen, kein Gemüsegarten. Niemals hätte irgendjemand solche Häuser im Wald errichtet. Selbst das kleinste Waldhüterhäuschen hat noch ein hölzernes Vordach.

»He, Hausherren!«, rief ich. »Holla!«Niemand antwortete.

»Hüttlein, Hüttlein«, murmelte ich. »Den Rücken jetzt zum Walde dreh, damit ich durch die Türe geh…«

Doch die Hütte rührte sich nicht. Außerdem stand sie ohnehin schon mit dem Gesicht zu mir. Plötzlich fühlte ich mich ungeheuer schlau - ganz wie Stirlitz in den Witzen.

Gut, genug der Dummheiten. Ich gehe da jetzt rein, falls die Frau nicht zu Hause sein sollte, warte ich auf sie…

Ich ging auf die Tür zu, berührte die verrostete Eisenklinke -und in diesem Moment, als habe jemand nur darauf gewartet, öffnete sich die Tür.

»Guten Tag«, sagte eine etwa dreißigjährige Frau lächelnd. Eine sehr schöne Frau…

Aus irgendeinem Grund hatte ich sie mir nach den Erzählungen von Romka und Xjuscha älter vorgestellt. Außerdem hatten sie ihre äußere Erscheinung mit keinem Wort erwähnt - und in meinem Kopf hatte sich das typische Bild einer»einfachen Frau«gebildet. Ich Idiot! »Schön«, das hieß für so kleine Kinder»ein prachtvolles Kleid«. In ein oder zwei Jahren würde Xjuscha vermutlich begeistert und verzückt berichten: »Und wie schön die Tante war!«Und als Beispiel Natalia Oreiro oder ein aktuelles Mädchenidol nennen.

Die Frau trug jedoch bloß Jeans und ein einfaches kariertes Hemd von der Art, wie sie sowohl Männer als auch Frauen anziehen.

Hochgewachsen, aber nur so, dass ein Mann von mittlerer Größe keine Minderwertigkeitskomplexe entwickelte. Schlank, aber nicht mager. So lange und wohlgeformte Beine, dass man am liebsten losschreien wollte: »Weshalb steckst du in Jeans, du Idiotin, steig sofort in einen Minirock!«Busen - hm, mancher sieht vielleicht lieber zwei Silikonmelonen, mancher bevorzugt eine knabenhaft flache Brust, aber ein normaler Mann hält sich in dieser Frage an die gesunde Mitte. Die Hände… Ich habe keine Ahnung, ob Hände erotisch sein können. Aber ihre waren es. So, dass dir sofort der Gedanke durch den Kopf schießt, diese Finger müssten dich berühren…

Bei einer solchen Figur braucht eine Frau kein attraktives Gesicht zu haben. Sie jedoch hatte auch das. Rabenschwarze Haare, große Augen, die lächelten und betörten. Ebenmäßige Gesichtszüge, allerdings mit kleinen Abweichungen vom Ideal, die das Auge zwar gar nicht bemerkte, die es jedoch erlaubten, sie als lebendige Frau zu betrachten und nicht als Kunstprodukt. »Gu-Guten Tag«, flüsterte ich.

Was war mit mir? Man konnte ja glauben, ich sei auf einer unbewohnten Insel aufgewachsen und hätte noch nie eine Frau gesehen!

»Sie sind Romans Vater, oder?«, wollte die Frau mit strahlendem Lächeln wissen. »Was?«, fragte ich begriffsstutzig zurück.

Die Frau wurde leicht verlegen. »Entschuldigen Sie… Hier hat sich vor ein paar Tagen ein Junge im Wald verlaufen, den ich zu seinem Dorf zurückgebracht habe. Er hat ebenfalls gestottert… leicht. Da habe ich gedacht…«Na toll! Einfach großartig!

»Normalerweise stottere ich nicht«, murmelte ich. »Normalerweise plapper ich allerlei Unsinn zusammen. Aber ich habe nicht damit gerechnet, im Wald einer so schönen Frau zu begegnen, das hat mich völlig aus dem Konzept gebracht.«

Die»so schöne Frau«lachte. »Und diese Worte? Sind die auch Unsinn? Oder die Wahrheit? »

»Die Wahrheit«, gestand ich.

»Kommen Sie rein.«Sie machte einen Schritt zur Seite. »Vielen Dank, hier bekomme ich nicht oft Komplimente zu hören…«

»Hier kommen wohl auch nicht oft Leute vorbei«, bemerkte ich, während ich das Haus betrat und mich umsah.

Keine Spuren von Magie. Eine etwas merkwürdige Einrichtung für ein Haus mitten im Wald, aber warum auch nicht. Und in der Tat: ein Bücherschrank mit alten Folianten… Aber die Frau hatte nichts von einer Anderen an sich.

»Hier in der Nähe sind zwei Dörfer«, erklärte die Frau. »Das, zu dem ich die beiden Kinder gebracht habe, und eins, das etwas größer ist. Dort mache ich meine Einkäufe, der Laden hat jeden Tag auf. Aber mit Komplimenten werde ich da nicht überschüttet.«Sie lächelte erneut. »Ich heiße Arina. Nicht Irina, sondern Arina.«

»Anton«, stellte ich mich vor. Um dann mit meiner exzellenten Grundschulbildung zu glänzen: »Arina wie die Kinderfrau Puschkins?«

»Genau, ihr zu Ehren wurde ich so genannt«, lächelte die Frau. »Mein Vater hieß Alexander Sergejewitsch, meine Mutter war besessen von Puschkin. Fanatisch, wenn man so will. Und deshalb habe ich diesen Namen bekommen…«

»Und warum nicht Anna, zu Ehren der Kern? Oder Natalja, zu Ehren der Gontscharowa?«

»Sie stellen Fragen…«Die Frau schüttelte den Kopf. »Meine Mutter glaubte, all diese Frauen hätten in Puschkins Leben eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Sicher, sie dienten ihm als Quelle der Inspiration, aber als Mensch hat er ihretwegen sehr gelitten… Während seine Kinderfrau… Sie hat nichts verlangt, hat Sascha hingebungsvoll geliebt…»

»Sind Sie Philologin?«, ließ ich einen Versuchsballon steigen.

»Was hätte eine Philologin hier im Wald verloren?«, amüsierte sich Arina. »Setzen Sie sich, ich mache Ihnen einen Tee, einen wohlschmeckenden Kräutertee. Alle Welt ist jetzt hinter Mate, Rooibosch und diesen ganzen ausländischen Sachen her. Aber ein Russe, das sagen ich Ihnen ganz offen, braucht diesen exotischen Kram nicht. Unsere eigenen Kräuter reichen völlig. Oder normaler Tee, der schwarze, schließlich sind wir keine Chinesen, die grünes Wasser trinken. Oder Waldkräuter. Das können Sie gleich selbst feststellen…»

»Sie sind Botanikerin«, meinte ich niedergeschlagen.

»Richtig!«Arina lachte. »Und Sie sind bestimmt nicht Romans Vater?«

»Nein, ich…«, ich geriet ins Stocken und flüchtete zur bequemsten Ausrede. »Ich bin ein Freund seiner Mutter. Vielen Dank, dass sie die Kinder gerettet haben.«

»Nun habe ich sie gleich gerettet«, meinte Arina lächelnd. Sie stand mit dem Rücken zu mir und gab getrocknete Kräuter in die kleine Kanne, in der der Sud aufgebrüht wurde. Hiervon einer Prise, davon ganz wenig, ein Löffel von dem hier… Unwillkürlich blieb mein Blick an dem Teil der ausgeblichenen Jeans hängen, der den kräftigen Hintern umspannte. Irgendwie wusste ich sofort, dass ihr Hintern straff war und jede Anzeichen der Lieblingskrankheit städtischer Damen, der Zellulitis, vermissen ließ. »Xjuscha ist ein kluges Mädchen, die beiden hätten auch allein wieder herausgefunden. »

»Und die Wölfe?«, fragte ich.

»Was für Wölfe, Anton?«Erstaunt sah Arina mich an. »Ich habe schon den beiden gesagt: Das war ein streunender Hund. Woher sollten in einem Wäldchen wie diesem Wölfe kommen?«

»Ein wilder Hund, noch dazu mit Jungen, kann ebenfalls gefährlich sein«, bemerkte ich.

»Hm… vermutlich haben Sie Recht.«Arina seufzte. »Auf alle Fälle glaube ich, dass der Hund sich nicht auf die beiden gestürzt hätte. Hunde fallen Kinder nur selten an, man muss ein Tier schon sehr reizen, damit es dergleichen tut. Menschen sind weitaus gefährlicher als Tiere…«Wogegen sich in der Tat nichts einwenden ließ…

»Langweilen Sie sich nicht, so im tiefen Wald?«, wechselte ich das Thema.

»Ich bin doch nicht hierher verbannt«, amüsierte sich Arina. »Ich bin nur den Sommer über hier, um meine Dissertation zu schreiben. Die Ethnogenese einiger Kreuzblütler in Mittelrussland.«

»Sie wollen promovieren?«, fragte ich ein wenig neidisch. Aus irgendeinem Grund bedauerte ich noch immer, dass ich meine Diss nicht zu Ende gebracht hatte. Und zwar deshalb nicht, weil ich ein Anderer geworden war und mich das ganze wissenschaftliche Geplänkel mit einem Mal genervt hatte. Es hatte genervt - dennoch bedauerte ich es jetzt…

»Ja«, antwortete Arina mit verständlichem Stolz. »Im Winter will ich sie verteidigen…«

»Haben Sie Ihre wissenschaftliche Bibliothek mit hierher gebracht?«, fragte ich und nickte in Richtung Schrank.

»Ja«, meinte Arina. »Es war natürlich dumm, das alles hier anzuschleppen. Aber ein… Bekannter hat mich hergebracht. Im Jeep. Die Gelegenheit habe ich genutzt und meine ganze Bibliothek hierher verfrachtet.«

Ich fragte mich, ob ein Jeep durch diesen Wald fahren konnte. Hinter dem Haus schien es einen recht breiten Pfad zu geben… vermutlich hätte er es also geschafft…

Ich ging zum Schrank, um mir die Bücher aufmerksam anzusehen.

Das war in der Tat die gut sortierte Bibliothek einer Botanikerin. Alte Wälzer aus dem frühen 20. Jahrhundert, bei denen im Vorwort ein Loblied auf die Partei und den Genossen Stalin höchstselbst angestimmt wurde. Aber auch noch ältere, die aus der Zeit vor der Revolution stammten. Und eine Unzahl einfacher, zerlesener Bände von vor zwanzig, dreißig Jahren.

»Der größte Teil ist Mist«, kommentierte Arina, ohne sich umzudrehen. »Deren Platz ausschließlich im Regel eines Bibliophilen sein sollte. Aber… ich bringe es einfach nicht übers Herz, sie zu verkaufen.«

Ich lächelte traurig und sah mir den Schrank durchs Zwielicht an. Alles sauber. Keine Magie. Alte Bücher über Botanik.

Oder das Ganze war kunstvoll in eine Düsternis gehüllt, die ich nicht zu durchdringen vermochte. »Setzen Sie sich, der Tee ist fertig«, forderte Arina mich auf.

Ich nahm auf einem knarrenden Wiener Stuhl Platz. Griff nach der Tasse Tee, schnupperte.

Ein betörender Geruch. Irgendwas musste da drin sein, ein wenig normaler Tee, aber auch Zitrone und Minze. Obwohl ich gewettet hätte: Der Tee enthielt weder Teeblätter, noch Zitronenschale oder banale Minze.

»Was ist?«, lächelte Arina. »Probieren Sie ruhig…«

Sie setzte sich mir gegenüber und lehnte sich etwas vor. Unwillkürlich fiel mein Blick auf den offenen Hemdausschnitt, der die braun gebrannte Brust erkennen ließ. Ob dieser»Bekannte mit Jeep«wohl ihr Liebhaber war? Oder einfach ein Kollege? Ja, klar, ein Botaniker mit Jeep…

Was war nur mit mir los? Man konnte wirklich glauben, ich käme von einer unbewohnten Insel und hätte seit zehn Jahren keine Frau gesehen!

»Er ist heiß«, erwiderte ich, während ich die Tasse in beiden Händen hielt. »Er muss noch etwas abkühlen…«Arina nickte.

»Wie bequem, einen Elektrokessel zu haben«, fuhr ich fort. »Das Wasser kocht schnell. Woher haben Sie denn hier Strom, Arina? Ich habe am Haus gar keine Leitungen gesehen.«

Arinas Gesicht erzitterte. »Vielleicht verlaufen die Kabel ja unterirdisch«, meinte sie kläglichen Tones.

»Hm«, erwiderte ich, streckte die Hand mit der Tasse aus und goss den Tee fein säuberlich auf den Fußboden. »Die Antwort lass ich nicht gelten. Denken Sie noch einmal darüber nach.«

»Warum muss ich nur immer so ein Pech haben?«Ärgerlich schüttelte Arina den Kopf. »Wegen solcher Kleinigkeiten…«

»Man stolpert immer über Kleinigkeiten«, meinte ich mitleidig. Und stand auf. »Moskauer Nachtwache, Anton Gorodezki. Ich verlange, die Illusion sofort aufzuheben!«Arina hüllte sich in Schweigen.

»Ihre Weigerung zu kooperieren wird als Verletzung des Großen Vertrages gewertet«, erinnerte ich sie. Arina blinzelte. Und verschwand. Also, das durfte doch nicht…

Mit einem Blick fing ich meinen Schatten ein. Streckte mich nach ihm aus - und das kühle Zwielicht nahm mich auf. Das Häuschen hatte sich nicht im Geringsten verändert! Arina war weg.

Ich konzentrierte mich. Hier war es zu grau und zu trüb, um meinen Schatten auszumachen. Trotzdem fand ich ihn. Und trat in die zweite Schicht des Zwielichts ein.

Der graue Nebel verdichtete sich, den Raum erfüllte ein fernes, lang gezogenes Grollen. Ein Frösteln lief über meine Haut. Jetzt hatte sich das Häuschen verändert, und zwar radikal: Es hatte sich in eine Hütte verwandelt. Mit Wänden aus Holzbalken, die Moos bewucherte. Statt Glas funkelte eine halb durchscheinende, glimmernde Platte in den Fenstern. Die Möbel waren einfacher, älter, der Wiener Stuhl, auf dem ich saß, hatte sich in einen Baumstumpf verwandelt. Nur der teure, hochverehrte Schrank war noch der alte. Ein schöner alter Schrank. In dem die Bücher jedoch rasant ihr Äußeres veränderten. Falsche Buchstaben hagelten zu Boden, die kunstledernen Rücken verlederten…

Arina war weg. Nur eine vage Silhouette neben dem Schrank ließ sich erkennen, ein geisterhafter, schneller Schatten… Die Hexe war in die dritte Schicht des Zwielichts abgetaucht! Theoretisch könnte ich ihr dorthin folgen.

Praktisch hatte ich das noch nie ausprobiert. Für einen Magier zweiten Grades bedeutet das eine unsagbare Anspannung der Kräfte.

Doch ich war zu wütend auf die durchtriebene Hexe. Sie hatte versucht, mich zu verzaubern, zu bezirzen… die alte Vettel!

Ich stand an dem dunklen Fenster und fing die Funken Licht ein, die in die zweite Zwielicht-Schicht drangen. Ich fand - glaubte das zumindest - meinen sehr, sehr schwachen Schatten auf dem Boden…

Das war das Schwierigste: ihn zu bemerken. Danach gehorchte der Schatten, schoss zu mir hoch und gab mir den Weg frei. Ich trat in die dritte Schicht des Zwielichts.

In die Analogie des Hauses, errichtet aus Baumzweigen und dicken Stämmen.

Hier gab es keine Bücher, keine Möbel mehr. Nur ein Nest aus Zweigen.

Und Arina, die mir gegenüberstand. Wie alt sie war!

Wenn auch nicht bucklig wie die Hexe Baba-Jaga aus dem Märchen. Sondern immer noch schlank und hochgewachsen. Ihre Haut war jedoch faltig wie Baumrinde, die Augen lagen tief in den Höhlen. Sie trug nicht mehr als einen schmutzigen Kittel aus Sackleinen. Wie leere Säcke hingen die welken Brüste in dem tiefen Ausschnitt des Kittels. Außerdem war sie kahl, nur eine Strähne ragte wie bei den Wirbeln von Indern auf ihrem Schädel auf.

»Die Nachtwache!«, wiederholte ich. Die Worte krochen wiederwillig, langsam aus meinem Mund. »Kommen Sie aus dem Zwielicht! Das ist die letzte Warnung!«

Was wollte ich ihr, die so leicht in die dritte Schicht der Zwielicht-Welt abtauchen konnte, eigentlich anhaben? Keine Ahnung. Möglicherweise gar nichts…

Doch sie leistete nicht länger Widerstand. Sondern kam auf mich zu - und verschwand.

Mühevoll kehrte ich in die zweite Schicht zurück. Normalerweise ist es leichter, aus dem Zwielicht herauszukommen, doch die dritte Schicht hatte meine Kräfte aus mir herausgesaugt wie aus einem diplomierten Looser.

Arina wartete in der zweiten Schicht auf mich. Sie hatte ihr bisheriges Aussehen bereits wieder angenommen. Mit einem Nicken ging sie weiter, der normalen, gemütlichen und ruhigen Welt der Menschen entgegen…

In kalten Schweiß gebadet, brauchte ich zwei Versuche, um meinen Schatten aufzuheben, bevor mir das endlich gelang.

Drei

Arina saß auf einem Stuhl, die Hände bescheiden auf die Knie gelegt. Sie lächelte nicht mehr, sondern war der Inbegriff des Gehorsams selbst.

»Können wir in Zukunft vielleicht auf diese Tricks verzichten, ja?«, wollte ich wissen, als ich in die reale Welt zurückkam. Mein Rücken war klatschnass, meine Beine zitterten leicht. »Kann ich diese Gestalt behalten, Wächter?«, fragte Arina leise.

»Wozu?«Diese kleine Rache konnte ich mir nicht verkneifen. »Ich habe Ihre echte Gestalt doch sowieso schon gesehen.«

»Wer entscheidet, was in dieser Welt echt ist?«, entgegnete Arina nachdenklich. »Das kommt doch wohl darauf an, von wo aus man das Ganze betrachtet… Halten Sie meine Bitte für weibliche Koketterie, Lichter.«

»Und der Versuch, mich zu betören, war der auch Koketterie?«

Arina klimperte mit den Augen. »Ja!«, platzte es aus ihr heraus. »Ich weiß, dass meine Zwielicht-Gestalt… Aber hier und jetzt sehe ich so aus! Und nichts Menschliches ist mir fremd. Eben auch nicht der Wunsch zu gefallen.«

»Gut, bleiben Sie so«, brummte ich. »Allerdings kann ich nicht gerade behaupten, dass ich von einer Wiederholung der Show träume… Nehmen Sie die Illusion von den magischen Gegenständen!«

»Wie Sie wünschen, Lichter.«Arina fuhr sich mit der Hand übers Haar, um ihre Frisur in Ordnung zu bringen. Kaum merklich veränderte sich das kleine Haus.

Statt des Kessels stand ein kleiner Topf aus Birkenholz auf dem Tisch. Aus ihm stieg noch Dampf auf. Den Fernseher gab es zwar noch, aber die Leitung führte nicht zu einer imaginären Steckdose, sondern zu einer braunen Tomate.

»Wie originell«, kommentierte ich und nickte in Richtung Fernseher. »Muss man das Gemüse oft wechseln?«

»Tomaten jeden Tag«, antwortete die Hexe achselzuckend. »Ein Kohlkopf reicht zwei oder drei Tage.«

Nie zuvor hatte ich eine derart ausgefallene Form der Stromgewinnung gesehen. Gewiss, theoretisch war so was möglich… aber in der Praxis…

Am meisten interessierte mich natürlich der Bücherschrank. Ich trat an ihn heran und zog ein x-beliebiges Buch heraus, einen schmalen Band mit weichem Einband. Weißdorn. Praktische Anwendung in der häuslichen Zauberei.

Eine Art Rotationsdruck. Vor einem Jahr erschienen. Sogar die Auflage war angegeben: 200 Exemplare. Und die ISBN-Nummer! Die Druckerei sagte mir nichts, irgendeine unbekannte GmbH TP.

»Tatsächlich Botanik… Lassen Sie Ihre Bücher wirklich drucken?«, fragte ich begeistert.

»Gelegentlich«, antwortete die Hexe bescheiden. »Man kann ja nicht alles von Hand abschreiben…«

»Von Hand, das ist ja noch gar nichts«, entgegnete ich. »Manches muss sogar mit Blut geschrieben werden…«Dann holte ich das Kassagar Garsarra aus dem Schrank.

»Mit dem eigenen Blut, merken Sie sich das«, brachte Arina scharf hervor. »Mir ist diesbezüglich nichts vorzuwerfen.«

»Dieses Buch überhaupt zu besitzen kann ich Ihnen vorwerfen«, widersprach ich. »Hm, was haben wir denn hier…»Aufwiegelung der Menschen gegeneinander ohne übergroße Anstrengung«.«

»Was wollen Sie mir eigentlich zur Last legen?«, fragte Arina nun ärgerlich. »Das sind… wissenschaftliche Ausgaben. Antiquarische. Ich habe niemanden aufgehetzt.«

»Wirklich nicht?«, erwiderte ich, während ich das Buch durchblätterte. »Minderung bei Nierenleiden und Heilung von Wassersucht… Also das ist…«

»Wollen Sie jemandem, der de Sade liest, sadistische Absichten unterstellen?«, knurrte Arina. »Das ist unsere Geschichte. Verschiedene Zauber. Ohne Unterscheidung in destruktive und positive.«

Ich brummte etwas. Im Prinzip hatte sie Recht. Dass sie hier die unterschiedlichsten magischen Rezepte zusammengetragen hatte, stellte nun wirklich keinen Straftatbestand dar. Außerdem… was sollte ich nun wieder davon halten: »Wie man bei einer Gebärenden die Schmerzen tilgt, ohne dem Kind zu schaden«. Und gleich danach»Wie man die Frucht abtreibt und der Schwangeren nicht schadet«und»Wie man die Frucht zusammen mit der Schwangeren auslöscht«. Für Dunkle nichts Ungewöhnliches.

Doch trotz diesen widerwärtigen Anleitungen und dem eben erst unternommenen Versuch Arinas, mich zu täuschen, nahm irgendetwas an der Hexe mich für sie ein. Vor allem wohl, wie sie sich den Kindern gegenüber verhalten hatte. Ohne Frage hätte die weise alte Hexe ihnen die grausamsten Dinge antun können. Außerdem… außerdem strahlte sie eine gewisse Melancholie und Einsamkeit aus, ungeachtet ihrer Stärke, ungeachtet ihrer wertvollen Bibliothek und ihrer attraktiven Menschengestalt.

»Was soll ich denn angestellt haben?«, fragte Arina streitsüchtig. »Nun mal raus mit der Sprache, Zauberkundiger! »

»Sind Sie registriert?«, wollte ich wissen.

»Bin ich etwa eine Vampirin oder eine Tierfrau?«, fragte Arina zurück. »Wenn du mir einen Stempel aufdrücken willst… das schlag dir aus dem Kopf.«

»Vom Siegel rede ich nicht«, beruhigte ich sie. »Die Sache ist einfach die, dass alle Magier vom ersten Grad an verpflichtet sind, dem regionalen Büro ihren Wohnort bekannt zu geben. Damit ihnen ein Umzug nicht als feindliche Handlung ausgelegt wird…»

»Ich bin keine Zauberin, sondern eine Hexenmeisterin.«

»Magier und sonstige Andere von gleichwertiger Kraft…«, wiederholte ich müde. »Sie befinden sich auf dem Territorium der Moskauer Wache. Sie hätten sich bei uns melden müssen.«

»Früher hat es dergleichen nicht gegeben«, murmelte die Hexe. »Hohe Zauberkundige haben sich übereinander informiert, Vampire und Tiermenschen wurden erfasst… aber um uns hat sich niemand gekümmert.«Hm…

»Was heißt früher?«, wollte ich wissen.

»1931«, gab die Hexe widerwillig preis.

»Sie leben seit 31 hier?«, hakte ich ungläubig nach. »Arina…«

»Ich lebe erst seit zwei Jahren hier. Davor…«Sie runzelte die Stirn. »… das spielt keine Rolle, wo ich davor war. Ich habe jedenfalls nichts von diesen neuen Gesetzen gehört.«

Vielleicht sagte sie sogar die Wahrheit. Bei alten Anderen, vor allem bei denjenigen, die nicht in den Wachen arbeiten, kann so was vorkommen. Sie verkriechen sich irgendwo, im Wald oder in der Taiga, und hocken da jahrzehntelang, bis Sehnsucht sie überwältigt.

»Und vor zwei Jahren haben Sie beschlossen, hierher zu ziehen?«, hakte ich nach.

»Ja. Was hatte ich dummes Weib auch in der Stadt verloren?«Arina lachte. »Jetzt sitze ich hier, gucke fern und lese meine Bücher. Hole das Versäumte nach. Ich habe eine alte Freundin gefunden… die mir Bücher aus Moskau schickt.«

»Gut«, meinte ich. »Dann kommt jetzt die übliche Prozedur. Haben Sie ein Blatt Papier? »

»Ja.«

»Schreiben Sie eine Erklärung. Name, Eltern, Geburtsjahr, Initiierungsjahr, ob Sie einmal den Wachen angehört haben, auf welcher Kraftstufe Sie stehen…«

Gehorsam nahm Arina Blatt und Bleistift zur Hand. Ich runzelte die Stirn, bot ihr aber keinen Kugelschreiber an. Sollte sie doch mit einer Gänsefeder schreiben.

»Wann Sie sich das letzte Mal angemeldet oder Ihren Wohnsitz einem offiziellen Organ der Wachen mitgeteilt haben… Wo Sie sich danach aufgehalten haben.«

»Ich werde das nicht schreiben.«Arina legte den Stift beiseite. »Was soll neuerdings dieses Geschreibsel… Wen geht es etwas an, wo ich meine alten Knochen wärme?«

»Hören Sie doch auf, wie eine Dorfalte zu sprechen, Arina!«, bat ich. »Sie haben sich doch vorhin ganz normal ausgedrückt!«

»Da habe ich mich verstellt«, erklärte Arina, ohne mit der Wimper zu zucken. »Gut, wie Sie wollen. Nur verzichten Sie dann auch auf diesen Armeeton.«

Mit einer peniblen, engen Schrift schrieb sie rasch das ganze Blatt voll. Reichte es mir.

Sie war jünger, als ich vermutet hatte. Noch nicht einmal zweihundert Jahre alt. Ihre Mutter war eine Bäuerin, ihr Vater unbekannt, in ihrer Familie gab es keine Anderen. Mit elf Jahren wurde das Mädchen von einem Dunklen Magier oder, wie Arina die Magier hartnäckig nannte, von einem Zauberkundigen initiiert. Einem Zugereisten aus Deutschland. Nebenbei entjungferte er sie, worauf Arina hinweisen zu müssen glaubte, wobei sie sich ein»geiler Bock«nicht verkneifen konnte. Ach - so war das! Der Deutsche hatte das Mädchen in seine Dienste genommen und es ausgebildet - in jeder Hinsicht des Wortes. Offenbar war er weder besonders klug noch besonders sensibel: Mit drei zehn Jahren verfügte das Mädchen über so viel Kraft, dass sie in einem fairen Duell siegte und ihren Lehrer dematerialisierte. Bei dem es sich übrigens um einen Magier vierten Grades handelte. Danach fiel sie den damaligen Wachen auf. Weitere Straftaten hatte sie nicht begangen, schenkte man ihrer Erklärung Glauben. Städte mochte sie nicht, sie lebte auf dem Lande und bestritt ihren Lebensunterhalts mit kleinen Zaubereien. Nach der Revolution wollte man sie mehrmals enteignen… Die Bauern wussten, dass es sich bei ihr um eine Hexe handelte, und beschlossen irgendwann, ihr die Tscheka auf den Hals zu hetzen. Mauser gegen Magie, das muss man sich mal vorstellen! Die Magie siegte, aber das konnte natürlich nicht ewig so weitergehen. Im Jahre 1934 beschloss Arina daher… Ich sah die Hexe an. »Wirklich?«, fragte ich.

»Ich hielt Winterschlaf«, gab Arina gelassen Auskunft. »Ich wusste, dass die rote Pest lange dauern würde. Den Umständen gemäß kann der Schlaf auf sechs, achtzehn oder sechzig Jahre festgelegt werden. Wir Hexen haben gelernt, alles Mögliche zu bedenken… Sechs oder achtzehn Jahre, das reicht bei Kommunisten nicht. Deshalb schlief ich für sechzig Jahre ein.«Sie zögerte kurz. »Ich habe hier geschlafen«, gestand sie dann schließlich. »Ich habe die Hütte so gut umzäunt, wie ich konnte, damit weder ein Mensch noch ein Anderer an sie herankam…«

Nun passte alles. Eine wirre Zeit, in der Andere fast so oft wie gewöhnliche Menschen starben. So mancher ging da verloren…

»Und Sie haben niemandem gesagt, dass Sie hier schlafen?«, hakte ich nach. »Keiner Freundin…«

»Wenn ich etwas verraten hätte«, amüsierte sich Arina, »dann würden wir beide jetzt nicht miteinander reden, Lichter. »

»Warum nicht?«

Sie nickte in Richtung Schrank. »Das ist mein Reichtum. Und das ist nicht wenig.«Ich faltete die Erklärung zusammen und steckte sie in die Tasche. »Stimmt«, meinte ich. »Trotzdem habe ich hier ein seltenes Buch nicht entdeckt. »

»Welches?«, wunderte sich die Hexe. »Das Fuaran.«

»So ein großer Junge, und glaubt noch an Märchen…«, schnaubte Arina. »Dieses Buch gibt es nicht.«

»Na klar. Das Mädchen hat sich die Bezeichnung ganz allein ausgedacht.«

»Ich habe ihr Gedächtnis nicht gesäubert«, seufzte Arina. »Lohnt es sich denn nicht mehr, Gutes zu tun? »

»Wo ist das Buch?«, fragte ich scharf.

»Drittes Regal von unten, viertes Buch von links«, antwortete Arina ärgerlich. »Hast du deine Augen zu Hause vergessen?«Ich ging zum Schrank und bückte mich. Das Fuaran!

Große Goldbuchstaben auf schwarzem Leder. Ich zog das Buch heraus, sah die Hexe triumphierend an. Arina lächelte.

Ich starrte auf den Titel auf dem Einband. Fuaran. Phantasie oder Wahrheit? Das Wort Fuaran war in großer, der Rest in kleiner Schrift gedruckt. Ich schaute mir den Rücken an… Hm. Die kleinen Buchstaben waren ausgeblichen, abgeblättert.

»Ein seltenes Buch«, räumte Arina ein. »Es wurden nur dreizehn Exemplare davon gedruckt, in St. Petersburg, 1913, in der Druckanstalt Seiner Kaiserlichen Hoheit. Und zwar in einer Neumondnacht, wie es sich gehört. Ich habe keine Ahnung, wie viele davon noch existieren.«

Ob das verängstigte kleine Mädchen nur das Wort registriert hatte, das in großer Schrift geschrieben worden war? Gut möglich!

»Was geschieht jetzt mit mir?«, fragte Arina betrübt. »Welche Rechte habe ich?«

Ich seufzte, setzte mich an den Tisch und blätterte das vermeintliche Fuaran durch. Ein interessantes Buch, ohne Frage…

»Nichts geschieht mit Ihnen«, versicherte ich. »Sie haben den Kindern geholfen, die Nachtwache erkennt das an.«

»Warum sollte ich Menschen nur um des Schreckens willen erschrecken?«, murmelte die Hexe. »Damit würde ich doch nur mir selbst schaden…«

»Unter Berücksichtigung dieser Tatsache sowie der besonderen Umstände Ihres Lebens…«Ich grub in meinem Gedächtnis, rief mir die Paragraphen, Kommentare und Anmerkungen in Erinnerung. »Unter Berücksichtigung all dessen werden Sie nicht bestraft werden. Nur eine Frage… Auf welcher Kraftstufe stehen Sie?«

»Weiß ich nicht, das habe ich doch auch schon geschrieben«, antwortete Arina gelassen. »Gibt es denn eine Möglichkeit, das zumessen? »

»Aber so in etwa?«

»Als ich mich schlafen gelegt habe, bekleidete ich den ersten Rang«, teilte Arina mir nicht ohne Stolz mit. »Jetzt dürfte ich wohl außerhalb jedes Ranges sein.«

Das stimmte. Eben deshalb hatte ich auch ihre Illusion nicht durchbrechen können. »Wollen Sie nicht in der Tagwache arbeiten?«

»Was hätte ich dort verloren?«, empörte sich Arina. »Vor allem, da es Sebulon inzwischen in die obersten Etagen geschafft hat, oder?«

»Ja«, bestätigte ich. »Wundert Sie das? Glauben Sie etwa, er sei nicht stark genug dafür?«

»Kraft hat er immer genug gehabt«, knurrte Arina. »Nur opfert er seine Leute zu leicht. Seine Freundinnen… mit keiner hat er länger als zehn Jahre zusammengelebt, immer ist irgendetwas passiert… Trotzdem hüpfen diese dummen blutjungen Dinger zu ihm ins Bett. Und wie er die Ukrainer und Litauer hasst! Sobald Drecksarbeit anfällt, lässt er unter irgendeinem Vorwand eine Brigade aus der Ukraine kommen, und die Kohlen holt er auch nie selbst aus dem Feuer. Braucht er einen Prügelknaben, fällt ihm als Erstes jemand aus Litauen ein… Nie hätte ich gedacht, dass er sich mit diesen Allüren auf so einem Posten halten könnte.«Plötzlich lachte Arina. »Allerdings - einem Schlag ausweichen, das hat er offensichtlich gelernt! Tüchtig!«

»Und wie«, meinte ich bitter. »Wenn Sie also nicht die Absicht haben, innerhalb der Tagwache zu arbeiten, sondern Ihr bürgerliches Leben fortsetzen wollen, dann erhalten Sie das Recht, bestimmte magische Handlungen durchzuführen… zu persönlichen Zwecken. Pro Jahr zwölf Handlungen siebten Grades, sechs sechsten, drei fünften und eine vierten Grades. Alle zwei Jahren dürfen sie eine Handlung dritten Grades vornehmen, alle vier eine zweiten Grades.«Ich verstummte.

»Und eine Handlung ersten Grades?«, wollte Arina wissen.

»Die maximale Kraft, die Andere, die nicht in den Wachen arbeiten, einsetzen dürfen, wird durch ihr früheres Niveau bestimmt«, teilte ich ihr süffisant mit. »Wenn Sie eine Untersuchung und Registrierung als Hexe außerhalb jeder Kategorie vornehmen lassen, dürfen Sie einmal in sechzehn Jahren Magie ersten Grades einsetzen. Natürlich unter Abstimmung mit den Wachen und der Inquisition. Magie ersten Grades, das ist eine zu ernste Sache.«

Die Hexe grinste. Ein seltsames Grinsen, durch und durch altweiberhaft und unangenehm auf diesem schönen jungen Gesicht.

»Ich werde auch ohne den ersten Grad vorzüglich zurechtkommen. Soweit ich es verstehe, betrifft die Einschränkung nur Magie, die auf Menschen zielt?«

»Auf Menschen und Andere«, bestätigte ich. »Mit sich selbst und unbelebten Gegenständen können Sie machen, was Sie wollen.«

»Na immerhin«, meinte Arina. »Entschuldige übrigens, Lichter, dass ich versucht habe, dich zu täuschen. Du bist eigentlich ganz in Ordnung. Fast wie wir.«Dieses zweifelhafte Kompliment ließ mich erschauern.

»Noch eine Frage«, sagte ich. »Wer waren diese Tiermenschen?«

Arina hüllte sich in Schweigen. »Was soll das?«, fragte sie dann. »Ist das Gesetz etwa abgeschafft worden? »

»Welches Gesetz?«, versuchte ich, mich dumm zu stellen.

»Ein altes Gesetz. Dass ein Dunkler einen Dunklen nicht zu verraten braucht, ein Lichter keinen Lichten…»

»Es gibt so ein Gesetz«, gab ich zu.

»Dann finde deine Tiermenschen selbst. Ob sie nun Dummköpfe sind oder blutrünstig, ich werde sie nicht ausliefern.«

Sie hatte das voll Überzeugung, voll Entschlossenheit gesagt. Druck auf sie ausüben konnte ich nicht. Schließlich hatte sie den Werwölfen nicht geholfen. Im Gegenteil.

»Die magischen Handlungen gegen mich…«Ich dachte kurz nach. »Sei's drum, die verzeihe ich Ihnen. »

»Einfach so?«, hakte die Hexe nach.

»Einfach so. Es hat mich gefreut, dass ich Ihnen widerstehen konnte.«

»Er hat mir widerstanden…«, schnaubte die Hexe. »Deine Frau ist eine Zauberin. Was ist, glaubst du, dass ich blind bin und das nicht wittere? Sie hat dich verzaubert. Damit kein Weibsbild dich verführen kann. »

»Du lügst«, entgegnete ich gelassen.

»Ja«, gab die Hexe zu. »Unglaublich! Zauberei ist hier keine im Spiel, du liebst sie einfach. Grüß deine Frau von mir, und deine Tochter auch. Wenn du Sebulon triffst, sag ihm, dass er schon immer ein Esel war und auch immer einer bleiben wird.«

»Gern«, versprach ich. Was für eine Hexe! Traute sich sogar, Sebulon frech zu kommen! »Und was soll ich Geser ausrichten?«

»Dem lasse ich überhaupt nichts ausrichten«, sagte Arina respektlos. »Was sollen wir alten Landpomeranzen uns schon um die großen tibetischen Magier scheren!«

Ich stand da und starrte die seltsame Frau an, die in ihrer menschlichen Gestalt so schön, tatsächlich aber so widerwärtig aussah. Eine Hexe, eine mächtige Hexe. Doch ob auch eine böse? Bestimmt eine, die in keinen Rahmen passte…»Bist du nicht einsam hier allein, Alte?«, fragte ich.

»Willst du mich beleidigen?«, antwortete Arina mit einer Gegenfrage.

»Nein, keinesfalls. Ein wenig habe ich aber doch begriffen.«Arina nickte, hüllte sich jedoch in Schweigen.

»Du hattest nämlich überhaupt nicht die Absicht, mich zu verführen, denn fleischliche Lust kennst du nicht mehr«, fuhr ich fort. »Bei Hexen ist das nicht so wie bei Zauberinnen. Du bist alt und fühlst dich alt, Männer interessieren dich nicht die Bohne. Allerdings kannst du noch tausend Jahre eine Alte bleiben. Deshalb hast du mich bloß aus rein sportlichem Interesse heraus zu verführen versucht.«

Ein Moment - und Arina hatte sich erneut verwandelt. In eine propere Alte, mit roten Wangen, leicht gebückter Haltung, wachen forschenden Augen, einem Mund, dem schon einige Zähne fehlten, und grauen, streng zurückgekämmten Haaren. »Ist es so besser?«, fragte sie.

»Ja, vermutlich schon«, gab ich mit leichtem Bedauern zu. Trotz allem hatte sie bisher einfach toll ausgesehen.

»So habe ich ausgesehen… vor hundert Jahren«, erklärte die Hexe. »Und so, wie ich dir die Tür aufgemacht habe, auch… irgendwann mal. Und wie ich erst mit sechzehn ausgesehen habe! Ach, Lichter, was war ich für ein lustiges, hübsches junges Ding! Wenn auch eine Hexe… Weißt du, wie und warum wir altern? »

»Irgendwas habe ich mal darüber gehört«, gab ich zu.

»Das ist der Preis, den wir für einen höheren Rang zahlen.«Schon wieder benutzte sie dieses altmodische Wort, das in den letzten Jahren vollständig von dem aus Computerspielen übernommenen»Grad«verdrängt worden war. »Auch eine Hexe könnte einen jungen Körper behalten. Nur würde sie sich dann auch mit dem dritten Rang abfinden müssen. Unsere Beziehung zur Natur ist sehr stark, und die Natur liebt eben keine Fälschungen. Verstehst du das? »

»Ja«, sagte ich.

»Gut, Lichter…«Arina nickte. »Freu dich also, Lichter, dass deine Frau eine Zaubermeisterin ist. Du hast dich mir gegenüber freundlich verhalten, das will ich gar nicht abstreiten. Darf ich dir ein Geschenk mitgeben?«

»Nein.«Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin im Dienst. Und ein Geschenk von einer Hexe…«

»Das weiß ich doch. Aber das Geschenk ist nicht für dich, sondern für deine Frau!«

Das verwirrte mich. Arina humpelte munter zu einer mit Eisenbeschlägen versehene Truhe hinüber (vorher hatte hier eine unauffällige Kommode gestanden), öffnete sie und ließ die Hand darin verschwinden. Schon im nächsten Moment kam sie mit einem kleinen beinernen Kamm zu mir zurück.

»Nimm das, Wächter. Ohne Hintergedanken, ohne Verschlagenheit meinerseits, weder zu deinem Schaden noch Kummer. Will zum Schatten werden, wenn ich lüge, dass ich spurlos mit dem Wind verfliege…»

»Was ist das?«, fragte ich.

»Ein Kleinod.«Arina runzelte die Stirn. »Oder, wie es jetzt heißt… ein Artefakt. »

»Und wozu?«

»Deine Kraft reicht wohl nicht, um das zu erkennen?«, fragte Arina mitleidig. »Deine Frau wird es wissen. Und wozu brauchst du Erklärungen, Lichter? Ich könnte schließlich auch lügen, das würde mir nicht schwer fallen. Könnte lügen, und du würdest mir glauben. Schließlich bist du schwächer als ich, das weißt du selbst.«

Ich schwieg, biss mir auf die Lippe. Hm… Immerhin hatte ich sie ein paar Mal ziemlich angefahren. Nun zahlte sie es mir heim.

»Nimm das, keine Angst«, wiederholte Arina. »Auch Baba-Jaga ist zwar schlecht, hilft aber guten jungen Männern.«Warum eigentlich nicht?

»Besser würdest du mir die Werwölfe ausliefern«, meinte ich, während ich den Kamm an mich nahm. »Ich nehme dein Geschenk nur als Überbringer entgegen, und diese Gabe bedeutet für niemanden irgendein Versprechen.«

»Du abgebrühter Kerl«, nuschelte Arina. »Und die Wölfe… tut mir leid. Ihr werdet sie schon kriegen, das weiß ich. Aber ich werde sie nicht ausliefern. Übrigens kannst du das Buch mitnehmen. Vorübergehend. Um es zu prüfen. Dazu hast du doch das Recht, oder?«

Erst jetzt bemerkte ich, dass ich immer noch das vermaledeite Fuaran. Phantasie oder Wahrheit? in der linken Hand hielt.

»Zum Studium, zeitweilig, im Rahmen meiner Rechte als Wächter«, meinte ich finster.

Trotzdem machte diese Frau mit mir, was sie wollte! Wenn ihr der Sinn danach gestanden hätte, wäre mir erst zu Hause aufgefallen, dass ich das Buch zufällig mitgenommen hatte. Dann hätte sie mit Fug und Recht bei den Wachen Beschwerde einlegen können: wegen Diebstahl eines wertvollen»Kleinods«.

Als ich das Haus verließ, sah ich, dass es bereits tiefe Nacht geworden war. Und ich musste noch mindestens zwei, drei Stunden durch den Wald marschieren.

Doch kaum war ich die paar Stufen zum Haus hinunter, als vor mir ein geisterhaftes blaues Feuer aufleuchtete. Ich seufzte und linste zur Hütte hinüber, in deren Fenster grelles elektrisches Licht brannte. Arina würde mich nicht begleiten. Das

Feuerchen tanzte auffordernd vor mir in der Luft.

Ich folgte ihm.

Fünf Minuten später hörte ich das träge Kläffen der Hunde.

Weitere zehn Minuten später gelangte ich zum Waldrand.

Was mir am meisten zu schaffen machte: Die ganze Zeit über hatte ich nicht die geringste Spur von Magie gespürt.

Vier

Das Auto im Schuppen hatte sein früheres Äußeres bereits zurückgewonnen. Allerdings wagte ich es nicht, mich ans Steuer zu setzen, um zu testen, ob der vielgeplagte Motor, nachdem russische Mechaniker, Spezialisten für landwirtschaftliche Maschinen, an ihm herumhantiert hatten, auch funktionierte. Mucksmäuschenleise schlich ich ins Haus, wobei ich lauschte: Meine Schwiegermutter schlief bereits in ihrem Zimmer, während in unserem matt das Nachtlicht brannte. Ich öffnete die Tür und trat ein.

»Hat alles geklappt?«, wollte Swetlana wissen. Der fragende Ton in ihrer Stimme ließ sich übrigens kaum wahrnehmen. Sie spürte auch ohne Worte alles ganz genau.

»Mehr oder weniger«, nickte ich. Ich sah zu Nadjuschkas Bett hinüber. Meine Tochter schlief fest. »Die Werwölfe habe ich nicht gefunden. Mit der Hexe habe ich geredet.«

»Erzähl mal«, forderte Swetlana mich auf. Sie saß nur im Nachthemd im Bett, neben ihr lag das dicke Buch Die Mumins. Entweder hatte sie Nadja daraus vorgelesen - der war es noch egal, was sie vorm Einschlafen hörte, es konnte auch ein Lehrbuch zur Festigkeitslehre sein, solange sie nur die Stimme ihrer Mutter vernahm -, oder sie hatte sich selbst vor dem Einschlafen mit einem guten Kinderbuch entspannen wollen.

Ich zog meine Schuhe aus und setzte mich neben sie. Dann fing ich zu erzählen an.

Ein paar Mal verzog Swetlana das Gesicht. Ein paar Mal lächelte sie. Als ich die Worte der Hexe, »deine Frau hat dich verzaubert«wiederholte, wurde Swetlana ganz verlegen.

»Hör auf damit!«, rief sie völlig hilflos. »Frag Geser… er sieht jeden meiner Zauber… Ich bin noch nicht mal auf den Gedanken gekommen!«

»Ich weiß«, beruhigte ich sie. »Die Hexe hat zugegeben, dass sie gelogen hat.«

»Freilich, darüber nachgedacht habe ich schon«, lachte Swetlana plötzlich. »Wer kann seinen Gedanken schon entkommen… Aber das war nur Spinnerei, nicht ernst gemeint. Als Olga und ich mal über Männer gesprochen haben… vor ewigen Zeiten…»

»Sehnst du dich nach der Wache?«, platzte ich heraus.

»Ja«, gab Swetlana zu. »Aber lass uns nicht darüber reden… Anton, du bist fabelhaft! Du bist wirklich in die dritte Schicht des Zwielichts vorgedrungen?«Ich nickte. »Erste Kategorie…«, sagte Swetlana unsicher.

»Das ist eine Nummer zu groß für mich«, widersprach ich. »Zweite. Eine solide zweite. Das ist meine Grenze. Und auch darüber werden wir nicht weiter sprechen, ja?«

»Lass uns lieber über die Hexe reden.«Swetlana lächelte. »Sie hat sich also in Winterschlaf gelegt? Von so etwas habe ich schon gehört, aber es ist unglaublich selten. Du könntest einen Artikel darüber schreiben.«

»Für wen? Für die Zeitung Argumente und Fakten? Hexe gefunden, die sechzig Jahre lang in einem Wald bei Moskau geschlafen hat?«

»Für die Informationsbroschüre der Nachtwache«, schlug Swetlana vor. »Überhaupt, wir sollten unsere eigene Zeitung herausbringen. Für Menschen müsste sie einen zweiten Text enthalten… worüber auch immer. Irgendwas Hochspezielles. Der russische Aquarianer zum Beispiel. Wie man Skalare hält und in seiner Wohnung ein Aquarium mit Wasserabfluss aufstellt.«

»Woher weißt du das alles?«, wunderte ich mich. Und erstarrte. Mir fiel wieder ein, dass ihr erster Mann, den ich nie gesehen hatte, sich für Aquarien begeisterte.

»Ach, das ist mir einfach so eingefallen«, meinte sie stirnrunzelnd. »Auf alle Fälle müsste jeder Andere, selbst der schwächste, den richtigen Text sehen können.«

»Mir schwebt bereits eine erste Überschrift vor«, sagte ich. »Für progressive Magie. Im Zweifelsfall kann das erste R in progressive auch wegfallen«Wir lächelten beide. »Zeig mir mal dieses Artefakt«, bat Swetlana.

Ich griff nach meiner Jacke und holte den in ein Taschentuch gewickelten Kamm heraus. »Ich kann darin keine Magie erkennen«, gab ich zu. Swetlana hielt den Kamm eine Zeit lang in Händen.

»Und?«, fragte ich. »Was musst du tun? Ihn über die Schulter werfen, damit dort ein Wald entsteht?«

»Du solltest sie auch gar nicht sehen«, erklärte Swetlana mit einem Lächeln. »Das liegt nicht an der Kraft, da hat die Hexe dich hinters Licht geführt. Vermutlich würde selbst Geser nichts erkennen… Das ist nichts für Männer.«

Sie führte den Kamm zum Haar und fing an, sich mit gleichmäßigen Bewegungen zu kämmen. »Stell dir mal vor…«, sagte sie beiläufig. »Es ist Sommer, heiß, du bist müde, hast die Nacht über nicht geschlafen, den ganzen Tag gearbeitet… Und dann schwimmst du im kühlen Wasser, wirst massiert, isst vorzüglich und trinkst ein Glas guten Weins. Danach geht es dir richtig gut…«

»Er macht, dass es dir besser geht?«, begriff ich. »Nimmt dir die Müdigkeit?«

»Nur bei Frauen«, lächelte Swetlana. »Er ist schon alt, dreihundert Jahre mindestens. Anscheinend ein Geschenk eines mächtigen Magiers für seine Geliebte. Bei der es sich möglicherweise sogar um eine Menschenfrau handelte…«

Sie sah mich an, ihre Augen leuchteten. »Außerdem soll er eine Frau anziehend machen«, sagte sie sanft. »Unwiderstehlich. Betörend. Funktioniert es?«

Ich sah sie eine Sekunde lang an. Dann löschte ich mit einem Blick das Nachtlicht.

Den magischen Baldachin, der alle Geräusche erstickte, hatte Swetlana selbst über uns geworfen.

Ich wachte früh auf, es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens. Erstaunlicherweise fühlte ich mich jedoch völlig frisch, ganz wie die Herrin des magischen Kamms, die sich ordentlich gekämmt hatte. Große Taten wollte ich vollbringen. Und ein anständiges Frühstück zu mir nehmen.

Ohne jemanden zu wecken, schlich ich leise in die winzige Küche, brach mir ein paar Stücke Weißbrot ab und fand ein Päckchen mit Wurstaufschnitt. In einen großen Becher goss ich mir selbstgemachten Kwass - und mit all dieser Pracht ging ich nach draußen.

Es tagte bereits, doch über dem Dorf lag noch Stille. Niemand musste hier früh die Kühe melken, der Stall stand seit fünf Jahren leer. Überhaupt musste niemand dringend irgendwohin…

Seufzend setzte ich mich ins Gras unter einen Apfelbaum, der schon lange einfach wild wucherte und nicht mehr trug. Ich aß ein riesiges Stück Brot mit Wurst und trank den Kwass. Und, um meinem Wohlbefinden noch eins drauf zu geben, beförderte ich das Buch über das Fuaran auf magische Weise durchs Fenster. In der Hoffnung, dass meine Schwiegermutter noch schlief und das levitierende Ding nicht sah… Beim zweiten Stück Brot vertiefte ich mich in die Lektüre.

Die, ehrlich gesagt, höchst aufschlussreich war!

Zu jener Zeit, als das Fuaran geschrieben worden war, gab es all die gelehrten Ausdrücke wie»Gene«, »Mutation«samt der ganzen biologischen Schlauheit, die heutzutage die Natur der Anderen erklären soll, noch nicht. Deshalb hat das Hexenkollektiv, das das Buch verfasst hatte (insgesamt fünf Autorinnen, die nur mit Vornamen aufgezählt wurden) auf Formulierungen wie»Neigung zu Zauberkunst«, »Veränderung der Natur«und dergleichen zurückgegriffen. Zu den Autorinnen gehörte auch Arina, worüber sich die Hexe gestern jedoch in aller Bescheidenheit ausgeschwiegen hatte!

Im ersten Kapitel diskutierten die belesenen Hexen lange über die Natur der Anderen selbst. Sie gelangten zu folgendem Schluss: In jedem Menschen findet sich»eine Neigung zur Zauberei«. Das Niveau dieser»Neigung«ist bei allen unterschiedlich. Als Bezugsgröße kann man das natürliche Niveau der Magie nehmen, die über die ganze Welt ausgebreitet ist. Wenn die»Neigung«bei einem Menschen stärker ist als das Niveau der Magie in seiner Umwelt, dann wächst er zu einem ganz gewöhnlichen Menschen heran! Er wird nicht ins Zwielicht eintreten können und nur in seltenen Ausnahmen, wenn es zu Schwankungen des natürlichen magischen Niveaus kommt, wird er etwas Seltsames wahrnehmen. Wenn die»Neigung«in einem Menschen jedoch schwächer ist als in seiner Umwelt, wird er sich das Zwielicht zunutze machen können!

Das klang höchst merkwürdig. Ich selbst hatte immer angenommen, die Anderen seien Menschen mit stark entwickelten magischen Anlagen. Die Hexen vertraten genau den entgegengesetzten Standpunkt.

Als Beispiel führten sie eine komische Analogie an: Einmal angenommen, die Temperatur betrüge weltweit 36,5 °C. Dann würden die meisten Menschen, deren Körpertemperatur ja höher ist, Wärme abgeben und damit»die Natur aufheizen«. Die wenigen jedoch, deren Körpertemperatur aus irgendeinem Grund unter 36,5 °C liegen sollte, würden die Wärme aufnehmen. Wenn nun der permanente Strom von Kraft auf sie stößt, können sie diese Kraft nutzen, während die wärmeren Menschen ziellos»die Natur aufheizen«.

Eine interessante Theorie. Ich hatte mich mit verschiedenen möglichen Erklärungen zu unserer Entstehung und den Unterschieden zu den Menschen auseinander gesetzt. Auf diese war ich bislang nicht gestoßen. Sie hatte etwas Demütigendes…

Doch was spielte das für eine Rolle! Am Ergebnis änderte sie nichts! Es gab Menschen, und es gab Andere… Ich las weiter.

Das zweite Kapitel war den Unterschieden zwischen»Magiern und Zauberinnen«einerseits und»Hexen und Hexenmeistern«andererseits gewidmet. Zu dieser Zeit wurden mit dem Wort»Hexenmeister«nicht Dunkle Magier bezeichnet, sondern alle»Hexen männlichen Geschlechts«, also alle Anderen, die Artefakte verwendeten. Das Kapitel war interessant, und ich hatte den Eindruck, Arina habe es geschrieben. Es lief darauf hinaus, dass es im Prinzip keine Unterschiede gebe. Eine Zauberin operiert unmittelbar mit dem Zwielicht, aus dem sie Kraft abzieht, um verschiedene magische Handlungen zu vollführen. Die Hexe schafft zunächst ein»Kleinod«, das die Kraft des Zwielichts speichert und über einen langen Zeitraum eigenständig funktioniert. Der Vorteil der Zauberinnen und Magier ist der, dass sie keine Utensilien, Stäbe oder Ringe, Bücher oder Amulette brauchen. Der Vorteil der Hexen und Hexenmeister ist der, dass sie, nachdem sie einen brauchbaren Artefakt kreiert haben, in ihm einen derartigen Vorrat an Kraft speichern können, wie man ihn nur mit äußerster Anstrengung auf einen Schlag aus dem Zwielicht abziehen könnte. Die Schlussfolgerung drängte sich von selbst auf, doch Arina formulierte sie auch explizit: Ein vernünftiger Magier wird sich nicht gegen Artefakte sperren, ein kluger Hexenmeister versuchen zu lernen, auch direkt mit dem Zwielicht zu arbeiten. Nach Auffassung der Autorin werden wir»in hundert Jahren erleben, wie die größten und hochmütigsten Magier sich nicht mehr zu schade sind, Amulette zu benutzen, während es durch und durch orthodoxen Hexen nicht mehr zum Nachteil gereicht, ins Zwielicht einzutreten«.

Mit dieser Prognose lag sie absolut richtig, daran ließ sich nicht rütteln. In der Nachtwache arbeiten hauptsächlich Magier. Aber Artefakte benutzen wir ständig…

Ich ging in die Küche, brach mir noch Brot ab und goss mir Kwass ein. Sah auf die Uhr: sechs Uhr morgens. Irgendwo bellten zwar schon die ersten Hunde, aber das Dorf schlief noch.

Das dritte Kapitel behandelte die zahlreichen Versuche von Anderen, einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln -in der Regel trieben Liebe oder der eigene Vorteil die Anderen dazu -, aber auch die Versuche von Menschen, zu einem Anderen zu werden, nachdem sie auf die eine oder andere Weise hinter die Wahrheit gekommen waren.

Ausführlich wurde auf die Geschichte von Gilles de Rais eingegangen, dem Waffengefährten von Jeanne d'Arc. Jeanne war eine sehr schwache Dunkle, eine»Hexe siebten Ranges«, was sie im Übrigen nicht daran hinderte, größtenteils edle Taten zu vollbringen. Über Jeannes Tod wurde höchst nebulös berichtet, selbst eine Andeutung, sie habe den Blick der Inquisitoren abgelenkt und sich vom Scheiterhaufen retten können, fehlte nicht. Ich hegte da so meine Zweifel: Jeanne hatte den Großen Vertrag verletzt, indem sie ihre menschlichen Beziehungen magisch geregelt hatte, sodass auch unsere Inquisition ein Auge auf die Vollstreckung der Strafe gehabt hatte. Und deren Blick lenkt niemand ab… Die Geschichte des unglückseligen Gilles de Rais wurde dagegen weitaus detaillierter wiedergegeben. Sei es aus Liebe, sei es aus Verschrobenheit oder Nachlässigkeit, jedenfalls hatte Jeanne ihm alles über die Natur der Anderen erzählt. Der junge Ritter, für seine Kühnheit und seinen Edelmut berühmt, geriet auf Abwege. Man konnte also, so sinnierte er, magische Kraft bei ganz normalen Menschen sammeln, bei jungen und gesunden Menschen. Dafür müsste man sie nur peinigen, dem Kannibalismus frönen und die dunklen Kräfte um Hilfe bitten… Kurzum, der Mann wollte ein Dunkler Anderer werden. Er quälte mehrere hundert Frauen und Kinder, wofür er - ebenso wie für unterlassene Zinszahlungen - am Ende ebenfalls auf dem Scheiterhaufen landete.

Aus dem Text ging hervor, dass selbst die Hexen dieses Vorgehen nicht billigen konnten. Die empörten Seitenhiebe gegen die Klatschbase Jeanne ließen sich nicht überlesen, die nicht druckreifen Beinamen für ihren übergeschnappten Waffengefährten sprachen für sich. Die Schlussfolgerung dagegen fiel trocken und wissenschaftlich aus: Es gebe absolut keine Möglichkeit, die»Neigung zur Zauberei«bei einem gewöhnlichen Menschen zu nutzen, um ihn in einen Anderen zu verwandeln. Denn ein Anderer zeichnet sich nicht durch seine größere»Neigung«aus, die der blutrünstige und dumme Gilles de Rais zu erreichen hoffte, sondern durch seine geringere! Daher machten alle grausamen Experimente ihn nur mehr und mehr zum Menschen…

Das klang überzeugend. Ich kratzte mir den Nacken. Also… meine magische Veranlagung war also weitaus geringer als die des Alkoholikers Onkel Kolja? Und nur deshalb konnte ich mir das Zwielicht zunutze machen? Na so was… Swetlana hätte demnach wohl eine noch geringere»Neigung«?

Und sollte Nadjuschka dann theoretisch überhaupt nicht magisch veranlagt sein? Weshalb die Kraft sich schier in sie ergoss? Ungehemmt, ohne jedes Problem? So sind sie, die Hexen, immer für einen Spaß zu haben!

Das nächste Kapitel diskutierte die Frage, ob es möglich sei, das Niveau der Kraft der Natur anzuheben, damit sich eine höhere Zahl von Menschen in Andere verwandelte. Das Ergebnis bot nicht viel Trost: nein. Denn die Kraft nutzen nicht nur die Anderen, die im Prinzip zeitweise auf Magie verzichten konnten. Auch das blaue Moos, die einzige bekannte Pflanze, die in der ersten Zwielicht-Schicht wächst, fraß begeistert Kraft. Je mehr Kraft es gab, desto stärker würde das Zwielicht-Moos wachsen. Möglicherweise gab es in tieferen Schichten weitere Kraftverbraucher… Daher stellt das Kraftniveau eine Konstante dar. Als ich diesen Ausdruck in dem alten Buch las, musste ich schmunzeln.

Danach folgte die Geschichte des Fuaran. Der Titel ging auf den Namen einer alten orientalischen Zaubermeisterin zurück, die unbedingt aus ihrer Tochter eine Andere machen wollte. Lange Zeit hatte die Zaubermeisterin experimentiert. Zunächst schlug sie den Weg von Gilles de Rais ein, dann erkannte sie ihren Fehler und versuchte, das Kraftniveau der Natur anzuheben… Kurzum, sie irrte in alle denkbaren falschen Richtungen. Am Ende verstand sie, dass es nötig war, die»Neigung der Tochter zu Zauberei herabzusenken«. Ihre entsprechenden Versuche sollen Gerüchten zufolge im Fuaran beschrieben sein. Das Ganze wurde zusätzlich dadurch erschwert, dass die Natur der»Neigung«zu dieser Zeit nicht bekannt war. An dieser Situation hatte sich weder bis zum Erscheinungsjahr des Buches noch bis heute etwas geändert. Dennoch hatte die Hexe mit der Methode von Versuch und Irrtum Erfolg und machte aus ihrer Tochter eine Andere!

Zum Pech der Hexe interessierte eine dermaßen bedeutende Entdeckung ausnahmslos alle Anderen. Damals gab es noch keinen Großen Vertrag und keine Wachen, keine Inquisition… Kurzum, dem Zauberspruch jagten alle nach, die gerüchteweise von diesem Wunder gehört hatten. Eine Zeit lang wehrten sich Fuaran und ihre Tochter erfolgreich gegen alle Angriffe. Anscheinend hatte die ohnehin schon mächtige Hexe nicht nur aus ihrer Tochter eine starke Andere gemacht, sondern auch ihre eigene Kraft noch gesteigert. Die erbitterten Anderen formierten sich zu einer ganzen Armee von Magiern, ohne in Dunkle und Lichte zu unterscheiden, schlugen gemeinsam zu und vernichteten in einer schrecklichen Schlacht die kleine Familie der Hexe. In ihrer letzten Stunde kämpfte Fuaran verzweifelt um ihr Leben, verwandelte sogar ihre menschlichen Diener in Andere. Diese gewannen zwar tatsächlich Kraft, waren aber zu verzweifelt und ungeschickt. Nur ein Diener stellte sich als klüger als die übrigen heraus, indem er sich nicht blindlings in den Kampf stürzte, sondern das Buch an sich nahm und Fersengeld gab. Als die siegreichen Magier merkten, dass der»Laborbericht«der Hexe verschwunden war (denn beim Fuaran handelte es sich schlicht um die Laboraufzeichnungen der Hexe), hatten sich die Spuren des Flüchtlings bereits verloren. Danach suchte man lange und erfolglos nach dem Buch. Ab und an versicherte jemand, dem flüchtigen Diener, der inzwischen zu einem recht starken Anderen geworden war, begegnet zu sein und das Buch gesehen und durchgeblättert zu haben. Fälschungen tauchten auf - teilweise stammten sie aus der Hand verrückter Anhänger der Hexe, teilweise von abenteuerlustigen Anderen. Alle Fälle wurden sorgfältig untersucht und dokumentiert.

Das letzte Kapitel beschäftigte sich mit dem Thema»Worauf war Fuaran gestoßen?«. Die Autorinnen bezweifelten nicht, dass die Frau wirklich Erfolg gehabt hatte, hielten das Buch jedoch für unwiederbringlich verloren. Sie zogen einen traurigen Schluss: Ihre Entdeckung muss so zufällig und außergewöhnlich gewesen sein, dass sich ihre Natur nicht mehr rekonstruieren lässt.

Am meisten erstaunte mich das kurze Resümee. Falls das Fuaran heute noch existieren sollte, dann sei es die Pflicht jedes einzelnen Anderen, es zu vernichten, und zwar»aus allgemein einsichtigen Gründen, ungeachtet der außerordentlichen Versuchung und des eigenen Vorteils…«Ach, diese Dunklen! Wie sie an ihrer Macht kleben!

Ich schloss das Buch und schlenderte durch den Garten. Abermals schaute ich in den Schuppen, wagte es aber auch diesmal nicht, den Motor anzulassen.

Fuaran und ihr Buch waren real. Daran hegten die Hexen keinen Zweifel. Ich ließ die Möglichkeit einer Mystifizierung zu, glaubte im tiefsten Herzen jedoch nicht daran.

Damit gab es also theoretisch die Möglichkeit, einen Menschen in einen Anderen zu verwandeln!

Das warf auch ein völlig neues Licht auf die Ereignisse im Assol. Der Sohn von Geser und Olga war ein Mensch gewesen - wie es üblicherweise bei Anderen der Fall ist. Deshalb konnten die beiden Großen ihn nicht finden. Sobald sie ihn jedoch gefunden hatten, machten sie einen Anderen aus ihm, erst dann zogen sie das ganze Theater auf. Bei dem sie noch nicht einmal davor zurückschreckten, die Inquisition zu täuschen.

Ich legte mich in die Hängematte, griff nach meinem MD-Player. Stellte den Zufallsgenerator ein und schloss die Augen. Ich wollte mich aus der Welt ausklinken, meine Ohren mit irgendetwas Sinnlosem zustopfen… Doch ich hatte kein Glück. Es kam Piknik.

Mir ist gar nicht mehr zum Lachen,

Tür und Fenster sind verschwommen,

Ist der Große Inquisitor

Mich zu foltern doch gekommen.

Mich bedrängt der Inquisitor

Er sortiert die Instrumente:

»Sag mir, was du weißt, sag alles,

weil es dir nur nützen könnte.«

Glaubt, er kriegt mich auf, als ob ich

Irgend so ein Koffer wär,

Weiß, da ist ein Doppelboden,

Scheint der Koffer noch so leer.

Solche Zufälle mag ich nicht! Selbst ganz gewöhnliche Menschen können die Realität beeinflussen, sie sind bloß nicht in der Lage, ihre Kraft zu lenken. Jeder Mensch kennt das: Der Autobus, der genau im richtigen Moment kommt - oder eben hartnäckig nicht kommt; ein Lied aus dem Radio, das hundertprozentig zu deinen Gedanken passt; ein Anruf von jemandem, an den du gerade gedacht hast… Es gibt übrigens eine sehr einfache Möglichkeit, um herauszubekommen, ob du nah an den Möglichkeiten eines Anderen bist. Wenn du mehrere Tage hintereinander bei einem zufälligen Blick auf die Uhr die Ziffern 11:11, 22:22 oder 00:00 siehst, heißt das, dass deine Beziehung zum Zwielicht an Bedeutung gewinnt. In diesen Tagen solltest du auf deine Vorgefühle und Ahnungen hören…

Aber das sind Lappalien, die Menschen betreffen. Für Andere ist die Beziehung mit dem Zwielicht genauso unbewusst wie für Menschen, wirkt sich aber weitaus stärker aus. Und mir gefiel überhaupt nicht, dass ausgerechnet jetzt das Lied vom Großinquisitor kam.

Wenn ich noch bei Kräften wäre, Sagte ich zu ihm: »Mein Herr, Ich weiß gar nicht, was hier vorgeht, Wo ich bin und was und wer;

So verwirrt sind alle Straßen, dass ich kaum noch gehen kann.«Doch das will er mir nicht glauben, Zieht die Daumenschraube an.

Glaubt, er kriegt mich auf, als ob ich

Irgend so ein Koffer wär,

Weiß, da ist ein Doppelboden,

Scheint der Koffer noch so leer.

Hm. Auch ich hätte zu gern gewusst, was die Welt im Innerstenzusammenhält…

Jemand klopfte mir sanft auf die Schulter.

»Ich schlafe nicht, Sweta«, sagte ich. Und öffnete die Augen.

Der Inquisitor Edgar schüttelte den Kopf und deutete ein Lächeln an. Von seinen Lippen las ich: »Tut mir leid, Anton, aber ich bin nicht Sweta.«Trotz der Hitze trug Edgar Anzug, Krawatte und schwarze Lackschuhe, auf denen sich nicht ein einziges Staubkörnchen niedergelassen hatte. In dieser Stadtkleidung wirkte er noch nicht mal albern. Das nenn ich baltisches Blut!

»Ja, woher…!«, rief ich und wälzte mich aus der Hängematte. »Edgar?«

Edgar wartete geduldig. Ich stöpselte die Kopfhörer aus den Ohren, atmete durch. »Ich habe Urlaub«, sagte ich. »Einen Mitarbeiter der Nachtwache in der arbeitsfreien Zeit zu stören ist laut Vorschrift…«

»Anton, ich wollte Sie nur mal besuchen«, versicherte Edgar. »Haben Sie etwas dagegen?«

Edgar war mir nicht unsympathisch. Niemals würde aus ihm ein Lichter werden, doch sein Wechsel zur Inquisition hatte mir Respekt abgenötigt. Wenn Edgar mit mir reden wollte, würde ich mich jederzeit mit ihm treffen.

Aber nicht auf der Datscha, wo Sweta und Nadjuschka Urlaub machten!

»Ja«, erwiderte ich eisern. »Wenn Sie keine offizielle Verfügung haben, dann verlassen Sie mein Territorium!«

Mit einer unsagbar albernen Geste wies ich auf den schiefen Zaun. Territorium - das Wort war mir einfach so herausgerutscht.

Edgar seufzte. Und griff langsam in die Innentasche seines Jacketts.

Ich wusste, was er herausholen würde. Doch es war zu spät, um jetzt einen Rückzieher zu machen.

Die Verfügung des Moskauer Büros der Inquisition teilte mir mit, dass»wir im Rahmen einer dienstlichen Aufklärung dem Mitarbeiter der Moskauer Nachtwache Anton Gorodezki, Lichter Magier zweiten Ranges, gebieten, er möge dem Inquisitor dritten Ranges Edgar alle nur denkbare Hilfe gewähren«. Eine Verfügung der Inquisition hatte ich nie zuvor gesehen, und auch jetzt fielen mir nur Kleinigkeiten auf: Die Inquisition maß die Kraft weiterhin in den altmodischen»Rängen«, genierte sich nicht, ein Wort wie»gebieten«zu gebrauchen und nannte die eigenen Mitarbeiter selbst in offiziellen Dokumenten nur mit dem Vornamen.

Dann bemerkte ich das Wesentliche. Unten prangte der Stempel der Nachtwache und in Gesers Schrift: »Zur Kenntnis genommen, stattgegeben«. Das wurde ja immer schöner!

»Und wenn ich ablehne?«, fragte ich. »Sie müssen wissen, es gefällt mir nicht, wenn mir jemand etwas gebietet.«

Edgar runzelte die Stirn und linste zu dem Formular hinunter. »Unsere Sekretärin ist schon dreihundert Jahre alt«, erklärte er. »Nehmen Sie es nicht übel, Anton. Das ist nur ihre archaische Ausdrucksweise. So wie Rang.«

»Ist es auch Tradition, ohne Familiennamen auszukommen?«, hakte ich nach. »Nur interessehalber.«

Verständnislos sah Edgar auf das Blatt Papier. Abermals runzelte er die Stirn. »Ach, die alte Blausocke…«, meinte er ärgerlich. »Sie hat meinen Familiennamen vergessen, und mich danach zu fragen, hat der Stolz ihr verboten.«

»Das würde mir das Recht geben, die Verfügung in den Komposthaufen zu werfen.«Meine Augen suchten die Datscha nach besagtem Haufen ab, fanden ihn jedoch nicht. »Oder ins Klo. Wenn in der Anordnung kein Familienname steht, heißt das, sie ist nicht rechtskräftig. Oder etwa nicht?«Edgar hüllte sich in Schweigen.

»Und was droht mir, wenn ich die Zusammenarbeit verweigere?«, wiederholte ich meine Frage.

»Nichts Schlimmes«, meinte Edgar bedrückt. »Selbst wenn ich eine neue Verfügung bringe. Eine Beschwerde an Ihren unmittelbaren Vorgesetzten, eine Strafe nach seinem Ermessen…«

»Damit läuft das strenge Papier also auf eine einfach Bitte um Hilfe hinaus? »

»Ja.«Edgar nickte.

Eine Situation ganz nach meinem Geschmack. Die schreckliche Inquisition, mit der Neulinge einander Angst einjagen, stellte sich als zahnlose alte Blausocke heraus!

»Was ist denn überhaupt passiert?«, wollte ich wissen. »Ich bin schließlich im Urlaub. Mit meiner Frau und meiner Tochter. Und meiner Schwiegermutter. Ich bin nicht im Dienst.«

»Das hat Sie aber nicht daran gehindert, Arina zu besuchen«, antwortete Edgar, ohne mit der Wimper zu zucken.

Das hatte ich nun davon! Wieso musste ich das Ganze auch auf die leichte Schulter nehmen…

»Das gehört zu meinen unmittelbaren dienstlichen Verpflichtungen«, konterte ich. »Menschen zu schützen, Dunkle zu kontrollieren. Immer und überall. Woher weiß die Inquisition übrigens von Arina?«

Jetzt war die Reihe an Edgar zu grinsen und die Antwort hinauszuzögern. »Geser hat es uns mitgeteilt«, sagte er schließlich. »Sie haben ihn doch gestern angerufen und ihm alles berichtet, oder? Da es eine ungewöhnliche Situation ist, hielt Geser es für seine Pflicht, die Inquisition in Kenntnis zu setzen. Als Zeichen unserer unverändert freundschaftlichen Beziehungen.«

Das sollte einer verstehen!

Wenn die Hexe irgendwie in die Geschichte mit Gesers Sohn verwickelt war… Oder war sie es am Ende doch nicht?

»Ich muss ihn anrufen«, sagte ich und ging demonstrativ zum Haus. Edgar blieb gehorsam neben der Hängematte stehen. Er linste zwar zu dem Plastikstuhl hinüber, hielt ihn aber nicht für sauber genug. Ich wartete, das Handy ans Ohr gepresst. »Hallo, Anton. »

»Edgar ist zu mir gekommen…«

»Ja, ja, ja«, sagte Geser zerstreut. »Nach deinem Bericht gestern habe ich es für nötig erachtet, die Inquisition über die Hexe zu informieren. Wenn du willst, hilf ihm. Wenn nicht, jag ihn sonst wohin. Seine Verfügung ist nicht rechtskräftig, ist dir das aufgefallen?«

»Ja«, antwortete ich, während ich zu Edgar hinüberschielte. »Was ist mit diesen Werwölfen, Chef?«

»Die überprüfen wir«, erwiderte Geser nach kurzem Zögern. »Noch haben wir nichts.«

»Und noch einmal zu dieser Hexe…«Ich linste zu dem Buch über das Buch. »Ich habe bei ihr ein erstaunliches Buch beschlagnahmt… Fuaran. Phantasie oder Wahrheit?«

»Das kenn ich, das kenn ich«, sagte Geser in gutmütigem Ton. »Wenn du das echte Fuaran gefunden hättest… Darauf hättest du dir was einbilden können. Ist das alles, Anton? »

»Ja«, gab ich zu. Und Geser unterbrach die Verbindung. Edgar wartete geduldig.

Ich ging zu ihm, legte eine Kunstpause ein. »Welches Ziel hat Ihre Untersuchung?«, fragte ich dann. »Und was soll ich dabei tun?«

»Sie werden mit mir zusammenarbeiten, Anton?«Edgar freute sich aufrichtig. »Meine Untersuchung betrifft die Hexe Arina, die Sie entdeckt haben. Sie müssten mir den Weg zu ihr zeigen.«

»Und was will die Inquisition von der Alten?«, wollte ich wissen. »Meiner Ansicht nach hat sie nicht das geringste Verbrechen begangen. Auch nicht aus Sicht der Nachtwache.«

Edgar geriet in Verlegenheit. Er wollte lügen - und gleichzeitig wusste er, dass ich die Lüge spüren könnte. Von der Kraft her konnten wir beide uns ungefähr messen. Und seine inquisitorischen Tricks mussten nicht immer funktionieren.

»Es geht da um eine alte Sache«, gab der Dunkle Magier zu. »Die seit den dreißiger Jahren anhängig ist. Die Inquisition hat eine Reihe von Fragen an sie…«

Ich nickte. Von Anfang an hatte mich die Geschichte von den Ermittlungen des bösen NKWD gestört. Gewiss, die Bauern hätten durchaus versuchen können, die Hexe hintenrum loszuwerden. Aber eben nur versuchen. Mit einem Anderen niedrigen Grades konnte eine solche Sache durchaus noch klappen. Aber nicht mit einer so mächtigen Hexe…

»Gut, ich zeig Ihnen, wo sie wohnt«, stimmte ich zu. »Wollen Sie noch etwas frühstücken, Edgar?«

»Da sage ich nicht nein.«Der Magier zierte sich nicht. »Und… Ihre Gattin hat nichts dagegen? »

»Das werden wir gleich in Erfahrung bringen«, meinte ich.

Ein interessantes Frühstück. Trotz allem fühlte sich der Inquisitor nicht ganz wohl in seiner Haut, versuchte krampfhaft, lustig zu sein, machte Swetlana und Ljudmila Iwanowna Komplimente, plapperte mit Nadjuschka in der Kindersprache und lobte das einfache Spiegelei.

Nadjuschka, meine kleine Kluge, sah den»Onkel Edgar«aufmerksam an und schüttelte den Kopf. »Du bist ein andrer«, sagte sie. Danach wich sie ihrer Mutter nicht von der Seite.

Swetlana amüsierte Edgars Besuch. Sie stellte Edgar verschiedene unverfängliche Fragen, erinnerte ihn an die»Geschichte mit dem Spiegel«und verhielt sich insgesamt so, als ob ein Arbeitskollege oder guter Bekannter gekommen sei.

Dafür zeigte sich Ljudmila Iwanowna schier entzückt von Edgar. Ihr gefiel seine Art, sich zu kleiden, zu reden, selbst dass er die Gabel in der linken Hand hielt und das Messer in der rechten, begeisterte meine Schwiegermutter. Man hätte glauben können, alle übrigen äßen mit Fingern… Als Edgar dann auch noch ganz entschieden ein Schnäpschen ablehnte, erntete ich einen derart gouvernantenhaften Blick, als ob ich die Angewohnheit hätte, mir jeden Morgen erst mal ein oder zwei Gläschen Wodka hinter die Binde zu kippen.

Deshalb machten Edgar und ich uns satt, aber leicht verärgert auf den Weg. Ich über die Begeisterung meiner Schwiegermutter, er anscheinend über ihre Aufmerksamkeit.

»Können Sie mir sagen, was Sie der Hexe vorzuwerfen haben?«, fragte ich, während wir auf den Wald zusteuerten.

»Eigentlich haben wir doch Brüderschaft getrunken«, erinnerte mich Edgar. »Wollen wir wieder zum Du übergehen? Oder steht meine neue Arbeit…«

»Die ist nicht schlechter als die Arbeit in der Tagwache«, unterbrach ich ihn. »Gut, duzen wir uns.«

Zufrieden drückte sich Edgar nicht länger um die Antwort. »Arina ist eine starke und ehrenwerte Hexe… innerhalb ihrer engen Kreise. Wie du weißt, Anton, hat jede Gruppe ihre eigene Hierarchie. Geser kann sich noch so sehr über Viteszlav lustig machen, aber unter den Vampiren ist er der stärkste. Bei den Hexen nimmt Arina eine vergleichbare Position ein. Eine sehr hohe.«

Ich nickte. O nein, sie war keine einfache Hexe, meine neue Bekannte…

»Die Tagwache hat sie mehrmals zur Mitarbeit aufgefordert«, fuhr Edgar fort. »Genauso hartnäckig, wie ihr um Swetlana gekämpft habt… Nimm's mir nicht übel, Anton!«

Das tat ich nicht.

»Die Hexe lehnte entschieden ab. Gut, das ist ihr Recht! Vor allem, da sie sich verschiedentlich auf eine zeitweilige Zusammenarbeit eingelassen hat. Aber zu Beginn des letzten Jahrhunderts, genauer, nach der sozialistischen Revolution, geschah etwas Unangenehmes…«

Er verstummte, zögerte. Wir gingen in den Wald, wobei ich Edgar, wenn auch mit einer gewissen aufgesetzten Sicherheit, führte. Der Dunkle Magier stapfte, so albern er in seiner Stadtkleidung auch wirkte, ungerührt durch Büsche und über holprigen Boden. Noch nicht mal die Krawatte lockerte er.

»Damals haben die Nacht- und die Tagwache um das Recht auf ein gesellschaftliches Experiment gerungen…«, berichtete Edgar. »Den Kommunismus haben sich ja bekanntlich die Lichten ausgedacht…«

»Und die Dunklen verdorben«, konnte ich mir nicht verkneifen.

»Hör doch auf, Anton«, meinte Edgar beleidigt. »Wir haben gar nichts verdorben. Die Menschen haben frei entschieden, welche Gesellschaft sie aufbauen wollen! Doch zurück zum Thema: Die Wachen haben Arina um Hilfe gebeten. Sie hat sich einverstanden erklärt… eine kleine Mission zu übernehmen. An ihr hatten sowohl die Dunklen wie auch die Lichten ein Interesse, aber auch die Hexe selbst. Jede Seite war mit… mit dieser Mission einverstanden. Jede Seite hoffte darauf, am Ende zu gewinnen. Die Inquisition schaute sich das Ganze an, einen Grund zum Eingreifen gab es jedoch nicht. Alles lief ja mit Zustimmung beider Wachen…«

Eine interessante Neuigkeit! Was das wohl für eine Mission sein mochte, die sowohl die Dunklen wie auch die Lichten guthießen?

»Arina hat ihre Mission brillant erfüllt«, fuhr Edgar fort. »Die Wachen haben sie sogar belobigt… Wenn ich mich nicht irre, haben ihr die Lichten das Recht auf dunkle Magie zweiten Grades eingeräumt.«

Eine Geschichte, mit der nicht zu spaßen war. Mit einem Nicken nahm ich die Information zur Kenntnis.

»Mit der Zeit kamen der Inquisition jedoch Zweifel an der Rechtmäßigkeit von Arinas Vorgehen«, berichtete Edgar in sachlichem Ton. »Es tauchte der Verdacht auf, sie sei im Zuge ihrer Arbeit von einer der beiden Seiten beeinflusst worden und habe dann in deren Interesse gehandelt. »

»Und von welcher Seite?«

»Der lichten«, antwortete Edgar finster. »Eine Hexe hilft den Lichten - das klingt unwahrscheinlich, nicht wahr? Ebendeshalb hat man sie auch lange Zeit überhaupt nicht in Verdacht gehabt, doch irgendwann gab es zu viele indirekte Hinweise auf einen Verrat… Die Inquisition beorderte Arina… zu einem Gespräch. Daraufhin verschwand diese. Eine Zeit lang suchte man nach ihr, aber in jenen Jahren, na ja, du weißt selbst, wie das damals gewesen ist…«

»Worin bestand denn eigentlich ihre Aufgabe?«, fragte ich, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen.

Edgar seufzte. »Manipulation des Bewusstseins von Menschen…«, sagte er dann aber. »Eine vollständige Remoralisation.«

Ich schnaubte. Welches Interesse sollten die Dunklen denn daran gehabt haben?

»Das erstaunt dich?«, brummte Edgar. »Hast du eigentlich eine Ahnung, was so eine Remoralisation bedeutet? »

»Ich habe sie sogar durchgeführt. Bei mir selbst.«

Ein paar Sekunden lang sah Edgar mich überrascht an. Dann nickte er. »Ach… ja. Natürlich. Dann ist es nicht schwer, das Ganze zu erklären. Eine Remoralisation ist ein relativer Prozess, kein absoluter. Letzten Endes gibt es in der Welt eben keine allgemein gültige Moral. Deshalb zwingt die Remoralisation einen Menschen zwar, sich absolut ethisch zu verhalten, jedoch nur im Rahmen seiner moralischen Grundwerte. Grob gesagt, wird ein papuanischer Kannibale, der das Verspeisen seines Feindes nicht für ein Verbrechen hält, sein Gelage seelenruhig fortsetzen. Aber das, was die Moral ihm verbietet, wird er dann in der Tat unterlassen. »

»Das ist mir klar«, sagte ich.

»Siehst du, und diese Remoralisation damals war eben nicht ganz relativ. Bestimmten Menschen - von etlichen hast du sicher gehört, aber Namen tun hier nichts zur Sache - ist die kommunistische Ideologie ins Bewusstsein gepflanzt worden.«

»Der moralische Kodex zum Aufbau des Kommunismus«, brummte ich.

»Der war damals noch nicht erfunden«, antwortete Edgar sehr ernst. »Aber etwas in der Art wird es wohl gewesen sein. Diese Menschen fingen an, in völliger Übereinstimmung mit den Normen zu handeln, die als kommunistische Ethik deklariert worden sind.«

»Ich kann mir vorstellen, welches Interesse die Nachtwache daran hatte«, sagte ich. »Die kommunistischen Prinzipien haben viel für sich… Aber das Interesse der Dunklen?«

»Die Dunklen wollten sich überzeugen, dass eine oktroyierte, lebensunfähige Ethik zu nichts Gutem führt. Dass die Opfer des Experiments entweder den Verstand verlieren, sterben oder anfangen, entgegen der Remoralisation zu handeln.«

Ich nickte. Was für ein Experiment! Was waren da schon die Naziärzte, die Körper verstümmelten! Hier kamen die Seelen unters Messer…

»Empört dich das Verhalten der Lichten?«, fragte Edgar einschmeichelnd.

»Nein.«Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin überzeugt, dass sie diesen Menschen nichts Böses wollten. Sondern darauf hofften, dass ein solches Experiment zum Aufbau einer neuen, einer glücklichen Gesellschaft führt.«

»In der KPdSU bist du nicht gewesen?«Edgar grinste.

»Nur bei den Pionieren. Gut, den Kern des Experiments habe ich verstanden. Aber warum wurde dafür ausgerechnet eine Hexe herangezogen?«

»In diesem Fall war die Anwendung von Hexerei weitaus ökonomischer als der Einsatz von Magie«, erklärte Edgar. »Das Objekt des Experiments waren Tausende von Menschen unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichem gesellschaftlichen Status. Kannst du dir vorstellen, welche Kräfte Magier hätten sammeln müssen? Eine Hexe konnte das jedoch mit einem Kräutertrank bewerkstelligen…»

»Hat sie den ins Trinkwasser gemischt?«

»Ins Brot. Für Arina wurde eine Stelle in einer Brotfabrik besorgt.«Edgar lächelte. »Sie hat eine neue, ökonomische Art des Brotbackens vorgeschlagen, bei der verschiedene Kräuter dazugegeben wurden. Dafür hat sie sogar eine Prämie bekommen. »

»Alles klar. Und welches Interesse hatte Arina daran?«

Edgar schnaubte. Behände sprang er über einen umgestürzten Baum. »Du kannst Fragen stellen, Anton!«Er sah mir in die Augen. »Wer wollte nicht mit Magie von dieser Kraft herumspielen, noch dazu mit der Erlaubnis der Wachen und der Inquisition!«

»Schon möglich…«, murmelte ich. »Das war das Experiment… Und das Ergebnis?«

»Wie es zu erwarten war«, sagte Edgar, wobei in seinen Augen Ironie auffunkelte. »Einige haben den Verstand verloren, sind dem Alkohol verfallen oder haben sich umgebracht. Einige fielen der Verfolgung zum Opfer - weil sie ihren Idealen die Treue hielten. Die Dritten haben schließlich eine Möglichkeit gefunden, die Remoralisation zu umgehen.«

»Die Sichtweise der Dunklen hat also gesiegt?«, staunte ich und blieb sogar stehen. »Trotzdem glaubt die Inquisition, die Hexe habe ihren Zauber auf Befehl der Lichten abgewandelt?«

Edgar nickte.

»Quatsch«, sagte ich und ging weiter. »Absoluter Müll! Die Dunklen haben ihre Sicht faktisch bewiesen. Und ihr behauptet, die Lichten hätten sich etwas zu Schulden kommen lassen.«

»Nicht alle Lichten«, entgegnete Edgar ungerührt. »Nur einer… möglicherweise eine kleine Gruppe. Weshalb, das weiß ich nicht. Aber die Inquisition ist unzufrieden. Die Reinheit des Experiments wurde nicht gewahrt, das Gleichgewicht der Kräfte geriet ins Wanken, irgendeine sehr langfristige und undurchsichtige Intrige ist damit eingeleitet worden…«

»Na klar«, meinte ich nickend. »Haben wir erst mal eine Intrige, können wir auch alles auf Geser abwälzen.«

»Ich habe keine Namen genannt«, meinte Edgar rasch. »Ich kenne sie auch gar nicht! Außerdem möchte ich dich daran erinnern, dass der verehrte Geser damals in Zentralasien gearbeitet hat, sodass es absurd wäre, ihm irgendetwas anzulasten…«

Er seufzte. Ob er an die Ereignisse im Assol dachte? »Aber ihr wollt hinter die Wahrheit kommen?«, fragte ich.

»Unbedingt!«, erwiderte Edgar entschieden. »Tausende von Menschen wurden gewaltsam zum Licht bekehrt - das ist ein Verbrechen gegen die Tagwache. All diese Menschen haben gelitten - das ist ein Verbrechen gegen die Nachtwache. Die Erlaubnis der Inquisition für ein gesellschaftliches Experiment wurde missbraucht - das ist ein Verbrechen…«

»Schon verstanden«, unterbrach ich ihn. »Mir gefällt diese Geschichte ja auch ganz und gar nicht…«

»Hilfst du mit, die Wahrheit herauszubekommen?«, fragte Edgar. Und lächelte.

»Ja«, antwortete ich ohne zu zögern. »Denn das ist in der Tat ein Verbrechen.«

Edgar streckte mir die Hand hin, ich ergriff sie. »Ist es noch weit?«, wollte der Inquisitor wissen.

Ich sah mich um. Und erkannte voller Freude die bekannten Umrisse der Lichtung wieder, in der ich gestern die Pilzmetropole entdeckt hatte. Heute waren übrigens keine Pilze mehr da.

»Es ist ganz in der Nähe«, beruhigte ich den Dunklen Magier. »Hauptsache, die Frau ist überhaupt zu Hause…«

Fünf

Die Hexe Arina braute einen Kräutertrank - ganz wie es sich für eine praktizierende Hexe in ihrem Häuschen im Wald gehört. Sie stand an ihrem russischen Ofen mit einer Zange in der Hand, die einen gusseisernen, in grünliche Wolken gehüllten Topf umspannte. Dabei murmelte sie:

Weißer Ginster, Spindelbaum,

Sand, vom Hang gebrochen,

Vom Abszess noch Eiterschaum,

Farnkraut, Finkenknochen…

Edgar und ich gingen ins Haus, blieben aber an der Tür stehen. Die Hexe tat so, als bemerke sie uns nicht. Sie stand mit dem Rücken zu uns, schüttelte den Topf und murmelte weiter:

Wieder Ginster, Spindelbaum,

Adlerfedern drei…

Edgar hüstelte und fuhr dann fort:

Phosphor, Selters, Fiebertraum,

Kurze Gerten zwei?

»Heiliger Strohsack aber auch!«, rief Arina und hüpfte von einem Fuß auf den andern.

Das klang absolut echt… Dennoch begriff ich mit unumstößlicher Sicherheit, dass die Hexe uns erwartet hatte.

»Guten Tag, Arina«, sagte Edgar ausdruckslos. »Die Inquisition. Ich bitte Sie, die Zauberei einzustellen.«

Behänd schob Arina den Topf in den Ofen. Erst danach drehte sie sich um. Sie wirkte jetzt wie eine vierzigjährige Frau, wie eine kräftige, korpulente schöne Bäuerin. Und wie eine sehr wütende. »Tagchen auch Ihnen, Herr Inquisitor!«, polterte sie bärbeißig los, die Hände in die Hüften gestemmt. »Die Zauberei stört Sie wohl, ja? Und ich? Ich darf mir dann meine Finken wohl noch mal fangen und den Adlern noch mal ein paar Federn ausrupfen?«

»Ihre Knittelverse sind nichts weiter als eine Stütze, um die Menge der Zutaten und die Abfolge der einzelnen Schritte im Gedächtnis zu behalten«, erwiderte Edgar ungerührt. »Ihren Trank der unbeschwerten Fortbewegung haben Sie schon längst gebraut, meine Worte konnten daran nichts ändern. Setzen Sie sich, Arina. Schließlich steckt die Wahrheit nicht in den Beinen, oder?«

»In den Beinen nicht, und weiter oben auch nicht«, antwortete Arina patzig und ging zum Tisch. Setzte sich und strich mit der Hand über die fröhlich mit Kamillen und Kornblumen bedruckte Schürze. Dann schielte sie zu mir hinüber.

»Guten Tag, Arina«, sagte ich. »Herr Edgar hat mich gebeten, ihn hierher zu bringen. Sie haben doch nichts dagegen?«

»Wenn ich etwas dagegen hätte, hättet ihr euch im Moor verlaufen!«, ließ sich Arina leicht beleidigt vernehmen. »Ich bin ganz Ohr, Herr Inquisitor Edgar. Was führt Sie denn zu mir?«

Edgar nahm Arina gegenüber Platz. Er griff mit der Hand unter sein Jackett und zog eine kleine Ledermappe hervor. Wo hatte er die denn versteckt gehabt?

»Ihnen wurde eine Vorladung zugesandt, Arina«, sagte der Inquisitor höflich. »Haben Sie die bekommen?«

Arina versank in Nachdenken. Edgar öffnete seine Mappe, um Arina einen schmalen Streifen gelben Papiers zu zeigen.

»Von 1931!«, stöhnte die Hexe. »Was für ein alter Wisch… Nein, den habe ich nicht bekommen. Ich habe schon dem Herrn von der Nachtwache erklärt, dass ich mich schlafen gelegt habe. Die Tschekisten wollten mir was anhängen…«

»Die Tscheka ist nicht das Schlimmste im Leben eines Anderen«, wandte Edgar ein. »Bei weitem nicht… Also, Sie haben diese Vorladung bekommen…»

»Nein«, widersprach Arina prompt.

»Sie haben sie nicht bekommen«, korrigierte sich Edgar. »Belassen wir es dabei. Der Bote ist nicht zurückgekehrt… Natürlich, dem angeheuerten Mitarbeiter kann in den finsteren Moskauer Wäldern alles Mögliche passiert sein.«Arina hüllte sich in Schweigen.

Ich stand an der Tür und beobachtete. Interessant. Die Arbeit des Inquisitors ließ sich zwar mit der eines x-beliebigen Wächters vergleichen, dennoch war die Situation nicht alltäglich. Ein Dunkler Magier verhörte eine Dunkle Hexe. Die obendrein weitaus stärker war als er - das musste Edgar klar sein.

Andererseits stand hinter ihm die Inquisition. Und damit konnte er auf die Hilfe»seiner«Wache verzichten.

»Nehmen wir einmal an, Sie bekämen die Vorladung jetzt«, fuhr Edgar fort. »Mir ist aufgetragen, mit Ihnen ein erstes Gespräch zu führen, bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen. Also…«

Er holte ein weiteres Blatt Papier heraus. »Im März 1931 haben Sie im Ersten Moskauer Brotkombinat gearbeitet?«, fragte Edgar mit Blick auf das Blatt.

»Ja«, nickte Arina.

»Mit welchem Ziel?«

Arina sah zu mir herüber.

»Er weiß Bescheid«, sagte Edgar. »Antworten Sie.«

»Sowohl die Leitung der Nacht- wie auch die der Tagwache Moskaus hatten sich an mich gewandt«, meinte Arina seufzend. »Die Anderen wollten sehen, wie sich Menschen verhalten, wenn sie in strenger Übereinstimmung mit den kommunistischen Idealen leben. Da beide Wachen dasselbe wollten und die Inquisition ihr Anliegen unterstützte, habe ich zugestimmt. Städte habe ich nie gemocht, da ist es immer…»

»Weichen Sie nicht vom Thema ab…«, bat Edgar.

»Ich habe meine Aufgabe erfüllt«, kam Arina kurzerhand zum Ende. »Ich habe ein Elixier gebraut, das ich in den folgenden zwei Wochen in den Brotteig gegeben habe. Das war's! Die Wachen haben mich ihrer Dankbarkeit versichert, ich habe die Brotfabrik verlassen und bin in mein Dorf zurückgekehrt. Und da sind die Tschekisten völlig…«

»Über ihre komplizierte Beziehung zur Staatssicherheit können Sie sich in Ihren Memoiren auslassen«, fuhr Edgar sie plötzlich an. »Ich will wissen, warum Sie sich nicht an das Rezept gehalten haben!«

Langsam erhob sich Arina. Ihre Augen funkelten wütend, ihre Stimme dröhnte, als stünde in dieser Hütte nicht eine Frau, sondern das Weibchen von King Kong. »Merken Sie sich eins, junger Mann! Arina irrt sich niemals bei einem Rezept! Niemals!«Edgar beeindruckte sie damit nicht im Mindesten.

»Ich habe ja nicht gesagt, dass Sie sich geirrt hätten. Sie haben sich absichtlich nicht an das Rezept gehalten. Mit dem Ergebnis…«Er legte eine Pause ein.

»Mit welchem Ergebnis?«, empörte sich Arina. »Der fertige Trunk ist getestet worden! Er hatte genau die Wirkung, die er haben sollte!«

»Mit dem Ergebnis, dass die Wirkung des Kräutertranks unverzüglich einsetzte«, sagte Edgar. »Die Nachtwache ist noch nie eine Sammelstätte für dumme Idealisten gewesen. Die Lichten haben genau gewusst, dass alle zehntausend Versuchspersonen, die mit einem Schlag die kommunistische Moral übernehmen, verloren sind. Die Wirkung des Kräutertranks hätte allmählich einsetzen müssen, damit die Remoralisation in vollem Umfang erst in zehn Jahren zum Tragen gekommen wäre, also im Frühjahr 1941.«

»Sicher«, erwiderte Arina vernünftig. »Mein Trank war ja auch entsprechend.«

»Der Kräutertrank hat praktisch sofort gewirkt«, widersprach Edgar. »Wir haben nicht gleich durchschaut, was da vor sich ging, doch bereits nach einem Jahr hatte die Zahl der Probanden um die Hälfte abgenommen. Weniger als einhundert Menschen haben bis 1941 überlebt, nämlich diejenigen, die die Remoralisation überwinden konnten… indem sie eine gewisse moralische Flexibilität an den Tag legten.«

»Och, wie betrüblich.«Arina hob bedauernd die Hände. »Schlimm, schlimm, schlimm… die armen kleinen Menschen…«Sie setzte sich wieder. Schielte zu mir herüber. »Was ist, Lichter?«, fragte sie. »Glaubst du auch, dass ich den Dunklen in die Hände gearbeitet habe?«

Sollte sie lügen, dann tat sie das ausgesprochen überzeugend. Ich zuckte mit den Achseln.

»Ich habe alles genau richtig gemacht«, meinte Arina stur. »Die Hauptzutaten wurden ins Mehl gemischt… Wissen Sie eigentlich, wie schwierig in jenen Jahren Sabotage gewesen ist? Als Verzögerungsmittel für das Elixier diente einfacher Zucker…«Abermals hob sie die Hände. Dann sah sie Edgar triumphierend an. »Daran muss es gelegen haben! Hungerjahre, die Menschen haben den Zucker geklaut… Deshalb hat das Elixier zu schnell gewirkt…«

»Eine interessante Version«, kommentierte Edgar, während er seine Papiere durchblätterte.

»Mich trifft keine Schuld«, erklärte Arina fest. »Der Operationsplan ist abgesegnet worden. Wenn die Weisen der Wachen derart simple Sachen nicht bedenken, wessen Schuld ist das dann?«

»Das ist ja alles schön und gut«, versicherte Edgar und hielt ein Blatt Papier hoch. »Allerdings haben sie das erste Experiment an den Arbeitern der Brotfabrik vorgenommen. Hier ist Ihr Bericht, erkennen Sie ihn? Danach hätten sie keinen Zucker mehr stehlen dürfen. Damit bleibt nur eine Möglichkeit: Sie haben die Operation mit Absicht in den Sand gesetzt.«

»Wollen wir nicht weitere Versionen in Betracht ziehen?«, sagte Arina kläglichen Tones. »Zum Beispiel…«

»Zum Beispiel die Aussagen Ihrer Freundin Luisa gegen sie«, schlug Edgar vor. »Darüber, dass sie zufällig beobachtet hat, wie Sie an den Tagen, an denen die Operation durchgeführt wurde, mit einem bislang noch nicht identifizierten Lichten Magier Kontakt gehabt haben, mit dem sie sich bei den Tribünen der Pferderennbahn getroffen haben. Darüber, dass sie beide lange miteinander gestritten und gefeilscht haben, bis der Lichte Ihnen schließlich ein Päckchen aushändigte und Sie nickten. Anschließend haben sie beide sich die Hand geschüttelt. Luisa konnte sogar einen Satz aufschnappen: »Ich mache es, und es wird kein Jahr vergehen…«Mir ist erinnerlich, dass es Ihnen während der Dauer des Experiments verboten war, mit Anderen Kontakt aufzunehmen. Das stimmt doch, oder? »

»Ja«, sagte Arina und senkte den Kopf. »Lebt Luschka noch?«

»Leider nicht«, antwortete Edgar. »Doch ihre Aussagen sind zu Protokoll genommen worden…«

»Schade…«, murmelte Arina. Worauf sie dieses»schade«bezog, erklärte sie nicht. Aber man brauchte nicht viel Phantasie, um darauf zu kommen, dass Luisa noch einmal Glück gehabt hatte.

»Können Sie uns sagen, mit welchem Lichten Sie in Kontakt gestanden haben, was Sie zu tun versprochen und was Sie von ihm bekommen haben?«

Arina hob den Kopf und lächelte mich bitter an. »Zu dumm…«, bemerkte sie. »In was für dumme Situationen ich immer gerate… wegen Kleinigkeiten. Wie mit dem Teekessel…«

»Arina, ich bin gezwungen, Sie zwecks weiterer Befragungen mitzunehmen«, erklärte Edgar. »Im Namen der Inquisition…«

»Versuch es doch mal, Zweitrangiger«, entgegnete Arina amüsiert. Und verschwand.

»Sie ist ins Zwielicht eingetaucht!«, rief ich, während ich mich von der Wand abstieß und mit dem Blick meinen Schatten suchte. Edgar zögerte jedoch noch eine Sekunde: Er prüfte erst, ob die Hexe nicht unseren Blick abgelenkt hatte.

Wir tauchten fast gleichzeitig in die erste Schicht ein. Leicht verängstigt sah ich zu Edgar hinüber. In wen er sich wohl in der Zwielicht-Welt verwandelt hatte?

Gut, das ging. Nur minimale Veränderungen. Bloß weniger Haare.

»Tiefer!«Energisch fuchtelte ich mit der Hand. Edgar schüttelte den Kopf, hob die Hand vors Gesicht - die ihn förmlich aufzusaugen schien. Beeindruckend, diese Tricks der Inquisitoren.

In der zweiten Schicht, in der das Häuschen sich in eine Holzhütte verwandelt hatte, blieben wir stehen und sahen uns an. Arina war auch hier natürlich nirgends zu entdecken.

»Sie ist weiter in die dritte Schicht…«, flüsterte Edgar. Er hatte jetzt überhaupt keine Haare mehr, dafür einen lang gestreckten Schädel, der wie ein Entenei aussah. Sonst war alles in Ordnung, das Gesicht fast menschlich.

»Kannst du das auch?«, fragte ich.

»Einmal habe ich es schon geschafft«, antwortete Edgar ehrlich. Unser Atem wölkte auf. Obwohl es uns nicht sehr kalt vorkam, kroch ein eisiger Schauder heran…

»Ich habe es auch schon einmal geschafft«, gestand ich.

Wir drucksten herum wie selbstbewusste Schwimmer, denen plötzlich klar wird, dass der Fluss vor ihnen zu stürmisch und zu kalt ist. Keiner wollte den ersten Schritt machen. »Anton… hilfst du mir?«, fragte Edgar schließlich.

Ich nickte. Wozu hatte ich mich denn sonst ins Zwielicht gestürzt?

»Gehen wir…«, sagte der Inquisitor, wobei er konzentriert zu Boden sah.

Kurz darauf traten wir in die dritte Schicht ein, in die normalerweise nur Magier ersten Grades vordringen dürfen. Die Hexe war nirgends zu sehen.

»Ein komischer Sinn… für Humor…«, flüsterte Edgar, während er sich umsah. Die Hütte aus Zweigen war in der Tat beeindruckend. »Anton… sie hat es selbst gebaut… sie kann sich hier lange aufhalten…«

Langsam - der Raum um mich herum widersetzte sich abrupten Bewegungen - ging ich zur»Wand«. Bog die Zweige auseinander. Schaute hindurch. Das sah absolut nicht wie die Menschenwelt aus.

Am Himmel zogen gleißende Wolken - Stahlspäne, in Glyzerin getaucht. Statt der Sonne loderte weit, weit oben eine glutrote Feuerwolke, der einzige Farbfleck im grauen Höhenrauch. Um uns herum erstreckten sich bis zum Horizont jene knorrigen, flachen Bäume, aus denen die Hexe ihr Haus gebaut hatte. Doch ob das wirklich Bäume waren? So blattlos, nur mit diesem eigenartig verflochtenen Geäst…

»Anton, sie ist noch tiefer gegangen. Anton, sie steht außerhalb jeder Kategorie«, sagte Edgar hinter mir. Ich drehte mich um und sah den Magier an. Dunkelgraue Haut, ein kahler, langgezogener Schädel, eingefallene Augen… Immerhin Menschen augen. »Wie sehe ich aus?«Edgar bleckte die Zähne zu einem Lächeln. Was er nicht hätte tun sollen: Er hatte spitze kegelförmige Zähne. Wie ein Hai.

»Nicht sehr gut«, gab ich zu. »Aber vermutlich sehe ich auch nicht besser aus, oder?«

»Das ist nur äußerlich«, antwortete Edgar ungerührt. »Kannst du dich halten?«

Das konnte ich. Das zweite Abtauchen in diese Tiefe des Zwielichts fiel mir schon leichter.

»Wir müssen in die vierte Schicht gehen!«, sagte Edgar. In seinen Augen - da konnten es hundertmal die eines Menschen sein - glühte das Feuer des Fanatismus.

»Stehst du außerhalb jeder Kategorie?«, fragte ich zurück. »Edgar, mir wird schon die Rückkehr schwer fallen! »

»Wir können unsere Kräfte vereinigen, Wächter!«

»Wie?«Ich war verwirrt. Sowohl Dunkle als auch Lichte kennen den Kraftkreis. Aber das ist eine gefährliche Sache, die mindestens drei oder vier Andere erfordert… Außerdem: Wie sollten lichte und dunkle Kraft vereinigt werden?

»Lass das meine Sorge sein!«Edgar schüttelte energisch den Kopf. »Anton, sie verschwindet! Sie verschwindet in die vierte Schicht! Vertrau mir! »

»Einem Dunklen?«

»Einem Inquisitor!«, fuhr mich der Magier an. »Ich bin Inquisitor, klar? Anton, vertrau mir, ich befeh…«Edgar verstummte, um dann in freundlicherem Ton hinzuzufügen: »Ich bitte dich!«

Keine Ahnung, was mich packte. Jagdeifer? Der Wunsch, diese Hexe zu erwischen, die Tausende von Menschen in den Tod getrieben hatte? Dass ein Inquisitor mich bat?

Oder vielleicht schlicht der Wunsch, die vierte Schicht zu sehen? Die geheimsten Tiefen des Zwielichts, die auch Geser nicht oft zu Gesicht bekam und in der Swetlana niemals gewesen war?

»Was soll ich tun?«, fragte ich.

Auf Edgars Gesicht erstrahlte ein Lächeln. Er streckte mir die Hand entgegen - die Finger endeten in stumpfen, hakenförmigen Krallen. »Im Namen des Großen Vertrages, des Gleichgewichts, das ich bewahre… rufe ich das Licht und das Dunkel an… erbitte ich Kraft… im Namen des Dunkels!«

Auf seinen fordernden Blick hin streckte ich ebenfalls die Hand aus. »Im Namen des Lichts…«, sagte ich.

Das Ganze ließ sich in gewisser Weise mit einem Eid vergleichen, den ein Dunkler und ein Lichter sich schwören. Aber nur in gewisser Weise. In meiner Hand loderte kein Flammenzüngchen auf, auf Edgars ballte sich kein Krumen Dunkelheit. Alles lief ohne unser Zutun ab: Die graue, verschwommene Welt um uns herum gewann plötzlich an Schärfe. Nein, die Farben kehrten nicht zurück, wir befanden uns noch immer im Zwielicht. Schatten bildeten sich. Wie auf einem Fernsehbildschirm, bei dem man zuvor die Farbe so weit wie möglich herausgenommen hatte und auf dem man dann wieder ein buntes und kontrastreiches Bild einstellte.

»Unser Recht wird anerkannt…«, flüsterte Edgar, während er sich umsah. In seinem Gesicht spiegelte sich echtes Glück wider. »Sie erkennen unser Recht an, Anton! »

»Und wenn sie es nicht anerkannt hätten?«, hakte ich nach.

Edgar runzelte die Stirn. »Das hätte sein können… Aber schließlich haben sie es doch anerkannt, oder? Gehen wir!«

In diesem neuen, »kontrastreichen«Zwielicht fiel jede Bewegung entschieden leichter. Ich hob meinen Schatten genauso mühelos auf wie in der gewöhnlichen Welt.

Und gelangte dorthin, wo nur Magier außerhalb jeder Kategorie hindurften.

Bäume - wenn es denn Bäume waren - gab es hier nicht mehr. Die ganze Welt um uns herum war eben, flach, ganz wie im Mittelalter der Fladen der Erde, den drei Wale trugen. Kein Relief, bloß eine endlose Sandebene… Ich bückte mich, ließ eine Hand voll Sand durch meine Finger rieseln. Der war grau, wie im Zwielicht nicht anders zu erwarten. Doch in diesem Grau ließen sich die ersten Farben erkennen, ein rauchiges Perlmutt, bunte Funken, goldschimmernde Körner…

»Da läuft sie…«, sagte Edgar mir direkt ins Ohr. Und streckte die Hand aus, die überraschend lang und dünn war.

Ich schaute in die angezeigte Richtung. Und sah in der Ferne - nur in einer Ebene kann man so weit sehen - eine sich rasch entfernende graue Silhouette. Die Hexe bewegte sich mit riesigen Sprüngen vorwärts, schwang sich in die Luft auf, flog gut zehn Meter über die Erde hinweg, mit ausgebreiteten Armen und komisch schlenkernden Beinen, einem fröhlichen Kind gleich, das über eine Frühlingswiese hüpft.

»Sie hat ihr Elixier ausgetrunken?«, erriet ich. Sonst konnte ich mir diese Sprünge nicht erklären.

»Ja. Das hat sie nicht umsonst gebraut«, sagte Edgar. Er holte aus und schleuderte Arina etwas hinterher.

Eine Reihe kleiner Feuerbälle schoss auf die Hexe zu. Der Geschwader-Fireball, ein ganz gewöhnlicher Kampfzauber bei den Wachen, allerdings in einer besonderen Version der Inquisition.

Einige Kugeln platzten, bevor sie die Hexe erreichten. Eine beschleunigte enorm, traf sie aber dennoch, schnappte nach ihrem Rücken, explodierte und hüllte die Hexe in Feuer. Die Flamme erlosch jedoch augenblicklich wieder, während die Hexe ohne sich umzusehen etwas über ihre Schulter warf - worauf sich dort eine Pfütze aus funkelnder, quecksilbriger Flüssigkeit bildete. Sobald die übrigen Geschosse über diese Lache flogen, verloren sie an Tempo und Höhe, stürzten in die Flüssigkeit und verschwanden. »Hexentricks…«, presste Edgar angewidert hervor. »Anton!«

»Ja? Was?«, fragte ich, ohne die am Horizont verschwindende Arina aus den Augen zu lassen.

»Wir müssen zurückgehen. Uns war nur Kraft für die Festnahme der Hexe zugeteilt worden, aber die Jagd ist zu Ende…Wir haben sie nicht gekriegt.«

Ich sah nach oben. Die glutrote Wolke, die in der vorigen Zwielicht-Schicht geleuchtet hatte, gab es hier nicht. Der ganze Himmel strahlte in einem gleichmäßigen Rosaweiß. Wie seltsam. Hier gab es also wieder Farben…»Gibt es noch mehr Schichten, Edgar?«, fragte ich.

»Die gibt es immer.«Edgar machte sich offenbar langsam Sorgen. »Gehen wir, Anton! Gehen wir, sonst sitzen wir hier fest.«

Die Welt um uns herum verlor ihre Schärfe, hüllte sich in grauen Rauch. Doch nach wie vor gab es Farben, den perlmutt-farbenen Sand, den rosaweißen Himmel…

Während ich bereits das kalte Prickeln des Zwielichts auf meiner Haut spürte, folgte ich Edgar zurück in die dritte Schicht. Als hätte die Welt nur auf diesen Moment gewartet, blich sie endgültig aus, ergraute, füllte sich mit kaltem tosendem Wind. Wir packten uns bei den Händen - nicht, um Kraft auszutauschen, das ist hier praktisch unmöglich, sondern um uns auf den Beinen zu halten - und versuchten wieder und wieder, in die zweite Schicht zurückzukehren. Die»Bäume«um uns barsten mit einem kaum hörbaren Knistern, das Baumzelt der Hexe krachte seitwärts ein - doch wir konnten unsere Schatten einfach nicht finden. Ich erinnerte mich nicht einmal mehr an den Augenblick, als sich das Zwielicht vor mir öffnete und ich in die zweite Schicht trat - die fast gewöhnlich wirkte, überhaupt nicht schrecklich.

Schwer atmend saßen wir auf dem sauberen, abgeschabten Fußboden. Uns beiden ging es gleichermaßen schlecht, uns, dem Dunklen Inquisitor und dem Lichten Wächter.

»Puh.«Edgar schob die Hand ungeschickt in die Tasche seines Jacketts und holte eine Tafel Schokolade der Marke Gardist heraus. »Iss…»

»Und du?«, fragte ich, während ich die Verpackung aufriss.

»Ich habe noch…«Edgar kramte lange in seinen Taschen, bis er schließlich eine weitere Tafel fand. Diesmal eine der Marke Inspiration, bei der jeder Riegel einzeln eingepackt war. Er wickelte sie einen nach dem andern aus.

Danach aßen wir bloß gierig. Das Zwielicht saugt einem alle Kräfte aus, und zwar nicht nur die magische Kraft, sondern auch ganz banal die Glukose im Blut. Das ist eines der wenigen Details, die mit Hilfe der modernen Wissenschaft bezüglich des Zwielichts festgestellt werden konnten. Der Rest ist nach wie vor ein Rätsel. »Edgar, wie viele Schichten hat das Zwielicht?«, fragte ich.

Edgar kaute einen weiteren Riegel Schokolade. »Ich weiß von fünf«, antwortete er. »In der vierten bin ich eben zum ersten Mal gewesen. »

»Und was ist dort? In der fünften?«

»Ich weiß nur, dass es sie gibt, Wächter. Mehr nicht. Ich habe auch über die vierte Schicht vorher nichts gewusst.«

»Dort gibt es wieder Farben«, sagte ich. »Sie… sie ist völlig anders, nicht wahr?«

»Hm«, murmelte Edgar. »Das ist sie. Aber darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen, Anton. Das geht über unsere Kräfte. Sei stolz, dass du in der vierten Schicht gewesen bist, das können nicht mal alle Magier ersten Grades von sich behaupten. »

»Ihr könnt also dahin?«

»Wenn die Arbeit es erfordert«, bestätigte Edgar. »Zur Inquisition kommen nicht unbedingt die stärksten Anderen. Und wir müssen doch einem durchgedrehten Magier außerhalb jeder Kategorie etwas entgegenzusetzen haben, oder?«

»Wenn Geser oder Sebulon durchdrehen, werdet ihr ihnen nichts entgegenzusetzen haben«, bemerkte ich. »Es hat ja nicht mal bei der Hexe geklappt…«

Nach kurzem Nachdenken pflichtete Edgar mir bei, dass das Moskauer Büro der Inquisition wenig gegen Geser oder Sebulon ausrichten könne. Allerdings nur in dem Falle, wenn beide gleichzeitig den Großen Vertrag verletzten. Sonst… sonst dürfte Geser wohl mit Freuden dabei helfen, Sebulon zu neutralisieren, und umgekehrt. Auch darauf gründet sich die Inquisition. »Was passiert jetzt mit der Hexe?«, fragte ich.

»Wir werden sie suchen«, antwortete Edgar geschäftig. »Ich habe mich schon mit meinen Leuten in Verbindung gesetzt. Der Bezirk wird abgesperrt. Kann ich auch in Zukunft auf dich rechnen?«Ich überlegte.

»Nein, Edgar. Arina ist eine Dunkle. Irgendwas hat sie bestimmt gemacht… damals, vor rund siebzig Jahren. Aber wenn die Lichten sie benutzt haben…«

»Du hältst also an deiner Seite fest«, konstatierte Edgar angewidert. »Verstehst du das denn wirklich nicht, Anton? Es gibt weder Licht noch Dunkel in reiner Form. Die beiden Wachen sind doch letzten Endes wie die Demokraten und die Republikaner in den USA. Sie streiten sich, hetzen gegeneinander - und treffen sich abends zur Cocktailparty. »

»Noch ist nicht Abend.«

»Es ist immer Abend«, entgegnete Edgar finster. »Glaube mir, ich bin ein gesetzestreuer Dunkler gewesen. Bis man mich in die Enge getrieben hat… bis ich zur Inquisition gegangen bin. Und weißt du, was ich jetzt denke? »

»Sag's mir.«

»Die Kraft der Nacht und die Kraft des Tages - die kannst du beide gleichermaßen vergessen. Ich sehe zwischen Sebulon und Geser keinen Unterschied mehr. Dich mag ich… als Mensch.

Trätest du der Inquisition bei, würde ich gern mit dir zusammenarbeiten. »

»Wirbst du mich gerade an?«, amüsierte ich mich.

»Ja. Jeder Wächter hat das Recht, zur Inquisition zu kommen. Niemand hat das Recht, dich daran zu hindern. Man darf dir deine Entscheidung noch nicht einmal ausreden!«

»Vielen Dank, aber mir braucht auch niemand etwas auszureden. Ich habe nicht die Absicht, zur Inquisition überzuwechseln.«

Ächzend stand Edgar vom Boden auf. Er strich über seinen Anzug - auf dem freilich weder ein Stäubchen noch ein Fältchen zu sehen war. »Dein feiner Anzug ist verzaubert«, konstatierte ich.

»Ich verstehe ihn nur zu tragen. Und es ist gutes Tuch.«Edgar ging zum Bücherschrank, holte ein Buch heraus und blätterte darin. Dann ein zweites, ein drittes…»Was für eine Bibliothek!«, brachte er voller Neid hervor. »Hochspeziell, aber…»

»Ich habe gedacht, dass sie auch das Fuaran hat«, gab ich zu. Edgar lachte nur. »Was machen wir mit der Hütte?«, fragte ich.

»Siehst du, du denkst immer noch wie mein Partner!«, bemerkte Edgar prompt. »Ich wirke ein paar Schutz- und Wachzauber… Hm, was noch? In zwei, drei Stunden müssten die Experten hier sein. Die sollen dann alles gründlich untersuchen. Gehen wir? »

»Willst du denn nicht selbst alles inspizieren?«, fragte ich.

Edgar sah sich aufmerksam um und meinte dann, nein, das wolle er nicht. Denn in dem Häuschen könnten eine Unmenge böser Überraschungen warten, die die durchtriebene Hexe hinterlassen habe. Außerdem sei es gesundheitsgefährdend, in den Sachen einer Hexe außerhalb jeder Kategorie herumzuwühlen… sollten sich damit ruhig diejenigen beschäftigen, deren Pflicht das sei.

Ich wartete, bis Edgar um die Hütte ein paar Wachzauber gelegt hatte. Hilfe brauchte er dabei nicht. Danach machten wir uns auf zum Dorf.

Der Rückweg kam uns wesentlich länger vor. Als ob ein nicht zu fassender Zauber verschwunden sei, der uns geholfen hatte, zum Haus der Hexe zu gelangen. Dafür gab sich Edgar jetzt entschieden gesprächiger. Ob meine Unterstützung zu dieser Offenheit geführt hatte?

Er erzählte mir von seiner Ausbildung, davon, wie man ihm beigebracht hatte, nicht nur dunkle Kraft, sondern auch lichte zu nutzen. Berichtete von weiteren Auszubildenden bei der Inquisition, darunter waren zwei Lichte Zauberinnen aus der Ukraine, ein Werwolf aus Ungarn, ein holländischer Magier und viele weitere, höchst unterschiedliche Andere. Erklärte mir, die Gerüchte von den Sonderdepots der Inquisition, die angeblich von magischen Artefakten bersten würden, seien pure Übertreibung: Es gebe zwar viele Artefakte, die meisten hätten ihre magische Kraft jedoch längst eingebüßt und taugten nun nichts mehr. Schilderte gesellige Abende und Partys, die die Auszubildenden in ihrer Freizeit veranstalteten…

All das war sehr komisch, doch ich wusste genau, worauf Edgar zielte. Deshalb fing ich an, mich mit überzogener Begeisterung an die Jahre meiner Ausbildung zu erinnern, an diverse lustige Ereignisse in der Geschichte der Nachtwache, die historischen Erzählungen von Semjon…

Edgar seufzte und ging nicht weiter auf das Thema ein. Außerdem waren wir zum Dorf gelangt. Edgar blieb am Waldrand stehen. »Ich warte hier auf meine Leute«, sagte er. »Sie müssen gleich hier sein. Viteszlav hat sogar seine Abreise verschoben und versprochen herzukommen.«

Ich hatte nicht die Absicht, den Inquisitor in mein Haus einzuladen. Vor allem nicht in Gesellschaft eines Hohen Vampirs.

Deshalb nickte ich nur. »Was meinst du, wie geht es weiter?«, wollte ich aber noch wissen.

»Ich habe rechtzeitig Alarm gegeben, die Hexe wird die Gegend nicht verlassen«, erklärte Edgar sachlich. »Jetzt kommen die Experten von der Spurensicherung, wir werden alles überprüfen, wir werden Arina festnehmen. Sie verurteilen. Wenn du gebraucht wirst, wird man dich als Zeugen einbestellen.«

Ich teilte Edgars Optimismus nicht uneingeschränkt, nickte aber dennoch. Er wusste besser, was die Inquisition fertig brachte. »Und die Werwölfe?«

»Auf die hat die Nachwache das Vorrecht, oder?«, antwortete Edgar mit einer Gegenfrage. »Wenn wir auf sie stoßen, geben wir Bescheid, aber wir werden nicht extra im Wald Jagd auf sie machen. Woher willst du überhaupt wissen, ob sie noch hier sind? Vielleicht sind es die üblichen Städter, die ins Umland gefahren sind, um zu jagen. Du solltest die Augen besser aufhalten, Anton.«

»Irgendwie habe ich den Eindruck, dass sie noch hier sind«, murmelte ich. Das stimmte, obwohl ich nicht erklären konnte, woher ich diese Überzeugung nahm. Im Dorf war alles sauber… Und Werwölfe stromern selten länger als einen Tag in ihrem Wolfskörper herum.

»Überprüf die Nachbardörfer«, riet Edgar mir. »Zumindest das, in dem die Hexe ihre Einkäufe gemacht hat. Obwohl… das wird nichts bringen. Nach einer erfolglosen Jagd ziehen sie sofort den Schwanz ein und verstecken sich… Ich kenne ihre Natur.«

Ich nickte. Der Rat hatte, obwohl reichlich elementar, etwas für sich. Ich hätte gleich die Gegend abklappern sollen, statt hinter einer harmlosen Hexe herzujagen. Ein toller Detektiv - den das Fuaran interessierte… nicht die alltägliche, öde Arbeit. Verbrechensvorbeugung, wie es zu Sowjetzeiten so schön hieß.

»Viel Glück, Edgar«, sagte ich.

»Dir auch, Anton.«Nach kurzem Nachdenken fügte Edgar hinzu: »Ach, übrigens, die Situation ist ganz interessant, weil in den Fall mit der Hexe beide Wachen involviert sind. Du vertrittst sozusagen die Interessen der Nachtwache. Aber ich glaube, dass Sebulon auch jemanden schickt… solange die Lage noch nicht geklärt ist.«Ich seufzte. Mit jeder Stunde wurde das Ganze verzwickter.

»Ich kann mir schon vorstellen, wen er schickt«, erwiderte ich. »Sebulon genießt es, mir kleine gemeine Überraschungen zu bereiten.«

»Du solltest dich lieber darüber freuen, dass er sich keine großen gemeinen Überraschungen ausdenkt«, blaffte Edgar. »Die kleinen musst du halt ertragen. Niemand kann die Natur eines Menschen ändern, wenn dein Freund ein Dunkler ist, dann wird er auch als Dunkler sterben.«

»Kostja ist längst tot. Und er ist kein Mensch, sondern ein Vampir. Ein Anderer.«

»Was macht das für einen Unterschied aus?«, fragte Edgar finster. Er steckte die Hände in die Taschen seiner teuren Hosen, die er so vorzüglich zu tragen verstand, sackte leicht in sich zusammen und betrachtete die am Horizont untergehende rote Sonne. »Alles ist eins in dieser Welt, Wächter…«

Hm! Die Arbeit bei der Inquisition wirkt sich doch seltsam auf die Anderen aus! Lässt sie einen nihilistischen Blick aufs Leben werfen. Nimmt ihnen alle Ideale…

»Viel Glück«, wiederholte ich und machte mich daran, den Hügel hinabzusteigen. Während Edgar sich ohne Rücksicht auf seinen Anzug ins Gras legte und in den Himmel starrte.

Sechs

Auf halbem Weg zum Haus traf ich Xjuscha und Romka. Die beiden Kinder gingen zügig die staubige Straße entlang, hielten sich bei den Händen. Ich winkte ihnen zu.

»Ihre Nadjuschka ist mit ihrer Omi zum Fluss hinuntergegangen!«, rief Xjuscha mir sofort entgegen.

Ich musste grinsen. Alles in allem bekam Ljudmila Iwanowna nur selten ein»Oma«zu hören - doch wie jede Moskauer Frau um die fünfzig hasste sie diese Bezeichnung. »Schön, sollen sie ruhig noch spazieren gehen«, sagte ich.

»Haben Sie die Wölfe schon gefunden?«, rief Romka.

»Nein, deine Wölfe sind verschwunden«, erwiderte ich.

Oder hätte ich aus psychotherapeutischen Gründen sagen sollen, ich hätte die Wölfe gefangen und einem Zoo übergeben? Allerdings hatte ich nicht den Eindruck, dass der Junge nach seiner Begegnung mit den Tiermenschen irgendwie verängstigt war. Arina hatte wirklich gute Arbeit geleistet.

Auf dem Weg nach Hause begrüßte ich noch ein paar weitere Dorfbewohner. Swetlana hatte meine Hängematte okkupiert - mit einer Flasche Bier und dem Fuaran. Phantasie oder Wahrheit? in der Hand, dessen letzte Seite sie bereits erreicht hatte. »Interessant, oder?«, fragte ich.

»Hm«, nickte Swetlana. Das Bier trank sie ohne Umschweife direkt aus der Flasche. »Lustiger als Mumins wundersame Inselabenteuer von Tove Jansson. Mir ist jetzt klar, warum früher nicht alle Geschichten der Mumins gedruckt worden sind. Die letzten sind absolut nichts für Kinder. Tove Jansson muss in einem tiefen Loch gesteckt haben, als sie sie geschrieben hat.«

»Auch eine Schriftstellerin hat das Recht auf Niedergeschlagenheit«, erklärte ich.

»Wenn sie Kinderbücher schreibt, dann nicht«, widersprach Swetlana scharf. »Kinderbücher sollen gut sein. Sonst ist es wie bei einem Traktorfahrer, der das Feld schief pflügt und dann sagt: »Ich bin heute so traurig, da war es für mich verlockender, Kreise zu fahren.«Oder ein Arzt, der einem Patienten ein Abführmittel und Schlaftabletten verschreibt und erklärt: »Ich bin schlechter Stimmung und will mich auf diese Weise mal entspannen.«

Sie beugte sich zum Tisch vor und legte das vermeintliche Fuaran weg. »Du bist streng, Mutter.«Ich schüttelte den Kopf.

»Ich bin Mutter, deshalb bin ich streng«, erwiderte Swetlana. Dann lachte sie. »Ich mache nur Spaß. Die Bücher sind einfach wunderbar. Nur die letzten sind sehr traurig.«

»Nadjuschka ist mit deiner Mutter zum Fluss runtergegangen«, sagte ich. »Hast du sie getroffen?«

»Nein, Oxana hat es mir erzählt. »Ihre Nadja ist mit ihrer Omi spazieren gegangen«…«

Swetlana prustete los. Gleich darauf setzte sie jedoch wieder ein ernstes Gesicht auf. »Sag das ja nicht in Gegenwart meiner Mutter! Das verkraftet sie nicht. »

»Für wen hältst du mich? Für einen Kamikaze? »

»Erzähl mir lieber, was euer Ausflug gebracht hat.«

»Die Hexe ist uns entwischt«, berichtete ich. »Wir haben sie bis in die vierte Schicht des Zwielichts verfolgt, aber sie ist uns trotzdem entkommen…«

»Bis in die vierte?«Swetlanas Augen funkelten auf. »Schwindelst du auch nicht?«

Ich setzte mich neben sie. Die Hängematte schaukelte empört, die Bäume knarzten, hielten aber stand. Mit knappen Worten gab ich unsere Abenteuer wieder.

»Ich bin noch nie in der vierten Schicht gewesen…«, meinte Swetlana nachdenklich. »Wie es da wohl… Dort gibt es also wieder Farben? »

»Ich glaube, es gibt da sogar Gerüche.«

Abwesend nickte Swetlana. »Ja, solche Gerüchte kursieren… Interessant.«

Ein paar Sekunden schwieg ich. »Swetlana, du musst in die Wache zurückkehren«, sagte ich dann.

Entgegen ihrer Gewohnheit schwieg Swetlana. Was mich ermutigte fortzufahren. »Du darfst nicht nur mit halber Kraft leben. Früher oder später wirst du…«

»Lassen wir das, Anton. Ich möchte keine Große Zauberin werden.«Swetlana grinste. »Kleine Alltagsmagie, das ist alles, was ich brauche.«

Die Pforte ging, und Ljudmila Iwanowna kam zurück. Ich sah flüchtig zu ihr hinüber, wollte schon wieder woanders hinsehen - als sich mein Blick verständnislos an ihr festhakte.

Meine Schwiegermutter strahlte. Man hätte glauben können, sie habe gerade eine impertinente Verkäuferin erfolgreich zur Schnecke gemacht, auf der Straße hundert Rubel gefunden oder den Fernsehstar Jakubowitsch, ihren Liebling, mit Handschlag begrüßt.

Sie ging noch nicht mal wie sonst, sondern leichten Schrittes, mit geraden Schultern und hocherhobenem Kinn. Und mit einem absolut entrückten Lächeln auf den Lippen. »Wir sind geboren, damit das Märchen Wahrheit wird…«, sang sie leise vor sich hin.

Ich schüttelte den Kopf. Meine Schwiegermutter lächelte uns sanft an, winkte und ging weiter in Richtung Haus.

»Mama!«, rief Swetlana ihr hinterher und sprang auf. »Mama!«

Meine Schwiegermutter blieb stehen und sah Sweta an - wobei auf ihrem Gesicht immer noch Jenes entrückte Lächeln lag. »Ist mit dir alles in Ordnung, Mama?«, fragte Swetlana.

»Aber sicher«, erwiderte Ljudmila Iwanowna zärtlich.

»Mama, wo ist Nadjuschka?«, brachte Swetlana mit leicht erhobener Stimme hervor.

»Sie geht mit einer Freundin spazieren«, antwortete meine Schwiegermutter ungerührt. Ich erschauerte.

»Was sagst du da, Mama?«, schrie Swetlana. »Es ist schon Abend… die Kinder sind allein unterwegs… mit was für einer Freundin?«

»Mit einer Freundin von mir«, erklärte meine Schwiegermutter, nach wie vor lächelnd. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin doch kein dummes Weibsbild, dass ich die Kleine allein lassen würde!«

»Mit was für einer Freundin von dir?«, fuhr Swetlana sie an. »Mama! Was ist mit dir? Wer ist bei Nadja?«

Langsam kroch das Lächeln vom Gesicht meiner Schwiegermutter, um einem verlegenen Ausdruck Platz zu machen.

»Mit jener… dieser…«Sie runzelte die Stirn. »Mit Arina. Meine Freundin… Arina… meine Freundin?«

Was genau Swetlana tat, konnte ich nicht erkennen, doch über meine Haut huschte ein Kälteschauder aus dem zerspaltenen Zwielicht. Swetlana hatte sich nur leicht zu ihrer Mutter vorgebeugt - die daraufhin mit offenem Mund erstarrte und in kleinen Schlucken nach Luft schnappte.

Die Gedanken von Menschen zu lesen ist recht schwierig, weitaus leichter ist es, sie zum Reden zu bringen. Doch von nahen Verwandten kann man Informationen auf die gleiche Weise bekommen, die wir unter uns anwenden, um Zeit zu sparen.

Im Grunde brauchte ich diese Informationen jedoch gar nicht.

Ich hatte auch so alles verstanden.

Und nicht Angst packte mich - sondern Leere. Als ob die ganze Welt um mich herum zu Eis erstarrt und stehen geblieben sei.

»Geh schlafen!«, rief Swetlana ihrer Mutter zu. Ljudmila Iwanowna drehte sich um und stakste zombiegleich aufs Haus zu.

Swetlana sah mich an. Ihr Gesicht war sehr ruhig - was mich selbst enorm hinderte, mich zu konzentrieren. Letzten Endes fühlt sich ein Mann einfach stärker, wenn seine Frau verängstigt wirkt.

»Sie ist auf die beiden zugekommen. Hat sie angepustet. Dann hat sie Nadenka bei der Hand genommen. Ist mit ihr in den Wald gegangen«, presste Swetlana heraus. »Und sie, diese ausgemachte Obernärrin… geht noch eine Stunde lang spazieren!«

In diesem Moment begriff ich, dass Swetlana kurz davor stand, hysterisch zu werden. Und konnte mich selbst konzentrieren.

»Was sollte sie gegen eine Hexe schon ausrichten?«Ich packte Swetlana bei den Schultern und schüttelte sie. »Deine Mutter ist nur ein Mensch!«

In Swetlanas Augen schimmerten Tränen, die jedoch gleich wieder verschwanden. Plötzlich stieß sie mich sanft weg. »Geh zur Seite, Anton, ich hake mich bei ihr an…«, sagte sie. »Und du kannst mir sowieso nicht helfen…«

Ich ließ mich auf keinen Streit ein. Nach Edgars und meinem Abenteuer war ich keine große Hilfe mehr. Auch über Kraft, die ich mit Swetlana hätte teilen können, verfügte ich kaum noch.

Ich lief ein paar Schritte weg, umfasste den Stamm des kümmerlichen Apfelbaums, der bald absterben würde. Dann schloss ich die Augen.

Die Welt um mich herum erbebte. Ich spürte, wie das Zwielicht sich bewegte.

Swetlana sammelte keine Kraft aus der Umgebung, wie ich es getan hätte. Ihr reichte die eigene, die sie so hartnäckig ignorierte, ungenutzt ließ - und von der sie dabei nur immer mehr anhäufte. Angeblich sollen weibliche Andere nach einer Geburt einen enormen Kraftzustrom verspüren, doch bei Swetlana hatte ich damals keine Veränderung gespürt. Alles war irgendwohin verschwunden, hatte sich verkrochen, angesammelt. Für einen schwarzen Tag - wie sich jetzt zeigte.

Die Welt verlor ihre Farbe. Ich begriff, dass ich ins Zwielicht gefallen war, in die erste Schicht. Die Magie drängte dermaßen auf alles ein, dass nichts, was nur ein wenig magisch war, sich in der menschlichen Realität halten konnte. Das Buch Fuaran, Phantasie oder Wirklichkeit? fiel durch den Holztisch und schlug hart auf dem Boden auf. In der Nachbarschaft, drei Häuser weiter, loderten auf dem Dach Klumpen blauen Mooses - diese im Zwielicht lebenden Parasiten unserer Emotionen - auf, die sofort verbrannten.

Ein weißes Leuchten hüllte Swetlana ein. Sie fuhr rasch mit den Händen auf und ab, als spinne sie unsichtbares Garn. Im nächsten Augenblick tauchte dieses»Garn«auf, dünne, spinnenwebartige Fäden lösten sich von ihren Fingern und flogen davon, getrieben von einem nicht vorhandenen Wind. Um Swetlana herum tobte ein Schneesturm. Der sich legte, sobald die funkelnden Fäden in alle Richtungen davongeweht waren. »Was tust da?«, schrie ich. »Sweta!«

Ich kannte den Zauber, den sie gerade eben gewirkt hatte. Selbst ich hätte das»Schneeige Spinnennetz«aufwerfen können, eventuell nicht so effektiv, nicht so schnell, aber trotzdem…

Swetlana antwortete nicht. Wie bei einem Gebet reckte sie die Arme zum Himmel. Dabei glauben wir weder an Götter noch an Gott. Wir sind unsere eigenen Götter und unsere eigenen Dämonen.

Von Swetlanas Hand riss sich eine regenbogenfarbige, über-ballgroße Kugel los, eine Seifenblase, die voller Grandezza am Himmel dahinsegelte. Die Blase vergrößerte sich und begann, sich langsam um die eigene Achse zu drehen. Ein dunkelroter Fleck auf der durchscheinenden regenbogenfarbigen Hülle gemahnte an den Planeten Jupiter. Als der rote Fleck mir bei einer Drehung gegenüberstand, nahm ich eine kalte sengende Berührung wahr, gleichsam als streife mich eisiger Wind.

Swetlana hatte das»Auge des Magiers«geschaffen. Abermals Magie ersten Grades. Und das sofort nach dem»Schneeigen Spinnennetz«!

Beim dritten Zauber, den sie so unfassbar schnell wirkte, dass ich vermutete, Swetlana habe ihn seit langer Zeit für ebensolche Fälle eingeübt, schickte sie eine Schar mattweißer, geisterhafter Vögel aus ihren Handflächen gen Himmel. Man hätte sie als Tauben bezeichnen können - wären die Schnäbel dieser Geistervögel nicht reichlich groß und spitz gewesen. Schnäbel von Raubvögeln. Diesen Zauber kannte ich nicht einmal.

Swetlana ließ die Arme sinken. Worauf sich das Zwielicht beruhigte. Zu uns zurückkroch, unsere Haut mit einer leichten beißenden Kälte berührte. Ich kehrte in die normale Welt zurück. Swetlana folgte mir.

Hier hatte sich nichts verändert. Selbst das zu Boden segelnde Buch, im Fallen aufgegangen, hatte sich noch nicht wieder geschlossen. Nur die Hunde winselten, kläfften, jaulten im ganzen Dorf.

»Sweta, was hast du gemacht?«, fragte ich, während ich auf sie zustürzte.

Sie drehte sich mir zu, mit verschleierten Augen. Ihre unsichtbaren magischen Abgesandten, die sich noch nicht in alle Winde zerstreut hatten, überbrachten gerade, Dutzende oder Hunderte Kilometer von uns entfernt, ihre Botschaften. Ich wusste, welche.

»Nichts…«, flüsterte Swetlana. »Überall Leere. Keine Nadjuschka… keine Hexe…«

In ihre Augen kehrte das Leben zurück. Was bedeutete: Das magische Spinnennetz löste sich auf, die weißen Vögel fielen zu Boden und schmolzen, am Himmel platzte die regenbogenfarbige Kugel.

»Überall Leere«, wiederholte Swetlana. »Anton… wir dürfen uns nicht verrückt machen.«

»Sie kann nicht weit sein«, erwiderte ich. »Und sie hat Nadja nichts Schlimmes getan, glaub mir!«

»Geiselnahme?«, fragte Swetlana. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich Hoffnung wider.

»Die Inquisition hat das Gebiet abgesperrt. Und die hat ihre eigenen Methoden. Selbst Arina wird nicht unbemerkt an ihnen vorbeikommen. »

»Also…«, flüsterte Swetlana. »Gut.«

»Um zu fliehen, braucht sie Hilfe von außen«, meinte ich -sei es zu Swetas Beruhigung, sei es zu meiner eigenen. »Freiwillig wird die ihr niemand anbieten. Also hat sie sich auf Erpressung verlegt.«

»Können wir ihre Forderung erfüllen?«, packte Swetlana den Stier gleich bei den Hörnern. Ohne auch nur darauf einzugehen, ob wir sie erfüllen wollten… Was blieb uns denn übrig? Wir würden alles erfüllen - wenn wir es konnten. »Wir müssen die Forderungen abwarten.«

Swetlana nickte. »Gut… warten wir. Worauf genau? Auf einen Anruf?«

Im nächsten Moment riss sie eine Hand hoch und visierte das Schlafzimmerfenster an. Prompt kam, die Scheibe zerschlagend, aus dem Schlafzimmer der Kamm angeflogen, den Arina ihr geschenkt hatte. Swetlana nahm ihn in die Hand, so angewidert, als handle es sich um ein ekliges Insekt. Ein paar Sekunden lang sah sie den Kamm an, bis sie die Stirn runzelte und sich damit durchs Haar fuhr.

Ein leises, gutmütiges Lachen ließ sich vernehmen. Und irgendwo um Swetas Kopf herum erklang Arinas Stimme: »Guten Tag auch, meine Liebe. So lernen wir uns also kennen. Ein nützliches Geschenk, nicht wahr?«

»Merk dir eins, du alte Kröte…«, setzte Swetlana an, während sie den Kamm vor sich hielt.

»Ich weiß, ich weiß, meine Schwester. Alles weiß ich, nichts vergesse ich. Wenn Nadenka nur ein Haar gekrümmt wird, verfolgst du mich bis ans Ende der Welt, ziehst mich aus der fünften Schicht, reißt mir jede Ader einzeln aus, hackst mich in Stückchen und verfütterst mich an die Schweine. Alles weiß ich, was du sagen willst. Und ich bin überzeugt, dass du genau das machen würdest.«

Arinas Stimme klang ernst. Sie machte sich nicht über Swet-lana lustig, sondern erklärte uns völlig ernsthaft, wie wir ihrer Meinung nach mit ihr verfahren müssten. Swetlana schwieg, hielt den Kamm jedoch in der Hand gepackt. Erst als die Hexe verstummte, sagte sie etwas. »Gut. Dann lass uns keine Zeit vergeuden. Ich möchte mit Nadjuschka sprechen. «

»Nadenka, sag deiner Mama Hallo«, bat Arina. Wir vernahmen ein ungetrübt lustiges Stimmchen. »Hallo! «

»Geht es dir gut, Nadjuscha?«, fragte Swetlana besorgt.

»Hm…«, antwortete Nadja.

Dann mischte sich Arina wieder ein. »Zauberin, ich werde deiner Tochter kein Leid zufügen. Wenn du keine Dummheiten machst. Ich brauche eine Kleinigkeit von euch: Bringt mich durch die Sperren, und ihr bekommt eure Tochter zurück. »

»Arina«, sagte ich, während ich nach Swetlanas Hand griff,

»die Inquisition hat den Bezirk abgesperrt. Du weißt, was das heißt?«

»Sonst hätte ich nicht um Hilfe gebeten«, blaffte Arina trocken. »Lass dir was einfallen, Zauberkundiger! In jedem Zaun gibt es eine lockere Latte, in jedem Netz ein Loch. Bring mich hier raus, dann gebe ich dir deine Tochter zurück. »

»Und wenn ich das nicht kann?«

»Dann ist mir alles einerlei«, drohte Arina. »Dann werde ich versuchen, mit Gewalt durchzubrechen. Und euer Mädchen werde ich ohne Diskussion umbringen.«

»Wozu?«, fragte ich mit äußerster Ruhe. »Was würde dir das bringen?«

»Wie, was würde mir das bringen?«, wunderte sich Arina. »Wenn ich durchbreche, ist jedem sofort klar, dass mit mir nicht zu spaßen ist. Außerdem… weiß ich genau, wer sich freuen würde, wenn jemand die Drecksarbeit für ihn erledigt. Für den Tod eurer Tochter würde er mich gut bezahlen.«

»Wir werden alles versuchen«, versicherte Swetlana und drückte mir fest die Hand. »Hörst du, Hexe? Rühr das Kind nicht an, wir werden dich retten!«

»Abgemacht«, meinte Arina offenkundig erleichtert. »Denkt darüber nach, wie ihr mich durch die Sperren bringt. Ihr habt drei Stunden Zeit. Wenn dir früher etwas einfällt, Zaubermeisterin, dann nimm den Kamm und kämm dich.«

»Aber rühr Nadjuschka nicht an!«, schrie Swetlana mit bebender Stimme. Dann führte sie mit der linken Hand Passes aus.

Der Kamm überzog sich mit einer Eiskruste. Swetlana knallte ihn auf den Tisch. »Dieses blöde alte Ding…«, murmelte sie. »Anton?«

Eine Sekunde sahen wir einander an. Als würfen wir uns gegenseitig den Ball zu, um nicht selbst die Initiative zu ergreifen.

»Es ist sehr riskant, Sweta«, sagte ich schließlich. »In einem offenen Kampf zieht sie gegen uns den Kürzeren. Deshalb bringt sie sich in Gefahr, wenn sie Nadja zurückgibt.«

»Wir bringen sie durch die Sperre… finden einen Weg…«, flüsterte meine Frau. »Soll sie doch aus dem Sperrgebiet rauskommen und Nadenka irgendwo außerhalb zurücklassen. Ich finde sie sofort. Soll sie doch in irgendeine Stadt fahren und Nadja dort lassen! Ich bahne einen Weg… ich weiß, wie. Ich kann das! Und in einer Minute wäre ich dort!«

»Richtig«, nickte ich. »In einer Minute. Und dann? Die Hexe wäre noch nicht weit. Und sobald Nadja bei uns ist, würdest du Arina finden und sie dematerialisieren wollen.«

»Zerreißen, nicht dematerialisieren…«, meinte Swetlana nickend. »Genau das hätte diese Hexe verdient: Sie beansprucht unsere Hilfe, ermordet Nadja aber trotzdem. Was sollen wir bloß machen, Anton? Geser rufen? »

»Was, wenn sie das wittert?«, fragte ich zurück.

»Und ein Anruf?«, schlug Swetlana vor.

Ich überlegte. Nickte. Arina hatte sich zu lange aus dem Leben ausgeklinkt. Ob sie überhaupt wusste, dass wir uns mit Geser nicht nur auf magische Weise, sondern auch mit einem simplen Funktelefon in Verbindung setzen konnten?

Swetlana hatte ihr Handy im Haus gelassen. Sie beförderte es mit denselben beiläufigen Passes herbei wie den Kamm. Dann sah sie mich noch einmal an. Ich nickte.

Es war Zeit, um Hilfe zu bitten. Zeit, Hilfe zu fordern. Die gesamte Moskauer Nachtwache. Schließlich knüpfte Geser an Nadenka seine eigenen, uns nicht bekannten Hoffnungen…»Wartet!«, rief uns jemand von der Pforte her zu.

Wir drehten uns um, wobei wir - vermutlich überflüssiger Weise - die Hände abrupt hochrissen und Kampfstellung einnahmen. Die Welt war für uns nicht die normale Menschenwelt. Wir lebten jetzt in der Welt der Anderen, einer gefährlichen Welt, in der die Kraft der Zauber und das Reaktionsvermögen alles entscheiden.

Doch wir brauchten uns nicht in den Kampf zu stürzen.

An der Pforte stand ein junger Mann, hinter ihm drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Sowohl der Mann wie auch die Kinder trugen eine grau-grüne paramilitärische Kluft, die an die Uniform einer zerschlagenen Armee erinnerte. Der Mann mochte fünfundzwanzig sein, die Kinder zehn. Ihr Vater konnte er nicht sein, ihr Bruder wohl auch nicht, dazu sahen die vier Gesichter zu unterschiedlich aus.

Nur eins verband sie: die dunkle Aura. Eine wilde, zottelige Aura, die in keiner Weise zu den freundlichen Gesichtern und den ordentlich geschnittenen Haaren passte. »Da hätten wir also auch unsere Werwölfe«, murmelte ich. Der Mann senkte kurz den Kopf und gab mir Recht. Was bin ich nur für ein Blödmann!

Ich suche einen Erwachsenen mit drei Kindern, denke aber nicht an das Pionierlager!

»Seid ihr gekommen, um euch zu stellen?«, fragte Swetlana kalt. »Dazu ist es zu spät!«

Wie schwach diese Anderen auch sein mochten, sie mussten den Kraftwirbel gespürt haben, der sich hier eben erhoben hatte. Und auch die von Swetlana ausgehende Kraft, die Tiermenschen, Vampiren und sonstigem magischen Kleinvieh keine Chance lässt. Mit einer einzigen Handbewegung könnte Swetlana die vier jetzt bis zum Hals in die Erde stampfen.

»Warten Sie!«, sagte der Mann rasch. »Hören Sie uns an! Ich heiße Igor. Ich bin… ich bin ein registrierter Dunkler sechsten Grades.«

»Stadt?«, fragte Swetlana knapp.

»Sergijew Possad. »

»Die Kinder?«, fuhr sie mit ihrem Verhör fort.

»Petja aus Swenigorod, Anton aus Moskau, Galja aus Kolomna…«

»Registriert?«, fragte Swetlana weiter. Ohne Zweifel wollte sie ein Nein hören - womit das Schicksal Igors besiegelt gewesen wäre.

Wortlos hoben die Jungen ihr Hemd hoch. Das Mädchen genierte sich ein wenig, öffnete dann aber doch den obersten Knopf. Alle hatten ihr Siegel.

»Das wird dir nicht viel nützen«, murmelte Swetlana. »Geht in den Schuppen und wartet dort auf die Einsatzgruppe. Du kannst dem Tribunal erklären, warum du deine Jungen Jagd auf Menschen machen lässt.«

Abermals schüttelte Igor den Kopf. Auf seinem Gesicht spiegelte sich unverfälschte Angst wider, und zwar - was erstaunlich war! - nicht um sich.

»Warten Sie! Ich bitte Sie! Das ist wichtig! Sie haben doch eine Tochter, oder? Eine Andere, eine Lichte von zwei oder drei Jahren?«

»Wir haben gesehen, wohin die Frau sie gebracht hat«, sagte mein kleiner Namensvetter leise.

Ich schob Swetlana zur Seite. Trat vor. »Was wollt ihr?«, fragte ich.

Wir wussten, was diese Tiermenschen wollten. Und die Werwölfe wussten, dass wir das wussten. Was am traurigsten war: Sie zweifelten nicht im Mindesten daran, dass wir uns auf den Handel einlassen würden. Doch es gibt immer Details, die besprochen werden müssen.

»Eine Anklage auf geringfügige Fahrlässigkeit«, brachte Igor schnell hervor. »Während eines Spaziergangs haben uns die Kinder zufällig entdeckt und sind erschrocken.«

»Du hast sie gejagt, du Tier!«, konnte Swetlana sich nicht verkneifen. »Du hast mit deinen Jungen Jagd auf Menschenkinder gemacht!«

»Nein!«Igor schüttelte den Kopf. »Die Kinder haben herumgetobt und wollten mit den kleinen Menschenkindern spielen. Als ich dazugekommen bin, habe ich sie weggezogen. Es ist meine Schuld, denn ich habe nicht richtig aufgepasst.«

Er hatte alles genau kalkuliert. Ich konnte die Augen nicht völlig vor dem verschließen, was geschehen war, selbst wenn ich das noch sehr wollte. Denn der Stein war bereits ins Rollen gebracht. Es blieb nur die Frage, wie man den Vorfall klassifizierte. Als Mordversuch - was mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für Igor Dematerialisierung und für die Wolfsjungen strengste Kontrolle bedeutet hätte? Oder als Fahrlässigkeit im minder schweren Fall - was nur ein Protokoll, eine Strafe und eine»besondere Kontrolle«von Igors zukünftigem Verhalten nach sich ziehen würde?

»Gut«, sagte ich. Rasch, damit Swetlana mir nicht ins Wort fiel. »Wenn ihr uns helft, belassen wir es bei geringfügiger Fahrlässigkeit.«Und dafür werde ich auch geradestehen.

Igor entspannte sich. Vermutlich hatte er mit zäheren Verhandlungen gerechnet.

»Erzähl alles, Galja«, verlangte er. Uns erklärte er: »Sie hat sie gesehen… unsere Galja hat Hummeln im Hintern, nie kann sie stillsitzen…«

Swetlana ging zu dem Mädchen. Ich forderte Igor mit einer Geste auf, zu mir zu kommen. Abermals verkrampfte er sich, folgte mir aber gehorsam ein Stück zur Seite.

»Ich habe einige Fragen«, erklärte ich. »Und ich empfehle dir, ehrlich zu antworten.«Igor nickte.

»Wie hast du das Recht bekommen, drei fremde Kinder zu initiieren?«, wollte ich wissen, wobei ich den Wunsch runterschluckte, »du Schwein«an meine Frage anzuhängen.

»Alle drei waren zum Tode verdammt«, erklärte Igor. »Ich habe Medizin studiert. Mein Praktikum habe ich auf einer Station für krebskranke Kinder gemacht… Die drei wären an Leukämie gestorben. Ein Arzt dort war ebenfalls ein Anderer. Ein Lichter. Er hat mir vorgeschlagen… die drei zu beißen und sie in Tiermenschen zu verwandeln, damit sie gesund werden. Im Gegenzug würde er dafür das Recht erhalten, ebenfalls einige Kinder zu heilen.«

Ich schwieg. Ich erinnerte mich an diesen Fall von vor einem Jahr. Ein idiotischer, klarer Handel zwischen einem Dunklen und einem Lichten, den beide Wachen lieber unter den Teppich gekehrt hätten. Der Lichte hatte zwei Dutzend Kinder gerettet, obwohl es im Grunde über seine Kräfte ging, sie zu heilen. Doch er wollte die seltene Chance nicht ungenutzt lassen - und gerettet hat er sie dann ja auch. Die Dunklen bekamen drei Werwölfe. Ein kleiner Tausch. Alle waren glücklich, die Kinder und ihre Eltern inbegriffen. Wieder einmal wurden danach einschränkende Bestimmungen in den Großen Vertrag aufgenommen, um solche Fälle in Zukunft zu vermeiden. Und diesen Präzedenzfall wollte man so schnell wie möglich vergessen…»Verurteilst du mich?«, fragte Igor.

»Es ist nicht an mir, dich zu verurteilen«, flüsterte ich. »Gut. Was auch immer dein Motiv war… lassen wir das. Zweite Frage: Warum hast du sie mit auf die Jagd genommen? Lüg nicht, lüg jetzt bloß nicht! Denn du hast Jagd auf die Kinder gemacht! Du wolltest den Vertrag verletzen!«

»Es ist mit mir durchgegangen«, antwortete Igor gelassen. »Warum sollte ich lügen. Ich bin mit den Kleinen draußen herumgepirscht. Ich habe extra die ruhigste Gegend ausgesucht. Und plötzlich tauchen diese Kinder auf… Lebendige Kinder. Die gut riechen. Mit mir geht es durch, es packt mich. Und dann meine Kleinen… Sie haben in diesem Jahr ihr erstes Kaninchen gefangen, den Geschmack von Blut kennen gelernt.«

Und er lächelte - schuldbewusst, gequält, sehr aufrichtig. »Dein Kopf funktioniert ganz anders, wenn du in einem Tierkörper steckst«, erklärte er mir. »Nächstes Mal werde ich besser aufpassen. »

»Gut«, meinte ich.

Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Jetzt, wo Nadjuschkas Leben an einem seidenen Faden hing? Selbst wenn er log, würde ich ihn nicht in die Mangel nehmen.

»Anton!«, rief Sweta mir zu. »Fang!«

Ich sah sie an - und in meinem Kopf wirbelten unzählige Bilder durcheinander.

Eine schöne Frau in einem langen altmodischen Gewand, mit einem groß geblümten Tuch…

Ein Mädchen, das neben ihr einhergeht… stehen bleibt… die Frau nimmt es bei der Hand… In der Nähe ein Fluss…

Gras… hohes Gras… Warum ist es so hoch?… Es reicht ihr bis über den Kopf…

Ich springe über einen Bach, auf vier Pfoten, mit der Nase am Boden, wittere die Spur…

Ein kahler Wald, der in höckeriges Feld übergeht… Gräben, Rinnen…

Geruch… ein seltsamer Geruch steigt von dieser Erde auf… er wühlt mich auf… zwingt mich, den Schwanz einzuziehen…

Die Frau mit dem Mädchen an der Hand steigt in einen tiefen Graben hinab…

Zurück… zurück… das ist genau die Hexe, das ist die Hexe, ihr Geruch…

»Was bedeutet das?«, fragte Swetlana. »Wenn es so dicht ist, warum habe ich die beiden dann nicht gefunden?«

»Ein Schlachtfeld«, flüsterte ich, während ich aus meinem Kopf die Bilder von dem Mädchen und dem Wolf vertrieb. »Dort verlief die Front, Sweta. Der ganze Boden ist mit Blut getränkt. Dort muss man gezielt suchen, um wenigstens etwas zu finden. Es ist, als wolltest du den Kreml auf magische Weise sondieren.«

Igor trat an uns heran, taktvoll hüstelnd. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Sollen wir im Lager auf das Verhör warten? Oder können wir das Ganze auch ruhiger angehen? In einer Woche ist meine Zeit hier zu Ende, dann melde ich mich selbst bei der Nachtwache und erkläre alles…«

Ich überlegte. Versuchte das, was ich gesehen hatte, auf einer Karte der Umgebung zu orten, die ich in mir ins Gedächtnis rief. Zwanzig Kilometer - da war die Hexe mit Nadjuschka nicht zu Fuß hingekommen. Sie hatte den Weg abgekürzt, Hexen können so was. Mit dem Auto würden wir sie nicht erwischen, denn ich hatte keinen Jeep und im ganzen Dorf gab es keinen Niwa, keinen Uas. Vielleicht käme man mit einem Traktor über solche Wege…

Natürlich könnte ich ins Zwielicht gehen. Oder noch besser: Mich in es hineinstürzen. »Sweta.«Ich sah ihr in die Augen. »Du bleibst hier. »

»Was?«Diese Worte warfen sie um.

»Die Hexe ist nicht dumm. Sie gibt uns keine drei Stunden zum Nachdenken. Sie setzt sich früher mit uns in Verbindung. Mit dir, besser gesagt, denn von mir verspricht sie sich nichts. Du bleibst hier, und wenn die Hexe sich meldet, redest du mit ihr. Sag ihr, dass ich einen Weg durch die Absperrung bahnen würde… lüg irgendwas zusammen. Ich rufe dich später und lenke sie ab.«

»Das schaffst du nicht«, sagte Swetlana. »Anton, du hast nicht die Kraft, um sie zu überwältigen! Und ich habe keine Ahnung, wie schnell ich ein Portal öffnen kann. Ich weiß nicht mal, ob ich das überhaupt kann. Ich habe das noch nie versucht, sondern nur darüber gelesen! Anton! »

»Ich bin nicht allein«, erwiderte ich. »Nicht wahr, Igor?«

Er erbleichte und schüttelte den Kopf. »He, he, Wächter… das haben wir aber nicht vereinbart.«

»Wir haben abgemacht, dass du mir hilfst«, erinnerte ich ihn. »Wie die Hilfe aussieht, haben wir nicht gesagt. Stimmt's?«

Igor schielte zu seinen Schützlingen hinüber. Runzelte die Stirn. »Du bist ein Schwein, Wächter…«, seufzte er. »Es wäre für mich einfacher, mich mit einem Magier als mit einer Hexe anzulegen! Ihre Magie kommt ausschließlich aus der Erde! Sie weiß auf Anhieb, wo sie dich am schmerzlichsten trifft…«

»Keine Angst, wir sind ja zusammen«, beruhigte ich ihn. »Zu fünft.«

Die Jungen - ich zwang mich, in ihnen ausschließlich Wolfsjungen zu sehen - wechselten Blicke. Galja stieß Petja die Faust in die Seite und flüsterte etwas.

»Was haben sie dir getan?«, fragte Igor mit erhobener Stimme. »Wächter! Das sind Kinder!«

»Junge Werwölfe«, korrigierte ich ihn. »Die beinahe Kinder gerissen hätten. Möchtest du dich von deiner Schuld freikaufen? Mit einer Verwarnung davonkommen? Dann hör auf, hier sinnlos herumzukläffen!«

»Wir haben keine Angst, Onkel Igor«, sagte plötzlich der Junge, der Petja hieß.

»Wir bleiben bei dir!«, stieß mein Namensvetter ins gleiche Horn.

Mich sahen sie gelassen an, ohne mir etwas übel zu nehmen. Anscheinend hatten sie genau das von mir erwartet. »Sie können noch gar nichts…«, sagte Igor. »Wächter…«

»Keine Bange, sie werden die Hexe ablenken. Dafür wäre ich ihnen dankbar. Mutiert jetzt!«Swetlana drehte sich um. Sagte aber kein Wort.

Wortlos fingen die Werwölfe an, sich auszuziehen. Nur das Mädchen sah sich in ihrer Scham um - und verschwand hinter einem Johannesbeerstrauch, die übrigen scherten sich nicht um uns.

Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich eine Bauersfrau mit einem Eimer voll Kartoffeln, die den Weg entlangkam. Vermutlich hatte sie die auf dem Feld der Kolchose gesammelt. Als sie sah, was jenseits des Zauns vor sich ging, blieb sie kurz stehen, doch ich konnte mich jetzt nicht weiter um sie kümmern. Ich war sowieso nicht in Hochform, geschweige denn, dass ich noch Kraft an eine zufällige Zeugin vergeuden konnte. Ich musste rennen lernen. Schnell rennen, damit die Werwölfe mich nicht abhängten.

»Lass mich dir helfen«, sagte Swetlana. Sie fuhr mit der Hand durch die Luft, und ich spürte, wie mein Körper angenehm aufheulte und Kraft in meine Beinmuskeln schoss. Sofort wurde mir dermaßen heiß, als sei ich in eine überheizte Sauna gekommen. Der»Lauf«, ein einfacher Zauber, der jedoch nur äußerst vorsichtig angewendet werden darf. Wenn du außer den Beinen den Herzmuskel erwischst, erleidest du einen Infarkt.

Neben mir stöhnte Igor heiser auf und krümmte sich auf allen vieren, wobei das Rückgrat, als sei es in zwei Hälften gebrochen, zum Himmel zeigte. Daher rühren alle die Märchen von der Notwendigkeit, über einen morschen Baumstumpf zu springen… Die Haut dunkelte ein, ein grellroter Ausschlag überzog sie, der sich in kleinen Klumpen zu einem feuchten, rasch wachsenden Fell aufblähte.

»Schneller!«, schrie ich. Heiß und feucht quoll mir die Luft aus dem Mund, ich meinte sogar, wie im Winter den Dampf vom meinem Atem zu sehen. Zu stehen fiel mir unglaublich schwer - mein Körper jieperte nach Bewegung. Einen Trost hatte ich: Den Werwölfen erging es genauso.

Der große Wolf fletschte die Zähne. Aus irgendeinem Grund mutierten seine Zähne als Letztes. In der Wolfsschnauze sahen die Menschenzähne komisch und zugleich schrecklich aus. Mir schoss plötzlich der seltsame Gedanke durch den Kopf, dass Werwölfe ohne Plomben und Kronen leben müssen.

Allerdings ist ihr Organismus auch wesentlich stärker als der eines Menschen. Werwölfe kriegen keine Karies.

»Ge-he-hen wir…«, bellte der Wolf vernuschelt. »Es… bre-re-rennt.«

Winselnd rannten die Wolfsjungen zum Wolf, auch sie nass, wie schweißgebadet. Eines hatte noch Menschenaugen, aber mir war nicht klar, ob es sich dabei um einen der Jungen oder um das Mädchen handelte. »Los«, sagte ich.

Und schoss davon, ohne mich noch einmal zu Swetlana umzudrehen, ohne darüber nachzudenken, ob man uns sah oder nicht. Damit würde ich mich später auseinander setzen. Oder Swetlana würde die Spuren beseitigen.

Auf den Straßen war niemand, nicht einmal die Frau mit dem Eimer. Ob Swetlana die Menschen in die Häuser getrieben hatte? Falls ja, war das nur gut. Denn es ist ein komischer Anblick: Ein Mensch, der schneller läuft, als die Natur es ihm erlaubt, und vier Wölfe, die ihm folgen.

Meine Beine trugen mich wie von selbst vorwärts. Die Siebenmeilenstiefel aus den Kindermärchen, der Schnellläufer, der der Gefährte des Barons Münchhausen war - so spiegelt sich diese kleine Magie in den Mythen der Menschen wider. Nur wird in den Märchen nicht gesagt, wie schmerzhaft der Asphalt gegen die Fußsohlen schlägt…

Innerhalb einer Minute gelangten wir zum Fluss, und über die weiche Erde zu laufen war entschieden angenehmer. Ich hielt mich mit dem Wolf auf gleicher Höhe, ein taktvoller Iwan Zarewitsch, der seinen grauen Freund nicht ermüden will. Die Jungen blieben etwas zurück, denn ihnen machte die Rennerei mehr zu schaffen. Werwölfe sind sehr stark, doch ihre Schnelligkeit wird nicht durch Magie hervorgerufen.

»Was… hast… du… dir… überlegt?«, bellte der Wolf. »Was… willst… du… tun?«Wenn ich darauf eine Antwort wüsste!

Ein Kampf zwischen Anderen, das ist eine Manipulation der Kraft, die im Zwielicht liegt. Ich bin ein Magier zweiten Grades, was nicht zu verachten ist. Arina fällt gänzlich aus dem Klassifikationsschema. Aber Arina ist eine Hexe, das ist ein Plus und ein Minus zugleich. Sie hat keinen Talisman oder Glücksbringer, keinen Trank und kein Amulett mitnehmen können… oder allenfalls etwas ganz Kleines. Dafür kann sie unmittelbar aus der Natur Kraft schöpfen. In der Stadt sinken ihre Möglichkeiten, hier steigen sie. Für ernsthafte Magie müsste sie irgendein Amulett einsetzen, das kostet Zeit… Andererseits könnte im Amulett ein Kraftvorrat von unglaublicher Stärke gespeichert sein.

Ich weiß nicht. Zu viele Wenn und Aber. Ich würde mir nicht einmal zutrauen, den Ausgang eines Kampfs zwischen Geser und Arina zu prognostizieren. Vermutlich würde der Große Magier gewinnen, doch einfach wäre es nicht. Was konnte ich der Hexe entgegensetzen? Schnelligkeit?

Dann tritt sie ins Zwielicht ein, wo sie sich weitaus sicherer fühlt. Und mit jeder tieferen Zwielicht-Schicht würde ich für sie langsamer und langsamer werden. Das Überraschungsmoment?

Teilweise. Denn trotz allem hoffte ich, dass Arina nicht mit meinem Erscheinen rechnete.

Schlichte Körperkraft? Ihr mit einem Stein eins überbraten? Dafür musste ich erst mal an sie rankommen.

Alles in allem lief es darauf hinaus, dass ich so dicht wie möglich an sie heran musste. Um auf die Hexe loszugehen, sobald sie abgelenkt war. Um hart und ohne jede Raffinesse auf sie einzudreschen.

»Hör zu!«, rief ich dem Wolf zu. »Wenn wir in ihre Nähe kommen, gehe ich ins Zwielicht. Ich überhol dich und pirsch mich an die Hexe ran. Ihr geht offen auf sie zu. Wenn sie mit euch spricht und abgelenkt ist, stürze ich mich auf sie. Dann helft mir.«

»Gu-gut«, knurrte der Wolf, ohne im Geringsten anzudeuten, wie er zu dem Plan stand.

Sieben

Ob dieser Ort auf den Karten des Zweiten Weltkriegs vermerkt ist? Vielleicht ist das ein den Historikern bekanntes, in Büchern besungenes Schlachtfeld, wo sich einst zwei Armeen in blutigem Kampf ineinander verbissen haben - sodass die ins Stocken geratene Maschinerie des Blitzkrieges zurückrollte?

Vielleicht ist dies aber auch eines jener namenlosen Felder unserer Schande, wo die Eliteeinheiten der Deutschen die ihnen entgegengeworfenen, nicht ausgebildeten und schlecht bewaffneten Landwehrsoldaten niedertrampelten? Sodass der Ort nur noch in den Archiven des Verteidigungsministeriums seinen Platz hat?

Ich bin in Geschichte nicht sehr bewandert. Aber vermutlich trifft das zweite zu. Denn hier ist es schmerzlich leer, finster, tot. Vergessene, aufgegebene Erde, auf die noch nicht einmal Kolchose scharf waren.

In unserem Land errichtet man auf den Feldern der Niederlage nicht gern Denkmäler.

Ob vielleicht deshalb auch mit den Siegen nicht alles so glatt läuft?

Ich stand am Ufer des kleinen Flusses und sah auf das tote Feld. Es war nicht sehr groß: ein Streifen Erde zwischen dem Wald und dem Fluss, einen Kilometer breit, zehn Kilometer lang. Hier konnten nicht so viele Menschen gefallen sein. Eher Hunderte als Tausende.

Falls man das wirklich wenig nennen kann…

Das Feld war absolut leer. Mit meinem gewöhnlichen Blick sah ich niemanden, auch ein Blick durchs Zwielicht brachte nichts.

Als ich meinen Schatten aufnahm, brannte die untergehende Sonne in meinem Rücken. Ich trat ins Zwielicht ein.

In der ersten Schicht bedeckte blaues Moos den Boden, jedoch nicht sehr dicht. Die üblichen dicken Klumpen, die sich gierig auf die Echos menschlicher Gefühle stürzen.

Doch etwas ließ mich aufmerken. Das Moos schien einen bestimmten Punkt ringförmig einzukreisen. Ich wusste, dass das Moos kriechen kann - um sich langsam, aber sicher seiner Nahrung zu nähern.

Hier konnte es nur einen Grund geben, warum es Kreise bildete.

Ich ging durch den wolkigen grauen Rauch, um mich herum schimmerte die Menschenwelt durch wie eine unscharfe, überbelichtete Schwarzweißfotografie. Es war kalt und ungemütlich - mit jeder Sekunde verlor ich hier mehr Energie. Was jedoch auch ein Plus bedeutete. Selbst Arina kann sich nicht permanent im Zwielicht aufhalten. Sie kann aus der Menschenwelt in die erste Schicht blicken, doch auch das kostet Kraft.

Und momentan befindet sie sich nicht in der Lage, unüberlegt den Vorrat von Jahren zu vergeuden.

In der ersten Schicht entsprach das Profil der Landschaft fast dem der realen Welt. Hier gab es Erde, Bodenrinnen und kleinere Hügel. Aber auch noch was. Ich sah - besser erahnte - in der Erde alte Waffen. Nicht alle, natürlich nicht, sondern nur die, die jemanden getötet hatten. Halb verrostete Maschinenpistolen, kaum besser erhaltene Gewehre… Die Gewehre überwogen.

Hundert Meter vor Arina ging ich in die Hocke und lief im Entengang weiter. Swetlanas Zauber wirkte noch, sonst wär mir ziemlich bald die Puste ausgegangen. Fünfzig Meter vor ihr legte ich mich hin und robbte weiter. Der Boden war feucht, ich saute mich sofort ein. Nur gut, dass dieser Dreck abbröckeln würde, sobald ich aus dem Zwielicht heraustrat. Das blaue Moos wogte, wusste nicht, was es jetzt tun sollte: auf mich zukriechen oder sich in Sicherheit bringen. Das war nicht gut. Arina könnte ahnen, weshalb das Moos in Aufregung geriet…

Und ganz in der Nähe, fünf Meter vor mir, erhob sich langsam ein schwarzhaariger Kopf. Es sah aus, als wachse Arina direkt aus der Erde heraus. Zu eng und zu dicht bewachsen war dieser Graben… Ich erstarrte.

Aber Arina blickte nicht in meine Richtung. Ganz, ganz langsam richtete sie sich zu voller Größe auf. Zuvor musste sie am Boden eines dieser alten Schützengräben gesessen haben. Elegant schirmte sie die Augen mit der Hand ab. Mir war klar, dass sie durchs Zwielicht spähte. Zum Glück nicht zu mir hin. Meine unfreiwilligen Rekruten näherten sich.

Wie schön sie rannten! Selbst aus dem Zwielicht heraus sah ihr Lauf schnell aus, nur bei den Sprüngen hingen sie etwas zu lange in der Luft. Vorneweg das alte, weise Leittier, hinter ihm die Wolfsjungen. Ein Mensch hätte Angst bekommen.

Arina lachte. Sie stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, eine junge kräftige Ukrainerin, die beobachtet, wie ein leichtsinniger Mann samt seinen Zechkumpanen auf sie zustürmt. Als sie anfing zu reden, schwangen tiefe, hohle Töne durch die Luft. Sie hatte keine Eile, ins Zwielicht einzutreten. Ich begab mich jetzt ebenfalls in die Menschenwelt.

»… Kläffhälse!«, klang es zu mir herüber. »Habe ich euch etwa schlecht gefüttert?«

Die Wölfe trabten jetzt nur noch. Sie hielten zwanzig Meter vor Arina an.

Der Leitwolf trat vor. »Hexe!«, bellte er. »Reden… wir müssen reden! »

»Sprich, Grauer«, sagte Arina gutmütig.

Lange würde Igor die Hexe nicht ablenken können, das wurde mir klar. Jeden Augenblick könnte sie ins Zwielicht abtauchen und sich ordentlich umsehen. Wo war Nadjuschka?

»Gib… das Mädchen… raus«, stieß der Wolf in einer Mischung aus Gebrüll und Heulen heraus. »Der Lichte… tobt… Gib das Mädchen raus… sonst wird alles schlimmer…«

»Du willst mir doch nicht irgendwie drohen?«, wunderte sich Arina. »Du bist ja völlig verrückt geworden. Wer würde schon Wölfen ein Mädchen anvertrauen? Macht lieber, dass ihr fortkommt!«Komisch, sie schien irgendwie auf Zeit zu spielen.

»Das Kind… ist in Ordnung?«, brachte der Wolf etwas deutlicher hervor.

»Nadenka, ist mit dir alles in Ordnung?«, fragte Arina, wobei sie nach unten spähte. Dann beugte sie sich hinunter und hob das Mädchen aus dem Graben, um es oben auf den Boden abzusetzen.

Mir stockte der Atem. Nadjuschka sah überhaupt nicht verschreckt oder müde aus. Ihr schien zu gefallen, was hier passierte - und zwar weitaus besser als die Spaziergänge mit ihrer Oma. Aber sie stand nah, viel zu nah an der Hexe!

»Ein kleiner Wolf«, sagte Nadja und betrachtete den Tiermenschen. Sie streckte die Patschhand nach ihm aus und lachte fröhlich.

Der Werwolf wedelte mit dem Schwanz!

Freilich, das dauerte nur ein paar Sekunden. Dann spannte Igor sich an, sträubte sein Fell - und vor uns stand wieder ein wildes Tier, kein Schoßhund. Trotzdem hatte es diesen Moment gegeben, in dem der Werwolf vor einem zweijährigen Mädchen, vor einer nicht initiierten Anderen, scharwenzelt hat!

»Ein Wolf«, pflichtete Arina ihr bei. »Nadenka, guck doch mal, wer noch da ist. Mach die Augen zu und guck. So, wie ich es dir beigebracht habe.«

Bereitwillig deckte Nadjuschka die Augen mit den Händen ab. Und drehte sich in meine Richtung um. Auf die Weise würde sie sie ja initiieren!

Wenn Nadjuschka tatsächlich gelernt haben sollte, durchs Zwielicht zu sehen…

Meine Tochter drehte sich zu mir um. Lächelte. »Papka…«Zwei Dinge gingen mir im nächsten Moment auf.

Erstens: Arina wusste ganz genau, dass ich in der Nähe war! Die Hexe spielte mit mir.

Zweitens: Nadjuschka sah nicht durchs Zwielicht! Sie hatte die Finger gespreizt und linste durch sie hindurch.

Sofort trat ich ins Zwielicht zurück. Meine Nerven waren so angespannt, dass ich prompt in der zweiten Schicht landete, in dieser dumpfen wattigen Stille, in jenem fahlen grauen Schatten.

Arinas Aura loderte orangefarben und türkis. Nadjuschka hüllte eine reine weiße Aureole ein, gleichsam als hämmere ein Leuchtturm seine Botschaft in den Raum: eine potenzielle Andere! Eine Lichte! Von enormer Kraft!

Und die Werwölfe, die losrasten, rote und purpurne Klumpen, Wut und Bosheit, Hunger und Angst…

»Swetlana!«, schrie ich hochschnellend. Hinein in den grauen Raum, hinein in die weiche Stille. »Komm!«Eine Stelle für das Portal markierte ich problemlos, indem ich einfach reine Kraft ins Zwielicht schleuderte, als wollte ich eine Lichterkette spannen, eine Landebahn schaffen. Zwischen mir und Arina.

Gleichzeitig rannte ich los, damit Nadjuschka Arina nicht gegen mich abschirmte, und feuerte aus meinen Fingerspitzen vor langer Zeit gelernte Zauber ab. Den»Freeze«, mit dem die Zeit vor Ort angehalten wird. »Opium«, der Schlaf bringt. Die»Dreifachschneide«, der gröbste und einfachste Kraftzauber. »Thanatos«, den Tod.

Von keinem von ihnen versprach ich mir viel. All das konnte funktionieren, wenn du es mit einem sehr schwachen Anderen zu tun hast. Ein Anderer, dessen Kraft deine übersteigt, pariert alle Schläge, egal, ob er sich im Zwielicht oder in der Menschenwelt aufhält.

Ich musste die Hexe jedoch nur ablenken und aufhalten. Sie zwingen, ihre Verteidigung zu verpulvern, die vermutlich aus Amuletten und Talismanen bestand. All diese imposanten Feuerwerksspiele sollten nur die Lücke in ihrem Schutz ausfindig machen. Der»Freeze«schien im Nichts zu verpuffen.

Der Schlafzauber verfehlte sein Ziel und schoss in den Himmel hinauf. Hoffentlich flog über uns nicht gerade ein Flugzeug.

Die»Dreifachschneide«versagte nicht: Die funkelnden Klingen bohrten sich in die Hexe. Nur dass sie auf die drei Schneiden schiss.

Mit der Anrufung des Todes erlebte ich ein Desaster! Es hat seinen Grund, dass ich diese Magie nicht mag, die den Zaubern der Dunklen so gefährlich ähnelt. Arina konnte, da sie sich in der Menschenwelt befand, die Hand heben. Ein Klumpen grauen Dunkels, der den Willen tötet und das Herz stillstehen lässt, legte sich ihr gehorsam auf den Handteller.

Arina sah mich durchs Zwielicht an und lächelte. Ihre Hand schwebte über Nadjuschkas Kopf, die graue Masse sickerte langsam durch die Finger der Hexe.

Ich sprang zu den beiden hin. Abwehren konnte ich den Schlag nicht - aber ihn auf mich umlenken, das ja…

Doch Arina, die schnelle und blendend schöne, war bereits in der zweiten Zwielicht-Schicht Mit einer Bewegung ihrer Finger knüllte sie meinen Zauber zusammen - und warf ihn achtlos gegen die Wölfe.

»Überstürze nichts…«, riet die Hexe mir, jede Silbe in die Länge ziehend. In der Stille der zweiten Schicht dröhnten ihre Worte - und meine Beine ließen mich im Stich. Einen Schritt vor Arina und Nadjuschka fiel ich auf die Knie. »Rühr sie nicht an!«, schrie ich.

»Ich habe dich doch gebeten…«, sagte die Hexe leise. »Willst du mir nicht raushelfen… Was habe ich alte Hexe dir denn getan? »

»Ich glaube dir nicht!«

Arina nickte. »Und Recht hast du…«, sagte sie mit müder, bitterer Stimme. »Aber was soll ich denn machen, Zauberkundiger?«

Sie huschte mit einer Hand über den Rocksaum und zog einen kleinen Zweig getrockneter Trauben daraus hervor. Als sie ihn in die lodernden weißen Feuer warf, stiegen Wolken schwarzen Rauchs auf. Und die Markierung für das Portal verschwand. Swetlana hatte es nicht geschafft!

»Du lässt mir keine Wahl, Lichter…«Arina setzte ein schiefes Lächeln auf. »Hast du verstanden? Ich werde dich ermorden müssen, und deine Tochter wird niemandem mehr nützen. Was willst du mit deinem zweiten Grad schon ausrichten?«

In diesem Moment traf ein lodernder weißer Keil Arina im Rücken. Einen Moment lugte er aus ihrer Brust heraus, dann zog er sich langsam, einer unsichtbaren Hand gehorchend, zurück.

»Ah, ah, ah…«, stöhnte die Hexe, die unwillkürlich nach vorn stürzte.

Die Feuerschneide loderte im Zwielicht. Dann verzog sich die graue Finsternis und gab Swetlana frei.

Die Hexe schien sich bereits von dem Schlag erholt zu haben. Tänzelnd wich sie zurück, ohne Swetlana aus den Augen zu lassen. Von dem angesengten Riss in ihrem Kleid stieg Rauch auf, Blut floss jedoch nicht. In ihren Augen stand eher Respekt als Hass zu lesen.

»Ach du… Große…«Arina stieß ein krächzendes Gelächter aus. »Habe ich dich übersehen?«

Swetlana antwortete nicht. Nie hätte ich mir einen solchen Hass in ihren Augen vorstellen können: Ein Mensch wäre gestorben, wenn er sie bloß angesehen hätte. In ihrer rechten Hand hielt sie ein weißes Schwert, die Finger ihrer linken fuhrwerkten in der Luft herum, als drehten sie an einem unsichtbaren Zauberwürfel.

Das Zwielicht dunkelte ein. Um Nadjuschka herum bildete sich eine regenbogenfarbene Kugel. Die nächsten Passes Swetla-nas galten mir: Mein Körper bekam seine Beweglichkeit zurück. Ich sprang auf und lief hinter die Hexe. In diesem Krieg spielte ich nur eine Nebenrolle.

»Aus welcher Schicht bist du gekommen, du Irrlichternde?«, fragte die Hexe fast gutmütig. »Doch wohl nicht aus der vierten? Aber die dritte habe ich abgesucht…«Ich spürte, dass ihr sehr, sehr viel an der Antwort lag. »Aus der fünften«, sagte Swetlana plötzlich.

»Das ist nicht gut…«, murmelte die Hexe. »Das schafft sie, die Wut einer Mutter…«Sie linste aus den Augenwinkeln zu mir herüber, richtete den Blick dann jedoch wieder auf Swetlana. »Behalte besser für dich, was du dort gesehen hast…»

»Spar dir deine klugen Ausführungen«, meinte Swetlana. Die Hexe nickte. Abrupt krempelte sie die Ärmel hoch und riss sich ein paar Haare aus. Ich weiß nicht, ob Swetlana damit gerechnet hatte - ich hielt es jedoch für geboten wegzuspringen. Woran ich gut tat: Um die Hexe herum toste ein schwarzer Schneesturm los, als ob sich jedes einzelne Haar in eine dünne, feine Klinge aus schwarzem Stahl verwandelt hätte. Die Hexe ging auf Swetlana zu. Diese schleuderte das weiße Schwert gegen die Hexe. Die Klingen zerstückelten es jedoch, löschten es aus. Daraufhin bildete sich vor Swetlana ein durchscheinender, durch die Luft gleitender Schild. Ich glaube, er heißt»Lushin-Verteidigung«.

Lautlos und fast unverzüglich zerbrachen die Klingen an dem Schild.

»Ach, diese Mamotschkas…«, sagte Arina kläglich. Komisch, aber ich hegte keinen Zweifel daran, dass sie das ernst meinte. Gleichzeitig war es theatralisch, für ein Publikum gedacht. In dem Fall für mich.

»Ergib dich, du Miststück«, sagte Swetlana. »Noch biete ich dir das an: dich zu ergeben!«

»Und wenn… wenn ich tatsächlich…«, meinte Arina plötzlich. »Was dann?«

Diesmal hatte sie nicht nach ihren Amuletten gelangt. Sondern nur in einer Art Singsang ihre Knittelverse vorgetragen.

Staub, zu andrem Staub gerafft,

In den Händen spüre Kraft,

Diener sollst du sein und Halt,

Sonst verstreue ich dich bald!

Von Arina hatte ich alles Mögliche erwartet. Aber nicht das.

Selbst bei den Dunklen trifft man nur selten echte Nekromanten an.

Langsam stiegen die Toten aus der Erde!

Die deutschen Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zogen abermals in den Kampf!

Vier in Lumpen gehüllte Skelette. Zwischen den Knochen klebte Erde, das Fleisch war längst zerfallen. Sie stellten sich im Kreis um Arina herum auf. Einer torkelte blind auf mich zu, fuchtelte ungeschickt mit den fingerlosen Händen; die Fingerknochen waren vollständig verrottet. Bei Jedem Schritt des plumpen Zombies fielen Erdklumpen herunter. Die drei andern unglückseligen Monster bewegten sich auf Swetlana zu. Einer von ihnen hielt sogar eine schwarze Maschinenpistole in den Händen, deren Magazin jedoch fehlte.

»Kannst du die Rote Armee auferstehen lassen?«, schrie Arina keck.

Das hätte sie besser nicht getan. Swetlana schien zu versteinern. »Mein Großvater hat den Krieg mitgemacht«, presste sie zwischen den Zähnen hervor. »Glaubst du, du kannst mir damit Angst einjagen?«

Was sie tat, kriegte ich nicht mit. Ich hätte die»graue Andacht«eingesetzt, doch sie griff auf höhere Magie zurück, die mir verschlossen war. Die Zombies zerfielen zu Staub. Swetlana und Arina starrten sich feindselig an. Der Spaß hatte ein Ende.

Jetzt würden die Zauberin und die Hexe ihre Kräfte in einem offenen Zweikampf messen.

Ich nutzte die kurze Pause, um ebenfalls Kraft zu sammeln. Sollte Swetlana überraschend ins Hintertreffen geraten, würde ich zuschlagen… Doch es war Arina, die das Nachsehen hatte.

Als Erstes fiel ihr das Gewand vom Körper. Einen Mann hätte das sicher demoralisiert.

Dann fing die Hexe an, mit ungeheurem Tempo zu altern. Das prächtige schwarze Haar verwandelte sich in einen erbärmlichen weißgrauen Mopp. Die Brüste fielen ein, Arme und Beine trockneten aus. Sie sah aus wie die Hexe Gingema aus den Märchen von Wolkow, wie die Gagool von Rider Haggard.

Schluss mit den schönen Effekten. »Name!«, schrie Swetlana. Arina zögerte nur kurz.

Der zahnlose Mund bewegte sich. »Arina…«, nuschelte sie. »Ich bin in deiner Macht, Zaubermeisterin…«

Erst jetzt entspannte sich Swetlana - und schien förmlich in sich zusammenzusacken. Ich ging um die ruhig gestellte Arina herum, um meine Frau zu stützen.

»Schon gut… ich halte mich.«Swetlana lächelte. »Es hat geklappt.«

Die Alte - meine Zunge weigerte sich, sie Arina zu nennen - sah uns traurig an.

»Erlaubst du ihr, ihr bisheriges Aussehen wieder anzunehmen?«, fragte ich.

»War das etwa ansprechender?«, versuchte Swetlana zu scher zen.

»Sie kann jeden Augenblick an Altersschwäche sterben«, sagte ich. »Schließlich ist sie über zweihundert Jahre alt…«

»Soll sie doch verrecken…«, murmelte Swetlana. Von unten herauf sah Swetlana Arina an. »Hexe! Ich erlaube dir, jünger zu werden!«

Zügig richtete sich Arinas Körper auf, strömte Leben in ihn. Gierig rang die Hexe nach Luft. Sie sah mich an. »Danke, Zauberkundiger…«, sagte sie.

»Gehen wir hier raus«, befahl Swetlana. »Und keine Dummheiten… Ich habe dir nur das Recht eingeräumt, das Zwielicht zu verlassen!«

Die ganze Kraft der Hexe - jener Teil, der nicht mit der Kleidung und den Amuletten verschwunden war - unterlag jetzt der uneingeschränkten Kontrolle Swetlanas. Bildlich gesprochen hatte sie die Hand am Hebel.

»Zauberkundiger…«, brachte Arina heraus, ohne den Blick von mir zu wenden. »Nimm als Erstes die Schilde von deiner Tochter. Unter ihr liegt eine Granate mit herausgezogenem Sicherungssplint. Die kann jede Sekunde hochgehen.«Swetlana schrie auf.

Ich stürzte zu der regenbogenfarbigen Kugel. Zerschlug sie und drang in die Negationssphäre ein. Unter ihr lagen noch zwei Schilde, die ich mit roher Gewalt zerstörte, ausschließlich mit Körperkraft. Von der zweiten Schicht aus ließ sich nichts erkennen.

Ich fand meinen Schatten, stürzte mich in die erste Schicht. Hier war alles sauber, keine Spuren des blauen Mooses. Der Kampf hatte alles verbrannt.

Fast sofort sah ich die alte Handgranate, die unter Nadjuschka lag. Arina hatte sie im Zwielicht dorthin gepackt. Gut abgesichert hatte sie sich, das Luder…

Der Sicherungssplint war herausgezogen. Irgendwo in der Granate brannte langsam der Zündkanal. In der Menschenwelt waren bereits drei, vier Sekunden vergangen… Die Reichweite lag bei zweihundert Metern.

Sollte die Granate unter den Schilden explodieren, würde von Nadjuschka nur blutiger Staub übrig bleiben…

Ich bückte mich, griff nach der Granate. Solange man sich im Zwielicht aufhält, ist es sehr schwierig, mit Gegenständen der realen Welt zu hantieren. Immerhin besaß die Granate einen gut erkennbaren Doppelgänger im Zwielicht: ein genauso geripptes Ding, verdreckt und verrostet… Ob ich es wegschmeißen sollte? Nein.

In der Menschenwelt würde die Granate nicht weit fliegen. Holte ich sie ins Zwielicht, würde sie hier explodieren.

Mir fiel nichts Klügeres ein, als die Granate zu halbieren. Als schälte ich den Kern aus einer Avocado heraus. Und teilte die Frucht dann noch in mehrere Stückchen. Wobei ich zwischen dem Splitterkörper und dem Sprengstoff den glühenden Strang des Verzögerers suchte. Mit einer imaginären Klinge, einem Keil reiner Kraft, zerschnitt ich die Granate, als handle es sich um eine reife Tomate.

Schließlich entdeckte ich das winzige Feuerchen, das schon an den Zünder herangekrochen war. Ich erstickte es mit den Fingern.

Und stürzte zurück in die Menschenwelt. Schweißgebadet, mich kaum auf den zitternden Beinen haltend, meine Hand wild schüttelnd: Die verbrannten Finger schmerzten.

»Männern braucht man doch bloß was zum Rumschrauben zu geben«, bemerkte Arina, die hinter mir auftauchte, giftig. »Hättest du sie doch unter den Schilden gelassen, selbst wenn sie dann in die Luft gegangen wäre! Oder sie mit Eis überzogen, damit sie bis morgen gefroren bleibt…«

»Papka, du musst mir beibringen, mich auch so zu verstecken«, sagte Nadjuschka, als ob nichts gewesen wäre. Als sie Arina sah, empörte sie sich lautstark: »Bist du denn verrückt, Tante? Hier nackig herumzulaufen!«

»Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du so nicht mit Erwachsenen reden sollst«, mischte sich Swetlana ein. Um im selben Augenblick Nadjuschka auf den Arm zu nehmen und sie zu küssen. Was für ein Irrenhaus…

Fehlte nur noch meine Schwiegermutter mit ihren Kommentaren…

Ich setzte mich an den Rand des Grabens. Wollte rauchen. Und trinken. Und essen. Und schlafen. Oder wenigstens rauchen.

»Ich mache es nie wieder«, murmelte Nadja wie üblich. »Der Wolf ist ja krank!«

Erst jetzt fielen mir die Werwölfe wieder ein. Ich drehte mich um.

Der Wolf lag am Boden und zappelte kraftlos mit den Pfoten. Die Jungen wuselten um ihn herum.

»Tut mir leid, Zauberkundiger«, sagte Arina. »Ich habe deinen Todeszauber gegen den Werwolf geschleudert. Die Zeit war zu knapp, um mir etwas Besseres einfallen zu lassen.«

Ich sah Swetlana an. »Thanatos«, das bedeutet nicht unbedingt den sicheren Tod. Der Zauber konnte noch aufgehoben werden.

»Ich bin leer…«, sagte Swetlana leise. »Ich habe alles gegeben.«

»Wenn ihr wollt, rette ich den Dreckskerl«, schlug Arina vor. »Ich hab damit keine Probleme.«Wir sahen uns an.

»Warum hast du mir von der Granate erzählt?«, fragte ich.

»Was hätte es mir gebracht, wenn das Kind gestorben wäre?«, erwiderte Arina gleichmütig.

»Sie wird eine Große Lichte«, sagte Swetlana. »Die Allergrößte!«

»Von mir aus.«Arina lächelte. »Vielleicht erinnert sie sich ja an Tante Arina, mit der sie über Kräuter und Blumen gesprochen hat… Keine Angst, niemand wird aus ihr eine Dunkle machen. Bei diesem Kind ist das nicht so einfach, ohne Magie kommt man hier nicht weiter… Was wollen wir jetzt mit dem Wolf machen? »

»Rette ihn«, sagte Swetlana bloß.

Arina nickte. »Dort im Graben«, wandte sie sich plötzlich an mich, »steht eine Tasche… In ihr ist was zu rauchen und was zu essen. Ich habe schon vor langer Zeit für Proviant gesorgt…«

Für Igor brauchte die Hexe zehn Minuten. Zunächst vertrieb sie die brüllenden Wolfsjungen. Diese liefen zur Seite, versuchten sich in Kinder zurückzuverwandeln, was ihnen jedoch nicht gelang, worauf sie sich in die Büsche legten. Dann flüsterte sie etwas und pflückte währenddessen bald dieses, bald jenes Kraut. Die Wolfsjungen herrschte sie an, endlich Ruhe zu geben, woraufhin diese in alle Richtungen auseinander stoben und nach einer Weile, das Maul voller Zweige und Wurzeln, zurückkehrten.

Swetlana und ich sahen einander an. Ohne ein Wort zu sagen. Auch so war alles klar. Ich rauchte meine zweite Zigarette zu Ende, zerquetschte die dritte in meiner Hand und holte aus der schwarzen Stofftasche eine Tafel Schokolade. Abgesehen von den Zigaretten, der Schokolade und einem Bündel englischer Pfund - die vorausplanende Hexe! - befand sich nichts in der Tasche.

Dabei hatte ich aus irgendeinem Grund immer noch auf das Fuaran gehofft…

»Hexe!«, schrie Swetlana, als der Werwolf, nach wie vor leicht zitternd, auf die Beine kam. »Komm her!«

Arina kehrte zu uns zurück - sich graziös in den Hüften wiegend und sich ihrer Nacktheit in keiner Weise genierend. Der Werwolf legte sich ebenfalls in unserer Nähe hin. Er atmete schwer. Die Jungen gruppierten sich um ihn herum und fingen an, ihn zu belecken. Als Swetlana die Szene betrachtete, machte sie ein angewidertes Gesicht. Dann richtete sie den Blick auf Arina. »Was wirft man dir vor?«

»Auf Befehl eines nicht identifizierten Lichten vom Rezept für das Elixier abgewichen zu sein. Damit hätte ich ein gemeinsames Experiment der Inquisition, der Nacht- und der Tagwache hintertrieben.«

»Und stimmt das?«, hakte Swetlana nach.

»Ja«, gab Arina ohne Umschweife zu. »Weshalb?«

»Vom ersten Tag der Revolution an wollte ich den Roten schaden.«

»Lüg nicht.«Swetlana verzog das Gesicht. »Ob Rot, Weiß oder sonst wer, das ist dir doch ganz egal. Weshalb bist du das Risiko eingegangen?«

»Welchen Unterschied macht das denn für dich aus, Zaubermeisterin?«Arina seufzte.

»Es macht einen aus. Vor allem für dich.«

Die Hexe warf den Kopf in den Nacken. Sah erst mich an, dann Swetlana. Ihre Lider zitterten.

»Bist du traurig, Tante Arina?«, fragte Nadjuschka. Sie schielte zu ihrer Mutter hinüber und legte von sich aus die Hand vor den Mund.

»Ja«, antwortete die Hexe.

Arina wollte auf gar keinen Fall der Inquisition in die Hände fallen.

»Alle Anderen haben das Experiment unterstützt«, berichtete Arina. »Die Dunklen haben geglaubt, dass es nichts ändern würde, wenn an der Spitze des Landes - und die Brotfabrik produzierte in erster Linie für den Kreml und das Volkskommissariat - Tausende von überzeugten Kommunisten stünden. Im Gegenteil, die ganze übrige Welt würde sich gegen die Sowjetunion zusammenschließen. Die Lichten haben geglaubt, dass die UdSSR nach einem harten, aber gewonnenen Krieg gegen Deutschland - die Wahrscheinlichkeit, dass es zu einem solchen Krieg kommen würde, haben die Seher schon damals klar erkannt - zu einer wirklich attraktiven Gesellschaft werden würde. Es gab da einen geheimen Bericht, wonach… kurzum, die Menschen würden den Kommunismus bis zum Jahr 1980 aufgebaut haben.«

»Und Mais würde zur Hauptnahrungsquelle werden«, schnaubte Swetlana.

»Spotte nicht, Zaubermeisterin«, wies die Hexe Sweta gelassen zurecht. »An den Mais erinnere ich mich nicht mehr. Aber eine Stadt auf dem Mond sollte bereits in den siebziger Jahren errichtet sein. Wir wollten zum Mars fliegen und außerdem… Ganz Europa sollte kommunistisch werden. Und zwar nicht durch die Knute. Heute sollte es auf der Welt nur noch eine riesige Sowjetunion und das riesige Reich der Vereinigten Staaten geben… zu denen Großbritannien, Kanada und Australien gehören sollten… Als weiteres selbstständiges Land würde noch China existieren.«

»Sind die Lichten denn von falschen Voraussetzungen ausgegangen?«, fragte ich.

»Nein.«Arina schüttelte den Kopf. »Das sind sie nicht. Sicher, Blut wäre in Strömen geflossen. Aber das, was am Ende herausgekommen wäre, hätte sie zufrieden gestellt. Es wäre weitaus besser als alle heutigen Regime… Die Lichten haben aber eins nicht bedacht: Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätten die Menschen etwa jetzt von der Existenz der Anderen erfahren!«

»Verstehe«, meinte Swetlana. Nadjuschka zappelte unruhig auf ihrem Schoß herum. Das Stillsitzen reichte ihr, sie wollte zu»dem Wolf«.

»Deshalb ist dieser… nicht identifizierte Lichte…«Arina lächelte. »… der die Zukunft eben besser als jeder sonst vorhersehen konnte, zu mir gekommen. Wir haben uns ein paar Mal getroffen und die Situation durchgesprochen. Das Unglück bestand darin, dass das Experiment nicht nur Große Magier geplant hatten, die einschätzen konnten, welche Gefahren unsere Demaskierung mit sich brachte, sondern auch etliche Magier der ersten oder zweiten Kategorie… sogar einige der dritten und vierten. Das Projekt ist ausgesprochen populär gewesen… Um es offiziell zu kippen, hätte man Tausende von Anderen umfassend informieren müssen. Darauf konnten wir es nicht ankommen lassen.«

»Ich verstehe«, sagte Swetlana. Was ich von mir nicht behaupten konnte!

Wir verbergen unsere Existenz vor den Menschen, weil wir Angst haben. Letzten Endes sind wir zu wenige, und keine Magie würde uns retten, wenn eine neue»Hexenjagd«einsetzte. Aber drohte uns wirklich auch in einer guten und glücklichen Zukunft, die Arinas Worten zufolge inzwischen schon längst hätte aufgebaut sein können, noch Gefahr?

»Deshalb haben wir beschlossen, das Experiment zu sabotieren«, fuhr Arina fort. »Das erhöhte die Zahl der Opfer im Zweiten Weltkrieg, verringerte jedoch die Zahl der Opfer, die mit dem Export der Revolution nach Europa und Nordafrika verbunden war. Mehr oder weniger hielt sich das die Waage… Natürlich ist das Leben in Russland heute nicht so schön und angenehm, wie es sein sollte. Doch wer sagt, dass sich Glück in einem vollem Bauch zeigt?«

»In der Tat«, konnte ich mich nicht beherrschen zu sagen. »Jeder Lehrer aus dem Wolgagebiet oder jeder Kumpel aus der Ukraine wird dir Recht geben.«

»Glück muss man im geistigen Reichtum suchen!«, fuhr Arina mich an. »Nicht in einer Badewanne voll Seifenschaum oder in einem beheizten Klo. Dafür wissen die Menschen wenigstens nichts von den Anderen!«

Ich hüllte mich in Schweigen. Die vor uns sitzende Frau hatte keine geringe Schuld auf sich geladen. Sie gehörte vors Tribunal und in die Mangel genommen, so eine durfte man nicht mit Glacehandschuhen anfassen! Was heißt hier Stadt auf dem Mond? Gut, wir haben keine Städte auf dem Mond. Und brauchen sie auch nicht. Aber dass die normalen Städte nur noch dahinsiechen, dass die ganze Welt bis heute mit Schrecken auf uns blickt…»Du Arme«, sagte Swetlana. »Hast du sehr gelitten?«

Im ersten Moment glaubte ich, sie mache sich über Arina lustig.

Den gleichen Gedanken muss die Hexe gehabt haben. »Hast du Mitleid mit mir oder verarschst du mich?«, fragte sie. »Ich habe Mitleid«, antwortete Swetlana.

»Die Menschen tun mir nicht leid, das brauchst du nicht zu denken«, fuhr die Hexe fort. »Das Land ja, das tut mir leid. Es ist mein Land, wie auch immer es sein mag, aber es ist meins! Und so, wie alles gekommen ist, ist es besser. Das Leben geht weiter. Die Menschen werden neue Menschen zur Welt bringen, neue Städte bauen, neue Felder pflügen.«

»Du hast dich nicht wegen der Tscheka in den Winterschlaf gelegt«, sagte Swetlana plötzlich. »Und auch nicht wegen der Inquisition. Denen hättest du irgendeinen Unsinn erzählt, das weiß ich… Nein, du wolltest nicht sehen, was nach deiner Sabotage aus Russland wird.«Arina schwieg. Swetlana sah mich an. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie.

»Entscheide du«, antwortete ich, da ich nicht genau wusste, worauf die Frage abzielte. »Wohin wolltest du fliehen?«, wollte Swetlana wissen.

»Nach Sibirien«, sagte Arina gelassen. »Das ist in Russland doch so üblich: Entweder wird man nach Sibirien verbannt oder man flieht dorthin. Ich werde mir ein sauberes Dorf suchen und mich etwas abseits davon niederlassen. Für meinen Unterhalt kann ich sorgen… Ich werde einen Mann finden.«Lächelnd strich sie mit der Hand über die volle Brust. »Dann warte ich noch zwanzig Jährchen, gucke mir an, was geschieht. Und ich werde mir Gedanken darüber machen, was ich der Inquisition sage, wenn sie mich schnappt.«

»Allein kommst du nicht durch die Sperren«, murmelte Swetlana. »Und wir dürften dich kaum rauskriegen.«

»Ich… verstecke… dich…«, hüstelte der Werwolf heiser. »Bin… dir… noch… was… schuldig.«

Arina kniff die Augen zusammen. »Weil ich dich gerettet habe?«, fragte sie.

»Nein… nicht dafür…«, antwortete der Werwolf nebulös. »Ich bringe… dich durch den Wald… ins Lager… dort verstecke ich dich… später… gehst du…«

»Niemand wird irgendwohin…«, setzte ich an. Doch Swetlanas Hand berührte sanft meine Lippen - ganz so, als bringe sie Nadjuschka zum Schweigen.

»Es ist besser so, Anton. Arina sollte besser gehen. Schließlich hat sie Nadenka nicht angerührt, oder?«

Ich schüttelte den Kopf. Das war doch alles Mist. Unsinn. Quatsch. Ob die Hexe es fertig gebracht hatte, Sweta ihrem Willen zu unterwerfen? »Es ist besser so!«, wiederholte Swetlana nachdrücklich.

Dann wandte sie sich an Arina. »Hexe! Schwöre, dass du nie wieder einem Menschen oder einem Anderen das Leben nehmen wirst!«

»Einen solchen Schwur kann ich nicht leisten.«Arina schüttelte den Kopf.

»Schwöre, dass du in den nächsten hundert Jahren weder einem Menschen noch einem Anderen das Leben nimmst, sofern er dein Leben nicht bedroht… und dir keine sonstigen Möglichkeiten zu deiner Verteidigung bleiben«, sagte Swetlana nach kurzem Zögern.

»Das hört sich schon besser an!«Arina lächelte. »Man merkt gleich, dass du jetzt eine Große bist… Ein Jahrhundert zahnlos zu verbringen ist keine Freude. Trotzdem beuge ich mich. Möge das Dunkel mein Zeuge sein!«

Sie hob die Hand, auf der sich im nächsten Moment ein Klumpen Dunkelheit bildete. Die Tiermenschen, sowohl der Erwachsene wie auch die Kinder, winselten leise.

»Ich gebe dir deine Kraft zurück«, sagte Swetlana, noch bevor ich sie daran hindern konnte. Daraufhin verschwand Arina.

Ich sprang auf und stellte mich neben die ruhig dasitzende Swetlana. Ein wenig Kraft war mir noch geblieben… Für ein paar Schläge würde es reichen, nur dass die Hexe diese Schläge…

Abermals tauchte Arina vor uns auf. Bereits angezogen, anscheinend sogar gekämmt. Lächelnd.

»Ich kann dir auch schaden, ohne dich zu töten«, sagte sie gemein. »Dich lähmen oder in ein Monster verwandeln.«

»Stimmt«, pflichtete Swetlana ihr bei. »Das streite ich nicht ab. Nur, was hättest du davon?«

Einen kurzen Moment loderte in Arinas Augen eine solch durchdringende Wehmut auf, dass etwas in meiner Brust zu schmerzen begann.

»Nichts, Zaubermeisterin. Gut, lebe wohl. Gutes vergesse ich, aber ich bin mir nicht zu fein, dir zu danken… Danke, Große. Du wirst es schwer haben… jetzt. »

»Das habe ich bereits verstanden«, meinte Swetlana leise.

Arinas Blick blieb auf mir ruhen. Sie lächelte kokett. »Und auch du leb wohl, Zauberkundiger. Bedauer mich nicht, das mag ich nicht. Ach… schade, dass du deine Frau liebst…«

Sie hockte sich hin und streckte die Hand nach Nadjuschka aus. Und Swetlana griff nicht ein!

»Auf Wiedersehen, mein Mädchen«, sagte die Hexe fröhlich. »Ich bin eine böse Tante, aber dir wünsche ich alles Gute. Derjenige, der dein Schicksal schon frühzeitig bestimmt hat, war nicht dumm… O nein, das war er nicht… Vielleicht gelingt dir das, was wir nicht geschafft haben? Nimm auch du ein kleines Geschenk von mir…«Sie linste zu Swetlana hinüber. Swetlana nickte!

Arina fasste Nadjuschka bei einem ihrer kleinen Finger. »Soll ich dir Kraft wünschen?«, murmelte sie. »Davon hast du ohnehin viel. Man hat dir alles gegeben… im Übermaß… Aber du liebst Blumen, nicht wahr? Nimm von mir die Gabe, Blumen und Kräuter zu nutzen. Das schadet auch einer Lichten Zauberin nicht.«

»Auf Wiedersehen, Tante Arina«, sagte Nadjuschka leise. »Vielen Dank.«

Die Hexe sah mich noch einmal an. Ich war wie vom Donner gerührt, verwirrt, verstand nichts. Dann drehte sie sich zu den Tiermenschen um. »Was ist nun? Los, Grauer!«, rief sie.

Die Wolfsjungen stürzten hinter der Hexe und ihrem Lehrer her. Einer dieser Dreckskerle blieb sogar stehen, scharrte mit der Pfote vor einem Busch und pisste los - den Blick demonstrativ auf uns gerichtet. Nadjuschka kicherte. »Swetlana…«, flüsterte ich. »Sie gehen…»

»Sollen sie«, erwiderte sie. »Sollen sie.«Dann drehte sie sich mir zu.

»Was ist passiert?«, fragte ich, indem ich ihr in die Augen sah. »Was und wann?«

»Lass uns nach Hause gehen«, bat Swetlana. »Wir… wir müssen miteinander reden, Anton. Ein ernstes Gespräch führen.«Wie ich diese Worte hasse! Die verheißen nie etwas Gutes!

Epilog

Meine Schwiegermutter schnatterte in einem fort, während sie Nadjuschka schlafen legte. »Ach du Schwindlerin, ach du Märchentante…«

»Wir sind mit der Tante spazieren gegangen…«, beharrte meine Tochter mit müder Stimme.

»Ja, ja, spazieren gegangen…«, bestätigte meine Schwiegermutter fröhlich.

Swetlana verzog schmerzlich das Gesicht. Früher oder später müssen alle Anderen das Gedächtnis ihrer Verwandten manipulieren. Was keine angenehme Sache ist.

Natürlich haben wir die Wahl. Wir könnten uns nahe stehenden Menschen auch die Wahrheit enthüllen - oder einen Teil der Wahrheit. Doch was brächte das? »Gute Nacht, mein Töchterchen«, sagte Swetlana.

»Geht jetzt, raus hier«, schnaubte meine Schwiegermutter. »Ihr habt mir meine Kleine schon ganz müde gemacht, meine Süße…«

Wir verließen das Zimmer. Swetlana schloss die Tür fest zu. Alles war ruhig, nur die alte Uhr an der Wand tickte.

»Diese ewigen dutzi, dutzi«, murrte ich. »So kann man doch nicht mit einem Kind…«

»Mit einem Mädchen schon«, winkte Swetlana ab. »Vor allem, wenn es erst drei Jahre ist. Anton… gehen wir in den Garten.«

»Ab in den Garten, ich kann's kaum erwarten«, stimmte ich munter zu. »Gehen wir.«

Ohne ein Wort zu sagen, steuerten wir auf die Hängematte zu. Wir setzten uns nebeneinander in sie hinein, wobei ich spürte, dass Swetlana gern etwas abgerückt wäre - so schwierig das in einer Hängematte auch sein mochte. »Fang ganz von vorn an«, riet ich ihr.

»Also von Anfang an…«Swetlana seufzte. »Aber das klappt nicht. Dazu ist das Ganze zu verworren. »

»Dann erklär mir, warum du die Hexe hast laufen lassen?«

»Sie weiß zu viel, Anton. Und wenn sie vor Gericht kommt… wenn all das herauskommt…»

»Aber sie ist eine Verbrecherin!«

»Arina hat uns doch nichts getan«, brachte Swetlana so leise hervor, als wolle sie sich selbst davon überzeugen. »Ich glaube, sie ist nicht wirklich blutrünstig. Die meisten Hexen sind richtig böse, aber es gibt eben auch welche…«

»Ich geb's auf!«Ich hob die Hände. »Und die Werwölfe hat sie auch zurechtgewiesen und Nadenka hat sie nicht angerührt. Die reinste Arina Rodionowna, die Amme Puschkins! Und was ist mit dem missglückten Experiment? »

»Das hat sie doch erklärt.«

»Was hat sie erklärt? Dass es mit der Geschichte Russland in knapp hundert Jahren gewaltig bergab gegangen ist? Dass man statt einer normalen Gesellschaft eine bürokratische Diktatur aufgebaut hat… mit allen daraus resultierenden Konsequenzen?«

»Du hast es doch gehört: Am Ende hätten die Menschen von uns erfahren!«Schwer seufzend versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen.

»Sweta… was sagst du denn da? Vor fünf Jahren bist du selbst noch ein Mensch gewesen! Außerdem bleiben wir Menschen… nur eben fortschrittlichere. Eine neue Stufe in der Evolution. Sollen die Menschen doch von uns erfahren, das ist doch nicht schlimm!«

»Wir sind nicht fortschrittlicher!«Swetlana schüttelte den Kopf. »Anton, als du mich gerufen hast… habe ich geahnt, dass die Hexe das Zwielicht observieren würde. Ich bin sofort in die fünfte Schicht gesprungen. Ich glaube, außer Geser und Olga ist noch keiner von unseren Leuten dort gewesen…«

Sie verstummte. Und ich begriff: Genau darüber wollte Swetlana sprechen. Über etwas unendlich Grauenvolles. »Was ist dort, Sweta?«, flüsterte ich.

»Ich bin relativ lange dort gewesen«, fuhr Swetlana fort. »Also… ich habe etwas verstanden. Im Moment spielt es keine Rolle, auf welche Weise. »

»Und?«

»Was in diesem Hexenbuch steht, stimmt alles, Anton. Wir sind keine richtigen Magier. Wir verfügen über keine größeren Fähigkeiten als die Menschen. Wir sind genau wie das blaue Moos aus der ersten Schicht. Erinnerst du dich noch an das Beispiel in dem Hexenbuch, bei dem es um die Körpertemperatur und die Temperatur der Umwelt ging? Bei allen Menschen liegt die magische Temperatur bei 36,6 °C. Wenn jemand großes Glück oder großes Unglück hat, bekommt er Fieber. Die Temperatur dieser Menschen ist also höher. Und all diese Energie, all diese Kraft wärmt die Welt. Unsere Körpertemperatur liegt unter der Norm. Wir schöpfen fremde Kraft und können sie umverteilen. Wir sind Parasiten. Bei einem schwachen Anderen wie Jegor liegt die Temperatur bei 34 °C. Bei dir beträgt sie beispielsweise 20 °C. Bei mir 10 °C.«

Wie aus der Pistole geschossen antwortete ich. Darüber habe ich nämlich schon nachgedacht, als ich das Buch gelesen hatte. »Ja und, Sweta? Was folgt daraus? Die Menschen können ihre Kraft nicht nutzen. Wir schon. Wo ist da der Unterschied?«

»Der Unterschied besteht darin, dass die Menschen sich damit niemals zufrieden geben würden. Selbst anständige, selbst gute Menschen schielen immer ein wenig neidisch auf diejenigen, denen mehr gegeben ist. Auf Sportler, schöne Männer und Frauen, geniale und talentierte Menschen. Darüber muss man sich nicht beklagen… Das ist Schicksal, Zufall. Aber jetzt stell dir mal vor, du seist ein ganz gewöhnlicher Mensch. Absoluter Durchschnitt. Plötzlich erfährst du, dass jemand hundert Jahre alt wird, die Zukunft voraussagen kann, Krankheiten heilt und Unheil anrichtet. Und zwar richtig, ohne Pfusch! Und all das auf deine Kosten! Wir sind Parasiten, Anton. Genau wie die Vampire. Genau wie das blaue Moos. Wenn das herauskommt, wenn jemand einen Apparat erfindet, um Menschen und Andere voneinander zu unterscheiden, dann beginnt die Jagd auf uns, dann wird man uns ausrotten. Vereinzelt würden wir inmitten der Menschen leben und irgendwann von ihnen erwischt werden. Oder wir würden uns zu Gruppen zusammenschließen und einen eigenen Staat gründen. Mit Atombomben werfen.«

»Abgrenzen und schützen…«, flüsterte ich die Hauptlosung der Nachtwache.

»Richtig. Abgrenzen und schützen. Und zwar nicht Menschen vor Dunklen, sondern Menschen vor Anderen überhaupt.«

Ich lachte. Sah in den Nachthimmel hinauf und lachte, erinnerte mich daran, wie ich selbst gewesen war, vor nicht allzu langer Zeit, als ich eine dunkle Straße entlangging, den Vampiren entgegen. Mit heißem Herzen, sauberen Händen und einem leeren, kühlen Kopf…

»Wie oft haben wir darüber gesprochen, wodurch wir uns von den Dunklen unterscheiden…«, sagte Swetlana leise. »Einmal bin ich auch auf folgende Formulierung gestoßen: Wir sind die guten Hirten. Wir kümmern uns um die Herde. Das ist vermutlich nicht mal wenig. Nur sollten wir weder uns selbst noch andern etwas vormachen. Niemals werden alle Menschen Andere werden. Niemals werden wir uns den Menschen zu erkennen geben. Und niemals werden wir den Menschen erlauben, eine mehr oder weniger anständige Gesellschaft aufzubauen. Kapitalismus, Kommunismus - darum geht es doch gar nicht. Was wir wollen, ist eine Welt, in der die Menschen sich einzig um die Größe der Futtertröge und die Qualität des Heus Sorgen machen müssen. Denn sobald sie den Kopf aus dem Futtertrog ziehen, sich umsehen und uns erblicken, wäre das unser Ende.«

Ich sah in den Himmel - und streichelte Swetlanas Hand auf meinen Knien. Nur ihre Hand, diese warme und schlaffe Hand - die vor kurzem Blitz und Donner gegen eine schädliche verräterische Hexe geschleudert hatte…

Die hilflose Hand einer Großen Zauberin, in der nur halb so viel Magie steckte wie in mir.

»Und wir könnten nichts machen«, flüsterte Swetlana. »Die Wachen werden die Menschen niemals aus dem Stall lassen. In den Staaten gibt es große und gut gefüllte Futtertröge, in die du gern den Kopf steckst. In Uruguay gibt es nur ab und an etwas Grün an einem Abhang, sodass dir keine Zeit bleibt, in den Himmel zu schauen. Alles, was wir tun können, ist, einen möglichst freundlichen Viehstall auszusuchen und ihn in einer fröhlichen Farbe anzustreichen. »

»Was, wenn du das den Anderen erzählst?«

»Die Dunklen schert das nicht. Die Lichten würden sich damit abfinden. Ich habe etwas erfahren, was ich nie erfahren wollte, Anton - und mich damit abgefunden. Vielleicht sollte ich dir nichts davon erzählen? Aber das wäre nicht fair. Es würde dich quasi zu einem Teil der Herde machen.«

»Sweta…«Ich sah zu dem schwachen Schein des Nachtlichts im Fenster hinüber. »Sweta, welche magische Temperatur hat unsere Nadjuschka?«Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Null. »

»Die Größte der Großen…«, sagte ich.

»Absolut frei von jeder Magie…«, versicherte Swetlana noch einmal. »Was sollen wir jetzt tun?«

»Leben«, sagte Swetlana bloß. »Ich bin eine Andere… und es ist zu spät, die Unschuldige zu mimen. Ich kriege meine Kraft von den Menschen, ziehe sie aus dem Zwielicht, doch auch das ist fremde Kraft. Aber das ist nicht meine Schuld. »

»Ich gehe zu Geser, Sweta. Gleich jetzt. Ich verlasse die Wache. »

»Ich weiß. Fahr.«

Ich erhob mich, hielt die schaukelnde Hängematte an. Es war dunkel, nicht einmal Swetlanas Gesicht konnte ich erkennen.

»Fahr, Anton«, wiederholte sie. »Es wird uns schwer fallen, einander in die Augen zu sehen. Wir werden Zeit brauchen, um uns daran zu gewöhnen. »

»Was ist dort? In der fünften Schicht?«, fragte ich. »Das solltest du besser nicht wissen. »

»Gut. Dann frage ich Geser. »

»Soll er dir antworten… wenn er will.«

Ich beugte mich vor und berührte ihre Wange - die tränenfeucht war.

»Es ist widerwärtig…«, flüsterte sie. »Widerwärtig… ein Parasit zu sein. »

»Halte durch…»

»Das tu ich.«

Als ich in den Schuppen ging, fiel eine Tür zu. Swetlana war ins Haus gegangen. Ohne Licht anzuschalten, setzte ich mich ins Auto und schlug die Tür hinter mir zu.

Was hatte Onkel Kolja hier wohl angestellt? Ob ich losfahren konnte? Der BMW sprang sofort an, leise und ruhig surrte der Motor.

Ich schaltete die Scheinwerfer an und fuhr aus dem Schuppen. Die Regeln der Maskierung?

Scheiß drauf. Was soll sich ein Hirte vor seinem Schaf verstecken!

Mit leichten Passes öffnete ich das Tor, ohne aus dem Auto zu steigen. Ich fuhr auf die Straße und gab Gas. Das Dorf wirkte leer und tot. Man hatte den Schafen Schlafmittel ins Futter geschüttet…

Das Auto ließ den Ort hinter sich. Ich schaltete das Fernlicht ein, drückte weiter aufs Gas. Durch das offene Fenster schlug der Wind herein. Ich tastete auf dem Armaturenbrett nach der Fernbedienung, stellte den MD-Player ein.

Ohne Mantel kam ich in die winddurchwehte Stadt,

Die sich mir wie Efeu um den Hals geschlungen hat.

Schlangenringe schnüren mir die Seele ein,

Der ich unter schwarzer Sonne keine Träne wein.

Dreist geworden, tu ich oft, was nicht richtig ist;

Was wohl das Kaninchen hofft, das die Schlange frisst?

Wenn man sich gewöhnt hat, stören Schlangenringe kaum,

Eine schwarze Sonne seh ich, einen schwarzen Traum.

Tugend, Laster klar zu trennen, kannst du nicht verlangen;

Jene, die die Wahrheit kennen, macht man wohl zu Schlangen.

Unter jeder Flagge bin ich willens, hinzusiechen,

Und bereit, im Zickzack auf dem Boden langzukriechen,

Und von Liebe singen, bis mir zum Kotzen ist,

Wenn es für mein Vaterland denn von Nutzen ist.

Vor mir, an der Autobahneinfahrt, brannte ein Licht. Mit zusammengekniffenen Augen spähte ich durchs Zwielicht. Quer über der Straße stand ein Sperrgitter der Miliz. Daneben warteten zwei Menschen und zwei Andere. Dunkle Andere. Lächelnd drosselte ich die Geschwindigkeit.

Ameisen statt Bienenschwärme wimmeln mir im Sinn,

Das Geschoss hat eine Unwucht zu der Liebe hin.

Doch die Schlangenringe sind eine feste Wehr,

Eine schwarze Sonne seh ich, und sie hasst mich sehr.

Kampflos könnte ich dem Teufel in den Rachen springen,

Doch ich werde stehend sterben in den Schlangenringen.

Denn die Ringe machen, dass ich starr und reglos steh.

Stets die schwarze Sonne sehen tut den Augen weh.

An der Sperre hielt ich an, wartete, bis der Polizist zu mir kam, der eine Maschinenpistole vor die Brust gepresst hielt. Die Inquisition hat noch nie Probleme damit gehabt, bei der Abrigelung eines Gebiets Menschen einzusetzen.

Ich hielt dem Polizisten meinen Führerschein und die Fahrzeugpapiere hin und stellte den Ton ab. Dann sah ich mir die Anderen an.

Den einen Inquisitor kannte ich nicht, ein hagerer, älterer Asiat. Ich würde schätzen, er stand auf der zweiten oder dritten Kraftstufe, doch bei Inquisitoren lässt sich so was immer schwer sagen.

Der zweite war ein gewöhnlicher Dunkler aus der Moskauer Tagwache. Der Vampir Kostja.

»Wir suchen eine Hexe«, sagte der Inquisitor. Die Polizisten ignorierten die beiden völlig, denn ihnen war befohlen worden, nichts zu sehen.

»Bei mir ist Arina nicht«, sagte ich. »Leitet Edgar die Razzia?«Der Inquisitor nickte. »Fragen Sie ihn nach mir. Anton Gorodezki, Nachtwache.«

»Ich kenne ihn«, murmelte Kostja, während er sich zum Inquisitor beugte. »Alles in Ordnung. Ein gesetzestreuer Lichter…»

»Fahren Sie weiter.«Der Polizist gab mir meine Papiere zurück.

»Ja, Sie können weiterfahren«, nickte der Inquisitor. »Es kommen noch mehr Straßensperren.«

Ich nickte und fuhr auf die Autobahn. Kostja stand da und sah mir nach. Ich stellte den Ton wieder an.

Bin nicht gut, nicht böse, nein; ich bin für alles offen.

Heimat, hast es doch mit mir mächtig gut getroffen!

Deine Schlangenringe sind mir Wohnung und Verschlag.

Und so werd ich weiterkriechen

Unter dieser Teufelssonne,

Hin und her, hin und her,

Bis zum Jüngsten Tag.

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