Der Lehrer bedachte die Praktikanten mit einem aufmerksamen Blick. Er war jung, hatte erst vor kurzer Zeit selbst noch an ihrer Stelle gestanden. Nach wie vor gebrach es ihm an würdevollem Auftreten - zumindest nach seinem eigenen Dafürhalten.
»Heute wollen wir unseren ersten praktischen Einsatz durchführen«, verkündete der Lehrer. Wie von selbst wanderte seine Hand zur Nasenwurzel hinauf. Die ganze Zeit über wollte er sich die Brille zurechtrücken. Weshalb hatte er bloß seine Kurzsichtigkeit geheilt? Mit Brille hätte er würdevoll gewirkt!»Andrej, wiederhole die Aufgabe.«
Ein schmaler Junge, gerade im Stimmbruch, trat einen Schritt vor.»Wir gehen die Straße entlang«, brachte er in mal hohem, mal tiefem Ton hervor.»Gucken uns die Passanten durchs Zwielicht an. Teilen Ihnen mit, wenn wir Dunkle oder Lichte sehen. Aber unser Hauptaugenmerk gilt den nicht initiierten Anderen.«
»Was machen wir, wenn wir einen nicht initiierten Anderen entdecken?«
»Nichts«, sagte der Junge ohne jedes Zögern.»Wir teilen es Ihnen mit, danach handeln wir den Umständen entsprechend. Man muss einen Anderen im richtigen Moment initiieren, also dann, wenn er dem Licht maximal zugeneigt ist.«
»Was machen wir, wenn wir einen Gesetzesverstoß seitens der Dunklen beobachten?«
»Nichts«, antwortete der Junge mit offenkundiger Enttäuschung.»Wir teilen es Ihnen mit, danach setzen wir uns mit der Wache in Verbindung…«
»Wir halten uns in sicherer Entfernung«, fügte der Lehrer noch hinzu.»Und wenn wir ein Verbrechen beobachten, das Menschen begehen?«
»Dann machen wir auch nichts«, grummelte der Junge absolut enttäuscht.»Wir machen nichts weiter als zuzusehen!«
Die Praktikanten lächelten. Außer dem Jungen gehörten zwei erwachsene Männer und eine junge Frau zu der Gruppe. Nach Ansicht des Lehrers würden sie alle den vierten oder fünften Grad erlangen. Der Junge dagegen könnte es bis zum zweiten, möglicherweise sogar bis zum ersten schaffen. Er verfügte über hervorragende Anlagen zum Kampfmagier.
»Vielen Dank, Andrej. Das hast du ganz richtig ausgedrückt. Wir sehen nur zu. Wir lernen noch. Ist das klar? Wir treten nicht ins Zwielicht, wir wirken keine Zauber. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, nach potenziellen Anderen zu suchen. Glaubt ja nicht, dass das so einfach ist. Manchmal muss man einen Menschen mehrere Minuten lang beobachten, um in ihm das Potenzial zum Anderen zu erkennen. Anton Gorodezki wurde übrigens bei genau so einer Übung entdeckt. Von Geser selbst.«Der Lehrer machte eine sekundenkurze Pause.»Nun ja, ich bin nicht Geser«, scherzte er.»Aber ich möchte es doch noch erleben, wie es ist, ein Hoher zu sein.«
Der höchste Grad winkte ihm nun wahrlich nicht. Ohnehin würde er nicht mehr viel erleben, denn ihm blieb weniger als eine halbe Stunde Lebenszeit. Doch das spürte der Lehrer nicht. In dem Bündel von Wahrscheinlichkeitslinien, die er sich hätte anschauen können, gab es nur ein einziges, kaum wahrnehmbares Fädchen, das zum Tod führte.
In ebendiesem Moment fügten sich indes ein Dutzend Zufälle zusammen, und das Fädchen tankte Blut. Zu seinem Pech gehörte der Lehrer nicht zu denjenigen, die jede Stunde ihr Schicksal studieren.
»Wir nehmen uns den Tschistoprudny-Boulevard vor«, sagte er.»Und wir machen nichts, außer zu gucken.«
Einen Kilometer von ihnen entfernt steckte mitten im Zentrum der Stadt, an der Lubjanka, ein Auto im Stau fest. Der kaukasische Fahrer breitete die Arme aus und schielte entschuldigend zu seinem Fahrgast hinüber. Der drückte dem Fahrer ein paar Scheine in die Hand und stieg aus. Der Fahrer steckte das Geld in die Tasche. Angewidert blickte er dem Mann hinterher. Ein unangenehmer Kerl. Selbst wenn er anständig gezahlt hatte… Der Kaukasier sah erst die kleine Ikone an, die ans Armaturenbrett seines alten Shiguli geklebt war, dann das Kupferblech mit einer Sure aus dem Koran. Innerlich dankte er sowohl dem islamischen wie auch dem christlichen Gott dafür, dass die Tour so kurz gewesen war. Dieser Fahrgast hatte ihm einfach nicht gefallen!
Der Fahrer war ein nicht initiierter Anderer, wovon er freilich nichts wusste. Und heute hätte sein Schicksal eine entscheidende Wendung nehmen können.
Was es jedoch nicht tat. Er bog in eine Gasse ein, wo ihn fast sofort ein aufgedonnertes Dämchen anhielt. Sie einigten sich über den Preis und fuhren gen Südwesten.
Der Lehrer blieb mit der Gruppe gegenüber dem Rolan-Kino stehen und steckte sich eine Zigarette an. Mit einem Blick auf Andrej, seinen erklärten Liebling, sagte er:»Hast du Deniskas Geschichten gelesen?«
»Hmm«, brummte der Junge. Er war eine Leseratte, ein belesener Junge aus guter Familie.
»Was können wir sagen, wenn wir an die Erzählung ›Der Hut des Großmeisters‹ denken?«
»Dass der kleine Denis Korabljow in einer sehr vornehmen Gegend lebte«, antwortete der Junge.
Die Praktikantin lachte prustend los. Sie hatte zwar Deniskas Geschichten nicht gelesen, dafür aber irgendwann die Verfilmung im Fernsehen gesehen - und diese erfolgreich vergessen. Dennoch entging ihr die Ironie der Antwort nicht.
»Und was sonst noch?«, fragte der Lehrer mit einem Lächeln. Er rauchte niemals im Gehen, weil er in einem Modejournal gelesen hatte, das wirke nicht würdevoll. Jetzt brachte ihn jeder Zug dem Tod ein Stück näher - womit das Nikotin nicht das Geringste zu tun hatte.
Der Junge dachte nach. Die junge Magierin gefiel ihm ebenso wie das halbbewusste Wissen, ihr intellektuell überlegen zu sein.
»Außerdem können wir noch festhalten, dass Großmeister sehr unaufmerksame Menschen sind. Der Wind hat ihm seinen Hut weggerissen, aber er hat es nicht einmal bemerkt.«
»Das könnte sein«, pflichtete der Lehrer ihm bei.»Aber wir Anderen sollten folgende Moral aus dieser Geschichte ziehen: Man sollte sich nicht in die kleinen Probleme der Menschen einmischen. Entweder missverstehen uns die Menschen, oder sie lassen ihre Aggression an uns aus.«
»Aber Deniska hat sich doch mit dem Großmeister ausgesöhnt. Als er ihm eine Schachpartie vorgeschlagen hat.«
»Das ist ein weiterer kluger Gedanke!«, lobte der Lehrer.»Um die Beziehungen mit einem Menschen zu klären, ist keinerlei Magie nötig. Man muss noch nicht mal versuchen, ihm zu helfen. Viel wichtiger ist, mit einem Menschen ein Hobby zuteilen!«
Alle hörten dem Lehrer aufmerksam zu. Er liebte es, Märchen oder Kinderbücher zur Illustration heranzuziehen und aus ihnen eine Vielzahl erstaunlicher Analogien abzuleiten. Das machte den Schülern immer Spaß.
Einen halben Kilometer von ihnen entfernt ging der ehemalige Fahrgast inzwischen die Mjasnizkaja entlang. An einem Zeitungskiosk blieb er stehen. Er suchte in seiner Tasche nach Kleingeld und kaufte sich die Komsomalskaja Prawda.
Der Lehrer sah sich suchend nach einem Mülleimer um. Der war weit weg. Schon wollte er seine Kippe zur Freude der Schwäne in den Teich werfen, da fing er Andrejs Blick auf und ließ von dem Vorhaben ab. Schlimm, schlimm: Seit drei Jahren lebte er nun als Lichter - aber die kleinen Gemeinheiten der Menschen konnte er sich einfach nicht abgewöhnen… Entschlossenen Schrittes stapfte der Lehrer zum Mülleimer, warf seine Kippe hinein und kehrte zu seinen Praktikanten zurück.
»Gehen wir weiter! Und halten wir die Augen offen, gucken, beobachten!«
Jetzt gab es praktisch keine Möglichkeit mehr, seinem Tod zu entrinnen.
Der ältere Herr mit der Zeitung in der Hand lief zur Metrostation Tschistyje prudy. Er zögerte, ob er hinuntergehen sollte. Einerseits hatte er es eilig. Andererseits… der Tag war so schön. Der blaue Himmel, der warme Wind… ein Tag, an der Grenze zwischen Sommer und Herbst, die Saison für Romantiker und Poeten.
Gemütlich schlenderte der Mann zum See, setzte sich auf eine Bank und schlug die Zeitung auf. Seiner Jacketttasche entnahm er eine kleine Flasche, aus der er einen Schluck trank. Ein an ihm vorbeischlurfender Obdachloser mit einer prallen Tüte voller leerer Flaschen starrte den Mann an, der sich nach dem Schluck langsam über die Lippen leckte. Ohne sich die geringste Hoffnung zu machen, setzte sich der Penner neben ihn, denn es fehlte ihm die Kraft, von seiner ewigen Bettelei zu lassen.
»Krieg ich ‘n Schlückchen, Bruder?«
»Das wird dir nicht schmecken«, erwiderte der Mann. Ohne jede Bosheit oder Verärgerung. Er teilte es einfach mit.
Der Obdachlose zuckelte weiter. Noch drei leere Flaschen, und er könnte sich eine volle kaufen. Einen Dewjatotschka, diesen kräftigen, süßlichen, aromatischen Wein. Wie ihn das alles ankotzte. Die verdammten Bourgeois, die Zeitung lasen, während einen der fürchterlichste Kater plagte…
Genau an diesem Tag ging die Leberzirrhose des Obdachlosen in Krebs über. Ihm blieben weniger als drei Monate. Doch für die Geschehnisse am Boulevard hatte das keinerlei Bedeutung.
»Der Mann mit der Tüte ist ein normaler Mensch«, konstatierte die Praktikantin.»Andrjuschka, du hast die besten Augen von uns. Wen siehst du?«
»Ich sehe einen Obdachlosen… An der Metro ist ein Lichter!«Der Junge ereiferte sich.»Wadim Dmitritsch! Ein Lichter an der Metro! Ein Magier!«
»Ich sehe ihn«, meinte der Lehrer lobend.»Er ist vor zehn Jahren initiiert worden. Ein Magier. Fünfter Grad. Er arbeitet nicht für die Wache.«
Bewundernd blickten die Praktikanten ihren Lehrer an. Andrej wirbelte wieder herum.»Oh!«, rief er fröhlich.
»Da auf der Bank! Ein Dunkler, ein Untoter! Ein Vampir! Ein Hoher Vampir! Ein nicht registrierter…«
Bereits bei dem Wort»Untoter«hatte der Junge die Stimme gesenkt.»Ein nicht registrierter«flüsterte er nur noch.
Gleichwohl hatte der Vampir ihn gehört. Er faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Sah den Jungen an und schüttelte den Kopf.
»Geht weg!«Der Lehrer packte Andrej beim Arm und zog ihn hinter sich.»Geht weg hier, rasch!«
Der Vampir kam auf ihn zu - mit großen Schritten, die rechte Hand vorgestreckt, als wolle er ihn begrüßen.
Einer der Praktikanten holte sein Handy heraus und drückte den Notruf. Brüllend beschleunigte der Vampir seinen Schritt.
»Stehengeblieben! Nachtwache!«Wadim Dmitrijewitsch hob die Hand und schuf den Schild des Magiers.»Bleiben Sie stehen! Sie sind festgenommen!«
Die Silhouette des Vampirs verschwamm, gleichsam als bewege er sich sehr rasch. Die junge Praktikantin schrie auf und versuchte, sich selbst einen Schild zu schaffen, was ihr indes nicht gelang. Der Lehrer drehte sich ihr zu, sah sie an - und genau in dem Moment traf ihn etwas an der Brust, zog sich schneidend und heiß um ihn zusammen. Riss ihm das Herz heraus. Der nutzlose Schild verlosch, löste sich im Raum auf. Der Lehrer schwankte, fiel aber noch nicht hin, sondern schaute hilflos auf den blutenden pulsierenden Klumpen, der vor ihm auf dem Gehsteig lag. Dann bückte er sich vor, als wolle er sein Herz fassen und in die klaffende Brust zurückstopfen. Um ihn herum verdunkelte sich alles, der Asphalt schoss ihm entgegen. Und er fiel, sein Herz gepackt haltend. Seine pädagogische Laufbahn hatte nicht allzu lange gewährt.
Die junge Frau wimmerte, als der Schlag sie traf, der sie zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Fahrbahn warf. Sie lag quer im Grünstreifen und starrte kreischend auf ein ihr entgegenkommendes Auto in der Farbe schmutzigen Asphalts.
Das Auto konnte noch bremsen.
Die Frau quiekte noch einmal, versuchte aufzustehen - und nahm erst in diesem Moment die schrecklichen Schmerzen in der Taille wahr. Sie verlor das Bewusstsein.
Andrej schleuderte es nach oben, riss es in die Luft. Als wolle ihm jemand in die Augen schauen oder in den Hals beißen.
»Weshalb musstest du mich entdecken, Primus?«, fragte eine Stimme.
Der Junge schrie, hämmerte gegen unsichtbare Hände. Er spürte, wie sich auf seinen Jeans ein peinlicher nasser Fleck bildete.
»Hat man dir beigebracht, einen Abdruck von der Aura zu nehmen?«, fragte die Leere.»Vergiss nicht, dass ich eine Lüge spüre.«
»Nein«, schrie Andrej sich windend. Der Griff des unsichtbaren Vampirs lockerte sich ein wenig.
Gleich darauf blitzte vor ihm etwas auf. Einer der Männer aus seiner Gruppe hatte genug Kraft gesammelt, um einen Kampfzauber zu wirken. Selbstverständlich hatte nicht nur der Junge Gefallen daran gefunden, im Lehrbuch vorzublättern…
Andrej trug es davon, alles um ihn herum drehte sich - und er krachte mitten im See ins Wasser, verscheuchte die dicken trägen Schwäne und die kecken vorwitzigen Enten. Im Wasser strampelnd, sah er, wie der Praktikant, der den Schock-Zauber abgeschossen hatte, umfiel, während der zweite nach einem Anruf davonstürzte.
Andrej schwamm zu dem kleinen Häuschen der Schwäne und kletterte auf die hölzerne Plattform. Aus dem Häuschen stank es nach Vogelkot. Gleichwohl zog der Junge es vor, das Eintreffen der operativen Gruppe hier, mitten auf dem See, abzuwarten. Am nächsten Tag wurde sein Verhalten von Geser als das einzig angemessene in der gegebenen Situation bezeichnet. Dem Jungen wurde der inoffizielle Vorschlag unterbreitet, über eine Arbeit in der Wache nachzudenken. Wie hatte Wadim Dmitrijewitsch immer so schön gesagt:»Die toten Helden dienen irgendwo anders.«
In Anbetracht der Umstände war die Zahl der Opfer gering. Der Lehrer und einer der Praktikanten, von Hause aus Mathematiker. Vielleicht hatte ihm einfach die Zeit gefehlt, um zu berechnen, was er, der unerfahrene Magier fünften Grades, dem Hohen Vampir entgegensetzen konnte.
Aber vielleicht wollte er sich das auch einfach nicht ausrechnen.
Ich begrüßte Garik, der mit einem Oberst der Miliz etwas besprach. Der Oberst war ein Mensch, aber insofern eingeweiht, als er etwas über die Wachen wusste und half, solche Situationen zu verschleiern. Die Körper waren bereits abtransportiert, unsere Experten hatten das ganze Brimborium mit der Aufnahme der Aura und den magischen Spuren schon hinter sich gebracht. Jetzt machten sich die Kriminalisten der Miliz an die Arbeit.
»Im Transporter«, sagte Garik, indem er mir zunickte. Ich ging zu unserem Diensttransporter und stieg ein.
Der in eine Decke gehüllte Junge trank einen Becher heißen Tee und schaute mich verängstigt an.
»Ich bin Anton Gorodezki«, stellte ich mich vor.»Du bist Andrej, nicht wahr?«
Der Junge nickte.
»Hast du den Vampir entdeckt?«
»Ja«, brachte der Junge ohne Zweifel zerknirscht hervor.»Ich habe nicht gewusst…«
»Beruhige dich. Dich trifft keine Schuld. Das Auftauchen eines wilden Vampirs am helllichten Tag mitten im Zentrum von Moskau ließ sich unmöglich vorhersehen«, beteuerte ich. Dachte mir jedoch, dass man es hätte tun sollen, wo der Junge so gute Anlagen zur Identifikation von Auren hatte. Allerdings wollte ich dem toten Lehrer im Nachhinein keinen Vorwurf machen. Irgendwann würde diese Geschichte zur methodischen Vorbereitung von Lehrkräften gehören, würde sich im Lehrbuch auf den Seiten finden, die rot gedruckt sind - zum Zeichen dafür, dass sie mit Blut bezahlt worden waren.
»Trotzdem hätte ich nicht so schreien sollen…«, sagte der Junge. Er stellte den Teebecher ab. Die Decke rutschte ihm von der Schulter und ließ einen gewaltigen blauen Fleck auf der Brust erkennen. Der Vampir hatte sich nicht mit halben Sachen zufriedengegeben.»Aber wenn er mich nicht gehört hätte…«
»Dann hätte er so oder so eure Angst und Verzweiflung wahrgenommen. Beruhige dich. Viel wichtiger ist es jetzt, den Untoten einzufangen.«
»Und zu vernichten«, schloss der Junge unerbittlich.
»Richtig. Und zu vernichten. Bist du schon lange bei uns in der Ausbildung?«
»Seit drei Wochen.«
Ich schüttelte den Kopf. Ein begabtes Bürschchen, zweifelsohne. Blieb zu hoffen, dass der Vorfall ihm die Arbeit in der Wache nicht vermieste.
»Habt ihr schon gelernt, wie man eine Aura aufnimmt?«
»Nein«, sagte der Junge. Und erschauerte, als überwältige ihn eine unangenehme Erinnerung.
»Dann beschreib mir den Vampir so genau wie möglich.«
Der Junge zögerte.»Wir haben es nicht gelernt«, gestand mein Gegenüber.»Aber ich habe es selbst versucht. Es kommt im vierten Abschnitt des Lehrbuchs… Aufnahme, Vervielfältigung und Übertragung einer Aura.«
»Du meinst, du hast dieses Thema allein durchgearbeitet?«
»Ja.«
»Kannst du mir die Aura des Vampirs übermitteln?«
»Ich kann es versuchen«, meinte der Junge nach kurzem Nachdenken.
»Tu das. Ich öffne mich.«Ich schloss die Augen und entspannte mich. Also dann, du junges Talent…
Anfangs spürte ich eine leichte Wärme, als blase mir jemand aus einiger Entfernung mit einem Föhn ins Gesicht. Dann registrierte ich die ungeschickte, leicht abgerissene Übertragung. Ich fing sie auf, packte sie, sah sie mir an. Der Junge gab sich alle Mühe, übertrug die Aura immer wieder aufs Neue. Nach und nach vermochte ich aus den einzelnen Mosaiksteinchen das ganze Bild zusammenzusetzen.
»Gleich hab ich’s«, versicherte ich.»Noch einmal…«
Die bunten Fäden leuchteten heller und verschlangen sich zu einem seltsamen Knoten. Die Hauptfarben bestanden selbstverständlich aus Schwarz und Rot, die für die Untoten und den Tod standen, die Standardfarben der Vampire. Dem Jungen war es jedoch in der Tat gelungen, die Aura zu fixieren, denn neben diesem Farbspektrum, das unbeständig ist und stark differieren kann, fanden sich auch klare Details: ein feiner Kraftknoten, so individuell wie ein Fingerabdruck oder die Zeichnung der Gefäße in der Regenbogenhaut.
»Bravo«, lobte ich ihn zufrieden.»Vielen Dank. Das ist ein sehr guter Abdruck.«
»Werden Sie ihn finden?«, fragte der Junge.
»Bestimmt«, beruhigte ich ihn.»Du hast uns sehr geholfen. Mach dir keine Sorgen mehr und bestrafe dich nicht selbst… Dein Mentor ist als Held gestorben.«
Das war natürlich gelogen. Erstens sterben Helden nicht. Und zweitens ducken sich Helden nicht hinter den Schild des Magiers, wenn sie einen angreifenden Vampir sehen, sondern kämpfen bis zur Niederlage. Eine schlichte Graue Messe hätte es ihm erlaubt, den Vampir zu stoppen, ihn aufzuhalten - zumindest fürs Erste. Die Schüler hätten sich in Sicherheit bringen, der Lehrer sich sammeln und einen ausreichenden Schutz aufbauen können.
Doch hinterher ist man immer schlauer. Außerdem brachte es rein gar nicht, dem Jungen zu erklären, dass sein erster Lehrer gut und nett, aber in keiner Weise auf einen richtigen Einsatz vorbereitet gewesen war. Denn das war die Krux: Lehrer sind nur selten echte, kampferprobte Magier. Zumeist sind es schöngeistige Theoretiker…
»Brauchst du mich noch, Garik?«, fragte ich. Neben Garik und dem Oberst drückte sich jetzt ein unbekannter Dunkler herum. Was zu erwarten gewesen war. Die Tagwache würde es sich nicht nehmen lassen, vor Ort zu erscheinen, sie würde jegliche Verantwortung von sich weisen und sich - falls Letzteres nicht gelingen sollte - nach unseren Verlusten erkundigen. Garik schüttelte den Kopf, worauf ich mich, den Dunklen ignorierend, gemächlich zu meinem Auto begab, das ich direkt unter einem»Parken verboten«-Schild abgestellt hatte. Den Anti-Klau-Zauber benutzten alle Anderen. Ihn jedoch so einzusetzen, dass dich zwar alle im Verkehr sehen, du aber trotzdem im Halteverbot parken kannst, verlangt ein gewisses Geschick.
Dass der Junge die Aura des Vampirs aufgenommen hatte, konnte als Erfolg gewertet werden. In solchen Situationen verlieren auch erwachsene, erfahrene Magier mitunter den Kopf. Der Junge hatte sich bravourös geschlagen. Jetzt juckte es mir natürlich in den Fingern, so schnell wie möglich ins Büro zu kommen und den Aurenabdruck dem Diensthabenden zur Fahndung zu übermitteln. Sollten ruhig alle, die auf Patrouille gingen, den Blutsauger suchen. Einen Hohen, nicht registrierten… Nein, auf diesen Zufall durfte ich nicht hoffen.
Aber er war ein Hoher!
Meine eitlen Hoffnungen abschüttelnd, setzte ich mich hinters Steuer und fuhr zum Büro.
Für die Patrouillen war heute Pawel zuständig. Ich warf ihm den Abdruck der Aura zu, den er mit Begeisterung auffing. Es ist immer angenehm, wenn man den Anderen auf Streife etwas Ordentliches an die Hand geben kann, statt sie mit so zweifelhaften Informationen zu versorgen wie:»Am Tschistoprudny-Boulevard hat ein Hoher Vampir zwei Lichte angegriffen… Wie er aussieht? Also, ein Mann in mittleren Jahren…«
In meinem Arbeitszimmer setzte ich mich sofort an den Computer. Eine Minute lang starrte ich auf den Bildschirm.»Mist verflixter…«, brummte ich.
Dennoch startete ich das Programm zum Abgleich von Auren. Die Schwierigkeit bei der Identifikation einer Aura besteht darin, dass ihre Abdrücke nicht wie Fingerabdrücke digitalisiert werden können. Aurenabdrücke kann man von»Kopf zu Kopf«, weitergeben, aber nicht von Kopf zu Computer - solche Rechner gibt es einfach nicht. Um eine Aura dennoch in eine Datenbank aufzunehmen, haben wir den angejahrten Maler Leopold Surikow eingestellt. Trotz des klangvollen Familiennamens hatte er als Künstler nur mäßigen Erfolg. Als Anderer war er ebenfalls recht schwach. Immerhin konnte er jedoch Aurenabdrücke empfangen und sie dann in geduldiger, nervtötender Arbeit im Stil der chinesischen oder japanischen Miniaturen zu einem versponnen Ornament umzeichnen. Dieses Bild konnte wiederum digitalisiert, damit archiviert und zum Vergleich herangezogen werden. So arbeiten alle Wachen, die es sich leisten können, einen Kunstmaler einzustellen.
Eine penible und langwierige Arbeit. An einer höchst schlichten Aura saß man zwei Tage.
Falls es die Aura in unserem Archiv geben sollte, kam ich jedoch auf indirektem Weg an sie heran. Ebendas hatte ich vor. Wenn auch nur zur Beruhigung meines Gewissens: Wie sollten wir die Aura eines nicht registrierten Vampirs archiviert haben?
Auf dem Bildschirm baute sich eine Tabelle auf. Permanent auf den in meinem Gedächtnis abgespeicherten Abdruck zurückgreifend, trug ich nun mit entsprechenden Mausklicks Plus- und Minuszeichen in die Tabelle ein.
»Gibt es einen oberen Bogen?«
Nein, natürlich nicht. Woher sollte ein Vampir bitte schön einen oberen Bogen in der Aura haben?
Damit schrumpfte die Zahl der registrierten Auren sofort um ein Fünftel. Wir führten weitaus weniger Untote im Archiv als sonstige Andere. Es verschwand auch eine Reihe von Zeilen, die Tabelle wurde kleiner, konzentrierte sich auf Vampire.
»Wie ausgeprägt ist die erste Lateralspitze?«
Ich setzte zwei Pluszeichen. Selbst drei wären gerechtfertigt gewesen, die Spitze ließ sich nicht eindeutig klassifizieren.
Eine Frage folgte der nächsten. Nachdem ich zwei Dutzend beantwortet hatte, gestattete ich mir einen Blick in die rechte obere Ecke der Tabelle.
Dort blinkte die Ziffer 3.
Ein Wunder! Bei einer so kleinen Zahl musste ich entweder den Vampir selbst oder ein Mitglied seines Clans gefunden haben, jemanden, den er initiiert hatte. In diesem Fall gäbe es zwar Unterschiede in der Aura, diese wären jedoch so minimal, dass man fünfzig Fragen für eine eindeutige Identifikation brauchte.
Drei Kandidaten stellten mich ohnehin völlig zufrieden.
Ich klickte die Drei an.
Und kippte fast vom Stuhl. Der lächelnde Kostja Sauschkin blickte mich an. Quer über die Datei prangte in fetter roter Schrift»ENTKÖRPERT«.
Einige Sekunden lang starrte ich mit leerem Blick auf den Bildschirm. Erinnerte mich an den Inhalt des Aluminiumcontainers, den mir Geser letzte Woche nach meiner Rückkehr aus Samarkand gezeigt hatte…
Dann stöhnte ich auf.
Denn ich begriff es.
Endlich begriff ich es.
Ich klickte die nächste Datei an - und erschauderte noch einmal, als ich Polina sah, Kostjas Mutter. Hier frappierte mich nicht das Foto, da ich ja wusste, wen ich sehen würde. Aber auch hier prangte ein»ENTKÖRPERT«.
Von den ersten Zeilen»Als Mensch geboren. Keine Anlagen zur Anderen. Vom Ehemann gemäß Paragraf 7 des Abkommens zum Recht der Familie eines Anderen auf Selbstbestimmung initiiert…«scrollte ich die Datei bis zum Ende durch. Ab und an nahm ich aus den Augenwinkeln heraus eine Zeile wie»Hat von der Lotterie keinen Gebrauch gemacht«,»Ausgezeichnet mit einer Monatsration frischen Spenderbluts der Blutgruppe B, rhesuspositiv«wahr. Bei der Nahrung zeigte sie sich konservativ, auf Menschen machte sie keine Jagd, stets wählte sie denselben, nicht sehr seltenen Typ frischen Bluts. Nicht so wie manche Vampire, die zwar auf die Jagd verzichten, dann aber anfangen, für sich das Blut einer Jungfrau -»und zwar nur Blutgruppe o oder A, denn bei B und AB bekomme ich Verdauungsstörungen«- oder eines Kindes mit der Blutgruppe o, rhesusnegativ, zu verlangen.
Die letzten Zeilen erklärten mir alles.
»Sie hat ihrer Existenz freiwillig ein Ende gesetzt und hat sich am 12.09.2003 entkörpert, kurz nach dem Tod ihres Sohnes, des Hohen Vampirs Konstantin Gennadjewitsch Sauschkin (Fall Nr. 9752150). Am 14.10.2003 wurde sie auf persönliche Bitte nach christlichem Ritual bestattet, die Totenmesse hielt der Lichte Vater Aristarch ab.«
Vater Aristarch kannte ich. Er repräsentierte den seltenen Fall, bei dem ein orthodoxer Priester das Wesen eines Anderen mit seinem Glauben zu vereinbaren vermochte und sogar noch gewisse missionarische Aufgaben unter den Dunklen wahrnahm. Vor einem Monat hatte ich mit ihm gesprochen.
Warum hatte ich nichts von dem Selbstmord - und wenn man die Worthülse abschälte, blieb genau dieser Kern übrig - Polina Sauschkinas gewusst?
Ich hatte es nicht wissen wollen - deshalb wusste ich nichts davon. So einfach war das.
Ein dritter Mausklick, die dritte Datei.
Eben.
»Sauschkin, Gennadi Iwanowitsch…«
Aufstöhnend fasste ich mir mit beiden Händen an den Kopf.
Ich Idiot! Ich ausgemachter Idiot!
Es spielte überhaupt keine Rolle, dass Sauschkin senior laut Dossier lediglich ein Vampir vierten Grades war, dass er»nicht jagte«, nicht»auffällig«oder»aktenkundig«geworden war.
Auch Edgar war zuvor kein Großer gewesen. Und dann, hat man Töne, schaffte er es selbst bei Einsatz von vier Amuletten, nur einen Teil der Wahrheit preiszugeben.
Natürlich hatte ich diese Wahrheit so interpretiert, wie es mir gefiel. Aufgrund meiner Komplexe, Ängste und Gewissensbisse.
Andrej, den wir nach der Begegnung mit Gena Sauschkin aus dem Wasser gezogen hatten, klagte sich ohne jeden Grund an. Er trug weder am Tod seines Lehrers noch seiner Mitschüler die Schuld.
Wohingegen ich Schuld auf mich geladen hatte. An dem Namen Sauschkin hatte ich mich festgebissen, der für mich zu einer Art Barriere geworden war. Nicht zu einem einzigen Schritt seitwärts hatte ich mich durchringen wollen.
Im ersten Moment wollte ich mir das Blatt ausdrucken. Dann ging mir auf, dass ich es nicht aushalten würde, dreißig Sekunden zu warten, bis der Drucker sich hochgefahren hatte und einsatzbereit war.
Ich stürzte aus dem Büro und rannte die Treppe hoch.
Wo mich ein gewaltiges Fiasko erwartete: Geser war nicht am Platz. Sicher, ab und an musste selbst er mal schlafen - aber warum ausgerechnet jetzt? Mist…
»Hallo, Antoschka.«Olga trat aus ihrer Bürotür heraus.»Was bist du so… aufgelöst?«
»Wo ist Geser?«, jammerte ich.
Einen Moment lang sah Olga mich nachdenklich an. Dann kam sie auf mich zu und legte mir behutsam die Hand auf die Lippen.
»Boris schläft«, sagte sie.»Seit ihr aus Usbekistan zurück seid, ist er ununterbrochen im Büro gewesen. Vor einer Stunde habe ich ihn unter Einsatz sämtlicher weiblicher Tricks ins Bett verfrachtet.«
Olga sah phantastisch aus. Die Frisur verdankte sie ohne Zweifel einem geschickten Friseur, die Haut leuchtete in einer herrlichen Goldbräune, und sie hatte ein ganz dezentes Makeup aufgelegt, das lediglich den schönen Schnitt der Augen und die erotischen vollen Lippen akzentuierte. Sie roch nach etwas Teurem, einem blumigaromatischen Parfüm, das schwül und betörend wirkte.
In der Tat: Sie hatte auf sämtliche weiblichen Tricks zurückgegriffen.
Mich verlockte sie damit freilich nicht, denn ich hatte sie schon ganz anders gesehen. Und nicht nur gesehen: Ich selbst hatte in diesem prächtigen Körper gesteckt. Eine unvergessliche Erfahrung - wenn ich auch nicht gerade behaupten wollte, ich wäre auf eine Wiederholung erpicht.
»Und, Anton, falls du jetzt auf die Idee kommen solltest, ein großes Lamento anzustimmen, Boris zu rufen und von ihm zu verlangen, sich unverzüglich an die Arbeit zu machen, dann verwandle ich dich in ein Kaninchen«, teilte Olga mir mit.»Ich muss mir nur noch überlegen, ob in ein echtes oder in ein Plüschtier.«
»In ein aufblasbares aus dem Sexshop«, bat ich.»Keine Sorge, das wird nicht passieren.«
»Sicher?«Olga kniff die Augen zusammen.
»Ja. Aber wenn du dich unbedingt in Kampfmagie üben willst, wüsste ich einen geeigneten Kandidaten für deine Zwecke.«
»Wen denn?«, fragte sie.
»Einen Hohen Vampir. Denjenigen, der sich mit Edgar zusammengetan hat. Denjenigen, der heute unsere Leute am Tschistoprudny-Boulevard angegriffen hat.«
»Wen?«, hakte Olga ungehalten nach.
»Sauschkin.«
Ein flüchtiger Schatten huschte über Olgas Gesicht.
Sanft nahm sie mich bei der Hand.»Wir alle werden im Leben bisweilen mit tragischen Ereignissen konfrontiert, Anton«, sagte sie.»Manchmal verlieren wir einen Freund, manchmal stirbt ein Feind, was wir uns dennoch vorwerfen…«
»Spar dir deine Psychotherapie für Geser!«, krächzte ich.»Es geht um Gennadi Sauschkin! Sauschkin senior! Kostjas Vater!«
»Wir haben ihn überprüft, er verfügt nur über den vierten Grad…«, setzte Olga an. Und verstummte.
»Muss ich dir wirklich erklären, wie leicht ein Vampir seinen Grad steigern kann?«, fragte ich.
»Vom vierten Grad zum Hohen… dann müssten Dutzende von Menschen verschwunden sein, das hätten wir bemerkt…«
»Offenbar nicht!«Ich packte sie beim Arm.»Olga, die Chancen stehen eins zu tausend… aber vielleicht ist er noch bei sich zu Hause. Vielleicht schnappen wir ihn.«
»Gehen wir«, meinte Olga mit einem Kopfnicken.»Ich hoffe, du erinnerst dich noch an deine alte Adresse.«
»Zu zweit?«
»Meiner Ansicht nach dürften zwei Hohe Lichte durchaus imstande sein, mit einem Vampir fertig zu werden. Im Büro treibt sich nur junges Gemüse rum. Du willst doch wohl kein Kanonenfutter mitschleppen, oder?«
Einen ausgedehnten Moment lang sah ich ihr in die Augen. Dort tanzten wütende Feuerchen… Ob Olga genug von ihrer Führungsaufgabe hatte?
»Gehen wir«, stimmte ich zu.»Gehen wir zu zweit. Obwohl mich das sehr an den Beginn eines Actionfilms aus Hollywood erinnert.«
»In welchem Sinne?«
»In dem Sinne, dass wir da in einen Hinterhalt laufen.
Oder du stellst dich ausgerechnet als die Lichte heraus, die Edgar und Gennadi geholfen hat.«
»Idiot.«Olga nahm mir das nicht krumm. Doch während wir hinuntergingen, fügte sie boshaft hinzu:»Übrigens haben wir für alle Fälle auch Swetka überprüft.«
»Und?«, wollte ich wissen.
»Sie ist es nicht.«
»Freut mich zu hören«, bekannte ich.»Hat man dich auch überprüft?«
»Alle Hohen Lichten wurden überprüft. In Russland, in Europa und in den Staaten. Ich habe keine Ahnung, wen Foma da im Zwielicht gesehen hat, aber alle Hohen haben ein wasserdichtes Alibi.«
Man sollte nie in ein Haus zurückkehren, in dem man früher gewohnt hat. Niemals und für nichts in der Welt - solange man nicht an Altersschwachsinn leidet und deshalb beim Anblick des Sandkastens im Hof des Elternhauses lächelt und lossabbert.
Ich betrachtete meinen alten Aufgang und überlegte mir, dass gar nicht so viele Jahre vergangen waren, selbst nach den Maßstäben der Menschen nicht. Vor acht Jahren war ich aus dem Eingang dieses langweiligen, standardisierten fünfzehnstöckigen Hauses getreten, um mich in einer weiteren Nacht auf die Jagd nach Vampiren zu begeben. Damals wusste ich nicht, dass ich Swetlana treffen würde, meine zukünftige Frau, dass wir Nadka bekommen würden und ich zum Hohen aufsteige…
Doch schon damals war ich ein Anderer. Und wusste, dass über mir ebenfalls Andere leben. Eine Vampirfamilie. Gesetzestreue, gute Vampire, mit denen ich sogar relativ lange befreundet bleiben konnte.
So lange, bis ich meinen ersten Vampir tötete.
Was sollte man da machen? Irgendwann geschieht alles zum ersten Mal.
»Gehen wir?«, fragte Olga.
Erneut schlug die Erinnerung schmerzhaft über mir zusammen. Der kleine Jegor, der damals noch jünger war als der Praktikant Andrej, dieser geschickte Aurenkopierer, wäre beinahe Vampiren zum Opfer gefallen. Olga und ich arbeiteten damals zum ersten Mal als Team, nahmen seine Spur auf… Auf diese Weise war es Geser gelungen, Olgas schreckliche Strafe, die Verbannung in einen Eulenkörper, aufzuheben…
»Ein Dejà-vu«, erklärte ich.
»Wieso das?«, fragte Olga zerstreut zurück. Bei ihrem langen Leben musste sich ihr dieses Abenteuer durchaus nicht unbedingt eingeprägt haben…»Ach ja! Ist dir eingefallen, wie wir nach Jegor gesucht haben? Ich habe übrigens vor Kurzem erfahren, dass der Junge im Zirkus arbeitet. Kannst du dir das vorstellen? Er ist Illusionist geworden!«
»Gehen wir«, sagte ich.
Olga war schon eine tolle Frau. Sie fürchtete nicht die Schatten ihrer Vergangenheit. Im Gegenteil: Falls sie wegen Jegor Schuldgefühle empfinden sollte, würde sie sein weiteres Schicksal im Auge behalten.
Wir nahmen den Fahrstuhl. Ich drückte den Knopf für den neunten Stock. Schweigend fuhren wir hinauf. Olga wappnete sich, sammelte Kraft. Ich inspizierte meine Finger. Der Aufzug hatte sich in diesen acht Jahren verändert, man hatte einen gegen Vandalismus geschützten eingebaut, mit Wänden und Knöpfen aus Metall. Die minderjährigen Rotzgören schafften es jetzt nicht mehr, die Plastikknöpfe mit dem Feuerzeug abzusengen. Stattdessen klebte Kaugummi an den Tasten.
Ich wischte mir die Finger ab, polkte die klebrige Schweinerei aus Polyvinylazetat, Aromen und Spucke ab.
Nicht immer gelingt es mir, die Menschen zu lieben.
Der Fahrstuhl hielt an.
»Der neunte Stock«, sagte ich verlegen.»Die Sauschkins… Sauschkin wohnt im zehnten.«
»Gut«, lobte Olga mich.»Den Rest gehen wir zu Fuß.«
Ich schielte zu meiner ehemaligen Wohnungstür hinüber. Immer noch die alte Tür… Offenbar hatte man nicht einmal die Schlösser ausgewechselt, nur die Schlossplatte funkelte greller, neu. Wir stiegen den Treppenabsatz hinauf, ich drehte mich noch einmal nach meiner Tür um - die sich gerade öffnete, als habe jemand gewartet, bis wir uns entfernten. Eine Frau unbestimmten Alters tauchte auf, mit zerzaustem Haar, aufgeschwemmtem Gesicht und in einem schmutzigen Morgenmantel. Sie taxierte uns mit einem boshaften Blick.
»Habt ihr wieder den Fahrstuhl vollgepisst?«, kreischte sie.
Die Anklage kam so überraschend, dass ich unweigerlich losprustete. Olga presste die Lippen aufeinander und ging einen Schritt zurück. Die Frau schloss die Tür rasch so weit, dass sie sie jederzeit zuknallen konnte. Olga betrachtete die Frau eine Weile.»Nein. Das kam Ihnen nur so vor«, sagte sie dann ganz leise.
»Ja, das kam mir nur so vor«, wiederholte die Frau gedehnt.
»Der Mieter über Ihnen setzt Sie aber unter Wasser«, fuhr Olga fort.»Gehen Sie jetzt hoch und sagen Sie ihm, was Sie von ihm halten.«
Die Frau strahlte und sprang so, wie sie war, in ihrem grauenvollen Morgenmantel und den ausgetretenen Latschen an den nackten Füßen, zur Tür hinaus. Eifrig flitzte sie an uns vorbei.
»Was soll das?«, fragte ich.
»Sie hat es selbst so gewollt«, antwortete Olga angeekelt.»Soll sie ruhig der Sache des Lichts dienen. Wenigstens einmal in ihrem Leben.«
Falls sich in Sauschkins Wohnung tatsächlich ein Hoher Vampir versteckte, so schoss es mir durch den Kopf, dann könnte das wirklich die letzte Tat im Leben dieses Weibsbilds sein. Vampire nehmen persönliche Beleidigungen sehr krumm.
Sympathie rief die Frau jedoch auch bei mir nicht die Spur hervor.
»Wem hast du die Wohnung verkauft?«, wollte Olga wissen.»Dieser Insassin einer psychiatrischen Heilanstalt?«
»Ich habe eine Agentur damit beauftragt.«
»Dann sind das doch keine armen Menschen, wenn sie sich eine Wohnung leisten können.«Olga zuckte die Schultern.»Wie kann man sich da nur so gehen lassen?«
Offenbar empörte sie die Grobheit der Frau weniger als ihr schlampiges Äußeres. Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren und der anschließenden Verbannung in die Eule war Olga in dieser Hinsicht von einer fast manischen Strenge.
Die Frau, die Olga hier kurzerhand rekrutiert hatte, schlug bereits mit Händen und Füßen auf Sauschkins Tür ein.»Aufmachen!«, kreischte sie mit hysterischer Stimme.»Aufmachen, du Blutsauger! Du setzt mir die ganze Wohnung unter Wasser! Noch dazu Heißwasser, du Schafskopp!«
»Diese gutherzigen und zufälligen Ahnungen der Menschen rühren mich doch immer wieder«, bemerkte Olga.»Wie kommt sie darauf, dass ihr Nachbar, der ihr die Wohnung unter Wasser setzt, noch dazu unter kochendes, ein Blutsauger ist?«
Inzwischen zählte die Frau oben ihr ertränktes und beschädigtes Eigentum auf. Die Liste verblüffte mich dermaßen, dass ich mich unwillkürlich umdrehte: Quoll womöglich schon Wasserdampf zur offenen Tür ihrer Wohnung heraus?
»Ein tschechisches Klavier, ein japanischer Fernseher, eine italienische Sitzgarnitur, ein rötlicher Nerzmantel!«
»Ein Araberhengst, ein Brauner«, schlug Olga amüsiert vor.
»Ein Araberhengst! Ein Brauner!«, wiederholte die Frau gehorsam.
»Da ist niemand«, befand Olga.»Da rührt sich niemand…«
»Mama!«, rief jemand leise hinter mir. Ich drehte mich um.
Aus meiner ehemaligen Wohnung war ein kleines Mädchen herausgekommen, kaum älter als Nadja. Sieben, vielleicht acht Jahre, ein liebes Kind mit einem traurigen und erschreckten Gesicht. Im Unterschied zur Mutter war sie wie eine Puppe gekleidet: ein hübsches Kleid, weiße Kniestrümpfe und Lackschühchen. Uns sah sie voller Angst an, ihre Mutter mit einem müden, erschöpften, mitleidigen Ausdruck.
»Mein Sonnenscheinchen!«Die Frau sprang von Sauschkins Tür weg. Zwischen ihrer Tochter und der Wohnung des Nachbarn hin und her gerissen, schaute sie immer wieder voller Panik zu Olga hinüber.
»Gehen Sie nach Hause«, sagte Olga leise.»Sie werden jetzt nicht mehr unter Wasser gesetzt. Ihren Nachbarn knöpfen wir uns vor. Wir sind von der Wohnungsverwaltung. Und morgen früh suchen Sie einen Friseur auf, lassen sich die Haare machen und manikürieren.«
Die Frau packte das Mädchen bei der Hand und schlüpfte mit einem verschreckten Blick auf uns in ihre Wohnung.
»Was es nicht alles gibt im Leben…«, meinte Olga nachdenklich, während sie Mutter und Tochter nachsah.
»Und wagt es ja nicht«, sagte die Frau, während sie die Tür bereits schloss,»noch einmal in den Fahrstuhl… zu pullern! Ich ruf die Miliz!«
Dieses»pullern«war der Tochter geschuldet, eine Verharmlosung, die jedoch besonders grauenvoll wirkte. Als ob es im Kopf der Frau Zeitschaltuhren gab, die versuchten, ihre Gedanken in normale Bahnen zu lenken.
»Ist sie krank?«, fragte ich Olga.
»Das Problem ist, dass sie es nicht ist«, antwortete Olga verärgert.»Psychisch ist sie gesund! Gehen wir durchs Zwielicht…«
Mit einem Blick fand ich meinen Schatten und trat in ihn hinein.
Neben mir tauchte Olga auf.
Wir sahen uns um - und ich stieß unwillkürlich einen Pfiff aus. Im ganzen Treppenhaus wuchs, zu Klumpen geballt, dieser blaue Mist. Wie ein ultramarinfarbener Bart hing das Moos von der Decke und vom Geländer, bildete auf dem Fußboden einen azurblauen Teppich und ballte sich in wabenartigen blauen Kugeln um die Glühbirnen - eine Inspiration für jeden Designer, der einen neuen Stil für Lampenschirme kreiert.
»Um dieses Haus kümmert sich niemand«, meinte Olga leicht verwundert.»Dabei richten sie genug an… der durchgeknallte Vampir und die hysterische Dame…«
Wir steuerten auf die Tür zu. Ich rüttelte an ihr. Natürlich war abgeschlossen. Doch selbst schwache Andere bringen es fertig, ihre Tür in der ersten Zwielicht-Schicht zu versperren.
»Tiefer?«, fragte ich.
Statt zu antworten, trat Olga einen Schritt zurück, damit sie ausholen und kräftig mit dem Fuß gegen das Schloss treten konnte. Die Tür gab nach.
»Ging ja problemlos«, lachte Olga.»Diesen Tritt wollte ich schon lange mal in der Praxis ausprobieren.«
Ich fragte nicht, wer ihr beigebracht hatte, Türen einzutreten. Obwohl Olga sich sicher war, hegte ich so meine Zweifel daran, dass die Wohnung wirklich leer war. Wir betraten den Flur (auch hier überall blaues Moos). Ohne ein Wort zu sagen, traten wir aus dem Zwielicht.
Wie lange ich nicht hier gewesen war…
Und wie lange überhaupt niemand hier gewesen war. Die Luft in der Wohnung war so schwer und abgestanden, wie es nur bei verlassenen und fest verschlossenen Räumen vorkommt. Selbst wenn hier niemand lebt, müsste doch durch das Lüftungsgitter und die Ritzen genug frische Luft kommen. Doch nein. Alle Luft schien zu sterben, ungenießbar wie der Tee vom Vortag zu werden.
»Es riecht nicht«, stellte Olga erleichtert fest.
Ich verstand sie. Natürlich roch es: muffig, feucht, staubig. Aber es hing nicht der Gestank in der Luft, den wir erwartet, den wahrzunehmen wir befürchtet hatten. Den süßlich-modrigen Geruch von Körpern, denen ein Vampir alles Blut ausgesaugt hatte. So wie damals in Mytischtschi, als wir Alexej Saposhnikow in seiner Wohnung festnahmen, einen kleinen, geisteskranken und gerade deshalb der Aufmerksamkeit der Wachen entgangenen Vampir, der zum Serienmörder geworden war…
»Seit mindestens einem Monat wohnt hier niemand mehr«, vermutete ich. Dann sah ich mir die Garderobe an: eine Winterjacke, eine Fellmütze… Auf dem Boden standen feste, pelzbesetzte, verdreckte Stiefel. Nein, nicht einen Monat, noch länger. Etwa seit dem Winter dürfte die Wohnung verlassen sein. Die Schutzzauber, die ich mir noch im Auto angehangen hatte, nahm ich zwar nicht ab, aber immerhin entspannte ich mich.»Also denn… sehen wir uns mal um, wie er gelebt… existiert hat.«
Mit der Küche fingen wir an. Die Fenster waren hier - genau wie im Rest der Wohnung - mit schweren Gardinen verhangen. Die vom Staub ergrauten Stores hatten der Wohnung wohl einst einen gemütlichen Anstrich verleihen sollen. Seit ungefähr zwei Jahren waren sie jedoch nicht mehr gewaschen worden. Seit dem Zeitpunkt, als Polina gestorben war.
Als Olga hinter mir das Licht einschaltete, erschauderte ich.»Wir wollen doch nicht im Dunkeln bleiben wie Scully und Mulder…«, bemerkte sie.»Überprüf den Kühlschrank.«
Den ziemlich laut brummenden Kühlschrank aus Korea hatte ich schon geöffnet. Küchengeräte vertragen die Vernachlässigung durch den Menschen noch am besten. Ein Computer, der ein halbes Jahr ungebraucht herumsteht, stürzt häufig ab. Keine Ahnung, womit das zusammenhängt. Jedenfalls nicht mit Magie, denn in Rechnern steckt keine Magie.
Im Kühlschrank entdeckte ich - entgegen meinen Befürchtungen - nichts Grauenvolles. Ein verdächtiges Dreiliterglas mit einer dunklen Flüssigkeit, auf der sich weißer Schimmel gebildet hatte, enthielt lediglich vergammelten Tomatensaft, der jetzt vergoren war. Natürlich konnte man es nicht billigen, wenn Tomaten verkamen - doch mit diesem Verbrechen sollte sich meinetwegen eine Tomatenwache im Dienste von Greenpeace befassen. In den Fächern der Kühlschranktür standen dickwandige Flaschen, die zweihundert und fünfhundert Gramm fassten. Die Kennzeichnung der Nachtwache, die sich auf jeder Flasche fand, leuchtete schwach im Zwielicht: Lizenziertes Spenderblut.
»Er hat noch nicht mal seine Ration ausgetrunken«, bemerkte ich.
Außerdem entdeckte ich im Kühlschrank noch Würstchen, Eier und Wurst. Im Eisfach lagen ein Stück Fleisch (Rind) und Pelmeni (größtenteils aus Soja). Das typische Sortiment eines alleinstehenden Mannes. Nur Alkohol fehlte, was mich jedoch nicht verwunderte. Alle Vampire sind gezwungenermaßen Abstinenzler, denn Alkohol zerstört in null komma nichts ihren seltsamen Stoffwechsel und stellt ein starkes Gift für sie dar.
Nach der Küche inspizierte ich die Toilette. Das Wasser im Klo war fast eingetrocknet, aus dem Abfluss stank es. Nachdem ich gespült hatte, ging ich wieder hinaus.
»Wofür du so Zeit findest«, verkündete Olga. Verständnislos sah ich sie an, bis mir aufging, dass sie scherzte. Auch die Große Zauberin musste mit dem Schlimmsten gerechnet haben und entspannte sich jetzt. Lächelte.
»Dafür ist immer Zeit«, erwiderte ich.»Es hat gestunken, deshalb habe ich gespült.«
»War mir doch klar.«
Als ich die Badezimmertür öffnete, bemerkte ich, dass die Glühbirne durchgebrannt war. Ob Gennadi das Licht angelassen hatte, als er gegangen war? Da ich zu faul war, um aus meinen Taschen eine Taschenlampe herauszukramen, rief ich die Urkraft an, um über mir ein magisches Licht zu entfachen. Und erschauderte.
Nein, etwas Schreckliches sah ich nicht. Die Badewanne, das Handwaschbecken, der Wasserhahn, aus dem es langsam tropfte, Handtücher, Seife, eine Zahnbürste, Zahnpasta…
»Schau mal«, meinte ich, während ich das Licht verstärkte.
Olga trat an mich heran und spähte über meine Schulter.»Interessant«, konstatierte sie nachdenklich.
Auf dem Spiegel prangte ein Schriftzug. Nein, nicht aus Blut, sondern aus dreifarbiger Zahnpasta, weshalb die Worte ungewollt an die Farben der russischen Flagge erinnerten. Mit großen Druckbuchstaben und - davon war ich aus irgendeinem Grund überzeugt - mit Genna-dis Finger ausgeführt, stand auf dem Spiegel:
EWIGE WACHE
»Keine geheimnisvolle Geschichte kommt ohne Aufschriften auf Wänden und Spiegeln aus«, kommentierte Olga.»Wobei ich natürlich angenommen hätte, man müsse alles mit Blut schreiben…«
»Diese Zahnpasta tut’s auch«, entgegnete ich.»Rot, blau, weiß. Die traditionellen Farben der Inquisition sind grau und blau.«
»Ich weiß«, brachte Olga nachdenklich hervor.»Glaubst du, das hat was zu bedeuten? Steht das für den Vampir, den Inquisitor und den Heiler?«
»Ich habe keine Ahnung, was Absicht und was Zufall ist«, gab ich zu.
Ich durchquerte den kurzen Korridor und schaute ins Wohnzimmer. Hier ließ sich das Licht einschalten.
»Irgendwie ganz hübsch«, bemerkte Olga.»Das Haus ist miserabel, aber die Wohnung ist ordentlich renoviert.«
»Gennadi ist von Beruf Bauarbeiter«, erklärte ich.»Er hat auch bei sich zu Hause alles selbst gemacht und mir manchmal geholfen… Damals wusste ich noch nicht, wer er ist. Aber an seiner Arbeit gibt’s nichts auszusetzen.«
»Klar, wo er doch nicht trinkt«, pflichtete Olga mir bei, während sie zum Schlafzimmer ging.
»Er ist sehr akkurat«, fuhr ich mit meiner Lobeshymne auf Gennadi fort, als seien wir nicht gekommen, um den Vampir zu vernichten, sondern als wolle ich ihn Olga für die Renovierung ihrer Wohnung empfehlen.»Nach getaner Arbeit hat er immer alles ordentlich aufgeräumt.«
Hinter mir ließ sich ein unterdrücktes Geräusch vernehmen. Ich drehte mich um.
Olga würgte. Sie lehnte sich gegen den Türrahmen und erbrach sich, kaum dass sie sich umgedreht hatte, direkt gegen die Wand. Nach einer Weile hob Olga den Blick und sah mich an, wobei sie den Mund mit der Hand abwischte.
»Sehr akkurat…«, brachte sie hervor.»Ja. Davon habe ich mich überzeugt.«
Auf gar keinen Fall wollte ich sehen, was Olga so missfiel.
Trotzdem ging ich zur Schlafzimmertür. Auf Beinen, die schon jetzt aus Watte waren.
»Warte, ich will erst weg sein«, brummte Olga und machte mir Platz.
Ich linste ins Schlafzimmer hinein. Ein paar Sekunden ließ ich mir durch den Kopf gehen, was ich da sah.
Olga hätte sich nicht in Sicherheit zu bringen brauchen. Ich schaffte es nämlich nicht einmal mehr, mich umzudrehen, sondern kotzte direkt ins Schlafzimmer, über die Schwelle. Angeblich bringt es Unglück, sich über die Schwelle hinweg zu verabschieden. Und über die Schwelle zu reihern?
Geser stand am Fenster. Schaute auf die Stadt, die nach und nach in ihren abendlichen Lichtern erstrahlte. Schwieg. Nur die auf dem Rücken verschränkten Hände fanden keine Ruhe. Die Finger bewegten sich, als wirkten sie einen absolut perfiden Zauber.
Olga und ich sagten ebenfalls kein Wort. Als hätten wir uns etwas zuschulden kommen lassen…
Jetzt stieß Garik zu uns, der jedoch unentschlossen in der Tür stehen blieb.
»Und?«, fragte Geser, ohne sich umzudrehen.
»Zweiundfünfzig«, teilte Garik mit.
»Was sagen die Experten?«
»Bisher haben sie drei untersucht. Alle zeigen die gleichen Verletzungen. Sie wurden in den Hals gebissen, ihr Blut getrunken. Müssen wir sie noch länger hierbehalten, Boris Ignatjewitsch? Der Gestank ist einfach bestialisch, die Zauber kommen nicht dagegen an… Mittlerweile ist selbst um das Haus herum… als ob ein Abflussrohr geplatzt wäre…«
»Habt ihr einen Lkw gerufen?«
»Einen geschlossenen.«
»Gut. Schafft sie weg«, sagte Geser.»In irgendeine Ödnis, weit weg von der Stadt. Soll man sie da untersuchen.«
»Und dann?«
»Dann…«, brachte Geser gedankenversunken hervor.»Dann beerdigt sie.«
»Sollen wir sie denn nicht den Verwandten übergeben?«
Einen Moment dachte Geser nach.»Was meinst du dazu, Anton?«, wandte er sich überraschend an mich.
»Ich weiß nicht«, gab ich ehrlich zu.»Ob sie nun spurlos verschwunden sind oder gestorben… Ich weiß nicht, was für die Verwandten besser ist.«
»Beerdigt sie«, befahl Geser.»Wir beschäftigen uns damit, wenn wir den Kopf frei haben. Vielleicht werden wir sie stillschweigend exhumieren und den Verwandten übergeben. Uns für jeden Einzelnen eine Geschichte ausdenken… Konnten bei allen Papiere festgestellt werden?«
»Ja. Sie lagen extra, auf einem Stapel. Sehr akkurat…«
Schmerzlich stach mich dieses Wort. Akkurat.
O ja, immer war er akkurat gewesen. Bevor er ein Loch in die Wand bohrte, legte er alles mit Plastikfolie aus. Anschließend wischte er sorgfältig den Boden…
»Wie konnte uns das entgehen?«, fragte Geser mit schmerzvoller Stimme.»Wieso haben wir das nicht mitbekommen? Wenn ein Vampir vor unserer Haustür fünfzig Menschen umbringt!«
»Sie kamen alle… von auswärts. Aus Tadschikistan, Moldawien und der Ukraine…«Garik seufzte.»Schwarzarbeiter. Sie sind nach Moskau gekommen, um hier was zu verdienen. Natürlich war keiner von ihnen hier gemeldet. Sie hielten sich alle illegal hier auf. Sie haben ihre Treffpunkte an großen Straßen, da stehen sie dann Tag für Tag, bis ihnen jemand Arbeit gibt. Er ist doch Bauarbeiter, oder? Da kannte er alle - und alle kannten ihn. Er ist einfach dorthin gefahren, hat gesagt, er brauchte fünf Leute für den Bau. Hat sie sich sogar noch selbst ausgesucht… dieses Drecksvieh. Dann hat er sie abtransportiert. Die Woche drauf hat er sich eine neue Fuhre geholt.«
»Wie leben die Menschen bloß?«, fragte Geser.»Selbst heute noch? Fünfzig Menschen verschwinden - und niemand vermisst sie?«
»Niemand«, bestätigte Garik seufzend.»Dieser abgestorbene Scheißkerl… Er hat sie vermutlich nicht alle auf einmal umgebracht… Erst hat er einen ermordet, die übrigen mussten warten, bis sie dran waren, einen Tag, zwei, drei… Da drüben, in diesem Zimmer. Die, die er ausgetrunken hatte, stopfte er in zwei Plastikbeutel, damit es nicht stank, und stellte sie in die Ecke… Er hat sogar die Heizungen abgestellt. Klar, er hat im Winter mit dieser Schweinerei angefangen…«
»Ich würde jetzt sehr gern jemanden umbringen«, presste Geser hervor.»Mit Vorliebe einen Vampir. Aber ich gäbe mich auch mit jedem x-beliebigen Dunklen zufrieden.«
»Dann versuch’s mal mit mir.«Garik unsanft zur Seite schiebend, betrat Sebulon das Wohnzimmer der Familie Sauschkin. Gähnend nahm er auf dem Sofa Platz.
»Provozier mich ja nicht«, warnte Geser ihn leise, wobei er nach wie vor aus dem Fenster starrte.»Sonst könnte ich das als offizielle Aufforderung zu einem Duell verstehen.«
In der Wohnung senkte sich Grabesstille herab. Sebulon kniff die Augen zusammen und setzte sich kerzengerade hin. Wie immer trug er einen Anzug, allerdings keine Krawatte. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, er habe den schwarzen Anzug und das weiße Hemd bewusst gewählt. Als Zeichen seiner Trauer.
Olga und ich warteten ab, sahen die beiden alten Anderen an, von denen ein Sechstel unseres Planeten abhing.
»Das war nur so dahergesagt«, räumte Sebulon versöhnlich ein. Er lehnte sich zurück.»Was ist? Glaubst du, ich hätte von… von diesem unsäglichen Geschehen etwas gewusst?«
»Keine Ahnung«, blaffte Geser. Doch seine Stimme ließ keinen Zweifel daran: Er wusste ganz genau, dass er Sebulon in diesem Fall nichts vorwerfen konnte.
»Dann werde ich es dir sagen«, fuhr Sebulon genauso friedlich wie eben fort.»Ich bin nicht weniger entsetzt als du, möglicherweise sogar stärker. Die gesamte Gemeinde der Moskauer Vampire ist entsetzt und fordert eine Bestrafung des Verbrechers.«
Geser schnaubte.
»Du weißt, sie sind sehr empfindlich, wenn jemand ihre Futterbasis plündert…«Ganz konnte Sebulon auf Spott nicht verzichten.
»Ich werde ihnen ihre Futterbasis schon zeigen«, brachte Geser leise und nachdrücklich hervor.»Fünf Jahre lang werden sie nur noch konserviertes Blut bekommen.«
»Meinst du, die Inquisition unterstützt deine Forderung?«, hakte Sebulon nach.
»Ich denke schon.«Schließlich drehte Geser sich um und sah Sebulon in die Augen.»Ich denke schon. Und du wirst meine Eingabe ebenfalls unterstützen.«
Der Dunkle musste als Erster den Blick senken. Sebulon seufzte, drehte sich um, sah mich an und breitete die Arme aus, damit seine Ratlosigkeit bekundend: Was soll ich mit dem bloß machen? Dann holte er eine Zigarette in frivolem Rosaton heraus und steckte sie sich an.»Sie werden ganz und gar in Raserei verfallen…«, konstatierte er.
»Macht nichts. Du wirst darauf achten, dass sie es nicht tun.«
»Du weißt genau, dass ihre Kinder ohne Blut nicht erwachsen werden. Die Geschlechtsreife setzt bei ihnen nur ein, wenn sie frisches Blut bekommen.«
Selbstverständlich scherte sich Sebulon einen Dreck um das Schicksal der Vampirkinder. Er wollte sich einfach über Geser lustig machen. Im Rahmen des Möglichen.
»Den Kindern? Den werden wir frisches Blut gewähren«, räumte Geser nach kurzer Überlegung ein.»Schließlich können die… wie viele… Anton?«
»Die zweiunddreißig.«
»Schließlich können die zweiunddreißig minderjährigen Blutsauger nichts dafür. Sie sollen ihr frisches Blut bekommen. Aber von Spendern! Die Ausgabe von Lizenzen wird für die nächsten fünf Jahre eingestellt.«
»Einverstanden«, stimmte Sebulon ihm seufzend zu.»Ich bin ja selbst der Ansicht, man müsse sie mal in ihre Schranken verweisen. Schließlich habe ich den Sekretär der Vampirgemeinschaft gebeten, Sauschkin im Auge zu behalten… Die Familie war einfach krank.«
»Ich hätte auf sieben Jahre bestehen sollen«, brummte Geser.»Du hast dich allzu bereitwillig auf die fünf eingelassen.«
»Jetzt ist es zu spät, wir sind uns bereits einig geworden.«Sebulon stieß eine Rauchwolke aus.»Anton«, wandte er sich an mich,»bist du nach Kostjas Tod mal bei Gennadi gewesen?«
»Nein«, antwortete ich.
»Warum nicht? Als ehemaliger Freund und Nachbar… oh, oh…«
Darauf blieb ich stumm. Vor acht Jahren hätte ich nach diesen Worten noch die Beherrschung verloren.
»Dieses Thema gehört nicht hierher«, mischte sich Geser ein. Mit gerunzelter Stirn blickte er in den Korridor, wo gerade die Leichen herausgetragen wurden. Im ganzen Haus hing jetzt ein leichter Zauber, der den Mietern jeden Wunsch austrieb, zur Tür herauszukommen oder aus dem Fenster zu schauen. Da vorhin jedoch auch auf das Gezeter der Nachbarin niemand herausgestürzt gekommen war, mussten hier allerdings ohnehin Menschen mit beneidenswert gering ausgeprägter Neugier wohnen.
Die zu lieben mir immer schwerer fiel. Dagegen sollte ich mal was unternehmen.
»Was noch?«, fragte Sebulon.»Dass wir euch helfen, Sauschkin zu fassen, versteht sich von selbst. Meine Leute sind schon ausgeschwärmt. Allerdings fürchte ich, dass er dir nicht in einem Stück geliefert wird…«
»Du siehst schlecht aus«, bemerke Geser plötzlich.»Geh mal ins Badezimmer und wasch dich.«
»Ach ja?«, wunderte sich Sebulon.»Gut, wenn du mich darum bittest…«
Er erhob sich, blieb einen Moment in der Tür stehen und ließ zwei Wächter vorbei, die auf einer Bahre eine in Plastikbeuteln verpackte, halb verweste Leiche heraustrugen. Abgesehen von Blut besteht der Mensch aus sehr viel Wasser. Wenn ein blutleerer Körper in einem Plastikkokon verfault - ist das Resultat ausgesprochen unangenehm.
Sebulon beeindruckte dieser Anblick jedoch nicht.
»Pardon, Madame«, murmelte er, während die Überreste an ihm vorbeizogen. Und ging munter ins Badezimmer.
»Waren unter den Toten auch Frauen?«, wollte Geser wissen.
»Ja«, antwortete Olga.
Daraufhin stellte Geser keine weiteren Fragen. Offenbar versagten unserem Alten seine Drahtseilnerven.
Die Jungs, die jetzt die Leichen fortschafften, würden sich heute Nacht die Kante geben. Und selbst wenn das gegen alle Regeln verstieß, würde ich sie nicht daran hindern. Eher würde ich selbst auf Streife gehen.
Nach einer Minute kam Sebulon wieder. Sein Gesicht glänzte feucht.
»Das Handtuch ist schmutzig, deshalb muss ich so trocknen«, verkündete er mit einem Lächeln.»Und?«
»Was meinst du dazu?«, fragte Geser.
»Ich hatte mal eine Bekannte, die zu Neujahr gern mit Zahnpasta einen Weihnachtsbaum auf den Spiegel gemalt hat. Plus den Wunsch: Prosit Neujahr! Und die Jahreszahl.«
»Sehr komisch«, blaffte Geser angewidert.»Hast du schon mal was von dieser Einrichtung gehört?«
»Von der Ewigen Wache?«Sebulon akzentuierte die großen Anfangsbuchstaben deutlich.»Mein lieber Feind, selbst unter den Dunklen gibt es unzählige Sekten, Grüppchen und schlichte Interessenvereinigungen, von denen ich noch nie gehört habe. Dann gibt es noch einige, von denen ich gehört habe. Was man da alles für Bezeichnungen trifft! Kinder der Nacht, Wächter des Vollmonds, Söhne des Windes. Ich kann mich auch noch an eine Gruppe von Kindern erinnern, Menschenkindern, keine Anderen, die gern Vampir spielten. Vielleicht sollte ich sie mal hierherbringen? Damit sie begreifen, dass es sich bei Vampiren keinesfalls um distinguierte Gentlemen im schwarzem Umhang handelt, die schöne Frauen in ein altes Schloss locken. Dass das alles keinesfalls so gotisch ist…«
»Sebulon! Hast du irgendetwas über die Ewige Wache gehört?«
»Nein.«
»Gorodezki hat eine Vermutung…«Geser sah mich an.»Er glaubt, dass sich so die drei Anderen nennen, die in Edinburgh versucht haben, das Artefakt an sich zu bringen. Ein Dunkler, ein Lichter und ein Inquisitor.«
»Der Dunkle ist Sauschkin, der Inquisitior Edgar.«Sebulon nickte.»Aber wer ist der Lichte?«
»Ich weiß es nicht. Wir haben alle Hohen überprüft, sie sind alle sauber.«
»Da Sauschkin vorher auch kein Hoher war…«Sebulon zuckte mit den Schultern.»Obwohl… für Vampire ist das einfacher. Was ist mit Edgar, Gorodezki?«
»Ich hatte keine Zeit, seine Aura bis ins letzte Detail zu studieren«, antwortete ich.»Der Kampf tobte… Außerdem war er vom Kopf bis zu den Zehen mit Amuletten behangen. Hätte ich ihn mir fünf Minuten in Ruhe ansehen können, würde ich jetzt alles über ihn wissen…«
»Trotzdem…«, hakte Sebulon nach.»Ich weiß, was auf dem Plateau der Dämonen vorgefallen ist. Im Großen und Ganzen. Also erzähl schon.«
»Im Kampf hat er sich wie ein Hoher verhalten«, räumte ich mit einem Blick auf den widerwillig nickenden Geser ein.»Wir waren zu dritt… Besser gesagt zu zweit, denn Afandi kann man nicht mitzählen, obwohl er sein Möglichstes getan hat. Geser hatte uns mit einem Satz von Schutzamuletten ausgestattet, die alle haarklein auf die Situation gemünzt waren. Dennoch hat Edgar sich hervorragend gehalten. Ich glaube sogar, er hätte den Kampf noch fortsetzen und sogar gewinnen können. Aber als Rustam gegangen war, bestand für Edgar keine Notwendigkeit mehr, sich auf einen Kampf einzulassen.«
»Damit hätten wir es also mit einem Anderen zu tun, der seinen Grad anzuheben vermochte«, hielt Sebulon fest.»Was zu beweisen war. Geser, mein Guter, könntest du dir vorstellen, dass die Inquisition es trotz allem geschafft hat, das Fuaran an sich zu bringen?«
»Nein«, sagte Geser entschieden.
»Wenn Kostja überlebt hätte«, dachte Sebulon laut nach,»könnten wir vermuten, dass er sich an den Zauber aus dem Fuaran erinnern würde. Und dass er eine Art… äh… Pendant zu dem Buch hergestellt hat. Möglicherweise wäre es nicht ganz so stark gewesen, hätte aber aus Edgar trotzdem einen Hohen machen können. Anschließend könnte sich ein Lichter derselben Prozedur unterzogen haben.«
»Womit wir jeden x-beliebigen Lichten verdächtigen müssten«, schlussfolgerte Geser.»Zum Glück ist Kostja aber tot und konnte das Geheimnis des Fuaran niemandem mitteilen.«
»Hatte er keine Zeit, seinen Vater in das Geheimnis einzuweihen?«
»Nein«, behauptete Geser felsenfest.»Das ist ein Zauberbuch. Seinen Inhalt kann man nicht telefonisch durchgeben. Man kann es nicht einmal abfotografieren.«
»Schade, das bringt mich um eine gute Idee.«Sebulon schnippte mit den Fingern.»Eine kleine Hexe hat mir mal gezeigt, dass es in Handys so ein Ding gibt, MultiMedia Card heißt es! Damit kann man Fotos übers Handy übermitteln.«
Im ersten Moment glaubte ich, Sebulon stichele bloß. Denn wie er da mit klugem Gesichtsausdruck über MMCs sinnierte, mit denen Schulkinder heutzutage fröhlich während des Unterrichts kommunizieren, wirkte schon sehr komisch.
Dann begriff ich, dass er es ernst meinte. Manchmal vergaß ich einfach, wie alt die beiden waren. Für Sebulon stellte ein Handy eine Art Magie dar.
»Glücklicherweise geht das nicht«, konstatierte Geser.»Er hätte sich etwas merken und es rekonstruieren können… Nein, das ist auch Blödsinn. Selbst das wäre nicht möglich gewesen. Die Natur eines Vampirs unterscheidet sich von der einer Hexe. Um das Fuaran neu zu schaffen - und sei es in einer abgeschwächten Form -, wäre eine erfahrene Hexe nötig gewesen…«
Ich sah Geser an.»Sagen Sie, Boris Ignatjewitsch…«, setzte ich an.»Kann eine Hexe eine Lichte werden?«
Die herrlichsten Momente im Leben von Eltern eines kleinen Kindes sind die fünfzehn Minuten von Viertel vor neun bis neun Uhr abends. Eine Viertelstunde Glück, in denen sich das Kind fröhlich die Reklamespots für Joghurt und Schokolade ansieht (selbst wenn das nicht gut ist) und dann mit großen Augen an Chrjuscha, Karkuscha, Stepaschka und weiteren Figuren aus der Sendung Gute Nacht, Kinder hängt.
Wenn diejenigen, die die Sendezeit für die Kindersendungen festsetzen, den Abend selbst mit ihren Kindern verbrächten und sie nicht in die Obhut professioneller Kindermädchen abschöben, dann würde Gute Nacht, Kinder eine halbe Stunde dauern. Oder eine Stunde.
Nebenbei bemerkt, würde das auch die Geburtenzahl in die Höhe schnellen lassen. Man kann es drehen und wenden, wie man will - fünfzehn Minuten sind zu kurz. Aber wenigstens kann man in aller Ruhe Tee trinken.
Ich hatte Swetlana keine Einzelheiten von dem erzählt, was wir in Sauschkins Wohnung vorgefunden hatten. Dennoch machte sie sich ein sehr genaues Bild von allem, nur anhand der kurzen Schilderung. Auf den Magen schlug ihr das jedoch nicht: Sweta ließ sich nicht vom Teetrinken abhalten. Wir in der Wache sahen ja mitunter noch Schlimmeres. Finster blickte Sweta allerdings doch drein.
»Was den Lichten angeht, da haben wir eine Version«, berichtete ich in dem Versuch, einen Themenwechsel herbeizuführen.»Geser hat alle Hohen überprüft, von denen ist niemand verdächtig. Also… Edgar verfügte über eine Unmenge von bestimmten Zaubern. Das war das Werk einer Hexe. Ich habe mir überlegt…«
»Dass Arina die Farbe geändert hat?«Swetlana sah mich an.»Das könnte sein.«
»Du hast sie dir ja damals ganz schön vorgeknöpft«, fuhr ich fort.»Du musst ihr Bewusstsein gespürt haben. Was meinst du, könnte sie eine Lichte werden?«
»Für einen Durchschnittsanderen wäre das unmöglich«, entgegnete Swetlana.»Oder fast unmöglich… Aber für einen Hohen… für Arina…«
Sie verstummte. Versank in ihre Erinnerung. Wartend schaute ich auf den Fernseher, wo ein trauriges Mädchen an einer Schnur einen Handschuh hinter sich herzog und so tat, als sei es ein Welpe. Schrecklich! Alle unsere Fäustlinge und Fingerhandschuhe würden verschwinden. Natürlich würde Nadja sie nicht in einen Hund verwandeln. Jede Magie hat ihre Grenzen. Aber Spielhunde würden sich in unserer Wohnung zuhauf tummeln.
Wir sollten ihr einen richtigen Welpen kaufen, sonst würden wir unseres Lebens nicht mehr froh.
»Das könnte sein«, bestätigte Swetlana.»Sie könnte eine Lichte geworden sein. In ihrer Seele sah es merkwürdig aus, dort ist alles miteinander vermengt gewesen… Besonders niederträchtig war sie nicht. Aber Arina hat mir geschworen, ein ganzes Jahrhundert lang weder einen Menschen noch einen Anderen umzubringen. Diesen Schwur kann sie nicht gebrochen haben.«
»Sie hat ja auch nicht gemordet«, wandte ich ein.»Aber Edgar mit Amuletten auszustatten, seine Kraft zu erhöhen… das stand damals zwischen euch nicht zur Debatte. Arina ist klug genug, um dein Verbot genau auf diese Weise zu umgehen.«
»Wir fangen die Sache falsch an, Anton.«Swetlana stellte ihre Tasse ab.»Ob Arina eine Lichte geworden ist - oder sonst eine Zauberin -, das spielt doch keine Rolle. Viel wichtiger ist: Was wollen sie erreichen? Was vereint sie? Wollen alle drei die Welt vernichten? Blödsinn! Nur in idiotischen Filmen treten Schufte auf, die die Welt um der Zerstörung willen zerstören wollen. Macht? Das wäre genauso dumm! Sie haben auch so genug Macht. Und kein Artefakt wird ihnen absolute Macht verleihen, selbst dann nicht, wenn es vor tausendfünfhundert Jahren von einem wahnsinnigen Magier entwickelt worden ist. Solange wir nicht wissen, was sie wollen, was sie am Boden des Zwielichts zu finden hoffen, spielt es überhaupt keine Rolle, ob Arina oder sonst wer eine Lichte geworden ist oder sich so getarnt hat, dass Thomas sie nicht erkennen konnte.«
»Hast du eine Idee, Sweta?«Ich tat so, als hätte ich ihr»wir«überhört. Man braucht sich da nichts vorzumachen: Es heißt zu Recht, dass man nie vollends aus der Wache ausscheidet.
»Der Kranz der Schöpfung beseitigt die Barrieren zwischen den Schichten des Zwielichts…«Swetlana verstummte.
»Mama, der Zeichentrickfilm ist aus!«, schrie Nadja.
»Versuch mal, das mit dem Weißen Höhenrauch in Verbindung zu bringen. Die beiden Zauber haben ja dieselbe Wurzel…«Swetlana erhob sich und ging zu Nadja hinüber.»Wir gehen jetzt schlafen.«
»Noch ein Märchen!«, verlangte Nadja.
»Daraus wird heute nichts. Papa und ich müssen etwas besprechen.«
Beleidigt starrte Nadja mich an, wobei sie an der dünnen Schnur mit den Türkisperlen zerrte, die ihr um den Hals hing.»Immer habt ihr was zu besprechen…«, brummelte sie.»Und immer fährt Papa weg.«
»Das liegt an Papas Arbeit«, erklärte Swetlana ruhig und nahm unsere Tochter auf den Arm.»Du weißt doch, dass er gegen die dunklen Kräfte kämpft.«
»Wie Harry Potter«, meinte Nadja mit leichtem Zweifel in der Stimme, während sie mich musterte. Ohne Brille und Narbe auf der Stirn hatte ich vermutlich keine Chance, dem hohen Vorbild gerecht zu werden.
»Ja, wie Harry Potter, Făt-Frumos und Luke Skywalker.«
»Wie Skywalker«, entschied Nadja und lächelte mich an. Dieser Figur schien ich in ihren Augen am ehesten zu entsprechen. Immerhin etwas.
»Ich bin gleich wieder da…«Swetlana verschwand mit Nadja im Kinderzimmer. Ich saß da, und mein Blick hakte sich an einem angebissenen Stück Konfekt fest. Schichtkonfekt, dunkle und weiße Schokolade wechselten sich ab. Ich zählte sieben Schichten und musste lachen. Was für ein originelles Beispiel, um die Struktur des Zwielichts zu veranschaulichen. Der Weiße Höhenrauch faltete alle Schichten zusammen und verwandelte diejenigen, die er traf, in Stein. Gut, lassen wir den Kampfaspekt des Zaubers einmal beiseite. Was geschah danach? Ich schloss die Augen und erinnerte mich.
Danach glättete sich das Zwielicht wieder. Alle Zwielicht-Schichten kehrten an ihren Platz zurück.
Wieso glaubten wir eigentlich, der Kranz der Schöpfung vereine das Zwielicht und die reale Welt für immer? Hörten wir das aus Rustams Worten heraus? Woher hätte er es aber wissen sollen… Das Zwielicht schloss sich zusammen und entfaltete sich wieder. Die aus unserer Welt austretende Kraft trennte die Schichten abermals. Das war wie bei einer Sprungfeder: Man kann sie zusammendrücken, doch sie schnellt immer wieder in die Höhe.
Damit kam ich der Sache schon näher. An einen Merlin, der um seines Vergnügens willen eine magische Bombe zur Vernichtung der ganzen Welt schuf, wollte ich einfach nicht glauben. So ein Anderer war er nicht. Aber an Merlin den Experimentierfreudigen, der sich einen Spaß ausdachte, ohne ihn dann auszuprobieren - den konnte ich mir ohne Weiteres vorstellen.
Was konnte passieren, wenn es zu einer kurzzeitigen Vereinigung aller Zwielicht-Schichten mit der realen Welt kam?
Stürben die Anderen dann aus?
Kaum.
Dann hätte Merlin seine Macht lauthals gepriesen.
Er hatte sich jedoch eine versteckte Botschaft einfallen lassen…
Halblaut sagte ich den Spruch auf, wobei ich die leise in die Küche zurückkehrende Swetlana anschaute.
Der Kranz der Schöpfung liegt verborgen hier. Ein Schritt nur bleibt.
Doch erben solln ihn nur die Starken und die Klugen.
Alles erhältst du und nichts, bringst du ihn an dich.
So geh voran, wenn du stark bist wie ich;
Wenn du klug bist wie ich, weich zurück.
Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, alles ist eins im
Kranz der Schöpfung.
So sind Leben und Tod nicht zu trennen.
»Versuchst du, es zu begreifen?«Swetlana setzte sich neben mich.»Weißt du, ich habe mich gefragt, warum wir eigentlich davon ausgehen, das Zwielicht zöge sich für immer zusammen. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass es auch eine Gegenbewegung gibt.«
»Das habe ich mir auch gerade überlegt«, stimmte ich ihr zu.»Wie mit dem Weißen Höhenrauch. Aber was bedeutet das? Dass das blaue Moos plötzlich auch in unserer Welt wächst?«
»Das würde die Botaniker freuen!«, meinte Swetlana lachend.»Eine neue Pflanzenform! Noch dazu eine, die auf menschliche Emotionen reagiert. Eine Million Dissertationen würden darüber geschrieben werden…«
»Es würden Fabriken zur Verarbeitung des blauen Mooses entstehen«, malte ich mir aus.»Man würde Garn daraus spinnen, Jeans nähen…«
Mit einem Mal wurde Swetlana ernst.»Und was passiert mit denen, die im Zwielicht leben?«
»Mit den Anderen, die sich dematerialisiert haben?«, hakte ich nach.
Swetlana nickte.
»Leben und Tod.«Ich nickte.»Keine Ahnung. Glaubst du, dass sie… auferstehen können? Wieder in unserer Welt leben würden?«
»Warum eigentlich nicht? Wir wissen schließlich, dass sie noch leben. In der fünften Schicht habe ich sogar einen gesehen, als ich mit Arina gekämpft habe…«
»Davon hast du mir nie etwas erzählt«, bemerkte ich.
»Über manche Dinge spricht man besser nicht, das weißt du genau. Du brauchst es nicht zu wissen, bevor du nicht selbst dorthin gelangst. Außerdem bin ich nicht davon überzeugt, dass wirklich alle dorthin gelangen… Vielleicht schaffen das nur die Stärksten. Zum Beispiel die Hohen. Weshalb sollte der Rest der Anderen wissen, dass ihnen eine postume Existenz verwehrt bleibt?«
»Thomas Rhymer hat gesagt, es gebe dort, in den tiefen Schichten des Zwielichts, verzauberte Städte, Drachen und Einhörner… all das, was wir aus unserer Welt nicht kennen, was aber in ihr sein könnte.«
Swetlana schüttelte den Kopf.»Wenn du mich fragst, ist Thomas ein sehr guter Mensch. Aber er ist ein Barde. Ein Poet. Das wird man nie los, Anton. Du hast mit ihm gesprochen, als er in seiner Zwielicht-Gestalt steckte und von Einhörnen, Feen, verzauberten Städten und Anderen träumte, die sich ihre eigene Welt aufbauen, in der sie nicht mehr wie Parasiten von Menschen leben müssen. Ich würde mich nicht allzu sehr darauf verlassen. Vielleicht gibt es dort nur Hütten und Holzhäuser. Aber keine Feen und Einhörner.«
»Zu verachten wäre das nicht«, sagte ich.»Viele Menschen würden das Paradies, in das zu gelangen sie nur hoffen können, gegen ein ewiges Leben in Hütten inmitten der Natur eintauschen. Und Bäume gibt es da mit Sicherheit.«
»Dieser Andere, den ich gesehen habe, schien mir nicht sehr froh zu sein«, wandte Swetlana ein.»Freilich, er war… hm, irgendwie verschwommen, diffus. Aber das ist ganz natürlich, wenn seine normale Umgebung die siebte Zwielicht-Schicht ist. Aber er wirkte so… zerknittert. Und er ist auf mich zugerannt, als wollte er mir etwas mitteilen. Wie du dir vorstellen kannst, hatte ich dafür keine Zeit.«
»Und ich habe mal einen ehemaligen Anderen in der ersten Schicht gesehen«, erinnerte ich mich.»Vor langer Zeit. Als wir diesen wilden Lichten jagten, Maxim. Er hat mir in gewisser Weise sogar geholfen, denn er hat mir gesagt, wohin ich gehen soll.«
»So etwas kommt vor«, bestätigte Swetlana.»Selten, aber ein paar Geschichten habe ich gehört. Und du hast doch selbst gesagt…«
Wir verstummten.
»Vielleicht kann man sie wirklich in unsere Welt zurückholen«, überlegte Swetlana.»Das könnte Edgar, Gennadi und Arina dazu veranlassen, sich zu verbünden. Nicht nur Sauschkin, sie alle haben vermutlich jemanden verloren, den sie liebten. Vermutlich würde eine solche Möglichkeit jeden, der jemanden verloren hat… kribbelig machen.«
»Ja, jeden«, stimmte ich ihr zu.
Alarmiert sahen wir einander an. Zum Glück wurden wir rund um die Uhr bewacht. Aber warum mussten unsere Feinde ausgerechnet drei Hohe sein?
»Ich wirke für die Nacht noch ein paar neue Schutzzauber«, verkündete Swetlana.»Halt mich deswegen nicht für feige.«
»Zum Kranz der Schöpfung führt einen die Kraft«, sagte ich.»Indem man durch das Zwielicht in die siebte Schicht einbricht. Aber das kann ich nicht. Nadja brächte es vermutlich fertig. Wenn wir nur wussten, wie einen der Verstand… dorthin führt… welchen Trick es gibt. Dann würde ich selbst dieses Artefakt benutzen. Sollen sie ruhig alle leben. Die Lichten und die Dunklen gleichermaßen, wir werden schon damit fertig.«
»Und wenn wir uns irren und es doch eine Bombe ist, die die ganze Welt vernichtet?«
»Deshalb denke ich lieber erst gar nicht darüber nach, wie man an das Artefakt kommt. Sollen Geser und Sebulon sich darüber den Kopf zerbrechen.«
»Gehen wir schlafen«, forderte Swetlana mich auf.»Morgen ist auch noch ein Tag.«
Schlafen gingen wir jedoch nicht gleich. Zunächst legte Swetlana noch einige neue Schutzzauber um unsere Wohnung. Anschließend tat ich dasselbe.
Der Morgen erstrahlte so rein und klar, dass unsere ganze gestrige Niedergeschlagenheit sich förmlich in Rauch auflöste. Nadjuschka aß ohne zu murren ihren ungeliebten Reisbrei, Swetlana sagte kein Wort, als ich ihr nebenbei mitteilte, ich wolle heute früher zur Arbeit aufbrechen. Zum Ausgleich schlug sie mir vor, auch früher wieder nach Hause zu kommen und mit den beiden ins Kino zu gehen, in einen Film für die ganze Familie, den eine Freundin ihr empfohlen hatte. Als ich mir vorstellte, wie die Dunklen Leibwächter Nadjas gezwungen sein würden, sich ein romantisches Märchen anzusehen, in dem das Gute natürlich über das Böse siegte, musste ich lächeln.
»Es muss sein. Ich will wissen, wie die Sache steht. Vielleicht haben wir den toten Punkt überwunden.«
»Dann hätten sie dich angerufen«, machte Swetlana meine Träume zunichte.
Die Stimmung konnte sie mir damit freilich nicht verderben. Ich machte mich rasch fertig, schnappte mir meine Aktentasche mit den Papieren - da hilft nichts, selbst Lichte Magier müssen sich mit Schreibtischarbeit beschäftigen. Nachdem ich Frau und Tochter geküsst hatte, verließ ich die Wohnung.
Ein Stockwerk tiefer unterhielten sich Romka, ein gutmütiger junger Brummbär, der seit zwei Jahren bei uns in der Wache arbeitete, und eine nette magere Frau. Eine Dunkle. Eine von denen, die Sebulon zu unserem Schutz abgestellt hatte.
Ich begrüßte beide und ging kopfschüttelnd weiter.
So beginnen Liebesgeschichten mit tragischem Ausgang. Wie damals bei Alissa und Igor…
Das Wetter war so schön, dass ich kurz vorm Haus stehen blieb und mir überlegte, ob ich nicht zu Fuß zur Metro gehen sollte. Dagegen sprach, dass ich auf gar keinen Fall mit ihr fahren wollte. Die Hitze, das Geschubse, die vollen Waggons - die Rushhour in der Moskauer Metro zieht sich bis zwölf Uhr nachts hin.
Nein, lieber nahm ich das Auto. Swetlana wollte ohnehin nirgendwo hinfahren. Und wenn ich mir die Wahrscheinlichkeitslinien ansah, könnte ich den Staus entkommen und in zwanzig Minuten im Büro sein.
Nachdem ich die Schutzzauber aufgehoben hatte - die mir nichts anzuhaben vermochten, sensible Fahrer jedoch veranlassen würden, meinem Wagen hektisch auszuweichen -, setzte ich mich hinters Steuer. Ließ den Motor an. Schloss die Augen, um zu eruieren, welchen Weg ich am besten nehmen sollte.
Ein deprimierendes Ergebnis. Alle Wahrscheinlichkeitslinien führten mich auf die Straße nach Scheremetjewo. Dabei hatte ich nicht die geringste Absicht, zum Flughafen zu fahren!
Plötzlich legte sich etwas Haariges um meinen Hals.»Zieht es uns heut noch fort, an einen weit entleg’nen Ort?«, fragte eine gutmütige, irgendwie säuselnde Stimme.
Ich blickte in den Rückspiegel. Was ich da sah, gefiel mir überhaupt nicht.
Edgar entdeckte ich nicht. Dafür erkannte ich, was er mir um den Hals gelegt hatte. Ein silbriges Pelzband. Als Kragen konnte das Ding nicht durchgehen, dazu haftete ihm etwas allzu Raubtierhaftes an - als würden sich unter dem grauen Fell etliche winzige spitze Zähne verbergen.
Außerdem machte ich Gennadi Sauschkin in ihm aus, der hinten rechts saß. Das Gesicht des Vampirs blieb völlig regungslos.
»Was hast du vor, Edgar?«, fragte ich.
»Das geht dich nichts an.«Edgar stimmte ein hässliches Lachen an.»Versuche ja nicht, ins Zwielicht abzutauchen oder zu zaubern. Das Band um deinen Hals existiert in allen Zwielicht-Schichten… zumindest bis zur sechsten inklusive. Bei der geringsten Anwendung von Magie reißt es dir den Kopf ab.«
»Ich habe nicht vor, mich selbst davon zu überzeugen«, versicherte ich.»Wie geht’s jetzt weiter?«
»Lädst du uns zu dir ein?«, fragte der unsichtbare Edgar. Sauschkins Gesicht zuckte bei diesen Worten leicht.
»Nein. Entschuldige, aber mir steht nicht der Sinn nach Gästen.«
»Willst du, dass wir dich umbringen?«, erkundigte sich Edgar.
»Hast du etwa gedacht, ich würde euch Nadja überlassen?«Furcht empfand ich keine, eher wunderte ich mich über die Frage.»Bring mich ruhig um.«
»Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet«, gestand Edgar.»Aber Gennadi hat auf der Frage bestanden… Du siehst sicherlich ein, dass er sehr gern von deiner Tochter Gebrauch machen würde?«
»So, wie er von seinem Sohn Gebrauch gemacht hat?«, konnte ich mir nicht verkneifen zu bemerken. Was der Vampir mit einem Zähnefletschen und einem Gesichtsausdruck quittierte, aus dem prompt alles Menschliche gewichen war.
»Ganz ruhig.«Edgar stieß mir gegen die Schulter.»Übertreib’s nicht! Sonst kann ich Gena nicht mehr aufhalten. Er ist ohnehin nicht gut auf dich zu sprechen. Vielleicht ahnst du ja, weshalb.«
»Das tu ich. Kannst du dich nicht sichtbar machen? Es behagt mir nicht, mit dem Nichts zu sprechen.«
»Fahr vom Hof.«Edgar lachte.»Ich möchte nicht, dass deine Aufpasser mich sehen… Wir würden sie in Stücke reißen, ohne dass sie auch nur einen Piep sagen könnten. Aber ich befürchte, an Swetlana könnten wir uns die Zähne ausbeißen.«
Gennadi bleckte erneut die Zähne, um zu demonstrieren, dass keine einzige Lücke in seinem Gebiss klaffte und die vier Eckzähne den menschlichen klar überlegen waren.
»Davon bin ich überzeugt«, versicherte ich aufrichtig. Dann gab ich Gas und fuhr gemächlich vom Parkplatz herunter. Ob ich gegen einen Brückenpfeiler rasen sollte? Nein, damit würde ich sie nicht übertölpeln, mit dergleichen rechneten sie…»Wenn es um Nadja geht, macht Swetlana Kleinholz aus euch.«
»Ferner glaube ich«, bemerkte Edgar ebenso höflich wie friedfertig,»dass wir es uns nicht leisten können, eine tobende Furie auf den Fersen zu haben. Ob deine Tochter in die siebte Schicht vordringen kann oder nicht, vermag niemand zu wissen. Aber wenn wir dich entsprechend pushen, stehen unsere Chancen auch nicht schlechter.«
Ich schnaubte.»Ich möchte euch nicht enttäuschen. Aber ich kenne meine Grenzen. Ich bin ein Hoher, kein Null-Magier. Man muss Merlin sein, um in die siebte Schicht vorzustoßen.«
»Ich habe doch gesagt, wir hätten uns das Mädchen holen sollen«, bemerkte Gennadi leise.»Ich habe doch gesagt, er kann das nicht.«
»Ganz ruhig!«, besänftigte Edgar ihn.»Er wird es schaffen. Im Moment fehlt ihm noch die Motivation, aber da werden wir ein wenig nachhelfen. Dann kriegt er das schon hin.«
»Versuch’s nur«, forderte ich ihn auf.»Wohin fahren wir?«
»Nach Scheremetjewo 2, wohin sonst.«Edgar lachte. Nach und nach gab er seine Unsichtbarkeit auf und nahm Gestalt an - zunächst zeichnete sich eine halbdurchscheinende Figur ab, dann stellten sich die Farben ein. Gennadi zeigte sich immer noch nicht, ihn erblickte ich nur im Spiegel.»Meiner Ansicht nach kommen wir am schnellsten über die Ringautobahn hin, oder? Und komm nicht auf die Idee zu trödeln. In einer Stunde geht unser Flug nach Edinburgh. Ich denke, wir dürften weg sein, bevor dich jemand vermisst. Ich hätte keine Lust, die letzte Ladung der Minoischen Sphäre für ein Portal nach Edinburgh zu vergeuden. Du aber mach dir eins klar: Sollten wir den Flug verpassen, gehen wir durch ein Portal.«
»Ich nehme an, in Edinburgh wartet Arina auf uns?«, fragte ich.
»Nimm nichts an, sondern fahr lieber.«Edgar lachte.»Inzwischen werde ich dir erklären, warum du uns helfen wirst.«
»Ich kann es kaum erwarten«, erwiderte ich. In meiner Brust breitete sich Kälte aus, doch ich wollte mir meine Angst auf gar keinen Fall anmerken lassen. Obwohl - was bildete ich mir eigentlich ein? Vampire wittern Angst instinktiv. Nicht einmal Magie hilft da, sie nehmen sie doch wahr.
»Du wirst dir natürlich um deiner Tochter willen alle Mühe geben«, erklärte Edgar.»Um deiner Tochter und deiner Frau willen. Bei einem Dunklen würde dieser Ansatz nicht funktionieren, aber bei einem Lichten ist es genau das Richtige.«
»An meine Familie kommt ihr nicht ran.«
»Persönlich sicher nicht. Geser und Sebulon haben exzellent für ihren Schutz gesorgt. Insgesamt habe ich sechs Wachtposten gezählt. Von wie vielen weißt du? Von den beiden Dummköpfen im Treppenhaus?«
Ich hüllte mich in Schweigen.
»Ich vermute, es sind nicht weniger als acht, vielleicht sogar zwölf«, fuhr Edgar besorgt fort.»Sich darüber den Kopf zu zerbrechen wäre sinnlos, denn die beiden alten Hasen haben nichts anbrennen lassen. Aber sollte neben deinem Haus eine Bombe… nun, keine normale Bombe, sondern eine Atombombe… hochgehen, dann würden sogar die Hohen Anderen sterben. Hiroshima hat das eindeutig bewiesen.«
»So weit würdest du nicht gehen, Edgar«, brachte ich hervor.»Du bist zwar ein Dunkler, aber kein Psychopath. Würdest du wirklich mitten in Moskau eine Atombombe hochgehen lassen? Nur um meine Frau und meine Tochter umzubringen? Wie viele Menschen würden dabei sterben? Und wenn jemand den Kopf verliert und glaubt, es handle sich hier um einen atomaren Angriff - und deshalb einen Weltkrieg anzettelt?«
»Siehst du! Entscheidend ist dabei nämlich…«Edgar lachte schallend los.»… dass sich an der Situation nichts grundlegend ändert, selbst wenn Geser Probleme wittert und deine Familie aus Moskau rausbringen lässt, von mir aus sogar in einen Bunker in Ufa. So oder so hängt von deinem Verhalten das Leben von Hunderttausenden, wenn nicht von Millionen von Menschen ab. Kein schlechter Köder für einen Lichten, oder?«
»Edgar«, sagte ich,»was ist mit dir passiert?«
»Nichts.«Edgar stimmte ein nervöses, unnatürliches Lachen an.»Mit mir ist alles in Ordnung!«
»Wen hast du verloren, Edgar?«
Die Frage hatte ich auf gut Glück gestellt. Edgar gab mir keine Antwort. Womit ich verstand, dass ich ins Schwarze getroffen hatte.
Allmählich dämmerte mir, worum es bei dem Ganzen eigentlich ging.
»Meine Frau«, antwortete Edgar nach einer Weile.»Annabel.«
»Du hast mir doch gesagt, du seist mit ihr auf Kreta«, erinnerte ich mich.
»Das war ich auch. Vor ziemlich genau einem Jahr. Wir schlenderten vom Strand zum Hotel zurück, am Straßenrand… An uns raste ein Laster vorbei. Der Fahrer verlor die Kontrolle über das Steuer und rammte sie mit 80 km/h. Ich konnte nichts mehr für sie tun.«
»Du hast sie geliebt«, stellte ich verwundert fest.
»Ja.«Edgar nickte.»Das habe ich. Ich bin nicht Sebulon, ich vermag zu lieben. Vermochte es.«
»Das tut mir aufrichtig leid«, versicherte ich.
»Danke, Anton«, brachte Edgar in völlig normalem Ton hervor.»Ich weiß, dass du das ernst meinst. Aber das ändert nichts… an unserer Beziehung.«
»Warum stellst du dich gegen alle? Warum ziehst du Menschen in deine Angelegenheiten rein?«
»Die Menschen? Was spielt es schon für eine Rolle, wie wir sie benutzen, Anton? Wir leben ohnehin von ihrer Energie. Warum sollen wir sie da nicht auch als Kanonenfutter verwenden… Und weshalb ich mich gegen alle stelle… Die Frage stimmt schon nicht. Ich will wirklich niemandem schaden. Ich will nützen. Wenn du so willst, will ich allen Anderen nützen. Den Dunklen und den Lichten. Wenn wir unser Ziel erreichen, wirst du das verstehen. Selbst du wirst das dann verstehen.«
»So haben wir das aber nicht vereinbart«, mischte sich Gennadi ein.
»Ich weiß, was wir vereinbart haben«, fuhr Edgar ihn an.»Und wir werden verwirklichen, was wir geplant haben. Danach kannst du Anton zum Kampf herausfordern. Das willst du doch, oder? Ein ehrliches Duell?«
»Ja«, bestätigte Gennadi in leicht zweifelndem Ton.
»Wenn du so überzeugt davon bist, dass ich euch begreifen werde…«Als ich jetzt auf die Ringautobahn fuhr, musste ich gegen die Versuchung ankämpfen, das Steuer herumzureißen und über die Brücke zu schießen.»… dann kannst du mir auch gleich sagen, was ihr vorhabt. Vielleicht helfe ich euch ja sogar freiwillig.«
»Diese Frage habe ich mir bereits durch den Kopf gehen lassen«, meinte Edgar nickend.»Gleich am Anfang habe ich mir überlegt, dass du von allen Lichten, die ich kenne, derjenige bist, auf den wir am ehesten zählen könnten. Dann hat es sich aber so ergeben, dass ich mich mit Gennadi zusammengetan habe. Und er war ganz entschieden dagegen. Wie du dir vorstellen kannst, hat er dich nicht gerade in sein Herz geschlossen. Du hast seinen Sohn umgebracht. Deinetwegen hat sich seine Frau dematerialisiert. Wie hätten wir dich in die Ewige Wache aufnehmen können?«
»Was für eine romantische Bezeichnung.«
»Die stammt von Gena, er ist der Romantiker unter uns.«Edgar lachte schallend los.»Nein, wir wollen dir kein Haar krümmen. Rache ist eine feine Sache, aber nur, wenn dir nichts bleibt außer der Rache… Warum musste Geser bloß ausgerechnet dich nach Edinburgh schicken!«
»Habt ihr Viktor umgebracht, weil er Gennadi erkannt hat?«
»Ja«, bestätigte Edgar.»Da haben wir improvisiert. Gena hat die Nerven verloren, denn er hat geglaubt, Kostjas Schulfreund tauche nicht zufällig auf, sondern sei uns auf den Fersen. Natürlich war das eine Fehleinschätzung. Dafür haben wir bei dieser Gelegenheit entdeckt, wie die Barriere in der dritten Schicht zu überwinden ist. Diesbezüglich hatten wir nämlich keine genauen Informationen.«
»Aber über den Golem in der fünften Schicht wusstet ihr Bescheid?«
»O ja!«Edgar lachte.»Nach Annabels Tod hat man mich in die Abteilung für die Spezialdepots versetzt. Damit… damit ich wieder zur Ruhe komme, meinen Schmerz bei der beschaulichen Tätigkeit eines Archivars verwinden kann… Du machst dir ja kein Bild, Lichter, was sich alles in den Spezialdepots der Inquisition befindet! Mir selbst war vorher nicht klar, dass man solche Sachen überhaupt herstellen kann. Ehrlich gesagt, ist es mit der Magie in den letzten hundert Jahren ein wenig bergab gegangen. Wir sind dekadent geworden, greifen lieber zu den Erfindungen der Menschen. Dabei haben wir unsere eigenen
Analogien zu Telefonen, Autos und Flugzeugen… Aber was heißt eigentlich Analogien! Wir könnten eine Zivilisation schaffen, die ausschließlich auf Magie beruht!«
»Nur erzeugen wir weniger Kraft, als wir verbrauchen«, wandte ich ein.»Ohne die Menschen können wir nicht leben.«
»Auch darüber habe ich nachgedacht.«Edgar taute jetzt immer mehr auf.»Man könnte… Heh, gib wieder Gas! Wechsel in die linke Spur, die ist frei… Also, ich habe auch über diese Frage nachgedacht. Die ideale Gesellschaft müsste meiner Ansicht ähnlich wie die mittelalterliche aufgebaut sein. Die Menschen würden ein einfaches, gesundes und unverfälschtes Leben leben, auf dem Feld arbeiten, Handwerk betreiben und sich mit Kunst befassen. Zentralregierungen wären nicht nötig, das feudale System, Barone und das Wahlkönigtum reichten völlig aus. Wir, die Anderen, lebten teilweise isoliert, teilweise inmitten der Menschen. Niemand brauchte sich zu verstecken! Alle würden von uns wissen. Gewiss, die Menschen könnten Magiern oder Vampiren den Kampf ansagen! Ja und? So kämen die Mechanismen einer natürlichen Auslese zum Tragen, die schwachen und unnötig grausamen Anderen würden aussortiert. Diese Welt wäre weitaus reizvoller als die heutige - und zwar sowohl für Andere als auch für Menschen. Hast du niemals Fantasy gelesen?«
»Wie bitte?«
»Hast du diese Bücher gelesen? Der Herr der Ringe, Conan, Der Magier der Erdsee, Harry Potter und wie sie alle heißen?«
»Einiges habe ich schon gelesen«, gab ich zu.»Manches… war naiv, manches interessant. Als Unterhaltungsliteratur taugt das sogar für uns was.«
»Menschen mögen Fantasy viel lieber als Science Fiction«, behauptete Edgar voller Überzeugung.»Und das ist paradox: Die Menschen wollen nichts über die Eroberung des Mars oder Flüge zu den Sternen lesen, also nichts über etwas, das sie tatsächlich vollbringen, wir aber nie schaffen werden. Dafür träumen sie davon, Magier zu werden, sich mit großen spitzen Schwertern ins Gefecht zu stürzen… Wenn nur einer von ihnen wüsste, wie die Wunde von einem echten Schwert aussieht… Was sagt uns das? Dass die mittelalterliche Welt, in der es noch Magie gab, für die Menschen entschieden attraktiver ist!«
»Kann ich mir denken«, erwiderte ich.»Logisch. Weil niemand über das Vergnügen nachdenkt, seine Bedürfnisse in einer Latrine bei zwanzig Grad Frost zu verrichten, oder an den Duft, den diese Grube bei vierzig Grad Hitze verbreitet. Weil die Romanhelden nie an Schnupfen, Verdauungsstörungen, Blinddarmentzündungen oder Malaria leiden. Und wenn sie doch einmal erkranken, ist stets ein Lichter Heiler in der Nähe. Weil sich alle auf dem Königsthron, im Umhang eines mächtigen Magiers oder mindestens im Gefolge eines lustigen und kühnen Barons sehen. Aber niemals auf einem vertrockneten Feld, mit einer hölzernen Hacke in der Hand, wie sie diesem Gefolge hinterherblicken, das gerade eben ihre kärgliche Ernte niedergetrampelt hat, die ohnehin zur Hälfte dem lustigen und kühnen Baron gehört.«
»Freilich, das darf man nicht außer Acht lassen«, lenkte Edgar friedfertig ein.»Alles hat seine Vor- und Nachteile. Dafür gibt es keine Reklame, keine Politiker und Anwälte, keine genmanipulierten Lebensmittel…«
»Mit den Lebensmitteln wird es ohnehin schlecht bestellt sein«, gab ich zu bedenken.
»… keine Kinder, die aufgrund der Umweltverschmutzung als Missgeburten zur Welt kommen…«
»Du solltest schnellstens Greenpeace beitreten. Dafür wird es von Kindern wimmeln, die im Mutterleib verhext wurden. Außerdem wird es jede Menge ganz gewöhnlicher Kinder geben, die aufgrund einer Fehllage und wegen mangelnder Medikamente bei der Geburt sterben. Was habt ihr vor, Edgar? Wollt ihr die Welt ins Mittelalter zurückwerfen?«
»Nicht doch, Anton«, meinte Edgar seufzend.»Dieser Ausgang dürfte kaum wahrscheinlich sein. Ich will dir nicht verhehlen, dass ich genau darauf hoffe. Aber die Chancen stehen schlecht.«
»Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, das Steuer herumzureißen und gegen eine Säule zu rasen«, gestand ich.»Siehst du da die Fußgängerbrücke, die über die Autobahn führt? Ihre Betonpfeiler sind äußerst verlockend…«
»Uns könnte das nichts anhaben«, erwiderte Edgar.»Dir auch nicht, nehme ich an. Du hast einen guten Wagen, mit Airbag, Gurten… Wir hätten Chancen, das zu überleben. Also sei nicht so dumm. Wenn du deinem Leben unbedingt ein Ende setzen willst, dann brauchst du nur ein bisschen zu zaubern.«
»Was hast du in den Archiven ausgegraben? Worauf hoffst du?«
»Sag es ihm nicht«, warf Gennadi grimmig ein. Seine Worte schienen jedoch das genaue Gegenteil zu bewirken. Letztendlich steckte in Edgar doch der Dunkle, der angewidert auf Vampire herabsieht. Selbst wenn er mit ihnen verbündet ist.
»Die Inquisition hat den Artefakten, die sie nicht an sich zu bringen vermochte, immer große Aufmerksamkeit gewidmet«, holte Edgar aus.»Vor allem den Artefakten, die Merlin geschaffen hat, galt ihr Interesse… aus durchaus verständlichen Gründen. Über den Kranz der Schöpfung wusste man nur wenig. Lediglich, dass er sich in Schottland befindet und potenziell einer der stärksten magischen Gegenstände ist. Wenn nicht gar der stärkste. Lange glaubte man, über den Kranz gäbe es keine weiteren Informationen. Zum Glück begann man vor ein paar Jahren dann mit der vollständigen Katalogisierung und Digitalisierung der Archive. Unter anderem wurden dabei die Ergebnisse der Verhöre von Hexen im Mittelalter sowie vollständig in Vergessenheit geratene Berichte von Agenten und Gelehrten in die Datenbank eingegeben. Ich habe alles herausgesucht, was mit Merlin verbunden war, und dabei einige Zeilen entdeckt, an die sich schon seit langem niemand mehr erinnerte. Eine Lichte Zauberin aus dem 13. Jahrhundert, eine Lichte ersten Grades… war, um es einmal so auszudrücken, nicht aufgrund ihres Rangs an diese Informationen gelangt… Die Zauberin wurde im Zusammenhang mit einem Zwischenfall in Glasgow verhört, das damals noch ein kleines Provinzstädtchen gewesen ist. Im Zuge der Vernehmung hat sie ›das letzte von Merlin geschaffene Artefakt‹ erwähnt. Man wollte von ihr wissen, wozu dieses Artefakt dient. Daraufhin hat sie in wörtlicher Übersetzung Folgendes geantwortet: ›Der Kranz ist das, wovon die von uns gegangenen Anderen träumen, das, worauf sie im Zwielicht warten, das, was ihnen Glück beschert, ihnen die Freiheit zurückgibt…‹ Damals hat ihren Worten niemand Bedeutung beigemessen, und über Jahrhunderte verstaubte das Protokoll in den Archiven. Bis wir das Pergamentblatt scannten und ich den Suchbegriff ›Merlin‹ eingegeben habe.«
»Ich nehme an, dass diese Informationen inzwischen nicht mehr in der Datenbank der Inquisition abrufbar sind«, brachte ich hervor.
Edgar grinste.
»Wollt ihr die toten Anderen wiederbeleben?«
»Die von uns gegangenen«, schaltete sich Gennadi ein.»Die von uns gegangenen, nicht die toten.«
»So einfach ist das nicht«, fuhr Edgar fort.»Wir glauben, dass der Kranz der Schöpfung die Zwielicht-Welt und die Welt der Menschen miteinander verschmilzt, indem er die Barrieren zwischen den Schichten zerstört. Wenn die von uns Gegangenen zur Zeit nicht… praktisch nicht in unsere Welt zurückkehren können, während wir keine Möglichkeit haben, uns lange in den tieferen Schichten des Zwielichts aufzuhalten, wird der Kranz das ändern. Die von uns Gegangenen werden wieder bei uns sein.«
»Edgar, das wisst ihr doch nicht mit Sicherheit«, sagte ich.»Das könnt ihr gar nicht wissen. Das sind bloß Vermutungen. Was ist, wenn die Schichten tatsächlich mit unserer Welt verschmelzen? Das wäre eine Katastrophe!«
»Wir wissen, dass die von uns gegangenen Anderen es so wollen«, brachte Edgar nachdrücklich hervor.
»Auf der Grundlage eines Satzes, den eine Hexe im 13. Jahrhundert von sich gegeben hat?«
»Sie war die Geliebte Merlins. Sie wusste es ganz genau.«
Damit gab ich den Streit auf.
Was hätte ich ihrem Glauben auch entgegensetzen können? Nichts! Glauben kann man nur mit Glauben bekämpfen, nicht mit Fakten und schon gar nicht mit Hypothesen.
»Edgar, wenn ich mit Sicherheit wüsste, dass der Kranz die von uns gegangenen Anderen zurückbringt, würde ich euch helfen. Aber ich bin mir dessen nicht sicher.«Ich bog in die Leningrader Chaussee ein.»Das ist Punkt eins.«
»Fahr fort«, forderte mich Edgar freundlich auf.
»Selbst wenn ich euch gern helfen wollte - der Schutz des Artefakts in Edinburgh ist verstärkt worden. Alle gehen davon aus, dass du einen weiteren Entführungsversuch unternehmen wirst. Inzwischen dürfte man wohl auch geklärt haben, wie viele und welche magischen Artefakte du aus den Depots geschmuggelt hast, sodass deine Amulette keine Überraschung mehr darstellen werden. Wir werden nicht durchkommen. Das ist Punkt zwei.«
»Glaube mir, ich habe gute Arbeit geleistet«, verkündete Edgar stolz.»In der Inquisition wissen sie jetzt selber nicht mehr, was sie hatten, was sie nicht hatten und was ihnen geblieben ist. Die Inquisition ist eine sehr, sehr bürokratische Einrichtung. Das ist vermutlich das Schicksal jeder überstaatlichen Organisation, egal, ob sie von Menschen oder von uns gebildet wurde. Es wird nicht leicht werden, aber wir werden durchkommen. Selbst wenn du uns nicht hilfst… Es dürfte wohl kaum möglich sein, dich zu zwingen, Lichte zu töten.«
»Wir hätten uns seine kleine Tochter schnappen sollen, dann würde er uns helfen«, presste Gennadi hervor.
»Schweig«, fuhr Edgar ihn an.»Was bist du eigentlich für ein Unmensch? Es geht doch auch etwas zivilisierter, Gennadi!«
»Mein ganzes Leben lang bin ich zivilisiert gewesen«, sagte der Vampir.»Bis Kostja ermordet wurde, habe ich mich immer beherrscht. Bis Polina von mir gegangen ist. Aber jetzt reicht es!«
»Trotzdem sollten wir versuchen, die Unstimmigkeiten beizulegen, wo wir jetzt vorübergehend in einem Boot sitzen«, schlug Edgar vernünftig vor.»Wir wollen auf Beleidigungen verzichten, Verwandte und enge Freunde nicht… grundlos bedrohen. Bist du fertig, Anton?«
»Nein, eine Winzigkeit hätte ich noch anzumerken. Ich kann nicht in die siebte Schicht vordringen. In der sechsten bin ich schon gewesen. Aber da stand ich unter Stress, das Adrenalin strömte nur so. Deshalb habe ich es geschafft. Dann kommt jedoch eine Barriere, die ich niemals werde durchbrechen können. In den Wachen hat man die Solidität dieser Barriere ebenfalls aufs Genaueste untersucht. Eine Kraftzufuhr von außerhalb würde hier gar nichts bringen.«
»Warum nicht?«
»Weil es nicht an der Kraft als solcher liegt! Die strömt sowieso in den Trichter über den Verliesen. Und zwar kübelweise. Dennoch müssten wir mit Kraft operieren, müssten sie durch uns hindurchfließen lassen. Willst du künstlich Kraft beschaffen? Sie aus den Menschen oder den Artefakten herauspumpen? Das würde nichts bringen! Elektrische Spannung kann man schließlich auch nicht endlos hochschrauben, irgendwann würden die Leitungen durchschmoren! Was wir brauchen, ist ein Supraleiter! Dabei handelt es sich um nicht mehr und nicht weniger als um einen Null-Anderen, um jemanden, der überhaupt keine magische Energie produziert!«
»Immer diese technischen Analogien.«Edgar seufzte.»Hast du das verstanden, Gennadi?«
»Ja. Ich hab doch gesagt…«
»Schon gut, schweig. Mir ist ja klar, dass du nicht über dich hinauswachsen kannst, Anton. Das vermag ich auch nicht…«
»Seit wann bist du ein Hoher, Edgar?«
»Noch nicht sehr lange.«Der einstige Inquisitor grinste.»Das spielt keine Rolle.«
»Du hast Gennadi das Registrierungszeichen abgenommen«, dachte ich laut nach.»So etwas stellt kein Problem für dich dar, das hast du schließlich bei der Inquisition gelernt. Aber das Kraftniveau anheben konnte man nur mit dem Fuaran. Das Buch ist verbrannt…«
»Was beißt du dich an dem Thema fest?«Mit einem Mal lachte Edgar schallend los.»Vor allem weil du gegen Gennadi ohnehin den Kürzeren ziehst - der hat nämlich die besseren Zähne. Von dir wird kein Wunder erwartet. Von dir werden Ideen erwartet. Finde den Schleichweg.«
»Ich bin mir sicher, dass Thomas Rhymer diesen Weg seit hundert Jahren sucht.«
»Er hatte keine Frau und keine Tochter, vor deren Haus eine Atombombe explodieren könnte.«Edgar sah auf die Uhr.»Wir schaffen es. Du fährst gut, alle Achtung. Jetzt hör mir zu: Du fährst nicht auf den Parkplatz rauf, das ist nicht nötig. Damit würden wir nur unnötige Spuren hinterlassen. Am Eingang zu den Abflugterminals wartet ein Mann auf uns, dem gib den Schlüssel. Er ist dafür bezahlt worden, dein Auto auf einen gebührenpflichtigen Parkplatz zu bringen und für drei Tage Gebühren zu entrichten. Wenn du zurückkommst, kannst du ihn abholen.«
»Falls du zurückkommst«, stellte Gennadi klar.
»Nimm es mir nicht übel, aber ich schätze seine Chancen besser ein«, kanzelte Edgar ihn ab.»Wir bringen jetzt rasch die Kontrolle hinter uns, wobei du die Aufmerksamkeit der Anderen am Zoll nicht auf dich ziehen solltest. Ein Lichter kann doch gut und gerne auf sinnlose Opfer verzichten, nicht wahr? Wir steigen ein, du trinkst einen Kaffee, sogar ein Schlückchen Kognak sei dir gestattet. Dann denkst du nach. Gründlich. Ich will hören, wie es in deinem Hirn knackt. Es wäre sehr schön, wenn du bei der Landung in Edinburgh bereits wüsstest, wie wir an den Kranz der Schöpfung gelangen können. Denn die Zeit rinnt uns zwischen den Fingern davon. Bis zur Explosion bleiben nur zwölf Stunden.«
»Du bist ein Dreckskerl«, sagte ich.
»Nein, ich bin ein sehr effizienter Personalmanager.«Edgar lächelte.
Es gibt Worte, die lassen einen Menschen ohne jede Magie erstarren.
»Erzähl mal etwas Lustiges«, gehört dazu. Selbst wenn man gerade eben das Finale der Sendung Club der Witzbolde und Schlagfertigen gesehen, den aktuellen Pratchett gelesen oder im Internet ein Dutzend wirklich komischer neuer Witze entdeckt hat - all das ist im Handumdrehen zum Kopf hinausgeflogen.
Nicht minder effektiv wirken die Worte:»Setz dich hin und denk nach!«Mir fiel sofort meine Schulzeit ein, die Klassenarbeit in Algebra oder einer der beiden obligatorischen Aufsätze pro Halbjahr, das müde Gesicht des Lehrers, der ohnehin nichts Vernünftiges von seinen Schülern erwartete.
Diesmal hatten wir bei Aeroflot einen Direktflug nach Edinburgh bekommen. Wenn es eine normale Dienstreise gewesen wäre, hätte ich nichts dagegen einzuwenden gehabt, denn Schottland hatte mir gefallen. Außerdem hatte Edgar selbstverständlich Plätze in der Businessclass gebucht. Unsere drei wütenden Landsleute, die zusammen offensichtlich unsere ganze Boeing-767 hätten kaufen können, tobten am Schalter: Ihre Tickets hatten sich als ungültig erwiesen. Ich sagte zwar nichts, doch in meiner Brust keimte Hoffnung auf. Die Unannehmlichkeiten, die Menschen mit doppelt oder ungültig ausgestellten Tickets haben, gehen meist auf schmutzige Tricks von Anderen zurück. Häufig von Dunklen, mitunter jedoch auch von Lichten. Deshalb drücken die Wachen in solchen Fällen kein Auge zu. Theoretisch jedenfalls nicht. Praktisch zumindest in den Fällen nicht, die in einen ausgewachsenen Skandal münden. Und in diesem Fall versprach der Skandal außerordentlich beeindruckend zu werden…
Allerdings befürchtete ich, die Fahndung würde nicht in dem Maße anlaufen, wie ich es mir wünschte. Vor allem jetzt nicht, da ganz Moskau Sauschkin suchte.
Der Zoll bei der Ausreise war ebenfalls verstärkt worden. Zwei Andere aus beiden Wachen bildeten ein Quartett, die Parität wurde momentan strikt gewahrt. Ich hegte die zarte Hoffnung, man habe Kollegen von mir zum Zoll geschickt, die mich nun erkennen würden - aber nein, alle Anderen kamen aus dem Moskauer Umland, genauer aus Chimki. Zu allem Überfluss überreichte Edgar uns vor dem Einchecken noch falsche Pässe und stattete uns mit soliden Masken aus, die einen Anderen vierten oder fünften Grades täuschen würden. So passierte ich meine Kollegen unter dem Namen von Alexander Peterson aus Petersburg. Gennadi wurde zu Konstantin Arbenin, wie Edgar selbst hieß, hörte ich nicht.
Kaum saß ich im Flugzeug und hatte von der Stewardess den von Edgar in Aussicht gestellten Kaffee samt Kognak bekommen, begriff ich endgültig, dass es kein Entkommen gab. Die plüschige Schlinge um meinen Hals, die schon beim Zoll irritierte Blicke auf sich gezogen hatte, schnürte sich bisweilen noch enger um mich und zerkratzte mir mit ihren kurzen Krallen die Haut. Oder zerbiss sie mit den Zähnen. Fehlte nur noch, dass sie schnurrte - in Erwartung, ich würde Magie anwenden. Inzwischen war mir auch wieder eingefallen, wie dieses Ding hieß. Schrödingers Katze. Offenbar weil niemand wirklich begriff, ob dieses Mistvieh lebte oder tot war. Bei der Inquisition setzte man Schrödingers Katze ein, wenn es galt, Schwerverbrecher irgendwohin zu überführen. Und niemals versagte dieses Scheißding. Wenn ich mich nicht irrte, handelte es sich um ein Unikat. Edgar hatte sich in der Tat einmalige Artefakte besorgt.
»Trink deinen Kaffee«, forderte mich Edgar freundlich auf. Ich saß am Fenster, Gennadi neben mir. Edgar hatte einen Platz in der Reihe hinter uns, außerdem hatte er darauf geachtet, den Nachbarsitz frei zu halten. Der verwirrte, jedoch keinen Protest einlegende Passagier wurde in der Economyclass untergebracht, mit Entschuldigungen überschüttet und mit einer Kompensation in Form zahlloser Bonuspunkte beschwichtigt. Insgesamt hinterließ die Aeroflot einen überraschend angenehmen Eindruck. Nicht schlechter als westliche Linien, womöglich sogar besser. Nur schade, dass meine beiden entzückenden Reisegefährten mich daran hinderten, den Flug zu genießen.
Ich trank Kaffee und nippte zwischendrin am Kognak. Beobachtete, wie die Maschine zur Startbahn rollte. Hinter mir flüsterte Edgar etwas, worauf das Heulen verschwand. Der Schirm des Schweigens. Selbstverständlich war es von Vorteil, wenn uns jetzt niemand störte und belauschte. Glücklicherweise standen Edgar - im Unterschied zu dem Zauberer Hottab aus dem Märchen - im Kampf gegen den Lärm mehr Möglichkeiten zur Verfügung als nur die, den Motor abzuschalten.
So geh voran, wenn du stark bist wie ich;
Wenn du klug bist wie ich, weich zurück.
Er machte sich über uns lustig. Natürlich machte er sich über die glücklosen Jäger nach seinem Schatz lustig.
Aber er hielt es für seine Pflicht, ihnen einen Hinweis zu geben, das gehörte zu den ungeschriebenen Spielregeln dieser Zeit. Also musste es einen Schleichweg geben.
Vorwärts und zurück…
Vielleicht sollte man Schwung holen? Als zöge man ein Auto aus dem Schlamm, in dem es sich festgefahren hatte - eine Kunst, die die Massen in der Epoche der Automatikgetriebe schlicht vergessen haben. Wenn man in der sechsten ist, müsste man zurückspringen, dann erneut mit Anlauf in die sechste…
Kompletter Blödsinn. Einmal war ich mit Mühe in die sechste Schicht gelangt, indem ich nach jedem Sprung neuen Atem schöpfte. Vermutlich könnte ich wie Geser mit einem Satz aus den Tiefen des Zwielichts herausspringen. Aber Schwung holen, das würde ich nicht schaffen.
Also noch einmal alles von vorn.
Der Kranz der Schöpfung liegt verborgen hier.
Ein Schritt nur bleibt.
So weit war alles klar. Die Inschrift hatten wir in der sechsten Schicht gefunden, der Kranz der Schöpfung lag in der siebten. Der listige Merlin hatte den Hinweis an einer Stelle hinterlassen, zu der nur ein sehr starker und sehr weiser Magier gelangen konnte… Darauf durfte ich mir immerhin was einbilden! Bis dorthin hatte ich es schließlich geschafft!
Sonst wurde hier jedoch nichts Entscheidendes ausgesagt. Eine Art Präambel. Die Einleitung. Blieb mir nur zu hoffen, dass Thomas Rhymer sie korrekt übersetzt hatte… Aber dem großen Barden und Vorfahren Lermontows sollte das wohl zu Gebote stehen.
Doch erben solln ihn nur die Starken und die Klugen.
Auch das war mehr oder weniger klar. Merlin überließ die Entscheidung darüber, ob sie das Artefakt einsetzen wollten oder nicht, denjenigen, die ihm ebenbürtig waren. Von der Kraft oder vom Verstand her, das spielte keine Rolle.
Alles erhältst du und nichts, bringst du ihn an dich.
Hm, das klang schon interessanter. Merlin glaubte also offenbar nicht, dass der Einsatz des Kranzes eine globale KataStrophe nach sich zöge. Alles erhältst du und nichts. Du erhältst alles - aber nicht für dich.
Oder sah ich genau wie Edgar und Gennadi nur das, was ich gern sehen wollte?
Hieß dieses »Alles erhältst du und nichts«, dass unsere Welt in deine Macht fällt - aber untergeht?
Ich wusste es nicht. Ich vermochte es nicht zu begreifen. Hier müsste ich das Original lesen…
»Ich muss einen Anruf tätigen, Edgar«, sagte ich.
»Wie bitte?«, gab sich Edgar amüsiert.»Wen denn? Geser? Außerdem müssen die Handys hier sowieso abgeschaltet sein.«
»Willst du ein Resultat von mir? Ich muss Foma Lermont eine Frage stellen.«
Edgar zögerte kurz. Schloss die Augen.»Ruf an«, meinte er dann nickend.»Dir bleiben noch drei Minuten, bevor wir starten. Aber denk daran, dass ich aufmerksam zuhöre.«
Zum Glück hatte ich Lermonts Nummer noch nicht gelöscht. Ich holte mein Handy heraus und rief ihn an. Es klingelte einmal, zweimal…
»Anton?«
In Lermonts Stimme schwang offenkundige Neugier mit.
»Foma, ich habe gerade über den Spruch nachgedacht… über die Inschrift, die Merlin in der sechsten Schicht hinterlegt hat…«
»Ja, und?«, fragte Lermont.
»Wie lautet die vierte Zeile? Du hast sie als Alles erhältst du und nichts, bringst du ihn an dich übersetzt. Erinnerst du dich noch? Ist damit gemeint ›Bringst du ihn an dich, erhältst du alles und verlierst auch alles‹ oder ›erhältst du alles, aber das brauchst du gar nicht‹?«
Thomas krächzte.»With it, thou shalt acquire all - and nothing shalt thou get…«, zitierte er auf Englisch.
Wenigstens nicht auf Keltisch…
»Das heißt…«, versuchte ich die Sache dennoch einzukreisen.
»Das heißt, dass du, wenn du den Kranz an dich bringst, etwas bekommst, dass du persönlich nicht brauchst, obwohl es sehr bedeutend ist, global und umfassend.«
»Vielen Dank, Foma!«
»Brodelt es bei dir im Hirn?«, erkundigte sich Lermont.»Viel Glück. Wir verlieren hier auch keine Zeit, wir bleiben an der Sache dran…«
Ich unterbrach die Verbindung. Ob Edgar und Gennadi unser Gespräch mitgehört hatten? Mit einem Mal begriff ich voller Verwunderung, dass mich das Rätsel gepackt hatte. Unabhängig von der Schlinge um meinen Hals. Unabhängig von der Erpressung. Unabhängig von dem Vampir und dem durchgedrehten Inquisitor, die mit mir in diesem Flugzeug saßen.
Ich selbst wollte es begreifen. Ich wollte Merlins Rätsel knacken. Niemals würde ich so stark werden wie er, aber vielleicht konnte ich mich wenigstens intellektuell mit ihm messen?
Nur zu gern wollte ich daran glauben, dass ich es konnte…
So geh voran, wenn du stark bist wie ich;
Wenn du klug bist wie ich, weich zurück.
Gut, war ich also wieder bei diesen Zeilen angelangt. Der Sinn schien mir mehr oder weniger klar. Ein starker Magier konnte vorwärts gehen und sein Ziel erreichen, indem er Merlins Weg folgte. Ein weiser würde zurückgehen und einen Schleichweg einschlagen.
Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, alles ist eins…
Pure Lyrik. Alpha und Omega, Anfang und Ende. Aber Kopf und Schwanz? Konnte das eine Anspielung auf den Golem in der fünften Schicht sein?
Über diese Zeilen sollte ich intensiver nachdenken. Wie ging es dann weiter?
… im Kranz der Schöpfung. So sind Leben und Tod nicht zu trennen.
Das bezog sich mit Sicherheit darauf, wie das Artefakt eingesetzt werden konnte. Leben und Tod waren unteilbar. Die ins Zwielicht eingegangenen Anderen konnten wieder zum Leben erweckt werden, in unsere Welt zurückkehren… Aber wollten sie das? Thomas Rhymer hatte ich fast mit Gewalt aus der sechsten Schicht herausziehen müssen, denn nur zu gern wäre er dort geblieben, um sich an den Freuden des magischen Paradieses zu laben.
Ich malte mir aus, wie der auferstandene Kostja seinen Vater anschreien würde:»Habe ich dich darum gebeten, mich auferstehen zu lassen?«Wäre dergleichen denkbar?
Keine Ahnung. Ich begriff das einfach nicht. Vermutlich irrte sich Thomas. Denn er saß genauso in der Falle seiner Träume, wie Edgar und Gennadi durch die ihren blind geworden waren. Jener Bewohner des Zwielichts, der es vor langer Zeit in die erste Schicht geschafft und mir den Weg zum Stab der Dunklen gezeigt hatte, schien mir nicht besonders glücklich gewesen zu sein - womit er mich gewissermaßen gerettet hatte. Wer er wohl gewesen war und warum er mir geholfen hatte? Und wie hatte er in den gespenstischen Tiefen seines Universums überhaupt etwas von den Ereignissen mitbekommen können?
Fragen, Fragen, nichts als Fragen…
Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, alles ist eins.
Hier konnte man ansetzen. Kopf und Schwanz! Das ließ mir keine Ruhe! Bei wem waren Kopf und Schwanz zusammengewachsen? Hm… Also abgesehen von dem Golem mit den Zähnen an beiden Schwänzen…
Aber warum sollte ich den eigentlich außer Acht lassen?
Mir konnte er natürlich egal sein. Aber vielleicht schaffte ich es, ihn der entzückenden Ewigen Wache zu servieren.
Der Kranz der Schöpfung müsste in diesem Fall im Körper des unglücklichen zweiköpfigen Ungeheuers verborgen sein. Irgendwo in der Mitte. Wo eine Hälfte beginnt und eine endet. Wo Kopf und Schwanz unteilbar sind… Geh zurück, das hieße dann: Geh in die fünfte Schicht, dort findest du, was du suchst!
Das könnte funktionieren. Wenn ich es mit ernster Miene vortrug. Die Rune hatten sie nicht, und Edgar würde es kaum gelingen, sie zu beschaffen. Sollten sie doch ruhig versuchen, den Golem zu vernichten, den Merlin geschaffen hatte!
Falls sich im Bauch des kriechenden Untiers allerdings tatsächlich der Kranz der Schöpfung finden würde, stünde ich… ziemlich dumm da.
Doch diese Möglichkeit hielt ich für unwahrscheinlich.
»Du lächelst«, bemerkte Gennadi.»Woran denkst du?«
»Pst«, sagte ich.»Ich lasse meinen Geist schweben. Gib mir lieber noch etwas Kognak.«
Gennadi presste die Lippen zusammen und schwieg.
In Gedanken vertieft und eingehüllt in einen Kokon völliger Stille, verpasste ich sogar den Start. Als ich wieder aus dem Fenster sah, waren wir schon hoch in der Luft, über der ersten Wolkenschicht. Verrückt war das - überall sah ich jetzt Schichten, die es zu überwinden galt.
Aber irgendetwas in dieser Zeile fesselte meine Aufmerksamkeit wirklich. Kopf und Schwanz? Davon hatte ich schon gehört. In der Magie? Nein, wohl eher in der Folklore. Bestimmte Glaubensvorstellungen… Na klar! Die ägyptischen, später auch die europäischen Mythen. Alchimistische Traktate. Der Buddhismus mit dem Rad der Samsara, den Wiedergeburten…
Der Uroboros.
Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt.
Ein Schauder rieselte über meine Haut. Natürlich hatte Merlin sich etwas dabei gedacht, als er in der fünften Schicht die zweiköpfige Schlange als Hüter eingesetzt hatte… Selbstverständlich befand sich der Kranz nicht in ihr.
Aber einen Hinweis hatte er uns gegeben. Noch dazu einen absolut offensichtlichen!
Anfang und Ende. Etwas, das sich selbst gebiert, befruchtet und mordet. Die ewige und unveränderliche Kraft, die sich im Raum auflöst und neu entsteht, der endlose Kreis der Zeit, der Schutz gegen das Chaos und das Dunkel, der das Universum umgibt, es umfasst, die Welt aufrechterhält, der das Leben in den Tod hineinträgt und den Tod ins Leben, gleichermaßen reglos und flink…
Tod und Wiedergeburt.
Der endlose Kraftstrom, der stirbt und aufersteht…
Ich hatte es begriffen.
Alles hatte ich begriffen.
Meine Finger erzitterten. Ich krallte mich an den Armlehnen fest. Fing einen misstrauischen Blick von Gennadi auf.»Ich habe Flugangst«, erklärte ich.»Hol mir einen Kognak! Sei so gut - wenn auch nur für kurze Zeit.«
Schweigend richtete Gennadi sich auf und winkte mit einer Geste die Stewardess herbei.
Der Uroboros.
Anfang und Ende. Tod und Leben. Der Ring der Kraft, der das Universum zusammenhält.
Ich hatte alles begriffen. Als Erster nach Merlin. Falls ich am Leben bleiben sollte, gab es etwas, worauf ich stolz sein konnte!
»Du hast eine Idee«, bemerkte Edgar. Er erhob sich und beugte sich über die Sitzlehne und sah mir neugierig in die Augen.»He, Anton! Ich habe doch recht, dir ist ein Gedanke gekommen, nicht wahr?«
»Ja.«Das war ja nicht abzustreiten.»Ich frage dich jetzt noch einmal, Edgar… Bist du sicher, dass es kein Risiko darstellt, die von uns Gegangenen zurückzuholen? Du weißt doch, was der Schatten der Herrscher ist?«
»Ja.«Edgars Miene verdüsterte sich.»Es sind die von uns gegangenen Magier, die aus der fünften Schicht herausgerufen werden, wo sie relativ lange existieren können. Aus ihrer angestammten Umwelt herausgerissen, mit Kraft vollgepumpt, wahnsinnig… vernichten sie mit unvorstellbarer Grausamkeit alles in ihrem Umkreis. Aber man darf die gewaltsame Entführung und den Missbrauch der von uns Gegangenen nicht mit ihrer Wiederauferstehung vergleichen, Anton. Wenn man dich mitten in der Nacht weckt, indem man dir auf den Kopf schlägt, dich mit Scheiße überschüttet und dir ins Ohr brüllt, würdest du auch anfangen zu toben.«
»Ihr seid also nicht davon abzubringen…«Ich verstummte. Es wäre unklug, gleich zu»kapitulieren«. Da ich ein Hoher war, konnte Edgar meine Gedanken nicht lesen. Aber er würde eine Lüge anhand der Intonation und meines Gesichtsausdrucks zu wittern vermögen. Und Gennadi ebenfalls.»Edgar, welche Garantien könnt ihr mir geben?«
»Was denn für Garantien?«, fragte er verwundert.
»Garantien dafür, dass du nicht den Befehl erteilst, die Bombe in Moskau zu zünden, wenn ich euch alles erkläre. Und dass du mir Schrödingers Katze vom Hals nimmst.«
»Du verlangst viel«, meinte Edgar lachend.
»Ich gebe euch auch viel«, antwortete ich im selben Tonfall.
»Würde dir ein Schwur beim Licht und beim Dunkel genügen?«
»Edgar!«, warf Gennadi in scharfem Ton ein.»Es gibt für alles eine Grenze!«
»Ich schwöre beim Licht, beim Dunkel und beim Gleichgewicht zwischen ihnen«, hob Edgar in gemessenem Ton an, wobei er die Hand in dem Spalt zwischen Gennadi und mir ausstreckte,»dass ich dir, sofern du uns hilfst, an den Kranz der Schöpfung zu kommen, Schrödingers Katze abnehme, die Explosion in Moskau nicht anordne und dir ein Duell mit Gennadi zugestehe. Falls du es gewinnst, werde ich dir oder deiner Familie keine weiteren Hindernisse in den Weg legen, sofern du mich nicht deinerseits angreifst. Wenn du das Duell verlierst, verpflichte ich mich, nichts gegen Swetlana oder Nadja zu unternehmen. Freilich auch dies nur, sofern sie ihrerseits nicht mich angreifen. Das schwöre ich!«
Auf seinem Handteller bildete sich eine kleine Kugel, die zur Hälfte leuchtete, zur Hälfte schwarz aussah, als habe sie alles Licht in sich aufgesogen. Die Kugel drehte sich langsam, das Licht sickerte ins Dunkel, das Dunkel ins Licht.
»Eine Frage noch«, sagte ich.»Was heißt das: Sofern ich euch helfe, an den Kranz der Schöpfung zu kommen? Was genau ist damit gemeint?«
»Damit ist gemeint, dass wir den Kranz in Händen halten.«
»Damit bin ich nicht einverstanden.«Ich schüttelte den Kopf.»Es ist gut möglich, dass ihr sterbt, während ihr versucht, den Kranz an euch zu bringen. Aber die Katze kann mir nur derjenige abnehmen, der sie mir umgelegt hat. Es würde mir überhaupt nicht behagen, für den Rest meines Lebens auf Magie verzichten und mit diesem Mistding um den Hals herumlaufen zu müssen.«
Edgar dachte darüber nach. Genauer gesagt, er tat so, als dächte er darüber nach. Vermutlich hatte er sich schon lange vorher klargemacht, worauf er sich einlassen würde.
»Gut«, sagte er mit einem Blick auf die sich drehende Kugel aus Licht und Dunkel auf seinem Handteller.»Ich werde keinen Befehl erteilen, die Bombe in Moskau zu zünden, wenn wir deine Worte für wahr befinden. Ich werde dir die Katze abnehmen, bevor wir versuchen, den Kranz an uns zu bringen. Aber du wirst in unserer Nähe bleiben und schwören, uns nicht daran zu hindern. Weiter entgegenkommen kann ich dir nicht.«
Nun war es an mir, gedankliche Tätigkeit vorzutäuschen. Akzeptierte ich diese Bedingungen oder nicht? Da ich ja angeblich die Absicht hatte, die Wahrheit preiszugeben, sollte ich wohl noch weiter verhandeln…
»Noch etwas«, meinte ich.»Du nimmst mir nicht nur die Katze ab, sondern erlaubst mir auch, einen Sicherheitsabstand zu wahren. Ich habe keine Lust, in einem Kampf plötzlich auf eurer Seite zu stehen!«
»In einem Kampf?«, hakte Edgar neugierig nach.»Ich nehme an, damit meinst du keinen Kampf mit Lermonts Mitarbeitern.«
»Nein, nicht mit ihnen.«Ich lächelte.»Glaubt mir, ihr werdet auch so genügend Probleme bekommen.«
»Gut«, sagte Edgar.»Ich gestatte dir, einen Sicherheitsabstand zu wahren, während wir versuchen, den Kranz an uns zu bringen. Danach bist du jedoch verpflichtet, wieder zu uns zu kommen und dich mit Gennadi zu duellieren. Er… will das unbedingt.«
»Einverstanden«, lenkte ich ein. Dann streckte ich die Hand aus.»Ich schwöre es beim Licht.«
Daraufhin entstand in meiner Hand eine Feuerkugel, die sofort wieder verschwand. Die Katze um meinen Hals zog sich prompt zusammen, entspannte sich jedoch sogleich wieder: Diese Magie stammte nicht von mir, denn die Urkraft traf selbst die Entscheidung, ob sie die Worte eines Magiers bezeugen wollte oder nicht.
»Was ist mit dir, Gennadi? Schließt du dich Edgars Zusicherungen an?«, wollte ich wissen.
»Ja.«Aber er leistete keinen Schwur beim Dunkel. Auf Vampire ließ sich die Urkraft nur selten ein. Trotzdem glaubte ich ihm. Letzten Endes zählte für Gennadi nur, seinen Sohn und seine Frau zurückzubekommen. Die Rache trat da in den Hintergrund.
Mit einem Mal fiel mir ein, dass der Schirm des Schweigens die Fluggäste ja nicht daran hinderte, die unerwartete Beleuchtung zu bemerken. Aufmerksam blickte ich mich um.
Aber nein, es war alles in Ordnung. Der Passagier gegenüber vom Gang schlief. Sein Nachbar am Fenster arbeitete am Laptop. Wie tüchtig diese Geschäftsleute doch sind…
»In die siebte Schicht vorzudringen ist unmöglich«, erklärte ich.»Das geht auf keinen Fall. Dazu ist nur ein Null-Magier imstande… oder jemand, der sich dematerialisiert hat und ins Zwielicht eingegangen ist.«
Gennadi spannte sich an.
»Soll das deine Antwort sein?«, fragte Edgar in eisigem Ton.
»Nein.«Ich schüttelte den Kopf.»Merlin selbst hat uns alles vortrefflich erklärt. Ihr habt euch einfach in die Idee mit der siebten Zwielicht-Schicht verrannt! Aber nicht nur ihr…«, fügte ich selbstkritisch hinzu.»Merlin hat uns jedoch nicht nur einfach Anweisungen gegeben, wie wir an den Kranz kommen! Er ist auch auf das Problem insgesamt eingegangen. Auf die Möglichkeit, die von uns Gegangenen wieder zu treffen!«
Edgar und Gennadi blickten sich an.
Damit müsste ich sie am Haken haben. Und tatsächlich: Sie bissen an.
»So geh voran, wenn du stark bist wie ich«, zitierte ich.»Worauf bezieht sich das? Auf den Weg in die siebte Schicht, wo diejenigen leben, die von uns gegangen sind! Aber was, wenn du kein Null-Magier bist? Dann brauchst du das Artefakt, das Merlin geschaffen hat. Den Kranz der Schöpfung. Und wo findest du den? Die Inschrift in der sechsten Schicht lautet: Wenn du klug bist wie ich, weich zurück! Und was finden wir in der fünften Schicht?«
»Den Hüter. Den Golem in Gestalt der zweiköpfigen Schlange.«Edgar kniff die Augen zusammen.
»Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, alles ist eins«, fuhr ich triumphierend fort.»Das ist nicht bloß der Hüter, ihr Idioten! Es ist die Hülle, der Schutz des Artefakts! Habt ihr in eurer Kindheit keine Märchen gelesen? Der Tod von Koschtschej dem Unsterblichen steckt im Ei, das Ei in der Ente, die Ente in der Truhe… Hier haben wir es mit demselben Prinzip zu tun. Übrigens«, fügte ich in einem Anfall von Inspiration hinzu,»würde es mich nicht wundern, wenn aus dem Golem ein weiteres Ungeheuer krabbeln würde, sobald ihr ihn in zwei Teile spaltet. Oder sogar herausflattert. Vermutlich wird es zu fliehen versuchen, also stellt euch darauf ein, ein schnell fliegendes Ziel einzufangen!«
»So sind Leben und Tod nicht zu trennen«, sagte Edgar. Und versank in Gedanken.
»Der Tod des Golems bedeutet neues Leben für diejenigen, die von uns gegangen sind«, flüsterte Gennadi.»Kann das sein, Edgar?«
Edgar dachte nach. Erinnerte sich an etwas.
»Übrigens dürfte der Kranz den Golem auch aktiviert haben«, fügte ich hinzu.»Merlin hegte eine Vorliebe für einfache und ausgefallene Lösungen.«
»Aus der Geschichte kennen wir zwei Fälle, in denen der als Hüter eingesetzte Golem gleichzeitig als Behältnis für das diente, das er bewachte«, legte Edgar dar.»Das erste Mal hat diesen Trick einer der Schüler Merlins eingesetzt.«
In Gedanken dankte ich dem mir unbekannten Magier, der so gefällig meine Worte bestätigt hatte.»Siehst du!«Mehr gestattete ich mir nicht, laut zu sagen.»Vermutlich hat Merlin ihm seine Ideen anvertraut. Oder der Magier hat seinem Lehrer geholfen, den schlangenförmigen Golem zu schaffen.«
Edgar nickte.»Wenn wir die Rune hätten…«, sagte er.»Mit ihr könnten wir den Golem ohne Weiteres ausschalten…«
Er glaubte mir.
»Daran seid ihr selbst schuld«, behauptete ich.»Ihr hättet eben keine Geheimgesellschaft gründen, sondern eure Hypothesen öffentlich zur Diskussion stellen sollen. Alle Anderen haben irgendwann jemanden verloren…«
»Du machst dir kein Bild von der Macht der Bürokratie«, hielt Edgar angewidert dagegen.»Die Debatten hätten sich Jahrhunderte hingezogen. Am Ende hätte man dann beschlossen, nichts zu unternehmen.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, brummte ich.
»Du bist halt noch sehr jung… und hast kaum Einblick in die Verwaltungsstrukturen. Geser und Sebulon würden mir zustimmen.«
Ich zuckte mit den Schultern. Ja, vielleicht würden sie ihm sogar zustimmen.
Ob es in Gesers Leben wohl jemanden gab, nach dem er sich sehnte? Er liebte Olga, und sie war bei ihm. Die beiden hatten es sogar fertiggebracht, ihren Sohn zum Anderen zu machen. Dennoch… Sollte der Große Geser in Tausenden von Jahren nicht auch Geliebte, Freunde und Kinder verloren haben? Vermutlich doch wohl schon! Und unter ihnen dürften nicht nur Menschen gewesen sein, sondern auch Andere. Die ins Zwielicht eingegangen waren.
Und Sebulon? Sicher, so wie er heute war, liebte er niemanden mehr. Aber war er immer so gewesen? Irgendwann war auch er einmal ein ganz normaler Junge gewesen, wenn auch mit dem Potenzial, ein Anderer zu werden. Sein Weg hatte ihn dann zum Dunkel geführt. Doch irgendwann musste auch er einmal jemanden geliebt haben! Selbst die Dunklen können das… selbst böse und herzlose Dunkle wie Alissa Donnikowa…
Ein interessantes Bild. Im Prinzip mussten sowohl Geser als auch Sebulon die Aktion der Ewigen Wache gutheißen! Jeder noch so alte Andere musste die Idee der Wiederauferstehung der von uns Gegangenen begrüßen.
Obwohl keiner von ihnen es je würde offen zugeben können.
Die Stewardess teilte das Essen aus. Als sie mir einen weiteren Kognak anbot, lehnte ich ab. Ich hatte genug, in Edinburgh musste ich fit sein.
Hinter mir ließ Edgar es sich schmecken. Gennadi stocherte nachdenklich mit der Gabel im Essen herum und polkte ein paar Fleischstückchen heraus. Als ich ihn ansah, verging mir jeglicher Appetit auf Fleisch. Ich zwang mich, den Salat und ein wenig Käse zu essen. Schämen sollte ich mich, denn es war alles ausgesprochen lecker. Ich hätte eben ein vegetarisches Essen bestellen sollen.
Sauschkin zog eine kleine Flasche aus seiner Tasche. Entkorkte sie und trank ein paar Schlucke. Dann steckte er die Flasche wieder weg, wobei er sich demonstrativ über die dunkel verschmierten Lippen leckte.
»Weißt du, Edgar, etwas wundert mich doch«, sagte ich leise.»Ich hatte immer den Eindruck, du seist den Blutsaugern nicht gerade zugeneigt. Von Vampiren, die den Großen Vertrag verletzen, ganz zu schweigen… Und dann hast du einem Verbrecher die Registrierungsmarke abgenommen?«
»Beruhige dich, Anton«, erwiderte Edgar friedfertig.»Als Gena die Lichten auf dem Boulevard angegriffen hat, hat er sich lediglich verteidigt. In Edinburgh… nun, das ist eine unschöne Geschichte. Aber in gewisser Weise kann selbst das als Notwehr betrachtet werden. Außerdem hat Gena keinen Tropfen von dem Jungen getrunken, es wäre ihm sogar unangenehm gewesen, bei einem Freund von Kostja. Deshalb hat er das ganze Blut verströmen lassen…«
»Und wie ist er dann zu einem Hohen geworden?«, wollte ich mit einem Blick auf Gennadi wissen.
Der Vampir öffnete kaum merklich den Mund, um seine Eckzähne zu entblößen. Und schüttelte den Kopf.
»In den Aufzeichnungen seines Sohnes hat er das Rezept für den Sauschkin-Cocktail entdeckt«, erklärte Edgar unerschütterlich.»Sicher, Genas Aufstieg war gesetzwidrig. Aber er musste dafür keine Menschen umbringen…«
»Bist du da sicher?«, fragte ich, während ich Gennadi im Auge behielt. Seine Eckzähne wuchsen weiter und weiter heraus. Wie wohl Schrödingers Katze reagieren würde, wenn man versuchte, mich durch ihren plüschigen Körper hindurch zu beißen?
»Ist es etwa nicht so gewesen?«Edgar streckte die Hand aus und langte mit festem Griff nach Gennadis Schulter.»Gibt es etwas, das ich über meinen Partner wissen müsste?«
»Er lügt«, behauptete Gennadi.»Er versucht, uns zu entzweien.«
»Das glaube ich nicht.«Nach wie vor hielt Edgar den Vampir bei der Schulter gepackt. Und anscheinend durchaus nicht locker.»Du bist ja so nervös, Gena. Beruhige dich doch.«
»Ich bin völlig ruhig«, presste der Vampir hervor.
»Hast du Menschen umgebracht?«, fragte Edgar gelassen.»Hat dir dein Sohn das Rezept vielleicht gar nicht gemailt?«
»Ich habe getötet«, gestand Gennadi. Erneut griff er nach der Flasche und schüttelte sie.»Aber das Rezept habe ich! Hier ist er drin, der Sauschkin-Cocktail. Die Mails habe ich erst nicht durchgesehen, danach stand mir wahrlich nicht der Sinn! Im Frühling habe ich dann den Brief gelesen, nur nutzte es mir da schon nichts mehr… Also, was willst du von mir?«
»In seiner Wohnung wurden fünfzig leer getrunkene Körper gefunden«, klärte ich Edgar auf.»Was meinst du, warum die Wachen heute alles mobilisiert haben? Selbst die Vampire sind bereit, Gena in der Luft zu zerreißen, denn sie kriegen fünf Jahre lang keine Lizenz mehr.«
»Geser ist mal wieder sehr moderat«, kommentierte Edgar.»Ich an seiner Stelle hätte zehn Jahre gefordert. Das ist eine Schande. Ich habe schon etwas in die Richtung geahnt. Was für eine Schande! So geht das nicht, Gennadi! Wir sitzen schließlich im selben Boot!«
»Auch weiterhin?«, wollte Gennadi wissen.
»Ja«, antwortete Edgar seufzend.»Was geschehen ist, ist geschehen… Weshalb hast du das getan?«
»Woher hätte ich wissen sollen, dass ihr euch mit mir zusammentut?«, antwortete der Vampir mit einer Frage.»Ich wollte mich an Anton rächen. Wie kann sich ein schwacher Vampir an einem Hohen rächen? Ich musste mich hocharbeiten. Er ist doch selbst schuld!«
Diese Rechtfertigung, so ging es mir durch den Kopf, würde wohl nie aus der Mode kommen. Und zwar nicht nur bei den Kräften des Dunkels, sondern auch beim ganz normalen Menschenpack.
Er ist doch selbst schuld! Er besitzt eine Wohnung, ein Auto und ein teures Handy, während ich mit bloß drei Rubeln, chronischem Alkoholismus und einem tüchtigen Kater am Morgen dastehe. Deshalb habe ich mit dem Ziegelstein im Tordurchgang auf ihn gelauert, den Bürger Chef… Sie hat lange Beine, ist siebzehn Jahre und mit einem attraktiven Mann liiert, während ich impotent bin, ein Pornoheft unterm Kopfkissen verstecke und wie ein Gorilla aussehe. Da musste ich mich doch im Eingang auf sie stürzen, als sie nach Hause kam, singend, die Lippen heiß von Küssen… Er hat eine interessante Arbeit, macht Geschäftsreisen in alle Welt und genießt einen guten Ruf, während ich auf ein gekauftes Diplom zurückblicke, unter seiner Leitung eine niedere Tätigkeit ausübe und chronisch faul bin. Nur deshalb habe ich es so gedeichselt, dass er der Veruntreuung angeklagt und aus der Firma rausgeschmissen wird.
Sie sind doch alle gleich, Menschen und Andere, die nach Ruhm, Geld und Blut gieren und entdeckt haben, dass der kürzeste Weg immer ein dunkler Weg ist.
Immer stört sie jemand, immer ist jemand an etwas schuld.
Als Gennadi Sauschkin seinen kleinen sterbenden Sohn retten wollte, hat er vermutlich wirklich etwas Gutes gewollt. Nicht aus ganzer Seele, denn er hat keine Seele. Aber sein Verstand und sein Herz wollten sich nicht mit Kostjas Tod abfinden. Genauso wie er sich jetzt nicht mit der Situation abfinden wollte. Und der dunkle Weg schien so kurz und nah…
Lange konnte er eine Grenze entlangbalancieren - falls ein Vampir diese Grenze überhaupt noch kennt. Indem er nicht mordete. Indem er sich bemühte, ein ehrliches und gutes Leben zu führen. Was ihm sogar glückte. Und Kostja hatte er fast zu einem Menschen erziehen können.
Doch die kurzen Wege unterscheiden sich eben dadurch von den langen, dass für die Benutzung eine Gebühr zu entrichten ist. Bei dunklen Wegen wird der Preis jedoch gern erst am Ende des Weges genannt.
»Stellt dich seine Erklärung zufrieden?«, fragte ich.
»Ich bin enttäuscht«, erwiderte Edgar.»Aber ändern kann man das jetzt nicht mehr.«
»Es gibt Dinge, die kann man nicht ändern«, stimmte ich ihm zu.
In Gedanken fügte ich noch hinzu: Aber es gibt auch solche, die sich ändern lassen.
Hinter dem Zwielicht-Schalter der Zollkontrolle in Edinburgh stand niemand. Es lagen einige Blankoformulare und sogar ein Suchamulett aus, das in einem gleichmäßigen trüben weißen Licht leuchtete: Als Letzter war hier ein Lichter durchgegangen. Angestellte gab es nicht. Oder kamen sie mit nur einem Angestellten aus? Schließlich dürfte hier kaum viel Arbeit anfallen.
Edgar zog mich ins Zwielicht. Nach wie vor konnte ich keine Magie anwenden, da meinen Hals immer noch Schrödingers Katze umgürtete, wobei das verfluchte Ding ab und an seine Krallen in mich grub. Kurz sah ich zu Gennadi hinüber - wandte mich jedoch sofort ab. Ein reizender Anblick! Was hatte Sebulon von den Menschenkindern gesagt, die so gern Vampir spielten? Man müsste ihnen einmal zeigen, wie ein echter Vampir aussieht. Die Wangen von Geschwüren zerfressen, erdiggraue Haut, trübe, leere und fahle Augen, die an gepellte, hart gekochte Eier erinnern.
Wir passierten den Schalter und bogen in einen der Gänge ein, die dem Personal vorbehalten waren, indem wir durch eine in der realen Welt geschlossene Tür traten. Auf diese Weise gelangten wir in einen kleinen Raum, der entweder völlig trist möbliert war oder bei dem es sich um ein Lager für ausgedientes, aber offiziell noch nicht ausgemustertes Gerümpel handelte: Stühle mit verbogenen Rückenlehnen und kaputten Beinen, Regale mit staubigen Schachteln und Gläsern, Teppichballen in gedeckter Farbe.
Edgar packte mich an der Schulter, um mich in die reale Welt zu ziehen. Ich nieste. Garantiert sammelte man hier alten Kram. Ich blinzelte, um mich an das schummrige Licht zu gewöhnen, denn vor den Fenstern waren die Jalousien heruntergelassen. Und schmunzelte. Alles klar, ich hatte richtig gelegen.
In dem Stuhl, der noch am besten erhalten war, saß eine schöne schwarzhaarige Frau. Die schlichte Alltagskleidung - Hose und Bluse - wirkte völlig unangemessen an ihr. Ein langes Kleid, das ihre Weiblichkeit unterstrich, etwas Luftiges, Weißes, Halbtransparentes oder gar nichts - das wäre passend gewesen.
Obwohl… sie konnte anziehen, was sie wollte, sie sähe immer gut aus. Sogar in der Kluft einer Pennerin.
Sofort war ich wieder von ihr hingerissen. Wie beim ersten Mal, als sich unsere Wege gekreuzt hatten.
»Guten Tag, Arina«, begrüßte ich sie.
»Guten Tag, Zauberkundiger.«Sie streckte mir die Hand hin, deren Innenfläche ich mit den Lippen berührte.
Obwohl ich sie bereits in der Zwielicht-Gestalt gesehen hatte.
Obwohl ich wusste, dass dieser prachtvolle, lebensprühende und gesunde Körper nur in der Menschenwelt existierte.
»Du wunderst dich ja gar nicht«, bemerkte Arina.
»Kein bisschen«, bestätigte ich kopfschüttelnd.
»Er hat es gewusst«, mischte sich Edgar ein. Seinem Tonfall entnahm ich sofort, dass er in diesem Trio nicht das Sagen hatte. Vielleicht hatte er die ganze Sache eingerührt. Zudem dürfte er die Ewige Wache mit Kampfmagie ausgestattet haben. Doch der Chef war Edgar nicht.
»Hat Swetlana es erraten?«, wollte Arina wissen.
»Wir sind zusammen darauf gekommen«, erklärte ich.»Du bist jetzt eine Lichte, oder? Entschuldige, ich will mir deine Aura lieber nicht ansehen… auf meinen Schultern schlummert ein kleines Kätzchen.«
»Ja«, erwiderte Arina gelassen.»Das wusstest du auch schon, oder? Dass Große die Farbe wechseln können?«
»Merlin hat sie auch gewechselt«, winkte ich ab.»Ich möchte dir eine Frage stellen, Hexe… Oder wie nennst du dich jetzt? Heilerin?«
Arina hüllte sich in Schweigen.
»Du hast meiner Frau ein Versprechen gegeben. Ihr einen Schwur geleistet. Dass du hundert Jahre lang…«
»… niemandem etwas zuleide tue, weder einem Anderen noch einem Menschen, es sei denn zu meiner eigenen Verteidigung«, fuhr Arina fort.
»Hat dich der Seitenwechsel etwa von diesem Schwur entbunden?«
»Aber ich habe niemanden umgebracht, Anton. Dass ich Edgar und Gennadi ausgerüstet habe, steht nicht zur Debatte. Das hat mir der Schwur nicht verboten.«
»Swetlana hat dich aus Mitleid verschont«, sagte ich.»Aus Mitleid.«
»Vielleicht hat sie das nicht vergebens getan, Anton?«Arina lächelte.»Immerhin… bin ich eine Lichte geworden. Deiner Frau und deiner Tochter habe ich damit doch wohl nicht geschadet, oder?«
»Und was ist mit der Atombombe, die Edgar vor unserem Haus hochgehen lassen will? In wie vielen Stunden?«Ich blickte zu dem ehemaligen Inquisitor hinüber.
Edgar hob die Hand. Sah auf die Uhr.»Die Sache ist die, Anton…«, setzte er an.»Um uns wirklich vorbehaltlos zu unterstützen, musst du ein persönliches Interesse an unserem Erfolg haben.«
Noch bevor er geendet hatte, verspürte ich ein schmerzliches Hämmern in den Schläfen, während sich vor meinen Augen alles verschleierte.
»Die Explosion hat vor fünf Minuten stattgefunden«, verkündete Edgar kaltblütig.»Ich habe meinen Schwur nicht gebrochen, da wir die Zeit schon gestern festgesetzt hatten… Und bleibe jetzt bitte ruhig. Wenn Schrödingers Katze dich umbringt, ist weder deiner Frau noch deiner Tochter damit gedient.«
Ich hatte nicht vor, Magie anzuwenden.
Es sind die Toten, die stets Probleme mit Rache haben. Selbst die toten Anderen. Wozu sollte ich mich damit belasten.
Ich trat Edgar mit dem Bein. Vielleicht nicht ganz so elegant wie Olga, als sie an Sauschkins Wohnungstür das Schloss rausgehauen hatte. Aber anscheinend stärker.
Edgar flog an die Wand, stieß mit dem Hinterkopf dagegen und sackte langsam, sich die Leistengegend reibend, zu Boden.
Daraufhin stürzte sich Gennadi auf mich. Mit übermenschlicher Kraft legte er mir einen Arm quer über die Brust, während er mir mit dem andern den Kopf herunterdrückte und die Zähne entblößte…
»Gena!«Arina sagte nur ein Wort, doch sofort zog der Vampir die Zähne wieder ein.»Edgar hat sich das selbst zuzuschreiben. Beruhige dich, Anton. Unser grauer Freund hat sich geirrt.«
Stöhnend kroch Edgar über den Boden und presste die Hände in den Schritt. Ich hatte ihn gut getroffen.
»Es hat keine Explosion gegeben«, fuhr Arina fort. Dann erhob sie sich und kam zu mir herüber. Erforschte mein Gesicht.»He, Anton! Beruhige dich! Es hat keine Explosion gegeben!«
Ich sah ihr in die Augen. Und nickte.
Sie sagte die Wahrheit.
»Was heißt… es hat keine gegeben…«, stöhnte Edgar in seiner Ecke.
»Ich habe dir doch gesagt, dass mir diese Idee nicht gefällt«, meinte Arina.»Selbst wenn ich eine Dunkle geblieben wäre, hätte sie mir nicht gefallen! Es hat keine Explosion gegeben. Die Banditen, die die taktische Atombombe gestohlen haben, wurden von Reue gepackt und haben sie zurückgegeben. Jetzt werden sie verhört.«Sie seufzte.»Und ich fürchte, man geht dabei nicht sehr human vor. Es hat keine Explosion gegeben, und es wird auch keine geben.«
»Arina!«Edgar hörte sogar auf zu stöhnen.»Weshalb? Wir hätten doch die Drohung aufrechterhalten können… als Garantie…«
»Ich kann so etwas jetzt nicht mehr machen«, erklärte Arina mit einem sanften Lächeln.»Tut mir leid, aber ich kann es nicht. Ich habe dir gleich gesagt, dass ich jede Aktion, die auf die massenhafte Vernichtung von Menschen abzielt, unterbinden würde.«
»Warum hast du denn erst… erlaubt, dass wir all das überhaupt anfangen…«Mühevoll richtete sich Edgar auf. Er sah mich voller Hass an.»Arschloch! Du hast mir alles… eingetreten!«
»Für die nächsten siebenundsiebzig Mal wirst du das ohnehin nicht brauchen«, informierte ich ihn genussvoll.»Ist dir etwa entgangen, mit welchem Zauber Afandi dich belegt hat?«
»Das war es also!«Arina lachte.»Der alte Spaßvogel Afandi… Tja, Edgar, bei den nächsten fünfundsiebzig Mal solltest du dich an jemand anderes ranmachen.«
»Warum hast du es erst erlaubt?«, wiederholte er mit schmerzerfüllter Stimme seine Frage.
»Damit du ihm alles überzeugend darlegst! Selbst mit der Katze um den Hals hätte Anton eine Lüge durchschauen können. Sauschkin, bitte lassen Sie unseren Gast los. Er wird nicht mehr gewalttätig werden. Jungs müssen ihre Probleme doch immer mit den primitivsten Mitteln klären…«
Unwillig trat Gennadi von mir zurück und ließ sich auf den Boden plumpsen, um dort im Schneidersitz Platz zu nehmen. Ich hielt nach einem einigermaßen intakten Stuhl Ausschau, auf den ich mich setzte, wobei ich demonstrativ nicht um Erlaubnis bat. Arina ging wieder zu ihrem Stuhl zurück. Als Edgar bewusst wurde, dass er als Einziger stand und sich zudem noch immer die schmerzende Stelle hielt, setzte er sich ebenfalls.
»Nachdem sich die Gemüter nun beruhigt haben, können wir in aller Sachlichkeit miteinander reden«, tat Arina im Ton der freundlichen Herrin eines literarischen Salons kund, die gerade hatte miterleben müssen, wie ein Poet einen zweiten an den Locken zog.»Friede, Friede und nichts als Friede! Lass mich dir jetzt alles erklären, Anton… Dir ist doch klar, dass es mir viel schwerer fallen würde zu lügen als Gena oder Edgar. Wir wollen keine Horrorszenarien. Wir wollen die Welt nicht vernichten. Wir wollen die Menschen nicht vernichten. Wir wollen einzig diejenigen ins Leben zurückführen, die von uns gegangen sind.«
»Wie haben sie dich geködert, Arina? Mit einem Geliebten? Einem Kind?«
In Arinas Augen spiegelte sich mit einem Mal großer Schmerz wider.
»Mein Geliebter… Ich hatte einen Liebsten, Zauberkundiger. Er ist gestorben. Selbst für einen Menschen ist er nicht alt geworden… Und eine Tochter hatte ich. Früher, noch bevor ich ihn kennenlernte. Auch sie ist gestorben. Mit vier Jahren… an einer Seuche. Ich war nicht in ihrer Nähe und konnte sie nicht retten. Selbst der Kranz wird sie nicht zurückbringen, denn sie waren Menschen. Dorthin, wo sie jetzt womöglich sind, führt für uns kein Weg. Und sie können nicht zurückkommen.«
»Weshalb hast du dann…«Die unvollendete Frage hing in der Luft.
»Genau sie hat uns gefehlt«, meinte Gennadi leise und kicherte heiser.»Sie ist jetzt nämlich eine Lichte wie du. Sie mordet nur aus hehren Motiven…«
»Aus, Blutsauger!«Arinas Augen funkelten. Mit derselben ruhigen Stimme wie zuvor fuhr sie dann fort:»Er sagt die Wahrheit, Anton. Ich bin bewusst eine Lichte geworden. Mein Verstand hat es mir befohlen, nicht meine Seele, wenn du so willst. Ich hatte genug von den Dunklen. Von ihnen wird dir nie etwas Gutes widerfahren. Zunächst habe ich mir überlegt, der Inquisition beizutreten, aber sie hatte mir zu viel angehängt. Außerdem mag ich sie nicht, diese selbstgefälligen Betbrüder… Entschuldige, Edgar, für dich gilt das natürlich nicht. Damals bin ich wirklich nach Sibirien gefahren. Ich habe mich in Tomsk angesiedelt, einer schönen, ruhigen Stadt. Sie ist dem Licht zugeneigt. Ich habe auf die althergebrachte Weise als Zauberin gearbeitet. In Zeitungen inseriert, bis dann jemand aus der Wache gekommen ist, um mich zu überprüfen. Dabei habe ich mich als Scharlatanin ausgegeben. Es fällt mir nicht schwer, einen einfachen Wächter um den Finger zu wickeln. Nach einer Weile habe ich mich aber dabei ertappt, wie ich nur noch Gutes vollbrachte. Ich habe den Frauen ihre Männer zurückgegeben - aber nur, wenn die Liebe noch frisch war, wenn ich sah, dass fortan alles besser werden würde. Ich habe Krankheiten geheilt. Vermisste gesucht. Die Jugend zurückgegeben… ein wenig zumindest. Bei all dem kommt es nur darauf an, einen Tropfen Magie zu verteilen, vor allem aber, den Menschen Glauben an sich selbst einzuflößen, sie dazu zu bringen, ein gutes Leben zu führen. Und niemals habe ich jemanden behext oder ihm Liebe zu einer ungeliebten Frau eingegeben… Ich hatte beschlossen, keine dunklen Spiele mehr zu spielen. Weißt du, was ein Anderer braucht, um die Farbe zu wechseln?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er muss etwas Großes, etwas Wichtiges ersinnen. Es reicht nicht, ein Jahr lang gute Taten zu vollbringen, um ein Lichter zu werden, oder nur Böses zu schaffen, um ein Dunkler zu werden. Nein. Er muss sich etwas überlegen, das alles in ihm umkehrt. Damit alles, was er bisher in seinem Leben angerichtet hat, verblasst… ja, vielleicht sogar gänzlich ausradiert wird.«
»Ist Merlin deshalb auf den Kindermord verfallen?«, fragte ich.
»Ich glaube ja«, meinte Arina nickend.»Worauf denn sonst? Er wollte um jeden Preis ein Reich der Gerechtigkeit und des Edelmuts auf Erden errichten, dafür hat er Artus erzogen. Wie kann man sich um Kleinigkeiten scheren, wenn man ein großes Ziel vor Augen hat? Und dann tauchte in den Wahrscheinlichkeitslinien ein kleiner Junge auf, der heranwachsen und das ganze Königreich zerstören würde… Damals war ich noch nicht auf der Welt und konnte nicht wissen, was Merlin wollte und dachte. Aber in dem Augenblick, als Merlin beschloss, um seiner Träume willen Unschuldige zu töten, starb der Große Lichte Magier, damit der Große Dunkle geboren werden konnte.«
Da war er wieder, der Uroboros. Das Leben im Tod und der Tod im Leben…
War für Arina wirklich alles so einfach? Sie wollte keine Dunkle mehr sein, wollte Gutes vollbringen - und schwupp wurde sie eine Lichte. Spendierte sich eine Umerziehung wie die alte Chapeauclaque in Nadjuschkas Zeichentrickfilmen und stand prompt auf der lichten Seite…
Oder spielte sonst noch etwas eine Rolle? Vielleicht die langen und komplizierten Beziehungen, die sie mit Geser verbanden? Die gemeinsamen Intrigen, mit denen der Lichte Magier und die Dunkle Hexe ein gemeinsames Ziel verfolgten? Hatte Geser sie für das Licht empfänglich gemacht? Oder hatte Arina verstanden, dass es zwischen dem Dunkel und dem Licht Gesers keinen allzu großen Unterschied gab?
Keine Ahnung. Sie selbst würde es mir bestimmt nicht sagen. Genauso wenig, wie sie mir auf die Frage antworten würde, ob Geser und Sebulon von ihren Plänen erfahren und dann ihr eigenes Spiel angefangen hatten, bei dem sie die Ewige Wache nach dem Erbe Merlins suchen ließen.
»Und wie ist es zu dem Bündnis mit Edgar gekommen? Oder ist das ein Geheimnis?«
Edgar hüllte sich in Schweigen. Flüsterte etwas… Offenbar heilte er seine Verletzung. Im Rahmen des Möglichen.
»Was soll daran ein Geheimnis sein?«Arina sah ihren Bundesgenossen und anscheinend auch Geliebten an.»Schließlich hat er mich doch gefunden. Das war für ihn eine Frage des Prinzips. Wenn er jemanden finden sollte, tat er das auch. Nur interessierte ihn seine Karriere zu dem Zeitpunkt nicht mehr. Seine Frau war gestorben, er hatte von dem letzten Artefakt Merlins gehört und wollte es an sich bringen. Der einfachste Weg dafür war, ein Hoher zu werden, genauer, nicht nur ein Hoher, sondern ein Null-Magier. Wie Merlin. Edgar hatte angenommen, ich sei vielleicht imstande, das Fuaran wiederherzustellen. In diesem Punkt hat er mich ein wenig überschätzt. Aber die Geschichte vom Kranz der Schöpfung gefiel mir. Deshalb haben wir uns verbündet.«
Ich nickte. Ja, so musste es gewesen sein. Edgar, bereits völlig gefangen von der Idee, sich das Artefakt anzueignen, fand Arina. Die beiden vervollständigten ihre Ewige Wache mit dem rachsüchtigen Sauschkin. Und machten sich an die Arbeit: Der Inquisitor, der Zutritt zu einem reich bestückten Depot magischer Artefakte hatte; die überaus kluge Hexe, die nun eine Lichte geworden war; der Hohe Vampir, den die Sehnsucht nach seinem Sohn und seiner Frau um den Verstand gebracht hatte…
Eine traurige Gesellschaft.
Und eine schreckliche.
»Hast du keine Angst, dass du mit dem Kranz einen Fehler machst, Arina? So wie Merlin mit Mordred einen Fehler gemacht hat?«
»Doch«, gestand sie.»Das wäre möglich… Was ist? Haben wir einen Fehler gemacht, als wir dich gefangen genommen haben? Oder hast du dir überlegt, wie wir an den Kranz kommen?«
»Ja«, sagte ich.»Mit der siebten Schicht, da hat Merlin uns getäuscht. Einem lebenden Anderen, der kein Null-Magier ist, bleibt der Weg ins Reich der Toten versperrt.«
»Der von uns Gegangenen«, korrigierte Gennadi mich ohne jeden Hohn.»Der von uns Gegangenen, aber nicht Toten.«
Warum beschäftigte ihn das so? Weil er ein Untoter war?
»Das entspricht meiner Einschätzung.«Arina nickte.»Wenn wir das Fuaran noch hätten, könnte ich aus Edgar einen NullMagier machen. Ohne das Buch ist das jedoch schwierig. An manches habe ich mich erinnert, manches vermochte ich neu zu schreiben, und irgendwie habe ich so aus ihm einen Hohen gemacht. Aber meine Kunst reicht wohl nicht aus, um es mit dem Fuaran aufzunehmen… Was hast du dir überlegt?«
»Der Kranz der Schöpfung liegt in der fünften Schicht«, sagte ich.»Ihr hättet ihn euch schon vor zwei Wochen holen können!«
Arina sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. Daraufhin erzählte ich ihr alles, was ich Edgar und Gen-nadi bereits im Flugzeug vorgeflunkert hatte. Vom Schritt, den man zurückgehen musste. Vom Schwanz und vom Kopf. Vom Golem.
»Du lügst doch wie gedruckt«, befand Arina nachdenklich.»Es hört sich alles so glatt an… Aber reichlich schlicht für Merlin. Oder nicht? Was meinst du?«
»Ich glaube auch, dass er lügt«, sprang Gennadi ihr überraschend bei, obwohl er im Flugzeug sein Misstrauen keinesfalls zum Ausdruck gebracht hatte.»Wir hätten uns seine Tochter schnappen sollen…«
»Nicht einmal in einem Albtraum solltest du dir einfallen lassen, seine Tochter anzurühren, Gena«, brachte Arina leise hervor.»Klar?«
»Klar«, lenkte Gennadi sofort ein.
»Was ist, Zauberkundiger? Sagst du die Wahrheit oder lügst du?«Arina sah mir in die Augen.»Also?«
»Die Wahrheit?«Ich beugte mich vor. Mich konnte jetzt nur noch Wut retten - und Aufrichtigkeit natürlich.»Für wen hältst du mich denn? Für Merlin? Woher soll ich die Wahrheit wissen? Man hat mir dieses Mistvieh um den Hals gehängt, gedroht, halb Moskau samt meiner Frau und meiner Tochter in die Luft zu jagen, und mir dann befohlen, euch zu erklären, wie ihr an das Artefakt gelangt! Woher soll ich wissen, ob ich mich irre oder nicht? Ich habe nachgedacht. Meiner Ansicht nach bin ich auf die richtige Lösung gestoßen! Aber Garantien kann dir niemand geben, auch ich nicht!«
»Ach, wie kann ich euer Herz erfreuen, meine Schätzchen, meine Bombenleger… Braucht ihr vielleicht noch einen Dritten Mann?«, brachte Edgar plötzlich hervor.
Erst begriff ich nicht, dass er einen Scherz machte. Das erlebte man bei ihm nur selten.
»Trotzdem hat diese Version etwas für sich«, fügte Edgar mit einem unfreundlichen Blick auf mich hinzu.»Es könnte stimmen.«
Arina seufzte. Breitete die Arme aus.»Was sollen wir machen? Versuchen wir es mit seiner Variante«, erklärte sie.»Fahren wir.«
»Stopp«, rief ich.»Edgar hat versprochen, mir die Katze abzunehmen.«
»Wenn du es versprochen hast, dann tu es auch«, befahl Arina nach kurzer Überlegung.»Und du, Anton, denk immer daran.- Selbst wenn du jetzt stärker bist, sind wir zu dritt und nicht schwächer als du. Komm ja nicht auf die Idee, uns auszutricksen.«
Am Steuer saß Gennadi. Vermutlich glaubten Edgar und Arina, sie beide würden besser mit mir fertig werden, falls ich versuchen sollte zu fliehen oder sie anzugreifen. Ich saß auf dem Rücksitz, Edgar links, Arina rechts von mir.
Ich unternahm weder einen Flucht - noch einen Angriffsversuch, denn sie hatten zu viele Trümpfe auf der Hand. Immerhin hatten sie mir die Katze abgenommen. Die Haut unter dem plüschigen Band war zerkratzt und juckte.
»Der Kranz wird jetzt entschieden besser bewacht«, informierte ich sie.»Hast du keine Angst vor einem Gemetzel, Arina? Kannst du das mit deinem Gewissen vereinbaren?«
»Wir werden kaum Blut vergießen«, versicherte Arina überzeugt.»So wenig wie möglich.«
Ich hegte meine Zweifel, ob das möglich war, sagte jedoch kein Wort. Schweigend suchte ich die Vororte ab, durch die wir fuhren, als hoffte ich, Lermont oder seine schwarzen Helfer zu entdecken, um sie wenigstens mit einem Blick, einer Geste zu warnen…
Sollte ich jetzt zu fliehen versuchen, würden sie mich mit Sicherheit wieder einfangen. Also musste ich mich noch gedulden.
Der Tag neigte sich allmählich dem Abend zu, die hohe Zeit der Touristen begann - doch Edinburgh wirkte jetzt völlig anders auf mich als noch vor zwei Wochen. Die Menschen in den Straßen schienen stiller, weniger ausgelassen. Rauch bezog den Himmel. Über der Stadt kreisten aufgeschreckte Vögel.
Die Welt spürte die nahende Katastrophe. Sogar die Menschen und Vögel…
In meiner Tasche plärrte das Handy los. Edgar erschauerte. Verkrampfte sich. Fragend sah ich Arina an.
»Geh ran, aber überlege dir, was du sagst«, forderte sie mich auf.
Ich blickte aufs Display. Swetlana.
»Ja.«
Die Verbindung war, als habe sie sich gegen uns verschworen, vorzüglich. Niemand käme auch nur auf die Idee, uns würden Tausende von Kilometern trennen.
»Bist du noch auf der Arbeit, Anton?«
»Ja«, sagte ich.»Ich bin gerade mit dem Auto unterwegs.«
Aufmerksam beobachtete Arina mich. Wahrscheinlich hörte sie jedes Wort, das Swetlana sagte.
»Ich habe absichtlich nicht angerufen. Man hat mir gesagt, es hätte irgendeinen Vorfall gegeben… Terroristen, die mit Magie vollgepumpt gewesen wären… Bist du deswegen aufgehalten worden?«
Ein schwaches Feuerchen der Hoffnung glomm in meiner Brust auf. Was sollte das heißen: aufgehalten? So früh konnte Swetlana mich gar nicht von der Arbeit zurückerwarten.
»Genau deswegen, richtig«, sagte ich.
Komm drauf! Gebrauch Magie! Du kannst herausbekommen, wo ich mich befinde. Du kannst Alarm schlagen. Geser warnen, damit der sich mit Lermont in Verbindung setzt. Wenn die Edinburgher Nachtwache auf den Angriff eingestellt wäre, wäre die Ewige Wache erledigt.
»Komm aber trotzdem nicht zu spät«, bat Swetlana.»Was ist? Hast du nicht genügend Mitarbeiter? Hals dir nicht alles selbst auf, ja?«
»In Ordnung«, sagte ich.
»Ist Semjon bei dir?«, fragte Swetlana nebenbei.
Noch bevor ich antworten konnte, schüttelte Arina den Kopf. Sicher, wenn Swetlana einen Verdacht hatte, könnte sie nach einer positiven Antwort einfach bei Semjon anrufen.
»Nein«, sagte ich.»Ich bin allein. Ich habe eine Spezialaufgabe.«
»Soll ich dir helfen? Irgendwie habe ich lange genug zu Hause rumgesessen.«Swetlana lachte.
Arina spannte sich an.
»Nicht nötig, das ist ganz öder Kram«, sagte ich.»Eine Inspektionsfahrt.«
»Du musst es ja wissen«, erwiderte Swetlana leicht enttäuscht.»Wenn du überhaupt nicht kommen kannst, ruf mich an. Oi, Nadja stellt schon wieder Unfug an. Tschüs…«
Sie unterbrach die Verbindung. Ich steckte das Handy in die Tasche zurück. Und während ich der sich entspannenden Arina fest in die Augen blickte, drückte ich drei Knöpfe. Eingehende Anrufe - Wahlwiederholung der letzten Nummer - Auflegen.
Das musste reichen. Ich traute mich nicht, es weiter klingeln zu lassen. Arina könnte die Töne hören, die aus meiner Tasche drangen. Ob das internationale Kommunikationsnetz etwas mit einem Anruf anzufangen vermochte, wenn aufgelegt worden war? Keine Ahnung. Ich konnte nur auf die Gier der Netzanbieter hoffen, für die es weitaus lukrativer war, den Anruf durchzustellen, damit sie Geld vom Konto abbuchen durften.
Und darauf, dass Swetlana nicht zurückrufen würde, wenn es bei ihr klingelte und sofort wieder verstummte, sondern Magie einsetzen würde. Arina und Edgar waren wesentlich älter und weiser als ich. Doch dafür würde das Handy für sie immer eine tragbare Variante eines sperrigen Aggregats bleiben, in das man laut hineinschreien musste:»Fräulein! Fräulein! Verbinden Sie mich mit dem Smolny!«
»Sie hat irgendeinen Verdacht«, behauptete Edgar.»Das mit der Bombe war voreilig von dir… gut, sie hätte nicht explodieren müssen, aber es wäre ein Trumpf gewesen!«
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Arina.»Selbst wenn sie etwas ahnt… sie haben keine Zeit mehr. Gib mir das Handy, Anton.«
In ihrem Blick funkelte es misstrauisch auf. Schweigend reichte ich ihr das Handy, wobei ich es demonstrativ zwischen den Fingerspitzen hielt und die Knöpfe nicht berührte.
Arina betrachtete das Ding und stellte fest, dass es empfangsbereit war. Achselzuckend schaltete sie es aus.
»Auf Anrufe können wir doch wohl verzichten, oder? Wenn du mit jemanden telefonieren musst, bitte mich um das Handy.«
»Wenn ich dich damit nicht ruiniere«, meinte ich höflich.
»Das tust du nicht.«Daraufhin holte Arina ihr eigenes Mobiltelefon heraus. Wählte eine Nummer, die sie nicht eingespeichert hatte, sondern indem sie altmodisch jeden Knopf einzeln drückte. Dann hielt sie sich das Handy ans Ohr Und wartete, bis sich jemand meldete.»Alles klar. Du kannst loslegen«, befahl sie leise.
»Findet ihr immer noch neue Komplizen?«, fragte ich.
»Das sind keine Komplizen, Anton. Das sind angeheuerte Arbeitskräfte. Menschen können sehr effiziente Bündnispartner sein, wenn man sie mit einer kleineren Zahl von Amuletten ausstattet. Vor allem wenn es die sind, die Edgar zur Verfügung stehen.«
Ich sah zum Edinburgh Castle hinüber, das über der Stadt thronte und die Überreste eines alten, vor langer Zeit erloschenen Vulkans krönte. Wirklich toll: Da kam ich nun schon zum zweiten Mal nach Edinburgh, und wieder fehlte es mir an Zeit, die Hauptsehenswürdigkeit zu besuchen.
»Und was habt ihr euch diesmal einfallen lassen?«, fragte ich.
Am Rande meines Bewusstseins tauchte ein Gedanke auf, kratzte mich wie Schrödingers Katze. Etwas sehr Wichtiges…
»So komisch sich das auch anhören mag, aber ich habe ein weiteres Artefakt Merlins zum Einsatz vorbereitet«, erklärte Edgar. Von meinem Schlag, der nun wahrlich nicht gentleman-like genannt werden durfte, hatte er sich inzwischen erholt.»Den sogenannten Traum Merlins.«
»Ach ja, er war ja nicht gerade einfallsreich mit seinen Bezeichnungen«, meinte ich nickend.»Was macht er denn? Dieser Traum?«
»Er lässt dich träumen.«Edgar breitete die Arme aus.»Arina hat sich schwere Vorwürfe wegen der vielen Opfer beim letzten Mal gemacht. Jetzt wird alles etwas… zivilisierter vonstatten gehen.«
»Und da haben wir auch schon das erste Flämmchen der Zivilisation«, meinte ich mit einem Blick auf ein Taxi, das vor uns rauchte. Der Fahrer musste eingeschlafen sein, als er gerade um die Ecke bog. Der Wagen war auf den Gehsteig gerast und in ein altes Gebäude geknallt. Am schrecklichsten waren gar nicht der aus der Motorhaube aufsteigende Rauch oder die erstarrten Körper im Wagen. Sondern die mit den reglosen Körpern von Einwohnern und Touristen übersäten Gehsteige. Eine junge Frau hatte es zudem in ihrem Fall vom Gitter einer Heizanlage gegen jene Mauer geschleudert, auf die dann auch das altmodische schwarze Taxi zugerast war. Sie lag im Sterben. Der einzige Trost war der, dass sie den Tod im Schlaf fand.
Hier handelte es sich nicht um den humanen Morpheus, den man uns in der Nachtwache beibrachte und der den Menschen noch ein paar Sekunden Zeit ließ, bevor sie in Ohnmacht fielen. Der Traum Merlins wirkte blitzschnell. Er war erstaunlich leicht zu lokalisieren. Ohne Weiteres konnte ich die Grenze erkennen, an der die Wirkung des Artefakts nachließ. Zwei Erwachsene, die sich darauf zubewegten, fielen zu Boden und sanken in Schlaf. Ein sieben- oder achtjähriger Junge, der ein paar Schritte hinter ihnen zurückblieb, schlief nicht ein und rüttelte jetzt weinend seine starren Eltern. Auf Hilfe durfte er nicht hoffen. Die Menschen, die nicht in die Traumzone gelangt waren, rannten mit erstaunlicher Schnelligkeit davon. Verständlicherweise, denn von außen musste es so aussehen, als habe man verheerendes Giftgas eingesetzt. Trotzdem war der Anblick des schreienden Jungen, der inmitten der fliehenden Masse versuchte, seine Eltern zum Aufstehen zu bewegen, nicht minder tragisch als jener der bei dem Unfall ums Leben gekommenen Frau.
Mit starrem Blick umrundete Edgar das rauchende Taxi. Ein geeigneter Fluchtmoment - falls ich mich doch zur Flucht entschließen wollte.
»Und was sagst du dazu?«, fragte ich.
»Zufällige Opfer sind unvermeidlich«, krächzte Edgar heiser. Die Stimme versagte ihm.»Ich weiß, worauf ich mich einlasse.«
»Bloß schade, dass sie es nicht wussten«, konterte ich. Und sah mir Edgar durchs Zwielicht an.
Schlecht. Sehr schlecht. Er war von oben bis unten mit Amuletten behangen, ihm haftete ein Dutzend Zauber an, darüber hinaus zitterten an seinen Fingerspitzen Kampfzauber, die jeden Moment explodieren konnten. Die einsatzbereite Kraft ließ ihn leuchten. Arina und Gennadi sahen genauso aus. Selbst der Vampir hatte sich nicht gegen magische Kinkerlitzchen gesträubt.
Mit Kraft würde ich sie nicht schlagen.
In vollständiger Stille fuhren wir an mit schlafenden Körpern bedeckten Gehsteigen und liegen gebliebenen Autos (ich zählte drei brennende Wagen) vorbei zu den ›Verliesen‹. Dort stiegen wir aus dem Auto.
In der Princess Street hinterm Park war ebenfalls alles erstarrt, doch von irgendwoher ließ sich Sirenengeheul vernehmen. Die Menschen überwinden ihre Panik stets. Selbst wenn sie nicht wissen, mit wem sie es zu tun haben.
»Gehen wir.«Edgar schubste mich leicht in den Rücken.
Wir stiegen die Treppen hinunter. Kurz drehte ich mich zurück, um mir noch einmal anzusehen, wie das Schloss den Dächern der Häuser eine steinerne Krone aufsetzte.
Gut. Ich hatte es. Man brauchte sich bloß alles durch den Kopf gehen zu lassen und die einzelnen Teile zusammenzusetzen. Merlin hatte sich erstaunlich großmütig gezeigt, als er seine Knittelverse verfasst hatte…
»Trödel nicht so!«, schrie Edgar. Seine Nerven versagten ihm jetzt. Kein Wunder, schließlich sah er einer Begegnung mit derjenigen entgegen, die er liebte.
Wir gingen an reglosen Körpern vorbei. Sowohl von Menschen wie auch von Anderen - Merlins Traum machte da keinen Unterschied. Ich entdeckte einige schlafende Inquisitoren. Hinter den Pappwänden erstrahlte es hell von ihren Auren. Sie hatten hier gewartet, eine hübsche Falle gestellt…
Nur hatte niemand von der Kraft des eingesetzten Artefakts gewusst.
»Was ist mit der Barriere in der dritten Schicht? Habt ihr die vergessen?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete Arina.
Mir entging nicht, dass sowohl Edgar wie auch Arina am Fußboden und den Wänden der ›Verliese‹ magisch aufgeladene Gegenstände zurückließen, die völlig harmlos aussahen: Papierschnipsel, Kaugummistreifen, kleine Fädchen. An einer Stelle malte Edgar rasch mit roter Kreide seltsame Symbole an die Wand, wobei die Kreide zu Staub zerfiel, sobald er das letzte Zeichen vollendet hatte. Irgendwo ließ Arina lächelnd Streichhölzer aus einer Packung zu Boden hageln. Die Ewige
Wache schützte sich offenbar mit einem Kordon gegen mögliche Jäger.
Schließlich gelangten wir in den Raum mit der Guillotine, den die Ewige Wache ausgewählt hatte, um ins Zwielicht einzutauchen - warum auch immer. Vielleicht konzentrierte sich hier die Kraft, lag hier das Zentrum des Trichters.
Und plötzlich bemerkte ich neben zwei schlafenden Magiern ersten Grades einen munteren Menschen.
Ein junger stämmiger Mann, der nicht sehr groß und bebrillt war, ein intelligentes Gesicht hatte und Jeans sowie ein buntes Hemd trug. Jemand, der sehr friedlich wirkte. In einer Ecke des Raums entdeckte ich ein schlafendes Mädchen von etwa zehn Jahren, das ihre Tasche sorgsam unter den Kopf gepresst hielt. Was sollte das? Wollten sie sich den Zugang etwa mit dem Blut eines Kindes erkaufen?
»Meine Tochter ist eingeschlafen«, erklärte der Mann, mich somit eines Besseren belehrend.»Ein sehr interessantes Ding, das muss ich zugeben…«Er kramte aus seiner Tasche eine kleine Kugel aus gitterartig verflochtenen groben Metallstreifen heraus.»Der Hebel hat sich umgelegt, kehrt jetzt aber nicht mehr in seine Ausgangsposition zurück.«
»So soll es auch sein«, versicherte Edgar.»Er kehrt erst nach gut siebzig Jahren in seine Ausgangsposition zurück. Insofern nutzt dir das Ding nichts, lass es ruhig hier. Nimm das!«
Er warf dem Mann ein Bündel Geldscheine zu. Der fing es auf und fuhr beiläufig mit dem Finger über den Schnitt der Scheine. Mir fiel auf, dass er seine linke Hand hinterm Rücken versteckt hielt. Typisch…
»Das geht in Ordnung«, meinte der Mann nickend.»Aber die Ausmaße dessen, was hier vor sich geht, irritieren mich ein wenig… genau wie diese Dinger, die ihr benutzt. Ich glaube, bei unserem kleinen Geschäft habt ihr mich gehörig über den Löffel balbiert.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass er Mätzchen macht«, sagte Edgar zu Arina. Dann wandte er sich wieder dem Mann zu.»Was willst du? Mehr Geld?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Dann nimm das Geld und deine Tochter und verschwinde«, verlangte Arina.»Das würde ich dir raten.«
Der Mann beleckte sich die Lippen. Um sich dann das Hemd aufzuknöpfen.
Er war überhaupt nicht dick. Er hatte sich lediglich eine Art orthopädisches Korsett umgeschnallt. Nur dass aus orthopädischen Korsetts normalerweise keine Drähte herauslugen.
»Ein Kilo Plastiksprengstoff. Der Zünder funktioniert nach dem Prinzip der Toten Hand«, erklärte der Mann, indem er den linken Arm hob.»Ich habe diese Kugel und all den seltsamen Firlefanz eingesammelt, den ich bei den Leutchen gefunden habe.«Er trat mit dem Fuß gegen einen der am Boden liegenden Anderen.»Und alles, was sie in den Taschen hatten. Verstanden?«
»Was sollte daran missverständlich sein?«, erwiderte Edgar.»Ich habe gleich gesagt, dass es darauf hinauslaufen würde. Folglich habe ich den richtigen Mann ausgesucht.«
In dem Moment bemerkte ich, dass Gennadi nicht mehr bei uns war.
»Das entbindet mich von einer Reihe Probleme moralischer Natur«, versicherte Edgar, während er sich umdrehte.
Der Gürtel mit dem Sprengstoff zerfiel plötzlich zu Fetzen. Das war keine Explosion, sondern die Arbeit einer unsichtbaren bekrallten Hand, die sich mit unnatürlicher Schnelligkeit bewegte. Zum Beispiel aus dem Zwielicht heraus. Verzweifelt öffnete der Mann die linke Hand, aus der ein kleiner Zünder mit einem lächerlichen Schwänzchen aus abgerissenem Draht fiel. Er hatte nicht gelogen…
Im nächsten Moment schrie der Mann auf. Ich selbst zog es vor, mich abzuwenden.
»Ein selten widerwärtiger Typ«, sagte Edgar.»Da droht er uns allen Ernstes, obwohl das Mädchen seine eigene Tochter ist. Immerhin sind wir auf diese Weise zu dem benötigten Blut gekommen, ohne Unschuldige umbringen zu müssen. Das hätte Arina sehr traurig gestimmt.«
»Du bist keinen Deut besser als er«, zischte ich.
»Das behaupte ich auch gar nicht.«Edgar zuckte mit den Achseln.»Gehen wir. Wir gehen nicht zum ersten Mal gemeinsam ins Zwielicht, stimmt’s?«
Er packte mich sogar beim Arm. Ich protestierte nicht. Ich fand meinen Schatten am Fußboden und trat in ihn ein. Worauf mir sogleich eisiger Wind entgegenpeitschte, mich die zugefrorene, gierige Weite des Zwielichts erwartete…
Die erste Schicht.
Ohne innezuhalten, ging es weiter. Die zweite Schicht. Der Raum um mich herum brodelte, aufgerührt durch das frische Blut oder durch die Bresche, die Merlin hier einst ins Weltgebäude geschlagen hatte.
Edgar und Arina waren nach wie vor neben mir. Beide wirkten konzentriert, angespannt. Im nächsten Moment tauchte auch Gennadi auf, der sich über die blutigen Lippen leckte. In der zweiten Schicht erkannte ich ihn kaum wieder, dermaßen entstellten ungeheuerliche Bosheit und Wahnsinn das Gesicht von Sauschkin senior.
Die dritte Schicht. Hier hallte noch das Echo des Kraftwirbels nach, der uns bis vor kurzem den Weg in diese Tiefen versperrt hatte. Edgar spähte umher.
»Jemand verfolgt uns…«, sagte er.»Das Zeichen hat funktioniert.«
»Hat es ihn aufgehalten?«, fragte Arina, aus deren Mund eine Dampfwolke aufstieg.
»Keine Ahnung. Gehen wir tiefer!«
Die vierte Schicht empfing uns mit einem rosafarbenen Himmel und buntem Sand. Ich befreite meinen Arm aus Edgars Griff.
»Denk an unsere Abmachung!«, blaffte ich.»Ich werde mich aus dem Kampf mit dem Golem raushalten!«
»Es zwingt dich auch niemand, mit ihm zu kämpfen.«Edgar grinste.»Keine Sorge, du kannst dich abseits halten. Vorwärts!«
An dieser Stelle hatte ich mir vorgenommen, einen Streit anzuzetteln. Um Zeit zu schinden, zu fliehen oder aber zu bleiben, um die Ewige Wache in ihren sinnlosen Kampf mit dem Monster zu schicken.
Doch irgendwas packte mich. Der gleiche Wahnsinn, der sich Arinas, Edgars und Gennadis bemächtigt hatte, hielt nun auch mich gefangen. Ich musste in die fünfte Schicht vordringen! Musste es einfach!
Und sei es nur, um ihre Wachsamkeit einzulullen…
»Gut, aber ich habe nicht die Absicht, mir euretwegen den Kopf einschlagen zu lassen!«, schrie ich, während ich, von Edgar aufmerksam beäugt, in die fünfte Schicht eintrat.
Fast im selben Moment tauchten die drei neben mir auf. Sie waren hervorragend mit Kraft aufgeladen. Nur Gennadi erschien den Bruchteil einer Sekunde später, da er anscheinend zwei Anläufe brauchte.
Trotz allem war es hier viel angenehmer als in den oberen Zwielicht-Schichten! Kühl und frisch, aber ohne diesen eisigen, alles Leben aus einem heraussaugenden Wind. Und die Farben wirkten fast natürlich…
Suchend sah ich mich nach dem Golem um. In einer Entfernung von zweihundert Metern erspähte ich ihn: Aus dem hohen Gras ragten zwei Schlangenköpfe auf, die sich gleich den Periskopen von U-Booten hin und her drehten. Jetzt entdeckte der Golem auch uns. Die Köpfe erzitterten und schraubten sich hoch. Ein Zischen war zu hören, das ich für das einer Schlange gehalten hätte, wäre die Entfernung dafür nicht zu groß gewesen.
Im nächsten Moment glitt die Schlange auf uns zu, wobei sie es schaffte, beide Köpfe über dem Gras zu halten.
»Kopf und Schwanz«, meinte Arina nachdenklich.»Ich weiß nicht, ich weiß nicht… Edgar, lass Kong los.«
Was sie damit meinte, wurde mir klar, als Edgar aus seiner Tasche eine kleine Nephritfigur herausholte, die als langatmiger Affe mit kurzen, spitzen Hörnern auf dem Kopf gearbeitet war. Der Inquisitor blies die Statuette an und drehte ihr behutsam den Kopf ab. Der Affe war innen hohl. Vorsichtig setzte er den offenen Flakon im Gras ab. Wir konnten uns gerade noch in Sicherheit bringen, bevor aus dem Gefäß grüner Rauch aufstieg und die Figur sich in ein Monster verwandelte.
Dem King-Kong-Deva, der in Samarkand Alischer gejagt hatte, glich dieser Affe in keiner Weise. Vor allem war er nicht so groß, sondern maß nur knapp drei Meter bis zum Widerrist. Mit dem zähnegebleckten Maul, den muskulösen Pranken mit den spitzen Krallen, dem struppigen dunkelgrauen Fell und den in blinder Bosheit brennenden orangefarbenen Augen beeindruckte er dennoch weitaus mehr als der sentimentale Koloss aus dem Film.
Vermutlich hatte King Kong auch nicht so widerlich und scharf gestunken. Wie kann ein Golem stinken, wo er doch nicht aus Fleisch, ja, nicht einmal aus Lehm, sondern aus konzentrierter Kraft besteht, die bis eben in ein magisches Gefäß gebannt worden war? Keine Ahnung. Vielleicht handelte es sich dabei einfach um einen zufälligen Nebeneffekt. Vielleicht hatte sich der Schöpfer des Devas aber auch einen Spaß erlaubt.
»Geh und bring das da um!«, schrie Edgar, indem er auf die Schlange zeigte. Brüllend stürzte Kong mit riesigen Sprüngen auf die Schlange zu. Die konnte sein Anblick jedoch nicht schrecken, vielmehr schien sie angesichts des würdigen Gegners aufzuleben, sodass sie ihm hurtig entgegenkroch. Der Boden bebte, das donnernde Heulen des Affen und das erstickende Zischen der Schlange verschmolzen zu einem einzigen Dröhnen!
Höchste Zeit für mich! Solange sie der bevorstehende Kampf noch fesselte.
Ich drehte mich um - und erstarrte. Hinter mir stand ein kleiner bärtiger Mann in weißem Gewand. Er wirkte völlig real, jedes Haar in seinem silbergrauen Rauschebart hätte man zählen, jede Falte in dem müden Gesicht erkennen können. Gleichzeitig schien er jedoch nicht mehr als ein diffuser fahler Schatten, durch den Gras und Himmel schimmerten.
Der Alte wies mit der Hand langsam auf eine Stelle am Boden. Wiederholte die Geste.
Wollte er, dass ich in die sechste Schicht eindrang?
Ich zeigte mit der Hand nach unten. Der Alte nickte, auf seinem Gesicht spiegelte sich Erleichterung wider.
Dann löste er sich in Luft auf.
Ich durfte keine Sekunde zögern. Jeden Moment konnte sich einer von der Ewigen Wache umdrehen und bemerken, dass ich fliehen wollte.
Die Kraft ist in mir! Ich werde in die sechste Schicht eintauchen können.
Mein Schatten ist in mir! Ich sehe ihn immer.
Ich muss es tun! Also werde ich es tun.
Eisiger Wind schlug mir entgegen.
Gerade als ich durch die Barriere treten wollte, hörte ich Arinas Stimme.»Es ist uns wirklich jemand ge…«
Ihre Stimme verstummte, blieb hinter jener Grenze hängen, die die sechste Schicht umgibt. Hinter jener Grenze, die die Welt der von uns gegangenen Anderen schützt.
»Danke, dass du gekommen bist«, sagte der Alte. Und lächelte.
Bevor ich antwortete, sah ich mich um.
Es war Tag. Am blauen Himmel prangte die Sonne, zogen weiße Schäfchenwolken dahin. In der Lichtung spross grünes Gras. In den Zweigen zwitscherten Vögel.
Vor mir stand der silbergraue uralte Andere. Seine Kleidung war gar nicht weiß, sondern aus einem groben grauen Sackleinen gewebt das nur auf den ersten Blick schneeweiß gewirkt hatte. Außerdem trug er keine Schuhe. Worin freilich weder die Demut eines Hirten noch Naturverbundenheit zum Ausdruck kamen. Er war einfach ein Mann, der barfuß ging, der es für Zeitverschwendung hielt, Schuhwerk anzufertigen.
»Ich grüße dich, Großer«, sagte ich und neigte den Kopf.»Es ist mir eine Ehre… dem Großen Merlin zu begegnen.«
Neugierig blickte mir der Alte ins Gesicht. Als sähe er es nicht zum ersten Mal, erhalte jedoch erst jetzt die Möglichkeit, es eingehend zu studieren.
»Eine Ehre? Bist du denn mit meinem Leben vertraut, Lichter?«
»Ein wenig.«Ich zuckte die Achseln.»Über das Schiff mit den Kindern weiß ich Bescheid.«
»Und trotzdem sprichst du von Ehre?«
»Meiner Ansicht nach hast du für vieles bereits bezahlt. Außerdem bist du für Millionen Menschen ein weiser Wahrer des Guten und der Gerechtigkeit. Das sollte man nicht außer Acht lassen.«
»Insgesamt waren es nur neun…«, brummte Merlin.»Legenden… sie übertreiben immer. Sowohl was das Schlechte als auch was das Gute angeht…«
»Doch diese neun hat es gegeben.«
»Ja«, sagte Merlin.»Warum bist du der Ansicht, ich hätte dafür bezahlt? Gefällt dir das Paradies nicht, das die Anderen nach ihrem Tod erwartet?«
Statt zu antworten, bückte ich mich und riss einen Grashalm aus. Steckte ihn in den Mund und kaute darauf herum. Der Saft war bitter, aber nicht bitter genug. Ich kniff die Augen zusammen und blickte in die Sonne. Sie prangte am Himmel, doch ihr Licht blendete nicht. Ich klatschte in die Hände, worauf ein Geräusch entstand, das ganz leicht erstickt klang. Ich atmete tief ein. Die Luft war frisch, und trotzdem fehlte ihr etwas. Ein leichter Muff blieb zurück - wie in der verlassenen Wohnung Sauschkins.
»Hier gibt es nichts wirklich Echtes«, erklärte ich.»Hier fehlt Leben.«
»Bravo.«Merlin nickte.»Viele bemerken das erst nach einiger Zeit. Viele leben jahrelang hier, jahrhundertelang… bevor sie begreifen, dass sie hereingelegt worden sind.«
»Gewöhnt man sich nicht daran?«, wollte ich wissen.
Merlin lächelte.»Nein. Daran gewöhnst du dich nicht.«
»Erinnerst du dich noch an die Geschichte mit dem nachgemachten Spielzeug für den Weihnachtsbaum, Anton?«, fragte jemand hinter mir. Ich drehte mich um.
Fünf Schritte von mir entfernt stand Tigerjunges.
Es waren viele. Viele, die gekommen waren und meiner Unterhaltung mit Merlin zuhörten. Igor Teplow und Alissa Donnikowa, nunmehr zusammen und Händchen haltend - doch in ihren Gesichtern spiegelte sich kein Glück wider. Das Tiermädchen Galja hatte den Blick gesenkt. Murat aus der Samarkander Wache winkte mir verlegen zu. Der Dunkle, den ich ermordet hatte, indem ich ihn vom Fernsehturm in Ostankino gestürzt hatte, sah mich ohne jede Bosheit, ohne jede Wut an.
Sehr viele hatten sich dort versammelt. Die Bäume versperrten mir die Sicht auf sie alle. Doch wenn es den Wald nicht gegeben hätte, hätten sie sich bis zum Horizont erstreckt. Vorgetreten waren nur diejenigen, die ich kannte.
»Ich erinnere mich noch daran, Tigerjunges«, sagte ich.
Ich empfand weder Furcht noch Bosheit. Nur Trauer, eine stille und müde Trauer.
»Die Sachen wirken echt«, fuhr Tigerjunges lächelnd fort.»Nur bereiten sie dir keine Freude…«
»Du siehst gut aus«, murmelte ich, um wenigstens etwas zu sagen.
Nachdenklich betrachtete Tigerjunges ihren Umhang aus Tigerfell.»Ich gebe mir alle Mühe«, meinte sie.»Dir zu Ehren.«
»Hallo, Igor!«, sagte ich.»Hallo, Alissa!«
Beide nickten mir zu.
»Du bist großartig, Anton«, bemerkte Alissa dann.»Stark. Aber bild dir bloß nichts ein, Lichter! Dir hat nämlich Merlin persönlich geholfen.«
Ich sah den Alten an.
»Gelegentlich«, bestätigte Merlin voller Taktgefühl.»Nun… Bei eurem bizarren Turm. Und als du dich mit dem Tiermenschen im Wald geschlagen hast… und dann noch ein wenig, als…«
Ich hörte schon nicht mehr zu. Denn ich hielt nach demjenigen Ausschau, an dessen Worten mir am meisten gelegen war.
Kostja schubste den Anderen weg, hinter dem er stand, und kam mir entgegen. Von allen, die sich hier versammelt hatten, sah er vielleicht am besten und zugleich am komischsten aus. An ihm hingen noch die Reste des Raumanzugs, der einmal weiß gewesen, jetzt jedoch an einigen Stellen geschwärzt und verbrannt war.
»Hallo, Nachbar«, begrüßte er mich.
»Hallo, Kostja«, erwiderte ich.»Ich… ich wollte dir schon längst etwas sagen. Verzeih mir.«
Er verzog das Gesicht.»Hör doch mit deinen lichten Attitüden auf… Was gibt es da zu verzeihen? Wir haben uns einen ehrlichen Kampf geliefert, und du hast gewonnen. Das ist völlig in Ordnung. Ich hätte wissen müssen, dass du den Schild nicht aus Furcht aufstellst.«
»Trotzdem«, sagte ich.»Du weißt, dass ich meine Arbeit hasse. Ich bin zu einem Schräubchen geworden… einem Rad im Getriebe, das kein Erbarmen kennt!«
»Sollten wir nicht genau so sein?«Mit einem Mal lächelte Kostja.»Hör auf damit… Du… musst… meinem Vater das verzeihen. Wenn du kannst. Er war nicht immer so.«
»Ich werde mir Mühe geben«, meinte ich.»Ich werde es versuchen.«
»Sag ihm, dass meine Mutter und ich auf ihn warten.«Kostja zögerte kurz, bevor er hinzufügte:»Hier.«
»Ich werde es ihm sagen«, versprach ich, während ich nach Polina Ausschau hielt.
Plötzlich trat Kostja vor, drückte mir ungeschickt die Hand - und verschwand wieder.
In diesem kurzen Moment jedoch, als unsere Handflächen sich berührten, spürte ich, wie seine kalte Hand sich erwärmte, sah, wie die Haut rosarot aufflammte und der Glanz in die Augen zurückkehrte. Schwankend stand Kostja danach da und betrachtete seine Hand.
Während meine Hand in eisiger Kälte brannte…
Durch die Kolonne der Anderen ging ein Ruck. Langsam wogte sie auf mich zu. In ihren Augen lag Gier und Neid - bei allen. Selbst bei Tigerjunges, bei Igor und Murat.
»Stehen geblieben!«, schrie Merlin. Sofort stellte er sich zwischen mich und die von uns gegangenen Anderen. Hob beide Arme in die Höhe. Mir fiel auf, dass er sich alle Mühe gab, mich nicht zu berühren.»Stehen geblieben, ihr Narren! Ein paar Minuten Leben… sind nicht das, was wir wollen, worauf wir gewartet haben!«
Sie blieben stehen. Verlegen blickten sie einander an, wichen zurück. Gleichwohl brannte in ihren Augen nach wie vor ein irres Feuer.
»Geh jetzt, Anton«, verlangte Merlin.»Du hast alles verstanden und weißt, was du tun musst. Geh!«
»Ich komme nicht durch, da ist die Ewige Wache«, erklärte ich.»Ja, wenn dein Golem sie nicht aufhalten würde…«
Merlin schien durch mich hindurchzublicken. Dann seufzte er.»Der Golem ist tot. Beide Golems sind tot. Schade… Manchmal bin ich in die fünfte Schicht gegangen, um mit der Schlange zu spielen. Sie hat sich ebenfalls immer darauf gefreut.«
»Könnt ihr mich begleiten?«, fragte ich.
Merlin schüttelte den Kopf.»Einige von uns können die fünfte Schicht erreichen. Aber in die erste gelangen nur sehr wenige, und dort sind wir hilflos.«
»Ich komme nicht an ihnen vorbei«, sagte ich.»Und direkt… in die siebte Schicht - das schaffe ich nicht.«
Wir lächelten einander an.
»Jemand wird dir helfen«, versicherte Merlin.»Nur bitte ich dich, alles richtig zu machen.«
Ich nickte.
Ich wusste nicht, ob es mir gelingen würde. Ich konnte mich nur sehr bemühen.
Gleich darauf vibrierte die Luft um mich herum, als ergieße sich etwas ins Zwielicht, das vor Kraft barst. Welche Schichten… welche Entfernungen… Was hatte diese in der Erkenntnis des eigenen Selbst leuchtende Kraft zu bedeuten?
Nadjuschka lief durchs Gras. Fuchtelte mit den Armen, konnte das Gleichgewicht jedoch nicht halten und landete mit einem Blick auf mich auf dem Hintern.
»Steh auf«, sagte ich streng.»Es ist feucht.«
Nadja sprang auf, klopfte sich die Manchesterlatzhose ab und schnatterte los:»Erstens: Mama hat mir beigebracht, im Schatten zu gehen! Zweitens: Da kämpfen ein Affe und eine Schlange miteinander und machen sich gegenseitig fertig! Drittens: Zwei Onkel und eine Tante gucken auf die Schlange und sagen sehr schlimme Wörter! Viertens: Mama hat mir gesagt, ich soll dich sofort zum Essen nach Hause holen!«
Sie stockte, als sie die Massen um sich herum sah. Verlegen senkte sie den Blick und brachte im Ton eines braven Mädchens hervor:»Guten Tag…«
»Guten Tag.«Merlin hockte sich vor sie hin.»Bist du Nadeshda?«
»Ja«, sagte Nadja stolz.
»Ich freue mich, dich zu sehen«, meinte Merlin.»Bring deinen Papa nach Hause. Nur geh nicht gleich nach Hause, sondern erst zurück, zu den Menschen. Dann bring ihn nach Hause.«
»Zurück - das heißt nach vorn?«, fragte Nadja nach.
»Richtig.«
»Du siehst aus wie ein Zauberer aus einem Zeichentrickfilm«, erklärte Nadja misstrauisch. Vorsichtshalber schmiegte sie sich an mich und griff nach meiner Hand, was ihr offenbar Sicherheit einflößte.
»Ich war auch einst ein Zauberer«, gab Merlin zu.
»Ein guter oder ein böser?«
»Mal so, mal so.«Er lächelte traurig.»Geh jetzt, Nadeshda.«
Mit einem ängstlichen Blick auf Merlin fragte mich Nadja:»Gehen wir, Paps?«
»Ja«, sagte ich.
Noch einmal drehte ich mich um, nickte den Anderen zu, die schweigend zu uns herübersahen. Voller Trauer und Hoffnung. Als Erste hob Tigerjunges die Hand zum Abschied. Dann Alissa. Schließlich winkten uns alle zu - um sich für immer von uns zu verabschieden.
Als meine Tochter, die frisch initiierte Absolute Zauberin, dann einen Schritt nach vorn machte, folgte ich ihr. Ich hielt mich an ihrer Hand fest, um mich nicht in jenem Kraftwirbel zu verlieren, der tosend seinen Kreis vollendete und nunmehr in unsere Welt zurückkehrte.
Denn natürlich kennt das Zwielicht keinen Anfang und kein Ende. So wie jeder Ring endlos ist.
Die Wärme der menschlichen Liebe und die Kälte des menschlichen Hasses, der Lauf der Tiere und der Flug der Vögel, das Flügelschlagen der Schmetterlinge und das die Erde durchbohrende, aus ihr heraussprießende Korn hinterlassen nämlich ihre Spuren. Der universelle Strom lebendiger Kraft, dessen Tropfen Parasiten wie das blaue Moos und Andere so gierig aufsaugen, verschwindet selbstverständlich nicht spurlos. Sondern kehrt in die Welt zurück, die ihrer Auferstehung harrt.
Denn wir alle leben in der siebten Schicht des Zwielichts.
»Wie! Schön! Hier! Alles! Ist!«, schrie Nadja.
Ich nahm sie auf den Arm. Wir standen auf dem Kopfsteinpflaster von Edinburgh, umgeben von Hunderten und Tausenden von schlafenden Menschen. Heulende Sirenen kamen näher und näher. Die Zeit der Anderen endete.
»Ja«, stimmte ich ihr zu.»Hier ist alles echt.«
»Aber alle schlafen«, warf Nadja traurig ein.»Wie in dem Märchen von Dornröschen. Sollen wir sie wecken?«
Sie würde das jetzt schaffen… Sie würde jetzt alles schaffen - wenn sie es lernte.
»Bist du gar nicht müde?«, fragte ich. Meine Knie zitterten, mir war leicht schwindlig.
»Wieso denn das?«, wunderte sich Nadja.
»Ein bisschen später«, versprach ich.»Ein bisschen später wecken wir sie… Alle, die wir wecken können. Aber erst muss Papa noch etwas sehr Wichtiges erledigen. Hilfst du mir dabei?«
»Wie denn?«
»Halt mich einfach bei der Hand«, bat ich. Dann schloss ich die Augen. Breitete die Arme aus. Hielt den Atem an.
Ich musste diese Stadt spüren. Die Steine und Mauern, die sich noch an Merlin und Artus erinnerten. Menschen können vergessen, aber Steine bewahren die Erinnerung. Die alte Burg, dieser Kranz über einer erstarrten Stadt, erinnert sich und wartet.
Warum sind wir mitunter so dumm? Warum glauben wir, Magie müsste in etwas versteckt sein, das man in die Hand nehmen kann, wenn sie überall um uns herum sein kann?
Natürlich hat Merlin sein Hauptwerk nicht im Zwielicht versteckt. Natürlich hat er nicht auf die Stärke des Golems vertraut. Selbst auf die Solidität von Truhen wollte er sich nicht verlassen. Seit anderthalb Jahrtausenden erhob sich diese alte Burg auf dem Felsen. Sie wurde verteidigt, eingenommen, zerstört und umgebaut. In ihr bewahrte man die Schätze der stolzen Könige Schottlands auf. Doch dort, am Grunde aller Dinge, harrten die von Merlin niedergelegten, reich mit Runen verzierten Steine ihrer Stunde.
Man musste sich ihnen nur entgegenstrecken. Sie berühren. Spüren…
»Lichter!«, schrie jemand hinter mir. Ich drehte mich um. Erwachte aus meiner Trance.
Reglos standen Edgar und Arina da und sahen mich an. Verwundert registrierte ich, dass einzig Furcht in ihrem Blick lag. Gennadi floh sogar. Floh und schrie. Glaubte er etwa, die Stärke der Magie hinge von der Lautstärke seines Schreis ab? Mit riesigen Sprüngen stürzte Gennadi davon, wobei er sich im Lauf verwandelte, sodass er nach und nach alle Ähnlichkeit mit einem Menschen einbüßte. Ihm wuchsen Eckzähne, die Haut starb ab, die Haare fielen ihm in grauen Büscheln aus.
Ich hob den Arm und sammelte Kraft für die Graue Messe.
Doch in diesem Moment trat Nadja vor und brüllte dem Vampir ins Gesicht:»Schrei meinen Papa nicht an!«
Gennadi geriet ins Schwanken. Das, was ihn getroffen hatte, war stärker als jeder Hass. Inzwischen konnte er nicht mehr anhalten, sondern rannte weiter, als laufe er gegen einen Hurrikan an. Dann brach er zu unseren Füßen zusammen. Quiekend versteckte Nadja sich hinter mir.
Ich hockte mich hin und sah Gennadi in die Augen.»Kostja und Polina erwarten dich«, sagte ich.»Sie bitten dich, zu ihnen zu kommen. Jetzt gleich. Noch ist Zeit.«
Einen Moment lang verlosch der Wahnsinn in seinem Blick. Sauschkin sah mich an.»Sie können nicht kommen?«, wollte er wissen.
»Nein, sie können nicht kommen. Niemals hätten sie das gekonnt. Aber ich tue, worum sie mich gebeten haben. Geh, noch ist Zeit.«
»Hilf mir, Anton«, sagte er mit fast normaler Stimme.
»Nadja, dreh dich um!«, befahl ich.
»Ich gucke nicht, ich gucke bestimmt nicht!«, murmelte meine Tochter, während sie sich umdrehte und sicherheitshalber noch die Hände vor die Augen presste.
Ich hob die Hand. Wie gebannt verfolgte Gennadi meine Bewegungen. Die Graue Messe schickte den Vampir in die sechste Zwielicht-Schicht
Während ich mich erhob, schielte ich zu Edgar und Arina hinüber. Gennadi und mich würdigten sie keines Blickes, sie hatten nur Augen für Nadja.
»Eine Null-Andere«, brachte Arina voller Bewunderung hervor.»Eine Absolute Zauberin…«
»Die nächsten fünf Minuten kann ich mich nicht um euch kümmern«, sagte ich, sie nicht aus den Augen lassend.»Und danach…«
»Wir verfügen über die Minoische Sphäre«, erklärte Edgar in bittendem Ton.»Gestattest du das?«
»Man wird euch suchen«, versicherte ich.»Ich auch, merkt euch das. Aber jetzt habt ihr fünf Minuten. Allerdings nur, weil sie mich gebeten haben zu verzeihen.«
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Arina.
»Das, wovon diejenigen träumen, die von uns gegangen sind. Ihnen den Tod geben. Denn ohne Tod ist keine Auferstehung möglich.«
Edgar kniff die Augen zusammen. Dann öffnete er ein Gürteltäschchen, dem er eine kleine beinerne Kugel entnahm, die er Arina entgegenstreckte. Schweigend nahm sie sie an sich.
»Hilf auch mir, Lichter«, bat er.»Das kostet dich doch nichts…«
»Du bist mit Schutzzaubern behangen wie ein Weihnachtsbaum mit Lametta. Wie soll ich dir da helfen?«
»Ich werde ihm helfen«, mischte sich Arina plötzlich ein.»Und du lass dich nicht aufhalten. Tu, was du tun musst.«
Was genau sie machte, begriff ich nicht. Es sah so aus, als bewege sie lediglich die Lippen. Edgar lächelte. Einen Moment lang sah sein Gesicht attraktiv und fast jugendlich aus. Dann knickten ihm die Beine weg, und er landete auf dem Kopfsteinpflaster.
»Du hast wohl nicht vor, dich zu dematerialisieren?«, bemerkte ich.»Was bist du bloß für eine Lichte?«
»Ein Ziel kann man auf diesem oder auf jenem Wege erreichen«, brachte Arina hervor.»Die von uns Gegangenen haben bekommen, was sie wollten!«
Ich schüttelte den Kopf. Sah zum Schloss hinüber. Schloss abermals die Augen.
»Ich gebe dir dein Handy zurück…«, sagte Arina.»Ich brauche nichts Fremdes.«
Hinter mir zersprang leise knackend die Minoische Sphäre, die Arina ein Portal eröffnete, das sich nicht verfolgen lassen würde. Sie war eine seltsame Dunkle gewesen, und aus ihr war eine seltsame Lichte geworden…
Plötzlich hörte ich Musik, leise, schwache Töne. Arina hatte den im Handy integrierten Player eingeschaltet. Zufällig? Oder um mir zu beweisen, dass sie weit mehr von Technik verstand, als ich annahm.
Raus aus dem Nigredo sind sie fast wie du und ich
Und sie streifen durch die Welt, und sie wissen’s nicht.
Spiegelfratzen machen, über sich dann lachen -
Raus aus dem Nigredo sind sie, und sie wissen’s nicht.
Ein Dunkler aufgespürt - mit Kreide vollgeschmiert,
Ist das Opfer licht - Ruß ihm ins Gesicht!
Doch was soll man machen? Fast wie du und ich
Raus aus dem Nigredo sind sie, und sie wissen’s nicht.
Auf den Händen haben sie der Lebenslinien acht,
Darum haben sie einander oft schon umgebracht.
Doch was soll man machen? Fast wie du und ich
Raus aus dem Nigredo sind sie, und sie wissen’s nicht.
Richtig, auch dies ist Glück: Wenn es dir gelingt, das Nigredo hinter dir zu lassen. Wer auch immer du bist, ein Dunkler oder ein Lichter - nur so hast du eine Chance, deinen Weg fortzusetzen. Nur durch das Nigredo, Zerfall und Auflösung kann man vorwärtskommen. Zur Synthese. Um etwas Neues zu schaffen. Zum Albedo.
Die alten Steine auf der Spitze des Hangs warteten.
Ich streckte mich ihnen entgegen. Zauber, Worte und Rituale brauchte ich dafür nicht. Es genügte zu wissen, wohin ich mich strecken musste und was ich erbitten wollte.
Merlin hatte immer darauf geachtet, ein Schlupfloch zu lassen. Selbst als er sich auf das Paradies der Anderen vorbereitete, vermutete er, ein gestohlenes Paradies könne sich als Hölle erweisen.
Gib sie frei, bat ich, ohne zu wissen, an wen ich mich damit wandte. Gib sie bitte frei. Sie haben Böses geschaffen, das Böse war, und Gutes, das sich als Böses erwies. Aber einmal sollte ein Schlussstrich gezogen und alles verziehen werden. Gib sie frei…
Die Burg auf dem Hügel schien zu seufzen. Die am Himmel kreisenden Vögel kamen tiefer. Ein trüber Dunst in der Luft löste sich allmählich auf. Der letzte Strahl der untergehenden Sonne fiel auf die Stadt - und versprach, mit der Morgendämmerung wiederzukommen.
Ich spürte, wie sich alle Schichten des Universums zusammenzogen und erzitterten. Sah - fast vor meinen Augen - wie die Steinstelen auf dem Plateau der Dämonen in Usbekistan umkippten. Wie sich die Anderen, die nach ihrer Dematerialisierung ins Zwielicht eingegangen waren, auflösten. Erleichtert und mit einem Hauch von Hoffnung.
Es atmete sich nun leichter.
»Papa, kann ich jetzt gucken?«, fragte Nadja.»Wenigstens mit einem Auge?«
»Ja«, sagte ich. Ich setzte mich hin, denn meine Beine wollten mich nicht länger tragen.»letzt ruht Papa sich kurz aus, und dann geht’s ab nach Hause… Bringst du mich über den kurzen Weg hin?«
»Ja«, versprach Nadja.
»Nein, das lassen wir lieber«, korrigierte ich mich plötzlich selbst.»Ich mag die kurzen Wege nämlich nicht. Lass uns fliegen, ja?«
»Hurra!«, schrie Nadja.»Wir nehmen das Flugzeug! Aber wir kommen doch noch mal hierher, oder?«
Lächelnd sah ich sie an. Ob es mir gelingen würde, ihr beizubringen, dass man einfache Lösungen und kurze Wege meiden sollte?
»Bestimmt«, versprach ich.»Du glaubst doch nicht etwa, dass diese Wache in alle Ewigkeit die letzte war?«