Illustrationen von Karl Fischer
Umschlag: Karl Fischer
Verlag Neues Leben, Berlin 1986
Der Raumgleiter stürzte aus den unendlichen Weiten des gestirnten Himmels, verließ den Nachtschatten des Planeten, durchbrach im Morgenrot eine Wolkenbank und fegte dann hoch über die Inseln, sein Ziel, hinweg.
„Sechs Planquadrate“, sagte Jill.
„Der Tag wird drüber hingehen“, brummte Leo.
Er steuerte den Raumgleiter in einer ausholenden Kurve zu den Inseln zurück, um mit der Suche nach einer von fünf Erkundungsgruppen der überfälligen MORGENSTERN zu beginnen. Die Inseln unter ihnen lagen auf der Linie des vermuteten Absturzes. Jill schaltete die Spürgeräte ein, und Leo stabilisierte den Flug in mittlerer Höhe.
„Verdammter Wasserplanet“, murrte er. „Inseln, nichts als Inseln.“
Jill wußte, was der Pilot damit andeuten wollte: Falls die Erkundungsgruppen der MORGENSTERN ihren Absturz auf dieser fremden Welt überstanden haben, ist die Wahrscheinlichkeit, ins Wasser zu fallen, größer gewesen als die, eine Insel zu erreichen. Und die Havarie lag schon mehrere Jahre zurück.
„Eigentlich ideale Lebensbereiche, diese Archipele“, stellte Jill fest, „sogar für Überlebende, die über Tausende Meilen verstreut sind.“
„Aber nur für diejenigen, die an ein Ufer gelangt sind. Um monatelang auf See zu treiben, dafür waren die Kapseln nicht ausgerüstet.“ Und einen Stützpunkt für die Raumflotte, wie sie ihn als Vorkommando errichten sollten, haben sie unter diesen Bedingungen sicherlich auch nicht anlegen können, dachte er.
Nebelbänke lagerten zu dieser frühen Stunde über den Inseln und erschwerten die Beobachtung. Deshalb sah Jill nur selten hinaus und achtete mehr auf die Anzeigen der Spürgeräte, die Notsiedlungen oder Überreste der Module orten sollten.
Von der Kreisbahn im Orbit kam eine Anfrage der ABENDSTERN. „Habt ihr schon Anhaltspunkte oder irgendeine Spur?“ wollte Rickmar wissen.
„Noch keine, Kommandant“, meldete Jill. „Wir haben eben erst angefangen.“
Rickmar hatte keinen Funkverkehr zwischen den vermißten Landegruppen des Schwesterschiffes feststellen können. Das war besorgniserregend. In den zurückliegenden Tagen beim Umkreisen dieser Welt, die auf den Sternkarten unter dem Namen ARCHIPELKA eingetragen war, hatten sie nicht das kleinste Signal der Vorausgruppen aufgefangen. Eigentlich aber schien es unmöglich, daß nicht wenigstens zwei oder drei von den fünf Modulen, in die sich die MORGENSTERN beim Landeanflug sicherlich planmäßig aufgeteilt hatte, heil unten angekommen waren.
„Erkunder zwei ist jetzt im Anflug auf den Nachbararchipel westlich von euch“, informierte sie der Kommandant. „Und Erkunder drei wird in wenigen Minuten auch den Orbit verlassen.“
Die Suchaktion war also voll angelaufen. Jill hielt Verbindung zur ABENDSTERN, sprach aber nicht. Wahrscheinlich hatte sich die Mannschaft der MORGENSTERN beim Landeanflug soweit wie möglich an die Regeln gehalten. In diesem Fall war die Aussicht, schon bald auf die Spuren einer Landegruppe zu stoßen, gut. Der Bordcomputer der ABENDSTERN hatte Fallkurven der abgesprengten Module errechnet. Und eine wies auf diese Inseln.
Nach einer Weile reagierte eines der Spürgeräte mit einem leisen Ton. Sie verließen gerade das zweite Planquadrat, überquerten eine Meerenge mit Eilanden und hielten auf eine mittelgroße Insel zu.
„Anzeige: Metallkonzentration“, sagte Jill.
„Doch nicht etwa ein Modul?“ fragte Leo ungläubig.
„Sehen kann man nichts dort unten“, stellte Jill fest.
Leo ließ den Raumgleiter hinabstoßen. Heulend kurvte der im Tiefflug über einen Klippensaum hinweg. Tiere, die wie Riesenseesterne aussahen, lagerten auf dem Geröll. Herdenweise stürzten sie sich ins Meer. Die Anzeige auf dem Spürgerät war immer noch deutlich.
„Nichts zu sehen“, wiederholte Jill ärgerlich. „Alles nur Felsen, von Algenschlick überzogen.“ Hastig stoppte er die Aufzeichnungen und durchmusterte sie, während der Raumgleiter auf die See hinausstob und in einer weiten Schleife zurückkehrte. „Denselben Küstenabschnitt noch einmal“, verlangte er.
Diesmal waren die Aufzeichnungen klarer zu erkennen. Doch im Ortungsbereich gab es nichts, was irdischer Herkunft hätte sein können. Der Klippensaum blieb gleichförmig ohne Besonderheit. Nun ließ sich auch die ABENDSTERN die Aufzeichnungen übertragen. Jill und Leo kreisten eine Weile über der Insel und warteten. Endlich meldete sich der Kommandant.
„Also: Wir können auch nichts eindeutig Irdisches identifizieren“, sagte Rickmar. „Aber wenn die Ortung anspricht, liegt etwas im Klippensaum, was ihr nachprüfen.müßt. Meiner Meinung nach solltet ihr den übergroßen Felsklotz, der im Raster vierandfünfzig liegt, besonders sorgfältig in Augenschein nehmen.“
„Kann ein Modul in wenigen Jahren so sehr von Moos oder Algen überwachsen sein, daß es nicht mehr von seiner Umgebung zu unterscheiden ist?“ fragte Leo zweifelnd.
Sie folgten der Anweisung der ABENDSTERN und ließen die Spürgeräte mit verschiedenen Filtern arbeiten.
„Ja! Es ist ein Modul!“ schrie Jill plötzlich.
„Die Kumpels dort unten fallen jetzt aus ihren Hängematten, wenn sie uns vorbeipfeifen hören“, sagte Leo. Ein zufriedenes Schmunzeln huschte über sein Gesicht. „Siehst du jemanden?“ Er hatte nur den Himmel im Blickfeld und stellte sich wahrscheinlich vor, wie dort unten Leute aus einer Luke purzelten, um dem Raumgleiter armeschwenkend nachzuschreien.
„Nein“, antwortete Jill. Auf ihn machte das Modul einen verlassenen Eindruck. Es lag wie angespült schräg zwischen den Klippen, halb im Wasser. Er glaubte, zwischen den Felsblöcken einen beschädigten Steg erkannt zu haben, einen provisorischen Zugang zum Modul. Wenn der flüchtige Eindruck, den man von einem solchen Überflug gewann, nicht trog, dann war der Steg schon eine Zeitlang nicht mehr benutzt worden.
Inzwischen hatte man auf der ABENDSTERN Daten ausgewertet. Der Kommandant bestätigte, daß es eine Kapsel sei. Aber er meinte, sie sei noch bis vor kurzem bewohnt gewesen. Eine neu ausgebesserte Stelle am Steg lasse das vermuten. Er ordnete an, zu landen und nachzusehen. Das war leichter gesagt als getan. Der Klippensaum war dafür ungeeignet. Auch die Insel, dicht bewaldet und ohne Lichtung, bot keinen Landeplatz. Auf offener See zu wassern wollten die beiden Raumfahrer möglichst vermeiden.
Nach einem dritten Anflug konnte auch Leo einen Blick.auf den Felsklotz, der das Modul sein sollte, werfen. „Tja, die Einstiegsluke ist geschlossen.“ Oder zumindest war dort, wo man sie vermuten konnte, keine Öffnung. „Am Modul rührt sich tatsächlich nichts“, bestätigte er enttäuscht. Danach steuerte er auf ein Kap zu und umrundete die Insel in geringer Höhe, um die Küste nach einem für eine Landung genügend breiten Strand abzusuchen.
„Sie werden damals bei Nacht heruntergekommen sein“, vermutete Jill. „Da empfahl es sich natürlich, vorsichtshalber ein paar Meilen abseits auf See zu wassern. Außerdem waren die Module nur begrenzt steuerbar bei ihrem Planetenfall.“
Aber das wußte Leo als Pilot selbst. „Es wird gerade Sturm gewesen sein, und der hat sie auf die Klippen geworfen“, sagte er.
„So könnte es gewesen sein.“ Doch das war noch keine Erklärung dafür, daß das Modul verlassen worden war. „Ob sie auf der Insel ein Blockhaus gebaut haben? Aber dort gibt es keine Anzeichen menschlicher Tätigkeit.“
Der Raumgleiter umbrauste das Kap. Das Inselende hatte das Aussehen eines Hakens. Dahinter zeigte sich in dem langgezogenen Innenbogen einer Bucht ein flacher, heller Uferstreifen.
„Glatt wie eine Landepiste!“ rief Leo in spontaner Freude.
Gewiß, der Raumgleiter konnte auch senkrecht wie eine Rakete landen. Aber warum vertikal aufsetzen, wenn der leere, breite Strand dazu einlud, wie ein Flugzeug zu Boden zu schweben?
Ein Schleier aus Sand stiebte hinter ihnen hoch und wirbelte über die Dünen, als die Räder den Boden berührten. Sie zogen eine tiefe Spur und pflügten zuletzt durch den Sand. Die Landung verlief normal. Ein letztes, leichtes Wippen des Rumpfes, und der Gleiter stand still.
Die beiden Raumfahrer schälten sich aus ihren Gurten, blinzelten einander ermunternd zu und öffneten den Ausstieg, um hinauszuspähen. Zuerst fielen ihnen uralte, flache Steindämme auf, glitschig überzogen und Muschelbewachsen, die wie kurze, dicke Dämme in die See vorstießen. Diese Buhnen waren offensichtlich aus Steinen von der Felsküste der anderen Inselseite zusammengesetzt, schon vor langer Zeit herbeitransportiert.
„Hast du das erwartet?“ fragte Leo, als er schon auf dem Deltaflügel stand und sich anschickte, herabzuklettem. Die Frage schloß die Verneinung durch Jill bereits ein. Diese zielgerichtete Tätigkeit deutete auf Inselbewohner hin, die sicherlich von schlichter Kultur, aber immerhin doch vernunftbegabt waren. Die beiden Männer hielten nach Fußspuren, nach Booten auf dem Meer, nach Rauch von Herdfeuern in Waldsiedlungen oder anderen Anzeichen der Anwesenheit von Einheimischen Ausschau. Sie entdeckten nichts dergleichen. Eine leichte Brise strich von See her über ihre Skaphan- der. Außer den Wellen und dem Schwanken von Baumkronen hinter den Dünen rührte sich ringsum nichts. Nicht einmal Schreie von Vögeln oder anderen Tieren waren zu hören. Doch dieses Bild tiefen Morgenfriedens konnte täuschen, denn die Landung des Raumgleiters war für die heimische Tierwelt sicherlich ein ungeheuerliches Ereignis, vor dem sie geflohen waren, das sie vor Schreck erstarren ließ. Am weit entfernten Bogen der Bucht stand etwas am Wassersaum, was eingerammte Pfähle oder schlanke Steinpyramiden sein konnten.
Im Wasser zwischen den Buhnen lagerten Massen von Gewächsen, die sie gewohnheitsmäßig als Tang bezeichneten, auch wenn sie ein Fachmann vielleicht nicht so klassifizieren würde. Die Pflanzen dämpften die Brandung.
„Bei so viel Tang müßte der Strand davon voll sein. Er ist es aber nicht. Seltsam, nicht wahr?“ sagte Leo. „Unsere Leute vom Modul haben damit bestimmt nichts zu tun. Hier räumen andere auf!“ Er begann, wieder in den Einstieg hineinzuklettern, weil er sich von fremden Augen beobachtet fühlte.
Aber Jill hielt ihn fest. „Hiergeblieben“, sagte er. „Wir gehen um das Kap zum Modul und sehen nach, was aus seiner Mannschaft geworden ist.“
„Also gut: immer den Strand entlang“, stimmte Leo ihm zu und schwang, sich vom Deltaflügel zu Boden. Eine solche Route einzuschlagen schien ihm vernünftig zu sein. Der Weg durch den Wald hingegen barg unbekannte Gefahren, auch wenn er kürzer war.
Die Grellheit der bläulich strahlenden Sonne und der helle Strand hatte sie veranlaßt, die Helmvisiere abzudunkeln. Aus Sicherheitsgründen, hauptsächlich als Schutz gegen Krankheitskeime, blieben die Helme geschlossen. Das engte das Blickfeld ein. Deshalb bemerkten die beiden erst spät in der Radspur des Raumgleiters eigenartig matschige Abschnitte. Der Boden war dort überall schieferartig zersplittert, als ob der Sand zu dünnen Schichten zusammengebacken wäre. Sie gingen ein Stück zurück, um nachzusehen, was für eine Erscheinung das war. Plötzlich beugte Leo sich vor. „Was ist das für eine Schweinerei?“ fragte er.
Jill stapfte die Radspur entlang, bis sie wieder die dunklen, feuchten Einbrüche zeigte. „Pfui! Wie ekelhaft, dieser Sudelkram!“ schimpfte er. „Wie kommt so ein Zeug unter die Räder?“ Dann stocherte er mit den Stiefelspitzen abseits der Radspur im Sand. Unter einer mäßigen Bedeckung kamen wabenformige Vertiefungen zum Vorschein. In diesen Fächern lagen jeweils mehrere kleine Eier um einen gallertartigen Hautsack. Wahrscheinlich war der Strand überall mit solchen Brutablagen durchsetzt. Das Fahrwerk des Raumgleiters hatte viele von ihnen zerquetscht. Und auch die angrenzenden Flächen waren von der bebenartigen Erschütterung bei der Landung verwüstet worden.
Sie überlegten beide, was das für Lebewesen sein mochten, die hier ihre Nachkommenschaft von der Sonne ausbrüten ließen. In irdischen Maßstäben ausgedrückt, mochten es Schildkröten, Schlangen, Krebse, Molche, Frösche oder gar Großinsekten sein. Daheim auf der Erde bleiben solche Gelege ihrem Schicksal überlassen. Doch das konnte auf dieser Welt ganz anders sein. Leo blickte abwechselnd auf die Baumfront hinter den Dünen und auf das wogende Tangfeld, als befürchte er, jeden Moment könnten Scharen wilder Tiere mit Gebrüll hervorbrechen, um ihre Gelege zu schützen.
„Vielleicht si/id es die Eier der robbenartigen Seesterne, die ich vorhin auf der anderen Irrseiseite zwischen den Klippen gesehen habe“, sagte Jill. „Dann brauchen wir keine Elterninstinkte zu fürchten.“
„Egal. Laß uns verschwinden! Ich mache schleunigst einen kleinen Countdown. Es ist höchste Zeit dafür!“ rief Leo. „Ich möchte nicht zu Fuß unterwegs sein, falls die Eierleger doch noch in Erscheinung treten. Wahrscheinlich stecken sie in den Tangfeldern zwischen den Buhnen.“
„Also los! Starten wir, und nähern wir uns dem Modul lieber doch von See her“, stimmte Jill verdrossen zu.
Als sie sich umdrehten, um zur Fähre zurückzueilen, standen, wie aus dem Boden gestampft, apokalyptische Gestalten vor ihnen. Ungefähr von gleicher Größe wie die Raumfahrer, besaßen sie eine Körperoberfläche aus Weichteilen, Chitinschalen und Hornschuppen. Die Menschen und die Wesen starrten einander an. Dann ließen die Fremden mit verblüffender Schnelligkeit ihre Gliedmaßen wirbeln. Sie griffen die Raumfahrer an. Eine klebrige Masse klatschte gegen die Sichtscheiben und verschleierte das Blickfeld. Jill fühlte, wie er ziTBoden geworfen wurde und sein Helm auf einen Stein krachte. Entsetzt rang er nach Luft. Ihm schwanden die Sinne. -
Als Jill nach einiger Zeit wieder die Augen öffnete, umgab ihn dämmriges, grünes Licht. Ein Gewirr von Blättern versperrte das Blickfeld wie eine Wand. Das Astwerk, an dem sie wuchsen, war schlingenartig ausgebildet. Vereinzelt durchbrachen grelle Sonnenstrahlen hoch über ihm die Baumkronen. Der Boden, “auf dem er lag, schwankte, und die Wipfel wanderten langsam über ihm dahin. Er meinte, so etwas wie den Strang einer Seilbahn aus zähen Ranken über sich zu erkennen. Offenbar war er in einer gondeiförmigen Laubkapsel unterwegs.
Sobald sie zum Stillstand kam, hob Jill den Kopf und entdeckte, daß er wie in einen Kokon eingesponnen war. Schlagartig kam ihm die Erinnerung an den Überfall. Er fragte sich, wie er in dieses Dickicht geraten war. In diesem Augenblick bewegte sich neben ihm die Laubwand und gab nach. Jemand von vertraut menschlicher Gestalt kletterte zu ihm in die Gondel und beugte sich über ihn. Er blinzelte überrascht: Es war eine irdische Frau! Sie musterte ihn, schob danach einen Arm unter seinen Kopf und hielt ihm eine flache Holzschale mit einem zierlich geschnittenen Schnabel an den Mund. Er trank.
„Ich bin erleichtert, ein menschliches Wesen zu sehen“, murmelte er dann. „Bin ich gerettet?“
„Nein“, antwortete sie.
„Nein?“ Er benötigte ein paar Sekunden, um die Bedeutung dieser Verneinung als Gegenteil dessen, was er erwartet hatte, zu erfassen. „Aber du bist doch eine aus dem Modul, nicht wahr?“ fragte er.
Sie nickte und entschloß sich dann auch noch hinzuzufügen: „Ich bin Vitree Laväl“.
Er bemerkte in ihrem Interirdisch einen französischen Akzent und erinnerte sich daran, in der Besatzungsliste der MORGENSTERN, über die Rickmar verfügte, einen solchen Namen gelesen zu haben. Schon wollte er sich seinerseits.vorstellen, als ihm einfiel, daß sie seinen Namen bereits wissen mußte., da er in kleinen Buchstaben auf dem Helm geschrieben stand. Statt dessen fragte er: „Wo ist Leo?“
„Ist das der Name deines Gefährten?“
Jill hatte das Gefühl, Vitree Laväl wolle mit einer solchen Gegenfrage nur Zeit gewinnen, weil sie sich scheute, die Antwort auszusprechen. „Ist er verletzt?“ drängte Jill sie.
„Er ist tot“, sagte sie zögernd. „Ich habe Bescheid bekommen von den Krabbieren, daß er genauso wie du in einen Kokon gelegt worden ist. Auch dich hielt man schon für tot. Die Krabbieren dichten solche Kokons mit konservierendem Harz ab und machen sie damit schwimmfähig, um die darin Eingesponnenen, wie die Bräuche es bestimmen, auf dem Meer zu bestatten.“
„Gib mir noch mal was zu trinken“, krächzte er. Seine Zunge fühlte sich plötzlich pelzig an.
Sie drückte eine Frucht aus und ließ den bitteren Saft in seinen Mund tropfen.
„Kiabbieren also nennst du diese Chitiner. Sind sie Insekten, vielleicht Riesengrillen?“ wollte er nach einer Weile wissen, als er seine Stimme wieder unter Kontrolle hatte.
„Nein“, sagte sie. „Nein, ganz bestimmt nicht. Sie sind Primaten, mindestens Primaten oder auch schon auf einer höheren Entwicklungsstufe. Auf diesen Inseln stellen sie die beherrschende Art dar. Wie es anderswo damit bestellt ist, weiß ich nicht. Mag sein, daß sie aus einer Evolutionslinie stammen, die etwas mit Krustentieren zu tun hat. Ihre Knochenstruktur ist eine Kombination zwischen Außen- und Innenskelett. Aber auf diesem Planeten sind sie längst keine Tiere mehr, auch wenn es uns so scheinen mag.“
„Hast du mich vor ihnen hier im Dickicht versteckt?“
Die Antwort erübrigte sich, denn das Stengelgeflecht wurde von einem höckrigen Kopf durchstoßen, der knackende Nuschellaute von sich gab. Vitree Laväl antwortete mit ähnlichen Geräuschen, wenn auch mühsamer. Nach einigem Hin und Her dieser Verständigung verschwand der knubblige Chitinkopf.
„Ich bin also ein Gefangener“, schlußfolgerte Jill.
„Ja, sie bewachen dich.“
„Aber du, du bist keine Gefangene?“
„Ich weiß es nicht; ich habe noch nicht ausprobiert, was sie tun würden, wenn ich mich ohne ihre Zustimmung entferne. Jedenfalls akzeptierten sie es in der zurückliegenden Zeit, daß ich vorhanden bin, und behelligen mich nicht. Wahrscheinlich sind Menschen für sie ein Mysterium, eine Botschaft aus anderen Himmeln, die zu begreifende bemüht sind.“
Wenn sie ein unbekanntes Wesen wie den Menschen nicht einfach umbrachten und Vitree bisher frei umhergehen konnte, sprach das für die Krabbieren und deutete an, daß sie in ihren Handlungen moralischen Regeln folgten, ganz gleich, wie diese Moral aussah. „Dann bin ich für sie vielleicht auch eine Botschaft, und sie werden mir nicht noch mehr antun“, sagte ei“.
„Das ist nicht gewiß. Eure Landung auf dem Strand hat immerhin über fünfzig Prozent des Nachwuchses der Gierschnabler vernichtet“, betonte sie. „Wir vom Modul haben nichts zerstört.“
„Was, zum Teufel, sind Gierschnabler?“
„Die Verteidungswaffe der Krabbieren gegen ihre ärgsten Feinde, die Glitscher“, antwortete sie. „Sie brauchen sie, wenn sie auf das Meer zum Fischfang oder zur Tangernte fahren. Ohne Gierschnabler müßten die Krabbieren auf den wichtigsten Teil ihrer Ernährung verzichten. Sie sind ihrerseits die Verteidiger der Gierschnablerbrut gegen die Buschwackerer.“
„Aha“, murmelte Jill schwach. „Wie ich es mir dachte, als ich den Schaden sah. Es sind Brutanlagen.“ Er verzichtete darauf, Vitree auch noch danach zu fragen, was Buschwackerer waren, und konzentrierte sich auf Wesentliches. „Wo sind deine Gefährten aus dem Modul? Kannst du mir helfen, meinen Raumgleiter zu erreichen? Wie gefährlich sind die Chitiner?“
„Du meinst die Krabbieren? Langsam, langsam. Eine Frage nach der anderen. Auf jeden Fall hat man dir nicht den Schädel eingeschlagen. Helm und Schutzanzug haben das Schlimmste verhütet“, sagte sie. „Dafür bist du übersät mit Prellungen, Blutergüssen und Beulen.“
Sie träufelte ihm erneut bitteren Saft ein und schälte ihn anschließend aus dem Kokon. Dann öffnete sie seine Kombination, massierte ihn und brachte so seinen Blutkreislauf wieder auf Touren. Der Saft hatte eine schmerzstillende Wirkung, denn das Dröhnen im Kopf und das Stechen in den Prellungen ließen deutlich nach. „Warum ist Leo tot? Ihn hätten Helm und Anzug doch auch schützen müssen so wie mich.“
„Sein Tornister riß ab, und das Sicherheitsventil wurde ihm zum Verhängnis. Niemand hat rechtzeitig seinen Helm geöffnet.“
„Das hätten wir wissen sollen, daß wir die Helme unbesorgt abnehmen können“, sagte Jill “und betrachtete Vitree, die als lebender Beweis der Verträglichkeit von Luft und Umwelt dieses Planeten vor ihm kauerte. „Waren sie darauf aus, uns beide zu töten, Leo und mich?“
„Nein, wahrscheinlich nicht. Aber sie waren entsetzt über das plötzliche Erscheinen des Raumgleiters, der wie ein Ungeheuer herabkam. Auch eure Skaphandergestalten sahen für sie gewiß furchteinflößend aus. Sie stürzten sich auf euch, weil sie wegen der vernichteten Jungtiere verzweifelt waren. Vielleicht ist deshalb die Reaktion so heftig ausgefallen. Normalerweise sind sie nicht gewalttätig, außer gegen die Glitscher“, erklärte sie. „Immerhin haben Leo und du sie für die nächste Zeit im Kampf gegen die Glitscher stark benachteiligt“, wiederholte sie.
Warum war sie bemüht, die dürren Chitiner mit Worten wie „Entsetzen“ und „Verzweiflung“ zu entlasten? Es irritierte Jill, wenn sie damit Verständnis für die Fremden zeigte. Sie wußte doch, daß die Beschädigung der Brutanlage keine Absicht gewesen war. Sie war doch wie er ein Mensch und müßte seine Situation viel besser verstehen als die der Krabbieren. „Ich hoffe, du hast inzwischen unsere Leute im Orbit über den Zwischenfall auf dem Strand verständigt“, sagte er.
„Nein. Wie hätte ich das tun können?“
„Wie? Natürlich mit dem Funkgerät des Raumgleiters oder des Moduls!“
„Wer ist im Orbit?“
Er starrte sie an. Wußte sie noch nicht einmal das? Nun, woher auch? Er hatte es ihr bis jetzt nicht gesagt und holte es schnell nach: „Die ABENDSTERN mit Kommandant Rickmar Iggensen hat den Befehl, euch zu suchen.“
„Ach, die ABENDSTERN“, sagte sie nur.
In der Dämmerung des Inselwaldes vermochte er nicht festzustellen, ob diese Nachricht sie nach jahrelanger Robinsonade bewegte. Sie gab nichts dergleichen zu erkennen. Eigentlich gewann er sogar den Eindruck, die Ankunft neuer Raumfahrer störe sie.
„Im Modul jedenfalls gibt es keine Funkgeräte mehr“, erklärte sie.
Er schluckte die Paste hinunter, die sie ihm zur Stärkung aus der Notausrüstung seines Einsatzanzuges zwischen die Lippen drückte. Selbst nahm sie nur Nahrung zu sich, die offenbar eine Kost aus hiesigen Pflanzen darstellte. Eine verborgene Gestalt hatte ihr mit dürrem Arm eine gefüllte Schale durch den Vorhang von Blättern gereicht.
Jill versuchte, die verschiedenen Laute, die ihn umschwebten, zu unterscheiden. Es raschelte, knackte, schleifte, huschte, ächzte und zirpte, begleitet von Geräuschen, für die er keine irdischen Begriffe fand. Sie konnten ebensogut von Chitinern herrühren wie von allerlei Tieren. Vitree schien keine Furcht zu haben vor all diesen Wesen. Offenbar vertraute sie den verborgenen Bewachern, daß die sie beide vor Gefahren schützten.
„Lauf zum Strand und melde dich aus dem Raumgleiter beim Kommandanten der ABENDSTERN!“ forderte er sie nochmals auf.
„Nichts zu machen. Der Strand mit den Wabenfeldern ist tabu.“
Für ihn klang diese Feststellung zu kategorisch und auch immer noch vorwurfsvoll. Das regte ihn auf. „Himmel. Es tut mir leid, wenn Leo und ich Schaden angerichtet haben. Wir konnten nicht wissen, daß es unter dem Sand Brutanlagen gibt. Dann haben die Chitiner eben mal vorübergehend Schwierigkeiten auf See. Na und? Das wird doch wohl kaum einen Weltuntergang heraufbeschwören. Und du solltest nicht vergessen, daß sie Leo umgebracht haben. Ich fühle mich nicht schuldig, und wenn ich die gesamte Brutanlage zerstört hätte!“ schrie er erbost. „Was ist mit den Nachbarinseln? Gibt es dort keine Gierschnabler, die den Verlust ausgleichen könnten?“
Vitree bedachte ihn mit einem Blick, der um so peinlicher wurde, je länger er dauerte. Durch das Geäst der Bäume fuhr ein Windstoß. „Jill, ich bitte dich! Das ist die Einstellung eines rücksichtslosen Eroberers. Bist du das? Schließlich sind doch die Krabbieren mit ihren Gierschnablern hier zu Hause. Betragen wir uns also wie Gäste! Wenn die Raumflotte auf einem dieser Archipele oder unweit auf einer Plattform im Meer einen Stützpunkt einrichten will, dann benutzen ihn die Menschen auf Jahrhunderte. Wir sind hier nicht nur vorübergehend anwesend. So oder so, wir haben keinen Grund für Rücksichtslosigkeiten.“
Jill seufzte. „Verdammt. Ich sehe es ein“, murrte er beschämt und lenkte ab, indem er erneut fragte: „Wo sind eigentlich deine Gefährten aus dem Modul? Sie hätten sich schon längst hier blicken lassen können, um mir aus den Schwierigkeiten zu helfen.“
„Wir sollen dir aus den Schwierigkeiten helfen? Ich dachte, es müßte umgekehrt sein.“ Sie-lachte. „Übrigens: Ich bin allein auf dieser Insel, ohne meine Gefährten“, sagte sie. „Die sind schon vor vielen Monaten mit Schlauchbooten und Flößen in Richtung auf den Landeplatz von Modul zwei tiefer in dieses Archipel vorgedrungen. Ich hoffe, daß sie dort gut angekommen sind und sich mit der anderen Gruppe vereinigen konnten. Mein Modul ist nämlich beschädigt.“
„Was?“ schrie er empört. „Sie haben dich einfach deinem Schicksal überlassen?“
Sie hob beschwichtigend die Hand. „Ich wollte es so. Ich bin Kontaktlerin. Auf der Erde bezeichneten uns manche Leute auch als Sensibilisten. Die Menschheit wird hier auf ARCHIPELKA einen Stützpunkt für die Raumflotte einrichten. Und dann brauchen wir eine Grundlage für das gegenseitige Verstehen zwischen Menschen und Krabbieren. Deshalb spielt es keine Rolle, wenn ich zunächst erst einmal ›verschollen‹ bin. Ich hätte sowieso mehrere Jahre allein unter den Krabbieren leben müssen, um ihre Eigenheiten kennenzulernen und ihre Fremdheit zu begreifen.“
Jill staunte über diese unbegrenzte Zuversicht. Offenbar hatte Vitree damit gerechnet, irgendwann einmal gefunden zu werden und dann gute Ergebnisse ihres Auftrages vorlegen zu können. Er versuchte sich zu erinnern, was eine Kontaktlerin eigentlich für eine sonderbare Spezialistin unter den Angehörigen der Raumflotte darstellte. Soweit er das noch wußte, umfaßte ihre Ausbildung sowohl extraterrestrische Linguistik, Anthropologie und Ethnographie als auch außerirdische Ökologie, Psychologie, Soziologie und vieles mehr. Mit anderen Worten: Sie stützt sich auf nichts als auf ihre Intuition, auf Geduld und Zähigkeit, denn was man auf den genannten Gebieten wußte, war eigentlich gleich Null. Er konnte nur hoffen, daß sie wenigstens ein doppelt so gutes Überlebenstraining absolviert hatte wie die übrigen Erkunder der Raumflotte. Daß jemand ohne Rückhalt und ohne die Übermacht einer umfassenden irdischen Ausrüstung eine solche Aufgabe übernehmen konnte, war ihm unbegreiflich. Vitree hatte wahrscheinlich nicht einmal eine Waffe.
„Und nun?“ fragte er.
„Was, und nun?“
„Hast du die Fremdheit der Chitiner schon annähernd begriffen?“
Was für ein sonderbares Gespräch er hier führte, bewacht, mitten im Pflanzendickicht einer fremden Vegetation unter den Strahlen der Wega mit einer unbekannten Frau. Er sollte besser an seine Befreiung und an Flucht denken. Es war unklug, akademische Überlegungen anzustellen, kurz bevor einem vielleicht der Kopf von einer Krebszange abgetrennt wurde.
„Nein, das ist wohl nicht der Fall, noch nicht. Erst vor wenigen Monaten habe ich ihre Sprache einigermaßen gelernt. Seitdem kann ich mich den Krabbieren nähern. Bis dahin hatte ich mich ihnen nur von fern gezeigt. Die Kapsel war meine Festung. Von dort aus habe ich sie vorsichtig von meiner Ungefährlichkeit überzeugt. Und nun stellen sich die ersten Erfolge ein, jetzt erst geht es mit meiner Aufgabe voran.“
„Wie schön für dich. Aber dafür bist du auch ziemlich verdreckt und runtergekommen. Ich sage dir in aller Freundschaft: Komm mit zum Raumgleiter! Wir flüchten! Das ist hier kein Leben. Es wird Zeit, daß du mal wieder unter Menschen gehst.“
„Nein, dann wäre alles Durchhalten vergebens gewesen. Dazu steht für die Kontakte zwischen Menschen und Krabbieren gerade jetzt, da die ABENDSTERN eingetroffen ist, zuviel auf dem Spiel.“
„Vitree Laväl, du bist verrückt! Du bist — ach ich weiß nicht, für wie töricht ich dich halten soll“, sagte er und winkte resigniert ab.
„Immerhin habe ich erreicht, daß sie mich dulden und ich ein paar Brok- ken ihrer Sprache begriffen habe.“
„Wenn die knackenden Nuschellaute vorhin Sprache waren, dann lief die Konversation schon faßt fließend“, spottete er. „Was hast du dem Chitiner mitgeteilt?“
„Dir sei nicht bekannt gewesen, daß dein heulender Himmelsfloßler im Glitzerpanzer die Dottersäfte der Gierschnabler wuppen wollte und davon wie gelähmt über den Waben hocken bleiben würde. Du hättest ihn sonst an einen anderen Himmel geritten.“
„Danke. Sehr liebenswürdig, ein gutes Wort für mich bei ihnen einzulegen. Hat man dich wenigstens verstanden?“
„Nur teilweise.“
„Was heißt das, nur teilweise?“ fuhr er auf.
„Schuldlosigkeit ist ein Begriff, der außerhalb ihres Denkens und Fühlens ltegt“
„Und so etwas nennst du Primaten mit Veranlagung zur Intelligenz?“ rief er.
„Nur keine voreiligen Schlußfolgerungen!“ warnte sie. „Intelligenz läßt sich auf vielerlei Weise definieren. Das ist nicht nur eine Frage der Fähigkeiten zur moralischen Bewertung einer Tat.“
„Was, beim roten Fleck des Jupiters, heißt eigentlich wuppen?“
„Das ist ein nicht übersetzbarer Gedankeninhalt.“
„Oho. Ich als Homo cosmonauticus bin geistig also so beschränkt, daß ich die Gedankeninhalte eines Krabbieren nicht verstehen kann?“
„Sei nicht kindisch. Du weißt genau, wie es gemeint ist. Ich sprach von meiner Unfähigkeit, es zu interpretieren.“
„Und worüber habt ihr noch geplaudert?“
„Ich fragte, ob ich dich aus dem Kokon rausnehmen darf.“
„Laß mich raten. Bestimmt lautet die Antwort: ja!“
„Sehr witzig ist das nicht. - Im Gegenteil: Es ist mir verboten worden, aber ich habe es trotzdem getan.“
Jill drehte den Kopf zur Seite. „Entschuldige“, sagte er kleinlaut und dachte, wer weiß, was sie mit ihrer Eigenmächtigkeit für mich riskiert hat. Er fühlte plötzlich eine starke Zuneigung zu ihr, weil sie sich seiner annahm und auch weil sie die Krabbieren so ernsthaft verteidigte. „Am besten, du steckst mich schleunigst wieder in den Kokon zurück, ehe die Wächter nebenan merken, daß ich mir mal die Beine vertreten habe“, schlug er vor. Sie überhörte es. Jill war darüber froh, weil es ihm die Flucht erleichterte, die er. plante.
Er wußte nur nicht, ob er Vitree einweihen sollte oder ob es besser wäre, auf eigene Faust zu handeln und mehr auf die Unterstützung der ABENDSTERN zu setzen. Dort mußte man inzwischen bemerkt haben, daß etwas nicht in Ordnung war. So wie die Kontaktlerin bisher geredet hatte, konnte er nicht sicher sein, von ihr bei der Flucht unterstützt zu werden.
Vitree merkte ihm seine Gedankengänge nicht an und sagte: „Man kann die Wesenszüge einer fremden Kultur nur begreifen, wenn man selbst in sie eintaucht und alles genau so erduldet oder durchleidet wie jene, die man begreifen will.“
Für ihn hörte es sich wie eine verspätete Entschuldigung dafür an, daß sie so abgerissen aussah. „Ausgeschlossen. Das gelingt dir nur zur Hälfte, weil du dabei ein Mensch bist und bleibst, es sei denn, du wärst hier schon unter Krabbieren geboren worden“, antwortete er.
„Warte es ab. So etwas kommt noch, wenn es hier einmal einen irdischen Stützpunkt gibt. Ich habe aber auch so schon Erfolge. Doch zunächst mußte ich mich in den vergangenen Jahren nach und nach von so vielen Ausrüstungsgegenständen trennen wie irgend möglich, um der Mentalität und dem Leben der Krabbieren näherzukommen.“
„Das wäre mir zu dornenreich. Zu soviel Entsagung könnte ich mich nicht durchringen, ganz abgesehen von der Gefährlichkeit eines solchen Entschlusses“, stellte er fest. Aus lauter Mitgefühl hätte er sie jetzt gern berührt.-
Der Knubbelkopf des Wächters drang wieder durch die Blätterwand und nuschelte knackend etwas. Das unterbrach ihren Disput. Vitree stand auf und ging weg. „Es gibt etwas zu verhandeln“, erklärte sie. „Eine Weile muß ich dich allein lassen.“
Jetzt habe ich eine Gelegenheit abzuhauen, dachte Jill; jetzt schadet es ihr nicht. Er schlängelte sich mit Kopf und Hals durch die Laubwand und spähte vorsichtig hinter Vitree her. Neben der Gondel war eine Art Planke. Das knorrige Astwerk eines urwüchsigen Baumes erstreckte sich bis zu vierzig Meter nach allen Seiten und bildete auch das Stützwerk für diesen Teil der merkwürdigen Seilbahn aus zähen Pflanzensträngen. Vier von diesen apokalyptischen Krabbierenkriegern hatten sich im Geäst rings um die Planke verteilt, hockten aber friedlich neben ihren abgelegten Schilden.
Die Kontaktlerin verschwand in einer Öffnung des Baumstammes, begleitet von einem der Wächter. Jill schätzte den Durchmesser des Stammes auf zwölf bis fünfzehn Meter. Offensichtlich war dieser ausgehöhlt, enthielt Kammern und sogar eine Wendeltreppe hinab zum Waldboden. Jill wagte jedoch nicht, sie zur Flucht zu benutzen. Er sah sich nach anderen Möglichkeiten um, auf den Waldboden zu gelangen.
Das Blätterdach des Waldes hoch oben war schirmartig, so daß nur wenig Licht einfiel. Wohin Jill auch spähte, überall bildeten ösenartige Äste Plattformen, auf denen sich große Körbe erhoben. Sie stellten wahrscheinlich die Behausungen der Krabbieren dar. Die glattgewetzte Rinde bei den stärkeren, fast waagerecht verlaufenden Hauptästen deutete auf häufige Benutzung hin. Offenbar spielte sich der Fußgängerverkehr nicht nur auf dem Waldboden ab, den Jill in dämmriger Tiefe gerade noch erkannte. Ein Trupp Krabbieren folgte auf dem Nachbarbaum einem solchen Gehweg im Geäst, der anscheinend nach unten führte. Jill merkte sich die Stelle und zog den Kopf in die Gondel zurück.
Eigentlich hatte Jill vorgehabt, seinen Einsatzanzug auszuziehen und ihn samt Helm in den Kokon zu stopfen, damit es so aussah, als liege er drin. Er würde ohne die Schutzkleidung beweglicher sein, vor allem, wenn es darum ging, einen längeren Fluchtweg im Astwerk zu benutzen. Doch schon nach den ersten Handgriffen, sich seiner zu entledigen, verwarf er diesen Gedanken und entschloß sich, den Anzug doch anzubehalten. Dieser bot ihm eine gewisse Abschirmung, selbst wenn er ihn schwerfälliger machte. Es mochte Gefahren geben, gegen die so ein Spezialanzug besser schützte als nur die Unterkombination. Außerdem enthielt der Anzug in den Taschen die Minimalausrüstung, auf die Jill besser nicht verzichten wollte.
Jill nahm den Nadler aus dem Futteral, konzentrierte sich auf die Flucht, holte tief Luft, sprang durch die Blattwand und — verhedderte sich hoffnungslos in Pflanzensträngen. Er purzelte über die Planke und mußte sich erst aus den Verschlingungen befreien. Der Nadler entglitt ihm, rutschte bis an die Kante und blieb dort gerade lange genug vor dem Absturz liegen, daß Jill ihn eben noch im letzten Moment ergreifen, aufspringen und loslaufen konnte.
Die Krabbieren fuhren aus ihrer Ruhehaltung auf, packten ihre Schilde und starrten ihn an, ohne sich vom Fleck zu rühren. Sie waren unentschlossen. Jill nutzte diesen Vorteil und stapfte auf einem dicken Ast zwischen ihnen hindurch zum Nachbarbaum. Er beglückwünschte sich, schwindelfrei zu sein, denn die Stege in den Baumkronen waren ohne Geländer. Bald fand er den Gehweg nach unten und erreichte schneller als erwartet den Waldboden. Ein Blick zurück ließ ihn erkennen, daß ihm die Wachen folgten.
Jill wandte sich in die erste beste Richtung und stolperte davon. Hastig riß er sich dabei den Helm vom Kopf und hakte ihn am Gürtel fest. Das gab ihm Sichtfreiheit. Die Verfolger holten auf, und einer der Krieger warf eine hartschalige Frucht. Sie zerplatzte über Jill an einem Stamm und schleuderte Dutzende von Stacheln auf ihn hinab. Sie blieben an ihm haften. Jill wich den Krabbieren aus, die ihm den Fluchtweg verlegten, und änderte die Richtung. Vor einem Dickicht zögerte er. Hoffentlich sind dort keine Buschwak- kerer, was auch immer das für Tiere sein mögen, dachte er. Dann brach er sich entschlossen Bahn, obwohl ihn mehrmals kleine Tiere attackierten, die sich mit Saugnäpfen an ihn hefteten. Den Nadler hatte er inzwischen wieder weggesteckt; im Buschwerk nützte er ihm nichts. Er schützte sein Gesicht mit dem Arm. Der Anzug hielt den Saugnäpfigen stand. Überraschend schnell stellten die Tiere ihre Angriffe ein. Mühsam arbeitete sich Jill weiter durch das zähe Gestrüpp. Die Krabbieren schienen die Verfolgung verlangsamt zu haben.
Plötzlich hatte er den Wald hinter sich gelassen. Vor ihm breiteten sich felsige Küste und das Meer aus. Mitten in den Klippen lag das Modul. So aus der Nähe betrachtet, hatte es nur noch wenig Ähnlichkeit mit einem Felsklotz. Wind blies Jill ins Gesicht und ließ seine Haare wehen. So blindlings, wie er losgelaufen war, schien es ihm unfaßbar, auf das Modul gestoßen zu sein. Schnell kletterte er zu ihm hinunter. Vitree hatte gesagt, das Modul wäre ihr lange Zeit eine sichere Festung gewesen. Und so, wie es nun vor ihm aufragte, wirkte es auch auf ihn wie eine Burg. Sollten die Krabbieren ihn hier belagern, wäre er lange Zeit sicher. Keuchend ruhte er aus, ehe er das Magnetschloß betätigte. Das aufflammetfde Licht in der Schleuse und der vertraute Bordgeruch verliehen ihm ein heimatliches Gefühl. Seine Gelassenheit kehrte zurück. Er blieb vor der Schleuse stehen und spähte nach den Verfolgern.
Oben am Felssaum der Küste standen vier Krabbierenkrieger vor der Kulisse des Waldes. Sie warteten ab. Ihre Chitinrüstung schimmerte im Abglanz des Meeres kupfern und wirkte martialisch wie mittelalterliche Bronze. Bei einiger Phantasie vermochte sich Jill auf diese Entfernung sogar Schwerter, Lanzen, Federbusch und Kettenhemd vorzustellen. Was er als Kettenhemd ansah, waren vermutlich jedoch nur Armschuppen. Ähnlich mochte es mit den anderen Details sein.
Er versetzte sich in die Lage des Verfolgers und schmunzelte unwillkürlich, denn er bot ihnen einen kaum weniger phantastischen Anblick: Vor dem Eingang eines zauberkräftigen Seeschlosses von mysteriöser Herkunft stand die silberglänzende Figur eines Himmelsdämons, mit den Dornen der Kampffrucht gespickt. Der Himmelsdämon hatte schockierenderweise seinen Außenkopf abgerissen und an den Gürtel gehängt. Den Innenkopf umrahmten die Haare als ein. Kranz von Flimmertentakeln. Mittendrin prangte ein fleischiger Sporn, dessen Funktion als Atemorgan sicherlich nicht zu erraten war. So machten sie sich also gegenseitig furchtbare Bilder voneinander.
In diesem Augenblick erschien zwischen den martialischen Kriegern eine Gestalt in einem sonnengelben Umhang: Vitree Laväl! An Leinen führte sie Tiere, die Jill für Riesenwürmer hielt. Langsam schritt sie zwischen den Klippen herab und überquerte den verwitterten Steg zum Modul. Dabei erwiesen sich die Würmer als Madenmöpse mit glasigen Schnürwülsten, wie sie auf der Erde Engerlinge besaßen. Gemächlich buckelten und walkten sie über das Geröll. Die Körperwallungen gingen von einer blumenkohlartigen Flachnase aus, über der Augenhörnchen standen und unter der ein ausstülpbares Mundloch schmatzte. Die Scheitellinie war mit lachsfarbenen Lockenfedern geschmückt. Arabeske Hautmuster an den Flanken komplettierten den Körperschmuck. Da die Kosmonautin sie an der Leine führte, stufte Jill die Madenmöpse als zahm ein. In angemessenem Abstand folgte ihr ein unbewaffneter Krabbiere, der Jills leeren Kokon trug.
„Meine Aufgabe ist es, Schwierigkeiten zwischen uns und einer fremden Kultur wie die der Krabbieren soweit wie möglich zu vermeiden, Vertrauen aufzubauen und bei Konflikten jede Chance zu nutzen, um eine Lösung zu finden“, referierte Vitree, als hätte nie eine Unterbrechung ihres Gespräches stattgefunden. Sie betrat mit ihren merkwürdigen Haustieren die Schleuse und winkte ihm, ihr zu folgen.
Jill begriff, daß der Kurzvortrag auch ihre Stellungnahme zu seiner Flucht war und sie seine Handlung als konfus ansah. Sie forderte ihn damit gewissermaßen auf, mehr Vertrauen zu ihrer Beurteilung der Situation zu haben.
„Dann ist also eine Kontaktlerin nicht mehr und nicht weniger als eine Botschafterin der Erde“, sagte er. „Aber sich einen solchen Status zu geben, halte ich nun doch für verfrüht und übertrieben. Rickmar Iggensen hat mich zu einer Rettungs- und Hilfsaktion ausgeschickt und nicht zur Unterstützung einer diplomatischen Mission. Ich habe eine fest umrissene operative Aufgabe, die ihre zeitliche Begrenzung hat. Wenn diese Zeit überschritten wird, löst das Aktivitäten aus, bei denen er unmöglich berücksichtigen kann, welche Vorarbeit hier vielleicht schon von dir geleistet worden ist, weil er es nicht weiß. Laß uns ihn so schnell wie möglich verständigen!“
„Du erkennst also immerhin meine Vorarbeit an? Ich will ebenfalls nichts anderes als ihn möglichst schnell informieren“, sagte sie. „Du vergißt nur, bei den Krabbieren herrscht Aufruhr wegen des Vorfalls am Strand. Es heißt also, subtil vorzugehen und unsere Möglichkeiten zu subsumieren.“
Jill lachte kurz auf. „Subtil — subsumieren“, brummte er verdrossen. Für jemanden wie Vitree, die unter einer Art Priestergewand eine schmutzige, abgewetzte Bordkombination trug, wirkte eine solche intellektuelle Ausdrucksweise absurd, zumal hier, sechsundzwanzig Lichtjahre weit von der Erde entfernt. Er wünschte sich Vitree weniger bemüht und auch nicht so unnahbar.
Sie hatten inzwischen die Schleuse passiert, waren einen Gang entlang- und eine Treppe hinaufgegangen und betraten nun eine mit Fellen und Holzmöbeln rustikal ausgestattete Metallkammer. Irdischer Herkunft war diese Einrichtung nicht. Vitree hatte sie vermutlich nach und nach von den Krabbieren erworben oder selbst angefertigt, um die Nüchternheit der ursprünglichen Bordeinrichtung zu mildern. Aus einem Wandfach holte sie zwei Fleischkonserven hervor und warf sie ungeöffnet ihren beiden Tieren zu, die sich schon erwartungsvoll halb aufgerichtet hatten.
„Vorsicht! Es sind Ätzspeier“, sagte sie.
Im selben Moment stülpten die Tiere ihr Mundrohr aus. Speichel spritzte und traf zielsicher die Büchsen. Das Blech schäumte unter dem Einfluß der Säure auf und zerfiel. Genüßlich schlürften die Madenmöpse ihre Leckerbissen. Jills Geringschätzung für diese vermeintlichen Schoßtiere wandelte sich augenblicklich. Er zog es vor zurückzutreten, weil ein ungenau verspritzter Speicheltropfen womöglich ein Loch sogar in den Raumanzug fraß.
„Normalerweise jagen sie selbst“, erklärte Vitree. „Doch ab und zu spendierte ich ihnen etwas aus meinen Reserven, um mir ihre Anhänglichkeit zu sichern. Die Krabbieren benutzen die Ätzspeier als Waffe gegen die Buschwackerer. Aber um auf die Diplomatie zurückzukommen: Meine Aufgabe verlangt mehr.“
„Da kann ich wohl von Glück sprechen, dich getroffen zu haben, denn wer sonst als du könnte mich bei den Krabbieren auslösen? Ich bin sicherlich für sie ein Unhold.“ — „Ich befürchte, das trifft zu“, sagte sie.
„Aber die Zerstörung der Brutanlagen war ein Irrtum!“
„Du wiederholst dich. Den Begriff des Irrtums kennen die Krabbieren ebensowenig wie den der Schuldlosigkeit“, sagte sie. „Du hast den heulenden Himmelsfioßler mit dem Glitzerpanzer, wie sie den Raumgleiter nennen, geritten, und du bist auch für sein Treiben verantwortlich, selbst wenn es unbeabsichtigte Folgen hat. - Komm! Wir sollten uns nicht so lange hier drin aufhalten. Gehen wir wieder hinaus!“
Unterwegs schwiegen sie. Als sie dann wieder zwischen den Klippen standen, schickte er einen sehnsüchtigen Blick zur Kapsel zurück. Er hatte sie für, seine Aufgabe nicht nutzen können. Die Rostflecken an den Wänden innen waren nicht zu übersehen gewesen. Und eine Etage tiefer hatte er Wasser glucksen hören, das durch einen Riß im Rumpf eingedrungen sein mußte. Soweit Türen zu Kammern offen gewesen waren, ließen sich auch dort die Spuren der Evakuierung erkennen. Die Leute aus der Kapsel hatten, als sie sich auf die Reise zur zweiten Gruppe machten, soviel technische Ausrüstung wie nur möglich mitgenommen. Was Vitree behalten hatte, war nur das Notwendigste. Von hier aus mit der ABENDSTERN in Verbindung zu treten war aussichtlos. Er glaubte Vitree nun, daß im Modul kein Funkgerät existierte.
„Wenn sie sich als Teil der Natur sehen, sinnvoll in ihr eingebettet, und sie Irrtum und Schuld nicht kennen, sind keine guten Voraussetzungen für unsere Zusammenarbeit mit ihnen gegeben. Aus Irrtum lernt man; und wo es Irrtum gibt, ist auch Schuld unvermeidlich“, sagte er. „Ihnen muß der Gedanke der Beherrschung der Natur noch völlig fremd sein. Darin unterscheiden wir uns zu kraß von ihnen. Beherrschung einer Sache oder einer Person, das setzt schmerzliche Erfahrungen voraus, im großen wie im kleinen.“
Sie war nicht bereit, darüber zu sprechen. „Wir werden als Stützpunkt der Raumflotte eine Seeplattform benutzen müssen oder ein paar kleine Eilande“, sagte sie nur. „Land ist knapp auf diesem Planeten. Die Krabbieren bewohnen ihre Inseln nur und benutzen sie nicht zur Nahrungsproduktion. Sie betreiben keinen Ackerbau-. Du solltest mal ihre Wohnhöhlen in den Küstenfelsen und die Baumhäuser sehen. Sicherlich, wir werden hier wohl kaum eine Ära des Metalls haben: zuwenig Bodenschätze, vermute ich; also ein Hindernis für ihre zivilisatorische Entwicklung und Grund für ein geringeres Maß an Naturbeherrschung. Aber sie haben eine hervorragende Holz- und Handwerkskultur: Schnitzereien, Intarsien, Harzuren und Drechselarbeiten von exzellenter Formgebung.“
Vitree hatte den Ätzspeiern die Leinen abgenommen. Die Tiere walkten zwischen den Klippen herum, zielten hier und dort mit Speichel auf Beute, vermutlich auf kleinere Meeresbewohner, und bewegten sich schließlich langsam den Hang hinauf auf die vier unbeweglichen Gestalten der Krabbierenkrieger zu. Vitree und Jill hatten es nicht eilig, den Ätzspeiern zu folgen, und setzten sich auf einen Quader, den die anbrandenden Wellen nicht erreichten. Dabei ignorierten sie jenen einzelnen Krabbieren, der noch immer Jills leeren Kokon umklammerte und geduldig abseits am Steg wartete.
Das muß eine Bewandtnis haben, ebenso der Umstand, daß sie plötzlich diese priesterliche Robe trägt, überlegte Jill. Er würde Vitree danach fragen. Doch zuvor mußte er erst noch wissen, was er zu befürchten hatte. „Wie geht es weiter? Ich bin ausgerissen, weil ich zurück zum Gleiter wollte, um mit Rickmar zu sprechen. Statt dessen gerate ich an das Modulwrack“, beklagte er sein Mißgeschick. „Wenn du hier so gut Bescheid weißt, sollte dir möglichst schnell eine Lösung einfallen.“
„Die ist mir schon eingefallen. Der Visionär wird sich mit deinem Fall beschäftigen“, sagte sie.
„Der Visionär? Was, zum Teufel, ist denn das nun schon wieder für ein Kerl?“ Aber er ahnte, mit wem er es zu tun haben würde. „Ich kann mein Schicksal doch unmöglich der Entscheidung eines insektoiden Medizinmannes überlassen“, protestierte er. Was ihm hier widerfuhr, nahm allmählich haarsträubende Ausmaße an.
Vitree blieb sachlich. „Wer diesen sonnengelben Umhang trägt wie ich jetzt, ist der Bote des Visionärs und genießt überall Immunität. Ich bin beauftragt, dich zu ihm zu begleiten. Es ist ein außergewöhnlicher Vorgang, daß mir diese Rolle zugefallen ist. Ich hoffe, du weißt das zu schätzen, wenn du, wie die Dinge liegen, nicht von Schildträgern gespeert wirst. Der Visionär ist sehr besorgt, und er möchte allem Anschein nach die Angelegenheit zwischen dir und ihm schnell regeln.“
„Dazu braucht er mich nur den Strand betreten zu lassen.“
„Vielleicht hat er genau das vor, nur muß er das in einem zulässigen Rahmen tun, der den Gebräuchen der Krabbieren entspricht. Ich habe bei der Verhandlung vorhin versucht, ihn dazu zu bewegen, den Weg zur Fähre freizugeben. Er hat unter einer Bedingung zugestimmt.“
„Und die wäre?“ fragte Jill argwöhnisch.
„Du sollst dich heute nacht mit ihm auf einem Floß in der Bucht einer Sache stellen, die die Krabbieren als VIKONDA bezeichnen. In dieser Zeit “ wird er dich einschätzen, sozusagen die Lauterkeit deiner Seele prüfen. Krabbieren sind nämlich unglaublich sensibel. Ihr werdet in der Strömung der Bucht kreisen, bis bei Sonnenaufgang die Position des Floßes Auskunft darüber gibt, welche Bedeutung deine Tat beziehungsweise die des Him- melsfloßlers hat und was demzufolge zu geschehen hat. Der Visionär wird also die VIKONDA interpretieren.“
Jill blickte sie mit vor Entsetzen weit geöffneten Augen an und murmelte: „Das kann doch alles nur ein Alptraum sein.“
„Dann wäre mein Leben in den letzten Jahren auch ein Alptraum gewesen“, sagte sie. „Aber ich habe das nie so empfunden, doch Entbehrungen, Einsamkeit, Ungewißheit hat es mir gebracht und Geduld erfordert. Von dir wird all das jetzt nicht verlangt, sondern nur etwas Entschlossenheit und Vertrauen. Kannst du nicht einmal das aufbringen?“
„Was meinst du mit Vertrauen? Soll ich mich auf dich oder auf den Medizinmann verlassen? Ist denn das, was dieser Visionär sagt, hier Gesetz? Vielleicht wünscht er dich und mich zum Teufel. In dem Fall wird sein Spruch über den Ausgang der VIKONDA für uns katastrophal sein.“
„Er ist alt und lebenserfahren und stellt das dar, was wir unter gütig verstehen würden“, erklärte sie. „Früher hatte er ein administratives Amt inne. Er. hat also auf jeden Fall auch eine Ahnung von den praktischen Seiten des Lebens. Jetzt, da er für die Ausgeglichenheit seiner Inselgemeinschaft zu sorgen hat, kommt ihm das zustatten. Er muß trotz dieser oder jener Ängste unter seinen Leuten alles aufspüren, was Zuversicht weckt oder was Auswege eröffnet. Mit anderen Worten: Er muß überzeuge.n und nicht reglementieren. Das erfordert Klugheit und Gelassenheit.“
Jill war noch immer besorgt, „Kann denn eine Wissenschaftlerin wie du soviel blindes Vertrauen in Rituale setzen?“ murrte er. „Willst du mich ernsthaft dazu veranlassen, einen einheimischen Hokuspokus um Mitternacht mitzumachen?“
„Zunächst will ich dir den Weg zum Strand öffnen, der, wie du weißt, tabu ist. Es war doch dein Vorschlag, mit Rickmar Iggensen in Verbindung zu treten, nicht wahr? Dazu mußt du mit mir zum Visionär gehen. Ich jedenfalls bin überzeugt davon, daß meine Mission einen Schritt weiterkommt, wenn du auf die VIKONDA eingehst und dich der mitternächtlichen Floßfahrt stellst. Was ist denn schon dabei, eine Nacht auf einem Floß zu verbringen, im Kokon zu liegen und abzuwarten? Wie der Spruch des Visionärs auch ausfallen mag, wir sind Raumfahrer und haben immer noch Mittel und Möglichkeiten, uns zu wehren.“
Er sah sie zweifelnd an. Die Sonnenscheibe der Wega stand nun hoch über der Insel. Auf der Grenze zwischen Wald und Klippen gerieten die vier Krieger in Bewegung. Sie schlugen um sich und hieben auf etwas ein, was plötzlich zwischen ihnen herumwieselte.
„Buschwackerer“, sagte Vitree. „Paß auf! Gleich bekommst du etwas zu sehen.“
Die beiden Ätzspeier schnellten sich über die- Geröllbrocken auf die Buschwackerer, als hätten sie nur auf eine solche Gelegenheit gewartet, um ihren Jagdeifer zu beweisen. Sie spien meterweit und zielsicher. Schon allein ihr Erscheinen jagte die Buschwackerer in die Flucht. Plötzlich begriff Jill, daß die Strandwachen, die ihn und Leo überwältigt hatten und die für gewöhnlich die Brutanlagen der Gierschnabler vor den Buschwackerera schützten, vermutlieh Ätzspeier in der Nähe gehabt hatten. Wenn sie sie nicht gegen ihn und Leo eingesetzt hatten, so verriet dies, wie überlegt sie handelten und wie sie bei allem Entsetzen, das sie empfunden haben mochten, doch Herr ihrer Panik geblieben waren.
Vitree zupfte ihm die Stacheln vom Raumanzug. „Das war ein guter Wurf gewesen“, sagte sie. „Ohne diese Stachelblase, die ein Krieger nach dir schleuderte, hätten dir die Buschwackerer, als du in ihr Revier eindrangst, gewiß mehr zu schaffen gemacht. Die Stacheln verbreiten nämlich ein Aroma, das sie nicht mögen.“ Sie stieß ihm in die Seite. „Na, komm schon“, sagte sie aufmunternd und stand auf, um ihn den Klippenpfad zum Wald hinauf zu begleiten. „Überhaupt war es ein glücklicher Umstand, daß du bei deiner Flucht ausgerechnet das Modul gefunden hast. So konnte ich die Sache wie einen selbstverständlichen Vorgang darstellen. Ich sagte, du holst dir eine Medizin, die dort lagert und die du dringend brauchst.“
Jill ging nicht darauf ein. Seine Gedanken kreisten um die Begegnung mit dem Visionär. Immer wieder murmelte er „Vikonda! Vikonda! Vikonda!“ vor sich hin. Dieses Wort besaß zwar einen unheimlichen, rituellen Klang, doch allmählich nahm diese Lautkombination für ihn auch eine träumerische Verheißung an. Mit der Zeit kam ihm das bevorstehende Abenteuer nicht mehr so gewagt vor. Er musterte den Krabbieren, der den leeren Kokon hinter ihm hertrug, nun weniger mißtrauisch.
Als die beiden oben angekommen waren, traten die vier Krieger zur Seite und sahen zu, wie Vitree ihre Ätzspeier wieder an die Leine nahm. Sie ließen auch den wenig später folgenden Krabbieren mit dem Kokon vorbei und schlössen sich der Gruppe erst mit Abstand an. Vitree führte sie alle um das Dickicht herum in den Wald der knorrigen Schirmbäume.
Allmählich wurde die Gruppe größer, denn aus allen Richtungen kamen Krabbieren hinzu und schlössen sich ihnen an wie auf einen geheimen Ruf hin. Eine Prozession entstand. Jill empfand das als bedrohlich. Auch voraus gab es zwischen den Stämmen eine Ansammlung wogender Körper, Glieder, Knubbelköpfe und Fühler. Widerstrebend folgte er seiner gelbgewandeten Führerin.
„Solange dein Kokon in der Nähe ist, bis du unantastbar“, flüsterte sie ihm zu. „Du bist jetzt eine Mystifikation. Für die Krabbieren stehst du auf der Schwelle zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Deshalb unternehmen sie nichts, sondern beobachten nur das Geschehen.“
Jill gelang es nicht, unbesorgt zu bleiben. Die vier Schildträger mußten ihre Position wechseln und einen Weg durch die Menge bahnen. Es roch inzwischen penetrant nach Firnis und Lack; ein Geruch, der vermutlich jenen Körperpartien der Krabbieren entströmte, die mit Chitin bedeckt waren.
Vitree versuchte Jill von unangenehmen Gedanken abzulenken und berichtete, der Visionär habe bei der Verhandlung gesagt, er fühle das Herannahen eines zweiten heulenden Himmelsfloßlers.
„Gar nicht so dumm, dieser Visionär“, sagte Jill. „Er denkt logisch und hat sich ausgerechnet, daß man Leo und mich vermissen wird. Was liegt näher als der Gedanke, ein weiterer Raumgleiter könnte den Versuch machen, die Lage zu klären. Dazu würde der womöglich auch noch auf dem Strand landen und den Rest der Brutanlagen zerstören. - Ha!“ fügte er triumphierend hinzu. „Wahrscheinlich soll ich deshalb schnell meine Siebensachen packen und schleunigst verschwinden.“
„Mach dir keine falschen Hoffnungen, denn eine festgesetzte VIKONDA wird nie wieder aufgehoben.“
Grimmig grinsend deutete Jill auf seinen Kokon: „Vielleicht kann ich diese leere Hülle als meinen Stellvertreter dafür abkommandieren.“
Vitree lachte etwas nervös zu diesem Scherz. „Na ja, wenn du sogar schon Humor entwickelst, wirst du alles, was noch kommt, auch gut überstehen.“
Auf einem breiten Weg wurden sie von einer Sänfte erwartet, in der Jill den alten Krabbieren vermutete, der das Amt des Visionäre ausübte. Das krabbierische Volk hielt respektvoll Abstand zu der Sänfte. Nun, da der Gang der Ereignisse für ihn seinen größten Schrecken verloren hatte und offenbar alles in geordnete Bahnen gelenkt worden war, richtete Jill seine Aufmerksamkeit auch auf Einzelheiten. Ihm fielen Schnitzereien auf, die zu beiden Seiten des Weges standen. Sein Blick war nicht geübt genug, um zu erkennen, was sie darstellten. Aber der kunstvolle Gebrauch des Werkstoffes Holz war unverkennbar. Auch der Boden des Prozessionsweges war mit Holz ausgelegt, doch waren nicht einfach Bohlen und Würfel verlegt worden. Er erkannte Mosaiken. Eine dicke Harzschicht, hart und trocken, versiegelte den Weg glasartig gegen Feuchtigkeit und Abnutzung.
Das Ende der Prözessionsstrecke zeichnete sich schon von weitem wie ein heller Tunnelausgang ab. Dort erwarteten Jill der Strand und der gleißende Tag. Die Menge blieb im Schutz des Waldes zurück. Die Sonne schüttete ihr Licht überreichlich auf Meer und Insel. Man trug die Sänfte in die Dünen. Jill und Vitree folgten ihr, ohne daß sie den Visionär zu sehen bekamen. Er blieb in seiner Sänfte. Die Wachen postierten sich im Schatten ihrer Schilde. Dort verharrten sie, als warteten sie auf ein bestimmtes Ereignis.
Jills Blicke hingen wie gebannt am Rumpf der Fähre. Jetzt wäre mit einem Spurt die Möglichkeit zur Flucht gegeben. Er machte impulsiv ein paar Schritte in Richtung auf den Flugkörper. Sofort bildeten die Schildträger eine Sperre.
Zum erstenmal betrachtete Jill diese Wesen aus der Nähe. Sie wirkten auch jetzt noch mit ihren Körperghederungen und Chitinflächen furchterregend auf ihn. Er versuchte, ihre Waffen einzuschätzen und zu erkennen, wie sie eingesetzt wurden. Es gelang ihm nicht. Nun, ich bin nicht wehrlos, dachte er. Zur Ausrüstung eines Erkunders gehörte nicht nur ein Nadler, sondern auch ein Lähmer. Weil ihn die Krabbieren mit allem Gerät in den Kokon versponnen hatten, fehlten ihm diese Waffen nicht. Sie waren am gewohnten Platz. Doch was nutzten sie ihm? Nach alldem, was Vitree ihm über ihre Mission erzählt hatte, würde sie nicht bereit sein, auszubrechen und mitzukommen. Das war auch der Hauptgrund, weshalb er zögerte, erneut zu flüchten und zur Fähre zu laufen: Ihr sollten keine- Nachteile durch ihn erwachsen. Sie rührte ihn. Er fühlte ihre Einsamkeit fast wie einen eigenen körperlichen Schmerz. Sie war schutzbedürftiger, als sie es selbst wahrhaben wollte. Dabei ignorierte er hartnäckig, daß sie hinreichend bewiesen hatte, sich selbst schützen zu können, und zwar mit der Waffe ihrer Sensibilität, mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen.
„Du bummelst doch bestimmt nicht nur den lieben langen Tag zwischen den Chitinern herum“, sagte Jill, um das Schweigen zu brechen. „Wenn du sie verstehen lernen willst, mußt du einen aktiven Platz in ihrer Gemeinschaft “ausfüllen.“
Er hörte sie mit leiser Erheiterung lachen. Das erleichterte ihn.
„Ich spiele für die Krabbieren die ›Kuhhirtin‹. Ich bin eine Art Nachtwächterin“, sagte sie. Weil er verständnislos dreinblickte und weil sie unter den Falten des gelben Umhangs am allerwenigsten nach dergleichen Tätigkeit aussah, erläuterte sie: „Ich hüte Riesenseesterne auf der felsigen Seite der Insel, wo wir gerade herkommen. Die Seesterne sammeln sich dort zwischen den Klippen zu Herden. Für Glitscher sind sie dort eine leichte Beute, besonders nachts. Aber vor den Scheinwerfern des Moduls haben die Glitscher Respekt. In der Nahrungskette der Krabbieren sind die Riesenseesterne…“
Sie brach ihre Erklärung ab und lauschte. Über dem Meer schwoll ein heulender Ton an. Dann raste ein zweiter Raumgleiter wie ein überdimensionales Geschoß über die Insel hinweg, schraubte sich in den Himmel und stieß erneut zum Tiefflug herab. Sein Erscheinen ließ Jill alle guten Vorsätze vergessen. Er riß den Lähmer aus der Tasche und hetzte los. Aber die Schildträger waren auf ein Zeichen aus der Sänfte bereits zur Seite getreten. Sic ließen ihn passieren. Er brauchte den Lähmer nicht einzusetzen. Bei einem Blick zurück sah Jill, wie sie ihm nur langsam folgten. Sie machten keine Anstalten, ihre Waffen gegen ihn zu benutzen oder Atzspeier auf seine Spur zu setzen. Vitree hatte den leeren Kokon an sich genommen und trug ihn über den Strand. Jill hielt das für eine positive Geste, was immer auch sie bedeuten mochte.
Schwer atmend erreichte er seinen Raumgleiter, sprang auf den Deltaflügel und schwang sich durch den Einstieg in den Steuersessel. Die Hände glitten über die Tasten des Terminals. Er gab das Programm für das Aufrichten der Fähre in die senkrechte Startstellung frei und hoffte abzuheben, ehe Vitree oder die Krabbieren in den Bereich der Düsen kamen. Während die Servomotoren der Hydraulik zu arbeiten begannen, stellte Jill einen Funkkontakt her.
„Gleiter eins an Gleiter zwei: Bleibt in der Luft! Ich schalte zur ABENDSTERN!“
„Hier Gleiter zwei. Verstanden. Wir hören mit.“
„Achtung ABENDSTERN! Rapport von Gleiter eins.“
Auf dem Schirm erschien das Gesicht des Kommandanten. „Hier ABENDSTERN. Verdammt, warum habe ich so lange Zeit nichts von dir und Leo gehört! Sprich!“
Jill gab seinen Bericht, die Angaben Vitrees eingeschlossen, und endete mit dem Satz: „Wie die Dinge stehen, ist es erst einmal Zeit für den Countdown, denke ich. Ich sollte mich von diesem heiklen Brutanlagen entfernen.“
„Wir beraten“, sagte Rickmar knapp. „Start frei, falls eine akute Gefahr für dich eintritt. Sonst aber haben die ortsinternen Belange Priorität, samt der Sicherheit für die Kontaktlerin.“
Jill stutzte bei dieser Entscheidung. Sein Raumgleiter hatte sich inzwischen aufgerichtet, während der zweite Gleiter in weiten Schwüngen die Insel umkreiste. Als Jill die Umgebung am Strand musterte, sah er, daß die Chitiner den zweiten Kokon mit der Leiche Leos herbeitransportierten. Er entdeckte, wie wenig ihm der Gang der Ereignisse Zeit zur Trauer gelassen hatte, und stoppte das Startprogramm. Verlegen nahm er den Helm ab. Daß er im Begriff gewesen war zu starten, ohne einen Gedanken an Leo zu verschwenden, war ihm peinlich. Wie von selbst glitten seine Hände wieder über das Terminal und erteilten die Weisung, den Raumgleiter zurück in die waagerechte Stellung zu schwenken.
Vitree legte den gelben Umhang auf den Strand, erkletterte den Einstieg und pochte gegen das Ranzelglas. Jill öffnete ihr. „Ich bin froh, daß du nicht gestartet bist“, sagte sie. „Einen Moment lang dachte ich, du hättest jede nüchterne Überlegung verloren.“
„Falls du dich entschließen würdest mitzukommen, könnte ich durchaus jede nüchterne Überlegung verlieren“, sagte er, und er war überrascht, daß er es gesagt hatte.
Ihr erging es nicht anders. Sie blinzelte. Komplimente dieser Art war sie nicht mehr gewöhnt. Dann räusperte sie sich: „Aber der Start hätte weitere Brutanlagen zerstört“, stotterte sie.
„Gewiß.“
„Jill! Nicht eine einzige Wabe darf mehr vernichtet werden.“
„Wie stellt du dir das vor? Der Raumgleiter kann unmöglich hierbleiben, bis die Brut geschlüpft ist, selbst wenn ich die VIKONDA über mich ergehen lasse und sie positiv ausfällt, ich also keinen Grund zur Flucht hätte. Die Fähre wird benötigt. Sie soll deine Gefährten aus den anderen Modulen suchen und retten helfen! Sie sind bestimmt in Schwierigkeiten. - Los! Faß mit an! Ich möchte Leo hereinheben. Er soll daheim auf der Erde beigesetzt werden.“
„Jill!“
„Was gibt es denn nun schon wieder für Einwände?“
„Laß dir einen Rat geben: Es wäre besser, wenn die Krabbieren ihn im Kokon einharzen und auf das Meer hinaustreiben lassen. Dort könnten wir Leo immer noch unbemerkt bergen.“
„Nein. Jetzt ist es genug. Du mutest mir zuviel zu. Ich kann mir keinen Grund vorstellen, ihn hierzulassen!“ stellte Jill kategorisch fest.
„Wenn er auf das Meer hinaustreibt, ist das eine große Ehre“, erklärte sie geduldig.
„Dank dem Himmel, daß die Chitiner keine Kannibalen sind, sonst würdest du noch behaupten…“
„Sei still. Wenn hier ein solches Brauchtum vorläge, wäre in der Tat sogar das, was du andeutest, eine Ehre. Aber wie du selbst siehst, haben sie den Kokon hergebracht und verweigern ihm die Ehre des Meeres. Leo hier auf dem Strand abzulegen, damit du ihn an Bord nimmst, ist eine Abgrenzung zu uns, ist fast schon eine Geste der Verachtung. Laß es uns hinauszögern. Vielleicht kann ich doch noch eine Meeresbestattung erreichen. Wir müssen die Krabbieren veranlassen, uns Menschen in möglichst vielen Punkten als Gleichgestellte anzuerkennen.“
„Das führt sowieso zu nichts“, sagte Jill verdrossen.
Die ABENDSTERN meldete sich und enthob beide der Mühe, sich weiter auseinanderzusetzen. „Ist die Kontaktlerin erreichbar?“ fragte der Komman-, dant.
„Ja, an der Luke. Moment.“
„Muß sich Jill der VIKONDA stellen?“ fragte der Chef sie, als sie sich bei ihm meldete.
„Nicht unbedingt. Aber es würde ihm und uns allen den Status von Gleichen unter Gleichen verleihen.“
„Und wenn es ihn Kopf und Kragen kostet?“
„Die Krabbieren neigen Jiicht zu Gewalttaten. Jedenfalls ist ihnen Sühne etwa in der Art eines Marterpfahles unbekannt.“
„Na gut. Stammt die Einschätzung der Situation in Hinblick auf die gegenseitige Abhängigkeit von Gierschnablern und Krabbieren im ökologischen System des Archipels von Ihnen, Kosmonautin Laval?“
Sie bestätigte es und fügte hinzu: „Ich halte es für einen Fehler, wenn Jill startet und weitere Wabenfelder beschädigt.“
„Das dachten wir uns ebenfalls. Aber Sie können sich bestimmt vorstellen, zu welchem Ergebnis unsere Beratung hier oben im Orbit eben geführt hat: Wir brauchen den Raumgleiter! — Wie wäre es, wenn man Antigravplatten unter die Landestützen schiebt? Sie würden nach unseren Berechnungen ausreichen, um den Raumgleiter etwas anzuheben. Er könnte dann auf das Meer driften und dort starten.“
„Das ist eine ausgezeichnete Idee“, sagte Vitree.
„Woher soll ich die Antischwerkraftscheiben nehmen?“ protestierte Jill. „Ich habe keine.“
„Wir schicken welche und lassen sie am Fallschirm auf die Insel abwerfen. Würden die Krabbieren es zulassen, daß ihr die Scheiben bergt?“
„Ja, das kann ich wahrscheinlich erreichen“, bestätigte sie. „Und bitte ein paar Sachen für mich“, bat sie schnell noch. „Meine Kleidung ist abgetragen.
Rickmar Iggensen musterte kurz ihre verschlissene Kombination. „Selbstverständlich. Das geht in Ordnung“, sagte er.
„Danke“, sagte Vitree und wurde rot, weil sie sich eitel vorkam. Doch der Kommandant war schon vom Bildschirm verschwunden.
Der zweite Raumgleiter bekam Rückkehrorder. Er schraubte sich in den Himmel und verschwand dort.
Jill schnaufte. Dann stieg er aus. „Wann beginnt die VIKONDA?“ fragte er mit einem Ausdruck von Todesverachtung in der Stimme.
Acht Krabbieren hatten ihn im Kokon den Strand entlanggetragen und auf ein stattliches, langes Floß gelegt. Auf dem Meer berührte die Wega den Horizont. Im letzten Abendlicht sah er am Wassersaum Steine neu zu einem Gebilde angehäuft, das ihn entfernt an die Umrisse einer zum Start aufgerichteten, im Maßstab verkleinerten Fähre erinnerte. Es schien ihm eine aktuelle Ergänzung für die bevorstehende VIKONDA zu sein. In größerem Abstand zueinander waren am Ufer ferner kunstvoll gearbeitete Holzgebilde aufgestellt, wie sie vermutlich auch sonst für einen solchen rituellen Anlaß benutzt wurden. Gern hätte Jill die Kontaktlerin gefragt, welche Bewandtnis es mit diesen Darstellungen hatte. Doch Vitree war mit der Bergung des Fallschirmpakets beschäftigt, das vor einer Weile abgeworfen worden war.
Allmählich wurde es dunkel. Bald standen die Sterne in für Jill fremder Konstellation am Himmel. Nur teilweise hatte sie noch Ähnlichkeit mit der Anordnung am irdischen Nachthimmel. Die Erde war sechsundzwanzig Lichtjahre weit entfernt. Die Szene ringsum wirkte auf Jill unwirklich, allerdings nicht so ungewohnt, wie man es bei einem Abstand von sechsundzwanzig Lichtjahren hätte denken können. Pflanzen waren immer noch Pflanzen,
Gierschnabler mußte für die Glitscher verheerende Folgen gehabt haben. Auf den Flößen wurden neue Fackeln entzündet. Bald setzten wieder die sanften Gesänge ein. Es kam Jill in den Sinn, daß sie nach hiesigen Begriffen vielleicht Balladen sein mochten, und er fragte sich, ob ihnen über den jüngsten Kampf eine neue Strophe hinzugefügt wurde, deren Inhalt sich auch auf ihn bezog?
Er steckte seinen Nadler ein und blieb aufrecht neben seinem Kokon stehen. Die Lust, in ihn zurückzukriechen. war ihm vergangen. Er rückte die Pflanzenkübel, die verrutscht waren, an ihre alten Positionen. Dabei bemerkte er, daß beim Kampf alle Wabendeckel fortgespült worden waren. Darin sah er ein gutes Omen für seine VTKONDA.
Gegen Morgen kamen Nebelschwaden auf. Das Floß dümpelte und drang, isoliert von den anderen, in eine graue Welt ein. Jill konnte nur hoffen, daß die Glitscher nicht noch einmal angriffen, denn jetzt im Nebel wäre eine Koordination der Verteidigung kaum möglich. Und allein auf den Schutz der Gierschnabler mochte er nicht bauen.
Der Rest der Nacht verging jedoch ruhig. Die Gesänge der Krabbieren durchdrangen ab und zu die Nebelschwaden. Die Untätigkeit behagte Jill nicht. Spielerisch fischte er Früchte aus dem Wasser und schichtete sie auf. Der Tang schien hier ähnlich vielfältige Früchte zu tragen wie daheim auf der Erde die Landpflanzen. Zu Jills Überraschung regte sich auch der Visionär, stelzte zur anderen Kante des Floßes und häkelte ebenfalls Tangfrüchte aus dem Wasser. Ihm schien das Zeremoniell der VIKONDA auch langweilig geworden zu sein.
Als das erste Morgenrot am Kap hervorsickerte, verstummten die Gesänge auf den Begleitflößen. Eine frische Brise vertrieb die Schwaden. Der Visionär stellte sich auf seinen polierten Holzklotz und begann, allein zu singen.
Was du kannst, darauf verstehe ich mich auch, dachte Jill. Und als der Visionär eine Pause machte, stimmte der Kosmonaut, selbst auf die Gefahr hin, dem Ritual der VIKONDA nicht den erforderlichen Respekt entgegenzubringen, seinerseits ein Lied an.
So setzten die beiden, einander ablösend, den Gesang eine Weile fort. Jill versuchte es mit dem „Lied an den Mond“ und dem „Gesang der Schwäne“, aber auch mit Balladen, die in der Raumflotte üblich waren wie „Roter Riese Antares“ und „Havarie vor Jupiter“.
Dann tauchte der obere Sonnenrand aus dem Meer auf, und Jill verstummte. Das Floß hatte sich dem Strand genähert und lief auf Grund, nur wenige Meter von einem der kunstvoll geschnitzten Pfähle entfernt. Krabbieren in großer Anzahl näherten sich über den Strand. Sie strömten aus dem Wald hinter den Dünen hervor, mitten darunter Vitree. Schließlich verkündete der Visionär das Ergebnis der VIKONDA. Jills leerer Kokon wurde ergriffen. Mit stilisierten Klöppeln stießen daraufhin Krabbieren Löcher in das Gespinst und zerfetzten ihn schließlich ganz. Die Morgenbrise erfaßte die leichten Teile und wehte sie davon. Danach verstreuten sich die Krabbieren. Sie trugen die Tangfrüchte vom Hauptfloß fort. Auch die Schildträger und der Visionär verließen den Strand. Jill stand immer noch unter der Erwartung einer persönlichen Katastrophe und konnte es nicht fassen, daß gar nichts mehr geschah. Er und Vitree blieben einfach allein zurück.
„Die Krabbieren scheinen nicht mehr an mir interessiert zu sein“, stellte Jill irritiert und zugleich erleichtert fest. „Ist das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“
„Ich gratuliere“, sagte sie freudestrahlend. Sie hatte ihre neue Kombination aus dem Fallschirmpaket angezogen. „Du hast den Visionär beeindruckt und damit auch seine Interpretation der VIKONDA positiv beeinflußt. Hinzu kommt noch, daß beim Nachtangriff der Glitscher kein Krabbiere getötet wurde. Es heißt, du sollst wie rasend mitgekämpft haben?“
„Na, jedenfalls bin ich frei, glaube ich“, wich er ihrer Neugier aus.
„Genau das waren seine letzten Worte: Du bist freier Teil dieses und aller folgenden Tage, weil du der Nacht im Kampf und mit Gesang Früchte für den Sonnenaufgang entrissen hast.“
Zusammen gingen sie den Strand entlang zum Raumgleiter. Dort watete Arbeit auf sie, denn die Antischwerkraftscheiben aus dem Fallschirmpaket mußten unter die Landeteller der Rumpfstützen geschoben werden. E)azu war es erforderlich, diese mit Schaufeln zu unterhöhlen. Mochte die vi- KONDA auch gut ausgegangen sein, die häßlichen Radspuren der Fähre mitten durch die Brutanlagen waren dem Sand noch immer tief eingeprägt.
„Was hat der Visionär bei der VIKONDA eigentlich herausbekommen? Was genau hat er verkündet?“ wollte Jill wissen.
„Der Kultpfahl, vor dem das Hauptfloß mit ihm und dir antrieb, trug aas Symbol der Imaginären Großen Insel“, erklärte Vitree. „Der Legende nach verheißt diese mythische Insel ihren Bewohnern ein Leben ohne Kampf gegen die Glitscher. Der Visionär hat nun die Deutung gegeben, daß der heulende Himmelsfloßler die Dottersäfte der Gierschnabler gewuppt hat, weü die kommende Generation der Krabbieren nicht mehr in dem Umfang wie bisher auf die Gierschnabler angewiesen sein wird, da sich das Leben auf dieser Insel hier schon bald dem Leben auf der Imaginären Großen Insel annähern wird.“
„Die Ahnungen des Visionärs fangen an, mir zu gefallen“, stellte Jill fest. „Er hat nämlich gar nicht so unrecht. Wenn eine Kooperation zwischen ihnen und uns gelingt, werden die Krabbieren, sobald die Raumflotte einen Stützpunkt errichtet hat, tatsächlich einen Entwicklungssprung machen, aer aus ihrer Sicht dem Erreichen von UTOPIA gleichkommt, das bekanntlich auch eine Insel war.“
„Das wäre ihnen zu wünschen“, erwiderte Vitree. „Dabei müssen wir allerdings alles vermeiden, was uns in ihren Augen in den Rang von Göttern erhebt, denn dann würden wir in ihre Machtkämpfe verstrickt.“
„Ja, es stände uns schlecht zu Gesicht, wenn wir uns wie Götter feiern ließen“, stimmte Jill ihr zu.
Sie erreichten den Raumgleiter und setzten sich mit der ABENDSTARN in Verbindung, um über den Ausgang der VIKONDA Bericht zu erstatten.
„Ausgezeichnet“, sagte Rickmar und kehrte sofort zur Tagesordnung zurück. „Nun habe ich folgende Frage zur Situation der Landegruppen der MORGENSTERN, Kosmonautin Laväl: Wir haben bisher nur die Gruppen von Modul drei aufgespürt. Wie kommt es, daß es unmöglich ist, Funkkontakt mit den übrigen Landegruppen aufzunehmen? Was ist damals passiert? Es können unmöglich alle Funkgeräte ausgefallen sein.“
„Nun, gerade das ist — tatsächlich der Fall. Als der Hauptrumpf der MORGENSTERN beim Landeversuch aufschlug und explodierte, waren alle Mannschaftsmodule noch im Planetenfall. Die Auflösung unseres Raumschiffes in Landemodule war Teil des Expeditionsplanes, der allerdings mit der harten Landung des Hauptrumpfes mißlang. Ein Teil der Explosionsenergie wurde als Elektronenblitz mit einer Stärke von mehreren Millionen Volt freigesetzt. Seinen Radius haben wir mit sechstausend Kilometer gemessen. Er traf alle Kapseln, als sie noch ungeschützt in der Luft waren. Uns, den Besatzungen, schadete dieser Elektronenblitz nichts. Aber alle Funkanlagen wie auch die übrigen elektronischen Ausrüstungen brannten dabei wie von einem Kurzschluß durch.“
„Dann ist mir alles klar“, sagte der Kommandant. „Nun: Jetzt an die Arbeit, ihr beiden dort unten. Pünktlich in zwei Stunden treibt ihr mir auf den Antigravscheiben auf die See hinaus. Ich erwarte dann den Countdown für euren Raumgleiter“, sagte er und schaltete ab. Er schien vorauszusetzen, daß die Kontaktlerin auch in den Orbit heraufkam.
Vitree bekam einen seltsam verklärten Blick. „Ich glaube, ich würde tatsächlich gern zur ABENDSTERN aufsteigen, und wenn es nur für zwei, drei Umläufe wäre“, gestand sie.
Spontan umarmte Jill sie. Sie erwiderte seine Zärtlichkeit. Menschen sind nicht dazu da, Aufgaben zu erfüllen, sondern die Aufgaben haben den Sinn, den Menschen Erfüllung zu bringen, dachte er. Er verstand ihr Bedürfnis, wieder Gefährten von der Erde um sich zu haben, ebenso wie ihren Wunsch, zu den Krabbieren zurückzukehren, um sich ihrer Aufgabe, für die sich Entbehrungen lohnten, zu widmen. Er spürte plötzlich das Verlangen, an ihrer Aufgabe teilzuhaben, unmittelbar daran mitzuwirken.
„Ob mich der Kommandant freistellen würde, dir dabei zu helfen, Menschen und Krabbieren einander näherzubringen, damit wir unseren Stützpunkt bald bauen können?“ fragte er Vitree zögernd. Er fühlte, daß er ihr nicht nur ein paar schöne Worte sagen wollte, denn dazu verbanden die Ereignisse des letzten Tages und der letzten Nacht sie beide viel zu eng miteinander. Sie hatten gemeinsam mit Erfolg Gefahren durchstanden.
„Ich wäre sehr froh“, flüsterte sie. „Ich war so allein, so maßlos allein.“
„Dann ist jetzt erst einmal Zeit, in die Hände zu spucken“, sagte er mit plötzlichem Überschwang. Seine Augen blitzten sie fröhlich an.
Vitree und Jill. ließen sich aber noch Zeit, zu den Schaufeln zu greifen, und standen Hand in Hand, die Blicke ineinander versenkt.
Der Biologe Jan Serbin, Nobelpreisträger, ist im Besitz einer Formel, mit der man Leben erzeugen, Krebs und Erbkrankheiten erfolgreich bekämpfen kann. Er, das Armeleutekind, hatte die Menschen glücklich machen… wollen. Die hehre Idee, mit der „Fausf“-Formel die Menschheit retten zu wollen, erweist sich als ein gefährlicher Irrtum…