TEIL 1 Anbruch des Roten Tages

Das Leben ist viel

schmerzhafter als der Tod.

Jim Morrison

Eins

Niemand auf der Lichtung bemerkt, wie die Beißer zwischen den hohen Bäumen näher kommen.

Das metallene Klirren und Scheppern von Zeltstangen, die in Georgias kalten, widerspenstigen Lehmboden gerammt werden, übertönen die noch fernen Schritte. Die Meute befindet sich noch einen halben Kilometer entfernt inmitten der Schatten des angrenzenden Kiefernwalds. Der Nordwind tut das Seine, um das Brechen der Äste oder das verräterische, kehlige Stöhnen hinter den Baumwipfeln zu vertuschen. Noch nimmt niemand den schwachen Gestank des verwesenden Fleisches und des fauligen, in Fäkalien marinierten Schimmels wahr. Der Duft von herbstlichem Holzfeuer und verrottendem Obst, der in der mittäglichen Luft liegt, kaschiert den Geruch der lebendigen Toten.

Tatsächlich nimmt kein Einziger der Bewohner des Lagerplatzes irgendeine unmittelbare Gefahr wahr – die meisten Überlebenden sind damit beschäftigt, mit Eisenbahnschwellen, Telefonmasten und rostigen Bewehrungsstäben Unterkonstruktionen für ihre Zelte aufzubauen.

»Es ist zum Heulen … Schaut mich nur an«, stöhnt die schlanke junge Frau mit Pferdeschwanz. Ungelenk hockt sie an der nordwestlichen Ecke des Lagers vor einer mit Farbe bespritzten Zeltplane, die zu einem Quadrat zusammengelegt ist. Sie zittert trotz ihres GEORGIA-INSTITUTE-OF-TECHNOLOGY-Sweatshirts und der zerrissenen Jeans. Das Einzige, was sie sonst noch trägt, ist alter Schmuck. Mit ihrem roten Gesicht, das mit Sommersprossen übersät ist, und ihren langen dunkelbraunen Haaren, in denen sich kleine Federn in den Strähnen verfangen haben, ist Lilly Caul ein nervöses Wrack. Zudem weist sie noch eine Reihe von Macken auf, angefangen mit ihrer Gewohnheit, sich ständig die wild umherfliegenden Haarbüschel hinter die Ohren zu streichen bis hin zu ihrem zwanghaften Kauen der Fingernägel. Jetzt umklammert sie mit ihren kleinen Händen einen Vorschlaghammer und versucht, einen Metallpfahl in die Erde zu rammen, aber sie rutscht ständig ab, als ob er mit Fett eingeschmiert wäre.

»Ist schon gut, Lilly. Immer mit der Ruhe«, sagt der große Mann, der hinter ihr steht und ihr zusieht.

»Sogar eine Zweijährige könnte das hier hinkriegen!«

»Jetzt hör doch auf, dich ständig runterzumachen.«

»Mich will ich ja gar nicht runtermachen.« Sie holt erneut aus, umklammert den Hammer mit beiden Händen, rutscht aber erneut ab. »Dieser verdammte Pfahl soll kleiner werden!«

»Du hältst ihn falsch.«

»Was?«

»Nimm den Vorschlaghammer am Ende, nicht so hoch am Kopf. Lass das Werkzeug die Arbeit für dich tun.«

Erneute Schläge.

Der Pfahl trifft auf einen Stein, schnellt aus dem Grund und landet ein gutes Stück entfernt von ihr auf dem Boden.

»Verdammt! Verdammt!« Lilly haut mit dem Hammer in die Erde, starrt genervt zu Boden und atmet wild.

»Du machst das schon ganz gut, Kleines. Hier, ich zeig es dir.«

Der große Mann stellt sich neben sie, kniet sich hin und nimmt ihr sanft den Hammer ab. Lilly zuckt zurück, will das Werkzeug nicht aus den Händen geben. »Lass mich noch mal, okay? Ich schaffe das schon, ich schaffe das«, wiederholt sie, und ihre schmalen Schultern spannen sich unter dem Sweatshirt an.

Sie schnappt sich einen weiteren Pfahl und beginnt, vorsichtig auf das metallene Ende zu hämmern. Der Boden gibt nicht nach, ist zäh wie Zement. Es ist bisher ein kalter Oktober gewesen, und die brachliegenden Felder südlich von Atlanta sind zu Stein geworden. Nicht, dass das unbedingt schlimm ist. Der gefrorene Lehm ist porös und trocken – zumindest für den Augenblick –, und deshalb haben sie sich entschieden, hier ihr Lager aufzuschlagen. Der nächste Winter kommt bestimmt, und die bunt zusammengewürfelte Truppe hält sich bereits seit über einer Woche an diesem Ort auf. Sie will ihn zu ihrer vorübergehenden Heimat machen, will sich von den Strapazen erholen und ihre Zukunft planen. Wenn sie denn überhaupt eine Zukunft hat.

»Du musst den Kopf einfach drauffallen lassen«, meint der kräftige Afroamerikaner und tut so, als ob er den Vorschlaghammer in seinen gewaltigen Händen hält. Er hat solche Pranken, dass er ohne Probleme ihren ganzen Kopf ergreifen könnte. »Lass die Schwerkraft und das Gewicht des Hammers die Arbeit für dich machen.«

Lilly muss sich ganz schön zusammenreißen, um nicht auf die Arme des Mannes zu starren, wie sie auf und ab schwingen. Selbst in geduckter Haltung und mit seinem ärmellosen Denim-Hemd und der schäbigen Daunenweste bietet Josh Lee Hamilton einen imposanten Anblick. Obwohl er mit seinen mächtigen Schultern, Beinen wie Baumstämmen und einem muskulösen Hals gebaut ist wie ein American-Football-Spieler, ist er durchaus imstande, sich elegant zu bewegen. Seine traurigen, langen Wimpern, ehrerbietigen Augenbrauen und die sich immer wieder in Falten legende Stirn unter seinem kahl werdenden Kopf lassen ihn unerwartet sympathisch, beinahe weich erscheinen. »Das ist gar nicht so schlimm … Siehst du?« Er zeigt es ihr erneut, und sein entblößter tätowierter Bizeps, so groß wie ein Steak, zuckt, während er einen imaginären Vorschlaghammer durch die Luft schwenkt. »Verstehst du, was ich meine?«

Lilly wendet ihren Blick etwas verlegen von seinem angespannten Arm ab. Jedes Mal wenn sie seine Muskeln sieht, verspürt sie einen kleinen Anflug von Schuldgefühlen. Obwohl sie schon so lange miteinander durch dieses Höllenloch gereist sind, das manche Einheimische »Die Wende« nennen, hat Lilly stets penibel darauf geachtet, nicht intim mit Josh zu werden. Am besten, sie würden die Beziehung platonisch halten, brüderlich, schwesterlich, beste Kumpels, aber nicht mehr. Am besten, wenn sie sich an die Tagesordnung hielten … insbesondere inmitten dieser Plage.

Aber das hält Lilly nicht davon ab, den großen Mann kokett von der Seite anzulächeln, wenn er sie seine »Freundin« oder »Kleines« nennt … oder wenn er sich nachts, während sie in ihren Schlafsack kriecht, darum bemüht, einen Blick von dem chinesischen Zeichen zu erhaschen, das sie als Tattoo über ihrem Hintern trägt. Spielt sie mit ihm? Manipuliert sie ihn etwa, dass er sie weiterhin beschützt? Die rhetorische Frage bleibt für Lilly Caul unbeantwortet.

Die Glut der Furcht glimmt schon immer in Lilly. Sie ist es, die langsam aber sicher sämtliche ethischen Gesichtspunkte sowie angemessenes soziales Verhalten stetig aushöhlt wie der berühmte Wassertropfen auf dem Stein. Es begann in der Highschool mit einem Magengeschwür, und während ihres abgebrochenen Studiums am Georgia Institute of Technology musste sie sogar Medikamente gegen ihre Angstzustände nehmen. Mittlerweile ist die Furcht ihr immerwährender Begleiter geworden. Sie vergiftet Lillys Schlaf, beeinflusst ihre Gedanken, macht sich in ihrem Herzen breit. Die Furcht bestimmt sie.

Sie greift so fest um den Stiel des Vorschlaghammers, dass die Venen in ihren Handgelenken zum Vorschein kommen.

»Das ist doch keine schwarze Magie, verdammt noch mal!«, bellt sie, hebt das schwere Werkzeug in die Höhe und haut den metallenen Pfahl voller Wut in den Boden. Sie schnappt sich einen neuen, geht zur gegenüberliegenden Ecke der Zeltplane und durchbohrt sie mit dem Metall, während sie wild, beinahe verrückt zuschlägt und mindestens so oft danebenhaut, wie sie trifft. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn und im Nacken. Sie versucht es immer wieder, nimmt ihr Umfeld für einen Augenblick überhaupt nicht mehr wahr.

»Okay … So geht es natürlich auch«, bemerkt Josh sanft und stellt sich wieder auf die Beine. Sein markantes braunes Gesicht lächelt verschmitzt, als er das halbe Dutzend Pfähle sieht, die dazu dienen sollen, die Zeltplane auf dem Boden zu befestigen. Lilly würdigt ihn keiner Antwort.

Die Zombies, die sich noch immer unbemerkt durch die Wälder nördlich von ihnen vorarbeiten, sind jetzt keine fünf Minuten mehr vom Lager entfernt.

Kein Einziger der anderen Überlebenden – es sind immerhin beinahe hundert an der Zahl, die sich mehr oder weniger widerwillig hier zusammengerauft haben und versuchen, eine Flickwerkgemeinschaft zu gründen – ist sich des fatalen Nachteils dieses ländlichen Plätzchens bewusst. Des Ortes, den sie nun mal zu ihrer provisorischen Heimat erkoren haben.

Auf den ersten Blick scheint die Gegend ideal: Sie sind achtzig Kilometer südlich der Stadt mitten im Grünen – in einer Landschaft, die zu besseren Zeiten noch Millionen von Pfirsichen, Birnen und Äpfel produziert hat. Die Lichtung selbst erstreckt sich über ein natürliches Flussbecken, auf dessen ausgetrocknetem Boden dürre Fingerhirse wächst. Es ist so groß wie ein Fußballfeld und von den ehemaligen Besitzern brach liegen gelassen worden – ihnen haben wohl auch die benachbarten Obstplantagen gehört. Schotterwege erstrecken sich entlang der Grenzen, und neben den sich windenden Straßen stehen überwachsene Wände aus Kiefer und Eiche, Wälder, die sich bis in die Berge erstrecken.

Am nördlichen Rand der Wiese ragt die verbrannte Ruine eines großen Landsitzes in die Höhe. Seine schwarze Silhouette hebt sich wie ein versteinertes Skelett gegen den Himmel ab, ein Tornado hat die Fenster aus den Angeln gerissen. Während der letzten zwei Monate haben Feuer große Teile der Vorstädte und so gut wie alle Bauernhöfe südlich von Atlanta vernichtet.

Die ersten Sichtungen der lebenden Toten im August haben im gesamten Süden eine Panikwelle ausgelöst, so dass die bestehende Versorgungsinfrastruktur völlig überfordert wurde. Krankenhäuser waren anfangs überbelegt, ehe sie die Türen für immer schlossen und Feuerwehren landauf landab, machten dicht. Die Interstate 85 war mit Autowracks übersät. Die Menschen hatten aufgegeben, Tankstellen mithilfe ihrer batteriebetriebenen Radios ausfindig zu machen, und konzentrierten sich stattdessen aufs Plündern und Rauben, schlossen Bündnisse, damit sie ihr Gut besser verteidigen konnten.

Die Leute, die sich hier auf diesem verlassenen Platz zusammengefunden haben, teilen eine gemeinsame Leidensgeschichte von den einzelnen Tabakfeldern und den menschenleeren Einkaufsstraßen in Pike, Lamar und Meriwether. Sämtliche Altersklassen sind vertreten, unter ihnen auch über ein Dutzend Familien mit Kleinkindern. Auf ihrer Suche nach einem passenden Platz wurde der Konvoi aus kaum noch fahrtüchtigen Autowracks stetig größer … bis die Not sie dazu trieb, eine behelfsmäßige Zuflucht zu suchen und sich auszuruhen.

Jetzt haben sie sich über die zwei Morgen große Fläche verlassenen Lands ausgebreitet, und der Anblick erinnert an die Elendsviertel der Großen Depression. Einige hausen in ihren Autos, während andere ihre Zelte auf dem weicheren Gras aufgeschlagen haben. Ein paar wenige haben kurz nach dem Ankommen Notunterkünfte an den Rändern des Grundstücks errichtet. Die Gruppe besitzt kaum Gewehre oder Pistolen und noch weniger Munition. Gartenwerkzeuge, Sportgeräte, Küchenausstattung – alles Mitbringsel aus der Zivilisation – dienen jetzt als Waffen. Dutzende Überlebende hämmern Pfähle in den kalten, vernarbten Grund, arbeiten unablässig gegen eine unsichtbare Uhr und wetteifern darum, ihre zusammengebastelten Zufluchtsorte aufzubauen – ein jeder blind gegenüber der Gefahr, die sich von Norden her durch die Kiefern nähert.

Einer der Bewohner, ein schlaksiger Mann Mitte dreißig mit einem John-Deere-Käppi und einer Lederjacke, steht am Rand unter einer riesigen Zeltplane, die seine markanten Gesichtszüge verdeckt. Er überwacht eine Schar mürrischer Teenager und junger Erwachsener, die in der Mitte der Plane versammelt ist. »Jetzt aber los, Ladys! Gebt mal ein bisschen Gas!«, bellt er, und seine Stimme ertönt über dem metallenen Hämmern, das rings um ihn herum zu hören ist.

Die Teenager machen sich an einem großen Balken zu schaffen, der als Mittelmast für das große Zirkuszelt dienen soll. Sie haben es auf der Interstate 85 gefunden. Es hat in einem Graben neben einem umgestürzten Tieflader gelegen, auf dessen Kühler Überreste eines bunt gemalten Clowns zu sehen waren. Mit über hundert Meter Umfang schien dem John-Deere-Mann das ramponierte, nach Schimmel und Tieren stinkende Zelt ein idealer Versammlungsort, das auch groß genug war, um Vorräte darin verstauen zu können. Es war ein Ort, an dem man Besprechungen halten konnte, ein Ort, der ihnen zumindest einen Anschein von Zivilisation bewahrte.

»Dude … der wird das Gewicht nicht aushalten«, beschwert sich einer der Teenager, ein Drückeberger in einem Parker namens Scott Moon. Seine langen blonden Haare hängen ihm ins Gesicht, und sein Atem wird sofort in der Luft sichtbar, während er sich zusammen mit den tätowierten und gepiercten Goths aus seiner ehemaligen Highschool abrackert.

»Jetzt hört endlich auf zu meckern – der Stamm hält das schon aus«, grunzt der Mann mit dem Käppi. Er heißt Chad Bingham und ist Vater von vier Mädchen: eine siebenjährige Tochter, neunjährige Zwillinge und eine Teenagerin. Chad ist ein Disziplinfanatiker und unglücklich mit einer Frau aus Valdosta verheiratet. Genau wie sein Vater auch. Der allerdings hatte ausschließlich Jungen und musste sich nicht mit dem geballten Unsinn abmühen, den Frauen ständig anstellen. Außerdem hatte Chads Vater sich nie mit verwesenden Eiterbeulen verfaulenden Fleisches beschäftigen müssen, die sich auf Lebende stürzen. Jetzt ist es an Chad Bingham, die Sache in die Hand zu nehmen, die Rolle des Alphatieres zu erfüllen … Denn sein Vater hatte schon immer gesagt: Irgendjemand muss es ja tun! Er starrt finster auf die Schar in der Zeltmitte: »Jetzt nicht wackeln!«

»Höher kriegen wir ihn nicht«, presste einer der Jungen durch die zusammengebissenen Zähne.

»Hoch, höher, high«, witzelt Scott Moon und unterdrückt ein Kichern.

»Schön ruhig, Jungs!«, befiehlt Chad.

»Was?«

»Ich habe gesagt, dass ihr nicht wackeln dürft!« Chad geht zu ihnen und steckt eine Kurbel in das Loch im Balken. Die Seiten der riesigen Plane flattern und schlagen heftig im Wind. Eine weitere Horde Teenager tut ihr Bestes, sie mithilfe von kleineren Trägern zu stabilisieren.

Das Zelt nimmt langsam feste Formen an, und Chad starrt aus einem großen Spalt auf die Lichtung. Er lässt den Blick über die Wiese wandern, vorbei an den Autos mit geöffneten Motorhauben, vorbei an den Müttern mit ihren Kindern, die einige wenige Beeren und sonstige Lebensmittel aus irgendwelchen Verkaufsautomaten aufteilen, vorbei an einem halben Dutzend Trucks, die vollgeladen sind mit sämtlichen Habseligkeiten.

Dann kommt ihm der große schwarze Typ in dreißig Metern Entfernung ins Blickfeld, der in der nördlichen Ecke des Grundstücks vor Lilly Caul steht – wie ein gigantischer Türsteher vor einem Nachtclub. Chad kennt lediglich Lillys Namen, aber das war es auch schon. Außer dass sie eine »Tussenfreundin von Megan« ist, weiß er nichts über das Mädchen. Von dem großen Typen ganz zu schweigen. Chad und der Typ waren die letzten Wochen zwar zusammen im Konvoi gereist, aber er kann sich trotzdem nicht an seinen Namen erinnern. Wie hieß er noch mal, Jim? John? Jack? Eigentlich kennt Chad keinen Einzigen von allen diesen Leuten hier. Er weiß nur, dass sie verzweifelt und verängstigt sind und sich nach Ordnung sehnen.

Chad und der Schwarze haben einander die ganze Zeit, seitdem sie im Konvoi waren, immer wieder angestarrt, taxiert, Kräfte gemessen, ohne dass es gekracht hätte. Sie haben zwar kein Wort miteinander geredet, aber Chad spürt, dass der Typ ihm nicht viel zutraut. Der Riese würde ihn in einem Zweikampf leicht besiegen, aber Chad hat keinerlei Bedürfnis, es so weit kommen zu lassen. Eine Kugel Kaliber .38 fragt nicht erst, wie groß der Widersacher ist. Und genau eine solche Kugel steckt, wie der Zufall es so will, in einem Modell 52 von Smith & Wesson in Chads breitem braunem Ledergürtel.

Jetzt aber erwidert der schwarze Mann seinen Blick, und Chad sieht eine unerwartete Anerkennung, ja, Bestätigung in den Augen des Riesen. Lilly kniet noch immer vor ihm und haut wutentbrannt auf die stählernen Pfähle ein, aber jetzt macht sich etwas Dunkles, Beunruhigendes in den Augen des Giganten breit. Für Chad kommt die Erkenntnis schnell, wie Strom in einem sich schließenden Stromkreis.

Später werden die beiden Männer unabhängig voneinander wahrscheinlich sagen, dass sie zu diesem Zeitpunkt – zusammen mit dem Rest der Leute – zwei sehr wichtige Gesichtspunkte unbeachtet gelassen haben: erstens den Lärm, den das Aufbauen des Zelts verursacht hat und der die Untoten seit Stunden angelockt haben muss und zweitens, dass der Zeltplatz einen einzigen, aber dafür umso gravierenderen Nachteil besitzt.

Im Nachhinein werden die beiden Männer insgeheim und mit viel Verdruss einsehen, dass die natürliche Barriere des angrenzenden Waldes, der sich bis zum Gipfel des Hügels erstreckt, sämtliche Geräusche verschluckt.

Verdammt, eine ganze Blaskapelle hätte über den Hügel kommen können, und niemand hätte es bemerkt!

Für ein paar Minuten bleibt Lilly Caul in völliger Unwissenheit, kriegt den Angriff überhaupt nicht mit, obwohl sich die Geschehnisse um sie herum beinahe überschlagen. Das Gehämmer und Gerede macht vereinzelten Schreien von Kindern Platz, aber Lilly haut weiterhin Pfähle in den Boden, glaubt, das Brüllen der Kleinen komme vom Spielen – genau bis zu dem Augenblick, als Josh sie im Nacken packt.

»Was …« Lilly dreht sich schlagartig um und starrt den großen Mann mit fragenden Augen an.

»Lilly, wir müssen …«

Josh schafft es nicht, den Satz zu Ende zu sprechen, weil eine dunkle Gestalt keine fünf Meter vor ihm aus dem Wald kommt. Josh hat keine Zeit mehr, um zu flüchten, keine Zeit mehr, Lilly zu retten, keine Zeit mehr, um etwas anderes zu machen, als sich den Vorschlaghammer in Lillys Händen zu schnappen und sie hinter sich zu schubsen.

Lilly fällt und rollt sich instinktiv auf dem Boden ab. Sie orientiert sich, rappelt sich wieder auf die Beine, und will schon laut aufschreien, kriegt aber vor Schock den Mund nicht auf.

Dem ersten Untoten, der aus dem Wald kommt – ein großer, käsiger Zombie in einem verdreckten Krankenhauskittel, dem eine halbe Schulter fehlt, aus der Sehnen wie Würmer hängen – folgen nämlich zwei weitere: eine Frau und ein Mann, die beide klaffende Löcher als Münder haben. Über ihre blutlosen Lippen quillt dunkle Flüssigkeit, und ihre schwarzen Pupillen starren glasig vor sich hin.

Die drei stolpern mit ihrem unverkennbaren spasmodischen Gang und schnappenden Kiefern vorwärts. Ihre Lippen lösen sich von ihren schwarzen Zähnen wie Piranhas.

In den zwanzig Sekunden, die sie benötigen, um Josh zu umzingeln, geschieht ein rapider und dramatischer Wandel im Zeltlager. Die Männer bewaffnen sich mit allem, das in ihrer Reichweite herumsteht, sei es mit Nägeln versehene Keulen, Werkzeuge oder Feuerwaffen wie Pistolen oder Gewehre. Einige Frauen, die mutigeren, schnappen sich Kanthölzer, Heu- und Mistgabeln oder rostige Äxte. Eltern lesen ihre Kinder auf und verstauen sie in Autos oder Trucks. Kofferräume und Motorhauben werden geschlossen, um den Zombies so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben.

Merkwürdigerweise verstummen die wenigen Schreie rasch – hauptsächlich von Kindern und ein paar alten Frauen –, um der unheimlichen Stille eines Drillteams oder einer provisorischen Miliz zu weichen. Innerhalb dieser zwanzig Sekunden verändern sich die Geräusche der allgemeinen Überraschung rasch zu denen der Verteidigung. Jetzt werden Ekel und Wut benutzt, um den Rausch der kontrollierten Gewalt heraufzubeschwören. Das ist nicht das erste Mal, dass die Menschen hier so etwas durchmachen. Es gibt offensichtlich eine Lernkurve. Einige der bewaffneten Männer breiten sich aus, eilen an die Ränder ihres Zeltplatzes, schwingen Vorschlaghämmer durch die Luft, laden in aller Ruhe ihre Gewehre, heben die Läufe ihrer Pistolen, egal, ob es sich um ein kostbares Familienerbstück oder irgendein rostiges altes Schießeisen handelt. Der erste Schuss kommt aus einer Ruger Kaliber .22 – nicht gerade eine Waffe, die viel Schaden anrichtet, dafür aber umso präziser und leichter zu benutzen ist. Die Kugel zerfetzt den Schädel eines Zombies in circa dreißig Metern Entfernung.

Der wandelnde Leichnam der Frau schafft es kaum aus dem Wald, ehe er auf dem Boden in einer Lache öliger Gehirnmasse und -flüssigkeit zusammensackt, die in dicken Rinnsalen aus ihr herausfließen. Dieser Kill findet genau siebzehn Sekunden nach den ersten Anzeichen der Attacke statt. Nach bereits zwanzig Sekunden häufen sich die Geschehnisse zusehends.

An der nördlichen Grenze der Lichtung rafft Lilly Caul sich auf die Beine, bewegt sich langsam wie eine Schlafwandlerin, deren Uhrwerk aufgezogen wird. Ihr Instinkt nimmt von ihr Besitz, und beinahe unfreiwillig lässt sie Josh hinter sich, der bereits von drei Leichen umzingelt ist. In den Händen hält er einen Vorschlaghammer, hat aber keine Feuerwaffe. Stattdessen warten drei verwesende Mäuler mit schwarzen Zähnen auf ihn, die ihm an die Kehle wollen.

Er dreht sich zum nächsten Zombie, während sich der Rest der Bewohner über den Zeltplatz verstreut. Josh holt aus und rammt die scharfe Spitze des Hammers in die Schläfe des Typen mit dem Krankenhauskittel. Das Geräusch des brechenden Schädels erinnert an das Krachen einer großen Eiswürfelschale. Der Inhalt seines verrottenden Gehirns schießt aus dem Kopf, tritt mit einem Zischen aus dem unter Druck stehenden Knochen, und der ehemalige Patient sackt in sich zusammen.

Die Spitze bleibt stecken, und der Zombie reißt den Hammer aus Joshs riesigen Händen.

Gleichzeitig breiten sich weitere Überlebende überall auf der Lichtung aus. Am anderen Ende zückt Chad seine Smith & Wesson und trifft einen spindeldürren alten Untoten mit nur einem halbem Kiefer genau in die Augenhöhle. Der tote Greis wirbelt inmitten einer Fontäne ranziger Brühe umher, ehe er zu Boden geht. Hinter der Reihe Autos ragt eine Zeltstange aus dem Maul einer Frau und fixiert sie in einer Eiche. Am östlichen Ende des Platzes teilt eine Axt einen verfaulenden Schädel, als ob es sich um einen überreifen Granatapfel handelt. Keine zwanzig Meter entfernt von Josh hallt ein Schuss durch die Luft, der erst etwas Blattwerk pulverisiert, ehe er die gesamte obere Hälfte eines verwesenden Anzugträgers in eine blutige Wolke verwandelt.

Lilly Caul scheut das Gemetzel, schleicht sich in Sicherheit, weg von dem umzingelten Josh. Furcht ergreift sie und sticht sie wie Nadeln in die Haut. Ihr stockt der Atem, und sie kann kaum noch denken. Sie sieht den großen,schwarzen Mann auf die Knie gehen, verzweifelt nach dem Vorschlaghammer greifend, während die beiden anderen Untoten spinnenartig über die auf dem Boden gesteckte Zeltplane auf ihn zu stolpern. Ein zweiter Hammer liegt auf dem Gras wenige Zentimeter außerhalb seiner Reichweite.

Lilly dreht sich um und beginnt zu laufen.

Sie braucht keine Minute, um von der Reihe der äußeren Zelte bis zur Mitte des Lagers zu laufen, wo zwei Dutzend Kampfunwillige oder -unfähige zwischen Kisten und Vorräten unter dem halb aufgebauten Zirkuszelt kauern. Die ersten Motoren springen an, und die Wagen reihen sich jetzt in einer Wolke aus Kohlenmonoxid vor der zusammengedrängten Schar Zombies auf. Bewaffnete Männer auf den Ladeflächen schützen die Frauen und Kinder, als Lilly hinter einer großen Truhe in Deckung geht. Ihre Lungen zittern, sie ringt nach Luft, Gänsehaut bedeckt ihren ganzen Körper.

Während der gesamten Attacke kauert sie auf dem Boden, hat die Hände über die Ohren gestülpt. Sie kann Josh bei der Waldgrenze nicht sehen, der sich jetzt endlich den Stil des Vorschlaghammers geschnappt und im letzten Augenblick aus dem Kadaver gerissen hat, um ihn in Richtung des nächsten Zombies zu schwingen. Sie weiß nicht, dass das stumpfe Ende des Hammerkopfs auf den Unterkiefer des Untoten trifft und aufgrund der unglaublichen Gewalt des Schlages den gesamten verrottenden Kopf pulverisiert. Und Lilly verpasst auch den letzten Teil des Kampfes, wie die Frau beinahe ihre schwarzen Schneidezähne in Joshs Ferse versenkt, ehe sie eine Schaufel im Hinterkopf trifft. Mehrere Männer haben sich gerade noch rechtzeitig zu Josh durchgekämpft, um den letzten Zombie zu eliminieren, und Josh rollt beiseite, unversehrt, aber zitternd vor Aufregung wegen des nur um Haaresbreite entgangenen Endes als Untoter.

Der gesamte Angriff – mittlerweile unter Kontrolle – hat weniger als hundertachtzig Sekunden gedauert.

Später zählen Chad und seine weiteren Alphatier-Kumpane vierundzwanzig Untote, die sie in das ausgetrocknete Flussbett etwas südlich vom Zeltplatz zerren. Das ist eine durchaus erträgliche Anzahl Angreifer … zumindest bis jetzt.

»Verdammt, Lilly. Warum schluckst du es nicht einfach runter und entschuldigst dich bei dem Mann?« Die junge Frau namens Megan sitzt auf einer Decke vor dem Zirkuszelt und starrt auf das Frühstück, von dem Lilly noch keinen Bissen genommen hat.

Die Sonne steht schon im blassen, kalten, klaren Himmel – ein weiterer Tag in der Zeltstadt –, und Lilly hockt vor einem ramponierten Campingkocher und nippt an ihrem Papierbecher voll Kaffee. Die geronnenen Überreste gefriergetrockneter Eier liegen in der Bratpfanne, während Lilly versucht, Schuldgefühle und Scham des vergangenen Tages nach einer schlaflosen Nacht abzuschütteln. Diese Welt lässt weder den Erschöpften noch den Feigen Zeit zum Verschnaufen.

Rund um das große, zerfledderte Zirkuszelt – mittlerweile fertig aufgebaut – wuseln die Überlebenden. Es kommt einem beinahe so vor, als ob die Attacke des Vortags nie stattgefunden hätte. Man trägt Campingstühle und -tische durch die breite Öffnung, die früher wahrscheinlich mal als Eingang für Elefanten oder Feuerwagen für Clowns gedient haben dürfte, in das große Zelt. Die Außenwände flattern im sich ständig drehenden Wind. Die Bewohner sind beschäftigt, weitere Unterschlupfmöglichkeiten im ganzen Camp zu errichten. Väter sammeln Feuerholz, überprüfen Vorräte an Wasser, Munition, Waffen und Konserven, während Mütter auf die Kinder aufpassen und sich um Decken, Mäntel und Medizin kümmern.

Bei genauerem Hinsehen würde ein geschulter Beobachter eine nur dünn verschleierte Unruhe in jeder Bewegung erkennen. Nur eines bleibt unklar: Welches stellt die größte Bedrohung dar – die Zombies oder der drohende Winter?

»Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll«, murmelt Lilly endlich und nippt erneut an ihrem lauwarmen Kaffee. Ihre Hände zittern nach wie vor. Seit der Attacke sind achtzehn Stunden vergangen, aber Lilly verspürt unvermindert die Scham, vermeidet jeden Kontakt mit Josh, ist davon überzeugt, dass er sie nun hasst, weil sie ihn einfach so dem sicheren Tod überlassen hat. Josh hat schon mehrere Male versucht, ein paar Worte mit ihr zu reden, aber es war ihr einfach zu viel gewesen, und sie hat ihn stets abblitzen lassen, ist ihm ausgewichen und hat ihm erzählt, dass es ihr nicht gut gehe.

»Was gibt es da schon zu sagen?« Megan sucht in ihrer Jeansjacke nach der Haschpfeife. Dann krümelt sie ein kleines Stückchen Gras hinein und zündet es mit einem Feuerzeug an, ehe sie tief daran zieht. Die junge Frau in ihren späten Zwanzigern mit olivfarbener Haut und mit hennagefärbten Locken, die ihr schmales, durchtriebenes Gesicht einrahmen, bläst den grünen Rauch aus und hustet. »Schau dir doch nur den Typen an! Der ist riesig!«

»Und was zum Teufel soll das heißen?«

Megan grinst. »Der sieht so aus, als ob er auf sich selbst aufpassen kann. Nicht mehr, nicht weniger.«

»Das hat doch damit nichts zu tun.«

»Schläfst du mit ihm?«

»Was?« Lilly starrt ihre Freundin entgeistert an. »Was soll das denn?«

»Ist doch eine einfache Frage.«

Lilly schüttelt den Kopf und stöhnt laut auf. »Eine Frage, die ich nicht mal einer Antwort würdige …«

»Nein, oder? Ach, du gutes, kleines, braves Ding. Gut bis zum Letzten.«

»Hörst du jetzt endlich damit auf?«

»Aber warum denn nur?« Megans Lächeln verzieht sich zu einem Grinsen. »Warum hast du so ein Exemplar noch nicht bestiegen? Ich meine, worauf wartest du noch? Dieser Körper … Der ist doch reif zum Pflücken …«

»Jetzt hör endlich auf damit!«, fährt Lilly ihre Freundin wütend an, so dass ihr ein scharfer Schmerz durch den Kopf schießt. Obwohl sie das Herz auf der Zunge trägt und ihre Stimme zittert, ist Lilly überrascht von der Lautstärke ihres Ausrufs. »Ich bin nicht wie du … okay? Ich fliege nicht von einem zum anderen. Verdammt, Meg. Ich komme gar nicht mehr hinterher. Mit wem teilst du gerade dein Bett?«

Megan wirft ihrer Freundin einen Blick zu, hustet und lädt ihre Pfeife erneut. »Weißt du was?«, fragt Megan und reicht Lilly das brennende Gras. »Warum ziehst du nicht mal daran, um ein bisschen runterzukommen, ein bisschen zu chillen?«

»Nein, danke.«

»Aber das ist gute Medizin für dich. Das lässt den Stock in deinem Arsch verschwinden.«

Lilly reibt sich die Augen und schüttelt den Kopf. »Du bist vielleicht ein Miststück, Meg.«

Megan zieht erneut und bläst dann den Rauch in die Luft. »Lieber ein Miststück als ein Stück Scheiße.«

Lilly sagt nichts, schüttelt nur weiter den Kopf. Die traurige Wahrheit ist, dass Lilly sich manchmal gar nicht so sicher ist, ob genau das auf Megan Lafferty zutrifft – ist sie ein Stück Scheiße? Die beiden kennen sich seit dem letzten Jahr an der Sprayberry Highschool in Marietta. Damals waren sie untrennbar gewesen, hatten alles von Hausaufgaben über Drogen bis hin zu Freunden geteilt. Aber dann begann Lilly, die Karriereleiter zu erklimmen, verbrachte zwei Jahre des Fegefeuers am Massey College of Business in Atlanta, ehe sie zum Georgia Institute of Technology wechselte, um ihr A.-Studium zu beginnen, das sie nie abgeschlossen hat. Sie hatte es in der Modebranche zu etwas bringen wollen, wollte ein eigenes Geschäft aufmachen, aber für ihr erstes Interview war sie nicht weiter als bis zur Rezeption von Mychael Knight Fashions gekommen – es ging um ein hoch begehrtes Praktikum –, ehe sie gekniffen hatte. Ihr alter Wegbegleiter – die Furcht – war wieder einmal aufgetaucht, um ihre Pläne zu durchkreuzen.

Es war die Furcht gewesen, die sie aus der eindrucksvollen Rezeption hatte fliehen lassen, um nach Hause nach Marietta zurückzukehren. So konnte sie ihr Luderleben mit Megan weiterführen, Gras rauchen, auf Sofas rumgammeln und Wiederholungen von Project Runaway im Fernsehen schauen.

Aber während der letzten Jahre hat sich etwas in ihrer Beziehung geändert, etwas Fundamentales. Lilly spürte es tief im Inneren, es war wie eine Sprachbarriere. Megan besaß keinerlei Ehrgeiz, keinen Willen, keine Ausrichtung, und es kratzte sie nicht die Bohne. Lilly aber hegte immer noch Träume – hoffnungslose vielleicht, aber trotzdem Träume. Insgeheim wollte sie nach New York oder eine Webseite aufbauen oder zurück zur Rezeption von Mychael Knight und sagen: »Huch, tut mir leid. Ich musste nur mal kurz eineinhalb Jahre Luft schnappen …«

Lillys Vater – ein pensionierter Mathelehrer und Witwer namens Everett Ray Caul – hatte seine Tochter in all ihren Vorhaben stets unterstützt. Everett war ein liebenswürdiger, rücksichtsvoller Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, seine einzige Tochter nicht zu streng zu erziehen, nachdem seine Frau Mitte der Neunzigerjahre langsam und qualvoll an Brustkrebs gestorben war. Er wusste, dass sie mehr vom Leben wollte, war sich aber auch bewusst, dass sie Liebe brauchte, eine Familie, ein Zuhause. Und Everett war alles, was sie hatte. Und genau das war es, was die letzten paar Monate für Lilly zur Hölle gemacht hat.

Der erste Ausbruch der Untoten hatte das nördliche Cobb County hart getroffen. Sie stammten aus den Arbeitervierteln, den Industrieparks nördlich von den Wäldern von Kennesaw, und die Beißer unterwanderten die Bevölkerung wie bösartige Krebszellen. Everett entschied sich, Lilly zu nehmen und ihre Siebensachen zu packen, um sich mit dem klapprigen VW aus dem Staub zu machen. Sie waren bis zur US 41 gekommen, ehe die Wracks auf den Straßen ihr Fortkommen behinderten. Eineinhalb Kilometer südlich stießen sie auf einen Stadtbus, der die Gegend nach Überlebenden abklapperte und hatten es beinahe an Bord geschafft. Bis zu diesem Tag verfolgt Lilly das Bild, wie ihr Vater sie trotz der Scharen sich nähernder Zombies durch die Tür geschubst hat.

Der alte Mann hatte ihr das Leben gerettet. Sobald sie in Sicherheit war, schloss er die Tür hinter ihr und wurde dann von drei wandelnden Leichen zu Boden gerissen. Sein Blut spritzte gegen die geschlossene Tür, noch ehe der Busfahrer Gas geben konnte. Lilly schrie sich den Hals wund, bis ihre Stimmbänder nicht mehr konnten. Danach wurde sie ruhig, ganz ruhig, richtiggehend katatonisch, rollte sich auf einer Bank zusammen und starrte den ganzen Weg nach Atlanta auf die mit Blut besudelte Tür.

Es grenzte an ein kleines Wunder, dass Lilly Megan gefunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt des Ausbruchs konnte man noch per Handy telefonieren, und sie verabredete sich mit ihrer Freundin am Flughafen von Heartsfield. Die beiden Frauen machten sich per pedes auf, trampten gen Süden, übernachteten in verlassenen Häusern. Ihr Dasein fristete sie damit zu überleben. Die Spannung zwischen den beiden wuchs zusehends. Eine jede verarbeitete den erlebten Terror und Verlust auf ihre Weise. Lilly zog sich zurück, Megan nahm den anderen Weg, rauchte die ganze Zeit Gras, redete unablässig und hängte sich an jeden Überlebenden, der ihren Weg kreuzte.

Fünfzig Kilometer südwestlich von Heartsfield schlossen sie sich einer Karawane von Überlebenden an – drei Familien aus Lawrenceville, die in zwei Mini-Vans unterwegs waren. Megan überzeugte Lilly davon, dass man zu mehreren sichererer sei, und Lilly fügte sich, zumindest für eine Weile. Während der folgenden Wochen redete sie nicht viel, tauschte sich nicht aus, während sie durch den Obstgürtel Atlantas reisten, aber Megan begann schon bald, sich für einen der Männer zu interessieren. Er hieß Chad, hatte eine knallharte Art an sich, immer Überreste von Schnupftabak über der Lippe und die drahtigen Arme voller Tattoos. Lilly war entsetzt, als ihre Freundin inmitten dieses wachen Albtraums zu flirten anfing, und es dauerte nicht lange, ehe Megan und Chad sich zusammen verkrochen, um »sich etwas Erleichterung zu verschaffen«. Die Kluft, die Lilly und Megan voneinander trennte, wurde immer tiefer.

Es passierte ungefähr zur gleichen Zeit, dass Josh Lee Hamilton in Erscheinung trat. Eines Tages, es war gegen Sonnenuntergang, wurde die Karawane von einer Horde Untoter in einem Kmart-Parkplatz umzingelt, und der kolossale Afroamerikaner tauchte aus dem Schatten der Laderampen auf, um sie zu befreien. Er kam wie ein Gladiator auf sie zu, schwang zwei Hacken durch die Luft, an denen noch die Preisschilder hingen. Im Handumdrehen erledigte er ein halbes Dutzend Zombies, und die Mitglieder der Karawane verdankten ihm ihr Leben. Dann führte er sie in das Geschäft und zeigte ihnen ein paar brandneue Gewehre und die Abteilung mit der Campingausrüstung.

Josh besaß ein Motorrad, und nachdem er ihnen mit dem Aufladen von Proviant und Gütern geholfen hatte, entschied er sich, bei ihnen zu bleiben, und fuhr neben der Karawane her, die langsam durch die Landschaft in Richtung der verlassenen Obsthainen von Meriwether County rollte.

Lilly bereute den Tag, an dem sie sich entschied, als Sozius auf der großen Suzuki mitzufahren. War ihre Anhänglichkeit an den großen Mann lediglich eine Projektion ihrer Trauer? Schließlich hatte sie erst vor Kurzem ihren Vater verloren. Oder handelte es sich vielleicht um einen verzweifelten Manipulationsversuch inmitten dieses nicht enden wollenden Horrors? Ist sie vielleicht genauso billig und durchsichtig wie Megans sexuelle Freizügigkeit?

Lilly überlegt, ob ihre Feigheit – mit der sie Josh auf dem Schlachtfeld gestern im Stich gelassen hat – Teil einer dunklen, unbewussten, selbsterfüllenden Prophezeiung ist.

»Niemand hat gesagt, dass du ein Stück Scheiße bist, Megan«, verkündet sie schließlich. Ihre Stimme klingt nicht besonders überzeugend.

»Rede lieber nicht weiter.« Megan klopft verärgert ihre Pfeife am Ofen aus und rappelt sich auf die Beine. »Du hast auch so schon genug gesagt.«

Lilly folgt ihrem Beispiel und steht ebenfalls auf. Sie hat sich längst an die plötzlichen Stimmungsschwankungen ihrer Freundin gewöhnt. »Hast du etwa ein Problem?«

»Du … Du bist mein Problem.«

»Was zum Teufel soll denn das jetzt?«

»Vergiss es, das ist mir jetzt alles zu viel«, antwortet Megan. Die Trübseligkeit in ihrer Stimme wird vom Marihuana-Rausch übertönt. »Ich wünsche dir viel Glück, Girlie-Girl … Du wirst es brauchen.«

Damit verschwindet sie hinter einer Reihe Autos am östlichen Rand des Zeltplatzes.

Lilly sieht ihr nach. Es sieht so aus, als ob Megan in einen kleinen Wohnwagen voller Kartons flüchtet. Die anderen Überlebenden scheinen den Streit der beiden kaum wahrzunehmen. Einige drehen den Kopf, andere flüstern einander zu, aber die meisten gehen weiter ihrer Beschäftigung nach, sammeln und organisieren Proviant und Vorräte – ihr nüchterner Gesichtsausdruck geprägt von nervöser Anspannung. Der Wind trägt den Geruch von Metall und Eisregen mit sich – die Anzeichen einer drohenden Kaltfront.

Lilly lässt den Blick über die Lichtung streifen und ist für einen Augenblick von der regen Betriebsamkeit in den Bann gezogen. Es kommt ihr wie ein Flohmarkt vor, auf dem es von Verkäufern und Käufern nur so wimmelt. Die Leute tauschen Waren, stapeln Brennholz und plappern schier unentwegt miteinander. Am Rande der Lichtung stehen mindestens zwanzig kleinere Zelte. Hie und da sind Wäscheleinen zwischen Bäumen gespannt, an denen die mit Blut bespritzten Kleider der Untoten hängen. Nichts wird vergeudet, insbesondere nicht in Zeiten des nahenden Winters. Lilly sieht Kinder neben einem Pritschenwagen seilspringen; einige spielen Fußball. In einem Erdloch brennt ein Feuer, und der Rauch zieht über die Dächer der geparkten Autos. Der Geruch von gebratenem Speck und gegrilltem Fleisch liegt in der Luft – Düfte, die einen eher an faule Sommertage, Parkplatzpartys, Sportveranstaltungen oder Familienfeste erinnern mögen.

Eine schwarze Flut von Entsetzen ergreift von Lilly Besitz, als sie über den geschäftigen Platz schaut. Sie sieht Kinder spielen … Eltern, die ihr Bestes tun, um alles am Laufen zu halten … Allesamt Zombie-Futter … Plötzlich verspürt Lilly etwas wie eine Erkenntnis … Einen Stoß zurück in die Realität.

Sie weiß, dass jeder hier dem Tod geweiht ist. Dieser fantastische Plan, eine Zeltstadt in Georgia zu bauen, ist zum Scheitern verurteilt.

Zwei

Am nächsten Tag, unter zinnfarbenem Himmel, spielt Lilly mit den Bingham-Mädchen vor dem Zelt von Chad und Donna Bingham, als schwach hallendes Poltern und Rumpeln über den Baumwipfeln zu ihnen dringt. Ein Großteil der Überlebenden erstarrt, als sie die Geräusche hören. Sie recken die Hälse in die Richtung, aus welcher der Lärm immer näher kommt. Dann ist ihnen klar, worum es sich handeln muss: Es ist ein Motor.

Niemand hat eine Ahnung, wer es sein könnte. Gerüchte von Dieben machen die Runde, es soll richtige Banden geben, die bewaffnet bis an die Zähne anderen Überlebenden alles klauen bis aufs letzte Hemd. Die Siedler haben immer ein paar Autos als Späher ausgeschickt, man kann ja schließlich nie wissen.

Lilly schaut vom Hickelkasten auf – die Kinder haben die Quadrate mit einem Stock in den roten Lehmboden gekratzt –, und die Bingham-Mädchen erstarren mitten im Hüpfen. Die Älteste, Sarah, wirft einen Blick auf die Straße. Das dünne, jungenhafte Mädchen mit den neugierigen, großen blauen Augen ist fünfzehn Jahre alt und die Anführerin der vier Bingham-Mädchen. Mit leiser Stimme haucht sie: »Ist das etwa …«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Lilly sie. »Ich bin mir sicher, dass das einer von uns ist.«

Die drei jüngeren Mädchen strecken die Hälse empor, suchen nach ihrer Mutter.

Aber Donna Bingham ist nirgends zu sehen. Sie wäscht Kleider in einer verzinkten Tonne, die hinter dem großen Familienzelt steht. Chad Bingham hat es bereits vor vier Tagen sorgsam aufgestellt und mit Metallliegen, einer Reihe Kühlboxen, Abluftkaminen und einem batteriebetriebenen DVD-Spieler mit einer Reihe von Kinder-DVDs wie Die kleine Meerjungfrau oder Toy Story 2 ausgestattet. Plötzlich ertönen Schritte – es ist Donna Bingham, die jetzt um das Zelt kommt. Lilly ist bereits damit beschäftigt, die Kinder um sich zu scharen.

»Sarah, hol Ruthie«, bittet Lilly die Älteste in ruhigem, aber bestimmtem Ton. Das Motorgeräusch kommt immer näher, und eine dunkle Wolke von Abgasen taucht über dem Wald auf. Lilly gesellt sich rasch zu den eineiigen Zwillingen. Die neunjährigen Mary und Lydia haben die gleichen Zöpfe, tragen sogar dieselben Jacken. Lilly treibt sie zum Zelteingang, während Sarah die siebenjährige Ruthie in die Arme nimmt – ein niedliches, kleines Ding mit Shirley-Temple-Locken, die über den Kragen ihrer winzigen Skijacke fallen.

Donna Bingham erscheint im Blickfeld, als Lilly die Zwillinge ins Zelt führt. »Was ist denn los?«, will die Mutter der Kinder wissen. Sie hat ein blasses, farbloses Gesicht und erweckt den Eindruck, als ob bereits ein Windstoß reichen würde, um sie umzuhauen. »Wer ist es? Eine Bande? Ein Fremder?«

»Nichts Schlimmes«, versucht Lilly sie zu beruhigen und hält den Eingang zum Zelt offen, so dass die vier Mädchen ins Dunkle huschen können. Während der fünf Tage, seitdem sie sich hier niedergelassen haben, ist Lilly zur Babysitterin geworden, betreut diese oder jene Gruppe Kinder, während die Erwachsenen sich um Brennholz oder Proviant kümmern oder nur etwas Zeit allein haben wollen. Sie freut sich über die Ablenkung, die ihr diese Tätigkeit bietet – insbesondere jetzt, da Babysitten bedeutet, dass sie jeglichen Kontakt mit Josh Lee Hamilton vermeiden kann. »Bleib einfach im Zelt mit den Kindern, bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

Donna Bingham schließt die Zeltplane dankbar hinter sich und ihren Töchtern.

Lilly dreht sich rasch zur Straße um und sieht einen ihr bekannten Kühler von einem Mähdrescher mit fünfzehn Gängen, der sich plötzlich aus dem Dunst erhebt und durch den Nebel immer näher kommt. Sie stöhnt erleichtert auf. Trotz ihrer angegriffenen Nerven kann sie sich ein Lächeln nicht verkneifen und macht sich zur westlichen Grenze des Zeltplatzes auf, die als Ladeplatz dient. Der verrostete Mähdrescher prescht über das Gras und hält dann plötzlich, so dass die drei Teenager, die hinten aufsitzen, mitsamt den behelfsmäßig festgemachten Kisten nach vorne gegen das mitgenommene Fahrerhäuschen rutschen.

»Lilly-Lili Marleen!«, ruft der Fahrer, als Lilly vor ihm erscheint. Bob Stookey umklammert mit seinen großen, schmierigen Händen – die Hände eines Arbeiters – das Steuerrad.

»Und was steht heute auf dem Speisemenü, Bob?«, fragt Lilly mit einem müden Lächeln. »Mehr Kekse?«

»Lass mich überlegen … Heute gibt es ein Gourmet-Drei-Gänge-Menu, kleine Schwester.« Bob neigt den tief zerfurchten Kopf zu den drei Jugendlichen hinten auf dem Mähdrescher. »Haben einen verlassenen Laden gefunden. Lediglich zwei oder drei Zombies, die uns das Leben schwermachen wollten … Sind rein und raus wie Jäger auf der Pirsch.«

»Dann fang mal an zu erzählen.«

»Lass mich überlegen …« Bob legt den Leerlauf ein und schaltet dann den Motor aus. Mit einer Hautfarbe wie gebeiztes Kuhleder und rot umrandeten Augen scheint Bob Stookey einer der letzten Menschen der neuen Südstaaten zu sein, die noch Pomade benutzen, um ihre Haare aus ihrem wettergegerbten Gesicht zu kämmen. »Es gibt Holz, Schlafsäcke, Werkzeuge, Obst in Dosen, Laternen, Müsli, wetterfeste Radios, Schaufeln, Holzkohle – und was noch? Ach ja, einen Haufen Töpfe und Pfannen, ein paar Tomatenpflanzen – sogar mit der einen oder anderen halbreifen Tomate dran –, ein paar Flaschen Butan, fünfzig Liter Milch, die erst vor zwei Wochen abgelaufen ist, Seife, Brennpaste, Waschseife, Schokoladenriegel, Toilettenpapier, ein paar Terrakotta-Igel, in denen Kresse wächst, ein Buch über Bio-Landwirtschaft, einen singenden Fisch für mein Zelt und Weihnachtsmänner und Osterhasen im Doppelpack.«

»Bob, Bob, Bob … Keine AK-47? Kein Dynamit?«

»Ach, hab ’was viel Besseres als das, du Neunmalklug.« Bob beugt sich zu einer Aprikosenschachtel auf dem Sitz neben ihm hinunter, ergreift sie und reicht sie Lilly durch das Fenster. »Sei ein Schatz und stell die bitte in mein Zelt, während ich den drei Weihnachtsmännern hier mit dem schweren Zeug helfe.«

»Was hast du denn da?«, will Lilly wissen und beäugt die Kiste voller Plastikfläschchen.

»Zeug für meinen Arzneischrank«, antwortet Bob und steigt aus der Fahrerkabine. »Und das will ich sicher verstaut wissen.«

Lilly entdeckt zwischen den vielen Arzneimitteln auch ein halbes Dutzend Flaschen Whiskey. Sie wirft Bob einen fragenden Blick zu: »Arzneimittel?«

Er lächelt zurück. »Mir geht es ab und zu nicht so gut.«

»Wird schon stimmen«, sagt Lilly. Sie weiß, dass Bob ein unverbesserlicher Säufer ist – und natürlich auch, dass er ein extrem netter, umgänglicher und manchmal auch etwas verlorener Mensch ist. Nicht nur das, er war Sanitäter bei der Armee, was ihn zufälligerweise auch zum einzigen Menschen im ganzen Camp macht, der über eine Art medizinische Ausbildung verfügt.

Sie hatten sich kennengelernt, als Megan und Lilly noch allein unterwegs gewesen waren. Damals hatte er ihnen aus der Patsche geholfen, indem er ihnen einen Haufen Zombies an einem Rastplatz vom Hals schaffte. Zu der Zeit war er noch bemüht, sein Alkoholproblem zu vertuschen. Seitdem sich aber die Gruppe von Überlebenden hier vor fünf Tagen niedergelassen hat, war es Lilly gewesen, die ihm jede Nacht dabei half, heil zurück in sein Zelt zu kommen, ohne dass man ihn ausraubte – und das war in einer solch großen Gruppe von Menschen, die unter einer derartigen Anspannung zusammenhausen mussten, eine echte Herausforderung. Sie mochte Bob, und es machte ihr nichts aus, auf ihn genauso wie auf die Kleinen aufzupassen. Aber es bescherte ihr einen zusätzlichen Stressfaktor, den sie so sehr brauchte wie einen Kropf am Hals.

In diesem Augenblick aber ist ihr klar, dass er noch etwas von ihr braucht. Sie merkt es an der Art, wie er sich den Mund mit dem Ärmel abwischt.

»Lilly, es gibt da noch etwas …« Er hält inne, schluckt verlegen.

Sie stöhnt. »Immer heraus damit, Bob.«

»Es geht mich ja nichts an … Okay? Aber ich will nur damit sagen, dass … Ach, verdammt.« Er holt tief Luft. »Josh Lee ist ein guter Mann. Ich besuche ihn ab und zu.«

»Und?«

»Das war es schon.«

»Nun sag schon!«

»Es ist nur … Pass auf … Es geht ihm gerade nicht allzu blendend, verstehst du? Er glaubt, dass du sauer auf ihn bist.«

»Er glaubt was

»Er glaubt, dass du aus irgendeinem Grund eingeschnappt bist, und er hat keine Ahnung, warum.«

»Was hat er denn gesagt?«

Bob zuckt die Achseln. »Geht mich einen feuchten Kehricht an. Wir reden doch nur über … Was weiß ich, Lilly. Er wünscht sich nur, dass du ihn nicht ignorierst.«

»Tue ich doch gar nicht.«

Bob wirft ihr einen fragenden Blick zu. »Tust du nicht?«

»Bob, wenn ich es dir sage …«

»Okay, pass auf.« Bob winkt nervös mit der Hand ab. »Ich will dir ja nicht sagen, was du zu tun und zu lassen hast. Ich finde nur, dass zwei Leute wie ihr, zwei gute Leute … Ach, es ist einfach eine Schande. Und das zu diesen harten Zeiten …« Seine Stimme flaut ab.

Lilly verspürt, wie sie ein wenig versöhnlicher wird. »Ich weiß schon, was du damit sagen willst, Bob.«

Sie senkt den Blick zu Boden.

Bob schürzt die Lippen und setzt erneut zum Reden an. »Ich habe ihn heute Morgen gesehen, beim Brennholz. Er hat genügend Holz gemacht, als ob es für die nächsten dreieinhalb Winter halten müsste.«

Es sind nur hundert Meter vom Ladeplatz zum Holzlager, aber Lilly kommt es so vor, als ob die Entfernung schier unendlich groß sei.

Sie geht langsam, den Kopf gesenkt, die Hände in den Hosentaschen, damit man nicht sieht, wie sehr sie zittert. Auf ihrem Weg muss sie durch eine Gruppe Frauen, die Kleider in Koffer packen, vorbei am Zirkuszelt, vorüber an einer Schar Jungen, die ein Skateboard reparieren, und macht schließlich einen großen Bogen um ein paar Männer, die auf dem Boden liegende Waffen inspizieren.

Als sie an ihnen vorbeigeht – unter ihnen Chad Bingham, der die anderen wie ein Redneck-Despot anfährt –, wirft Lilly einen Blick auf die verschiedenen Pistolen. Es sind elf an der Zahl, alles verschiedene Kaliber, Hersteller und Modelle. Sie sind fein säuberlich wie in einer Schublade aufgereiht. Die beiden großkalibrigen Gewehre aus dem Kmart liegen daneben. Nur elf Pistolen, die Gewehre und kaum Munition – das ist alles, was den Siedlern zur Verfügung steht. Welch ein dünner Schutzschild, der sie von einer Katastrophe bewahren soll.

Lilly kriegt eine Gänsehaut im Nacken, als sie daran vorbeigeht. Die Angst brennt ihr ein Loch in den Bauch. Sie zittert mehr und mehr, und es kommt ihr vor, als hätte sie hohes Fieber. Lilly Caul hat schon immer gezittert. Sie kann sich noch gut daran erinnern, als sie eine Präsentation vor dem Aufnahmeausschuss des Georgia Institute of Technology halten musste. Sie hatte sämtlichen Notizen auf Karteikarten geschrieben und über Wochen hinweg geübt. Aber als sie in dem muffigen Sitzungszimmer, das einen Blick auf die North Avenue gewährte, vor den Lehrstuhlinhabern aufstand, begann sie derart zu zittern und zu beben, dass ihr sämtliche Karteikarten aus der Hand auf den Boden glitten und sie kein einziges Wort herausbrachte.

Und genau dieselbe Anspannung verspürt sie jetzt – nur tausendmal schlimmer. Dabei geht sie doch nur zum Zaun an der westlichen Grenze des Camps. Sie kann das Zittern in ihrem Gesicht spüren, ihre Hände beben wie wahnsinnig, und es kommt ihr so vor, als ob es beinahe ihren ganzen Körper lähmt. Die Ärzte in Marietta hatten einen Fachausdruck für derartige Symptome: »chronische Angststörungen«.

Seit Ausbruch der Plage hat sie derartige Lähmungserscheinungen stets unmittelbar nach den Attacken der Untoten durchmachen müssen. Zitteranfälle, die mehrere Stunden dauerten. Dieser aber schürft tiefer. Die Angst, die sie jetzt verspürt, stammt aus einer ihr unbekannten Quelle. Sie zieht sich zurück, wendet sich ihrer eigenen, verwundeten Seele zu, die durch die bodenlose Trauer über ihren Vater nur noch verstörter ist.

Der Klang einer Axt, die auf Holz trifft, reißt sie aus ihren Tagträumen.

Eine Gruppe Männer schart sich um das Brennholz. Der Wind wirbelt etwas Laub nahe der Baumgrenze auf. Die Luft duftet nach nasser Erde und Kiefernnadeln. Schatten tanzen hinter dem Blattwerk und stacheln Lillys Furcht nur noch weiter an. Sie erinnert sich daran, wie ein Zombie sie in der Nähe von Macon vor drei Wochen beinahe erwischt hatte. Er hatte hinter einem Müllcontainer gelauert und ist dann auf sie gesprungen. Jetzt sehen die Schatten im Wald genauso aus wie die Gasse, in der sie damals gestanden hatte – verfault, voller Gefahr und nach Verwesung und grässlichen Wundertaten stinkend: die Toten, die wieder zum Leben erweckt werden.

Erneut trifft eine Axt auf Holz. Lilly schreckt auf und wendet sich zum Holzhaufen.

Josh steht mit hochgerollten Ärmeln da, kehrt Lilly den Rücken zu. Ein länglicher Schweißfleck breitet sich zwischen seinen mächtigen Schulterblättern aus und rinnt sein Flanellhemd hinunter. Seine Muskeln zeichnen sich gegen das Material ab, die Nackenfalten pulsieren, während er mit einem steten Rhythmus seine Arbeit verrichtet: ausholen, zuschlagen, herausziehen, erneut ausholen, zuschlagen, WUMM!

Lilly geht zu ihm hin, räuspert sich. »Das machst du ganz falsch«, belehrt sie ihn mit zittriger Stimme und versucht, so locker wie möglich zu klingen.

Josh hält inne, die Axt mitten in der Luft. Er dreht sich zu ihr um und blickt sie an. Sein markantes Gesicht ist mit Schweißperlen übersät. Einen Augenblick lang macht er einen zutiefst schockierten Eindruck, dann aber kann Lilly in seinen Augen seine Überraschung ablesen. »Weißt du, ich habe mir schon gedacht, dass irgendetwas nicht ganz stimmt«, antwortet er schließlich. »Ich habe nur hundert Scheite alle Viertelstunde geschafft.«

»Du hältst sie falsch.«

Josh grinst. »Habe ich mir es doch gedacht. Irgend so etwas musste es ja sein.«

»Nimm sie am Ende, nicht so hoch am Kopf. Lass das Werkzeug die Arbeit für dich tun.«

»Gute Idee.«

»Soll ich es dir mal zeigen?«

Josh tritt beiseite und überlässt Lilly die Axt.

»So musst du es machen!« Lilly versucht, so charmant, geistreich und mutig wie nur möglich zu sein, doch sie zittert so erbärmlich, dass die Axt in der Luft vibriert, als sie versucht, sie emporzuheben. Sie holt aus, und die Schneide trifft seitlich auf das Holz, ehe sie im Erdreich verschwindet. Lilly reißt daran, um sie wieder zu befreien.

»Ah, das ist natürlich viel besser.« Josh staunt und nickt amüsiert. Er bemerkt ihren Zitteranfall, und sein Grinsen verschwindet. Eilig stellt er sich neben sie und legt eine riesige Hand neben die ihre auf den Stiel der Axt. Sie hält sich daran fest, als ob ihr Leben daran hängt, und versucht weiterhin, das Werkzeug aus dem Boden zu ziehen. Seine Berührung ist sowohl zärtlich als auch besänftigend. »Lilly, alles wird gut«, versucht er, sie zu beschwichtigen.

Sie lässt den Griff los und starrt ihn an. Ihr Herz fängt heftig zu pochen an, als sie seinen Blick erwidert. Sie kriegt am ganzen Körper Gänsehaut. Sie will ihre Gefühle in Worte kleiden, wendet sich aber schließlich voller Scham ab. Endlich findet sie ihre Stimme wieder: »Josh, können wir irgendwo reden? Unter vier Augen?«

»Wie machst du das?«

Lilly sitzt im Schneidersitz auf dem Boden unter den kolossalen Ästen der Eichen um sie herum, die ihre Schatten auf den weichen Teppich herabgefallenen Laubs werfen. Sie lehnt sich gegen einen gewaltigen Stamm und starrt auf die im Wind hin und her schwingenden Baumwipfel.

Josh erkennt den Blick in ihren Augen, die ins Nichts gerichtet sind. Er kennt ihn von Kriegsveteranen und Personal der Notaufnahme – der Blick immerwährender Erschöpfung, unfokussiert, kaputt, aufgerieben. Josh verspürt das Verlangen, ihren zierlichen, schlanken Körper in die Arme zu nehmen und ihr durch die Haare zu streichen, um alles besser zu machen. Aber irgendwie spürt er, weiß er, dass es jetzt nicht an der Zeit ist. Jetzt muss er zuhören.

»Was denn?«, erkundigt er sich. Josh sitzt ihr gegenüber, ebenfalls im Schneidersitz, und wischt sich mit einem Tuch den Schweiß aus dem Nacken. Vor ihm liegt eine Schachtel Zigarren. Es sind seine letzten. Er zögert, will sie nicht anrühren. Da schwingt ein Touch Aberglaube mit, dass es sein Schicksal besiegeln würde.

Lilly hebt den Kopf und blickt ihn an. »Wenn die Zombies angreifen … Wie kommst du damit klar, ohne dir … Ohne dir in die Hose zu machen?«

Josh kichert erschöpft. »Sobald du weißt, wie das geht, musst du es mir beibringen.«

Sie starrt ihn ungläubig an. »Willst du mich etwa auf den Arm nehmen?«

»Was?«

»Willst du mir etwa erzählen, dass du Angst gehabt hast?«

»Klar doch.«

»Jetzt langt’s aber.« Sie neigt den Kopf zur Seite. »Du?«

»Ich will dir mal etwas sagen, Lilly.« Josh nimmt die Schachtel, schüttelt sie, nimmt sich eine Zigarre heraus, steckt sie mit seinem Zippo an und zieht genüsslich daran. »Nur Dumme oder Schwachsinnige haben dieser Tage keine Angst. Wenn man keine Angst hat, passt man nicht auf.«

Sie blickt auf die Reihe Zelte entlang des Zauns und stöhnt gequält auf. Ihr Gesicht ist abgehärmt, fahl. Sie macht den Eindruck, als ob sie über etwas nachdenkt, versucht, es in Worte zu kleiden, aber der Gedanke scheint sich schlichtweg zu weigern, in den Rahmen ihres Wortschatzes gezwängt zu werden. Schließlich: »Das macht mir schon länger zu schaffen. Ich bin nicht … Ich bin nicht stolz darauf. Im Gegensatz, es versperrt mir einfach so viel.«

Jetzt ist es an Josh, sie anzustarren: »Was denn?«

»Der Feigling-Faktor.«

»Lilly …«

»Nein. Hör mir zu. Das muss raus.« Sie weigert sich, seinem Blick zu begegnen. Die Scham brennt ihr in den Augen. »Ehe das alles angefangen hat, dieser Ausbruch … war es … es war einfach nur nervig. Ich habe mir selbst den Weg versperrt, einige Sachen nicht gemacht, weil ich so ein Schisser bin. Aber jetzt … Jetzt geht es um etwas … Ich weiß auch nicht, jemand könnte wegen mir sterben.« Dann schafft sie es endlich, dem großen Mann in die Augen zu schauen. »Vielleicht sogar jemand, den ich lieb gewonnen habe.«

Josh weiß genau, wovon sie spricht, und es kommt ihm vor, als ob sich eine Hand um sein Herz legt und zudrückt. Von dem Augenblick an, als er Lilly Caul das erste Mal zu Gesicht bekommen hat, verspürt er ein Gefühl, das er seinerzeit als Teenager in Greenville einmal erlebt hat. Es ist wie eine begeisterte Faszination. Er kommt sich vor wie ein Junge, der sich von dem Anblick ihres weiblichen Nackens nicht mehr losreißen kann, der vom Geruch der Haare, den Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken verzaubert ist. Ja, Josh Lee Hamilton hat es erwischt. Aber er darf es nicht zulassen, dass er diese Beziehung auch noch in den Sand setzt – wie er es mit so vielen vor Lilly gemacht hat. Aber das ist vor dem Ausbruch gewesen, ehe die Welt die Hoffnung verloren hat.

In Greenville hatte Josh sich mit beinahe beschämender Regelmäßigkeit verguckt und es immer wieder geschafft, alles zu verderben, indem er viel zu viel zu schnell haben wollte. Er benahm sich stets wie ein Welpe, der den Frauen zu Füßen lag.

Aber nicht diesmal. Diesmal würde Josh die Sache anders angehen … Anders und cleverer. Diesmal würde er einen Schritt nach dem anderen tun. Vielleicht ist er ja ein großer, alter Trottel, ein Hinterwäldler aus South Carolina, aber dumm ist er nicht. Nein, Josh Lee Hamilton kann von seinen Fehlern lernen.

Er war schon immer ein Einzelgänger gewesen, schon als er in den Siebzigerjahren in South Carolina aufwuchs, einem South Carolina, das noch immer in den rassistischen Fängen von Jim Crow stecken geblieben war und vergeblich versuchte, das Schulwesen zu integrieren und im zwanzigsten Jahrhundert anzukommen. Zusammen mit seiner Mutter und seinen vier Schwestern zog er von einem maroden Sozialbau zum anderen. Josh benutzte seine gottgegebene Größe und Kraft, um American Football zu spielen, schaffte es ins Team der Mallard Creek Highschool und erhoffte sich, eines Tages ein Stipendium an einem College zu ergattern. Aber er ließ eine Zutat vermissen, die man als Spieler unbedingt brauchte, um die akademische und sozioökonomische Leiter emporzuklettern: pure Aggression.

Josh Lee Hamilton war schon immer friedfertig gewesen. Das ging sogar so weit, dass man es ihm als Fehler ankreiden konnte. Erwachsene sprach er stets mit einem »Yessir« an. Er hatte einfach keinen Mumm. Und genau deshalb ging es dann Mitte der Achtzigerjahre mit seiner American-Football-Karriere den Bach hinunter. Das war zur gleichen Zeit, als seine Mutter, Raylene, erkrankte. Die Ärzte nannten es Lupus erythematosus. Es war nicht tödlich, aber es glich einer lebenslangen Haft: Ihre Tage waren mit chronischem Schmerz erfüllt, ständig hatte sie wunde Stellen auf der Haut und Lähmungsanfälle. Josh machte es sich zur Aufgabe, auf seine Mutter aufzupassen, sich um sie zu kümmern, während seine Schwestern Versager heirateten und Versager-Jobs Hunderte von Kilometern weit weg annahmen. Josh kochte, machte sauber und pflegte seine Mutter so gut, dass er nach ein paar Jahren ein guter Koch geworden war und nebenher einen Job in einem Restaurant annahm.

Er hatte eine Begabung für alles Kulinarische, insbesondere Fleisch, und es dauerte nicht lange, ehe er sich durch sämtliche Steakhouses in ganz South Carolina und Georgia hocharbeitete. Anfang des neuen Millenniums war er bereits einer der heiß begehrtesten Chefköche im gesamten Südosten und beaufsichtigte große Teams von Souschefs, bekochte riesige Veranstaltungen und schmückte Magazine wie Atlanta Homes and Lifestyles mit seinem Antlitz. Und die ganze Zeit über herrschte er gütig und war stets freundlich – eine Seltenheit in der harten Welt der Restaurantküchen-Szene.

Jetzt, inmitten dieser Welt des alltäglichen Horrors und unerwiderter Liebe, will Josh seiner Lilly etwas ganz Besonderes kochen.

Sie haben sich stets mit Sachen wie Dosenerbsen oder Formfleisch über Wasser gehalten – oder Müsli mit Trockenmilch. Aber nichts davon wäre geeignet für ein romantisches Abendessen und könnte als Ausdruck seiner Liebe für sie dienen. Schon vor Wochen ist alles Frischfleisch in der Gegend den Maden zum Opfer gefallen, aber Josh erhofft sich, einen Hasen oder vielleicht sogar ein Wildschwein im Wald zu erlegen. Dann könnte er ein Ragout machen oder eine nette Fleischpfanne mit wilden Zwiebeln und Rosmarin. Vielleicht sogar mit etwas von dem Pinot Noir, den Bob Stookey aus dem verlassenen Lebensmittelgeschäft hat mitgehen lassen. Dazu gäbe es mit Kräutern gewürzte Polenta, und obendrauf würde er sich noch die eine oder andere Finesse einfallen lassen. Einige Frauen der Zeltstadt machten Kerzen aus Talg, den sie in einem Futterhäuschen für Vögel gefunden hatten. Das wäre auch keine schlechte Idee: Kerzen, Wein, vielleicht eine pochierte Birne aus dem Obsthain als Dessert … Schon wäre Joshs Welt wieder eine ganz andere. Die Obsthaine bersten förmlich vor überreifem Obst. Vielleicht ein Apfel-Chutney zum Schwein. Genau. So und nicht anders. Dann könnte Josh seiner Lilly ein ordentliches Abendessen auftischen und ihr sagen, was er für sie fühlt, dass er ständig bei ihr sein, sie beschützen, ihr Mann sein will.

»Ich weiß schon, was du damit sagen willst«, verkündet er schließlich und klopft die Asche von der Zigarre. »Aber ich will dir zwei Sachen verraten. Erstens: Du musst dich nicht für das schämen, was du getan hast.«

Sie senkt den Blick. »Du meinst, einfach wie ein Feigling davonrennen, wenn man angegriffen wird?«

»Hör mir zu. Wenn ich in deiner Lage gewesen wäre, hätte ich genau das Gleiche getan.«

»Das ist doch Bullshit, Josh. Ich habe doch nicht einmal …«, protestiert Lilly.

»Jetzt lass mich ausreden.« Er macht die Zigarre aus. »Und zweitens: Ich wollte, dass du fortrennst. Du hast mich wohl nicht gehört, aber ich habe dich angeschrien, dass du verdammt noch mal abhauen sollst. Alles andere wäre doch Schwachsinn gewesen – nur ein Hammer, aber zwei von uns inmitten einer Schar Zombies. Verstehst du, was ich dir sage? Du musst dich nicht dafür schämen, was du getan hast.«

Lilly holt tief Luft, blickt noch immer zu Boden. Eine Träne kullert ihr die Wange hinab. »Josh, das ist wirklich nett von dir, aber …«

»Wir sind ein Team, okay?« Er beugt sich vor, blickt in ihr wunderhübsches Gesicht. »Okay?«

Sie nickt.

»Wir sind das dynamische Duo, okay?«

Wieder ein Nicken. »Okay.«

»Eine gut geölte Maschine.«

»Yeah.« Sie wischt sich das Gesicht mit dem Handrücken. »Yeah, okay.«

»Dann wollen wir mal so weitermachen.« Er wirft ihr sein feuchtes Tuch zu. »Einverstanden?«

Es landet in ihrem Schoß, und endlich hebt sie den Kopf und schaut ihn an, lächelt sogar. »Verdammt, Josh. Das Ding ist ja widerlich!«

Es vergehen drei Tage, ohne dass es einen weiteren erwähnenswerten Angriff der Zombies gibt; lediglich einige kleine Vorfälle stören die Ruhe des Camps. An einem Morgen finden ein paar Jungen die noch zuckenden Überreste eines Untoten in einem Straßengraben. Der graue Schädel voller Maden starrt in immerwährenden Qualen zu den Baumwipfeln hinauf. Überhaupt hat es den Anschein, als ob der Körper nähere Bekanntschaft mit einem Mähdrescher gemacht hat, und wo einmal Gliedmaßen waren, ragen jetzt Stummel aus Schultern und Becken hervor. Niemand weiß, wie der Torso dahin gekommen ist. Chad erlöst die Kreatur mit einem einzigen Hieb einer Hacke durch den verrottenden Nasenknochen. Ein anderes Mal merkt ein bereits betagter Camper, dass er gerade auf einen Zombie kackt, und kriegt beinahe einen Herzinfarkt. Irgendwie hat der Untote es geschafft, in der Latrine stecken zu bleiben. Aber es dauert nicht lange, ehe einer der jüngeren Männer ihn mithilfe einer Zeltstange ins Jenseits befördert.

Ansonsten aber ist und bleibt alles ruhig, und das Zeltcamp erlebt eine ziemlich ruhige Wochenmitte.

Die Atempause erlaubt den Bewohnern, sich zu organisieren, die letzten Unterkünfte aufzubauen, Vorräte zu verstauen, die Umgebung zu erkunden, eine gewisse Routine zu entwickeln, Koalitionen, Cliquen und Hierarchien zu formen. Die Familien, insgesamt zehn an der Zahl, scheinen mehr Sagen zu haben als die Einzelgänger. Das hat wohl mit dem Risiko der größeren Verantwortung bezüglich der Kinder, vielleicht sogar mit einer Art Symbolik zu tun. Es könnte aber auch lediglich die Tatsache eine Rolle spielen, dass sie die genetischen Samen der Zukunft tragen. Ganz gleich, wie der Grund auch lauten mag, Familien haben Vorrang.

Aus den Patriarchen der Familien erhebt sich de facto Chad Bingham als Anführer. Jeden Morgen hält er kommunalen Familienrat im großen Zirkuszelt, verteilt Aufgaben mit der lockeren Lässigkeit eines Mafioso-Bosses. Täglich stolziert er ums Camp, eine Beule in der Wange von seinem Kautabak, in der Hand die Pistole, so dass auch jeder sie sieht. Lilly macht sich Sorgen, dass dieser Ersatz-Anführer seine Probleme mit dem immer näher kommenden Winter haben wird. Außerdem gibt es da noch die unheimlichen Geräusche, die immer wieder aus Richtung des Waldes an ihre Ohren dringen. Noch dazu hat er ein Auge auf Megan geworfen, die bereits mit einem anderen Familienvater zusammengezogen ist und dessen Frau quasi aus dem Zelt geschmissen hat. Lilly ist sich nicht sicher, ob der Anschein von Ordnung nicht eher einem Pulverfass gleicht.

Lillys und Joshs Zelte stehen keine zehn Meter voneinander entfernt, und jeden Morgen wacht sie auf, öffnet den Reißverschluss, trinkt ihren entkoffeinierten Instant-Kaffee, blickt auf Joshs Zelt und versucht, mit ihren Gefühlen für den großen Mann ins Reine zu kommen. Ihre Feigheit macht ihr noch immer zu schaffen, verfolgt sie, verseucht ihre Träume. Immer wieder taucht die mit Blut besudelte Bustür in Atlanta vor ihrem inneren Auge im Schlaf auf. Aber jetzt ist es nicht mehr ihr Vater, der draußen langsam zu Boden gezerrt wird, sondern Josh.

Seine anklagenden Augen starren sie an, bis sie in kalten Schweiß gebadet aufschreckt.

Während einer dieser mit Albträumen geplagten Nächte, in denen sie so oft wach liegt – eingepackt in ihren verschimmelten Schlafsack im Zelt, das sie auf einem verlassenen Zeltplatz gefunden hatte und das nach Rauch, getrocknetem Sperma und fahlem Bier stank –, vernimmt sie auf einmal merkwürdige Geräusche. Undeutlich und weit entfernt, aus der fernen Finsternis noch hinter dem Wald, mischen sich merkwürdige Töne von unbeholfenem Herumstolpern unter das übliche Rascheln von Laub und das Zirpen der Zikaden. Es erinnert Lilly an alte Schuhe, die in einem Trockner hin und her poltern.

Vor ihrem inneren Auge, das vor Terror bereits benebelt ist, beschwören die Laute fürchterliche Bilder von forensischen Schwarz-Weiß-Fotos, verstümmelten Leichen, bereits schwarz gefärbt von der Totenstarre, die sich aber trotzdem noch bewegen, von toten Gesichtern, die sich nach ihr umdrehen und sie gierig anstarren, und stummen Snuff-Filmen von tanzenden und wie wild zuckenden Kadavern hervor. Jede Nacht, die sie so schlaflos verbringt, grübelt Lilly über die Geräusche nach, was sie bedeuten können, was da draußen passiert und wann wohl der nächste Angriff kommt.

Einige der besonneneren Camper haben bereits ihre eigenen Theorien aufgestellt.

Ein junger Mann aus Athens namens Harlan Steagal, ein nerdiger Student mit dicker Hornbrille, hält allabendliche Philosophie-Runden am Lagerfeuer. Zugedröhnt mit Pseudoephedrin, Pulverkaffee und schlechtem Weed sucht ein halbes Dutzend Sonderlinge und Außenseiter nach Antworten auf die Fragen, die jeden beschäftigen: Woher kommt die Plage? Welche Zukunft hat die Menschheit? Und dringendste von allen: Inwiefern sind die Zombies berechenbar?

Die Denkfabrik ist sich in einem einig, nämlich, dass es zwei Möglichkeiten gibt: (a) Es handelt sich lediglich um wabblige Nervenenden mit Zähnen, die gegeneinander stolpern und einfach »ausgeschaltet« werden müssen, oder (b) sie haben mit komplexeren Vorgängen zu tun, hinter die noch kein Überlebender gekommen ist. Die letztere Möglichkeit wirft die Frage auf, wie die Plage von den Toten an die Lebenden übertragen wird – ist es der Biss der Untoten? Außerdem, wie steht es um das Hordenverhalten und mögliche Konditionierungs- oder Lernkurven und noch umfassendere genetische Imperative?

In anderen Worten, und wie Harlan Steagal es auszudrücken pflegt: »Sind diese bekackten, untoten Dinger irgendeine abgefuckte, trippige Evolutionssache?«

Drei Nächte lang überhört Lilly die bis tief in die Nacht andauernden Unterhaltungen, achtet aber kaum darauf. Sie hat keine Zeit für Mutmaßungen oder blödsinnige Analysen. Je länger die Zeltstadt nicht angegriffen wird, desto verletzlicher fühlt sich Lilly – trotz sämtlicher Vorsichtsmaßnahmen. Jetzt, da die meisten Zelte und Unterkünfte stehen und die Autos eine Barriere um den gesamten Platz bilden, ist es ruhiger geworden. Die Leute leben sich ein, kümmern sich hauptsächlich um sich selbst, und die wenigen Lagerfeuer oder Kochstellen werden rasch wieder ausgemacht, damit man nicht unnötig ungebetene Gäste mit dem Rauch anlockt.

Und trotzdem wird Lilly von Nacht zu Nacht nervöser. Es kommt ihr vor, als ob eine Kaltfront auf sie zuzieht. Der wolkenfreie, kristallklare Nachthimmel macht jeden Morgen Frost Platz, der sich über den Boden, die Autos und die Zelte zieht. Die zunehmende Kälte spiegelt Lillys dunkle Vorahnung wider. Irgendetwas Fürchterliches liegt in der Luft.

Eines Abends, kurz bevor Lilly Caul sich in ihr Zelt legt, holte sie einen kleinen, in Leder gebundenen Kalender aus ihrem Rucksack. Seit Anfang der Plage, die immerhin schon mehrere Wochen anhält, haben die meisten elektronischen Geräte aufgehört zu funktionieren. Das Stromnetz existiert nicht mehr, Batterien sind leer, Dienstanbieter von mobilen Netzwerken oder Internet sind von der Erdoberfläche verschwunden, so dass die Welt sich wieder auf Ziegelsteine, Mörtel, Papier, Feuer, Fleisch, Blut, Schweiß und, wenn möglich, den Verbrennungsmotor beschränkt. Lilly ist nie im digitalen Zeitalter angekommen – ihre Wohnung in Marietta ist mit Schallplatten, Transistorradios, mechanischen Uhren und Erstauflagen vollgestopft –, so dass sie keinerlei Probleme hat, jetzt die Plage und ihren Lauf in ihrem kleinen, schwarzen Büchlein mit einem verblichenen, goldfarbenen Versicherungslogo auf Papier festzuhalten.

In dieser Nacht versieht sie Donnerstag, den ersten November, mit einem großen X.

Der nächste Tag, der zweite November, wird ihr Schicksal, wie das von so vielen anderen auch, für immer verändern.

Am Freitagmorgen ist es klar und bitterkalt. Lilly wacht kurz nach Sonnenaufgang auf, zittert in ihrem Schlafsack. Ihre Nase ist so eisig, dass sie sie kaum spüren kann. All ihre Gelenke schmerzen, während sie sich rasch weitere Klamotten überstülpt, ehe sie aus dem Zelt klettert, sich die Jacke zumacht und in Richtung Joshs Zelt blickt.

Der Riese ist bereits wach, steht neben seinem Zelt und reckt und streckt sich. Eingepackt in seinen Norwegerpullover und seine zerfledderte Weste bemerkt er Lilly und meint: »Ist dir auch kalt genug?«

»Hast du noch so eine dumme Frage auf Lager?«, begrüßt sie ihn, geht zu ihm hin und streckt den Arm nach der Thermoskanne voll dampfendem Pulverkaffee aus, die er in seinen behandschuhten Händen hält.

»Das Wetter macht die Leute verrückt«, sagt er leise und reicht ihr die Kanne. Dann blickt er zu drei Trucks, die mit laufenden Motoren auf der Straße hinter der Lichtung stehen. Sein Atem ist mit jedem Wort sichtbar. »Wir wollen in den Wald, um so viel Brennholz wie möglich zu sammeln.«

»Ich komme mit.«

Josh schüttelt den Kopf. »Habe mich gerade mit Chad unterhalten. Hat sich so angehört, als ob er möchte, dass du auf die Kinder aufpasst.«

»Okay, geht klar.«

»Kannst du behalten«, verkündet Josh und deutet auf die Thermoskanne. Dann schnappt er sich die Axt, die gegen sein Zelt lehnt, und lächelt Lilly an. »Wir sollten bis Mittag zurück sein.«

»Josh«, bittet sie ihn und packt ihn beim Arm, ehe er sich umdrehen kann. »Sei bitte vorsichtig im Wald.«

Sein Grinsen breitet sich über sein ganzes Gesicht aus. »Immer, Püppchen … Immer.«

Dann wendet er sich ab und geht zu der Abgaswolke der drei Trucks, die auf dem Schotterweg warten.

Lilly schaut zu, wie die Männer in die Wagen steigen und auf die Ladeflächen klettern. Lilly kriegt gar nicht mit, wie laut sie sind. Es entsteht ein Höllenaufruhr, als alle drei Trucks auf einmal losfahren – die Stimmen, die einander zurufen, die Türen, die ins Schloss geworfen werden, die Wolken von Kohlenmonoxid, die in die Luft steigen.

In der Aufregung bemerkt weder Lilly noch der Rest des Camps, wie weit der Lärm durch die kalte Morgenluft über die Baumwipfel getragen wird.

Lilly wittert die Gefahr als Erste.

Die Binghams haben sie im Zirkuszelt gelassen, so dass sie auf die vier Mädchen aufpassen kann, die fröhlich zwischen den vielen Tischen, Stühlen, Obstkästen und Gasflaschen spielen. Das Innere des Zelts wird von provisorischen Fenstern erhellt – Laschen von Zeltplanen, die umgeklappt wurden, um so Tageslicht in den Raum strömen zu lassen. Die Luft riecht nach Moder und schimmligem Heu – Gerüche, welche die Plane über Jahrzehnte hinweg in sich aufgesogen haben. Die Mädchen spielen Reise nach Jerusalem mit drei kaputten Gartenstühlen, die sie auf dem eisigen Boden aufgebaut haben.

Lilly macht die Musik.

»Duh-do-do-do … duh-da-da-da«, singt sie halbherzig einen alten Hit von Police. Ihre Stimme ist schwach und leise, was die Kinder aber nicht davon abhält, voller Elan um die Stühle zu tanzen. Lilly ist nicht ganz bei der Sache. Immer wieder blickt sie durch das große Loch in der Zeltplane hinaus auf den Zeltplatz, der im grauen Tageslicht liegt. Es ist kaum jemand zu sehen – diejenigen, die nicht zum Holzsammeln gefahren sind, hocken in ihren Zelten.

Lilly schluckt ihre Furcht hinunter. Die kalte Sonne steigt über die Baumwipfel, und der eisige Wind weht in das riesige Zirkuszelt. Auf dem Hügel tanzen Schatten in dem blassen Licht. Lilly glaubt, ein auffälliges Schlurfen zu hören – vielleicht kommt es aus dem Wald, aber sie kann sich nicht sicher sein. Vielleicht stellt sie sich alles nur vor. Vielleicht sind es ja nur die Geräusche vom flatternden Zelt, und sie stellt sich alles nur vor.

Sie wendet sich von dem großen Eingang ab und schaut sich nach Waffen um. Eine Schaufel ist an eine Schubkarre gelehnt, die bis zum Anschlag mit Erde gefüllt ist. Daneben stehen ein paar Gartengeräte und ein dreckiger Eimer. Aus einem Plastikmülleimer quellen die Überreste von Frühstücks–Papiertellern, an denen noch Bohnen und Eier kleben. Daneben eine Burrito-Verpackung und leere Getränkekartons zusammen mit einem Behälter aus Plastik voll dreckigem Besteck. Es stammt aus einem nachgerüsteten Campervan, und Lilly sieht inmitten der vielen mit Essensresten beklebten Plastiklöffel ein paar scharfe Plastikmesser. Was würde wohl so ein Löffel bei einem geifernden, hungrigen, monströsen Untoten anrichten?

Insgeheim verflucht sie die Anführer, dass sie alle Feuerwaffen mitgenommen haben.

Ein paar ältere Mitbewohner sind noch im Lager, unter anderem Mr. Rhimes, ein paar alte Jungfern aus Stockbridge, ein achtzigjähriger ehemaliger Lehrer namens O’Toole und zwei greise Brüder aus einem Altersheim in Macon. Der Rest: Frauen. Ein paar kümmern sich um die Wäsche und unterhalten sich, während sie am Zaun Wache halten.

Ansonsten gibt es nur noch die Kinder – zehn Geschwisterpaare. Manche haben sich in ihren eigenen Zelten gegen die Kälte verkrochen, andere spielen unter Aufsicht einer Erwachsenen Fußball vor dem verlassenen Bauernhof.

Lilly schaut aus dem Hinterausgang und erspäht Megan Lafferty in der Ferne, die auf der Veranda eines ausgebrannten Hauses sitzt und so tut, als würde sie Babysitten, anstatt Gras zu rauchen. Lilly schüttelt den Kopf. Megan soll auf die Hennessy-Kinder aufpassen. Jerry Hennessy, ein Versicherungsmakler aus Augusta, treibt es jetzt schon seit Tagen mit Megan – und zwar so, dass es jeder mitkriegt. Die Hennessy-Kinder sind mit acht, neun und zehn die zweitjüngsten im Camp. Die jüngsten sind die Bingham-Zwillinge und Ruthie, die gerade erwartungsvoll zu ihrer nervösen Babysitterin aufblicken.

»Nun mach schon, Lilly«, ruft Sarah Bingham, die Hände gegen die Hüften gestemmt. Sie steht neben ein paar Obstkisten und schnappt nach Luft. Die Teenagerin trägt einen hübschen, modischen Pullover aus Angora-Imitat, der Lilly beinahe das Herz bricht. »Sing weiter!«

Lilly dreht sich wieder zu den Kindern um. »Es tut mir leid, aber ich wollte nur …«

Lilly hält inne. Sie hört ein Geräusch von draußen, vom Wald. Es klingt wie ein knarzender, altersschwacher Schiffsrumpf … oder wie das Knarzen in einem spukenden Haus … oder, und das ist wesentlich wahrscheinlicher, wie ein Zombie, der durch umgefallene Bäume stolpert.

»Mädchen, ich …«

Wieder ein Geräusch, diesmal unterbricht es Lilly. Sie schaut zum großen Eingang hinaus. Der Lärm kommt von Osten und lässt Lilly aus einer Entfernung von hundert Metern verstummen. Er stammt wohl aus dem Dickicht von wilden Rosen und Dornsträuchern.

Eine Schar Felsentauben erhebt sich plötzlich aus dem Wald mit der Schnelle eines Feuerwerks. Lilly starrt wie gelähmt auf das Spektakel. Auf einmal ist der Himmel voller grauschwarzer Punkte.

Wie regelmäßig ausgeführte Explosionen fliegen zwei weitere Vogelscharen in der Nähe des Zauns auf. Wahre Hundertschaften von wild flatternden Vögeln fliegen umher, ehe sie sich wie einzelne Tintenkleckse zu einem großen Fleck formieren.

In der Gegend hier gibt es Scharen von Felsentauben – »Luftratten«, wie die Einheimischen sie nennen, obwohl sie die Vögel gerne braten und essen. Manche reden sogar von einer Delikatesse. Aber während der letzten Wochen hieß ihr plötzliches Erscheinen immer, dass etwas Düsteres, Fürchterliches bevorstand, das wenig mit einem Festmahl gemein hatte.

Irgendetwas hat die Vögel aus ihren Nestern aufgescheucht und bewegt sich jetzt in Richtung Zeltplatz.

Drei

Mädchen, jetzt hört mir mal gut zu.« Lilly eilt zu den Kindern und nimmt das kleinste Bingham-Mädchen in die Arme. »Ich will, dass ihr sofort mit mir kommt.«

»Warum?«, will Sarah wissen und zieht eine schmollende Teenagerschnute. »Was ist denn los?«

»Bitte widersprich mir jetzt nicht, Sarah«, bittet Lilly leise, und ihr Blick bewirkt bei der Teenagerin, dass sie der Erwachsenen ohne Widerworte folgt. Sarah dreht sich rasch um und nimmt die Zwillinge an der Hand, ehe sie die beiden in Richtung Ausgang drängt.

Lilly hält mitten auf der Schwelle nach draußen inne, als sie den ersten Zombie aus dem Wald stolpern sieht – ein großer Mann ohne Haare, der Schädel die Farbe eines Blutergusses, die Augen milchig weiß. Sie kehrt wieder um, nimmt Ruthie auf den Arm und flüstert hastig: »Planänderung, Mädchen, Planänderung.«

Eilig drängt sie die Mädchen wieder in das dämmrige, nach Schimmel riechende Zelt. Sie setzt die Siebenjährige bei einem Koffer ab. »Und jetzt macht keinen Mucks mehr, verstanden?«, flüstert Lilly ihnen eindringlich zu.

Lilly geht schnell zum Eingang zurück und kämpft mit der riesigen Plane, die mit Seilen drei Meter über dem Boden festgebunden ist. Sie zerrt an den Trossen, bis die Plane herabfällt.

Der eigentliche Plan – der sich vor Lillys innerem Auge in Windeseile erschloss – lautete, die Kinder in einem Wagen zu verstecken. Am besten wenn die Schlüssel in der Zündung steckten, falls sie tatsächlich fliehen müssten. Jetzt aber bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich in dem leeren Zelt zu verstecken und zu hoffen, dass die anderen Campbewohner die Attacke abzuwehren imstande sind.

»Jetzt spielen wir mal ein anderes Spiel«, verkündet Lilly, als sie sich wieder zu den Mädchen gesellt. Ein Schrei ertönt von draußen. Lilly versucht, Ruhe zu bewahren, nicht zu zittern. Dann ertönt eine Stimme in ihrem Kopf: Verdammt noch mal, du blöde Ziege, leg einmal in deinem Leben etwas Mut an den Tag. Tu es für die Mädchen.

»Ein anderes Spiel. Genau, ein anderes Spiel«, wiederholt Sarah, und ihre Augen glänzen vor Furcht. Sie weiß, was hier abgeht, ergreift die kleinen Händchen ihrer Zwillingsschwestern und folgt Lilly zwischen zwei aufgestapelten Türmen mit Obstkisten.

»Wir spielen Verstecken«, erklärt Lilly der kleinen Ruthie, die vor Schreck ganz still geworden ist. Lilly verbirgt die vier Bingham-Mädchen in den Schatten der Obstkisten, ein jedes kauert am Boden und keucht vor Aufregung. »Ihr dürft euch nicht bewegen und müsst ganz, ganz leise sein. Okay?«

Lillys Stimme scheint sie für den Augenblick zu beruhigen, obwohl selbst die Jüngste von ihnen weiß, dass dies hier kein Spiel ist.

»Bin gleich wieder zurück«, flüstert Lilly Sarah zu.

»Nein! Warte! NEIN, NICHT!« Sarah hängt sich an Lillys Daunenjacke, hält sich an ihr fest, als ob es um Leben und Tod geht, und schaut sie flehend an.

»Ich will nur etwas holen, bin gleich wieder da. Ich verlasse euch nicht.«

Lilly befreit sich und kriecht auf Händen und Füßen über das vermooste Gras bis zu dem Haufen Eimer bei dem langen Tisch in der Mitte. Sie ergreift die Schaufel, die an der Schubkarre lehnt und kehrt dann wieder zu dem Versteck zurück.

Mittlerweile dringen immer mehr grässliche Geräusche von draußen an ihre Ohren. Ein weiterer Schrei, gefolgt von panischen Schritten, eine Axt, die einen Schädel spaltet. Lydia wimmert, Sarah beruhigt sie wieder, und Lilly hockt sich vor die vier, ihr Blick vor Furcht ganz verschwommen.

Der eisige Wind hebt die Seitenplane des riesigen Zelts, und für einen kurzen Augenblick kann Lilly sehen, was sich auf dem Zeltplatz abspielt. Mindestens zwei Dutzend Untote – sie erhascht nur Blicke von ihren stolpernden, mit Schlamm bedeckten Füßen – nähern sich unstet, aber unaufhaltsam dem Camp. Die Beine von Überlebenden rennen, fliehen vor den Angreifern in alle Himmelsrichtungen.

Das Schauspiel lenkt Lilly kurz ab, so dass sie das Geräusch hinter den Obstkisten überhaupt nicht wahrnimmt.

Ein blutiger Arm erscheint unter der Zeltplane und verfehlt Sarahs Beine um nur wenige Zentimeter.

Sarah kreischt auf, als die tote Hand sie doch ergreift und die toten, schwarzen Fingernägel gleich Krallen sich in ihre Ferse vergraben. Der Arm ist mit tiefen Wunden übersät und in die zerfledderten Überreste eines schwarzen Anzugs gekleidet, wie man ihn auf einer Beerdigung trägt. Das Mädchen fängt an zu zucken. Instinktiv kriecht sie davon und zieht den Rest des Zombies mit ins Zirkuszelt.

Die Schwestern fangen allesamt zu schreien an, und Lilly springt auf, die Schaufel in ihren mit kaltem Schweiß tropfenden Händen. Sie vergisst, wer sie ist, was sie tut, hebt die Schaufel hoch über den Kopf. Der tote Mann beißt wie eine Schnappschildkröte in der Luft herum, während Sarah sich dreht und wendet, um seinem Griff zu entkommen, zieht ihn aber nur immer weiter hinter sich her.

Ehe die verfaulenden Zähne eine Chance haben, sich in das Bein der Teenagerin zu vergraben, schlägt Lilly hart mit der Schaufel zu. Genau auf den Schädel. Es scheppert dumpf, hört sich an wie ein kaputter Gong. Das Zerbersten des Schädels wandert die Schaufel entlang und fährt direkt in Lillys Arme, so dass sie zusammenzuckt.

Endlich befreit Sarah sich von den kalten Fingern und kommt wieder auf die Beine.

Lilly holt erneut aus … und erneut … Der Klang der Schaufel erinnert an das dumpfe Schlagen einer kaputten Kirchenglocke, und der Zombie sackt in sich zusammen. Beim vierten Schlag gibt der Schädel endlich nach, es gibt ein nasses Geräusch, und schwarze Gischt schießt über den eisigen Boden.

Sarah hat jetzt ihre Schwestern erreicht. Sie umarmen einander, die Augen vor Entsetzen geweitet. Wimmernd vor Horror und Furcht, stolpern sie in Richtung Ausgang, dessen riesige Zeltplanenlasche laut im Wind hin und her schlägt.

Lilly wendet sich von dem Nadelstreifenanzug ab und eilt zu den Mädchen, hin zum Ausgang. Plötzlich erstarrt sie mitten im Lauf und ergreift Sarahs Ärmel: »Warte, Sarah, warte … WARTE!«

Am anderen Ende des Zirkuszelts schlägt der Wind jetzt die riesige Plane auf und gibt den Blick auf mindestens ein halbes Dutzend Zombies frei, die sich dem Eingang nähern. Spastisch stolpern und schlurfen sie durch die Öffnung – alles Erwachsene, Männer und Frauen in zerfetzter, mit Blut besudelter Kleidung. Zusammen kommen sie gleich einer unüberwindbaren Wand näher, ihre mit einem grauen Film überzogenen Augen sind starr auf die Mädchen gerichtet.

»Hier entlang!« Lilly reißt Sarah in die entgegengesetzte Richtung, und Sarah schafft es gerade noch, Ruthie hochzuheben und mitzunehmen. Die Zwillinge eilen ihnen hinterher, rutschen auf dem nassen, verfilzten Gras aus. Lilly deutet auf die Lücke zwischen dem Boden und der Plane. Nur noch dreißig Meter. Außer Atem flüstert sie: »Da zwängen wir uns durch.«

Sie laufen weitere fünfzehn Meter, als plötzlich ein weiterer Untoter vor ihnen erscheint.

Diese schleimige, verstümmelte Leiche in einer ausgewaschenen Jeans-Latzhose – das Gesicht halb aufgerissen entblößt das rote Fleisch und seine Zähne – muss unter der Plane hindurchgekrochen sein, während sie abgelenkt waren. Jetzt hält er unbeholfen direkt auf Sarah zu. Lilly stellt sich zwischen ihm und der Teenagerin auf, holt mit der Schaufel aus und lässt sie mit aller Wucht gegen seinen aufgedunsenen Schädel krachen, so dass er zur Seite stolpert.

Er prallt gegen einen Pfeiler, und die Wucht, mit der er dagegen schlägt, reißt den Baumstamm aus der Verankerung im Boden. Seile reißen. Ein Geräusch wie das eines Eisbrechers, der sich durch Schollen kämpft, erfüllt das Zelt, und die Bingham-Mädchen kreischen heulend auf, als das riesige Zelt langsam zusammenbricht. Die restlichen Pfeiler geben nach, als ob es Zahnstocher wären, Pfähle fliegen aus dem gefrorenen Grund. Das konische Dach sackt über ihnen zusammen wie ein riesiges Soufflé.

Die Plane fällt auf die Mädchen, und ihre Welt verfinstert sich schlagartig, sie zerrt ihnen die Luft aus den Lungen und legt sich dann schwer auf sie.

Lilly wehrt sich gegen die herabstürzende Leinwand, versucht verzweifelt, nicht die Orientierung zu verlieren. Sie hält noch immer die Schaufel in der Hand. Das Zeltdach kracht auf sie mit der Wucht einer Lawine herab. Sie hört die gedämpften Schreie der Kinder, erspäht dann einen Hauch Tageslicht, weit entfernt. Unter der Plane kriecht sie in Richtung des Lichts, zieht die Schaufel hinter sich her.

Endlich erreicht sie die Kinder, streift mit dem Fuß gegen Sarahs Schulter. »Sarah! Reich mir die Hand! Schnapp dir die Mädchen und zieh!«, brüllt Lilly.

Auf einmal scheint die Zeit für Lilly langsamer zu werden – und diverse Abläufe geschehen zeitgleich. Lilly kommt endlich unter der Plane hervor und wird von dem eisigen Wind begrüßt, der ihr um die Nase weht. Sie zieht Sarah mit letzter Kraft nach, und zwei weitere Mädchen erscheinen hinter Sarah von unter der Zeltplane. Sie kreischen wie ein Teekessel, den man auf dem Herd vergessen hat.

Lilly springt auf und hilft Sarah und den beiden anderen auf die Beine.

Ein Mädchen fehlt – Lydia, die jüngere der beiden Zwillinge, auch wenn sie laut Sarah nur eine halbe Stunde später geboren ist. Lilly drängt die drei weg vom Zeltplatz, ermahnt sie aber, nicht zu weit fortzugehen. Dann dreht sie sich wieder zum Zelt um und sieht etwas, das ihr Herz beinahe still stehen lässt.

Unter dem zusammengestürzten Zeltdach bewegt sich etwas. Lilly lässt die Schaufel fallen und beobachtet das grausige Schauspiel. Beine und Rückgrat verwandeln sich in Eisblöcke. Sie kann nicht mehr atmen, starrt unentwegt auf eine kleine Beule in zwanzig Metern Entfernung. Das ist die kleine Lydia, die versucht, in die Freiheit zu gelangen. Ihre Schreie werden durch das schwere Material gedämpft.

Das Schlimmste aber – und es ist genau das, was Lilly Caul erstarren lässt – sind die anderen Beulen, die sich wie Maulwürfe in Richtung des Mädchens bewegen.

Auf einmal brennt eine Sicherung in Lillys Kopf durch – die reinigende Kraft der Rage fährt durch ihren Körper und befreit ihre Sehnen und Knochen.

Ein Adrenalinstoß fährt durch ihren Körper, bringt sie dazu, wieder unter die Plane zu kriechen. Die Wut verleiht ihr neue Kraft, und sie hebt das schwere Zirkusdach, bückt sich und schreit: »LYDIA! KLEINES! ICH BIN HIER!!! KOMM ZU MIR, MEINE SÜSSE!!!«

Lilly kann in der blassen Dunkelheit unter der Plane das kleine, aschblonde Mädchen in gut zehn Metern Entfernung erkennen. Sie tritt nach hinten aus, tut ihr Bestes, um unter dem schweren Material vorwärtszukommen. Lilly brüllt erneut, taucht unter die Plane, krabbelt panisch in ihre Richtung, ergreift sie, bekommt ihren Pullover zu fassen. Lilly zieht, so fest sie kann.

Auf einmal sieht sie einen dreckigen Arm und ein blutloses blaues Gesicht nur wenige Zentimeter hinter der Kleinen. Der Untote greift unbeholfen nach Lydias Hello-Kitty-Turnschuh. Die verwesenden, scharfen Fingernägel vergraben sich in der Sohle der Kinderschuhe, als Lilly das kleine Mädchen aus der stinkenden Plane zu sich in die Freiheit zieht.

Lilly und Lydia fallen vor Erschöpfung hintenüber, aber egal – das Tageslicht hat sie wieder.

Sie krabbeln noch einen Meter oder zwei, und Lilly umarmt die Kleine erleichtert. Der Lärm der noch immer zusammensinkenden Plane und die Schreie im Camp um sie herum werden immer lauter.

Lilly kniet sich hin, winkt die anderen Mädchen zu sich. »Okay, jetzt hört genau zu. Wir müssen schnell handeln, sehr schnell. Und zusammenbleiben. Ihr müsst genau das tun, was ich euch sage.« Lilly ringt nach Luft und steht dann auf. Sie schnappt sich die Schaufel, dreht sich um und sieht das Chaos, das sich über den gesamten Campingplatz ausbreitet.

Mehr und mehr Zombies erscheinen im Camp, manche bewegen sich in Gruppen von drei, vier oder fünf und grunzen und sabbern vor wildem, wütendem Verlangen.

Inmitten der Schreie und des Aufruhrs scheinen manche Zelte auch von innen zu beben. Bewohner fliehen in jede erdenkliche Himmelsrichtung, starten Autos, andere hauen wild mit Äxten um sich, während Zelte und Wäscheleinen einstürzen. Die Angreifer drängen sich durch Spalten, zwängen sich durch jede Enge in die Zelte, um nach Überlebenden zu suchen, die vor Furcht wie gelähmt sind. Eines der kleineren Zelte dreht sich auf die Seite. Ein weiteres Zelt erbebt von dem Fressrausch, der darin stattfindet – durch die lichtdurchlässigen Nylon-Wände kann man die im wilden Todeskampf fuchtelnden Silhouetten und das spritzende Blut sehen.

Lilly blickt um sich, erkennt einen unverstellten Weg zu einer Reihe Autos in circa fünfzig Metern Entfernung. Sie dreht sich zu den Kindern: »Ich will, dass ihr mir auf den Fuß folgt … okay? Bleibt mir dicht auf den Fersen und gebt keinen Mucks von euch. Verstanden?«

Sie nicken eifrig, sagen aber kein Wort. Lilly schnappt sie sich und zerrt sie hinter sich her über den Zeltplatz … und stürzt mitten ins Gemetzel.

Die Überlebenden dieser unfassbaren Plage haben rasch gelernt, dass Geschwindigkeit der größte Vorteil ist, den ein Mensch gegenüber diesen untoten Geschöpfen besitzt. Unter den richtigen Voraussetzungen kann ein Mensch selbst die agilsten Zombies mit Leichtigkeit hinter sich lassen. Aber dieser Trumpf verliert anhand einer ganzen Masse von den Kreaturen schnell an Bedeutung. Die Gefahr steigt mit jedem weiteren Zombie exponentiell an … Bis das Opfer von einem sich langsam bewegenden Tsunami verrottender Zähne und schwarzer Krallen umringt ist.

Lilly weiß nichts von dieser Weisheit, aber sie wird ihr schnell klar, als sie mit den Kindern auf das Auto zustürzt, das ihnen am nächsten steht.

Der ramponierte, mit Blut und Gewebe bespritzte Chrysler mit Dachgepäckträger ist keine fünfzig Meter entfernt schräg neben der Straße im Schatten einer Robinie geparkt. Die Fenster sind hochgekurbelt, aber Lilly hofft, dass sie trotzdem irgendwie hineinkommen, den Wagen vielleicht sogar starten können. Die Chancen stehen fifty-fifty, dass die Schlüssel stecken. Es war Usus geworden, Autos nicht abzuschließen und allzeit startbereit stehen zu lassen, damit man im Fall des Falles rasch fliehen kann.

Jetzt aber wimmelt es nur noch so von Untoten, sie nähern sich aus jeder erdenklichen Himmelsrichtung, und Lilly und die Mädchen haben gerade mal zehn Meter hinter sich gebracht, als links und rechts Zombies erscheinen und auf sie zustolpern. »Bleibt schön hinter mir!«, brüllt Lilly die Kleinen an und holt dann mit der Schaufel aus.

Das rostige Metall trifft auf die verwesende Wange einer Hausfrau in einem blutbesudelten Kittel, so dass diese zur Seite stolpert und gegen zwei weitere wandelnde Leichen in schmierigen Latzhosen kracht, die wie Dominosteine zu Boden gehen. Die Frau aber bleibt aufrecht, taumelt zwar etwas nach dem Hieb, fängt sich dann und nimmt erneut die Verfolgung auf.

Lilly und die Mädchen schaffen weitere fünfzehn Meter, als eine weitere Horde Zombies ihnen den Weg versperrt. Die Schaufel singt durch die Luft, trifft auf den Nasenrücken eines jüngeren Untoten und zerfetzt ihn. Ein weiterer Schlag landet auf dem Unterkiefer einer toten Frau in einem dreckigen Nerzmantel und schickt sie zu Boden. Dann wieder ausholen, wieder zuschlagen, so dass eine alte Schrulle, aus deren offenem Krankenhauskittel bereits die Gedärme quellen, das Gleichgewicht verliert und rückwärts stolpert.

Endlich erreichen sie den Chrysler. Lilly versucht, die Beifahrertür zu öffnen. Gott sei Dank ist sie nicht abgeschlossen! Rasch, aber doch vorsichtig drängt sie Ruthie auf den Vordersitz. Die Zombies kommen immer näher … Lilly erspäht den Schlüsselbund, der am Zündschloss baumelt. Noch ein Glückstreffer. »Bleib im Auto, Liebes«, befiehlt Lilly dem Kind und schließt dann die Tür.

Sarah will gerade die Hintertür öffnen, um die beiden Zwillinge ins Auto zu verfrachten.

»SARAH! PASS AUF!«

Lillys wilder Schrei schneidet durch das unheimliche Getöse von Stöhnen, das die Luft erfüllt, als mindestens ein Dutzend Zombies auf Sarah zustolpern. Die Teenagerin reißt die Tür auf, hat aber nicht mehr genug Zeit, um die Zwillinge in das Auto zu stecken. Die kleinere der beiden rutscht auf dem Gras aus und geht zu Boden.

Sarah kreischt verzweifelt auf, und Lilly versucht, sich zwischen die Angreifer und das Mädchen zu stellen, die Schaufel in die Höhe gerissen. Sie schafft es, einen weiteren Kopf zu zertrümmern – den riesigen Schädel einer verfaulenden schwarzen Leiche in einer Jägerjacke –, so dass der Angreifer rückwärts ins Gebüsch taumelt. Aber jetzt sind sie umzingelt, und immer mehr und mehr Zombies wanken unstet aus allen Richtungen auf sie zu, um endlich wieder Frischfleisch zwischen die verrotteten Zähne zu kriegen.

In dem darauffolgenden Chaos schaffen die Zwillinge es mit Ach und Krach, ins Auto zu flüchten und die Tür hinter sich zu schließen.

In einem Anfall von Wahnsinn, die Augen glänzend vor Wut, dreht Sarah sich um, stößt einen markerschütternden Schrei aus und drängt einen langsam auf sie zustolpernden Untoten aus dem Weg. Sie erkennt eine Lücke, zwängt sich hindurch und flüchtet.

Lilly sieht im Augenwinkel, wie die Teenagerin in Richtung Zirkuszelt rennt. »SARAH! NEIN!!!«

Sarah hat die Hälfte des Weges zurückgelegt, ehe eine undurchdringliche Wand von Zombies sich vor sie stellt, ihr den Weg versperrt, sie angrapscht, sie auf den Boden wirft, um sich dann über sie herzumachen. Immer mehr Untote ringen um sie. Der erste Biss reißt ihren Angora-Imitat-Pullover über der Brust entzwei, vergräbt sich in ihrem Fleisch und reißt einen Teil heraus. Sarah stößt einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Eiternde Zähne vergraben sich in ihrem Hals, und dunkles Blut spritzt über die Angreifer hinweg in die Luft.

Lilly kämpft währenddessen weiter beim Auto gegen annähernd zwei Dutzend klappernde, schnappende Horden von Mäulern und totem Fleisch an. Ihre schwarzen Zähne beißen immer wieder heißhungrig zu, während die drei kleinen Mädchen hinter den blutbesudelten Fenstern das Spektakel mit weit aufgerissenen Augen mit ansehen.

Lilly holt mit der Schaufel aus, lässt sie auf die ständig näher kommenden Untoten niedersausen, aber ihre Bemühungen scheinen aussichtslos – und als sie Sarahs Schreie und grässlichen Untergang mit ansehen muss, erstarrt sie mitten im Kampf. Das grausame Gellen der Teenagerin verwandelt sich langsam in undefinierbares Gurgeln, das nichts Menschliches mehr an sich hat. Mindestens ein halbes Dutzend Untoter macht sich jetzt über sie her. Sie vergraben ihre Beißer in ihr, kauen und reißen an ihr. Der rote Lebenssaft spritzt aus ihr heraus wie aus einem Springbrunnen.

Lillys Magengegend verwandelt sich in einen Eisblock, als sie die Schaufel erneut in einem Schädel vergräbt. In ihrem Kopf knistert es förmlich vor Terror, ehe sich ihre Nervenbahnen auf einen einzigen Gedanken konzentrieren: Weg vom Chrysler.

Diese Notwendigkeit, die in Lilly beinahe zum Gebot wird – weg von den Kindern – rüttelt sie wach und erfüllt Lilly mit einem neuen Energieschub. Sie dreht sich um und holt erneut mit der Schaufel aus, trifft auf den vorderen Kotflügel des Autos.

Es scheppert so laut, dass die Kinder im Chrylser zusammenzucken. Die bleifarbenen bläulichen Gesichter der Untoten wenden sich dem Ursprung des Geräuschs zu.

»LOS! KOMMT SCHON!!« Lilly stürzt sich auf das nächste Auto in der Reihe der willkürlich geparkten Wagen. Es ist ein Ford Taurus. Ein Fenster ist durch Pappe ersetzt worden. Sie holt erneut aus und schlägt, so hart sie kann, auf das Dach. Der harsche, metallene Klang zieht die Aufmerksamkeit weiterer Zombies auf sich.

Lilly rennt zum nächsten fahrbaren Untersatz und schlägt mit aller Wucht auf den linken vorderen Kotflügel. Wieder schneidet das metallene Geräusch durch den Lärm auf dem Zeltplatz.

»KOMMT SCHON! NUN KOMMT DOCH ENDLICH!!«

Lillys Stimme übertönt den Lärm wie das Bellen eines kranken Hundes. Ihre Stimme ist heiser vor Schock, tonlos, und es klingt ein Hauch von Wahnsinn mit. Sie schlägt mit der Schaufel auf ein Auto nach dem anderen. Sie selbst hat keine Ahnung mehr, was sie tut, hat jegliche Kontrolle über sich verloren. Mehr und mehr Untote folgen ihr jetzt und taumeln und stolpern in ihre Richtung.

Es dauert nur wenige Sekunden, bis Lilly das Ende der Autoreihe erreicht hat. Sie holt erneut aus und trifft die Motorhaube eines rostigen Chevy S-10 Pick-up-Truck. Mittlerweile folgen die meisten Zombies ihrem Lockruf und taumeln, stolpern und wanken tollpatschig auf sie zu.

Die einzigen Untoten, die sie ignorieren, sind die sechs, die sich noch immer vor dem riesigen Zirkuszelt an der auf dem Boden liegenden Sarah Bingham laben.

»KOMMT SCHON!! KOMMT SCHON!! KOMMT SCHON!! IMMER HER MIT EUCH!! NUN MACHT SCHON!!!!!« Lilly rennt über den Schotterweg und läuft in Richtung Wald.

Ihr Puls rast, die Sicht verschwommen, die Lungen ringen nach Luft. Lilly lässt die Schaufel fallen und versucht, mit ihren Wanderstiefeln Halt in dem weichen Hang aus Morast zu finden. Endlich erreicht sie die Baumgrenze, stürzt sich in den Wald. Sie haut mit der Schulter gegen den Stamm einer alten Birke. Der Schmerz fährt ihr direkt in den Schädel, und sie sieht Sterne. Lilly wird langsamer. Hinter ihr erklimmt die Horde Zombies unbeholfen den Hang, folgt ihr in den Wald.

Sie läuft kreuz und quer zwischen den Bäumen hindurch, hat bereits jegliche Orientierung verloren. Hinter ihr ist die Schar Untoter langsamer geworden. Sie können ihr nicht mehr folgen.

Zeit verliert an Bedeutung. Wie in einem Traum spürt Lilly, dass alles um sie herum beinahe stillsteht. Ihre Schreie bleiben ihr im Hals stecken, ihre Beine verlieren sich im unsichtbaren Treibsand von Albträumen. Die Dunkelheit umzingelt sie, je tiefer sie in den Wald stolpert.

Lilly denkt an Sarah, die arme Sarah in ihrem niedlichen Angora-Pullover. Jetzt liegt sie da, inmitten ihres eigenen Bluts, und die Tragödie reißt Lilly mit sich in den Abgrund, wirft sie zu Boden, auf die weichen Kiefernadeln und verfallende Natur, hinab in den endlosen Zyklus von Tod und Wiederauferstehung. Sie erleidet einen Anfall, der Schmerz durchfährt sie von oben bis unten, als sie atemlos aufschluchzt. Die Tränen kullern ihr die Wangen hinab, befeuchten den Waldboden.

Ihr Schluchzen will gar kein Ende nehmen.

Das Suchkommando findet Lilly am späten Nachmittag. Angeführt von Chad Bingham, bemerken die schwer bewaffneten fünf Männer und drei Frauen Lillys hellblaue Daunenjacke. Sie lugt hinter einem umgestürzten Baum circa einen Kilometer nördlich von der Zeltstadt inmitten der eisigen Dunkelheit des tiefen Waldes unter einer kleinen Lichtung hervor. Sie scheint das Bewusstsein verloren zu haben, liegt leblos in einer Dornenhecke. »Vorsicht!«, ruft Chad Bingham zu seinem Stellvertreter, einem dünnen Mechaniker aus Augusta namens Dick Fenster. »Wenn sie sich bewegt, ist sie vielleicht eine von ihnen geworden!«

Der Dampf nervösen Atmens erfüllt die kalte Luft. Vorsichtig nähert Fenster sich der Lichtung. In der Hand hält er seine entsicherte .38er. Sein Finger am Abzug zittert bedenklich. Er kniet sich vor Lilly hin, schaut sie sich genau an und dreht sich dann zum restlichen Suchkommando um. »Ihr geht es gut! Sie lebt … Nicht gebissen und nichts … Sie ist sogar bei Bewusstsein!«

»Nicht mehr lange!«, murmelt Chad Bingham leise, als er zur Lichtung geht. »Scheiß-Feigling-Scheiß-Hure hat mein Baby auf dem Gewissen …«

»Hey! Nichts da!« Megan Lafferty stellt sich zwischen Chad und dem umgefallenen Baum. »Nun mal ganz mit der Ruhe. Immer schön ruhig.«

»Aus dem Weg, Megan!«

»Hol erst mal tief Luft.«

»Ich will mich nur mit ihr unterhalten.«

Eine peinliche Stille legt sich über die Runde der Anwesenden. Der Rest des Suchkommandos hält sich zurück, steht zwischen den Bäumen, blickt zu Boden, und der Ausdruck auf ihren Gesichtern spiegelt die grässlichen Aufräumarbeiten wider, die sie gerade hinter sich gebracht haben. Einige der Männer haben rot umrandete Augen – das sagt alles.

Als sie von ihrer Holzsammelaktion wieder zurückgekommen sind, den Lärm der Motoren und der Äxte noch immer in den Ohren, konnte sie es kaum fassen, als das Zeltlager völlig zerstört vor ihnen auftauchte. Überreste von Menschen und Untoten lagen inmitten von Blutlachen auf dem Boden zerstreut. Sechzehn Bewohner waren abgeschlachtet, einige von ihnen aufgefressen – neun davon Kinder. Josh Lee Hamilton hat die restlichen Untoten beiseite geschafft und die undankbare Aufgabe zugeteilt bekommen, diejenigen Überlebenden »abzufertigen«, die noch nicht zu Zombies mutiert waren. Niemand sonst besaß die seelische Stärke oder die Kraft, seine Freunde oder Nahestehende in den Kopf zu schießen – auch wenn es hieß, dass sie nur so Erlösung finden würden. Die Inkubationszeit wird komischerweise immer unberechenbarer. Einige Opfer beginnen nach nur wenigen Minuten wieder sich zu bewegen, um dann voller Eifer loszubeißen, während andere Stunden, sogar Tage brauchen, um zur anderen Seite überzutreten. Zu diesem Zeitpunkt befindet Josh sich noch im Camp, beaufsichtigt die Aufräumarbeiten und bereitet die Opfer für ein Massenbegräbnis vor. Es wird noch weitere vierundzwanzig Stunden dauern, um das Zirkuszelt wieder aufzurichten.

»Alter, jetzt hör mal zu. Ernsthaft«, redet Megan Lafferty auf Chad ein, ihre Stimme leise, aber eindringlich. »Ich weiß, dass du Einiges mitmachen musst, aber sie hat doch drei von deinen Mädchen gerettet … Ich habe dir doch gesagt, dass ich es mit eigenen Augen gesehen habe. Sie hat die Zombies weggelockt, ihr Leben aufs Spiel gesetzt.«

»Ich will …« Chad sieht so aus, als ob er jeden Augenblick entweder zu weinen oder zu brüllen anfangen würde. »Ich will nur … Nur mit ihr reden.«

»Im Lager wartet deine Frau auf dich. Sie wird vor Trauer noch ganz wahnsinnig … Sie braucht dich!«

»Ich will nur …«

Wieder eine Pause, wieder Schweigen. Einer der Väter beginnt, leise im Schatten der Bäume zu schluchzen. Er lässt seine Pistole fallen. Es ist kurz vor fünf Uhr nachmittags, und die Temperaturen fallen. Lilly setzt sich jetzt langsam auf, wischt sich den Mund und versucht, sich zu orientieren. Sie sieht aus wie ein Schlafwandler. Fenster hilft ihr auf die Beine.

Chad blickt zu Boden. »Fuck it.« Er dreht sich um und geht davon.

Am nächsten Tag, unter einem eisigen, bewölkten Himmel, halten die restlichen Überlebenden eine improvisierte Bestattungsfeier ab für ihre gefallenen Freunde und Familienmitglieder.

Beinahe fünfundsiebzig von ihnen stellen sich in einem großen Halbkreis um das Massengrab am östlichen Rand des Lagers auf. Einige der Trauernden tragen flackernde Kerzen in den Händen, schützen die Flammen vor dem bitterkalten Oktoberwind. Andere halten sich vor Trauer aneinander fest und schluchzen unkontrolliert vor sich hin. Der brennende Schmerz, der auf den Gesichtern klar zu erkennen ist – insbesondere auf denen der Eltern –, reflektiert die qualvolle Beliebigkeit dieser von der Plage heimgesuchten Welt. Ihre Kinder wurden mit der Willkürlichkeit und Plötzlichkeit eines Blitzschlags von ihnen genommen, ihr Gesichtsausdruck spiegelt ihre grenzenlose Trostlosigkeit wider, und ihre aufgequollenen Augen schimmern in der unnachgiebigen, silbernen Sonne.

Die Bewohner haben für jedes Grab ein paar Steine in den Lehmboden gesteckt, und die Steinhäufchen erstrecken sich über den langsam ansteigenden Zeltplatz bis hin zum Zaun. Zwischen einigen Steinen wurden ein paar wilde Blumen gesteckt. Josh Lee Hamilton hat extra darauf geachtet, dass Sarah Binghams Grab mit einem kleinen Bukett wunderschöner weißer Rosen geschmückt wurde, die an den Rändern der Obsthaine wie Unkraut wachsen. Der große Mann hatte die freche, schlagfertige Teenagerin in sein Herz geschlossen. Ihr Tod geht auch ihm sehr nahe.

»Herr, wir bitten dich, dass du unsere verlorenen Freunde und Nachbarn aufnimmst«, ertönt jetzt Joshs Stimme vom Zaun her, und der Wind zerrt an seinem olivfarbenem Parka, der seine gewaltigen Schultern bedeckt. Sein tief eingeschnittenes Gesicht ist vor Tränen ganz feucht.

Josh ist baptistisch erzogen worden, und obwohl er mit den Jahren den Großteil seiner religiösen Erziehung hinter sich gelassen hat, wollte er diesen Morgen einige Worte sprechen, hat sogar die anderen darum gebeten. Baptisten geben nicht viel darauf, für die Toten zu beten. Sie glauben, dass die Gerechten im Augenblick des Todes gen Himmel fahren, während die Nichtgläubigen sofort in die Hölle kommen. Und trotzdem wollte Josh das Wort ergreifen.

Noch am Morgen hat er Lilly getroffen, sie kurz in die Arme genommen und ihr etwas Besänftigendes zugeflüstert. Aber er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas ging in ihr vor, das tiefer als nur Trauer saß. Sie fühlte sich leblos in seinen gigantischen Armen an. Ihr schlanker Körper erbebte immer wieder wie ein verletzter Vogel. Sie hat kaum etwas gesagt, nur darauf bestanden, dass sie allein sein wollte. Zur Beerdigung war sie nicht aufgetaucht.

»Wir bitten dich, bring sie an einen besseren Ort«, fährt er fort, und sein tiefer Bariton überschlägt sich beinahe vor Ergriffenheit. Die Aufräumarbeiten haben tiefe Spuren in ihm hinterlassen. Er versucht, sich zusammenzureißen, aber seine Emotionen lassen seine Stimmbänder erstarren. »Wir bitten dich, dass du … du …«

Er kann nicht weitermachen, dreht sich weg, lässt den Kopf hängen und seinen Tränen freien Lauf. Er kriegt keine Luft mehr, kann nicht an diesem Ort bleiben. Ohne wirklich zu wissen, was er tut, entfernt er sich von der Menge, weg von dem grässlichen, sanften Weinen und den vielen Stoßgebeten.

Heute hat ihm etwas gefehlt, selbst inmitten der Trauer der Beerdigung. Die Tatsache, dass Lilly Caul nicht dabei ist, tut ihm weh, aber er kann es kaum glauben, dass auch Chad Bingham weit und breit nicht zu sehen ist.

»Alles klar bei dir?« Lilly steht am Rand des Lagerplatzes und reibt sich nervös die Hände. Keine fünf Meter hinter ihr ist Chad Bingham.

Der drahtige Mann mit der John-Deere-Kappe antwortet mit einem Schweigen. Er steht einfach nur da, an der Baumgrenze, den Kopf gesenkt mit dem Rücken zu ihr. Seine Schultern hängen herab, als ob das Gewicht der Welt auf ihnen ruhen würde.

Kurz bevor die Beerdigung begann, überraschte Chad Bingham Lilly, indem er bei ihr im Zelt auftauchte, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Er meinte, dass er ein paar Sachen ins Lot rücken wolle. Beteuerte ihr, dass er sie nicht für Sarahs Tod verantwortlich machte, und Lilly glaubte ihm, als sie den herzzerreißenden Blick in seinen Augen sah.

Deshalb ist sie ihm auch hierher gefolgt, an den nördlichen Rand des Camps, zu einer kleinen Lichtung inmitten der dichten Bäume. Sie ist keine zwanzig Quadratmeter groß, der Boden mit Kiefernnadeln übersät. Um sie herum liegen mit Moos bewachsene Steine. Über ihnen rauscht das Blattwerk, welches das graue Tageslicht in dicken Strahlen einlässt. Die kalte Luft riecht nach Zerfall und Tierkot.

Die Lichtung ist weit genug vom Lager entfernt, dass man sie nicht einsehen kann.

»Chad …« Lilly will etwas sagen, will ihm beichten, wie sehr es ihr leid tut. Es ist das erste Mal, seit sie ihn kennt, dass sie ihn als ganz normalen, zerbrechlichen Menschen sieht. Anfangs war sie wegen seiner Affäre mit Megan entsetzt, insbesondere da er es ganz offen vor den Augen seiner Frau mit ihr getrieben hat. Jetzt aber zeigt er Schwäche, Furcht, Emotionen, ist verwirrt und von dem Verlust seiner Tochter am Boden zerstört.

Mit anderen Worten: Er ist nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch, und Lilly verspürt eine Welle der Sympathie für ihn. »Willst du darüber reden?«, fragt sie endlich.

»Yeah, vielleicht schon … vielleicht aber auch nicht … ich weiß nicht.« Er dreht ihr noch immer den Rücken zu. Seine Stimme entweicht ihm wie aus einem undichten Wasserhahn – stoßweise. Die Trauer, die auf seinen Schultern lastet, lässt ihn im Schatten der Kiefern erzittern.

»Es tut mir so leid, Chad.« Lilly nähert sich ihm, legt eine Hand vorsichtig auf seine Schulter. »Ich weiß, es gibt nichts, was man sagen kann … Vor allem jetzt.« Sie redet mit seinem Rücken. Auf dem Plastikstreifen seiner Kappe steht SPALDING. Das kleine Tattoo einer Schlange ragt aus seinem Hemdkragen. »Ich weiß, dass es nur bedingt ein Trost sein kann«, fügt Lilly hinzu, »aber Sarah ist wie eine Heldin gestorben. Sie hat das Leben ihrer Schwestern gerettet.«

»Hat sie das?« Seine Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern. »Sie war ein so gutes Mädchen.«

»Das war sie … Sie war toll.«

»Findest du?« Er hat ihr noch immer den Rücken zugewandt, den Blick noch immer zu Boden gerichtet, die Schultern zucken noch immer.

»Ja, das tue ich, Chad. Sie war eine Heldin. Sie war einzigartig.«

»Ehrlich? Glaubst du das?«

»Ja, das glaube ich.«

»Warum hast du dann nicht Gott verdammt noch mal deine Scheißpflicht getan?« Chad dreht sich um und schlägt Lilly so hart mit dem Handrücken, dass sie sich in die Zunge beißt. Ihr Kopf schnellt zurück, und sie sieht Sternchen.

Chad schlägt erneut zu, und Lilly stolpert rückwärts, fällt über in die Luft ragende Wurzeln zu Boden. Chad baut sich über ihr auf, die Hände zu Fäusten geballt, seine Augen blitzen. »Du blöde, nutzlose Kuh! Du hast nur auf meine Mädchen aufpassen sollen, mehr nicht! Sogar ein verkackter Affe hätte das geschafft!«

Lilly versucht wegzurollen, aber Chad trifft sie mit der Stahlkappe seiner Arbeitsschuhe in die Hüfte. Der Schmerz betäubt sie fast. Sie ringt nach Luft, und ihr Mund füllt sich mit Blut. »B… bitte, Cha…«

Er greift nach ihr, reißt sie hoch, hält sie am Sweatshirt fest. Er faucht sie an, sein saurer Atem fühlt sich heiß auf ihrem Gesicht an. »Glauben du und deine Schlampenfreundin etwa, dass das hier eine einzige, große Party ist? Hast du gestern Gras geraucht? Hä? HÄ?«

Chad holt erneut aus und landet einen rechten Haken gegen Lillys Kiefer. Sie sackt zu Boden, landet wie ein Haufen Elend mit zwei angebrochenen Rippen und so viel Blut im Mund, dass sie nicht mehr atmen kann. Eine Eiseskälte ergreift von ihr Besitz, und alles um sie herum verschwimmt.

Sie kann Chad Binghams drahtige Gestalt kaum ausmachen wie er über ihr steht, sich dann auf sie herabfallen lässt, sich mit gespreizten Beinen auf sie setzt. Aus seinem Mund fließt der Speichel unkontrollierter Wut. »Antworte endlich! Hast du Gras geraucht, während du auf meine Kinder aufpassen solltest?«

Lilly verspürt Chads eisernen Griff um ihren Hals. Er schlägt ihren Hinterkopf wiederholt auf den harten Boden. »ANTWORTE MIR, DU VERFICKTE …«

Ohne Vorwarnung erscheint eine dritte Figur hinter Chad Bingham und zieht ihn von Lilly herunter. Lilly ist dankbar, hat aber keine Ahnung, wer ihr Retter in der Not sein könnte.

Sie sieht lediglich eine verschwommene Gestalt – so groß, dass sie sogar die Sonne verdunkelt.

Josh packt Chad Bingham an der Jeansjacke und zerrt ihn dann mit einem gewaltigen Ruck nach hinten.

Ob es an dem schlagartigen Adrenalinschub liegt, der durch Joshs Adern schießt, oder Chads geringem Gewicht, ist ungewiss, aber Chad fliegt durch die Luft wie eine fleischgewordene Kanonenkugel. Er saust in hohem Bogen in Richtung Bäume, verliert einen Schuh und seine Kappe dabei, ehe er mit voller Wucht mit der Schulter zuerst gegen einen riesigen, alten Baum prallt. Die Luft entweicht aus seinen Lungen, und er sackt vor dem Baumstamm zu Boden, versucht zu atmen und blinzelt ungläubig vor sich hin.

Josh kniet sich vor Lilly hin und hebt vorsichtig ihr blutiges Gesicht. Sie versucht zu reden, bringt aber kein Wort über ihre blutverschmierten Lippen. Josh atmet schmerzhaft aus – es hört sich an wie der Schuss einer Feuerwaffe. Irgendetwas an dem Anblick dieses wunderbaren Gesichts mit den sanften Augen und den mit Sommersprossen befleckten Wangen, die jetzt voller rotem Lebenssaft sind, lässt Josh beinahe ausrasten. Ein roter Film legt sich über seine Augen.

Der große Mann richtet sich auf, dreht sich um und geht über die Lichtung auf Chad Bingham zu, der noch immer auf dem Boden liegt und sich vor Schmerz windet.

Josh sieht nur eine undeutliche, milchig-weiße Gestalt unter sich. Das blasse Sonnenlicht scheint durch die neblige Luft. Chad macht einen erbärmlichen Versuch, davonzukriechen, aber Josh hält ihn an einem Bein fest und zieht kurz mit einem harten Ruck, so dass Chad wieder direkt vor ihm liegt. Josh rafft seinen Kontrahenten auf, lehnt ihn mit dem Rücken gegen den Baumstamm.

Chad stottert, Blut quillt aus seinem Mund: »Das geht dich … gar nichts … Biiitttttee … Kumpel … Lass uns darüber …!«

Josh wirft den malträtierten Körper gegen die Rinde der hundertjährigen Eiche. Der Aufprall mit der Wucht eines Rammbocks knackt Chads Schädel und kugelt ihm die Schulter aus.

Chad stößt einen undeutlichen, gurgelnden Urschrei aus, ehe seine Augen nach hinten rollen. Immer und immer wieder schleudert Josh den Mann gegen den alten Baumstamm.

»Ich bin nicht dein Kumpel«, antwortet Josh mit einer beinahe unheimlichen Ruhe und einer samtigen Stimme, die aus einem unerreichbaren, tiefen Ort in ihm stammt, während er den widerstandslosen Mann wieder und wieder gegen den Baum krachen lässt.

Josh verliert so gut wie nie die Kontrolle. Die wenigen Male, die es passiert ist, kann er an einer Hand abzählen: einmal beim American Football, als ein gegnerischer Angreifer – ein Redneck aus Montgomery – ihn einen Nigger genannt hat. Ein anderes Mal, als ein Dieb versucht hat, die Handtasche seiner Mutter zu stehlen. Aber jetzt wütet der Sturm in ihm schlimmer als je zuvor – irgendwie hat er keinerlei Beherrschung mehr über seinen Körper, führt die Bewegungen dennoch kontrolliert aus und rammt Chad Bingham gnadenlos gegen den Baumstamm.

Chads Kopf wackelt hin und her, das dumpfe Geräusch wird mit jedem Aufprall undeutlicher, feuchter, als der Schädel immer mehr nachgibt. Aus Chads Mund quillt Kotze, die sich über Joshs riesige Vorderarme ausbreitet. Aber er merkt gar nichts davon, sieht nur, wie Chads linke Hand nach der Smith & Wesson greift, die er noch im Gürtel stecken hat.

Josh schnappt sich die Waffe und wirft sie unerreichbar für Chad über die Lichtung.

Mit seinem letzten Quäntchen Kraft und einem Gehirn, das von multiplen Erschütterungen und Blutergüssen schon aus seinem gespaltenen Schädel zu fließen beginnt, rafft Chad Bingham sich ein letztes Mal auf und versucht, sein Knie in Joshs Weichteile zu rammen. Der Riese aber blockt den Stoß mit Leichtigkeit ab und holt dann aus, um sein Gegenüber mit einem vernichtenden Schlag zu treffen – einer gewaltigen Rückhand, die wie ein surreales Echo zu dem Schlag erscheint, den Chad vor Kurzem noch Lilly erteilt hatte –, so dass Chad Bingham abhebt.

Er kommt fünf Meter vom Baumstamm entfernt auf und bleibt liegen wie ein nasser Sack.

Josh hört nicht, wie Lilly über die Lichtung hinweg auf ihn zukommt, vernimmt ihre Stimme nicht, wie sie ruft: »Josh, NEIN! NEIN! JOSH, HÖR AUF, DU BRINGST IHN NOCH UM!«

Plötzlich wacht Josh Lee Hamilton auf, blinzelt, als ob er gerade vom Schlafwandeln erwacht sei und nackt die Hauptstraße während der Hauptverkehrszeit hinuntergeht. Er spürt Lillys Hand im Nacken, wie sie um seinen Hals fährt und ihn zurückhält, so dass er sich nicht erneut auf den am Boden kauernden Chad Bingham wirft.

»Du bringst ihn um!«

Josh dreht sich um. Er sieht Lilly hinter sich stehen. Sie ist zu Brei geschlagen, mit Wunden übersät, den Mund voller Blut und kaum fähig, zu stehen, geschweige denn, sich vernünftig zu artikulieren. Sie schaut ihn mit ihren wässrigen Augen an. Er zieht sie an sich, umarmt sie, und ihm steigen Tränen in die Augen. »Wie geht es dir?«

»Mir geht es gut … Ich bitte dich, Josh … Du musst aufhören, ehe du ihn umbringst!«

Josh will ihr schon widersprechen, fängt sich aber noch rechtzeitig. Dann wendet sie sich dem Häufchen Elend auf dem Boden zu und sieht das Resultat seines Amoklaufs. Während dieser fürchterlichen, totenstillen Pause – Josh bewegt zwar die Lippen, aber es kommt kein Ton aus seinem Mund – beäugt er den eingefallenen Körper, der in einer Lache seiner eigenen Körperflüssigkeiten liegt und sich nicht mehr bewegt.

Vier

Schön still halten, Kleines.« Bob Stookey dreht Lillys Kopf vorsichtig in den Händen, damit er ihre dicken, angeschwollenen Lippen besser untersuchen kann. Behutsam tupft er etwas Antibiotikum auf das rohe, entblößte Fleisch und meint: »Gleich haben wir es, Lilly.«

Sie zuckt vor Schmerz zusammen. Bob kniet neben ihr, der Erste-Hilfe-Kasten steht auf dem Boden. Lilly liegt auf einer Pritsche. Das Zelt scheint in der nachmittäglichen Sonne zu glühen, die durch die besudelte Plane dringt, doch die Luft ist kalt, und es riecht nach Desinfektionsmittel und abgestandenem Alkohol. Über Lillys Bauch und Brust liegt eine Decke.

Bob braucht einen Drink. Und zwar schnell. Seine Hände fangen bereits an zu zittern. In der letzten Zeit hat er immer wieder Flashbacks von seiner Zeit beim Militär gehabt, als er noch im Marine Hospital Corps stationiert gewesen war.

Vor elf Jahren ist er in Afghanistan gewesen und hat Bettpfannen im Camp Dwyer gewechselt. Das scheint jetzt Millionen Jahre her zu sein. Eigentlich hätte es ihn auf das hier vorbereiten sollen. Schon damals hat Saufen ihn über Wasser gehalten, und sie haben ihn mit Biegen und Brechen aus der Medizinschule in San Antonio entlassen, weil er dort auch schon über die Stränge geschlagen hat. Jetzt kommt der Krieg ihn immer wieder besuchen. Die mit Granatsplitter durchlöcherten Körper im Nahen Osten waren nichts gegen die Schlachtfelder, welche dieser Krieg hinterließ. Bob träumt noch manchmal von Afghanistan – die Untoten mischen sich plötzlich unter die Taliban, und die toten, kalten, ergrauenden Arme sprießen wie Bäume aus den Zeltwänden der mobilen Krankenhäuser.

Aber Lilly Caul wieder zusammenzuflicken ist etwas ganz anderes für Bob – es ist viel schlimmer als ein Sanitäter nach einer Schlacht zu sein oder die Überreste einer Zombie-Attacke aufzuräumen. Bingham hat sie ordentlich zugerichtet. Soweit Bob es ausmachen kann, hat sie mindestens drei gebrochene Rippen, eine schlimme Quetschung des linken Auges – welche vielleicht eine innere Blutung und mit etwas Pech sogar das Ablösen der Netzhaut zur Folge haben könnte – wie auch eine ganze Anzahl heftiger Verletzungen und Platzwunden im Gesicht. Bob traut sich nicht so recht auch nur so zu tun, als ob er ihr helfen könnte. Weder seine Vorräte noch seine eigenen Fähigkeiten sind ausreichend. Aber Bob ist der Einzige weit und breit, der sich auch nur annähernd mit so etwas auskennt. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als ihr aus Bettlaken, gebundenen Büchern und Bandagen eine Schiene für ihre Rippen zu basteln und seine dahinschwindenden Reserven von Desinfektionscreme auf ihre oberflächlichen Wunden zu schmieren. Lillys Augen machen ihm am meisten Sorgen. Er wird sie beobachten müssen, um sicherzugehen, dass sie auch vernünftig verheilen.

»Da, das war es schon«, sagt er schließlich und tupft ein letztes Mal auf ihrer Lippe herum.

»Vielen Dank, Bob.« Lilly kann sich aufgrund der angeschwollenen Lippen nur schwer artikulieren. Ihr »S« klingt, als ob sie lispelt. »Schick die Rechnung doch bitte an meine Versicherung.«

Bob lacht ohne große Belustigung auf und hilft ihr, die Jacke über ihr neues Korsett und die ebenfalls in Mitleidenschaft gezogenen Schultern zu ziehen. »Was zum Teufel ist denn da draußen passiert?«

Lilly seufzt und setzt sich auf, um den Reißverschluss ihrer Jacke vorsichtig zu schließen. Die stechenden Schmerzen lassen sie immer wieder zusammenzucken. »Es ist etwas … Es ist alles etwas außer Rand und Band geraten.«

Bob findet endlich seinen verbeulten Flachmann voll billigem Schnaps, lehnt sich auf seinem Klappstuhl zurück und nimmt einen großen Schluck. »Wenn es auch auf der Hand liegt: Die ganze Geschichte bringt niemandem etwas.«

Lilly schluckt, und es kommt ihr vor, als ob sich Glassplitter in ihrem Hals befinden. Ihr kastanienbraunes Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht. »Was du nicht sagst.«

»Es findet in diesem Moment eine große Versammlung im Zirkuszelt statt.«

»Wer ist alles dabei?«

»Simmons, Hennessy, ein paar ältere Männer, Alice Burnside … du weißt schon … Alles Kinder der Revolution. Josh ist … Nun, ich habe ihn noch nie so erlebt. Der ist völlig durch den Wind. Sitzt einfach nur vor seinem Zelt wie eine Sphinx … gibt keinen Ton von sich … Starrt einfach nur ins Nichts. Meint, er wird genau das machen, was sie wollen.«

»Was soll das denn heißen?«

Bob nimmt einen weiteren Schluck seiner Medizin. »Lilly, das alles ist so neu. Jemand hat einen Überlebenden ermordet. Diese Leute haben sich noch nie mit so etwas abgeben müssen.«

»›Ermordet?‹«

»Lilly …«

»So soll das jetzt also heißen?«

»Lilly, ich will damit doch nur sagen, …«

»Ich muss mit ihnen reden.« Lilly versucht aufzustehen, aber der Schmerz verbietet es ihr.

»Hey, hey, hey! Immer sachte, immer schön sachte.« Bob lehnt sich vor und hilft ihr. »Ich habe dir gerade genug Codein verabreicht, um ein Pferd lahmzulegen.«

»Verdammt noch mal, Bob. Ich werde es nicht zulassen, wenn sie Josh dafür lynchen wollen.«

»Eins nach dem anderen. Zuallererst gehst du nirgendwohin, nicht in diesem Zustand.«

Lilly lässt den Kopf hängen. Eine einzige Träne tropft aus ihrem rechten Auge. »Es war … nicht vorsätzlich, Bob.«

Bob blickt sie an. »Vielleicht solltest du dich einfach darauf konzentrieren, dass du wieder gesund wirst. Was hältst du davon?«

Lilly hebt den Kopf und schaut ihn an. Ihre kaputte Lippe ist dreimal so groß, wie sie eigentlich sein sollte, in ihrem linken Auge ist kein Weiß mehr zu sehen, und die Augenhöhle verfärbt sich bereits schwarz. Sie zieht den Kragen ihrer Jacke hoch und beginnt vor Kälte zu zittern. Sie trägt eine ganze Menge an komischen Schmuck, der Bob ins Auge sticht: Makramee-Armbändchen, Perlen und winzige Federn, die in ihre kastanienbraunen Strähnen eingearbeitet sind und ihr lädiertes Gesicht bedecken. Bob Stookey versteht nicht, wie sich eine Frau in dieser Welt noch immer auf Mode und ihr Aussehen konzentrieren kann. Aber das ist Teil von Lilly Cauls Charme, Teil ihres Wesens. Angefangen mit dem kleinen Tattoo einer bourbonischen Lilie im Nacken bis hin zu den perfekt eingerissenen und wieder geflickten Jeans ist Lilly ein Mädchen, das aus zehn Dollar und einem Nachmittag in einem Secondhandshop einen ganzen Kleiderschrank voll Klamotten schaffen kann. »Es war alles meine Schuld, Bob«, sagt sie schließlich mit heiserer, schläfriger Stimme.

»So ein Schwachsinn«, entgegnet Bob Stookey, nachdem er einen weiteren Schluck vom Flachmann genommen hat. Vielleicht hilft der Alkohol, seine Zunge zu lösen, denn er fasst seine Verbitterung auf einmal in Worte. »Ich nehme an, dass er es verdient hat. So, wie der drauf war …«

»Bob, das ist nicht …«

Lilly hält inne, als sie das Knirschen von Schritten vor dem Zelt hört. Ein Schatten so groß wie der eines Monsters verdunkelt das Zelt. Die vertraute Silhouette zögert für einen Augenblick und lungert etwas unbeholfen vor dem Zelteingang herum. Lilly erkennt die Gestalt sofort, sagt aber keinen Ton.

Eine riesige Hand erscheint und zieht die Zeltplane beiseite, ehe das dazugehörige Gesicht erscheint. »Die haben gesagt, ich könnte … Ich habe noch drei Minuten«, sagte Josh Lee Hamilton in einem zu Tränen gerührten Bariton.

»Was soll das denn heißen?« Lilly setzt sich erneut auf und starrt ihren Freund an. »Drei Minuten? Wozu?«

Josh kniet sich vor den Eingang, blickt zu Boden, kämpft gegen seine eigenen Emotionen an. »Drei Minuten, um mich zu verabschieden.«

»Zu verabschieden?«

»Genau.«

»Wie, dich zu verabschieden! Was ist passiert?«

Josh seufzt gequält auf. »Die haben abgestimmt … Und sind zu dem Schluss gekommen, dass es am besten für alle ist, wenn ich meine Sachen packe und verbannt werde.«

»Was?«

»Ist wohl besser, als wenn sie mich am nächsten Baum aufhängen.«

»Aber du hast doch nicht … das war doch … Das war doch ein Versehen, na ja … ein Unfall!«

»Ja, klar doch«, erwidert Josh und blickt zu Boden. »Der arme Sack hat aus Versehen sein Gesicht ein Dutzend Mal gegen meine Faust gerammt.«

»Aber unter welchen Umständen! Wissen die Leute denn überhaupt, was dieser Mann …«

»Lilly …«

»Nein, so geht das nicht. Das ist … falsch.«

»Lilly, die Sache ist gegessen.«

Sie blickt ihn an. »Geben sie dir wenigstens ein paar Vorräte? Vielleicht sogar ein Auto?«

»Ich habe mein Motorrad. Das wird schon, mir geht es gut …«

»Nein … Nein … Das ist einfach … irrwitzig

»Lilly, jetzt hör mir gut zu.« Der große Mann rückt etwas näher. Bob schaut peinlich berührt beiseite. Josh beugt sich vor, streckt die Hand nach Lilly aus und streicht ihr behutsam über das verletzte Gesicht. So wie Josh die Lippen zusammenpresst, wie seine Augen glänzen, wie sich die Furchen um seinen Mund vertiefen, ist es eindeutig, dass er eine ganze Flut von Emotionen zurückhält. »So wird es nun einmal gespielt. Das wird schon. Und wegen mir brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Du und Bob, ihr müsst ab jetzt hier aufpassen, die Zügel in die Hand nehmen.«

Lillys Augen füllen sich mit Tränen. »Dann komme ich mit dir.«

»Lilly …«

»Es gibt hier nichts, was mich davon abhalten könnte.«

Josh schüttelt den Kopf. »Es tut mir leid, Kleine … Das ist eine einfache Fahrkarte, die gilt nicht für zwei.«

»Ich komme mit.«

»Lilly, es tut mir wirklich leid, aber das geht nicht. Hier ist es sicherer, in der Gruppe.«

»Ja, hier ist es total sicher«, sagt sie mit eiskalter Stimme. »Geradezu ein Love-In!«

»Lieber hier als da draußen.«

Lilly blickt ihn mit ihren von Leid und Trauer gequälten Augen an. Tränen strömen über ihre Wangen. »Du kannst mich nicht davon abhalten, Josh. Das ist meine Entscheidung. Ich komme mit dir, und du kannst nichts dagegen unternehmen. Wenn du mich davon abhalten willst, werde ich dich suchen, dich aufspüren. Und du kannst mir glauben, ich werde dich finden. Ich komme mit, damit das klar ist. Okay? Also … Gib jetzt Ruhe, und finde dich einfach damit ab.«

Sie knöpft ihre Jacke zu, steckt die Füße in ihre Stiefel und fängt an, ihre Sachen aufzulesen. Josh schaut sie bestürzt an. Lilly bewegt sich zaghaft, zuckt vor Schmerzen, beißt die Zähne zusammen.

Bob und Josh tauschen Blicke aus, kommunizieren ohne Worte miteinander, während Lilly ihre Sachen in die Tasche packt und aus dem Zelt verschwindet.

Josh verweilt noch im Zelteingang, schaut ihr nach und wendet sich dann mit fragendem Blick an den alten Mann.

Bob zuckt endlich mit den Schultern und sagt mit müdem Lächeln: »Frauen!«

Eine Viertelstunde später quellen die Satteltaschen von Joshs onyxfarbener Suzuki über mit Dosenfleisch und Thunfisch, Leuchtfackeln, Decken, wasserfesten Streichhölzern, Seil, einem zusammengepackten Zelt, einer Taschenlampe, einem kleinen Feldkocher, einer Angel, einer kleinen .38er sowie ein paar Papiertellern und Gewürzen aus dem Zirkuszelt. Das Wetter hat sich zum Schlechten geändert. Es stürmt, und der Himmel ist voller dunkler, bedrohlicher Wolken.

Die Witterung verleiht der Situation einen noch dramatischeren Touch. Josh zurrt die Taschen fest und wirft einen Blick über die Schulter auf Lilly, die drei Meter entfernt von ihm am Straßenrand steht und einen überquellenden Rucksack aufsetzt. Sie zuckt vor Schmerz zusammen, als sie an den Riemen zieht.

Im Zeltlager stehen drei Männer und eine Frau mittleren Alters, die selbst ernannten Anführer, und schauen zu. Josh will ihnen etwas Sarkastisches, Vernichtendes zurufen, hält sich aber zurück. Stattdessen wendet er sich Lilly zu und fragt: »Bist du so weit?«

Ehe Lilly antworten kann, ertönt eine Stimme von der östlichen Abgrenzung des Zeltlagers.

»Nicht so eilig, Leute!«

Bob Stookey erscheint hinter seinem Zelt. Er trägt eine große Tasche auf dem Rücken. Man kann hören, wie Flaschen aneinander schlagen – wohl sein privater Vorrat an »Medizin«. Er hat einen merkwürdigen Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Erwartung und Verlegenheit und geht ruhigen Schrittes auf sie zu. »Ehe ihr in Richtung Sonnenuntergang fahrt, möchte ich euch noch eine Frage stellen.«

Josh blickt ihn fragend an. »Bob, was soll das? Was geht hier vor sich?«

»Ich will nur eins von dir wissen«, erwidert der alte Sani. »Hast du eine Erste-Hilfe-Ausbildung gemacht?«

Lilly gesellt sich jetzt zu den beiden Männern, die Stirn vor Verwirrung gerunzelt. »Bob, was können wir für dich tun?«

»Eine einfach Frage, Lilly – hat auch nur einer von euch beiden Haudegen einen medizinischen Hintergrund?«

Josh und Lilly tauschen Blicke aus. Josh gibt einen Seufzer von sich. »Nicht dass ich wüsste, Bob.«

»Dann will ich noch eine Frage stellen. Wer in Gottes Namen soll sich um Lillys Auge kümmern, falls es zu einer Infektion kommt?« Er deutet auf Lillys blutiges Sehorgan. »Oder ihre Rippen überprüfen?«

Josh schaut Bob in die Augen. »Was willst da damit sagen, Bob?«

Der alte Mann deutet mit einem Daumen auf seinen Truck, der hinter ihm auf dem Schotterweg steht. »Wenn ihr schon in die große, weite Welt hinauswollt, dann würde ich euch raten, einen von der US-Armee qualifizierten Sanitäter mit dabeizuhaben.«

Sie laden ihr Zeug in Bobs Truck um. Der alte Dodge ist ein Monster – voller Rostnarben und Beulen. Er besitzt einen Camper-Aufsatz auf der langen Ladefläche, dessen Fenster so zerkratzt sind, dass sie wie Milchglas aussehen. Lillys Rucksack und Joshs Seitentaschen passen durch die Hintertür und landen auf diversen Haufen alter, dreckiger Kleidung und halb leeren Flaschen mit billigem Whiskey. Der Aufsatz ist mit zwei klapprigen Kojen, einem großen Kühlschrank, drei mitgenommenen Erste-Hilfe-Kästen, einem zerfledderten Koffer, zwei Gasflaschen, einer alten Arzttasche aus Leder, die aussieht, als ob sie aus einem Pfandleihgeschäft stammt, und einer Reihe von Gartenwerkzeugen ausgestattet, die gegen die Wand zur Fahrerkabine gelehnt sind – darunter Schaufeln, eine Hacke, einige Äxte und eine furchterregend aussehende Heugabel. Die gewölbte Decke ist hoch genug, dass man im gebückten Gang darin gehen kann.

Als er seine Taschen verstaut, sieht Josh Teile eines großkalibrigen Gewehres herumliegen, aber keine Munition. Bob trägt eine .38er mit kurzem Lauf bei sich, aber mit der ein ruhendes Ziel in zehn Metern Entfernung bei Windstille zu treffen wäre ein Kunststück – selbst in nüchternem Zustand, welches bei Bob nicht allzu oft der Fall ist. Josh macht sich nichts vor, er weiß, dass sie Waffen und Munition brauchen, wenn sie nicht als Zombie-Futter enden wollen.

Er tritt aus dem Camper-Aufsatz und schließt die Tür hinter sich. Plötzlich verspürt er ein Brennen im Nacken, als ob ihn jemand beobachten würde.

»Hey, Lil!«

Die Stimme kommt ihm bekannt vor, und als er sich umdreht, sieht er Megan Lafferty, das Mädchen mit den dicken braunen Locken und der freizügigen Libido. Sie steht keine zwei Wagenlängen entfernt neben dem Schotterweg. Sie hält Händchen mit dem Pot-Raucher – wie heißt er noch mal? –, der mit den strähnigen blonden Haaren im Gesicht und dem verdreckten Pullover. Steve? Shawn? Josh kann sich nicht erinnern. Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass er den ganzen Weg von Peachtree City Megans Herumhuren dulden musste.

Jetzt stehen die beiden Drückeberger vor ihm und starren ihn wie Raubvögel an.

»Hey, Meg«, beginnt Lilly sanft und etwas skeptisch, als sie um den Truck herum kommt und sich neben Josh stellt. In der unbehaglichen Stille kann man Bob hören, wie er unter der Motorhaube werkelt.

Megan und der Pot-Raucher kommen vorsichtig näher. Megan wählt ihre Worte gut, als sie Lilly anspricht: »Dude, ich habe gehört, ihr sucht euer Glück woanders.«

Der Pot-Raucher neben Megan fängt zu kichern an. »Glückssucher, hehe …«

Josh wirft dem Jungen einen Blick zu. »Und was können wir für euch gute, junge Menschen tun?«

Megan starrt weiterhin Lilly an. »Lil, ich wollte nur sagen … Äh … Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich oder so.«

»Warum sollte ich denn auf dich sauer sein?«

Megan senkt den Blick. »Mir sind da ein paar Sachen über die Lippen gekommen … Ich habe nicht gewusst, was sich sage … Ich wollte nur … Ach, keine Ahnung. Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen.«

Josh mustert Lilly, und in dem kurzen Augenblick, ehe sie Megan antwortet, sieht er in ihr den Kern, der Lilly Caul ausmacht: Ihr verprügeltes Gesicht nimmt einen weichen Ausdruck an, ihre Augen füllen sich mit Vergebung. »Du musst dich für nichts entschuldigen, Meg«, beruhigt Lilly ihre Freundin. »Wir versuchen doch alle nur, das Beste draus zu machen.«

»Der hat dir wirklich eins gewischt – verdammt!«, staunt Megan, als sie Lillys kaputtes Gesicht aus der Nähe sieht.

»Lilly, wir müssen uns auf die Socken machen«, meldet sich Josh zu Wort. »Es wird bald dunkel.«

Dann beugt sich der Pot-Raucher zu Megan und flüstert: »Hey, willst du sie jetzt fragen oder nicht?«

»Was willst du denn fragen, Meg?«, will Lilly wissen.

Megan fährt sich mit der Zunge über die Lippen und wendet sich dann an Josh. »Das ist totale Scheiße, wie die dich behandeln, man

Josh nickt ihr kurz angebunden zu. »Danke, Megan, aber wir müssen jetzt los.«

»Nehmt uns mit.«

Josh wirft Lilly einen Blick zu, aber sie starrt ihre Freundin an. Endlich meint sie: »Äh, du musst verstehen, die Sache ist so …«

»Je mehr wir sind, desto sicherer ist es, man!«, wirft der Pot-Raucher mit einem nervösen Kichern in die Runde. »Wir sind total auf dem Kriegspfad, man!«

Megan hebt plötzlich die Hand. »Scott, wenn du mal nur zwei Minuten die Klappe halten könntest.« Dann wendet sie sich wieder an Josh. »Wir können keine Minute länger hier mit diesen Scheißfaschisten bleiben. Nicht nach dem, was sie mit dir angestellt haben. Das Ganze hier geht den Bach runter, keiner traut dem anderen mehr.«

Josh verschränkt die Arme und erwidert ihren Blick. »Du bist an alldem nicht ganz unschuldig.«

»Josh …« Lilly möchte auch etwas dazu sagen.

Megan senkt den Kopf und steht da wie ein begossener Pudel. »Nein, lass sein, Lilly. Es stimmt ja alles. Das habe ich mir schon selbst eingehandelt. Vielleicht habe ich einfach … einfach die Regel vergessen.«

In der darauffolgenden Stille – man kann lediglich den Wind in den Bäumen rauschen und Bob unter der Motorhaube fummeln hören – rollt Josh die Augen. Er kann es selbst kaum fassen, was er jetzt sagen will. »Dann holt mal eure Siebensachen – und macht schnell!«

Megan und Scott sitzen hinten in dem Camper-Aufsatz. Bob fährt. Josh ist auf dem Beifahrersitz, während Lilly in dem kleinen Raum hinter den beiden kauert. Der Truck hat hinter den beiden vorderen Sitzen eine schmale, herunterklappbare Koje, die gleichzeitig als Sitz dienen kann. Lilly hat es sich dort mehr schlecht als recht bequem gemacht und hält sich an dem Geländer fest. Mit jedem Schlagloch oder jeder Kurve fährt es ihr in die Rippen, dass sie am liebsten laut aufschreien würde.

Sie sieht, wie die Bäume an beiden Seiten des Straßenrands immer dunkler werden, während sie die kurvenreiche Straße durch die Obsthaine entlangfahren. Die Schatten des Spätnachmittags werden immer länger, und die Temperaturen fallen schlagartig. Die Heizung des klapprigen Trucks kämpft hoffnungslos gegen die eindringende Kälte an, und die Luft in der kleinen Fahrerkabine stinkt nach altem Schnaps, Rauch und Schweiß. Durch die Lüftung dringen die für den Herbst in Georgia so typischen Gerüche von Tabakfeldern und vermoderndem Obst ein. Sie dienen als Warnung für Lilly, dass sie sich immer weiter von der Zivilisation entfernen.

Sie fängt an, zwischen den Bäumen Untote zu sehen – jeder Schatten, jeder dunkle Ort ein mögliches Versteck für eine Bedrohung. Der Himmel ist leer, keine Vögel, keine Flugzeuge oder sonstigen Lebewesen. Stattdessen herrschen tote Kälte, und riesige graue Wolken lassen ihn wie einen gewaltigen grauen Gletscher aussehen.

Sie biegen auf die 362 ab – die Hauptverkehrsstraße durch Meriwether County –, als die Sonne sich zum Horizont senkt. Aufgrund der vielen Autowracks und verlassenen Laster auf dem Asphalt fährt Bob langsam und behutsam, nie schneller als fünfzig. In der Dämmerung erscheinen die beiden Fahrbahnen blaugrau, und die Dunkelheit breitet sich langsam über die mit Kiefern und Sojabohnen bewachsenen Hügel aus.

»Wie lautet unser Plan, Captain?«, fragt Bob, als sie erst ein paar Kilometer gefahren sind.

»Plan?« Josh steckt eine Zigarre an und öffnet das Fenster. »Du musst mich mit einem deiner Kommandeure verwechseln, die du im Irak wieder zusammengeflickt hast.«

»War nie im Irak«, erwidert Bob, den Flachmann zwischen den Beinen. Er nimmt heimlich einen Schluck. »Hab in Afghanistan gedient, und wenn ich ehrlich mit dir bin, gefällt es mir da mittlerweile besser als hier.«

»Ich kann dir nur sagen, dass mir geraten wurde, so schnell wie möglich von hier zu verschwinden. Und genau das habe ich auch vor.«

Sie fahren über eine Kreuzung. Auf dem Schild steht FILBURN ROAD, ein staubiger, trostloser Pfad mit Gräben an beiden Seiten, der sich zwischen zwei Tabakfeldern entlang zieht. Josh merkt sich den Ort und fragt sich insgeheim, wie weise es wohl ist, im Dunkeln auf offener Straße zu fahren. Laut sagt er: »Ich bin am Überlegen … Vielleicht ist es nicht so klug, allzu weit von …«

»Josh!« Lillys Stimme unterbricht ihn jäh und übertönt den Lärm der ratternden Fahrerkabine. »Da sind Zombies! Schau doch nur!«

Josh blickt in die Richtung, in die sie deutet. Bob steigt auf die Bremse, so dass der Truck ins Schleudern kommt, ehe er anhält. Lilly wird gegen den Sitz geworfen. Ein scharfer Schmerz durchfährt ihre Rippen, und es ist ihr, als ob man sie mit einer stumpfen Schneide aufgeritzt hätte. Sie hören, wie Megan und Scott gegen die Trennwand zur Fahrerkabine geworfen werden.

»Heiliges Kanonenrohr!«, schimpft Bob und reißt mit seinen verwitterten Händen am Lenkrad. Seine Knöchel werden weiß, während der Truck im Leerlauf vor sich hin nagelt. »Heiliges Haubitzenrohr!«

Josh sieht die Menge der Untoten in der Ferne. Es sind mindestens vierzig oder fünfzig – vielleicht sogar mehr, in dem dämmrigen Licht schwer zu schätzen. Sie umschwärmen einen umgestürzten Schulbus. Von ihrer Warte aus scheint es, als ob nasse Kleidung aus dem Bus quillt, die die Zombies durchgehen. Rasch aber wird es jedem klar, dass es sich um menschliche Überreste handelt. Und dass die Zombies am Fressen sind.

Kinder …

»Wir könnten einfach weiterfahren, mit Vollgas durch sie durch«, schlägt Bob vor.

»Nein … Nein!«, widerspricht Lilly. »Bob, meinst du das im Ernst?«

»Dann könnten wir sie umfahren.«

»Ich weiß nicht.« Josh wirft die Zigarre aus dem Fenster. Sein Puls wird schneller. »Die Gräben zu beiden Seiten sind tief. Wir könnten umstürzen.«

»Was schlägst du dann vor?«

»Hast du noch Munition für das fette Gewehr hinten im Camper-Aufsatz?«

Bob atmet angespannt aus. »Hab noch eine Schachtel 25er-Korn, vielleicht eine Million Jahre alt. Wie sieht es bei dir aus?«

»Habe nur noch das, was im Zylinder steckt – glaube, das sind noch fünf Runden.«

Bob wirft einen Blick in den Rückspiegel. Lilly sieht seine rot umrandeten Augen, sieht die Panik in ihnen. Bob starrt Lilly an und fragt: »Vorschlag?«

»Okay, wir könnten die meisten von ihnen ausschalten, aber der Lärm wird nur noch mehr von ihnen auf uns aufmerksam machen. Wenn ihr mich fragt, sollten wir sie völlig meiden«, schlägt Lilly vor.

Genau in dem Augenblick erschreckt sie ein gedämpfter Schlag. Ihre Rippen bereiten ihr Höllenqualen, als sie sich umdreht. In dem winzigen Fenster zum Camper-Aufsatz an der Hinterwand kann sie Megans blasses, vor Furcht verzerrtes Gesicht sehen, wie sie die Worte Was zum Geier mit dem Mund formt.

»Ruhig! Es ist alles in Ordnung! Macht bloß keinen Stress!«, schreit Lilly in Richtung Fenster und wendet sich dann an Josh. »Was meinst du?«

Josh blickt aus dem Fenster in den langen, mit Rostflecken bedeckten Seitenspiegel. Im länglichen Spiegelbild sieht er die einsame Kreuzung circa dreihundert Meter hinter ihnen. Sie ist in der Dämmerung kaum noch zu erkennen. »Rückwärts«, sagt er.

Bob starrt ihn an. »Was?«

»Rückwärtsfahren … Schnell. Wir nehmen die Seitenstraße.«

Bob schaltet den Rückwärtsgang ein und steigt aufs Gas. Der Truck erwacht erneut zum Leben.

Der Motor heult auf, und die Trägheit der Masse wirft sie nach vorne.

Bob beißt sich auf die Unterlippe und kämpft mit dem Lenkrad. Ihm bleiben nur die beiden Seitenspiegel, im Rückspiegel sieht er lediglich den Camper-Aufsatz. Der Truck wird immer schneller, und Bob kommt ins Schleudern, als sie zur Kreuzung gelangen.

Er tritt mit aller Kraft auf die Bremse, so dass Josh gegen seine Rückenlehne prallt. Aber es ist zu spät, denn Bob kommt mit dem Heck von der Fahrbahn ab und versucht jetzt mit Vollgas, den Wagen von dem wild wachsenden Gestrüpp zu befreien. Die durchdrehenden Reifen werfen Staub und Laub in die Luft. Niemand hört das untote Schlurfen hinter den Sträuchern.

Auch bemerken sie das leise Kratzen toter Finger nicht, die aus dem Blattwerk kommen und sich an die hintere Stoßstange krallen. Zumindest nicht, bis es zu spät ist.

Hinten im Camper-Aufsatz stürzen Megan und Scott durch das wilde Hin- und Herruckeln zu Boden, kichern aber trotzdem hemmungslos. Keiner der beiden kriegt etwas von den Zombies mit, die sich hinten an den Truck klammern. Als die Hinterräder endlich Halt finden und der Wagen nach vorne schnellt, reißt Bob am Lenkrad, um in die Seitenstraße einzubiegen. Megan und Scott rappeln sich vom Boden auf und setzen sich wieder auf ihre behelfsmäßigen Sitze aus Obstkisten. Selbstvergessen kichern sie noch immer vor sich hin, haben keine Ahnung von der Gefahr, die auf sie lauert.

Die Luft im Camper-Aufsatz ist ganz blau vom Rauch. Scott hat zehn Minuten zuvor ein schönes Pfeifchen angezündet. Er hat gut auf seinen Vorrat aufgepasst, stets in der Angst vor dem Tag gelebt, an dem er auf einmal ohne etwas zum Rauchen dastehen könnte und er selbst auf dem sandigen Lehmboden anbauen müsste.

»Du hast gefurzt, als du umgefallen bist«, bringt Scott lachend hervor. Seine Augen sind von dem gewaltigen High bereits weggetreten, das sich in seinem Kopf ausbreitet.

»Ich? Nie und nimmer!«, protestiert Megan, erleidet einen neuen Lachanfall, während sie versucht, sich auf den Obstkisten aufrecht zu halten. »Das war mein verdammter Schuh auf dem Boden. Der hat das Geräusch gemacht.«

»Bullshit, Dude. Du hast so was von gefurzt!«

»Hab ich nicht.«

»Doch, hast du – der hat sich ja beinahe durch die Hose gebrannt. Auch wenn es nur ein Mädchen-Furz war.«

Megan kann kaum noch an sich halten. »Was zum Teufel soll denn ein Mädchen-Furz sein?«

Scott lacht schallend auf. »Das ist … Das ist wie ein kleines Pfeifen. Wie ein Zug. Der kleine Furz, der …«

Die beiden Kiffer klappen zusammen, wiehern vor Lachen, schlagen sich vor Begeisterung auf die Oberschenkel und ringen nach Luft, als eine fahle Visage mit milchig beschlagenen Augen wie ein kleiner Mond am Fenster des Camper-Aufsatzes erscheint. Ein Kerl mittleren Alters. Er hat kaum noch Haare, so dass man die großen blauen Venen zwischen den Strähnen schimmliger grauer Zotteln auf seinem Schädel sehen kann.

Weder Megan noch Scott bemerken ihn, sehen nicht, wie der eisige Wind durch die Überreste seiner bemoosten Haare fährt oder seine schmierigen Lippen beiseitebläst, um schwarze Zähne zu entblößen. Keiner der beiden kriegt mit, wie fummelnde, gefühllose Finger versuchen, die Tür zu öffnen.

»Oh shit!«, prustet Scott zwischen Lachanfällen heraus, die noch immer seinen Körper schütteln, als er den Zombie sieht. »OH SHIT!«

Megan krümmt sich erneut vor Lachen, als Scott mit dem Gesicht zuerst zu Boden fällt, ehe er wie wild durch den schmalen Camper-Aufsatz zu den Gartenwerkzeugen an der hinteren Wand krabbelt. Er lacht nicht mehr. Der Zombie hat sich bereits halb in den Camper gekämpft. Er fletscht die Zähne, knurrt wie eine Kreissäge, und sein Gestank nach Verwesung füllt den winzigen Raum. Endlich bemerkt auch Megan den Eindringling, und ihr Gelächter wandelt sich zu panischem Husten und Schnaufen.

Scott schnappt sich die Heugabel, als der Truck plötzlich zu schlittern beginnt. Der Zombie ist jetzt im Camper, verliert das Gleichgewicht und prallt gegen eine Seitenwand. Ein Stapel Kisten fliegt durch den Truck, als Scott die Heugabel nimmt und sich in Stellung wirft.

Megan wuselt rückwärts, rutscht auf dem Po in eine Ecke. Das Entsetzen in ihren Augen passt überhaupt nicht zu ihrem schrillen Kichern, das zwischen ihrem Schluckauf noch immer laut durch den Camper-Aufsatz hallt. Wie ein Motor, der im Leerlauf vor sich hin rattert, lacht sie weiter und weiter, kann nicht aufhören, während Scott sich auf seine wackeligen Beine stellt und sich mit der Heugabel in der Hand mit aller Wucht in die ungefähre Richtung der wandelnden Leiche vor ihm wirft.

Die rostigen Zacken treffen den Kopf des Zombies, der sich gerade umdreht. Eine von ihnen fährt mitten in die linke Augenhöhle, die anderen in den Kiefer und die Halsschlagader. Schwarzes Blut sprudelt durch den Truck. Scott stößt einen Kriegsschrei aus und reißt die Gabel wieder heraus. Der Zombie beginnt in Richtung der offenen Tür zu stolpern, die jetzt im Wind auf- und zuklappt. Er holt erneut aus, und aus einem unerklärlichen Grund wird sein zweiter Stoß von einem krampfhaften, verrückten Lachanfall Megans begleitet.

Die Zacken vergraben sich in dem verfaulenden Schädel.

Das ist alles so verdammt lustig, denkt Megan. Der lustige Tote beginnt zu zucken, als ob man ihn am Strom angeschlossen hätte. Mit der Heugabel im Kopf hebt und senkt er die Arme völlig unkontrolliert. Wie ein blöder Zirkusclown mit weißer Schminke und albernen schwarzen Zähnen taumelt der Zombie rückwärts, ehe der Wind ihn aus der offenen Tür zieht.

Während er mit der Heugabel im Kopf aus dem Truck stürzt, fällt Scott rückwärts, mit dem Po zuerst, auf einen Haufen alter Wäsche.

Sowohl Megan als auch Scott können nicht mehr an sich halten. Der Anblick des Untoten, wie er mit der Heugabel noch immer im Schädel über die Straße poltert, ist zu viel. Sie kriechen auf allen vieren zur Tür und starren auf die menschlichen Überreste hinter ihnen. Die Heugabel ragt wie ein Meilenstein in die Luft.

Scott schließt die Tür, und die beiden wiehern vor Lachen auf, das nur von ihren Hustenanfällen unterbrochen wird.

Noch immer kichernd und mit feuchten Augen dreht Megan sich langsam um. Durch das Fenster an der vorderen Wand kann sie Lillys und Joshs Hinterköpfe in der Fahrerkabine sehen. Sie machen den Eindruck, als ob sie in Gedanken versunken seien – haben überhaupt nicht mitgekriegt, was nur wenige Meter hinter ihnen gerade abgegangen ist. Dann deuten sie auf etwas vor sich in der Ferne, auf einen Hügel.

Megan kann es nicht fassen, dass niemand den Tumult im Camper-Aufsatz gehört hat. War es denn so laut da vorne? Oder hat ihr Kichern den Kampf übertönt? Megan will gerade an die Scheibe klopfen, als sie sieht, worauf Josh deutet.

Bob biegt von der Straße ab und fährt einen steilen Weg zu einem Gebäude hinauf, das vielleicht, vielleicht aber auch nicht verlassen ist.

Fünf

Die verlassene Tankstelle hockt schön auf dem Hügel und überblickt die Obstplantage, die sie umgibt. An drei Seiten durch einen hölzernen, mit Unkraut bewachsenem Zaun und in der Gegend herumstehenden Müllcontainern abgegrenzt, ist sie mit einem handbemalten Schild gekrönt, das über den beiden Zapfsäulen hängt: FORTNOY’S FUEL AND BAIT. Das einstöckige Gebäude besitzt ein Büro voller Fliegendreck, einen kleinen Laden und eine Werkstatt mit einem Wagenheber.

Als Bob in den mit Rissen übersäten Parkplatz einbiegt – die Scheinwerfer ausgeschaltet, so dass man nicht so auffällig ist –, hat sich die Dunkelheit der Nacht bereits über das Land gelegt. Die Reifen knirschen auf Glassplittern. Megan und Scott lugen aus der Hintertür, untersuchen die Schatten der verlassenen Tankstelle, während Bob einmal um sie herum fährt, um den Wagen dann hinter ihr abzustellen, außer Sicht irgendwelcher neugieriger Passanten.

Er parkt genau zwischen den Überbleibseln einer ausgeschlachteten Limousine und einem Berg alter Reifen. Kaum hat er den Motor ausgeschaltet, hört Megan das Quietschen der Beifahrertür und die schweren Schritte von Josh Lee Hamilton, der aussteigt und um den Truck herum zu ihr und Scott kommt.

»Bleibt noch etwas im Wagen«, sagt er mit sanfter Stimme und ohne Aufregung, nachdem er die Tür geöffnet hat und Megan und Scott wie zwei Eulen auf dem Boden hocken sieht. Josh bemerkt gar nicht das schwarze Blut, das überall an den Wänden klebt. Stattdessen überprüft er den Zylinder seiner .38er, deren Stahl blau im Mondlicht glänzt. »Ich schau mich mal nach Zombies um.«

»Ich will mich ja nicht beschweren, aber was zum Teufel …?«, meint Megan, die plötzlich gar nicht mehr high ist. Der Adrenalinschub hat sie schlagartig ausnüchtern lassen. »Habt ihr denn gar nichts von dem gehört, was hier hinten abgegangen ist?«

Josh schaut sie an. »Das Einzige, was ich gehört habe, ist dass ein paar Grasraucher sich die Kante gegeben haben – das stinkt hier wie ein Mardi-Gras-Fetenkeller.«

Megan erzählt ihm, was los gewesen ist.

Josh wirft Scott einen Blick zu. »Hm, bin überrascht, dass du dich überhaupt noch bewegen kannst … Mit dem Kopf in den Wolken.« Joshs Gesichtsausdruck wird weicher. Er seufzt und lächelt den Jungen an. »Ich gratuliere, Junior.«

Auch Scott beginnt zu lächeln und meint: »Mein erster Kill, Boss.«

»Und wenn du Pech hast, wird es auch nicht dein letzter gewesen sein«, erwidert Josh und schließt seine Waffe.

»Eins will ich noch wissen«, unterbricht Megan. »Was wollen wir hier? Ich habe gedacht, dass der Tank voll ist.«

»Da draußen ist es zu gefährlich, um durch die Nacht zu fahren. Wir verschanzen uns hier bis zum Morgengrauen. Aber jetzt bleibt ihr erst mal im Wagen, bis ich Entwarnung gebe.«

Dann verschwindet er.

Megan schließt die Tür. Scott wirft ihr in der Dunkelheit einen fragenden Blick zu. Er schaut etwas verwirrt drein. Megan lächelt ihn an. »Dude, ich muss schon sagen, du stellst dich gar nicht so ungeschickt an, wenn du eine Heugabel in der Hand hast. Das war ein richtig geiles Schauspiel.«

Scott grinst. Sein Gesichtsausdruck verändert sich, als ob er Megan das erste Mal richtig wahrnimmt – trotz der Dunkelheit –, und er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Dann streicht er sich ein paar blonde Haarsträhnen aus dem Gesicht und stammelt: »Ach, das war doch nichts.«

»Yeah, klar.« Eine ganze Weile schon kann Megan kaum fassen, wie sehr Scott sie an Kurt Cobain erinnert. Die Ähnlichkeit scheint auf sie einen primitiven Zauber auszuwirken. Sein Gesicht schimmert in der Dunkelheit, sein Geruch – Patschuliöl, Rauch, Gras und Kaugummi – steigt ihr in die Nase und schwirrt ihr im Kopf herum. Quasi Nirvana on the rocks oder so.

Sie schnappt sich ihn, drückt ihre Lippen auf seine, und er fährt ihr mit den Fingern durch die Haare, küsst sie leidenschaftlich. Bald schon erkunden sich ihre Zungen gegenseitig, die Hüften gegeneinandergepresst.

»Fick mich«, flüstert sie.

»Hier?«, stammelt er. »Jetzt?«

»Vielleicht doch nicht«, gibt sie zu bedenken und schaut sich atemlos um. Ihr Herz pocht wie wild. »Lass uns warten, bis er fertig ist und wir einen guten Platz finden.«

»Cool«, erwidert Scott und fummelt unter ihrem zerfetzten Grateful-Dead-T-Shirt weiter. Sie steckt ihre Zunge erneut in seinen Mund. Megan braucht ihn, jetzt, sofort!

Doch plötzlich zieht sie sich zurück. Die beiden starren sich in der Dunkelheit an, keuchen wie wilde Tiere, die einander erlegen würden, wenn sie nicht gerade von derselben Spezies wären.

Kaum hat Josh Entwarnung gegeben, finden Megan und Scott ein Plätzchen, an dem sie ihre Lust ausleben können.

Die beiden machen keinem etwas vor, trotz sämtlicher Bemühungen ihrerseits, sich so unauffällig wie möglich zu benehmen. Megan tut so, als sei sie völlig erschöpft, und Scott schlägt vor, dass er ihr einen Schlafplatz auf dem Boden des Lagers hinter dem Laden einrichtet. Der vollgestopfte Lagerraum – keine zwanzig Quadratmeter mit schimmligen Kacheln und unverkleideten Rohren, die mehr schlecht als recht über Putz befestigt wurden – stinkt nach toten Fischen und Käseköder. Josh rät ihnen, vorsichtig zu sein, lässt die Augen rollen und verschwindet genervt. Vielleicht ist er ja auch nur ein bisschen neidisch.

Kaum hat er das Lager verlassen, fangen die beiden schon an. Bob und Lilly packen den Rucksack mit Vorräten und Proviant für die Nacht aus. »Was zum Teufel geht denn da vor sich?«, will Lilly wissen, als Josh im Büro erscheint.

Der große Mann schüttelt den Kopf. Der Lärm der beiden erfüllt die ganze Tankstelle. Alle paar Sekunden hört man ein Keuchen oder Stöhnen, das mit dem rhythmischen Hin und Her zunimmt. »Junge Liebe«, stöhnt er, immer noch oder schon wieder leicht genervt.

»Willst du mich auf den Arm nehmen?« Lilly steht vor Kälte zitternd in dem kleinen, dunklen Raum, während Bob Stookey nervös Wasserflaschen und Decken aus einer Kiste nimmt und so tut, als ob er von dem Ganzen nichts mitkriegen würde. Lilly umarmt sich selbst, ob wegen der Kälte oder weil sie das Schauspiel kaum fassen kann … »Das ist es also, was wir uns mit den beiden eingehandelt haben. Wird das jetzt die ganze Zeit so gehen, was meint ihr?«

Es gibt keinen Strom, die Tanks sind leer, und die Luft ist so kalt, dass man glauben könnte, man befinde sich in einem riesigen Kühlschrank. Der Laden ist bereits ausgeräumt – selbst das verdreckte Kühlregal ist völlig leer, auch wenn es vorher nur voll mit Regenwürmern und kleinen Fischchen als Angelköder gewesen ist. Im Büro liegt ein Haufen staubiger Magazine. Außerdem steht ein alter Verkaufsautomat in einer Ecke, in dem noch vereinzelt alte Schokoladenriegel und Chips vor sich hin modern. Ansonsten liegt hier und da eine Rolle Toilettenpapier herum. Der Boden ist mit Plastikstühlen übersät, und auf dem alten, hölzernen Verkaufstresen steht eine Kasse, die aus dem vorletzten Jahrhundert stammen könnte. Die Lade ist offen und leer.

»Vielleicht vögeln sie ja, bis sie drüber hinweg sind.« Josh begutachtet seine letzte Zigarre, von der noch eine Hälfte aus seiner Brusttasche lugt. Er sucht das Büro nach einem Aschenbecher ab, aber selbst der ist verschwunden. »Hat den Anschein, als ob die Fortnoy-Jungs schneller verschwinden mussten, als ihnen lieb gewesen ist.«

Lilly fasst vorsichtig an ihr geschwollenes Auge. »Sieht so aus, als ob die Plünderer bereits da waren.«

»Wie geht es dir? Alles klar?«, erkundigt sich Josh.

»Noch bin ich am Leben.«

Bob blickt von seiner Kiste mit Vorräten auf. »Setz dich doch, Lilly.« Er stellt einen der Stühle neben das Fenster. Das Licht des Vollmonds scheint in das Büro und taucht den Boden in silberfarbene Schatten. Bob wischt sich die Hände mit einem Feuchttuch sauber und meint: »Wird Zeit, dass ich die Bandagen untersuche.«

Josh sieht zu, wie Lilly Platz nimmt und Bob den Erste-Hilfe-Kasten öffnet.

»Jetzt schön stillhalten«, ermahnt Bob Lilly sanft, als er mit Alkohol getränkte Watte herausnimmt und die Ränder um Lillys Auge vorsichtig abtupft. Die Haut unter der Augenbraue ähnelt eher einem gekochten Ei. Lilly zuckt vor Schmerz zusammen – ein Anblick, der Josh gar nicht gefällt. Er muss sich zurückhalten, sie nicht in die Arme zu nehmen, ihr zärtlich über den Kopf zu streicheln. Der Anblick ihrer mahagonifarbenen Strähnen, die ihr in das schmale, zarte und arg mitgenommene Gesicht fallen, macht ihn beinahe wahnsinnig.

»Aua!«, entfährt es Lilly. »Vorsichtig, Bob.«

»Das ist ein blaues Auge, auf das jeder Boxer stolz wäre, aber wenn wir es schön sauber halten und darauf aufpassen, sollte eigentlich nichts passieren.«

»Ha, als ob hier nichts passieren könnte!«

»Stimmt auch wieder.« Bob macht sich jetzt langsam an der Bandage um ihre Rippen zu schaffen, untersucht vorsichtig ihren angeschwollenen Oberkörper mit den Fingerspitzen. Lilly zuckt erneut zusammen. »Die Rippen werden von ganz alleine wieder, solange du nicht auf die Idee kommst, mit Ringen anzufangen oder einen Marathon zu laufen.«

Bob erneuert die Binde um ihre Taille und versorgt ihr Auge. Lilly schaut zu Josh auf. »Was geht dir durch den Kopf?«, will sie von ihm wissen.

Josh blickt sich um. »Wir bleiben heute Nacht hier und schieben abwechselnd Wache.«

Bob schneidet etwas Klebeband ab. »Heute Nacht werden wir uns die Eier abfrieren!«

Josh stöhnt auf. »Hab einen Generator in der Werkstatt gesehen. Decken haben wir auch. Das Gebäude scheint mir recht sicher. Außerdem sind wir auf einem Hügel, so dass wir rechtzeitig eine große Ansammlung dieser toten Geier sehen können, ehe sie uns erreichen.«

Bob ist jetzt fertig mit Lilly und macht den Erste-Hilfe-Kasten wieder zu. Die gedämpften Vögelgeräusche aus dem Lager werden jetzt leiser – es scheint eine Pause zu geben. In der kurzen Stille, die folgt, hört Josh das dumpfe Rauschen der Untoten in der Ferne – das typische Geräusch toter Stimmbänder, das wie kaputte Orgelpfeifen klingt. Ein atonales Jammern und Gurgeln. Die Geräusche lassen ihm die Haare im Nacken aufrecht stehen.

Lilly hört es ebenfalls. »Das werden doch immer mehr, richtig?«

Josh zuckt die Achseln. »Wer weiß?«

Bob holt etwas aus der Tasche seines zerlumpten Parkas: Eine Flasche. Er entkorkt sie und nimmt einen großen Schluck. »Glaubt ihr, dass die uns riechen können?«

Josh geht zum Fenster und blickt in die vom Mond erhellte Nach hinaus. »Ich glaube, dass der Betrieb in Camp Bingham sie auf uns aufmerksam gemacht hat. Und dass sie sich schon seit Wochen sammeln.«

»Und wie weit, glaubst du, sind wir vom Zeltplatz entfernt?«, will Bob wissen.

»Luftlinie wohl nicht viel mehr als zwei Kilometer«, entgegnet Josh und blickt über die Wipfel der Bäume in der Ferne. Der Wind lässt ihre Äste sanft hin und her schwingen, eigentlich ein schöner Anblick, beinahe wie schwarze Spitze. Der Himmel ist jetzt klar und mit einer Unzahl von eisig funkelnden Sternen gesprenkelt.

Man kann den Rauch aus der kleinen Siedlung erkennen, der sich gegen den Hintergrund der Sternbilder abhebt.

»Ich habe überlegt …« Josh dreht sich wieder um und wendet sich seinen Gefährten zu. »Das hier ist vielleicht kein Fünf-Sterne-Hotel, aber wenn wir uns ein bisschen umschauen, finden wir vielleicht sogar Munition … Und dann wäre es vielleicht ganz clever, zumindest etwas hierzubleiben.«

Weder Lilly noch Bob antworten sofort, sondern es braucht eine Weile, ehe sie die Idee annehmen und abwägen können.

Sie verbringen die Nacht auf dem eiskalten Betonboden der Werkstatt. Schlafen geht kaum mit ihren dünnen Decken und dem ständigen Wacheschieben. Am nächsten Morgen halten sie Kriegsrat und entscheiden, was sie als Nächstes tun sollen. Mit Papierbechern voll Pulverkaffee, den Bob auf seinem Campingkocher zubereitet hat, überzeugt Josh Lilly, dass es wohl am besten für alle wäre, wenn sie sich hier für eine Weile einrichten. So hat sie Zeit, um zu genesen und, falls wirklich notwendig, können sie sich einfach etwas Proviant aus der Zeltstadt klauen.

Keiner besitzt genügend Energie, Joshs Vorschlag groß zu widersprechen, und Bob hat einen Vorrat an Whiskey unter dem Tresen im Köderladen gefunden. Megan und Scott wechseln zwischen ständigem Gras-Rauchen und »Quality-Time« miteinander im Lager hin und her. Oft dauert es Stunden, ehe sie sich wieder blicken lassen. Am ersten Tag arbeiten sie hart daran, die Tankstelle vernünftig zu sichern. Josh entscheidet sich gegen den Generator. Drinnen könnte er sie mit den Abgasen vergiften, und draußen besteht die Gefahr, dass er mit seinem Krach die Zombies auf sie aufmerksam machen würde. Aber Josh findet einen Holzofen im Lager und obendrein einen ganzen Haufen Holz hinter einem der Müllcontainer, so dass sie sich zumindest etwas wärmen können.

Ihre zweite Nacht im Fortnoy’s Fuel and Bait Hotel wird bei akzeptablen Temperaturen verbracht, indem sie den Ofen im Lager einheizen. Megan und Scott halten einander mit viel Lärm unter einem Stapel Decken warm, und Bob betrinkt sich derart, dass er die Kälte so oder so nicht mehr merkt. Trotzdem scheinen ihn die gedämpften Vögelgeräusche aus dem Lager zu stören. Bald schon ist er so weggetreten, dass er sich kaum noch bewegen kann. Lilly hilft ihm zu seiner provisorischen Schlafstätte. Es kommt ihr vor, als ob sie ein Kind zu Bett bringen müsse. Sogar ein Wiegenlied singt sie ihm – einen Song von Joni Mitchell »The Circle Game« – und deckt ihn mit einer schimmligen Decke zu. Irgendwie fühlt sie sich für Bob Stookey verantwortlich, obwohl er es doch ist, der sich um sie kümmern soll.

Während der darauffolgenden Tage verstärken sie Türen und Fenster und waschen sich in den großen, verzinkten Waschbecken, die an der hinteren Wand der Werkstatt angebracht sind. Langsam aber sicher schleicht sich Alltagsroutine ein. Bob macht den Truck wintersicher und klaubt sich Ersatzteile aus verschiedenen Wracks, die auf dem Gelände stehen, während Josh Aufklärungseinsätze leitet. Sie schleichen sich bis zur Grenze der Zeltstadt vor, und Josh und Scott können am helllichten Tag Brennholz, frisches Wasser, etwas Zeltplane, ein paar Dosen mit Gemüse, eine Schachtel Munition und etwas Brennpaste mitgehen lassen. Josh stellt fest, dass dort der Anschein des zivilisierten Umgangs miteinander nur mit Mühe und Not aufrechterhalten wird. Die Leute streiten immer öfter miteinander. Manchmal erhascht er sogar Blicke auf den einen oder anderen Boxkampf und sieht, wie Männer und Frauen sich bis zur Besinnungslosigkeit besaufen. Der Stress macht den Siedlern ganz schön zu schaffen.

Während der Nächte achtet Josh darauf, dass Fortnoy’s Fuel and Bait niemandem auffällt. Niemand macht Nachtspaziergänge, alle verhalten sich ruhig und sie benutzen so wenig Kerzen und Laternen wie nur möglich. Die Windgeräusche schrecken sie ständig auf, und Lilly Caul wundert sich insgeheim, welches wohl die größere Bedrohung für sie darstellt: die Horden von Zombies, ihre Mitmenschen oder der immer näher kommende Winter. Die Nächte werden länger und die Kälte immer schlimmer. Eisblumen bilden sich an den Fenstern, und die Kälte schleicht sich in ihre Gelenke. Niemand will sich darüber beschweren, aber die Kälte könnte sie viel rascher und effektiver bezwingen als eine Attacke der Zombies.

Um die Langeweile und die ständige Angst zu bekämpfen, suchen sich ein paar von ihnen eine Ausgleichsbeschäftigung, auch Hobby genannt. Josh fängt an, sich Zigarren aus Tabakblättern zu drehen, die er in den umliegenden Feldern findet. Lilly schreibt Tagebuch, und Bob entdeckt einen wahren Schatz an Angelzeug in einer unbeschrifteten Kiste im Köderladen. Er verbringt Stunden damit, sich durch die bereits geplünderten Überreste zu wühlen und Sachen zu reparieren. Ständig ist er über die Werkbank gebeugt und bindet Köder an Angelleinen. Er träumt davon, zum nahe gelegenen Bach zu gehen und Forellen und sonstige Süßwasserfische aus dem Wasser zu ziehen, damit sie endlich mal wieder etwas Frisches zwischen die Zähne kriegen. Unter der Werkbank hat er stets eine Flasche Jack Daniels versteckt, sein treuer Freund und Begleiter.

Die anderen machen sich um seinen Alkoholkonsum Sorgen, aber kann man es ihm übel nehmen? Was kann man einem angesichts dieses anhaltenden Fegefeuers überhaupt ankreiden? Bob selbst ist nicht stolz darauf, dass er trinkt. Tatsache ist, dass er sich sogar dafür schämt. Aber genau deswegen braucht er ja seine »Medizin« – um die Scham fernzuhalten. Und die Einsamkeit. Und die Angst. Und die nächtlich wiederkehrenden Albträume von blutbespritzten Feldbetten in Kandahar.

Am Freitag jener Woche, kurz nach Mitternacht – laut Bobs Kalender ist es der 9. November – ist er wieder über die Werkbank gebeugt und bereitet Köder fürs Fliegenfischen vor, die Flasche Whiskey an seiner Seite. Plötzlich hört er ein Schlurfen aus dem Lager. Er hat nicht bemerkt, wie Megan und Scott sich relativ früh aus dem Staub gemacht haben. Auch hat er den süßlichen Marihuanageruch nicht gerochen. Und das Kichern aus dem Nebenzimmer ist ihm überhaupt nicht aufgefallen, so vertieft war er in seiner Arbeit. Jetzt aber bemerkt er etwas, das ihn den ganzen Tag lang kaltgelassen hat.

Er hört auf, mit dem Angelzeug herumzufuchteln und wendet sich stattdessen dem hinteren Teil des Raums zu. Hinter einer großen, mitgenommenen Propangasflasche kann Bob im Schimmern seiner Lampe eindeutig ein Loch in der Wand ausmachen. Er verlässt sein Vorhaben und geht in Richtung Flasche. Vorsichtig rollt er sie beiseite, um einen genaueren Blick auf das zwanzig Zentimeter große Loch zu werfen. Es sieht ganz so aus, als ob ein Wasserschaden die Ursache dafür gewesen ist – entweder das oder die schwülen Sommer hier in Georgia, denn die Ränder der Gipskartonplatte um das Loch weisen auch Feuchtigkeitsschäden auf. Bob wirft einen Blick über die Schulter, um sicherzugehen, dass er auch wirklich allein ist. Er ist allein in der Werkstatt.

Das Stöhnen und Ächzen, der wilde Sex an der anderen Seite der Wand zieht Bobs Aufmerksamkeit wieder auf sich.

Er wirft einen Blick durch das Loch in das Lager, wo das gedämpfte Licht einer batteriebetriebenen Lampe die Schatten über die Wände tanzen lässt. Sie stoßen mit Wucht in der Dunkelheit gegeneinander. Bob fährt sich mit der Zunge über die Lippen, lehnt sich etwas vor, näher ans Loch. In seinem bereits mehr als angetrunkenen Zustand verliert er beinahe das Gleichgewicht, kann sich aber gerade noch rechtzeitig an der Flasche abstützen. Er erhascht einen flüchtigen Blick von Scott Moons pickeligem Po, wie er sich im gelben Licht hebt und senkt. Unter ihm liegt Megan, die Beine gespreizt …

Bob Stookey verspürt, wie sich seine Brust zusammenzieht und ihm der Atem stockt.

Er sieht, wie die beiden geilen Nacktschnecken sich voller Leidenschaft einander hingeben, hört, wie sie grunzen und sonstige animalischen Geräusche von sich geben, aber was ihn am meisten fasziniert, was Bob Stookey nicht mehr loslässt, ist der Anblick von Megan Laffertys olivfarbener Haut im Lampenschein, ihrer rotbraunen Locken, die unter ihrem Kopf hervorquellen und wie Honig schimmern. Bob kann sich nicht von ihr abwenden. Er verspürt, wie das Verlangen von ihm Besitz ergreift.

»Oh, Bob … Tut mir leid … Ich wollte nicht …«

Die Stimme erklingt aus den Schatten des Zugangs zum Büro, und als Bob sich rasch von dem Loch abwendet, um nicht mitten beim Spannen erwischt zu werden, verliert er beinahe das Gleichgewicht. Die Propangasflasche kommt ihm erneut zu Hilfe. »Ich wollte ja gar nicht … Das ist nicht so, wie …«

»Ist kein Problem. Ich wollte nur schauen … Ich wollte nur sichergehen, dass bei dir alles klar ist.« Lilly steht im Türrahmen, trägt ein Sweatshirt, einen gestrickten Schal und Sweatpants – ihre normale Schlafkleidung. Sie wendet ihren ramponierten Kopf ab und blickt beschämt weg. In ihren Augen spiegelt sich eine Mischung aus Mitleid und Ekel wider.

»Lilly, ich wollte nicht …« Bob stolpert auf sie zu, hält die Hände reumütig in die Luft, als er über eine lose Holzdiele stolpert und mit einem Stöhnen zu Boden kracht. Es gleicht einem Wunder, dass die beiden im Nebenzimmer unbeeindruckt von dem Lärm weitermachen – das rhythmische Aufeinanderklatschen von fickgeilem Fleisch will nicht aufhören.

»Bob, ist alles klar bei dir?« Lilly eilt zu ihm, kniet sich über ihn und versucht, ihm aufzuhelfen.

»Es geht mir gut, geht mir gut«, beruhigt er sie und schiebt sie von sich. Wackelig kommt er wieder auf die Beine, traut sich aber nicht, ihr in die Augen zu schauen. Er weiß nicht, was er mit den Händen anstellen soll, blickt zu seiner Werkbank. »Ich dachte, ich habe merkwürdige Geräusche gehört … Von draußen.«

»Merkwürdig?« Lilly starrt zu Boden, dann auf die Wand – überallhin, nur nicht auf Bob. »Ah, okay.«

»Klar, war aber nichts.«

»Gut, das ist gut.« Lilly nimmt etwas Abstand. »Ich wollte nur nach dir schauen.«

»Es geht mir blendend, blendend. Aber es wird schon spät. Ich glaube, ich geh ins Bett.«

»Gut, Bob. Mach das.«

Lilly dreht sich um und verschwindet, lässt Bob Stookey allein im Lampenschein zurück. Er steht noch für einen Augenblick mit gesenktem Blick da, ehe er sich langsam zu seiner Werkbank aufmacht. Dort tastet er nach der Flasche Jack Daniels, findet sie, öffnet sie und hebt sie an den Mund …

»Ich mache mir nur Sorgen, was passiert, wenn er alles ausgetrunken hat.«

Lilly folgt Josh in ihrer Skijacke und der gestrickten Baskenmütze den schmalen Pfad zwischen den Kiefern hinunter. Josh kämpft sich durch das Geäst, die Schrotflinte in seinen riesigen Armen. Er will zu einem ausgetrockneten Flussbett voller Steine und umgefallener Bäume. «Der findet schon wieder was … mach dir keine Sorgen um den alten Bob … Sprittis finden immer Stoff. Und um ganz ehrlich zu sein, mache ich mir mehr Sorgen darüber, dass wir langsam nichts mehr zu essen haben.«

Der Wald liegt still und verlassen da, als sie an das Ufer des ehemaligen Baches kommen. Der erste Schnee fällt durch die hohen Wipfel auf sie herab.

Es ist jetzt knapp zwei Wochen her, dass sie im Fortnoy’s eingetroffen sind, und sie haben bereits mehr als die Hälfte ihres Trinkwassers und beinahe sämtliche Dosen mit Essen aufgebraucht. Josh hat sich in den Kopf gesetzt, dass es wohl besser ist, die letzte Munition darauf zu verwenden, einen Hasen, vielleicht sogar einen Hirschen zu erledigen, als gegen eine Horde Zombies zu kämpfen. Außerdem hat der ständig herrschende Lärm in der Zeltstadt die meisten Untoten in seinen Bann gezogen und von der Tankstelle weggelockt. Josh versucht jetzt, sich die Tage ins Gedächtnis zu rufen, als sein Onkel Vernon ihn auf den Briar Mountain zum Jagen mitgenommen hat. Er muss eine Fährte finden, will die alten Künste wieder aufleben lassen. Zu seiner Zeit war Josh ein Jäger allererster Klasse gewesen. Aber jetzt, mit dieser rostigen, alten Schrotflinte und steif gefrorenen Fingern … Andererseits: Man kann ja nie wissen.

«Ich mache mir trotzdem Sorgen um ihn, Josh«, beginnt Lilly erneut. «Er ist kein schlechter Mensch, aber er hat Probleme.«

«Haben wir das nicht alle?!« Josh wirft Lilly einen bedeutungsvollen Blick zu. Seit der Sache mit Chad Bingham macht sie das erste Mal einen gesunden, kräftigen Eindruck, fällt ihm auf. Ihr Gesicht hat sich gut erholt, es sind lediglich einige Verfärbungen geblieben. Die Schwellung um ihr Auge ist so gut wie abgeklungen, und sie hinkt auch nicht mehr. «Der alte Bob hat ganze Arbeit bei dir geleistet.«

«Yeah, mir geht es schon viel besser.«

Josh hält am Flussbett inne und wartet auf sie. Bald schon ist sie an seiner Seite. Im hart gewordenen Schlamm des Betts fallen ihm plötzlich Spuren auf. «Sieht ganz so aus, als ob das Rotwild hier entlangkommt. Wir sollten dem Verlauf folgen. Vielleicht stolpern wir ja über den einen oder anderen Leckerbissen.«

«Können wir uns nicht zuerst etwas ausruhen?«

«Guter Vorschlag«, meint Josh und bietet ihr einen Platz auf einem umgefallenen Baumstamm an, den sie dankend annimmt. Er setzt sich neben sie, legt die Flinte auf die Oberschenkel und stößt einen gewaltigen Seufzer aus. Er kann kaum an sich halten, so groß ist sein Verlangen, sie zu umarmen. Was zum Teufel ist bloß los mit ihm? Will er jetzt wie ein dummer Teenager inmitten all des Horrors liebestoll durch die Gegend laufen?

Er blickt zu Boden. «Mir gefällt es, wie ihr aufeinander aufpasst, du und der alte Bob.«

«Ja, und du passt auf uns alle auf!«

Josh stöhnt erneut auf. «Ich wünschte, ich hätte mich besser um meine Mutter gekümmert.«

Lilly schaut ihn an. «Du hast mir nie erzählt, was passiert ist.«

Josh holt tief Luft. «Na ja, du weißt ja, dass sie die letzten Jahre nicht so gut drauf war … Hatte ein paarmal damit gerechnet, sie zu verlieren … Aber sie hat lange genug ausgehalten, um …« Er zögert, die Trauer zerreißt ihn beinahe, baut sich in ihm auf und überrascht ihn mit ihrer Heftigkeit.

Lilly sieht den Schmerz in seinen Augen. «Ist schon gut, Josh. Wenn du nicht …«

Er winkt schwach ab. »Ach, es macht mir nichts aus, es dir zu erzählen. Ich habe immer noch jeden Morgen versucht, in die Arbeit zu fahren, immer noch versucht, meinen Lohn einzustreichen, obwohl die Plage schon begonnen hatte. In ihren Anfängen gab es ja nur wenige Berichte von den Dingern. Hab ich dir eigentlich je erzählt, womit ich mein Brot verdient habe? Meine Berufung, sozusagen?«

»Du hast gesagt, dass du Koch gewesen bist.«

Er nickt ihr zu. »Allerdings. Und nicht von schlechten Eltern, auch wenn Eigenlob stinkt.« Er schaut ihr in die Augen und fährt in sanftem Tonfall fort: »Hab dir schon immer mal ein vernünftiges Abendessen kochen wollen.« Tränen steigen in seine Augen. »Meine Mutter hat mir das Notwendigste beigebracht, Gott hab sie selig, hat mir gezeigt, wie man einen Brotpudding macht, der Herz und Magen vor Freude hüpfen lässt.«

Lilly lächelt ihn an, wird aber auf einmal wieder ernst. »Und was ist mit ihr passiert, Josh?«

Er starrt eine Weile auf die dünne Schneedecke, die auf den Bäumen liegt, sammelt Kräfte, ehe er weiter erzählen kann. »Muhammad Ali war ein Nichts gegen meine Mama … sie war eine Kämpferin, hat jahrelang gegen ihre Krankheit gekämpft. Und sie war so gutmütig, dass es mir bei der Erinnerung daran den Magen verkrampft. Streunende Hunde, Sonderlinge, Aussteiger – sie hat sich um alle gekümmert. Die fertigsten, abgefucktesten Bettler und Obdachlosen, hat ihr alles nichts ausgemacht. Sie hat sie aufgenommen und sie mit Kosenamen bedacht, ihnen Brot gebacken und süßen Tee aufgetischt, bis sie sie bestohlen oder angefangen haben, sich im Wohnzimmer zu prügeln.«

»Sie hört sich beinahe wie eine Heilige an, Josh.«

Er zuckt die Achseln. »Nun, das war nicht gerade die beste Umgebung für mich oder meine Schwestern, um ganz ehrlich zu sein. Wir sind viel durch die Gegend gezogen, verschiedene Schulen, und jedes Mal wenn wir nach Hause kamen, saßen neue Fremde auf dem Sofa. Aber ich habe sie trotzdem geliebt.«

»Und ich kann gut verstehen, warum.«

Josh schluckt hart. Jetzt kommt es – der schlimme Teil, der ihn jede Nacht bis zum heutigen Tag heimsucht. Er starrt auf die Schneeflocken. »Es war ein Sonntag. Ich wusste, dass es bergab mit Mama ging. Sie war nicht mehr ganz bei Sinnen. Ein Arzt hat gesagt, dass sie Alzheimer kriegt. Damals haben sich die Untoten bereits in die Nachbarschaft eingeschlichen. Weißt du, da gab es noch Sirenen, Warnungen im Radio und Fernsehen und das ganze Drumherum. Unsere Straße war den ganzen Tag lang gesperrt. Als ich zur Arbeit gefahren bin, saß meine Mutter am Fenster und starrte auf diese wandelnden Leichen. Sobald eine durch die Absperrung kam, wurde sie von den SWAT-Typen liquidiert. Ich habe mir nichts dabei gedacht, habe angenommen, dass alles unter Kontrolle sei.«

Er hält inne, aber Lilly sagt nichts. Beiden ist klar, dass er es erzählen, es mit einem anderen Menschen teilen muss, damit die Geschichte ihn nicht für den Rest seiner Tage von innen her auffrisst. »Dann habe ich später versucht, sie anzurufen, aber es hat nicht geklingelt. Habe es auf die Telefongesellschaft geschoben und gedacht, dass keine Neuigkeiten gute Neuigkeiten sind. Ich glaube, ich war um halb sechs fertig mit der Arbeit.«

Er schluckt erneut, hat einen Frosch im Hals. Josh spürt, wie Lilly ihn anstarrt.

»Ich kam um die Ecke, wollte in meine Straße einbiegen. Habe den Ausweis herausgeholt, ihn den Leuten an der Absperrung gezeigt. Erst dann habe ich gesehen, dass genau vor unserem Haus irgendetwas los war. Die SWAT-Leute surrten wie Bienen hin und her. Hab vor unserem Haus geparkt. Die fangen an, mich anzubrüllen, dass ich von hier verschwinden soll. ›Immer mit der Ruhe‹, rufe ich zurück, ›ich wohne hier‹. Schließlich haben sie mich durchgelassen. Ich sehe von unten, dass die Tür zu unserer Wohnung weit offen steht. Es wimmelt nur so von Bullen, und sie tragen so eine Schachtel …«

Josh bringt es nicht übers Herz. Er holt Luft, sammelt sich, um weitermachen zu können, wischt sich die Augen trocken. »Sie trugen, wie nennen sie es? Ach, ich weiß auch nicht, aber da tun sie Organe und so rein. Jetzt bin ich am Rennen, die Stufen hinauf, zwei auf einmal. Ich glaube, ich habe einen Bullen umgestoßen. Als ich im zweiten Stock angekommen bin, sehe ich eine ganze Horde von Typen in Schutzanzügen. Ich dränge mich zwischen ihnen hindurch und sehe …«

Josh spürt, wie die Trauer in ihm aufwallt, droht, ihn zu ersticken. Er hält erneut inne, versucht, nach Atem zu ringen. Seine Tränen brennen ihm in den Augen und bahnen sich endlich ihren Weg seine Wangen hinab.

»Josh, du musst nicht …«

»Nein, geht schon. Und doch, ich muss … Als ich das gesehen habe … Ich wusste sofort, was geschehen ist. Das Fenster stand offen, der Tisch war gedeckt. Mama hat das beste Geschirr herausgeholt, das von ihrer Hochzeit. Du kannst dir das Blut nicht vorstellen. Ich meine, als ob jemand die Wohnung mit Rot angemalt hätte.« Er merkt, dass seine Stimme nachgibt. »Da lagen mindestens sechs von den Dingern auf dem Boden. Die SWAT-Typen müssen sie plattgemacht haben. Von Mama war … Von Mama war nicht viel übrig geblieben.« Die Erinnerungen schnüren ihm die Kehle zu. Er schluckt, zuckt bei dem Schmerz in seiner Kehle zusammen. »Teile von ihr lagen auf dem Tisch. Neben dem guten Geschirr. Ich habe ihre … Habe ihre Finger gesehen. Angenagt, abgenagt, neben der Sauciere. Das, was von ihr übrig geblieben war, zusammengesackt auf dem Stuhl … ihr Kopf zur Seite geneigt … der Hals aufgerissen …«

»Okay, Josh … Es ist wirklich nicht nötig, dass … Es tut mir leid … Es tut mir ja so leid!«

Josh blickt sie an. Es kommt ihm vor, als ob er Lilly in einem ganz neuen Licht sieht, als ob sie unscharf vor ihm schwebt. Ihre Augen scheinen so weit weg wie in einem Traum.

Lilly Caul erwidert seinen Blick mit Tränen in den Augen, und ihr Herz zieht sich zusammen. Sie will ihn halten, diesen sanften Koloss trösten, seine gigantischen Schultern streicheln und ihm sagen, dass alles wieder gut werden wird. Sie hat sich noch nie einem menschlichen Wesen so nahe gefühlt, und es bringt sie beinahe um den Verstand. Sie verdient seine Zuneigung, seine Freundschaft, seine Loyalität, seinen Schutz, seine Liebe gar nicht. Was kann sie sagen? Deine Mutter ist jetzt an einem besseren Ort? Sie weigert sich, einen derart berührenden Moment mit solch schnöden Klischees zu besudeln.

Sie will gerade den Mund aufmachen, um etwas zu sagen, als Josh mit leiser Stimme anfängt, ohne den Blick von ihr zu wenden: »Sie hat diese Viecher zum Essen eingeladen … Sie hereingebeten … Wie streunende Hunde … Wie immer. Sie hat alle Kreaturen unter Gottes Himmel geliebt.« Der große Mann sackt zusammen, seine Schultern beben, während Sturzbäche von Tränen sich von seinem markanten Kinn auf die Jägerjacke ergießen. »Hat sie wahrscheinlich auch noch ›Liebes‹ genannt … bis zu dem Augenblick, an dem sie sich auf sie geworfen und gefressen haben.«

Dann senkt er den Kopf und stößt einen fürchterlichen Ton aus – halb Schluchzer, halb wahnsinniges Lachen …

Lilly rutscht näher an ihn heran, legt ihm eine Hand auf die Schulter. Zuerst sagt sie nichts. Sie berührt seine gewaltigen Hände, die die Schrotflinte auf seinen massigen Oberschenkeln umklammern. Er blickt sie an – sein Gesichtsausdruck lässt ahnen, was in diesem Augenblick in ihm vorgeht. »Tut mir leid, dass ich so …«, beginnt er kaum hörbar flüsternd.

»Das macht gar nichts, Josh. Ist schon gut. Ich bin hier, bin immer für dich da. Ich bin hier.«

Er neigt den Kopf zur Seite, wischt sich die Wangen und Augen und versucht zu lächeln. »Sieht ganz so aus.«

Sie küsst ihn – rasch, aber doch auf die Lippen –, kaum mehr als eine freundliche Geste. Das Ganze ist in weniger als zwei Sekunden vorbei.

Josh legt die Flinte zur Seite, umarmt Lilly und erwidert die Geste. Die sich widersprechenden Emotionen fließen durch Lilly, als der große Mann seine Lippen auf den ihren verweilen lässt. Sie fühlt sich, als ob der Schnee sie davonträgt. Sie versteht die tieferen Gefühle nicht, die sie schwindelig werden lassen. Tut der Mann ihr leid? Manipuliert sie ihn etwa schon wieder? Er schmeckt nach Kaffee und Rauch und Fruchtkaugummi. Der kalte Schnee legt sich auf Lillys Augenlider, die Hitze von Joshs Lippen schmilzt die Kälte. Er hat so viel für sie getan. Sie schuldet ihm so viel, ihr Leben und mehr. Sie öffnet den Mund, drückt ihre Brust gegen die seine, aber plötzlich entzieht er sich ihr.

»Was ist los?« Sie schaut ihn fragend an, sucht in seinen großen, traurigen braunen Augen nach einer Antwort. Hat sie etwas Falsches getan? Hat sie eine Grenze überschritten?

»Nichts. Gar nichts, Kleines.« Er lächelt, beugt sich zu ihr hinab und küsst sie auf die Wange. Es ist ein warmer, sanfter Kuss, der mehr verspricht.

»Alles Timing, verstehst du?« Dann liest er die Schrotflinte vom Boden auf. »Ist nicht sicher hier … fühlt sich nicht richtig an.«

Für einen Augenblick ist Lilly sich unsicher, ob er damit den Wald oder sie und ihn meint. »Es tut mir leid, wenn ich …«

Er legt ihr sanft einen Finger auf die Lippen. »Ich will nur, dass alles richtig ist … Wenn die Zeit kommt.«

Sein Lächeln ist das so pur, so süß. Lilly hat in ihrem ganzen Leben noch nie ein solch reines Gesicht gesehen. Sie erwidert es, und Tränen steigen ihr in die Augen. Wer hätte das gedacht? Inmitten all dieses Horrors, dieser Katastrophe – ein perfekter Gentleman?

Lilly will gerade etwas sagen, als ein ungewohntes Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Josh hört ein entferntes Schlagen von Hufen und drängt Lilly sanft hinter sich. Er hebt den Lauf der Schrotflinte. Das Traben kommt immer näher. Josh entsichert die Waffe.

Zuerst glaubt er, dass er halluziniert. Über ihnen erscheint eine ganze Herde Tiere. Sie wirbeln Staub und auf dem Boden liegendes Laub hinter sich auf. Zuerst kann man sie gar nicht ausmachen, so schnell sind sie. Die Tiere kommen direkt auf sie zu. »Runter mit dir!« Josh reißt Lilly hinter den auf dem Boden liegenden Baumstamm am Rand des Flussbetts.

»Was ist das?«, will sie wissen und nimmt hinter dem wurmstichigen Holz Deckung.

»Abendessen!« Josh hebt die Schrotflinte und zielt auf die immer näher kommende Herde Rotwild, hauptsächlich Hirschkühe. Sie haben die Ohren nach hinten gelegt und die Augen weit aufgerissen. Aber irgendetwas hält Josh zurück. Sein Herz fängt heftig zu pochen an, er kriegt am ganzen Körper Gänsehaut. Plötzlich weiß er, was hier vor sich geht.

»Josh, was ist los?«

Die Herde rennt an ihnen vorbei, bricht Äste ab und wirbelt Steine auf.

Josh richtet die Flinte auf die dunklen Schatten, die hinter den Tieren erscheinen. »Lauf, Lilly!«

»Was? … Nein!« Sie stellt sich hinter dem Baumstamm auf und sieht, wie die Herde durch das Flussbett donnert. »Ich lasse dich nicht allein zurück!«

»Nun mach schon! Ich bin direkt hinter dir!« Josh zielt mit der Flinte auf die Gestalten, die jetzt die Böschung herabkommen und sich durch das Gebüsch kämpfen.

Lilly sieht die Schar Zombies auf sie zustolpern. Es sind mindestens zwanzig. »Ach du Scheiße!«

»LAUF!«

Lilly eilt durch den Kies des Flussbetts, rutscht aus, findet erneut Halt und verschwindet dann im Schatten des angrenzenden Waldes.

Josh zielt auf die erste Reihe des immer näher kommenden Schwarms.

Auf einmal, in dem kurzen Augenblick, ehe er abdrückt, sieht er die merkwürdig geformten Gestalten, komisch angebrannte Gesichter und Kostüme, die kaum noch zu erkennen sind. Plötzlich weiß er, mit wem er es zu tun hat. Das sind die ehemaligen Besitzer des großen Zirkuszelts – es sind die unglückseligen Mitglieder des Cole Brothers’-Familienzirkus.

Sechs

Josh drückt ab.

Der Schuss ertönt, und die Schrotkörner bohren sich in einen der Liliputaner. In sechs Metern Entfernung reißt es den kleinen Zombie von den Füßen. Er kracht in drei weitere Zwerge mit blutigem Clown-Make-up und schwarzen Zähnen. Die kleinen deformierten Zombies gehen zu Boden.

Josh wirft einen letzten Blick auf die surrealen Eindringlinge, die ihm immer näher kommen.

Hinter den Zwergen drängt sich eine kunterbunt zusammengemischte Horde von toten Künstlern und Darstellern auf ihn zu. Ein riesiger, starker Mann mit Zwirbelbart und offen klaffenden Muskeln stolpert neben einer fürchterlich fetten, verwesenden Frau auf ihn zu. Sie ist halb nackt, Rollen von Fett verdecken ihre Genitalien. Ihre milchigen Augen stecken tief in ihrem Gesicht wie abgestandener Teig.

Die Nachhut besteht aus einem Haufen toter Zirkusangestellter, Freaks und Schlangenmenschen, die dumpf hinter dem Vortrupp hertaumeln. Schwachmatische Spitzköpfe, ihre winzigen Münder in der Luft schnappend, stolpern neben zerlumpten Trapezkünstlern mit von Wundbrand entstellten Gesichtern; sie tragen zerfetzte, mit Pailletten bestückte Kostüme. Das Pack kommt stoßweise näher – so wild und hungrig wie ein Schwarm Piranhas.

Josh nimmt die Beine in die Hand und überquert das Flussbett mit einem Satz.

Er stürmt die Böschung hinauf und verschwindet ebenfalls zwischen den Bäumen, die Schrotflinte über die Schulter geworfen. Er hat keine Zeit, sie nachzuladen. In der Ferne sieht er Lilly, die tiefer in den Wald läuft. Er holt sie ein, und zusammen laufen sie nach Osten weiter.

Die beiden tauchen in die Schatten, ehe die Überreste des Cole Brothers’-Familienzirkus das Flussbett überquert haben.

Auf dem Weg zurück zur Tankstelle stoßen Josh und Lilly erneut auf eine Herde Rotwild. Josh zielt und trifft eine kleinere Hirschkuh mit einem einzigen Schuss. Der Knall erschallt, steigt in den Himmel auf – weit genug von Fortnoy’s entfernt, um die Aufmerksamkeit nicht auf ihren Unterschlupf zu lenken. Das Tier zuckt ein letztes Mal und geht zu Boden.

Lilly kann den Blick kaum von dem toten Tier abwenden. Josh bindet seinen Gürtel um die Hinterläufe und zerrt die dampfende Kuh einen Kilometer hinter sich her bis zur Tankstelle. In dieser verdammten Welt hat der Tod – ob es sich nun um ein Tier oder einen Menschen handelt – an neuer Bedeutung gewonnen.

In jener Nacht hellt sich die allgemeine Stimmung der vorübergehenden Bewohner von Fortnoy’s mächtig auf.

Josh nimmt das Tier in der Werkstatt aus, benutzt dieselben Waschbecken, in denen sie sich immer waschen, und zerlegt es. Sie haben jetzt genug Fleisch, um die kommenden Wochen zu überstehen. Er lagert alles, was sie nicht sofort essen können, im Hinterhof und bereitet ein Festmahl aus Innereien, Rippen und Bauchfleisch zu, das er langsam in einem Sud aus Fertigsuppe dünstet, die sie in einer Schublade im Büro gefunden haben. Als Gewürze benutzt er wilden Knoblauch und Brennnesselstiele. Aufgetischt wird das Gelage mit Pfirsichstücken aus der Dose, und sie schlagen sich den Bauch voll, bis keiner mehr einen Pieps von sich geben kann.

Die Zombies lassen sie in Ruhe – es gibt keinerlei Anzeichen der Untoten vom Zirkus oder sonstigen durch die Gegend streunenden Untoten. Während des Festmahls bemerkt Josh, dass Bob die Augen nicht von Megan lassen kann. Der alte Mann scheint ganz besessen von der jungen Frau. Diese Tatsache beunruhigt Josh. Seit Tagen schon hat er sich Scott gegenüber sehr schroff benommen. Nicht dass der Junge in seinem andauernden High-Zustand etwas davon mitbekommen hätte … Aber trotzdem spürt Josh, wie die Chemie ihrer kleinen Truppe getestet wird, sich verändert.

Später setzen sie sich um den Holzofen, um Joshs selbst gemachte Zigarren zu rauchen und sich ein paar Tropfen von Bobs Whiskeyvorräten zu Gemüte zu führen. Das erste Mal seitdem sie die Zeltstadt verlassen haben – vielleicht sogar seitdem die Plage ausgebrochen ist –, fühlen sie sich beinahe normal. Sie reden vom Entkommen, von verlassenen Inseln und Gegenmitteln, Impfstoffen, von Fröhlichkeit und Stabilität. Sie erinnern sich an all das, was vor dem Auftauchen der Zombies ganz normal war: in Läden einkaufen, im Park spielen, Essen gehen, Fernsehen schauen, am Sonntagmorgen Zeitung lesen, in Clubs gehen, um Live-Musik zu hören, einen Kaffee trinken zu gehen, vor Computern zu sitzen und per WLAN im Internet zu surfen oder Post zu kriegen.

Jeder hat seine eigenen Vorlieben und Schwächen. Scott bedauert, dass es kein gutes Gras mehr gibt, Megan lechzt nach den Zeiten, als sie in ihrer Lieblingskneipe – Nightlies in Union City – hat abhängen und die kostenlosen Gurkenschnäpse und Krabbenspieße verzehren können. Bob sehnt sich nach zehn Jahre altem Bourbon, so wie eine Mutter es nach ihrem verlorenen Kind verlangt. Lilly erinnert sich an die Stunden und Aberstunden, die sie in Secondhand- und Billigläden vergeudet hat, um nach dem perfekten Schal, Pullover oder der idealen Bluse zu suchen – an die Tage, an denen die Suche nach ausrangierten Klamotten noch nicht überlebenswichtig war. Und Josh denkt an die Vielzahl von Delikatessen-Geschäften zurück, die es in der Gegend von Little Five Points um Atlanta gab, in denen man alles von gutem Gimchi bis zu rosa Trüffelöl kaufen konnte.

Ob es an einer Laune des Windes liegt oder dem Lärm ihres schallenden Gelächters wie auch dem Ächzen und Stöhnen des strapazierten Holzofens – die vielen beunruhigenden Geräusche, die über die Baumwipfel von der Zeltstadt zu ihnen getragen werden, bleiben stundenlang unbemerkt.

Als sich ihre Dinnerparty auflöst und jeder sich zurück zur Werkstatt zu seinem Schlafplatz aufmacht, glaubt Josh ein merkwürdiges Klopfen gegen die gläsernen Türen zu hören, aber er denkt nicht weiter darüber nach, glaubt, dass es entweder am Wind liegt oder er es sich einfach nur einbildet.

Josh will die erste Wache übernehmen. Er sitzt im Büro, wo er hofft, sich davon überzeugen zu können, dass er sich keine Sorgen um die komischen Geräusche machen muss. Es dauert Stunden, ehe er etwas Ungewöhnliches sieht oder hört.

Das Büro besitzt eine große, dreckige Glasfront, vor der Regale voller Reiseführer und Karten sowie ein Haufen Geruchsentferner stehen. Die staubigen Regale verhindern einen Blick auf den Ärger, der sich über den Baumwipfeln in der Ferne zusammenbraut.

Die frühen Morgenstunden vergehen, und Josh nickt in seinem Stuhl ein.

Seine Augen bleiben bis genau 4:43 Uhr geschlossen, als die ersten entfernten Motorengeräusche ihn aus dem Schlaf reißen.

Lilly wird von dem Lärm schwerer Stiefel auf dem Büroboden aufgeweckt. Sie setzt sich auf, ihr Hintern ist eisig von dem kalten Werkstattboden, und sie merkt nicht, dass Bob unter der enormen Anhäufung von Decken ebenfalls schon wach ist.

Der richtet sich nun ebenfalls auf, weil auch er die Motorengeräusche wohl nur Sekunden gehört hat. »Was zum Teufel geht hier vor sich?«, murmelt er. »Hört sich ja an, als ob da draußen die Hölle los ist.«

»Alle aufstehen!«, brüllt Josh und rennt in die Werkstatt. Er blickt panisch um sich, sucht offensichtlich nach etwas Bestimmten auf dem mit Öl verschmierten Boden.

»Was ist los?«, will Lilly wissen und reibt sich den Schlaf aus den Augen. Ihr Herz beginnt heftig zu pochen.

Josh geht zu ihr, kniet sich vor ihr hin und flüstert leise: »Da draußen braut sich etwas zusammen. Autos rasen durch die Gegend – total leichtsinnig und so. Ich will nicht, dass sie uns unvorbereitet antreffen.«

Jetzt hört sie es auch, das Aufheulen von Motoren, Steine, die durch die Luft fliegen. Und der Lärm kommt näher. Lillys Mund wird vor Panik ganz trocken. »Josh, wonach suchst du?«

»Zieh dich an, Kleines – beeil dich.« Josh wirft erneut einen Blick durch die Werkstatt. »Bob, siehst du die Schachtel .38er-Patronen, die wir mitgenommen haben?«

Bob Stookey rafft sich umständlich auf die Beine und zieht sich mühsam die Hose über seine lange Unterhose. Der Mondschein strahlt ihn durch das Dachfenster an und erhellt sein tief gefurchtes Gesicht. »Die ist auf der Werkbank«, erwidert er. »Wie lautet der Plan, Captain?«

Josh eilt zur Werkbank und schnappt sich die Schachtel mit der Munition, öffnet das Gewehr und lädt es, während er Befehle gibt: »Lilly, geh und hol unser Liebespärchen. Bob, ich brauche dich und deine Schrotflinte draußen vor der Tankstelle.«

»Und was ist, wenn die uns freundlich gesinnt sind?«, fragt Lilly, zieht sich einen Pullover über und steigt in ihre dreckigen Stiefel.

»Dann müssen wir uns um nichts Sorgen machen.« Er läuft zurück zum Büro. »Nun macht schon, ihr beiden!« Dann verschwindet er.

Mit rasendem Herzen und Gänsehaut am ganzen Körper eilt Lilly aus der Werkstatt hinüber zum Lager, in der Hand eine Lampe, damit sie sieht, wohin sie geht.

»Hey, Leute! Wacht auf!« Sie haut kräftig gegen die Tür.

Geräusche, nackte Füße auf den kalten Holzdielen, dann öffnet sich die Tür einen Spalt breit. Megans schlaftrunkenes Gesicht erscheint inmitten einer Marihuanawolke. »¿Que pasa, Dude?«

»Steh auf, Megan. Da braut sich was zusammen.«

Megans Gesicht verzerrt sich augenblicklich. »Zombies?«

Lilly schüttelt den Kopf nachdrücklich. »Glaube nicht, es sei denn, sie wissen mittlerweile, wie man Auto fährt.«

Kurz darauf gesellt Lilly sich zu Bob und Josh vor der Tankstelle – in der eisigen, kristallklaren Luft vor Sonnenaufgang –, während Scott und Megan hinter ihnen vorm Büro in Decken gewickelt kauern. »Um Gottes willen«, entfährt es Lilly.

Keinen Kilometer entfernt steigt eine riesige Wolke Rauch über die Baumwipfel und verdunkelt den Sternenhimmel. Der dahinterliegende Horizont scheint schwach pink, und es scheint, als ob der schwarze Ozean von Kiefern in Flammen steht. Aber Lilly weiß, dass es nicht die Bäume sind, die brennen.

»Was haben sie nur angestellt?«

»Das sieht nicht gut aus«, murmelt Bob mit der Schrotflinte in den eisigen Händen.

»Geht in Deckung«, sagt Josh und entsichert seine .38er.

Die Motorengeräusche sind jetzt vielleicht nur noch wenige Hundert Meter entfernt. Die Autos erklimmen die kurvenreiche Straße – aber die Bäume um die Tankstelle verwehren noch immer den Blick auf das herannahende Unheil. Man kann lediglich das Licht von Scheinwerfern sehen. Reifen drehen auf dem Schotter durch, die Lichtkegel erhellen den Himmel und die Baumwipfel, ehe sie wieder auf die Straße treffen.

Eines der Lichter scheint kurz auf das Fortnoy’s-Schild, und Josh murmelt: »Was zum Teufel ist nur los mit ihnen?«

Lilly starrt auf das erste Auto, das in Sicht kommt – eine relativ neue Limousine. Sie schlingert auf dem Schotterweg und hält dann schlitternd an. »Was soll denn das?«

»Die halten nicht an! DIE HALTEN NICHT AN!!«, schreit Bob und versucht, dem grellen Halogenscheinwerfer auszuweichen.

Das Auto biegt in die Auffahrt ein und scheint die Kontrolle auf den fünfzig Metern Schotter zu verlieren, die sich vor dem Parkplatz von Fortnoy’s Tankstelle erstrecken. Es wirft eine gewaltige Staubwolke im indigofarbenen, eisigen Morgengrauen auf.

»PASST AUF!«

Josh schnappt sich Lilly und zieht sie aus dem Weg, während Bob zum Büro rennt und das Liebespärchen in der Türschwelle so laut er nur kann anbrüllt:

»AUS DEM WEG!!!«

Megan reißt ihren total verpeilten Freund von der Tür weg und über den mit Rissen übersäten Teer bei den Zapfsäulen. Die Limousine – als sie näher kommt, sieht man, dass es sich um einen heruntergekommenen Cadillac handelt – rast mit quietschenden Reifen schlitternd auf die Tankstelle zu. Bob wirft sich auf Megan, und Scott schreit auf.

Noch ein Wagen – ein ramponierter SUV mit einem kaputten Dachgepäckträger – kommt kreischend um die Ecke und folgt der Limousine. Bob schnappt sich Megan und drängt sie sanft zu dem Unkraut hinter den Werkstatttüren. Scott geht hinter dem Müllcontainer in Deckung. Josh und Lilly suchen hinter einem Autowrack unter dem Tankstellenschild Zuflucht.

Die Limousine kracht gegen eine der Zapfsäulen und fährt weiter. Der Motor heult auf. Der SUV dahinter kommt ins Schleudern. Lilly schaut entsetzt zu, als der große Wagen mit voller Wucht in das Büro kracht.

Das grässliche Geräusch von zerberstendem Glas und nachgebendem Metall lässt sie zusammenzucken. Trümmer und Schutt, Glas und Metallteile fliegen durch die Luft.

Aber die verdammte Karre hält immer noch nicht an. Die Reifen drehen durch, kämpfen auf dem Boden um Halt, und der Wagen zerstört beinahe die halbe Tankstelle mit der Kraft einer Abrissbirne. Lilly hält sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund. Die vordere Hälfte von Fortnoy’s bricht in sich zusammen, als die Limousine im Laden endlich zum Stehen kommt.

Der SUV kracht gegen eine Diesel-Zapfsäule. Die brennbaren Dämpfe entzünden sich. Flammen schießen empor, stecken weitere in der Luft hängende Schwaden an. Die Fenster des SUV schimmern in dumpfem Gelb – etwas brennt im Inneren des Autos. Lilly dankt dem Herrgott, dass sich kein Treibstoff mehr in den unterirdischen Tanks befindet, sonst gäbe es sie und ihre Freunde jetzt schon nicht mehr.

Schräg unter dem Tankstellendach kommt der SUV zum Stehen. Die aufgeblendeten Scheinwerfer erhellen das Gebäude wie die Bühne eines Theaters.

Einen Augenblick liegt Stille über dem kaputten Gebäude, ehe das Knistern und Prasseln der Flammen die Luftherrschaft übernehmen.

Vorsichtig kriecht Josh hinter seinem Versteck hervor, in der Hand noch immer die .38er. Lilly folgt ihm und will gerade etwas wie Was zum Teufel war das denn?, flüstern, als sie sieht, dass die Scheinwerfer direkt ins Gebäude auf das Heck der Limousine leuchten.

Etwas bewegt sich im Inneren, auch wenn es durch die zerborstene Scheibe unmöglich genau zu erkennen ist. Lilly erspäht einen Rücken, Schultern, die sich langsam und ungelenk umdrehen, ehe ein blasses farbloses Gesicht sie anstarrt.

Plötzlich fällt bei Lilly der Groschen, und sie weiß, was passiert ist.

Josh ruft den anderen panisch zu: »Weg von der Tankstelle!«

Bob, Megan und Scott kauern noch immer im Unkraut hinter dem Müllcontainer. Jetzt erst stehen sie auf und wollen Josh antworten.

»PSSSSSSSSST!« Josh deutet auf das Gebäude, will sie auf die Gefahren aufmerksam machen, die darin auf sie lauern, und flüstert dann laut genug, damit sie es hören können: »Schnell, kommt her!!«

Bob versteht sofort, ergreift Megans Hand und schleicht um das Feuer zu ihnen, das noch immer um die Diesel-Zapfsäule prasselt. Scott ist ihnen dicht auf den Fersen.

Lilly steht neben Josh. »Was sollen wir jetzt bloß machen? Unsere gesamte Ausrüstung ist in der Tankstelle!«

Die vordere Seite des Gebäudes und alles, was sich drinnen befindet, kann man abschreiben. Die Funken fliegen noch, und aus den aufgerissenen Leitungen sprudelt das Wasser.

Im Schein der SUV-Lampen öffnet sich nun langsam eine der Hintertüren der Limousine, und ein verwestes Bein in einer zerfledderten Hose erscheint in einer ruckartigen, spastischen Bewegung.

»Die Tankstelle können wir vergessen, Kleine«, flüstert Josh leise. »Das ist ein Totalschaden … Vergiss es einfach.«

Bob und die anderen erreichen Josh und Lilly, und für einen kurzen Augenblick stehen sie einfach da, atmen gemeinsam durch. Bob hält noch immer die Schrotflinte in seinen verschwitzten Händen. Megan sieht krankt aus. »Was zum Teufel war denn das?«, murmelt sie immer wieder.

»Nehme an, dass sie fliehen wollten«, rät Josh. »Hatten wohl einen Passagier dabei, der gebissen worden war. Dann sind sie alle im Auto zu Zombies geworden.«

Im ruinierten Gebäude steigt ein Untoter aus der Limousine …

»Bob, hast du die Schlüssel eingesteckt?«

Bob wirft Josh einen Blick zu. »Die sind im Truck.«

»Im Zündschloss?«

»Im Handschuhfach.«

Josh dreht sich zu den anderen um »Ich will, dass ihr alle hier wartet und den Zombie im Blick behaltet. Könnte sein, dass da noch mehr von ihnen drin sind. Ich hole währenddessen den Truck.«

Josh will sich schon aufmachen, aber Lilly hält ihn zurück. »Warte! Warte!! Willst du mir etwa erzählen, dass wir unser gesamtes Hab und Gut, all unsere Vorräte da lassen?«

»Wir haben keine andere Wahl.«

Er schleicht sich links an den brennenden Zapfsäulen vorbei, während die anderen sprachlos dastehen. In zwanzig Metern Entfernung ertönt plötzlich ein hässliches Geräusch aus dem SUV. Dann öffnet sich langsam eine Tür, als erneut eine Dampfschwade Feuer fängt und die unheimliche Szene in grelles Licht taucht. Lilly zuckt zusammen, und Megan ringt nach Luft, als ein weiterer Zombie ins Freie steigt.

Bob fummelt mit seiner Schrotflinte herum und lädt sie mit zitternden Händen.

Die vier ziehen sich zur Straße zurück, und Scott murmelt hysterisch: »Shit, man, Shit … Shit … Shit … Shit … Shit … Shit … Shit …«

Die Kreatur, die aus dem SUV taumelt, ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, stolpert jedoch auf sie zu. Aus dem offenen Mund fließt schwarzer Speichel. Der Kragen und Teile der linken Schulter stehen noch in Flammen, und der Rauch kringelt sich über seinem Kopf wie ein Heiligenschein. Anscheinend ein Mann – die Hälfte seines Gesichts ist dem Feuer zum Opfer gefallen – der sich kaum aufrecht halten kann, als er in Richtung der nach Frischfleisch riechenden Menschen taumelt.

Bobs Hände zittern jetzt so schlimm, dass er die Patrone kaum noch vernünftig laden kann.

Niemand bemerkt die aufblitzenden Rücklichter auf der anderen Seite des Parkplatzes hinter den Autowracks. Niemand hört das Nageln des Motors oder das Quietschen der Reifen, als Josh aufs Gas tritt.

Der brennende Zombie hält auf Megan zu. Als sie sich umdreht und weglaufen will, rutscht sie auf dem losen Schotter aus und fällt hin. Scott schreit auf, und Lilly versucht, ihr wieder auf die Beine zu helfen, während Bob noch immer mit seiner Schrotflinte herumfuchtelt.

Der Untote steht nur noch wenige Zentimeter vor ihnen, als der Truck kommt.

Josh rammt rücklings direkt in den Zombie mit einer solchen Wucht, dass die hervorstehende Anhängerkupplung sich in ihn bohrt und den verkohlten Leichnam funkenstiebend durch die Luft wirbelt. Das Ding bricht in der Mitte auseinander. Der Oberkörper fliegt in die eine Richtung, während Beine und Becken in eine andere schwirren.

Eins der schwarzen, noch immer brutzelnden Organe trifft Megan in den Rücken, dass sie panisch aufkreischt.

Der Pick-up kommt mit quietschenden Reifen neben ihnen zum Stehen. Sie steigen ein, zerren die hysterische Megan in den Camper-Aufsatz, und Josh verschwendet keine Sekunde, sondern gibt sofort wieder Gas.

Der Truck schießt vom Parkplatz aus die gewundende Auffahrt hinab.

Alles in allem sind höchstens fünf Minuten vergangen, seitdem sie die ersten Motorengeräusche vernommen haben. Aber innerhalb dieser kurzen Zeit hat sich das Schicksal aller fünf Überlebenden für immer geändert.

Sie beschließen, Richtung Norden zu fahren, durch den Wald zur Zeltstadt. Vorsichtig und ohne Licht geht es voran. Sie müssen die Augen weit aufreißen, um überhaupt etwas zu sehen. Im Camper-Aufsatz starren Scott und Megan durch das Fensterchen, während Bob und Lilly, die neben Josh sitzen, die Landschaft mit fiebriger Konzentration nach weiteren Untoten absuchen. Niemand sagt ein Wort. Sie alle fürchten das, was ihnen jetzt bevorsteht: die Überreste des Zeltlagers durchsuchen und Vorräte sammeln, die so überlebenswichtig für sie sind.

Mittlerweile ist die Morgendämmerung angebrochen – ein blasses Blau deutet sich hinter den Bäumen an –, und Steine und Flussbett werfen bereits Schatten. Die Luft ist eisig und duftet nach gerade erst erloschenem Feuer. Josh greift das Lenkrad mit beiden Händen und führt den Pick-up durch die kühlen Schatten, die über der Zeltstadt ragen.

»STOPP! JOSH! STOPP!!«

Josh steigt auf die Bremsen, und sie halten auf der Kuppe eines Hügels, der die südliche Seite des Zeltlagers überblickt.

»Oh mein Gott!«

»Verdammt!«

»Lass uns umdrehen«, meint Lilly und kaut auf den Fingernägeln. Sie starrt durch das Geäst, kann die Überreste ihrer zeitweiligen Heimat in der Ferne ausmachen. Der Geruch verbrannten Fleischs hängt in der Luft, aber auch noch etwas anderes, Schlimmeres, etwas Tödliches, Verdorbenes, wie eine Masseninfektion. »Hier können wir nichts mehr tun.«

»Einen Augenblick.«

»Josh …«

»Was in Teufels Namen ist da unten passiert?«, murmelt Bob mehr zu sich als zu den anderen. Auch er kann die Augen nicht von dem Schauspiel nehmen, das sich ihm durch die Baumlücke in fünfzig Metern Entfernung bietet. Die frühmorgendliche Sonne scheint durch die aufsteigenden Rauchschwaden und lässt die Verwüstung nicht ganz echt aussehen, eher wie in einem Stummfilm. »Sieht beinahe so aus, als wäre Godzilla zu Besuch gewesen.«

»Glaubst du, dass da jemand durchgedreht ist?«, will Lilly wissen, starrt aber immer noch auf das Gemetzel.

»Glaube nicht«, antwortet Josh.

»Sollen das etwa die Zombies angerichtet haben?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht war es ja ein riesiger Schwarm. Und Feuer hat es sicherlich schon gegeben, es hat sich nur ausgebreitet.«

An den Rändern der Lichtung unter ihnen stehen etliche noch immer lodernde Autos. Die meisten der kleinen Zelte brennen noch und schicken ätzende schwarze Rauschschwaden gen Himmel. Vom Zirkuszelt in der Mitte des Zeltplatzes ist nicht mehr viel übrig geblieben, nur noch ein schwelendes Skelett aus Metallstangen und dicken Drähten. Selbst der stark verdichtete Lehmboden brennt an mehreren Stellen, als ob jemand mit einem gigantischen Löffel Brennpaste hingekleckert hat.

»Josh …«

Der große Mann dreht sich um und schaut Lilly an, aber sie hat sich abgewendet, um den Wald links und rechts vom Truck abzusuchen. Ihre Stimme senkt sich um eine Oktave, und sie klingt vor Entsetzen beinahe benommen. »Josh … äh … wir müssen hier weg.«

»Was ist los?«

»Um Himmels willen!« Jetzt sieht Bob es auch, und die Luft in der Fahrerkabine knistert vor Anspannung. »Captain, nichts wie weg!«

»Was ist …«

Und erst dann bemerkt Josh es auch: Unzählige schattige Gestalten kommen zwischen den Bäumen hervor – beinahe im Gleichschritt – wie ein riesiger Fischschwarm, der aus der Tiefe empor steigt. Einige von ihnen glimmen noch, und kleine Feuerherde flammen vereinzelt an ihren leblosen Körpern auf. Andere, angetrieben durch die unheimliche Fresslust, stolpern wie Roboter mit ausgestreckten Armen direkt auf sie zu. Hunderte milchig weiße Augen reflektieren das fahle Licht der Morgendämmerung, als sie den einsamen Truck anpeilen. Die Haare in Joshs Nacken stellen sich auf.

»JOSH! FAHR LOS!!«

Er reißt am Steuer und tritt auf das Gaspedal, so dass der große Motor aufheult. Der Truck macht eine Kehrtwende, mäht einen Haufen Zombies, aber auch eine unschuldige kleine Kiefer auf seinem Weg um. Der Lärm ist kaum fassbar, das nasse Schnappen toter Glieder, das Zerbersten jungen Holzes. Ihre Überreste vermischt mit schwarzem Blut fliegen quer über die Front des Trucks. Das Heck schwingt aus, schlittert zur Seite und reißt eine weitere Anzahl Untoter mit sich. Megan und Scott wirbeln durch den Camper-Aufsatz. Josh rast auf die Straße und fährt, so schnell es geht, in die Richtung, aus der sie gerade gekommen sind.

Sie schaffen es bis zur Hauptstraße am Fuß des Hügels, als sie merken, dass mindestens drei Zombies wie Kletten am Truck kleben.

»Scheiße!« Josh sieht einen im Seitenspiegel. Der Zombie krallt sich hinten an der Fahrerseite fest und hat die Füße auf dem Trittbrett. Teile seiner Kleiderfetzen haben sich in der metallenen Schiene verfangen, die den Camper-Aufsatz umgibt. »Jetzt bitte nicht die Nerven verlieren, aber wir haben ein paar blinde Passagiere an Bord.«

»Was?« Lilly dreht sich zum Beifahrerfenster. Plötzlich erscheint ein totes Gesicht, das wie ein Springteufel auf einmal aus dem Nichts erscheint. Es starrt sie an, zuckt, knurrt. Schwarzer schleimiger Speichel wird vom Fahrtwind herumgewirbelt. Lilly entfährt ein überraschtes Keuchen.

Josh konzentriert sich währenddessen weiter auf die Straße, biegt mit quietschenden Reifen von der Hauptstraße ab und rast dann mit siebzig Sachen weiter Richtung Norden. Sein Ziel ist die zweispurige Straße. Immer wieder versucht er durch provozierte Schlenker Zombies abzuwerfen.

Zwei der Untoten haben sich an die Fahrerseite gekrallt, einer an die Beifahrerseite. Sie sind widerspenstiger als der Rest, und Josh kann sie einfach nicht abschütteln. Entweder stecken sie fest, oder ihre gewaltige Gier verleiht ihnen die Kraft, sich festzuhalten. »Bob! Hast du noch mehr Munition hier?«

»Die ist hinten im Camper-Aufsatz.«

»Scheiße!«

Bob wirf Lilly einen Blick zu. »Kleines, ich glaube, da liegt ein Ziegenfuß auf dem Boden hinter dem Beifahrersitz …«

Der Truck schert aus. Einer der Zombies kann sich nicht mehr halten, schlägt auf der Straße auf und purzelt dann die Böschung hinab. Unterdrückte Schreie ertönen aus dem Camper-Aufsatz. Plötzlich hört man zerberstendes Glas. Lilly findet den mit Öl verschmierten, neunzig Zentimeter langen Ziegenfuß aus Stahl. »Hab ihn!«

»Her damit!«

Josh wirft erneut einen Blick in den Seitenspiegel und sieht, wie ein zweiter Zombie ausrutscht und auf dem Teer unter ihnen aufprallt. Holpernd fährt der Truck über seine Überreste.

Bob brüllt mit schnaufender Stimme: »Zurück, Lilly! Halt dir die Hände vors Gesicht, damit du keine Splitter in die Augen kriegst!« Dann hebt er den Ziegenfuß in die Höhe und holt aus, so weit er kann.

Lilly kauert sich nieder und tut, wie ihr geheißen, als Bob mit aller Wucht auf den Zombie im Fenster schlägt.

Das gekrümmte Ende des Ziegenfußes trifft auf das Sicherheitsglas, verrichtet aber nichts weiter als einen kleinen Kratzer. Der Zombie knurrt weiter tonlos und monoton, lechzt nach frischem Fleisch.

Bob holt erneut aus, stößt einen Urschrei aus und haut immer und immer wieder auf das Fenster ein – so hart er kann –, bis das gekrümmte Ende durch das Glas und in das tote Gesicht rauscht. Lilly wendet sich ab.

Der Ziegenfuß spießt den Kadaver durch die Mundhöhle auf und bleibt stecken. Bob reißt die Augen vor Ekel auf. Hinter dem Mosaik von kaputtem Glas hängt der aufgespießte Kopf eine Weile leblos im Wind. Das dumpfe Glühen seiner fischartigen Augen verrät, dass er noch nicht am Ende ist, genau wie der Mund, der sich um den Ziegenfuß öffnet und schließt, als ob er die metallene Stange zerkauen wollte.

Lilly kann das nicht mit ansehen. Sie kauert in der hintersten Ecke der Fahrerkabine und zittert. Sie scheint keinerlei Kontrolle mehr über ihren Körper zu haben.

Josh schert erneut aus, und der Zombie lässt endlich los, kracht auf die Straße und verschwindet unter den Rädern. Der Rest des Fensters wird herausgerissen, ein Teil der Glassplitter landet mit einem Knall in der Fahrerkabine. Bob zuckt zusammen. Er ist mit Adrenalin vollgepumpt, während Josh weiter seine siebzig Sachen fährt und Lilly, noch immer vor Furcht bebend, in der Ecke hockt.

Endlich kommen sie an die Kreuzung, und Josh biegt ab. Jetzt gibt er richtig Gas und brüllt, so laut er kann: »Alle festhalten!«

Er umklammert das Lenkrad und bahnt sich schlingernd seinen Weg durch die kilometerlange Kolonne aus unzähligen verlassenen Autos. Zwischendurch wirft er immer wieder einen Blick in den Seitenspiegel, um sicherzustellen, dass sie den Schwarm endlich hinter sich gelassen haben.

Nachdem sie knappe zehn Kilometer zwischen sich und die Katastrophe gebracht haben, bremst Josh ab und hält auf dem Seitenstreifen inmitten der ländlichen Einöde an. Die Stille, die sich über den Truck legt, wird nur von dem hohen, einsamen Pfeifen des Windes übertönt.

Josh wirft einen Blick über die Schulter zu Lilly. Ihr Gesicht spiegelt wider, wie sehr sie das Ganze mitgenommen hat. Sie hockt noch immer zusammengekauert in der Ecke, hat die Arme um die Beine geschlungen und zittert, als ob sie unterkühlt sei. Besorgt fragt er: »Bei dir alles okay, Kleine?«

Lilly schafft es gerade noch, das Grauen, das sich in ihrem Hals wie ein Klumpen festgesetzt hat, runterzuschlucken. Sie erwidert seinen Blick und antwortet: »Alles wunderbar.«

Josh nickt ihr zu und brüllt dann erneut: »Hinten alles klar bei euch?«

Megans Gesicht am Fenster sagt mehr als tausend Worte. Ihre Miene ist vor Anspannung ganz verzerrt, aber sie hebt den Daumen und gibt ihnen zu verstehen, dass auch bei ihnen alles in Ordnung sei.

Josh wendet sich wieder nach vorne und schaut durch die Windschutzscheibe. Er atmet heftig, als ob er sich nach einem Sprint erholen müsse. »Die Scheißviecher werden auf jeden Fall immer mehr.«

Bob reibt sich das Gesicht, keucht ebenfalls und kämpft gegen das Zittern an. »Und werden immer unverschämter obendrauf, wenn du mich fragst.«

Nach einer kurzen Pause meint Josh: »Der Angriff muss so schnell über das Lager hereingebrochen sein, dass sie gar nicht wussten, wie ihnen geschieht.«

»Yeah.«

»Sie hatten keine Chance.«

»Yeah.« Bob wischt sich den Mund. »Vielleicht sollten wir zurückfahren und versuchen, die restlichen Zombies vom Camp wegzulocken.«

»Wozu?«

Bob schürzt die Lippen. »Keine Ahnung … Vielleicht gibt es Überlebende.«

Wieder Stille, bis Lilly sich endlich zu Wort meldet: »Unwahrscheinlich, Bob.«

»Vielleicht gibt es noch Vorräte, die wie gebrauchen können«, gibt Bob zu bedenken.

»Zu gefährlich«, erwidert Josh und lässt den Blick über die Landschaft gleiten. »Wo zum Teufel sind wir hier eigentlich?«

Bob holt eine Karte aus der zerbeulten Türablage, faltet sie mit bebenden Händen auseinander und verfolgt die winzigen Pfade mit dem Fingernagel. Er keucht noch immer. »Soweit ich es ausmachen kann, befinden wir uns irgendwo südlich von Oakland – Tabak-Land.« Er versucht, die Karte ruhig zu halten. »Aber diese Straße hier ist gar nicht eingezeichnet – zumindest nicht auf dieser Karte.«

Josh blickt in die Ferne. Die Morgensonne scheint auf die schmale, zweispurige Straße, die von Unkraut gesäumt und ungefähr alle zwanzig Meter mit liegen gebliebenen Autos übersät ist. Sie windet sich durch zwei Tabakfelder, die links wie rechts mit Unkraut überwachsen sind. Ranken überwuchern die vom Wetter verwitterten Leitplanken aus Holz. Die heruntergekommenen Felder lassen ahnen, wie viel Zeit seit dem Ausbruch der Plage vergangen ist.

Bob faltet die Karte wieder zusammen. »Und was jetzt?«

Josh zuckt die Achseln. »Habe schon seit Ewigkeiten keine Farm mehr gesehen. Sieht ganz so aus, als ob wir so weit draußen, so am Arsch der Welt sind, dass sich die Schwärme nicht um uns kümmern werden.«

Lilly klettert auf die Rückbank. »Josh, was überlegst du?«

Er legt einen Gang ein. »Ich bin der Meinung, dass wir nach Süden fahren sollen.«

»Warum Süden?«

»Erstens gibt es im Süden keine Ballungszentren.«

»Und …?«

»Und vielleicht, wenn wir weiter gut unterwegs sind … können wir die Kälte im Rückspiegel lassen.«

Er tritt erneut aufs Gas und lenkt das Fahrzeug auf die Straße, als Bob ihn am Arm ergreift.

»Nicht so hastig, Captain.«

Josh hält an. »Was nun schon wieder?«

»Ich will ja nicht der Überbringer schlechter Nachrichten sein …« Bob deutet auf die Tankanzeige. »Aber ich habe gestern Abend die letzten Reste Sprit in die Kiste gekippt.«

Die Nadel ist bereits unter die rote Markierung gesunken.

Sieben

Sie suchen die Straße nach Fahrzeugen ab, die noch genügend Sprit im Tank haben, damit sich das Umfüllen lohnt, werden aber nicht fündig. Die meisten Wracks auf dieser gottverlassenen, trostlosen Straße sind entweder völlig ausgebrannt oder haben knochentrockene Tanks. In der Ferne erkennen sie den einen oder anderen Untoten – einzelne Kadaver, die völlig orientierungslos umherirren, weit weg genug, um sie nicht zu bemerken.

Sie beschließen, die Nacht im Truck zu verbringen und abwechselnd Wache zu halten. Jeder kriegt seine Ration Essen und Frischwasser zugeteilt. Mitten am Arsch der Welt zu sein ist sowohl ein Fluch als auch ein Segen. Die Tatsache, dass hier kein Stückchen Proviant oder Benzin zu finden ist, wird durch die beinahe völlige Abwesenheit von Zombies wiedergutgemacht.

Josh ermahnt alle, schön ruhig zu bleiben und so wenig Lärm wie möglich zu machen, während sie in diesem desolaten Hinterland gefangen sind.

Als die Dunkelheit hereinbricht und die Temperaturen fallen, lässt Josh so lange wie möglich den Motor laufen, ehe er die Heizung über die Batterie betreibt. Er weiß, dass es nicht lange gut gehen wird.

Sie verbringen die Nacht eher schlecht als recht mit Megan, Scott und Bob hinten im Camper-Aufsatz, Lilly auf der Rückbank in der Fahrerkabine und Josh auf den beiden Vordersitzen. Er schafft es kaum, seinen riesigen Körper vernünftig auszustrecken.

Am nächsten Tag werden Bob und Josh fündig. Sie finden einen umgestürzten Laster eineinhalb Kilometer entfernt. Die Hinterachse ist zwar gebrochen, aber der Rest ist noch in einwandfreiem Zustand – und mit beinahe vollem Tank. Noch vor Mittag haben sie achtzig Liter in Container umgefüllt und den Truck befüllt. Sie machen sich Richtung Südwesten auf, fahren durch weitere dreißig Kilometer brachliegendes Ackerland, ehe sie unter einer Eisenbahnbrücke parken, wo der Wind ihnen sein immerwährendes, trauriges Lied um die Ohren pfeift.

In der Dunkelheit des stinkenden Trucks fangen sie zu streiten an: Sollen sie weiterfahren oder nicht, wer schläft wo, wer schnarcht, wer hat mehr zu essen gekriegt, wer hat die am übelsten riechenden Füße und so weiter. Der Camper-Aufsatz hat weniger als zehn Quadratmeter Fläche, und das meiste davon ist mit Bobs Müll übersät. Scott und Megan schlafen wie Sardinen gegeneinander gepresst an der Hintertür, während Bob sich in seinem halb nüchternen Zustand hin und her wirft.

So verbringen sie beinahe eine ganze Woche, fahren im Zickzack gen Südwesten, immer den Schienen der West Central Georgia Railway folgend. Sie füllen den Tank so oft auf, wie es geht, und die Stimmung wird immer schlechter und angespannter. Es ist, als ob die Wände des Trucks sie langsam zu ersticken drohen.

Eines Morgens, während Megan und Scott noch im Camper-Aufsatz schlummern, sitzen Josh und Lilly auf der vorderen Stoßstange und teilen sich eine Thermoskanne Pulverkaffee in der blassen Sonne. Der Wind scheint kälter geworden zu sein, der Himmel erdrückender … Der Geruch vom Winter liegt in der Luft. »Fühlt sich so an, als ob der Schnee nicht mehr lange auf sich warten lässt«, bemerkt Josh.

»Wo ist denn Bob hin?«

»Hab ihn gesehen, wie er nach Westen gegangen ist. Hat seine Angel dabeigehabt.«

»Und die Schrotflinte auch?«

»Axt.«

»Ich mache mir Sorgen um ihn, Josh. Er zittert die ganze Zeit, das will gar nicht mehr aufhören.«

»Der wird schon wieder.«

»Gestern Nacht habe ich gesehen, wie er von einer Flasche Mundwasser getrunken hat.«

Josh blickt sie an. Lillys Wunden sind beinahe völlig verheilt, die Augen das erste Mal seit der Tracht Prügel wieder klar. Ihre Schwellungen sind so gut wie abgeklungen, und sie hat die Bandagen um die Rippen am Tag zuvor abgemacht und gemerkt, dass sie sich genauso gut ohne sie bewegen kann. Aber der Schmerz, Sarah Bingham verloren zu haben, nagt noch immer an ihr. Josh blickt sie jede Nacht an, sieht die Sorgenfalten in ihrem verschlafenen Gesicht – der schönste Anblick, der ihm je untergekommen ist. Es verlangt ihn danach, sie wieder zu küssen, aber die Situation lässt einen solchen Luxus nicht zu. »Uns wird es schon allen viel besser gehen, sobald wir etwas Vernünftiges zwischen die Zähne kriegen«, meint er schließlich. »Langsam habe ich Nase voll vom Dosenfutter.«

»Und viel Wasser haben wir auch nicht mehr. Außerdem gibt es noch etwas, das mir die Haare im Nacken aufstellt, wenn ich daran danke.«

Josh wirft ihr einen fragenden Blick zu. »Was denn?«

»Was ist, wenn wir wieder auf einen Schwarm treffen? Die könnten einfach den Truck umwerfen, Josh. Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Ein Grund mehr, warum wir nicht anhalten sollten. Weiter nach Süden, weg von Ballungszentren.«

»Ich weiß, aber …«

»Außerdem finden wir da vielleicht Vorräte.«

»Das verstehe ich ja alles, aber …«

Lilly hält inne, als sie die Umrisse einer Gestalt auf der Eisenbahnbrücke erkennt. Sie ist vielleicht noch dreihundert Meter von ihnen entfernt. Sie kommt auf sie zu, folgt dem Schienenstrang. Sie wirft einen langen, schmalen Schatten, der in der Morgensonne durch die Eisenbahndielen auf die Querträger scheint. Die Gestalt bewegt sich zu schnell für einen Zombie.

»Wenn man vom Teufel spricht«, meint Josh schließlich, als er endlich sieht, um wen es sich handelt.

Der alte Mann kommt näher. Er trägt einen Eimer und eine Angelroute, läuft immer schneller die Gleise entlang. Die Spannung steht ihm im Gesicht geschrieben. »Guten Morgen miteinander!«, ruft er hinab, als er bei der Leiter, die hinunter zur Straße führt, angekommen ist.

»Ruhig, Bob, immer schön ruhig«, ermahnt Josh ihn und geht mit zusammen Lilly zum Fuß der Leiter.

»Wartet nur ab, bis ihr seht, was ich dabeihabe«, fährt Bob unbeirrt fort und klettert die Sprossen herunter.

»Sag bloß, du hast einen großen Fisch gefangen!«

Endlich steht er vor ihnen. Er holt Luft, und seine Augen funkeln vor Aufregung. »No, Sir! Habe nicht einmal ein gottverdammtes Flüsschen gefunden.« Er lächelt die beiden mit seiner Zahnlücke an. »Bin dafür aber über etwas viel Besseres gestolpert.«

Der Walmart liegt an der Kreuzung zweier Highways, eineinhalb Kilometer nördlich der Eisenbahn. Bob hat das unverkennbare Schild mit blaugelber Schrift und den Sternen von den erhöhten Schienen aus erspäht. Die nächstgelegene Stadt ist zwar kilometerweit entfernt, aber diese Einkaufszentren mitten im Nirgendwo beziehungsweise zwischen einer Vielzahl von Bauernhöfen, insbesondere in der Nähe einer großen Interstate wie der US 85, haben sich als sehr profitabel erwiesen. Der Hogansville-Anschluss ist nur zehn Kilometer westlich gelegen.

»Okay, hier mein Plan«, verkündet Josh den anderen, nachdem sie vor dem Walmart geparkt haben. Kurz vor dem Eingang liegt ein verlassener Tieflader, dessen Fahrerkabine sich um einen Flaggenmast gewickelt hat. Die Ladung, hauptsächlich Bauholz, liegt über dem gesamten, gewaltigen Parkplatz verstreut, der selber mit einem Haufen herrenloser Autos vollgemüllt ist. Der riesige, niedrig gehaltene Supermarkt sieht verlassen aus, aber das muss an sich noch nichts heißen. »Wir schauen uns erst einmal ein wenig auf dem Parkplatz um, fahren ein paarmal im Kreis, checken die Lage ein wenig.«

»Sieht schon verdammt leer aus, Josh«, sagt Lilly und kaut auf der Hinterbank an ihrem Daumennagel. Während der gesamten viertelstündigen Fahrt über staubige Landstraßen hat sie an jedem erdenklichen Fingernagel gekaut, der ihr zur Verfügung stand, bis nichts mehr davon übrig war. Jetzt ist sie an der Nagelhaut angelangt.

»Schwer zu sagen, wenn man nur schauen kann«, meldet sich Bob zu Wort.

»Haltet die Augen offen, egal ob für Zombies oder irgendeine andere Bewegung«, wiederholt Josh, legt einen Gang ein und fährt vorsichtig über das auf dem Boden liegende Bauholz.

Sie drehen gleich zwei Runden um den Parkplatz, passen höllisch auf, insbesondere auf die Schatten der Laderampen und Eingänge. Sämtliche Autos sind leer, einige von ihnen völlig ausgebrannt. Die meisten Glastüren sind kaputt. Ein Teppich von Glasscherben vor dem Vordereingang funkelt in der kalten Nachmittagssonne. Der Laden ist beinahe so dunkel wie unter Tage. Keine Bewegung. Im Vorraum sieht man einige Leichen auf dem Boden liegen. Was auch immer hier vorgegangen ist, ist weder gestern noch vorgestern passiert, sondern liegt bereits ein ganzes Weilchen zurück.

Nach der zweiten Runde hält Josh vor dem Laden an, legt den Leerlauf ein, lässt den Motor an und überprüft die drei Kugeln, die noch im Zylinder seiner .38er stecken. »Okay, ich will den Truck nicht unbewacht hier zurücklassen«, sagt er und wirft Bob einen fragenden Blick zu. »Wie viel Munition hast du noch?«

Bob öffnet mit zitternden Händen den Lauf seiner Schrotflinte. »Eine im Lauf, eine in meiner Tasche.«

»Okay, hier also der Plan …«

»Ich komme mit dir …«, verkündet Lilly.

»Nicht ohne Waffe, niemals. Nicht bis wir wissen, wie es da drinnen aussieht.«

»Ich hole mir eine Schaufel aus dem Camper-Aufsatz«, erwidert sie. Sie wirft einen Blick über die Schulter und sieht Megans Gesicht am Fenster. Sie erinnert an eine Eule. Ihre großen Augen schielen durch die Windschutzscheibe in der Hoffnung, etwas zu erkennen. Lilly sieht Josh an. »Du brauchst so viele Augen im Laden wie nur möglich.«

»Leg dich niemals mit einer Frau an«, murmelt Bob und öffnet die Beifahrertür. Er steigt aus in den windigen, kalten Spätherbstnachmittag.

Sie gehen um den Truck herum zur Hintertür, ermahnen Megan und Scott, bloß im Truck zu bleiben und den Motor laufen zu lassen, bis sie ein Signal der Entwarnung kriegen. Und falls sie irgendwelche Anzeichen von drohendem Unheil bemerken, sollen sie auf die Hupe drücken und nicht mehr loslassen. Megan und Scott nicken gehorsam und versprechen, sich an die Abmachung zu halten.

Lilly schnappt sich eine der Schaufeln und folgt Josh und Bob über den geteerten Eingangsbereich. Das Geräusch ihrer Schritte auf den Glasscherben wird vom Wind übertönt.

Josh öffnet eine der automatischen Türen, und sie betreten den finsteren Supermarkt.

Auf dem verdreckten Parkettboden in der Nähe des Eingangs sehen sie einen alten Mann ohne Kopf in einer getrockneten, mittlerweile schwarzen Blutlache liegen. An seiner blauen Weste hängt noch immer sein Namensschild, wenn auch etwas schief. Unter dem allgegenwärtigen WALMART steht ELMER K. Ein großer gelber Smiley auf dem Schild ist mit Blut besudelt. Lilly starrt eine ganze Weile auf den armen, kopflosen Elmer K., ehe sie sich tiefer in den Laden vorarbeiten.

Die Luft hier drin ist beinahe so kalt wie draußen. Es riecht nach kupfrigem Schimmel, Verwesung und ekelhaft ranzigem Allerlei. Unzählige Schusslöcher schmücken das Schild über der Haarpflegestation zu ihrer Linken, während Tintenklecksmuster aus Blut den Eingang zum Vision-Center zu ihrer Rechten schmücken. Die Regale sind leer – alles ist bereits geplündert – oder liegt umgeworfen auf dem Boden.

Josh hebt eine Flosse und weist seine Kumpels an, stehen zu bleiben, um einen Augenblick lang zu lauschen. Er lässt den Blick über die schier endlose Einkaufsfläche wandern, die mit kopflosen Leichen, nicht identifizierbaren Überresten des Massakers und umgestürzten Einkaufswagen vollgemüllt ist. Die Reihen über Reihen von Kassen zu ihrer Rechten stehen leer, sind voller Blut. Die Apothekenecke, die Kosmetikabteilung und Health & Beauty sind mit Einschusslöchern übersät.

Dann signalisiert er den anderen, vorsichtig weiterzugehen. Die Waffe stets angehoben, dringt Josh immer tiefer in die stinkenden Schatten des Walmarts vor, seine Schuhe knirschen bei jedem Schritt auf den Glasscherben und dem Unrat auf dem Boden.

Je weiter sie sich vom Eingang entfernen, desto dunkler wird es. Das blasse Tageslicht dringt kaum bis zu den Reihen mit den Lebensmitteln zu ihrer Rechten vor. Hier ist der Boden mit kaputten Flaschen und menschlichen Überresten übersät. Auf der anderen Seite ist die Schreibwaren-, gefolgt von der Modeabteilung. Beide sind völlig verwüstet. In der letzteren liegen auseinandergenommene Schaufensterpuppen wild in der Gegend herum. Die Abteilungen im hinteren Teil des Ladens – Spielzeug, Sport und Schuhe – sind in tiefste Dunkelheit getaucht.

Nur die trockenen, silbernen Strahlen der batteriebetriebenen Notlichter erhellen noch immer die schattigen Tiefen der hinteren Gänge.

In der Eisenwarenhandlung finden sie Taschenlampen, und mit ihrer Hilfe können sie etwas tiefer in die »Gedärme« des Walmart eindringen. Auf dem Weg finden sie eine ganze Reihe nützlicher Werkzeuge und Vorräte, nehmen aber noch nichts mit. Je mehr sie sich umschauen, desto aufgeregter werden sie. Als sie endlich die mehr als tausend Quadratmeter Verkaufsfläche durchforstet haben, sind sie davon überzeugt, dass sie sich in Sicherheit befinden. Das Einzige, über das sie gestolpert sind, sind einige menschliche Überreste im Anfangsstadium der Verwesung, unzählige umgeworfene Verkaufsregale und Ratten, die sich sofort aus dem Staub machten, als sie ihnen näher kamen. Alles deutet darauf hin, dass sie nicht die Ersten hier sind, aber zumindest sind sie jetzt allein.

Noch.

»Bin mir recht sicher, dass wir hier ein hübsches Örtchen gefunden haben«, verlautet Josh schließlich, als die drei wieder in das Licht des Eingangsbereichs kommen.

Sie senken die Waffen und Taschenlampen. »Sieht ganz so aus, als ob drinnen ganz schön was abgegangen ist«, meint Bob.

»Ich bin zwar kein Detektiv«, beginnt Josh und blickt sich um, sucht die Wände und den Boden ab, die voller Blutflecken sind und wie Jackson-Pollock-Bilder aussehen, »aber ich würde behaupten, dass manche Leute hier drinnen zu Zombies geworden sind, und dann kam ein Schub nach dem anderen, um sich zu bedienen.«

Lilly schaut Josh an, ihre Nervosität steht ihr noch immer ins Gesicht geschrieben, und ihr Blick wandert zu dem kopflosen Leichnam. »Glaubst du, dass wir hier etwas Zeit verbringen können? Vielleicht sogar aufräumen?«

Josh schüttelt den Kopf. Wir wären nichts anderes als Lockenten. Der Laden ist viel zu reizvoll.«

»Reizvoll, da hast du etwas Wahres gesagt. Wir sind auf eine verdammte Goldmine gestoßen«, gibt Bob zu bedenken. »Da liegt so viel Zeug in den Regalen, vielleicht gibt es noch mehr im Lager. Ich bin mir sicher, dass wir das eine oder andere nützliche Mitbringsel finden werden.« Seine Augen blitzen auf, und Josh weiß genau, dass der alte Mann die Flaschen Schnaps und Whiskey in der Lebensmittelabteilung ganz genau durchgegangen ist.

»Ich habe ein paar Schubkarren und Sackkarren in der Gartenabteilung gesehen«, meint Josh und wirft zuerst Bob und dann Lilly einen Blick zu und lächelt. »Ich glaube, unsere Pechsträhne hat fürs Erste ein Ende genommen.«

Aus der Modeabteilung laden sie drei Schubkarren voll mit Daunenjacken, Winterstiefeln, Thermounterkleidung, Mützen und Handschuhen. Dazu kommen Handsprechfunkgeräte, Schneeketten, Abschleppseile, Steckschlüsselsätze, Leuchtraketen, Motoröl und Frostschutzmittel. Sie holen Scott zu Hilfe, während Megan im Truck bleibt, um weiterhin nach Zombies Ausschau zu halten.

In der Lebensmittelabteilung – Fleisch, Gemüse und Milchprodukte sind längst verdorben – finden sie Haferflocken, Rosinen, Müsliriegel, asiatische Nudeln, Erdnussbutter, getrocknetes Rindfleisch, Dosensuppen, Spaghettisoße, Obstsaft, Pasta, Dosenfleisch, Sardinen, Kaffee und Tee.

Bob räumt das leer, was noch von der Apothekenecke übrig ist. Die meisten Barbiturate, Schmerz- und Beruhigungsmittel sind zwar schon längst geplündert, aber er findet noch genügend Überbleibsel, um eine kleine Privatpraxis auszustatten. Zudem findet er Lokalanästhetika für Erste-Hilfe-Fälle, Penizillin für Infektionen, Adrenalin, um stillstehende Herzen wieder zum Leben zu erwecken, Aufputschmittel, um wach zu bleiben, Lorazepam, um die Nerven zu beruhigen, Mittel zur Blutgerinnung, Naproxen gegen Schmerzen, Loratadin, um Luftröhren frei zu halten … und ein breit gefächertes Angebot an Vitaminen.

Aus anderen Abteilungen lassen sie Luxusgüter mitgehen, denen sie nicht widerstehen können – Sachen, die sie nicht unbedingt zum Überleben brauchen, die sie aber kurzzeitig von der trostlosen Aufgabe ablenken, am Leben zu bleiben. Lilly wählt einen Stapel gebundener Bücher aus – hauptsächlich Romane, während Josh eine Kollektion von Hand gerollter Zigarren aus Costa Rica mitgehen lässt. Scott findet einen batteriebetriebenen DVD-Spieler und ein Dutzend Filme. Zudem lassen sie eine Handvoll Brettspiele, Karten, ein Teleskop und ein kleines digitales Diktiergerät mitgehen.

Sie kehren zum Truck zurück und stopfen den Camper-Aufsatz voll mit den gefundenen Sachen, ehe sie zurück in den Walmart gehen und sich an dem Schatz voller nützlicher Sachen im hinteren Teil des Ladens zu schaffen machen.

»Weiter nach links mit der Taschenlampe, Kleine«, bittet Josh Lilly vor dem Gang, der zur Sportabteilung führt. Josh hält zwei große, extrem stabil aussehende Taschen in die Höhe.

Der gelbe Lichtschein wandert über zerstörte Reihen von Tennis- und Eishockeyschlägern, über ausgeschlachtete Fahrräder und Haufen von Sportkleidung und Baseballhandschuhen, die auf dem mit Blut besudelten Boden verstreut herumliegen. »Hey … Da, da war es Lilly«, meint Josh. »Schön drauf halten.«

»Scheiße«, hört Lilly Bob hinter ihr sagen. »Sieht ganz so aus, als ob wir zu spät dran sind.«

»Jep, jemand ist uns zuvorgekommen«, bestätigt Josh, als die Taschenlampe auf die zerborstene Glasvitrine links von den Angelrouten und dem Zubehör scheint. Die Vitrine ist leer, aber von den Halterungen her ist es offensichtlich, dass sie einmal eine Reihe von Gewehren, Pistolen und sonstigen Feuerwaffen beherbergt hat. Die Regale an der Wand sind auch leer geräumt. »Leuchte mal kurz auf den Boden, Honey.«

Im düsteren Lichtkegel sind einige Kugeln zu sehen.

Sie gehen zur Vitrine, um sie genauer zu untersuchen, und Josh setzt die beiden stabilen Taschen ab, ehe er sich mit Mühe hinter sie zwängt. Er nimmt die Taschenlampe und untersucht den Boden, findet einige Schachteln Munition, eine Flasche Waffenöl, ein Buch mit Quittungen und einen stumpfen, silbernen Gegenstand, der gerade so unter der Vitrine hervorlugt. »Einen Augenblick … Einen Augenblick!«

Josh kniet sich hin, fährt mit der Hand unter die Vitrine und ergreift das silberne Etwas.

»Na, das ist doch etwas«, verkündet er und hebt die Waffe hoch, so dass alle sie sehen können.

»Ist das eine Desert Eagle?«, will Bob wissen und tritt einen Schritt näher. »Ist das eine? .44er Kaliber?«

Josh hält die Waffe wie ein Kind sein Weihnachtsgeschenk. »Was auch immer es ist, das Ding ist verdammt schwer – mindestens fünf Kilo.«

»Darf ich?«, fragt Bob und nimmt die Waffe. »Heilige Scheiße … Ist das eine Haubitze oder eine Handfeuerwaffe?«

»Jetzt brauchen wir nur noch Munition.«

Bob schaut im Magazin nach. »Hergestellt von hartgesottenen Hebräern, mit Gas betrieben … die einzige halb automatische Waffe ihrer Art.« Bob durchsucht die oberen Regale. »Leuchte mal da drüben hin … Ich will sehen, ob sie die .50-Kaliber-Express-Munition auf Lager haben.«

Einen Bruchteil einer Sekunde später entdeckt Josh einen ganzen Stapel Kartons mit der Aufschrift »50-C-R«, geht hin, reckt und streckt sich und ergattert ein halbes Dutzend davon.

In der Zwischenzeit hat Bob das Magazin ausgeworfen. Es fällt in seine schmierige Hand. Er redet leise mit tiefer Stimme vor sich hin: »Niemand baut Waffen wie die Israelis … nicht einmal die Deutschen. Dieses Ding geht durch einen Panzer wie Butter.«

»Alter«, meldet sich Scott endlich. Er steht direkt hinter Bob mit einer Taschenlampe in der Hand. »Willst du mit dem Ding schießen oder damit Sex haben?«

Nach einer peinlichen Pause fangen alle an zu lachen – selbst Josh kann nicht anders, als zu glucksen –, und obwohl ihr Gelächter hohl und nervös klingt, hilft es doch, die Anspannung zu lockern, die sich inmitten des stillen Walmarts mit dem ganzen Blut und den leer geräumten Regalen aufgebaut hat. Ihr Tag ist nicht schlecht gewesen, und hier, im Tempel des Konsums, haben sie den Jackpot gelandet. Wichtiger noch, sie haben etwas gefunden, das noch viel wertvoller ist als nur Proviant. Sie haben einen Schimmer Hoffnung entdeckt, dass sie es durch den Winter schaffen können, dass sie vielleicht am anderen Ende dieses Albtraums noch am Leben sind.

Lilly hört es zuerst. Ihr Lachen verstummt. Sie blickt sich um, als ob sie aus einem Traum erwacht. »Was war denn das?«

Josh lauscht ebenfalls. »Was ist los?«

»Hast du das gehört?«

Bob blickt sie an. »Was denn, Kleines?«

»Ich habe etwas gehört«, antwortet sie mit leiser Stimme, in der die Panik mitschwingt.

Josh macht die Taschenlampe aus, schaut dann Scott an. »Aus damit, Scott!«

Scott tut, wie ihm geheißen, und schon stehen sie mitten im Dunkeln.

Lillys Herz pocht heftig, als sie im Schatten warten und lauschen. Der Laden ist in Stille getaucht. Dann ertönt es erneut: ein hässliches Knarzen.

Es kommt vom Eingangsbereich. Ein Geräusch, als ob rostiges Metall gegeneinander geschoben wird, aber es ist leise, so leise, dass sie es nicht wirklich ausmachen können.

Josh flüstert: »Bob, wo ist die Flinte?«

»Vorne links, bei den Schubkarren.«

»Na super.«

»Und was, wenn Megan sie hat?«

Josh denkt kurz nach. Er schaut zum Eingangsbereich. »Megan! Bist du das?«

Keine Antwort.

Lilly schluckt. Sie ist auf einmal ganz benommen. »Glaubst du, dass Zombies die Tür aufmachen können?«

»Da reicht schon ein Windstoß«, meint Josh und holt die .38er aus dem Gürtel. »Bob, wie gut kannst du mit der Kanone umgehen, die wir gefunden haben?«

Bob hat bereits eine Schachtel Munition geöffnet, fummelt mit seinen zitternden, dreckigen Händen nach den Patronen. »Bin schon dabei, Captain.«

»Alles klar, dann hört mal zu …«

Josh flüstert Befehle, als ein erneutes Geräusch die Stille unterbricht – gedämpft, aber eindeutig. Es sind die gefrorenen Scharniere der Türen. Jemand oder etwas versucht, in den Walmart einzudringen.

Bob schiebt unbeholfen mit bebenden Händen Patronen in das leere Magazin. Er lässt es fallen, so dass die Kugeln über den Boden kullern.

»Dude«, flucht Scott leise und schaut nervös zu, wie Bob auf Händen und Knien wie ein kleiner Junge umherkriecht, der seine Murmel verschüttet hat.

»Hört zu!«, zischt Josh. »Scott, du und Bob nehmt die linke Flanke und arbeitet euch durch die Lebensmittelabteilung zum Eingangsbereich vor. Kleine, du folgst mir. Wir nehmen uns Äxte aus der Gartenabteilung.«

Bob hat endlich sämtliche Patronen aufgelesen, endlich mit Erfolg ins Magazin gesteckt und ist schussbereit. »Alles klar. Los, Junior, komm.«

Sie teilen sich in zwei Gruppen auf und schleichen durch die Dunkelheit auf das blasse Licht zu.

Lilly folgt Josh dicht auf den Fersen. Sie arbeiten sich durch die Schatten der Autozubehörabteilung, vorbei an leer geräumten Regalen, über den mit Müll übersäten Boden. Sie lassen die Schreibwarenabteilung hinter sich, dann vorbei an den Bastel- und Heimwerkerabteilungen. Sie sind so leise wie möglich. Josh gibt Lilly Signale. In der einen Hand hält er die .38er. Plötzlich hebt er die andere. Lilly bleibt auf der Stelle stehen.

Aus dem Eingangsbereich dringt das Schlurfen von Füßen an ihre Ohren.

Josh deutet auf ein umgestürztes Regal in der Heimwerkerabteilung. Lilly schleicht um eine Auslage mit Leuchtmitteln, als sie vor sich auf dem Boden Harken, Baumscheren und langstielige Äxte liegen sieht. Sie schnappt sich eine davon und kriecht wieder um die Auslage mit Leuchtmitteln. Ihr Herz pocht heftig. Ihr ganzer Körper ist mit Gänsehaut bedeckt.

Sie kommen zum Eingangsbereich. Zu ihrer Linken kann Lilly ab und zu Scott und Bob ausmachen, die sich an der westlichen Seite bei der Lebensmittelabteilung zum Ausgang vorarbeiten. Mittlerweile sind die Geräusche verklungen. Was auch immer versucht hat, in den Walmart zu kommen, gibt keinen Pieps mehr von sich. Das Einzige, was Lilly noch hört, ist das Schlagen ihres eigenen Herzens.

Josh hält hinter der Apothekentheke inne, kniet sich auf den Boden. Lilly gesellt sich zu ihm. »Du bleibst schön hinter mir, und wenn eine dieser Kreaturen sich an mir vorbeischleicht, verpasst du ihr einen Schlag mit der Axt mitten auf den Schädel«, weist Josh sie flüsternd an.

»Josh, ich weiß, wie man einen Zombie umbringt«, erwidert Lilly genervt.

»Ich weiß, Kleine. Ich will doch nur … Achte einfach darauf, dass du sie gleich beim ersten Mal gut erwischst.«

Lilly nickt.

»Ich zähle bis drei«, flüstert er. »Bist du bereit?«

»Ja.«

»Eins, zwei …«

Josh hält mitten im Zählen inne, und Lilly hört etwas, das überhaupt keinen Sinn macht.

Josh schnappt sich Lilly und drückt sie gegen den Verkaufstresen. Gelähmt vor Unentschlossenheit kauern sie im Schatten und warten. In Lillys Kopf schwirrt nur ein Gedanke umher.

Zombies können nicht reden.

»Hallo?« Die Stimme hallt durch den leeren Walmart. »Ist jemand zu Hause?«

Josh zögert noch eine Weile hinter der Theke, wägt die Alternativen ab. Panik ergreift ihn. Die Stimme klingt freundlich gesinnt … zumindest nicht feindlich … Es ist offensichtlich ein Mann, so tief ist sie. Er hat einen merkwürdigen Akzent.

Josh wirft Lilly einen Blick über die Schulter zu. Sie hält die Axt wie einen Baseballschläger, ist jederzeit bereit, zuzuschlagen. Ihre Lippen beben vor Anspannung. Josh hebt seine riesige Hand – bedeutet ihr, dass er etwas vorhat. Er entsichert gerade die Pistole, als plötzlich eine andere Stimme ertönt und die Sachlage von Grund auf ändert.

»LASST SIE SOFORT FREI, IHR ARSCHLÖCHER!«

Josh springt hinter der Theke hervor, die .38er in der Hand, jederzeit feuerbereit.

Lilly folgt ihm mit der erhobenen Axt.

Eine Gruppe von sechs Männern – alle bis an die Zähne bewaffnet – befindet sich im Eingangsbereich.

»Easy … Immer mit der Ruhe, macht euch locker!« Der Anführer, er steht vor dem Rest der Meute – hält ein Maschinengewehr in der Hand, das er jetzt bedrohlich in die Runde hebt. Er ist vielleicht Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig, groß, mit dunklem Teint und trägt ein Kopftuch, das im Nacken zusammengebunden ist. Die Ärmel seines Flanellhemds sind abgeschnitten und geben den Blick auf seine muskulösen Arme frei.

Zuerst geschieht alles so schnell, dass Josh kaum mitkommt. Er steht wie angewurzelt da und hält die Pistole auf den Bandana-Mann gerichtet.

Bob Stookey prescht auf einmal hinter den Kassen hervor und auf die Eindringlinge zu. Er hält die Desert Eagle generalstabsmäßig in beiden Händen, und seine rot umrandeten Augen sind mit angetrunkenem Mut weit aufgerissen. »LASST SIE GEHEN!« Der Grund seiner Rage steht hinter dem Bandana-Anführer und wird von einem jüngeren Mitglied des Überfallkommandos festgehalten. Megan Lafferty krümmt und windet sich wütend, wehrt sich, so gut sie kann, gegen den jungen schwarzen Mann mit wild starrenden Augen. Der aber lässt nicht locker und presst ihr eine schmutzige Hand auf den Mund, damit sie ihre Kumpels nicht warnen kann.

»BOB – NICHT!« brüllt Josh, und die Autorität in seiner Stimme lässt den alten Mann innehalten. Er kommt am Ende der Kassenlaufbänder zum Stehen, nur fünf Meter von dem Typen entfernt, der Megan festhält. Bob ringt nach Luft, starrt Megan hilflos an. Josh kann die Emotionen förmlich riechen, die in dem alten Mann toben.

»Jetzt schaltet mal alle einen Gang runter«, befiehlt Josh seinen Leuten.

Plötzlich erscheint Scott Moon hinter Bob mit erhobenem Luftgewehr.

»Scott, immer mit der Ruhe, runter mit der Flinte!«

Der Mann mit dem Bandana hält sein AK-47 weiter aufgerichtet. »Jetzt macht euch mal alle locker, macht schon – wir haben keinen Bock auf eine Lose-lose Situation.«

Die Kerle hinter dem Anführer sind allesamt mit schwerkalibrigen Waffen ausgerüstet. Sie scheinen ungefähr so alt wie er zu sein, ein paar sind weiß, die anderen schwarz, einige in Hip-Hop-Klamotten, andere in zerfledderten Tarnanzügen und Daunenjacken. Sie machen einen ausgeruhten Eindruck, sind wohlgenährt und ziemlich wahrscheinlich auf Drogen. Aber was Josh am meisten interessiert, ist, dass sie den Anschein machen, als ob sie am liebsten einfach abdrücken würden.

»Wir sind cool«, meint Josh, aber er ist sich sicher, dass sein Ton, sein Gesichtsausdruck und die Tatsache, dass auch er seine Waffe nicht gesenkt hat, dem Bandana-Mann genau das Gegenteil vermitteln. »Oder, Bob? Sind wir etwa nicht cool?«

Bob murmelt etwas Unverständliches. Er hat die Desert Eagle noch immer gehoben und aufs Ziel gerichtet. Die beiden Gruppen stehen einander gegenüber, sämtliche Waffen zeigen auf diverse lebenswichtige Organe und Körperteile. Josh schätzt seine Chance schlecht ein. Von Waffengleichheit kann keine Rede sein. Die Eindringlinge sind in der Lage, es mit einer kleinen Garnison aufnehmen. Andererseits hat Joshs Seite drei Waffen gleichzeitig auf den Anführer der Bande gerichtet, dessen Tod die Dynamik der Gruppe wohl ziemlich durcheinanderbringen würde.

»Lass das Mädchen gehen, Haynes«, befiehlt der Bandana-Mann seinem Untergebenen.

»Aber was ist mit …«

»Ich habe gesagt, du sollst sie gehen lassen!«

Der junge Mann mit den wilden Augen schubst Megan von sich in den Walmart, und Megan stolpert, geht beinahe zu Boden, fängt sich aber wieder und strauchelt dann zu Bob. »Was für eine Bande von Arschlöchern!«, murrt sie.

»Alles klar mit dir, Süße?«, fragt Bob und legt einen Arm um sie, ohne die Augen oder den Lauf seiner Waffe von den Eindringlingen zu nehmen.

»Die Säcke haben sich angeschlichen«, erzählt sie, reibt sich die Handgelenke und starrt die Männer wütend an.

Der Bandana-Mann senkt seine Waffe und wendet sich an Josh. »Pass auf, heutzutage darf man keine Risiken mehr eingehen. Wir haben keine Ahnung gehabt, was hier auf uns wartet … Wir gehen nur auf Nummer sicher.«

Josh ist nicht überzeugt, hält die Waffe noch immer auf die Brust des Mannes gerichtet. »Und was hat das damit zu tun, dass ihr euch das Mädchen aus dem Truck geschnappt habt?«

»Wie schon gesagt … Wir wussten nicht, mit wem wir es zu tun haben oder wen sie warnen würde … Woher auch?«

»Ist das euer Laden?«

»Nein … Was meinst du damit? Nein.«

Josh schenkt ihm ein kaltes Lächeln. »Dann mache ich dir einen Vorschlag … Ich habe eine Idee, wie wir mit der Situation hier umgehen.«

»Schieß los.«

»Es gibt genügend Zeug für alle … Warum lasst ihr uns nicht einfach gehen, und ihr könnt den Rest haben?«

Der Bandana-Mann dreht sich zu seiner Truppe um. »Runter mit den Waffen, Jungs. Los.«

Beinahe widerwillig gehorchen sie ihm.

Dann wendet sich der Bandana-Mann wieder Josh zu. »Ich bin Martinez … Tut mir leid, aber wir haben wohl einen schlechten Start gehabt.«

»Ich bin Hamilton. Nett, euch kennenzulernen, und es würde mich freuen, wenn ihr uns jetzt hier rauslasst.«

»No problema, mi amigo … Aber darf ich noch einen Vorschlag machen, ehe wir getrennte Wege gehen?«

»Ich höre.«

»Erstens: Könnt ihr endlich aufhören, eure Waffen auf uns zu richten?«

Josh lässt Martinez nicht aus den Augen, senkt aber seinen Revolver. »Scott, Bob … Nun macht schon … Alles ist cool.«

Scott wirft seine Flinte über die Schulter und lehnt sich gegen eine Kasse. Bob steckt seine Desert Eagle widerwillig in den Gürtel, den Arm noch immer um Megan gelegt.

Lilly senkt die Axt und lehnt sie gegen den Apothekentresen.

»Vielen Dank, wirklich sehr nett.« Martinez holt tief Luft und stöhnt auf. »Ich überlege nur laut. Aber ihr scheint eine recht vernünftige Truppe zu sein. Und natürlich dürft ihr die ganzen Sachen hier rauskarren. Aber die Frage stellt sich für mich: wohin damit?«

»Eigentlich nirgendwohin«, antwortet Josh. »Nirgendwohin außer in den Truck.«

»Soll das heißen, dass ihr ständig auf der Straße seid?«

»Na und?«

Martinez zuckt mit den Schultern. »Pass auf, ich weiß, dass du keinen Grund hast, mir zu vertrauen, aber es ist, wie es ist … Leute wie wir, wir können voneinander profitieren, eine Art Win-win-Situation. Verstehst du, was ich meine?«

»Um ehrlich zu sein – nein. Ich habe nicht den geringsten Schimmer, was du damit sagen willst.«

Martinez seufzt. »Okay, ich lege unsere Karten auf den Tisch. Unsere Wege könnten sich hier und jetzt trennen, ohne dass einer den anderen hintergeht. Verabschiedung mit Tränen und so weiter … Alles easy.«

»Hört sich gut an«, unterbricht Josh ihn.

»Aber wir haben einen besseren Vorschlag«, fährt der Mann fort.

»Und der lautet?«

»Ein sicherer Ort, nicht weit weg von hier. Leute wie du und ich, die versuchen, in dieser Scheiße zu überleben.«

»Mach weiter.«

»Ich will damit sagen, dass das Weglaufen ein Ende haben kann. Wir haben einen Teil einer Stadt sichergestellt. Es ist zwar nicht viel … aber immerhin. Sicher, weil wir eine Mauer gebaut haben. Es gibt ein Feld, um Lebensmittel anzubauen. Dazu Generatoren, Wärme – und genug Platz, um fünf Leute mehr unterzubringen.«

Josh antwortet nicht. Er wirft Lilly einen Blick zu, wird aber aus ihrem Gesicht nicht schlau. Sie sieht fertig, verwirrt und verängstigt aus. Dann mustert er die anderen. Er sieht, wie Bob überlegt, alles abwägt. Scott blickt zu Boden, und Megan starrt die Eindringlinge unheilvoll an.

»Überlegt ruhig«, fährt Martinez fort. »Wir könnten uns alles teilen, was hier ist, und unsere getrennten Wege gehen oder zusammenarbeiten. Wir brauchen kräftige Männer. Wenn ich euch ausrauben, euch fertigmachen, zerstören wollte … Was könnte mich schon daran hindern? Ich habe keinen Anlass, Stress zu machen. Kommt mit uns, Hamilton. Was meinst du? Auf der Straße wartet nur Stress, mehr Stress und nie enden wollender Stress – und der Winter … Was sagt du?«

Josh starrt Martinez lange an, ehe er endlich antwortet: »Wir müssen uns beraten.«

Josh und Lilly gehen zu den anderen bei den Kassen.

»Dude, das soll wohl ein Witz sein«, fährt Megan Josh flüsternd an. Die anderen drängen sich in einem Halbkreis um den großen Mann. »Du hast doch nicht wirklich vor, dich mit diesen Arschlöchern einzulassen?«

Josh fährt sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich weiß nicht … Je näher ich sie unter die Lupe nehme, desto mehr glaube ich, dass sie genauso viel Angst haben wie wir.«

»Vielleicht könnten wir uns alles mal anschauen, sehen, wie es da zugeht?«, schlägt Lilly vor.

Bob blickt Josh fragend an. »Im Gegensatz zu der Zeltstadt mit dem Haufen von Hitzköpfen? Wie viel schlimmer könnte das hier werden?«

Megan seufzt. »Liegt es an mir, oder habt ihr euren Scheißverstand verloren?«

»Megan, ich weiß nicht«, wirft Scott ein. »Ich denke mir: Was haben wir zu verlieren?«

»Halt den Mund, Scott.«

»Okay, passt auf«, ergreift Josh das Wort, hält eine Hand in die Höhe und bringt somit alle zum Schweigen. »Es kann nicht schaden, ihnen zu folgen und die Lage zu sondieren. Die Waffen geben wir nicht ab, halten die Augen stets offen und entscheiden uns erst, wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben.« Dann wirft er Bob und Lilly einen fragenden Blick zu. »Cool?«

Lilly holt tief Luft und nickt ihm schließlich zu. »Yeah, cool.«

»Na super«, murmelt Megan und folgt den anderen zurück zum Eingang.

Es dauert eine weitere Stunde der gemeinsamen Bemühungen der beiden Gruppen, um den Rest des Ladens nach all den schweren Gerätschaften abzusuchen, die in der Stadt benötigt werden. Sie plündern die Garten- und Heimwerkerabteilungen, nehmen Bauholz, Dünger, Pflanzenerde, Samen, Hämmer und Nägel mit. Lilly verspürt eine gewisse Nervosität zwischen den beiden Trupps. Sie behält Martinez stets im Auge und bemerkt eine unausgesprochene Hierarchie in der zusammengewürfelten Truppe. Martinez ist definitiv der Obermacker und gebietet über die anderen durch einfache Gesten oder ein Nicken hier und da.

Als sie Bobs Truck und die beiden Fahrzeuge der ummauerten Stadt – einen Kasten- und einen Pritschenwagen – bis zum Anschlag vollgeladen haben, geht bereits die Sonne unter. Martinez setzt sich hinter das Steuer vom Kastenwagen und weist Bob an, dem Pritschenwagen zu folgen … Und schon macht sich der Konvoi auf in Richtung Stadt.

Sie bahnen sich den Weg aus dem verstaubten Walmart-Parkplatz und fahren die Auffahrt zum Highway entlang. Lilly sitzt auf der Rückbank und starrt durch die dreckige Windschutzscheibe, während Bob sein Bestes tut, mit der Dreckschleuder von Pritschenwagen mitzuhalten. Sie passieren ein Gewirr von Autowracks, gesäumt von tiefem Wald auf beiden Seiten des Feldwegs. Die Schatten werden immer länger. Der Nordwind fegt über die Landschaft und bringt feinen Schneeregen mit sich.

In der stahlgrauen Dämmerung kann Lilly kaum das erste Fahrzeug ausmachen, das nur wenige Autolängen vor ihnen den Konvoi anführt. Plötzlich aber erhascht sie einen Blick von Martinez im Seitenspiegel. Er hat das Fenster offen, sein tätowierter Arm hängt heraus, während er das Auto mit der anderen Hand steuert.

Vielleicht hat Lilly es sich ja nur vorgestellt, aber sie glaubt gesehen zu haben, wie er sich zu seinen Kameraden lehnt, ihnen etwas erzählt – etwas, das nicht für alle Ohren gedacht ist – und mit frenetischem Lachen belohnt wird.

Die Männer scheinen beinahe hysterisch.

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