Er hackte sie ab, aber andere rankten sich um seine Hüfte. Er stemmte sich fest gegen den Boden und schlug die beiden Schwerter gegeneinander, in der Hoffnung, auf diese Weise einen Funken erzeugen zu können.

Beim ersten Versuch brach das Schwert in seiner rechten Hand in zwei Hälften. Barrent hob sie auf und versuchte es immer wieder, während die Ranken ihn unentwegt dichter an die Mäuler heranzogen. Da sprühte ein Regen von Funken vom aneinanderschlagenden Stahl auf. Einer berührte eine Ranke.

Mit unglaublicher Plötzlichkeit brach die Ranke in Flammen aus. Das Feuer raste an den Zweigen entlang auf den Baumstamm zu. Die Münder stöhnten auf, als es sie erreichte.

Wenn man den Vorgängen ihren Lauf gelassen hätte, wäre Barrent bei lebendigem Leibe verbrannt, denn die Arena hatte sich rasch mit den feuerempfindlichen Zweigen und Ranken gefüllt.

Aber die Flammen gefährdeten auch die hölzernen Wände der Arena, und die Wachen löschten sie gerade noch rechtzeitig, um Barrent und auch die Zuschauer davor zu retten

Vor Erschöpfung zitternd stand Barrent in der Mitte der Arena und wartete auf den nächsten Gegner. Aber nichts geschah. Nach einer Weile gab der Präsident ein Zeichen, und die Menge brach in Beifallsstürme aus.

Die Spiele waren vorüber. Barrent hatte sie überlebt.

Aber niemand verließ seinen Platz. Die Zuschauer warteten darauf, der endgültigen Disposition Barrents beizuwohnen denn Barrent stand jetzt außerhalb des Gesetzes.

Er hörte ein leises, ehrfürchtiges Raunen aus der Menge. Barrent drehte sich um und sah einen feurigen Lichtfleck in der Luft. Er schwoll an, sandte Lichtstrahlen aus und fing sie wieder ein. Er wuchs schnell an und wurde so strahlend, daß Barrent geblendet war.

Er mußte an Onkel Ingemars Worte denken: »Manchmal belohnt uns der Schwarze, indem er in der furchtbaren Schönheit seines feurigen Fleisches vor uns erscheint. Ja, Neffe, ich selbst hatte die Gnade, ihn zu sehen. Vor zwei Jahren erschien er bei den Spielen, und auch in dem Jahr davor...«

Der Fleck wuchs zu einem roten und gelben Globus mit einem Durchmesser von sechs Metern an, seine untere Kante berührte fast den Boden. Er wuchs noch weiter in die Höhe. Das Zentrum des Globus wurde dünner; eine Taille zeichnete sich ab, und darüber erschien der Globus undurchdringlich schwarz. Jetzt waren es zwei Kugeln, eine leuchtende, eine schwarze, die durch die enge Taille miteinander verbunden waren. Während Barrent daraufstarrte, zog sich der dunkle Teil in die Länge und formte sich zu der unvergeßlichen Gestalt des gehörnten Schwarzen.

Barrent versuchte davonzulaufen, aber die gewaltige schwarzköpfige Gestalt fegte nach vorn und hüllte ihn ein. Er war in einem blendenden Wirbel von Strahlen gefangen, über der Dunkelheit lag. Das Licht bohrte sich tief in seinen Kopf; er wollte schreien.

Dann wurde er bewußtlos.

Barrent kam in einem dämmrigen, hohen Raum wieder zu sich.

Er lag auf einem Bett. Dicht daneben standen zwei Menschen.

Sie schienen sich zu streiten.

»Wir haben einfach keine Zeit mehr zu warten«, sagte ein Mann. »Du scheinst die Dringlichkeit der Situation nicht ganz zu erkennen. «

»Der Arzt sagt, er braucht wenigstens noch drei Tage Ruhe.«

Es war die Stimme einer Frau. Nach einem Augenblick wurde Barrent gewahr, daß es Moeras Stimme war.

»Drei Tage kann er noch haben.«

»Und dann braucht er Zeit für die Schulung.«

»Du hast mir bestätigt, daß er intelligent ist. Die Schulung sollte also nicht lange dauern.«

»Vielleicht ein paar Wochen.«

»Unmöglich. Das Schiff landet in sechs Tagen.«

»Eylan«, sagte Moera, »du gehst zu schnell vor.

Wir können es diesmal noch nicht tun. Beim nächsten Landungstag werden wir viel besser vorbereitet sein.«

»Inzwischen werden uns die Dinge über den Kopf wachsen«, antwortete der Mann. »Es tut mir leid, Moera; entweder wir benutzen Barrent sofort oder überhaupt nicht.«

»Benutzen? Wofür? Wo bin ich? Wer sind Sie?« fragte Barrent.

Der Mann wandte sich dem Bett zu. In dem schwachen Licht

erkannte Barrent einen sehr großen, schlanken, leicht gebückten alten Mann mit einem buschigen Bart.

»Ich bin froh, daß Sie endlich aufgewacht sind«, sagte er. »Ich heiße Swen Eylan und bin der Leiter von Gruppe Zwei.«

»Gruppe Zwei? Was ist das?« fragte Barrent. »Wie haben Sie mich aus der Arena geschafft? Sind Sie Agenten des Schwarzen?«

Eylan grinste. »Nicht gerade Agenten. Wir werden Ihnen in Kürze alles erklären. Zuerst halte ich es für besser, wenn Sie etwas essen und trinken.« Eine Krankenschwester brachte ein Tablett herein. Während Will aß, zog sich Eylan einen Stuhl neben das Bett und erzählte ihm vom Schwarzen

»Unsere Gruppe kann sich nicht gerade rühmen, die Religion des Bösen ins Leben gerufen zu haben«, begann er. »Die scheint sich auf Omega ganz von selbst herangebildet zu haben. Aber da sie nun schon mal existierte, haben wir uns ihrer gelegentlich bedient. Die Priester haben dabei erstaunlich gut mit uns zusammengearbeitet. Schließlich ist die Verehrung des Bösen für die Korruption von großem Vorteil. Deshalb ist in den Augen der Priester auch das Erscheinen eines falschen Schwarzen keine Lästerung. Ganz im Gegenteil - in der orthodoxen Verehrung des Bösen wird eine besondere Betonung auf falsche Vorstellungen gelegt -, besonders wenn diese groß, feurig und eindrucksvoll sind, wie die, die Sie aus der Arena gerettet hat.«

»Wie haben Sie diese Erscheinung denn produziert?« fragte Barrent.

»Es hat etwas mit Reibungsoberfläche zu tun und mit Kraftfeldern«, erklärte Eylan. »Nach Einzelheiten müssen Sie sich bei unseren Ingenieuren erkundigen.«

»Und warum haben Sie mich gerettet?« fragte Barrent.

Eylan warf einen fragenden Blick zu Moera, die die Schultern hob. Etwas verlegen sagte er: »Wir möchten Sie für einen wichtigen Job verwenden. Aber bevor ich Sie genau darüber unterrichte, sollten Sie etwas mehr über unsere Organisation wissen.

Sicherlich sind Sie schon neugierig darauf.«

»Sehr sogar«, stimmte Barrent zu. »Sind Sie eine Art Verbrecher-Elite?«

»Wir stellen eine Elite dar«, antwortete Eylan. »Aber wir betrachten uns nicht als Verbrecher. Zwei völlig verschiedene Menschentypen sind nach Omega deportiert worden. Da sind einmal die wahren Verbrecher, die Mord, Totschlag, bewaffnete Überfälle und dergleichen begangen haben. Das sind die Sorte Menschen, unter denen Sie gelebt haben. Und dann gibt es die Menschen, die sich Verbrechen ganz anderer Art schuldig gemacht haben, wie etwa politische Gleichgültigkeit, wissenschaftlich unorthodoxe Einstellung und antireligiöse Einstellung. Diese Leute gehören unserer Organisation an, die sich zum Zweck der Unterscheidung Gruppe Zwei nennt. Soweit wir uns erinnern oder auch rekonstruieren können, bestanden unsere Verbrechen einzig und allein darin, andere Meinungen zu vertreten, als auf der Erde verbreitet und üblich waren. Wir waren Nonkonformisten.

Wahrscheinlich stellten wir ein labiles Element dar und waren eine Bedrohung für die bestehenden Kräfte. Aus diesem Grund deportierte man uns nach Omega.«

»Und Sie trennten sich dann von den übrigen Deportierten«, sagte Barrent.

»Ja. Das war notwendig. Erstens einmal, weil die wahren Verbrecher von Gruppe Eins nicht bereit sind, sich kontrollieren und leiten zu lassen. Wir könnten sie nicht führen, noch wollen wir uns von ihnen beherrschen lassen. Aber was noch schwerwiegender ist: Wir hatten eine Arbeit zu vollbringen, die nur im geheimen getan werden konnte. Wir hatten keine Ahnung, wie die Spähschiffe, die am Himmel von Omega patrouillieren, gebaut sind. Um unsere Sache geheimzuhalten, arbeiten wir im Untergrund weiter, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Raum hier befindet sich etwa sechzig Meter unter der Erdoberfläche. Wir zeigen uns oben nicht, außer einigen Agenten wie Moera, die die politischen und sozialen Gefangenen von den wahren Kriminellen trennt.«

»Aber mich haben Sie nicht ausgesucht«, sagte Barrent.

»Natürlich nicht. Sie hatten angeblich einen Mord verübt, wodurch Sie automatisch zu Gruppe Eins gehörten. Da Sie uns aber irgendwie nützlich erschienen, halfen wir Ihnen ab und zu. Aber bevor wir Sie in unsere Gruppe aufnehmen konnten, mußten wir uns über Sie erst völlig im klaren sein. Ihre Abneigung gegen das Morden sprach sehr für Sie. Wir sprachen auch mit Illiardi, nachdem Sie uns auf seine Spur geführt hatten. Es schien kein Zweifel, daß er den Mord verübt hatte, dessentwegen Sie verurteilt wurden.

Noch mehr aber sprach für Sie Ihre hohe Überlebensfähigkeit, die ihre letzte Bestätigung in der Jagd und bei den Spielen fand. Wir brauchten notwendig einen Mann mit Ihren Qualitäten.«.

»Und was habe ich zu tun?« fragte Barrent. »Was wollen Sie erreichen?«

»Wir wollen zurück zur Erde«, sagte Eylan.

»Aber das ist doch unmöglich!«

»Wir glauben nicht daran«, antwortete Eylan. »Wir haben uns mit dieser Frage eingehend beschäftigt. Trotz der Spähschiffe glauben wir eine Möglichkeit gefunden zu haben, zur Erde zurückzukehren. In sechs Tagen werden wir erfahren, ob wir recht hatten. Dann werden wir nämlich den Ausbruch wagen.«

»Es wäre besser, noch sechs Monate zu warten«, mischte sich Moera ein.

»Unmöglich! Eine Verzögerung von sechs Monaten würde den ganzen Plan zunichte machen. Jede Gesellschaft hat ihren Zweck. Die verbrecherische Bevölkerung von Omega ist auf ihre Selbstvernichtung versessen. Sie scheinen erstaunt, Barrent. Konnten Sie sich denn etwas Derartiges nicht denken?«

»Darüber habe ich nie nachgedacht«, gab Barrent zögernd zurück. »Schließlich gehörte ich ja auch dazu.«

»Dabei ist das ganz offensichtlich«, meinte Eylan. »Betrachten Sie doch einmal die Institutionen - alle konzentrieren sich auf legalen Mord. Selbst das Gesetz, das die Rate der Morde überwacht und beeinflußt, beginnt schon zusammenzubrechen. Die Bevölkerung lebt nahe am Abgrund des Chaos. Sicherheit gibt es keine mehr. Die einzige Möglichkeit, zu überleben, ist Mord.

Die einzige Art, seinen Rang zu verbessern, ist Mord. Die einzige sichere Sache ist Mord; Morden - mehr und mehr, und immer schneller.«

»Du übertreibst«, wandte Moera ein.

»Ich glaube nicht. Ich stelle wohl fest, daß die Institutionen von Omega eine gewisse Beständigkeit aufzuweisen scheinen, eine gewisse Zurückhaltung selbst gegenüber dem Morden

Aber das ist eine Illusion. Ich zweifle nicht daran, daß alle Institutionen, die zum Untergang verdammt sind, die Illusion der Beständigkeit bis zum Ende vortäuschen - auch sich selbst gegenüber. Und das Ende der Gesellschaft von Omega nähert sich mit steigender Geschwindigkeit.«

»Wie schnell?« fragte Barrent.

»In etwa vier Monaten wird es zum Zusammenbruch kommen«, erwiderte Eylan. »Die einzige Möglichkeit, das zu ändern, wäre, der Bevölkerung eine neue Richtung zu geben, ein anderes Ziel.«

»Die Erde«, sagte Barrent.

»Genau. Deshalb muß der Versuch sofort unternommen werden.«

»Nun - ich verstehe zwar nicht viel davon«, sagte Barrent.

»Aber ich mache mit. Ich stelle mich gern als Teilnehmer einer Expedition zur Verfügung.«

Wieder blickte Eylan etwas verlegen um sich. »Ich glaube, ich habe mich nicht klar ausgedrückt«, sagte er. »Sie werden diese Expedition sein, Barrent. Sie und nur Sie allein... Entschuldigen Sie, wenn ich Sie erschreckt habe.«

Nach Eylans Aussagen besaß Gruppe Zwei wenigstens einen ernsthaften Nachteil: die Männer, die ihr angehörten, hatten zumeist schon ihr bestes Alter überschritten. Natürlich gab es auch einige jüngere; aber sie hatten wenig Kontakt mit Gewalt gehabt und nur wenig Gelegenheit, auf sich selbst angewiesen zu sein.

Sie hatten unter der Erde in Sicherheit gelebt, und manche hatten noch nie eine Waffe im Zorn gebraucht, hatten es nie nötig gehabt, um ihr Leben zu laufen, hatten keine Erfahrung darin, mit Situationen fertig zu werden, wie es bei Barrent der Fall gewesen war. Sie waren mutig, aber nicht geübt. Gern hätten sie die Expedition zur Erde unternommen; aber ihre Erfolgschancen waren sehr gering.

»Und glauben Sie denn, daß es mir gelingen könnte?« fragte Barrent.

»Ich glaube, ja. Sie sind jung und stark, einigermaßen intelligent und außerordentlich erfindungsreich. Ihre Fähigkeit, sich in den unmöglichsten Lebenslagen zu behaupten, ist bemerkenswert groß. Wenn ein Mensch dieses Unternehmen bestehen kann, dann Sie!«

»Warum nur einer?«

»Weil es keinen Sinn hat, mehrere zu schicken. Das Risiko, entdeckt zu werden, wäre größer. Indem wir einen einzelnen aussenden, erreichen wir ein Maximum an Sicherheit und Aussicht auf Erfolg. Wenn Sie Erfolg haben, erhalten wir wertvolle Informationen über die Beschaffenheit des Feindes.

Wenn Sie keinen Erfolg haben, wird man Ihren Versuch als die Tat eines einzelnen betrachten, nicht als die einer ganzen Gruppe. Dann bleibt uns immer noch die Möglichkeit, einen Ausbruch im großen zu planen.«

»Wie soll ich auf die Erde gelangen?« fragte Barrent. »Haben Sie irgendwo ein Raumschiff versteckt?«

»Leider nein. Wir haben vor, Sie auf dem nächsten Gefangenenschiff zur Erde zu transportieren.«

»Das ist unmöglich.«

»Nein* Wir haben die Landungen studiert. Sie erfolgen gemäß festen vorgeschriebenen Regeln. Die Gefangenen werden herausgeführt, begleitet von den Wächtern. Während sie sich alle auf dem großen viereckigen Platz versammeln, bleibt das Schiff selbst ungeschützt, außer durch einige wenige Wachtposten. Um Sie an Bord zu bringen, werden wir eine allgemeine Störung hervorrufen. Dieser Aufruhr soll die Aufmerksamkeit der Wachen so lange in Anspruch nehmen, bis Sie sicher an Bord gelangt sind.«

»Aber selbst wenn mir das gelingt, werde ich gefangengenommen werden, sobald die Wachen zurück ins Schiff kommen. «

»Das muß nicht sein«, antwortete Eylan. »Das Schiff ist ein ungeheuer komplexer Bau mit vielen Verstecken für einen blinden Passagier. Und das Element der Überraschung haben Sie für sich

Dies könnte der erste Fall in der Geschichte von Omega sein, daß ein Fluchtversuch unternommen wird.«

»Und was geschieht, wenn das Schiff auf der Erde landet?«

»Sie werden als Mitglied des Schiffspersonals verkleidet sein. Die unvermeidlichen Mängel einer gewaltigen Bürokratie werden Ihnen zugute kommen.«

»Hoffentlich«, antwortete Barrent. »Angenommen, ich gelange sicher zur Erde und erhalte die Informationen, die Sie haben wollen - wie kann ich sie Ihnen übermitteln?«

»Sie schicken sie mit dem nächsten Gefangenenschiff«, sagte Eylan. »Wir haben vor, es zu kapern.«

Barrent kratzte sich nachdenklich die Stirn. »Was veranlaßt Sie zu der Annahme, daß all dies - meine Expedition und Ihre Rebellion - gegen eine so mächtige Organisation wie die der Erde Erfolg haben könnte?«

»Wir müssen die Chance ergreifen. Entweder es gelingt, oder aber wir gehen, gemeinsam mit den anderen, in dem blutigen Schlachthaus von Omega unter. Ich gebe zu, daß unsere Chance nicht gerade groß ist, aber es bleibt uns keine andere Wahl. Entweder wir machen den Versuch oder wir sterben, ohne irgend etwas unternommen zu haben.«

Moera nickte zu diesen Worten. »Es gibt vielleicht noch andere Möglichkeiten. Die Regierung der Erde scheint diktatorischen Charakter zu haben. Das läßt die Annahme zu, daß es auf der Erde selbst Untergrundbewegungen gibt. Vielleicht können Sie sich mit solchen in Verbindung setzen. Eine Revolution hier und auf der Erde zugleich könnte die Regierung viel eher zum Nachdenken veranlassen.«

»Vielleicht.«

»Wir müssen das Beste hoffen«, sagte Eylan. »Machen Sie also mit?«

»Selbstverständlich«, antwortete Barrent. »Ich will lieber auf der Erde sterben als auf Omega.«

»Das Gefangenenschiff landet in sechs Tagen«, erklärte Eylan

»Bis dahin werden wir Ihnen alles, was wir über die Erde wissen, mitteilen. Vieles davon haben wir aus Erinnerungsfetzen rekonstruiert, manches haben uns die Mutanten verschafft, alles übrige ist logische Folgerung. Das ist alles, was wir Ihnen bieten können, aber ich glaube, es ergibt ein einigermaßen korrektes Bild der augenblicklichen Lage auf der Erde.«

»Wann beginnen wir?« fragte Barrent.

»Sofort«, antwortete Eylan.

Barrent erhielt einen kurzen allgemeinen Unterricht über den physikalischen Aufbau der Erde, ihr Klima und ihre hauptsächlichsten Bevölkerungszentren. Dann schickte man ihn zu Colonel Bray, der früher dem Raumforschungsteam der Erde angehört hatte. Bray sprach mit ihm über die wahrscheinliche militärische Macht der Erde, wie sie durch die Anzahl der Spähschiffe um Omega abgeleitet werden konnte, und über den vermutlichen Stand der wissenschaftlichen Entwicklung. Er schätzte die Streitkräfte der Erde, ihre wahrscheinliche Aufteilung in Land-, See- und Raumtruppen und ihre angenommene Leistungsfähigkeit.

Captain Carell unterrichtete ihn über Spezialwaffen, ihre möglichen Typen und Reichweiten und inwieweit sie der Bevölkerung der Erde zugänglich waren. Ein anderer Gehilfe des Colonels, Leutnant Daoud, klärte ihn über Suchvorrichtungen auf, ihre wahrscheinliche Örtlichkeit, und wie man sie meiden konnte.

Dann schickte man Barrent wieder zu Eylan zur politischen Information. Von ihm erfuhr er, daß die Erde höchstwahrscheinlich eine Diktatur war. Man erklärte ihm die Methoden einer Diktatur, ihre besonderen Stärken und Schwächen, die Rolle der Geheimpolizei, die Anwendung von Terror, das Problem der Spitzel.

Danach erklärte ihm ein kleiner Mann mit scharfen Augen das System, das die Erde zum Verlöschen der Erinnerung anwandte. In der Annahme, daß die Erinnerungszerstörung regelmäßig angewandt wurde, um die Opposition unschädlich zu machen, malte der Mann die wahrscheinliche Art einer Untergrundbewegung aus, die unter diesen Umständen arbeiten mußte. Und er riet Barrent, wie man mit ihr in Verbindung treten könnte und wie die Stärken und Schwächen einer solchen Organisation aussehen würden. Schließlich lernte Barrent noch die vollen Einzelheiten des Planes von Gruppe Zwei kennen, mit dem sie ihn auf das Schiff bringen wollten

Als der Landungstag nahte, fühlte Barrent eine gewisse Erleichterung. Er hatte es satt, sich Tag und Nacht mit Informationen vollzustopfen. Jede Art von Tätigkeit kam ihm gelegen.

Barrent beobachtete, wie das riesige Schiff langsam und geräuschlos zu Boden schwebte. Matt glänzte es in der Nachmittagssonne, ein sichtbarer Beweis für die technische Macht der Erde. Eine Luke schwang auf, eine Treppe glitt aus ihr herab.

Flankiert von Wachen kletterten die Gefangenen heraus und stellten sich auf dem Platz vor dem Schiff auf.

Wie gewöhnlich hatte sich die Bevölkerung von Tetrahyde eingefunden und bejubelte die Landungszeremonien. Barrent drängte sich durch die Menge und blieb dicht bei den Gefangenen und den Wachen stehen. Er befühlte seine Tasche, um sicher zu sein, daß sich die Nadel strahl waffe noch darin befand. Ingenieure von Gruppe Zwei hatten sie eigens für ihn angefertigt. Sie bestand aus Plastikmaterial, so daß Metallsucher sie nicht wahrnehmen konnten. Den Rest der Tasche füllten andere Ausrüstungsgegenstände. Er hoffte, die Waffe nicht benutzen zu müssen

Der Lautsprecher verlas die Namen und Zahlen der Gefangenen, genauso wie damals, als Barrent selbst angekommen war. Mit leicht gebeugten Knien lauschte er und wartete auf den Beginn des Störmanövers.

Die Verlesung des Lautsprechers näherte sich dem Ende der Liste. Nur noch zehn Gefangene waren übrig. Barrent bewegte sich noch mehr nach vorn. Vier, drei...

Als der Name des letzten Gefangenen verlesen wurde, begann es. Eine schwarze Rauchwolke verdunkelte den blassen Himmel, Barrent wußte, daß Gruppe Zwei die leeren Baracken von Block A-2 in Brand gesetzt hatte. Er wartete.

Dann geschah es. Eine gewaltige Explosion erfolgte, zwei Reihen leerer Gebäude flog in die Luft. Die Schockwelle war enorm und ließ alles ringsum erbeben. Noch bevor der Schutt niederzuprasseln begann, lief Barrent auf das Schiff zu.

Die zweite und dritte Explosion folgten, als er sich schon im Schatten des Schiffs befand. Hastig warf er die Kleidung von Omega ab. Darunter trug er eine getreue Nachbildung der Uniform der Wachen. Jetzt rannte er auf die Landetreppe zu.

Die Stimme aus dem Lautsprecher befahl, Ruhe zu bewahren.

Die Wachen wimmelten aufgeschreckt durcheinander.

Die vierte Explosion warf Barrent zu Boden. Aber sofort sprang er wieder auf und sprintete die Treppe hinauf. E befand sich im Schiffsinneren. Von draußen hörte er die lauten Befehle des Captains. Die Wachen stellten sich in Reihen auf, die Waffen schußbereit auf die unruhige Menge gerichtet. Langsam zogen sie sich gegen das Schiff zurück.

Barrent hatte keine Zeit mehr zum Lauschen. Er befand sich in einem langen schmalen Gang. Er wandte sich nach rechts und raste auf den Bug des Schiffes zu. Weit hinter sich hörte er die schweren Tritte der Wachen.

Jetzt mußte die Beschreibung des Schiffes, die er erhalten hatte, genau stimmen, sonst war die Expedition beendet, noch bevor sie richtig begonnen hatte !

Er lief an langen Reihen leerer Zellen vorbei und kam zu einer Tür mit der Aufschrift AUFENTHALTSRAUM DER WACHEN. Eine erleuchtete grüne Birne über der Tür deutete an, daß die Sauerstoffversorgung in Gang war. Dahinter befand sich eine andere Tür. Barrent drückte auf die Klinke - sie war nicht verschlossen.

Dahinter war ein Raum, angefüllt mit Ersatzteilen für die Maschinen. Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.

Die Wachen kamen den Korridor heraufgepoltert. Barrent hörte ihre Stimmen, als die Männer den Aufenthaltsraum betraten.

»Woher, glaubst du, rührten die Explosionen?«

»Wer weiß? Diese Verbrecher haben eben einen Tick.«

»Die würden den ganzen Planeten in die Luft jagen, wenn sie könnten. «

»Dann wären wir sie endlich los!«

»Na, ja, jedenfalls hat es keinen sichtbaren Schaden angerichtet.

Vor fünfzehn Jahren gab es schon mal ähnliche Explosionen.

Erinnert ihr euch?«

»Da war ich noch nicht hier.«

»Damals waren sie noch stärker. Zwei Wachen kamen dabei ums Leben und etwa einhundert Gefangene.«

»Was war die Ursache?«

»Keine Ahnung. Diesen Omeganern macht es Spaß, Dinge einfach so in die Luft zu jagen.«

»Könnten Sie nicht einmal unser Raumschiff angreifen?«

»Keine Gefahr. Denk an die Spähschiffe, die oben patrouillieren!«

»Glaubst du? Ich bin froh, wenn wir erst wieder sicher an der Kontrollstation angelangt sind.«

»Ganz meine Meinung. Das Schönste wäre ein anderer Job !

Heraus aus diesem Schiff und das Leben mal wieder ein bißchen genießen!«

»Das Leben am Kontrollpunkt ist gar nicht so schlecht. Trotzdem möchte ich lieber wieder zurück zur Erde.«

»Na, ja, man kann eben nicht alles haben.«

Die letzte Wache betrat den Aufenthaltsraum und schlug die Tür hinter sich zu. Barrent wartete. Nach einer Weile begann das Schiff zu beben. Es begann seinen Flug.

Barrent hatte ein paar wertvolle Informationen erhalten. Anscheinend verließen alle oder jedenfalls die meisten Wachen das Schiff am Kontrollpunkt. Hieß das, daß eine andere Wachmannschaft sie ablöste? Wahrscheinlich. Aber ein Kontrollpunkt brachte die Gefahr mit sich, daß das Schiff nach entflohenen Gefangenen durchsucht wurde. Wahrscheinlich wurde es nur eine oberflächliche Durchsuchung sein, da in der Geschichte von Omega noch nie ein Gefangener entflohen war. Trotzdem würde er sich ein gutes Versteck suchen müssen

Doch alles zu seiner Zeit! Jetzt spürte er das Nachlassen der Vibration und wußte, daß das Schiff die Oberfläche von Omega verlassen hatte. Er befand sich an Bord, noch immer unentdeckt, und das Schiff war auf dem Weg zur Erde. Bis jetzt war alles planmäßig abgelaufen

Während der nächsten Stunden harrte Barrent im Vorratsraum aus. Er fühlte sich sehr müde, seine Muskeln schmerzten. Die Luft in dem kleinen Raum hatte einen sauren, schlechten Geruch. Barrent mußte sich zwingen, aufzustehen und zum Ventilator zu gehen. Er hielt die Hand darüber. Nichts regte sich. Es kam keine frische Luft herein. Barrent zog ein Meßgerät aus der Tasche. Der Sauerstoffgehalt der Luft fiel schnell ab.

Vorsichtig öffnete er die Tür zum Gang und blickte hinaus.

Obgleich er in eine perfekt nachgeahmte Uniform gekleidet war, war er sich wohl bewußt, daß er unter Männern, die einander gut kannten, nicht lange unentdeckt bleiben würde. Er mußte sich versteckt halten. Aber er brauchte Luft!

Die Gänge lagen verlassen da. Er schlich an dem Aufenthaltsraum der Wachen vorbei und hörte leises Gemurmel. Über der Tür leuchtete hell die grüne Lampe. Barrent hastete weiter, er spürte bereits ein leichtes Schwindelgefühl. Sein kleines Meßgerät zeigte ihm, daß auch der Sauerstoffgehalt in den Gängen stark nachließ.

Die Gruppe Zwei hatte angenommen, daß das Durchlüftungssystem im gesamten Schiff funktionieren würde. Jetzt mußte Barrent einsehen, daß es nicht erforderlich war, das ganze Schiff mit Sauerstoff zu versorgen, da nur die Wachen und das Schiffspersonal an Bord waren. Nur in den Wohnräumen der Besatzung und im Aufenthaltsraum der Wachen würde es frische Luft geben.

Barrent lief die schwach erleuchteten, ausgestorbenen Gänge entlang; er keuchte vor Erschöpfung. Die Luft wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Vielleicht wurde der Sauerstoff in dem Aufenthaltsraum verwendet, bevor die Hauptversorgungsleitung des Schiffes angezapft wurde.

Er kam an vielen unverschlossenen Türen vorbei, aber nirgends glühte die grüne Lampe darüber auf. Sein Kopf dröhnte, und seine Beine fühlten sich an, als würden sie zu Pudding.

Krampfhaft überlegte er, was er tun sollte.

Die Räume der Besatzungsmitglieder schienen ihm die größte Chance zu bieten. Vielleicht waren diese nicht bewaffnet. Und selbst wenn das der Fall war, so würden sie ihre Waffen hoffentlich nicht so flink bei der Hand haben wie die Wachen. Vielleicht konnte er einen der Offiziere mit der Waffe in Schach halten; vielleicht konnte er sogar den Befehl über das Schiff übernehmen

Der Versuch lohnte sich. Er mußte ihn wagen.

Am Ende des Ganges erreichte er eine Treppe. Er stieg an mehreren völlig verlassenen Stockwerken vorbei und kam endlich zu einer großen Aufschrift an der Wand. KONTROLLABTEILUNG, las er.

Daneben war ein langer Pfeil aufgemalt, der die Richtung

angab.

Barrent zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und taumelte den Korridor entlang. Allmählich verlor er das Bewußtsein.

Schwarze Schatten tanzten vor seinen Augen. Verzerrte Gestalten, Halluzinationen, Schreckgespenster tauchten vor ihm auf. Er kroch auf Händen und Füßen weiter, auf eine Tür zu. Mit letzter Anstrengung zog er sich etwas hoch und las: KONTROLLRAUM EINTRITT VERBOTEN! NUR FÜR SCHIFFSOFFIZIERE!

Der Korridor schien sich mit einem grauen Nebel zu füllen

Dann hellte er sich wieder auf. Barrent stellte fest, daß er die Augen nicht mehr auf einen Punkt zu konzentrieren vermochte. Er zog sich noch weiter hoch und zerrte am Türgriff. Langsam öffnete sich die Tür. Er umklammerte seine Waffe noch fester und versuchte sich auf eine Handlung vorzubereiten

Aber sobald er die Tür geöffnet hatte, hüllte ihn eine undurchdringliche Schwärze ein. Er glaubte erschrockene Gesichter zu sehen, das Rufen von Stimmen zu hören: »Vorsicht! Er ist bewaffnet!« Und dann stürzte er kopfüber in die Schwärze und fiel endlos lange, immer tiefer und tiefer.

Barrents Rückkehr ins Bewußtsein ging ganz plötzlich vor sich.

Er setzte sich auf und stellte fest, daß er in den Kontrollraum gestürzt war. Die Metalltür hatte sich wieder hinter ihm geschlossen. Er atmete ohne Schwierigkeiten. Von den Mannschaften war nichts zu sehen. Sie mußten gegangen sein, um die Wachen zu holen, in der Annahme, daß er noch länger bewußtlos bleiben würde.

Er stand auf, instinktiv nahm er seine Waffe vom Boden. Er untersuchte sie genau, runzelte die Stirn und steckte sie wieder ein. Warum, so fragte er sich, sollte die Besatzung ihn allein in der Steuerzentrale zurücklassen, dem wichtigsten Teil des Schiffes? Warum hatten sie ihm seine Waffe gelassen?

Er versuchte sich an die Gesichter zu erinnern, die er gesehen hatte, kurz bevor er ohnmächtig geworden war. Es waren ungenaue Vorstellungen, vage und verschwommene Gestalten mit hohlen, traumhaften Stimmen. Waren wirklich Menschen hier gewesen?

Je mehr er darüber nachdachte, um so mehr wurde es ihm zur Gewißheit, daß diese Leute nur Sinnestäuschungen seines schwindenden Bewußtseins gewesen waren. Niemand war hier gewesen. Er befand sich ganz allein im Nervenzentrum des Schiffes. Noch immer mißtrauisch, näherte er sich der Hauptkontrolltafel. Sie war in zehn Sektoren aufgeteilt. Jeder Sektor hatte eine eigene Reihe von Schaltern und Knöpfen, unter denen kurze Bezeichnungen vermerkt waren.

Langsam musterte Barrent die verschiedenen Abschnitte des Schaltpults und beobachtete das Lichtmuster, das über die unzähligen Lämpchen huschte. Der letzte Abschnitt schien einer übergeordneten Kontrolle zu dienen. Auf einer kleinen Sichtscheibe stand: KOORDINATION,

HANDBEDIENUNG/AUTOMATIK. Der Teil für AUTOMATIK war beleuchtet. Es gab noch ähnliche Schalteinheiten - für Navigation, für die Sicherung vor Zusammenstößen, für den Übergang in den Hyperraum, für den Eintritt in die Atmosphäre und für die Landung. Alle waren auf automatische Schaltung gestellt. Weiter hinten fand er die Programmierungstafel, die vorgesehenen Daten waren aus der Schalterstellung ersichtlich. Der Zeitabstand bis zum Kontrollpunkt betrug jetzt 29 Stunden, 4 Minuten, 51 Sekunden. Die vorgesehene Aufenthaltszeit drei Stunden. Die Zeit vom Kontrollpunkt bis zur Erde: 480 Stunden

Die Steueranlage flackerte und summte ruhig und selbstsicher.

Barrent konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß die Anwesenheit eines Menschen in dieser Maschinerie einer Tempelschändung gleichkam. Er überprüfte die Luftklappen.

Sie waren auf automatische Speisung eingestellt und gaben gerade genug Sauerstoff ab, um für die Anwesenheit eines menschlichen Wesens in der Zentrale zu genügen

Aber wo war die Besatzung? Barrent verstand die Notwendigkeit, ein Raumschiff im großen und ganzen mit automatischer Schaltung funktionieren zu lassen. Ein System, das so groß und kompliziert war wie dieses, mußte sich selbst steuern können

Aber der Mensch hatte es gebaut, und der Mensch hatte es auch programmiert. Warum also waren keine Menschen zugegen, um die Schalttafeln zu überwachen, das Programm zu verändern, falls sich dies als notwendig erwies? Angenommen, die Wachen wären länger auf Omega aufgehalten worden? Angenommen, es würde sich als notwendig erweisen, am Kontrollpunkt vorbeizufahren und die Erde direkt anzusteuern? Angenommen, es ergab sich eine Zwangslage, aus der heraus der gesamte Bestimmungsort geändert werden mußte? Wer stellte die neue Programmierung ein, wer gab dem Schiff Befehle, wer besaß die leitende Intelligenz, die die gesamte Operation zu führen vermochte?

Barrent blickte sich im Kontrollraum um. Er fand einige Notausrüstungen mit Sauerstoffbehältern und Masken. Eine davon legte er an und ging hinaus in den Korridor.

Nach geraumer Zeit erreichte er eine Tür mit der Aufschrift BESATZUNGSUNTERKÜNFTE. Er ging hinein. Alles war ordentlich und sauber, aber leer. Die Betten standen gerade ausgerichtet nebeneinander, ohne Decken und Laken. In den Schränken hingen keine Kleidungsstücke, lagen keine persönlichen Habseligkeiten irgendwelcher Art. Barrent ging in die Offizierskajüten und in die Kabine des Kapitäns. Er fand kein Zeichen dafür, daß sie noch kürzlich bewohnt worden waren.

Er ging zum Kontrollraum zurück. Es war ganz offensichtlich, daß das Schiff keine Besatzung besaß. Vielleicht waren die Autoritäten auf der Erde so überzeugt von der Unfehlbarkeit ihrer Pläne und der Verläßlichkeit ihrer Schiffe, daß sie eine Besatzung für überflüssig hielten. Vielleicht...

Aber eine derartige Einstellung erschien Barrent äußerst leichtsinnig. Es war höchst seltsam, daß die Erde ihre Raumschiffe ohne menschliche Oberaufsicht operieren ließ!

Er entschloß sich, nicht weiter zu überlegen, bevor er mehr Tatsachen gesammelt hatte. Im Augenblick mußte er sich seinem eigenen Problem widmen: zu überleben. In seinen Taschen befand sich eine genügende Menge konzentrierter Nahrung, aber Wasser hatte er nicht mit sich führen können. Ob das besatzungslose Schiff Wasservorräte besaß? Er mußte an die Wachtruppe unten im Aufenthaltsraum denken. Und er überlegte auf Grund seiner neuen Informationen, was im Kontrollpunkt geschehen würde und wie er sich zu verhalten hätte.

Barrent stellte fest, daß er nicht auf seinen eigenen Nahrungsvorrat angewiesen war. In der Offiziersmesse spuckten diverse Maschinen auf einen Knopfdruck hin Essen und Getränke aus. Er konnte nicht unterscheiden, ob es natürliche oder chemisch aufgebaute Nahrung war. Sie schmeckte gut und schien ihn zu ernähren - daher kümmerte er sich nicht weiter um diese Frage.

Er erforschte die oberen Teile des Schiffes. Aber nachdem er sich mehrmals verlaufen hatte, entschloß er sich, keine weiteren unnötigen Risiken einzugehen. Das Lebenszentrum des Schiffes war sein Kontrollraum, und Barrent verbrachte die meiste Zeit darin. Er bemerkte eine Aussichtsluke. Durch Drehen des Schalters, der die Gitter öffnete, konnte er hinaus in die Weiten des Raumes blicken, mit den glühenden Sternen in der undurchdringlichen Dunkelheit. Ein Meer von Sternen erstreckte sich über den ganzen Horizont - prächtiger, als seine Phantasie es je ausgemalt hatte. Beim Anblick dieses Wunders durchdrang ihn ein bisher nie gefühlter Stolz. Hierher gehörte er, und jene unbekannten Sterne waren sein Erbe.

Die Zeit bis zum Erreichen des Kontrollpunkts schrumpfte auf sechs Stunden zusammen. Barrent sah neue Teile des Schaltpults zum Leben erwachen; sie prüften und änderten die Kräfte, die das Schiff beherrschten, bereiteten auf die Landung vor. Er wunderte sich, wie schnell er sich in diesen technischen Dingen zurechtfand - wahrscheinlich halfen ihm unbewußte Erinnerungen. Drei und eine halbe Stunde vor der Landung machte Barrent eine interessante Feststellung. Er entdeckte das zentrale Kommunikationssystem für das gesamte Schiff. Als er den Empfänger einschaltete, konnte er die Unterhaltung im Aufenthaltsraum der Wachen abhören.

Er erfuhr nicht viel, was für ihn von Nutzen gewesen wäre.

Entweder aus Vorsicht oder aus Mangel an Interesse sprachen die Männer nicht über Politik. Sie lebten in der Kontrollstation gelegentlich machten sie Fahrten mit dem Gefangenenschiff.

Manche der Dinge, die sie diskutierten, waren für Barrent unverständlich. Aber er lauschte doch weiter, interessiert an allem, was diese Menschen von der Erde zu sagen hatten.

»Baden in Florida - das ist das Schönste, was ich mir vorstellen kann.«

»Ich habe Salzwasser nie gemocht.«

»Im Jahr, bevor ich zu den Wachen abkommandiert wurde, gewann ich den dritten Preis beim Orchideenfest in Dayton..«:

»Nach meiner Pensionierung kaufe ich mir eine Villa in Antarktika.«

»Wieviel Dienstjahre hast du noch vor dir?«

»Achtzehn Jahre.«

»Gerade uns haben sie eingezogen!«

»Jemand muß es ja tun.«

»Aber warum gerade ich? Und warum kriegen wir keine Ferien auf der Erde?«

»Du hast doch die Unterrichtsfilme gesehen und weißt genau, warum. Verbrechen ist eine Krankheit. Es ist ansteckend.«

»Na und?«

»Wenn du mit Verbrechern zu tun hast, läufst du Gefahr, selbst angesteckt zu werden. Du könntest jemanden auf der Erde vergiften.«

»Es ist nicht gerecht.«

»Das läßt sich nicht ändern. Die Wissenschaftler wissen schon, wovon sie reden. Außerdem ist es auf dem Kontrollpunkt auch nicht so schlecht.«

»Wenn du künstliche Dinge magst. Luft, Blumen, Nahrung...«

»Du kannst nicht alles haben. Ist deine Familie dort?«

»Meine Frau will zurück zur Erde.«

»Nach fünf Jahren Leben im Kontrollpunkt hältst du es auf der Erde nicht mehr aus, habe ich gehört. Die Schwerkraft packt dich zu stark.«

»Ich halte die Schwerkraft schon aus. Immer...«

Aus diesen Unterhaltungen ersah Barrent, daß die grimmig aussehenden Wachen menschliche Wesen waren, genauso wie die Gefangenen auf Omega. Die meisten der Posten schienen die Arbeit, die sie verrichten mußten, nicht zu mögen. Wie die Leute von Omega sehnten auch sie sich zurück zur Erde.

Die Zeit verging. Das Schiff befand sich schon in unmittelbarer Nähe des Kontrollpunkts, die gigantischen Schalttafeln flammten auf und surrten heftig; sie trafen die letzten Anordnungen für die schwierige Landung.

Schließlich war das Manöver durchgeführt, die Maschinen setzten aus. Durch die Höranlage erfuhr Barrent, daß die Wachen den Aufenthaltsraum verließen. Er folgte ihnen den Gang entlang bis zur Landungsrampe. Er hörte den letzten, der das Schiff verließ, sagen: »Da ist ja auch schon der Suchtrupp.

Na, was sagt ihr, Jungs?«

Keine Antwort. Die Wachen waren fort, und nun erscholl ein neues Geräusch in den Gängen: die schweren Tritte jener, die die Wachen die Suchtrupps nannten

Es schienen viele Menschen zu sein. Sie durchsuchten zuerst die Maschinenräume und bewegten sich systematisch nach oben. Den Geräuschen nach zu urteilen, schienen sie jede Tür zu öffnen und jedes Zimmer und jeden Schrank zu durchstöbern

Barrent hielt die Nadelstrahlwaffe in der schwitzenden Hand und fragte sich verzweifelt, wo er sich verstecken sollte. Er mußte damit rechnen, daß sie überall nachsehen würden. In diesem Fall lag die beste Chance, ihnen aus dem Weg zu gehen, darin, sich in einem Teil des Schiffs zurückzuziehen, den sie bereits durchsucht hatten.

Er stülpte sich eine Sauerstoffmaske über den Kopf und betrat den Korridor.

Eine halbe Stunde später hatte Barrent noch immer keine Möglichkeit gefunden, an der Suchtruppe vorbeizugelangen. Sie hatten die tieferen Teile des Schiffes inspiziert und bewegten sich jetzt auf den Kontrollraum zu. Barrent konnte sie die Gänge heraufkommen hören. Fast hundert Meter vor ihnen eilte er davon, verzweifelt nach einem Versteck spähend.

Am Ende dieses Korridors müßte eine Treppe sein. Auf ihr konnte er vielleicht hinuntersteigen, zu einem Teil des Schiffes, der schon durchsucht worden war. Er hastete weiter und hoffte nur, daß sich seine Hoffnung erfüllte. Noch immer hatte er nur eine vage Vorstellung der Raumverteilung des Schiffes. Wenn er sich irrte, hätte er sich selbst in eine Falle manövriert.

Er erreichte das Ende des Ganges, und die Treppe war tatsächlich vorhanden. Die Schritte hinter ihm kamen näher. Er rannte die Stufen hinunter; gelegentlich blickte er über die Schulter nach hinten.

Und dabei rannte er mit dem Kopf direkt gegen einen

gewaltigen Brustkasten.

Barrent taumelte zurück und legte die Waffe auf die enorme Gestalt an. Aber er feuerte nicht ab. Das Wesen vor ihm war kein Mensch.

Es war über einen Meter groß und trug eine schwarze Uni form, auf der vom SUCHTRUPP - ANDROID B 212 eingeprägt war.

Das Gesicht war den menschlichen Zügen nachgebildet, säuberlich geformt aus kalkfarbenem Plastikmaterial. Die Augen glühten tief rot.

Es schaukelte auf zwei Beinen, sorgfältig darauf bedacht, die Balance zu wahren. Es sah Barrent starr an und bewegte sich auf ihn zu. Barrent wich ihm aus. Er wußte nicht, ob seine Nadelstrahlwaffe den Androiden aufhalten konnte.

Er hatte keine Gelegenheit, es auszuprobieren, denn der Android ging an ihm vorbei und weiter die Treppe hinauf. Auf seinem Rücken standen die Worte SUCHABTEILUNG FÜR NAGETIERE. Dieser Android war lediglich darauf spezialisiert, nach Ratten und Mäusen zu fahnden. Die Gegenwart eines blinden Passagiers hatte auf ihn überhaupt keinen Eindruck gemacht. Folglich waren die anderen Androiden des Suchtrupps ähnlich spezialisiert.

Barrent wartete in einer Vorratskammer im unteren Teil des Schiffes, bis er die schweren Tritte der Androiden sich entfernen und das Schiff verlassen hörte. Dann lief er eilig zurück zur Steuerzentrale. Wachen kamen nicht an Bord. Genau nach Zeitplan verließ das Schiff den Kontrollpunkt.

Endziel: Erde. Die übrige Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Barrent schlief und aß und beobachtete das endlose Schauspiel der Sterne durch die Sichtluke, bis das Schiff in die untere Atmosphäre eintauchte. Er versuchte, sich den Planeten, auf den er zusteuerte, vorzustellen, aber es gelang ihm nicht, ein einigermaßen klares Bild zu entwerfen. Was waren das für

Menschen, die Raumschiffe bauten, sie aber nicht mit einer Besatzung ausstatteten? Warum sandten sie Suchtrupps aus, deren Aufgaben auf unerklärliche Weise eingeschränkt waren? Warum mußten sie eine ansehnliche Zahl ihrer Bevölkerung deportieren - und warum kümmerten sie sich dann nicht darum, unter welchen Bedingungen diese Deportierten lebten und starben? Warum hielten sie es für notwendig, alle Erinnerungen der Gefangenen an die Erde auszulöschen?

Barrent fand keine Antwort auf all diese Fragen.

Die Zeitmesser im Kontrollraum rückten ständig voran, zählten die Stunden, Minuten und Sekunden der Fahrt ab. Das Schiff tauchte in die Atmosphäre, bog in die Kreisbahn um eine blau und grün gesprenkelte Welt, die Barrent mit gemischten Gefühlen betrachtete. Es fiel ihm schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, am Ziel seiner Sehnsucht zu sein.

Das Raumschiff landete an einem sonnendurchfluteten Tag irgendwo auf dem nordamerikanischen Kontinent der Erde. Barrent hatte vorgehabt, das Schiff erst im Schutz der Dunkelheit zu verlassen; aber auf den Schalttafeln des Kontrollraums flackerte ein altes und ironisch anmutendes Warnsignal auf: Alle Passagiere sowie die Besatzungsmitglieder müssen das Schiff sofort verlassen! Das Schiff wird einer gründlichen Entgiftung unterzogen. Sie haben zwanzig Minuten Zeit!

Er hatte keine Ahnung, was eine gründliche Entgiftung war.

Aber da auch die Besatzung nachdrücklich aufgefordert wurde auszusteigen, würde vielleicht selbst eine Gasmaske keine völlige Sicherheit gewähren. Von den beiden Gefahren schien die, das Schiff zu verlassen, die geringere.

Die Mitglieder von Gruppe Zwei hatten sich lange mit der Frage beschäftigt, welche Kleidung Barrent beim Betreten der Erde tragen sollte. Die ersten Minuten auf der Erde konnten für das ganze Unternehmen von entscheidender Bedeutung sein.

Keine List konnte ihm helfen, wenn seine äußere Erscheinung offensichtlich fremdartig anmutete. Typische Erdkleidung war am besten, aber die Gruppe war sich nicht im klaren, was man derzeit auf der Erde trug. Ein Teil der Gruppe wollte, daß Barrent einen Anzug anlegte, der ihren Vorstellungen von den gebräuchlichen Kleidungsstücken auf der Erde am ehesten entsprach.

Eine andere Meinung war die, daß er in der Uniform der Wachen am sichersten war. Barrent selbst hatte eine dritte Möglichkeit am besten zugesagt: Er glaubte, daß ein einteiliger Overall, wie die Mechaniker trugen, auf einem Raumflughafen am wenigsten auffallen würde. In den größeren Orten und Städten würde ihm diese Verkleidung wahrscheinlich zum Nachteil gereichen, aber er mußte eben das kleinere Übel wählen.

Schnell legte er die Uniform ab. Darunter trug er bereits den Overall. Mit gezückter, in der Tasche verborgener Waffe und einer Schachtel mit Lebensmitteln in der Hand, schritt Barrent den Gang entlang auf die Ausstiegsrampe zu. Einen Augenblick zögerte er und überlegte, ob er die Waffe besser im Schiff zurückließe. Er beschloß, sich nicht von ihr zu trennen. Eine Durchsuchung würde ihn sowieso entlarven; mit der Waffe jedoch hätte er vielleicht eine Chance, aus dem Gewahrsam auszubrechen.

Er holte tief Luft und kletterte aus dem Schiff auf die Rampe.

Es waren keine Wachen da, keine Suchtrupps, keine Polizei, keine Militäreinheiten, keine Zollbeamten. Es war überhaupt niemand zu sehen. Weit entfernt, auf der anderen Seite des Feldes sah er eine Reihe Raumschiffe in der Sonne glitzern. Direkt vor ihm befand sich ein Zaun mit einem offenen Tor.

Barrent ging über das Feld, schnell, aber ohne sichtliche Hast. Er konnte nicht begreifen, warum alles so einfach vonstatten ging-

Vielleicht besaß die Geheimpolizei der Erde heimtückische und wirksame Mittel, die Passagiere eines Raumschiffs zu überprüfen.

Er erreichte das Tor. Niemand war zu sehen, außer einem Mann mittleren Alters mit einer Glatze und einem etwa zehnjährigen Jungen. Sie schienen auf ihn zu warten. Barrent konnte kaum glauben, daß es Regierungsbeauftragte waren; aber wer kannte sich schon in den Gepflogenheiten der Erde aus? Er durchschritt das Tor.

Der kahle Mann hatte den Jungen an der Hand gefaßt und kam auf Barrent zu. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann.

»Ja?«

»Ich sah Sie aus dem Raumschiff kommen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«

»Nicht im geringsten«, antwortete Barrent, die Hand dicht am Reißverschluß der Tasche, in der die Waffe steckte. Er war jetzt ganz sicher, daß der glatzköpfige Mann ein Polizeiagent war.

Das einzige, was ihm nicht verständlich war, war die Anwesenheit des Kindes. Vielleicht aber war auch der Junge ein Agent, der gerade geschult wurde.

»Die Sache ist nämlich die«, sagte der Mann, »mein Sohn Ronny hier schreibt gerade an einer Dissertation für seinen Doktor zehnten Grades. Über Raumschiffe.«

»Deshalb wollte ich gern eins sehen«, fügte Ronny hinzu. Er war klein, mit einem ausdrucksvollen, intelligenten Gesicht.

»Er wollte unbedingt eins sehen«, wiederholte der Mann. »Ich habe ihm gesagt, daß es nicht nötig wäre, da alle Tatsachen und Bilder in der Enzyklopädie stehen. Aber er ließ sich nicht davon abbringen.«

»Es gäbe mir die Möglichkeit, eine gute Einleitung zu schreiben«, sagte Ronny.

»Natürlich«, antwortete Barrent, ernsthaft nickend. Er wunderte sich jetzt wieder über den Mann. Wenn er ein Mitglied der Polizei war, ging er wirklich einen höchst seltsamen Weg

»Arbeiten Sie auf dem Schiff?« fragte Ronny.

»Ja.«

»Wie groß ist seine Geschwindigkeit?«

»Im richtigen oder im Hyperraum?« fragte Barrent.

Diese Frage schien Ronny zu verwirren. Er schob die Unterlippe vor und sagte: »Herrje! Ich wußte ja gar nicht, daß sie in den Hyperraum vordringen!« Einen Moment überlegte er. »Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß nicht einmal, was der Hyperraum ist.«

Barrent und der Vater des Jungen lächelten sich verständnisvoll an. »Und wie schnell fliegen sie im normalen Raum?« fragte Ronny.

»Hunderttausend Meilen in der Stunde«, antwortete Barrent.

Er gab die erste Zahl, die ihm in den Sinn kam, an

Der Junge nickte, und auch sein Vater nickte. »Sehr schnell«, bemerkte der Vater.

»Und im Hyperraum geht's natürlich noch viel schneller«, sagte Barrent.

»Natürlich«, stimmte der Mann zu. »Raumschiffe sind wirklich ungeheuerlich schnell. Das müssen sie ja auch. Bei den Entfernungen! Habe ich nicht recht, Sir?«

»Sehr, sehr große Entfernungen«, bestätigte Barrent.

»Wie wird ein Schiff angetrieben?« fragte Ronny.

»Auf die normale Art«, antwortete Barrent. »Letztes Jahr bauten wir Triplexkurbeln ein, aber die sind eigentlich mehr als Aushilfskraft gedacht.«

»Ich habe von diesen Triplexkurbeln schon gehört«, sagte der Mann. »Enorme Dinger.«

»Ihrer Aufgabe entsprechend«, bemerkte Barrent klug. Er war

jetzt gewiß, daß der Mann wirklich das war, wofür er sich ausgab: Ein Bürger mit keiner speziellen Kenntnis über Raumschiffe, der nur seinen Sohn zum Raumhafen geleitet hatte.

»Woher bekommen Sie im Schiff genug Luft?« fragte Ronny.

»Wir nehmen sie in Form von Preßluft mit«, erklärte Barrent.

»Aber die Luft ist kein großes Problem. Wasser - das ist schon schwieriger. Wasser läßt sich nämlich nicht zusammendrücken, wissen Sie. Es läßt sich schwer in großen Mengen aufbewahren.

Und dann ist da noch das Navigationsproblem, wenn das Schiff aus dem Hyperraum taucht.«

»Was ist denn der Hyperraum?« fragte Ronny.

»In Wirklichkeit ist es einfach ein andersartiger Teil des normalen Raums. Aber das kannst du ja alles in deiner Enzyklopädie nachlesen.«

»Das ist völlig richtig, Ronny«, stimmte der Vater zu. »Wir dürfen jetzt den Piloten nicht noch länger aufhalten. Sicherlich hat er viele wichtige Dinge zu erledigen.«

»Ich habe es ziemlich eilig«, sagte Barrent. »Sehen Sie sich nur alles in Ruhe an. Viel Glück für deine Dissertation, Ronny.«

Barrent ging hundert Meter mit einem kitzligen Gefühl im Rücken, jeden Moment erwartete er den Schuß einer Nadelstrahlwaffe oder das Zischen eines Gewehrs. Aber als er sich dann umdrehte, wandten ihm die beiden den Rücken zu und musterten voller Interesse das Raumschiff. Barrent zögerte einen Moment; er machte sich Sorgen. Bis jetzt war alles viel zu glatt verlaufen. Verdächtig glatt. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzugehen.

Die Straße führte vom Raumhafen weg an einer Reihe von Lagerschuppen vorbei auf einen Wald zu. Barrent ging weiter, bis er außer Sichtweite der beiden war. Dann verließ er die

Straße und schlug sich seitwärts in den Wald. Für seinen ersten Tag auf der Erde hatte er genug Kontakt mit Menschen gehabt. Er wollte sein Glück nicht herausfordern. Er wollte sich die Dinge erst einmal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen, die Nacht im Wald schlafen und am nächsten Morgen eine Stadt aufsuchen.

Er zwängte sich durch dichtes Unterholz. Bald aber lichteten sich die Büsche, und er konnte unter den kühlen Schatten mächtiger Eichen bequem dahinschreiten. Um ihn herum zirpten und zwitscherten unsichtbare Vögel und Insekten. Ein Stückchen vor ihm war ein großes weißes Schild an einen Baum genagelt. Als Barrent näher kam, las er: WALDTALER NATIONALPARK. PICKNICKEN UND CAMPING GESTATTET!

Barrent war ein bißchen enttäuscht, obgleich er sich darüber im klaren war, daß er so nahe einem Raumhafen keine unberührte Wildnis erwarten durfte. Außerdem gab es auf einem Planeten, der alt und weit entwickelt war wie die Erde, wahrscheinlich überhaupt kein unberührtes Land mehr, außer den Nationalparks.

Die Sonne stand schon tief am Horizont, und am Boden breitete sich die abendliche Kühle aus. Barrent fand ein bequemes Fleckchen unter einer gigantischen Eiche, rückte sich ein paar Stauden zurecht und legte sich darauf nieder. Er hatte eine Menge nachzudenken. Warum, beispielsweise, hatte man an dem wichtigsten Kontaktpunkt der Erde, einem interstellaren Raumhafen, keine Wachtposten aufgestellt? Begannen die Sicherheitsmaßnahmen erst später, in den Ortschaften und Städten?

Oder unterlag er bereits einer Art Überwachung, einem unmerklichen, heimtückischen Geheimsystem, das jede seiner Bewegungen wahrnahm und nur auf einen geeigneten Augenblick wartete, ihn festzunehmen? Oder war das zu phantastisch gedacht? Könnte es sein, daß -?

»Guten Abend«, ertönte eine Stimme, direkt neben seinem rechten Ohr. Mit einer entsetzten Bewegung sprang Barrent zur Seite, seine Hand zuckte zur Waffe.

»Und einen sehr angenehmen Abend noch dazu«, fuhr die Stimme fort, »den Sie hier im Waldtaler Nationalpark erleben.

Die Temperatur beträgt 78,2 Grad Fahrenheit, Feuchtigkeit 23 Prozent, Barometerstand beständig auf neunundzwanzig Punkt neun. Alte Campierer erkennen mich sicher an der Stimme. Den neuen Naturfreunden unter Ihnen will ich mich aber vorstellen.

Ich bin Eichi, Ihr Freund, der Eichbaum. Ich begrüße Sie alle aufs herzlichste, alt und jung, und heiße Sie in Ihrem Nationalpark willkommen.« Aufrecht sitzend, starrte Barrent in die zunehmende Dunkelheit. Er fragte sich, was für ein Streich ihm hier gespielt wurde. Die Stimme schien wahrhaftig aus der großen Eiche zu kommen. »Die Freude der Natur«, fuhr Eichi fort, »ist nun jedem leicht und bequem zugänglich. Sie können sich völliger Abgeschlossenheit erfreuen und sind doch nicht weiter als zehn Minuten zu Fuß von den öffentlichen Verkehrsmitteln entfernt.

Für diejenigen, die nicht allein sein wollen, haben wir Exkursionen zu geringen Preisen arrangiert, die durch die alten Täler führen.

Vergessen Sie nicht, Ihren Freunden von Ihrem Nationalpark zu erzählen. Alle Möglichkeiten dieses Parks warten auf die Freunde der herrlichen Naturschönheiten.«

Ein Spalt tat sich am Baum auf. Heraus glitten ein Schlafsack, eine Thermosflasche und ein Tablett mit Abendessen.

»Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend«, sagte Eichi.

»Genießen Sie die Pracht der Naturwunder. Und jetzt spielt Ihnen das nationale Symphonie-Orchester unter der Leitung von Otter Krug >Die Bergtäler< von Ernesto Nestrichalam, aufgenommen von der nordamerikanischen

Rundfunkgesellschaft. Ihr ergebener Eichbaum wünscht Ihnen eine gute Nacht.«

Aus mehreren versteckten Lautsprechern ertönte Musik. Barrent kratzte sich am Kopf; dann entschloß er sich, die Dinge hin zunehmen, wie sie sich ihm darboten, und aß die Speisen, trank den Kaffee aus der Thermosflasche, rollte den Schlafsack auseinander und legte sich bequem darin zurecht.

Schlaftrunken sann er über den Sinn eines Waldes nach, der mit Drähten ausgestattet war, um Musik erklingen zu lassen, der Nahrung und Getränke verabreichte - und das alles nicht weiter als zehn Minuten von dem nächsten öffentlichen Verkehrsmittel entfernt. Die Erde hatte ihren Bewohnern wirklich allerhand zu bieten. Vermutlich gefielen ihnen diese Dinge. Oder vielleicht doch nicht? Könnte dies eine tückische Falle sein, die ihm die Behörden gelegt hatten? Unruhig wälzte er sich eine Zeitlang von einer Seite auf die andere und versuchte, sich an die Musik zu gewöhnen. Bald verschmolz sie mit dem Rascheln der Blätter und dem Knacken der Zweige. Barrent schlief fest ein.

Am nächsten Morgen servierte ihm die freundliche Eiche das Frühstück und einen Rasierapparat. Barrent aß, wusch und rasierte sich. Danach machte er sich auf den Weg zur nächsten Stadt. Er hatte einen festen Plan gefaßt, nach dem er vorgehen wollte. Zuerst mußte er sich eine narrensichere Verkleidung schaffen und dann mit einer Widerstandsbewegung Kontakt aufzunehmen versuchen. Wenn das gelungen war, mußte er so viel wie möglich über die Geheimpolizei der Erde herausfinden, über die Militärkräfte und dergleichen.

Gruppe Zwei hatte ihm genaue Anweisungen dafür gegeben

Als Barrent die Außenbezirke der Stadt erreicht hatte, wünschte er noch einmal inbrünstig, daß die Methode von Gruppe Zwei funktionieren möge. Bis jetzt hatte die Erde wenig Ähnlichkeit mit dem gezeigt, was die Gruppe Zwei rekonstruiert hatte.

Er wanderte endlos lange Straßen entlang, zu deren Seiten kleine weiße Häuser standen. Zuerst glaubte er, alle Häuser sähen gleich aus. Dann aber bemerkte er, daß jedes geringfügige architektonische Abweichungen aufwies. Aber anstatt den Häusern eine individuelle Note zu geben, hatten diese kleinen Unterschiede höchstens den Effekt, die monotone Gleichheit der Häuser noch zu unterstreichen. Da waren Hunderte dieser Häuser, sie erstreckten sich so weit vor ihm, wie er sehen konnte. Ihre Einheitlichkeit deprimierte ihn. Ganz unerwartet vermißte er den lächerlichen, groben Wirrwarr der Gebäude auf Omega.

Er gelangte zu einem Geschäftszentrum. Auch die Läden waren einander ähnlich, genau wie die Häuser. Sie waren niedrig, unauffällig und alle von gleicher Bauart. Erst bei näherer Besichtigung der Schaufenster konnte man Unterschiede zwischen Lebensmittel-, Bekleidungs- und Sportgeschäften erkennen. Er kam an einem kleinen Gebäude vorbei, das die Aufschrift trug:

ROBOTER-BEICHTSTUHL, 24 STUNDEN TÄGLICH GEÖFFNET. Es schien eine Art Kirche zu sein.

Die Methode, die Gruppe Zwei für Barrent ausgearbeitet hatte, eine Untergrundbewegung zu finden, war einfach und direkt. Revolutionäre, so hatten sie argumentiert, findet man in großen Mengen in den unterdrücktesten und niedrigsten Ständen einer Zivilisation. Armut zeugt Unzufriedenheit; die nichts haben, wollen etwas vom Besitz der Begüterten. Deshalb ist es logisch, in den Slums nach ihnen zu suchen.

Die Theorie war zweifellos richtig. Der Haken war nur, daß Barrent keine Slums fand. Er ging stundenlang immer weiter, vorbei an sauberen Läden und freundlichen kleinen Häusern, an Spielplätzen und Parkanlagen, peinlich sauber gehaltenen Bauernhöfen, und immer wieder an Häusern und Läden. Nichts sah besser oder schlechter aus als das andere.

Gegen Abend war er müde, die Füße schmerzten ihn. Soweit er es beurteilen konnte, hatte er nichts von Bedeutung wahrgenommen. Bevor er mehr über die Struktur der Gesellschaft auf der Erde aussagen konnte, mußte er mit einigen Bewohnern gesprochen haben. Das war ein gefährliches Unterfangen, ließ sich aber nicht vermeiden. Er stand in der Nähe eines Bekleidungsgeschäfts und entschied sich dafür, etwas zu unternehmen. Er würde sich für einen Ausländer ausgeben, für jemanden, der erst kürzlich von Europa oder Asien nach Nordamerika gekommen war. Auf diese Weise würde er mit einer gewissen Berechtigung Fragen stellen können.

Ein Mann kam ihm entgegen, ein untersetzter, normal aussehender Bursche in einem braunen Straßenanzug, Barrent hielt ihn an. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte er. »Ich bin hier fremd, komme gerade aus Rom.«

»Wirklich?« machte der Mann.

»Ja. Leider kenne ich mich hier überhaupt nicht aus«, fuhr Barrent mit einem kleinen entschuldigenden Lächeln fort. »Ich finde einfach kein billiges kleines Hotel. Könnten Sie nur vielleicht -«

»Bürger, fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte der Mann, seine Miene hatte sich verhärtet.

»Wie ich schon sagte: Ich bin Ausländer und suche -«

»Nun hören Sie mal gut zu«, unterbrach ihn der Mann. »Sie wissen doch so gut wie ich, daß es keine Ausländer mehr gibt.«

»Nicht?«

»Natürlich nicht. Ich bin selbst in Rom gewesen. Dort sieht es genauso aus wie hier in Wilmington. Die gleiche Art Häuser und Läden. Niemand ist ein Ausländer.«

Barrent wußte nicht, was er sagen sollte. Er lächelte nervös.

»Außerdem gibt es auf der ganzen Erde keine billigen Unterkünfte mehr. Wozu auch. Wer würde wohl darin wohnen wollen?«

»Ja, wer wohl?« antwortete Barrent unbehaglich. »Ich schätze, ich habe ein bißchen zuviel getrunken.«

»Niemand trinkt heutzutage noch«, sagte der Mann. »Ich verstehe nicht, was Sie mit mir für ein Spiel treiben.«

»Was glauben Sie wohl?« fragte Barrent, in eine Technik verfallend, die die Gruppe ihm empfohlen hatte.

Stirnrunzelnd blickte der Mann ihn an. »Ich glaube, ich hab's«, sagte er. »Sie müssen ein Meinungsforscher sein.«

»Mm«, machte Barrent unverbindlich.

»Das wird es sein«, rief der Mann aus. »Sie sind einer der Bürger, die herumgehen und die Leute nach ihren Meinungen ausfragen.

Eine Umfrage oder so etwas Ähnliches. Stimmt's?«

»Sie haben's erraten«, antwortete Barrent.

»Na ja, es war ja nicht schwer. Immer und überall findet man die Meinungsforscher, die die Einstellung der Leute zu bestimmten Dingen herausfinden wollen. Ich hätte Sie auch gleich erkannt, wenn Sie die Uniform der Meinungsforscher getragen hätten.«

Wieder runzelte er die Stirn. »Wieso sind Sie eigentlich nicht wie ein Meinungsforscher gekleidet?«

»Ich habe gerade erst meine Prüfung abgelegt«, erklärte Barrent. »Bin noch nicht dazu gekommen, mir die Kleidung zu besorgen.« - »Oh! Das sollten Sie aber möglichst bald nachholen«, riet der Mann lebhaft. »Woher soll man denn sonst erkennen, was Sie sind?«

»Das war nur ein Test«, sagte Barrent. »Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit, Sir. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit für mich, Sie in Zukunft wieder einmal zu interviewen.«

»Wann Sie wollen«, antwortete der Mann. Er nickte Barrent höflich zu und ging davon

Barrent dachte über den Vorfall nach und kam zu dem Schluß, daß ein Meinungsforscher die ideale Verkleidung für ihn wäre.

Das würde ihm das überaus wichtige Recht geben, Fragen zu stellen, Leuten zu begegnen, herauszufinden, wie man auf der Erde lebte. Natürlich mußte er sorgfältig darauf bedacht sein, seine Ignoranz zu verbergen. Aber mit Hilfe einer gewissen Umsicht würde er in einigen Tagen viel gelernt haben

Als erstes aber mußte er sich wie ein Meinungsforscher kleiden

Das schien das wichtigste. Ärgerlich war nur, daß er kein Geld besaß. Die Gruppe hatte sich nicht in der Lage gesehen, auf der Erde gebräuchliches Geld herzustellen: niemand konnte sich daran erinnern, wie es aussah. Aber statt dessen hatten sie ihm einige andere wertvolle Dinge mitgegeben. Barrent ging auf das nächste Bekleidungsgeschäft zu.

Der Inhaber war ein kleiner Mann mit porzellanblauen Augen und dem routinemäßigen Lächeln eines Verkäufers. Er begrüßte Barrent und fragte ihn nach seinen Wünschen.

»Ich benötige die Kleidung eines Meinungsforschers«, sagte Barrent. »Ich habe gerade meine Ausbildung abgeschlossen.«

»Selbstverständlich, mein Herr. Da sind Sie bei mir gerade richtig. Die meisten kleinen Geschäfte führen nur die mehr - eh einfacheren Berufskleidungen. Aber hier bei uns finden Sie Fertigware für alle fünfhundertundzwanzig Hauptberufe, die der Zivile Almanach aufführt. Ich bin Jules Wonderson.«

»Es ist mir ein Vergnügen«, antwortete Barrent. »Haben Sie einen Maßanzug von meiner Größe?«

»Sicherlich«, antwortete Wonderson. »Möchten Sie die normale Ausführung oder die spezielle?«

»Die normale genügt mir fürs erste.«

»Die meisten neuen Meinungsforscher ziehen allerdings die Spezialausführung vor«, wandte Wonderson ein. »Die kleinen, extra angebrachten, wie mit der Hand gearbeiteten Details erhöhen den Respekt der Leute.«

»In diesem Fall nehme ich die Sonderausführung.«

»Jawohl. Wenn Sie aber noch ein, zwei Tage warten wollten, dann bekommen wir nämlich ein neues Fabrikat herein. Ein Gewebe, das wie Handarbeit aussieht, mit natürlichen Webfehlern darin. Zur besonderen Unterscheidung des Ranges. Ein wirklicher Prestigeartikel.«

»Vielleicht komme ich deswegen später noch mal wieder«, sagte Barrent. »Im Augenblick benötige ich einen fertigen Anzug.«

»Natürlich«, antwortete Wonderson etwas enttäuscht, was er aber zu verbergen suchte. »Wenn Sie einen ganz kleinen Moment warten wollen... «

Nach mehreren Anproben steckte Barrent in einem schwarzen Anzug, dessen Rockaufschläge mit einem schmalen weißen Saum eingefaßt waren. Für ihn sah dieser Anzug nicht ein bißchen anders aus als die vielen anderen, die Wonderson noch auf Lager hatte, die für Bankiers, Börsenmakler, Kontoristen, Gemüsehändler und so weiter. Aber für Wonderson, der angeregt über den Saum eines Bankiers sprach und über den Faltenwurf beim Versicherungsagenten, traten die Unterschiede so klar zutage wie für einen Einwohner von Omega die verschiedenen Symbole der Rangstufen. Barrent vermutete, daß es eine Folge des langen Trainings war. »Hier, mein Herr!« sagte Wonderson. »Eine perfekte Ausstattung, mit einer lebenslänglichen Garantie. Alles zusammen für neununddreißigfunfundneunzig.« - »Ausgezeichnet!« antwortete Barrent. »Was das Geld anbetrifft -«

»Ja?«

Barrent wagte das Risiko. »Ich besitze keins.«

»Nicht? Aber das ist höchst ungewöhnlich.«

»Ja, in der Tat«, stimmte Barrent zu. »Aber ich habe einige Gegenstände von gewissem Wert.« Er zog einen Ring mit drei Diamanten, den ihm Gruppe Zwei mitgegeben hatte. »Das sind echte Diamanten, die jeder Juwelier gern annehmen wird. Wenn Sie einen nehmen wollen, bis ich das Geld zur Bezahlung -«

»Aber, mein Herr«, unterbrach ihn Wonderson. »Diamanten besitzen keinen Wert mehr! Nicht mehr seit dem Jahr 23, als Von Blon seine entscheidende Arbeit schrieb, die die Illusion des Mangelwerts zerstörte.«

»Ach, ja«, antwortete Barrent, da ihm nichts anderes einfiel.

Wonderson blickte auf die Ringe. »Ich nehme an, daß diese hier vielleicht einen sentimentalen Wert besitzen.«

»Das stimmt. Seit Generationen sind sie in unserem Familienbesitz.«

»Aber dann will ich sie Ihnen wirklich nicht abnehmen«, wehrte Wonderson ab. »Bitte, keine Argumente! Gefühle sind die kostbarsten aller Besitztümer. Ich könnte nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich nur eines dieser Familienerbstücke von Ihnen annehmen würde.«

»Aber wie soll ich denn sonst bezahlen?«

»Zahlen Sie, wann es Ihnen beliebt.«

»Sie wollen sagen, Sie vertrauen mir, obgleich Sie mich gar nicht kennen?«

»Aber ganz gewiß doch«, antwortete Wonderson. Er lächelte schelmisch. »Sie probieren wohl eine Ihrer Interview-Methoden aus, was? Nun, selbst ein Kind weiß doch, daß sich unsere Zivilisation auf Vertrauen aufbaut. Es ist ein Grundsatz, jedem Fremden zu vertrauen, bis er unmißverständlich bewiesen hat, daß er dieses Vertrauen nicht verdient.«

»Sind Sie denn noch nie betrogen worden?«

»Natürlich nicht. Heutzutage ist das Verbrechen nicht existent.«

»Und wie erklären Sie sich dann Omega?« fragte Barrent.

»Was meinen Sie?«

»Omega, den Gefangenenplanet. Sie haben sicher davon gehört.«

»Ich glaube, ja«, antwortete Wonderson vorsichtig. »Vielleicht hätte ich besser sagen sollen, daß es fast keine Verbrecher mehr gibt. Ich schätze, ein paar Typen, die von Geburt an verbrecherisch veranlagt sind, gibt es immer. Aber die kann man leicht als solche erkennen. Im übrigen sollen es nicht mehr als zehn oder zwölf im Jahr sein - bei einer Bevölkerung von beinahe zwei Milliarden.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Meine Chance, einem zu begegnen, ist außerordentlich gering.«

Barrent mußte an das Gefangenenschiff denken, das beständig zwischen Omega und der Erde hin- und herfuhr, seine menschliche Fracht auslud und unermüdlich neue herb ei schaffte. Er fragte sich, woher Wonderson seine Statistiken bezog. Und noch mehr wunderte er sich darüber, wo die Polizei steckte. Seit er das Raumschiff verlassen hatte, war ihm keine einzige Militäruniform begegnet. Er hätte gern danach gefragt, aber es schien ihm klüger, dieses Thema abzubrechen

»Vielen Dank für den Kredit«, sagte er statt dessen. »Ich werde so bald als möglich mit dem Geld wiederkommen.«

»Natürlich«, antwortete Wonderson und schüttelte ihm herzlich die Hand. »Aber lassen Sie sich ruhig Zeit. Es eilt ja nicht.«

Barrent dankte ihm noch einmal und verließ den Laden

Jetzt hatte er einen Beruf. Und wenn die anderen Leute genauso dachten wie Wonderson, hatte er auch unbegrenzten Kredit. Er befand sich auf einem Planeten, der dem ersten Eindruck nach eine Utopie zu sein schien. Allerdings wies diese Utopie auch gewisse Widersprüche auf. Er hoffte, in den nächsten Tagen mehr darüber zu erfahren.

Einen Häuserblock weiter entfernt fand er ein Hotel. Er mietete sich ein Zimmer für eine Woche - auf Kredit.

Am Morgen darauf fragte sich Barrent zu der nächstgelegenen Zweigstelle der öffentlichen Bibliothek durch. Er brauchte historische Informationen. Wenn er die Entwicklung der Zivilisation auf der Erde kannte, konnte er sich bessere Vorstellungen davon machen, was ihn erwartete und worauf er achtgeben mußte., Die Kleidung eines Meinungsforschers, die er jetzt trug, gewährte ihm Zutritt zu den sonst nicht zugänglichen Büchergestellen; wo die Geschichtsbücher aufbewahrt wurden. Aber die Bücher selbst enttäuschten ihn. Die meisten behandelten die alte Geschichte, von den urzeitlichen Anfängen bis zum Aufkommen der Atomkraft. Flüchtig blätterte er sie durch. Während des Lesens erinnerte er sich an verschiedene Dinge, die er früher einmal gewußt haben mußte, und daher konnte er schnell von den alten Griechen über das Römische Reich, Karl den Großen, das Mittelalter, die Normannenkriege bis zum Dreißigjährigen Krieg überwechseln; danach überflog er kurz die Napoleonische Ära.

Sorgfältiger studierte er die Weltkriege. Das Buch endete mit der Explosion der ersten Atombombe. Die anderen Bücher auf dem Regal enthielten nur ergänzende Bemerkungen zu den verschiedenen Stadien, die er schon kennengelernt hatte.

Nach längerem Suchen fand Barrent ein dünnes Werk mit dem Titel >Das Nachkriegs-Dilemma, Teil 1< von Arthur Whittler. Es begann dort, wo die Geschichtsbücher aufgehört hatten, mit den Explosionen der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki.

Barrent setzte sich und begann mit einem sorgfältigen Studium.

Er erfuhr von dem Kalten Krieg der Jahre um 1950, in denen mehrere Nationen im Besitz von Wasserstoffbomben waren

Schon damals, so schrieb der Autor, existierten die Ursprünge einer massiven und lächerlichen Übereinstimmung in den Nationen der Welt. In Amerika herrschte eine wahnwitzige Furcht vor dem Kommunismus. In Rußland und China wiederum herrschte eine wahnwitzige Furcht vor dem Kapitalismus. Eine neutrale Nation nach der anderen wurde entweder ins eine oder ins andere Lager gezogen. Zum Zweck der inneren Sicherheit bedienten sich alle Länder raffinierter Propagandamethoden. Jedes Land glaubte, eine starre Anlehnung an bereits erprobte Doktrinen beibehalten zu müssen, um überleben zu können

Der Druck auf das Individuum, sich der Norm anzupassen, wurde härter und tückischer. Die Gefahren des Krieges waren vorüber. Die vielen Gesellschaften der Erde begannen allmählich in einen einzigen Superstaat zusammenzufließen. Aber der Zwang zur Anpassung wurde immer größer, anstatt nachzulassen.

Diese Notwendigkeit hatte ihren Ursprung in der ständig anwachsenden Bevölkerungszahl und in den vielen Problemen der Vereinheitlichung über nationale und ethnische Grenzen hinweg. Unterschiedliche Meinungen konnten äußerst gefährlich sein; zu viele Gruppen hatten jetzt schon Zugang zu den tödlichen Wasserstoffbomben. Unter diesen Umständen konnte ein abweichendes Benehmen nicht geduldet werden.

Endlich erreichte man den großen Zusammenschluß. Die Eroberung des Weltraums ging weiter, von der Mondrakete über den Planetenraumer zum Sternenschiff. Aber die Institutionen der Erde erstarrten immer mehr. Eine Zivilisation, die noch unbeweglicher war als die des europäischen Mittelalters, bestrafte jede Opposition gegen bestehende Gebräuche, Traditionen und Glaubensregeln. Die Verletzung der sozialen Grundregeln wurde als großes Verbrechen betrachtet, genauso schwer wie Mord oder Totschlag. Und genauso wurde es auch bestraft. Dazu wurden konsequent sämtliche antiquierten Einrichtungen wie Geheimpolizei, Staatspolizei, Spitzel und dergleichen benutzt.

Jedes mögliche Mittel wurde für das an Wichtigkeit alles übertreffende Ziel der Vereinheitlichung angewandt.

Für die Nonkonformisten gab es Omega.

Die Todesstrafe war schon lange vorher abgeschafft, aber man besaß weder genug Platz noch Mittel, um mit der ständig anwachsenden Verbrecherzahl fertig zu werden, die die Gefängnisse überall überforderte. Endlich entschlossen sich die Führer der Welt dazu, die Verbrecher auf eine abgeschiedene Gefangenenwelt zu deportieren, eine Methode, die die Franzosen in Guayana und Neu-Kaledonien und die Engländer in Australien und noch früher auch in Nordamerika angewandt hatten. Da es ganz unmöglich schien, Omega von der Erde aus zu regieren, machten die Behörden gar nicht erst den Versuch. Sie vergewisserten sich nur, daß keiner der Gefangenen entfliehen konnte.

Das war das Ende von Band 1. Eine Notiz am Schluß kündigte an, daß der zweite Band eine Studie über die zeitgenössische Erde enthalten würde. Er sollte den Titel »Der Zustand der Zivilisation« tragen. Dieser zweite Band befand sich nicht im Regal.

Barrent fragte den Bibliothekar danach und erhielt die Auskunft, daß er im Interesse der öffentlichen Sicherheit vernichtet worden war. Barrent verließ die Bibliothek und ging in den kleinen Park. Er ließ sich auf einer Bank nieder, starrte vor sich hin und dachte angestrengt nach. Er hatte erwartet, eine Erde zu finden, wie sie in dem Buch von Whittler beschrieben war. Er war auf einen Polizeistaat vorbereitet gewesen, auf strenge Sicherheitsmaßnahmen, eine unterdrückte Bevölkerung und eine ständig wachsende Atmosphäre von Unruhe. Aber das gehörte anscheinend der Vergangenheit an. Bis jetzt hatte er noch nicht einen einzigen Polizisten gesehen. Keine Sicherheitsmaßnahmen schienen getroffen zu sein, und die

Menschen, denen er begegnet war, sahen nicht im mindesten bedrückt aus. Ganz im Gegenteil. Dies schien eine völlig andere Welt...

Außer daß Jahr für Jahr die Raumschiffe nach Omega flogen, mit ihren Ladungen Gefangener, denen man die Erinnerung geraubt hatte. Wer verhaftete sie? Wer verurteilte sie? Was für eine Gesellschaft brachte sie hervor?

Die Antworten auf diese Fragen mußte er selbst herausfinden.

Früh am nächsten Morgen begann Barrent mit seinen Nachforschungen. Seine Methode war einfach. Er klingelte an Haustüren und stellte Fragen. Er warnte alle seine Opfer davor, daß seine Fragen mit Tricks oder Unsinn durchsetzt sein könnten, dessen Zweck es war, die allgemeine Bewußtseinsbasis zu testen. Auf diese Weise, fand Barrent, konnte er überhaupt alles über die Erde erfragen, konnte widerstreitende Meinungen vernehmen, und das alles, ohne sich selbst eine Blöße zu geben

Allerdings bestand noch immer die Gefahr, daß irgendein Beamter seine Ausweise zu sehen wünschte oder daß letzten Endes doch noch die Polizei auftauchte, wenn er sie am wenigsten erwartete. Aber dieses Risiko mußte er eingehen. Von der Orange Esplanade ausgehend, bewegte sich Barrent nordwärts und machte bei jedem Haus halt. Die Ergebnisse waren recht unterschiedlich, wie ein ausgewähltes Beispiel seiner Arbeit zeigt:

(Bürgerin A. L. Gotthreid, Alter 55, Beruf: Haushälterin. Eine starke Frau, die sich sehr aufrecht hielt, höflich, ohne viel Humor.) »Sie möchten meine Meinung über Klassen und Stände hören? Habe ich Sie richtig verstanden?«

»Jawohl.«

»Ihr Meinungsforscher wollt immer alles mögliche über Klassen und Stände wissen. Man sollte meinen, daß ihr inzwischen schon alles erfahren habt, was es darüber zu erfahren gibt.

Aber meinetwegen. Heutzutage gibt es nur noch eine Klasse, da alle gleich sind. Nämlich die Mittelklasse. Dann bleibt also nur noch die eine Frage, zu welchem Teil der Mittelklasse man gehört. Zu dem oberen, dem mittleren oder dem unteren.«

»Und wonach richtet sich das?«

»Nach allen möglichen Dingen. Nach der Art, wie jemand ißt, spricht, sich kleidet, wie man sich in der Öffentlichkeit benimmt.

Nach dem Auftreten. Nach der Kleidung. Man kann einen Angehörigen der oberen Mittelklasse immer an seiner Kleidung erkennen. Ein Irrtum ist da ausgeschlossen.«

»Ich verstehe. Und die untere Mittelklasse?«

»Erstens einmal fehlt denen, die ihr angehören, eine gewisse schöpferische Energie. Zum Beispiel tragen sie Fertigkleidung, ohne sich die Mühe zu machen, diese auf irgendeine Weise zu verschönern. Das gleiche trifft bei ihren Häusern zu. Einfache, phantasielose Verzierungen tun's eben nicht, das möchte ich hier sagen. Solche Leute empfängt man nicht bei sich zu Hause.«

»Vielen Dank, Bürgerin Gotthreid. Und in welche Rangstufe würden Sie sich einreihen?« (Mit einem ganz geringen Zögern:) »Oh! Darüber habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken gemacht - obere Mittelklasse, glaube ich.«

(Bürger Dreister, Alter 43, Beruf: Schuhverkäufer. Ein schlanker, ruhiger Mann, für sein Alter jung aussehend.) »Ja, Sir. Myra und ich haben drei schulpflichtige Kinder. Alles Jungen.«

»Können Sie mir in etwa sagen, worin ihre Schulausbildung besteht?«

»Sie lernen lesen und schreiben und gute Bürger zu werden

Schon jetzt bereiten sie sich auf einen Beruf vor. Der Älteste übernimmt einmal mein Geschäft - die Schuhe. Die ändern beiden gehen bei einem Gemüsehändler und in einem

Kurzwarengeschäft in die Lehre. Aus dieser Branche stammt die Familie meiner Frau.

Sie lernen auch ihren Stand zu bewahren und die allgemeinen Methoden, um sich im Gesellschaftssystem nach oben zu arbeiten.

Das ist das wichtigste, was sie in den öffentlich zugänglichen Schulklassen lernen.«

»Und gibt es denn auch andere Klassen, die nicht öffentlich sind?«

»Ja, natürlich gibt es noch die geheimen Klassen. Jedes Kind nimmt daran teil.«

»Und was lernen sie in den geheimen Unterrichtsstunden?«

»Das weiß ich nicht. Sie sind geheim, wie ich schon sagte.«

»Sprechen denn die Kinder nie darüber?«

»Nein, sie reden über alles mögliche, aber nicht darüber.«

»Haben Sie denn gar keine Ahnung, was in den geheimen Klassen vor sich geht?«

»Tut mir leid. Aber das weiß ich wirklich nicht. Wenn ich es erraten sollte - aber das ist wirklich nur eine ganz persönliche Meinung -, dann würde ich sagen, es ist etwas Religiöses. Aber da müssen Sie schon einen Lehrer fragen.«

»Vielen Dank. Und in welche Rangstufe würden Sie sich selbst einreihen?«

»Mittlere Mittelklasse. Daran besteht gar kein Zweifel.«

(Bürgerin Maryjane Morgan, Alter 51, Beruf: Lehrerin. Eine große, knochige Frau.)' »Ja, Sir. Ich. glaube, das ist so im großen und ganzen unser Lehrplan an der Little-Beige-Schule.«

»Außer den geheimen Klassen.«

»Wie bitte?«

»Die geheimen Klassen. Von denen haben Sie noch gar nichts erwähnt.« »Das kann ich leider auch nicht.«

»Und warum nicht, Bürgerin Morgan?«

»Ist das eine Fangfrage? Jeder weiß doch nur zu gut, daß an den geheimen Klassen keine Lehrer teilnehmen dürfen.«

»Wer darf dann an ihnen teilnehmen?«

»Die Kinder natürlich!«

»Aber wer unterrichtet sie?«

»Darüber führt die Regierung Aufsicht.«

»Natürlich. Aber wer unterrichtet denn in den geheimen Klassen?«

»Ich habe keine Ahnung. Und es geht mich auch nichts an. Die geheimen Klassen sind eine uralte und angesehene Institution.

Was in ihnen vorgeht, hat höchstwahrscheinlich religiösen Charakter. Aber das ist nur eine Annahme von mir. Was immer es auch sein mag, mich geht es nichts an. Und Sie auch nicht, junger Mann, ganz gleich, ob Sie Meinungsforscher sind oder nicht.«

»Vielen Dank, Bürgerin Morgan.«

(Bürger Edgar Niel, Alter 107, Beruf: Pensionierter Offizier. Ein großer, leicht gebückter Mann mit scharfen, eiskalten blauen Augen, die vom Alter noch nicht getrübt sind.) »Ein bißchen lauter, bitte. Wie war die Frage?«

»Über die militärischen Streitkräfte. Im besonderen fragte ich

»Ich erinnere mich wieder. Ja, junger Mann, ich war Oberst im 21. nordamerikanischen Raumfahrt-Kommando. Das war eine reguläre Einheit der Verteidigungs-Corps der Erde.«

»Und haben Sie sich dann vom Dienst zurückgezogen?«

»Nein, der Dienst hat sich von mir zurückgezogen.«

»Wie bitte?« »Sie haben mich richtig verstanden, junger Mann. Das war vor dreiundsechzig Jahren. Die Streitkräfte der Erde wurden demobilisiert, ausgenommen die Polizei, die ich aber nicht mitrechnen kann. Aber alle regulären Truppen wurden aufgelöst.«

»Und warum hat man das getan, Sir?«

»Es gab niemanden, gegen den man hätte kämpfen können. Es gab noch nicht einmal jemand, vor dem man sich hätte hüten müssen, wie man mir sagte. Verdammte Narrheit, das ist meine Meinung. «

»Könnten die Streitkräfte denn nicht wieder gebildet werden?«

»Selbstverständlich. Aber die gegenwärtige Generation eignet sich nicht zum Dienst unter den Waffen. Es gibt keine Führerpersönlichkeiten mehr, vielleicht noch einige wenige nutzlose alte Knaben wie mich. Das würde Jahre dauern, bis sich wieder eine wirksame, gut geführte Streitkraft gebildet hätte.«

»Und bis dahin ist die Erde völlig schutzlos gegenüber einer eventuellen Invasion von außen her?«

»Ja, die gesamte Schutzpflicht obliegt den Polizeieinheiten.

Und deren Fähigkeit unter Feuerschuß bezweifle ich, offen gestanden.«

»Könnten Sie mir Näheres über die Polizei erzählen?«

»Ich weiß nichts darüber. Ich habe mich nie in meinem Leben um nichtmilitärische Angelegenheiten gekümmert.«

»Aber es wäre doch denkbar, daß die Polizei jetzt die Funktion einer Armee übernommen hat, nicht wahr?«

»Das ist schon möglich. Alles ist möglich.«

(Bürger Moertin Honners, Alter ) i, Beruf: Wortformer. Ein schlanker, schwächlicher Mann mit ernstem, jungenhaftem Gesicht und weichem strohgelbem Haar.) »Sie sind ein

Wortformer, Bürger Honners?«

»Ja, Sir. Allerdings trifft>Autor

»Aber nein! Die werden von diesen phantasielosen Schreiberlingen für die zweifelhaften Schriften verfaßt, wie sie die untere Mittelklasse bevorzugt. Die Stories, falls Sie das nicht wissen sollten, werden Zeile um Zeile aus den Werken der verschiedensten bekannten Schriftsteller des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts zusammengebastelt. Die Leute, die diese Arbeit verrichten, setzen lediglich Adjektive und Adverbien ein.

Gelegentlich soll sich ein mutiger Schreiberling sogar daran wagen, ein Verb oder ein Substantiv auszuwechseln, habe ich gehört.

Aber das kommt nicht oft vor.«

»Und Sie selbst beschäftigen sich nicht mit diesen Dingen?«

»Ganz und gar nicht! Meine Arbeit dient nicht kommerziellen Zwecken. Ich bin ein schöpferischer Conrad-Spezialist.«

»Können Sie mir bitte erklären, was das ist, Bürger Honners?«

»Gern. Meine besonderen Bemühungen befassen sich mit der Neuschöpfung der Arbeiten von Joseph Conrad, einem Autor, der in der voratomaren Zeit lebte.«

»Und wie gestalten Sie diese Neuschöpfung der Werke?«

»Nun, im Augenblick beschäftige ich mich mit der fünften Neufassung von Lord Jim. Um das zu tun, vertiefe ich mich so sorgfältig als möglich in die Originalarbeit. Dann mache ich mich daran, sie so umzudichten, wie Conrad es getan hätte, wenn er heute noch lebte. Es ist eine Beschäftigung, die viel Fleiß und ein höchstes Maß an künstlerischem

Einfühlungsvermögen verlangt. Ein einziger Fehler kann die ganze Neufassung verderben. Wie Sie sich vorstellen können, bedarf das einer meisterhaften Beherrschung von Conrads Vokabular, Themenstellung, Aufbau, Charakteren, Ausdruck und so weiter. All dies wird mit verarbeitet, und doch darf das Buch nicht einer sklavischen Wiederholung gleichen. Es muß etwas Neues aussagen, gerade so, wie Conrad es ausgesagt haben würde.«

»Und haben Sie damit Erfolg gehabt?«

»Die Kritiker haben sich sehr wohlwollend ausgedrückt, und mein Verleger ermutigt mich stets von neuem.«

»Wenn Sie Ihre fünfte Neuschöpfung von Lord Jim fertig verfaßt haben - was beabsichtigen Sie dann zu tun?«

»Zuerst werde ich mich einmal gut erholen und lange Ferien machen. Dann werde ich eines von Conrads weniger großen Werken neu schöpfen. Der Pflanzer von Malata vielleicht.«

»Aha. Ist die Neuschöpfung bei allen Kunstarten üblich?«

»Es ist das Ziel eines jeden ehrgeizigen Künstlers, ganz gleich, welches Medium er verwendet. Die Kunst ist eine grausame Geliebte, fürchte ich.«

(Bürger Willis Ouerka, Alter 8, Beruf: Schüler. Ein fröhlicher sonnengebräunter Junge mit schwarzem Haar.) »Es tut mir leid, Herr Meinungsforscher, aber meine Eltern sind gerade nicht zu Hause.«

»Das macht nichts, Willis. Macht es dir was aus, wenn ich dir ein paar Fragen stelle?«

»Nein. Was haben Sie da unter der Jacke, Mister? Sie beult sich ja aus.«

»Ich werde hier die Fragen stellen, Willis, ja?... Nun, als erstes, gehst du gern in die Schule?«

»Man muß eben.«

»Welche Fächer hast du?« »Lesen, schreiben und Klassenbewußtsein. Und dann noch Stunden in Musik, Kunst, Architektur, Literatur, Ballett- und Theaterwissenschaft. Das übliche Zeug.«

»Ich verstehe. Das sind die offenen Klassen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Besuchst du auch die geheimen Klassen?«

»Natürlich. Jeden Tag. «

»Würdest du mir auch darüber etwas erzählen?«

»Gern. Ist diese Ausbeulung eine Pistole? Ich kenne sie. Vor ein paar Tagen haben ein paar von den großen Jungens beim Mittagessen Bilder von Pistolen herumgereicht, da habe ich sie mir genau angesehen. Ist das eine Pistole?«

»Nein. Mein Anzug sitzt nicht gut, weiter nichts. Aber

würdest du erzählen, was in den geheimen Klassen vor sich geht?«

»Gern.«

»Na - was geschieht da?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Na, na, Willis.«

»Wirklich, ich weiß es nicht. Wir gehen alle in die

Klassenzimmer, und nach einer Stunde kommen wir wieder heraus und haben Pause. Das ist alles. An mehr erinnere ich

mich nicht. Ich habe mit den anderen Jungens darüber

gesprochen. Niemand weiß, was wirklich los ist.«

»Seltsam...«

»Nein, das finde ich nicht. Wenn wir uns daran erinnern sollten, dann wäre es doch nicht geheim.«

»Vielleicht hast du recht. Kannst du mir wenigstens sagen, wie das Klassenzimmer aussieht oder wer euer Lehrer in den geheimen Klassen ist?«

»Nein. Ich erinnere mich wirklich an gar nichts.«

»Ich danke dir, Willis.«

(Bürger Cuchulain Dent, Alter 37, Beruf: Erfinder. Ein früh gealterter Mann mit einer Glatze und ironisch blickenden, mit schweren Lidern verhangenen Augen.) »Jawohl, stimmt genau. Ich bin ein Erfinder von Spielen. Ich habe zum Beispiel das >Triangulieren< herausgebracht und >Was noch

»Leider nicht.«

»Eine nette Sache! Man simuliert Verirrtsein im Raum. Die Spieler erhalten unvollständige Daten für ihre MiniaturAutomaten, und wenn sie gewinnen, zusätzliche Informationen

Raumhazard als Strafe. Eine Menge Blitze und dergleichen. Ein wirklicher Verkaufsschlager.«

»Erfinden Sie auch noch andere Dinge, Bürger Dent?«

»Als Kind habe ich einmal eine verbesserte Sä- und ErnteMaschine gebaut. Sie war so konstruiert, daß sie ungefähr dreimal so gut arbeitete wie das gegenwärtige Modell. Und denken Sie sich nur - ich glaubte wirklich, sie verkaufen zu können!«

»Und - haben Sie sie verkauft?«

»Natürlich nicht. Damals wußte ich noch nicht, daß das Patentamt auf immer geschlossen war - außer jenes der Spielabteilung.«

»Haben Sie sich darüber geärgert?«

»Ein bißchen schon - im ersten Moment. Aber bald kam ich darauf, daß die Modelle, die wir zur Zeit benutzen, ausreichen

Es besteht kein Bedarf an noch leistungsstärkeren und besseren Erfindungen. Die Leute begnügen sich heutzutage mit dem, was sie haben. Außerdem würden neue Erfindungen der Menschheit keinen großen Dienst erweisen. Die Geburten- und Sterbequote der Erde ist stabil, und für jeden ist gesorgt. Um eine neue Erfindung zu produzieren, müßte man eine völlig neue Industrie aufziehen. Das ist beinahe unmöglich, da heute alle Fabriken automatisch arbeiten und sich selbst reparieren. Aus diesem Grund sind Erfindungen überflüssig, außer auf dem ewig jungen Gebiet der Spiele.«

»Und was denken Sie darüber?«

»Was sollte ich schon darüber denken? So liegen die Dinge nun einmal.«

»Würden Sie es gern sehen, wenn das anders wäre?«

»Vielleicht. Aber wegen meines Berufs als Erfinder klassifiziert man mich sowieso schon als einen potentiell labilen Charakter.«

(Bürger Barn Threnten, Alter 41, Beruf: Atomwissenschaftler, spezieller Raumfahrzeuge. Ein nervöser, intelligent aussehender Mann mit traurigen braunen Augen.) »Sie wollen wissen, was ich arbeite? Diese Frage beantworte ich nicht gern, Bürger, denn ich beschäftige mich mit nichts anderem, als in der Fabrik herumzulaufen. Die Union schreibt für jeden Roboter oder jede automatisierte Operation die Gegenwart eines Menschen vor. Der bin ich. Ich stehe daneben und schaue zu.« - »Sie scheinen unzufrieden zu sein, Bürger Threnten.«

»Das bin ich auch. Ich wollte Atomingenieur werden. Ich habe mich darin ausgebildet. Dann, als ich meine Prüfungen abgelegt hatte, stellte ich fest, daß mein Wissen um fünfzig Jahre veraltet war. Völlig überholt. Und selbst wenn ich jetzt erneut lernen wollte, um zu verstehen, was sich gegenwärtig abspielt, so könnte ich mein Wissen doch nirgends anwenden.«

»Warum nicht?«

»Weil in den Atomwissenschaften alles automatisiert ist. Ich weiß nicht, ob das viele Leute wissen, aber es ist wahr. Vom Rohmaterial bis zum Endprodukt ist alles völlig automatisiert. Das einzige, was der Mensch dazu beiträgt, ist die Mengenkontrolle in Form von Bevölkerungsziffern. Aber selbst

das ist ganz minimal.«

»Was passiert, wenn ein Teil der automatischen Fabrik zusammenbricht?«

»Robot-Reparatureinheiten setzen ihn wieder in Funktion.«

»Und wenn die nicht mehr funktionieren?«

»Diese verdammten Dinger reparieren sich selbst. Ich brauche nur daneben zu stehen und zuzusehen und den Bericht zu schreiben. Das ist eine lächerliche Position für einen Mann, der sich als Ingenieur betrachtet.«

»Warum wenden Sie sich nicht einem anderen Zweig zu?«

»D/s hat gar keinen Sinn. Ich habe mich erkundigt: Alle anderen Ingenieure sind in der gleichen Lage wie ich. Sie stehen da und schauen Dingen zu, die sie nicht verstehen. Ganz egal, ob das nun Nahrungsmittelherstellung, Autoproduktion oder sonst etwas ist.

Entweder ein Ingenieur, der zuschaut, oder gar keiner.«

»Trifft das auch beim Raumflug zu?«

»Natürlich. Kein einziges Mitglied der Raumpiloten-Union hat die Erde in den letzten fünfzig Jahren verlassen. Sie wüßten nicht einmal, wie man ein Schiff bedient.«

»Ich verstehe. Alle Schiffe sind auf automatische Steuerung umgestellt.«

»Genau. Endgültig und fehlerlos automatisch.«

»Was geschieht, wenn diese Schiffe in unvorhergesehene Situationen geraten?«

»Das ist schwer zu sagen. Die Schiffe können nicht denken, wissen Sie. Sie folgen einfach vorherberechneten Programmen.

Wahrscheinlich würden sie paralysiert werden - jedenfalls vorübergehend. Ich glaube, sie besitzen einen Optimum-WahlAusleser, der strukturlose Situationen regeln soll; aber das ist nie getestet worden. Bestenfalls würden sie träge reagieren;

schlimmstenfalls überhaupt nicht. Und das käme mir gerade recht.«

»Meinen Sie das wirklich ernst?«

»Absolut ernst. Ich habe es satt, herumzustehen und Tag für Tag eine Maschine das gleiche tun zu sehen. Die meisten Professionellen, die ich kenne, fühlen wie ich. Wir wollen etwas tun.

Irgend etwas - ganz gleich, was. Wußten Sie, daß noch vor hundert Jahren Raumschiffe mit menschlichen Piloten die Planeten in anderen Solarsystemen erforschten?«

»Ja.«

»Nun, das sollten wir heute auch tun. Uns nach außen hin bewegen, forschen, weiterentwickeln. Das brauchen wir.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Aber glauben Sie nicht, daß Sie ziemlich gefährliche Dinge aussprechen?«

»Dessen bin ich mir bewußt. Aber offen gestanden, ich kümmere mich nicht mehr darum. Sollen sie mich doch nach Omega verfrachten, wenn sie wollen. Hier tauge ich doch zu nichts.«

»Dann haben Sie also von Omega gehört?«

»Jeder, der mit Raumschiffen zu tun hat, weiß über Omega Bescheid. Rundflüge zwischen Omega und der Erde, das ist das einzige, was unsere Schiffe heute noch tun. Es ist eine schreckliche Welt. Ich persönlich gebe dem Klerus die Schuld dafür.«

»Dem Klerus?«

»Absolut richtig. Diese scheinheiligen Idioten mit ihrem endlosen Gefasel über die Kirche des Geistes der zu Fleisch gewordenen Menschheit. Das genügt schon, in einem den Wunsch nach etwas Bösem aufkommen zu lassen...«

(Bürger Pater Boeren, Alter 51, Beruf: Geistlicher. Ein stattlicher, dicker Mann in einem safrangelben Talar, mit weißen

Sandalen.) »Ganz recht, mein Sohn, ich bin der Abt der örtlichen Niederlassung der Kirche des Geistes der zu Fleisch gewordenen Menschheit. Unsere Kirche stellt den offiziellen und einzigen religiösen Ausdruck der Regierung der Erde dar. Unsere Religion spricht für alle Menschen der Erde. Sie ist eine Komposition der Weisheiten aller früheren Religionen, der großen und kleinen, zusammengefaßt in einem allesumfassenden Glauben.«

»Bürger Abt, muß es nicht unter den verschiedenen Religionen, aus denen sich Ihr Glauben zusammensetzt, Gegensätze in dogmatischen Fragen geben?«

»Früher einmal, mein Sohn. Aber die Gründer unserer gegenwärtigen Kirche haben alle Gegensätze ausgemerzt. Wir wollten Übereinstimmung, nicht Uneinigkeit. Wir haben nur farbenprächtige Facetten jener alten Religionen beibehalten; Facetten, mit denen sich die Leute identifizieren können. In unserer Religion hat es nie eine Spaltung gegeben, denn wir akzeptieren alles.

Man darf glauben, was man will, solange dies den heiligen Geist der zu Fleisch gewordenen Menschheit erhält. Denn unsere Verehrung, müssen Sie wissen, ist die wahre Verehrung des Menschen. Und der Geist, den wir erkennen, ist der Geist des göttlichen und heiligen Guten.«

»Würden Sie das Gute, bitte, für mich definieren, Bürger Abt?«

»Gewiß. Das Gute ist die Macht in uns, die den Menschen dazu anhält, in Gleichheit und Gehorsam zu leben und zu handeln. Die Verehrung des Guten ist somit grundsätzlich die Verehrung des eigenen Ich, und deshalb auch die einzige wahre Verehrung. Das Ich, das man verehrt, ist das ideale soziale Wesen: der Mensch, der mit seinem Platz in der Gesellschaft zufrieden ist und doch bereit, durch schöpferisches Handeln seinen Rang zu verbessern. Das Gute ist mild, da es eine echte

Widerspiegelung des liebenden und mitleidigen Universums ist. Das Gute wechselt ständig seine Erscheinung, obgleich es zu uns kommt in... Sie schauen mich so seltsam an, junger Mann.«

»Entschuldigen Sie, Bürger Abt. Ich glaube, ich habe diese Predigt schon gehört, oder jedenfalls eine, die ganz ähnlich war.«

»Sie ist wahr, wo immer man sie auch hören mag.«

»Natürlich. Aber noch eine andere Frage: Könnten Sie mir etwas über die religiöse Schulung von Kindern sagen?«

»Diese Pflicht erfüllen die Robot-Beichtstühle.« - »Ja?«

»Diese Einrichtung entspringt dem altverwurzelten Glauben des transzendentalen Freudianismus<. Der Robot-Beichtstuhl instruiert Kinder und Erwachsene. Er hört ihre Probleme an. Er ist ihr ständiger Freund, ihr sozialer Begleiter und Leiter, ihr religiöser Aufklärer. Da sie Roboter sind, können die Beichtväter auf alle Fragen exakte und stets gleiche Antworten geben. Das unterstützt das große Werk der Einheitlichkeit enorm.«

»Das sehe ich ein. Und was tun die menschlichen Priester?«

»Sie überwachen die Robot-Beichtväter.«

»Und sind diese Robot-Beichtväter beim geheimen Unterricht in den Schulen zugegen?«

»Ich bin nicht kompetent dafür, diese Frage zu beantworten.«

»Sie sind dabei, nicht wahr?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Die geheimen Klassen sind für die Äbte genausowenig zugänglich wie für andere Erwachsene.«

»Auf wessen Verordnung hin?«

»Auf Verordnung des Chefs der Geheimpolizei.«

»Ich verstehe... Vielen Dank, Bürger Abt Boeren.«

(Bürger Enyen Dravivian, Alter 43, Beruf: Regierungsangestellter. Ein hohlwangiger Mann mit schmalen

Augen, über seine Jahre hinaus gealtert und müde.) »Guten Tag. Sie sagten, Sie sind bei der Regierung angestellt?«

»Stimmt.«

»Ist das die Staats- oder die Bundesregierung?«

»Beides.«

»Ach so. Und nehmen Sie diese Stellung schon lange ein?«

»Genau achtzehn Jahre.«

»Aha. Würden Sie so gut sein und mir sagen, was Ihre Aufgabe im besonderen ist?«

»Aber gern. Ich bin der Chef der Geheimpolizei.«

»Sie sind... Das ist sehr interessant. Ich -«

»Lassen Sie die Finger von Ihrer Nadelstrahlwaffe, Ex-Bürger Barrent. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie in der ionisierten Luft in der Nähe dieses Hauses nicht funktionieren wird. Wenn Sie es aber trotzdem versuchen wollen, dann werden Sie sich verletzen.«

»Wie denn?«

»Ich habe meine eigenen Mittel zum persönlichen Schutz.«

»Woher kennen Sie meinen Namen?«

»Ich weiß über Sie Bescheid, fast direkt von dem Moment an, da Sie den Fuß auf die Erde setzten. Wir sind nicht völlig unwissend, müssen Sie wissen. Aber das können wir ja alles drinnen besprechen. Möchten Sie nicht eintreten?« - »Lieber nicht.«

»Ich fürchte, es bleibt Ihnen nichts anderes übrig. Kommen Sie, Barrent, ich werde Sie schon nicht beißen.«

»Bin ich verhaftet?«

»Natürlich nicht. Wir werden uns nur ein wenig unterhalten.«

28 Dravivian führte ihn in einen großen, mit Walnußholz getäfelten Raum. Die Möbel waren aus schwerem schwarzem Holz geschnitzt, reich verziert und mit Firnis überzogen. Der

Tisch, hoch und glatt, schien ein antikes Stück zu sein. Ein schwerer Wandteppich bedeckte die eine Wand. In verblichenen Farben zeigte er eine Jagdszene aus dem Mittelalter.

»Gefällt er Ihnen?« fragte Dravivian. »Wir haben alles selbst gemacht. Meine Frau kopierte den Wandteppich von einem Original im Metropol-Museum. Meine beiden Söhne arbeiteten an den Möbeln. Sie wollten etwas Altes mit einem spanischen Anstrich, aber doch bequemer, als es die antiken Sachen sonst sind.

Eine gewisse Vereinfachung der Linie erreicht das. Mein eigener kultureller Beitrag kommt nicht so gut zur Geltung. Meine Spezialität ist die barocke Musik.«

»Neben der Polizeiarbeit«, sagte Barrent.

»Ja«, antwortete Dravivian. Er wandte sich ab und musterte nachdenklich den Wandteppich. »Davon werden wir später sprechen. Sagen Sie mir zuerst, was Sie von diesem Zimmer halten?«

»Es ist sehr schön«, sagte Barrent.

»Ja. Und?«

»Nun - ich bin kein Richter.«

»Bitte urteilen Sie«, drängte er Barrent. »In diesem Zimmer können Sie die Zivilisation der Erde en miniature wiedererkennen

Sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

»Es wirkt leblos«, sagte Barrent.

Dravivian wandte sich wieder zu Barrent und lächelte. »Ja, das ist eine gute Bezeichnung dafür. Ichbezogen wäre vielleicht noch treffender. Dies ist das Zimmer eines hohen Ranginhabers. Ein großer Teil des Schöpferischen widmet sich der künstlerischen Verbesserung alter Archetypen. Meine Familie hat ein bißchen von der spanischen Vergangenheit neu geschaffen, so wie andere sich der Vergangenheit der Maya, der Frühzeit Amerikas, der ozeanischen Kultur gewidmet haben. Und trotzdem tritt die grundsätzliche Leere deutlich zutage. Jahraus, jahrein produzieren die automatischen Fabriken die gleichen Güter für uns. Da jeder diese Güter erhält, wird es notwendig, sie zu verändern, zu verbessern, zu verschönern, uns durch sie auszudrücken, uns durch sie einzustufen. So ist die Erde heute, Barrent. Unsere Energie und unsere Fähigkeit sind auf dekadente Arbeiten und Beschäftigungen gerichtet. Wir schnitzen alte Möbelstücke nach, sorgen uns um Rang und Stellung, und in der Zwischenzeit bleiben die entfernten Planeten und Räume unerforscht und unbesiegt.

Schon seit langem haben wir aufgehört, uns auszudehnen. Die Stabilität brachte auch die Gefahren der Stagnierung mit sich, der wir nun unterliegen. Wir wurden so stark sozialisiert, daß die Individualität auf die harmloseste aller Beschäftigungen abgelenkt werden mußte, nach innen gekehrt und von jedem bedeutungsvollen Ausdruck abgehalten wurde. Ich glaube, Sie haben ziemlich viel davon während Ihres Aufenthalts auf der Erde gesehen?«

»Ja. Aber ich hätte nie erwartet, daß mir der Chef der Geheimpolizei diese Dinge sagen würde.«

»Ich bin ein ungewöhnlicher Mann«, erklärte Dravivian mit spöttischem Lächeln. »Und die Geheimpolizei ist eine ungewöhnliche Institution.«

»Sie muß sehr gut funktionieren. Auf welche Weise haben Sie mich entdeckt?«

»Das war wirklich höchst einfach. Die meisten Leute auf der Erde sind von Kindheit an in Dingen der Sicherheit wohl ausgebildet. Das ist ein Teil unserer Erbschaft. Fast alle Menschen, mit denen Sie sprachen, konnten feststellen, daß mit Ihnen irgend etwas nicht stimmte. Sie waren so offensichtlich fehl am Platz wie ein Wolf zwischen einer Schafherde. Die Leute bemerkten das und erstatteten mir sofort Bericht.«

»Na, schön«, sagte Barrent. »Und nun?«

»Zuerst möchte ich Sie bitten, mir von Omega zu erzählen.«

Barrent berichtete dem Polizeichef über sein Leben auf dem Verbrecherplaneten. Dravivian nickte mit einem schwachen Lächeln. »Ja, das ist fast genauso, wie ich es erwartet hatte«, sagte er. »Das gleiche, was auf Omega passiert ist, geschah auch im alten Nordamerika und Australien. Natürlich gab es einige Unterschiede; vor allem sind sie völlig vom Mutterland abgeschnitten gewesen. Aber dahinter steckt die gleiche wilde Energie und der starke Zwang - und die gleiche Unbarmherzigkeit.«

»Was werden Sie unternehmen?« fragte Barrent.

Dravivian zuckte mit den Schultern. »Das spielt sowieso keine Rolle. Ich schätze, ich könnte Sie töten. Aber das würde Ihre Gruppe auf Omega nicht daran hindern, andere Spione zu schicken oder eines der Gefangenenschiffe zu kapern. Sobald die Bewohner von Omega mit Gewalt vorgehen, werden sie die Wahrheit von selbst entdecken.«

»Welche Wahrheit?«

»Das muß Ihnen doch schon klargeworden sein«, antwortete Dravivian. »Seit fast achthundert Jahren hat die Erde keinen Krieg mehr geführt. Wir wüßten nicht einmal mehr, wie wir uns wehren sollten. Die Organisation der Spähschiffe um Omega ist reine Fassade. Die Schiffe sind voll automatisiert und Bedingungen angepaßt, die vor mehreren hundert Jahren einmal herrschten.

Jeder zielbewußte Angriff würde ein Schiff leicht überwältigen; und wenn sie erst einmal eins haben, ergeben sich die anderen ganz von selbst. Danach wird nichts die Omeganer daran hindern, zurück zur Erde zu kommen; und auf der Erde gibt es nichts, mit dem man sie zurückschlagen könnte. Das, müssen Sie wissen, ist der Hauptgrund dafür, daß allen Gefangenen, die die Erde verlassen, die Erinnerung geraubt wird. Denn wenn sie sich erinnern könnten, würde ihnen die Verwundbarkeit der Erde schmerzhaft klar vor Augen stehen.«

»Wenn Ihnen all dies bekannt ist - warum tun Ihre Führer dann nichts, um die Situation zu ändern?« fragte Barrent.

»Ursprünglich hatten wir das auch vor. Aber es steckte kein richtiger Druck dahinter. Wir zogen es vor, nicht daran zu denken.

Wir redeten uns ein, der Status quo würde endlos andauern. Wir wollten nicht an den Tag denken, an dem die Gefangenen von Omega zurückkehren könnten.«

»Und was werden Sie und Ihre Polizei jetzt unternehmen?« fragte Barrent.

»Ich bin auch nur ein Strohmann«, erklärte Dravivian. »Ich habe keine Polizei. Der Titel eines Chefs ist eine reine Ehrensache.

Fast ein Jahrhundert lang hat man auf der Erde keine Polizeimacht mehr benötigt.«

»Sie werden eine benötigen, wenn die Leute von Omega zurückkommen«, sagte Barrent.

»Ja. Dann wird es wieder Verbrechen geben und ernsthafte Schwierigkeiten. Aber ich bin davon überzeugt, daß die letztliche Verschmelzung erfolgreich verlaufen wird. Die Leute von Omega haben den Drang und den Ehrgeiz, die Sterne zu erobern

Und ich glaube, sie brauchen dazu eine gewisse Stabilität und schöpferische Kraft, die die Erde bereitstellt. Wie die Ergebnisse auch immer sein mögen - die Vereinigung ist unvermeidbar. Wir haben hier zu lange in einem Traum gelebt. Nur gewaltsame Mittel können uns aus diesem Traum aufwecken.«

Dravivian erhob sich. »Und jetzt«, fügte er hinzu, »da das Schicksal der Erde und das von Omega entschieden scheinen, darf ich Ihnen sicher eine Erfrischung anbieten?«

29 Mit Hilfe des Polizeichefs sandte Barrent eine Nachricht mit dem nächsten Schiff, das nach Omega abging. Die Nachricht enthielt Informationen über die Verhältnisse auf der Erde und riet zu sofortigem Handeln. Als das getan war, konnte Barrent an seine letzte Aufgabe gehen - den Richter zu suchen, der ihn für ein Verbrechen verurteilt hatte, das er nicht begangen hatte, und den unehrlichen Spitzel, der ihn dem Richter ausgeliefert hatte. Wenn er diese beiden fand, würde es ihm gelingen, die noch dunklen Teile seiner Vergangenheit aufzudecken und sich wieder an alles zu erinnern.

Er nahm den Nachtexpreßzug nach Youngerstun. Sein Verdacht, geschärft von dem Leben auf Omega, gönnte ihm keine Ruhe. Irgendwo mußte diese wunderbare Einfachheit einen Haken haben. Vielleicht fand er ihn in Youngerstun.

Früh am Morgen erreichte er sein Ziel. Bei oberflächlicher Betrachtung ähnelten die säuberlichen Reihenhäuser denen anderer Städte. Aber für Barrent wirkten sie anders und schmerzhaft vertraut. Er erinnerte sich an diese Stadt, und die monotonen Häuser besaßen Individualitäten uid Bedeutung für ihn. In dieser Stadt war er geboren und aufgewachsen. Da war der Laden von Grothmeir, und gegenüber wohnte Havening, der Kunstpreisträger für Innendekorationen. Und dort - das war das Haus von Billy Havelock. Billy war sein bester Freund gewesen. Sie hatten gehofft, einmal zusammen den Raum zu erforschen, und waren auch nach der Schule gute Freunde geblieben - bis Barrent nach Omega deportiert worden war.

Und da war auch das Haus von Andrew Therkaler. Und einen Straßenzug davon entfernt die Schule, die er besucht hatte. Er konnte sich noch gut an die Klassenzimmer erinnern. Und er wußte auch noch, wie er jeden Tag durch die Tür in die geheime Klasse gegangen war. Aber er konnte sich immer noch nicht darauf besinnen, was er dort gelernt hatte. Direkt hier, neben zwei riesigen Ulmen, hatte der Mord stattgefunden. Barrent ging zu der Stelle und erinnerte sich genau, wie es geschehen war. Er hatte sich auf dem Nachhauseweg befunden. Von irgendwoher in der Straße hatte er einen Schrei gehört. Er hatte sich umgedreht; ein Mann - Illiardi - war die Straße entlanggerannt und hatte ihm etwas zugeworfen. Barrent hatte es automatisch aufgefangen es war eine illegale Pistole. Ein paar Schritt von ihm entfernt lag Therkaler, sein Gesicht war im Tode verzerrt.

Und was war dann geschehen? Verwirrung. Panik. Das Gefühl, daß ihn jemand beobachtete, wie er, mit der Waffe in der Hand, auf die Leiche starrte. Dort, am Ende der Straße, war die Zuflucht, die er aufgesucht hatte.

Er ging darauf zu und erkannte, daß es eine Robot-Beichtzelle war.

Barrent betrat die Zelle. Sie war klein, ein schwacher Weihrauchgeruch lag in der Luft. Der Raum enthielt einen einzelnen Stuhl. Direkt gegenüber dem Stuhl war eine reich ornamentierte, hell erleuchtete Wandtafel.

»Guten Morgen, Will«, sagte die Wandtafel

Barrent überkam ein Gefühl von Hilflosigkeit, als er diese weiche, mechanische Stimme hörte. Jetzt erinnerte er sich deutlich. Diese leidenschaftslose Stimme wußte alles, verstand alles und verzieh nichts. Die künstlerisch gestaltete Stimme hatte zu ihm gesprochen, hatte gelauscht und danach geurteilt. In seinen Träumen hatte er dem Robot-Beichtstuhl die Gestalt eines menschlichen Richters gegeben

»Erinnerst du dich an mich?« fragte Barrent.

»Natürlich«, antwortete der Robot. »Du warst eines meiner Beichtkinder, bevor du nach Omega gingst.«

»Du hast mich dort hingeschickt.«

»Wegen einem Mord, den du begangen hast.«

»Aber ich war ja gar nicht der Mörder!« rief Barrent. »Ich habe es nicht getan - das mußt du doch gewußt haben!«

»Natürlich habe ich das gewußt«, sagte der Beichtvater.

»Aber meine Macht und meine Pflichten sind scharf begrenzt. Ich verurteile gemäß dem Beweis, nicht nach Intuition. Dem Gesetz nach dürfen die Robot-Beichtväter nur das konkrete Beweismaterial wägen, das ihnen vorgelegt wird. Auch im Zweifelsfall müssen sie das Urteil aussprechen. In der Tat muß der Besuch eines Mannes bei mir, der des Mordes angeklagt ist, als ein starker Beweis seiner Schuld angesehen werden.«

»Hat es Zeugen gegen mich gegeben?«

»Ja.«

»Wer war es?«

»Ich darf seinen Namen nicht sagen.«

»Du mußt!« drängte Barrent. Er zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und ging auf die Wandtafel zu.

»Eine Maschine kann man nicht gewaltsam zwingen«, erklärte der Robot-Beichtvater.

»Sag mir den Namen!« brüllte Barrent.

»Zu deinem eigenen Besten sollte ich es nicht tun. Die Gefahr wäre zu groß. Glaub mir, Will...«

»Den Namen! «

»Also schön. Du wirst denjenigen, der dich angezeigt hat, in der Maple Street 35 finden. Aber ich gebe dir den ernsthaften Rat, nicht dorthin zu gehen. Du wirst getötet werden. Du weißt nicht -«

Barrent drückte ab, und der schmale Strahl zischte durch die Wandtafel. Lichter flackerten auf und erloschen, als er die komplizierten Drähte durchschnitt. Schließlich waren alle Lampen erloschen, nur ein schwacher grauer Rauch stieg aus der Wandtafel.

Barrent verließ die Zelle. Er steckte die Waffe wieder in die Tasche und ging in die Maple Street.

Er war einmal hier gewesen. Er kannte diese Straße, die über einen Hügel führte, und unter Eichen und Ahornbäumen sanft

anstieg.

Diese Straßenlaternen waren ihm vertraut, jede Unregelmäßigkeit auf dem Pflaster ein altes Erkennungszeichen. Alle Häuser waren wohlvertraut. Erwartungsvoll schienen sie sich ihm zuzuneigen, wie Zuschauer, die dem letzten Akt eines fast vergessenen Dramas zuschauen

Jetzt stand er vor dem Haus mit der Nummer 35. Die Stille, die dieses einfache Gebäude mit den weißen Rolläden umgab, mutete ihn unheimlich an. Er zog die Nadelstrahlwaffe aus der Tasche und blickte sich nach dwas Beruhigendem um, wußte jedoch, daß er nichts Derartiges finden würde. Dann schritt er über den sauberen Fliesenweg und drückte auf die Türklinke. Die Tür ging auf. Er trat ins Innere.

Er nahm die schwachen Umrisse von Lampen und Möbelstücken wahr, die dunklen Schatten eines Gemäldes an der Wand, eine Statue auf einem Ebenholzsockel. Die Waffe im Anschlag, betrat er das nächste Zimmer.

Vor ihm stand der Spitzel.

Barrent starrte ihm ins Gesicht - und erinnerte sich wieder. In einer übermächtigen Flut von auf ihn einstürzenden Gedanken sah er sich als kleinen Jungen das geheime Klassenzimmer betreten.

Er hörte wieder das beruhigende Summen der Maschine, beobachtete die hübschen Lichter aufflackern und blinken, hörte die einschmeichelnde Stimme der Maschine in seinem Ohr.

Zuerst erfüllte ihn die Stimme mit Schrecken; was sie vorschlug, war undenkbar. Dann, allmählich, gewöhnte er sich daran daran und an all die seltsamen Dinge, die in der geheimen Klasse vor sich gingen.

Er lernte. Die Maschinen lehrten auf tiefverborgenen, unterbewußten Ebenen. Die Maschinen verflochten ihren Unterricht mit den grundlegendsten Wünschen, webten ein Muster aus erlerntem Verhalten und dem ursprünglichen

Lebensinstinkt. Sie lehrten; dann blockierten sie bewußtes Wissen, sperrten es aus, versiegelten es - und verschmolzen es.

Was hatte man ihn gelehrt? Zum Nutzen der sozialen Gemeinschaft mußt du dein eigener Polizist und dein eigener Zeuge sein. Du mußt die Verantwortung für jedes Verbrechen übernehmen, das du selbst begangen haben könntest.

Das Gesicht des Spitzels starrte ihn teilnahmslos an. Es war' Barrents eigenes Gesicht, reflektiert von einem Wandspiegel.

Er hatte sich selbst angezeigt. Als er an jenem Tag mit der Waffe in der Hand dagestanden und auf den Ermordeten hinuntergestarrt hatte, hatten sich angelernte unbewußte Vorgänge in ihm abgewickelt. Die mutmaßliche Schuld war zu groß gewesen, um ihr widerstehen zu können, die formale Wahrscheinlichkeit der Schuld hatte sich in einen Schuldkomplex verwandelt. Er war zu dem Robot-Beichtvater gegangen, und dort hatte er vollständiges und verdammenswertes Beweismaterial gegen sich selbst niedergelegt, hatte sich auf der Basis der Wahrscheinlichkeit selbst angezeigt.

Der Robot-Beichtvater hatte das obligatorische Urteil gefällt, und Barrent hatte die Zelle wieder verlassen. Wohltrainiert in den geheimen Unterrichtsstunden, hatte er sich selbst festgenommen, war zum nächsten Gedanken-Kontroll-Zentrum in Trenton geeilt. Schon jetzt war eine teilweise Amnesie eingetreten, begründet und ausgelöst durch den Unterricht der geheimen Klassen.

Die geübten Androiden-Techniker im Gedanken-Kontroll-Zentrum hatten saubere Arbeit geleistet, um diese Amnesie zu vervollständigen, alle Überbleibsel der Erinnerung auszulöschen.

Zur Sicherung gegen jede mögliche Wiederkehr des Gedächtnisses hatten sie ihm eine logische Struktur seines Verbrechens eingegeben. Und diese Struktur enthielt - wie es das Gesetz vorschrieb - einen Hinweis auf die weitreichende Macht der Erde.

Nachdem das geschehen war, hatte ein automatisch reagierender Barrent das Zentrum verlassen und einen Spezialzug zum Depot des Gefangenenschiffs bestiegen, das Schiff betreten, dann die Zelle, hatte die Tür fest zugemacht und die Erde weit hinter sich zurückgelassen. Dann war er in tiefen Schlaf gesunken, aus dem ihn die im Kontrollpunkt zugestiegenen Wachen zur Landung auf Omega geweckt hatten...

Und jetzt, während er sich noch immer im Spiegel anstarrte, fielen ihm wieder die letzten der unterbewußten Lektionen in der geheimen Klasse ein:

Die Lektionen der geheimen Klassen dürfen einzeln nie ins Bewußtsein dringen. Wenn das geschieht, muß sich der menschliche Organismus sofort selbst zerstören.

Jetzt erkannte er, warum ihm die Eroberung der Erde so leichtgefallen war: weil er nichts erobert hatte. Die Erde bedurfte keiner Sicherheitskräfte, denn der Polizist und der Vollstrecker waren beide im Gedächtnis jedes Menschen eingepflanzt. Unter der Oberfläche der milden und angenehmen Kultur der Erde herrschte eine sich selbst verewigende RobotZivilisation. Das Erkennen dieser Zivilisation wurde mit dem Tode bestraft.

Und hier, in diesem Augenblick, begann der wahre Kampf um die Erde.

Erlernte Verhaltensformen, verschmolzen mit grundsätzlichen Lebenstrieben, zwangen Barrent die Nadelstrahlwaffe zu heben und gegen seinen eigenen Kopf zu richten. Davor hatte der Robot-Beichtvater ihn also warnen wollen, und das war es auch gewesen, was das Mutantenmädchen vorausgesehen hatte. Der jüngere Barrent, der auf absolute und gedankenlose Übereinstimmung gedrillt war, mußte sich töten.

Der ältere Barrent, der einige Zeit auf Omega gelebt hatte, kämpfte dieses wilde Verlangen nieder. Ein schizophrener Barrent kämpfte mit sich selbst. Die beiden Teile in ihm rangen um den Besitz der Waffe, um die Kontrolle über den Körper, um die Herrschaft über den Geist.

Die Waffe hielt wenige Zentimeter vor seiner Stirn inne. Der Lauf zitterte. Dann, ganz langsam, zwang der neue Barrent von Omega, Barrent 2, die Waffe wieder vom Kopf weg

Sein Sieg währte nur kurz. Denn jetzt setzte das in den geheimen Klassen erlernte Wissen ein und zwang Barrent 2 zu einem Kampf auf Leben und Tod mit dem unerbittlichen und todsuchenden Barrent 1.

Die beiden kämpfenden Barrent wurden auf einer subjektiven Zeitskala zurückgeschleudert, zu jenen angespannten Momenten in der Vergangenheit, in denen der Tod nahe gewesen war, in denen das zeitliche Lebensgebäude geschwächt gewesen, in denen die Empfänglichkeit für den Tod schon festgelegt war. Barrent 2 mußte alle diese Momente noch einmal durchleben. In diesem Augenblick aber wurde die Gefahr noch durch die volle Kraft der böswilligen Hälfte seiner Persönlichkeit gesteigert durch den mörderischen Verräter Barrent II..

Barrent 2 stand unter den blendenden Lampen in dem blutdurchtränkten Sand der Arena, in der Hand ein Schwert. Es war die Zeit der Spiele auf Omega. Auf ihn zu kam Saunus, ein dickgepanzertes Reptil mit dem pfiffigen Gesicht von Barrent i. Barrent 2 hieb den Schwanz der Kreatur ab, aber diese verwandelte sich in drei Trichometreds von der Größe von Ratten, mit einem Gesicht, wie Barrent 1 es besaß, und mit der wilden Tollheit von Wölfen.

Er tötete zwei, die dritte Bestie grinste und zerbiß seine linke Hand bis auf den Knochen. Er tötete sie und starrte auf das Blut von Barrent 1, das in dem feuchten Sand versickerte...

Drei zerlumpte Männer saßen auf einer Bank, und ein

Mädchen reichte ihm einen kleinen Revolver. »Glück«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie wissen, wie man damit umgeht.« Barrent 2 nickte dankend. Erst dann bemerkte er, daß das Mädchen nicht Moera war; es war die Mutantin, die seinen Tod vorausgesagt hatte. Trotzdem trat er hinaus auf die Straße und stellte sich vor die drei Hadjis.

Zwei der Männer waren gutmütig aussehende Fremde. Der dritte, Barrent 1, machte einen Schritt nach vorn und riß die Waffe hoch. Barrent 2 ließ sich auf den Boden fallen und drückte den Abzug seiner ungewohnten Waffe durch. Er fühlte den Rückstoß und sah Hadji Barrents Kopf und Schulter schwarz werden und zerkrümeln. Bevor er noch einmal zielen konnte, wurde ihm die Pistole mit einem heftigen Schlag aus der Hand gerissen. Der Schuß des sterbenden Barrent i hatte den Lauf weggefegt.

Verzweifelt stürzte er sich auf die Waffe, und als er darauf zurollte, sah er den zweiten Mann, der jetzt das Gesicht von Barrent 1 hatte, auf ihn anlegen. Barrent 2 fühlte, wie ein heftiger Schmerz durch seinen Arm zuckte, der schon von den Zähnen des Trichometreds zerfetzt war. Es gelang ihm abzudrücken; aber durch einen Nebel nahm er den dritten Mann wahr, jetzt ebenfalls Barrent 1. Sein Arm wurde immer steifer, aber er zwang sich, zu feuern...

Du spielst ihr Spiel, hämmerte sich Barrent 2 ein. Die Gewöhnung an den Todesgedanken wird dich fertigmachen, dich töten. Du mußt dich davon losreißen, es abschütteln. Dies alles geschieht ja gar nicht in Wirklichkeit, du bildest es dir nur ein...

Aber er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Er befand sich in einem großen, runden hohen Raum aus Steinen im Keller der Justizbehörden. Er mußte sich einer Prüfung unterziehen. Über den Boden kam eine glitzernde schwarze Maschine von der Form einer Halbkugel, fast eineinhalb Meter hoch, auf ihn zugerollt. Sie kam immer näher, und in dem Muster von roten, grünen und bernsteinfarbenen Lichtern erkannte er das verhaßte Gesicht von Barrent 1.

Jetzt hatte sein Feind seine eigentliche Gestalt angenommen: das unveränderliche Robot-Bewußtsein, so falsch und stilisiert wie die Träume von der Erde. Die Maschine Barrent 1 streckte einen einzelnen schlanken Tentakel mit einem weißen Licht am Ende aus.

Beim Näherkommen zog sie den Tentakel wieder ein, und an seiner Stelle erschien ein Metallarm, der in eine Messerklinge auslief. Barrent 2 sprang zur Seite; das Messer kratzte gegen Stein.

Es ist gar nicht so, wie du glaubst, versuchte sich Barrent 2 einzuschärfen.

Es ist keine Maschine, und du bist auch nicht zurückgekehrt nach Omega. Dies ist nur dein Doppelgänger, gegen den du kämpfst; das alles ist nichts als eine tödliche Illusion

Aber er konnte es nicht glauben. Die Maschine Barrent 1 kam wieder auf ihn zu, ihre Metalloberfläche glitzerte von einer fauligen grünen Substanz, die Barrent 2 sofort als Kontaktgift erkannte. Er setzte zu einem Sprung an, um der tödlichen Berührung zu entgehen

Es ist nicht tödlich, sagte er sich

Neutralisierer spülten das Gift von der metallenen Oberfläche.

Die Maschine versuchte ihn zu rammen. Barrent wollte sie mit einer trägen Bewegung zur Seite drücken. Mit atemberaubender Kraft stieß sie krachend gegen ihn: er konnte seine Rippen bersten hören.

Es ist nicht wirklich! Du läßt dich von einem anerzogenen Reflex in den Tod reden! Du bist nicht auf Omega! Du bist auf der Erde, in deinem eigenen Haus, und starrst in den Spiegel!

Aber der Schmerz war Wirklichkeit, und auch der knüppelartige Metallarm fühlte sich echt an, als er gegen seine Schulter schlug.

Barrent taumelte zur Seite.

Entsetzen packte ihn, nicht weil er sterben mußte, sondern daß er zu früh sterben würde, zu früh, um die Menschen von Omega vor der eigentlichen und größten Gefahr zu warnen, die tief in ihr Gehirn gepflanzt war. Niemand anders konnte sie vor der Katastrophe bewahren, die jeden Mann befallen würde, sobald er seine Erinnerung an die Erde wiedererlangen würde. Soviel er wußte, hatte dies bis jetzt niemand durchgemacht und danach weitergelebt. Wenn es ihm gelang, es durchzustehen, gab es vielleicht noch eine Rettung.

Er richtete sich auf. Von Kindheit an auf soziale Verantwortlichkeit gedrillt, mußte er auch jetzt daran denken. Er durfte nicht zulassen, daß er starb, jetzt, da sein Wissen für Omega lebenswichtig war.

Dies ist keine wirkliche Maschine.

Immer wieder wiederholte er sich diese Worte, während die Maschine Barrent 1 auf Touren kam, an Geschwindigkeit zunahm und auf ihn zugeschossen kam. Er zwang sich, an der Maschine vorbeizusehen, hin zu den geduldig und gleichmäßig summenden Stunden in der geheimen Klasse, die dieses Ungeheuer in ihm geschaffen hatten.

Dies ist keine wirkliche Maschine.

Er glaubte es...

Und schmetterte die Faust in das verhaßte Gesicht, das sich im Metall widerspiegelte.

Einen Moment lang durchzuckte ihn ein wahnsinniger Schmerz, dann verlor er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, befand er sich allein in seinem Haus auf der Erde. Arm und Schulter schmerzten ihn, und mehrere seiner Rippen schienen gebrochen. Seine linke Hand trug die Narbe, die ihm die Wolfsbestie durch ihren Biß zugefügt hatte.

Aber mit der zerschnittenen und blutenden rechten Hand hatte er den Spiegel zerschlagen. Er hatte ihn und Barrent 1 endgültig und für alle Zeiten vernichtet.

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