Seine Rückkehr ins Bewußtsein war ein langwieriger und schmerzhafter Vorgang. Es war eine Reise mit vielen verschiedenen Stationen. Er träumte. Er erwachte aus tiefem Schlaf, aus den imaginären Anfängen aller Dinge. Er hob ein Pseudopodium aus dem Urschlamm, und das Pseudopodium war er selbst. Er wurde eine Amöbe, in der schon alle seine Anlagen enthalten waren, dann ein Fisch - ein Fisch, der sich seiner Identität bewußt war, dann ein Affe, der sich durch einige wesentlichen Dinge von allen anderen Affen unterschied. Und schließlich wurde er ein Mensch.
Was für ein Mensch? Verschwommen sah er sich - ohne Gesicht, seine Hand umklammerte eine Strahlenwaffe, zu seinen Füßen lag eine Leiche. So einer war er!
Er erwachte, rieb sich die Augen und wartete auf weitere Erinnerungen.
Aber die Erinnerungen blieben aus. Nicht einmal sein Name fiel ihm ein.
Hastig richtete er sich auf und dachte angestrengt nach. Als auch das nichts half, blickte er sich um, in der Hoffnung, in seiner Umgebung einen Hinweis auf seine Identität zu finden.
Er saß auf einem Bett in einem kleinen grauen Zimmer. In der einen Wand befand sich eine geschlossene Tür; an der anderen konnte er hinter einem Vorhang einen winzigen Waschraum erkennen. Eine verborgene Lichtquelle erhellte den Raum, vielleicht leuchtete die Decke sogar selbst. Es gab ein Bett und einen einzigen Stuhl, sonst nichts.
Er stützte das Kinn in die Hände und schloß die Augen. Wieder versuchte er, sein Wissen zu ordnen und aus diesem Wissen Schlüsse zu ziehen. Er wußte, daß er ein Mensch war, ein Homo sapiens, ein Bewohner des Planeten Erde. Er sprach eine Sprache, von der er wußte, daß sie>Englisch Außerdem besaß er eine begrenzte Menge Allgemeinwissens. Er wußte, daß es viele wichtige Dinge gab, die er nicht kannte, die er aber einmal gekannt hatte. Irgend etwas muß mit mir geschehen sein. Dieses Etwas hätte schlimmer sein können. Wenn es nur ein wenig weiter getrieben worden wäre, dann würde er jetzt eine gedankenlose Kreatur sein, ohne die Fähigkeit zu sprechen, ohne das Bewußtsein, ein Mensch zu sein, ein Mann von der Erde. Es war ihm also noch etwas gelassen worden. Aber als er versuchte, über die Alltagstatsachen vorzudringen, stieß er in ein dunkles und schreckerfülltes Gebiet. Halt! Nicht weiter/Die Erforschung seines eigenen Gedächtnisses war so gefährlich wie eine Reise ins - wohin? Er fand keine passende Bezeichnung, obgleich er annahm, daß es viele gab. Ich muß krank gewesen sein. Das war die einzige vernünftige Erklärung. Er war ein Mann mit Resten von Erinnerungen. Einmal mußte er die unbezahlbare Gabe besessen haben, sich an viele Dinge zu erinnern, während er jetzt nur aus den wenigen Fakten, die ihm zur Verfügung standen, Vermutungen ableiten konnte. Früher einmal mußte er fähig gewesen sein, sich an ganz bestimmte Vögel, Bäume, Freunde zu erinnern, an eine Familie, einen Beruf und vielleicht sogar an eine Frau. Jetzt konnte er nur Theorien darüber aufstellen. Früher einmal hatte er sagen können>das ist wie Dies muß ein Krankenhaus sein. Natürlich, Man kümmerte sich hier um ihn. Freundliche Ärzte bemühten sich, sein Gedächtnis wiederherzustellen und seine Identität, sein Urteilsvermögen wiederzuerwecken, ihm zu sagen, wer und was er war. Das war sehr nett von ihnen; er fühlte, wie ihm Tränen der Dankbarkeit in die Augen stiegen. Er erhob sich und wanderte langsam in dem kleinen Zimmer umher. Er ging zur Tür und fand sie verschlossen. Diese verriegelte Tür verursachte einen Moment der Panik in ihm, aber er beherrschte sich gleich wieder. Vielleicht war er gewalttätig gewesen. Nun, das würde nicht wieder vorkommen. Sie würden schon sehen. Und dann würde man ihm alle Privilegien eines einsichtigen Patienten einräumen. Er würde mit dem Doktor darüber reden. Er wartete. Nach einer langen Zeit hörte er Schritte auf dem Gang vor seiner Tür näher kommen. Er setzte sich auf die Bettkante und lauschte, während er sich bemühte, seine Erregung zu unterdrücken. Die Schritte hielten bei seiner Tür an. Ein schmaler Schlitz öffnete sich, und ein Gesicht blickte ihn an. »Wie fühlen Sie sich?« fragte der Mann. Er ging zu dem Schlitz und sah, daß der Mann eine braune Uniform trug. An der Hüfte trug er einen Gegenstand, der nach kurzem Nachdenken als eine Waffe identifiziert werden konnte. Dieser Mann war zweifellos ein Wachtposten. Er hatte ein grobes, undeutbares Gesicht. »Würden Sie mir bitte sagen, wie ich heiße?« fragte er die Wache. »Nennen Sie sich 402«, sagte der Posten. »Das ist Ihre Zellennummer.« Es gefiel ihm nicht. Aber immerhin war 402 besser als gar nichts. »Bin ich lange krank gewesen?« fragte er die Wache. »Geht es mir schon besser?« »Ja«, antwortete der Posten teilnahmslos. »Wichtig ist nur, Ruhe zu bewahren. Gehorchen Sie den Vorschriften. Dann geht alles klar.« »Natürlich«, sagte 402. »Aber warum kann ich mich an nichts erinnern?« »So ist das nun mal«, antwortete die Wache. Er machte sich daran, wegzugehen. 402 rief ihm nach: »Halt! Warten Sie! Sie können doch nicht so ohne weiteres weggehen. Sie müssen mir alles erklären! Was ist mit mir geschehen? Warum bin ich in diesem Krankenhaus?« »Krankenhaus?« sagte der Posten. Er sah 402 an und grinste. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Ich nehme es an«, erwiderte 402. »Da nehmen Sie was Falsches an. Dies ist ein Gefängnis.« 402 erinnerte sich an seinen Traum von dem ermordeten Mann. Traum oder Erinnerung? Verzweifelt rief er dem Wachtposten nach: »Was habe ich verbrochen? Was habe ich getan?« »Das werden Sie schon herausfinden«, antwortete die Wache. »Wann?« »Nach der Landung. Aber jetzt machen Sie sich fertig zum Anbeten.« Er ging davon. 402 setzte sich wieder aufs Bett und versuchte nachzudenken. Ein paar Dinge hatte er erfahren. Er befand sich in einem Gefängnis, und dieses Gefängnis würde bald landen. Was hatte das zu bedeuten? Wozu brauchte ein Gefängnis zu landen? Und was würde beim Antreten geschehen? 402 begriff nur vage die folgenden Ereignisse. Zuerst verharrte er längere Zeit auf seinem Bett. Er konnte nicht abmessen, wie lange. Immer wieder versuchte er die wenigen Tatsachen, die er über sich selbst wußte, aneinanderzureihen. Dann hatte er den Eindruck von schrillen Klingeln, und gleich darauf schwang die Tür seiner Zelle auf. Was bedeutete das? Was würde nun geschehen? 402 ging zur Tür und blickte in den Gang. Er war voller Erwartung, wollte aber die Sicherheit seiner Zelle nicht aufgeben. Er wartete, und der Wachtposten kam zu ihm. »Alles in Ordnung«, beruhigte dieser ihn. »Niemand wird Ihnen etwas tun. Gehen Sie den Gang entlang - immer geradeaus.« Sanft schob er 402 vor sich her. 402 schritt den Gang entlang. Er sah, wie sich andere Zellentüren öffneten, wie andere Männer in den Gang traten. Und je weiter er ging, um so mehr Männer schlössen sich an. Die meisten sahen bestürzt aus, niemand sprach. Die einzigen Worte kamen von dem Wachtposten: »Weitergehen - immer geradeaus. Weitergehen, schön brav weitergehen.« Sie kamen in einen großen runden Saal. 402 sah sich um und entdeckte einen Balkon, der an den Wänden entlang verlief. Darauf standen alle paar Meter bewaffnete Posten. Ihre Anwesenheit schien überflüssig; die erschrockenen und willenlosen Männer waren nicht in der Stimmung zu einer Revolte. Anscheinend hatten die grimmig dreinschauenden Wachen eine symbolische Bedeutung. Sie erinnerten die gerade erwachten Männer an die wichtigste Tatsache ihres Lebens: daß sie Gefangene waren Nach einigen Minuten betrat ein in eine düstere Uniform gekleideter Mann den Balkon. Obgleich die Gefangenen ihn schon schweigend anstarrten, hob er die Hand, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dann hallte seine Stimme laut durch den Saal. »Was ich jetzt sagen werde, dient zu Ihrer Indoktrination«, begann er. »Hören Sie gut zu und versuchen Sie, sich alles gut zu merken. Es wird für Sie lebenswichtig sein.« Die Gefangenen starrten ihn neugierig an, und der Sprecher fuhr fort: »Sie alle sind während der letzten Stunde in Ihren Zellen erwacht. Sie entdeckten, daß Sie sich nicht an Ihr früheres Leben erinnern können - nicht einmal an Ihre Namen. Sie besitzen nichts als eine geringe Menge allgemeinen Wissens; genug, um sich zurechtzufinden. Ich werde diesem Wissen nichts hinzufügen. Sie alle waren auf der Erde gefährliche und sittlich verdorbene Kriminelle. Sie waren Männer der schlimmsten Sorte, die jedes Recht auf Anerkennung durch den Staat selbst verwirkt hatten. In einer weniger aufgeklärten Zeit wären Sie alle hingerichtet worden. In unserem Zeitalter jedoch werden Sie deportiert.« Der Sprecher hob eine Hand, um das Gemurmel, das den Saal durchlief, abklingen zu lassen. »Sie alle sind Verbrecher. Und Sie alle haben etwas gemeinsam: die Unfähigkeit, den grundlegendsten Gesetzen der menschlichen Gesellschaft zu gehorchen. Diese Gesetze sind für das Funktionieren einer Zivilisation unerläßlich. Sie haben sie mißachtet - und so sind Sie zu Verbrechern an der ganzen Menschheit geworden. Deshalb hat die Menschheit Sie ausgestoßen. Sie waren Sand in den Mühlen der Zivilisation und sind deshalb zu einer Welt transportiert worden, in der Ihre Sorte Mensch regiert. Hier können Sie Ihre eigenen Gesetze aufstellen und daran verrecken. Hier herrscht die Freiheit, nach der Sie verlangt haben; die maßlose und selbstzerstörerische Freiheit einer Krebsgeschwulst.« Der Sprecher wischte sich die Stirn und blickte die Gefangenen ernst an. »Aber vielleicht gelingt auch einigen von Ihnen eine Rehabilitierung. Omega, der Planet, zu dem wir unterwegs sind, gehört Ihnen, er wird ausschließlich von Gefangenen regiert. Auf dieser Welt können Sie ganz von vorn beginnen, ohne alle Vorurteile gegen Sie, ohne Vorstrafenregister! Ihr früheres Leben ist ausgelöscht -vergessen. Versuchen Sie nicht, sich daran zu erinnern. Derartige Erinnerungen wären nur dazu angetan, Ihre kriminellen Neigungen neu zu stimulieren. Betrachten Sie sich als neugeboren, von dem Moment an, in dem Sie in Ihren Zellen aufgewacht sind.« Die langsamen, wohl ab gewogenen Worte des Sprechers hatten eine gewisse hypnotische Wirkung. 402 lauschte, die Augen starr auf die blasse Stirn des Sprechers gerichtet. »Eine neue Welt«, fuhr der Sprecher fort. »Sie sind neugeboren - aber mit dem notwendigen Bewußtsein der Sünde. Ohne dies wären Sie nicht imstande, das Böse, das Ihrem Charakter anhaftet, zu bekämpfen. Denken Sie daran. Halten Sie sich immer vor Augen, daß es keine Flucht und keine Rückkehr gibt. Wachschiffe, die mit den modernsten Strahl en waffen ausgerüstet sind, patrouillieren unaufhörlich an den Himmeln von Omega - Tag und Nacht. Diese Schiffe sind dazu eingerichtet, alles, was sich höher als 150 Meter über die Oberfläche von Omega erhebt, auszutilgen eine unüberwindbare Barriere, die kein Gefangener bezwingen kann. Gewöhnen Sie sich an diese Tatsachen. Sie begründen die Gesetze, die Ihr Leben von nun an beherrschen werden. Denken Sie über meine Worte nach! Und jetzt halten Sie sich zur Landung bereit.« Der Sprecher verließ den Balkon. Eine Weile starrten die Gefangenen weiter auf die Stelle, an der er gestanden hatte. Dann breitete sich zögernd Gemurmel aus. Nach einer kurzen Zeit erstarb es wieder. Es gab nichts, worüber man hätte sprechen können. Die Gefangenen - ohne Erinnerung an die Vergangenheit hatten nichts, worauf sie die Spekulationen der Zukunft aufbauen konnten. Persönliche Daten konnten nicht ausgetauscht werden, denn sie besaßen keine. Schweigend saßen sie da - verschlossene Männer, die zu lange Zeit in absoluter Abgeschiedenheit verbracht hatten. Die Wachen auf dem Balkon standen starr wie Bildsäulen, unnahbar und unpersönlich. Und dann durchfuhr ein leichtes Beben den Boden des Saals. Das Beben wiederholte sich und wurde zu einem heftigen Schütteln. 402 fühlte sich schwerer, als preßten unsichtbare Gewichte Kopf und Schultern nieder. Aus einem Lautsprecher ertönte eine Stimme: »Achtung! Das Schiff setzt zur Landung auf Omega an! Bereiten Sie sich auf die Ausschiffung vor!« Das letzte Zittern erstarb, der Boden unter ihnen kam nach kurzem Schlingern zur Ruhe. ,Die Gefangenen, noch immer schweigend und verwirrt, mußten sich in einer Reihe aufstellen und marschierten aus dem Saal. Von Wachposten flankiert, schritten sie einen endlos wirkenden Gang entlang. 402 konnte sich ein schwaches Bild von der Größe des Schiffes machen Weit vorn erkannte er einen Streifen einfallender Sonnenstrahlen, der sich hell gegen die fahle Beleuchtung des Korridors abzeichnete. Die lange Kette der Gefangenen schlurfte weiter, und als 402 die Lichtflut erreicht hatte, erkannte er, daß sie durch eine offene Luke einfiel, durch die der Strom der Gefangenen sich drängte. Dahinter stieg er eine lange Treppe hinab und befand sich auf festem Boden. Er stand in einem offenen Viereck, in das Sonnenstrahlen fielen. Die Wachen hießen die Gefangenen in Reihen antreten; 402 konnte zu beiden Seiten Zuschauer erkennen. Eine Stimme dröhnte aus dem Lautsprecher: »Antworten Sie, wenn Ihre Nummer aufgerufen wird. Wir werden Sie jetzt identifizieren. Antworten Sie prompt, wenn Ihre Nummer genannt wird.« 402 fühlte sich schwach und müde. Selbst seine Identität interessierte ihn in diesem Augenblick kaum. Er wollte nichts als sich niederlegen, schlafen und Gelegenheit haben, über seine Lage nachzudenken. Er blickte sich um und bemerkte das gewaltige Raumschiff hinter sich, die Wachen und die Zuschauer. Über sich nahm er dunkle Punkte am Himmel wahr. Zuerst glaubte er, es wären Vögel. Dann sah er genauer hin und er kannte, daß es Wachschiffe waren. Aber auch die interessierten ihn nicht sonderlich »Nummer 1! Antworten Sie!« »Hier«, ertönte eine Stimme. »Nummer i, Ihr Name ist Wayn Southholder. Alter 34, Blutgruppe A-L2, Index AR-431-C. Schuldig des Verrats.« Als die Stimme verklang, ertönten aus der Menge laute Beifallsrufe. Man beklatschte das Verbrechen des Gefangenen und begrüßte ihn auf Omega. Die Namen wurden der Reihe nach verlesen, und 402, von der prallen Sonne benommen, döste im Stehen und lauschte den Verbrechen, die sich von Mord, Betrug, Krediterschleichung bis zu Mutantismus erstreckten. Schließlich wurde seine Nummer aufgerufen. »Nummer 402.« »Hier.« »Nummer 402, Ihr Name ist Will Barrent. Alter 27, Blutgruppe O-L3, Index JX-221-R. Schuldig des Mordes.« Die Menge jubelte, aber 402 hörte sie kaum. Er versuchte sich an den Gedanken zu gewöhnen, einen Namen zu haben. Einen wirklichen Namen statt einer Nummer. Will Barrent. Er hoffte, er würde ihn nicht vergessen. Wieder und wieder murmelte er den Namen vor sich hin und verpaßte dabei fast die letzte Ankündigung aus dem Lautsprecher. »Die neuen Männer werden jetzt auf Omega in Freiheit gesetzt. Sie finden eine vorübergehende Behausung in Block A-2. Nehmen Sie sich in acht und seien Sie in Wort und Handlung vorsichtig. Beobachten Sie, hören Sie sich um und lernen Sie! Das Gesetz schreibt vor, Ihnen mitzuteilen, daß die durchschnittliche Lebensdauer auf Omega ungefähr drei Erdjahre zählt.« Es dauerte eine Weile, bis diese letzten Worte in Barrents Bewußtsein eindrangen. Er beschäftigte sich noch immer mit der Neuigkeit, einen Namen zu besitzen. Darüber, daß er ein Mörder auf einem Planeten für Verbrecher war, hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Die neuen Gefangenen wurden zu einer Reihe von Baracken in Block A-2 geführt. Es waren fast fünfhundert Minner. In Wirklichkeit waren sie noch keine Männer, sondern Wesen, deren Erinnerung nur eine knappe Stunde zurückreichte. Auf ihren Schlafkojen hockend, betrachteten sie neugierig ihren Körper, ihre Hände und Füße. Sie starrten einander an und erblickten in den Augen der anderen ein Spiegelbild ihrer eigenen Unsicherheit. Sie waren noch keine Männer; aber sie waren auch keine Kinder. Gewisse Begriffe waren ihnen geblieben und schattenhafte Erinnerungen. Die Anpassung vollzog sich rasch, sie stützte sich auf alte Gewohnheiten und persönliche Charakterzüge, die in der zerbrochenen Form ihres früheren Lebens auf der Erde noch enthalten waren. Die Männer klammerten sich an die vagen Vorstellungen von Begriffen, Sitten, Regeln. Innerhalb weniger Stunden begann sich ihre phlegmatische Teilnahmslosigkeit zu legen. Sie wurden wieder zu Männern. Zu Individuen. Aus einer verschwommenen, künstlichen Einheit traten scharfe Gegensätze hervor. Charaktere setzten sich durch, und allmählich begannen die fünfhundert Männer zu entdecken, was sie darstellten Will Barrent stellte sich an die Schlange an, die an dem Spiegel vorbeischritt, um sich anzuschauen. Als er an der Reihe war, sah er das Bild eines gutaussehenden jungen Mannes mit glattem braunem Haar, schmalen Wangen und gerader Nase. Dieser junge Mann hatte ein selbstsicheres, ehrliches und ganz alltägliches Gesicht, das keinerlei tiefe Leidenschaften kennzeichnete. Enttäuscht wandte sich Barrent ab; es war das Gesicht eines Fremden. Später, als er sich genauer in Augenschein nahm, konnte er keine einzige Narbe oder etwas Ähnliches entdecken, das seinen Körper von tausend anderen unterschieden hätte. Seine Hände waren glatt. Er war eher drahtig als muskulös. Er sann darüber nach, welche Art Arbeit er wohl auf der Erde verrichtet haben mochte. Mord? Er runzelte die Stirn. Als Berufskiller gearbeitet zu haben, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Ein Mann klopfte ihm auf die Schulter. »Wie fühlen Sie sich?« Barrent drehte sich um und sah einen großen, breitschultrigen rothaarigen Mann hinter sich stehen. »Ganz gut«, antwortete Barrent. »Sie haben vor mir gestanden in der Reihe, nicht wahr?« »Stimmt. Nummer 401. Ich heiße Danis Foeren.« Auch Barrent stellte sich vor. »Ihr Verbrechen?« fragte Foeren. »Mord.« Foeren nickte beeindruckt. »Ich bin ein Fälscher. Wenn ich meine Hände betrachte, kann ich es kaum glauben.« Er hielt zwei massige Fäuste in die Höhe, die mit roten Haaren bewachsen waren. »Und trotzdem steckt eine unglaubliche Geschicklichkeit in ihnen. Meine Hände erinnerten sich schon, bevor irgendein anderer Teil meines Körpers zu sich kam. Auf dem Schiff saß ich in meiner Zelle und starrte auf meine Hände. Sie juckten. Sie verlangten danach, umherzutasten und etwas zu tun. Aber ich selbst konnte mich nicht daran erinnern, was das sein könnte.« »Was haben Sie getan?« fragte Barrent. »Ich habe die Augen zugemacht und meinen Händen freien Lauf gelassen«, antwortete Foeren. »Das erste, was ich feststellte, war, daß sie an dem Schloß der Zellentür herumfummelten und es öffneten.« Er hob die Hände wieder hoch und blickte sie bewundernd an. »Verdammt kluge Teufel!« »Das Schloß öffneten?« fragte Barrent. »Aber ich dachte, Sie wären ein Fälscher.« »Na ja, Fälschungen waren meine Spezialität. Aber ein Paar geschickte Hände können alles mögliche tun. Schätze, daß man mich eben gerade bei einer Fälschung erwischt hat. Aber genausogut hätte ich auch ein Geldschrankknacker sein können. Für einen einfachen Fälscher sind meine Hände zu begabt.« »Sie haben mehr über sich herausgefunden als ich«, sagte Barrent. »Ich habe nur einen Traum, auf den ich mich stützen kann.« »Immerhin etwas«, erwiderte Foeren. »Es muß doch Möglichkeiten geben, mehr herauszufinden. Aber im Moment ist das Wichtigste: Wir sind auf Omega.« »Zugegeben«, stimmte Barrent mit säuerlicher Miene zu. »Was ist daran so übel?« sagte Foeren. »Haben Sie denn nicht gehört, was der Mann sagte? Dieser Planet gehört uns!« »Bei einer durchschnittlichen Überlebensdauer von drei Erdjahren«, erinnerte ihn Barrent. »Das ist wahrscheinlich nur Gerede, um uns einzuschüchtern«, entgegnete Foeren. »Ich glaube es noch lange nicht, erst recht nicht, wenn es ein Wachtposten sagt. Die große Sache ist doch die, daß wir einen eigenen Planeten besitzen. Sie haben doch gehört, was die sagten: Die Erde lehnt uns ab. Zum Teufel mit der Erde! Wer braucht sie schon? Hier haben wir unseren eigenen Planeten. Einen ganzen Planeten für uns allein, Barrent! Wir sind frei!« »Stimmt genau, Kameraden«, mischte sich ein anderer ein. Er war klein, hatte flinke Augen und war fast aufdringlich freundlich. »Ich heiße Joe«, sagte er. »Eigentlich ist mein richtiger Name Joao; aber ich ziehe die Kurzform vor - wegen der Zeitersparnis. Meine Herren, ich hörte zufällig Ihre Unterhaltung mit an, und ich muß gestehen, ich stimme mit unserem rothaarigen Freund völlig überein. Bedenken Sie doch nur einmal die Möglichkeiten! Die Erde hat uns verstoßen? Ausgezeichnet! Ohne sie stehen wir uns weit besser! Hier sind wir alle gleich, freie Männer in einer freien Gesellschaft. Keine Uniformen, keine Wachen, keine Soldaten. Nur reuige frühere Verbrecher, die in Frieden leben wollen.« »Wobei hat man Sie geschnappt?« fragte Barrent. »Ich soll ein Kreditschleicher gewesen sein«, antwortete Joe. »Leider muß ich gestehen, daß ich mir darunter überhaupt nichts vorstellen kann. Aber vielleicht fällt es mir später noch ein.« »Es könnte ja sein, daß die Behörden eine Art System haben, das Gedächtnis wieder aufzufrischen«, bemerkte Foeren »Behörden?« stieß Joe entrüstet aus. »Was meinen Sie damit Behörden! Dies ist unser Planet. Hier sind wir alle gleich. Folglich kann es auch keine Behörden geben. Nein, Freunde, diesen ganzen Humbug haben wir auf der Erde zurückgelassen. Hier-« Er unterbrach sich. Die Barackentür war aufgegangen; ein Mann kam herein. Anscheinend war er schon länger Einwohner von Omega, denn er trug nicht die graue Gefängnisuniform. Er war dick und in grellen gelben und blauen Farben gekleidet. An dem Gürtel, der um seine enorme Taille gebunden war, trug er eine Pistole und ein Messer. Er blieb im Eingang stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und starrte auf die Neuankömmlinge. »Nun?« sagte er. »Erkennt ihr Neuen etwa keinen Quaestor? Aufstehen! « Keiner der Männer rührte sich Das Gesicht des Quaestors wurde rot. »Schätze, ich muß euch ein bißchen Respekt beibringen.« Noch bevor er die Waffe aus dem Gurt gezogen hatte, rappelten sich die Männer hoch. Der Quaestor blickte sie fast bedauernd an und stieß die Waffe zurück. »Das erste, worüber ihr euch am besten gleich im klaren seid«, erklärte der Quaestor, »ist der Rang, den ihr auf Omega einnehmt. Ihr seid Peons, und das heißt soviel, als wärt ihr nichts. Nichts! Verstanden?« Er hielt einen Moment inne und fügte dann hinzu: »Und jetzt aufgepaßt, Peons! Ich werde euch über, eure Pflichten aufklären.« »Ihr Neuen müßt euch zuallererst darüber im klaren sein«, begann der Quaestor, »was ihr selbst seid. Das ist äußerst wichtig. Und ich sage euch noch einmal, was ihr seid. Ihr seid Peons. Ihr seid das letzte vom letzten. Ihr habt keine Stellung - keine Rechte. Niedriger als ihr ist niemand - außer den Mutanten, und das sind keine richtigen Menschen. Irgendwelche Fragen?« Der Quaestor wartete. Als niemand etwas sagte, fuhr er fort: »Ich habe klargestellt, was ihr seid. Jetzt will ich kurz aufführen, wie sich die Rangordnung auf Omega fortsetzt. Als erstes möchte ich betonen, daß jeder auf Omega wichtiger ist als ihr. Aber nicht alle sind gleich viel wichtiger. Direkt über euch steht der Resident, der aber kaum mehr zählt als ihr. Darüber rangiert der freie Bürger. Zum Zeichen seines Ranges trägt er einen grauen Ring am Finger; seine Kleidung ist schwarz. Auch er ist nicht besonders bedeutend. Mit einigem Glück können einige von euch freie Bürger werden. Als nächstes kommen die Privilegklassen, die sich alle durch verschiedene Symbole ihrer Rangordnung unterscheiden, wie etwa durch den goldenen Ohrring, der die Hadji-Klasse kennzeichnet. Mit der Zeit werdet ihr alle von selbst die Zeichen und Vorrechte der verschiedenen Ränge und Stufen kennenlernen. Vielleicht sollte ich noch die Priester erwähnen. Obgleich sie nicht zu den Privilegklassen gehören, sind ihnen gewisse Freiheiten und Rechte eingeräumt. Habe ich mich klar ausgedrückt?« Zustimmendes Gemurmel erklang in der Baracke. »Und jetzt komme ich darauf, wie sich jeder zu verhalten hat, wenn er jemandem von höherem Rang begegnet. Als Peons seid ihr verpflichtet, einen freien Bürger in respektvoller Form mit vollem Titel zu grüßen. Mit Mitgliedern der Privilegklassen dürft ihr nur sprechen, wenn man euch dazu auffordert, dabei müßt ihr die Augen gesenkt halten und die Hände falten. Ihr dürft euch von einem privilegierten Bürger nicht entfernen, ohne von ihm die Erlaubnis dazu erhalten zu haben. In seiner Gegenwart dürft ihr unter gar keinen Umständen sitzen. Verstanden? Es gibt noch viele andere Dinge zu lernen. Mein Stand als Quaestor beispielsweise gehört zum Rang der freien Bürger, er bezieht aber einige Freiheiten der Privilegklassen mit ein.« Der Quaestor ließ den Blick über die Männer gleiten, um sich zu vergewissern, ob sie ihn verstanden hatten. »Die Baracken dienen euch vorläufig zur Unterkunft. Ich habe einen Plan aufgestellt, der festhält, welche von euch fegen müssen, welche waschen und so weiter. Fragen beantworte ich jederzeit gerne. Dumme oder unverschämte Fragen werden mit Verstümmelung oder Tod bestraft. Vergeßt nie, daß ihr die Niedrigsten der Niedrigen seid. Wer sich das stets vor Augen hält, kann vielleicht am Leben bleiben.« Einen Augenblick hielt der Quaestor inne, dann fuhr er fort: »Während der nächsten Tage werden euch die verschiedensten Arbeiten zugeteilt werden. Manche werden in die Germanium-Bergwerke geschickt, andere kommen zur Fischerflotte, und andere wieder werden in den verschiedensten Handelszweigen untergebracht werden. In der Zwischenzeit aber steht es euch frei, euch in Tetrahyde umzusehen.« Als ihn die Männer verständnislos anblickten, fügte er erklärend hinzu: »Tetrahyde ist die Stadt, in der ihr euch befindet. Es ist die größte Stadt auf Omega.« Er dachte einen Augenblick nach »Genauer gesagt, es ist die einzige Stadt auf Omega.« »Was bedeutet der Name Tetrahyde?« fragte Joe. »Woher soll ich das wissen?« antwortete der Quaestor stirnrunzelnd. »Ich nehme an, es ist einer jener alten Namen, die immer wieder auftauchen. Jedenfalls - seht euch vor, wenn ihr ausgeht.« »Warum?« fragte Barrent. Der Quaestor grinste. »Das, Peon, ist etwas, was du selbst schnell genug herausfinden wirst.« Er drehte sich um und verließ die Baracke. Barrent ging zum Fenster. Von hier aus konnte er einen verlassenen Platz überblicken und dahinter einige Straßen von Tetrahyde. »Willst du ausgehen?« fragte Joe. »Natürlich«, antwortete Barrent. »Kommt jemand mit?« Der kleine Betrüger schüttelte den Kopf. »Ich glaube, daß ich hier besser aufgehoben bin.« »Foeren, wie steht's mit dir?« »Mir ist das auch nicht geheuer«, erwiderte Foeren. »Scheint mir besser, erst mal ein bißchen in der Nähe der Baracken zu bleiben.« »Lächerlich«, sagte Barrent. »Die Stadt gehört jetzt auch uns. Kommt denn niemand mit?« Foeren blickte sich unsicher um und zog die breiten Schultern in die Höhe, während er den Kopf schüttelte. Auch Joe zuckte die Achseln und lehnte sich auf seinem Bett zurück. Die anderen blickten nicht einmal auf. »Also gut«, sagte Barrent. »Ich werde euch nachher Bericht erstatten.« Er wartete noch einen Augenblick, ob nicht doch noch jemand seine Meinung änderte, dann ging er zur Tür hinaus. Tetrahyde bestand aus einer Ansammlung von Gebäuden auf einer schmalen Halbinsel, die in ein ruhiges graues Meer hinausragte. Gegen das Landinnere zu war die Halbinsel durch eine hohe Steinmauer begrenzt. Darin waren Tore und Schilderhäuschen eingelassen. Das größte Gebäude der Halbinsel war die Arena, die einmal im Jahr für die Spiele verwendet wurde. Daneben standen einige Regierungsgebäude. Barrent schritt durch die schmalen Straßen; er blickte sich neu gierig nach allen Seiten um, um sich ein Bild von seiner neuen Heimat zu machen. Die gewundenen, ungepflasterten Straßen und die dunklen, vom Wetter gezeichneten Häuser rührten an irgend etwas Unfaßbares in seiner Erinnerung. Er hatte einen Ort wie diesen schon einmal auf der Erde gesehen, aber er konnte ihn sich nicht genauer vorstellen. Dieser Gedanke verfolgte ihn, aber soviel er sich anstrengte, er konnte sich an nichts Konkretes erinnern Nachdem er an der Arena vorbei war, kam er in den Hauptgeschäftsteil von Tetrahyde. Voller Interesse las er die Inschriften über den Läden: DOKTOR OHNE LIZENZ - ABTREIBUNGEN WERDEN SOFORT VORGENOMMEN. Und ein Stück weiter: UNBESTELLTER ANWALT POLITISCHE PROTEKTION! Das alles erschien Barrent seltsam. Er ging weiter und kam an Läden vorbei, die gestohlene Waren anpriesen, und dann zu einem, an dem stand: ACHTUNG! HIER ARBEITEN MUTANTEN! HIER WIRD IHRE VERGANGENHEIT AUF DER ERDE AUFGEDECKT! Barrent war versucht einzutreten. Aber er erinnerte sich daran, daß er kein Geld besaß. Und Omega schien ihm ganz danach auszusehen, als hätte Geld hier einen hohen Wert. Er ging eine Seitenstraße hinunter, an mehreren Restaurants vorbei und gelangte zu einem großen Gebäude. GIFTINSTITUT, las er: GUTE KONDITIONEN, KUNDENFREUNDLICHE ZAHLUNGSFRISTEN. PROMPTE BEDIENUNG GARANTIERT ODER GELD ZURÜCK. Und auf der nächsten Tür: MÖRDERINNUNG, TELEFON 452. Wegen der Rede des Uniformierten auf dem Schiff hatte Barrent angenommen, daß das Leben auf Omega dazu bestimmt war, die Kriminellen zu rehabilitieren. Nach den Aufschriften der Läden zu urteilen, war das keineswegs der Fall; oder wenn, dann ging diese Rehabilitierung höchst sonderbare Wege. Tief in Gedanken versunken, ging er weiter. Dann bemerkte er plötzlich, daß die Leute einen großen Bogen um ihn machten. Sie starrten ihn an und duckten sich in Hauseingänge. Eine ältere Frau rannte entsetzt davon Stimmte etwas nicht mit ihm? Lag es an seiner Gefängnisuniform? Unwahrscheinlich - denn die Leute von Omega hatten viele davon gesehen. Aber was war es denn? Die Straße war jetzt fast ausgestorben. Ein Ladeninhaber in seiner Nähe ließ hastig ein Gitter vor seiner Auslage herab. »Was ist los?« fragte ihn Barrent. »Was geht hier vor?« »Bist du von Sinnen?« antwortete der Mann. »Heute ist doch Landungstag! « »Ich verstehe nicht.« »Landungstag!« wiederholte der Ladeninhaber. »Der Tag, an dem das Schiff mit den Gefangenen landet. Mach, daß du zurück in deine Baracke kommst, du Idiot!« Er ließ das letzte Stahlgitter herab und verschloß es. Barrent fühlte plötzlich Angst in sich aufsteigen. Irgend etwas stimmte nicht. Er mußte so schnell wie möglich zurück in das Lager. Es war dumm von ihm gewesen, nicht mehr über die Gebräuche von Omega zu erfragen, bevor er... Drei Männer kamen auf ihn zu. Sie waren gut gekleidet, jeder trug im linken Ohr den goldenen Ohrring eines Hadjis. Alle drei waren bewaffnet. Barrent wollte in die andere Richtung davongehen, als einer der Männer rief: »Halt, Peon!« Barrent sah, daß die Hand des Mannes in gefährlicher Nähe der Waffe war. Er blieb stehen. »Was ist los?« fragte er. »Landungstag«, antwortete der Mann. Er sah seine Freunde an. »Wer ist zuerst dran?« »Wir werden es auslosen.« »Hier ist eine Münze.« »Nein, lieber knobeln.« »Fertig? Eins, zwei, drei!« »Er gehört mir«, sagte der Hadji zur Linken. Seine Freunde traten zurück, als er den Revolver zog. »Halt!« schrie Barrent. »Was geht hier vor?« »Ich werde dich erschießen«, erklärte der Hadji. »Aber warum?« Der Mann lächelte. »Weil das ein Vorrecht eines Hadjis ist. Am Landungstag haben wir das Recht, jeden neuen Peon nieder zuknallen, der die Baracken verläßt.« »Aber das hat mir niemand gesagt!« »Natürlich nicht«, antwortete der Mann. »Wenn ihr neuen Leute das wüßtet, würde am Landungstag doch keiner mehr die Baracken verlassen. Und das würde den ganzen Spaß verderben.« Er legte an Barrent reagierte fast automatisch. Er warf sich zu Boden und hörte ein zischendes Geräusch; dicht hinter ihm zeichnete sich auf der Backsteinfront ein verbrannter Fleck, ab. »Jetzt bin ich dran«, sagte einer der beiden anderen »Tut mir leid, mein Lieber. Aber ich glaube, ich komme zuerst.« »Das Alter hat den Vorrang, mein Freund. Mach Platz!« Bevor der nächste richtig zielen konnte, war Barrent auf die Füße gesprungen und rannte davon. Für den Augenblick kam ihm die stark gewundene Straße zu Hilfe, aber er konnte die Schritte seiner Verfolger dicht hinter sich hören. Sie liefen mit ruhiger Gelassenheit, als wären sie ihrer Beute sicher. Barrent beschleunigte seine Schritte und bog in eine Seitengasse ein, bemerkte aber sofort, daß das ein Fehler gewesen war. Er war in eine Sackgasse geraten. Die Hadjis kamen immer näher. Barrent blickte sich verzweifelt um. Alle Läden und Hauseingänge waren fest verschlossen. Nirgends konnte er sich verstecken oder Deckung suchen. Und dann erspähte er in der Richtung, aus der seine Verfolger kamen, ein paar Häuserblocks weiter einen offenen Hauseingang. Er war direkt daran vorbeigelaufen. Ein Schild über der Tür verkündete: SCHUTZGESELLSCHAFT FÜR OPFER. Genau das Richtige für mich, dachte Barrent. Er rannte darauf zu, fast bis zu den erstaunt dreinblickenden Hadjis. Ein einzelner Schuß zischte knapp vor seinem Füßen vorbei; dann hatte er den Eingang erreicht und stürzte hindurch Er raffte sich wieder auf. Seine Verfolger waren draußen zurückgeblieben; er konnte ihre Stimmen auf der Straße hören. Leidenschaftlich diskutierten sie weitere Möglichkeiten, ihn zu fangen. Barrent vergegenwärtigte sich, daß er eine Art Zufluchtsstätte betreten hatte. Er befand sich in einem großen, hell erleuchteten Raum. Auf einer Bank dicht neben der Tür saßen mehrere zerlumpte Gestalten. Sie lachten über irgend etwas. In einiger Entfernung von ihnen hockte ein dunkelhaariges Mädchen und beobachtete ihn mit großen ruhigen Blicken. Am anderen Ende des Raums stand ein Tisch, hinter dem ein Mann saß. Er winkte Barrent. Barrent schritt auf den Tisch zu. Der Mann dahinter war klein und trug eine Brille. Er lächelte ermutigend und wartete darauf, daß Barrent etwas sagte. »Ist dies hier die Schutzgesellschaft für Opfer?« fragte Barrent. »Ganz recht, mein Herr«, antwortete der Mann. »Ich bin Rondolp Frendlyer, der Präsident dieser uneigennützigen Organisation. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Darum möchte ich Sie bitten«, stimmte Barrent zu. »Genaugenommen bin ich ein Opfer.« »Das stellte ich gleich auf den ersten Blick fest«, sagte Frendlyer und lächelte ihm freundlich zu. »Sie haben so was im Blick, eine Mischung von Furcht, Ungewißheit und Wut. Das ist unübersehbar.« »Sehr interessant«, antwortete Barrent mit einem kurzen Seitenblick zur Tür. Er fragte sich, wie lange man draußen diese Zufluchtsstätte respektieren würde. »Mister Frendlyer, leider bin ich kein Mitglied Ihrer Organisation -« »Das spielt keine Rolle«, beruhigte ihn Frendlyer. »Ein Beitritt in unsere Organisation erfolgt notwendigerweise immer spontan. Man tritt bei, wenn sich gerade die Gelegenheit ergibt. Unsere Absicht ist es, die äußerlichen Rechte aller Opfer zu schützen.« »Jawohl. Also - draußen sind drei Männer, die mich zu töten versuchen.« »Ich verstehe«, sagte Frendlyer. Er öffnete die Schublade des Tischs und holte ein dickes Buch hervor. Er blätterte es flink durch, bis er gefunden hatte, was er suchte. »Sagen Sie, haben Sie den Status dieser drei Männer festgestellt?« »Ich glaube, es waren Hadjis«, antwortete Barrent. »Jeder trug einen goldenen Ohrring im linken Ohr.« »Ganz recht. Und heute ist Landungstag. Sie kamen von dem Schiff, das heute gelandet ist, und wurden als Peon klassifiziert. Habe ich recht?« »Ja.« »Dann freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, daß alles in bester Ordnung ist. Die Jagdzeit des Landungstages endet bei Sonnenuntergang. Sie können von hier mit der festen Versicherung weggehen, daß alles in Ordnung ist und Ihre Rechte in keiner Weise verletzt worden sind.« »Hier weggehen? Nach Sonnenuntergang, wollten Sie sagen!« Mr. Frendlyer schüttelte den Kopf und lächelte bedauernd. »Leider nicht. Gemäß den Gesetzen müssen Sie uns sofort verlassen.« »Aber die draußen werden mich umbringen!« »Das ist allerdings wahr«, antwortete Frendlyer. »Unglücklicherweise läßt sich daran nichts ändern. Ein Opfer ist seiner Definition nach jemand, der getötet werden soll.« »Ich dachte, dies wäre eine Organisation zu seinem Schutz.« »Das ist sie auch. Aber wir schützen Rechte, nicht Opfer. Ihre Rechte sind nicht verletzt worden. Die Hadjis haben das Recht, Sie am Landungstag zu töten - und zwar jederzeit vor Sonnenuntergang, wenn Sie sich nicht in den Baracken befinden. Sie dagegen, das könnte ich vielleicht noch hinzufügen, haben das Recht, jeden zu töten, der versucht, Sie umzubringen.« »Aber ich besitze keine Waffe«, wandte Barrent ein. »Opfer haben nie eine Waffe«, erklärte Frendlyer. »Das macht doch den ganzen Unterschied aus, finden Sie nicht? Aber ob Waffe oder nicht, jetzt müssen Sie leider wieder gehen.« Barrent konnte noch immer die trägen Stimmen der Hadjis vor der Tür in der Gasse hören. »Haben Sie hier eine Hintertür?« fragte er. »Tut mir leid.« »Dann werde ich einfach hierbleiben.« Noch immer lächelnd, öffnete Frendlyer eine andere Schublade und holte eine Pistole hervor. Er zielte auf Barrent und sagte: »Sie müssen jetzt wirklich gehen. Sie können Ihr Glück bei den Hadjis versuchen oder aber hier sterben - ohne jede Chance.« »Leihen Sie mir Ihre Waffe«, bat Barrent. »Das ist verboten«, entgegnete Frendlyer. »Man kann schließlich kein Opfer mit einer Waffe frei herumlaufen lassen, verstehen Sie das nicht? Da käme ja alles durcheinander.« Er entsicherte die Waffe. »Wollen Sie jetzt gehen oder nicht?« Barrent rechnete sich seine Chance aus, wenn er auf den Tisch zustürzte, um dem anderen die Pistole zu entreißen, und mußte sich eingestehen, daß ihm das nicht gelingen wirde. Er drehte sich um und ging langsam auf die Tür zu. Die zerlumpten Männer lachten noch immer über irgendeinen Witz. Das dunkelhaarige Mädchen hatte sich von der Bank erhoben und stellte sich dicht neben die Tür. Als er sich ihr näherte, sah Barrent, daß sie sehr hübsch war. Verwundert fragte sich Barrent, welches Verbrechen sie begangen haben mochte, um von der Erde deportiert zu werden. Als er an ihr vorbeiging, fühlte er plötzlich etwas Hartes an der Seite. Er griff danach und hielt eine kleine, aber sehr leistungsfähig aussehende Pistole in der Hand. »Viel Glück«, sagte das Mädchen. »Ich hoffe, Sie wissen, wie man sie handhabt.« Barrent nickte ihr dankbar zu. Er war sich dessen nicht ganz sicher, aber er wollte es gern herausfinden. Außer den drei Hadjis befand sich niemand in der Gasse. Sie standen etwa fünfzehn Meter entfernt und unterhielten sich ruhig. Als Barrent heraustrat, gingen zwei von ihnen ein paar Schritte zurück; der dritte fixierte ihn scharf, die Waffe lässig in der Hand haltend. Als er bemerkte, daß Barrent bewaffnet war, legte er schnell an Barrent warf sich zu Boden und zog den Abzug der ungewohnten Waffe. Er fühlte, wie sie in seiner Hand erzitterte, und sah, wie der Kopf und die Schultern des Hadjis schwankten und zu zerfallen begannen. Bevor er auf die anderen beiden anlegte, wurde die Waffe mit einem heftigen Ruck seiner Hand entrissen. Der Schuß des sterbenden Hadjis hatte den Lauf gestreift. Verzweifelt stürzte Barrent auf die Pistole zu, er wußte, daß er sie kaum rechtzeitig erreichen würde. Seine Haut juckte in Erwartung des tötenden Schusses. Er rollte auf die Pistole zu, noch immer erstaunlich lebendig, und legte auf den zweiten Hadji an Gerade noch rechtzeitig konnte er den Schuß zurückhalten Die Hadjis hatten ihre Pistolen wieder eingesteckt. Einer von ihnen sagte: »Armer alter Draken. Er lernte es einfach nicht, schnell abzufeuern.« »Mangel an Praxis«, antwortete der andere. »Draken hat nie viel Zeit auf dem Übungsstand verbracht.« »Wenn du mich fragst, so war das eine gute Lehre. Man darf nie aus der Übung kommen.« »Und«, fügte der erste hinzu, »man darf selbst einen Peon nicht unterschätzen.« Er blickte Barrent an. »Feiner Schuß, mein Lieber.« »Ja, wirklich ganz nett«, stimmte der andere zu. »Es ist schwierig, aus der Bewegung heraus genau zu treffen.« Barrent erhob sich zitternd. Er hielt noch immer die Waffe des Mädchens in der Hand, um bei der ersten verdächtigen Bewegung schießen zu können. Aber die Hadjis gaben sich unbefangen. Sie schienen den Vorfall als abgeschlossen zu betrachten. »Und was nun?« fragte Barrent. »Nichts«, antwortete der eine Hadji. »Am Landungstag darf jeder Mann oder jede Jagdgesellschaft nur ein einziges Opfer stellen. Danach scheidet man aus.« »Es ist wirklich kein sehr wichtiger Feiertag«, sagte der andere. »Nicht wie die Spiele oder die Lotterie.« »Alles, was Sie jetzt noch tun können, ist, zum Registrierbüro zu gehen und Ihre Erbschaft anzutreten.« »Meine was?« »Ihre Erbschaft«, erklärte der Hadji geduldig. »Sie haben Anspruch auf das gesamte Vermögen Ihres Opfers. In Drakens Fall allerdings fürchte ich, ist das nicht allzu viel.« »Er ist nie ein guter Geschäftsmann gewesen«, bemerkte der andere mitleidig. »Trotzdem - Sie werden etwas erhalten, das Ihnen den Start erleichtert. Und da Sie einen autorisierten Mord verübt haben obgleich einen ziemlich ungewöhnlichen -, steigen Sie im Rang auf. Sie werden ein freier Bürger.« Die Straße hatte sich inzwischen wieder belebt. Menschen eilten hin und her, und die Ladenbesitzer zogen die Gitter und Türen auf. Ein Lastwagen mit der Aufschrift, »Leichenabfuhr«, EINHEIT 5« kam angefahren, und vier uniformierte Männer luden Drakens Körper auf. Das normale Leben ging weiter. Diese Tatsache bestätigte Barrent mehr als die Versicherung der Hadjis, daß die augenblickliche Gefahr vorbei war. Er steckte die Waffe des Mädchens in die Tasche. »Das Registrierbüro liegt in dieser Richtung«, sagte einer der Hadjis. »Wir werden als ihre Zeugen auftreten.« Barrent verstand die Situation noch immer nicht völlig, aber da sich die Dinge zu seinen Gunsten zu entwickeln schienen, entschied er, alles ohne weitere Fragen zu akzeptieren. Später würde er genügend Zeit haben herauszufinden, was sich eigentlich abspielte. In Begleitung der beiden Hadjis ging er zum Registrierbüro am Gunpoint Square. Dort hörte sich ein gelangweilter Angestellter die ganze Geschichte an, überreichte ihm Drakens Geschäftspapiere und schrieb Barrents Namen über den von Draken. Barrent stellte fest, daß schon mehrere andere Namen darunter gestanden hatten. In Tetrahyde schienen die Geschäfte recht schnell von einer Hand in die andere überzugehen. Er stellte fest, daß er jetzt der Besitzer eines Antidotenladens am Blaser Boulevard 3 war. Die Geschäftspapiere erkannten Barrent offiziell als freien Bürger an. Der Beamte überreichte ihm einen Standesring, der aus Kugelblei gefertigt war, und riet ihm, sich so bald als möglich Zivilkleidung anzuziehen, um unangenehme Zwischenfälle zu vermeiden. Wieder draußen, wünschten ihm die Hadjis viel Glück. Barrent entschloß sich, erst einmal sein neues Geschäft anzusehen. Blaser Boulevard war eine kurze Gasse, die zwei Hauptstraßen einander verband. Fast genau in der Mitte befand sich ein Geschäft mit der Aufschrift: ANTIDOTENLADEN. Und darunter stand: ALLE ARTEN VON GEGENGIFT -TIERISCHE, PFLANZLICHE ODER MINERALISCHE. TRAGEN SIE STETS UNSERE PRAKTISCHE>Do Fr YOURSELF <-BOX BEI SICH! DREIUNDZWANZIG ANTIDOTE IN EINEM HANDLICHEN TASCHENBEHÄLTER! Barrent schloß die Tür auf und trat ein. Hinter einem niedrigen Ladentisch sah er deckenhohe Regale mit beschrifteten Flaschen darauf; Kannen und Kartons und viereckige Glasschalen mit seltsam geformten Blättern, Zweigen und Pilzen. Hinter dem Tisch waren auf einem Brett einige Bücher aufgereiht, mit Titeln wie : Schnelle Diagnosen bei akuten Vergiftungen: Die ArsenFamilie oder Die Abkömmlinge von Henbane. Es war offensichtlich, daß Vergiftungen im täglichen Leben von Omega eine große Rolle spielten. Dies war ein Laden - und folglich gab es auch noch andere -, der sich einzig und allein damit beschäftigte, Antidote zu verkaufen. Barrent dachte darüber nach und stellte fest, daß er zwar ein seltsames, aber ehrliches Geschäft geerbt hatte. Er würde die Bücher studieren und herauszufinden versuchen, wie solch ein Antidotenladen geführt wurde. Der Laden hatte einen hinteren Teil mit einem Wohnraum, einem Schlafzimmer und einer Küche. In einem der Schränke fand Barrent einen schlechtsitzenden Anzug eines freien Bürgers in Schwarz, den er überzog. Er zog die Waffe des Mädchens aus der Gefängniskleidung, wog sie in der Handfläche und steckte sie dann in die Tasche seines neuen Anzugs. Er verließ den Laden und machte sich auf den Weg zurück zur Schutzgilde der Opfer. Die Tür war noch immer offen, und auch die drei zerlumpten Gestalten hockten noch immer auf der Bank. Jetzt lachten sie nicht mehr. Das lange Warten schien sie ermüdet zu haben. Am anderen Ende des Raumes saß Mr. Frendlyer hinter seinem Schreibtisch und las in einem dicken Stoß Papiere. Von dem Mädchen war nichts zu sehen Barrent ging auf den Tisch zu, und Frendlyer erhob sich, um ihn zu begrüßen. »Meinen Glückwunsch!« sagte er. »Mein lieber Freund, meinen herzlichsten Glückwunsch! Das war wirklich ein ausgezeichneter Schuß. Und noch dazu in Bewegung!« »Danke«, antwortete Barrent. »Der Grund, weswegen ich hierher zurückkam -« »Ich weiß«, unterbrach ihn Frendlyer. »Sie möchten in Ihren Rechten und Pflichten als freier Bürger unterrichtet werden. Das ist doch ganz natürlich. Wenn Sie auf der Bank da drüben Platz nehmen wollen, werde ich -« »Das ist eigentlich nicht der Grund meines Kommens«, erklärte Barrent. »Natürlich möchte ich mich auch über meine Rechte und Pflichten informieren. Aber im Moment möchte ich das Mädchen finden.« »Ein Mädchen?« »Sie saß hier auf der Bank, als ich vorhin hier hereinkam. Sie hat mir die Pistole gegeben.« Mr. Frendlyer sah ihn erstaunt an. »Bürger, Sie müssen unter einer Täuschung leiden. In diesem Büro ist den ganzen Tag noch kein Mädchen gewesen.« »Sie hat auf jener Bank dicht bei den drei Männern gesessen. Ein sehr hübsches dunkelhaariges Mädchen. Sie müssen sie gesehen haben.« »Natürlich hätte ich sie bemerkt, wenn sie hiergewesen wäre«, antwortete Frendlyer, mit den Augen zwinkernd. »Aber, wie ich schon vorhin betonte, hat heute noch keine Frau mein Büro betreten. « Barrent starrte ihn an und zog die Pistole aus der Tasche. »Woher habe ich das hier denn sonst?« »Ich habe sie Ihnen geliehen«, antwortete Frendlyer. »Ich bin froh, daß Sie sie erfolgreich gebrauchen konnten, aber jetzt hätte ich sie wirklich gern wieder zurück.« »Sie lügen«, sagte Barrent und umklammerte die Pistole fest. »Fragen wir doch die Männer da.« Er ging zu der Bank, Frendlyer folgte ihm. Er sprach den Mann an, der am dichtesten neben dem Mädchen gesessen hatte. »Wohin ist das Mädchen gegangen?« Der Mann hob das ausdruckslose, unrasierte Gesicht und fragte: »Über welches Mädchen sprechen Sie, Bürger?« »Über das, das hier direkt neben Ihnen gesessen ist.« »Ich habe niemand bemerkt. Rafeel, hast du hier ein Mädchen sitzen sehen?« »Ich nicht«, antwortete Rafeel, »und ich sitze hier schon seit zehn Uhr morgens.« »Ich habe auch niemanden bemerkt«, sagte der dritte Mann. »Und dabei habe ich gute Augen.« Barrent wandte sich wieder an Frendlyer. »Warum lügen Sie mich an?« »Ich habe Ihnen nichts als die Wahrheit gesagt«, antwortete Frendlyer. »Den ganzen Tag ist noch kein Mädchen hiergewesen. Ich habe Ihnen die Pistole geliehen, das ist mein gutes Recht als Präsident der Schutzinnung der Opfer. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie mir zurückgeben würden.« »Das werde ich nicht tun«, sagte Barrent. »Ich werde die Pistole behalten, bis ich das Mädchen gefunden habe.« »Das wäre nicht klug«, sagte Frendlyer und fügte hastig hinzu: »Diebstahl unter diesen Umständen ist nicht entschuldbar.« »Das Risiko nehme ich auf mich«, antwortete Barrent. Er drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Schutzgilde der Opfer. Barrent brauchte einige Zeit, um sich von seinem etwas ereignisreichen Eintritt in das Leben auf Omega zu erholen. Vor wenigen Stunden hatte er sich im hilflosen Stadium eines Neugeborenen befunden - und nun hatte er einen Mord begangen und war Besitzer eines Antidotenladens. Von einer vergessenen Vergangenheit auf einem Planeten namens Erde war er in eine zweifelhafte Gegenwart in einer Welt voller Krimineller geworfen worden. Er hatte einen kleinen Einblick in eine komplizierte Klassenstruktur gewonnen und einen Hinweis dafür erhalten, daß er in ein festgelegtes Programm von Verbrechen und Morden geraten war. Er hatte in sich selbst ein gewisses Maß an Selbstvertrauen entdeckt und auch eine außerordentliche Behendigkeit im Umgehen mit einer Pistole. Er wußte, daß es noch eine gewaltige Menge mehr Wissenswertes über Omega, die Erde und ihn selbst herauszufinden galt. Aber alles der Reihe nach. Zuerst mußte er sich einmal seinen Lebensunterhalt verdienen. Und um das tun zu können, mußte er sich über Gifte und Gegengifte informieren. Er bezog die Wohnung im hinteren Teil seines Ladens und begann, die Bücher des verstorbenen Hadji Draken zu studieren Die Literatur über Gifte war faszinierend. Es gab die Pflanzengifte, wie man sie auf der Erde kannte, Nieswurz, Setzkraut, Nachtschatten und Eibenbaum. Er erfuhr etwas über die Wirkung des Schierlings - den einleitenden Rausch und die nachfolgenden Krämpfe. Es gab Blausäurevergiftungen von Mandeln und vom Fingerhut. Da gab es die furchtbare Wirksamkeit von Wolfsgift mit seinem tödlichen Gehalt an Eisenhut. Aber die Pflanzengifte stellten trotz ihrer erschreckenden Reichhaltigkeit nur einen Teil seines Studienprogramms dar. Er mußte die Tiere des Landes, der Luft und die aus dem Wasser studieren, die verschiedenen Arten tödlicher Spinnen, die Schlangen, Skorpione und riesigen Wespen. Außerdem gab es eine imponierende Zahl metallischer Gifte, wie Arsen, Quecksilber und Wismut. Da waren die Ätzmittel -Salpetersäure, Hydrochlorid, Phosphor und Schwefelsäure. Und dazu kamen noch die Gifte, die von den verschiedensten Stoffen destilliert oder gewonnen worden waren, unter ihnen Strychnin, Ameisensäure und dergleichen mehr. Für jedes Gift waren ein oder mehrere Antidote verzeichnet; aber diese komplizierten, sorgfältig beschriebenen Stoffe waren häufig nicht wirksam, fürchtete Barrent. Um die Angelegenheit noch schwieriger zu machen, schien die Wirksamkeit eines Gegengiftes von einer korrekten Diagnose eines Giftagenten abzuhängen. Und nur allzuoft wiesen mehrere Gifte die gleichen Symptome auf. Barrent dachte über all diese Probleme nach, während er die Bücher durchstudierte. Zwischendurch bediente er mit einiger Nervosität seine ersten Kunden Er fand heraus, daß viele seiner Befürchtungen grundlos gewesen waren. Trotz der Dutzende tödlicher Substanzen, die das Giftinstitut anpries, hielten sich die meisten Giftmischer engstirnig an Arsen oder Strychnin. Diese Gifte waren billig, sicher und sehr schmerzhaft. Blausäure hatte einen leicht erkennbaren Geruch, Quecksilber war schwierig zu erhalten, und die Ätzmittel, obgleich außerordentlich spektakulär, waren auch für den, der sie anwendete, nicht ganz ungefährlich. Wolfsgift war natürlich sehr gut; Nachtschatten auch nicht zu verachten, und die Giftpilze besaßen einen eigenen Charme. Aber all dies waren die Gifte einer älteren, besinnlicheren Generation. Die ungeduldigen jüngeren Leute der Gegenwart -vor allem die Frauen, die fast 90 Prozent aller Giftmischer auf Omega ausmachten - gaben sich einfach mit Arsen oder Strychnin zufrieden, wie die Gelegenheit sich gerade anließ. Die Frauen von Omega waren konservativ. Sie interessierten sich absolut nicht für die nie endenden Verbesserungen der Giftkunst. Die Mittel kümmerten sie nicht; nur das Ende, das so schnell und billig wie möglich erreicht werden sollte. Die Frauen von Omega waren wegen ihres gesunden Menschenverstandes berühmt. Obgleich die eifrigen Theoretiker des Giftinstituts sich bemühten, zweifelhafte Mixturen von Kontaktgiften zu verkaufen, und sich große Mühe gaben, komplizierte Systeme der verschiedensten Stoffe aufzubauen, so fanden sich doch nur sehr wenige weibliche Interessenten dafür. Einfaches Arsen und schnellwirkendes Strychnin bildeten die begehrtesten Artikel in diesem Handelszweig. Dies vereinfachte Barrents Arbeit natürlich erheblich. Seine Gegenmittel - für sofortiges Erbrechen, Säuberung des Magens oder neutralisierende Stoffe - waren leicht herzustellen Einige Schwierigkeiten hatte er mit Männern, die es strikt ablehnten, daß man sie mit so simplen Stoffen wie Arsen oder Strychnin vergiftet haben sollte. In diesen Fällen verschrieb Barrent ein Gemisch von Wurzeln, Kräutern, Blättern und einem leichten kurz anhaltenden Betäubungsgift. Aber danach ordnete er stets Erbrechungs- und Abführmittel an. Nachdem er sich etwas eingelebt hatte, besuchten ihn Danis Foeren und Joe. Foeren arbeitete vorübergehend in den Docks, wo er Fischerboote ent- und belud. Joe hatte ein nächtliches Pokerspiel für die Regierungsbeamten von Tetrahyde organisiert. Keiner der beiden hatte seinen Rang sonderlich verbessert; keinem war es gelungen, einen Mord zu verüben, so daß sie es nur bis zum Residenten zweiter Klasse gebracht hatten. Es machte sie ein wenig nervös, gesellschaftlichen Verkehr mit einem freien Bürger zu pflegen, aber Barrent half ihnen, diese Verlegenheit zu überbrücken. Sie waren die einzigen Freunde, die er auf Omega besaß, und er hatte nicht die Absicht, sie wegen gesellschaftlicher Vorurteile zu verlieren. Barrent konnte von ihnen nicht viel über die Gesetze und Gebräuche von Tetrahyde lernen. Selbst Joe war es nicht gelungen, Definitives von seinen Freunden in der Regierung zu erfahren. Auf Omega wurden die Gesetze geheimgehalten. Die älteren Einwohner benutzten ihr Wissen dazu, sich gegenüber den Neuankömmlingen einen Vorteil zu verschaffen. Dieses System behauptete sich auf Grund der Doktrin, daß alle Menschen in Rang und Stellung ungleich wären - das war der Grundstein des ganzen Systems. Durch organisierte Ungleichheit und bewußt gefördertes Unwissen blieben Macht und gesellschaftlicher Rang in den Händen der älteren Einwohner. Natürlich konnte ein gewisser Prozentsatz an Aufsteigern nicht verhindert werden. Aber das Vorwärtskommen ließ sich hinauszögern und außerordentlich gefährlich machen. Die Art, wie man auf Omega Gesetzen und Bräuchen gegenübertreten mußte, war ein riskanter Prozeß von Versuch und Irrtum. Obgleich der Antidotenladen ihn die meiste Zeit in Anspruch nahm, setzte Barrent seine Versuche fort, das Mädchen zu finden. Aber es gelang ihm nicht einmal, nur den geringsten Hinweis zu erhalten, daß sie überhaupt existierte. Er freundete sich mit den Ladenbesitzern an, die neben ihm wohnten. Einer von ihnen, Demond Harrisbourg, war ein forscherjunger Mann mit einem Schnurrbart, der ein Lebensmittelgeschäft unterhielt. Es war ein prosaisches und ziemlich albernes Unternehmen, wie sich Harrisbourg auszudrücken pflegte, aber, so fügte er stets hinzu; selbst Verbrecher mußten essen. Und dazu waren nun einmal Bauern, Transporteure, Großhändler und Lebensmittelgeschäfte notwendig. Harrisbourg behauptete, daß sein Beruf in keiner Weise denen nachstand, die sich mit Morden und ähnlichem auf Omega befaßten. Außerdem war der Onkel seiner Frau Minister für öffentliche Arbeit. Durch ihn erhoffte Harrisbourg ein MordZertifikat zu erhalten. Mit diesem überaus wichtigen Dokument konnte er sechs Monate lang morden und sich bis zum PrivilegBürger hinaufarbeiten. Barrent nickte zustimmend. Aber innerlich zweifelte er nicht daran, daß Harrisbourgs Frau, eine dürre, ruhelose Person, noch vorher versuchen würde, ihn zu vergiften. Sie schien nicht mit ihm zufrieden, und Scheidung war auf Omega verboten. Sein anderer Nachbar, Tem Rend, war ein schmächtiger Mann Anfang Vierzig. Eine Brandnarbe zog sich von seinem linken Ohr bis fast zum Mundwinkel über das Gesicht, ein Andenken, das ihm ein hoffnungsvoller Anwärter auf eine Verbesserung seines Ranges verabreicht hatte. Aber anscheinend war er an den Falschen geraten. Tem Rend besaß eine Waffenhandlung, übte sich unaufhörlich und trug stets einige seiner Verkaufsgegenstände mit sich herum. Nach den Aussagen der Zeugen hatte er einen perfekten Gegenmord verübt. Tem träumte davon, einmal Mitglied der Mordgilde zu werden. Sein Antrag auf Beitritt in diese alte und strenge Organisation lief schon, und er hatte die berechtigte Hoffnung, innerhalb der nächsten Monate aufgenommen zu werden. Barrent kaufte von ihm eine Handwaffe. Auf Rends Rat hin entschied er sich für eine Jamiason-Tyre-Nadelstrahl-Pistole. Sie war schneller und treffsicherer als jede Projektilwaffe und hatte die gleiche Durchschlagskraft wie eine schwerkalibrige Kugel. Der Sicherheit halber hatte sie nicht die Streubreite wie die Hitzewaffen, die die Hadjis verwendeten und die noch bis zu einer Entfernung von eineinhalb Metern töteten. Aber weitstreuende Strahler waren nicht so genau. Es waren Waffen, die zu sorglosen Charakteren paßten. Jedermann konnte eine Hitzepistole abfeuern, aber um eine Nadelstrahlpistole wirkungsvoll zu gebrauchen, mußte man ständig üben. Und diese Übung machte sich bezahlt. Ein guter Nadelstrahl-Mann konnte leicht mit zwei Gegnern mit weitstreuenden Hitzepistolen fertig werden. Barrent nahm sich diesen Ratschlag zu Herzen, um so mehr, als er von einem Anwärter auf die Mördergilde und gleichzeitig dem Besitzer einer Waffenhandlung kam. Er verbrachte viele Stunden an Rends Keller-Schießstand, beschleunigte seine Reaktionen und gewöhnte sich an den Schnellschuß-Halfter. Es gab eine Menge zu tun und zu lernen, nur um überhaupt zu überleben. Barrent scheute keine harte Arbeit, solange sie auf ein erstrebenswertes Ziel hinführte. Er hoffte, daß es für eine Weile ruhig bleiben würde, so daß er sein Wissen so weit wie möglich dem der älteren Bewohner anpassen konnte. Aber auf Omega blieben die Dinge nie lange ruhig. Eines Tages, als er am späten Nachmittag gerade seinen Laden zuschloß, trat ein ungewöhnlich aussehender Besucher zu ihm. Es war ein fünfzigjähriger schwer gebauter Mann mit harten und dunklen Gesichtszügen. Um die Hüfte trug er einen Gürtel, an dem ein kleines schwarzes Buch und ein Dolch mit schwarzem Griff baumelten. Er machte den Eindruck ungewöhnlicher Stärke und Autorität. Barrent konnte seinen Rang nicht erkennen »Ich wollte gerade schließen, Sir«, sagte Barrent, »aber wenn Sie irgend etwas kaufen wollen?« »Ich bin nicht gekommen, um etwas zu kaufen«, erwiderte der Besucher. Er erlaubte sich ein schwaches Lächeln. »Ich bin gekommen, um etwas zu verkaufen.« »Verkaufen?« »Ich bin ein Priester«, erklärte der Mann. »Sie sind neu in meinem Distrikt. Ich habe Sie nie beim Gottesdienst bemerkt.« »Ich hatte nicht gewußt -« Der Priester hob die Hand. »Bei dem heiligen Gesetz ist Unwissenheit keine Entschuldigung für die Nichterfüllung einer Pflicht. Im Gegenteil: Unwissenheit kann als ein Akt mutwilliger Vernachlässigung bestraft werden, das stützt sich auf das Gesetz der völligen persönlichen Verantwortlichkeit von 23, ganz zu schweigen vom Kleinen Kodizill.« Wieder lächelte er. »Jedoch ist bis jetzt noch kein Grund zur Züchtigung gegeben.« »Ich bin froh, das zu hören, Sir«, antwortete Barrent. »>Onkel »Ich bin Onkel Ingemar und bin gekommen, um Ihnen von der orthodoxen Religion auf Omega zu erzählen. Das ist die Verehrung des reinen, transzendenten Teufelsgeistes, der unsere Inspiration und unseren Komfort bildet.« »Ich würde mich freuen, mehr über die Religion des Bösen zu erfahren, Onkel. Wollen wir in den Wohnraum gehen?« »Gewiß, Neffe«, sagte der Priester und folgte Barrent in die Wohnung im hinteren Teil des Ladens. »Das Böse«, begann der Priester, nachdem er es sich in Barrents bestem Sessel bequem gemacht hatte, »ist die Kraft in uns, die uns dazu anregt, stark und duldsam zu sein. Die Verehrung des Bösen ist grundsätzlich die Verehrung unseres eigenen Ichs; und deshalb ist es auch die einzige wahre Verehrung. Das Ich, das man anbetet, ist das soziale Wesen; der Mensch begnügt sich mit seiner Stellung in der Gesellschaft, jedoch greift er nach jeder Gelegenheit, sie zu verbessern. Der Mensch, der dem Tod mit Würde begegnet, tötet doch selbst mit dem erniedrigenden Gefühl von Mitleid. Das Böse ist grausam, da es eine echte Wiederspiegelung des sorglosen und unvernünftigen Universums ist. Das Böse ist unendlich und unabänderlich, obgleich es in den verschiedensten Lebensformen zu uns kommt.« »Möchten Sie einen Schluck Wein, Onkel?« fragte Barrent. »Danke, das ist sehr aufmerksam«, antwortete Onkel Ingemar. »Wie geht das Geschäft?« »Recht gut. Diese Woche ein wenig zögernd.« »Die Leute hegen nicht mehr das gleiche Interesse für Vergiftungen«, bemerkte der Priester, während er genußvoll an seinem Glas nippte. »Jedenfalls nicht so sehr wie zu meiner Jugend, als ich noch fast als Knabe von der Erde deportiert wurde. Doch ich sprach gerade über das Böse.« »Ja, Onkel.« »Wir verehren das Böse«, fuhr Onkel Ingemar fort. »In der fleischlichen Form des Schwarzen, dem gehörnten und furchtbaren Gespenst unserer Tage und Nächte. In dem Schwarzen finden wir die sieben Hauptsünden, die vierzig Kapitalverbrechen und die einhundertundein Vergehen. Es gibt kein Verbrechen, das der Schwarze noch nicht begangen hat -fehlerfrei, wie es seine Natur befiehlt. Deshalb eifern wir Unvollkommenen seiner Vollkommenheit nach. Und manchmal belohnt uns der Schwarze, indem er in seinem glühenden Fleisch vor uns erscheint. Ja, Neffe, ich selbst genieße den Vorzug, ihn gesehen zu haben. Vor zwei Jahren erschien er beim Abschluß der Spiele, und auch in dem Jahr davor.« Einen Augenblick lang brütete der Priester über diese anbetungswürdige Erscheinung nach. Dann sagte er: »Da wir im Staat das höchste Potential für das Böse erkennen, verehren wir auch ihn als etwas Übermenschliches, obgleich weniger göttlich, schöpferisch.« Barrent nickte. Es fiel ihm schwer wachzubleiben. Onkel Ingemars monotone Stimme, die einen Vortrag über etwas so Alltägliches wie das Böse hielt, hatte auf ihn die Wirkung eines Schlafmittels. Er mußte dagegen ankämpfen, daß ihm die Augen zufielen. »Man darf sehr wohl fragen«, dröhnte Onkel Ingemars Stimme weiter, »ob das Böse das Höchste ist, was die Natur des Menschen erreichen kann. Warum hat dann der Schwarze die Existenz von irgend etwas Gutem im Universum zugelassen? Das Problem des Guten hat den nicht Erleuchteten generationenlang Kopfzerbrechen bereitet. Ich will es Ihnen erklären.« »Bitte«, ermunterte ihn Barrent und kniff sich heimlich in den Oberschenkel, um nicht völlig einzuschlafen. »Aber zuerst wollen wir uns über die Begriffe im klaren sein«, fuhr Onkel Ingemar fort. »Untersuchen wir doch einmal das Wesen des Guten. Blicken wir unserem großen Opponenten starr und furchtlos ins Gesicht und studieren wir die wahren Züge seines Antlitzes!« »Ja, tun wir das«, murmelte Barrent und fragte sich, ob er nicht lieber ein Fenster öffnen sollte. Seine Augenlider fühlten sich unbeschreiblich schwer an. Er rieb sie kräftig und versuchte aufzupassen. »Das Gute ist eine Illusion«, erklärte Onkel Ingemar mit seiner gleichmäßigen, monotonen Stimme, »das dem Menschen die nichtexistenten Attribute des Altruismus, der Demut und der Frömmigkeit zuschreibt. Wie können wir das Gute als eine Illusion erkennen? Weil es im ganzen Universum nur den Menschen und den Bösen gibt; und den Schwarzen zu verehren, ist der letzte Ausdruck unserer selbst. Da wir also somit bewiesen haben, daß das Gute eine Illusion ist, erkennen wir seine Attribute auch als nichtexistent an. Verstanden?« Barrent antwortete nicht. »Haben Sie das verstanden?« fragte der Priester nun schärfer. »Wie?« machte Barrent. Er hatte mit offenen Augen gedöst. Er zwang sich aufzuwachen und sagte: »Ja, Onkel, das verstehe ich. « »Ausgezeichnet. Nachdem wir das begriffen haben, fragen wir, warum der Schwarze auch nur der Ilusion des Guten in einem Universum des Bösen einen Platz einräumte. Die Antwort finden wir in dem Gesetz der notwendigen Gegensätzlichkeit; denn das Böse könnte nicht als solches erkannt werden, gäbe es keinen Kontrast dazu. Der beste Kontrast ist der Gegensatz. Und der Gegensatz des Bösen ist das Gute.« Der Priester lächelte triumphierend. »Das ist so einfach und klar, nicht wahr?« »Das ist es allerdings«, sagte Barrent. »Möchten Sie noch ein bißchen Wein?« »Nur einen winzigen Schluck«, antwortete der Priester. Er sprach noch weitere zehn Minuten über das natürliche und bewundernswürdige Böse, das den wilden Tieren der Felder und Wälder innewohnte, und riet Barrent, das Benehmen dieser einfachen, geradlinigen Kreaturen nachzuahmen. Schließlich stand er auf, um zu gehen. »Ich bin sehr froh, daß ich diese kleine Unterredung mit Ihnen führen konnte«, sagte er und schüttelte herzlich Barrents Hand. »Kann ich auf Ihr Erscheinen beim Montagsdienst rechnen?« »Montagsdienst?« »Natürlich«, sagte Onkel Ingemar. »Jeden Montagabend - um Mitternacht - halten wir am Wee Coven in der Kirkwood Drive eine Schwarze Messe ab. Nach dem Dienst richten die Hilfstruppen der Damen meistens einen kleinen Imbiß her, und dann wird getanzt und gesungen. Es ist sehr vergnüglich.« Er setzte ein breites Grinsen auf. »Wie Sie sehen, kann die Verehrung des Bösen ein netter Spaß sein.« »Dessen bin ich sicher«, antwortete Barrent. »Ich werde dort sein, Onkel.« Er geleitete den Priester zur Tür. Nachdem er sie wieder verschlossen hatte, dachte er sorgfältig über das nach, was Onkel Ingemar ihm gesagt hatte. Ohne Zweifel war der Besuch der Messe notwendig. Ja, er war geradezu zwingend. Er hoffte nur, daß die Schwarze Messe nicht so höllisch langweilig war wie Onkel Ingemars Ausführungen über das Böse. Das war am Freitag. Während der nächsten Tage war Barrent ziemlich beschäftigt. Er erhielt eine Ladung homöopathischer Kräuter und Wurzeln von seinem Agenten aus dem Bloddpit-Distrikt. Es kostete ihn fast einen ganzen Tag, sie auszusortieren und einzuordnen, und einen weiteren Tag, sie in Gläser und Behälter zu füllen. Als er am Montag nach dem Essen in seinen Laden zurückkehrte, glaubte Barrent das Mädchen zu sehen. Er eilte ihr nach, verlor sie aber in der Menge aus den Augen Als er dann später zu seinem Laden kam, fand er dort einen Brief unter der Türschwelle. Es war eine Einladung seines benachbarten Traumladens. Darauf stand : Lieber Bürger, wir ergreifen diese Gelegenheit, um Sie in unserer Nachbarschaft willkommen zu heißen, und weisen Sie auf unsere Dienste als die des besten Traumladens auf Omega hin. Alle Arten und Typen von Träumen stehen Ihnen bei uns zur Verfügung - zu einem erstaunlich niedrigen Preis. Wir sind auf Erinnerungsträume von der Erde spezialisiert. Sie können versichert sein, daß Ihr Ihnen benachbarter Traumladen nur das Beste, dem Leben fast Ähnliche an Träumen anbietet. Als freier Bürger werden Sie sich bald unserer Dienste bedienen wollen. Dürfen wir noch innerhalb der nächsten Wochen auf Ihren Besuch rechnen? Die Besitzer. Barrent legte den Brief aus der Hand. Er hatte keine Ahnung, was ein Traumladen war oder wie die Träume produziert wurden. Er würde es herausfinden müssen. Obgleich die Einladung sehr höflich abgefaßt war, so hatte sie doch einen ziemlich drohenden Unterton. Ganz ohne Zweifel war der Besuch eines Traumladens eine der Pflichten eines freien Bürgers. Natürlich konnte eine Pflicht auch zugleich ein Vergnügen bedeuten. Der Traumladen erschien ihm interessant. Und ein Traum, der eine Erinnerung, ganz gleich welcher Art, an die Erde heraufbeschwor, war jeden Preis, den die Besitzer fordern mochten, wert. Aber dieser Besuch mußte noch etwas warten. Heute abend war Schwarze Messe, und dort war sein Erscheinen unumgänglich. Barrent verließ seinen Laden gegen elf Uhr nachts. Er wollte noch ein wenig durch die Straßen von Tetrahyde schlendern, bevor er die Messe aufsuchte, die um zwölf Uhr begann. Er begann seinen Spaziergang wohlgelaunt und mit dem Gefühl des Wohlergehens. Aber wegen des irrationalen und kaum kalkulierbaren Lebens von Omega wäre er fast, noch bevor er Wee Coven auf dem Kirkwood Drive erreichte, eine Leiche gewesen. Es war heiß und fast erstickend feucht, als sich Barrent auf den Weg machte. Nicht das kleinste Lüftchen regte sich in den dunklen Straßen. Obgleich er nur ein schwarzes Netzhemd, Shorts, Pistolengürtel und Sandalen trug, fühlte sich Barrent wie in ein dickes Laken gewickelt. Die meisten Einwohner von Tetrahyde, ausgenommen jene, die schon bei den Coven waren, hatten sich in die Kühle ihrer Kellerräume zurückgezogen. Die dunklen Straßen lagen fast verlassen da. Barrent schlenderte langsam dahin. Die wenigen Leute, die ihm begegneten, eilten nach Hause. Ein Gefühl von Panik lag in dieser Eile. Barrent bemühte sich, den Grund dafür herauszufinden, aber niemand hielt an. Ein alter Mann rief ihm über die Schulter zu: »Machen Sie, daß Sie von der Straße verschwinden, Sie Idiot!« »Warum?« fragte Barrent. Der alte Mann brummte etwas Unverständliches und rannte weiter. Barrent ging nervös weiter und nestelte am Lauf seiner Strahlenwaffe. Irgend etwas stimmte nicht, aber er hätte nicht sagen können, was es war. Der nächste Unterschlupf war der Wee Coven, eine halbe Meile von ihm entfernt. Es erschien am klügsten, darauf zuzusteuern, wachsam zu bleiben und abzuwarten. Nach wenigen Minuten befand sich Barrent allein in einer Stadt mit fest verriegelten Türen und Fenstern. Er bewegte sich in der Mitte der Straße, lockerte die Waffe und bereitete sich auf einen Angriff von jeder Seite vor. Vielleicht war dies eine besondere Art Feiertag wie der Landungstag. Vielleicht waren heute die freien Bürger Freiwild. Alles schien möglich auf Omega. Er glaubte, daß er auf jede Möglichkeit vorbereitet wäre. Aber als der Angriff kam, war es doch überraschend. Eine leichte Brise rührte die schwüle Luft. Sie ließ nach und wiederholte sich, diesmal stärker, und kühlte die heißen Straßen. Ein Wind durchfuhr die Straßen von Tetrahyde; er kam von den Bergen des Landinneren. Barrent fühlte, wie der Schweiß auf seinem Körper antrocknete. Ein paar Minuten lang fühlte er sich bei diesem Klima sehr wohl. Dann begann die Temperatur plötzlich zu fallen. Sie fiel mit rasender Geschwindigkeit. Eisige Luft drang ein. Das ist lächerlich, dachte Barrent, ich mache lieber, daß ich auf dem schnellsten Weg den Coven erreiche. Er beschleunigte seine Schritte, während es immer kälter wurde. Die ersten Anzeichen von Frost machten sich in den Straßen bemerkbar. Kälter kann es ja wohl kaum noch werden, dachte Barrent. Aber er täuschte sich. Ein heftiger Wind fegte durch die Straßen, und die Temperatur sank immer tiefer. Die Feuchtigkeit in der Luft verwandelte sich in Eiskörnchen Durchgefroren bis auf die Knochen, rannte Barrent durch die leeren Straßen; der Wind, der jetzt mehr einem Sturm glich, zerrte von allen Seiten an ihm. Die Straßen glitzerten von Eis und waren spiegelglatt. Er rutschte aus und fiel hin; er mußte sich langsam vortasten, um nicht auszugleiten. Und die Temperatur fiel noch weiter ab; der Wind heulte und pfiff wie ein wütendes Raubtier. Durch ein fest verschlossenes Fenster fiel ein Lichtschein auf die Straße. Er hielt an und hämmerte dagegen, aber von innen kam keine Antwort. Ihm wurde bewußt, daß die Bewohner von Tetrahyde niemals jemandem halfen. Je mehr starben, um so größer war die Chance, selbst zu überleben. Barrent stolperte weiter, seine Füße fühlten sich wie Holzklötze an. Der Wind heulte ihm in den Ohren, Hagelkörner, so groß wie eine Faust, prasselten zu Boden. Bald war er zu erschöpft, um zu laufen. Er schleppte sich nur noch mühsam voran - durch eine gefrorene weiße Welt. Seine einzige Hoffnung war der Wee Coven. Ging er stunden- oder jahrelang? An einer Ecke kam er an zwei Gestalten vorbei, die sich an die Mauer kauerten und schon völlig mit Rauhreif überzogen waren. Sie waren nicht weitergelaufen und zu Tode erstarrt. Barrent zwang sich wieder zu schnellerem Tempo. Ein Stechen in der Seite schmerzte ihn wie die Wunde eines Messerstichs; die Kälte kroch immer tiefer in Arme und Beine. Bald würde sie die Brust erreichen, und das würde das Ende bedeuten. Ein Prasseln von Hagelkörnern betäubte sein Gefühl. Er wurde sich bewußt, daß er auf dem Boden lag, die wenige Wärme, die sein Körper noch zu erzeugen vermochte, trug ein heftiger Sturm davon Am anderen Ende des Häuserblocks konnte er das winzige rote Licht des Covens erkennen. Auf Händen und Knien kroch er darauf zu; er bewegte sich rein mechanisch und erwartete eigentlich nicht mehr, je dort hinzugelangen. Er kroch eine Ewigkeit, aber das rote Licht wurde nicht größer. Trotzdem bewegte er sich weiter und erreichte endlich die Tür des Covens. Er zog sich an ihr hoch und drehte den Türknauf. Die Tür war verriegelt. Schwach klopfte er dagegen. Nach einem Moment glitt ein Spalt auf. Ein Mann starrte ihn an; dann glitt der Spalt wieder zu. Er wartete darauf, daß die Tür sich öffnete. Sie öffnete sich nicht.. Minuten vergingen, aber nichts geschah. Worauf warteten sie da drinnen noch? Barrent versuchte noch einmal, gegen die Türfüllung zu klopfen, verlor dabei das Gleichgewicht und fiel zu Boden Er rutschte ein Stückchen weiter und starrte verzweifelt gegen die verschlossene Tür. Dann verlor er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, lag er auf einer Couch. Zwei Männer massierten ihm Arme und Beine, unter sich spürte er die Wärme von heißen Tüchern und Flaschen. Über sich erkannte er das breite dunkle Gesicht von Onkel Ingemar, der ihn ängstlich anstarrte. »Fühlen Sie sich besser?« fragte Onkel Ingemar. »Ich glaube, ja«, antwortete Barrent. »Warum haben Sie so lange gebraucht, um die Tür zu öffnen?« »Fast hätten wir sie überhaupt nicht aufgemacht«, erklärte der Priester. »Es ist gegen das Gesetz, Fremden in Not zu helfen: Da Sie unserer Gemeinschaft noch nicht angehörten, bedeuten Sie für uns einen Fremden.« »Und warum haben Sie mich dann überhaupt hereingelassen?« »Mein Assistent stellte fest, daß eine gerade Anzahl von Anbetern zugegen war. Wir benötigen aber eine ungerade Zahl, vorzugsweise eine, die mit drei endet. Wo die heiligen mit den weltlichen Problemen in Konflikt stehen, müssen die weltlichen nachgeben. Deshalb haben wir Sie trotz des Gesetzes der Regierung eingelassen.« »Eine alberne Bestimmung«, knurrte Barrent. »Eigentlich gar nicht. Wie die meisten Gesetze auf Omega besteht sie, um die Bevölkerungszahl möglichst niedrig zu halten. Omega ist ein äußerst unfruchtbarer Planet, müssen Sie wissen. Das ständige Eintreffen neuer Gefangener läßt die Bevölkerungszahl ständig ansteigen, und zwar zum enormen Nachteil der älteren Einwohner. Es müssen Wege und Mittel gefunden werden, um sich des Überschusses an Neuankömmlingen zu entledigen. « »Das ist nicht gerecht«, meinte Barrent. »Sie werden Ihre Meinung noch ändern, wenn Sie zu den älteren Einwohnern zählen«, sagte Ingemar. »Und bei Ihrer Zähigkeit bin ich überzeugt, daß Sie es so weit bringen werden.« »Vielleicht«, sagte Barrent. »Aber was war eigentlich los? Die Temperatur muß innerhalb von fünfzehn Minuten um etwa dreißig Grad gesunken sein.« »Dreiunddreißig Grad, um genau zu sein«, antwortete Onkel Ingemar. »Das ist ganz einfach. Omega ist ein Planet, der sich exzentrisch um ein doppeltes Sternensystem dreht. Eine weitere Instabilität, so habe ich mir sagen lassen, kommt von dem seltsamen geologischen Aufbau - dazu die Lage der Berge und Seen. Das Ergebnis ist ein schlechtes Klima, das sich unter anderem in plötzlichen heftigen Temperaturschwankungen ausdrückt.« Der Assistent, ein kleiner, wichtigtuerischer Bursche, erklärte: »Es ist ausgerechnet worden, daß Omega an der äußersten Grenze der Planeten liegt, die menschliches Leben ermöglichen, ohne große künstliche Hilfe zu erfordern. Wenn die Schwankungen von kalt zu heiß und umgekehrt nur noch ein wenig stärker wären, so würden sie jedes menschliche Leben auslöschen.« »Es ist eine perfekte Strafkolonie«, bemerkte Onkel Ingemar voller Stolz. »Erfahrene Einwohner spüren, wenn eine Temperaturschwankung im Anzug ist, und begeben «ich in die Häuser.« »Es ist - höllisch«, sagte Barrent, in Ermangelung eines anderen Begriffs. »Das beschreibt es auf das vollkommenste«, antwortete der Priester. »Es ist in der Tat höllisch, und deshalb auch wunderbar geeignet, um den Schwarzen anzubeten. Wenn Sie sich jetzt wohler fühlen, Bürger Barrent, können wir mit der Zeremonie fortfahren.« Außer ein paar Frostbeulen an Zehen und Fingerspitzen fühlte sich Barrent schon wieder munter. Er nickte und folgte dem Priester und den Gläubigen in den Hauptteil des Covens. Nach dem, was er gerade durchgemacht harte, war die Schwarze Messe eher enttäuschend. Barrent döste in seinem gut gewärmten Kirchenstuhl, während Onkel Ingemar eine Predigt über die Notwendigkeit des Bösen im Alltagsleben hielt. Die Verehrung des Bösen, sagte Onkel Ingemar, sollte nicht nur Montag nachts stattfinden. Im Gegenteil! Das Wissen und Handeln im Bösen sollte das tägliche Leben würzen. Es war nicht jedem gegeben, ein großer Sünder zu sein, aber dadurch sollte sich niemand entmutigen lassen. Auch kleinere schlechte Taten, die sich über ein ganzes Leben erstreckten, setzten sich zu einem sündigen Ganzen zusammen, das den Schwarzen erfreute. Niemand sollte vergessen, daß einige der größten Sünder, selbst die dämonischen Heiligen, oft bescheiden begannen. Hatte nicht Thrastus als ein einfacher Ladenbesitzer angefangen, der seine Kunden um eine Portion Reis betrog? Wer hätte erwartet, daß sich dieser einfache Mann einmal zu dem roten Totschläger von Thorndyke Lane entwickeln würde? Und wer hätte geahnt, daß Dr. Louen, der Sohn eines Hafenarbeiters, eines Tages die größte Autorität der Welt in der praktischen Anwendung von Foltern werden wirde? Ausdauer und Frömmigkeit hatten es diesen Männern erlaubt, sich über ihre natürlichen Beschränkungen zu erheben - zu einer hervorragenden Position zur Rechten des Schwarzen. Und es bewies auch, daß das Böse für die Armen genauso da war wie für die Reichen, versicherte Onkel Ingemar. So endete die Predigt. Barrent erwachte sofort, als die geheiligten Symbole herausgebracht und der ehrfurchtsvollen Gemeinde dargereicht wurden - ein Dolch mit einem roten Griff und der Gipsabdruck einer Kröte. Während des langsamen Beschreibens des magischen Fünfecks schlief er wieder ein. Schließlich näherte sich die Zeremonie ihrem Ende. Die Namen der bösen Dämonen wurden verlesen - Bael, Forcas, Buer, Marchocias, Astaroth und Behemoth. Ein Gebet wurde aufgesagt, um die Wirkung des Guten zu verscheuchen. Und Onkel Ingemar entschuldigte sich dafür, daß er keine Jungfrau zur Verfügung hatte, um sie auf dem roten Altar zu opfern. »Unsere Fonds reichen nicht aus«, sagte er, »um eine von der Regierung bestätigte Peon-Jungfrau zu erwerben. Ich bin jedoch sicher, daß wir die volle Zeremonie am nächsten Montag nachholen können. Mein Assistent wird jetzt zu Ihnen kommen... « Der Assistent reichte den schwarzumränderten Sammelteller herum. Wie die anderen Anwesenden spendete Barrent großzügig. Es schien klug, das zu tun. Onkel Ingemar war offensichtlich sehr verärgert, daß er keine Jungfrau zum Opfern hatte. Wenn sich sein Zorn noch verstärkte, könnte er es sich in den Kopf setzen, irgend jemanden aus der Gemeinde zu opfern, ganz gleich, ob Jungfrau oder nicht... Barrent blieb nicht zum Chorsingen und zum Gemeinschaftstanz. Als der offizielle Gebetsteil des Abends vorüber war, steckte er vorsichtig den Kopf durch den Türspalt nach draußen. Die Temperatur war wieder stark gestiegen, das Eis war inzwischen schon getaut. Barrent schüttelte dem Priester die Hand und eilte heimwärts. Barrent hatte fürs erste genug von den Schrecken und Überraschungen, die Omega zu bieten hatte. Er entfernte sich kaum von seinem Laden, arbeitete im Geschäft und hielt die Augen offen. Allmählich gewann er den für Omega typischen Blick: ein schmales, argwöhnisches Blinzeln, eine Hand stets nahe dem Abzug, die Füße bereit zum Sprinten. Wie die älteren Bewohner entwickelte er einen sechsten Sinn für Gefahren. Des Nachts, wenn alle Türen und Fenster fest verschlossen waren, lag er auf seinem Bett und versuchte sich an die Erde zu erinnern. Er erforschte die entlegensten Winkel seines Gedächtnisses und fand dort quälende Hinweise und Andeutungen, Teile von Bildern. Er sah eine breite Straße, die im Licht der Sonne lag; Teile einer ungeheuer großen, vielstöckigen Stadt; die genaue Ansicht des Rumpfes von einem Raumschiff. Aber diese Bilder waren nicht stabil. Sie tauchten für Bruchteile von Sekunden auf und verschwanden wieder. Den Samstagabend verbrachte Barrent mit Joe, Danis Foeren und seinem Nachbarn Tem Rend. Joes Pokerspiel hatte Erfolg gehabt, und er war zu einem freien Bürger aufgerückt. Foeren war zu gerade und zu plump dazu; er war noch nicht aufgestiegen. Aber Tem Rend versprach, den grobschlächtigen Fälscher als Assistenten anzustellen, sobald die Mordgilde seinen Antrag annahm. Der Abend begann sehr gemütlich, aber er endete, wie gewöhnlich, mit einer Diskussion über die Erde. »Wir alle wissen, wie die Erde aussieht«, begann Joe. »Sie setzt sich aus vielen gigantischen schwimmenden Städten zusammen. Sie sind auf künstliche Inseln gebaut, in den verschiedensten Meeren -« »Nein, die Städte befinden sich auf dem Land«, wandte Barrent ein. »Auf dem Wasser«, widersprach Joe. »Die Menschen der Erde sind ins Meer zurückgekehrt. Jeder trägt besondere Sauerstoffmasken, um im Salzwasser atmen zu können. Die Landgebiete werden überhaupt nicht mehr benutzt. Die See stellt alles zur Verfügung, was -« »Das kann nicht stimmen«, unterbrach ihn Barrent. »Ich erinnere mich an gewaltige Städte, aber sie waren alle auf dem Festland.« »Ihr habt beide nicht recht«, mischte sich Foeren ein. »Was sollte die Erde schon mit Städten anfangen? Sie hat sie schon vor vielen Jahrhunderten aufgegeben. Die Erde ist heute wie ein großer Park. Jeder besitzt sein Haus mit einigen Morgen Land ringsherum. Die Wälder und Dschungel dürfen sich wieder frei entwickeln. Die Menschen leben mit der Natur, anstatt sie zu erobern. Stimmt das etwa nicht, Tem?« »Fast, aber doch nicht ganz«, antwortete Tem Rend. »Es gibt zwar noch Städte, aber sie befinden sich unter der Oberfläche. Es sind gewaltige unterirdische Fabriken und Industriegebiete.« »Es gibt überhaupt keine Fabriken mehr«, sagte Foeren hartnäckig. »Man braucht sie nicht mehr. Alle Güter, die der Mensch benötigt, können durch Gedankenkontrolle produziert werden.« »Und ich sage euch, daß ich mich gut an die schwimmenden Städte erinnere«, begann Joe wieder von vorne. »Ich habe im Nimui-Gebiet gelebt, auf der Insel Pasephae.« »Soll das etwa ein Beweis sein?« fragte Rend. »Ich erinnere mich, daß ich im achtzehnten Stockwerk unter der Erde gearbeitet habe - in Nueva Chicaga. Meine Arbeitsquote war zwanzig Tage im Jahr. Die übrige Zeit verbrachte ich draußen, in den Wäldern -« »»Aber das kann nicht stimmen, Tem«, setzte sich Foeren wieder ein. »Es gibt keine unterirdischen Stockwerke. Ich bin ganz sicher, daß mein Vater ein Kontrolleur war - dritter Klasse. Meine Familie zog in einem Jahr mehrere hundert Meilen durchs Land. Wenn wir irgend etwas brauchten, dachte es mein Vater einfach herbei, und schon war es da. Er versprach mir, es mir auch beizubringen, aber anscheinend ist es nie dazu gekommen.« »Jedenfalls scheinen einige von uns völlig falsche Erinnerungen und Vorstellungen zu haben«, sagte Barrent. »Das ganz gewiß«, stimmte Joe zu. »Fragt sich nur, wer recht hat.« »Das werden wir nie herauskriegen«, bemerkte Rend. »Es sei denn, wir kämen zurück zur Erde.« Das machte der Diskussion ein Ende. Gegen Ende der Woche erhielt Barrent eine weitere Einladung des Traumladens, diesmal noch bestimmter abgefaßt als das erstemal. Er entschloß sich, noch am gleichen Abend dieser Pflicht Genüge zu tun. Er prüfte die Temperatur und stellte fest, daß sie stark gestiegen war. Klüger geworden, packte er einen kleinen Beutel voll Kaltwetterkleidung ein und machte sich auf den Weg Der Traumladen lag im exklusiven Tod-Viertel. Barrent ging hinein und betrat einen kleinen, prächtig ausgestatteten Raum. Ein schlanker junger Mann hinter einem polierten Schreibtisch lächelte ihm gekünstelt zu. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte er Barrent. »Ich heiße Nomis J. Arkdragen und bin der Assistent des Managers für Nachtträume.« »Ich möchte gern einiges erfahren«, sagte Barrent, »wie man Träume bekommt, welche Art von Träumen und all diese Dinge.« »Natürlich«, antwortete Arkdragen. »Unsere Tätigkeit kann leicht erklärt werden, Bürger -« »Barrent. Will Barrent.« Arkdragen nickte und hakte einen Namen auf der Liste vor ihm an. Er blickte wieder auf und fuhr fort: »Unsere Träume werden durch die Wirkung einer Droge auf das Gehirn und die zentralen Nervenzellen produziert. Es gibt viele Drogen, die den gewünschten Erfolg tätigen. Die nützlichsten sind Heroin, Morphium, Opium, Coca, Hanf und dergleichen. All dies sind Produkte der Erde. Aber es gibt auch eine andere Gruppe, die nur auf Omega produziert wird. Alle bewirken jedoch Träume.« »Ich verstehe«, sagte Barrent. »Dann verkaufen Sie also Drogen.« »Ganz und gar nicht!« rief Arkdragen aus. »Nicht etwas so Einfaches, etwas so Gewöhnliches! In alten Zeiten pflegten sich manche Menschen auf der Erde selbst Drogen zuzuführen. Die sich daraus ergebenden Träume waren willkürlich. Man konnte nie voraussagen, worüber man träumen würde oder wie lange. Man wußte nie, ob es ein Traum oder ein Alptraum sein würde, ob man Schrecken oder Entzücken erfahren würde. Der moderne Traumladen hat diese Ungewißheit ausgeschaltet. Heutzutage sind unsere Drogen sorgfältig abgewogen, gemischt und auf jeden Verbraucher genauestens abgestimmt. Die Traumerzeugung ist eine absolut exakte Wissenschaft, sie ist präzise und reicht von der nirvanaartigen Ruhe des Schwarzen Schlüpfers über die vielfarbigen Halluzinationen des Tri-Narkotikums bis zu den sexuellen Phantasien, die durch Morphium hervorgerufen werden; und natürlich gibt es auch die Erinnerungen hervorrufende Gruppe der Carmoide.« »An den Erinnerungsträumen bin ich sehr interessiert«, sagte Barrent. Arkdragen runzelte die Stirn. »Für das erstemal würde ich gerade das nicht empfehlen.« »Warum nicht?« »Träume über die Erde sind naturgemäß aufregender als jede andere imaginäre Produktion. Es ist für gewöhnlich ratsam, erst allmählich etwas aufzubauen. Ich würde Ihnen eine nette kleine sexuelle Spielerei für den ersten Besuch empfehlen. Gerade diese Woche haben wir noch dazu Sonderpreise für Sexualträume.« Barrent schüttelte den Kopf. »Ich ziehe die echten Dinge vor.« »Das würden Sie nicht mehr sagen, nachdem Sie unsere Produkte gesehen haben«, erwiderte Arkdragen mit einem wissenden Lächeln. »Glauben Sie mir, wenn man sich erst mal an diese gespielten Erlebnisse gewöhnt hat, erscheint einem das persönliche Erlebnis nur noch höchst fad und blaß beim Vergleich.« »Kein Interesse«, sagte Barrent. »Ich will einen Traum über die Erde.« »Aber Sie haben ja noch gar keine Erfahrung, Sie haben sich noch nie dem Rausch hingegeben!« rief Arkdragen »Ist die Gewöhnung daran denn eine Voraussetzung?« »Sie ist wichtig!« erklärte ihm der Assistent. »Alle unsere Drogen sind gewohnheitsfördernd, wie es das Gesetz vorschreibt. Sehen Sie, um eine Droge wirklich zu schätzen, muß man ein Bedürfnis danach heranziehen. Das erhöht das Vergnügen enorm. Deshalb schlage ich vor, daß Sie mit =« »Ich möchte einen Traum über die Erde«, beharrte Barrent. »Na, schön«, lenkte der Assistent widerwillig ein. »Aber wir sind nicht für ein Trauma, das daraus erwachsen könnte, verantwortlich. « Er führte Barrent in einen langen Gang. An den Seiten befanden sich dicht nebeneinander Türen, und Barrent konnte dumpfe Ausrufe und Seufzer des Entzückens und Vergnügens vernehmen. »Tester«, erklärte Arkdragen, ohne weiter darauf einzugehen Er geleitete Barrent zu einem offenen Raum am Ende des Korridors. Darin saß ein freundlicher Mann mit einem Bart und einem weißen Kittel und las. »Guten Abend, Doktor Wayn«, sagte Arkdragen. »Das ist Bürger Barrent. Erster Besuch. Er besteht auf einem Traum über die Erde.« Arkdragen drehte sich um und verließ den Raum. »Nun«, bemerkte der Doktor, »das läßt sich, glaube ich, schon einrichten.« Er legte das Buch beiseite. »Strecken Sie sich da drüben aus, Bürger Barrent.« In der Mitte des Zimmers stand ein langer, verstellbarer Tisch. Darüber hing ein kompliziert aussehendes Instrument. Am Ende des Raums befanden sich Fächer aus Glas, in denen viereckige Behälter standen. Sie erinnerten Barrent an seine Antidote. Er legte sich nieder. Doktor Wayn nahm an ihm eine allgemeine Untersuchung vor. Dann prüfte er seine Anpassungsfähigkeit, seinen hypnotischen Index, seine Reaktionen auf die elf grundsätzlichen Drogengruppen und seine Empfindlichkeit für epileptische Anfälle. Er notierte die Ergebnisse auf einem Block, überprüfte die Werte, ging zu den Fächern und begann verschiedene Pulver und Drogen zu mixen. »Könnte es gefährlich sein?« fragte Barrent. »Eigentlich nicht«, sagte der Doktor. »Sie scheinen ziemlich gesund. Man könnte sagen, sehr gesund sogar, mit einer starken Willenskraft. Selbstverständlich kommen epileptische Anfälle immer mal vor, wahrscheinlich wegen der sich steigernden allergischen Reaktionen. Dagegen kann man nichts machen. Und dann gibt es natürlich noch die Traumen, die manchmal in Wahnsinn oder Tod enden. Sie sind für Studienzwecke äußerst interessant. Es kommt auch vor, daß sich einer an die Träume klammert und sich nicht mehr losreißen kann. Ich schätze, dies könnte man auch als eine Art Wahnsinn bezeichnen, obgleich es das eigentlich nicht ist.« Der Doktor war mit dem Mischen fertig. Er füllte das Produkt in eine Spritze. Barrent waren inzwischen ernsthafte Zweifel an dem ganzen Unternehmen gekommen. »Vielleicht sollte ich meinen Besuch doch noch etwas hinausschieben«, sagte er. »Ich bin nicht sicher, ob ich -« »Machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte ihn der Doktor. »Dies hier ist der beste Traumladen auf Omega. Entspannen Sie sich. Verkrampfte Muskeln können zu ernsthaften Schäden führen.« »Ich glaube, Mister Arkdragen hatte recht«, versuchte es Barrent von neuem. »Vielleicht sollte ich wirklich nicht gleich beim erstenmal einen Traum über die Erde wählen. Er meinte, es sei gefährlich.« »Na, und wenn schon«, antwortete der Doktor, »was wäre das Leben ohne ein kleines Risiko? Übrigens sind die am häufigsten auftretenden Schäden Gehirnverletzungen und geplatzte Blutgefäße. Und wir sind bestens darauf eingerichtet, mit diesen Dingen fertig zu werden.« Er führte die Spritze an Barrents linken Arm. »Ich habe meine Meinung geändert«, sagte Barrent und machte sich daran aufzustehen. Doktor Wayn stieß die Nadel tief in Barrents Arm. »Man ändert seine Meinung nicht in einem Traumladen«, erklärte er Barrent. »Versuchen Sie sich zu entspannen...« Barrent entspannte sich. Er lehnte sich im Bett zurück und hörte in seinen Ohren ein schrilles Singen. Er versuchte, seinen Blick fest auf das Gesicht des Doktors zu richten. Aber das Gesicht hatte sich verändert. Das Gesicht war alt, rund und fleischig. An Kinn und Hals hingen Fettsäcke. Das Gesicht schwitzte, freundlich, besorgt. Es war das Gesicht von Barrents Berater des fünften Semesters. »Du mußt vorsichtig sein, Will«, sagte der Berater. »Du mußt lernen, dich zu beherrschen. Du mußt, Will!« »Ich weiß, Sir«, antwortete Barrent. »Es ist nur, weil ich so eine Wut auf -« »Will!« »Schon gut«, sagte Barrent. »Ich werde auf mich aufpassen.« Er verließ das Büro der Universität und ging in die Stadt. Es war eine phantastische Stadt mit Wolkenkratzern und vielstöckigen Straßen, eine schillernde Stadt aus silbernen und glitzernden Farben, eine betriebsame Stadt, die ein weitverbreitetes Netz von Nationen und Planeten verwaltete. Barrent ging den dritten Fußgängerweg entlang. Er war noch immer wütend. Er dachte an Andrew Therkaler. Wegen Therkaler und seiner lächerlichen Eifersucht war Barrents Bewerbung für das Raumforschungsteam abgelehnt worden. Sein Berater konnte nichts für ihn tun; Therkaler hatte zu großen Einfluß auf die Ernennungsbehörde. Es würden drei volle Jahre vergehen, bis Barrent sich wieder bewerben konnte. Inzwischen aber war er dazu verdammt, auf der Erde zu bleiben und noch dazu ohne Beschäftigung. Sein ganzes Studium hatte der extraterrestrischen Forschung gegolten. Auf der Erde war kein Platz für ihn, und jetzt war ihm der Weg in den Raum versperrt. Therkaler! Barrent verließ den Fußweg und nahm die Hochgeschwindigkeitsrampe zum Sante-Distrikt. Dabei umfaßte er die kleine Waffe in seiner Tasche. Handwaffen waren auf der Erde verboten. Er hatte diese durch nicht nachprüfbare Quellen bekommen Er war entschlossen, Therkaler zu töten. Dann tauchte ein verschwommenes Durcheinander von grotesken Gesichtern auf. Der Traum verzerrte sich. Als er wieder klarer sehen konnte, sah sich Barrent einem dünnen, schielenden Burschen gegenüber, auf den er mit der Waffe zielte und dessen entsetzter Schrei nach Erbarmen plötzlich abbrach. Ein Spitzel beobachtete das Verbrechen mit ausdrucksloser und teilnahmsloser Miene und informierte die Polizei. Die Polizei, in grauen Uniformen, nahm ihn fest und brachte ihn vor den Richter. Der Richter hatte ein zerknittertes Pergamentgesicht. Er verurteilte ihn zu lebenslänglicher Verbannung auf dem Planeten Omega und erließ das obligatorische Dekret, daß Barrent seiner Erinnerung beraubt würde. Dann verwandelte sich der Traum in ein Kaleidoskop des Schreckens. Barrent kletterte an einer glitschigen Stange empor, über eine glatte Bergwand, entlang einer ebenen Fläche. Hinter ihm folgte Therkalers Leiche mit aufgerissener Brust, zu beiden Seiten von dem ausdruckslos blickenden Spitzel und dem pergamentgesichtigen Richter gestützt. Barrent rannte einen Hügel hinunter, eine Straße entlang, auf ein Dach. Seine Verfolger waren dicht hinter ihm. Er betrat einen schwach erleuchteten gelben Raum, verriegelte die Tür hinter sich. Als er sich umdrehte, stellte er fest, daß er sich zusammen mit Therkalers Leiche eingeschlossen hatte. In der offenen Brustwunde wucherten Schwämme; an dem narbigen Kopf glänzte roter und purpurner Schimmel. Die Leiche näherte sich ihm, griff nach ihm, und Barrent stürzte mit einem Kopfsprung durchs Fenster. »Machen Sie Schluß, Barrent. Sie übertreiben es. Wachen Sie auf!« Barrent hatte keine Zeit, um zuzuhören. Das Fenster verwandelte sich in eine Gleitbahn, und er rutschte an ihren glatten Wänden entlang in ein Amphitheater. Dort kroch die Leiche auf Stümpfen, die von Armen und Beinen gehalten waren, über grauen Sand auf ihn zu. Der gewaltige Rundbau war leer, bis auf den Richter und den Spitzel, die an einer Seite saßen und ihn beobachteten »Er steckt fest!« »Ich habe ihn ja gewarnt...« »Reißen Sie sich von dem Traum los, Barrent. Ich bin Doktor Wayn. Sie befinden sich auf Omega, im Traumladen. Wachen Sie auf! Noch ist es Zeit! Aber reißen Sie sich sofort los!« Omega? Traum? Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Barrent schwamm in einem dunklen, übelriechenden See. Der Richter und der Spitzel schwammen dicht hinter ihm, in ihrer Mitte die Leiche, deren Haut sich allmählich auflöste. »Barrent!« Und jetzt verwandelte sich der See in ein dickflüssiges Gelee, das an seinen Armen hängenblieb und sich in seinem Mund ausbreitete, während der Richter und der Spitzel »Barren!!« Barrent öffnete die Augen und merkte, daß er auf dem verstellbaren Bett in dem Traumladen lag. Doktor Wayn beugte sich über ihn; er sah etwas mitgenommen aus. Dicht neben ihm stand eine Krankenschwester mit einem Tablett Spritzen und einer Sauerstoffmaske. Hinter ihr war Arkdragen, der sich gerade den Schweiß von der Stirn wischte. »Ich hätte nicht geglaubt, daß Sie es schaffen würden«, sagte der Doktor. »Ganz bestimmt nicht.« »Er hat sich gerade noch im letzten Moment losgerissen«, sagte die Schwester. »Ich habe ihn gewarnt«, bemerkte Arkdragen und verließ den Raum. Barrent setzte sich auf. »Was ist passiert?« fragte er. Doktor Wayn zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Vielleicht neigen Sie zu Kurzschlußreaktionen; und manchmal sind die Drogen auch nicht ganz rein. Aber diese Dinge passieren meistens nur einmal. Glauben Sie mir, Bürger Barrent, die Wirkung unserer Drogen ist sonst immer sehr, sehr angenehm. Ich bin sicher, daß Sie es das nächstemal genießen werden.« Noch unter dem Einfluß des soeben Erlebten war Barrent fest davon überzeugt, daß es für ihn kein zweitesmal geben würde. Was immer es ihn auch kosten mochte, er würde es nicht wagen, diesen Alptraum noch einmal heraufzubeschwören. »Bin ich jetzt süchtig?« fragte er. »O nein«, antwortete der Doktor. »Die Sucht tritt erst nach dem dritten- oder viertenmal ein.« Barrent dankte ihm und ging. Er kam an Arkdragens Tisch vorbei und fragte ihn, wieviel er schuldig wäre. »Nichts«, antwortete Arkdragen. »Der erste Besuch geht immer auf Kosten des Hauses.« Er zeigte Barrent ein wissendes Lächeln. Barrent verließ den Traumladen und eilte nach Haus. Er hatte eine Menge nachzudenken. Jetzt hatte er zum erstenmal den Beweis dafür, daß er einen vorsätzlichen und wohlüberlegten Mord begangen hatte. Eines Mordes beschuldigt zu sein, an den man sich nicht erinnern kann, ist eine Sache für sich; sich eines Mordes zu erinnern, wegen dem man verurteilt worden ist, ist etwas völlig anderes. Einen solchen Beweis kann man schwer widerlegen Barrent bemühte sich, sich über seine Gefühle in dieser Angelegenheit klarzuwerden. Vor seinem Besuch des Traumladens hatte er sich nie als Mörder gefühlt, ganz gleich, welcher Tat ihn auch die Behörden der Erde beschuldigt hatten. Schlimmstenfalls hatte er sich noch eingestanden, daß er vielleicht jemanden in einem Anfall unkontrollierbarer Wut getötet hatte. Aber einen Mord zu planen und ihn kaltblütig zu begehen... Warum hatte er das getan? War sein Drang nach Rache so stark gewesen, daß er alle Bande, die die Zivilisation ihm auferlegte, abgeworfen hatte! Anscheinend war es so gewesen. Er hatte gemordet, und jemand hatte ihn angezeigt, und dann war er von einem Richter zur Deportation nach Omega verurteilt worden. Er war ein Mörder auf einem Verbrecherplaneten. Um hier erfolgreich zu leben, brauchte er nur seiner natürlichen Neigung zum Mord zu folgen. Trotzdem fand Barrent dies äußerst schwierig. Er hatte erstaunlich geringen Geschmack am Blutvergießen. Am Tag der freien Bürger ging er zwar mit seiner Nadelstrahlwaffe hinaus auf die Straße, konnte sich aber nicht überwinden, einen Angehörigen der niedrigeren Klassen zu erledigen. Er wollte nicht töten, was ein geradezu lächerliches Vorurteil war, wenn man bedachte, wo und wer er war. Aber so lagen die Dinge nun einmal. Ganz gleich, wie oft Tem Rend oder Joe ihn auch über die Pflichten eines Bürgers aufklärten, Barrent betrachtete Mord doch als eine recht verabscheuungswürdige Tat. Er suchte einen Psychiater auf, der ihm sagte, daß seine Abneigung gegen Mord in einer unglücklichen Kindheit wurzelte. Diese krankhafte Angst war noch durch seine Erfahrung in dem Traumladen kompliziert worden. Aus diesem Grund hatte er gegen Mord, das höchste soziale Gut, eine innere Abneigung entwickelt. Diese Neurose des Antimordens in einem Mann, der außerordentlich gut zum Töten geschaffen war, sagte der Psychiater, würde unvermeidlich zu Barrents Zerstörung führen. Die einzige Lösung wäre, diese Neurose zu beseitigen. Der Psychiater empfahl sofortige Behandlung in einem Sanatorium für verbrecherische Nichtmörder. Barrent besuchte ein Sanatorium und hörte die wahnsinnigen Insassen über das Gute, über faires Verhalten, über die Heiligkeit des Lebens und über andere Obszönitäten plärren. Er hatte nicht die Absicht, sich ihnen anzuschließen. Vielleicht war er wirklich krank, aber so krank war er noch nicht! Seine Freunde warnten ihn, daß seine wenig kooperative Einstellung ihn noch in ernstliche Schwierigkeiten bringen würde. Barrent mußte ihnen zustimmen; aber er hoffte, daß er auch der Aufmerksamkeit der höchsten Stellen, die die Gesetze schufen, entgehen würde, wenn er nur tötete, wenn es unbedingt erforderlich war. Einige Wochen lang schien alles gut zu verlaufen. Er ignorierte die in ständig schärferem Ton gehaltenen Mitteilungen des Traumladens und besuchte auch die Messen im Wee Coven nicht mehr. Das Geschäft blühte, und Barrent verbrachte seine Freizeit mit dem Studium der selteneren Gifte und übte fleißig den Gebrauch seiner Nadelstrahlwaffe. Oft mußte er an das Mädchen denken. Er besaß noch immer die Pistole, die sie ihm geliehen hatte. Er fragte sich allmählich, ob er sie je wiedersehen würde. Und er dachte viel an die Erde. Seit seinem Besuch im Traumladen kamen ihm zuweilen kurze Erinnerungsblitze, unzusammenhängende Bilder von einem verwitterten Steinhaus, eine Gruppe von Eichen, die Biegung eines Flusses, die durch Weidenzweige hindurchschimmerte. Diese verschwommenen Erinnerungsbilder von der Erde erfüllten ihn mit fast unerträglicher Sehnsucht. Wie bei den meisten Bewohnern von Omega bestand sein einziger wirklicher Wunsch darin, nach Hause zurückzukehren. Und gerade das war unmöglich Die Tage vergingen, und wenn sich Schwierigkeiten auftaten, dann immer völlig unerwartet. Eines Nachts erklang lautes Pochen an seiner Tür. Vom Schlaf noch ganz benommen, öffnete Barrent. Vier Männer in Uniform stießen die Tür weit auf und erklärten ihn für verhaftet. »Aus welchem Grund?« fragte Barrent. »Nichtanpassung an Drogen«, antwortete einer der Männer. »Sie haben drei Minuten Zeit, sich anzukleiden.« »Was ist die Strafe dafür?« »Das werden Sie vor Gericht erfahren«, erklärte der Mann. Er winkte den beiden anderen und fügte hinzu: »Die einzige Art, einen Nichtsüchtigen zu heilen, ist Mord. Was?« Barrent zog sich an. Man führte ihn in einen Raum der weitläufigen Justizbehörde. Der Raum trug den Namen Känguruh-Gericht, zu Ehren alter angelsächsischer Rechtsabwicklung. Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle befand sich die Sternenkammer. Gleich dahinter war das Gericht zur letzten Berufung. Der Känguruh-Hof war durch eine hohe Holzwand in zwei Teile geteilt, denn auf Omega durfte der Angeklagte weder seinen Richter noch die Zeugen gegen ihn sehen. »Der Angeklagte soll sich erheben«, ertönte eine Stimme hinter der Wand. Die Stimme war dünn, gleichmäßig und ausdruckslos und kam aus einem kleinen Lautsprecher. Barrent konnte die Worte kaum verstehen. Ton und Ausdruck waren ausgeschaltet auch das war bewußt geschehen. Selbst in der Sprache sollte der Richter anonym bleiben »Will Barrent«, sagte der Richter, »Sie sind wegen eines Hauptvergehens, der Nichtanpassung an Rauschdrogen, und eines kleineren Vergehens, der religiösen Vernachlässigung, vor dies Gericht gestellt. Für das kleinere Vergehen haben wir die beschworene Zeugenaussage eines Priesters, für das Hauptvergehen die Zeugenaussage des Traumladens. Können Sie eine der beiden oder beide Anschuldigungen widerlegen?« Barrent dachte einen Moment nach und sagte dann: »Nein, Sir, das kann ich nicht.« »Im Moment«, fuhr der Richter fort, »kann Ihnen die Strafe für die religiöse Vernachlässigung erlassen werden, da es die erste Anklage dieser Art ist. Aber die Nichtsucht ist eines der Hauptvergehen gegen den Staat Omega. Die ununterbrochene Benutzung von Rauschgift ist ein obligatorisches Vorrecht jedes freien Bürgers. Es ist allgemein bekannt, daß Vorrechte ausgenutzt werden müssen, sonst gehen sie verloren. Unsere Privilegien zu verlieren wäre gleichbedeutend mit dem Verlust des Grundsteins unserer Freiheit. Deshalb kommt die Vernachlässigung oder die Nichtinanspruchnahme eines Privilegs hohem Verrat gleich.« Es entstand eine Pause. Die Wachen scharrten unruhig mit den Füßen. Barrent, der seine Situation als hoffnungslos betrachtete, stand aufrecht da und wartete. »Drogen dienen vielen Zwecken«, fuhr der unsichtbare Richter erklärend fort. »Ich brauche wohl nicht ihre erstrebenswerten Qualitäten für den Benutzer aufzuzählen. Aber vom Gesichtspunkt des Staates aus betrachtet, will ich hervorheben, daß eine süchtige Bevölkerung eine loyale ist. Außerdem sind Drogen eine Haupteinnahmequelle der Steuern; sie veranschaulichen im Grunde unsere gesamte Lebensart. Hinzu kommt, daß Nichtsüchtige sich ohne Ausnahme als feindlich gegenüber den Institutionen auf Omega gezeigt haben. Ich gebe diese lange Erklärung ab, damit Sie die Strafe, die Ihnen auferlegt wird, besser verstehen können, Will Barrent.« »Sir«, sagte Barrent, »ich habe falsch gehandelt, als ich die Drogen mied. Ich möchte mich nicht mit Unkenntnis der Lage entschuldigen, denn ich weiß, daß das Gesetz diese Entschuldigung nicht anerkennt. Aber ich bitte Sie ergebenst um eine weitere Chance. Ich bitte Sie zu bedenken, daß für mich noch immer die Möglichkeit besteht, süchtig zu werden und mich zu rehabilitieren.« »Das Gericht erkennt das an«, antwortete der Richter. »Aus diesem Grund freut es sich, rechtliche Gnade im vollsten Ausmaß walten zu lassen. Anstatt totaler Hinrichtung dürfen Sie zwischen zwei geringeren Strafarten wählen. Die erste besagt, daß Sie wegen Ihres Verbrechens gegen den Staat die rechte Hand und das linke Bein verlieren sollen, aber nicht das Leben.« Barrent schluckte und fragte: »Und die zweite Art, Sir?« »Die zweite ist keine Strafe. Sie können sich einer Prüfung der höheren Mächte unterziehen. Und wenn Sie diese Prüfung überleben, werden Sie in der Gesellschaft wieder mit angemessenem Rang und geeigneter Stellung aufgenommen werden.« »Ich unterziehe mich dieser Prüfung«, sagte Barrent. »Sehr gut«, antwortete der Richter. »Der Fall läuft also weiter.« Barrent wurde aus dem Raum geführt. Hinter sich hörte er ein rasch wieder unterdrücktes Lachen eines der Wachtposten. Hatte er falsch gewählt? Konnte eine solche Prüfung schlimmer sein als eine direkte Verstümmelung? Auf Omega, so erzählte man sich wenigstens, konnte man zwischen ein Gerichtsverfahren und die Ausführung des Urteils nicht einmal die Klinge eines Messers schieben. Barrent wurde sofort in einen großen, runden, mit Steinen ausgemauerten Saal geführt. An der hohen, gebogenen Decke hingen weiße Lampen. Darunter befand sich eine Öffnung in der Wand, die eine Tribüne für Zuschauer enthielt. Die Tribüne war fast voll, als Barrent in den Raum trat. Ausgaben des gerichtlichen Tageskalenders wurden verkauft. Einen kurzen Augenblick stand Barrent allein auf dem Steinboden. Dann glitt eine Öffnung in der Steinwand zurück, und eine kleine Maschine rollte herein. Ein Lautsprecher nahe der Zuschauerrampe ertönte: »Meine Damen und Herren, Ihre Aufmerksamkeit, bitte! Sie erleben jetzt den Ausscheidungskampf Ö42-BG223 zwischen Bürger Will Barrent und GME 213. Nehmen Sie Ihre Plätze ein! Der Kampf beginnt in wenigen Minuten.« Barrent betrachtete seinen Gegner. Es war eine glitzernde schwarze Maschine von der Form einer Halbkugel, die fast eineinhalb Meter hoch war. Unruhig rollte sie auf kleinen Rädern vor und zurück. Ein Muster von roten, grünen und bernsteinfarbenen Lichtern aus vertieften Glasbirnen flackerte über ihre glatte Metalloberfläche. In Barrent weckte sie die Erinnerung an ein Meereswesen von der Erde. »Für jene, die unsere Galerie zum erstenmal besuchen«, fuhr der Lautsprecher fort, »geben wir eine kurze Erklärung ab. Der Gefangene Will Barrent hat diese Prüfung aus freien Stücken gewählt. Das Instrument der Gerechtigkeit, in diesem Fall GME 213, ist ein Beispiel bester schöpferischer Ingenieurkunst, die Omega hervorgebracht hat. Die Maschine - oder Max, wie viele ihrer Freunde und Bewunderer sie nennen - ist eine Mordwaffe von exemplarischer Tüchtigkeit; sie ist fähig, nicht weniger als dreiundzwanzig verschiedene Mordarten auszuüben, viele davon sind äußerst schmerzhaft. Zum Zwecke eines Ausscheidungskampfes ist sie darauf eingestellt, nach zufälligen Prinzipien zu operieren. Das bedeutet, daß Max keine Wahl über die Methode des Tötens hat. Die Formen sind ausgewählt und nach einem Randomgesetz von dreiundzwanzig verschiedenen Zahlen eingebaut, das an eine Random-Zeiteinheit von einer bis zu sechs Sekunden angeschlossen ist.« Max bewegte sich plötzlich auf die Mitte des Raumes zu; Barrent wich zurück. »Es liegt in der Macht des Gefangenen, die Maschine außer Funktion zu setzen; in diesem Fall gewinnt der Gefangene den Kampf und erlangt die vollen Rechte seines Ranges und seiner Stellung zurück. Die Methode, die Maschine außer Funktion zu setzen, ändert sich von Typ zu Typ. Theoretisch ist es für einen Gefangenen immer möglich zu gewinnen. Die Praxis zeigt, daß es einem Durchschnitt von 3,5 Prozent gelingt.« Barrent blickte hinauf zu den Zuschauern. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, gehörten sie alle höheren Rängen an, vorwiegend den oberen Privilegierten Dann erkannte er plötzlich in der ersten Reihe ganz vorne das Mädchen, das ihm an seinem ersten Tag auf Omega ihre Pistole gegeben hatte. Sie war genauso hübsch, wie er sie in Erinnerung hatte; aber auf ihrem blassen, ovalen Gesicht zeigte sich keine Gefühlsregung. Sie starrte ihn mit dem unverhohlenen und offenen Interesse an, das man für einen Käfer in einem Glasgefäß aufbringt. »Der Wettkampf beginnt!« kündigte der Lautsprecher an. Barrent hatte keine Zeit, an das Mädchen zu denken, denn die Maschine kam auf ihn zugerollt. Wachsam wich er ihr aus. Max brachte einen einzelnen schmalen Fangarm zum Vorschein, an dessen Ende ein weißes Licht aufflackerte. Die Maschine rollte auf Barrent zu und drängte ihn gegen eine Wand.. Dann blieb sie stehen. Barrent hörte das Klicken eines Getriebes. Der Fangarm wurde eingezogen, an seiner Stelle erschien ein Metallarm aus mehreren ineinandergreifenden Gliedern, der in eine Messerklinge auslief. Mit etwas schnelleren Bewegungen trieb die Maschine ihn jetzt auf die Wand zu. Der Arm schoß vor, aber Barrent konnte sich darunter hindurch ducken. Die Messerkante kratzte an der Wand entlang. Als der Arm einfuhr, hatte Barrent Gelegenheit, sich wieder zur Mitte des Raumes zu bewegen. Er erkannte, daß seine einzige Chance, die Maschine außer Gefecht zu setzen, in den kurzen Pausen, während der sie von einer Mordwaffe zur anderen überwechselte, lag. Aber wie zerstörte man eine Maschine mit einer glatten Oberfläche und einem Rücken wie eine Schildkröte? Wieder rollte Max auf ihn zu, diesmal glitzerte seine Metalloberfläche von einer grünen Substanz, die Barrent augenblicklich als ein Kontaktgift erkannte. Er setzte zu einem Sprung an und lief durch den Raum, wobei er versuchte, der tödlichen Berührung zu entgehen Die Maschine hielt inne. Neutralisierer spülten das Gift fort. Wieder steuerte sie auf ihn los, diesmal ohne sichtbare Zeichen einer Waffe. Anscheinend wollte sie ihn rammen. Barrent befand sich in einer ungünstigen Lage. Er wich zur Seite aus, die Maschine folgte seiner Bewegung. Hilflos stand er vor der Wand, während die Maschine immer schneller auf ihn zukam. Wenige Zentimeter vor ihm hielt sie an. Die Schaltung klickte. Max streckte eine Art Schläger aus. Dies war eine ausgesprochen sadistische Prüfung, dachte Barrent. Wenn es noch lange währte, würde die Maschine ihn einfach überrennen und ihn bequem töten. Was immer er zu unternehmen gedachte, er mußte sich damit beeilen, solange er noch die Kraft dazu besaß. Noch während er diesen Gedanken faßte, schwang die Maschine einen knüppelartigen Metallarm heraus. Barrent konnte den Schlag nicht völlig verhindern. Der Knüppel traf seine linke Schulter; er fühlte, wie sein ganzer Arm gefühllos wurde. Max wechselte seine Waffe. Barrent warf sich auf den glatten, gerundeten Rücken. Ganz oben bemerkte er zwei winzige Löcher. Er betete inbrünstig, daß es Rezeptoröffnungen waren, und bohrte mit den Fingern darin. Die Maschine blieb wie tot stehen, die Zuschauer jubelten. Barrent klammerte sich mit seinem steifen Arm an den Rücken und versuchte die Finger in den Öffnungen zu lassen. Die Lichtmuster auf der Oberfläche von Max wechselten von Grün über Bernstein zu Rot. Das tiefkehlige Summen verstärkte sich. Und dann streckte die Maschine schmale Röhren aus, als Ersatz für die Rezeptoren. Barrent bemühte sich angestrengt, sie mit seinem Körper zu bedecken. Aber die Maschine brach plötzlich in neues Leben aus, sie schaukelte schnell hin und her und warf Barrent ab. Er überschlug sich ein paarmal, raffte sich auf und stolperte in die Mitte der Arena. Der Kampf dauerte noch nicht änger als fünf Minuten, aber bereits jetzt war Barrent erschöpft. Er zwang sich, vor der Maschine zurückzuweichen, die jetzt mit einem breiten, glänzenden Beil auf ihn losging. Als der Beilarm ausholte, warf sich Barrent mit aller Kraft darauf, anstatt ihm zu entgehen. Mit beiden Händen umklammerte er ihn und bog ihn zurück. Metall knirschte, und Barrent glaubte schon, das Glied würde langsam abbrechen. Wenn es ihm gelang, den Metallarm abzureißen, gelang es ihm vielleicht auch, die Maschine außer Funktion zu setzen; im schlimmsten Fall aber konnte ihm der Arm als Waffe dienen... Max rollte plötzlich zurück. Barrent vermochte nicht länger, den Arm festzuhalten. Er fiel auf das Gesicht. Das Beil schwang herum und traf ihn an der Schulter. Barrent rollte auf die Seite und schaute zur Galerie hinauf. Er war am Ende. Das beste war, den nächsten Angriff der Maschine einfach abzuwarten, um alles möglichst schnell zu überstehen. Die Zuschauer klatschten und beobachteten, wie sich die Maschine zum nächsten Stoß vorbereitete. Und das Mädchen machte ihm deutliche Zeichen. Barrent starrte sie an, versuchte die Zeichen zu deuten. Sie deutete ihm an, etwas umzudrehen und zu zerstören. Er hatte keine Zeit mehr, auf sie zu achten. Benommen von dem Blutverlust, taumelte er hoch und beobachtete die Maschine. Er kümmerte sich nicht mehr darum, was für eine Art Waffe sie diesmal anwendete; seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf ihre kleinen Räder. Als sie auf ihn zukam, warf sich Barrent unter die Räder. Sie versuchte anzuhalten und auszubiegen, aber es gelang ihr nicht rechtzeitig. Die Räder rollten über Barrents Körper, wodurch die Maschine schräg nach oben gehoben wurde. Barrent keuchte unter der Last. Mit dem Rücken unter der Maschine, legte er seine letzte Kraft in den Versuch aufzustehen. Einen Augenblick schwankte die Maschine hin und her, ihre Räder drehten sich rasend in der Luft. Dann kippte sie um und fiel auf den Rücken. Barrent brach dicht neben ihr zusammen. Als er wieder klar zu sehen vermochte, lag die Maschine noch immer auf dem Rücken. Sie streckte ein paar Arme aus, um sich mit ihrer Hilfe wieder umzudrehen. Barrent warf sich über das flache Unterteil der Maschine und hämmerte mit den Fäusten dagegen. Nichts geschah. Er zerrte an einem Rad, es half nichts. Max stützte sich hoch und war dabei, sich herumzurollen und den Kampf fortzusetzen Eine Bewegung des Mädchens zog Barrents Aufmerksamkeit auf sich. Sie machte eine zerrende, reißende Bewegung mit den Händen, wieder und wieder. Erst jetzt bemerkte Barrent eine kleine Sicherungskiste nahe dem einen Rad. Er schlug den Deckel mit einem Ruck herunter, wobei er sich den einen Fingernagel völlig abbrach, und riß Sicherungen aus dem Inneren Die Maschine zuckte noch einmal und blieb dann unbeweglich liegen. Barrent brach ohnmächtig zusammen. Auf Omega herrscht das Gesetz. Versteckt und offen, geheiligt und weltlich - das Gesetz regiert die Handlungen aller Bürger, von den Niedrigsten der Niedrigen bis zu den Obersten der Oberen Ohne das Gesetz gäbe es keine Privilegien für jene, die das Gesetz geschaffen hatten; deshalb war das Gesetz absolut notwendig. Ohne das Gesetz und seinen harten Zwang würde auf Omega ein unvorstellbares Chaos herrschen, in dem die Rechte eines einzelnen sich nur so weit erstreckten, wie er sie selbst erzwingen konnte. Diese Anarchie würde das Ende der Gesellschaft auf Omega bedeuten; und im besonderen würde es das Ende jener älteren Einwohner der regierenden Klasse mit sich bringen, die die höchsten Posten einnahmen, deren Fertigkeit mit der Pistole aber lange ihren Höhepunkt überschritten hatte. Deshalb war das Gesetz unbedingt erforderlich. Aber Omega war auch eine verbrecherische Gesellschaft, die sich einzig und allein aus Individuen zusammensetzte, die auf der Erde die dort herrschenden Gesetze gebrochen hatten. Es war eine Gesellschaft, die, wenn man sie bis ins letzte analysierte, die Leistung des einzelnen anspornte und stärkte. Es war eine Gesellschaft, in der ein Gesetzesbrecher ein Held war; eine Gesellschaft, die Verbrechen nicht nur entschuldigte, sondern auch bewunderte und sogar belohnte; eine Gesellschaft, in der die Mißachtung der festen Regeln allein am Grad ihres Erfolges gemessen wurde. All das resultierte aus dem Paradoxon einer kriminellen Gesellschaftsordnung mit absoluten Gesetzen, die dazu da waren, gebrochen zu werden. Noch immer hinter der Wand versteckt, erklärte der Richter all dies Barrent. Seit der Beendigung des Wettkampfes waren mehrere Stunden verstrichen, Barrent war in ein Krankenzimmer geschafft worden, wo man seine Wunden verbunden hatte. Sie waren im großen und ganzen unbedeutend; zwei angebrochene Rippen, eine tiefe Fleischwunde in der linken Schulter und etliche Schnitte und Schrammen »Demgemäß muß das Gesetz gleichzeitig gebrochen und eingehalten werden«, fuhr der Richter fort. »Wer nie ein Gesetz bricht, kann im Rang auch nicht höher steigen. Er wird gewöhnlich auf die eine oder andere Art getötet, da ihm die notwendige Initiative fehlt, um sich zu behaupten. Für jene wie Sie, die das Gesetz mißachten, verhält sich die Sache etwas anders. Das Gesetz straft sie mit aller Härte - es sei denn, es gelingt ihnen, sich aus der Schlinge zu ziehen.« Der Richter machte eine Pause. Dann fuhr er mit nachdenklicher Stimme fort: »Auf Omega steht derjenige am höchsten, der das Gesetz versteht, seine Notwendigkeit anerkennt, sich der Strafen für eine Übertretung bewußt ist, sie dann begeht - und darin erfolgreich bleibt! Das, mein Herr, ist der ideale Verbrecher und der ideale Einwohner von Omega. Und genau als das haben Sie sich erwiesen, Will Barrent, indem Sie den Wettkampf gewannen.« »Ich danke Ihnen«, sagte Barrent. »Ich möchte, daß Sie mich recht verstehen«, bemerkte der Richter weiter. »Das Gesetz einmal mit Erfolg überschritten zu haben, heißt noch lange nicht, daß es beim zweitenmal auch gelingt. Die Chancen sprechen dagegen - je öfter man es versucht, um so härter werden die Strafen, aber um so höher ist auch die Auszeichnung, die beim Gelingen verliehen wird. Deshalb warne ich Sie auch, Ihr neu errungenes Wissen überstürzt anzuwenden.« »Ich werde mich vorsehen«, antwortete Barrent. »Sehr gut. Hiermit werden Sie in den Stand eines PrivilegBürgers erhoben - mit allen Rechten und Pflichten, die das mit sich bringt. Sie dürfen Ihr Geschäft wie bisher weiterführen. Außerdem erhalten Sie eine Woche Ferien in der WolkenseeRegion Sie dürfen diese Ferien mit einer Frau nach Ihrer eigenen Wahl verleben.« »Wie bitte?« fragte Barrent. »Was war das letzte?« »Eine Woche Ferien«, wiederholte der Richter, »mit einer Frau, die Sie selbst wählen dürfen. Das ist eine hohe Belohnung, da es auf Omega sechsmal so viel Männer wie Frauen gibt. Sie dürfen sich irgendeine unverheiratete Frau aussuchen, ob sie mag oder nicht. Ich gebe Ihnen drei Tage, Ihre Wahl zu treffen.« »Das ist nicht nötig«, sagte Barrent. »Ich möchte das Mädchen, das in der ersten Reihe auf der Zuschauertribüne gesessen hat. Das Mädchen mit schwarzem Haar und grünen Augen. Wissen Sie, wen ich meine?« »Ja«, antwortete der Richter langsam. »Ich weiß, wen Sie meinen. Sie heißt Moera Ermais. Ich schlage vor, Sie wählen jemand anders.« »Besteht dazu ein Grund?« »Nein. Aber Sie wären besser beraten, wenn Sie jemand anders aussuchten. Mein Assistent wird Ihnen gern eine Liste geeigneter junger Damen vorlegen. Alle haben den Vorzug, gut auszusehen. Manche haben eine Prüfung am Fraueninstitut abgelegt, das, wie Sie vielleicht wissen, einen umfassenden Kursus über die Kunst und Wissenschaft der Geishas abhält. Ich persönlich kann Ihnen ganz besonders -« »Ich möchte Moera«, unterbrach ihn Barrent. »Junger Mann, Sie machen einen Fehler.« »Das muß ich riskieren.« »Also gut«, gab der Richter nach, »Ihre Ferien beginnen morgen früh um neun Uhr. Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Glück.« Wachen geleiteten ihn aus dem Gerichtssaal und zurück zu seinem Laden. Seine Freunde, die bereits seine Todesanzeige erwartet hatten, kamen, um ihn zu begrüßen. Sie waren begierig, alle Einzelheiten des Wettkampfs zu erfahren. Aber Barrent hatte inzwischen gelernt, daß geheimes Wissen der Weg zum Erfolg war. Er schilderte ihnen nur den Vorgang im großen. Es gab an diesem Abend noch einen weiteren Grund zum Feiern. Tem Rends Bewerbung war endlich doch von der Mördergilde angenommen worden. Und wie er es versprochen hatte, engagierte er Foeren sogleich als seinen Assistenten. Am darauffolgenden Morgen, als Barrent aufstand, war ein Fahrzeug vor der Tür. Die Justizbehörde hatte es ihm für die Ferien zur Verfügung gestellt. Auf dem Hintersitz lehnte wunderhübsch und leicht verärgert Moera. »Sind Sie von Sinnen, Barrent?« begrüßte sie ihn. »Glauben Sie denn, ich hätte für derartige Dinge Zeit? Warum haben Sie gerade mich ausgewählt?« »Sie haben mir das Leben gerettet«, antwortete Barrent. »Und jetzt glauben Sie wohl, ich wäre an Ihnen interessiert? Sie irren sich - das bin ich nicht im geringsten. Wenn Sie nur ein Fünkchen Dankbarkeit besitzen, dann sagen Sie jetzt sofort dem Fahrer, Sie hätten Ihre Meinung geändert. Sie können noch immer ein anderes Mädchen wählen.« Barrent schüttelte den Kopf. »Sie sind das einzige Mädchen, an dem mir etwas liegt.« »Dann werden Sie es sich also nicht noch einmal überlegen?« »Ganz bestimmt nicht.« Moera seufzte und lehnte sich im Sitz zurück. »Haben Sie denn wirkliches Interesse an mir?« »Weitaus mehr als nur Interesse«, antwortete Barrent. »Also, dann«, seufzte Moera, »wenn Sie unbedingt nicht anders wollen, muß ich mich wohl mit Ihnen abfinden.« Sie wandte sich zur Seite, aber Barrent vermeinte ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen. Der Wolkensee war Omegas schönster Erholungsort. Beim Betreten mußten alle Waffen am Haupteingang abgegeben werden. Zweikämpfe waren unter gar keinen Umständen erlaubt. Streite wurden vom nächsten Barmixer ganz willkürlich geschlichtet, und ein Mord wurde durch den sofortigen Verlust von Rang und Stellung bestraft. Am Wolkensee gab es jede Art von Vergnügungen. Es fanden Fechtduelle statt, Stierkämpfe und Bärenringen. Man konnte Sportarten wie Schwimmen, Klettern und Skilaufen nachgehen. Am Abend gab es Tanzveranstaltungen im großen mit mehrfachen Glaswänden umschlossenen Saal, die die einfachen Ränge von den Bürgern und diese wieder von der Elite trennten. Es waren gutausgerüstete Rauschgiftbars vorhanden, die alles führten, was sich ein Süchtiger nur wünschen konnte, wie auch einige neue Errungenschaften auf diesem Gebiet. Für gesellige Typen fand jeden Mittwoch- und Samstagabend in der Satyrengrotte eine Orgie statt. Für die Scheuen arrangierten die Veranstalter maskierte Stelldicheins in den dämmrigen Wandelgängen vor dem Hotel. Aber das Schönste waren die sanften Hänge und schattigen Wälder zum Spazierengehen - frei von der Anspannung des täglichen Existenzkampfes von Tetrahyde. Barrent und Moera bewohnten zwei aneinandergrenzende Zimmer, deren Zwischentür unverschlossen war. Während der ersten Nacht allerdings benutzte Barrent diese Tür nicht. Moera hatte ihm kein Zeichen gegeben, daß sie das wünschte; und auf einem Planeten, auf dem Frauen leichten Zugang zu allen möglichen Giften hatten, mußte ein Mann zweimal überlegen, bevor er einer Frau seine Gesellschaft aufzwang, die sie vielleicht gar nicht schätzte. Selbst der Inhaber eines Antidotenladens mußte mit der Möglichkeit rechnen, die Symptome an sich selbst nicht rechtzeitig zu erkennen. Am zweiten Tag kletterten sie in den Bergen herum. Sie nahmen an einem mit weichen Gräsern bewachsenen Hügel ein mitgebrachtes Picknick ein und schauten hinunter auf den grauen See. Nach dem Essen fragte Barrent Moera, warum sie sein Leben gerettet hatte. »Die Antwort wird Ihnen sicher nicht gefallen«, antwortete sie. »Ich hätte sie doch gern gewußt.« »Nun, Sie sahen so lächerlich schutzlos aus, damals bei der Gilde der Opfer. Ich hätte jedem geholfen, der so aussah.« Barrent nickte etwas verlegen. »Und beim zweitenmal?« »Da hatte ich bereits ein Interesse an Ihnen. Kein romantisches Interesse - verstehen Sie mich nicht falsch! Ich bin nicht im geringsten romantisch veranlagt.« »Was für ein Interesse war es dann?« fragte Barrent. »Ich dachte mir, Sie würden gutes Rekrutierungsmaterial abgeben.« »Darüber hätte ich gern mehr gehört.« Moera schwieg eine Weile und sah ihn mit ihren grünen Augen gerade an. »Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich gehöre einer Organisation an. Wir sind ständig auf der Suche nach geeigneten Leuten. Gewöhnlich holen wir sie uns direkt von den Gefangenenschiffen. Außerdem sehen sich die Anwerber, zu denen auch ich gehöre, nach allem um, was brauchbar scheint.« »Nach was für einer Art Menschen suchen Sie?« »Nicht nach Ihrem Typ, Will. Tut mir leid.« »Und warum nicht?« »Zuerst habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Sie anzuwerben«, sagte Moera. »Sie schienen mir genau die Art von Mensch zu sein, die wir benötigen. Dann aber habe ich Ihre Vergangenheit überprüft.« »Und?« »Wir nehmen keine Mörder. Manchmal engagieren wir sie für spezielle Aufgaben, aber wir nehmen sie nicht in unsere Organisation auf. Höchstens akzeptieren wir gelegentlich mildernde Umstände. Aber davon abgesehen haben wir das Gefühl, daß jemand, der auf der Erde einen vorsätzlichen Mord verübt hat, nicht der richtige Mann für uns ist.« »Ich verstehe«, brummte Barrent. »Würde es etwas nützen, wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht die Einstellung zum Morden habe, wie sie auf Omega üblich ist?« »Das weiß ich«, antwortete Moera. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie auch aufnehmen. Aber darüber habe ich nicht zu bestimmen.. Will, sind Sie sicher, daß Sie einen Mord begangen haben?« »Ich glaube, ja«, sagte Barrent. »Wahrscheinlich ist es so.« »Schade. Trotzdem - die Organisation benötigt Leute, die eine hohe Überlebensfähigkeit besitzen, ganz gleich, was sie auf der Erde begangen haben. Ich will sehen, was ich tun kann. Aber es würde viel helfen, wenn Sie herausfinden könnten, warum Sie einen Mord begangen haben. Vielleicht gibt es doch mildernde Umstände.« »Vielleicht«, stimmte Barrent zu, ohne seine Zweifel zu unterdrücken. »Ich will mich bemühen, es herauszufinden.« Kurz bevor er an diesem Abend einschlief, öffnete Moera die Verbindungstür und trat in sein Zimmer. Schlank und warm schlüpfte sie zu ihm unter die Decke. Als er etwas sagen wollte, legte sie ihm eine Hand auf den Mund. Und Barrent hatte gelernt, Pech und Glück ohne Fragen hinzunehmen Die Ferien vergingen viel zu schnell. Das Thema Organisation wurde nicht mehr berührt, aber dafür blieb, vielleicht als Ausgleich, die Verbindungstür stets offen. Spätabends am siebenten Tag kehrten Barrent und Moera nach Tetrahyde zurück. »Wann werde ich dich wiedersehen?« fragte Barrent. »Ich werde von mir hören lassen. « »Das ist keine sehr befriedigende Vereinbarung.« »Mehr kann ich nicht versprechen«, antwortete Moera. »Es tut mir leid, Will. Ich will sehen, was sich wegen der Organisation machen läßt.« Barrent mußte sich damit zufriedengeben. Als ihn das Fahrzeug vor seinem Laden ab setzte, wußte er immer noch nicht, wo sie wohnte oder welcher Art von Organisation sie angehörte. In seiner Wohnung dachte er noch einmal eingehend über die Einzelheiten seines Traums nach. Es war alles da: seine Wut auf Therkaler, die unerlaubte Waffe, die Begegnung, die Leiche und danach der Spitzel und der Richter. Nur ein Stück fehlte. Er konnte sich nicht an den Augenblick des eigentlichen Mordes entsinnen, und auch nicht an das Anlegen der Waffe und an den Schuß. Der Traum brach in dem Moment ab, in dem er Therkaler gegenüberstand, und setzte erst nach dessen Tod wieder ein. Vielleicht hatte er diesen Moment des Mordens aus seinem Gedächtnis verbannt. So konnte er noch hoffen, daß es irgendeinen verständlichen Grund für seine Tat gegeben hatte -vielleicht war er angegriffen worden. Er mußte es herausfinden. Es bestanden nur zwei Möglichkeiten, Informationen über die Erde zu erlangen. Die eine lag in den schreckerfüllten Visionen des Traumladens, und er war entschlossen, diesen nie wieder aufzusuchen. Die andere Möglichkeit lag im Besuch eines wahrsagenden Mutanten. Barrent hegte die allgemeine Abneigung gegen Mutanten. Sie waren eine völlig andere Rasse, und ihr Status der Unantastbarkeit war kein einfaches Vorurteil. Es war wohlbekannt, daß Mutanten häufig fremdartige und unheilbare Krankheiten hatten. Sie wurden gemieden und hatten sich auch selbst nach außen abgekapselt. Sie lebten in dem Mutantenviertel, das eine eigene Welt innerhalb von Tetrahyde bildete. Vernünftige Bürger blieben diesem Viertel fern, vor allem des Nachts; jedermann wußte, daß Mutanten rachsüchtig sein konnten - manchmal an der ganzen Menschheit. Aber nur Mutanten besaßen die Fähigkeit, die Vergangenheit zu erforschen. Ihre verunstalteten Körper bargen ungewöhnliche Kräfte und Talente, seltsame und abnorme Fähigkeiten, die der normale Mensch verabscheute, manchmal aber doch ganz gut gebrauchen konnte. Man sagte den Mutanten nach, daß sie bei dem Schwarzen in besonderer Gunst standen. Manche Leute glaubten, daß die große Kunst der Schwarzen Magie, mit der die Priester prahlten, nur von einem Mutanten ausgeübt werden konnte; aber das erwähnte man natürlich nie in Gegenwart eines Priesters. Die Mutanten standen wegen ihrer seltenen Talente in dem Ruf, mehr über die Erde zu wissen als jeder normale Mensch. Sie konnten sich nicht nur an die Erde im allgemeinen erinnern, sondern sie waren auch fähig, das Leben eines einzelnen durch Raum und Zeit zurückzuverfolgen, die Mauer des Vergessens zu durchbrechen und ihm zu sagen, was wirklich mit ihm geschehen war. Andere wieder waren der Meinung, daß Mutanten überhaupt keine besonderen Fähigkeiten besaßen. Sie betrachteten sie als schlaue Betrüger, die von der Leichtgläubigkeit der anderen lebten. Barrent entschloß sich, das selbst herauszufinden. Eines Abends machte er sich, eingehüllt in einen weiten Umhang und gut bewaffnet, auf den Weg zum Mutantenviertel. Die eine Hand stets an der Waffe, schritt Barrent durch die schmalen, gewundenen Gassen des Viertels. Er kam an Lahmen und Blinden vorbei, an Idioten, die brüllend, mit Schaum vor dem Mund, durch die Straßen liefen oder auch an den Ecken kauerten und vor sich hinwimmerten. Er traf einen Jongleur, der mit einer dritten Hand, die aus seiner Brust wuchs, zwölf brennende Fackeln hochwarf und wieder auffing. Da waren Händler, die Kleider, Tand und billigen Schmuck anboten, Karren mit unsauber aussehenden Lebensmitteln: Er geriet in die Bordellgasse mit ihren buntbemalten Fassaden. In den Fenstern drängten sich Mädchen und kreischten hinter ihm her; ein Mann mit vier Armen und sechs Beinen erklärte ihm, er käme gerade zu den Delphin-Riten zurecht. Barrent wandte sich von ihm ab und wäre fast an eine unheimlich fette Frau gerannt, die ihre Bluse aufriß und acht schlaffe Brüste zum Vorschein brachte. Er machte einen Bogen um sie und eilte an einem siamesischen Vierling vorbei, der ihn mit sehr vielen großen, traurigen Augen anstarrte. Barrent bog um eine Ecke und blieb stehen. Ein hochgewachsener, zerlumpter alter Mann mit einem weißen Stock blockierte den Weg. Er war fast blind; über der Stelle, an der einmal sein linkes Auge gesessen hatte, wuchs weiche, haarlose Haut. Sein rechtes Auge jedoch blickte starr und böse. »Wünschen Sie die Dienste eines ehrlichen Wahrsagers?« fragte der Alte. Barrent nickte. »Folgen Sie mir!« forderte ihn der Einäugige auf. Er bog in eine schmale Gasse ein. Barrent folgte ihm und umklammerte fest den Lauf seiner Nadelstrahlpistole. Mutanten durften dem Gesetz nach keine Waffen tragen; aber dieser hatte, wie viele von ihnen, einen Stock mit einer Eisenspitze. In engen Gassen konnte dies eine sehr gefährliche Waffe abgeben Der Alte öffnete eine Tür und winkte Barrent herein. Barrent zögerte und dachte an die Geschichten von leichtgläubigen Bürgern, die in die Hände der Mutanten gefallen waren. Dann zog er die Waffe hervor und folgte dem Alten ins Innere. Am Ende eines langen Ganges öffnete dieser eine weitere Tür und ließ Barrent in einen kleinen, schwach erleuchteten Raum treten. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte Barrent die Umrisse von zwei Frauen erkennen, die vor einem einfachen Holztisch saßen. Auf dem Tisch stand ein Topf mit Wasser, und darin befand sich ein faustgroßes Stück Glas, in das viele Facetten geschnitten waren. Eine der Frauen war sehr alt und hatte kein einziges Haar auf dem Kopf. Die andere war jung und erstaunlich hübsch. Als Barrent näher an den Tisch trat, stellte er entsetzt fest, daß ihre Beine von den Knien an zusammengewachsen waren, eine schuppige Haut umgab sie, nach unten zu liefen sie in eine Art Fischschwanz aus. »Was wünschen Sie zu erfahren, Bürger Barrent?« fragte die junge Mutantin. »Woher wissen Sie meinen Namen?« fragte Barrent. Als er keine Antwort erhielt, sagte er: »Schön. Ich möchte Genaues über einen Mord wissen, den ich auf der Erde verübt habe.« »Warum möchten Sie das?« fragte die junge Frau. »Wollen die Behörden Ihnen den Mord nicht zugestehen?« »O doch, sie erkennen ihn an. Aber ich möchte gern wissen, warum ich ihn verübt habe. Es könnte ja sein, daß mildernde Umstände eine Rolle spielten. Vielleicht habe ich es nur zur Selbstverteidigung getan.« »Ist das wirklich so wichtig?« fragte die junge Frau »Ja!« antwortete Barrent mit Nachdruck. Er zögerte einen Moment und wagte dann den Sprung: »Tatsache ist, daß ich ein neurotisches Vorurteil gegen das Morden hege. Mir wäre es lieber, nicht töten zu müssen. Deshalb möchte ich gern wissen, warum ich auf der Erde einen Mord verübt habe.« Die Mutanten blickten einander an. Dann grinste der alte Mann und sagte: »Bürger, wir werden Ihnen nach besten Kräften helfen Auch wir Mutanten sind gegen den Mord, wohl deshalb, weil meistens wir es sind, die getötet werden. Wir mögen Bürger, die gleich uns fühlen.« »Dann werden Sie also meine Vergangenheit erforschen?« »So leicht ist das nicht«, erklärte die junge Frau. »Diese Fähigkeit gehört zu den Psi-Talenten und ist äußerst schwierig. Nicht immer gelingt es. Und manchmal deckt es auch Dinge auf, die gar nicht aufgedeckt werden sollten.« »Ich dachte, alle Mutanten könnten die Vergangenheit lesen, wann es ihnen beliebt«, sagte Barrent. »Nein«, widersprach der alte Mann. »Das stimmt nicht. Erstens einmal sind nicht alle, die als Mutanten klassifiziert sind, echte Mutanten. Fast jede Deformierung oder Abnormität wird heutzutage Mutantismus genannt. Das ist eine bequeme Bezeichnung für alle, die den terrestrischen Vorstellungen der äußeren Erscheinung nicht entsprechen.« »Aber es gibt doch echte Mutanten?« »Gewiß. Aber selbst da gibt es Unterschiede. Manche weisen nur Verunstaltungen durch Strahleneinwirkung auf -Gigantismus, Mikrocephalie und dergleichen. Nur ganz wenige besitzen geringe Spuren von Psi-Talenten - obgleich alle Mutanten Anspruch darauf erheben.« »Und Sie - können Sie es?« fragte Barrent. »Nein. Aber Myla«, antwortete er und deutete auf die junge Frau. »Manchmal ist sie dazu fähig.« Die junge Frau starrte in den Wassertopf auf das Facettenglas. Ihre blassen Augen waren weit geöffnet, die Pupillen hatten sich stark vergrößert; ihr Körper mit dem Fischschwanz war steil aufgerichtet; die Alte stützte sie. »Sie beginnt etwas zu sehen«, sagte der Mann. »Das Wasser und die Kristallkugel sind nur Einrichtungen, um ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt zu konzentrieren. Myla ist sehr gut, obzwar sie manchmal die Vergangenheit mit der Zukunft vermengt. Das kann unangenehm sein und bringt das Talent in schlechten Ruf. Aber man kann nichts dagegen tun. Ab und zu taucht eben die Zukunft mit auf, und Myla muß sagen, was sie sieht. Letzte Woche sagte sie einem Hadji, daß er in vier Tagen sterben würde.« Der Alte kicherte. »Sie hätten seinen Gesichtsausdruck sehen sollen.« »Hat sie auch gesehen, wie er sterben würde?« fragte Barrent. »Ja. Durch einen Messerstich. Der Ärmste wagte sich die ganzen vier Tage nicht aus dem Haus.« »Und wurde er getötet?« »Natürlich. Seine Frau tötete ihn. Sie ist eine zielbewußte Dame, habe ich mir sagen lassen.« Barrent hoffte, daß Myla ihm seine Zukunft nicht verraten würde. Das Leben war schwierig genug ohne die Voraussagungen eines Mutanten Sie blickte von dem Glas auf und schüttelte traurig den Kopf. »Ich kann Ihnen nur sehr wenig sagen. Es ist mir nicht gelungen, den Mord selbst zu erkennen. Aber ich habe einen Friedhof gesehen und darin das Grabmal Ihrer Eltern. Da war ein alter Grabstein, vielleicht zwanzig Jahre alt. Der Friedhof befand sich in den Außenbezirken eines Ortes auf der Erde, der den Namen Youngerstun trägt.« Barrent dachte angestrengt nach, aber der Name bedeutete ihm nichts. »Außerdem habe ich einen Mann gefunden«, fuhr Myla fort, »der etwas über den Mord weiß. Er kann Ihnen darüber berichten, wenn er will.« »Hat dieser Mann den Mord beobachtet?« »Ja.« »Ist er derjenige, der mich angezeigt hat?« »Das weiß ich nicht«, antwortete Myla. »Ich habe die Leiche gesehen. Sein Name war Therkaler. Dicht neben ihm stand ein Mann. Dessen Name ist Illiardi. « »Befindet er sich hier auf Omega?« »Ja. Sie können ihn in diesem Augenblick in dem Euphoriatorium in der Little Axe Street finden. Wissen Sie, wo das ist?« »Ich werde es finden«, sagte Barrent. Er dankte der jungen Frau und bot ihr einen Lohn an, den sie aber ablehnte. Sie sah sehr unglücklich aus. Als Barrent gehen wollte, rief sie: »Seien Sie vorsichtig!« Barrent blieb an der Tür stehen und fühlte einen eisigen Schauer den Rücken entlangrinnen. »Haben Sie meine Zukunft gelesen?« fragte er. »Nur ein wenig«, antwortete Myla. »Nur, was in wenigen Monaten geschieht.« »Was haben Sie gesehen?« »Ich kann es nicht erklären. Was ich gesehen habe, ist unmöglich.« »Sagen Sie mir, was es war.« »Ich sah Sie tot. Und trotzdem waren Sie wieder nicht tot. Sie blickten auf eine Leiche, die in viele kleine Teile zersplittert war. Und die Leiche waren Sie selbst.« »Was hat das zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Myla. Das Euphoriatorium war ein großes, grell gestrichenes Gebäude, in dem es speziell gemischte Drogen und Betäubungsmittel gab. Seine hauptsächlichsten Kunden waren Peons und einfache Bürger. Barrent fühlte sich etwas unbehaglich, als er sich einen Weg durch die Menge bahnte und den Kellner fragte, wo er einen Mann namens Illiardi finden könnte. Der Kellner deutete in eine Eckloge. Barrent sah einen glatzköpfigen, breitschultrigen Mann, der sich über ein winziges Glas Thanapiquita beugte. Barrent trat auf ihn zu und stellte sich vor. »Angenehm«, antwortete Illiardi und trug den obligatorischen Respekt eines Residenten zweiter Klasse gegenüber einem Privilegbürger zur Schau. »Kann ich irgend etwas für Sie tun?« »Ich möchte Ihnen gern ein paar Fragen über die Erde stellen«, begann Barrent. »Kann mich nicht mehr an viel erinnern«, antwortete Illiardi. »Aber soweit ich Ihnen zu Diensten sein kann...« »Erinnern Sie sich an einen Mann mit Namen Therkaler?« »Ganz gewiß«, antwortete Illiardi. »Dünner Bursche. Schielte. Eine miese Type!« »Waren Sie dabei, als er ermordet wurde?« »Jawohl. Es war das erste, an das ich mich erinnerte, als ich das Schiff verließ.« »Haben Sie gesehen, wer ihn getötet hat?« Illiardi starrte ihn erstaunt an. »Das brauchte ich nicht zu sehen. Ich selbst habe ihn getötet.« Barrent zwang sich, in ruhigem Ton zu sprechen. »Sind Sie da ganz sicher? Wissen Sie das genau, meine ich?« »Selbstverständlich weiß ich das genau«, antwortete Illiardi. »Und ich bringe jeden um, der mir diesen Mord abstreiten will. Ich habe Therkaler getötet, und er hat noch Schlimmeres als das verdient.« »Als Sie ihn getötet haben - haben Sie mich da zufällig in der Nähe gesehen?« fragte Barrent. Illiardi musterte ihn aufmerksam von oben bis unten, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, daß ich Sie dabei gesehen habe. Aber genau kann ich das natürlich nicht sagen. Direkt nachdem ich Therkaler getötet habe, verwischt sich alles irgendwie.« »Ich danke Ihnen«, sagte Barrent. Er verließ das Euphoriatorium. Barrent hatte viel Stoff zum Nachdenken. Aber je mehr er grübelte, um so konfuser wurde alles. Wenn Illiardi Therkaler getötet hatte, warum war er, Barrent, dann nach Omega deportiert worden? Wenn jedoch ein Irrtum unterlaufen war, warum hatte man ihn dann nicht freigelassen, nachdem der wahre Mörder gefaßt war? Warum hatte ihn auf der Erde jemand eines Mordes angeklagt, den er gar nicht begangen hatte? Und warum hatte man ihm eine falsche Erinnerung an dieses Verbrechen eingegeben? Barrent fand auf alle diese Fragen keine Antwort. Aber er wußte, daß er sich niemals wie ein Mörder gefühlt hatte. Jetzt hatte er einen Beweis dafür, daß er kein Mörder war. Dieses Gefühl der Unschuld änderte alles. Er brachte jetzt für die Gebräuche von Omega weniger Verständnis auf, hatte überhaupt kein Interesse mehr daran, der verbrecherischen Lebensart zu folgen. Das einzige, wonach er trachtete, war, von Omega zu fliehen und sein rechtmäßiges Erbe auf der Erde anzutreten. Aber das war unmöglich. Tag und Nacht kreisten die Wachschiffe am Himmel. Selbst wenn es einen Weg gäbe, diese Sperre zu umgehen, wäre eine Flucht immer noch unmöglich. Die Technologie auf Omega war noch nicht weiter fortgeschritten als bis zur Verbrennungsmaschine. Die einzigen Raumschiffe waren in den Händen der Erdbehörden Barrent arbeitete weiterhin in seinem Antidotenladen, aber sein Mangel an öffentlichem und sozialem Geist war offensichtlich und wuchs ständig. Die Einladungen des Traumladens ignorierte er einfach, und auch die regelmäßigen öffentlichen Exekutionen, beliebte Schauspiele für die Bewohner von Omega, besuchte er nicht. Wenn sich ein Haufen Pöbel zusammenrottete, um im Mutantenviertel sein grausames Spiel zu treiben, schützte Barrent Kopfschmerzen vor. Er beteiligte sich auch nie an den Jagden des Landungstages, und einen akkreditierten Vertreter vom Torturenklub beleidigte er sogar. Selbst die Besuche von Onkel Ingemar konnten ihn nicht dazu bringen, seine wenig religiöse Lebensweise zu ändern. Er wußte, daß er Unannehmlichkeiten heraufbeschwor. Er erwartete sie, und das Wissen darum stimmte ihn seltsamerweise heiter. Letzten Endes war auf Omega nichts dabei, die Gesetze zu brechen - solange man damit durchkam. Nach einem Monat hatte er Gelegenheit, seine Entscheidung zu prüfen. Als er eines Tages zu seinem Laden zurückging, stieß ihn in der Menge ein Mann an. Barrent wich ihm aus, aber der Mann packte ihn bei der Schulter und zog ihn dichter zu sich heran. »Wie können Sie sich erlauben, mich anzurempeln?« fragte der Mann. Er war klein und untersetzt. Seine Kleidung kennzeichnete ihn als einen Privileg-Bürger. Fünf Silbersterne an seinem Patronengürtel zeigten die Zahl seiner autorisierten Morde an. »Ich habe Sie nicht angerempelt«, antwortete Barrent. »Du lügst - Mutanten-Liebhaber!« Entsetztes Schweigen breitete sich ringsherum bei dieser tödlichen Beleidigung aus. Barrent trat abwartend einen Schritt zurück. Mit einer schnellen, geschickten Bewegung griff der Mann nach seiner Waffe. Aber Barrent hatte seine Nadelstrahlwaffe schon eine gute halbe Sekunde hervorgerissen, bevor der andere seine Pistole aus dem Gürtel gezogen hatte. Sein Schuß traf den Mann genau zwischen die Augen; dann spürte er hinter sich eine Bewegung und schnellte herum. Zwei Privileg-Bürger zogen ihre Waffen. Barrent feuerte, ganz automatisch zielend, und warf sich hinter einen Mauervorsprung. Die Männer sackten zusammen. Die Wand hinter Barrent zerkrümelte unter dem Aufprall der Geschosse. Barrent bemerkte einen vierten Mann, der auf ihn schoß. Mit zwei weiteren Schüssen brachte er auch ihn zu Fall. Damit war es geschehen. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er vier Männer getötet. Obgleich er nicht glaubte, die Mentalität eines Mörders zu besitzen, war Barrent doch irgendwie zufrieden und angenehm erregt. Er hatte nur seiner Selbstverteidigung wegen geschossen. Er hatte diesen Rangjägern etwas zum Nachdenken gegeben; das nächstemal würde man ihn nicht so leichtsinnig angreifen. Möglicherweise würden sie sich auf leichtere Ziele konzentrieren und ihn in Ruhe lassen. Als er seinen Laden erreichte, wartete dort Joe auf ihn. Der kleine Betrüger blickte unbehaglich drein. »Ich habe die hübsche kleine Schießerei heute mit angesehen. Ganz nett.« »Vielen Dank.« »Glaubst du etwa, das wird dir viel nützen? Glaubst du, du könntest einfach immer so weitermachen und die Gesetze brechen? « »Ich komme damit durch«, antwortete Barrent. »Gewiß. Aber wie lange noch?« »Solange es nötig ist.« »Du hast überhaupt keine Chance«, sagte Joe. »Niemandem gelingt es auf die Dauer, das Gesetz zu brechen und davonzukommen. Das glauben nur völlige Trottel.« »Dann soll man mir das nächstemal wenigstens bessere Männer auf den Hals schicken«, sagte Barrent und lud seine Waffe frisch auf. »So wird es nicht kommen«, erklärte Joe. »Glaub mir, Will, man kann nie voraussagen, auf welche Weise sie einen fertigmachen. Wenn das Gesetz einmal beschlossen hat, etwas zu unternehmen, kannst du nichts, aber auch absolut gar nichts dagegen tun. Und erwarte bloß nicht wieder Hilfe von deiner Freundin.« »Kennst du sie?« fragte Barrent. »Ich kenne jeden«, antwortete Joe verdrossen. Eindringlich fuhr er fort: »Ich habe Freunde in der Regierung. Ich weiß, daß man von dir allmählich die Nase voll hat. Hör mir zu, Will. Willst du denn unbedingt als Leiche enden?« Barrent schüttelte den Kopf. »Kannst du Moera besuchen? Weißt du, wie man sie erreichen kann, Joe?« »Vielleicht. Aber wozu?« »Ich möchte, daß du ihr etwas von mir bestellst, Joe. Sag ihr, daß ich den Mord nicht begangen habe, dessentwegen ich angeklagt wurde - damals auf der Erde.« Joe starrte ihn entgeistert an. »Hast du denn ganz und gar den Verstand verloren?« »Nein, aber ich habe den Mann gefunden, der den Mord tatsächlich begangen hat. Es ist ein Zweiter-Klasse-Resident: IIliardi heißt er.« »Aber warum willst du das unbedingt unter die Leute bringen?« fragte Joe. »Es hat doch gar keinen Sinn, den Gutpunkt für den Mord zu verlieren.« »Ich habe den Mann nicht ermordet«, beharrte Barrent. »Und ich will, daß du es Morea erzählst. Wirst du es tun?« »Also gut, ich werde es ihr sagen«, stimmte Joe zu, »wenn ich sie finde. Aber es wäre besser, du würdest meine Warnung ernst nehmen. Vielleicht hast du noch Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Geh zur Schwarzen Messe oder unternimm sonst etwas. Vielleicht hilft dir das noch.« »Mal sehen«, antwortete Barrent. »Wirst du es ihr auch sicher mitteilen?« »Ja, ich werde es ihr bestimmt sagen«, versicherte Joe und verließ, traurig den Kopf schüttelnd, den Antidotenladen. Drei Tage danach erhielt Barrent den Besuch eines großen, würdigen alten Mannes, der sich so aufrecht und steif hielt, als hätte er das zeremonielle Schwert, das er an seiner Hüfte trug, verschluckt. Er trug einen Umhang mit einem hochstehenden steifen Kragen. An seiner Kleidung erkannte ihn Barrent als einen hohen Regierungsbeamten. »Die Regierung von Omega überbringt Ihnen ihre Grüße«, begann der Beamte. »Ich bin Norins Jay, stellvertretender Minister für Spiele. Durch das Gesetz bin ich beauftragt, Sie von Ihrem großen Glück zu unterrichten. « Barrent nickte bedachtsam und bat den alten Mann näherzutreten. Aber Jay, aufrecht und korrekt, zog es vor, im Laden zu bleiben. - »Gestern abend fand die alljährliche Lotterieziehung statt«, sagte Jay. »Sie, Bürger Barrent, sind einer der Gewinner. Ich gratuliere Ihnen. « »Was ist der Preis?« fragte Barrent. Er hatte schon von der jährlichen Lotterie gehört, besaß aber nur eine vage Vorstellung von ihrer Bedeutung. »Der Preis«, verkündete Jay, »ist Ehre und Ruhm. Ihnen werden die bürgerlichen Ehrenrechte zuerkannt. Ihre Morde werden schriftlich beglaubigt und der Nachwelt erhalten bleiben. Konkret gesprochen: Sie erhalten eine neue Nadelstrahlwaffe von der Regierung, und hinterher werden Sie mit dem silbernen Sonnenkreuz ausgezeichnet werden.« »Hinterher?« »Natürlich. Das silberne Sonnenkreuz wird immer erst nach dem Tode verliehen. Die Ehre ist deshalb nicht geringer.« »Natürlich nicht«, antwortete Barrent. »Gibt es sonst noch etwas?« »Nur noch das eine«, antwortete Jay. »Als Lotteriegewinnerwerden Sie an der symbolischen Zeremonie der Jagd teilnehmen, die den Beginn der jährlichen Spiele verkündet. Die Jagd, wie Sie wohl wissen, verkörpert unsere Lebensart von Omega. In der Jagd erkennen wir all die komplizierten Faktoren des dramatischen Aufstiegs und Abfalls von der Gnade, kombiniert mit dem erregenden Erlebnis des Duells und der Spannung der Treibjagd. Selbst Peons ist es gestattet, an der Jagd teilzunehmen; denn dies ist der einzige Feiertag, der für alle in gleicher Weise gilt, und auch der Feiertag, an dem der gewöhnliche Mann Gelegenheit hat, sich über die ihm durch seinen Rang auferlegten Schranken zu erheben.« »Wenn ich es richtig verstanden habe«, sagte Barrent, »so bin ich einer der Männer, die gejagt werden sollen.« »Jawohl«, bestätigte Jay. »Aber Sie erwähnten, daß die Zeremonie symbolisch sei. Bedeutet das nicht, daß niemand getötet wird?« »Aber ganz und gar nicht!« rief Jay aus. »Auf Omega ist das Symbol und das, was symbolisiert wird, ein und dasselbe. Wenn wir von einer Jagd sprechen, dann meinen wir auch eine echte Jagd. Sonst wäre das Ganze ja nur Theater.« Barrent dachte einen Augenblick über die Situation nach. Sie erschien ihm nicht vergnüglich. In einem Kampf von Mann zu Mann hatte er eine ausgezeichnete Chance. Die jährliche Jagd aber, an der sich die gesamte Bevölkerung von Tetrahyde beteiligte, ließ ihm nicht die geringste Möglichkeit zu überleben. Auf eine derartige Sache hätte er sich vorbereiten müssen »Auf welche Weise wurde ich ausgewählt?« fragte er. »Durch eine öffentliche Ziehung«, antwortete Norins Jay. »Das ist die einzig faire Methode gegenüber den Gejagten, die ihr Leben für den Ruhm Omegas hergeben.« »Ich kann nicht glauben, daß ausgerechnet ich rein zufällig ausgewählt wurde.« »Die Wahl blieb dem Zufall überlassen«, wiederholte Jay. »Natürlich beschränkte sie sich auf einige geeignete Kandidaten. Nicht jeder eignet sich als Jagdbeute. Man muß schon ein gehöriges Maß an Zähigkeit und Begabung bewiesen haben, bevor das Komitee der Spiele daran denkt, ihn in Betracht zu ziehen. Gejagt zu werden, ist eine Ehre. Diese Gunst wird nicht leicht jemandem zuteil.« »Ich kann es nicht glauben«, sagte Barrent. »Ihr in der Regierung habt schon lange darauf gewartet, mich fertigzumachen, jetzt scheint es euch gelungen zu sein. So einfach ist das also.« »Aber nicht doch! Ich kann Ihnen versichern, daß Ihnen niemand von uns in der Regierung auch nur das geringste Böse wünscht. Vielleicht sind Ihnen lächerliche Geschichten von bösartigen Beamten zu Ohren gekommen - aber sie sind nicht wahr. Zwar haben Sie das Gesetz gebrochen, aber das geht die Regierung nichts an. Es ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und dem Gesetz.« Jays eisige blaue Augen blitzten auf, als er vom Gesetz sprach. Sein Rücken versteifte sich, und seine Lippen zogen sich zu schmalen Strichen zusammen »Das Gesetz«, fuhr er in fanatischem Tonfall fort, »steht über dem Verbrecher und dem Richter, es regiert beide. Dem Gesetz kann niemand entrinnen, denn eine Handlung ist entweder gesetzlich oder ungesetzlich. Das Gesetz, so könnte man wohl sagen, hat ein eigenes unbegrenztes Leben, eine Existenz, die sich von dem beschränkten Dasein der Wesen, die es verwalten, ganz erheblich unterscheidet. Das Gesetz regiert jeden Aspekt des menschlichen Benehmens: deshalb ist das Gesetz im gleichen Ausmaß, in dem die Menschen gesetzliche Wesen sind, selbst menschlich. Und durch diese Menschlichkeit wiederum ist das Gesetz besonders empfindlich - genau wie der Mensch. Für jeden Bürger, die dem Gesetz gehorchen, ist es schwer zu finden Für jene aber, die es verletzen und mißachten, erhebt es sich aus seiner muffigen Grabstätte und greift nach ihnen.« »Deshalb hat man mich für die Jagd ausgewählt?« fragte Barrent. »Gewiß«, antwortete Jay. »Wenn man Sie nicht auf diese Weise ergriffen hätte, so hätte das eifrige und stets wachsame Gesetz andere Mittel und Wege gefunden, hätte alle ihm zur Verfügung stehenden Instrumente benutzt.« »Nett, daß Sie mir das sagen«, antwortete Barrent. »Wieviel Zeit habe ich? « »Bis zur Morgendämmerung. Dann beginnt die Jagd, und sie endet beim Sonnenaufgang des folgenden Tages.« »Was geschieht, wenn ich die Jagd lebend überstehe?« Norins lächelte. »Das geschieht nicht oft, Bürger Barrent. Ich bin sicher, daß Sie sich darüber nicht den Kopf zu zerbrechen brauchen.« »Aber es kommt doch gelegentlich vor, oder?« »Ja. Diejenigen, die die Jagd überleben, nehmen automatisch an den Spielen teil.« »Und wenn ich die Spiele überlebe?« »Lassen wir das doch!« sagte Jay in freundlichem Ton. »Aber wenn es mir nun doch gelingt?« »Glauben Sie mir, Bürger Barrent, das ist äußerst unwahrscheinlich. « »Ich möchte es aber trotzdem gern wissen.« »Diejenigen, die die Spiele überleben, stehen außerhalb der Reichweite des Gesetzes.« »Hört sich vielversprechend an«, bemerkte Barrent. »Das ist es aber nicht. Das Gesetz, wenn es auch noch so hart erscheint, bewacht Sie. Ihre Rechte mögen wenige sein, doch das Gesetz achtet darauf, daß sie eingehalten werden. Das Gesetz verbietet mir, Sie schon in diesem Augenblick zu töten.« Jay öffnete seine geballte Faust, darin lag eine winzige Einschußwaffe. »Das Gesetz setzt Grenzen und wirkt ausgleichend auf das Verhalten der Gesetzesbrecher und derjenigen, die es befolgen. Um sicher zu sein, ordnet das Gesetz jetzt an, daß Sie sterben müssen. Aber alle Menschen müssen sterben. Aber das Gesetz ist ernsthaft und wägt seine Entscheidungen wohl ab; deshalb läßt es Ihnen einen ganzen Tag Zeit, bis Sie sterben müssen. Ihnen bleibt wenigstens ein Tag - ohne das Gesetz bliebe Ihnen keine einzige Minute.« »Was geschieht«, begann Barrent von neuem, »wenn ich die Spiele überlebe und dem Gesetz nicht mehr unterstehe?« »Dann bleibt nur eines«, antwortete Jay nachdenklich, »und das ist der Schwarze in eigener Person. Wer vom Gesetz befreit ist, gehört ihm. Aber es wäre besser, tausendmal zu sterben, als in die Hände des Schwarzen zu geraten.« Schon lange hatte Barrent die Religion des Schwarzen als abergläubischen Unsinn abgetan. Jetzt aber, bei dem ernsten Ton von Jays Stimme, begann er zu zweifeln. Vielleicht bestand zwischen der allgemein üblichen Anbetung des Bösen und seiner tatsächlichen Existenz doch ein Unterschied. »Aber wenn Sie ein bißchen Glück haben«, versuchte Jay ihn zu beruhigen, »werden Sie möglichst bald getötet. Jetzt will ich die Unterredung mit einigen letzten Instruktionen beenden.« Noch immer die winzige Waffe in der Hand haltend, griff er mit der anderen in die Tasche und zog einen roten Stift hervor. Mit einer schnellen, geübten Bewegung fuhr er mit dem Stift über Barrents Wangen und Stirn. Er war fertig, noch bevor Barrent zurückweichen konnte. »Das kennzeichnet Sie als einen Gejagten«, sagte Jay. »Die Jagdmerkmale sind unauslöschlich. Und hier ist Ihre Nadelstrahlwaffe, die Ihnen die Regierung zur Verfügung stellt.« Er zog eine Waffe aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. »Die Jagd beginnt, wie ich vorhin schon erwähnte, beim ersten Schimmer der Dämmerung. Jeder kann Sie dann töten, nur die anderen Gejagten dürfen es nicht. Sie können auch jeden töten. Aber ich rate Ihnen, das nur mit äußerster Vorsicht zu tun. Das Geräusch und das Aufblitzen der Waffe haben schon viele Gejagte verraten. Wenn Sie. ein Versteck aufsuchen, dann achten Sie darauf, daß Sie einen Hinterausgang haben. Vergessen Sie nicht, daß die anderen Tetrahyde weitaus besser kennen als Sie. Geübte Jäger haben im Laufe der vergangenen Jahre alle möglichen Verstecke entdeckt; viele der Gejagten werden schon während der ersten Stunden des Feiertages gefangen. Viel Glück, Bürger Barrent.« Jay ging zur Tür. Er öffnete sie und drehte sich noch einmal zu Barrent um. »Ich könnte hinzufügen, daß es eine ganz geringe Chance gibt, Leben und Freiheit während der Jagd zu bewahren. Aber da es verboten ist, kann ich Ihnen nicht verraten, was das ist.« Norins Jay verbeugte sich und ging hinaus. Nach mehreren Versuchen mußte Barrent feststellen, daß die roten Jagdzeichen wirklich unauslöschlich waren. Er verbrachte den Abend damit, die Nadelstrahlwaffe der Regierung auseinanderzunehmen und zu untersuchen. Wie vorauszusehen, war die Waffe beschädigt. Er zog es vor, seine eigene zu benutzen. Dann traf er seine Vorbereitungen für die Jagd. Er packte einige Lebensmittel, eine Flasche Wasser, ein Seil, ein Messer, Ersatzmunition und eine zweite Nadel strahl waffe in einen kleinen Rucksack. Dann wartete er; gegen jede Vernunft hoffte er, daß Moera und ihre Organisation ihm eine letzte Gnadenfrist gewähren würden. Aber er wartete vergebens. Eine Stunde vor der Dämmerung schulterte er seinen Rucksack und verließ den Antidotenladen. Er hatte keine Ahnung, was die anderen Gejagten taten; aber ihm war ein Ort eingefallen, wo er vor den Jägern sicher sein könnte. Die Autoritäten von Omega geben zu, daß sich im Charakter eines Gejagten ein Wandel vollzieht. Wenn es ihm gelingt, die Jagd als ein abstraktes Problem anzusehen, kann er vielleicht einen mehr oder weniger aussichtsreichen Plan entwerfen. Der typische Gejagte aber kann seine Gefühle nicht einfach unterdrücken, ganz gleich, wie intelligent er ist. Schließlich ist er der Gejagte. Panik überfällt ihn. Die Sicherheit liegt für ihn in Entfernungen und Verstecken. Er flieht so weit als möglich von seiner Wohnung; er steigt in die Abflußkanäle und unterirdischen Flußläufe. Er wählt die Dunkelheit statt des Lichts, zieht sich in verlassene Gegenden zurück. Dieses Vorgehen ist den erfahrenen Jägern wohlbekannt. Und so ist es nur natürlich, daß sie zuerst die dunklen, entlegenen Orte absuchen, die unterirdischen Gänge, verlassenen Läden und Gebäude. Hier finden und erledigen sie die Gejagten mit unausweichlicher Präzision. Barrent hatte das wohl bedacht. Er hatte seinen ersten instinktiven Wunsch, sich im verzweigten Abwässersystem von Tetrahyde zu verkriechen, beiseite geschoben. Statt dessen ging er eine Stunde vor Sonnenaufgang direkt zu den großen, hellerleuchteten Gebäuden, in denen sich das Ministerium für Spiele befand. Da die Gänge noch leer zu sein schienen, betrat er das Gebäude schnell, las die Tafeln mit den Anweisungen und ging die Treppe zum dritten Stockwerk hinauf. Er kam an mehreren Büros vorbei und blieb endlich vor einer Tür mit der Aufschrift: Norins Jay, stellvertretender Minister für Spiele, stehen. Einen Augenblick lauschte er, öffnete dann die Tür und trat ein. Der alte Mann entdeckte sofort die roten Merkmale auf seinem Gesicht. Er zog eine Schublade auf und griff hinein. Barrent wollte den alten Mann nicht töten. Er legte mit der defekten Waffe der Regierung an und zielte auf die Stirn des Beamten. Jay taumelte gegen die Wand und knickte dann auf dem Boden in sich zusammen. Barrent beugte sich über ihn und fühlte seinen Puls, der noch schlug. Er steckte dem Minister einen Knebel in den Mund und fesselte ihn, dann schob er ihn unter den Schreibtisch. Nun durchsuchte er die Schubladen und fand ein Schild: SITZUNG! BITTE NICHT STÖREN. Dieses hängte er draußen an die Tür, die er hierauf verschloß. Schließlich zog er die eigene Nadel strahl waffe und setzte sich hinter den Tisch, um abzuwarten. Es dämmerte, eine wäßrige Sonne ging über Omega auf. Vom Fenster aus konnte Barrent sehen, wie sich die Straßen füllten. In der Stadt herrschte eine karnevalartige Stimmung, zuweilen wurde sie durch das Zischen oder die Explosion einer Waffe noch erhöht. Gegen Mittag war Barrent noch immer nicht entdeckt worden. Er blickte aus dem Fenster und stellte fest, daß er schlimmstenfalls über die Dächer entkommen konnte. Er war froh über diese Möglichkeit - er mußte an Jays Warnung denken. Am Nachmittag hatte Jay sein Bewußtsein wiedererlangt. Nach einigen Versuchen, die Fesseln abzustreifen, blieb er ruhig liegen. Gegen Abend klopfte jemand an die Tür. »Minister Jay, darf ich eintreten?« »Nicht jetzt«, sagte Barrent und hoffte, Jays Stimme einigermaßen glaubwürdig imitiert zu haben. »Ich dachte, Sie wären an den Statistiken der Jagd interessiert«, sagte der Mann. »Bis jetzt haben die Bürger dreiundsiebzig Gejagte getötet. Das läßt nur noch achtzehn übrig. Eine beachtliche Verbesserung gegenüber dem letzten Jahr.« »Allerdings«, antwortete Barrent. »Die Anzahl derjenigen, die sich in den Kanalsystemen versteckte, war diesmal höher. Einige versuchten zu bluffen und blieben einfach zu Hause. Die Restlichen suchen wir jetzt an den üblichen Orten.« »Ausgezeichnet«, antwortete Barrent. »Keiner hat bis jetzt einen Ausbruch versucht«, fuhr der Mann fort. »Komisch, daß die Gejagten so selten daran denken. Aber so brauchen wir wenigstens nicht die Maschinen einzusetzen.« Barrent wußte nicht, wovon der Mann sprach. Den Ausbruch? Wohin konnte man ausbrechen? Und wie wurden die Maschinen eingesetzt? »Wir wählen schon jetzt Kandidaten für die Spiele aus«, fügte der Mann hinzu. »Ich hätte gern Ihre Zustimmung zur Liste.« »Machen Sie das selbst«, sagte Barrent. »Jawohl, Sir«, antwortete der Mann. Kurz darauf hörte er, wie sich die Schritte entfernten. Er schloß daraus, daß der Mann mißtrauisch geworden war. Die Unterhaltung hatte zu lange gedauert, er hätte sie schon früher abbrechen sollen. Vielleicht war es besser, ein anderes Büro aufzusuchen Noch bevor er etwas unternehmen konnte, erfolgte ein lautes Klopfen an der Tür. »Ja?« »Bürgerliche Suchtruppe«, dröhnte eine tiefe Stimme. »Öffnen Sie, bitte! Wir haben Grund zu der Annahme, daß sich in Ihrem Büro ein Gejagter aufhält.« »Unsinn«, erwiderte Barrent. »Sie dürfen den Raum nicht betreten. Dies ist ein Regierungsbüro.« »Wir dürfen«, ertönte wieder die tiefe Stimme. »Am Jagdtag ist kein Raum, kein Büro oder Gebäude verschlossen. Öffnen Sie also oder nicht?« Barrent hatte sich bereits auf das Fenster zubewegt. Er riß es auf und hörte hinter sich das Hämmern an der Tür. Zweimal feuerte er gegen die Tür, um die Eindringlinge vorsichtiger zu machen; dann kletterte er aus dem Fenster. Barrent stellte sofort fest, daß die Dächer von Tetrahyde wie das perfekte Versteck für einen Gejagten aussahen; deshalb war dies auch der letzte Platz, den ein Gejagter aufsuchen sollte. Das Labyrinth eng miteinander verbundener Dächer, Schornsteine, Vorbauten schien für eine Jagd wie geschaffen; aber es befanden sich auch hier schon Männer. Sie schrien laut auf, als sie seiner ansichtig wurden Barrent begann zu laufen, die Jäger folgten ihm, und bald kamen von allen Seiten noch mehr herbeigeströmt. Er sprang über einen vier Meter breiten Spalt zwischen zwei Gebäuden. Es gelang ihm, sich an dem gegenüberliegenden, mit rauhen Ziegeln belegten Dach festzuklammern und die Balance zu halten. Die Angst spornte ihn zu schnellerem Lauf an. Er gewann einen größeren Vorsprung. Wenn er dieses Tempo noch zehn Minuten beibehalten könnte, wäre er vorläufig in Sicherheit. Dann könnte er vielleicht die Dächer verlassen und ein sicheres Versteck suchen. Wieder tat sich vor ihm ein breiter Spalt auf. Barrent sprang ohne Zögern. Er kam gut auf. Aber sein rechter Fuß brach durch die morschen Schindeln bis zur Hüfte ein. Er holte tief Atem und versuchte, sein Bein herauszuziehen, aber an dem schrägen Dach fand er keinen Halt. »Da ist er!« Barrent stemmte sich mit allen Kräften hoch. Die Jäger waren schon fast wieder in Reichweite der Nadelstrahlwaffen. Bis er das Bein befreit haben würde, würde er ein leichtes Ziel für seine Verfolger bieten Als die Jäger auf dem nächsten Gebäude auftauchten, hatte er ein großes Loch ins Dach gerissen. Barrent zog das Bein heraus, und da er keine andere Wahl hatte, sprang er durch die Öffnung nach unten Eine Sekunde lang schwebte er in der Luft, dann landete er auf einem Tisch, der unter ihm zusammenbrach. Er raffte sich hoch und sah, daß er im Wohnzimmer eines Hadjis war. Keine zwei Meter von ihm entfernt saß eine alte Frau in einem Schaukelstuhl. Entsetzt blickte sie ihn an und rührte sich nicht. Ganz automatisch schaukelte sie weiter, gleichmäßig vor und zurück. Barrent hörte die Verfolger auf dem Dach über sich. Er lief zur Küche und durch die Hintertür unter einer Leine mit Wäsche hindurch an einer Hecke entlang. Jemand schoß aus dem zweiten Stockwerk auf ihn. Er blickte hinauf und bemerkte einen kleinen Jungen, der sich bemühte, eine schwere Hitzewaffe auf ihn zu richten. Anscheinend hatte sein Vater ihm verboten, mit auf die Straße zu gehen Barrent wandte sich zur Straße und rannte, so schnell er konnte, bis er eine kleine Seitengasse erreichte. Sie kam ihm bekannt vor. Er stellte fest, daß er sich im Mutantenviertel befand, nicht weit von Mylas Haus entfernt. Er konnte die Schreie der Jäger hinter sich hören. Er stürzte auf die Tür zu Mylas Wohnung zu. Die Tür war nicht verschlossen. Sie saßen alle beisammen - der einäugige Mann, die glatzköpfige alte Frau und Myla. Sie zeigten bei seinem Eintritt kein Erstaunen »Also haben sie Sie in der Lotterie ausgewählt«, sagte der alte Mann. »Na ja, wir hatten es nicht anders erwartet.« »Hat Myla es denn vorhergesehen?« fragte Barrent. »Das war gar nicht nötig«, antwortete der Alte. »Es war ganz klar voraussehbar, wenn man bedachte, was für ein Mensch Sie sind. Kühn, aber nicht unbarmherzig. Das ist Ihr Fehler, Barrent.« Der alte Mann hatte die obligatorische Anredeform für einen Privileg-Bürger fallen lassen, was Barrent unter den Umständen ganz natürlich fand. »Ich habe es die ganzen Jahre über immer wieder beobachtet«, sagte der alte Mann. »Sie wären überrascht, wie viele vielversprechende junge Männer in diesem Zimmer enden, außer Atem, mit einer Waffe in der Faust, drei Minuten hinter ihnen folgen die Jäger. Sie erwarten unsere Hilfe, aber wir Mutanten gehen Unannehmlichkeiten gern aus dem Weg.« »Sei' still, Dem«, mischte sich die alte Frau ein. »Schätze, wir werden Ihnen helfen müssen«, sagte Dem. »Myla hat sich aus unergründlichen Erwägungen heraus dazu entschlossen.« Er lächelte ironisch. »Ihre Mutter und ich haben ihr gesagt, daß sie sich irrt, aber sie besteht darauf. Und da sie die einzige von uns ist, die die Vergangenheit erforschen kann, müssen wir sie gewähren lassen.« »Selbst wenn wir Ihnen helfen, besteht nicht viel Hoffnung für Sie, die Jagd zu überleben«, sagte Myla. »Wie soll Ihre Voraussage zutreffen, wenn ich getötet werde?« fragte Barrent. »Erinnern Sie sich noch, Sie sahen mich, wie ich auf meine eigene Leiche niederblickte, und diese war in einzelne Teile zerspalten.« »Ich erinnere mich«, antwortete Myla. »Aber Ihr Tod hat keinen Einfluß auf die Voraussage. Wenn sie sich nicht zu Ihren Lebzeiten erfüllt, dann eben in einem neuen Leben.« Barrent war nicht befriedigt. »Was soll ich tun?« Der alte Mann gab ihm ein paar alte Lumpen. »Ziehen Sie das hier an. Ich werde mich Ihres Gesichtes annehmen. Sie werden sich in einen Mutanten verwandeln, mein Freund.« Schon nach kurzer Zeit war Barrent wieder auf der Straße. Lumpen hüllten ihn ein. Darunter hielt er seine Nadelstrahlwaffe in der einen Hand, mit der anderen umklammerte er einen Betteltopf. Der alte Mann hatte verschwenderisch mit rosagelblichem Plastikmaterial gearbeitet. Barrents Gesicht wies jetzt an der Stirn eine ungeheure Schwellung auf, seine Nase war flach und reichte fast bis zu den Backenknochen. Die Form des ganzen Gesichts war verändert, so daß die Jagdzeichen versteckt waren. Eine Gruppe Jäger eilte an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Barrent fühlte Hoffnung in sich aifsteigen. Er hatte kostbare Zeit gewonnen. Die letzten Strahlen von Omegas wäßriger Sonne verschwanden hinter dem Horizont. Die Nacht würde ihm zusätzliche Sicherheit geben, und mit einigem Glück würde er den Jägern vielleicht bis zur Morgendämmerung entgehen. Natürlich standen ihm dann noch die Spiele bevor; aber Barrent beabsichtigte nicht, sich an ihnen zu beteiligen. Wenn seine Verkleidung gut genug war, ihn vor einer ganzen jagenden Stadt zu schützen, sah er keinen Grund, warum er für die Spiele gefangen werden sollte. Wenn der Feiertag vorüber war, konnte er vielleicht sogar wieder in der Gesellschaft von Omega auftauchen. Es war auch möglich, daß man ihn besonders belohnen und auszeichnen würde, wenn es ihm gelang, der Jagd und den Spielen zu entgehen. Solch ein vermessenes und erfolgreiches Brechen des Gesetzes mußte einfach ausgezeichnet werden.. Er sah eine neue Gruppe Jäger auf sich zukommen. Es waren fünf, und unter ihnen befand sich Tem Rend, der in seiner neuen Uniform der Mördergilde düster und stolz wirkte. »He, du!« rief ihm einer der Jäger zu, »hast du eine Jagdbeute in dieser Gegend gesehen?« »Nein, Bürger«, antwortete Barrent und senkte respektvoll den Kopf, die Waffe griffbereit unter den Lumpen. »Glaub ihm nicht«, sagte ein anderer. »Diese verdammten Mutanten verraten doch nie etwas.« »Kommt, wir werden ihn schon finden«, schlug ein anderer vor. Sie gingen weiter, nur Tem Rend blieb etwas zurück. »Bist du sicher, daß du keinen Gejagten gesehen hast?« fragte er. »Ganz sicher, Bürger«, antwortete Barrent. Er war sich nicht im klaren, ob Rend ihn erkannt hatte. Er wollte ihn nicht töten; besser gesagt, er wußte nicht, ob er das überhaupt konnte, denn Rends Reaktionen waren unheimlich schnell. Im Augenblick hing Rends Waffe locker in seiner Hand, während Barrent seine schon angelegt hielt. Der Vorteil dieses Bruchteils einer Sekunde würde Rends größere Schnelligkeit und Genauigkeit vielleicht ausgleichen. Aber wenn es hart auf hart ging, dachte Barrent, würden sie sich beide wahrscheinlich gegenseitig töten »Nun«, sagte Rend leise, »wenn du aber nun doch noch zufällig einen der Gejagten sehen solltest, so rate ihm davon ab, sich als Mutant zu verkleiden.« »Warum?« »Dieser Trick bewährt sich nie lange«, antwortete Rend ruhig. »Vielleicht eine Stunde. Dann entdecken ihn die Spitzel. Wenn ich zum Beispiel gejagt werden sollte, würde ich mich vielleicht auch als Mutant verkleiden. Aber ich würde nicht einfach auf einem Rinnstein sitzenbleiben. Ich würde versuchen, aus Tetrahyde auszubrechen.« »Tatsächlich?« »Ganz gewiß. Jedes Jahr flüchten ein paar Gejagte in die Berge. Die Behörden sprechen nicht offen darüber - das ist ja verständlich. Und die meisten Bürger wissen folglich auch nichts davon. Aber die Mördergilde hat eine Beschreibung aller je angewandten Tricks, Verkleidungen und Schliche. Das gehört zu unserem Geschäft.« »Sehr interessant«, sagte Barrent. Er wußte, daß Rend ihn erkannt hatte. Tem benahm sich wie ein guter Nachbar -allerdings auch wie ein schlechter Mörder. »Natürlich ist es nicht leicht, aus der Stadt zu fliehen«, erklärte Rend. »Und wenn man erst mal draußen ist, heißt das noch lange nicht, daß man außer Gefahr ist. Auch dort gibt es Jagdgruppen, die die Gegend durchstreifen, aber was noch schlimmer ist -« Rend unterbrach sich abrupt. Eine andere Jagdtruppe kam auf sie zu. Rend nickte ihm freundlich zu und ging davon Nachdem die Jäger vorüber waren, stand Barrent auf und schritt die Straße entlang. Rend hatte ihm einen guten Rat gegeben. Natürlich flüchteten manche aus der Stadt. Zwar würde das Leben in den kahlen Bergen von Omega äußerst schwierig sein, aber jede Schwierigkeit war besser als der Tod. Wenn es ihm gelang, an den Stadttoren vorbeizukommen, mußte er auf die Jagdpatrouillen aufpassen. Und Tem hatte etwas noch Furchtbareres erwähnt. Barrent überlegte, was das sein könnte. Vielleicht besonders geschulte Bergjäger? Das unstete Wetter Omegas? Tödliche Flora oder Fauna? Er wünschte, Rend hätte seinen Satz beenden können. Die Nacht brach herein, als er das Südtor erreichte. Tief nach vorn gebeugt, humpelte er auf das Wachhaus zu, das ihm den Weg nach draußen versperrte. Die Wachen machten keine Schwierigkeiten. Ganze Mutantenfamilien strömten aus der Stadt, um vor der Wildheit und den Ausschweifungen der Jagd in den Bergen Schutz zu suchen. Barrent schloß sich einer Gruppe an und befand sich bald eine Meile von Tetrahyde entfernt in den flachen Hügeln, die die Stadt in einem Halbkreis umgaben Hier hielten die Mutanten an und richteten sich ein Lager. Barrent marschierte weiter. Gegen Mitternacht kletterte er einen steilen Pfad zu einem der höchsten Berge hinauf. Er verspürte Hunger und fühlte sich matt, aber die kühle, klare Luft belebte ihn. Allmählich begann er daran zu glauben, daß er die Jagd tatsächlich überleben würde. Aus der Ferne hörte er eine geräuschvolle Jagdgruppe, die die Hügel absuchte. Es gelang ihm leicht, ihr in der Dunkelheit auszuweichen, und er kletterte immer höher. Bald war kein Laut mehr zu vernehmen, außer dem gleichmäßigen Rauschen des Windes an den Klippen. Es war gegen zwei Uhr morgens. Nur noch drei Stunden bis zum Sonnenaufgang! Es begann zu regnen, zuerst leicht, dann immer stärker. Das war ein typisches Wetter für Omega. Ebenso typisch waren die Gewitterwolken über den Bergspitzen, der Donner und die gelben Blitze. Barrent fand in einer kleinen Höhle Schutz und betrachtete es als ein Glück, daß die Temperatur noch nicht gesunken war. Fast wäre er eingenickt. Er saß in der Höhle - die Überreste seines Makeups flossen an seinem Gesicht entlang und über die Steine vor der Höhle. Plötzlich bemerkte er in dem grellen Aufleuchten eines Blitzes etwas über den Abhang herankriechen und direkt auf die Höhle zukommen Die Waffe schußbereit in der Hand, erhob er sich und wartete auf einen weiteren Blitz. Als er aufzuckte, sah er das kalte, nasse Glitzern von Metall, das Flackern von rotem und grünem Licht, ein paar Metalltentakel, die sich über Felsen und kleine Büsche hinwegtasteten. Es war eine Maschine, ähnlich der, gegen die Barrent in dem Saal des Justizministeriums gekämpft hatte. Jetzt wußte er, wovor ihn Rend hatte warnen wollen. Und er konnte auch verstehen, warum wenige der Gejagten zu entfliehen vermochten, selbst wenn sie die Stadt verlassen hatten. Diesmal würde Max nicht nach Zufallsstatistiken vorgehen, um einen gleichwertigen Kampf zu bieten. Und es würde auch keine Batterie an seiner Unterseite offen daliegen Als Max in Schußweite kam, feuerte Barrent. Der Treffer prallte harmlos an der Maschine ab. Barrent verließ den Schutz seiner Höhle und kletterte weiter aufwärts. Die Maschine folgte ihm mit gleichmäßigen Bewegungen über den schlüpfrigen, nassen Gebirgspfad. Barrent versuchte ihn auf dem mit dicken Felsblöcken übersäten Plateau abzuhängen, aber Max ließ sich nicht abschütteln. Barrent wurde sich bewußt, daß die Maschine irgendeiner chemischen Spur folgen mußte; wahrscheinlich dem Geruch, der den unauslöschlichen Merkmalen auf seinem Gesicht anhaftete. Nun versuchte Barrent es auf andere Weise. Von der Höhe einer steilen Felswand rollte er Felsbrocken auf die Maschine und hoffte, dadurch eine Lawine ins Rollen zu bringen. Den meisten Blöcken wich Max aus, die restlichen polterten ohne sichtliche Wirkung auf ihn und wieder von ihm herab. Endlich wurde Barrent in eine enge, steilabfallende Felsnische gedrängt. Er vermochte nicht höher zu klettern. Er wartete. Als sich die Maschine über ihn schwang, hob er die Nadelstrahlwaffe gegen die Metalloberfläche und feuerte. Max erzitterte einen Moment von dem Stoß. Dann stieß die Maschine Barrent die Waffe aus der Hand und legte ihm einen Fangarm um den Hals. Die Klammer verstärkte sich und wurde enger. Barrent fühlte, wie er das Bewußtsein verlor. Es blieb ihm gerade noch Zeit zu überlegen, ob die Klammer ihn erwürgen oder sein Genick brechen würde. Plötzlich ließ der Druck nach. Die Maschine war ein Stück zurückgefahren. Hinter ihr sah Barrent die ersten grauen Strahlen der Morgendämmerung aufsteigen Er hatte die Jagd überlebt. Die Maschine hatte die Anweisung, die Jagdzeit einzuhalten. Aber sie ließ ihn nicht gehen. Sie hielt ihn auf dem schmalen Felsgrad gefangen, bis die Jäger kamen Diese ließen nicht lange auf sich warten Sie brachten Barrent zurück nach Tetrahyde, wo ihm eine brodelnde Menschenmenge einen jubelnden Empfang bereitete, wie einem Helden. Nach zweistündigem Umzug brachte man Barrent und vier weitere Überlebende in das Büro des Auszeichnungskomitees. Der Vorsitzende hielt eine kurze, aber bewegte Rede über die Geschicklichkeit und den Mut, die sie durch das Überleben der Jagd bewiesen hatten. Er verlieh allen den Rang eines Hadjis. Jeder bekam den kleinen goldenen Ohrring, der ihn als solchen auswies. Am Schluß der Zeremonien wünschte er den neuen Hadjis einen leichten Tod während der Spiele. Wachen führten Barrent aus dem Büro des AuszeichnungsKomitees. Sie brachten ihn in das Gefängnis unter der Arena und sperrten ihn in eine Zelle. Höflich forderten sie ihn auf, Geduld zu haben; die Spiele hatten bereits begonnen, und bald würde, auch et an der Reihe sein. Neun Männer drängten sich in der kleinen Zelle, die dazu geschaffen war, höchstens drei zu beherbergen. Die meisten hockten in völliger Apathie auf dem Boden und hatten sich bereits mit ihrem Tod abgefunden. Einer von ihnen schien allerdings nicht ein bißchen resigniert. Er drängte sich zum Eingang vor, als Barrent eintrat. »Joe!« Der kleine Betrüger grinste. »Kein angenehmer Ort für ein Wiedersehen, Will.« »Was ist mit dir passiert?« »Politik«, antwortete Joe. »Politik ist eine gefährliche Beschäftigung auf Omega, besonders während der Spiele. Ich fühlte mich sicher. Aber...« Er zuckte die Achseln. »Heute morgen hat man mich für die Spiele ausgewählt.« »Besteht noch irgendeine Chance davonzukommen?« »Eine Chance besteht noch«, antwortete Joe. »Ich habe deinem Mädchen von dir berichtet, vielleicht können ihre Freunde etwas für dich tun. Was mich anbetrifft, so erwarte ich noch eine 'Begnadigung.« »Gibt es so etwas?« fragte Barrent. »Es ist alles möglich hier. Trotzdem ist es besser, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen.« »Wie gehen diese Spiele eigentlich vor sich?« fragte Barrent, »Sie sind genau das, was man sich darunter vorstellt«, erklärte Joe. »Kämpfe von Mann zu Mann oder gegen die verschiedensten Typen der Flora und Fauna von Omega, Nadelstrahl- und Hitzewaffen-Duelle. Sie sind nach dem Vorbild der alten Gladiatorenkämpfe auf der Erde aufgezogen, habe ich mir sagen lassen.« »Und wenn jemand mit dem Leben davonkommt, steht er außerhalb des Gesetzes.« »Das ist richtig.« »Aber was heißt das, außerhalb des Gesetzes zu stehen?« »Ich weiß nicht«, antwortete Joe. »Niemand scheint viel darüber zu wissen. Alles, was ich herausfinden konnte, war, daß die Überlebenden der Spiele von dem Schwarzen geholt werden. Das soll auch nicht gerade angenehm sein.« »Das glaube ich gern. Sehr wenige Dinge auf Omega sind angenehm.« »Ach, so schlecht ist es hier gar nicht«, sagte Joe. »Du besitzt eben nicht den rechten Geist der -« Die Ankunft einer Wachtruppe unterbrach ihn. Es war an der Zeit, daß die Männer in Barrents Zelle in die Arena geführt wurden. »Keine Begnadigung«, bemerkte Barrent. »Na ja, da kann man eben nichts machen.« Joe zuckte die Achseln. Unter starker Bewachung wurden sie zu der eisernen Tür geführt, die den Zellengang von der Arena trennte. Gerade als der Kapitän der Wache die Tür auf stoßen wollte, kam ein dicker, gutgekleideter Mann aus einem Seitengang herbeigeeilt. Er schwenkte ein paar Blätter Papier. »Was soll das?« fragte der Kapitän. »Ein richterlicher Erlaß«, antwortete der Dicke und reichte dem Kapitän die Papiere. »Auf der anderen Seite finden Sie eine Aufhebeverfügung.« Er zog noch mehr Papiere aus der Tasche. »Und hier habe ich noch die Bestätigung für eine BankrottÜbertragung, eine Erbgut-Verpfändung, einen Erlaß des Habeas corpus und eine Gehaltsbestätigung.« Der Kapitän stieß seinen Kopfhelm zurück und kratzte sich die niedere Stirn. »Ich werde nie verstehen, was ihr Rechtsanwälte immer daherredet. Was soll das Ganze bedeuten?« »Er ist frei«, erklärte der Dicke und zeigte mit dem Daumen auf Joe. Der Kapitän nahm die Papiere, warf einen erstaunten Blick darauf und reichte sie dann einem Gehilfen. »Also gut«, brummte er. »Nehmen Sie ihn mit. Aber in den guten alten Tagen gab's so was nicht! Nichts unterbrach den geordneten Ablauf der Spiele.« Mit einem triumphierenden Grinsen trat Joe an den Wachen vorbei auf den dicken Rechtsanwalt zu. »Haben Sie irgendwelche Papiere für Will Barrent?« fragte er. »Nein«, antwortete der Rechtsanwalt. »Sein Fall liegt in anderen Händen. Ich fürchte, er wird noch nicht fertig aufgerollt sein, bis die Spiele vorüber sind.« »Aber dann werde ich höchstwahrscheinlich schon tot sein«, sagte Barrent. »Diese Tatsache - das kann ich Ihnen versichern - wird bestimmt nicht die ordnungsgemäße Abwicklung und Handhabung Ihrer Papiere beeinflussen«, erklärte der dicke Rechtsanwalt voller Stolz. »Tot oder lebendig - Sie werden alle Rechte zugesprochen bekommen.« »In Ordnung! Weitergehen!« befahl der Kapitän der Wache. »Viel Glück«, rief Joe. Und dann marschierten die Gefangenen hintereinander durch die Eisentür in das blendende Licht der Arena. Barrent überstand die Manngegen-Mann-Kämpfe, in denen ein Viertel der Gefangenen getötet wurde. Danach rüstete man die Männer mit Schwertern aus, um sie gegen die tödliche Fauna von Omega kämpfen zu lassen. Die Bestien, die ihnen gegenüberstanden, hatten riesige Mäuler und dicke Panzer; sie lebten in der Wüstenregion im Süden von Tetrahyde. Nach einem Verlust von fünfzehn Männern waren auch diese Monster bewältigt. Barrent wurde einem Saunus gegenübergestellt, einem schwarzen fliegenden Reptil aus den westlichen Bergen. Eine Weile bedrängte ihn diese häßliche Kreatur mit ihren Giftzähnen hart. Aber dann hatte er einen Einfall. Er gab den Versuch, in die Flanke der Bestie zu stoßen, auf und konzentrierte sich darauf, ihre breiten, fächerartigen Schwanzfedern abzutrennen. Als ihm das gelungen war, verlor der Saunus die Balance und krachte gegen die hohe Wand, die die Kämpfenden von den Zuschauern trennte. Danach war es ein leichtes, das einzige große Auge des Saunus zu durchbohren. Die erregte Zuschauermenge applaudierte begeistert. Barrent ging zurück in den umgitterten Teil der Arena und beobachtete die anderen Männer, die sich gegen die Trichometreds zu wehren versuchten, unglaublich flinke kleine Tiere von der Größe einer Ratte und der Behendigkeit eines Wolfes. Dieser Kampf kostete fünf Teams Gefangener das Leben. Nach einer kurzen Zwischenpause mit Duellen wurde die Arena gesäubert. Jetzt hoppelten amphibienartige Wesen mit harten Schalen herein. Sie waren in ihren Bewegungen unbeholfen, aber von einer mehrere Zentimeter dicken Panzerschale geschützt. Ihre schmalen peitschenden Schwänze dienten ihnen zugleich als Fühler und waren äußerst gefährlich für den, den sie trafen. Barrent mußte gegen eine dieser Kreaturen kämpfen, nachdem sie vier seiner Leidensgenossen außer Gefecht gesetzt hatte. Er hatte die früheren Kämpfe sorgfältig beobachtet und die einzige Stelle entdeckt, die der Fühler nicht erreichen konnte. Barrent wartete auf eine Gelegenheit und sprang dann mitten auf den breiten Rücken der Bestie. Als der Rücken sich zu einem gewaltigen Schlund öffnete denn das war die Art und Weise, wie die Amphibie fraß -, rammte Barrent sein Schwert in die Öffnung. Die Bestie brach sofort zusammen, und die Zuschauermenge drückte ihren Beifall aus, indem sie Kissen in die Arena schleuderte. Dieser Sieg ließ Barrent allein mitten in der blutgetränkten Arena zurück. Die restlichen Gefangenen waren entweder tot oder zu stark verletzt, um weiterzukämpfen. Barrent wartete gespannt darauf, was für eine Bestie ihm das Komitee der Spiele als nächstes präsentieren würde. Eine einzelne Ranke streckte sich aus dem Sand, dann eine weitere. Innerhalb von wenigen Sekunden wuchs inmitten der Arena ein dicker Stamm in die Höhe, aus dem sich immer mehr Ranken und Wurzeln schlängelten, die alles Fleisch, lebend oder tot, in kleine Mäuler steckten, die den Baum umgaben. Dies war der Aasbaum, der in den Sümpfen im Nordosten beheimatet war und nur mit äußerster Schwierigkeit eingeführt werden konnte. Es hieß, daß er gegen Feuer äußerst empfindlich war; aber Barrent hatte keins zur Verfügung. Das Schwert mit beiden Händen umfassend, hieb Barrent Äste und Zweige ab; doch an ihrer Stelle wuchsen neue. Er arbeitete mit wahnsinniger Schnelligkeit, damit die Ranken ihn nicht umzingelten. Seine Arme wurden müde, und der Baum regenerierte rascher, als er ihn niederschlagen konnte. Es schien keine Möglichkeit zu geben, ihn zu zerstören. Seine einzige Hoffnung lag in den langsamen Bewegungen des Baums. Diese waren zwar schnell - für eine Pflanze, aber nicht im Vergleich mit der menschlichen Muskulatur. Barrent sprang aus einer Ecke hervor, in der ihn die sich schlängelnden Ranken einzufangen drohten. Fast zwanzig Meter von ihm entfernt, halb im Sand verborgen, lag ein zweites Schwert. Barrent lief darauf zu und hörte zugleich warnende Rufe aus den Zuschauerreihen. Schon fühlte er eine Ranke um den Knöchel.